»Den richtigen Mann an die richtige Stelle«
Christine Müller-Botsch, Dr. phil., ist Mitarbeiterin der Forschungsstell...
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»Den richtigen Mann an die richtige Stelle«
Christine Müller-Botsch, Dr. phil., ist Mitarbeiterin der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte der Freien Universität Berlin und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.
Christine Müller-Botsch
»Den richtigen Mann an die richtige Stelle« Biographien und politisches Handeln von unteren NSDAP-Funktionären
Campus Verlag Frankfurt/New York
Gedruckt mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, sowie der Stiftung Erinnerung Lindau
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-38893-9 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2009 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Druck und Bindung: PRISMA Verlagsdruckerei GmbH Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Inhalt
1. Einleitung ............................................................................................................ 7 1.1. Anlage und Aufbau der Untersuchung .................................................. 7 1.2. Die unteren Parteieinheiten der NSDAP: Organisation, Tätigkeitsfelder und Funktionäre.................................25 2. Biographieanalysen anhand von schriftlichen Selbstpräsentationen aus institutionellen Kontexten .................................47 2.1. Soziologische Biographieforschung und politisches Handeln .........48 2.2. Zur biographieanalytischen Untersuchung von NSDAPPersonalunterlagen und Spruchkammerakten.....................................54 2.3. Darlegung der fallrekonstruktiven Methode .......................................74 2.4. Auswahl der Fälle und theoretische Verallgemeinerung ...................84 3. Empirische Falldarstellungen.........................................................................93 3.1. Hans D.: »in selbstloser Weise einem geeinten Volk zu dienen«.....94 3.2. Johann G.: »Am 6.12.23 habe ich […] einen Kommunisten erschossen«..............................................................................................148 3.3. Rudolf O.: »Aber Sturheit war nie meine Eigenschaft«...................183 3.4. Simon R.: »Dass ich mich vielmehr hinter meiner Krankheit verschanzte«............................................................................................211
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4. Kontrastiver Vergleich und Diskussion der Ergebnisse .........................235 4.1. Kontrastiver Vergleich anhand ausgewählter Aspekte ....................235 4.2. Typen biographischer Bedeutung der NSDAP-Parteitätigkeit ......271 4.3. Biographie und Organisation: Heterogenität nationalsozialistischer Praktiken als Merkmal der unteren NSDAP-Apparate ...................................................................286 5. Ergebnisse und Perspektiven .......................................................................299 6. Anhang.............................................................................................................308 6.1. Kurzdarstellungen der weiteren Fälle .................................................308 6.2. Dokumentation von Auswertungsschritten ......................................335 6.3. Ausgewählte Dokumente .....................................................................341 Quellen und Literatur ........................................................................................347 Abkürzungsverzeichnis .....................................................................................365 Dank .....................................................................................................................367
1. Einleitung
1.1. Anlage und Aufbau der Untersuchung Fragen, wie es dazu kommen konnte, dass das nationalsozialistische Regime eine so breite Unterstützung durch die Bevölkerung erfuhr, beschäftigen bis heute Wissenschaft und Öffentlichkeit in Deutschland. Seit Jahrzehnten wird mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Herangehensweisen und Schwerpunkten auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen zu diesen Fragen geforscht: von der Analyse einer allgemeinen breiten Zustimmung zum Regime bis hin zur Untersuchung des Handelns von NS-Tätern im engsten Sinne, mittelbar oder unmittelbar an den NS-Gewalt- und Tötungsverbrechen beteiligten Gruppen und Einzelpersonen. Es wird danach gefragt, vor welchen gesellschaftlichen, kulturellen und biographischen Hintergründen das NS-System so stark unterstützt wurde und welche Formen von Unterstützung es gegeben hat, im Alltag, im Beruf, in der freiwilligen oder auch unfreiwilligen Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Verbänden. Diskutiert werden in den letzten Jahren »Gemengelagen« von Hinnehmen und Mitmachen (Lüdtke), Dynamiken in Gruppenzusammenhängen, generationelle Dispositionen und generelle Voraussetzungen der Bereitschaft zu Unterstützung, sei sie »unbedingt« oder begrenzt. Dabei erweist es sich als produktiv, der Forderung nach Interdisziplinarität nachzukommen, wie sie in verschiedenen Verbindungen geschichtswissenschaftlicher Quellenanalyse mit sozialwissenschaftlichen Analysekonzepten praktiziert wird.1 Den zentralen Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildet die Parteitätigkeit unterer NSDAP-Funktionäre von 1933 bis 1945. Dabei
—————— 1 Aufgrund der großen Anzahl der bisherigen Studien soll an dieser Stelle auf die Bibliographie von Ruck 2000 verwiesen werden; auf zahlreiche einzelne, insbesondere auch in den letzten Jahren veröffentlichte Studien, wird an gegebener Stelle im Lauf der Arbeit eingegangen.
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handelt es sich um eine aktive, organisierte Unterstützung des Nationalsozialismus auf den unteren Ebenen der NSDAP-Parteiorganisation. Die Funktionäre der NSDAP-Ortsgruppen bildeten eine Gruppe von NS-Aktivisten2, die mehrheitlich erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die NSDAP eintraten. Sie hatten, wie neuere Forschungen ergeben, erheblichen Anteil an der Durchsetzung und Aufrechterhaltung der Diktatur und der Umsetzung nationalsozialistischer Politik.3 Die fast ausschließlich »ehrenamtlichen« (also unbezahlten) Funktionäre waren – vom Blockleiter bis zum Ortsgruppenleiter – spätestens ab Mitte der 1930er Jahre im Wohngebiet flächendeckend eingesetzt: unter anderem zur Erfassung, Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung, zur umfassenden sozialen »Betreuung« nach nationalsozialistischer Vorstellung sowie zur propagandistischen und werbenden Beeinflussung im Sinne der »NSVolksgemeinschaft«. Kontinuierlich waren sie beteiligt an der politischen und »rassischen« Verfolgung. Neben der Rekonstruktion zentraler Tätigkeitsfelder ist zwar zur soziobiographischen Zusammensetzung dieser Funktionärsgruppe mittlerweile einiges bekannt. Über die konkreten biographischen Kontexte und Motive bei Parteibeitritt und Funktionsübernahme, über Parteikarrieren und die Art und Weise der Funktionsausübung ist allerdings bislang eher spekuliert und kaum geforscht worden. Sie bilden hier den zentralen Untersuchungsgegenstand. Insofern versteht sich die Arbeit auch als Beitrag zur Erforschung der alltäglichen Praxis von Funktionären und der Funktionsweise der unteren Parteiapparate. Sie diskutiert abschließend Fragen, inwieweit einerseits Organisationen durch Logiken der Funktionäre geprägt sind und andererseits das Handeln der Funktionäre durch die Strukturen und Vorgaben der Organisationen beeinflusst wird.4
—————— 2 Mit dieser Kategorisierung, die aus dem Befreiungsgesetz von 1946 aufgegriffen wird, ist meines Erachtens diese Gruppe am zutreffendsten bezeichnet. Innerhalb der fünf Gruppen von Verantwortlichen wird sie als eine Untergruppe in der Gruppe 2 (Belastete) aufgeführt. Vgl. Das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus nebst Ausführungsbestimmungen für den Bereich des Landes Württemberg-Baden (Stand 1. Dezember 1947), Abschnitt A/Gesetzeswortlaut, S. 2–4. 3 Vgl. Reibel 2002. 4 Zum Begriff des »Funktionärs« sowie zur Diskussion des Verhältnisses zwischen Funktionären und Organisation vgl. Kössler/Stadtland 2004, Mergel 1999; zur Diskussion dieser Fragen in der Forschung zu politischen und sozialen Bewegungen vgl. Miethe/Roth 2000, Flam 2000; für die Parteienforschung vgl. Wiesendahl 1998.
EINLEITUNG
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In der vorliegenden Arbeit über untere NSDAP-Funktionäre wird ein interdisziplinärer Zugang gewählt: Ein historischer Gegenstand wird mit einer politikwissenschaftlichen Fragestellung unter der Verwendung soziologischer Methoden untersucht. Historische Quellenanalyse wird mit einem fallrekonstruktiven biographischen Forschungsansatz verbunden. In der Übertragung soziologischer Auswertungsverfahren von narrativen Interviews auf die Analyse schriftlicher Selbstpräsentationen in institutionellen Kontexten liegt eine methodologische Weiterentwicklung biographischer Analyseverfahren. Mit dieser Untersuchungsanlage sollen insbesondere Fragestellungen einer historisch orientierten Politischen Soziologie bearbeitbar werden. Durch die Verwendung eines biographischen Forschungsansatzes gelingt es, in die Analyse politischen Handelns und politischer Verbände erfahrungsgeschichtliche Dimensionen einzubeziehen.5 Ein solcher Versuch, anhand von fallrekonstruktiven Biographieanalysen die Parteitätigkeit von unteren NSDAP-Funktionären im Nationalsozialismus an der Macht in ihrer Entstehung zu erklären und in eine Analyse der Funktionsweise der unteren Parteiapparate zu integrieren, ist bislang nicht unternommen worden.
1.1.1. Forschungsstand Bislang liegen keine Studien vor, die sich explizit und methodisch kontrolliert mit den Beweggründen und Handlungsweisen der unteren Funktionäre zwischen 1933 und 1945 auseinandersetzen. Zwar umreißt bereits Rudolf Heberle 1934 in Tagebuchnotizen den Bedarf nach einer »Soziologie der nationalsozialistischen Bewegung«, insbesondere mit dem Blick auf das Verhalten derjenigen, die als sogenannte »Märzgefallene« nach der Machtübernahme 1933 in die Partei eintraten.6 Seither ist jedoch kaum systematisch in diese Richtung geforscht worden. Bei der Erforschung von NS-Anhängern wurde lange ein Schwerpunkt auf die sogenannte Bewegungsphase vor 1933 gelegt, wie auch in der folgenden Literaturdiskussion deutlich wird. Interpretationen der Handlungsweisen und Beweggründe von unteren NSDAP-Funktionären zwischen 1933 und 1945 bleiben bisher auf eine
—————— 5 Vgl. Steinbach 1987, Mintzel 1992, Stammer 1967, insbes. S. 360ff. und Stammer/ Weingart 1972. 6 Vgl. Heberle 1965.
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Reihe empirisch nicht oder nicht hinreichend überprüfter Thesen im Rahmen von kleineren Studien oder Unterkapiteln in Arbeiten mit anderem Forschungsschwerpunkt begrenzt. Sie weisen auf eine gewisse Heterogenität der Beweggründe und Handlungsweisen hin. Peter Diehl-Thiele, der sich in seiner Darstellung zum Verhältnis von Staat und Partei auch am Rande mit den unteren Parteiapparaten beschäftigt, markiert die Grenzen der Aussagemöglichkeiten, die in der Analyse der von ihm untersuchten Parteidruckschriften liegen: »Nun, zuverlässige allgemeingültige Aussagen über das Wirken dieser untersten Parteifunktionäre sind kaum zu machen. Von Gau zu Gau, Ort zu Ort und Block zu Block mögen die Verhältnisse verschieden gewesen sein. Nur eine Minderheit der Zellen- und Blockleiter wird dem von der Parteileitung gewünschten Idealtypus annähernd entsprochen haben: ›ewig rühriger Prediger, Mahner und Verfechter der nationalsozialistischen Weltanschauung‹, ›Aktivist und Propagandist der Bewegung‹ zu sein.«7
Aryeh Unger beschreibt in seiner diktaturvergleichenden Studie, sich auf die Analyse von Parteidruckschriften und Parteiakten berufend, die Besetzung der Blockleiterposten folgendermaßen: »In the course of time it came to be filled by the type of men who enjoyed the exercise of petty tyranny over their neighbours or who were incapable of serving in any other party capacity because of their physical or intellectual limitations.«8 Michael Kater hingegen kommt zu der Einschätzung: »undoubtedly the reason many men became Blockleiters was to escape party harassment themselves. Morale was chronically low among these wretched party servants«9. Kater weist – im Vergleich zu den oberen Parteirängen – auf eine stärkere Heterogenität und Instabilität des Funktionärskorps unterhalb der Ebene des Ortsgruppenleiters hin. Auf Interviews mit Zeitzeugen aus dem Arbeitermilieu Bezug nehmend macht Detlef Schmiechen-Ackermann auf unterschiedliche Formen von Amtsausübung der untersten Funktionäre aufmerksam: Danach gab es tyrannisches und Parteivorgaben bewusst nicht nachkommendes Verhalten ebenso wie wenig engagierte und sich verändernde Formen von Amtsausübung.10 Ähnlich unbestimmt ist bis heute die Analyse der Funktionsweise der unteren Parteiapparate an der Macht. Handelt es sich dabei stärker um eine
—————— 7 Diehl-Thiele 1969, S. 166. 8 Unger 1974, S. 104. 9 Kater 1983, S. 193. 10 Vgl. Schmiechen-Ackermann 2000, S. 600.
EINLEITUNG
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Unterordnung unter strenge Hierarchien oder polykratisches Machtgerangel bis in die untersten Ebenen?11 Inwieweit funktioniert die Binnenbindung über eine »charismatische Herrschaftsstruktur«, insbesondere in »veralltäglichter« Form?12 Welche Rolle kommen Freiwilligkeit und Druck zu? Finden wir hier die einer Kernmitgliedschaft Zuzurechnenden, die »ihr Leben der Partei gegeben [haben]«, oder die »Masse« der schwer berechenbaren »bloßen Mitläufer«, wie sie als zwei typische Formen von Anhängern einer totalitären Integrationspartei von Sigmund Neumann beschrieben werden?13 Der mit solchen Überlegungen zusammenhängenden Grundfrage, wie diese unteren Parteieinheiten bis zur unumgänglich gewordenen bedingungslosen Kapitulation so vergleichsweise gut systemstützend funktionieren konnten, wird in der vorliegenden Arbeit auf der Grundlage empirischer Fallanalysen nachgegangen: Nicht im Herantragen von Theorien, die am Untersuchungsgegenstand noch nicht überprüft wurden, sondern in der Untersuchung der Beweggründe und Handlungsweisen der Funktionäre wird hier ein Beitrag zu den Funktionsprinzipien der unteren Parteiapparate angestrebt. Trotz der offensichtlichen »Untererforschung« der NSDAP-Funktionäre auf den unteren Parteiebenen gibt es eine Reihe von relevanten Feldern, Diskussionen und Ergebnissen der Forschung, auf die die Arbeit aufbauen kann. Jene Forschungsergebnisse, die organisationsgeschichtliche Aspekte, Tätigkeitsfelder, Umfang und soziale Zusammensetzung des Korps der Politischen Leiter auf der unteren Parteiebene betreffen, werden in Unterkapitel 1.2. dargestellt. An dieser Stelle sollen lediglich einige Forschungsansätze und theoretische Erklärungsansätze zu NSDAP-Anhängern in ihren Leistungen und Grenzen angesichts des Untersuchungsfeldes diskutiert werden. Auf diesem Weg soll eine 80 Jahre Forschungsgeschichte umfassende, schwer zu überschauende Fülle an Publikationen strukturiert werden. Die meisten der vorhandenen Ansätze sind bereits zeitgenössisch angewendet und seither weiterentwickelt worden. Als ein wichtiger Strang der bisherigen Erforschung der NS-Bewegung sind quantitative Erhebungen sozialer Merkmale von NS-Anhängern zu
—————— 11 Vgl. generell Mommsen 1998, Kater 1983, S. 191; zur Kreisebene Roth 1997, S. 113f., S. 129; zur Ortsgruppenebene Reibel 2002, S. 383f., S. 384ff. Zu unteren Parteiorganisationen Müller-Botsch 2003, S. 40. 12 Vgl. hierzu, stets im Anschluss an die Herrschaftssoziologie von Max Weber, Gerth 1940, Lepsius 1993, Longerich 1992, S. 256–264; zu lokalen Parteiapparaten vgl. MüllerBotsch 2003, S. 94. 13 Neumann 1969, S. 222f.
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nennen. Mit ihren frühen Wahlanalysen begründeten Soziologen wie Theodor Geiger und Rudolf Heberle zu Beginn der 1930er Jahre die quantitative Forschung zu NS-Anhängern.14 Diese hat sich in den letzten Jahrzehnten neben den Wählern auch zunehmend mit NSDAP-Mitgliedern und -Funktionären beschäftigt.15 Die quantitative Sozialforschung liefert unverzichtbare und wichtige Beiträge zur Überprüfung bestehender Theorien und zur Anregung von vertiefenden Studien in bestimmten Feldern. So haben etwa die Befunde, dass es sich bei der NSDAP nicht um eine reine Mittelschichtspartei gehandelt hat, dazu geführt, bestehende Theorien in Frage zu stellen und die Erforschung weiterer Faktoren, etwa der politischen Traditionen und Milieus anzuregen.16 Eine Grenze der quantitativen Forschung bildet der Umstand, dass sie bereits theoriegeleitet die sozialen Merkmale vorab festlegen muss und damit möglicherweise für ihre Untersuchungsfrage relevante Faktoren von vornherein unberücksichtigt bleiben. Zudem ist die historisch-quantitative Forschung in ihren Möglichkeiten durch das Aussagepotential der vorhandenen Quellen begrenzt.17 Über die konkreten Beweggründe von Gesellschaftsmitgliedern bei einer Hinwendung zum Nationalsozialismus können die Befunde der quantitativen Forschung – für sich genommen – keine Aussagen machen. Diesbezügliche Interpretationen erfordern zumindest das Hinzuziehen weiterer Theorien.18 Ergebnisse quantitativer Untersuchungen bieten gleichwohl wichtige sozialgeschichtliche Kontextinformationen für die Theoriebildung und – wie in der vorliegenden Arbeit – für die Interpretation von einzelnen Fällen. Hinsichtlich der Untersuchungsfrage liegen eine ganze Reihe von theoretischen Ansätzen zur Erklärung des Aufkommens der NS-Bewegung, der Hinwendung von Gesellschaftsmitgliedern zum Nationalsozialismus und der Organisierung in dessen Verbänden vor: klassen- und schichtungstheoretische, kultur- und mentalitätsgeschichtliche, sozialpsychologische, gene-
—————— 14 Vgl. Geiger 1930 und 1932, Heberle 1963. 15 Vgl. den guten Überblick über die entsprechende Literatur bei Wagner 1998, S. 75–83. 16 Vgl. Falter 1991a, S. 364–375. 17 Vgl. zu dieser Diskussion um Möglichkeiten und Probleme der quantitativen Forschungen zur NSDAP die verschiedenen Beiträge in dem von Reinhard Mann 1980 herausgegebenen Sammelband. 18 Unter Bezug auf Kategorien der Neuen Politischen Ökonomie vermutet beispielsweise Jürgen Falter »vielfach ein aus Nützlichkeitserwägungen gespeistes rationales Kalkül« als Beweggrund für die 1933 in die Partei einströmenden Beamten; vgl. Falter 1998 S. 613f.
EINLEITUNG
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rationelle und geschlechtsbezogene Argumentationen19 werden – in nahezu allen erdenklichen Verbindungen – seit dem Aufkommen der NS-Bewegung zu deren Erklärung herangezogen.20 Sie wurden sowohl in empirischsozialwissenschaftlichen Studien als auch in geschichts- oder geisteswissenschaftlichen Arbeiten entwickelt oder angewendet. Verschiedene Ausprägungen und Kombinationen dieser Ansätze durchziehen die gesamte Forschungsgeschichte zur Erklärung von NS-Anhängerschaft und -Unterstützung. Die in den jeweiligen Erklärungsansätzen betonten Faktoren werden zuweilen als stark prägend für die gesamte deutsche Gesellschaft in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts angenommen. In anderen Untersuchungen wird unter Rückgriff auf diese Erklärungsansätze die Anfälligkeit einzelner sozialer Gruppen für den Nationalsozialismus diskutiert, so etwa der Oberschicht, des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft.21 Zudem werden einzelne Theoreme dieser Ansätze als spezifisch die NS-Anhängerschaft prägend dargestellt.22 Was heißt dies für eine Untersuchung zur politischen Organisierung der unteren NSDAP-Funktionäre? Ob, inwieweit und in welcher Form die in diesen Erklärungsansätzen benannten Aspekte in der Untersuchungsgruppe beziehungsweise bei einzelnen unteren NSDAP-Funktionären als prägende und ihre Entwicklung (mit-)erklärende Faktoren zutreffen, ist bislang unerforscht.23 Welche Rolle bei der politischen Organisierung der Funktionäre etwa langfristig wirkenden kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekten, wie nationalistischen, antisozialistischen, antisemitischen,
—————— 19 Zu klassen- und schichtungstheoretischen Ansätzen vgl. etwa Manstein 1988; zu kulturund mentalitätsgeschichtlichen Aspekten vgl. exemplarisch Elias 1990, Plessner 1959, mit weiterer Literatur Kocka 1998, Kittel 2000, S. 12ff.; zu sozialpsychologischen Erklärungsansätzen vgl. als kurzen Literaturüberblick Wippermann 1997, S. 76ff.; zu generationellen Dimensionen in der NS-Forschung vgl. etwa Rosenthal 1987 und 1997, Wildt 2002 sowie die von Reulecke 2003 und Jureit/Wildt 2005 herausgegebenen Sammelbände; zu Männlichkeitsbildern in faschistischen Bünden vgl. Reichardt 2002, S. 660ff. 20 Vgl. als frühe Beispiele der Verbindung von verschiedenen Erklärungsansätzen Geiger 1930 und 1932, S. 109–122, Lasswell 1957 (engl. 1933), Neumann 1977 (1932), S. 73–87. Vgl. zur Verwendung aller Theoreme zur Erklärung von NS-Anhängerschaft in Überblickdarstellungen etwa Wendt 1995, S. 17–54. 21 Vgl. hierzu die Diskussion über die Heranziehung verschiedener Ansätze zur Erklärung der NSDAP-Anfälligkeit in einzelnen Schichten bei Manstein 1988. 22 Vgl. etwa Glaser 1988, der schichtübergreifend von einer autoritären Persönlichkeitsstruktur bei den NS-Anhängern ausgeht. 23 Stelbrink geht davon aus, dass alle angeführten Erklärungsansätze relevant sind hinsichtlich der Frage nach den Motiven der NSDAP-Kreisleiter für ihr Handeln, vgl. Stelbrink 2003, S. 40–42.
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obrigkeitsorientierten, militaristischen Orientierungen zukommt, ist ebenso wenig bekannt wie die Bedeutung, die die kurzfristige ereignisgeschichtliche Entwicklung seit der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg oder politische Teilkulturen der Weimarer Republik für NSDAP-Funktionäre bei der Hinwendung zur NSDAP hatten.24 Das gleiche gilt hinsichtlich schichtspezifischer Interessen oder generationeller Prägungen. Wenngleich in der vorliegenden Arbeit nicht thesenüberprüfend vorgegangen wird, stellen die Thesen der hier aufgeführten Erklärungsansätze doch das gesellschaftlich vorhandene Kontextwissen dar, vor dessen Hintergrund auch die erste Stichprobenziehung sowie die Fallinterpretationen in dieser Arbeit erfolgen. Dieser überaus reichen und vielfältigen wissenschaftlichen Literatur kommt damit in der vorliegenden Arbeit ein wichtiger heuristischer Stellenwert zu. Eine erste qualitativ-empirische Studie im Bereich soziologischer Biographieforschung, in der Selbstpräsentationen früher Nationalsozialisten ausgewertet wurden, um die NS-Bewegung zu analysieren, wurde 1938 von Theodore Abel vorgelegt. Die von ihm verwendeten Quellen, im Umfeld einer frühen Schule soziologischer Biographieforschung als biograms bezeichnet, hatte er im Rahmen eines Preisausschreibens generiert, das sich 1934 an frühe Mitglieder der NS-Bewegung richtete.25 Unter den Teilnehmern an diesem Preisausschreiben befanden sich neben vielen SA-Mitgliedern insbesondere auch zahlreiche frühe NSDAP-Funktionäre. Abel wendet sich gegen monokausale und aus der Theorie übergestülpte psychoanalytische und marxistische Erklärungsansätze und beschreitet den Weg, aus dem empirischen Material heraus konstitutive Faktoren für das Aufkommen der NS-Bewegung herauszuarbeiten. Daraus entwickelt er auch einen Rahmen, den er zur Analyse weiterer sozialer Bewegungen vorschlägt.26 Wenngleich die textanalytische Auswertung biographischer Selbstpräsentationen sich in der Zwischenzeit erheblich weiter entwickelt hat, so ist diese Studie zugleich Pionierarbeit der soziologischen Biographieforschung und eine der zeitgenössisch herausragenden, empirisch fundierten Analysen der NS-Bewegung. Dieser Quellenbestand wurde, in wiederum innovativer Herangehensweise, in den 1970er Jahren von Peter Merkl ausgewertet.27 In seine
—————— 24 Vgl. hierzu etwa Lehnert/Megerle 1990. 25 Vgl. Abel 1966 (zuerst 1938); zum methodischen Vorgehen vgl. Abel 1947. 26 Vgl. Abel 1966, Atheling Introduction sowie S. 115ff. 27 Vgl. Merkl 1975, 1980b, 1980c.
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quantitativen Studien bezieht er neben den in diesem Forschungszweig üblichen sozialen Merkmalen wie Alter, Zeitpunkt eines SA- oder Parteibeitrittes und Beruf nicht nur zahlreiche weitere biographische Daten ein, sondern erstellt darüber hinaus Variablen, die subjektiv genannte Beweggründe, erfahrungsgeschichtliche und sozialpsychologische Aspekte betreffen. Merkls Arbeiten enthalten eine große Fülle innovativer Einzelergebnisse, wie etwa die Typisierung verschiedener Formen von Antisemitismus oder ein Stufenmodell der Politisierung und Organisierung.28 Auch aufgrund der generellen Forderung Merkls, in die Analyse der NS-Anhänger deren gesamten Lebenslauf und lebensgeschichtliche Verarbeitungsprozesse einzubeziehen, finden seine Arbeiten bis heute immer wieder Beachtung. Gleichwohl teilen sie die Begrenzungen quantitativer Forschungsansätze, theorie- und kategoriengeleitet an das Material heranzugehen. Der Versuch, insbesondere auch soziologische, psychologische und sozialpsychologische Theorien in der Kategorienbildung zu berücksichtigen, stellt die Forschung zudem vor spezifische Herausforderungen.29 So erscheint etwa die Kodierung von Erfahrungsverarbeitung in einzelne Variablen bei einer Anzahl von knapp 600 biographischen Dokumenten forschungspraktisch – gerade vor dem Hintergrund biographietheoretischer Überlegungen, wie sie in dieser Arbeit übernommen werden – problematisch. Zwar ist der Kritik von Dieter Rebentisch, die Konstruktion eines idealtypischen SA-Mannes bei Merkl habe geradezu fiktionalen Charakter, nicht zuzustimmen. Durchaus aber wird seine Einschätzung geteilt, dass die qualitative Untersuchung historischer Individualitäten durch dieses Forschungsvorgehen nicht ersetzt werden kann.30 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Merkl-Studie zu 581 frühen Nationalsozialisten stellt auch Martin Broszat 1983 hinsichtlich der Hinwendung von Gesellschaftsmitgliedern zur NS-Bewegung fest, dass »das Subjektive der Erfahrungsverarbeitung […] dabei meist ausschlagge-
—————— 28 Vgl. Merkl 1971 und 1980a. 29 Vgl. die überaus interessante Reflexion des Forschungsprozesses in Merkl 1980a. 30 Rebentisch 1983, hier insbesondere S. 296f. Das von Rebentisch gewählte Vorgehen bei der Untersuchung des politischen und individuellen Profils nationalsozialistischer Führungskader in Hessen, »ohne großen methodischen Aufwand und im Stil der konventionellen Geschichtsschreibung« (ebd., S. 297) eine Antwort auf die Frage zu finden, wer diese Männer denn eigentlich gewesen seien, beschränkt sich hinsichtlich der Funktionäre gleichwohl auf eine kurze, beschreibende Darstellung ihrer Parteikarrieren und Verhaltensweisen.
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bender als die ›Objektivität‹ sozialer Faktoren [war]«31. Der habituelle und mentale Zuschnitt der NS-Bewegung sei bislang nur eher impressionistisch erfasst worden. Ähnlich sind einige von Broszat aufgezählte »Typen« von NS-Aktivisten, wie »ideologisch verrannte Lehrer«, »›lumpenproletarischer‹ Mob der Großstadt« oder »politische Glücksspieler und Weltenbummler großbürgerlicher oder aristokratischer Herkunft« einzuschätzen, die er folgendermaßen kommentiert: »Die einzuräumende Problematik solcher nur biographisch verifizierbaren Typologien hat, so scheint mir, häufig verhindert, diesen sozial-, generations- und erfahrungsspezifischen Mentalitätsstrukturen bei der sozialwissenschaftlichen Erforschung der NS-Bewegung die Bedeutung zuzumessen, die ihnen eigentlich zukommt.«32
Zwar geht es in der vorliegenden Arbeit nicht darum, impressionistisch gebildete Typologien zu überprüfen. Gleichwohl gehe ich mit der Untersuchungsanlage auf den von Broszat formulierten Forschungsbedarf ein. Indem das Handeln von NSDAP-Funktionären in biographischen Analysen erfahrungsgeschichtlich rekonstruiert werden soll und diese Ergebnisse dann als Basis für eine Typenbildung verwendet werden, stellt die Arbeit einen Beitrag zur Erforschung des »Subjektiven der Erfahrungsverarbeitung« unter Berücksichtigung der damit verbundenen »methodischen Problematik« dar. Im Zuge der Hinwendung zu erfahrungs- und alltagsgeschichtlichen Ansätzen in Geschichtswissenschaft und Soziologie wurden seit den 1980er Jahren auch in der NS-Forschung Untersuchungen zu unterschiedlichen NS-Anhängern und Funktionsträgern jenseits der Machtzentren zunehmend biographisch angelegt. In der Soziologie erschienen auf der Basis narrativ geführter Interviews erste fallrekonstruktiv angelegte biographische Analysen zu Mitgliedern von verschiedenen NS-Verbänden.33 »Kampfberichte« früher Nationalsozialisten wurden inhaltsanalytisch ausgewertet.34 Die in Deutschland sich parallel hierzu entwickelnde Oral History beschäftigte sich dagegen zunächst kaum konzeptionell mit NSAnhängern und -Funktionären.35 Verstärkt kam es hingegen in der Geschichtswissenschaft im Zuge der Hinwendung zu Lokal- und Regional-
—————— 31 Broszat 1983, S. 58 32 Broszat 1983, S. 59. 33 Vgl. etwa Rosenthal (Hg.) 1986, dies. 1987. 34 Vgl. Schmidt 1981. 35 Vgl. v. Plato 1999.
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studien zum Einbezug biographischer Dimensionen von NS-Funktionsträgern in die Analyse der Herrschaftsmechanismen auf lokaler und regionaler Ebene.36 Dies erfolgte vor allem auf der Basis schriftlicher Dokumente, teilweise ergänzt durch Befragungen. Ein Boom von Biographien zu Angehörigen verschiedenster NS-Verbände, der auch Studien zu NSDAP-Funktionären auf regionaler und lokaler Ebene umfasste, setzte in den Geschichtswissenschaften allerdings insbesondere in den 1990ern ein.37 Die verstärkte Thematisierung von biographischen und sozialen Hintergründen von NS-Tätern und die Untersuchung der personalen Zusammensetzung einzelner NS-Verbände und deren Dynamik erfolgte nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass mittlerweile personenbezogene Akten in größerem Umfang zugänglich geworden waren. Eine erhebliche Anzahl von Monographien und Sammelbänden mit biographischen Studien ist in den letzten Jahren erschienen. Untersuchungen zu NSDAP-Funktionären beziehen sich vornehmlich auf Funktionäre und Funktionärinnen auf Gau- und Kreisebene,38 in wenigen Fällen auf Ortsgruppenleiter39 und fast gar nicht auf die Funktionäre unterhalb des Ortsgruppenleiters. Untere Funktionäre innerhalb der Ortsgruppen werden biographisch erstmals von Caroline Wagner im Rahmen einer Teilstudie untersucht, die qualitative mit quantitativer Forschung verbinden möchte und in die auch selbstverfasste Lebensläufe der Funktionäre einbezogen werden.40 Neben Einzelbiographien erlebt auch das Genre der sogenannten Kollektiv- oder Gruppenbiographien eine Konjunktur. In diesen werden meist sozialstrukturelle Erhebungen durch einige Überlegungen zu generationel-
—————— 36 Vgl. etwa Rebentisch 1983, Fait 1988; vgl. auch Allen 1966. 37 Zu neueren Reflexionen zu dieser Entwicklung vgl. etwa Etzemüller und Gallus 2005. 38 Zur Gau- und Kreisebene vgl. biographische Einzelstudien in dem von Kißener/ Scholtyseck 1997 herausgegebenen Sammelband über württembergische und badische Nationalsozialisten; Kurzbiographien von Kreisleitern und Kreisfrauenschaftsleiterinnen bei Arbogast 1998; Studien zu Herrschaftspraxis und Persönlichkeitsprofil von ausgewählten bayerischen Kreisleitern unter Einbeziehung biographischer Daten bei Roth 1997. 39 Als Studie zu einem einzelnen Ortsgruppenleiter vgl. Berghoff/Rauh-Kühne 2000; zu Kurzbiographien von Ortsgruppenleitern und weiteren Ortsgruppen-Funktionären vgl. Wagner 1998. 40 Vgl. Wagner 1998. In der ansonsten fundierten Studie wird leider gerade in diesem Kapitel ein elaboriertes wissenschaftliches Instrumentarium weder bei der Auswertung der selbstverfassten Lebensläufe noch bei der Verbindung der Ergebnisse der sozialstatistischen Erhebung mit jenen der qualitativen Auswertung angewendet.
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len und mentalen Prägungen ergänzt. Leider wird in diesen Studien bislang selten grundsätzlich reflektiert, worüber man mit einer solchen Untersuchungsanlage Aussagen machen kann und worüber nicht, beziehungsweise wie die Ergebnisse sinnvoll verallgemeinernd als Typen formuliert werden können.41 Die Schwierigkeiten sinnvoller Typenbildung thematisiert in der NSForschung 1988 bereits Barbara Fait. Dass eine Typisierung, beispielsweise hinsichtlich der Handlungsweisen von NSDAP-Kreisleitern, anhand formaler Kriterien außerordentlich schwierig ist, macht Fait in ihrem »Versuch der Typisierung« auf der Grundlage einzelner Fallgeschichten deutlich. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass für die Amtsführung der durchweg überzeugten Nationalsozialisten individuelle charakterliche Dispositionen entscheidend waren und deren Handlungsweisen sich kaum – zumindest anhand formaler Kriterien – sinnvoll typisieren lassen.42 Möglichkeiten und Probleme der Typenbildung werden auch hinsichtlich neuerer Arbeiten zu NS-Tätern zunehmend diskutiert.43 So gerät die »neuere Täterforschung« inzwischen an methodische Grenzen, und führende Vertreter dieser Richtung müssen einräumen, es sei »zweifelhaft, ob mit den gegenwärtigen Methoden der Geschichtswissenschaft eine Dechiffrierung der Täter und ihrer Motive überhaupt möglich ist«44. Biographien wird »zwar die größtmögliche Annäherung an die Akteure des Genozids« zugeschrieben, doch bleibe neben dem Problem quellenbedingter Leerstellen »die Frage nach der Verallgemeinerung des individuellen Exempels.«45 Gerade auch hinsichtlich der Rekonstruktion und Erklärung von Handlungs- und Verhaltensweisen von NS-Anhängern im Kontext ihrer Verbände besteht nach wie vor erheblicher Forschungsbedarf. Als ein neuerer Forschungsansatz soll abschließend die von Sven Reichardt vorgeschlagene und in seiner vergleichenden Dissertation zu italienischen
—————— 41 Häufig wird weder auf vorliegende konzeptionelle Ansätze für Kollektivbiographien, wie sie etwa von Schröder/Weege/Zech oder Bohnsack 1999 vorgeschlagen werden, noch auf irgendwelche andere geeignete Ansätze Bezug genommen. Auf jegliche Typenbildung oder Zusammenfassung verzichtet etwa Stelbrink in seiner kollektivbiographischen Untersuchung über NSDAP-Kreisleiter in Westfalen und Lippe. 42 Vgl. Fait 1988, S. 222–225. 43 Vgl. etwa Paul 2002, S. 61ff., Herbert 2004. 44 Paul 2002, S. 66. 45 Paul/Mallmann 2005, S. 4; vgl. zur jüngsten Diskussion Longerich 2007, Mommsen 2007.
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Squadren und deutschen SA-Verbänden durchgeführte praxeologische Herangehensweise Erwähnung finden. Reichardt rückt – in Anlehnung an Bourdieu – kollektive Handlungsweisen und die in der Ausübung dieser Praktiken sich vollziehende Ausbildung eines spezifischen Habitus in SAVerbänden und Squadren ins Zentrum der Untersuchung.46 Offen bleibt noch, inwieweit beziehungsweise unter welchen Umständen dies auch ein geeigneter Zugang bei der Untersuchung anderer Verbände ist.
1.1.2. Forschungsansatz, Fragestellungen und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Zur Untersuchung der Entstehung und Entwicklung der Parteitätigkeit von unteren NSDAP-Funktionären 1933–1945 wende ich einen fallrekonstruktiven biographischen Forschungsansatz an, der in der Soziologie entwickelt wurde.47 Auswertungsverfahren, die für die Analyse narrativer lebensgeschichtlicher Interviews entwickelt wurden, werden auf die Auswertung schriftlicher Selbstpräsentationen in institutionellen Kontexten übertragen. Der Untersuchungsgegenstand, das politische Handeln der NSDAP-Funktionäre, soll im Kontext der Lebensgeschichte dieser Aktivisten interpretiert werden. Dabei kommt der textanalytischen Auswertung von Selbstpräsentationen der NSDAP-Funktionäre ein zentraler Stellenwert zu. Dieser Ansatz, bei dem sowohl die gelebte als auch die dargestellte Geschichte so weit wie möglich rekonstruiert werden, wird in Kapitel 2.1. in seinen Grundzügen dargestellt. Die empirische Grundlage der Arbeit bilden die NSDAP-Personalunterlagen und Spruchkammerakten von 23 unteren NSDAP-Funktionären, die aus einer größeren Stichprobe ausgewählt wurden. Mit dem gewählten Forschungsansatz und dem Vorgehen im Forschungsprozess nach der grounded theory (Glaser/Strauss) wird auch einigen der bereits angeführten aktuellen methodischen und methodologischen Herausforderungen in der biographisch angelegten NS-Forschung begegnet. Dazu zählen die »Dechiffrierung von Motiven«, das Problem der Verallgemeinerung von Einzelfällen sowie die Möglichkeiten der Typenbildung: Wie in 2.4. näher erläutert wird, bilden auf Fallstrukturanalysen zielende Fallinterpretationen eine geeignete Grundlage zur Formulierung von
—————— 46 Vgl. Reichardt 2002. 47 Vgl. Rosenthal 1995 und 2005.
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theoretischen Verallgemeinerungen. Das Vorgehen in der Auswahl der Fälle nach dem theoretical sampling ermöglicht insbesondere die Bildung von Typologien auf der Grundlage einer in der qualitativen Forschung notwendig begrenzten Anzahl von Fällen. Damit steht die Untersuchung vor der Herausforderung, eine inhaltliche Fragestellung mit einer methodischen Fragestellung zu koppeln: Inhaltlich wird zur Untersuchung der NSDAP-Parteitätigkeit nach den gesellschaftlich-biographischen Hintergründen von denjenigen Männern gefragt, die eine Funktion in den unteren NSDAP-Einheiten übernahmen und ausübten. Rekonstruiert werden sollen biographische Erfahrungsaufschichtungen sowie biographische Handlungsmuster und Handlungsorientierungen unterer NSDAP-Funktionäre. In einzelnen Fallrekonstruktionen wird danach gefragt, inwieweit die Funktionsübernahme und das konkrete Handeln als NSDAP-Funktionär durch die Einbettung des politischen Verhaltens in den jeweiligen biographischen Kontext erklärt werden kann. Diese inhaltliche Fragestellung kann in drei Leitfragen gebündelt werden: a) Vor dem Hintergrund welcher lebensgeschichtlichen Erfahrungen traten Männer in die NSDAP ein, bemühten sich um eine Funktion in der NSDAP oder erklärten sich zur Übernahme einer oder auch weiterer Funktionen bereit? b) Inwieweit trägt die Rekonstruktion biographischer Handlungsmuster und Handlungsorientierungen dazu bei, unterschiedliche Verläufe der Funktionsausübung, »Parteikarrieren«, Formen und Stile der Funktionsausübung und Tätigkeitsschwerpunkte von unteren Parteifunktionären zu erklären? Welche biographischen Erlebnisse und Erfahrungen stehen im Zusammenhang mit je verschiedenen Formen der Funktionsausübung, etwa »übereifriger« Wahrnehmung des Amtes, weitgehender Inaktivität oder Funktionsniederlegung? Wie wurden Handlungsspielräume genutzt und was war für einen unterschiedlichen Umgang mit ihnen ausschlaggebend? Mit welchen Erfahrungen und Handlungsmustern hingen Veränderungen in der Haltung gegenüber nationalsozialistischer Politik zusammen? c) Schließlich wird nach dem Beitrag gefragt, den eine fallrekonstruktive biographische Forschung zu NSDAP-Funktionären für die Analyse der Funktionsweise der unteren Parteiapparate leisten kann. Mit anderen Worten: Inwieweit war die NSDAP geprägt durch die Handlungsmuster und -logiken ihrer Funktionäre? Zugleich ist auch danach zu fragen, inwieweit die Tätigkeit innerhalb der NSDAP sowie Vorgaben und Angebote der NSDAP gegenüber ihren Funktionären wiederum die Funktionäre ge-
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prägt und in ihrem Handeln beeinflusst haben. Damit soll in eine bisher vorwiegend organisations- und strukturgeschichtliche Betrachtungsweise von politischen Organisationen eine erfahrungsgeschichtliche Dimension integriert und eine interaktionelle Perspektive eingenommen werden. Eine inhaltliche Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes liegt in der Beschränkung auf Funktionäre, die zumindest über einen kurzen Zeitraum NSDAP-Blockleiter waren. Viele von diesen hatten dann weitere Funktionen inne – bis hin zur Funktion eines Ortsgruppenleiters. Damit wird das Gros der Ortsgruppenfunktionäre berücksichtigt. Zudem liegen bisher wenig Ergebnisse über jene Funktionäre vor, die erst 1933 in die NSDAP eingetreten sind und die in der Regel ihre »Parteikarrieren« mit einem Blockleiterposten begonnen haben. Allerdings bleiben in dieser Untersuchung jene Funktionäre auf Ortsgruppenebene ausgeblendet, die 1932/33 bereits höhere Funktionen als einen Blockwartposten innehatten. Neben der inhaltlichen bearbeite ich in der vorliegenden Arbeit eine methodische Fragestellung. Analyseverfahren, die innerhalb der soziologischen Biographieforschung für die Auswertung narrativer biographischer Interviews entwickelt wurden, werden auf schriftliche Selbstpräsentationen übertragen und den Quellen entsprechend modifiziert. Ausgegangen wird dabei von den durch Gabriele Rosenthal formulierten Prinzipien der Auswertung von narrativ geführten lebensgeschichtlichen Interviews.48 Die analysierten Dokumente – NSDAP-Personalunterlagen und Spruchkammerakten sowie insbesondere die darin enthaltenen schriftlich verfassten Lebensläufe – wurden in den letzten Jahren vielfach innerhalb der NSForschung verwendet.49 Bislang wurde jedoch noch nicht systematisch reflektiert, welche Aussagepotentiale in diesen spezifischen Selbstpräsentationen enthalten sind und wie mit ihnen in der Forschung angemessen methodisch umgegangen werden kann.50 In der vorliegenden Arbeit wird ein biographietheoretisch fundiertes methodisches Angebot zum Umgang mit selbst verfassten Lebensläufen in institutionellen Kontexten entwickelt. Ich werde aufzeigen, inwieweit mit diesen Quellen biographische Fallrekonstruktionen möglich sind. Da bisher auch noch nicht die doppelte Überlieferung von NSDAP-Personalakten und Spruchkammerakten zur systematischen Grundlage einer Untersuchung gemacht wurde, werden
—————— 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. exemplarisch die Arbeiten von Fait 1988, Wagner 1998, Arbogast 1998, Stelbrink 2003. 50 Zur Diskussion vgl. exemplarisch Stelbrink 2003, S. 13f., Arbogast 1998, S. 217ff.
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auch deren Besonderheiten herausgearbeitet. Gefragt wird dabei auch nach den Möglichkeiten und Grenzen rekonstruktiver Biographieforschung mit diesen spezifischen Quellen.
1.1.3. Quellen In der Untersuchung wird mit den vergleichsweise guten Überlieferungen zu Stuttgarter NSDAP-Funktionären gearbeitet. Dies sind einmal die im Staatsarchiv Ludwigsburg überlieferten NSDAP-Personalunterlagen von etwa 1.100 unteren Parteifunktionären in Stuttgart. Zweitens wurden die Spruchkammerakten von Stuttgarter NSDAP-Funktionären aus den Beständen des Staatsarchivs Ludwigsburg herangezogen. Die NSDAP-Personalunterlagen enthalten meist einen oder mehrere in der Regel einseitige, manchmal auch längere selbstgeschriebene Lebensläufe an die Partei. Zudem sind in ihnen verschiedene Personal- und Fragebögen mit relativ vielen biographischen Daten aufbewahrt. Unter diesen befinden sich neben Tätigkeitslisten etwa auch die »Ahnentafeln« mit einigen familiengeschichtlichen Angaben. Weiter liegen in ihnen Auszüge aus dem Strafregister, Lichtbilder, Berufungen und Ernennungen sowie Beurteilungen der Funktionäre und weitere Parteiunterlagen und -korrespondenzen vor.51 Die Spruchkammerakten enthalten ebenfalls selbstgeschriebene Lebensläufe oder ähnliche Selbstpräsentationen, die nun allerdings zwischen 1945 und Anfang der 1950er Jahre im Rahmen der Entnazifizierungsprozesse bei den zuständigen Stellen eingereicht wurden. Hinzu kommen Vernehmungsprotokolle, Ermittlungsberichte, die als »Persilscheine« bekannt gewordenen Entlastungsschreiben und teilweise Belastungsschreiben. In einigen Fällen sind auch Originalunterlagen aus der NS-Zeit in den Akten enthalten, auf die im Spruchkammerverfahren zurückgegriffen werden konnte. Schließlich finden sich dort die Klageschrift, Verteidigungsschriften und Berufungsanträge von Anwälten, Verhandlungsprotokolle sowie weitere Korrespondenzen.52
—————— 51 Vgl. Wagner 1998, S. 83f. 52 Vgl. Fait 1988, S. 216f.
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Für die Auswertung wurde zunächst, ausgehend von einer bereits bestehenden Datenbank,53 ein sample aus 100 Funktionären zusammengestellt, für die neben einer NSDAP-Personalakte auch eine Spruchkammerakte überliefert ist. Aus diesem sample wurden insgesamt 23 Fälle für biographische Analysen ausgewählt (siehe Kapitel 2.4.). In einigen Fällen wurden während des Auswertungsprozesses ergänzende Archivstudien und personenbezogene Recherchen vorgenommen, die jeweils im entsprechenden Abschnitt nachgewiesen werden. An dieser Stelle sei noch eine Überlegung zur Reichweite der Ergebnisse angeführt. Für die Analyse eines Falles konnten durchaus regionsspezifische Phänomene, etwa der württembergische Pietismus, von zentraler Bedeutung sein. Jedoch wurde im Prozess der Typenbildung von der konkreten und damit auch regionalen Spezifik der einzelnen Fälle so weit abstrahiert, dass die Gültigkeit der Ergebnisse auch über Stuttgart hinaus angenommen werden kann. Gleichwohl wird die Typologie bewusst als erweiterbar angesehen, sodass sie gegebenenfalls durch einen weiteren Typus, der in diesem sample nicht enthalten ist, ergänzt werden kann.
1.1.4. Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: Im zweiten Teil der Einleitung werde ich in einem kurzen darstellenden Abriss grundlegende Informationen zu Aufbau und Struktur der NSDAP-Ortsgruppen, der Tätigkeitsfelder der unteren Funktionäre sowie zu Umfang, sozialer Zusammensetzung und offiziellem Selbstverständnis des Korps der Politischen Leiter auf Ortsgruppenebene geben. Eine entsprechende Einführung erscheint auch insofern notwendig, als in den untersuchten Akten viele der Aspekte der Tätigkeitsfelder nicht auftauchen. Sie werden in der Regel weder im Spruchkammerprozess von ehemaligen Funktionären benannt noch von Entnazifizierungsbehörden in den Blick genommen – dies betrifft etwa das
—————— 53 Dabei handelt es sich um eine Datenbank, in der die Stuttgarter NSDAP-Funktionäre aus dem Bestand PL502/29 Bü.12–50 des Staatsarchivs Ludwigsburg erfasst sind. Sie wurde für eine quantitative Untersuchung der Stuttgarter NSDAP-Funktionäre im Projekt »Funktionsweise, soziale Basis und Rezeption diktatorischer Herrschaft. Die unteren Parteiapparate von NSDAP und SED im Vergleich” an der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte von FU Berlin und Gedenkstätte Deutscher Widerstand unter Leitung von Peter Steinbach und Detlef Schmiechen-Ackermann erstellt. In diesem Projekt habe ich in den Jahren 1997–2000 mitgearbeitet.
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Erfassen sämtlicher Bewohner des Viertels entlang verschiedener Kriterien, das kontinuierliche Mitrekrutieren weiterer Funktionäre auf allen Ebenen der Partei, die Mitwirkung der unteren Funktionäre an politischen Beurteilungen und die im Ortsgruppenbereich alltägliche Beteiligung an der sukzessiven Ausgrenzung und Verfolgung der Juden. Im Spruchkammerverfahren wurde vor allem hinsichtlich propagandistischer Tätigkeiten, Drohungen und körperlicher Gewaltausübung ermittelt. Die bürokratische und alltägliche Unterstützung des NS-Regimes in allen ihren Facetten stand demgegenüber im Hintergrund. Das Teilkapitel endet mit einer kurzen Darstellung des Entnazifizierungsprozesses. Im zweiten Kapitel befasse ich mich mit methodologischen und methodischen Aspekten der Arbeit. Im Zentrum stehen die Reflexion schriftlicher Selbstpräsentationen aus institutionellen Kontexten und die Entwicklung einer Auswertungsmethode für die überlieferten Lebensläufe. Zunächst werden theoretische Bezüge und Grundüberlegungen fallrekonstruktiver soziologischer Biographieforschung dargestellt und der Nutzen eines biographisch-fallrekonstruktiven Vorgehens für die Analyse politischen Handelns und politischer Verbände thematisiert. Anschließend arbeite ich drei Entstehungskontexte von institutionellen Selbstpräsentationen heraus, die in der Auswertung zu berücksichtigen sind: Formatvorgaben, Interaktionsaspekte mit dem Adressaten sowie biographische Kontexte. Anhand dieser den Schreibprozess beeinflussenden Dimensionen findet eine Annäherung an die Entstehung der Texte sowie deren Aussagepotential statt. Im Anschluss daran wird, unter Berücksichtigung der Prinzipien fallrekonstruktiver Biographieforschung und der Spezifik der Materialien, eine Auswertungsmethode für die selbstverfassten Lebensläufe entwickelt. Den Abschluss des Kapitels bildet die Darstellung des Forschungsprozesses. Hier werde ich insbesondere die Entwicklung der Stichprobe nach dem Verfahren der grounded theory und den Prozess der theoretischen Verallgemeinerung von Ergebnissen der Fallrekonstruktionen transparent machen. Im dritten Kapitel stelle ich vier extensiv ausgewertete Fälle dar. Dabei wird im ersten Fall das Vorgehen bei der Fallinterpretation thematisiert und wiederholt auf einzelne Auswertungsschritte Bezug genommen. Im vierten Kapitel werden die Ergebnisse der Fallrekonstruktionen kontrastiv miteinander verglichen und in diesem Prozess theoretische Verallgemeinerungen formuliert. Zusätzlich zu den in Kapitel 3 dargestellten Fällen werden die Ergebnisse der weiteren, meist globalanalytisch ausgewerteten Fälle, mit einbezogen. Kurze Globalanalysen dieser Fälle sind im
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Anhang abgedruckt. Im ersten Abschnitt des Kapitels diskutiere ich die analysierten Fälle entlang einiger für die Fragestellung relevanter Aspekte: Es wird danach gefragt, inwieweit Hinwendung zum Nationalsozialismus und Parteibeitritt, Funktionsübernahme, -ausübung und -verlauf sowie Selbstpräsentationen gegenüber der NSDAP und der Spruchkammer im Kontext biographischer Handlungsorientierungen und -muster erklärt werden können. Die Ergebnisse dieser Diskussion bündelnd, bilde ich im zweiten Abschnitt vier Typen. Die unterschiedliche biographische Bedeutung, die eine Funktionsausübung einnehmen konnte, wird im Prozess der Konstruktion von Typen als zentraler Aspekt zur Erklärung der in der Empirie vorfindbaren unterschiedlichen NSDAP-Funktionsverläufe fokussiert. Im letzten Abschnitt des Kapitels diskutiere ich, inwieweit biographische Fallanalysen zu NSDAP-Funktionären die Funktionsweise der unteren Parteiapparate erklären können. In der Gegenüberstellung der empirisch erforschten, in unterschiedliche biographische Handlungsorientierungen eingebetteten Funktionsausübung mit Vorgaben und Maßnahmen übergeordneter Parteistellen wird eine interaktionelle Perspektive auf die Funktionsweise dieses politischen Verbandes eingenommen. In Kapitel 5 fasse ich abschließend die inhaltlichen, methodischen und konzeptionellen Ergebnisse zusammen. Hier werden auch weitere Forschungsperspektiven eröffnet.
1.2. Die unteren Parteieinheiten der NSDAP: Organisation, Tätigkeitsfelder und Funktionäre Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten und die Durchsetzung der nationalsozialistischen Diktatur bedeuteten für die NSDAP und ihre unteren Einheiten einen Funktionswandel. Nach der Erlangung der politischen Macht wurde die Parteiorganisation nicht zum alleinigen Herrschaftszentrum, sie bildete eine unter mehreren konstitutiven Herrschaftsinstanzen.54 Bereits im Sommer 1933 wurde von Hitler die »Erziehung der Menschen«55 in den Mittelpunkt der Parteiarbeit gerückt und diese Forderung in den folgenden Jahren vielfach bekräftigt. Von den Nationalsozia-
—————— 54 Vgl. Neumann 1984. 55 Vgl. Broszat 1995 (1969), S. 259.
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listen selbst wie in der Forschungsliteratur wird oftmals auf Hitlers Rede auf dem Reichsparteitag der NSDAP 1935 Bezug genommen, in der er der Parteiorganisation die Aufgabe »der Erziehung unseres Volkes und der Überwachung unseres Volkes« als zentrale Parteiaufgabe zuschrieb.56 Den NSDAP-Ortsgruppen und ihren Untergliederungen in Zellen und Blöcke kam hierbei besondere Bedeutung zu. Carl Wilhelm Reibel kommt in seiner grundlegenden Forschungsarbeit zu den Ortsgruppen zu dem Ergebnis, dass diese ein Segment der NS-Herrschaft bildeten, das Stabilität im Innern garantierte. Er zeigt auf, inwieweit sie ein konstitutives Instrument zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Diktatur waren.57 Über die unteren Parteiapparate der NSDAP an der Macht wird erst in den letzten 15 Jahren intensiver geforscht.58 Neue Arbeiten, die im Gegensatz zu früheren Forschungen anhand der Quellenüberlieferung der NSDAP die organisatorische Parteiwirklichkeit mit dem veröffentlichten Schrifttum der NSDAP kontrastieren können, entstanden in dieser Zeit zunächst vor allem für die Kreisebene der NSDAP, dann für die Ortsgruppenebene.59 Die unteren Parteieinheiten erweisen sich in den prozessual angelegten Analysen keineswegs als so statische Apparate, wie es durch totalitarismustheoretische Annahmen seit den 1950er Jahre suggeriert wird. Deutlich wird in diesen Arbeiten, wie viele Umstrukturierungen und Veränderungen in Tätigkeitsfeldern in diesen Apparaten insbesondere in den Jahren nach der Machtübernahme und in den Kriegsjahren erfolgten. Auf die Prozesse der Vereinheitlichung und Hierarchisierung der Parteiapparate bis 1933 folgen Prozesse des Ausbaus und der Bürokratisierung sowie der
—————— 56 Zitiert nach Fabricius 1937, S. 8. Hitler stellte in dieser Rede der Partei folgende Aufgaben: »Parteiaufgabe ist: 1. Aufbau ihrer inneren Organisation zur Herstellung einer stabilen, sich selbst forterhaltenden ewigen Zelle der nationalsozialistischen Lehre. 2. Die Erziehung des gesamten Volkes im Sinne der Gedanken dieser Idee. 3. die [sic!] Abstellung der Erzogenen an den Staat zu seiner Führung und als seine Gefolgschaft.« Ebd. 57 Vgl. Reibel 2002. 58 Als kurzen Überblick über die Forschungsentwicklung zur NSDAP vgl. Reibel 2002, S. 13ff. Zur lange vernachlässigten Erforschung der NSDAP vgl. generell Mommsen 1995 und 1998; weitere Literaturhinweise zur lokalen Ebene bei Nolzen 2004. 59 Vgl. u. a. für die Kreisebene Roth 1997, Riechert/Ruppert 1998, Arbogast 1998; für die Ortsgruppenebene Wagner 1998 sowie Reibel 2002; zu den »Blockwarten« als untersten Funktionären vgl. Schmiechen-Ackermann 2000; zu großstädtischen Parteiorganisationen in diktaturvergleichender Perspektive Schmiechen-Ackermann 2000, Müller-Botsch 2003; als früher, guter Überblick über die gedruckten Parteivorgaben der NSDAP vgl. Schäfer 1957.
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Modifikationen in Aufbau und Tätigkeitsbereichen entlang der Herrschaftsziele.60 Mittlerweile vorliegende Arbeiten bilden eine fundierte organisationsgeschichtliche Basis für die Untersuchung von Motiven, konkreten Verhaltensweisen und Parteikarrieren unterer Funktionäre. Im Folgenden werden als notwendiges Hintergrundwissen für die Fallrekonstruktionen Aufbau und Binnenstruktur der NSDAP-Ortsgruppen in ihren Grundzügen skizziert. Zudem werden zentrale Tätigkeitsfelder der hier eingesetzten unteren NSDAP-Funktionäre sowie Umfang, soziale Zusammensetzung und offizielle Darstellung des Funktionärskorps auf lokaler Ebene behandelt. Die Darstellung konzentriert sich hauptsächlich auf die Zeit des Nationalsozialismus an der Macht und bezieht sich stellenweise konkret auf das Untersuchungsfeld Stuttgart. Abschließend wird ein Überblick über den Prozess der Entnazifizierung der unteren Parteifunktionäre gegeben.
1.2.1. Aufbau und Binnenstruktur der NSDAP-Ortsgruppen Die Ortsgruppen waren die frühesten Parteieinheiten der NSDAP, die seit der Parteigründung 1919/20 bestanden. In Stuttgart entstand eine Ortsgruppe bereits 1920.61 Unter- und oberhalb dieser Ebene gab es in den ersten Jahren nach Parteigründung verschiedene weitere Parteieinheiten.62 Reichseinheitlich untergliedert wurde die NSDAP erst sukzessive nach der Wiedergründung der Partei 1925 und der strategischen Entscheidung zur Beteiligung an Wahlen als ein Mittel der Machteroberung. 1932 war dieser Prozess in seinen Grundsätzen abgeschlossen mit der von nun an geltenden vertikalen Untergliederung unterhalb der Reichsleitung in Gaue, Kreise, Ortsgruppen, Zellen und Blöcke. Es dauerte allerdings bis Mitte der 1930er Jahre, bis diese Vorgaben dann weitgehend umgesetzt wurden. In Stuttgart erfolgte dies systematisch erst mit einer Neuorganisation im Frühjahr 1935, die sich über das gesamte Jahr hinzog.63 Auch andere Vorgaben
—————— 60 Vgl. Müller 2001, Müller-Botsch 2003. 61 Vgl. Genuneit 1982, S. 84 und 118f.; zur Stuttgarter NSDAP 1920–1933 vgl. auch Müller 1988, S. 17–27; Müller-Botsch 2003 passim. 62 Vgl. Reibel 2002, S. 29–32; Tyrell 1991 (zuerst 1969). 63 Vgl. zu Stuttgart Müller-Botsch 2003, S. 18–21; vgl. zu weiteren Organisationsvorgaben zwischen 1933 und 1935 Reibel 2002, S. 39–49.
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übergeordneter Parteidienststellen zogen sich in der Umsetzung erheblich hin oder wurden modifiziert umgesetzt.64 Bereits 1936/37 wurde mit dem Ausbau des Block- und Zellensystems eine weitere, markante Umstrukturierung im vertikalen lokalen Parteiaufbau durchgeführt. Bis dahin war die Größe der Blöcke und Zellen nach Mitgliederzahlen festgelegt worden: Ein Block sollte beispielsweise nicht mehr als zehn Mitglieder umfassen. Nun jedoch sollte deren Größe über Einwohnerzahlen geregelt werden. Diese Organisationsreform stellt eine Reaktion auf die veränderte Aufgabenstellung als »weltanschauliches Erziehungsinstrument«65 an die Parteieinheiten nach der Machtübernahme dar. Dies kommt auch in den Parteidokumenten auf lokaler Ebene zum Ausdruck: »Die grosse Aufgabe, die der Führer der Partei und damit in erster Linie dem Korps der Politischen Leiter gestellt hat, ist die Erziehung und Überwachung des ganzen Volkes; sie verlangt die Betreuung aller Volksgenossen auf weltanschaulichem, politischem, kulturellem und sozialem Gebiet. Soll die Partei dieser Aufgabe gewachsen sein, so muss vor allem das organische Gefüge so ausgestaltet werden, dass alle Volksgenossen ausnahmslos erfasst werden.«66
Die Umstrukturierungen, insbesondere Verkleinerungen der Ortsgruppen und ihrer Untergliederungen, wurden aber auch nicht zuletzt mit der Schlagkraft der Partei in künftigen Krisensituationen und im Kriegsfall begründet.67 Ein Block umfasste fortan 40–60 Haushalte, eine Zelle vier bis acht Blöcke, eine Ortsgruppe in Großstädten sollte 3.000 Haushalte nicht übersteigen,68 tat es aber oftmals.69 In einer Großstadt wie Stuttgart bestanden beispielsweise 1937 nach dem entsprechenden Ausbau eine Kreisleitung, 52 Ortsgruppen, 428 Zellen und 2.618 Blöcke. Die Blöcke wurden in Stuttgart nochmals unterteilt in Hausgruppen.70
—————— 64 Vgl. zahlreiche Beispiele bei Reibel 2002, Müller-Botsch 2003; so hatten Anfang 1935 erst knapp die Hälfte aller NSDAP-Ortsgruppen offizielle Geschäftsstellen eingerichtet; vgl. Reibel 2002, S. 70ff. 65 Als solches wird die NSDAP im Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 13 bezeichnet. 66 Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL), PL501/I, Bü.45, Bl.70.540f.; Rundschreiben der NSDAP-Kreisleitung Stuttgart an alle Stuttgarter Ortsgruppen vom 8.6.1936, Betr.: Block- und Zellen-Neuordnung der NSDAP 1936. 67 Vgl. Müller-Botsch 2003, S. 20, Roth 1997, S. 121. 68 Vgl. Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 116; vgl. Roth 1997, S. 119. 69 Hierzu und zum Folgenden Müller-Botsch 2003, S. 24. 70 Vgl. das im Anhang abgedruckte Schema zur vertikalen Untergliederung der NSDAP.
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Auch horizontal wurden die unteren Parteieinheiten seit der Machtübernahme erheblich ausgebaut. Bestand der Ortsgruppenstab bis 1933 lediglich aus je einem Kassenwart, Propagandawart und Schriftwart,71 so umfasste im Gau Württemberg-Hohenzollern im Sommer 1935 eine NSDAP-Ortsgruppenorganisation bis zu elf Ämter unter der Rubrik »Partei-Organisation«: Neben dem Ortsgruppenleiter waren dessen Stellvertreter, eine Geschäftsführung, Organisationsamt, Kassenleiter, Propagandaleitung, Presseamt, Schulungsamt, Kulturamt, ein Bereitschaftsleiter sowie ein Hilfskassenobmann vorgesehen. Im selben Jahr wurden mehrere Gliederungen und angeschlossene Verbände der NSDAP zur Unterstützung der Parteigliederungen in deren Organisation eingefügt.72 Im Organisationsbuch der NSDAP, das erstmals 1936 erschien, wurden dann reichsweit gültige Vorgaben formuliert:73 Danach sollten im Ortsgruppenstab in der zweiten Hälfte der 1930er folgende Ämter »ständig« besetzt sein: Die Dienststellungen eines Organisations-, eines Schulungs-, eines Propaganda- und eines Kassenleiters sowie eines Hilfskassenobmanns; ferner »in der Regel« die Dienststellungen einer NS-Frauenschaftsleiterin, eines Leiters der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation und des Leiters des Amtes für Volkswohlfahrt.74 1938 wurde im Bereich der Partei-Organisation auch ein Personalleiter auf Ortsgruppenebene eingesetzt.75 Wie andernorts wurden auch in Stuttgarter Ortsgruppen noch zusätzliche Mitarbeiter eingesetzt, etwa ein Mitarbeiter des Organisationsleiters in der Zeit der Parteireform oder ein Mitarbeiter des Ortsgruppen-Kassenleiters.76 Insgesamt umfasste das Funktionärskorps großstädtischer Ortsgruppen – noch ohne die Funktionäre und Funktionärinnen der angeschlossenen Verbände und Gliederungen – in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre oftmals allein siebzig Blockleiter und zehn Zellenleiter sowie etwa zehn Mitarbeiter im politischen Stab der Ortsgruppe auf horizontaler Ebene.77
—————— 71 Vgl. Reibel 2002, S. 111. 72 Vgl. Müller-Botsch 2003, S. 21f. 73 Vgl. hierzu das im Anhang abgedruckte Schema zur horizontalen Untergliederung des NSDAP-Ortsgruppenstabes. 74 Vgl. Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 123. 75 Vgl. Reibel 2002, S. 129. 76 Vgl. Müller-Botsch 2003, S. 26, Reibel 2002, S. 69. 77 Vgl. zu Stuttgart, wo eine Ortsgruppe im Sommer 1937 im Durchschnitt allein etwa 60 Block- und Zellenleiter hatte, Müller-Botsch 2003, S. 32; zur Größe von Stadt-Ortsgruppen vgl. auch Reibel 2002, S. 55.
