Dein Blick verrät dich Bobby Hutchinson
Was bildet sich dieser Ben Gilmour eigentlich ein? denkt Carrie, die mit ihm ei...
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Dein Blick verrät dich Bobby Hutchinson
Was bildet sich dieser Ben Gilmour eigentlich ein? denkt Carrie, die mit ihm einen Vertrag über die Restaurierungsarbeiten auf Honolulu ausgehandelt hat. Jetzt, als er merkt, daß es sich um ein Team von Frauen handelt, will er zurücktreten. Aber Carrie weiß, daß sie gute Arbeit leistet. Ob sie dem Charme dieses außergewöhnlich attraktiven Mannes allerdings widerstehen kann, weiß sie nicht. Denn seine Blicke lassen Carrie schwach werden. Sie sehnt sich nach seiner Zärtlichkeit…
© 1986 by Bobby Hutchinson Unter dem Originaltitel: „Welcome the Morning“ erschienen bei Harlequin Enterprises Ltd. Toronto, in der Reihe AMERICAN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES B. V. Amsterdam © Deutsche Erstausgabe in der Reihe NATALIE Band 347 (26'), 1988 by CORA Verlag GmbH, Berlin Übersetzung: Lieselotte Oetcke Foto: M. DRAB © CORA Verlag GmbH Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. NATALIERomane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig. Satz: Axel Springer Verlag AG, Kettwig Druck: Eisnerdruck, Berlin Printed in Western Germany Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
1. KAPITEL Der Himmel über Oahu, der nördlichsten HawaiiInsel, war tiefblau und wolkenlos. Obwohl es noch nicht Mittag war, brannte die Sonne bereits unbarmherzig. Im Schatten der riesigen Palmen hätte Carrie Cossini die Hitze wohl eine Weile ertragen, aber auf dem Dach des baufälligen zweistöckigen Gebäudes, auf dem sie kniete, war es so heiß, als kämen die Schindeln gerade aus einem Brennofen. Die Hitze drang durch ihre zerschlissene Jeans. Ihre Knie schmerzten, und sie war froh, daß sie in letzter Minute noch ihre alten Lederhandschuhe angezogen hatte. Zentimeter um Zentimeter arbeitete sie sich auf dem baufälligen Dachstuhl voran. Dabei prüfte sie gewissenhaft die Beschaffenheit der Dachsparren, Latten und Balken. Es war so, wie sie vermutet hatte, die Zeit und die Witterung hatten das Holz morsch werden lassen. Es ist lebensgefährlich, dort oben herumzuklettern, dachte Eliza. Sie hatte den Kopf mit den rotbraunen Locken in den Nacken gelegt, schirmte die Augen mit den Händen gegen die blendende Helligkeit ab und beobachtete von unten, wie sich ihre Freundin und Chefin auf dem steilen Dach höher und höher schob. Carrie Cossini nahm ihren Beruf als Zimmermann sehr ernst. Nicht nur, weil sie ein gewissenhafter Mensch war, sondern weil es Leute gab, denen immer wieder bewiesen werden mußte, daß auch Frauen etwas von einem Handwerk verstehen konnten, das meist Männern vorbehalten war. Daher gab sich Carrie nicht damit zufrieden, den unteren Teil des Dachstuhls bereits gründlich überprüft zu haben. Sie wollte ganz hinauf, bis auf den First. Erst dann würde sie dem Auftraggeber, Benjamin Gilmour, mit gutem Gewissen sagen können, was sie von seinen Restaurierungsplänen hielt. War es überhaupt sinnvoll, den Gebäudekomplex wiederherzustellen? Sollte man nicht besser einen Teil davon abreißen und völlig neu aufbauen? Die Erfahrung hatte sie gelehrt, nie etwas als selbstverständlich vorauszusetzen. Letzten Endes zahlte es sich immer aus, wenn man vorher alles gründlich untersuchte. Die Renovierung eines Hauses verlangte peinliche Genauigkeit. Das galt auch für die Arbeit der Zimmerleute. Carrie konnte es sich nicht leisten, später auf unliebsame Überraschungen zu stoßen. Die wirtschaftliche Situation ihres Unternehmens Cossini Constructions sah nicht gerade rosig aus, und einem guten Freund ihres Vaters, Johnny Campanello, war es zu verdanken, daß es überhaupt noch existierte. Er hatte ihr diesen Auftrag verschafft – ein großes Glück für sie! „Die Gilmours haben irgendwo auf den HawaiiInseln Besitz erworben, der restauriert werden muß“, hatte Johnny ihr am Telefon erklärt. „Ich habe schon öfter für die Gilmours gearbeitet. Doch diesmal kann ich den Auftrag nicht übernehmen. Alle meine Leute sind verheiratet. Keiner von ihnen möchte auf unbestimmte Zeit von zu Hause fort. Nicht einmal nach Hawaii. Du und deine beiden Mädchen, ihr seid doch unabhängig. Ich dachte, wenn du den Auftrag übernehmen willst, Carrie, dann rede ich mit den Brüdern Gilmour und lege ein gutes Wort für euch ein. Wenn du scharf kalkulierst, kannst du sicher sein, daß du den Auftrag erhältst. Ein kleiner Profit wird allemal für dich dabei herausspringen, und ich denke, den kann deine Firma ganz gut brauchen.“ Johnny sollte recht behalten. Kurze Zeit darauf erhielt Carrie einen Anruf. Mr. Gilmour teilte ihr mit, man habe sich für ihr Angebot entschieden. Schon Mitte August sollte mit der Renovierung der Gebäude auf Oahu begonnen werden. Der Bauherr käme persönlich, um sich vom Fortgang der Arbeiten zu überzeugen.
So bald schon? Da blieben den drei jungen Frauen nur noch knapp vierzehn Tage bis zum Abflug, in denen sie hektische Betriebsamkeit entwickelten. Ziemlich erschöpft bestiegen Carrie, Eliza und Grace anschließend in Seattle das Flugzeug, das sie auf die HawaiiInsel brachte. Jetzt thronte Carrie hoch auf dem Dachfirst des baufälligen Gebäudes, das vor langer Zeit einmal bessere Tage gesehen haben mochte und blickte über die unendliche Weite des Pazifischen Ozeans. Ungewohnte Laute drangen an ihr Ohr: Das Geschrei und das Gezwitscher von unzähligen fremdartigen Vögeln und das Rauschen des Meeres, das gegen die Korallenriffe brandete und dessen schaumgekrönte Wellen den weißen Strand überspülten. Wohin sie auch schaute, weit und breit war außer ihnen niemand zu sehen. Der Strand war völlig menschenleer, nichts bewegte sich, nur die hohen Palmen wiegten sich leicht im Wind. Das Projekt, das den Gilmours so sehr am Herzen lag, daß sie es aufgekauft hatten und nun mit viel Kostenaufwand erneuern ließen, trug die Bezeichnung „Reveille Riff Club“. Es lag geschützt in einer kleinen Bucht unmittelbar am Strand und bestand aus dem alten, hinfälligen Haupthaus und mehreren unterschiedlich großen, auch baufälligen Hütten, die man hier hochtrabend mit „Bungalows“ bezeichnete. Der letzte Eigentümer dieser Anlage war eine gemeinnützige Organisation gewesen, die hier jugendliche Straftäter auf ein geregeltes Leben in der Gesellschaft vorzubereiten versucht hatte. Die Arbeit an den Gebäuden stellte hohe Anforderungen sowohl an das handwerkliche Können von Carrie, Eliza und Grace als auch an ihre Ausdauer und Geschicklichkeit. Doch gerade das reizte. Die drei waren noch nie einer Herausforderung ausgewichen und hätten sich am liebsten sofort mit Elan ans Werk gemacht. Aber zunächst mußte Carrie mit dem Bauherrn reden. Mr. Gilmour hatte sein Kommen für heute morgen angekündigt. Carrie sollte sich zunächst einmal ein Bild von den Schäden machen und ihm dann eine Aufstellung darüber vorlegen, was sie schätzungsweise an Baumaterial benötigen würden. Deshalb saß Carrie oben auf dem Dachfirst und beklopfte und betastete die morschen Dachsparren wie ein Arzt seinen Patienten. Währenddessen untersuchten Eliza und Grace die verstreut zwischen den Palmen liegenden Bungalows auf ihre Beschaffenheit. Es war unerträglich heiß auf dem Dach. Noch wenige Meter, dann hatte Carrie den First erreicht. Sie schwang ein Bein über den Firstbalken und setzte sich rittlings darauf wie auf einen Pferdesattel. Die Aussicht, die sich von hier oben bot, nahm ihr fast den Atem. Zu ihren Füßen wiegten sich sanft die hohen Kokospalmen. Der weiße Sandstrand glitzerte im Sonnenlicht, und aus dem kristallklaren Wasser ragten spitze Korallenriffe heraus. Endlos weit dehnte sich der Pazifik, und der Himmel strahlte in tiefem Blau. Als sie gestern vom Flughafen Honolulu aus mit dem Taxi an den öffentlichen Stränden vorbeigefahren waren, hatten sie dort die Sonnenhungrigen Schulter an Schulter im Sand liegen sehen. Wie Sardinen in einer Konservenbüchse! So war es Carrie vorgekommen. Hierher aber, eine gute Stunde von der Stadt entfernt, verirrte sich selten ein Tourist. Die Bucht lag verlassen und unberührt in ihrer zauberischen Schönheit da. Wenige Kilometer vom Strand entfernt, im Landesinneren, befand sich ein kleines Dorf mit den Hütten der Inselbewohner. Es war vom Dach aus nicht zu sehen, denn zwischen der Bucht und dem Dorf dehnten sich Zuckerrohrfelder. In der Ferne entdeckte Carrie einige Surfer auf dem Wasser. Sie erinnerte sich,
gelesen zu haben, daß die HawaiiInseln als Paradies für Wellenreiter galten. Etwas weiter fort, im nördlichen Teil der Insel, lag Sunset Beach, der Ort, an dem jedes Jahr im November die SurfWettkämpfe ausgetragen wurden. Carrie rümpfte die Nase. Ihr wurde es schon unbehaglich, wenn sie in Gewässern schwamm, wo sie keinen Grund mehr unter den Füßen spürte. Selbst wenn einmal der Tag käme und das Unwahrscheinliche einträfe, daß sie genügend Geld und Zeit hätte, um einem Hobby nachzugehen… Surfen wäre bestimmt das letzte, womit sie sich befassen würde. Carrie blinzelte in die Sonne. Ein Gefühl überschäumender Lebensfreude überkam sie plötzlich, und ihr Tatendrang erwachte. Sie warf die Arme hoch in die Luft und jubelte. Ihre ganze Freude am Dasein und an ihrer Arbeit drückte sich darin aus. Es gab kaum etwas, das Benjamin Gilmour mehr verabscheute, als das leidige Projekt am Reveille Riff. Es hinderte ihn daran, seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Surfen, nachzugehen. Es bedeutete ferner, sich ständig mit seiner zwar liebenswerten, aber äußerst starrsinnigen alten Tante auseinandersetzen zu müssen. Tante Stella verlangte von ihm, Entscheidungen zu treffen. Solchen Dingen ging er gewöhnlich nach Möglichkeit aus dem Wege. Besonders dann, wenn er ohnehin nichts von dem verstand, über das er zu befinden hatte. Was wußte er schon von Instandsetzungsarbeiten? Was kümmerte ihn das überhaupt? Und ausgerechnet heute, wo die besten Voraussetzungen für einen phantastischen Tag auf dem Surfbrett gewesen waren, mußte er mit diesen Zimmerleuten verhandeln! Warum hatte Tante Stella nicht auf seinen Rat gehört und diese termitenzerfressenen Gebäude abreißen lassen? Die Errichtung einer modernen Hotelanlage mit komfortablen Bungalows für die Gäste und dem blendend weißen Strand direkt vor der Haustür wäre zweifellos eine gewinnbringende Investition gewesen. Ein wenig Reklamerummel und der Platz hätte sich zu einer Goldgrube entwickelt. Allein die Meisterschaftskämpfe im Surfen zogen alljährlich Tausende von Menschen an die Strände von Honolulu. Aber Tante Stella hatte eigensinnig auf der Renovierung des alten Clubs bestanden. Dabei war das mit erheblich mehr Kosten verbunden als ein Neubau. Aber mit vernünftigen Argumenten war Tante Stella in diesem Fall nicht beizukommen. So mußte die Familie wohl oder übel nachgeben, denn die Tante besaß die Aktienmehrheit und konnte daher bestimmen, was geschehen sollte. „Ich möchte, daß dieser Club wieder so aussieht, wie vor dem Krieg. Das ist doch wohl nicht zuviel verlangt, oder?“ Seufzend hatten sich die Brüder Paul, Ralph, Mitchell und Benjamin Gilmour dem Wunsch der alten Dame fügen müssen. Die Mehrheit an Aktien zu besitzen bedeutete eben, einen Trumpf in der Hand zu haben, den man jederzeit ausspielen konnte, um seinen Willen durchzusetzen. Dieser romantische Spleen der Tante kostete die Brüder Gilmour runde fünf Millionen Dollar. Das kümmerte Ben, den Jüngsten, nicht so sehr. Mochten seine Brüder deshalb getrost graue Haare bekommen! Weitaus unangenehmer für Benjamin war, daß man gerade ihn dazu ausersehen hatte, die Bauarbeiten zu beaufsichtigen. Ben mochte Tante Stella wirklich, aber was zuviel war, war zuviel. Irgendwo gab es eine Grenze. Nicht nur das Geld, sondern auch seine Zeit und Mühe sollten vergeudet werden! „Wie dem auch sei“, hatte Mitchell seine Beschwerden abgewiesen. „Du bist mittlerweile 32 Jahre alt. Es wird allmählich Zeit, auch einmal etwas Nützliches zu tun, anstatt die Zeit mit Frauen und Surfen zu verschwenden. Bis jetzt hast du
die Familie nur Geld gekostet. Nun kannst du beweisen, daß das Geld für dein teures Studium nicht völlig zum Fenster hinausgeworfen worden ist.“ Ben schüttelte sich. Die Diskussionen mit seinen Brüdern endeten meist mit Vorwürfen, was seinen Lebenswandel betraf. Die bloße Erinnerung an solche Predigten ließ ihn jedesmal frösteln. Dann zog er es doch vor, die Marotten von Tante Stella in Kauf zu nehmen. Ein verwittertes, kaum noch lesbares Schild, das von malvenfarbenen Blüten halb überwuchert war, zeigte an, daß er sein Ziel, die Clubanlage am Reveille Riff, erreicht hatte. Er bremst scharf, und der Wagen hielt. Das erste, was Benjamin Gilmour bemerkte, war der fremde Eindringling oben auf dem Dach. Es war ein offensichtlich noch junger Bursche, schlank und er trug eine Jeans. Daß er seine Kletterkünste dort am Dach des Haupthauses erprobte, gefiel Ben überhaupt nicht. Eine Woche zuvor hatte Ben schon einmal das Baugelände besichtigt. Damals hatte ihm ein Unbekannter an allen vier Reifen des Jeeps die Luft herausgelassen. Sobald die Gilmours als neue Eigentümer Schilder aufstellten, die Unbefugten das Betreten des Grundstücks untersagten, fand man diese Schilder wenig später abmontiert und meist zerstört unter irgendeinem Dickicht wieder. Das war bereits dreimal der Fall gewesen. Jetzt endlich schien Ben den Übeltäter erwischt zu haben. Wer weiß, was er da oben auf dem Dach im Schilde führte? Wenn er nun herunterstürzte und sich das Genick brach? Konnten die Gerichte Tante Stella eigentlich belangen, wenn diesem Tunichtgut etwas zustieß? Ben behagte dieser Gedanke ganz und gar nicht. Eilig verließ er den Jeep, wobei er es vermied, ein Geräusch zu machen. Vorsicht, dachte er, ich darf ihn nicht erschrecken. Wahrscheinlich ist der Junge mit Drogen vollgepumpt, glaubt, er sei ein Vogel und könne fliegen. Ben ging zu der Leiter, die an der Hauswand lehnte und begann, langsam und leise die Sprossen zu erklimmen. Es dauerte eine Weile, dann hatte er die untere Kante des Daches erreicht. Seine Hände brannten inzwischen wie Feuer. Er biß aber die Zähne zusammen und kroch vorsichtig auf allen Vieren auf der nächsten Leiter höher und immer höher, wobei er es krampfhaft vermied, nach unten zu schauen. Auf halber Höhe hielt er inne und richtete sich auf. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Die schlanke Gestalt, die dort auf dem Firstbalken thronte, hatte absolut nichts von einem Jungen an sich. Es war ein Mädchen, das dort rittlings auf dem Balken saß und das Dach liebevoll streichelte, als sei es der Hals eines Pferdes. Sie war von einer eigenwilligen Schönheit, feingliedrig, mit glänzenden, rotbraunen Locken. Eine seltsame Faszination ging von ihr aus. Das Gesicht hielt sie verzückt der Sonne zugewandt. Eine geradezu ekstatische, wilde Freude spiegelte sich in ihren Zügen. Benjamin starrte selbstvergessen auf die Erscheinung. Er wagte kaum zu atmen, aus Furcht, er könnte das Mädchen erschrecken, das ihn so sehr an die zerbrechlichen Figürchen aus Meißner Porzellan in Tante Stellas Wohnzimmer Vitrine erinnerte. Er würde sich ihr behutsam nähern und sie dann leise ansprechen. Plötzlich warf sie die Arme in die Luft und jubelte aus voller Kehle. Ben erschrak, er vergaß einen Augenblick lang, daß er auf einer wackeligen Leiter stand und zuckte zusammen. Da begann die Leiter nach rechts und gleich darauf wieder nach links zu schwanken, er verlagerte das Gewicht, was alles verschlimmerte. Denn nun kippte sie zur Seite und polterte das Dach hinunter. Entsetzt schrie Ben auf. Pfeilschnell glitt die Leiter mit ihm über die stellenweise
bemoosten Schindeln, bis zu einer Stelle, die bereits so morsch war, daß das Holz splitternd unter dem Gewicht nachgab. Ben fiel mit einem erneuten Aufschrei durch das Dach und stürzte in das Innere des Gebäudes. Schon bei seinem ersten Schreckensruf waren Eliza und Grace herbeigelaufen. Sie hatten mitangesehen, wie dieser wildfremde Mann, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, mitsamt der Leiter schwankend und taumelnd durch das Dach des Haupthauses einbrach und dabei eine riesige Staubwolke aufwirbelte. Die beiden starrten benommen auf das Loch, in das der Fremde gestürzt war. Sie hörten es noch einmal krachen, dann ein Fluchen… danach wurde es still, unheimlich still. Nur das Meer rauschte wie eh und je, und die Vögel lärmten noch immer. Sonst war kein Laut zu hören. Carrie hatte sich genau in dem Moment herumgedreht, als Bens Leiter ins Rutschen geriet. Sie sah, daß ein Fremder sie wie hypnotisiert anstarrte. Er schien nicht einmal zu merken, daß die Leiter schwankte. Carrie hatte rufen und ihn warnen wollen, aber da war es bereits zu spät gewesen. Er war bereits abgestürzt. Das Team von Cossini Constructions reagierte prompt. Die Wolke aus Staub und Dreck, die Benjamin beim Stürzen aufwirbelte, hatte sich noch nicht völlig verzogen, da waren Grace und Eliza bereits an seiner Seite. Sekunden später kletterte Carrie durch die Dachluke. „Es sieht nicht so aus, als habe er sich das Genick gebrochen“, bemerkte sie sarkastisch. „Eliza, schau nach, ob du irgendwo Eis auftreibst. Sein Fuß ist angeschwollen. Wir müssen ihn kühlen. Liegen Sie still, Mister. Wir kümmern uns schon um Sie.“ Benommen schüttelte Ben den Kopf. Wo war er da nur hingeraten? War er einer Horde von Amazonen in die Hände gefallen? Entweder hatte sein Kopf bei dem Sturz gelitten, oder er war bereits tot, und dies waren Gestalten aus dem Jenseits. Er versuchte, sich aufzurichten, aber sein Fuß schmerzte dabei so sehr, daß er sich aufstöhnend wieder zurücksinken ließ. „Grace, faß mal mit an.“ Es war ein schönes Stück Arbeit, und Carrie und Grace waren ziemlich außer Atem, als Ben endlich auf einem Stuhl saß. Eliza kam mit einer Kaffeetasse voller Eiswürfel zurück. „Der Kühlschrank funktioniert nicht richtig. Mehr Eis war nicht da.“ Jetzt erst trat Carrie einen Schritt zurück, um den Pechvogel etwas genauer zu betrachten. Der Mann war ein Riese. Er überragte selbst die lange Grace noch um Haupteslänge. Es war gut, daß er saß, sonst hätte er mit seinem Kopf das Dach wahrscheinlich noch einmal durchstoßen. Eliza war niedergekniet und zog ihm die Sandalen aus. Benjamin verzog dabei schmerzhaft das Gesicht, gab aber keinen Laut von sich. Dennoch hatte Carrie es bemerkt. Sie beugte sich über ihn und sah ihm prüfend ins Gesicht. „Haben Sie große Schmerzen?“ Noch nie war Carrie einem Mann begegnet, der solche hellgrauen Augen besaß. Ihre Farbe bildete einen seltsamen Kontrast zu dem Dunkelbraun seines vollen Haares. Er wich ihrem Blick nicht aus, sondern sah sie durchdringend an. Carrie war es plötzlich unbehaglich zumute. Wie kam dieser Mensch dazu, sie derart unverschämt zu mustern? Außer ein paar Schrammen und Hautabschürfungen an den Händen und Knien sowie einer kleinen Wunde an der linken Schulter schien er zum Glück unverletzt zu sein. Sein weißes Hemd war jetzt allerdings schmutzig und zerrissen. Carrie
betrachtete seinen muskulösen Oberkörper. Der Brustkorb des Fremden hob und senkte sich regelmäßig. Nein, dieser Mann strotzte vor Gesundheit. Sie brauchten sich um ihn keine Sorgen zu machen. Erleichtert atmete Carrie auf und wurde wütend. Ein Muskelprotz ohne einen Funken Verstand ist das! dachte sie zornig. So ein Narr! Und wir vergeuden unsere kostbare Zeit mit ihm. Dabei ist Zeit gleichbedeutend mit Geld. „Was hatten Sie dort oben auf dem Dach zu suchen?“ wollte sie wissen. „Noch dazu mit Ledersandalen. Jedes Kind weiß, daß man damit keine Klettertouren unternimmt.“ Während sie das sagte, gab sie Bens Schuhen einen Tritt, so daß sie in hohem Bogen in die Ecke flogen. Entrüstet richtete Ben sich auf. Seine Miene verhieß nichts Gutes. „Hören Sie, Fräulein Gernegroß, ich sage das nicht zweimal… Au! Passen Sie doch auf!“ Er bedachte Eliza mit einem erbosten Blick, die hockte vor ihm und packte soeben Eiswürfel auf den angeschwollenen Fuß. Dann wandte er sich erneut an Carrie. „Was, zum Kuckuck, hatten Sie da oben auf dem Dach zu suchen? Wie kommen Sie dazu, sich auf den Firstbalken zu setzen und die Sonne anzubeten? Was machen Sie drei überhaupt auf diesem Grundstück? Überall stehen Schilder, auf denen man es ablesen kann: ‚Unbefugten ist der Zutritt verboten!’“ Carrie sah ihn ärgerlich an. „Daß ich nicht lache! Sie sind derjenige, der sich hier unbefugt aufhält. Wir drei haben nämlich einen Vertrag, in dem heißt es schwarz auf weiß, daß wir hier die Restaurierungsarbeiten ausführen. Ich saß auf dem First, um den Zustand des Daches zu untersuchen. Was sagen Sie nun? Jetzt sind Sie sprachlos. Also, noch einmal: Was wollen Sie hier?“ Ben glaubte zu träumen, aber es war dann wohl ein Alptraum. Sollte das ein schlechter Scherz sein? Hatten seine Brüder ihn hereingelegt? Zuzutrauen wäre es ihnen. Schweigend betrachtete er die drei Frauen. Eine war silberblond und ziemlich groß. Sie hatte bis jetzt kein Wort gesprochen, hielt ihn nur eisern fest, als ob er jeden Moment vom Stuhl fallen könnte. Da gab es ferner diese rothaarige Hexe, die vor ihm kniete und seinen Fuß mit Eis kühlte. Und schließlich glitt sein Blick zu der Anführerin, dieser energischen, blauäugigen… „Wer… wer, bitte, sind Sie?“ Heimlich flehte Ben, daß sich sein Verdacht nicht bestätigen möge. „Wir sind das Team von Cossini Constructions. Ich bin Carrie Cossini. Dies ist Eliza Blake“, Carrie deutete auf die Rothaarige, „und das ist Grace Thompson. Wir sind Zimmerleute.“ Die große Blonde streckte Ben ihre Hand entgegen, lächelte scheu und drückte seine Finger, daß sie schmerzten. Carrie Cossini, die er noch vor wenigen Minuten mit einer zierlichen Meißner Porzellanfigur verglichen hatte, sah ihn herausfordernd an. „So, Mister, jetzt heraus mit der Sprache. Wer sind Sie, und was tun Sie hier?“ Bevor Ben jedoch Zeit zu einer Antwort fand, sagte Eliza: „Wer immer es auch sein mag, Carrie, dieser Mann gehört in ein Krankenhaus. Sein Fuß schwillt immer mehr an. Außerdem ist er so komisch abgeknickt. Ich vermute beinahe, er ist gebrochen.“ Warum mußte diese erste Begegnung mit Benjamin Gilmour nur so danebengehen? Carrie wußte, sie besaß ein etwas vorlautes Mundwerk. Heute hatte sie sich jedoch selbst übertroffen. Verstört schloß sie die Augen. Meine Güte, dachte sie, dann muß der Arme unerträgliche Schmerzen haben. „Sie fallen doch wohl jetzt nicht in Ohnmacht?“ Sie spürte plötzlich Bens Hand auf ihrer Schulter.
Was war nur los mit ihr? Wieso bekam sie beim Anblick eines gebrochenen Fußes
einen Schwächezustand? Sie hatte Schlimmeres erlebt. Ihr Beruf war mit
Gefahren verbunden.
Carrie sah, daß Ben sie aufmerksam beobachtete. Dieser Blick aus den grauen,
merkwürdig hellen Augen verwirrte sie und machte sie nervös. Sie kam sich auf
einmal vor wie ein Schulmädchen, das soeben entdeckt hatte, daß es zwei
Geschlechter gab.
So etwas! Sie, Carrie Cossini, Unternehmerin, Chefin einer eigenen Baufirma,
unsicher und verlegen? Das war nicht nur absurd, es war geradezu beschämend.
Das Ärgste jedoch war der Moment gewesen, wo ihr klar wurde, wen sie da vor
sich hatte. Am liebsten hätte sich Carrie da in ein Mauseloch verkrochen.
Woher hätte sie auch wissen sollen, daß Mr. Gilmour kein älterer, seriöser Herr
war, wie sie angenommen hatte, sondern ein attraktiver grauäugiger Sportler,
der mühelos zu ihr aufs Dach gestiegen kam?
„Soweit es mir bekannt ist, hatten wir für heute vormittag eine Verabredung,
Miss Cossini.“
Man sah deutlich, welche diebische Freude es Ben bereitet hatte, Carrie diese
Worte ins Gesicht zu sagen. „Ich bin, wenn Sie gestatten, Benjamin Gilmour, Ihr
Bauherr.“
Nachdem sich Benjamin Gilmour den Frauen vorgestellt hatte, übernahm er das
Kommando. Nur sein schmaler, zusammengekniffener Mund ließ daraufschließen,
daß er große Schmerzen litt. Er klagte nicht.
Er bat Carrie, den Jeep direkt vor die Haustür zu fahren und instruierte Eliza und
Grace, welches Krankenhaus sie anrufen und welchen Arzt sie verlangen sollten.
Die enge, gewundene Treppe, die sie Ben zu dritt hinuntertragen mußten, erwies
sich als ein fast unüberwindbares Hindernis. Es war nicht zu vermeiden, daß Ben
sich dabei den verletzten Fuß mehrmals stieß.
Mancher Mann hätte vielleicht geflucht und seine Trägerinnen lauthals
verwünscht. Ben preßte jedoch lediglich die Lippen noch fester aufeinander. Trotz
der Sonnenbräune wirkte sein Gesicht aschfahl.
Zum Glück war er mit dem Jeep gekommen. Wie hätten sie ihn sonst die fünfzig
Kilometer bis zur Stadt befördern sollen? Einen Taxiservice gab es hier draußen
nicht.
Cossini Constructions mußte sich ohnehin etwas einfallen lassen, um die Strecke
von der Waialua Bucht zur Stadt zu überbrücken. Carrie würde sich nach einem
Gefährt umsehen, das für ihre Verhältnisse erschwinglich war, denn das
Bankkonto gab schon lange nichts mehr her.
Allerdings setzte das voraus, daß sie den Auftrag der Gilmours behalten durften,
und nach dem Fiasko auf dem Dach war das so gut wie ausgeschlossen.
