Dich heiraten – Nie!
Patricia Ryan
Tiffany 666
3 – 1/96
Gescannt von Almut K.
1. KAPITEL Harley Ann Sayers erwa...
7 downloads
747 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Dich heiraten – Nie!
Patricia Ryan
Tiffany 666
3 – 1/96
Gescannt von Almut K.
1. KAPITEL Harley Ann Sayers erwachte durch splitterndes Glas. Ganz still lag sie in der Dunkelheit da und lauschte. Unten wurde leise eine Tür geschlossen. Splitter knirschten unter Schuhen. Ein Mann räusperte sich. Jemand war im Haus! Das Schlucken fiel Harley schwer, so trocken war ihr Mund. Sie setzte sich auf und tastete zitternd auf dem Nachttisch nach dem Telefon. Aber natürlich fand sie keines. Sie war nicht in ihrem Apartment, sondern in Raleigh Hales Haus. Mr. Hale mochte keine Telefone, vor allem nicht im Schlafzimmer. Großartig! Einfach großartig! Ein dumpfes Klopfen mischte sich mit dem Knarren der Dielenbretter. In diesem zweihundert Jahre alten Haus knarrten die Dielenbretter trotz der Orientteppiche. Harley stand auf, fand in dem durch das Fenster fallenden Mondschein den Bademantel und zog ihn über den kurzen Sommerpyjama. Bebend verknotete sie den Gürtel zweimal, fuhr sich durch das Haar und schob sich auf den Korridor hinaus. Der Mann hatte unten kein Licht eingeschaltet. Ob er wusste, dass sie hier war? Vermutlich nicht, sonst hätte er nicht solchen Lärm gemacht. Vor Angst konnte Harley kaum atmen. An der Treppe blieb sie stehen und überlegte. Das einzige Telefon in dem großen Haus befand. sich in dem nach vorne gelegenen Arbeitszimmer. Der Mann war in dem nach hinten gelegenen Wintergarten. Wenn sie die besonders laut knarrenden Dielenbretter mied, konnte sie sich ins Arbeitszimmer schleichen und 911 wählen. Aber zuerst brauchte sie eine Waffe. Sie betrat das nächste Zimmer und sah sich um. Es war Tucker Hales Zimmer, das seit über zwanzig Jahren weder benützt noch verändert worden war. Ein Museum für einen toten Sohn. Mondschein fiel durch die halb geschlossenen Jalousien auf unzählige Bücher und Langspielplatten in deckenhohen Regalen. Dazwischen standen zahlreiche Modelle von Flugzeugen, Autos und Segelbooten, aber nichts zur Selbstverteidigung. Doch an der Wand lehnten zwei Gitarren ... und ein Baseballschläger. Den Schläger in der einen Hand, hielt sie mit der anderen den Bademantel hoch und schlich die Treppe hinunter. Jetzt schlug Harleys Herz noch schneller. Der Eindringling spielte Klavier, noch dazu überraschend gut. Und es war ein sehr schönes Stück, Beethovens Mondscheinsonate, eines ihrer Lieblingsstücke. Warum war dieser Kerl um ein Uhr nachts in Raleigh Hales Haus eingebrochen und direkt an das Klavier im Wintergarten gegangen? War das womöglich Mr. Hale? Eigentlich sollte er den ganzen Sommer über in der Karibik segeln, aber vielleicht hatte er seine Reise abgebrochen, war ohne Schlüssel heimgekommen und hatte sie nicht wecken wollen ... Wunschdenken, nichts weiter!
Trotzdem war es besser, sie sah sich den Mann an, bevor sie den Notruf wählte. Vorsichtig ging sie zur Tür des Wintergartens und zitterte noch heftiger, als sie den Eindringling im Mondschein entdeckte. Mit dem Rücken zu ihr saß er am Konzertflügel und spielte. Wie sie schon nach dem Klang seiner Schritte geschlossen hatte, war er groß und hatte breite Schultern. Wenn sie sich nicht täuschte, trug er eine Basketballmütze. Sein Haar reichte fast bis zum Kragen seines grauen Sweaters. Das war nicht Raleigh Hale! Plötzlich hörte er zu spielen auf, schloss das Klavier ... drehte sich um und sah sie direkt an. Harley rang nach Luft. Vor Angst war sie wie gelähmt. Außerdem war sie wütend auf sich selbst. Sie hätte die Polizei rufen sollen! Nein, sie hätte weglaufen sollen, doch jetzt war es zu spät. Der Mann hätte sie mühelos eingeholt. Er saß nur da und betrachtete den Schläger, ihr Gesicht, den weißen Bademantel, ihre nackten Füße und wieder ihr Gesicht. Keine Angst zeigen! Angst erzeugt Aggression. Und nicht zittern! Wenn er sah, dass sie zitterte, wusste er, dass sie Angst hatte. Drohend hob sie den Schläger mit beiden Händen. Der Mann war unrasiert, auf seiner schwarzen Mütze war ein weißer springender Fisch abgebildet. Er trug Jeans, und durch ein Loch, an der Schulter seines weiten Sweaters sah man ein weißes T-Shirt. Er griff nach etwas, das wie ein Stab aussah. Harley hob den Schläger höher. "Legen Sie das weg!“ befahl sie mit brüchiger Stimme. "Ganz ruhig." Der Stab war, an der Spitze gebogen. Ein Gehstock! Das erklärte das dumpfe Klopfen von vorhin. Auf den Stock und das Klavier gestützt stand er auf. Er war über einsachtzig und breit gebaut, sie nur einssechzig und hundert Pfund schwer und ihm körperlich weit unterlegen. "Setzen Sie sich!“ Als sie den Schläger schwenkte, um den Befehl zu unterstreichen, verlor sie fast das Gleichgewicht. "Sofort!" Er dachte gar nicht daran, sondern stützte sich auf den Stock und betrachtete sie amüsiert. "Wenn Sie mich verprügeln wollen, verschonen Sie bitte das schlimme Bein." Seine Stimme klang tief und rau. Hinkend kam er einen Schritt näher und zog das linke Bein nach. Das war zwar gut, aber er wirkte trotzdem gefährlich. Er hatte die Ärmel des Sweaters hochgeschoben und muskulöse Unterarme entblößt. Der Mann war schlank aber stark. Und dieser Stock war in seinen Händen eine wirkungsvolle Waffe. Harley holte tief Atem und bemühte sich um einen drohenden, Ton. "Bleiben Sie, wo Sie sind." Den nächsten Schlag durch die Luft schaffte sie schon etwas besser. „Jagen Sie mich sonst mit diesem Schläger aus dem Haus?" Lächelnd kam er noch näher. "Nein, ich schlage Ihnen damit gegen das Bein!"
Er hörte auf zu lächeln. Im Mondschein entdeckte sie eine hässliche Narbe auf seiner linken Wange. "Das würden Sie nie machen." „Stellen Sie mich auf die Probe!" Er betrachtete den Schläger, tat noch einen Schritt und griff danach. "Hey, das ist..." Bevor er ihn ihr wegnehmen konnte, holte sie aus und schlug ihm gegen das rechte Schienbein. Stöhnend ging er zu Boden und ließ den Stock fallen, hielt sich das Bein und fluchte. Schnell weg! Schon wollte sie sich abwenden, doch der Mann wirkte gar nicht mehr so bedrohlich, als er sich auf den Rücken rollte und sich keuchend streckte. "Das ist mein gutes Bein!" stieß er hervor. „Jetzt nicht mehr." Er sah sie erstaunt an. "Sie sind vielleicht kaltblütig! Das hätte ich nie von ihnen erwartet." „Ich halte immer, was ich verspreche." Mit dem Schläger in der Hand stand sie vor ihm. "Wie löblich." Er setzte sich auf und rieb sich das Schienbein. "Das war vielleicht ein Schlag!" Trotz der offensichtlichen Schmerzen lächelte er und hob die Hände, als wollte er sich ergeben. Im nächsten Moment entriss er ihr den Schläger und wog ihn in der Hand. Schnell weg! Harley drehte sich um, und lief Richtung Haustür, war jedoch erst im Esszimmer, als es hinter ihr polterte. Sie blieb stehen und blickte zurück. Der Baseballschläger rollte gegen eines der Tischbeine, während der Eindringling noch immer im Wintergarten auf dem Boden saß. "Sie können ihn wiederhaben", erklärte er, als Harley den Schläger aufhob. "Ich wollte ihn mir nur ansehen, bevor Sie mich niederschlugen.“ "Warum?" Langsam ging sie zurück und blieb außer Reichweite an der Tür zum Wintergarten stehen. "Ich habe die Initialen gesehen." Sie schaltete das Licht ein und untersuchte den Schläger. Am Griff waren die Buchstaben T.H. und die kindliche Zeichnung einer Rakete eingebrannt. "Das ist mein Schläger", erklärte er. Harley wich hastig zurück. Der Mann, war verrückt oder ein Betrüger. „Tucker Hale ist tot", erwiderte sie. Sein Gesicht verschloss sich. "Hat er Ihnen das erzählt?" "Wer?" "R.H. Mein Vater. Hat er Ihnen erzählt, dass ich tot bin?" Freunde nannten Raleigh Hale nur R.H. „Ihr ... Mr. Hale sagte ... also, er hat es nicht direkt ausgesprochen, aber ... ich habe Fotos von Ihnen ... von Tucker gesehen." Auf Raleigh Hales Schreibtisch standen zwei Fotos. Das Bild in einem Silberrahmen zeigte einen ungefähr zehnjährigen Jungen auf einem großen Segelboot, an dessen, Bug der Name Anjelica stand. Er trug ein weißes
Polohemd und Bermudashorts und lächelte aufgeregt, während er mit dem Steuerrad kämpfte. Auf dem zweiten Foto in einem Rahmen aus Elfenbein und Perlmutt sah man ein Segelflugzeug auf einem Rasen. Daneben stand derselbe Junge, etwa fünf oder sechs Jahre älter. Er war groß geworden und trug ein kariertes Hemd und eine geflickte Jeans. Das lange Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. "Ich habe Mr. Hale nach Ihnen gefragt", fuhr Harley fort. "Also, nach seinem Sohn. Was er denn macht, und wo er lebt. Und er sagte Tucker ist nicht mehr bei uns.“ "Und Sie haben angenommen ...“ "Ich habe auch eine gewisse Elizabeth Wycliff gefragt. Sie sagte, vor langer Zeit wäre etwas geschehen, und ich sollte nicht ..." "Liz Wycliff? Sie ist eine alte Freundin der Familie. Unterrichtet sie noch an der Columbia University, oder hat sie sich schon zur Ruhe gesetzt?" „Im letzten Monat hat sie sich zur Ruhe gesetzt", erwiderte Harley. "Sie war meine Professorin in Statistik." Also wusste er, wer Elizabeth Wycliff war, doch das bewies nichts. "Sie waren auf der Columbia?" Harley nickte. „Ich mache mein Wirtschaftsdiplom. Liz hat mir diesen Job hier besorgt. Sie hat mich Ihrem ... Mr. Hale vorgestellt." "Sie arbeiten hier?" „Ich hüte das Haus, während er Urlaub macht." "Urlaub ... " Er rieb sich den Nacken. "Verdammt. Und was hat Liz Ihnen gesagt?" "Dass ich mit Raleigh Hale nicht über Sie sprechen soll. Oder Tucker. Ich soll seinen Namen nicht erwähnen, um keine Wunden zu öffnen, die schon zwanzig Jahre alt sind." "Einundzwanzig. Ich bin vor einundzwanzig Jahren weggegangen." Er blickte starr zu Boden. "Ich war sechzehn." "Sehen Sie, ich will Ihnen ja glauben. Aber Sie sind hier mitten in der Nacht eingebrochen wie ein ... " "Ich dachte, es wäre keiner da. Ich habe geklopft, aber niemand hat aufgemacht." „Ich schlafe immer tief, wenn nicht gerade Glas splittert." Alarmiert hob Harley den Schläger, als er in die Gesäßtasche fasste. "Was machen Sie da?" Er zog eine kleine weiße Karte hervor und warf sie ihr zu. ‚Hale Aviation' stand darauf, dazu die Adresse der Fluggesellschaft und eine Telefonnummer in Alaska. "Führerschein, Pilotenschein und Bibliothekskarte sind da drinnen." Er deutete auf eine Reisetasche neben dem Klavierschemel. Sie hatte nicht die Absicht, an ihm vorbei, zu der Tasche zu gehen. Er mochte hinken, war aber trotzdem schnell und stark. "Nehmen Sie die Mütze ab", verlangte sie und suchte in seinem scharf geschnittenen Gesicht nach Ähnlichkeiten mit dem jungen Tucker oder mit Mr. Hale.
Er besaß die gleiche lange und gerade Nase wie Mr. Hale und eine Einkerbung im Kinn. Die Narbe war noch frisch. Er hatte eine ähnliche Figur und Gesichtszüge wie Mr. Hale. Während sie ihn prüfend musterte, betrachtete er ihren Mund, ihr Haar und die Hände, mit denen sie den Schläger hielt. "Sie zittern", stellte er fest. "Das würden Sie auch, wenn ein Geist Sie mitten in der Nacht weckt." "Ach, dann geben Sie also zu, dass ich der längst verstorbene Tucker Hale bin." Sie überlegte einen Moment. „Tucker Hales Zimmer wurde nicht verändert. Beschreiben Sie es mir." "Meine alten Sachen sind noch da? Nicht nur Rocky?" "Rocky?" Er deutete auf den Baseballschläger. "Rocky, der Raketenschläger. Der schnellste Schläger im Osten. Ist Spiro noch da? Das Dartboard mit Spiro Agnews Bild?" Harley nickte. "Die Modelle? Die Autos, Boote und Flugzeuge?" "Alles ist noch, wie Sie es verlassen haben. Es ist richtig unheimlich." Langsam richtete er sich auf. "Dann darf ich vermutlich aufstehen, ohne ernsthafte körperliche Schäden fürchten zu müssen." "Es tut mir leid, wenn ich Ihnen weh getan habe", meinte sie verlegen. „Ist es sehr schlimm?" Er rang sich ein leises Lachen ab. "Es ist nichts passiert, das sich nicht durch eine weitere Operation beseitigen lässt. Das haben die Ärzte allerdings schon bei der ersten von drei Operationen gesagt." "Was denn? Meinen Sie … müssen Sie sich wirklich operieren lassen, weil ich ..." Sie ließ den Schläger fallen und streckte ihm die Hände entgegen. Er ließ den Stock los und hielt sich an ihr fest. Seine großen Hände fühlten sich warm und rau an. "Natürlich nicht", sagte er, während er aufstand. "Verstehen Sie keinen Scherz?" "Nein. Das konnte ich noch nie." Lächelnd streichelte er ihre Hände mit den Daumen, als wollte er das Zittern vertreiben. Es wurde jedoch nur noch schlimmer. „Tut mir leid, dass ich Ihnen angst gemacht habe", versicherte er. In seinem Blick fand sie Bedauern und noch etwas mehr. Hastig zog sie die Hände zurück und schloss automatisch den Kragen ihres Bademantels. "Sie können Ihre Mütze wieder aufsetzen." Er hob die Mütze auf und schleuderte sie wie eine Frisbee-Scheibe zu seiner Tasche. "Komisch. Daheim trage ich eine Mütze im Haus, aber hier macht man das einfach nicht." Er streifte die mächtigen Farne, den Flügel und die MingVasen mit einem flüchtigen Blick und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
„Tut mir leid, das macht man hier auch nicht", sagte Harley. „Ihr Vater erlaubt nicht, dass im Haus geraucht wird." "Aber er raucht selbst." Damit zündete er sich die Zigarette an. "Nein, jetzt nicht mehr. Ich weiß, Sie sind sein Sohn, aber ich hüte das Haus. Und was das Rauchen angeht, hat er sich ganz klar…“ "Dann hat er sich wenigstens nicht verändert. Er macht immer alles ganz klar." Lässig zog er an der Zigarette und dachte nicht daran, sie auszudrücken. "Sie glauben gar nicht, wie sehr mir seine Regeln zum Hals heraushingen. Mit sechzehn hatte ich so viel gehört, was man macht und was man nicht macht, dass es mir fürs Leben reicht." "Na gut, dann mögen Sie also nicht, dass man Ihnen Vorschriften macht. Aber es ist meine Aufgabe, Ihnen zu sagen, dass im Haus nicht geraucht werden darf." "Hat er Ihnen auch gesagt, wie Sie dieses Gesetz ausführen sollen, wenn sich jemand weigert?" "Das war nicht nötig." Sie entriss ihm die Zigarette und ging auf die Terrassentüren zu. „Ich habe ihm versprochen, dass hier drinnen nicht geraucht wird, und ..." "Und Sie machen immer, was Sie versprechen, richtig?" fragte er amüsiert. "Richtig." Für Mitte Juni war es kühl und feucht. Vermutlich regnete es bald. Harley überquerte die Terrasse, kauerte sich neben den Pool und tauchte die Zigarette ein. "Wann hat er den Pool machen lassen?" Tucker stand in der offenen Tür. "Weiß ich nicht. Ich habe das Haus vor zwei Wochen zum ersten Mal gesehen." "Riesending." Er nahm von Harley den nassen Rest der Zigarette entgegen. Hier draußen können Sie rauchen, aber nicht im Haus." Er lehnte sich gegen den Türrahmen. "Sie sind nicht aus Hale's Point. Das würde ich an Ihrer Sprache hören." „Ich bin von ... " Das Weitersprechen fiel ihr schwer. "Von überall. Jetzt lebe ich in Manhattan, Upper West Side. Während des Sommers habe ich mein Apartment untervermietet." "Wie heißen Sie? Wir werden im selben Haus wohnen." "Wollen Sie bleiben und auf Ihren Vater warten?" "Das ist keine Antwort.“ Vielleicht wollte Raleigh Hale nicht, dass sein Sohn im Haus blieb. Besser, sie erinnerte Tucker daran, wie es war, mit den zahlreichen Regeln seines Vaters zu leben. "Wenn Sie bleiben, sollten Sie wissen, dass Ihr Vater noch in einigen anderen Dingen heikel ist." „Wieso überrascht mich das nicht?" fragte er matt. "Essen darf man nur in der Küche, dem Speisezimmer oder dem Frühstückszimmer. Hunde und Katzen sind verboten und …“ Kopfschüttelnd hinkte Tucker in den Wintergarten und hob Mütze und Tasche auf. „Ich weiß wirklich nicht, warum ich hergekommen bin. Tut mir leid, dass ich Ihren Schlaf gestört habe."
Verwirrt folgte sie ihm zur Haustür und auf die Veranda. Er blieb nicht? "Wohin wollen Sie?" "Zurück nach La Guardia und dann heim." "Heim? Aber Sie sind doch gerade erst ..." "Ich bin gerade erst hergekommen und kehre nach Hause zurück. Ich weiß, wann ich mich zurückziehen sollte. So viel habe ich in einundzwanzig Jahren nicht vergessen." Harley sah sich um. "Wo ist Ihr Wagen?" „Ich habe keinen. Ich bin per Anhalter vom Flughafen hergekommen. Und so fahre ich auch zurück." "La Guardia ist hundert Kilometer entfernt. Ich fahre Sie." "Sie sind nicht angezogen." „Ich kann ..." „Ich will nicht warten. Ich verschwinde sofort." "Aber es ist mitten in, der Nacht, und es fängt zu regnen an. Wenn Sie nun niemand mitnimmt! Was ist mit Ihrem Bein?" "Ich werde überleben. Darin bin ich verdammt gut." Hatte er starke Schmerzen und wollte es einfach nicht zeigen? „Tucker …“ "Ob R.H. weiß, wie viel Glück er hat, dass Sie sich hier um alles kümmern?" Es klang nicht nach einem Kompliment. "Sie sind wild darauf, seine Vorschriften auszuführen. Ihre Begeisterung vertreibt mich. Offenbar lieben Sie Regeln genau wie er und brauchen sie wie die Luft zum Atmen. Unordnung oder Überraschungen ertragen Sie nicht in Ihrem Leben. Darum sind Sie auch so erleichtert, dass ich verschwinde. Sie wissen nicht, wie mein alter Herr zu meinem Auftauchen stehen würde, und Sie wollen doch R.H. nicht verärgern. Jeder möchte von meinem Vater anerkannt werden. Ich kenne das." Er betrachtete das Haus. Aber ich kann das nicht mehr mitmachen." Er stieg zwei Stufen hinunter und drehte sich zu ihr um. Sie waren miteinander jetzt auf Augenhöhe. "Er hat wirklich Glück, dass er Sie gefunden hat. Sie sind ordnungsliebend, denken anständig und, können sehr gut Befehle erteilen. Sie sind wie er! Sie sind praktisch Raleigh Hale, nur ... Wie alt sind Sie?" "Dreiundzwanzig", erwiderte sie steif. "Nur fünfundvierzig Jahre jünger, und …“ Er legte die Hand an ihre Wange und strich mit dem Daumen über ihre Lippen. "Und Sie haben einen viel schöneren Mund." Sachte hob er ihren Kopf an und kam ihr plötzlich sehr nahe. Als er die Augen schloss, folgte sie seinem Beispiel. Dann fühlte sie seine warmen Lippen auf ihrem Mund und die leicht kratzenden Bartstoppeln. Der Kuss endete sofort wieder. Es war ein Abschiedskuss zwischen zwei Menschen, die einander mitten in der Nacht unter seltsamen Umständen kennen gelernt hatten und sich nie wieder sehen würden. Trotzdem war Harley atemlos und konnte sich kaum auf den Beinen halten. "Leben Sie wohl ... wie immer Sie auch heißen.“
Sie holte tief Atem. "Harley." Lächelnd streichelte er ihre Wange. „Harley. Danke." Danach wandte er sich ab und verschwand in der Dunkelheit, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Harley jagte durch die Korridore und in die einzelnen Räume, um die Fenster gegen den plötzlichen Wolkenbruch zu schließen. Tucker war draußen in diesem Unwetter. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte siebzehn Minuten nach drei. Er war vor zwei Stunden gegangen. Durch die geschlossenen Fenster hörte sie das Donnern der Wellen am Strand unterhalb des Hauses. Tucker hatte gehinkt, und sie hatte durch den Schlag mit dem Baseballschläger alles noch schlimmer gemacht. Wie weit er wohl gekommen war? Die Straße war völlig einsam. Ohne zu überlegen, streifte sie den vorn Regen feuchten Bademantel ab und zog sich an. Tucker Hale lehnte sich gegen einen Zaun und schlug den Jackenkragen hoch. Er hatte ein trockenes Haus und die attraktivste Frau verlassen, die er seit langem gesehen hatte. Ob man im Stehen in diesem Wolkenbruch schlafen konnte? Scheinwerfer. Der Teufel sollte sie holen. Er schlang die Arme um sich, senkte den Kopf, schloss die Augen und erinnerte sich an die schlimmste Orte, an denen er bisher geschlafen hatte. Das Krankenhaus war schlimm gewesen. Doch doppelt so arg war der glühend heiße, von Kakerlaken verseuchte D-Block gewesen mit dem massigen Zellengefährten, der seinen Schwager im Schlaf mit einem Kissen erstickt hatte. Und dann hatte er mit Freunden einen Berg in den kanadischen Rockies erstiegen, und sie hatten in ihren Schlafsäcken mitten in der Wand frei schwebend geschlafen. Ein Wagen hupte ... „Tucker!" Er öffnete die Augen und hob den Kopf. Der Wagen hielt vor ihm, die Tür stand offen. Drinnen brannte Licht. Harley winkte ihm zu.
2. KAPITEL
Tucker zog sich aus, sobald sich die Haustür hinter ihm schloss. Harley riss die Augen auf, als sie seine nackte Brust erblickte. Sogar für Ihn selbst waren die Narben zwischen der linken Schulter und der Hüfte ein erschreckender Anblick. Der Rücken sah auf dieser Seite fast genauso schlimm aus.
Mit dem Handtuch, das sie ihm reichte, trocknete er rasch Gesicht, Haar und Oberkörper ab und schlang es sich um den Nacken. Dann öffnete er die Jeans. „Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, aber ich muss die Hose ausziehen." Sie wandte sich ab. „Ich mache Ihr Bett."
"Das kann ich selbst. Bemühen Sie sich nicht."
"Es ist keine Mühe."
Offenbar suchte Harley nur eine Entschuldigung, um nicht dabei sein zu
müssen, wenn er sich auszog. Sollte ihm recht sein. Er hätte nur gern gewusst, ob sie sich an seinem nackten Körper oder an den Narben störte. Er schlang das Handtuch um die Hüften, griff nach dem Stock und folgte ihr in das Zimmer des Hausmädchens gleich neben der Küche. Das Hausmädchen kam erst im September wieder. Deshalb wollte er hier schlafen und nicht in seinem alten Zimmer, um die Treppe zu meiden und das Bein zu schonen. Harley bezog das Bett.
„Von diesem Laken muss eine Münze abprallen, Soldat", sagte er.
Sie wurde rot, als sie sah, dass er nur das Handtuch trug. Dann warf sie einen
Blick auf sein entstelltes linkes Bein und wandte sich hastig wieder dem Bett zu. "Vor dem Schlafen dusche ich noch." Er schaltete das Licht in dem angrenzenden kleinen Badezimmer ein und drehte das Wasser in der Wanne auf. "Ich bin hier, fertig." Die Arme verschränkt, wandte sie sich ihm zu. Mit dem Pferdeschwanz, dem weißen Sweater und der frischen Jeans mit Bügelfalte sah sie wie ein Schulmädchen aus. "Danke für alles, Harley.“ "Keine Ursache. Gute Nacht."
"Gute Nacht. "
Er konnte sich nicht bewegen. Er lag auf dem Rücken imn weißen Sand und betrachtete den rötlich schimmernden Himmel, die grünen Palmen und die blauen Wellen, die gegen die Küste schlugen. Ein Schatten fiel auf ihn. Harley. Er betrachtete ihre schönen Lippen. Sie kniete sich neben ihn, und er glaubte, sie wollte ihn küssen. Doch sie fragte nur: „Tut es weh?" Er blickte nach unten. Jetzt lag er im Schnee von Alaska. Und er konnte sich nicht bewegen, weil gezacktes Metall ihn wie ein Insekt in einem Schaukasten an der linken Seite durchbohrte. „Tut es weh?" wiederholte sie. Der Schmerz fraß ihn auf.
"Nein", sagte er.
Sie stand auf. "Lügner."
Dann war sie verschwunden. Er wollte sich aufsetzen und nach ihr greifen,
doch das Metall hielt ihn fest. "Nein", stieß er hervor und setzte sich schwitzend und zitternd im Bett auf. "Nein ..." Tucker sah sich um. Das Zimmer des Hausmädchens. Hale's Point. Er rieb sich den Nacken. Sogar in den Träumen verfolgte ihn der Schmerz. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte fünf nach acht Uhr morgens. Von draußen drang das Geräusch
der schlagenden Wellen herein. Er zog den Vorhang vom Fenster weg, bog die Lamellen der Jalousie auseinander und blinzelte gegen das helle Sonnenlicht. Auf der Terrasse waren Holzmöbel um einen großen quadratischen Sonnenschirm geschart. Der Pool war an einer Stelle angelegt, an der sich in seiner Kindheit Rasen befunden hatte. Der Garten endete fünfzig Meter vom Haus entfernt an einer niedrigen Steinmauer, vor der der Rosen, Lavendel und Thymian wuchsen. Dahinter erstreckte sich die felsige Küste des Long Island Sound. Stufen führten zum Strand, zu dem eine bogenförmige Landzunge gehörte, die in den Sund hinausragte - jener Punkt, von dem Hale's Point den Namen hatte. Zwanzig Morgen Waldgebiet, ebenfalls Hale-Besitz, stießen an, den Strand. Es handelte sich um völlig unerschlossenen Grund und Boden in bester Lage, unerschlossen abgesehen von dem Haus und dem Stall, den R.H. jedoch schon vor langer Zeit für seine Sammlung alter Sportwagen in eine Garage mit acht Stellplätzen verwandelt hatte. Die Hales lehnten seit zwei Jahrhunderten alle lukrativen Angebote für ihr Land ab. Als Junge hatte Tucker den Strand geliebt, doch mit seinem Bein konnte er jetzt nicht hinuntersteigen. Was er für das Schlagen der Wellen gehalten hatte, kam vom Pool, in dem Harley geschmeidig durch das Wasser glitt. Ihre Bewegungen waren anmutig, aber irgendwie mechanisch, und bei jedem dritten Schlag holte sie Atem. Wie lange war es her, dass er zuletzt geschwommen hatte? Zehn Jahre? Fünfzehn? Tucker legte sich wieder hin und versuchte weiterzuschlafen, doch das Plätschern hielt ihn wach. Endlich wurde es still. Tucker setzte sich auf und bog die Jalousie wieder auseinander. Harley war noch im Pool, griff am Rand nach einer schwarzen Stoppuhr, drückte sie und las ihre Zeit ab. Danach stemmte sie sich geschickt aus dem Pool. Sie war kräftig und schlank gebaut und hatte für ihre Größe lange Beine, Ihr schwarzer Badeanzug lag wie eine zweite Haut an. Tucker konnte ihre Brüste sehen, als wäre sie nackt - klein, straff und mit Spitzen, die in der kühlen Morgenluft aufrichteten. Er wandte sich vom Fenster ab, weil er sich wie ein Spanner vorkam, duschte, kämmte das nasse Haar aus dem Gesicht zurück und zog eine weite Shorts und ein T-Shirt an. Auf den Stock gestützt, folgte er dem Duft von frischem Kaffee in die Küche. Harley stand in ihrem weißen Frottee-Bademantel am Herd und füllte gerade aus einem Topf eine graue Masse mit undefinierbaren Stückchen einen Teller. Als sie ihn sah, hielt sie den Topf schräg, damit er den Inhalt besser sehen konnte. "Haferbrei mit Rosinen, Äpfeln und Sonnenblumenkernen. Ich habe auch genug für Sie gemacht." "Danke, aber haben Sie keine Doughnuts mit Zuckerguss?" „Essen Sie das zum Frühstück?"
Er nickte und setzte sich an den großen Tisch aus Fichtenholz. "Auch als Mittag- und Abendessen." Sie gesellte sich zu ihm an den Tisch. "Man ist, was man isst." "Nicht unbedingt. Ich habe Sie gerade aus dem Pool steigen gesehen, und Sie sehen weder grau noch klumpig aus. Schwimmen Sie jeden Morgen?" "Hundert Bahnen, aber normalerweise um sechs Uhr. Heute habe ich den Wecker zwei Stunden später gestellt, weil ich die halbe Nacht auf war." Ihre Haut schimmerte, und ihre Augen funkelten. Sie wirkte energiegeladen und glücklich, als hätte sie soeben großartigen Sex gehabt. Bei dem Gedanken wäre er am liebsten aufgestanden und hätte den doppelten Knoten ihres Gürtels geöffnet, doch er fragte nur: "Hundert Bahnen? Sie zählen mit? Das raubt doch das Vergnügen." "Schwimmen morgens ist Training, Laufen nachmittags auch, Schwimmen abends ist Vergnügen." "Was passiert, wenn Sie auf einmal am Schwimmen morgens Vergnügen finden? Müssen Sie dann unterbrechen und an etwas sehr Ärgerliches denken, damit Sie die hundert Bahnen in der richtigen geistigen Verfassung beenden können?" Sie kaute langsam und betrachtete ihn dabei. "Sind Sie wegen des Baseballschlägers wütend?" „Was?" "Zuerst der Haferbrei, jetzt das Schwimmen. Sind Sie wütend, weil ich gestern…“ "Sie glauben, ich wäre auf Sie wütend? Sie haben es ernst gemeint, als Sie sagten, Sie könnten keinen Scherz verstehen. Schätzchen, Sie müssen irgendwann einmal richtig auftauen." Eine Weile herrschte Schweigen, ehe Harley fragte: „Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber was machen Sie hier? Ich meine, nach zwanzig Jahren…“ "Einundzwanzig.“ "Nach einundzwanzig Jahren." Er strich über die Tischfläche und suchte nach einer Antwort. Harley stand auf und ging an den Herd, um ihren Teller noch einmal zu füllen. Der Haferbrei war so fest geworden, dass sie einen Klumpen mit den Fingern vom Kochlöffel lösen musste. "Vergessen Sie es, Tucker… Ich stelle immer zu viele Fragen." "Nein, schon gut. Hauptsächlich bin ich hier, um mich zu erholen." Natürlich hätte er sich auch daheim erholen können. Falls Harley auch so dachte, sprach sie es nicht aus. Stattdessen betrachtete sie die Narbe in seinem Gesicht. "Was ist mit Ihnen passiert?" Tucker sehnte sich nach einer Zigarette und fasste in die Tasche des T-Shirts, bevor er sich an das Rauchverbot erinnerte. Er stand auf und holte sich noch eine Tasse Kaffee. "Ich habe mich verletzt." "In Ordnung. Es geht mich wirklich nichts an."
„Nein, das ist es nicht. Sie sind nur höflich und wollen Konversation betreiben. Darum stellen Sie mir diese Fragen. Aber in Wahrheit kennen Sie mich nicht und wollen mich auch nicht kennen lernen. Das stört mich zwar nicht, aber es wäre mir lieber, Sie würden sich gar nicht erst bemühen." Sie stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. „Sagen Sie mir nicht, was ich denke und fühle! Sie kennen mich genauso wenig wie ich Sie, und Sie haben keine Ahnung, was ich will.“ Er winkte ab. "Hören Sie, Schätzchen, ich wollte nur …“ "Und nennen Sie mich nicht Schätzchen. Das mag ich nicht." "Na schön ..." Er ließ eine Sekunde verstreichen. "Süße …“ Sie stand auf und stürmte aus dem Raum. "Das war ein Scherz!" rief er ihr nach und lehnte sich stöhnend gegen die Theke. "Sie wissen doch - ein Scherz! Das ist etwas, worüber man lacht. Na ja", sagte er leise vor sich hin, "Sie nicht, aber normale Menschen. Harley warf von Tuckers altem Zimmer einen Blick auf die Terrasse, wo Tucker auf einem Liegestuhl schlief. Danach machte sie sich daran, die Trophäen, Modelle, Schallplatten und Bücher abzustauben. Die Regale mit den Büchern reichten bis unter die Decke. Harley betrachtete einige der Bücher. "Huckleberry Finn", das "Kamasutra". Sie griff danach und öffnete es. „Haben Sie etwas Interessantes gefunden?" Tucker stand in der Tür und stützte sich auf den Stock. "Nein", schwindelte sie, staubte das Buch demonstrativ ab und stellte es zurück. Er trat hinter sie, zog es wieder heraus und lächelte, als er den Titel sah. "Das habe ich vor ganz langer Zeit mal gelesen. Es wird Ihnen gefallen. Alles dreht sich um Kontrolle." Sie hatte sich schon für ihr tägliches Laufpensum umgezogen und trug eine blaue Radierhose und ein weißes Oberteil. Als er das Buch zurückstellte, warf er ihr einen anerkennenden Blick zu. Harley wich von ihm zurück. "Was machen Sie hier oben? Ich dachte, Sie können keine Treppen steigen. "Eine Treppe schaffe ich, aber …“ "Es tut weh?" "Es ist eine Herausforderung. Ich mache es nicht allzu oft. Jetzt bin ich heraufgekommen, weil ich Sie am Fenster gesehen habe." O nein! Sie wandte sich ab und staubte die Modelle ab. Er hatte also nicht geschlafen, sondern gesehen, dass sie ihn beobachtete. "Wow! " Er sah sich im Raum um und interessierte sich offenbar besonders für ein Poster Über dem Bett, das Sophia Loren zeigte, wie sie im Wasser stand und ihr das nasse Kleid am Leib klebte. "Sophia! Du bist ja noch immer da! Mamma mia! Vielleicht schlafe ich doch wieder hier oben." Harley mußte lächeln. "Sie hat schöne Augen."
"Schöne Augen haben viele, aber sehen Sie sich Sophias Lippen an! Ich war immer schon wild auf tolle Lippen.“ Er betrachtete ihre Lippen, und Harley wusste nicht, wohin sie sehen sollte. Also griff sie nach der Möbelpolitur und widmete sich den Bücherschränken. Nach einer Weile sah sie sich um. Er stand am Schreibtisch und betrachtete das Foto einer schönen, jungen Frau mit schwarzem Haar und großen, dunklen Augen, die ein Baby in den Armen hielt. Vermutlich Tucker und seine Mutter. Als er bemerkte, dass Harley ihn beobachtete, blickte er weg. "Meine beiden Gitarren! Die zwölfsaitige ist meine Lieblingsgitarre." Er setzte sich auf das Bett, stimmte das Instrument und begann zu spielen. Sie kannte die Melodie nicht, aber sie war hübsch und im Blues-Stil gehalten. Danach spielte er ein sehr kompliziertes Stück und wechselte zu lebhafter spanischer Gitarrenmusik. Sobald er aufhörte, drehte sie sich zu ihm um. "Sie spielen gut. Das war ...“ Das Kompliment blieb ihr im Hals stecken, als sie sah, wie geschwollen sein rechtes Schienbein war. "Um Himmels willen! War ich das?" Er blickte an sich hinunter. "Wollten Sie das nicht?" Das linke Bein war mit kaum verheilten Wunden und Nähten überzogen, und die Muskeln waren geschwunden. Das rechte Bein war harmlos dagegen, aber trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen. "Es tut mir wirklich leid", versicherte sie. Er schlug ein paar Akkorde an. "Schon gut. Sie wollten sich nur verteidigen." Harley warf den Putzlappen in den Korb mit den Reinigungsmitteln. "Da muss Eis drauf." "Dafür ist es wohl etwas zu spät", meinte er, während sie hinausging. In der Küche füllte sie eine Plastiktüte mit Eiswürfeln, wickelte sie in ein Geschirrtuch und brachte es Tucker. Er lachte leise, als sie sich vor ihn kniete und das Eis behutsam gegen das Schienbein drückte. „Tut das weh?" fragte sie. "Nein. " "Lügner." Er sah sie sonderbar an, und sie fragte: "Habe ich etwas Falsches gesagt?" „Nein.“ Tucker legte die Gitarre neben sich auf das Bett. "Es ist schön, wenn sich jemand um einen kümmert. Ich bin nicht daran gewöhnt." "Offenbar waren Sie im Krankenhaus. Bestimmt haben sich da viele Leute um Sie gekümmert.“ "Dafür wurden sie bezahlt. Niemand hat sich je ohne Lohn um mich bemüht." "Das kann doch nicht wahr sein. Was ist mit Ihrer Mutter?" "Ich weiß es nicht", erwiderte er nach einer kurzen Pause. "Sie starb, als ich fünf war." „Tut mir leid." Sie sah zu dem Foto auf dem Schreibtisch. Tucker stand auf, ging hin und griff nach dem Bild.