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Strukturiert war die Interaktion unter den NSDAP-Funktionären nach dem nationalsozialistischen »Führerprinzip«. Bereits in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurde dieses dahingehend verändert, dass – zumindest hinsichtlich der unteren Parteieinheiten – parteiinterne Willensbildung, Weisungsstrukturen, Rekrutierungs- und Kontrollmechanismen als streng von oben nach unten verlaufende Prozesse institutionalisiert wurden.78 Diese Entwicklung wurde von der Herstellung eines Führerkultes um Adolf Hitler begleitet.79 Die von Beginn an bestehende Anlehnung an militärische Interaktionsformen, die sich auch im äußeren Erscheinungsbild der NSDAP, zum Beispiel im Tragen von Parteiuniformen, zeigte, bestand auch während der »Regimephase« fort.80 Der »Führergedanke« gründete auf Prinzipien von »Befehl und Gehorsam«, von »Führer und Gefolgschaft«, »voller Autorität nach unten und Verantwortung nach oben«. Dabei wurde das »Gehorchen-Wollen« der jeweils Unterstellten ebenso betont wie die Notwendigkeit von Führungskompetenzen der je übergeordneten Führer.81 Nahe liegend ist, dass »Führungseignung« in der parteiinternen Literatur auch deswegen so stark hervorgehoben wurde, weil Auftreten und Führungsstile von Parteifunktionären vielfach Kritik und Missfallen in Gesellschaft und Partei ernteten.82 Zudem wurde die Entwicklung von »Führerkompetenzen« immer wieder parteiintern in sozialtechnologischem Sinne als relevant für die Umsetzung der Aufgabenstellung thematisiert.83 1936 wurden innerparteiliche Unterstellungsverhältnisse und Zuständigkeiten dann ausführlich im Organisationsbuch der NSDAP dargelegt: Kreis-, Ortsgruppen-, Zellen- und Blockleiter bezeichnete die NSDAP als »Hoheitsträger« der Partei auf lokaler Ebene und hob mit der Verwendung staatsbezogener Begrifflichkeiten ihren Herrschaftsanspruch neben dem
—————— 78 Vgl. am Stuttgarter Beispiel Müller-Botsch 2003, S. 40ff. 79 Vgl. Kershaw 1999, S. 27–65. 80 Formuliert wird die Anlehnung an militärische Gepflogenheiten für die Regimephase etwa bei Lüddecke 1937; zur eingehenden Beschäftigung der lokalen Stuttgarter NSDAP mit mangelhafter Umsetzung der Uniformvorgaben vgl. Müller-Botsch 2003, S. 42. 81 Zu Vorstellungen von Befehl und Gehorsamsstil im parteieigenen Organ Der Hoheitsträger vgl. Lüddecke 1937, S. 8f.; vgl. auch die Definition von »Führertum« bei Fabricius 1937, S. 3; ferner Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 14; vgl. zu Führerideologie generell Tyrell 1991, Horn 1972. 82 Vgl. etwa Kershaw 1999, S. 121–130. 83 Vgl. zahlreiche Artikel im parteiinternen Organ Der Hoheitsträger, das 1937–1944 als vertrauliches Führungsorgan des Reichsorganisationsleiters der NSDAP an einen festen Bezieherkreis, darunter auch die NSDAP-Ortsgruppenleiter, verteilt wurde.
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Staat beziehungsweise in Konkurrenz zu ihm hervor.84 Diesen »Hoheitsträgern« der NSDAP war »für ihr Hoheitsgebiet das politische Hoheitsrecht übertragen. Sie vertreten in ihrem Bereich die Partei nach innen und außen und sind verantwortlich für die gesamtpolitische Lage in ihrem Hoheitsgebiet.«85 Alle Mitarbeiter der jeweiligen Parteiebene waren disziplinär, »d. h. in organisatorischer, weltanschaulicher, politischer, aufsichtführender und personeller Beziehung dem zuständigen Hoheitsträger der NSDAP unterstellt«,86 einschließlich der Funktionäre der in die Ortsgruppenorganisation eingefügten Gliederungen und angeschlossenen Verbände der NSDAP. Fachlich unterstanden die Funktionäre und Funktionärinnen der NSVolkswohlfahrt (NSV), NS-Frauenschaft (NSF) und der Deutschen Arbeitsfront (DAF) sowie die Amtsleiter der politischen Stäbe der Ortsgruppe den ihnen übergeordneten Fachämtern, was auch zu innerparteilichen Konflikten im Ortsgruppenalltag führen konnte. Die »Hoheitsträger« waren sowohl disziplinär als auch fachlich dem »Hoheitsträger« der nächsthöheren Parteiebene unterstellt. Selbst die Blockleiter als »unterste Hoheitsträger« hatten noch umfassende direkte Weisungskompetenzen gegenüber den ihnen unterstellten Blockhelfern. Zudem waren ihnen die Vertreter/innen der NSV, NSF und DAF auf Blockebene disziplinär unterstellt. Die vage formulierte umfassende Zuständigkeit der »Hoheitsträger« der NSDAP für alle die nationalsozialistische Bewegung betreffenden Angelegenheiten in ihrem Bereich bedeutete eine bewusst unklar gehaltene Herrschaftsvollmacht der Politischen Leiter – jenseits von im Organisationsbuch oder in parteilichen Anordnungen konkret festgelegten und in der Realität mehr oder weniger umgesetzten Interaktionsabläufen. Sie findet in dem von der NSDAP vielfach propagierten Begriff der »Menschenführung« ihren Ausdruck.87
—————— 84 Vgl. Mommsen 1966, S. 95. 85 Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 98. Hier wie in den folgenden Zitaten aus dem Organisationsbuch der NSDAP werden Hervorhebungen im Original nicht übernommen. 86 Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 88; vgl. auch ebd., S. 93. 87 Vgl. Reibel 2002, S. 274; Rebentisch/Teppe 1986, S. 23ff.; Roth 1997, S. 115; vgl. parteiintern Woweries 1937, S. 14.
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1.2.2. Umfang und soziale Zusammensetzung der NSDAP-Funktionäre in Block, Zelle und Ortsgruppe Die lokalen Parteigliederungen wurden nach der Machtübernahme personell stark ausgebaut. Konkrete Zahlen und vergleichbare Angaben gibt es jedoch nur in begrenztem Maß.88 Die unteren Funktionäre der NSDAPOrtsgruppen waren Angehörige des »Korps der Politischen Leiter«89 und machten innerhalb dieses den weitaus größten Teil aus. Die NSDAP-Parteistatistik weist für Januar 1935 gut 500.000 Politische Leiter aus.90 Gut 470.000, das heißt 93,6 Prozent von ihnen waren in den Ortsgruppen und Stützpunkten eingesetzt.91 Damit hatten zu diesem Zeitpunkt, ausgehend von 2,5 Millionen Mitgliedern, 20 Prozent der Parteimitglieder eine Funktion in der NSDAP oder einer der ihr angeschlossenen Verbände. 1939 war die Zahl der Politischen Leiter auf 1,7 Millionen angewachsen. Der massive Anstieg ist insbesondere auf den Ausbau der Block- und Zellenstruktur zurückzuführen. Ausgehend von einer Parteimitgliedschaft von gut fünf Millionen Mitgliedern hatten zu dieser Zeit rund ein Drittel der Parteimitglieder eine Funktion in der politischen Organisation der NSDAP beziehungsweise den ihr angegliederten Verbänden inne.92 Für Mai 1943 werden 1,5 Millionen registrierte Politische Leiter angegeben,
—————— 88 Neben den Schwierigkeiten der generell sehr lückenhaften Überlieferung sind die Zahlenangaben in Originalquellen ebenso wie in der Sekundärliteratur oft schwer vergleichbar, da sehr verschiedene Funktionärsgruppen jeweils zusammengerechnet werden. Zudem wird oft nicht genau angegeben, welche Funktionäre bei einer konkreten Zahlenangabe einberechnet wurden. Für den folgenden Überblick wird insbesondere auf Angaben in der Partei-Statistik der NSDAP von 1935 sowie auf die Arbeiten von Michael Kater und Jürgen Falter zurückgegriffen; zu ausgewählten samples auf Kreis- und Ortsgruppenebene vgl. Roth 1997, Arbogast 1998, Wagner 1998, Reibel 2002 sowie Müller-Botsch 2003. 89 Daneben findet sich im Sprachgebrauch der NSDAP auch die Bezeichnung »Politisches Leiter-Korps« für die Gruppe der NSDAP-Funktionäre; vgl. Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 98, S. 18. 90 Vgl. Partei-Statistik 1935, Band II, S. 3ff. Bei dieser Zahl sind auch die Leiterinnen der NS-Frauenschaft eingerechnet, die aber nicht als Politische Leiter im engeren Sinne galten; vgl. zur male supremacy im Funktionärskorps auch Kater 1983, S. 235. Zur Verwendbarkeit der NSDAP-Parteistatistik vgl. Manstein 1988, S. 143ff.; sie gilt mit einigen Abstrichen als zuverlässig und gut verwendbar. 91 Vgl. Partei-Statistik 1935, Band II, S. 11; neben 204.359 Blockleitern, 54.976 Zellenleitern und 20.724 Ortsgruppenleitern gab es zu dieser Zeit 191.045 Mitarbeiter der Ortsgruppen- und Stützpunktstäbe. 92 Vgl. Kater 1983, S. 190 sowie S. 234.
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von denen zu dieser Zeit knapp 31 Prozent Wehr- oder Kriegsdienst leisteten.93 Die Funktionäre in den Ortsgruppen und Stützpunkten der NSDAP waren schon bald mehrheitlich erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die NSDAP eingetreten. 1934/35 machte ihr Anteil bereits 60 Prozent aus.94 Dieser Anteil erhöhte sich in den folgenden Jahren erheblich, insbesondere auch durch den Ausbau des Block- und Zellensystems 1936/37, der einen starken Funktionärsbedarf schuf, in dessen Kontext auch die Lockerung der Mitgliedersperre von 1937 zu sehen ist.95 Hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung hat Jürgen Falter für die NSDAP den Begriff der »Volkspartei mit Mittelstandsbauch« geprägt.96 Die bisherigen Forschungen können hinsichtlich des Untersuchungsfeldes dahingehend zusammengefasst werden, dass dieser »Mittelstandsbauch« mit steigendem Organisationsgrad zunahm.97 Das heißt, der Mittelstandsanteil war unter den NSDAP-Mitgliedern höher als in der erwerbstätigen Bevölkerung, unter Funktionären höher als unter den Mitgliedern.98 Die »Verbürgerlichung« der Mitgliedschaft durch die Masseneintritte zwischen Januar und Mai 193399 schlug sich auch im Funktionärskorps der lokalen Ebene nieder. Lag laut Parteistatistik vom Januar 1935 etwa der Lehrerund Beamtenanteil in der erwerbstätigen Bevölkerung bei 4,8 Prozent, so lag er unter den Parteimitgliedern bei 13,0 Prozent und unter den Politischen Leitern bei 17,6 Prozent.100 Umgekehrt waren Arbeiter im Funktio-
—————— 93 Vgl. Reibel 2002, S. 336, Fußnote 40. 94 Bei den Blockleitern lag der Prozentsatz reichsweit bei 71%, den Zellenleitern bei 43%, den Politischen Leitern der Ortsgruppen- und Stützpunktstäbe bei 60% und selbst von den Ortsgruppen- und Stützpunktleitern waren zu diesem Zeitpunkt bereits 24% erst nach der Machtübernahme eingetreten. Vgl. Partei-Statistik 1935, Bd. II, S. 11. 95 Vgl. hierzu Müller-Botsch 2003, S. 38f. Eine Teilstudie zu badischen Ortsgruppenleitern ergibt, dass diese 1941 bereits zu 45% nach 1933 eingetreten waren; vgl. Reibel 2002, S. 85f. 96 Vgl. Falter 1991b, S. 42; vgl. kritisch hierzu Kupfer 2006. 97 Zu den grundsätzlichen Problemen hinsichtlich der Erforschung der Schichtzugehörigkeit von NSDAP-Mitgliedern vgl. Kater 1980; zum erheblichen Forschungsdefizit hinsichtlich der NSDAP-Funktionäre vgl. Nolzen 2004, S. 38f. 98 Vgl. die Übersicht bei Kater 1983, S. 260; Partei-Statistik 1935, Bd. II S. 154ff.; zu badischen Ortsgruppenleitern Reibel 2002, S. 82f. 99 Vgl. Kater 1976, Falter 1998. 100 Vgl. Partei-Statistik 1935, Band II, S. 157.
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närskorps noch stärker unterrepräsentiert als in der Mitgliedschaft.101 Eine Untersuchung zu knapp 900 unteren NSDAP-Funktionären in Stuttgart erweist, wie stark sich auch hier die Funktionäre aus den Mittelschichten rekrutierten: Die unteren Funktionäre waren allein zu 40 Prozent Angestellte, zu weiteren 13 Prozent Beamte. Der Anteil der Facharbeiter war mit 36 Prozent erheblich, ungelernte Arbeiter waren hingegen kaum im Funktionärskorps vertreten.102 Der Altersdurchschnitt der NSDAP-Funktionäre lag 1935 höher als der der Mitglieder: Die größte Gruppe unter den Mitgliedern bildeten 1935 mit 34,1 Prozent die 21- bis 30-Jährigen. Bei den Funktionären hingegen bildeten mit 37,3 Prozent die 31- bis 40-Jährigen, also die zwischen 1895 und 1904 Geborenen, die größte Gruppe. Diese Gruppe wurde gefolgt von der jüngeren und älteren Kohorte mit jeweils 24,9 Prozent.103 Dass das Funktionärskorps älter als die Mitgliederschaft war, trifft verstärkt auf die letzten Kriegsjahre zu, als junge Funktionäre eingezogen und verstärkt junge Erwachsene in die Partei aufgenommen wurden.104 Grundsätzlich waren Funktionen als Politische Leiter der NSDAP Männern vorbehalten, für Frauen waren Funktionen in den NS-Frauenorganisationen vorgesehen. In den letzten Kriegsjahren gab es Fälle, in denen Aufgaben der Politischen Leiter auch an Frauen vergeben wurden.105
1.2.3. Parteioffizielle Erwartungshaltung an Mitglieder und Funktionäre Im Folgenden soll die von der NSDAP formulierte Erwartungshaltung an Mitglieder und Funktionäre skizziert werden. Im Rahmen dieser Arbeit dient dies der Kontextualisierung der Rekrutierung sowie der Analyse des Handelns und der schriftlichen Selbstdarstellung der Funktionäre. Die im
—————— 101 Vgl. Partei-Statistik 1935, Band II, S. 157: Hier wird ein Arbeiteranteil von 46% in der Erwerbsbevölkerung, 32% unter den NSDAP-Mitgliedern und 23% im Funktionärskorps angegeben; vgl. auch Kater 1983, S. 260 sowie Reibel 2002, S. 82f. 102 Diese Teilstudie im Projekt »Funktionsweise, soziale Zusammensetzung und Rezeption diktatorischer Herrschaft. Die unteren Parteiapparate von NSDAP und SED im Vergleich« wurde weitgehend von Axel Baake 1997/98 durchgeführt. Analysiert wurde der Bestand StA Ludwigsburg, PL502/29, Bü.12–50; vgl. Müller-Botsch 2003, S. 35–37; vgl. zu Stuttgarter Ortsgruppenleitern auch Müller 1988, S. 279. 103 Vgl. Partei-Statistik 1935, Bd.II, S. 213. 104 Vgl. Kater 1983, S. 234ff. 105 Vgl. Reibel 2002, S. 335; vgl. parteiintern Bürger 1942, Zimmermann 1942.
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Folgenden angeführten, in den Jahren 1936/37 formulierten Erwartungshaltungen weisen zum einen starke Kontinuitäten mit der Selbststilisierung der NS-Bewegung vor 1933 auf. Sie erfolgen aber auch, wie an einigen Stellen deutlich wird, vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen mit dem Verhalten der Mitglieder und Funktionäre. Im Mai 1933 hatte die NSDAP die Masseneintritte seit der Machtübernahme mit einer Mit-gliedersperre gestoppt und in den folgenden Jahren nur noch begrenzt Neumitglieder zugelassen. Die zwischen der Machtübernahme und Anfang Mai 1933 eingetretenen Mitglieder, unter denen die Partei viele »Kon-junkturritter« wähnte, machten Mitte der 1930er Jahre zwei Drittel der damals etwa 2,5 Millionen NSDAP-Mitglieder aus. 1937 wurde die Mitgliedersperre »gelockert« und 1939 weitgehend aufgehoben.106 In ihrer Selbststilisierung als »Orden der nationalsozialistischen Weltanschauung, der das Führertum unseres Volkes umfasst«, betonte die NSDAP, sie müsse immer eine Minderheit sein und »als Träger Menschen haben, die sich über den Durchschnitt erheben, die durch Selbstzucht und Disziplin, Leistung und größere Einsicht die anderen übertreffen«. Aus dieser Aufgabenstellung heraus gebe es »in der Partei daher nur Kämpfer, bereit, alles für die Durchsetzung der nationalsozialistischen Weltanschauung auf sich zu nehmen und alles einzusetzen. Männer und Frauen, denen Dienst am Volk erste und heiligste Pflicht ist.«107 Die endgültige Aufnahme in die NSDAP umschließe »die Verpflichtung, jedem Ruf der Partei Folge zu leisten«.108 Diese Formulierungen bringen das Angebot an Parteimitglieder zum Ausdruck, diese Sichtweise zu übernehmen und die eigene Person gegenüber Nicht-Parteigenossen aufzuwerten. Sie enthalten aber auch die deutliche Erwartung einer aktiven Mitgliedschaft und die Möglichkeit eines Parteigerichtsverfahrens und Ausschlusses als Sanktionsmittel, sollten Parteimitglieder dieser Erwartung nicht nachkommen.109 Dass offensichtlich viele Parteimitglieder dieses Selbstverständnis einer aktiven Mitgliedschaft nicht teilten und zur Übernahme einer Funktion nicht bereit waren, wird deutlich angesichts der Neuaufnahmen 1937. In
—————— 106 Vgl. Kater 1976, S. 43f.; zu Stuttgart vgl. Müller-Botsch 2003, S. 38f. 107 Zitiert nach Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 86. 108 Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 120; vgl. auch ebd. S. 101. 109 Vgl. Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 6–8; vgl. Müller-Botsch 2003, S. 50–52; Mc Kale 1974, Arbogast/Gall 1993, Nolzen 2000.
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diesem Zusammenhang wurden die unteren Funktionäre in Stuttgart auf Folgendes aufmerksam gemacht: »Wir wollen keine Wiederholung des April 1933 erleben, dass sich Tausende und Abertausende aufnehmen lassen in der nicht ausgesprochenen aber festen inneren Ansicht, ihre Pflicht der nationalsozialistischen Bewegung gegenüber mit der Zahlung des Beitrages restlos erfüllt zu haben; der Aufforderung zur aktiven Mitarbeit suchen sie sich mit allen nur möglichen Scheingründen zu entziehen.«110
Bei den Neuaufnahmen sollte stärker als 1933 auf die Verpflichtung zur aktiven Mitgliedschaft hingewiesen werden und es sollten insbesondere jene »Volksgenossen« aufgenommen werden, die seit mehreren Jahren in NS-Verbänden organisiert und aktiv waren.111 Wurden bereits die Mitglieder in der Parteirhetorik als über den »Durchschnitt« erhobene Gruppe beschrieben, die aber bestimmte Pflichten hätte, so galt dies umso mehr für die Funktionäre.112 Als zentrale formale Voraussetzung zur Funktionsübernahme galten, wie auch bei der Parteiaufnahme, »rassenpolitische« Kriterien. Dies wird deutlich hinsichtlich der Blockhelfer, die zwar nicht unbedingt Parteimitglieder, wohl aber »arischen Blutes« sein mussten.113 Angehörige des Politischen Leiterkorps waren ausschließlich männliche Parteimitglieder. Neben diesen formalen Voraussetzungen sollten allein »Charakter und Eignung« als entscheidend für die Rekrutierung gelten: »Bei der Auswahl der Politischen Leiter kommt es darauf an, den richtigen Mann an die richtige Stelle zu setzen. Die Ämter der Partei sind derartig verschieden, dass es großer Menschenkenntnis und langjähriger Erfahrung bedarf, um die Führerauslese richtig zu treffen.«114 Zunächst sollten nach der Machtübernahme Funktionen nur vor 1933 Eingetretene bekommen; von dieser Vorgabe rückte die NSDAP allerdings bei den unteren Funktionen sehr bald ab.115 Der vage gehaltenen »Eignung« standen ausführlich formulierte Erwartungen an das Verhalten der unteren Funktionäre gegenüber. In ihrem Eid schworen neu eingesetzte Politische Leiter Adolf Hitler »unverbrüchli-
—————— 110 StA Ludwigsburg, PL501/I, Bü.45, Bl.70.472f., Rundschreiben Nr. 30/37 des NSDAPKreisorganisationsleiters an die Ortsgruppen des Kreises Stuttgart vom 15.2.1937. 111 Vgl. Müller-Botsch 2003, S. 38f., S. 48. 112 Vgl. Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 14f.; vgl. auch Diehl-Thiele 1969, S. 166– 169. 113 Vgl. Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 107, Müller-Botsch 2003, S. 37f., S. 45f. 114 Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 14. 115 Zu Stuttgart vgl. Müller-Botsch 2003, S. 38.
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che Treue« und »ihm und den Führern, die er mir bestimmt, unbedingten Gehorsam«.116 Ohne Einwilligung der übergeordneten Dienststelle konnte eine Funktion nicht wieder niedergelegt werden.117 Als »Typ des Politischen Leiters« wurde im Organisationsbuch unter anderem formuliert: »Der Politische Leiter muß Prediger und Soldat zugleich sein. Nie darf er Bürokrat werden, immer muß er im Volk und für das Volk tätig sein. Er muß Vorbild sein.«118 Das Auftreten gegenüber Partei- und Volksgenossen solle von einem »gesunden Selbstbewusstsein« getragen sein. Auch innerparteilich sei »kleinliche Herrschsucht« zu vermeiden, vielmehr gehe es um »kameradschaftliche Verbundenheit mit allen, die […] der Bewegung dienen«.119 So habe etwa der Ortsgruppenleiter »über alle sachlichen und politischen Aufgaben hinaus Vorbild, Berater und Kamerad zu sein«.120 Die immer wieder betonten Verhaltenskodices sind ein Hinweis darauf, dass die Realität diesen Vorstellungen höchstens eingeschränkt entsprach. Das parteiinterne Organ Der Hoheitsträger widmete sich eingehend dieser Thematik, indem es stets Verhaltensbeispiele anführte, die von Funktionären künftig anzuwenden oder zu unterlassen seien.
1.2.4. Tätigkeitsfelder der unteren Funktionäre der NSDAP Im Folgenden werden die zentralen Aufgabenfelder der NSDAP-Funktionäre auf Ortsgruppenebene dargestellt.121 Neben parteiinternen Tätigkeiten zur Aufrechterhaltung und zum Ausbau der Herrschaft vor Ort werden die Maßnahmen und Tätigkeiten aufgezeigt, die die Ortsgruppen-, Zellen- und Blockleiter, teilweise auch die Mitarbeiter im Ortsgruppenstab gegenüber der Bevölkerung ausübten. Als Hauptaufgabe galt die umfassende »Betreuung« der Bevölkerung mit dem Ziel der Formierung einer »NS-Volks-gemeinschaft«. Dem Begriff der »Betreuung« wurde hier in der nationalsozialistischen Verwendung auf Ortsgruppenebene verschleiernd eine mehrfache Bedeutung zugeschrieben: Er enthielt gleichzeitig die Dimensionen von Mobilisierung, Erziehung, »Fürsorge«, Überwachung und Kontrolle.122
—————— 116 Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 16. 117 Vgl. ebd. 118 Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 15. 119 Ebd., S.XXII. 120 Ebd., S. 123. 121 Zu den einzelnen Funktionen vgl. ausführlich Reibel 2002, S. 75–139. 122 Vgl. Reibel 2002, S. 23, S. 271–274.
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Dies zielte auf Integration gegenüber »Volksgenossen« und zugleich auf Ausschluss und Verfolgung derjenigen, die zu »rassischen« oder politischen Feinden der »Volksgemeinschaft« erklärt wurden, insbesondere gegenüber Juden und politischen Gegnern des Regimes.123 Beide Stoßrichtungen waren Bestandteil der Tätigkeit der unteren Funktionäre.124 Die parteiinternen Tätigkeiten machten einen erheblichen Anteil der gesamten Tätigkeiten auf Ortsgruppenebene aus. Sie bildeten die Voraussetzung für sämtliche gegenüber der Bevölkerung unternommene Überwachungs-, Kontroll- und Propagandamaßnahmen. Zu ihnen zählten zunächst die Weitergabe der Anweisungen übergeordneter Parteidienststellen (Kreis-, Gau- und Reichsebene) durch die »Hoheitsträger« auf Ortsgruppenebene an die ihnen unterstellten Funktionäre, die Koordination der anfallenden Tätigkeiten sowie die Überwachung der Umsetzung der jeweiligen Anordnungen auf Block-, Zellen- und Ortsgruppenebene. Von unten nach oben hingegen gab es ein turnusmäßiges Berichtswesen der Ortsgruppen zur Kreisleitung: Kontinuierlich wurden Berichte zur Stimmung und politischen Lage in der Ortsgruppe sowie zur Tätigkeit der Parteieinheiten und zum Organisationsstand angefertigt.125 An der Aufstellung dieser Berichte war wiederum ein Großteil der Ortsgruppenfunktionäre beteiligt. So gaben etwa die Blockleiter den Zellenleitern und diese der Ortsgruppenleitung statistische Angaben und Eindrücke aus ihrem Bereich weiter, aus denen dann die verschiedenen Berichte formuliert wurden. Zu den innerparteilichen Aufgaben zählte auch die Personalpolitik innerhalb der Ortsgruppe. Zur Rekrutierung wurde ein mehrstufiges Verfahren der Berufung und Ernennung eingeführt. Innerhalb der Ortsgruppen war maßgeblich der Ortsgruppenleiter mit der Rekrutierung und Beurteilung, gegebenenfalls auch der Enthebung der Funktionäre befasst. Unterstützt wurde er dabei von Mitarbeitern im Ortsgruppenstab sowie den Block- und Zellenleitern, die potentielle Mitglieder vorschlugen. Blockund Zellenleiter wurden von ihm berufen, nach einiger Zeit der »Bewährung« dann vom Kreisleiter ernannt. Die im Organisationsbuch festgelegten Bestimmungen dazu wurden beispielsweise in Stuttgart in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre weitgehend umgesetzt, nachdem in den ersten Jahren nach der Machtübernahme die Rekrutierung erheblich unein-heitli-
—————— 123 Vgl. Peukert 1982, S. 221ff., S. 247, 292ff. 124 Vgl. Reibel 2002, S. 273f. 125 Vgl. etwa Fröhlich 1977.
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cher praktiziert worden war.126 Hinzu kamen die Organisation der innerparteilichen Schulungen und Veranstaltungen sowie periodisch para-militärische Übungen.127 Von den Ortsgruppen aus sollte auch »Führer-nachwuchs« gebildet werden, was allerdings in der Praxis wohl nur rudi-mentär stattfand.128 Zu den innerparteilichen Bereichen zählte auch die Betreuung der Parteimitglieder. Neben dem Verteilen von NS-Blättern und der Mobilisierung zum Besuch von Parteiversammlungen und zur aktiven Beteiligung an Parteiaufgaben umfasste sie die Kassierung von Mitgliedsbeiträgen. Zugleich war es Aufgabe der unteren Funktionäre, die Mitglieder zu disziplinieren und zu einem von der Partei erwarteten Verhalten anzuhalten.129 Vor dem Hintergrund der parteiinternen Tätigkeiten erfolgten die Maßnahmen der NSDAP-Ortsgruppen gegenüber der Bevölkerung. Zentrale Aufgabe der unteren Parteidienststellen war deren »Erziehung und Überwachung«. Die Ortsgruppen schufen ein ganzes Arsenal an Instrumenten, um die Kontrolle, Indoktrination, Integration und Mobilisierung der Bevölkerung zu erreichen. Viele der angewendeten Instrumente, wie etwa die Hausbesuche durch die Blockleiter, waren mehrfunktional, sie dienten gleichzeitig der ideologischen Beeinflussung, Mobilisierung und Überwachung der »Betreuten«. Auf Blockebene erfassten die Blockleiter nach der Neuordnung der Block- und Zellenstruktur 1936/37 alle Bewohner/innen ihres Zuständigkeitsbereiches in »Haushaltungskarteien«. In diese trugen sie neben Berufs-, Alters- und Namensangaben aller im Haushalt Lebenden deren Mitgliedschaften in NS-Verbänden ein und konnten weitere Bemerkungen zu jeder Person in einem entsprechenden Feld festhalten.130 Die »Haushaltungskarteien« dienten dann der NSDAP-Ortsgruppe als eine Herrschaftsgrundlage, von der die lokalen Funktionäre je nach Bedarf bei verschiedensten Maßnahmen, von Spendensammlungen über das Erstellen von »politischen Beurteilungen« bis zur Rekrutierung zum Arbeitsdienst oder zum Volkssturm, ausgehen konnten. Diese bürokratischen Dimensionen der Herrschaftsausübung wurden ergänzt durch die als »Menschenführung« bezeichnete generelle Aufgabenbestimmung
—————— 126 Vgl. Müller-Botsch 2003, S. 48. 127 Vgl. Reibel 2002, S. 177ff. 128 Vgl. Roth 1997, S. 74–81, Reibel 2002, S. 173–176, Müller-Botsch 2003, S. 39. 129 Vgl. Reibel 2002, S. 167ff. 130 Vgl. Organisationsbuch 1937, S. 102. Die NSDAP griff also auf ihre »Stärke im Erfassen« zurück; vgl. Tyrell 1991, S. 358f. Vgl. Reibel 2002, S. 105ff.
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der Funktionäre. Mit dieser Ergänzung schuf die NSDAP innerparteiliche Handlungsspielräume und Möglichkeiten der willkürlichen »Amtsausübung«, die etwa in Vorladungen des Ortsgruppenleiters, Drohungen, Strafen oder Entscheidungen zur Weitergabe von Meldungen zum Ausdruck kamen.131 Die Ortsgruppenfunktionäre führten zahlreiche Propagandamaßnahmen zur ideologischen Beeinflussung der Einwohner in ihrem Bereich durch: Neben größere Propagandaveranstaltungen vor Ort, etwa anlässlich jährlicher »NS-Feierlichkeiten« traten »Zellenabende« im Wohnbereich und die alltägliche Propaganda an der Haustür. Hier warben die Blockleiter für den Kauf von NS-Zeitschriften, Spenden sowie für den Beitritt in NSOrganisationen. Haustafeln der NSDAP, die Veranstaltungen, Ortsgruppeneinrichtungen und verschiedenste NSDAP-Belange thematisierten, unterstützten die alltägliche Beeinflussung. Im Zusammenhang mit Abstimmungen wurden auf Ortsgruppenebene »Wahlschleppdienste« eingerichtet.132 Auch die Betreuung des einzelnen »Volksgenossen« in »seinen Nöten«133 fand auf verschiedenen Ebenen statt. Sie sollte bereits Bestandteil der alltäglichen Praxis der unteren »Hoheitsträger« sein, um eine Integration der »Volksgenossen« in das System zu befördern. Zusätzlich wurden zu diesem Zweck auf Ortsgruppenebene NS-Beratungsstellen eingerichtet und auch besucht. Sie sollten Ratsuchenden in nationalsozialistischem Sinne weiterhelfen, sei es in Behördenangelegenheiten, privaten Angelegenheiten, bezüglich Informationen zu materieller Unterstützung durch NS-Organisationen wie das Winterhilfswerk, die NSV etc.134 Weiter wurden Sprechstunden des Ortsgruppenleiters eingerichtet, die freiwillig mit dem Ziel einer »Schlichtung« von Streitigkeiten, etwa Mietstreitigkeiten besucht werden konnten, in anderen Fällen unfreiwillig – auf Vorladung – besucht werden mussten. Diese Maßnahmen dienten auch dem Zweck, tendenziell in staatliche Bereiche vorzudringen.135 Einen erheblichen Anteil machte die Überwachung der Bevölkerung im Allgemeinen, politischer Gegner und zu »rassischen Gegnern« Erklärten im Besonderen aus. Allein schon die flächendeckende Präsenz der unteren
—————— 131 Vgl. Reibel 2002, S. 274. 132 Vgl. Reibel 2002, S. 286ff. 133 Der Hoheitsträger, Nr. 4/1942, zitiert nach Diehl-Thiele 1969, S. 166. 134 Vgl. Reibel 2002, S. 279ff. 135 Vgl. ebd., S. 274ff.
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NSDAP-Funktionäre im Wohngebiet erschwerte das Aufkommen von Opposition und das Untertauchen im Versteck. Permanent waren die Funktionäre zur Weitergabe regimekritischer oder Zustimmung verweigernder Äußerungen oder Handlungen angehalten.136 Block- und Zellenleiter machten in zahlreichen individuellen Fällen Meldung bei der Ortsgruppe. Die Ortsgruppenleiter luden daraufhin die Betreffenden auf die Ortsgruppe vor oder gaben die Meldung an die NSDAP-Kreisleitung weiter, die sie wiederum nicht selten an die Gestapo weiterleitete.137 Für die Kreisleitungen holten die unteren Funktionäre Informationen für die sogenannten »politischen Beurteilungen« von Bewohnern der Ortsgruppe ein, in der Regel wurde der vom zuständigen Blockleiter formulierte Text letztlich bei der Kreisleitung eingereicht. Diese Beurteilungen waren beispielsweise bei Einstellungen öffentlichen, teilweise auch privaten Arbeitgebern beizubringen.138 Besonders betroffen von diesen Überwachungsmaßnahmen waren politische Gegner des Systems: So wurden in den Ortsgruppen Listen mit tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern des Nationalsozialismus angelegt; zudem sollte deren Verhalten durch Ortsgruppenfunktionäre besonders aufmerksam überwacht werden.139 Kontinuierlich und systematisch waren die unteren Funktionäre der NSDAP in den Wohngebieten beteiligt an der »rassenpolitischen« Verfolgung. Parteimitglieder und Funktionäre waren unmittelbar beteiligt an von der NSDAP organisierten einzelnen antisemitischen Verfolgungsaktionen, wie dem Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933 und dem Novemberpogrom 1938. Zudem setzten die unteren Funktionäre in der alltäglichen Praxis innerhalb der Ortsgruppe kontinuierlich nationalsozialistische Rassenpolitik um, propagierten, forcierten und rechtfertigten sie.140 Die akribische Erfassungstätigkeit der Blockleiter umfasste auch die Haushalte, in denen Juden lebten.141 Reibel zeigt anhand der Überlieferung der Doku-
—————— 136 Vgl. Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 101. 137 Vgl. Schmiechen-Ackermann 2000, S. 592f. 138 Vgl. Rebentisch 1981, Reibel 2002, S. 311ff. 139 Vgl. etwa Schmiechen-Ackermann 2000, S. 592f., Mann 1987, S. 163ff., Reibel 2002, S. 307ff. 140 Zu Stuttgart vgl. die Beispiele bei Müller 1988, S. 282ff., S. 396ff. sowie Projekt Zeitgeschichte im Kulturamt der Landeshauptstadt Stuttgart (Hg.) 1983, S. 374. 141 So wurden auch die jüdischen Haushalte in Stuttgart durch die Blockleiter erfasst. Vgl. Staatsarchiv Ludwigsburg, PL 501/I, Bü.45, Bl.70.482ff.: Schreiben der NSDAP-Kreisleitung Stuttgart an alle Hoheitsträger, Kassenleiter und Organisationsleiter des Kreises Stuttgart, 16. November 1936, betr.: Änderungen der Ortsgruppenbereiche; Neuordnung, S. 3.
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mente einer Frankfurter NSDAP-Zelle, dass zahlreiche antisemitische Maßnahmen auf der Grundlage der Auflistungen der Funktionäre auf Block- und Zellenebene durchgeführt wurden.142 An Deportationen konnten auch die Funktionäre der NSDAP »hilfsweise« beteiligt werden.143 Die schrittweise Entrechtung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Deutschland bis hin zu ihrer Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager erfolgte zu einem erheblichen Teil vor dem Hintergrund und im Zusammenspiel mit der antisemitischen Propaganda- und Verfolgungspraxis der unteren NSDAP-Funktionäre auf Ortsgruppenebene.144 Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, in dessen Verlauf die Parteiorganisation generell sukzessive ihre Macht erweiterte,145 wurden die unteren Parteidienststellen zur Aufrechterhaltung der »inneren Front« eingesetzt.146 Dazu gehörten neben der »Aktivierung der Partei« die Mobilisierung der Bevölkerung für das Regime, eine Forcierung der Überwachung und aggressive Aufforderung zu Denunziationen. Nach und nach übernahmen Parteifunktionäre kommunale Aufgaben. So wurden von ihnen die Lebensmittel- und Kleiderkarten verteilt. Ferner übernahmen sie Aufräumarbeiten nach Fliegerangriffen und Hilfeleistungen für Bombengeschädigte. Sie »betreuten« Verwundete und Soldaten an der Front und im Urlaub. Auch im Luftschutz und bei der Überwachung von Zwangsarbeiter/innen waren Ortsgruppenfunktionäre aktiv, zuletzt wurde in den Ortsgruppen die Aufstellung des Volkssturms organisiert. Der vielfach konstatierte Perso-nalmangel wurde unter anderem durch u.k.-Stellungen und die Rekrutie-rung von Frauen soweit abgefedert, dass die Ortsgruppentätigkeit auch gegen Ende des Krieges nicht zum Erliegen kam.
1.2.5. Entnazifizierung der unteren Funktionäre der NSDAP Mit dem alliierten Vormarsch im Frühjahr 1945, der bedingungslosen Kapitulation der Nationalsozialisten am 8. Mai 1945 und dem schnellen Zusammenbruch des Systems begann in den verschiedenen Besatzungszonen
—————— 142 Vgl. Reibel 2002, S. 316ff. 143 Vgl. Görlitzer 1942, S. 14. 144 Vgl. auch Nolzen 2003. 145 Vgl. hierzu generell Longerich 1992, S. 184ff., für die Kreisebene Roth 1997, S. 133 sowie S. 319ff. 146 Vgl. zum Folgenden Reibel 2002, S. 328ff., Ruppert/Riechert 1998, S. 151ff.
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der Prozess der Entnazifizierung.147 Stuttgart war am 21. April durch französische Truppen besetzt worden, am 22. April war die NS-Herrschaft dort offiziell beendet.148 Ab 8. Juli 1945 war die Stadt amerikanisch besetzt. Das übergeordnete Ziel der Alliierten, dass von Deutschland nie wieder Krieg ausgehen solle, wurde unmittelbar nach Einstellung der Kampfhandlungen auf zwei Ebenen verfolgt: Erstens sollten alle, die mehr als nur nominelle Parteigenossen gewesen waren, von beruflich einflussreichen Positionen entfernt werden. Zweitens sollten zunächst verschiedene Gruppen von Verantwortlichen für die Verbrechen und Aufrechterhaltung des Regimes, darunter Funktionsträger aus dem Staats- und Parteiapparat, interniert werden. Unter die Kategorie automatic arrest fielen neben anderen NS-Aktivisten auch NSDAP-Parteifunktionäre der Ortsgruppenebene. In der Literatur uneinheitlich dargestellt, wird vor dem Hintergrund der Fallanalysen davon ausgegangen, dass – zumindest in Stuttgart – auf Ortsgruppenebene vor allem die Ortsgruppenleiter, darunter auch stellvertretende und kommissarisch eingesetzte Ortsgruppenleiter, vom automatic arrest betroffen waren.149 An der Feststellung und Verhaftung von Nationalsozialisten wirkten die in Stuttgart unmittelbar nach Kriegsende aktiven Antifa-Ausschüsse zunächst in erheblichem Maße mit. Die von diesen gebildete Hilfspolizei und ihre Kampfkomitees, die schon nach wenigen Wochen in Arbeitsausschüsse umgewandelt wurden, verhörten dingfest gemachte Nationalsozialisten teilweise bereits vor der Übergabe an das Polizeipräsidium. Sie waren auch in den folgenden Jahren in die Entnazifizierung mit eingebunden.150 Die zweite Ebene der Entnazifizierung, die alle unteren Funktionäre im amerikanisch besetzten Stuttgart betraf, bestand in beruflichen Beschränkungen. Der Kreis der zu Entlassenden wurde bis September 1945 sukzessive erweitert: Von da ab galt bis zu einer individuellen Überprüfung zum einen ein generelles Verbot für alle ehemaligen Parteimitglieder, mehr als einfache Tätigkeiten auszuüben. Zum anderen durften Tätigkeiten mit stärkerer gesellschaftlicher Verantwortung nur aufgenommen werden, wenn dazu eine Genehmigung der Besatzungsbehörde vorlag und eine
—————— 147 Vgl. Fürstenau 1969, Niethammer 1982, Horn 1992; mit Fokus auf Funktionäre der Kreisebene Fait 1988, S. 225ff., Arbogast 1998, S. 199ff. 148 Vgl. Müller 1988, S. 523ff., Bayer 1989, S. 535ff., Niethammer 1976. 149 Vgl. Meyer 2004, S. 264. Im untersuchten sample wird allerdings auch Emil F. als bestätigter Hauptstellenleiter im Ortsgruppenstab unter der Kategorie automatic arrest interniert. 150 Vgl. Niethammer 1976, S. 511f., 529ff., 558ff., 585f.
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spätere individuelle Überprüfung dies bestätigte.151 Wie andernorts auch wurde in Stuttgart noch im Herbst bei der kommunalen Verwaltung ein Prüfungsausschuss eingerichtet, wo die individuelle Überprüfung beantragt werden konnte. Ebenso bereits in den ersten Nachkriegswochen und -monaten wurden zahlreiche frühere Parteifunktionäre in »Pg-Einsätzen« zu mehrwöchigen Aufräumarbeiten und weiteren Wochenendeinsätzen herangezogen. Deren Organisation lag bei den lokalen antifaschistischen Arbeitsausschüssen.152 Mitunter wurde bei früheren Parteifunktionären teilweise auch Wohnraum, Mobiliar oder Hausrat für die Besatzungsmacht beschlagnahmt. Der Prozess der Entnazifizierung wurde dann mit dem »Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus« im Frühjahr 1946 für die amerikanische Besatzungszone vereinheitlicht. Damit ging die Entnazifizierung – unter Aufsicht der Besatzungsmacht – grundsätzlich in deutsche Zuständigkeit über. Der erste ausführliche Fragebogen der Militärregierung wurde durch den so genannten kleinen, 14 Fragen umfassenden Meldebogen ersetzt, der ab Frühjahr 1946 von allen Erwachsenen über 18 Jahren ausgefüllt werden musste und Grundlage im Entnazifizierungsprozess wurde. Aufgabe der Spruchkammern war die individuelle Einstufung in eine von fünf Gruppen von Verantwortlichkeit: 1. Hauptschuldige, 2. Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe), 4. Mitläufer, 5. Entlastete. Die Spruchkammern setzten auch die mit den einzelnen Kategorien verbundenen Sühneleistungen fest. Im Befreiungsgesetz war vorgegeben, dass sämtliche Funktionsträger auf Ortsgruppenebene in der Klageschrift durch den öffentlichen Kläger aufgrund ihrer formalen Belastung als Belastete (Klasse II), unter besonderen Umständen auch als Minderbelastete (Klasse III) angeklagt wurden.153 Diese Vorgaben erfolgten auch vor dem Hintergrund, dass das Korps der Politischen Leiter der NSDAP als verbrecherische Organisation eingestuft worden war.154 Die Sühneleistungen für Belastete waren folgendermaßen formuliert: Belastete konnten für ein bis fünf Jahre in ein Arbeitslager eingewiesen werden, zu sonstigen Sonderarbeiten für die Allgemeinheit herangezogen werden, durften künftig kein öffentliches Amt mehr beklei-
—————— 151 Vgl. Fürstenau 1969, S. 37ff. 152 Vgl. Niethammer 1976, S. 533 und S. 534. 153 Ausgenommen waren davon Blockhelfer, die nach dem 1. September 1939 ihr Amt übernommen hatten und zugleich nicht Parteimitglieder waren. 154 Vgl. Fürstenau 1969, S. 47.
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den, verloren Rechtsansprüche auf eine aus öffentlichen Mitteln zahlbare Rente, das aktive und passive Wahlrecht, sowie das Recht sich politisch zu betätigen; für mindestens fünf Jahre unterlagen sie Berufsbeschränkungen.155 In der Verhandlung konnte dann die Kammer von dieser ersten Klassifizierung abgehen, da neben der formalen Belastung als Kriterium zur Einstufung auch die »Gesamthaltung« des Beschuldigten berücksichtigt werden sollte.156 Allerdings lag die Beweislast, nicht der entsprechenden Gruppe anzugehören, für in Klasse II Angeklagte bei den Angeklagten.157 Während das Gros der Fälle im schriftlichen Verfahren entschieden wurde, fanden bei Anklagen als Hauptschuldige und Belastete öffentliche Verhandlungen statt.158 Auf unterschiedliche Spruchkammermannschaften, deren Verhandlungsführung und Spruchpraxis durch unterschiedliche Haltungen zur Entnazifizierung geprägt war, wird in der Literatur ebenso wie auf die »zu Milde neigende« Berufungsinstanz hingewiesen.159 Das Resümee von Christine Arbogast zur Entnazifizierung von Funktionären der Kreisebene kann auch für andere Gruppen von NS-Aktivisten generalisiert werden: »Für die Entnazifizierung […] fehlte es den Spruchkammern an allem, was für eine befriedigende Auseinandersetzung mit den früheren NS-Kadern vonnöten gewesen wäre: an Personal, an Zeit, an interessierter Öffentlichkeit und an aussagebereiten Zeugen.«160 Die durch die öffentlichen Kläger beantragten Einstufungen wurden in den meisten Fällen von den Spruchkammern nicht übernommen. In der Regel wurden mildernde Umstände berücksichtigt.
—————— 155 Gesetzeswortlaut A1, S. 6–7. Als mildernde Umstände bei der Festsetzung der Sühnemaßnahmen konnten Jugend oder Unreife, schwere Körperversehrtheit infolge von Kriegseinwirkung oder eine schwere Dauerbelastung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch Invalidität von Angehörigen, insbesondere auf Grund von Kriegseinwirkung gelten; vgl. ebd., S. 8. 156 Vgl. Befreiungsgesetz, Art. 2, S. 8; vgl. Fait 1988, S. 229. 157 Vgl. Rang- und Organisationsliste der NSDAP mit Gliederungen, angeschlossenen Verbänden und betreuten Organisationen unter Beschreibung weiterer Verbände, Einrichtungen, Dienststellen und Personengruppen. Mit Angaben der Klassifizierung nach der Anlage zum Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946. Stuttgart 1947: W. Kohlhammer Verlag; zweite berichtigte und ergänzte Auflage. 158 Zu deren Ablauf, der einer Schwurgerichtsverhandlung ähnlich war, vgl. Fait 1988, S. 231. 159 Vgl. Fait 1988, 237f, Arbogast 1998, S. 202ff. 160 Arbogast 1998, S. 203.
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Je später das Spruchkammerverfahren stattfand, desto milder fielen die Sprüche aus. Davon profitierten insbesondere die stärker belasteten Funktionäre, deren Fälle – entgegen der Vorgaben im Gesetz – nach den weniger stark Belasteten behandelt wurden.161 Als auch die amerikanische Militärregierung ab 1948 auf eine baldige Beendigung der politischen Säuberung drängte, wurde deren Abschluss forciert. Mit dem ersten Abschlussgesetz in Württemberg-Baden vom April 1950 wurden die Möglichkeiten der Herabstufung und Verfahrenseinstellung erheblich erleichtert.162 Bis Ende Oktober 1953 stellten die Spruchkammern in Württemberg ihre Tätigkeit ein. Auch im Lauf der Verfahren gegen untere Parteifunktionäre wurden die Sprüche immer weiter abgemildert. In der Regel gingen sie als »Mitläufer« aus dem Verfahren hervor. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses hat Lutz Niethammer seiner 1972 veröffentlichten Dissertation über den Entnazifizierungsprozess in Bayern in der zweiten Auflage 1982 den Titel »Mitläuferfabrik« gegeben.163 Für die unteren Funktionäre der NSDAP kann damit in vielen Fällen dasselbe gelten, was Kathrin Meyer hinsichtlich der Internierten formuliert: »Die Einstufungen sagen weit mehr über das politische Klima der Nachkriegszeit in Westdeutschland und den Willen zur Integration der politisch Belasteten in die Bevölkerung aus, als dass die Urteile der Spruchkammern Rückschlüsse auf die tatsächliche politische Belastung der Internierten zulassen.«164
—————— 161 Vgl. etwa Fait 1988, S. 231ff. 162 Vgl. Fürstenau 1969, S. 256f.; zu Bayern Fait 1988, S. 232. 163 Niethammer 1982. 164 Meyer 2004, S. 203.
2. Biographieanalysen anhand von schriftlichen Selbstpräsentationen aus institutionellen Kontexten
Das zweite Kapitel befasst sich mit den methodologischen und methodischen Aspekten dieser Arbeit.1 Zunächst wird der verwendete fallrekonstruktive biographische Forschungsansatz vorgestellt und sein Beitrag zur Erforschung politischen Handelns dargestellt. Die Reflexion des Aussagepotentials von kurzen, in institutionellen Kontexten entstandenen schriftlichen Selbstpräsentationen steht im Mittelpunkt des zweiten Unterkapitels. Hier werden drei, den Schreibprozess beeinflussende Kontexte herausgearbeitet: Formatvorgaben, interaktionelle Aspekte und biographische Aspekte. Am konkreten Beispiel der verwendeten NSDAP-Personalunterlagen sowie der Spruchkammerakten wird die Relevanz dieser Kontexte für die Textproduktion erläutert. Darauf aufbauend wird abschließend das Aussagepotential dieser Quellengattung formuliert. Die für die vorliegenden Quellen entwickelte Auswertungsmethode wird in Kapitel 2.3. vorgestellt. Sie wurde im Lauf des Auswertungsprozesses entwickelt und baut auf den von Gabriele Rosenthal formulierten Auswertungsprinzipien für narrative biographische Interviews auf. Die Anwendung dieser Prinzipien auf das vorliegende Material liegt der Entwicklung der spezifischen Auswertungsmethode für Selbstpräsentationen in institutionellen Kontexten zugrunde. Abschließend wird der Forschungsprozess dargestellt. Diese Erläuterungen finden sich an jener Stelle der Arbeit, da dort die Auswahl der Fälle, Verfahren der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse aus einzelnen Fallrekonstruktionen und Fragen der Typenbildung als miteinander verschränkte Prozesse im Forschungsvorgehen behandelt werden.
—————— 1
Vgl. hierzu auch Müller-Botsch 2008.
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2.1. Soziologische Biographieforschung und politisches Handeln Vor allem seit den 1970er Jahren wurden in der bundesrepublikanischen Soziologie ältere biographische Forschungsansätze aus den USA und Polen aufgegriffen und weiterentwickelt. Wie Martin Kohli 1981 darlegt, sollen biographische Ansätze »einen methodischen Zugang zum sozialen Leben ermöglichen, der 1. möglichst umfassend ist, 2. auch die Eigenperspektive der handelnden Subjekte thematisiert und 3. die historische Dimension berücksichtigt.«2 In den vergangenen dreißig Jahren wurden verschiedene Verfahren und Konzepte der Biographieforschung entwickelt. Es wurden Fragen bearbeitet, die sich mit der Erforschung des gelebten Lebens, mit Selbstpräsentationen oder mit der Funktion von Biographien als »Erfahrungs-, Handlungs- und Orientierungszusammenhang« in der Moderne generell befassten. Vielfach erfolgte eine instrumentelle Nutzung biographischer Methoden und Forschungsansätze zur Erforschung sozialwissenschaftlicher Einzelfragen.3 Damit ist gemeint, dass Forscher/innen »biographische Methoden nicht nur bei bestimmten Fragestellungen [verwenden], die offensichtlich auf die Lebensgeschichte von Menschen bezogen sind, sondern sie formulieren vielmehr unterschiedlich bereichsspezifische Fragestellungen in biographischer Form.«4 Dies ist auch in der vorliegenden Untersuchung zur Parteitätigkeit unterer NSDAP-Funktionäre der Fall. Innerhalb der Biographieforschung dominieren gegenwärtig Ansätze der interpretativen und fallrekonstruktiven Sozialforschung, mit denen auch in der vorliegenden Arbeit gearbeitet wird. Zunehmend wird in den vergangenen Jahren die Verbindung von Biographieforschung mit anderen Forschungsansätzen und Theorien unterschiedlicher Reichweite diskutiert.5
—————— 2 Kohli 1981, S. 273; Thomas/Znaniecki 1927; Abel 1947. 3 Vgl. Fischer-Rosenthal 1991, S. 253. 4 Rosenthal 2005, S. 163. 5 Vgl. Hildenbrand 1991, Wohlrab-Sahr 2002, Rosenthal 2005, Völter/Dausien/Lutz/ Rosenthal (Hg.) 2005.
METHODOLOGIE UND METHODE
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2.1.1. Gegenstand und theoretische Bezüge der fallrekonstruktiven Biographieforschung Was ist der Gegenstand der Biographieforschung? Der Begriff der »Biographie« bedeutet im engeren Sinne die Beschreibung eines Lebens, oftmals wird er jedoch – in der Wissenschaft wie umgangssprachlich – als Bezeichnung des gelebten Lebens verwendet. »Lebensgeschichte« enthält bereits im Begriff selbst diesen Doppelcharakter: Das Wort weist auf das gelebte Leben ebenso hin wie auf Darstellungen eines Lebens.6 Fragestellungen der Biographieforschung beziehen sich auf beide Dimensionen der »Lebensgeschichte«: Sie können sich entweder stärker auf Aspekte des gelebten Lebens oder auf die Konstruktion der in schriftlicher oder mündlicher Form dargestellten Geschichte beziehen. In der Regel werden jedoch – zumindest während der Auswertung im Forschungsprozess – beide Dimensionen und ihr Zusammenhang analysiert.7 Denn im Gegensatz zur vorwiegend quantitativ ausgerichteten Lebens(ver)laufsforschung setzt die soziologische Biographieforschung bei Selbstpräsentationen, verstanden als »gegenwärtige Manifestationen des Biographischen« als zentralen Quellen an: neben narrativen biographischen Großerzählungen, geschriebenen (Auto-)biographien, Tagebüchern und »alltagssprachlichen Kommunikationen von Erlebnissen und Erfahrungen jeder Art« werden auch »selektive gesprochene und geschriebene Präsentationen des Lebenslaufs in institutionellen, organisatorischen und ordnungs-politischen Zusammenhängen«8 dazu gezählt. Die Relevanz von Selbstpräsentationen liegt in den theoretischen Bezügen der Biographieforscher/innen begründet: Dazu zählt neben dem symbolischen Interaktionismus insbesondere die phänomenologische Wissenssoziologie.9 Beide Theorietraditionen gehen davon aus, dass Gesellschaft und Individuum sich wechselseitig konstituieren.10 Auf sie aufbauend, kommt die Biographieforschung zu der These, dass Individuum und Gesellschaft »genau im Medium der Biographie« zusammenhängen:
—————— 6 Vgl. zum Doppelcharakter des Begriffs »Geschichte« Koselleck 1973. 7 Fischer-Rosenthal 1996, S. 154f. 8 Ders. 1991, S. 253. 9 Vgl. Rosenthal 2005, S. 26–37. 10 Diese Konzeptionen finden auch in der Vorstellung eines »produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts« ihren Niederschlag, die in der Sozialisationsforschung heute weitgehend geteilt wird; Vgl. Hurrelmann/Ulich 1991, S. 9ff.
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»Man könnte auch sagen, in Biographien, und das gilt schon für jede einzelne, spielt sich Gesellschaft ab. Wenn man also etwas über das Funktionieren von Gesellschaft erfahren will, darüber wie Gesellschaft in ihrer Geschichte im Ablauf eines Lebens erlebt wird und wie sie, die Gesellschaft, auch im Handeln von Gesellschaftsmitgliedern modifiziert wird, dann kann man Biographien analysieren.«11
Biographische Äußerungen und Biographien gelten dabei als »sprachliche Mittel […], soziale Ordnungsleistungen für Individuen (›Biographen‹) und ihre Gesellschaft zu erbringen«.12 Unter Bezugnahme auf diese theoretischen Zugänge zur Analyse von verschiedenen Ausschnitten von Gesellschaft, gesellschaftlicher Wirklichkeit und gesellschaftlichem Wandel werden in der Biographieforschung handlungs- und strukturtheoretische Ansätze miteinander verknüpft.13 Auch die erlebte und die dargestellte Geschichte erweisen sich aus dieser Perspektive als spezifisch strukturiert. Bei der Konzeption der Struktur der gelebten Geschichte wird unter anderem auf die Arbeiten von Alfred Schütz zurückgegriffen, der mit seinem Konzept der Erfahrungsaufschichtung aufzeigt, inwieweit die lebensweltliche Wissensaneignung und Erfahrungsbildung immer schon erstens gesellschaftlich vorstrukturiert ist und zweitens sequentiell erfolgt. Gesellschaftsmitglieder bilden in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und gesellschaftlichen Wissensbeständen biographische Wissensvorräte sowie Erfahrungs- und Handlungsstrukturen aus. Will man das Handeln von Gesellschaftsmitgliedern verstehen und in seiner Entstehung erklären, so gilt es, jeweils den Prozess der sequentiellen Wissensaneignung und Ausbildung von Erfahrungs- und Handlungsstrukturen nachzuvollziehen.14 Dabei handelt es sich um Prozesse, die vielfach selbstverständlichen und vorbewussten Charakter haben. In diesem Zusammenhang spricht Wolfram Fischer-Rosenthal von einer »biographischen Struktur, die sich als latente Erfahrungs- und Handlungsstruktur im gelebten Leben aufge-baut hat und kontinuiert, solange sie nicht durch neue Erfahrungen revi-diert wird«.15 Ausgebildete Handlungs- und Erfahrungsmuster bleiben also prinzipiell permanent offen für Veränderungen oder Strukturtransfor-mationen. Nichtintendierte Handlungsfolgen, emergente Ereignisse auf gesamt-
—————— 11 Fischer-Rosenthal 1996, S. 149. 12 Ebd., S. 150 (Hervorhebung im Original). 13 Vgl. Krüger 1999, S. 25. 14 Vgl. Schütz/Luckmann 1979, Fischer 1978, Alheit/Hoerning 1989. 15 Fischer-Rosenthal 1995, S. 53.
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gesellschaftlicher Ebene oder im unmittelbaren Umfeld können bei-spielsweise Anlässe zur Erweiterung und Umstrukturierung von Hand-lungsmustern und Wissensbeständen darstellen.16 Für die dargestellte Geschichte gilt als charakteristisches formales Strukturmerkmal ihre spezifische Temporalität: »Die Perspektivität der biographischen Eigendarstellung ist wesentlich bestimmt durch die gegenwärtige Situationswahrnehmung«.17 Fischer-Rosenthal prägte dafür den Begriff der »Gegenwartsperspektive«, die die aktuelle Textproduktion durch Evaluierungen, Auswahl von Themen und Textsorten reguliert und die von der Struktur der gelebten Geschichte klar unterschieden werden muss. Die aus der jeweiligen Gegenwart heraus produzierte biographische Selbstdarstellung scheint Anliegen nach »Strukturkontinuität und Flexibilität über die Lebenszeit Rechnung tragen zu können«. Sie ermöglicht, sich als jemand darzustellen, »der sich ›entwickelt hat‹ oder ›verändert hat‹«.18 Ausgehend von der Gegenwartsperspektive wird in Selbstpräsentationen akzentuiert und verschwiegen: »Sie bringen aus dem Fundus des gelebten Lebens und der miterlebten Gesellschaftsgeschichte dieses ins Rampenlicht und schieben jenes hinter die Kulissen.«19 Dabei erfüllen Selbstpräsentationen die Funktion, aus einer spezifischen Gegenwart heraus Erfahrungen aus der Vergangenheit und Erwartungen für die Zukunft als übergreifenden biographischen Orientierungszusammenhang zu ordnen. Der Selbstdarstellung unterliegt dabei, so die biographietheoretische Annahme, ein »›verborgenes script‹, das weitgehend hinter dem Rücken der Akteure wirkt und im Verlauf des gelebten Lebens geschrieben worden ist«.20 Ebenso wie die gelebte Geschichte latente, den Akteuren oftmals nicht bewusste Handlungsstrukturen aufweist, enthält auch die dargestellte Ge-schichte latente, über die Intention der Sprechenden oder Schreibenden hinaus gehende Sinngehalte.21 Beide gilt es der interpretativen Soziologie herauszuarbeiten. In der soziologischen Rekonstruktion geht es dann insbesondere auch darum, den Zusammenhang zwischen gelebter und dargestellter Geschichte zu rekonstruieren. Dabei ist klar, dass die Darstellung des Lebens
—————— 16 Vgl. ders. 1990, S. 18ff. 17 Fischer-Rosenthal 1995, S. 53. 18 Ebd., S. 51. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Vgl., im Anschluss an Paul Ricoeur und Ulrich Oevermann, Rosenthal 2005, S. 19f.
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das tatsächlich gelebte Leben nicht originalgetreu abbildet. Dennoch sind beide wechselseitig aufeinander bezogen: Die spezifische Erfahrungsverarbeitung biographischer Erlebnisse ist maßgebliche Grundlage der Gegenwartsperspektive. Die Gegenwartsperspektive wiederum ist von Relevanz für künftige Handlungen. Wie Rosenthal in einer phänomenologisch-gestalttheoretischen Konzeption zum dialektischen Zusammenhang von Erlebnis – Erinnerung – Erzählung darlegt, bildet eine vorliegende Selbstpräsentation mit den in ihr enthaltenen »Spuren« und »Verweisen« auf das tatsächlich gelebte Leben eine geeignete empirische Grundlage, dieses in seiner Genese und Strukturiertheit zu rekonstruieren.22
2.1.2. Biographietheoretisch angelegte Erforschung politischen Handelns Biographische Forschungsansätze sind für zahlreiche sozialwissenschaftliche Fragestellungen geeignet. Dies gilt insbesondere für alle diejenigen Fragestellungen, die sich mit dem Handeln von Individuen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen beschäftigen und beispielsweise die Entstehung und die Sinnbezüge von Handeln oder Handlungsverläufen erforschen wollen. So kann das Interesse zum Beispiel bestimmten »Karrieren« innerhalb einer Lebensgeschichte gelten, sei es im beruflichen, religiösen, familialen oder politischen Bereich.23 Die Sinnbezüge und Verlaufsformen einer Karriere sind jedoch, so eine biographietheoretische Grundüberlegung, verschränkt mit anderen Karrieren, durch diese in ihren Sinnbezügen beeinflusst und ihren Verläufen behindert oder befördert. Dies legt nahe, eine politische Aktivität im Zusammenhang mit der gesamten biographischen Entwicklung zu untersuchen, um sie in ihrer Entstehung und ihrem Verlauf verstehen und erklären zu können.24 Seit einigen Jahren wird daher politisches Handeln in Vergangenheit und Gegenwart zunehmend mit biographischen Fragestellungen untersucht. Allerdings entstehen diese Studien noch immer vergleichsweise wenig an politikwissenschaftlichen Fachbereichen, vielmehr sind es vor allem Ver-
—————— 22 Vgl. Rosenthal 2005, S. 166–169 sowie die ausführliche phänomenologisch-gestalttheoretische Darlegung in Rosenthal 1995. 23 Zum analytischen Begriff der »Karrieren«, verstanden als bereichsspezifische Verläufe, und zur Verschränkung verschiedener Karrieren vgl. Fischer 1978, S. 316ff. 24 Vgl. Rosenthal 2005, S. 163–166.
