Demographisierung des Gesellschaftlichen

Eva Barlosius • Daniela Schiek (Hrsg.) Demographisierung des Gesellschaftlichen

Eva Barlosius Daniela Schiek (Hrsg.)

Demographisierung des Gesellschaftlichen Analysen und Debatten zur demographischen Zukunft Deutschlands

VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothel< verzeichnet diese Publil abrufbar.

1. Auflage Mai 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Sphnger Science+Business Media. www.vs-verlag.de DasWerk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlichgeschiJtzt.Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiJr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbindehsche Verarbeitung: Krips b.v, Meppel Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15094-9

Inhalt

Vorwort

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Die Demographisiemng des Gesellschaftlichen Zur Bedeutung der Reprasentationspraxis Eva Barlosius

dffentliche Standortbestimmungen Die Kinder der Akademdkerinnen Familienplanung als eine Frage des Stils Susanne Lang

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Das groBe Schrumpfen Von Wohlstandsinseln und Verliererregionen Cordula Tutt

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Kinderlosigkeit in Deutschland Ein Problemaufriss aus ministerieller Perspektive Christiane Hug-von Lieven

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Registrierung Wie viele Kinder haben Familien? Moglichkeiten und Grenzen der statistischen Erfassung Ivar Cornelius

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Bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland Michaela Kreyenfeld

83

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Inhalt

Ursachensuche Erwerbsarbeit und Eltemschaft Das deutsche Modell im europaischen Vergleich Christiane Lindecke

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Vereinbarkeit von Bemf und Familie - ein Problem fiir Manner? Familien und Lebensverlaufsplanung bei Mannem Michael Meuser

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Suche nach Abhilfe Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit Neue Strategien bei der Lebens- imd Familienplanung Kathrin Dress el Demographische Entwicklung: Problem oder Phantom? Sebastian Schroer und Thomas Straubhaar

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Die Macht der Demographisierung Vom Ubervolkerungs- zum Uberaltemngsparadigma Das Verhaltnis zwischen Demographie imd BevolkerungspoHtik in historischer Perspektive Martin Lengwiler „Frauen wollen beides" Die Vereinbarkeitsdebatte als Symptom geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung Daniela Schiek

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Die Demographisierung 5konomischer, kultureller und sozialer Verandemngen am Beispiel des landlichen Raums Stephan Beetz

221

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Manchmal, wenn sich Themen und Sichtweisen neu formieren, gehen von diesen bereits Impulse aus, auch wenn sie sich noch nicht klar abzeichnen. So ist es uns ergangen, als wir im Sommer 2005 eine Tagung zu den „Chancen des demographischen Wandels" planten. Wir waren zu der Uberzeugung gelangt: Uber Schrumpfen und Leerlaufen, Uberalterung und Vergreisung, Niedergang und Verfall sei hinlanglich geklagt und seien mehr als geniigend Horrorszenarien gezeichnet worden, nun ware es an Zeit, nach den Chancen zu fragen und nachzuforschen, ob der demographische Wandel nicht auch Gelegenheiten in sich birgt - z.B. lang diskutierte Projekte zu verwirklichen. So zu fragen ist mittlerweile nicht mehr ungewohnlich: Diese Themenstellung und Sichtweise etabliert sich mehr und mehr. Der vorliegende Band ist das Ergebnis unserer Tagung, die im November 2005 vom Kompetenzzentrum „Gender und Emahrung" der Universitat Hohenheim organisiert wurde. Er spiegelt das Konzept der Tagung wider; fur die Veroffentlichung wurden jedoch weitere Beitrage eingeworben. Ihm liegt die bereits 1928 von Karl Mannheim in seinem Aufsatz „Das Problem der Generationen" geaufierte Einsicht zugrunde, dass aus „Leben und Tod" und der ,yZahlenma6ig erfafibaren Lebensdauer" keine „gesellschaftliche Dynamik" entsteht. Um die „geistigen und sozialen Stromungen zu verstehen", muss die Soziologie „aus der Sphare der Biologic" heraustreten, auch und insbesondere um zu verstehen, weshalb die deutsche Gegenwartsgesellschaft ihre Zukunft so stark von ihren „vitalen Unterlagen" - ihrer demographischen Lage - her erfasst. Die Tagung ware ohne groBziigige Fdrderung durch die Fritz-ThyssenStiftung nicht mdglich gewesen und dieser Band ware ohne finanzielle Unterstiitzung durch das Kompetenzzentrum „Gender und Emahrung" der Universitat Hohenheim nicht zustande gekommen. Renate Prust und Lars Menzel haben die Arbeit an dieser Publikation durch zahlreiche Recherchen, Diskussionen und redaktionelle Unterstiitzung begleitet. Wichtige Nachforschungen hat Till Strecker iibemommen. Udo Borchert und Petra Barsch haben durch sorgfaltige Durchsicht und Gestaltung des Manuskripts zu diesem Buch beigetragen. Ihnen alien mochten wir hiermit unseren groBten Dank aussprechen. Eva Barlosius und Daniela Schick

Essen, im Januar 2007

Die Demographisierung des Gesellschaftlichen Zur Bedeutung der Reprasentationspraxis Eva Barlosius^

„Dem Deutschen Volke", so hatte es sein Architekt Paul Wallot 1882 vorgesehen, sollte das Reichstagsgebaude gewidmet werden. Diesen Schriftzug auf dem Portikus anzubringen lehnte jedoch Wilhelm II ab. Erst 1916, nachdem die SPD den Kriegskrediten zugestimmt hatte, lieB sich der Kaiser umstimmen. Die politische Loyalitat der SPD gegeniiber dem Kaiserreich wurde honoriert, die Zueignung angebracht. Nachdem der deutsche Bundestag in Bonn mit knapper Mehrheit beschlossen hatte, nach Berlin umzuziehen und nun wieder stets im Reichtagsgebaude zu tagen, gait es mit den undemokratischen Traditionen des Hauses zu brechen und es mit Symbolen gelingender Demokratie auszustatten. Eine neue, offentlich zugangliche Kuppel wurde aufgesetzt und im nordlichen Lichthof ein hochbeetartiger Kasten mit der Widmung „Der Bevolkerung" eingelassen. Diesen sollten die Abgeordneten mit Erde aus ihrem Wahlkreis auffiillen. Die neue Zueignung „Der Bevolkerung" - so Hans Haacke, der das Kunstwerk entwarf - soil eine Distanzierung gegeniiber der „Wortkombination 'deutsches Volk'" ausdriicken, bei welcher es sich um einen „Blutgemeinschaft suggerierenden Volksbegriff handelt, „der noch immer Unheil stiftet" (Haacke 1999). Es ist nahe liegend, den historisch belasteten Begriff des Volkes, insbesondere mit dem Zusatz „deutsch", zu vermeiden und ihn durch den scheinbar neutralen der Bevdlkerung zu ersetzen. Aber der Begriff Bevolkerung reprasentiert nicht eine sachlichere Fassung des Wortsinns von Volk. „Wir sind das Volk", riefen die Montagsdemonstranten und begehrten mit diesem Mahnruf mehr Demokratie. Hatten sie „Wir sind die Bevolkerung" skandiert, ware ihre politische Forderung nicht so eindeutig gewesen - schlieBlich meint Demokratie Volksherrschaft. Vor allem aber hatten sie sich nicht als „gesellschaftliches Subjekt" zu erkennen gegeben, als eine Gruppe, die gemeinsame Interessen einen. Bevolkerung meint die Einwohner auf einem geographisch bestimmten Territorium. Insofem war es folgerichtig, die Abge-

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Ich danke Daniela Schick fur ihre Untcrstiitzung.

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ordneten dazu zu bewegen, die Erde aus ihren Wahlkreisen zusammenzutragen und miteinander zu vermischen, um so die territoriale Einheit der Bundesrepublik Deutschland zu symbolisieren. Eine gesellschaftliche Einheit reprasentiert die Bevolkerung jedoch nicht, es sei denn, sie wird mit einem sie naher bestimmenden Merkmal versehen, wie die junge, die weibliche oder die wahlberechtigte Bevdlkerung. Erst durch eine solche Prazisierung, die eine kategoriale Ordnung einfuhrt und auf einen sozialen Zusammenhang verweist - die Gruppe der jungen, der weiblichen oder wahlberechtigten Einwohner - und gleichzeitig markiert, welche Personen nicht dazugehdren, wird die Bevolkerung als soziale Einheit aufgefasst. Im Gegensatz dazu zeichnet sich der altertumliche und in der deutschen Geschichte schrecklich missbrauchte Begriff Volk dadurch aus, dass er auch ohne nahere Bestimmung einen sozialen Zusammenhang ausdriickt. Er charakterisiert eine gesellschaftliche Einheit - eine Gruppe von Menschen -, die ein oder mehrere soziale, politische oder kulturelle Merkmale miteinander teilen oder sich durch diese miteinander verbunden fuhlen. Die Abgeordneten des Bundestages - so steht es im Grundgesetz - sind die gewahlten „Vertreter des ganzen Volkes". Sie sollen somit - soziologisch gesprochen - die Gesellschaft reprasentieren. Und damit ist nicht die gesamte Bevolkerung gemeint, die auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland lebt: Nur deutsche Staatsbiirger haben das passive und aktive Wahlrecht, und nur sie werden direkt durch die Abgeordneten reprasentiert.^ Wenn das Anliegen des Kunstwerks im ndrdlichen Lichthof ist, die ausgrenzenden Eigenschaften der Portalinschrift zu kritisieren, ihr eine Zueignung des Gebaudes entgegenzusetzen, die auf die Reprasentation aller dringt, dann hatte in der Widmung das einigende Band - die gegenseitige Anerkennung von Zugehorigkeit - deutlich werden miissen. Die generalisierteste Form von Zugehorigkeit - abgesehen davon, Teil der Menschheit zu sein -, die sich Menschen gegenseitig bekunden konnen, ist gesellschaftliche Zugehorigkeit.

7.

Bevolkerung und Gesellschaft

Freilich, dieses Buch handelt nicht von der Erfindung neuer Symbole fiir das vereinigte Deutschland. Die Geschichte der neuen Zueignung des Reichstagsgebaudes wurde erzahlt, weil sich darin ein Perspektivenwechsel widerspiegelt, der an vielen Stellen zu beobachten ist. Statt iiber die Gesellschaft wird immer haufiger von der Bevdlkerung gesprochen, statt von gesellschaftlichem Wandel wird immer ofter vom demographischen Wandel berichtet, wenn iiber die Zukunftsfa-

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Sieht man vom Kommunalwahlrecht der EU-Biirger ab.

Die Demographisierung des Gesellschaftlichen

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higkeit Deutschlands debattiert wird, dann wird diese vermehrt an der Bevdlkemngszahl und -zusammensetzung denn an okonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Potenzialen festgemacht. Und dieser Perspektivenwechsel scheint sich zumeist unbewusst zu vollziehen. Bei der Unterscheidung in Bevolkerung und Gesellschaft handelt es sich jedoch keineswegs um Begriffsspalterei. Vielmehr ist darin ein grundsatzlich unterschiedliches Verstandnis daruber enthalten, was Menschen miteinander verbindet, welche Verantwortung sie fiireinander haben, welche gegenseitigen Verpflichtungen sie iibemehmen und insbesondere ob und inwieweit das Zusammenleben iiber einen „Gesellschaftsvertrag" geregelt ist. Die Bevolkerung ist im Laufe der Geschichte, wie Michel Foucault (2004) gezeigt hat, unter verschiedenen Perspektiven in den Blick genommen worden: als Gegenteil von Entvolkerung, als Machtressource des Souverans, die die Staatskasse fuUt und die militarischen Truppen stellt, als produktive Kraft, welche die Voraussetzung, aber auch die Grenze ftir wirtschaftliche Dynamik bildet. Besonders ausgepragt wurde die letzte Sichtweise von Thomas Robert Malthus vertreten, der „das Problem der Bevolkerung wesentlich als ein Problem der BioOkonomie" begriff (Foucault 2004: 117). Dass nicht die Bev61kerung(sgro6e) die Moglichkeiten und Grenzen der Entwicklung und vor allem nicht die Art und Weise der Produktion bestimmt, sondem die Produktionsweise - d.h. die gesellschaftliche Verfasstheit der Produktion -, zeichnete sich spatestens seit der industriellen Revolution ab. Um genau dies zu unterstreichen - so Foucault -, versuchte Karl Marx „das Problem der Bevolkerung zu umgehen und sogar den Begriff der Bevolkerung auszulagem, um sie dann doch in der ... historischpolitischen Gestalt der Klasse, des Klassengegensatzes und des Klassenkampfes wiederzufinden" (ebd.: 118). Ob Marx mit dem Begriff der Klasse tatsachlich einen liberzeugenden Gegenbegriff zu Bevolkerung als naturaler Kategorie gewahlt hat, kann man bestreiten. Allerdings markiert die Gegeniiberstellung „entweder die Bevolkerung oder die Klassen" (ebd.) deutlich den Auffassungswandel von der Bevolkerung als Objekt, welches als Ressource in den Produktionsprozess einflieBt, zu der Bevdlkerung als Subjekt, welches die Produktion gesellschaftlich einrichtet. Dass wir uns in einer Phase eines beschleunigten demographischen Wandels befinden, ist unbestritten. Seit iiber 150 Jahren sinkt die Geburtenrate mit wenigen Ausnahmen stetig, in ahnlicher Weise steigt die Lebenserwartung seit vielen Jahrzehnten - sieht man von massiven Krisen ab wie den beiden Weltkriegen und dem kurzfristigen extremen Riickgang in den ersten Jahren nach der Wende in Ostdeutschland. Ob allerdings samtliche Phanomene, Probleme, Grenzen und Optionen, die gegenwartig in Zusammenhang mit dem demographischen Wandel gebracht oder gar als dessen Folge gesehen werden, tatsachlich durch ihn bedingt sind, ist fraglich. So kiindigt Herwig Birg an, dass „ganz gegen alle

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bisherigen Erwartungen ... die demographischen Veranderungen unsere Gesellschaft zu einer Bewegung zuriick zu grdBerer materieller Ungleichheit zwingen" werden (Birg 2005: 137). Ein Anwachsen sozialer Spannungen sei unvermeidlich. Wie „stark die Ungleichheit und die materiellen Ursachen der sozialen Spannungen zunehmen werden", konnte die Demographie „vorausberechnen" (ebd.). Aus soziologischer Perspektive erstaunt diese Ankiindigung in mehrfacher Hinsicht: Zunachst wird soziale Ungleichheit gesellschaftlich hergestellt. Sie lasst sich weder aus der BevdlkerungsgroBe noch aus deren Zusammensetzung zwangslaufig herleiten. Ob aus sozialer Ungleichheit soziale Spannungen erwachsen, hangt davon ab, was als sozial ungerecht wahrgenommen wird. Dass schlieBlich die Demographie dafur pradestiniert ist, soziale Ungleichheit zu berechnen und soziale Konflikte zu prognostizieren, beweist eindriicklich, wie stark sich diese Disziplin gegenwartig auf das Terrain der Soziologie begibt und einen iibergeordneten wissenschaftlichen Status fur sich erheischt. Selbstbewusst formuliert diesen Herwig Birg, indem er verheifit, aus den demographischen Analysen, „Schlusse fiir die bestmogliche Entwicklung des Landes abzuleiten" (ebd.: 10). Es geht nicht darum, der Demographie abzusprechen, dass sie Wichtiges und Interessantes zur Ungleichheitsdebatte beitragen kann. Aus wissens- und wissenschaftssoziologischer Sicht ist vielmehr zu fragen, warum demographische Analysen und Erklarungen in der deutschen Gegenwartsgesellschaft so viel Erklarungs- und Uberzeugungskraft entfalten konnen, warum die demographische Umdeutung gesellschaftlicher Phanomene - die Demographisierung des Gesellschaftlichen - auf so viel Einvemehmen trifft. Um dies zu verstehen, ist weniger der demographische Wandel selbst zu untersuchen als vielmehr, wie dieser in der Offentlichkeit reprasentiert wird. 2.

Die demographische Forschungslandschaft

Bevor einige der Reprasentationen des demographischen Wandels vorgestellt werden, sollen auf der Karte der Wissenschaftslandschaft die wichtigsten demographischen Forschungseinrichtungen und -organisationen eingezeichnet werden. Denn obwohl die „Demographie ... in aller Munde" ist - so Herwig Birgs Auftaktsatz zu seinem Buch ,JDie ausgefallene Generation" -, ist die Demographie als eigenstandige wissenschaftliche Disziplin mit speziellen Forschungsinstituten oder Denominationen von Professuren und Lehrstiihlen in Deutschland relativ klein und mehrheitlich jung.^ Aktuell existieren in Deutschland - laut

Nachfolgende Darstellung bezieht sich einzig auf die Bundesrepublik Deutschland. Dass die Demographie im Vergleich mit anderen Landem klein und jung ist, erklart sich aus der Ge-

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Auskunft des BMBF - sechs Professuren fiir Bevolkerungswissenschaft bzw. Demographie. Bei vieren ist die Denomination mit einem zusatzlichen Schwerpunkt kombiniert.4 Zusatzlich gibt es noch zwei Juniorprofessuren. Die beiden Juniorprofessuren und drei der sechs Professuren wurden erst 1996 im Zusammenhang mit der Griindung des Max-Planck-Instituts fiir demographische Forschung (MPIDR) an der Universitat Rostock eingerichtet. Aber auch das Bundesinstitut fiir Bevolkerungsforschung (BiB), welches beim Statistischen Bundesamt angesiedelt ist, wurde erst bemerkenswert spat gegriindet: 1973. Dies heifit nun nicht, dass in der Zeit davor nur wenig demographisches Wissen generiert, keine demographischen Theorien entwickelt oder Zukunftsprognosen erstellt wurden. Dies geschah aber eben nur selten unter dem Wappen der Demographie als selbststandiger und institutionell etablierter Wissenschaft, der das Privileg eines eigenen Wirklichkeitszugangs und Erklamngsanspruchs zuerkannt wird. So wurde beispielsweise die „Deutsche Gesellschaft fiir Bevolkerungswissenschaft" schon 1952 gegriindet, was eindeutig die Existenz einer „scientific community" auf diesem Gebiet belegt. Dies ist auch nicht verwunderlich, schliefilich blickt die Demographie in Deutschland auf eine lange Tradition mit intemationalem wissenschaftlichen Renommee zuriick, das sich allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Lieferung legitimatorischen Wissens an das Regime des Dritten Reichs selbst entwertet hatte. Nach 1945 waren, abgesehen von der amtlichen Statistik, viele demographisch forschende und lehrende Wissenschaftler in anderen Fachem tatig, wie der Soziologie, Geschichtswissenschaft, Okonomie, Medizin, Rechtswissenschaft oder Geographic. Die Demographie reprasentierte somit eher interdisziplinares Querschnittswissen denn eine ausdifferenzierte Disziplin. Die institutionelle Verfasstheit hat sich mit der Einrichtung des MPIDR grundlegend geandert. Die demographische Forschung kann nunmehr einen eigenen Platz innerhalb der deutschen Wissenschaftslandschaft beanspruchen, und dieser wird ihr auch zuerkannt. Pointiert ausgedriickt: Sie hat sich von einer Bindestrichsektion innerhalb anderer Disziplinen wieder zu einer eigenstandigen und mafigeblichen

schichte, dem Dritten Reich. Nach der aggressiven Bevolkemngspolitik der NS-Zeit hat die Bundesrepublik Deutschland bis in die 1980er Jahre weitgehend davon abgesehen, die generative Reproduktion der Bevolkemng expHzit zu thematisieren oder gar zu problematisieren. Darauf gehe ich nicht weiter ein (s. den Beitrag von Lengwiler in diesem Band). Die Liste scheint aber nicht vollstandig zu sein. So hat beispielsweise das Wissenschaftszentrum Berlin fiir Sozialforschung (WZB) 2006 eine Forschungsprofessur „Demographische Entwicklung, sozialer Wandel und soziales Kapital" eingerichtet. Weiterhin gibt es - an der Universitat Mannheim angesiedelt - das Mannheimer Forschungsinstitut Okonomie und Demographischer Wandel und an der TU-Dresden das Zentrum Demographischer Wandel (ZDW). Vermutlich liefie sich die Liste von Orten demographischer Forschung an offentlich finanzierten wissenschaftlichen Einrichtungen noch fortsetzen.

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Wissenschaft emanzipiert. Vorausgegangen war, dass der demographische Wandel politisch als ein eigenstandiges Forschungsgebiet von groBer gesellschaftlicher Relevanz (an)erkannt worden war. Nicht wenige vermuten, dass sich die Demographie zur neuen „Leitwissenschaft" entwickeln wird. Wesentlich dazu beigetragen hat, dass zusatzlich zu der offentlichen Forschung auch private Forschungseinrichtungen gegriindet warden, von denen gewiss das Berlin-Institut fiir Bevolkemng und Entwicklung am einflussreichsten ist (siehe den Beitrag von Beetz in diesem Band).^ Daneben wurde die Projektforderung in diesem Bereich stark ausgebaut. So unterstiitzen beispielsweise die Bertelsmann Stiftung, die Robert-Bosch-Stiftung und die Volkswagen-Stiftung Forschungen iiber die „demograpliische Lage", iiber „individuelle und gesellschaftliche Perspektiven des Altems" etc. Insgesamt lasst sich somit ein Ausbau der demographischen Forschung beobachten, der mit der Zunahme der offentlichen Debatte iiber, JDie demographische Lage der Nation" korrespondiert. Seit einigen Jahren konnte man meinen, dass mehr demographisch geforscht, erklart und prognostiziert wird als Forschungskapazitaten zur Verfugung stehen. Auch dies ist ein Indiz fur Demographisierung, denn viele Analysen, die auf iiberwiegend soziookonomischen Indikatoren oder regionalstrukturellen Daten fiiBen, werden mit dem Emblem Demographie versehen und erfolgreich publiziert. Dazu gehoren insbesondere die Veroffentlichungen des Berlin-Instituts fiir Bevolkemng und Entwicklung und der Bertelsmann Stiftung. Birg beschimpft diese Entwicklung als „Gelegenheitsdemographie"; ihr stellt er die „Fachdemographie" gegeniiber. „Gelegenheitsdemographen" sind fiir ihn Volksund Betriebswirte, Politiker und Kulturkritiker, die sich demographischer Argumente bedienen, aber nicht demographisch forschen (Birg 2005: 48). Dass die Demographie im engen Sinn darauf zu achten beginnt, die disziplinaren Grenzen gegeniiber anderen Fachem praziser zu bestimmen, belegt, dass sie sich nun offenbar als etablierte Wissenschaftsdisziplin sieht. Denn die Grenzen des eigenen wissenschaftlichen Feldes selbstbewusst zu verteidigen setzt eine „kritische Masse" an spezialisierten Instituten und Professuren voraus.

3.

Demographische Reprdsentationen

Unter dem Begriff demographische Reprasentationen fasse ich die verschiedensten Arten und Weisen, die Bevolkemngsentwicklung und -zusammensetzung

Dazu gehort auch das Institut fur Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V., dem Herwig Birg vorsteht, ebenso das Institut fur demographische ZukunftsfShigkeit und die Stiftung fur die Rechte zukiinftiger Generationen.

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darzustellen, zusammen. Ich beschranke mich hier auf wissenschaftsgenerierte Reprasentationen, also solche, die mit wissenschaftlicher Expertise erzeugt wurden, aber nicht notwendig im wissenschaftlichen Feld im engeren Sinn. Entscheidend ist vielmehr, dass ihnen wissenschaftliche Geltung zuerkannt wird. Anders herum ausgedriickt: dass sie nicht als partikulare oder interessengebundene Sichtweise wahrgenommen werden. Dies ist speziell fiir demographische Reprasentationen bedeutungsvoll, weil viele von Stiftungen, privat finanzierten Instituten oder den Medien erstellt oder in Auftrag gegeben werden. Mit dem Begriff Reprasentation soil zudem deutlich werden, dass hier nur solche Darstellungen betrachtet werden, die eine grdBere Offentlichkeit adressieren und auf gesellschaftliche und politische Anerkennung und Zustimmung zielen. Dies ist wichtig: Die Zusammensetzung der Bevolkemng entwickelt sich seit Beginn der IndustriaHsierung in ein und dieselbe Richtung - stets weiter sinkender Geburtenraten und einer stetig steigenden Lebenswartung -, aber die „demographische Zukunft Deutschlands" wird erst seit einigen Jahren in der Offentlichkeit breit wie laut thematisiert (vgl. Spode 2006). Es handelt sich somit wesentlich um ein Reprasentationsgeschehen. Dies wiederum deutet darauf hin, dass die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen eingesetzt hat. Mit anderen Worten: Der „demographische Wandel" wird nun gesellschaftlich und politisch wahrgenommen, bewertet und vor allem dramatisiert. Wie rasant - ja wie sprunghaft - sich die Debatte entwickelt hat, dokumentiert eine Recherche nach dem Schlagwort „Demographischer Wandel" in den auflagenstarksten deutschen Tages- und Wochenzeitungen.^ Wahrend 1999 nur 36 Beitrage erschienen, waren es zwei Jahre spater bereits 445. Im Jahr 2003 wurde ein Hohepunkt mit 866 Artikeln erreicht. In den beiden nachfolgenden Jahren ging die Zahl wieder auf ca. 600 zuriick, blieb aber danach konstant hoch. Diese Publikationskurve ist ein Beleg fiir eine steile Thematisierungskarriere. Typisch fiir die dffentliche Auseinandersetzung mit dem demographischen Wandel in diesen Jahren sind Krisen- und Katastrophenszenarios. Diese sollen nicht einbezogen werden; grosso modo gehorchen sie den Charakteristika der medialen Skandalierung (vgl. Kepplinger 2001). Vielmehr interessiert hier die Schnittstelle von wissenschaftlicher Generierung und dffentlicher Reprasentation, weshalb das Augenmerk auf wissenschaftsgenerierten Reprasentationen liegt. Diese

In die Recherche einbezogen warden folgende Zeitungen: Bild-Zeitung, Frankfiirter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Siiddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung, Die Welt, Bild am Sonntag, Der Spiegel und Die Zeit. Erhoben wurde die jahrliche Anzahl der Artikel fur die Jahre 1999-2005, die sich mit dem demographischen Wandel beschaftigte. Eine Ermittlung im Gesamtarchiv (alle Zeitungen) ergab jeweils nahezu die doppelte Anzahl an Artikeln.

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profitieren von der Sonderstellung des wissenschaftlichen Wissens und beziehen daraus ihre Uberzeugungskraft. Bei wissenschaftsgenerierten Reprasentationen des demographischen Wandels sind zwei Formen hervorzuheben: die bildliche Veranschaulichung und insbesondere die statistische Beschreibung. Weiterhin gehort die Berichterstattung sei es die amtliche oder die eigens eingerichteter Enqueten - zu den bevorzugten Darstellungs- und Veroffentlichungsweisen, die auf wissenschaftlicher Expertise basierenJ Die demographischen Reprasentationen werden breit publiziert: im Femsehen, auf den „Wissenschaftsseiten" der Wochen- und Tageszeitungen und auch in der Rubrik Sachbuch, wo viele Titel zu finden sind, die sich mit dieser Thematik befassen.^ Also scheint garantiert, dass iiber die Ursachen und Folgen des demographischen Wandels nicht mehr nur in der kleinen Fachoffentlichkeit der Wissenschaft, sondem zunehmend in der groBen Offentlichkeit debattiert wird. Damit sind die Voraussetzungen dafiir gegeben, dass die demographischen Reprasentationen auf die gesellschaftlichen und politischen Sichtweisen einwirken und die Bahnen mit bestimmen, in denen iiber die Chancen und Gefahren des demographischen Wandels offentlich debattiert wird.

3.1 Bevolkerungspyramide und demographische Landkarte Die Demographic hat zwei besonders markante graphische Darstellungsweisen hervorgebracht bzw. popularisiert: die Bevolkerungs- bzw. Alterspyramide und die demographische Landkarte, bei der Staaten, Bundeslander, Regionen, teilweise noch kleinere Einheiten miteinander verglichen und in cine Rangfolge gebracht werden. Die Bevolkerungspyramide zahlt zu den Diagrammen, bei welchen soziale Gruppen einander gegeniibergestellt werden, in diesem Fall Altersund Geschlechtsgruppen. Bei der demographischen Landkarte wird die kartographische Darstellung mit statistisch erhobenen Daten zusammengefiihrt. Beide gehoren zur Bilderstatistik (vgl. Barlosius 2005). Die zwei Reprasentationen zeichnen sich - wie die Mehrzahl der bilderstatistischen Darstellungen - durch grofie Deutlichkeit, Eindriicklichkeit und vor

Auch einige Bundeslander haben Enqueten zum demographischen Wandel eingerichtet, so z.B. Hessen und Baden-Wiirttemberg. Die letztere Enquete wurde von Frau Hug-von Lieven geleitet (siehe ihren Beitrag in diesem Band). Um anschaulich zu demonstrieren, wo der Gegenpol zu sehen ist, mag der Hinweis auf den Bestseller ,Jvlethusalem Komplex" von Frank Schirrmacher (2005) geniigen. In diesem Buch zitiert Schirrmacher wissenschaftsgenerierte Reprasentationen, aber weitgehend herausgelost aus den Erklamngszusammenhangen und einzig, um seinen personlichen Argumentationsgang zu unterstiitzen.

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allem durch Allgemeinverstandlichkeit aus. Was sie veranschaulichen, erschlieBt sich scheinbar sogleich und vollkommen, weshalb sie zumeist als evident und iiberzeugend bewertet werden. Aber so wie jedes Schaubild sind auch diese beiden Graphiken untrennbar mit einer „Explikation verbunden und ohne diese nicht zu verstehen" (Bysow 1955: 12). Die Explikation ist notwendig, weil die graphische Aufarbeitung der statistischen Daten diese nicht einfach wiedergibt, sondem bei ihrer Umsetzung in ein Bild zugleich interpretiert. Die Deutung ist jedoch in den Bildem selbst enthalten und nirgendwo explizit ausgewiesen. Genau dies macht den symbolischen Uberschuss der Graphiken aus. Altersaufbau 2D01 [>cutschland 104 ,

Abbildung 1: Bevolkerungspyramide Quelle: Statistisches Bundesamt (2006)

Bei der Bevolkerungspyramide ist bereits in der Benennung ein Ausgangsmodell festgelegt, wodurch alle anderen Bevolkerungsstrukturen tendenziell zu erklarungsbediirftigen Abweichungen bestimmt werden. Bildlich wird dies dadurch verstarkt, dass je starker die Bilder von der Ausgangsform der Pyramide abweichen, umso instabiler die graphische Gestalt der Bevolkerungsstruktur aussieht. Dies ist jedoch ein gestalterischer Effekt. Uber die Stabilitat einer Gesellschaft ist damit zunachst nichts ausgesagt. Fiir modeme Gegenwartsgesellschaften gilt die Glockenform - eine langsam zusammenlaufende Alterstruktur, die sich im hohen Alter abrupt zusam-

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menzieht - als Ideal, well die BevolkerungsgroBe weder sinkt noch steigt. Eine solche Bevolkerungsstruktur wird als Gewahr ftir gesellschaftliche Stabilitat eine Gesellschaft, deren Grundverfassung gleich bleiben kann - angesehen.9 Dass iiberhaupt von der Bevolkerungsstruktur auf die Gesellschaft geschlossen wird und dieser Schluss sich geradezu aufdrangt, liegt ebenfalls in der graphischen Veranschaulichung begriindet. Sie bildet namlich nicht nur die Bevolkerung nach Alter und Geschlecht differenziert ab. Das urspriingliche Balkendiagramm wird so prasentiert, dass es eine gesonderte Form erhalt, die eine eigene Symbolik transportiert. Von dieser Form leitet sich der Name der graphischen Darstellung her: Pyramide, Glocke, Ume. Diese Benennungen erschliefien jeweils ein eigenes Assoziationsfeld. Wird die bildliche Prasentation der deutschen Bevolkerungsstruktur als Ume tituliert, dann scheint die Zukunft besiegelt.

Gesamtbewertung

Abbildung 2: Demographische Landkarte Quelle: Berlin-Institut fiir Bevolkemng und Entwicklung (2006)

9

In vielen demographischen Analysen wird diese Hypothese ohne jegliche Begriindung einfach vorangestellt.

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Schauen wir uns nun an, welche nicht explizierten Annahmen in die demographische Landkarte einfliefien. Auch diese geographische Darstellung leuchtet sofort ein, zumal die Veranschaulichung mittels Landkarten allgemein bekannt ist. Die demographischen Unterschiede werden farblich oder durch verschiedene Stricharten markiert. Auffallig ist dabei, dass durch die allgemein bekannte Farbsymbolik die Auspragung der demographischen Indikatoren dargestellt wird: rot steht fiir eine negative, griin fiir eine positive Entwicklung. Bei Schraffierungen gilt in der Regel: Je dunkler die Flachen eingefarbt sind, umso „schlechter " wird die Zukunft in diesen Regionen beurteilt, und umgekehrt. Die demographischen Indikatoren sind insbesondere Kinderzahl pro Frau, Anteil der unter 35-jahrigen Frauen, Wanderungsraten, die Anzahl der Hochbetagten und die Bevolkemngsprognosen (vgl. Berlin Institut fur Bevolkerung und Entwicklung 2006: 182f.). Zusatzlich zu den demographischen Indikatoren werden soziookonomische Merkmale wie Armutsrate, Arbeitslosenquote oder Wirtschaftswachstum erfasst. Letztere bilden die iiberwiegende Mehrheit der Indikatoren, mit deren Hilfe die „demographische Lage" in den Regionen bestimmt wird. Fiir die Bewertung der „demographischen Lage" werden fiir die einzelnen Indikatoren jeweils Durchschnittswerte errechnet, die Abweichungen von Durchschnittswerten in den verschiedenen Regionen ermittelt und daraus eine Gesamtnote berechnet. In der Bezugnahme auf die Durchschnittswerte ist ahnlich wie bei der Bevolkerungspyramide ein Ideal enthalten: die Gleichformigkeit der Lebensverhaltnisse im Sinne von Gleichverteilung. Diese normative Vorstellung rekurriert auf das politische Postulat, einheitliche Lebensverhaltnisse herzustellen, weil sich im Unterschreiten der Durchschnittswerte die „Zuriickgebliebenheit" benachteiligter Regionen gegeniiber den prosperierenden Gebieten dokumentiere und dies als Ungerechtigkeit zu werten sei. Um es mit unumstrittener Legitimation auszustatten, wird immer wieder die Formulierung „Herstellung gleichwertiger Lebensverhaltnisse" des Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz zitiert.lO Die demographische Landkarte bildet zumeist das gesamte Territorium der Bundesrepublik Deutschland ab. Auf diese Weise prasentiert sie das Ideal einer sozial-raumlichen Ordnung und damit territorialen Integration, die in einem MindestmaB an Siedlungsdichte und einer Gleichverteilung von Giitem und Zukunftschancen iiber alle Landstriche hinweg besteht, ohne dieses jedoch eigens zu thematisieren oder zu explizieren. Die sozial-raumliche Ordnung - so die Botschaft der demographischen Landkarten - lost sich auf, wenn sich die Lebensverhaltnisse in peripheren Gegenden immer weiter von den durchschnittlichen Standards entfemen, womit

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Ob diese Formulierung tatsachlich die Angleichung der Lebensverhaltnisse reklamiert, ist fraglich (siehe Barlosius 2006; Brandt/Heck 2005)

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diese Form der demographischen Reprasentation signalisiert, dass die territoriale Integration gefahrdet ist. Da jedoch der unterstellte Zusammenhang von Gleichverteilung, sozial-raumlicher Ordnung und territorialer Integration in der Darstellung nicht ausgewiesen wird, sondem in der Darstellungsweise „versteckt" ist, behindert sie eine Debatte dariiber, ob und wie gleichwertige Lebensverhaltnisse jenseits von Gleichformigkeit zu gestalten sind. Dies ist jedoch keine demographische, sondem eine gesellschafts- bzw. regionalpolitische Frage, weil politisch zu entscheiden ist, wie und zu welchem Preis z.B. die Gesundheitsversorgung und die Bildungsangebote in diinn besiedelten Gebieten zu garantieren sind. Die Bevolkemngspyramide wie die demographische Landkarte veranschaulichen nicht nur die Daten, sie deuten diese in einer bestimmten Weise, ohne dass die Deutung nachvollziehbar hergeleitet wird. Daraus resultiert der normative Gehalt der Schaubilder: Sie transportieren ein klares Ergebnis, dass nicht kritisch hinterfragt werden kann, weil sein Zustandekommen weitgehend im Dunkeln Hegt. Zudem ist ihnen wie alien Schaubildem eine gewisse Konventionalitat eigen, die darin besteht, dass sie gewohnte Seh- und Denkgewohnheiten zitieren also eingeiibte Bilder und Sprachmittel verwenden, ohne die die Darstellung nicht sogleich verstanden werden kdnnte. Dies bringt es mit sich, dass sie eingefahrene Sichtweisen und Interpretationen aufhehmen und verstarken. Ansonsten kdnnten sie nicht so schnell und leicht rezipiert werden. Vor allem wiirden sie sich nicht „selbst erklaren". Damit tradieren sie allerdings auch die in diesen Sichtweisen und Interpretationen enthaltenen sozialen Vorannahmen - wie: eine stabile Bevolkerungsstruktur begiinstigt eine stabile Gesellschaft, Gleichverteilung und Gleichformigkeit sind unerlasslich far die territoriale Integration. Beide graphischen Reprasentationen des demographischen Wandels begiinstigen somit den Wunsch nach Erhalt des Uberkommenen und fordem im Gegenzug die Angst vor Veranderungen. Das zeigt sich auch darin, dass sich die aktuelle demographische Debatte vorwiegend auf die gegenwartige gesellschaftliche Verfasstheit bezieht. Ob die beiden Reprasentationen geeignet sind, eine Diskussion iiber Gestaltungsoptionen zu fordem und iiber Zukunftsoffenheit nachzudenken, ist somit fraglich.

3.2 Die Zahlen der Demographic Keine Diskussionsmnde, keine Presseerklamng, kein Gesetzgebungsprozess und kaum ein Zeitungsbericht kommen ohne Hinweis auf die jiingste Statistik aus. Dies trifft fur die demographischen Zukunftsprognosen in besonderer Weise zu, bildet doch die Bevolkemngsstatistik die Geburtsstatte der Statistik iiberhaupt. Etymologisch heifit Statistik die Kenntnis des Staates, worin sich ausdriickt, wie eng die Einrichtung der amtlichen Statistik mit der Herausbildung der modemen

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Staaten und ihrer Verwaltung verbunden war. Sie begann mit dem systematischen Sammeln von Kenntnissen iiber die Bevolkerung: Messung der GroBe, der Mortalitats- und Geburtenrate etc. Alles was aus staatlicher Sicht an der Bevolkerung als wissenswert gait, wurde nach und nach regelmafiig statistisch erfasst. Angesichts der langen Geschichte der Bevdlkerungsstatistik und eingedenk der Tatsache, dass es sich um eindeutige und einfach erfassbare Daten handelt, wie Geburtsjahr, Todesjahr oder Anzahl der Kinder, sollte man meinen, dass in modemen Gegenwartsgesellschaften die Bevdlkerungsstatistik auf gesicherten Daten beruht und zu glaubhaften Ergebnissen kommt. Indes handelt es sich bei der amtlichen Bevdlkerungsstatistik um eine Reprasentationsform, die auf politischen Vorgaben beruht, welche sich aus der Sicht der Wissenschaft als Restriktionen erweisen. Die rechtliche Regelung der amtlichen Statistik umfasst, was, auf welche Weise und wie oft erfasst und ausgewertet werden darf. Fiir die Reprasentationen des demographischen Wandels sind zwei statistische Quellen wichtig: die Geburtenstatistik und der Mikrozensus. Auch sie geben nur in dem rechtlich vorbestimmten Rahmen Auskunft. Dazu exemplarisch zwei Punkte: Die Geburtenstatistik erfasst die Rangfolge des geborenen Kindes nur in der Geburtenfolge innerhalb einer Ehe, womit alle unehelich geborenen Kinder nicht in der Rangfolge auftauchen (s. den Beitrag von Cornelius in diesem Band). Die Gesamtzahl aller von einer Frau geborenen Kinder kann damit nicht bestimmt werden. Der Mikrozensus fragt den Haushaltsvorstand, wie viele Kinder in einem Haushalt leben. Die Anzahl der leiblichen Kinder kann so nicht bestimmt werden; leibliche Kinder, die nicht im Haushalt leben, werden nicht erfasst (s. den Beitrag von Kreyenfeld in diesem Band). Diese Beispiele zeigen, dass durch die politische Reglementierung der amtlichen Statistik deren wissenschaftliche Aussagekraft gehemmt wird. Trotzdem besitzen die statistischen Reprasentationen unbestritten die groBte tlberzeugungskraft, nicht zuletzt deshalb, weil sie aufgrund ihrer Amtlichkeit quasi offiziellen Status besitzen. Hinzu kommt, dass durch die mathematische Fundierung die Statistik als „Garant der Objektivitat" gilt. Das Besondere der Statistik gegeniiber anderen Reprasentationsformen besteht darin, dass sie so wahrgenommen wird, als enthalte sie sich jeden Urteils, als sei sie gegeniiber normativen Bewertungen immun und fungiere wie ein Abwehrschirm gegen subjektive, ideen- oder interessengebundene Sichtweisen. Dies erklart, weshalb eine Zahl - einmal in die demographische Debatte geworfen - immer und immer wieder wiederholt wird, z.B. dass 40 Prozent aller Akademikerinnen keine Kinder bekommen, obwohl die staatliche Statistik wie die Demographic seit langerem darauf hinweisen, dass dieser Zahl nicht zu trauen sei, (siehe den Beitrag von Cornelius in diesem Band).

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3.3 Berichte und Enqueten 1980 erschien der erste Teil des „Bericht iiber die Bevolkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland", den die Bundesregierung in Auftrag gegeben hatte. Dieser Bericht sollte die Ergebnisse, die die „Arbeitsgruppe Bevolkerungsfragen" 1978 geliefert hatte, vertiefen. Die Arbeitsgruppe wurde federfuhrend vom Statistischen Bundesamt, insbesondere dem BiB, geleitet. Ihr gehorten Vertreter beinahe aller Bundesministerien an. Der Bericht beginnt mit denkwiirdigen Satzen, die auch jede aktuelle Bekanntmachung zieren wiirden: „Fragen der Bevolkerungsentwicklung, ihre Ursachen und Folgen werden seit mehreren Jahren in der Offentlichkeit intensiv und zum Teil kontrovers und nicht immer emotionsfrei diskutiert. Die Bundesregierung hat die zunehmende Bedeutung dieser Fragen friihzeitig erkannt, hierzu mehrfach offentlich Stellung genommen und versucht, die Diskussion zu versachlichen." (Deutscher Bundestag 1980: 5)

Eine sachliche Darstellung zeichnet diesen Bericht tatsachlich aus. Inhaltlich sind vor allem zwei Dinge auffallend. Zum einen betrachtet er die Bevolkerungsentwicklung langfristig: von 1871 bis 1979. Auf diese Weise wird, zum anderen, die These, die dem gesamten Bericht zugrunde liegt, iiberzeugend dargelegt. Diese lautet, dass der Geburtenriickgang mit dem Ubergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft einsetzte und sich in der Gegenwart noch fortsetzt. Der Geburtenriickgang „bemht auf einem Wandel des generativen Verhaltens im Sinne einer gezielten Beschrankung der Kinderzahl. Zahlreiche gesellschaftliche Veranderungen, die als Voraussetzung, Folge oder Begleiterscheinung, zum Teil auch als Emingenschaften einer modemen Gesellschaft gelten konnen, schufen Bedingungskonstellationen, denen eher kleinere FamiliengroBen entsprechen." (ebd.: 37)

Bemerkenswert an dieser Darstellung ist, dass erstens der demographische Wandel im Kontext des Ubergangs von einer gesellschaftlichen Epoche in eine andere gesehen, zweitens die gesellschaftliche Dynamik als Ursache begriffen und drittens der Riickgang der Geburten als gesellschaftlich angemessen fiir eine entwickelte Industriegesellschaft - man konnte sagen als „ftinktional" - interpretiert wird. Die gesellschaftliche Einbettung und Verursachung des demographischen Wandels ist in spateren Darstellungen kaum mehr wiederzufinden. Dort wird vielmehr eher eine entgegengesetzte Betrachtungsweise bevorzugt: zu demonstrieren, dass der demographische Wandel zu gesellschaftlichen Veranderungen zwingt. 11

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Gewiss sind beide Perspektiven miteinander zu kombinieren, wobei jedoch zu priifen ist, wie sich jeweils das Verhaltnis von Ursache und Wandel bestimmt.

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Der ,3ericht iiber die Bevolkemngsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland" endet mit Bevolkerungsprognosen fxir die Jahre 2000 und 2030 fiir das Gebiet der „alten" Bundesrepublik Deutschland. Drei Modelle wurden berechnet: Das erste unterstellte eine stabile Geburtenhaufigkeit (Ausgangsjahr 1978), das zweite einen weiteren Riickgang und das dritte eine Zunahme der Geburten. Vergleicht man die Ergebnisse mit denen heutiger Prognosen, so fallt auf, dass die damaligen - und zwar alle drei - Modelle einen viel starkeren Riickgang der jiingeren Jahrgange voraussagten als die heutigen. Einer Bewertung oder Dramatisierung enthielt sich der Bericht dennoch weitgehend. Der zweite Teil des Berichts erschien 1984 und beschaftigt sich mit den Auswirkungen der Bevdlkerungsentwicklung auf die verschiedensten sozialen, okonomischen und staatlichen Bereiche. Dabei wurde nicht eines der oben genannten Modelle zugrunde gelegt, sondem ein neues entwickelt, das den „auslandischen Bevolkerungsteil" mit einberechnete und von einem Riickgang der Gesamtbevolkerung von ca. 60 Millionen im Jahr 1983 auf ca. 45,7 Millionen im Jahr 2030 ausging. Unter dieser Voraussetzung wurde fur jene Bereiche ein Veranderungsdruck identifiziert, in denen die „demographischen Faktoren bestimmende Bedeutung haben", etwa im Bildungsbereich und der Daseinsvorsorge, weil deren Ausstattung pro Kopf festgelegt ist. Fiir die Kranken- und die Rentenversicherung wurde ebenfalls Handlungsbedarf gesehen. Fiir andere Gebiete wie die Entwicklung der offentlichen Finanzen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage oder die Integration der auslandischen Bevolkerung wurde dagegen festgehalten, dass deren Entwicklung primar durch gesellschaftliche und politische Ziele bestimmt ist. Den nachsten „gro6en" Bericht iiber die Bevolkemngsentwicklung in Deutschland gab die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" des Deutschen Bundestages im Jahr 2002 heraus (vgl. Deutscher Bundestag 2002). Die Enquete-Kommission konstituierte sich 2000 - in der 14. Wahlperiode - und schloss zwei Jahre spater ihre Arbeit abA^ Sie sollte laut Beschluss des Deutschen Bundestages ,JHandlungsempfehlungen im Themenbereich 'soziale Sicherungssysteme'" erarbeiten (Deutscher Bundestag 2002: 293; vgl. auch Deutscher Bundestag 1999). Dariiber hinaus sollte sie „das Verhaltnis der Generationen nicht nur unter der Beriicksichtigung okonomischer, sondem vor allem auch gesellschaftlicher und politischer Aspekte analysieren und bewerten" (Deutscher Bundestag 2002: 293).

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Sie fiihrte die Arbeit von zuvor eingesetzten Enqueten fort. Bereits in der 12. und 13. Wahlperiode waren zu diesem Thema Kommissionen berufen worden, die jedoch lediglich Zwischenberichte lieferten (vgl. Deutscher Bundestag 1994, 1998).

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Fiir die Erstellung der „Ausgangslage" werden auch in diesem Bericht Modellrechnungen zur Bevolkerungsentwicklung vorgenommen, wobei allerdings eingestanden wird, dass verlassliche Prognosen kaum moglich sind, weshalb nur mit Tendenzen - wie stagnierende Fertilitat, steigende Lebenserwartung und, daraus resultierend, ein sich waiter verandemder Altersaufbau der Bevolkemng gerechnet wird. Auf dieser Grundlage sollen die Konsequenzen fiir die sozialen Sicherungssysteme und das Generationenverhaltnis aufgezeigt werden. Dabei konzentriert sich der Bericht darauf, zu berechnen, wie angesichts der aus dem „Gleichgewicht geratenen Balance" der Generationsgrofien die Finanzierung der sozialen Sicherung gewahrleistet werden kann. Diese Balance wird auch in Bezug auf den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft, im Bereich der Migration so wie am Gesundheits- und Pflegeversicherungssystem erortert. Konsequenzen des demographischen Wandels in den verschiedenen abgehandelten Bereichen werden wie folgt gefordert: Wahrend beim Generationenverhaltnis zunachst lediglich eine Sensibilisierung angestrebt wird, um zu vermeiden, dass es zwischen den Altersgruppen zu einer Polarisierung kommt, werden in den Bereichen Arbeitsmarkt und Wirtschaft deutlichere Einschnitte angemahnt, beispielsweise Flexibilisierung der Ldhne und Arbeitszeiten, Lohnabstand zu sozialen Transferleistungen und Abbau von ,3eschaftigungshemmnissen". Des Weiteren werden eine entlang demographischer Gesichtspunkte gesteuerte Zuwanderung und die bessere Integration von Migranten, die private Erganzung der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Kosten- und Qualitatsmanagement bei Gesundheit und Pflege empfohlen.l^

3.4 Ein HdchstmaB an Evidenz Nach Max Weber besitzt einzig die zweckrationale Deutung sozialer Phanomene ein HochstmaB an Evidenz. Bei wissenschaftsgenerierten Reprasentationen bemisst sich der Grad an Evidenz an anderen Kriterien. Hauptsachlich zwei Eigenschaften erweisen sich immer wieder als besonders bedeutsam: prinzipielle Verstandlichkeit im Sinne von leichter NachvoUziehbarkeit und die Ubemahme allgemeiner gesellschaftlicher Uberzeugungen. Prinzipielle Verstandlichkeit meint, dass die Reprasentationen auch auBerhalb der „scientific community" verstehbar - also adressatentauglich - sind. Dies gelingt, indem sie als in sich schliissig und uberpriifbar erscheinen. Die demographischen Reprasentationen erfullen dieses Kriterium hervorragend, speziell die graphischen Veranschaulichungen. So ha-

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Die Pflege - ihre Finanzierung und Qualitat, wozu auch der Ausbau der Pflege als Bemfsbereich gehort - nimmt im Ubrigen den groBten Raum im Schlussbericht ein.

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ben die Betrachter der Bevolkerungspyramide und der demographischen Landkarte den Eindruck, dass sie sich die Fakten selbst erschlieBen und selbstandig interpretieren. Die Anmutung einer eigenen Deutung tragt wesentlich dazu bei, dass die Reprasentationen als schliissig wahrgenommen und ihnen Zustimmung entgegengebracht wird. Die klare und leicht fassliche Darbietung dient insbesondere dazu, dass die Reprasentationen nicht an Verstandlichkeitsbarrieren stoBen. Klar und leicht begreifbar sind sie jedoch nur dann, wenn sie Seh- und Denkgewohnheiten zitieren - also eingeiibte Bilder und Sprachmittel verwenden. Nicht „logische Evidenz" wie bei Max Weber, sondem „praktische Evidenz" im Sinn von Bourdieu sichert den demographischen Reprasentationen ein groBes Zustimmungspotenzial. Beziiglich der Inhalte der Reprasentationen ist zu beachten, dass sie auf breit geteilten gesellschaftlichen Uberzeugungen aufbauen. Ist dies gegeben, ist es selten notwendig, dass die prasentierten Inhalte umfassend hergeleitet und begriindet werden miissen. Bei den gesellschaftlichen Uberzeugungen handelt es sich oftmals um implizites Wissen. So kann man bei den demographischen Reprasentationen beobachten, dass diese ganz selbstverstandlich eine stabile Bevolkerungsstruktur als Ideal zugrunde legen, weil diese als Garant fiir gesellschaftliche Bestandigkeit angesehen wird. Dies wird jedoch weder expliziert noch begriindet. Indem die demographischen Reprasentationen diese gesellschaftliche Uberzeugung zugrunde legen, bestatigen sie die gewohnten Sichtweisen und Argumente. Prinzipielle Verstandlichkeit und die Ubemahme allgemeiner gesellschaftlicher Uberzeugungen sind typische Kennzeichen sozialer Reprasentationen. Die demographischen Reprasentationen zeichnen sich jedoch durch eine Besonderheit aus, die sie von anderen abhebt und zudem erklart, weshalb sie eine so auBerordentliche Erklarungs- und Uberzeugungskraft entfalten. Diese besteht darin, dass sie definitive Aussagen iiber die Zukunft versprechen. Da die kiinftigen Bevolkerungszahlen primar von der GroBe der verschiedenen Altersgruppen bestimmt werden und das veranderliche Verhalten der Menschen nur nachgeordnete Bedeutung hat, nehmen die meisten demographischen Prognosen fiir sich in Anspruch, verlasslicher als alle anderen Vorhersagen zu sein. Begriindet wird dies damit, dass es sich beim demographischen Wandel um einen irreversiblen Prozess handelt, der sich in den nachsten Jahrzehnten weder stoppen noch umkehren lasst. Davon leitet beispielsweise Herwig Birg sein destruktives Urteil her, dass jede Politik, die sich darum bemiihe, die demographische Entwicklung unter Kontrolle zu bringen, letztlich „eine Art Vergangenheitsbewaltigung" betreibe (Birg 2005: 63). Angesichts der steigenden Zukunftsungewissheit, mit der die modemen Gegenwartsgesellschaften konfrontiert sind und die zumeist mit den beiden Schlagworten Globalisierung und Wissensgesellschaft umschrieben wird, sagt die Demographic eine gesicherte Zukunftsausdeutung, ja sogar

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eine Abgeschlossenheit der Zukunft zu. Soziologische, politikwissenschaftliche Oder andere sozialwissenschaftliche Analysen trauen sich dagegen oftmals noch nicht einmal eine gesicherte Gegenwartsdiagnose zu. Nun ist, wie u.a. Niklas Luhmann gezeigt hat, ein zentrales Kennzeichen modemer Gesellschaften, dass sie ihren Orientiemngsschwerpunkt in die Zukunft hineinverlagem und Gegenwart als einen Weltzustand denken, „den es noch nicht gibt" (Luhmann 1997: 998). „Jede Gegenwart bildet immer wieder eine, wieder unbekannte Zukunft" (ebd.: 1007). Dieses Gegenwartsverstandnis grenzt sich von einem traditionellen ab, welches die Gegenwart im Wesentlichen durch die Vergangenheit bestimmt sieht. Indem modeme Gesellschaften die Gegenwart aus der Zukunft betrachten, gelingt es ihnen, die Gegenwart als „Entscheidungsspielraum" aufzufassen, der ihnen verschiedene Altemativen bietet, iiber die sie beschliefien kdnnen. Auf diese Weise nehmen sie die gesellschaftliche Zukunft als weitgehend von ihnen selbst einzurichten wahr. Wird dagegen Zukunft als Vergangenheitsbewaltigung qualifiziert, dann ist ein Entscheidungsoder Gestaltungsspielraum bestritten. Im Hinblick auf den Epochenbruch, in dem sich die modemen Gegenwartsgesellschaften befinden, sowie die groBe Ungewissheit iiber die denkbare und wiinschbare Zukunft erstaunt es nicht sonderlich, dass die Zuriicknahme von Zukunftsoffenheit, selbst wenn sie so dramatisch ausgemalt wird wie in vielen demographischen Reprasentationen, eine so groBe Uberzeugungskraft und Deutungsmacht entfalten kann.

4.

Demographisch bedingt - bedingt demographisch

Fertigt die Demographic Gesellschaftsdiagnosen und -prognosen an und verbreitet diese als demographische Berichte und Vorhersagen, dann iiberschreitet sie ihre fachdisziplinare Grenze und begibt sich auf das Terrain der Soziologie. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, zumal die Soziologie der Bevolkerungsstruktur oftmals wenig oder gar keine Beachtung schenkt und sich aus der „Abwesenheit der Bevdlkerung in der Gesellschaft" Erklarungsliicken ergeben. Fragwurdig wird dieser Grenziibertritt, sofem soziale, okonomische, politische und kulturelle Phanomene zu demographischen erklart werden, denn damit werden sie demographisiert. Demographisierung meint - um die vome in Anlehnung an Foucault vorgenommene Unterscheidung wieder aufzunehmen -, dass von der „Bevolkerung als Objekt" auf die ,3evolkerung als Subjekt" - sprich auf die Gesellschaft - geschlossen wird, was deterministische Erklamngen von gesellschaftlichen Prozessen begiinstigt. Teilweise wird sogar die zukiinftige Form des sozialen Zusammenlebens geradezu materialistisch von der Zahl der Kinder hergeleitet.

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Besonders haufig lasst sich Demographisiemng bei der Umdeutung sozialer Probleme und Konflikte zu demographisch bedingten Problemen und Konflikten beobachten. Mit dieser Umdeutung ist verbunden, dass jene Charakteristika, die die Demographie fur wesenseigen fiir die Bevolkemngsstruktur erklart, auf originar soziale, okonomische, politische und kulturelle Phanomene iibertragen werden. Dazu gehoren die lange Dauer der Phanomene, weil sich die Zusammensetzung der Bevolkemngsstruktur nicht innerhalb kurzer Zeit verandem lasst, die Unausweichlichkeit, ja Zwangslaufigkeit, weil ohne Bevolkemng Gesellschaft iiberhaupt nicht moglich ist, und insbesondere die geringe Gestaltbarkeit bzw. Beeinflussbarkeit aufgmnd des eingeengten Entscheidungsspielraums, weil die GroBe der verschiedenen Altersgmppen nur wenig vom Verhalten der Bevolkemng verandert werden kann.l^ Diese Eigenschaften werden auf soziale, politische und kulturelle Phanomene iibertragen, obwohl deren Eigenschaften in modemen Gegenwartsgesellschaften just gegenteilig qualifiziert werden. Ansonsten konnte die Gegenwart nicht als „Entscheidungsraum" und die Zukunft als weitgehend offen gedacht werden. Damit schreibt die Demographisiemng die gesellschaftliche Semantik (Luhmann) iiber die Gegenwart und Zukunft von weitgehend offen und unbekannt zu groBtenteils vorbestimmt und bereits bekannt um. Weiterhin ist fur soziale, okonomische, politische und kulturelle Phanomene typisch, dass diese je nach Standort - man konnte auch sagen: je nach Interessenlage und ideellen Uberzeugungen - verschieden wahrgenommen und beschrieben werden. Daraus erklart sich, dass sie im Rahmen der bestehenden Machtkonstellationen kontrovers betrachtet werden. Demographisiemng dagegen argumentiert mit zwangslaufigen Ablaufen, unabwendbaren Folgen, und mit diesen Begriindungen verengt sie den Raum fiir soziale Aushandlungsprozesse. Veranschaulichen wir uns dies anhand einiger Beispiele. Das Berlin-Institut fiir Bevolkemng und Entwicklung (2006: 9) zahlt in seiner Analyse zur Zukunftsfahigkeit Deutschlands vier kiinftige Konflikte auf, die zwangslaufig aus dem demographischen Wandel erwachsen: der zwischen Eltem und Kinderlosen, zwischen Alten und Jungen, zwischen der Bildungselite und den Unqualifizierten sowie zwischen Zugewanderten und Alteingesessenen.15 Bis auf den prognostizierten Konflikt zwischen denen mit und ohne Nachkommen handelt es sich um gesellschaftliche bzw. staatliche Gmndkonflikte, die unabhangig von der demographischen Zusammensetzung oder dem „demographischen Verhalten"

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Dabei zeigt die steigende Geburtenrate in Frankreich bzw. die zeitliche Verschiebung der Geburten nach der Wende in Ostdeutschland, dass gerade das Verhalten von groBer Bedeutung ist (s. auch den Beitrag von Kreyenfeld in diesem Band). In vielen demographischen Untersuchungen wird ein weiterer Konflikt genannt: der zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen (vgl. den Beitrag von Tutt in diesem Band).

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existieren. Aber auch der angekiindigte Konflikt zwischen Eltem und Kinderlosen, bei dem zwar ein unmittelbarer Bezug zum „deniographischen Verhalten" besteht, entsteht nicht aus sich heraus. Erst im sozialen Kontext wird Kinderlosigkeit zu einer konflikttrachtigen Differenz, sofem daran Vorteile bzw. Nachteile gebunden sind, die als sozial ungerecht wahrgenommen werden. Aber auch dieser Konflikt kann gesellschaftlich bewaltigt werden. 16 Allerdings erhalten die vier aufgezahlten Konflikte durch den demographischen Wandel eine spezifische Pragung. So gehdrt die Versorgung von Menschen, die nicht mehr mitarbeiten konnen, zu den existentiellen Grundfragen, mit denen sich jede Gesellschaft auseinanderzusetzen hat: eine Jager-SammlerGesellschaft genauso wie eine Wissensgesellschaft. Ihr jeweiliger Umgang lasst sich nicht von einer Gesellschaft auf eine andere iibertragen. Auch eine „altemde Gesellschaft" ist aufgerufen, sich dieser existentiellen Grundfi-age zu stellen und eine Antwort zu finden. Wie diese aussieht, hangt weit mehr davon ab, welche gegenseitigen Verpflichtungen Menschen bereit sind fiireinander einzugehen, als von der bloBen Kopfzahl der jeweiligen Altersgruppen. Das Verhaltnis zwischen Alten und Jungen ist gerade keine natiirlich-numerische, sondem eine soziale Angelegenheit. Dies ist bereits bei Karl Mannheim in seinem beriihmten Aufsatz „Das Problem der Generationen" nachzulesen (Mannheim 1928). Dort schreibt er, dass Gesellschaft mehr ist als „das Geborenwerden, das Altem und das Sterben" - mehr als diese demographischen Fakten; sie ist bestimmt durch das „Miteinander der Menschen", „eine bestimmt geartete Struktur der Gesellschaft" und „die auf spezifisch gearteten Kontinuitaten beruhende Geschichte" (ebd.: 173). Desgleichen unabhangig von der demographischen Lage ist der mogliche Konflikt zwischen der Bildungselite und den Unqualifizierten. Er rekurriert in modemen Gegenwartsgesellschaften auf Vorstellungen und Forderungen nach Chancengleichheit im Bildungssystem. Zwar wird mit demographischen Argumenten begriindet, weshalb in diinn besiedelten Regionen Schulen geschlossen werden miissen. Aber tatsachlich verbergen sich dahinter oftmals finanzielle Engpasse oder auch ein Mangel an innovativen Losungen. Der gr56te Ausdruck von mangelnder Chancengleichheit im Bildungssystem ist jedoch, dass sozial benachteiligte Schiilerinnen und Schiiler aus bildungsfemen Familien, insbesondere Kinder von Migranten, nur unzureichend gefordert werden. 1'^ Demographische Ursachen hat dies nicht. Dass das Verhaltnis von Migranten und Einheimischen vorwiegend durch Zuwandemngspolitik, soziale Zugehorigkeit, okonomi-

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Viel zu kurz greift eine lediglich okonomische Betrachtung der Vorziige wie Benachteiligungen (siehe den Beitrag von Lang in diesem Band). Siehe dazu insbesondere die Ergebnisse der PISA-Studie (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 2002).