2. KAPITEL Das Portal des Krankenhauses öffnete sich. An der Seite einer Krankenschwester, die Zuversicht ausstrahlte, verließ ein blasser Ben Gilmour die Klinik. Unbeholfen bewegte er sich auf Krücken vorwärts. Sein rechter Fuß steckte bis zum Knöchel in einem Gipsverband. Carrie lief ihm entgegen. Sie zeigte auf seine Krücken. „Der Jeep steht gleich hier vorn, aber da sind ein paar Stufen. Werden Sie es bis dahin mit den Dingern schaffen?“ „Tun Sie mir bitte einen einzigen Gefallen: Versuchen Sie nicht, mir zu helfen. Ich habe das Gefühl, allein geht's besser.“ Carrie schluckte. Jetzt stand es für sie fest, daß er den Auftrag annullieren würde. Sie konnte es ihm nicht einmal verdenken. Die Begegnung am Vormittag reichte ihm wohl. Sie nickte stumm und sah mit an, wie er sich langsam und unbeholfen die Treppenstufen hinunterquälte. Nach ausgiebiger Untersuchung, Röntgenaufnahmen und schließlich dem Eingipsen des gebrochenen Fußgelenks fühlte er sich völlig erschöpft. Zu allem Übel mußte er auch noch die Gegenwart dieses Zankapfels ertragen. Wie sie ihn beobachtete! Keinen Moment ließ sie ihn aus den Augen. „Ziemlich heiß heute, nicht wahr?“ Er wußte nicht, was er sonst sagen sollte. Carrie pflichtete ihm eifrig bei. Anscheinend war er doch nicht so ganz verärgert. Vielleicht sah sie zu schwarz? Vielleicht gab es noch Hoffnung? Es könnte nicht schaden, wenn sie sich ein wenig entgegenkommender zeigte. Mit Speck fängt man Mäuse, pflegte ihr Vater immer zu sagen. Carrie eilte voraus, öffnete die Tür des Jeeps und hielt Bens Krücken fest, während er sich vorsichtig auf den Beifahrersitz sinken ließ, wobei er sich fest auf Carrie stützte. Der Druck seiner Finger würde blaue Flecken auf ihrer Schulter hinterlassen. Carrie fragte sich, welchen Sport er wohl trieb? Es war nicht zu übersehen, daß er einen durchtrainierten Körper hatte. Doch harte Arbeit war wohl nicht die Ursache, sonst könnten die schlanken Hände nicht so gepflegt aussehen. Wahrscheinlich besuchte er regelmäßig eines jener Institute für BodyBuilding, wo die Söhne und Töchter reicher Eltern ihre Zeit totschlugen. Aufhören! befahl Carrie sich. Damit ist jetzt Schluß! Ab sofort wirst du nur noch Charme versprühen. Ben Gilmour soll nun einmal mein fröhliches Naturell kennenlernen. Sie wollte ihm beweisen, daß sie fundiertes Fachwissen besaß, wie sehr sie in ihrer Arbeit aufging, welche Liebe zum Beruf sie erfüllte. Ab jetzt würde sie sich lieber auf die Zunge beißen, bevor ihr noch ein unbedachtes Wort entschlüpfte. Schließlich hing nicht nur ihre Zukunft, sondern die Existenz der Firma davon ab, ob Benjamin Gilmour von dem Vertrag zurücktrat oder nicht. Sie lächelte ihn strahlend an. „Möchten Sie von mir irgendwo hingefahren werden, Mr. Gilmour, oder darf ich Sie zum Essen einladen? Es gibt einiges zwischen uns zu besprechen. Aber ich kann mir denken, daß Sie sich im Augenblick nicht besonders wohl fühlen. Manchmal wirken da ein Bier und eine warme Mahlzeit Wunder.“ Er sah sie überrascht an. Dann brach er unvermutet in schallendes Gelächter aus. „Aha! Versuchen Sie jetzt die honigsüße Tour mit mir, Miss Cossini? Oder sollte ich besser sagen ,Mrs. Cossini'?“ Die Frage klang beiläufig, aber als Carrie verneinend den Kopf schüttelte, atmete
er befreit auf. „Nennen Sie mich einfach nur Carrie, Mr. Gilmour.“ Es fiel ihr nicht leicht, das brave kleine Mädchen zu spielen. Ben lächelte. „Nun, Carrie, dann bin ich auch nicht Mr. Gilmour. Ich fände es nett, wenn Sie mich Ben nennen würden.“ Im übrigen fand Ben Carries Vorschlag gar nicht schlecht. Er hätte jetzt gern etwas Kühles getrunken. Die Prozedur in der Klinik hatte ihm ziemlich zugesetzt. Außerdem war das, was sie miteinander zu bereden hatten, unangenehm genug. Wenn der Magen sein Recht bekam, wäre es vielleicht leichter. Sicher war es ratsam, die leidige Angelegenheit möglichst rasch hinter sich zu bringen. Dann konnte Carrie mit ihrem Team wieder nach Hause fahren, und er würde sich um andere Handwerker kümmern. Weibliche Zimmerleute! Was gab es wohl sonst noch alles? „Fahren Sie ein Stück über die Autobahn. Ich zeige Ihnen dann, wo wir abbiegen. Ich kenne ein Restaurant, wo man gut essen kann.“ Carrie nickte. Sie schaltete den Rückwärtsgang ein, wendete und reihte sich problemlos in den Verkehr ein. Heimlich mußte Ben zugeben, daß sie eine weitaus bessere Fahrerin war als er. Im Gegensatz zu ihm hatte sie anscheinend ein ausgeprägtes Gespür für Motoren, während er vor allem auf dem Surfbrett zu Hause war. Ihr schien Autofahren Freude zu bereiten. Sie war ohnedies ein ungewöhnliches Geschöpf mit ihrer Vorliebe für alles, was eigentlich Männern vorbehalten sein sollte. Bens Blick streifte Carries Hände, welche das Lenkrad umfaßt hielten. Was er sah, versetzte ihm einen Schock, Carries Hände waren zerschunden, die Haut rauh und rissig, und die kurzgeschnittenen Fingernägel zeigten Kerben. Die Handrücken wiesen Narben von verheilten Wunden auf und auch einige Schrammen aus neuerer Zeit. Etliche Finger hatten Schwielen und Hornhaut. Zunächst war Ben erschrocken, doch dann wurde er wütend. Warum achtete niemand auf dieses süße, zarte Geschöpf? Weshalb paßte niemand auf, daß sie ihre schlanken Hände nicht so sträflich vernachlässigte? Gab es keinen Vater, keine Brüder, die ihr so etwas verboten? Ben war noch keiner Frau mit derart verwahrlosten Händen begegnet. Die Frauen, die ihn umschwärmten, besaßen alle makellos manikürte Hände und lange, gepflegte Fingernägel. Alle, ohne Ausnahme, hatten sie eine samtweiche, zart nach Pfirsich duftende Haut. Und das nicht nur an den Händen. Unwillkürlich wanderte Bens Blick weiter über Carries Gestalt. Zugegeben, diese Frau an seiner Seite war auch ohne Streichelhände schön und begehrenswert. Das dünne TShirt spannte sich über ihrer vollen Brust, und der kühle Fahrtwind mochte die Ursache dafür sein, daß sich ihre Brustspitzen deutlich abzeichneten. In der hautengen, ein wenig fadenscheinigen Jeans steckten lange Beine. Die Taille war so schlank, daß Ben glaubte, sie mühelos mit den Händen umspannen zu können. Carrie merkte, daß er sie eingehend betrachtete. „Ich bin wohl nicht richtig für das Lokal angezogen?“ „Hier in Haleiwa?“ Er sprach den Namen der Stadt anders aus, als Carrie es bisher gewöhnt war. Es klang viel weicher und irgendwie geheimnisvoll. Flüsternd wiederholte sie ihn deshalb. Er sah sie lächelnd an. „Es gibt nur ganz wenige Orte auf Oahu oder einer der anderen Inseln von Hawaii, wo man Wert auf förmliche Kleidung legt. Aber auf keinen Fall hier.“ Er wies auf ein kleines, unscheinbares Restaurant. „Ich hoffe, Sie mögen Hamburger?“ Das Lokal hätte ebensogut in Brooklyn stehen können. Es hatte absolut nichts,
was als typisch hawaiianisch gelten konnte. Verblichene Fotos von Surfern zierten die Wände. Nur die kaffeebraunen Schönheiten, die zwischen den Tischen hin und hereilten und die Speisen auftrugen, erinnerten Carrie daran, daß sie nicht zu Hause in Bellingham war. Ben hatte ihr gegenüber Platz genommen und schwieg, aber es war kein angenehmes Schweigen. Er sah müde und abgespannt aus, und seine Miene veranlaßte Carrie, auf der Hut zu sein. Er trank sein Bier in großen, durstigen Zügen, stocherte aber lustlos in seinem Essen. Der Durst war größer gewesen als der Appetit. Er streckte das Bein mit dem begipsten Fuß aus und schloß seufzend die Augen. Zum erstenmal im Leben wünschte er, sein Bruder Mitchell wäre jetzt hier. Der saß inmitten von blitzendem Chrom und Glas an seinem eleganten Schreibtisch in Seattle und befaßte sich mit Bilanzen. Während er, Ben, nun einen Zimmermann wegen seines weiblichen Geschlechts zu entlassen gedachte. „Haben Sie noch arge Schmerzen? Oder ist der Gipsverband sehr beschwerlich?“ fragte Carrie mitfühlend. Ben schüttelte den Kopf, hielt aber die Augen geschlossen. „Vorhin schon, aber jetzt nicht mehr. Er ist nur etwas lästig. Übrigens ist dies kein Gips. Neuerdings macht man die Verbände aus Fiberglas. Damit kann man wenigstens hin und wieder schwimmen.“ Ben verzog unwillig die Stirn, weil ihm einfiel, daß ihm der Arzt Surfen streng untersagt hatte. Sechs endlose Wochen ohne ein Surfbrett unter den Füßen… das erschien ihm wie eine Ewigkeit. Er schlug die Augen auf und sah, daß Carrie ihn forschend anblickte. Eine kleine steile Falte stand zwischen ihren Brauen. Sie errötete leicht, wich jedoch seinem Blick nicht aus. Er bemerkte, daß sie nicht geschminkt war. Ihre Gesichtszüge waren zart und doch von starkem Willen geprägt. Belinda, seine geschiedene Frau, fiel ihm ein. Während der acht Monate, in denen er mit Belinda verheiratet gewesen war, hatte er sie kein einziges Mal ungeschminkt gesehen. Selbst nachts hatte sie ein leichtes Makeup getragen. Während der ersten Monate ihrer Ehe, solange er noch verliebt gewesen war, hatte ihn das auch nicht gestört. Wie verführerisch Carrie ihn anlächelte! Sie hatte einen Mund, der direkt zum Küssen einlud… Schluß damit, Ben! schalt er sich. Schließlich hast du vor, diese Frau zu entlassen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob er sein Glas und trank ihr zu. Es sollte ein stiller Toast auf ihre natürliche Schönheit sein. Es tat ihm wohl, sie anzusehen. Um so schwerer fiel es ihm, das zu sagen, was gesagt werden mußte. Nun mach schon, Gilmour. Du kommst nicht daran vorbei. „Carrie“, begann er, „ich glaube bestimmt, daß Sie Ihr Handwerk verstehen…“ „Da haben Sie durchaus recht, Ben“, fiel Carrie ihm ins Wort. „Wir sind alle drei ausgezeichnet in unserem Fach, haben schon viele Häuser neu errichtet. Vor zwei Jahren etwa spezialisierten wir uns dann auf die Renovierung von Altbauten.“ Er konnte nicht anders, er mußte ihren Stolz bewundern. Sie war von ihren Fähigkeiten fest überzeugt. „Unsere ausgezeichneten Referenzen und die Fotos von den fertigen Bauprojekten waren auch der Grund, weshalb die GilmourGesellschaft die Restaurierungsarbeiten am RiffClubProjekt in unsere Hände gelegt hat. Man wünschte sogar, daß wir unverzüglich beginnen.“
Das war nur die halbe Wahrheit; Carrie wußte das genau. Es galt nämlich nur unter der Voraussetzung, daß Mr. Benjamin Gilmour damit einverstanden war. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, schien Ben darüber ebenfalls genau im Bilde zu sein. Offensichtlich hatte er jedoch nicht die Absicht, sie zu engagieren, denn er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und vermied es, sie anzusehen. Carries Fingerknöchel wurden weiß, so fest umkrampfte sie das Bierglas. Die Spannung, mehr noch das Bedauern in seinem Ton, als er das Wort ergriff, waren unerträglich. „Sehen Sie, Carrie, das Projekt gehört Tante Stella. Meine Tante ist jetzt 74 Jahre. Seit Kriegsende war sie nicht mehr auf Hawaii. Mein Bruder Mitchell hat diesen Vertrag aufgesetzt, ohne mit ihr darüber gesprochen zu haben. Mein Bruder ist der Finanzverwalter unserer Gesellschaft. Für ihn existiert nichts anderes als Geld. Wahrscheinlich lag das Angebot von Cossini Constructions beträchtlich unter dem der Konkurrenz. Aber wie dem auch sei, weder Tante Stella noch mein Bruder haben die leiseste Ahnung vom Zustand des RiffClubs. Nun bin ich in einer äußerst mißlichen Lage. Ich bin sicher, daß Sie ausgezeichnete Handwerker sind. Nur, ich kann doch nicht zulassen, daß eine so schwere Arbeit von Frauen ausgeführt wird.“ Carrie war inzwischen hochrot im Gesicht. Sie mußte sich gewaltsam zur Ruhe zwingen. Ben bemerkte es und hob beschwichtigend die Hände. „Bevor Sie etwas sagen, lassen Sie es mich bitte zu erklären versuchen. Ich bezweifle nicht Ihre Fähigkeiten oder die Ihrer Mitarbeiterinnen. Es ist keine Frage des Könnens, doch Sie müssen eines bedenken: Der Reveille Riff Club ist schon sehr alt! Er wurde in den Dreißigern als Club für Offiziere gebaut. Die Armee benutzte ihn dann während des Krieges als Erholungs und Freizeitzentrum. Später verkaufte man ihn an eine kirchliche Organisation, machte daraus ein Schulungslager für jugendliche Straftäter. Vor fünf Jahren wurde das Projekt wiederum zum Verkauf angeboten, und da hat meine Tante Stella es übernommen. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich weiß es nicht. Sie haben ja selbst gesehen, in welch miserablem Zustand sich die gesamte Anlage befindet…“ Ben hielt erschöpft inne. Er wußte nicht mehr weiter. Sein Bein schmerzte, und Carries Blick, sie sah ihn unverwandt an, machte ihn nervös. „Das mag alles recht interessant sein, Ben, aber weshalb erzählen Sie es mir? Denken Sie, daß wir mit den Problemen hier nicht fertig werden? Glauben Sie, wir wären den Schwierigkeiten nicht gewachsen? Warum sind Sie so sehr dagegen? Warum lassen Sie uns nicht die Arbeit tun, die wir vertraglich zugesichert haben?“ Er wischte sich müde über die Augen. „Hawaii befindet sich wirtschaftlich in Schwierigkeiten. Steigende Löhne und unlauterer Wettbewerb belasten die Ananas und Zuckerrohrindustrie. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit.“ Ben schwieg. Er dachte daran, wie sich der Unmut mancher Inselbewohner zeigte. Aufgeschnittene Autoreifen, an die Wände gesprühte Parolen, und andere Fälle von Sachbeschädigung waren an der Tagesordnung. Sogar im RiffClub gab es laufend Zerstörungen. Schilder, die den Zutritt untersagten, waren kurze Zeit nach dem Aufstellen beschädigt, und die neuen Schlösser, die er einbauen ließ, hatte er am nächsten Morgen fein säuberlich herausgesägt vorgefunden. Waren das nur Jungenstreiche? Oder steckte mehr dahinter? Plötzlich fiel ihm Carrie wieder ein. „Die Hawaiianer sind freundliche und warmherzige Menschen“, beruhigte er sie. „Wie überall auf der Welt gibt es aber auch hier welche, die Fremde, wie Sie und mich zum Beispiel, als unerwünschte
Eindringlinge betrachten, die man am besten dahin zurückschickt, woher sie gekommen sind.“ Wenigstens war das die Ansicht der Polizisten gewesen, denen Ben von den Vorkommnissen auf seinem Grundstück berichtet hatte. Es konnte durchaus sein, daß es sich so verhielt. Aber so ganz teilte Ben diese Ansicht nicht. Er vermutete, daß etwas anderes dahintersteckte. Aber was? „Noch beschränken sich diese Übergriffe auf Sachbeschädigung. Doch es könnte auch schlimmer werden. Vielleicht schrecken diese Leute auch nicht vor einem Mord zurück. Es hat bereits Anschläge auf harmlose Touristen gegeben. Während der RiffClub verlassen dalag, diente er vielleicht als Zufluchtsort für zwielichtige Gestalten. Verbotsschilder helfen da kaum. Sie werden abgerissen und mit Drohungen übermalt. Anscheinend möchte man nicht, daß hier irgend etwas verändert wird. Von den Einheimischen betritt niemand freiwillig diesen Boden. Sie haben viel zu große Angst. Darum mußten wir eine auswärtige Baufirma engagieren.“ Ben nahm einen großzügigen Schluck aus seinem Glas. Erst jetzt hob er den Blick und sah Carrie an. „Meine Güte, verstehen Sie doch! Ich kann die Verantwortung nicht übernehmen. Ich kann nicht, und ich will es auch nicht. Stellen Sie sich nur vor, was mit drei jungen Frauen alles geschehen kann, die hier draußen sich selbst überlassen sind. Meilenweit abgeschnitten von jeder Zivilisation und ohne männlichen Schutz. Ich könnte Mitchell den Hals umdrehen! Naja, als er der Firma Carrie Cossini den Auftrag gab, nahm er wahrscheinlich an, es handele sich um gerissene ItaloAmerikaner, die mit Schwierigkeiten fertig würden, ohne mit der Wimper zu zucken.“ Carrie setzte ihre Kaffeetasse so heftig ab, daß sich die heiße Flüssigkeit über den Tisch ergoß. Charme hin, Liebenswürdigkeit her – sie war zu wütend und vergaß ihre guten Vorsätze. „Jetzt will ich Ihnen mal etwas sagen, Mister! Vor Ihnen steht eine Italo Amerikanerin, die nicht weniger gerissen ist als ein Mann. Glauben Sie etwa, ich lasse mir etwas gefallen? Oder eins meiner Mädchen? Haben wir Sie etwa darum gebeten, die Verantwortung für uns zu übernehmen? Wer sagt Ihnen denn, daß wir einen Leibwächter brauchen? Wir Frauen pfeifen auf die ewige Beschützerrolle der Männer. Wir wollen nichts weiter als eine Chance zur Gleichberechtigung. Es ist nicht das erste Mal, daß man uns Steine in den Weg legt. Wir sind schon öfter mit Schwierigkeiten fertig geworden, und wir schaffen es auch diesmal. Darauf können Sie sich verlassen. Wir sind nicht gerade zart besaitet, falls Sie das nicht bemerkt haben sollten.“ Carries heftiger Ausbruch überraschte Ben nicht sonderlich. Im Gegenteil. Er hatte schon damit gerechnet, daß es nicht leicht sein würde, sie zu überzeugen. „Doch, ich habe es bemerkt, Carrie, aber Redetalent allein wird Ihnen hier wenig nützen.“ „Wir verstehen es, uns notfalls auch mit den Fäusten zur Wehr zu setzen.“ Sein Blick glitt abwägend über ihre zierliche Gestalt, hochaufgerichtet saß sie ihm gegenüber auf dem Stuhl. „Ich glaube, es wird gar nicht erst zu einem Faustkampf kommen. Unterschätzen Sie die Gefahr nicht, Carrie. Sie ahnen nicht, wozu diese Leute fähig sind.“ „Keine Sorge. Wir sind alle drei in Selbstverteidigung ausgebildet. Und was unsere Rolle als Fremdarbeiter betrifft… nun, ich wollte mit örtlichen Subunternehmern zusammenarbeiten. Elektriker zum Beispiel, Installateure, Fliesenleger brauchen wir. Eines steht jedenfalls fest, Ben: Meine Firma hat diesen Auftrag bekommen, und ich lasse mich nicht so rasch einschüchtern. Sie haben keinen einzigen stichhaltigen Grund, uns den Vertrag zu kündigen. Ich
werde um mein Recht kämpfen, und wenn ich mit Ihnen durch sämtliche Instanzen müßte.“ Mit trotzig vorgeschobenem Kinn saß Carrie da und hielt die Kaffeetasse so krampfhaft umklammert, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie war viel erregter, als sie es sich anmerken ließ. Beim Anblick ihrer armen zerschundenen Hände änderte Ben seine Haltung. Vielleicht ließ sich die Frage der Sicherheit lösen? Ihm kam da eine Idee. „Warum haben Sie sich ausgerechnet einen Männerberuf ausgesucht?“ fragte er teilnahmsvoll. Carrie sah ihn erstaunt an. Was bedeutete dieser plötzliche Stimmungsumschwung? War das ein Trick, um von dem eigentlichen Problem abzulenken? „Meine Eltern wünschten sich einen Sohn, weil sie bereits zwei Töchter hatten. Nach meiner Geburt konnte meine Mutter keine Kinder mehr bekommen. Daher wurde ich wie ein Junge großgezogen. Mein Vater war von Beruf Dachdecker. Ich war noch ein halbes Kind, als er mich schon mit auf die Baustellen nahm. Er lehrte mich alles über Bauarbeiten. Später besuchte ich entsprechende Schulen. Nebenbei arbeitete ich ganz praktisch für verschiedene Firmen. Vor ungefähr drei Jahren traf ich Grace und Eliza und machte mich selbständig. Doch die Zeiten sind nicht gerade rosig für das Bauhandwerk, und die Konkurrenz schläft nicht.“ Carrie schwieg. Die Situation war viel ärger, als sie zugeben wollte. Dazu war sie zu stolz. Woher sollte der verwöhnte Sprößling eines Multimillionärs auch wissen, was es hieß, hart arbeiten zu müssen, um zu überleben? Sollte sie ihm etwa verraten, daß Cossini Constructions pleite ging, falls ein anderer den Auftrag bekäme? Grace müßte wieder den ungeliebten Beruf einer Krankenpflegerin ausüben. Eliza würde wie früher als Kellnerin ihren Unterhalt verdienen, und sie, Carrie Cossini, wanderte vermutlich ins Gefängnis, weil sie all ihre Schulden nicht bezahlen konnte. Wer fragte schon danach, daß ihr Vater einen Unfall gehabt hatte, daß die Arztrechnungen das gesamte Kapital schluckten, daß sie sich seither Nacht für Nacht im Bett herumwälzte und keinen Schlaf fand. Nein! Von diesen Dingen verstand ein Ben Gilmour nichts. Es hätte auch wenig Sinn, ihm das zu erklären. Er würde es nicht verstehen. Ben hatte genau beobachtet, wie es in ihrem hübschen Gesicht arbeitete. „Wie alt sind Sie eigentlich, Carrie?“ „Dreiundzwanzig“, entgegnete sie widerwillig. Ben war überrascht. Er hatte angenommen, sie sei gerade erst zwanzig. Plötzlich griff er nach seinen Krücken und stand mühsam auf. „Wissen Sie was, Carrie? Die Einzelheiten können wir später noch besprechen. Ich bin auf einmal sehr müde. Sie können mir Ihre Pläne heute beim Abendessen erläutern. Abgemacht?“ Carrie blickte ihn überrascht an. „Heißt das… wir behalten den Auftrag? Sie sind damit einverstanden, daß wir…“ „Nun, es sieht ganz so aus, oder nicht? Natürlich muß ich mir die Baupläne noch genau ansehen. Doch es bleibt dabei: Sie erhalten den Auftrag. Allerdings stelle ich gewisse Bedingungen, was die Sicherheitsvorkehrungen betrifft.“ „Man hat uns den Auftrag gestrichen, nicht wahr?“ fragte Grace zaghaft. Es erstaunte Carrie immer aufs neue, welche Faszination von Grace ausging. Trotz der Zeit, die sie jetzt zusammen arbeiteten, hätte Carrie nicht mit Bestimmtheit sagen können, woran das lag. Vielleicht war es der eigenartige Widerspruch zwischen der großen stattlichen Gestalt und dem schüchternen, fast scheuen Wesen von Grace Thompson?
Carrie vermutete, daß das Verhalten der Freundin etwas mit deren gescheiterter Ehe zu tun hatte. Doch sicher war sie nicht, denn sobald die Sprache auf Männer kam, verschloß sich Grace wie eine Auster. „Also das wäre eine Hundsgemeinheit!“ bemerkte Eliza hitzig. „Woher hätten wir denn wissen sollen, daß dieser Tölpel auf dem Dach unser Arbeitgeber ist?“ Carrie hob beschwichtigend die Hände und bemühte sich, gelassen zu bleiben. „Ihr könnt euch beruhigen, wir bleiben im Geschäft. Einen Haken hat die Sache allerdings“, fügte sie rasch hinzu, als Eliza und Grace in Triumphgeschrei ausbrachen. „Ben Gilmour besteht darauf, mit seinem Freund James zu uns herauszuziehen und hier zu wohnen. Angeblich kämen wir nicht ohne männlichen Schutz aus. Nur unter dieser Bedingung war er bereit, seine Unterschrift unter den Kontrakt zu setzen. Was hätte ich tun sollen? Ich war gezwungen, darauf einzugehen.“ „Männlichen Schutz? Ich höre wohl nicht richtig?“ „Warum denn das auf einmal?“ So gut es ging, schilderte Carrie, wie Ben ihr die Situation auf der Insel beschrieben hatte. Die Geschichte klang nicht sehr glaubwürdig. Seine und seines Freundes Anwesenheit im ReveilleRiffClub würde sich früher oder später bestimmt als überflüssig erweisen. Davon war Carrie fest überzeugt. Eliza hingegen war von der Aussicht, männliche Gesellschaft in dieser paradiesischen Umgebung zu bekommen, hellauf begeistert. Im Gegensatz zu Grace, die das Gesicht verzog und absolut nicht davon angetan war. Carrie war völlig einer Meinung mit ihr. „Das werden Sie noch bedauern!“ hatte sie aufgetrumpft, als Ben sich nicht von seinem Entschluß abbringen ließ. „Eine Baustelle ist kein Tummelplatz für einen Playboy wie Sie und Ihresgleichen. Sie werden uns nur überall im Wege stehen. Haben Sie denn nichts anderes zu tun? Müssen Sie nicht jeden Morgen in irgendein Büro gehen und dort Geld verdienen?“ Das war der Moment, wo Ben ihr verriet, daß er professioneller Surfer war. Carrie glaubte, sich verhört zu haben. Sie mußte sich beherrschen, um nicht laut zu lachen. Ausgerechnet ein Surfer, jemand, der nichts anderes tat, als sich den ganzen Tag mit einem schmalen Brett unter den Füßen auf dem Wasser zu vergnügen, ausgerechnet ein solcher Mann sollte über Gedeih und Verderb von Cossini Constructions entscheiden dürfen? Das war nicht nur ungerecht, das war einfach lachhaft! „Wieso hat man gerade Ihnen diese Aufgabe übertragen?“ Ihre Stimme bebte vor Entrüstung. Benjamin hatte Carrie genau beobachtet und ahnte, was in ihr vorging. Sie sah in ihm einen Playboy, der nur sein Vergnügen kannte und vom Wohlstand der Familie lebte. Ihr verächtlicher Blick machte ihn betroffen. Eliza und Grace staunten auch, als Carrie es ihnen erzählte. „Ist das zu fassen! Ein echter Playboy in Lebensgröße?! Wenn ich das zu Hause erzähle.“ Elizas Augen blitzten. „Ob er noch zu haben ist, Carrie? Und dieser Freund… ob der auch so reich ist?“ Carrie war verärgert. „Wer kennt sich schon aus bei Menschen seinesgleichen? Wahrscheinlich haben er und seine Freunde einen ganzen Harem. Das hat uns absolut nicht zu kümmern. Wir sind nicht hier, um das Liebesleben der oberen Zehntausend zu studieren. Wir haben einen Auftrag auszuführen und einen Vertrag einzuhalten. Wenn dieser Mr. Gilmour mit seinem Freund hierherzieht, wird das ohnehin nicht leicht werden. Bis heute nachmittag sollen wir ihm jedenfalls eine komplette Liste von allem,
was wir noch benötigen, aufstellen. Außerdem müssen wir uns einmal überlegen, wo wir die beiden Herren unterbringen. Mit anderen Worten, wir müssen uns beeilen. Ich habe ,Seiner Hoheit' versprochen, ihn um sechs Uhr abzuholen.“ Es bereitete Carrie kein Kopfzerbrechen, wo Ben und sein Freund schlafen sollten. Genügend Räume waren vorhanden. Aber daß Ben sich in ihrer unmittelbaren Nähe aufhalten würde, das wollte ihr gar nicht gefallen. Grace fand schließlich eine Lösung. „Ich will mit zwei wildfremden Männern nicht unter einem Dach hausen“, erklärte sie rundheraus. „Was haltet ihr davon, wenn wir einen der Bungalows für unsere Playboys herrichten?“ Unter einer riesigen Kokospalme entdeckten sie eine kleine Hütte, die eher aussah wie ein Schuhkarton. Eine passende Bleibe für einen steinreichen Bauunternehmer und seinen Gast war sie jedenfalls nicht. Wohin man auch blickte, alles sah alt, verrottet und schäbig aus. Der Gedanke, Benjamin Gilmour in dieser scheußlichen Behausung unterzubringen, erfüllte Carrie mit unvorstellbarer Freude. In den nächsten Stunden beschäftigten sich die drei Freundinnen emsig damit, wenigstens Wasser anzuschließen und eine Stromleitung zu verlegen. „Es ist heiß und stickig hier.“ Eliza wischte sich über die Stirn. „Morgen schlage ich ein zweites Fenster in die Rückwand des Hauses. Du könntest Fliegendraht mitbringen, Carrie, sobald du in die Stadt fährst. Dann bekäme man etwas Durchzug, und es wäre vielleicht drinnen erträglicher.“ Sie wies auf den abgetretenen Fußbodenbelag und die Spinnweben an den Wänden. „Wann sollen wir das denn putzen? Es ist schon gleich sechs Uhr.“ Carrie und Grace fuhren empört hoch. „Putzen? Wir? Wenn die Herren unbedingt hier wohnen wollen, dann sollen sie gefälligst für sich selber sorgen. Sie werden waschen, kochen und auch selbst saubermachen, Eliza, damit du klar siehst. Wehe, du rührst auch nur einen Finger für sie.“
3. KAPITEL Es war fast halb sieben, als Carrie mit Eliza im Jeep vor Ben Gilmours Haus anhielt. Im Vorgarten blühten tropische Pflanzen in üppiger Fülle. Auf der mit ziegelroten Fliesen ausgelegten Terrasse standen riesige Blumenkübel, in denen Sträucher mit Blüten in den unterschiedlichsten Farben wuchsen. Inmitten dieser leuchtenden, duftenden Pracht ruhte Ben in einem Liegestuhl aus Rattan. Trotz der Krücken und des Gipsverbandes wirkte er entspannt und gelöst. Beim Anblick seiner athletischen Gestalt und der knappen, enganliegenden Shorts hatte Carrie Mühe, ihn nicht allzusehr anzustarren. Ben begrüßte Eliza nur kurz, dann ruhte sein Blick wieder auf Carrie, als habe er nur auf sie allein gewartet. „Wollen Sie etwa diesen ganzen Kram mitnehmen?“ Carrie zeigte auf eine beträchtliche Anzahl Kisten. Offenbar hatte Ben den ganzen Nachmittag gepackt. Wird nicht so einfach gewesen sein mit den Krücken, dachte Carrie und blickte verstohlen zu Ben hin. Feine, scharfe Linien um Mund und Augen sagten ihr, daß er wahrscheinlich unter Schmerzen litt. Sie spürte plötzlich so etwas wie Mitleid mit ihm, wenn sie an die Unterkunft dachte, die auf ihn wartete. Aber er hatte es ja nicht anders gewollt. Außerdem würde er vermutlich nur einen Blick in die Hütte werfen und schleunigst kehrtmachen, um dorthin zurückzuflüchten, wo ihn eine gepflegte Umgebung erwartete. Dies hier war seine Welt: Springbrunnen, exotische Blüten, Kühle und Komfort. Früchte und Eis, wann immer man danach verlangte, zuvorkommendes Personal, das einem jeden Wunsch von den Augen ablas… „Dann faß mit an, Eliza. Sonst wird es Nacht, ehe wir wieder bei Grace sind.“ Ben hob den Kopf. Als er erfuhr, daß sie Grace allein zurückgelassen hatten, wurde er regelrecht wütend. „Du meine Güte, Ben! Grace ist kein Kind mehr. Außerdem sind wir bereits seit zwei Tagen hier, und wir haben bis jetzt keinen einzigen Menschen – Sie ausgenommen – zu Gesicht bekommen.“ „Ab sofort wird keine – hören Sie? – keine von Ihnen mehr allein bleiben, egal, ob es Tag ist oder Nacht.“ Dieser Befehl war ernst gemeint, und Carrie zog es vor, nicht zu widersprechen. „Wir setzen Eliza bei Grace ab. James wird erst später kommen. Carrie, wir beide fahren dann weiter. Die Verabredung zum Essen gilt doch noch?“ Eliza sah Carrie vielsagend an, und die wurde rot. Es hörte sich ja gerade so an, als ob sie und Ben ein Rendezvous hätten. Sie atmete daher erleichtert auf, als die Fahrt beendet war und sie den Jeep vor der notdürftig instandgesetzten Hütte zum Halten brachte. Wenn Benjamin Gilmour über die ihm zugedachte Behausung entsetzt war, ließ er es sich das jedenfalls nicht anmerken. Er sah sich nur einmal kurz um. Dann wies er auf eine Stelle, wo die Kisten abgestellt werden sollten. „James besucht im Augenblick drüben auf Hawaii Bekannte aus seiner Heimat. Er stammt nämlich aus Australien. Ich habe ihn angerufen und erklärt, wo wir zu finden sind. Er kennt sich hier aus. Wir beide surfen oft vor dieser Küste. Morgen kann er dann den ganzen Plunder auspacken.“ James, dachte Carrie. Noch einer von dieser Sorte. Vermutlich hat auch er noch nie einen Finger gekrümmt, um sich sein Brot zu verdienen. Seltsam. Sie schüttelte mißbilligend den Kopf. Nüchtern betrachtet mißfielen ihr solche Müßiggänger wie Ben und James. Andererseits fühlte sie sich aber zu Benjamin Gilmour hingezogen. In seiner Gegenwart wurde ihr abwechselnd kalt und heiß. Er besaß eine faszinierende Ausstrahlung. Es gab zwar keine logische
Erklärung dafür, aber bei Carrie reagierte jeder Nerv augenblicklich, sobald Ben in ihre Nähe kam. Er weckte ein bis dahin unbekanntes sexuelles Verlangen in ihr. Das vor allem irritierte Carrie. Es machte sie nervös und ärgerte sie maßlos. Doch es half nichts, sie war diesen Gefühlen gegenüber einfach machtlos. Das Restaurant, welches Ben ausgesucht hatte, lag im Zentrum von Haleiwa. Carrie hoffte im stillen, das Essen mit Ben Gilmour würde nicht allzu kostspielig für sie werden. Bestimmt erinnerte er sich an ihre Einladung. Eine Dreimannkapelle spielte im Hintergrund lateinamerikanische Rhythmen. Die Kerzen auf den Tischen mit ihrem flackernden Licht gaben dem Raum eine intime, romantische Atmosphäre. Durch die offenen Verandatüren strömten die Düfte der lauen Tropennacht herein. Carrie spürte, wie ihre innere Unruhe nachließ. Entspannt lehnte sie sich zurück und trank eisgekühlten Ananassaft. „Erst wird gegessen“, hatte Ben gesagt, als sie ihre Unterlagen vor ihm ausbreiten wollte. „Über das Geschäftliche reden wir später. Mit leerem Magen verhandle ich nicht gern.“ Carrie betrachtete die Menschen ringsum. Ihr Leben war bisher ziemlich ereignislos verlaufen. Wenn sie es recht bedachte, hatte sie noch nie richtig Ferien gemacht. Die fröhlichen jungen Leute, die hier saßen, waren so sorglos und unbeschwert, als wäre das ganze Leben ein einziger Urlaub. Hör auf zu träumen, Carrie, sagte sie sich. Das kannst du dir nicht leisten. Du verschwendest nur Zeit, und Zeit ist Geld. Du hast eine Firma, die vor dem Bankrott steht. Vergiß das nicht! Auch Ben hatte sich zurückgelehnt. Sein Blick ruhte nachdenklich auf Carrie. Der Kerzenschein zauberte Lichtreflexe auf ihr Haar, und der verträumte Ausdruck ihrer Augen war ihm nicht entgangen. Er bemerkte aber auch, wie rasch dieser wieder verschwand. Plötzlich hatte Ben das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und dieses ernste Mädchengesicht zu streicheln. In diesem Moment brachten die Kellner das Essen, und während der nächsten halben Stunde verzehrten sie mit großem Appetit die köstlichen Gerichte, die auf phantasievoll dekorierten Platten serviert wurden. „Ihr Reichen versteht zu leben“, seufzte Carrie. Dann wurde sie verlegen. Diese Bemerkung hätte sie sich wahrhaftig sparen können. Ben unterdrückte die Antwort, die ihm auf der Zunge lang, und versuchte eine neue Taktik. „Hören Sie, Carrie, wollen wir nicht Du zueinander sagen und Freunde sein? Ich möchte gern mehr über dich erfahren.“ Lügen, dachte er dabei im stillen, nichts als Lügen. Ich will viel mehr. Meine Absichten sind längst nicht so harmlos, wie ich es darstelle. Schlafen will ich mit dir, dich in den Armen halten und jeden Zentimeter deines Körpers liebkosen. Der Gedanke erregte ihn. „Ich habe seit unserer ersten Begegnung das Gefühl, du magst mich nicht besonders. Warum, Carrie? Ist es etwa meine Schuld, daß ich in eine wohlhabende Familie hineingeboren wurde? Was weißt du schon von mir!“ „Erzähl mir doch etwas.“ „Ich bin von vier Brüdern der jüngste. Zwischen Ralph, dem dritten, und mir liegen neun Jahre Altersunterschied. Während ich also noch in den Kinderschuhen steckte, waren meine Brüder bereits emsig bemüht, unser Vermögen zu vergrößern. Und weil ich der Meinung bin, ein Bankier, ein Jurist und ein Wirtschaftsberater genügen vollauf für unsere Familie, studierte ich Ackerbau und Viehzucht. Ich fiel damit zwar völlig aus dem Rahmen, aber die Agrarwirtschaft, besonders hier auf den Inseln, hat mich von jeher interessiert. Die Sache hat nur einen Haken: Du kannst nicht aus einer reichen Familie
stammen und gleichzeitig Farmer sein. Das ist wenigstens hier auf Hawaii undenkbar. Außerdem – die Triebkraft für all unser Handeln ist das Bedürfnis. Sag selbst, Carrie, besteht für mich ein Bedürfnis, meinen eigenen Kohl anzupflanzen? Es gibt nichts, absolut nichts, was ich nicht bekommen könnte. Gäbe es etwas, wüßte ich etwas, dann hätte ich einen Grund, hätte ein Ziel…“ Er kann einem direkt leid tun, der arme reiche Mann, wie er dort sitzt und trübsinnig in sein Glas schaut! Fast war Carrie versucht, ihn zu trösten. „Und solange du kein Ziel hast, tust du einfach gar nichts? Bist du denn nie in deinem Leben einer geregelten Tätigkeit nachgegangen?“ Ben nickte. „Doch. Ich war in Kanada und habe geholfen, Waldbrände zu bekämpfen. Ich arbeitete monatelang auf einem Fischkutter vor der schwedischen Küste. Eine Zeitlang war ich auch auf einer Schaffarm in Australien beschäftigt.“ „Und im Augenblick bist du ein As auf dem Surfbrett?“ „Stimmt. Solange es mich fasziniert.“ Carrie hatte einen faden Geschmack auf der Zunge. Ben bestätigte gerade das, was sie befürchtet hatte. Überall hatte er nur einmal hineingerochen. Sobald etwas in Arbeit ausartete, hatte er die Lust verloren, sein Bündel geschnürt, um etwas anderes zu versuchen. Solange es ihn faszinierte. Ihr Leben dagegen verlief in völlig anderen Bahnen. Bei Ben geschah alles aus einer momentanen Laune heraus. Sie hingegen nahm das Leben, vor allem aber die Arbeit, ernst. Sie hatte Verantwortungsbewußtsein. Bei ihr war alles von Dauer. Das war der entscheidende Unterschied zwischen ihnen. Entschlossen griff Carrie nach den Unterlagen für das Projekt, breitete sie vor Ben aus und zwang ihn, sich damit zu befassen. Schließlich war das der Grund, weshalb sie ihn zu diesem Essen eingeladen hatte. Carrie und Ben besprachen die Restaurierung des Reveille Riff Clubs in allen Einzelheiten, stellten Kalkulationen auf und verwarfen sie wieder. Nach etwa einer Stunde waren sie zu einer Einigung gekommen. Carrie erhob sich und entschuldigte sich. Draußen winkte sie den Oberkellner herbei und beglich die enorm hohe Rechnung mit ihrer Kreditkarte. Dann kehrte sie an den Tisch zurück. „Ich schlage vor, wir fahren jetzt zurück.“ Ben wollte den Kellner herbeirufen. „Ich habe die Rechnung bereits bezahlt. Wir können sofort aufbrechen.“ Ben verzog unwillig die Stirn, sagte jedoch nichts, sondern polterte nur ärgerlich mit seinen Krücken hinter Carrie her aus dem Restaurant. Vor der Tür blieb er stehen und fuhr sie zornig an: „Mach das nicht noch einmal, Carrie, hörst du? Wenn ich mit einer Dame essen gehe, dann zahle ich, hast du verstanden? Ich bin doch kein Gigolo.“ „Was heißt hier, Gigolo? Diese Einladung war meine Idee. Sie war rein geschäftlicher Natur. Ich dachte, wir wären uns beide heute vormittag darüber einig gewesen, daß dieses Essen auf meine Kosten geht.“ Ben schwang sich auf den Beifahrersitz und warf die Krücken neben sich auf den Boden des Jeeps. Bevor Carrie Zeit fand, den Zündschlüssel umzudrehen und den Wagen zu starten, hatte er ihr den Arm um die Schultern gelegt. Er umfaßte ihre Taille, und so drückte er sie gegen den Sitz. Carrie versuchte, sich aus Bens Umklammerung zu befreien, doch er ließ nicht locker. „Du hast für mein Abendessen bezahlt. Nun bin ich dir etwas schuldig. Ich weiß, was von einem Gigolo erwartet wird. Gut also! Ich werde mich erkenntlich zeigen. Ich werde dich lieben. Das willst du doch?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff er in ihr Haar, bog ihren Kopf zurück und