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treter/innen aus Erziehungswissenschaften, Soziologie oder Psychologie, die mit diesem Ansatz politologische Fragestellungen bearbeiten.25 Biographisch angelegte Studien können hinsichtlich politologischer Fragestellungen nicht »nur« die Entstehung und Verläufe politischer Aktivität einzelner Individuen untersuchen. Vielmehr vertreten sie den Anspruch, über eine Trennung sozialwissenschaftlichen Arbeitens in Mikround Makroanalysen hinauszuführen.26 Ausgehend von der grundlegenden Überlegung, dass die wechselseitige Beeinflussung von Individuum und Gesellschaft insbesondere auf dem Wege der Biographieforschung bereichsspezifisch erforscht werden kann, können biographische Analysen auch der Analyse von politischen Bewegungen und Organisationen als Grundlage dienen. So können Biographieanalysen beitragen zur Rekonstruktion der Entstehung, Entwicklung und Veränderungen von politischen Parteien und Bewegungen.27 Gerade in der prozessorientierten Herangehensweise der Biographieforschung, die Sinnbezüge und Handlungsmuster von Akteuren in ihrer Entstehung und Veränderung zu rekonstruieren sucht, vermag sie beizutragen zur Erforschung politischer Phänomene und politischen und gesellschaftlichen Wandels. Dies gilt insbesondere auch für Phasen gesellschaftlicher und politischer Transformation.28 An dieser Stelle kann die Wahl einer biographischen Vorgehensweise für die vorliegende Arbeit präzisiert werden: Hier wird ein biographischer Forschungsansatz genutzt, um politisches Handeln in der NSDAP anhand der damit verbundenen biographischen Handlungsmuster und -orientierungen der Funktionäre zu untersuchen. Insbesondere für die Untersuchung von Handlungsmotivationen ist eine biographische Analyse ein sinnvolles Instrument.29 Dabei geht es auch um verschiedene Verläufe der Aktivität für die NSDAP, die ebenfalls im biographischen Kontext interpretiert werden. Damit soll abschließend auch ein Beitrag zur Analyse der Funktionsweise der unteren NSDAP-Apparate geleistet werden.
—————— 25 Vgl. etwa Köttig 2004, Miethe/Roth (Hg.) 2000, Straub 1993, Müller 1998, Rosenthal 1987, dies. (Hg.) 1986. Zum bislang geringen Stellenwert biographischer Ansätze in der Politikwissenschaft vgl. Mohr 1990, Patzelt 1991; Heuer 2000, S. 247; Dausien 2006. 26 Vgl. Fischer-Rosenthal 1990. 27 Vgl. die entsprechende Darlegung hinsichtlich der Erforschung von sozialen und politischen Bewegungen bei Abel 1966, Miethe/Roth 2000. 28 Vgl. Fischer-Rosenthal 2000, Wohlrab-Sahr 2005. 29 Vgl. Fischer 1978, S. 317f.
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Im Vordergrund der Arbeit steht somit die Rekonstruktion biographischer Handlungsmuster und -orientierungen, die im Zusammenhang mit der Ausübung einer NSDAP-Funktion standen. Dabei kommt den Lebensläufen aus der NS-Zeit als während der Funktionsausübung produzierten Selbstpräsentationen besondere Relevanz zu. Sie bringen die damalige, für den Untersuchungszeitraum handlungsrelevante Gegenwartsperspektive zum Ausdruck.
2.2. Zur biographieanalytischen Untersuchung von NSDAPPersonalunterlagen und Spruchkammerakten 2.2.1. Enstehungskontexte schriftlicher Selbstpräsentationen Für die Untersuchung von Selbstpräsentationen als biographischem Material gilt es zunächst, Spezifika der verwendeten Quellen, insbesondere deren Entstehungskontexte zu reflektieren. In der vorliegenden Arbeit werden vorwiegend kurze schriftliche Selbstpräsentationen aus institutionellem Kontext analysiert. Quellen wie die hier analysierten Lebensläufe von unteren NSDAP-Funktionären vor und nach 1945 sowie Rechtfertigungsschriften nach 1945 gelten zwar auch der soziologischen Biographieforschung als biographisches Material, wurden bislang aber noch nicht als zentrale Quellen einer Untersuchung systematisch reflektiert. Zwar begann die soziologische Biographieforschung im 20. Jahrhundert mit der Auswertung schriftlicher Quellen, wie Briefe und auf Aufforderung verfasste schriftliche »Autobiographien«30, in ihrer Rezeption und Weiterentwicklung ab den 1970ern in Deutschland wandte sie sich jedoch insbesondere mündlichen Quellen zu und entwickelte entsprechende Erhebungsverfahren. Unter diesen kommt dem narrativen biographischen Interview, wie es von Fritz Schütze in die Sozialwissenschaften eingeführt wurde, besondere Bedeutung zu, da es aufgrund der bestehenden Gestaltungsspielräume und der Evozierung von Narrationen als besonders aussagefähige Grundlage für die Rekonstruktion der erlebten und dargestellten Geschichte gilt.31 Einher mit dieser Erhebungsmethode ging die Entwicklung und Diskussion spezifischer Auswertungsverfahren für
—————— 30 Vgl. Tomas/Znaniecki 1927, Abel 1966. 31 Vgl. Schütze 1976, 1984, Kallmeyer/Schütze 1977.
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narrative biographische Interviews. Innerhalb der Geschichtswissenschaft entwickelte sich in Deutschland als Pendant hierzu die Oral History und ließ sich teilweise auch durch die Überlegungen der soziologischen Biographieforschung in der Erhebung und im Umgang mit dem von den Zeitzeugen produzierten Text beeinflussen.32 Da die erzählte Geschichte und die Methode des Interviews im Bereich der erfahrungsgeschichtlich orientierten Zeitgeschichte und Soziologie dominierte, geriet die biographieanalytische Diskussion schriftlicher Selbstpräsentationen in den Hintergrund. Gleichwohl liegen im Bereich der NS-Forschung mittlerweile eine Reihe von Untersuchungen vor, die sich mit der erfahrungsgeschichtlichen Auswertung von Tagebüchern, Feldpostbriefen oder Selbstpräsentationen im Zusammenhang mit Preisausschreiben beschäftigen.33 In den letzten Jahren wurden zudem erste Studien vorgelegt, die die Auswertung narrativer Interviews und schriftlicher Selbstpräsentationen miteinander verbinden.34 Vereinzelt wurden überlieferte Selbstpräsentationen aus NS-Verfahren nach dem Verfahren der objektiven Hermeneutik sequenzanalytisch untersucht.35 Die Relevanz spezifischer Formate, Schreibsituationen und Adressatenorientierungen wird in den letzten Jahren in der historischen Autobiographieforschung verstärkt diskutiert.36 Charlotte Heinritz, die historische Autobiographien von Frauen mit Methoden der soziologischen Biographieforschung analysiert, kommt zu dem Schluss, dass auch sehr kurze Selbstpräsentationen ausgesprochen aussagekräftig sein können.37 Gleichwohl konzentriert sie sich in ihren Analysen auf umfangreiche Autobiographien. Kurzen Selbstpräsentationen, die als »Ego-Dokumente«38 zur Rekonstruktion von Erfahrungen, Selbstwahrnehmung und handlungsleitenden Sinnbezügen der Menschen in der Geschichte herangezogen werden, wandten sich hingegen insbesondere Neuzeit-Historiker/innen zu. In An-
—————— 32 Breckner 1994, Stiepani 1998, v. Plato 1999. 33 Vgl. zur Nieden 1994, Latzel 1998, Komann 1990. 34 Vgl. hierzu den Einbezug von veröffentlichten Autobiographien und Lebensläufen aus institutionellem Kontext in die vorwiegend auf Interviews basierende Studie bei Völter 2003; vgl. auch Bartmann 2006. 35 Vgl. die Analyse einer Vernehmung bei Oevermann 2000, S. 43ff.; einer selbst verfassten Rechtfertigungsschrift bei Kramer 2006. 36 Vgl. Heinritz 2000, Jancke 2003. 37 Vgl. Heinritz 2000, S. 38–45. 38 Vgl. Schulze 1996a.
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wendung mikrohistorischer Ansätze beschäftigen sie sich auch mit Selbstpräsentationen, die in institutionellen Kontexten entstanden sind.39 Winfried Schulze problematisiert allerdings, dass innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Selbstzeugnisforschung sozialwissenschaftliche Diskussionen zum Umgang mit Selbstpräsentationen bislang wenig aufgenommen wurden.40 Insofern werden für die Interpretation von meist kurzen schriftlichen Selbstpräsentationen im institutionellen Kontext im Folgenden drei Entstehungskontexte benannt und ausgeführt, die für die Produktion dieser Texte als besonders wichtig erscheinen. Dabei werden Überlegungen aus Geschichtswissenschaft und Soziologie zusammengeführt und Fragen des Aussagepotentials der Quellen behandelt. Formatvorgaben Vor Beginn der Analyse sind erstens die spezifischen Formate der verwendeten Selbstpräsentationen zu reflektieren. Auf unterschiedliche Formate, in denen Selbstpräsentationen erfolgen, wird in der Literatur vielfach hingewiesen. Ihre Reflexion ist insbesondere Historiker/innen als Bestandteil grundsätzlicher Quellenkritik vertraut. In der qualitativen Dokumentenund Aktenanalyse werden Dokumente begriffen »als standardisierte Artefakte, insoweit sie typischerweise in bestimmten Formaten auftreten«41: Personalunterlagen der NSDAP sowie Spruchkammerakten können hierzu gezählt werden. In institutionellen Zusammenhängen, wie im Kontakt mit Behörden, Organisationen, Gerichtsverhandlungen etc. tauchen standardisierte Formen von Selbstpräsentationen auf; Grad und Spezifik der Standardisierungen sind hier vorab herauszuarbeiten. Es ist danach zu fragen, welche expliziten und impliziten Gestaltungsvorgaben, -spielräume und -grenzen die zu untersuchenden Formate enthalten. Dabei ist auch zu klären: 1) vor welche spezifische Aufgabe die Verfasser von Selbstpräsentationen in den verwendeten Formaten gestellt sind und. 2) was dies für die Auswertung bestimmter Formate von Selbstpräsentationen bedeutet.
—————— 39 Darunter sind etwa Bittbriefe von Dorffrauen (Ulbrich 1996) und Lebensläufe von Herrnhuter Schwestern im 18. Jahrhundert (Modrow 1996) oder Zeugenverhöre im Kontext von Gerichtsverhandlungen im 16./17. Jahrhundert (Schulze 1996b). 40 Vgl. Schulze 1996a, S. 14. 41 Wolff 2004, S. 503 (Hervorhebung im Text).
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Interaktionskontext Selbstpräsentationen im institutionellen Kontext sind zugleich als Interaktion zwischen Verfasser und adressierter Institution zu verstehen. Dies wirft Fragen auf nach dem Verhältnis untereinander sowie danach, inwieweit die Textproduktion von diesem Verhältnis bestimmt wird. Mehrere Aspekte sind hinsichtlich dieses Interaktionskontextes für das Verständnis der Quellen relevant: Vorab kann versucht werden, das allgemeine, äußere Verhältnis zwischen Institution und Verfasser im historischen Kontext der Textproduktion zu konturieren. Findet die Interaktion im Kontext eines einseitigen oder wechselseitigen Abhängigkeits- oder Machtverhältnisses statt? Was ist der Anlass der Interaktion? Wird sie durch die Verfasser initiiert oder stellt sie eine Reaktion auf ein Handeln oder eine Aufforderung der Institution dar? Könnte es Folgen für den Verfasser haben, einer Aufforderung nicht nachzukommen? Auf diese erste, äußere Beschreibung des Interaktionskontextes hin können mögliche Auswirkungen dieser Ausgangslage auf die Gestaltung der Selbstpräsentationen diskutiert werden. Zudem ist in der Analyse zu berücksichtigen, dass der Verfasser sich in seinem Schreiben immer auch am Adressaten orientiert. Vertreter der qualitativen Dokumentenanalyse argumentieren konversations- und interaktionstheoretisch und plädieren aufgrund struktureller Ähnlichkeiten zwischen Äußerungen in Dokumenten und Gesprächen für eine gesprächsanalytische Herangehensweise an Dokumente.42 Dies gilt etwa für das konversationsanalytische Prinzip des »Recipient Design«, »das besagt, dass die Handelnden bemüht sind, ihre Äußerungen spezifisch auf ihre jeweiligen Handlungspartner – und deren Vorwissen – zuzuschneiden.«43 Dafür müssten sich die Textproduzenten auf konventionelle Annahmen über die Identität und das Vorwissen ihrer Rezipienten beziehen: »Ihnen stellt sich die Frage: Wie schreibe ich einen Text, der von meinen Lesern als an sie gerichtet empfunden und verstanden werden kann?«44 Selbstpräsentationen im institutionellen Kontext werden mithin vor dem Hintergrund von Vorstellungen der Verfasser über den Adressaten verfasst, und es gilt zu analysieren, inwieweit die darin enthaltenen Äußerungen auf den Adressaten zugeschnitten sind. Die Texte sind zugleich
—————— 42 Vgl. Wolff 2004, S. 507. 43 Bergmann 2004, S. 529. 44 Wolff 2004, S. 510.
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Ausdruck eines spezifischen handelnden Umgangs des Verfassers mit dem Adressaten. Aufgrund des interaktionellen Settings enthalten sie manifeste oder latente Verweise auf das Verhältnis des Verfassers zum Adressaten. Ferner kann nach der Absicht gefragt werden, die die Verfasser, auf den Adressaten bezogen, mit ihrer Selbstpräsentation verfolgen. Biographischer Kontext Drittens erfolgt die Textproduktion immer im lebensgeschichtlichen Kontext des Autors, dessen biographische Erfahrungen in das Verfassen von Selbstpräsentationen notwendig hineinwirken. So erfolgt erstens jegliches Schreiben vor dem Hintergrund der jeweiligen Lebensgeschichte. Bei einem Schreiben in institutionellem Kontext kann beispielsweise auf entwickelte Handlungsmuster im Umgang mit Institutionen zurückgegriffen werden. Die thematische Auswahl und Formulierung erfolgt vor dem Hintergrund biographischen Wissens und bringt zum Ausdruck, was aus der Perspektive des Schreibenden als angemessener Aufbau des Schreibens angesehen wird. Geht es zweitens spezifisch um eine biographische Selbstpräsentation, also um die Darstellung der eigenen gelebten Geschichte, so werden in der Zuwendung zum eigenen Leben biographische Erlebnisse, Erfahrungen und Ereignisse vorstellig. Welche Erlebnisse vorstellig werden, ist jeweils abhängig von der aktuellen Situationswahrnehmung und kann auch durch Rahmenvorgaben eines Interaktionspartners angestoßen werden. Für die Analyse von biographischen Selbstpräsentationen relevant ist die phänomenologische Konzeption, nach der – unabhängig vom Darstellungsinteresse der Verfasser – sowohl die damalige als auch die gegenwärtige Bedeutung von vorstellig gewordenen Erlebnissen, die den Verfassern nicht unbedingt bewusst sein muss, in die Selbstpräsentation hineinwirken. Insofern sind in der biographischen Selbstpräsentation stets zumindest Spuren des erlebten Lebens enthalten.45
—————— 45 Vgl. Rosenthal 1995, S. 70ff.
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2.2.2. Selbstverfasste Lebensläufe und weitere schriftliche Selbstpräsentationen gegenüber der NSDAP Im Folgenden geht es vor allem um eine – auf die benannten Kontexte bezogene – Beschreibung von selbstverfassten Lebensläufen unterer NSDAP-Funktionäre gegenüber ihrer Partei. Diese stellen unter den ausgewerteten NS-Dokumenten als zusammenhängend verfasster Fließtext die wichtigsten Selbstpräsentationen der Analyse dar. In der Regel ergeht an untere NSDAP-Funktionäre während ihrer Amtsausübung mehrfach die Aufforderung, für die NSDAP-Personalakten einen Lebenslauf zu verfassen. Zur Konturierung dieser Aufgabenstellung und der Schreibsituation, in der sich die Funktionäre befinden, werden im Folgenden generelle Rahmenbedingungen, die über die jeweilige konkrete biographische Situation hinausgehen, aufgezeigt. Dabei geht es darum, die Vorgaben, Gestaltungszwänge und -spielräume aufzuzeigen, die mit dieser Aufgabenstellung verbunden sind. In die Analyse werden auch weitere schriftliche Äußerungen der Funktionäre, insbesondere in den NSDAP-Personalfragebögen, einbezogen. Diese Fragebögen sind innerhalb der Arbeit in mehrfacher Hinsicht relevant: Ihnen werden quellenkritisch Informationen zu biographischen Daten entnommen. Sie werden zudem als der vielfach unmittelbare Interaktionskontext beim Verfassen von Lebensläufen reflektiert. Schließlich stellt die Art und Weise des handelnden Umgangs mit einem solchen Formular selbst einen Teil der Analyse dar.46 Dementsprechend werden sie an verschiedenen Stellen der Arbeit diskutiert. Selbstverfasster Lebenslauf als standardisiertes Format der Selbstpräsentation Ein hand- oder maschinengeschriebener Lebenslauf ist ein Textformat, das stark durch standardisierte Vorgaben geprägt ist. Diese Vorgaben sind den Zeitgenossen unterschiedlicher sozialer Herkunft weitgehend, zumindest in ihrer Grundstruktur, aus ihrer Schul- und Ausbildungszeit bekannt. In der Literatur zur deutschen Aufsatzlehre für Schul- und Selbstunterricht ist dieses Format als Bestandteil von Stellenbewerbungen bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert enthalten. Die Lebenszeit der untersuchten Gruppe betreffend war es unter den Älteren in meinem sample in besonde-
—————— 46 Vgl. hierzu etwa Schaser 2005.
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rem Maße relevant für diejenigen, die eine Laufbahn als Beamte anstrebten und die sich beispielsweise als Militäranwärter nach einigen Jahren beim Heer für den Staatsdienst bewarben. Im Staatsdienst war ein Lebenslauf neben anderen Formaten, wie einem selbstgeschriebenen Aufsatz, bereits früh obligatorischer Bestandteil einer Bewerbung. Zunehmend wurde ein Lebenslauf auch Bestandteil von Stellenbewerbungen in anderen Berufsgruppen. Bereits 1898 formuliert Matthias Übelacker in der alltagspraktisch orientierten Publikation »Kleiner Muster-Briefsteller« innerhalb des Kapitels zu Stellenbewerbungen, dass es sehr oft »geboten« sei, »den Bewerbungsschreiben einen Lebenslauf beizufügen.«47 Die konkreten Vorgaben zum Verfassen eines Lebenslaufs weisen im Zeitraum zwischen 1885 und 1945 nur wenige Veränderungen auf.48 1895 gibt Übelacker in der Großen deutschen Aufsatzschule für den Schul- und Selbstunterricht mit besonderem Fokus auf Militäranwärter für das Verfassen eines Lebenslaufs an: »Zur Anfertigung des Lebenslaufes verwendet man einen ganzen Bogen Kanzleipapier, Folioformat (33 cm hoch, 21 cm breit); derselbe wird der Länge nach in der Mitte gebrochen. Der Text muß enthalten: Vor- und Zunamen, Datum und Ort der Geburt, Namen und Stand des Vaters, Familiennamen der Mutter, Konfession, Darstellung des Bildungsganges, nach der Zeitfolge geordnet, mit Angabe aller die Ausbildung fördernden und hemmenden Einflüsse, Bezeichnung des Berufs vor dem Eintritt ins Heer, Datum des Eintritts in die Armee, Angabe der Beförderungen besonderer Kommandos, der mitgemachten Feldzüge, der etwa erhaltenen Verwundungen und Auszeichnungen, sowie ferner der besonderen Fähigkeiten (Kenntnis fremder Sprachen, Stenographie ec.), der Vermögens- und Familienverhältnisse, sowie endlich alles das, was zur Beurteilung des Betreffenden von Belang sein könnte. Alle unwichtigen Einzelheiten hingegegen läßt man weg.«49
Folgendes sei noch zu beachten: »Die Vornamen schreibt man deutsch, den Familiennamen in der Regel lateinisch; auch wird gewöhnlich der Rufname unterstrichen. – Soll der Lebenslauf einem militärischen Vorgesetzten vorgelegt werden, wie z. B. bei einem Gesuch um Anstellung bei der Gendarmerie ec., so müssen die Angaben über den Eintritt in den Truppenteil, Versetzungen, Beförderungen, größere Kommandos ec. ganz genau angegeben werden. Bei der Einreichung an eine Civilbehörde ec. sind diese Angaben nur insoweit anzuführen, daß man ein allgemeines Bild von dem militärischen
—————— 47 Übelacker 1898b, S. 105; vgl. generell ebd. S. 105–107. 48 Die Ausführungen zum Verfassen eines Lebenslaufs sind beispielsweise in den Ausgaben zwischen 1895 und 1926 nahezu identisch geblieben; vgl. Übelacker 1895, 1898a, 1898b, 1926. 49 Übelacker 1895, S. 176f.
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Leben des Verfassers erhält. – Ferner bleibt zu erwähnen, ob und mit wem verheiratet, ob Kinder vorhanden, wie die Vermögensverhältnisse beschaffen sind, und ob Kaution gestellt werden kann. Zum Schlusse folgt die Unterschrift in lateinischen, deutlichen Buchstaben ohne Schnörkel – nebst Charge ec. – Man hüte sich, seine eigene Person als wichtig und vornehm hinstellen zu wollen, womit freilich nicht gesagt ist, daß man geringschätzend oder wegwerfend von sich zu reden braucht. Das Ganze muß den Charakter der Einfachheit und Natürlichkeit, sowie der Bescheidenheit und Wahrheitsliebe an sich tragen, und alles nicht zur Sache Gehörige muß vermieden werden.«50
Die Ausgabe von 1938 wurde neu bearbeitet von Johannes v. Kunowski. Sie wurde durchgängig an nationalsozialistischer Weltanschauung ausgerichtet.51 Das entsprechende Kapitel trägt der größeren Breite derer, die Lebensläufe verfassen, Rechnung. Dies wird deutlich in der gegenüber den früheren Ausgaben allgemeiner gehaltenen Überschrift »Bewerbung und Lebenslauf«, Bewerbungen bei Privatfirmen werden ausdrücklich mit einbezogen. Zur äußeren Form wird hinsichtlich der meist handschriftlich eingereichten Schreiben auf den »Wert einer guten Handschrift« verwiesen und als selbstverständlich bezeichnet, dass eine Bewerbung »frei von Verbesserungen, Rasuren und Klecksen sein muß«.52 Die Vorgaben zum Verfassen eines Lebenslaufes als Anlage bei Bewerbungen sind weitgehend gleich geblieben – allerdings sind Angaben zu Militär- oder Arbeitsdienstzeiten nicht explizit angeführt, nur indirekt durch den Anspruch, keine Lücken entstehen zu lassen, nahe gelegt. Angesichts des ansonsten von NS-Ideologie durchdrungenen Bandes scheint es bemerkenswert, dass die Vorgaben nicht explizit politische Bezüge und Bekenntnisse oder die Angabe von Mitgliedschaften in NS-Organisationen als zum Lebenslauf Dazugehöriges enthalten. Brüche im Leben, die während der Krisenjahre der Kriegs- und Zwischenkriegszeit häufig anzutreffen sind, werden 1938 als explizit darstellbar in die Schreibanleitung aufgenommen; es gehe darum, dass ein Bewerber in der Gegenwart »seinen Mann steht«.53 »Der Lebenslauf enthält das rein Persönliche. Also: Vor- und Zunamen, Datum und Ort der Geburt, Namen und Stand des Vaters, Familiennamen der Mutter,
—————— 50 Ebd., S. 177 (Hervorhebungen im Original). 51 Vgl. Übelacker 1938. Dies schlägt sich insbesondere in der Gewichtung und Auswahl von Aufsatzthemen und Übungen nieder; u. a. wurde auch das Kapitel zur Stellung der Beamten nach nationalsozialistischer Vorstellung verändert. 52 Übelacker 1938, S. 154. 53 Ebd., S. 157.
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Religionszugehörigkeit, Darstellung des Bildungsganges, Darstellung des beruflichen Werdeganges, Schilderung der Vermögens- und Familienverhältnisse.«54
Allgemein wird empfohlen: »Bei Bewerbung und Lebenslauf vermeide man alles Ueberflüssige und nicht zur Sache Gehörige. Gerade hier liegt in der Kürze die Würze. Der eine Stellung zu Vergebende muß nach Bewerbung und Anlagen in kürzester Zeit ein Bild von der Person des Bewerbers erhalten können, deshalb muß die Bewerbung einfach und natürlich sein, nur wirklich Wichtiges enthalten und selbstverständlich auch in der Reihenfolge des Bildungs- und Berufswerdeganges übersichtlich sein. Man hüte sich vor Ungenauigkeiten oder Vertuschungsversuchen, wenn beispielsweise einmal ein Zeugnis nicht ganz gut ausgefallen ist oder ein Berufsansatz nach einer anderen Richtung hin scheiterte, so daß eine zeitliche Lücke entsteht. Solche Dinge sind an sich nicht nachträglich, die Hauptsache ist doch, daß der Bewerber jetzt seinen Mann steht. Andererseits aber ist auch eine zu große Breite der Darstellung unerwünscht, für etwaige Rückfragen über einen besonders wichtigen Punkt ist ja noch immer Zeit und Möglichkeit.«55
Diese Ausführungen verdeutlichen – ebenso wie die im Anschluss abgedruckten Beispiele56 – bereits standardisierte Vorgaben, Gestaltungsaufgaben, -spielräume und auch -grenzen: Für dieses Format gelten Vorgaben nicht nur in inhaltlicher Hinsicht sondern – zumindest teilweise – auch bezüglich des Aufbaus, der chronologisch erfolgen soll. Sie bringen aber auch eine Adressatenorientierung zum Ausdruck, so etwa in der Unterscheidung, ob die Bewerbung an einen militärischen Vorgesetzten oder eine Zivil-Behörde gehe. Auch sind die Verfasser vor die Aufgabe gestellt zu entscheiden, was als »zur Sache Gehöriges« aufzunehmen und was als
—————— 54 Ebd., S. 155f. 55 Ebd., S. 156f. 56 Zur Verdeutlichung wird im Anschluss an diese Schreibanleitung jeweils ein Lebenslauf als Beispiel beigegeben. In den Ausgaben zwischen 1895 bis 1926 wurde das Beispiel nicht verändert: Es geht um einen 1865 geborenen Feldwebel, der sich 1895 im Anschluss an eine 13-jährige Militärzeit für eine Beamtenstelle bewirbt. Er begründet seine Verpflichtung beim Militär mit einer bereits damals bestehenden Absicht, später Beamter werden zu wollen. In diesem Lebenslauf wird auch deutlich, dass in der Ausformulierung immer noch ein »Mehr« an Informationen stecken kann als nur die angeforderten. So stellt sich etwa dieser Verfasser als »ältester Sohn« vor, obwohl die Geschwisterfolge in den Vorgaben nicht angeführt ist. Vgl. Übelacker 1895, S. 175f. 1938 wurde das Beispiel ausgetauscht: Es wurde der Lebenslauf eines Mannes gewählt, der 1906 geboren ist und seinen Studienabbruch mit dem Tod des Vaters begründet. Die Auflösung seines bisherigen Arbeitsverhältnisses benennt er im Lebenslauf als Anlass für das Schreiben. Vgl. Übelacker 1938, S. 156. Die Bewerbung wird im angegebenen Beispiel mit »Heil Hitler« unterzeichnet.
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»unwichtige Einzelheiten« wegzulassen ist. Mehrfach wird auf eine notwendige Kürze der Darstellung hingewiesen: Dies stellt die Verfasser zum einen vor einen Kondensierungszwang57 in der Darstellung: Sie müssen entscheiden, was aus ihrem Leben sie in die Darstellung aufnehmen und eine knappe Darstellung dessen bewerkstelligen. Die geforderte Kürze verweist auch bereits auf die in diesem Format erwarteten dominanten Textsorten:58 Diese Form der Selbstpräsentationen wird vor allem Berichte und teilweise Argumentationen enthalten, Erzählungen mit einem hohen Detaillierungsgrad sind kaum zu erwarten; wo sie dennoch auftreten, stellen sie ein deutliches und interpretationsbedürftiges Abweichen von entsprechenden Vorgaben dar. Mehrfach wird auf eine sorgfältige äußere Form und den Wahrheitsgehalt insistiert und diesem Format damit auch ein sehr formaler, dokumentenähnlicher Status zugeschrieben. Interaktionsaspekte der Textproduktion Verhältnis Schreiber–Institution zum Zeitpunkt der Textproduktion. Um verallgemeinernd das Verhältnis zwischen unterem NSDAP-Funktionär und Parteiapparat im unmittelbaren Kontext der Textproduktion zu umreißen, sollen kurz einige äußere Merkmale der Interaktion benannt werden: Es handelt sich um eine Kommunikation zwischen einer zur Herrschaftsinstitution gewordenen Partei und deren Funktionsträgern, die ein Jahr oder mehrere Jahre nach einem gewaltsam durchgesetzten Systemwechsel zu einer »modernen Diktatur« stattfindet. Vielfach erfolgt sie kurz nach einer Funktionsübernahme beziehungsweise im Zuge eines Ämterwechsels und steht damit im Kontext einer enger gewordenen Bindung zwischen Partei und Textproduzent, der vom »einfachen« Parteimitglied zum Funktionär wird oder eine höhere Parteifunktion übertragen bekommt. Sie steht auch im Kontext der Bürokratisierung der Partei nach der Machtübernahme, nicht etwa im Kontext einer innerparteilichen »Säuberungsphase« oder einer für die Öffentlichkeit produzierten Selbstdarstellung, und kann in gewissem Sinne als Formalie angesehen werden. Auch kann in die Textproduktion hineinwirken, dass die NSDAP für die Durchsetzung und Aufrechterhaltung ihrer Diktatur auf Mitarbeiter angewiesen ist, auf der anderen Seite aber auch über potentielle Sanktionsmittel verfügt. In diesen
—————— 57 Vgl. Kallmeyer/Schütze 1977. 58 Vgl. Schütze 1984.
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Zusammenhängen ist die Textproduktion der Funktionäre, die damit einer Aufforderung der NSDAP nachkommen, ganz allgemein zu beschreiben. Mit diesen Ausführungen ist noch keineswegs die konkrete Haltung eines unteren Parteifunktionärs zur NSDAP, seinem Parteiamt oder der Aufforderung zur Zusammenstellung von Personaldokumenten zum Zeitpunkt des Schreibens geklärt. Diese Aspekte sind jedoch von Bedeutung für die Textproduktion im einzelnen Fall, etwa wie viel Mühe auf deren Ausarbeitung verwendet wird, welcher Zweck mit dem Ausfüllen verbunden ist, inwieweit und auf welche Weise sich der Verfasser zur NSDAP ins Verhältnis setzt etc. Diese Haltungen können erheblich variieren und sind an einzelnen Fällen zu rekonstruieren. Rahmensetzungen der Institution. Das Verfassen der untersuchten Lebensläufe erfolgt zudem im Kontext von unmittelbaren Rahmensetzungen der NSDAP. Handschriftliche Lebensläufe an die NSDAP werden von unteren Parteifunktionären zumeist im Zusammenhang mit der Zusammenstellung von Personalunterlagen der Partei angefordert. Zu diesen gehörte im Jahr 1937 laut Organisationsbuch »a) Personalfragebogen (Muster I und II), b) Lebenslauf, c) Ahnentafel zum Nachweis der arischen Abstammung, d) Auszug aus dem Strafregister (für den Fall vorliegender Bestrafung), e) zwei Passbilder, f) Beförderungsliste«.59 Nach der Einführung des so genannten Stammbuches 1937 sollte dieses die beiden Personalfragebögen und den Lebenslauf ersetzen, da diese Dokumente in das Stammbuch integriert waren.60 Die tatsächliche Zusammenstellung der Stuttgarter Personalakten weist jedoch eine erheblich stärkere Heterogenität auf. In den untersuchten Akten tauchen allein mindestens acht verschiedene Varianten von Personalfragebögen auf. Dies ist insofern von Relevanz, als die Lebensläufe innerhalb von Fragebögen der Partei oder als eine Anlage dazu angefordert wurden und der jeweilige spezifische Fragebogenkontext in der Auswertung zu berücksichtigen ist. Je nach Fragebogen bedeutet dies unterschiedliche räumliche Vorgaben und kleinere Abweichungen in der Formulierung der Schreibaufforderung: In einige von ihnen ist unmittelbar ein Kasten für das Verfassen eines Lebenslaufes integriert: Dies ist etwa der Fall bei der in den frühen Jahren verwendeten »Personen-Beschreibung« (12-zeiliger Kasten, überschrieben
—————— 59 Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 22. 60 Vgl. Wagner 1998, S. 84; vgl. dazu auch die den allgemeinen Vorgaben weitgehend entsprechenden verschiedenen Formblätter »Inhalt« in den Stuttgarter NSDAP-Personalunterlagen.
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mit »kurzgefasster, handschriftlicher Lebenslauf«) beim Personalfragebogen 2a mit sieben Leerzeilen für »Sonstige Bemerkungen (kurzer Lebenslauf)«, oder dem Stammbuch, das eine nichtliniierte leere Seite für einen »Lebenslauf« beziehungsweise in der anderen Fassung für einen »Lebenslauf (handschriftlich mit lückenloser Angabe der Schulbildung)« enthält. Bei anderen Fragebögen, so beim viel verwendeten Personalfragebogen 2 war es üblich, sie zusammen mit einem zeitgleich verfassten Lebenslauf einzureichen, wie aus der Datierung der Schriftstücke hervorgeht. Hier konnte der Umfang des Lebenslaufes stärker von den Schreibenden selbst bestimmt werden. Diese räumlichen Vorgaben verstärken somit in vielen Fällen den in dem Format ohnehin vorgegebenen Kondensierungszwang. Neben den räumlichen Vorgaben bringt die NSDAP im Aufbau der Fragebögen auch zum Ausdruck, welchen Lebensbereichen und Fragen sie mit Blick auf die Funktionäre inhaltliche Relevanz zuschreibt. In der Regel werden Personenangaben zu Geburtsdatum und -ort, Staatsangehörigkeit, aktueller Anschrift, Familienstand, Konfession (»auch frühere«), teilweise auch zu den Eltern sowie Angaben zu Ausbildung, Beruf und besonderen Kenntnissen erfragt. Hinzu kommen politische Fragen, die zum einen generell auf frühere politische Tätigkeiten bezogen sind, zum anderen spezifisch die NSDAP betreffen (Parteieintrittsdatum, Tätigkeiten, zuständige Ortsgruppe, Mitgliedschaften in Gliederungen und angeschlossenen Verbänden). Weiter werden Angaben zu Kriegs- und Wehrdienstzeiten, Kriegsbeschädigungen und Behinderungen, öffentlichen Ehrenämtern oder Vorstrafen erwartet. Kopräsent mit diesen Fragen und damit auch Bestandteil des Schreibkontextes sind politische und ideologische Positionen der NSDAP zu einzelnen im Fragebogen angesprochenen Themen, auch wenn diese nicht explizit angesprochen werden. Die einzelnen Felder sind in verschiedenen Fragebögen unterschiedlich stark ausgebaut. Insofern ist jeweils zu berücksichtigen, in welchem konkreten Fragekontext das Verfassen des Lebenslaufs erfolgt und welche Themenbereiche von den einzelnen Funktionären in ihrer Darstellung aufgegriffen werden oder bewusst zu umgehen versucht werden könnten. Ferner ist auch zu bedenken, dass möglicherweise das direkt vor der Aufforderung zum Verfassen eines Lebenslaufs angesprochene Themenfeld einen unmittelbaren thematischen Kontext für die Darstellung bilden könnte.61
—————— 61 So schließt sich etwa in der »Personen-Beschreibung« die Aufforderung zur Abfassung eines Lebenslaufes unmittelbar an einen Kasten zur Angabe der bisherige Berufstätigkeit an. Im »Stammbuch« folgt die entsprechende Schreibaufforderung auf die Rubrik »Ver-
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Ebenso könnten in den Fällen, in denen zeitgleich noch andere Personaldokumente beigebracht werden, (wie die »Ahnentafel« als »Nachweis einer arischen Abstammung« oder ein Auszug aus dem Strafregister) die mit diesen Dokumenten verbundenen Themen die aktuelle Darstellung des Lebens beeinflussen. Biographischer Kontext Konkrete biographische Kontexte der Verfasser werden erst durch Einzelfallanalysen erschlossen. Vorab können lediglich einige sehr allgemeine Daten zu den Verfassern festgehalten werden: So sind die unteren NSDAP-Funktionäre erwachsen, wurden in der Regel in Deutschland sozialisiert und haben – zumindest in meinem sample – vor dem Nationalsozialismus bereits zwei politische Systeme, das Kaiserreich und die Weimarer Republik, erlebt, allerdings in sehr unterschiedlichen Altersstufen und Lebenslagen. Auch ist davon auszugehen, dass sie als Jungen und Männer geschlechtsspezifisch sozialisiert worden sind. Als konkretes gemeinsames Datum ist erst einmal nur bekannt, dass sie vor dem Ausfüllen der Fragebogen NSDAP-Mitglied geworden und seit kurzer oder längerer Zeit NSDAP-Funktionäre sind. Bezüglich des konkreten Schreibkontextes kann festgehalten werden, dass das Verfassen häufig im Kontext einer enger gewordenen Bindung an die Partei erfolgt. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass sie – zumindest bei dem ersten von ihnen an die NSDAP verfassten Lebenslauf – mit einer derartigen Aufgabenstellung vorher noch nie konfrontiert wurden. Bekannt ist ihnen das Verfassen eines Lebenslaufs vor allem aus beruflichen Kontexten, insbesondere Stellenbewerbungen. Einen Lebenslauf an eine politische Organisation zu schreiben ist ihnen in der Regel unvertraut. Es stellt sie vor die Aufgabe, selbst festzulegen, was ein solcher enthalten soll und wie sie sich darin präsentieren wollen. Dies kann auch mit Unsicherheiten mit Blick auf Erwartungen, Schreibspielräume etc. verbunden sein. Mit dieser Schreibaufforderung können sie jedoch – unvermeidlich – nur vor dem Hintergrund ihrer biographischen Erfahrungsaufschichtung umgehen. Über die konkrete Erfahrungsaufschichtung, die Haltung gegen-
—————— schiedenes« mit Fragen zu »Verwundungen und Beschädigungen«, »Körperlichen Behinderungen«, »Auszeichnungen im Kriegs-, Partei- und Wehrdienst« sowie »Strafen (gerichtlich, militärisch, parteigerichtlich)«. Vgl. hierzu auch das im Anhang abgedruckte, im untersuchten sample häufig vorliegende Formular »Personen-Beschreibung«.
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über der NSDAP, der Funktion und der Schreibaufforderung sowie generell die jeweilige aktuelle Sicht auf das Leben ist vorab nichts bekannt, diese Aspekte sind im Einzelfall zu rekonstruieren. So kann hier nur noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die jeweilige Erfahrungsaufschichtung als handlungsleitender Ausgangspunkt für den Umgang mit der Schreibaufforderung zu verstehen ist beziehungsweise dass der handelnde Umgang Ausdruck biographisch entwickelter Handlungsmuster ist. Zudem soll noch einmal darauf verwiesen werden, dass erstens wohl bereits beim Ausfüllen des Fragebogens sowie zweitens in der Reaktion auf die Schreibaufforderung Aspekte der Lebensgeschichte, wie sie sich den Verfassern zu diesem Zeitpunkt darstellen, vorstellig werden und unvermeidlich, explizit oder implizit in die Textproduktion hineinwirken. So werden beim Ausfüllen des Fragebogens wie beim Verfassen des Lebenslaufs vergangene Erlebnisse und Erfahrungen virulent und sind bei der Aufführung der einzelnen Sachverhalte kopräsent. Aspekte der Lebensgeschichte, die dem Format nach als »nicht zum Thema gehörig« definiert werden, aber von starker Relevanz in der Biographie sind, kommen – manifest oder latent – zum Ausdruck. Dies gilt auch für Bereiche, die ein Funktionär bewusst verschweigen will. Die erforderte Kürze der Darstellung macht zudem eine starke Kondensierung notwendig. In der Auswertung wird dann verschiedenen Fragen nachgegangen: Welche Themen wurden aus welchen Gründen in die Selbstdarstellung aufgenommen und in der gewählten Präsentationsweise dargestellt? Welche markanten Auslassungen sind feststellbar? Welches aktuelle Präsentationsinteresse hat der Verfasser und was kommt darüber hinaus latent als biographisch Relevantes zum Ausdruck?
2.2.3. Schriftliche Selbstpräsentationen und verschriftlichte mündliche Aussagen im Kontext der Entnazifizierungsverfahren Für die Beschreibung von Selbstpräsentationen im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens ist vorab festzustellen, dass die in den Quellen vorliegenden Formate ebenso wie Rahmensetzungen durch die Institution erheblich heterogener sind als dies für die NSDAP-Personalunterlagen gilt. Bevor auf diesen Umstand näher eingegangen wird, werden hier zunächst das übergreifende Verhältnis zwischen Institution und Verfasser im historischen Kontext sowie einige übergreifende lebensgeschichtliche Kontexte, in denen sich die Schreiber befinden, kurz skizziert:
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Verhältnis Schreiber – Institution Bei der Interaktion zwischen einem ehemaligen NSDAP-Funktionär und den Entnazifizierungsbehörden handelt es sich um ein Überprüfungsverhältnis: Durch die Institution soll das Verhalten des NS-Belasteten im Nationalsozialismus festgestellt werden und davon ausgehend – unter Anwendung der Gesetzgebung zur Entnazifizierung – eine Einstufung in entwickelte Belastungskategorien erfolgen und gegebenenfalls Sühneleistungen verhängt werden. Bei der Einstufung geht es sowohl um die formale Belastung, die sich über die früheren Funktionen definiert, als auch um individuelle Belastungen, die das konkrete Verhalten betreffen, insbesondere das Ausmaß der Beteiligung an nationalsozialistischen Propaganda- und Verfolgungsmaßnahmen. Hier geht es um die Feststellung von Fragen, ob der Betreffende andere denunziert, bedroht oder körperlich angegriffen hat. Auch soll untersucht werden, ob er zu seiner Entlastung etwas anführen kann und wie sein Verhalten für die Zukunft einzuschätzen ist. Dies geschieht im Kontext der Aufdeckung der NS-Verbrechenskomplexe durch die Alliierten und der von Art und Ausmaß der Verbrechen schockierten Weltöffentlichkeit. Innerhalb der von den Nationalsozialisten betriebenen »Rassenpolitik« betrifft dies vor allem die Ermordung von Millionen europäischer Juden und Jüdinnen. Auch das System der Konzentrationslager generell, die Verfolgung und Ermordung von Mitgliedern zahlreicher anderer Gruppen aus »rassischen« oder politischen Gründen und der von Deutschland geführte Angriffs- und Vernichtungskrieg zeigen das System, das die unteren NSDAP-Funktionäre unterstützten, als zutiefst verbrecherisch und menschenverachtend auf. Auf der anderen Seite bildet sich in der untersuchten amerikanischen Besatzungszone bereits seit 1946/47 ein Diskurs heraus, der die Entnazifizierung als unangemessen kritisiert. Insbesondere untere Funktionäre fühlen sich – im Vergleich zu stärker Belasteten – ungerecht behandelt.62 Im Kontext dieser heterogenen Diskurse findet das Verfahren statt. Biographische Situation der Verfasser Einen weiteren relevanten Hintergrund für die Textproduktion bildet die biographische Situation der NSDAP-Funktionäre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus. Vorab können einige verallgemeinerbare
—————— 62 Vgl. Steinbach 1981, S. 31ff.; Arbogast 1998, S. 203ff.; Fait 1988, S. 231ff.
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Aspekte ihrer biographischen Lage zum Zeitpunkt der ersten Selbst-präsentation in der Nachkriegszeit genannt werden: Für nahezu alle im sample Untersuchten gilt, dass sie als NS-Belastete zu dieser Zeit nicht in ihrem früheren Beruf beschäftigt sind. Die Möglichkeit, ihren früheren Beruf wieder aufzunehmen, ist abhängig vom Ergebnis und der Einstufung im Entnazifizierungsverfahren. Mehrere der Untersuchten befinden sich in Internierungshaft. Andere wohnen – wegen Fliegerschäden oder der Beschlagnahmung ihres Hauses durch die Besatzungsbehörde – in der Nachkriegszeit nicht in ihren früheren Wohnungen. Insofern stellen diese Jahre für die unteren Funktionäre eine Phase des beruflichen und sozialen Statusverlustes dar, der mit Unsicherheiten in Hinblick auf ihre Zukunft verbunden ist. Der Verlauf und das Ergebnis des Entnazifizierungsver-fahrens sind von Bedeutung für ihre künftige Lebensgestaltung.63 Heterogene Formate und institutionelle Rahmenvorgaben Die vorliegenden Formate und die Rahmensetzungen durch die beteiligten Institutionen sind im Entnazifizierungsverfahren erheblich heterogener, als dies für die NSDAP-Personalunterlagen gilt. Dies hängt zum einen mit dem prozessualen, in Stufen verlaufenden und sich über mehrere Jahre hinziehenden Charakter der Entnazifizierung zusammen. Im Detail bedeutet dies unterschiedliche Rahmenbedingungen eines Schreibens und impliziert verschiedene Formate einer Selbstpräsentation. Im sample häufige Abläufe sind:
—————— 63 Vgl. Kapitel 1.2.; vgl. generell Fait 1988, Arbogast 1998.
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Internierte Vernehmung Internierung (zwischen Frühjahr und Herbst 1945) Ausfüllen des Fragebogens des Military Government Ausfüllen des Meldebogens (ab Frühjahr 1946)64 Antrag auf Entlassung aus der Internierungshaft Schreiben eines Lebenslaufs und einer vorläufigen Verteidigungsschrift (Frühjahr 1947) weitere Vernehmungen Verteidigungsschreiben, insbesondere nach Erhalt der Klageschrift65 Ausfüllen weiterer Fragebögen Befragung in der öffentlichen Verhandlung der Spruchkammer Berufung weitere Korrespondenzen Berufungsverhandlung
Nicht-Internierte Entlassung aus der Arbeitsstelle Antrag auf Vorstellungsverfahren (ab Sommer 1945) Ausfüllen des Meldebogens ab 1946 Vernehmungen durch Ermittler der Spruchkammer Verteidigungsschreiben, insbesondere nach Erhalt der Klageschrift Ausfüllen weiterer Fragebögen Befragung in der öffentlichen Verhandlung Berufung weitere Korrespondenzen Berufungsverhandlung
Tabelle 1: Ablauf von Entnazifizierungsverfahren; Hervorhebung zentraler obligatorischer Bestandteile des Verfahrens
Wie aus der Auflistung hervorgeht, ist das Entnazifizierungsverfahren mithin ein Prozess, der die Möglichkeit für verschiedene selbstinitiative Schreiben eröffnet. Für die jeweilige Interaktion galten jeweils unterschiedliche Rahmensetzungen, Gestaltungsvorgaben und Schreibspielräume, von denen nur einige im Folgenden angesprochen werden sollen.66 Wo ein als »Lebenslauf« tituliertes Schreiben eingereicht wird, kann dies unterschiedlich kontextualisiert sein: Die im sample im Frühjahr 1947 in Internierung Befindlichen wurden beispielsweise parallel zum Schreiben eines Lebenslaufs sowie zum Schreiben ihrer »vorläufigen Verteidigungs-
—————— 64 Vgl. dessen Abdruck im Anhang. 65 Verteidigungsschriften werden bei Internierten ebenso wie Nicht-Internierten in der Regel von Rechtsanwälten verfasst. Zudem reagieren viele Belastete auch mit eigenen handschriftlichen Selbstpräsentationen auf diese Schreiben. Meist tauchen erste Schreiben von Anwälten nach dem Versenden der Klageschrift auf. Die ersten Selbstpräsentationen waren in der Regel noch vor dem Einschalten eines Anwaltes abgegeben worden. In einigen Fällen wird der Eindruck erweckt, dass der Schreiber die Formulierungen der Anwälte übernimmt. Eine intensive und systematische Auswertung der Verteidigungsschriften durch Anwälte im Entnazifizierungsverfahren steht bislang aus. 66 Detailliert und fallspezifisch werden diese in den einzelnen Fallanalysen reflektiert.
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schrift« beziehungsweise ihres »politischen Werdegangs«67 aufgefordert. Wie aus der Analyse der Schriftstücke hervorgeht, wurden bei dem Letztgenannten offenbar einige zu behandelnde Themen vorgegeben, darunter: Zeitpunkt und Gründe für den Parteibeitritt, Aufzählung und Abfolge übernommener NSDAP-Ämter, Zusammenarbeit mit der Gestapo, Beteiligung an der Judenverfolgung, Denunziationen.68 Die parallele Anforderung von zwei unterschiedlichen Schreiben legt nahe, den Lebenslauf ohne jeglichen Bezug auf den Nationalsozialismus zu verfassen und die mit der NS-Verstrickung zusammenhängenden Themen nur in dem zweiten Schreiben zu behandeln. Der Lebenslauf erhält hier den Charakter einer Anlage, die möglicherweise stark an standardisierte Vorgaben dieses Formats angelehnt ist. Tauchen »Lebensläufe« von Nicht-Internierten in den Quellen auf, so sind diese anders kontextualisiert. Sie werden vielfach auf eigene Initiative eingereicht und häufig mit einem Antrag an die Entnazifizierungsbehörden verbunden. So enthalten die von einigen bereits 1945/46 eingereichten Anträge auf Vorstellungsverfahren an die lokalen Behörden des Öfteren biographische Selbstpräsentationen, in denen zugleich Bezug auf die NSVerstrickung genommen wird. Aspekte eines standardisierten Lebenslaufs werden hier kombiniert mit der Vertiefung von einzelnen Themen zur NSBelastung. Neben dem strengen Format Lebenslauf liegen in den Entnazifizierungsakten also zahlreiche Anträge vor, in die biographische Selbstpräsentationen integriert sind und in denen unter Rückgriff auf die Lebensgeschichte argumentiert wird. Für diese Formate gelten keine streng standardisierten Regeln, die Themenauswahl ist »freier« und es wird eine stärkere Selektivität, insbesondere auch hinsichtlich von Auslassungen ermöglicht. Zugleich eröffnen diese Formate Vertiefungen, die Erwähnung von Erlebnissen, Beschreibungen von Situationen etc., die im Rahmen der standardisierten Lebensläufe unüblich sind.
—————— 67 Das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus nebst Ausführungsbestimmungen für den Bereich des Landes Württemberg-Baden (Stand 1. Dezember 1947), Abschnitt X 88c. 68 Der Wortlaut der Schreibaufforderung ist in den ausgewerteten Akten leider nicht überliefert.
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Mündliche Selbstpräsentationen in verschriftlichter Form Mündliche Selbstpräsentationen im Entnazifizierungsprozess liegen teilweise in verschriftlichter Form in Vernehmungs- und Verhandlungsprotokollen in den Akten vor. Sie zählen indes nicht zu den zentralen Quellen der Auswertung, da sie nicht unbedingt den exakten Wortlaut der Befragten wiedergeben.69 Beide Dokumentenarten enthalten jedoch weitere Informationen zur Person und deren Verhalten als NS-Funktionär und im Entnazifizierungsverfahren. Sie werden zudem in die Analyse mit einbezogen, da Äußerungen in der direkten mündlichen Kommunikation spontaner erfolgen müssen als in der schriftlichen Selbstdarstellung. Damit sind sie auch weniger kontrollierbar durch den Belasteten. Die in Vernehmungsprotokollen angesprochenen Themen und Hinweise auf das Verhalten des Vernommenen werden daher durchaus in der Interpretation des Falles herangezogen. Dasselbe gilt für Aussagen aus den mündlichen Verhandlungen, die in den entsprechenden Protokollen verschriftlicht vorliegen. Auch sie werden nur ergänzend in die Analyse miteinbezogen, da die konkreten Interaktionen nur teilweise dokumentiert sind (etwa, wann genau eine Frage an den Belasteten gestellt wurde). Wo einzelne Aussagen herangezogen werden, wird die Äußerung so gut wie möglich im jeweiligen unmittelbaren Interaktionskontext beleuchtet. Dabei wird auch die Frage gestellt, ob eine Struktur der Selbstpräsentation und des Umgangs mit Fragen in der Verhandlung zu erkennen ist.
2.2.4. Zusammenfassung Im Vorangegangenen wurde der interaktive und notwendig biographisch fundierte Charakter der verwendeten Quellen dargelegt. Abschließend sollen Thesen zur potentiellen Aussagekraft der ausgewählten Quellen, insbesondere der selbst verfassten Lebensläufe von NSDAP-Funktionären an die NSDAP und die Entnazifizierungsbehörden zusammengefasst werden. Ihre Besonderheit ist begründet durch den Akt der Zuwendung zum eigenen Leben in einem je spezifischen Interaktionskontext mit spezifischen Formatvorgaben. In diesem Zusammenhang vorstellig werdende
—————— 69 Zur neueren Verhandlungsforschung, die sich auf selbst generierte Tonbandaufnahmen stützen kann, vgl. etwa Schröer 1994.
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biographische Erlebnisse und Erfahrungen und deren gegenwärtige Ordnung finden ihren manifesten oder latenten Niederschlag in der Textproduktion. Das Gleiche gilt hinsichtlich des Verhältnisses der Funktionäre zur NSDAP und den Entnazifizierungsbehörden, das den Schreiben, verstanden als handelnder Umgang mit den Adressaten, inhärent ist. Bei der Auswertung eines selbst verfassten Lebenslaufs eines (ehemaligen) NSDAP-Funktionärs kann insofern gefragt werden nach –
– – – – – –
der Sicht des Verfassers auf sein Leben zum Zeitpunkt des Schreibens beziehungsweise danach, wie vorstellig werdende Ereignisse und Erlebnisse im Akt der interaktiven Zuwendung geordnet werden; der Sicht des Verfassers auf die übernommene NSDAP-Funktion zum Zeitpunkt des Schreibens; »Spuren« des gelebten Lebens; dem manifesten Darstellungsinteresse des Verfassers gegenüber dem Adressaten; dem Verhältnis zum Adressaten; Handlungsmustern im Umgang mit dem Adressaten; nach dem Stellenwert und dem Zweck, der dem Schreiben von Seiten des Verfassers beigegeben wurde: ob eine Selbstpräsentation als unwichtig oder lästig empfunden und mit wenig Mühe verfasst ist; ob sie als Gelegenheit aufgefasst wird, sich in einer bestimmten Weise dem Adressaten gegenüber zu präsentieren; oder ob sie zum Anlass genommen wird zur Reflexion des eigenen Lebens vor dem Hintergrund gesellschaftlich-politischer Veränderungen und eigener biographischer Veränderungen.
In Fällen, in denen jeweils mehrere Selbstpräsentationen aus der NS-Zeit oder der Nachkriegszeit vorliegen, können diese miteinander kontrastiert und nach Kontinuitäten und Veränderungen während der NS-Zeit und während der ersten Nachkriegsjahre befragt werden. Zur Quellenkombination von Selbstpräsentationen aus unterschiedlichen institutionellen Kontexten aus der Zeit vor und nach 1945 Besonders interessant ist der Vergleich der Selbstpräsentationen aus NSund Nachkriegszeit. Der thematische Bezug der Textproduktion ist in den beiden Aktenüberlieferungen weitgehend derselbe: es geht um die Verfasser als NSDAP-Funktionäre. Auch das Format »Lebenslauf« ist gleich
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geblieben, während sich die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Adressaten grundsätzlich verändert haben. Diese Quellenkombination ermöglicht erstens, inhaltlich weitere Fragen aufzuwerfen. So können an diesem Material Kontinuitäten und Veränderungen der Selbstpräsentationen hinsichtlich aller eben angeführten Fragen untersucht werden. Inwieweit hat sich beispielsweise die Sicht auf das eigene Leben und die Tätigkeit als NSDAP-Funktionär nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus verändert? Welche Aspekte sind systemübergreifend Bestandteil der biographischen Selbstpräsentation? Welche Bedeutung haben die Selbstpräsentationen aus der NS-Zeit für spätere Schreiben? Durch den Vergleich des handelnden Umgangs mit der NSDAP und den Entnazifizierungsbehörden können zudem Fragen nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Umgang mit den erlebten Systemtransformationen gestellt werden. Zweitens kommt dieser Quellenkombination in meiner Arbeit eine wichtige Hypothesen überprüfende Funktion zu. Die Analyse der Selbstpräsentationen nach 1945 dient auch der Erhärtung und Infragestellung der bis zu diesem Zeitpunkt formulierten Hypothesen zu einem Fall. Die Spezifik der Triangulation70 dieser Daten liegt darin, dass sie denselben thematischen Bezug und ähnliche Formate bei denkbar unterschiedlichen Adressaten und gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen aufweisen. Dies ermöglicht unter anderem, die Relevanz und das jeweilige Zusammenwirken der aufgezeigten Schreibkontexte – Format, Interaktion mit dem Adressaten, biographische Erfahrungsaufschichtung – bei der Textproduktion einzelner Fälle zu konturieren.
2.3. Darlegung der fallrekonstruktiven Methode 2.3.1. Prinzipien der Auswertung Die in Kapitel 2.1. dargelegten methodologischen Grundüberlegungen soziologischer Biographieforschung enthalten eine Reihe von Implikationen für die konkrete Methode der Auswertung biographischer Daten und Dokumente einzelner Fälle. In der vorliegenden Arbeit lehne ich mich an das fallrekonstruktive Auswertungsverfahren an, das maßgeblich von Gab-
—————— 70 Vgl. Marotzki 1999, S. 123ff.
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riele Rosenthal zur Auswertung narrativer biographischer Interviews entwickelt wurde. Insbesondere die Prinzipien der Auswertung werden übernommen, die Auswertungsschritte jedoch aufgrund der Spezifika der ausgewählten Quellen (Kapitel 2.2.) modifiziert. Das Verfahren von Rosenthal wird dem vielfach erhobenen Anspruch nach »methodisch kontrolliertem Fremdverstehen«71 gerecht, indem die einzelnen Auswertungsschritte transparent gemacht werden und das konkrete Vorgehen an biographietheoretisch begründeten Auswertungsprinzipien orientiert wird.72 Als solche gelten das Prinzip der »Rekonstruktion«, das Prinzip der »Sequentialität« sowie das Prinzip der »Kontrastierung der erlebten und der erzählten Geschichte«.73 Rosenthal arbeitet dabei mit einer in der fallrekonstruktiven Forschung häufiger angewandten Verbindung der Textanalyse, wie sie von Fritz Schütze entwickelt wurde, und dem Konzept der Objektiven oder Strukturalen Hermeneutik nach Ulrich Oevermann.74 Hinzu kommt eine thematische Feldanalyse im Anschluss an die Arbeiten von Aron Gurwitsch.75 Spezifisch an dem von Rosenthal vorgestellten Verfahren ist, dass es »sich durch ein sequenzielles Vorgehen aus[zeichnet], bei dem die zeitliche Struktur sowohl von erzählter als auch von erlebter Lebensgeschichte analysiert wird.«76 In diesem Ansatz kommt im Gegensatz zu anderen Verfahren auch der sequentiellen Rekonstruktion der gelebten Geschichte Relevanz zu. Im Unterschied zu induktiven und deduktiven Vorgehensweisen und einem damit verbundenen subsumtionslogischen Vorgehen erfordert eine rekonstruktive Vorgehensweise, einer Lebensgeschichte nicht mit vorab festgelegten Kategorien zu begegnen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass »soziale Gebilde, wie die biographische Selbstpräsentation, einheitliche Gebilde sind, die durch ein zugrundeliegendes Regelsystem erzeugt werden«77. Es geht mithin darum, die »volle Konkretheit eines Falles« zu erfassen und seine »konstitutiven Momente […] in Abgrenzung von den situationsspezifischen Restfaktoren« zu bestimmen.78 Das Prinzip der Re-
—————— 71 Vgl. Schütze/Meinefeld/Springer/Weymann 1981. 72 Vgl. zu Gütekriterien qualitativer Forschung Marotzki 1999, S. 123ff., Steinke 2004, S. 323ff. 73 Vgl. Rosenthal 1995, S. 208ff.; Rosenthal 2005, S. 173ff. 74 Vgl. Oevermann/Allert/Konau/Krambeck 1979. 75 Vgl. Rosenthal 2005, S. 173ff. 76 Rosenthal 2005, S. 173 (Hervorhebung im Original). 77 Rosenthal 1995, S. 210; vgl. Lewin 1930/31. 78 Rosenthal 1995, S. 210.
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konstruktion erstreckt sich damit bei Rosenthal auf die Forderung, ohne vorab festgelegte Kategorien an die Analyse nicht nur der dargestellten Geschichte, sondern auch der erlebten Geschichte heranzugehen: So, wie die Bedeutung einer Textpassage im Gesamtzusammenhang des Textes interpretiert werden soll, soll auch die Bedeutung eines biographischen Datums im Zusammenhang mit dem gesamten gelebten Leben und der spezifischen Erfahrungsaufschichtung des jeweiligen Falles interpretiert werden.79 Dabei geht es darum, die funktionale Bedeutsamkeit eines Erlebnisses innerhalb der Lebensgeschichte beziehungsweise die Bedeutung einer Textpassage innerhalb der Selbstpräsentation zu erfassen. Zu diesem Zweck wird versucht, das Regelsystem, das einer gelebten oder einer dargestellten Geschichte unterliegt, zu rekonstruieren. Das Prinzip der Sequentialität bezieht sich darauf, die erlebte und dargestellte Geschichte in der zeitlichen Abfolge ihrer Entstehung zu interpretieren. Mit einer sequentiellen Auswertung soll dem Prozess der sukzessiven Erfahrungsaufschichtung in der gelebten Geschichte sowie dem sukzessiven Textaufbau in der Selbstdarstellung Rechnung getragen werden. Dabei wird mit dem abduktiven Schlussfolgerungsverfahren des amerikanischen Pragmatisten Charles Sanders Pierce gearbeitet:80 Es werden – in chronologischer Reihenfolge des gelebten Lebens beziehungsweise des Textaufbaus – jeweils zu einem biographischen Datum respektive zu einer Textsequenz Lesarten zu deren möglicher Bedeutung im gelebten beziehungsweise dargestellten Leben aufgestellt. Von einem empirischen Phänomen aus werden verschiedene Möglichkeiten entworfen, welche allgemeine Regel dem untersuchten Phänomen zugrunde liegen könnte. Davon ausgehend werden stets verschiedene Folgehypothesen über den möglichen Fortgang des gelebten Lebens oder der Textproduktion gebildet. Diese Folgehypothesen und mit ihnen die diesen unterstellte allgemeine Regel werden dann – in der Konfrontation mit den folgenden empirischen Phänomenen (seien es biographische Daten oder eine weitere Textsequenz) – bestätigt oder falsifiziert. Alltagsweltliches und theoretisches Wissen nehmen bei der Hypothesenentwicklung somit lediglich heuristischen Stellenwert ein.81 Dieses Auswertungsverfahren ermöglicht insbesondere, die spezifische Auswahl des jeweiligen Falles aus stets verschiedenen Möglichkeiten, verschiedenen Handlungs- und Darstellungsoptionen zu rekonstruieren. Damit öffnet es
—————— 79 Vgl. Rosenthal 2005, S. 173 80 Vgl. ebd., S. 58ff. 81 Vgl. Rosenthal 1995, S. 211.
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einen Weg, die Struktur des gelebten und dargestellten Lebens, nämlich die Regeln, denen die Auswahl folgt, zu rekonstruieren. Diejenige Regel beziehungsweise Strukturhypothese, die im Fortgang der Analyse nicht falsifiziert, sondern vielmehr mehrfach bestätigt werden kann, bildet dann die Grundlage der zum Zeitpunkt der Analyse plausibelsten Interpretation des Falles. Wichtig dabei ist, dass nicht nur Progno-sen entworfen werden, die eine sich andeutende Struktur bestätigen und damit nur auf Strukturreproduktionen zielen würden, sondern auch Bedin-gungen entworfen werden, unter denen eine Transformation von Struktu-ren möglich sein könnte.82 Das dritte Prinzip, die Kontrastierung der Struktur der gelebten mit der Struktur der dargestellten Geschichte, resultiert aus der Grundüberlegung, dass diese zwar unterschiedlichen Strukturierungsregeln folgen und daher zunächst getrennt voneinander zu rekonstruieren sind, jedoch wechselseitig aufeinander bezogen sind. Ihr spezifischer Zusammenhang kann dann in einer abschließenden Kontrastierung von erlebter und erzählter Geschichte bestimmt werden. Die Kontrastierung der erlebten mit einer oder mehreren dargestellten Geschichte(n) beziehungsweise der wechselseitige Bezug zwischen erlebter und dargestellter Geschichte ist bei der in dieser Arbeit vorliegenden Quellenlage, nach der mehrere Selbstpräsentationen aus dem vorrangig interessierenden Zeitraum 1933 bis 1945 vorliegen, von spezifischem Interesse. Der sequentiell und nach dem abduktiven Schlussfolgerungsverfahren vorgehende Auswertungsprozess verringert zudem die Gefahr, Problemen des hermeneutischen Zirkels zu erliegen, aufgrund von nichtreflektierten theoretischen Vorannahmen, subjektiver Befindlichkeit etc. voreilige »Kurzschlüsse« zu ziehen.83 Denselben Zweck erfüllt auch die empfohlene Durchführung einzelner Auswertungsschritte in interdisziplinär zusammengesetzten Gruppen. In der vorliegenden Studie ist dieses Verfahren kontinuierlich umgesetzt worden.84 Das abduktive und teilweise in Arbeitsgruppen organisierte Vorgehen hält die Forscherinnen und Forscher an, über den gesamten Auswertungsprozess die Offenheit für die spezifische Logik des Falles zu behalten.