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sche Chancen und kulturelle Anerkennung bestimmt wird und weniger von Unterschieden in der Altersstruktur und der Geburtenrate - zumal diese sich bekanntlich angleichen -, versteht sich beinahe von selbst. Was Demographisiemng meint, soil an einem weiteren, besonders anschaulichen Beispiel demonstriert werden. Herwig Birg schreibt: „Wenn das Ziel einer Demokratie darin besteht, das grofite Gluck der groBten Zahl zu erreichen, wird es bei einer schmmpfenden Zahl von Demokraten verfehlt." (Birg 2005: 147)

Demokratie als eine Herrschaftsform wird in diesem Beispiel als demographischer Auftrag verstanden und statistisch uminterpretiert in die ,J*olitik der gro6en Zahl" - so der Buchtitel der feinsinnigen Geschichte der Statistik von Alain Desrosieres (1993). Dieses Zitat soil exemplarisch ftir viele andere demographische Umdeutungen stehen: Kriminalitat, soziale Exklusion und Abweichung, Regierung und Politik etc.l^ Besonders verbreitet ist Demographisiemng auf dem Gebiet von Arbeit und Okonomie. Dies bedeutet, dass die gegenwartige dkonomische Krise sowie die Neuemngen durch die Wissensgesellschaft und die Globalisiemng vorwiegend als demographische Herausfordemngen interpretiert werden. Dabei wird mit erstaunlicher Leichtigkeit die Bev51kemngsgr66e mit okonomischer Starke bzw. Schwache gleichgesetzt und das Szenario heraufbeschworen, dass „demographische Riesen zu okonomischen Riesen werden" (Birg 2005: 62). 19 Und dies, obwohl in der demographischen Forschung Konsens besteht, dass die Gmndannahme von Malthus, dass die BevolkemngsgrdBe die wirtschaftlichen Entwicklungschancen bestimmt, zu verwerfen sei. Ahnlich wie zu der Zeit von Malthus, als der Ubergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft stattfand und mit ihm massive demographische Verandemngen einhergingen, ist gegenwartig und zukiinftig zu fragen, wie sich die „globalisierte Wissensgesellschaft" demographisch und wie sie sich gesellschaftlich einrichten wird. Dabei wird es nicht hilfreich sein, den demographischen Wandel, wie es in der gegenwartigen Debatte geschieht, auf die bestehende soziale Verfasstheit zu beziehen. So wie der Ubergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft eine neue gesellschaftliche Verfasstheit erforderte, wird sich auch der Wandel zur Wissensgesellschaft unter den Bedingungen der Globalisie-

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Man sollte die offentliche und politische Wirksamkeit der Demographisiemng nicht unterschatzen. Ein Effekt ist, dass ein bislang randstandiges Thema wie Frauen- und Gleichstellungspolitik zu einem zentralen, ja zum bedeutsamsten Thema uberhaupt befordert wird (s. den Beitrag von Lindecke in diesem Band). Bei dieser Thematisierung ist auffallig, dass abermals nur von Frauen und Miittem die Rede ist, Manner und Vater fehlen weitgehend (siehe die Beitrage von Meuser und Schiek in diesem Band). Siehe insbesondere den Beitrag von Straubhaar/Schroer in diesem Band, die sich kritisch mit diesen Argumenten auseinandersetzen.

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rung nicht mit einem Reformprogramm bisheriger Institutionen bewaltigen lassen. Dies gilt insbesondere fiir die Institutionen der Arbeit und sozialen Sicherung, die angepasst auf die Industriegesellschaft entwickelt worden sind, richtiger: entlang des fiir die Industriegesellschaft typischen Interessenkonflikts „sozial erkampft" wurden. Es ist aber nicht nur eine offene Frage, wie sich die „globalisierte Wissensgesellschaft" demographisch entwickeln wird. Viel grundsatzlicher ist zu fragen, ob es einen Zusammenhang zwischen Bevolkerungs- und Gesellschaftsentwicklung gibt und vor allem ob dieser bereits wahrend einer Ubergangsepoche oder erst im Nachhinein erkannt werden kann. Mitten im Ubergang von der Agrarzur Industriegesellschaft verzeichnete das Deutsche Reich ein betrachtliches Bevolkemngswachstum. Von 1871-1900 wuchs die Bevdlkerung im Deutschen Reich um 20,4 Prozent, im Konigreich Sachsen sogar um 37 Prozent. Insbesondere in den groBen Stadten - den Zentren der Industrialisierung - stieg die Einwohnerzahl sprunghaft an: von 1875 bis 1900 in Berlin um 95 Prozent, in Leipzig um 258 Prozent. Die Stadte profitierten vorwiegend davon, dass es die landliche Bevdlkerung in die neuen Produktionsstatten zog - ein deutliches Indiz fiir die Transformation von der Agrar- zur Industriegesellschaft.20 Die damaligen Zeitgenossen haben das massive Bevolkerungs- und Stadtewachstum nicht als Innovationsschub wahrgenommen, sondem als gesellschaftlichen Zerfall mit ungewissem, ja bedrohlichem Ausgang (vgl. Barlosius 1997). Heutzutage sieht die Geschichtswissenschaft in dem Bevolkerungswachstum einen Grund ftir den schnellen Aufstieg Deutschlands zu einer fiihrenden Industrienation und umgekehrt den Grund fiir das Zuriickbleiben Frankreichs im europaischen Prozess der Industrialisierung in seiner relativ stabilen Bevolkerung im 19. Jahrhundert (vgl. Kaelble 1991). Es scheint somit fraglich, dass Gegenwartsgesellschaften in der Lage sind, die ideale Demographic fiir eine unbekannte gesellschaftliche Zukunft zu antizipieren. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik und Gestaltbarkeit uberft)rdert sie, besonders in Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs, in denen die Gmndlinien noch nicht absehbar sind - wie die der „globalisierten Wissensgesellschaft", falls diese Zukunftsdiagnose iiberhaupt stimmt. Die aktuelle Debatte iiber den demographischen Wandel wird beinahe ausschlieBlich auf die gegenwartige Verfasstheit der Gesellschaft bezogen. Wenn von einer ausreichenden Kinderzahl und einer „altemden Gesellschaft" die Rede ist, dann ist der Mafistab fiir „ausreichend" wie fur „altersideal zusammengesetzt" die Demographic der Nachkriegsgesellschaft mit ihrer industriellen Produktion und ihrer Form der sozialen Sicherung. Um diese zu fixieren, wird eine

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Aber sie wuchsen nicht unbetrachtlich auch durch das eigene natiirliche Bevolkerungswachstum.

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stabile Demographic fiir unerlasslich gehalten; dies klingt iiberzeugend. Eine stabile Demographie jedoch iiber einen gesellschaftlichen Umbruch hinaus fortzuschreiben scheint gewagt. Jedenfalls hatte die Industriegesellschaft mit der Bevolkerungsstruktur der Agrargesellschaft einer anderen gesellschaftlichen Verfasstheit bedurft, um zu einer gewissen Stabilitat zu gelangen.

5.

Erlduternde Worte zum Aufbau des Bandes

Die demographische Diskussion ist nicht nur eine fachwissenschaftliche, sondem auch eine fachpolitische, aber vor allem wird sie in der breiten Offentlichkeit gefiihrt: Es gibt fachwissenschaftliche Analysen, offentliche Debatten und, wie am Beispiel der demographischen Reprasentationen gezeigt, auch einen Zwischenbereich. Zu den wichtigsten Impulsgebem fiir den demographischen Diskurs gehoren Medien, Politik und einige Interessenverbande. Wer iiber die Demographisierung des Gesellschaftlichen reflektiert, kann an diesen Veroffentlichungen jeweils eigener Art nicht vorbeigehen. Ansonsten wiirde er einen wichtigen, einen besonders einflussreichen Teil des Reprasentationsgeschehens ignorieren. Zudem ware er kaum in der Lage, den wissenschaftlichen Diskurs in seiner Eigenart zu verstehen, denn viele fachwissenschaftliche Untersuchungen setzen sich mit den in der Offentlichkeit kursierenden Zahlen und Erklarungen des demographischen Wandels auseinander.21 Weil die medialen und politischen Darstellungs- und Debattierungsweisen so starke offentliche Beachtung finden, sich mehrheitlich auf wissenschaftliche Expertise berufen und weil sie weiterhin Aspekte aufnehmen, Sichtweisen einfuhren und Pointiemngen vomehmen, die in den fachwissenschaftlichen Analysen unterbelichtet sind oder ganzlich fehlen, die aber bedeutsam sind, beginnt das Buch mit zwei Beitragen aus den Medien Susanne Lang und Cordula Tutt - und einem aus der praktischen Politik von Christiane Hug-von Lieven. Diese dffentlichen Standortbestimmungen sollen einerseits in die Thematik einstimmen und andererseits zur kritischen Nachfrage motivieren. Letzteres steht im Zentrum des darauf folgenden Abschnitts iiber die Registrierung. Kaum ein Wissen scheint so gesichert wie statistisches, zumal wenn es sich um Bevolkerungsstatistiken handelt, die sich auf eine lange wissenschaftliche und staatliche Tradition berufen konnen und die iiberdies so „einfache Tatsachen" wie Geburts- und Todesjahr, Anzahl der Geburten etc. erfassen. Bei ge-

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In der aktuellen Debatte iiber demographische Zukunft erfahren die Fachwissenschaften aber auch, wie die von ihnen produzierten Daten und Erklarungen von der medialen und politischen Offentlichkeit aufgenommen, interpretiert und popularisiert werden.

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nauerem Blick zeigt sich jedoch, dass die vorhandenen demographischen Statistiken einige Probleme und Liicken aufweisen. In ihren Beitragen diskutieren Ivar Cornelius und Michaela Kreyenfeld die Moglichkeiten und Grenzen der statistischen Erfassung und der Erklarung durch statistische Daten. Die statistische Erfassung bildet die empirische Grundlage fiir die wissenschaftliche Ursachensuche des demographischen Wandels. Als wichtiger Grund wird in den aktuellen wissenschaftHchen Analysen immer wieder die mangelnde Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und FamiHe in Deutschland benannt. Wenn diese verbessert werden soil, dann werden zunachst und zumeist ausschlieBlich Losungen fiir Mutter gesucht. So wie die Statistik nur die Frauen befragt, um die Geburtenrate zu bestimmen, wird gleichfalls die Aufforderung der Vereinbarkeit nur an Frauen adressiert. Christiane Lindecke ebenso wie Michael Meuser lehnen diese verengte Perspektive ab. In ihrem Landervergleich zeigt Christiane Lindecke, dass in Landem, in denen Familien- eng mit Gleichstellungspolitik verkniipft ist, Familiengriindungen besser gelingen. Und Michael Meuser fragt nach, ob und wie sich die Familiengriindung auf die Lebenslau^lanung von Mannem auswirkt. An die Ursachensuche sollte sich idealerweise die Suche nach Abhilfe anschlieBen, und sie sollte versuchen, praxistaugliche Vorschlage zu unterbreiten. Wer sich dieser schwierigen Herausforderung stellt, begibt sich in den Zwischenbereich von Wissenschaft und Politik - sie oder er hat einen Standpunkt zu beziehen. Und dies bedeutet, wissenschaftliche Analysen zu gewichten und zu bewerten, um zu begriindeten Losungsvorschlagen zu gelangen. ErfahrungsgemaB gelingt es nur so, die Empfehlungen in die offentliche Debatte einzuspeisen. Diese Herausforderung nimmt Kathrin Dressel in ihrem Beitrag an. Ihr Ausgangspunkt ist, dass es vielen Frauen nicht gliickt, ihren Wunsch nach Kindem zu realisieren. Ihr Losungsvorschlag lautet: Familienbildung und berufliche Karriere durch eine breitere Nutzung gewonnener Jahre zeitlich zu entzerren. Vom Standpunkt einer vorherrschend marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung aus hinterfragen Thomas Straubhaar und Sebastian Schroer, ob die weit verbreitete Gewissheit, dass eine „altemde Gesellschaft" zwangslaufig in eine dkonomische Krise gerat, iiberhaupt stimmt. Ausgehend von marktwirtschaftlichen Argumenten unterbreiten sie Vorschlage, wie das System der sozialen Sicherung, Arbeitsmarkte und Bildungsangebote umzugestalten sind, um sie an die veranderte Altersstruktur anzupassen. Das Buch endet mit drei Aufsatzen, die jeweils eine Facette der Macht der Demographisierung analysieren. Martin Lengwiler demonstriert, dass staatliche Anstrengungen, auf das reproduktive Verhalten der Bevolkerung einzuwirken, eine lange Tradition besitzen, mal mit der Absicht, die Geburtenrate zu steigem, mal, um sie zu verringem. Dabei ist auffallig, dass es selten nur um die Erhohung oder Verminderung der Geburtenrate ging, sondem eher darum, auf das

Die Demographisierung des Gesellschaftlichen

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Reproduktionsverhalten in bestimmten sozialen Klassen und Schichten einzuwirken. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, urspriinglich eine frauenpolitische Forderung zur Durchsetzung von mehr Geschlechtergerechtigkeit, wird in der gegenwartigen demographischen Debatte zunehmend mit einer neuen Begriindung ausgestattet: Wenn „Frauen beides wollen - Kinder und Beruf, dann ist es nunmehr ein familienpolitisches Anliegen, die Vereinbarkeit zu erreichen, um auf diesem Weg die Geburtenrate zu steigem. Daniela Schiek zeigt diesen Begriindungswechsel am Beispiel der Teilzeitarbeit auf. Stephan Beetz wendet sich einem sehr aktuellen Thema zu. Zunehmend ist zu beobachten, dass eine wirtschafts- und regionalpolitische Forderung des landlichen Raums - vor allem in strukturschwachen Regionen - mit dem Argument zur Disposition gestellt wird, dass sich dort die Bevolkerungsstruktur bereits zu „ungtinstig" entwickelt habe, sodass eine weitere Unterstutzung nicht Erfolg versprechend sei.

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Offentliche Standortbestimmungen

Die Kinder der Akademikerinnen Familienplanung als eine Frage des Stils Susanne Lang

Sie sitzen in seriosen Abend-Talk-Shows und bekennen sich: „Wir sagen ja zum Kind!" Sie lacheln im Vorwerk-Staubsauger-Werbespot mit Champagnerglas im kleinen Schwarzen und enthiillen das Geheimnis ihres erfiillten HausfrauenDaseins: „Ich leite ein kleines erfolgreiches Familienuntemehmen." Sie strahlen auf den Magazin-Covem der Republik: „Verdammt sexy, dieser Kugelbauch." Sie heiBen zum Beispiel Silvana Koch-Mehrin, Europa-Abgeordnete der FDP, die ihren Bauch im Magazin „Stem" inszenierte - in Hochglanz-Optik. Sie heiBen Heidi Klum, Top-Model, gerade wieder Mutter. Und sie heiBen Verona ehemals Feldbusch, dann Pooth, nun endlich Mutter. Sie haben einen Lebensabschnittspartner und Karriere gemacht. „Sie haben alles erreicht", wie das neue Mutterblatt „Gala" im Friihjahr 2005 titelte, ,jetzt wollen sie Kinder". Und sobald sie Kinder geboren haben, sind sie sofort wieder auf dem Laufsteg so schlank, so rank, so schnell - wie machen sie das bloB? Es war jene Heidi Klum, die zuletzt wochenlang mit diesen bewegenden Fragen die Schlagzeilen bestimmte. Und nur auf Nachfragen ungewollt gestand, eine Nanny zu haben, aber trotzdem 100-prozentig fur ihr Kind da sein zu wollen. „Ich will keine Mutter sein, die ihr Kind an eine fremde Person abgibt", so betonte Klum. Unter Rabenmutter-Verdacht stand sie auf jeden Fall nie. Ebenso wenig wie Verona Pooth, die mittlerweile nicht nur wegen ihres Mutterdaseins einen neuen Medienmarketingwert zugesprochen bekommt, sondem auch mit ihrem Sohn auftritt. Vereinbarung von Beruf, Karriere und Kind? Verona Pooth hat die perfektionierte Losung gefunden: Sie verdient ihr Geld mit dem Kind. Die Mehrzahl der jungen Karrierefrauen hingegen macht sich die Kindentscheidung leider noch sehr schwer. Sie bekommen nicht einfach ein Kind. Nein, Akademikerinnen miissen zunachst jene schwierige Kopfgeburt bewaltigen, die die Pooths und Klums lange hinter sich haben: Wie integriere ich ein Kind in mein individuelles Leben, wie in meine Personlichkeit? Wie passt ein Kind in meinen Entwurf von einem selbstverwirklichten Leben? Und wahrend sie noch mit diesen Gedanken schwanger gehen, leben es die neuen Turbomiitter tagtaglich und die Medien offensiv vor: Mutter sind sexy. Kinder sind cool.

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So viel dffentliches Mutter-Sein war lange nicht mehr - zumindest nicht in Deutschland. Zwischen Gebar-Hype und Wirklichkeit klafft jedoch weiterhin eine Liicke. Obwohl Renate Schmidt, ehemalige hauptamtliche Familienministerin und nebenberufliche Vorbildmama, unermiidlich an die jungen, kinderlosen Akademikerinnen appelliert hatte; obwohl die neue Familienministerin Ursula von der Leyen, hauptberufliche Arztin und nebenamtliche CDU-Supermama, als Speerspitze der Konservativen nicht miide wird, ihre siebenkopfige Kinderschar in Homestories zu prasentieren: Seht her, es klappt doch prima, flir mich als Erfolgsfrau und Mutter. Obwohl bereits die erste Vorhut an unprominenten Turbomiittem im urbanen Grofistadtmilieu den Kinderwagen durch H&M-Filialen schiebt, Spielplatz-Freizeit kultiviert und im Cafe sitzt - mit ihren Vorzeigekindem, elegant in die Selbstinszenierung integriert. Immer im Dienste der deutschen Demographic. Deutschland braucht viel mehr von diesen Miittem, sagt nun auch die neue Familienministerin - und eigentlich meint sie: mehr Kinder aus der gebildeten Mittelschicht, auf die auch die jiingst beschlossene steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuung zielt. Deutschland braucht mehr dieser Kinder, sagen auch die Demographen, sagt der Arbeitsmarkt, sagen die Think Tanks. Die magische Zahl 42 Prozent immer mahnend parat - 42 Prozent der Akademikerinnen sollen angeblich laut Statistischem Bundesamt kinderlos sein. Eine alarmierende Zahl das soil sie wohl auch sein - zumindest wird sie so interpretiert, obwohl die Erhebung des Bundesamtes keine durchschnittlichen 42 Prozent ergibt. Wie auch das Deutsche Institut fiir Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin die Zahl weitaus niedriger ansetzt: 25 Prozent - doch darauf beruft sich niemand. Seltsam nur, dass sich die jungen Akademikerinnen trotzdem nicht beeindrucken lassen vom MaBnahmenkatalog der Politik: hoheres Eltemgeld. Mehr Ganztagsschulen, versprochen! Bessere Bildungsangebote, Riickkehrrecht zum Arbeitsplatz. Mehr Chancen und endlich einmal Chancen fiir die gebarfahigen Frauen - sie miissen nur Karriere und Kind endlich vereinbaren wollen. Warum bloB wollen sie immer noch nicht? „Mut" hieB daher zuletzt das Stichwort von Renate Schmidt, die Gesellschaft miisse jungen Frauen und Mannem Mut zum Kind machen. Es miisse dafiir geworben werden, dass „zu einem modemen Lebensstil Kinder gehoren". Das soziokulturelle Umfeld ist also gefragt - Images miissten her, die Trendmaschine musste gestartet werden. Die Vorhut der neuen Werbe-Turbomiitter befindet sich genau auf dieser Mission. Sie zeigen sich iiberall, nur nicht zu Hause. Sie leben offentlich vor, wie aus den deutschen Kopfkindgeburten endlich Kids zum Anfassen werden. Perfekte Working-Life-Balance-Miitter. Wie aufregend, das postmodeme Mutterbild! Die Twen-Moms sind nach wie vor der angesagteste Reformtrend der Republik.

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Mit einem reaktionaren Mutterkult, einer patriotischen, pro-natalistischen Gebarpropaganda hat die neue Faszination fxir Mutter wenig zu tun, obwohl der gesellschaftlich erzeugte Druck - Kinder sind gut fiir den Staat, Eltem sind altruistisch, leisten ihren Anteil am Gemeinwohl, Kinderlose sind unsozial - durchaus einen kritischen Punkt erreicht hat, wenn man die MaBstabe einer freien demokratischen und eben selbstbestimmten Gesellschaft anlegt. Die Faszination fur Mutter folgt in Wirklichkeit weniger familienpolitischen Impulsen - sie fuBt im Feld der Okonomie, die einer kapitalistischen Logik folgt: Kinder haben heute nicht nur einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen, sie sind zum begehrenswerten Objekt und Produkt mutiert, sie fungieren nicht nur als „Humankapital", sondem als „emotionales Kapital". Kinder werden heute mit einem symbolischen Lifestyle-Wert aufgeladen, der fiir Deutschland neu ist. Kein Wunder, dass Werbung und Glamourwelt, dass Pop und Mode sich der Mutter annehmen, schlieBlich sind es die Mutter, die als Familienmanagerinnen auch vorrangig iiber den Konsum entscheiden - jenen „Vorwerk"-Staubsauger hoffentlich doch bevorzugen und ganz nebenbei den Sozialstaat demographisch retten mogen. Anleihen fiir die neuen Mutter-Role-Models borgt man sich vom boomenden ,jy[omismus" in den USA, der mit der Weiblichkeits-Ikone Madonna seinen Anfang nahm. Ihr Credo lautet: „Das letzte gesellschaftliche Abenteuer, das man heute erleben kann, ist es, eine Familie zu griinden." Eine exportfahige Philosophic, die von transatlantischen Topacts wie Heidi Klum auch nach Deutschland getragen wurde. Mitten hinein in jene urbanen Lebenswelten, in denen die Turbomiitter dann im Alltag allzu ofl mit ihrer Performance scheitem: Muttersein ist anstrengend. Doch selbst dies ist Teil des Momismus, zumindest wie ihn seit einigen Staffeln die ,J3esperate Housewifes", die verzweifelten Hausfrauen in der US-Serie, auch im deutschen Femsehen leben - Ehe und Kinder sind die Holle - manchmal. Aber eine Holle, die selbst gewahlt ist. Momismus heiBt eben auch, dass iiber all das geredet wird, was friiher „der schonste Schmerz der Welt" war. Mom darf heute sagen, dass Windelnwechseln nicht immer angenehm ist. Dass das selbstgewahlte Hausfrauendasein schon nach kurzer Zeit unbefriedigend ist. Wer Naheres wissen mochte, sei in die Welt der Bestseller verwiesen: Mit einem Hausfrauen-Mutter-Drama hat Autorin und Zweifach-Mutter Susanne Frohlich in ihrem Roman ,JFamilienpackung" ihren jiingsten Volltreffer gelandet. Im nachsten Band, so Frohlichs Ankiindigung, werde ihre Protagonistin selbstverstandlich wieder arbeiten gehen, Teilzeit zumindest doch. In Deutschland wird „momism" nicht von reaktionaren Kulturkampfem (wie sie in den USA agieren) politisch instrumentalisiert, in Deutschland hat der Mutter-Pop ein liberales Antlitz: Zwar greift das konservative Lager geme wieder auf die traditionellen Anleihen zuriick, aber auch das linke Lager hat langst die Kinderliebe fiir sich entdeckt: Kinder sind eine Mdglichkeit der Distinktion. Sie sind „pc", rechts wie links politisch korrekt. Ein Statussymbol von einer

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Bedeutung, wie sie bislang hochstens Auto und Eigenheim fiir sich in Anspruch nehmen durften. Ein Statussymbol vor allem fiir eine Mittelschicht, die zunehmend ihre Schwierigkeiten hat, sich abzugrenzen - von irgendwo diffiis gefiihlt „da unten". Von den Vielzahl-ICindergeldschnorrem. Ein Objekt, um das gute, schone, wahre, erfiillte Leben zu zelebrieren. Ein Kind bei Manufactum - das ware der ultimative Konsumschlager. Wohl ausgesucht, politisch korrekt, ein wenig hedonistisch, vor allem aber: ein Objekt der Selbstinszeniemng und der Selbstverwirklichung, versehen mit edlen Labels wie Laura, Marie und Alexander - am besten mit Manufactum-Umtauschgarantie. Muttersein, das ist vielleicht die gute Nachricht, ist endgiiltig entideologisiert. Die Generation junger Frauen, die Twen-Moms, haben sich in doppelter Weise emanzipiert: von ihren emanzipierten Miittem, die im Zuge der Studentenbewegung Selbstbestimmtheit und Unabhangigkeit (von Mannem und Kindem) als absoluten MaBstab ihrer Lebensplanung durchsetzten. Die GroBmutter sagte noch: „Bring mir bloB kein uneheliches Kind nach Hause." Die Mutter sagte schon: „Gib bloB deine Karriere, deine Selbstandigkeit nicht auf wegen eines Kindes." Und nun? Maximale Mdglichkeiten, die eines gemeinsam haben: den Zwang zur Perfektion. SchlieBlich soil sich die Entscheidung als die richtige beweisen. Das wiegt schwerer als ein fehlender Kitaplatz. Aus der Ideologic ist ein Ideal geworden, aus der Utopie jener pragmatische Familiengeist, der mittlerweile sogar systemtheoretisch eingeordnet ist. „Nachwuchs macht Sinn", so stellt Christian Schuldt etwas lapidar fest in seinem Versuch der Weiterentwicklung von Niklas Luhmanns „Liebe als Passion" (Schuldt 2005). Er erklart die Renaissance der Familie, ihre Sinnhaftigkeit, mit den Pramissen der passionierten, romantischen Liebe: Das (unerreichbare) Ideal der Selbstverwirklichung in der Liebesbeziehung wird heute auch auf die Familie iibertragen. Der Fokus auf familiare Vertrautheit bildet eine romantische Gegenstrategie zur kalt-rationalen Logik des globalen Arbeitsmarkts. Das passende Schlagwort dazu aus der Trendmaschine: Cocooning - einer jeden ihr Nestchen. Der passende Untertitel von Schuldts Arbeit dazu: „Liebe und Sex in den Zeiten maximaler Moglichkeiten". Genau dies ist das eigentliche Dilemma der jungen Frauen: Ideale leben von der Uberhohung, der Aufladung mit Sinn, ein Kind bedeutet aber nun mal: lebenslanglich. Eine Entscheidung, die nicht riickgangig gemacht werden kann. Oder wie es, positiv gewendet, die amerikanische Psychologin Daphne de Marneffe in ihrem Buch ,JDie Lust Mutter zu sein" beschreibt: Eine Entscheidung, Kinder nicht nur kriegen und haben zu wollen, sondem auch fiir sie zu sorgen (Mameffe 2005). Sie lenkt den Blick auf einen Aspekt in der Debatte um Kinderlosigkeit, der in Deutschland vdllig auBer Acht gelassen wird: die urweibliche Libido als Beweggrund fiir ein Kind. Dass sie in den Hintergrund geraten ist, verdanken die Frauen nicht zuletzt der Emanzipationsbewegung. Um kein Miss-

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verstandnis aufkommen zu lassen: De Mameffe steht keineswegs in der reaktionaren Ecke, sie ist vielmehr feministisch gepragt und bricht - wenn iiberhaupt mit einem emanzipatorischen Tabu. Sich zur Lust zu bekennen, eigene Kinder aufzuziehen und zu versorgen, sich zum Gliick zu bekennen, Kinder zu haben, das bedeutet letztlich, einen Teil der egoistisch anmutenden Selbstverwirklichung in Form von Lifestyle-Attitiiden ebenso aufzugeben wie ideologische Kampfe. Es beinhaltet die Bereitschaft, das Anrecht auf weibliche Fiirsorglichkeit zu einem gleichberechtigten Teil auch den Vatem zuzugestehen. Aber iiber Vater beginnen auch Turbo-FamiHenministerinnen erst langsam zu sprechen.

Literatur Mameffe, Daphne de (2005): Die Lust Mutter zu sein. Liebe, Kinder, Gliick. Miinchen: Piper Verlag. Schuldt, Christian (2005): Der Code des Herzens. Liebe und Sex in den Zeiten maximaler Moglichkeiten. Berlin: Bichbom.

Das groBe Schrumpfen Von Wohlstandsinseln und Verliererregionen Cordula Tutt

Angeblich verandert sich das Leben auf dem Land weniger als in der Stadt. Manchmal aber merkt man gerade in entlegenen Flecken, wie sich die Republik schleichend wandelt. Bauem im Rheinland oder in Mecklenburg haben neue Nachbam: Biber erobem Land zuriick, sie graben Locher in Damme, fluten Felder und lassen Teiche leer laufen. In Brandenburg und Sachsen sind Wildkatzen, Luchs und Wolf wieder Bewohner in menschenleeren Zonen. In Oberfranken und im Saarland fehlen auf dem Land die Schulkinder. In Kultusministerien wird durchgerechnet, wann welche Schule schliefien muss. Orte leeren sich langsam, weil die Jungen fortziehen und nicht wiederkommen, wenn sie Familien griinden. Ohne Aussicht auf neue Eigner stehen in manchen Dorfem Backereien, Gaststatten und Autowerkstatten zum Verkauf. Schon in fiinf Jahren werden auch etliche GroBstadte Einwohner verloren haben, nicht mehr nur die im Ruhrgebiet oder im Osten. Dann wird nach Aussage der Bundesbeauftragten fiir Integration, Maria Bohmer, in vielen westdeutschen GroBstadten die Halfte der Bevolkerung unter 40 Jahren aus Einwandererfamilien stammen. Bereits seit 2003 nimmt statistisch Deutschlands Bevolkerung ab, erst unmerklich, bald in hoherem Tempo. 2005 wurden in Deutschland nur 676.000 Kinder geboren, so wenige wie zuletzt 1945 am Kriegsende. Seit Jahren werden statistisch gesehen nur knapp 1,4 Kinder von jeder Frau geboren. Das heiBt, dass jede Generation etwa um ein Drittel kleiner ist als die der Eltem. Von nun an wird es wohl fast jedes Jahr neue solche Rekorde geben - allein schon deshalb, weil es immer weniger Junge, weniger potenzielle Eltem, gibt. Auch die Zuwanderung kann inzwischen langst nicht mehr wettmachen, dass seit Anfang der 1970er Jahre im Land weniger Menschen geboren werden als sterben. Gleichzeitig altert Deutschland. Nach mittlerer Prognose des Statistischen Bundesamtes (Destatis) wird 2050 die Halfte der Bevolkerung alter als 48 Jahre alt sein, ein Drittel sogar liber 60 Jahre. Schon bald nach dem Jahr 2010 wird sich der Anteil der Alten stark vergroBem. Die Rede ist von der Altenrepublik Deutschland, ohne weiteres lasst sich auch von der Schrumpfi-epublik sprechen. Zurzeit ist noch ein Fiinftel der Menschen im Land jiinger als 20. Die Kinder und

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Jugendlichen werden in 45 Jahren aber nur noch ein Sechstel der Bevolkerung ausmachen. Dabei soil die Zahl der Menschen in Deutschland insgesamt von heute 82,5 Millionen in 45 Jahren um rund zehn Millionen sinken. Keine dieser Entwicklungen fur sich genommen ist vollig neu, zusammen genommen weist nun vieles in unserem Alltag in eine neue Richtung. Der Wandel verlangt von Einzelnen, schneller und manchmal auch schmerzhafter umzulemen, als das in der westlichen Bundesrepublik bisher notig war. Nicht nur in der Westrepublik, auch in der DDR gait friiher das Postulat fortwahrenden Wachstums - die Uberschiisse des Wohlstands wurden in Ost wie West verteilt. Konflikte lieBen sich losen, bevor sie ausbrachen. Jetzt gilt es nicht nur, Abstriche zu machen, sondem mit den verbleibenden Ressourcen anders und intelligenter umzugehen. Manche Volkswirte sprechen schon vom „Verteilungsstress". Denn Schrumpfen erhoht die Ungleichheit. Je nach Region oder Zugehorigkeit zu einer Gruppe sind die Voraussetzungen zur Anpassung sehr unterschiedlich. Es wird eine starkere Spaltung in Gewinner und Verlierer geben. Grob lasst sich sagen: Wer hat, dem wird noch mehr gegeben. Das gilt fur Menschen mit guter Ausbildung, die sich ihre Arbeitsplatze in einigen Jahren leichter aussuchen konnen. Qualifikation auf neuem Stand wird Mangel ware. Das gilt auch fiir Wohlstandsregionen wie das siidliche Bayem und BadenWiirttemberg, die bereits jetzt die Jungen und Mobilen aus anderen Gegenden anziehen. Dieser Sog wird starker werden, angetrieben von wirtschaftlichen Moglichkeiten, die den Rest der Republik immer armer aussehen lassen. Der Auftrag des Grundgesetzes, gleichwertige Lebensverhaltnisse herzustellen, wird schon jetzt nicht erfiillt. Das Schrumpfen erledigt diesen Anspruch vollends. Schrumpfen bedeutet, dass die Unterschiede nicht nur zwischen den Regionen, sondem insgesamt wachsen: zwischen Mobilen und weniger Mobilen, zwischen einzelnen Firmen und Branchen, zwischen Qualifizierten und jenen ohne Ausbildung, zwischen Familien und jenen ohne Nachkommen, zwischen Stadtem und Landbevolkerung. Nicht der Konflikt zwischen Alt und Jung wird die schrumpfenden Gesellschaflen Europas vorrangig pragen, sondem starker das Auseinanderdriflen zwischen Arm und Reich. Auch der Unterschied zwischen Stadt und Land wird wachsen. Es deutet einiges darauf hin, dass der Konflikt zwischen Arm und Reich kiinflig barter ausgefochten wird. Kinderlose haben mehr Geld als Familien. Wer erbt, steht besser da als der, in dessen Familie kein Geld iibrig ist. Die Alten kdnnen bis zum Jahr 2010 in Deutschland schatzungsweise 2,2 Billionen Euro vererben. Und statistisch gesehen verschenken GroBeltem im Monat etwa 300 Euro an Kinder und Enkel, hat das Deutsche Institut fur Wirtschaftsforschung (DIW) errechnet. Nur fallen solche Wohltaten sehr unterschiedlich aus. Viele Kinder und Enkel werden anders als in vorigen Generationen ihr Erbe nicht mehr mit Geschwistem teilen miissen. Besteht dann ein Erbe auch noch in einer Eigen-

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tumswohnung in einem prosperierenden Ballungszentrum des Siidens, lasst sich ein Gewiimertyp in der Schrumpfung erkennen. Zwischen den Bundeslandem sind wachsende Unterschiede zu erwarten. Wohltaten wie gute Schulen, Sporteinrichtungen oder modeme Verkehrswege werden sich manche nur noch eingeschrankt leisten konnen. Ohne solche Infrastruktur werden sich Berufstatige und Familien jedoch eher zum Wegziehen entscheiden. Neue Firmen lassen sich ohne eine Umgebung mit „Freizeitqualitat" und ohne passable Anbindung kaum anlocken. Die Aufgabe von PoHtikem wird sein, den Schmmpfungsprozess zu moderieren. Ausgleich wird kiinftig nicht mehr Rundum-Versorgung durch den Staat zum Ziel haben konnen. Es geht darum, die verschiedenen Gmppen gerecht zu beteihgen. Es geht darum, von der SozialversicherungspoHtik zur Sozialbefahigungspohtik zu kommen. Das wiirde z.B. bedeuten, das Kindergeld in seiner heutigen Form aufzugeben und stattdessen Geld ftir die Fdrderung von Kindem aus sozial schwachen Familien einzusetzen. Das bedeutet freilich auch, dass die Mittelschicht kiinftig weniger vom Staat bekommt. Politiker wie Bundesfinanzminister Peer Steinbriick denken langst in diese Richtung, wenn auch aus anderen Griinden; der Bundesetat lasst schon jetzt kaum noch anderes zu. Es wird darum gehen, Schmmpfen nicht nur als Verlust zu betrachten. Schrumpfen kann auch Abschied und Befreiung von Annahmen sein, die langst nicht mehr passen. Raume, Orte und Dinge miissen neu gedacht werden, weil sie ihre bisherige Funktion verlieren. Beispiel Schule: Sind in einem Ort nicht mehr geniigend Schiiler fur eine herkommliche Schule zu finden, gibt es Altemativen zur SchlieBung. Eine neue Form der Zwergschule bietet sich manchmal an. Klasseniibergreifendes Lemen haben innovative Schulen auch anderswo langst fur sich entdeckt. Das andert aber nicht nur Lehrplane, sondem fordert auch von Lehrem ein neues Denken. Starkere Unterschiede zwischen Schulen miissten mit Bildungsstandards abgefedert werden. Die groBere Gestaltungsfreiheit konnte also das Bildungssystem emeuem. Eins ist klar: Nicht die bloBe Bevolkerungszahl ist entscheidend fur den Wohlstand und das Wohlbefinden. Auch heiBt eine Abnahme der Bevolkerung nicht zwangslaufig, dass der Wohlstand pro Kopf oder insgesamt sinkt. Allerdings ist der Ubergang, das Schrumpfen, schwer zu organisieren. An etlichen Stellen fehlt ein wenig, anderes bricht ganz weg. AuBerdem wird es schwerer, Ressourcen zu sammeln und den Biirgem mit dem Hinweis vorzuenthalten, dass mit solchen Investitionen in einem zweiten Schritt zukunftsfahige Einrichtungen entstehen. Diese kommen oft erst der nachsten Generation zugute. Genau das miissten aber jene tun, die vom Schrumpfen schon betroffen sind: Ressourcen biindeln statt in Konkurrenz von jedem gegen jeden zu treten. Das gilt z.B. fiir Dorfer und Kleinstadte in schrumpfenden Regionen. Solche Gegenden werden bald in vielen Ecken des Landes zu finden sein: in Sachsen-

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Anhalt, in Nordhessen, in der Pfalz. Allein ein C-formiger Giirtel von Hamburg liber das westliche Niedersachsen, das RJieinland, das Rhein-Main-Gebiet, Baden-Wiirttemberg und Bayem werden sich entziehen k5nnen, auch auf Kosten der anderen Gegenden, die Menschen verlieren. Biirgermeister, Landrate und Ministerprasidenten reagierten bisher auf den Verlust mit einer unguten Konkurrenz. Kaum eine schrumpfende Kommune gibt einen Hinweis darauf, dass sie Einwohner verliert oder in Zukunft wohl weiter verlieren wird. Viele fiirchten ein Verlierer-Image, keiner geht offensiv damit um. Gemeinden etwa im Saarland verschulden sich zusatzlich, um verbilligtes Bauland anzubieten. Das soil Familien locken - und sei es nur aus dem Nachbardorf. So jagen sich die Biirgermeister die Leute ab, schaffen Infrastruktur, die oft nicht tragfahig ist. Langsam gibt es aber auch ein Umdenken: Professionelle „Dorfplaner" befragen die Bewohner und machen Vorschlage, wo kiinftig ein Laden bestehen bleiben soil und welche Dinge per Nachbarschaftshilfe organisiert werden konnen. Warum sollten Kommunen nicht auch zusammenarbeiten und gemeinsam eine Klaranlage haben? In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Rolle der Staat kiinftig ausftillt. Schrumpfen bedeutet auch ein Schrumpfen des Staates. Das fangt damit an, dass die Steuereinnahmen zuriickgehen, wenn die Bevdlkerung und die Zahl der Berufstatigen abnehmen. Es geht aber weiter bei der Frage, wer entscheiden soil, an welchen Ecken geklirzt und umorganisiert wird. Der Staat und seine Stellen sind auch deshalb schlecht aufs Schrumpfen eingestellt, weil wachsende Unterschiede immer differenziertere Losungen verlangen, die oft besser lokal und von den Betroffenen selbst geftmden werden konnen. Dem Staat fallt die Rolle des Moderators zu. Biirger konnen oft besser erkennen und rechtfertigen, welche Buslinien kiinftig noch notig sind, wer die Kinderbetreuung am besten regelt und anderes mehr. Auf dem Land fallt Vereinen kiinftig eine groBere Rolle zu. Sei es die Freiwillige Feuerwehr, die fast iiberall gut organisiert ist, seien es Sportvereine. Andere Phanomene des Wandels sind Biirgerbus-Initiativen, die den Wegfall offentlicher Verkehrsmittel ausgleichen, haufig mit staatlicher Anschubfinanzierung. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es etwa 60 solcher Biirgerbus-Vereine. Damit wird nicht nur ein Mangel ausgeglichen, die Biirger erobem sich auch Einfluss zuriick. Landleben wird mit Internet und anderer Technologic einerseits enger mit den stadtischen Zentren verbunden sein. Andererseits wird der Lebensstil auch wieder dem vergangener Tage ahnlicher - die Wege sind weit, 5ffentliche Verkehrsmittel rar, das Angebot an Kultur gering und die Versorgung durch Arzte eher liickenhaft. In vielen entvolkerten Gebieten werden Jeep und Handy zur Grundausriistung gehoren. Brandenburgs Landesregierung spielt bereits durch.

Das groBe Schmmpfen

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WO kiinftig noch StraBen emeuert werden sollen und wo iiberhaupt im Winter noch der Schnee geraumt werden soil. Wer Landleben will, bekommt es - Abgeschiedenheit inbegriffen. In Ostdeutschland ist Schmmpfen bereits Alltag. Immer wieder entsteht dort bereits neues Leben in den entleerten Regionen. ,JRaumpioniere" entdecken die Leere. Gutshofe werden saniert und zu dorflichen Zentren ausgebaut. Naturtourismus zieht Stadter an. Alte Handwerke werden wiederbelebt. An der Grenze zu Polen und Tschechien gibt es gemeinsame Projekte. Dinge entstehen, die anderswo wegen hoher Kosten oder wegen Mangel an Platz keine Chance hatten Oder gar nicht erst iiberlegt wiirden. Das ist innovativ. Der Riickzug des Staates und das Auseinanderentwickeln von Lebenswelten hat jedoch auch einen gegensatzlichen Aspekt: Manche nennen es die Riickbesinnung auf Familie und auf Netzwerke aus Freunden und Nachbam. Manche erkennen auch einen starkeren Bezug Einzelner auf konservative Werte. Nicht umsonst kommt die Debatte um die neue Biirgerlichkeit in Zeiten des Schrumpfens auf. Das ist per se weder gut noch schlecht. Entscheidend ist, wie gut solche Netzwerke tragen und was mit jenen ist, die nicht daran teilhaben.

Weiterfuhrende Literatur Dienel, Christiane (Hrsg.) (2005): Abwanderung, Geburtenriickgang und regionale Entwicklung. Ursachen und Folgen des Bevolkemngsriickgangs in Ostdeutschland. Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften. Kauftnann, Franz-Xaver (2005): Schrumpfende Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Raabe, Katharina/Sznajderman, Monika (2006): Last and Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ulrich, Bemd (2002): Deutsch, aber gliicklich. Fine neue Politik in Zeiten der Knappheit. Frankfurt a.M.: Fischer.

Kinderlosigkeit in Deutschland Ein Problemaufriss aus ministerieller Perspektive Christiane Hug-von Lieven

Die demographische Entwicklung hat sich spat, aber gewaltig vom Tabuthema zum Medienstar entwickelt. Besonders beliebt sind Horrorszenarien: „Die Gesellschaft vergreist", „Die Deutschen sterben aus", „Krieg der Generationen", „Gesellschaft ohne Zukunft". Aber weder Horrorszenarien noch Bagatellisierung werden diesem entscheidenden Zukunftsthema gerecht. Bezeichnend fiir die Diskussion in Deutschland ist, dass impHzit auch immer nach den Schuldigen fur die Misere gesucht wird. Zuerst wurden die Ahen ins Visier genommen, die auf die Kosten der Jungen leben. Nun geht es um die Kinderlosen, die mit ihrer ,JEgo-Haltung" die Zukunft unseres Landes verspielen.

1.

Die aktuelle Diskussion

Die Griinde ftir den Anstieg der Kinderlosigkeit sind allerdings vielschichtiger. Dabei muss die Kinderlosigkeit im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung gesehen und zudem zwischen gewollter und ungewollter Kinderlosigkeit unterschieden werden. Zu den wesentlichen gesellschaftlichen Veranderungen zahlen beispielsweise, dass das Bildungsniveau und die Erwerbsbeteiligung von Frauen kontinuierlich gestiegen sind, die Familienstrukturen und Paarbeziehungen an Tragfahigkeit und Verlasslichkeit verloren haben und sich die Anforderungen der Arbeitswelt mit der Globalisierung und dem Umbruch von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft verandem. Als Reaktion auf die steigende Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen forderten Frauenpolitikerinnen jahrelang eine Verbesserung der Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Erst nachdem deutlich wurde, dass in den sozialen Sicherungssystemen der Generationenvertrag nicht mehr aufgeht und die Wirtschaft auf das Potenzial der hoch qualifizierten Frauen angewiesen sein wird, kam Bewegung in die Sache. Die Forderungen nach besseren Kinderbetreuungsmoglichkeiten, Ganztagsschulen, familiengerechten Arbeitszeiten und familienfreundlichen Kommunen sind unixberhorbar.

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Christiane Hug-von Lieven

Ein Kemproblem wird allerdings noch kaum thematisiert. Das ist die Frage, inwieweit die „Gender-Frage" - die kulturell gepragten Rollenzuschreibungen Auswirkungen auf das generative Verhalten haben. So weisen beispielsweise die skandinavischen Lander und Frankreich ein deutlich hoheres Geburtenniveau auf als die siideuropaischen Lander wie Griechenland, Italien und Spanien. Gemeinsam ist den geburtenarmen Landem ein ausgepragter Traditionalismus in den Geschlechterbeziehungen und Rollenzuschreibungen. Aber auch ein innerdeutscher Vergleich legt Wirkungszusammenhange nahe: In Ostdeutschland ist die Kinderlosigkeit geringer als in Westdeutschland. In Westdeutschland leisten wir uns immer noch eine ideologische Debatte iiber bemfstatige „Rabenmutter", „Nur-Hausfrauen" und kinderlose „Karrierefrauen". In Deutschland wird die demographische Entwicklung hauptsachlich unter dem Stichwort ,JFaniilie" diskutiert. Die grundlegenden Fragen der tatsachlichen Gleichberechtigung und ihr Einfluss auf das generative Verhalten werden dabei weitgehend ausgeblendet. Wenn zwei Drittel der Frauen, aber nur die Halfte der Manner nach einer Umfrage des Instituts fiir Demoskopie Allensbach (2004) angeben, dass Kinder zu ihrem Lebensgliick dazugehoren, dann lauft etwas schief in unserer Gesellschaft. Damit ist auch ein Konflikt in der Fartnerschaft vorprogrammiert, wenn es um das Thema Kinder geht. Untersuchungsergebnisse zu „Gender-Verhaltnissen" und ihren Auswirkungen auf das generative Verhalten lassen sich schlagwortartig wie folgt zusammenfassen: Je geringer die Differenz in der Erwerbsbeteiligung von Mannem und Frauen, desto hoher die Geburtenrate; je „modemer" die Geschlechterverhaltnisse, desto hoher die Geburtenrate; je besser ausgebaut die Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagschulen, desto hoher die Geburtenrate. Dagegen korreliert der Anteil der Geldleistungen fiir Familien am Volkseinkommen kaum mit der Geburtenrate. In einer Veroffentlichung des Berlin-Instituts fiir Bevolkerung und Entwicklung mit dem Titel „Enianzipation oder Kindergeld?" (Kr5hnert/Klingholz 2005) wird der Riickgang der Geburtenrate als Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung gesehen, bei der die Emanzipation der Frau eine wichtige Rolle spielt. Der Riickgang ist in den Landem am starksten ausgepragt, in denen Frauen weitgehend emanzipiert sind, der Rest der Gesellschaft aber noch auf einem vergleichsweise traditionellen Entwicklungstand verharrt. Dazu zahlen neben Westdeutschland auch Griechenland, Italien und Spanien. Gesellschaften, in denen die neue Rolle der Frauen anerkannt und unterstiitzt wird, zeichnen sich hingegen durch relativ hohe Kinderzahlen aus. Dazu gehoren die skandinavischen Lander und Frankreich. Beim Thema Kinderlosigkeit werden fast ausschliefilich Zahlen zu den kinderlosen Frauen in der Presse erwahnt. 30 Prozent der Frauen blieben zeitlebens kinderlos - so die Botschaft. Es ist von „Gebarstreik" die Rede. Als besonders bedenklich werden dabei die 40 Prozent der kinderlosen Akademikerinnen her-

Kinderlosigkeit in Deutschland

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vorgehoben. Diese Zahlen bestimmen die offentliche Diskussion. Einmal in die Welt gesetzt, kommen sie mit grofier Autoritat daher. Da niitzen die FuBnoten der Statistiker und Wissenschaffcler wenig, die auf die eingeschrankte Aussagekrafl hinweisen. Der amtlichen Geburtenstatistik liegen die so genaimten Geburtenzahlkarten zugrunde, mit denen die „Zahl der Kinder in der jeweils bestehenden Ehe" erhoben wird. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass bei einer Frau, die beispielsweise zwei Ehen hat und in jeder Ehe ein Kind zur Welt bringt, zwei „erste Kinder" registriert werden. Da sich die Haufigkeit der Scheidungen und Wiederverheiratungen in den vergangenen Jahren erhoht hat, wird die Zahl der „ersten Kinder" systematisch uberschatzt und der Anteil der kinderlosen Frauen, welcher nur als Komplementarwert ermittelt werden konnte, systematisch unterschatzt. Zudem werden unehelich geborene Kinder ohne Rangfolge erfasst. Vor dem Hintergrund der steigenden Zahl nichtehelich geborener Kinder und der Tatsache, dass rund ein Drittel aller Ehen wieder geschieden wird und viele Geschiedene emeut heiraten, entspricht die Dokumentation nicht der Lebenswirklichkeit. Um Riickschlusse aus der Geburtenstatistik auf die tatsachliche Kinderlosigkeit Ziehen zu konnen, miisste die Geburtenstatistik auf eine biologische Rangfolge umgestellt werden. Damit wiirde auch die Vergleichbarkeit mit anderen europaischen Staaten verbessert, deren Statistik auf der biologischen Rangfolge basiert. Eine andere Datenquelle, aus der Riickschlusse auf die Kinderlosigkeit gezogen werden, ist die amtliche Befragung zur Haushalts- und Familienstruktur: der Mikrozensus. Im Rahmen des Mikrozensus wird allerdings nur erhoben, wie viele minderjahrige Kinder im Haushalt von Frauen leben. Wenn Kinder iiber 18 sind, durch Trennung oder Scheidung nicht mehr im miitterlichen Haushalt leben oder gestorben sind, werden sie nicht erfasst. Die Aussagefahigkeit dieser Daten ist damit ebenfalls eingeschrankt. Nimmt man etwa die Altersgruppe der 30Jahrigen, so sind in Westdeutschland 46 Prozent kinderlos und in Ostdeutschland 27 Prozent. Damit wird allerdings nur verdeutlicht, dass westdeutsche Frauen spater als ostdeutsche ihren Kinderwunsch realisieren. Nimmt man die Altergruppe der 40-Jahrigen, so sind es nur noch 24 Prozent der westdeutschen und zwolf Prozent der ostdeutschen Frauen, die als kinderlos ausgewiesen sind. Fiir Manner gibt es keine amtlichen Statistiken iiber die Zahl der leiblichen Kinder. Nach dem Mikrozensus leben 35 Prozent der Manner im Alter zwischen 40 und 45 Jahren ohne Kind im Haushalt. Daraus lasst sich allerdings keine Aussage zur Kinderlosigkeit von Mannem ableiten, weil bei einer Trennung die ICinder in der Regel bei der Mutter bleiben. Auch uneheliche Kinder kdnnen so nicht beriicksichtigt werden. Ein VorstoB, den Mikrozensus mit entsprechenden Fragen zur tatsachlichen Kinderzahl zu erganzen, wurde im Bundesrat abgelehnt, weil dies als ein zu starker Eingriff in die Intimsphare gewertet wurde.

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Christiane Hug-von Lieven

Deshalb muss zu Aussagen iiber Kinderlosigkeit von Maimem auf andere Quellen zuriickgegriffen werden. Nach einer Studie des DIW (vgl. Schmitt 2004) ist der Anteil an kinderlosen Mannem in alien Altersgruppen hdher als bei Frauen. Die Untersuchungsergebnisse weisen darauf bin, dass fiir Manner eine Familiengriindung erst in Betracht kommt, wenn die okonomische Absicherung einer Familie gewahrleistet werden kann. „Das „male breadwinner"-Prinzip, das eine relativ strikte RoUentrennung einschlieBt, scheint also nach wie vor ein hohes MaB an Verbindlichkeit zu besitzen und eine Familiengriindung fur Vater vielfach bis zur beruflichen Etablierung zu verzogem." (Schmitt 2004: 15) Dies wird auch durch das Ergebnis untermauert, dass der Anteil der kinderlosen Manner bei den vollzeitbeschaftigten Mannem am geringsten ist. Andererseits ist der Anteil der kinderlosen Frauen bei den vollzeitbeschaftigten Frauen am hochsten. Eine weitere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass hoch qualifizierte Manner eher Kinder haben als niedrig qualifizierte (vgl. BZgA 2004). Bei Frauen ist es gerade umgekehrt: Frauen mit besserer Ausbildung haben weniger Kinder als solche mit hoherer Qualifikation. Der Anteil der Kinderlosigkeit von Akademikerinnen wird weitgehend liberschatzt. Nach Berechnungen des Max-Planck-Instituts fiir demografische Forschung (2004) auf der Basis des Mikrozensus 2000 waren Akademikerinnen im Alter von 30 Jahren in Westdeutschland zu 73 Prozent und in Ostdeutschland zu 49 Prozent kinderlos. Bei den 35-Jahrigen verringerte sich der Anteil auf 45 Prozent (West) und 19 Prozent (Ost) und bei den 40-Jahrigen auf 35 Prozent (West) und acht Prozent (Ost). Im Alter von 45 Jahren ist ein Abschluss der generativen Phase fiir Frauen wahrscheinlich. Unter den Akademikerinnen dieses Alters liegt der Anteil der Kinderlosen bei 32 Prozent (West) bzw. bei 15 Prozent (Ost). Diese Werte lassen fiir westdeutsche Akademikerinnen den Riickschluss zu, dass mit 32 Prozent weniger Akademikerinnen kinderlos bleiben, als allgemein angenommen wird. Dennoch andert es nichts daran, dass gerade bei Akademikerinnen die gewollte oder ungewollte Kinderlosigkeit hoch ist.

2.

Einflussfaktoren

An vier moglichen Einflussfaktoren lasst sich darstellen, dass bei den Griinden fiir die gewollte oder ungewollte ICinderlosigkeit die Lebensrealitaten von Frauen und Mannem starker beriicksichtigt werden miissen.

Kinderlosigkeit in Deutschland

53

Der Faktor Zeit Der Faktor Zeit gewinnt zunehmend an Bedeutung. Das dritte Lebensjahrzetmt wird fiir Frauen zur , ^ s h hour" des Lebens. In dieser - im Hinblick auf die gesamte Lebenszeit von 80 Jahren - sehr kurzen Zeitspanne fallen hohe berufliche Anforderungen und Familiengriindung zusammen. Lange Ausbildungszeiten und das Verhaltensmuster ,;z:uerst Abschluss der Berufsausbildung, dann Etablierung im Beruf und dann Kinder" fiihren zu einem Geburtenaufschub, der bei Frauen an die biologische Grenze der Realisierbarkeit stoBt. Nicht selten stehen die zeitlichen Belastungen der Lebenswelten Beruf und Familie im Widerstreit. Die Betriebe setzen berufliche Mobilitat insbesondere bei Hochqualifizierten voraus. Die fortschreitende Arbeitsverdichtung und -belastung frisst heute die verbleibende Zeit flir die Familie. Das Ungleichgewicht zwischen Arbeitswelt und Familienwelt verschiebt sich weiter zu Lasten der Familie. Hohe Anforderungen im Beruf, verbunden mit positiver Bewertung langer Anwesenheitszeiten und standiger Verfugbarkeit, reduzieren die Zeit fiir Familienarbeit und beeinflussen die Entscheidung fiir Kinder. Der Faktor Geld Bis zur Familiengriindung sind iiberwiegend beide Partner berufstatig. Mit der Geburt des ersten Kindes verringert sich das Familieneinkommen drastisch, da haufig ein Eltemteil zu Gunsten der Kinderbetreuung ganz oder zeitweise auf Berufstatigkeit verzichtet bzw. die Arbeitszeit reduziert. Dazu kommt, dass das durchschnittliche Einkommen von Frauen erheblich unter den Einkiinften der Manner liegt. Damit wird die Frage, v^elcher Eltemteil Eltemzeit beansprucht bzw. die Arbeitszeit reduziert, nach der Hohe des jeweiligen Beitrags zum Familieneinkommen entschieden. Nur ca. zwei Frozent der Vater nehmen Eltemzeit in Anspmch. Bei der zentralen Frage, ob Frauen gmndsatzlich ihre Erwerbstatigkeit neben den Familienaufgaben fortsetzen (Kontinuitatsmodell) oder aber Erwerbstatigkeit unterbrechen (Drei-Phasen-Modell) oder ganz aufgeben (traditionelles Modell), um sich den Kindem zu widmen, spielt die Form der staatlichen UnterstiitzungsmaBnahmen (direkte Geldleistungen und/oder Infi-astmkturleistungen) eine wichtige Rolle. Diese MaBnahmen konnen die Vereinbarkeit von Erwerbstatigkeit und Familientatigkeit fi)rdem oder behindem. Dabei wird angenommen, dass die Dominanz von Geldleistungen fiir Familien eher das Drei-PhasenModell oder das traditionelle Modell, die Dominanz sozialer Dienstleistungen eher das Kontinuitatsmodell fordert. Wer langer als ein Jahr aus dem Bemf aussteigt, verliert den Anschluss und muss beim Wiedereinstieg KarriereeinbuBen hinnehmen und mit Abstrichen beim Gehalt rechnen.

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Christiane Hug-von Lieven

Der Faktor Unsicherheit Der dramatische Riickgang der Geburtenrate in Ostdeutschland nach der Wende von 1,52 (1990) auf 0,77 (1993) macht deutlich, dass Unsicherheiten der Lebensverhaltnisse einen starken Einfluss auf das generative Verhalten haben. Die derzeitige Fokussierung auf das Thema Kinderbetreuung verstellt den Blick auf andere gesellschaftliche und betriebliche Einflussfaktoren. Die von der Wirtschaft geforderte Flexibilitat und Mobilitat, aber auch die zunehmende Zahl befristeter Arbeitsvertrage stehen im diametralen Widerspruch zu langfristigen Verpflichtungen aus der Eltemschaft. Verlassliche Partnerschaften sind eine Grundvoraussetzung fiir die Ubernahme von Verpflichtungen aus der Eltemschaft. Unsicherheiten beziiglich der „richtigen" Partnerwahl verzogem bzw. verhindem die Realisierung des Kinderwunsches. Der Faktor gesellschaftliches Leitbild Die gesellschaftliche Leitvorstellung von Familie spiegelt die traditionelle Aufgabenteilung in der Partnerschaft wider, die dem Mann primar die Emahrerrolle zuschreibt und der Frau die Verantwortung fiir Betreuung und Versorgung der Kinder sowie pflegebediirftiger Familienangehoriger aufgibt. Die traditionelle Rollenverteilung fiihrt dazu, dass fast ausschlieBlich Frauen Probleme mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben. Wahrend die Erwerbsbeteiligung von kinderlosen Frauen sich den Mustem von erwerbstatigen Mannem angleicht, ist Teilzeitarbeit fast ausschlieBlich ein Arbeitszeitmodell, das Frauen mit Kindem nutzen, um beides - Beruf und Familie - bewaltigen zu konnen. Die gesellschaftliche Akzeptanz von berufstatigen Miittem hat einen nicht zu unterschatzenden Einfluss auf das generative Verhalten. So ist beispielsweise in Landem mit einem hoheren Geburtenniveau wie in Frankreich oder den skandinavischen Landem das gesellschaftliche Ansehen der bemfstatigen Mutter hoher als in Deutschland. Auch in diesen Landem ist die Doppelbelastung von Frauen mit Kindem hoch und der Balanceakt zwischen Kindem und Karriere nicht immer einfach, aber in diesen Gesellschaften werden bemfstatige Mutter geschatzt und mit positiven Werten in Verbindung gebracht. Ihr Prestige ist hoher, wenn sie bemfstatig sind und zugleich familiare Aufgaben wahmehmen. Die Enquetekommission ,J3emografischer Wandel - Herausfordemngen an die Landespolitik" des Landtags von Baden-Wiirttemberg (2006: 16) hat in ihrem Abschlussbericht festgestellt: „Die Entscheidung, Kinder haben zu wollen oder auf Kinder zu verzichten, ist in unserem freiheitlich verfassten Gemeinwesen eine personliche, dem privaten Bereich zugehorige Angelegenheit. Gleichwohl fiihrt kein Weg daran vorbei, dass die mittel- und langfristige Zukunftsfa-

Kinderlosigkeit in Deutschland

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higkeit einer Gesellschaft nur mittels einer ausreichenden Zahl von Kindem gesichert werden kann. Vor diesem Hintergmnd ist es eine zentrale staatliche Aufgabe, die Rahmenbedingungen fur die Realisiemng der Kinderwiinsche moglichst vorteilhaft zu gestalten."

Literatur BZgA (Bundeszentrale fiir gesundheitliche Aufklamng) (Hrsg.) (2004): manner leben. Eine Studie zu Lebenslaufen und Familienplanung. Koln: BZgA. Institut fiir Demoskopie Allensbach (2004): „Einflussfaktoren auf die Geburtenrate" Reprasentativbefragung der 18-44-jahrigen Bevolkemng, Marz 2004. Allensbach. Landtag Baden-Wiirttemberg (2006): Abschlussbericht der Enquetekommission „Demografischer Wandel - Herausforderung an die Landespolitik", Kurzfassung. Stuttgart: Landtag von Baden-Wiirttemberg. Internet: http://www.landtag-bw.de/gremien/ Abschlussbericht_EDW-Kurzfassung.pdf (30.10.2006). Max-Plank-Institut fur demografische Forschung (Hrsg.) (2004): Demografische Forschimg Aus Erster Hand, Jg. 1, Nr. 3. Rostock: Max-Planck-Institut fur demografische Forschung. Schmitt, Christian (2004): Kinderlose Manner in Deutschland. Eine sozialstrukturelle Bestimmung auf Basis des Soziookonomischen Panels (SOEP). Materialien des Deutschen Instituts fur Wirtschaftsforschung (DIW), Nr. 34. Berlin: DIW. Krohnert, Steffen/Klingholz, Reiner (2005): Emanzipation oder Kindergeld? Der europaische Vergleich lehrt, was man fiir hohere Geburtenraten tun kann. In: Sozialer Fortschritt, Jg. 54, Nr. 12, S. 280-290.

Registrierung

34

Alter in Jahren

32

Geburt eines dritten Kindes einer Ehe

30 Geburt eines zweiten Kindes einer Ehe

28

26

Geburt eines ersten Kindes einer Ehe

24

22

Geburt eines nichtehelichen Kindes

20 1960

1965

1970

1975

1980

1985 Jahr

1990

1995

2000

2004

Lebendgeborene je 1 000 Frauen1) 140

120

1990 2004

100

80

60

40

20

0 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 1)Jee wils lgeichen Alters.

Alter der Mutter

Zusammengefasste Geburtenziffern

2400

2200

2000

jahrgangsbezogene Geburtenhäufigkeiten

1800 6

1600

1400

berichtsjahrbezogene Geburtenhäufigkeiten

1200

1000 Jahrgang 1930 1974 Jahr

1932 1976

1934 1978

1936 1980

1938 1982

1940 1984

1942 1986

1944 1988

1946 1990

1948 1992

1950 1994

1952 1996

1954 1998

1956 2000

1958 2002

1960 2004

200

Lebendgeborene auf 1 000 Frauen *) Jahrgang 1935

180 160 140 120

Jahrgang 1960

100 80 60 40 20 0

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 *) Jeweils gleichen Alters.

Alter in Jahren

Lebendgeborene auf 1.000 Frauen *) 300 1. Kinder

250

2. Kinder 3. Kinder

200

150

100

50

0 0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Ehedauer in Jahren **) *) Frauen des Heiratsjahrgangs 1980.

**)Ehedauer 0 = Jahr der Eheschließung.

13

14

15

16

17

18

19

20

Prozent 45 41

40

Heiratsjahrgang 1960 34

35

Heiratsjahrgang 1980

30 25

22 19

20 16

18

15

15

14

13

10

7

5 0 0 *) Nach einer Ehedauer von 20 Jahren.

1

2 Zahl der ehelich lebendgeborenen Kinder

3

4 u. mehr

60 51 50

46 42 38

in Prozent

40 29 30

27

27

24 25

24 24 25

37 38 39

40 41 42

27 28

31

34

20 10 0 35 36

43 44 45

Alter in Jahren

46 47 48

49 50

70 60 49

in Prozent

50 40 30

38 32

29 29

28 26 27 26 25 27 28

41

44

32 34

20 10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Alter in Jahren

70 59

60

52

in Prozent

50

45 39

40

34 26 28

30 19 19 20 17 16 16 13 16 15

21

10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Alter in Jahren

70 60

in Prozent

50 40 30 25

24 24 23 22 22 21 23

27

30

32 33

36

39

43

45

20 10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Alter in Jahren

70 60 49

in Prozent

50 38

40 32 30

29 29

28 26 27 26 25 27 28

32

41

44

34

20 10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Alter in Jahren

60

53 49

50

43 39

in P r o z e n t

40 30

29

32

35

24 25 23 21 22 21 22 23 22

20 10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Alter in Jahren

60 50 in P r o z e n t

40 30

44

42 37 36

39 38 39 31 33 31 29 30 31 31 31 28

20 10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Alter in Jahren

1972

39%

2004 29%

19%

23%

ohne Kinder

20% 22%

1 Kind

31% 16%

2 Kinder

3 oder mehr Kinder

Bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland Michaela Kreyenfeld^

1.