küßte sie. Unter dem Druck seiner Lippen gaben Carries nach und öffneten sich. Mit der Zunge fuhr er ihr daraufhin voller Leidenschaft über die weichen Innenseiten. Mit Carrie geschah etwas Seltsames. Sie machte keinerlei Anstalten mehr, diesem Kuß auszuweichen. Trotz seiner Rauhheit wurde ihr heiß vor Verlangen. Als Ben ihr nun auch noch über Brüste und Hüften strich, spürte sie eine wilde Lust, sich ihm hinzugeben. Instinktiv strich sie ihm über den Rücken. Sie fühlte das Spiel seiner Muskeln unter ihren Händen. Wie seine Haut glühte. Es war erregend, ihn zu berühren. Carrie drängte sich enger an ihn. Immer wieder berührte Ben mit den Lippen ihren Hals, ihre Brüste und ihr Gesicht. Seine Liebkosungen jagten Carrie Wonneschauer über den Leib. Zitternd vor Begierde lag sie in seinen Armen und hörte nicht, daß sie leise stöhnte. Ben spürte, daß Carries Herz wie rasend schlug. Jede Bewegung sagte ihm, daß er ihre Sinnlichkeit geweckt hatte. Sie begehrte ihn jetzt ebenso sehr wie er sie. Sein Verlangen stieg. Er wollte sie lieben. Jetzt. Hier. Auf der Stelle. Der schmerzende Fuß ernüchterte ihn aber. Der Steuerknüppel des Jeeps erwies sich außerdem als störendes Hindernis. Widerwillig löste Ben sich aus der Umarmung. Er atmete schwer. „Morgen tausche ich diesen verflixten Jeep gegen einen Wagen mit altmodischen, aber bequemen Vordersitzen, bei denen uns kein Steuerknüppel in die Quere kommt,“ schimpfte er. Die Nachtluft strich kühlend über Carries erhitztes Gesicht. Bens Arm ruhte noch immer auf ihren Schultern. Allmählich klang ihre Erregung ab. Was mache ich nur, dachte Carrie und schüttelte den Kopf. Wenn es einen Mann gibt, der ganz und gar nicht zu mir paßt, dann ist es Benjamin Gilmour. Weshalb reagiere ich nur so leidenschaftlich auf ihn? Ärgerlich startete sie den Jeep. Mit kreischenden Reifen schoß das Auto davon. Ben griff haltsuchend um sich. Er blickte Carrie verwundert an, sagte jedoch nichts. Schweigend fuhren sie zum Reveille Riff Club. Grace und Eliza kamen Carrie und Ben bei ihrer Ankunft entgegengelaufen. Sie schienen über irgend etwas erregt zu sein. Elizas Stimme klang laut und schrill. „Wir saßen ganz ruhig im Haus und unterhielten uns mit James. Plötzlich flog ein dicker Steinbrocken dicht an unseren Köpfen vorbei durch das Fenster. Er war in ein Stück Papier gewickelt. James sprang gleich auf und lief hinaus. Seitdem ist er noch nicht wieder zurück. Wir machen uns Sorgen und wollten gerade die Polizei alarmieren, als wir euch kommen hörten. Was sollen wir nur tun, Ben?“ Carrie sah ihre beiden Freundinnen ungläubig an. Sie war sprachlos. Die Frage, wer wohl den Stein geworfen haben könnte, verlor an Bedeutung angesichts der Tatsache, daß sich Grace und Eliza an Ben wandten und nicht an sie, Carrie Cossini. Immerhin war sie ihre Chefin. „Grace! Eliza! Lauft zum Dorfplatz. Von dort könnt ihr die Polizei anrufen. In welche Richtung ist dieser James gelaufen? Habt ihr das gesehen?“ Carries Stimme klang gereizt. Noch gab es keinen Telefonanschluß auf der Baustelle, und das fehlte gerade noch, daß Bens teurer Freund irgendwo verletzt im Busch lag. „Hier geht niemand irgendwohin. Es ist stockfinster und außerdem ohnehin alles geschlossen. Wie ich James kenne, wird er jeden Augenblick wieder auftauchen. Wir warten besser, bis er zurück ist.“ Ben sprach ruhig, aber bestimmt. Er ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß man gut daran tat, seinen Anordnungen zu folgen. Carrie wollte gerade etwas erwidern, als eine tiefe Männerstimme hinter ihnen sagte: „Der Kerl ist mir leider entwischt, Ben. Ich habe ihn bis hinunter zur Bucht verfolgt. Doch dann war er plötzlich verschwunden, als habe ihn die Nacht
verschluckt. Ich glaube, es war nur einer, und jetzt kommt die Flut. Wir werden keine Fußspuren mehr finden.“ Ein Schatten löste sich aus dem Dunkel, und Carrie hielt die Luft an. James Crawford war mindestens noch einen Kopf größer als Benjamin Gilmour, und er war ebenfalls muskulös und gut gebaut. Kein Wunder, daß ihm seine Freunde den Spitznamen „Kleiderschrank“ gegeben hatten. Wehe dem, der sich James Crawfords Feindschaft zuzog. Carrie war fast froh, daß er den Übeltäter nicht gefangen hatte. James sagte, er habe die Polizei bereits verständigt, und während sie alle zusammen ins Haupthaus gingen, informierte er Ben kurz über die Einzelheiten. Im Zimmer lagen überall Glasscherben. Carrie betrachtete schaudernd den schweren Stein. Wenn nun jemand getroffen worden wäre? Sie mußte zugeben, daß ihr die Anwesenheit der beiden Männer jetzt nicht mehr so unangenehm war. „Grace Thompson und Eliza Blake hast du ja inzwischen kennengelernt“, wandte sich Ben nun an James. „Dies hier ist Carrie Cossini. Ihr gehört die Firma, die die Umbauten vornimmt. Carrie, das ist mein Freund James Crawford.“ Im Licht wirkte Bens Freund längst nicht mehr so forsch und wild wie eben draußen im Dunkeln. Er sah eher gutmütig aus, vielleicht auch ein wenig schüchtern. Sein Haar war blond, die Haut war von Sonne und Wind braun gebrannt, und seine Augen waren so blau wie der Himmel über Hawaii. James Crawford war von Kopf bis Fuß eine äußerst attraktive Erscheinung. Carrie lächelte ihn an und reichte ihm die Hand. Sie bedauerte, daß Benjamin Gilmour der Bauherr war und nicht James Crawford. Mit ihm wäre sie ohne Zweifel besser fertig geworden. Ben bemerkte verdrießlich, daß James Carries Hand reichlich lange in seiner riesigen Pranke festhielt und den Blick nicht von ihr lassen konnte. Er wollte gerade etwas Anzügliches sagen, als draußen ein Polizeiwagen hielt. Kimo Nakanani, der Chef der Polizei von Haleiwa, duckte sich tief, um mit dem Kopf nicht an den Türpfosten zu stoßen. Als er sich aufrichtete und auf die Anwesenden von seiner imponierenden Höhe von fast zwei Metern herabsah, glich er einem der legendären Könige, die in grauer Vorzeit die Inseln beherrscht hatten. Stolz und aufrecht stand er vor ihnen. Seine Haut war dunkel, fast schwarz. Er hatte sehr ausdrucksvolle Augen und trug einen kurzgestutzten Bart. Das Haar war kraus und glänzte im Schein der Lampe, unter der er stand. Wenn er den Mund öffnete, sah man schneeweiße Zähne hervorblitzen. Du meine Güte, dachte Carrie, wenn ich nur einen Dollar bekäme, für jeden Zentimeter männlicher Schönheit in diesem Raum, ich wäre mit einem Schlag all meine finanziellen Sorgen los. Ben übernahm es, den Polizeichef von Haleiwa vorzustellen. Er und Kimo Nakanani schienen befreundet zu sein. Carrie blickte zu Eliza und Grace hinüber. Was mochte in den beiden Freundinnen vorgehen? Elizas Gesichtsausdruck verriet, daß sie wohl ähnliche Gedanken hegte wie Carrie. Grace jedoch hatte ihnen den Rücken zugedreht. Sie war eifrig damit beschäftigt, einen Kessel mit Wasser zu füllen, um Kaffee zu kochen. Manchmal fragte sich Carrie, warum Grace sich so sonderbar benahm, sobald ein Mann auftauchte. Schließlich hätte sie von Kimo wenigstens Notiz nehmen können. „Bitte, nennen Sie mich nicht Mr. Nakanani“, hörte sie den Chef der Polizei gerade sagen. „Kimo genügt völlig. Auf Hawaii halten wir uns nicht mit Förmlichkeiten auf.“ Anschließend ließ er sich von Eliza und James noch einmal genau den Hergang berichten, wobei er aufmerksam das Stück Papier untersuchte, in welches der Stein eingewickelt gewesen war. In ungelenken
Buchstaben hatte jemand darauf geschrieben: BETRETEN VERBOTEN. „Der Täter hat eine merkwürdige Art von Humor“, murmelte Kimo und ging mit Ben und James hinaus, um sich draußen nach etwaigen Spuren umzusehen. „Was ist nun?“ fragte Carrie ungeduldig, als die Männer nach einiger Zeit zurückkehrten. „Haben Sie eine Ahnung, wer es getan haben könnte?“ „Ich könnte jetzt so geheimnisvoll tun wie Sherlock Holmes, aber ich gebe ehrlich zu, ich bin genauso schlau wie vorher. Ben hat mir schon früher über einige Fälle von Zerstörungswut berichtet, und wir sind jedem einzelnen Fall nachgegangen. Bisher leider ohne jeden Erfolg. Es gibt einfach kein Motiv. Dies bringt uns auch nicht weiter.“ Kimo blickte nachdenklich auf den zerknüllten Fetzen Papier in seiner Hand. Er gab es nur ungern zu, daß er mit seiner Arbeit nicht weiterkam. „Wir haben allerdings ein paar wilde Burschen in der Stadt. Sie sind arbeitslos und vertreiben sich die Zeit damit, allerlei Schäden anzurichten. Aber diese Leute arbeiten in organisierten Banden. Hier sieht es eher nach dem Werk eines Einzelgängers aus. Niemand hat heute nacht ein Auto gehört, und ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand zu Fuß in diese verlassene Gegend kommt, bloß um ein Fenster einzuwerfen. Spuren waren auch nicht mehr vorhanden. Die Flut hat alles weggespült. Bestimmt steckt ein Motiv hinter allem. Ich frage mich nur, welches es ist.“ Kimo sah, während er sprach, öfter zu Grace hinüber. Sie hatte sich etwas abseits in eine Ecke gesetzt und trank vorsichtig ihren heißen Kaffee in kleinen Schlucken. Seit Kimo Nakananis Ankunft hatte sie noch keine zwei Worte gesprochen. Möglich, daß es dem Polizeichef aufgefallen war. Jedenfalls wandte er sich diesmal direkt an Grace. „Miss Thompson… oder sollte ich ,Mrs. Thompson' sagen?“ Verwundert bemerkte Carrie, daß Grace bis unter die Haarwurzeln errötete. „Es muß ,Mrs. Thompson' heißen“, erwiderte sie so leise, daß man sie kaum verstehen konnte. Kimo schien enttäuscht, doch da setzte Grace flüsternd hinzu: „Ich bin geschieden.“ Bildete Carrie sich das nur ein, oder atmete Kimo wirklich erleichtert auf? „Sie drei leben vollkommen allein hier draußen?“ Seine Stimme klang weich, während er Grace unverwandt betrachtete. Die junge Frau erklärte in wenigen Worten, welchen Auftrag Cossini Constructions übernommen hatte und fügte hinzu, daß Ben und James einen der Bungalows bewohnten. „Oh, das ist gut! Sonst hätte ich zwei meiner Männer zu Ihrem Schutz herausgeschickt.“ Carrie verzog keine Miene. Sie war inzwischen selber recht froh über die Anwesenheit von Ben und James. „Ich werde jetzt zurückfahren. Aber morgen früh komme ich wieder. Ich möchte sichergehen, daß wir in der Dunkelheit nichts übersehen haben.“ Kimos Blick suchte Grace', während er sich verabschiedete, aber sie betrachtete nur intensiv ihre Hände und hob nicht einmal den Kopf, als er Gute Nacht sagte. Carrie schlug die Augen auf. Draußen vor den Fenstern verblaßte die Nacht. Die zerschlissenen Chintzvorhänge bewegten sich leise im Morgenwind. Sie blinzelte schlaftrunken und lauschte. Irgendein ungewöhnliches Geräusch hatte sie geweckt. Es hörte sich an, als blase jemand in weiter Ferne auf einem Horn. Oder sollte sie nur geträumt haben? Doch nein! Sie hörte es wieder. Deutlicher als beim erstenmal drang der Klang eines Waldhorns an Carries Ohr. Sie kannte die Melodie, doch nie zuvor hatte sie das Lied so klar und rein spielen gehört. Die leisen, zärtlichen Töne berührten
sie. Sie blieb regungslos auf dem Bett liegen, bis das Lied verklungen war. Carrie setzte sich auf, aber so angestrengt sie auch lauschte, jetzt waren nur noch die schon bekannten Geräusche der Brandung und der erwachenden Vogelwelt zu vernehmen. Reveille! Jetzt fiel es ihr wieder ein. Reveille, so hieß die Melodie. Aber woher mochten die Klänge kommen? Wer spielte sie so perfekt und gefühlvoll? Carrie sprang aus dem Bett, wusch sich rasch mit kaltem Wasser und schlüpfte in ihren Gymnastikanzug. Um Eliza und Grace nicht zu wecken, schlich sie vorsichtig aus dem Haus. Der Himmel färbte sich allmählich silbrig. Bald würde die Sonne hinter dem Meer aufsteigen. Carrie schüttelte den Kopf. Merkwürdig – niemand war zu sehen. Der Strand lag makellos und unberührt vor der Haustür. Keine Menschenseele weit und breit. Sie hatte eigentlich einen Dauerlauf am Strand entlang machen wollen, aber die Erinnerung an den vergangenen Abend ließ sie zögern. Schließlich ging sie zu einer kleinen Lichtung zwischen Palmen hinüber und begann dort ihre Turnübungen. Benjamin hatte schlecht geschlafen. Das Bett war fremd und unbequem, und der Gipsverband störte ihn maßlos. Beim ersten Morgengrauen stand er daher auf, band sich einen Plastiksack um den Fuß und humpelte unter die provisorisch installierte Dusche. Dann zog er seine Shorts an und trat vor die Tür. Das erste, was er sah, war Carrie. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und übte fleißig Kniebeugen. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ben betrachtete genießerisch ihre langen Beine, die schmalen Hüften und die unwahrscheinlich schlanke Taille. Er mußte plötzlich an gestern abend denken, wie sie sich an ihn geschmiegt, wie sie seine Küsse erwidert hatte. In ihr brannte Leidenschaft, das hatte er gespürt. Ein leichtes Spiel würde er mit Carrie allerdings nicht haben. Aber gerade das machte es für ihn so reizvoll. Seit Jahren war er keiner Frau mehr begegnet, die für ihn eine solche Herausforderung bedeutete. Die meisten, die seinen Weg kreuzten, waren nur allzu willig, sein Bedürfnis nach Sex zu befriedigen. „Was fällt dir ein, Ben Gilmour? Wieso stehst du da und starrst mich an? Kann man denn nicht einmal ungestört und unbeobachtet sein?“ Carrie hatte die Hände auf die Hüften gestützt und sah ihn streitlustig an. Wie lange stand Ben wohl schon dort und sah ihr zu? Ben fühlte sich ertappt. „Nun bilde dir nur nicht zuviel ein, Carrie, und beruhige dich wieder. Ich bewundere lediglich den Sonnenaufgang, nichts weiter.“ Carrie wandte den Kopf und schaute in die Richtung, in die er wies. Sie glaubte ihm nicht so recht, aber am fernen Horizont stieg soeben tatsächlich die Sonne empor und tauchte den schiefergrauen Ozean in ein rotgoldenes Licht. Die silbernen Morgennebel über dem Wasser waren verschwunden. Der neue Tag hatte begonnen. „Hast du heute früh das Waldhorn gehört?“ Ben nickte. „Sicher. Nicht zum erstenmal. Ein paar Kilometer von hier, über den Hügeln, liegt ein militärischer Stützpunkt. Je nachdem wie der Wind weht, trägt er die Töne bis zu uns herüber.“ „Aber es hörte sich so an, als wäre der Bläser gleich hier unten am Riff.“ Die Vorstellung eines einsamen, geheimnisvollen Hornisten im Morgengrauen in der Bucht, gefiel Carrie weitaus besser als der Gedanke an einen militärischen Weckruf. „Spielt es eine Rolle, woher die Musik kommt? Es ist ohnehin ein Tonband. Dem Riff hat es jedenfalls seinen Namen gegeben.“
4. KAPITEL Um halb neun waren die Zimmerleute der Firma Cossini Constructions eifrig am Werk und damit beschäftigt, die ersten Bungalows bis auf das Fundament niederzureißen. Eine gute Stunde später war die Firmenchefin Carrie Cossini mit ihren Nerven fast am Ende. Es fehlte nicht viel, und sie hätte Ben Gilmour mitten auf dem verkehrsreichsten Platz von Honolulu abgesetzt und seinem Schicksal überlassen. Ohne Krücken, versteht sich! Carrie hatte angeordnet, das Haupthaus zunächst so zu belassen, wie es war. Dadurch bewahrten sie sich bis zum Schluß ihre Unterkünfte. Sobald sie mit der Arbeit begannen, folgte ihnen Ben auf Schritt und Tritt. Er stellte Fragen, die bewiesen, daß er vom Bauhandwerk nicht die geringste Ahnung besaß. Er sang und pfiff. Er scherzte und schäkerte mit Eliza und Grace und hielt die Mädchen von der Arbeit ab. Mißbilligend bemerkte Carrie, daß Eliza halb so flink ihr Pensum bewältigte, wie es sonst der Fall war. Kurzum, Ben Gilmour war mehr im Weg als von Nutzen, und er brachte Carrie zur Verzweiflung. „Ben, kannst du nicht auch etwas tun? Nimm dir doch eine Zange und zieh die Nägel aus den Balken.“ Er gab sich augenscheinlich große Mühe, und eine halbe Stunde verging, in der jeder ungestört seiner Beschäftigung nachgehen konnte. Doch Carrie ahnte, daß das nicht von langer Dauer sein würde. „Ist es nicht allmählich Zeit für eine Frühstückspause? Bei der Hitze klebt die Zunge am Gaumen fest. Wir müssen unbedingt etwas trinken, sonst vertrocknen wir.“ Er verstummte, als er Carries wütenden Blick sah. Doch es verging keine Viertelstunde, da legte Ben die Zange aus der Hand. „Carrie, ich verstehe durchaus, daß diese alten Schuppen abgerissen werden müssen, aber wäre es nicht besser…“ Carrie war mit ihrer Geduld am Ende. Verzweifelt ließ sie den Hammer fallen. „Weiß eigentlich niemand, wo dieser James steckt? Warum kümmert er sich nicht um dich, Ben? Wir müssen mit unserer Arbeit weiterkommen, und du hältst uns auf.“ „James? Der ist schon vor Tagesanbruch rüber zum Sunset Beach zum Surfen. Früh am Morgen ist der Wellengang geradezu ideal.“ Ben blickte sehnsüchtig auf die See hinaus. „Aber ich verspreche hoch und heilig, ich werde euch nicht mehr stören. Großes Ehrenwort!“ Zehn Minuten herrschte Ruhe. „Warum fahren wir nicht kurz zum Lunch in die Stadt? Ich komme um vor Hunger, und bei dieser Hitze kann kein Mensch arbeiten. Bitte, Carrie, laß uns fahren. Ich lade euch alle ein…“ Es war hoffnungslos. Carrie band daher ihre Lederschürze ab und warf sie achtlos in eine Ecke. „Also gut, Ben! Du hast gewonnen. Aber sobald wir zurück sind, legst du dich hin und ruhst dich aus. Nun steigt schon endlich ein.“ Ben dirigierte sie zu Rosies Kantine, einem gemütlichen Lokal, das berühmt war für seine ausgezeichnete Pizza. Sie hatten kaum auf der Terrasse Platz genommen, als ein Polizeiauto vorfuhr, Kimo saß hinter dem Lenkrad. Er winkte ihnen zu. „Komm zu uns, Kimo“, rief Ben ihm entgegen. „Sonst fühle ich mich bei soviel Weiblichkeit unterlegen.“ Kimo ließ sich nicht lange bitten. Bald saß Carrie eingeklemmt zwischen der Wand und Ben. Kimo teilte die schmale Bank gegenüber mit Grace. Eliza saß am Kopfende und erntete feurige Blicke von dem Kellner, der sie bediente.
Ohne zu fragen, bestellte Ben für jeden der Anwesenden eine Pizza und ein
großes Glas Bier. Carrie wollte erst protestieren, aber dann ließ sie es doch sein.
Es war wirklich ungewöhnlich heiß heute, und das Bier kühl und erfrischend.
Nach dem zweiten Glas Bier gab Grace ihren Versuch auf, mit zehn Zentimetern
Sitzfläche auszukommen, um jede Berührung mit Kimo zu vermeiden. Sie
lächelte ihn sogar einmal sehr herzlich an.
Eliza hielt die Unterhaltung in Gang. „Sind Sie hier geboren, Kimo?“
„Ja, Eliza. Ich bin ein waschechter Hawaiianer. Als ich ein kleiner Junge war,
lebte mein Urgroßvater noch. Ich erinnere mich, daß er mir viele Geschichten
erzählte. Ich konnte nie genug bekommen. Stundenlang lauschte ich, wenn er
von unseren Vorfahren berichtete, die in Kanus von Polynesien aus hierher
gesegelt waren.“
Grace hatte sich bis dahin kaum am Gespräch beteiligt und hob plötzlich
interessiert den Kopf. In ihrer Stimme lag Begeisterung, als sie sagte: „Ich habe
darüber gelesen. Die Polynesier, die sich auf den Inseln von Hawaii niederließen,
legten weit über fünftausend Seemeilen mit ihren Kanus zurück. Nur die Sterne
wiesen ihnen den Weg. Das geschah siebenhundert Jahre, bevor James Cook
seine Entdeckungsreisen in die Südsee unternahm.“
Kimo hatte Grace sein Gesicht zugewandt und ihr aufmerksam zugehört. Sein
Blick ruhte nun zärtlich auf ihr. „Es gibt nicht sehr viel Menschen, die sich die
Mühe machen, unsere Geschichte nachzulesen. Wenn es Sie interessiert, leihe
ich Ihnen gern ein paar Bücher.“
Carrie drängte zum Aufbruch. Das Essen hatte länger gedauert als beabsichtigt.
„Warum begleitest du mich nicht auf meiner Patrouillenfahrt, Ben? Ich will den
Campingplätzen einen Besuch abstatten.“
„Ich weiß nicht recht, Kimo…“ Ben zögerte. „Sollte ich nicht besser zum Riff
zurückkehren und die Bauarbeiten beaufsichtigen?“ Carrie warf ihm einen
vernichtenden Blick zu, lachend nahm Ben daraufhin Kimos Einladung an.
„Ich hatte ohnehin vor, zuerst zum Riff zu fahren und nachzusehen, ob James
schon dort ist.“
Nun hatte es sich sogar der Chef der hiesigen Polizei selbst zur Aufgabe gemacht,
über das Team von Cossini Constructions zu wachen! Daß Kimo dafür einen ganz
persönlichen Grund hatte, war unschwer zu erkennen.
Als sie sich am Abend wieder alle im Haupthaus zusammenfanden, meinte Kimo,
es sei an der Zeit, auch etwas über die drei Freundinnen zu erfahren. „Haben Sie
jemals etwas von einer Stadt namens Bellingharn gehört?“ fragte Eliza. „Es ist
eine Kleinstadt, sie liegt nicht weit von der kanadischen Grenze entfernt. Wir sind
alle drei dort zu Hause. Carrie und ich sind gleichaltrig, Grace ist drei Jahre älter.
Das stimmt doch, Grace, nicht wahr?“
Carrie verdrehte die Augen. Typisch Liza, dachte sie. Wenn man nicht aufpaßt,
verrät sie noch, ob eine von uns nackt schläft.
Sie wollte dem Gespräch eine andere Wendung geben, doch Ben kam ihr zuvor.
„Sagtest du nicht, du wolltest noch einen Mann einstellen? Ich wüßte nämlich
jemanden, Carrie. Nein, keine Angst, ich meinte nicht mich“, lachte er, als er
Carries entsetzten Gesichtsausdruck sah. „James hat mich gefragt. Er ist an
diesem Job interessiert.“
Alle Blicke wandten sich James zu, und der wurde sichtlich verlegen. „Ich muß
mir einen Job suchen“, erklärte er, „und als Ben erwähnte, daß hier noch jemand
gebraucht wird, dachte ich… Was meinst du, Carrie, komme ich in Frage?“
„Weshalb brauchst du den Job?“
„Weshalb? Komische Frage. Weil ich Geld brauche. Deshalb.“
Carrie war verwirrt. „Ich habe gedacht, Sie… Sind Sie nicht…?“ Sie wußte nicht,
was sie sagen sollte, wurde rot.
Ben amüsierte sich köstlich über ihre Verlegenheit. „Du dachtest, James wäre
auch so ein nichtsnutziger Schmarotzer, der das Geld seiner Eltern verjubelt,
nicht wahr, Carrie? Irrtum, meine Liebe. James arbeitet, um seine Hobbys zu
finanzieren.“
Carrie hatte sich inzwischen wieder gefaßt. „Ich muß Sie darauf aufmerksam
machen, James: Es ist eine schwere Arbeit.“
„Hervorragend. Nichts ist besser, um in Form zu bleiben.“
„Carrie ist ein Sklaventreiber, James“, mischte sich Eliza ein. „Sagen Sie
hinterher nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt.“
„Ich bin nicht ängstlich“, lachte James und ließ zum Spaß seine Muskeln spielen.
„Also gut. Sie können morgen früh anfangen. Pünktlich um halb neun, wenn ich
bitten darf.“
Nach Ablauf einer Woche gratulierte sich Carrie im stillen, daß sie James
eingestellt hatte. Die Bauarbeiten gingen zügig voran. Der erste Bungalow war
bereits fast vollständig restauriert.
James verschwand jeden Morgen, noch ehe die Sonne aufging, um zu surfen.
Pünktlich um halb neun erschien er wieder und arbeitete für drei, bis der Tag sich
neigte.
Nein, Carrie war sehr zufrieden. Die Dinge ließen sich sehr gut an.
Benjamin Gilmour dagegen war völlig anderer Ansicht.
Mit einem Plastikbeutel um den Gipsverband, versuchte er morgens in der Bucht
zu schwimmen. Er verstand es jedesmal so einzurichten, daß er dabei Carrie
beobachten konnte, die am Strand entlanglief und ihre Turnübungen machte.
Diese wenigen Minuten waren die einzigen, in denen er Carrie für sich allein
hatte. Darüber hinaus kam er keinen Schritt weiter.
„Kommst du mit mir in die Stadt? Ich lade dich ein.“
„Tut mir leid, Ben, aber ich gehe niemals in der Woche aus.“
„Möchtest du einmal die Küste entlangsegeln?“
„Tut mir leid, Ben, aber heute müssen wir unbedingt den Fußboden gießen.“
Oh, er verstand sehr gut! Das hieß mit anderen Worten: Tut mir leid, Ben, ich
habe keine Zeit für dich.
Und das war ein harter Schlag für sein Selbstbewußtsein.
Die Anschläge auf den Reveille Riff Club wiederholten sich nicht. Das verdankten
die drei Handwerkerinnen wohl der Anwesenheit von Ben, James und Kimo.
Die Bauarbeiten an den Bungalows gingen zügig voran. Eine Woche verging wie
im Flug. Endlich war auch der dringend erforderliche Telefonanschluß gelegt
worden, und Carrie mußte nicht mehr zum Marktplatz laufen, um Chungs Telefon
zu benutzen, wenn Material benötigt wurde oder mit Lieferanten verhandelt
werden mußte. Das war eine große Erleichterung.
In der darauffolgenden Woche beschloß Carrie, ein Fahrzeug zu kaufen. Ben
stellte ihr zwar den Jeep zur Verfügung, und James bot ihr seinen Landrover an.
Carrie war jedoch der Meinung, ihre Firma müsse ein eigenes Transportmittel
haben. Sie nahm sich daher vor, Donnerstag nachmittag in die Stadt zu fahren
und sich nach einem Gebrauchtwagen umzusehen.
Ben saß auf seinem Bett und grübelte darüber nach, wie er es anstellen könnte,
Carries Aufmerksamkeit mehr auf sich zu lenken. Sie war pausenlos beschäftigt.
Vor Tagesanbruch war sie schon auf den Beinen und gönnte sich keinen
Augenblick Ruhe, bis es zu dunkel wurde, um noch etwas sehen zu können. Ben
mußte einsehen, daß sie nicht gelogen hatte, als sie behauptete, keine Zeit für
ihn zu haben. Doch es gefiel ihm überhaupt nicht.
„Hallo, alter Junge! Wie geht es dir? Was macht der Fuß?“ James mußte sich
jedesmal bücken, wenn er die enge Unterkunft betrat. Ben konnte diese Frage bald nicht mehr hören. „Wie war das Surfen?“ „Phantastisch, Ben! Einfach großartig. Übrigens, die Rothaarige, mit der du ein paarmal auswarst, erkundigte sich nach dir. Ich glaube, Debbie Lou heißt sie. Mann, hat die eine Figur.“ James schnalzte anerkennend mit der Zunge. Ben konnte sich nur vage an Debbie Lous Gesicht erinnern, aber nicht mehr an ihre Figur. Wenn er die Augen schloß, sah er immer nur Carrie vor sich. „Hätte ich Debbie Lou verraten sollen, wo sie dich finden kann, Ben? Ich war mir nicht sicher.“ James blickte sich kritisch um. „Weißt du, dieser Stall dürfte wohl für ein Rendezvous nicht ganz das Richtige sein. Nimm's mir nicht übel, Ben. Mir persönlich macht diese primitive Bude nichts aus. Ich bin Schlimmeres gewöhnt. Aber so ein Klassemädchen hier…?“ James griff nach einem Badetuch und verschwand in Richtung Duschkabine. Ben sah ihm nach. Dann betrachtete er nachdenklich die Hütte. Bis jetzt hatten James und er lediglich ein paar Kleidungsstücke ausgepackt und an die Wände gehängt. In den wenigen Schubladen einer Kommode war ihre Wäsche verstaut. Alles andere aber stand kreuz und quer in der ohnehin winzigen Behausung auf dem Boden herum. Der Fußboden selbst war voll Sand, den sie vom Strand mit hereingetragen hatten. Spinnweben hingen an den Balken der Decke, und in einer Ecke türmte sich ein Berg schmutziger Wäsche. Im Haupthaus bei den Mädchen sieht es nicht besser aus, dachte Ben. Die drei schuften bis zur Erschöpfung, und dann sind sie zu müde, um sich etwas Vernünftiges zu kochen. Was wir alle brauchten, wäre eine Haushälterin. Dann hätten wir's gemütlicher. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. „James? Komm schnell! Fahr mich nach Haleiwa. Ich habe eine tolle Idee!“ Am nächsten Tag brachten vier grinsende junge Schwarze ein klappriges altes Vehikel. Es zeigte mehr Roststellen als Lackfarbe, und die braunen Lederpolster waren zerrissen. Beim Anblick des Ungetüms stieß Carrie einen Freudenschrei aus. „Das ist er! Das ist unser Wagen! Ich habe ihn gestern gekauft. Nun? Wie gefällt er euch?“ Sie kannten alle James als einen ruhigen, besonnenen und etwas zurückhaltenden Mann. Jetzt erlebten Carrie, Grace und Eliza, daß auch James die Fassung verlieren konnte. „Sag, daß das nicht wahr ist, Carrie!“ rief er entsetzt. „Hast du dieses Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich gekauft? Der Wagen ist doch schrottreif. Siehst du das denn nicht?“ „Das ist nur äußerlich“, entgegnete Carrie. „Wer fragt schon nach der Karosserie? Hauptsache, der Motor ist in Ordnung.“ „Wir hatten das gleiche Modell auf einer Schaffarm in Australien. Aber das war vor zehn Jahren. Du machst Spaß, nicht wahr, Carrie? Du hast doch nicht im Ernst auch nur einen Pfennig für diese Rostlaube bezahlt? Sieh doch nur das Dach an. Beim ersten kräftigen Windstoß fliegt es dir um die Ohren.“ „Dann werde ich es festbinden, und zwar mit einem Seil am Rahmen des rechten Fensters. Das fehlt sowieso. Aber sonst ist dieser Lastwagen unverwüstlich, glaub mir. Das bißchen Rost spielt keine Rolle. Über kurz oder lang rostet hier jedes Auto. Das liegt an der salzigen Luft. Außerdem ist es mein Wagen, und mir gefällt er. Ich habe auch schon einen Namen für ihn. Wir werden ihn ,Big Mama' taufen.“ James sah Carrie an, als zweifele er an ihrem Verstand. Dann griff er sich an den Kopf. „Ich geb's auf,“ sagte er kopfschüttelnd. „Du verträgst anscheinend die Sonne nicht.“
Aber es sollte an diesem Tag noch eine weitere Überraschung geben. Es war in den frühen Nachmittagsstunden, als sie wieder einen Wagen kommen hörten. Kimo saß am Steuer und Ben hinter ihm auf dem Rücksitz. Neben Kimo aber bemerkte Carrie noch einen Fahrgast. Als der Wagen hielt, sprang Kimo eifrig heraus und beeilte sich, die Tür am Beifahrersitz aufzuhalten. Mühsam zwängte sich eine stattliche Frau aus dem Auto. Beim Anblick ihrer Körperfülle wunderte sich Carrie, wie es Kimo und Ben gelungen war, sie auf dem Vordersitz unterzubringen. „Carrie, Eliza, Grace… das hier ist Tante Lani“, rief Ben enthusiastisch. Tante Lani neigte grüßend das Haupt. Es war eine fast königliche Gebärde. Sie war eine imponierende Erscheinung. Dabei war sie nicht einmal groß, hatte jedoch ausgeprägte Rundungen. Unter dem losen, lilafarbenen Überwurf war alles rund und üppig an Lani. Ihr asiatisches Gesicht mit den kohlrabenschwarzen Augen beeindruckte Carrie. „Sie hat sich bereit erklärt, hier bei uns zu wohnen und uns den Haushalt zu führen,“ fuhr Ben fort. „Hier zu wohnen?“ rief das Team von Cossini Constructions wie aus einem Mund, und Grace setzte bedächtig hinzu: „Wirklich, Ben. Hier zu wohnen ist doch eine Zumutung für Mrs…“ Freundlich, aber bestimmt wurde sie unterbrochen. „Ich bin Tante Lani. Für jeden von euch. Alle auf der Insel nennen mich so. Und ab sofort werden wir alle du zueinander sagen. Dann redet es sich sehr viel leichter.“ Carrie reichte ihr die Hand. „Herzlich willkommen, Tante Lani. Willkommen bei den Bauarbeitern im Reveille Riff Club.“ Mit kräftigem Druck umschloß Lani die ausgestreckte Hand und blickte Carrie prüfend in die Augen. Wie alt sie wohl sein mag, dachte Carrie. Mitte Fünfzig? Vielleicht auch schon siebzig? Lanis Alter war schwer zu schätzen. Und welcher Rasse mochte sie angehören? Ihr Gesicht wies nicht die typischen Merkmale der Inselbewohner auf. Aber was zählt das! Wo immer Tante Lani auftauchte, begegnete man ihr mit Achtung. „Lanis Wohnwagen kommt nach“, erklärte Kimo jetzt, „und außerdem bringt man auch einen Propangasherd heraus.“ „Ich nehme an, daß dir das recht ist, Carrie?“ erkundigte sich Ben scheinheilig. Was hätte Carrie dagegen einwenden können? Schließlich war Benjamin Gilmour ihr Arbeitgeber, und er konnte sich alles leisten mit seinem vielen Geld. Er brauchte sich nicht mit den Problemen des täglichen Lebens abzuplagen, ging einfach hin und engagierte sich eine Haushälterin. Es fehlte nicht viel und Carrie hätte Ben gefragt, wann er seinen Butler und seinen Gärtner nachkommen ließ. Doch Lani gefiel ihr. Sie erinnerte Carrie an Tante Rosa, ihre Lieblingstante. Sie spürte, daß Tante Lani sie aufmerksam beobachtete. „Ben, hast du Tante Lani darüber aufgeklärt, mit welchen Schwierigkeiten wir hier zu rechnen haben?“ Lani antwortete selbst. „Wenn du mit Schwierigkeiten die eingeworfene Fensterscheibe meinst, das weiß ich längst. Solche Nachrichten verbreiten sich wie ein Lauffeuer auf der Insel. Wir sollten dem keine so große Bedeutung beimessen. Es ist sicher nichts weiter als grober Unfug.“ „Apropos Unfug! Wem gehört dieses vorsintflutliche Monstrum da?“ Ben zeigte auf Carries stolze Errungenschaft. „Es blockiert die Einfahrt.“ „Der Wagen gehört Cossini Constructions. Ich habe ihn gestern gekauft. Wage es nicht noch einmal, ihn ein vorsintflutliches Monstrum zu nennen.“ „Gekauft? Hast du den Verstand verloren, Carrie? Wie oft habe ich dir gesagt, du
kannst meinen Jeep nehmen. Warum bist du nur so eigensinnig? Hattest du nichts Besseres zu tun, als dein Geld für einen Haufen Schrott hinauszuwerfen?“ Carrie stützte die Hände in die Seiten, sah Ben herausfordernd an und trat einen Schritt auf ihn zu. „Ein Haufen Schrott? Du nennst mein Auto einen Haufen Schrott? Du eingebildeter Kerl!“ Aus den Augenwinkeln bemerkte sie plötzlich Tante Lani. Die stand ruhig da und sah ihnen zu. Dabei lächelte sie zufrieden. Ein paar Stunden später wurde Lanis Wohnwagen gebracht, ein quittegelber, mit silbernen Streifen verzierter Anhänger, der etwa acht Meter lang war. James manövrierte ihn unter die riesige Kokospalme gleich neben dem Bungalow, den er mit Ben bewohnte. Dorthin paßte er gut. Ein paar breite, bequeme Holzstufen waren schnell zusammengezimmert, eine elektrische Leitung wurde rasch verlegt. Als Grace, Eliza und Carrie nach einem arbeitsreichen Tag von ihrem Erfrischungsbad im Meer zurückkehrten, drangen Tanzrhythmen an ihr Ohr. Lanis Radio dudelte. Der würzige Duft von gebratenen Speisen hing außerdem in der Luft. Ihre Haushälterin hatte Einzug gehalten. Barfuß kam sie am nächsten Morgen über den nassen Sand gewatet. Die Sandalen hielt sie in der Hand. Ihre Schritte waren ruhig und gleichmäßig. Carrie war wie an jedem Morgen schon früh am Strand und machte ihre Fitnessübungen, sie erkannte Tante Lani schon von weitem. Die trug an diesem Tag einen türkisgrünen Muumuu mit einer Rosenbordüre. Die frische Morgenbrise spielte mit dem losen, langen Gewand. „Guten Morgen, Carrie.“ Tante Lani hatte eine tiefe, melodiöse Stimme. „Guten Morgen, Tante Lani. Bist du auch von dem Waldhorn geweckt worden?“ wollte Carrie wissen. Außer ihr schien niemand sonst von dem allmorgendlichen Ständchen Notiz zu nehmen. Lani reagierte recht sonderbar auf diese Frage. Zunächst sah sie Carrie nur lange schweigend an. Dann blickte sie auf das Meer hinaus. Ihr Gesicht leuchtete dabei. „Doch, ich habe das Horn auch gehört. Es ist ein alter Brauch. Vor sehr, sehr langer Zeit pilgerten die Priester jeden Morgen zum Strand hinunter und bliesen auf ihren Muschelhörnern, um den neuen Tag willkommen zu heißen. Sie sagten, der Klang der Muschelhörner verlocke die Sonne, sich aus der Umarmung der Nacht zu lösen. Immer muß ich daran denken, wenn ich das Waldhorn höre.“ „Aber wer spielt es?“ Carries Blick glitt suchend über den Strand. Niemand außer ihnen beiden war zu sehen. Lanis Gesichtsausdruck war unergründlich. „Von irgendwo, von nirgendwo.“ Sie zuckte mit den Schultern. Plötzlich lächelte sie Carrie an. „Schau, da kommt dein Ben.“ Carrie wollte protestieren. „Er ist nicht mein…“ Aber da war Ben bereits bei ihnen. Er bückte sich, neigte den Kopf, und ehe Carrie wußte, wie ihr geschah, hatte er sie mitten auf den Mund geküßt. Carrie rang nach Luft, und Tante Lani lachte. Sie drohte Ben mit dem Finger. „Benjamin Gilmour, du bist ein ganz Schlimmer! Du fackelst wohl nicht lange?“ Die Szene hatte ihr Spaß gemacht. „Ich muß mich jetzt beeilen. In einer Stunde könnt ihr kommen. Dann ist das Frühstück fertig. Viel Spaß bis dahin.“ Sie winkte zum Abschied und ließ die beiden allein. Carrie war ärgerlich. „Mußtest du mich ausgerechnet vor Tante Lani küssen, du Narr? Am Ende glaubt sie noch…“ „Sie nimmt an, wir wären ein Liebespaar, Carrie. Sag, findest du die Idee so absurd?“
Nein, dachte Carrie, so absurd finde ich es gar nicht. Aber das werde ich dir nicht auf die Nase binden, Ben Gilmour. Ohne zu antworten, drehte sie sich um und lief davon. Die Wellen rollten an den Strand, überspülten ihre nackten Füße und näßten ihre Beine bis zu den Knien. Dieser Benjamin Gilmour war ihr ein Rätsel. Sie wußte nicht, was sie von ihm halten sollte. Einerseits flößte er ihr Furcht ein, andererseits fand sie seine Nähe erregend. Wie der geheimnisvolle Waldhornbläser, rief Ben Empfindungen in ihr wach, die sie zuvor nicht gekannt hatte und weckte aufregende Wünsche in ihr. Carrie lief schneller. Nur fort von Ben! So weit sie konnte, so rasch sie konnte. Doch schließlich mußte sie wieder an Umkehr denken. Die Sonne war höher gestiegen, und es war bereits spürbar wärmer geworden. In der flimmernden Luft sah sie Ben schemenhaft am Strand stehen und auf sie warten. Er stand dort wie die Skulptur eines italienischen Bildhauers. Eine muskulöse, braungebrannte Gestalt, die Haut glänzend vom Bad in den Wellen. Doch war er nicht aus Bronze, nicht aus Marmor, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut. Carrie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Ein einziger Gedanke beherrschte sie: Sie wollte sich Ben hingeben, wollte von ihm geliebt werden. An diesem paradiesischen Strand. Im flimmernden, sonnenheißen Sand, an diesem traumhaft schönen Morgen.