—————— 82 Vgl. Rosenthal 2005, S. 176. 83 Vgl. Steinbach 1986, Rosenthal 2005, S. 20f. 84 Vgl. auch Marotzki 1999, S. 123f., der den Einbezug mehrerer Forscher/innen in den Erhebungs- bzw. Auswertungsprozess als Forscher-Triangulation bezeichnet.
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2.3.2. Die einzelnen Auswertungsschritte Die Anwendung dieser Auswertungsprinzipien bei der Analyse der vorliegenden Quellen impliziert eine bestimmte Vorgehensweise im Auswertungsprozess sowie spezifische Fragestellungen bei einzelnen Auswertungsschritten. Die Festlegung von einzelnen Auswertungsschritten wurde am Vorgehen, das Rosenthal für die Analyse narrativer Interviews entwickelt hat, orientiert.85 Die Umsetzung der Auswertungsprinzipien bedingt allerdings, bei der Auswertung der gewählten Quellen dieses Verfahren zu modifizieren. Dass für einen Fall Selbstpräsentationen aus einem Zeitraum von bis zu 15 Jahren vorliegen, hat Auswirkungen auf das Vorgehen im Auswertungsprozess. Ebenso implizieren die Kürze der Quellen und die institutionellen Kontexte, in denen sie produziert wurden, das Vorgehen in Teilen zu modifizieren und kontextspezifische Fragestellungen in den Auswertungsprozess mit aufzunehmen. Bei der Analyse einzelner Fälle bin ich in folgenden Schritten vorgegangen: – – – – –
– – – –
Rekonstruktion der biographischen Daten aus dem gesamten vorliegenden Aktenmaterial Sequentielle Analyse der biographischen Daten bis zum Zeitpunkt der ersten vorliegenden Selbstpräsentation Sequentielle Textanalyse der ersten vorliegenden Selbstpräsentation Kontrastierung der bisherigen Hypothesen zur erlebten und dargestellten Geschichte Fortsetzung des Prozesses der abwechselnden Interpretation weiterer biographischer Daten beziehungsweise Selbstpräsentationen in chronologischer Abfolge Rekonstruktion von Erlebnissen, Erfahrungen und Handlungsmustern im gelebten Leben Weitere Feinanalysen Abschließende Kontrastierung der gelebten und dargestellten Geschichte(n) Falldarstellung mit spezifischem Fokus auf Fragestellung
Im Folgenden werden die einzelnen Auswertungsschritte kurz erläutert: Im ersten Schritt, der Rekonstruktion der biographischen Daten aus dem gesamten vorliegenden Aktenmaterial, geht es um das Zusammentragen
—————— 85 Vgl. hierzu Rosenthal 1995, S. 208–226, Rosenthal 2005, S. 173–195.
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und die Rekonstruktion der von den Interpretationen des Verfassers weitgehend unabhängigen biographischen und familienbiographischen Daten aus dem Quellenmaterial. Dabei werden biographische Daten aus allen verfügbaren Quellen herangezogen. Bei sich widersprechenden Angaben wird versucht, die zutreffenden Angaben zu rekonstruieren. Die Überlieferungsdichte des untersuchten Materials ist sehr unterschiedlich. Mit aufgenommen werden hier bereits aus den Akten rekonstruierte Verläufe einer NSDAP-Karriere (wie die Übernahme von Parteifunktionen, parteiinterner Aufstieg, Funktionsenthebungen) sowie nachweisbares Verhalten im Rahmen der Funktionsausübung. So wird etwa ein in der Spruchkammerverhandlung belegtes oder weitgehend unumstrittenes Verhalten während des Nationalsozialismus, mitunter zurückgehend auf Be- und Entlastungsschreiben, als biographisches Datum in die Analyse miteinbezogen. Dabei ist der Charakter der jeweiligen herangezogenen Dokumente zu berücksichtigen, die als »standardisierte Artefakte« in ihrem Entstehungskontext quellenkritisch zu reflektieren sind.86 In einem zweiten Auswertungsschritt, der sequentiellen Analyse der biographischen Daten bis zum Zeitpunkt der ersten vorliegenden Selbstpräsentation, werden biographische Daten eines Falles bis zu dem Zeitpunkt analysiert, für den eine erste Selbstdarstellung vorliegt.87 Dabei werden die von den Interpretationen der Verfasser weitgehend unabhängigen biographischen Daten in chronologischer Abfolge nach dem abduktiven Vorgehen analysiert. Es wird danach gefragt, wie ein Mensch ein biographisches Datum erlebt haben könnte und wie er damit handelnd umgehen könnte. Dabei wird bei der Interpretation eines Datums das Wissen um den Fortgang der gelebten Geschichte zunächst ausgeblendet, um Möglichkeitshorizonte zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Lebensgeschichte zu entwickeln, vor deren Hintergrund der Fortgang der Biographie als spezifische Selektion des Falles aus einer Reihe von Handlungsmöglichkeiten interpretiert werden kann. Als Ergebnis dieses Analyseschrittes werden Strukturhypothesen über die gelebte Geschichte, die Erfahrungsaufschichtung und Ausbildung spezifischer Handlungsmuster aufgestellt. Dabei werden auch Hypothesen zur lebensgeschichtlichen Bedeutung politischer Betätigungen und Einstellungen bis zum Zeitpunkt der ersten vorliegenden Selbstpräsentation entwickelt. Zudem werden auf der Grundlage dieser Auswertung Folgehypothesen dazu aufgestellt, wie der betreffende Biograph sich zum
—————— 86 Vgl. Wolf 2004, S. 507. 87 Vgl. Oevermann/Allert/Konau 1980
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Zeitpunkt der ersten vorliegenden Selbstpräsentation 1934 der NSDAP gegenüber darstellen könnte. Dass dieser Schritt der Analyse der biographischen Daten vor der Textanalyse durchgeführt wird, hat auch die Funktion, nicht vorschnell den Interpretationen der Verfasser aufzusitzen und mit der Analyse von biographischen Daten vorab gewissermaßen eine Kontrastfolie für die Darstellungsweise der Verfasser zu schaffen.88 In einem dritten Schritt wird die sequentielle Textanalyse der ersten vorliegenden Selbstpräsentation durchgeführt. Dabei geht es um die Entwicklung von Hypothesen zur Struktur der dargestellten Geschichte. a) Vorab geht es, gemäß des konversationsanalytischen Prinzips »order all points«,89 um die Beschreibung der äußeren Form und des konkreten Kontextes, in den die Selbstpräsentation eingebettet ist. Hier werden beispielsweise Informationen zum genauen Fragebogen-Kontext gegeben und die äußere Form sowie die Inhalte der Angaben im Fragebogen reflektiert. Auch die äußere Form der Selbstpräsentation (Umfang, Schrift, Sorgfalt) wird beschrieben. Davon ausgehend werden erste Hypothesen dazu gebildet, welche Haltung der Verfasser gegenüber der Aufgabenstellung einnimmt, welche Relevanz er ihr beimisst und welchen Umgang er mit der NSDAP wählt; es können hier erste Hypothesen zum möglichen Verhältnis gegenüber der NSDAP gebildet werden. b) Im Anschluss daran wird die erste ausformulierte Selbstpräsentation sequentiell analysiert. Bei dieser Textanalyse geht es um die Analyse der Struktur des dargestellten Lebens. Es wird danach gefragt, wie der Verfasser sich darstellt und ob sich Regeln erkennen lassen, die seine Darstellung strukturieren. Vor dem Hintergrund der bisherigen Kenntnis und Analyse der biographischen Daten wird analysiert, welche Lebensbereiche der Verfasser anspricht und gegebenenfalls ausbaut und welche Lebensbereiche er ausblendet. Analysiert wird auch, wie angesprochene Themen miteinander verknüpft werden und inwieweit sich thematische Felder erkennen lassen, in denen der Verfasser sich präsentiert. Dabei soll nicht nur die vom Verfasser intendierte Darstellungsabsicht gegenüber dem Adressaten herausgearbeitet werden. Vielmehr sollen auch, soweit dies möglich ist, Aspekte der biographischen Gesamtsicht rekonstruiert werden, die als latenter Steuerungsmechanismus in die Darstellung hineinwirkt.90 Gefragt wird bei diesem Vorgehen sowohl nach der Funktion, die eine bestimmte Darstel-
—————— 88 Vgl. Rosenthal 1995, S. 216–218, dies. 2005, S. 175ff. 89 Vgl. Wolff 2004, S. 512. 90 Vgl. Rosenthal 2005, S. 183ff., dies. 1995, S. 218ff.
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lungsweise im Rahmen der Interaktion mit dem Adressaten für den Verfasser hat, als auch nach der biographischen Funktion, die die latent zum Ausdruck kommende Gesamtsicht einnimmt. Angesichts der Fragestellung und der Spezifik der Quellen werden zugleich Hypothesen aufgestellt, inwieweit die Darstellung am Adressaten orientiert ist und welches Verhältnis zur NSDAP darin zum Ausdruck kommt. Es wird dabei auch danach gefragt, inwieweit und aus welchen Gründen der Verfasser sich an Standards geschriebener Lebensläufe orientiert und wo er davon abweicht. Aufgrund der Kürze der meisten Texte wird in der Regel feinanalytisch vorgegangen.91 Das Verfahren ist wie in Schritt 2 abduktiv, das heißt der Text wird Sequenz für Sequenz mit den oben angeführten Fragen analysiert und es werden jeweils Folgehypothesen zu möglichen Anschlüssen formuliert, die dann mit dem tatsächlichen Fortgang der Darstellung kontrastiert werden. Das feinanalytische Vorgehen ermöglicht es, latente, jenseits der Intention der Verfasser liegende Sinngehalte des Textes zu rekonstruieren. Dieses Vorgehen ist aufgrund der Standardisierung des Formats sowie der Orientierung am Adressaten bei der Analyse von besonderer Bedeutung. Bei längeren Texten wird zunächst eine gröbere Textsequenzierung vorgenommen und – ähnlich wie bei der Sequenzierung narrativer Interviews – nach Themenwechseln und Textsortenwechseln sequenziert.92 Von den Verfassern gesetzte Absätze werden in der Sequenzierung markiert. Während der Interpretation wird dann nach der Funktion dieser Form der Textstrukturierung durch den Autor gefragt. Feinanalysen werden bei diesen längeren Texten gegebenenfalls im Zuge der weiteren Auswertung für ausgewählte Textstellen durchgeführt. In einem vierten Auswertungsschritt werden die bisherigen Hypothesen zur erlebten und dargestellten Geschichte kontrastiert. Es wird danach gefragt, welche möglichen Zusammenhänge es zwischen bisher aufgestellten Strukturhypothesen zur erlebten und dargestellten Geschichte gibt, welche Strukturhypothesen zum gelebten Leben durch die Analyse des dargestellten Lebens unwahrscheinlich geworden sind, welche aufrechterhalten werden können. Ausgehend von den bisher aufgestellten Strukturhypothesen zur erlebten Geschichte und zur biographischen Gesamtsicht werden nun wiederum Folgehypothesen dazu entwickelt, wie der Biograph im Zeitraum nach der ersten Selbstpräsentation weiter agieren könnte.
—————— 91 Vgl. Oevermann/Allert/Konau/Krambeck 1979. 92 Vgl. Rosenthal 1995, S. 240f.
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Im fünften Schritt wird dieser Prozess der abwechselnden Interpretation weiterer biographischer Daten beziehungsweise Selbstpräsentationen in chronologischer Abfolge fortgesetzt (analog zu den Schritten 2–4). Jeweils zu dem Zeitpunkt, für den eine Selbstpräsentation vorliegt, wird die Analyse der biographischen Daten unterbrochen, um Folgehypothesen zur möglichen Darstellungsweise zu diesem Zeitpunkt in der Lebensgeschichte aufzustellen. Dabei wird stets die jeweilige historische Situation einbezogen. Dann wird der betreffende Text analysiert. Dieses Vorgehen trägt dem Umstand Rechnung, dass mit Selbstpräsentationen gearbeitet wird, die vor 60 bis 70 Jahren, inmitten des interessierenden lebensgeschichtlichen Zeitraums zu verschiedenen Zeiten verfasst wurden. Es wird fortgesetzt, bis das zeitlich letzte vorliegende Dokument, sei es eine Selbstpräsentation oder ein Verweis auf weitere biographische Daten, analysiert worden ist. Nach jedem Schritt werden die aufgestellten Strukturhypothesen mit denen aus früheren Schritten abgeglichen. Zudem werden stets Folgehypothesen zum Fortgang der gelebten Geschichte beziehungsweise zu Möglichkeiten der Darstellungsweise in folgenden Selbstpräsentationen aufgestellt. Hierbei gilt es festzuhalten, dass auch die Analyse weiterer biographischer Daten nach einer Textanalyse Strukturhypothesen, die zu dieser Selbstpräsentation aufgestellt worden sind, unterstützen oder als unwahrscheinlich erscheinen lassen kann und vice versa. Der sechste Analyseschritt beschäftigt sich dann intensiv mit der Rekonstruktion der gelebten Geschichte. Dabei werden die biographischen Daten – nun ergänzt um weitere biographische Informationen – den Darstellungen und Selbstdeutungen der Verfasser gegenübergestellt. Das Ziel dieses Analyseschrittes ist es, die gelebte Lebensgeschichte so weit wie möglich zu rekonstruieren. Neben der Rekonstruktion von biographischen Erlebnissen wird versucht, die Erfahrungsaufschichtung, biographische Handlungsmuster und die Bedeutung, die eine NSDAP-Funktion innerhalb dieser einnahm, herauszuarbeiten. Dabei werden weitere Selbstpräsentationen und Aussagen aus Vernehmungen, Spruchkammerverhandlungen etc. in die Analyse miteinbezogen. Bei der Kontrastierung der biographischen Daten mit deren Darstellung in den Selbstpräsentationen ist es wichtig, die in den jeweiligen Textanalysen rekonstruierten Gegenwartsperspektiven der Verfasser zum jeweiligen Zeitpunkt des Schreibens zu berücksichtigen.93 Den Selbstpräsentationen kommt – sowohl durch ihre
—————— 93 Vgl. ebd., S. 220f.
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zeitliche Situiertheit innerhalb der gelebten Lebensgeschichte als auch wegen der institutionellen Kontexte, in denen sie entstanden sind – bei diesem Auswertungsschritt noch ein weiterer Stellenwert zu. Sie werden als ein spezifisches Agieren gegenüber dem jeweiligen Adressaten verstanden und damit als biographisches Datum in die Analyse miteinbezogen. Im Zuge der Rekonstruktion der Fallgeschichte können siebtens weitere Feinanalysen von Textstellen zu Fragen des gelebten und dargestellten Lebens durchgeführt werden. Dafür werden solche Textstellen ausgewählt, die bisherige Strukturhypothesen zu unterstützen oder zu widerlegen scheinen sowie Textstellen, die zunächst nicht entschlüsselbar sind. Es wird wie bei den anderen Schritten auch Sequenz für Sequenz vorgegangen.94 In einem abschließenden achten Analyseschritt erfolgt nochmals die Kontrastierung der erlebten Geschichte mit den verschiedenen Darstellungen des Lebens. Die Vergangenheitsperspektive und die Perspektive der Verfasser auf ihr Leben zu verschiedenen Zeitpunkten werden hier miteinander verglichen und nach ihrem Zusammenhang befragt. Es wird danach gefragt, welche Funktion die einzelnen Selbstdarstellungen zum jeweiligen Zeitpunkt des Verfassens für den Betreffenden erfüllen. Dabei wird auch danach gefragt, welche Themen zu welchem Zeitpunkt ausgebaut werden, welche thematischen Felder gegebenenfalls in welchem Schreib-Kontext ausgestaltet, nicht entwickelt oder vermieden werden. Dieser Schritt enthält also auch die Kontrastierung der verschiedenen Selbstpräsentationen zu unterschiedlichen Zeiten gegenüber unterschiedlichen Adressaten. Dies verbessert die Einschätzung, was adressatenspezifisch geschrieben wird und was relativ unabhängig vom Adressaten über einen längeren Zeitraum und Systemwechsel hinweg – in diesem Fall über den Zusammenbruch des Nationalsozialismus hinaus – Bestandteil der Selbstpräsentationen ist. Es wird hier auch nach Kontinuitäten und Veränderungen in Selbstpräsentationen gefragt. Nach der Auswertung des gesamten Falles erfolgt die Falldarstellung mit spezifischem Fokus auf der Fragestellung.
—————— 94 Vgl. ebd., S. 221ff.
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2.4. Auswahl der Fälle und theoretische Verallgemeinerung 2.4.1. Fallrekonstruktive Forschung als durch Offenheit geprägter und auf Theoriebildung zielender Prozess Für die Einschätzbarkeit der Qualität qualitativer Forschung ist es notwendig, das Vorgehen im Forschungsprozess, die Datenerhebung, Auswahl der Fälle und Wege der Theoriebildung transparent zu machen.95 Das Vorgehen orientiert sich an der von Barney Glaser und Anselm Strauss in den 1960er Jahren entwickelten grounded theory, einem Verfahren empirisch fundierter Theoriebildung, das im Bereich der fallrekonstruktiven oder interpretativen Sozialforschung vielfach verwendet wird.96 Für Forschungsfragen, die darauf zielen, mittels sozialwissenschaftlicher Hermeneutik noch nicht bekannte Sinnbezüge und Handlungsmuster von Akteuren zu rekonstruieren und nicht mit vorab festgelegten Kategorien an das Material heranzugehen, scheint dieses Vorgehen besonders geeignet. Bewusst mit vage formulierten Ausgangsfragestellungen beginnend, ist dieses Verfahren hypothesenbildend angelegt und zeichnet sich durch einen Prozess des ineinander verschränkten Auswertens, Hypothesenbildens und Überprüfens aus. Bewusst behält es die Offenheit, während des Forschungsprozesses Gegenstand und Fragestellungen zu verändern beziehungsweise erst dann zu fokussieren. Auch das sample auszuwertender Fälle ist zu Beginn der Forschung nicht fest vorgegeben, sondern wird vielmehr im Forschungsprozess als theoretical sample erst sukzessive entwickelt.97 Alltagsweltliches und gegenstandsbezogenes theoretisches Vorwissen sind hierbei insbesondere als heuristisches Wissen dienlich, nicht nur während der Interpretation einzelner Fälle, sondern auch hinsichtlich der Auswahl von weiteren Fällen, die Aufmerksamkeit für im Material steckende potentielle Kontrastierungsmöglichkeiten etc.98 Insofern Hypothesen erst im Verlauf der Forschung gebildet und im weiteren Verlauf erhärtet oder verworfen werden, ist dieses Verfahren vor allem theorie- und begriffsbildend angelegt. Ergebnisse der Forschung können aber auch zur kritischen Diskussion und Überprüfung bereits bestehender Theorien dienen.99
—————— 95 Vgl. Steinke 2004, Marotzki 1999. 96 Vgl. Strauss 1994, Hildenbrand 2004, Rosenthal 2005, S. 85ff. 97 Vgl. Strauss 1994, S. 70f., Rosenthal 2005, S. 85–88. 98 Vgl. Strauss 1994, S. 36f. 99 Vgl. Rosenthal 2005, S. 25f.
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Verallgemeinerungen auf der Grundlage fallrekonstruktiver Forschung sind theoretischer, nicht numerischer Art.100 Bei ihnen geht es in der Tradition der verstehenden Soziologie nicht um die Häufigkeit eines sozialen Phänomens, sondern um die Rekonstruktion von Wirkungszusammenhängen, die dieses hervorbringen. Dabei werden verschiedene Abstraktionsprozesse im Forschungsverlauf vorgenommen. Verallgemeinerungen auf der Grundlage einzelner Fallanalysen erfolgen auf dem Weg von Strukturgeneralisierungen.101 Bereits die am einzelnen Fall rekonstruierten Fallstrukturen stellen Abstraktionen vom konkreten Fall dar.102 Die Regeln, die den Fall hervorbringen, müssen in ihrer Reproduktionsgesetzlichkeit aufgezeigt werden, damit sie als gültig angesehen werden können. Als Phasen der Reproduktion können auch verschiedene Aspekte, unter denen die Fallstruktur untersucht wird, angesehen werden. Die Formulierung einer Fallstruktur ist bereits soweit vom besonderen Fall abstrahierend formuliert, dass sie potentiell auch für andere Fälle gelten kann. Ausgehend von verschiedenen rekonstruierten Fallstrukturen werden dann in einem weiteren Abstraktionsprozess zu einer ausgewählten Fragestellung auf dem Wege maximaler und minimaler Fallkontrastierung Typen gebildet. In der vorliegenden Forschung wurde ein Vorgehen gewählt, bei dem mit der Typenbildung ein Prozess des Kontrastierens der Fälle hinsichtlich verschiedener im Forschungsprozess herausgearbeiteter gegenstandsrelevanter Aspekte einhergeht. Für die Typenbildung wurde dann ein zentrales Thema fokussiert, das möglichst viele dieser Aspekte integriert beziehungsweise mit dem auf mehrere Aspekte Bezug genommen werden kann.103 In der vorliegenden Studie war für die Wahl dieses Themas auch relevant, was sich vor dem Hintergrund der Quellenlage als besonders gut bearbeitbar erwies. Eine Typenbildung gilt dann als abgeschlossen und theoretisch »gesättigt«, wenn aus dem Material hinsichtlich der gewählten Fragestellung kein weiterer Typus mehr auftaucht.104 Ausgehend von den gebildeten Typen und weiteren theoretischen Verallgemeinerungen, die in der Kontrastierung der ausgewerteten Fälle formuliert werden, können dann gegenstandsbezogene Theorien entwickelt, bestehende Theorien zum Thema
—————— 100 Vgl. ebd., S. 74ff. 101 Vgl. Wohlrab-Sahr 1993, S. 97ff. 102 Hierzu und zum Folgenden vgl. Wohlrab-Sahr 1994, S. 270ff.; dies. 1993, S. 97ff. 103 Vgl. ebd. 104 Vgl. Rosenthal 2005, S. 74ff., 94ff.
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kritisch hinterfragt oder der Beitrag der Forschungsergebnisse für verschiedene sozialwissenschaftliche Fragestellungen diskutiert werden.105 Im Folgenden wird das Vorgehen im Forschungsprojekt beschrieben. Dabei werden die einzelnen Schritte, von den Vorarbeiten bis zur Darstellung der Ergebnisse, expliziert.
2.4.2. Vorarbeiten Das Vorhaben, eine biographieanalytische Studie über untere NSDAPFunktionäre zu schreiben, entstand im Kontext des oben erwähnten Forschungsprojektes, das unter anderem lokale Parteiapparate der NSDAP erforschte. Zunächst wurde das Dissertationsprojekt als eine Studie speziell über NSDAP-Blockleiter angelegt, da über diese Gruppe – im Gegensatz etwa zu NSDAP-Kreisleitern, in Ansätzen auch Ortgruppenleitern – bislang wenig bekannt ist. Interessant war auch, dass diese Funktionäre mehrheitlich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die NSDAP eintraten und für sie, im Gegensatz zu Aktivisten von NSDAP und SA vor 1933, größere Forschungslücken bestehen. Vor dem Hintergrund bereits früherer Beschäftigung mit Biographieforschung und narrativen Interviews hatte ich zunächst vor, als Hauptquelle für die Auswertung narrative Interviews mit früheren NSDAP-Blockleitern zu führen. Verschiedene Zeitungsannoncen in Stuttgart und überregionalen Zeitungen hatten zwar die Bereitschaft zum Interview von nicht wenigen früheren Mitgliedern und Amtsträgern aller möglicher NS-Organisationen zur Folge, jedoch stellte sich in den Interviews heraus, dass letztlich nur einer der Interviewten NSDAP-Blockleiter war. Die geringe Rücklaufquote war jedoch nicht der einzige Grund, warum auf diese Quelle in der Untersuchung letztlich verzichtet wurde. Parallel erschlossen sich mir im Rahmen des Projektes die dort quantitativ untersuchten Personalakten von NSDAP-Funktionären, wobei ich auf die darin enthaltenen selbstgeschriebenen Lebensläufe aufmerksam wurde. Es schien lohnenswert zu testen, inwieweit diese Quelle als Materialgrundlage für fallrekonstruktive biographische Analysen dienen können. Spruchkammerakten mit weiteren biographischen Selbstpräsentationen konnten die Analyse sinnvoll ergänzen. Neben der geweckten methodischen Neu-
—————— 105 Vgl. Strauss 1994, Wiedemann 1991.
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gier sprach jedoch noch ein weiterer Grund dafür, diese Quellen zur Hauptquelle der Untersuchung zu machen: Aufgrund der Geburtsjahrgänge der unteren Funktionäre der NSDAP wäre es nur möglich gewesen, die Gruppe der damals sehr jungen Blockleiter zu interviewen, für die Jahrgänge bis etwa 1905 kamen Interviews nicht mehr in Frage. Die Wahl der schriftlichen Überlieferungen hingegen ermöglichte, alle Jahrgänge in die Untersuchung einzubeziehen. So wurde in einer Testphase mit der Auswertung von zwei Fällen begonnen. Dafür wurden Fälle gewählt, die bei der ersten Recherche durch ihre selbstverfassten Lebensläufe auffielen. In der Auswertung wurde danach gefragt, inwieweit anhand der überlieferten Dokumente spezifische biographische Bezüge, Relevanzen und Handlungsmuster rekonstruiert werden könnten. Für diese Testphase wurden die Fälle Johann G. und Adolf P. ausgewählt.106
2.4.3. Grundrecherche und Modifikation des Gegenstandbereichs Als es sich herauszustellen begann, dass das anvisierte Quellenmaterial hinsichtlich biographieanalytischer Fragestellungen trägt, wurde eine breite Grundrecherche in den vergleichsweise guten Überlieferungen zu Stuttgarter NSDAP-Funktionären durchgeführt. Dabei wurde ausgegangen vom Bestand PL502/29 im Staatsarchiv Ludwigsburg, der NSDAP-Personaldokumente für etwa 1.100 untere NSDAP-Funktionäre enthält. Für diese Grundrecherche wurde als Hilfsmittel eine Datenbank benutzt, die in dem erwähnten Forschungsprojekt aufgebaut wurde107 und zu allen Funktionären aus dem Bestand einige Daten festhielt: Alter, Beruf, Parteieintritt, Funktionen, zuständige Ortsgruppe sowie zuweilen Eintragungen in einem Feld »sonstige Bemerkungen«. Um weitere Selbstpräsentationen und ergänzende Informationen zu erhalten, recherchierte ich im Staatsarchiv Lud-
—————— 106 Johann G. wurde ausgewählt, da seine Selbstpräsentation auffiel durch eine für Lebensläufe außerordentlich unübliche Passage: Er erwähnte, 1923 einen Kommunisten erschossen zu haben. Adolf P. wurde ausgewählt aufgrund einer sehr »glatt« wirkenden Selbstpräsentation in den NS-Akten. Hier stellte sich die Frage, inwieweit eine solche dennoch Aufschluss über biographische Bezüge einer Funktionsübernahme geben kann. Da auf den ersten Blick auch die Verläufe der NSDAP-Aktivität sowie der habituelle Stil in der Funktionsausübung sehr unterschiedlich zu sein schienen, wurde mit diesen beiden Fällen begonnen; vgl. auch die Kapitel 3.2. und 6.1. 107 Vgl. Kapitel 1.1.
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wigsburg nach Spruchkammerakten zu Funktionären, die in dieser Datenbank erfasst waren. Dabei galt als Kriterium, dass sie zumindest zeitweise einen Posten als Blockleiter innehatten. Zudem versuchte ich in der Recherche ein möglichst breites Spektrum von Jahrgängen, Berufsgruppen, Parteieintrittsdaten sowie »Parteikarrieren« zu berücksichtigen, ohne aber diese Unterscheidungen vorab zu Kriterien der weiteren Untersuchung zu machen; auch wurde darauf geachtet, dass Funktionäre aus eher bürgerlich, kleinbürgerlich, proletarisch und ländlich geprägten Ortsgruppen in dieser Gruppe vertreten waren. Aus diesen beiden Überlieferungen – den NSDAP-Personalunterlagen und den Entnazifizierungsakten – recherchierte ich im Herbst 2000 und im Winter 2000/2001 insgesamt 100 untere NSDAP-Funktionäre, für die sowohl NSDAP-Personalunterlagen als auch Spruchkammerakten mit jeweils zumindest einem Minimum an biographischen oder vergleichbaren Selbstpräsentationen vorliegen.108 Zu diesen wurden Quellenexzerpte verfasst und erste Kopien der Selbstpräsentationen bestellt. Diese Grundrecherche diente als Pool, aus dem dann im Zuge der Auswertung sukzessive ein kleineres sample zusammengestellt wurde. Zu diesen 100 Funktionären wurde als Hilfsmittel eine Tabelle erstellt mit Angaben zu Geburtsjahr, Beruf, Parteieintrittsdatum, übernommenen Funktionen, zuständigen Ortsgruppen sowie zur Quellenlage. Zudem wurden erste Eindrücken festgehalten zu einer möglichen biographischen Relevanz der NSDAP-Tätigkeiten und zu möglichen Besonderheiten der einzelnen recherchierten Fälle im Hinblick auf ihre Hinwendung zur NSDAP, auf ihren habituellen Stil, den Verlauf der Parteitätigkeit oder aber ihre Selbstpräsentationen vor und nach 1945. Diese Tabelle diente später als Hilfe bei der Auswahl von Fällen für Globalanalysen und der Entscheidung für extensiv zu rekonstruierende Fälle. Schon bald nach Abschluss der Grundrecherche erwies es sich als nahe liegend, den Fokus auf die Blockleiter um einen Blick auf die unteren Funktionäre insgesamt zu erweitern. Diese Erweiterung des Gegenstandes rührte zum einen daher, dass zu denjenigen Funktionären, die auch weitere Funktionen übernommen haben, erheblich mehr Quellenmaterial vorliegt, und dass dieses Quellenmaterial auch diese weiteren Funktionsausübungen, als Zellen-, Amts- und Ortsgruppenleiter betrifft und auf diese bezogen ist.
—————— 108 Um für 100 Funktionäre diese doppelte Überlieferung ausfindig zu machen, wurden für über 400 Funktionäre, die in der Datenbank aufgeführt waren, Recherchen nach Spruchkammerakten durchgeführt.
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Zudem stellte sich heraus, dass einem Blockleiterposten nach wenigen Monaten oder Jahren in vielen Fällen ein weiteres Parteiamt folgte. Auch aus diesem Grund erschien es sinnvoll, den Gegenstand – dieser parteiinternen Dynamik entsprechend – dahingehend zu erweitern und Funktionäre in den NSDAP-Ortsgruppen in den Blick zu nehmen. Allerdings blieb es dabei, dass alle untersuchten Fälle irgendwann einmal Blockleiter waren. Dies bedeutet wiederum, dass diejenigen, die bereits 1933 oder früher Ortsgruppenleiter waren, in der Untersuchung nicht enthalten sind.
2.4.4. Auswahl der Fälle für Globalanalysen und extensive Fallrekonstruktionen und Prozess der Typenbildung Aus diesen 100 recherchierten Funktionären wurden sukzessive Fälle für Globalanalysen und extensive Fallrekonstruktionen ausgewählt.109 Dabei wurde nach der Methode des theoretical sampling (Glaser/Strauss) vorgegangen: »Das Theoretical Sampling ist ein Verfahren, bei dem sich der Forscher auf einer analytischen Basis entscheidet, welche Daten als nächstes zu erheben sind und wo er diese finden kann. Die grundlegende Frage beim Theoretical Sampling lautet: Welchen Gruppen oder Untergruppen von Populationen, Ereignissen, Handlungen (um voneinander abweichende Dimensionen, Strategien usw. zu finden) wendet man sich bei der Datenerhebung als nächstes zu? Und welche theoretische Absicht steckt dahinter? Demzufolge wird dieser Prozeß der Datenerhebung durch die sich entwickelnde Theorie kontrolliert.«110
In der vorliegenden Studie wurden zusätzlich zu den ersten beiden bereits vorliegenden Globalanalysen zunächst 13 weitere Fälle für eine globalanalytische Auswertung ausgewählt und in weiteren Archivaufenthalten die Quellen für diese Fälle vertiefend recherchiert. Dabei wurden nun Fälle ausgesucht, die ähnliche oder unterschiedliche Verläufe, Stile der Funkti-
—————— 109 Die angefertigten Globalanalysen umfassten in der Regel eine über die Grundrecherche hinausgehende Quellenrecherche, die Analyse der biographischen Daten, einiger Selbstpräsentationen und die Kontrastierung der Hypothesen zur gelebten und dargestellten Geschichte. Ergänzt wurden sie um einige Recherchen in der Sekundärliteratur; vgl. zu Globalanalysen Rosenthal 2005, S. 93f. In den extensiven Fallanalysen wurden nahezu alle Selbstpräsentationen, meist feinanalytisch, analysiert und alle in 2.3.2. dargestellten Auswertungsschritte durchgeführt. Es wurde erheblich stärker in der Sekundärliteratur recherchiert, teilweise wurden weitere Archivrecherchen durchgeführt. 110 Strauss 1994, S. 70.
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onsausübung, Zeitpunkte der Parteieintritte, politische Vorgeschichten, Jahrgänge, biographische Situationen zum Zeitpunkt der Hinwendung zum Nationalsozialismus und der Funktionsübernahme etc. aufwiesen. So wurde nun etwa direkt nach Verläufen gesucht, die im Gegensatz zu Johann G. (zunehmendes NSDAP-Engagement) und Adolf P. (weitgehend gleichbleibend geringes NSDAP-Engagement) ein abnehmendes Engagement zeigten sowie Fälle ausgewählt, die nach 1945 behaupteten, Widerstand gegen das System geleistet zu haben. Auf diesem Wege wurde versucht, eine möglichst große Bandbreite an gesellschaftlich-biographischen Konstellationen der Hinwendung zur NSDAP sowie an Verläufen und Stilen der Funktionsausübung zu erfassen.111 Die Bildung dieses sample orientierte sich mithin »am theoretisch interessanten Fall und an dem Kriterium der Varianz mit dem Ziel der Rekonstruktion unterschiedlicher Typen.«112 Aus dem Pool dieser Globalanalysen wurden dann Fälle mit vergleichsweise sehr guter Quellenlage für extensive Auswertungen ausgewählt. Dieser Prozess, der in der Literatur auch als zweite theoretische Stichprobe bezeichnet wird, wird zunehmend gesteuert über im Forschungsprozess gebildete Hypothesen.113 Ausgehend vom ersten ausgewählten Fall (Hans D.) wurde nach Fällen gesucht, die einen maximalen und minimalen Kontrast darstellen. In diesem Zusammenhang wurden erste verschiedene Möglichkeiten von Typenbildungen ausprobiert. Im Lauf der Auswertung bildeten sich als gegenstandsrelevante Aspekte die Hinwendung zum Nationalsozialismus, Parteibeitritt, Funktionsübernahme, Verlauf und Art und Weise (habitueller Stil) der Funktionsausübung sowie das Verhalten nach Kriegsende und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus heraus.114 Zunehmend konnten Fragestellungen fokussiert werden, anhand derer eine Typenbildung besonders sinnvoll erschien. Dieser Prozess war orientiert daran, was theoretisch besonders interessant sein könnte, welche auf eine Typenbildung bezogene Fragestellung besonders viele gegenstandsrelevante Aspekte integrieren könnte
—————— 111 Hier wurden Globalanalysen angefertigt zu Hans D., Eugen E., Helmut K., Karl Ki., Ludwig L., Johannes N., Rudolf O., Simon R., Walter R., August S., Hans V., Raimund W., Willy W. 112 Rosenthal 2005, S. 95. 113 Vgl. Rosenthal 2005, S. 94–96. 114 In der Auswahl dieser Aspekte sind – wenngleich nicht von vornherein so angelegt – einige Parallelen zum Kodierparadigma bei Anselm Strauss erkennbar, vgl. Strauss 1994, S. 57.
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und – last but not least – was angesichts des spezifischen Quellenmaterials an interessanten Fokussierungen ermöglicht wird. Als ein solches Hauptthema kristallisierte sich zunehmend die biographische Bedeutung einer NSDAPTätigkeit heraus, die sich in der Analyse als deren Verlauf maßgeblich steuernd und mit anderen Aspekten sinnlogisch zusammenhängend erwies. Sie wurde zur Grundlage der Typenbildung gemacht. Nach Hans D. wurden – immer vor dem Hintergrund der jeweils bis dahin vorliegenden Ergebnisse – zuerst Johann G., dann Johannes N.115, Rudolf O. und zuletzt Simon R. für eine extensive Auswertung ausgewählt. Dies verdeutlicht, dass Fallauswahl, Auswertung und theoretische Verallgemeinerungen in einem ineinander verflochtenen Prozess stattfinden. Dabei soll noch darauf aufmerksam gemacht werden, dass im Zuge der extensiven Auswertung eines Falles frühe Vermutungen, was er repräsentieren, bestätigen, kontrastieren könnte, nicht selten revidiert werden müssen. Ein zu einem relativ frühen Zeitpunkt zur Kontrastierung ausgewählter Fall kann letztlich dem Fall sehr stark ähneln, für dessen maximale Kontrastierung er ausgewählt wurde. Dies war etwa der Fall bei der Auswahl von Johann G., bei dem zunächst vermutet wurde, dass er einen maximalen Kontrastfall zu Hans D. bilden könnte, der letztlich aber aufgrund der später ausgewählten Fragestellung für die Typenbildung ein eher minimaler Kontrastfall ist.116 Allerdings werden in den extensiven Fallauswertungen oftmals unerwartete, ganz neue Aspekte und Zusammenhänge offenbar, die dann wieder in die weitere Untersuchung einbezogen werden beziehungsweise interessante zusätzliche Ergebnisse oder An-regungen für künftige Forschungen darstellen können. Dies war etwa der Fall hinsichtlich der Entdeckung, dass viele der Funktionäre mit System-transformationen im 20. Jahrhundert ähnlich handelnd umgegangen sind. Die übrigen acht globalanalytisch ausgewerteten Fälle wurden dann im Zuge der Theorieentwicklung vor allem zur Erhärtung und Infragestellung bereits gebildeter Hypothesen und Typen ausgewählt.117 Auch hier gilt, dass ein zur minimalen oder maximalen Kontrastierung ausgewählter Fall andere Ergebnisse zeitigen konnte als zunächst vermutet. Er konnte sich
—————— 115 Der Fall ist kurz zusammengefasst in 6.1., eingehend dargestellt in Müller-Botsch 2006. 116 Johann G. weist zwar hinsichtlich einiger Aspekte, wie politischer Vorgeschichte, biographische Handlungsstruktur, habituellem Stil sehr starke Unterschiede zu Hans D. auf, jedoch bei der letztlich für die Typenbildung fokussierten Fragestellung gehören beide – wenngleich als zwei verschiedene Untertypen – dem gleichen Typus an. Vgl. Kapitel 4.2. 117 Vgl. Rosenthal 2005, S. 94–96; diese acht weiteren Funktionäre waren: Rudolf B., Emil F., Adolf F., Alfons K., Karl Kn., Gustav R., Eugen W., Wilhelm W.
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etwa als einen anderen Typus repräsentierend herausstellen als zunächst erwartet oder einen Ausgangspunkt zur Bildung von Untertypen oder verschiedenen Ausprägungen bilden. Dieser Prozess wurde fortgeführt bis zur (immer vorläufigen) theoretischen Sättigung der Typologie; das heißt bis zu dem Punkt, an dem im Rahmen dieser Forschungsarbeit kein weiterer Fall gefunden wurde, der nicht innerhalb der gebildeten Typologie verortet werden konnte.118
—————— 118 Vgl. ebd.
3. Empirische Falldarstellungen
Das folgende Kapitel umfasst vier Falldarstellungen von NSDAP-Funktionären auf Ortsgruppenebene: Hans D., Johann G., Rudolf O. und Simon R. Dabei handelt es sich um vier der fünf extensiv ausgewerteten Fälle.1 Diese Fälle wurden auf dem Wege minimaler und maximaler Kontrastierungen hinsichtlich verschiedener Aspekte während des theoretical sampling für eine extensive Fallauswertung ausgewählt (siehe Kapitel 2.4.). Insofern wird gewährleistet, dass anhand von vier Fällen bereits eine erhebliche Spannbreite an gesellschaftlich vorhandenen biographischen Kontexten der Hinwendung zum Nationalsozialismus, an Funktionsverläufen, Stilen der Funktionsausübung und biographischer Bedeutung der Parteitätigkeit aufgezeigt werden kann. Diese Spannbreite wird in Kapitel 4 durch zusätzliche Fälle noch erweitert und differenziert werden. Im Vordergrund der einzelnen Falldarstellungen in Kapitel 3 steht jedoch die ergebnisorientierte Darstellung der biographischen Fallrekonstruktionen und damit die Interpretation der Hinwendung zum Nationalsozialismus, des Funktionsverlaufs und der Interaktion mit der NSDAP als durch biographische Handlungsmuster und -orientierungen miteinander verbundene Prozesse. Es soll also vor allem die Entwicklung und Logik einzelner Fälle rekonstruiert werden. Dabei wird in der ersten Falldarstellung auch immer wieder auf einzelne Auswertungsschritte bei der Fallrekonstruktion Bezug genommen. Interpretative Sozialforschung zielt auf methodisch kontrollierte und empirisch fundierte Interpretation von Ausschnitten sozialer Wirklichkeit. Ihr Geltungsanspruch misst sich unter anderem an der Plausibilität und intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der vorgelegten Interpretationen. Diese werden stets in einem bestimmten historischen, gesellschaftlichen und biographischen Kontext angefertigt. Auch die folgenden Fallanalysen
—————— 1 Zur Darstellung des fünften Falles, Johannes N., vgl. Müller-Botsch 2006.
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sollen als durch diese Umstände ermöglichte und begrenzte Interpretationsangebote zur Diskussion gestellt werden.
3.1. Hans D.: »in selbstloser Weise einem geeinten Volk zu dienen« 3.1.1. Einleitung Der Lehrer Hans D., 1889 geboren, ist seit 1931 aktives Mitglied im NSLehrerbund und seit 1933 NSDAP-Mitglied. In beiden NS-Organisationen übernimmt er Funktionen. 1934 füllt er den NSDAP-Personal-Fragebogen »Personen-Beschreibung« aus und schreibt in den zwölf Leerzeilen enthaltenden Kasten mit der Überschrift »Lebenslauf« Folgendes: »Ich wurde am 27 Okt. 1889 als Sohn des Missionars D. in Hongkong geboren. 1894 reisten meine Eltern zur Erholung nach Europa u. wählten Cannstatt als Erholgsort. Nach einem Jahr verließen sie Europa wieder, um ihre Arbeit auf der Missionsstation wieder zu versehen. Zwei meiner Geschwister kamen in ein Pfarrhaus, das Jüngste nahmen die Eltern mit nach China. Ich selbst kam in das Missionsknabenhaus Basel bis zu meiner Konfirmation im Jahr 1904. Ich besuchte hierauf das Seminar Eßlingen. Unständige Verwendung fand ich in Bonlanden, Lehrensteinsfeld u. Uhlbach. 1916–1929 war ich Hauptlehrer in Mühlacker. 1929 erfolgte meine Verstzg. nach Stuttgart. Verheiratet bin ich mit Mathilde G., Tochter des verstorbenen Oberlehrers in Uhlbach. Wir haben 3 Kinder im Alter von 17. 14 u. 11 Jahren.«2 (Lebenslauf 1934)
Schon bei der ersten Lektüre stellten sich grundsätzliche Fragen: Wie kommt ein erwachsener Lehrer im fünften Lebensjahrzehnt dazu, sich in einem biographischen Zwölfzeiler gegenüber der NSDAP auf über der Hälfte des Platzes mit der familialen Situation in seiner Kindheit zu befassen? Wieso übergeht er in erheblicher Weise Standards selbst verfasster
—————— 2 Die Selbstpräsentationen werden in der gesamten Arbeit im Wortlaut ihrer Verfasser, ggf. inklusive verwendeter Abkürzungen, Hervorhebungen, orthographischer und grammatikalischer Fehler wiedergegeben. In den abgesetzten Zitaten werden Absätze bzw. längere Freistellen (wie im oben zitierten Text) wie vom Verfasser der Texte gesetzt übernommen. Der Text wird nur verändert bei der Angabe von Familiennamen. Diese werden aufgrund der Anonymisierungsentscheidung durch den Anfangsbuchstaben abgekürzt. Auslassungen, Anmerkungen und Kommentare von mir, beispielsweise hinsichtlich vom Verfasser durchgestrichener oder korrigierter Textstellen, werden durch eckige Klammern markiert und nicht kursiv gesetzt.
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Lebensläufe, obwohl ihm dieses Format gerade als Lehrer mit Sicherheit vertraut ist? Die Frage stellt sich umso mehr, als sich in der gewählten Fokussierung auf die Herkunftsfamilie keine unmittelbare thematische Verbindung mit dem Adressaten erkennen lässt. Was sagt diese Darstellungsweise über biographische Relevanzen des Verfassers?3 Hat sie mit dem Verhältnis des Biographen zur NSDAP zu tun – und wenn ja, in welcher Hinsicht? Diese Fragen galt es im Zuge der Analyse zu klären. Eine weitere Selbstpräsentation stammt aus dem Jahr 1937, als Hans D. sein NS-Engagement bereits erheblich intensiviert hat. Dieser Lebenslauf unterscheidet sich insbesondere in seiner nationalsozialistischen Rahmung von dem ersten. Er wird hier vollständig wiedergegeben, um den Leserinnen und Lesern nach den theoretischen Ausführungen in Kapitel 2 einen weiteren konkreten Eindruck der ausgewerteten Quellen zu geben: »Lebenslauf Wer von seinem Leben erzählen will, muß bei denen beginnen, durch die der Blutstrom des eigenen Lebens floß. Die Ahnentafel väterlicherseits lässt sich bis ins Jahr 1623 verfolgen und verzeichnet eine stetige Reihe von Weingärtnern u. Bauern, die in Winterbach im Remstal meist in kümmerlichen Verhältnissen lebten. Mit meinem Vater riß die Kette ab; er wurde Missionar der Basler Mission, die ihn 1883 nach China aussandte. Nach seiner Verheiratung im Jahr 1888 wurde ich als 1. Kind am 27.10.1889 in Hongkong geboren. Im Alter von 6 Jahren kam ich nach Europa in die Missionsknabenanstalt Basel, wo ich die ganze Jugendzeit ohne Eltern u. Geschwister erlebte. Letztere waren anderweitig untergebracht. Mit 16 Jahren trat ich ins Lehrerseminar ein und legte 1910 in Esslingen die 1. Dienstprüfung ab. Als unständiger Lehrer war ich in Bonlanden a.F., Nürtingen, Lehrensteinsfeld bei Weinsberg u. Uhlbach angestellt. Kriegsdienst leistete ich vom 15. Mobilmachungstag an, wurde aber Juli 1915 als nur garnisonsdienstfähig wieder in den Schuldienst entlassen. Während des Krieges legte ich die II. Dienstprüfung ab und erhielt im Frühjahr darauf eine ständige Lehrstelle in Mühlacker. Daselbst heiratete ich. Im Lauf der Jahre wurden uns vier Kinder geboren. 1929 wurde ich nach Stuttgart versetzt. Erst hier wurde unsere Familie durch den Wahlkampf 1930 mit der NSDAP bekannt. Wir haben seither die ganze Kampfzeit hindurch alle großen Versammlungen u. Veranstaltungen der Bewegung besucht. Während meine Frau seit Oktober 1930 als Mitglied der Bewegung lief, trat ich Frühjahr 1931 in den NSLB, um die Zahl der wenigen Mitglieder (etwa 12 von ganz Stuttgart) zu stärken. Eine Doppelmitgliedschaft in der NSDAP erschien uns damals unnötig, zumal wir mit Spenden u. sonstigen Opfern SA-Kameraden, die arbeitslos waren, unterstützten. So kam es, dass erst im Jahr 1933 durch meine Mitarbeit bei der Ortsgruppe Silberburg der Beitritt auch auf meinen Namen erfolgte. Zu den größten Erlebnissen in den letzten Jahren darf ich die Reichsparteitage von 1933 u. 1936 rechnen. Die Erinnerung an dieselben lässt immer wieder die widerlichen Kleinigkeiten des
—————— 3 Zu stets lebensgeschichtlich ausgebildeten Relevanzen, Relevanzstrukturen und biographischen Themen vgl. Schütz/Luckmann 1979, S. 224ff.
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Alltags gering erscheinen und gibt immer wieder in Beruf u. Parteiarbeit Auftrieb zu freudigem Schaffen Heil Hitler! Hans D.« (Lebenslauf 1937)
Wie kommt es nun zu dieser Selbstpräsentation, in der Hans D. sich als begeisterter früher NS-Anhänger darstellt, der sich auch in der Gegenwart für den Nationalsozialismus stark einsetzt? Die Unterschiede zwischen beiden Lebensläufen fallen ins Auge. Bei einem nicht-rekonstruktiven Vorgehen in der Auswertung wäre man nun vielleicht geneigt, eine der beiden Selbstpräsentation als die aussagekräftigere anzunehmen und die andere eher in den Hintergrund zu rücken. Oder aber man käme zu der Vermutung, dass Hans D. sich zwischen 1934 und 1937 erheblich veränderte, nun viel stärker dem Nationalsozialismus verbunden war und darin der Grund für die Unterschiede in der Selbstpräsentation zu finden sei. Bemerkenswerterweise finden sich aber in der Spruchkammerakte zwei weitere Selbstpräsentationen, die 1947 zeitgleich verfasst wurden und diese unterschiedliche Fokussierung reproduzieren. Im Lebenslauf von 1947 präsentiert sich Hans D. – wie 1934 – stark familienorientiert und baut insbesondere Erfahrungen mit der Herkunftsfamilie aus. In dem Schreiben über die eigene NS-Vergangenheit stellt er – wie in der Selbstpräsentation von 1937 – insbesondere seine Hinwendung zum Nationalsozialismus und seine nationalsozialistische Aktivität sehr positiv konnotiert dar. Dass gerade der Vergleich der beiden unterschiedlichen Darstellungsweisen im Rahmen einer biographischen Fallrekonstruktion die Relevanz und die Dynamik der nationalsozialistischen Aktivität in dieser Biographie aufzeigen kann, soll in der Falldarstellung zu Hans D. deutlich gemacht werden. In der folgenden Falldarstellung sollen vor allem die Ergebnisse der Fallanalyse nachvollziehbar dargestellt werden. Zugleich wird aber auch immer wieder transparent gemacht, wie ich zu den Ergebnissen gekommen bin. Anmerkungen zum Vorgehen bei der Analyse werden einerseits während des Textes gegeben. Zusätzlich wird hier mit Hilfe des Anhangs gearbeitet, in dem einige Analyseschritte dokumentiert sind. Für die Auswahl dieses Falles war auch die vergleichsweise gute Quellenlage relevant. Lebensläufe aus den Jahren 1934, 1937 und 1947 sowie eine Verteidigungsschrift aus dem Jahr 1947 sind in den Akten enthalten. Aussagen von Hans D. im Spruchkammerprozess 1948 sind überliefert. Weitere biographische Daten können aus verschiedenen Fragebögen vor
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und nach 1945 entnommen werden. Auch an Parteikorrespondenz liegt einiges vor. Hinzu kommen weitere Briefe aus einem Streitfall mit einem Nachbarn 1940, in den die NSDAP einbezogen wurde. Ergänzend wurden Recherchen im Archiv der Basler Mission durchgeführt, als sich abzuzeichnen begann, dass der familiengeschichtlichen Ebene und diesem spezifischen Sozialisationskontext im Fall Hans D. besondere Bedeutung zukommt. Vorbemerkung zur Struktur der dargestellten Geschichte Um als Leserin und Leser die jeweilige Perspektivität der verwendeten Zitate im Rahmen der Falldarstellung im Blick zu haben, wird jenseits von Anmerkungen im Text vorab eine kurze Zusammenfassung der Struktur der dargestellten Geschichten gegeben. Dabei muss vor allem auf die beiden unterschiedlichen Darstellungsweisen aufmerksam gemacht werden: 1. In den Lebensläufen von 1934 und 1947 präsentiert sich Hans D. berufs- und vor allem familienorientiert. Er stellt sich als jemand dar, dessen Lebensweg eine Entwicklung von den negativen Erfahrungen mit der Herkunftsfamilie über eine eigenständige berufliche Entwicklung hin zu einer Halt und Zufriedenheit gebenden Gründungsfamilie darstellt. Dabei werden hinsichtlich der Herkunftsfamilie ausschließlich negative, hinsichtlich der Gründungsfamilie ausschließlich positive Erfahrungen benannt. Dieser Interpretation entgegenstehende oder ambivalente Erfahrungen werden ausgelassen. So wird etwa die positiv besetzte musikalische Sozialisation von Hans D. nie mit der Kindheit in Verbindung gebracht, in der sie vermutlich ihren Ausgangspunkt hat. Hinsichtlich der Gründungsfamilie werden keine negativen Erlebnisse benannt, beispielsweise wird der Tod eines Kindes ausgelassen. In beiden Selbstpräsentationen gibt es keinerlei politische Argumentationen. 2. Im Lebenslauf von 1937 und der vorläufigen Rechtfertigungsschrift von 1947 hingegen wird der Nationalsozialismus als motivierende und sinnstiftende Aufgabe hervorgehoben und beide Male als biographische »Entdeckung« 1929/30 präsentiert, der sich dann ein unermüdlicher Einsatz für den Nationalsozialismus angeschlossen habe. Negative Erfahrungen mit der Herkunftsfamilie werden immer auch zumindest erwähnt, jedoch deutlich weniger stark ausgebaut. Unterschiede zeigen sich in diesen explizit nationalsozialistischen Selbstpräsentationen hinsichtlich der Erwähnung und Verortung der Gründungsfamilie. Im Lebenslauf von 1937
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(sowie einer weiteren Selbstpräsentation im Rahmen eines Streits mit einem Nachbarn 1940) wird die Gründungsfamilie als gemeinsam den Nationalsozialismus entdeckende und sich für diesen einsetzende präsen-tiert. In der Verteidigungsschrift von 1947 hingegen wird sie völlig ausge-lassen und Hinwendung und Aktivität als ausschließlich individuelles Pro-jekt von Hans D. dargestellt. Dies steht – so die Analyse – in einem Zu-sammenhang mit der Entnazifizierungssituation, in der Hans D. bewusst seine Familie nicht im Kontext nationalsozialistischer Aktivität verorten und damit belasten will. Dass hier gezielt etwas ausgelassen wird, kann auch in der Textanalyse der Selbstpräsentationen von 1947 aufgezeigt wer-den. Hinsichtlich aller Selbstpräsentationen ist – abgesehen von dieser bewussten Auslassung, auf die ich an anderer Stelle eingehe – festzuhalten: Die Selbstpräsentationen von Hans D. sind durchgängig nicht besonders strategisch angelegt oder vorrangig an antizipierten Erwartungen des Adressaten orientiert. Vielmehr werden von Hans D. eigene biographische Relevanzen fokussiert: So wird etwa in Personalfragebögen der NSDAP eine frühere DVP-Mitgliedschaft angeführt, was eher als unüblich gelten kann. Im Spruchkammerverfahren finden sich zahlreiche nationalsozialistisch orientierte Aussagen. So gibt Hans D. 1948 an, noch immer der Glaubensbewegung Deutsche Christen anzugehören. Durch die Analyse wird nahe gelegt, dass Hans D. die unterschiedlichen Adressaten jeweils als Personen des Vertrauens ansieht und die Erwartung hat, innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft, der er sich durchaus unterordnet, in seiner spezifischen Individualität akzeptiert zu werden.
3.1.2. Familien- und sozialgeschichtliche Ausgangskonstellation In diesem ersten Unterkapitel wird aufgezeigt, in was für eine familiale, historische und soziale Konstellation Hans D. hineingeboren wird. In diesem Fall werden neben Ergebnissen aus Literaturrecherchen zusätzlich Rechercheergebnisse aus dem Archiv der Basler Mission in die Analyse einbezogen, die die selektiven familiengeschichtlichen Angaben von Hans D. um weitere Daten ergänzen. Auf die Auswertung dieser Daten aufbauend, werden exemplarisch einige Hypothesen aufgestellt, welche familienbiographischen und sozialhistorischen Themen das Leben von Hans D. beeinflussen und welche Möglichkeiten des handelnden Umgangs mit dieser Ausgangskonstellation bestehen. Auf diese Weise wird das Vorgehen
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bei der Analyse familiengeschichtlicher und biographischer Daten ansatzweise veranschaulicht.4 Die Familienangehörigen väterlicherseits waren im württembergischen Remstal über mehrere Generationen Bauern und Weingärtner. Der Vater von Hans D., Johannes D. sen., wurde 1857 geboren und war der zweite Sohn von vier Kindern. Er wuchs in einem pietistischen Elternhaus auf und besuchte bereits als Kind neben den regulären protestantischen Gottesdiensten pietistische Versammlungen und Missionsfeste in der Region. Die Familie gehörte offenbar der in Württemberg vergleichsweise starken, gleichwohl minoritären »Frömmigkeitsbewegung« an. Nach der Schule, also zu Beginn der 1870er Jahre, arbeitete er bei seinen Eltern und 1875 und 1876 in mehrmonatigen Aufenthalten in Stuttgart als Gärtner und Weinbauer, was ihm, nach eigenen Angaben von 1877, »viel Freude« gemacht habe.5 1877 trat er als Zwanzigjähriger in die stark pietistisch orientierte Basler Mission ein, deren Angehörige mehrheitlich Württemberger waren.6 Er folgte damit seinem zwei Jahre älteren Bruder, der 1874 in die Basler Mission eingetreten war und einem Cousin aus seinem Heimatort, der bereits seit 1872 im Dienst dieser Mission stand. 1880 trat ein weiterer Cousin aus dem Heimatort in die Mission ein. Die Großeltern von Hans D. unterstützten offenbar die Söhne in ihrer Wahl, Missionare zu werden.7 Die Basler Mission bot jungen Männern vom Land mit einer in der Regel handwerklichen oder landwirtschaftlichen Qualifikation eine sechsjährige Ausbildung als Missionar in Basel und versandte sie dann in verschiedene Weltregionen, in denen sie Missionsstationen unterhielt oder aufbauen wollte. Dabei kooperierte sie vielfach mit britischen Missionen und war betont überkonfessionell orientiert. 8 Mit diesem Angebot war neben der Möglichkeit, sein Leben einer religiösen Tätigkeit zu widmen, eine erhebliche soziale Aufstiegsmöglichkeit verbunden, die auch für den Vater
—————— 4 Zu einer exemplarischen Dokumentation des Auswertungsschrittes, in dem familienbiographische und biographische Daten analysiert werden, vgl. etwa Fischer-Rosenthal 1996. 5 Vgl. Bewerberschreiben von Johannes D. sen. 1877 an die Basler Mission, Archiv der Basler Mission (ABM), Personalfaszikel Johannes D. 6 Vgl. zu den Ausführungen zum württembergischen Pietismus generell Lehmann 1969, Scharfe 1980, zur Basler Mission Klein 2002, Rennstich 2000, Konrad 2001, Bieder 1990, Jenkins 1989. 7 Dies geht aus dem Bewerberschreiben des Vaters sowie aus einem Brief des Großvaters aus dem Jahr 1897 an die Missionsgesellschaft hervor. Vgl. ABM, Personalfaszikel Johannes D. 8 Vgl. Bieder 1990.
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von Hans D. in seiner Entscheidung eine Rolle gespielt haben mag.9 Johannes D. sen. wurde mit 26 Jahren 1883 ordiniert und im Anschluss daran nach China gesandt. Im 19. Jahrhundert – und in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts – war die Basler Mission patriarchalisch-autoritär strukturiert. Sie forderte strengen Gehorsam und die Unterordnung unter die Regeln der Mission und die Autorität der Führungsgremien. Neben der Strenge war jedoch auch Emotionalität von Relevanz für die pietistische Missionskultur. Zugleich waren individuelle Bekehrungserlebnisse und Selbstreflexion, Akzeptanz des Individuums und seiner Gefühle in der Gemeinschaft – im Rahmen ihrer Vorgaben – sowie freudige Aktivität für das Reich Gottes auf Erden wichtige Aspekte in der Kommunikation unter den Mitgliedern.10 Das Bewerberschreiben des Vaters von Hans D. im Jahre 1877 an die Mission weist für die pietistische »Frömmigkeitsbewegung« oder »Erweckungsbewegung« typische Elemente von Selbstpräsentationen auf: In einer datierbaren krisenhaften Phase – bei ihm der Stuttgart-Aufenthalt 1876, in dem er sehr streng gehalten worden sei – sei er durch Gottes Wort erweckt worden. Seine Sündhaftigkeit sei ihm bewusst geworden und er sei bekehrt worden. Begleitet und angestoßen von konkreten Predigten und Predigern habe er eine Berufung gespürt, sein Leben ganz in den Dienst Gottes zu stellen.11 Die Angehörigen der Missionsgemeinde galten als »Familie«, wobei zwischen der »Familie in der Heimat« und der »Familie in der Mission« unterschieden wurde.12 Dieses Selbstbild als »Familie« hatte aber auch konkrete genealogische Aspekte: Oftmals waren in Familien über Generationen die Söhne wiederum Missionare geworden, die Töchter oftmals mit Missionaren verheiratet. In der Literatur wird vielfach auf den politischen Konservatismus des württembergischen Pietismus hingewiesen. Als Gegner der Revolution von 1848 wandte er sich gegen Aufklärung, Liberalismus und Sozialismus. Königstreue und Staatsbejahung bei gleichzeitiger Ablehnung politischer Parteien kennzeichneten nach Klein die Haltung der meisten Pietisten nach
—————— 9 Vgl. Klein 2002, S. 126ff. 10 Vgl. ebd., S. 118ff. 11 Vgl. Bewerberschreiben von Johannes D. sen. 1877 an die Basler Mission, ABM, Personalfaszikel Johannes D. Zu diesen Bewerberschreiben an die Basler Mission vgl. Klein 2002, S. 124ff.; zu Struktur und Entwicklung pietistischer Selbstdarstellungen generell Modrow 1996, Scharfe 1982. 12 Vgl. Konrad 2001.
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1848 und im Kaiserreich.13 Die »äußere« Mission fand fast ausschließlich in kolonialen Kontexten statt. China war das einzige Land, in dem die Basler Mission im 19. Jahrhundert aktiv war, das nicht britische oder deutsche Kolonie war.14 Über die Mutter von Hans D. konnten über Unterlagen der Basler Mission einige biographische Daten erhoben werden.15 In den selbst strukturierten Selbstpräsentationen von Hans D. wird sie an keiner Stelle individuell erwähnt. Anna D.-H. wurde 1855 in Ludwigsburg geboren. In ihrer weiteren Familiengeschichte gab es zahlreiche Geistliche, von allein 12 Prälaten ist in einem Brief ihres Mannes an die Mission im Jahr 1905 die Rede.16 Nachrecherchen ergaben, dass darunter mehrere einflussreiche pietistische Prälaten und Theologieprofessoren im 17./18. Jahrhundert waren, deren Nachnamen sie auch führte. Sie selbst wuchs als ältere Tochter und zweites Kind eines Ludwigsburger Kanzleirats und dessen Ehefrau auf, erhielt eine gute Bildung und arbeitete als Lehrerin im bürgerlich-religiösen Gemeinwesen der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal, einem Zentrum des württembergischen Pietismus. Später unterrichtete sie am MariaMartha-Stift, einer Kinderheilanstalt in Ludwigsburg. Damit hatte die Mutter von Hans D., wie in vielen Basler Missionarsfamilien, eine bürgerlichere Herkunft als ihr späterer Ehemann. Sie war sehr aktiv im Frauenmissionsverein in ihrer Heimatstadt. Im Alter von 33 Jahren ging Anna D.-H. nach einer Anfrage, ob sie bereit wäre, als Frau des Missionars Johannes D. nach China zu gehen, mit der Basler Mission nach China. Dies erfolgte nach den Regeln der Basler Mission, die ihren Missionaren einige Jahre nach ihrer Entsendung eine Frau nachschickte.17 Die künftigen Eheleute kannten sich oftmals – so auch in diesem Fall – nicht vor ihrer Hochzeit. Heiratsvorschläge von Johannes D. sen., die Bekannte betrafen, hatten sich zerschlagen. Im Oktober 1888 heirateten die Eltern von Hans D. in China. Einige Monate zuvor war ein Cousin von Johannes D. sen. zwei Jahre nach seiner Entsendung nach Kamerun an Gallenfieber gestorben. Die hohen Risiken für
—————— 13 Vgl. Klein 2002, S. 117; vgl. Lehmann 1969. Zu Beispielen von Pietisten, die diese Haltung nicht teilten und harscher Kritik und Sanktionen durch die Gemeinschaft ausgesetzt waren, vgl. Beispiele bei Lehmann 1969, S. 285ff sowie Scharfe 1980, S. 166ff. 14 Vgl. Jenkins 1989. 15 Sie stammen aus Korrespondenzen von ihr oder ihrem Mann mit der Mission sowie aus der Grabrede bei ihrer Beerdigung 1929; vgl. ABM, Personalfaszikel Johannes D. 16 Vgl. ABM, Personalfaszikel Johannes D. 17 Vgl. Konrad 2001.