Einleitung

Die Wiedervereinigung ging mit einer weitreichenden Umstrukturierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen in Ostdeutschland einher (vgl. WitteAVagner 1995; Bielenski et al. 1995; Lutz/Gninert 1996; Sackmann/Wingens 1996; Briicker 1997). Wahrend in der DDR Frauen mehrheitlich vollzeiterwerbstatig waren und die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit durch eine Reihe von familienpolitischen Mafinahmen gegeben war, haben sich nach der Wende die Rahmenbedingungen, die das Erwerbsverhalten von Frauen beeinflussen, gmndlegend verandert. Zudem sind die Erwerbsoptionen vielschichtiger geworden. Dies beinhaltet einerseits die Moglichkeit, hdhere Bildung in hoheres Einkommen umzuwandeln, andererseits aber auch ein gestiegenes Risiko, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein. In diesem Beitrag wird die Frage untersucht, welchen Einfluss die Veranderungen in den Erwerbsverlaufen von Frauen auf das Fertilitatsverhalten in Ostdeutschland nach der Wende haben. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf bildungsspezifischen Unterschieden im Ubergang zum ersten Kind. Die zentrale Hypothese lautet, dass die bildungsspezifischen Unterschiede im Fertilitatsverhalten nach der Wende in Ostdeutschland zugenommen haben. Da jedoch die Vereinbarkeit von Kind und Beruf in Ostdeutschland eher gegeben ist als in Westdeutschland, lasst sich vermuten, dass ostdeutsche Frauen mit einem hoheren Bildungsabschluss immer noch eher ein erstes Kind bekommen als vergleichbare westdeutsche Frauen. Als Datenbasis dienen die Scientific-Use-Files der Mikrozensen aus den Jahren 1998, 2002 und 2004. Zunachst werden die institutionellen Rahmenbedingungen in Ostdeutschland im Vergleich mit Westdeutschland sowie die Verandemngen nach der Wende kurz umschrieben (Ab-

1

Ich danke Cordula Zabel, Dirk Konietzka und Steffen Ventz fiir hilfreiche Kommentare und Unterstutzung bei der Fertigstellung dieses Beitrags.

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Michaela Kreyenfeld

schnitt 2). Danach werden die theoretischen Uberlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Fertilitat dargelegt (Abschnitt 3). Im Abschnitt 4 wird der Datensatz vorgestellt. Abschnitt 5 beinhaltet die Ergebnisse der empirischen Analysen, in denen Survivalfunktionen nach Bildungsniveau, Kohorte und Region prasentiert werden. SchlieBlich folgt eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse (Abschnitt 6).

2.

Institutionelle Rahmenbedingungen

2.1 Ostdeutschland vor der Wende In der DDR haben umfassende familienpolitische MaBnahmen die Kosten, die mit der Erziehung von Kindem verbunden sind, reduziert (Gysi/Speigner 1983; Koch/Knobel 1986; Vortmann 1988; Cornelius 1990; Cromm 1998; Trappe/Rosenfeld 2000; Kreyenfeld 2003, 2004; Huinink/Kreyenfeld 2006). Als wichtige familienpolitische MaBnahme wird in diesem Zusammenhang haufig die Zuteilung von Wohnraum genannt, die eng an die Heirat und Geburt eines Kindes gekoppelt war (Frerich/Frey 1993: 427f.). Auch gait der „Ehekredit" als bedeutsame sozialpolitische MaBnahme. Er ermoglichte es verheirateten Paaren, einen Kredit von 5.000 Mark aufzunehmen. Ein Teil dieses Kredits wurde automatisch getilgt, sobald ein Kind geboren wurde; mit der Geburt des dritten Kindes war dieser Kredit komplett „abgekindert". Zentrale Wichtigkeit besaBen dariiber hinaus die sozialpolitischen Bemiihungen der DDR, die darauf abzielten, Frauen mit Kindem in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Schon in den 1950er Jahren wurden politische MaBnahmen eingefiihrt, um die Erwerbstatigkeit von Frauen zu fordem (Obertreis 1986: 74ff.). In den 1960er Jahren fokussierten sich die politischen Bemiihungen der DDR-Regierung darauf, geschlechtsspezifische Ungleichheiten im Bildungsniveau und in den Erwerbspositionen zu iiberwinden (Obertreis 1986; Trappe 1995), und in den 1970er Jahren, als bevdlkerungspolitische Uberlegungen eine groBere Relevanz bekamen, versuchte man mittels einer Reihe politischer MaBnahmen die Probleme der Vereinbarkeit von Vollzeiterwerbstatigkeit und Familie konsequenter anzugehen. Am bemerkenswertesten in diesem Zusammenhang war der Ausbau der Kinderbetreuung. Zu Anfang der 1970er Jahre besuchte etwa ein Drittel aller Kinder unter drei Jahre eine dffentliche Kindertageseinrichtung. Bis Mitte der 1980er Jahre war dieser Anteil auf mehr als 70 Prozent angestiegen (Statistisches Amt der DDR 1990). Im Jahr 1976 wurde in der DDR das ,3abyjahr" eingefiihrt, das im Grunde einem einjahrigen bezahlten Erziehungsurlaub gleichkam. Anfangs durften Frauen nur nach der Geburt eines zweiten oder dritten Kindes diese Option wahr-

Bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten

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nehmen. Seit 1986 konnten dairn auch jene Frauen, die ihr erstes Kind geboren batten, das Babyjahr beanspruchen. Das Babyjahr war jedoch nur fiir Frauen vorgesehen. In diesem Zusammenhang ist vielfach die Kritik erhoben worden, dass die Politik der DDR Fragen der Geschlechtergleichheit nie wirklich thematisierte. Obwohl das offentliche Kinderbetreuungsangebot grundlegende Vereinbarkeitsprobleme zwischen Familie und Beruf zu losen half, blieben Hausarbeit und Organisation der Kinderbetreuung groBtenteils Aufgabe der Frauen (Bockmann-Schewe et al. 1993: 50ff.; Trappe 1995; Pascall/Manning 2000: 254). Abgesehen von dem einjahrigen Erziehungsurlaub wurde von Frauen erwartet, durchgehend vollzeitig erwerbstatig zu sein. Die Gesetzgebung der DDR sah grundsatzlich keine Unterhaltszahlung im Falle der Scheidung vor. Auch hatten alleinerziehende Mutter keinen Anspruch auf zusatzliche soziale Leistungen (Berghahn/Fritzsche 1991: 144ff.; Frerich/Frey 1993: 396). Arbeitslosigkeit existierte praktisch nicht, die Erwerbsverlaufe waren stark vorstrukturiert. Bemfliche Abstiegsrisiken wurden durch das Prinzip der statusadaquaten Beschaftigung minimiert, was bedeutete, dass Erwerbstatige in erster Linie aufgrund ihrer formalen Qualifikation beruflichen Positionen zugewiesen wurden (Huinink 1995a; Solga/Konietzka 1999; Ziihlke 2000; Szydlik 2002). Die Festlegung der Gehalter erfolgte weitgehend zentral. Dazu wurden Erwerbstatige gemaB ihrer Ausbildungsabschliisse verschiedenen Gehaltsgruppen zugeordnet. Neben einem Gmndgehalt, das 70 bis 80 Prozent des Gesamtgehalts ausmachte, zahlten Firmen einen Bonus fiir Uberstunden, Schichtarbeit und auBerordentliche Arbeitsleistungen (Frerich/Frey 1993: 133f.; Szydlik 1994). Im Vergleich zu Westdeutschland war die ostdeutsche Einkommensverteilung dennoch sehr komprimiert (Bird et al. 1994: 391; Frick et al. 1995: 85; Krueger/Pischke 1995: 412).

2.2 Familienpolitische Rahmenbedingungen nach der Wende Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 wird oft als Sinnbild des Zusammenbruchs des DDR-Systems verstanden. Elf Monate spater - im Oktober 1990 - wurde der Einigungsvertrag ratifiziert, der im Grunde den Austausch des ostdeutschen gesetzlichen und politischen Systems durch das westdeutsche System vorsah. Dies beinhaltete auch die Ubemahme der westdeutschen familienpolitischen Rahmenbedingungen in Ostdeutschland. Diese Rahmenbedingungen werden im intemationalen Vergleich einheitlich als Ausdruck eines ,Jkonservativen und familialistischen Wohlfahrtsstaatsregimes" charakterisiert (Braun et al. 1994; Gauthier 1996: 155; Gomick et al. 1998; Esping-Andersen 1999: 65; Stier et al. 2001; TreasAVidmer 2000: 1431). Ein Bestandteil dieses Regimes ist das System des „Einkommenssplittings", das verheirateten Paaren erlaubt, die Steuer gemeinsam zu veranlagen. Aufgrund

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des progressiven Steuertarifs setzt dieses System besonders niedrige Arbeitsanreize fiir verheiratete Frauen. Laut Sainsbury (1996: 171) wird in keinem anderen Land die Erwerbstatigkeit von verheirateten Frauen starker bestraft als in Deutschland. Zwar stellt der groBziigige „Hausfrauenbonus" ein besonderes Charakteristikum des deutschen Systems dar, andererseits diirfte dem Steuersystem iiir die Erklarung der Frauenerwerbstatigkeit nur eine untergeordnete RoUe zukommen (Dingeldey 2001: 653). Ebenso wichtig erscheint es, die Unvereinbarkeit von Mutterschaft und Erwerbstatigkeit zu beriicksichtigen, um das Erwerbsverhalten von Frauen zu beurteilen. Trotz einer langen Tradition offentlicher Kinderbetreuung hat sich das Kinderbetreuungssystem in Westdeutschland hauptsachlich als Mittel zur Erziehung und Bildung von Vorschulkindem institutionalisiert, und es dient bislang weniger der Vereinbarkeit von Eltemschaft und Beruf (Kreyenfeld et al. 2001). Betreuungsplatze bieten in Westdeutschland meist nur eine Halbtagsbetreuung fur Kinder im Alter von drei Jahren bis zur Einschulung. Fiir Kinder unter drei Jahre sowie fiir Kinder im Schulalter werden kaum offentliche Kinderbetreuungsplatze bereitgestellt (Deutsches Jugendinstitut 2005). Der Erziehungsurlaub bzw. die Eltemzeit ist momentan sehr groBziigig auf drei Jahre angelegt; fiir zwei der drei Jahre wird ein einkommensabhangiges Erziehungsgeld von monatlich bis zu 300 Euro gezahlt (John/Stutzer 2002; Ziefle 2004).2 Die Ubemahme der westdeutschen Institutionen in Ostdeutschland beinhaltete nicht nur die Ubemahme eines Steuersystems, das geringe Erwerbsanreize fiir verheiratete Frauen setzt. Auch wurde mit der Wiedervereinigung das relativ kurze Babyjahr zu Gunsten des Erziehungsurlaubs abgeschafft, der derzeit eine Freistellung von bis zu drei Jahren ermoghcht. Vor dem Hintergrund der raschen institutionellen Umstrukturierungen war die Annahme weit verbreitet, dass auch das umfassende 5ffentliche Kinderbetreuungssystem der DDR bald auf westdeutsches Niveau zuriickgestutzt werden wiirde (Nauck/Joss 1995: 25; Rindfiiss/Brewster 1996: 273; Rindfiiss et al. 1996; Adler 1997: 44; Kopp 2000: 109). Doch: Das Kinderbetreuungssystem war eine der Institutionen, die durch den Regimewechsel verhaltnismaBig wenig tangiert wurden. Obwohl Kindertageseinrichtungen nach der Wende massiv geschlossen wurden, ist in den ostlichen Bundeslandem immer noch eine relativ breite Versorgung gewahrleistet. Im Jahr 2002 besuchten in Ostdeutschland 40 Prozent aller Kinder unter drei Jahren eine offentliche Kindertageseinrichtung, wahrend dies auf weniger als fiinf Prozent der Kinder jener Altersgruppe in Westdeutschland zutraf Platze in ICinder-

Im Juni 2006 hat das Bimdeskabinett eine Neuregelung der Eltemzeit beschlossen (BMFSFJ 2006). Zudem ist das „Kinderbetreuungsausbaugesetz" verabschiedet worden, das einen Ausbau der Kinderbetreuung fur Kinder unter drei Jahren vorsieht.

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garten werden im Osten mehrheitlich ganztags angeboten. Auch liegt das Angebot an Hortplatzen deutlich liber dem westdeutschen Niveau (Deutsches Jugendinstitut 2005). Auf dieser Grundlage lasst sich festhalten, dass auch nach der Wende Frauen in Ostdeutschland viel bessere Moglichkeiten hatten als Frauen in Westdeutschland, ihr Berufs- und Familienleben zu vereinbaren. Nichtsdestotrotz liegt es nahe, dass die Vereinbarkeitsprobleme nach der Vereinigung auch in Ostdeutschland zugenommen haben. Die Offhungszeiten der Kindertageseinrichtungen sind weniger flexibel geworden. Wahrend offentliche Kinderbetreuung in der DDR im Prinzip kostenfrei war (abgesehen von geringen Gebiihren fur das Mittagessen), miissen nun Eltembeitrage entrichtet werden. Obwohl diese Beitrage meist einkommensabhangig gestaltet sind, ist es moglich, dass diese Kosten einige Eltem davon abschrecken, von offentlicher Kindertagesbetreuung Gebrauch zu machen.^ Dies diirfte insbesondere die Eltem der mittleren Einkommensschicht treffen, die weder von der Freistellung der Eltembeitrage profitieren noch ein geniigend hohes Einkommen haben, um die Kosten der Kinderbetreuung problemlos zahlen zu konnen.'*

2.3 Arbeitsmarkt und Erwerbstatigkeit nach der Wende Der Wechsel des okonomischen Systems ging auch mit einer grundlegenden Umstmkturiemng des ostdeutschen Arbeitsmarkts einher. Im Vergleich zu DDRZeiten waren ostdeutsche Arbeitnehmer nun mit einem Arbeitsmarkt konfrontiert, auf dem sowohl Aufwarts- wie auch Abwartsmobilitat wahrscheinlicher waren. Einerseits beinhaltete dies die Moglichkeit, ein hoheres Bildungsniveau in hoheres Einkommen und bessere Karrieremoglichkeiten umzuwandeln (Bird et al. 1994: 391; BrinkmannAViedemann 1995; Frick et al. 1995: 85; Kmeger/Pischke 1995: 412; Mayer et al. 1999). Andererseits war dies auch mit hoheren Arbeitslosenquoten und, im Vergleich zur Vorwendezeit, weniger vorhersehbaren und weniger stabilen Bemfsverlaufen verbunden. Obwohl die Bundesregiemng groB angelegte, offentlich finanzierte Ausbildungsmafinahmen, Arbeitsbeschaffungsmafinahmen sowie Friihverrentungsprogramme einfuhrte, stieg die Arbeitslosenquote nach der Wende schnell an (Brinkmann 1999; Lutz et al. 1999). Frauen, vor allem jene ohne formale Ausbildungsabschliisse, waren am starksten von Arbeitslosigkeit betroffen und hat-

Die Eltembeitrage soUten nach § 8 KJHG einkommensabhangig gestaltet werden. Die einzelnen Lander und Kommunen gehen mit dieser Vorgabe unterschiedlich um. Einige Kommunen bzw. Lander staffeln die Beitrage nach Einkommen und Kinderzahl. Andere sehen fur einkommensschwache Haushalte eine komplette Beitragsbefireiung vor. Siehe den Beitrag von Lindecke in diesem Band.

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ten die grdfiten Probleme, nach Arbeitslosigkeit wieder in Beschaftigung zu gelangen (Bielenski et al. 1995; Engelbrech/Reinberg 1997: 11). Die neuen institutionellen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik brachten allerdings nicht nur ein hohes Risiko mit sich, arbeitslos zu werden, sie boten auch eine grdfiere Flexibilitat. Als sich die ostdeutsche Arbeitsmarktsituation ftir Frauen verschlechterte, lag die Erwartung nahe, dass einige Frauen von den neuen Moglichkeiten, Teilzeit zu arbeiten oder dem „HausfrauenmodeH" zu folgen, Gebrauch machen wiirden (Dorbritz 1997: 243; Huinink 1999: 129). Ahnlich wie Frauen in Westdeutschland wiirden sie ihren Erwerbsumfang reduzieren oder sich nach der Geburt eines Kindes komplett vom Arbeitsmarkt zuriickziehen.

1991

1996

2000

2004

Westdeutschland Vollzeit Teilzeit Geringfligig Erwerbslos Erziehungsurlaub/Freistellung Nichterwerbsperson

20,5 20,9 7,6 3,5 2,4 45,1

17,4 20,3 10,8 4,2 7,1 40,2

16,8 23,3 15,7 4,2 7,5 32,5

15,5 23,1 15,3 5,8 8,1 32,2

Ostdeutschland Vollzeit Teilzeit Geringfligig Erwerbslos Erziehungsurlaub/Freistellung Nichterwerbsperson

63,7 8,3 0,9 10,9 10,7 5,6

61,1 7,9 1,4 17,6 3,4 8,7

51,7 9,9 3,7 17,0 5,6 12,1

48,4 10,1 4,3 20,0 5,6 11,7

Tabelle 1:

Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Kindem 1991-2004, in Prozent

Anmerkung: Die Stichprobe umfasst Frauen, die zum Interviewzeitpunkt zwischen 18 und 45 Jahre alt sind, in Privathaushalten am Familienwohnsitz leben und mindestens ein Kind haben, das in der Familie lebt. Frauen, deren Kinder jiinger als ein Jahr sind, haben wir aus den Analysen ausgeschlossen, da sich diese Frauen zum Teil noch in Mutterschaftsurlaub befinden. Vollzeiterwerbstatigkeit: tatsachliche Arbeitszeit >= 30 hAVoche Teilzeiterwerbstatigkeit: 15-29 hAVoche Geringfugige Beschaftigung: <=14 hAVoche Erziehungsurlaub/Freistellung: erwerbstatig und tatsachliche Wochenarbeitszeit von null Stunden Erwerbslos und Nichterwerbsperson: nach ILO-Klassifikation Quellen: Kreyenfeld/Geisler (2006); eigene Berechnungen auf Basis des Scientific-Use-Files des Mikrozensus 2004.

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Empirische Studien zeigen einheitlich, dass die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen in Ostdeutschland nach der Wende zuriickgegangen ist (Engelbrech/ Jungkunst 1998; John/Stutzer 2002; Rosenfeld et al. 2004; Kreyenfeld/Geisler 2006). Dennoch sind deutliche Ost-West-Unterschiede im Verhalten bis heute bestehen geblieben. Tabelle 1 gibt einen Uberblick iiber die Entwicklung der Erwerbstatigkeit von Miittem in Ost- und Westdeutschland seit 1991. Demnach ist der Anteil von vollzeiterwerbstatigen Miittem in Ostdeutschland seit der Wende kontinuierlich gesunken. Der Anteil der Teilzeit- und geringfugig Beschaftigten ist leicht, der Anteil der Erwerbslosen drastisch gestiegen. Auch ist der Anteil der Nichterwerbspersonen im Osten aufMlig gestiegen, liegt aber mit 12 Prozent im Jahr 2004 noch deutlich unter den Werten in Westdeutschland. Besonders augenfallig sind die deutlichen Ost-West-Unterschiede im Anteil vollzeiterwerbstatiger Mutter. Wahrend im Osten etwa die Halfte der Frauen mit Kindem vollzeiterwerbstatig ist, sind es im Westen gerade mal 15 Prozent.

3.

Theoretischer Hintergrund

3.1 Bildung und Familiengriindung Bildung und Erwerbstatigkeit von Frauen gelten als die wichtigsten Faktoren zur Erklarung von Fertilitatsunterschieden in modemen Gesellschaften (Marini 1984; Rindfuss et al. 1988; Becker 1993; Hirschman 1994). Frauen mit hoherem Bildungsniveau sind eher geneigt, einer Erwerbskarriere nachzugehen. Sie haben ein hoheres Einkommen und sehen sich mit hoheren Opportunitatskosten der Kindererziehung konfrontiert, was zur Folge hat, dass sie sich seltener dafur entscheiden. Kinder zu bekommen (Becker 1960, 1993). Neben dem negativen Effekt von Bildung auf FamiliengroBe haben neuere Studien die Rolle der Bildung fur den Aufschub der Familiengriindung hervorgehoben (Blossfeld/Huinink 1991; Liefbroer/Corijn 1999; Gustafsson 2001; Lappegard/Ronsen 2005). Grundsatzlich lassen sich zwei Wege unterscheiden, entlang derer hohere Bildung zu einem hdheren Alter bei der ersten Geburt fuhrt. Es ist argumentiert worden, dass Kindererziehung und Bildungsbeteiligung in den meisten Gesellschaften unvereinbar sind (Hoem 1986; Rindfiiss et al. 1988; Blossfeld/Huinink 1991). Personen, die sich in der Ausbildung befinden, haben nur eingeschrankt Zeit und finanzielle Ressourcen zur Verfiigung. Zudem bestehen normative Erwartungen, dass der Ubergang zu Ehe und Eltemschaft erst nach Abschluss einer Ausbildung erfolgen sollte (Blossfeld/Huinink 1991: 147; Klein/Lauterbach 1994). Frauen mit Hochschulabschluss werden deshalb bei erster Mutterschaft alter sein als andere Frauen, weil sie eine relativ lange

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Zeitspanne ihres Lebens in Ausbildung verbracht haben, wahrend derer sie die Eltemschaft aufgeschoben haben.^ Das zweite Argument bezieht sich auf die Zeit nach dem Abschluss der Ausbildung. Wenn eine Frau ihre Erwerbskarriere unterbricht, um sich um ihr Kind zu kummem, entstehen Opportunitatskosten in Form des entgangenen Einkommens. Zudem mogen ihre berufsspezifischen Kenntnisse mit zunehmender Abwesenheit vom Arbeitsmarkt entwertet werden. Nicht zuletzt quahfiziert sie sich in dieser Zeit nicht weiter, sammelt keine Berufserfahrung und kann entscheidende Karriereschritte verpassen (Taniguchi 1999; Albrecht et al. 1999; Gustafsson 2001). Da das Einkommensprofil fiir hdher gebildete Frauen steiler verlauft, wird die Zeit nach dem Berufseinstieg, in der die Gmndlagen fur die Karriere gelegt werden, als besonders wichtig fiir den zukiinftigen Erwerbsverlauf erachtet. Familienbedingte Berufsunterbrechungen werden fur diese Phase als besonders problematisch eingestuft: „Having a child early in one's career limits the time available for extra courses or the time to work long hours; this is often needed to enter the career track. (...) These kinds of consequences are often much less negative later in a woman's career. (...) Thus the overall opportunity costs of childbearing for highly educated women may be higher early in their career than somehow later in their careers." (Liefbroer/Corijn 1999: 54)

Aus diesen Uberlegungen folgt die Annahme, dass ein hoheres Bildungsniveau von Frauen generell zu einem hoheren Alter bei der ersten Mutterschaft fiihrt. Unklar bleibt in diesen theoretischen Uberlegungen, unter welchen Bedingungen mit einem Aufschub und wann mit einem lebenslangen Verzicht auf Kinder zu rechnen ist. Vor dem Hintergrund der westdeutschen institutionellen Rahmenbedingungen wird haufig vermutet, dass eine hohere Bildung nicht nur einen Aufschub, sondem vielmehr eine lebenslange Kinderlosigkeit zur Folge hat (Dorbritz/Ruckdeschel 2006; Duschek/Wirth 2005; Konietzka/Kreyenfeld 2006). Wegen der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf sind Frauen meistenteils gezwungen, sich zwischen zwei Wegen im Lebensverlauf zu entscheiden: entweder Kinder zu bekommen oder einer Erwerbskarriere nachzugehen. Huinink (2002) vermutet, dass aufgrund dieses Dilemmas ein „polarisiertes Fertilitatsmuster" entsteht. Bemfsorientierte Frauen verweilen in der Sphare der Erwerbstatigkeit und bleiben kinderlos, wahrend weniger erwerbsorientierte Frauen sich in Richtung Familiensphare be wegen und zwei oder mehr Kinder bekommen.

Siehe den Beitrag von Dressel in diesem Band.

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3.2 Bildung und Familiengriindung in der DDR und der Bundesrepublik Aus der oben ausgefiihrten Argumentation wiirde man erwarten, dass das Bildungsniveau der Frau negativ mit dem Alter bei Erstgeburt und der Wahrscheinlichkeit, iiberhaupt ein KLind zu bekommen, korreliert ist. Die zentralen Annahmen in diesem Zusammenhang sind die Zustandigkeit der Frau fiir die Kinderbetreuung, die Unvereinbarkeit von Kind und Beruf und der negative Einfluss der Erwerbsunterbrechung auf die Erwerbskarriere. Diese Annahmen trafen nicht in gleichem MaBe auf die Situation in der DDR zu. Zum einen waren in der DDR Kindererziehung und Erwerbstatigkeit relativ gut vereinbar. Dariiber hinaus existierte eine implizite Norm, vollzeiterwerbstatig zu sein. Es wurde von alien Frauen, unabhangig von ihrem Bildungsniveau, erwartet, dass sie nach dem Babyjahr schnell in eine Vollzeitbeschaftigung zuriickkehrten. Auch waren Berufskarrieren durch Bildungsqualifikationen stark vorstrukturiert. Dies impliziert, dass Erwerbsunterbrechungen weitaus geringere Konsequenzen fiir den weiteren Berufsverlauf gehabt haben sollten als in Arbeitsmarkten, wo berufliche Mobilitatsprozesse starker vom Arbeitsengagement abhangen. Vor diesem Hintergrund kann man erwarten, dass es in der DDR weniger bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten gab als in der BRD. Die Restrukturierung des Arbeitsmarktes nach der Wende brachte mehr Risiken, aber auch grofiere Chancen, berufliche Aufstiege zu realisieren, mit sich. Auf der einen Seite sind Frauen ohne formale Qualifikationen einem hohen Risiko ausgesetzt, arbeitslos zu werden. Auf der anderen Seite haben Frauen mit hohem Bildungsniveau bessere VerdienstmogHchkeiten und bessere Karriereoptionen als vor der Wende. Geht man davon aus, dass karriereorientierte Frauen eher die Eltemschaft aufschieben, sollte man zunehmende bildungsspezifische Disparitaten im Geburtenverhalten in Ostdeutschland erwarten. Da jedoch die Vereinbarkeit von Kind und Beruf in Ostdeutschland noch eher gegeben ist als in Westdeutschland, liefie sich vermuten, dass ostdeutsche Frauen mit einem hoheren Bildungsabschluss dennoch eine Mutterschaft eher im Lebenslauf realisieren als vergleichbare westdeutsche Frauen.

4.

Daten und Methode

4.1 Daten Als Datenbasis fiir die folgenden Analysen dienen die Daten des Mikrozensus. Der Mikrozensus ist die bedeutendste amtliche Haushaltbefragung in Deutschland, in der ein Prozent der Bevolkerung befragt wird. Der Mikrozensus wird in

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Michaela Kreyenfeld

Westdeutschland seit 1957 und in Ostdeutschland seit 1991 jahrlich und seit 2005 auch unterjahrig durchgefiihrt. Das Statistische Bundesamt hat fiir die meisten Mikrozensen Scientific-Use-Files bereitgestellt (Emmerling/Riede 1997; Schimpl-Neimanns 1998). In den folgenden Analysen werden die Scientific-UseFiles aus den Jahren 1998, 2002 und 2004 verwendet. Der Mikrozensus ist eine Querschnittsbefragung zur Haushaltsstruktur und zum Arbeitsmarkt. Er enthalt wesentliche sozio-demographische Merkmale wie Alter, Nationalitat, Region sowie detaillierte Informationen zum Erwerbs- und Berufsstatus. Da es sich bei dem Mikrozensus in erster Linie um eine Querschnittsbefragung handelt, sind lebenslaufspezifische Informationen nur bedingt in diesem Datensatz enthalten. Dies gilt insbesondere fur die Fertilitatsgeschichte der Befragten (s. auch den Beitrag von Cornelius in diesem Band). Der Zeitpunkt, zu dem eine Frau ein IGnd geboren hat bzw. ein Mann Vater geworden ist, wird nicht erfragt. Ebenso wird nicht erhoben, wie viele ICinder die Person je gehabt hat. Erfragt wird jedoch die Haushaltszusammensetzung zum Befragungszeitpunkt. Aus dieser Haushaltskomposition, d.h. aus der Zahl und dem Alter der Kinder, die zum Interviewzeitpunkt im Haushalt wohnen, lasst sich die Fertili; tatsbiographie einer Befragten rekonstruieren. Dieses Verfahren bringt eine Reihe von Ungenauigkeiten mit sich. So werden Kinder, die bereits gestorben sind Oder aufgrund von Scheidung und Trennung nicht mehr bei dem oder der Befragten leben, nicht beriicksichtigt. Ebenso werden Kinder nicht erfasst, die den elterlichen Haushalt bereits verlassen und einen eigenen Haushalt gegriindet haben. Problematisch ist ebenfalls, dass im Mikrozensus der Haushalt eine der wesentlichen Erhebungseinheiten darstellt. Die Haushaltskomposition wird ermittelt, indem die Befragten gebeten werden, ihre Beziehung zu einer vorher festgelegten Haushaltsbezugsperson anzugeben (Wirth/Miiller 2004). In diesem Zusammenhang wird auch erhoben, ob die befragte Person leibliches Kind der Haushaltsbezugsperson ist. Da mehrere Familien in einem Haushalt leben konnen, es jedoch pro Haushalt nur eine Haushaltsbezugsperson gibt, zu der die anderen Haushaltsmitglieder in Bezug gesetzt werden, ist es nicht immer moglich, die biologischen Kinder des Befragten zu identifizieren. Nicht zuletzt ist die Abgrenzung einer Familie nicht immer eindeutig und beruht haufig allein auf Plausibilitatsiiberlegungen. Trotz dieser Einschrankungen bietet sich der Mikrozensus an, um das Geburtenverhalten in Ostdeutschland nach der Wende zu untersuchen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Befragungsdatensatzen stellt er geniigend Fallzahlen zur Verfagung, um kohorten- und bildungsspezifische Unterschiede im Verhalten in Ostdeutschland detailliert zu untersuchen.

Bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten

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4.2 Stichprobenauswahl Die Analysen beziehen nur Frauen ein, die zum Befragungszeitpunkt maximal 36 Jahre alt sind und in Privathaushalten am Wohnsitz der Lebensgemeinschaft leben. Wenn man davon ausgeht, dass Geburten vor dem Alter von 18 Jahren sehr selten sind, dann waren die Kinder dieser Befragten zum Interviewzeitpunkt hochstens 18 Jahre alt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder der Befragten den elterlichen Haushalt bereits verlassen haben, diirfte relativ gering sein. Verzermngen ergeben sich prinzipiell daraus, dass Kinder aufgrund von Scheidung und Trennung der Eltem nicht mehr im Haushalt der Befragten leben. In der Mehrzahl der Falle bleiben die Kinder nach der Trennung der Eltem bei der Mutter, so dass fiir diese Analysen, die sich allein auf weibliche Befragte stiitzen, die Verzerrungen gering sein sollten.

4.3 Variablen In den Analysen wird das Alter bei Geburt des ersten Kindes als Differenz zwischen dem Alter des altesten Kindes in der Familie und dem Alter der Befragten berechnet. Um eine Familie abzugrenzen, wird das neue Konzept der Lebensformen verwendet, wonach auch eine nichteheliche Lebensgemeinschaft als Familie definiert ist. Das Statistische Bundesamt hat zur Abgrenzung einer Familie generierte Variablen zur Verfiigung gestellt, die in den Analysen verwendet werden.6 Unterschieden wird des Weiteren zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Ost-West-Unterscheidung ist nach dem Wohnort zum Interviewzeitpunkt vorgenommen worden. Zu den ostdeutschen Befragten zahlen alle Personen, die in den ostlichen Bundeslandem (ohne West-Berlin) leben. Zu den westdeutschen Befragten zahlen jene Personen, die in den westlichen Bundeslandem (mit WestBerlin) leben. Dass einige Personen, die in der DDR aufgewachsen sind, in die westlichen Bundeslander umgezogen sind bzw. dass einige Personen, die in der ehemaligen BRD aufgewachsen sind, nach 1990 nach Ostdeutschland migriert sein konnen, muss hier unberiicksichtigt bleiben. Das Bildungsniveau wurde iiber den allgemeinen Schulabschluss operationalisiert. Prinzipiell konnte man argumentieren, dass die berufliche Bildung ein besserer Indikator ist, um Arbeitsmarktoptionen und die bemfliche Orientiemng einer Person anzuzeigen. Bei der deskriptiven Analyse des Erstgeburtsverhaltens ist die Verwendung der tertiaren Bildungsabschliisse jedoch problematisch, da

Eine Familie ist eine Einheit, die im gleichen Haushalt unter der gleichen laufenden Nummer der Lebensgemeinschaft lebt (Variable ef643).

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die Bildungsabschliisse zu einem Zeitpunkt im Lebenslauf erzielt werden, zu dem Befragte schon langere Zeit ein Kind batten bekommen konnenJ Der allgemeine Schulabschluss ist in diesem Zusammenhang eine deutlich weniger problematische Variable, weil er zu einem relativ friihen Zeitpunkt erzielt wird und Personen nur selten im spateren Lebenslauf einen Schulabschluss nachholen. Schulabschliisse wurden in drei Kategorien gruppiert. Unterschieden wurde zwischen • • •

Befragten mit Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss, Befragten mit Realschulabschluss oder Abschluss der Polytechnischen Oberschule (POS) der DDR sowie Befragten mit Fachabitur, Fachhochschul- oder Hochschulreife.

Tabelle 2 gibt die Verteilung der Stichproben nach Bildungsabschliissen wieder. In Westdeutschland ist der Anteil der Frauen mit Abitur iiber die Kohorten hinweg leicht gestiegen. Fiir die jiingeren Kohorten liegt der Anteil der Frauen hier bei 37 Prozent. Etwa 32 Prozent der westdeutschen Frauen haben einen Realschulabschluss, 27 Prozent einen Hauptschulabschluss oder keinen Abschluss. Fiir etwa fiinf Prozent der Befragten liegen keine Informationen zum Bildungsabschluss vor. In Ostdeutschland lasst sich fiir die alteren Kohorten eine sehr homogene Bildungsverteilung feststellen. Die groBe Mehrheit der Frauen hat einen Abschluss der Polytechnischen Oberschule der DDR.^ Der Anteil der Frauen mit Abitur ist in Ostdeutschland iiber die Kohorten hinweg deutlich angestiegen und betragt, ahnlich wie in Westdeutschland, fur die jiingeren Kohorten 39 Prozent.

7

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Berechnet man beispielsweise das Alter bei Erstgeburt nach dem hochsten Bildungsabschluss zum Befragungszeitpimkt, tragt man u.a. dem Umstand keine Rechnung, dass das Bildungszertifikat nach der Familiengriindung erzielt worden sein kann. Um der dynamischen Natur der Bildungsbeteiligung im Fertilitatsprozess Rechnung tragen zu konnen, werden haufig ereignisanalytische Modelle geschatzt, in denen Bildungsniveau und Bildungsbeteiligung als zeitabhangige Kovariaten modelliert werden. Ein wesentlicher Nachteil dieser Modelle ist jedoch, dass sie keine greifbaren Kennziffem der zentralen Tendenz (z.B. Median) zur Verfiigung stellen (Hoem/Kreyenfeld 2006). Einige Studien unterscheiden zwischen POS-Abschluss 8. Klasse und POS-Abschluss 10. Klasse. Mit den Daten des Mikrozensus ist diese Unterscheidung nicht moglich.

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Bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten

Kohorte

Kohorte

Kohorte

Kohorte

1962-1965 33-36 1998

1966-1969 33-36 2002

1970-1973 31-34 2004

1974-1977 27-30 2004

Westdeutschland Kein Abschluss/Hauptschule Realschulabschluss/PO S Abitur Fehlende Angaben Insgesamt Fallzahlen

36,1 % 34,1% 26,5 % 3,3 % 100 % 13.363

30,5 % 37,0 % 29,0 % 3,5 % 100 % 12.998

29,5 % 34,1% 31,8% 4,6 % 100 % 10.112

27,0 % 31,5% 36,8 % 4,8 % 100 % 8.747

Ostdeutschland Kein Abschluss/Hauptschule Realschulabschluss/PO S Abitur Fehlende Angaben Insgesamt Fallzahlen

4,4 % 76,1% 17,2 % 2,3 % 100 % 3.045

4,2 % 74,0 % 19,6 % 2,3 % 100 % 2.386

4,2 % 68,9 % 23,9 % 3,0 % 100 % 1.932

9,7 % 47,8 % 38,5 % 4,0 % 100 % 1.656

Alter bei Interview Interviewzeitpunkt

Tabelle 2:

Bildungsniveau zum Interviewzeitpunkt, Frauen der Kohorten 1962-1977

Quellen: Mikrozensus 1998, 2002 und 2004; eigene Berechnungen.

5.

Ergebnisse

5.1 Der Aufschub der Familiengriindung nach 1990 Um Verandemngen des Alters bei Familiengriindung abzubilden, wurden in einem ersten Schritt Survivalfunktionen nach Kohorte und nach Ost- und Westdeutschland geschatzt. Survivalfunktionen geben den Anteil der Personen an, die bis zu einem bestimmten Alter ein Ereignis erfahren haben. Eine zentrale Kennziffer, die auf Basis einer Survivalfunktion generiert werden kann, ist der Median, der - in unserem Fall - das Alter angibt, zu dem die Halfte der Personen ein Kind bekommen hat. Als Verfahren, um die Schatzwerte zu generieren, wurde

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Michaela Kreyenfeld

die Sterbetafelmethode angewandt. Der Median wurde durch lineare Interpolation der Survivalfiinktionen geschatzt.9 Abbildung la (siehe Anhang) gibt die nach Kohorten differenzierten Ergebnisse fur Westdeutschland wieder. Prinzipiell wiirde man einen kontinuierlichen Anstieg des Alters bei Familiengriindung fur Westdeutschland erwarten. Bisherige Studien haben gezeigt, dass dieser Anstieg etwa mit der Kohorte 1950 einsetzte und die folgenden Jahrgange die Familiengriindung kontinuierlich in ein hoheres Alter aufgeschoben haben (Huinink 1995b; Kreyenfeld 2002). Hullen (2003: 31) zeigt mit Daten des Familiensurveys, dass sich der Aufschubprozess jedoch fur die jiingeren Jahrgange deutlich verlangsamt hat. Unsere Analysen bestatigen insgesamt diese Einschatzung. Waren die Kohorten 1962-1965 noch 28,7 Jahre, als sie ihr erstes Kind bekamen, liegt der Median fur die Kohorten 1966-1969 bei 29,6 Jahren. Fiir die darauf folgenden Kohorten lasst sich nur ein geringfugiger Anstieg im Erstgeburtsalter feststellen. In Ostdeutschland wurde die Wiedervereinigung von einem unmittelbaren Einbruch der jahrlichen Geburtenziffem begleitet (Eberstadt 1994; WitteAVagner 1995; Konietzka/Kreyenfeld 2004). Dieser Einbruch hing eng mit einem Aufschub der Familiengriindung in ein hoheres Alter zusammen, was sich auch in unseren Analysen widerspiegelt {Abbildung lb, siehe Anhang). Die Kohorten 1962-1965 haben im Wesentlichen noch zu DDR-Zeiten mit der Familiengriindung begonnen. Im Mittel waren Frauen dieses Jahrgangs 22,5 Jahre alt, als sie ihr erstes Kind bekamen. Die darauf folgenden Jahrgange haben sukzessive die Familiengriindung in ein spateres Alter aufgeschoben. Fiir die Kohorten 19741977 liegt das mittlere Alter bei Erstgeburt bei 28 Jahren und damit mehr als fiinf Jahre hoher als fur die Vorwendejahrgange. Beachtlich ist dennoch, dass ostdeutsche Frauen damit immer noch jiinger bei Familiengriindung sind als westdeutsche.

Da nur jahresgenaue Angaben zum Geburtsjahr der Frau und dem Geburtsjahr des Kindes vorliegen, iiberschatzen die Werte, die sich auf Basis der Sterbetafelmethode ergeben, das Alter bei Erstgeburt um etwa ein halbes Jahr. Um derartige Verzermngen zu vermeiden, wurden in den Analysen monatsgenaue Angaben zum Geburtsjahr der Frau und zum Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes mit Hilfe eines Zufallsprozesses generiert. Auf Basis dieser monatsgenauen Informationen wurden die Survivalfiinktionen geschatzt und die Medianwerte berechnet. Da die Mikrozensusbefragung im Friihjahr eines Jahres durchgefuhrt wird, liegen fur das Befragungsjahr keine vollstandigen Informationen vor. Auch dieser Umstand wurde in den Analysen beriicksichtigt.

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Bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten

5.2 Schulbildung und Familiengriindung In einem nachsten Schritt warden Survivalfunktionen nach dem Bildungsniveau und dem Ost-West-Indikator geschatzt. Tabelle 3 gibt einen Oberblick der Mediane der Survivalfunktionen. Fiir die jiingsten Kohorten lassen sich fiir Frauen mit Abitur noch keine Mediane generieren. Zur Interpretation des Verhaltens dieser Kohorten wurden QuartilsmaBe berechnet.

Kohorte

Kohorte

Kohorte

Kohorte

1962-1965

1966-1969

1970-1973

1974-1977

Westdeutschland Kein Abschluss/Hauptschule Realschulabschluss/POS Abitur Alle

25,7 28,4 32,9 28,7

25,9 29,2 33,1 29,6

25,9 29,2 33,3 29,8

25,3 29,5

Ostdeutschland Kein Abschluss/Hauptschule Realschulabschluss/POS Abitur Alle

22,8 22,0 24,7 22,5

25,3 23,0 28,3 23,9

25,6 25,8 31,1 27,1

24,4 26,2

Tabelle 3:

-30

28,1

Medianalter bei Geburt des ersten Kindes, Frauen der Kohorten 1962-1977

Anmerkung: Falle mit fehlenden Informationen zum Bildungsniveau wurden nicht beriicksichtigt. Quellen: Mikrozensus 1998, 2002 und 2004; eigene Berechnungen.

Betrachtet man das Geburtenverhalten in Westdeutschland, fallen deutlich bildungsspezifische Unterschiede saxf (Abbildung 2a, siehe Anhang). In der altesten Kohorte (1962-1965) sind westdeutsche Frauen mit Abitur im Mittel 33 Jahre bei Geburt des ersten Kindes, Frauen mit Realschluss etwa 28 und Frauen mit Hauptschul- bzw. keinem Abschluss etwa 26 Jahre alt. Fiir alle Bildungsgruppen ist das Alter bei Erstgeburt fiber die Kohorten hinweg leicht angestiegen. Da dieser Anstieg fur alle Bildungsgruppen ahnlich verlaufen ist, hat sich an den bildungsspezifischen Unterschieden iiber die Kohorten hinweg nur wenig verandert. Frauen mit Abitur sind im Schnitt fiinf Jahre alter, wenn sie Mutter werden,

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als Frauen mit einem Realschulabschluss und sieben Jahre alter als Frauen mit Hauptschulabschluss bzw. ohne Abschluss. In den ostdeutschen Kohorten, die zwischen 1962 bis 1965 geboren wurden, sollte sich noch das DDR-typische Verhalten spiegeln. Dies bedeutet insbesondere, dass bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten gering sein soUten. Vergleicht man Frauen mit einem Abschluss der Polytechnischen Oberschule und Frauen mit Abitur, stellt man dennoch deutliche Unterschiede fest. Frauen mit Abitur waren im Mittel fast 25 Jahre, Frauen mit POS-Abschluss 22 Jahre und damit etwa drei Jahre jiinger bei der Geburt des ersten Kindes. Die Altersdifferenz ist zwar deutlich geringer als in Westdeutschland, jedoch deuten diese Analysen darauf hin, dass auch in der DDR die Bildung der Frau eine aufschiebende Wirkung auf die Familiengriindung hatte. Auffallend ist das Verhalten der ostdeutschen Frauen ohne Schulabschluss. Wie aus Abbildung 2b (siehe Anhang) ersichtlich, hat ein Teil dieser Population in einem recht friihen Alter das erste Kind bekommen, jedoch ist der Anteil kinderloser Frauen im spateren Alter ebenfalls recht hoch.lO Bei der Interpretation dieses Ergebnisses muss beriicksichtigt werden, dass in der DDR der Besuch der PolytechnischenOberschule die Basisschulbildung war. Die politischen Bemiihungen zielten darauf ab zu gewahrleisten, dass alle Personen einen derartigen Abschluss erreichten. Frauen, die keinen POS-Abschluss erzielten, stellen eine hoch selektive Gruppe dar, die sich wahrscheinlich auch im Hinblick auf ihre gesundheitliche Disposition unterschied, ein Aspekt, der wiederum mit der Fekunditat korreliert ist. Fiir die ostdeutschen Kohorten, die nach 1965 geboren wurden, lasst sich ein rapider Anstieg des Alters bei Erstgeburt feststellen, wobei dieser Anstieg fiir Frauen mit Abitur starker ausfallt als fiir Frauen mit POS-Abschluss. Ein wesentlicher Grund fiir dieses Muster sind die bereits vor der Wende bestehenden bildungsspezifischen Unterschiede im Geburtenverhalten, was sich am eindrucksvollsten an dem Verhalten der Kohorten 1966-1969 festmachen lasst {Abbildung 3b, siehe Anhang). Die Kohorten 1966-1969 waren zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung etwa 22 Jahre alt. Das Medianalter der Familiengriindung fiir Frauen mit POSAbschluss lag in der DDR bei 22 Jahren. Somit sollten mehr als die Halfte der

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Dieses Ergebnis mag sich zum Teil durch Datenprobleme des Mikrozensus erklaren lassen. Falls es viele Teenagergeburten unter den Frauen, die weniger als einen POS-Abschluss hatten, gab, dann konnen die Kinder dieser Befragten schon zum Interviewzeitpunkt den elterlichen Haushalt verlassen haben. Der Mikrozensus wiirde dann keine verlasslichen Auskiinfte fur diese Bildungsgmppe mehr geben konnen. Studien, die auf anderen Datensatzen beruhen, bestatigen jedoch die Einschatzung, dass die Kinderlosigkeit unter den Frauen ohne POS-Abschluss hoher ist als unter den anderen Bildungsgmppen (Kreyenfeld 2004).

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POS-Absolventinnen dieser Kohorten noch vor der Wende das erste Kind bekommen haben. Frauen mit Abitur waren etwa drei Jahre alter bei erster Mutterschaft. Im Gegensatz zu den Frauen mit POS-Abschluss batten die Frauen mit Abitur damit mehrheitlich zur Wiedervereinigung noch kein Kind (Abbildung 3a, siehe Anhang. Da sie zu diesem Zeitpunkt noch kinderlos waren, Hegt es nahe, dass sie aufgrund der vereinigungsbedingten Umbriiche die Familiengriindung auf ein spateres Alter aufgeschoben haben. Mit anderen Worten: Die Wiedervereinigung traf Frauen derselben Kohorte unterschiedlich, je nachdem, welchen Bildungsabschluss sie hatten. Dies wiederum hat bedeutende Konsequenzen fiir die bildungsspezifischen Unterschiede im Geburtenverhalten. Fiir die unmittelbaren „Wendejahrgange" ist also mit zunehmenden bildungsspezifischen Disparitaten im Geburtenverhalten zu rechnen. Vergleicht man den Median des Alters bei erster Mutterschaft von Frauen mit POS und Abitur fiir die Kohorten 1966-1969, zeigt sich ein Unterschied von etwa fiinf Jahren. Auch fiir die darauf folgenden Kohorten (Kohorten 1970-1973) lassen sich in Ostdeutschland erhebliche bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten erkennen (Abbildung 4b, siehe Anhang). Auch hier ist zu beriicksichtigen, dass ein gewisser Teil der Frauen dieser Jahrgange schon ein erstes Kind vor der Wende bekommen hatte und dass dieser Anteil fiir die Frauen mit POSAbschluss hoher ist als fiir Frauen mit Abitur. Die Kohorten 1974-1977 sind die ersten Jahrgange, die nach der Wende in das reproduktive Alter eingetreten sind (Abbildung 5b, siehe Anhang). Dies bedeutet, dass dies auch die ersten Kohorten sind, deren bildungsspezifische Geburtenmuster nicht mehr durch Unterschiede im Vorwendeverhalten gepragt sind. Auch sind dies die ersten Jahrgange, die ihre Schulabschiisse nach der Wende und damit nach der Transformation des ostdeutschen Bildungssystems erzielt haben (Anweiler 2000). Obwohl nicht alle Bundeslander in gleicher Weise das dreigliedrige Schulsystem mit seiner Unterteilung in Hauptschulabschluss, Realschulabschluss und Abitur einfiihrten, ist der Anteil der Personen, die weniger als einen Realschulabschluss erzielten, in diesen „Nachwendejahrgangen" deutlich angestiegen. Im Gegensatz zu den „Vorwendekohorten" stellt diese Gruppe keine sonderlich selektive Population mehr dar. Betrachtet man das Fertilitatsmuster dieser Kohorten, lasst sich eine auffallende Ahnlichkeit zum Verhalten in Westdeutschland feststellen (Abbildungen 5a und 5b, siehe Anhang). Dennoch gilt fiir alle ostdeutschen Bildungsgruppen, dass sie fhiher Mutter wurden als westdeutsche Frauen (vgl. Tabelle 3). Besonders groB sind die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Frauen mit Abitur. Das 1. Quartil (Zeitpunkt, zu dem 25 Prozent ein erstes Kind bekommen haben) liegt im Westen fiir Frauen mit Abitur bei etwa 30 Jahren, im Osten dagegen bei nur 27 Jahren und damit um drei Jahre niedriger. Inwiefem sich eine Annaherung der Medianwerte ergeben wird, lasst sich noch nicht abschatzen.

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Ebenso wenig lasst sich zu diesem Zeitpunkt die bildungsspezifische Entwicklung der endgiiltigen Kinderlosigkeit beurteilen.

6.

Zusammenfassung

Ziel dieses Beitrags war es, einen Uberblick iiber die bildungsspezifischen Unterschiede im Alter bei der Familiengriindung in Ost- und Westdeutschland vor und nach der Wende zu geben. Ausgangspunkt unserer theoretischen Uberlegungen war die allgemeine These, dass hoher qualifizierte Frauen eher kinderlos bleiben und spater das erste Kind bekommen als weniger qualifizierte Frauen, da sich eine Mutterschaft, insbesondere wahrend des Studiums und der Phase der Etablierung auf dem Arbeitsmarkt, hemmend auf die zukiinftigen Erwerbschancen auswirkt. Es wurde femer argumentiert, dass aufgrund der besseren strukturellen Rahmenbedingungen der Vereinbarkeit von Kind und Beruf und der stark vorstrukturierten Erwerbsverlaufe diese Hypothese fiir die DDR weniger plausibel gewesen ist, sodass die bildungsspezifischen Unterschiede im Geburtenverhalten dort geringer ausgefallen sein sollten. Fiir Westdeutschland wurde vermutet, dass sich wegen der strukturellen Unvereinbarkeit von Kind und Beruf groBe bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten ergeben. Da die arbeitsmarkt- und familienpolitischen Rahmenbedingungen in Ostdeutschland nach der Wende ahnlich sind wie in Westdeutschland, lag es nahe zu vermuten, dass eine Angleichung an westdeutsche Verhaltensmuster stattgefunden hat. Trotzdem war aber zu erwarten, dass, bedingt durch das bessere Angebot an offentlicher Kinderbetreuung, die bildungsspezifischen Unterschiede im Fertilitatsverhalten in Ostdeutschland geringer ausfallen. Die empirischen Analysen, die sich auf Daten des Mikrozensus stiitzen, haben nur zum Teil die Hypothesen bestatigt. Fiir Westdeutschland lassen sich substantielle bildungsspezifische Unterschiede im Erstgeburtenverhalten konstatieren. Fiir die Kohorten 1962-1965 lag beispielsweise das Medianalter bei erster Mutterschaft fur Frauen mit Abitur bei 33 Jahren, fiir Frauen mit Realschulabschluss bei 28 Jahren und fur Frauen mit Hauptschulabschluss oder ohne Abschluss bei etwa 26 Jahren. In spater geborenen Kohorten ist das Durchschnittsalter bei erster Mutterschaft fiir alle Bildungsgruppen leicht angestiegen, ohne dass sich die Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen deutlich verandert haben. Fiir Ostdeutschland vor der Wende bestatigt sich im Wesentlichen unsere Einschatzung, dass die bildungsspezifischen Variationen im Erstgeburtenverhalten gering waren. Dennoch waren Frauen mit Abitur etwa drei Jahre alter bei erster Mutterschaft als Frauen mit POS-Abschluss.

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Ganz im Gegensatz zu unserer Hypothese steht das Verhalten der darauffolgenden ostdeutschen Kohorten. Fiir die Kohorten, die zwischen 1966 und 1969 geboren wurden, zeigt sich ein drastischer Anstieg in den bildungsspezifischen Fertilitatsunterschieden. Vergleicht man Frauen mit POS-Abschluss und Frauen mit Abitur, fallen die Unterschiede sogar noch groBer aus als die Unterschiede zwischen westdeutschen Frauen mit Realschulabschluss und Abitur. Erklaren lasst sich dies damit, dass bereits vor der Wende bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten existierten. Frauen mit POS-Abschluss der Kohorten 1966-1969 haben haufiger noch vor der Wende das erste Kind bekommen als Frauen mit Abitur. Da Frauen mit Abitur zur Wende damit eher kinderlos waren, haben sie, aufgrund der vereinigungsbedingten Umbriiche, die Familiengriindung haufiger in ein spateres Alter aufgeschoben als andere Frauen. Die Quintessenz daraus ist, dass die Wiedervereinigung die unterschiedlichen Bildungsgruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihren Fertilitatskarrieren getroffen hat, was unmittelbar zu einer Zunahme der bildungsspezifischen Variationen im Erstgeburtenverhalten gefiihrt hat. Fiir die jiingeren Kohorten, die erst nach der Wende in das reproduktive Alter eingetreten sind, spielen solche Uberlegungen keine Rolle mehr. Zwar lasst sich fxir die Kohorten 1974-1977 noch kein Median berechnen, jedoch deuten die Quartilswerte darauf hin, dass auch ostdeutsche Frauen dieser Kohorten jiinger bei der Familiengriindung sind als westdeutsche Frauen; dies gilt insbesondere fur Frauen mit Abitur. Damit gibt es zumindest einen schwachen Hinweis darauf, dass die besseren Bedingungen zur Vereinbarkeit von Kind und Bemf in Ostdeutschland fiir hoher qualifizierte Frauen der „Nachwendejahrgange" eine raschere Familiengriindung ermoglicht haben. Die empirischen Analysen haben viele Aspekte unberiicksichtigt lassen miissen. So haben sich die Analysen auf einfache bivariate Zusammenhange zwischen Bildung und Fertilitat konzentriert und somit intervenierende Faktoren unberiicksichtigt gelassen. Zudem wurde in den Analysen nur die Schulbildung, jedoch nicht die berufliche Bildung herangezogen. Dies wurde aus pragmatischen Griinden getan. Sieht man von Teenagerschwangerschaften ab, wird der Schulabschluss erworben, bevor eine Person in das reproduktive Alter tritt. Damit lasst sich die Schulbildung als fixe Kovariate im Fertilitatsprozess betrachten, was es wiederum ermoglicht, einfache deskriptive Methoden anzuwenden, um Kennziffem wie das Medianalter bei Erstgeburt zu bestimmen. Der Nachteil dieser Vorgehensweise ist, dass die Schulbildung nur bedingt iiber die Erwerbsorientierung und den Arbeitsmarkterfolg Auskunft geben kann. Auch liefert diese Variable nur geringe Differenzierungsmoglichkeiten, da gerade in Ostdeutschland die Komposition der Bevolkerung sehr homogen ist. Interessant ware es, Indikatoren zu Berufs- und Erwerbspositionen zu verwenden, die eine starkere Differenzierung moglich machen und die im direkteren Bezug zur Bildungs- und

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Erwerbskarriere stehen. Da diese Faktoren im Lebenslauf starken Veranderungen unterworfen sind, lasst sich deren Einfluss auf die Familiengriindung aber nur mit Hilfe von Verfahren beantworten, die der dynamischen Natur der Bildungsund Erwerbsbeteiligung im Fertilitatsprozess Rechnung tragen.

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Alter der Frau Abbildung lb: Anteil kinderloser Frauen nach Alter (Survivalfunktionen) Ostdeutschland Kohorten 1962-1977

-

Anmerkung: Das Vorhandensein eines Kindes luid das Alter bei Erstgeburt wurden auf Basis von Informationen zur Anzahl und zum Alter der Kinder, die zum Befragungszeitpunkt im Haushalt leben, generiert. Die Survivalfunktionen wurden auf Basis der Sterbetafelmethode berechnet. Quellen: Mikrozensus 1998, 2000 und 2004; eigene Berechnungen.

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Alter der Frau Abbildung 2b: Survivalfunktion nach hdchstem Schulabschluss - Ostdeutschland Kohorte 1962-1965 Anmerkung: Das Vorhandensein eines Kindes und das Alter bei Erstgeburt warden auf Basis von Inforaiationen zur Anzahl und zum Alter der Kinder, die zum Befragungszeitpunkt im Haushalt leben generiert. Die Survivalfiinktionen wurden auf Basis der Sterbetafelmethode generiert. Quellen: Mikrozensus 1998, 2000 und 2004; eigene Berechnungen.

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Abbildung 3b: Survivalfunktion nach hochstem Schulabschluss - Ostdeutschland Kohorte 1966-1969 Anmerkung: Das Vorhandensein eines Kindes und das Alter bei Erstgeburt wurden auf Basis von Informationen zur Anzahl und zum Alter der Kinder, die zum Befragungszeitpunkt im Haushalt leben generiert. Die Survivalfiinktionen wurden auf Basis der Sterbetafelmethode generiert. Quellen: Mikrozensus 1998, 2000 und 2004; eigene Berechnungen.

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25 30 35 40 Alter der Frau Abbildung 4b: Survivalfunktion nach hochstem Schulabschluss - Ostdeutschland Kohorte 1970-1973 Anmerkung: Das Vorhandensein eines Kindes und das Alter bei Erstgeburt warden auf Basis von Informationen zur Anzahl und zum Alter der Kinder, die zum Befragungszeitpunkt im Haushalt leben generiert. Die Survivalfiinktionen wurden auf Basis der Sterbetafelmethode generiert. Quellen: Mikrozensus 1998, 2000 und 2004; eigene Berechnungen.

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Abbildung 5b: Survivalfunktion nach hochstem Schulabschluss - Ostdeutschland Kohorte 1974-1977 Anmerkung: Das Vorhandensein eines Kindes und das Alter bei Erstgeburt wurden auf Basis von Informationen zur Anzahl und zum Alter der Kinder, die zum Befragungszeitpunkt im Haushalt leben generiert. Die Survivalfunktionen wurden auf Basis der Sterbetafelmethode generiert. Quellen: Mikrozensus 1998, 2000 und 2004; eigene Berechnungen.

Ursachensuche

Erwerbsarbeit und Elternschaft Das deutsche Modell im europaischen Vergleich Christiane Lindecke

1.

Einleitung: Demographie und Familienpolitik - zwei Seiten einer Medaille?

Zwei politische Themen einen alle Parteien. Niemand scheint sich ihrer Bedeutung entziehen zu konnen - bis auf wenige kritische Stimmen herrscht allgemeiner Konsens. Der demographische WandeP und die nachhaltige Familienpolitik scheinen extrem konsensfahige Themen zu sein. Sicher, iiber Details lasst sich streiten, und auch iiber die Ziele und MaBnahmen gibt es nicht immer Einvernehmen. Unbestritten bleibt fiir alle Parteien, dass der demographische Wandel und die Familienpolitik Themen sind, die heute aufgegriffen und bearbeitet werden miissen, um die gesellschaftliche Zukunft der Bundesrepublik zu sichem. Familienpolitik, lange Zeit tagespolitisch eher ein Stiefkind, fiir das sich niemand so recht erwarmen und interessieren konnte, profitiert von den Debatten um den demographischen Wandel. Die Geburtenraten zu steigem, bevorzugt die von Akademikerinnen, wird als der probate Weg gesehen, um der so genannten Uberalterung der Bevolkerung mit all den prophezeiten Folgen^ entgegenzuwirken. Von den Schwingen des demographischen Wandels getragen, gelang es der Familienpolitik, sich aus ihrem Schattendasein ins Licht der Offentlichkeit zu begeben und die exponierte Stellung auch nach einem Regierungswechsel zu behalten.

Im Folgenden geht es nicht damm, diese Thesen zu hinterfragen oder die Zahlen der Debatte zu kritisieren, sondem die Frage zu stellen, welche Leitbilder der Familienpolitik zugmnde liegen. Allerdings bleibt fraglich, ob die Diagnose, die Geburtenzahlen sanken, so eindeutig ist, wie sie kolportiert werden (siehe beispielsweise SchmittAVinkelmann 2005 sowie die Beitrage von Cornelius und Kreyenfeld in diesem Band). Auch die eindeutige Schuldzuweisung „Frauen, insbesondere Akademikerinnen, bekommen zu wenige Kinder" gilt langst nicht mehr. Inzwischen ist der veraiehmngsunwillige Mann in den Blickpunkt der Diskussion geraten (siehe etwa Bertram et al. 2005 sowie Dorbritz et al. 2005). Vgl. exemplarisch Wingen (2004) sowie die Serie der Wochenzeitung DIE ZEIT zur Demographic im Juni 2006.