5. KAPITEL Eliza steckte den Kopf zur Tür herein. „Carrie! Telefon. Dein Vater.“ Carries Hand zitterte, als sie den Hörer nahm. „Papa? Ja, es geht mir gut. Alles ist bestens. Nein, du störst uns nicht. Wie spät es ist? Zehn vor neun. Nicht abends, Papa. Morgens. Doch. Es ist sehr heiß hier. Die Sonne brennt… Was? Bei euch liegt Schnee?“ Sie lauschte, dabei lächelte sie zärtlich. Carrie liebte ihren Vater. Das verdiente er auch, nach allem, was Carries Mutter ihm zugemutet hatte. „Nein, Papa. Ich hab' dir schon einmal gesagt, mach dir keine Sorgen um das Geld. Das geht schon in Ordnung. Du brauchst keine Angst zu haben wegen der Wechsel. Dieser Job hier ist wie ein Haupttreffer in der Lotterie. Sag Toni Campanello, ich könnte ihm nie genug dafür danken, daß er ihn mir verschafft hat.“ Wieder lauschte sie und verzog die Stirn. „Also wirklich, Pa! Vergiß die dummen Wechsel. Es bleibt genug Geld übrig, um sie einzulösen. Hör endlich auf, dir den Kopf zu zerbrechen. Bleib gesund, Paps, und grüß alle…“ Carries Stimme versagte. Tränen strömten ihr über die Wangen. Leise legte sie den Hörer auf die Gabel. Dabei schluchzte sie laut auf. „Fehlt dir etwas, Carrie? Kann ich irgendwie helfen?“ Ben war hinzugetreten und sprach sie sanft an. Dennoch fuhr Carrie erschrocken zusammen. Seine Anteilnahme ließ die Tränen bei ihr erst mal reichlicher fließen. Ärgerlich wischte sie sich deshalb über das Gesicht. „Mir fehlt nichts weiter. Ich habe nur ein bißchen Heimweh, das ist alles. Ich war noch nie von zu Hause fort, und in der kurzen Zeit ist schon soviel passiert…“ Sie war wütend. Mußte er unbedingt jetzt kommen und sehen, daß sie weinte? Ben blickte sich nach einem Tuch um, und als er keins fand, knöpfte er sein Hemd auf, zog es aus und trocknete damit Carries Gesicht. „Ben, nicht das saubere Hemd.“ Ihre Stimme wollte noch nicht so recht gehorchen. „Was war denn, Carrie? Schlechte Nachrichten von daheim?“ Er strich ihr leicht über das Haar. Carrie seufzte. „Nicht mehr als sonst auch. Gisellas Mann hat noch immer keine Arbeit, und Rosa erwartet schon wieder ein Baby. Außerdem schneit es.“ Er legte Carrie den Arm um die Schultern und drückte ihren Kopf an seine Brust. Beruhigend streichelte er ihren Rücken. „Und deshalb weinst du? Arbeitslos zu sein… nun, das lasse ich gelten. Das kann problematisch werden. Aber ein Baby? Ein Schneegestöber?“ „Rosa hat aber schon zwei kleine Kinder, sie sind noch im Vorschulalter. Ihr Mann verdient nicht genug, sie wissen jetzt schon nicht, wie sie satt werden sollen. Und wenn Schnee liegt, kann mein Vater nicht aus dem Haus. Bei seinem Sturz damals hat er sich die Wirbelsäule verletzt und muß jeden Tag zur Behandlung. Er wird nie mehr auf ein Dach klettern können. So sieht das aus in unseren Kreisen, Ben. So leben andere.“ „Und was ist mit den Wechseln, Carrie? Ich habe ungewollt einen Teil deines Gespräches mitangehört. Ich wollte nicht neugierig sein, sondern lediglich sehen, ob mit dir alles in Ordnung ist. Solche unerwarteten Telefonanrufe bedeuten meistens etwas Unangenehmes. Also, sag schon! Was habe ich da von Wechseln gehört?“ Es hatte wenig Sinn, ihm etwas vorzumachen. Ben würde Mittel und Wege finden, um zu erfahren, was er wissen wollte. „Nun gut, ich werde es dir erklären.“ Carrie schluckte. Es war nicht so einfach
einem Fremden gegenüber. „Meine Mutter, Ben, war eine… merkwürdige Frau. Sie dachte hauptsächlich nur an sich. Immer hatte sie das Gefühl, das Leben würde ihr etwas vorenthalten. Sie war kaum erwachsen, da wurde sie verheiratet. In vielen italienischen Familien ist das auch heute noch so. Kaum hatte sie sich daran gewöhnt, einen Ehemann zu haben, da bekam sie in kurzen Abständen auch schon Kinder, die sie ans Haus fesselten. Du darfst nicht denken, sie wäre keine gute Hausfrau gewesen. O nein! Sie war eine perfekte Köchin. Sie putzte und wusch, bis alles sauber war und blitzblank. Aber anstatt uns das Gefühl zu geben, daß sie es aus Liebe zu ihrem Mann und uns, ihren Kindern, tat, lief sie ständig mit einer Leidensmiene herum und erreichte, daß wir alle unter Schuldkomplexen litten. Besonders Papa hatte darunter zu leiden. Als sie dann älter wurde, bekam sie Depressionen. Sie ließ alles liegen und stehen, rührte einfach keinen Finger mehr und brütete nur noch vor sich hin. Wir erkundigten uns nach einem Pflegeheim. Doch das war unerschwinglich teuer. Und dann wurde sie ernsthaft krank. Sie flehte Papa an, er möge sie zu Hause sterben lassen. Papas Ersparnisse schmolzen in der Zeit dahin wie Butter an der Sonne. Als sie starb, war es für alle eine Erlösung.“ Carrie hatte den Blick abgewandt. So konnte sie nicht sehen, wieviel Mitgefühl und Verständnis ihre Worte bei Ben hervorriefen. „Dann hatte Papa den Unfall. Die Wirbelsäule war angeknackst. Es fehlte nicht viel, und er wäre für den Rest seines Lebens querschnittsgelähmt gewesen. Zu der Zeit konnte ich mich vor Aufträgen nicht retten. Also unterschrieb ich ein paar Wechsel, um ihm eine Operation zu ermöglichen und die Arztkosten bezahlen zu können. Ich dachte, ich würde noch mehr Geld verdienen, sobald Papa wieder arbeiten könnte. Doch als er aus der Klinik entlassen wurde, war es damit vorbei. Plötzlich bekamen wir kaum noch Aufträge, und die Schulden drohten, mir über den Kopf zu wachsen. Jetzt macht er sich darüber natürlich Sorgen und hat Gewissensbisse.“ „Das kann ich verstehen. Hör zu, Carrie. Warum überläßt du es nicht mir, die Sache mit den Wechseln aus der Welt zu schaffen? Schau, ich habe mehr Geld, als ich verbrauchen kann, und…“ Carrie riß sich von ihm los. Sie war hochrot im Gesicht. „Kommt überhaupt nicht in Frage. Vergiß das schnell! Ich will so etwas nie mehr von dir hören, verstehst du?“ Sie lief davon, und Ben blickte ihr kopfschüttelnd nach. So ein halsstarriges Wesen! dachte er. Das geschieht mir recht. Warum muß ich mich auch in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen? Welcher Teufel hat mich nur geritten, ihr finanzielle Hilfe anzubieten? Irgend etwas hatte Carrie an sich, was ihn fortwährend glauben ließ, sie beschützen zu müssen. Das war schon seltsam, denn solche Regungen Frauen gegenüber waren ihm bis dahin unbekannt. Weshalb sorgte er sich so um ihr Wohlergehen? Dafür, daß Tante Lani sich jetzt um sie kümmerte und sie auch mitversorgte, zeigten sich Carrie, Eliza und Grace auf ihre Weise erkenntlich. Sie installierten eine Markise an Lanis Wohnwagen, trieben ein paar Stühle und einen alten Ausziehtisch auf und eine riesige Zeltplane. Sie diente als Windschutz. Nun konnten sie im Freien sitzen und waren doch geschützt vor der Sonne und lästigen Insekten. Bald war die „Lounge“, wie sie diesen Platz stolz nannten, zu einem beliebten Treffpunkt geworden. Abends nach dem Essen saßen sie oft noch lange beieinander und tranken selbstgerösteten, hawaiianischen Kaffee, während Lani
auf ihrer Ukulele spielte. Ben holte meist seine Gitarre hervor und begleitete sie, wobei er zur Belustigung aller versuchte, Elvis Presley zu imitieren. Im Hintergrund hörte man das Meer rauschen, und das paßte zu den wunderbaren, wehmütigen Melodien. Wenn später der Mond hoch am Himmel stand und die Szene mit seinem silbrigen Licht überflutete, wünschte Carrie nichts sehnlicher, als daß die Zeit stillstehen möge. Immer wollte sie den Zauber dieser Tropennacht genießen. Nach einer Woche machte sich Lanis Anwesenheit schon bemerkbar. Es herrschte nun Ordnung. Nichts Unnötiges lag mehr im Gelände herum. Im Tagesablauf stellte sich Regelmäßigkeit ein. Der Ton, mit dem sie untereinander verkehrten, wurde vertrauter. Alle fühlten sich in der Gemeinsamkeit geborgen wie im Schoß einer glücklichen Familie. Es verging kaum ein Abend, an dem Kimo sich nicht zu ihnen gesellte. Sobald er alle begrüßt hatte, setzte er sich dicht neben Grace und erzählte, was er tagsüber erlebt hatte. Grace war nach wie vor verschlossen. Sie blieb einsilbig und bemühte sich, Kimo zu ignorieren. So geht das nun schon die ganze Zeit, dachte Carrie empört. Warum macht sie es dem armen Mann nur so schwer? Er ist so ein phantastischer Freund und Kamerad! Anscheinend war Eliza derselbe Gedanke gekommen. Während der Frühstückspause am Morgen fragte sie Grace rundheraus: „Warum benimmst du dich Kimo gegenüber so stur, Grace? Ich finde, er ist ein Pfundskerl! Du kannst von Glück sagen, daß er nur Augen für dich hat. Sonst würde ich glatt versuchen, ihn dir auszuspannen.“ Sie saßen alle zusammen unter den Kokospalmen und genossen es, für kurze Zeit der sengenden Sonne entrinnen zu können. Lani trat aus ihrem Wohnwagen und brachte eine Kanne eisgekühlter Zitronenlimonade. Sie hatte Elizas Worte gehört und sah Grace forschend ins Gesicht. „Stimmt! Das hätte ich auch gern gewußt. Ist Kimo dir unsympathisch? Findest du ihn abstoßend? Ich kann dir nur versichern, er ist ein anständiger Bursche, und er meint es ehrlich. Du bist eine ungewöhnlich schöne junge Frau. Du bist schöner als alle anderen, denn du bist groß und stattlich. Wenn ihr ein Paar würdet, du und Kimo, die Leute würden stehenbleiben und sich nach euch umdrehen. Und eure Kinder erst! Welche Prachtexemplare müßten das werden.“ Das bereits von der Sonne gebräunte Gesicht von Grace wurde noch um eine Schattierung dunkler. Offensichtlich kam sie nicht an einer Antwort vorbei. Tante Lani hatte die Arme auf die Hüften gestützt und stand abwartend vor ihr. „Kimo ist nicht… ich meine, er hat keine…“ Grace räusperte sich und versuchte es erneut. „Es hat nichts mit Kimo zu tun. Ich bin schuld, ich ganz allein. Ich war schon einmal verheiratet, und es ist schiefgegangen. Mir fehlt ganz einfach der Mut, es noch einmal zu versuchen.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Dieser Hallodri, mit dem du verheiratet warst, hatte offenbar keine Ahnung, welchen Schatz er besaß. Kimo würde dich auf Händen tragen, mein Engelchen. Er vergöttert dich geradezu. Ich sehe doch, wie er dich ansieht. Außerdem – eine gescheiterte Ehe ist kein Maßstab. Schau mich an! Ich war dreimal verheiratet. Mein erster Mann ist gestorben, der zweite hat mich wegen einer anderen Frau sitzenlassen, und den dritten habe ich eigenhändig hinausgeworfen. Aber wenn einer käme, der mir gefiele und der mich haben wollte… ich würde es auch ein viertes Mal wagen. Allerdings müßte er schon sehr, sehr reich sein und dazu ein ganz toller Liebhaber.“ Sie zwinkerte den Mädchen verschmitzt zu. „Leicht ist es nicht, einen Mann zu finden, der beide Tugenden besitzt, aber ich gebe die
Hoffnung nicht auf. Von dir, Grace, bin ich enttäuscht. Ich hätte dir mehr Courage zugetraut. Statt dessen wirfst du nach einem mißglückten Versuch gleich die Flinte ins Korn. Du kannst nicht besonders gescheit sein.“ Lani drehte sich plötzlich um und betrachtete Carrie. „Und du, Carrie Cossini, solltest dir eine langsamere Gangart angewöhnen. Du willst immer alles mit Gewalt vorantreiben. Gib ihm eine Chance. Er muß sich erst umstellen. Das geht nicht von heute auf morgen. Und sieh zu, daß du nicht so vorlaut bist. Du hast ein reichlich loses Mundwerk.“ Sie wußten alle, wen Lani meinte, obwohl sie keinen Namen genannt hatte. Carrie nickte wortlos, und Tante Lani kehrte in ihren Wagen zurück. „Wie lange warst du verheiratet, Grace?“ erkundigte Eliza sich zaghaft. „Sechs Jahre.“ Grace ließ den Kopf sinken. „Ich wollte ihn schon viel früher verlassen, aber mir fehlte der Mut. Damals kam ich mir vor wie eine wandelnde Vogelscheuche. Schon als Kind überragte ich die anderen immer um Längen. Mit vierzehn war ich schon 1,80 m. In der Schule wurde ich deswegen verspottet. Sie nannten mich »Kleines'. Zunächst habe ich gelacht. Aber das Lachen verging mir, als ich plötzlich diejenige war, die nie Verabredungen mit Jungen hatte. Versteht ihr? Die jungen Männer wollten nicht auf einen Stuhl steigen müssen, um mich zu küssen. Ach, was hätte ich darum gegeben, wenn ich nur zehn Zentimeter kleiner gewesen wäre!“ „Was für ein Unsinn! Grace! Wie oft habe ich mir gewünscht, etwas größer zu sein. Eine große Frau wirkt doch ganz anders.“ Grace schüttelte traurig den Kopf. „Im Gegenteil, Eliza. Nicht mit vierzehn Jahren. Nichts paßt richtig, die Kleider sitzen nicht… Nein, ihr könnt das nicht verstehen. Ihr seid beide hübsch, normal gewachsen und sexy. Zeigt mir den Mann, der darauf versessen ist, beim Tanz eine Riesenfrau herumzuschwenken.“ Carrie wollte etwas erwidern, aber Grace fuhr unaufhaltsam fort. Nachdem sie einmal die Hürde überwunden und ihr Schweigen gebrochen hatte, konnte sie nichts davon abhalten, die bittere Wahrheit bis zum Ende zu gestehen. „Als ich Jackson kennenlernte, war ich gerade siebzehn geworden. Ich weiß bis heute nicht, warum ausgerechnet er mich heiraten wollte. Jedenfalls tat er es, und ich war im siebten Himmel. Jetzt unterschied ich mich nicht mehr von anderen Frauen. Ich wollte ihm eine gute Frau sein und meinen Kindern eine gute Mutter.“ Ihre Stimme klang bitter. „Ich hatte eine abgeschlossene Ausbildung als Krankenschwester. Kurz nach unserer Hochzeit warf er seinem Chef die Arbeit vor die Füße und saß fortan zu Hause herum. Ich durfte unseren Lebensunterhalt allein verdienen. Dann fing er an zu trinken. Immer öfter, immer mehr.“ Wie ein Häufchen Elend hockte Grace auf der Stuhlkante. Ein Schluchzen erstickte fast ihre Worte. „Dann begann er, sich über mich lustig zu machen. Vor Fremden machte er mich lächerlich. Anfangs hatte er aber immer behauptet, es mache ihm nichts aus, daß er ein paar Zentimeter kleiner war als ich. Es hat lange gedauert, bis ich mich dazu durchkämpfte, ihn zu verlassen. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Aber ich werde keine Bindung mehr eingehen. Niemals. Enttäuschungen schmerzen zu sehr.“ Sie sprang auf und klopfte sich energisch den Sand von ihrer Schürze. „Was ist? Wollen wir heute nichts mehr tun? Wir sollten längst wieder am Werk sein.“ Carrie legte den Arm um sie. „Grace, Liebes, wenn Lani behauptet, du seiest schöner als wir alle zusammen, dann kannst du das getrost glauben. Sie weiß, wovon sie redet. Sie hat recht.“
„Das ist lieb gemeint, Carrie. Ihr seid alle so lieb zu mir. Doch wenn man selber nicht davon überzeugt ist, nützen alle schönen Worte nichts. Und ich bin's eben nicht.“ Wieder war es Freitag. Carrie, Eliza und Grace hielten sich jetzt schon einen vollen Monat auf Hawaii auf. Inzwischen hatten sie sich an das Klima gewöhnt. Die Hitze tagsüber und die kühlen, regnerischen Nächte machten ihnen nicht mehr so zu schaffen wie zu Beginn ihres Aufenthaltes. Auch das unablässige Rauschen der Brandung störte sie nicht mehr in ihrem Schlaf. „Heute werde ich einen freien Tag nehmen“, verkündete Tante Lani, während sie das Frühstücksgeschirr abräumte. „Ich muß ein paar Besorgungen machen. Morgen bin ich wieder zurück.“ „Könnten wir nicht alle nach Haleiwa fahren und einmal mexikanisch essen gehen?“ schlug Eliza vor. „Das ist eine großartige Idee. Aber auf Carrie und mich müßt ihr verzichten. Ich möchte mit ihr heute ausgehen.“ Ben wartete gespannt auf Carries Antwort. Zu seiner Verwunderung lehnte sie nicht ab. Er bemerkte nur, daß sie ein wenig schuldbewußt zu Lani hinübersah. Tante Lani nickte zufrieden. „Würdest du mich mit ,Big Mama' zur Bushaltestelle bringen, Carrie?“ Lani war ebenso vernarrt in das alte Vehikel wie Carrie. „Big Mama“ hatte ein neues Kleid bekommen, und der Laster war jetzt nicht wiederzuerkennen. Carrie hatte sorgfältig sämtliche Roststellen ausgebessert. Eliza hatte Spraydosen gekauft und „Big Mama“ zu neuem Ansehen verholfen. Schon von weitem erkannte man den Wagen nun an seinen lebhaften Farben, denn Eliza hatte nicht mit Pink, Blau und Gelb gespart. Carrie startete also „Big Mama“, und kurze Zeit später fuhren sie auf der schmalen holprigen Landstraße in Richtung Haleiwa. „Halt mal einen Moment an, Carrie.“ Tante Lani zeigte auf ein kleines, sauberes Reihenhaus am Rande der Straße. „Hier bin ich aufgewachsen. Gleich neben uns wohnten die Martins. Ihr Sohn war mein Jugendfreund. Wir haben viele Streiche miteinander ausgeheckt.“ Lanis gewohnte Fröhlichkeit war mit einemmal wie weggewischt, und ihr Blick war plötzlich traurig. Carrie gab Gas und fuhr weiter. Lani schaute sich noch einige Male um. „Meine Mutter war Japanerin, mein Vater stammte aus Hawaii. Sie haben sich sehr geliebt. Sie hätten zu gern viele Kinder gehabt, aber ich bin ihr einziges Kind geblieben. Sie liebten mich abgöttisch und haben mich sehr verwöhnt. Leider sind sie beide schon lange tot.“ „Hattest du nie Schwierigkeiten? Ich meine, als Kind, deren Eltern zwei verschiedenen Rassen angehörten?“ Carrie dachte daran, wie sie als Kind darunter zu leiden hatte, daß ihre Eltern Italiener waren. „Während des Krieges war es schon problematisch. Immerhin floß zur Hälfte japanisches Blut in mir. Doch ich war nur ein Mädchen. Die Mädchen hält man hier nicht für so wichtig. Schlimmer war es, wenn ein Junge japanisches Blut in den Adern hatte. Da gab es manche Tragödien.“ Wieder huschte ein Schatten von Traurigkeit über Lanis rundes Gesicht. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, doch da erblickte sie in der Ferne den Bus und spornte Carrie zur Eile an. Nachdenklich machte sich Carrie wieder auf den Heimweg. Sie mochte Tante Lani sehr. Wenn sie nicht nach Hawaii gekommen wäre, hätten sie einander nie kennengelernt. Vermutlich wäre sie auch Ben nie begegnet. In das spießige Bellingham verirrten sich keine Playboys. Nein, ganz sicher nicht. Dort wäre sie Ben Gilmour nie begegnet. Das Turtle Bay Hilton war ein luxuriöses Hotel, es lag etwa zwei Kilometer
nördlich von Haleiwa. Zwischen dieser Nobelherberge und den spartanischen Unterkünften am Reveille Riff war ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Ben und Carrie saßen an einem etwas abseits gelegenen, runden Tisch im Speisesaal. Die Wände ringsum bestanden von der Decke bis zum Fußboden aus Glasscheiben. Der Ausblick auf die TurtleBucht war atemberaubend. Eine weitere Attraktion bot das Büffet des Hotels. Es drohte fast, unter der Last kulinarischer Köstlichkeiten zusammenzubrechen. Am Kopfende der Tafel stand der Chefkoch und lächelte zufrieden, während die Gäste mit überladenen Tellern an ihre Tische zurückkehrten. Es fiel nicht eben leicht, den gebotenen Verlockungen gegenüber standhaft zu bleiben. Draußen wurde es Nacht. In den Tropen dauert die Dämmerung nur kurze Augenblicke. Carrie schaute ein letztes Mal aus dem Fenster. Nur die riesigen Glasscheiben trennten sie von dem Ozean mit seinen hochaufschäumenden, gischtweißen Wellen und der felsigen Küste. Der Mond goß sein silbriges Licht auf die See. Hier und dort leuchtete es auf wie Irrlichter über einem dunklen Moor. Gibt es einen Menschen, den der Zauber einer solchen Tropennacht unbeeindruckt läßt? Er verfehlte auch seine Wirkung auf Carrie nicht. Und wenn Ben sie bäte, mit ihm eine Nacht hier im Hotel zu verbringen? Über ihnen, in den oberen Stockwerken, gab es sicher Räume, von denen aus man diesen majestätischen Ausblick noch besser genießen konnte. Carrie versuchte, sich auszumalen, wie es sein mochte, zwischen seidenen Laken zu ruhen, den Kopf an Bens Brust gebettet, und so hinauszublicken auf das vom Mondlicht glänzende Wasser und beim Rauschen der Brandung in den Schlaf hinüberzugleiten. „Ist dir kalt? Soll ich dir mein Jackett umlegen?“ Carrie schüttelte den Kopf. Sie wollte Bens Jackett nicht, und auch auf seidene Laken konnte sie verzichten, wenn er sie nur in die Arme nähme. Dann würde sie sich sogar mit einem Zelt begnügen. „Kann man die Blockhäuser über den Klippen eigentlich mieten?“ Sie mußte alles tun, um auf andere Gedanken zu kommen. „Einige schon. Ein paar davon gehören auch zum Hotelkomplex. Als ich klein war, nahmen meine Eltern meine Brüder und mich ein paarmal mit nach Hawaii. Dann haben wir in solchen Blockhütten gewohnt. Wir sind überhaupt viel gereist, heute hier und morgen dort. Meinen Vater hielt es nie länger als vier Tage am selben Platz.“ Er lächelte sie zärtlich an. „Du würdest meinem Vater sehr gefallen, Carrie. Ihr habt beide die gleiche Rastlosigkeit. Dieser ewige Drang nach Betätigung, nie eine Ruhepause, das habt ihr beide gemeinsam. Ich gerate mehr nach meiner Mutter. Sie steckt voller Illusionen und Wunschträume. Mancher wird vielleicht behaupten, sie sei exzentrisch, aber ich kenne keinen einzigen Menschen, der so glücklich ist wie meine Mutter.“ „Und deine Brüder? Sind sie verheiratet?“ Ben nickte. „Alle, bis auf Mitchell. Aber das wundert keinen. Er ist ein langweiliger Paragraphenreiter, ohne einen Funken Temperament. Wenn man heiraten will, muß man Pfeffer im Blut haben.“ „Wie kommst du denn darauf? Woher willst du das wissen?“ Eigentlich hatte sie erwartet, daß er ihr mit einem Scherz antworten würde. Daher war sie überrascht, als er sie plötzlich ernst ansah. „Ich war verheiratet. Ganze acht Monate lang.“ Carrie erschrak. Der Bissen blieb ihr fast im Hals stecken. Sie versuchte, den Schock über diese neue Erkenntnis mit leichtem Ton zu überspielen. „Danach warst du nicht länger interessiert?“
Hatte er nicht selbst noch vor kurzem behauptet, er bliebe nur bei einer Sache, solange sie ihn interessiere? Allerdings war damals von seinen verschiedenen Jobs die Rede gewesen. Bens Augen verloren ihren Glanz, und es tat Carrie leid, daß sie diese unbedachte Äußerung gemacht hatte. Sie suchte noch nach Worten der Entschuldigung, als er sagte: „Solange hat es gedauert, bis ihr endgültig klar wurde, daß ich mich nicht in ein Schema pressen lasse. Da reichte sie die Scheidung ein. Kurz danach heiratete sie einen Ölscheich. Den läßt sie jetzt nach ihrer Pfeife tanzen.“ „Bitte, verzeih, Ben. Ich hätte das nicht sagen dürfen.“ „Schon gut, Carrie. Ich weiß, du hast es nicht so gemeint. Außerdem hatten die Monate mit Belinda auch etwas Gutes. Sie haben mir deutlich gemacht, worauf ich in Zukunft besser verzichte. Und wie du siehst, bin ich nicht an gebrochenem Herzen gestorben.“ Das nicht, dachte Carrie. Aber zynisch bist du geworden, und geheiratet hast du auch nie mehr, obwohl es sicherlich nicht an Gelegenheiten mangelte. Also mußt du Belinda sehr geliebt haben. Instinktiv lehnte Carrie die Unbekannte ab. Sie gab ihr die Schuld an Bens unstetem Lebenswandel. Carrie durchquerte die große Halle des Hotels in Richtung Ausgang. Sie bewegte sich mit natürlicher Anmut. Unwillkürlich zog sie dadurch die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich, bewundernde Blicke folgten ihr, der eleganten, jungen Frau mit den wohlgeformten, langen Beinen. Sie merkte es nicht einmal, welches Aufsehen ihre Erscheinung hervorrief. Dafür registrierte Ben, der dicht hinter ihr ging, die Blicke teils mit Stolz, teils mit Eifersucht. Seine Stimme klang ein wenig belegt. „Deine Beine sind phantastisch, Carrie. Du solltest immer Nylonstrümpfe tragen. Und zum erstenmal sehe ich, daß du Schuhe mit hohen Absätzen trägst. Deshalb wirkt dein Gang so aufreizend!“ Carrie war stehengeblieben. Eine feine Röte stieg ihr ins Gesicht, und sie schaute Ben fragend an. Ben fand sie begehrenswert wie nie zuvor. Wenn er nicht schleunigst machte, daß er mit ihr an die Luft kam, würde er sie hier vor den Augen der Hotelgäste in die Arme nehmen und wild und stürmisch küssen. Als sie sich mit dem Jeep etwa auf der Höhe von Sunset Beach befanden, hatte Ben sich zu einem Entschluß durchgerungen. „Ich halte das nicht länger aus, Carrie! Ich bin verrückt nach dir. Wenn ich dich nicht bald in die Arme nehme und lieben darf, weiß ich nicht, was passiert. Vom ersten Moment an hatte ich so ein Verlangen danach. Ich begehre dich, Carrie. Ich muß dich haben. Hörst du? Ich muß!“ Ben hielt den Atem an. Es war heraus! Er ahnte, was jetzt kommen würde. In wenigen Sekunden saß er vermutlich im Sand und konnte nur noch den Rücklichtern seines Wagens nachstarren. Der Jeep machte einen gewaltigen Satz nach vorn, so kräftig trat Carrie auf das Gaspedal. Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Doch das war nichts verglichen mit dem, was in Ben Gilmour vorging, als er ihre Antwort hörte. „Mir geht es ebenso, Ben. Ich sehne mich seit Wochen danach, mit dir zu schlafen. Wohin sollen wir fahren?“ Es dauerte eine Weile, bis er sich von seiner Überraschung erholt hatte. „Ich habe den Schlüssel zu unserem Haus am Strand bei mir. Dort wären wir völlig ungestört.“ Carrie wendete wortlos und fuhr in die Richtung, die Ben ihr angab. Sie wirkte
gelassen und selbstsicher wie eine junge Frau, die genau wußte, was sie tat. In Wirklichkeit war ihr gar nicht so wohl zumute. Jetzt hatte sie erreicht, wovon sie die vergangenen Nächte geträumt hatte. Carrie haßte es, viel Worte zu machen, und die forsche Art, mit der Ben gestanden hatte, daß er sie lieben wollte, gefiel ihr. Da wußte man wenigstens, woran man war. Sie war jetzt dreiundzwanzig und kein Kind mehr. Wenn Ben sie ebenso begehrte wie sie ihn, warum sollten sie dann nicht Zusammensein? Es war die natürlichste Sache der Welt. Oder etwa nicht? „Ich fürchte, das hatten wir beide uns etwas anders vorgestellt, nicht wahr?“ Wie bitter und entmutigt er das sagt, dachte Carrie. Sie ruhten Seite an Seite an dem breiten, flachen Strand. In ihrer Nähe brandeten die gewaltigen Wellen und überliefen den Sand. Es war windig geworden. Carries Frisur hatte sich gelöst, das Haar wehte ihr ins Gesicht. Sie gab keine Antwort. Was hätte sie auch sagen sollen? Wahrscheinlich hatten sie das Ganze zu perfekt organisiert. Es war ihnen bei ihren nüchternen und kühlen Überlegungen nicht gelungen, eine verführerische Atmosphäre herbeizuzaubern. Ohne ein Liebesspiel aber kommt man nun einmal nicht aus. Zwar hatte Ben einen Radiosender gefunden, der um diese Zeit zärtliche Musik spielte. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, und sie hatten gemeinsam die romantische Mondnacht auf sich wirken lassen. Unter ihnen lag die Bucht, menschenleer und verlassen, und dahinter dehnte sich der unendliche Ozean. Man konnte das Meer rauschen hören. Sanft hatte Ben angefangen, ihren Rücken zu streicheln. Dann hatte er sie behutsam geküßt, als wäre sie zerbrechlich. Carrie hatte diese Küsse erwidert, aber plötzlich lachen müssen. Sie konnte einfach nicht mehr aufhören, war wie unter Zwang. „Was findest du denn so komisch?“ hatte er gefragt. „Ich… ich kann nichts dafür. Aber ich denke gerade, ob wir nicht die letzte Folge des Playboys aufschlagen sollten? Da stehen oft sehr nützliche Tips.“ Ben küßte gerade ihren Nacken. Er atmete heftig, und das kitzelte Carrie. Darüber mußte sie nur noch mehr lachen. Es war das erstemal, daß eine Frau seine erotischen Bemühungen verlachte, und Ben fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Schließlich hatte er im Laufe der Jahre allerhand Erfahrungen gesammelt und sich auf diesem Gebiet eine gewisse Technik angeeignet, die bisher noch nie versagt hatte. Sollte er aus der Übung sein? Hatte er zu lange gewartet? Waren seine Verführungskünste in diesen wenigen Wochen etwa hoffnungslos eingerostet? Warum, zum Kuckuck, benahm sich diese Carrie Cossini nicht wie eine normale Frau? Weshalb reagierte sie nicht wie andere? Plötzlich begann auch er zu lachen. Eigentlich war die Situation wirklich komisch. Da scheiterte das erotische Abenteuer an tosender Heiterkeit! „Du hättest Tante Lani und Eliza erleben sollen, als sie hörten, daß wir zwei heute abend ausgehen. Sie gaben mir gute Ratschläge, wie ich dich verführen soll.“ Carrie hatte dies eigentlich nicht verraten wollen. Aber Aufregung und Verlegenheit machten sie geschwätzig. „Eine volle Stunde hat Eliza an meinem Haar herumfrisiert, und Tante Lani besprengte mich von allen Seiten mit irgendeiner exotischen Mixtur, wobei sie geheimnisvolle Beschwörungen murmelte. Zum Schluß lieh mir Eliza dieses Kleid, weil ich nichts Passendes für diese Gelegenheit besaß. Das alles nur, um dich zu verführen.“
Ben blickte Carrie fassungslos an. Er glaubte, sich verhört zu haben. Mit allem
hatte er gerechnet, aber doch nicht damit. Das konnte doch nicht wahr sein!