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Gesundheit und Leben, die mit der Missionstätigkeit in dieser Zeit verbunden waren, wurden damit für den Vater noch einmal stärker bewusst. Ein Jahr nach der Heirat der Eltern, im Oktober 1889, wird Hans D. als ältester Sohn der Eheleute in Hongkong geboren und erhält den Namen seines Vaters. Was bedeutet es für ihn, in diese familiale und historische Situation hineingeboren zu werden? Welche – ausgesprochenen oder unausgesprochenen – familialen Aufträge und Themen werden ihm auf seinen Lebensweg mitgegeben?18 Die Geburt von Hans D. fällt in eine Zeit, in der sich durch die koloniale Politik des Deutschen Reiches weitere Felder für die Mission eröffnet haben. In diesen Jahren des Aufschwungs für die Missionsarbeit wird der Neugeborene womöglich – von Eltern und Missionsgemeinde – als Nachwuchs für eine künftig noch umfangreich zu leistende Missionsarbeit gesehen. Es ist davon auszugehen, dass an ihn, insbesondere als ältesten Sohn, die Erwartung gestellt wird, wie der Vater Missionar zu werden und eine familiale Tradition innerhalb der Mission zu begründen beziehungsweise fortzusetzen. Vermittelt wird ihm eine Orientierung an einem frommen, pietistischen Leben, der berufliche Entwicklung und Partnerwahl unterzuordnen sind. Zugleich ist durch die Familiengeschichte mütterlicherseits, in der es üblich war, an einer Hochschule zu studieren, von einer erheblichen Bildungserwartung an den Jungen auszugehen. Hier könnte zukünftig ein Konflikt entstehen, da die Basler Mission zu dieser Zeit ihre Missionare lieber selbst ausbildet und einem Theologiestudium und einer damit verbundenen literarisch-historischen Bibelkritik ablehnend gegenübersteht.19 Unzufriedenheiten der Eltern mit ihrem eingeschlagenen Lebensweg könnten sich als latente Aufträge an Hans D. äußern. Sofern die Eltern unter den strengen Regelungen leiden, könnte es sein, dass die Kinder den Auftrag erhalten, innerhalb der Institution aufzubegehren oder aber aus der Hierarchie der Missionsgesellschaft herauszutreten und ein weltliches Leben zu führen. Es könnte aber auch sein, dass die Eltern aufopferungs-voll die Entbehrungen, die ihre Tätigkeit in dieser Institution mit sich bringt, in Kauf nehmen und ein ähnliches Verhalten von ihren Kindern erwarten. Auch entsprechende Doppelbotschaften sind denkbar. Aus der Institution auszutreten wäre vermutlich für den Jungen kein einfacher Schritt. Relevant wäre dann, wer innerhalb oder außerhalb der Institution ihn stützt und ihm andere Orientierungen für sein Leben aufzeigt.
—————— 18 Zur Relevanz familialer Aufträge für biographische Entwicklungen vgl. Stierlin 1978. 19 Vgl. Klein 2002, S. 129.
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3.1.3. Kindheit und Jugend als Missionarssohn: Einschneidende räumliche Wechsel und die Trennung von der Herkunftsfamilie In den Kapiteln 3.1.3.–3.1.12. folgt nun die gekürzte Darstellung der Rekonstruktion der gelebten Geschichte von Hans D. Diesem Auswertungsschritt voran gingen – getrennt voneinander – die Analyse der Biographischen Daten und der Texte. (vgl. Kapitel 2.3.) Nun werden den Hypothesen, die in der Analyse der Biographischen Daten zum gelebten Leben aufgestellt wurden, Textstellen zu den entsprechenden Lebensabschnitten – sofern vorhanden – gegenübergestellt. Ziel ist es, so weit wie möglich zu rekonstruieren, wie Hans D. verschiedene Lebensphasen und Konstellationen erlebt hat und welche Handlungsmuster und -orientierungen er ausgebildet hat. Bei dieser Rekonstruktion werden zum gegebenen Zeitpunkt die vorliegenden Lebensläufe als zusammenhängende Selbstpräsentationen an einen bestimmten Adressaten einbezogen. Die in den Texten analysierten Präsentationsweisen und der handelnde Umgang mit dem Adressaten werden – als Bestandteile des gelebten Lebens – in die Rekonstruktion mit aufgenommen. Hans D. wächst die ersten fünf Jahre in einer Missionsstation in einer südchinesischen Provinz auf. Über diese Zeit schreibt Hans D. nichts in den vorliegenden Dokumenten. Daher soll der allgemeine Kontext, in dem er die ersten Jahre verbringt, kurz beleuchtet werden. Als Hans D. zweieinhalb Jahre alt ist, bekommt er eine Schwester, mit vier Jahren einen Bruder. Er und diese beiden Geschwister, die bis 1894 in China geboren werden, erleben den Alltag in einer Missionarsfamilie, wobei er vermutlich der einzige der Geschwister ist, der erste Erinnerungen an diese Zeit hat. In der Regel bestehen sowohl Kontakte innerhalb der »Familie in der Mission«, womit die Gruppe der in der Region eingesetzten Missionare gemeint ist, als auch Kontakte zu den Einheimischen, insbesondere den Gemeindemitgliedern und den Hausangestellten, die Missionarsfamilien in der Regel hatten. Auf diesem Wege lernt Hans D. vermutlich auch die Landessprache.20 Die in dieser Zeit in der Mission in China bestehenden Konflikte und potentiellen Bedrohungen der Missionsstationen durch Überfälle wirken auf Hans D. als Kind zumindest emotional ein; für 1891 ist beispielsweise in der Literatur eine Bedrohung des Vaters überliefert.21 Halt bietet ihm vermutlich die Familie, die Außenwelt kann eventuell als poten-
—————— 20 Vgl. Konrad 2001, S. 321. 21 Vgl. Klein 2002.
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tiell feindlich erlebt werden. Es ist davon auszugehen, dass das Verhältnis der Eltern zu den Einheimischen relevant ist für die Haltung der Kinder gegenüber ihrer chinesischen Umwelt. Ist das Verhältnis eher distanziert und stark durch einen in Missionarskreisen dieser Jahre verbreiteten alltäglichen Rassismus geprägt, so könnte dies eine sehr starke Familienorientierung von Hans D. zur Folge haben sowie eine starke Bindung an die Gemeinschaft der Missionare und die Basler Mission, von der diese entsandt, instruiert und verwaltet werden. Einiges in den verschiedenen Publikationen zur Basler Mission spricht dafür, dass der Vater eine eher kooperative Haltung gegenüber Einheimischen einnimmt und praktische und pragmatische Kompromisse zwischen kulturellen Traditionen vor Ort und Ansprüchen der Basler Mission in seiner Praxis und gegenüber der Institution und anderen Missionaren vertritt.22 Eine Selbstbezeichnung des Vaters als »Demokrat« in einem Briefwechsel mit der Mission wird in der Literatur als außergewöhnlich hervorgehoben.23 Die Themen nationaler, religiöser und kultureller Zugehörigkeit könnten für Hans D. relevant werden. Auch Fragen des Umgangs mit unterschiedlichen Wertvorstellungen sowie kulturellen und religiösen Praktiken könnten von ihm vor diesem Hintergrund später bearbeitet werden. Denkbar ist dies sowohl in Übereinstimmung mit als auch in Opposition zu Haltungen der Eltern oder der Missionsgemeinde.24 Den Eltern von Hans D. ist bewusst, dass die Mission vorsieht, die Kinder im Alter von etwa sechs Jahren zur Schulausbildung nach Europa in die Schulen der Mission oder zu Verwandten und Bekannten zu geben. In der Literatur wird – gerade angesichts der bevorstehenden Trennung von Eltern und Kindern – eine oftmals sehr umsorgende, aufmerksame und behütende Umgangsweise mit den Kindern in ihren ersten Lebensjahren in der Mission hervorgehoben.25 Da die Mutter von Hans D. sich auch früher bereits beruflich und ehrenamtlich intensiv mit Kindern beschäftigte, ist anzunehmen, dass Hans D. und seine Geschwister in den ersten Jahren viel Zuwendung und Aufmerksamkeit erfahren haben; vielleicht war diese aber bereits stets mit einem Anflug von Trauer über die bevorste-
—————— 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. etwa Hermann Hesse, der aus dem gleichen Missionskontext stammt und mit seinem Buch »Siddartha« Kommunikation und Dialog mit anderen Kulturen sucht. 25 Vgl. Konrad 2001, S. 318ff.
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hende Trennung vermischt. So könnte auch eine melancholische Grundstimmung für ihn prägend werden.26 Einen ersten einschneidenden Wechsel der Lebensbedingungen erlebt Hans D. im Frühjahr 1894, als er mit Eltern und Geschwistern nach Württemberg kommt. Dieser Lebenseinschnitt wird in zwei Selbstpräsentationen angeführt, beide Male als erstes weiteres Datum nach seiner Geburt. Ähnlich wie 1934 schreibt er in seinem Lebenslauf von 1947: »1894 erhielten die Eltern ihren Erholungsurlaub in die Heimat. Sie liessen sich in Cannstatt nieder«. Dass Hans D. selbst in dieser Darstellung nicht vorkommt, kann ein Hinweis auf eine erlebte starke Fremdbestimmung bei diesem und den kommenden Ereignissen sein, auf die er selbst keinen Einfluss nehmen kann. Auch bringt sie ein starkes Distanzierungsbemühen gegenüber den damaligen Erlebnissen zum Ausdruck. Für Hans D. bedeutet dieser Einschnitt einen Wechsel des gesamten Lebensumfeldes. Für ihn als Vierjährigen ist unter den Geschwistern der Einschnitt am stärksten: Einer mehrwöchigen Reise folgt die Ankunft in einer fremden Umgebung. In der chinesischen Provinz aufgewachsen, kommt er nun in eine süddeutsche Industriestadt. Umso mehr ist er auf die Familie verwiesen, als alle früheren alltäglichen Kontakte mit anderen Kindern und Erwachsenen abgebrochen werden. Im Entdecken mit der Familie kann die Stadt für den Jungen jedoch auch interessant sein, und er verbringt eine erlebnisreiche Zeit in der neuen Umgebung. Vermutlich haben die Eltern während des Urlaubs auch mehr Zeit für die Kinder. Hans wird nun vermutlich auch Verwandte, darunter den Großvater väterlicherseits als einzig noch lebendes Großelternteil, kennenlernen. 1947 erwähnt Hans D. kurz diese Zeit in Cannstatt, »wo das jüngste meiner 3 Geschwister geboren wurde. Dies war zugleich das letzte Jahr, das ich im Kreis der Familie erleben durfte.« (Lebenslauf 1947) Hans D. evaluiert 1947 jene Zeit mit dieser positiv konnotierten Formulierung gegenüber der Familie, in der zugleich jedoch die bevorstehende Trennung mitschwingt. Im Laufe des eineinhalbjährigen Aufenthaltes, im Mai 1895, bekommt er eine weitere Schwester, deren Erwähnung auf eine starke Geschwisterorientierung in jener Zeit hinweist. Gut möglich ist, dass er als Ältester bereits einige Verantwortlichkeiten in der Familie übernimmt und sich insbesondere mit um den Säugling kümmert. Während dieses Aufenthaltes in Cannstatt erkranken alle drei größeren Kinder lebensgefährlich, bis zur Abreise der Eltern im Herbst 1905 sind sie gerade wieder
—————— 26 Vgl. ebd.
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gesund geworden. Für Hans D. bedeutet dies vermutlich auch eine verstärkte Zuwendung in der Zeit der Krankheit und Genesung. Die Eltern bemühen sich in dieser Zeit auch um eine Unterkunft für ihre Kinder, bevor sie in die Mission zurückkehren. Aus mehreren Briefen zwischen Vater und Mission geht hervor, dass die Eltern alle drei größeren Kinder auf jeden Fall zusammen lassen wollen und eine Unterkunft für sie gefunden haben – eine württembergische Pfarrerstochter und Freundin der Mutter würde alle drei Kinder zu sich nehmen.27 Doch lässt sich diese Option schließlich nicht realisieren, nach eineinhalb Jahren wird Hans D. von Geschwistern und Eltern getrennt. Was den Ausschlag dazu gibt, dass Hans D. allein in die Knabenanstalt der Mission in Basel gegeben wird, geht aus den vorliegenden Akten nicht klar hervor. Die Korrespondenzen zeigen, dass die Eltern eigene Vorstellungen über die Unterbringung und Förderung ihrer Kinder haben. Dabei führen sie auch – mit Verweis auf die große Anzahl von Theologen in der Familie der Frau – akademische Ausbildungspläne bei der Wahl ihres Pflegeortes gegenüber der Missionsgemeinde ins Feld. Letztlich ordnen sie sich jedoch der in der Basler Mission üblichen Praxis unter. Gut möglich ist es, dass sich die Institution, die sich als »Familie in der Heimat« und »Familie in der Mission« versteht, mit den Vorschlägen nicht einverstanden erklärt und die Eltern sich ihrer Autorität beugen. Diese Interaktionsstruktur wird die Sozialisation von Hans D. beeinflussen: Auch für Hans D. könnte die Basler Mission oder eine selbst gesuchte Gemeinschaft später »die Familie« sein, der alle Lebensbereiche letztlich untergeordnet werden. In Abgrenzung dazu könnte er auch gerade der tatsächlichen Familie besondere Bedeutung beimessen. Die Trennung von Eltern und Geschwistern im Herbst 1905 markiert für Hans D. auch als Erwachsenen noch einen starken Einschnitt in seinem Leben. Für den sechsjährigen Hans ist sie möglicherweise umso schlimmer, als er gerade in den letzten eineinhalb Jahren vor allem auf Eltern und Geschwister bezogen lebte. Die Trennung wird in allen Selbstpräsentationen zumindest erwähnt, in zwei Lebensläufen (1934 und 1947) nimmt sie sogar einen auffallend großen Stellenwert ein: »Nachdem zwei Geschwister im Alter von 2 und 3 Jahren in einem württbg. Pfarrhaus untergebracht waren, verliessen die Eltern die Heimat. Die halbjährige Schwester nahmen sie mit nach China, während ich in die Missionserziehungsanstalt in Basel eingewiesen wurde, wo ich unter der Leitung von hochbetagten Pflegeeltern eine freudlose Jugend erlebte.« (Lebenslauf 1947)
—————— 27 Vgl. die im Frühjahr 1895 verfassten Briefe von Johannes D. sen. an den Inspektor der Basler Mission, ABM, Personalfaszikel Johannes D.
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Die fast wortgleiche Wiederholung dieser Situation 1934 und 1947 kann ein Hinweis darauf sein, dass dies von Hans D. traumatisch erlebt wurde.28 Dass auch den Eltern die Trennung von den Kindern sehr schwer fällt, zeigt unter anderem, dass sie zumindest das Jüngste in die Mission mit zurück nehmen. Noch in der Grabrede für die Mutter 1929 wird diese Trennung als »eine der schwersten Proben für ihre Treue gegen den Meister« hervorgehoben und näher ausgeführt.29 Von Hans D. wird dieses »Opfer« im Dienste der Mission im Alter von sechs Jahren verlangt. Wie kann er mit dieser Situation in der neuen Umgebung, der Basler Missionsknabenanstalt, umgehen? Er kann sich zurückziehen, sobald wie möglich viel schreiben und den Kontakt zur Familie nicht abreißen lassen, oder er begibt sich in den Internatsbetrieb und sucht dort neue Vorbilder und Bezugspersonen. Eventuell bekommen nun auch Freundschaften unter Gleichaltrigen einen sehr wichtigen Stellenwert für ihn und die Orientierung an Gleichaltrigen wird für ihn relevanter als die an der Elterngeneration. Der Glaube wird auf jeden Fall einen sehr wichtigen Stellenwert in seiner Erziehung einnehmen.30 Die überlieferten Selbstpräsentationen sprechen dafür, dass Hans D. zu denjenigen gehört hat, die unter dieser Konstellation erheblich gelitten haben: »Ein Wohnzimmer, in dem Kinder sonst aufwachsen, war für immer gestrichen, dafür umgaben mich bis zu meiner Entlassung nach der Konfirmation Zaun und Mauer, die wir nur bei halbstündigen Spaziergängen unter Aufsicht von Lehrern verlassen durften. Die Erziehung war streng und lieblos [korrigiert, zunächst: ›leiblos‹; CMB] und brachte nur wenige Lichtblicke. Der Unterricht wurde durch junge unerfahrene Lehrer und den beinahe 70-jährigen Pflegevater erteilt. Einen freien Nachmittag gab es nie. Auch wenn kein Unterricht war, wurden wir trotzdem ins Schulzimmer verwiesen, wo wir in ›stiller Selbstbeschäftigung‹ die Zeit zuzubringen hatten.« (Lebenslauf 1947).
Zwar sind diese Textpassagen in ihrer Fokussierung auf Freiheitsentzug auch geprägt von der Schreibsituation in der Internierung. Doch dass in der Knabenanstalt vor allem Strenge als Erziehungsprinzip eingesetzt
—————— 28 Vgl. Stevenson-Moessner 1989, S. 192ff.; Konrad 2001, S. 318ff. 29 »Eine der schwersten Proben für ihre Treue gegen den Meister hatte die junge Missionsfrau zu bestehen, als sie im Jahre 1895 nach einem Erholungsaufenthalt wieder ausreisen sollte. Wie mit Messers Schärfe gings durch ihr Mutterherz, als sie ihre drei älteren Kinderlein im Hofe spielen sah, eben in dem Augenblick, da sie sich, vielleicht auf immer, von ihnen losreißen sollte […] ›Der Meister ist da und ruft dich‹, das klang ihr durch die Seele und gab die Kraft für den herben Abschied.« Grabrede für Anna D.-H. von 1929, S. 3–4, ABM, Personalfaszikel Johannes D. 30 Vgl. Stevenson-Moessner 1989.
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wurde, wird ebenso in der Literatur und in den überlieferten Archivalien deutlich.31 Es kommt etwa in den überlieferten »Ranglisten« zum Ausdruck, in denen die Schüler mit den anderen gemessen werden: So ist etwa dem Zeugnis von Hans D. vom Januar 1907 die Bemerkung »nicht aufrichtig« hinzugefügt; er hat zu dieser Zeit den schlechtesten Platz von elf Schülern. Dies ist vielleicht auch ein Hinweis dafür, dass er sich schlecht einleben kann in der Knabenanstalt. 1898 muss er einen Umgang damit finden, dass ein neugeborener Bruder von ihm im Säuglingsalter stirbt und seine Mutter schwer an Ruhr erkrankt. Wie weitere Zeugnisse zeigen, gelingt es ihm, sich in den folgenden Jahren ins vordere Drittel der Klasse vorzuarbeiten; sie enthalten oft die Bemerkung »sehr fleißig«. Mit dem Zeugnis der achten Klasse, 1903, bewegt er sich im Mittelfeld (bei allerdings nur drei beziehungsweise vier Schülern).32 Rückwirkend kann vermutet werden, dass er während der Internatszeit eine musikalische Sozialisation erfahren hat, die positiv konnotiert war und ihm eine Möglichkeit des Zurechtkommens mit seiner Situation gegeben hat.33 Die überlieferten Tagebücher und Monatsberichte der Knabenanstalt geben Hinweise auf eine labile Gesundheit von Hans D. Im Alter von ungefähr 16 Jahren, vermutlich ab 1905, besucht Hans D. das Lehrerseminar in Esslingen und erhält damit weitere Bildungschancen. Es ist davon auszugehen, dass er einen Schulabschluss der Mittleren Reife erlangt hat. Der Kontakt wird eventuell über die Basler Mission hergestellt,
—————— 31 So fragt etwa Paul Jenkins, ob die Erzählung von Hermann Hesse »Unterm Rad« nicht »Unterm Missionsrad« heißen sollte; Hesse war kurzzeitig auch in dieser Knabenanstalt gewesen. Vgl. Jenkins 2002. 1922 legt der damalige Leiter der Knabenanstalt, auf eine Beschwerde einer Missionsfrau hin, Folgendes schriftlich nieder: »Ich kenne die Mängel des Anstaltslebens, zumal auch des unsrigen. Sie sind zu sehr an die Person des Leitenden geknüpft, wie beuge ich mich täglich darunter. Als Mangel nenne ich weiter unser ganzes doch rauhes und in dem und jenem Raum unfreundliches Haus. Das Ideale wäre überhaupt nicht Stadt, sondern Land mit mehr Landwirtschaft. Rauh ist oft und viel auch der Verkehr der Buben untereinander. Wie mancher leidet darunter, dass er von irgend einem andern infam geplagt wurde. Das ist ein dunkles Kapitel im Bubenleben. Daran ist aber nicht Mission oder Anstalt schuld, sondern das trotzige, sündige Bubenherz, das auch im Missionsbuben sich findet. Merkwürdig, dass davon oft Eltern keine Ahnung haben. Rauh ist zuletzt unser Lehrplan und Lehrziel. Wir können es bis zur Stunde nicht ändern, wollen es auch nicht, denn es ist dem Manne gut, dass er sein Joch in der Jugend trage«. Vgl. ABM, QT, Unterordner Beschwerden. 32 Vgl. ABM, QT, Unterordner Zeugnisse der Missionsknaben. 33 Vgl. etwa zur musikalischen Förderung den erwähnten Bericht des Anstaltsleiters von 1922, ABM, QT, Unterordner Beschwerden.
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die ihre Schulabgänger weiter vermittelt und in Württemberg über ein weit gespanntes Netz an Kontakten und kooperierenden Institutionen verfügt.34 Für Hans D. bedeutet das – nach neun bis zehn Jahren im Missionsknabenhaus – einen weiteren Ortswechsel über eine Landesgrenze hinweg von Basel nach Esslingen und damit einhergehend den Abbruch der alltäglichen Kontakte. Gleichzeitig bedeutet dies den Umzug in die Heimat der Eltern, wo auch die beiden nächstjüngeren Geschwister sowie weitere Verwandte und Bekannte der Eltern leben. Irgendwo hier kann er eventuell in den Ferien untergebracht werden. In den Selbstpräsentationen formuliert Hans D. den Besuch des Lehrerseminars – im Vergleich zur Knabenanstalt – durchgängig aktiv. Im Lebenslauf von 1947 schreibt er etwa: »Nach erfolgter Konfirmation wandte ich mich dem Lehrerberuf zu.« Die stets aktive Ausdruckweise über die Ausbildung lässt darauf schließen, dass die Berufswahl auch damals im Sinne von Hans D. gewesen ist und es sich nicht um eine vorwiegend fremdbestimmte Entscheidung handelt. Möglicherweise stehen positive Erfahrungen mit Lehrpersonen aus den vergangenen Jahren, die ihn gefördert haben und ihm zum Vorbild geworden sind, mit diesem Berufswunsch in einem Zusammenhang. Vielleicht hat er zugleich abschreckende Bilder von Lehrern vor Augen, deren Einfluss er ohne Einbindung in die Familie vermutlich stärker ausgesetzt war als andere Kinder. Schließlich wendet sich Hans D. damit einem Beruf zu, der ihm seit frühester Kindheit vertraut ist: So war seine Mutter Lehrerin, und der Aufbau von Schulen bildet eine Schwerpunkttätigkeit der Basler Mission. Mit dieser Ausbildungswahl stehen ihm eine Reihe von Möglichkeiten offen: Hans D. kann später etwa selbst als Lehrer in die Mission gehen,35 im Lehrerseminar durch Fleiß und hervorragende Leistungen die Zulassung zu einem Universitätsstudium erwerben36 oder diese Berufswahl als eine Gelegenheit nutzen, sich künftig von der Basler Mission mehr oder weniger zu distanzieren. Insofern stellt diese Entscheidung vielleicht einen Kompromiss zwischen den Vorstellungen der Eltern, der Mission und Hans D. selbst dar. Zugleich wählt Hans D. mit dem Lehrerberuf eine häufig von Missionarskindern ausgeübte Profession.37
—————— 34 ABM, QT, Unterordner Missionskinder: Unterbringung in Familien, Instituten und Lehrlingsstellen. 35 Zur zunehmenden Anstellung von Lehrern und Ärzten in der Basler Mission ab 1900 vgl. Klein 2002, S. 123. 36 Vgl. Brügel 1911, S. 113. 37 Vgl. Klein 2002, S. 129; Stevenson-Moessner 1989, S. 164ff.
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Die Lehrerausbildung findet im Internatsbetrieb statt, der in ähnlicher Strenge wie die Knabenanstalt geführt wird.38 Doch kommt Hans D. hier erstmals kontinuierlich mit Menschen aus anderen Zusammenhängen als der Mission zusammen. Die Begegnung mit anderen Lebenswegen, Orientierungen und Relevanzen kann für ihn eine Horizonterweiterung darstellen. Wie im Spruchkammerverfahren deutlich wird, schließt er in der Seminarzeit lang andauernde Freundschaften. Die Ausbildung führt Hans D. an keiner Stelle weiter aus. Lediglich im Lebenslauf von 1947 schreibt er ein wenig mehr über diese Zeit, indem er die Rückkehr der Eltern im Jahr 1906 thematisiert.39 Nach vielen Jahren der Trennung ist für ihn ein direkter Kontakt mit den Eltern und Geschwistern wieder möglich. Die Wiederbegegnung erweist sich für Hans D. als problematisch und enttäuschend: »Während meiner Seminarzeit in Esslingen kehrten die Eltern 1907 in die Heimat zurück und liessen sich in Stuttgart nieder. Nach Hause durfte ich nur während der Ferien. So kam es, dass der langen Trennungszeit zufolge eine enges Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Eltern und Geschwistern nicht aufkommen konnte.« (Lebenslauf 1947).
Die Eltern lassen sich in Stuttgart, nur 30 km vom Ausbildungsort ihres ältesten Sohnes entfernt, nieder. Nachdem der Vater – entgegen den Vorstellungen der Mutter – ein weiteres Jahr als Reiseprediger in Österreich unterwegs war, bekommt er 1909 eine Stelle in Stuttgart als Stadtmissionar. Hans D. thematisiert 1947 bedauernd einen unerfüllten Wunsch nach einem engen Zusammengehörigkeitsgefühl mit seiner Herkunftsfamilie nach dem Wiedersehen. Hier schwingt auch eine Kritik an den rigiden Anwesenheitsbestimmungen des Internatsbetriebes mit. Möglicherweise erschwert auch eine gegenseitige Idealisierung in den langen Jahren der Trennung den Kontakt mit dem konkreten Gegenüber.40 Für Hans D. könnte es schwierig sein, nun plötzlich mit Erwartungen unterschiedlicher Autoritäten – seinen Ausbildern auf der einen und seinen Eltern auf der anderen Seite – zurechtzukommen. Denkbar ist, dass seine Eltern seinen Lebenswandel in dieser Zeit als zu weltlich orientiert kritisieren. Nach seiner ersten Dienstprüfung im Jahr 1910 arbeitet Hans D. ab dem 21. Lebensjahr in »unständiger Verwendung« als Lehrer in mehreren kleinen Orten im Württembergischen. Er geht also nicht vom Seminar aus
—————— 38 Vgl. Brügel 1911. 39 Nach Angaben in den Akten der Basler Mission kehren die Eltern im Mai 1906 zurück, nicht, wie von Hans D. angegeben, 1907; vgl. ABM, Personalfaszikel Johannes D. 40 Vgl. Stevenson-Moessner 1989, S. 192ff.
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an die Universität. Entweder entsprechen seine Leistungen nicht den Erfordernissen für einen solchen Wechsel, oder aber Hans D. entscheidet sich bewusst für den Lehrerberuf, den er schon lange oder mittlerweile zugleich als Berufung empfindet. Dass dieser Weg nicht ganz familialen Erwartungshaltungen entspricht, wird auch dadurch gestützt, dass 1913/14 dann sein jüngerer Bruder ein Theologiestudium beginnt. Erschwerend für die familialen Beziehungen dürfte hinzu gekommen sein, dass in den Jahren zuvor kaum die Möglichkeit bestand, Regelungsmechanismen zu entwickeln, um mit Schwierigkeiten oder Konflikten innerhalb der Familie zurechtzukommen. Dies gilt insbesondere angesichts einer schweren familialen Krise in den folgenden Jahren. 1911 wird der Vater von Hans D. wegen sexueller Übergriffe gegen Mädchen und junge Frauen angezeigt und 1912 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Dieser Vorfall wird von Hans D. nirgends erwähnt, er wurde bei der Recherche in den Akten der Basler Mission offenbar. Jenseits der Bedeutung für die jungen Frauen ist dies mit Sicherheit auch ein die Familienmitglieder schockierender Vorfall, der bleibend für sie mit Gefühlen von Scham oder Schande verbunden sein wird. In der Öffentlichkeit wird über die Verurteilung des Stadtmissionars berichtet, und die Basler Mission gerät in Argumentationsschwierigkeiten gegenüber Stuttgarter Kirchenstellen. Nach eineinhalb Jahren Freiheitsentzug wird der Vater 1913 aus der Haft entlassen, danach betreiben die Eltern einen Gemischtwarenladen in einem kleinen württembergischen Ort. Die Mutter von Hans D. hält bis zu ihrem Tod 1929 Kontakt zur Mission, der über Versorgungsangelegenheiten deutlich hinausgeht, und überschreibt ihr auch zumindest teilweise ihr Erbe. Für den weiteren Weg von Hans D. könnte der Vorfall durchaus von Bedeutung sein: eine Rückkehr in die Basler Mission, sollte er eine solche noch in Erwägung gezogen haben, ist unter diesen Bedingungen beispielsweise erschwert. Gut denkbar ist aber auch, dass er pietistische Zusammenhänge, in denen die Geschichte seines Vaters immer virulent wäre, künftig generell eher meiden wird. Die Enttäuschung über das Verhalten des Vaters und dessen Doppelmoral lässt ihn vielleicht umso stärker nach anderen Bezugspersonen und Vorbildern suchen. Möglich ist auch, dass Vorgaben der Mission und Bedingungen des Missionarslebens eine Erklärungsfolie für ihn bilden, mit dem Verhalten des Vaters zurechtzukommen. Darauf könnte auch die latente Kritik an der Institution in seinen Selbstpräsentationen hinweisen. Der Umstand, dass Hans D. in keiner seiner ausformulierten Selbstpräsentationen den vollen Namen des Vaters
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angibt, ist auch ein Hinweis darauf, dass er mit dessen Geschichte nicht in Verbindung gebracht werden will.
3.1.4. Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft als Transformation pietistischer Relevanzen ins Weltliche: Die Jahre 1910–1929 Nach der Ausbildung ist bei Hans D. deutlich eine Phase der Integration ins Kaiserreich und später in die Weimarer Republik erkennbar. Hans D. entscheidet sich für ein weltliches, berufs- und familienorientiertes Leben in Württemberg: Zwischen 1910 und 1914 sammelt er in verschiedenen kleinen Orten Berufserfahrung als Lehrer und identifiziert sich im Lauf der Jahre immer stärker mit seinem Beruf. Im Spruchkammerverfahren wird er durchgängig als guter, engagierter und herzlicher Lehrer beschrieben. Auch selbst bringt er in Selbstpräsentationen von 1947 eine große Freude am Lehrerberuf mehrfach zum Ausdruck. Eine starke Berufsidentifikation ist in pietistischen Kontexten durchaus typisch.41 Im August 1914 wird Hans D. gleich nach Beginn des Ersten Weltkriegs 25-jährig zum Ersatzbataillon Infanterie-Regiment 121 eingezogen. Nur an einer Stelle, im Lebenslauf von 1937, findet diese Zeit in einem Satz Erwähnung: »Kriegsdienst leistete ich vom 15. Mobilmachungstag an, wurde aber Juli 1915 als nur garnisonsdienstfähig wieder in den Schuldienst entlassen.« Ob seine Entlassung nach zehn Monaten stärker auf seine psychische oder physische Konstitution zurückzuführen ist, bleibt unklar. Möglicherweise sind Kasernierung – vor dem Hintergrund seiner Internatserfahrung – oder militärische Übungen für ihn, mit einer Körpergröße von 1,54m, stark belastend. Jedenfalls scheint er nicht den Verbleib im kasernierten Männerverband gesucht zu haben, etwa indem er, immerhin »garnisonsdienstfähig«, sich um eine Position in der Militärverwaltung bemüht hätte. Es kann davon ausgegangen werden, dass er froh war, in den Schuldienst zurückkehren zu können. Im Lebenslauf von 1937 stellt er sich, mit der Fokussierung auf seine Entlassung in den Schuldienst, allerdings so dar, dass das Feld der schulischen Arbeit jenes war, in dem er seinen Dienst für Deutschland im Krieg geleistet hat. Da an keiner Stelle eine Kriegsgegnerschaft oder Ablehnung militärischen und militaristischen Handelns angeführt wird, kann durchaus von einer ideellen Unterstützung des Ersten
—————— 41 Vgl. Lehmann 1969, S. 352ff.
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Weltkrieges ausgegangen werden, zumal zahlreiche Angehörige seiner Sozialisationskontexte, Pietisten ebenso wie Lehrer, sich kriegsbegeistert äußerten.42 Die Entlassung aus dem Heer 1915 ermöglicht Hans D. im Gegensatz zu vielen anderen seiner Generation, sich während der Kriegsjahre beruflich weiter zu entwickeln, zu heiraten und ein Leben mit einer jungen Familie in einer kleinen württembergischen Stadt zu führen: Im Herbst 1915 absolviert er die 2. Dienstprüfung als Lehrer. Im Frühjahr 1916 bekommt er eine ständige Anstellung als Hauptlehrer in Mühlacker, einem kleinen württembergischen Städtchen. Im August desselben Jahres heiratet er dort, im Alter von 27 Jahren, die sechs Jahre jüngere Mathilde G. aus einem der kleineren Orte, in denen er eine längere Zeit als Lehrer gearbeitet hat. Ihr Vater war dort bis zu seinem Tod 1915 Oberlehrer. In seinem Lebenslauf von 1934 und der Ahnentafel von 1937 stellt Hans D. seine Frau als »Tochter des verstorbenen Oberlehrers« in Uhlbach vor. Beide Eheleute sind sehr unterschiedlich aufgewachsen, beide jedoch hatten in ihrer Kindheit und Jugend Lehrer als nahe Bezugspersonen. Mit dieser Partnerwahl sucht Hans D. vielleicht auch Anschluss an eine Familie, die seinem Beruf eine gewisse familiale Tradition verleiht, sowie nach einer familialen Identifikation, die er in der eigenen Familie nicht finden konnte. Das erste Kind wird im Mai 1917 geboren und bekommt den Namen Karlhans, der eine Verbindung des Namens des verstorbenen Schwiegervaters mit der von Hans D. selbst geführten Kurzform seines Taufnamens Johannes darstellt. 1920 wird eine Tochter, 1924 ein weiterer Sohn geboren. Wann ein viertes Kind, das Hans D. nur einmal, in seinem Lebenslauf von 1937 erwähnt, geboren wurde und wie lange es lebte, ist nicht bekannt. Es ist davon auszugehen, dass es vor 1934 gestorben ist,43 in welchem Alter und unter welchen Umständen bleibt jedoch völlig ungeklärt. Dies stärkt auch die bereits formulierte These, dass Hans D. in seinen Selbstpräsentationen belastende Erlebnisse in der Gründungsfamilie nicht erwähnt und ausführt und damit die Trennung in »schwierige Herkunftsfamilie« und »glückliche Gründungsfamilie« aufrechterhält. Über seine Wahrnehmung der deutschen Kriegsniederlage, der Revolution sowie des Übergangs in die Weimarer Republik liegen keine Äußerungen von Hans D. vor. Für ihn bedeutet das Kriegsende zumindest keinen
—————— 42 Vgl. Lehmann 1969. 43 In den aus diesem Jahr vorliegenden Fragebögen und Selbstpräsentationen ist von drei Kindern, mit der jeweiligen Altersangabe, die Rede.
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Bruch mit seiner Lebenssituation. Insbesondere mit der Familiengründung scheint für Hans D. ein wichtiges Lebensziel erreicht, über sie kann er sich den Wunsch nach einem Familienleben erfüllen: »Erst mit 27 Jahren lernte ich im eigenen Heim den hohen Wert einer gemütlichen Wohnstube kennen. Im Lauf der Jahre durften meine Frau und ich viel Freude an drei gesunden Kindern erleben.« (Lebenslauf 1947) Bis 1929, insgesamt 13 Jahre, lebt Familie D. in Mühlacker. Bereits in dieser Zeit leitet Hans D. einige Männerchöre. Dies lässt auf eine musikalische Vorbildung schließen, die ihre Wurzeln vielleicht bereits in den ersten Lebensjahren in seiner Herkunftsfamilie hat. Im Pietismus spielt Musik und Gesang eine außerordentlich wichtige Rolle. Auch eine Hinwendung zu popularer Musik ist darin angelegt.44 Hans D. kann vermutlich insbesondere auf musikalische Bildung aus der Zeit in der Knabenanstalt zurückgreifen, in deren Aktenüberlieferung von Singen und Instrumentenunterricht die Rede ist.45 Rückblickend lässt dies die Vermutung zu, dass für ihn das Spielen eines Instruments oder eine Chorgemeinschaft in seiner Kindheit und Jugend Halt bieten konnte. In mehreren Selbstpräsentationen aus der Nachkriegszeit thematisiert er die hohe Bedeutung, die das Dirigieren für ihn hat. In der Entscheidung, weltliche Männerchöre – und nicht etwa Kirchenchöre – zu dirigieren, transformiert Hans D. hier pietistische Orientierungen und Lebensstile ins Weltliche. Das Dirigieren von Chören bezeichnet Hans D. in der Spruchkammerverhandlung 1948 gar als »eine Lebensaufgabe«. Wohl befragt nach seiner Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer gibt er an: »Ich habe auch Gesangsvereine dirigiert. Da wurde mir bedeutet, ich dürfe nicht dirigieren, wenn ich nicht in der Reichsmusikkammer sei. Es war eine Lebensaufgabe von mir zu dirigieren; lieber habe ich den Beitrag bezahlt, als nicht mehr dirigieren zu dürfen.« Dass Hans D. allerdings nie den Beginn seiner musikalischen Geschichte thematisiert, stärkt wiederum die These, dass positive Erfahrungen aus der Kindheit von ihm nicht benannt werden, um die Aufteilung seines Lebens in eine »schlimme Kindheit« und »glückliche Gründungsfamilie« aufrechtzuerhalten. Ab 1925 ist Hans D. für kurze Zeit Mitglied der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) unter dem Parteivorsitz Gustav Stresemanns.46 Damit wählt er eine Partei des Bürgertums, die die Verfolgung nationaler
—————— 44 Vgl. Brunners 2004. 45 Vgl. Schreiben Kübler, 1922, in ABM, QT, Unterordner Beschwerden. 46 Vgl. Ruge 1968.
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Interessen propagiert – unter anderem die Revision des Versailler Vertrages – und deren Mitglieder zugleich als »Vernunftrepublikaner« das republikanische System Weimars stützen. Mit dieser Entscheidung positioniert sich Hans D. sowohl liberaler als die häufig an der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) orientierten Pietisten als auch säkularer als diejenigen Pietisten, die im Christlichen Volksdienst (CVD, später CSVD) aktiv sind.47 Der Beitritt ist möglicherweise auch Ausdruck einer für den Pietismus typischen Haltung, eine Weile nach einem nicht befürworteten Systembruch diesen zu akzeptieren.48 In seiner Verteidigungsschrift von 1947 reißt Hans D. seine DVP-Mitgliedschaft kurz an: »Wohl war ich während der Jahre meines Aufenthalts in Mühlacker hin und wieder mit Freunden in polit. Gespräche gekommen und dadurch kurze Zeit Mitglied der Deutschen Volkspartei, aber ein weiteres Abgeben mit Politik war nie meine Sache gewesen.« Über den Bekannten- oder Freundeskreis ist Hans D. zu dieser Partei gestoßen. Im Alter von 35 Jahren organisiert er sich erstmals politisch, zu einem Zeitpunkt, an dem er beruflich etabliert und familial stabilisiert ist. Möglicherweise wird jetzt, wo D.s biographische Prioritäten, wie Familiengründung und berufliche Etablierung, erfolgreich geglückt sind, zusätzlich Politik relevant, verstanden als ein Aktivitätsfeld des etablierten, männlichen Bürgers, zu dessen Beschreibung auch ein Engagement oder zumindest Interesse an politischen und öffentlichen Belangen gehört. Hans D. bleibt allerdings nicht allzu lange in diesen Zusammenhängen. Möglicherweise lassen ihn die Breite des Spektrums innerhalb der DVP oder die Aufforderung zu einem stärkeren Engagement für die Partei sich wieder zurückziehen. Kritik am »Parteigezänk« von Weimar, die er noch 1947 in seiner Verteidigungsschrift zum Ausdruck bringt, kann auch ein Hinweis darauf sein, dass er mit zwischen- wie innerparteilichen Auseinandersetzungen nicht gut zurechtgekommen ist. Mit der Argumentation, dass ein weiteres »Abgeben mit Politik« nie seine Sache gewesen sei, bringt er neben seinen persönlichen Prioritäten auch eine im Pietismus weit verbreitete Haltung zum Ausdruck.49
—————— 47 Vgl. Lehmann 1969, S. 298ff. 48 Vgl. ebd., S. 353ff. 49 Vgl. ebd.
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3.1.5. Hinwendung zum Nationalsozialismus ab 1930 als individuelles und familiales »Erweckungserlebnis« Im Herbst 1929 wird Hans D. im Alter von 40 Jahren an eine Volksschule nach Stuttgart versetzt und zieht mit seiner Familie in die württembergische Großstadt, die er bereits als Kind kennen lernte und wo er als Jugendlicher seine aus der Mission zurückgekehrten Eltern besuchte. Aus den Akten überliefert ist, dass Hans D. bereits 1929 wieder eine Tätigkeit als Chorleiter aufnimmt. Damit gelingt es ihm, sein Hobby fast bruchlos fortzuführen und auf diesem Wege bereits in den ersten Monaten in der neuen Umgebung außerberufliche Kontakte zu knüpfen. In demselben Herbst stirbt die Mutter von Hans D. Denkbar ist, dass mit dem Umzug nach Stuttgart sowie dem Tod der Mutter wieder stärker Themen und Aufträge der Herkunftsfamilie bei Hans D. virulent werden. Hans D. könnte nun familiale Themen wieder stärker aufgreifen oder aber sich umso stärker von ihnen lossagen und sie ablehnen. Inwieweit er zu Verwandten Kontakt aufnimmt – beispielsweise zu seinem unmittelbaren Cousin in Stuttgart, jenem Missionsangehörigen, der später in einem Helferkreis zur Unterstützung von Juden aktiv wird – ist nicht bekannt.50 Aus mehreren Dokumenten geht hervor, dass Hans D. in dieser Zeit beginnt, mit seiner Frau NS-Versammlungen zu besuchen. Die Frau tritt im Oktober 1930 in die NSDAP ein, er im Juli 1931 in den NS-Lehrerbund (NSLB). Sein Eintritt in den NS-Lehrerbund als radikal systemopponierender Gruppierung bedeutet eine Veränderung gegenüber dem Verhalten der letzten 15 Jahre, in denen er stark auf Systemintegration, Familie und Beruf orientiert lebte. Interessanterweise beginnt Hans D. seine »Verteidigungsschrift« von 1947, in der er unter anderem darstellen soll, wie es zu seinem NSDAP-Beitritt kam, mit diesem Wechsel nach Stuttgart. Seine Hinwendung zum Nationalsozialismus beschreibt er in starker Anlehnung an pietistische »Erweckungsdarstellungen«. In diesen erfolgt eine Erweckung datierbar, durch eine innere oder äußere Krise induziert und wird auch als Zwang erlebt, aktiv zu werden und eine quietistische Position zu verlassen.51 Um diese Anlehnung zu verdeutlichen, wird im Folgenden etwas breiter aus dieser Verteidigungsschrift zitiert:
—————— 50 Zum Engagement des unmittelbaren Cousins Alfred D. in einem Helferkreis vgl. Jenkins 1989, Krakauer 1991. 51 Vgl. Modrow 1996, Scharfe 1982.
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»Meine Versetzung nach Stuttgart wurde bestimmend für die künftigen Jahre. War ich bisher ausserhalb des Schuldienstes in musikalischer Hinsicht durch Direktion von Männerchören stark in Anspruch genommen, wurde dies im neuen Wirkungsort gänzlich geändert. Nach den übermässigen Anstrengungen der letzten Jahre von 1929 trat eine gewisse Ruhe ein, und ich freute mich nach Erfüllung der täglichen Berufspflicht eines ruhigen und schönen Familienlebens, das ich so lange Zeit entbehren musste. Ich freute mich auch, Zeit zu finden, um meine eigenen Kinder in musikalischer Begabung fördern zu dürfen. Leider wurde diese Ruhe durch die damaligen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse mehr und mehr unterbrochen. Wohl war ich während der Jahre meines Aufenthalts in Mühlacker hin und wieder mit Freunden in polit. Gespräche gekommen und dadurch kurze Zeit Mitglied der Deutschen Volkspartei, aber ein weiteres Abgeben mit Politik war nie meine Sache gewesen. Dies alles änderte sich in den Jahren nach 1930. Durch die häufigen polit. Versammlungen aller Parteirichtungen und durch die Erscheinung polit. Verbände auf der Strasse wurde das Interesse für die damaligen Geschehnisse stark umgelenkt. Die wachsende Arbeitslosigkeit und das trostlose Bild der Strassen, in denen die Menschen untätig umherstanden, mussten jeden Einsichtigen mit Sorge erfüllen. Aus diesem Grunde besuchte ich in jener Zeit mehrmals Versammlungen der verschiedensten Parteirichtungen. Bald wurde mir klar, dass die sich widersprechenden Anschauungen der bisherigen Parteien keinem Ziele zuführten. Die Verhältnisse wurden immer schlimmer und verschärften die wirtschaftl. Lage mehr und mehr. Die Arbeitslosigkeit stieg von Monat zu Monat in erschreckendem Mahse; trotz der Notgesetze jener Zeit trat keine bemerkenswerte Änderung ein. Da wurde ich bekannt mit den nationalsozialistischen Ideen und Schriften. Die Erfüllung derselben schienen mir dazu angetan, eine totale Änderung der damals verwirrten Zustände herbeizuführen. Das Betonen einer Volksgemeinschaft, in der nicht mehr einer den andern bekämpfte, sondern wohlwollend unterstützt, schien mir die richtige Wegweisung des deutschen Volkes zu sein. Auch die Devise: Gemeinnutz vor Eigennutz, nahm ich als eine Erkenntnis, die, wenn sie richtig durchgeführt, allem bisherigen Parteigezänk als ethische Norm ein Ende bereiten müsste. So kam es, dass ich aus rein idealen Gründen mich diesen Gedankengängen hingab und 1931 dem damals neugegründeten NSLB beitrat. Ich lernte hier Menschen kennen, denen es mit den neuen politischen Ideen ernst war und die sich aus wirklicher Uneigennützigkeit dafür einsetzten. Dabei war mir die betonte Einigung der damals ausserordentlich zersplitterten Erzieherverbände ein Idealziel, das [durchgestrichen: ›mir‹; CMB] wert war, sich dafür einzusetzen. Schon die Beseitigung der konfessionellen Unterschiede, die Überwindung der überheblichen Art der übereinanderstehenden Lehrer- und Erzieherverbände, die Ausrichtung nach einem ganz bestimmten Ziel, nämlich vor allem andern in selbstloser Weise einem geeinten Volk zu dienen, bestimmten mich, meine ruhige Position zu verlassen. Ich fühlte mich gezwungen, einem musischen Leben zu entsagen und mich für jene Gedanken einzusetzen, in deren Verwirklichung ich einen Ausweg aus dem Wirrsal jener Zeiten sah.« (Verteidigungsschrift 1947)
Dass der Prozess der Hinwendung zum Nationalsozialismus von Hans D. ähnlich wie eine pietistische »Erweckung« empfunden worden ist, ist aufgrund seiner Sozialisation ebenso wie durch sein folgendes Handeln durchaus nahe liegend. Er scheint mithin zu jenen Pietisten oder pietistisch Sozi-
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alisierten zu gehören, die sich in Zeiten von gesellschaftlichen Krisen im 20. Jahrhundert dazu gedrängt fühlten, politisch aktiv zu werden, unter anderem in der Wirtschaftskrise nach 1929 für den Nationalsozialismus.52 Die Empfindung der Hinwendung zum Nationalsozialismus als Erweckung lässt auch den Eintritt in den Nationalsozialistischen Lehrerbund in Stuttgart – der nach den Angaben von Hans D. zu dieser Zeit nur ein Dutzend Mitglieder hatte – in einem klareren Licht erscheinen. Sich in einer kleinen Minderheitengruppe zu engagieren, ist für Pietisten nichts Außergewöhnliches. Dies erklärt auch, wie Hans D. dazu kommt, sein früheres Handlungsmuster der Systemintegration in dieser Situation zu modifizieren. Eine weitere für den Fall Hans D. konstitutive Dimension der Hinwendung zum Nationalsozialismus wird in diesem Dokument nicht benannt, aber in mehreren Dokumenten aus der NS-Zeit manifest zum Ausdruck gebracht: Dass Hans D. und seine Frau das NS-Engagement gewissermaßen als »Familienprojekt« anlegten, als gemeinsamen Einsatz für nationalsozialistische Ideen. Während dieser Aspekt in den Nachkriegsdokumenten bewusst ausgelassen wird, wird das gemeinsame Engagement der Eheleute und ihrer Kinder für den Nationalsozialismus während der NS-Zeit in mehreren Dokumenten hervorgehoben und nahm, so die Ergebnisse der Analyse, eine konstitutive Rolle für das NS-Engagement von Hans D ein. Diese findet auch in der ungewöhnlichen Verwendung von »Wir«-Formulierungen innerhalb eines Lebenslaufes ihren Ausdruck. So schreibt er 1937, um diese Zeilen noch einmal zu zitieren: »Erst hier [in Stuttgart, CMB] wurde unsere Familie durch den Wahlkampf 1930 mit der NSDAP bekannt. Wir haben seither die ganze Kampfzeit hindurch alle großen Versammlungen u. Veranstaltungen der Bewegung besucht. Während meine Frau seit Oktober 1930 als Mitglied der Bewegung lief, trat ich Frühjahr 1931 in den NSLB, um die Zahl der wenigen Mitglieder (etwa 12 von ganz Stuttgart) zu stärken.«
Als zentrale These zur Struktur des Falles lässt sich hier bereits formulieren, dass die Hinwendung zum Nationalsozialismus für Hans D. eine spezifische weitere Transformation pietistischer Orientierungen ins Weltliche darstellt: Sie wird nicht nur als individuelle »Erweckung« empfunden. Vielmehr stellt sie für Hans D. ein familiales Projekt dar, für das sich das Ehepaar oder die Familie gemeinsam ideell und praktisch einsetzt. Eine Anlehnung an das Konzept der verlorenen Missionarsfamilie, aus der Hans
—————— 52 Vgl. hierzu Lehmann 1969, S. 352f.
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D. kommt, wird hier deutlich. Für Hans D. bietet die gemeinsame familiale Aktivität für den Nationalsozialismus die Möglichkeit, sich mit seiner Familie für Ziele einzusetzen, die über private Angelegenheiten hinausgehen – ähnlich wie es in pietistischen Missionarsfamilien üblich war. Dabei werden soziokulturelle pietistische Verhaltensweisen und Orientierungen auf das Feld des nationalsozialistischen Engagements übertragen und als gemeinsames Familienengagement gelebt. Dem entspricht auch im Folgenden eine dienende, aufopferungsvolle und eifrige Funktionärstätigkeit. 1932 und im Frühjahr 1933 wählt D., Angaben aus der Nachkriegszeit zufolge, die NSDAP. Neben seiner Aktivität für den NS-Lehrerbund gibt er 1937 an, seine Frau und er hätten arbeitslose SA-Leute unterstützt. Eine eifrige Mitarbeit von Hans D. in der NS-Bewegung vor 1933 wird auch in einem Schreiben des NSDAP-Kreisleiters von 1942 erwähnt.
3.1.6. NSDAP-Beitritt und Übernahme von Funktionen nach der Machtübernahme 1933 Nach der Machtübernahme intensiviert Hans D. seine nationalsozialistische Tätigkeit und Ausrichtung in zahlreichen Lebensbereichen: beruflich, parteipolitisch im Wohnbereich sowie familial. Für die Wochen und Monate unmittelbar nach der Machtübernahme sind seine Aktivität im NS-Lehrerbund und sein Parteibeitritt zu nennen. Beginnend mit Januar 1933 übt Hans D. eine Funktion als Vertrauensoder Obmann (später Kreisabschnittswalter) des NSLB an seiner Schule aus. D. ist also durchaus bereit, eine Funktion innerhalb des NS-Lehrerbundes zu übernehmen und die Lehrer an seiner Schule zu mobilisieren, zu agitieren und zu kontrollieren.53 Zum 1. Mai tritt er in die NSDAP ein. Inwieweit er früher davon absah, um etwa im beruflichen Bereich nichts zu riskieren, kann nicht abschließend geklärt werden – eine dementsprechende Argumentation wird von ihm nirgends angeführt, allerdings durch den Kreisleiter im Jahr 1942 durchaus einmal genannt. Ebenso ist denkbar, dass für Hans D. als berufsorientierten und weniger politischen Mann tatsächlich Mitgliedschaft und Engagement im nationalsozialistischen Berufsverband anziehender
—————— 53 Vgl. zum NS-Lehrerbund Feiten 1981.
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waren als der Parteibeitritt im engeren Sinne. Dies korrespondierte vielleicht auch mit seinem Handlungsmuster der Systemintegration. Nun, da der Nationalsozialismus an der Macht ist, steht einem Parteibeitritt möglicherweise in mehrfacher Hinsicht nichts mehr entgegen: Zwischen nationalsozialistischen Ambitionen und seiner früheren Orientierung an Systemintegration sind keine Reibungspunkte mehr vorhanden; ebenso ist ein Parteibeitritt zugleich für die Ausübung weiterer Funktionen dienlich. So ist Hans D. – wohl vor dem Hintergrund dieser Mitgliedschaften – bis 1934 bereits Mitglied im Ortsschulrat geworden und bekleidet damit auch ein kommunales Amt. Er selbst äußert sich zu seinem Parteibeitritt, unmittelbar nach der längeren Darlegung seines Beitrittes in den NSLB, in seiner Verteidigungsschrift von 1947 relativ kurz mit den folgenden Worten: »Im Jahr 1933 – am 1. Mai – trat ich dann der Partei bei um für meinen Teil an dem nun anbrechenden Aufschwung teilzunehmen und nach den gegebenen idealen Grundsätzen wirken zu dürfen.« Dass hier auch ein Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im NS-Lehrerbund vermutet werden kann, wird durch die unmittelbar darauf folgenden Zeilen nahe gelegt: »Ich wurde damals zum Obmann des NSLB an der Johannesschule bestimmt. Wenn ich auf jene Jahre zurückschaue, muss ich mich wundern, wie die meisten Volksgenossen ohne weiteres den neuen Ideen aufgeschlossen waren, und es bedurfte in dem enggezogenen Bekanntenkreis von meiner Seite kein Zureden, viel weniger eines andern Mittels, um die Kollegen und Freunde jener Zeit umzustimmen. Ja, manchmal schien mir, als ob die andern weit mehr als ich mit allem Ernst an die Änderungen der Verhältnisse herangingen. So herrschte ein harmonisches Verhältnis, das meinerseits nie durch irgendwelche Maßnahmen getrübt wurde. Er waren im kurzer Zeit ohne mein Dazutun alle Kollegen aus eigener Initiative dem NSLB beigetreten und ohne meine Einwirkung wurden im Lauf der Zeit fast alle Lehrer der Johannesschule Mitglied der NSDAP.« (Verteidigungsschrift 1947)
Dass das Verhältnis unter den Kollegen nicht immer so harmonisch war, wie Hans D. es noch 1947 sehen möchte, wird etwa durch ein Belastungsschreiben eines parteilosen Lehrers an seiner Schule im Spruchkammerverfahren deutlich. Diesen Kollegen nennt Hans D. 1933/34 einen Landesverräter, da er noch nicht verheiratet und kinderlos sei. Diese Auseinandersetzung hat – jenseits der Bedrohung und Einschüchterung des Kollegen – keine weiteren Folgen. Dass Hans D. keine weiteren Schikanen ihm gegenüber einleitet, spricht für ein relativ unbedachtes Vorgehen, zumal er einige Zeit später versucht, wieder einzulenken.
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Dieser und ein folgenreicherer Vorfall (siehe unten) sind bekannt – nicht bekannt ist, was möglicherweise an ähnlichen weiteren konkreten Drohungen und Gefährdungen vorgefallen ist. Im Klima der unmittelbaren Nachkriegszeit schreckten viele Geschädigte davor zurück, Zeugenaussagen gegen frühere Funktionäre zu machen – sei es, weil sie selbst derartige Anzeigen für eine Fortsetzung von Denunziation hielten oder eine solche Brandmarkung von Anzeigen in der Öffentlichkeit sie davon abhielt. Auch war die Beweislage meist sehr schwierig. Zudem befanden sich Schädiger und Geschädigte nach Kriegsende oft nicht mehr am selben Ort. Daher ist es eher erstaunlich, wenn überhaupt belastendes Material durch unmittelbar Geschädigte in den Ermittlungen der Spruchkammern auftaucht. An mehreren Stellen in der Akte finden sich Hinweise darauf, dass Hans D. erfolglos versucht hat, die Parteimitgliedsnummer seiner Frau zu übernehmen. Über dieses Ansinnen machen sich Kollegen, die davon Kenntnis erhalten haben, offenbar lustig.54 Dass es Hans D. wichtig ist, in der NSDAP nicht als sogenanntes »Maiveilchen« zu gelten, sich von Opportunisten abzugrenzen und in seiner eigenen Hinwendung ernst genommen zu werden, wird auch in seinem Lebenslauf von 1937 deutlich: »Eine Doppelmitgliedschaft in der NSDAP erschien uns damals [zu Beginn der 1930er Jahre; CMB] unnötig, zumal wir mit Spenden u. sonstigen Opfern SA-Kameraden, die arbeitslos waren, unterstützten. So kam es, dass erst im Jahr 1933 durch meine Mitarbeit bei der Ortsgruppe Silberburg der Beitritt auch auf meinen Namen erfolgte.« (Lebenslauf 1937)
Die erste Parteifunktion als Blockleiter übernimmt Hans D. im September 1933 nach einem Umzug innerhalb Stuttgarts in der Ortsgruppe Fangelsbach. Zeitgleich fährt er zum Reichsparteitag der NSDAP nach Nürnberg, den er 1937 begeistert erwähnt. Familial schlägt sich die Nazifizierung nieder in der Entscheidung, den ältesten Sohn 1934–1936 auf die neu gegründete Nationalpolitische Erziehungsanstalt (Napola) in Backnang, unweit von Stuttgart entfernt, zu schicken, wo er im Internatsbetrieb eine von nationalsozialistischen Prinzipien geprägte Eliteerziehung erhalten soll.55 Parallelen zur eigenen Kindheit von Hans D., der ebenfalls in ein Internat im weltanschaulichen Milieu der Eltern gegeben wurde, werden damit sehr nahe gelegt.
—————— 54 Dies geht aus einer Zeugenaussage im Spruchkammerverfahren hervor. 55 Vgl. Weiß 1997.
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3.1.7. Analyse des selbstverfassten Lebenslaufs von 1934 In dieser Zeit reicht Hans D. 1934 einen ersten Lebenslauf an die NSDAP ein. Diesen Lebenslauf habe ich feinanalytisch ausgewertet (vgl. zur Methode Kapitel 2.3.) und am Anfang dieser Falldarstellung in voller Länge zitiert. Im Folgenden werden einige Ergebnisse zusammenfassend behandelt: Nach der Darstellung des formalen Rahmens werden zentrale Thesen zur Struktur des Textes und der darin zum Ausdruck kommenden biographischen Gesamtsicht von Hans D. 1934 aufgezeigt. Anschließend werden sein Umgang mit der Schreibsituation und dem Adressaten zusammenfassend interpretiert und davon ausgehend Thesen zum Verhältnis zur NSDAP formuliert. Die Kontrastierung der Ergebnisse der Textanalyse mit Strukturhypothesen zum gelebten Leben und die Bildung von Hypothesen zum Fortgang des gelebten Lebens werden abschließend in Ansätzen vorgenommen. Den formalen Rahmen der ersten biographischen Selbstbeschreibung von Hans D. bildet das Formular »Personen-Beschreibung« der NSDAP.56 Am Ende des zweiseitigen Formulars wird ein »kurzgefasster, handschriftlicher Lebenslauf« erwartet. Für diesen wird ein Kasten mit zwölf Zeilen Platz zur Verfügung gestellt. Der Fragebogen ist von Hans D. gewissenhaft ausgefüllt, so gibt er auch seine DVP-Mitgliedschaft 1925 an. Allerdings ist er undatiert und nicht unterschrieben.57 Die für einen Lebenslauf vorgegebenen zwölf Zeilen werden von Hans D. genau ausgefüllt, er schreibt weder weniger noch mehr. Der handgeschriebene Lebenslauf ist fehlerfrei und ohne Berichtigungen verfasst. Zwischen einigen Sätzen ist durch einen längeren Zwischenraum der Beginn einer neuen Sinneinheit markiert. Hans D. verwendet einige Abkürzungen, was ein Hinweis dafür ist, dass er den vorgegebenen Platz für sehr begrenzt hält. Die Analyse der Struktur des Textes befasste sich damit, welche Themen in welcher Reihenfolge, Ausführlichkeit und Darstellungsform abgehandelt werden. Davon ausgehend werden Thesen zu der in diesem Text zum Ausdruck kommenden »biographischen Gesamtsicht« des Verfassers formuliert. Kurz zusammengefasst: Hans D. präsentiert sich in dem 1934 an
—————— 56 Darin werden Angaben zu Geburtsdatum, und -ort, Schulbildung, Militärdienstzeit, bisheriger Berufstätigkeit, Parteieintritt und Werdegang als Politischer Leiter der NSDAP, Ehrenämtern, früherer politischer Tätigkeit, »Reichsangehörigkeit«, Religion und Familienstand abgefragt (vgl. das Beispiel im Anhang). 57 Dass der Lebenslauf von 1934 stammt, geht aus den angegebenen Daten hervor.
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die NSDAP verfassten Lebenslauf als jemand, der nach einer problematischen Kindheit eine gelungene Berufssozialisation absolviert und eine eigene, geordnete und ihm sehr wichtige Familie gegründet hat. Er fokussiert damit, so die Ergebnisse der Analyse, die ihm in der Zuwendung zu seiner Lebensgeschichte vorstellig werdenden zentralen Themen. Mit dieser Fokussierung geraten Formatvorgaben und Adressat – zumindest zeitweise – in den Hintergrund: Bereits im ersten Satz verzichtet er auf jegliche Erwähnung der Mutter und die Angabe des Vornamens des Vaters. Besonders auffallend ist die darauf folgende, detaillierte Darstellung der Familienkonstellation und der Trennung der Familie im Alter von sechs Jahren. Auf nahezu der Hälfte des zwölfzeiligen Textes beschäftigt sich Hans D. mit der Trennung seiner Eltern von ihren Kindern sowie der Geschwister untereinander. Der fremdberichtende Stil, in dem die Eltern zu den handelnden Subjekten werden, ist für standardisierte Lebensläufe sehr ungewöhnlich. Hans D. präsentiert seine Kindheit und Jugend damit als vor allem durch das Handeln seiner Eltern bestimmt. Erstmals selbst aktiv präsentiert er sich mit seiner Ausbildung. Die berufliche Sozialisation wird dicht gedrängt und gerät lückenhaft: So muss sich der Leser aus dem Folgenden selbst erschließen, dass es sich bei dem Seminar wohl um ein Lehrerseminar gehalten hat. Die Militärdienstzeit wird gänzlich ausgelassen. Die letzten beiden Zeilen widmet Hans D. seiner aktuellen familialen Situation. Mit der genauen Angabe des Namens der Frau, ihres Herkunftsortes und des Berufs ihres Vaters sowie der Altersangabe der Kinder ist diese wieder vergleichsweise detailliert dargestellt und mit der Verwendung der ersten Person Plural die Relevanz der Paarbeziehung und des Familienlebens unterstrichen. Hans D. ist mit dem Resultat zumindest nicht völlig unzufrieden – er hätte immer noch die Möglichkeit gehabt, sich bei der Ortsgruppe ein weiteres Formular aushändigen zu lassen. Vor dem Hintergrund dieses Umgangs mit der Schreibaufforderung lassen sich einige Thesen aufstellen zum generellen Umgang von Hans D. mit an ihn gestellten Anforderungen im Allgemeinen, zum Verhältnis zur NSDAP im Besonderen. Hier stellen sich auch Fragen nach der Schreibsituation und zur Entstehung des Textes: Nahe liegend ist es, dass Hans D. ohne konkretes Konzept »drauflos geschrieben« hat, allerdings nicht übereilt – darauf weisen das saubere Schriftbild und die korrekte und fehlerfreie Formulierung der Sätze hin. Ein »Drauflosschreiben« deutet auf ein nicht unerhebliches Vertrauen gegenüber der NSDAP hin, er kontrolliert nicht genau seine Äußerungen gegenüber der Partei. Mit der Fokussierung auf
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seine biographischen Relevanzen bringt er zum Ausdruck, dass er in seiner individuellen Besonderheit gesehen werden will. Dabei verliert er teilweise den Kontext – hier: was wie in einen standardisierten Lebenslauf gehört – aus dem Blick. Auch verzichtet er auf eine explizite Adressatenorientierung, etwa in der Thematisierung seiner Hinwendung zum Nationalsozialismus oder anderer politischer Argumentationen. Die Analyse legt nahe, dass Hans D. deutlich mehr hätte schreiben können, sich aber dagegen entscheidet. Das Bemühen um ein korrektes Einhalten von Vorgaben – so etwa bei der Zeilenvorgabe für den Lebenslauf oder das gewissenhafte Ausfüllen des gesamten Fragebogens – weisen auf ein Verhältnis zur NSDAP hin, in dem Hans D. Anforderungen zu erfüllen sucht und die Partei als Autorität wahrnimmt, die er akzeptiert und deren Vorgaben er sich unterordnet. Dies spricht nicht für ein starkes Selbstbewusstsein gegenüber der Partei. Mit dem korrekten Einhalten des Rahmens – hier wörtlich: im Sinne des vorgegebenen Kastens – bringt Hans D. zum Ausdruck, dass er mit seinen Besonderheiten in diesen Rahmen passt, mithin in die NSDAP passt. Diese Verbindung individueller Besonderheit und gleichzeitiger Unterordnung unter eine starke Autorität gilt, wie schon erwähnt, als typisch für die Funktionsweise pietistischer Zusammenhänge. So lässt sich auch in dieser Darstellungsweise eine Transformation pietistischer Verhaltensweisen ins politische Feld der NSDAP vermuten. Entspricht dieser Umgang dem Verhältnis zur NSDAP und auch generellen Handlungsweisen von Hans D., so wäre hinsichtlich seines künftigen Handelns im Parteikontext zu erwarten, dass er die Vorgaben der NSDAP akzeptiert, innerhalb dieser Vorgaben aber eigenwillig und an seinen biographischen Relevanzen orientiert handelt, mitunter auch unüberlegt – unter Ausblendung des jeweiligen Kontextes – »drauflos« handelt. Von diesen Analysen ausgehend wäre nicht damit zu rechnen, dass er einen Konflikt mit der NSDAP von sich aus beginnt. Denkbar wäre eher, dass übergeordnete Parteistellen der NSDAP sich an eigenlogischem Handeln von Hans D. stören und dieses kritisieren.