„Sie war schön", stellte Harley fest. "Und sie hatte ungewöhnlichen Schmuck. Die verzierten Ohrringe mit den dunklen Steinen und der Ring, dem zwei kleine Hände einen großen Cabochon halten - wirklich sehr schöne Stücke." „Italien, späte Renaissance." "Etwa vierhundert Jahre alt? Ihre Mutter hat vierhundert Jahre alten Schmuck getragen?" "Sie hatte noch viel ältere Stücke", erwiderte Tucker. "Sie sammelte antiken Goldschmuck. Byzantinisch, ägyptisch, präkolumbianisch. Sie hatte sogar ein etruskisches Armband aus dem siebenten Jahrhundert vor Christus." "Und der Ring?" "Den mochte meine Mutter am liebsten. Es war eine Art von Verlobungsring.“ "Eine Art von Verlobungsring.“ "Meine Eltern waren nie richtig verlobt. Sie haben sich kennen gelernt und sehr schnell geheiratet. Nach der Hochzeit wollte R.H., dass meine Mutter zu ihrem Ehering einen Diamanten von Tiffany bekommt. Sie wünschte sich aber diesen Smaragdring, der sich in einer privaten Sammlung befand. Ein römischer Ring aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Er gefiel ihr besser als alles, was sie je gesehen hatte. Also hat er den Sammler aufgesucht und den Ring für sie gekauft." "Hat Ihr Vater nie wieder geheiratet?" Als Tucker zögerte, fügte Harley hastig hinzu: "Wenn ich keine Fragen stellen soll ..." "Nein, schon gut", wehrte er ab. "Liz hat sich bemüht, aber er hat nie wieder geheiratet.“ „Liz Wycliff?" Er stellte das Foto weg. "Ja. Sie sind von Kindesbeinen an befreundet. Alle haben angenommen, dass die beiden einmal heiraten, aber dann ist er nach einem Weihnachtsfest aus Griechenland mit einer Braut zurückgekommen. Er deutete auf das Foto seiner Mutter. Anjelica Koras. Die einzige impulsive Tat seines Lebens." Harley griff nach dem Putzlappen und widmete sich wieder den Bücherschränken. "Ihre Mutter war Griechin?" Das erklärte die dunklen Au gen. Er öffnete eine Schreibtischschublade. "Sie haben sich auf einer Party auf der Jacht ihres Vaters kennen gelernt und heirateten einen Monat später in Athen. Wie ich gehört habe war ihr Vater gar nicht einverstanden." "Und Liz vermutlich auch nicht .“ "Sie soll es gut weggesteckt haben." Er lehnte den Stock gegen den Schreibtisch, setzte sich, löste die Verschnürung von einem Stapel Briefe und blätterte sie durch. "Das ist die Art der Leute von Hale's Point. Man macht weiter und zeigt nicht, ob es einen berührt.“ "Vielleicht war es ihr gleichgültig", meinte Harley. "O nein. " Er verschnürte die Briefe wieder. „Sie hat ihn immer geliebt. Alle wussten es, sprachen aber nur selten darüber. Liz hielt sich bis ungefähr zwei
Jahre nach dem Tod meiner Mutter taktvoll von ihm fern. Meinem Wissen nach waren sie auch später nur Freunde. Er wollte es so, nicht sie.“ "Wissen Sie, ob sie je mit ihm über ihre Gefühle gesprochen hat?" Er lachte. "Wissen Sie nicht, dass es sich nicht schickt, über seine Gefühle zu sprechen? Man wartet lieber jahrzehntelang, bis das Objekt seiner Sehnsüchte die Augen öffnet und einen bemerkt. Liz hat sich am Centralpark West ein Apartment genommen und stürzte sich in ihre Arbeit an der Columbia University. Und sie hat nie geheiratet, oder doch? Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich wegging." Harley legte den Putzlappen in ihren Korb zurück. "Nein, sie hat nicht geheiratet. Im April ist sie fünfundsechzig geworden. Ich habe ihr einen Kuchen gebacken und in die Vorlesung mitgebracht. Sie meinte, sie würde zwar die Kerzen auspusten, sich dabei aber nichts wünschen. Statistisch gesehen wären solche Wünsche nur Zeitverschwendung.“ Tucker sah traurig drein. "Thoreau sagt, dass die meisten Menschen ein Leben voll stummer Verzweiflung führen." Er nahm einen Stapel Schulzeugnisse und warf sie in den Papierkorb. Harley holte sie wieder heraus. "Ihr Vater will vielleicht nicht, dass Sie das wegwerfen." "Ganz sicher will er das nicht. Er liebte Schulzeugnisse. Sie reduzieren einen Menschen zu einer Reihe von Noten. Was könnte ordentlicher sein?" Harley überflog heimlich die Zeugnisse. Er hatte stets beste Noten bekommen, abgesehen von dem letzten Zeugnis. Sie legte die Zeugnisse in Schublade zurück und setzte sich auf das Bett. "Sie sind mit sechzehn zu Hause weggelaufen?" „Ja, aber ich nenne es nicht weglaufen. Ich habe mich einer unmöglichen Situation entzogen." „Es ist im Grunde aber das gleiche." Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. "Wie wäre es dann mit Flucht? Ich habe gefühlt, wie die Gitterstäbe sich immer enger um mich schlossen und bin geflohen." „Genau wie in der letzten Nacht." „Genau wie in der letzten Nacht", bestätigte er. "Wenn ich mich eingesperrt fühle, gewinnt der Fluchttrieb bei mir die Oberhand. Was ist dagegen einzuwenden? Warum sollte ich mich mit einer unhaltbaren Situation herumschlagen, wenn ich ihr ausweichen kann? Ich weiß, dass man in Hale’s Point alles lächelnd erträgt, aber das ist nicht meine Lebensart und wird es auch nie sein." „Mit welcher unhaltbaren Situation haben Sie sich mit sechzehn herumgeschlagen?" „Militärakademie. Er hatte beschlossen, mich auf die Militärakademie schicken." Tucker öffnete eine andere Schublade und blätterte alte Fotos durch. "Ernsthaft?"
"Sehr ernsthaft. Unglaublich ernsthaft. Er zeigte mir den Prospekt. Die steinerne Festung am Hudson, in der man Uniform trägt und den Kopf rasiert bekommt und jeden Morgen vor dem Unterricht exerziert. Können Sie sich mich dort vorstellen?" Lachend schüttelte er den Kopf. "Warum?" "Sie haben die Zeugnisse gesehen." „Ich …“ „Ich habe Sie dabei ertappt. Sie haben auch das letzte gesehen. Mein Vater sagte, ich hätte zuviel Zeit mit der Gitarre und zuwenig mit den Büchern verbracht. Er ertrug es nicht, dass ich schlechte Noten bekam. Schlechte Noten, schlechter Mensch." Harley streifte die Sandalen ab, legte sich auf das Bett und stützte sich auf einen Ellbogen. "Entschuldigen Sie, aber ich begreife nicht, wieso Ihre Situation so entsetzlich war. Für uns, die wir nicht mit Ihren Privilegien aufgewachsen sind, klingen Ihre Klagen wie …“ "Wie jammern. Der arme, reiche Junge." Er stand auf und nahm das Modell eines Segelbootes vom Regal. In winzigen. Buchstaben stand "Anjelica" am Bug. "Ich weiß. Die besten Schulen, der Strand gleich hinter dem Garten, jede Menge Spielzeug und Nachhilfeunterricht. R.H. glaubte an einen gesunden Geist in einem gesunden Körper. Ich beherrsche diverse Sportarten, kann mehrere Fremdsprachen. Ich habe gesegelt, bevor ich lesen konnte, und ich hatte mein eigenes Motorboot, bevor ich mich rasierte. Segelflugschein mit vierzehn, Pilotenschein mit sechzehn. Ich hatte jede Menge Sachen. Mein Leben war von Sachen erfüllt. " "Sie besitzen mein tiefes Mitleid. Wie konnten Sie das nur volle sechzehn Jahre aushalten?" Lächelnd stellte er das Segelboot zurück und griff nach einem Flugzeug. "Ich fragte mich, ob es im Leben nicht mehr gibt als nur Besitz. Ich begeisterte mich für Dinge, die R.H. nicht verstehen konnte. Segeln und Fliegen ging in Ordnung, weil er das auch machte. Aber Musik bedeutete ihm nicht viel und sollte daher auch mir nichts bedeuten. Jedenfalls nicht so viel, dass es meine Noten drückte." "Ich verstehe nicht, wieso Musik sich auf Ihre Noten ausgewirkt hat.“ "Wir spielten in Clubs in der Gegend …“ "Wir?" „Ich hatte einen Freund." Tucker drehte das Flugzeugmodell geistesabwesend in den Händen. "Chet. Wir lernten uns beim Flugunterricht kennen. Er spielte auch Gitarre. R.H. fand es unschicklich, dass wir auftraten. Das war nur etwas für die unteren Klassen. Nichts für Hale's Point." "Daher die Drohung mit der Militärakademie", ergänzte Harley. "Und daher die Flucht. Chet haute auch ab. Eines Abends stellten wir uns an die Straße, hielten ein Auto an und warfen keinen Blick zurück." "Wohin sind Sie gegangen?" "Nach New York, Greenwich Village. Eine Weile spielten wir in Clubs und bekamen fast einen Plattenvertrag. Es hat aber nicht geklappt. Darum sind wir
aus dieser Szene ausgestiegen und haben uns richtige Jobs besorgt. Danach versuchten wir es in Miami, aber das hat auch nicht funktioniert. Ich landete in Alaska. "Chet blieb in Miami? Hatten Sie Streit? Was ist passiert?" Er stellte das Modell zurück. "Das würde Sie nicht interessieren." Er zwang sich zu einem heiteren Ton und verbeugte sich scherzhaft vor Harley. "Das war meine Jugend in Kurzfassung. Sie sind dran." "Auch in Kurzfassung'? Ich hatte weniger Sachen als Sie." "Sie haben die Jugend ohne Ängste überstanden?" "Ich hatte Ängste, aber bei mir ging es weniger um den Wunsch der Selbstverwirklichung. Ich war eine ganz normale Jugendliche, die ums Überleben kämpfte." Damit neigte sie den Kopf, um anzudeuten, dass sie fertig war. „Das ist alles? Keine sehr lebendige Beschreibung," „Wie wäre es mit ‚gnadenloser Schmutz'? Ist das lebendig genug?" „Ich meine es ernst.“ "Ich leider auch." Mehr wollte sie ihm nicht erzählen. Der Rest ging ihn nichts an. Er trat ans Bett und betrachtete sie nachdenklich. "Kommen Sie in die Küche und trinken Sie mit mir eine Cola." „Geht nicht. Ich muss mich auf mein Lauftraining vorbereiten. Außerdem haben wir nur Säfte und Mineralwasser." Seifzend setzte er sich zu ihren Füßen auf das Bett. Sie wollte die Beine anziehen, aber er legte die Hand auf ihre Wade. "Schon gut, ich habe genug Platz." Er streichelte über ihren Knöchel und befühlte ihre Füße. „An einem so heißen Tag sollten Sie keine kalten Füße haben." Seine warme Hand fühlte sich wunderbar an. Dennoch setzte Harley sich auf, und er verstand den Wink und zog die Hand zurück. "Wissen Sie“, meinte sie. "Ich kann mir vorstellen, dass die wirkliche Welt für den armen, reichen Jungen aus Hale's Point ein Schock gewesen war." Er lächelte. "Ein Rebell ohne Kreditkarte. Sobald mir klar war, dass ich mit meiner Musik keine große Karriere machen konnte, zog ich nach Miami und sparte auf ein Flugzeug. Ich wollte ins Luftfrachtgeschäft einsteigen. Es hat ein paar Jahre gedauert. Ich fuhr einen Gabelstapler, arbeitete an Tankstellen, flickte Dächer, schnitt Zuckerrohr. Ich habe Fisch gefangen, Fisch geputzt, Fisch konserviert. Ich kann heute noch keinen sehen." „Was haben Sie in Ihrer Freizeit getan?" „Noch mehr gearbeitet. Meistens hatte ich zwei Jobs gleichzeitig, bis ich viertausend Dollar für eine gebrauchte Piper Comanche beisammen hatte. Mann, war ich auf diese Maschine stolz!" „Und jetzt haben Sie in Alaska Ihre eigene Fluglinie", stellte Harley fest. „Ich bin eigentlich ein Abenteurerpilot. Erst in letzter Zeit arbeiten noch mehrere Piloten für mich, weil das Geschäft zu groß für eine Person geworden ist."
„Ich kann mir unter ‚Abenteurerpilot' nicht so recht etwas vorstellen. Fliegen Sie Menschen oder Fracht?" "Beides, aber hauptsächlich Fracht. In Alaska gibt es viele unzugängliche Gegenden. Die Leute dort sind darauf angewiesen, dass wir Lebensmittel, Medikamente, Bauholz und so weiter einfliegen." "Gefällt Ihnen die Arbeit?" Tucker blinzelte ins Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel. "Nein, jetzt nicht mehr. Es gefällt mir, dass mir die Firma gehört. Alle sagen, ich sollte meinen Erfolg genießen, aber ich habe die Freude daran verloren. Es war großartig, meine erste heruntergekommene Maschine zu kaufen. Jetzt kaufe ich jedes Jahr eine neue Maschine und verschwende keinen Gedanken darauf. Ich habe sieben, wenn man meine Cessna Skywagon dazurechnet." Er lächelte schmerzlich. „Streichen Sie die Skywagon. Es sind nur sechs." "Was passierte mit der Skywagon?" Er griff nach der Gitarre und dem Stock und ging zur Tür. „Ein Teil davon steckt in meinem Bein." Harley betrachtete zuerst sein Bein und dann sein Gesicht, um festzustellen, ob er einen Scherz machte. Sie kam jedoch nicht dahinter. „Vielleicht steckt auch noch etwas in meiner Brust, das weiß ich nicht. Der Rest liegt verstreut an einer Bergflanke zwischen Anchorage und Fairbanks." An der Tür blieb er stehen. "Wollen Sie wirklich nicht mit nach unten kommen?" Als sie den Kopf schüttelte, wandte er sich ab. "Vergessen Sie Ihre Stoppuhr nicht."
3. KAPITEL
Tucker sah zu, wie Harley von ihrem Lauf am Strand zurückkehrte. Vom Nachbargrundstück trat ein Mann auf den Strand und blickte ebenfalls zu Harley hinüber. Er war jung, vielleicht zwanzig, und gebräunt. Seine Füße waren nackt, und er trug ein weißes Polohemd und Khakishorts, deren tiefe Taschen von Tennisbällen ausgebeult wurden. Harley legte einen Sprint hin, verlangsamte dann ihr Tempo und sah auf ihre Stoppuhr. Der junge Mann zog drei Tennisbälle aus den Taschen und begann, damit zu jonglieren. Harley lächelte und bemerkte dann Tucker an der Treppe zum Strand. Sie winkte ihm zu, und er nickte. Der junge Mann sah zu ihm herüber, runzelte die Stirn und ließ einen Ball fallen. Tucker wunderte sich nicht. Mit seiner schwarzen Fliegerbrille, der Zigarette im Mund und dem DreiTage-Bart sah er nicht einmal respektabel genug aus, um Raleigh Hales Rasen zu mähen.
Während Harley Streckübungen machte, sprach sie mit dem jungen Mann, und beide sahen gelegentlich zu Tucker herüber. Er fand, dass sie sich länger als nötig streckte, und als sie zu ihm heraufkam, nickte er bloß als Antwort auf ihr Lächeln. „Wer ist der Kerl?" fragte er. "Genau das hat Jamie auch gefragt." Sie ahmte den steifen Akzent von Hale’s Point nach: "Wer ist der Kerl?" Tucker musste lächeln. "Sie haben ja doch Humor." "Natürlich." Sie setzte sich neben ihm ins Gras. „Ich kann nur keinen Scherz verstehen. Das ist ein Unterschied." Amüsiert steckte er sich eine Zigarette an. "Dieser Jamie wohnt nebenan?" Sie nickte. "Er heißt Jamie Tilton." Tucker überlegte. "O Mann, ich weiß, wer das ist. Mrs. Tilton war mit ihm schwanger, als ich von hier wegging." Er blickte zum Strand. Jamie stand bis zum Knie in der Brandung und jonglierte. "Wow!" Harley blickte in Jamies Richtung. "Er hat soeben als einer der Besten in Princeton den Abschluss gemacht." „An welcher juristischen Fakultät war er?" "Harvard ", erwiderte sie. "Woher wussten sie, dass er Jura studiert hat?" "Das machen sie alle." "Wer ist ‚sie'?" "Reiche Jungen, die nicht arbeiten müssen, aber das Bedürfnis verspüren ... " Jetzt imitierte er übertrieben den Akzent von Hale's Point. „…sich in der Gesellschaft nützlich zu machen. " „Finden Sie, dass dagegen etwas einzuwenden ist?" Tucker seufzte. "Nein." "Dagegen ist nämlich nichts einzuwenden." "Genau das habe ich soeben gesagt." Harley schlug die Beine unter und drehte den Oberkörper hin und her. „Er ist sehr nett. Er war besonders freundlich zu mir und ... " "Darauf möchte ich wetten. Meinen Sie nicht, er würde sich liebend gern unter Ihr Oberteil vorarbeiten?" "Nicht jeder Mann auf Erden denkt ständig an Sex. Übrigens ist er nicht an mir interessiert." Bei jeder Drehung wippten ihre Brüste unter dem weißen Top. "Seien Sie sich da nicht so sicher." "Ich bin mir aber sicher. Er ist in das Au-pair-Mädchen verliebt. Seine Stiefmutter hat es mir erzählt. Er spricht nur mit mir, um die Kleine eifersüchtig zu machen." "Stiefmutter? Was ist aus Mrs. Tilton geworden? Aus der ersten Mrs. Tilton? Das heißt, genau genommen aus der zweiten Mrs. Tilton. Es hat bereits eine erste Mrs. Tilton gegeben." "Nun, jetzt gibt es eine dritte Mrs. Tilton. Nein, sie muss die vierte Mrs. Tilton sein, weil es dazwischen noch eine Mrs. Tilton gab." Harley stand auf und
schüttelte Arme und Beine. "Jamies Vater hat sich von der ersten, zweiten und dritten Mrs. Tilton scheiden lassen, um jedes Mal eine jüngere Mrs. Tilton zu bekommen. Jamie sagt, es war sein Hobby, Ehefrauen zu sammeln.“ "War? Hat er endlich eine gefunden, mit der er glücklich ist?"
"Er starb vor einem Jahr an einem Herzinfarkt."
"Das kommt von immer jüngeren Ehefrauen", stellte Tucker fest. Am
Strandabschnitt der Tiltons waren zwei junge Frauen und ein dickes Kleinkind zu Jamie gestoßen. "Welche von beiden ist die Witwe Tilton?" Harley kniff die Augen zusammen. "Die Dunkelhaarige. Mimi. Sie ist wirklich nett. Ich mag sie." Mimi war sehr schlank mit kurz geschnittenem Haar und zarten Zügen. Sie stand knöcheltief im Wasser und hielt ihr geblümtes Kleid hoch. Die zweite Frau, eine Rothaarige in einem gelben Bikini, kauerte neben dem Kind und zog es bis auf eine rosa Wegwerfwindel aus. Als sie aufstand, erkannte Tucker, dass sie nicht älter als achtzehn oder neunzehn und sehr groß war und einen sagenhaften Körper besaß. Jamie starrte sie unverwandt an. „Das Au-pair-Mädchen?" fragte Tucker, und Harley nickte. "Nett."
„Wenn man diesen Typ mag", fügte Harley hinzu.
Tucker lachte. „Ich habe eine Überraschung für Sie, Süß...Harley.. Die Hälfte
der menschlichen Rasse mag diesen Typ. Sehr sogar." Tucker fand Rothaarige im Gegensatz zu vielen Männern nicht unwiderstehlich, mochten sie auch noch so üppig gebaut sein. Dass Harley sein angebliches Interesse für die andere Frau spontan missbilligte, fand er viel aufregender als das Au-pair-Mädchen. "Wie heißt sie?" Haley beschattete die Augen und sah finster auf den Strand hinunter.
„Brenna.“
"Eine Irin? Hat sie einen irischen, Akzent? Großartig", schwärmte er.
Harley nickte.
Unten am Strand rief Mimi: "Brenna, lass Lily keinen Sand essen!"
Brenna lief zu der Kleinen, putzte sie ab und trug sie zu ihrem Halbbruder.
Jamie hob das Kind auf die Schultern und lief in die Wellen hinaus. Sogar aus dieser Entfernung hörte Tucker die Kleine lachen. „Hat der Junge schon sein Glück versucht?" "Sie meinen, ob er Brenna schon gestanden hat, was er für sie empfindet?“ Harley schüttelte den Kopf. "Sie ist erst seit einem Monat bei der Familie, und Mimi sagt, er möchte ihr Gelegenheit geben, ihn besser kennen zu lernen." „Aha! Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass es dazu nicht kommen wird. Er wird es auf die typische Hale's Point- Manier machen, ihr Zeit lassen, auf den richtigen Moment warten und sie nicht bedrängen. In der Zwischenzeit wird aber schon jeder Kater von Long Island an der Hintertür miauen." "Mimi sagt, dass sie bereits miauen."
Er lachte. "Das kann ich mir vorstellen."
Harley bückte sich und putzte den Sand von den Füßen. "Wenn sie so toll ist, warum versuchen Sie es nicht bei ihr?" Sie tat sehr lässig, war jedoch keine gute Schauspielerin. "Ich bin außer Übung", antwortete Tucker. "Sie würde mir weh tun." Auf Harleys fragenden Blick hin lächelte er. Allerdings hatte er nicht nur einen Scherz gemacht. "Ich habe den Großteil des letzten Jahres im Krankenhaus verbracht. Dadurch war ich weitgehend aus dem Verkehr gezogen." "Gab es da denn keine attraktiven Krankenschwestern? "Es gab tatsächlich eine, die mir gefallen hat, aber ein eingegipster Körper behindert einen beträchtlich. Unsere Beziehung ging nie darüber hinaus, dass sie mich wusch." Er deutete auf die Rothaarige am Strand. "Die jagt mir Angst ein. Ein solches Mädchen könnte mich gleich wieder ins Streckbett bringen." Er lächelte. "Es könnte sich allerdings lohnen." Harley rieb die Hände aneinander. "Dann gehen Sie doch das Risiko ein. Vielleicht sollten Sie sich nur vorher rasieren, sonst kommen Sie über den ersten Kuss nicht hinaus." Sie wandte sich dem Haus zu. „Ich mache jetzt Oberkörpertraining. Bis später." Er wollte sich nicht so einfach abspeisen lassen und folgte ihr. An der Rückwand des Hauses war eine Dusche installiert worden. "Wo trainieren Sie?" Sie drehte das Wasser auf. "Ihr Vater hat im ersten Stock gleich neben seinem Schlafzimmer ein ehemaliges Wohnzimmer in einen Trainingsraum umwandeln lassen. Er sagte, er hat das nach seinem ersten Herzinfarkt gemacht." "Er hatte ... ich, wusste nicht, dass er …“ "Oh." Sie sah ihn zerknirscht an, während sie sich die Füße abspülte. „Tut mir leid, ich hätte es Ihnen erzählen sollen. Er hatte zwei, aber nur leichte." "Er ist ... ich meine, es geht ihm wieder gut? Er ist nicht etwa Invalide oder ..." "Wohl kaum." Sie griff nach einem Handtuch und trocknete die Füße ab. "Er segelt den ganzen Sommer über mit einem Freund in der Karibik. Das könnte er nicht machen, wäre er Invalide." "Den ganzen Sommer? Ich dachte, er macht nur einen kurzen Urlaub. Was ist mit seiner Anwaltskanzlei?" "Er hat sich vor drei Jahren zur Ruhe gesetzt." "Zur Ruhe gesetzt", meinte Tucker verunsichert. „Richtig, ich hätte es mir denken können." Harley legte ihm die Hand an den Arm, und die Unsicherheit verflog. "Kommen Sie mit mir", forderte sie ihn auf. "Ich könnte beim Bankdrücken einen Helfer brauchen." Sterne erschienen am dunklen Himmel, während Harley lässig von einem Ende des Pools zum anderen glitt. Sie hatte die Lichter auf der Terrasse gelöscht und die Poolbeleuchtung eingeschaltet, die das blaue Wasser von innen heraus schimmern ließ. Nach ungefähr einem Dutzend Längen hörte sie, dass die Terrassentür geöffnet wurde, und dann hallte das Tocktock eines Gehstocks über die Terrasse. Tucker
ging zum Pool, streifte die Mokassins ab, setzte sich, streckte die Füße ins Wasser und steckte sich eine Zigarette an. Unter Wasser schwamm sie zum seichten Ende und kam bei Tucker hoch, stand hüfthoch im Wasser und strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht. Dabei tat sie, als würde sie seinen anerkennenden Blick nicht bemerken. Er hatte sie bisher nie lüstern betrachtet, doch ein paar Mal hatte sie ihn dabei ertappt, dass er sie diskret musterte. Manche Männer fanden ihre kräftige, athletische Gestalt nicht ansprechend, aber Tucker Hale gehörte offenbar nicht dazu. Er stieß Rauch aus. "Sie schwimmen gut." „Sie auch.“ Einen Moment sah er sie überrascht an. "Sie haben meine Trophäen gesehen", meinte er dann. „Ja, das war einmal." Er betrachtete sein verletztes Bein. „Jetzt nicht mehr." Harley drückte das Wasser aus dem Haar. "Haben die Ärzte gesagt, dass sie nicht mehr schwimmen können?" Bevor er antwortete, nahm er einen Zug. "Eigentlich haben sie gesagt, ich sollte schwimmen. Es wäre eine gute Therapie." Sie ließ das Haar los. "Warum tun Sie es dann nicht?" „Ich hatte monatelang genug Therapie.“ „Schwimmen?" „Nein. Im Krankenhaus gab es keinen Pool. Ich musste etwas anderes machen. Ziemlich anstrengend. Trainingsmaschinen, Gewichtheben." „Gewichte? Das habe ich mir schon gedacht." Am Nachmittag hatte er zwar nicht selbst trainiert, fünfzig Kilo schwere Hanteln jedoch gehoben, als wären sie aus Gummi. Das erklärte seine kräftige Gestalt. "Sie sollten dabei bleiben." Tucker winkte ab. "Monatelang habe ich trainiert, aber ich komme noch immer nicht ohne dieses Ding aus." Dabei deutete er auf den Stock. Harley näherte sich dem Rand des Pools. "Geben Sie mir das Handtuch?" Er tat es, und sie legte es um die Schultern. „Hat die Arbeit mit Gewichten geschmerzt? Ich meine, bei diesen Verletzungen ..." Sein Zögern war schon Antwort genug. "Es war nicht der Schmerz", meinte er endlich. "Es war der Mangel an Ergebnissen." "Mit Schwimmen erzielen Sie vielleicht bessere Ergebnisse. Es würde auch nicht so schmerzen." "Harley, ich möchte Sie nicht beleidigen, aber Sie haben keine Ahnung, wovon Sie sprechen." „Ich kenne mich etwas aus. An der Schule war ich im Schwimmteam, und meine Trainerin arbeitete früher mit Vietnam-Veteranen. Sie hat mir viel beigebracht. Und sie meinte, es wäre nicht so schwer gewesen herauszufinden, welcher Schwimmstil für die Veteranen richtig war oder wie viele Bahnen sie schwimmen sollten. Schwer wäre gewesen, sie zu motivieren. Aber sobald sie sich wirklich bemühten, machten sie großartige Fortschritte. Sie war berühmt für ihre Erfolge." "Das ist wirklich sehr interessant", bemerkte er trocken. "Der springende Punkt ist allerdings die Motivation. Offenbar war Ihre Trainerin darin sehr gut, und
offenbar sind Sie es nicht. Schade, dass sie Ihnen ihr Geheimrezept nicht verraten hat." "Das hat sie", erwiderte Harley und bereute es sofort. Hastig fügte sie hinzu: „Aber das ... ich würde das nie machen." Damit er nicht sah, dass sie rot wurde, stieg sie aus dem Pool, zog das Handtuch über den Kopf und trocknete das Haar. Tucker stemmte sich hoch. "Was hat sie getan? Hat sie den Leuten eine Pistole an den Kopf gesetzt?" "Nein. Es spielt keine Rolle, weil ich es nicht mache. Das ist nicht mein Stil." Sie ließ das Handtuch fallen und sah sich nach ihrem Bademantel um. Tucker hatte ihn, stand hinter ihr und hielt ihn für sie. Harley schob die Arme in die Ärmel, und er band ihr den Gürtel zu. "Doppelter Knoten?" fragte er. „Ich mache das." Er ließ sich nicht beirren. Sogar durch den dicken Frotteestoff fühlte sie seine Körperwärme. Das nasse Haar steckte unter dem Kragen des Bademantels, und Tucker zog es heraus und strich dabei mit den Fingerspitzen über ihren Nacken. Das Herz schlug ihr schneller, das Atmen fiel ihr schwer. "Sie sind schrecklich verspannt", stellte er leise fest und massierte leicht ihre Nackenmuskeln. "Sie sind gerade geschwommen. Sie sollten entspannt sein." Seine Hände waren sehr kräftig, und er traf die richtigen Stellen. "Sie machen das sehr gut", sagte sie leise. "Das habe ich im Krankenhaus gelernt. Massage war der einzige angenehme Teil der Therapie." Harley fühlte, wie sich die Anspannung lockerte, und schloss die Augen. Und dann fand sie es dumm, ihm etwas zu verschweigen. "Eve hat die Männer motiviert, indem sie sagte, sie würden von einem Ende des Pools zum anderen schwimmen. Derjenige, der sie einholt, könnte ... na ja, also ... er könnte sie haben." Tucker hielt die Hände auf ihren Schultern still. "Er könnte sie haben?" Er drehte sie um und sah ihr ins Gesicht, als sie nickte. "Wirklich? Und sie hat es ernst gemeint?" "Sie hat immer alles ernst gemeint, und die Männer wussten das. Wenn sie etwas versprach, hielt sie es auch." "Genau wie Sie", meinte er. "Musste sie jemals ihr Wort einlösen?" "Nein. Sie hatte früher an den Olympischen Spielen teilgenommen und hatte es mit Verletzten zu tun. Einer hätte sie beinahe eingeholt. Er war selbst Wettschwimmer gewesen, bevor er zum Militär eingezogen wurde. Sonst kam ihr niemand auch nur nahe, aber alle haben sich bemüht." Tucker lachte. "Eine großartige Methode, um Männer aus der Reserve zu locken." "Dachte ich mir, dass Sie das sagen werden." Sie legte sich das Handtuch über den Arm. "Danke für die Massage. Ich dusche, dann lese ich noch eine Weile in meinem Zimmer und gehe schlafen." Als Tucker auf die Uhr sah, fügte sie
hinzu: „Ich möchte zu meinem Zeitplan zurückkehren und morgens um sechs Uhr schwimmen." Kaum hatte sie das Wort "Zeitplan" ausgesprochen, als sie es bereute. "Das übersteigt mein Begriffsvermögen." Er stützte sich auf den Stock. "Dieses pausenlose Training ist veraltet. In den achtziger Jahren hat man sich selbst dermaßen angetrieben, aber nicht in den Neunzigern." „Ich treibe mich nicht an, sondern …“ "Sicher tun Sie das. Sie können gar nicht anders. Ein Wirtschaftsdiplom zum Beispiel macht nur jemand, der die Karriereleiter hinaufklettern will. Wo liegt da die Freude? Die Befriedigung?" "Die Bezahlung ist gut." "Geld? Geht es Ihnen nur darum?" fragte er grimmig. "Vielleicht haben Sie es noch nicht gehört, aber man sagt, dass Geld nicht glücklich macht. Und glauben Sie mir, das stimmt." "Sie können leicht reden. Sie sind mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden." "Ich habe mich ganz allein hochgearbeitet", erwiderte er ärgerlich. „Ich habe mit sechzehn bei Null angefangen und mir alles selbst verdient. Stecken Sie mich also bloß nicht in diese Schublade." "Nun, und ich will mir auch alles selbst verdienen. Also sollten Sie mich deshalb nicht verurteilen." Sie war laut geworden und beherrschte sich jetzt. "Ich streite gar nicht ab, dass ich mich antreibe. Wüssten Sie, wie ich aufgewachsen bin …“ Sie stockte. "Ich will es besser haben, und ich mag es nicht, wenn mir die Leute sagen, ich wäre geldgierig." "Das habe ich nicht behauptet“, versicherte er versöhnlich und kam einen Schritt näher. Sie wich zurück, "Genau das haben Sie gesagt, und das nehme ich Ihnen übel. Ich weiß, was Sie von mir denken. Sie haben mich schon ganz genau eingeordnet." "Das kommt nur daher, dass Sie mich nicht an sich heranlassen.. Sie quetschen mich über meine Vergangenheit aus, aber von sich erzählen Sie gar nichts. Dabei wüsste ich gern, wie Sie aufgewachsen sind." "Nein, das stimmt nicht." Ihre Stimme bebte. "Es würde Ihnen nicht gefallen, glauben Sie mir. Und ich möchte auch nicht darüber sprechen. Gute Nacht." Er hielt sie an der Schulter fest, als sie sich abwenden wollte. "Weisen Sie mich nicht so ab, Harley. Wir haben uns gerade erst kennen gelernt, und wir haben nichts gemeinsam, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht miteinander reden können." Sie entwand sich ihm und wich zurück. "Wir haben nichts gemeinsam? Meinen Sie, weil ich mich so antreibe und Sie alles so locker nehmen?" "Nun ja…“ "Sie hatten den Antrieb, um von Grund auf eine eigene Firma aufzubauen, und Sie besitzen den Nerv und behaupten, ich würde mich antreiben!"
Er überlegte und zuckte die Schultern. "Sicher früher war ich so, aber jetzt nicht mehr." „Was soll das heißen?" "Das soll heißen, dass ich das alles hinter mir gelassen habe, vielleicht für immer." Er wurde ständig gereizter. "Sie haben recht, ich habe jahrelang geschuftet. Dann krachte ich mit meiner Maschine gegen eine Bergflanke. Plötzlich konnte ich gar nicht mehr arbeiten. Ich konnte nicht einmal ein Buch halten, mich im Bett aufsetzen oder selbst essen. Ich konnte nur nachdenken. Versuchen Sie einmal, einige Monate lang gar nichts zu tun und nur nachzudenken. Das ist sehr nützlich, wenn man überflüssigen Ballast im Leben abschütteln will. Und Sie haben viel abzuschütteln." Jetzt versuchte Harley nicht, ihre Stimme zu dämpfen. "Ich brauche vielleicht keinen Flugzeugabsturz, um zu wissen, was für mich wichtig ist und was nicht." Auch Tucker wurde laut. "Schätzchen, es könnte einen Atomkrieg geben, und Sie würden Ihr Leben trotzdem nicht in Frage stellen! Sie wären noch immer mit Ihrer Stoppuhr unterwegs und würden alles messen und dafür sorgen, dass der Plan eingehalten wird.“ "Das ist nicht fair!" "Das ist die Wahrheit, und die Wahrheit braucht nicht fair zu sein." "Sehr tiefschürfend! Sie strotzen von Weisheit. Ich kann auf Ratschläge von jemandem verzichten, der in schwierigen Situationen einfach die Flucht ergreift. Der sich in einundzwanzig Jahren nicht die Mühe gemacht hat, zum Telefon zu greifen und seinen Vater anzurufen. Weiß er überhaupt, wo Sie die ganze Zeit waren? Was Sie getan haben? Jamie Tilton hat mir nicht einmal geglaubt, als ich ihm sagte, wer Sie sind. Er hat gehört, Sie wären in Vietnam gefallen." Tucker lächelte. "Ich war nie in Vietnam.“ "Er hat auch gehört, Sie wären im Gefängnis gestorben." Er hörte zu lächeln auf. "Ich sollte nicht hier sein. Ich hätte wieder verschwinden sollen. Bisher habe ich Sie nur geärgert." Er betrachtete ihren Mund, legte die Hand sanft an ihr Gesicht und strich mit dem Daumen behutsam über ihre Oberlippe. Plötzlich fiel ihr auf, dass er sich rasiert hatte. Für sie? Bei dem Gedanken wurden ihre Beine schwach. Mit den Fingerspitzen streichelte er ganz sachte ihr Gesicht. „Ich muss es sagen, auch wenn es sich wie ein Satz aus einem zweitklassigen Film anhört. Aber es stimmt. Sie sind besonders schön, wenn Sie wütend werden." Er lächelte verlegen, während er die Finger über ihren Hals wandern ließ. "Wirklich, ganz besonders. Ich wünschte, Sie könnten sich selbst sehen." Sprachlos sah sie ihn an. Erst als er die Hand zurückzog, sagte sie "Gute Nacht!" und ging ins Haus. Harley war in die Lektüre von "Prioritäten für den erfolgreichen Manager" vertieft.