„Verführen? Mich? Du?“
Er stand da und schüttelte ungläubig den Kopf. Seine Leidenschaft war ihm
gründlich vergangen.
Carrie stand auf und reckte sich. „Wie wär's mit einem Spaziergang im
Mondschein?“
6. KAPITEL Mit nackten Füßen schlenderten Carrie und Ben am Strand entlang durch den feuchten Sand und tauschten Kindheitserlebnisse aus. Ben erzählte, wie er in das große Gewächshaus im Garten der elterlichen Villa geflüchtet war, sobald er seinen Mathematiklehrer von weitem kommen sah. Der alte Gärtner wurde sein Freund. Von ihm lernte er alles über Aussaat, Aufzucht und Pflege der Pflanzen. So kam es, daß er später Botanik studierte. Einmal, so erzählte Carrie daraufhin, habe der Vater sie in Tränen aufgelöst hinter dem Haus entdeckt. Die Mutter hatte ihr gerade den Kopf zurechtgesetzt und gesagt, es sei eine Schande, daß ein Mädchen Vergnügen daran fände, auf Dächer zu klettern. Wenn es wirklich stimmte, daß ihr das Spaß mache, müßte sie mit ihr einen Arzt aufsuchen, denn das wäre absolut nicht normal. „Papa nahm mich wortlos an die Hand, und zusammen stiegen wir eine endlose, schmale Wendeltreppe hinauf bis zur Spitze unseres Kirchturms. Wir waren beide erschöpft, als wir oben ankamen. Da gab es eine winzige verstaubte Kammer, in der es muffig roch. Ich hatte Angst, aber als ich hinunterschaute, da lag zu unseren Füßen die kleine Stadt und das Land in Spielzeuggröße da. Ich muß damals acht Jahre alt gewesen sein. Mir war es, als habe mir mein Vater die Welt zu Füßen gelegt. Dann hörte ich, wie er sagte: Laß dir niemals verbieten, wonach dein Herz verlangt. Es wird in deinem Leben noch viele Menschen geben, die dir sagen wollen, was du zu tun und zu lassen hast. Denke stets daran: Du bist dein eigener Herr. Tu immer nur das, was du für richtig hältst. Wir kletterten wieder nach unten. Mein Kummer war verflogen, meine Tränen versiegt. Ich fühlte mich von einer ungeheuren Last befreit und war glücklich. Glücklich, einen solchen Mann zum Vater zu haben.“ Auf dem Rückweg sprachen sie wenig. Sie schritten nebeneinander her, sorgfältig darauf bedacht, sich nicht zu berühren. Dennoch war jedem die Nähe des anderen deutlich bewußt. Als sie von weitem das Strandhaus erblickten, blieb Ben stehen. Er griff nach Carries Hand und wollte etwas sagen. Aber dann betrachtete er überrascht ihre verarbeiteten Hände. „Meine Güte, Carrie, sieh doch nur deine Hände an! Ganz rauh und rissig sind sie. Die Nägel splittern, und die Finger haben Risse und Schrunden. Tust du denn überhaupt nichts zu ihrer Pflege?“ „Was bildest du dir ein? Wer bist du denn, daß du dir ein solches Urteil anmaßt, du Playboy?“ Carrie glühte vor Scham. Sie war in ihrer weiblichen Eitelkeit getroffen. Er hatte sie gekränkt, aber was viel schlimmer war, sie mußte sich insgeheim sagen, daß er recht hatte. Das machte sie böse und ungerecht. „Diese Risse und Schrunden sind jedenfalls durch ehrliche Arbeit erworben. Du schämst dich wohl, mit einer Frau auszugehen, die keine Samtpfötchen hat? Bist du deshalb vorhin…“ Auch Ben war jetzt wütend. „Ich habe es satt, mich ständig von dir beschimpfen zu lassen. Habe ich dir nur ein einziges Mal Veranlassung gegeben, so schlecht von mir zu denken? Was kümmert es mich, was andere Leute von deinen Händen halten? Es tut mir nur leid, daß du sie so vernachlässigst. Warum pflegst du sie nicht abends mit einer Handlotion? Du würdest dich wundern, was das ausmacht.“ Carrie riß sich von ihm los. Dabei verlor sie den Halt und wäre unweigerlich gestürzt, wenn Ben nicht in letzter Sekunde seine Krücken fallengelassen hätte, um Carrie aufzufangen. Durch die spontane Reaktion geriet er allerdings
ebenfalls aus dem Gleichgewicht, taumelte und zog Carrie mit sich. Sie fielen beide unsanft auf die harte Erde. Ben landete mit dem Rücken an einem Baumstumpf; Carrie lag quer über ihm. Die Situation zwang Ben, die Arme um Carrie zu legen. Ihr Kopf ruhte an seinem Hals, und ihr Atem strich sanft und warm über sein Gesicht. Er spürte ihr Gewicht. Sie duftete betörend nach der exotischen Flüssigkeit, mit der Tante Lani sie besprüht hatte. Ben merkte, wie sein Ärger nachließ. Dafür überkam ihn das Verlangen, Carrie zu lieben, heftiger als zuvor. Er hob den Kopf und küßte begierig ihren Mund, dann die Wangen, die Lider, die schmale Nase und kehrte schließlich erneut zu ihren Lippen zurück. Sein wilder Drang, sie zu lieben, brachte ihn fast um den Verstand, und so wurden seine Küsse ungestüm und fordernd. Zuerst hatte Carrie noch gezögert, doch unter seinen leidenschaftlichen Liebkosungen öffnete sie bereitwillig ihren Mund. Sie spürte, wie Ben zitterte, hörte, wie er aufstöhnte, als sie ihm mit den Fingerspitzen über den Brustkorb strich. Sie konnte dabei fühlen, wie rasch sein Herz schlug. Ben hielt sie innig umfaßt und drückte sie noch fester gegen sich, während er ihr das Kleid von der Schulter streifte. Die Nacht war warm. Eine leichte Brise wehte vom Meer herüber und strich über Carries nackten Rücken. In Bens Augen spiegelte sich der Glanz des Mondes. Der herbe Duft seines Rasierwassers erregte sie in nie geahnter Weise, und sein Begehren übertrug sich auf sie. Carrie atmete schneller, und sie erschauerte. Wie elektrisiert lag sie in Bens Armen, als er ihren Hals und den Haaransatz liebkoste und dann ihre Brustspitzen. Am liebsten hätte Carrie laut geschrien, weil sie seine erregenden Zärtlichkeiten kaum länger ertragen konnte. Sie drängte sich enger an ihn, strich ihm über das weiche Brusthaar und über den Bauch. Sie wand sich vor Erregung. Ben richtete sich halb auf und zog Carrie das Kleid über den Kopf. Bis auf einen kleinen BH aus Spitze und ein winziges Höschen aus champagnerfarbener Seide war sie nun unbekleidet. „Streichle mich, Liebste“, flüsterte er heiser. „Laß mich spüren, wie du mich berührst.“ Carries Fingerspitzen auf seiner Brust zu fühlen, das versetzte ihn in einen Sinnestaumel. Ihre Hände glitten zärtlich und lockend über seine Haut. Sie schloß die Augen, schmiegte sich an ihn und flüsterte immer wieder seinen Namen. Da hob Ben sie hoch, so daß sie jetzt rittlings auf seinem Schoß saß, während sie mit den Knien rechts und links von seinen ausgestreckten Beinen den warmen Sandboden berührte. „Carrie?“ Fieberhaft nestelte Ben am Verschluß ihres Büstenhalters. Er beugte sich vor und nahm die Brustspitzen behutsam zwischen die Lippen. Ihr Gesicht hatte sie dem Mond zugewandt. Deutlich hob sich ihr feingezeichnetes Profil gegen den Himmel ab. „Carrie?“ Sie hielt die Augen geschlossen und antwortete nicht. Wie in Trance saß sie da und bewegte sich im Rhythmus der Wellen, die den Strand erreichten. Wieder nannte er ihren Namen. „Carrie?“ Seine Stimme klang heiser und verhalten, es lag etwas Drängendes, Forderndes in seiner Frage. Carrie kehrte zurück aus dem Zustand zwischen Wachen und Träumen. Eine unsagbare Spannung hatte sich in ihr aufgebaut. Nie zuvor hatte Carrie einen
Mann so begehrt wie Benjamin. Sie fühlte, ihm ging es ebenso. Warum zögerte er dann? Sie vergingen doch beide vor Sehnsucht. Worauf also wartete er noch? Und plötzlich verstand sie ihn. Er wollte von ihr hören, daß sie ohne Vorbehalte bereit war, sich ihm hinzugeben. „Liebe mich, Ben. Ich möchte, daß du mich liebst“, flüsterte sie deshalb. In kürzester Zeit hatte er sich seines Hemdes entledigt und zog ungeduldig an seiner Hose. Schnell zog er ihr den seidenen Tanga aus, dann überschüttete er sie mit wilden, ungestümen Liebkosungen. Carrie preßte sich leidenschaftlich gegen Ben. Immer wieder strich sie über seine erhitzte Haut. Schluchzend vor Erregung stammelte sie dabei seinen Namen. Dann schien sie plötzlich irgendwo zwischen Erde und Himmel zu schweben. Sie hörte, wie jemand laut und lustvoll aufschrie. Doch es wurde ihr nicht bewußt, daß sie selbst es war, die in der Ekstase diesen Schrei ausgestoßen hatte. Gemeinsam mit Ben bewegte sie sich im Rhythmus der Liebe. Immer höher trugen sie die Wogen der Leidenschaft, bis die Spannung ihren Höhepunkt erreichte. Da lösten sie sich widerstrebend voneinander, lagen Seite an Seite im Sand und bemühten sich, wieder ruhig zu atmen. Langsam ebbte die Erregung ab. Der Nachtwind kühlte sie, und Carrie fröstelte. Doch es war nicht nur die plötzliche Kälte, die sie zittern ließ, sondern auch die Angst vor der Intensität ihrer Gefühle. Was hatten Ben und sie gesucht? Ein Liebesabenteuer – nichts weiter. Sie hatten sich zueinander hingezogen gefühlt, und nun waren Gefühle von ungeahnter Stärke frei geworden. Ben und Carrie wagten es nicht, sich anzusehen. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Carrie war nicht bereit, sich zu ihrer Liebe zu bekennen. Und auch Ben war es nicht. Sollte er seinen Lebensstil ändern und eine feste Beziehung eingehen? Das lag ihm fern. Als sie zum Reveille Riff Club zurückfuhren, schwiegen Ben und Carrie. Carrie machte sich Sorgen. Ob Ben jetzt bitter enttäuscht war? Er hatte gehofft, sie würden den Rest der Nacht im Strandhaus verbringen. Immer wieder dachte sie an das Gespräch darüber: „Niemand rechnet damit, daß wir heute nacht noch zurückkehren, Carrie. Ich will mit dir in einem Bett schlafen, neben dir aufwachen, Liebste, gemeinsam mit dir vom Bett aus die Sonne aufgehen sehen. Wir könnten morgen früh nackt in der Bucht schwimmen.“ „Das hört sich alles wunderschön an, Ben, aber ich möchte es nicht.“ Es tat ihr leid, als er sie verständnislos ansah, und sie hätte fast doch noch zugestimmt. Es gab nichts, woran ihr mehr lag, als hier bei ihm im Strandhaus zu bleiben, und sie war nahe daran, seinem Bitten und Drängen nachzugeben. Aber wenn sie das tat, dann würde sie ihr Herz endgültig an ihn verlieren. Carrie senkte den Kopf, damit Ben ihr nicht in die Augen sehen konnte. „Es geht nicht, Ben, versteh doch. Was sollen die anderen davon halten, wenn ich mich nicht um die Arbeit kümmere? Du weißt, wieviel noch zu tun ist. Ich muß organisieren, einteilen, planen und sehen, daß es weitergeht.“ Ben hatte nur halb zugehört. Er blickte auf das Meer hinaus. Ich will mehr als nur diese eine Nacht, dachte er. Er wollte sich davon überzeugen, daß er das, was da vorhin am Strand geschehen war, nicht nur geträumt hatte. So etwas war ihm vorher noch nie passiert. Er bezweifelte fast, daß es Realität war und fragte sich, ob es Carrie ebenso erging. Warum wollte sie unbedingt zurück? Wollte sie allein sein, um nachzudenken?
Er wurde plötzlich eifersüchtig auf ihre Vergangenheit. Was wußte er eigentlich
von ihr?
„Sag mir, Carrie, hattest du schon einmal eine festere Bindung?“
Sie überlegte lange, ob sie darauf antworten sollte. „Einmal für ganz kurze Zeit.
Ich war damals noch ziemlich jung“, gab sie dann zu.
Ben wartete geduldig. Sie würde ihm mehr erzählen.
Carrie sprach nicht gern von jener Episode. Sie war so naiv gewesen!
„Er wollte Rechtsanwalt werden“, stieß sie nach einer Weile hervor. „Wayne und
ich waren Nachbarskinder. Er stammte wie ich aus einer Handwerkerfamilie, aber
seine Eltern hatten den Ehrgeiz, daß ihr Sohn es einmal besser haben sollte. Also
ließen sie ihn studieren.
Anfangs war er damit einverstanden, daß ich arbeitete und Geld nach Hause
brachte, während er aufs College ging. Wenn wir ausgingen, bezahlte ich die
Rechnungen. Schließlich lieh er sich eine größere Summe von mir, fuhr nach
Seattle und bekam dort eine Stellung in einer Anwaltskanzlei. Und auf einmal war
ich nicht mehr gut genug für ihn. Er schämte sich, mit mir gesehen zu werden,
verlangte, daß ich mich besser anzog und meinen Dialekt ablegen sollte. Er
versuchte alles, um mich umzumodeln, aber es gelang ihm nicht. Ich blieb, wie
ich war.
Zu jenem Zeitpunkt hatte ich gerade mein eigenes Unternehmen gegründet. Die
Chefin einer Baufirma zu heiraten, meinte er, wäre für sein Image nicht gerade
passend. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich begriff, daß ich ebenfalls keinen Wert
mehr darauf legte, seine Frau zu werden. Wir beschlossen also, unsere
Zukunftspläne an den Nagel zu hängen, und trennten uns.“
Ben ließ sich keinen Augenblick von ihrer gelassenen, beinahe gleichgültigen Art
zu sprechen täuschen.
„Anscheinend hat jeder von uns seine Enttäuschungen gehabt. Das tut weh,
Carrie, nicht wahr? Stimmt's?“
Carrie hatte soviel Verständnis nicht erwartet. „Du hast recht. In gewissem Sinne
hat Wayne dasselbe mit mir versucht, wie deine Frau mit dir.“
„Ich habe viel durch Wayne gelernt, obwohl das nicht seine Absicht war. Er
brachte mich dazu, über mich selbst nachzusinnen. Was wollte ich eigentlich
erreichen? Was erwartete ich von meinem Leben? Nun, eins steht jedenfalls fest:
Was Ehe und Familie betrifft, da bin ich erst einmal bedient.“
„Durch eine schlechte Erfahrung solltest du aber nicht zu mißtrauisch werden.“
„Würdest du denn noch einmal heiraten?“
„Wo denkst du hin! Nein!“ entgegnete er spontan. „Nicht, daß ich etwas gegen
die Ehe einzuwenden hätte. Meine Eltern, zum Beispiel, sind sehr glücklich
miteinander verheiratet. Nein, ich schätze meine Freiheit zu sehr. Ich liebe es,
unabhängig zu sein, weißt du. Ich habe noch nie einen Menschen nötig gehabt.
Mir ist auch noch keiner über den Weg gelaufen, ohne den ich nicht hätte
auskommen können.“
Worte können wie Nadelstiche sein, dachte Carrie. Ben kann natürlich nicht
wissen, wie sehr er mich mit seiner Äußerung eben verletzt hat.
Sie sah sich wieder auf seinem Schoß sitzen und durchlebte in Gedanken noch
einmal den glücklichen Moment. Dabei erkannte sie, daß Ben derjenige war,
ohne den sie nicht mehr sein mochte, den sie brauchte.
Aber wenn ihm so wenig an ihr lag, dann sollte er nie erfahren, wie ihr zumute
war.
„Mir auch nicht.“ Es kostete Carrie große Mühe, ihre Antwort kühl und
gelangweilt klingen zu lassen. „Nein, mir auch nicht.“
Danach hatten sie ohne ein weiteres Wort den Jeep bestiegen und waren
zurückgefahren. Schon von weitem sahen sie die Lichter des Camps zwischen den Palmen schimmern. Es erinnerte an eine Festbeleuchtung. Carrie hatte im stillen gehofft, daß alle bereits schlafen würden, wenn Ben und sie einträfen. Statt dessen kam ihnen Eliza aufgeregt entgegen. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, Carrie und Ben zu begrüßen. „Seht euch das an! Kaum sind wir mal nicht hier, schon ist der Teufel los. Unser Freund hat uns wieder einen Besuch abgestattet. Was sagt ihr zu dieser Gemeinheit?“ Sie wies auf den gerade erst fertiggestellten Bungalow. Jemand hatte die Holztreppe in einem widerlichen Gelb gestrichen. Die Farbe war sogar noch naß. Das alte Waschbecken, das sie herausmontiert hatten, weil es durch ein neues ersetzt werden sollte, lehnte an der Hauswand. Auch andere Teile der Inneneinrichtung, die bereits auf den Schrotthaufen gewandert waren, hatte man wieder hervorgeholt. Auch sie lehnten säuberlich in Reih' und Glied an der Vorderfront des Hauses. Da hatte sich jemand viel Mühe gegeben, alles wieder genau dort hinzubringen, wo es gewesen war, bevor die Restaurierungsarbeiten begannen. „Wo steckt Grace?“ „Kimo hat sie nach dem Essen in seinem Wagen mitgenommen. Er sagte, er hätte etwas mit ihr zu besprechen.“ Ben war verärgert. „Habt ihr außer der Schmiererei auf der Treppe noch andere Schäden entdecken können?“ James schüttelte den Kopf. „Soweit ich es in der Dunkelheit feststellen konnte, nicht. Aber ich wollte gerade die Stablaternen holen und mit dir das Gelände noch einmal absuchen. Oder meinst du, wir sollten warten, bis es hell wird?“ „Laß uns gleich gehen, James. Wahrscheinlich ist es zwecklos, aber ich will nichts unversucht lassen. Es ist mir einfach unbegreiflich, wozu diese sinnlose Zerstörung dienen soll.“ Eliza war Carrie ins Haus gefolgt. Sie warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Du siehst aus wie eine Katze, die eine Schüssel Milch ausgeleckt hat. Also haben Tante Lanis Zauberformeln und meine guten Ratschläge funktioniert? Du hattest Erfolg bei deinem Playboy?“ „Liza! Bitte verschone mich mit deiner Fragerei. Ich bin nicht in der Stimmung für ein Verhör. Außerdem bin ich todmüde. Sag mir nur noch eins: Steht in all den schlauen Büchern, aus denen du deine Weisheit beziehst, auch etwas über die mutmaßliche Dauer einer rein geschlechtlichen Beziehung zwischen Mann und Frau?“ „Selbstverständlich!“ Eliza ereiferte sich. „Ungefähr vier bis sechs Monate, heißt es. Und höchstens sechs Wochen soll es dauern, bis man sich davon erholt hat. Dann bist du wieder so gut wie neu. Nur um eine Erfahrung reicher.“ Nüchtern betrachtet, dachte Carrie, kommt das zeitlich genau hin. Den Anfang haben wir heute gemacht. Mindestens vier Monate nehmen die Bauarbeiten noch in Anspruch. Danach kommt das unvermeidliche Ende meiner Beziehung zu Ben. Anschließend könnte ich ein berufliches Fortbildungsseminar besuchen, um über die Trennung hinwegzukommen. Januar, Februar sind Monate, die für das Baugewerbe von jeher Sauregurkenzeit waren. Also… nüchtern betrachtet ist die Idee, meine Affäre mit Benjamin fortzusetzen, gar nicht so abwegig und außerdem sehr reizvoll. „Auf etwas muß ich dich allerdings hinweisen“, unterbrach Eliza Carries Gedankengänge. „Das alles funktioniert nur, solange du dir nichts vormachst. Wenn die Vorstellung von Hochzeitsglocken und Brautschleier bei dir Formen
annimmt, bist du verraten und verkauft. Unzähligen Frauen geht es leider so. Sie
sind selber schuld, wenn sie hinterher leiden müssen. Nur wenn du die Sache
realistisch siehst, kannst du dich darauf verlassen, daß es in sechs Wochen
überstanden ist.“
Carrie dachte an Bens spontane Reaktion, als das Thema Heiraten aufkam.
„Keine Sorge, Eliza. Wir betrachten die Angelegenheit beide völlig realistisch.
Und nun, gute Nacht.“
„Ich bleibe noch auf und warte auf Grace. Mal sehen… vielleicht gebe ich ihr auch
ein paar Ratschläge.“
„Wage das nur nicht! Grace ist nicht wie ich. Sie würde nicht damit fertig, sie ist
sehr leicht zu verletzen.“
„Als ob ich das nicht auch wüßte! Grace ist genau der Typ für Kranz und Schleier.
Was ihr fehlt, sind ein Mann und eine Schar Kinder. Was Kimo heute wohl bei ihr
erreicht hat?“
„Wie steht es denn mit dir und James, Eliza? Funkt es nicht bei euch?“
Eliza schüttelte den Kopf. „James Crawford ist ein großartiger Mensch, ein
richtiger Freund und Kamerad. Aber mehr auch nicht, Carrie. Hat Ben dir erzählt,
daß James und er auf Motorrädern über die Pässe in den Schweizer Alpen
gefahren sind? James sagt, Ben sei der beste Freund, den man sich denken
kann.“
„So?“ Carrie gähnte herzhaft und zog sich endgültig zurück.
Sie ignorierte Elizas Bemerkung absichtlich. Das paßte nicht in das Schema, das
sie sich von Ben als Playboy und Surfer gemacht hatte.
Carrie merkte, daß sie anfing, Benjamin mit anderen Augen zu betrachten. Sie
mußte zugeben, daß er ein warmherziger, mitfühlender, toleranter und
verständnisvoller Mensch war. Ein Mann, der ihr nicht nur ein perfekter
Liebhaber, sondern auch ein Freund sein könnte.
Das störte das Bild, das sie sich anfangs von ihm gemacht hatte. Irgendwie paßte
es Carrie nicht. Sie hätte es vorgezogen, wenn Ben nicht so gute Eigenschaften
besäße. Sie wollte lieber in ihm den Playboy sehen.
7. KAPITEL Samstag morgen kam Tante Lani in aller Frühe wieder. Sie holte ihre „Schützlinge“ aus den Betten, bereitete das Frühstück, und dann gingen sie an die Arbeit. Den Vormittag hindurch hatte Carrie alle Hände voll zu tun, um die in der Nacht angerichteten Schäden zu beseitigen. Das Khakigelb auf den Treppenstufen erwies sich als besonders hartnäckig. Die Farbe hatte das Holz durchtränkt, und schließlich mußte Carrie ihre Absicht aufgeben, das Material in seiner natürlichen Beschaffenheit zu belassen. Die Farbe ließ sich nicht wieder entfernen. Lani hörte Carrie schimpfen und wollte wissen, was passiert war. Als sie die khakigelben Stufen sah, wurde sie aschfahl und sagte bedauernd: „Wäre ich hier gewesen, wäre das nicht passiert.“ „Wenn James und ich den Kerl erwischen, Tante Lani, dann kann er sich auf etwas gefaßt machen. Egal, wer es ist. Wenn wir mit ihm fertig sind, wird er sich nie wieder an anderer Leute Eigentum vergreifen“, schimpfte Ben. Benjamin war den ganzen Morgen ungewöhnlich schweigsam gewesen. Nur der Blick, mit dem er Carrie ab und zu ansah, zeigte, daß er das Erlebnis der vergangenen Nacht ebensowenig vergessen konnte wie sie. Er glaubte immer noch, Carries rauhe, aufgesprungene Hände auf seinem Nacken zu fühlen. Sie hatten so gar nichts gemeinsam mit der streichelweichen Haut ihrer Brüste. Er dachte daran, wie sich ihre Schenkel angespannt hatten, während sie seine Lenden umklammert hielten. Ben wandte sich ab, damit niemand seine aufsteigende Erregung bemerkte. Er mußte sich unbedingt etwas einfallen lassen. Seine Sehnsucht nach Carries Liebkosungen wuchs von Stunde zu Stunde, und das war eine völlig neue Erfahrung für ihn. Noch nie hatte er sich nach einer Partnerin richten müssen. Die Frauen, mit denen er bisher Liebesaffären hatte, fühlten sich geschmeichelt, wenn er Gefallen an ihnen fand. Sie waren nur allzu bereit, sich nach ihm zu richten, und dankbar für jede Minute seiner kostbaren Freiheit, die er ihnen widmete. Aber Carrie? Ein Liebesabenteuer mit ihr würde alles andere als einfach sein. Als erstes hatte sie Ben unmißverständlich klargemacht, daß ihre Arbeit Vorrang hatte. Seine Gesellschaft war für sie demnach zweitrangig. „Na, worüber zerbrichst du dir den Kopf?“ Carrie war unbemerkt hinzugetreten. „Ich überlege. Ich möchte gern, daß wir eine Zeitlang von hier fortgehen. Nur du und ich. Hier sind so viele Menschen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist ausgeschlossen, Ben, das mußt du doch verstehen. Du kannst tun und lassen, was du willst, aber ich nicht. Eliza, Grace, die Firma, mein Vater… alle sind von mir abhängig, Ben. Du siehst doch, was passiert, wenn wir nur für ein paar Stunden fort sind. Wir haben einen ganzen Tag verloren, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Außerdem sollten wir uns nicht noch tiefer in etwas hineinsteigern. Es reicht, daß es überhaupt so weit gekommen ist.“ Ben verstand Carrie nicht. War das dieselbe Frau, die in seinen Armen geglüht hatte? Dort stand sie und erklärte ihm nüchtern, sie könne sich kein Liebesverhältnis leisten, ihre Arbeit sei wichtiger. „Carrie, begreifst du denn nicht? Wir haben auch das Recht, das Leben zu genießen und zu lieben. Eine Woche, eventuell auch zwei. Was macht das schon aus? Wir fliegen hinüber nach Maui oder… warte mal… ich kenne ein verschwiegenes Plätzchen auf Molokai. Es ist ein kleines Blockhaus, das mitten im Wald liegt. In der Nähe gibt es einen Wasserfall, das Wasser dort ist
kristallklar. Weit und breit findet sich keine Menschenseele, Carrie. Vergiß nicht, ich bin hier der Bauherr. Wenn ich also sage, wir machen jetzt Urlaub, dann geht das in Ordnung.“ Carrie wußte nicht, was sie mehr empörte. War es die unbekümmerte Art, mit der Ben sich über ihre Arbeit und ihre Verantwortung hinwegsetzte? Oder war es die nüchterne Planung, was die Fortsetzung ihrer Beziehung betraf? Eine Woche, eventuell auch zwei. Natürlich, bei seiner Erfahrung! Sie, Carrie, war mit Sicherheit nicht die erste, die er in dieses Liebesnest mitnahm. Woher kannte er sonst wohl dieses Versteck? „Ich geb's auf! Es hat keinen Zweck. Du wirst nie begreifen, was es heißt, Verantwortung zu tragen. Ich kann hier nicht alles stehen und liegen lassen, weil dir nach Urlaub zumute ist. Ich bin anders als du, Ben. Es wird langsam Zeit, daß du das einsiehst.“ Ärgerlich drehte Carrie sich um. Sie wollte davoneilen. Ben erwischte jedoch ihren Arm und riß sie grob zurück. „Jetzt hörst du zu und hältst deinen Mund, du eigensinniges Frauenzimmer! Du bist störrischer als ein Esel und noch dabei unvernünftig. Wenn du dich weigerst, mit mir fortzufahren, dann werde ich Mittel und Wege finden, um hier im Club mit dir zu schlafen. Ganz gleich, ob die anderen etwas merken oder nicht. Ich weiß, du sehnst dich genauso nach mir wie ich mich nach dir. Also hör endlich auf, dir etwas vorzumachen. Damit kommst du nicht weit. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann bekomme ich es auch. Das wirst du schon noch merken.“ Endlich ließ er ihren Arm los, Carrie stürzte davon. Bens Zorn legte sich ebenso rasch, wie er entstanden war. Warum regte er sich eigentlich auf? Er hatte es ja eben erst gesagt: er würde schon Wege finden, Carrie erneut zu lieben. An Gelegenheiten würde es schon nicht mangeln. „Hallo! Können Sie mir sagen, wo ich Ben Gilmour finde? Wie ich gehört habe, hält er sich jetzt hier auf? Ich muß schon sagen, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Verglichen mit seiner Villa in Haleiwa ist das hier doch das Letzte!“ Carrie hatte gerade eine Nagel einschlagen wollen. Er verfehlte sein Ziel und prallte ab. Sie hatte zwar ein Auto kommen hören, aber seit Tante Lani bei ihnen wohnte, hatten sie häufiger Besuch. Deren zahlreiche Verwandte sahen gelegentlich vorbei. Deswegen hatte Carrie erst einmal nicht darauf geachtet, daß ein Auto in ihrer Nähe parkte. Aber solch ein schnittiges, feuerrotes Sportcabriolet besaß bestimmt niemand aus Lanis Verwandtschaft. Der Schlitten paßte viel eher in Benjamins Kreise. Carrie war von der anstrengenden Arbeit erhitzt. Erschöpft wischte sie sich über das Gesicht und schmierte sich dabei Schmutz und Öl auf Stirn und Wangen. „Ben und ich, wir sind gute Freunde. Wenn Sie also wissen…“ Carrie nickte kurz. Dann nahm sie die Nägel in die Hand, die sie zwischen den Lippen hielt und rief so laut, daß es weithin zu hören war: „Ben? Hier will dich jemand sprechen.“ Dann wandte sie sich wieder der Tür zu und setzte ihre Arbeit fort. Das bedeutete jedoch keineswegs, daß sie nicht genau hörte, was hinter ihrem Rücken vorging. Die lautstarke Begrüßung war nicht zu ignorieren. „Hallo! Debbie! Wie geht es dir? Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie hast du mich gefunden?“ „Benjie! Du Ärmster! Was ist denn mit deinem Fuß? Deshalb bist du also nicht zum Surfen gekommen. Wir haben dich alle so vermißt!“ Dieses Getue von Debbie war kaum zu ertragen. Und dann nannte sie ihn „Benjie!“ Gräßlich! Carrie klopfte mit Wucht die Nägel in den Türrahmen. „Ich schlage vor, wir gehen hinüber zu Tante Lani. Sie hat bestimmt eine
Erfrischung für uns. Hier sind wir den Handwerkern nur im Weg.“ „Handwerker? Willst du etwa behaupten, diese Frauen seien Handwerker? Also, das sieht dir wieder ähnlich, Benjie. Du bist wirklich ein Teufelskerl, einen Trupp weiblicher Handwerker zu engagieren…“ Die beiden entfernten sich, und die Stimmen wurden so leise, daß Carrie nichts mehr verstand. Es klingt, als wären Eliza, Grace und ich Akrobaten, dachte sie und konzentrierte sich wieder auf den Türpfosten. Aus der Meinung anderer Menschen über ihren Beruf hatte sie sich nie viel gemacht. Warum sollte sie sich jetzt aufregen? Der bittere Geschmack auf der Zunge kam wahrscheinlich von den Nägeln. James und Eliza setzten gerade ein Fenster in den Bungalow ein. Sie hörte, wie James zu Eliza sagte: „Es sieht so aus, als habe Bens Vergangenheit ihn eingeholt.“ Als er merkte, daß Carrie seine Worte mitbekommen hatte, schwieg er betreten. Eine Viertelstunde später kniete Carrie auf dem Boden und klopfte den letzten Nagel in die Türverschalung ein. „Carrie ist die Chefin des Unternehmens. Carrie? Debbie möchte dich gern kennenlernen.“ Sie hatten also schon ihre Erfrischung getrunken und standen nun wieder hinter ihr. Carrie holte aus und schlug so heftig auf den Nagel ein, daß das Holz zerbarst. Eine ganze Stunde angestrengten Arbeitens war umsonst gewesen! Am liebsten hätte Carrie den Hammer auf Bens Kopf niedersausen lassen. Langsam richtete sie sich auf und ergriff verärgert Debbies ausgestreckte weiße Hand. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, diese gepflegten sauberen Finger ein wenig zu fest zu drücken. Debbie verzog keine Miene, was Carries Stimmung nicht gerade verbesserte. „Nein, ist das süß! Ich habe noch nie eine Unternehmerin kennengelernt. Noch dazu ist sie die Chefin von einem Team weiblicher Zimmerleute. Faszinierend! Es muß schwierig sein, mit Holz umzugehen, nicht wahr? Warum ist dieses Holzbrett geborsten?“ „Wie reizend von Ihnen, zu uns herauszukommen und Ben Gesellschaft zu leisten.“ Carrie konnte, wenn sie wollte, sehr charmant sein. „Er langweilt sich fast zu Tode, der Ärmste, weil er nichts mit sich anzufangen weiß. Eliza, Grace und ich können ihm nicht viel Zeit widmen. Wir müssen nämlich arbeiten und unser Geld verdienen. Da können wir Benjie nicht soviel Aufmerksamkeit schenken, wie er es sonst immer gewohnt ist. Jedenfalls war es nett, Sie kennenzulernen. Warum kommen Sie nicht öfter? Bringen Sie doch Ihre Freunde mit. Der arme Benjie! Ihm fällt bei uns die Decke auf den Kopf. Der Gipsfuß ist doch recht lästig, wissen Sie. Bestimmt würde er sich über ein bißchen Gesellschaft freuen. Stimmt es, Ben? So ist es doch, nicht wahr?“ Carrie lächelte ihn an, als ob sie kein Wässerchen trüben könne. „Du würdest aufatmen, wenn du Besuch bekämst und etwas Unterhaltung hättest?“ Benjamin gab keine Antwort. Seine Miene war finster. Debbie hatte in ihrem roten Sportcabriolet kaum das Grundstück verlassen, da fuhr Ben Carrie an: „Was fällt dir ein? Ich brauche keinen Babysitter, und am allerwenigsten möchte ich die alte Clique um mich haben.“ Sein Gesicht war hochrot vor Aufregung. Die grauen Augen blitzten. „Ich weiß wirklich nicht, was manchmal in dich fährt, Carrie Cossini. Da bemühe ich mich seit Wochen, diesen Leuten aus dem Weg zu gehen, und jetzt werden sie denken, sie tun mir einen Gefallen, wenn sie mich besuchen.“ Carrie hatte ihm den Rücken zugekehrt und tat, als höre sie nicht zu. Eifrig zog