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3.1.8. Biographiebezogene Beitritte in weitere NS-Organisationen und die Weitergabe einer regimekritischen Äußerung Zwischen 1934 und 1937 tritt Hans D. einer Reihe weiterer Verbände bei, so etwa 1934 der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Während sein Beitritt in die Reichsmusikkammer nach seinen Angaben im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Chordirigent steht, ist der Beitritt in den Reichskolonialbund wohl mit nationalistischen und insbesondere auch kolonialistischen Haltungen verbunden. Letztere gehen vermutlich bis in die Kindheit in der Mission zurück, für deren Tätigkeit in anderen Kontinenten die europäische und deutsche Kolonialpolitik maßgeblich die Voraussetzungen schuf. Der Eintritt in den von Franz Xaver Epp geführten Verband spricht für eine Übereinstimmung mit kolonialistischer und völkischer Politik, die systematisch Gewalt einzusetzen bereit ist. Franz Xaver Epp war bereits um die Jahrhundertwende bei der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China sowie Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutsch-Südwestafrika an der Niederschlagung des Herero-Aufstands beteiligt und nach dem Ersten Weltkrieg exponierter Freikorpskämpfer.58 Hans D. tritt also insbesondere in diejenigen NS-Organisationen ein, die mit seiner Biographie spezifisch verbunden sind und verknüpft auf diesem Weg immer mehr Lebensbereiche mit dem Nationalsozialismus. Der weiteren Verstärkung seines Engagements für den Nationalsozialismus tut es keinen Abbruch, dass die Weitergabe eines Gesprächs mit einem befreundeten Schuldirektor an einen Parteigenossen für den Schuldirektor unangenehme Folgen hat. 1934 hat dieser Rektor in einem Gespräch mit Hans D. die Judenverfolgung in etwa mit den Worten »Unser Benehmen gegen die Juden ist eine Kulturschande« kritisiert.59 Hans D. hat diese Unterhaltung an einen Kollegen und Parteigenossen aus einer dritten Schule weitergegeben, der daraufhin den Rektor bei der NSDAP denunziert hat. D. wird ein Jahr später als Zeuge zu einem Parteigerichtsverfahren gegen den betreffenden Direktor geladen, der ebenfalls NSDAP-Mitglied ist. Zuvor hat Hans D. sich erfolglos bei einer Vorladung zu dem zuständigen Gauamt dafür eingesetzt, dass dieser Angelegenheit nicht weiter nachgegangen werde. In dem dennoch eingeleiteten Verfahren versucht Hans D. dann, seinen früheren Freund so gut wie möglich zu entlasten.
—————— 58 Vgl. Lilla 2004. 59 So und ähnlich wird die Formulierung in der Spruchkammerakte überliefert.
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Das Verfahren endet – wohl nicht zuletzt wegen D.s nebulöser Aussagen – mit einem Freispruch. Der Verlauf dieses Vorfalls zeigt, dass Hans D. seinem früheren Freund aus Seminarzeiten mit der Weitergabe des Gesprächs wohl tatsächlich nicht schaden wollte – zumindest nicht in der sich abzeichnenden Weise. Wie aber kam es zur Weitergabe der Unterhaltung an einen Kollegen? Offensichtlich hat Hans D. die Bemerkung des Rektors beschäftigt. Ihre Weitergabe kann dem Bedürfnis nach Kommunikation über diese Aussage, aber auch Wichtigtuerei geschuldet sein. Durch den weiteren Gang der Dinge wird klar, dass Hans D. zumindest den Kollegen falsch eingeschätzt hat und in seinen Handlungen beziehungsweise durch seine Parteikontakte, Parteifreunde und sein vertrautes Verhältnis zur NSDAP andere gefährdete. Dadurch wird die These nach zuweilen undurchdachtem Handeln – auch in Parteiangelegenheiten – gestärkt. Dies sind Hinweise darauf, dass D. in seinem unmittelbaren Bekannten- und Freundeskreis bei Systemkritik oder -distanz nicht unbedingt zu repressiven Maßnahmen des Nationalsozialismus greifen wollte. Dennoch hat er aufgrund seiner Überzeugung, seines Glaubens an die Partei und seiner Unüberlegtheit andere sowohl durch sein generelles Parteihandeln als auch sein Handeln in privaten und beruflichen Kontakten in konkreten Fällen in Schwierigkeiten gebracht. Diese Begebenheit ist für Hans D. kein Anlass zur Verringerung seines Engagements. Es gibt Hinweise darauf, dass er zur Aufrechterhaltung seines Engagements und seiner Begeisterung die Argumentation »wenn das der Führer wüsste« als Umgangsweise mit Unzufriedenheit und Kritik gewählt hat. Dem Lehrer, den er als Landesverräter bezeichnet hat, habe er in dieser Zeit einmal gesagt: »Wenn Hitler die Macht hätte, würde er die ganze Partei auflösen.«60 Von Kollegen, die ihn im Rahmen des Spruchkammerprozesses allgemein nicht als »scharfen Nazi« einschätzen, wird Hans D. wegen seiner Überzeugung und der bekannt gewordenen Denunziation teilweise gemieden; mehrere schätzen ihn ein als jemand, der die politische Situation nicht überblickt habe, kindlichen Charakters sei, ein gewisses Geltungsbedürfnis gehabt habe oder von seiner Frau dominiert gewesen sei. Etwa 1935/36 schließen Hans D. und seine Ehefrau sich den Deutschen Christen an. Dies stellt wieder einen gemeinsamen Schritt der Ehe-
—————— 60 So wird die Äußerung von Hans D. durch den Kollegen erinnert und im Protokoll der Spruchkammerverhandlung vom Juli 1948 wiedergegeben.
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leute tiefer ins NS-System dar. Mit seinem Bekenntnis zu den Deutschen Christen bringt Hans D. nun im Feld der Religion seine nationalsozialistische Gesinnung zum Ausdruck. Mit dem Beitritt in jene Bewegung, die jeglichen jüdischen Einfluss aus dem Christentum entfernen will, versucht Hans D., sein Christentum und seinen Nationalsozialismus miteinander vereinbar zu machen und sich innerhalb der Evangelischen Landeskirche als Nationalsozialist zu positionieren. Dies stellt eine Entfernung von seinem unmittelbaren Herkunftsmilieu dar, die Basler Mission steht nach anfänglicher Begeisterung für den Nationalsozialismus der Bekennenden Kirche nahe. Gleichwohl sind viele Mitglieder ihrer württembergischen Heimatgemeinden, wie aus pietistischen Gemeinden generell, den Deutschen Christen beigetreten.61 Hans D. schreibt im Fragebogen des Military Government of Germany im Herbst 1945, er habe sich von diesem Beitritt die Einigung der Kirche erhofft und bemüht einmal mehr entpolitisierend den »Einigungsgedanken« in seinem nationalsozialistischen Engagement. Noch immer stehe er dieser Bewegung nahe, so D. im Sommer 1948 in der Spruchkammerverhandlung. Ab 1936 übernimmt D. weitere Ämter in der NSDAP und verlagert seine Aktivität stärker in die Parteiorganisation. Dabei ist er zugleich in zwei Ortsgruppen aktiv – ein sonst eher ungewöhnlicher Umstand. In seiner früheren Ortsgruppe Silberburg wird er 1936 Ortsgruppen-Amtsleiter im Amt für Erzieher. Gut möglich ist, dass persönliche Bindungen ihn den Kontakt zur Ortsgruppe Silberburg bewahren lassen.62 Zeitgleich hat er einen Blockleiterposten in der Ortsgruppe Fangelsbach inne, wo er seit 1933 oder 1934 wohnt. Im Frühjahr 1937 wird er dort in seinem unmittelbaren Wohnumfeld NSDAP-Zellenleiter und übt damit die administrative und politische Koordination und Kontrolle mehrerer Blöcke und ihrer Leiter aus. 1936 nimmt er wiederum am Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg teil. Über diese Daten wird deutlich, dass D. sein Engagement für die NSDAP deutlich ausbaut. In verschiedenen Kontexten setzt er sich für die Durchsetzung der »NS-Volksgemeinschaft« ein. Seine Unterstützung liegt
—————— 61 Vgl. Witschi 1970, S. 60ff.; Lehmann 1969, S. 323ff. 62 Die Ausübung dieser Funktion kommt im Spruchkammerverfahren nicht vor. Möglicherweise stand sie auch eher im Hintergrund des Engagements von Hans D. Zu den Aufgaben dieser an der Schnittstelle zwischen Parteiorganisation und NS-Lehrerbund angesiedelten Funktion, die u. a. mit der Befürwortung und Ablehnung von Lehrerbeförderungen befasst war, vgl. Organisationsbuch der NSDAP 1937, S. 252ff.; Feiten 1981.
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vor allem in der Erledigung der alltäglich anfallenden administrativen, mobilisierenden und kontrollierenden Tätigkeiten in den NS-Organisationen, weniger in der Beteiligung an repressiven Maßnahmen von Gestapo oder Gerichten. Gleichwohl nimmt er diese Maßnahmen in Kauf, sie beeinträchtigen nicht sein Engagement. Wie auch bereits Ende der 1920er Jahre in seiner Tätigkeit als Chordirigent kommt er mit seinem starken Engagement auch an Grenzen der Belastbarkeit. Dass er sich mit der Erfüllung der Aufgaben tendenziell überlastet fühlt, bringt er in Selbstpräsentationen während der NS-Zeit und danach zum Ausdruck.
3.1.9. Analyse des Lebenslaufs von 1937 und Vergleich mit der früheren Selbstpräsentation Vom Frühjahr 1937 liegt ein weiterer an die NSDAP gerichteter Lebenslauf von Hans D. vor. Er ist ebenfalls am Anfang der Falldarstellung abgedruckt. Neben Angaben zum Rahmen der Textproduktion werden im Folgenden Ergebnisse der Textanalyse präsentiert. Dabei wird auch deutlich, inwieweit der unmittelbare Schreibkontext, hier das Ausfüllen der »Ahnentafel«, die Darstellung mit beeinflussen kann. Durch die abschließende Kontrastierung der Lebensläufe von 1934 und 1937 kann eine zentrale These zur Bedeutung des nationalsozialistischen Engagements im Fall Hans D. formuliert werden. Den formalen Rahmen der Darstellung bildet mit ziemlicher Sicherheit ein weiteres Zusammenstellen von Personaldokumenten im Mai 1937, als Hans D. den »Personalfragebogen 2« der NSDAP und die sogenannte »Ahnentafel« ausfüllt. Mit dem »Personalfragebogen 2« zusammen wurde üblicherweise ein handschriftlich abgefasster Lebenslauf eingereicht, der in der Regel zwischen einer halben Seite und zwei Seiten umfasste. Vermutlich ist die Übernahme einer Zellenleiterfunktion durch Hans D. im Frühjahr 1937 Anlass für das Einreichen weiterer Personalunterlagen. Bei der Übernahme weiterer Funktionen wurden in diesen Jahren die Personalunterlagen meist neu angefordert. Hans D. legt – wie viele andere Funktionäre – dem Personalbogen 2 einen selbstgeschriebenen Lebenslauf auf losen Blättern bei. Dieser umfasst 33 Zeilen auf eineinhalb handgeschriebenen Seiten (Vorder- und Rückseite). Damit bleibt er erneut im üblichen
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Rahmen.63 Die Rechtschreibung und Zeichensetzung sind wiederum weitgehend korrekt, auch die Form ist sehr ordentlich und gepflegt; bis auf eine kleine, sorgfältige Ergänzung werden von Hans D. keinerlei Korrekturen oder Streichungen vorgenommen; allerdings fehlen in dem Schreiben Angaben zu Ort und Datum, auch ein Adressat ist nicht angegeben. Auffallend am Textaufbau ist vor allem dessen nationalsozialistische Rahmung. Hans D. präsentiert sich als überzeugten Nationalsozialisten und interpretiert Herkunft, Gegenwart und Zukunft mit positivem Bezug auf nationalsozialistische Ideen und Relevanzen. Als Einstieg und im letzten Teil des Lebenslaufs legt er NS-Bekenntnisse ab. Sein mit seiner Frau gemeinsam vollzogener Weg in die NS-Bewegung bildet die längste Sequenz in dieser biographischen Selbstpräsentation. Die genaue Textanalyse zur Rekonstruktion der biographischen Gesamtsicht ergibt: Hans D. präsentiert sich als überzeugten Nationalsozialisten, der nach einer schwierigen Kindheit, erfolgreichen beruflichen Entwicklung, Kriegsdienst und Familiengründung ab 1930 gemeinsam mit seiner Frau (und den Kindern) den Nationalsozialismus als sinngebende Aufgabe entdeckte, der er sich unermüdlich widmet. In dieser Selbstpräsentation sind sowohl deutliche Kontinuitäten als auch auffallende Unterschiede zu jener aus dem Jahr 1934 feststellbar. Sie bildet die nationalsozialistisch politisierte Variante der biographischen Gesamtsicht von 1934. Insbesondere der familiale Bereich wird »nazifiziert« dargestellt. Die Darstellung ist erheblich selbstbewusster gehalten. Hans D. beginnt selbstbewusst mit einer allgemeinen Argumentation, dass eine biographische Selbstbeschreibung mit denen beginnen müsse, »durch die der Blutstrom des eigenen Lebens floß«. Mit diesem missglückten Bild verbindet er nationalsozialistische Ideologieangebote mit seiner – in allen Selbstpräsentationen – familiengeschichtlich orientierten Biographie. Die Analyse ergab, dass das zeitgleiche Ausfüllen der Ahnentafel diese Präsentationsform wahrscheinlich beeinflusst hat. Nun wird auch die Familiengeschichte väterlicherseits im Lichte des Abgrenzungsbedürfnisses vom Vater interpretiert. Sie mündet in eine Kritik am Vater, mit dessen Entscheidung, Missionar zu werden, die ländliche und durch Armut geprägte Tradition der Familie väterlicherseits abgebrochen worden sei:
—————— 63 Hans D. weicht – im Gegensatz zu 1934 – von möglicherweise antizipierten strengen Vorgaben leicht ab, indem er auch die Rückseite des Blattes beschreibt. Dies ist bei formalen Schreiben auch damals eher unüblich.
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»Die Ahnentafel väterlicherseits lässt sich bis ins Jahr 1623 verfolgen und verzeichnet eine stetige Reihe von Weingärtnern u. Bauern, die in Winterbach im Remstal meist in kümmerlichen Verhältnissen lebten. Mit meinem Vater riß die Kette ab; er wurde Missionar der Basler Mission, die ihn 1883 nach China aussandte.« (Lebenslauf 1937)
Deutlicher als in den anderen Selbstpräsentationen grenzt Hans D. sich hier vom Vater ab, sein Bedürfnis nach Abgrenzung hat Vorrang vor einer für den Leser unmittelbar logisch nachvollziehbaren Argumentation. Eine zu dieser Textstelle durchgeführte Feinanalyse legt folgende Deutung nahe: Kopräsent aber nicht benannt ist mit dem Bild des »Abreißens einer Kette« das mit der Berufswahl und dem späteren Fehlverhalten des Vaters verbundene Abreißen von jenen Familienbanden, die für Hans D. biographisch erheblich relevanter sind als die bäuerliche Familiengeschichte: Zu nennen sind hier der Abriss des alltäglichen Kontakts mit Eltern und Geschwistern in der Kindheit und später des Kontakts mit der Mission und dem Pietismus und damit möglicherweise auch mit zahlreichen Familienmitgliedern väterlicher- und mütterlicherseits, die in diesen Kontexten aktiv sind. Hier wurde – wie in der Feinanalyse des Lebenslaufs von 1934 – auch die These erhärtet, dass Hans D. neben der Kritik am Vater immer auch eine Kritik an der Missionsgesellschaft und deren die Geschichte mit beeinflussenden Vorgaben übt. Wie 1934 befasst er sich nur mit dem Vater, die Mutter und deren Familie werden in der Darstellung ausgelassen. Nach diesem »ahnengeschichtlichen« Einstieg stellt Hans D. seine Kindheitssituation 1937 sehr viel kürzer und den Anforderungen eines standardisierten Lebenslaufs »angemessener« als 1934 dar, etwa wenn er schreibt: »Im Alter von 6 Jahren kam ich nach Europa in die Missionsknabenanstalt Basel, wo ich die ganze Jugendzeit ohne Eltern u. Geschwister erlebte. Letztere waren anderweitig untergebracht.« So werden hier etwa nicht mehr die Eltern zu den handelnden Subjekten, wie noch im Lebenslauf von 1934. Allerdings hebt Hans D. auch in dieser Selbstpräsentation das Aufwachsen ohne Geschwister und deren anderweitige Unterbringung hervor. Berufssozialisation wie Familiengründung werden kurz und stringent beschrieben – Hans D. erwähnt hier die Geburt eines vierten Kindes, das sonst nirgends auftaucht. Auch erwähnt wird hier seine Kriegsdienstzeit 1914/15. Die Darstellung seines Wegs in die NS-Bewegung nimmt den breitesten Raum in der Darstellung ein. Er wird im Kontext des Umzuges nach Stuttgart von Hans D. als gemeinsam mit seiner Frau vollzogen dargestellt, gewissermaßen als Familienprojekt. Auch erwähnt Hans D. den früheren Eintritt der Frau in die »Bewegung«. Abschließend schwärmt
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Hans D. von seinen Reichsparteitagsbesuchen 1933 und 1936, die ihm Kraft für die tägliche Arbeit in Beruf und Partei und für die Bewältigung von »widerlichen Kleinigkeiten des Alltags« gäben. Was sagt diese Darstellungsweise über den Umgang mit der Schreibaufforderung und dem Adressaten 1937? Auch dieses Mal wird eine gewisse Form des »Drauflosschreibens« nahe gelegt. So hat Hans D. sich, der Interpretation zufolge, beim undurchdachten Einstieg vom Ausfüllen der »Ahnentafel« unmittelbar assoziativ leiten lassen. Dies spricht wieder für eine vertrauensvolle Zuwendung zur NSDAP, der gegenüber er am Schluss auch eingesteht, dass er seine Tätigkeiten zumindest teilweise als »widerliche Kleinigkeiten des Alltags« empfindet. Eine erheblich stärkere Adressatenorientierung entsteht, indem er seine Biographie als Nationalsozialist zusammenstellt. In diese werden dann etwa auch die Kriegsdienstzeit und die Geburt des vierten Kindes aufgenommen. Anforderungen an einen standardisierten Lebenslauf entspricht er insofern eher, als die Detaillierungen stärker auf den nationalsozialistischen Schreibkontext und den Adressaten bezogen sind. Der pseudo-literarisierende Einstieg zeugt ebenso wie die sehr viel aktivere Selbstdarstellung von einer selbstbewussteren Darstellung als 1934. Der Lebenslauf trägt zudem Züge einer typisch pietistischen Erweckungsgeschichte. Die datierbare »Entdeckung« des Nationalsozialismus und der sich daran anschließende, unermüdliche Einsatz für diesen sind ebenso Indizien dafür wie die Darstellung der Reichsparteitage als Kraft gebende »Erweckungspredigt«.64 Der zusammenfassende Vergleich der Selbstpräsentationen von 1934 und 1937 kommt zu folgendem, für die Fallinterpretation zentralen, Ergebnis: In einer allgemeinen, nicht politisch fokussierten Selbstpräsentation, wie 1934, wird für Hans D. vor allem der Verlust der Herkunftsfamilie vorstellig und dominiert auch die Präsentation seiner Lebensgeschichte. Die Gründungsfamilie kann diesen eingeschränkt kompensieren. Wendet Hans D. sich hingegen, wie 1937, seiner Geschichte unter Bezug auf den Nationalsozialismus und explizit als NS-Funktionär zu, so kann er dessen Entdeckung, die mit seiner Frau zusammen stattgefunden hat, fokussieren. Er kann die Aufgabe, die er gemeinsam mit seiner Gründungsfamilie in dessen Verwirklichung gefunden hat, schwärmend thematisieren und sich
—————— 64 Pietisten sind nicht selten ein ganzes Stück gereist, um gemeinsam mit anderen einen bestimmten Erweckungsprediger zu hören, vgl. etwa Konrad 2001, S. 463f.; vgl. zur Vertrautheit von Pietisten mit charismatischen Führern beim Übergang in den Nationalsozialismus Lehmann 1969, S. 327.
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selbst erheblich selbstbewusster darstellen. Der Verlust der Herkunftsfamilie verliert demgegenüber seine dominierende Bedeutung und kann auch auf einen begrenzten Umfang in der Darstellung reduziert werden. Darin liegt der biographische Nutzen, den Hans D. von seiner Hinwendung und Aktivität für den Nationalsozialismus hat. Wenn die Annahme zutrifft, dass der Nationalsozialismus für Hans D. diese Funktion einnimmt, analog zu einer pietistischen Missionarsfamilie jetzt im Nationalsozialismus eine Aufgabe gefunden zu haben, der er gemeinsam mit seiner Familie nachgehen kann, in einer auf den Nationalsozialismus übertragenen pietistischen Handlungs- und Deutungsweise, so ist bei Hans D. mit einem weiterhin sehr engagierten Einsatz für den Nationalsozialismus zu rechnen.
3.1.10. Weitere Intensivierung des Engagements und die Übernahme der NSDAP-Ortsgruppenleitung 1942 Ab 1938 hält Hans D. in der Schule »Weltanschaulichen Unterricht« ab. Hierbei handelt es sich um ein in Württemberg neu eingeführtes Fach, das den Kindern eine nationalsozialistische Weltanschauung vermitteln soll.65 Es sollte an die Stelle des Religionsunterrichts treten, der tatsächlich immer schwächer besucht wurde, nicht zuletzt, da viele Eltern – aus unterschiedlichen Gründen – ihre Kinder aus dem bereits stark deformierten Religionsunterricht herausnahmen. Diese Kinder mussten dann jenes Fach besuchen. Es geht hier also direkt um den Konflikt zwischen christlicher Kirche und NS-Weltanschauung. Dass D. dieses Fach lehrt, bedeutet eine klare Positionierung in dieser Frage. Er erklärt sich zumindest bereit dazu, dieses Fach zu unterrichten und damit mit der Kirche in massiven Konflikt zu treten. Wohl direkt danach gefragt, sagt Hans D. in der Spruchkammerverhandlung 1948: »Ich habe den weltanschaulichen Unterricht gegeben, aber diese Angelegenheit war nicht so streng mit dem NS gehalten. Ich wollte keinen weltanschaulichen Unterricht geben, ich erklärte, nur wenn ich den Befehl erhalte. Es war ein unguter Unterricht, ich wäre froh gewesen, wenn es ein Anderer getan hätte. Ich stand nie auf diesem Boden.« Diese Ausführungen legen nahe, dass Hans D. sich von sich aus nicht um das Abhalten dieses Unterrichts beworben hätte. Entsprechenden
—————— 65 Vgl. Thierfelder 1980, S. 241ff.
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Erwartungen an ihn, einen exponierten Vertreter des NSLB, kommt er aber nach. Gerade die damit verbundene Konfliktsituation ist für Hans D., mit seinem viel artikulierten Bedürfnis nach Harmonie und Einigung, vermutlich ein Umstand, mit dem er nicht gut umgehen kann. Im Zweifelsfall jedoch, so zeigt seine Entscheidung, übernimmt er die Position der NSDAP und setzt entsprechende Anforderungen an ihn um. Die NSDAP, so lässt sich vermuten, bietet ihm persönlich so viel, dass er dafür einiges in Kauf nimmt. In seiner Tätigkeit jedoch scheint er nicht offensiv den Konflikt mit der Kirche und christlichen Orientierungen gesucht zu haben. Eine gute Zusammenarbeit wird ihm in der Nachkriegszeit vom Stadtpfarrer, der an seiner Schule Religionsunterricht gegeben hat, bescheinigt. Auch stellt ihm eine Pfarrersfrau, deren Kinder bei ihm in der Klasse waren, eine positive Beurteilung aus. Der Kirchenaustritt von Hans D. aus der evangelischen Landeskirche im Jahr 1939 könnte auch mit dem Abhalten dieses Unterrichts zusammenhängen. Zudem kommt Hans D. mit seinem Austritt vermutlich Forderungen der NSDAP nach, die diese seit Jahren mehr oder weniger eindringlich an ihre Politischen Leiter stellt. Er selbst antwortet in der Spruchkammerverhandlung 1948 auf eine Frage zu seinem Austritt: »Damals, als ich ausgetreten bin, im Jahre 1939, habe ich bedauert, daß es keine einheitliche Kirche gibt. Wir haben alle doch den gleichen Herrgott und ich verstehe bis zum heutigen Tage noch nicht, daß es keine Einheit in der Kirche geben soll.« Für Hans D. ist dies – zumindest formal – die Abkehr von der protestantischen Kirche, die seine Herkunft und seine Kindheit stark bestimmt haben. Mit dem Austritt ist für ihn ein Bedauern, wie er sagt, verbunden. Dennoch kommt er letztlich wieder Anforderungen der NSDAP nach, bringt mithin manches Opfer. 1940 stirbt D.s Vater.66 Es liegen jedoch keinerlei Informationen vor, inwieweit Hans D. zu ihm noch Kontakt gehabt hat. Möglicherweise ist dies ein Anlass, die Familie zu sehen. Nazigegner in der Familie, so etwa sein Cousin, Pfarrer Alfred D., der sich in einem Helfernetz für verfolgte Juden engagiert, werden vermutlich vorsichtig im Umgang mit ihm sein. Vielleicht meidet aber auch Hans D. den Kontakt, um sich in seiner Tätigkeit nicht hinterfragen zu müssen. Möglicherweise sucht er nun stärker Kontakt zu jenen Familienmitgliedern väterlicherseits, die weiterhin als Weingärtner und Bauern arbeiten, sodass er den gesamten Missionskontext
—————— 66 Dies wird in den Akten der Basler Mission als vermutliches Todesjahr angegeben, ABM, Personalfaszikel Johannes D.
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eher ausblenden kann, der in seinem jetzigen Leben keine größere Rolle mehr einnehmen soll. Dass er sich selbst mit seiner Gründungsfamilie vor allem als nationalsozialistisch engagierte Familie betrachtet, bringt Hans D. im selben Jahr in einem Brief an einen Nachbarn zum Ausdruck, der ihm mit einer Unterlassungsklage wegen Ruhestörung droht. Vorwürfen »über das harte ›Aufschlagen‹ der Stiefel in den Nachtstunden« begegnend, stellt Hans D. sich und seine Familie ein weiteres Mal als stets aktiv für den Nationalsozialismus dar: »Ich befinde mich fast jeden Abend als Geschäftsführer auf der Ortsgruppe Fangelsbach und komme selten vor 10 Uhr oder ½ 11 Uhr nach Hause; Manfred [der jüngere Sohn, CMB] ist mindestens an 3 Abenden in der Woche als Fähnleinführer bis 10 Uhr ausserhalb der Wohnung, meine Tochter und mein Schwiegersohn gehen, wenn sie nicht einen Abendkurs besuchen oder politischer Dienst sie auswärts zwingt, meist um 9 Uhr ins Bett; meine Frau ist dann oft allein und freut sich nach reicher Tagesarbeit, wenn sie noch eine Stunde auf einen Stuhl zu sitzen kommt. – So stehen die Verhältnisse in den Abendstunden bei der Familie D., die nichts anderes kennt als Tagesarbeit und schliesslich Abends Einsatz für Volk und Partei. – Und nun wagen Sie es, wenn Ihr gemütliches Dasein ab und zu durch einen strengen Schritt, den unser Einsatz für Volk und Partei in Gottes Namen einmal erfordert, uns zu belästigen mit Briefen und heftigem Türzuschlagen.« (Schreiben Hans D., 9. Okt. 1940, an Nachbar W., mit weiterer Ausfertigung an Hausbesitzer M. und das Personalamt der NSDAP-Ortsgruppe)
In der Weiterleitung dieses Briefes an die NSDAP-Stellen wird deutlich, dass Hans D. in diesem Konflikt bereit ist, seine Verbindung zur Partei für sich einzusetzen. In einem weiteren Schreiben zwei Monate später fordert er die Partei auf, gegen seinen Nachbarn vorzugehen: »Zum Schluss bitte ich die Kreisleitung, Volksgenossen W. zu erklären, dass er unter diesen Umständen kaum mehr ein Anrecht hat, unter friedlichen Mietern zu wohnen.« (Schreiben Hans D., 16. Dez. 1940 an die NSDAP-Kreisleitung) Der Streit, der 1940 bereits ein Jahr dauert, zieht sich mindestens weitere anderthalb Jahre hin, in denen die beiden Parteien unter anderem zur Kreisleitung vorgeladen werden und Rechtsanwälte eingeschaltet haben. Offenbar ist Hans D., diesem Brief zufolge, im Herbst 1940 mit der Geschäftsführung der Ortsgruppe betraut. Obwohl in den Akten ansonsten nirgends vermerkt, ist dies zu jenem Zeitpunkt – als bereits eine ziemlich starke Fluktuation unter den Funktionsträgern der NSDAP in den Ortsgruppen herrscht – gut möglich. Anfang 1942 wird Hans D. dann zum stellvertretenden Ortsgruppenleiter der NSDAP in der Ortsgruppe Fangelsbach bestellt. Im Rang eines
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Zellenleiters hat er – nach der Einberufung mehrerer Vorgänger zur Wehrmacht – die Aufgaben eines Ortsgruppenleiters stellvertretend zu erledigen. In vollem Umfang führt er in den folgenden 20 Monaten die Geschäfte eines Ortsgruppenleiters. Hans D. gilt seinem Vorgänger sowie dem Kreisleiter also als besonders zuverlässig im Sinne der NSDAP. Letzterer verteidigt ihn auch kurz nach der Amtsübergabe gegen ein anonymes Schreiben, das Hans D. der Unterschlagung von Parteigeldern bezichtigt. Zudem ermöglicht sein zeitintensives Engagement in der Verwaltungsarbeit der Ortsgruppe eine reibungslose Amtsübernahme. Als Ortsgruppenleiter ist ihm ein umfangreicher Stab von NSDAP-Funktionären unterstellt, denen er in allen Aspekten der »Aufrechterhaltung der Heimatfront« Anweisungen und Aufträge erteilt. In dieser Funktion hält Hans D. wiederholt auch Ansprachen an die Politischen Leiter der Ortsgruppe. Hans D. hat erhebliche Entscheidungsspielräume und Machtbefugnisse. Dies gilt etwa hinsichtlich Denunziationen aus der Bevölkerung oder durch die ihm unterstellten Funktionäre: Er kann sie abwiegeln, per Vorladung auf Ortsgruppenebene verhandeln oder aber weiterleiten an die Kreisleitung, was bedeutet, dass sie von dort aus eventuell an die Gestapo gegeben werden. Hans D. hat damit nun eine Funktion inne, die noch in den 1930er Jahren fast ausschließlich frühen Parteimitgliedern vorbehalten war, und hat mithin innerhalb der Partei einen erheblichen Aufstieg durchlaufen. Im November 1942 bekommt er aufgrund seiner Leistungen in der Ortsgruppe das Kriegsverdienstkreuz verliehen. 1943 wird er zum Ortsgruppen-Amtsleiter (Organisation) ernannt und hat weiterhin stellvertretend die Ortsgruppenleitung inne. Hans D. stellt 1947 in einer schriftlichen Verteidigungsschrift seine Tätigkeit als Ortsgruppenleiter vor allem als durch Harmonie gekennzeichnete, karitative und gar seelsorgerische Tätigkeit dar: »Mit den pol. Leitern und der gesamten Bevölkerung stand ich stets in gutem Verhältnis. Alle Härten, die auftraten, wurden nach Möglichkeit beseitigt. Die Hauptaufgaben jener Zeit waren die verschiedenen Sammlungen, wobei ich stets betonte, dass von den pol. Leitern nie ein Druck ausgeübt werden dürfe, weil alles auf freiwilliger Abgabe beruhe. Ein Missklang ist mir daher auch nie zu Ohren gekommen. Eine weitere Aufgabe war die Betreuung der Soldaten und eines Teiles der Verwundeten des Marienhospitals. Viele Hunderte von Päckchen wurden den aus unsrer Ortsgruppe zum Heeresdienst Einberufenen hinausgeschickt. Es war dies eine aufreibende und zeitraubende Arbeit, bei der es sehr schwer war, neben dem Verpackmaterial den Inhalt dafür durch freiwillige Gaben zu beschaffen. Nebenher wurden laufend Zeitungen und Zeitschriften versandt. Sonntags wurden alle 2–3 Wochen die Verwundeten im Lazarett besucht. Auch hier wurde durch Mithilfe der Bevölkerung viel Freude bereitet.
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Neben den vielen Briefen, die aus- und eingingen, fand eine Betreuung der Volksgenossen statt und ich glaube kaum, dass ein Fall bekannt ist, in dem nicht jedem Volksgenossen, soweit es in meinen Kräften stand, geholfen wurde. Mit Rat und Tat stand ich jederzeit allen zur Verfügung, die sich vertrauensvoll an mich wandten. Die schwerste Aufgabe war das Überbringen der Gefallenen-Nachrichten. Es waren dies Gänge, die nicht nur Mitgefühl und ausserordentliches Taktgefühl verlangten – viel schwieriger gestaltete sich die Sorge um das Ergehen der Anverwandten der Gefallenen. Wer da nur ein klein wenig sich in diese sorgende Anteilnahme einfühlen kann, weiss, wie viel Herzensgüte von dem verlangt war, dem diese Aufgabe auferlegt war.«
Diese Darstellung von 1947 gibt, wie im Zuge der Fallrekonstruktion deutlich wurde, durchaus Einblick in Themen- und Tätigkeitsfelder, die von Hans D. auch bereits während der Funktionsausübung fokussiert werden und für ihn von besonderer Relevanz sind. So betont er ein gutes Verhältnis zu den unterstellten politischen Leitern und der Bevölkerung als für sein Selbstverständnis und seine Praxis als NSDAP-Ortsgruppenleiter von Bedeutung. Bei der Hervorhebung von Sammlungen sowie dem Brief-, Päckchen- und Zeitungsversand durch die Ortsgruppe fallen strukturelle Ähnlichkeiten mit der Tätigkeit der Missions-Heimatgemeinden auf. Sie stützen die These, nach der Hans D. Orientierungen und Praktiken aus seinem Herkunftskontext auf seine NSDAP-Tätigkeit überträgt. In diesem Sinne präsentiert er auch das Überbringen der Gefallenennachrichten als seelsorgerische Tätigkeit. Mit der Konzentration auf die Betreuung von Soldaten und deren Familien wählt er ein Feld, in dem er sich weltanschaulich eingebettet karitativ-betreuend betätigen kann. Besonders relevant ist es für ihn eventuell auch deshalb, weil vermutlich ein Sohn oder beide Söhne bei der Wehrmacht sind. Zugleich werden bereits in diesem Text Auslassungen und Ausblendungen der alltäglichen Funktionärspraxis deutlich, die auch die Funktion für Hans D. haben, diese Selbstsicht aufrecht zu erhalten. So werden etwa angedeutete »Härten« nicht vertieft. Die »Freiwilligkeit« bei der Spendenabgabe wird allein schon durch ihre Betonung als höchstens begrenzt dargestellt. Mit der Bemerkung, er habe allen denjenigen mit Rat und Tat zur Verfügung gestanden, die sich »vertrauensvoll« an ihn wandten, gibt Hans D. zugleich einen Hinweis auf durchaus unterschiedliche Handlungsweisen gegenüber seinem Umfeld. Er bringt damit auch zum Ausdruck, dass er denjenigen, die sich nicht an ihn wandten – oder gar nicht erst an ihn wenden konnten – nicht unterstützend zur Verfügung stand. Und gegen diejenigen, die in Konflikt mit ihm gingen, wie etwa sein Nachbar mit der Unterlassungsklage, ist er, wie in diesem Fall nachweisbar, auch konfrontativ vorgegangen.
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Von den Entnazifizierungsbehörden ausdrücklich erwartet, kommt Hans D. in diesem Text auch auf die Themen »Gestapo« und »Judenverfolgung« zu sprechen: »Kurz möchte ich anfügen, dass ich während der ganzen Zeit meiner Tätigkeit nie mit der Polizei und der Gestapo in Verbindung stand. Ich weiß keinen Fall, in dem meinerseits je einmal eine Drohung ausgesprochen wurde, die zum Nachteil einem Mitmenschen gereicht hätte. Des weiteren ist mir nicht bekannt, dass irgendeinem Juden – es waren nur sehr wenige im Ortsgruppengebiet – etwas zu Leid geschehen wäre. Die ganze Arbeit war auf selbstlose Betreuung der Bevölkerung abgestimmt und nie habe ich geduldet, wenn wenn polit. Leiter sich als über dem Volk stehend betrachteten. Ich betonte stets, dass sie nichts mit Gestapo oder Polizei gemein hätten, ihre Aufgabe bestände nur darin, das Volk zu betreuen, zu helfen, wo es nottut und alles zu beseitigen, was der Volksgemeinschaft unzuträglich erscheint.« (Verteidigungsschrift 1947)
In der kurzen Anfügung, mit der Hans D. auf Aufforderungen der Entnazifizierungsstellen reagiert, grenzt er sich ab von der Gestapo, mit der er nie zu tun gehabt haben will. Dass ihm das als NSDAP-Funktionär auf Ortsgruppenebene ohnehin untersagt war, wird nicht thematisiert. Politische Leiter, die sich über dem Volk stehend betrachteten, will er zurechtgewiesen haben. Damit bringt er aber auch zum Ausdruck, dass ein solches Verhalten in seiner Organisation, auch im unmittelbaren Umfeld, immer wieder vorgekommen ist. In seiner Verteidigung soll er sich auch hinsichtlich seiner Beteiligung an der Judenverfolgung äußern. Eine Verleugnung der antisemitischen Verfolgung und seiner systematischen Beteiligung daran, die allein bereits durch seine kontinuierliche Parteitätigkeit auf Block-, Zellen- und Ortsgruppenverwaltungsebene besteht, kommt in der betreffenden kurzen Passage zum Ausdruck. In der Reduktion auf die Situation innerhalb seiner Ortsgruppe in den Jahren 1942/43 und der Behauptung, keinem der wenigen damals in der Ortsgruppe lebenden Juden sei irgendein Leid geschehen, blendet er den gesamten Bereich der Judenverfolgung und -ermordung aus dem Nationalsozialismus und insbesondere aus seiner eigenen NS-Tätigkeit aus. Wenngleich ihm in Zeugenaussagen nach Kriegsende mehrfach bestätigt wird, er habe in Gesprächen eine »gemäßigte« Position in der Judenverfolgung vertreten, sich nicht an physisch gewalttätigen Maßnahmen beteiligt und korrekt gegenüber einer 1938 im gleichen Haus wohnenden Jüdin verhalten, so wird Hans D. dennoch als Nationalsozialist dargestellt, der auch davon überzeugt gewesen sei, dass die Juden »Weltfeinde« sind (so seine Vermieterin im Spruchkammerverfahren). Zumindest hat Hans D. das gesamte Spektrum der antisemitischen Verfolgungen
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in Kauf genommen und war bereit, in der Ortsgruppenarbeit seinen Teil dazu beizutragen. Als Ortsgruppenleiter wird ihm die Zeitschrift Der Hoheitsträger zugestellt, der in dieser Zeit antisemitische Hassartikel abdruckt, die die Deportationen rechtfertigen und zu antisemitischer Propaganda anhalten. In der Auswertung stellte sich auch die Frage, wie Hans D. eine derartige Ausblendung der gesamten Ausgrenzung, bürokratischen und offen gewalttätigen Judenverfolgung, Vertreibung, Konzentration, Deportation und Vernichtung bewerkstelligt. Möglicherweise bedient er sich dabei auch jener kulturellen pietistischen Praktiken, die in der Forschung zu pietistischen Lebensläufen als auffallend starkes »Zurechtdrechseln« der Realität nach den eigenen Vorstellungen hervorgehoben werden.67 Dass Hans D. sich in der Spruchkammerverhandlung von 1948 nicht daran erinnern kann, dass es in dem Gespräch mit dem befreundeten Schulrektor um Juden gegangen ist, könnte ein Hinweis auf eine sukzessive Ausblendung sein. Inwieweit er seine kontinuierliche Beteiligung an der Umsetzung nationalsozialistischer Rassenpolitik im Rahmen seiner Parteifunktionen zu den »widerlichen Kleinigkeiten des Alltags« rechnet, die er 1937 thematisiert hat, muss offen bleiben. Sich mit seinem konkreten Beitrag an der nationalsozialistischen Judenverfolgung auseinanderzusetzen, verweigert er im gesamten Spruchkammerverfahren.
3.1.11. Evakuierung, Rückzug vom politischen Engagement und Zusammenbruch des Nationalsozialismus Im Oktober 1943 wird Hans D. mit seiner Schulklasse nach Weissach ins weitere Umland Stuttgarts evakuiert. Ob er allein dorthin geht oder gemeinsam mit seiner Frau, ist nicht bekannt. In Weissach betätigt er sich – in dem für ihn fremden Umfeld, in dem er niemanden kennt und mit den lokalen Parteistrukturen nicht vertraut ist – nicht mehr politisch, bei Parteifestlichkeiten ist er jedoch meist zugegen. Er stellt diese Zeit in seiner Verteidigungsschrift 1947 als wieder stark berufsorientiert dar: »Durch die Umsiedlung der Schulen wurde meine Tätigkeit als pol. Leiter beendet. Einesteils war ich froh darüber, weil im Lauf der Zeit Kraft, Nerven und Gesundheit zu sehr aufgezehrt worden wären. Meine Zeit und Kraft auf dem Lande galt ganz der Schule, die mich voll in Anspruch nahm, da ich in den Oberklassen, die ich seit Jahren nicht mehr zu versehen hatte, von Tag zu Tag Stunden brauchte, um meine Vorbereitungen zu treffen. Ich hatte den Standpunkt,
—————— 67 Vgl. Scharfe 1982, S. 122ff.
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dass ein Lehrer seinen Schülern nicht genug an Kenntnissen und Fertigkeiten übermitteln kann, um sie zu brauchbaren Menschen heranzubilden.«
Eine starke Orientierung auf den Beruf kann auch dadurch bedingt sein, dass in dieser Zeit vor allem die Schulklasse Kontinuität für ihn bietet. Dass gerade personale Kontinuitäten für ihn wichtig sind, zeigt auch der Umstand, dass er von Zeit zu Zeit seiner früheren Ortsgruppe in Stuttgart Besuche abstattet. Dabei mischt er sich auch in deren Arbeit ein. Bei einem dieser Besuche ergreift er zum Beispiel Partei für einen auf die Ortsgruppe Vorgeladenen und verhindert ein weiteres Vorgehen gegen diesen, was aus den Zeugenaussagen des Betroffenen in der Nachkriegszeit hervorgeht. Ein genereller Rückzug von der NSDAP angesichts der sich abzeichnenden Kriegsniederlage scheint gerade auch wegen der Beibehaltung dieser Kontakte eher unwahrscheinlich. Über das Erleben des Kriegsendes und den Zusammenbruch des Nationalsozialismus gibt es keine direkten Angaben von Hans D. Seine Darlegungen in der Verteidigungsschrift von 1947 legen jedoch nahe, dass er den Zusammenbruch des Systems als »Untergang von Volk und Vaterland« empfunden, hingenommen und betrauert hat. Vermutlich unmittelbar nach Kriegsende kehrt er nach Stuttgart in seine frühere Wohnung zurück. Er gehört mithin nicht zu denjenigen, die versucht haben, unterzutauchen oder zunächst irgendwo auf dem Land zu bleiben. Möglicherweise wähnt er sich keiner Schuld bewusst und rechnet nicht damit, dass er aufgrund seiner bereits etwas zurückliegenden NSDAP-Funktionen inhaftiert würde. Oder er ist bereit, zu seiner NSVergangenheit zu stehen, sie entweder zu verteidigen oder aber kritisch zu hinterfragen. Eventuell steht es für ihn auch so sehr im Vordergrund, in seine alte Wohnung, sein vertrautes Umfeld und vielleicht auch zu seiner Familie zurückzukehren, dass andere Überlegungen dem gegenüber in den Hintergrund treten.
3.1.12. Internierung, Verhalten in der Nachkriegszeit und Selbstpräsentationen 1947/48 Im Oktober 1945 wird Hans D. bei einer mit der Entnazifizierung befassten Behörde vorgeladen, zunächst fünf Tage in Stuttgart inhaftiert und im Anschluss daran in das Internierungslager 75 der amerikanischen Besatzungsmacht in Kornwestheim bei Stuttgart gebracht. Hans D. gehört zu derjenigen Personengruppe, für die aufgrund ihrer Funktionen und Positi-
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onen automatic arrest angewendet wird und die bis zu einem Verfahren zu internieren ist. Die Inhaftierung löst bei Hans D. vermutlich eine massive Verunsicherung und auch das Gefühl der Bedrohung aus – eventuell sieht er sie auch als Irrtum an, auf dessen Aufklärung er nur zu warten brauche. Zwei Monate später kann er erstmals schriftlich Kontakt mit seiner Familie aufnehmen. Im Umgang mit der Situation greift er möglicherweise auf Handlungsstrategien aus seiner Internats- oder Militärzeit zurück, aus der ihm gemeinsame Unterbringung und strenge Vorschriften vertraut sind. Unter anderem steht er wohl, wie aus seinem Lebenslauf von 1947 hervorgeht, mit früheren Schülern, Kollegen und Chorsängern in freundschaftlichem Kontakt. Aus der Aktenüberlieferung geht hervor, dass D., mittlerweile 56 Jahre alt, auf die Internierung unter anderem mit Krankheit reagiert: Mehrfach ist er wegen Gallen- und Magenleiden in ärztlicher Behandlung und im Krankenhaus. Vom Mai 1947 sind zwei in der Internierung verfasste Selbstpräsentationen von Hans D. überliefert, anhand deren Analyse der Blick von Hans D. auf sein Leben zu dieser Zeit, insbesondere seine NS-Vergangenheit und sein Umgang mit den Entnazifizierungsstellen, rekonstruiert werden kann.68 Bei diesen von der Lagerbehörde angeforderten Selbstpräsentationen handelt es sich um einen selbstgeschriebenen Lebenslauf sowie eine vorläufige Verteidigungsschrift. Sequenzierungen von beiden Texten von 1947 sind im Anhang abgedruckt. Zentrales Ergebnis der Analyse dieser Texte ist, dass sie in ihrer Struktur starke Gemeinsamkeiten mit jeweils einer der früheren Selbstpräsentationen aus der NS-Zeit aufweisen. Entspricht die Textstruktur des Lebenslaufs von 1947 in starkem Maß der von 1934, so sind erhebliche Ähnlichkeiten zwischen der Verteidigungsschrift und dem politisch gehaltenen Lebenslauf von 1937 erkennbar. Die beiden unterschiedlichen Darstellungsweisen, die in den Selbstpräsentationen in der NS-Zeit analysiert wurden (vgl. 3.1.9.), werden in der Nachkriegszeit reproduziert. Einige gleichwohl erkennbare und bemerkenswerte Unterschiede, die auch mit der gegenwärtigen Situation und dem Adressaten zu tun haben, sollen im Folgenden mit aufgezeigt werden. In seinem 42 Zeilen umfassenden maschinengeschriebenen Lebenslauf von 1947 stellt sich Hans D. – wie 1934 – ausgesprochen familienorientiert
—————— 68 Die Texte wurden nach den Angaben von Hans D. im Mai 1947 verfasst und im Oktober auf Aufforderung nochmals eingereicht.
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dar und beginnt mit der Situation in der Herkunftsfamilie und der Trennung von Eltern und Geschwistern. Am stärksten ausgebaut ist eine neunzeilige Argumentation mit beschreibenden Elementen, in der er die Zeit in der Missionsknabenanstalt als von der Familie getrennte, freudlose und von Mauern umgebene Jugend präsentiert. Diese Schwerpunktsetzung ist, so die Analyse, mit der momentanen Situation von Hans D. verbunden, in der er sich eingeschlossen und ohne Familie in einer Anstalt, dem Internierungslager, befindet. In dieser erinnert er sich womöglich auch besonders an die Internatszeit in der Kindheit. Die Sequenzierung nach Themen- und Textsortenwechsel ergibt, dass auch nahezu alle weiteren Lebensphasen familienbezogen detailliert werden: Die sich anschließende Ausbildung wird zunächst mit mangelndem Kontakt zur Herkunftsfamilie, in ihrer zweiten Phase mit dem Kennenlernen der Frau verbunden. Die Zeit als Hauptlehrer in Mühlacker wird mit einem glücklichen Familienleben verbunden. Nur für die letzte benannte Phase, die Zeit in Stuttgart, macht Hans D. keine Angaben zur familialen Entwicklung. Dies liegt, so die Ergebnisse der Analyse, daran, dass er mit der familialen Entwicklung das gemeinsame NS-Engagement anführen müsste. Vermutlich um die Familie nicht zu belasten, lässt Hans D. hier – und nur hier – Angaben zur familialen Entwicklung aus. Dies bedeutet auch ein Durchbrechen der bisherigen Textstruktur und kann als Hinweis dafür gesehen werden, dass Hans D. hier bewusst etwas auslässt und verschweigt. Bei der Analyse dieses Lebenslaufs von 1947 erwies es sich als hilfreich, ihn auf zweierlei Weise zu sequenzieren: 1. streng nach Themen- und Textsortenwechseln und 2. nach der von Hans D. vorgenommenen Strukturierung durch das Setzen von Absätzen, das zunächst sehr verwirrend schien.69 Folgt man dieser bewussten Strukturierung durch Hans D., so ergibt dies eine Fokussierung auf die negative Internatserfahrung und das Kennenlernen der Frau als entscheidenden Wendepunkt in seiner Biographie hin zu einem glücklichen Familienleben. Diese Darstellung des eigenen Lebens, ist vermutlich die – entpolitisierte – Variante seiner Biographie und Familiengeschichte, die Hans D. sich für die Nachkriegszeit bereitstellt. Auf die latente Textstruktur hingegen – das Detaillieren jeder Lebensphase mit familialen Angaben – und die damit verbundene Entdeckung, dass am Ende des Textes diese latente Textstruktur durchbrochen
—————— 69 Die durch das Setzen von Absätzen durchgeführte Strukturierung durch Hans D. ist in der Sequenzierung im Anhang, die nach Themen- und Textsortenwechseln vorgenommen wird, markiert.
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und bewusst etwas ausgelassen wird, nämlich die gemeinsame NS-Familiengeschichte, kommt man, wenn man den Text auch nach Themen- und Textsortenwechseln sequenziert analysiert. Auch in seiner Verteidigungsschrift von 1947, die gut zweieinhalb maschinengeschriebene Seiten mit 142 Zeilen umfasst, kommt Hans D. generell den Anforderungen der Entnazifizierungsbehörde nach. Entsprechend spricht er die geforderten thematischen Bereiche an: wie er zur NSDAP kam, welche Ämter er innehatte, welche Tätigkeiten er ausübte, inwieweit Kontakte zur Gestapo bestanden und eine Beteiligung an der Judenverfolgung vorlag. In der Ausführung, die er mit dem Umzug nach Stuttgart beginnt, lässt er sich wiederum vor allem von seinen biographischen Relevanzen leiten. Noch stärker als in der Darstellung von 1937 stellt er seinen Weg in die NS-Bewegung und seinen sich daran anschließenden unermüdlichen Einsatz dafür analog einer pietistischen Erweckung dar. Der zentrale Unterschied zur Darstellung von 1937 besteht darin, dass er hier – im Kontext der Entnazifizierung – die familiale Dimension, die gemeinsame Hinwendung zum Nationalsozialismus, konsequent auslässt. Hinsichtlich der Ämterübernahme bringt Hans D. zum Ausdruck, dass er zu den von ihm freiwillig übernommenen Funktionen steht: »Ich verhehle nie, dass ich ungezwungen Mitarbeit in der Partei geleistet habe, die erste Zeit als Blockleiter, und ab 1936 als Zellenleiter.« (Verteidigungsschrift 1947) Gleichwohl verschleiert Hans D. seine Ortsgruppenleiterfunktion, indem er in der Beschreibung dieser Funktionsübernahme parteiinterne Begriffskonstruktionen verwendet: »Erst der Krieg mit seinen vielen Einberufungen zur Wehrmacht unter den pol. Leitern und Amtsleitern brachte es mit sich, dass ich Ende 1942 die Leitung zu übernehmen hatte. Ich war damals Zellenleiter und hatte als solcher im Auftrag des Kreisleiters die Schriftstücke zu unterzeichnen. Während des Kriegs waren bis zu jener Zeit der Ortsgruppenleiter und zwei seiner Stellvertreter nacheinander durch Einberufung und Versetzung abgegangen. Durch meine längere Mitarbeit und die Kenntnis der Verhältnisse, mehr aber noch durch die Zeit, die mir durch meinen Beruf eher zur Verfügung stand, war die Wahl auf meine Person gefallen.« (Verteidigungsschrift 1947).
Bei der Beschreibung seiner Tätigkeit fokussiert Hans D. stets ein »harmonisches« Verhältnis – sei es mit den Kollegen, den Politischen Leitern, den Chorsängern oder der »gesamten Bevölkerung« und stellt sein Engagement als »selbstlose Betreuung der Bevölkerung« dar. Dies ist, so die Analyseergebnisse, nicht nur dem Entnazifizierungskontext geschuldet. Vielmehr stellt Hans D. damit seine NS-Aktivität in dem Licht dar, in dem er sie immer sehen
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wollte. Dem Entgegenstehendes blendet er aus. So wehrt er eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Beteiligung an der Judenverfolgung ab. Die Analyse macht deutlich, wie stark er zu dieser Zeit noch dem Nationalsozialismus verhaftet ist. Aus seiner Verteidigungsschrift geht hervor, dass er – zumindest in den ersten Nachkriegsjahren – am Nationalsozialismus und insbesondere seinem eigenen NS-Engagement und der lokalen Tätigkeit der Partei und des Lehrerbundes festhält und dies auch gegenüber den Entnazifizierungsbehörden offen zum Ausdruck bringt. Wiederum handelt er dem Adressaten gegenüber nicht besonders strategisch; vielmehr fokussiert er, generell auf deren Anforderungen eingehend, eigene Relevanzen. Wie 1937 schließt er emotional: »Nun ist dies alles vorbei und ich trage im Stillen Trauer über den Untergang unsres Volks und Vaterlandes. Habe ich dazu auch mein Teil beigetragen, so treffe mich die Sühne. Das Urteil, das über mich von seiten der Bevölkerung und dem weiteren Bekanntenkreis ergeht, wird meine bisherige Tätigkeit nicht verabscheuen, meine Arbeit und insonderheit meine Person gewiss nicht zu denen rechnen, die eine Strafe verdienen.« (Verteidigungsschrift 1947)
In dieser und ähnlichen Argumentationen in der Verteidigungsschrift zeichnet sich gleichwohl die Bereitschaft von Hans D. ab, sich in die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse einzufügen und sich diesen unterzuordnen. Er bringt zum Ausdruck, dass er sich einem Urteil beugen wird. Dass dieses aber nicht von der Bevölkerung, sondern von den Siegern ergehe – es sich mithin um eine »Siegerjustiz« handele – ist ihm dabei wichtig zu betonen. Daraus spricht auch die Gewissheit, zumindest aber die Hoffnung, künftig in seinem Umfeld weiter akzeptiert zu sein. Im Dezember 1947 wird Hans D. wegen seines schlechten Gesundheitszustandes vorzeitig aus dem Internierungslager entlassen und kehrt nach Stuttgart zurück. Aus dem Lehrerberuf entfernt, ist er in einfacher Tätigkeit in einer Offset-Druckerei beschäftigt. In dieser Zeit tritt er wieder in die Evangelische Landeskirche ein, das genaue Datum ist nicht bekannt. In Vorbereitung des Verfahrens bei der Heimatspruchkammer Stuttgart sammelt Hans D. Entlastungszeugnisse im Wohn- und Berufsumfeld. Gleichzeitig ermittelt die Spruchkammer. Die meisten Schreiben und Zeugenaussagen während der Ermittlung und in der mündlichen Verhandlung enthalten zugleich Be- und Entlastendes: Fast durchgängig wird Hans D. als überzeugter Nationalsozialist beschrieben, der aber »persönlich von gutem Charakter« sei. An gewalttätigen Ausschreitungen habe er nicht teilgenommen und sich teilweise auch davon distanziert. Mit Andersdenkenden habe er freundlichen Umgang gepflegt. In verschiedenen Beschrei-
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bungen werden ein gewisser Geltungsdrang und ein mangelnder politischer Gesamtüberblick vermutet. Einige halten auch seine Frau für diejenige, die die Beziehung generell und auch in politischen Fragen dominiert habe. Der öffentliche Kläger sieht in der lieblosen Anstaltserziehung und dem damit verbundenen »Kadavergehorsam« eine Disposition für die Nazianhängerschaft von Hans D. als sehr nahe liegend an. In der Klageschrift vom Juni 1948 wird beantragt, ihn in die Gruppe der Belasteten einzureihen. Im Juli 1948 findet die öffentliche Spruchkammerverhandlung statt. In den Aussagen von Hans D. lassen sich hier gegenüber seiner Verteidigungsschrift von 1947 einige tendenzielle Veränderungen feststellen. Zwar bringt er an verschiedenen Stellen noch eine Verbundenheit mit dem Nationalsozialismus zum Ausdruck – etwa in der Angabe, er stehe noch immer der Glaubensbewegung Deutsche Christen nahe, was aber keine politischen Gründe habe. Doch thematisiert er stärker Bereiche, die er nicht gutgeheißen hat. So will er sich ab 1938 im NS-Lehrerbund – aufgrund der auftretenden »Härten« – eher etwas zurückgehalten haben. Seinen Beitritt in die Reichsmusikkammer stellt er als ungewollten Schritt dar, den er vollzogen habe, nur um weiter dirigieren zu dürfen. Auch vom weltanschaulichen Unterricht will er sich distanzieren. In dieser Selbstpräsentation finden sich Hinweise auf in der Zwischenzeit in Gang gekommene Prozesse der Umstrukturierung des Erlebten und der Umorientierung. Hier stellt sich auch die Frage, inwieweit Hans D. sich in seinem Harmoniebestreben in der unmittelbaren persönlichen Interaktion stärker an Relevanzen der Adressaten orientiert als im schriftlichen Kontakt. Nach der Verhandlung wird Hans D. in einem ersten Spruch im Juli 1948 in die Gruppe drei der Minderbelasteten eingereiht, wobei unter anderem 200 Tage Sonderarbeitsleistung verordnet werden. Im Frühjahr 1949 werden in einem schriftlichen Berufungsverfahren die Sühnemaßnahmen verringert, im Herbst wird er in einem dritten Spruch als Mitläufer eingestuft. Zu dieser Zeit ist er in einfacher Arbeit bei der Württembergischen Landessparkasse in Stuttgart beschäftigt. Hans D. bittet, Raten zur Abzahlung der Sühneleistungen zu stunden, da zwei Söhne in Ausbildung seien und die Frau aufgrund von Krankheiten Hilfe im Haushalt brauche. 1950 hat er mit einem Gnadengesuch zur weiteren Verringerung der Sühnemaßnahmen Erfolg. 1949 wendet sich die Frau von Hans D. an einen Regierungsrat wegen einer Wiederanstellung ihres Mannes im Schuldienst; sie wolle ihm zum 60. Geburtstag damit eine Freude machen. Bis zum Ende der Laufzeit der Akte im Jahr 1951 ist dies zumindest nicht erfolgt.
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3.1.13. Zusammenfassung Die spezifische Sozialisationsbedingung als Sohn einer württembergischen pietistischen Missionarsfamilie, die damit verbundene Trennung von der Familie im Alter von sechs Jahren und eine streng pietistische Erziehung prägen diesen sehr familienorientierten Fall. Hans D. verbringt die ersten viereinhalb Lebensjahre in China, das darauf folgende mit seiner Familie in Cannstatt und wächst dann, getrennt von Eltern und Geschwistern, in der Knabenanstalt der Basler Mission in Basel auf. Sein pietistisches Lebensumfeld in Kindheit und Jugend erlebt er negativ oder mindestens sehr ambivalent. Im Alter von etwa fünfzehn Jahren entscheidet er sich für den Lehrerberuf und geht nach Esslingen. Er schlägt einen Lebensweg ein, in dem er soziokulturelle pietistische Orientierungen und Handlungsmuster auf weltliche Lebensbereiche überträgt und in säkularisierter Weise lebt: Er bildet eine starke Berufsidentität aus und integriert sich in die politischen Systeme des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. 1914/15 ist er für knapp ein Jahr eingezogen, 1925 für einige Zeit Mitglied der DVP. Einen besonderen Stellenwert nimmt seine Familiengründung während des Ersten Weltkrieges ein. Im Dirigieren von Männerchören überträgt er auch die große Bedeutung von Musik im Pietismus ins Weltliche. Die Hinwendung von Hans D. zum Nationalsozialismus nach einer Versetzung nach Stuttgart 1929 steht in zweifacher Hinsicht in Verbindung mit seinem Herkunftskontext und dem von ihm gewählten Umgang mit diesem: Zum einen wird sie von ihm als »Erweckung« zu tätigem Handeln angesichts einer gesellschaftlichen Krise erlebt und auch in seinen Selbstpräsentationen analog zu pietistischen Erweckungen beschrieben. Zum zweiten wird diese Hinwendung von ihm und seiner Frau als »Familienprojekt« angelegt und damit in gewisser Weise die verlorene Missionarsfamilie wieder hergestellt. Indem er diese Lebensweise – in übertragener Form – selbst praktiziert, kommt Hans D. zudem in modifizierter Weise Erwartungen aus dem familialen und pietistischen Sozialisationskontext nach, die für ihn selbst von biographischer Relevanz sind. Gemeinsam »entdeckt« das Paar beziehungsweise die Familie den Nationalsozialismus und macht ihn sich zur sinnstiftenden Aufgabe. Nach einem NSDAPBeitritt seiner Frau 1930 tritt Hans D. 1931 in den Nationalsozialistischen Lehrerbund ein und wird im lokalen Umfeld aktiv. Soziokulturelle pietistische Orientierungen werden auf ein hingebungsvolles Engagement für den Nationalsozialismus übertragen.