Die ersten beiden Kapitel - "Stress am Arbeitsplatz" und "Richtiger Umgang mit Stress" hatte sie schon gelesen. Jetzt schlug sie das dritte Kapitel auf: "Leben mit Stress". Sie las die erste Seite zweimal, ohne sie zu verstehen. Welchen Satz von Thoreau hatte Tucker zitiert? Es war etwas von einem Leben voll stummer Verzweiflung. "Was mache ich bloß?" flüsterte sie. Als sie ein Knarren hörte, öffnete sie die Augen, doch alles blieb still. Dann knarrte es wieder, und das nachfolgende Klopfen erkannte sie. Das war Tuckers Stock auf dem Teppichboden. Tucker war hier oben im ersten Stock. Sie wartete, bis er leise anklopfte. "Ja?" "Darf ich hereinkommen?" Sie blickte an sich hinunter. Die Nacht war warm. Zwar hatte sie schon das Bett aufgeschlagen, war aber noch nicht unter die Decke geschlüpft. Sie trug ihr Lieblingsnachthemd für den Sommer, weiße Baumwolle mit kleinen herzförmigen Knöpfen an der Vorderseite. Es war dünn, aber nicht durchsichtig. Zumindest nicht in dem schwachen Licht der, Leselampe. Die linke Seite war ihr von der Schulter gerutscht. Harley zog sie hoch und strich das knöchellange Nachthemd flüchtig glatt. "Kommen Sie herein!" Tucker blieb in der halb geöffneten Tür, stehen. "Was lesen Sie?" fragte er. Sie hielt das Buch hoch, und er kam näher, lehnte den Stock an den Nachttisch, nahm ihr das Buch aus der Hand und las den Text auf der Rückseite des Einbandes. ",Erstellung von Strategien zur Verringerung jobbedingten Drucks und Erhöhung der Leistungsfähigkeit von Managern’. So etwas lesen Sie vor dem Einschlafen?" "Sind Sie heraufgekommen, um meinen Lesestoff zu kritisieren?" Er setzte sich auf die Bettkante und legte das Buch auf den Tisch, schüttelte den Kopf und rieb sich das Kinn. "Ich bin heraufgekommen, um zu fragen, ob ich die Nacht mit Ihnen verbringen darf." Sie starrte ihn fassungslos an - nicht wegen seines Wunsches, den sie schon vermutet hatte, sondern wegen seiner atemberaubenden Ehrlichkeit. „Ist das nicht eine unwiderstehliche Verführung?" fragte er mit einem angedeuteten Lächeln. „Ich halte es jedenfalls nicht für eine gute Idee", wehrte sie ab. Er legte die Hände an ihre Wangen und sah ihr direkt in die Augen. "Ich halte es für eine großartige Idee." Sie lachte nervös, weil er sie für den Moment entwaffnet hatte. Doch es gab viele Gründe, um nicht mit Tucker Hale zu schlafen. Da er es offenbar mochte, wenn man die Dinge beim Namen nannte, wollte Harley sie ihm erklären. "Wir sind bisher nicht besonders gut miteinander ausgekommen“, meinte sie kühl. "Dann sollten wir schleunigst versuchen das zu ändern." Er schob die Finger in ihr Haar und löste lustvolle Schauer aus, als er sie zu sich zog.
Ich sollte mich nicht von ihm küssen lassen, dachte sie. Doch dann fühlte sie seine warmen Lippen auf ihrem Mund und wurde schwach. Es ist nur ein Kuss, dachte sie und schloss die Augen. Bloß ein Kuss. Dann schicke ich ihn weg. Tucker war überraschend sanft und berührte kaum ihre Lippen. Als er sie etwas heftiger küsste, fehlte diesmal das Kratzen seines Barts. Er ließ sich Zeit, bis sie den Kuss zuerst zögernd, dann mit echtem Gefühl erwiderte. Sobald ihr Widerstand verflog, wurde sie von Erregung gepackt. Es war neu für sie, von einem Mann überwältigt zu werden, und es gefiel ihr. Tucker war so groß, so maskulin und selbstsicher. Der Duft seiner warmen Haut mischte sich mit einem Hauch von Tabak und Rasierschaum. Ihr Herz schlug heftig. Es erschreckte sie, dass sie so stark reagierte, und sie legte die Hände an seine Brust und wollte ihn wegschieben. Sobald sie jedoch seinen rasenden Herzschlag fühlte, stockte sie. Als sie sich endlich voneinander lösten, war Tucker genauso atemlos wie Harley und wirkte überrascht. Doch die Überraschung wurde von Verlangen verdrängt. Harley fand in seinem Blick unverkennbar Begehren und geriet in Panik. Sie hätte sich besser beherrschen und ihm widerstehen sollen. Jetzt erwartete er sicher zu viel, als er sie in die Kissen drückte. „Tucker, das ist verrückt", wehrte sie ab. "Wir kennen uns noch keine vierundzwanzig Stunden." Lächelnd streichelte er ihren Hals. "Gibt es eine bessere Möglichkeit, sich kennen zu lernen?" Sie drückte lachend den Kopf in die Kissen zurück, und er nutzte seinen Vorteil und bedeckte ihren Hals mit Küssen. Ihr Nachthemd war links heruntergerutscht, und Tucker hauchte kleine, heiße Küsse auf ihre nackte Schulter, während er den ersten Knopf öffnete. Es fiel ihr schwer, ihn abzuweisen. "Tucker!" Ihre Stimme klang unsicher. "Das hat keinen Sinn. Sie reisen bald wieder ab. Ich weiß nicht einmal, wann. Das wissen nicht einmal Sie." "Dann sollten wir die Zeit nützen, die uns bleibt", flüsterte er ihr ins Ohr und knabberte sachte an ihrem Ohrläppchen, während er den zweiten Knopf öffnete und die Fingerspitzen zwischen ihre Brüste gleiten ließ. Mit der anderen Hand drückte er durch den dünnen Stoff hindurch ihren Schenkel, zog dann das Nachthemd hoch und entblößte ihre Beine bis, zu den Knien. Plötzlich fühlte sie seine Finger auf der nackten Haut an ihrem Schenkel. Er atmete schneller, und die Muskeln an seinen Schultern spannten sich an. „Tucker ..." flüsterte sie. Doch statt ihr zu antworten, senkte er die Lippen auf ihren Mund und küsste sie heiß und fordernd. Unfähig, sich ihm zu entziehen, umklammerte sie seine Schultern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er schob die Hand an ihrem Bein höher, streifte ihre Hüfte, streichelte die nackte Haut und stöhnte leise. Abrupt brach sie den Kuss ab, als ihr klar wurde, dass sie sich viel früher hätte zurückziehen müssen. „Tucker…“
Er öffnete noch einen Knopf. „Tucker ..." Der nächste Knopf wurde geöffnet. „Tucker, nein." Er stockte. Offenbar hatte sie das magische Wort gesagt. "Nein", wiederholte sie. "Wirklich nein? Oder nur, weil eine Frau das sagen sollte?" "Wirklich nein." Er ließ den Kopf sinken, so dass sich ihre Stirnen berühren. "Es könnte wirklich großartig sein", sagte er nach einer Weile. Zu ihrem Erstaunen geriet sie tatsächlich in Versuchung, biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. "Nein." Er zog sich zurück und ließ die Hand auf ihrem Schenkel liegen. "Bist du noch Jungfrau?" Harley wollte schon lügen, weil es sie mit verlegen machte. Immerhin war sie schon dreiundzwanzig. Doch sie entschied sich für die Wahrheit. „Ja." Er wirkte weder überrascht noch verärgert. "Trotzdem könnte es großartig sein. Ich würde schon dafür sorgen." "Das kann ich nicht", entgegnete sie. "Nicht mit jemandem, den Ich gerade erst kennen gelernt habe. Nicht beim ersten Mal." Er nickte nachdenklich. "Na schön." Erneut tastete er nach den kleinen, herzförmigen Knöpfen, diesmal jedoch, um sie zu schließen. Harley fühlte sich gedrängt, es ihm zu erklären. "Es ist nur so, dass ich noch…“ "Ist schon gut. Ehrlich." Nachdem er das Nachthemd geschlossen hatte, zog er es ihr über die Schulter und strich es bis zu den Knöcheln glatt. Dann griff er nach dem Stock und stand auf. „Ach, hier." Er gab ihr das Buch. "Ich habe es zuschlagen, tut mir leid." An der Tür fügte er hinzu: "Gute Nacht, Harley.“ "Gute Nacht, Tucker. Bis morgen früh." Er zögerte, als wollte er noch etwas sagen, überlegte es sich jedoch. „Ja, bis morgen früh." Sobald sich die Tür hinter ihm schloss, sank Harley in die Kissen zurück, schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus.
4. KAPITEL Am Morgen war Tucker fort. Harley bemerkte es erst, als sie nach ihrem Schwimmtraining um sechs Uhr am Zimmer des Hausmädchens vorbeikam. Die Tür stand offen, und das Zimmer war leer. Sie rief nach ihm, und als sie keine Antwort erhielt, ging sie hinein.
Das Bett war ordentlich gemacht, die Gitarre lehnte an der Wand. Ansonsten gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass Tucker jemals hier gewesen war. Harley suchte den gesamten Besitz war. Er war nicht mehr da. In der Küche schaltete sie das Radio ein und machte Kaffee ... Er hätte sich wenigstens verabschieden können. Sie dachte an ihren Streit am Pool und daran, wie er später in ihr Zimmer gekommen war. Er hatte Recht, dass sie ihn nicht an sich heran ließ. Brian hatte während ihrer kurzen Beziehung das gleiche gesagt. Sie wäre kalt und verschlossen, und sie würde jede Intimität abweisen. Nicht nur sexuell, sondern auch gefühlsmäßig. Stimmte das? Sie selbst fand sich nicht kalt. Bei Tucker, wenn schon nicht bei Brian, hatte sie unpassend heftig reagiert. Wieso unpassend? Weil er unpassend war. Er war ein Nonkonformist, ein Mann von unglaublicher Ehrlichkeit, der keinen Kompromiss eingehen konnte. Nach einer elenden Kindheit, in der sie stets die Außenseiterin gewesen war, wünschte sie sich nicht anderes als Normalität. Sie genoss es, mit dem Strom schwimmen zu können. Jahrelang hatte sie darum gekämpft, sich anzupassen und wie alle anderen zu sein. Nein, mit ihr war alles in Ordnung. Sie hatte sich richtig verhalten. Kein Grund für Schuldgefühle. Wo stand geschrieben, dass sie aus Eis war, nur weil sie nicht mit einem Mann ins Bett stieg, den sie soeben kennen gelernt hatte? Sie war froh, dass Tucker fort war. Allerdings hätte sie ihn zum Flughafen gefahren. Das hatte sie ihm schließlich versprochen. Minutenlang saß sie am Tisch und zwang sich dazu, nicht zu weinen. Der Tag war glühend heiß. Trotzdem zog Harley ihre ältesten Sachen an, setzte einen Walkman auf und machte sich daran, Unkraut zu jäten. Die harte körperliche Arbeit lenkte sie von allen Gedanken an Tucker Hale ab. Es war schon zwei Uhr vorbei, und sie hatte fast sechs Stunden gearbeitet. Ihr Kopf schmerzte, und ihr wurde schwindelig. Wahrscheinlich kam es von Flüssigkeitsmangel. Außerdem hätte sie einen Hut aufsetzen sollen. Harley versuchte aufzustehen, doch alles um sie herum drehte sich, und dann fühlte sie etwas Hartes unter dem Kopf. Die Einfahrt. Sie lag auf dem Rücken, und ihre Glieder waren unglaublich schwer. Nach einer Weile vibrierte der Boden. Ein Schatten fiel auf sie. Harley öffnete die Augen. Jemand kauerte neben ihr und nahm ihr die Kopfhörer ab. „Ich habe gefragt, ob mit dir alles in Ordnung ist', erklang eine vertraute Stimme. Tucker? Vielleicht phantasierte sie wegen der Hitze. "Harley!" Er legte die Hände an ihre Wangen. "Himmel, du glühst ja! Schätzchen, was ist mit dir?" „Ich bin dumm", sagte sie leise. Die Augen fielen ihr zu, während er die Arme um sie schlang und sie aufrichtete.
"Wach auf, Schätzchen. Ich muss dich ins Haus bringen, und ich kann dich nicht tragen. Aufwachen!" befahl er. "Braves Mädchen", lobte er, als sie mühsam die Augen öffnete. Sie spähte über seine Schulter. Etwas Großes und Dunkles stand in der Einfahrt. Erst als sie sich konzentrierte, erkannte sie einen schwarzen, offenen Sportwagen. Sie blinzelte, um ihn genauer zu sehen, und schüttelte den Kopf, doch das war ein Fehler. Die ganze Welt drehte sich so heftig, dass Harley gegen Tucker sackte. Er hielt sie fest, und sie klammerte sich an ihn. Er fühlte sich warm und fest an, der einzige feste Halt in einer herumwirbelnden Welt. „Aber das ist dein Bett", wandte Harley ein, als Tucker die Decke zurückschlug. "Betrachte es als das deine." Weiter als bis in das Zimmer des Hausmädchens konnte er sie nicht bringen. Ausgeschlossen, sie die Treppe nach oben zu schaffen. Als ihr die Beine wieder wegknickten, konnte er sie gerade noch so drehen, dass sie auf das Doppelbett fiel. "So ist es gut", sagte er mehr zu sich selbst als zu Harley, die kaum noch bei Bewusstsein war. Er drehte sie auf den Rücken und zog ihr die schmutzigen Schuhe aus. Jetzt brauchst du nicht mehr zu gehen, Schätzchen. Du hast dich ausgezeichnet gehalten." Tucker setzte sich auf die Bettkante und drückte die Lippen an ihre Stirn, die sich wie eine Herdplatte anfühlte. Bevor er sich zurückzog, gab er ihr einen leichten Kuss. Im Schrank hatte er einen Ventilator gesehen, als er seine Tasche hineinstellte. Jetzt schaltete er ihn ein und richtete ihn auf Harley. Dann öffnete er ihren Pferdeschwanz und breitete das Haar auf dem Kopfkissen aus. Einen Waschlappen mit kaltem Wasser, den er ihr auf die Stirn legte, schüttelte sie ab. "Ganz ruhig", flüsterte er und betupfte ihr blasses Gesicht, das nur langsam wieder Farbe bekam. Seufzend hielt er ihren Kopf still und drückte den Waschlappen auf ihre Stirn. Phil Zelin hätte genau gewusst, was zu tun war. Phil, der Sohn eines Taxifahrers aus Brentwood, den R.H. nicht einmal ins Haus gelassen hatte, war jetzt Internist. Tucker wusste das, weil Phil der einzige aus seiner Jugend war, mit dem er noch Kontakt hielt. Einmal im Jahr griff einer von ihnen zum Telefon und rief den anderen an. Dann redeten sie zwei Stunden lang wie in alten Zeiten. Tucker warf den Waschlappen im Bad ins Waschbecken, rief vom Arbeitszimmer aus im Stony Brook University Medical Center an und wurde mit Dr. Philip Zelin verbunden. "Sieh zu, dass sie Flüssigkeit zu sich nimmt", riet Phil, sobald Tucker ihm die Lage geschildert hatte. „Ich habe gerade meine Runde beendet und bin in einer halben Stunde bei dir." Tucker holte ein Glas Wasser und stellte es auf, den Nachttisch. "Komm schon, Schätzchen, du musst das trinken. Anordnung vom Doktor." Er richtete sie auf,
lehnte sie an seine Brust und stützte ihren Kopf mit der Schulter ab. "Komm schon, wach auf." Keine Reaktion. Er tätschelte ihre Wange und setzte das Glas an ihre Lippen. "Komm, Harley, trink. Bitte!" Schließlich gab er auf und kühlte ihr Gesicht und ihre Arme mit dem Waschlappen, bis es an der Tür klingelte. Phil begrüßte ihn mit einer herzlichen Umarmung und einem Schlag auf den Rücken. „Ich tausche mein Haus gegen deinen Jaguar." Selbst nach einundzwanzig Jahren hätte Tucker ihn überall erkannt. Seine schlaksige Gestalt und die dunklen, ständig amüsiert wirkenden Augen hatten sich nicht verändert, auch wenn er jetzt eine Brille trug. Um einer zeitraubenden Unterhaltung auszuweichen, drehte Tucker sich rasch um und führte Phil zum Zimmer des Hausmädchens. "Dein Gesicht hat mehr Charakter bekommen", stellte Phil fest, während er ihm folgte. "Und dein Bein hat noch viel mehr Charakter. Was ist passiert?“ "Ich habe mich verletzt", antwortete Tucker. „Das habe ich mir fast schon gedacht, du Schlauberger." "Sie ist hier drinnen." Tucker blieb neben der Tür stehen. Phil ging direkt zu Harley und stellte seine schwarze Tasche auf den Nachttisch. Er setzte sich auf die Bettkante, hielt ihren Kopf fest und öffnete ihre Augen. „Ist sie schon lange bewusstlos?" "Sie ist zwischendurch immer mal wieder für ein paar Sekunden zu sich gekommen. Wird sie wieder gesund?" "Wie lange ist ihre Haut schon so gerötet?" Phil maß ihren Puls. "Erst seit meinem Anruf bei dir." Phil holte ein Stethoskop heraus und maß ihren Blutdruck. "Hat sie Flüssigkeit zu sich genommen?“ "Nein, das war hoffnungslos." "Der Blutdruck ist etwas hoch", stellte Phil fest. "Das ist gut." Er öffnete die beiden obersten Knöpfe der Bluse und horchte ihre Brust ab, denn drehte er sie auf die Seite und schob das Stethoskop unter der Bluse auf den Rücken. "Lungen sind frei." Er maß ihre Temperatur und stellte zuletzt fest: "Sie hat einen Hitzschlag." "Muss sie ins Krankenhaus?" "Nicht, wenn wir ihre Körpertemperatur senken können. Versuchen wir es mit einem kalten Bad und laufendem Ventilator." Rasch öffnete er die Bluse und den weißen BH und zog ihr beides aus. Sie hatte einen schönen Körper mit festen, perfekten Brüsten, doch das hatte Tucker schon gewusst. Was der Badeanzug nicht enthüllt hatte, war von seiner Phantasie geliefert worden. Es schmerzte ihn, dass sie so entblößt wurde. Sie war zurückhaltend und legte großen Wert auf Würde. Bewusst hätte sie sich in ihm nicht so gezeigt. Als Phil den Reißverschluss ihrer Shorts öffnete, wandte Tucker sich ab. „Ich lasse das Bad ein." "Sehr gut."
Die Wanne war rasch gefüllt. Phil brachte ihm den Ventilator und ging wieder hinaus. Während Tucker unter dem Waschbecken kauerte und ihn anschloss, hörte er, wie Phil zurückkehrte. Dann plätscherte das Wasser. Tucker stemmte sich wieder hoch, schaltete den Ventilator ein und richtete ihn auf die Wanne. Erstaunlich, dass Harley noch immer bewusstlos war. Das kalte Wasser hätte eigentlich jeden wecken müssen, aber sie wirkte so friedlich, als würde sie schlafen. Phil kniete sich neben die Wanne. "Es geht darum, ihre Körpertemperatur schnell zu senken. Falls sie steigt, kommt es zum Kreistaufkollaps". "Kreislaufkollaps", wiederholte Tucker wie betäubt, klappte den Toilettendeckel herunter und setzte sich darauf. "Woher weißt du, ob sie ... " "Siehst du, wie stark gerötet ihre Haut ist?" Phil strich mit dem nassen Waschlappen über Harleys Schultern, die nicht ins Wasser getaucht waren. "Das Blut befindet sich an der Oberfläche. Wenn ihr Kreislauf zusammenbricht und sie einen Schock erleidet, wird sie grau. Darauf müssen wir achten." "Und was machen wir dann?" "Dann finden wir heraus, wie schnell dein Jaguar das Krankenhaus erreichen kann." "Was kann schlimmstenfalls passieren?" Als Phil zögerte, drängte er: "Keine Scheu, Zelin. Gib mir einfach eine Antwort." „Ich kenne keine Scheu, Tucker. Ich bin nur vorsichtig. Seit Jahren erkläre ich Leuten, was mit den Menschen geschieht, die ihnen nahe stehen. Das ist nicht immer einfach. Die Leute sagen, dass sie die ungeschminkte Wahrheit hören wollen, aber in Wirklichkeit ... " "Wir sprechen hier von keinem Menschen, der mir nahe steht. Sie hütet nur das Haus." Das stimmte vielleicht nicht ganz aber Tucker nahm es jetzt nicht so genau. "Sie hütet das Haus." Phil betrachtete Harley. „Ich dachte, sie wäre deine ...“ "Nein, ist sie nicht. Also, was kann passieren?" "Sie könnte sterben." Tucker schwieg betroffen, schluckte und fragte: "Wie wahrscheinlich ist das?" Phil befühlte ihre Stirn. "Nicht so wahrscheinlich wie ein Hirnschaden. Der wiederum ist nicht so wahrscheinlich wie ein Schaden an Herz, Leber oder Nieren." Phil nickte. "Und der wieder ist nicht so wahrscheinlich wie gar kein bleibender Schaden. Das trifft meiner Meinung nach in diesem Fall zu." "Kein bleibender Schaden", wiederholte Tucker. "Das ist am wahrscheinlichsten?" Phil nickte. Tucker klopfte die Tasche seines T-Shirts ab, fühlte nur die Sonnenbrille und seufzte. Phil deutete die Geste richtig und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. "Du rauchst?" fragte Tucker. "Noch immer? Du bist Arzt. Du hättest längst aufhören sollen." "Völlig richtig. Willst du eine oder nicht?" Tucker schüttelte den Kopf, und Phil steckte sich eine an.
"Ach, Phil ... " Tucker zögerte. Merkwürdig, warum machte er das? Könntest du damit hinausgehen? Du solltest nicht ... sie mag nicht ... Es wäre mir lieber, wenn du nicht im Haus rauchst." Phil starrte Tucker an, die Zigarette in der einen, den Waschlappen in der anderen Hand. „Dir wäre es lieber? Du bist Raucher. Wieso stört es dich?" Phil deutete auf Harley. "Und sie ist weggetreten. Dein alter Herr ist nicht da und wird es nie erfahren. Außerdem geschieht es ihm recht, weil er mich damals grundlos gehasst hat. Wenn ich in seinem Haus rauche, hat er wenigstens einen Grund, mich zu hassen. Er wird ihn nie erfahren, aber ich fühle ich dann besser." Tucker betrachtete die nackte Harley und erinnerte sich daran, wie sie ihm die Zigarette am ersten Abend weggenommen und im Pool gelöscht hatte. Jetzt war sie machtlos. Er wollte seinen Freund nicht hinausschicken, aber er fand es falsch, Harleys Willen zu ignorieren. Damit hätte et ihre Schwäche ausgenützt, und das konnte er nicht. "Geh damit hinaus, Phil.“ Kopfschüttelnd stand Phil auf und warf ihm den Waschlappen zu. "Ich setze mich zum Rauchen auf den Fahrersitz dieses hübschen neuen Jaguars. Hoffentlich fällt mir die Zigarette nicht aus den Fingern. Brandlöcher in Leder gehen nicht wieder weg." Tucker tauchte den Waschlappen in das kalte Wasser und kühlte ihre Schultern, den Hals und das Gesicht. Was zog ihn bloß an ihr so an? Vielleicht suchte er bei ihr, was er früher einmal im Übermaß besessen, dann aber verloren hatte - Jugend, Kraft und ein klares Weltbild. Er streichelte Harleys Wange und strich mit dem Daumen über ein geschlossenes Augenlid. Phils Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. "Wieso hast du an dem Jaguar noch das Kennzeichen des Händlers?" Er holte ein Thermometer aus seiner Tasche. „Ich habe ihn erst heute Vormittag gekauft." Tucker überließ den Platz am Wannenrand seinem Freund, der Harley das Thermometer in den Mund schob. „Ich stand noch vor der Morgendämmerung auf und wollte nach Hause. Dann fiel mir ein, dass ich Liz Wycliff noch nicht gesehen habe. Du erinnerst dich an Liz?" "Sicher." Das Thermometer piepste, und Phil warf einen Blick darauf. „Ja! Die Temperatur ist herunter." Tucker schloss die Augen und lehnte sich gegen die Hand. Phil holte Harleys rechten Arm aus dem Wasser, nahm ihren Puls und maß den Blutdruck. "Sieht gut aus", stellte er lächelnd fest und griff wieder nach dem Waschlappen. "Du wolltest also Liz sehen." Tucker setzte sich wieder auf den Toilettendeckel. „Ja. Sie war für mich eine Ersatzmutter. Ich konnte nicht abreisen, ohne sie wieder zu sehen. Also fuhr ich per Anhalter nicht nach La Guardia, sondern zum Bahnhof.“ "Per Anhalter?" "Und nahm den Zug nach New York. Liz hat eine Eigentumswohnung am Central Park West. Der Pförtner wollte mich nicht nach oben lassen.“
Phil betrachtete ihn grinsend. "Begreife ich nicht." "Ich weiß. Ich muss mir die Haare schneiden lassen." Phil lachte schallend auf. "Du solltest aufzählen, was du nicht machen musst. Das ginge schneller. Auf jeden Fall brauchst du so schnell wie möglich einen anständigen Haarschnitt, anständige Kleidung, anständige Schuhe Tucker lachte leise. "Wo habe ich denn das schon gehört?" Er tat, als müsste er überlegen. "Diese Worte sind mir so vertraut. Lass dir die Haare schneiden und zieh dir etwas Anständiges an. Du bist doch kein Tier im Zoo!“ Er schlug sich an die Stirn, als wäre es ihm gerade erst, eingefallen. "Richtig, das war dein Vater. Er stand auf der Veranda und schrie dich an, während alle Nachbarn zuhörten. Und du hast ihm den Finger gezeigt und die Autotür zugeschlagen." "Habe ich ihm wirklich den Finger gezeigt?" fragte Phil gespielt ungläubig. "Was war ich doch verkommen! Mich hätte man auf die Militärakademie schicken sollen, nicht dich." Er zog Harleys Augenlid hoch und ließ es wieder los. "Der Pförtner hat also gute Menschenkenntnis bewiesen und dich nicht nach oben gelassen." „Ja, aber er hat Liz angerufen, und sie kam herunter." Tucker lächelte. "Sie ist ... nun ja, älter. Aber sie ist noch immer schön. Weißt du, sie ist einfach großartig. Sobald ich sie sah, erkannte ich, wie sehr sie mir gefehlt hat. Sie sah mich und sagte ‚Guten Morgen, Tucker. Wie schön, dass du nicht tot bist. Du kannst mich zum Frühstück einladen.’“ "Mich interessiert nur der Jaguar." „Beim Frühstück sagte ich ihr, dass ich einen Wagen kaufen und damit nach Alaska zurückfahren möchte. Sie fragte, welche Marke. Ich sagte Jaguar, und sie fuhr mich zu einem Händler. Er hatte einen schwarzen XJR-S, und ich habe ihn gekauft." Phil betupfte Harleys Stirn mit dem Waschlappen. "Niemand kauft einfach aus einem Impuls heraus einen solchen teuren Wagen. Man muss die Finanzierung arrangieren, es gibt Papierkram und ..." "Ich finanziere gar nichts", erklärte Tucker. "Ich habe dem Händler einen Scheck ausgeschrieben, und er erledigt den Papierkram und die Kennzeichen bis morgen." Phil sah ihn ungläubig an. "Du hast ihm einen Scheck ausgeschrieben? Hast du eine Million auf dem Konto nur für den Fall, dass du plötzlich einen Wagen kaufen ..." "Ich musste nur einen Anruf erledigen. Übrigens, du benimmst dich total daneben. Wir sprechen in Hale's Point nie über Geld." "Wir in Brentwood tun das ständig." "Du lebst jetzt in Hale's Point, Freund." "Und du gibst mir Anstandsunterricht und lebst ... wo? An irgendeinem Ort, in dessen Namen das Wort Elch vorkommt?" „Ich lebe nahe dem Elch-Paß." "Mitten im Wald in einer Hütte mit zwei Räumen, die du selbst aus Baumstämmen gebaut hast."
"Es ist ein Blockhaus mit einem Raum und einem Anbau." „Ist in dem Anbau genug Platz für den Jaguar?" "Nein. Da muss ich den Jeep unterstellen, damit er nicht zuschneit." Phil sah ihn ungläubig an. "Liegt es eigentlich an mir? Bin ich vielleicht verrückt? Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, wie dieses exquisite Produkt britischer Autobauerkunst schneebedeckt vor einem Blockhaus steht! Noch dazu mitten im Wald. In Alaska! Ich meine es ernst mit dem Tausch." "Welcher Tausch?" "Mein Haus gegen deinen Jaguar." Er wandte sich wieder Harley zu. "Alles klar." Phils schräger Humor hatte sich nicht verändert. Es hatte ihm stets Spaß gemacht, so lange auf einer verrückten Idee herumzureiten, bis die anderen glaubten, er würde es ernst meinen. Dann lachte er über ihre Leichtgläubigkeit. Tucker stand auf und setzte die Sonnenbrille auf. Jetzt mache ich eine Pause." Er rauchte zwei Zigaretten, bevor er ins Haus zurückkehrte. Phil zog gerade das Thermometer aus Harleys Mund und lächelte. "Das Hühnchen ist gar. Was gibt es als Beilage?" "Mann, du hast vielleicht einen verdrehten …“ "Die Temperatur sinkt weiter", verkündete Phil triumphierend . Harley bewegte stöhnend den Kopf. "Schaffen wir sie ins Bett", entschied Phil. Tucker brachte den Ventilator ins Schlafzimmer und holte ein Badetuch, in das er Harley wickelte. Phil trug sie ins Schlafzimmer, wickelte sie aus dem Badetuch und legte sie ins Bett. Tucker bemerkte Harleys Kleider, die in einem Haufen auf dem Boden lagen, wo Phil sie hingeworfen hatte, und er musste noch einmal hinsehen. Obenauf lag ein Slip mit Zebramuster. Wer hätte gedacht, dass sie so wilde Wäsche unter ihren biederen Sachen trug? "Sorg dafür, dass du ihre Temperatur auf achtunddreißig Grad herunterbringst. Ich lasse dir das Thermometer hier. Überprüf alle halbe Stunde ihre Temperatur, und ruf mich an, sobald sie auch nur geringfügig steigt." Er holte seine Tasche aus dem Bad. "Du gehst?" "Du brauchst mich hier nicht mehr. Sobald sie sich aufsetzen und trinken kann, flöße ihr etwas ein. Wenn sie aufstehen kann, achte darauf, ob ihr schwindelig ist oder sich desorientiert fühlt. Ich sehe morgen nach ihr." Er klopfte Tucker auf die Schulter. "Ich finde allein hinaus. Bleib bei ihr." "Du bist ein guter Freud, Phil. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll." "Indem du dir die Haare schneiden lässt", sagte Phil von der Tür her. Grinsend streckte Tucker den Arm aus und reckte den Mittelfinger hoch. "Dein Vater hätte dich ja doch auf die Militärakademie schicken sollen" sagte Phil im Gehen. "Wäre dir recht geschehen, du Punker!"
5. KAPITEL
Harley öffnete die Augen. Es war Nacht. Tucker las im Schein einer schwachen Lampe ein Buch. Sie lag im Bett, erinnerte sich aber nicht an den Grund. Es war still bis auf das Surren des Ventilators. Trotz des Luftzugs war es warm im Zimmer. Tucker trug nichts weiter als olivfarbene Shorts. Es raschelte, als er umblätterte. Sie wollte ihn fragen, was er las. "Tucker", flüsterte sie. Ihr Mund war trocken. Er legte das Buch weg. Jetzt konnte sie seine Brust klar sehen, muskulös auf der einen Seite, von Narben durchzogen auf der anderen. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie schwer er verletzt worden war, wie anstrengend es sein musste, Tag für Tag mit diesen Wunden zu leben. Sie schloss die Augen und begann zu dösen, doch er setzte sich neben sie, zog die Decke höher und legte sie über ihre Schultern. "Noch nicht“, sagte er leise. "Gleich kann du schlafen.“ Seine Stimme klang heiserer als sonst. Er war müde. Mit einem Arm richtete er sie auf und hielt sie fest, während er mit der anderen Hand Wasser aus einer Karaffe in ein Glas füllte. Sein Arm fühlte sich angenehm kühl auf ihrem nackten Rücken an. Sie spürte, wie seine Muskeln sich anspannten. Er hielt ihr das Glas an die Lippen, und nachdem sie getrunken hatte, ließ er sie zurücksinken. Was hatte sie ihn fragen wollen, als sie seinen Namen nannte? Sein Name ... er war ihr von Anfang an seltsam vorgekommen ... „Tucker ... das ist ein komischer Name." Er beugte sich über sie, strich ihr Haare aus dem Gesicht und drückte einen feuchten Waschlappen gegen ihre Stirn und Wangen. "Das ist ein alter Name in der Familie meines Vaters. Angelsächsisch. Er bedeutet Schneider." Er nahm etwas vom Nachttisch und schob es ihr in den Mund. "Unter die Zunge." Während er das Thermometer festhielt, meinte er: "Harley ist auch ein komischer Name." Es piepte. Er zog das Thermometer heraus. "Gut. Bist du auch nach einer Verwandten genannt worden?" Harley wollte den Kopf schütteln, doch dabei drehte sich alles. "Nach einem Motorrad", konnte sie gerade noch sagen, bevor sie wieder einschlief. "Wo sind meine Sachen?" Tucker öffnete die Augen. Sonnenlicht fiel ins Zimmer. Harley saß im Bett und hielt die Decke vor die Brust. Ihre Hautfarbe war normal, ihr zerzaustes Haar schimmerte golden, und sie war wütend. Er lachte nicht, weil das wahrscheinlich verkehrt gewesen wäre. Stattdessen stemmte er sich aus dem Sessel, in dem er eingeschlafen war. Jeder Knochen tat ihm weh. Das Buch, in dem er gelesen hatte, fiel auf den Boden. „Ich habe gefragt, wo meine Sache sind."
Er deutete auf den Slip mit Zebramuster und die übrigen Kleidungsstücke in der Ecke. "Dort drüben." Harley betrachtete den Haufen, dann ihn. "Wer hat mich ausgezogen?" Tucker trat neben sie. "Dr. Philip Zelin vom Medical Center der Stony Brook University hat dich ausgezogen.“ "Du warst nicht dabei?" Er schenkte ihr ein Glas Wasser ein. "Trink!" "Warum antwortest du mir nicht?" Er setzte sich auf das Bett, und sie rückte von ihm ab. "Weil du so schön bist, wenn du wütend bist. Trink!" "Was ist das?" "Purer Wodka. Ich flöße ihn dir seit Tagen ein." Sie versuchte, ihn zu verscheuchen. "Geh weg!" „Zuerst trinkst du das. Es ist Wasser." Sie griff nach dem Glas, aber Tucker musste ihr helfen, so sehr zitterte ihre Hand. „Hervorragend", meinte er trocken. "Mein Plan funktioniert perfekt." Er vertauschte das Glas gegen das Thermometer. "Öffne den Hangar. Hier kommt das Flugzeug." "Das hat noch nie bei mir funktioniert." "Nein? Und ich hatte mir schon solche Hoffnungen gemacht." Er nahm ihre Temperatur. "Gratuliere, Miss ... Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?" "Sayers." "Ms. Sayers, du bist endlich wieder normal. Abgesehen natürlich davon, dass du nach einem Motorrad heißt." Harley ließ sich von Tucker die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf helfen. In das Bettlaken gewickelt, stolperte sie hoch, dann schickte sie ihn weg. Sie wusch und zog sich lieber ohne Hilfe an, was sich ziemlich schwierig gestaltete. Sie war verwirrt und unbeholfen. Es war fast schon Mittag, als sie sich an den Terrassentisch unter den Sonnenschirm setzte, wo Tucker mit Toast und Eiswasser auf sie wartete. Den Toast bekam sie allerdings nicht hinunter. Es war kühler als am Vortag und bewölkt. Sie trug eine ärmellose rosa Bluse und weiße Shorts und hatte das Haar zu dem üblichen Pferdeschwanz gebunden. Lustlos schob sie den Teller weg. "Woher weißt du, dass ich nach einem Motorrad genannt wurde?" Er schenkte ihr noch mehr Wasser ein. "Du hast es mir gegen drei Uhr nachts erzählt. Erinnerst du dich nicht?" "Gegen drei Uhr nachts? War ich die ganze Nacht wach?" "Nein, du warst weggetreten.“ „Aber du warst wach.“ "Bis zum Morgengrauen. Da war deine Temperatur schon weit gesunken." "Ich hatte Fieber? War ich krank?" "Hitzschlag."
Stöhnend nickte sie. "Natürlich. Ich war ja so dumm." "Etwas in der Richtung hast du immer wieder gemurmelt." Er deutete auf den Toast. "Isst du das nicht?" Als sie den Kopf schüttelte, griff er nach einer Scheibe und biss hinein. Harley überlegte eine Weile. "Du hast die ganze Nacht bei mir gewacht. Danke." "Gern geschehen", erwiderte er mit vollem Mund. „Hast du mich nackt gesehen?" "Ja", räumte er seufzend ein. Sie fühlte, Wie ihre Wangen heiß wurden. "Wie kannst du so einfach ja sagen? Du solltest lügen, um meine Gefühle zu schonen!" Er lachte laut auf. "Du willst, dass ich dich belüge?" "Natürlich! Man kann auch zu ehrlich sein." "Ich lüge nicht," Tucker griff nach der nächsten Toastscheibe. "Nie?" "Möglichst nie." "Bei mir kannst du gelegentlich, eine Ausnahme machen", erwiderte sie. "Gib mir die Antwort, die ich hören will, um mich glücklich zu machen." „Ich will dich nicht glücklich machen." "Du willst mich …." "Du bist sagenhaft, wenn du wütend wirst." "Gut, dann ist heute dein Glückstag. Ich bin nämlich wirklich …“ sie hielt sich zurück. „’Wütend' wäre wahrscheinlich zuviel gesagt. Ich bin neugierig." "Worauf?" Er schob das letzte Stück Toast in den Mund und putzte sich die Hände ab. "Wieso hast du dich gestern morgen wortlos weggeschlichen? Ich dachte, du wärst für immer fort." "Hast du mich vermisst? Ja, dachte sie. "Nein." „Ich wollte dich nicht wecken." "Du hättest eine Nachricht hinterlassen können." "Ich hinterlasse nie Nachrichten. Darin bin ich schlecht." "Du bist auch sicher schlecht, wenn es ans Abschiednehmen geht. Ich meine, das habe ich im Gefühl." Er holte Zigaretten aus der Tasche. "Du hast recht.“ "Willst du jetzt rauchen?" "Wir sind im Freien." "Mir ist ein wenig schwindelig, aber das geht schon in Ordnung. Genieß deine Zigarette. Ich gehe ins Haus." Sie wollte aufstehen. Rasch steckte er die Zigaretten zurück. "Bitte, bleib. Ich möchte dich auch etwas fragen. Wieso hast du gestern in der Hitze bis zum Umfallen gearbeitet? Du bist doch eine kluge Frau. Woran hast du gedacht?" An dich, hätte sie beinahe erwidert. "Ich weiß es nicht. Ich war einfach dumm."