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Christiane Lindecke

Bereits unter der rot-griinen Koalition lasst sich eine Abkehr von frauenoder gleichstellungspolitisch orientierten MaBnahmen hin zu einer Betonung der Familienpolitik nachzeichnen. Damit einher ging eine tendenzielle Modemisierung der Familienleitbilder, unter dem Stichwort „nachlialtige Familienpolitik". Durch den Regierungswechsel 2005 und durch eine neue Familienministerin, die vorlebt, dass Familie und Karriere - jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen - moglich sind, bleibt das Thema auf der Tagesordnung und in den Medien. Eltemgeld, mehr Kinderbetreuung, Steuererleichterungen fiir Familien - fast scheint es so, als ob die Bundesrepublik den Preis fiir das familienfreundlichste Land anstrebt. Hochschulen sollen familienfreundlicher werden, die Untemehmen werden iiber Wettbewerbe und Preise aufgefordert, familienfreundliche MaBnahmen zu etablieren, fast monatlich kommen neue wissenschaftliche Gutachten, Expertisen und Untersuchungen, gefordert durch das Ministerium, auf den Markt, die die dkonomische Rentabilitat von Familienfreundlichkeit aufzeigen, MaBnahmen des Ministeriums evaluieren oder neue Argumente fur mehr Kinder und neue Vater liefem.3 Der Siebte Familienbericht steht unter dem Motto „Fragt die Frauen!" und pladiert fur eine Familienpolitik, die Frauen nicht auf die Rolle als Hausfrau und Mutter festlegt, sondem ihnen Bemf und Familie ermdglicht (Bertram et al. 2005). Also alles wunderbar in dieser Republik? Allianzen fur Familien, lokale Biindnisse und mit dem Eltemgeld - der „Lohnfortzahlung im Erziehungsfall" (Uschtrin 2004) - endlich die seit langem geforderte starkere Einbindung der Manner als Vater in die Familienaufgaben! Und doch, wenn man sich die Debatten, Forderungen, MaBnahmen und Ziele etwas genauer betrachtet, fallt eins auf: Familienpolitik scheint ins Geschlechtsneutrale zu wechseln. Zwar erkennen alle Gutachten und Expertisen an, dass Frauen immer noch primar die Familienverantwortung zugeschrieben wird, aber dies scheint nur noch eine Zwischenstufe auf dem Weg zu einer familienfreundlichen Gesellschaft zu sein, die dann wohl auch per se frauenfreundlich sein wird. Gleichstellungspolitik, die Frage nach der ungleichen Verteilung von Arbeit, Chancen und Macht zwischen Mannem und Frauen, verschwindet hinter dem Primat der Familienpolitik (siehe den Beitrag von Schick in diesem Band)."^ Die politischen Debatten vermitteln den Ein-

So finden sich im Forschungsnetz des Bundesministeriums fur Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) beispielsweise folgende Expertisen, Studien und Gutachten: Institut fiir Demoskopie Allensbach (2005, 2006); Kaltenbom et al. (2005); BMFSFJ (2006); Pfeiffer/Braun (2005); Prognos (2006). Nach Ergebnissen international vergleichender Studien zum AusmaB der Geschlechterungleichheit, wie der Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums, liegt die Bundesrepublik auf dem neunten Platz - von 58 Staaten. Dieses gute Abschneiden verdankt sich allerdings den Kriterien „politische Teilhabe" und „Gesundheit und Wohlbefinden". In den existenzrelevanten

Erwerbsarbeit und Eltemschaft

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druck, man miisse nur das Problem der Demographic und der Vereinbarkeit von Familie und Bemf in den Griff bekommen, dann werde schon alles gut.5 Nachhaltige Familienpolitik, die neben einer Erhohung der Geburtenzahlen auch eine Steigerung der Erwerbstatigkeit von Frauen sowie eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf fiir Frauen und Manner anstrebt und sich an Irland oder Norwegen orientiert (Gruescu/Rurup 2005: 3), soil also - iiberspitzt formuliert - das erreichen, was die Chancengleichheitspolitik nur in Ansatzen realisierte: eine Gleichstellung von Frauen und Mannem in Beruf und Familie. Der Beitrag untersucht nun exemplarisch, ob man fur die Bundesrepublik wirklich von einer Neuausrichtung der Familienpolitik sprechen kann und ob sich aus dem neuen Konzept der nachhaltigen Familienpolitik tatsachlich eine Steigerung der Geburtenraten erwarten lasst. Bisher liegen nur wenige Erfahrungen fiir die Bundesrepublik vor, sodass der Beitrag eincrscits auf die aktuelle Situation abhebt, andererscits versucht, Leitbilder und Motive der Familienpolitik herauszuarbcitcn. Im Vcrgleich von fiinf curopaischen Landem wird dcutlich gcmacht, wclche Chancen und Grenzen familienpolitische Konzepte impliziercn. Der Frage offentlicher Kinderbetreuung - sowohl der Betreuungsquote als auch dem zugrunde liegenden Verstandnis - kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Kinderbetreuung ist fiir alle Menschen, die versuchen, Erwerbsarbeit und Familienaufgaben zu verbinden, eine zentrale BestimmungsgroBe, um ihren Alltag zu organisieren.6

Bereichen „Teilnahme am Arbeitsleben" und „wirtschaftliche Chancen" hingegen findet sich die Bundesrepublik nur im Mittelfeld. Der TeiHndikator „Teilnahme am Arbeitsleben" ergibt sich aus quantitativen Komponenten, etwa den Erwerbstatigen- und Beschaftigungsquoten von Mannem und Frauen sowie den Entgeltunterschieden. Hier erreicht Deutschland lediglich Rang 20. Noch weiter zuriick fallt die Bundesrepublik beim Indikator „wirtschaftliche Chancen", in den auch qualitative Gesichtspunkte einflieBen, wie beispielsweise die „Ghettoisiemng" von Frauen in bestimmten, zumeist gering entlohnten Bemfsbereichen. Wenn diese Kriterien betrachtet werden, fallt Deutschland auf Rang 28 zuriick (WEF 2005). Auffallig ist auch, dass zumeist ein modemisiertes Familienemahrermodell implizit oder explizit zum Tragen kommt. Der Frau obliegt die Aufgabe, Familie und Bemf zu vereinbaren, der Mann und staatliche bzw. offentliche Betreuungseinrichtungen unterstiitzen sie dabei. So z.B. im Modell der Frauen mit einer adaptiven Lebensweise: „Diese Frauen wollen im Gmnde das Beste aus beiden Welten: Sie versuchen, Teilzeit zu arbeiten und zudem Arbeitszeit und Familienzeit so zu kombinieren, dass sich ihre Familienwerte und die Beziehungen zu ihren Kindem und anderen nahe stehenden Personen mit ihrer bemflichen Arbeit optimal vereinbaren lassen." (Bertram et al. 2005: lOf.). So zeigen auch die Ergebnisse der Online-Umfrage „Perspektive Deutschland": „Sie (Frauen) sind bereit, einen Einschnitt zu tragen, fordem aber ein klares Bekenntnis des Staates zu Kindem. Und dieses nicht in Form von direkten oder indirekten Zuwendungen, sondem in Form von verbesserter Kinderbetreuung. Sie wollen Karriere und Kinder verbinden, durch Bemfstatigkeit das Familieneinkommen steigem." (Kluge 2004: 46)

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Christiane Lindecke

Die Grundthese des Beitrags ist, dass eine lediglich leichte Modemisierung von Familienpolitik und Familienleitbildem weiterhin vemachlassigt, dass sich die Lebenswiinsche und Lebensentwiirfe - insbesondere von Frauen - in den letzten 30 Jahren deutlich veranderten. Auch ein modemisiertes Familienemahrermodell entspricht nur noch in Teilen den Wiinschen von Frauen. Die Verschiebung der Debatte bin zur Demographic und damit einer stark bevolkerungspolitisch motivierten Familienpolitik lasst auBer Acht, dass die Bundesrepublik weiterhin durch ein Gleichstellungsdefizit zu Ungunsten von Frauen charakterisiert ist, das auch durch punktuelle MaBnahmen wie zwei „Papamonate" im neuen Eltemgeld alleine nicht aufgebrochen wird, solange es weiterhin Anreize gibt, dass Frauen Zuverdienerinnen bleiben. Als Stichworte seien hier das Ehegattensplitting im Steuerrecht und die Familienmitversicherung in der Sozialversicherung genannt. Der Beitrag beschaftigt sich im zweiten Teil mit den Entwicklungen der Familienpolitik seit 1998, von einer zu Beginn noch gleichstellungspolitisch interessierten Politik bin zur nachhaltigen Familienpolitik. Der dritte Teil beleuchtet Leitbilder von Familienpolitik und deren Umsetzung in konkrete politische MaBnahmen in fiinf europaischen Landem. In der Typologie orientiere ich mich an den Kinderbetreuungsregimes von Letablier/Jonsson (2003). AbschlieBend wird ein Fazit gezogen unter der Frage, welche Familienpolitik bzw. welche familienpolitischen Leitbilder dazu beitragen kdnnen, eine Gesellschaft zu fbrdem, in der beide Geschlechter gleiche Chancen erhalten und gleiche Verantwortung iibemehmen.

2.

Blick zuriick aufs Gliick: Familienpolitik seit 1998

Zu Beginn ihrer Regierungszeit 1998 kiindigten Sozialdemokraten und Griine einen „neuen Aufbruch fur die Frauenpolitik" an. Die „Gleichstellung von Mann und Frau wieder zu einem groBen gesellschaftlichen Reformprojekt zu machen", lautete die Pramisse. In der ersten Legislaturperiode wurden auch einige gesetzliche Veranderungen auf den Weg gebracht, die die Stellung von Frauen im Beruf und parallel dazu die Stellung der Manner in der Familie starken sollten (Klenner 2002).^ Deutlich mehr Vorhaben und Gesetze wurden allerdings zu Gunsten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf umgesetzt, z.B. der Rechts-

Exemplarisch fiir erwerbsorientierte Regelungen seien hier das Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz fiir den offentlichen Dienst des Bundes (2001) sowie das Prostitutionsgesetz (2002) genannt. Weitere geschlechterpolitische Fortschritte ergaben sich aus der Neuregelung des Betriebsverfassungsgesetzes (2001), etwa eine Geschlechterquote fur Betriebsrate sowie deren inhaltliche Zustandigkeit fur Fragen der Chancengleichheit (Klenner/Lindecke 2003).

Erwerbsarbeit und Eltemschaft

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anspruch auf Teilzeitarbeit durch das Gesetz iiber Teilzeitarbeit und befristete Beschaftigung (2001).^ Lange Teilzeitarbeit - und damit eine deutliche Abkehr von der klassischen Halbtagsstelle als Synonym fiir Teilzeit - ist ein wesentliches Element in der Neuregelung des Bundeserziehungsgeldgesetzes^ im Jahr 2004. Anspruch des Konzepts ist es, die Ubemahme von Familienarbeit durch beide Eltem zu fordem. Damit zeigen sich erste, zaghafte Schritte weg vom Leitbild des mannlichen Familienemahrers hin zu einer modemisierten Variante des Konzepts (siehe auch Abschnitt 4). Direkt an Vater gerichtete Mafinahmen, beispielsweise ein Papamonat nach schwedischem Vorbild (Persson 2005), waren allerdings in der neuen Eltemzeit nicht vorgesehen. Die familienpolitische Fokussierung des Bundesministeriums fiir Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) verstarkte sich noch durch den Ministerinnenwechsel 2002. Der „neue Kurs in der Familienpolitik" ergab sich aus einer Bilanz der bisherigen familienpolitischen Mafinahmen: „Eine geringe Geburtenrate geht einher mit niedriger Frauenerwerbstatigkeit, ein schwaches Bildungsniveau mit gewachsenen Armutsrisiken. Ein Blick auf andere Lander in der Europaischen Union oder in der OECD liefert weitere bemerkenswerte Erkenntnisse: Legt man wichtige Indikatoren von Familienfreundlichkeit zugmnde, schneidet Deutschland im direkten Vergleich schlecht ab. Dabei liegt die Bundesrepublik bei der GroBenordnung der offentlichen Geldstrome im oberen Drittel." (Ristau 2005: 17f.)^^

Aus dieser Analyse entwickelte sich ein politischer Paradigmenwechsel. Mit dem Ministerinnenwechsel verschwand eine wie auch immer geartete eigenstandige Politik zur Gleichstellung der Geschlechter von der politischen Agenda und

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Dieser Anspruch ist allerdings eingeschrankt. Das Gesetz gilt nur fur Beschaftigte in Betrieben mit regelmaBig mehr als 15 Beschaftigten und schlieBt damit den erheblichen Teil der Frauen in Kleinbetrieben aus. AuBerdem reichen betriebliche Griinde fur den Einspruch des Arbeitgebers gegen das Teilzeitverlangen aus. Nach dieser Neuregelung ist es moglich, neben der Erziehungstatigkeit bis zu maximal 30 Stunden pro Woche erwerbstatig zu sein. Siehe Gesetz zum Erziehungsgeld und zur Eltemzeit (Bundeserziehungsgeldgesetz - BErzGG), neu gefasst in der Bekanntmachung vom 9. Februar 2004 (BGBl. I S. 206). Dettling (2004: 16) formuliert das Versagen einer ,^iellosen" Familienpolitik scharfer: „Und so ist es kein Wunder, dass die deutsche Familienpolitik in der Vergangenheit nahezu alle denkbaren Ziele verfehlt hat: Sie hat die Familienarmut nicht beseitigt; von der Gleichheit der Geschlechter ist Deutschland weiter entfemt als viele andere Lander; es werden weniger Kinder geboren als fast iiberall auf der Welt." Auch die Untersuchung von Wroblewski/Leitner (2005) zeigt, dass eine konsistente Zielsetzung von Familienpolitik zentrale Voraussetzung fiir deren erfolgreiche Implementation ist. Ein gleichzeitiges Nebeneinander unterschiedlicher Instrumente und Anreize fuhre dazu, dass Defizite in einem Bereich durch Interventionen in einem anderen kompensiert werden mussen (ebd.: 208f.).

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Christiane Lindecke

wurde durch eine so genamite „nachhaltige Familienpolitik" ersetzt oder verdrangt, die in der Frage der Vereinbarkeit zwei inhaltliche Schwerpunkte hat: den Ausbau der KinderbetreuungH und die Schaffung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen. Deutlich zeigen sich die Schwerpunkte in Projekten und MaBnahmen wie dem Untemehmenswettbewerb ,£rfolgsfaktor FamiHe", dem Audit „Beruf und FamiHe", strategischen Partnerschaften in der Allianz fur die Familie sowie lokalen Biindnissen fiir FamiHe (Ristau 2005). Unter nachhaltiger FamiHenpoHtik verstand das BMFSFJ eine PoHtik, die Geld- und Sachleistungen verbindet und durch ftinf Indikatoren charakterisiert ist: Geburtenrate, Vereinbarkeit, Armutsrisiko, Bildungsniveau und Erziehungskompetenz. Der demographischen Bestandssicherung wird ein Stellenwert eingeraumt, allerdings „nicht um ihrer selbst wiUen" (ebd.: 18). Die Argumentation richtet sich sehr stark auf den Kinderwunsch, der deutlich haufiger anzutreffen ist, als sich dies aus der Geburtenrate ablesen lasst, und aus unterschiedlichen Griinden nicht realisiert wird. Hier soil nun nachhaltige FamiHenpoHtik ansetzen und durch eine Kombination unterschiedlicher Leistungen und Anreize die Geburtenzahlen auf das „Niveau" der Kinderwiinsche erhohen. Auch die GroBe Koalition 2005 brachte keinen Umschwung - Frauen- und Gleichstellungspolitik wird als fiinfter Punkt im Koalitionsvertrag dem Oberthema „Familienfreundliche Gesellschaft" untergeordnet. Die neue Ministerin verfolgt mehr oder weniger die politische Linie ihrer Vorgangerin weiter und konzentriert sich stark auf die familienfreundliche Gesellschaft, zudem mit ahnlichen Schwerpunkten: Appelle an Untemehmen, Gutachten und Studien. Dariiber hinaus ftihrt sie den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen fort und das Eltemgeld ein. 12

3.

Deutschland im europdischen Vergleich

Wo steht nun die Bundesrepublik im europaischen Vergleich? Ausgehend von der Typologie der Kinderbetreuungsregimes von Letablier/Jonsson (2003) wird im Folgenden betrachtet, wie sich ftinf exemplarische Lander anhand ausgewahlter Indikatoren prasentieren. Die Typologie orientiert sich am Konzept zur Deskription von Wohlfahrtsstaaten (Esping-Andersen 1990). Die Geschlechterfor-

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Exemplarisch fur den Fokus auf Kinderbetreuimg steht das Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG), das zum 1. Januar 2005 in Kraft trat. Das TAG beinhaltet eine quantitative Komponente von 230.000 zusatzlichen Kindergarten-, Krippen- und Tagespflegeplatzen sowie als qualitative Komponente die Mhe Forderung von Kindem. Zur Ausgestaltung und den Inhalten des Eltemgelds siehe Intemetseiten des BMFSFJ (http://www.bmfsfi.de/Politikbereiche/familie,did=76706.html).

Erwerbsarbeit und Eltemschaft

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schung hat diese Typologie iiberarbeitet und kommt anhand der Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zu folgenden Modellen (beispielsweise PfauEffinger2000):l3 •

Traditionelles Emahrermodell {male breadwinner model) Der Ehemann ist als Alleinverdiener zustandig fiir die finanzielle Sicherung der Familie und (nahezu) vollstandig frei von familiaren Verpflichtungen. Die Ehefrau leistet die unbezahlte Haus- und Familienarbeit.

•

Modemisiertes Emahrermodell {modernized breadwinner model) Der Ehemann ist als Hauptverdiener zustandig fiir die finanzielle Sicherung der Familie und weitgehend frei von familiaren Verpflichtungen. Die Ehefrau leistet die unbezahlte Haus- und Familienarbeit und erwirtschaftet einen Zusatzverdienst in Teilzeit oder Minijob.

•

Egalitares Modell {adult worker model) Beide Partner sind zu etwa gleichen Teilen erwerbstatig. Haus- und Familienarbeit wird (meist noch nicht zu gleichen Teilen) geteilt.

Jedes der Modelle birgt Implikationen fiir die Konzeption und Ausgestaltung von Politik, insbesondere Sozial- und Familienpolitik. Eine Sozialpolitik, die auf ein egalitares Modell abzielt, tendiert deutlich starker zu individualisierten Anreizen als Konzepte, die den Familienemahrer fordem. In den fiinf Kinderbetreuungsregimes in Europa, die Letablier/Jonsson (2003) unterscheiden, kommen diese drei Modelle der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtem zum Tragen (vgl. auch Wroblewski/Leitner 2005). Das nordeuropaische Modell zielt ab auf Chancengleichheit der Geschlechter und impliziert in dieser Konzeption, dass die Durchsetzung von Gleichberechtigung eine staatliche Aufgabe ist. Aus diesem Staatsverstandnis leitet sich dann auch die Verantwortung des Staates fiir Kinderbetreuung ab. Das Famili-

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Zu Erwerbsmustem von Frauen und Mannem und unterschiedlichen Betreuungsarrangements siehe Lewis (2003: 37f.). Eine weiter gehende Definition von Geschlechtergerechtigkeit, bezogen u.a. auf die Verteilung von Erwerbsarbeit und Betreuungsarbeit, findet sich bei Eraser (2001). Im Modell der allgemeinen Erwerbstatigkeit arbeiten Frauen wie Manner in bezahlter Erwerbsarbeit. Frauen gleichen ihre RoUe an die der Manner an. Fraglich und problematisch bleibt in diesem Modell die Verteilung der unbezahlten Arbeit. Im Modell der Gleichstellung der Betreuungsarbeit findet eine Gleichstellung von Sorgearbeit mit Erwerbsarbeit, verbunden mit einer Entlohnung, statt. Ungeklart bleibt, wie die Hierarchisierung zwischen Erwerbs- und Sorgearbeit aufgehoben werden kann. Eine starkere Integration von Mannem in Betreuungsarbeit lasst sich allerdings nur durch ein drittes Modell, das der universellen Betreuungsarbeit, erreichen, was mit weit reichenden Andemngen der Arbeitsorganisation verbunden ware.

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Christiana Lindecke

enmodell dieser Lander entspricht dem adult worker model, sodass soziale Rechte individualisiert sind. Das franzdsische Modell setzt ebenfalls auf ein groBes staatliches Engagement in der Kinderbetreuung, aber basierend auf einer Tradition des Schutzes von Mutter und Kind. Die franzosische Auspragung von Familienpolitik ist charakterisiert durch eine starke pronatalistische und damit demographische Zielstellung. Kinderbetreuung stellte sich als Aufgabe dar, die Staat und Mutter teilten, die Vater waren iiberwiegend aus der Verantwortung entlassen. Seit den 1990er Jahren sollen nun Vater verstarkt in Familienverantwortung eingebunden werden. In GroBbritannien gait die Regelung der Kinderbetreuung und damit der Vereinbarkeit von Familie und Bemf lange Zeit als Privatangelegenheit, die in der Familie organisiert wurde. Deutlich zeigt sich dies in der extrem ungleichen Arbeitszeitdauer von Frauen und Mannem (Bielenski et al. 2002). Seit Ende der 1990er Jahre zielt die staatliche Politik GroBbritanniens darauf ab, Eltem bessere Mdglichkeiten zur Vereinbarkeit zu schaffen. Ahnlich wie in GroBbritannien sieht auch Deutschland Kinderbetreuung als Privatangelegenheit, allerdings als Verantwortung der Mutter. Anreizsysteme in der Sozialversichemng und im Steuersystem fordem eine geringere Arbeitsmarktpartizipation von Frauen und eine geschlechterhierarchische Arbeitsteilung. Mutterschaft bedeutet fur Frauen in Westdeutschland haufig Ausstieg aus Erwerbsarbeit und Riickkehr auf Teilzeit; in Ostdeutschland hingegen arbeiten auch Frauen mit Kindem Vollzeit oder streben eine Vollzeitstelle an. Seit Ende der 1990er Jahre richtet sich die Politik starker am modemisierten Familienernahrermodell aus und fokussiert Verbesserungen der Vereinbarkeit von Familie und Bemf Die Bundesrepublik lasst sich charakterisieren als konservativer Wohlfahrtsstaat mit einer ausgepragten Orientierung der Sozialpolitik am Modell des mannlichen Familienemahrers, allerdings in der modemisierten Variante. Im mediterranen Modell sieht sich der Staat als „Nothilfe" fur Kinderbetreuung. Traditionell ist die Erziehung und Betreuung von Kindem Aufgabe der Familie, sodass der Staat nur in den Fallen tatig wird, in denen die Familie dieser Aufgabe nicht nachkommt. Die Kinderbetreuung in diesen Landem ist ein rein „weibliches Thema" - Frauen versorgen die Kinder. Erwerbstatigkeit von Miittem wird moglich durch Riickgriff auf GroBmiitter, Schwestem, Tanten oder andere Frauen im Familienkreis, Manner sind aus dieser Verantwortung entlassen. Die fiinf Lander, die Letablier/Jonsson (2003) exemplarisch fur ihre Typologie nennen, stehen im Blickpunkt der folgenden Betrachtung (siehe Tabelle 1). Einerseits konkretisiert die Untersuchung die Typologie, indem sie die offentliche Kinderbetreuung betrachtet, andererseits werden dariiber hinausgehende Faktoren wie die Erwerbsquoten und Arbeitszeiten herangezogen, um Indizien fiir die Wirkung der jeweiligen Politikkonzepte herauszuarbeiten.

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Erwerbsarbeit und Eltemschaft

Kinderbetreuungsregime

Charakteristika

Landerbeispiel

Gleichberechtigung und Kinderbetreuung als staatliche Aufgabe (nordeuropaisch)

• Wandel des Familienmodells mit mannlichem Emahrer hin zu zwei gleichberechtigten Eltemteilen • Individualisierung sozialer Rechte: individualisierte Geldleistungen und soziale Dienstleistungen statt Steuervergiinstigungen • Integration des Gleichberechtigungsgrundsatzes in Familien-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik • Hohe Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen • Modell der geteilten Eltemschaft

Schweden

Kinderbetreuung im Zusammenspiel von Familienpolitik, Bevolkerungspolitik und republikanischen Erziehungsidealen

• Staatliches Engagement in Kinderbetreuung und Familienfbrderung basiert auf Tradition des Schutzes von Miittem und Kindem • Kinderbetreuung als staatliches Engagement fur Erziehung, Gesundheit und Wohlergehen des Kindes • Demographische Komponente • Seit 1990er Jahren Versuch, Vater starker in Verantwortung zu bringen

Frankreich

Kinderbetreuung als Privatangelegenheit

• Staatliche Unterstiitzung zur Betreuung von Kindem beschrankt sich auf Minimum • Kinderbetreuung ist ,^gelegenheit" der Familie, vor allem der Mutter • Mutter gelten als Zuverdienerinnen (Teilzeit, befristete oder flexible Arbeitsvertrage) • Seit 1998 Politikwechsel mit Ziel, Eltem bessere Vereinbarkeit von Familie imd Beruf zu ermoglichen

GroBbritannien

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Christiane Lindecke

1 Kinderbetreuung als Verantwortung der Mutter

Kinderbetreuung als Angelegenheit von Familie und Verwandtschaft (mediterran)

Tabelle 1:

• Koppelung an konservatives Wohlfahrtsregime und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung • Sozialversicherung basiert auf geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung • Als Sozialisationsinstanz gilt primar die Familie • Eltemurlaub orientiert sich an Familie, nicht an Erwerbstatigkeitschancen fur Miitter • Mutterschaft bedeutet temporaren Riickzug aus Erwerbsarbeit und Riickkehr aus Teilzeit (Westdeutschland); in Ostdeutschland herrscht Ideal der in Vollzeit berufstatigen Mutter weiterhin vor • Tendenzielle Veranderungen im Familienleitbild und daraus resultierender Politik • Sozialisation von Kindem ist traditionell Aufgabe der GroBfamilie; Staat greift erst dann ein, wenn die Familie ihre Aufgabe nicht erfiillen kann • Familiensolidaritat zwischen Generationen und Frauen • Gerechte Verteilung der Betreuungsaufgaben ist weder fiir Manner noch den Staat ein Thema • Weibliche Erwerbstatigkeit wird moglich durch Hilfe von weiblichen Verwandten oder Tagesmiittem

Deutschland

Spanien

Kinderbetreuungsregimes

Quelle: Letablier/Jonsson (2003: 88ff.).

Als erstes stellt sich die Frage, wie die staatliche Kinderbetreuung in den fiinf Landem organisiert ist. Ein Blick auf die Betreuungsraten gibt bereits Hinweise auf die unterschiedlichen Konzepte und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Chancen fiir Menschen mit Familienaufgaben, erwerbstatig zu sein (siehe Tabelle 2).

Erwerbsarbeit und Eltemschaft

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Schweden bietet fiir 48 Prozent der Kinder unter drei Jahren Betreuungsmoglichkeiten, Spanien hingegen nur fur fiinf Prozent. Die Bundesrepublik liegt auf dem vorletzten Platz, da nur jedes zehnte Kind unter drei Jahren durch institutionelle Betreuung erreicht wird. Hier schlagt sich u.a. das Konzept der Eltemzeit nieder, das eine bis zu dreijahrige Freistellung vorsieht (s. Bothfeld et al. 2005). Die irrige Annahme lautet: Wenn ein Eltemteil (meist die Mutter) die Moglichkeit hat, sich fur drei Jahre zur Betreuung freistellen zu lassen - bei Arbeitsplatzgarantie -, dann kann sich der Staat im Gegenzug aus der offentHchen Betreuung ftir diese Altersgruppe zuriickziehen.

Schweden Frankreich England Deutschland Spanien

Prozentsatz der Kinder im Vorschulalter, die durch formale Betreuungseinrichtungen erreicht werden* Jahr unter 3 Jahre von 3 Jahren bis zum Einschulungsalter 48 1998 80 29 1998 99 34 60 2000 10 78 2000 84 5 2000

Offhungszeiten in Stunden 11,5 8 8 4 8

* Erfasst sind: Kinderbetreuungseinrichtungen (teilweise Teil des Bildungssystems), wohnortnahe Betreuung, z.B. durch Dienste fur behinderte Kinder,regelmaBigeBetreuung durch Tagesmiitter Oder Betreuungspersonen (nicht FamilienmitgHeder), die standig in den Famihen leben.

Tabelle 2:

Kinderbetreuung im Vergleich

Quellen: OECD (2001: 144); de Henau et al. (2004).

Deutlich mehr Kinder werden durch institutionelle Betreuungseinrichtungen erreicht, wenn sie das dritte Lebensjahr vollendet haben. Schweden fiihrt auch hier wieder mit einer Quote von 99 Prozent, Spanien liegt iiberraschenderweise auf dem zweiten Platz und GroBbritannien mit 60 Prozent auf dem letzten Platz. In der Bundesrepublik wie in den anderen Landem auch liegt der Prozentsatz der Kinder, die durch institutionelle Betreuungseinrichtungen erreicht werden, fiir die Kinder von drei Jahren bis zur Einschulung deutlich hoher als fiir die Kinder unter drei Jahren. Im Vergleich der fiinf Lander jedoch belegt die Bundesrepublik nur den vorletzten Platz. Bezogen auf die Betreuungsraten also ist die Situation in der Bundesrepublik im Bereich der unter Dreijahrigen noch deutlich verbesserungswiirdig - hier soil das Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) greifen -, aber fiir altere Kinder erreicht Deutschland eine relativ gute Quote. Eine nahere Betrachtung allerdings

126

Christiane Lindecke

verdeutlicht, dass die Betreuungsquoten nur eine Seite der Medaille sind. De Henau et al. (2004) betrachteten in ihrer Untersuchung neben den Betreuungsraten auch die Offnungszeiten der Einrichtungen. Hier fallt Schweden mit 11,5 Stunden positiv auf; Deutschland liegt mit vier Stunden auf dem letzten Platz. Fiir Eltem in der Bundesrepublik stellen sich durch diese kurzen Offnungszeiten die Altemativen: Betreuungspersonen suchen oder Teilzeit arbeiten. Das Angebot an Kinderbetreuung ist ein wesentlicher Faktor dafiir, dass Frauen nach der Geburt entweder aus der Erwerbsarbeit aussteigen oder ihre Arbeitszeit reduzieren. Offnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen, die erheblich kiirzer sind als die Vollerwerbsarbeitszeit, stellen Menschen mit Betreuungsaufgaben vor erhebliche Organisationsherausforderungen. Eine Losung liegt in der Anpassung oder Harmonisierung der eigenen Arbeitszeiten an die bzw. mit den Offnungszeiten der Kinderbetreuungseinrichtungen. Pointiert formuliert: Je kiirzer die Offnungszeiten von Kinderbetreuungsinstitutionen, desto wahrscheinlicher ist eine individuelle Reduzierung der Arbeitszeit der Betreuungspersonen, sprich: Teilzeitl^ von Frauen mit Kindem. Deutlich zeigt sich dieser Zusammenhang, wenn man die Teilzeitquote als Indikator betrachtet (siehe Tabelle 3).

Schweden Frankreich GroBbritannien Deutschland Spanien

Tabelle 3:

Frauen Keine Ein Kind Zwei und Kinder mehr Kinder 22,2 14,6 16,7 20,0 23,7 31,8

17,9 23,7

Manner Kein MindesKind tens ein Kind 5,2 3,4 5,2 3,6

23,7

46,6

62,8

38,6

4,1

3,2

3,7

24,0

45,3

60,2

35,2

4,2

2,3

3,4

13,7

17,4

18,6

15,3

2,6

1,2

1,9

Insgesamt

Insgesamt 4,3 4,4

Teilzeitquoten nach Geschlecht und Vorhandensein von Kindem, 2000 (Personen im Alter von 25-54 Jahren)

Quelle: OECD (2002).

14

Auf die Motive und Ursachen von Teilzeit sowie auf die Frage unfreiwilliger Teilzeit kann hier nicht weiter eingegangen werden. Naheres vgl. Bothfeld et al. (2005: 138ff); siehe auch den Beitrag von Schick in diesem Band.

127

Erwerbsarbeit und Eltemschaft

Fiir Deutschland steigt die ohnehin recht hohe Teilzeitquote von 24 Prozent fiir Frauen ohne Kinder deutlich an, sobald ein Kind „vorhanden" ist. Bei Miittem mit einem Kind liegt sie bei 45,3 Prozent, mit zwei und mehr Kindem bei 60,2 Prozent - nur GroBbritannien weist hdhere Teilzeitquoten von Miittem auf. In Schweden und Frankreich sind die Veranderungen der Teilzeitquoten fiir Frauen mit Kindem deutlich geringer. Ein Flinftel der Frauen ohne Kinder in Frankreich arbeitet Teilzeit, und rund 32 Prozent der Frauen mit zwei und mehr Kindem reduziert die Arbeitszeit. Fiir alle Lander zeigt sich die Tendenz, dass mit wachsender Kinderzahl im Haushalt ein Anstieg der Teilzeitbeschaftigung einhergeht. Auf den ersten Blick verwundem die Ergebnisse fiir Spanien. Spanien ist das Land mit der niedrigsten Teilzeitquote der fiinf untersuchten Lander, sowohl fiir Frauen ohne Kinder als auch fiir Frauen mit zwei und mehr Kindem. Neben der bereits angefiihrten Betreuungsorganisation, die auf GroBfamilien und Verwandtschaften setzt, schlagt sich hier auch die (vergleichsweise) geringe Zahl erwerbstatiger Frauen in Spanien nieder (s. Tabelle 4). Erwerbstatigenquoten, VoUzeitaquivalente und Teilzeitquoten von Frauen und Mannern im Alter von 15 bis 65 Jahren, Europaische Union 2003 Erwerbstatigenquoten Frauen Schweden Franla-eich GroBbritannien Deutschland Spanien

VoUzeitaquivalente

Teilzeitquoten Manner

Manner Frauen

in Prozent 74,2 71,5 56,7 68,9 65,3 78,1 58,8 70,6 73,2 46,0

Frauen

in Prozent 63,0 50,2 50,7 46,2 41,8

72,3 67,2 74,0 68,9 72,5

35,5 29,8 44,0 45,1 16,8

Manner in Prozent 11,2 5,4 9,9 6,0 2,6

j

1 VoUzeitaquivalente - Daten aus 2002. 2 Erwerbstatigen- und Teilzeitquoten aus 2002.

Tabelle 4:

Erwerbsbeteiligung im Vergleich

Quelle: Bothfeld et al. (2005).

Bei den Erwerbstatigenquoten fiihrt ebenfalls wieder Schweden, die Quoten von Frauen (71,5 Prozent) und Mannem (74,2 Prozent) unterscheiden sich nur unwesentlich. Wenn man allerdings die Erwerbstatigenquote umrechnet in VoUzeitaquivalente, schlagt sich auch fur Schweden der hohe Anteil weiblicher Beschaf-

128

Christiane Lindecke

tigter in Teilzeitarbeit nieder. Das Gender Gap, die Differenz zwischen der Beschaftigung von Frauen und Mannem, steigt an auf 9,3 Prozentpunkte. Der Gender Gap zwischen den Vollzeitaquivalenten liegt allerdings bei den vier anderen betrachteten Landem noch deutlich iiber der schwedischen „Geschlechterlucke". In GroBbritannien und der Bundesrepublik erreicht die Differenz deutlich mehr als 20, in Spanien sogar mehr als 30 Prozentpunkte. Zusammengefasst: Schweden ist - wie erwartet ~ das Land mit der besten Kinderbetreuung und auch das Land, in dem die Beschaftigungsquoten von Frauen und Mannem sich am wenigsten unterscheiden, die Bundesrepublik liegt eher im Mittelfeld, bei den Offnungszeiten der Kinderbetreuungseinrichtungen sogar deuthch abgeschlagen auf dem letzten Platz.

4.

Fazit: Ohne Gleichstellungsorientierung keine erfolgreiche Bevolkerungspolitik

So stellt sich, zusammengefasst, die Situation von Frauen in der Bundesrepublik dar: Sobald Kinder kommen, steht die Arbeitsmarktpartizipation von Frauen wieder zur Disposition. Das in den 1950er Jahren propagierte Drei-PhasenModell (Myrdal/Klein 1956) scheint - jedenfalls fiir den Westen der Bundesrepublikl5 - weiterhin das favorisierte und gelebte Modell zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sein. Allerdings verkiirzt sich die Familienphase, und der Anteil von Frauen, die durch Teilzeitarbeit Beruf und Familie verbinden, steigt (siehe Bothfeld et al. 2005). So kommt auch eine Untersuchung, die Deutschland und Schweden vergleicht, fiir die Bundesrepublik zu folgendem Fazit: „Zusammenfassend stehen deutsche Familien bzw. potenzielle Eltem in Deutschland im Spannungsfeld zwischen Beruf und Familie, was meist zu Lasten der Chancengleichheit der Frau geht, da sie in den meisten Fallen die Kanderbetreuung bis zum Kindergartenalter zu Hause iibemimmt." (Kiihn/Palme 2005: 3) Nun zur Frage der Demographic: Lasst sich ein Zusammenhang zwischen Kinderbetreuungsmdglichkeiten, Frauenerwerbsbeteiligung und Geburtenzahl aufzeigen, und - falls ja - in welche Richtung weisen die Ergebnisse des Landervergleichs? Frankreich mit seiner Tradition einer pronatalistischen Familienpolitik ist im Vergleich der funf Lander aktuell (2003) das Land mit der hochsten Geburtenrate (1,89). Schweden liegt - allerdings gemeinsam mit GroBbritannien - auf

15

Fiir Ostdeutschland stellt sich die Situation deutlich anders dar: einerseits durch die Tradition der Vollzeiterwerbstatigkeit auch von Frauen mit Kindem, die weiterhin nachwirkt, andererseits eine hohere Kinderbetreuungsdichte (Bothfeld et al. 2005).

Erwerbsarbeit und Eltemschaft

129

dem zweiten Platz. Schweden ist das einzige der hier betrachteten fiinf Lander, das einen leichten Zuwachs bei den Geburtenziffem zwischen 1980 und 2003 aufweist. Deutlich abgeschlagen folgen die beiden Lander mit dem traditionellsten Familienleitbild: Deutschland und Spanien, deren Geburtenziffem im Zeitverlauf deutlich gesunken sind.

Spanien

^

Deutschland

Grofibritannien

Frankreich

Schweden

3,5

Abbildung 1: Zusammengefasste Geburtenziffem im Vergleich 2003, 1980 und 1960 Quellen: Eurostat; Bothfeld et al. (2005, CD-ROM).

Zugespitzt zeigt sich, dass die Geburtenrate in den Landem am niedrigsten ist, die auf eine Politik der Alleinverantwortung yon Frauen setzen und Vater und Staat als Randakteure im Handlungsfeld Vereinbarkeit von Familie und Bemf betrachten. Das Beispiel GroBbritannien allerdings verdeutlicht, dass sich kein eindeutiger, monokausaler Zusammenhang aus den Daten herleiten lasst - jedenfalls nicht in positiver Hinsicht, so wie es politisch geme propagiert wird.

130

Christiane Lindecke

Schweden scheint am erfolgreichsten mit seiner Politik zu sein, also gibt das deutsche Ministerium Expertisen zu einzelnen schwedischen familienpolitischen Instrumenten in Auftrag und hofft, dass ein Transfer dieser Mafinahmen auch in der Bundesrepublik zu einer Steigerung der Geburtenrate fiihren wird. Nun zeigen Erfahrungen mit dem Transfer einzelner politischer Instrumente, dass man die Wirkungsweise von MaBnahmen nicht abgetrennt vom politischen System, in dem sie entstanden und in dem sie wirken sollen, betrachten kann. Die Einfiihrung von Eltemgeld in Schweden war und ist Teil einer Politik, die auf Chancengleichheit der Geschlechter setzt und Frauen und Mannem eine gleichberechtigte Arbeitsmarktpartizipation ermoglichen will. In der Bundesrepublik hingegen wird Eltemgeld vor dem Hintergrund einer Konzeption des modemisierten Familienemahrers eingefuhrt, in einem Land, das als einziges in Europa den Begriff und das „Konzept" der Rabenmutter kennt. In einem Land, in dem Frauen sich dafur rechtfertigen miissen, wie sie leben (vgl. Limbach 2004: 54). Und in einem Land, in dem die staatliche Politik weiterhin starke Anreize fiir einen Familienemahrer mit dazuverdienender Ehefrau bietet. Was sich von Schweden und den nordeuropaischen Landem insgesamt am positiven Beispiel und im Gegenzug von mediterranen Landem am negativen Beispiel lemen lasst, ist, dass eine Politik, die auf traditionelle Rollenverteilung und das Familienemahrermodell setzt, bevolkerungspolitisch nicht. erfolgreich ist. Erst die Kombination von familienpolitischen MaBnahmen, insbesondere zur offentlichen Kinderbetreuung, mit einem weiter reichenden Ansatz zur gleichberechtigten Integration von Frauen in Erwerbsarbeit und zur Fordemng der Chancengleichheit von Frauen und Mannem 16 kann perspektivisch dazu beitragen, die Geburtenziffem auch in der Bundesrepubhk auf das politisch gewiinschte MaB zu erhohen.

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16

Auch Untersuchungen zu familienfreundlichen MaBnahmen auf Betriebsebene zeigen, dass nur die familienpolitischen MaBnahmen langfristig erfolgreich sind, die Familienpolitik und Gleichstellungspolitik verbinden (Botsch et al. 2006).

Erwerbsarbeit und Eltemschaft

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Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein Problem fiir Manner? Familie und Lebensverlaufsplanung bei Mannern Michael Meuser

„Kinder bekommen die Leute immer", war vor einem halben Jahrhundert der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer iiberzeugt. Diese vermeintliche Gewissheit ist gnindlich zerstort. Vielmehr wird die Tatsache, dass hierzulande die Leute immer weniger Kinder und immer weniger Leute Kinder bekommen, in jiingster Zeit verstarkt als ein gesellschaftliches und politisches Problem thematisiert. Der aktuelle Fertilitatsdiskurs hat allerdings eine eigentiimliche Schlagseite. Der Blick richtet sich ganz iiberwiegend auf die Frauen und deren Fertilitatsverhalten. Diese Schlagseite ist fur die Thematisierung von Familienfragen freilich alles andere als ungewohnlich. In ahnlicher Weise wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bis in die Gegenwart hinein fast ausschlieBlich als eine die Frauen, nicht aber die Manner betreffende Frage diskutiert. Das gilt fiir den politischen wie fiir den medialen Diskurs, vor allem aber dokumentiert sich dies in der institutionellen Praxis von Organisationen. Wo die Vereinbarkeitsproblematik iiberhaupt als ein relevanter Topos der Personalpolitik wahrgenommen und anerkannt wird, erfolgt in der Regel eine institutionelle Zurechnung der Zustandigkeit fiir Vereinbarkeit an die Frauen. Entsprechende Programme und Mafinahmen sind mit wenigen Ausnahmen an die weiblichen Organisationsmitglieder adressiert. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem Stellenwert, den die Familie in der Lebensplanung von Mannern und fiir die Konstruktion von Mannlichkeit hat, und stellt vor diesem Hintergrund die Frage, ob und inwieweit Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch ein Thema der Manner und Vater ist. Empirische Basis meiner Ausfiihrungen sind u.a. Forschungen zur sozialen Konstruktion von Mannlichkeit aus der Mitte der 1990er Jahre (Meuser 1998), zum anderen eine jiingere Studie iiber die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei Doppelkarrierepaaren (Behnke/Meuser 2003a, 2003b, 2005).

136

1.

Michael Meuser

Die Abwesenheit der Vdter in der Familienforschung

Das empirische Wissen iiber die soziale Praxis von Vaterschaft ist eher diirftig. Die in der familien- und geschlechterpolitischen Diskussion iiber Vaterschaft vielfach beklagte Absenz der Vater in der Familie korrespondiert mit einer weitgehenden Abwesenheit der Vater in der Familienforschung. Ein unlangst erschienenes Sonderheft der Zeitschrift fiir Familienforschung bezeichnet die Manner als „das 'vemachlassigte' Geschlecht in der Familienforschung" (T61ke/Hank 2005). Angesichts einer „insgesamt sparHchen famihensoziologischen Literatur iiber Manner" (Hank/Tolke 2005: 10) stehe selbst zu derart grundlegenden Fragen wie der nach dem Verhaltnis von Berufskarriere und FamiHengriindung oder der nach den Determinanten mannHchen Kinderwunsches nur sehr wenig empirisch fundiertes Wissen zu Verftigung. Generell fehlen, wie Ilona Ostner (2005: 46) bemerkt und moniert, ,JPrimardaten zu Vaterschaft und Vatersein". Diese Einschatzung betrifft nicht nur die FamiHenforschung hierzulande (Forste 2002). Aus geschlechtersoziologischer Perspektive lasst sich die - im Vergleich mit Mutterschaft - seltene Forschung zu Vaterschaft zum einen als Ausdruck der gesellschaftlichen „Feminisiemng" von FamiHe begreifen, also als eine wissenschaftliche Verdopplung der in der geschlechtlichen Arbeitsteilung vollzogenen Zuweisung der Familiensphare an die Frauen.l Zum anderen dokumentiert sich hierin aber auch ein typischer Bias der Frauen- und Geschlechterforschung, in der der Blick auf die weibliche Seite des Geschlechterverhaltnisses bis heute die Forschungsagenden dominiert. Doch selbst in den men's studies hat Vaterschaft bislang den Status eines Randthemas (Lupton/Barclay 1997:3f.; Matzner 2004: 15). Auch dies ist vor dem Hintergrund der geschlechtsexklusiven Zuweisung der Spharen von Familie und Beruf, von Privatheit und OffentHchkeit zu sehen. Wenn wir mit Pierre Bourdieu (1997: 203) - berechtigterweise - davon ausgehen, dass Mannlichkeit sich in den „emsten Spielen des Wettbewerbs" konstituiert, welche die Manner unter sich austragen, wenn Mannlichkeit also, wie Michael Kimmel (1996: 7) konstatiert, primar eine homosoziale Angelegenheit ist (vgl. hierzu Meuser 2003), dann wird die Randstandigkeit des Vaterschaftsthemas in den men's studies nachvollziehbar. Gleichwohl ist Vaterschaft mehr als eine Marginalie im Lebenslauf von Mannem, und es zeichnet sich ein

1

In der empirischen familiensoziologischen Forschung dokumentiert sich dies u.a. darin, dass eine Vielzahl famiUensoziologischer Surveys auf einer Befragung von Frauen basieren (Forste 2002; Rapoport/Rapoport 1982: 38). Die Forschung ubemimmt damit implizit die gangige kulturelle Codierung von FamiHe als Zustandigkeitsbereich der Frau.

Vereinbarkeit von Beruf und Familie - ein Problem fiir Manner?

137

Wandel des gesellschaftlichen Leitbilds von Vaterschaft ab, welcher den Stellenwert dieses Bereichs der sozialen Existenz von Mannem verandem wird.

2.

Vaterschaft zwischen tradierten Mustern und neuen Anspruchen

Die geschlechter- und familiensoziologische Forschung scheint zu beginnen, dem Rechnung zu tragen. In jiingster Zeit ist - neben dem erwahnten Sonderheft der Zeitschrift fiir Familienforschung - eine Reihe von Biichem und sonstigen Arbeiten erschienen, die zeigen, dass sich eine wissenschaftliche Vaterforschung zu entwickeln beginnt.2 Auf dem Sachbuchmarkt der Ratgeber-, Verstandigungs-, Zeitschriften- und popularwissenschaftlichen Literatur hat das Thema der Vaterschaft schon langer eine gewisse Konjunktur. Wir kdnnen eine verstarkte Produktion eines diskursiven Vaterschaftswissens beobachten. In beiden Vaterschaftsdiskursen, dem wissenschaftHchen wie dem popularen, die sich bisweilen iiberschneiden, entsteht ein neues Vaterbild. Genauer gesagt, es entsteht eine Mehrzahl neuer Vaterbilder, die zumindest eines gemeinsam haben: Wie auch immer der neue Vater aussieht oder aussehen soil, negativer Gegenhorizont ist das tradierte Modell des Vaters als Emahrer der Familie.

2.1 Die Verankerung von Vaterschaft in der BemfsroUe Dieses Modell lasst sich immer noch am besten mit Rekurs auf die familiensoziologischen Arbeiten Talcott Parsons' beschreiben. Mit Bezug auf die von ihm in seiner allgemeinen Handlungstheorie formulierten „pattem variables" bestimmt Parsons die als komplementar konzipierten Rollen des Vaters und der Mutter entlang der Achse instrumentell-adaptiv vs. expressiv-integrativ. Dem Vater kommt die Funktion der instrumentellen Fiihrerschaft („instrumental leader") in der Familie zu, und dies hat seinen Grund darin, dass in der modemen Gesellschaft die BemfsroUe des Mannes ein zentraler Teil seiner Familienrolle ist (Parsons/Bales 1955). Wahrend die erwachsene weibliche Geschlechtsrolle primar in den intemen Angelegenheiten der Familie fundiert und durch die Merkmale „wife, mother and manager of the household" definiert ist, ist die

Einen guten Uberblick iiber den Stand der sozialwissenschaftlichen Vaterforschung im deutschsprachigen Raum bietet ein von Heinz Walter (2002) herausgegebener Band. Eine empirische Vaterforschung wird u.a im Bamberger Staatsinstitut fiir Familienforschung betrieben (Obemdorfer/Rost 2002; Vaskovics et al. 2000). Im Schnittpunkt von Familienforschung und FamiHenpolitik liegen die Arbeiten von Wassilios Fthenakis (Fthenakis et al. 1999; Fthenakis/Minsel 2002).

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erwachsene mannliche Rolle in der Berufswelt verankert: „in his job and through it by his status-giving and income-earning functions for the family" (ebd.: 14f). An dieser, der bekannten Separierung der Spharen von Produktion und Reproduktion folgenden Geschlechtsrollenbestimmung ist bemerkenswert, dass in der Definition der erwachsenen weiblichen Geschlechtsrolle Mutterschaft als ein Bestimmungselement exphzit angefiihrt, bei der Beschreibung der erwachsenen mannlichen Geschlechtsrolle Vaterschaft hingegen nicht erwahnt wird. Dies lasst sich so lesen, dass Eltemschaft in dem einen Fall, bei der Frau, als eine soziale Praxis verstanden wird, namlich die der Betreuung und Erziehung der Kinder, in dem anderen Fall, beim Mann, als ein sozialer Status, der durch die auBerfamihalen, beruflichen Aktivitaten gewonnen wird. Die Frau wird der Mutterrolle durch „mothering" gerecht, ein „fathering" ist als Teil der Vaterrolle nicht vorgesehen. Innerhalb der Familie ist der Vater fiir Parsons in seiner Funktion als „Vatersymbol" bedeutsam. Hierin erlangt er Bedeutung fur die Geschlechtsrollensozialisation der Kinder. Dies geschieht dadurch, dass seine mannliche Rolle anders als die weibliche Rolle der Mutter - iiber die Grenzen der Familie hinausweist. Der Vater ist „als Mann mit besonderer Beziehung zu seiner Rolle auBerhalb der Familie und zu den kulturellen Werten, die er hinsichtlich extrafamiliarer Angelegenheiten vertritt, der entscheidende Mittelpunkt fiir das Kind" (Parsons 1968: 62). Diese Bedeutung erlangt der Vater jedoch weniger durch „fathering", also nicht durch eine spezifische Weise der Zuwendung zum Kind, sondem zuallererst dadurch, dass er die AuBenwelt (symbolisch) reprasentiert. Es ist gewiss kein Zufall, dass der einschlagige Aufsatz von Parsons den Titel „Das Vatersymbol" tragt. Parsons' Ausarbeitungen des Begriffs der Geschlechtsrolle lassen ein Konzept von Mannlichkeit und Vaterschaft erkennen, das diejenigen Eigenschaften, die bei dem amerikanischen „middle class"-Mann der 1950er Jahre (Angestellter und Vater in einer Kleinfamilie mit nichtberufstatiger Mutter) zweifelsohne typischerweise zu beobachten gewesen sind, zu transhistorischen und transkulturellen Attributen der mannlichen Geschlechtsrolle hypostasiert. Das sind im Einzelnen: eine universalistische Orientierung, affektive Neutralitat, instrumentelle Zielverfolgung, Betonung von Leistung. Seine Ausfiihrungen reflektieren in gewisser Hinsicht eine gesellschaftliche Praxis, versaumen es aber, diese Praxis als eine gesellschaftliche zu benennen, d.h. zu beriicksichtigen, dass sie wie jede Praxis kontingent ist. Allerdings handelt es sich um eine Praxis, die sich durch eine erstaunliche Persistenz auszeichnet. Die folgende Sequenz aus einer Mitte der 1990er Jahre gefiihrten Gruppendiskussion mag dies schlaglichtartig verdeutlichen (Meuser 1998: 198): „Dass doit, wo ich als mannliches Wesen geboren werde, und dort, wo man in reifen Jahren eine Verbindung mit 'nem weiblichen Wesen eingeht, dass man im Gmnde genommen sehr viel

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mehr Verantwortung tragt als die Frau und damit von Hause aus, von der Geburt derjenige ist, der verantwortlich ist fiir tJberleben oder Leben. Oder dort, wo ich Familie griinde, verantwortlich zu sein fur die Familie. (...) Du bist eigentlich derjenige, wenn du nachher deinen Bemf hast, du bist dazu verdonnert. Geld verdienen zu miissen, und wenn du dem andem Geschlecht nicht abhold bist und du willst 'ne Familie griinden, dann bist du fur die Frau verantwortlich, dann bist du fiir, wenn Kinder kommen, fur die Kinder verantwortlich, du bist eigentlich derjenige, der von A bis Z, wenn du deine schulische Ausbildung genossen hast, immer arbeiten gehen muss."3

Vaterschaft gehort hier ganz selbstverstandlich zur geschlechtlichen Selbstidentifikation des Mannes - zu einer Selbstidentifikation gemafi dem Modell der hegemonialen Mannlichkeit. Die Fertilitatsfrage kann hier nicht zum Problem werden. Vaterschaft ist diesem Verstandnis zufolge keine Frage der Wahl, sondem zentrales Element hegemonialer Mannlichkeit. Es ist dieses traditionelle Deutungsmuster, in dem, zumindest was die Manner betrifft, die Selbstgewissheit der eingangs zitierten Einlassung Adenauers fiindiert ist. In diesem Zusammenhang ist eine amerikanische Studie iiber die Einstellung junger Manner zu einer potenziellen Vaterschaft aufschlussreich. Junge Manner mit einer traditionellen Geschlechtsrollenorientierung begreifen eine prospektive Vaterschaft (verstanden als Zeugung von Nachwuchs) als eine Bekraftigung ihres geschlechtlichen Status. Items wie „feel pleased" oder „feel like a real man" stoBen bei ihnen auf eine groBere Zustimmung als bei den anderen Befi"agten (Marsiglio 1993). In dem Zitat aus der Gruppendiskussion wird jedoch nicht nur die Selbstverstandlichkeit von Vaterschaft fiir einen traditionellen Mannlichkeitsentwurf deutlich, sondem implizit - durch die sequentielle Ordnung des Textes - auch, worin diese Selbstverstandhchkeit lebenspraktisch fiindiert ist: Zunachst erfi)lgt der Berufseinstieg, dann wird die Familie gegriindet. Diese Reihenfi)lge ist nicht beliebig und das Zitat durchaus exemplarisch. Auf der Basis des Soziookonomischen Panels gelangt Schmitt zu dem Befiind, „dass fiir Manner eine Familengriindung erst dann in Betracht kommt, wenn die okonomische Absicherung der Familie - beispielsweise im Rahmen einer Vollzeitbeschaftigung - gewahrleistet werden kann. Fiir die Frauen ist dieser Befiind dagegen nicht zu konstatieren." (Schmitt 2005: 40; siehe auch den Beitrag von Kreyenfeld in diesem Band) Trotz aller Veranderungen im Geschlechterverhaltnis verkniipfen die meisten Manner die Familiengriindung weiterhin „antizipatorisch mit der Ubemahme der Emahrerposition" (Kiihn 2005: 137). Angesichts des fi)rcierten Strukturwandels

Der hier zitierte Mann war zum Zeitpunkt der Diskussion ca. 55 Jahre alt und in leitender Stellung im Management eines groBen Industrieuntemehmens tatig. Im Rahmen eines von der DFG geforderten Forschungsprojekts iiber „Kollektive Orientiemngen von Mannem im Wandel des Geschlechterverhaltnisses" wurden Mitte der 1990er Jahre Gruppendiskussionen mit unterschiedlichen Gruppen von Mannem gefiihrt (Meuser 1998).

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der Erwerbsarbeit ist es freilich fiir eine wachsende Zahl von Mannem nicht mehr moglich, diese Position auch faktisch auszufiillen.

2.2 Das neue Leitbild einer familienorientierten „involvierten" Vaterschaft Zugleich ist Vaterschaft gegenwartig mit neuen, gesteigerten Anspriichen konfrontiert. Der „neue", der „aktive", der „engagierte", der „involvierte" Vater mit diesen Begriffen wurde und wird ein neues Ideal von Vaterschaft transportiert, das zunachst in einer begrenzten Szene „neuer Manner" propagiert und bisweilen auch praktiziert wurde, das inzwischen aber zu einem Leitbild zumindest sozialdemokratischer und griiner Familienpolitik avanciert ist.^ Was kennzeichnet diesen „neuen" Vater? „... he is present at the birth; he is involved with his children as infants, not just when they are older; he participates in the actual day-to-day work of child care, and not just play; he is involved with his daughters as much as his sons." (Pleck 1987: 93) Mit Blick auf die Fertilitatsproblematik lieBe sich fragen, ob diese Anspmchssteigerung an Vaterschaft moglicherweise den Effekt hat, dass Manner sich (trotz eines vorhandenen Kinderwunsches) auch deswegen als zeugungsunwillig erweisen, weil sie befiirchten, den gesteigerten Anspriichen nicht gerecht werden zu kdnnen (Kiihn 2005). Auf jeden Fall fehlen anerkannte Rollenmodelle und eine gesellschaftliche Unterstiitzung involvierter bzw. engagierter Vaterschaft (T51ke 2005). Manner, die versuchen, alternative Entwiirfe von Mannlichkeit zu leben, Entwiirfe, die eine Balance zwischen Berufs- und FamiUenorientierung implizieren, erfahren nicht selten eine weitreichende habituelle Verunsicherung (Gonser 1994). Die biirgerliche Gesellschaft hat eine Fiille von normativen Beschreibungen der „guten Mutter" produziert, in denen den Miittem haarklein erlautert wird, wie sie die Beziehungen zu ihren Kindem gestalten miissen, um dem Leitbild einer guten Mutter gerecht zu werden (Badinter 1981; Schiitze 1986). Bis in die jiingste Vergangenheit hinein fehlt es an einer Beschreibung dessen, was den „guten Vater" ausmacht. Eine solche Semantik existiert nicht. Das verwundert insofem nicht, als der (traditionelle) „Familiensinn" des Mannes sich jedenfalls nicht in einem Engagement in der Familie, sondem fiir die Familie ausdriickt (Beck/Beck-Gemsheim 1990: 200). Zumindest ist so die Vaterrolle in der Geschlechterordnung der biirgerlichen Gesellschaft definiert. Vor diesem Hinter-

Auch Telle der CDU scheinen in jiingster Zeit dieses Vaterbild fiir sich zu entdecken. Ein Ausdmck dessen ist z.B. die Fordemng der neuen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, die voile Spanne der Eltemzeit solle nur noch dann in Anspnich genommen werden konnen, wenn der Vater mindestens zwei Monate davon fiir sich beantragt.

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grund iiberrascht es nicht, dass sich Vaterschaft im Siiine von „fathering" in den Gruppendiskussionen, die wir Mitte der 1990er Jahre mit Mannem aus verschiedenen sozialen Milieus und unterschiedlichen Alters geluhrt haben, nicht als ein Fokus mannlicher Selbstthematisierung erwiesen hat. Hingegen sind die aktuellen Diskurse iiber Geschlecht und Eltemschaft von einem neuen Verstandnis von Vaterschaft bestimmt. Ein Verstandnis von Vaterschaft, das sich innerhalb des Rahmens der tradierten, instrumentell orientierten Vaterrolle bewegt, wie sie exemplarisch von Parsons beschrieben worden ist, steht seit Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr im Einklang mit dem sowohl popularen als auch dem wissenschaftlichen Diskurs iiber Eltemschaft. Es muss mehr und mehr gegen einen kulturellen Diskurs behauptet werden, der sich fiir die expressiven Seiten von Vaterschaft stark macht. Diesen Diskurs finden wir sowohl in den popularen Genres des Sachbuchs und der PubHkumszeitschriften als auch in Teilen der neueren sozialwissenschaftlichen Literatur iiber Vaterschaft. Dieser Diskurs, der eine „neue Vaterlichkeit" (Dunde 1986) entdeckt und postuliert, beginnt in den 1980er Jahren. Zu Beginn dieser Dekade erschienen die ersten „Vaterbiicher" auf dem Sachbuchmarkt. Die Neubestimmung von Vaterschaft war Teil eines dariiber hinausgehenden allgemeinen Mannlichkeitsdiskurses, dem daran gelegen war, den Erfahrungsraum von Mannem um solche Dimensionen zu erweitem, die dem traditionellen Verstandnis von „Gesclilechtscharakteren" zuft)lge weiblich konnotiert sind (Meuser 1998: 129ff.). Der „neue Vater" beteiligt sich an alien elterlichen Aktivitaten, soweit ihm nicht biologische Grenzen gesetzt sind. Er spielt nicht nur mit den Kindem, sondem wechselt auch die Windeln, bereitet die Mahlzeiten zu und fiittert das Baby. Seine Anwesenheit bei der Geburt ist eine Selbstverstandlichkeit. Er tut dies alles unabhangig davon, ob es sich bei dem Kind um einen Sohn oder eine Tochter handelt. Diese neue Definition von Vaterschaft wurde und wird als ein wesentlicher Beitrag des Mannes zur Verwirklichung eines egalitaren Geschlechterarrangements verstanden. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird in diesem Diskurs auch zu einem die Manner betreffenden Thema, Vaterschaft wird von einem sozialen Status zu einer sozialen Praxis, und das impliziert: von einer Vorgabe zu einer Gestaltungsaufgabe. Vaterschaft wird zu einer voraussetzungsvollen Praxis, die mehr verlangt, als fiir die materielle Basis der Familie zu sorgen. Dieses neue Leitbild von Vaterschaft ist in wachsendem MaBe politisch gewollt. Zudem wird es wissenschaftlich ftmdiert - durch eine neue Psychologic der Vaterschaft. War es fiir die Psychologic der Eltemschaft Mitte des 20. Jahrhunderts noch ausgemacht, dass nur die Mutter als primare Bezugsperson der Kinder in Frage kame (Bowlby 1951; Wemeck 2004), so betont die derzeitige psychologische Vaterft)rschung, „dass Vater sowohl in psychologischer Hinsicht als auch auf physio-

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logischer Ebene iiber hinreichende Voraussetzungen fiir einen einfiihlsamen Umgang mit Neugeborenen und Sauglingen verfugen" (Nickel 2002: 555). Wichtig scheint vor allem der „Nachweis" zu sein, dass die Biologie der Geschlechterdifferenz einer engagierten Vaterschaft nicht entgegensteht. Vatem werden ,,dieselben biologischen Voraussetzungen fiir eine liebevolle und kompetente Eltem-Kind-Interaktion" wie den Miittem attestiert; des Weiteren wird hervorgehoben, dass sie „wichtig fiir die kindliche Entwicklung" sind (Wemeck 2004; Hervorhebungen im Original). Der Umstand, dass in der psychologischen Forschung „die Erforschung der Vater-Kind-Interaktion gleichrangig neben die der Mutter-Kind-Beziehung" (Nickel 2002: 557) tritt, kann einerseits als Ausdruck einer sich wandelnden gesellschaftlichen Realitat der Organisation von Eltemschaft begriffen werden, stellt andererseits aber auch neue Deutungsmuster bereit und verhilft der neuen Vaterlichkeit gewissermaBen zu „wissenschaftlichen Wiirden". Zugleich erzeugt es einen normativen Druck auf Manner, die eigene Vaterschaft im Sinne des neuen Deutungsmusters zu gestalten. Mdglicherweise wird dies dazu fiihren, dass Vater, wenn sie dem neuen Leitbild nicht gerecht werden, ahnliche Schuldgefuhle entwickeln, wie sie fur Mutter berichtet werden, die dem (uberhdhten und kaum erreichbaren) Ideal der „guten Mutter" nicht perfekt entsprechen. Auch dies lieBe sich als eine Form der Egalisierung von Geschlechterverhaltnissen verstehen.

3.