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Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten baut Hans D. sein nationalsozialistisches Engagement erheblich aus, tritt in die NSDAP ein und übernimmt in den folgenden Jahren zahlreiche Funktionen im NSLehrerbund und der NSDAP-Ortsgruppe. Seine Amtsausübung versteht Hans D. als »selbstlose Betreuung der Bevölkerung«. Eifrig und unermüdlich ist er in der Ortsgruppe aktiv, zunächst als Block-, dann Zellenleiter, Geschäftsführer und schließlich stellvertretender Ortsgruppenleiter 1942/43 bis zur Evakuierung mit seiner Stuttgarter Schulklasse ins Umland. Die Orientierung an autoritären Führern und Strukturen, kolonialistische und nationalistische Haltungen sowie Gemeinschaftsorientierungen bilden Bereiche, in denen Hans D. Schnittstellen zwischen seiner Sozialisation und nationalsozialistischer Ideologie findet. In der Betonung stets »harmonischer« Beziehungen mit Kollegen, Politischen Leitern und der Bevölkerung blendet Hans D. den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus, die hiermit verbundenen Feind- und Gegner-Konstruktionen sowie den repressiven Charakter seiner eigenen Funktionen in erheblichem Maße aus oder nimmt diese als »Härten« oder »widerliche Kleinigkeiten« in Kauf. Auch diese Aspekte, für die Verwirklichung einer selbst gewählten Aufgabe vieles in Kauf zu nehmen, ist ihm aus seinem Herkunftskontext, den Vorgaben, Regelungen, Praktiken und Arbeitsbedingungen der Basler Mission vertraut. Das NS-Engagement nimmt in dieser Biographie insbesondere die Funktion ein, dass es Hans D. damit gelingt, den Verlust der Herkunftsfamilie in den Hintergrund zu drängen. Dies wurde insbesondere durch die Textanalysen und den Vergleich unterschiedlicher Darstellungsweisen von Hans D. deutlich: In denjenigen Selbstpräsentationen, in denen er sich seiner Lebensgeschichte allgemein zuwendet, wie in den Lebensläufen von 1934 und 1947, stehen der Verlust der Herkunftsfamilie und dessen eingeschränkte Kompensation durch die Gründungsfamilie im Zentrum der Selbstpräsentation. Hingegen kann Hans D., so die Interpretation, in denjenigen Selbstpräsentationen, in denen er sich als NS-Funktionär seiner Geschichte zuwendet (1937, 1940 und 1947) die in der Parteitätigkeit gefundene Aufgabe fokussieren. Der Verlust der Herkunftsfamilie kann in den Hintergrund geschoben werden. Mit der nun gebildeten NS-Familie ist für ihn eine erheblich weiter reichende Kompensation der verlorenen Missionarsfamilie möglich. Die Betonung des familial angelegten NS-Engagements in den Selbstpräsentationen von 1937 und 1940 bringt dies zum Ausdruck. Das Auslassen dieses Familienbezuges in Darstellungen der
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Nachkriegszeit ist, den Ergebnissen der Textanalysen zufolge, dem Entnazifizierungskontext geschuldet. Der Fall Hans D. ist auch ein Beispiel dafür, wie entlegen, um nicht zu sagen: abstrus, Verbindungen zwischen biographisch relevanten Themen und nationalsozialistischer Aktivität sein können. Dies wird bei Hans D. etwa deutlich durch seine Betonung von »Überkonfessionalität«, »Harmonie« und »Herzensgüte« als seine nationalsozialistische Aktivität bestimmenden und kennzeichnenden Orientierungen. Diesem »Zurechtdrechseln« der Realität scheint im Fall Hans D. auch eine verbreitete pietistische Praktik, Intentionales als Reales wahrzunehmen, zugrunde zu liegen.70 Das Aufschließen der Sinn- und Handlungsbezüge bei Hans D. wurde insbesondere durch das sequentielle Vorgehen in der Analyse der biographischen Daten und der Texte ermöglicht. Dieses schützte davor, bereits in einer ersten Grobanalyse einzelne auffallende Daten zu sehr zu fokussieren. Würde man etwa, veranlasst durch den früheren NSDAP-Beitritt der Ehefrau, vermuten, dass eine Dominanz der Ehefrau innerhalb der Beziehung diesen Fall bestimmt und davon ausgehend lediglich selektiv bestätigende Indizien in den Quellen suchen, liefe man Gefahr, den Fall beim Entdecken weiterer entsprechender Hinweise auf diese Dimension zu reduzieren. Zahlreiche Aspekte der Falldynamik blieben damit aber ungeklärt. Hingegen können, wie in der vorangehenden Falldarstellung gezeigt, durch ein sequentielles Interpretieren der biographischen Daten wie der Selbstpräsentationen biographische Erfahrungshorizonte und Handlungsmuster rekonstruiert werden, die eine erheblich weiter gehende Erklärungskraft hinsichtlich der Entstehung und des Verlaufs nationalsozialistischer Tätigkeit haben. Mit dieser fallrekonstruktiv angelegten Methode können im Fall Hans D. die Dynamik der Hinwendung, die Art und Weise der Funktionsausübung sowie die Selbstdarstellungen als miteinander verbundene und die Eigenlogik in diesem Fall aufschlüsselnde Prozesse rekonstruiert werden. Sie können in der Interpretation gebündelt werden, dass die Parteitätigkeit bei Hans D. durch eine Übertragung von pietistischen Sozialisationselementen und -orientierungen auf ein hingebungsvolles Engagement für den Nationalsozialismus strukturiert wird.
—————— 70 Vgl. Scharfe 1982.
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3.2. Johann G.: »Am 6.12.23 habe ich […] einen Kommunisten erschossen« 3.2.1. Einleitung Der Fall Johann G. ist ein Beispiel für eine auch körperlich gewalttätige Funktionsausübung eines NSDAP-Ortsgruppenleiters.71 In der folgenden Falldarstellung soll insbesondere aufgezeigt werden, inwiefern diese in dem spezifischen Fall Ausdruck einer allgemeinen biographischen Handlungsstruktur ist, die bereits für die 1920er Jahre nachweisbar ist. Phasen der Ordnung, Disziplin und Einordnung in die jeweilige Hierarchie werden durchbrochen von Aggression, Alkoholexzessen und rechtsextrem motivierten Gewaltausbrüchen. Durch die nationalsozialistische Herrschaft wird diese Handlungsstruktur, die Johann G. in der Weimarer Republik seine Stellung als Polizist kostet, honoriert und gleichsam legitimiert. Als Ortsgruppenleiter in einem Stuttgarter Arbeiterviertel ab 1937 unterstützt er den Nationalsozialismus durch eine einschüchternde, drohende und gewalttätige Amtsausübung. Der handelnde Umgang der NSDAP-Verwaltung mit dieser Handlungsstruktur von Johann G. ermöglicht zudem Einblick in die Funktionsweise der NSDAP. Diese Dynamik, sich im Wechsel erwarteten Vorgaben unterzuordnen und diese in aggressiver Weise zu durchbrechen, prägt auch die Form der Selbstdarstellung. Wie gezeigt werden wird, bildet sie die latente Struktur der Selbstpräsentationen von Johann G. Diese werden zudem durch ein weiteres Schreibmuster geprägt: Stets besteht Johann G. auf Anerkennung für »eigene Leistungen«, die er als »unter Opfern erbracht« hervorhebt. Für im jeweiligen Kontext Legitimationsbedürftiges schiebt er in aggressiver Weise anderen die Verantwortung zu – seien es die Kommunisten, das »System« von Weimar, seine Herkunftsfamilie, die Verwandtschaft seiner dritten Ehefrau, die Alliierten etc.
—————— 71 Für diesen Fall besteht eine vergleichsweise gute Quellenlage. Neben parteiinterner Korrespondenz enthält die NSDAP-Personalakte einige Fragebögen aus der Zeit des Nationalsozialismus, Lebensläufe liegen für die Jahre 1934 und 1937 vor. Für die Zeit nach 1945 ist eine umfangreiche Spruchkammerakte überliefert, die wiederum einen Lebenslauf und eine vorläufige Verteidigungsschrift von Johann G. aus dem Jahr 1947 enthält. Zudem ist eine dünne Akte aus den Württembergischen Polizeiakten aus den Jahren 1958–1972 insbesondere zu Versorgungsansprüchen überliefert. Personalangelegenheiten zwischen 1919 und 1945 sind darin nicht enthalten.
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3.2.2. Soziale Herkunft, Aufstiegschance nach dem Ersten Weltkrieg und rechtsextreme Gewalt: Die Jahre bis zur Entlassung aus dem Polizeidienst 1926 Johann G. wird 1893 in einem kleinen Dorf bei Aalen in eine kinderreiche Familie hinein geboren und katholisch erzogen. Der Vater übt eine ungelernte Tätigkeit als Weichenwärter aus. Bereits als Kind arbeitet Johann G. bei Bauern mit, zunächst über den Sommer, ab dem elften Lebensjahr auch kontinuierlich. Einige Ausführungen zu seiner Kindheit und Jugend finden sich in einem fünfeinhalbseitigen Lebenslauf an die NSDAP aus dem Jahr 1937: »Da wir 6 lebende Geschwister waren u. das Einkommen unseres Vaters gering war, mußte ich schon recht bald unter fremde Leute u. mein Brot verdienen. Nachdem ich vom 7.–10. Jahr nur über den Sommer bei den Bauern war, war ich von da ab ganz verdingt.« (Lebenslauf 1937). G. bringt hier zum Ausdruck, dass er unter schweren Bedingungen aufgewachsen ist. Die Formulierung »lebende Geschwister« weist auf weitere Geschwister hin, die in der Kindheit gestorben sind, und thematisiert prekäre Überlebenschancen für Neugeborene und Kinder in seinem Herkunftskontext. Hinsichtlich seiner Mitarbeit bei Bauern seit seiner Kindheit hebt er ebenfalls damit einhergehende Belastungen hervor, eventuell damit verbundenes Entgegenkommen gegenüber der Familie im dörflichen Kontext wird nicht thematisiert. Hier zeigt sich, wie auch in vielen anderen Textstellen, dass Johann G. seine Lebensgeschichte über unter schweren Bedingungen individuell erbrachte Leistungen darstellen möchte. Nach der Volksschule besucht Johann G. die Fortbildungsschule und arbeitet noch zwei weitere Jahre in der Landwirtschaft, »denn mein Vater benötigte den Lohn, weshalb ich kein Handwerk erlernen konnte.« (Lebenslauf 1937) Die wenigen Daten und Darstellungen zu Kindheit und Jugend weisen darauf hin, dass Johann G. eingebunden in verschiedene hierarchische Strukturen auf jeweils unterer Stufe aufwächst: Dies sind erstens vermutlich hierarchische Familienstrukturen, mit der Person des Vaters als strenger Autorität nach innen, der die eigene Lebensgestaltung unterzuordnen ist. Zugleich erlebt Johann G. die Eingebundenheit des Vaters in die Reichsbahnhierarchie. Hinzu kommt bereits als Kind die Unterordnung unter die Autorität von Bauern. Auch in der Einbindung in die katholische Kirche erlebt Johann G. hierarchische Strukturen. Und schließlich ist es naheliegend, dass die Familie auch in der Dorfgesellschaft – wenn andere Aktivitäten, etwa ein kirchliches Engagement, das nicht ausgleichen konn-
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ten – einen eher geringen Status eingenommen haben wird. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass die Auseinandersetzung mit Autoritäten und Hierarchien für G. zu einem biographisch relevanten Thema wird.72 Gut möglich ist, dass er als Kind Gewalterfahrungen ausgesetzt ist, sei es im familialen Bereich oder auch in seiner Beschäftigung bei ortsansässigen Bauern.73 Knapp siebzehnjährig geht G. dann nach Stuttgart, wo er etwa drei Jahre lang bei verschiedenen Firmen als Packer und Hausdiener arbeitet. Über den genauen Kontext oder Anlass seines Weggangs und seine Erlebnisse in den folgenden drei Jahren in Stuttgart ist nichts bekannt. Jedenfalls lebt G. auch hier mit geringem Einkommen und Status und verrichtet körperlich schwere Arbeiten. Die mehrfachen Arbeitswechsel weisen auf Unzufriedenheiten seiner- oder arbeitgeberseits und ökonomische Unsicherheiten hin. 1913 wird G. zum Militärdienst in Ulm eingezogen und durchläuft dort zunächst eine reguläre, an Unterordnung unter militärische Interaktionsformen und ideologisch an Nationalismus und Antisozialismus ausgerichtete militärische Sozialisation.74 Ab Beginn des Ersten Weltkrieges ist er mit seiner Kompanie an der Front, »dauernd in der vordersten Linie«, wie er 1937 angibt. Während des Krieges wird er zum Vizefeldwebel befördert und erhält zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem für freiwillige Patrouillendienste. Seine Selbstdarstellungen lassen den Schluss zu, dass er seine Einberufung zum Militär und die Abordnung in den Krieg zunächst als Zwang erlebt, zunehmend aber sich mit seiner Rolle als Soldat identifiziert bis hin zu einer möglichen Begeisterung für den Krieg. So schreibt er etwa in seinem Lebenslauf von 1937, dass er 1913/14 zum Militär und in den Krieg musste, 1918 aber nach einer Verwundung nicht mehr ins Feld konnte. Über die Auszeichnungen erhält Johann G. erstmals formale Anerkennung, sowohl innerhalb einer Großinstitution als auch innerhalb der Gesellschaft im kaiserlichen Deutschland. Dabei handelt es sich um eine An-
—————— 72 Inwiefern es vor dem Hintergrund spezifischer biographischer Erfahrungen und Erlebnisse in Kindheit und Jugend stärker um die Anerkennung oder die Enttäuschung von Autoritäten, eine Revolte gegen sie oder auch die Erlangung einer eigenen Position als Autorität geht bzw. wie diese Dimensionen miteinander verbunden werden, kann aufgrund der Quellenlage nicht genau rekonstruiert werden; hierfür fehlen genauere Informationen und Darstellungen zu Kindheit und Jugend. 73 Vgl. Berg 1991. 74 Vgl. Frevert 2001, u. a. S. 264ff.
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erkennung, die er für die jahrelange Ausübung extremer Gewalthandlungen unter permanenter Gefährdung des eigenen Lebens bekommt. Zweimal wird G. verwundet, einmal leicht, ein zweites Mal schwer am Fuß im Frühjahr 1918. Nach längerem Lazarettaufenthalt wird er im Herbst dem Ersatzbataillon seines Regiments zugeteilt, kommt nicht mehr an die Front und wird im März 1919 demobilisiert. Dass die Militärzeit einen relevanten Einschnitt in G.s Leben bedeutet und in seinen Augen eine Wende hin zu einer Aufstiegschance, Anerkennung und Erfolg unter schweren Opfern und Gefahren, geht auch aus seinen selbst verfassten Lebensläufen von 1934, 1937 und 1947 hervor, in denen diese Phase stets einen hervorgehobenen Stellenwert einnimmt. Im April 1937 etwa stellt er gegenüber der NSDAP seine militärischen Auszeichnungen und ein »vorzügliches« Abgangszeugnis als ersten biographischen Wendepunkt nach einer von Mühsal und Benachteiligung geprägten Kindheit und Jugend und einer von Gefährdung und Verwundung gekennzeichneten Soldatenzeit dar. Über die Kriegszeit schreibt er im Jahr 1937 an die NSDAP: »Am 14. 10.1913 mußte ich zur 1. Kompagnie Gren. Rgt. 123 nach Ulm einrücken. Schon am 2.8.1914 kam ich mit meiner Komp. ins Feld u. war dauernd in der vordersten Linie bis zu zu meiner zweiten schweren Verwundung, am 6.9.14 war ich leicht verwundet u. 21.3.18 durch eigenes M. G. Feuer schwer verwundet am rechten Fuß war ich dann in verschiedenen Lazaretten erst am 3.9.18 kam ich zum Ers.Batl. meines Rgts. da meine Wunde noch nicht geheilt war konnte ich nicht mehr ins Feld u. blieb dann beim Ers. Batl. bis 1.3.1919. Für freiwillige Patroillentätigkeit erhielt ich folgende Auszeichnungen: 1. silberne Verdienstnad. 2. Eis. Kreuz II. Kl. 3. " " I. " 4. goldene Verdienstm III Kl. 5. Dienstauszeichnung. In der Regts. Geschichte steht mein Name ehrend geschrieben u. mein Abgangszeugnis lautet ›vorzüglich‹.« (Lebenslauf 1937).
Diese Textstellen legen die These nahe, dass für Johann G. nationalistische und nationalsozialistische Kontexte eine Anziehung ausüben, da in diesen Kontexten Gewalterfahrung und -ausübung thematisierbar sind und anerkannt werden. Gut denkbar ist, wie im Folgenden gezeigt wird, dass Johann G. die im tatsächlichen Krieg auftretende Dynamik von Disziplin, Einsatz und Exzess ins zivile Leben überführt, eventuell auch Situationen
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von Gefahr, Risiko und Gewalt im zivilen Leben wiederholt.75 Ein ab den 1920er Jahren aufzeigbares Handlungsmuster von Unterordnung in Institutionen und Exzess hat hier möglicherweise seine Ursprünge. Sollte dieses bereits vor der Militärzeit von G. verinnerlicht worden sein – etwa durch ähnliche Interaktionsmuster in der Herkunftsfamilie – so wurde es im Rahmen des Militärs gefestigt und militärisch-gesellschaftlich honoriert. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges heiratet G. im Oktober 1918. Möglicherweise bildet für ihn der finanzielle und gesellschaftliche Status als verdienter Soldat auch eine Basis für Heirat und Familiengründung. Direkt im Anschluss an die Militärzeit tritt Johann G. Anfang März 1919 in Stuttgart in die neu gegründeten Schutzmannschaften zur Niederwerfung revolutionärer Unruhen ein.76 Es ist davon auszugehen, dass er mit diesen unmittelbar in den teilweise sehr gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Revolutionären und Streikenden in Stuttgart und andernorts eingesetzt ist. Damit ist er wiederum an gesellschaftlich legitimierter Gewaltausübung beteiligt, nun nicht mehr gegenüber einem »äußeren«, vielmehr gegenüber dem revolutionären Teil der Arbeiterbewegung als einem »inneren Feind«. Als Teile der Schutzmannschaften 1920 in die Polizei überführt werden, kann G. in den Polizeidienst eintreten. In Kontinuität zu seiner Soldatenzeit trägt er als Polizist wiederum eine Uniform; seine neue Tätigkeit findet im Rahmen einer hierarchisch strukturierten Großbürokratie statt, enthält die Ebene der potentiellen körperlichen Auseinandersetzung, gegebenenfalls auch die Androhung oder Anwendung von Waffengewalt und verleiht ihm Macht und Autorität gegenüber Untergebenen und der Bevölkerung. Johann G. ist somit einer jener Soldaten, die bei Kriegsende nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, sondern über einen spezifischen Demobilisierungsweg eine Stelle vermittelt bekommen. Insofern ist die Militärzeit für ihn tatsächlich ein Sprungbrett für eine Ausbildung, einen gesellschaftlichen Aufstieg und zukünftige materielle Sicherheiten, auf die er ansonsten
—————— 75 Vgl. Mosse 1993, S. 195ff. 76 Zu den von Paul Hahn geführten württembergischen Schutzmannschaften bzw. Sicherheitskompanien und der schillernden Figur Paul Hahns, der Anfang der 1920er Jahre SPD-Mitglied war, dann in Ambivalenz zwischen Zuwendung zur und Kritik an der NSDAP stand und später im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in einer Gruppe um Robert Bosch war, vgl. Wohlfeil 1979, S. 58; Hahn 1922, Kohlhaas 1991, Genuneit 1982, S. 153.
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kaum Aussichten gehabt haben dürfte. Möglicherweise bindet ihn dies umso mehr an diese Zeit. Johann G. gehört zu denjenigen ehemaligen Frontkämpfern, die sich schon bald nach Kriegsende politisch in der extremen Rechten verorten. 1920 ist er an der Gründung einer Ortsgruppe seiner Regimentsvereinigung beteiligt und beginnt zeitgleich, nationalsozialistische Versammlungen zu besuchen. In seinem Lebenslauf von 1937 führt er diese Aktivitäten unter dem Abschnitt »Mein politischer Werdegang« als dessen erste Stationen an: »Schon im Jahre 1920 gründete ich in Stuttgart die Ortsgruppe der Regts. Vereinigung meines Rgts. u. gehöre ihr heute noch an. Schon von Anfang an habe ich mich für den Nationalsozialismus interessiert u. habe an fast allen Versammlungen teilgenommen, Zeuge hiefür Krim. Insp. Würth77 u. andere.« (Lebenslauf 1937).
Johann G. begibt sich in solche Zusammenhänge, in denen die Kriegserlebnisse immer wieder thematisierbar sind und in denen Formen der Kriegserinnerung und Militanz kultiviert werden, die vielfach Gewalt, Heldentod und Nationalismus verherrlichen.78 Er fühlt sich offenbar angesprochen von dem politischen Spektrum, in dem die Kriegsniederlage auf einen »Dolchstoß« an der Heimatfront zurückgeführt wird. Verbunden mit antirepublikanischen, antisemitischen und revisionistischen Auffassungen wird auf diese Weise auch der gewaltsame Kampf gegen die nun zu Feinden Erklärten legitimiert. Johann G. gehört damit zu denjenigen in den Stuttgarter Schutzmannschaften und der Stuttgarter Polizei, die sich bereits
—————— 77 Gemeint ist Christian Wirth, der später NS-Täter im engsten Sinne wird: 1885 geb. und seit 1910 im Polizeidienst, nimmt Wirth am Ersten Weltkrieg teil und tritt danach zur Kriminalpolizei über. 1922/23 ist er erstmals, seit Januar 1931 wieder Mitglied der NSDAP. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird er zum Landeswart des »Kameradschaftsbundes Deutscher Polizeibeamten« bestellt und steigt in der Polizei auf, wo er zuletzt als Leiter der Mordkommission für brutale Vernehmungsmethoden berüchtigt ist; 1939 in die SS übernommen, ist er ab Ende 1939 unmittelbar an der Organisation und Durchführung der Krankenmorde beteiligt. Im Anschluss daran wird er, fanatischer Antisemit und von äußerster Brutalität, mit der Errichtung des Vernichtungslagers Belzec beauftragt und dessen Kommandant. Ab Herbst 1943 organisiert er die Ermordung der Juden in Italien. Im Mai 1944 wird er bei Auseinandersetzungen mit Partisanen erschossen; vgl. Wilhelm 1989, S. 181f.; Enzyklopädie des Holocaust 1993, Bd.3, S. 1605f. 78 Vgl. Mosse 1993; zu diesen in den Kriegervereinen vielfach vertretenen Positionen vgl. Fricke/Finker 1970, Lehmann 1989, S. 417; Frevert 2001, S. 275ff.; Bösch 2005.
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früh dem Nationalsozialismus zuwenden und keine die Weimarer Republik unterstützenden, sondern revisionistische Haltungen einnehmen.79 Von der Schutzpolizei kommt Johann G. Ende 1920 als Polizei-Oberwachtmeister zur Kriminalabteilung. Laut Zeugenaussagen im Spruchkammerprozess trinkt Johann G. bereits in diesen ersten Jahren bei der Polizei gewohnheitsmäßig. Im Dienst trifft er, etwa mit dem frühen NSDAP-Mitglied Christian Wirth, auf politisch Gleichgesinnte, mit denen er nationalsozialistische Versammlungen besucht oder denen er dort begegnet. Im Herbst 1923 wird Johann G. – im Zuge der Verstaatlichung der Polizei in Württemberg – als Kriminalkommissar ins nahe gelegene Esslingen versetzt, wohin er mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen zieht. Dort kommt es in der Folge zu verschiedenen Vorfällen, die Aufschluss über Handlungsstrukturen und die damalige Lebenssituation von Johann G. geben. Der am schwersten wiegende Vorfall ist, dass G. im Dezember 1923 einen Teilnehmer einer kommunistischen Demonstration erschießt. Über genauere Umstände dieses Ereignisses geht aus den Akten kaum etwas hervor, es gibt lediglich einige Hinweise darauf, dass es bei einem Handgemenge im Zusammenhang mit einer Verhaftung geschah. Johann G. nimmt die Tötung dieses Mannes in beiden überlieferten Lebensläufen an die NSDAP auf und stellt sie in prahlerischer und abgeklärter Weise dar. 1934 schreibt er in einem zwölfzeiligen Lebenslauf, nach der Darstellung seines militärischen und beruflichen Werdegangs: »Anläßlich von Kommunistendemonstrationen habe ich im Dez. 1923 einen Kommunisten in Esslingen erschossen u. hatte in der Folge mehrere derartigen Zusammenstöße, so auch in Heidenheim a. Br.« (Lebenslauf 1934). Weder durch Johann G. selbst noch an anderer Stelle in den überlieferten Akten wird ein Hinweis darauf gegeben, dass er den Demonstranten möglicherweise in Notwehr oder im Affekt getötet hat. Insofern ist davon auszugehen, dass diese Tat zumindest nachträglich von G. nicht kritisch reflektiert oder bereut wurde. Auch durch weitere Personen wird im Spruchkammerverfahren bezeugt, dass Johann G. mit dieser Gewalttat geprahlt hat. Johann G. ist offenbar in bestimmten Situationen zu äußerster Gewalttätigkeit bereit und in der Lage. Thesen zur Brutalisierung der Weimarer Republik durch die in die Zivilgesellschaft übertragenen Hand-
—————— 79 Vgl. Genuneit 1982, S. 152. Vgl. dahingegen im sample den Fall Johannes N., der, bei äußerlich ähnlichem Demobilisierungsweg eine die Weimarer Republik stützende Haltung eingenommen hat; vgl. Müller-Botsch 2006 sowie Anhang.
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lungsmuster und unverarbeiteten Kriegs- und Gewalterfahrungen von Kriegsteilnehmern während des Krieges und in den darauf folgenden Revolutionsjahren finden hier womöglich ein Beispiel.80 Aufgrund ihrer politischen Ausrichtung beziehungsweise in ihrer Verbindung mit politischen Orientierungen sind diese Gewalttaten zugleich als politisch motivierte Gewalt zu werten. Ausführlicher als 1934 stellt Johann G. im Lebenslauf von 1937 an die NSDAP dar, inwieweit er dieses Ereignis als eine Dynamik hervorbringend ansieht, die zunächst 1924 zu seiner Versetzung und dann 1926 zur Entlassung aus dem Polizeidienst führte: »Von jetzt ab hatte ich natürlich die ganze KPD gegen mich u. sie stellten mir Fallen wo sie nur konnten, so daß ich bald darauf wieder einen Zusammenstoß hatte. Die südd. Arb. Zeitung u. die Schw. Tagwacht wetteiferten miteinander, mich öffentlich anzuprangern. Ich wurde dann im Herbst 1924 als Pol. Kommissar nach Heidenheim versetzt, wo bei meinem Eintreffen bei den Kommunisten schon bekannt war, wer ich bin, weshalb ich auch bald wieder Zusammenstöße mit der KPD hatte u. sogar bis vors Landgericht in Stuttgart kam. Beim damaligen Kom. Jugendtag wurde ich von […; Name unleserlich; CMB] öffentlich angeprangert; auch konnte ich damals in letzter Minute verhindern, daß die Glockenseile in der kath. Kirche abgeschnitten würden.« (Lebenslauf 1937).
Johann G. stellt sich hier als von der KPD verfolgt dar, bringt aber zugleich zum Ausdruck, dass er Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg gegangen ist. In dieser Verbindung »erlittener Verfolgung«, »erbrachter Opfer« und aktiven »Kampfes« in der »Bewegungsphase« der Nationalsozialisten fordert er auch Anerkennung von seiner Partei. Auch in dieser Textstelle wird deutlich, dass innerhalb der NSDAP die Möglichkeit besteht, erfahrene und ausgeübte Gewalt zu thematisieren und Anerkennung dafür zu bekommen.81 Der genaue Anlass der Versetzung nach Heidenheim geht aus den Akten nicht hervor. Als Kontext der Versetzung wird neben den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Kommunisten überliefert, dass G. erheblich Schulden gemacht hat und von Vorgesetzten und Kollegen geliehenes Geld, das ihn vor der Möbelpfändung bewahrt, nicht oder zumindest bei Weitem nicht vollständig zurückzahlt.82 Dies sind Hinweise auf eine insge-
—————— 80 Vgl. Mosse 1993, S. 195ff.; Lehmann 1989. 81 Zur vielfachen Darstellung der damaligen gewalttätigen Auseinandersetzung als Erleiden oder Defensivhandlungen durch die Beteiligten vgl. Frevert 2001, S. 312f. 82 Dies geht insbesondere aus einer Aktennotiz des NSDAP-Kreisleiters Mauer vom 15.4.1937 nach Einsicht in die Polizeipersonalakte von G. hervor.
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samt prekäre biographische Situation – G. ist anscheinend nicht in der Lage oder gewillt, ein stabiles Leben in der Weimarer Gesellschaft aufzubauen und seine Verhaltensmuster gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen. 1924 stirbt, kurz vor der Versetzung, die Ehefrau von Johann G. Über ihren Tod liegen keine weiteren Informationen vor. Für Johann G. bedeutet dies auch eine Destabilisierung im privaten Bereich. Auch nach seiner Strafversetzung 1924 nach Heidenheim reihen sich weitere Rücksichtslosigkeiten, Gewalttätigkeiten und grobe dienstliche Disziplinlosigkeiten aneinander. Wiederholt übt Johann G. politisch motivierte Gewalt gegenüber Kommunisten aus, unter anderem wird er in diesen Jahren vor dem Landgericht in Stuttgart wegen Gewalttätigkeit gegen Kommunisten angeklagt.83 Im privaten Bereich geht Johann G. verschiedene Beziehungen ein und verspricht zwei Frauen, die gleichzeitig von ihm ein Kind erwarten, die Heirat. Die beiden Frauen stellen ihn offenbar gemeinsam auf seiner Dienststelle zur Rede. 1926 entschließt er sich, eine der beiden Frauen zu heiraten, und entscheidet sich – angeblich auf Druck seiner Verwandtschaft – für diejenige, die wie er katholisch ist. Verwandte der anderen Frau beschweren sich bei seiner Dienststelle über sein außerdienstliches Verhalten. Zudem wird G. »in voll betrunkenem Zustand«84 im Dienst vorgefunden. Johann G. äußert sich zu dem Prozess, der 1926 zu seiner Entlassung aus dem Polizeidienst führt, in seinem Lebenslauf von 1937. Darin schildert er diesen als von ihm unverschuldete Entwicklung. Nach der Passage, in der er die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Kommunisten als durch diese provoziert darstellt, kommt er auf seine persönliche Entwicklung zu sprechen: Hier werden dem Verlust der ersten Frau, der Verführung durch weitere Frauen, seiner katholischen Verwandtschaft, der Rachsucht einer späteren Schwägerin und ungerechten Entlassungsverfahren bei der Polizei die Verantwortung für seine Entlassung zugeschoben: »Meine erste Ehefrau ist mir kurz bevor ich nach Heidenheim kam gestorben. Ich war deshalb gezwungen mit meinen zwei kleinen Kindern wieder eine Familie zu gründen. Daß deshalb viele Mädels auf mich scharf waren brauche ich nicht extra betonen. So kam es, daß gleichzeitig zwei von mir in Schwangerschaft gerieten u. ich mich zunächst nicht recht entscheiden konnte, welche von beiden ich heiraten u. entschied mich auf das Drängen meiner Verwandten auf die kath. namens Marie V. aus Lippach Bez. Ellwangen. Die Ehe wurde am 10.3.26 geschlossen.
—————— 83 In den recherchierten Akten finden sich außer der Erwähnung des Prozesses im Lebenslauf von 1937 über diesen Gerichtsprozess keine weiteren Hinweise. 84 Vgl. Aktennotiz NSDAP-Kreisleiter Mauer, 15.4.1937.
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Die andere, Babette R. vom Ludelhof Krs. Heidenheim war darüber unterrichtet u. ich hatte mich mit Ihr vollständig geeinigt, aber ihre Schwester, eine Frau M. in Heidenheim deren Schwiegermutter eine Verwandte zu Pol. Rat K. ist, schrie mich dann überall herum. Nachdem sie merkten, daß sie mich nicht umstimmen konnten sprangen sie auf das Amt u. ließen keine Ruhe bis es mich an das Oberamt meldete. Es wurde nun alles aufgeboten um Material gegen mich zu sammeln u. überall wurden Erhebungen gegen mich angestellt, ohne daß ich auch nur einmal dazu gehört wurde. Die Folge war, daß mir auf 1.9.26 gekündigt wurde, da mir keine Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde nahm ich ohne weiteres die Kündigung an u. schied am 1.9.36 aus, da ich annahm, daß noch viele Millionen leben ohne bei der Pol. zu sein.« (Lebenslauf 1937).
Mit dieser Darstellung und Schuldzuschreibung an andere vermeidet Johann G. insbesondere, sich mit den damaligen tatsächlichen Vorwürfen zu befassen, darunter insbesondere sein gewohnheitsmäßiger Alkoholmissbrauch. Dieses Darstellungsmuster von Legitimationsbedürftigem zeigt sich auch in seinen anderen Selbstpräsentationen. 1926 kommt es gegen eine geringe Entschädigung zu seiner Entlassung aus dem Polizeidienst. Anlass ist offenbar sein dienstliches wie außerdienstliches Verhalten.85 Dass für den mittlerweile 33-Jährigen die Entlassung eine herbe Niederlage darstellt, wird auch deutlich dadurch, dass er sich Argumentationen bereitstellt, etwa, »dass noch viele Millionen leben, ohne bei der Pol. zu sein.« Der private wie berufliche Bereich ist auch in den folgenden Jahren von Instabilitäten geprägt. »Ich verzog wieder in meine Wohnung nach Esslingen u. war zunächst 3 Jahre als Einkassierer bei der D.B.G. in Stuttgart.«86 Nach der Liquidierung dieser Bekleidungsfirma 1929 arbeitet G. mit geringen Einkünften als Vertreter für einen Lesezirkel. Zwei weitere Kinder sind in der Zwischenzeit geboren worden. 1930 lässt sich G. »schuldlos« scheiden, die Kinder aus zweiter Ehe gibt er zu Bekannten aufs Land. 1931 meldet er sich wegen Unrentabilität seiner Tätigkeit arbeitslos.
3.2.3. Eintritt in die NSDAP 1931 und biographischer Aufstieg nach der NS-Machtübernahme Im Februar 1931 tritt Johann G. in die NSDAP ein und schreibt dazu in seinem Lebenslauf von 1937:
—————— 85 Die genauen Gründe für die Entlassung können aus den Akten nicht mehr recherchiert werden. In der Regel wird zusammengefasst, sein »inner- und außerdienstliches Verhalten« sei nicht mehr tragbar gewesen. 86 Lebenslauf 1937.
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»Nach meiner Entlassung von der Pol. erkannte ich vollends recht das System u. bekannte mich überall offen für die nat. Bewegung. Leider war es mir nicht schon damals aus finanz. Gründen möglich Mitglied zu werden. Obwohl arbeitslos entschloß ich mich aber am 1.2.31 einzutreten. Ich wollte sofort aktiv mitmachen aber nachdem ich dem † Kreisleiter Maier meinen Werdegang klargelegt hatte, empfahl er mir mich noch zurückzuhalten, damit die KPD nicht zu scharf auf mich eindränge. Bei den meisten alten Pg. bin ich aber kein Unbekannter u. überall wo ich ging u. stand bekannte ich mich offen als Nat. Soz.« (Lebenslauf 1937)
Die von G. angegebenen Phasen seiner nationalsozialistischen Entwicklung sind vermutlich durchaus zutreffend: Nach seiner Entlassung aus der Polizei wird er offener und kontinuierlicher den Nationalsozialismus provokativ propagiert haben, hatte er dann von Seiten seines Arbeitsgebers auch keine Sanktionen mehr zu befürchten. Das Eintrittsdatum legt jedoch eine andere Interpretation nahe als die von Johann G. recht unplausibel angegebene: Deutlich ist vielmehr, dass er zu einem Zeitpunkt eintritt, nachdem die NSDAP ihre ersten großen Wahlerfolge gehabt hat. Das lässt vermuten, dass er – obgleich bereits seit Jahren nationalsozialistisch – erst dann in die NSDAP eintritt, als sie nachweislich eine machtvolle Bewegung mit potentieller künftiger Regierungsgewalt geworden ist. Nun verspricht er sich möglicherweise auch persönlich etwas von einer Organisierung und strebt eine vergleichsweise frühe Mitgliedsnummer, ein Faktor für innerparteiliche Anerkennung, an. Gut denkbar ist, dass er den Parteibeitritt im Kontext nationalsozialistischer Seilschaften vollzieht. Der von G. erwähnte Christian Wirth tritt etwa kurz vor ihm im Januar 1931 wieder in die NSDAP ein, nachdem er bereits 1922/23 Mitglied gewesen ist. Spätestens ab 1932 ist Johann G. von Mai bis November in Saisonarbeit bei der städtischen Feldpolizei mit Überwachungsaufgaben, wohl von Grün- und Forstflächen, als »Feldschutzmann« beschäftigt. Nicht auszuschließen ist, dass er die Vermittlung dieser Tätigkeiten seinen Verbindungen zur Stuttgarter Polizei zu verdanken hat. Durchaus möglich ist es, dass der damalige NSDAP-Kreisleiter Johann G. bei seinem Beitritt zu Zurückhaltung auffordert. Weiterhin begibt G. sich jedoch in tätliche Auseinandersetzungen, mit denen er auch 1937 in seinem Lebenslauf prahlt: »Im Schwarzwälderhof in B. Cannstatt hatte ich im Jahre 1931 mit 6 Kommunisten eine Schlägerei, obwohl ich mich gut verteidigte konnte ich 14 Tage lang das Bett nicht mehr verlassen.« Neben körperlichen Verletzungen führt G. hier mit der Argumentation: »Insbesondere in meiner kath. Ver-
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wandtschaft war ich deshalb verpöhnt«87 weitere »Kosten« seines Bekenntnisses zum Nationalsozialismus an. Ab 1932 übernimmt Johann G. dann untere Funktionen in der für seinen Wohnort zuständigen Ortsgruppe, einem Stuttgarter Arbeiterviertel: Der Tätigkeitsliste von 1939 zufolge ist er ab Juni 1932 Amtswalter, ab 30. Januar 1933 Blockleiter, ab Mai 1933 Zellenleiter und ab Juni 1934 Schulungsleiter in der NSDAP-Ortsgruppe.88 Dies entspricht einer nicht unüblichen Entwicklung von NSDAP-Funktionären, die zwischen 1930 und der nationalsozialistischen Machtübernahme in die Partei eingetreten sind. Über die Ausübung seiner Funktionen in den ersten Jahren nach der Machtübernahme liegen keine weiteren Informationen vor. Feststellbar ist noch, dass G. ab März 1933 bis Frühjahr 1934 Mitglied der SA ist und dort einen Posten als Oberscharführer übernimmt. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme geht für G. eine von Aufstieg geprägte berufliche und politische Entwicklung als Nationalsozialist und eine Stabilisierung im privaten Bereich einher. Gut möglich ist, dass er als arbeitsloser SA-Mann und Parteifunktionär bereits an den antisemitischen Boykotten im April 1933 unmittelbar beteiligt ist. Bezeichnenderweise am 9. November 1933, dem Tag der nationalsozialistischen Jahresfeier der »Erhebung von 1923«, heiratet er zum dritten Mal, die bereits erwähnte Kellnerin, die bei seiner zweiten Heirat das Nachsehen hatte, in »der festen Überzeugung ein altes Unrecht gutgemacht zu haben«, so G. 1937. In den folgenden Jahren werden sechs weitere Kinder G.s geboren. Im Februar 1934 wird er ausschließlich auf Betreiben der NSDAP wieder beim Polizeipräsidium in Stuttgart untergebracht.89 Seine Gesamtsicht auf sein Leben zu dieser Zeit lässt sich aus der Feinanalyse eines Lebenslaufs von 1934 rekonstruieren, den er auf einem Personalbogen der NSDAP in einem zwölf Zeilen zur Verfügung stellenden Kasten verfasst. Darin nimmt Johann G. keinerlei Bezug auf seine Her-
—————— 87 Ebd. 88 Die Funktion eines »Amtswalters« wird vor 1933 nicht selten in NSDAP-Ortsgruppen vergeben. Unter diesen Posten können Tätigkeiten als »Blockwart«, Zellenleiter oder/ und in der Ortsgruppenverwaltung fallen. Die Amtsbezeichnung »Blockleiter« ab 30. Januar 1933 ist vermutlich rückwirkend bei der Anpassung der Amtsbezeichnungen an die zentralen Vorgaben festgelegt worden. Die Angaben sind unter anderem der Tätigkeitsliste von 1939 entnommen. 89 Dies geht sowohl aus einer Aktennotiz des NSDAP-Kreisleiters nach der Einsicht in die Personalakte von Johann G. bei der Polizei im Jahr 1937 als auch aus mehreren Belastungsschreiben im Spruchkammerprozess hervor.
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kunftsfamilie, seine Gründungsfamilien oder irgendwelche anderen für seine Entwicklung relevanten Personen. Er stellt sich hier vor allem über seine Auszeichnungen im Ersten Weltkrieg, seine formale Karriere bei der Polizei ab 1919 und seine Gewalttätigkeiten gegenüber Kommunisten dar, die er als individuell erbrachte »Leistungen« präsentiert und schließt mit seiner Wiederanstellung bei der Polizei 1934: »Ich wurde am 29.3.1893 in Goldshöfe / Aalen geboren, kath. getauft u. erzogen. Nach meiner Entlassung aus der Volksschule war ich zunächst in der Landwirtschaft u. nachher bei versch. Stuttg. Firmen als Packer u. Hausdiener tätig. Am 14.10.1913 rückte ich zur Abt. Dienstleistung zur 1. K. Gren. Rgt. 123 nach Ulm ein und mußte mit dem Rgt. den ganzen Feldzug mit. Schon bald wurde ich zum Vizefeldw. befördert u. habe mir das E.K. I u. II, golden. u. silb. Verd. Med., Verd. Ausz. III Kl. u. Verw. Abz. im Feldzug erworben. Nach meiner Entl. am 1.3.19 trat ich als Schutzm. in Stuttg. ein. 1920 wurde ich z. Kr. O. Wachtm. u. 1923 zum Krim. Kommissar ernannt. Anläßlich von Kommunistendemonstrationen habe ich im Dez. 1923 einen Kommunisten in Esslingen erschossen u. hatte in der Folge mehrere derartige Zusammenstöße, so auch in Heidenheim a. Br. Am 1.8.26 trat ich aus dem Pol. D. aus und war dann im Privatberuf wieder in Stuttg. tätig. Seit 1.2.34 bin ich wieder als Angestellter beim Pol. Präs. Stuttg. im Kanzleidienst, auf Grund meiner früheren Tätigkeit wieder verwendet.« (Lebenslauf 1934).
Die Unmittelbarkeit, Kälte und latente Prahlerei, mit der Johann G. die Tötung eines Demonstrationsteilnehmers konstatiert, markiert auch bei der näheren Interpretation einen Bruch in der Darstellungsstruktur. Hatte G. bis dahin Auszeichnungen und Dienstränge aufgezählt, so wechselt er hier in einen Handlungsbericht. Der Schreibprozess scheint eine ähnliche Dynamik aufzuweisen wie seine bereits hypothetisch formulierte Handlungsstruktur: Der Aufbau des Lebenslaufs, der bis zu dieser Stelle immerhin einigen allgemeinen Erwartungen nachkommt, wird nun abrupt unterbrochen. Eine äußerste Gewaltanwendung wird auf eine distanzierte und gleichzeitig prahlerische Weise dargestellt. Dieselbe Struktur, die auf der Handlungsebene bislang aufgezeigt wurde, deutet sich bereits in diesem sehr kurzen Lebenslauf auch mit Blick auf G.s schriftliche Handlungen an. Gegenüber der NSDAP präsentiert er sich weniger eingebunden in die NSBewegung als vielmehr als individueller »Alter Kämpfer«, dessen »frühere Tätigkeit« heute zu Recht honoriert wird. Dieser selbstbewusst sich gebende Habitus, in dem Johann G. seine Entlassung aus der Polizei als selbst entschiedenen »Austritt« präsentiert und nicht als legitimationsbedürftige Entlassung, kennzeichnet zu dieser Zeit möglicherweise auch sein Verhältnis zur NSDAP, zumindest der Parteiverwaltung. Gleichwohl wird durch die unmittelbar vor der Kündigung thematisierten Gewaltakte gegen
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Kommunisten ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Themen suggeriert. Dies dient zugleich dazu, andere Gründe für die Entlassung zu verbergen und Anerkennung für die Gewalttaten und erbrachten »Opfer« von der NSDAP einzufordern. Die Darstellung, er sei aufgrund seiner »früheren Tätigkeit« wieder verwendet, lässt offen, welche »Tätigkeit« damit gemeint ist; nahe liegt, dass G. sein Selbstverständnis als Polizist und seine Gewalttätigkeiten gegenüber Kommunisten als miteinander vereinbar ansieht. Recht scheint ihm dabei das nationalsozialistische Regime mit seiner Wiederanstellung zu geben.90 In den nächsten Jahren wird Johann G. bevorzugt beruflich befördert. Zunächst wird er 1934 als Angestellter im Kanzleidienst im deutschen Passamt eingesetzt, wo er unter anderem mit der politischen Beurteilung von Antragstellern befasst ist und in diesem Zusammenhang mit der Gestapo zusammenarbeitet. Belastungszeugnisse aus der Zeit nach 1945 bringen zum Ausdruck, dass er auch hier das Publikum »in unfeiner Art behandelt« habe.91 Er arbeitet hier auch mit der Stelle für jüdische Auswanderung zusammen, ist also an der Umsetzung dieser Phase der nationalsozialistischen Judenverfolgung nachweislich aktiv beteiligt. Die Zusammenarbeit sei stets »schnell, reibungslos und zuvorkommend« gewesen, schreibt der frühere Leiter der Stelle für jüdische Auswanderung in einem als Entlastungsschreiben eingereichten Dokument 1951. 1935 wird G. wieder beamtenrechtlich angestellt als Kanzleiassistent, 1936 zum Polizeisekretär befördert, 1938 zum Polizeiobersekretär ernannt, 1943 zum Vorbereitungsdienst für den gehobenen Dienst zugelassen, 1944 zum Polizeiinspektor ernannt. Von da ab ist er in der Wirtschaftsabteilung des Polizeipräsidiums tätig. Dass er die Wiedereinstellung bei der Polizei sowie seine schnellen Beförderungen ausschließlich aufgrund seines frühen Parteibeitritts und nationalsozialistischen Engagements bekommt, geht neben einer Aktennotiz des NSDAP-Kreisleiters im Jahre 1937 vor allem aus der Auskunftserteilung des Stuttgarter Polizeipräsidiums im Rahmen des
—————— 90 Zu diesem prahlerisch-selbstbewussten Auftreten gegenüber der NSDAP passt auch, dass G. in diesem Formblatt von 1934 in der Darstellung seiner Abfolge von Parteiämtern einen höheren parteiinternen Status suggeriert, als es der Realität entspricht. Als Parteifunktionen gibt er an, er sei ab 1932 Zellenleiter und ab 1934 Amtsleiter gewesen. Er lässt hierbei die Funktion als Blockleiter im Jahr 1933 aus und nutzt die Möglichkeit, dass die Dienstbezeichnungen vor und auch einige Zeit nach der Machtübernahme oft wechselten und nicht einheitlich waren, um sich bereits als Zellenleiter vor 1933 zu präsentieren. 91 Spruch vom 6.8.48.
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Spruchkammerverfahrens hervor. Hier kommt auch zum Ausdruck, dass er im Polizeidienst vehement den Nationalsozialismus vertreten hat.
3.2.4. Funktionsübernahme als Ortsgruppenleiter und Verhältnis zur NSDAP Im Mai 1937 wird G. zum Ortsgruppenleiter der NSDAP ernannt, einige Zeit zuvor ist er wohl schon stellvertretender Ortsgruppenleiter. Der Ernennung gehen einige Interaktionen zwischen ihm und der Partei voraus, die Einblick geben in G.s Einstellung zur Übernahme einer Ortsgruppenleiterfunktion, sein Verhalten und Selbstverständnis zu diesem Zeitpunkt, sowie am Rande auch in die NSDAP-Personalpolitik. Als Johann G. das Amt als Ortsgruppenleiter auf der Einweihung einer neuen Geschäftsstelle der NSDAP vom NSDAP-Kreisleiter in Aussicht gestellt wird, betrinkt er sich »vor Freude« auf diesem Parteifest dermaßen, dass die tatsächliche Ernennung verschoben wird und er sich noch einige Zeit »bewähren« soll.92 Der Kreisleitung ist genau bewusst, welchen Typus Funktionär sie für die Ortsgruppenleitung in diesem Stuttgarter Arbeiterviertel vorsieht. Vor der Ernennung nimmt Kreisleiter Mauer im April 1937 »vertraulich« Einsicht in die Polizeipersonalakte und legt darüber eine Aktennotiz an, aus der hervorgeht, dass er um G.s Alkoholsucht, sein inner- wie außerdienstlich disziplinloses und gewalttätiges Verhalten in seiner Zeit als Polizist in der Weimarer Republik und seinen Ruf als gewalttätiger Kommunistenhasser weiß. Es scheint Kalkül zu sein, genau diesen Funktionär als Ortsgruppenleiter in einem Arbeiterviertel einzusetzen. Ebenfalls im April 1937 verfasst G. einen außergewöhnlich langen handschriftlichen Lebenslauf und legt ihn – zehn Tage nach dieser Aktennotiz des Kreisleiters – der Kreisleitung vor. Dieser Lebenslauf ist offensichtlich direkt auf Aufforderung im Kontext der Ernennung zum Ortsgruppenleiter angefertigt worden. Möglicherweise ist G. ausdrücklich zu einer ausführlichen Darlegung seiner Entwicklung aufgefordert worden, in der er auch zu seinen problematischen privaten Angelegenheiten und seiner Entlassung aus dem Polizeidienst Stellung nehmen soll. Dies ergibt – neben der Rekonstruktion der parteiinternen Abläufe vor und nach der Abgabe des Lebenslaufs – auch die thematische Feldanalyse dieses Le-
—————— 92 Vgl. Aktennotiz NSDAP-Kreisleiter Mauer, 15.4.1937.
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benslaufs.93 Zunächst präsentiert sich G. in diesem Lebenslauf als jemand, der sich seine »Leistungen« hart erkämpft hat. Die Themen »Kriegsbeteiligung im Ersten Weltkrieg« und sein individueller »Kampf gegen die Kommunisten« sind besonders ausgebaut: er präsentiert sich hier als »Held«, der sich seine Verdienste unter starken Gefährdungen, insbesondere seiner körperlichen Unversehrtheit, erkämpft hat. Es folgt der Abschnitt, in dem Johann G. die Entlassung aus dem Polizeidienst als von rachsüchtigen Frauen verschuldet präsentiert. Damit umgeht er auch, sich zu den tatsächlichen damaligen Vorwürfen zu äußern. Während er die Geschichte mit den verschiedenen Heiraten ausbaut, lässt er die Relevanz des Alkoholmissbrauchs im Kontext der Entlassung völlig aus. Gerade diese Thematik ist aber immer wieder Anlass für innerparteiliche Kritik an Johann G. Johann G. hebt stets eigene »Leistungen« als individuell erbrachte hervor und stellt Legitimationsbedürftiges als von anderen Verschuldetes dar. Über dieses Muster der Selbstwahrnehmung und Selbstpräsentation fordert er zugleich stets Anerkennung fürs seine »Leistungen« und erbrachten »Opfer« beim Adressaten ein. Am Ende des ersten Teils seines Lebenslaufs kehrt Johann G. mit seinem beruflichen Wiedereinstieg und Aufstieg bei der Polizei nach 1933 ins Themenfeld »eigene Leistungen« zurück. Mit der Äußerung »und hoffe nun, den Weg zum Aufstieg offen zu haben« (Lebenslauf 1937) bringt er explizit gegenüber der NSDAP seine Erwartung zum Ausdruck, dass seine früheren »Leistungen« nun beruflich honoriert werden. Den Abschnitt »Mein politischer Werdegang« setzt G. vom ersten Teil des Lebenslaufs ab, was ihm erleichtert, sich stringent als früher Nationalsozialist zu präsentieren. Dafür führt er mit Christian Wirth einen innerhalb der Polizei aktiven Nationalsozialisten als Leumund an. Selbstbewusst gibt er sich – mit Blick auf den Parteieintritt etwa – nicht viel Mühe, was die Plausibilität seiner Argumentationen angeht. Auf seine Tätigkeit in der Ortsgruppe seit 1932 geht er nicht weiter ein. Neben den Folgen gewalttätiger Auseinandersetzung verweist er auf weitere für die NS-Bewegung eingegangene »Risiken« und »Kosten« vor 1933: So sei er aufgrund seines Bekenntnisses zum Nationalsozialismus in seiner Verwandtschaft seither verpönt gewesen. Auch hier wird deutlich, dass Johann G. Anerkennung für seine erbrachten »Leistungen und Opfer« einfordert. Der Stil schwankt
—————— 93 Der Lebenslauf umfasst fünfeinhalb Seiten; eine Sequenzierung ist im Anhang abgedruckt.
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zwischen korrekten Angaben und einer stärker formalen Darstellungsform (vor allem im Bereich von Laufbahnen, Auszeichnungen etc.) einerseits und grobschlächtiger Ausdrucksweise in der Darstellung von Auseinandersetzungen mit Kommunisten und im persönlichen Bereich andererseits. Zwei Tage nach Abgabe des Lebenslaufs wird G. am 27. April 1937 zum Gespräch beim NSDAP-Kreisleiter vorgeladen, in dem dieser sich von G. versichern lässt, »sich privat nichts mehr zuschulden kommen zu lassen und alles zu tun, um dem Alkohol nicht mehr zu verfallen«.94 Mit Wirkung vom 21. Mai 1937 wird G. dann zum Ortsgruppenleiter ernannt und hat dieses Amt bis 1945 inne. G.s Funktionsausübung ist gekennzeichnet von Drohungen, Gewalttätigkeiten sowie der Verfolgung politischer Gegner. Dass er Gewalttätigkeiten nicht nur im politischen, sondern auch im privaten und innerparteilichen Bereich ausübt und gewissermaßen für sein gutes Recht hält, zeigt ein Vorgang vom Juni/Juli 1939, der in den NSDAP-Personalakten überliefert ist und auch das Verhältnis von Johann G. zur NSDAP erhellt:95 Nach einem innerparteilichen »Preisschießen«, das um 8.00 Uhr morgens beginnt, und weiteren Gasthausbesuchen kommt G. abends schwer be-trunken nach Hause, er wird von einem Ortsgruppenamtsleiter begleitet. Auf Vorhaltungen seiner Frau hin wird er ihr gegenüber vor Kindern und dem anderen Parteifunktionär gewalttätig. Als dieser nach mehrfacher verbaler Aufforderung, die Tätlichkeiten einzustellen, eingreift, werden ihm von G. zwei Zähne ausgeschlagen und verschiedene Prellungen zugefügt. Als der geschädigte Amtsleiter zwei Tage später G. auf der Ortsgruppe aufsucht, wird er, seinen Angaben zufolge, von Johann G. mit den Worten »Hättest Dein freches Maul gehalten in meiner Wohnung! Sind wir schon fertig!« der Tür verwiesen. So kommt der Vorfall zur NSDAP-Kreisleitung, wo der Geschädigte schriftlich um seine einstweilige Beurlaubung vom Amt sowie um die Genehmigung zur zivilrechtlichen Anzeige gegen G. wegen Körperverletzung bittet. Daraufhin wird von G. – nach erfolgloser mündlicher Aufforderung – von der NSDAP-Kreisleitung schriftlich »verlangt«, sich nun innerhalb einer Woche zu entschuldigen und dem Betroffenen »für
—————— 94 Dies geht aus einer weiteren Aktennotiz des Kreisleiters vom 30.4.1937 hervor. Der Kreisleiter hält ihm in diesem Schreiben zugute, G. sei nachweislich als seinerzeitiger Polizeiwachtmeister rücksichtslos gegen die Kommunisten vorgegangen und habe angeblich einen Kommunisten erschossen. 95 Zu diesem Vorfall liegen in der NSDAP-Personalakte verschiedene Schriftstücke des NSDAP-Kreisleiters und des von Johann G. geschädigten Amtsleiters vor.
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das erlittene Unrecht Genugtuung zu geben«. Als dies nicht geschieht, werden beide Beteiligte zehn Tage später beim Kreisleiter vorgeladen. In einem ersten Einzelgespräch lehnt G., aufgefordert, Stellung zu nehmen, weiter eine Entschuldigung ab, stellt aufbrausend sein Amt als Ortsgruppenleiter zur Verfügung und will vor das Parteigericht ziehen. Der NSDAP-Kreisleiter besteht darauf, den Vorfall anderweitig zu klären. Ein Gespräch mit beiden Vorgeladenen zusammen wird sehr bald abgebrochen wegen gegenseitiger Beschimpfungen. Anschließend schimpft G. gegenüber dem Kreisleiter über den Geschädigten und bezichtigt diesen, laut Aktennotiz des Kreisleiters, eines »falschen und hinterhältigen Charakter[s]«96. Er bedient sich damit einer Argumentationsstruktur, die bereits aus den Selbstpräsentationen von G. nachgewiesen wurde in Situationen, in denen Johann G. eigenes gewalttätiges oder problematisches Verhalten kritisch reflektieren soll. Letztlich erhält der Kreisleiter G.s Zusage, sich zu entschuldigen; ein entsprechendes Gespräch mit dem Geschädigten findet noch am selben Tag »unter vier Augen« statt. Diesen Vorfall abschließend hält NSDAP-Kreisleiter Fischer in seiner Aktennotiz fest, G. verspreche, » – wie bereits aus der Aktennotiz meines Amtsvorgängers Parteigenosse Mauer vom 30.4.1937 hervorgeht – immer wieder, sich ordentlich zu führen, hält aber dieses Versprechen nicht ein. Ich halte G. für einen jähzornigen Menschen, der bei der geringsten Gelegenheit und insbesondere wenn er Alkohol genossen hat, etwaige Meinungsverschiedenheiten mit Brachialgewalt unterdrückt und beseitigt. Auf die Dauer gesehen wird Parteigenosse G., wenn er weiterhin sich gehen lässt, nicht mehr auf seinem Posten als Ortsgruppenleiter zu halten sein.«97
Die Gewalt gegenüber der Ehefrau wird an keiner Stelle thematisiert. Aus diesen Textstellen wird deutlich, dass die Kreisleitung genau um G.s Handlungsstruktur weiß, ohne ihn letztlich vom Amt zu entheben. Sie interveniert nur dort, wo aus ihrer Sicht ihr Ansehen in der Bevölkerung gefährdet ist. Zudem verdeutlicht der Ereignisablauf, dass G. auch im familialen Bereich sowie gegenüber Parteigenossen und Parteifunktionären und dem übergeordneten »Hoheitsträger« streitsüchtig und mitunter gewalttätig ist. Seine gewalttätige Handlungsstruktur erweist sich also als gesamtbiographisches Muster. An dieser Stelle ist es interessant, das Verhältnis zwischen G. und der NSDAP-Kreisleitung seit seiner Berufung zum Ortsgruppenleiter zu ver-
—————— 96 Vgl. Aktennotiz des NSDAP-Kreisleiters Fischer vom 13.7.1939. 97 Ebd.
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tiefen. Für einige Jahre liegen »Begutachtungen« G.s durch den NSDAPKreisleiter vor. In den Jahren 1937 und 1938 fallen diese weitgehend positiv aus.98 Für 1939 liegt eine ziemlich negative Begutachtung vor, die der Kreisleiter am selben Tag, an dem der oben genannte Amtsleiter sich über G.s gewalttätigen Übergriff beschwert, anfertigt. In diesem Fall wird der Einfluss des unmittelbaren Kontextes auf das Abfassen der Begutachtung deutlich.99 Eine ebenfalls sehr negative Vorlage aus dem Jahr 1942 verbessert der Kreisleiter dann wiederum in zahlreichen Punkten.100 Nach der oben erwähnten Konfrontation 1939, in welcher der NSDAP-Kreisleiter letztlich Oberhand gewinnt, scheint G. die innerparteiliche Hierarchie und neben Hitler als »Führer« konkret auch den Kreisleiter als nächsthöheren »Führer« zu akzeptieren. Mehrfach verfasst er Briefe, in denen er sich beiden huldigend unterordnet, so etwa am 29. Dezember 1939: »Mein Kreisleiter!
—————— 98 Der neu ernannte Kreisleiter Fischer verbessert 1937 eine negativere Vorlage – wohl von einem Mitarbeiter aus dem Personalamt angefertigt –, indem er den Hinweis »neigt zum Trunk« aus der Vorlage streicht. Im Begutachtungsbogen des Gau WürttembergHohenzollern vom 15.10.1937 wird G. folgendermaßen eingeschätzt: »Charakter: gut, neigt zum Trunk [Letzteres von Fischer durchgestrichen; CMB]; Umgangsformen: ausgereift, ruhig, sicher und bescheiden. Organisatorisch: rührig. Propagandistisch: bewährt. Rednerisch: für sein Amt ausreichend. Allgemeinwissen: gut; Fachwissen: Polizeiassistent. Weltanschaulich: gefestigt. Ansehen bei Partei, Bevölkerung, Behörden: sehr guter Kamerad, ist beliebt.« 99 Vgl. die Einschätzung vom 30.6.1939, Begutachtungsbogen für 1939: »Charakter: umstritten stur. Umgangsformen: ohne besondere Formen. Organisatorisch: rührig. Propagandistisch: bewährt. Rednerisch: ohne besondere rednerische Begabung. Allgemeinwissen: nicht über dem Durchschnitt. Fachwissen: Polizeisekretär. Weltanschaulich: gefestigt. Ansehen bei Partei, Bevölkerung, Behörden: nicht besonders gut, hat sich zu seinem Nachteil geändert. Sonstige Bemerkungen: Parteigenosse G. trinkt hin und wieder und benimmt sich dann daneben. Wurde schon mehrmals verwarnt.« 100 Vgl. die Vorlage des Begutachtungsbogens der Partei für 1942, abgegeben am 20.1.1943, die durch Kreisleiter Fischer vielfach hin zu einer positiveren Einschätzung verändert wird: »Charakter: zum Eigenwillen geneigt [wird von Fischer ergänzt durch: »doch gefestigt«; CMB]; Umgangsformen: gehen an [wird von Fischer ersetzt durch: »ordentlich«; CMB]. Organisatorisch: gibt sich Mühe [wird von Fischer ersetzt durch: »gut«]. Propagandistisch: hat sich bisher bewährt. Rednerisch: genügt für sein Amt als Ortsgruppenleiter. Allgemeinwissen: nicht über Durchschnitt. Fachwissen: Polizeisekretär beim Passamt. Weltanschaulich: gefestigt [wird von Fischer ersetzt durch: »überzeugter Nationalsozialist«; CMB]. Ansehen bei Partei, Bevölkerung, Behörden: hat sich in den letzten Jahren gebessert [wird von Fischer ergänzt durch: »sehr«; CMB].«
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Für die guten und herzlichen Wünsche zum Weihnachtsfest und für das Neue Jahr danke ich Ihnen, auch im Auftrage sämtlicher Mitarbeiter recht herzlich. Insbesondere bedanke ich mich persönlich für das schöne mir zugedachte Buch. Obwohl das Jahr 1939 sehr viel Arbeit erbrachte, so sind wir doch auch für das Neue Jahr bereit unser ganzes Sinnen und Trachten im Sinne unseres herrlichen Führers für seine grossen Ziele einzusetzen bis zum endgültigen Sieg. Dass derselbe unser ist, dürfte für einen Politischen Leiter selbstverständlich sein. Wir Politischen Leiter der Ortsgruppe […] geloben Ihnen, mein Kreisleiter zum Anfang des Neuen Jahres, so wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft Ihrem Sinne entsprechend unsere Pflicht bis zum äussersten zu erfüllen und alle gegebenen Befehle pünktlich auszuführen. Mit diesem Gelöbnis grüsse ich Sie und alle Mitarbeiter der Kreisleitung mit den besten Wünschen für das Neue Jahr. Heil Hitler G. Ortsgruppenleiter.«
Das auf Dienstpapier verfasste Schreiben bringt – auch jenseits G.s Intention – ein Selbstverständnis als »politischer Soldat« zum Ausdruck. Die Orientierungspunkte, die G. für seine Funktionsausübung angibt, so die Pflichterfüllung »bis zum Äußersten«, »Gelöbnis«, »pünktliche Befehlsausführung«, »endgültiger Sieg«, das »ganze Sinnen und Trachten« für die Ziele des »Führers« einzusetzen sind hierfür Indizien. In einem kollektiven »Wir« spricht er an einigen Stellen gleich für die gesamten Politischen Leiter der von ihm »geführten« Ortsgruppe. Auch dies zeigt G.s Orientierung an militärischen Formationen, in denen das Individuum zugunsten des Kollektivs verschwindet. Er macht jedoch deutlich, dass er sich selbst zugleich als »Führer« oder Vorgesetzter von der Formation abhebt und geht abschließend zum »Ich« über. Dies legt auch ein Selbstverständnis als Ortsgruppenleiter nahe, der kollektiv für die gesamten Politischen Leiter in der Ortsgruppe zu sprechen ermächtigt ist. Dafür, dass G. insbesondere Hitler als Idol sieht und sich in seinem eigenen Zuständigkeits- oder Machtbereich mit ihm identifiziert, spricht auch, dass er nach Zeugenaussagen in seiner Wohnung direkt hinter der Eingangstür ein »fast lebensgroßes« Hitlerbild platziert hat. Er selbst trägt einen so genannten »Hitlerbart«, wie aus dem Foto in den Personalunterlagen ersichtlich ist. G.s Verhältnis gegenüber der NSDAP ist auf der Handlungsebene also insgesamt als wechselhaft zu charakterisieren: Skepsis und Nichtanerkennung der NSDAP-Verwaltung gehen einher mit Phasen der Willensbekundung zu Ordnung, Unterordnung und Pflichterfüllung. Abgesehen davon ist er in für diese Funktionsebene typischer Weise in die Partei eingebunden: 1937 tritt G. aus der katholischen Kirche aus und kommt damit einer
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Erwartungshaltung der NSDAP an untere Funktionäre nach. Dennoch wird dies auch seiner damaligen Überzeugung entsprochen haben, insbesondere mit Blick auf die negative Bezugnahme auf seine katholische Familie in seinem Lebenslauf von 1937. Er ist Mitglied in weiteren NS-Organisationen, so in der NS-Volkswohlfahrt, im Reichsbund Deutscher Beamter, dem Reichskriegerbund sowie dem Reichskolonialbund. G. nimmt teil an einem mehrtägigen Schulungskurs für Ortsgruppenleiter und fährt zu insgesamt drei Parteitagen der NSDAP. Über die Partei bekommt er auch die Möglichkeit zu reisen. 1938 fährt er auf eine »KdF-Erholungsreise«, 1939 nimmt er an einer Propagandareise der NSDAP nach Italien teil, die er bezuschusst bekommt.