"Hier seid ihr!" ertönte eine Stimme. Tucker drehte sich um und sah Phil mit seiner schwarzen Tasche um die Ecke kommen. Hört man hier hinten die Türklingel nicht?" "Nein", erwiderte Tucker. "Das ist praktisch." Phil setzte sich neben Harley, und Tucker übernahm die Vorstellung, während Phil ihr ohne viele Umstände den Blutdruck maß. Hinterher griff Phil in seine Tasche und warf Tucker ein Foto zu. "Wie findest du es?" Das Bild zeigte die Vorderseite eines großen Hauses im Kolonialstil. "Ich habe es vor neun Jahren gebaut", erklärte Phil, während er Harleys Temperatur maß. "Es steht in einer Sackgasse an der Windward Lane. Vier Schlafzimmer, drei Bäder, das größte Schlafzimmer mit Whirlpool, ausgebauter Keller mit Bar, einer neuen Eichenküche mit Gefrierschrank, alles nagelneu. " Das Thermometer piepte. "Großartig. Kühl wie ein Eiswürfel." Harley warf Tucker einen fragenden Blick zu. "Er will sein Haus gegen meinen neuen Jaguar eintauschen", erklärte er. "Wie bitte?" fragte sie verwundert. "Bei Phil weiß man nie, wann er scherzt und wann er es ernst meint." "Das ist kein Scherz." Phil hängte sich das Stethoskop um den Hals. "Mein Haus gegen deinen Jaguar, und ich sorge auch noch dafür, dass deine Fenster geputzt werden. Öffnen Sie bitte die Bluse", sagte er zu Harley. Tucker stand auf, als sie zögerte. "Ich rauche eine." Er setzte sich auf die Steinmauer am Strand. Drüben bei den Tiltons spielten Jamie, Brenna und die kleine Lily in der Brandung. Mimi, die gegenwärtige Mrs. T. lag auf einem Strandtuch und las. Trotz des grauen Himmels trugen alle Badesachen. Nur das Baby war nackt. Brennas Bikini war gelbgrün mit großen rosa Punkten. Nach einer Weile kam Phil zu ihm und meldete, dass es Harley gut ging. "R.H. hat einen tollen Pool eingebaut", fügte er hinzu. "Mein Haus hat auch einen Pool. Habe ich das erwähnt? Nicht gerade Olympiamaße, aber wer braucht schon so viel Wasser im Garten?" Tucker deutete auf den Sound. "Mein Väter konnte nie genug Wasser im Garten haben." "Offenbar." Phil atmete tief die salzhaltige Luft ein. "Diesen Strand habe ich immer geliebt. Er hat mir gefehlt, als mich der alte Herr nicht mehr herkommen ließ. Jetzt wohne ich nahe am Strand. Ach ja, das kommt auch noch dazu. Mein Haus ist zu Fuß fünf Minuten vom Sund entfernt. Ich habe segeln gelernt, um mich meinen Nachbarn anzupassen, und es gefällt mir. Mein Boot heißt ‚Pacemaker'. Es ist nicht die ‚Anjelica', aber du solltest einmal damit fahren, während du hier bist." "Sehr gern." "Was das Haus angeht, fuhr Phil fort. "Vor zwei Jahren habe ich den Heißwasserboiler ausgetauscht und im Jahr davor eine Terrasse angebaut.“ „Hat Kitty dabei gar nicht mitzureden? Vielleicht mag sie es nicht, wenn du euer Zuhause gegen ein Auto eintauschst."
Phil verzog schmerzlich das Gesicht und warf einen Blick zu Harley, die bewegungslos auf ihrem Liegestuhl ruhte. "Gehen wir an den Strand." Tucker deutete auf sein Bein. "Kann ich nicht." "Was ist passiert?" "Ich bin gegen eine Bergflanke geflogen." Phil sah ihn fragend an. "Hast du sie nicht gesehen?" „Ich stelle jetzt die Fragen", wehrte Tucker ab. "Was ist mit dir und Kitty passiert?" Phil tastete nach seinen Zigaretten. Tucker steckte zwei an. "Wir haben uns getrennt“, sagte Phil. "Wieso? Ihr wart doch ewig zusammen", sagte Tucker enttäuscht. Er hatte die beiden miteinander bekannt gemacht, als sie noch Jugendliche waren, den Sohn eines Taxifahrers aus Brentwood und die kühle Erbin aus Hale's Point. Er war überrascht gewesen, als sie miteinander gingen, und sprachlos, als sie sich verlobten. Er hatte Phil sogar wegen der Unterschiede zwischen ihnen von einer Heirat abgeraten. Während der Telefongespräche im Lauf der Jahre hatte Phil stets ein strahlendes Bild ihrer Ehe geboten. „Ich habe einen Fehler gemacht", erwiderte Phil tonlos. "Vor sechs Monaten. Eine Krankenschwester. Kitty hat es erfahren. Sie nahm die Jungs und ging heim in die Burg." Kittys Eltern gehörte das größte Haus von Hale's Point, eine neugotische Scheußlichkeit. Jetzt reden meine Anwälte mit ihren Anwälten. Ich habe sie seither nicht mehr gesehen. Sie spricht mit mir nicht einmal am Telefon. Sie ist ... sehr stolz." "Natürlich ist sie das", sagte Tucker. „Jede Frau würde in so einer Situation ausflippen, Phil. Keiner Frau gefällt es, wenn ihr Mann eine Affäre hat." "Es war nicht einmal eine Affäre, sondern bloß zwanzig Minuten in einem Besenschrank. Zwanzig Minuten, und meine ganze Ehe ist im Eimer! Mein ganzes Leben!" Plötzlich wirkte Phils Vorschlag mit dem Tausch des Hauses gegen den Jaguar gar nicht mehr so witzig. Er verlor fast alles. Warum sollte er nicht auch noch den Rest weggeben? "Dabei war es das erste Mal. Ist das nicht ironisch? Ich dachte, Kitty würde es nie erfahren, es würde niemandem schaden. Betrüge nie deine Frau, Tucker, wie sehr du auch in Versuchung kommen magst. Ich meine, falls du jemals heiraten solltest.“ "Eher schneit es in der Hölle, als dass ich diesen Fehler begehe. Heiraten, nicht betrügen. Du weißt, wie ich über die Ehe denke. Heiratet man, geht man eine Bindung ein. Eine Frau fürs Leben. Bleibt man Single, kann man in alle Besenschränke der Welt springen, ohne dass es eine Rolle spielt." "Genau das der Unterschied zwischen dir und mir!" wandte Phil ein. "Ich möchte, dass etwas in meinem Leben eine Rolle spielt. Meine Kinder und Kitty ... Ich liebe sie. Ich werde nie aufhören, sie zu lieben." Phils tiefes Gefühl berührte Tucker. Er wartete eine Weile, damit sein Freund sich fassen konnte. Eine Bewegung auf der Terrasse weckte seine Aufmerksamkeit. Harley streckte sich wie eine Katze, und Tucker fühlte Wärme in sich hochsteigen.
Phil war ruhiger, als Tucker sagte: "Bestimmt hast du das alles zu Kitty gesagt und sie gebeten, zu dir zurückzukommen." "Lieber Himmel, nein. Sie würde mich nur verachten." "Was?" "Du weißt doch, wie unglaublich zurückhaltend sie ist. Sie hasst es, wenn man Gefühle zur Schau stellt. Im umgekehrten Fall käme sie in einer Million Jahren nicht zu mir zurückgekrochen. Sie würde mich für einen Wurm ohne Rückgrat halten, käme ich zu ihr." "Um Himmels willen, es ist ansteckend!" "Was?" "Das Hale's-Point-Syndrom. Zuerst bekommt man ganz steife Lippen, und dann breitet es sich weiter aus und erfasst das Gehirn. Du bist ein Idiot, Phil! Du und Kitty, ihr beide!" Tucker griff nach dem Stock, stand auf und deutete zum Strand. "Und dieser hirnlose, kleine Princeton Schnösel! Und die ehrenwerte Liz Wycliff. Und vor allem der König der Zurückhaltung, des guten Geschmacks und der herausragenden Menschenkenntnis, unser geliebter Herr und Meister Raleigh Hale!" Mimi blickte von ihrem Buch hoch. Jamie und Brenna schirmten die Augen ab und betrachteten ihn. Sie konnten ihn kaum verstehen, waren jedoch auf seinen Gefühlsausbruch aufmerksam geworden. Er blickte zu Harley, die wieder reglos mit geschlossenen Augen dalag. "Bist du fertig?" fragte Phil. "Nein! Begreifst du das nicht? Hier zeichnet sich ein Muster ab. Faszinierend! Ich kann doch nicht der einzige sein, der es sieht." Phil lächelte. "Bei uns im Meidical Center gibt es eine psychiatrische Abteilung, falls du jemals mit einem Fachmann darüber sprechen willst." Tucker zählte an den Fingern mit. "Liz liebt R.H., aber R.H. denkt noch immer an Anjelica und bemerkt nichts. Liz, ein Opfer des Hale's-Point-Syndroms, hält es für schlechten Stil, ihm einen Wink zu geben." Er hielt den zweiten Finger hoch. Jamie Tilton ist schrecklich in das Au Pair-Mädchen Brenna verliebt." "Kenne ich diese Leute?" fragte Phil. Tucker deutete zum Strand. "Siehst du den blonden Jungen? Das ist Jamie. Und die Rothaarige ist Brenna." Phil stieß ein wildes Stöhnen aus, das Bände sprach. "Klein-Jamie, der seit der Geburt unter den Syndrom leidet, verbirgt seine Gefühle vor besagter Brenna und wird sie garantiert an einen Mann verlieren, der sich nimmt, was er will." Tucker hielt den dritten Finger hoch. "Du liebst Kitty. Kitty liebt dich. Kitty wurde mit dem Syndrom geboren. Du wurdest durch deine niedrige Geburt, für die du unendlich dankbar sein solltest, verschont. Aber jetzt zeigst du Symptome des Syndroms - Zurückhaltung und bloß keine Gefühle. Deine Frau wäre begeistert, wenn du dich ihr zu Füßen wirfst und sie um Verzeihung bittest. Das wünscht sich jeder normale Mensch. Und sie hat es auch verdient." „Ich soll mich ihr zu Füßen werfen", wiederholte Phil zweifelnd.
„Aber sicher. Lass dir eine großartige Geste einfallen. Lass tausend Luftballons mit der Aufschrift ‚Ich liebe dich, Kitty' in die Burg schicken." „Tausend Luftballons?" „Tu irgend etwas! Willst du so einfach aufgeben?" "Große Worte vom König der Besenschränke. Hattest du denn jemals eine ernsthafte Beziehung?" „Nein, aber ich kann mir vorstellen, wie es ist." Tucker beobachtete, wie Harley aufstand, die Hände über dem Kopf verschränkte und sich seitlich beugte. "Sie hat sich schnell erholt", bemerkte Phil lächelnd. "Sie ist eine gesunde, junge Frau. Sehr gesund." Es gefiel Tucker nicht, wie Phil zu Harley sah. "Was ist aus deiner gestrigen professionellen Zurückhaltung geworden? Ganz zu schweigen von deiner ewigen Liebe zu Kitty?" „Harley ist gesund", erwiderte Phil. "Sie ist nicht mehr meine Patientin. Also darf ich mich für sie interessieren. Es stimmt, dass ich Kitty ewig lieben werde, aber ich bin auch einsam. Seit sechs Monaten. Kitty will mich nicht mehr haben. Ich wünsche mir ... ich wünsche mir nachts einen warmen Körper neben mir im Bett." "Du solltest es besser wissen. Du bist Arzt, Phil. Du solltest wissen, dass man die Ursache eines Problems behandelt und nicht bloß ein Pflaster draufklebt.“ „Für mein Problem gibt es trotz deines optimistischen Ratschlags keine Heilung. Ich kann nur die Symptome behandeln." Er deutete zu Harley. "Und ich habe sie mir als Pflaster ausgesucht." Tucker sah zu, wie Harley ein Bein nach dem anderen hinter sich streckte, während sie sich an der Sessellehne festhielt. "Such dir eine andere aus." "Sie passt also nur auf das Haus auf?" sagte Phil. "Du sollst dir eine andere aussuchen." Phil überlegte eine Weile. "Erinnerst du dich noch, wie wir früher über Konkurrenz gestritten haben? Du hast behauptet, Konkurrenz wäre gut. Ich meinte, sie würde nur zu Zank und Streit führen. Es wird dich freuen zu erfahren, dass ich jetzt so denke wie du. Und um das zu beweisen, werde ich mich um Harley bemühen. Möge der Bessere siegen." "Wie kommt es, dass du nach sechs Monaten auf einmal sie willst?" "Wie kommst es, dass auf einmal du sie willst? entgegnete Phil. "Gestern hat sie nur auf das Haus aufgepasst. Jetzt meldest du plötzlich Ansprüche auf sie an." "Du kennst sie doch gar nicht." "Und du? Wann hast du sie kennen gelernt? Vor zwei oder drei Tagen? Und wieso denkst du, dass sie etwas mit dir zu tun haben will? Weißt du, ich mache dich nur ungern darauf aufmerksam. Aber da ist dieses nette, reizende Mädchen, und dann bist da du. Er ließ seinen Blick über Tucker gleiten und zuckte die Schultern. "Ich bin kein Serienkiller", widersprach Tucker.
"Du bist aber auch kein Arzt oder Anwalt, worauf sie vermutlich aus ist." Phil lächelte unternehmungslustig. "Ich tippe auf Arzt. Im Ernst, was weiß sie über dich? Kennt sie deine Vergangenheit? Weiß sie über ... Miami Bescheid?" Tucker seufzte gereizt. "Drohst du damit, es ihr zu erzählen?" "In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt. Es wäre für mich sehr günstig. Sie wirkt sehr gerade heraus. Eine Vorstrafe schreckt ein solches Mädchen ab." Tucker hielt den Stock so fest, dass die Knöchel an der Hand weiß hervortraten. „Ich kann nicht glauben, dass du wirklich ..." "Hey, entspann dich." Phil stand auf und schlug Tucker freundschaftlich auf den Arm. "Das mache ich nicht. Was nicht heißt, dass ich nicht mit schmutzigen Tricks kämpfen würde. Ich wende nur keine dermaßen schmutzigen Tricks an." "Phil?" rief eine Frau am Strand, und die beiden Männer drehten sich um. Mimi kam in einem weißen Strandkleid zur Treppe. "Phil Zelin?" "Ach, das ist Mimi Tilton." Phil winkte. „Ihr kennt euch?" fragte Tucker, als Mimi die in den Fels gehauenen Stufen hochstieg. Phil sah ihr lächelnd entgegen. "Sie ist zusammen mit Kitty in der Historical Society. Eine nette Frau. Schrecklich jung für eine Witwe, aber es scheint ihr gut zu tun. Als ihr Mann noch lebte, wirkte sie immer müde. Im letzten Jahr ist sie richtig aufgeblüht.“ Mimi kam zu ihnen. Phil stellte ihr Tucker vor, und sie streckte ihm die Hand entgegen und sagte: "Sie sind also das schwarze Schaf, von dem ich so viel gehört habe. Sie müssen mir erzählen, welche Version Ihres Todes der Wahrheit am nächsten kommt." Tucker lachte und mochte ihre Ehrlichkeit und ihren Witz. Sie erinnerte ihn an Liz, allerdings nicht im Aussehen. Sie war schlank, hatte schwarzes Haar und war nicht älter als fünfundzwanzig. Sie besaß jedoch die gleiche Haltung wie Liz. „Ach, hier sind Sie", sagte Mimi zu der näher kommenden Harley. "Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht. Jamie sagte, sie wären gestern nicht gelaufen. Das haben sie zum ersten Mal ausfallen lassen." Harley erklärte, was geschehen war. Mimi schüttelte mitfühlend den Kopf und versprach, später einen Auflauf herüberzubringen. Tucker hatte dieses Angebot in Hale's Point bisher noch nie gehört. „Also, Tucker, ist es nicht ein Jammer, dass R.H. nicht hier ist, wenn Sie heimkommen? Was haben Sie jetzt vor? Bleiben Sie den Sommer über, oder müssen Sie wieder weg?" Phil antwortete für ihn. "Er muss sich um seine Firma kümmern, Mimi. Er kann sich nicht den ganzen Sommer frei nehmen. " "Meine beste Pilotin führt die Firma schon seit einem Jahr", verbesserte Tucker ihn. "Und sie hat das sehr gut gemacht. Sie möchte sogar, dass ich ihr die Fluglinie verkaufe. Und ich habe ernsthaft daran gedacht." "Sie?" wiederholte Phil. "Molly Little. Die beste Pilotin, mit der ich jemals gearbeitet habe."
"Dann bleiben Sie hier", meinte Mimi. "Harley wird das bestimmt nicht stören.“ Harley blickte zu Boden und sah Tucker dann in die Augen. Er erwartete, dass sie wieder wegsehen würde, doch sie hielt seinem Blick stand. "Geschäft oder nicht", meinte Phil, "das ist jedenfalls nicht Tuckers Stil, Mimi. Er ist ein unruhiger Geist. Wetten, dass er morgen bei Sonnenaufgang verschwindet?" Harley sah Tucker noch immer an. Phil und Mimi fiel wahrscheinlich nichts auf, aber Tucker freute sich. Ihre Zurückhaltung war verschwunden. "Stimmt es, Tucker?" fragte Phil. "Tucker!" Tucker blickte von Phil, der breit grinste, zu Mimi, die wissend lächelte. "Ich ... also, ich habe daran gedacht hier zu bleiben, bis R.H. zurückkommt. Das heißt, natürlich nur, wenn es Harley nichts ..." Harley lächelte strahlend. "Natürlich macht es mir nichts aus." Tucker holte tief Atem. "Großartig. Danke. Ich werde mich bemühen, dir nicht im Weg zu sein. Ich bezahle die Hälfte der Lebensmittel, und wir teilen uns die Hausarbeit." Phil lachte laut auf. "Du und Hausarbeit? Tut mir leid, aber ich kann mir Mr. Abenteurerpilot nicht mit einer rüschenverzierten Schürze vorstellen, wie er den Fußboden fegt." „Ich lebe seit zwanzig Jahren allein", erwiderte Tucker. "Glaube mir, ich kann einen Fußboden fegen. Meine Schürze ist allerdings aus Leder und hat Taschen für Werkzug. " "Können Sie auch kochen?" fragte Mimi. "Nur Bärenfleisch." „Ich übernehme gern das Kochen", warf Harley ein. "Nein, ich koche", widersprach Tucker. "Das ist wirklich kein Problem." "Es macht mir sicher nichts aus", beharrte sie. "Mir auch nicht. Es wäre mir sogar lieber, wenn du es mir überlässt." Die Unterhaltung wurde durch aufgeregte Stimmen vom Strand unterbrochen. Lily kauerte am Wasser und tauchte Mimis Buch in die Wellen. Jamie lachte, und Brenna rang die Hände. „Tut mir leid!" rief Brenna. Mimi stöhnte, lächelte jedoch. „Ich kümmere mich lieber selbst darum. Seit ich ein Au-pair-Mädchen als Hilfe habe, hatte ich keine ruhige Minute mehr." Sie winkte zum Abschied und stieg die Stufen hinunter. „Ich gehe auch hinunter", sagte Phil. „Ich möchte gern am Strand spazieren gehen, aber nicht allein. Harley, begleiten Sie mich?" "Sollte ich das denn nach dem Hitzschlag machen?" fragte sie. "Wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen, sollten Sie es machen", erwiderte Phil. "sie werden schon fühlen, wenn es zuviel wird. Außerdem bin ich da, wenn Ihnen übel wird." "Einverstanden", meinte sie achselzuckend.
Phil warf Tucker einen triumphierenden Blick zu. "Schade, dass Tucker uns nicht begleiten kann, aber so anstrengende Tätigkeiten kommen für ihn nicht in Frage." "Du spielst wirklich nicht fair", sagte er grollend, als Harley zum Strand ging. Phil lächelte verschmitzt. „Ich habe dich gewarnt." Damit folgte er ihr an den Strand. Tucker steckte sich eine Zigarette an und sah den beiden nach. Phil half Harley, worüber er sich schrecklich ärgerte. Er stieß den Rauch aus. Dieser offene Ausdruck in Harleys Gesicht hatte nur kurz angehalten und war schnell verschwunden wie Tauwetter im Januar. Es lockte einen mit seiner Wärme, und dann kehrte die Kälte wieder. Den restlichen Winter überstand man nur, weil es irgendwann wieder Frühling wurde.
6. KAPITEL „Tucker Hale tanzte schon immer aus der Reihe", erklärte Liz. Harley nahm den Hörer an das andere Ohr und achtete auf Geräusche vor der geschlossenen Tür des Arbeitszimmers. Sie hörte jedoch nur den leichten Regen gegen die Fenster klopfen. Tucker war vermutlich in der Küche und machte einen Salat zu der Lasagne, die Mimi herübergebracht hatte. "Er selbst glaubt und erzählt auch, dass er mit sechzehn rebelliert hat", fuhr Liz fort. „Aber das fing schon mit elf an. Damals fand er heraus, dass seine Mutter Selbstmord begangen hatte. Seither war er wie umgewandelt.“ Sekundenlang saß Harley wie erstarrt da. Sie war von dem Hitzschlag noch leicht benommen, aber sie hatte sich bestimmt nicht verhört. Liz riss sie aus ihrer Versunkenheit. "Harley?" "Seine Mutter beging Selbstmord?" „Ja, natürlich. Ich dachte, das wüssten Sie." "Nein. Ich wusste nur, dass sie starb, als er fünf war." "Es war Selbstmord", erklärte Liz. "Natürlich hat er nicht die Wahrheit erfahren. Dafür war er zu jung. R.H. behauptete, sie hätte einen Blinddarmdurchbruch gehabt. Trotzdem hat es ihn tief getroffen. Er war ziemlich lange sehr in sich zurückgezogen. Als er älter wurde, bat ich R.H., ihm die Wahrheit zu sagen, bevor er sie selbst herausfand. Leider hat er meinen Rat nicht angenommen." "Wie hat Tucker es herausgefunden?" "Mit elf fand er ihren Totenschein. Als Todesursache wurde Erhängen genannt." "Um Himmels willen", flüsterte Harley.
"So etwas kommt vor, meine Liebe", meinte Liz. "Manche Menschen begehen Selbstmord. Das ist eine traurige Tatsache." "Ich weiß", versicherte Harley hastig, schloss die Augen und sah die schöne Anjelica mit den dunklen Augen auf dem Foto auf Tuckers Schreibtisch vor sich. "Warum hat sie ... ? Warum wollte sie ... ?" "Soviel ich weiß, war ihre Ehe unglücklich", erwiderte Liz bedächtig. Ein anderes Gesicht verdrängte Anjelica. Auch jung und mit traurigen Augen, aber blond - Jennifer Sayers, ihre eigene Mutter. Sie rieb sich die Augen, um das Bild zu vertreiben. „Als Tucker es herausfand", fuhr Liz fort, "verlor er völlig den Verstand. Kinder in diesem Alter sind stets unvernünftig, besonders Jungen. Er kam zu dem Schluss, dass R.H. sie zum Selbstmord getrieben hat. Und er war wütend, weil er jahrelang wegen der Todesursache belogen worden war." Sie seufzte. "Von da an vertraute er seinem Vater nicht mehr und ging eigene Wege." "Und dann lief er vor zwanzig Jahren von daheim weg.“ "Vor einundzwanzig Jahren", verbesserte Liz sie. "Vor einundzwanzig Jahren. Und jetzt taucht er plötzlich wieder auf. Und damit sind wir beim Grund meines Anrufs. Wäre R.H. damit einverstanden, dass Tucker den Sommer über hier bleibt? Ich habe ihn eingeladen, zu bleiben und ich möchte diese Einladung nicht widerrufen, aber es ist R.H.’s Haus." "Wissen Sie, meine Liebe, in persönlichen Dingen hat R.H. nicht immer eine gute Urteilsfähigkeit bewiesen." Harley bewunderte Ljz' diplomatisches Verhalten, verstand aber zu ihrem Bedauern, was gemeint war. R.H. wäre nicht damit einverstanden gewesen, dass Tucker blieb. "Darum schlage ich vor", fuhr Liz fort, „dass Sie lieber mich fragen, ob ich einverstanden bin." "Nun gut, sind Sie einverstanden?" „Aber natürlich, meine Liebe. Ich bin begeistert, wenn er bleibt! Tuckers Glück bedeutet mir mehr als mein eigenes. Er ist für mich der Sohn, den ich nie hatte." "Oh, das ist gut." Im Hintergrund war ein elektronisches Piepsen zu hören. "Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen", sagte Liz. "Meine Mikrowelle hat offenbar die Moleküle meines tiefgefrorenen Kalbfleisches in Marsala zur Genüge durcheinander gewirbelt. Auf Wiederhören." Harley legte auf, stand auf und trat zu einem Modell der "Anjelica". Mit dem Zeigefinger strich sie über den Rumpf. Als sich die Tür öffnete, zuckte sie zusammen. "Habe ich dich erschreckt?" fragte Tucker. „Tut mir leid. Die Lasagne ist in zwanzig Minuten fertig." Er setzte sich auf die Seitenlehne der Couch und betrachtete das Modell. "Mein Vater und ich haben es gemeinsam gemacht. Ich war sieben oder acht. Es hat Monate gedauert." "Es ist sehr schön."
"Das Original auch. Die ‚Anjelica' ist ein sagenhaftes Schiff. Ein zwölf Meter langer Schoner, Sonderanfertigung. Das schönste Boot, das ich je gesehen habe." "Dein Vater hat mir erzählt, dass er mit der ‚Anjelica' in der Karibik segelt. Er und ein Freund, einer seiner Partner aus der Anwaltskanzlei, der sich zur Ruhe gesetzt hat." "Es ist schwierig für zwei Männer, sie allein zu segeln. Allerdings freut es mich, dass er noch immer mit ihr fährt. Ich habe mich schon gefragt, ob sie noch existiert. Immerhin ist sie ungefähr dreißig Jahre alt. Aber er sie stets gut instand gehalten." Er streckte die Hand aus und berührte ein Segel. „Ich verstehe nicht viel davon, aber wohnen die Männer beiden tatsächlich auf der Yacht?" "Natürlich. " "Und haben sie es auch bequem?" Er lachte leise. "Die Kabinen sind besser ausgestattet als die Wohnungen der meisten Menschen." "Hat er sie für deine Mutter bauen lassen? Ich meine, er hat sie ‚Anjelica' genannt. Sein Blick wurde starr. "Er hat sie bauen lassen, nachdem sie ... nachdem sie gestorben war." "Erst danach?" Er betrachtete das Modell. "Nach ihrem Tod war er von ihr wie besessen - als es zu spät war. Hätte er ihr zu Lebzeiten so viel Aufmerksamkeit gewidmet, hätte sie wahrscheinlich nicht ... " Er biss die Zähne zusammen. „Aber das liegt wohl in der Natur der Ehe, oder?" Sie streifte die Sandalen ab, setzte sich auf die Couch, stützte sich gegen die andere Seitenlehne und streckte die Beine aus. "Wie meinst du das?" "Ich meine, es ist eine perverse Institution, findest du nicht? Zwei Menschen sind rasend ineinander verliebt. Dann heiraten sie. Und neun von zehn Ehen scheitern. Meine Eltern waren typisch. Alles, was er an ihr so liebte und was sie von anderen unterschied, kam ihm plötzlich wie Fehler vor, die behoben werden mussten. Er versuchte, das fröhliche, impulsive, künstlerisch veranlagte griechische Mädchen in eine verschlossene Matrone von Hale's Point zu verwandeln." "Mimi ist nicht verschlossen." "Sie ist eine Ausnahme", behauptete, er. "Glaubst du wirklich, dass neun von zehn Ehen so verlaufen? Tucker streifte die Mokassins ab und setzte sich Harley gegenüber. Er streckte sein gesundes Bein neben den ihren aus und hob sein verwundetes Bein auf die Couch. Die Haare an seinem rechten Bein kitzelten ihr linkes Bein leicht vom Schenkel bis zum Knöchel. "Genug Ehen sind so, dass man sich fragt, warum vernünftige Menschen so etwas machen. Die Tatsachen sprechen deutlich dagegen. Ehe ist für Menschen, die nicht klar denken können." "Und du bist natürlich ein klar denkender, vernünftiger Mensch."
"Absolut." "Viel zu vernünftig, um wegen der schlechten Ehe deiner Eltern gegen die Ehe an sich zu sein." Er zuckte nur die Schultern. "Wir sind die Summe unserer Erfahrungen. Unser Charakter wird in Feuern geschmiedet, die wir nicht entfacht haben, und wir können nur wenig daran ändern. Oder wie Popeye es so treffend ausgedrückt hat, Ich bin, wie ich bin, und so bin ich eben.“ Sie sah ihn verblüfft an. "Popeye.“ Er lächelte. „Ich zitiere eben nicht nur Thoreau. Ich bin vielseitig gebildet." "Sehr vielseitig. Das ist wunderbar, und das hast du deinem Vater zu verdanken. Er war nicht so schlecht." "Er wollte mich nur dazu bringen, ihn zu mögen. Es hat allerdings auf ihn zurückgeschlagen. Wir könnten nicht unterschiedlicher sein." „Abgesehen von Schiffen, Flugzeugen und Autos." Er nickte widerstrebend. "Besonders Schiffe." Seufzend betrachtete er das Modell der ‚Anjelica'. "Ich möchte nicht in der Haut meines Vaters stecken. Ich könnte nicht so leben wie er. Aber im Moment würde ich sofort mit ihm tauschen. Von einem Hafen zum nächsten segeln, gelegentlich den Anker werfen, um zu angeln, zu schwimmen oder zu essen, und dann weiterfahren. Es gibt nichts Schöneres als eine lange Segeltour, gleichzeitig entspannend und aufregend. Ich würde alles dafür geben, den Sommer so zu verbringen." Er sah sie an. "Segelst du gern?" "Ich war noch nie auf einem Segelboot", erwiderte sie lachend. "Nie?" fragte er überrascht. "Kein einziges Mal? Du musst doch jemanden gekannt haben, dem ein Boot gehört." „In einer Wohnwagensiedlung ist nicht viel Raum für Zwölf-Meter-Schoner, Tucker." "Ich mache Fortschritte", stellte er fest. "Ich habe soeben herausgefunden, dass du in einer Wohnwagensiedlung gelebt hast." Harley betrachtete die Regentropfen am Fenster und entschied, über Dinge zu reden, über die sie noch nie gesprochen hatte. "Es war ... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es war ziemlich mies. Eigentlich eine Barackensiedlung. Nichts weiter als zwanzig oder dreißig verrostete, alte Wohnwagen auf einem Platz außerhalb von Dayton." Allein bei dem Gedanken daran schnürte sich ihr die Kehle zu. Vielleicht hörte Tucker es in ihrer Stimme: Sie sah ihn an. Er betrachtete sie neugierig und fragte sich zweifellos, wieso sie sich ihm auf einmal offenbarte. Er zeigte allerdings auch Mitgefühl. "Dieser Platz bestand nur aus Unkraut und Lehm", fuhr sie fort. "Gleich nebenan gab es einen Berg alter Reifen. Dort haben die Kinder aus der Siedlung gespielt." "Hast du Geschwister?" Sie schüttelte den Kopf. "Mutter und ich waren allein. Mein Vater war schon lange verschwunden."
"Waren sie geschieden?" "Ich glaube, sie waren nicht einmal verheiratet, wenigstens nicht legal. Meiner Mutter erzählte ein Mann namens Swami Bob hätte irgendwo in der Wüste eine Zeremonie abgehalten. Sie trug einen weißen Sari, mein Vater eine abgeschnittene Jeans und ein Harley-Davidson-T-Shirt. Angeblich schworen sie sich ewige Liebe. Dann kauten sie Meskalin und johlten und sangen die ganze Nacht. Ich weiß nur nicht, ob das wirklich so war, oder ob sie es sich nur ausgedacht hat." "Was machte deine Mutter?" fragte Tucker. "Hat sie gearbeitet?" "Sie hat getrunken." Er wartete, dass sie weitersprach. Endlich meinte er. "Sie muss doch noch irgend etwas getan haben." "Du hast recht. Sie hat Tabletten geschluckt." Er legte die Hand um ihre Wade und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid", sagte er leise. "Wenn sie nüchtern war, dann war sie ganz reizend. Sie wollte unbedingt eine gute Mutter sein, und manchmal hat sie sich sehr angestrengt. Aber sie war jung und völlig ziellos. Ich habe sie nicht weniger geliebt, weil sie versagte. Vielleicht habe ich sie sogar noch mehr geliebt." Tucker nickte ihr aufmunternd zu. "Aber wenn sie nicht nüchtern war - und das war sie meistens - war sie hoffnungslos. Ich hatte eine winzige Ecke des Wohnwagens ganz allein für mich. Und ich habe sie spitzenmäßig sauber gehalten. Ich habe versucht, auch alles andere ordentlich zu halten, aber es war, als würde man mit einem… einem Kind ohne Ordnungssinn und ohne Verantwortungsbewusstsein zusammenleben. Wenn ich am Morgen aufräumte und mittags aus der Schule heimkam, watete ich durch umgekippte Aschenbecher, schmutziges Geschirr, Tüten voll Bierdosen und Kleidungsstücke. Das alles hat sich bis halb zur Decke gestapelt. Und Mom lag dann stets bäuchlings auf dem Bett und hat geschlafen." "Wusste dein Vater, wie ihr lebt?" "Er war mit seinem Motorrad unterwegs und hatte keine Ahnung. Ich wusste nicht einmal, wie er aussah, bis ... bis ich neun war." "Er kam zurück?" "Er musste." Sie holte tief Atem. "Eines Tages kam ich von der Schule heim. Es war Anfang Mai, und ich war glücklich, weil es zum ersten Mal in diesem Jahr richtig warm war. Sobald ich den Wohnwagen betrat, fiel mir dieser ... dieser Geruch auf. Ich wollte Mom wecken und sie fragen, wonach es hier riecht. Ich drehte sie um und …“ Die Stimme versagte ihr. Tränen stiegen ihr in die Augen. Tucker betrachtete sie mit weit aufgerissenen Augen. Er war blass. Harley schluckte schwer. "Ihr Gesicht ... " Sie musste noch einmal schlucken. Manches konnte sie ganz einfach nicht noch einmal durchleben. "Der Leichenbeschauer meinte, sie wäre schon vier oder fünf Stunden tot gewesen."
Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und zog die Knie an. Tucker setzte sich auf, und dann war er bei ihr und nahm sie in die Arme. „Ist schon gut." Er trocknete die Tränen mit dem Saum seines TShirts. Sie schmiegte sich an ihn und ließ sich von ihm streicheln, bis sie entspannt zurücksank. "Sie hat es absichtlich gemacht“, sagte Harley leise. "Barbiturate und Alkohol. Es gab keinen Abschiedsbrief, aber alle ihre Tablettenbehälter waren leer und lagen auf dem Fußboden um sie herum verstreut. Und sie selbst lag auf einer halbvollen Flasche Whisky." Sie legte den Kopf an Tuckers Brust. „Ich wurde bei einer Pflegefamilie untergebracht. Zwei Monate später tauchte mein Vater auf. Der Himmel weiß, wie sie ihn gefunden haben. Er hat mich hinten auf seine Harley gesetzt und ist mit mir losgezogen. Zehn Monate war ich mit ihm unterwegs." Tucker streichelte gedankenverloren ihren Nacken. "Du bist nicht zur Schule gegangen?" "Nein, und das war das Schlimmste. Ich liebte die Schule. Mein Vater war für mich ein Fremder, und vor seinen Freunden hatte ich Angst. Die Menschen in den Städten, in die wir kamen, haben mich betrachtet, schmutzig und abgerissen, wie ich war. Und ich konnte das Mitleid und den Widerwillen in ihren Augen sehen. Ich dachte, es könnte gar nicht mehr schlimmer werden. Dann habe ich herausgefunden, wie er uns ernährte. " Sie musste erneut ihre ganze Kraft sammeln, ehe sie weitersprach. "Er handelte mit Haschisch und Tabletten, die er in den Satteltaschen der Harley mitführte. Er war nicht nur ein Verbrecher, sondern er handelte auch mit dem Zeug, an dem meine Mutter gestorben war. Ich war entsetzt. Letztlich war ich nichts weiter als ein normales Kind, das sich ein normales Leben wünschte. Wenn ich andere Kinder mit normalen Familien sah, die in Häusern lebten, packten mich der Neid. Auch Verzweiflung, weil ich wusste, dass ich ein solches Leben nie haben würde. Das heißt, frühestens als Erwachsene, wenn ich es mir selbst schaffen konnte. „Alles kommt irgendwann in Ordnung", sagte er leise und drückte einen Kuss auf ihr Haar. "Irgendwann wurde mein Vater geschnappt. Das war in Fort Worth in Texas. Er kam ins Gefängnis, und ich wanderte von, einer Pflegefamilie zur anderen. Ich werde dich nicht mit Details langweilen. Es war keine angenehme Jugend." "Und wie hast du die Kurve gekriegt? Wie bist du letztlich an der Columbia University gelandet?" "Pure Willenskraft, ungefähr hundert Jobs und ein Stipendium. Aber ich habe es geschafft." "Gut für dich. Du solltest sehr stolz auf dich sein. Was wurde aus deinem Vater?" "Zwei Wochen nach der Entlassung aus dem Gefängnis wurde er vor einer Bar in Oakland in Kalifornien erstochen. R. H. wirkt im Vergleich dazu nicht einmal halb so schlimm, oder?"