Vereinbarkeit von Berufund Familie in der alltdgUchen Lebensfuhrung

Dem skizzierten aktuellen Vaterschaftsdiskurs mag es zwar gelingen, neue normative Anspriiche zu formulieren, die Praxis der alltaglichen familialen Lebensfiihrung verlauft bislang weitestgehend in traditionellen Bahnen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Es ist vielfach belegt, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in aller Regel Angelegenheit der Frauen ist, und dies in zweifacher Hinsicht: als institutionelle Zurechnung und als von den Frauen akzeptierte Zustandigkeit. Die institutionelle Zurechnung erfolgt in doppelter Weise: durch eine (implizite) Adressierung entsprechender Mafinahmen und Programme an Frauen, aber auch durch eine Vielzahl von Barrieren, die vor Mannem errichtet werden, die ihr (zeitliches) berufliches Engagement zu Gunsten einer starkeren Familienorientierung reduzieren wollen. In der aktuellen betriebswirtschaftlichen Literatur sowie den Verlautbarungen von Untemehmensverbanden und prominenten Vertretem der Wirtschaft wird „work-life-balance" als ein Qualitatsmerkmal von Untemehmen herausgestrichen. Untemehmen, die ihrer Belegschaft entsprechende Mdglichkeiten offerieren - Mafinahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie zahlen dazu -,

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seien, so heiBt es, bei der Suche nach qualifiziertem Personal im Wettbewerbsvorteil; des Weiteren wiirde sich eine Politik der „work-life-balance" auch betriebswirtschaftlich rechnen (vgl. z.B. DIHK et al. 2004; Hartz 2004; Hundt 2004; Prognos 2004). In den Szenarien, die in diesen Verlautbarungen entfaltet, und in den Beispielen, die zur Illustrierung angefiihrt werden, wird die Vereinbarkeitsthematik weitestgehend als ein den weiblichen Teil der Belegschaft betreffendes Problem dargestellt. Das spiegelt die empirische Realitat der Inanspmchnahme einschlagiger MaBnahmen und Regelungen wider, tragt gleichwohl dazu bei, die geschlechtsspezifische Zurechnung fortzuschreiben. Eine solche Zurechnung ist nicht auf die Privatwirtschaft begrenzt. Sie erfolgt, wie eigene Experteninterviews gezeigt haben, auch im Hochschulbereich (Behnke/Meuser 2003a). Berufungskommissionen konfrontieren Bewerberinnen, nicht aber Bewerber, vielfach mit ausfiihrlichen Fragen danach, wie sie die Aufgabe der Vereinbarkeit von Familie und Bemf bewaltigen wollen und ob der Ehemann „mitspiele". Dahinter stehe, so die Einschatzung einer Gleichstellungsbeauftragten, die Sorge: „Steht die uns denn auch voll zur Verfiigung, oder orientiert sie sich dahin, wo ihr Lebensgefahrte ist, und macht hier nur das Notigste?" Wahrend bei Mannem die Prioritat der beruflichen Orientierung als fraglos gegeben unterstellt wird, stehen Frauen vor der Notwendigkeit, diese unter Beweis zu stellen: ,3s scheint immer wieder auf, dass also auch in der Wahmehmung durch so 'ne Kommission die Lebensplanung von Frauen sehr viel mehr auf die Partnerschaft ausgerichtet ist als von Mannem." Da mannliche Wissenschaftler, so die Erfahrung der interviewten Expertinnen, sich gewohnlich nicht derartigen Fragen stellen miissen, lasst sich sagen, dass die Aufgabe der Vereinbarkeit von Bemf und Familie den Frauen gleichsam institutionell zugewiesen wird. Die Institution Universitat rechnet, wie auch andere Institutionen, mit der Zustandigkeit der Frauen, definiert die Aufgabe der Vereinbarkeit als deren Angelegenheit. Eine implizite Zurechnung der Vereinbarkeitsaufgabe an die Frauen geschieht dadurch, dass Manner, die Teilzeitarbeit beantragen oder Eltemzeit fiir sich beanspmchen, mit Ablehnung durch die Vorgesetzten (aber auch die Kollegen) rechnen miissen. Ein derartiges Ansinnen stellt die gangige Erwartung in Frage, dass Manner keine Verpflichtungen aufierhalb der Erwerbsarbeit haben. Vater, die am Arbeitsplatz auf ihre familialen Verpflichtungen hinweisen, stoBen auf Befremden und Unverstandnis. Von den Vorgesetzten wird ihnen ein mangelndes bemfliches Engagement vorgehalten, die Kollegen befiirchten, dass Mehrarbeit auf sie zukommt, und begreifen das Ansinnen, das bemfliche Engagement zu Gunsten des familialen zu reduzieren, als unsolidarische Zumutung (Demirovic 2005; Doge/Behnke 2005; Obemdorfer/Rost 2004; Peinelt-Jordan 1996). Obwohl laut gesetzlicher Regelung beide Eltemteile einen Anspmch auf Eltemzeit haben, erwarten Untemehmen, dass die Frauen diesen Anspmch gel-

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tend machen. Gangigen Geschlechterstereotypen folgend, wer fiir welche Arbeiten zustandig ist, wird ein entsprechender Antrag einer Frau als Ausdruck eines legitimen miitterlichen Engagements zum Wohle der Kinder gesehen, wahrend ein Mann, der Eltemzeit in Anspruch nimmt, Zweifel an seiner Loyalitat dem Untemehmen gegenuber evoziert. Zudem wird nicht selten seitens der Kollegen seine Mannlichkeit in Frage gestellt (Doge/Behnke 2005). In den Haltungen von Arbeitgebem und Kollegen gilt das oben skizzierte Deutungsmuster von Eltemschaft nach wie vor nahezu ungebrochen. Mutterschaft wird als essentieller Teil von Weiblichkeit angesehen, Vaterschaft im Sinne von fathering hat hingegen keine vergleichbare Bedeutung fiir die kulturelle Konstruktion von Mannlichkeit (Lupton/Barclay 1997: 147). Das in verschiedenen Studien dokumentierte Bediirfnis junger Vater, starker am Familienleben zu partizipieren, bricht sich, so Bom und Kriiger (2002: 117), „an den Grenzen der Institution Arbeitsmarkt". Neue Formen von Vaterschaft „miissen nicht nur normativ gewiinscht, sondem faktisch geformt durchgesetzt werden - gegen eine bestehende Struktur, die die veranderte Vaterschaft nur so weit hinnimmt, wie sie nicht die Arbeitsmarktverfiigbarkeit des Mannes betrifft" (ebd.: 138). Barrieren gegen ein in starkerem MaBe praktiziertes familiales Engagement der Vater sind jedoch nicht nur in den Strukturen des Arbeitsmarkts zu suchen. Die Moglichkeiten eines solchen Engagements werden auch davon bestimtnt, inwieweit die Frauen bereit sind, Familienaufgaben aus der Hand zu geben - und damit Einflusszonen zu verlieren. Hier haben nicht zuletzt Wiinsche und Angste der Frauen hinsichtlich ihrer Rolle als Mutter eine Bedeutung, die weiterhin beeinflusst sind vom Diskurs iiber die „gute Mutter" (Lupton/Barclay 1997: 147). Zudem scheint sich die Zustandigkeit der Frauen fiir das Familiale und in diesem Rahmen fiir die alltagliche Bewaltigung der Problematik der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch in „modemen", individualisierten, der Idee der Gleichheit der Geschlechter verpflichteten heterosexuellen Partnerschaften, in der beide Partner bemfstatig sind, mehr oder minder selbstverstandlich „einzustellen", wie Studien aus verschiedenen Landem eindrucksvoll belegen (Hochschild 1993; Kaufmann 1994; Koppetsch/Burkart 1999). Maria Rerrich (1994) beschreibt die Organisation des familialen Alltags als eine „komplexe Gestaltungsaufgabe", die hohe Anforderung an die Flexibilitat der Familienmitglieder stellt und eine rationale Organisation erfordert. Auch sie stellt „charakteristische geschlechtsspezifische Unterschiede" fest: „Die Verantwortung fiir die Herstellung eines gemeinsamen Familienalltags liegt in den meisten Fallen bei den Frauen." Bei den Vatem „liegt vor allem nach wie vor trotz der Erwerbstatigkeit der Frauen die Verantwortung fiir das materielle Wohl der Familie" (ebd.: 210). Eine Partnerschafts- und Familienform, in der eine solche geschlechtstypische Verantwortung fiir das Materielle nicht gegeben ist, ist die des Doppelkar-

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rierepaares (Behnke/Meuser 2003a, 2003b, 2005). Mit diesem Begriff ist nicht nur eine Erwerbstatigkeit beider Partner gemeint, die Partner verfiigen zudem iiber hohere, meist akademische Bildungsabschliisse, beide zeichnen sich durch ein hohes MaB an beruflichem „coniniitment" sowie eine andauemde Aufstiegsbzw. Karriereorientierung aus. Eine um den Bemf zentrierte Lebensfiihrung ist hier keine Eigenheit des Mannes, sie kennzeichnet ebenso die Frau. Angesichts einer prinzipiellen Gleichwertigkeit der beruflichen Karrieren ist es keine unverniinftige Erwartung, dass die Vereinbarkeitsproblematik hier von beiden Partnem geschultert wird. In der (friihen) US-amerikanischen Literatur zu Doppelkarrierepaaren werden diese nicht selten als „Lebensstilpioniere" eines auf Gleichheit basierenden Geschlechterarrangements gesehen (Hertz 1986). Dass die Gleichwertigkeit der beruflichen Ambitionen des Partners wechselseitig anerkannt wird, sagt zunachst nur etwas iiber die normative Basis der Partnerschaft aus und imphziert nicht zwangslaufig, dass die Karriereambitionen beider Partner in der alltaglichen Lebensfiihrung gleichwertig behandelt werden. Faktisch gilt auBer bei jungen Paaren (Ende 20 bis Mitte 30) die Karriere des Mannes als vorrangig. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Vereinbarkeitsproblematik, die sich hier in einer spezifischen Weise als Aufgabe der Vereinbarung von zwei beruflichen Karrieren unter dem Dach einer Partnerschaft bzw. Familie stellt, auch bei diesen Paaren in aller Kegel von den Frauen bewaltigt wird. Die Frauen leisten das Vereinbarkeitsmanagement, sie managen zwei Karrieren so, dass eine gemeinsame Lebensfiihrung moglich ist. Die hochgradig durchrationalisierte, strategische, alltagliche, Beruf und Familie gleichermafien im Auge behaltende Lebensfiihrung, ohne die eine „Karriere im Doppelpack" nicht gelingen konnte, wird von den Frauen geleistet. Das zeigt sich darin, dass die Frauen weitaus mehr als die Manner in ihren beruflichen Karriereplanungen Belange des privaten Zusammenlebens mit beriicksichtigen; indem sie sich beispielsweise nur auf solche Stellen bewerben, deren geographische Lage es ermoglicht, regelmafiig gemeinsame Zeiten mit dem Partner zu verbringen. Vor allem aber ist es die Kinderbetreuung, deren Organisation in den Handen der Frauen liegt. Angesichts der Zustandigkeit der Frauen fur das Vereinbarkeitsmanagement konnen die Manner vergleichsweise autonom, weitgehend unbeeinflusst von Sorgen um das Vereinbarkeitsmanagement und geradlinig, ohne Liicken und Modifikationen, ihre individuelle Karriere verfolgen. Diese unterschiedlichen Anforderungen schlagen sich in Unterschieden der Lebensfiihrung nieder. Die Lebensfiihrung der Frau ist in hohem MaBe vorausschauend in familialer wie in beruflicher Hinsicht; die Konsequenzen eigener (vor allem beruflicher) Entscheidungen fiir das Zusammenleben des Paares bzw. der Familie werden antizipierend in die Entscheidungsfindung einbezogen. Hingegen wirkt sich die weitgehende faktische Nicht-Zustandigkeit des Mannes fiir das Gesamtgefuge dahin-

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gehend aus, dass er seine Lebensplanung auf den beruflichen Bereich konzentrieren kann. Die Ubemahme der Rolle der „Vereinbarkeitsmanagerin" impliziert allerdings nicht, dass die Frau die eigenen Karriereplane fallen lasst; sie passt sie aber an die jeweiligen Bedingungen an. Die Herstellung der Lebensform Doppelkarrierepaar ist insofem vor allem eine von den Frauen erbrachte Leistung, als sie es sind, welche die Integration von zwei Karrieren in eine Ehe oder eine Familie organisieren (ausfiihrlicher hierzu Behnke/Meuser 2003b). „Bezeichnenderweise ist die Zustandigkeit der Frauen fiir das notwendige Vereinbarkeitsmanagement ... nicht das Ergebnis von langwierigen Aushandlungsprozessen zwischen den Partnem oder Ausdruck einer Resignation nach nicht zufriedenstellend ausgetragenen Divergenzen, sondem sie 'ergibt sich' gleichsam wie von selbst." (Behnke/Meuser 2005: 137)

Insofem greifen die oben geschilderte institutionelle Zurechnung der Zustandigkeit fiir die Vereinbarkeitsproblematik und die Selbstzuschreibung durch die Frauen geradezu perfekt ineinander. 4.

Fazit

Kern eines traditionellen, in der Kontinuitat der Geschlechterordnung der burgerlichen Gesellschaft stehenden mannlichen Identitatsentwurfs ist der Primat der Berufsorientierung gegeniiber der Familienorientiening. Bei den Doppelkarrierepaaren ist - und das macht ihren besonderen Stellenwert im Kontext der Vereinbarkeitsproblematik aus - die Berufsorientierung kein Privileg des Mannes. Sie kennzeichnet ebenso die Lebenslaufplanung der Frau. Die (prinzipielle) Gleichwertigkeit der Berufsorientierung beider Partner hat jedoch kein Pendant auf der Seite der Familienorientiening. Die normativen Anspriiche an Vaterschaft mogen zwar gestiegen sein, sodass sich Manner in ihrer tatsachlichen oder auch nur antizipierten Funktion als Vater mit gesteigerten Erwartungen konfrontiert sehen. Die alltagliche familiale Lebensfiihrung schreibt jedoch die tradierte geschlechtliche Arbeitsteilung weitgehend fort. Unlangst ist ein Band erschienen, in dem Wissenschaftlerinnen da von berichten, wie sie eine wissenschaftliche Karriere und Mutterschaft miteinander verbinden (Biller-Andomo et al. 2005). Dies dokumentiert einmal mehr, dass die parallele Realisierung beider Lebensziele - berufliche Karriere und Eltemschaft - fiir Frauen alles andere als selbstverstandlich ist. Ein Band, in dem Wissenschaftler darlegen, wie sie ihre berufliche Karriere und ihre Aufgaben und Pflichten als Vater miteinander vereinbaren, wird vermutlich in absehbarer Zeit nicht geschrieben werden. Vater sehen sich gewohnlich nicht vor die Aufgabe gestellt, sich Gedanken darum zu machen, mit welchen Arrangements sie eine angemessene Betreuung und Erziehung ihrer Kinder bewerkstelligen konnen. Manner

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konnen ihre berufliche Karriere in aller Kegel unbekiiminert von solchen Sorgen mehr oder minder autonom planen und verfolgen. Sie konnen dies, weil ihnen die Familienarbeit ihrer Frauen als eine „heimliche" Karriereressource zur Verfiigung steht. Dies impliziert nicht zuletzt, dass fiir sie die fur eine berufliche Karriere notwendige geographische Mobilitat meistens kein Problem darstellt (Meuser 2004). Das hat u.a. zur Folge, dass Karriereverlaufe von Mannem typischerw^eise eine hohere Flanungssicherheit aufweisen als Karriereverlaufe von Frauen - zumindest danii, wenn die berufliche Karriere mit Eltemschaft einhergeht. Vereinbarkeitserwagungen fehlen in traditionellen, am Leitbild der hegemonialen Mannlichkeit orientierten Mannlichkeitsentwiirfen, und in einer dem tradierten Modell des „male breadwinner - female homemaker" folgenden alltaglichen familialen Lebensfiihrung sind Manner faktisch von Vereinbarkeitsaufgaben „freigestellt". Letzteres hat sich auch in gegenwartigen, „modemisierten" Paar- und Familienarrangements, selbst in dem in gewisser Hinsicht hochgradig enttraditionalisierten Arrangement der Doppelkarrierepaare, nicht grundlegend geandert. Was sich allerdings geandert bzw. - vorsichtiger formuliert - zu andem begonnen hat, das sind die normativen Anspriiche an Vaterschaft. So mag es bei den Mannem eine wachsende Diskrepanz geben zwischen unterstellten und antizipierten Vaterpflichten einerseits und tatsachlich gestellten Anfordemngen andererseits. Dies genauer zu erkunden ware eine lohnende Aufgabe fiir die empirische Familienforschung. In diesem Zusammenhang ware auch die Frage zu verfolgen, ob und wie sich die (wahrgenommene) Anspruchssteigerung auf die Zeugungsbereitschaft von Mannem auswirkt. Die in dem neuen Leitbild von Vaterschaft sich ankiindigende Aufwertung der Familienorientiemng muss jedenfalls nicht zwangslaufig in einer verstarkten Familiengriindung resultieren. Parallel zu der Erhohung der an Vaterschaft gestellten Anfordemngen ist die traditionelle Basis mannlicher Selbstidentifikation, eine kontinuierliche, ununterbrochene Erwerbstatigkeit im Rahmen des so genannten Normalarbeitsverhaltnisses, in wachsendem MaBe von Auflosung bedroht. Prekarisiemng und Diskontinuitat kennzeichnen nicht mehr nur die Beschaftigungsverhaltnisse von Frauen, sondem auch die von Mannem. Angesichts der groBen Bedeutung, die eine Vollzeiterwerbstatigkeit fiir die Entscheidung des Mannes zur Familiengriindung hat, erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass auch die mit dem Aufbrechen des Normalarbeitsverhaltnisses einhergehende De-Institutionalisiemng des Lebenslaufs von Mannem sich negativ auf deren Zeugungsbereitschaft auswirkt. Mit der Anspmchssteigemng an Vaterschaft und der De-Institutionalisiemng des Lebenslaufs entsteht gewissermaBen gleichzeitig und von zwei Seiten aus ein negativer Dmck auf die Bereitschaft von Mannem, das ihnen Mogliche zu tun, um vorhandene Kinderwiinsche zu realisieren.

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Suche nach Abhilfe

Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit Neue Strategien bei der Lebens- und Familienplanung Kathrin Dressel

In der Debatte um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie treten wir auf der Stelle. Mochten Frauen mit Kindem erwerbstatig sein, lasst sich das oft nur mit langen Unterbrechungszeiten oder in Form von Teilzeitarbeit verwirklichen. Beides aber beeintrachtigt in unserer Beschaftigungskultur Erwerbskarrieren, die bis in Fiihrungspositionen hineinreichen. Nicht zuletzt deswegen stehen Frauen bis heute vor einem „Entweder - oder", was Kinder und Karriere angeht. Der Grund fur diesen Konflikt liegt haufig in dem Versuch, Bemfseinstieg und Familienplanung innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne zu bewaltigen. Vor dem Hintergrund, dass wir dank unserer hinzugewonnenen Lebensjahre tatsachlich viel mehr Zeit sowohl fur Familie als auch Karriere zur Verfiigung haben, muss gmndsatzlich iiber neue Muster im Lebensverlauf nachgedacht werden. Muster, die es Frauen wie Mannem ermoglichen, beides, Familie und bemflichen Erfolg - so gewollt -, machbar werden zu lassen. l

1.

Das Vereinbarkeitsdilemma

Zunachst einige ebenso bekannte wie beklagte Befunde: Obgleich traditionelle Vorstellungen, die Mannerwelten mit der Berufswelt und Frauenwelten mit der Familienwelt gleichsetzen, briichig werden, unterscheiden sich Lebensverlaufe von Frauen und Mannem noch immer grundlegend. Vor allem die Mitte des weiblichen Lebensverlaufs ist im Vergleich zum mannlichen weniger klar um Erwerbsarbeit herum organisiert, sondem wird ebenso nachhaltig durch familiale Reproduktionsarbeit bestimmt. Begriindet ist diese „doppelte Lebensfiihrung" (Oechsle/Geissler 1993: 63) in einer Reihe sozialstaatlich eingebetteter Mafigaben, welche kontinuierliche Erwerbstatigkeit von Miittem eher hemmen, anstatt sie zu fordem (Dienel 2003;

1

Dieser Beitrag stiitzt sich in Teilen auf Allmendinger/Dressel (2005).

154

Kathrin Dressel

siehe auch die Beitrage von Lindecke und von Schiek in diesem Band). Entsprechend sind auch die infrastmkturellen Rahmenbedingungen geschnitten: Kinderkrippen und Kindergarten fehlen ebenso wie Ganztagsschulen (Statistisches Bundesamt 2004a). Und auch normativ gilt: Vor allem in den ersten Lebensjahren sollte die Kinderbetreuung durch die Mutter klar vor ihren beruflichen Ambitionen rangieren (Wendt/Maucher 2000: 84). Eine in Deutschland haufig gewahlte Strategic von Frauen, Beruf und FamiHe dennoch zu vereinbaren, ist die Reduktion der Arbeitszeit. So ist dann auch die in den vergangenen Jahrzehnten gestiegene Miittererwerbstatigkeit fast ausschlieBHch auf zunehmende Teilzeiterwerbstatigkeit zuriickzufiihren (Wanger 2005). Insgesamt arbeiteten 2004 fast drei Viertel aller berufstatigen Frauen mit Kindem unter zehn Jahren Teilzeit. Bei Mannem hingegen fiihrt die Familienphase zu keiner nennenswerten Reduktion der Arbeitszeit (Statistisches Bundesamt 2004b). Teilzeitarbeit als Briicke in den Arbeitsmarkt - und das ist die Kehrseite der Medaille - muss mit Lohndiskrepanzen sowie entsprechenden Nachteilen bei der sozialen Sicherung teuer erkauft werden (Fitzenberger/WunderHch 2004; Allmendinger 2000; Stegmann 2005). In einer Beschaftigungskultur, die bis heute durch den kontinuieriich anwesenden, vollzeitbeschaftigten Mitarbeiter gepragt ist, verschlieBt Teilzeiterwerbstatigkeit den Frauen dariiber hinaus Karrierechancen, die bis in Fiihrungspositionen hineinreichen. Und das bei gleicher - ja oft besserer - Bildung und Ausbildung. Vor diesem Hintergrund ist auch der Beftmd zu interpretieren, dass lediglich ein Viertel der obersten Fiihrungspositionen in der Privatwirtschaft mit Frauen besetzt ist. Je mehr die Fiihrungsverantwortung steigt, desto weiter sinkt der Frauenanteil: In Betrieben mit mehr als 500 Beschaftigten liegt er nur noch bei etwa vier Prozent (Brader/Lewerenz 2006). Alle diese Befimde zeigen deutlich: Im Gegensatz zu Mannem stehen Frauen noch immer vor einem „Entweder - oder", was Kinder und Karriere betrifft. Insbesondere hoch qualifizierte Frauen entscheiden sich haufig gegen Kinder, sodass die Familiengriindung in hoheren Bildungsschichten nicht nur spater, sondem vor allem seltener realisiert wird (vgl. dazu Abbildung 1). Die Tatsache, dass der Kinderwunsch unter Studierenden noch vergleichsweise weit verbreitet ist (Middendorf 2003), weist jedoch darauf hin, dass der Verzicht der Akademikerinnen auf Kinder haufig nicht explizit intendiert, sondem der Vereinbarkeitsproblematik von Bemf und Familie zuzuschreiben ist. Dass sich dies auch massi v auf die demographische Gmndordnung auswirkt, ist so bekannt wie beklagt, aber hier nicht Thema.

Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit

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Personen mit einfacher/mittlerer Bildung — • — P e r s o n e n mit hoherem Bildungsabschluss

Abbildung 1: Anteil der Eltem nach Bildungshintergmnd - Gesamtdeutschland (in Prozent) Quelle: Institut fur Demoskopie Allensbach (2005)

2.

Neue Lebensverlaufsmuster wagen

Auf der Suche nach einer Antwort, wie Beruf und Familie anders vereinbart werden konnen, wird im Folgenden von Vereinbarkeitsmodellen traditioneller Art Abstand genommen, und neue Muster im Lebensverlauf werden aufgezeigt. Eine „biographische Entzerrung" von FamiHenbildung und Erwerbseinstieg, so die Argumentation in diesem Beitrag, kann neue Optionen erdffnen, aus dem „Entweder - oder" ein „Sowohl - als auch" werden zu lassen. Den Hintergrund dieser Uberlegungen bildet die Beobachtung, dass der Druck, das Eine fiir das Andere aufgeben zu miissen, oft aus dem Versuch entsteht, FamiHengriindung und Karrierebildung in einem vergleichsweise schmalen Zeitfenster parallel zu verwirklichen. Im Siebten Familienbericht der Bundesregierung wird in diesem Zusammenhang von einer „Rush-Hour zwischen dem 27. und 34. Lebensjahr" gesprochen (BMFSFJ 2005: 60). „Neben dem Ausbildungsabschluss, dem Eintritt in das Berufsleben und der Entscheidung fur einen Lebenspartner scheint in Deutschland das dominante Muster auch zu sein, in dieser

156

Kathrin Dressel

Phase zu heiraten und - wenn iiberhaupt - sich dann far Kinder zu entscheiden." (ebd.: 80) Dieser Verengung der verwirklichten Fertilitats- und Erwerbstatigkeitsspanne steht eine Reihe gewonnener Gelegenheitsraume gegeniiber. Erstens: die vielen gewonnenen Lebensjahre; zweitens: die langere Dauer moglicher Fertilitat von Frauen; drittens: die gestiegene mogliche Anzahl von Lebensjahren, die in Erwerbsarbeit verbracht werden kdnnen. Im Folgenden werden die Prozesse und im Anschluss daran die Verkniipfungsmuster skizziert: die heute gelebte Parallelitat von Familienbildung und Beginn der Erwerbstatigkeit und schlieBlich eine „biographische Entzerrung" von Familien- und Karrieregriindung.

2.1 Entwicklungslinien Gewonnene Lebensjahre Vergleicht man die durchschnittliche Lebenserwartung von neugeborenen Jungen (44,8 Jahre) und Madchen (48,3) um 1900 im Reichsgebiet mit der des Jahres 2003 (Jungen: 75,6; Madchen: 81,2), lasst sich ein dramatischer Anstieg verzeichnen (Statistisches Bundesamt 2004a). Der Anstieg der Lebenserwartung Neugeborener ist darauf zuriickzufiihren, dass um die Jahrhundertwende eine verhaltnismaBig hohe Sauglings- und Kindersterblichkeit bestand (Schwarz 1999: 237f.). Gleichfalls ist die Altersmortalitat erheblich gesunken. So hat sich die femere Lebenserwartung der 60-jahrigen Manner in Deutschland von 13 auf 20 Jahre, die der 60-jahrigen Frauen von 15 auf 24 Jahre erhoht (Statistisches Bundesamt 2004a). Das WHO-MaB der Gesundheitserwartung, die erwarteten Lebensjahre in „relatively good health", lag 2002 far 60-jahrige Manner und Frauen bei knapp 16 bzw. 19 Jahren (WHO 2003). Gewonnene und genutzte fruchtbare Jahre Obwohl die Anzahl biologisch fruchtbarer Jahre im Leben einer Frau tendenziell gestiegen ist, ist die Anzahl der genutzten fruchtbaren Jahre drastisch zuriickgegangen (Tanner 1962; Kluge 1998). Gebaren Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr erstes Kind mit etwa 25 Jahren, sind Frauen heute im Durchschnitt fast 30 Jahre alt, wenn sie ihr erstes Kind zur Welt bringen (El-Khorazaty/Home 1992; Statistisches Bundesamt 2005). Deutliche Unterschiede ergeben sich auch im Alter bei der Geburt des letzten Kindes. Das letzte von vier bis fanf Kindem wurde um 1900 durchschnittlich mit 36,5 Jahren geboren. Heute sind Frauen bei der Geburt ihres letzten Kindes im Mittel etwas fiber 30 Jahre alt (ElKhorazaty/Home 1992). Wahrend sich das Fenster fiir biologische Fertilitat offnet, verringert sich die Dauer der genutzten fruchtbaren Jahre deutlich (vgl. Abbildung 2).

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Alter

Biologische Fertilitat (letztes Kind)

Verwirklichte Fertilitat (letztes Kind)

Verwirklichte Fertilitat (erstes Kind) Biologische Fertilitat (erstes Kind)

2000

1900

Abbildung 2: Biologische und verwirklichte Fertilitat Quelle: eigene Darstellung.

Alter

Mdgliches Arbeitsende „Verwirklichtes" Arbeitsende

„Verwirklichter" Arbeitsbeginn

Mdglicher Arbeitsbeginn

1900

2000

Abbildung 3: Mogliche und verwirklichte Erwerbstatigkeit Quelle: eigene Darstellung.

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Gewonnene und genutzte Jahre aktiver Erwerbstdtigkeit Auch die mogliche Spanne aktiver Erwerbstatigkeit erhohte sich aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung (Abbildung 3, durchgezogene Linie), die verwirklichte Dauer der Erwerbstatigkeit hat sich jedoch relativ verkiirzt (Abbildung 3, unterbrochene Linie). Griinde dafiir sind die Bildungsexpansion und ein entsprechend hoheres Aher bei Berufseintritt, das Festhahen an den Altersgrenzen bzw. deren Herabsetzung in den letzten hundert Jahren und die Moglichkeit von Altersteilzeit sowie friihere Rentenzugange wegen Erwerbs- und Bemfsunfahigkeit. Auch hier klafft eine Liicke zwischen Gelegenheitsstrukturen und verwirklichter Erwerbstatigkeit. Zeitliche Parallelitdt von Fertilitdt und Erwerbstdtigkeit Wegen der gegenwartigen normativen und institutionellen Rahmenbedingungen in Deutschland fallen die zeitlich begrenzte Ausschopfiing moglicher Fertilitat und die Aufnahme von Erwerbstatigkeit zeitlich zusammen: Bis zur Novellierung des Hochschulrahmengesetzes 1998 mit der Einfiihrung von Bachelor- und Masterstudiengangen haben nur wenige Studierende einen ersten berufsqualifizierenden Abschluss bereits in jiingeren Jahren erreicht. Gleichzeitig geben uns unsere Altersvorstellungen vor, dass wir spatestens mit Anfang 30 den Fu6 in der „Karrieretur" haben miissen, bevor diese zuschlagt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer iiber 50 Jahre auf der anderen Seite gehoren in unserer Vorstellung schon oft zum „alten Eisen". Fehlende Weiterbildungsaktivitaten seitens der Betriebe und der Beschaftigten begiinstigen diese „Entberuflichung des Alters" zusatzlich (Naegele 2000). In Bezug auf den „idealen" Zeitpunkt fiir die Familiengriindung gelten ebenfalls (und vor allem fur Frauen!) klare Altersnormen. Auswertungen des Instituts fur Demoskopie Allensbach (2005) haben gezeigt, dass das subjektiv als geeignet empfundene Zeitfenster, in dem der Kinderwunsch realisiert werden kann, bei vielen nur funf bis maximal acht Jahre betragt. Dieses Zeitfenster wird auf der einen Seite eingegrenzt durch die weit verbreitete Auffassung, vor der Familienphase miisse zunachst eine giinstige berufliche Position erreicht werden (Middendorf 2003), auf der anderen Seite durch die Schreckensschwelle 35, nach deren Uberschreiten Mediziner von „Spatgebarenden" und ,JRisikoschwangerschaften" sprechen. Nimmt man Abstand von diesen Altersnormen und sch5pft die Gelegenheitsraume besser aus, lasst sich die Rushhour entzerren: Entweder kann die Familiengriindung in die Zeit der Ausbildung vorverlegt werden, oder eine spate erste Mutterschaft findet nach einer intensiven, kontinuierlichen und damit karriereforderlichen Vollzeitbeschaftigung statt. Wird ein Abschluss erst nach einer friihen Mutterschaft erlangt, liegt das Alter beim Eintritt in den Arbeitsmarkt zwar hoher, die Qualifikation entspricht aber dem neuesten Stand und wurde

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nicht durch stark sanktionierte Auszeiten nach Ausbildungsabschluss entwertet. Eine spate Mutterschaft korrespondiert mit hohem Erfahrungsreichtum im Bemf und ist oft verbunden mit besseren Moglichkeiten der individuellen und organisatorischen Steuerung von Unterbrechungen.

2.2 Zeitliche Entzerrung von Familiengriindung und Karriere Die erste biographische Option - die friihe Mutterschaft, in der Ausbildung und Familiengriindung kombiniert werden - scheint in Deutschland bisher kaum zu bestehen. Im Jahr 2003 haben lediglich sieben Prozent der weiblichen Studierenden ein oder mehrere Kinder vor, im Regelfall aber wahrend ihres Studiums zur Welt gebracht (BMBF 2004). Diese Zahlen iiberraschen vor dem Hintergrund der oben skizzierten Altersvorstellungen wenig. Die Studienphase wird von den Studierenden iiberwiegend als ungeeignet betrachtet, um eine Familie zu griinden (Middendorf 2003). Zu den wichtigsten Griinden gehdren neben befurchteten finanziellen Problemen vor all em die sich als schwierig abzeichnende Zeitkoordination von Kinderbetreuung und Studium. Insbesondere Vorlesungen und Pflichtveranstaltungen am Nachmittag oder Abend wiirden nach Aussagen der Befi-agten die Vereinbarkeit von Studium und Familie stark belasten. Die wenig kinderfreundlichen Bedingungen an den Hochschulen selbst kommen erschwerend hinzu. In diesem Zusammenhang nennen die Studierenden vor allem die unzureichende Unterstiitzung und das fehlende Verstandnis von Kommilitoninnen und Kommilitonen sowie Lehrkraften. Befiirchtet wird dariiber hinaus, dass die Studienleistungen nachlassen, sich die Studienzeit verlangert und damit der BAfoG-Anspruch verloren geht bzw. Langzeitstudiengebiihren anfallen. Aufierdem schrecken die Studierenden vor Einschrankungen im personlichen Bereich zuriick (ebd.). Damit Studierende bei vorhandenem Kinderwunsch die Familiengriindung ins Studium hinein vorverlegen, muss eine Reihe von Bedingungen vorliegen. Der aktuelle Familienbericht der Bundesregierung betont in diesem Zusammenhang u.a., dass weder Stipendienvergabe noch Karriereschritte an Altersbegrenzungen gebunden sein diirfen, und unterstreicht die herausragende Bedeutung flexibler und kostengiinstiger Kinderbetreuung. Auch im Bereich der Studienorganisation diirfen sich die Universitaten und Fachhochschulen nicht an dem „Normalstudierenden" orientieren. Hier wiirde die Einrichtung von Teilzeitstudiengangen und Studienmodulen einen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit leisten (BMFSFJ 2005). Grundsatzlich gilt jedoch, dass junge Frauen und Manner das Gefuhl vermittelt bekommen, dass ihr Kinderwunsch - so vorhanden - bereits wahrend des Studiums realisiert werden kann.

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Kathrin Dressel

Was Aufbau und Struktur des Studiums selbst betrifft, so konnten moglicherweise die seit 1998 neu eingefiihrten Bachelor- und Masterstudiengange eine Umgestaltung der Lebensverlaufe fbrdem. Die Zweiteilung des Studiums, bei dem ein Bachelor als erster berufsqualifizierender Abschluss bereits nach drei bis vier Jahren und ein Master als weiterer berufsqualifizierender Abschluss nach ein bis zwei Jahren verliehen wird, kann ermdglichen, die Familiengriindung zwischen die beiden Studienphasen zu legen. Die zweite biographische Option, die Mutterschaft zeitlich hinter den Aufbau einer beruflichen Karriere zu verlagem, wird iiberschattet von der Schreckensschwelle 35: Mutter wie Kind sehen sich dann einem hoheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Diese willkiirlich gezogene Altersgrenze stammt noch aus den 1970er Jahren. Studien aus jiingerer Zeit sind indessen zu einem weitaus positiveren Bild gelangt. Mutter iiber 35 - wenn medizinisch optimal betreut - haben eine gleich hohe Chance wie jiingere Frauen, ein gesundes und normal entwickeltes Kind zur Welt zu bringen (RitzingerAVeissenbacher 2003). Die Fortschritte der Medizin wiegen Nachteile des Alterwerdens praktisch auf Dieses Wissen, eine steigende Akzeptanz der spaten Mutterschaft in den Medien, prominente Beispiele spater Mutter, der langere Verbleib von Frauen im Bildungssystem und ihre erfolgreichere Beteihgung am Erwerbsleben scheinen schon jetzt dazu zu fiihren, dass sich mit der spaten ersten Mutterschaft eine Alternative ausbildet, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten kontinuierlich wichtiger geworden ist. Wurden 1980 in den alten Bundeslandem nur 3,5 Prozent aller ehelich lebend geborenen Kinder von Frauen ab 35 geboren, sind es 1999 bereits 12,3 Prozent. In den neuen Landem stieg der Anteil seit der Wende von 2,8 auf 9,9 Prozent (Herlyn et al. 2002). Empirische Beftmde zur spaten ersten Mutterschaft zeigen, dass diese Verzogerung der Familiengriindung auf ein bewusst geplantes Verhalten zuriickzufiihren sein diirfte, das vermutlich eher in beruflichen Ambitionen der Mutter begriindet ist als in anderen Hemmnissen. Frauen, die einem derartigen Muster der Familiengrundung folgen, sind iiberwiegend hoch qualifiziert und waren vor ihrer Mutterschaft haufig in gehobenen beruflichen Positionen tatig (ebd.).

3.

Bilanz: Gewonnene Zeit, gewonnene Gestaltungsfreirdume

Die jahrzehntelang gefiihrte Diskussion iiber die Vereinbarkeit von Kindem und Beruf war bei oberflachlicher Betrachtung erfolgreich: Frauen sind heute kontinuierlicher und langer erwerbstatig. Teilzeiterwerbstatigkeit, wie sie viele berufstatige Mutter praktizieren, mindert jedoch Chancen auf Fiihrungspositionen. Es ist daher an der Zeit, wieder grundsatzlich iiber die Grenzen der Parallelisierung von Beruf und Familie nachzudenken.

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161

Die hier vorgestellten Losungswege, Familienbildung und Aufbau einer bemflichen Karriere durch eine breitere Nutzung gewoimener Jahre zeitlich zu entzerren, werden noch zu selten eingeschlagen. Dabei handelt es sich um Wege, die es Frauen wie Mannem ermoglichen wiirden, Kinder und Beruf besser als bisher zu vereinbaren. Die Rahmenbedingungen, die beispielsweise eine Familiengriindung in der Ausbildungsphase ermoglichen wiirden, sind aber erst gesellschaftspolitisch zu schaffen. Erst dann lasst sich auch kulturell eine grdfiere Akzeptanz erreichen. Eine anders geschnittene Vereinbarkeit von Beruf und Familie stellt nur einen Aspekt in einer insgesamt umfassenderen Lebensverlaufspolitik dar. In vielen anderen Bereichen bedarf es vergleichbar neuer Ansatze, anderer Muster und hoherer Flexibilitat. In dem Leben, wie wir es bisher leben, bleibt - neben der Erwerbstatigkeit - nicht nur zu wenig Zeit fiir Familie, sondem ebenfalls kaum Zeit fiir die Pflege unserer alteren Mitmenschen. Es bleibt auch zu wenig Zeit fur die so wichtige berufliche Weiterbildung. Dabei ist es mehr als eine okonomische Notwendigkeit, Bildung, Ausbildung und Weiterbildung nicht nur zu Beginn des Lebens einen hoheren Stellenwert zu geben. Die gut gebildeten, erfahrenen Personen, die alter als 45 sind, auszugliedem statt zu integrieren, hat nicht nur Folgen fur die Sicherungssysteme. Viel wichtiger ist der gesellschaftliche Verlust an Erfahrung und am Zusammenleben und Zusammenarbeiten von Personen ganz unterschiedlichen Alters. Viele unterschiedliche Lebensverlaufsmuster anzuerkennen heifit auch, geschlechtsspezifische Muster abzubauen. Denn dann gibt es nicht mehr den mannlichen Lebensverlauf mit seiner „normalen" und institutionell flankierten Abfolge diskreter Phasen, an den sich Frauen anzupassen und unter dem sie zu leiden haben - auch finanziell, durch eine niedrige Einkommensentwicklung aufgrund von Unterbrechungen und Teilzeitarbeit. Der Beitrag schlieBt deshalb mit einem Pladoyer fiir eine neue Lebensverlaufspolitik.

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Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit

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Demographische Entwicklung: Problem oder Phantom? Sebastian Schroer und Thomas Straubhaar

1.

Einleitung

Bin Gespenst geht um in Europa. Es ist das Gespenst der Demographic - oder besser: das Gespenst einer schrumpfenden und altemden Gesellschaft. Zuerst werde es dafiir sorgen, dass „die Schlauen aussterben", spater dann fiihre es zum ,JCrieg der Generationen": Endzeitstimmung vor dem Weltuntergang. Die Zukunft scheint ahnlich unheilschwanger, duster und deprimierend zu werden wie vor einhundert Jahren in der Zeit unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Damals arbeitete der Kultur- und Geschichtsphilosoph Oswald Spengler (1918, 1922) an seinem zweibandigen Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes". Heute schreiben fiihrende Intellektuelle aller Denkrichtungen ixber das ,JVIethusalem-Komplott" (Schirrmacher 2004), die „demographische Zeitenwende" (Birg 2001) oder die „Zivilisation der Euthanasie" (Schirrmacher 2004: 63). Die Fakten sind bekannt und nicht zu bestreiten: Die Zahl der Geburten ist in nahezu alien Industrielandem riicklaufig, besonders in Deutschland. 100 Frauen bringen hier im Durchschnitt nur noch rund 130 Kinder zur Welt. Zu wenig, um die Bevolkerungszahl auf dem heutigen Niveau von rund 82,5 Millionen halten zu kdnnen. Die deutsche Bevolkerung wird schrumpfen, wahrscheinlich auf etwa 75 Millionen im Jahre 2050, vielleicht sogar - wenn nicht geniigend Auslanderinnen und Auslander nach Deutschland kommen wollen - auf unter 70 Millionen. Ist Deutschland deswegen tatsachlich in seiner Existenz bedroht?

2.

Demographischer Wandel und okonomische Folgen

2.1 Demographische Entwicklung Sinkende Geburtenraten und hohere Lebenserwartungen werden in den meisten Industrienationen zu einer Schrumpfung und Alterung der Gesellschaft ftihren. Das Statistische Bundesamt (2003) geht fiir Deutschland in seiner „mittleren Va-

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riante" von einem Riickgang der Bevolkerung von heute ca. 82,5 Millionen auf ca. 75,1 Millionen im Jahr 2050 aus. Wichtigster Indikator far die Altemng einer Gesellschaft ist der so genannte Altersquotient (AQ), der das Verhaltnis von Personen im Rentenalter zur erwerbsfahigen Bevolkerung ausdriickt. Je alter eine Gesellschaft wird, je weniger Erwerbsfahige also einem Rentner oder einer Rentnerin gegeniiberstehen, desto hoher ist der AQ. Das Statistische Bundesamt (ebd.) legt das durchschnittliche Renteneintrittsalter von 60 Jahren zugrunde, definiert die erwerbstatige Bevolkerung als 20- bis 59-jahrig und berechnete fiir das Jahr 1995 einen AQ von 0,37, ftir 1999 von 0,41 und fiir 2001 von 0,44. Fiir das Jahr 2020 konnte dieser Wert bei 0,55 liegen, fur 2030 bei 0,71 und fiir 2050 gar bei 0,78. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht nur in Deutschland, sie kann mehr oder weniger stark ausgepragt in alien OECD-Landem beobachtet werden. Als Faustregel ergibt sich, dass der Anteil der Rentenbezieher an der aktiven Bevolkerung sich in den nachsten 40 Jahren im OECD-Raum etwa verdoppeln diirfte. Die Oberalterung der OECD-Bevolkerungen ist nicht mehr riickgangig zu machen, da ihre Ursachen - die sinkenden Geburtenraten und die hohere Lebenserwartung - „von auBen" bzw. durch politische MaBnahmen nicht zu beeinflussen sind. Die Griinde fiir den Geburtenriickgang liegen nicht allein in einem singularen Schliisselereignis. Die geringen Geburtenraten sind vor allem die Folge einer individuellen Verhaltensanderung. Die hohere Lebenserwartung resultiert insbesondere aus dem erfreulichen Erfolg medizinischer Fortschritte und wesentlich verbesserter soziodkonomischer Rahmenbedingungen wahrend der Phase der Erwerbstatigkeit, beispielsweise durch weniger Berufsunfalle, weniger gesundheitliche Langzeitschaden bzw. weniger korperliche Strapazen. Deshalb spricht wenig fiir eine Korrektur der beiden Trends, die zu einer alter werdenden Gesellschaft fiihren. Fiir die kiinftige Entwicklung der Geburtenzahlen in Westeuropa in den nachsten Dekaden diirften folgende Faktoren eine wesentliche Rolle spielen: • • •

der Funktionswandel der Familie, das veranderte Rollenverstandnis der Frau, die Individualisierung der Gesellschaft.

Der Wunsch nach Kindem wird heute verstarkt von den individuellen Interessen beider Lebenspartner geleitet. Insbesondere die Tatsache, dass Kinder ,JCosten" verursachen, fiSrdert die Tendenz zur Klein- und Kleinstfamilie. Dabei geht es nicht nur um direkte Kosten, sondem ebenso um indirekte Kosten wie den Zeitaufwand der Kinderbetreuung. Sie entstehen dadurch, dass wegen der Kinder berufliche Karrierechancen nicht oder nur eingeschrankt wahrgenommen werden

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konnen. Noch tragen vor allem Mutter die Kosten des Verzichts in Form von verminderten Berufserfolgen und den damit verbundenen GehaltseinbuBen. Weil in Zukunft immer besser ausgebildete junge Frauen vor die Entscheidung „Kinder oder Beruf gestellt werden, ist kaum mit einem ausgepragten Anstieg der Geburtenhaufigkeit zu rechnen. Die Lebenserwartung wird auch in den nachsten Dekaden weiter zunehmen - allerdings mit geringerem Tempo. Der markante Anstieg im letzten Jahrhundert war eine historische Einmaligkeit, die sich so kaum mehr wiederholen diirfte. In Deutschland lag 1900 die Lebenserwartung bei Geburt fiir Manner bei 44,8 Jahren und fiir Frauen bei 48,3 Jahren. 1950 erreichte sie 64,6 Jahren fiir Manner und 68,5 Jahre fur Frauen. Wer heute geboren wird, darf damit rechnen, 75,9 Jahre (Manner) bzw. 81,6 Jahre (Frauen) alt zu werden. Vor allem die SterbHchkeit im ersten Lebensjahr und zwischen 60 und 80 Jahren ist stark zuriickgegangen. Nach dem Stand des heutigen medizinischen Wissens wird sich dieser Trend in diesem Jahrhundert leicht verlangsamt fortsetzen.

2.2 Okonomische Risiken Zweifelsfrei wird durch den historisch beispiellosen demographischen Wandel eine Reihe von Problemen verursacht, da in Deutschland die gegenwartigen Rahmenbedingungen zur Wahrung und Verbesserung des Lebensstandards ganz ausgepragt auf der Annahme einer jungen und wachsenden Gesellschaft basieren. Das offensichtlichste Problem ergibt sich beim Rentensystem, das in Deutschland nach dem Umlageprinzip funktioniert. Im Gegensatz zum kapitalgedeckten Verfahren sorgen die Erwerbstatigen wahrend ihrer Erwerbsphase nicht fur ihre eigene Rente vor, sondem finanzieren durch eine direkte Umlage die gegenwartigen Rentnerinnen und Rentner. Sinken die Geburtenzahlen, gibt es immer weniger Erwerbstatige, um die Rentenempfanger zu finanzieren. Gleichzeitig steigen die Kosten aufgrund der langeren Rentenbezugszeiten, verursacht durch die gestiegenen Lebenserwartungen. Dies fiihrt unmittelbar zu h5heren Rentenbeitragen und damit zu geringeren Nettolohnen bei den Erwerbstatigen. Zusatzlich zu den Beitragen der Erwerbstatigen bezuschusst der Bund die gesetzliche Rentenversicherung in erheblichem Umfang aus Steuermitteln. Im Jahr 2005 betrug dieser Zuschuss 80 Milliarden Euro und deckte damit ca. ein Drittel der gesamten Ausgaben der Rentenversicherung ab. In Zukunft wird der Bundeszuschuss sicherlich steigen, da sich in den letzten Jahrzehnten Rentenanspriiche angesammelt haben, die bei fehlenden Beitragszahlem quasi Staatsschulden sind. Das fiihrt zwangslaufig zum Fehlen von Mitteln beispielsweise fiir Investitionen, wodurch das Wachstum beeintrachtigt und damit letztlich das Nettoeinkommen der Erwerbstatigen noch einmal geschmalert wird. Als Folge

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koimten die Beitrage der Erwerbstatigen wesentlich ansteigen und trotzdem nur fur sehr geringe Renten ausreichen, andemfalls wird der Staat nicht mehr in der Lage sein, die erworbenen Anspriiche zu finanzieren. Wesentliche Veranderungen ergeben sich auch auf dem Arbeitsmarkt. Durch die geringere Geburtenrate stehen friiher oder spater weniger Arbeitskrafte zur Verfiigung. Aufgrund des technischen Fortschritts und des wachsenden intemationalen Wettbewerbs steigen zudem die Qualifikationsanforderungen, was den Bedarf an hoch qualifizierten Erwerbstatigen erhoht und gleichzeitig die Nachfrage nach gering qualifizierten sinken lasst. Wenn zukiinftig das durchschnittliche Alter der Erwerbstatigen steigt und damit ihre Ausbildung immer weiter zuriickliegt, fiihrt dies tendenziell zu einer ungedeckten Nachfrage nach Hochqualifizierten bei gleichzeitigem Uberangebot Niedrigqualifizierter. Damit bleiben Chancen fiir Wachstum ungenutzt, was zwangslaufig zu einem geringeren Bmttoinlandsprodukt (BIP) und damit zu geringeren Pro-Kopf-Einkommen insgesamt fiihrt. Ein weiterer Punkt ist eine mogliche Beeintrachtigung der Innovationsfahigkeit. Altemde Gesellschaften sind in der Kegel weniger innovationsfreudig. Grund daftir ist, dass jede Innovation das bisherige Humankapital „abwertet" und damit dessen Rendite schmalert. Hinzu kommt, dass der Zeithorizont, innerhalb dessen sich eine Investition rechnen muss, kiirzer und somit die Jahresrendite hoher sein muss. In einer altemden Gesellschaft diirfte deswegen die Bereitschaft zu Mobilitat, Flexibilitat und strukturellem Wandel gering sein. Entsprechend negativ waren die Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum. AuBerdem vollzieht sich der demographische Wandel in den Regionen unterschiedlich und fiihrt damit in der raumlichen Besiedelungsdichte zu bedeutenden Veranderungen. Gegenwartig lassen sich Wanderungsbewegungen von landlichen Gebieten in Richtung der Ballungsraume beobachten. Insbesondere die Wanderungen von jiingeren Menschen aus den neuen in die alten Bundeslander halten weiter an. Durch die geringen Geburtenzahlen konnen diese Bevolkerungsabwanderungen nicht ausgeglichen werden. Die regionalen Unterschiede werden durch verschiedene Effekte verstarkt: Da in erster Linie junge Menschen fortziehen, kommen deren Kinder und Kindeskinder dann in den Ballungsraumen zur Welt. Zudem beteiligen sich mehr Frauen an den innerdeutschen Wanderungen als Manner. SchlieBlich zeigt sich, dass die verbleibenden Frauen der landlichen Gebiete geringere Geburtenraten haben als jene in den Ballungsraumen. Diese Entwicklungen fiihren dazu, dass landliche Gebiete starker altem und entvolkert werden als Ballungsraume (siehe den Beitrag von Beets in diesem Band). Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes werden die Bundeslander Sachsen-Anhalt und Brandenburg am starksten davon betroffen sein und bis 2050 ca. 30 Prozent ihrer Bevdlkerung verlieren. Hingegen kann Bayem, vor allem durch den Ballungsraum Miinchen, im selben Zeitraum von einem Bev51-

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kerungswachstum von knapp einem Prozent und Hamburg gar von 3,3 Prozent ausgehen. Durch die unterschiedliche demographische Entwicklung werden auch die Kosten der Infrastruktur, die mit der politischen Vorgabe der gleichen Bedingungen in alien Gebieten Deutschlands vorgegeben sind, pro Kopf in den landlichen Gebieten uberdurchschnittlich starker ansteigen als in den Ballungs-

2.3 Okonomische Chancen Die wesentliche Herausforderung der gegenwartigen demographischen Entwicklung ist nicht die geringe Geburtenrate, sondem der damit einhergehende Alterungsprozess der Gesellschaft. Schiebt man diesen fur einen Moment zur Seite, verHert das Katastrophenszenario viel von seiner scheinbaren Brisanz und eroffnet dariiber hinaus auch positive Effekte. Ein Bevolkerungsriickgang von heute 82,5 Millionen auf 75 Millionen entspricht einem Minus von weniger als zehn Prozent. Viel, wenn man sich vergegenwartigt, dass 7,5 Millionen Menschen fast der Einwohnerzahl Niedersachsens entsprechen und dass ganze Landstriche ver5den werden. Wenig, wenn man sich daran erinnert, dass Deutschland zur Zeit des Wirtschaftswunders auch nicht mehr als 75 Millionen Einwohner zahlte. AuBerdem werden selbst bei dem prognostizierten Bevolkerungsriickgang in Deutschland noch 210 Menschen je Quadratkilometer leben, ein Drittel mehr als in China, dem Land aller Zukunftshoffnungen. Offensichtlich spielt die durchschnittliche Besiedelungsdichte bei der demographischen Herausforderung keine herausragende Rolle. Ebenso verringem sich bei einer Bevolkerungsschrumpfung Konkurrenzsituationen, da die vorhandenen Kapazitaten mit weniger Menschen zu teilen sind; so nimmt etwa die Nachfrage nach Parkplatzen, StraBen, Krankenhausem, Studienplatzen, Schwimmbadem, Freizeiteinrichtungen und Naherholungsgebieten ab. Fiir die Einzelnen wird mehr von allem zur Verfiigung stehen. Das gilt auch far den Faktor Zeit. Rein rechnerisch konnten bei riicklaufigen Geburtenzahlen die wenigen Kinder, die noch geboren werden, mehr Zuneigung erhalten. Fiir Einzelkinder hatten die Eltem mehr Zeit. Sie konnen das verfiigbare Budget fiir Erziehung und Ausbildung auf ein Kind konzentrieren. Somit sind zumindest die Voraussetzungen giinstig, dass kiinftig Kinder besser gebildet sein werden, was das langfristige Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft vergroBert. Desgleichen werden bei einem Riickgang der Erwerbsbevdlkerung mehr Maschinen, Gerate, Anlagen und Rohstoffe je Arbeitskraft zur Verfiigung stehen, und als Folge davon werden die Lohne steigen. Genau aus dem Grunde wird bei schrumpfenden Bevolkemngen auch die Produktivitat der iibrig Bleibenden

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steigen und nicht etwa fallen. Immer weniger Menschen werden immer wohlhabender. Besteht da tatsachlich Grund zur Sorge? Wer sich liber schrumpfende Bevdlkerungen beklagt, muss ein ganz bestimmtes Weltbild im Kopf haben. Es ist dominiert durch ein nationales Denken in geschlossenen Volkswirtschaften. Es folgt einer verengten Sicht, welche die BevolkerungsgroBe mit Macht und Einfluss in der Weltpolitik gleichsetzt. Vielleicht spielen hierbei mehr oder weniger unterschwellig nationalistische Griinde eine Rolle. Oft scheint es, als wiirden bei der Bewertung kunftiger demographischer Prozesse Argumente aus dem Merkantilismus und aus der langst vergangen geglaubten Perspektive des Oswald Spengler die heutige Optik verzerren. Im Zeitalter der Globalisierung verliert eine nationale Bevolkerungsentwicklung jedoch ihren Schrecken. Deutschland geht nicht dem Untergang entgegen, nur weil seine Bevdlkerung in den nachsten 40 bis 50 Jahren um zehn Prozent oder mehr schrumpfen wird. Solange es in Asien, Afrika und Lateinamerika noch schnell wachsende Bevolkemngen gibt, was noch eine ganze Weile der Fall sein wird, konnen in einer hoch arbeitsteiligen Weltwirtschaft Auslander an die Stelle der Inlander treten. Damit ist nicht einmal ein fiir viele Deutsche unerwiinschtes Szenario mit mehr Zuwanderung gemeint. Anstatt Giiter und Dienstleistungen an Deutsche zu verkaufen, lieBen sich die Produkte genauso gut nach China exportieren. Die Erspamisse konnten nicht mehr in Deutschland, sondem irgendwo in den schnell wachsenden Weltregionen angelegt werden. Anstatt im Ruhrgebiet oder im Osten Deutschlands zu investieren, kdnnen Anleger hohe Renditen in Siidostasien erzielen. Spatestens an dieser Stelle zeigt sich, dass der Vorwurf unbegriindet ist, Produktionsverlagerungen ins Ausland seien unpatriotisch. Je offener Deutschland sein wird und je starker es sich in die globale Wirtschaft integriert, desto belangloser werden die okonomischen Folgen einer schrumpfenden deutschen Bevolkerung sein. Somit bleibt vom demographischen Wandel die Alterung der Gesellschaft als alleinige Herausforderung iibrig. Auf den ersten Blick ist diese fiir Wirtschaft und Gesellschaft bedrohlich. Kaum ein Bereich der modemen Dienstleistungsgesellschaft wird von den Folgen ausgespart bleiben. Insbesondere die Auswirkungen einer altemden Bevolkerung auf die Alterssicherungssysteme und deren Riickwirkungen auf die dffentlichen Haushalte scheinen berechtigten Anlass zur Sorge zu geben. Der steigende Finanzierungsbedarf, um Renten auszuzahlen, verbunden mit bereits teilweise dramatischen Staatsdefiziten und -schulden, konnten sich in der Tat negativ auf mittelfiistige Stabilitats- und langerfiistige Wachstumsziele auswirken. So zeigen OECD-Simulationen, dass in den nachsten Dekaden die altersbedingten Staatsausgaben einen gegeniiber heute um sieben Prozent hoheren Anteil des Bruttoinlandprodukts beanspmchen diirften.

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Entgegen der oft vertretenen Meinung soil im Folgenden gezeigt werden, dass die demographische Entwicklung keinesfalls zu okonomischen Problemen fiihren muss, falls rechtzeitig die richtigen MaBnahmen umgesetzt werden.

3.

Politikempfehlungen fur eine alternde Gesellschaft

Ebenso wie die Ursachen des demographischen Wandels nicht durch ein singulares Schliisselereignis zu erklaren sind, kann auch die Losung der hierdurch entstehenden Herausforderungen nicht durch eine einzelne MaBnahme erfolgen. Vielmehr bedarf es einer Reihe von wirtschafts- und sozialpolitischen MaBnahmenbiindeln, wobei diese in ihrer Gesamtheit gesehen werden miissen, da komplexe Abhangigkeiten und Interdependenzen bestehen. In diesem Kapitel sollen nun einige MaBnahmen dargestellt werden, die bei rechtzeitiger politischer Umsetzung dazu beitragen konnen, die in den nachsten Jahren spiirbaren Auswirkungen der demographischen Entwicklung nachhaltig aufzufangen.

3.1 Familienpolitik Eine der mdglichen Optionen, dem demographischen Wandel zu begegnen, besteht darin, die gesellschaftliche Alterung aufzuhalten und eine junge und wachsende Gesellschaft wiederherzustellen. Demographische Entwicklungen werden durch lediglich drei Variablen bestimmt: FertiHtat, Mortalitat und Migration. Um den Alterungsprozess aufzuheben, fallt eine der drei Variablen von vomherein heraus: Die Lebenserwartung wird vermutlich noch weiter steigen, was begriiBenswert ist. Damit bleiben nur noch zwei der Variablen iibrig. In Deutschland liegt die Geburtenrate pro 100 Frauen gegenwartig bei ca. 130 Kindem. Um die Bevolkerungszahl zu halten, miisste sie bei 210 liegen. 1870 betrug sie noch etwa 500 und ist dann stetig gefallen. Ein zwischenzeitliches Hoch wurde in den 1970er Jahren mit rund 270 erreicht. Die Geburtenrate ist keine „von auBen" zu steuemde GroBe. Da Kinder heute langst nicht mehr als Altersvorsorge begriffen werden, sondem eher als „Kostenfaktor" in vielerlei Hinsicht, kann Familienpolitik lediglich die Rahmenbedingungen so gestalten, dass die Kosten fur Kinder minimiert werden. Dazu zahlen finanzielle Unterstiitzung der Eltem bzw. Mutter, der Ausbau von Betreuungseinrichtungen fur Kinder, aber auch die Verbesserung des beruflichen Wiedereinstiegs im Anschluss an Erziehungszeiten. Weiterhin bedeutet das. Kinder friihzeitig einzuschulen und sie in Ganztagsschulen hervorragend zu bilden. Und schlieBlich muss durch eine modeme Wirtschaftspolitik gerade jungen Menschen eine langfiistige Ferspektive fur eine erfolgreiche Bewaltigung ihrer Zukunft gegeben werden, ist doch die

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Unsicherheit iiber die individuelle Bemfs- und Einkommenssituation ein wesentlicher Hinderungsgrund, den Kinderwunsch zu erfiillen.

3.2 Migration Eine nahe liegende Moglichkeit, Probleme schrumpfender und altemder Bevolkerungen zu losen, scheint zu sein, die fehlenden eigenen Kinder durch auslandische zu ersetzen. Diese Problemlosung mag sinnvoll erscheinen, weil in vielen weniger entwickelten Landem die Geburtenraten und ebenfalls die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch sind. Die groBte Zuwanderung nach Deutschland wurde Anfang der 1990er Jahre mit ca. 800.000 Menschen pro Jahr verzeichnet. Seitdem ist die Zahl konstant riicklaufig und liegt gegenwartig unter 100.000. Heute liegt der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevolkerung bei 19 Prozent (Statistisches Bundesamt 2006a). Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (2003) konnte die Bevolkerungszahl in Deutschland durch Zuwanderung von 300.000 Menschen jahrlich bis 2050 bei 82 Millionen und damit ungefahr konstant gehalten werden. Bei diesem Szenario waren ab 2005 insgesamt 13,9 Millionen Menschen zugewandert. Bei einer jahrlichen Zuwanderung von lediglich 100.000 Menschen und insgesamt 5,3 Millionen wiirde die Bevolkemng bis 2050 auf 67 MilHonen schrumpfen. Dieser zunachst groB erscheinende Unterschied vemachlassigt jedoch wesentliche Effekte. So bedarf es gewaltiger Zuwanderungen, um die Bevolkerungszahl zu halten. AuBerdem werden auch Zuwanderer alter, und deren Alterstmktur wird beispielsweise durch Nachzug von Angehorigen verandert. Dariiber hinaus hat sich gezeigt, dass sich das Geburtenverhalten der Zuwanderer an jenes der Deutschen anpasst. Bei einem Vergleich der Altersquotienten (bezogen auf das durchschnittliche Renteneintrittsalter von 65 Jahre) im Jahre 2050 zeigt sich nur ein Unterschied von 0,51 bei 300.000 Zuwanderem zu 0,59 bei 100.000. Hieran lasst sich erkennen, dass die Effekte der Zuwanderung meist iiberschatzt werden. Einwanderung kann durchaus einen starken Einfluss auf die absolute Bevdlkerungszahl ausiiben. Allerdings ist bei geringeren Einwanderungsstromen der Einfluss auf den Altersaufbau der Bevolkemng klein und damit der Beitrag zur Losung des Alterungsprozesses der Aufnahmegesellschaft gering. Zuwanderung kann helfen, den Anstieg des AQ vonibergehend zu mildem, um den AQ nachhaltig und dauerhaft zu senken, ist Zuwanderung nur dann geeignet, wenn permanent sehr viele junge Auslanderinnen und Auslander einwandem wiirden. Denn auch die Einwandemden erwerben Anspriiche an das von ihnen mitfinanzierte Rentensystem.

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Dariiber hinaus ist Einwanderung mit Kosten verbunden. Zuwanderung kann nur erfolgreich sein, wenn die Zugewanderten erfolgreich integriert werden. Dass die Integration nicht immer problemlos funktioniert, lasst sich gegenwartig an den Ergebnissen der PISA-Studien erkennen. Gerade Kinder mit Migrationshintergrund werden im deutschen Bildungssystem besonders benachteiligt. Insbesondere zeigte sich, dass Kinder, deren Umgangssprache nicht deutsch ist, schlechtere schuHsche Leistungen haben. Des Weiteren ist in keinem anderen Land die soziale BildungsmobiHtat so gering, also der Zusammenhang zwischen Leistung von Kindem und sozialer Schicht der Eltem so stark wie in Deutschland. Selbst wenn Migration den demographischen Wandel nicht aufhalten kann, so tragt sie doch einen wesentHchen Teil zur Milderung der Folgen bei. Die gezielte Anwerbung besonders quahfizierter Auslander ist ein kostengiinstiges Mittel, um kurzfristige Engpasse auf dem Arbeitsmarkt zu iiberbriicken, da die Anpassung der Bildungssysteme normalerweise der Nachfrage nach Arbeitskraften nicht in dem gleichen Tempo folgen kann. Denn trotz der gegenwartigen hohen Arbeitslosigkeit besteht in bestimmten Branchen ein groBer Mangel an hoch qualifizierten Arbeitskraften, die gegenwartig im Inland nicht zur Verfiigung stehen. In Zukunft wird der Bedarf infolge der technologischen Entwicklung etwa im ITBereich, aber auch aufgrund der demographischen Entwicklung beispielsweise im Pflegebereich weiter steigen. Um Zuwanderung wirtschaftlich sinnvoll zu gestalten, bedarf es daher einer adaquaten Migrationspolitik, die festlegt, wie viele Menschen zuwandem, wie lange sie bleiben und wie die Auswahl ablauft. Viele Staaten wie z.B. Kanada oder Australien haben bereits sehr erfolgreiche Modelle entwickelt. Insofem ist Migration nicht als eine Mafinahme zur Verhinderung der Alterung der Gesellschaft zu verstehen, sondem eher als ein kurzfristiges und kosteneffizientes Instrument, um kurzfristige Nachfrageiiberschiisse auf dem Arbeitsmarkt zu iiberbriicken. Dennoch darf nicht iibersehen werden, dass Migration ein mit Emotionen behaftetes Thema ist und daher oft politisch instrumentalisiert wird. Trotz vieler Vorbehalte konnte eine klug gesteuerte Migration wesentlich starker zum Wirtschaftswachstum beitragen und damit den Wohlstand Deutschlands erhohen.