sie Nägel aus dem gespaltenen Holz. Dabei pfiff sie leise vor sich hin. Ben stand hinter ihr und beobachtete sie stillschweigend. „Wenn du für die Türverschalung stärkeres Holz genommen hättest, wäre es wahrscheinlich nicht geplatzt. Oder paßten die Nägel nicht?“ Wie der Blitz fuhr Carrie herum. Den Hammer in der Faust kam sie auf ihn zu. Ihr Gesicht war vor Empörung verzerrt. Unwillkürlich faßte Ben seine Krücken fester und machte ein paar Schritte rückwärts. „Wirst du mich jetzt endlich in Ruhe lassen, Ben Gilmour! Du… du Besserwisser! Wieso glaubst du, jedem kluge Ratschläge erteilen zu können? Du brauchst mir wahrhaftig nicht zu sagen, wie ich meine Arbeit machen soll. Und du brauchst dir auch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich mit meinem Leben anfangen könnte. Soviel ich weiß, bist du kein Experte. Weder für das eine, noch für das andere. Was aber deine Gespielin angeht, Benjie, mein Schatz, so kann ich nur hoffen, daß sie dich beschäftigt und von mir fernhält.“ „Und dich, Carrie Cossini, sollte mal jemand übers Knie legen und dir eine ordentliche Tracht Prügel verabreichen.“ Böse drehte Ben sich um und humpelte mit seinen Krücken zur Bucht. Wenn sie Wert darauf legte, daß er sie in Ruhe ließ… bitte, das konnte sie haben. Es fehlte noch, daß er hinter einer Frau herlief, die ihn nicht wollte. Das war ganz und gar nicht sein Stil. Carries fortwährende Kritik an seinem Lebenswandel fiel ihm sowieso allmählich auf die Nerven. Sicher, er schlug selbst keine Nägel ein. Sollte er deswegen keinen Vorschlag machen dürfen? Ben war so verärgert, daß es fast eine Stunde dauerte, bis ihm ein interessanter Gedanke kam. Warum ereiferte sie sich eigentlich so, wenn ihr nicht doch etwas an ihm lag? Ben mußte plötzlich lächeln. Vielleicht war sie eifersüchtig? Andererseits, wer konnte bei Carrie wissen, woran man war? Ben kam zu dem Schluß, daß er sich nie zuvor soviel Gedanken über eine Frau gemacht hatte. Wohin soll das nur führen? Er sagte sich, daß ihn nach Carrie andere Frauen in ihren Bann ziehen würden. Im Augenblick verspürte er jedoch nicht die geringste Lust, mit anderen Frauen zu flirten. Eigentlich stimmte ihn das bedenklich, denn das Flirten war ihm sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen. Es war und blieb demnach eine unumstößliche Tatsache, daß sich alles verändert hatte, seitdem er Carrie kannte. „Du gehst ihm sofort nach und entschuldigst dich.“ Wenn Tante Lani diesen Ton anschlug, war es zwecklos, mit ihr zu diskutieren. Das hatte Carrie inzwischen gelernt. Es würde ihr wohl nichts anderes übrigbleiben, als sich in das Unvermeidliche zu fügen. Außerdem hatte sie das unbestimmte Gefühl, daß sie Ben Unrecht getan hatte. Schließlich war es nicht seine Schuld, daß Debbie hier aufgetaucht war. „Mach nicht solch ein finsteres Gesicht!“ rief Tante Lani Carrie nach, als die den Weg zur Bucht einschlug. Sie entdeckte Ben unten am Strand bei den Klippen. Der Pazifische Ozean hatte an vielen Stellen das Gestein ausgewaschen, so daß sich kleine höhlenartige Vertiefungen gebildet hatten. In einer davon hockte er und blickte nachdenklich auf das Meer hinaus. Die langen Beine hatte er gegen den dunklen Fels gestemmt. Er stützte sich mit den Armen auf. Der Wind zerzauste seine Haare, bis auf eine winzige Badehose war er unbekleidet. Carrie suchte nach Worten. „Es war falsch von mir, dich anzuschreien. Es tut mir leid, Ben.“ „Das sollte es auch!“ Ben verhielt sich abwartend. Mit dieser dürftigen
Entschuldigung gab er sich nicht zufrieden. „Wenn du alle Leute, die es gut mit dir meinen, so vor den Kopf stößt, dann wundert es mich, daß du überhaupt noch Freunde hast.“ Carrie hörte kaum, was Ben sagte. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Alles an ihm schien ihr attraktiv und kraftvoll zu sein. Es gab keinen Zweifel, er war der Mann, zu dem es Carrie mit jeder Faser ihres Herzens hinzog. Wenn sie völlig allein auf dieser paradiesischen Insel leben müßte, mit einem einzigen Mann als Liebhaber und Freund, dann würde ihre Wahl immer nur auf Benjamin fallen. Ihr Liebhaber war er gewesen, aber konnte er auch ihr Freund sein? Wie taktvoll war er auf sie eingegangen, als sie ihm von ihrer Mutter erzählte! Er war ein guter Zuhörer, das mußte sie zugeben. Und war das nicht eine wichtige Voraussetzung der Freundschaft? „Was ist nun? Versprichst du, mich nie mehr so anzubrüllen?“ Ben schob sich langsam an die Kante der Felsmulde und begann, sich vorsichtig herabzulassen. Carrie lächelte spitzbübisch. „Das kann ich nicht versprechen, Ben. Das wäre unfair dir gegenüber. Du kennst mein Temperament. Wenn es mit mir durchgeht, dann schreie ich. Aber ich könnte dir versprechen, daß ich mich entschuldigen werde, wenn ich im Unrecht bin. Genügt das?“ „Nicht ganz.“ Ben stand inzwischen auf der Erde. Nun trat er dicht an Carrie heran. „Es sei denn, du fügst deiner Entschuldigung noch etwas hinzu.“ Blitzschnell legte er den Arm um ihre Taille, zog Carrie an sich, neigte sich über sie und küßte stürmisch ihren Mund. Der Kuß überraschte sie, und es wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Die Beine drohten, unter ihr nachzugeben, deshalb lehnte sie sich an seine Brust. „Du bringst mich durcheinander, Carrie“, murmelte Ben und biß ihr zärtlich ins Ohrläppchen. Sein Atem strich dabei über ihren Hals, und Carrie zitterte vor Wonne. „Einmal bist du einfach unausstehlich, ein andermal bist du unwiderstehlich, einmal bist du streitsüchtig und eine Kratzbürste, und im nächsten Moment kannst du zärtlich und liebevoll sein. So etwas wie dich gibt es nicht noch einmal.“ Carrie schmiegte sich noch enger an ihn. Er roch so schön frisch nach Meer und Salz, und sie spürte sein Verlangen. „Mir geht es genau wie dir, Ben“, flüsterte sie. „In deiner Nähe kann ich kaum klar denken.“ Bens Verlangen, sie zu lieben, wuchs. Sehnsüchtig verbarg er das Gesicht in ihren Locken. Einige hundert Meter weiter liefen Eliza und Grace über den Sandstrand. Sie waren in die Bucht gekommen, um sich vor dem Essen in den Wellen abzukühlen. Ben nahm Carries Gesicht zwischen die Hände und schob sie sanft von sich. „Ich warne dich, du kleine Verführerin. Sonst werde ich dich in den kommenden Wochen lieben, wann und wo immer sich eine Gelegenheit dafür bietet. Jedesmal, wenn du den Mund öffnest, um mich auszuschimpfen, werde ich dich küssen und zwar so lange, bis dein Gesicht so rosig und weich, deine Miene so zärtlich ist wie jetzt.“ Liebevoll küßte Ben sie auf Nasenspitze, Stirn und Wangen. Gegen diese Warnung hatte Carrie nichts einzuwenden. Sie reckte sich und drückte ihm einen letzten Kuß auf die Lippen. „Abgemacht, Ben Gilmour, der Handel gilt! Jetzt komm aber. Ich bin halb verhungert. Lani ist sicher schon ungeduldig. Sie wird mit dem Essen auf uns warten.“ Eliza und Grace waren schon nirgends mehr zu sehen. Ben nahm seine Krücken,
und sie machten sich auch auf den Heimweg. „Wenn du nicht so reich wärest, was würdest du dann gern machen? Was möchtest du sein?“ Die Frage beschäftigte Carrie schon lange. Es gab doch nichts, was die Gilmours nicht besaßen oder sich nicht leisten konnten. Welche Wünsche blieben bei einem solchen Menschen offen? Bens Antwort überraschte sie. „In Kanada lernte ich jemand namens Hermann Bennington kennen. Er hatte ein Stück Land erworben, und er hörte nicht auf, mir davon vorzuschwärmen. Ich verstand nicht, wie man sein ganzes Herz an ein Fleckchen Erde hängen konnte. Damals führte ich ein ziemlich wildes, unstetes und verschwenderisches Leben. Ich wollte es nicht anders; es war mein eigener, freier Entschluß. Trotzdem erfüllte mich nach einiger Zeit so etwas wie Neid. Hermann Bennington war im Grunde reicher als ich. Er besaß etwas, wo er hingehörte. Er konnte seinen Boden bearbeiten, säen, pflanzen, ernten… Dort war sein Zuhause, dort fand er Frieden.“ Bens Worte berührten Carrie. Sie paßten nicht zu einem unbekümmerten, lebenshungrigen Playboy. „Hast du ihn je wiedergesehen?“ „Hermann Bennington? Nein. Er lud mich zwar ein, ihn zu besuchen, aber James und ich planten gerade irgendwie eine Reise, und dann kam immer etwas anderes dazwischen. Es hat jedenfalls nie geklappt.“ Ben verschwieg, daß er einem Wiedersehen mit Hermann absichtlich aus dem Weg gegangen war. Dessen Art zu leben, hob seine eigene Rastlosigkeit um so stärker hervor. „Setz dich jetzt und iß erst! Du wirst von Tag zu Tag dünner. Wenn du so weitermachst, bestehst du bald nur noch aus Haut und Knochen. Männer mögen das nicht, laß dir das gesagt sein! Sie möchten etwas zum Greifen haben, wenn sie eine Frau in die Arme nehmen. Ganz egal, wie ihr heutzutage darüber denkt.“ Tante Lani hatte die Hände in die Seiten gestemmt. Sie duldete es nicht, daß Carrie, ohne zu frühstücken, an die Arbeit ging. Carrie hatte an diesem Morgen verschlafen. Sie konnte sich nicht erinnern, daß das jemals vorgekommen war. Das ging auf Bens Konto. Er hatte mitten in der Nacht eine Leiter an ihr Fenster gestellt und gedroht, zu ihr hinaufzuklettern und bei ihr einzusteigen, wenn sie nicht sofort zu ihm herunterkäme. Carrie sah das Unfallrisiko und tat schleunigst, was er verlangte. Sie waren zum Strand gegangen, und dort hatten sie sich leidenschaftlich geliebt, bis der Morgen dämmerte. Jetzt nippte Carrie an Lanis starkem, heißen Kaffee und sah ihren beiden Mitarbeiterinnen verschlafen beim Arbeiten zu. Grace verlegte in einem der Bungalows einen neuen Holzfußboden. Eliza war dabei, in einem anderen eine Wand niederzureißen. Soeben tauchte ihr roter Schopf wieder aus einer Staubwolke auf. Sie winkte Carrie einen fröhlichen Gutenmorgengruß zu. James stand an der Kreissäge und schnitt Bretter zu, die waren vom Lastwagen des Holzlieferanten gerade abgeladen worden. Alles ging seinen gewohnten Gang, ohne daß sie, die Chefin, dabeigewesen war, um aufzupassen und Anordnungen zu erteilen! Es lief alles einwandfrei, wie Carrie sich unwillig eingestehen mußte. Tante Lani brachte ein Tablett mit Spiegeleiern und Frühstücksspeck, gebutterten Toastscheiben und bitterer Orangenmarmelade und dazu noch drei Scheiben Honigmelone. Sie schenkte sich einen Becher Kaffee ein und setzte sich. „Nun laß es dir schmecken, Kind“, sagte sie freundlich und fügte hinzu, nachdem sie Carrie eine Weile beobachtet hatte: „Eines mußt du dir merken, Carrie Cossini. Kein Mensch ist unentbehrlich. Jeder ist zu ersetzen, und das ist auch gut so. Gib deinen Leuten ein bißchen mehr Verantwortung, glaub nicht, du
müßtest alles selbst machen. Es stärkt ihr Selbstvertrauen, und dir kann ein wenig Schlaf nicht schaden. Und, laß dir ein bißchen Zeit für die Liebe! Eine, die deinen Platz einnimmt, ist immer schnell zur Stelle.“ Lani trank ihren Kaffee aus, erhob sich und ließ Carrie allein. Allein mit ihren Gedanken.
8. KAPITEL Nach der gemeinsamen Nacht mit Carrie war Ben an den Strand zurückgekehrt. Er schwamm eine Weile, nahm dann seine Krücken, suchte sich einen trockenen Platz auf dem Sand, setzte sich auf das mitgebrachte Badelaken und starrte auf das Meer hinaus. In der Ferne bemerkte er James. Der kniete auf seinem Surfbrett und schickte sich an, auf die Füße zu kommen. Dies war eine Sache der Balance und der Übung. Deshalb galt unter den Surfern der Start als schwierigster Augenblick. Gleich darauf stand er breitbeinig aufrecht und versuchte, auf seinem Brett mit einer Geschwindigkeit von schätzungsweise 25 Stundenkilometern die abenteuerliche Brandung zu durchqueren. Teils waren die Wellen zehn Meter hoch. Der silberne Glanz des Morgenhimmels war einem rosigen Schimmer gewichen. Der ganze Horizont erstrahlte in dieser wunderschönen Farbe. Und dann tauchte die Sonne hinter der endlosen Wasserfläche empor. Schmal wie eine Sichel zunächst, doch bald eine glühende, orangerote Kugel. Der neue Tag hatte begonnen. Weit draußen sah Ben James nun mit der Brandung landeinwärts gleiten. Er mußte daran denken, daß James Cook schon 1771 die ersten Surfer vor Tahiti beobachtet hatte. Das erzählte man sich jedenfalls in SurferKreisen. Die Hawaiianer berichteten gern die Geschichte von Holua, einem Polynesier. 1863 paddelte er von dem berühmten Makaha Beach auf Hawaii aus bäuchlings auf seinem Surfbrett aufs Meer hinaus. Von einem unterirdischen Seebeben ausgelöst, rollte ihm dort eine fünfzehn Meter hohe Welle entgegen. Er überstand dieses Abenteuer. Außer ihm soll niemals wieder ein Mensch auf einer höheren Welle geritten sein. Ben liebte eigentlich das Surfen. Er mußte daran denken, wie schwer es anfangs gewesen war, bäuchlings auf dem Brett dorthin zu paddeln, wo sich die Wellen zu schwindelnder Höhe türmten. Wie lange hatte es gedauert, bis er sich endlich auf dem tanzenden Brett halten konnte! Anstatt James zu beneiden, der dort draußen seinem Vergnügen nachging, überkam Ben eine seltsame Unruhe. Er dachte an die vielen Jahre, in denen er sich ausschließlich auf das Surfen konzentriert hatte. Vertane Zeit, nach Ansicht seines Bruders Mitchell. Und hatte er nicht recht? Ben mußte auf einmal an Carrie denken. Nur sie zählte noch. Er brauchte sie, er wollte nur sie… Auch wenn ihn das Surfen auf einmal nicht mehr interessierte: Hawaii würde er nicht verlassen. Hier gehörte er her. Irgendwie meinte er neuerdings, auf diesen Inseln zu Hause zu sein. Benjamin saß im Wartezimmer der Klinik. James hatte ihn dort abgesetzt und war dann wieder zum Riff Club gefahren, wohin ihn die Arbeit rief. Wahllos blätterte Ben in den Zeitschriften und las die Schlagzeilen. Ein Artikel weckte dann seine Aufmerksamkeit, und er begann zu lesen. Es ging darin um einen Kanadier, dem es gelungen war, neue Pilze zu züchten. Ben las den Artikel zweimal aufmerksam durch. Die Entdeckung faszinierte ihn als Botaniker. Der Arzt entfernte den Gipsverband und empfahl Ben, den Fuß allmählich wieder zu belasten und auf die Krücken zu verzichten. Ben war glücklich. Das mußte gefeiert werden! Er ging zu Rosies Kantine, einem seiner Stammlokale, um ein Bier zu trinken. Aber die Stimmung war dort gedrückt und deshalb verließ er das Lokal bald. Rosie hatte ihm erzählt, daß die Arbeitslosigkeit auf der Insel immer ernstere
Formen annahm. Ben wußte, daß der Absatz von Ananasfrüchten und Zuckerrohr, zwei der Hauptausfuhrprodukte von Hawaii, erschreckend zurückgegangen war. Die Folge davon waren Entlassungen. Der fehlende Schlaf machte Ben zu schaffen. Jetzt zum Reveille Riff zurückzukehren, hätte keinen Sinn. Um diese Zeit wurde dort laut und lärmend gearbeitet. Da war an Schlaf nicht zu denken. Außerdem mußte er eine Weile allein sein und nachdenken. Die Unruhe, die ihn morgens am Strand befallen hatte, meldete sich wieder. Ben ging zu einer Telefonzelle und wählte Kimos Nummer. Der überließ ihm großzügig die Schlüssel zu seinem Apartment, das in einer stillen Seitenstraße lag. Ben ließ sich bald auf Kimos Bett sinken und schlief sofort ein. Als er erwachte, nahm ein Gedanke konkrete Formen an. Mit einem Satz war er aus dem Bett. Ob sich seine Idee in die Tat umsetzen ließ? Er hatte auf einmal das Gefühl, von einer schweren Last befreit zu sein. Ihm eröffnete sich ein weites Feld von Möglichkeiten. Eine bisher unbekannte Zielstrebigkeit erfüllte ihn, und er hätte jubeln mögen. Aufgeregt wartete er auf die Telefonverbindung nach Vancouver. Ob er den Botaniker erreichen würde, dessen Name in dem Artikel auch genannt worden war? Carrie machte einen Inspektionsrundgang durch die Clubanlage. Seit ihrer Ankunft auf Hawaii waren neun Wochen verstrichen. Sie kamen mit den Bauarbeiten außergewöhnlich gut voran. Bis auf den Bungalow, den Ben und James bewohnten, waren alle fertiggestellt. Jetzt konnten die beiden Männer in einen der neuen Bungalows umziehen, damit auch noch der letzte renoviert werden konnte. Danach sollte dann das größte Projekt an die Reihe kommen: das Haupthaus. Sie konnte zufrieden sein. Alles war bisher gelungen. Es sah ganz danach aus, als würden sie sogar vor der festgesetzten Frist fertig. Eliza Blake hatte sich Carrie auf ihrem Rundgang angeschlossen. „Wo steckt eigentlich Ben in letzter Zeit, Carrie? Seit vierzehn Tagen sieht man ihn kaum noch. Jedenfalls tagsüber nicht“, setzte sie augenzwinkernd hinzu. Carrie hatte sich diese Frage selbst hundertmal vorgelegt. Seit jener Nacht mit ihr verhielt er sich äußerst merkwürdig. Sie sah ihn so gut wie nie und hatte nicht die leiseste Ahnung, womit er seine Zeit verbrachte. „Warum fragst du ihn nicht einfach? Schließlich seid ihr beide euch doch nicht fremd.“ Carrie wurde rot. Natürlich wußten alle im Camp Bescheid über ihre Beziehung zu Ben. Es ließ sich nicht immer vermeiden, daß sie zusammen gesehen wurden. Ben mochte zwar tagsüber fort sein, aber er kam abends immer zum Camp zurück. Außerdem hielt er Wort. Er liebte Carrie, wann und wo sich die Gelegenheit ergab, war geradezu genial, wenn es darum ging, Ausreden zu erfinden und sie von den anderen fortzulocken. Häufig gingen sie im Mondschein spazieren, wobei sie über kurz oder lang doch wieder am Strand lagen und ihrem Verlangen nachgaben. Carrie wollte Eliza gerade antworten, als sie Kimos Wagen in die Auffahrt einbiegen sahen. Kimo war ein zuverlässiger Freund. Er kam jeden Tag wenigstens einmal zum Reveille Riff Club, um nach dem Rechten zu sehen. Grace hatte ihre ablehnende Haltung ihm gegenüber noch immer nicht abgelegt, doch Kimo gab die Hoffnung nicht auf. Heute saß Ben neben ihm. Das war ungewöhnlich. Sonst kam er nie so früh zurück, aber vielleicht war ihm eingefallen, daß heute Samstag war. Das war der Tag, an dem sie nachmittags immer alle gemeinsam zum Strand gingen, um zu
schwimmen. Grace vermied es, Kimo anzusehen, als er sein Strandlaken neben ihr ausbreitete. Ben setzte sich dicht neben Carrie in den Sand. „Hallo, Püppchen!“ rief er ihr vergnügt zu und war im nächsten Augenblick eingeschlafen. Carrie war enttäuscht und ein bißchen gekränkt. Jetzt hätten sie Zeit gehabt, miteinander zu reden, zu lachen und zu scherzen oder ganz einfach nur faul in der Sonne zu liegen. Wenn sie nachts mit ihm allein war und sie sich liebten, kamen sie nie dazu, ihre Gedanken auszutauschen. Sobald Carrie einen Ansatz dazu machte, spürte sie seinen Mund auf ihrem. So wurde jede Unterhaltung schon im Keim erstickt. Carrie betrachtete nachdenklich den Schläfer an ihrer Seite. Ob er wegen einer anderen Frau fortfuhr? Sie fühlte einen Stich. War sie etwa eifersüchtig? Wie absurd. Das traute sie ihm nicht zu. Komisch, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Erst hatte sie von ihm nur in Ruhe gelassen werden wollen. Jetzt war es genau umgekehrt. Je mehr sie sich nach ihm sehnte, desto weniger bekam sie ihn zu Gesicht. Die Affäre mit Ben drohte ihr nun über den Kopf zu wachsen. Wie hatte das geschehen können? Ben war nach wie vor ein Playboy, der in den Tag hineinlebte, ohne Ziel, ohne Verantwortungsbewußtsein. Carries Ansichten über einen solchen Menschen hatten sich nicht geändert. Nach wie vor stieß sie eine derartige Lebenshaltung ab. Lange saß sie da und blickte schweigend auf das Meer hinaus. Es war zwecklos, sich selbst täuschen zu wollen: sie liebte Ben. Nachdem das klar erkannt war, galt es zu überlegen und klug und besonnen handeln. Sie hätte es nie soweit kommen lassen dürfen! Der soziale Unterschied zwischen ihnen war allein schon gravierend. Was war sie denn für ihn? Bestenfalls ein Spielzeug. Mehr bestimmt nicht. Grace war aufgestanden. Sie ging hinüber zu der von Korallenbänken umgebenen Lagune. Hier war das Wasser ruhig und glasklar, während sich ein paar hundert Meter weiter gewaltige Wellen zischend und donnernd an den Riffen brachen. Gischt schäumte dabei hoch auf und über die Klippen. Es war ein schönes Bild. Aber wer sich dort aufhielt, geriet in Lebensgefahr. Grace reichte das Wasser der Lagune inzwischen bis zur Taille. Es war ein ästhetischer Anblick, ihre gutgewachsene, von der Sonne ebenmäßig gebräunte Gestalt dort zu sehen. Langsam und ruhig schwamm sie nun auf das Riff zu. Kimo hatte sich gleich nach Grace erhoben. Er folgte ihr, warf sich ins Wasser, tauchte und kam erst kurz vor dem Riff wieder hoch. Jetzt schwamm er mit weitausgreifenden, kräftigen Bewegungen auf das Riff zu, welches einen natürlichen Schutzwall zwischen dem stillen Gewässer der Lagune und der brodelnden See bildete. Dort zog er sich an einem Felsvorsprung hoch, kletterte hinauf und blickte hinunter auf die heranrollende Brandung. Selbst in der recht großen Entfernung zum Strand wirkte seine Silhouette auf der Felsklippe imponierend. In ihre eigenen Gedanken versunken, war Carrie ihm mit den Blicken gefolgt. Er sieht aus wie ein König, dachte sie, wie Kamehameha, von dem Tante Lani abends immer Geschichten erzählte. Kamehameha lebte im 17. Jahrhundert. Als er noch ein Säugling war, befahlen seine Gegner, ihn zu töten. Doch seine Amme legte ihn in einen Weidenkorb, deckte den mit Palmwedeln zu und verbarg ihn im Schilf am Ufer eines Flusses. Später fand ihn jemand und nannte ihn Kamehameha, was soviel bedeutete wie
„einsamer Wind“. Der Junge wuchs heran und wurde ein mächtiger und weiser König. Während seiner Regierungszeit betrat James Cook mit seinen Gefährten die Insel. Die Weißen brachten viele Neuerungen mit, und Kamehameha erkannte, daß es zwecklos war, sich dem Fortschritt in den Weg zu stellen. Doch fürchtete er, die alten Bräuche und Riten könnten verlorengehen. „Ein Sturm bläst über unserer Insel“, sagte er zu seinen Untertanen. „Beugt euch wie Bambus im Wind, damit er euch nicht schadet. Wir müssen uns vom Vergangenen trennen, ohne es aufzugeben.“ Carrie glaubte, deutlich Tante Lanis monotonen Singsang zu hören, in dem sie stets ihre Erzählungen vortrug. Doch was war plötzlich mit Kimo los? Er hatte die Hände wie einen Trichter an den Mund gelegt und schien Grace etwas zuzurufen. Dabei zeigte er aufgeregt auf eine Stelle im Riff. Carrie sah, daß Grace jetzt schneller auf das Riff zuschwamm, aber Kimo wartete nicht, bis sie es erreichte. Er stieß sich weit vom Felsen ab und sprang mit einem gewaltigen Satz mitten in die tosenden Brecher. Carrie schrie erschrocken auf. Kimo selbst hatte sie alle davor gewarnt, dort zu schwimmen. Gerade an dieser Stelle war die See besonders tückisch. Auch Eliza war aufmerksam geworden. Sie beobachtete Grace, die die Korallenbank betreten hatte und jetzt vorsichtig über die scharfkantige Oberfläche kletterte. Carrie lief bereits zur Lagune, und Eliza stürzte ihr nach. „Grace hat doch nicht etwa auch vor, da draußen zu schwimmen? Kimo hat immer wieder betont, daß es lebensgefährlich ist. Was machen die beiden denn nur?“ „Hat Kimo sein Brett mitgenommen? Will er etwa surfen?“ Bens verschlafene Stimme ließ Carrie und Eliza zusammenfahren. Carrie konnte nur wortlos den Kopf schütteln. Inzwischen war Grace am äußersten Ende des Riffs angelangt. Ben stieß eine Verwünschung aus. Im nächsten Moment war er im Wasser und kraulte hinüber zum Riff. Carrie und Eliza blieben zurück und fragten sich immer wieder, was dort draußen wohl vorging. Jetzt war Ben bei Grace. Sie deutete auf die brodelnden Wassermassen, in denen Kimo verschwunden war und Carrie stockte der Atem. Ein paar Sekunden lang sah es aus, als wolle Ben hinter Kimo herspringen. Dann sahen sie, wie er einen Arm um einen Felsvorsprung legte und im nächsten Moment Kimo zu sich auf den Felsen zog. Schäumende Gischt hüllte ihn, Kimo und Grace im nächsten Moment ein, Eliza und Carrie konnten deshalb eine Weile gar nichts sehen. Bald aber erkannten sie, daß sich die drei bereits dem geschützten Teil auf der Seite der Lagune näherten. Kimo schien irgend etwas im Arm zu halten. Er sprang diesmal nicht ins Wasser, sondern glitt behutsam hinein, um mit Ben und Grace zum Strand zurückzuschwimmen. Carrie und Eliza liefen zu ihrem Platz zurück und holten schon Badetücher zum Abtrocknen. „Er hat einen Hund in den Wellen entdeckt und sprang hinein, um ihn zu retten“, erklärte Ben Carrie und Eliza, als er, Kimo und Grace zurückkehrten. Kimo hielt ein winziges Etwas in den Händen. Das Tierchen triefte vor Nässe und atmete kaum noch. Schlaff lag es an seiner Brust. Sein Retter hatte sich erstaunlich schnell von seinem halsbrecherischen Sprung erholt. Er nahm das Badetuch, welches ihm Eliza reichte und legte es Grace um die Schultern. Grace streckte die Hand aus und strich liebevoll über den zitternden kleinen Kerl,
den Kimo gerettet hatte. Dann nahm sie das Badetuch von den Schultern und wickelte den Hund vorsichtig darin ein. Kimos Blick drückte all seine Liebe für Grace aus. Er nahm den kleinen Vierbeiner und legte ihn ihr sanft in die Arme. „Dies schenken dir das Meer und Kimo“, sagte er leise, legte ihr einen Finger unter das Kinn und hob ihren Kopf. „Sein Name soll ,Happy' sein“, fügte er hinzu, „weil man in deiner Nähe einfach glücklich sein muß.“ Mit Grace ging eine seltsame Veränderung vor sich. Sie stand nur da, ohne sich zu bewegen und schaute Kimo zum erstenmal offen in die Augen. Kimos zartfühlende Art und die liebevolle Ausdauer, mit der er Grace umwarb, machten Carrie schmerzlich bewußt, wie oberflächlich und leer die Beziehung zwischen Ben und ihr eigentlich war. Sie beschränkte sich auf das rein Sexuelle und ließ anderes völlig außer acht. Was fühlte, was dachte, was tat Benjamin, wenn er nicht gerade mit ihr schlief? Hatte er sich jemals Gedanken darüber gemacht, was in ihr vorging? Keiner von ihnen hatte sich bisher bemüht, ein wenig tiefer in den anderen hineinzuhorchen. Diese Erkenntnis traf Carrie wie ein Schlag, und sie beschloß, etwas zu unternehmen, um das zu ändern. Doch zunächst kümmerten sich alle so lange um den kleinen Hund, bis er wieder auf seinen Pfoten stehen konnte. Taumelnd zwar, wie ein Matrose, der lange Zeit auf See war und nun zum erstenmal wieder festen Boden unter den Füßen spürt, aber dennoch ohne fremde Hilfe. Kimo meinte, der Hund müsse von irgendeinem Boot gefallen sein, und es grenze an ein Wunder, daß er überlebt habe. Ohne Kimos waghalsigen Sprung in die Brandung hätte das anders ausgesehen. „Gehen wir ein Stück am Strand spazieren?“ flüsterte Carrie Ben zu, als sich die allgemeine Aufregung etwas gelegt hatte. Es war das erste Mal, daß die Initiative von ihr ausging, und ihr stand eine Überraschung bevor: Benjamin lehnte ab. „Es tut mir leid, Carrie, aber ich bin heute nachmittag verabredet. Ich kann das jetzt nicht mehr rückgängig machen. Aber heute abend komme ich zurück. Dann können wir uns wieder treffen. Ich hole dich ab.“ Carrie war wie vor den Kopf gestoßen. Sie kam sich gedemütigt vor und schmollte: Dann wurde Ben auch noch von einem großen grauen Lincoln abgeholt, an dessen Steuer eine attraktive Frau saß, und da kannte ihr Zorn keine Grenzen. Sie fühlte sich hintergangen, stürmte aus dem Haus und lief aufgebracht zum Strand hinunter. Eliza flog am Nachmittag mit James zu dessen Bekannten nach Hawaii, der größten der acht hawaiianischen Inseln. Tante Lani hatte ihren freien Tag, und selbstverständlich wäre es niemand eingefallen, sich Kimo und Grace aufzudrängen, die neuerdings nur Augen füreinander hatten. Zum erstenmal seit ihrer Ankunft am Reveille Riff blieb Carrie allein zurück. Nicht, daß sie ängstlich wäre. Nein, das war es nicht. Das sonderbare Gefühl von Verlassenheit hatte eher etwas mit der Enttäuschung über Bens Verhalten zu tun. Carries Gedanken galten auf einmal den Vorfällen auf der Anlage des Clubs. Wer steckte wohl hinter all den Anschlägen? In letzter Zeit machte sich niemand ernstlich Sorgen. Doch jetzt waren die anderen fort. Draußen wurde es rasch dunkel, und Carrie war es nicht ganz geheuer. Benjamin kam zu allem Überfluß fast eine Stunde später als vorgesehen zurück. Er fand Carrie in Lanis Wohnung. Sie saß dort im Licht der nackten Glühbirne. Carrie fand, er sah müde und erschöpft aus, aber glücklich. Während sie an diesem gespenstischen Ort mutterseelenallein gewartet hatte, schien er sich amüsiert zu haben.
Carrie konnte es kaum fassen. Seit wann gehörte sie zu den Frauen, die geduldig auf die Rückkehr ihrer Männer warteten? Ben schien es nicht einmal zu bemerken, daß außer ihr niemand im Camp anwesend war. Er kletterte auf den Beifahrersitz des Jeeps, als sei das das Selbstverständlichste von der Welt. Es gefällt ihm, von Frauen herumkutschiert zu werden, dachte Carrie erbost und gab Gas.