Tucker seufzte. "Ich fürchte, er wirkt trotzdem noch immer sehr schlimm." Sein Blick fiel auf das Modell der Yacht. "Dein Vater hat sich selbst zerstört. Mein Vater hat meine Mutter zerstört. Sie hat sich auch selbst umgebracht. Wusstest du das?" Harley nickte an seiner Brust. „Liz hat es mir jetzt erzählt. Ich habe sie angerufen, um sicherzugehen, dass du hier bleiben kannst." "Genau das wollte ich dir vorschlagen, damit du beruhigt bist. Hat sie dir auch erzählt, warum meine Mutter Selbstmord begangen hat?" "Sie sagte, die Ehe wäre unglücklich gewesen." Er winkte geringschätzig ab. „Liz Wycliff, die Hohepriesterin der Untertreibung. Für R.H. war es eine unglückliche Ehe. Für meine Mutter war es ein Alptraum. Laura Tilton, die zweite Mrs. Tilton, war eine enge Freundin meiner Mutter und ihre Vertraute. Ich habe sie nach dem Grund für den Freitod meiner Mutter gefragt. Sie sagte, die Wurzeln reichten in die Zeit zurück, bevor meine Ehern sich überhaupt kennen lernten. Meine Mutter war mit einem Cousin namens Anatole verlobt. Die Familie hatte diese Ehe arrangiert, um Firmen zusammenzubringen." "Was für ein seelenloser Grund für eine Heirat. Deine Mutter muss sich davor gefürchtet haben." „Im Gegenteil. Die beiden waren sehr ineinander verliebt. Sie waren gemeinsam aufgewachsen, und sie waren Zwillingsseelen. Sie war Malerin, er war Bildhauer. Die beiden wollten die Führung der Familienfirmen anderen Leuten überlassen und sich ganz ihrer Kunst widmen." Harley kaute an ihrer Unterlippe. "Zwillingsseelen ... das begreife ich nicht.“ "Du meinst, warum sie R.H. heiratete? Er hat sie einfach überfahren. Er besaß eine sehr bestimmende Persönlichkeit, und sie war dafür empfänglich. Sie war leidenschaftlich. Viele kreative Menschen sind so - emotional, impulsiv. Allerdings sagte ich schon, dass es die einzige impulsive Tat seines Lebens war." "Dann war sie also plötzlich in zwei Männer verliebt und musste sich entscheiden. Sie hat sich für R. H. entschieden." "Das war ein Fehler", erwiderte Tucker grimmig. "Kaum zog sie hier ein, durfte sie nicht mehr malen. Er schnitt sie von der New Yorker Kunstszene ab, damit sie nicht durch eine Karriere von Haus und Herd abgelenkt wurde. Und er versuchte, aus ihr eine angepasste Hale's-Point- Ehefrau zu machen. Er schrieb ihr vor, was sie anziehen und in Restaurants bestellen sollte. Er kontrollierte, was sie las, wohin sie ging und mit wem sie sich traf. Laura Tilton war die einzige, mit der sie beide einverstanden waren. Meine Mutter hatte sonst niemanden. Ihr Vater enterbte sie, als sie R.H. heiratete, und danach hatte sie nie wieder Kontakt mit ihrer Familie." "Dann wurdest du geboren." "Nach fünf Jahren Ehe. Ich wünschte, sie hätte durch mich Trost gefunden, aber in Wahrheit wurde es nur schlimmer. Bald nach meiner Geburt erhielt sie Briefe von Anatole. Heimlich. Er schrieb einen falschen Absender auf die
Umschläge. Er hatte nicht aufgehört, sie zu lieben. Und er bat sie, R.H. zu verlassen und ihn zu heiraten. Sie antwortete nicht, schloss sich aber jedes Mal in ihrem Zimmer ein und weinte, wenn ein Brief kam. Laura Tilton erzählte sie, dass sie jetzt ein Baby hatte und sich bemühen musste, dass ihre Ehe funktionierte. Sie wollte es durchstehen. Das Hale's-Point-Syndrom ist ansteckend. Natürlich war es das Schlimmste, was sie machen konnte." "Du meinst, sie hätte fliehen sollen?" "Selbstverständlich. Anatole schrieb ihr fünf Jahre lang, ohne dass sie antwortete. Von Freunden in Europa hörte sie, dass er begonnen hatte, zu viel zu trinken, und selbstzerstörerisch lebte. Eines Tages erhielt sie einen Anruf. Er war mit seinem Lamborghini in den Schweizer Alpen von einer Bergstraße abgekommen und getötet worden." "O nein!" "Meine Mutter stürzte in eine tiefe Depression. Eine Woche später nahm sie sich ein Zimmer in einem Motel und erhängte sich mit einem Bootstau. Sie hinterließ keinen Abschiedsbrief, aber zwei Tage später erhielt Liz Wycliff einen Brief von ihr, den sie an ihrem Todestag losgeschickt hatte. Darin bat sie Liz, sich um mich zu kümmern." "Wusste sie, was Liz für deinen Vater empfand?" "Ganz sicher. Jeder wusste das." Nach einer Pause fügte er hinzu: "Wir waren uns doch einig, dass wir eines gemeinsam haben, nämlich dass wir uns selbst antreiben, richtig? Ist dir klar, dass wir auch gemeinsam haben, dass unsere Mütter Selbstmord begingen? Nicht sehr schön." "Du hast recht", stimmte sie zu. "Das ist schrecklich. Es muss noch etwas anderes geben." Keinem von beiden fiel etwas ein. "Ist das nicht ein wenig unheimlich?" fragte er lautlos lachend. Eine Weile lag sie ruhig da. Im Raum war nur das Klopfen der Regen tropfen am Fenster zu hören. Sie hatten ganz natürlich Arme und Beine miteinander verschlungen. Er strich ständig langsam über ihr Haar, und sie schloss die Augen und dachte, dass sie so einschlafen könnte. Erstaunlich, dass sie sich dermaßen in den Armen eines Mannes entspannen konnte, der praktisch ein Fremder war. Doch das kam daher, dass er entspannt war. In der Küche summte die Schaltuhr am Herd. Tucker stöhnte. Harley wollte sich von ihm lösen, aber er ließ sie nicht los. "Lass es klingeln", sagte er. "Ich kann das nicht ausstehen." Er schlang. die Arme um sie und zog sich auf sich. "Ich kann damit leben." Damit gab er ihr einen kurzen, aber heftigen Kuss. Sie blickte auf ihn hinunter. "Die Lasagne wird anbrennen." "Dann kannst du statt dessen etwas von deinem grauen Zeug machen." "Du bist bereit, graues Zeug zu essen, nur um hier mit mir bleiben zu können?"
"Ja!" Er schob die Hände zu ihren Hüften hinunter und drückte sie an sich. Als sie seine Finger unter dem Bund ihrer Shorts fühlte, zog sie sich zurück und stand auf. "Also, ich bin nicht bereit." Sie streckte ihm die Hand entgegen, die er auch ergriff. "Du hast ein hartes Herz", stellte er fest, stand auf und sah sich nach seinem Stock um. „Ich bin hungrig, und du willst mich von meinem Abendessen fernhalten. Du bist derjenige mit einem harten Herzen." Er folgte ihr in die Küche, und sie hörte ihn flüstern: "Richtiger Ausdruck, falsches Organ." "Was?" "Nichts.“
7. KAPITEL "Doch, ich mache es!" Harley schrubbte noch einmal über Mimis Backform, spülte sie ab und reichte sie Tucker. "Nein, du machst es nicht!" Er trocknete die Backform zornig ab und stellte sie hart auf die Theke neben der Spüle. Sie tastete mit der Hand, die sie durch einen Gummihandschuh geschützt hatte, im Spülwasser herum, aber sie hatten alles gespült. Sie zog den Stöpsel heraus und wirbelte zu Tucker herum. "Nur weil wir im selben Haus wohnen, hast du nicht das Recht, über mein Leben zu bestimmen wie ein großspuriger, aufgeblasener …“ Sie suchte nach einem passenden Wort. "Patriarchalischer", warf er ein.
"Patriarchalischer, eingebildeter, aufgeblasener…“
Er lehnte sich lächelnd gegen die Theke. "Du wiederholst dich."
"Du weißt schon, was ich meine."
"Himmel, bist du schön. Du glühst förmlich vor Zorn."
Mit Charme wollte sie sich nicht beschwichtigen lassen. "Phil sagte, ich könnte
es machen, wenn mir danach ist." "Er hat von einem Spaziergang am Strand gesprochen, nicht von Schwimmen." "Er hat jede Art von körperlicher Betätigung gemeint. Ich brauche Training, und ich schwimme abends nun einmal gern. Der Regen hat aufgehört, und ich werde jetzt schwimmen. Tucker rieb sich den Nacken. ich weiß, dass du dich an den gestrigen Tag nicht besonders gut erinnerst, aber du warst sehr krank. Ich halte es nicht für gut, wenn du in der nächsten Zeit schwimmst."
"Ein Internist hat mir heute Nachmittag einen langen Strandspaziergang erlaubt." Tucker verdrehte die Augen. "Dieser Internist hatte zufällig dafür seine ganz persönlichen Motive." "Ach, bitte! Zuerst war es Jamie und jetzt ist es Phil. Du glaubst wirklich, jeder Mann, der mich kennt, hat es auf mich abgesehen, nur weil ... weil ... " Er lehnte den Stock an die Theke und kam näher. "Weil ich es auf dich abgesehen habe? Ich weiß, was du denkst. Du denkst, ich lechze nach dir wie ein hungriger Wolf und würde alles tun, um dich ins Bett zu bekommen." Sie wich einen Schritt zurück und fühlte die Spüle hinter sich, "Nein, das denke ich nicht." Er kam noch näher. "Es stimmt aber." Er legte die Hände an ihre Wangen und gab ihr einen tiefen und leidenschaftlichen Kuss. Als er sie losließ, rang sie nach Luft. "Alles würde ich tun", flüsterte er. "Sag mir, wie ich dich erobern kann." "Du bist verrückt! Kein Mann sagt so etwas. Männer gehen viel feiner vor. Sie..." "Sie schenken dir Blumen und führen dich zum Essen aus und geben für dich eine Menge Geld aus und bringen dich nach Hause und schalten das Licht aus und stellen Musik an und inszenieren eine absolut lächerliche Verführung und tun ständig so, als wären sie rasend in dich verliebt, und einen Monat später gehörst du schon der Vergangenheit an. Richtig?" "Du neigst wohl mehr dazu, eine Frau an ihrem Haar in die nächste Höhle zu schleppen. Richtig?" Er stützte die Hände in die Hüften. "Das ist wenigstens ehrlich." "Trotzdem gehört bei dir auch eine Frau letztlich der Vergangenheit an, wahrscheinlich aber nicht erst einen Monat später, sondern schon am nächsten Morgen, weil du ja ständig fliehst. Habe ich recht?" "So ungefähr", antwortete er nach einer kurzen Pause. Sie verschränkte die Arme. „Ich weiß, warum du dich so um mich bemühst, und das hat gar nichts mit mir zu tun. Ich bin die einzige Frau hier, und du bist ... Nun, du warst ein Jahr lang aus dem Verkehr gezogen, wie du es genannt hast, und du bist …“ "Scharf. " Er beugte sich zu ihr, legte ihr die Hand unter das Kinn und hob ihren Kopf an, küsste sie jedoch nicht. Statt dessen betrachtete er sie nur. "Du irrst dich." Jetzt schlug er keinen scherzhaften Ton mehr an. "Ich will nicht einfach irgendeine Frau. Ich will dich. Mimi und Brenna sind attraktive Frauen, aber auf mich wirken sie nicht. Du schon." Er zog die Hand zurück, doch sie konnte sich nicht bewegen. "Ehrlich gesagt, das überrascht mich selbst. Du bist vierzehn Jahre jünger als ich, du machst ein Wirtschaftsstudium, und du bügelst sogar deine Jeans. Sollte mich nicht wundern, wenn du Mitglied bei den Republikanern bist." "Das bin ich." "Wirklich?" fragte er verblüfft. "Hast du nicht gesagt, es würde dich nicht überraschen?"
"Ich habe gelogen." Harley lächelte. "Hast du nicht gesagt, du würdest nie lügen?" "Du bist wirklich Republikanerin?" "Ja, ich bin ein Mitglied der Republikanischen Partei. Ich gehöre nicht der amerikanischen Nazipartei und nicht dem Ku Klux Klan an, sondern der Partei des Abraham Lincoln. Was ist daran falsch?" "Ich war nur noch nie auf eine Republikanerin scharf, zumindest nicht wissentlich." "Nun, für alles gibt es ein erstes Mal. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ziehe ich mich zum Schwimmen um." "Harley ... ach, verdammt! Schon gut, schon gut, meinetwegen kannst du schwimmen. " "Vielen Dank für die Erlaubnis, Boss. Das werde ich dir nie vergessen." "Aber nur, wenn ich dabei bin." Sie ging an ihm vorbei zur Treppe. "Willst du auch schwimmen?" "Auf keinen Fall. Ich spiele Bademeister. In Mund-zu-Mund-Beatmung bin ich spitze. Soll ich es dir vorführen?" "Auf keinen Fall", wiederholte sie seine Worte. "Schon gut. War ja nur ein Versuch." Harley stand bis zur Taille im Wasser, und ihre reine, ungekünstelte Schönheit raubte Tucker den Atem. Vom Lichtschimmer des beleuchteten Pools umflossen, sah sie wie eine jungfräuliche Göttin aus, die gerade dem Meer entstieg. "Komm zu mir", forderte sie ihn auf. Ihre völlig harmlosen Worte lösten bei ihm eine spontane körperliche Reaktion aus, die ihn total überraschte. Er räusperte sich. „Haben wir dieses Thema nicht schon ausdiskutiert?" Sie kam langsam im Wasser näher. "Ich will sehen, ob du eine Bahn schwimmen kannst." "Harley, erspare uns beiden die Mühe. Ich kann keine Bahn schwimmen. Ende der Geschichte." "Woher willst du das wissen? Du hast es nicht versucht." Er drückte die Zigarette aus. "Glaube mir, ich weiß, was mein Körper leisten kann." "Du hast keine Ahnung, was dein Körper leisten kann, wenn du es nicht einmal versucht hast. Ich hätte viel mehr Respekt vor dir, wenn du es versucht und scheiterst, als wenn du gar nichts tust. Das ist, als würdest du dich kampflos ergeben." Er lachte. "Ich will dich ja nicht beleidigen, aber das ist eine armselige Inspiration. Deine Freundin Eve hatte schon die richtige Idee. Was sagte sie den Männern? ‚Wenn ihr mich einholt, könnt ihr mich haben'? Das nenne ich motivieren." "Würde es bei dir denn funktionieren?" Er sah ihr lächelnd in die Augen. "Probier es doch aus."
Sie zögerte einen Moment. "Also gut, wenn du mich einholst, kannst du mich haben." "Das meinst du nicht ernst." "Ich meine es ernst. Und ich halte immer …“ "Was du versprichst. Ja, ich weiß. Aber du hast bestimmt eine Ausrede, wenn ich dich einhole. Genau das lernt man beim Wirtschaftsstudium. Ich, kann dich haben ... das heißt ... " „Du kannst mich für die Nacht haben." "Zum Zwecke ... " „Zu jedem Zweck, den du willst, obwohl ich mir ganz gut vorstellen kann, welcher Zweck dir vorschwebt. Selbst Jungfrauen wissen das." "Ach ja, wenn du das schon erwähnst ... Willst du trotz deiner mangelnden Erfahrung einen solchen Handel mit mir abschließen?" "Wenn es dich nicht stört, macht es mir auch nichts aus." "Warum sollte es? Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte haben Männer für Jungfrauen Spitzenpreise bezahlt. Und ich bekomme eine zum Preis einer Länge im Pool.“ "Erstens, Jungfrauen stehen nicht mehr so hoch im Kurs." Tucker lächelte. "Ich bin eben altmodisch." "Zweitens, wieso denkst du, dass du mich überhaupt bekommst? Du hast selbst behauptet, dass du nicht schwimmen kannst." Er stand mit Hilfe seines Stocks auf. „Ja, aber wie du gesagt hast, kann ich das nur wissen, wenn ich es ausprobiert habe." Er warf den Stock auf die Liege, zog das T-Shirt über den Kopf und fuhr sich mit den Händen durch das Haar. "Na, wie wirkt das?" "Machen wir es wie Eve mit ihren Veteranen. Du beginnst am seichten Ende an der Wand. Ich starte am Obergang zum tiefen Teil. Wenn ich ,los' sage, schwimmen wir eine Länge. Holst du mich vor dem anderen Ende ein, gehöre ich dir." "Bist du mit Freistil einverstanden?" "Ganz wie du willst. Er kauerte sich an den Rand des Pools. "Du hast einen ziemlich großen Vorsprung vor mir." "Du kannst dich an der Wand abstoßen", erwiderte Harley. "Auf diese Weise holst du wieder auf." Tucker verzog das Gesicht, als er sich vorstellte, wie er sich mit seinem schlimmen Bein abstieß. „In Ordnung." Er streifte die Mokassins ab, setzte sich auf die Kante und ließ sich ins Wasser sinken. Es war kühl, aber nicht zu kalt. Seine weite Shorts sog sich sofort mit Wasser voll und musste ihn behindern. Er begann sie aufzuknöpfen. "Hast du etwas dagegen, wenn ich das Ding ausziehe?" "Ja!" fauchte sie ihn an. Er winkte ab und knöpfte die Hose wieder zu. „Ich wollte dich nur wütend sehen, um mich zu inspirieren." Wem machte er etwas vor? Die Zeiten, in denen
er Trophäen gewonnen hatte, waren längst vorbei. Wahrscheinlich stand ihm eine bittere Demütigung bevor. "Bereit?" Harley hatte ihren Platz eingenommen. Er seufzte und nickte. Sie drehte sich um. "Eins Er stützte sich mit dem gesunden Bein an der Wand ab. "Zwei ... " Sie hob die Arme. Kopfschüttelnd folgte er ihrem Beispiel. "Drei ... " Sie warf einen Blick zu ihm zurück. Sobald er ihr Gesicht sah, wusste er, dass er sein Bestes geben musste, ob es nun hoffnungslos war oder nicht. Er musste es versuchen. Er musste sie haben. Gegen besseres Wissen stützte er das schlimme Bein neben dem gesunden ab, um beim Abstoßen mehr Kraft einsetzen zu können. "Los!" Sie schnellte vorwärts, während Tucker sich von der Wand abstieß. Früher war er durch ein Drittel des Pools geschossen, bevor er schwimmen musste. Jetzt schaffte er es gerade ein paar Meter weit. Der Schmerz in der Brust und im Bein setzte in dem Moment ein, in dem er die Wand verließ. Tucker verbannte ihn aus seinem Bewusstsein, wie er sich das beigebracht hatte, aber es war nicht einfach. Jede Bewegung verstärkte den Schmerz. Er war in einem erbärmlichen Zustand, nicht nur wegen des Schmerzes, sondern weil wichtige Muskelgruppen in seinem linken Bein und der Brust den Dienst verweigerten. Von Anfang an wusste er, dass er Harley unmöglich einholen konnte. Als er den Kopf anhob, um Luft zu holen, erreichte sie bereits das Ziel, während noch nicht einmal den tiefen Teil erreicht hatte. Verdrossen trat er Wasser, doch das schmerzte fast so sehr wie schwimmen. Sie drehte sich zu ihm um, und er wandte sich ab und ließ sich an den Rand des Pools gleiten, hielt sich fest und bemerkte, dass er trotz der kurzen Strecke außer Atem war. Als Jugendlicher war er nie außer Atem gekommen. Damals hatte er allerdings auch nicht geraucht, abgesehen von einer gelegentlichen Zigarette, die er zusammen mit Phil seinem Dad stibitzt hatte. Konnte er sich auf den Rand hinaufstemmen, oder musste er die Stufen benützen? Er murmelte einen wilden Fluch, bevor er bemerkte, dass Harley sich ihm näherte. Sie klammerte sich neben ihm an den Rand. "Normalerweise fluchst du nicht.“ „Das ist ein absurdes Überbleibsel meiner Hale's-Point-Erziehung. Ich fluche nicht in Gegenwart von Damen." "Das ist nicht absurd, sondern ganz süß." "Süß?" Er lachte matt. "Ich bin nicht nur ein körperliches Wrack und habe kein Glück in der Liebe, sondern jetzt bin ich auch noch süß." "Du hast eine halbe Länge schafft. Das ist nicht schlecht." "Wie viel bekomme ich denn für diese halbe Länge?" "Nun ja, gar nichts." "Dann ist es doch schlecht."
Tucker stemmte sich auf den Rand heraus, fühlte etwas in seiner Gesäßtasche und zog seufzend die Brieftasche heraus. Der gesamte Inhalt war naß und musste getrocknet werden. Ironischerweise waren nur zwei kleine quadratische Packungen, die er am wenigsten brauchte, unbeschädigt. Harley warf einen Blick auf die Kondome und sah rasch weg. Er steckte alles wieder in die Brieftasche und massierte sein linkes Bein. „Tut es weh?" "Mach dir darüber keine Gedanken." „Ich wollte nicht, dass du Schmerzen hast oder dass es dich deprimiert. Ich wollte dich nur anfeuern, aber vielleicht wirke ich nicht so motivierend wie Eve Markham.“ "Ach, Schätzchen.“ Er strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. "Du bist sehr motivierend. Glaube mir, meine Anstrengungen waren heldenhaft, auch wenn die Ergebnisse es nicht waren." Sie schwang sich anmutig aus dem Wasser und setzte sich neben ihn, schwieg eine Weile und schlang die Arme um die angezogenen Knie. "Vielleicht hast du morgen mehr Glück." "Morgen? Willst du es morgen wiederholen?" "Sicher. Es soll für dich eine körperliche Therapie sein. Das erledigt man nicht mit einem Versuch. Es dauert, bis man Ergebnisse erzielt. Ich dachte, wir könnten das jetzt jeden Abend machen, wenn ich schwimme.“ Er forschte in ihren Augen. "Warum machst du das?" Sie wählte ihre Worte sorgfältig. "Ich möchte, dass du besser wirst, Ehrlich. Ich mag dich. Du warst gut zu mir. Als es mir gestern schlecht ging, hast du dich um mich gekümmert. Dafür möchte ich mich revanchieren.“ „Ja, aber machst du dir keine Sorgen, ich könnte dich einholen, und dann musst du bezahlen? Willst du wirklich für meine Rehabilitation so weit gehen?“ "Vielleicht bin ich absolut sicher, dass du mich nie einholen wirst“, meinte sie selbstzufrieden. "Du könntest dich irren.“ "Möglich, aber darüber mache ich mir keine Sorgen. Der Handel gilt. Wenn ich verliere, bezahle ich." "Betrachtest du das dann wirklich als Verlieren?" Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: "Wer weiß, vielleicht gefällt es dir." Damit drehte er sie so, dass er ihr einen leichten Kuss geben konnte. Sie wandte sich sofort wieder ab. "Wahrscheinlich nicht." "Hey, ich bin vielleicht außer Übung, aber ich weiß noch immer, wie ...“ „Ich spreche nicht von dir, sondern von mir." Sie vermied es, ihn anzusehen. „Du sollst dir keine großen Hoffnungen machen, dass es eine leidenschaftliche Nacht wird. Ich bin nicht sehr ... aufgeschlossen.“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter. "Du bist unerfahren." Sie schüttelte den Kopf. "Ich meine, ich kann wahrscheinlich nicht." Seufzend fügte sie hinzu: „Ich hatte am College einen Freund. Brian. Er hat ständig versucht, mich zu ... du weißt schon…“
„Ich kann es mir denken." „Aber ich wollte nie, und er meinte, ich wäre ... ich wäre wahrscheinlich ... ich könnte nicht ... " "Er hat behauptet, du wärst frigide? Schätzchen, dieser Ausdruck sollte aus allen Wörterbüchern gestrichen werden. So etwas gibt es gar nicht. Es gibt nur Männer, die nichts von dem verstehen, was sie machen." Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf den Hals. „Ich gehöre nicht zu diesen Typen." „Ich weiß nicht ... Brian meinte…“ "Brian ist ein Idiot." "Nein, ist er nicht." "Doch, ist er schon. Er hat dich gehen lassen, oder nicht?" Sie lächelte zufrieden. "Es soll niemand behaupten, du könntest mit Worten nicht gut umgehen." Sie stand auf und wollte ihm helfen, doch er wehrte ihre Hilfe ab. "Ich hole dir deinen Stock." Er legte einen Arm um ihre Schultern. "Ich kann doch dich nehmen, wenn du nichts dagegen hast." Nach kurzem Zögern legte sie ihren Arm um seine Taille. Die dünnen Träger ihres Badeanzugs waren auf den Schultern zu Schleifen gebunden. Im Gehen stellte er sich vor, wie er an den Enden zog und der Badeanzug sich wie die Schale einer Frucht abziehen ließ. Sobald sie die Liege erreichten, streckte Harley die Hand aus. "Gilt die Abmachung?" Er griff nach ihrer Hand, zog sie an sich, schlang die Arme um sie und eroberte ihren Mund. Mit ungezügelter Leidenschaft küsste er sie und drang mit der Zunge in ihren Mund vor. Nach kurzem Widerstreben erwiderte sie den Kuss, schlang die Arme um ihn und schmiegte sich an ihn. Ihre weichen Brüste drückten gegen seine Brust, ihre Hüften gegen seine. Sie fühlte sich besser an als jede Frau, die er jemals in den Armen gehalten hatte. Voll Verlangen streichelte er ihren Rücken, legte die Hände auf ihren Po und presste sie an sich. Ihre Brustspitzen berührten seine Brust, und sein Körper reagierte in unmissverständlicher Weise. Sobald Harley es fühlte, brach sie den Kuss ab. „Tucker…“ stieß sie hervor. Sie wollte sich zurückziehen, doch er hielt sie fest und flüsterte Ihr heiser ins Ohr: "Vergiss die Abmachung. Liebe mich. Jetzt." Er versuchte, noch einmal ihren Mund zu erobern, doch sie wandte sich ab und schob ihn weg. Er lockerte den Griff, und sekundenlang hielten sie einander atemlos umschlungen. „Auf meine Art ist es besser", hauchte sie. "Entweder auf meine Art oder gar nicht." Tucker stieß heftig die Luft aus. "Du verhandelst knallhart.“ Sie streckte ihm die Hand hin. "Gilt die Abmachung?" Er nahm ihre kleine Hand in die seine. "Sie gilt." Tuckers Schritte verklangen vor Harleys Schlafzimmer. Dann klopfte er zweimal leise an die Tür.
Sie blickte auch diesmal an sich hinunter. Heute hatte sie ein weites T-Shirt als Nachthemd gewählt und zerrte es so weit nach unten, dass es den Slip mit dem Leopardenmuster bedeckte. Die Bettdecke zog sie nicht hoch. Immerhin hatte Tucker sie schon nackt gesehen. "Herein!" Diesmal blieb er nicht an der Tür stehen, sondern kam direkt zu ihr und versuchte, den Titel ihres Buchs zu sehen. Sie hielt jedoch rasch die Hand darüber. "Was ist es heute? ‚Wie man genug verdient, um seinen Psychiater zu bezahlen'?" Er griff nach dem Buch. Sie hielt es von ihm weg, doch er riss es ihr aus der Hand und lachte, als er den Titel sah. "Das Kamasutra! Ich habe dir doch gesagt, dass es dir gefallen wird! " Damit gab er es ihr zurück. Sie wurde rot. "Du bist in guter Stimmung", stellte sie fest. Tucker setzte sich auf die Bettkante. "Ich habe mich im Trainingsraum betätigt.“ Das erklärte seinen Aufzug. Er trug ein durchgeschwitztes graues T-Shirt, eine dunkelblaue Turnhose und alte Laufschuhe. Feuchtes Haar hing ihm in die Stirn. "Wenn ich jemals wieder schnell schwimmen will“, erklärte er, "muss ich die Muskeln entwickeln, die seit dem Absturz vernachlässigt wurden. Darauf habe ich mein Training zugeschnitten. Wir könnten zusammen trainieren." Harley nickte stumm. So lebhaft hatte sie ihn noch nicht gesehen, und sie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. "Natürlich kann ich nicht nur einige wenige Muskelgruppen trainieren", fuhr er fort. "Ich muss meinen ganzen Körper in Form bringen, wenn ich wirklich schnell werden will. Als ich noch zu Wettbewerben antrat, war ich wie ein Pfeil im Wasser. Niemand konnte mich einholen. Ich werde jetzt trainieren, wie es mir mein Coach damals beigebracht hat. Gewichtheben, Rudermaschine und Schwimmen. Was hältst du davon?" "Ich denke ... ich denke, du wirst recht gut werden ...“ "Ich werde sagenhaft werden." Er gab ihr einen festen Kuss und stand auf. "Ach ja, ich habe fast vergessen, weshalb ich zu dir gekommen bin." Aus der rechten Tasche der Turnhose zog er ein halbvolles Päckchen Zigaretten und reichte es ihr. Dann holte er aus der linken Tasche eine ganze Packung und gab sie ihr ebenfalls. "Ich möchte, dass du sie vor mir versteckst.“ "Du hörst auf?" "Beim Schwimmen brauche ich meine Lungen", erklärte er auf dem Weg zur Tür. "Was nützt einem die ganze Körperkraft, wenn man zu kurzatmig ist und keine Luft bekommt?" Er drehte sich zu ihr um und grinste vielsagend. Harley bemühte sich um ein unbesorgtes Lächeln, packte ein Kissen und schleuderte es so heftig wie möglich nach ihm. Tucker war jedoch schon fast aus dem Zimmer. Er schloss die Tür, das Kissen prallte dagegen und fiel zu Boden. Harley ließ sich gegen die Kissen fallen, vergaß, dass sie eines weggenommen hatte, und krachte mit dem Kopf gegen die Wand. Mit einem Schmerzensschrei setzte sie sich auf, rieb sich den Hinterkopf und fragte sich, worauf sie sich da bloß eingelassen hatte.
8. KAPITEL Am nächsten Morgen erhielt Tucker kurz nach dem Frühstück einen Anruf von Phil. "Du kennst das alte, weiße, viktorianische Haus im Dorf, gleich neben dem Buchladen?" fragte Phil. "In unserer Kindheit war dort ein Bestattungsunternehmen, danach ein Antiquitätengeschäft." „Ja. Das hat doch nichts mit meinem Jaguar zu tun, oder?" "Nein, nein, nein. Doug Ralston hat es gekauft. Du erinnerst dich an Doug?" "Sicher." Durch das offene Fenster beobachtete Tucker, wie Harley vom Briefkasten an der Straße wiederkam und Briefe und Zeitungen durchblätterte. Ihr Haar war noch feucht vom morgendlichen Schwimmen, und sie trug den weißen Frotteebademantel und keine Schuhe. Ihr natürlicher Gang mit dem leichten Hüftschwung war einfach unwiderstehlich. "Steigt er jetzt ins Antiquitätengeschäft ein?" "Doug? Passt nicht zu ihm. Nein, er hat es in einen Club verwandelt. Hauptsächlich Folk-Rock, aber an Montagabenden spielt dort ein Jazzsaxophonist. "Hale's Point hat ein Nachtlokal?" fragte Tucker. Harley fiel ein Brief hinunter. Sie bückte sich und hob ihn auf. Dabei klaffte der Bademantel etwas auf und enthüllte den Ansatz ihrer Brüste. Dass sie unter dem Bademantel nackt war, überraschte ihn. Er hatte angenommen, sie würde noch den Badeanzug tragen. "Ja", meinte Phil. "Ob du es glaubst oder nicht, Hale's Point hat ein Nachtlokal. Und zwar ein gutes." "Und worauf läuft das alles hinaus?" drängte Tucker. Harley lächelte über das Titelblatt eines Magazins. Tucker platzte fast vor Neugierde, worüber sie lächelte. Dann schüttelte er den Kopf. Wen interessierte das schon? "Es läuft darauf hinaus", antwortete Phil, "dass die Band für heute Abend abgesagt hat. Es ist Freitag, und das Lokal wird voll sein. Zum Glück hat er zur Unterhaltung der Gäste immer etwas in Reserve, aber du kommst nie darauf, was das ist." Tucker überlegte einen Moment. "Das meinst du nicht im Ernst. Doch nicht Rob und Jim und die anderen? Die können nicht nach zwanzig Jahren noch immer diese grässliche Band haben." "Also, nicht Jim. Er ist Anwalt in der Unterhaltungsindustrie in L.A. Aber Rob und Larry sind noch immer hier. Rob hat sich als Anwalt auf die Umweltgesetzgebung spezialisiert, und Larry unterrichtet Geschichte in Stony Brook. Sie spielen zusammen bei jeder Gelegenheit, die sich bietet. Sie sind nicht mehr grässlich. Sie sind sogar recht gut. Sie spielen Folk und Blues und schreiben einen Teil ihrer Sachen selbst. Komm doch heute Abend hin und hör
sie dir an. Wie wäre es um neun? Es wäre wie ein Klassentreffen. Und frag Harley, ob sie mitkommen will.“ Sie war jetzt schon sehr nahe, beschäftigte sich nur mit der Post und ahnte nicht, dass er sie beobachtete. "Harley!" rief er und widerstand der Versuchung, das Mundstück zuzuhalten. Phil sollte zuhören. Sie blickte zu seinem Fenster hoch. "Tucker?" "Willst du heute Abend mit mir in einen Folk-Rock-Club gehen? Als meine Begleiterin?" "Verdammt, Tucker!" rief Phil aus dem Telefon. "Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe." „Ja, gern", erwiderte sie. "Großartig." Tucker hielt den Hörer wieder an den Mund und sagte betont: "Ich fahre uns in meinem neuen Jaguar hin." Während Harley verwirrt weiterging, rief Phil: "Du hältst dich ja für so schlau. Du magst deinen neuen Jaguar haben, aber ich habe etwas Besseres. Ich habe einen Doktortitel. Ich bin Arzt. Kein Wagen der Weit kommt da mit, nicht einmal deiner. Was nicht bedeutet, dass ich ihn nicht trotzdem haben will. Ich bin absolut bereit, mein Haus dagegen einzutauschen. Du sollst nur wissen, dass mehr als ein toller Wagen nötig ist, um das Herz einer Frau zu erobern." "Was ist denn nötig, Phil?" "Ein Stapel Kreditkarten, der so hoch ist, dass man ihn mit beiden Händen nicht halten kann. Ach, das habe ich ja vergessen. Du hältst nichts von Kredit." Er lachte wild auf. "Du hast verloren!" „Ich habe Mitleid mit dir", entgegnete Tucker. "Darum werde ich dir eine Begleiterin besorgen. Ich denke da schon an jemanden. Sie wird dir gefallen." „An wen? Doch nicht Mimi. Sie ist niedlich, aber nicht mein Typ." "Lass mich entscheiden, was dein Typ ist. Ich kann so etwas bestens beurteilen." "Tucker, lade bloß keine …“ „Ich muss auflegen und Harley beim Eincremen helfen. „Tucker ..." "Bis heute Abend." Nachdem er aufgelegt hatte, schlug Tucker die Nummer der Tiltons nach. "Mimi? Hier ist Tucker Hale. Hören Sie, Freunde von mir spielen heute Abend im Club im Dorf. Harley geht mit mir hin. Wollen Sie uns begleiten? Und ich möchte, dass Sie jemanden mitbringen…" Gegen ein Uhr fuhr Tucker weg und behauptete, er hätte noch einiges zu besorgen. Während er fort war, reinigte Harley den Pool und fuhr kurz mit R.H.s acht Sportwagen, was sie auf seine Bitte hin zweimal pro Woche tat. Danach wollte sie laufen, doch das sie sich noch immer nicht ganz von ihrem Hitzschlag erholt hatte, musste sie erschöpft abbrechen. Als sie vom Strand zurückkam, stand der Jaguar wieder in der Einfahrt. In der Küche fand sie etliche Lebensmittel, in Tuckers Zimmer sah sie Tüten und
Kartons auf dem Bett, und aus dem Trainingsraum hörte sie metallisches Wirren und angestrengtes Keuchen. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück, zog sich aus, legte sich ins Bett und schlief auf der Stelle ein. Eine Hand massierte sanft Harleys nackten Rücken, bis sie die Augen öffnete. Tucker saß auf dem Bett. "Aufwachen", sagte er leise. "Das Chili ist fertig." Die Decke reichte nur bis zu ihrer Taille, aber sie lag zum Glück auf dem Bauch. Doch selbst wenn sie das nicht getan hätte, so hatte Tucker sie schon ganz nackt gesehen. "Komm schon, Schätzchen." Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. "Raus aus den Federn!" "Wenn du gehst, komme ich aus den Federn", murmelte sie, drehte den Kopf und sah ihn an. "Und nenn mich nicht Schätz..." Das Wort blieb ihr im Hals stecken, und sie konnte ihn nur noch verblüfft anstarren. Er wirkte völlig verändert, fast wie ein Fremder. "Du hast dir das Haar schneiden lassen", stellte sie endlich fest. „Im Dorf ist ein Friseur." Er strich sich über das militärisch kurze Haar. Den meisten Männern stand ein solcher Schnitt nicht, aber Tucker bildete eine Ausnahme. Jetzt sah man, wie gut sein Gesicht, geformt war und wie scharf seine Züge geschnitten waren. Er sah wie ein römischer Kaiser aus. Er stand auf, legte den weißen Bademantel über sie und ging zur Tür. "Mach schnell, Kleine. Kaltes Chili schmeckt scheußlich." Sobald er die Tür hinter sich schloss, fand sie ihre Stimme wieder. "Und nenn mich auch nicht Kleine!" schrie sie ihm hinterher. Das Chili war so gut, dass Harley sich eine zweite Portion nahm. Sie bot an aufzuräumen, da er gekocht hatte. Tucker sah auf die Küchenuhr. "Einverstanden. Dann kann ich noch ein wenig im Wasser üben, bevor wir schwimmen. Und danach schaffen wir es bis neun in den Club. Kann ich ... kann ich mir deine ... Stoppuhr ausleihen?" Harley lächelte selbstzufrieden. "Natürlich", versicherte sie übertrieben liebenswürdig, nahm die Uhr ab und reichte sie ihm. Er nahm sie leicht verlegen entgegen und ging in sein Zimmer. Minuten später hörte sie, wie die Terrassentür geöffnet und geschlossen wurde. Durch das Küchenfenster sah sie Tucker in der Abenddämmerung am Rand des hell erleuchteten Pools in einer knappen Badehose, die er heute gekauft haben musste. Da er ihr den Rücken zuwandte, legte sie sich keine Beschränkung auf. Das Gewicht auf das gesunde Bein verlagert, stand er lässig da. Seine Schultern waren muskulös, der breite Rücken ging in schmale Hüften über. Der kurze Haarschnitt und die langen, kraftvollen Gliedmaßen vervollständigten das Bild. Jetzt wirkte er wie ein römischer Gott aus Marmor, der am Rand des spiegelnden Wasserbeckens eines Tempels stand. Tucker trat an das tiefe Ende, ging in Startposition, drückte die Stoppuhr, sprang ins Wasser und verzog dabei schmerzlich das Gesicht.