3.3 Erhohung der Lebensarbeitszeit Bei der Analyse der Folgen des demographischen Wandels anhand des AQ ist wesentlich, dass der Wert keine unveranderbare Grofie ist, sondem beeinflusst werden kann. Die bisher aufgezeigten Folgen des Alterungsprozesses gingen auch davon aus, dass sich die iibrigen Bedingungen nicht andem. Wenn der stei-

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gende AQ die Ursache dkonomischer Probleme sein sollte, dann sind dementsprechend jene Handlungsmoglichkeiten nahe liegend, die sich unmittelbar aus der Berechnung der AQ ergeben. Da der AQ das Verhaltnis von Rentenbeziehem zu Erwerbsfahigen ausdriickt, kann sowohl im Zahler (bei den Rentnerinnen und Rentnem) wie auch im Nenner (bei den Erwerbsfahigen) angesetzt werden, um den AQ wieder zu senken. Der erste Losungsansatz kdnnte daher einfach lauten, dass sich die Lebensarbeitszeit erhohen muss. Dies ware in doppelter Hinsicht wirkungsvoll: Einerseits wiirde die Zahl der Rentnerinnen und Rentner (also der Zahler) langsamer steigen, andererseits wiirde die Zahl der Erwerbsfahigen (also der Nenner) hoher bleiben und damit den AQ verringem. Es ist dann allein eine mathematische Frage, bei welchem Rentenalter die kiinfligen AQ auf dem heutigen Niveau eingefroren werden konnten. Dieser Schritt ergibt sich nicht zuletzt aus den Gegebenheiten einer wissenschaftsbasierten Wirtschaft. Zum einen benotigen Jugendliche immer mehr Zeit fur ihre Ausbildung und kommen damit spater auf den Arbeitsmarkt. Zum anderen miissen sich Erwerbstatige wahrend der gesamten Erwerbsphase weiterbilden und werden somit dem Arbeitsmarkt temporar entzogen. Daher muss das iiber ein ganzes Leben angeeignete Humankapital auch langer genutzt werden. Hierbei ist gleichzeitig zu beachten, dass die Erhohung der Lebensarbeitszeit die Rendite durch Bildung erhoht und damit zusatzliche Anreize zur Fort- und Weiterbildung setzt. Eine andere polit5konomische und gesellschaflliche Frage bleibt natiirlich, ob diese Anhebung des Rentenalters gewiinscht ist. Als 1957 das heutige Umlageverfahren eingefiihrt wurde, hatten die Menschen eine durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt von etwa 72 (Frauen) bzw. 67 Jahren (Manner). Zwischenzeitlich hat sich eine Scherenbewegung ergeben: Das tatsachliche Rentenalter wurde schrittweise gesenkt, wahrend die Lebenserwartung kontinuierlich stieg. Heute ist die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt ca. 81 (Frauen) bzw. 75 Jahre (Manner) und wird bis 2050 voraussichtlich auf 86 (Frauen) bzw. 81 Jahre (Manner) ansteigen. Wahrend damals die durchschnittliche Lebenserwartung und das Rentenalter nicht weit auseinander lagen, erleben die Rentner und vor allem Rentnerinnen ihren Ruhestand heute noch 15 bis 20 Jahre. Insofem stellt sich die Frage, ob es nicht angemessen ist, entsprechend der gestiegenen Lebenserwartung auch das Rentenalter anzuheben, beispielsweise pro Jahr zusatzlicher Lebenserwartung um drei Monate, so dass also das heutige Rentenalter bei 67 Jahren liegen wiirde. Die Deutsche Bundesbank (2004) erwartet, dass bei einer Erhohung des durchschnittlichen Rentenalters um zwei Jahre bis 2015 das Erwerbspersonenpotenzial um zwei Millionen bzw. 4,5 Prozent hoher sein wird. So gesehen ist die von der GroBen Koalition beschlossene Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ein Schritt in die richtige Richtung.

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3.4 Erhohung der Erwerbsquote Bei der bloBen Betrachtung des AQ, der Rentenempfanger in Bezug zu Erwerbsfahigen setzt, bleibt offen, ob die Erwerbsfahigen auch wirklich erwerbstatig sind und einer Beschaftigung nachgehen. Daher ist es wichtig, neben dem AQ auch die Erwerbsquote (EQ) im Auge zu behalten, die angibt, in welchem AusmaB die Erwerbsfahigen auch tatsachlich erwerbstatig sind. Die EQ ist deshalb entscheidend, weil ein steigender AQ dann namlich nur ein mathematisches, aber kein tatsachhches Problem ist. Soweit die EQ im selben AusmaB wie der AQ steigt, sich also der Anteil der Erwerbstatigen an der Bevolkerung erhoht, wird der tatsachliche Effekt des steigenden AQ praktisch aufgehoben. Vereinfacht ausgedriickt, konnte ein verbessertes Ausschopfen heute nicht beanspruchter „stiller Reserven" den Effekt der demographischen Alterung zumindest teilweise kompensieren. „Stille Reserven" finden sich zunachst einmal bei den Frauen. Zwar ist mit dem strukturellen Wandel vom Industrie- zum Dienstleistungssektor die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Deutschland gewachsen. Sie ist jedoch weiterhin deutlich geringer als bei den Mannem. Die EQ der Frauen lag 2005 in der Gruppe der 15- bis unter 65-Jahrigen bei 66,8 Prozent, bei den Mannem dazu im Vergleich bei 80,4 Prozent. Auch ist die durchschnitthche Wochenarbeitszeit der Frauen wesentlich geringer als die der Manner, da Frauen haufiger einer Teilzeitbeschaftigung nachgehen. Wahrend 2004 nur 6,3 Prozent der erwerbstatigen Manner eine Teilzeitarbeit batten, war der Anteil bei den Frauen bei 37 Prozent. Im intemationalen Vergleich liegt die Erwerbstatigkeit von Frauen damit weit zuriick. Die skandinavischen Lander sind hier fiihrend. In tJbereinstimmung mit den traditionellen Mustem der Rollenverteilung der Geschlechter reduzieren vor allem Frauen ihren Beschaftigungsgrad bei der Geburt eines Kindes. Die Unterschiede zwischen den Erwerbsquoten sind im Alter von 20 bis 45 Jahren und damit in der Familienphase besonders stark ausgepragt. Bei den Mannem ist in Deutschland noch keine entsprechende Verhaltensandemng zu beobachten, wie dies etwa in Skandinavien der Fall war. Langerfristig wird es sich auf jeden Fall lohnen, die soziookonomischen Voraussetzungen zu verbessem, damit Frauen verstarkt dem Arbeitsmarkt zur Verfiigung stehen. An einem Anstieg der Erwerbsbeteiligung der Frauen sollte auch deshalb kein Weg vorbei fuhren, weil von der Bildungsexpansion der letzten Dekaden vor allem die Frauen profitiert haben. Keine fruhere Frauengeneration war auch nur annahemd so gut ausgebildet wie die heutigen Generationen. In den letzten 30 Jahren haben sich die Frauen bei der bemflichen Qualifikation immer weiter an die Werte der Manner angepasst. Der Anteil der Frauen mit Bemfsabschluss ist von ca. 40 Prozent auf annahemd 60 Prozent, der mit Hoch- oder Fachhochschulabschluss von nahezu Null auf iiber zehn Prozent gestiegen. Lediglich 30

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Prozent der Frauen verfiigen iiber keinen Berufsabschluss und damit halb so viele wie noch vor 30 Jahren. Bei den Schulabschliissen haben die Frauen die Manner mittlerweile tiberholt und stellen in den Realschulen und Gymnasien deutlich die Mehrheit (Statistisches Bundesamt 2006b). Frauen werden in Zukunft im Durchschnitt wahrscheinlich besser ausgebildet sein als Manner. Damit wird ein Verzicht auf eine spatere Nutzung des erworbenen Humankapitals nicht nur fiir die betroffenen Frauen, sondem auch fiir die Gesellschaft insgesamt immer kostspieliger. Eine andere „stille Reserve" liegt bei den alter werdenden Deutschen. Durch den Trend zum vorgezogenen Ruhestand und zur Altersteilzeit ist die Erwerbsquote der alteren Deutschen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken. Gleichzeitig hat sich die berufliche Situation von alteren Erwerbstatigen immer weiter verschlechtert, wie eine OECD-Studie (2005) belegt: Altere haben hohere Arbeitslosenraten, sie sind in schrumpfenden Branchen iiberreprasentiert und haben im Durchschnitt einen schlechteren Ausbildungsstand als jiingere Generationen. Die EQ betrug im Jahr 2004 fiir 55- bis 64-Jahrige ca. 41 Prozent, was deutlich unter dem OECD-Durchschnitt und zudem unter dem in der Lissabon-Strategie angestrebten Wert von 50 Prozent bis 2010 liegt. Allerdings lasst sich auch feststellen, dass seit Mitte der 1990er Jahre der Anstieg der Erwerbstatigkeit sowohl in der Gruppe der 50- bis 54-Jahrigen als auch in der Gruppe der 60- bis 64-Jahrigen weit iiber dem OECD-Durchschnitt liegt. Um die alteren Menschen wieder starker in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sind einige Korrekturen der bisherigen Politik notwendig. Die Vorgehensweise, iiber 50-Jahrige als nicht mehr vermittelbar einzustufen und daher ihr friihzeitiges Ausscheiden zu fordem, hat die Probleme nur weiter verscharft. Es kommt also darauf an, alteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmem zu ermoglichen, ihre sozialen Kompetenzen so wie ihre Berufs- und Lebenserfahrung einzubringen. Dazu gehoren beispielsweise Stellen mit kiirzeren und flexibleren Arbeitszeiten, die Teilzeitarbeit, Jobsharing und andere Formen der individuellen Arbeitszeitregelung ermoglichen. Dazu gehort aber auch eine altersspezifische Weiterbildung, die zu einer erhohten Produktivitat und verbesserten Mobilitat alterer Arbeitskrafte beitragt. Oft fehlt es indes an Eigeninitiative. Die Nachfrage nach Weiter- und FortbildungsmaBnahmen ist bei alteren Erwerbstatigen besonders niedrig ausgepragt. Tendenziell sind altemde Gesellschaften weniger innovationsfreudig, weil Innovation ihr Humankapital abwertet. Entgegen landlaufiger Vorurteile ist es jedoch nicht zwingend, dass der rasche technologische Fortschritt das herkommliche Wissen und Konnen der iiber 50-Jahrigen besonders schnell entwertet. Gerade der Strukturwandel vom Industrie- zum Dienstleistungszeitalter bietet alteren Menschen gute Moglichkeiten, sich in die Arbeitswelt zu integrieren. In Zukunft werden soziale Kompetenzen, Kommunikations-

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und Teamfahigkeit, Erfahrung und Geduld immer wichtiger werden. Dies sind Fahigkeiten, die in der Regel mit zunehmendem Alter nicht schlechter werden. Eine Erhohung der Erwerbsbeteiligung alterer Arbeitnehmer mag auf den ersten Blick als ein Abbau sozialer Errungenschaften erscheinen. Je driickender jedoch die demographische Hypothek auf den OECD-Volkswirtschaften lasten wird, desto weniger werden sie es sich leisten konnen, Erwerbstatige, die noch arbeitswillig und -fahig sind, zu unproduktiven Rentenbeziehem zu machen. Eine weitere „stille Reserve" sind die Erwerbslosen. Sie werden zwar vom AQ als Erwerbsfahige erfasst, nicht jedoch von der EQ und belasten die Sozialsysteme in zweierlei Hinsicht, einerseits durch Kosten und andererseits durch ihre fehlenden Beitrage. Die Wirkung einer hohen Arbeitslosigkeit auf die dffentlichen Haushalte ist daher fiir eine altemde Gesellschaft mit noch hdheren Kosten verbunden, insbesondere wenn diese nicht konjunkturellen, sondem strukturellen Ursprungs ist.

3.5 Reform des Erwerbverhaltens Zusatzlich zu den oben genannten gesellschaftspolitischen Mafinahmen bieten sich weitere okonomische Losungen an. Sie zielen darauf ab, die wirtschaftlichen Konsequenzen der demographischen Alterung zu kompensieren, indem durch Wachstumseffekte hohere Einkommen fur kiinftige Generationen generiert werden, um deren steigende Abgabenlast „ertraglicher" zu machen. Deshalb muss mit der Erhohung der Erwerbsquote und Lebensarbeitszeit auch eine umfassende Neugestaltung des gesamten Erwerbverhaltens einhergehen. Die zugrunde liegende Idee dabei ist, dass die Menschen in Deutschland nicht nur friih in das Erwerbsleben starten und dieses spater beenden, sondem wahrenddessen auch mehr erwirtschaften. Die makrodkonomischen Probleme altemder Bevolkerungen lieBen sich fiir die Erwerbspersonen verringem, wenn als Folge des technischen Fortschritts und/oder als Folge eines vergroBerten gesamtwirtschaftlichen Kapitalstocks die Arbeitsproduktivitat ansteigt und als Spiegelbild davon die Reallohne angehoben wiirden. Die aus demographischen Griinden pro Erwerbsperson steigenden Sozialabgaben wiirden dann aus dem Produktivitatszuwachs erbracht werden. Die Nettolohne miissten nicht schrumpfen, sondem konnten moglicherweise ansteigen. Andererseits aber brauchten die Renten nicht voUumfanglich an die reale Lohnentwicklung angepasst werden. Wie empfanglich eine altemde Gesellschaft tatsachlich fiir Innovationen und technologischen Fortschritt ist, wird erst die Zukunft zeigen. Der kiinftige Verlauf der Produktivitatsentwicklung wird jedoch wesentlich durch die Humankapitalbildung in einer Volkswirtschaft bestimmt werden. Im

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Rahmen der Intemationalisierung der Markte findet gegenwartig eine Verlagerung der arbeitsintensiven Produktion in Niedriglohnlander statt. Tatigkeiten, die eine hohe Qualifikation benotigen, werden jedoch hdchstwahrscheinlich weiterhin in den OECD-Landem ausgefiihrt werden. So ist zwischen 1975 und 2000 die Beschaftigung von Hochqualifizierten um 180 Prozent gestiegen. In modernen Volkswirtschaften ist deshalb die Qualifikation der Erwerbstatigen ein Faktor von groBter Bedeutung. Die OECD schatzt, dass aktuell mehr als die Halfte des BIP durch Humankapital generiert wird. Die Kenntnisse und Fahigkeiten der Menschen werden also gegeniiber den materiellen Werten der Waren immer wichtiger (Straubhaar/Boswell 2005). Bei riicklaufigen Kinderzahlen sollten die Eltem eigentlich mehr Ressourcen frei haben, um sie fur die einzelnen Kinder einzusetzen und etwa in die Bildung der Kinder zu investieren. Dadurch steigt der Humankapitalstock, die zukiinftige Arbeitsqualitat verbessert sich und damit auch die Produktivitat, was das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft vergrdfiert. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, Anreize zu setzen, damit Eltem, Arbeitskrafte oder Arbeitgeber in Humankapital investieren. Durch eine standige Aus- und Weiterbildung wiirde das Know-how der aktiven Erwerbsgeneration und vor allem auch der neu auf den Arbeitsmarkt drangenden Jugendlichen erhalten und vergrdBert. So lieBe sich die Arbeitsproduktivitat erhohen. Ein Riickgang der Quantitat wiirde dann durch eine verbesserte Qualitat der Arbeitskrafte kompensiert oder gar iiberkompensiert. Es sei hier nur angedeutet, dass gerade Bildungssysteme mit einer starkeren Eigenfinanzierung die beste Gewahr fiir eine Maximierung der Rendite von Ausbildungsinvestitionen bieten.

3.6 Reform der Alterssicherung Die grdBte Herausforderung, die sich durch den demographischen Wandel ergibt, ist jedoch eine umfassende Reform der Alterssicherungssysteme. Das existierende Umlageverfahren ist aus den oben beschriebenen Griinden fiir eine altemde Gesellschaft nicht geeignet. In der bisherigen Diskussion wurde am starksten thematisiert, inwieweit mit einem Ubergang vom heutigen Umlageverfahren zu Kapitaldeckungsverfahren ein hoherer Kapitalstock gebildet werden kann, der in der Lage ist, sich positiv auf das Wachstum einer Volkswirtschaft auszuwirken. Wurden hier in der Vergangenheit relativ einseitig die Vorteile der kapitalgedeckten Vorsorgesysteme hervorgehoben, mahnen neuere Forschungsergebnisse eher zur Vorsicht (siehe hierzu auch EZB 2000). Die Einfliisse und gegenseitigen Riickwirkungen einer altemden Bevolkerung auf die Makrookonomie lassen sich nur schwerlich auf die Frage „Umlage- oder Kapitaldeckungsverfahren" reduzieren. Wenn beispielsweise eine altemde Bevdlkerung weniger spart, weil sie

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mehr Geld fiir den Konsum von mehr Rentnerinnen und Rentnem braucht, diirften die realen Zinsen ansteigen, was neue Anreize fiir eine private Erspamisbildung schafft. Der reale Zinsanstieg wird aber andererseits die Investitionstatigkeit negativ beeinflussen, was wiedemm das langfristige Wachstum beeintrachtigt. Im Zentrum der Debatte steht die private Sparquote. Dabei ist nicht unumstritten, inwieweit sich ein gesetzlich vorgeschriebenes Vorsorgesparen negativ auf das freiwillige private Sparen auswirkt. Die private Erspamisbildung ist von vielen Faktoren abhangig. Insbesondere das Wachstum und damit die Einkommensentwicklung spielen eine wesentliche Rolle, sodass sich die Effekte des staatlich angeordneten Zwangssparens nicht isolieren lassen. Zumindest kann gesagt werden, dass die Annahme einer vollstandigen Verdrangung der privaten Spartatigkeit durch die gesetzliche Altersvorsorge weder plausibel ist, noch durch die Empiric bestatigt wird. Ebenso herrscht mittlerweile Konsens, dass auch ein kapitalgedecktes System von der Altersstruktur der Bevolkemng abhangig ist. Zusammenfassend lasst sich festhalten, dass heute „Mischsysteme" besonders positiv beurteilt werden, die sowohl umlage- wie kapitalgedeckte Elemente der Altersvorsorge enthalten. Das Mehrsaulenmodell der Schweiz ist ein gutes Beispiel iiir ein Vorsorgesystem, das relativ altersstrukturbestandig ist. Mit den Vor- und Nachteilen von Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren ist die Frage eng verbunden, ob die Menschen in einer altemden Gesellschaft mehr oder weniger sparen werden und welche Wachstumseffekte dies hat. Wenn Erwachsene weniger Kinder haben (werden), gibt es dann mehr oder weniger Anreize, um zu Gunsten des zukiinftigen auf den gegenwartigen Konsum zu verzichten? Hier lasst sich eine Vielzahl von Argumenten in die eine oder andere Richtung anfiihren, die auch mit den Bediirfnissen des Arbeitsmarktes und den Entwicklungen der realen Lohne in Zusammenhang stehen. Eindeutige Ex-anteAntworten sind deshalb nicht zu finden. Die Wachstumseffekte altemder Bevolkerungen sind nicht eindeutig im Voraus prognostizierbar. Sie hangen zu stark von Wechselwirkungen, individuellen Verhaltensreaktionen bei der privaten Erspamisbildung, von der Rate des technischen Fortschritts und von der Offenheit nationaler Faktormarkte fiir Kapital und Arbeit ab. So wird etwa eine altemde Bevdlkerung bei konstanter alters- und geschlechtsspezifischer Erwerbsquote zunachst ein stagnierendes und dann ein schrumpfendes Arbeitskraftepotenzial sowie mehr Rentenempfanger aufweisen. Wegen des sinkenden Arbeitsangebots werden die Arbeitslosenzahlen zuriickgehen und die Bruttolohne fiir die Erwerbstatigen steigen. In neoklassischen Wachstumsmodellen geht eine altemde Bevolkemng mit einer steigenden Kapitalintensitat und damit steigendem Pro-Kopf-Bmttoeinkommen einher: Weil weniger Kapital fiir Ausstattungs- und Ersatzinvestitionen aufzuwenden ist, verbes-

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sert sich der Kapitalstock pro Arbeitskraft, was die Arbeitsproduktivitat und somit das Pro-Kopf-Einkommen erhoht. Es kommt zu einer Gesellschaft mit immer weniger und immer reicheren Menschen. Die Effekte einer altemden Bev51kerung waren, isoliert betrachtet, somit gesamtwirtschaftlich positiv. Wichtig scheint also, dass bereits heute, wo der Anteil der erwerbstatigen Bevolkerung noch relativ hoch ist, Anreize zur privaten Erspamisbildung geschaffen werden. Dadurch wiirden umso friiher die realen Zinsen sinken, die Investitionstatigkeit wiirde daher zunehmen, die Arbeitsproduktivitat ansteigen und die wirtschaftliche Entwicklung so auf einen starkeren langfristigen Wachstumspfad gebracht. Diese Anreize zur privaten Erspamisbildung kdnnten etwa durch private Altersvorsorgesysteme geschaffen werden, die nach dem Kapitaldeckungsverfahren finanziert und steuerlich privilegiert werden. Die „Riesterrente" setzt hier ein richtiges Zeichen. Sollte das Umlageverfahren beibehalten werden, was bedeutet, dass die heutigen Erwerbspersonen und vor allem deren Nachfolgegenerationen durch hohere Sozialabgaben starker belastet werden, um so den Alterskonsum einer steigenden Zahl von Rentnerinnen und Rentnem zu finanzieren, gabe es eine Option, dies explizit zu berucksichtigen. Sie bestiinde darin, gegen die Ursache, namlich die sinkenden Geburtenzahlen, anstatt gegen die Folgen anzugehen. Denkbar ware entweder die Rentenbeziige positiv oder die Rentenbeitrage negativ von der Anzahl eigener Kinder abhangig zu machen. So gesehen ist die Anrechenbarkeit der Kindererziehungsjahre far die Rentenanspruchsermittlung ein richtiger Schritt. Eine wirtschaftspolitisch noch effizientere Option wiirde darin bestehen, der heutigen Erwerbsgeneration die Wahl zu lassen, ob sie ihren Beitrag zu einem obligatorischen, umlagefinanzierten Altersvorsorgesystem entweder in Form von eigenen Kindem oder in Form von Einzahlungen in einen Altersfonds leisten woUen. Um fiir den Konsum im Alter vorzusorgen, kdnnten Erwerbspersonen ihre Ressourcen, die sie nicht konsumieren, dafiir einsetzen, dass sie entweder •

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eigenen Kindem einen Konsum ermoglichen, um durch diesen heutigen Konsumverzicht spater entsprechend durch ihre Kinder unterstiitzt zu werden (expliziter Generationenvertrag), oder eigenen Kindem Bildung finanzieren, um durch diesen heutigen Konsumverzicht Humankapital zu akkumulieren, um so zum generellen Produktivitatsfortschritt beizutragen und im Alter durch die Transformation des Humankapitals in Konsumgiiter die laufenden Lebenshaltungskosten zu finanzieren, oder, falls die heutigen Erwerbspersonen auf Kinder verzichten wollen oder verzichten miissen, in Sachkapital investieren, um iiber die Sachkapitalbildung

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das Wachstumspotenzial zu erhdhen und um im Alter durch den Verzehr des akkumulierten Kapitalstocks den laufenden Konsum zu finanzieren. Eigene Kinder, private Kapitalbildung oder ein geminderter Anspruch auf eine Altersrente waren dann substitutive Moglichkeiten, um demographisch bedingte Finanzierungsprobleme der Altersicherung anzugehen.

4.

Zusammenfassung

Zusammengenommen zeigt sich, dass demographische Alterungsprozesse keine liberstiirzten wirtschaftspolitischen Handlungen erfordem. Zumindest bediirfen sie keiner grofieren Anpassungsschritte, als sie in einer hoch arbeitsteiligen, globalisierten Welt nicht ohnehin durch den technologischen Stmkturwandel unabdingbar sind. Was bleibt vom demographischen Gespenst iibrig? Wenig! Denn demographische Gespenster sind nur dann bedrohlich, wenn wir ohne viel nachzudenken an ihren Spuk glauben. Nicht die Schrumpfung, sondem die Alterung ist die demographische Herausforderung. Sinkende Geburtenraten und hohere Lebenserwartungen werden in alien europaischen Gesellschaften zwangslaufig zu einer Alterung der Gesellschaft fiihren. Immer weniger Jiingere werden immer mehr Alteren und Alten gegeniiberstehen. Aber eigentlich ist es auch nicht die Alterung, sondem nur unser Umgang mit einer alter werdenden Gesellschaft, der Probleme verursachen kann, aber keinesfalls Probleme verursachen muss. Depressive Stimmungen sind nur dann angezeigt, wenn wir weiterhin einem Kompass folgen, der auf sozialstaatliche Sicherungssysteme aus einer Zeit wachsender und junger Bevolkerungen ausgerichtet ist. Dringend notwendig ist eine vollstandige Neuorientierung. Die Folgen einer schrumpfenden und altemden Bev51kerung sind nicht gottgegebene Schicksalsschlage. Sie sind von der Politik verursachte Konsequenzen, die mit den richtigen MaBnahmen erfolgreich gemeistert werden konnen. Um negative Wirkungen altemder Bevolkerungen auf die Nettoeinkommen der Erwerbstatigen zu minimieren und eine Senkung des Lebensstandards als Folge demographischer Prozesse zu vermeiden, bedarf es optimal funktionierender Giiter-, Kapital- und Arbeitsmarkte sowie ordnungspolitischer Rahmenbedingungen, die rasch und flexibel an geanderte Altersstrukturen angepasst werden konnen. Statt einer teuren und wahrscheinlich wenig wirksamen Familienund Migrationspolitik zur Aufrechterhaltung der Sozial- und Vorsorgesysteme sollten die sozialen Sicherungssysteme an die demographische Situation angepasst werden. Folglich ist nicht eine notdiirftige, kaum wirkungsvolle Reparatur veralteter Systeme, sondem die Schaffung neuer, zukunftsfahiger Sichemngssysteme das Gebot der demographischen Herausfordemng.

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Zu diesen Mafinahmen zahlen zunachst offene und frei funktionierende Markte. Gmndsatzlich gilt, dass in einer offenen Volkswirtschaft makrookonomische Effekte durch Transaktionen auf intemationalen Giiter-, Kapital- und Arbeitsmarkten kompensiert werden und somit den inlandischen Wachstumspfad kaum beeintrachtigen. Zusatzlich erfordert es wesentliche Anderungen auf dem Arbeitsmarkt: Weniger Leute werden mehr und bessere Arbeit verrichten miissen. Um der steigenden Zahl von Rentnerinnen und Rentnem zu begegnen, kommen wir nicht umhin, „stille Reserven" zu mobilisieren. Zu den groBten Gruppen, die hinsichtlich der Erwerbsquote deutlich unterreprasentiert sind, zahlen Frauen und Altere. Hier sind entsprechende Konzepte zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf notwendig. Auch muss es gelingen, den Trend zur Fruhverrentung zu durchbrechen, der gerade durch den Ausbau der staatlichen Altersvorsorgesysteme ermdglicht wurde. Ebenso kommt der Qualifikation der Erwerbstatigen eine besondere Rolle zu. Je weniger Erwerbstatige es gibt, desto produktiver miissen die verbleibenden sein. Femer bedarf es einer kompletten Umstellung unseres gesamten Erwerbsverhaltens. Das klassische Muster einer einmaligen Ausbildung und anschlieBender Arbeit bis zur Rente muss durch das Konzept des lebenslangen Lemens und der Anpassung an die sich schnell verandemden Bediirfnisse des Marktes ersetzt werden. Genauso sollte die Fixierung der Altersgrenzen iiberpnift werden. Sie sind gegebenenfalls zu flexibilisieren bzw. an die gestiegene und weiter steigende Lebenserwartung anzupassen. Eine Anhebung des Ruhestandsalters, beispielsweise ein im Gleichschritt zur steigenden Lebenserwartung steigendes Renteneintrittsalter, wiirde die Alterssicherungssysteme in zweierlei Hinsicht entlasten: einerseits durch die verlangerte Erwerbstatigkeit und andererseits durch die verkiirzte Rentenbezugszeit. SchlieBlich ist es unvermeidlich, das gegenwartige Rentenumlageverfahren hinsichtlich seiner Unabhangigkeit von der Alterstruktur wie auch hinsichtlich seiner Effektivitat zu reformieren. GleichermaBen ist es notwendig, bestimmte aktuelle Vorstellungen zu iiberdenken. Dazu gehort u.a. die ,JEinheitlichkeit der Lebensverhaltnisse" in der bundesweiten Flache. Die Entvolkerung der landlichen Gebiete durch den anhaltenden Trend der Wanderungen von der Peripherie in die Zentren wird durch geringe Geburtenraten verstarkt, was die Infrastmkturkosten iiberproportional steigen lasst. Es stellt sich die Frage, warum dieses Phanomen als Problem angesehen wird. Wieso miissen und sollen im gesamten Bundesgebiet Menschen wohnen und leben? Wieso wird die Wanderung in die Kerne nicht gefordert und akzeptiert, dass periphere Raume wenig oder unbesiedelt bleiben? Das Schrumpfen der deutschen Bevdlkerung konnte zum Riickzug des Menschen aus der Flache fiihren, was durchaus begriiBt werden kann. Die beschriebenen Mafinahmen bedeuten tiefe Einschnitte in die derzeitigen sozialstaatlichen Sicherungssysteme und besonders in das individuelle Erwerbsverhalten. Damit diirfte die politische Umsetzung schwierig werden. Wenn wir

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jedoch unseren Lebensstandard langfristig bewahren wollen, gibt es keine Alternative zu tief greifenden Reformen, auch weim diese fiir viele zu kurzfristigen Verlusten fiihren. Hier gilt, was im Zeitalter der Globalisierung ohnehin zum rascher werdenden Strukturwandel gehort: Gut funktionierende offene Giiter-, Kapital- und Arbeitsmarkte sind eine existenzielle Notwendigkeit, um den alles in allem immer noch hohen Lebensstandard in Deutschland bewahren zu konnen. Eine schrumpfende und altemde Bevolkerung ist hier nur eine weitere, aber nicht einmal die entscheidende Herausforderung.

Liter atur Birg, Herwig (2001): Die demographische Zeitenwende. Der Bevolkemngsriickgang in Deutschland und Europa. Miinchen: C.H. Beck. Deutsche Bundesbank (2004): Monatsbericht Dezember 2004. Frankfurt a.M. EZB (Europaische Zentralbank) (2000): Die Finanzpolitik im Euro-Wahrungsgebiet unter den Bedingungen einer altemden Bevdlkerung. In: Monatsbericht Juli 2000. Frankfurt a.M.: EZB, S. 63-78. OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) (2005): Ageing and Employment Policies - Germany. Paris. Schirrmacher, Frank (2004): Das Methusalem-Komplott. Miinchen: Karl Blessing Verlag. Spengler, Oswald (1918): Der Untergang des Abendlandes - Umrisse einer Morphologic der Weltgeschichte, Band 1: Gestalt und Wirklichkeit. Wien: Braumiiller. Spengler, Oswald (1922): Der Untergang des Abendlandes - Umrisse einer Morphologic der Weltgeschichte, Band 2: Welthistorische Perspektiven. Miinchen: C.H. Beck. Statistisches Bundesamt (2003): Bevolkerung Deutschlands bis 2050, 10. koordinierte Bevolkerungsvorausberechnung. Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (2006a): Leben in Deutschland, Haushalte, Familien und Gesundheit - Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (2006b): Frauen in Deutschland 2006. Wiesbaden. Straubhaar, Thomas/Boswell, Christina (2005): Braucht Deutschland die Zuwanderung von Arbeitskraften aus dem Ausland? Focus Migration, Kurzdossier Nr. 2. Hamburg: Netzwerk Migration in Europa.

Die Macht der Demographisierung

Vom Ubervolkerungs- zum Uberalterungsparadigma Das Verhaltnis zwischen Demographic und Bevolkerungspolitik in historischer Perspektive Martin Lengwiler

Die Plausibilitat demographischer Aussagen, die sich in aktuellen familien- und sozialpolitischen Debatten anschaulich manifestiert, ist kein neues Phanomen. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert dient demographische Expertise in steigendem Mafie zur Legitimation sozial- und bevolkerungspolitischen Handelns. Die zweihundertjahrige Fachgeschichte ware ohne die Impulse aus biirokratischen und politischen Anwendungsfeldem gar nicht erklarbar. Dieses Bedingungsverhaltnis von Demographie und Bevolkerungspolitik soil im folgenden Beitrag in historischer Perspektive untersucht werden. Wie haben sich die demographischen Paradigmen und die bevolkerungspolitischen Strategien seit dem 18. Jahrhundert entwickelt? Welchen Einfluss iibte demographische Expertise auf die Bevolkerungspolitik aus? Und auf welchen historischen Faktoren beruhte die steigende gesellschaftliche Deutungsmacht der Demographie; genauer: Welche wirtschafts- und sozialpolitischen Bedeutungen wurden der demographischen Entwicklung zugeschrieben - vom befiirchteten Engpass im Nahrungsspielraum iiber den Druck auf das Lohnniveau bis hin zur demographisch bedingten Kostensteigerung in der Rentenversicherung? Insbesondere soil verfolgt werden, wie sich heutige paradigmatische demographische Konzepte wie das der iiberalterten Gesellschaft oder des Geburtenmangels historisch entwickelt haben. Im 18. und 19. Jahrhundert orientierten sich Wissenschaft und Politik noch an einem Ubervolkerungsparadigma; erst im friihen 20. Jahrhundert wurde dieses schrittweise von einem Uberalterungsparadigma abgelost. Der Ubergang vom Ubervdlkerungs- zum Uberalterungsparadigma nimmt im Beitrag eine Schliisselrolle ein; er ist deshalb bedeutsam, weil in dessen Verlauf demographische Aussagen zunehmend jene Selbstevidenz erhielten, die ihrer heutigen gesellschaftlichen und politischen Plausibilitat zugrunde liegt. In diesem Sinn bietet der Beitrag auch eine Geschichte der Uberzeugungskraft demographischer Aussagen, durch die das Each zu einem privilegierten gesellschaftlichen Orientierungswissen avancierte. Geographisch konzentriere ich mich primar auf Deutschland und die Schweiz, erganzt durch vergleichende

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Hinweise zu Frankreich und GroBbritannien. Angesichts der sakularen zeitlichen Perspektive dieses Beitrags verbleiben die Ausfiihrungen gezwungenermafien oft skizzenhaft. Die Geschichte der modemen Demographie lasst sich in drei Abschnitte unterteilen. Der erste beginnt mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, reicht in die 1870er Jahre und wird vom demographischen Ubervolkerungsparadigma und restriktiven Heiratsgesetzen bestimmt. Der zweite Abschnitt umfasst eine Transitionsphase vom Ubervolkerungs- zum Uberalterungsparadigma und reicht von etwa 1880 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Bevolkemngspolitik folgt in dieser Epoche pronatalistischen, zunehmend auch eugenischen Ansatzen. Der dritte Abschnitt setzt nach dem Zweiten Weltkrieg ein; in dieser Zeit breitet sich das aktuelle Uberalterungsparadigma, kombiniert mit einer neo-pronatalistischen Bevolkemngspolitik, aus. Der Schwerpunkt der folgenden Ausfxihrungen liegt auf den ersten beiden Abschnitten. Methodologisch mochte der Beitrag zwei Forschungstraditionen verbinden, die sich je isoliert mit der Demographiegeschichte auseinandergesetzt haben: die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auf der einen und die Wissenschaftsgeschichte auf der anderen Seite. Verwissenschaftlichungsprozesse lassen sich namlich nicht einfach auf einen deterministischen Einfluss von Wissenschaft auf Politik reduzieren. Die Bedingungsverhaltnisse zwischen Wissenschaft, Politik und den entsprechenden Realphanomenen (in diesem Fall der Bevdlkerungsentwicklung) sind vielmehr vielschichtig-interagierend (Lengwiler 2006; Vogel 2004 in Auseinandersetzung mit Raphael 1996). Die folgenden Abschnitte bieten in diesem Sinn weder eine binnenorientierte Fachgeschichte demographischer Theorietraditionen noch eine reine Verwaltungsgeschichte der Bevolkemngspolitik beziehungsweise eine Sozialgeschichte generativen Verhaltens - Gegenstande, mit denen sich die historische Forschung in den letzten Jahren zwar gewinnbringend auseinandergesetzt hat, die aber bis heute weitgehend unvermittelt nebeneinander stehen.l Vielmehr soil versucht werden, die drei zentralen Ebenen der Be-

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In sozial- und wirtschaftshistorischer Tradition hat sich die historische Demographie insbesondere mit der Frage der historischen Entwicklung von Sterbe- und Geburtenrate beschaftigt, etwa den sozialen und okonomischen Faktoren der Geburtenrate oder den beschrankten Folgen politischer MaBnahmen auf die Bevdlkerungsentwicklung (vgl. Ehmer 1991; Mantl 1997; Szreter 1996; Rosental 2003). Weitgehend losgelost von dieser Forschung hat sich in den letzten Jahren eine Wissenschaftsgeschichte der Demographie entwickelt (vgl. vom Brocke 1998; Le Bras 2000; Mackensen 1998; analog zur Wissenschaftsgeschichte der „Volksgeschichte" siehe Oberkrome 1993). Die Wechselwirkungen zwischen Demographie und Bevolkemngspolitik wurden in der deutschsprachigen Forschung bislang vor allem mit Blick auf den Nationalsozialismus untersucht (vgl. vom Brocke 1998: 24-29). Ebenfalls mit Blick auf die Verschrankungen zwischen demographischer Wissenschaft und politischer Praxis (der biirgerlichen

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volkemngsentwicklung in ihren gegenseitigen Abhangigkeiten zu analysieren. In den Blickpunkt riicken also die epistemische Ebene der wissenschaftlichen Demographie, die politisch-biirokratische Ebene der Bevolkemngspolitik und die materielle Ebene der Entwicklung von Geburten- und Sterberate.

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Restaurative Bevolkerungspolitik und neo-malthusianische Demographie im 19. Jahrhundert

Die liberalen Verfassungsreformen in den napoleonisch beeinflussten Staaten Europas bildeten anfangs des 19. Jahrhunderts sowohl fiir die Geschichte der Demographie wie der staatlichen Bevolkerungspolitik eine wichtige Zasur. Friihneuzeitliche und absolutistische Herrschaftstrager verfolgten oft eine restriktive Niederlassungs- und Bevdlkerungspolitik, die auf Heiratsbeschrankungen, limitierten Zugangen zu burger- und aufenthaltsrechtlichen Privilegien oder auf Anreizen zur Auswanderung beruhte. Vor 1800 unterlag zudem das Heiratsverhalten, ein grundlegender Faktor der Bevolkerungsentwicklung, feudalen, kirchlichen und kommunalen Restriktionen oder war an den privilegierten stadtischen Biirgerstatus gebunden. Auch in der landlichen Gesellschaft blieb die Heiratsmoglichkeit von Mannem bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend auf die Erbberechtigten beschrankt. In wirtschaftlichen Krisenphasen mit eingeschranktem Nahrungsspielraum wurden solche Restriktionen haufig noch verscharft. Im ausgehenden Ancien Regime schrankten kommunale und stadtische Eliten die Niederlassungs- und Heiratsmoglichkeiten von Unterschichtangehorigen und Zugezogenen meist weiter ein (Stolleis 2003: 14-22; Braun 1984: 41f, 54-57; Ehmer 1991: 45f.; vom Brooke 1998: 37f.). Diese restriktive Bevolkerungspolitik wurde im 18. Jahrhundert zunehmend in Frage gestellt. Spatabsolutistische Staaten wie PreuBen oder Frankreich betrieben streckenweise eine aktive Peuplierungspolitik, die bis in die Zeit der Bevolkerungsverluste des Dreifiigjahrigen Krieges zuriickreicht. Friihe Vertreter der „politischen Arithmetik" wie Johann Peter SiiBmilch legitimierten mit bevolkerungsstatistischen Enqueten diese expansive, merkantilistisch oder kameralistisch begriindete Bevdlkerungspolitik, zu der u.a. eine aktive Einwanderungspolitik, restriktive Auswanderungsregelungen oder MaBnahmen zur Binnenkolonisation gehorten (Fuhrmann 2002; vom Brooke 1998: 37f.). Diese bevolkemngspolitische Ambivalenz des Ancien Regime setzte sich im 19. Jahrhundert unter veranderten politischen Vorzeichen fort (Braun 1984: 55; Ehmer 1991: 50-52). Auf der einen Seite standen nun burgerlich-liberale ReFrauenbewegung) im 19. Jahrhundert siehe Ferdinand (1999), mit Schwerpunkt in der Zwischenkriegszeit Mackensen (2002).

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formpostulate, die sich mit der Einfiihrung der Handels- und Gewerbefreiheit oder der Niederlassungsfreiheit zunehmend durchsetzten. Anknupfend an die spatabsolutistische Peuplierungspolitik gehorte zum liberalen Reformkanon auch die Forderung nach „Freiheit der Ehe", das heifit nach Aufhebung der standischen Heiratsrestriktionen (Fuhrmann 2002: 128-205; Mantl 1997: 23Iff.; Ehmer 1991: 46f). Auf der Gegenseite formierten sich restaurative Oppositionsbewegungen, die die liberale Bevolkerungspolitik durch alte und neue administrative Beschrankungen der EheschlieBung zu konterkarieren suchten. Diese widerspruchliche Entwicklung betraf vor allem die restaurativen mitteleuropaischen Staaten des Deutschen Reichs, Osterreich und einzelne Kantone der Schweiz. Oft wurde dieser Konflikt zwischen liberalen zentralstaatlichen (oder fiirstlichen) und restaurativen kommunalen Herrschaftstragem ausgetragen, so etwa in den deutschen Teilstaaten, in Osterreich oder der Schweiz (Mantl 1997: 9f, 92f). In solchen Gebieten wurde die Ehefreiheit von den furstlichen Herrschaftstragem eingefiihrt, um anschliefiend von den lokalen Behorden durch neue Auflagen wieder beschrankt zu werden. Unter die sen Umstanden erlebten in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts, vor allem parallel zu den Pauperismusdebatten zwischen 1820 und 1850, die standischen Eherestriktionen eine bemerkenswerte Renaissance (Matz 1980). So wurde vielerorts eine behordliche Bewilligungspflicht fiir Heiraten, der so genannte „politische Ehekonsens", vorgeschrieben. Die restriktiven Auflagen zielten gegen die Verheiratung von verarmten Schichten (Verbote von Ehen bei Armengenossigkeit), gemischtkonfessionelle Ehen, die Verheiratung von moralisch stigmatisierten Personen wie Ehebrechem und unverheiratete Eltem oder generell auf die Diskriminierung nichtehelicher Beziehungen und auBerehelicher Mutter- und Vaterschaft. Auch diese MaBnahme war primar im Deutschen Reich, in Osterreich und der Schweiz verbreitet, weniger in Frankreich, GroBbritannien oder Italien (Ehmer 1991: 47-61; Riiegger 1901: 6-8). Der preuBisch-osterreichische Staatswissenschaftler Lorenz von Stein bezeichnete den Ehekonsens 1876 als „Zwangs-Zolibat" fiir Mittellose (zit. nach Ehmer 1991:47). Neuere Untersuchungen zeigen, dass die modemen Heiratsbeschrankungen des 19. Jahrhunderts sogar restriktiver sein konnten als die absolutistischen Bestimmungen. Wahrend in den protestantischen Territorien (etwa in HessenKassel oder in Siiddeutschland) die modeme Heiratsregulierung die absolutistischen Ehemandate weiterfiihrte, fehlten in katholischen Gebieten wie Osterreich entsprechende vormodeme Traditionen (Matz 1980). 1812 noch wurde im dsterreichischen Tirol die Ehefi*eiheit gesetzlich garantiert, nur um wenige Jahre spater, 1820, durch staatliche Heiratsrestriktionen wieder eingeschrankt zu werden. Die Beschrankungen wurden 1850 nochmals verscharft und galten bis 1921 langer als in den iibrigen Kronlandem Osterreichs. Auch hier hatten die Kommunen eine entscheidende Rolle. Die Gemeindebehdrden waren traditionell fiir

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die Heiratsbewilligung zustandig. Die Ehefreiheit erschien ihnen deshalb als eine Ausweitung zentralstaatlicher Herrschaftsrechte und damit eine Gefahrdung ihrer kommunalen Rechtsprivilegien (Mantl 1997: 9-12, 155-169; Ehmer 1991: 5561). Auch die Ein- und Auswanderungspolitik kam im 19. Jahrhundert wieder zu Ehren. Die Auswanderung gait vielerorts als wirksames Mittel zur Bevolkemngsentlastung - einzelne deutsche Staaten und schweizerische Kantone unterstiitzten Auswanderungswillige aktiv durch finanzielle Beihilfen (RitzmannBlickenstorfer 1997). Zugleich schrieben kommunale und staatliche Behorden in Deutschland und der Schweiz ihre restriktiven Biirgerrechts- und Aufenthaltsgesetze bis Mitte des 19. Jahrhunderts fort (Ferdinand 1999: 62-64). Die Heiratsrestriktionen des 19. Jahrhunderts waren insbesondere in landlichen Gebieten dafiir verantwortlich, dass die Institution der Ehe zu einem Privileg der landlichen Oberschichten wurde. In Tirol und Vorarlberg wurden etwa bis zu 50 Prozent aller Heiratsantrage von den Gemeindeobrigkeiten abgelehnt. Betroffen waren vor allem armere Gruppen wie Dienstboten, das Gesinde, Gesellen oder Tagldhner; in stadtischen Gebieten traf es auch die Industriearbeiterschaft. Wer bediirftig war oder gar die Armenkasse der Gemeinde belastete, verzichtete von vomeweg auf einen Antrag.^ Nur wer es im Berufsleben zu bescheidenem Wohlstand brachte, konnte sich Chancen auf eine Heiratsbewilligung ausrechnen - dann allerdings meist in vorgeriicktem Alter. Diese bevdlkerungspolitischen Widerspriiche pragten auch die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts. Obwohl in dieser Zeit die gesetzlichen Ehebeschrankungen in den meisten europaischen Staaten zuriickgedrangt wurden und die Ehefreiheit sich auf rechtlicher Ebene endgtiltig durchsetzte, blieben auf alltagskultureller, oft auch auf verwaltungspraktischer Ebene konfessionelle oder sittlich-moralische Heiratsschranken, vor allem im landlichen Raum, noch weit bis ins 20. Jahrhundert bestehen (Mantl 1997: 9f., 234). In diesem spannungsreichen bev51kerungspolitischen Umfeld vermochte sich die Demographic im 19. Jahrhundert sowohl als akademisches Each wie als politisches Reflexionswissen erfolgreich zu etablieren. In den Universitaten wurde Demographic im deutschsprachigen Raum weitgehend als Teil der Staatswis-

Die viel beschworene Belastung der Gemeindehaushalte durch kinderreiche Familien der landlichen Unterschichten oder durch die Einfiihrung der Ehefreiheit gehort wohl zum Inventar biirgerlicher sozialpolitischer Mythen. Ein solcher Kostenanstieg lasst sich jedenfalls empirisch schwer nachweisen. In der Schweiz hatte beispielsweise die Einfiihrung der Ehefreiheit 1874 nur einen voriibergehenden Anstieg der EheschlieBungen zur Folge. Der Ehe- oder Heiratskonsens war vielerorts wirkungslos und ffihrte einfach zu einem Anstieg illegitimer Geburten. Entsprechend kam es nach der Freigabe der Ehe zunachst zu einer Legalisierung der illegitimen Beziehungen und damit zu einer nachhaltigen Reduktion der Anzahl unehelicher Kinder (zum Kanton Luzem vgl. insbesondere Riiegger 1901: 6-8).

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senschaften und der Nationalokonomie gelehrt; in den Verwaltungen wurden demographische Experten in statistischen Biiros und Amtem eingesetzt (vom Brocke 1998: 42-50). Bemerkenswert ist, dass der akademische Aufstieg der Demographie, insbesondere die breite Rezeption neo-malthusianischer Ansatze in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts, sich weitgehend der erwahnten hQYolkemngpolitischen Kontroverse zwischen liberalen und restaurativen Lagem verdankt. Viele der Vertreter einer restaurativen Bevdlkerungspolitik rekurrierten mit Vorliebe auf malthusianische Szenarien, mit denen die Gefahr einer massenhaften Verarmung durch Bevolkerungswachstum und Industrialisierung an die Wand gemalt wurde - meist mit ruinosen Szenarien fiir die kommunalen Armenhaushalte und entsprechend hoher politischer Resonanz (Mantl 1997: 17ff., 23Iff.). Zwar eignete sich Malthus' Lehre nur bedingt als Kassandraruf gegen die Liberalisierung der Ehegesetze, zumal sie nicht nur fiir die biirgerlich-liberalen Ehegesetze, sondem auch fur die restriktiven Ehebeschrankungen viel Kritik iibrig hatte.^ Grundsatzlich stand bei Malthus der Appell an die individuelle VerantwortHchkeit tiber staatlichen Interventionen. Armut gait ihm prinzipiell als selbst verschuldet. Zwar befiirwortete er durchaus staatliche Eingriffe in die Bevdlkerungsverhaltnisse, vor allem gesundheitspolitische MaBnahmen wie die Pockenimpfung. Auch stand er mit seiner Lehre Pate fiir die restriktive Verfolgung von Armen im britischen ,J^oor Law Amendment Act" von 1834. Letztlich aber sah Malthus die Losung der Ubervdlkerungsfrage alleine in einer verstarkten individuellen Selbstverantwortung, primar unter armeren Schichten. Er befiirwortete eine Einschrankung der Armenfiirsorge, wandte sich gegen staatliche PeuplierungsmaBnahmen und forderte generell eine Bevolkerungspolitik des „Nicht-Handelns". Unterstiitzende Worte fand er fiir aufklarerische Appelle an den „moral restraint", etwa fiir freiwillige Spatheiraten, sexuelle Abstinenz oder das Zolibat. Wer fiir solche Enthaltsamkeitsappelle nicht empfanglich war, konnte bei Malthus in letzter Konsequenz auch keine Hilfe erwarten. Dem Fortschrittsoptimismus des liberalen „laissez-faire" setzte Malthus sein dystopisches „laissezmourir" entgegen (Ferdinand 1999: 32-41; vom Brocke 1998: 39ff). In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts wurde Malthus im bevdlkerungspolitischen Diskurs wie erwahnt in einer neo-malthusianischen Variante neu entdeckt. Anders als bei Malthus wurden nun dessen diistere Bevolkerungsprognosen zur Legitimation einer restriktiven Bevolkerungs- und Sozialpolitik

Malthus hat seine Uberlegungen 1799 in seinem „Essay on the Principle of Population" veroffentlicht; darin sieht er die „Bev61kerungsfalle" bekanntlich ausgelost durch ein exponentielles (geometrisches) Bevolkerungswachstum bei gleichzeitiger arithmetischer (linearer) Zunahme der Nahmngsmittelproduktion.

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und gegen die Liberalisierung des Eherechts zitiert. Ein malthusianisches Zukunftsszenario diente letztlich zur Rechtfertigung eines un-malthusianischen politischen Programms. Anders als Malthus' liberales Vertrauen auf den individuellen „moral restraint" setzte die neo-malthusianische Bevolkerungspolitik auf staatliche Zwangsinstrumente und griff damit spatabsolutistische Herrschaftspraktiken wieder auf Die neo-malthusianische Bewegung war in Deutschland vor allem auf kommunaler Ebene verbreitet und beeinflusste die offentliche Familien- und Gesundheitspolitik sowie burgerlich-zivilgesellschaftliche Vereinigungen wie die Hygiene-, die Sittlichkeits- oder die Frauenbewegung (Ferdinand 1999: 50f, 158-184). Das neo-malthusianische Paradigma der Ubervolkerung dominierte die deutschsprachige Demographic und Bevolkerungspolitik bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts (Fuhrmann 2002: 352-396).

2.

Demographische Denkstile: Persistenz des Ubervolkerungsparadigmas im Schatten der „demographischen Transition" (1880-1940)

Die Zeit der Jahrhundertwende bildete sowohl fiir die demographischen Theorietraditionen als auch fiir die bevdlkerungspolitischen Verwaltungspraktiken cine wichtige Transformationsphase. Auf der Ebene der demographischen Theorien geriet das Ubervdlkerungsparadigma durch die abnehmende Geburtenziffer zusehends in Bedrangnis und wurde in der Zwischenkriegszeit schrittweise durch das neue Uberalterungsmodell ersetzt. Auf bevdlkerungspolitischer Ebene loste die weitgehende Aufhebung der staatlichen Ehebeschrankungen im ausgehenden 19. Jahrhundert neue regulative Gegenbewegungen aus, die die alten neomalthusianischen Ubervolkerungsmodelle als unzeitgemaB kritisierten und sich zunehmend mit den Folgen sinkender Geburtenraten beschaftigten. Zu diesen Bewegungen gehorten einerseits pronatalistische Lager, andererseits die verschiedenen Fliigel der Eugenikbewegung. Diese doppelte Transformationsphase steht schlieBlich im Zusammenhang mit der parallel verlaufenden demographischen Transition, dem Ubergang von einer vormodemen Bevolkerungsentwicklung mit hoher Fruchtbarkeit und hoher Sterblichkeit zu einer modemen Entwicklung mit stark gesunkener Sterblichkeits- und gleichfalls reduzierter Geburtenziffer. Das Zusammenspiel zwischen demographischer Realentwicklung, demographischem Theoriediskurs und bevolkerungspolitischer Verwaltungspraxis ist ein hochst komplexer Prozess mit einer ausgepragten Eigendynamik der drei Bereiche und gravierenden Asynchronitaten. So setzten die der demographischen Transition zugrunde liegenden Prozesse in einzelnen europaischen Landem, namentlich in Frankreich, bereits im friihen 19. Jahrhundert ein. Auch wurde die demographische Transition iiber Jahrzehnte hinweg von der zeitgenossischen

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Demographic unterschatzt oder schlicht iibersehen. Die Bevdlkemngspolitik wiederum adaptierte die demographischen Deutungsangebote auBerst selektiv, ganz entsprechend ihren eigenen institutionellen Bediirfnissen. In diesem vielschichtigen Transformationsprozess profitierte vor allem die Eugenik als modernes bevolkerungspolitisches Orientierungsmodell, weil es als szientistischsynkretistischer Ansatz einen breiten Facher unterschiedlicher Interessen zu binden verstand. Dass die Demographie um 1900 die fundamentalen Veranderungen von Sterblichkeit und Geburtenrate nicht richtig erkannte, ist angesichts der Komplexitat dessen, was wir im Riickblick als demographische Transition bezeichnen, kaum verwunderlich. Aus damaliger Sicht zerfiel der demographische Ubcrgang in mehrere getrennt wahrgenommene und widerspriichlich intcrprcticrte Teilphanomenc. Die sinkende Mortalitatsrate wurde als drohende Bevolkerungssteigerung und damit als Verscharfung des Ubcrv51kerungsproblems gedeutct. Die fallcnde Geburtenziffer dagegen schien auf einen demographischen Schrumpfungsprozess, im Katastrophenszenario auf das Aussterben ganzer Nationen hinzudeuten. Bemerkenswert an dieser Ubergangszeit ist, wie lange sich der Topos der „Uberv51kerung" im demographischen Diskurs halten konnte, obwohl die statistischen Daten schon langst dem Modell widersprachen - ein treffendes Beispiel fiir das Beharrungsvermogen wissenschaftlicher „Denkstile" (Fleck 1994). Das Paradigma der demographischen Ubervdlkerung erwies sich in der Tat bis weit ins 20. Jahrhundert als kritikresistent. Wenn der Riickgang der Geburtenziffer iiberhaupt demographisch untersucht wurde, standen die Erkenntnisse oft unvermittelt neben den tradierten Modellen. Die Folge war, dass der demographische Diskurs von den 1880er Jahren bis in die Zwischenkriegszeit von verspateten oder kontraren Einsichten und widerspriichlichen, teilweise spekulativen Prognosen gepragt war. Die synthetische Interpretation der demographischen Transition und damit auch das Paradigma der Uberalterung setzten sich erst in der Zwischenkriegszeit durch. Der Riickgang von Sterbe- und Geburtenziffer begann in den meisten europaischen Staaten annahemd parallel, meist in den 1880er oder 1890er Jahren mit der erwahnten franzosischen Ausnahme. Frankreichs Geburtenrate sank bereits im friihen 19. Jahrhundert im Anschluss an die Napoleonischen Kriege deutlich unter das europaische Niveau, erholte sich in den 1850er und 1860er Jahren leicht, blieb aber gleichwohl die mit Abstand geringste Geburtenziffer Europas - ein Wert, der sich um 1870 auf einem stabil tiefen Niveau eingependelt hatte, den die meisten anderen Lander erst im 20. Jahrhundert erreichten (Le Bras 2000: 347f; vgl. Tabelle 1).

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Geburtenziffer 1 Sterbeziffer

Tabelle 1:

Frankreich Vor 1850 1900

GroBbrit. 1880 1890

Deutschland 1875 1885

Italien 1890 1880

Schweiz | 1880

1880

1

Beginn der demographischen Transition in Europa

Quelle: Zeitschrift fiir schweizerische Statistik und Volkswirtschaft (1921: 303).

Der Bevdlkerungsdiskurs nahm deshalb in Frankreich einen unkonventionellen Verlauf. Bereits in den 1870er Jahren, nicht zuletzt nach der Niederlage und dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs im deutsch-franzosischen Krieg, wurde hier der Geburtenriickgang als ein Zeichen einer nationalen Degeneration (,JDegeneration") diskutiert und dagegen eine pronatalistische Familienpolitik, auf die gleich zuruckzukommen ist, formuliert (Dowbiggin 1991). In den anderen europaischen Staaten jedoch, etwa im deutschsprachigen Raum, wurde der Geburtenriickgang bis zur Jahrhundertwende kaum wahrgenommen oder als spezifisch franzdsisches Problem abgehakt. Die demographische Forschung konzentrierte sich hier auf die Sterberate, genauer auf den zeitgenossischen Riickgang der Sterblichkeit und davon ausgehend auf das vermeintlich verscharfte Ubervolkerungsproblem. Neo-malthusianische Katastrophenszenarien finden sich in der demographischen Literatur der Jahrhundertwende zuhauf.4 Das Beharrungsvermogen des Ubervolkerungsparadigmas zeigt sich darin, dass in der deutschsprachigen Demographic erst nach dem Ersten Weltkrieg, ganze drei Jahrzehnte nach Einsetzen des Geburtenriickgangs, eine breite Debatte um die veranderte Geburtenziffer einsetzte (Matz 2002; Ferdinand 2002). Zu den Griinden fur diese konservative Deutungstradition gehorte, dass dank der parallel ebenfalls sinkenden Sterblichkeit die Bevolkerung in absoluten Zahlen weiterhin wuchs und damit der Bedarf gering schien, sich mit den Schwankungen der Geburtenziffer auseinanderzusetzen (z.B. Zeitschrift fur schweizerische Statistik und Volkswirtschaft 1938: 143). Zudem wurden die ersten Risse im iiberlieferten Bild einfach ins bestehende Modell integriert. So gait die sinkende Geburtenrate in landlichen Gebieten in der Zeit der Jahrhundertwende als Folge der Urbanisierung und nicht als Indiz eines generell veranderten Reproduktionsverhaltens. Diese Auseinandersetzung um demographische Stadt-LandGegensatze dominierte insbesondere die deutsche und schweizerische Bevolkerungslehre (vom Brocke 1998: 50-52; vgl. auch: Zeitschrift fiir schweizerische Statistik und Volkswirtschaft 1934: 244f.). SchlieBlich wurde auch der anhalten-

Beispielhaft die „Schweizerische Zeitschrift fiir Statistik", die 1883 die Zukunftsszenarien der Bevolkemngsentwicklung mit jenen der Nahmngsmittelproduktion vergleicht und zum Schluss kommt: „Malthus wird Recht behalten." (Schweizerische Zeitschrift fur Statistik 1883: 204)

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de Bevolkemngsriickgang vor dem Ersten Weltkrieg als voriibergehendes Phanomen abgetan - und als er sich im Krieg dramatisch verstarkte, relativierte man dies als kriegsbedingte Ausnahmesituation (z.B. riickblickend: Zeitschrift fiir schweizerische Statistik und VolkswirtschafI: 1921:275; vgl. auch: Mombert 1919). Erst als nach Kriegsende die Geburtenziffer europaweit auf niedrigem Niveau verharrte, fand die These einer sinkenden Geburtenrate zunehmend Resonanz (z.B. Zeitschrift fur schweizerische Statistik und Volkswirtschaft 1918: 63; ebd. 1920: 218). In Deutschland wurde die demographische Diskussion der Zwischenkriegszeit noch stark von den Nachfolgem der jiingeren historischen Schule der Nationalokonomie gepragt, beispielsweise von Paul Mombert, Wilhelm Winkler und anderen Schiilem Lujo von Brentanos. Untersucht wurden die wirtschaftlichen und sozialen Faktoren der Bevolkerungsentwicklung. In kritischer Auseinandersetzung mit dem malthusianischen Ubervdlkerungsmodell entwarfen die nationaldkonomischen Demographen zunachst sozial und okonomisch differenzierte Ubervolkerungsmodelle - etwa mit dem Begriff der „sozialen Ubervolkerung" oder der Unterscheidung zwischen einer absoluten und einer relativen Ubervolkerung -, spater auch erste Modelle einer demographischen Transitionsphase, die nach neuen bevolkerungspolitischen Ansatzen verlangte (vgl. Krafft 1917; Verhandlungen des Vereins fur Socialpolitik 1926: 123-273; vgl. auch vom Brocke 1998: 52f.). In den 1920er Jahren geriet der traditionelle Ubervolkerungsdiskurs verstarkt ins Abseits und wurde schlieBlich durch das Modell der Uberalterung verdrangt (Ferdinand 1999: 274-277).^

3.

Pronatalistische und eugenische Bevolkerungspolitik im Zeichen der demographischen Transition

Auch die bevolkerungspolitischen Leitbilder veranderten sich in dieser Ubergangsphase grundlegend. Wenn Heiratsrestriktionen und Auswanderungsforderung zu den typischen Antworten des 19. Jahrhunderts auf das Ubervolkerungsparadigma gehorten, dann riickten in der Zwischenkriegszeit als Reaktion auf die fallende Geburtenziffer zunehmend pronatalistische, spater eugenische MaB-

Zur definitiven Trendwende vgl. die Arbeiten des deutschen Bevolkemngswissenschaftlers und Eugenikbefurworters Friedrich Burgdorfer (1928, 1932; zu Burgdorferi vom Brocke 1998: 87-94); vgl. zur Schweiz den Beitrag des Statistikers und Nationalokonomen Wilhelm Bickel zur „Uberalterung der schweizerischen Bevolkemng" (Zeitschrift fur schweizerische Statistik und Volkswirtschaft 1934: 14Iff.); vgl. auch die an Bickel anschlieBende Debatte zu Uberalterungsfragen in der Zeitschrift fiir schweizerische Statistik und Volkswirtschaft (1938: 156ff., 171ff.,184ff., 512-519).

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nahmen in den Vordergrund. In Frankreich, wo die Diskussion um den Geburtenriickgang bereits in den 1870er Jahren einsetzte, wurden pronatalistische Reformen friiher als anderswo diskutiert und in der Dritten Republik, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, auch eingefiihrt. Dazu gehorten etwa die Verstarkung des Mutterschaftsschutzes im Arbeits- und Sozialrecht, das Verbot von Abtreibungen, Verkaufsverbote fiir Verhiitungsmittel, 1938 schlieBlich direkte finanzielle Familien- und Kinderbeihilfen. Die Politik war allerdings langere Zeit wirkungslos. Frankreichs Geburtenrate blieb bis 1940 sinkend und erholte sich erst danach wieder (Huss 1990; Offen 1991). Die Gesetzgebung zum Mutterschaftsschutz wurde auch in Deutschland, GroBbritannien oder der Schweiz bereits im 19. Jahrhundert verstarkt. Dies geschah urspriinglich aus sozialpolitischen und nicht aus demographischen Motiven, doch bot in der Zwischenkriegszeit die einsetzende Debatte um die fallende Geburtenrate neue Argumente zum Ausbau pronatalistischer oder matemalistischer Ansatze der Sozialpolitik - so etwa in der Weimarer Republik, wo viele Stadte und Kommunen pronatalistische Einrichtungen zur Familienberatung forderten, oder in der Schweiz, wo 1945 ein nationales System von Familienbeihilfen eingefiihrt wurde (Thane/Bock 1991: u.a. 4-6; Ferdinand 1999: 274f.; Studer 1997; Weckeretal. 2001). Nach dem Ersten Weltkrieg wurden pronatalistische Ansatze der Bev51kerungspolitik zunehmend von der aufstrebenden Eugenikbewegung beeinflusst. Die Eugenik war keine genuin demographische Lehre, sie hat sich im Gegenteil anfangs als biologisch-medizinische Konkurrenztheorie kritisch von neo-malthusianischen Bevolkerungstheorien abgewandt. LetztHch aber schwamm auch die Eugenikbewegung im Fahrwasser eines popularisierten Malthusianismus und von dessen Fordemngen nach einer sozialpolitischen Geburtenregelung. Uber den Umweg der eugenischen Bevolkerungspolitik gewann die Eugenikbewegung in den 1920er Jahren auch innerhalb der Demographic zunehmend Anhanger (Ferdinand 1999: 184-196, 271f.; vomBrocke 1998: 55ff.). Die Forschung zur Eugenikgeschichte hat sich bisher vor allem mit der Eugenikbewegung und den eugenischen Verfolgungsprogrammen im Nationalsozialismus beschaftigt, seit einigen Jahren auch mit eugenisch motivierten Migrations- und Sterilisationsgesetzen in anderen Landem. Dabei zeigt sich, dass die bev51kerungspolitische Resonanz der Eugenikbewegung je nach nationalem Kontext sehr unterschiedlich ausfiel. Am weitesten verbreitet waren eugenische Sterilisationsgesetze. Ein kursorischer Uberblick zeigt, dass sich eugenische Sterilisationsgesetze seit der Jahrhundertwende zunachst in den USA, in den 1920er Jahren auch in den skandinavischen Staaten und der Schweiz, nach 1933 schlieBlich im nationalsozialistischen Deutschland, hier in der radikalsten Form der Zwangssterilisationsgesetze, verbreiteten. Trotz lautstarker Eugenikbewegung besaB GroBbritannien dagegen kein eigenstandiges Sterilisationsgesetz (Kevles

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1985; Dowbiggin 1997; Broberg/Roll-Hansen 2005; Heller et al. 2002; Meier et al. 2002; Kiihl 1997; Schmuhl 1987; Weingart et al. 1988). Wie diese nationalen Divergenzen zu erklaren sind, ist Gegenstand der laufenden Forschung und erst ansatzweise geklart. Die professionspolitischen Strategien der Arzteschaft scheinen ebenso eine Rolle zu spielen wie die medizinischen Innovationszyklen (die Sterilisation wurde in ihrer modemen Form erst in den 1890er Jahren entwickelt). Auch biirokratisches Kalkiil konnte ein wichtiges Motiv fur eugenische MaBnahmen sein, etwa in den skandinavischen Staaten, wo die Behorden die eugenische Zwangssterilisation von geistig behinderten Anstaltsinsassen (von so genannten „Scliwachsinnigen") forderten, um die Betroffenen aus geschlossenen Einrichtungen zu entlassen und so die Ausgaben fiir das Anstaltswesen teilweise einzusparen (Dowbiggin 1997; Heller et al. 2002; Broberg/Roll-Hansen 2005). Ohne hier im Detail auf die Eugenikgeschichte einzugehen, lasst sich aus den parallel verlaufenden bevolkerungspolitischen Debatten ein weiterer Faktor erschliefien, der die gesellschaftliche Anerkennung eugenischer Postulate beforderte. Die Lehre der Eugenik antwortet beinahe idealtypisch auf die widerspruchlichen bevolkerungspolitischen Szenarien in der Phase der demographischen Transition. Die Eugenik beinhaltete eine Mischung von prohibitiven Bestimmungen gegen stigmatisierte, so genannte „minderwertige" Gruppen (in Form der „negativen Eugenik") und pronatalistischen Postulaten fiir den eugenisch gewiinschten Nachwuchs (als „positive Eugenik"). Mit diesem ambivalenten Programm zwischen einem diskriminierend-prohibitiven und einem pronatalistisch-affirmativen Ansatz bediente die Eugenik sowohl Anhanger eines Ubervolkerungsparadigmas beziehungsweise deren Angst vor der unkontrollierten Fortpflanzung der Unterschichten als auch das Lager der Uberalterungslehre und dessen Sorge um die sinkende Geburtenrate. Dieser Synkretismus erlaubte es der Eugenik, unter ganz unterschiedlichen politischen Umstanden und sowohl von rechten wie linken Parteien unterstiitzt zu werden. Eugenisch motivierte MaBnahmen schlossen damit oft nahtlos an altere bevdlkerungspolitische Traditionen an, etwa im Fall der Heirats- oder Migrationsverbote fur eugenisch stigmatisierte Gruppen. Die Eugenik entwickelte sich so vielerorts zur Fortsetzung der neomalthusianischen Bevolkerungspolitik mit anderen Mitteln.6

Vgl. mit Bezug zur Weimarer Republik und dem nationalsozialistischen Deutschland vom Brocke (1998: 55-81).