9. KAPITEL Gleich als Carrie und er das neueröffnete Restaurant betraten, wußte Ben, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte es sich denken können, daß seine alten Freunde es auch gleich ausprobieren würden. Etwa ein halbes Dutzend Surfer und deren Freundinnen saßen um einen großen Tisch herum. Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich. Bens und Carries Erscheinen wurde mit viel Hallo begrüßt. Ben bemerkte Debbie Lou. Sie saß neben einem untersetzten Mann. Ben kannte ihn nicht, aber aus seiner Kleidung schloß er, daß es sich bei dem Fremden um einen Geschäftsmann handelte. Zwischen den Sportlern wirkte er irgendwie fehl am Platze. Widerstrebend setzten sich Ben und Carrie zu den anderen. Carrie spürte, wie die Damen sie abschätzend musterten. Bestimmt dachten sie: Das ist keine von uns. Was ist denn in Ben gefahren? Carrie fühlte sich in dieser Runde gar nicht wohl. Benjamin hingegen ärgerte das unverhohlene Interesse, mit dem die Männer Carrie betrachteten. Ihr wacher Blick, ihr sinnlicher, üppiger Mund gefielen seinen Freunden. Er sah, wie deren Blicke auch auf Carries Brüsten verweilten, die sich deutlich unter dem dünnen Stoff des Kleides abzeichneten und ahnte, daß sie bereits bei ihrem Eintreten den Schwung ihrer Hüften, die schlanke Taille und die langen Beine registriert hatten. Sie bewunderten auch ihre dunklen Locken und – sie lächelten Carrie an. Es gibt keinen unter ihnen, dachte Ben grimmig, der auch nur einen Moment zögern würde, wenn er sie mir wegnehmen könnte. Carrie gingen ähnliche Überlegungen durch den Kopf. Wenn sie könnten, wie sie wollten, dachte sie, dann würden alle diese Frauen, ohne Ausnahme, ihren Freund sitzenlassen, um mit meinem Ben durchzubrennen. „Stellt euch vor, Carrie ist Zimmermann!“ rief Debbie enthusiastisch aus. „Habt ihr das gewußt? Sie baut an Bens…“ Sie schüttelte den Arm ihres Begleiters ab und flüsterte Ben kichernd etwas zu. Murray, so hieß Debbies Bekanntschaft, war darüber keineswegs erfreut. Ben war die Situation peinlich, und er überlegte, wie er und Carrie möglichst schnell wieder von hier fortkommen könnten. Murray lehnte sich vor und sah Ben feindselig an. „Ich bin ein angesehener Geschäftsmann und komme aus Arizona“, sagte er prahlerisch. „Ihr Mädchen ist also Zimmermann? Was machen Sie, wenn ich fragen darf?“ „Im Augenblick… nichts Konkretes.“ Es war Murray deutlich anzumerken, daß er zuviel getrunken hatte. Er suchte offensichtlich Streit, aber Ben hatte nicht die geringste Lust, mit ihm aneinanderzugeraten. „Jeder Mensch arbeitet, oder nicht?“ Dieser Murray ging Ben auf die Nerven. Deshalb konnte er der Versuchung nicht widerstehen, ihn ein wenig zu verspotten. „Arbeiten? Ich?“ Er sah sich belustigt im Kreise um. „Guter Mann! Wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben? Ich bin ein waschechter Playboy. Noch nie im Leben habe ich einen Finger gekrümmt.“ Er hatte absichtlich laut gesprochen, alle, besonders Carrie, sollten es hören. Er sah, daß sie ein abweisendes Gesicht machte. Natürlich glaubte sie, was er da sagte. Dabei hatte er sich nur wegen dieses Prahlhanses einen Scherz erlaubt. Inzwischen stimmte das gar nicht mehr. Woher sollte Carrie aber wissen, daß er in letzter Zeit oft zwölf Stunden am Tag
arbeitete! „Na, dann können Sie sich auf Hawaii ja wie zu Hause fühlen“, ließ Murray sich lautstark vernehmen. „Wo man hinblickt, sieht man nur Playboys.“ Er leerte sein Whiskyglas mit einem Zug. „Die Eingeborenen hier scheinen mir alle arbeitsscheu zu sein.“ Die eingetretene Stille fiel sogar Murray auf. Er legte sie aber als das andächtige Schweigen seines Publikums aus. „Wenn es hier kein Militär gäbe und keinen Tourismus, dann würden auf diesen Inseln über kurz oder lang schlimme Zustände herrschen. Davon bin ich überzeugt.“ Die bildschöne Eingeborene, die an ihrem Tisch bediente, drehte sich auf der Stelle um und ging. Alle Anwesenden saßen wie erstarrt. Jeder von ihnen besaß Freunde unter der einheimischen Bevölkerung, einige hatten hawaiianische Vorfahren. „Paß auf, Murray, und hör gut zu, mein Lieber“, sagte Debbie Lou plötzlich. Ihre Stimme klang kalt und schneidend. „Ich selbst bin zur Hälfte hawaiianisch. Hüte also deine Zunge.“ „Anwesende sind natürlich ausgeschlossen“, versuchte Murray sich zu entschuldigen, aber das konnte niemandem imponieren. Benjamin war aufgestanden. Drohend blickte er auf Murray hinab. Im Restaurant war es immer noch so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Bens ruhige Stimme drang bis in den entferntesten Winkel des Raumes. „Die Menschen auf diesen Inseln sind bestimmt nicht die schlechtesten. Im Gegenteil. Ich bin stolz darauf, daß mir einige von ihnen ihre Freundschaft geschenkt haben. Kehren Sie besser dorthin zurück, wo Sie hergekommen sind, Murray und zwar möglichst umgehend.“ Alle Blicke hingen wie gebannt an Ben. Der nahm impulsiv die Flasche Champagner, die auf dem Tisch stand und schüttete den Inhalt über Murrays sorgfältig frisierten Scheitel. Die schäumende Flüssigkeit ergoß sich über dessen krebsrotes Gesicht, floß ihm in den Kragen, auf den teuren Anzug mit den Nadelstreifen und bis zu den glänzend polierten Schuhen hinunter. Minutenlang saß Murray wie gelähmt da und verstand die Welt nicht mehr, dann sprang er hoch, außer sich vor Wut. „Sie… Ich sollte Ihnen…“ Er ballte die Fäuste und wollte auf Ben losgehen. „Sie sollten was?“ Ben sprach jetzt leise, aber deutlich. „Der Inhaber dieses Restaurants ist Hawaiianer. Es ist auch in seinem Sinne, wenn Sie hier schleunigst verschwinden.“ Carrie wußte nicht so recht, ob sie auf Ben stolz sein sollte. Auf jeden Fall war es ihr unangenehm, durch ihn im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen. Murray zögerte und betrachtete abschätzend Bens entschlossene Miene, seine breiten Schultern und muskulösen Arme… „Komm, Debbie! Wir gehen!“ schlug er seiner Begleiterin dann vor. Debbie schüttelte den Kopf. „Wie käme ich dazu? Ich bleibe.“ Einen Moment schaute Murray sie verdutzt an. Dann stand er auf, drängte sich an den anderen vorbei und eilte hinaus. Ben legte eine Geldnote auf den Tisch und griff nach Carries Arm. „Tut mir leid, wenn ich euch die Stimmung verdorben habe.“ Auch er steuerte mit Carrie den Ausgang an. Draußen setzte er sich in den Jeep, um sich zu beruhigen. Die Nachtluft war kühl, und Bens Zorn verrauchte bald. Menschen, die wie Murray dachten, waren ihm schon oft begegnet. Warum hatte er diesmal die Beherrschung verloren? Es mußte damit zusammenhängen, daß seine
Lebenseinstellung sich geändert hatte. An diesem Nachmittag hatte er sich mit den Unternehmern getroffen, die das Monopol für Ananasverarbeitung auf Hawaii besaßen. Mit ihnen hatte er seine Idee, Ananas teilweise für die Züchtung von Pilzen zu verwenden, besprochen. Wenn er seine Pläne verwirklichen wollte, brauchte er jetzt vor allem finanzielle Unterstützung. Mit eigenen Ersparnissen hatte er die Ausstattung für ein Laboratorium bereits gekauft und alles Nötige angeschafft, was er für seine Experimente brauchte. Bald schon wollte er mit der Produktion beginnen, gleich von Anfang an im großen Stil. Der Markt war noch unerschlossen, die Möglichkeiten daher unbegrenzt. Erst einmal brauchte er jedoch ein Fabrikgelände. Er mußte Arbeiter einstellen, Maschinen kaufen. Kurz – er brauchte Geld, und da konnte ihm Mitchell helfen. Seinen Bruder hatte er bereits angerufen und für den nächsten Tag ein Treffen mit ihm vereinbart. Danach hatte er einen Flug nach Seattle gebucht und sich noch einmal mit dem Botaniker in Vancouver in Verbindung gesetzt. Der wollte Ben seine Forschungsergebnisse zur Verfügung stellen und ihm so den Start ermöglichen. Dafür würde Ben ihm einen finanziellen Ausgleich bieten. Was aber, wenn er mit Mitchell nicht einig würde? Wenn er seine, Bens, Ideen für Hirngespinste hielt? Wenn er ihm jede finanzielle Unterstützung versagte? Für einen Pragmatiker wie Mitchell war es möglicherweise undenkbar, Geld in eine Pilzzucht zu investieren, für die als Nährboden Reste aus der ananasverarbeitenden Industrie dienten. Und Carrie? Sie war klug, praktisch veranlagt und viel zu realistisch eingestellt, um seine Pläne gutheißen zu können. Also behielt Ben seine Idee für sich. „Da hast du aber eine tolle Schau abgezogen, Ben. Bist du tatsächlich stolz auf deinen Lebensstil?“ Carries Mißbilligung traf Ben. Das konnte er sich nicht bieten lassen. „Was ich mit meinem Leben anfange, ist ausschließlich meine Angelegenheit, oder nicht?“ „Da muß ich dir allerdings Recht geben. Es ist ausschließlich deine Angelegenheit, auf welche Art und Weise du deine Zeit vergeudest, und ich bin fest davon überzeugt, daß deine vielen Freundinnen dabei gern behilflich sind.“ Wie diese Mädchen am Tisch Ben angehimmelt hatten! Ihre Blicke waren Balsam für ihn gewesen, das hatte Carrie ebenfalls bemerkt. Er hatte ungeniert mit den Frauen seiner Freunde geflirtet. Daß er so oberflächlich sein konnte, war eine schmerzliche Erkenntnis. Carries Art, ihn wie einen Schuljungen zu behandeln, mißfiel Ben sehr. „Du magst Chef in deiner Baufirma sein, kann sein, daß du deine Angestellten so behandelst wie mich eben. Nur, ich lasse mir das nicht gefallen! Wer erlaubt dir, ein Urteil über mich zu fällen?“ Carrie hatte auf einmal einen bitteren Geschmack im Mund. Sie glaubte plötzlich zu wissen, was sie für Ben bedeutete: nichts weiter als einen angenehmen Zeitvertreib, solange er die Bauarbeiten beaufsichtigen mußte. Aber da kannte er sie schlecht! Sie ließ sich nicht einfach benutzen, nur weil er nichts Besseres mit sich anzufangen wußte. „Hör zu, Ben, wir sollten uns eins klarmachen.“ Carrie schluckte nervös. Die Stimme wollte ihr nicht recht gehorchen. „Unsere Differenzen sind nicht aus der Welt zu schaffen. Unsere Ansichten sind einfach zu verschieden. Als wir dieses Verhältnis anfingen, waren wir uns beide darüber einig, daß es nicht von Dauer sein konnte, nicht wahr? Also – warum streiten wir uns dann? Wir beide hatten es schön miteinander, aber außer Sex ist da nichts, was uns verbindet.“ „Mit anderen Worten, du willst einen Schlußstrich unter unser – wie sagtest du? – Verhältnis ziehen. Ist es so, Carrie?“
Sie zögerte. Wollte sie das wirklich? Hätte sie ihm nicht viel lieber die Arme um den Hals gelegt und ihm gestanden, wie ihr tatsächlich ums Herz war? Daß sie ihn liebte, ihn brauchte? Doch wozu sollte das gut sein? In ein paar Wochen mußte sie sich sowieso von ihm trennen. „Ja. Genau das ist es. Das will ich.“ Die Lüge ging ihr glatt über die Lippen. Ben saß kerzengerade da. Seine Miene verriet nichts von seinen Gefühlen. „Ich werde für eine Woche verreisen“, ließ er sie dann wissen. „Ich fliege bereits morgen in aller Frühe und muß noch meinen Koffer packen. Es wird wohl das beste sein, wir fahren jetzt ins Camp zurück.“ Carrie setzte den Motor in Gang und schwieg. Sie hatte große Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. So schnell wollte er fort? Was war sein Ziel? Wollte er zu dem kleinen Blockhaus im Wald, zu dem sie ihn begleiten sollte? Begleitete ihn die Dame mit dem grauen Lincoln? Um Viertel nach neun saß Ben seinem Bruder Mitchell in dessen chromblitzendem Büro in Seattle gegenüber. Um halb zehn stand Mitchells Antwort fest. Höflich, aber skeptisch hatte er sich Bens detaillierte Ausführungen bis zum Schluß angehört und dann jede finanzielle Unterstützung kategorisch abgelehnt. „Deine Idee ist nicht uninteressant, vom kaufmännischen Standpunkt aus allerdings völlig undiskutabel. Es wäre ein zu großes Risiko, in so etwas Geld zu investieren. Als Geschäftsführer unseres Unternehmens trage ich die Verantwortung gegenüber der Familie. Du wirst mich also sicher verstehen. Dieser verrückte Einfall von dir ist mir zu gewagt. Gilmour & Söhne kann sich nicht darauf einlassen.“ Wie ist es möglich, daß dieser trockene Zahlenmensch mein Bruder ist, dachte Ben verwundert. Ob ich Mitchell die Gutachten zeige, die ich eingeholt habe? Oder die Vorverträge mit zahlreichen Hotels und Restaurants auf Hawaii, die mir die Abnahme von Speisepilzen garantieren? Doch dann unterließ er es. Mitchell ließ sich von einem einmal gefaßten Entschluß nicht abbringen. Das wußte Ben genau. Höchstens könnte Tante Stella helfen. Er stand auf und räumte stillschweigend seine Unterlagen zusammen. „Ich habe mich gefreut, dich wiederzusehen, Benjamin. Warum treffen wir uns nicht öfter? Wie wär's, wenn wir zusammen Kaffee trinken? Viel Zeit habe ich zwar nicht, aber…“ Ben unterbrach den Redeschwall seines Bruders. „Ich auch nicht, Mitchell.“ Er hatte die Hand schon auf der Türklinke. „Wir wissen beide, daß die monatliche Versammlung der Aktionäre, also das Familientreffen, in wenigen Minuten beginnt. Ich werde es gerade noch schaffen. Das wird ein Hallo geben! Es ist das erste Mal, daß ich daran teilnehme. Oh, fast hätte ich es vergessen: Tante Stella kommt auch!“ Mitchell war blaß geworden. Tante Stella besaß die Aktienmehrheit, und Ben war ihr Lieblingsneffe. „Tante Stella? Das ist absurd. Sie hat sich noch nie um geschäftliche Angelegenheiten gekümmert – sieht man von dem Kauf des Reveille Clubs ab.“ „Stimmt. Aber heute kommt sie. Mit mir!“ Damit zog Ben die Tür hinter sich zu. Liebevoll strich Ben über das Telegramm, mit dem ihm seine Mutter die Vollmacht übertrug, ihre Aktien für sein Projekt zu nutzen. Mit seinen eigenen und denen von Tante Stella hatte Ben alle Trümpfe in der Hand, und Mitchell mußte sich wohl oder übel fügen. Eineinhalb Stunden später war die Gründung der FUNGUS FACTORY, so würde
Bens Projekt heißen, perfekt, trotz heftiger Proteste von Mitchell. Mitchell war kein guter Verlierer. Er lehnte Bens Einladung zum Mittagessen ab. Tante Stella hingegen leistete ihm gern Gesellschaft. Ben mußte für sie weißen Rum als Aperitif bestellen. Das trank sie, die Vierundsiebzigjährige, immer noch gern. Das Glas in der Hand, lehnte sie sich in ihren Sessel zurück und forderte Ben auf, über den Fortschritt der Bauarbeiten am Reveille Riff Club zu berichten. Und Ben erzählte. Es gelang ihm sogar ganze fünf Minuten lang, Carrie mit keiner Silbe zu erwähnen. Doch Tante Stella durchschaute ihn. „Wer ist diese Carrie, Ben?“ Er verschluckte sich fast an seinem Bier, dann nutzte er die Gelegenheit und beklagte sich bei seiner Tante ausgiebig darüber, wie schwierig der Umgang mit dieser Carrie Cossini sei. „Ich müßte von ihr Schmerzensgeld bekommen für den nervenaufreibenden Umgang mit ihr“, schloß er seinen Bericht, inzwischen hatten sie gegessen. Nebenbei hatte Ben auch ein genaues Bild vom Tagesablauf im Camp gegeben und dabei nicht James Mitarbeit und Tante Lani mit ihren Kochkünsten und Gruselgeschichten ausgelassen. „Die Leute sind mir alle ungemein sympathisch“, sagte Tante Stella und bestellte sich ein Stück Käsesahnetorte als Nachtisch. „Diese Lani kann recht haben. Vielleicht spukt es am Riff wirklich.“ Sie nickte bekräftigend, als sie Bens skeptischen Blick bemerkte. „Doch, mein Junge. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ihr jungen Leute mögt unsere alten Geschichten vom Krieg und seinem Schrecken nicht mehr hören. Aber die Menschen meiner Generation denken oft über ihn nach. Der Krieg änderte das Bild, das wir uns von uns selbst und von der Welt gemacht hatten. Alles, woran wir bis dahin glaubten, brach zusammen. Inmitten dieser chaotischen Zustände war der Club am Reveille Riff so etwas wie ein Zufluchtsort. Das Kriegsministerium schickte seine Offiziere dorthin, damit sie sich noch einmal erholen konnten, ehe sie zum Einsatz kamen. Ich war damals Krankenpflegerin auf einem Lazarettschiff. Ach, wie lange ist das schon her! Trotzdem höre ich sogar jetzt manchmal noch das Zwitschern der Vögel. Ich höre das Rauschen der Brandung und glaube oft, noch die frische, sanfte Morgenluft zu fühlen, die meine Haut streichelt.“ Tante Stella setzte ihre Kaffeetasse ab und griff nach Bens Hand. „Wenn ich sage, daß es vielleicht am Riff spukt, so meine ich damit, daß die Gedanken und Erinnerungen so vieler Menschen um dieses Fleckchen Erde kreisen. Es ist ein Paradies auf Erden, mein Junge, wie geschaffen für Liebende…“ Ben blickte sie erstaunt an. Seine Tante hatte nie geheiratet. „Für Liebende?“ wiederholte er verwundert. „Natürlich. Ich habe dort unvergeßliche Stunden mit dem Mann, den ich liebte, erlebt. Wir haben uns damals heimlich davonstehlen müssen, um uns zu treffen. Ich bin froh, daß ich es tat. Mein… er fiel… während der letzten Kriegstage.“ Tante Stella traten Tränen in die Augen. Ben sah seine Tante plötzlich mit anderen Augen. Er sah sie als hübsche, strahlende junge Frau mit wehenden Haaren und fröhlichem Lachen den Strand entlanglaufen. „Tante Stella – ich wußte nicht…“ „Schon gut, Ben, jetzt nicht, ich täte dir leid. Es gab nicht nur diesen Mann in meinem Leben…“ Es klang ein wenig zu forsch. „Ich habe es genossen, jung zu sein und begehrt zu werden. Aber auch das Alter hat seine Vorteile. Ich habe eine gewisse Narrenfreiheit. Nichts bereitet mir mehr Spaß, als wenn ich andere Leute so richtig schockieren kann.“ Sie tätschelte Bens Hand, die sie noch festhielt. „Du und ich, meine Junge, wir
sind uns beide sehr ähnlich. Es ist an der Zeit, daß du weitermachst, wo ich
aufgehört habe.“
Ben verstand nicht, was Stella damit meinte.
„Schau, Ben, es heißt, auf jeden Topf paßt irgendein Deckel, nicht wahr?
Irgendwo gibt es einen Menschen, bei dem du spürst, du bist am Ende deiner
Suche angelangt. Das ist ein goldener Moment in deinem Leben, wenn du fühlst,
daß du deine Erfüllung, den Gleichklang mit einer anderen Seele gefunden hast.“
Tante Stella war ernst geworden. „Ich erlebte dieses Wunder der Liebe am
Reveille Riff, und wenn mich meine Ahnung nicht täuscht, weißt du, wovon ich
spreche. Nun enttäusche mich nicht. Sei nicht töricht, und verschließe deine
Augen nicht vor den Tatsachen. Sobald die Bauarbeiten beendet sind, komme
ich, um mir deine Carrie anzusehen.“
10. KAPITEL Carrie, Grace und Eliza gingen zum Strand hinunter. Als die Hitze am Nachmittag unerträglich wurde, hatte Carrie kurzentschlossen die Arbeit einstellen lassen. Sie mußten das Versäumte eben nachholen, sobald es sich etwas abgekühlt hatte. Happy sprang übermütig voraus, lief furchtlos ins Wasser, blaffte aufgeregt und schnappte nach den ausrollenden Wellen. Der kleine Hund hatte das unfreiwillige Abenteuer im Meer erstaunlich gut überwunden und schnell die Herzen aller erobert. Er sorgte stets für Aufregung und Heiterkeit, indem er herumliegende Sandalen und Schuhe stahl und sie genüßlich zerkaute, falls er nicht daran gehindert wurde. Grace verhätschelte ihn. Sie wischte geduldig hinter ihm auf, denn der kleine Kerl war noch nicht stubenrein, und sie brachte, soweit es ging, alles vor ihm in Sicherheit, um allzu großen Schaden zu vermeiden. Schon von weitem sahen sie, daß heute sogar in der Lagune ein kräftiger Wellengang herrschte. Ideal zum Surfen, würde James wahrscheinlich sagen. Ideal zum Schwimmen war es nicht. Draußen auf dem Ozean vor den Riffs türmten sich riesige Wellenberge, ungeheure Wassermassen wurden dadurch über den natürlichen Schutzwall aus Fels und Korallengestein bis weit hinein in die sonst ruhige Bucht geschleudert. Carrie zog es vor, am Strand zu bleiben. Sie breitete ihr Badelaken aus und umfaßte die angezogenen Knie. So saß sie da und schloß die Augen. Sie war unbeschreiblich müde, denn sie hatte in den vergangenen Nächten kaum geschlafen. Schon damals, als Ben sie nach ihrer Auseinandersetzung zum Camp zurückbrachte, hatte sie erkannt, wie schwierig es sein würde, ihrem Entschluß treuzubleiben. Sie hatte bewußt einen Schlußstrich unter das, was zwischen Ben und ihr gewesen war, gezogen. Woher kam dann das Gefühl des Verlassenseins, die Einsamkeit? Carrie hätte es nicht für möglich gehalten, daß ihr Ben so fehlen würde! Es war, als habe man ihr einen Arm oder ein Bein abgenommen. Jetzt erst wurde ihr bewußt, wie sehr sie Ben liebte, und sie verzweifelte bei dem Gedanken, daß sie nichts unternommen hatte, ihn das wissen zu lassen. Sie hatten sich beide mit selbstvergessener Heftigkeit geliebt und keiner hatte das Wort „Liebe“ über die Lippen gebracht. Sie hatten einander leidenschaftlich begehrt, zusammen gescherzt und gelacht, am selben Tisch gesessen und dem anderen gestanden, wie sehr man ihn brauche. „Schläfst du?“ Eliza hatte sich neben Carrie niedergelassen. „Nein.“ „Grace hat sich ins Wasser gewagt. Wir beide also sind allein, Carrie, und jetzt heraus mit der Sprache! Wo steckt Ben? Du schweigst dich aus, und James scheint auch nichts zu wissen.“ „Mich interessiert es nicht im geringsten, wo sich Mr. Gilmour aufhält“, entgegnete Carrie schnippisch. „Ich habe keine Ahnung.“ Eliza pfiff leise durch die Zähne. „Ach so! Ich verstehe. Ihr habt euch gestritten.“ Sie ist wie ein Spürhund, dachte Carrie ärgerlich. Wenn sie erst auf der Fährte ist, läßt sie nicht locker. „Nenn es, wie du willst, Sherlock Holmes! Jedenfalls sind wir übereingekommen, unsere Beziehung zu beenden. Wir sind einfach zu verschieden.“ „Auf einmal? Und was bedeuten all die romantischen Nächte im Mondschein am Strand? Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, ihr hättet mit Förmchen gespielt oder Burgen gebaut?“
Carrie war nicht zum Lachen aufgelegt. „Die Nächte waren das einzige, was uns verband…“ Sie nahm die Finger zu Hilfe und zählte auf. „Ben hat absolut kein Gefühl für Verantwortung. Er lebt einfach in den Tag hinein. Er hatte kein anderes Ziel vor Augen, als sich zu amüsieren. Er besitzt auch nicht ein Fünkchen Ehrgeiz. Es kümmert ihn nicht, wie hart das Leben oft sein kann. Er ignoriert es einfach. Außerdem ist er launisch, flatterhaft und unehrlich. Ich möchte nicht wissen, mit wieviel Frauen er sich noch trifft. Ich bin nicht eifersüchtig, Liza, aber ich will, daß man mich nicht belügt. Das kommt alles nur von dem Geld. Mein Vater hat recht. Er sagte auch immer, Geld sei die Wurzel allen Übels.“ Eliza warf sich auf den Rücken und stöhnte: „Es ist zum Haareausraufen! Endlich geht es mit Kimo und Grace voran, und da machst du Schwierigkeiten. Kimo sollte euch beide zusammen in eine Zelle stecken, bis ihr wieder zur Vernunft gekommen seid.“ „Gut und schön, Liza, doch dazu müßten wir ihn erst einmal haben, nicht wahr? Ich weiß wirklich nicht, wo er ist.“ In der darauffolgenden Nacht lag Carrie allein in einem der inzwischen fertiggestellten Bungalows im Bett. Am Abend waren sie umgezogen, morgen sollte die Arbeit am Haupthaus beginnen. Grace und Eliza schliefen gemeinsam in einem der neuen Holzhäuser, doch Carrie zog es vor, einen Bungalow allein zu bewohnen. Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. In letzter Zeit ging man ihr gern aus dem Weg. Es war schwierig, mit ihr auszukommen. Nun lag sie wach da, starrte die holzvertäfelte Decke an und wünschte, Ben wäre bei ihr. Sie hätte gern ihre Freude über den Erfolg ihrer Arbeit mit ihm geteilt. Sie sehnte sich nach ihm, und der Gedanke an ihn machte sie traurig. Carrie sah plötzlich vieles anders. Es war falsch gewesen, ihn ummodeln zu wollen. Schließlich liebte sie ihn so, wie er war, und es wäre klüger gewesen, ihn mit all seinen Fehlern zu akzeptieren. Dann hätte sie ihn nicht verloren. Wenn sie die Zeit noch einmal zurückdrehen könnte, würde sie die gleichen Fehler nicht noch einmal begehen. Carrie erwachte von den leisen Tönen des Waldhorns. Sehnsüchtig, wie aus weiter Feme, drangen sie in Carries Unterbewußtsein. Das Lied hatte etwas Wehmütiges, Klagendes und zugleich Verlockendes. Mit einem Satz war sie aus dem Bett. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, einen Mantel überzuziehen, sondern lief in ihrem Shorty und nur mit ein Paar Tennisschuhen an den Füßen hinaus. Minuten später war sie unten in der Bucht und bemühte sich, die Richtung zu erraten, aus der die geisterhaften Klänge kamen. Es mochte etwa vier Uhr sein. Die Morgendämmerung war noch nicht angebrochen, und der Nebel war so dicht, daß man kaum die Hand vor Augen sah. Die Klänge des Waldhorns drangen zwar gedämpft, aber sehr viel deutlicher an ihr Ohr als sonst. Der Musikant mußte ganz in der Nähe sein. Für Carrie war es auf einmal außerordentlich wichtig zu sehen, ob es diesen Hornisten wirklich gab. Sie schloß die Augen, setzte blindlings einen Fuß vor den anderen und ließ sich einfach von den Tönen leiten. Sie waren wunderschön. Jetzt waren die Klänge schon ganz nah. Carrie öffnete die Augen. Noch ein Schritt… Der dichte Vorhang aus Nebel riß plötzlich auf und gab den Blick frei auf ein Stück Lavafelsen. Carrie dachte, ihr Herzschlag setze aus. Auf dem Felsen standen drei hagere Gestalten. Eine davon hielt ein altes verbogenes Waldhorn im Arm. Zwei der Männer waren unzweifelhaft Mönche aus der nahegelegenen Mission.
Carrie erkannte ihre orangefarbenen, wallenden Gewänder. Der Hornist hingegen trug eine verschlissene Armeeuniform aus dem letzten Krieg. Er überragte die beiden Shintopriester um Haupteslänge. Das Merkwürdigste an ihm waren seine Augen. Sie waren von einem glasklaren, unwahrscheinlich hellen Blau. Sein Gesicht dagegen zeigte ausgesprochen asiatische Züge. Mit ausdruckslosem Blick sah er Carrie an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Er schaute sozusagen durch sie hindurch. Die beiden Priester verneigten sich würdevoll. Niemand sprach ein Wort. Carrie kam sich plötzlich lächerlich vor. Was hatte sie eigentlich erwartet? Wie mußte sie den drei Männern vorkommen, nur dürftig bekleidet mit einem kurzen Nachthemd, das Haar zerwühlt und Tennisschuhe an den Füßen? Langsam trat sie einen Schritt zurück, einen zweiten, noch einen… Da hatte der Nebel sie wieder eingehüllt. Rings um sie her gab es nichts mehr als eine dicke, undurchdringliche Nebelwand. Wie von Zauberhand war die kleine Lichtung mit den drei Gestalten auf dem Felsen weggewischt. Als hätte es sie nie gegeben. Als sei dies nur ein Trugbild gewesen, hervorgerufen durch überreizte Nerven. Carrie floh. Sie lief, so rasch die Füße sie trugen, und sie blieb erst stehen, als sie in ihrem Holzhaus angelangt war und die Tür hinter ihr ins Schloß gefallen war. Der Anruf galt Carrie. Es war Gisella, ihre älteste Schwester. Im ersten Moment war Carrie enttäuscht. Sie hatte gehofft, Ben wäre am Apparat. „Ist zu Hause alles in Ordnung, Gisella? Warum rufst du an? Du irrst, besonders schön ist das Wetter hier auch nicht. Es friert zwar nicht wie bei euch, aber der Nebel hängt meistens bis mittags in der Bucht, und danach regnet es unaufhörlich. Seit Tagen ist der Himmel grau und verhangen. Es besteht also kein Grund, mich zu beneiden. Wie geht es Papa? Was macht er?“ Gisellas Stimme klang freudig erregt. „Deshalb rufe ich ja an, kleine Schwester. Mach dir keine Sorgen um Papa, ihm geht es prächtig. Noch nie ist es ihm besser gegangen.“ „Wieso? Das verstehe ich nicht.“ „Kannst du dich an Viktor Torterelli erinnern? Du weißt schon. Dem die Bäckerei in unserer Straße gehört.“ „Warte mal… ja. Doch. Ich entsinne mich. Ist es der mit der kleinen, rundlichen Frau, die immer freundlich war und lachte? Er starb vor ein paar Jahren. Meinst du den?“ „Genau den meine ich, Carrie. Rosalie, Viktors Witwe, ist eine heitere, temperamentvolle Italienerin. Sie ist inzwischen noch ein bißchen rundlicher geworden, aber immer noch stets gutgelaunt.“ „Was hat das mit Papa zu tun?“ „Vor etwa vier Wochen bat Rosalie Papa, die Bäckerei umzubauen. Du ahnst nicht, was er aus dem Laden gemacht hat! Rosalie wollte eine Verkaufstheke am Fenster. Dort kann sie den Leuten, die vorbeikommen, heiße Getränke und kleine Gerichte verkaufen. Papa hat den alten Linoleumbelag herausgerissen, auf dem Holzboden liegen nun hübsche bunte Patchworkteppiche. Dann haben sie ein paar kleine Tische ersteigert und eine Espressomaschine gekauft. Rosalie backt und kocht selbst, es schmeckt alles phantastisch. Endlich kommt bei uns wieder Geld ins Haus! Das Geschäft blüht, und Papa lebt auf. Du wirst ihn nicht wiedererkennen. Rosalie hat Papa überredet, ihr Partner zu werden. Sie kommandiert ihn zwar, aber auf eine so nette Art und Weise, daß er es sich gern gefallen läßt. Weißt du, was er macht? Er serviert den Gästen das Essen und unterhält sie mit Spaßen. Jetzt überlegen die beiden, ob sie nicht eine Schankerlaubnis beantragen sollen. Paß auf, Carrie, am Ende heiraten sie noch. Ich soll dir mitteilen, daß du nicht länger für seine Schulden aufzukommen
brauchst. Er hat unser Haus verkauft und mit dem Geld den gesamten Kredit auf einmal zurückgezahlt. Wie stolz er war, als er mir das sagte! Ist das nicht wundervoll, Carrie? Nach all dem, was er mit unserer Mutter durchmachen mußte, ist Papa endlich einer Frau begegnet, mit der er glücklich sein kann. Ach ja, Schwesterlein, was ich noch fragen wollte: Was ist eigentlich mit diesem Ben? Papa ist ja direkt vernarrt in ihn. Wann heiratet ihr denn?“ Carrie traute ihren Ohren nicht. „Heiraten? Wir? Gisella! Du mußt irgend etwas falsch verstanden haben. Wie kommt Papa dazu…“ Carrie war verwirrt. Sie dachte angestrengt nach, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, Ben jemals in den Briefen an ihren Vater erwähnt zu haben. Tief in Gedanken versunken legte sie den Hörer auf die Gabel zurück. Papa hatte das Haus verkauft und sie nicht einmal gefragt! Jahrelang hatte Carrie sich um ihren Vater gekümmert, ihm die finanziellen Belastungen abgenommen, nächtelang wachgelegen und darüber nachgegrübelt, wie man ihn aus seiner Lethargie reißen könnte. Und dann kam einfach eine kleine resolute Frau daher, lachte, und plötzlich war alles anders. Papa wollte vielleicht heiraten? Der Gedanke schockierte Carrie erst einmal. Doch dann begann sie, sich darüber zu freuen. Noch ein anderer Gedanke beschäftigte Carrie. Wenn ihr Vater den Kredit zurückgezahlt hatte, dann konnte sie, Carrie, über das Geld, welches sie hier verdiente, allein verfügen. Nach Abzug sämtlicher Kosten blieb ihr eine stattliche Summe, mit der sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Zum erstenmal in ihrem Leben besaß Carrie Geld, viel Geld. Was machte man damit? Ben würde es ihr sagen können. Aber wo steckte er? Carrie kehrte zurück an ihre Arbeit. Es regnete immer heftiger. Um drei Uhr nachmittags war es bereits so dunkel, daß man kaum noch etwas sehen konnte. „Es hat wenig Zweck, weiterzumachen. Ich schlage vor, wir fahren nach Haleiwa. Ich spendiere euch Pizza und Bier bei Rosie. In Ordnung?“ Ihr Vorschlag wurde mit Begeisterung begrüßt. Nur James entschuldigte sich. Er wollte statt dessen einige persönliche Angelegenheiten in Haleiwa regeln. Tante Lani, Eliza, Grace und Carrie fuhren mit „Big Mama“ wenig später Richtung Stadt. Flüchtig dachte Carrie daran, daß sie nun das Grundstück unbewacht zurückließen. In den letzten Wochen hatte es jedoch keine Anschläge mehr gegeben. Außerdem, bei diesem schlechten Wetter würde selbst ein Übeltäter wenig Lust verspüren, im Riff Club Schaden anzurichten. Überdies blieben sie höchstens zwei Stunden fort. Aus den zwei Stunden wurden dann allerdings doch vier. Es war beinahe finster, als sie die Rückfahrt antraten. Als sie in die Einfahrt zum Grundstück einbogen, hupte jemand hinter ihnen. Es war James, der ebenfalls gerade zurückkehrte. „Warte, Tante Lani, laß mich das tragen.“ James nahm die schweren Körbe, die den Vorrat an Obst und Gemüse für eine ganze Woche beinhalteten und trug sie hinüber zum Wohnwagen. Carrie lud gerade die restlichen Einkäufe ab, als ein ohrenbetäubendes Krachen und Splittern von Holz sie zusammenfahren ließ. Die Treppe, die zu Lanis Wagentür hinaufführte, war unter James zusammengebrochen. Er lag nun auf dem vom Regen aufgeweichten Erdboden zwischen Salat und Kohlköpfen und betrachtete verdutzt die zersplitterten Stufen. „Was, zum… Carrie! Komm! Sieh dir das an!“ Ärgerlich zeigte er auf die Holztreppe. An den Seiten hatte jemand die Stufen an verschiedenen Stellen angesägt. Da mußten sie bei der geringsten Belastung brechen. „Aus!“ flüsterte Carrie tonlos. „Nicht mehr zu gebrauchen. Die ganze Arbeit für
die Katz!“ Sie sprang auf und lief zu den anderen Bungalows. Die anderen folgten ihr. An zwei der eben fertiggestellten Holzhäuser waren die Treppen gleichfalls angesägt worden. Während James und die drei Mädchen den angerichteten Schaden begutachteten, stand Tante Lani kopfschüttelnd da. Es verging eine Weile, bis sie sich von dem Schrecken erholt hatte. „Dies geht entschieden zu weit!“ schimpfte sie dann. „Ihr hattet so viel Mühe mit den Treppen und nun… alles umsonst. Jetzt habe ich aber genug! Es wird Zeit, daß dieser Unsinn aufhört.“ Sie wickelte sich fester in ihren Regenumhang. Dann machte sie kehrt und eilte davon. Grace sah Lani in der Dunkelheit verschwinden. „Tante Lani geht hinunter zum Strand. Ich wette, sie ruft den Geist von Kamehameha an“, scherzte sie. „Er soll uns sicher helfen, den Übeltäter zu fangen.“ Aber niemand lachte. James rief Kimo an und berichtete von den neuen Vorfällen. Der war eingetroffen, hatte die Schäden besichtigt, sich Notizen gemacht und war bereits wieder auf dem Weg zurück in die Stadt, als Carrie Tante Lani zurückkommen sah. Es war inzwischen mehr als eine Stunde verstrichen. Wo mag sie nur hingegangen sein, überlegte sie. Selbst Lani wird doch bei solchem Wetter nicht über eine Stunde am Strand Spazierengehen! Ob sie einen bestimmten Verdacht hat? Kennt sie den Übeltäter vielleicht? Ich werde morgen früh mit ihr darüber sprechen, nahm Carrie sich vor. Aber am nächsten Morgen war Ben wieder zurück, und in der Freude darüber vergaß sie ihr Vorhaben. Ben gab sich Carrie gegenüber sehr zurückhaltend. Es war nicht leicht für ihn, den richtigen Ton zu treffen. Die Begrüßung sollte nicht zu freundlich klingen, doch allzu gleichgültig sollte sie sich auch nicht anhören. „Hallo, Carrie!“ Das war alles? Was war los mit ihm? Vielleicht war die Erinnerung an den Streit noch allzu lebendig? Was hinderte sie außerdem, ihm mit einem „Schön, daß du wieder da bist“, zu antworten? Aber die Frage, wo und vor allem mit wem er die vergangene Woche verbracht hatte, war noch nicht beantwortet. Carrie brachte deshalb nur ein lahmes „Hallo, Ben“ zustande. Dann lief sie zu ihrem Bungalow, verriegelte die Tür von innen und versuchte nachzudenken. Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten? Sie hätte sich die Mühe sparen können. Als sie nach einer halben Stunde wieder zum Vorschein kam, sah sie gerade noch die Rücklichter von seinem Jeep. Er war gegangen, ohne sich zu verabschieden. Ben kam ab da nur noch selten zum Reveille Riff Club. Carrie deprimierte das. Sie ließ ihre schlechte Laune an den anderen aus, und die gingen ihr bald wieder aus dem Wege. Gegen Ende der Woche schlug das Wetter um. Es hörte auf zu regnen. Dafür wurde die Luft merklich kälter. Düstere Wolken zogen über die Bucht, die Passatwinde bliesen von Stunde zu Stunde heftiger. Jetzt erreichten die Wellen eine solche Höhe, daß das Riff kaum noch Schutz bot. Riesige Wellen überrollten den Strand, es schien, als wollten sie die Insel verschlingen.