Während er langsam und mühevoll schwamm, schlüpfte Harley in ihren weißen Badeanzug und kam zu ihm in den Pool. Ungefähr vierzig Minuten schwamm er Länge um Länge und kontrollierte mittels Stoppuhr, während Harley träge hin und her schwamm. Jetzt ist er derjenige, der sich antreibt, und ich lasse mich gehen, dachte sie, während die Sterne über, ihr erschienen. Seine Stimme unterbrach ihre Gedanken. "Wollen wir es wieder versuchen?" Sie nahmen ihre Positionen ein. "Eins.. zwei ... drei ... los!" Diesmal kam er etwas weiter, bevor sie den Rand erreichte, aber nicht viel. Dennoch war er sichtlich begeistert, was sie auf die Vorfreude zurückführte, es irgendwann doch zu schaffen, sie einzuholen und seinen Preis einzufordern. Fröstelnd lief sie nach oben, um zu duschen und sich umzuziehen. Harley mochte es gar nicht, wenn sie nicht wusste, was sie anziehen sollte. Sie war noch nie in einem Folk-Rock-Club gewesen. Trugen die Frauen Jeans und T-Shirt oder hübsche Kleider? Aber was regte sie sich auf? Tucker erschien bestimmt in seinen ausgebleichten Armeeklamotten. Schließlich entschied sie sich für eine weiße Bluse und einen Rock in Grau, Aubergine und Dunkelblau, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte. Sie verzichtete auf den BH und schob die Bluse auf den Schultern hinunter. So! Jetzt sah sie nicht mehr wie die kleine Miss Republikanerin mit einem Wirtschaftsdiplom aus. Sie trug selten Make-up, aber heute Abend legte sie sorgfältig Mascara und einen Hauch Puder auf und nahm einen Lippenstift in zartem Rosa. Nachdem sie sich das Haar gebürstet hatte, legte sie ihre besten Ohrringe aus Silber und Onyx an, kontrollierte das Ergebnis im Spiegel und lächelte. Nachdem sie noch ein paar Sachen in ihrer kleinsten Handtasche verstaut hatte, ging sie nach unten. Die Tür von Tuckers Zimmer stand offen. Die Tüten und Kartons, die auf dem Bett gelegen hatten, waren geöffnet. Tucker entdeckte sie allerdings erst, als sie den Raum betrat. Sein Anblick entlockte ihr einen erstaunten Ausruf. Er stand vor dem bodenlangen Spiegel und hielt zwei Krawatten vor die Brust. Die eine hatte ein Blumenmuster, die andere ein Muster aus bunten Pinselstrichen, beide in Braun, Grau und Hellgrün, das genau dem Grün des Hemdes entsprach. Dazu trug er eine Khakihose sowie einen Gürtel und Schuhe aus braunem Leder. Ein kaffeebrauner Blazer hing über der Lehne des Stuhls in der Ecke. Als Tucker sie ansah, brachte sie nichts weiter hervor als: "Wow!" Er betrachtete sie vom Scheitel bis zur Sohle und lächelte sehr zufrieden. "Das sollte ich sagen. Du siehst ... Wow, du siehst sagenhaft aus." "Du auch. Du bist so ... verändert. " „Ich wollte nicht, dass es dir peinlich ist, mit mir gesehen zu werden." "Das ... wäre mir nicht peinlich gewesen." Er lächelte skeptisch. "Oh, bist du aber eine schlechte Lügnerin!"
"Bin ich nicht! Ich meine ... " "Es ist gut, dass du eine schlechte Lügnerin bist. Das bedeutet, dass du ein ehrliches Herz hast." Er zeigte ihr die Krawatten. "Welche?" Sie überlegte einen Moment und wählte die mit den Bürstenstrichen. Er band sie rasch um, lockerte sie und öffnete den obersten Hemdknopf. "Bloß nicht übertreiben. Du siehst wirklich unbeschreiblich aus." Er streichelte ihre Wange und schob ihr das Haar hinter das Ohr. "Die Ohrringe sind hübsch, aber Gold würde dir besser stehen." "Ich mag Silber. Außerdem kann ich mir kein Gold leisten." Er tippte sanft mit dem Zeigefinger auf ihre Unterlippe und betrachtete den hellrosa Fleck auf der Fingerspitze. "Nimmst du auch einmal roten Lippenstift?" "Nein! Er schlüpfte in seine Jacke. "Das ist gut so, sonst würde ich restlos die Beherrschung verlieren.“
9. KAPITEL Harley fand die alten Häuser von Hale's Point ganz bezaubernd. Einst war es ein Hafen für Seeleute und Schmuggler gewesen. Jetzt wurde es von den Nachfahren der ältesten und wohlhabendsten Familien von Long Island bewohnt. Tucker hielt vor einem hellerleuchteten, weißen, viktorianischen Lebkuchenhaus, das vor einem mit Schlingpflanzen bewachsenen Felsen lag. Von dem Halter der Lampe hing ein kleines, hölzernes Schild mit dem Unendlichkeitszeichen, einer liegenden Acht. Kaum hatten sie den Club betreten, als eine tiefe Männerstimme rief: „Tucker Hale, du Mistkerl, wo ist mein Greatful-Dead-Album?" Er bärtiger, rothaariger Riese bahnte sich zwischen den Gästen seinen Weg zu ihnen. "Ich habe dein Grateful-Dead-Album nicht, Doug, das habe ich dir doch schon gesagt!" rief Tucker zurück. "Wer hat es dann?" fragte Doug und blieb vor ihnen stehen. "Frag Rob.“ Der Mann hatte Tucker wahrscheinlich seit zwei Jahrzehnten nicht gesehen. Soweit Harley das beurteilen konnte, hatten die beiden Männer soeben einen zwanzig Jahre alten Streit wieder aufgenommen. "Das machen wir!" donnerte der Riese, drehte sich um und gab ihnen einen Wink, ihm in das große Hinterzimmer zu folgen. Es musste einmal ein elegantes Speisezimmer gewesen sein. Der Kristalllüster hing noch von der Decke. In der Ecke testeten auf einer kleinen Bühne mit einem Klavier ein blonder und ein dunkelhaariger Mann die Mikrophone. "Rob!" schrie Doug. Der Blonde
blickte hoch und lächelte breit, als er Tucker entdeckte. "Hast du mein DeadAlbum?" Rob sah ihn überrascht an. "Ja. Ich dachte, du weißt das." Doug stockte. "Du hast mein Dead-Album zwanzig Jahre lang gehabt und gedacht, ich wüsste das?" "Es ist ein gutes Album", erwiderte Rob, während er zusammen mit dem dunkelhaarigen Mann von der Bühne herunterstieg. „Ich wollte es dir zurückgeben." Tucker boxte Doug gegen die Schulter. "Du musst dich bei mir entschuldigen." Doug wirkte wie ein aufrecht stehender Bär. "Den Teufel werde ich tun! Du hast zwanzig Jahre nicht angerufen. Ich schulde dir gar nichts!" Er und Tucker standen einander einen Moment gegenüber, dann grinsten beide gleichzeitig und umarmten sich. "Du hast mir gefehlt, du Bastard!" rief Doug. Phil tauchte auf, als Tucker die beiden anderen Männer begrüßte. Sobald Tucker ihn entdeckte, legte er Harley den Arm um die Schultern und zog sie an sich. "Harley Sayers, das sind Doug, Rob und Larry. Dr. Zelin kennst du bereits." Jetzt halten sie mich für seine Freundin, dachte sie, und bei diesem Gedanken schlug ihr Herz schneller. Phil betrachtete Tucker vom Scheitel bis zur Sohle. "Versuchst du, dein erbärmliches Aussehen zu verbessern? Das ist der militärischste Haarschnitt, den ich je gesehen habe." "Ich schwimme wieder", entgegnete Tucker. "Und kurzes Haar verringert den Widerstand im Wasser. Ich will schneller werden." Mit einem Blick zu Harley fügte er hinzu: "Ganz besonders schnell." Harley fragte sich, ob jemand bemerkte, dass sie rot wurde. Rob und Larry kehrten auf die Bühne zurück, und Doug führte sie an einen großen Tisch in der Nähe der Bühne. Harley bestellte Eistee, Tucker Bier und Phil eine Bloody Mary. Der Club füllte sich rasch, und bald darauf wurde der Lüster gedämpft, und Bühnenscheinwerfer beleuchteten die kleine Fläche in der Ecke. Rob und Larry spielten einige sanfte Folksongs, Rob auf der Gitarre, Larry am Klavier. Sie waren recht gut, aber Harley, Phil und Tucker waren die einzigen Gäste, die ihre Unterhaltung einstellten und wirklich zuhörten. Die Gespräche in dem voll besetzten Lokal waren ziemlich laut. Rob und Larry schien es nicht zu stören. Wahrscheinlich gewöhnten sich Clubmusiker daran. In der Pause kamen die beiden Musiker an den Tisch. Tucker saß neben Harley und legte den Arm über die Rückenlehne ihres Stuhls. Phil saß auf ihrer anderen Seite, ignorierte die besitzergreifende Geste seines Freundes, beugte sich zu ihr und berührte oft ihren Arm, während er mit ihr redete. Vielleicht hat Tucker recht, dachte Harley. Vielleicht interessiert Phil sich tatsächlich für mich. "Seht mal, wer da ist", verkündete Tucker lächelnd. Mimi, Jamie, Brenna und eine blonde Frau kamen an den Tusch. Phil zog blitzartig die Hand von Harleys Arm zurück, als hätte er sich an ihr verbrannt.
Mimi und die Blondine trugen wie Harley Rock und Bluse. Brenna hatte ein Minikleid aus Stretch gewählt. Keiner wusste offenbar genau, wer wen kannte, so dass Harley bei der Vorstellung nicht dahinter kam, wer die blonde Frau war. Die Männer waren aufgestanden und rückten den Frauen die Stühle zurecht. Tucker umarmte die Blondine. "Es ist schön, dich zu sehen." „Ich freue mich auch", versicherte die Frau. „Ich bin froh, dass du Mimi gebeten hast, mich mitzubringen." Er hatte Mimi gebeten, sie mitzubringen? Harley wurde eifersüchtig. Die Blonde war etwa in Tuckers Alter und sah fabelhaft aus. Sie begrüßte Rob und Larry, ignorierte jedoch Phil. "Harley Sayers", sagte Tucker, "das ist eine alte Freundin von mir, Kitty Zelin, Phils Frau." "Kitty Acton-Kemp", verbesserte ihn die Blondine und reichte Harley die Hand, während Phil Tucker einen mordlüsternen Blick zuwarf. „Ich habe wieder meinen Mädchennamen angenommen." Dass Phil verheiratet war, überraschte Harley, bis sie zwei und zwei zusammenzählte. Kitty behandelte ihn kühl und hatte ihren Mädchennamen angenommen. Wahrscheinlich waren die beiden getrennt, wenn auch noch nicht geschieden, da Tucker sie als Phils Frau vorgestellt hatte. Auch Jamie bekam an diesem Abend die kalte Schulter gezeigt - Brenna ignorierte seine Annäherungsversuche und flirtete offen mit Rob und Larry, die von ihr bezaubert waren. Auch bei Tucker und Phil setzte sie ihren Charme ein, doch Tucker blieb zurückhaltend höflich, und Phil ging gar nicht darauf ein. Seit Kitty aufgetaucht war, blieb er verschlossen und warf ihr nur gelegentlich klägliche Blicke zu. Doug tauchte auf und deutete auf die Gäste. "Die Eingeborenen werden unruhig, Jungs", sagte er zu Rob und Larry. "Wie wäre es, wenn ihr wieder spielt?" „Tucker könnte doch wie in alten Zeiten mitmachen", sagte Rob. Tucker winkte ab. "Ich brauche eine Gitarre." "Ich habe eine", erwiderte Doug. „Eine zwölfsaitige?" "Eine zwölfsaitige." Tucker verdrehte die Augen. "Ich habe das Gefühl, dass ich hereingelegt wurde." Mit dem Stuhl in der einen und dem Stock in der anderen Hand stieg er auf die Bühne und besprach sich mit Rob und Larry, während Doug die Gitarre holte. Jamie brachte seinen Stuhl zu Harley, setzte sich rittlings darauf und berührte den Kragen ihrer Bluse. "Hübsch. Sie sehen heute Abend großartig aus." Natürlich wusste Harley genau, was er wollte. Er versuchte, Brenna eifersüchtig zu machen. Das Au-pair-Mädchen sah kurz zu ihnen und wandte sich wieder der Bühne zu, auf der die vier Männer - Doug war mit der Gitarre zurückgekommen - die Köpfe zusammensteckten. Tucker schien sich als einziger an Jamies Verhalten zu stören. Er sah finster zu ihnen herüber.
Während Tucker Larry etwas auf dem Klavier zeigte, nahm Doug ein Mikrophon aus dem Ständer und wandte sich an das Publikum. "Wenn Sie noch etwas Geduld haben, bieten wir Ihnen heute Abend Tucker Hale. Wer vor zwanzig Jahren im Greenwich Village war, hat vielleicht ihn und Chet Madison spielen gehört. Die beiden traten im Bitter End und im Bottom Line auf. Tucker ist der einzige, den ich kenne, der einen Plattenvertrag abgelehnt hat." Ein Raunen lief durch das Lokal. "Er hat etwas Neues geschrieben, da er in jüngster Vergangenheit viel Zeit hatte. Wir können gleich feststellen, ob es etwas taugt." Doug befestigte das Mikrophon wieder auf dem Ständer und trat hinter Harley. Sie drehte sich zu ihm um. "Tucker hat einen Plattenvertrag abgelehnt? Mir hat er nur erzählt, dass es nicht geklappt hat." Der stämmige Mann kauerte sich neben sie. "Soviel ich weiß, war Chet das eigentliche Problem, was mich nicht überrascht. Der Junge hat immer nur Schwierigkeiten gemacht." "War er nicht ein guter Freund von Tucker?" "Ein Freund? Ja. Gut?" Er schüttelte den Kopf. "Er hat Tucker nur behindert, und Tucker hat es leider zugelassen." "Das verstehe ich nicht', gestand Harley. "Was ist passiert?" "Die beiden haben gleichzeitig die Schule aufgegeben und sind von daheim fort. Dann spielten sie zusammen im Village. Eines Abends kamen Talentsucher. Sie klappern für Plattenfirmen Clubs nach neuen Talenten ab. Tucker sollte ein Demoband abliefern, aber Chet fallen lassen. Er hat aus Treue zu Chet abgelehnt. Danach kamen keine Angebote mehr. Sie gaben auf und zogen nach Miami. Jahre später kaufte Tucker seine Piper Comanche ... Nun ja, vermutlich wissen Sie, was dann passierte." "Nein, ich weiß es nicht', erwiderte Harley. "Etwas ist passiert, aber…“ Phil räusperte sich, und als sie sich zu ihm umdrehte, schüttelte er gerade den Kopf. Doug wich ihrem Blick aus und stand auf. "Ich will mal nachsehen, ob die Jungs bereit sind." "Sagen Sie es mir", verlangte Harley. Er wandte sich ab. „Tut mir leid." Phil winkte der Kellnerin. "Harley, ich bestelle Ihnen jetzt die beste Bloody Mary, die Sie jemals hatten." "Phil, erzählen Sie mir, was in Miami passiert ist." "Pst", flüsterte er, als der Lüster erlosch und die Bühne erleuchtet wurde. "Showtime." Dougs Stimme klang durch den Raum. "Meine Damen und Herren, Tucker Hale!" Es gab höflichen Applaus. Tucker klopfte mit dem rechten Fuß den Rhythmus, den er mit seiner Gitarre übernahm. Als er nickte, begleiteten ihn die beiden anderen. Und dann begann Tucker zu singen. Seine Singstimme klang genau so rau wie seine Sprechstimme, aber er trug seinen eigenen Text mit so viel verhaltenem Gefühl vor, dass das Ergebnis faszinierend war.
Als die Kellnerin ein Glas vor Harley auf den Tisch stellte, fiel ihr erst auf, wie still es im Raum war. Alle blickten aufmerksam zur Bühne. Tucker besaß die Fähigkeit, das Publikum zu fesseln. Sobald der Song endete, brach tosender Beifall los, der Tucker sichtlich unangenehm war. Der nächste Song hatte eine abwechslungsreichere Melodie. Wieder waren die Zuhörer begeistert, und Tucker reagierte geradezu schüchtern. Sobald der Applaus verklang, beugte Tucker sich zum Mikrophon. "Das ist der letzte Song." Das Publikum stöhnte auf. „Ich habe ihn nicht geschrieben. Es ist ein alter Bluestitel, den Rob, Larry und ich früher zusammen gespielt haben." Der Song war lebhaft, humorvoll und locker. Die Leute klatschten mit und jubelten bei besonders gewagten Textstellen. Hinterher sprangen alle auf und applaudierten und verlangten nach mehr. Tucker schüttelte den Kopf und blickte direkt zu Harley. Sie strahlte vor Stolz und nickte ihm lächelnd zu. Er lächelte zurück, und Harley fühlte sich mit ihm verbunden, als wären sie die einzigen Menschen im Raum. Die Lichter gingen wieder an. Jamie räumte den Platz neben Harley, den Tucker wieder einnahm. Bevor sie etwas sagen konnte, beugte Doug sich zu Tucker. "Gut gemacht, Mann. Du hast es noch immer. Kann ich dich für die Freitage buchen? Du bist doch den ganzen Sommer über hier.“ Tucker legte die Hand leicht an Harleys Rücken. „Ja, ich bleibe, bis R. H. heimkommt. Und ich werde gern freitags spielen." Doug zog sich zurück, und Mimi und Kitty gingen zusammen nach hinten in den Waschraum. Phil zischte: „Tucker, verdammt, wieso hast du Kitty hergeholt?" "Hast du mir ihr gesprochen?" fragte Tucker. "Ich habe sie sechs Monate nicht gesehen", grollte Phil. "Worüber soll ich denn mit ihr sprechen?" „Frag sie, ob sie Luftballons gebrauchen kann." Harley hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber Phil wusste es offenbar und schmollte weiter. Rob und Larry traten noch einmal auf, Tucker wollte dabei nicht mitmachen, und gegen ein Uhr brachen sie auf. Harley und Tucker folgten Mimi, Jamie, Brenna und Kitty nach draußen. "Armer Jamie", flüsterte Harley Tucker zu. "Ich mag ihn wirklich, und ich möchte, dass es zwischen ihm und Brenna klappt, aber sie sieht ihn kaum an. Selbst als er sich zu mir setzte und ... " "Und anfing, dich zu begrapschen? Er hat das zu auffällig gemacht. Sie hat ihn sofort durchschaut. Hättest du dich an ihn herangemacht, hätte das todsicher bei ihr gewirkt." "Glaubst du?" "Ich kenne ihren Typ. Sie will, dass er sie wie jeder andere Mann verehrt. Und sie ignoriert ihn nur, weil er das bereits tut. Dass er sich um dich bemüht, bestärkt sie nur in ihrer Überzeugung. Würdest du dich andererseits um ihn
bemühen, wäre das eine Bedrohung, weil er sich dir zuwenden könnte. Und sie hätte dann nur die Möglichkeit, ihm entgegenzukommen." "Du scheint dieses Thema recht gut studiert zu haben." "Ich habe etliche Brennas gekannt", meinte er lächelnd. Harley begriff, dass er sie eifersüchtig machen wollte. Das Spiel konnten zwei spielen. "Vielen Dank für den Rat." Sie strich sich über das Haar und. zog die Bluse noch etwas tiefer, um mehr von Schultern und Brust zu enthüllen. Jamie hatte seinen Saab zwei Wagen neben Tuckers Jaguar geparkt und hielt den drei Frauen die Tür auf, als Harley und Tucker näher kamen. "Für welchen Rat?" fragte Tucker. "Was machst du?" Harley ging zu Jamie und legte ihm die Hand auf die Schulter, als er die Wagentür schloss. Brenna saß auf dem Beifahrersitz und konnte aus dieser Position alles gut sehen. "Gute, Nacht, Jamie", sagte Harley, legte die Arme um ihn und flüsterte ihm ins Ohr: "Daran wird Brenna zu knabbern haben." Dann gab sie ihm einen langen Kuss auf den Mund. Jamie brauchte einen Moment, um zu begreifen, doch dann zog er sie an sich und erwiderte begeistert den Kuss. Hinterher drückte er ihr noch einen leichten Kuss auf die Wange. "Danke", hauchte er. Brenna riss die blauen Augen weit auf, als Harley zum Jaguar ging. Tucker hielt ihr die Tür auf. "Sag mir wenigstens, dass du das nicht genossen hast", sagte er, als er sich hinter das Steuer setzte und den Motor startete. Sie lächelte kokett. "Das wäre eine Lüge." Er legte hart den Gang ein. „Ich bin derjenige, der nicht lügt. Du darfst.“ "Du willst doch nicht, dass ich dich belüge. Du, die Ehrlichkeit in Person?" Er fuhr mit quietschenden Reifen an. "Es gibt für alles ein erstes Mal“. Es war kühl geworden, und Tucker hielt das Verdeck des Jaguar geschlossen. "Hast du dich gut unterhalten?" fragte er, als sie vor dem Haus eintrafen. "Es war großartig. Du warst großartig. Du bist ein sagenhafter Musiker. Ich hatte keine Ahnung, dass du so gut bist." "Danke." "Doug hat mir von Chet und dem Plattenvertrag erzählt. Schade, dass es nicht geklappt hat." Eine Weile starrte er durch die Windschutzscheibe. Endlich sah er sie an. "Was hat Doug dir noch erzählt?" "Er hat mir nicht verraten, was in Miami passiert ist, wenn du das meinst, aber ich wüsste es gern. Ich möchte, dass du es mir erzählst. " Er schwieg eine Weile. "Bis zu meiner Rückkehr hierher habe ich jahrelang nicht mehr an Miami gedacht und auch nicht darüber gesprochen. Und dabei will ich es belassen." "Meinst du nicht, ich könnte es verstehen?" drängte sie.
"Ehrlich gesagt, nein. Mir selbst fällt es noch immer schwer, es zu verstehen." Er strich ihr über die Schläfe und durch das Haar. "Es ist für mich wichtig, wie du über mich denkst." Sie nickte. "Es ist gut." Tucker stieg aus, kam auf ihre Seite, half ihr aus dem Wagen und nahm sie in die Arme. Er drückte sie gegen den Wagen und küsste sie voll Verlangen. Diesmal dachte sie gar nicht daran, sich zu wehren. Sie erwiderte die Umarmung und küsste ihn genauso verlangend. Ich will ihn, dachte sie plötzlich erstaunt. Ich möchte, dass er mich liebt. Zwischen seinem warmen Körper und dem Wagen gefangen, schmiegte sie sich in seine Arme. Er löste die Lippen von ihrem Mund und ließ sie über ihre Wange und ihr Ohr streichen. "Ich musste den ganzen Abend an dich denken", hauchte er ihr ins Ohr. "Ich konnte dich kaum ansehen, so sehr begehre ich dich. Es tut fast schon weh." Spontan drückte sie einen Kuss auf seinen Hals und entlockte ihm ein lustvolles Stöhnen. Dann ließen sie die Lippen miteinander verschmelzen und die Zungen miteinander tanzen. Mit einer Hand hielt Tucker sie fest an sich gedrückt. Mit der anderen streichelte er ihr Haar, ihren Hals und ihre Schulter, bis er die Schleife zwischen ihren Brüsten fand. Ohne den Kuss zu unterbrechen, zog er daran. Die Bluse rutschte ein Stück herunter. Er schob den Stoff von der linken Brust und berührte sie so sanft, als habe er Angst, Harley weh zu tun oder sie zu erschrecken. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie du auf mich wirkst“, flüsterte er. Sie brauchte es sich nicht vorzustellen. Sie fühlte, wie erregt er war. Ob es schmerzte, wenn er sie liebte? Vielleicht, aber bestimmt würde er größte Rücksicht auf sie nehmen und sie wunderbar, behutsam und zärtlich lieben. Sie wollte, dass Tucker ihr erster Liebhaber war, und es sollte heute Nacht geschehen. An die Abmachung vom Vortag dachte sie kaum noch. Alle ihre Bedenken verflogen im Überschwang der Gefühle, den er in ihr auslöste. Ja, heute Nacht! Unter seiner Berührung richtete sich die Brustspitze auf. Harley rang nach Luft, als er sie mit dem Daumen streichelte und feine Schauer auslöste. „Tucker ... " Sie sehnte sich nach ihm. „Tucker ... " Er stockte. „Ich weiß, ich weiß ... tut mir leid." Er zog die Hand zurück und schob die Bluse wieder hoch. "Ich weiß, wir haben eine Abmachung getroffen. Ich wollte nicht so weit gehen. Ich wollte dich nur küssen und …“ Er zuckte hilflos die Schultern. Harley war sprachlos, als er zurückwich. Er schloss ihre Bluse wieder. "Ich kann kaum denken, wenn ich in deiner Nähe bin. Wenn ich dich sehe, will ich dich küssen, und wenn ich dich küsse, will ich ... Ich verliere bei dir jegliche Selbstbeherrschung. Ich begehre dich so sehr." Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn auch begehrte, dass er sich nicht beherrschen musste, dass er sich nicht an die Abmachung zu halten brauchte ... doch sie tat
es nicht. Sosehr sie sich nach ihm sehnte, es lag nicht in ihrer Natur, den ersten Schritt zu tun. Sie nickte lediglich und schwieg. Er legte die Hände an ihre Wangen. "Ich verspreche dir, dass ich mich an die Abmachung halten werde. Ich werde nichts überstürzen. Wir richten uns nach deinen Spielregeln. Damit war ich einverstanden, und so wird es auch sein." Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. "Es ist spät. Du musst müde sein." An der Hand führte er sie ins Haus. Am Fuß der Treppe sagten sie einander gute Nacht und gingen in ihre Zimmer.
10. KAPITEL In den folgenden Wochen hielt Tucker sich an sein Versprechen und verhielt sich Harley gegenüber zwar freundlich, aber zurückhaltend. Jeden Freitag spielte er in Dougs Club vor einem begeisterten Publikum. Harley musste ihn stets zu seiner moralischen Unterstützung begleiten. Einmal mietete er ein zweisitziges Flugzeug und machte mit ihr eine Runde über Manhattan und die angrenzenden Stadteile. In der Woche darauf stiegen sie mit einem Segelflugzeug auf. Das gefiel ihr besser, weil sie so lautlos dahinglitten, als hätten sie selbst Flügel. Am liebsten aber segelte sie mit Phils ‚Pacemaker'. Außerdem ging das Training weiter, und Tucker wurde nicht nur schneller, sondern hatte beim Schwimmen auch keine Schmerzen mehr. Je mehr sich seine Kondition verbesserte, desto mehr glich sein Körper dem eines olympischen Schwimmers - breitschulterig und muskulös, aber schlank. Und er kam immer häufiger ohne Stock aus. Es freute Harley, dass er auf den Stock verzichten konnte und immer weniger hinkte. Anfang August schlug er unmittelbar nach ihr am Rand des Pools an. Es war nur noch eine Frage von Tagen, bis er sie einholte. R.H. wurde nicht vor dem ersten September zurückerwartet. Ob Tucker bis zu seiner Rückkehr blieb? Irgendwann ging er bestimmt weg. Harley versuchte, diese Gedanken zu vertreiben, den Sommer mit Tucker zu genießen und nicht an das unvermeidliche Ende zu denken. Eines Abends, während Harley das Geschirr abtrocknete und wegstellte, öffnete Tucker den Kühlschrank und holte die Flasche Champagner heraus, die er darin seit mehr als zwei Wochen aufbewahrte. "Werde ich endlich erfahren, wofür dieser Champagner reserviert ist?" fragte sie. "Ja, Ma'am. Zieh dich warm an. Wir stoßen unten am Strand an, und nachts ist es da schon kühl."
"Einen Moment", wehrte sie ab. "Du kannst nicht an den Strand gehen. Du warst noch nie da unten. Seit deiner Rückkehr, meine ich." "Dann versuche ich es eben. Ich denke, jetzt werde ich es schaffen." "Und was ist mit unserem abendlichen Schwimmen? Es überrascht mich, dass du es ausfallen lassen willst." Er lächelte. "Heute Abend ist mir der Strand lieber." „Ja, aber …“ „Ich weiß, es fällt dir schwer, spontan zu sein …“ "Nein, das stimmt nicht." "Beweise es." "Lass mir zehn Minuten Zeit, und ich ziehe Jeans und einen Sweater an." Zehn Minuten später gingen sie an den Strand hinunter. Es war für Tucker schwierig, aber es schmerzte nicht so sehr, wie er vermutet hatte. Er brauchte keinen Stock und keine Zigaretten, er war stark, er war schnell, und er war glücklich - und das alles hatte er Harley zu verdanken. Das erinnerte ihn an den kleinen Behälter in der Tasche seiner Jeans. Er klopfte dagegen, um sich zu überzeugen, dass er noch vorhanden war. Der August war stets sein Lieblingsmonat gewesen. Der Strand war dann am schönsten, das Wasser war warm und der Sonnenuntergang wie heute Abend faszinierend. Tucker und Harley blieben auf dem Sand stehen, um das Farbenspiel am Himmel zu bewundern. Hinter den Bäumen zum Strand der Tiltons hörte sie Lachen. Brenna lief splitternackt zum Wasser. Jamie, ebenfalls nackt, folgte ihr und warf sie in den Sand. Sie lachten laut auf, als sie bemerkten, dass sie beobachtet wurden, und liefen zurück hinter die Bäume. Seit Harley Jamie geküsst hatte, war das junge Paar unzertrennlich. Tucker bezweifelte jedoch, dass die Beziehung den Sommer überleben würde. Phil interessierte sich nicht mehr für Harley, seit er seine Frau im Club wieder gesehen hatte. Allerdings war er zu stolz, um sich Kitty zu Füßen zu werfen. Er gab ihr keine Gelegenheit, ihm zu verzeihen. Tucker führte Harley in den unerschlossenen Teil des Hale-Besitzes zu jenem Küstenabschnitt, an dem er sich als Junge am liebsten aufgehalten hatte. Es war eine kleine Bucht, die an drei Seiten von großen Steinblöcken abgeschirmt war und sich nur zum Wasser öffnete. Er breitete eine Decke aus, machte Feuer aus Treibholz und holte aus dem Rucksack mehrere Teile aus altem Bleikristall - eine Schale, eine Vase und zwei Champagnerkelche. Nachdem er alles auf die Decke gestellt hatte, füllte er die Schale mit Kirschen und Pfirsichen und die Vase mit Lavendel, der an der Steinmauer wuchs. Danach öffnete er den Champagner, füllte die beiden Gläser, setzte sich zu Harley und reichte ihr eines. "Meinst du nicht, dass du mir endlich sagen solltest, was wir feiern?" fragte sie. "Es muss wichtig sein. Ich meine, du bist den weiten Weg hier herunter geklettert, und das kann nicht einfach gewesen sein.“
"Wir feiern", erwiderte er, "dass ich den weiten Weg hier herunterklettern konnte, obwohl es nicht einfach war. Prost." Er hob sein Glas. Harley stieß lächelnd mit ihm an. Die Gläser klangen wie Glocken. Sie nahm einen Schluck. "Damit ich das richtig verstehe ... du bist hier heruntergeklettert, um feiern zu können, dass du hier herunterklettern konntest?" "Ja." Er sah sich an dem geschützten Strandabschnitt um. "Dieser Ort hat für mich eine besondere Bedeutung. Als Junge habe ich hier viel Zeit verbracht. Ich habe Feuer gemacht, viele Nächte im Freien geschlafen, über alles nachgedacht und mich gefragt, was die Zukunft für mich bereithält. Ich wollte dich herbringen, damit du diesen Ort mit mir erlebst." "Danke", antwortete sie bewegt. "Ich muss mich bei dir bedanken. Ohne dich hätte ich diese kleine Bucht nicht wieder gesehen. Ohne dich wäre ich wieder oben in Alaska, würde mir wünschen, hier zu sein, an meinen Zigaretten ersticken und mit dem Stock herumhumpeln. In letzter Zeit habe ich viele Veränderungen durchgemacht. Es waren gute Veränderungen, und du hast sie bewirkt. Darum vielen Dank." Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen sanften, zärtlichen Kuss. Vor längerer Zeit hatte er ihr versprochen, sich zu nichts hinreißen zu lassen, und er wollte dieses Versprechen halten. Nachdem er sein Glas neben der Decke in den Sand gestellt hatte, zog er den kleinen, schwarzen Samtbeutel aus der Tasche und drückte ihn Harley in die Hand. "Das möchte ich dir geben." Sie stellte das Gas ebenfalls. ab. "Was ist das?" frage sie atemlos. "Mach ihn auf." Zögernd lockerte sie die goldene Kordel und schüttete den Inhalt in ihre Handfläche, setzte sich kerzengerade auf und rang nach Atem. „Tucker! Die Ohrringe deiner Mutter!" "Ich möchte, dass du sie bekommst." Sie hielt einen Ohrring hoch. Er war aus ziselierten Gold gearbeitet und mit Rubinen besetzt. "Die ... die sind mindestes vierhundert Jahre alt.“ "Wahrscheinlich sogar fünf." Er griff nach dem Glas und nahm einen Schluck. "Die kann ich nicht annehmen", wehrte sie ab und schob sie wieder in das Täschchen. „Ich nehme sie nicht zurück. Probiere sie an. Ich möchte dich mit Gold und Rubinen auf der Haut sehen. Du solltest kein Silber tragen.“ "Wem gehören sie?“ Er legte sich zurück und genoss ihrer Reaktion. "Dir." "Nein, nein, ich meine …“ "Der ganze Schmuck meiner Mutter gehört mir. Sie hat ihn mir testamentarisch hinterlassen. In den letzten drei Jahrzehnten hat er in einem Schließfach der Bank im Dorf gelegen." "Du wolltest ihn nie haben?" "Was sollte ich damit machen?" "An ein Museum verkaufen. Er muss ein Vermögen wert sein."
"Ich würde nie den Schmuck meiner Mutter verkaufen. Chet wollte mich dazu überreden, als ich von daheim wegging. Bei der Vorstellung wurde mir übel." "Dann spende ihn. Oder verleihe ihn für Ausstellungen. Das Metropolitan Museum wäre begeistert" "Daran habe ich nicht gedacht“, räumte er ein. "Vielleicht werde ich den Schmuck irgendwann verleihen." Er nahm ihr das kleine Säckchen aus der Hand und steckte es in die Tasche ihrer Jeans. "Die hier ausgenommen. Sie gehören dir, ob du sie haben willst oder nicht." Die nächsten Worte wählte er vorsichtig und beobachtete Harleys Reaktion. „Aber vielleicht nehme ich den Rest mit ... wenn ich weggehe." Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und starrte dann ins Feuer. "Das klingt vernünftig. Du solltest den Schmuck immer bei der Hand haben. In Alaska gibt es bestimmt auch Bankschließfächer." "Sicher, aber ich gehe wahrscheinlich nicht dorthin zurück. Alaska habe ich nur gewählt, weil es am weitesten von Florida entfernt war, sofern ich das Land nicht verlassen wollte." "Und wohin willst du?" Er betrachtete sie über den Rand seines Glases hinweg. "Long Island ist hübsch." "Was willst du hier machen? Etwas mit Flugzeugen?" Er schüttelte den Kopf. "Von Flugzeugen habe ich genug." "Was dann, wenn nicht Musik? Willst du einen Gabelstapler fahren? Oder Dächer reparieren?" Er stellte das Glas weg, legte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Am dunklen Himmel funkelten Sterne. "Vielleicht kaufe ich ein Segelboot, segle um die Welt und denke eine Weile darüber nach." "Hm. Nicht schlecht." Sie tranken schweigend Champagner. Tucker schenkte nach. Er versuchte, an nichts zu denken, und lauschte dem Rauschen der Wellen und dem Knistern des Feuers. Genüsslich atmete er die salzhaltige Luft ein, und während er einen Pfirsich aß, beobachtete er, wie Harley mit den Lippen eine Kirsche vom Stiel löste. Schließlich verteilte er den restlichen Champagner. "Ich vertrage Alkohol nicht gut", wandte sie ein. "Wahrscheinlich werde ich einschlafen." "Ich trinke auch nie viel", erwiderte er. "Trinken und Fliegen passt nicht zusammen.“ "Du hattest vor deinem Unfall nicht getrunken, oder?" "Selbstverständlich nicht. Dieser Unfall hatte nichts mit Alkohol zu tun. Es war hauptsächlich Pech." Er lehnte sich gegen einen Felsen und blickte auf das dunkle Wasser hinaus. Harley betrachtete ihn, und als er sie ansah, rieb sie sich die Arme. „Ist dir kalt?" fragte er. "Ein wenig."