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4.

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Im Schatten der Rentenversicherung: Demographic und Bevolkerungspolitik nach 1945

Die Entwicklung seit 1945 kann abschliefiend nur in skizzenhaften Ziigen zusammengefasst werden. In der Nachkriegszeit hat sich das demographische Uberalterungsmodell verfestigt und bestimmt bis heute die bevolkemngspolitischen Debatten. Allerdings haben sich die friihen, teilweise diisteren Schrumpfiingsund Uberalterungsprognosen, die in den 1930er Jahren formuliert wurden und nach denen die Bevdlkerung schon ab 1940 hatte schrumpfen miissen, als zu pessimistisch herausgestellt (z.B. Zeitschrift fiir schweizerische Statistik und Volkswirtschaft 1934: 257-260; ebd. 1938: 156ff.). Die demographische Selbstreflexion iiber die prognostischen Unsicherheiten, die in den 1950er Jahren im deutschsprachigen Raum auf breiter Front einsetzte, zeigt, dass die Schwierigkeiten nicht bei der Kalkulation der demographischen Kemdaten zur Fertilitat und Mortalitat lag. Das Gmndproblem bestand vielmehr darin, die extemen Einfliisse der Wirtschaftsentwicklung und ihrer Folgen fiir das Wachstum von Produktivitat und Arbeitsmarkt vorauszuberechnen (z.B. Mackenroth 1953; Bickel 1956). So wurden die demographischen Prognosen vor allem durch die Hochkonjunktur der 1950er und 1960er Jahre und durch den anhaltenden Zuwachs infolge der Arbeitsimmigration wiederholt falsifiziert (vom Brocke 1998: 109f.). Die Bevolkerungspolitik folgte nach 1945 einem moderaten pronatalistischen Ansatz, erhielt aber im Kontext der expandierenden Sozialversicherungssysteme eine neue Bedeutung. In den meisten europaischen Staaten fiel der Ausbau der Sozialstaaten zu universalistischen und leistungsstarken Sicherungssystemen zwischen die unmittelbare Nachkriegszeit und den 1960er Jahren (Raphael 2004). Nach dieser sozialstaatHchen Boomphase erhielt die demographische Bevolkerungsstruktur eine neue sozialpolitische und volkswirtschaftliche Relevanz. Bisher bedeutete Uberalterung primar eine kulturelle und soziale Gefahr, die meist als das Aussterben einer bestimmten nationalen Gesellschaft kodiert war. Nun drohte die altemde Gesellschaft auch die Sozialversicherungssysteme zu unterminieren - mit gravierenden sozialpolitischen und volkswirtschaftlichen Instabilitaten. Unter diesen Bedingungen haben sich mit den steigenden sozialstaatHchen Finanziemngsproblemen, die seit den 1980er Jahren insbesondere die staatlichen Rentensysteme belasten, auch die politischen Forderungen nach einer pronatalistischen Familienpolitik in verschiedenen europaischen Staaten verstarkt. In den aktuellen familien- und sozialpolitischen Debatten wird allerdings oft iibersehen, dass die viel beklagten demographischen Veranderungen nicht in jedem sozialen Sicherungssystem gleich problematische Folgen zeitigen. Der gesellschaftliche Alterungsprozess betrifft insbesondere umlagefinanzierte Altersversicherungen, die auf einem Solidarvertrag zwischen den Generationen be-

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gnindet sind. Weniger stark betroffen sind dagegen Vorsorgemodelle auf der Basis einer individuellen Kapitaldeckung wie etwa die beruflichen Vorsorgesysteme in der Schweiz oder GroBbritannien (Lengwiler 2003). Der demographische Handlungsdmck ist also nicht fiir alle Sozialstaaten gleich hoch; umgekehrt rufen nicht alle sozialstaatlichen Finanzierungsprobleme automatisch nach einer bev51kerungspolitischen Antwort. Die Intensitat, mit der in Deutschland die niedrige Geburtenziffer verhandelt wird, ist gleichsam ein Erbstiick des Bismarck'schen Sozialstaatsmodells.

5.

Schlussfolgerung: Selbstevidenz demographischer Aussagen in historischer Perspektive

Angesichts der heutigen Selbstevidenz demographischer Aussagen wird oft vergessen, dass die Plausibilitat der Demographic das Produkt einer langfristigen historischen Entwicklung ist. In dieser Geschichte manifestieren sich komplexe, teilweise widerspruchsvolle Bedingungsverhaltnisse zwischen demographischer Theoriebildung, bevolkemngspolitischer Verwaltungspraxis und materiellem Bevdlkerungswandel. Deren historische Analyse erinnert daran, die Wissenschaft der Demographic nicht einfach als selbstreferenzielles System oder als hegemonialen Motor eines linearen Verwissenschaftlichungsprozesses zu begreifen. Der gesellschaftliche Einfluss demographischen Wissens verdankt sich oft sozialen oder institutionellen, das heifit wissenschaftsextemen Opportunitaten. Die demographischen Deutungsangebote wurden historisch nur dann genutzt, wenn sic spezifische Bediirfiiisse der an der Demographic interessierten sozialen und politischen Akteure bzw. der bevolkerungspolitischen Anwendungsfelder zu befiiedigen wussten. In diesem Sinne ist die gesellschaftliche Uberzeugungskraft demographischer Statements nur in einer relationalen Perspektive zu verstehen. Die demographischen Ubervolkemngs- oder Uberalterungsszenarien erhalten ihre praktische Relevanz nur in Verbindung mit einer gesellschaftlichen ReferenzgrdBe erst aus diesem Bezug ergibt sich die sozialpolitische Plausibilitat demographischer Aussagen. Bei Malthus griindete die demographische Relevanz auf dem eingeschrankten Nahrungsspielraum, der dem exponentiellen Bevolkerungszuwachs feste Grenzen setzte. Die Nationalokonomie des fiiihen 20. Jahrhunderts wiederum setzte die Bevdlkerungsentwicklung in Relation zur industriellgewerblichen Einkommenssituation (bzw. zum Durchschnittslohn eines Industriearbeiters). Fiir die Eugeniker war die demographische Entwicklung mit der Degenerationsgefahr, d.h. mit einer progressiven Zunahme schadlicher Erbkrankheiten, gleichgesetzt. Und die aktuelle Familienpolitik bringt schlieBlich die Geburtenziffer in Zusammenhang mit der Finanzierung der staatlichen Ren-

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tenversicherung. Bei den vergangenen bevolkerungspolitischen Debatten hat sich noch in jedem Fall erwiesen, dass die Losung der vermeintlich demographischen Probleme nicht durch die schwer kalkulierbaren und chronisch ineffektiven Mafinahmen der Bevolkerungspolitik, sondem auf dem jeweiligen sozial- oder wirtschaftspolitischen Referenzfeld gelang - handelte es sich nun um die Ausweitung der Nahrungsproduktion, den Anstieg der Durchschnittslohne oder die medizinische Behandlung vermeidbarer Erbkrankheiten. Die nachsten Jahre werden zeigen, ob die Antwort auf die heutige „demographische Krise" auf dem bevolkerungspolitischen oder dem sozialpolitischen Feld formuliert wird, ob sich mit anderen Worten die Bevolkerungsentwicklung tatsachlich zum Nutzen des Sozialstaats beeinflussen lasst oder ob nicht doch besser die sozialen Sichemngssysteme den demographischen Vorgaben anzupassen sind.

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„Fraueii woUen beides" Die Vereinbarkeitsdebatte als Symptom geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung Daniela Schick

So intensiv wie schon lange nicht mehr wird derzeit liber die Moglichkeiten diskutiert, Berufs- und Familienarbeit miteinander zu vereinbaren. Mit der Auseinandersetzung um die demographische Entwicklung in Deutschland haben sich die Offentlichkeit und nahezu alle politischen Ressorts dieses Themas angenommen. Denn immer noch ist ein Gleichgewicht von Familien- und Berufsleben ftir Eltem in Deutschland schlechter zu realisieren als in anderen europaischen Landem. Nicht nur mit dem neu eingefiihrten Eltemgeld wird dabei auch auf mannliche Beteiligung an der Familienarbeit gedrangt. Familienfreundliche Arbeitszeiten werden fur beide Geschlechter eingefordert und politisch, auch in Form von „Pakten" mit Untemehmen, verhandelt. Gleichwohl sind diese Bestrebungen selten; es geht in erster Linie um Frauen, die „beides wollen: Familie und Beruf (BMFSFJ 2003: 2; vgl. den Beitrag von Meuser in diesem Band). Moglicherweise sind die Feststellung, dass Frauen weder nur der Erwerbsarbeit noch allein der FamiHenarbeit nachgehen wollen, und das wahmehmbare Engagement fiir familienfreundliche Arbeitszeiten eine Chance zur Entwicklung von Handlungsoptionen. Aufgrund dieser Forderungen und der Tatsache, dass die hohen Qualifikationen und gestiegenen Erwerbsquoten von Frauen in einen kausalen Zusammenhang mit der stagnierenden Geburtenrate gebracht werden, und weil gleichzeitig ein Recht auf Karriere auch ftir Frauen mit Kindem eingefordert wird, bietet die demographisch induzierte Debatte um die weibliche Erwerbsbeteiligung moglicherweise eine gute Gelegenheit, die Frauenerwerbsteilhabe zu verbessem. Nun fokussiert eine Auseinandersetzung um Vereinbarkeit, die mit Bezug zur demographischen Entwicklung gefuhrt wird, jedoch nicht die berufliche Seite als solche. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist zwar Bestandteil der Debatte, sie wird aber auf besondere Weise gefasst. Es sind die demographischen Untersuchungen, die heute immer starkeren Einfluss auf Aussagen iiber Frauenerwerbstatigkeit in Deutschland erlangen. Die kontinuierlich gestiegene Qualifika-

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Daniela Schick

tion von Frauen und ihre parallel dazu gewachsene Erwerbsbeteiligung werden hieriiber konstatiert. Ebenso wird berichtet, dass Erwerbsarbeit mit dem Wunsch nach Familie konfligiert und dass die Erwerbschancen von Frauen durch Familienarbeit konterkariert werden. Die Angst, sich durch eine Familiengriindung qua Kindsgeburt die Karriere zu verbauen oder gar den dauerhaft gesicherten Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt zu verlieren, zeichnet das Vereinbarkeitsdilemma aus, von dem aktuell so haufig die Rede ist. Es wird innerhalb der demographischen Debatte also durchaus problematisiert, dass Frauen seltener einen dauerhaft gesicherten Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt zu verzeichnen und zu erwarten haben als Manner. Allerdings wird die Erwerbsarbeit von Frauen nahezu ausschliefilich als Teil eines Vereinbarkeitsdilemmas behandelt und ihr Zugang zum Arbeitsmarkt in den Zusammenhang von Planungsunsicherheiten auf Seiten der Frauen selbst gebracht. Die Verwirklichung des beruflichen und des familiaren Lebensstrangs driickt sich im Modell der „doppelten Lebensfiihrung" aus (vgl. Geissler/Oechsle 1996). Es gilt als neuartiges und modemes Lebenslaufmodell, da es weder die „mannliche", berufszentrierte noch die traditionell „weibliche", familienzentrierte Lebensplanung reprasentiert (vgl. ebd.). Es ist aber ebenfalls vergeschlechtlicht, die Lebensplanung und -fiihrung von Frauen werden mit Ambivalenzen assoziiert, die sich am Wunsch nach Berufs- und Familienleben sowie der Formel entziinden, dass eines davon zu wenig, beides aber zu viel ist. In diesem Beitrag soil die aktuelle Debatte um Vereinbarkeit von Familienund Berufsleben vom Kontext der demographischen Entwicklung gelost und in den Zusammenhang mit der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung auf dem Erwerbsarbeitsmarkt gestellt werden. Welche Wirkung zeigt die Artikulation von weiblichen Vereinbarkeitsdilemmata, wenn man einen Augenblick von demographischen Entwicklungen absieht und sich der geschlechtshierarchischen Segregation auf dem Erwerbsarbeitsmarkt erinnert? Welche Bedeutung erhalt die Rede von Ambivalenzen im weiblichen Lebenslauf, wenn man das offentliche intensive Engagement fiir die Ermoglichung einer doppelten Lebensfiihrung etwa in Form von familienfreundlichen Arbeitsplatzen - historisiert? Der ersten umfassenden Vereinbarkeitsdebatte in den 1960er Jahren zugleich die Entstehungsgeschichte der prominentesten familienfreundlichen Arbeitszeit, der Teilzeitarbeit - lasst sich Wesentliches iiber die Zusammenhange zwischen der weiblichen „Doppelrolle" und der gesellschaftlichen Etablierung weiblicher Erwerbsarbeit entnehmen (Abschnitt 1). Bemerkenswert ist, dass die Art und Weise, wie heute iiber den Zugang fiir Frauen zu kontinuierlicher, gesicherter Beschaftigung gesprochen bzw. auch nicht gesprochen wird, sich seit den 1960er Jahren kongruent und koharent zeigt und dass die Betonung weiblicher Vereinbarkeitsdilemmata als funktionaler roter Faden bei der Auseinandersetzung mit geschlechtshierarchischer Erwerbsarbeit mitlauft (Abschnitt 2). Die Kennzeichnung weiblicher Lebensplanung mit Ambivalenzen hinsichtlich Beruf

„Frauen wollen beides"

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und Familie karni als wissenschaftliche, politische und alltagsweltliche Praxis aufgezeigt werden, mit der legitimiert wird, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen prekarer ist als die von Mannem. Die Pointierung einer Zwiespaltigkeit weiblicher Lebensfiihrung muss auch als etwas verstanden werden, das Frauen einen peripheren Platz im Erwerbsleben zuweist (Abschnitt 3).

7.

Nur zum Teil: Die Etablierung weiblicher Erwerbsarbeit in den 1960er Jahren

Die nicht arbeitende Hausfrau und Mutter war seit der Industrialisierung immer ein biirgerliches Ideal, und Lohnarbeit leisteten Frauen schon aus okonomischer Notwendigkeit heraus. Bereits 1891 gab es eine Arbeitszeitverkiirzung speziell fur Frauen: Mit dem Verweis auf ihre Funktion als Mutter und ihre Doppelbelastung war die Arbeitszeitbegrenzung zuerst bei Frauen am konkretesten formuliert und durchgesetzt worden (vgl. Weaker 1996).! Dennoch vermochte sich erst in den 1960er Jahren Erwerbsarbeit von Frauen in Westdeutschland^ durchzusetzen. Allerdings konnte nur die Teilzeitarbeit, nicht aber die lebenszeitlich dauerhafte Vollzeitarbeit von Frauen etabliert werden, legitimiert durch die Beschreibung von Frauen als Mutter und die Differenzierung der Geschlechter dariiber, dass eines der beiden Erwerbs- und Familienarbeit vereinbart. Ausschlaggebend hierfiir war der Umstand, dass die kurze Arbeitszeit mit einem Frauenbild einherging, das in den wesentlichen Punkten dem vorherigen entsprach: Obgleich auch in dieser Zeit fiir viele Frauen ihre Arbeit okonomisch notwendige, anstrengende Fabrikarbeit war, wurde diese Arbeit als Verlangemng der Familienarbeit in den Markt hinein inszeniert. Nur als untrennbarer, zeitlich wie inhaltlich abgestimmter Teil der Familienarbeit konnte sich das Recht von Frauen auf einen „Zuverdienst" kulturell durchsetzen (vgl. von Oertzen 1999).^

Die Arbeitszeitbegrenzung fiir Frauen fand im Rahmen der Auseinandersetzungen um allgemeine Arbeitsschutzbestimmungen statt. Fiir Arbeiter insgesamt war die Gewerbeordnungsnovelle in Deutschland 1891 jedoch recht unkonkret formuliert (vgl. Weaker 1996). Es ist hier nicht moglich, detailliert auf die Unterschiede zwischen der DDR und der Bundesrepublik einzugehen. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen war in der DDR hoher als in der Bundesrepublik. Durch ein ausgebautes staatliches Kinderbetreuungssystem wurde die Vollzeiterwerbsarbeit von Frauen gefordert und gefordert. Aber auch hier haben viele Beschaftigte (und vor allem Frauen) eine Teilzeitbeschaftigung ausgeiibt. Auch hier war die Zustandigkeit fur Kinder, Familie und Haushalt und deren Vereinbarkeit mit der Erwerbsarbeit fraglos „wesensmaBig" den Frauen zugeschrieben. Auch in der DDR waren Frauen als Erwerbstatige vor allem erwerbstatige Mutter (vgl. Nickel 1993; Dolling 1997). Eine explizite Aufarbeitung und Darstellung der Geschichte der Teilzeitarbeit ist in der Literatur auBerst selten zu finden. Sehr intensiv hat sich die Historikerin Christine von Oertzen

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Daniela Schick „In alien Lebensphascn [tritt die Frau] glcichbcrechtigt und in sozialcr Mitverantwortung neben den Mann, um mit ihm gemeinsam Familien-, Erwerbs- und offentliches Leben zu gestalten und - wenn auch in anderer Weise - wieder eine gewichtigere Stellung im Sozialgefuge mit ahnlicher Bedeutung einzunehmen, wie sie vor der industriellen Revolution anzutreffen war." (Frauenenquete 1966, zit. n. ebd.: I l l )

Bereits 1946 von den Befreiungsmachten eingefordert, bedurfte es zur Einfiihrung der Teilzeitarbeit einer nahezu 20 Jahre andauemden Auseinandersetzung um Frauen als nicht nur in Ausnahmefallen (wie etwa die Kriegswirtschaft) Erwerbsarbeitende. Erst nach langjahrigen Erfahrungen in den USA und GroBbritannien, psychologischen so wie okonomischen Studien und entsprechenden Gutachten seitens des Intemationalen Arbeitsamtes^ entstanden in Westdeutschland Bestrebungen zur Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt iiber die Halbtagsarbeit. Dabei war entscheidend, dass diese Arbeitsform in den Studien und Gutachten explizit auf die Familie zugeschnitten und hierfiir als funktional betrachtet wurde. Das private Heim als alleiniger Tatigkeitsbereich „dorre" die Hausfrau „aus": Ihre Pflichten gegeniiber Ehemann und Kindem konne sie nur durch eine erganzende Erwerbstatigkeit erfiillen und hierdurch die Familie schiitzen (vgl. SPD 1957, zit. n. ebd.: 72). Der Wunsch von Frauen nach Erwerbsarbeit und Berufsausiibung konnte dadurch legitimiert werden. Das Dilemma, dass „zahllose junge werdende Mutter [sich] Gedanken [machen], wie sie Beruf und Kind ... einmal verbinden sollen" (Hessischer Rundfunk 1962, zit. nach ebd.: 94), erklarte die dauerhafte (Vollzeit-)Berufsausubung zum unrealistischen Ideal und Halbtagsarbeit sowie ein temporares Aussteigen aus der Erwerbsarbeit zu einer verniinftigen Losung (vgl. Die Zeit 1962, zit. n. ebd.: 95).^ Die Prasenz von Frauen auf dem Arbeitsmarkt wurde dabei nicht als solche sichtbar gemacht. Mit viel Anstrengung wurde stattdessen die familiare Halfte des weiblichen Tages und Lebens in den Fokus der sozialen Aufmerksamkeit geschoben und hierfur die Fabrikarbeit entsprechend in Szene gesetzt. Die industrielle Akkord-Arbeit beschrieb man als „so leicht zu machen, daB sie mit GroBmutters Hakelarbeit verglichen werden konnte, d. h., daB die Arbeit mit wenig und kurzen Bewegungen der Hande getan werden kann, nicht ange-

4

5

(1999) der Genese der Teilzeitarbeit und den Auseinandersetzungen um die Erwerbstatigkeit von Frauen gewidmet. Auf ihre Arbeit stutzt sich die hier vorgenommene Darstellung. Das Internationale Arbeitsamt (lAA) ist ein Organ der Intemationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organisation, ILO). Das LAA ist Koordinationsstelle fiir die Kooperation in der ILO und bereitet die wissenschaftlichen Berichte vor, die an jeder Sitzung der Intemationalen Arbeitskonferenz vorgestellt werden. In diesem Zusammenhang wurde das „Drei-Phasen-ModeU" als Lebenslauftnuster bekannt, das durch ein Nacheinander von Berufsausbildung, Familiengriindung und Bemfsausiibung die Idealform weiblicher Rollen-Balance darstellte (Klein/Myrdal 1956 in GroBbrittanien, 1960 in Deutschland veroffentlicht; vgl. von Oertzen 1999).

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strengt und auBerdem gewissermaBen aus dem UnterbewuBtsein verrichtet werden kann. Sie laBt sogar einen Plausch mit der Nachbarin zu." {Leibniz-Blatter Marz 1959, zit. n. ebd.: 294)

Sie wurde geschildert als „so sauber, dafi sie sogar im neuen Kieid kommen konnen" - ,^ach der Zeit, die sie als Frau fiir eine Beschaftigung iibrig haben" (Siemens & Schuckert in der BILD-Zeitung 1961, zit. n. ebd.: 263). Neben der wissenschaftlichen Bekraftigung weiblicher, teilzeitiger Erwerbsarbeit als psychisch flinktional flir die Haus- und Familienarbeit war es vor allem ihre Illustration als gerade nicht marktfbrmige Arbeit, die ihr zum Erfolg verhalf. Nicht nur iiber die Kiirze ihrer Zeit, sondem auch iiber ihre Beschreibung als textile Handarbeit, elegante, den Plausch befordemde Kaffeerunde und sporadische Gelegenheit zum Zuverdienst wurde die Erwerbsarbeit von Frauen als Teil der Familienarbeit gestaltet, der als vomehm und modem gait (vgl. ebd.). Es geschah aber mehr als die Integration „hauslich gebundener" Frauen in den Arbeitsmarkt und die Losung eines Vereinbarkeitsdilemmas fiir Frauen, die Halbtagsarbeit und Erwerbsausstiege wiinschten. Die Verhandlung und Ermoglichung einer Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit fiihrte nicht einfach zur Teilzeit-Erwerbsarbeit von Hausfrauen und Miittem und der umfassenden gesellschaftlichen Akzeptanz einer solchen. Frauen, die Teilzeit arbeiteten und zeitweise aus der Berufsarbeit ausstiegen, sollten nun als Protagonistinnen weiblicher Erwerbstatigkeit gelten. Dies geschah in der Tat: Mit der Etablierung weiblicher Teilzeitkrafte gerieten nun in Vollzeit und kontinuierlich arbeitende Frauen in Misskredit. Fiir weibliche Ganztagskrafte gait gegeniiber Halbtagskraften in den 1960er Jahren das Gleiche, das fiir Arbeiterinnen im 18. und 19. Jahrhundert gegeniiber biirgerlichen Hausfrauen gegolten hatte: „Gemessen an der biirgerlichen Norm vemachlassigten [diese] Frauen der Unterschichten ihr Haus, ihre Kinder, ihren Ehemann. Sie waren keine Frauen." (Bock/Duden 1977: 152) Im 20. Jahrhundert, im Zuge der Auseinandersetzungen um Teilzeitarbeit, verschob sich nun die Grenze fiir die Einordnung erwerbstatiger Frauen. Die Trennlinie hatte sich vorher zwischen Frauen und Mannem, ebenso zwischen Arbeiterinnen und biirgerlichen Frauen befimden. Nun war sie zwischen ganztags arbeitenden Mannem und halbtags arbeitenden Frauen, desgleichen zwischen Arbeiterinnen und Damen zu verorten, die sich faktisch am gleichen Arbeitsplatz aufhielten. Da die Erwerbsarbeit der Halbtagskrafte zeitlich und inhaltlich als Hausarbeit inszeniert wurde, verstanden sich Teilzeitkrafte nicht als „Arbeiterinnen", dies waren die Ganztagskrafte.^ Jene, die sich vollstandig in der Arbeitswelt aufhielten, waren keine Frauen. Nicht also die modeme Frau an sich, sondem die modeme Hausfi'au und Mutter ging arbeiten.

Dies ist Interviews zu entnehmen, die von Oertzen (1999: 295ff.) mit zu dieser Zeit bei Bahlsen beschaftigten Frauen gefuhrt hat.

210

2.

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Geschlechtshierarchische Arbeitsteilung und ihre gesellschaftliche Normalisierung

Es ist die in den 1960er Jahren auf beschriebene Weise erfolgreich etablierte Teilzeitarbeit, auf die die derzeit haufig ins Gesprach gebrachte kontinuierlich gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen zuriickzufiihren ist. Bezogen auf die Arbeitszeiten, die in Deutschland bei Mannem hoher, bei Frauen niedriger sind als in anderen europaischen Landem (vgl. Pfarr 2002; Gerhard et al. 2003), ist die Einbindung von Frauen in den Arbeitsmarkt in den letzten Jahren daher nicht wesentHch gestiegen (vgl. Maier 1997, 2006; siehe auch den Beitrag von Lindecke in diesem Band). Da seit 1991 parallel zum Anstieg teilzeitbeschaftigter Frauen ein Riickgang der Vollzeitbeschaftigung zu beobachten ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2003), liegt hier eher eine Umverteilung von Arbeit unter Frauen vor. Dies kann als „marginalisierende Integration" oder „ausschlie6ende EinschlieBung" (Wetterer 1999) von Frauen in den Erwerbsarbeitsmarkt bezeichnet werden. Anders als bei Mannem wird die unvollstandige Integration von Frauen als plausible Nicht-Teilnahme am Arbeitsmarkt, nicht als soziale Ausgrenzung wahrgenommen (vgl. Rabe-Kleberg 1987; Toms 2001).'7 So erweckt auch folgender Sachverhalt derzeit keine Irritation: Die Debatte iiber Vereinbarkeit von Bemfsund Familienleben wird vor dem Hintergmnd gefiihrt, dass Frauen im Vergleich zu Mannem ohnehin schwerer Zugang zu besserer Entlohnung, Aufstieg und Dauerbeschaftigung finden. Nun sollen aber Bemf und Familie ohne jeweilige Abstriche miteinander vereinbart werden, nachdem vom Problem stark eingeschrankter Beschaftigungsverhaltnisse als Folge der Flexibilisiemng des Arbeitsmarktes mehrheitlich Frauen betroffen waren und sich dieses Problem in den letzten Jahren weiter verscharft hat (vgl. Krais/Mamani 2001). Obgleich in nicht geringem Umfang unfreiwillig ausgefiihrt und Merkmale der Prekaritat kumulativ auf sich vereinigend, wird die flexible Arbeit durch Frauen im Vergleich zu anderen betriebs- und volkswirtschaftlichen Rationalisiemngsstrategien nicht nur mit weniger Unmut wahrgenommen, sondem im Gegenteil als Arbeit, die geschlechtsspezifisch vorgepragten Beschaftigungswiinschen und -kompetenzen - den „flexibel-mobilen Symbolarbeiterinnen" - entgegenkommt (BonB et al. 2003: 7). Schon in der Nachkriegszeit galten „Anpassung, Umschalten auf

7

Im Gegenteil ist es die Segregation vor allem auch der Arbeitszeiten, die zur Akzeptanz einer hoheren Frauenerwerbsquote beitragt und diese positiv zu beeinflussen scheint (vgl. Maier/Quack 1994; Maier 1997; Pfarr 2002; Wetterer 2002). Ein Vergleich zwischen Landem der Europaischen Union zeigt, dass Lander mit der hochsten Frauenerwerbsbeteiligung gleichzeitig das hochste Mafi an geschlechtssegregierter Erwerbsarbeit haben (vgl. Maier/Quack 1994; Pfarr 2002).

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211

neue Jobs und Anpassungsfahigkeit" als Eigenschaften von und zugleich Erfordemis fur Frauen, um Familien- und Bemfsleben miteinander in Einklang zu bringen (Die Zeit 1965, zit. n. von Oertzen 1999: 95), obgleich auch da die untemehmerische Nachfrage nach flexiblen Arbeitskraften eine wichtige Rolle spielte. Die Wahmehmung einer nur teilweise stattfindenden Integration von Frauen in den Erwerbsarbeitsmarkt als plausible Nicht-Teilnahme ist auf den Umstand zuriickzufiihren, dass sie durch Familienarbeit erklart wird. Frauen gelten auf dem Arbeitsmarkt als benachteiligt, weil vomehmlich sie der Haus- und Familienarbeit nachgehen oder nachgehen wollen. Dieses Erklarungsmuster begriindet die vertikale Ungleichheit zwischen den Geschlechtem durch Familienarbeit. Wissenschaftlich findet es sich in verschiedenen Varianten. Okonomische Ansatze, bier vor allem Humankapitalansatze, gehen von unterschiedlichen Investitionen und Erwerbslaufbahnplanungen aus, die zu einem Verlust von Humankapital und zu geringerer Entlohnung fiihren (vgl. Becker 1983; Polachek 1975a, 1975b). Das Konzept des weiblichen Arbeitsvermogens sieht die Problematik von Frau und Beruf nicht nur in der zeitlichen Addition von jeweils voll ausgeiibten Arbeiten in der Familie und im Erwerb. Auch gibt es einen inhaltlichen Konflikt dieser Anforderungen (vgl. Beck-Gemsheim 1976). Nach dem Segmentationsansatz (vgl. Lutz/Sengenberger 1974; Sengenberger 1987) fiihren betriebliche Strategien des Arbeitskrafteeinsatzes zu einer Spaltung des Arbeitsmarktes in Teilarbeitsmarkte. Betriebliche (interne) Arbeitsmarkte, fachliche Arbeitsmarkte und unspezifische („Jedermann"-)Arbeitsmarkte, die jeweils ihre eigene Rekrutierungsbasis haben, sind hier von Bedeutung. Als instabil stereotypisierten Fersonen werden unspezifische „Jedermann-Tatigkeiten" zugewiesen: gering entlohnte, unbestandige, kurzzeitige Beschaftigungsverhaltnisse. In diesem Segment bzw. Teilarbeitsmarkt finden sich vomehmlich weibliche Arbeitskrafte wieder (vgl. Freiburghaus 1976: 75f.). Auch wenn dieser Prozess auf Seiten der Arbeitgeber beschrieben wird, rechnet dieser Ansatz „sowohl der Arbeitsplatzewie der Arbeitskraftestruktur ein MaB an autonomer Gestaltungsfahigkeit zu und [geht] von der wechselseitigen Beeinflussbarkeit der beiden Parameter aus" (Sengenberger 1987: 47). So sind schlieBlich all diese Ansatze zur Erklarung geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung dadurch gekennzeichnet, „that they view women as being in a disadvantage in the labor market 'because of their domestic responsibihties ... [and] it is female deficiencies which are the cause of their poor labor market performances although the victim may not necessarily be held personally responsible for her inadequancies" (Walby 1990: 31).

Auf die Grenzen der Erklarungskraft dieser Theorien wurde in den letzten 30 Jahren mehrfach hingewiesen (vgl. ebd.; England 1992; Cyba 1998). Die Be-

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nachteiligung von Frauen beim Zugang zum Arbeitsmarkt vollzieht sich nicht aufgrund ihrer familiaren Belastung. Die Achse der Hierarchic zwischen Mannem und Frauen verlauft deutlich quer zu den Erwerbsgruppen unterschicdlichsten Humankapitals (insbcsondcre Berufsqualifikation und -erfahrung) und Alters (vgl. Ffau-Effmger 1990). Frauen sind auf dem Erwerbsarbeitsmarkt benachteiligt, auch wenn sic keinc Belastung durch Familienarbeit (mehr) haben, und fur Diskontinuitaten sind auch bei Frauen mit Kindem Gegebenheiten des Arbeitsmarktes verantwortlich: Die Erwerbsverlaufe von Frauen mit den gleichen Merkmalen (etwa Kinderzahl und Alter bei Geburt des Kindes) fallen je nach Bemf und Branche hochst verschieden aus (vgl. Bom/Kriiger 1991). Unterschiedliche Bildungsinvestitionen konnen schon seit der Bildungsexpansion in den 1960er und 1970er Jahren nicht mehr als Erklarung fiir die hierarchische Arbeitsteilung herangezogen werden (vgl. Blossfeld 1985; Statistisches Bundesamt 2004a). Gleiches gilt fur die Berufserfahrung, wenn etwa beim Eintritt in das Berufsleben beide Geschlechter noch keine Praxisroutine haben, die Eingangspositionen aber bereits hierarchisiert sind (vgl. England 1992). Das Risiko, prekaren und damit Diskontinuitaten versprechenden Arbeitsverhaltnissen nachzugehen, ist insgesamt fiir Frauen h5her und korreliert deutlich starker mit dem Geschlecht als mit der Berufsqualifikation oder -erfahrung (vgl. Weiler 1996; Meulders 2001). Und schlieBlich ist cine geschlechtshierarchische Arbeitsteilung im un- und angelemten Bereich ebenso festzustellen wie auf der Ebene der Profession,^ inter- ebenso wie intraberuflich. Damit ist die Position von Frauen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt in unterschiedlichen Abstufungen, aber doch in jedem Segment und auch jenseits „typischer Frauenarbeit" gegeben. Die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung iiber die Zuweisung von Frauen in den „Jedermann"-Teilarbeitsmarkt zu erklaren, reicht deshalb nicht hin. Dies trifft auch auf die Begriindung durch ein zeitlich und inhaltlich spezifisch weibliches Erwerbsvermogen zu. Zum einen lasst sich die geschlechtsspezifische Berufswahl als trichterformiger Prozess der Anpassung. Resignation und Antizipation im Rahmen der Arbeitsplatzstruktur, der elterlichen, schulischen sowie arbeitsamtlichen Berufsberatung nachweisen (vgl. Liesering 1996; Rettke 1987). Zum anderen wird auch die Teilzeitarbeit in hohem Umfang unfreiwillig ausgefiihrt (vgl. Hantrais/Letablier 1997; Holst/Schupp 2002; Statistisches Bundesamt 2004c). Der Wunsch von Frauen nach langerer Arbeitszeit sowie hoherem Einkommen war bereits in der Entstehungsgeschichte

Dass vor allem Frauen in prekaren Beschaftigungsvcrhaltnisscn zu finden sind, lasst sich beispielsweise Daten des Mikrozensus entnehmen (Statistisches Bundesamt 2003, 2004a, 2004b, 2005). Fiir die Geschlechterhierarchie im Bereich der Wissenschaft vgl. die Arbeiten von Wetterer (1995a, 1995b, 1999, 2002), NeuselAVetterer (1999) und Mesletzky (1995).

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der Teilzeitarbeit ein Grund fiir die Langwierigkeit ihrer Einfiihrung. Bis sich das Bild der modemen, gerade weil Teilzeit arbeitenden Frau durchsetzen konnte, lehnten Frauen Teilzeitstellen aufgrund kurzer Arbeitszeiten sowie okonomischer Rentabilitatsiiberlegungen ab (vgl. von Oertzen 1999). Obwohl sich die Benachteiligung von Frauen bei der Integration in den Erwerbsarbeitsmarkt jenseits familiarer Belastungen vollzieht, erfreut sich diese Begriindung hoher und konstanter Beliebtheit. Gerade weil auf Familienarbeit als Begriindung zuriickgegriffen wird, hat sie einen legitimatorischen Vorzug. Sie verweist auf etwas, das im Alltagswissen bereits fest verankert ist und immer wieder neuerlich erwartet wird: Frauen wollen nicht nur arbeiten. Die sich lediglich partiell vollziehende Teilhabe von Frauen am Erwerbsarbeitsmarkt wird umso plausibler, je mehr Frauen nicht als Erwerbstatige sondem als erwerbstatige (potenzielle) Mutter gelten. Durch die Betonung von Interessen auf Seiten von Frauen kann ihre Benachteiligung als „Benachteiligung" negiert werden (vgl. Rabe-Kleberg 1987). In dem MaBe, in dem die Erwerbsarbeit von Frauen ausschlieBlich als Teil einer doppelten Lebensfiihrung behandelt wird, wird auch ihr Platz auf dem Erwerbsarbeitsmarkt unhinterfragt als einer gedacht, der nur partiell ist.

3.

Frauen wollen andere Lebenschancen und Optionen?

Die Auseinandersetzung um eine Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit diirfte nicht nur die Fragen nach Kinderbetreuung und familienfreundlichen Arbeitsverhaltnissen aufwerfen. Am wichtigsten bleibt nach wie vor die Frage, welchen Platz Frauen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt einnehmen. Das ist sie bereits jenseits von Kinderlosigkeit, Kinderwiinschen und von Vereinbarkeitsdilemmata. Auch vor dem Hintergrund der die Teilarbeitsmarkte iibergreifenden, angespannten Lage auf dem Erwerbsarbeitsmarkt ist das Problem der Vereinbarkeit vor allem auf der beruflichen Seite nicht gel5st. Je mehr und je kostengiinstiger Kinderbetreuung angeboten und Familiengriindungen staatlich flankiert werden, umso beharrlicher miisste sich die Frage nach dem Angebot ununterbrochener, existenzsichemder und Prestige wie Aufstieg versprechender VollzeitBeschaftigungsverhaltnisse an Frauen aufdrangen. Bewusst wurde hier die aktuelle Debatte um Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben vom Kontext der demographischen Entwicklung gelost und in den Zusammenhang mit der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung auf dem Erwerbsarbeitsmarkt gebracht. Dies konnte offenlegen, warum die Frage nach qualitativ und quantitativ hochwertigen Beschaftigungsverhaltnissen fiir Frauen momentan nicht gestellt wird. Dieser Umstand ist kein Merkmal einer Vereinbarkeitsdebatte als solcher. Es ist nicht insofem begriindet, dass eine Verhandlung um eine Balance zwischen Be-

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rufs- und Familienleben genau darilber sprechen muss. Dies wiirde voraussetzen, dass Erwerbstatigkeit von Frauen jenseits dieses Balanceakts als Thema existiert, Frauenerwerbsteilhabe nicht per se im Einklang mit doppelter Lebensfiihrung gedacht wird - oder allenfalls sporadisch (z.B. eben durch demographische Entwicklungen). Doch historisiert man die Vereinbarkeitsdebatte, erweist sich die Verhandlung der Lebensfiihrung von Frauen als verzweifachte Biographie und die doppelte Definition von Frauenarbeit als Erwerbs- und Familienarbeit als Routine, die eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung um den nach Geschlecht hierarchisierten Arbeitsmarkt spielt. Der ersten umfassenden Vereinbarkeitsdebatte im Westdeutschland der 1960er Jahre lasst sich entnehmen, dass die Etablierung weiblicher Erwerbsarbeit als solche ganz eindeutig davon abhing, in welchem Umfang sie vollzogen wurde: Je weniger Zeit sie im Tag und Leben von Frauen einnahm und je deutlicher Frauen nicht als Erwerbstatige, sondem als erwerbstatige Mutter erkannt wurden, desto mehr Akzeptanz konnte erwartet werden. Dass hieriiber in der Tat eine sich nur teilweise vollziehende Einbindung normalisiert wurde, und dies nachhaltig, zeigt sich an der Beharrlichkeit der problematischen Erwerbsteilhabe von Frauen und der gesellschaftlichen Anerkennung dessen. In der Geschichte der Erwerbsarbeit von Frauen und in der Arbeitsmarktforschung sucht man vergeblich nach einer Auseinandersetzung um Frauen als Erwerbstatige. Bestandig gelten sie als spezifische Arbeitskrafte, denen Beruf oder Familie zu wenig, beides aber zu viel ist.9 Eine Debatte um die Erwerbsbeteiligung von Frauen ohne einen Verweis auf ihre zwiespaltige Stellung zwischen Berufs- und Familienarbeit existiert ebenso wenig, wie Frauenarbeit ohne ihre doppelte Definition auskame. So wie damals nicht die modeme Frau an sich, sondem die modeme Hausfrau und Mutter arbeiten ging, wollen auch heute „Frauen beides" und gehoren „zu einem modemen Lebensstil auch Kinder" (BMFSFJ 2003, 2005a). Machten sich in der Nachkriegszeit „zahllose junge werdende Mutter Gedanken, wie sie Bemf und Kind einmal vereinbaren sollen" (Hessischer Rundfunk 1962, zit. n. von Oertzen 1999: 94), „orientieren sich Frauen" heute „bei der Bemfswahl daran, wie gut sie in dem spateren Job Familie und Bemf vereinbaren konnen" (BMFSFJ 2005b: 4). War das flexible „Umschalten auf neue Jobs und Anpassungsfahigkeit" 1960 das spezifisch weibliche „neue Arbeitsethos" (Hessischer Rundfunk 1965), um „Women's Two Roles"

Arbeiten, die zur Erklanmg der Geschlechterhierarchie auf dem Arbeitsmarkt sowohl empirisch als auch theoretisch von der Pramisse einer geschlechtlichen Differenziemng der Erwerbspersonen absehen (etwa Wetterer 1995a, 1995b, 1999, 2002), werden vomehmlich als politisch ambitioniert, nicht wissenschaftlich-distanziert wahrgenommen, obwohl - oder besser: gerade weil - ihre Analysen dem Alltagswissen femer liegen als benannte Erklarungsmuster.

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(Klein/Myrdal 1956) zu kombinieren, wird ihnen auch heute eine „gro6ere Flexibilitatsbereitschaft" attestiert (BonB et al. 2003: 7). Das heifit, dass Frauen selbst flexible Beschaftigungsverhaltnisse wunschen, welche (nicht notwendigerweise, aber faktisch) prekare Arbeitsverhaltnisse sind. Zwar setzt das in den 1960er Jahren propagierte Drei-Phasen-Modell auf diskontinuierliche, das Muster der doppelten Lebensfiihrung auf das Ideal kontinuierlicher Erwerbsteilhabe. Diese Modemisierung andert jedoch nichts an der bestehenden Prekaritat des Arbeitsmarktes fiir Frauen. Solange sich diese auch jenseits familiarer Belastungen vollzieht, sind etwa Kinderbetreuungseinrichtungen notwendig, aber nicht hinreichend. Bemerkenswerter als der Unterschied zwischen den Modellen ist namlich ihre Gemeinsamkeit, dass iiberhaupt auf einer Zerrissenheit von Frauen zwischen Beruf und Familie bestanden wird. (Jber diese Artikulation von Ambivalenzen, Interessen und Kompetenzen auf Seiten der Frauen wird ihre Benachteiligung als solche negiert, etwas Hierarchisches nicht als hierarchisch, sondem als „geschlechtsspezifisch" und damit als etwas horizontal Verschiedenes ausgelegt. Insofem ,,'sind' Frauen und Manner in eben dem Mafie verschieden, wie sie Verschiedenes arbeiten; dann 'haben' Frauen und Manner in eben dem MaBe unterschiedhche Lebenschancen und Optionen" (Wetterer 1995a: 20). Statt als selbstverstandliches Merkmal einer Vereinbarkeitsdebatte kann die doppelte Definition von Frauenarbeit als Familien- und Erwerbsarbeit und kann die Vereinbarkeitsdebatte selbst als Symptom der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung betrachtet werden. Die Auseinandersetzung um die Balance zwischen Familie und Beruf ist ein Medium der nur zum Teil erfolgten Einbindung von Frauen in den Erwerbsarbeitsmarkt und ihrer gesellschaftlichen Toleranz. Das seit den 1960er Jahren bis heute institutionalisierte Wissen, dass die moderne Frau nicht nur arbeiten, sondem zugleich Familie will, und daraus Unsicherheiten in ihrer Lebensplanung und -fiihrung resultieren, entspricht auf den ersten Blick ihrer empirischen Anordnung auf dem Erwerbsarbeitsmarkt, macht sie plausibel und normal. So ist die Artikulation von weiblichen Vereinbarkeitsdilemmata immer auch eine Platzanweisung an Frauen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt. Diskontinuitat - variable Arbeitszeiten ebenso wie immer mal wiederkehrender Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt - kennzeichnet den „Platz der Frau in der Arbeitswelt" (Hessischer Rundfunk 1965). Dieser Beitrag suchte darauf hinzuweisen, dass die Vereinbarkeitsdebatte, wie sie aktuell gefiihrt wird, eine starke Kontinuitat aufweist und als Erfolgsgeheimnis der Legitimation prekarer Erwerbsteilhabe von Frauen gesehen werden kann. Hierfur wurde das derzeit vorzufindende Engagement fiir die Ermdglichung einer doppelten Lebensfiihrung bewusst von den demographischen Untersuchungen gelost und historisiert. Dies sollte jedoch nicht den Blick fur die qualitativen Veranderungen verschlieBen, die eine Vereinbarkeitsdebatte, die sich nun aus demographischen Untersuchungen ableitet, mit sich bringt. Die zurzeit

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gefuhrten Auseinandersetzungen unterstreichen noch einmal die doppelte Lebensfuhrung von Frauen. Dass sie damit etwas pointieren, das die prekare Einbindung von Frauen in den flexibilisierten Arbeitsmarkt zu normalisieren vermag, diirfte deutlich geworden sein. Zudem aber wird wieder haufiger von vorgeblich kinderlosen „Karrierefrauen" gesprochen, und gerade hoch qualifizierte Frauen und ihr Lebensstil geraten in den Blickpunkt. Frauen, die allein der Erwerbstatigkeit nachgehen, sind fast unmittelbar zur Symbolfigur demographischer Entwicklungen geworden. Doch vor dem Hintergrund der hier vorgenommenen Rekonstruktion kann an der aktuellen Auseinandersetzung um „Karrierefrauen" noch eine andere Entwicklung abgelesen werden: Der Normallebenslauf, der sich um das Erwerbsarbeitssystem zentriert und aus Griinden der Lebenssicherung auch genau hieran ausrichten muss, gait schon immer gerade dann nicht als Normalitat, wenn diese Schablone auf Frauen gelegt wurde bzw. Frauen dies zu biographisieren suchtenJO Verfolgt man nun aber die demographische Vereinbarkeitsdebatte, ist eine Veranderung festzustellen. Erinnem wir uns an die Verschiebung der Grenze fiir die gesellschaftliche Etablierung erwerbstatiger Frauen im Zuge der Auseinandersetzungen um Teilzeitarbeit in den 1960er Jahren: Die Trennlinie hatte sich vorher zwischen Fabrikarbeiterinnen und Frauen aus dem Biirgertum befunden, war dann zwischen GanztagsArbeiterinnen und halbtags arbeitenden „Damen" zu verorten. Anhand der aktuellen Diskussionen ist eine emeute Verschiebung zu erkennen. Die Grenzlinie der Etablierung weiblicher Erwerbstatigkeit kann nun zwischen Frauen und „Karrierefrauen" bzw. „Akademikerinnen" markiert werden. Analog lasst sie sich zwischen Berufsausiibung auf Zeit und Karriere zeichnen. Die Anerkennung weiblicher Integration in den Arbeitsmarkt ist also auf den Punkt begrenzt, an dem Lohnarbeit von Frauen als selbstverstandHch erachtet wird, der sich aber deutlich vor Kontinuitat und Aufstieg befindet. Die restriktive Formel, dass nicht die modeme Frau, sondem die modeme Hausfrau und Mutter arbeiten ging, wird statt auf den bloBen Lohnerwerb nun auf Erfolgslaufbahnen angewendet: Nicht die Frau, sondem die modeme Mutter macht Karriere. Und je starker die Auseinandersetzung auf Basis demographischer Untersuchungen und unter bevolke-

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In den Ictztcn Jahren ist der „Normallebenslauf' als Bcschreibung jeglicher Lcbcnslaufinuster in die Kritik geraten. Empirisch und theoretisch wurde fur einen Abschied vom Normallebenslauf pladicrt, da ihm mit der Flexibilisiemng des Arbeitsmarktes die Grundlage eines Normalarbeitsverhaltnisscs entzogen wurde. Zu der Zentrierung des Lebenslaufs um das Erwerbsarbeitssystem bietet sich jedoch bisher keine eindeutige Alternative, was bereits die materielle Lebenssicherung angeht. Zudem ist davon auszugehen, dass sich Individuen biographisch nach wie vor an den „gewohnten" Ablaufinustem ausrichten oder auszurichten versuchen. Das institutionalisierte Lebenslaufregime kann auf dieser Ebene der biographischen Konstruktion nicht so schnell erodieren (vgl. Kohh 1985, 2003).

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rungsrelevanten Zielsetzungen gefiihrt wird, auf umso mehr Einvemehmen trifft dieser Ausdmck. Da es aktuell vorrangig um Demographie geht, drangt sich der Verdacht, man besprache in legitimierender Weise die Geschlechteranordnung auf dem Arbeitsmarkt, erst gar nicht auf. Dies geschieht auch deshalb nicht, weil die Erwerbstatigenquote von Frauen in ein Verhaltnis zur demographischen Entwicklung gesetzt und hieran bemessen wird. Abgewogen an der niedrigen Geburtenziffer und hierfiir als Begriindung herangezogen, erscheint die Beteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt hoher und wirken ihre Erwerbslaufbahnen erfolgreicher, als wenn man sie an Standards des Normalarbeitsverhaltnisses berechnen wiirde. Sehr erfolgreich kann daher die demographische Auseinandersetzung den Tatbestand verdecken, dass die weibliche Erwerbsteilhabe prekar ist und sich selbst Karrieren von kinderlosen Frauen in vielfacher Weise eingeschrankt voUziehen.

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Die Demographisierung okonomischer, kultureller und sozialer Veranderungen am Beispiel des landlichen Raums Stephan Beetz

Kiirzlich formulierte ein renommierter Statistiker ganz selbstverstandlich, dass die demographischen Daten an den Anfang einer Tagung gehorten, seien sie doch die Fakten, mit denen man sich auseinanderzusetzen habe. Am Anfang steht die Zahl? In den letzten Jahren erfxihr die Demographie in der deutschen Offentlichkeit eine ausgesprochen starke Beachtung. Damit ist nicht gesagt, dass die aufgeworfenen demographischen Fragestellungen neu sind, denn Themen wie altemde oder schrumpfende Bevdlkerungen, umfangreiche Wandemngsbewegungen und sinkende Kinderzahlen begleiten den Prozess der Modemisiemng in Land und Stadt. Der folgende Beitrag geht den Griinden und spezifischen Fokussierungen der aktuellen Diskussion nach, die in Wissenschaft und Politik sehr dominant und iiber weite Strecken als Krisenszenario gefiihrt wird. Anlass fiir die aktuelle Debatte waren die stark sinkenden Geburtenzahlen und Abwanderungen in Ostdeutschland, sie erstreckt sich aber inzwischen ebenso auf Westdeutschland. Die Ursachen fur Intensitat und Ausrichtung der Diskussion sind nicht einfach aus einem durch demographische Prozesse entstehenden poHtischen Handlungsdruck zu erklaren. Geschuldet ist dies ebenso nicht - wie haufig vorgebracht - der verzogerten Umsetzung wissenschaftHcher Erkenntnisse durch die Politik. Im Folgenden soil die These vertreten werden, dass sich die aktuelle Diskussion nur zum Teil aus den demographischen Entwicklungen „an sich" herleitet. Am Anfang steht nicht die Zahl, sondem das Wort bzw. die Deutung. Einerseits werden in der aktuellen Debatte die demographischen Prozesse landlicher Raume nur unzureichend in ihrer gesellschaftlichen Wahmehmung dargestellt, andererseits verschwimmen unter dem Stichwort des demographischen Wandels soziale, kulturelle und dkonomische Veranderungen. Sie werden „demographisiert".

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Stephan Beetz

Demographie und Idndliche Rdume - eine Debatte mit Tradition

Die Ausdifferenzierung stadtischer und landlicher Raume ist historisch eng mit Prozessen der Konzentration und Dekonzentration von Bevolkerung verbunden. Bis heute greifen viele Definitionen landlicher Raume als wichtigste Kriterien auf die geringere Bevolkerungsdichte und die fehlenden Bevolkerungskonzentrationen zuriick. Zusammen gelten sie als zuverlassige Merkmale, obwohl stets kulturelle, okonomische und soziale ICriterien mit gemeint, jedoch wesentlich schwieriger explizierbar sind. Fiir viele europaische Staaten wird das Verhaltnis zwischen landlicher und stadtischer Bevolkerung als Ergebnis der demographischen Transition angesehen, also der langfristigen Veranderung des Verhaltnisses von Geburten- und Sterberaten mit ihrer Auswirkung auf Bevolkerungsumfang und -struktur. Die im Zentrum der aktuellen Debatte um den demographischen Wandel stehenden Themenl der Alterung der Bevolkerung, des Bevolkerungsriickgangs sowie der Binnen- und AuBenmigration fanden stets zentrale Aufmerksamkeit bei der Analyse landlicher Raume und entsprechen den klassischen Forschungsfeldem der Demographie als Wissenschaft. Die Veranderungen in der Bevolkerung modemer Gesellschaften, seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem ein massives Wachstum der Industriestadte, wurden stets mit besonderem politischen und wissenschaftlichen Interesse bedacht, allerdings auch sehr kontrovers als Gefahr oder Impuls fur die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen diskutiert (Hainisch 1924). Die wissenschaftlichen und politischen Debatten rankten sich einerseits um die Risiken der so genannten Uberbevolkerung, die sich auf Auffassungen der begrenzten (okonomischen und okologischen) Tragfahigkeit national oder global definierter Raume stiitzte, andererseits wurde das Bevdlkerungswachstum als eine Ursache und Notwendigkeit fiir erhohte Produktivitat angesehen. Die Debatte ging von zwei gegensatzlichen Positionen aus: der Abhangigkeit der BevolkerungsgroBe und -struktur von natiirlichen Bedingungen oder der Mdglichkeit, diese politisch beeinflussen zu konnen. Die kontroverse disziplinare und dffentliche Auseinandersetzung mit den Thesen von Malthus im 19. Jahrhundert zeigte bereits, dass die demographischen Entwicklungen in unterschiedlicher Weise als gefahrlich fiir den Fortbestand von Gesellschaften interpretiert und sehr unterschiedliche Schlussfolgemngen aus den Erkenntnissen gezogen wurden (Birg 2004). Die Theorie des demographischen Ubergangs ging davon aus, dass Gesellschaften ihre Bevdlkerungsbewegungen in einem Gleichgewicht zu halten versuchen

Das zeigt ein kurzer Blick auf gangige Intemetplattformen zum demographischen Wandel wie beispielsweise http://www.demotrans.de/; http://www.wegweiserdemographie.de/; http://www. zukunftsradar2030.de/.

Die Demographisiemng okonomischer, kultureller und sozialer Verandemngen

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(Boque 1969). Es wurde angenommen, dass Phasen der Transition bzw. Transformation, in denen starke Bevolkemngsbewegungen auftreten, in eine posttransformative Phase mit niedrigen oder relativ stabilen Geburten- und Sterberaten miinden, weil Gesellschaften ihre „naturlichen" Entwicklungen zu steuem vermogen. Wenn von der Demographie landlicher Raume gesprochen wird, ist zu beriicksichtigen, dass hierbei zwei fiir sich genommen bereits vieldeutige gesellschaftliche Diskurse beriihrt sind - namlich iiber Bevolkerung und iiber landliche Raume. Offentliche Diskurse, so ist aus der Medienforschung hinlanglich bekannt, verlaufen entlang von vereinfachten, interessegeleiteten und mobilisierenden Argumentationsmustem (Lippmann 1964). Der sich hierbei vollziehende Rekurs auf moglichst einfache Stereotype dient der Herstellung von Klarheit, auch wenn die gesellschaftlichen Zusammenhange durchaus komplexer und die wissenschaftlichen Aussagen unsicherer sind. In Diskurse sind zudem die Interessen derjenigen Akteure eingelagert, die iiber Offentlichkeit verfugen; damit spiegeln sie die Machtstrukturen einer Gesellschaft wider. Sie sollen kollektives Handeln in eine bestimmte Richtung lenken und bilden schlieBlich die Grundlage oder zumindest die Legitimitat politischen Handelns. Die Demographie landlicher Raume bildet ein semantisches Feld, das seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von gesellschaftlichen Deutungsmustem und Interessenkonstellationen gepragt wird, deren diskursive Eigenstandigkeit in der heutigen Diskussion zu beriicksichtigen ist. Der Blick auf das „Land" ist durch die Perspektive der Industriegesellschaft gepragt worden. Hinsichtlich der demographischen Entwicklung wurden die landlichen gegeniiber den stadtischen Gebieten als solche mit hohen Geburtenraten und hohen Abwanderungsverlusten gesehen. Der Diskurs iiber das Land findet sich in Metaphem wieder, die in der veranderten industriegesellschaftlichen Beziehung entstanden sind: z.B. die „Landflucht" der landlichen Bevolkerung oder das Land als „Quellregion" der wachsenden stadtischen Bevolkerung (Beetz 2004). Die dahinter stehende Semantik bezieht sich auf die in den Nationalstaaten voranschreitende fiinktionsraumliche Differenzierung, die die bisher vorherrschende Stadt-Land-Beziehung grundlegend veranderte und neue Konflikte evozierte. In okonomischer, kultureller und sozialer Hinsicht kam es zu gravierenden regionalen Verwerfungen, die eben nicht nur entlang des Stadt-Land-Unterschieds verliefen, sondem vollstandig neue Gebietsdifferenzierungen und -typisierungen hervorbrachten. Im semantischen Feld von Stadt und Land werden komplexe Entwicklungsdynamiken stark vereinfacht und enthistorisiert. In dieser Systematik wird die besondere Dynamik des Wachstums von Agglomerationen, der Mobilitat von Bevolkemngsteilen (des Hin- und Hergeworfenseins), der sozialen Sicherungssysteme oder der (globalen) Modemisierung der Landwirtschaft ausgeblendet (Langewiesche/Lenger 1988). Das semantische Feld wurde durch - meist stark polarisie-

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Stephan Beetz

rende - politische und kulturelle Positionen besetzt, die vom Modemisiemngsprozess - einschliefilich der Industrialisiemng und Globalisierung - nicht nur unterschiedlich stark, sondem widerspriichlich betroffen waren. So wurde z.B. von den Befurwortem der Modemisierung das Verlassen des Landes als fortschrittlicher, von den Gegnem der Verbleib als bewahrender Prozess betont. Allerdings sind die Zuordnungen der einzelnen Positionen im konkreten Fall auBerst problematisch und bediirfen noch einer weiteren wissenschaftlichen Aufarbeitung, weil offensichtlich die Ambivalenz des Modemisierungsprozesses gerade in dieses semantische Feld auf besondere Weise eingewebt wurde. An dieser Stelle soil nur hervorgehoben werden, dass die Unterscheidung von Stadt und Land durch politische wie kulturelle Wahmehmungen und Interessen stark dichotomisiert wurde, was wiedemm zu stereotypen Vorstellungen fiihrte und die Bilder vom Land pragte. Mit dem Durchbruch der Vorstellungen eines umfassenden Modemisierungsprozesses wird die Wahmehmung des Landes von der Zuschreibung als riickstandiger, aber auch als benachteiligter und sogar gefahrdeter Raum beherrscht (Kiilin 1990). Die abnehmende Geburtenrate bei weiterhin hoher Abwanderung in den 1950er/60er Jahren spielte dabei eine wichtige Rolle. Erst in jiingster Zeit veranderte sich dieser Blick etwas, wurde das Land als Ort neuer Wohn- und Lebensqualitat betrachtet, obwohl bereits seit den 1970er Jahren in Westdeutschland, nach 1990 teilweise auch in Ostdeutschland, die Zuwanderung durch Familien mit Kindem und altere Menschen anstieg (Counterurbanisierung). In den letzten Jahren gewinnt wieder eine Diskussion an Bedeutung, die das Land als Verlierer des demographischen Wandels sieht. Im aktuellen demographischen Diskurs wurden bislang vor allem die Abwanderungs- und Schrumpfungsprozesse in Ostdeutschland, spater in Auseinandersetzung mit der Renten- und Pflegeversicherung die zunehmende Alterung der Bevolkerung und die zuriickgehenden Kinderzahlen thematisiert. Die landlichen Raume wurden in diesem Zusammenhang als besondere Problemregionen identifiziert. Es setzte sich die Auffassung durch, dass in diesen Raumen eine „Entleerung" der Bevolkerung erfolgt, manche Autoren sahen diesen Prozess begleitet durch Vorgange wie „Verbl5dung" und „Vergreisung". Dem demographischen Diskurs vorausgegangen war eine Diskussion, in der landliche Raume bereits Anfang der 1990er Jahre als „Verlierer" der Wiedervereinigung beschrieben wurden. Die aktuelle Debatte kniipft an fhihere Aussagen an, zeigt sich aber machtiger sowohl in ihrer Artikulation als auch in ihren abschatzbaren politischen Folgen. Dies auBert sich nicht nur in markanten und metapherreichen Begriffen und Argumentationszusammenhangen, sondem in einem hohen Stellenwert auf der politischen Agenda. Die Abhandlungen zur demographischen Entwicklung fallen durch reiBerisch aufgemachte und stereotyp verwendete Begrifflichkeiten auf Stark vereinfachte und iibertriebene Berichte erreichen ein hohes MaB an Publizitat, ohne die gesellschaftlichen Wirkungszusammenhange darstel-

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len zu miissen. Vor dem skizzierten Hintergrund lassen sich Aussagen der heutigen demographischen Diskussion in einer bestimmten Deutung lesen. Als „hegemonialer Konsens" (Foucault 1974) dienen Diskurse als Instrumente der Normalisierung, der Erhaltung sozialer Ordnungen. Das hiefie im vorliegenden Fall, dass mit der Stadt-Land-Unterscheidung kein analytischer Erfolg zu verbuchen ist, eher eine kategoriale Festschreibung erfolgt, die wiederum politische Wirkungen zeigt. Obwohl die Soziologie sich als deutende, sprich reflexive Wissenschaft versteht, die Formen der Vergesellschaftung untersucht, auBert sie sich beim StadtLand-Unterschied eigentiimlich blind. In Abgrenzung zum Begriff der Bevdlkemng reflektiert die Soziologie mit dem Begriff der Gesellschaft die Interaktionen zwischen Individuen bzw. Gruppen und problematisiert z.B. Prozesse der Abgrenzung, der Deutungen, der Herrschaft und Interessen (vgl. den Beitrag von Barlosius in diesem Band). Der institutionellen Etablierung im 19. Jahrhundert verhaftet, nahm die Soziologie allerdings - ahnlich der Demographic - iiberwiegend die territorialpolitische Einheit der Nation oder die umfassende Weltgesellschaft zum Gegenstand, andere raumliche Differenzierungen (beispielsweise Stadt - Land) riickten in den Hintergrund. Die vorhandenen land- und stadtsoziologischen Forschungen blieben hinsichtlich ihrer gesellschaftstheoretischen Fragestellungen marginal. Sie waren iiberwiegend empirisch ausgerichtet, auf okonomische und soziale Frobleme orientiert und wurden von der Soziologie nur selektiv rezipiert. Umso wichtiger ist es, darauf zu achten, dass landliche Raume als Formen raumbezogener Vergesellschaftung anzusehen sind, die sich spezifisch von stadtischen durch Siedlungsformen, Dichte sozialer Kreise, kulturelle Traditionen, Wirtschaftsverfassungen, Landnutzungen etc. unterscheiden, die aber ebenfalls viele ahnlich gelagerte Prozesse beinhalten. Es sind im Folgenden zwei Uberlegungen zu beriicksichtigen: zum einen die wissenschaftliche und politische Wahmehmung und Kategorisierung der demographischen Entwicklung landlicher Raume, zum anderen die damit verbundenen Implikationen und Interessen.