11. KAPITEL In dem kleinen sauberen Raum standen sechs runde Tische. Der Wirt, ein gutaussehender Mann mit graumeliertem Haar, blauen Augen und deutlichem italienischem Akzent, er mochte Anfang Fünfzig sein, servierte einem der Gäste Minestrone und hausgebackenes Brot. Das Geschäft florierte, und er hatte für jeden Gast ein nettes Wort, ein freundliches Lächeln oder einen Scherz bereit. Ben wußte sofort, das konnte nur Carries Vater sein. Ihm war merkwürdig beklommen zumute. Nichts war ihm im Moment wichtiger, als das Vertrauen dieses Mannes zu gewinnen. Es war das erste Mal, daß Ben wert auf die Meinung eines anderen Menschen legte. Diese Erfahrung war für ihn neu. „Nun, mein Herr? Was darf ich Ihnen bringen?“ Ben erhob sich und reichte Mr. Cossini, Carries Vater, die Hand. „Mein Name ist Benjamin Gilmour, Mr. Cossini, ich möchte gern Ihre Tochter heiraten.“ Carris Vater brachte das nicht aus der Fassung. Den Briefen aus Hawaii hatte er schon einiges entnehmen können. „Was sagt denn meine Tochter dazu, daß Sie sie heiraten wollen?“ Inzwischen saßen Ben und er ungestört im Nebenzimmer. Ben zögerte. „Ich wollte zunächst mit Ihnen darüber reden, Mr. Cossini.“ Und dann schilderte er offen die Situation. „Daß ich finanziell so gestellt bin, daß ich nicht unbedingt arbeiten muß, ist Carrie ein Dorn im Auge. Sie wird mein Projekt, die Pilzzucht, für eine Laune halten, wenn sie davon erfährt. Aber diesmal ist es anders. Zum ersten Mal habe ich ein Ziel vor Augen. Ich muß Carrie nur davon überzeugen, daß ich es ehrlich meine, sowohl mit ihr als auch mit meinem jungen Unternehmen.“ „Ich weiß, meine Tochter kann stur sein. Sie ist stolz und verliert außerdem leicht die Beherrschung.“ „Ich kann ebenso dickköpfig sein, Mr. Cossini, wenn es sein muß. Carrie ist die einzige Frau, die für mich in Frage kommt. Eines Tages wird sie das selbst einsehen. Bis dahin könnte ich ein bißchen Unterstützung von Ihrer Seite gebrauchen.“ „Die Entscheidung liegt bei Carrie, mein Junge. Sie hat leider miterleben müssen, daß eine Ehe auch sehr schwierig sein kann. Vielleicht hat sie deshalb Angst, es selbst zu versuchen?“ Sie sprachen eine Weile über Bens Projekt und das kleine Restaurant, das Carries Vater und Rosalie jetzt betrieben. Dann meinte Mr. Cossini: „Erzählen Sie Carrie lieber noch nichts von Ihrer Fabrik. Stellen Sie sie lieber später vor vollendete Tatsachen. Carrie braucht handfeste Beweise. Danach setzen Sie einen Ehevertrag auf. Gehen Sie ihn Punkt für Punkt durch. Carrie hat gern etwas Schriftliches in Händen. Auf alle Fälle aber: Laufen Sie ihr nicht nach. Die Jungen waren schon hinter ihr her, als sie gerade dreizehn wurde. Sie hat keinen von ihnen angeschaut, nur diesen Nachbarsjungen, den angehenden Rechtsanwalt, der sich nie etwas aus ihr gemacht hat. Er ließ sie einfach links liegen, und prompt ,verliebte' sie sich in ihn. Carrie braucht die Herausforderung. Sie müssen sie verunsichern. Sie muß sich den Kopf zerbrechen, warum Sie plötzlich so reserviert sind. Wenn sie aber endlich einwilligt, Ihre Frau zu werden, dann zögern Sie keine Sekunde. Heiraten Sie sie auf der Stelle, sonst überlegt sie es sich wieder anders.“ „Lani benimmt sich in letzter Zeit recht sonderbar, findet ihr nicht auch?“ Eliza sah besorgt aus. „Manchmal hört es sich an, als schimpfe sie mit jemandem. Oft läuft sie bei Wind und Wetter hinunter zur Bucht, ob es Tag oder Nacht ist, stört sie nicht. Heute ist es besonders schlimm. Sie ist so nervös, daß sie beim leisesten Geräusch zusammenzuckt.“
„Vielleicht hängt es mit dem Wetter zusammen“, mutmaßte Grace. „Sie sagte mir heute morgen, es könnte ein Orkan werden. Mag sein, daß sie Angst hat. Das würde ihr seltsames Verhalten erklären.“ „Wir wollen lieber hoffen, daß der Sturm sich legt. Heute nacht hat er sämtliche Telefonleitungen lahmgelegt. Mehrere Telegrafenmasten sind umgeknickt.“ „Ich möchte auch gern noch etwas Sonnenschein und blauen Himmel genießen, ehe wir wieder unsere Koffer packen und die Heimreise antreten. Unsere Arbeit hier ist fast getan. Noch eine Woche, denke ich, dann können wir nach Hause fahren. Wir haben uns tapfer geschlagen und bewährt“, mischte sich Carrie ein. Eliza räusperte sich verlegen. „Bevor du anfängst, Zukunftspläne für uns zu schmieden, wollte ich dir sagen, daß du mit mir nicht mehr rechnen kannst.“ Sie nahm Carries Hand und drückte sie. „Hawaii war für uns alle eine Bereicherung. Mir hat es gezeigt, daß es im Leben noch vieles gibt, was ich kennenlernen möchte. Ich möchte andere Städte, andere Länder sehen und anderen Menschen begegnen. James schließt sich einer Bergsteigerexpedition im Himalaja an. Er hat mich eingeladen, mitzukommen, und das werde ich tun.“ Carrie schwieg bestürzt. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme rauh. „Selbstverständlich kann jede von uns tun und lassen, was sie will. Schließlich seid ihr freie Menschen. Ob wir nun zusammenarbeiten oder nicht, das ändert nichts an unserer Freundschaft. Wenn du glaubst, zukünftig auf Berge kraxeln zu müssen, dann wünsche ich dir Hals und Beinbruch, Eliza! Wir sollten uns vielleicht alle eine Weile Urlaub gönnen. Dieser Job hat an unseren Kräften gezehrt.“ In mehr als einer Beziehung, fügte sie still hinzu. Eliza hatte Tränen in den Augen. „Aber Carrie… kannst du es dir denn leisten, Urlaub zu machen? Hast du den Kredit vergessen, den du abzahlen mußt?“ Carrie erzählte den Freundinnen von Gisellas Anruf und von der glücklichen Wende in den finanziellen Angelegenheiten ihres Vaters. „Der Druck ist sozusagen über Nacht von mir abgefallen. Nach langer Zeit weist mein Bankkonto endlich einmal wieder ein Plus auf. Ich kann es selbst noch nicht fassen.“ Eliza wandte sich triumphierend an Grace. „Siehst du wohl? Damit wird deine letzte Ausrede hinfällig. Du kannst Kimo heiraten, Carrie wird auch ohne dich zurechtkommen.“ Grace versuchte Eliza am Reden zu hindern. Doch die war jetzt nicht mehr zu halten. „Grace dachte, es sei dir gegenüber nicht fair, wenn sie Kimo heiratet und hierbleibt. Schließlich bist du es gewesen, die uns diesen Job gegeben hat, als niemand weibliche Zimmerleute haben wollte und wir buchstäblich auf der Straße standen. Aus dem gleichen Grund habe auch ich bisher gezögert, James meine Zusage zu geben. Aber wenn du nicht mehr unter Druck stehst, Carrie, dann sind wir doch auch nicht verpflichtet…“ Carrie war gerührt. „Natürlich seid ihr mir nicht verpflichtet.“ Sie zwinkerte Grace zu. „Du bist nicht recht gescheit, Grace. Wie kannst du deine Arbeit an die erste Stelle setzen? Eine solche Liebe bietet sich dir kein zweites Mal.“ Grace stand unternehmungslustig auf. „Ob man schon wieder telefonieren kann? Ich werde Kimo sofort anrufen und ihm sagen, daß ich ihn doch heirate. Ich habe es ihm nicht gerade leicht gemacht.“ Aufgeregt ging sie davon. Eliza wandte sich an Carrie. „Und nun zu dir. Wie sieht das mit dir aus? Wann räumst du der Liebe den ersten Platz ein vor der Arbeit? Oder gilt das als guter Rat nur für Grace und nicht für dich? Bist du anders als sie? Hältst du dich für etwas Besseres?“ Carries Lachen konnte Eliza nicht täuschen. „Ich habe dir vorhin gesagt, daß ich zunächst einmal Urlaub machen werde.“
„Urlaub – schön und gut! Aber allein! Ohne Ben? Du mußt doch verrückt sein. Wir wissen alle, daß du Benjamin liebst, Carrie, und jetzt tust du so, als sei nie etwas zwischen euch vorgefallen. Du brichst einfach deine Zelte hinter dir ab…“ „Genau dazu hast du mir selbst geraten, Liza, weißt du es nicht mehr? Du sagtest, die Affäre müßte mit Abschluß unserer Arbeiten hier beendet sein. Danach sollte ich einen neuen Anfang machen. Das war dein Vorschlag, und daran halte ich mich.“ „Konnte ich denn ahnen, daß du mir diesen Schwachsinn glaubst? Abgesehen davon, jeder sieht, wie es um euch steht. Carrie, versuch doch nicht, mir etwas vorzumachen, du liebst Ben!“ Es dauerte eine Weile. Schließlich flüsterte Carrie: „Ja, Liza, ich liebe ihn über alles.“ „Und was ist aus deinen Einwänden geworden? Du hattest doch soviel an ihm auszusetzen?“ „Sie sind immer unwichtiger geworden in meinen Augen. Doch das hilft alles nichts mehr. Ben hat das Interesse an mir verloren.“ Eliza schüttelte den Kopf. „Woher willst du wissen, daß er kein Interesse mehr an dir hat? Hast du versucht, dich wieder mit ihm zu versöhnen? Nein, natürlich nicht! Du machst nur ein Gesicht und tust dir selber leid. Warum gehst du nicht hin und fragst ihn, ob er dich nicht heiraten will? Du liebe Zeit, Carrie, die Zeiten haben sich geändert. Als es damals um Bens Zustimmung ging und unseren Job, die Restaurierung der Clubanlage, hast du doch auch die Initiative ergriffen! Du hast ihn zum Essen eingeladen. Dafür hast du gekämpft wie eine Löwin.“ Sprachlos starrte Carrie die Freundin an. Eliza hatte vollkommen recht mit allem, was sie sagte. Anstatt etwas zu unternehmen, hatte sie sich selbst bedauert. Doch damit war ab jetzt Schluß! Jetzt würde sie handeln. „Hat einer von euch den alten Tom gesehen? Ich suche ihn schon seit Stunden.“ „Wer ist das, Lani?“ fragten Eliza, Grace und Carrie wie aus einem Mund. „Tom TanakaMartin? Das ist ein langer, hagerer Mann mit kahlgeschorenem Kopf. Er trägt eine alte Uniform.“ Carrie sah plötzlich die Gestalt im Nebel vor sich, auf dem Felsen mit dem Waldhorn im Arm. „Ihr müßt ihn schon gesehen haben“, fuhr Lani fort. „Er lebt bei den Mönchen in der Mission. Er ist ein harmloser alter Mann, der nur hin und wieder vergißt, daß der Krieg zu Ende ist. Er war früher hier Verwalter, als der Reveille Riff Club noch der Armee gehörte. Die Priester kümmern sich um ihn, aber ab und zu entwischt er ihnen. Er denkt, er sei noch immer verantwortlich für den Riff Club.“ Carrie sah Tante Lani prüfend an. Das also war das Geheimnis ihrer zahlreichen Wanderungen am Strand. Sie suchte einen harmlosen Irren, weil sie ihn im Verdacht hatte… Harmlos? Carrie setzte sich kerzengerade hin. War dieser Tom TanakaMartin wirklich harmlos? Sie mußte an den Stein denken, der durchs Fenster geflogen war: BETRETEN VERBOTEN! Sie dachte an die angesägten Treppenstufen. Wie leicht hätte jemand dabei verletzt werden können. Harmlos? Nein! „Hat dieser Tom ein asiatisches Gesicht?“ fragte sie. „Ja. Das hat er. Seine Mutter war Japanerin, sein Vater Amerikaner, ein Offizier. Er war hier stationiert. Tom hatte es nicht leicht im Krieg. Schließlich waren die Japaner die Feinde der Amerikaner. Der Ärmste wußte nie, wohin er eigentlich gehörte.“ Carrie empfand plötzlich Verständnis für Tom TanakaMartin. Hatte sie nicht als Schulkind Ähnliches erlebt? Wie oft war sie wegen ihres Akzents ausgelacht und verspottet worden. Regelrechte Straßenschlachten hatten zwischen den Kindern
der italienischen Einwanderer und den „waschechten“ Amerikanern stattgefunden. Dunkelbraune Wolken jagten über den Himmel. Der Sturm tobte jetzt seit mehreren Tagen und Nächten, aber bisher war kein nennenswerter Schaden entstanden. Durch das Fenster im Haupthaus sahen Carrie, Eliza, Grace und Tante Lani, daß ein Cadillac in die Auffahrt einbog. Kimo und Benjamin saßen darin. Der Wind riß den Männern beim Aussteigen fast die Wagentür aus der Hand. Kimo machte ein ernstes Gesicht. „Im Radio wurde eine Sturmflutwarnung durchgegeben,“ erzählte er. „Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Ein Hurrikan zieht in unsere Richtung. Die Flut steigt deshalb immer höher. Noch hat das Riff dem Anprall der Wassermassen widerstehen können, aber wenn eine Sturmflut kommt, kann es vielleicht nicht standhalten. Wir haben hier noch nie einen solchen Sturm erlebt.“ Die Frauen blickten sich erschrocken an. Im Geist sahen sie die Hochflut schon hereinbrechen und alles mit schäumender Gischt bedecken. „Draußen sieht es wüst aus“, ließ sich nun auch Ben vernehmen. „Der Sturm heult und tobt, und das Meer grollt, als wolle es alles verschlingen. Unsere Bungalows haben dem Sturm leider nicht standgehalten. Sie sind alle zusammengebrochen.“ Carrie schrie entsetzt auf, wollte aufspringen und hinausstürzen. Ben konnte sie eben noch festhalten. Seine Stimme klang hart, aber sie sah, daß er sie dabei liebevoll anschaute. „Jetzt hinauszugehen, Carrie, wäre glatter Selbstmord. Die Böen sind so gewaltig, daß sie dich zu Boden reißen.“ Carrie lief es kalt den Rücken hinunter. Ben nahm ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren, da fühlte sie sich geborgen und wurde ruhig. Plötzlich flog die Haustür auf. Es war James. Hinter ihm drängten sich vier junge Hawaiianer ins Haus. Bei ihrem Eintritt fuhr ein heftiger Windstoß hinterdrein, so daß das Geschirr im Schrank klirrte. „Ihr Wagen ist liegengeblieben“, erklärte James. „Sie kommen bei dem Sturm nicht weiter und müssen bei uns warten, bis der Wind abflaut.“ Über ihren Köpfen krachten die Holzbalken, es war, als versuche der Sturm, das Dach abzureißen. Plötzlich setzte das Brüllen des Windes einen Augenblick aus, in der Stille hörten sie etwas gegen die Tür poltern. Dann kam der Sturm mit erneuter Wucht zurück. Wieder wurde die Tür aufgerissen. Im Zimmer wurde es mäuschenstill. Die Blicke aller hingen an der abenteuerlichen Gestalt, die jetzt hereintaumelte. Keiner traute seinen Augen. Carrie wußte sofort, das war der Mann, den sie im Nebel auf dem Felsen gesehen hatte. Er war beinahe bis zum Skelett abgemagert. Der alte Uniformrock umschlotterte seine Glieder. Er sah mitleiderweckend aus. Lani faßte sich als erste. Ruhig und gelassen sagte sie: „Das ist Tom Tanaka Martin. Er lebt bei den Priestern in der Mission. Hallo, Tom. Was hast du denn in einer solchen Nacht draußen zu tun, mein Freund?“ Tom musterte jeden aufmerksam. Sein Blick war klar und hellwach. Er nickte Lani freundlich zu. Im Gruß der vier Hawaiianer lag sogar ein wenig Ehrfurcht und Respekt. Carrie dachte an das, was sie inzwischen über Tom wußte, und sie fühlte plötzlich aufrichtige Symphatie für ihn – trotz aller Schwierigkeiten, die er gemacht hatte. Tom wandte sich nun an Kimo und Ben: „Das Riff kann jeden Moment unter dem Druck nachgeben. Wenn wir den Club retten wollen, müssen wir Pfähle einrammen und mit Säcken einen Damm bauen. Dieser Wall muß halten, bis die
Ebbe einsetzt. Ich habe das schon einmal mitgemacht. Damals konnten wir das Haus retten. Ich weiß, wo die Pfähle und Säcke mit Sand aufbewahrt werden, aber wir müssen uns beeilen.“ Ben warf ihm einen prüfenden Blick zu und sah fragend zu Kimo hinüber. Dann nickte er. Der Alte mochte ein merkwürdiger Kauz sein, doch sein Plan war einleuchtend. „Kommt mit! Wir können es wenigstens versuchen.“ Sie stolperten hinter Tom her. Der lief zu einem verwitterten Schuppen, welcher fast vollständig mit Gestrüpp überwuchert war. Die Säcke waren noch alle vorhanden, aber als Ben einen davon hochhob, ergoß sich der Inhalt auf den Boden. Die Feuchtigkeit und der Salzgehalt der Luft schließlich hatten das Tuch im Laufe der Jahrzehnte brüchig werden lassen. Tom stand fassungslos vor den Säcken. „Das ist doch nicht möglich“, stammelte er immer wieder. „Wir haben sie doch erst vor ein paar Wochen gekauft.“ Ben stutzte und sah ihn erstaunt an, und plötzlich begriff er. Sanft nahm er Tom beim Arm, und sie kehrten alle gemeinsam in die Geborgenheit des Haupthauses zurück. „Kimo? Im Lagerhaus meiner Fabrik liegen Hunderte von leeren Säcken. Hier! Nimm die Schlüssel…“ „Ich hole sie!“ schrie Kimo und sprang auf. „Ich muß ohnedies zurück, weil ich heute abend Dienst habe. Dieses Unwetter wird uns noch eine Menge Scherereien bringen. Wenn es geht, schicke ich euch ein paar von meinen Männern. Gebt acht auf meine Grace!“ Zwei von den Hawaiianern, Aki und Ed, folgten Kimo in Bens Jeep. Sie wollten helfen, die Säcke einzuladen und zurückzubringen. Innerhalb der nächsten Stunde erreichte der Sturm Orkanstärke. Eine besonders kräftige Böe kam vom Meer herüber, und Carrie hörte das ohrenbetäubende Bersten und Krachen von Holz. Alles, was sie mit den anderen in monatelanger Fleißarbeit hergerichtet hatte, wurde nun Opfer der entfesselten Naturkräfte. Sie verstand auf einmal, was Tom Tanaka empfinden mußte. Dieser Ort hatte inzwischen auch für sie etwas Magisches. Hier hatte sie ihr Herz verloren. Einmal an dieses Tropenparadies, und dann an Ben. Aki und Ed waren schneller zurück als erwartet. Alle eilten sie hinaus, um die Säcke abzuladen und den Sand umzufüllen. Die gefüllten Säcke trugen sie zusammen, um sie wie einen Wall aufzustapeln. Einmal vernahmen sie ein ohrenbetäubendes Rauschen. Vor ihren Augen brach ein großes Stück des Riffs ab und versank in der Tiefe. Überall schäumte und brodelte es daraufhin. Langsam wuchs der Wall aus Sandsäcken. Mit jedem Zentimeter würde auch das Wasser höher steigen müssen, wenn es das Haupthaus erreichen wollte. Es ist ein Wettkampf mit der Natur, dachte Carrie, während sie Sack für Sack mit schwerem Sand füllte. Sie war inzwischen bis auf die Haut durchnäßt. Haare, Augen, Nase, Mund… alles klebte, alles war voller Sand. Zuerst hatten ihr noch die Arme weh getan, jetzt fühlte sie sie kaum noch. Gelegentlich hörte sie Ben rufen: „Bist du okay, Liebes?“ Sie konnte nur nicken. Ehrgeiz hatte sie ergriffen. Sie wollte gegen die Flut ankämpfen, und sie wollte sie besiegen. Im Laufe der Nacht erhielten sie Verstärkung. Kimo schickte alle, die er entbehren konnte. Bekannte von James, Freunde aus dem Surfclub kamen auch und boten ihre Hilfe an. Lani hörte auf, Sand in Säcke zu füllen und kochte statt dessen viele, viele Kannen Kaffee. Dabei pries sie immer wieder den alten Propangasherd und die Petroleumlampe. Die Stromleitungen waren längst tot.
Ein halber Mond beleuchtete das Geschehen. Endlich wich die Nacht, aber es zeigte sich ein schmutziggrauer Morgenhimmel. Ben hatte von Carrie soeben einen vollen Sack entgegengenommen. Er stellte plötzlich fest, daß er nicht nur die Umrisse, sondern auch die Gesichter der Menschen ringsum erkennen konnte. Der Wind zerrte noch immer ungeduldig an den Palmen. Einige lagen abgeknickt am Boden, andere bogen sich unter dem wütenden Zugriff. Doch der Orkan hatte an Stärke eingebüßt, und es hatte aufgehört zu regnen. Wenige Schritte von Ben entfernt wuchtete Tom einen Sack hoch und schleppte ihn zu dem Wall aus Sandsäcken, der inzwischen zwei Meter hoch war und mehr als hundert Meter lang. Langsam hievte der alte Mann einen Sack hoch und bettete ihn vorsichtig auf die anderen. Dann ging er den nächsten Sack holen, und alles begann von vorn. Ben bewunderte Tom. Er hatte ununterbrochen die Nacht durchgearbeitet und sich keine Ruhepause gegönnt. Wie alt mochte er sein? Auf jeden Fall war er zu alt für eine solche Strapaze! „Kommen Sie mit, Tom. Wir brauchen jetzt beide einen starken Kaffee.“ Doch Tom schüttelte stumm den Kopf. Er sah abgespannt aus. Ben versuchte es daraufhin bei Carrie. Er mußte sie hochheben und auf die Füße stellen. Sie schwankte und konnte kaum gehen. Ben legte den Arm um ihre Taille und stützte sie. Sie war erschöpft und unbeschreiblich müde. Seite an Seite kämpften sie sich gegen den Wind vorwärts. Plötzlich fuhren sie zusammen. Sie hörten einen Hund aufgeregt bellen. Happy? Wie kam Happy hierher? Sie hatten ihn doch im Haus eingeschlossen. Jetzt sprang er fröhlich blaffend auf dem Wall hin und her und wedelte mit dem Stummelschwanz. Carrie schrie. Unvermutet schwappte nämlich eine Welle über das Tier hinweg. Das abströmende Wasser zog den winzigen Kerl mit sich ins Meer hinein. Carrie schrie noch einmal, doch bevor sie oder Ben etwas unternehmen konnten, sahen sie Grace durch das Wasser sprinten. Sie lief, so rasch sie konnte, dorthin, wo Happy hilflos den Wellen ausgeliefert war. Wie vom Donner gerührt standen Ben und Carrie da und starrten entsetzt auf das, was sich jetzt vor ihren Augen abspielte. Langsam, fast im Zeitlupentempo, bildete sich weiter draußen eine riesige Welle. Sie stieg drohend empor und zeichnete sich scharf gegen den schiefergrauen Himmel ab. Sich übereinander türmend erreichte sie schwindelnde Höhen und rollte ungehindert über das teils sowieso zerstörte Riff hinweg. Nun bewegte sie sich genau auf Grace zu, die soeben den zappelnden Hund aus dem Wasser fischte. Ben brüllte, dann lief er los. Schnell, noch schneller, während die Welle wuchs und wuchs… Grace hörte das Rauschen hinter sich. Sie hielt Happy fest im Arm und blickte über die Schulter zurück. Für einen Moment war sie starr vor Entsetzen. Dann rannte sie, um den Schutzwall aus Sandsäcken zu erreichen, verfolgt von der Riesenwoge. Plötzlich kam ihr eine hagere Gestalt entgegen. Grace stolperte und fiel, aber Tom, er war es, war bereits bei ihr. Er riß sie hoch, griff nach ihrer Hand und zog sie hinter sich her. Die Entfernung zwischen ihnen und dem schützenden Wall wurde immer kleiner. Carrie schrie, konnte aber nichts tun und mußte mitansehen, wie die riesige Wasserwand über den beiden dagegen kleinen Menschen aufragte, um dann aus ihrer enormen Höhe herabzustürzen und sie unter sich zu begraben. Doch nein, buchstäblich in letzter Sekunde hatte Tom Grace offenbar mit ganzer Kraft von sich gestoßen. Ben und Carrie sahen sie fast wie eine Stoffpuppe über
die Mauer aus Sandsäcken stürzen. Das Wasser schäumte, schlug gegen den Sandwall, aber der hielt zum Glück stand. Grace lag regungslos auf der Innenseite des Schutzwalls. Der verhinderte, daß sie hinausgerissen wurde in die aufgewühlte See. Den Hund hielt sie noch immer fest an sich gepreßt. Einer von Kimos Männern erreichte sie zuerst. Er hob sie kurzentschlossen hoch und trug sie zum Haus. In der Ferne sahen sie eine neue Riesenwelle sich auftürmen und auf sie zurollen. Carrie und Ben kümmerten sich um Grace. Sie hüllten sie und Happy fest in eine wärmende Jacke ein, die Aki ihnen reichte. Von Tom TanakaMartin fehlte jede Spur. Das zurückflutende Wasser hatte ihn mit sich fortgerissen. Grace verzweifelte fast darüber, daß Tom ertrunken war. Sie gab sich die Schuld an seinem Tod, und Kimo hatte große Mühe, sie zu trösten. Die Sonne war aufgegangen, und ihr Licht offenbarte die Schäden, die der Sturm angerichtet hatte. Lani erzählte den anderen von Tom: „Ich kannte ihn gut. Er war mein Spielkamerad, mein Freund. Unsere Mütter waren beide Japanerinnen. Toms Vater war ein hartherziger, engstirniger Offizier. Ihm zuliebe wurde Tom Soldat. Aber er war eben auch halb Japaner, als der Krieg ausbrach, mußte er deshalb die Armee verlassen. Man gab ihm den Posten eines Verwalters hier im Reveille Riff Club. Tom war überglücklich. Er wurde gebraucht, man verließ sich auf ihn, man hatte ihn gern. Das gab ihm ein Gefühl von Selbstachtung. Dann kam der Angriff auf Pearl Harbour. Toms Vater kam dabei ums Leben. Tom erlitt einen Nervenzusammenbruch, von dem er sich nie wieder erholte. Viele Jahre verbrachte er in einer Nervenheilanstalt. Vor etwa zwei Jahren holte ihn seine alte Mutter nach Hause und übergab ihn der Obhut der Shintopriester. Alles ging gut. Nach langer Zeit schien er wieder glücklich zu sein. Schließlich war er wieder in der Nähe seines geliebten Clubs. Doch dann begannen die Bauarbeiten. Tom verstand das nicht. Er fürchtete, man könnte ihm ,seinen Club' wieder fortnehmen. Er wollte nichts Böses. Wenn er bei klarem Verstand war, schämte er sich. Dann versprach er mir, keinen Schaden mehr anzurichten. Nur… manchmal verwirrte sich sein Geist… und dann vergaß er…“ Lani begann zu weinen, und auch ihren Zuhörern traten vor Rührung Tränen in die Augen. „Versteht ihr mich? Er konnte nicht die Brücke zwischen dem, was vergangen ist, und dem, was vor uns liegt, schlagen.“ „Von Fungus Factory hat jemand angerufen, Ben. Du solltest sofort kommen. Durch den Stromausfall funktionieren irgendwelche automatischen Temperaturregler nicht. Wer sind diese Leute, Ben? Was hast du mit ihnen zu tun?“ Es galt, keine Zeit zu verlieren. Während er sich rasch umzog, erzählte Ben Carrie von seiner Idee, schilderte seine Auseinandersetzung mit Mitchell und wie durch Tante Stellas Unterstützung sein Werk doch ins Leben gerufen werden konnte. Am Schluß erwähnte er den großen finanziellen Gewinn, den dieses Unternehmen in den wenigen Wochen, seit die Produktion angelaufen war, bereits erzielt hatte. Carrie saß auf der Bettkante und konnte es nicht fassen. Ben hatte tatsächlich etwas gefunden, worin er vollkommen aufging! Er war wie ausgewechselt. „Du hast das alles geplant, ohne mir ein einziges Wort darüber zu sagen? Warum, Ben? Weshalb hast du es mir verheimlicht? Hast du gedacht, ich sei zu dumm, um es zu verstehen?“ „Ich wußte, du würdest alles falsch auffassen!“ rief Ben verzweifelt. „Bitte, Carrie, laß uns nicht schon wieder streiten. Ich kann dir das erklären. Warte, bis ich zurück bin. Dann…“
„… dann werde ich keine Zeit für dich haben, Ben Gilmour. Dann werde ich zu beschäftigt sein.“ Carrie sprang auf und lief hinaus. Er hatte sie zum Narren gehalten! Wie mußte er sich über sie amüsiert haben. Er, Benjamin Gilmour, ein erfolgreicher Unternehmer, ließ sich von ihr abkanzeln wie ein Schuljunge. Sie hatte geglaubt, er brauche sie. Doch nun hatte er ihr bewiesen, daß er weder sie noch sonst jemand nötig hatte! Der Morgen graute. Carrie lag mit geschlossenen Augen da und wartete. Doch dann besann sie sich. Nein, das Horn würde sie nie wieder hören. Tom Tanaka Martin war gestorben, bevor sie ihm hatte sagen können, wie sehr ihr sein Morgenständchen gefallen hatte. Ben fiel ihr ein, und das schmerzte. Sie hatte auch ihn verloren. Er war nun wie ein Fremder für sie. Wohl, weil sie ihm nie gesagt hatte, wieviel er ihr bedeutete. Es war allein ihre Schuld. Sie hatte ihn ändern wollen, hatte nur Kritik geübt. Jetzt hatte er ihr gezeigt, daß er etwas leisten konnte, und da war es ihr auch nicht recht. Carrie trat ans Fenster. Im Osten zeigten sich rosa Streifen am Horizont. Bald würde die Sonne aufgehen. Sie hatte sich für so schlau gehalten. Und nun? Ihr Vater, Grace, Eliza, Ben – alle hatten sie ihr bewiesen, daß sie auch ohne sie, ohne Carrie Cossini, auskommen konnten. Ich muß mich mit den Tatsachen abfinden, dachte sie. Das Leben geht weiter. Das beste wird sein, die Sturmschäden schnellstens zu beseitigen und Hawaii den Rücken zu kehren. Um sich ein umfassendes Bild zu machen, nahm sie eine Leiter und stieg zum Dach hinauf. Dort kletterte sie bis zum Firstbalken und ließ sich rittlings darauf nieder. Es war ein grandioser Anblick, von hier aus zu beobachten, wie sich die Sonne rotglühend hinter dem Meer zeigte und dann am Himmel emporstieg. Benjamin bog in die Einfahrt zum Clubgebäude ein. Während der Nacht hatte er sich zu Hause hingesetzt und einen Ehevertrag entworfen. Dann war er in aller Frühe aufgebrochen. Ob Carrie ihn wohl heiraten würde? Als er sich dem Haus näherte, sah er sie hoch oben auf dem Dachfirst thronen. Ihr Gesicht leuchtete im Glanz der aufgehenden Sonne. Er hatte geahnt, daß es nicht leicht sein würde, aber mußte sie es ihm so schwer machen? Seufzend nahm er die Leiter, die an der Hauswand lehnte und begann den Anstieg. Als seine Ledersohlen gleich darauf auf den noch feuchten Sprossen der Dachleiter abglitten, war das nicht zu überhören. Carrie wandte den Kopf, sah Ben haltsuchend um sich greifen und stieg in halsbrecherischem Tempo zu ihm hinunter. Es gelang ihr soeben, seinen Arm zu fassen. Mit ganzer Kraft zog sie daran. Ben fand einen Halt an der Dachluke, und da landete die Dachleiter auch schon krachend auf dem Boden. Carrie war kreideweiß im Gesicht. „Ich habe dir schon so oft gesagt, daß man nicht mit Lederschuhen aufs Dach klettert.“ „Carrie, bitte, glaub mir, ich habe dir meine Fabrik nicht böswillig verheimlicht. Ich wollte dich damit überraschen.“ „Du hättest dir das Genick brechen können, du…“ Carries Angst um Ben machte sich in lautstarken Vorwürfen Luft. „Ich wollte Eindruck auf dich machen. Du solltest auf mich stolz sein. Du bist so tüchtig, so selbstsicher. Was habe ich schon vorzuweisen?“ „Hör auf zu reden, und paß auf, wo du hintrittst!“
Sie rutschten vorsichtig vom Dach herunter und stiegen dann die Leiter hinab. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte, konnte Carrie nicht länger an sich halten. „Was hast du dir dabei gedacht? Warum steigst du wieder zu mir aufs Dach?“ Ben nahm ihr Gesicht in seine Hände. „Bist du jetzt endlich still und hörst mir einmal zu? Ich liebe dich, Carrie. Ich kann nicht mehr ohne dich leben. Ob du es willst oder nicht, ich werde dich heiraten und zwar gleich. Ich lasse dich nicht mehr fort, denn ich brauche dich, Carrie. Das wollte ich dir sagen.“ „Du… brauchst mich, Ben?“ Sie konnte es kaum fassen. Er war noch einmal auf das Dach geklettert, nur um ihr das zu sagen? „Ach, Ben, du bist alles, was ich will. Ich liebe dich so sehr, und ich brauche dich auch…“ gestand sie ihm. Ben nahm sie glücklich in die Arme und küßte sie innig. Engumschlungen gingen sie dann zum Strand hinunter. Die Palmen wiegten sich in der sanften Brise. Vögel zwitscherten, und die Lagune glitzerte in der Morgensonne, als hätte es nie den Sturm gegeben.
ENDE