"Komm, setz dich neben mich." Er legte die zweite Decke um ihre Schultern und schlang die Arme um sie. Harley lehnte sich an ihn, drückte den Kopf gegen seine Brust und schmiegte sich behaglich gegen ihn. "Es war also Pech", sagte sie leise. "Schlechtes Wetter." Er seufzte tief auf. "Es gab auch noch andere Schwierigkeiten. Ein Instrumentenausfall, den niemand vorhersehen, konnte. Außerdem flog ich nachts. Es war ein routinemäßiger Frachtflug zwischen Anchorage und Fairbanks. Kennst du den Mount McKinley? Ganz in der Nähe ist es passiert. Ein unerwarteter Schneesturm kam auf. Sicht gleich Null. Plötzlich streifte ich Baumwipfel. Ich bin in einem günstigen Winkel heruntergekommen, sonst würde ich jetzt nicht hier sitzen." Sie drehte den Kopf und sah ihn an. "Konntest du aus der Maschine heraus und Hilfe holen?" "Ausgeschlossen. Die ganze linke Seite des Cockpits war aufgerissen, meine ganze linke Seite ebenfalls. Metall und Glas steckten in mir." Als sie fröstelte, drückte er sie fester an sich. "Ich war da drinnen aufgespießt wie ein Schmetterling in einem Schaukasten." "Konntest du nach dem Funkgerät greifen?" „Ja, aber es hat nicht mehr gearbeitet." "Was hast du getan?" "Zugesehen, wie es schneit. Ich habe durch die zerbrochene Scheibe in den nächtlichen Himmel geblickt. Und mir war klar, dass die Maschine bis zum Morgen zugeschneit sein würde. Ich würde sterben. Mein linkes Bein und so ziemlich jeder Knochen auf meiner linken Seite war gebrochen. Die Blutung war nicht schlimm, aber der Schmerz. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken. Hauptsächlich an meinen Dad. An ihn und meine Mutter." "Erinnerst du dich gut an sie?" "Nur bruchstückhaft. Ich erinnere mich an das Weihnachtsfest vor ihrem Tod. Sie trug ein grünes Seidenkleid, und das Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Ich bekam damals meine erste Gitarre. Bestimmt war das ihre Idee. Ich habe lange an dieses Weihnachten gedacht. Wahrscheinlich kam das von dem Geruch der abgebrochenen Tannen rings um mich herum." "Warst du die ganze Zeit wach?" "Nein. Irgendwann wurde ich bewusstlos, aber bis zur Morgendämmerung war ich bei mir. Der Schnee deckte die Maschine völlig zu. Ich erinnere mich an den Sonnenschein. Ich dachte, dass es das letzte Mal ist, dass ich die Sonne sehe. Meine Zigaretten lagen außer Reichweite. Das hat mich verrückt gemacht. Ich hätte beim Rauchen kein schlechtes Gewissen mehr haben müssen, weil ich ohnedies starb. Dann war ich wohl bewusstlos und erwachte durch das Kratzen einer Schaufel an der Fensterscheibe. Dann tauchte ein Gesicht auf, und ich begriff, dass man mich trotz allem gefunden hatte. Man hat mir erzählt, dass ich nach einer Zigarette verlangte, bevor ich wieder das Bewusstsein verlor. Eine Woche später kam ich im Krankenhaus zu mir." "Du warst eine ganze Woche bewusstlos?"
Er nickte und schloss die Augen. „Im Krankenhaus habe ich viel nachgedacht. Lange Zeit hat nichts mir etwas bedeutet. Dann stürzte ich ab, und Verschiedenes wurde wichtig. Mein Vater. Ich kam hierher zurück, weil er mein Vater ist, ganz gleich, was er auch getan hat. Und jetzt ... Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, aber ... du bist auch wichtig. Sehr wichtig sogar. Ich glaube, ich habe mich ... ich glaube ... " Er holte tief Atem. „Ich habe das noch nie zu einer Frau gesagt. Hilf mir, Harley. Sag mir, dass ich es sagen soll." Ihr Atem hörte sich sehr gleichmäßig an. "Harley?" Sie war eingeschlafen, genau wie sie ihn vorgewarnt hatte. Er drückte einen Kuss auf ihr Haar. Und jetzt? Sollte er sie wecken? Das brachte er nicht übers Herz. Und er konnte sie nicht ins Haus tragen. Behutsam ließ er sie auf die Decke gleiten, schmiegte sich an sie und deckte sie beide zu. Nicht zum ersten Mal schlief er an diesem Strand, aber zum ersten Mal hielt er im Schlaf jemanden in den Armen.
11. KAPITEL Am nächsten Vormittag suchte Harley in R.H.s Schreibtisch nach Briefmarken, während sie mit drei Dingen beschäftigt war: mit der Freude darüber, dass sie am Strand in Tuckers Armen aufgewacht war, mit der Übelkeit und den Kopfschmerzen, die ihr erster richtige Kater mit sich brachte, und mit der Telefonrechnung, die in zwei Tagen fällig war. Jede Tätigkeit strengte an, sogar die Suche in den Schubladen. Sie fand ein ledergebundenes Fotoalbum und hob es heraus, ohne es zu öffnen. Darunter lag eine vergilbte Zeitung mit einem Artikel samt Foto. Zwei Polizisten flankierten einen jungen Mann in Handschellen. Der junge Mann war Tucker. Tucker in Handschellen! Harley nahm die Zeitung aus der Schublade. Es war eine alte Ausgabe des Miami Herald. Eine Geschäftskarte war daran geklammert, Charles Madison jr., Rechtsanwalt mit einer Adresse an der Wall Street. Mit der Hand war auf die Karte geschrieben: R.H., ein Freund hat mir das geschickt. Lesen Sie den Artikel. Er wird Sie von der Ansicht heilen, dass mein Chet derjenige ist, der den schlechten Einfluss ausübt. C. M. Harley hatte plötzlich Herzklopfen. Eilig begann sie zu lesen. FBI schnappt Drogenschmuggler
Tucker Hale, 20, wurde heute um 5.30 Uhr, verhaftet, weil er Kokain und Marijuana transportierte ... Harley bekam plötzlich kaum Luft. Sie starrte auf das Foto. Tucker überragte die beiden stämmigen Polizisten. Das Haar hing ihm bis auf die Schultern, und er trug Jeans und ein Sweatshirt. Trotz der schlimmen Situation stand er hoch aufgerichtet da und wirkte grimmig, aber ruhig. Sie überflog den Artikel. Darin wurde geschildert, wie kurz nach Mitternacht FBI-Agenten vor der Küste von Florida beobachteten, wie sieben in Plastikfolie gewickelte Päckchen aus einer Piper Comanche ins Wasser geworfen wurden. Die Agenten griffen zu, als die Drogen von einem noch nicht identifizierten Komplizen in ein Schnellboot geladen wurden. Der Komplize eröffnete das Feuer und wurde bei dem nachfolgenden Schusswechsel getötet. Die Maschine war identifiziert worden und wurde zwei Stunden später nahe Miami auf dem Opa-Locka Airport entdeckt. Tucker Hole war als Eigentümer registriert. Die Agenten fuhren in Begleitung der Dade County Police zu Mr. Hales Wohnung. Er und sein Mitbewohner, Charles Madison III, wurden zum Verhör auf das Polizeirevier gebracht. Noch langwierigen Befragungen wurde Mr. Madison entlassen. Mr. Hole wurde verhaftet. Harley war fühlte sich elend, als der schwarze Jaguar in die Einfahrt bog. Tucker stieg mit einer Tüte aus. Hastig schob sie die Zeitung zurück in die Schublade. Als sie das Fotoalbum anhob, entdeckte sie darunter noch einen Zeitungsausschnitt mit der Geschäftskarte von Chets Vater. Die Schlagzeile verkündete, dass Tucker Hale in allen Anklagepunkten für schuldig befunden worden war und dass die Höchststrafe erwartet wurde. Der Verkaufswert der Drogen war mit über einer Million Dollar angegeben. Das Foto zeigte Tucker in einem Anzug, von etlichen Männern in Anzügen umgeben, wie sie die Stufen vor einem Gerichtsgebäude heruntergingen. Reporter umringten sie mit Kameras, und Mikrophonen. Tucker ignorierte alle und blickte geradeaus. Sie hörte Tucker auf dem Korridor und schloss hastig die Schublade. Er tauchte in der Tür auf und öffnete die mitgebrachte Tüte. "Ich wusste nicht, welche Sorte Bagels du magst. Darum habe ich von jeder Sorge welche mitgebracht." Harley sah Tucker in Handschellen vor sich und wandte sich ab. Er kam näher und legte ihr die Hand auf den Rücken. Sie zuckte zurück. "Was ist los?" fragte er leise. "Kater?" Sie nickte. "Hast du etwas gegessen?" Sie schüttelte den Kopf. "Dr. Hale empfiehlt ein Mohnbagel und anschließend schwimmen." "Ich kann nichts essen", brachte sie hervor. "Nichts?“ Er legte die Hand wieder auf ihren Rücken. "Du würdest dich besser fühlen, wenn du …“ "Ich werde laufen." Sie schüttelte die Hand ab und floh aus dem Zimmer.
Harley erledigte alle erdenklichen unnötigen Besorgungen, um möglichst lange wegzubleiben. Als sie am späten Nachmittag zurückkam, erklärte Tucker, Phil hätte sie beide eingeladen. Rob und Larry und ihre Frauen würden ebenfalls zu ihm kommen und Hummer kochen. Harley lehnte ab und schob den Kater vor. Er sollte ohne sie gehen. Sie wollte sich sofort hinlegen. Sobald es dunkel wurde, zog sie ihren roten Badeanzug an und ließ sich in den Pool gleiten. Spätestens bis morgen musste sie sich entscheiden, wie sie sich Tucker gegenüber weiter verhalten sollte. Jetzt wollte sie sich nur entspannen. Ein Geräusch auf der Terrasse schreckte sie auf. Tucker stand dort und streifte die Mokassins ab. "Ich dachte, du wolltest dich sofort hinlegen", sagte er. Sie zwang sich zu einer ruhigen Antwort. "Ich fühle mich jetzt besser." "Wirklich? Dann hast du nichts dagegen, wenn ich zu dir komme." Lächelnd zog er das T-Shirt über den Kopf. In Khaki-Shorts ließ er sich in den Pool gleiten. Sie holte tief Luft. "Warum bist du nicht mehr bei Phil? Es ist noch sehr früh." "Phil redet nur über Kitty. Gestern Abend hatte sie eine Verabredung mit dem Chef der kardiologischen Abteilung im Krankenhaus. Phil dreht deshalb fast durch, aber das ist gut so. Vielleicht nimmt er jetzt endlich meinen Rat an und zeigt ihr, wie gern er zu ihr zurück möchte. Jedenfalls war es ein ziemlich anstrengender Abend, aber das ist nicht der einzige Grund, aus dem ich weggegangen bin. Du hast dich nicht wohl gefühlt, und ich wollte nach dir sehen. Freut mich, dass es dir besser geht. Und es freut mich, dass du noch im Pool bist." "Ich wollte gerade heraussteigen", schwindelte sie.
"Du willst mir doch nicht den abendlichen Versuch verweigern, den großen
Preis zu gewinnen? Es dauert nicht lange." Es sei denn, du gewinnst, dachte Harley. Dann dauert es die ganze Nacht. Sie konnte nicht mit Tucker Haie ins Bett gehen, nachdem sie erfahren hatte, was er getan hatte. Sie war aber auch nicht auf eine Auseinandersetzung vorbereitet. Sie brauchte mehr Zeit. Rasch schätzte sie, dass seine Chancen, sie heute Abend einzuholen, bei ungefähr vierzig Prozent standen. „Also schön." Sie nahm ihren Platz ein. Bist du bereit?"
"Das bin ich immer. Heute Abend bin ich richtig in Stimmung.“
Harley stufte seine Chancen bei fünfzig Prozent ein.
"Ich fühle mich sagenhaft schnell."
Vielleicht sogar sechzig Prozent.
Sie holte tief Luft und stieß sie wieder aus.
"Eins ... zwei ... drei ... los!"
Vorwärts! Harley schwamm wie der Blitz. Sie hörte, wie er sie verfolgte. Panik
erfasste sie, als er aufholte. Schon fühlte sie die Turbulenzen im Wasser. Schwamm er Schmetterlingsstil? In seinem Zimmer stand ein Pokal: Tucker Hole, Erster Platz, 200-Meter-Schrnetterlingsschwimmen ...
Eine Sekunde, bevor sie den Beckenrand erreichte, schlang er die Hände um ihre Taille. Er hatte es geschafft! Nein ... nein ... nein ... Sie wollte sich aus dem Pool stemmen, doch Tucker hielt sie zurück. Er war ihr sehr nahe. Sie hörte seinen Atem, spürte durch das Wasser die Wärme, die von ihm ausstrahlte. Er schob ihr nasses Haar zur Seite, und dann fühlte sie, wie er sanft die warmen Lippen auf ihren Nacken drückte. Schauer liefen über ihren Rücken. Sie schloss die Augen. Sie wollte das nicht. Sie durfte es nicht zulassen. Hastig stemmte sie sich aus dem Pool, doch Tucker war direkt hinter ihr. Bevor sie aufstehen konnte, zog er sie auf die Terrasse und schob sich über sie. Vielleicht sollte sie behaupten, dass sie sich noch immer nicht wohl fühlte. Dann konnte sie sich eine Nacht lang überlegen, was sie ihm sagen sollte. Doch als sie den Mund öffnete, beugte er sich über sie und küsste sie leidenschaftlich, während er ihre Brüste streichelte. Ungeduldig löste er die Träger ihres Badeanzugs, zog ihn zu ihrer Taille herunter und legte die Hände auf ihre Brüste. Harley rang nach Luft und brach den Kuss ab. Er beugte sich hinunter und umschloss eine Brustspitze mit seinen warmen Lippen. Sie stöhnte verzweifelt und gleichzeitig sehnsüchtig, wollte seine Lippen an ihrem ganzen Körper fühlen, wollte ihn in sich spüren, wollte sich ihm schenken. Wie war das möglich? Wie konnte sie ihn begehren, obwohl sie die Wahrheit über ihn wusste? Er besaß die Macht, sie absolut alles vergessen zu lassen. Mit letzter Kraft schob sie ihn von sich und sprang auf, bevor er sie zurückhalten konnte. Mit dem Rücken zu ihm zog sie den Badeanzug hoch und band die Träger wieder fest. Er setzte sich auf. "Harley, was ist los?" Ohne ihm zu antworten, umrundete sie den Pool, griff nach ihrem Bademantel, den sie auf eine Liege gelegt hatte, und zog ihn an. Tucker stand auf und kam zu ihr. "Harley, rede mit mir." Sie wollte weitergehen, aber er versperrte ihr den Weg und hielt sie fest. "Was ist los, Harley?" Sie wich seinem Blick aus. "Ich will nicht ... so mit dir zusammen sein. Ich will es einfach nicht." "Das sehe ich. Könntest du mir den Grund verraten?" "Sieh mal, ich weiß, dass wir eine Abmachung getroffen haben ...“ "Vergiss die Abmachung. Darum geht es nicht. Hier geht es nur um dich und mich." Sie straffte sich. „Dich und mich hat es nie gegeben." "Was war dann den ganzen Sommer über? Könntest du mir das sagen?" „Ich wurde den ganzen Sommer über betrogen." "Was?" Sie schlug seine Hand weg. "Aber das ist jetzt vorbei." „Harley, ich verstehe nicht ..."
"Spare dir den Atem. Es ist aus." Sie ging ins Haus, blickte zurück und sah, wie er seine Brieftasche hervorzog und sie zornig über die Terrasse schleuderte. Sie lief in ihr Zimmer, schloss sich ein und legte sich zitternd auf das Bett. Es dauerte eine halbe Stunde, bis das Zittern aufhörte. Dann stand Harley auf und trat ans Fenster. Die Terrasse war dunkel. Vorsichtig öffnete sie die Tür, ging in ihr Bad, ließ Bademantel und Badeanzug auf den Boden fallen und nahm eine lange, heiße Dusche. In ein Handtuch gewickelt, das nasse Haar nach hinten gekämmt, kehrte sie in ihr Zimmer zurück - und erstarrte. Tucker war dort. Er stand an ihrer Kommode und öffnete die oberste Schublade, die sich in Höhe seiner Brust befand. Er hatte die nasse Khaki-Shorts gegen eine lange, olivgrüne Armeehose und ein weißes T-Shirt vertauscht. Jetzt betrachtete er das Handtuch und Harleys nackte Beine, ehe er sich wieder der Schublade zuwandte, darin herumtastete und einen, Stapel Schals hochhob. Dann schloss er die Schublade und öffnete die nächste. "Was suchst du?" fragte sie. „Meine Zigaretten." Er schob Socken beiseite. "Das kann nicht dein Ernst sein. Du hast sechs Wochen nicht geraucht. Warum willst du wieder anfangen?" "Mein Grund zum Aufhören ist weg." "Willst du nicht mehr gesund leben?" Er knallte die Schublade zu und riss die nächste auf. „Ich habe nicht wegen meiner Gesundheit aufgehört, sondern deinetwegen." Es war die Schublade mit ihrer Unterwäsche, und er bestaunte die Muster: Zebra, Leopard, Tiger, Dalmatiner, Schlangenhaut. "Da sind sie nicht', erklärte sie. Er schloss die Schublade und nahm sich die nächste vor. „Ich wollte in Form kommen, um dich zu gewinnen. Ich wusste, dass ich dich nicht einfach so erobern würde. Ich musste dich verdienen. Ich dachte, diese Frau ist etwas Besonderes. Sie verdient das Beste." Unter den T-Shirts lagen die Zigaretten ebenfalls nicht. Er zog die unterste Schublade auf und zögerte angesichts der BHs und Strumpfhosen. "Da drinnen sind sie auch nicht", sagte Harley. Er stand auf, sah sich um und machte sich über den Nachttisch her. "Ich habe mich bemüht, für dich der Beste zu sein. Und ich habe auf dich gewartet. Sechs Wochen lang habe ich mich zurückgehalten, und das war alles andere als einfach." Er sah sie an. "Ich dachte, du würdest verstehen, warum ich mir so viel Mühe machte. Ich dachte, du würdest mich genauso begehren wie ich dich." Tucker wandte sich ihrem Ankleidetisch zu, der nur eine Schublade hatte, und durchsuchte die wenigen Toilettenartikel. "Wahrscheinlich war ich ziemlich naiv", fuhr er fort. "Du bist auf einen Arzt oder Anwalt aus, genau wie Phil sagte. Nicht auf einen verkrüppelten Kerl, der die High School abgebrochen hat und sein Geld damit verdient, dass er Waren transportiert."
"So habe ich dich nie gesehen." „Ach nein? Ich weiß, dass ich mehr als das bin und dich verdiene. Vor sechs Wochen vielleicht noch nicht, aber jetzt. Nur du scheinst das nicht mehr zu wissen. " Frustriert sah Tucker sich um. Harley blickte unwillkürlich zum Bett. "Das ist nicht dein Ernst", sagte er, hob die Matratze mit einer Hand hoch und holte mit der anderen die beiden Packungen darunter hervor. „Hat man dir das im Wirtschaftsstudium beigebracht? Man versteckt Wertsachen unter der Matratze? Ich dachte, das wäre aus der Mode gekommen." Er schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und steckte die restlichen ein. „Tucker, nicht." Harley ging zu ihm und nahm ihm die Zigarette weg. Er hielt ihre Hand fest. "Beim ersten Mal war das irgendwie niedlich. Aber jetzt hat es seinen Charme verloren." Er nahm ihr die Zigarette wieder ab und ließ ihre Hand los, zog Streichhölzer hervor und steckte die Zigarette an. Dann setzte er sich auf die Bettkante. "Und nun? Was willst du? Sprich dich aus, Harley. Sag mir, was du wirklich willst. Soll ich verschwinden? Aber sag mir diesmal die Wahrheit." Die Wahrheit … „Ich weiß, dass du deinen Vater sehen willst. Und du bist hier mehr daheim als ich. Es käme mir daher komisch vor, dich hinauszuwerfen. Es macht mir nichts aus, wenn du bleibst. Du musst nur ... verstehen …“ "Dass ich mich von dir fernhalten soll." Er sah ihr in die Augen, "Dass ich dich nicht Schätzchen nennen soll, dich nicht berühren soll und dir nicht sagen darf, dass ich dich begehre. Ich darf nicht ständig an dich denken und mir vorstellen, wie ich dich liebe. Ich darf auch nicht nachts aufwachen, weil ich wieder von dir geträumt habe. Richtig?" Als sie ihn nur sprachlos ansah, senkte er den Kopf. "Du hast allerdings nicht den Eindruck auf mich gemacht, als wärst du eine von den Frauen, die es weit gedeihen lassen und einem dann den Boden unter den Füßen wegziehen." "Und du hast nicht den Eindruck eines Drogenkuriers gemacht", erwiderte sie. "Wir stecken wohl beide voller Überraschungen.“ Die Asche seiner Zigarette fiel auf den Teppich , ohne dass er es bemerkte. "Darum geht es?" fragte er endlich. "Ich habe im Schreibtisch deines Vaters zwei Artikel aus dem Miami Herald gefunden." Er stand auf. "Zeig sie mir.“ Nachdem Harley im Bad das Handtuch gegen ihren Bademantel eingetauscht hatte, führte sie ihn ins Arbeitszimmer. Er las beide Artikel, ohne eine Miene zu verziehen. Seine Stimme klang leise und rau und er überlegte sich jedes Wort sehr genau. „Ich verstehe, wie dir zumute war, als du das herausgefunden hast. Deine Kindheit wurde durch die Drogenabhängigkeit deiner Eltern ruiniert. Das ist ein Grund, aus dem ich dir nichts von Miami erzählen wollte. Du solltest nicht denken, ich hätte etwas mit Drogen zu tun. Und ich wollte vor allem nicht, dass du erfährst, dass ich im Gefängnis war. Nach meiner Entlassung fand ich heraus, dass sich niemand dafür interessiert warum man gesessen hat. Es ist den Leuten
gleichgültig, ob es gerecht war oder nicht. Dass man im Knast war, brandmarkt einen für immer als Kriminellen. Diesen Makel wird man nicht mehr los." Sie verschränkte die Arme. "Vermutlich soll ich dir glauben, dass deine Verurteilung ungerecht war. Er nickte leicht. "Ich wurde aufgrund von Chets Aussage verurteilt. Er schwor, dass ich die ganze Nacht nicht daheim war und erst eine halbe Stunde vor der Pzei auftauchte. Ich schwor, ich hätte seit elf Uhr geschlafen. Sobald Chets Vater von der Sache hörte, stellte er seinem Sohn einen erstklassigen Anwalt zur Verfügung. Ich wurde von einem überarbeiteten Pflichtverteidiger vertreten. Die Geschworenen glaubten Chet, und ich wurde in allen Anklagepunkten für schuldig befunden und sollte die Hälfte Meines restlichen Lebens hinter Gittern verbringen." "Du behauptest, du warst unschuldig?" fragte sie, und er nickte. "Aber warum hätte Chet lügen sollen? Ihr wart Freunde. Du hast seinetwegen einen Plattenvertrag abgelehnt. Er hätte dir doch dankbar sein müssen." Tucker seufzte müde. "Das sollte man meinen, aber manche Freundschaften sind sehr einseitig. Alle haben mich stets vor Chet gewarnt, aber ich war ... ich vertraute ihm vollständig. Und ich hatte nie geglaubt, dass er mir schaden würde." Er klopfte gegen die Tasche seines T-Shirts und holte das offene Päckchen heraus, betrachtete es einen Moment und warf es in den Papierkorb. Das volle Päckchen folgte. „Nach sieben Monaten wurde ich zum Gefängnisdirektor gerufen. Chet hatte eine Beechcraft Sierra geflogen, die mit Kokain und Heroin angefüllt war. Über Texas setzte der Motor aus. Er versuchte eine Notlandung und knallte gegen einen Getreidesilo. Die Maschine ging in Flammen auf. Sie haben ihn herausgezogen, aber er war ...“ Tucker starrte auf einen Punkt an der Wand. "Er lebte noch sechs Stunden. Die meiste Zeit war er bei Bewusstsein und er wußte, dass er sterben würde. Er redete pausenlos und hat in allen Einzelheiten geschildert, wie er sich damals, in jener verhängnisvollen Nacht meine Piper Cornanche auslieh, ohne mich zu fragen, und Drogen schmuggelte. Er beschrieb, wie er meine Verurteilung arrangierte, um sich selbst zu schützen. Die Polizei nahm sein Geständnis auf, die Ermittlungen wurden neu eröffnet, und ich wurde vollständig rehabilitiert. Vor sechzehn Jahren wurde ich am Weihnachtsabend freigelassen." Er holte tief Luft, öffnete die Schublade und legte die beiden Zeitungsausschnitte hinein. „Chets Vater hat es offenbar nicht für nötig gehalten, R. H. über das letzte Kapitel zu informieren. Wahrscheinlich glaubt mein Vater, ich wäre noch immer im Gefängnis. Und wahrscheinlich ist er froh, dass die Leute mich für tot halten und wünscht sich, ich wäre es.“ Harley wusste nicht, was sie sagen sollte. Tucker stand auf und ging zur Tür. "So war es wirklich, Harley. Ob du mir glaubst oder nicht, liegt an dir."
Damit drehte er sich um und verschwand. Am nächsten Vormittag fuhr Harley nach Stony Brook, um in der Universitätsbibliothek die Fakten nachzuschlagen. "Haben Sie alte Ausgaben des Miami Herald auf Mikrofilm?" fragte sie die Angestellte. Die Frau blätterte in einem Magazin. "Welches Jahr?" "Vor sechzehn Jahren. Vierundzwanzigster Dezember." Minuten später reichte die Angestellte ihr den Mikrofilm. "Den müssen Sie hier wieder abgeben, wenn Sie fertig sind." Harley setzte sich an das Lesegerät und überflog Seite um Seite. Nichts auf Seite eins, nichts auf Seite zwei, nichts auf Seite drei ... Bestimmt gab es doch eine öffentliche Erklärung über Tuckers Entlassung! Nach zehnminütiger Suche fand sie endlich, wonach sie suchte, irgendwo weit hinten in der Zeitung. Hektisch drehte sie an den Einstellknöpfen und las den Artikel. Tucker Hale heute aus dem Gefängnis entlassen
Tucker Hole, 21, zu Unrecht wegen Drogenhandels verurteilt,
wurde heute Vormittag aus dem Gefängnis entlassen.
Erleichtert lehnte Harley sich zurück. "Gott sei Dank", flüsterte sie. Der Stuhl kippte um, als sie aufstand, nach ihrer Handtasche griff und zur Tür lief. "Miss!" rief die Angestellte hinter ihr her. "Sie müssen den Film hier abgeben! Das habe ich Ihnen doch gesagt!" Eine halbe Stunde später sag Harley neben Tucker auf der Steinmauer zum Strand. Er war wie benommen. Zuerst dieser Anruf, während sie weg war. Dann Harleys Rückkehr und ihre unerwartete Entschuldigung, die er gern freundlich angenommen hätte. Er fühlte sich im Moment jedoch des andere als freundlich. "Ich wünschte ... " Er seufzte. „Ich wünschte, es wäre dir nicht so leicht gefallen, das Schlimmste von mir anzunehmen. Ich weiß, man tut nicht so einfach etwas ab, das man schwarz auf weiß liest, aber ein kleiner Zweifel wäre nicht schlecht gewesen." Sie nickte und blickte auf die in der Sonne glitzernde Fläche des Long Island Sound hinaus. "Es tut mir leid, dass ich nicht daran gezweifelt habe. Ich habe voreilige Schlüsse gezogen. Wahrscheinlich, weil ich Angst hatte." "Angst? Vor mir?" Sie blickte auf ihre im Schoß verkrampften Hände. "Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, als du sagtest, ich würde Unordnung oder Überraschungen in meinem Leben nicht ertragen. Ich habe dich nicht in meinem Leben erwartet. Und ich habe ganz sicher nicht erwartet, dass ich etwas für dich empfinden werde. Es tut mir leid, dass ich damit nicht fertig wurde. Ich habe alles verdorben. Ich würde gern von vorne beginnen, wenn das möglich wäre. Ich
verspreche dir, dass ich meine Vorurteile nicht in unsere Beziehung einbringen werde. Nachdem du erklärt hast, was wirklich passiert ist ...“ "Du meinst, nachdem du in der Bibliothek warst und meine Erklärung, überprüft hast." Der Hieb saß. Sie wurde rot und blickte weg. "Schätzchen, es tut mir auch leid", versicherte er. "Es tut mir leid, dass du mir nicht einfach glauben konntest. Aber mir tut auch leid, welche Rolle ich bei allem gespielt habe. Ich hätte dir die Sache nicht verheimlichen sollen. Das ist mir jetzt klar. Und dafür entschuldige ich mich auch. Uns beide trifft Schuld. Aber vielleicht ist es so am besten. Ich meine, was haben wir schon gemeinsam, abgesehen davon, dass unsere Mütter Selbstmord begangen haben? Vielleicht sind wir beide einfach nicht für einander bestimmt." Sie biss sich auf die Unterlippe, und er widerstand dem Wunsch, sie in die Arme zu nehmen und sie zu trösten. Hätte er sie jetzt an sich gezogen, hätte er sie auch geküsst. Und wenn er sie küsste ... Nein. Es gab schon genug Komplikationen. Ein sauberer Schlussstrich war besser. "Liz hat angerufen", sagte er und beobachtete zwei Segelboote, die in Richtung Atlantik fuhren. "Während du in der Bibliothek warst. R.H. hatte einige leichte Herzanfälle und kürzt seine Segeltour ab. Er ist jetzt in Fort Lauderdale und hat für morgen früh einen Flug gebucht. Liz holt ihn in La Guardia ab und bringt ihn her. Morgen gegen ein Uhr mittags werden sie hier eintreffen."
12. KAPITEL Tucker fuhr den ganzen Nachmittag und Abend ziellos mit dem Jaguar herum. Es war schon dunkel, als er zurückkam. Im Haus brannte Licht, und hinter den Küchenvorhängen nahm er schattenhaft eine Bewegung wahr. Eine Weile blieb er noch im Wagen sitzen, dann stieg er aus und ging zu der niedrigen Steinmauer am Meer. Dort saß er, betrachtete das schwarze Wasser und atmete tief den Duft ein - Lavendel und Thymian, Salz und Seegras. Der Duft von Hale's Point. Er würde ihn vermissen. Nachdenklich blickte er zum Haus. Der schwäche bläuliche Lichtschimmer, der auf die Terrasse fiel, zeigte an, dass die Poolbeleuchtung eingeschaltet worden war. Wo war Harley? Ach ja, da ... Sie ging in ihrem weißen Bademantel zum Schwimmbecken. Als sie ihn auszog, wandte Tucker sich wieder dem Meer zu. Das Rauschen der Wellen mischte sich mit dem Plätschern im Pool. Harley schwamm nicht lange. Bald darauf erkannte Tucker an den Geräuschen, dass sie
aus dem Wasser stieg. Er warf einen Blick über die Schulter zurück - und erstarrte. Sie war nackt. Ihr geschmeidiger Körper schimmerte wie feuchter Marmor, als sie zu der Dusche im Freien ging und sie aufdrehte. Ob Harley wusste, dass er hier war? Der Jaguar parkte in der Einfahrt. Mit dem Rücken zu ihm stand sie unter dem Wasserstrahl. Doch dann drehte sie sich um, legte den Kopf in den Nacken und ließ das Wasser durch ihr Haar fließen. Sie war perfekt. Noch nie hatte er eine Frau gesehen, die so schön war wie sie. Seufzend richtete er wieder den Blick auf die nachtschwarze See. Leise Schritte im Gras kündigten an, dass Harley sich näherte. In ihrem Bademantel kam sie auf ihn zu und nahm ihn bei der Hand. In ihrem Blick las er eine stumme Einladung. "Ich reise morgen ab", sagte er. Sie nickte. Offenbar hatte sie das erwartet. Ohne seine Hand loszulassen, trat sie noch einen Schritt näher und kniete sich zwischen seine Beine ins Gras. "Dann sollten wir die Zeit nutzen, die uns bleibt." Das waren seine Worte am ersten Abend gewesen, als er in ihr, Zimmer gekommen war und ihren Körper gewollt hatte, aber nicht sie. Da war er noch nicht in sie verliebt gewesen. Alles war noch nicht so aufregend und wunderbar ... und letztlich so aussichtslos gewesen. Harley war diejenige, die handelte. Sie ließ seine Hand los und zog ihn zu sich heran, um ihn leidenschaftlich zu küssen. Sie hatte ihn bisher noch nie von sich aus geküsst, und nach kurzem Zögern wurde er von glühendem Verlangen gepackt. Er schlang die Arme um sie und hätte nicht aufhören können, selbst wenn er gewollt hätte. Er presste den Mund auf ihre Lippen und nahm begierig ihren, Duft und ihre Wärme in sich auf. Sie umarmte ihn und schmiegte sich noch fester an ihn. Es war ein wilder, berauschender Kuss, und als Tucker schließlich Luft holen musste, stieß er ihren Namen hervor. Wie in Zeitlupe sanken sie ins Gras, und wieder verschmolzen ihre Lippen miteinander, und sie vergaßen alles andere um sich herum. Ohne den Kuss zu unterbrechen, rollten sie sich auf die Seite. Tucker streichelte ihr nasses Haar, ihre Schultern und ihren Rücken, fuhr mit den Händen unter ihren Bademantel und drückte sie an sich, um ihr zu zeigen, welche Wirkung sie auf ihn hatte. Harley schob ein Bein zwischen seine Schenkel und bewegte die Hüften, und er steuerte ihre Bewegungen mit den Händen. Alle Bedenken verflogen angesichts des Feuers, das ihr Blut erhitzte. Es war wundervoll und atemberaubend - doch alles geschah viel zu schnell. Es war für Harley das erste Mal, und er musste langsam vorgehen, aber wenn er so weitermachte, würde ihm das nicht gelingen. Schwer atmend lockerte er die Umarmung, streckte sich im Gras aus, schloss die Augen und rang um Selbstbeherrschung.