2.

Analyse der demographischen Situation landlicher Raume

Bevor der demographische Diskurs eingehender analysiert wird, stellt der folgende Abschnitt die statistisch und empirisch zugangliche demographische Entwicklung landlicher Raume in groben Umrissen dar. Die Daten beruhen im Wesentlichen auf der „Laufenden Raumbeobachtung" (BBR 2002), bei der zwischen den Raumtypen Agglomerationen, verdichtete Regionen und landliche Regionen unterschieden wird. Viele Prozesse verlaufen sehr kleinraumig, sodass

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dariiber hinaus eigene empirische Regionaluntersuchungen herangezogen werden (Beetz 2004; Beetz et al. 2005).2 Mit der folgenden Darstellung wird der Ansatz verfolgt, die Analyse nicht entlang der demographischen Phanomene, sondem der gesellschaftlichen Prozesse zu flihren. Deshalb wird zwischen einer Demographie der Modemisierung, der Transformation, der Ruralisierung und der Peripherisierung unterschieden.

2.1 Demographie der Modemisierung Die Demographie der Modemisierung resultiert aus langfristigen Entwicklungen, die als IndustriaHsiemng, staatliche Wohlfahrtssichemng, Demokratisiemng, Pluralisiemng etc. die Bevolkemngsstmktur beeinflussen. Auf der individuellen Ebene auBert sie sich durch eine zunehmende Lebensplanung und biographische Verantwortung, mittels derer der Einzelne sein generatives Handeln mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Anfordemngen abstimmen muss. Die Demographie der Modemisierung fiihrte zunachst zu einer Bevdlkemngszunahme, die sich vor allem aus der verringerten Kindersterblichkeit ergab. Die sinkenden Geburtenraten fiihrten allerdings nicht - wie vermutet - zu einem stabilen Bevolkemngsgleichgewicht; vor etwa vier Jahrzehnten sanken die Raten unter die so genannte Reproduktionsgrenze, mit der langfiistigen Folge der Bevolkemngsabnahme. Mit steigender Lebenserwartung nehmen die Anzahl und der Anteil der Alteren zu. Die Demographie der Modemisierung betrifft alle entwickelten Industrielander, allerdings in unterschiedlichen Auspragungen und Zeithorizonten, die von den jeweiligen politischen und kulturellen Rahmenbedingungen abhangen (vgl. den Artikel von Lindecke in diesem Band). Die unterschiedlichen politischen Ansatze der beiden deutschen Staaten in den 1970er/80er Jahren zeigen sich z.B. deutlich in ihren heutigen Bevdlkerungsstrukturen, denn wahrend sich die Bundesrepublik auf Zuwandemng verliefi, setzte die DDR auf sozialpolitische Anreize. Wenngleich die Prozesse der Bevolkemngsabnahme durch intemationale und Binnenmigrationen raumlich sehr differenziert verlaufen, sind die Altemngsvorgange in alien Teilraumen zu beobachten. Einige Regionen erfahren bereits gegenwartig gravierende Verandemngen, in anderen sind sie „aufgeschoben".

In den Jahren 1996 bis 2000 wurde eine Siidbrandenburger Region und im Rahmen der Arbeitsgmppe „LandInnovation" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wird derzeit eine Nordbrandenburger Region untersucht.

Die Demographisienmg okonomischer, kultureller und sozialer Verandemngen

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2.2 Demographic der Transformation Die Demographie der Transformation beinhaltet besondere Verandemngen, die durch den spezifischen Wandel der ostdeutschen Gesellschaft in Folge des Zusammenbruchs der DDR und der Wiedervereinigung bestimmt sind. Zu unterscheiden ist zwischen Prozessen, die eher als Folge bzw. Begleiterscheinung des strukturellen Zusammenbruchs, und solchen, die als strukturelle Anpassung gelegentlich als „nachliolende" Entwicklung bezeichnet - anzusehen sind. Beim Riickgang der Geburtenraten diirften beide Effekte zusammenwirken, denn nach ihrem voriibergehendem Anstieg Ende der 1970er Jahre gingen sie bereits Mitte der 1980er Jahre zuriick und erreichten 1993 ihren Tiefpunkt. Seitdem nahem sich die ostdeutschen Geburtenraten den westdcutschcn an, wenngleich die ostdeutschen Geburtenzahlen durch die Abwanderung junger Frauen weiterhin niedriger liegen. Die Griinde lagen zwar auch in soziookonomischen Unsicherheiten, aber vor allem in „aufgeschobenen" Geburten infolge neuer Familienund Bildungsverlaufe, sodass langerfristig von einer Angleichung ausgegangen werden kann. Eine Folge des strukturellen Zusammenbruchs sind die hohen Migrationsverluste, die in erster Linie auf der stark ausgepragten Abwanderung ostdeutscher Jugendlicher in westdeutsche Regionen beruhen. Zwar werden sich diese mit steigender Nachfrage nach jiingeren Arbeitskraften in Ostdeutschland abschwachen, aber wohl doch langfristige Auswirkungen auf die Bevolkerungsstruktur zeigen. Die Anteile der Altersgruppe der iiber 65-Jahrigen haben sich in Ost- und Westdeutschland bei 23 Prozent „angeglichen", denn der Alterungsprozess erfolgte in Ostdeutschland durch die Migrationsverluste Jiingerer und die steigende Lebenserwartung sehr viel dynamischer. Zukunftig wird allerdings ein Auseinanderdriften erwartet, d.h. der Anteil Alterer wird in Ostdeutschland schneller ansteigen. Infolge der altersselektiven Migration, der veranderten Wohnungsangebote und Familienzusammensetzungen sowie der sinkenden Geburtenraten verringem sich insgesamt die HaushaltsgroBen, und der Anteil von EinKind-Familien steigt. In der Demographie der Transformation fallen die Unterschiede zwischen stadtischen und landlichen Raumen geringer aus als die zwischen Ost- und Westdeutschland. So liegen die Fertilitatsraten in landlichen Gebieten der fiinf neuen Bundeslander nur leicht unter dem ostdeutschen Durchschnitt, der Anteil der iiber 65-Jahrigen genau im Durchschnitt. Fiir alle ostdeutschen Regionen sind die iiberregionalen Wandemngsziele vorwiegend in Westdeutschland zu suchen. Die Demographie der Transformation wird die sozialen und okonomischen Entwicklungen in den ostdeutschen Teilraumen langfristig beeinflussen und regionale Disparitaten zwischen Ost- und Westdeutschland erhalten bzw. verstarken.

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2.3 Demographie der Ruralisierung Die Demographie der Ruralisierung folgt aus den veranderten Arbeits- und Lebensbedingungen landlicher Raume. Sie beinhaltet den Wandel von einer agrarwirtschaftlich gepragten zu einer ruralen Gesellschaft, der sich in veranderten Wahmehmungen und Strukturbedingungen des „Landlichen" ausdriickt. Die Demographie der RuraHsierung umfasst nicht nur die wirtschaftHchen Veranderungen industriell-gewerblicher Strukturen, den Wandel in der Lebensqualitat, sondem auch neuere Tendenzen in der Wahmehmung landlicher Raume. Wie bereits behandelt, haben Konzentrations- und Dekonzentrationsprozesse, neue landliche Okonomien sowie veranderte Wohn- und Freizeitpraferenzen die demographische Entwicklung landlicher Raume beeinflusst. In den letzten Jahrzehnten gewannen viele landliche Raume in Binnenmigrationsprozessen an Einwohnem. Vor allem jiingere Familien und altere Menschen bevorzugten - nicht nur suburbane - landliche Raume als Wohnstandort. Typisch fur landliche Raume ist, dass sie Abwanderungssalden von Jugendlichen aufweisen, die iiberwiegend bildungsinstitutionell und jugendkulturell bedingt sind, aber in anderen Altersgruppen durchgangig Wandemngsgewinne verzeichnen. Die Haushalte sind grdBer, und der Anteil von Familien mit Kindem an der landlichen Bevolkerung liegt iiber dem Bundesdurchschnitt. Charakteristisch ist die hohere Geburtenrate in landlichen Gebieten. In der Tendenz nehmen allerdings die Differenzen unter den landlichen Raumen zu, weil der Strukturwandel in den landlichen Regionen unterschiedlich verlauft.

2.4 Demographie der Peripherisierung Die Demographie der Peripherisierung beruht auf teilweise sehr kleinteiligen sozialraumlichen Entwicklungen, die zur sozialen, politischen und okonomischen Abhangigkeit und Exklusion von Teilraumen fiihrt. Wahrend aus geographischer Perspektive Peripherien durch eine relativ groBe Entfemung und einen erschwerten Zugang zu Agglomerationen charakterisiert sind, sollen sie hier als Gebiete mit geringen Entwicklungschancen und negativen Entwicklungsdynamiken definiert werden. Zwischen beiden Betrachtungsweisen gibt es zwar eine groBe empirische Schnittmenge, aber auch wichtige konzeptionelle Unterschiede. Peripherien konnen sich in landlichen, doch ebenso in iiberwiegend industriell gepragten oder/und groBstadtischen Gebieten bilden. Haufig werden die Begriffe landlich und peripher analog verwendet, was jedoch unter den genannten Gesichtspunkten irrefuhrend ist. Wahrend landliche Raume vom (land)wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel in ihrer Gesamtheit betroffen sind, weisen periphere Raume nicht nur einen besonders krisenhaften

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Verlauf auf, sie sind tendenziell von wirtschaftlichem Wachstum und politischen Entscheidungsstrukturen entkoppelt. In ihnen kumulieren demographische Entwicklungen zu gravierenden Problemlagen, well die Verandemngen nicht nur mit einer besonderen Intensitat erfolgen, sondem die Anpassungs- und Steuerungskapazitaten unzureichend sind. Periphere Regionen weisen in ihrer demographischen Entwicklung - wegen einer sich in der Bewohnerschaft verbreitenden Perspektivlosigkeit - sehr hohe Migrationsverluste von Jugendlichen auf, derm gegenwartig ziehen bis zu 40 Prozent eines Schuljahrgangs bis zum 25. Lebensjahr aus diesen Regionen weg. Jugendliche mit hoheren Bildungsaspirationen und Frauen sind hierbei iiberproportional vertreten. In der Folge leben im nordostdeutschen Landkreis Uckermark derzeit z.B. etwa 20 Prozent weniger Frauen zwischen 18 und 30 Jahren als Manner der gleichen Altersspanne. In peripheren ostdeutschen landlichen Regionen zeigt sich eine starke Zunahme des Anteils der Alteren iiber 65 Jahre, zwischen 1990 und 2000 um 32 Prozent. Der Starke Anstieg ist sowohl auf deren Zuwanderung (vor allem in landschaftlich attraktivere Gebiete) als auch auf altersselektive Abwanderung zuriickzufiihren. Trotz Abwanderungen ist ein - teilweise temporarer oder periodischer - Zuzug und eine Zunahme von Zweitwohnsitzen zu beobachten. Diese Entwicklungen fiihren nicht zwangslaufig zu einer Verbesserung der Lage der verbliebenen Bewohner, weil die binnenregionalen soziodkonomischen Unterschiede zunehmen. Die in peripheren Regionen in den letzten Jahren erhohten Geburtenraten von jungen Frauen aus exkludierten Familien verweisen auf die Verfestigung von sozialen Problemlagen. Die durch Peripherisiemngsprozesse beeinflusste Bevolkerungsentwicklung hat insgesamt eine deutliche Verscharfung von regionalen Problemlagen zur Folge. Die dargestellten Entwicklungen lassen es wenig sinnvoll erscheinen, den Blick der Demographic ohne weitere Einschrankungen und Differenzierungen auf das Konzept des Stadt-Land-Gegensatzes zu iibertragen. Obwohl es in vielen gesellschaftlichen Bereichen durchaus spezifisch rurale und urbane Vergesellschaftungen gibt und diese beispielsweise fiir Entwicklungsoptionen sehr entscheidend sein konnen, ist es fur die Analyse der demographischen Prozesse eher zweifelhaft, ob sie entlang dieser Kategorien gefiihrt werden sollte. Wesentlicher sind Prozesse der Transformation, Peripherisierung und Modemisierung, die keineswegs entlang der Unterscheidung von Stadt und Land verlaufen. Eine unkritische Ubemahme des Stadt-Land-Konzepts fuhrt sowohl im wissenschaftlichen als auch im dffentlich-medialen Diskurs zu Fehldeutungen sozialer Entwicklungen und erzeugt als hegemonialer Diskurs unveranderliche soziale Realitaten und politische Handlungsweisen.

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3.

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Fallbeispiele der demographischen Debatte ilber Idndliche Rdume

Im demographischen Diskurs spielt die (unreflektierte) Ubemahme von kollektiven Deutungen und Bildem eine groBe Rolle. Im Zusammenhang mit Alters- und Familienbildem gab es dazu eine eingehende Diskussion (z.B. Roux et al. 1996). Diese fehlt bislang fiir landliche Raume. Die folgende Untersuchung zu diesem Thema bezieht sich auf drei Fallbeispiele: die demographische Debatte in Brandenburg, die demographische Forschung durch das Berlin-Institut fur Bevdlkerung und Entwicklung und die Darstellung des demographischen Wandels durch die Spiegel-Online-Serie. Damit sind drei massenmedial einflussreiche Beispiele der politischen, wissenschafllichen und publizistischen Ebene in der Auswahl beriicksichtigt. Die demographische Debatte in Brandenburg wurde durch den Ministerprasidenten initiiert und stellt einen exponierten Fall der politischen Deutung und Wertung in Verbindung mit wissenschaftlicher Expertise dar. Das Berlin-Institut steht mit seinen Veroffentlichungen als Beispiel fur eine Organisation, die an der Schnittstelle von Wissenschaft und Offentlichkeit agiert und entscheidend zur offentlichen Meinungsbildung beitragt. Mit der Spiegel-OnlineSerie wurde ein einflussreiches Medium ausgewahlt, das in seinem hier dokumentierten Beitrag wissenschaftliche Kompetenz und alltagsweltlich ausgerichtete Vor-Ort-Berichterstattung verkniipffc. Es geht im Folgenden sowohl darum, zu priifen, was diskutiert wird, als auch zu fragen, wie diskutiert wird.

3.1 Debatte um Forderpolitik in Brandenburg Die in den Jahren 2004 und 2005 in Brandenburg kulminierende Auseinandersetzung um eine Neuausrichtung der Forderpolitik besafi verschiedene Facetten, die von parteipolitischen Profilierungen, Machtfragen innerhalb der Regierung, Umstellung der Forderpolitik, demographischer Entwicklung bis zur offentlichen Wahmehmung des landlichen Raumes reichen. Die Effektivitat der Raumordnung und der Wirtschaftsforderung fur die Gewahrleistung gleicher Lebensverhaltnisse und Entwicklungschancen landlicher Raume in Brandenburg war friihzeitig durch Wissenschaftler kritisiert worden. Eine Studie des Instituts fiir Regionalplanung und Strukturentwicklung (IRS) in Erkner (Jahnke/Lompscher 1995) konstatierte das „Leerlaufen der berlinfemen Landesteile". Statt des politisch formulierten Ausgleichziels zwischen den Brandenburger Teilraumen zeigte sich zwischen Berliner Umland und Randregionen ein Auseinanderdriften in der Beschaftigungsentwicklung, den Arbeitslosenzahlen, den Wanderungsverlusten, der Geburtenentwicklung und der Altersstruktur. Immer nachdriicklicher wurde

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hinsichtlich der so genannten Peripherien die Frage „nach der Lebensfahigkeit der Kommunen und Kreise, die durch Abwanderung junger Leute 'vergreisen'",^ gestellt. In der ersten Jahreshalfte 2004 wurde das Metropolen-PeripherieVerhaltnis dann in demographischer Hinsicht problematisiert. Bin offentliches Dokument der Brandenburger Staatskanzlei zum demographischen Wandel brachte die Bevolkerungsabnahme im auBeren Entwicklungsraum als einen wichtigen Aspekt in die Diskussion ein (Staatskanzlei 2004). Der Brandenburger Koalitionsvertrag vom Oktober 2004 band die zukiinftige Regionalentwicklung ausdriicklich an die demographische Perspektive, sogar kausal: „Der demografische Wandel fiihrt zu erheblichen Disparitaten zwischen verschiedenen Teilraumen des Landes. Der Anpassimg der landes- und regionalplanerischen Gmndlagen an die demografischen Entwicklungen, an die finanzpolitischen Rahmenbedingungen und an die wirtschaftspolitischen Schwerpunktsetzungen ist Prioritat einzuraumen."^

Die Bevdlkemngsentwicklung sollte zum ,J)reh- und Angelpunkt" fur politisches Handeln, zum „Metathema" werden (Platzeck 2005). Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels wurde eine Evaluierung der bisherigen zentralortlichen Planung angestrebt. Vor allem die landlichen Raume wurden genannt, wenn es Einschnitte in der Forderpolitik zu markieren gait. „Dabei ist klar: Gleichwertig ist nicht gleich. Wir haben zu konstatieren, dass nicht in alien Dorfem gleich gelordert werden kann. Es ist nicht popular, Forderwiinsche abzulehnen und zu erklaren, dass es weniger gibt. Wir kommen aber nicht umhin, uns auf die Zugpferde fur die Wirtschaft zu konzentrieren. Wenn diese erfolgreich sind, strahlt das auch auf die schwacheren Regionen aus." (Platzeck 2004)

Bereits vor der Diskussion um eine Konzentration auf Wachstumszentren wurden landliche Gebiete in der Brandenburger politischen Offentlichkeit fast ausschlieBlich als Problemregionen identifiziert. Die ,JCehrtwende in der Forderpolitik" wurde vor allem als politische Hinwendung auf Berlin und sein Umland gesehen. Politik und Presse nahmen den politischen Wechsel als ,JV4etropolregion gegen plattes Land" oder „Die Dorfer sind die Verlierer" wahr. Die Diskussion um eine starkere Hinwendung auf den Metropolenraum wurde als Abkehr vom Leitbild der dezentralen Konzentration gewertet, sodass nunmehr „Ruckzugsgefechte aus der Flache" erfolgen konnen, da ,Jdinftig nicht mehr jede Kleinstadt oder jedes Dorf gefordert" werden sollte (Kiihn 2003: 10). Eigenstan-

3 4

So die „Potsdamer Neueste Nachrichten" vom 20. Januar 2000. Vereinbarung zur Zusammenarbeit in einer Regiemngskoalition fiir die 4. Wahlperiode des Brandenburger Landtages 2004 bis 2009, S. 31.

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dige Entwicklungspotenziale der landlichen Raume und Selbsthilfestrukturen in den Dorfem wurden kaum thematisiert. In den verschiedenen Publikationen wird darauf verwiesen, dass der landliche Oder - zumeist analog verwendet - periphere Raum nicht „abgehangt" werden soil, doch wird stets davon ausgegangen, dass die Wachstumschancen und Wertschopflingsketten in den (industriellen) Zentren zu suchen sind. Vollig unbeachtet bleibt, dass die Zentren-Peripherien-Gegensatze nicht allein in der Differenz von Stadt und Land formulierbar sind. Zwar haben z.B. die Veroffentlichungen des Landesumweltamtes Brandenburg und der Gemeinsamen Landesplanungskommission Berlin-Brandenburg inzwischen herausgestellt, dass die demographischen Entwicklungen in den meisten Dorfem keineswegs so negativ verlaufen, doch wird ihnen in der aktuellen politischen Diskussion nur eine geringe Zukunftsfahigkeit in der Aufrechterhaltung von Lebens-, Wohn- und Arbeitsqualitat zugeschrieben (Beetz 2006). Die politischen Konzepte gehen nur von Ausstrahlungseffekten auf landliche Raume aus, identifizieren aber keine eigenstandigen Entwicklungspotenziale. Den demographischen Veranderungen, dem so genannten „Ausbluten" und „Veroden" der Randregionen, wird mit Planungen der Konzentration begegnet, obwohl in den letzten Jahren durchaus andere Vorschlage von Infrastruktur diskutiert wurden. Auffallend ist in der Brandenburger Diskussion ein Verlust an Optionen und eine ungeniigende Beriicksichtigung von landlichen Innovationspotenzialen.

3.2 Das Berlin-Institut - die demographische Lage der Nation Wesentlichen Anteil an der demographischen Debatte und eine starke 5ffentliche Prasenz besitzt das im Jahre 2000 gegriindete Berlin-Institut fiir Bevolkerung und Entwicklung. Es verfolgt das Ziel, „die offentliche Wahmehmung der weltweiten demographischen Veranderungen zu verbessem". Sowohl in seiner Finanzierungs- als auch Forschungsstruktur stellt es einen neuen Typus politikberatender Organisationen dar. Die Falk- und Marlene-Reichenbach-Stiftung und die Hewlett Foundation haben es mit institutionellen Mitteln ausgestattet. Das jiingste Projekt ,JDie demograflsche Lage der Nation" wurde durch einen F5rdermix der Robert Bosch Stiftung, der Deutschen Krankenversicherung und der Software AG Stiftung unterstiitzt. Somit ist das Institut nicht an die herrschenden Ausschreibungs- und Projektanfordemngen des Wissenschaftssystems gebunden. Es wird seit 2003 durch Reiner Klingholz geleitet, der iiber makromolekulare DNS-Strukturen promovierte und spater als Wissenschaftsredakteur des Wochenblattes DIE ZEIT und Redaktionsleiter von Geo-Wissen arbeitete. Er beschaftigte sich mit dkologischen und technologischen globalen Entwicklungen und erhielt 1999 den RWTH-Preis fiir Wissenschaftsjoumalismus (siehe

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http://wwwJoske.de/cms/files/dokbin/58/58740Jebenslauf_reiner_klingholz.pdf; 15.12.2006). Das hinsichtlich der Anzahl seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kleine Institut beschaftigt keine ausgewiesenen Demographen, verfiigt aber iiber eine ausgepragte Offentlichkeitsarbeit. In seinen Veroffentlichungen setzt es auf die Verbindung von gut recherchiertem Joumalismus und vorziiglich aufbereiteten statistischen Daten. Obwohl letztere kaum iiber das Material der ,J^aufenden Raumbeobachtung" des Bundesamtes fur Bauwesen und Raumordnung (ESfKAR, Statistik Regional) hinausreichen, gelingt es durch ansprechende Gestaltung, joumalistische Textbausteine, hervorstechende Titel und Hintergrundinformationen, jeden Raumordnungsbericht in den Schatten zu stellen. Die betrachtliche offentliche Aufmerksamkeit gelingt durch die Vermittlung einfacher Aussagen.5 Die hohe Publizitat griindet sich zudem auf zwei Herangehensweisen, die sowohl in der ersten Studie „Deutschland 2020" als auch dem jiingsten Taschenbuch „Die demographische Lage der Nation" (Krohnert et al. 2006b) eingehalten wurden: die Betonung der Demographic und die Bewertung mittels einer regionalisierten Rangliste (Wettbewerb der Landkreise). Obwohl von den hierzu ausgewiesenen 22 Indikatoren nur sechs im weiteren Sinne demographisch sind, wird eine „demographische Gesamtnote" fiir die Zukunftsfahigkeit erteilt. Die einzelnen Indikatoren werden zwar beschrieben, unklar ist allerdings, in welchem Zusammenhang sic zucinander stehen und welche Gewichtung sic erhalten (vgl. den Beitrag von Barldsius in diesem Band). Obwohl nach eigenen Aussagen die Bewertungen nicht als „Urteil" verstanden werden sollen, wird gefolgert, dass eine „zukunflsorientierte" Planung nur bedeuten kann, „sich schrittweise aus solchen Regionen zuriickzuziehen", die wirtschaftlich wie demographisch iiber langere Zeit negative Bilanzen aufweisen (ebd.: 11). In der Rezeption werden entsprechend die positiven Entwicklungen im „gefliigelreichsten Landkreis" Vechta und in den Metropol- und Universitatsstadten ausgemacht, in denen in der Altersgmppe der 18- bis 29-Jahrigen ein „Fraueniiberschuss" besteht, dagegen befinden sich andere Regionen in der „Abwartsspirale: keine Frauen, keine Kinder, keine Zukunft" (Schuh 2006). Die Betonung der Konkurrenz der Regionen und der Chancenlosigkeit einiger Regionen sowie des so genannten „Frauenmangels" und seiner kulturellen Konsequenzen, aber auch der ,JEntleerung" landlicher Raume bestimmt die offentliche Rezeption und Diskussion. Hinsichtlich der Entwicklung landlicher Raume erfolgt eine exemplarische Differenzierung.

Die Ideenmacher im Portrat. politik & kommunikation, Oktober 2004. http://www.globalpublicpolicy.net/fileadmin/gppi/titelthema_C.pdf (15.05.06).

Internet:

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Stephan Beetz „Die einzige deutsche Region, die sich diesem Abwartstrend aus eigener demografischer Kraft entziehen kann, liegt nicht weit entfemt vom Krisenzentmm Ruhrgebiet: Im GroBraum Cloppenburg-Vechta-Borken, einem landlich gepragten Gebiet, ... werden bundesweit die meisten Kinder geboren. (...) Zum anderen ist das Gebiet wirtschaftlich keineswegs riickstandig. Es wartet mit den giinstigsten Arbeitsmarktdaten und der besten Wirtschaftsentwicklung in ganz Niedersachsen auf. Und auch im Vergleich mit den Kommunen im nicht weit entfemten NRW liegt es an der Spitze. Hauptgmnd dafiir sind die vergleichsweise vielen ICinder. Sie fiihren nicht nur zu einer jungen Bevolkemngsstmktur. Kinder sind auch Konsumenten. Und sie benotigen eine eigene Infrastruktur - vom Lehrer bis zum Schulbusfahrer. Im Umfeld dieser Dienstleister haben sich Kleingewerbe und hidustrie angesiedelt, die mittlerweile hochwertige Arbeitsplatze bieten. Die Folge: Die Region kennt so gut wie keine Abwandemng. Das Beispiel zeigt, wie sehr wirtschafthche Stabilitat von einer demografischen Nachhaltigkeit abhangt." (Klingholz 2004)

Interessanterweise wird die demographische Entwicklung als Basis der wirtschaftlichen Perspektive gesehen - und so eine Logik der Demographie entwickelt. Dem „Wirtschaftswunder" und den „gebarfreudigsten Miittem Deutschlands" stehen die „Schwundzonen" gegeniiber: „hi diesen Gebieten ist kaum zu erwarten, dass neue Arbeitsplatze entstehen, um die jungen Menschen zu halten. So sterben nach und nach die Dorfer - vor allem in den ostdeutschen Landem Mecklenburg-Vorpommem, Thiiringen und Sachsen-Anhalt. Zeitversetzt erleben Nordhessen, Siidniedersachsen oder Oberfranken die gleiche Entwicklung. Europaweit ist dieses Phanomen der Landflucht zu beobachten." (Krohnert et al. 2006a: 28)

In der Konsequenz heifit dies dann: „In ohnehin diinn besiedelten, peripheren Gebieten wird sich kaum noch eine angemessene offentliche Infrastruktur aufrechterhalten lassen." (ebd.: 37) Die durchaus vorhandenen Probleme des Strukturwandels werden auf demographische Entwicklungen reduziert, die wesentHch komplizierteren und auch gegenlaufigen sozialen und dkonomischen Prozesse vemachlassigt. Der Begriff „Landflucht" firmiert hierbei als historischer Stereotyp zur Erklarung, obwohl in Deutschland wie in Europa sehr gegensatzHche regionale Entwicklungen zu beobachten sind. 3.3 Spiegel-Online liber die Deutsche Provinz Der offentliche Diskurs iiber die demographische Entwicklung landlicher Raume hat in den Jahren 2005 und 2006 in der massenmedialen Offentlichkeit eine Starke Zuspitzung erfahren. Publizistisch wirksame Uberschriften signalisieren eine Kapitulation der Politik, deren Aufgaben die regionale Entwicklung und der Ausgleich von Disparitaten sind. Ein besonderes Interesse hat die SpiegelOnline-Serie vom 14. bis 21. Marz 2006 erfahren, in der der langjahrige SpiegelRedakteur Jochen Bdlsche einzelne Themen des demographischen Wandels als „Verlassenes Land, verlorenes Land", ,JECeine Zukunft fur die Kuhzunft", ,JPo-

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linnen als letzte Hoffnung", „Lockruf der Leere" und „Speckgurter' behandelte. Der Bezug auf wissenschaftliche Ergebnisse, u.a. aus dem Berlin-Institut fair Bevolkerung und Entwicklung, geschieht stark verkiirzt, aber an exponierter Stelle. So wird der Greifswalder Geograph Helmut Kliiter zitiert, dass „Wustungen, also aufgegebene Siedlungsstatten, allmahlich zum 'Flachenphanomen'" wiirden. Kurz darauf wird resiimiert: „Es gibt sie schon uberall: die verodeten Orte,..., deren wirtschaftliche Infrastmktur oft gerade mal aus einem Zigarettenautomaten besteht, allenfalls noch aus einem Bushauschen oder einer Tankstelle, und wo das Koma-Saufen der beliebteste Zeitvertreib fur Skinheads und andere Halbwiichsige ist."^

Folgerichtig kommt auch Jochen Ragnitz vom Institut fiir Wirtschaftsforschung in Halle zu Wort: Anstatt weiter Geld fur solche Landstriche zu verschwenden, ware es sinnvoUer, „Anreize zu schaffen, um auch noch die dorfliche Restbevolkerung zum Fortzug in die Ballungsraume zu bewegen"7 Flache, Land und Dorf geraten zu Metaphem der Krise, fehlender Entwicklungschancen und aussichtsloser politischer Steuemng. An einem kleinen Beispiel soil gezeigt werden, wie die Stadt-LandUnterscheidung die iiberaus wichtige Analyse regionaler Disparitaten verstellt. Im Zusammenhang mit der SchlieBung von Dorfschulen wird auf das Saarland verwiesen, „wo die Landflucht iiberall ihre Spuren hinterlassen hat" und nun die Grundschulen geschlossen werden.^ Nun zahlt das Saarland insgesamt zu den dichter besiedelten Regionen Deutschlands. Nur wenige Gemeinden weisen eine Bevolkerungsdichte von unter 200 Einwohnem je Quadratkilometer auf, die aber nach den Daten des Statistischen Landesamtes in der Mehrzahl - nicht nur im suburbanen Raum von Saarbriicken - im Jahre 2004 deutliche Wanderungsgewinne aufwiesen (vgl. http://www.statistik.saarland.de/gemeinden.htm; 10.9.2006). Diese Form der Darstellung setzt die demographischen Daten zum Zwecke der Argumentation nicht nur in einen ausgesprochen unprazisen zeitlichen und raumlichen Zusammenhang, sondem gibt das Vorhandensein einer sozialen Faktizitat vor. Dadurch bleibt wenig Raum fiir eine differenziertere Betrachtung von anders verlaufenden, gegenlaufigen und widerspriichlichen Entwicklungen. Nun ist die Reduktion sozialer Komplexitat fur offentliche Diskurse unerlasslich, aber es sollte jener Grad an Differenzierung erhalten werden, der fiir eine Veranderung oder gar Umkehr von Prozessen notwendig ist. Hinzu kommt, dass keine Anstrengungen untemommen werden, die durchaus vorhandenen raumlichen Pro-

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Vgl. spiegel-online vom 12.3.2006. Vgl. spiegel-online vom 15.3.2006. Vgl. spiegel-online vom 15.3.2006.

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zesse sozialer Spaltung, dkonomischer Entfunktionalisierung und politischkultureller Blockierung zu erfassen, sondem auf das inadaquate Modell des Stadt-Land-Gegensatzes zuriickgegriffen wird. So werden in der Spiegel-Online-Serie alle Abwagungen und politischen Bemiihungen „gegen den Trend" der demographischen Entwicklung als erfolglos eingestuft. Im Intemetforum zu selbiger Serie fallt bei den Kommentaren die Bereitschaft auf, nicht nur die landlichen Raume als demographische Problemgebiete zu identifizieren, sondem sie auch politisch aufzugeben (vgl. http://forum.spiegel.de/showthread.php?t=357; 10.5.2006). Die politische Legitimitat wird umgekehrt, denn nicht die regionalen Verhaltnisse seien zu verandem, sondem die Entwicklungen zu akzeptieren: „Es gibt in diesen Landstrichen nichts, es gibt keine Jobs, keine Perspektive, kein kulturelles Leben, manchmal sind diese Landstriche nicht einmal touristisch wertvoll. Wamm sollten also dort noch Menschen leben? (...) Das groBte Problem dabei sind die Menschen, die in realitatsfemer Beharrung dort bleiben wollen. Ob das schon ein Beispiel fxir die 'Verdummung' ganzer Landstriche ist? Ich wage darauf keine Antwort zu geben."

In einem weiteren Statement an gleicher Stelle heifit es: „Landliche Gegenden sowie die dort lebenden Zeitgenossen werden schon immer von Armut und Demenz regiert, seit Jahrzehnten. (...) AuBer billigem Baugrund hat das Land nix, was einen interessieren konnte, wenn man nicht gerade schon 70 ist und mit dem Leben abgeschlossen hat. Der jahrelange erfolgreiche Kampf gegen die Akzeptanz und das SelbstverstandHch[e] der deutschen Kleinbiirgerlichkeit hat Wirkung gezeigt: die Jiingeren wollen weder einen Bauemhof iibemehmen, noch in die Dorfdisco gehen und schon gar nicht mit der Dorffriseuse in die Kiste. Verstandlich. hi der Stadt lauft die Musik. Dies macht[en] die Medien und die Werbung seit 2 Jahrzehnten klar. Was gegen den Trend getan werden kann? Das Landleben in den Medien positiver darzustellen, aber das wird kaum geHngen. Die Zeit tickt anders. Der Trend wird sich verstarken."

Es ist keineswegs so, dass die durchaus provokanten AuBemngen der SpiegelOnline-Serie auf Protest stoBen, abgesehen von AuBemngen iiber den Imageschaden fiir naher benannte Regionen, aber nicht hinsichtlich der allgemeinen Entwicklungstendenzen landlicher Raume. Die Debatte scheint eher einen milieu- und regionsiibergreifenden Konsens widerzuspiegeln, landliche Raume als „Notstandsreviere im kulturellen Odland"^ anzusehen und an der Stadt-LandDichotomie festzuhalten. Indem der Diskurs liber landliche Entwicklungen an Vorstellungen eines zukunftslosen, sich entleerenden Raums ankniipft, wird die Starke landliche Abwandemngsbewegung wahrend der Industrialisiemng enthistorisiert und als semantisches Feld zur Deutung aktueller Entwicklungen -

Vgl. Spiegel-online vom 15.3.2006.

Die Demographisierung okonomischer, kultureller und sozialer Verandemngen

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unbeeindruckt von gesellschaftlichen Modemisierungsprozesse - missbraucht Die Griinde der aktuellen kollektiv geteilten Deutungsmuster des Landlichen konnen teilweise als eine Umkehr der groBstadtfeindlichen, zivilisationskritischen Deutungen des Landes in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts gesehen werden. Doch erweisen sich die Dichotomisierung sowie die damit verbundenen Bewertungen als problematisch, weil sie nicht nur zu einer Reduktion sozialer Komplexitat durch bestimmte Kategorien, sondem zur Verengung von politischen Perspektiven fiihren. Kennzeichnend fur die demographische Debatte ist ein exaggerierter und undifferenzierter Umgang mit statistischen Daten, vermutlich um der demographischen Entwicklung eine besondere Dramatik zu verleihen. So werden sowohl fiir die Vergangenheit wie fiir die Zukunft extreme Einzelwerte verallgemeinert, um sie dann an Metaphem eines Bevolkerungsschwunds wie ,3ntleemng" oder „Wustung" zu koppeln. Das regionalstatistisch ungleiche Verhaltnis zwischen Mannem und Frauen, verursacht im Wesentlichen durch hohere weibliche Abwanderungen und hohere mannliche Zuwanderungen, wird ebenfalls in extremen Proportionen angegeben, die dann die Fahigkeit zur Reproduktion und die psychisch-affektuelle Stabilitat der Bevolkerung landlicher Regionen infrage stellen. Obwohl durchaus prazisere Datenlagen vorhanden sind, erschopft sich haufig die Behandlung demographischer Fragen in der Darstellung von Krisenszenarien. Hinter der vermeintlichen Exaktheit von statistischen Daten verstecken sich wissenschaftlich nicht gesicherte Interpretationen, die teilweise kaum iiber den Grad von Meinungen hinausreichen. Wahrend beispielsweise die so genannte Altersselektivitat von Wanderungen, d.h. dass die meisten Femwanderungen in der Jugendphase erfolgen, sehr gut erforscht ist, sind Aussagen hinsichtlich der Humankapitalselektivitat, also dass nur die gut ausgebildeten und engagierten Menschen abwandem, empirisch kaum zu iundieren. Trotzdem gilt inzwischen die Aussage, dass die schlechter qualifizierten und sozial schwacheren Bevolkerungsgruppen zuriickbleiben, als eine feststehende wissenschaftlich belegte Tatsache und wird entsprechend reproduziert, ohne dass dafur evidente Belege erbracht werden. Dass die Wissenschaft von Politik und Medien in ihren Argumentationslinien und Begrifflichkeiten selektiv zur Legitimation herangezogen wird, erschwert sowohl die notwendigen fachwissenschaftlichen Kontroversen als auch gesellschaftlichen Diskurse. Wenn beispielsweise die Studie „Zukunft Deutschland 2020" des Berlin-Instituts ftir Bevolkerung und Entwicklung unmittelbar als Beleg fiir die wirtschaftspolitische Neuorientierung in Brandenburg dienen, konnen sich differenziertere Aussagen schwerlich durchsetzen. Hesse (2003) macht darauf aufinerksam, dass die Metaphem der Leere, der Peripherie oder der Steppe eine politische Eigendynamik entfalten. Dabei beziehen sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsysteme und Institutionen aufeinander. Von Wis-

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senschaftlem getragene Formuliemngen von der ,JEntleerung ganzer Regionen" (Sozialwissenschaftler in der taz vom 12.4.2005) gesellen sich zu politischen und wirtschaftspolitischen Aussagen wie „Ich kann niemandem mehr raten, auf ein Dorf zu Ziehen" (Chef der Staatskanzlei Brandenburg auf dem Demographiekongress am 1.6.2005 in Potsdam) oder „Der landliche Raum ist der Verlierer, ich kann jeder Bank nur raten, die Berlin-Studie zu lesen" (Chefvolkswirt des Bundesverbandes der Volks- und Raiffeisenbanken am 22.11.2005 in Berlin) bis zur Aussage in den Dorfem „Hier gehen alle weg, nur die Alten bleiben" (Rentnerin am 20.7.2005 im Landkreis Uecker-Randow/Mecklenburg-Vorpommem). Der Aspekt der demographischen Ausweglosigkeit kennzeichnet einen von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Massenmedien gemeinsam getragenen Diskurs.

4.

Demographisierung sozialrdumlicher Entwicklungen

Im Folgenden soil die vorangegangene These weiter entwickelt und begriindet werden, dass die Diskussion um die Entwicklung landlicher Raume nicht nur in einem bestimmten semantischen Feld gefangen ist, sondem eine Demographisierung erfolgt. Mit dem Begriff der Demographisierung ist iiber die Verwendung eingefahrener Stereotypisiemngen hinaus gemeint, dass soziale, dkonomische und kulturelle Faktoren unter demographische Aussagen subsumiert bzw. von diesen verdrangt werden. Als demographische Debatte etabliert sich ein herrschender Diskurs iiber landliche Raume.

4.1 Aspekte der Demographisierung Die unkritische Ubemahme eines wissenschaftlichen Denkstils ohne Beriicksichtigung der entsprechenden Wissenschaftskultur und Wissensgeschichte ist wesentlicher Bestandteil der Demographisierung. Die Betrachtungs- und Erklarungsmodelle einer spezifischen wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit Bevolkerungsstmkturen beschaftigt, werden auf die Beschreibung und Analyse komplexer Entwicklungstendenzen modemer Gesellschaften iibertragen. Zur Wissenschaftskultur der Demographic zahlt ein deterministisches Verstandnis der Bevdlkerungsentwicklung fiir politische, wirtschaftliche und soziale Zusammenhange der Gesellschaft sowie ein instrumentelles Verstandnis, wissenschaftliche Uberlegungen politisch umzusetzen bzw. politischen Zielsetzungen unter-

Die Demographisiemng okonomischer, kultureller und sozialer Verandemngen

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zuordnen.lO Die Demographic neigt in ihrer malthusianischen Pragung dazu, von GesetzmaBigkeiten auszugehen und damit Entwicklungs- und Veranderungschancen zu negieren (Kaufmann 1960, 1975). Stand im 19. Jahrhundert die Diskussion um Uberbevolkerung wegen der okonomischen Tragfahigkeit (der gesamten Erde oder einzelner Regionen) in der Kontroverse, so wurde seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Unterbevolkerung als Frage nationalen Uberlebens diskutiert. Zwar hat in den beiden letzten Jahrzehnten eine disziplinare Auseinandersetzung um diese und andere Fragen begonnen, sie blieb jedoch auf enge Kreise vor allem der Bev5lkerungssoziologie beschrankt. So erfreulich aus disziplinarer Sicht das nun erwachte offentliche Interesse ist, das die Demographic aus ihrem Nischendasein der letzten fiinf Jahrzehnte herausholt, erfordert es geradezu die Auseinandersetzung mit der eigenen Wissenschaftskultur. Dass die demographische Diskussion iiberwiegend von Nichtdemographen gefiihrt wird, vereinfacht diese Aufgabe nicht. In ihrem methodischen Instrumentarium ist die Demographic iiberwiegend deskriptiv-mathematisch ausgerichtet, richtet sich auf die Beschrcibung kausaler gesellschaftlicher Entwicklungszusammenhange. Davon zeugt der altcre Begriff „Folitische Arithmetik" als der „Versuch, mit Mathematik auch in den Bereich des Ungewissen vorzudringen" (Schmid 1976: 12). Darin licgt nun wiederum eine Gefahr der disziplinaren Uberschatzung, weil die entsprcchenden (struktur- und handlungs-)theoretischen Ansatze zur Erklarung dieser Entwicklungen kaum ausgebildet wurden. Das Problem ciner gesellschaftsthcoretischen Liicke wurde schr friih bei den demographischen Fragen der Selbstkontrolle und der Eigenbestimmung von Geburtenregelungen virulent. Sich in den letzten fiinf Jahrzehnten auf eine so genannte exaktc Wissenschaft zuriickzuziehen war nicht zuletzt Resultat der Positionierung im Nationalsozialismus. Die Demographisiemng kniipft an ein Wissenschaftsverstandnis an, in dem mathematische Voraussagen eine nahczu exaktc Bestimmung der Zukunft crmdglichcn sollen. Die Faszination licgt darin, die Komplexitat gesellschaftlicher Entwicklungen durch wenige Indikatoren nicht nur stark zu reduzieren, sondem ihrer Kontingenz durch Prognosen zu begegnen. Ohne Einbindung demographischer Analysen in gesellschaftliche Fragestellungen und gesellschaftstheoretische Positionen wird sich das deterministische und instrumentalistische Verstandnis der Disziplin kaum andem. Umgekehrt gilt fur andere Wissenschaften, praziser mit demographischen Begriffen, Modellen, Daten und Analysen umzugehen. Durch unreflektierte Verwendung erhalten Kategorien wie Alters-

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Die Demographie entwickelte sich als Disziplin in starkem Bezug auf bevolkemngspolitische MaBnahmen. Dazu zahlen die Peupliemngs- und die Ansiedlungspolitiken im Merkantilismus, wahrend der so genannten inneren Kolonisiemng und der NS-Siedlungspolitik, aber auch die Armutsbekampfiing und Sozialmedizin, z.B. bei hygienischen MaBnahmen zur Verringemng der Sauglingssterblichkeit.

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struktur und Fertilitatsrate eine eigenstandige Erklarungskraft, ohne dass ihre gesellschaftliche Bedeutung und Bedingtheit thematisiert werden. Mit der Ubemahme des demographischen Denkstils gehen Vorstellungen von der Naturalisiening gesellschaftlicher Verhaltnisse einher, indem z.B. bestimmte Alterszusammensetzungen der Gesellschaft als natiirlich angesehen werden, obwohl sie in einem spezifischen historischen und kulturellen Kontext entstanden sind. Die Demographie selbst hat lange Zeit ihren Forschungsgegenstand als die „naturlichen" Vorgange von Geburt, Krankheit, Tod bezeichnet (Schmid 1976: 11). Vergessen wird leicht, dass damit spezifische gesellschaftliche Verhaltnisse und normative Aussagen verbunden sind. Den graphischen Metaphem des Altersaufbaus einer Gesellschaft „Pyraniide" oder „Glocke" ft)lgte als Symbolik der Uberalterung der Gesellschaft die „Ume". Die nicht selten anzutreffende AuBerung, dass die „Bevolkerungspyramide" einen „naturlichen" Zustand darstelle, beinhaltet eine hohe Sterblichkeit in alien Alterstufen. Auch der haufig zitierte Ausspruch Konrad Adenauers ,JCinder kriegen die Leute sowieso" rekurriert in diesem Sinne auf eine Natiirlichkeit im Sinne demographischer Ordnungen, die auf die Gesellschaft iibertragen werden. ^ l Nun machen aber gerade Fragilitat und Kontingenz der gesellschaftlichen Ordnungsmuster, die sich in der Pluralitat von familialen Lebensft)mien und der individuellen Freiheit hinsichtlich demographisch bedeutsamer Entscheidungen wie dem Kinderkriegen ausdriicken, modeme Gesellschaften aus. Als besonders problematisch ftir die Analyse landlicher Entwicklungen erweist sich, dass durch die Dominanz des demographischen Diskurses soziale, okonomische und kulturelle Faktoren weitgehend ausgeklammert werden. Wichtige gesellschaftspolitische Themen wie die Veranderung des Wohlfahrtsstaates, die Zukunft der Erwerbsarbeit, die prekare Situation der kommunalen Haushalte oder die teilweise gescheiterte Transft)rmation, die in der regionalen Spaltung Deutschlands sichtbar ist, werden derzeit als Abhangigkeit von demographischen Entwicklungen diskutiert. Die Demographie wird zu einem Hauptthema, das beispielsweise die vor einigen Jahren angestofiene Debatte um die Probleme des Transft)rmationsprozesses und die okonomischen Spaltungen in Deutschland nahezu verdrangt. Zehn Jahre nach der Wende war eine Auseinandersetzung um die Zunahme regionaler Disparitaten entbrannt, die nicht zuletzt zur Neuauflage des Solidarpakts fiihrte (Ragnitz 2001; ReiBig 2000). Die wichtigsten Punkte, um dem regionalen Auseinanderdriften hinsichtlich wirtschaftlicher und sozialer

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Als die damalige Bundesregiemng im Rentenneuregelungs-Gesetz 1957 durchaus mit wahltaktischen Erwagungen die Altersversorgung regelte, aber die Kinderversorgung aus sozialpolitischen Fordemngen ausschloss, ist von Kom^ad Adenauer dieser Satz iiberliefert. Vgl. KurtPeter Merk: Generationenvertrag - Demokratieprinzip - Pluralismus. Rechtliche Moglichkeiten und Grenzen. http://www.liga-kind.de/pages/104merk.htm (8. Mai 2006).

Die Demographisiemng okonomischer, kultureller und sozialer Veranderungen

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Lagen zu begegnen, waren damals die Schaffung verlasslicher Rahmenbedingungen fur weiterfiihrende Entwicklungsmoglichkeiten, eine europaische Perspektive, die Starkung des Vertrauens in die regionale Entwicklung und Eigenverantwortung sowie eine Interessenpolitik zu Gunsten der Leistungsgerechtigkeit (Thierse 2001). Zwar werden im demographischen Diskurs die Kennziffem von Wirtschaft und Bildung ebenfalls erfasst, aber in einen anderen politischen Zusammenhang gestellt und selten als Ursachen demographischer Entwicklungen diskutiert. Es wird in der Folge immer weniger liber Marktversagen und politische Verantwortung fur benachteiligte, vom Strukturwandel besonders betroffene Regionen sowie fur eine fehlgeleitete Fdrder- und Wirtschaftspolitik diskutiert, sondem iiber eine den Regionen inharente, demographisch fiindierte Perspektivlosigkeit, auf die Politik nur noch reagieren kann und muss. Die Demographisiemng besteht schliefilich im Postulat eines gesellschaftlichen Megatrends, verbunden mit dem Anspruch eines kritischen Impetus. Dabei wird das Anliegen vorgetragen, gegen die bisherige politische Ignoranz und Vermeidung des Themas zu argumentieren, die realen Entwicklungen nicht zu beschonigen und die bisherigen politischen Strategien zu demaskieren. Aus diesen Griinden wird eine bewusste und schonungslose dffentliche Auseinandersetzung gefordert. Mit diesem Anspruch wird verdeckt, dass der demographische Diskurs nicht mit der - lange aufgeschobenen - faktischen Anerkennung einer gesellschaftlichen Realitat identisch ist, also der Angleichung des Common Sense an die Wirklichkeit folgt, indem nun Politiker und Wissenschaftler der „Bevolkerung" ihre Zukunft vor Augen halten. Doch die vorangegangenen Fallbeispiele zeigen, wie in diesem Diskurs eine gesellschaftliche Faktizitat geschaffen wird. Obwohl der Diskurs vehement dem Duktus der Aufklarung folgen will, tragt gerade die Art und Weise der Diskussion dazu bei, politische Gestaltungsraume nicht ausreichend zu identifizieren. Kategorische Aussagen der physischen Vemichtung ganzer Landstriche bestimmen die Diskussion. Die betroffenen Regionen gehdren in der Regel nicht zur eigenen wissenschaftsbasierten und urbanen Lebenswelt, ihr Anderssein erleichtert die Stigmatisierung. Es geht nicht mehr darum, Altemativen zu entwerfen, sondem gerade die fehlenden Chancen, die Zerstomng falscher Hoffnungen und die Irreversibilitat dieser Entwicklungen herauszustellen. Dieses Herangehen degradiert jeglichen Gegenentwurf zur Utopie, wenn nicht gar zur Illusion. Den Entwicklungen wird eine inharente GesetzmaBigkeit unterstellt, die durch die demographischen Fakten vermeintlich untermauert wird. Wer an welchem Ort in Zukunft gut leben wird, ist dem Anschein nach bereits heute voraussagbar. Obwohl alle emst zu nehmenden Prognosen Auskunft iiber die Vorannahmen geben, die den Berechnungen zugmnde liegen, und darauf verweisen, dass es sich nicht um die Zukunft selbst, sondem eine Fortschreibung der getroffenen Annahmen handelt, werden die statistischen Berechnungen als gesellschaftliche Wirklichkeit behandelt.

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4.2 Ursachen der Demographisierung Die noch offene Frage, warum der Diskurs liber die Zukunft von (landlichen) Regionen demographisiert wird, ist nicht einfach zu beantworten. Eine Antwort diirfte darin liegen, dass die demographische Debatte einige Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung verhandelt, ohne sie (reflexiv) zu behandeln. So offenbart die aktuelle Diskussion iiber das Demographieproblem eine geradezu klassische Herangehensweise an das Zukunftsdilemma, indem nach Fortschrittsoptimismus und technisch-instrumenteller Weltbeherrschung nun apokalyptische Bilder wie Umweltkatastrophen, nukleare Kriege und demographisches Sterben vorherrschen (Goschel 2004). Die damit durchaus zusammenhangende politische Steuerungsfrage in modemen Gesellschaften greift auf wissenschaftliche Expertise zuriick, iiber die in die Zukunft gerichtetes Handeln abgesichert werden soil. Die demographischen GesetzmaBigkeiten oder Prognosen entlasten von der politischen Entscheidung insofem, als sie bestimmte Handlungskorridore vorzugeben scheinen. Vemachlassigt wird dabei, dass von demographischen Entwicklungen ausgehende Probleme oder Gefahren nicht als solche bestehen, sondem erst gesellschaftlich formuliert und in der Sprache der Politik definiert werden. Besonders vorsichtig sollte mit Problem- und Gefahrenzuschreibungen umgegangen werden, die in tradierte semantische Felder mit kollektiv geteilten Deutungen eingebettet sind. Ahnliches gilt fiir die verwendeten Ordnungsmuster, die politischem Handeln Sicherheit vermitteln sollen (Beck 1988). Doch geht es nicht nur um politische Steuerung, sondem mit der demographischen Debatte ist die Frage verbunden, wie weit die individuelle Selbstbestimmung gehen darf. Gelten Familien mit Kindem als gesellschaftliche Norm und Singles als Egoisten? Sollen Menschen in verdichteten, bevolkerungsreichen Gebieten leben oder bringen Freiraume eine besondere Lebensqualitat? Durchaus positiv besetzte sozialpolitische und kulturelle Leitbilder geraten in der demographischen Debatte unter Druck, nicht mehr zukunftsfahig und realisierbar zu sein. SchlieBlich verhandelt die demographische Debatte implizit ein Dilemma modemer Gesellschaften, namlich wie individuelle und kollektive, aber auch subsystemspezifische Rationalitaten und Wirkungszusammenhange miteinander in Einklang gebracht werden konnen. So kann es durchaus sinnvoll sein, die individuelle berufliche Karriere aus gesellschaftlichen Griinden ohne Kinder zu verfolgen, die demographischen Folgen betreffen wiederum die gesamte Gesellschaft. Das Weggehen von Jugendlichen kann zur Wahmehmung individueller Chancen beitragen, aber - insbesondere mit Blick auf die kommenden geburtenschwachen Jahrgange - die regionalen Wirtschaftsstrukturen negativ beeinflussen. Entstehende gesellschaftliche Probleme sind nicht ohne weiteres in die privaten Haushalte und individuellen Biographien vermittelbar.

Die Demographisiemng okonomischer, kultureller und sozialer Verandemngen

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Schwierig ist es, die Frage nach den genauen Implikationen der Akteure zu beantworten, denn der Diskurs wird von verschiedenen Seiten getragen. Eine wichtige Rolle spielt die Mediengesellschaft, in der Wissenschaftler und Politiker ihren Platz finden (miissen). Aus Sicht der Demographen ist es bis zu einem gewissen Grad verstandlich, diesen Aspekt der Demographisiemng im eigenen institutionellen Interesse voranzubringen. Die Wiedergutmachung langer offentlicher Zuriicksetzung mag bei einigen Fachvertretem keine unbedeutende Rolle spielen. Warum auch andere Wissenschaftler - vor allem Soziologen und Okonomen - relativ unreflektiert den demographischen Diskurs zu einem Leitthema erheben, liegt wohl im Themenpark der Wissenschaftspolitik und -forderung sowie der aktuell hohen Publizitat begriindet. Die im demographischen Diskurs intensiv gefiihrte Regionalisierung von Problemlagen trifft zudem auf eine Liicke der bisherigen sozialwissenschaftlichen Forschung, in der Teilraume wenig beachtet wurden. Da demographische Daten auf regionaler und lokaler Ebene am leichtesten zuganglich sind, werden sie offensichtlich eher genutzt. Bin starkerer Raumbezug anderer Daten ware anzustreben. Die Motive der politischen Offentlichkeit sind in der demographischen Debatte durchaus unterschiedlich. Auf regionaler Ebene zeigt sich beim Umgang mit der demographischen Frage ein ambivalenter Umgang. Benachteiligt zu sein konnte bisher den politischen Handlungsdruck erhohen, kehrt sich aber im Zuge des demographischen Diskurses zunehmend um, wenn an die Stelle der Benachteiligung die Zukunftslosigkeit tritt. Im diskursanalytischen Sinn dienen Argumente der Legitimierung von Handlungen. Vor allem gilt es, Sparpolitiken iiber die demographische Diskussion umzusetzen. Sie dient auch der Durchsetzung von Macht- und Interessenbestanden, ohne einen unmittelbaren Adressaten im politischen Bereich zu besitzen, der fiir sie verantwortlich gemacht werden kann - demographische Entwicklungen sind nicht politisch zurechenbar. Hinzu kommt, dass Dysfunktionalitaten im politischen System zu einer Demographisiemng politischer Entscheidungen fiihren. Das gegenwartige Steuer(zuweisungs)system fordert z.B. die kommunale Konkurrenz um Bevolkemng. Die Debatte um den demographischen Wandel, so wurde eingangs hervorgehoben, ist eng mit dem Dmck zu gesellschaftlichen Verandemngen verbunden. Insofem dient der demographische Diskurs der Offnung von Handlungsblockaden, er schafft eine Situation der „Gefahr", aus der neue Koalitionen und Kooperationen, aber auch Konflikte und Konkurrenzen hervorgehen konnen. Er richtet sich explizit gegen das Nichtstun. Daraus ergeben sich durchaus positive Folgen einer dffentlichen Auseinandersetzung iiber regionale Entwicklungschancen, die

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nicht nur von diffiisen Hoffnungen getragen werden.l^ In einer Reihe von Modellprojekten wurde liber das demographische Thema eine offentliche Diskussion erzeugt, die eine historische, sozialstrukturelle und regionale Differenzierung ermoglicht.l3 Der demographische Diskurs hat auch die Analyse raumlicher Prozesse befordert, z.B. die Aufmerksamkeit fiir landliche Regionen gestarkt. Die im semantischen Feld eingelagerten Stereotypisierungen und die Demographisierung des Diskurses fiihren allerdings zum Verlust an analytischer Scharfe und politischen Handlungsoptionen, und sie begiinstigen die hegemoniale Deutung einer - soziologisch gesehen - grundsatzHch offenen gesellschaftHchen Zukunft.

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12 13

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Barlosius, Eva, Prof. Dr., geb. 1959, Professur fur Allgemeine Soziologie an der Universitat Duisburg-Essen. Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit, Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Neuere Publikationen: Pierre Bourdieu (2006); Die Macht der Reprasentation (2005); Kampfe um soziale Ungleichheit (2004).

Beetz, Stephan, Dr., geb. 1966, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Interdisziplinaren Arbeitsgruppe „Zukunfl;sorientierte Nutzung landlicher Raume" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Arbeitsgruppe „Chancen und Probleme einer altemden Gesellschaft: Die Welt der Arbeit und des lebenslangen Lemens" der Leopoldina und acatech. Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Landliche Gesellschaft, Regionalentwicklung, MobiHtat/Migration, Genossenschaften. Neuere Publikationen: Dorfer in Bewegung (2004); Mitgliederbeziehungen in Wohnungsgenossenschaften (2005); Handworterbuch zur landlichen Gesellschaft (Herausgeberschaft) (2005).

Cornelius, Ivar, geb. 1953, Dipl.-Volkswirt, Leiter des Referats „Bev51kerungsstand und -bewegung, Gesundheitswesen" im Statistischen Landesamt BadenWiirttemberg. Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Analysen zum generativen Verhalten und zum Wanderungsgeschehen, Bevolkerungsvorausrechnungen, Auswirkungen der demographischen Entwicklung. Neuere Publikationen: Heirats-, Geburten- und Scheidungsverhalten im Generationenvergleich (2000); Perspektiven des Bevolkerungswachstums (2004); Zuwanderungen nach Baden-Wiirttemberg und demographische Perspektiven (2005).

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dressel, Kathrin, Dipl.-Soziologin, geb. 1977, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fiir Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt fiir Arbeit (lAB). Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Bildungssoziologie, Soziale Ungleichheit.

Hug-von Lieven, Christiane, Dr., geb. 1945, Ministerialratin im Ministerium fiir Arbeit und Soziales von Baden Wiirttemberg. Arbeitsschwerpunkte: Frauenpolitik, Chancengleichheit von Frauen und Mannem, demographische Entwicklung.

Kreyenfeld, Michaela, Prof. Dr., geb. 1969, Juniorprofessorin fiir Ursachen und Konsequenzen des demographischen Wandels an der Universitat Rostock. Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Familiensoziologie, Lebenslaufforschung. Neuere Publikationen: Bin Leben ohne Kinder - Ausmafi, Strukturen und Ursachen von Kinderlosigkeit (Herausgeberschaft zusammen mit Dirk Konietzka) (2006); Nichteheliche Mutterschaft und soziale Ungleichheit. Zur soziookonomischen Differenzierung der Familienformen in Ost- und Westdeutschland (gemeinsam mit Dirk Konietzka) (2005); Fertility Decisions in the FRG and GDR, in: Demographic Research Special Collection (2004).

Lang, Susanne, geb. 1976, Redakteurin der tageszeitung (taz). Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Medial konstruierte Familien- und Frauenbilder.

Lengwiler, Martin, PD Dr., geb. 1965, Privatdozent der Universitat Zurich. Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Sozialstaatsgeschichte, Europaische Geschichte. Neuere Publikationen: Risikopolitik im Sozialstaat. Die schweizerische Unfallversicherung 1870-1970 (2006).

Lindecke, Christiane, Dr., geb. 1964, freiberufliche Organisations- und Arbeitszeitberaterin. Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Arbeitszeitflexibilisierung, Familienfreundlicher Betrieb, Chancengleichheit.

Verzeichnis der Autorinnen iind Autoren

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Neuere Publikationen: Bericht zur Evaluation von Projekten im Rahmen der ESfNOPUNKT-Kampagne „Kompetenzgewinn durch Lemzeitorganisation in Brandenburger Untemehmen" (gemeinsam mit Alexandra Wager) (2006); Familienfreundlichkeit im Betrieb - Anspruch und Wirklichkeit, in: spw. Zeitschrift fiir Sozialistische Politik und Wirtschaft (2006); Von der Gleichstellung der Geschlechter zur nachhaltigen Familienpolitik, in: WSI-Mitteilungen (2005).

Meuser, Michael, PD Dr., geb. 1952, Privatdozent fiir Soziologie an der Universitat Bremen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitat Duisburg-Essen. Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Soziologie der Geschlechterverhaltnisse, Methoden qualitativer Sozialforschung, politische Soziologie, Wissenssoziologie, Soziologie des Korpers. Neuere Publikationen: Geschlecht und Mannlichkeit, 2. Aufl. (2006); Gender Mainstreaming (Herausgeberschaft zusammen mit Claudia Neusiifi) (2004); Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung (Herausgeberschaft zusammen mit Ralf Bohnsack und Winfried Marotzki) (2003). Schick, Daniela, Dipl.-Soziologin, geb. 1979, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universitat Duisburg-Essen. Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Arbeits- und Lebenslaufsoziologie, soziale Sicherung, Soziologie der Geschlechterverhaltnisse, qualitative Methoden der Sozialforschung. Neuere Publikationen: Das Profil offentlicher Emahrungskommunikation - eine Synopse. WZB-Discussion Paper (gemeinsam mit Eva Barlosius) (2006); Krankenversicherte brauchen keine Kopfpauschale sondem Orientierung am Modell Biirgerversicherung, in: Frankfurter Rundschau - Dokumentationen (gemeinsam mit Klaus Kirschner) (2005).

Schroer, Sebastian, Dipl.-Volkswirt, Dipl.-Kfm., geb. 1980, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Industrieokonomik und Wettbewerbspolitilc

Straubhaar, Thomas, Prof. Dr., geb. 1957, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), Professor fiir Volkswirtschaftslehre an der Universitat Hamburg. Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Intemationale Wirtschaftsbeziehungen, Ordnungspolitik, Bildungs- und Bevolkemngsokonomie. Neuere Publikationen: Wachstum und Beschaftigung im Gesundheitswesen. Beschaftigungswirkungen eines modemen Krankenversichemngssystems (gemeinsam mit Gunnar

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Geyer, Heinz Locher, Jochen Pimpertz und Henning Vopel) (2006); Okonomik der Reform, in: Nicolas Dallmann und Marc Seiler (Hrsg.): Innovation und Reform (2006).

Tutt, Cordula, Dipl.-Politologin, Politikkorrespondentin bei der Financial Times Deutschland. Arbeits-ZForschungsschwerpunkte: Politik und Wirtschaft, gesellschaftliche Verandemngen. Demographic.