Ihre Fingerspitzen waren kühl, als sie sanft über sein Haar, sein Gesicht und seinen Hals strich. Er öffnete die Augen. Harley saß neben ihm und blickte auf ihn hinunter. Im Mondschein erkannte er, wie traurig sie wegen des bevorstehenden Abschieds war. Er griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuss in die Handfläche. "Denk nicht daran", bat, er leise. "Denk nur an jetzt." "Ich will überhaupt nicht denken", hauchte sie und tastete nach dem Knoten ihres Gürtels. Augenblicklich verflog Tuckers Selbstbeherrschung. Ungeduldig packte er sie an den Schultern, kniete sich über sie und zerrte an dem Gürtel, bis er sich öffnete. Langsam, ermahnte Tucker sich. Der Bademantel, der ihn den ganzen Sommer über gelockt und gereizt hatte, war nicht mehr zugeknotet, aber auch noch nicht offen. Halt dich zurück, befahl er sich. Um ihretwillen. Harley fühlte seinen inneren Kampf und betrachtete sein Gesicht, während er langsam ihren Bademantel auseinander schob und voller Bewunderung ihren Körper betrachtete. Zu ihrer Überraschung wurde sie nicht im geringsten unter seinem Blick verlegen, genau wie sie sich nicht geschämt hatte, als sie in der Hoffnung nackt schwamm, er würde sie sehen und zu ihr kommen. Er strich mit dem Zeigefinger über ihre Stirn. "Nicht nachdenken", erinnerte er sie leise. Sie zwang sich zu einem Lächeln. "Okay." Er schob die Finger in ihr Haar und streichelte es, bis sie wohlig die Augen schloss, und strich dann behutsam über ihre geschlossenen Lider, die Wangen und Lippen. Sie fand es rührend, dass er ihrem Gesicht so viel Aufmerksamkeit widmete, während sie nackt unter ihm lag. Mit den Fingerspitzen glitt er über ihren Hals und ihr Dekollete. Harley war wie elektrisiert von seinen Berührungen, die wie Vorboten eines sich ankündigenden Sturms waren. Sie fühlte ein leichtes Prickeln in den Brüsten, noch ehe er die Hände auf sie legte, und als er sie streichelte, stöhnte sie und spürte, wie die Knospen hart wurden und sich aufrichteten. Behutsam strich er mit den Handflächen darüber, neigte den Kopf und umschloss die eine Spitze mit seinen warmen Lippen, fuhr leicht mit den Zähnen über die zarte Haut und löste heiße Schauer in Harley aus. Sie öffnete die Augen. Tucker war noch immer vollständig bekleidet. Sie setzte sich auf und zerrte an seinem T-Shirt. Er zog es sich über den Kopf und schleuderte es von sich. Sie küsste seinen Hals und die breiten Schultern und erforschte ihn genüsslich mit den Händen, während er ihr Haar streichelte. An der Narbe auf der linken Seite stockte sie, dachte an seine schrecklichen Verletzungen. „Tucker ... das tut dir doch nicht weh, oder?" Er lachte ungläubig. "Du machst dir Sorgen, dass du mir weh tun könntest? Ich habe schreckliche Angst, ich könnte dir weh tun. Beim ersten Mal ... es wäre möglich ... "
Es erregte sie, wie er darüber sprach, dass sie sich jetzt lieben würden. "Dann haben wir beide Angst. Du fürchtest, du könntest mir weh tun, und ich habe Angst, ich könnte dich enttäuschen." "Wie könntest du mich...“ "Ich weiß nicht, ob ich ... Ich meine, Brian sagte immer, ich wäre möglicherweise fr... " "Brian ist ein Idiot. Das habe ich dir schon gesagt." "Aber ..." "Du denkst nicht nur zuviel, du redest auch zuviel." Mit einem alle Bedenken auslöschenden Kuss verschloss er ihr den Mund, knabberte dann an ihrem Ohr und flüsterte: "Ich werde dir zeigen, wie unrecht Brian hatte." Er stütze sich auf einen Ellbogen und strich mit der Hand über ihre Brust und ihren Bauch, hielt kurz inne und streifte dann das lockige Dreieck zwischen ihren Schenkeln. Sie rang nach Luft, verkrampfte sich und grub die Finger ins Gras. "Ganz entspannt', flüsterte er heiser. "Ich weiß, aber ..." Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als er sich weiter vortastete und sanft das Zentrum ihres Lustempfindens liebkoste. Pulsierende Wärme durchströmte in Wellen ihren Körper vom Kopf bis zu den Zehenspitzen, und ihr Herz raste. Überwältigt schloss sie die Augen, wartete atemlos darauf, dass er sein süßes Spiel fortsetzte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hob sie die Hüften, und Tucker bog ihre Schenkel auseinander. Harley zuckte zusammen, holte geräuschvoll Luft und öffnete die Augen. Er lächelte aufmunternd. "Ganz locker", hauchte er. "Lass dich gehen. Bitte vertrau mir." Er beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss, ohne die intimen Zärtlichkeiten zu unterbrechen. "Du bist so schön", flüsterte er. Verlegen wandte Harley den Kopf zur Seite und versuchte ihr Gesicht zu verbergen, während sie sich unter seinen streichelnden Händen wand. Als fühlte er, dass sie nicht beobachtet werden wollte, senkte er den Kopf auf ihre Brüste und nahm eine empfindsame Knospe in den Mund, um sie mit der Zungenspitze zu verwöhnen. Seine Liebkosungen versetzten Harley in einen herrlichen erotischen Spannungszustand, der immer intensiver wurde, bis sie meinte, es nicht länger auszuhalten. Sie war ganz nahe an etwas, das sie nicht beschreiben konnte ... etwas, das sie von ganzem Herzen herbeisehnte. Er fand die verborgene Quelle ihrer Lust, und eine kurze Berührung reichte aus, um Harley einen Schrei des Entzückens zu entlocken. Sie bog den Rücken durch und umklammerte seine Arme so fest, dass ihre Fingernägel sich tief in seine Haut pressten. Er zog die Hand zurück. "Nein!" stöhnte sie. "Ich will es mit dir erleben", flüsterte er, drehte sich auf die Seite und wollte seine Hose abstreifen. Harley kam ihm jedoch zuvor und zog den Reißverschluss seiner Hose mit einer von Leidenschaft diktierten Eile auf, die
sie bis jetzt noch nicht gekannt hatte. Er hob die Hüften an und zog sich die Jeans und den Slip aus. Harley starrte wie gebannt auf seinen kraftvollen nackten Körper, nahm jede Einzelheit in sich auf. Tucker ließ ihr Zeit. Sie setzte sich auf und schloss unwillkürlich wieder ihren Bademantel. Tucker streckte die Hand aus und streichelte ihren Arm durch den rauen Frotteestoff hindurch und führte ihre Hand zwischen seine Schenkel. „Tucker, ich denke ..." "Sst." Er gab ihre Hand nicht frei. "Nicht denken …“ Sein Atem beschleunigte sich, als sie ihn berührte. "Ich habe dir gesagt, dass es wundervoll sein wird. Vertrau mir." "Ja, aber ..." Er setzte sich auf und schob sie wieder ins Gras. "Vertrau mir", flüsterte er, streichelte mit der einen Hand ihre Wange und suchte mit der anderen erneut jene Stelle, an der sie Qual und Ekstase erlebte. Diesmal ließ er einen Finger eindringen. "Oh ..." hauchte sie. "Was machst du?" Er ließ einen zweiten Finger folgen. "Ich will dir helfen, damit ich dir nicht weh tue. Ich werde so vorsichtig wie möglich sein." Nach einem langen Kuss zog er die Hand zurück. "Da wir gerade von Vorsicht sprechen ... " Er holte die Brieftasche aus der Jeans, nahm die kleine quadratische Verpackung heraus und riss sie auf. Um zu beweisen, dass sie nicht mehr ängstlich war, sagte Harley: "Ich möchte dir helfen." Er zeigte ihr, wie das Kondom zu verwenden war, und sie bemühte sich, es ihm so geschickt wie möglich überzustreifen. Er packte sie an den Schultern und holte tief Luft. "Mache ich etwas falsch?" fragte sie mit einem mutwilligen Lächeln, das im Gegensatz zu ihrem unschuldigen Tonfall stand. "Absolut nicht." Trotzdem zog er ihre Hand weg. "Du machst es zu gut. Du lernst schnell." Sie ließ sich ins Gras zurücksinken. "Ich war immer eine gute Schülerin." Er senkte sich auf sie, zog sie in die Arme und küsste sie auf Stirn und Lider, Nase, Wangen und Kinn. Dann schob er sich zwischen ihre Beine, stütze sich auf einen Ellbogen, nahm ihre rechte Hand, küsste ihre Fingerspitzen und schob sie nach unten. "Du führst mich." Er sah ihr tief in die Augen, während sie ihn etwas zögernd leitete. "Du bist so eng", raunte er ihr zu. "Ist es gut für dich?" Sie nickte erleichtert, doch dann fühlte sie, dass er noch kaum in sie eingedrungen war. Er küsste sie auf die Augenlider und flüsterte: "Entspann dich, und vertrau mir."
Er hielt sie fester umschlungen, und sie legte die Arme um seinen Rücken. Ganz langsam drang er tiefer und tiefer in sie ein, während er beruhigend auf sie einsprach. Es war ein herrliches Gefühl, von diesem Mann erobert zu werden. Als er sie ganz ausfüllte, schob er die Hände unter ihre Hüften und zog sie an sich. Diesmal übte er mehr Druck aus, und sie zuckte zusammen, doch dann fühlte sie, wie etwas in ihr nachgab, und er sank aufstöhnend auf sie. "Wie ist es für dich?" flüsterte er. "Überwältigend", erwiderte sie genauso leise. Er legte seine Stirn an ihre. "Für mich auch. Ich habe mir das so lange gewünscht, und ich habe es mir oft vorgestellt. Aber ich hätte nie gedacht, dass es so schön sein würde." Seine Hand glitt zu der Stelle, an der sie miteinander verbunden waren. Durch sein Streicheln erregte er Harley so sehr, dass Harley sich unbewusst wild unter ihm wand und sich an seine Arme klammerte. Er zog sich ein wenig zurück, drang wieder in sie ein ... Es war die reinste Qual und gleichzeitig pure Seligkeit, ein Schweben zwischen Erregung und Erfüllung. Harley presste die Hände auf seinen Rücken und bog sich ihm entgegen. "Bitte", stöhnte sie. Er sank auf sie, zog sich zurück und vereinigte sich wieder tief mit ihr. „Ja", hauchte sie und kam ihm entgegen. Sie hörte, wie er ihren Namen flüsterte, dass er ihr sagte, wie schön sie war. Er hielt ihre Hände fest, als sie den Kopf zurückwarf. Wie von Sinnen bewegte sie sich unter ihm, während er das Tempo steigerte und sie zum Höhepunkt trieb. Als sie Erfüllung fand, erstickte er ihre Schreie mit einem tiefen, verlangenden Kuss, und einen Augenblick später erreichte auch er den Gipfel der Lust. Immer noch eng umschlungen, genossen sie das sanfte Abklingen der Leidenschaft. Tuckers Hand zitterte, als er ihr Haar streichelte. "Wow", flüsterte sie. "Das sollte eigentlich ich sagen, erinnerst du dich noch?" sagte er, während seine Lippen ihr Ohr streiften. "Weißt du, was ich glaube?" "Was?" "Brian ist ein Idiot", gestand sie. Er lachte. „Ich hatte keine Ahnung, dass es so ... so phantastisch sein könnte." "Das ist es auch nicht", versicherte er. "Ich meine, für gewöhnlich nicht. Auch für mich war es noch nie so. Niemals." Er presste das Gesicht an ihren Hals und drückte einen Kuss darauf. "Und wahrscheinlich wird es auch nie wieder so sein."
13. KAPITEL
Tucker sah Harley am Fenster des Arbeitszimmers stehen. Sie beobachtete, wie er seine Sachen in den Kofferraum des Jaguars lud. Dabei telefonierte sie. In der letzten Nacht waren sie in jeder in ihr Zimmer gegangen. Tucker konnte sich nicht vorstellen, neben Harley aufzuwachen und sie dann zu verlassen. R.H. hatte durch Liz ausrichten lassen, dass Harley bis zum September bleiben sollte. Das Hausmädchen kehrte erst dann zurück, und er brauchte jemanden, der sich um alles kümmerte, besonders angesichts seiner angegriffenen Gesundheit. Harley sollte R.H. nicht versorgen. Sie sollte als Gast behandelt werden, der ein wenig aushalf. Es war keine Überraschung, dass sich diese Gastfreundschaft nicht auf Tucker erstreckte, obwohl Liz R.H. berichtet hatte, dass er hier war. Zehn Minuten später saß Tucker hinter dem Steuer. Harley verschwand vom Fenster und setzte sich gleich darauf neben ihn. "Das war Phil“, erklärte sie. "Ich soll dir ausrichten, dass du doch nicht so dumm bist." "Was meint er damit?" "Er sagte, er ruft aus der Burg an." "Das ist das Haus von Kittys Eltern." "Er sagte, du solltest es sehen. Alle zweiundzwanzig Räume wären buchstäblich mit bunten Luftballons angefüllt, auf denen ‚Ich liebe dich, Kitty' steht. Kittys Eltern sind nicht erfreut, aber die Jungs sind begeistert. Und Kitty auch. Sie pfeift die Anwälte zurück und bleibt bei Phil." "Es hat funktioniert. Wow!“ "Das war deine Idee? Was für ein genialer Einfall!" Er verzog das Gesicht. "Ach, ich weiß nicht." Für einen Moment schwiegen sie betreten. Dann bemühte Harley sich um einen normalen Ton. "Ich habe Phil gefragt, ob euer Tauschgeschäft - dein Jaguar gegen sein Haus - abgesagt ist. Er hat gelacht und gefragt, ob ich das ernst genommen hätte und keinen Scherz verstehe. Und ich sagte, ich hätte noch nie einen Scherz verstanden, würde aber daran arbeiten. Seine Söhne wollen die Ballons über dem Meer steigen lassen. Er will den ganzen Tag warten, um Lord und Lady Acton-Kemp möglichst lange zu ärgern. Ich soll dir ausrichten, du sollst bei Sonnenuntergang den Himmel beobachten." Er konnte sie nicht ansehen. „Ich fürchte, dann werde ich nicht mehr hier sein." "Du willst sofort aufbrechen, wenn dein Vater heimkommt? Hallo, Dad, leb wohl, Dad?" "Nein, wahrscheinlich schon vorher." "Vorher? Sie werden in ungefähr einer Stunde hier sein." Er holte tief Atem. „Tut mir leid, Harley. Ich weiß, wann es besser ist zu gehen."
Sie nickte. "So etwas Ähnliches hast du auch am ersten Abend gesagt. Wärst du damals deinem Instinkt gefolgt, wärst du jetzt in Alaska." "Und ich würde noch immer mit einem Stock gehen und rauchen und ständig Schmerzen haben. Ich weiß. Ich bin froh, dass ich hier geblieben bin, und ich werde dafür immer in deiner Schuld stehen. Ich werde dich immer lieben." Er sprach die Worte aus, ohne zu überlegen. Harley sah ihn groß an. „Ich liebe dich, Harley. Wirklich. Du bist die erste Frau, die ich jemals geliebt habe, und die erste, auf die ich jemals gewartet habe, die einzige, um die ich mich bemüht habe und für die ich sogar ein besserer Mensch werden wollte. Ich wollte, dass es zwischen uns klappt, aber als es hart auf hart ging, klappte es leider nicht. Vielleicht sind wir zu verschieden, als dass eine Beziehung zwischen uns funktionieren könnte." "Phil und Kitty sind auch verschieden, und ihre Beziehung funktioniert. Sie haben eine Krise überstanden, weil Phil sich an deinen Rat gehalten hat. Er hat nicht aufgegeben. Das darf man auch nicht, wenn etwas Bestand haben soll. Man sorgt dafür, dass es funktioniert. Man läuft nicht weg. Ich weiß, dass du es nicht anders kennst. Ich weiß auch, dass du Angst hast." "Angst?" "Vor einer Bindung. Aber du kannst nicht einfach weggehen und so tun, als wäre nichts passiert. Diesmal nicht, Tucker. Du kannst mich nicht dazu bringen, mich in dich zu verlieben, und dann ..." Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie ärgerlich wegwischte. "Und dann einfach weggehen!“ Tucker saß schweigend da. Harleys tränenreiche Liebeserklärung hatte ihn getroffen. So ist das also wenn zwei Menschen sich lieben, dachte er. Ganz schön unheimlich! "Ich würde dich zum Wahnsinn treiben", sagte er leise. "Genau wie ich meinen Vater zum Wahnsinn getrieben habe. Du bist ihm sehr ähnlich.“ "Unterschätze deinen Einfluss nicht", widersprach sie. "Ich bügle meine Jeans nicht mehr." Tucker lächelte. "Und dabei habe ich mich fast schon an die Bügelfalten gewöhnt." "Die gehören der Vergangenheit an. Und wenn ich mich ändern kann, dann kann das auch dein Vater. Bleib wenigstens, bis er herkommt. Er wird mit dir rechnen." "Er wird sich freuen, wenn er mich nicht sehen muss." "Du bist sein Sohn.“ Tucker rieb sich den Nacken. "Er denkt, ich wäre gerade erst aus dem Gefängnis gekommen, Harley. Er glaubt, ich hätte mein Geld mit Drogenhandel verdient. Bestimmt schämt er sich für mich und ist entsetzt, weil ich in den letzten sechs Wochen in seinem Haus gewohnt habe." "Dann hast du jetzt Gelegenheit, das alles klarzustellen. Erzähle ihm, was wirklich passiert ist. Er Wird sich nicht so dumm anstellen wie ich."
"Es klappt nicht. Wir sind zwei Menschen, die nicht zusammenpassen. Dass ich im Knast war, ob gerechtfertigt oder nicht, kommt noch hinzu. Er hat mich damals gehasst, und er wird mich jetzt noch mehr hassen." "Er hat dich gehasst? Hast du jemals darüber nachgedacht, warum er dein Zimmer einundzwanzig Jahre nicht verändert hat? Warum zwei Fotos von dir auf seinem Schreibtisch stehen?" Sie drehte sich ihm. "Offenbar hat er dich vermisst. Wahrscheinlich bereut er seine Fehler, die dich vertrieben haben." "Es wäre besser gewesen, er hätte sie gar nicht erst begangen." "Sieh mal, ich war damals nicht hier, und ich weiß nicht, was wirklich passiert ist. Aber nach allem, was ich weiß, ziehe ich gewisse Schlüsse. Ich weiß, dass deine Mutter sich das Leben genommen hat, und ich weiß, dass dein Vater zumindest teilweise dafür verantwortlich war. Vermutlich hat er sich das selbst nie eingestanden. Menschen schützen sich, indem sie nicht anerkennen, dass sie etwas Schreckliches ausgelöst haben. Im Fall deines Vater war es der Selbstmord der Frau, die er wirklich liebte. Also schiebt er die Schuld Anjelica und ihrer impulsiven Natur zu." "Das ist unfair." "Wahrscheinlich. Um dich hat er sich Sorgen gemacht, weil du wie sie kreativ warst. Er verstand das nicht, und er hat gefürchtet, auch du könntest dein Leben zerstören, wenn er keinen Riegel vorschiebt. Also wollte er dich erziehen, weil er dich liebte. Nicht, weil er dich hasste. Im Grund deines Herzens weißt du, dass er dich trotz allem liebt. Warum sonst hast du an ihn gedacht, nachdem du abgestürzt warst? Warum sonst bist du hergekommen? Du wolltest dich mit ihm aussöhnen." "Ich ... wollte ihn wieder sehen. Es wäre großartig, mich mit ihm auszusöhnen, aber damit habe ich eigentlich nie gerechnet." "Damit kannst du auch nicht rechnen, wenn du verschwindest, bevor er herkommt." Sie holte den kleinen Samtbeutel aus ihrer Tasche. "Das kann ich nicht behalten." „Ich habe schon gesagt, dass ich die Ohrringe nicht zurücknehme.“ „Tucker…“ "Kann ich dir nicht wenigstens durch diese kleine Geste für alles danken? Nimm mir das nicht weg. Behalte sie. Bitte!" Er beobachtete, wie sie zögerte und dann nickte. "Ich möchte sie an dir sehen. Darf ich?" Sie legte die Ohrringe an und sah ihn an. Er schob das Haar hinter ihre Ohren. Es stimmte. Gold und Rubine passten wunderbar zu ihr. Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Stirn. Sie schlang die Arme um ihn und erwiderte den Kuss so sehnsüchtig, dass er von Verlangen überwältigt wurde. Als sie schließlich seine Lippen freigab, fühlte er ihre Tränen auf seinem Gesicht. "Ich will, dass du mehr für mich bist als eine schöne Erinnerung“, sagte sie leise. "Aber ich kann dich nicht zwingen zu bleiben. Geh fort, wenn du musst, doch ich kann nicht zusehen, wie du wegfährst. Das würde ich nicht ertragen." Sie zog sich zurück und betrachtete ihn, während er ihr mit bebenden
Fingern die Tränen von den Wangen wischte. „Ich gehe an den Strand hinunter. Ich werde laufen." Er nickte, schluckte schwer und wusste nicht, was er sagen sollte. Sie streichelte seine Wange. "Hoffentlich bist du hier, wenn ich zurückkomme." Er rieb sich über die Augen, während er hörte, wie sich die Wagentür öffnete, und rang um Fassung. Als er die Augen wieder öffnete, lief Harley bereits zum Strand. Harley stieg die Stufen vom Strand zum Garten herauf und ging zur Vorderseite des Hauses. Ihr Herz klopfte heftig. Ob Tuckers schwarzer Jaguar in der Einfahrt stand? Er war nicht da. "Nein", flüsterte sie aufschluchzend, sank ins Gras, vergrub das Gesicht in den Händen und gab sich ihrer Verzweiflung hin. Als sie einen Wagen auf der Straße hörte, blickte sie wieder hoch. Ein blauer Volvo, Liz' Wagen, bog in die Einfahrt. Harley sprang auf und lief zum Haus, fuhr sich hastig mit einem Geschirrtuch übers Gesicht und setzte ihre Sonnenbrille auf. Niemand sollte sehen, dass sie geweint hatte. Dann öffnete sie die Haustür und trat auf die Veranda hinaus. Es war kaum zu glauben, dass R.H. den Segeltörn aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen hatte. Für einen Mann, der auf die Siebzig zuging, wirkte er bemerkenswert fit. Vielleicht lag es aber auch nur an der Sonnenbräune. Harley fiel sofort die Ähnlichkeit mit seinem Sohn auf. Sein weißes Haar war so kurz wie Tuckers, und er war auch fast so groß. Seine hellblauen Augen hoben sich stark von der gebräunten Haut ab. Er wirkte alles andere als glücklich. Liz, groß und schlank und mit einer würdevollen Haltung, wirkte wie R.H.s Zwillingsschwester, allerdings in besserer Stimmung. Sie trug einen Hosenanzug, und ihr kurzes graues Haar war unter einem Strohhut verborgen. Die lange Hose überraschte Harley. Sie hatte ihre frühere Professorin stets nur in Chanel-Kostümen gesehen. Offenbar kleidete sie sich im Ruhestand lässiger. Liz küsste sie auf beide Wangen. R.H. schüttelte ihr die Hand und sah sich um. Harley räusperte sich. "Wie war der Flug, Mr. Hale?" "Ein Flug ist wie der andere." „Haben Sie schon gegessen? Ich kann ihnen etwas ...“ "Machen Sie sich keine Mühe", warf Liz ein. "Wir haben unterwegs angehalten." Auch sie sah sich um. Die beiden suchten Tucker. "Eistee?" bot Harley an. "Oder Limonade? Ich habe frische Zitronen und kann... " "Wir möchten nichts, meine Liebe", wehrte Liz ab. "Wo ist Tucker?" Beide sahen sie an. Sie bemühte sich um einen ruhigen Ton. „Tucker ist nicht mehr bei uns." Genau diese Worte hatte R.H. benutzt, als sie ihn nach seinem Sohn fragte.
Liz zögerte. "Meinen Sie damit, er ist nur kurz weg, oder ...“ Kies knirschte am Ende der Einfahrt. Alle drei drehten sich um und betrachteten den Wagen, der hinter Liz' blauem Volvo hielt. Es war Tuckers schwarzer Jaguar. Harley riss die Augen weit auf, als Tucker ausstieg, den Blick auf seinen Vater gerichtet. "Da ist er!" rief Liz, stieg von der Veranda hinunter und küsste ihn auf die Wangen. "Du siehst wunderbar aus! Wo warst du? Ich habe schon befürchtet, du hättest kalte Füße bekommen." Tucker blickte kurz zu Harley. "Ich musste etwas besorgen. Ich war auf der Bank im Dorf." Mit diesen Worten erstickte er den Hoffnungsfunken, der in Harley aufgekeimt war. Offenbar hatte er auf der Bank das Schließfach ausgeräumt, um den Schmuck seiner Mutter mitnehmen zu können. Also ging er doch weg, auch wenn er ihren Rat annahm und zuerst noch mit R.H. zusammentraf. R.H. betrachtete seinen Sohn von der Veranda aus. „Tucker.“
"Sir."
Alle schwiegen, und Harley hätte geschworen, dass die Luft vor Spannung
knisterte. Endlich deutete R.H. auf Tuckers Wagen. „Ist das ein XJR-S?" Langsam ging er die Stufen hinunter und zum Wagen. Tucker traf dort mit ihm zusammen. "Richtig." R.H. strich respektvoll über den vorderen Kotflügel. "Was hat er unter der Haube?" "Sechs Liter V-12." R.H. nickte. "Wieviel PS?"
"Dreihundertachtzehn."
"Mach die Haube auf.“ Beide Männer bewunderten den nagelneuen Motor.
"Wie fährt er sich?" Tucker holte die Schlüssel hervor und reichte sie seinem Vater. Mit R.H. hinter dem Steuer und Tucker auf dem Beifahrersitz verließ der Jaguar die Einfahrt und. verschwand. Liz kam zu Harley auf die Veranda. "Männer besitzen diese absolut erstaunliche Fähigkeit, unter den emotionsgeladensten Umständen völlig oberflächlich miteinander zu reden." Sie schlug den gleichen beherrschten Ton an, mit dem sie ihre Vorlesungen in Statistik gehalten hatte. "Sie tun das aus Angst, die Ärmsten, und für gewöhnlich benutzen sie Sport oder Spielzeug als Hilfsmittel. Bei R.H. und Tucker sind es Autos. Trinken wir etwas." "Eistee oder …“ „Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergeht, aber meine Nerven sind im Moment ziemlich mitgenommen. Haben Sie Scotch?" Der Barschrank stand im Arbeitszimmer. Harley führte Liz hinein, entschuldige sich, duschte und zog ein Sommerkleid an, bevor sie wieder zu ihr ging. Eine Stunde lang unterhielten sie sich und warteten auf die Rückkehr der
Männer. Liz trank zwei Scotch, Harley zwei Gläser Eistee. Sie sprachen auch kurz über R.H.s abgebrochene Reise. Liz schilderte, wie sehr es R.H. schmerzte, dass er aus gesundheitlichen Gründen die ‚Anjelica' verkaufen musste. Als sie endlich den Jaguar zurückkommen hörten, traten die beiden Frauen ans Fenster und spähten ungeniert durch die zugezogenen Vorhänge. R.H. stellte den Motor ab und hörte seinem Sohn zu, nickte und antwortete. Das ging eine Weile so, ohne dass die beiden Frauen etwas verstehen konnten. Beide Männer wirkten ziemlich beherrscht. Von Zeit zu Zeit machte einer von beiden eine heftige Geste oder zeigte Ärger, beruhigte sich jedoch rasch wieder. R.H. rieb sich die Augen. Tucker legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte etwas. Sein Vater nickte. Dann sagte R.H. etwas, und Tucker nickte. Alles deutete auf eine Versöhnung hin. Sie stiegen aus dem Wagen. Tucker streckte die Hand aus, R.H. griff mit beiden Händen danach. Als Harley schniefte, um die Tränen zurückzuhalten, fauchte Liz sie an: "Wagen Sie ja nicht zu weinen! Wenn Sie nämlich weinen, fange ich auch an, und das lasse ich unter keinen Umständen zu!" Als es Zeit für das Abendessen wurde, sah Harley in den Schränken nach und überlegte, wie sie vier Leute satt bekommen sollte, obwohl sie nur für zwei eingekauft hatte. Sie improvisierte, pflückte Basilikum, das zwischen dem Lavendel wuchs, tat es zu Fettuccine, Olivenöl und Tomaten und servierte das Essen auf der Terrasse. R.H. aß mit großem Appetit und erwähnte mehrmals, wie sehr er sich freute, dass Harley bis September blieb. Da sie ihm die Laune nicht verderben wollte, lächelte sie und überspielte ihren Kummer über Tuckers bevorstehende Abreise. Peinlich war nur, als sie während des Essens das Haar hinter die Ohren strich. Sie stockte, als R.H. sie mit schmal zusammengekniffenen Augen musterte. Die Ohrringe! Sie trug die wertvollen alten Ohrringe seiner verstorbenen Frau! Was dachte er jetzt? Was sollte sie sagen? Zu ihrem Erstaunen lächelte er nach einem kurzen Blick zu seinem Sohn. "Diese Ohrringe stehen Ihnen sehr gut, meine Liebe. Könnte ich noch eine Portion Fettuccine haben?" Als die Sonne sich dem Horizont näherte, schlug R.H. vor, Kaffee und Cognac im Arbeitszimmer zu trinken. "Kann ich später nachkommen?" fragte Tucker. „Ich wollte Harley zu einem Strandspaziergang überreden, bevor es dunkel wird." "Du bist auch nicht so dumm", sagte Tucker und unterbrach damit das Schweigen. "Was meinst du damit?" fragte Harley. "Was du zu mir im Wagen gesagt hast, bevor du zum Laufen an den Strand gegangen bist." "Über dich und deinen Vater?" "Über alles. Du kannst sehr überzeugend sein." "Ich nehme an, du hast deinem Vater alles erklärt?"
"Wir haben beide sehr viel erklärt. Und wir haben einander versprochen, alles in Ordnung zu bringen. Ich muss sagen, er gewinnt den ersten Preis, wenn es um die beeindruckendste Geste des guten Willens geht. Er hat mir die Segelyacht geschenkt." "Wow!“ "Das sollte eigentlich ich sagen. Wie oft muss ich dich noch daran erinnern?" Trotz allem freute sie sich für ihn. "Wo liegt die ‚Angelica' jetzt?" „Im Trockendock von Fort Lauderdale." "Wie bringst du sie nach Alaska?" "Gar nicht. Ich fliege nach Lauderdale, hole sie aus dem Trockendock und segle los." „In die Karibik?" „Zuerst ja, aber ich wollte schon immer den Südpazifik sehen. Wahrscheinlich setze ich mir kein Ziel. Ich segle einfach los und zerbreche mir nicht den Kopf, wohin ich fahre oder wie lange es dauert. Zwei Monate oder zwei Jahre." Zwei Monate oder zwei Jahre ... Er fehlte ihr jetzt schon! "Was ist mit deiner Firma?" „Ich mache Molly glücklich und verkaufe sie ihr." „Und dann? Wenn dein Segeltörn zu Ende ist, meine ich." "Ich weiß es nicht. Während der Fahrt habe ich genug Zeit, um darüber nachzudenken. Das ist ein Vorteil von langen Segeltörns. Man hat viel Zeit zum Nachdenken." Sie erreichten die von Felsen geschützte Bucht. Tucker führte Harley zu einem niedrigen, glatten Stein. Sie setzten sich, blickten zum Wasser und hielten einander an den Händen. In der Ferne hob sich ein großer Schoner als Silhouette gegen den goldgelben Himmel ab. "Kannst du denn die ‚Anjelica' allein steuern?" fragte Harley. „Ausgeschlossen", erwiderte Tucker leichthin. "Ich habe gehofft, dass du mitkommst und mir hilfst.“ Sie sah ihn benommen an. "Du segelst gern", fuhr er fort, "und du kannst es schon sehr gut. Eine solche Reise ist für dich genau richtig, um allen unnötigen Ballast deines Lebens abzustreifen." Regungslos saß sie neben ihm. Er hob ihre Hand an die Lippen und küsste sie. "Sag bitte ja", bat er leise. "Ich möchte nicht ohne dich fahren." Er wollte sie bei sich haben! Aber ... "Du hast doch gesagt, wir wären so verschieden und ..." "Und du hast darüber gesprochen, dass man eine Krise durchstehen muss. Du hast mich überzeugt. Es stimmt, Angst treibt mich zur Flucht. Angst und die Tatsache, dass ich nie etwas anderes getan habe, als wegzulaufen, wenn ich nicht weiter wusste. Aber diesmal will ich nicht fliehen. Diesmal will ich durchhalten."
"Durchhalten bedeutet aber, dass du wirklich sehr lange standhaft bleiben musst, Tucker. Du darfst nicht in zwei Wochen in Panik geraten und mich dann... " "Nicht in zwei Wochen oder zwei Monaten oder zwei Jahren. Ich weiß, was durchhalten bedeutet. Das ist eine feste Bindung. Bisher wollte ich nie eine, aber jetzt schon, so unglaublich mir das selbst erscheint. Und zwar mit dir. Ich wünsche sie mir mehr als alles andere. Ich verstehe deine Bedenken und habe sie vorhergesehen." Er holte wieder einen kleinen Samtbeutel aus der Hosentasche und reichte ihn ihr. "Mein Dad ist nicht der einzige, der eine Geste des guten Willens zustande bringt." „Tucker, nein. Ich kann wirklich nicht …“ "Mach auf." „Tucker ..." Ungeduldig nahm er ihr den kleinen Beutel weg, öffnete ihn und ließ den Inhalt in ihre Handfläche fallen - einen goldenen Ring mit einem Smaragd-Cabochon, der von zwei kleinen Händen gehalten wurde. „Tucker! Das ist der …“ "Der Verlobungsring meiner Mutter", vollendete er für sie den Satz. "Jetzt soll es deiner sein." Der Atem stockte ihr. Er konnte doch nicht ... "Deshalb warst du auf der Bank? Um den Ring zu holen? Für mich?" "Natürlich. " „Ich dachte ... ich dachte …“ Was bedeutete das? "Warum schenkst du ihn mir?" Er seufzte, lächelte aber. "Schätzchen, ich werde niederknien, wenn es sein muss, aber du weißt, dass mich das noch immer ziemlich schmerzt." "Aber ich verstehe nicht …“ "Also schön." Er stand auf, kniete sich zu ihren Füßen in den Sand und verlagerte das Gewicht auf das gesunde Bein. Sie sah ihm an, dass diese Haltung für ihn schmerzhaft war. „Tucker, steh auf." "Erst, wenn du einverstanden bist, mich zu heiraten." "Was?" „Ich möchte, dass du mich heiratest." Er griff nach ihrer linken Hand und schob ihr den Ring auf den Finger. Er passte perfekt. "Ich habe über alles nachgedacht. R.H. hat mich eingeladen, so lange zu bleiben, wie ich möchte. Ich glaube aber, der Staat verlangt nur, dass drei Tage zwischen dem Bluttest und der Hochzeit liegen. Wir können uns zwischen dem Geistlichen meines Vaters und einem Friedensrichter entscheiden. Dann fliegen wir noch am selben Tag nach Fort Lauderdale und segeln mit der ,Anjelica' in die Karibik.“ „Aber ...“ „Aber wer wird sich um meinen Vater kümmern? Vermutlich wird Liz sehr gern die Gelegenheit nutzen, um zu beweisen, wie liebevoll und fürsorglich sie unter ihrer rauen Schale ist." „Ja, aber ... "'
„Aber was ist mit deinem Wirtschaftsstudium? Du kannst es unterbrechen. Liz wird das bestimmt gern für dich in die Wege leiten. Wenn du zurückkommst, kannst du zu Ende studieren." Harley konnte nicht denken. Sie konnte kaum atmen. "Aber, Tucker, du glaubst nicht an die Ehe. Du hast gesagt, das wäre nur etwas für Menschen, die nicht klar denken können." "Das stimmt, und ich bin der lebende Beweis dafür. Ich bin viel zu verrückt nach dir, um klar zu denken. Ich kann nur noch daran denken, dass ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen will ... Mehr wünsche ich mir nicht. Nur du bist für mich wichtig. Sag bitte ja." Harley blickte auf ihre Hände, die er festhielt. "Komm schon, Harley. Sag ja!" Er war alles, was sie wollte. Plötzlich waren ihre sorgfältigen Pläne und unerschütterlichen Regeln unwichtig. Das einzige, was zählte, war Tucker. "Sag ja, Harley, bitte! Mein Bein bringt mich um." Sie holte tief Atem. "Ja." „Ja!" Er packte sie an der Taille, zog sie zu sich in den Sand, rollte sich auf sie und presste stürmisch die Lippen auf ihren Mund. Ohne alle Vorbehalte gab sie sich dem Kuss hin und fühlte, wie Tucker ihr Gesicht und ihre Brüste streichelte... Ihr Verlangen nach ihm kam plötzlich und überwältigend. Wie von Sinnen vor Begierde klammerte sie sich an ihn und spreizte die Beine. Als er den Rock ihres Kleides hochschob und sie durch den dünnen Slip streichelte, tastete sie nach seiner Hand und stöhnte seinen Namen. Tucker kniete sich über sie und öffnete hastig den Gürtel seiner Hose. Sie setzte sich auf, zog den Reißverschluss herunter und streichelte seine intimste Stelle. Er zog ihr den Slip aus und schleuderte ihn beiseite. Sie holte seine Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner Jeans, riss hastig die kleine Verpackung auf und half ihm geschickt, den hauchdünnen Schutz anzulegen. Zu ungeduldig, um sich ganz auszuziehen, legte Tucker sich auf sie und glitt tief in sie hinein. Sie vereinigten sich, trieben auf die Befreiung zu und hielten plötzlich erschrocken inne, weil sie etwas hinter den Felsen hörten. Schritte im Sand ... etwas sauste durch die Luft. Lautes Hecheln ... "Such, Rusty!" befahl eine tiefe Männerstimme. Mit einer Verwünschung zog Tucker den hochgeschobenen Rock ihres Kleides herunter und drehte sich mit ihr auf die Seite, so dass es aussah, als würden sie einander nur harmlos umarmen. "Guten Abend", sagte der Mann, als er um die Felsen herumkam. "Guten Abend", erwiderten Harley und Tucker wie aus einem Mund, und es gelang ihnen, nicht allzu atemlos zu klingen. Der Mann ging weiter, konnte sie bald nicht mehr sehen, aber immer noch hören, und warf wieder seinem Hund einen Stock zu. "Pst", raunte Tucker Harley zu, umfasste ihre Hüften und begann sich heftig zu bewegen.
Sie verschlang ihre Beine mit seinen und schob die Hände unter seinem Hemd auf seinen Rücken. "Ich bin so nahe dran!" "Ich auch." Er bebte. Harley glaubte zu explodieren. Sie fühlte, wie Tucker erstarrte und die Finger in ihre weiche Haut grub. Er gab einen erstickten Laut von sich, und sein Erschauern löste ihren eigenen Höhepunkt aus. Sie musste sich bemühen, um nicht aufzuschreien, und Tucker hielt sie auch noch fest, als die Wogen der Lust verebbten. Endlich lösten sie sich voneinander und brachten ihre Kleidung in Ordnung. Tucker schloss den Gürtel und spähte über die Felsen hinweg. "Der Kerl ist fort Wurde auch höchste Zeit." Harley zog ihren Slip wieder an und strich ihr Kleid glatt. „Ich weiß nicht, ich fand es aufregend. Gefährlich." „Aufregend? Gefährlich?" Er ließ sich neben sie sinken und nahm sie in die Arme. „Ich habe ein Monster geschaffen." "Ein unersättliches Monster", erwiderte sie. "Komm heute Nacht in mein Zimmer." Sie sah ihm die Vorfreude an, doch gleich darauf wehrte er ab. "Nicht hier. Nicht in R.H.s Haus, während er ein paar Zimmer weiter schläft. Wir müssten wie Jugendliche herumschleichen. Und auch nicht mehr hier draußen zum Vergnügen der Nachbarn. Warten wir, bis wir auf der ‚Anjelica' sind.“ "Du willst bis zu unserer Hochzeitsnacht warten?" Er lachte leise. "Ich weiß, es sieht mir irgendwie nicht ähnlich, aber ich möchte warten. Das nächste Mal möchte ich dich an Deck der Anjelica' unter den Sternen lieben. Ich will das Meer unter mir fühlen, während ich mir dir vereinigt bin. Ich will dich vor Lust um den Verstand bringen. Ich will, dass wir uns gemeinsam im Rausch der Sinne verlieren, irgendwo, weit draußen, wo uns niemand hören und sehen kann. " "Ja", flüsterte sie und kam ihm zu einem tiefen, innigen Kuss entgegen. Tucker brach den Kuss ab und zeigte zum Himmel. "Sieh nur!" Harley setzte sich auf. Vor dem Hintergrund des Sonnenuntergangs flogen kleine, bunte Ballons über die Bucht. "Phils Luftballons", sagte sie. "Phils und Kittys Ballons." „Auch unsere Ballons", fügte er hinzu. "Immerhin hatte ich die Idee. Und da sie jetzt hier herumfliegen, haben wir genau wie alle anderen ein Anrecht auf sie." Tucker legte die Arme um Harley und hielt sie stumm fest, während die Ballons höher und höher stiegen und vom Wind hin und her getrieben wurden. Zuerst waren es Dutzende, dann Hunderte in alle Farben des Regenbogens, die sich am Himmel verteilten und ihn mit Farbe erfüllten. Sie sahen wie gebannt zu, bis der letzte Ballon am dunklen Himmel verschwand - ein Beweis für immerwährende Liebe. - ENDE