3.2.5. Durch Gewalt und Willkür geprägte Funktionsausübung als Ortsgruppenleiter Johann G. übt seine Ortsgruppenleiterfunktion gegenüber politischen Gegnern und zum Kriegsende hin gegenüber einem zunehmend größeren Teil der Bevölkerung in drohender, gewalttätiger und willkürlicher Weise aus. Besonders für die Zeit ab 1939 sind zahlreiche Vorfälle belegt, in denen G. Menschen bedroht oder prügelt und auch an Verhaftungen maßgeblich beteiligt ist. Er wendet in der Kontrolle und Verfolgung von Bewohnern der Ortsgruppe ein breites Spektrum von Terrormitteln an: Die Drohung, die unmittelbare Anwendung von Gewalt, die Vorladung auf die Ortsgruppe, die Weiterleitung von Anzeigen an übergeordnete Stellen, die Belastungsaussage im Gerichtsprozess, die Verweigerung von Hilfsmitteln etc. An verschiedenen Beispielen wird dies im Folgenden ausgeführt. Im November 1939 leitet G. eine Anzeige eines Parteigenossen weiter, vermutlich nicht direkt an die Gestapo, sondern »vorschriftsmäßig« an die NSDAP-Kreisleitung. Der anzeigende Parteigenosse hat in einem Gasthaus durch regimekritische Äußerungen einen Mann zum Mitschimpfen über den Nationalsozialismus verleitet und dies anschließend bei der Ortsgruppe der NSDAP gemeldet. Der Angezeigte ist ehemaliges Mitglied der KPD und des Kampfbundes gegen den Faschismus und war 1933 bereits für neun Monate und 1937 für sieben Monate verhaftet. Infolge der Weiterleitung dieser Anzeige kommt es 1941 zu zwei Sondergerichtsverhandlungen. G. tritt zugleich als Nebenkläger auf, da er in dem betreffenden Wirtshausgespräch beleidigt worden sei. G. bezichtigt den Angeklagten
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und seine Frau, sie seien fanatische Kommunisten und hätten jahrelang die Süddeutsche Arbeiterzeitung ausgetragen, was nach den Angaben des Betreffenden im Spruchkammerprozess nicht zutrifft. Der Angezeigte wird daraufhin – allein aufgrund der Aussagen von Johann G.101 – zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, die er in Einzelhaft in Mannheim verbringt. Knapp entgeht er einer Einweisung ins Konzentrationslager Buchenwald. Später vermittelt G. demselben Mann nach einem »Totalfliegerschaden« im Juli 1944 mit den Worten »Sie können verrecken wann sie wollen«102 keine Unterkunft und geht hier, wie in vielen anderen Fällen auch, mit seinen Machtressourcen völlig willkürlich um. Er lädt sogar denjenigen vor, der diesem Mann Unterkunft gewährt, stellt ihn deswegen zur Rede und droht, er wisse, dass dieser in diesem Wohngebiet ein »Kommunistennest« einrichte. In einem anderen Fall lädt er einen bei ihm Denunzierten vor, der über Unterschlagung von NSV-Geldern gesprochen hat, und droht ihm unmittelbar mit Prügel, im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung auch mit einer Einweisung ins Konzentrationslager Dachau. Zahlreiche Zeugenaussagen nach 1945 belegen ein systematisch drohendes Gebaren, eine rohe Umgangsweise und körperliche Gewalttätigkeiten G.s gegenüber Fremd- und Zwangsarbeitern beziehungsweise Kriegsgefangenen und tatsächlichen oder vermeintlichen Systemgegnern. Generell sei G. gegen Ausländer »einer der schlimmsten Hunde« gewesen, wie es ein Gastwirt, in dessen Wirtshaus ausländische Arbeitskräfte verkehrten, im Spruchkammerverfahren ausdrückt. G. unterbindet beispielsweise eines Abends trotz vorliegender Genehmigung Musik unter der Drohung, er werde, wenn die »Zigeunermusik« nicht aufhöre, die Fensterscheiben einschlagen. Als G. einmal die Essensausgabe von Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen überwacht, tritt er einen Franzosen, dem er im Spruchkammerprozess vorwirft, sich ein zweites Mal zur Essensausgabe angestellt zu haben. In einem anderen Fall ist belegt, dass er in einem Gasthaus auf einen Mann einschlägt, der den Hitlergruß nicht erwidert. Hier handelt es sich um denselben Mann, der vorgeladen wird, weil er den durch G.s Betreiben Inhaftierten nach einem Fliegerschaden bei sich aufnimmt. G.s bereits aus der Zeit vor 1933 nachweisbares Muster, politisch gewalttätig zu werden, unter anderem in Zusammenhang mit Wirtshausbesuchen, zeigt sich hier auch für die Zeit als NSDAP-Ortsgruppenleiter –
—————— 101 Der andere Zeuge gibt an, sich nicht mehr genau an den Vorgang und den Mann zu erinnern. 102 So die Niederschrift der Zeugenvernehmung im Spruchkammerverfahren.
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allerdings nun von einer lokalen Herrschaftsposition aus und de facto durch das nationalsozialistische System legitimiert. Die verbalen und tätlichen Übergriffe auf Systemgegner und zunehmend größere Kreise der Bevölkerung sind für die letzten Kriegsjahre am dichtesten belegt. Drohungen erreichen in dieser Zeit oftmals die Ebene des Tötens, Erschlagens, Erschießens etc. und werden von G. aus den unterschiedlichsten Anlässen ausgestoßen: Im Herbst 1944 wehrt sich beispielsweise ein Schreinermeister und NSDAP-Mitglied dagegen, dass Mitarbeiter der NSDAP-Ortsgruppe sein hinter der neuen Geschäftsstelle der Ortsgruppe aufgestapeltes Holz entwenden. G. kommt hinzu und erklärt, sie nähmen Holz, wenn sie es bräuchten. Auf die sinngemäße Frage des Schreinermeisters, ob dies denn ein »Zigeunerstaat« sei, wirft G. ihn unvermittelt an die Wand, zieht seinen Revolver und brüllt, der Wiedergabe des Betroffenen in der Spruchkammerverhandlung zufolge: »Ich hätte gute Lust und würde Ihnen den aufs Hirn schlagen!«, und weiter: er werde ihm noch »beikommen«. Dem Bedrohten gelingt es, ohne weiteren Gewalttätigkeiten ausgesetzt zu sein, aus der Situation herauszugehen und mit der Unterstützung einiger Leute den Hof wieder in Ordnung zu bringen. Ausgebombten, die von der Ortsgruppe zu versorgen waren, erklärt G., ihrer Erinnerung nach: »Wenn Sie sich nicht ruhig verhalten, bekommen Sie überhaupt nichts zu essen, wenn Sie nur verreckt wären dabei, dann brauchten Sie jetzt nichts mehr«.103 Einer ausgebombten Frau, die den (zweifelhaften) Vorschlag macht, eine alte gebrechliche Frau aus ihrer Wohnung zu evakuieren und selbst die Wohnung zu beziehen, sagt er sinngemäß: »Schlagen Sie sie auf das Hirn hinauf, dass sie hin ist, dann haben Sie eine Wohnung.« Eine andere Frau, die einen Bunkerschein möchte, weist er, ihren Angaben in der Nachkriegszeit zufolge, ab mit den Worten: »Was brauchen Sie in den Bunker gehen? Gehen Sie auf die Straße, Sie sind ja schon 60 Jahre alt!« Bei der Aufstellung zum Volkssturm, für den die listenmäßige Erfassung in der Ortsgruppe erfolgt, äußert G., Belastungszeugen im Spruchkammerverfahren zufolge: »Wer seine Pflicht nicht tut, den werde ich standrechtlich erschiessen.« Die folgenschwerste der nach 1945 thematisierten Belastungen G.s als Ortsgruppenleiter ist sein Verhalten anlässlich eines Gesuchs auf Entlassung eines nach dem 20. Juli 1944 Verhafteten aus dem Konzentrationslager Dachau. G. blockiert die Entlassung, indem er für ein Entlassungsge-
—————— 103 Dieses Zitat sowie die folgenden Zitate sind die von Geschädigten im Spruchkammerverfahren rekapitulierten Äußerungen von Johann G. und entsprechen daher dem sinngemäßen und nicht unbedingt dem exakten Wortlaut in der damaligen Situation.
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such keine oder keine ausreichende Befürwortung schreibt. Der inhaftierte frühere Stuttgarter KPD-Stadtrat Heinrich Baumann überlebt die KZ-Haft nicht, G. ist daran zumindest mitschuldig. Der genaue Hergang des Vorfalles kann nur annähernd aus den Akten recherchiert werden. Inwieweit G. bereits an der Verhaftung des Betreffenden beteiligt ist, muss offen bleiben.104 Als die Frau des Verhafteten die Befürwortung eines von ihr verfassten Entlassungsgesuchs beantragt, wird dies, ihren Angaben in der ersten Spruchkammerverhandlung zufolge, von G. zurückgewiesen, es sei »mit roter Tinte« verfasst. Zudem beschimpft und verdächtigt G. sie und ihren Mann: »Euch prickelt es unter den Fingernägeln, Ihr möchtet uns doch alle kaputt machen, das zeigt der 20. Juli.« G. behauptet in derselben Verhandlung, ein zweites Gesuch dann weitergeleitet zu haben, die Witwe des KZ-Opfers hält dem entgegen, dass sie bei Anfragen auf der Kreisleitung erfahren habe, die Kreisleitung könne nichts machen, es läge keine Befürwortung von der Ortsgruppe vor. Die Spruchkammer geht im August 1948 davon aus, dass die Befürwortungen aus der Ortsgruppe die maßgebliche Grundlage für Entlassungen waren und dass dieses Gesuch von G. nicht oder zumindest nicht ausreichend befürwortet worden ist. Sie kommt daher zu dem Schluss, dass G. diese Verhaftung gutgeheißen hat und es unterließ, sich für die Freilassung dieses und noch eines weiteren, schließlich aber entlassenen Inhaftierten einzusetzen. Im Oktober 1948 dagegen übernimmt die Spruchkammer bruchlos die Argumentation G.s, seines Verteidigers und einer neu ausgestellten, überaus zweifelhaften Zeugenaussage, wonach Johann G. die Entlassung befürwortet habe und keine Verantwortung für die weitere KZ-Haft und den Tod des Inhaftierten trage.105
—————— 104 Aus dem Spruchkammerurteil vom August 1948 geht hervor, dass Verhaftungen von politischen Gegnern nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 aufgrund von zusammengestellten Listen der NSDAP-Hoheitsträger erfolgten. Ob G. oder die NSDAP-Kreisleitung den Betreffenden zur Verhaftung vorgeschlagen haben, kann aus den ausgewerteten Akten nicht rekonstruiert werden. 105 Es handelt sich um ein Entlastungszeugnis eines Gestapo-Mitarbeiters, der im gleichen Lager wie Johann G. interniert ist und der mit seinem Schreiben sowohl G. als auch sich selbst entlasten will. Die nicht überprüfbar formulierte Entlastungsaussage wirkt konstruiert. Es ist gut möglich, dass der darin beschriebene Ereignishergang rein fiktiv ist. Die alleinige Verantwortung für die Fortsetzung der Haft wird, wie nicht selten bei diesen Verfahren, einem toten NS-Funktionär, hier dem Stuttgarter Stapoleitstellenleiter Friedrich Musgay zugeschrieben. Auch tritt dieser Zeuge erst im Berufungsverfahren auf, d. h. er wird vermutlich erst nach dem ersten Spruch in der Internierung für ein Entlastungszeugnis geworben.
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Parallel zu seiner brutalen Funktionsausübung wird G. von der NSDAP ausgezeichnet, 1942 bekommt er die zehnjährige Dienstauszeichnung der NSDAP und den Dienstrang eines Obergemeinschaftsleiters. Im selben Jahr wird er für besondere Kriegsverdienste für das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse vorgeschlagen. Wie bereits dargestellt, wird er auch im Polizeidienst kontinuierlich und aufgrund seiner Stellung in der Partei außergewöhnlich schnell befördert. Ab 1943 sind die Ehefrau und die Kinder G.s nach Steinheim im Kreis Heidenheim evakuiert, im Oktober 1944 wird die Wohnung G.s »totalfliegergeschädigt«. Nach eigenen Angaben hat Johann G. sich am 8. Mai mit einigen Volkssturmmännern abgesetzt. Von da ab hält er sich in Steinheim bei seiner Familie auf, ab 8. Juni 1945 ist er im Internierungslager 75 in Kornwestheim bei Stuttgart in Haft; auf ihn trifft allein aufgrund seiner formalen Belastungen der automatic arrest der Alliierten zu. Über die Umstände der Verhaftung liegen keinerlei Informationen vor.
3.2.6. »Bis zum Schluss«: Selbstpräsentationen in der frühen Nachkriegszeit Aus verschiedenen Dokumenten der Nachkriegszeit kann vergleichsweise gut rekonstruiert werden, wie G. sein Leben und seine NS-Aktivität nach 1945 sieht. Für die ersten beiden Jahre liegt ein ausgefüllter Fragebogen des Military Government of Germany vor. Diesen füllt G. im September 1945 ziemlich wahrheitsgemäß aus. Selbstpräsentationen 1947 Im März 1947 verfasst G. auf Aufforderung im Interniertenlager zwei Selbstpräsentationen, einen zweieinhalbseitigen handgeschriebenen Lebenslauf vom 15. März und eine einseitige maschinengetippte vorläufige Verteidigungsschrift vom 22. März 1947.106 Zu dieser Zeit befindet sich G. beim Arbeitseinsatz im Lager Eglingen. Der Lebenslauf von 1947 handelt chronologisch berichtend verschiedene Lebensphasen ab. Dominant ist auch in diesem Lebenslauf die Selbstsicht G.s als Mann einfacher Herkunft, der sich als Soldat im Ersten Weltkrieg verdient gemacht hat, im Anschluss daran zur Polizei ging und nach seiner
—————— 106 Vgl. die Sequenzierung des Lebenslaufs vom 15.3.1947 im Anhang.
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Entlassung im Jahre 1926 dort ab 1934 wieder eingestellt wurde und aufstieg. Politisches wird vollkommen ausgespart, lediglich indirekt thematisiert G. an einer Stelle die biographische Bedeutung, die der Nationalsozialismus und dessen Ende für ihn haben. Er verlässt dabei auch den Rahmen einer streng formalen Darstellung, wenn er, ohne den Nationalsozialismus zu benennen, schreibt, »bis zum Schluss« sei er als Polizeiinspektor tätig gewesen. Damit drückt G. zum einen aus, dass der Nationalsozialismus einen biographisch relevanten Bezugspunkt bildet. Zudem weist G. mit dieser Äußerung darauf hin, dass das Kriegsende und die Zerschlagung des Nationalsozialismus für ihn ein von außen induzierter, ungewollter biographischer Wendepunkt ist. Der »Schluss« ist neben dem Ende des Nationalsozialismus auch das Ende der politischen und beruflichen Karriere von Johann G. Einige Textpassagen und Einschübe sind dagegen bewusst dem aktuellen Darstellungsinteresse geschuldet. So wird aus seinem Arbeitgeber in den Jahren 1926 bis 1929 nun die »jüd. Fa. Deutsche Bekleidungsgesellschaft«. Hier will G., wohl sich selbst entlastend, einen früheren Kontakt mit Juden hervorheben. Auch in dem etwas überdurchschnittlich ausgebauten Abschnitt zur Polizeikarriere ab 1934 geht es G. nicht nur um die Darstellung seines Aufstiegs. Im Hintergrund der expliziten Erwähnung seiner Prüfungen mag bereits die Ahnung gestanden haben, dass er sich wegen seiner schnellen Beförderungen rechtfertigen muss. Am ausführlichsten widmet G. sich dem Thema »Ehe und Familie«. Nach der Aufzählung der drei Ehen und der aus ihnen hervorgegangenen Kinder berichtet G. im letzten Drittel dieses Abschnitts vom Tod eines Sohnes 1944 im Alter von sechs Jahren, einem gefallenen Sohn sowie der Kriegsgefangenschaft von zwei weiteren Söhnen. Durch die Darstellung der großen Kinderzahl und familialer Schicksalsschläge soll vermutlich Nachsicht und Strafmilderung bei der Spruchkammer evoziert werden. Das Gleiche gilt für die Erwähnung der 1944 ausgebombten Stuttgarter Wohnung. Erheblich deutlicher kommt in der vorläufigen Verteidigungsschrift, die Johann G. eine Woche nach dem Lebenslauf im März 1947 verfasst, seine Haltung zu seinem nationalsozialistischen Engagement, seinem Selbstverständnis vor und nach 1945 sowie gegenüber dem Adressaten zum Ausdruck. In einer feinanalytischen Auswertung wird die Diskrepanz zwischen dem manifesten Darstellungsinteresse, sich mit dem Schreiben zu entlasten, und dem latent zum Ausdruck kommenden Selbstbild überaus deut-
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lich. Dieses beinhaltet insbesondere Stolz auf seine früheren Funktionen als Ortsgruppenleiter und als Beamter. An vielen Stellen wird G.s Widerwille erkennbar, dieses Schreiben zu verfassen. Seine Ablehnung der Adressaten, bis hin zum offensiven Angriff auf die Alliierten, tritt hervor: So geht G. nur dürftig auf die für dieses Schreiben vorgegebenen Fragen ein, gibt sich offensichtlich keine Mühe zu irgendeiner selbstkritischen Reflexion, versucht noch nicht einmal, grobe Widersprüche in seiner Darstellung zu vermeiden und führt leere Entlastungsformeln an, die zu seinem tatsächlichen Verhalten in offensichtlichem Widerspruch stehen. Allein in der Analyse des ersten Absatzes wird diese Textstruktur deutlich: G. beginnt mit einer Aufzählung seiner NSDAP-Funktionen und kommt damit zwar formal der Schreibaufforderung nach. Zugleich jedoch eröffnet er hier mit dem aus seiner Sicht relevantesten und »erfolgreichsten« Lebensabschnitt, der Zeit als Funktionsträger im Nationalsozialismus: »Am 1.2.1931 trat ich in die Partei ein, wurde im Juni 1932 Amtswalter, im Mai 1933 Zellenleiter, 1935 Amtsleiter und im Mai 1937 Ortsgruppenleiter, nachdem mein Vorgänger von seiner Firma dienstlich nach Berlin versetzt worden ist. Das Amt konnte ich als Beamter nicht ablehnen und hatte es bis zum Schluß inne. Die Gründe die mich bewogen in die Partei einzutreten, lege ich in meinen weiteren Ausführungen noch fest.« (Vorläufige Verteidigungsschrift 1947)
Johann G.s Selbstbewusstsein und der Stolz als Funktionsinhaber kommen latent bereits in dem eröffnenden Satz zum Ausdruck und werden durch den Fortgang des Absatzes bekräftigt. In diesem will er auf der manifesten Ebene in Entlastungsabsicht zum Ausdruck bringen, er habe »das Amt« als Beamter nicht ablehnen können. Latent jedoch fährt er, nun mit der Einführung als »Beamter«, fort, sich stolz über seinen im Nationalsozialismus erhaltenen Status zu definieren. Auch hinsichtlich seiner Parteifunktion betont er, nicht ohne Stolz, diese »bis zum Schluss« innegehabt zu haben. Damit bringt Johann G. auch zum Ausdruck, dass er nicht zu denjenigen gehörte, die gegen Ende des Krieges sich vom Regime zunehmend distanzierten, vielmehr dass er dem Nationalsozialismus bis zu dessen Zerschlagung »treu« geblieben ist. Die offensichtlichen Widersprüche der Hauptentlastungsargumentation von Johann G. werden ebenfalls bereits im ersten Absatz deutlich: Bis auf die Übernahme des Amtes als Ortsgruppenleiter war G. bei keiner der Funktionsübernahmen Beamter. Seine intendierte Argumentation, die Funktion nur unfreiwillig als Beamter oder aber als »braver Staatsbeamter«, übernommen zu haben, entbehrt jeglicher Stichhaltigkeit. Dass diese Ar-
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gumentation nur allzu dürftig sein NS-Engagement und keineswegs seinen Eintritt im Jahr 1931 erklärt, versucht G. abzufedern durch die nachfolgende Ankündigung, im Verlauf des Schreibens noch auf seinen Parteieintritt einzugehen. Damit nimmt er zwar wieder Bezug auf die Schreibaufforderung. Die Formulierung »Die Gründe die mich bewogen in die Partei einzutreten, lege ich in meinen weiteren Ausführungen noch fest« bringen gleichwohl seinen Unwillen, sich zu dieser Frage zu äußern, zum Ausdruck. Zudem kündigt er hier – nimmt man die Wortwahl ernst – latent aggressiv an, dass er im Folgenden sich schon noch etwas zu seinem Parteieintritt einfallen lassen werde, er also erst im Verlauf dieses Schreibens Gründe festlegen wird. Die Argumentationen in den weiteren Absätzen stehen zu G.s tatsächlichem Verhalten in starkem Widerspruch. Er spricht dabei genau die Themen an, in denen er tatsächlich am stärksten belastet ist, wie die freiwillige, ja begeisterte Funktionsübernahme, das berufliche Nutznießertum und die brutale, willkürliche und von Verfolgung geprägte Amtsausübung. Diese Belastungen werden – einer Klage vorauseilend – abgestritten, etwa wenn er schreibt: »Kein Volksgenosse ist durch mich oder auf meine Veranlassung verfolgt, oder in ein K.Z. gekommen. Im Gegenteil habe ich jederzeit Entlassungsanträge von politisch Verhafteten nach Überprüfung befürwortet und meistens führten sie zu Entlassung.« (vorläufige Verteidigungsschrift 1947) In diesen Argumentationen benutzt Johann G. weiterhin NS-Begrifflichkeiten. Insbesondere die Verwendung des Terminus »Volksgenossen« verleiht den Argumentationen eine Doppeldeutigkeit: Möglicherweise dient sie ihm dazu, nach wie vor die Einteilung in »Volksgenossen« und »Gemeinschaftsfremde« aufrecht zu erhalten und die Verfolgten als nicht den »Volksgenossen« angehörende und auszumerzende Gruppe zu sehen. Dies würde bedeuten, nationalsozialistische Deutungen aufrecht zu erhalten und damit gleichzeitig die Spruchkammer täuschen zu wollen. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Verwendung dieses Terminus unter Internierten abgesprochen worden ist.107 Der vorletzte Abschnitt des Schreibens, in dem sich Johann G. mit seinem Parteieintritt befasst, ist denkbar widerwillig verfasst: »Mein Eintritt in die NSDAP erfolgte, weil ich damals längere Zeit arbeitslos und mich in einer solchen Notlage befand, dass ich der Meinung war, dass nur sie auf Grund des aufgestellten Parteiprogramms in der Lage ist, unser so schwer darnieder liegendes, von Parteihader und
—————— 107 Zur Absprache unter Internierten vgl. Arbogast 1998, S. 224f.
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Klassenhass zerrissenes Volk zu sammeln und zu befreien. Von sämtlichen ausländischen Staaten war die Regierung Hitler’s anerkennt, weshalb nicht zu erkennen war, dass sie in Hitler und der NSDAP. Gewaltherrscher sahen.« (vorläufige Verteidigungsschrift 1947)
Der Abschnitt ist von G. vermutlich auch deshalb im Text nach unten verschoben worden, da allein das Eintrittsdatum G.s Hauptentlastungsargumentation sehr in Frage stellt. Auch hier schreibt er offensichtlich die Unwahrheit: G. hat noch in seinem Lebenslauf an denselben Adressaten eine Woche zuvor angegeben, sich 1931 arbeitslos gemeldet zu haben, so kann er also Anfang Februar 1931 – dem Datum seines NSDAP-Beitritts – keineswegs »längere Zeit arbeitslos« gewesen sein. Als Gründe für den Parteieintritt führt er weiter eine NS-Propaganda reproduzierende Argumentation über das Parteiprogramm und ein »von Parteihader und Klassenhass zerrissenes Volk« an. Abschließend greift G. die alliierten Adressaten direkt an, indem er aggressiv argumentiert, aufgrund der Anerkennung der Regierung Hitlers sei es nicht erkennbar gewesen, dass die ausländischen Staaten in Hitler und der NSDAP Gewaltherrscher sahen. Insbesondere diese Argumentation ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Johann G. sich im Internierungslager mit denjenigen früheren Parteifunktionären umgibt, die dem Nationalsozialismus noch stark verbunden sind, und dabei auch einige der in diesen Kontexten hergestellten standardisierten Argumentationen übernimmt.108 Das hier von ihm angeführte Argument ist durchaus kompatibel mit seiner Deutungsstruktur, Verantwortung für sein eigenes Handeln stets an andere abzugeben. Die bisherigen Argumentationsmuster bündelnd, streitet Johann G. im letzten Absatz sein tatsächliches Verhalten ein weiteres Mal, nun zusammenfassend, ab und präsentiert sich als Beamter und beamtenähnlich handelnder NSDAP-Funktionär: »Mein Amt habe ich nie so aufgefasst und durchgeführt, als ob ich in meinen Bereich eine absolute Macht auf dem Gebiete des öffentlichen oder privaten Lebens über meine Mitbürger gehabt hätte. Ich habe mich als Beamter streng an die Weisungen und Anordnungen der Kreisleitung gehalten und habe Versammlungen und andere Veranstaltungen nur nach deren Richtlinien durchgeführt.« (vorläufige Verteidigungsschrift 1947)
Die Fokussierung auf eine Darstellung als Beamter und als beamtenähnlich handelnder NSDAP-Funktionär kann im Rahmen dieser Selbstpräsentation verschiedene Funktionen gleichzeitig erfüllen: 1. Der Bezug auf
—————— 108 Zu stereotypen Entlastungsargumentationen vgl. ebd., S. 221ff.; zur Gruppenbildung unverändert nationalsozialistisch Gesinnter im Internierungslager vgl. ebd. S. 224f.
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Strukturen, die durch Hierarchie, Weisung, Befehl und Ausführung geprägt sind, entspricht durchaus biographisch relevanten Orientierungen von Johann G. 2. Die Darstellung ermöglicht in diesem Fall, biographische Relevanzen mit dem aktuellen Darstellungsinteresse und einer gängigen Entlastungsargumentation zu verbinden. 3. Über diese Darstellung präsentiert G. die NSDAP, den Nationalsozialismus und sich selbst analog zu propagandistischen Selbstdarstellungen der NSDAP vor 1945. Damit soll schließlich auch das Bild des Nationalsozialismus geschönt und ihm über 1945 hinaus Legitimität verliehen werden. Eine Selbstdarstellung als brutaler, willkürlich handelnder Ortsgruppenleiter täte diesem Bild Abbruch. Vor diesem Hintergrund ist es auch verständlich, warum G. etwa in Fragebögen seine Mitgliedschaften, Auszeichnungen, Funktionen etc. korrekt und ausführlich angibt, aber im Bereich der Darstellung seiner Tätigkeit konträr zu seinem tatsächlichen Verhalten argumentiert. Auch in dieser Selbstpräsentation wird die These einer starken Korrespondenz von Handlungs- und Schreibstruktur bestätigt. Eine den Vorgaben nachkommende formale Darstellung wird immer wieder durchbrochen von Ausbrüchen offener oder latenter Aggression gegenüber den Adressaten. Eine solche Schreibstruktur wurde auch bereits für die früheren Selbstpräsentationen G.s analysiert. Hier ist sie allerdings am offensten aggressiv, was mit der fortdauernden Identifikation mit dem Nationalsozialismus, der damit einhergehenden offensiven Ablehnung einer kritischen Reflexion des eigenen Verhaltens und der Ablehnung der Adressaten zusammenhängt. Weiteres Verhalten im Spruchkammerverfahren Spätestens seit Sommer 1947 ermittelt die Spruchkammer im Fall Johann G., holt Auskünfte etwa beim Stuttgarter Polizeipräsidium über G. ein und lädt verschiedene Zeugen vor. Im Mai 1948 ist die Klageschrift verfasst, in der der Öffentliche Kläger beantragt, Johann G. in die Gruppe der Hauptschuldigen einzustufen. Von da an versucht G. nachweislich, Entlastungszeugnisse zu besorgen und nimmt sich einen Anwalt. Dabei setzt er unter anderem alte Seilschaften auf Belastungszeugen an und trägt damit aktiv und – in alter Manier – drohend zu dem allgemeinen Klima bei, lieber nichts Belastendes auszusagen.109 Gleichwohl findet die Verhandlung, zu
—————— 109 Belegt ist in diesem Zusammenhang ein Vorfall, in dem G. nach der gewährten Akteneinsicht einem alten Bekannten schreibt, dass auch dieser in einem Belastungs-
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der viele Zeugen vorgeladen werden, vor dem Hintergrund zahlreicher Belastungsschreiben statt. Von den eingereichten Entlastungsschreiben ist lediglich eines ernst zu nehmen. Dabei handelt es sich um ein Schreiben des Vorstehers des Diakonissenmutterhauses, in dem G. bescheinigt wird, sie in ihrer Arbeit nicht behindert zu haben und beispielsweise nicht gegen eine »nichtarische« Krankenschwester, die »lange Jahre« dort arbeitete, sowie eine Schülerin, die wegen regimefeindlicher Äußerungen von kranken SA-Männern bei der Ortsgruppe angezeigt wurde, vorgegangen zu sein; zudem habe er die konfessionelle Art des Hauses geachtet und etwa keine NS-Propaganda dort verbreitet oder die Schwestern in die NS-Frauenschaft oder die NS-Volkswohlfahrt gedrängt. In der ersten Spruchkammerverhandlung im August 1948 erklärt Johann G. laut Sitzungsprotokoll, als ihm die Möglichkeit gegeben wird, etwas auf die Klage zu erwidern, lediglich, »dass die formalen Belastungen anerkannt werden.« Auf gezielte Nachfragen zu Ein- und Austritten macht er unwillig kurz angebundene Aussagen. Im Rahmen der Zeugenvernehmung dann mehrfach befragt, äußert Johann G. sich meist nur sehr knapp, bisweilen macht er geringe Zugeständnisse, die er jedoch sofort rechtfertigt: »Es ist vorgekommen, dass ich geschrieen habe. Es sind auch Leute gekommen, die mich angeschrieen haben.« Infolge starker formaler und individueller Belastungen bei der Unterstützung des Nationalsozialismus wird Johann G. in die Gruppe der Hauptschuldigen eingestuft. Strafmildernd, aber das Gesamtbild nur unwesentlich verändernd, wird sein Verhalten gegenüber dem Diakonissenmutterhaus eingestuft. G. wird zu viereinhalb Jahren Arbeitslager eingewiesen, wobei die Internierungshaft voll angerechnet wird aufgrund laufend freiwilligen Arbeitseinsatzes und »guter Führung« während der Internierungszeit. Sein Vermögen wird mit Einschränkung als Beitrag zur Wiedergutmachung eingezogen; Sonderabgaben sind laufend einem Wiedergutmachungsfonds zuzuführen, eine Berufsbeschränkung wird auf zehn Jahre festgesetzt. Auf diesen Spruch hin gehen G. und sein Anwalt in Berufung, bereits im Oktober 1948 kommt es zur Berufungsverhandlung. G. zeigt sich in
—————— schreiben von seiner Nachbarin belastet werde. G. bittet diesen Freund um ein Entlastungsschreiben und fordert ihn auf, herauszufinden, wer darüber noch mehr wisse und wer in diesem Haus bei der Ortsgruppe gewesen sei. Daraufhin hängt dieser Freund das Schreiben G.s im Treppenhaus auf, in dem diese Nachbarin angegangen und als Denunziantin diffamiert wird. In einer Vorladung wegen dieses Vorfalls streitet G. eine nähere Freundschaft mit dem Mann ab, ebenso habe er diesen ja nicht angehalten, den Brief im Treppenhaus aufzuhängen.
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dieser Verhandlung kooperativer. So nutzt er etwa die Gelegenheit, auf das Verlesen der Klageschrift etwas zu erwidern und macht – vermutlich auf Nachfrage – einige Zugeständnisse: »Ich gebe zu, dass ich überzeugter Nationalsozialist war und für die Partei geworben habe. Ebenso gebe ich zu, dass ich robust bin und einen barschen Ton manchmal habe, aber der Grossteil der Bevölkerung von […; Stuttgarter Arbeiterviertel, CMB] ist auch so veranlagt, wie bekannt sein dürfte und ausserdem ging während des Krieges alles drunt und drüber, sodass ich schnelle Entscheidungen treffen musste, die vielleicht manchmal unangenehm empfunden wurden«. (Spruchkammerverhandlung Oktober 1948)
Gleichwohl verteidigt Johann G. von ihm ausgeübte physische Gewaltanwendung. Auf den Vorwurf, auf einen Mann, der den Hitlergruß verweigert hat, eingeschlagen zu haben, verteidigt er die Gewaltanwendung mit verharmlosenden Worten und stellt den Vorfall folgendermaßen dar: »Ich sass mit einigen pol. Leitern in der Wirtschaft und W., der betrunken war, hat uns dauernd belästigt. Ich habe ihn genommen und an seinen Platz gesetzt und es ist möglich, dass ich dabei in sein Gesicht kam.« (Spruchkammerverhandlung Oktober 1948) Mit den Worten »Ich bitte meine Familie zu berücksichtigen« nutzt Johann G. in dieser Verhandlung auch die Gelegenheit, sich als Letzter zu äußern. G. wird dann in die Gruppe der Belasteten zurückgestuft und das Strafmaß entsprechend gemildert. So wird etwa die Arbeitslagerzeit auf zweieinhalb Jahre verringert.110 Im Oktober 1948 wird G. dann aus dem Internierungslager entlassen, er geht nach Steinheim zu seiner Familie und arbeitet dort als Hilfsarbeiter bei einem Schlosser. Im Mai 1949 wird mit einem Gnadenentscheid Ratenzahlung der Verfahrenskosten gestattet, doch kommt G. auch dieser nicht nach. Für 1950 gibt es einen Vollstreckungsbeschluss. 1951 wird durch den Rechtsbeistand Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt wegen neuen Beweismaterials. Eine erneute Prüfung der politischen Verantwortlichkeit kommt zum dem Schluss, dass G. weder Hauptschuldiger noch Belasteter ist, und daher das Verfahren nach dem Abschlussgesetz von 1950 einzustellen sei.
—————— 110 In der Urteilsbegründung dieses Spruches, der unter einem anderen Vorsitz geführt wird, werden fadenscheinige und verharmlosende Argumentationen von Johann G. und seinem Anwalt nahezu wörtlich übernommen, bspw.: »Mit einer Gehässigkeit politischen Gegnern gegenüber haben diese Grobheiten, die jeweils einer durch die momentane Situation erzeugten, von den Beteiligten mitunter mitverschuldeten Verärgerung entsprangen und auch in ihrer Form das in […; Stuttgarter Arbeiterviertel, CMB] gewohnte Maß nicht überschritten, nichts zu tun.«
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Für die 1950er bis 1970er Jahre liegt lediglich eine dünne Polizeipersonalakte von G. vor. Aus ihr geht hervor, dass es zu einer Wiederverwendung G.s »aus den bekannten Gründen« nicht gekommen ist. 1959 fragt Johann G. um Gehaltsbescheinigungen der Jahre 1937–1939 nach, die er zur Festsetzung der Hausratsentschädigung wegen Fliegerschadens benötige. Er ist also Ende der 1950er Jahre noch immer mit der Entschädigung von materiellen Verlusten am Ende des Zweiten Weltkrieges beschäftigt. Vor allem aber enthält die Akte Korrespondenzen zu Versorgungsbezügen. Im Juni 1972 stirbt Johann G. 79-jährig in Steinheim.
3.2.7. Zusammenfassung Die Fallanalyse erwies Johann G. als überzeugten Nationalsozialisten, dessen Funktionsausübung als NSDAP-Ortsgruppenleiter von Brutalität und Willkür gekennzeichnet war. Diese spezifische Amtsausübung steht bei Johann G. im Kontext einer bereits weit vor 1933 nachweisbaren biographischen Handlungsstruktur, die beschrieben werden kann als ein Wechsel zwischen Einordnung in Hierarchien und exzesshafter Gewaltausübung. Der 1893 geborene Johann G. wächst in einer kinderreichen, katholischen Familie eines Weichenwärters in einem württembergischen Dorf auf und arbeitet seit seiner Kindheit bei Bauern mit. 16-jährig geht er unter ungeklärten Umständen nach Stuttgart und verbringt dort drei weitere Jahre, die von schwerer körperlicher Arbeit als Packer und Hausdiener, ökonomischer Unsicherheit und auf Instabilitäten hinweisenden Arbeitswechseln geprägt sind. Inwieweit das Erleben und Ausüben physischer Gewalt und die Einordnung und Auseinandersetzung mit Hierarchien bereits in den ersten 20 Lebensjahren prägende und miteinander verbundene Erfahrungen bilden, konnte in der Fallrekonstruktion nicht geklärt werden. Hier liegen auch quellenbedingt Grenzen der biographieanalytischen Auswertung anhand des vorliegenden Materials. Gleichwohl ließ sich rekonstruieren, wie diese Handlungsmuster und Themen die Entwicklung von Johann G. seit dem Ersten Weltkrieg strukturieren. 1913 zum Militär einberufen, ist er von Sommer 1914 bis 1918 als Soldat im Krieg und erwirbt zahlreiche Auszeichnungen für das Erleben und Ausüben extremer Gewalt. Die militärischen Auszeichnungen bedeuten erstmals eine gesellschaftliche Anerkennung für Johann G. Ein ab den 1920er Jahren aufzeigbares Handlungsmuster von Einordnung in Hierar-
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chien und gewaltförmigem Exzess hat hier möglicherweise seine Ursprünge. Sollte dieses bereits vor der Militärzeit von G. verinnerlicht worden sein – etwa durch ähnliche Interaktionsmuster in der Herkunftsfamilie – so wird es im Rahmen des Militärs gefestigt und militärisch-gesellschaftlich honoriert. Johann G. setzt diese Handlungsstruktur zunächst in den württembergischen Schutzmannschaften zur Niederschlagung revolutionärer Unruhen fort. 1920 kann er von dort aus in den Polizeidienst eintreten und bekommt damit – vor dem Hintergrund seiner Soldaten- und Schutzmannzeit – eine enorme Aufstiegschance. Zeitgleich verortet er sich mit der Gründung einer Regimentsvereinigung und dem Besuch nationalsozialistischer Versammlungen politisch in der extremen Rechten. Dass Johann G. sich von diesem politischen Spektrum angezogen fühlt, wurde in der Analyse insbesondere damit in Verbindung gebracht, dass dies Orte sind, in denen erfahrene und ausgeübte Gewalt im Ersten Weltkrieg sowie im Anschluss daran an den sozialistischen »inneren Feind« thematisierbar sind, legitimiert und anerkannt werden. Die starke Präsentation von erlebter und ausgeübter Gewalt in seinen Lebensläufen an die NSDAP sind dafür Hinweise. Die von Johann G. ausgebildeten und auch in Friedenszeiten fortgeführten Handlungsmuster sind mit seiner Tätigkeit als Polizist in der Weimarer Republik nicht vereinbar. Vor dem Hintergrund wiederholter extrem gewaltförmiger Auseinandersetzungen mit Kommunisten, gewohnheitsmäßigen Alkoholmissbrauchs und von Instabilitäten im persönlichen Bereich wird er 1926 wegen seines inner- und außerdienstlichen Verhaltens aus dem Polizeidienst entlassen. Die folgenden Jahre sind durch ökonomische Unsicherheit und weitere Instabilitäten im persönlichen Bereich geprägt. 1931 tritt er der NSDAP bei und übernimmt ab 1932 Funktionen auf Ortsgruppenebene. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus wird die Handlungsstruktur, die Johann G. in den 1920er Jahren seine Stellung als Polizist kostet, honoriert. Mit dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem ist sie nicht nur kompatibel, sie wird darüber hinaus anerkannt, belohnt und zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung der Diktatur eingesetzt. 1934 wird Johann G. wieder in den Polizeidienst aufgenommen und außergewöhnlich schnell befördert. 1937 wird ihm von der NSDAP-Kreisleitung – in voller Kenntnis der gewaltförmigen Handlungsstrukturen von Johann G. – bewusst die Funktion eines Ortsgruppenleiters in einem Stuttgarter Arbeiter-
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viertel übertragen. Johann G. wird durch das nationalsozialistische System in seinen Handlungs- und Deutungsmustern bestätigt. Zeitweise ist seine innerparteiliche Stellung durch seine Alkoholsucht und damit verbundene Gewalttaten prekär. Gleichwohl behält er letztlich die Funktion auch angesichts familial und innerparteilich ausgeübter Gewalt, die dieses Handlungsmuster als gesamtbiographisches erweist, bei. In diesem Arbeiterviertel übt Johann G. seine Funktion bis Kriegsende auf eine von Gewalt, Verfolgung und Willkür geprägte Weise aus. Mit dieser Handlungsstruktur korrespondiert die Struktur der Selbstpräsentation in der Hinsicht, dass Johann G. auch hier sich im Wechsel formalen Vorgaben unterordnet und diese durchbricht, sei es durch die Darstellung extremer Gewalthandlungen oder durch latent oder offen aggressive Äußerungen gegenüber den jeweiligen Adressaten. Gegenüber der NSDAP fordert er massiv Anerkennung für seine in der Vergangenheit individuell erbrachten »Opfer und Leistungen« ein. Das starke Einfordern von Anerkennung und das starke Hervorheben des eigenen Status hängt der Analyse zufolge auch mit der Erfahrung von Nichtanerkennung und dem zumindest latent stets prekären Status von Johann G. in Vergangenheit und jeweiliger Schreibgegenwart zusammen. Statt diese selbst produzierten prekären Lagen in ihrer Entstehung auch nur annähernd selbstkritisch zu reflektieren, wird stets anderen die Verantwortung an Statusverlusten zugeschrieben. Die eigenen, auch gewaltförmigen Handlungen werden stets als völlig gerechtfertigt behauptet. Auch die Verteidigungsschrift von 1947 weist diese spezifische Gleichzeitigkeit auf, sich formalen Vorgaben zu beugen und diese aggressiv dem Adressaten gegenüber zu durchbrechen. In ihr kommt die ungebrochen nationalsozialistische Gesinnung von Johann G. zum Ausdruck.
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3.3. Rudolf O.: »Aber Sturheit war nie meine Eigenschaft« 3.3.1. Einleitung Rudolf O., 1902 in Mannheim geboren, in seiner Kindheit im sozialdemokratischen Milieu sozialisiert, dann 16 Jahre Gewerkschaftsmitglied – teilweise aktiv – im liberalen Gewerkschaftsbund der Angestellten bis zu dessen Auflösung 1933, technischer Kaufmann, reicht Anfang 1934, im Alter von 31 Jahren folgenden Lebenslauf bei der NSDAP ein: »Stuttgart, den 15. Januar 1934 Mein Lebenslauf! Am 2. Dezember 1902 wurde ich in Mannheim geboren als Sohn des Galvanoplastikers Rudolf O. Die ersten sechs Jahre meiner Jugend verbrachte ich in Mannheim, im Jahre 1909 verzog meine Familie nach Offenbach a. Main, um sechs Jahre später, im Jahre 1915, wieder nach Mannheim zurückzukehren. Nach achtjähriger Volksschulzeit erwarb ich mir durch Selbststudium und in Abendkursen das staatliche Zeugnis der Obersekunda-Reife. Am 1. Mai 1917 begann meine vierjährige kaufmännische Lehrzeit bei der Firma Sulzer Konrad Heizungen GmbH in Mannheim. Nachdem ich meine Lehrzeit vollendet, meine beruflichen Erfahrungen bei anderen namhaften Heizungsfirmen vervollkommnet hatte, kehrte ich im Jahre 1932 wieder zu meiner Lehrfirma zurück und zwar in deren Stuttgarter Niederlassung. In Stuttgart bin ich seit April 1926 ansässig. Seit 1927 bin ich verheiratet und seit 1930 Vater eines Mädchens. Seit März 1933 bin ich Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, seit Mai 1933 Blockwart in deren Ortsgruppe Stuttgart-Zuffenhausen. Ich gehörte niemals vorher einer anderen Partei an, wie ich mich vor dem Anbruch der nationalen Erhebung in keiner Weise politisch betätigte, da ich erst meine berufliche Ausbildung vollenden musste. Angefügt sei noch, dass ich evangelischer Religion bin. Rudolf O. Stuttgart-Zuffenhausen, Hohensteinstr.«
Bereits anhand dieser wenigen biographischen Daten und der ersten in den Quellen vorliegenden Selbstpräsentation können Fragen aufgeworfen werden, die sowohl die erlebte als auch die dargestellte Geschichte dieses NSDAP-Funktionärs betreffen: Wie kommt Rudolf O. dazu, in die NSDAP einzutreten, liegen verschiedene Handlungsalternativen in diesem Fall allein schon durch den politischen Hintergrund so offenkundig auf der Hand? Und wie kommt er dazu, sich in dieser Weise darzustellen, insbesondere seine (gewerkschafts-)politische Vergangenheit aktiv und unter Heranziehung einer offensichtlich fadenscheinigen Begründung zu leugnen? Wie kommt er dazu, sich 31-jährig als beruflich »vervollkommnet« zu
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bezeichnen? Im Folgenden werden Ergebnisse der Fallrekonstruktion dargestellt und dabei der Zusammenhang zwischen seinem gelebten Leben und der spezifischen Form, sich darzustellen so weit wie möglich entschlüsselt. Neben dieser Selbstpräsentation von 1934 wird auch auf weitere der zahlreichen Selbstdarstellungen von Rudolf O., die in seiner NSDAPPersonalakte und seiner Entnazifizierungsakte aus den Jahren 1934–1949 enthalten sind, zurückgegriffen.111 In der Fallanalyse wurde deutlich, dass die Lebensgeschichte von Rudolf O. durch ein Streben nach beruflicher, sozialer und politischer Geltung geprägt ist. In der Auseinandersetzung mit der familialen und gesellschaftlichen Umwelt bildet er ein biographisches Handlungsmuster aus, das eine Dynamik der Abgrenzung von bislang biographisch Relevantem unter gleichzeitiger Wahrung von Kontinuitäten in modifizierter Form aufweist. In diesem Zusammenhang sind auch der NSDAP-Beitritt und eine in ihrer Intensität wechselnde, aber kontinuierliche Funktionsausübung zu interpretieren. Auch die verfassten Lebensläufe aus der NS- und Nachkriegszeit sind durch diese Dynamik geprägt. Insofern verweisen insbesondere auch die Selbstpräsentationen von Rudolf O., in denen eine schnelle Abgrenzung von vormals Relevantem zum Ausdruck kommt, auf entsprechende lebensgeschichtliche Handlungsmuster. In einem literarisierenden und sich selbst lobenden, teilweise dramatisierenden Schreibstil wird das Vergangene umdefiniert und an vielen Stellen bis zur Falschaussage offensiv geleugnet.
3.3.2. Kindheit und Kriegsjugend: Kontinuitäten und Abgrenzungen zum sozialdemokratischen Herkunftsmilieu Rudolf O. wird 1902 in Mannheim geboren, vermutlich als erster Sohn, da er den Vornamen seines Vaters bekommt. Dieser ist Buchdrucker, gewerkschaftlich organisiert und Mitglied oder Anhänger der SPD. Rudolf O. beschreibt seinen Vater 1946 folgendermaßen: »Er war etwa vierzig Jahre lang
—————— 111 Dazu gehören u. a. zwei Lebensläufe von 1934 (Januar und Mai) sowie ein weiterer Lebenslauf vom Juni 1940 an die NSDAP. Zudem liegen in der Spruchkammerakte ein Lebenslauf vom Juli 1945 sowie zahlreiche weitere, oftmals mehrere Seiten umfassende Selbstpräsentationen im Zusammenhang mit Schreiben im Zuge des Vorstellungsverfahren vor (so etwa vom Oktober und Dezember 1945 sowie vom Januar, Februar und August 1946). Darüber hinaus liegen zwei Vernehmungsprotokolle vom Dezember 1946 sowie weitere von Mai und Juni 1947 vor. Zudem enthalten die Akten die Verhandlungsprotokolle vom Juli 1947 und April 1949.
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organisiert in der Buchdrucker-Gewerkschaft und stets ein treuer Anhänger der Arbeiterbewegung im Allgemeinen, der SPD im Besonderen«. (Selbstpräsentation August 1946) Rudolf O. wächst im Umfeld der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auf, in der die Buchdrucker-Gewerkschaft als Zusammenschluss hoch qualifizierter und gut bezahlter Facharbeiter eine besondere Stellung innehat.112 Er wird, wie der Vater, protestantisch getauft, während die Mutter katholisch sozialisiert ist. Dies deutet auf eine Dominanz der väterlichen Linie in der Familie hin, die sich vermutlich auch als Erwartungshaltung an die Lebensgestaltung des Sohnes in der Familie niederschlägt und mit Bildungserwartungen und politischer Kontinuität verbunden ist. Seine zumindest während der Kindheit bestehende Orientierung am Vater bringt Rudolf O. in seiner Selbstpräsentation vom August 1946 zum Ausdruck: »Unter völligem Eingehen auf seine menschlichen und politischen Überzeugungen bin ich aufgewachsen«. Rudolf O. deutet in einem weiteren Schreiben aus der Nachkriegszeit innerfamiliale Konflikte an, die er der unterschiedlichen konfessionellen Prägung der Eltern zuschreibt: »Meine eigenen Eltern waren tragischerweise ebenfalls eine Mischehe. Meine Mutter ursprünglich streng katholisch, mein Vater gut protestantisch. Ich lernte noch weitgehender als meine Frau die inneren Kämpfe kennen, die hierdurch entstehen.« (Schreiben »Warum meine Frau und ich konfessionslos sind«, 16. Oktober 1945)113
Trotz der im Kontext der Entlastungsabsicht anzunehmenden Dramatisierung dieser Sozialisationsbedingung gibt Rudolf O. hier einen Hinweis auf Problemkonstellationen in der Familie O., bei denen die unterschiedliche konfessionelle Prägung der Eltern den Hintergrund oder Anlass von Konflikten bildete. Sich selbst stellt er als in diese Konflikte involviert dar.114 Als Kind erlebt Rudolf O. 1908 zur Einschulung einen ersten Umzug von Mannheim nach Offenbach, der vermutlich in Zusammenhang mit einem Arbeitswechsel des Vaters steht. Dies stellt ihn vor die Aufgabe, sich
—————— 112 Vgl. Schneider 1987, S. 397. 113 Mit diesem Schreiben möchte O. eine zumindest zeitweise Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen sowie den gemeinsam mit seiner Frau 1939 vollzogenen Kirchenaustritt rechtfertigen. Er argumentiert in diesem Zusammenhang 1945 mit einer stets als problematisch dargestellten gemischtkonfessionellen Konstellation im Elternhaus der Frau, seinem eigenen Elternhaus sowie in seiner Ehe. 114 Vgl. zu gemischtkonfessionellen Paar- und Familienkonstellationen am Anfang des 20. Jahrhunderts Gründig 2002, S. 183–201.
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in einem neuen Umfeld zurechtzufinden, zugleich bindet ihn dies möglicherweise auch stärker an die Herkunftsfamilie. Diese Herausforderung wiederholt sich 1914, als die Familie zurück nach Mannheim geht. Als Rudolf O. 13 Jahre alt ist, wird Ende 1915 sein Vater eingezogen und bleibt bis 1918 als Soldat im Ersten Weltkrieg. Für Rudolf O. bedeutet dies weitere Einschnitte zu Beginn der Adoleszenz: Er muss sich nacheinander mit einem neuen Umfeld, der Abwesenheit des Vaters und den Bedingungen des Krieges in den Großstädten arrangieren, die zunehmend Entbehrungen nach sich ziehen. Im Rechtfertigungskontext nach Kriegsende betont O. den Entbehrungsaspekt, ohne allerdings Einzelheiten zu konkretisieren: »Nach dem 1. August 1914 lernte ich während mancher Jahre durch die allgemeine Ungunst der Verhältnisse, dadurch bedingte Schicksalsschläge meiner Familie im Besonderen, die materielle und seelische Not in einem Ausmass kennen, wie ein Mensch meines damaligen Alters sie gerade noch ertragen kann.« (Selbstpräsentation August 1946) Wenngleich Rudolf O. seine Erlebnisse während der Kriegsjahre nicht genauer darstellt, so ist doch eine von ihm zum Ausdruck gebrachte psycho-soziale Überforderung in dieser Zeit nahe liegend. Möglicherweise übernimmt er in den folgenden drei Jahren zunehmend die Rolle des für die Mutter und die Familie Verantwortlichen. Gleichaltrige, Lehrer oder Ausbilder werden möglicherweise wichtiger in seiner Sozialisation. Die Bedingungen des Krieges schufen für diese Jahrgänge zugleich erhebliche Erweiterungen ihrer Erfahrungs- und Handlungsräume. In der Kriegswirtschaft ersetzten sie vielfach Erwachsene, sie machten Erfahrungen der Selbsthilfemaßnahmen in der Versorgung, die halb- bis illegale Überlebensstrategien beinhalteten, und entfremdeten sich so vielfach bereits der wilhelminischen Gesellschaft.115 1917 muss Rudolf O. nach Beendigung der Volksschule die Schule verlassen, die ihn vermutlich am härtesten treffende Entbehrung: »Ich besuchte die Volksschule, eine bessere Schulbildung konnte infolge eines Unglücks, das meine Eltern im ersten Weltkrieg traf, nicht ermöglicht werden.« (Lebenslauf Juli 1945) Der 14-Jährige kann dann direkt eine Lehre als technischer Kaufmann im Heizungsfach beginnen und mit dieser im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung perspektivreichen Berufsausbildung einen qualifizierten und praktisch fundierten Einstieg in den Angestelltensektor finden. Möglicherweise liegt in diesen Erfahrungen, in jungen Jahren während des
—————— 115 Vgl. Reulecke 1989, S. 88f.
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Krieges vieles »gemeistert« zu haben unter latenter Überforderung, sein späteres Geltungsbedürfnis sowie seine Anspruchshaltung mit begründet. Sie kommen in nahezu allen seinen Selbstpräsentationen zum Ausdruck.116 Zeitgleich mit dem Beginn seiner Lehre organisiert Rudolf O. sich 1917 gewerkschaftlich. Er geht allerdings nicht in den der Sozialdemokratie nahe stehenden Allgemeinen freien Angestelltenbund sondern in den sozialliberalen Gewerkschaftsbund der Angestellten (GdA), der eine starke Kooperation der Beschäftigten mit den Unternehmern befürwortet. Er führt somit familiale Traditionen einerseits fort, andererseits geht er damit in Distanz zum sozialdemokratischen Milieu. Möglicherweise ist seine Entscheidung durch sein aktuelles betriebliches Umfeld mit beeinflusst. Denkbar ist auch, dass er damit einen familialen »Mittelweg« einschlägt, indem er weder eine konfessionelle noch eine sozialistische Gewerkschaft wählt.117 Er hält sich mit dieser Verortung verschiedene Handlungsoptionen offen, geht nicht in prinzipielle, »klassenkämpferische« Konflikte mit Unternehmern und ist dennoch Mitglied einer Interessenorganisation der Beschäftigten. Bei der Rückkehr des Vaters aus dem Krieg 1918 ist Rudolf O. 16 Jahre alt. Möglicherweise ist es nicht leicht für ihn, den Vater wieder in den Familienalltag zu integrieren; gegebenenfalls sieht Rudolf O. sich auf einen Platz zurückverwiesen, den er nicht mehr bereit ist, einzunehmen. An seiner Entscheidung für die liberale Gewerkschaft hält er jedoch fest trotz zu erwartender Auseinandersetzungen darüber in der Familie. Mit seiner Gewerkschaftsorientierung findet für Rudolf O. bei Zusammenbruch des Kaiserreichs nicht ein – wie manchmal in der Literatur für diese Generation beschriebener – Zusammenbruch aller Werte statt. Vielmehr erfahren Gewerkschaften im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik nicht nur Kontinuität, sondern auch eine Aufwertung und verbesserte Gestaltungsmöglichkeiten. Rudolf O. macht also die Erfahrung, seine Orientierungen und politisch-gesellschaftlichen Verankerungen nahtlos in ein neues System mitnehmen zu können, wo diese zudem gesellschaftlich aufgewertet werden. Mit anderen seiner Generation teilt er aber möglicherweise aufgrund der gemeinsamen Erfahrung des Zusammen-
—————— 116 Nicht selten werden diese Haltungen als typisch für die Kriegsjugendgeneration bezeichnet, vgl. etwa Dingräve (Ps. Ernst Wilhelm Eschmann) 1931, Reulecke 1989, mit etwas anderer Akzentuierung Herbert 2003. 117 So haben etwa auch die sozialliberalen Gewerkschaften eine Mittlerposition zwischen den konfessionellen und den sozialistischen, vgl. Fleck 1984.
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bruchs des Kaiserreichs in der Jugendphase auch die Haltung, dass Systemwechsel, auch zur Verfolgung der biographischen Ziele, durchaus als Optionen für die Zukunft angesehen werden.118
3.3.3. Beruflicher Aufstieg und sozialliberales Gewerkschaftsengagement in der Republik 1919 bis 1921 holt Rudolf O. in Abendkursen seinen Realschulabschluss nach und gleicht damit verringerte Bildungschancen während des Ersten Weltkrieges aus. Dies bringt auch seine Orientierung an einem Bildungsaufstieg zum Ausdruck, zumal er diesen Mittelschulabschluss 1934 mit dem Begriff der »Obersekundareife« bezeichnet. O. setzt diesen Bildungsaufstieg jedoch nicht noch weiter fort, sondern nutzt die verbesserten schulischen Voraussetzungen für einen Aufstieg innerhalb seines Berufes. Finanzielle Unabhängigkeit mag dafür ein Grund gewesen sein, eventuell auch das Angebot, sich gewerkschaftlich stärker zu engagieren. Ab 1923, noch nicht einmal 21-jährig, ist er für einige Jahre ehrenamtliches Mitglied im Vorstand des Ortskartells seiner Gewerkschaft. Dies bedeutet Anerkennung, das Gefühl einer Wichtigkeit im politisch-gesellschaftlichen Bereich, auch eines Sich-Abhebens von Gleichaltrigen und einfachen Gewerkschaftsmitgliedern. 1924 wechselt er seinen Arbeitsplatz und geht in die kommunalen Central-Heizungswerke Mannheim, wo im Gegensatz zu seinem Ausbildungsbetrieb vermutlich bessere Aufstiegschancen und ein größeres gewerkschaftliches Betätigungsfeld bestehen. Im Frühjahr 1927 wechselt Rudolf O. im Alter von 24 Jahren erneut seinen Arbeitsplatz und zieht nach Stuttgart. Daraus kann geschlossen werden, dass sich die Verhältnisse in Gewerkschaft und Betrieb nicht zu seiner Zufriedenheit entwickelt haben. Eine Deutung, dass sein beruflicher Wechsel mit einem starken Aufstiegsdrang zusammenhängt, liegt nahe: womöglich ging ihm eine Beförderung auf dem Weg der Laufbahn im öffentlichen Dienst zu langsam. Auch im gewerkschaftlichen Bereich hat sich vermutlich keine hauptamtliche Perspektive entwickelt, die er eventuell eingeschlagen hätte.119 Ungeduld, Unzufriedenheit und eine starke Aufstiegsorientierung scheinen
—————— 118 Vgl. Dingräve 1931, S. 17. 119 Vgl. zu verkrusteten und der jungen Generation wenig Gestaltungsmacht bietende Strukturen in den politischen Parteien und Verbänden der Weimarer Republik Mommsen 2003, Dingräve 1931.
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Antrieb seiner beruflichen Wechsel zu sein, die er auch in den folgenden Jahren stets von sich aus vornimmt. Dazu nimmt er 1927 einen Ortswechsel in Kauf, den er – eventuell vor dem Hintergrund seiner früheren Umzüge – als nicht hinderlich ansieht. Beim Umzug nach Stuttgart 1927 bilden für Rudolf O. sein Beruf und in diesem Fall auch seine Beziehung eine Kontinuität. Im Herbst desselben Jahres heiratet er seine damals 21-jährige Mannheimer Freundin, die mit ihm zusammen nach Stuttgart zieht. Sie ist aus einer kinderreichen, ebenfalls katholisch-protestantischen Familie eines Glasschleifers, selbst allerdings katholisch, und verfügt über keine Ausbildung. Damit wählt O. eine Partnerin, der gegenüber er in Bildung und Ausbildung einen deutlichen Vorsprung hat, was ihm innerhalb der Familie, da das Paar diese Konstellation unverändert beibehält, eine traditionelle Männerrolle mit der damit verbundenen Autorität sichert. 1930 wird er Vater einer Tochter. 1932 wechselt O. erneut seinen Arbeitsplatz und kehrt, sich finanziell erheblich verbessernd, als Abteilungsleiter in die Stuttgarter Niederlassung seines Ausbildungsbetriebes zurück. In den Akten der NS- und Nachkriegszeit gibt er »schlechten Geschäftsgang« als Grund für den Wechsel an, in allen anderen Fällen stets »Weiterbildung«. Damit ist er letztlich jedoch ohne ernste berufliche Probleme über die Weltwirtschaftskrise hinweggekommen und konnte kontinuierlich aufsteigen. Sein gewerkschaftliches Engagement hat er in Stuttgart nicht fortgesetzt, bleibt aber Mitglied im GdA. Dies zeigt die Prioritätensetzung auf die berufliche Entwicklung, wobei er sich im Zuge seines Aufstiegs möglicherweise von der Perspektive der Arbeitnehmer weg und zur Sichtweise der Unternehmensleitung hin orientiert. Eventuell hängt ein Rückzug vom aktiven Gewerkschaftsengagement mit dem Niedergang der liberalen Gewerkschaften und Parteien zusammen. O. gehört möglicherweise zu denen, die in dieser politischen Richtung keine weitere Perspektive mehr für sich sehen.
3.3.4. NSDAP-Beitritt als Interesse an Machtteilhabe und Wiederaufgreifen politischer Aktivität Gleichwohl ist Rudolf O. weiter an Politik, auch an politischer Partizipation interessiert. Im Frühjahr 1933 tritt er im Alter von 30 Jahren in die NSDAP ein und übt schon bald darauf ein Amt als Blockwart aus. Es ist nicht mehr genau zu ermitteln, wann im Frühjahr 1933 Rudolf O. in die
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NSDAP eintritt, da er in seinen Selbstdarstellungen sowohl gegenüber der NSDAP als auch gegenüber der Spruchkammer hierzu Falschangaben macht, um sich dem jeweiligen Adressaten gegenüber möglichst vorteilhaft zu präsentieren. Zutreffend ist wohl, dass das Mitgliedsbuch auf 1. Mai ausgestellt wird, der Antrag auf Eintritt könnte aber auch im März oder im April 1933 gestellt worden sein. Für seine Hinwendung zur NSDAP im Frühjahr 1933 steht, der Analyse zufolge, im Vordergrund, am neuen Regime auf der Seite der Machthaber teilhaben zu wollen. Das Aufgreifen der nationalsozialistischen Bezeichnung »nationale Erhebung« für die Monate nach der Machtübernahme im Lebenslauf vom Januar 1934 weist darauf ebenso hin wie eine Argumentation vom Juli 1945: »Inmitten der Wirtschaftskrise entstand bei mir die Ansicht, eine autoritäre Leitung könne Erfolg bringen und ich trat daher am 1. Mai 33 der NSDAP bei.« (Lebenslauf Juli 1945) Hier stellt Rudolf O. die Diktatur, die die Nationalsozialisten über Jahre ankündigten und nach der Machtübernahme brutal durchsetzten und ausübten, als ihn zum Beitritt bewegend dar. Er reagiert – nachdem die bereits erheblich manipulierten Märzwahlen keine politische Wende mehr einleiten – schnell, will bei der »nationalen Erhebung« und »autoritären Leitung« als Aktiver beteiligt sein. Er sieht hier eine Chance eröffnet, sich politisch wieder Geltung zu verschaffen. Die bereits in der Analyse der biographischen Daten aufgestellte These, dass das NSDAP-Engagement in einem Zusammenhang zum früheren Gewerkschaftsengagement steht und O. frühere Relevanzen, hier die »Partizipation« im politischen Feld wieder aufgreift, wird unter anderem durch die Textanalyse des Lebenslaufs vom Januar 1934 deutlich.120 Auf der manifesten Ebene präsentiert er sich fast am Ende des Textes in einer fünfzeiligen Sequenz der NSDAP gegenüber als politisch zuverlässiger und ambitionierter unterer Funktionär. Die sequentielle Feinanalyse des gesamten Textes, die auch latente Sinnstrukturen erfasst, ergibt darüber hinaus: Die vorhergehenden, etwa gleichlangen Sequenzen zu Kindheit und beruflichem Werdegang werden beide im thematischen Feld »Weggehen und Zurückkehren« präsentiert: Die Kindheit wird über Umzüge weg und zurück nach Mannheim, der berufliche Werdegang über Weggang und Rückkehr zur Ausbildungsfirma dargestellt. So kann hier die Hypothese aufgestellt werden, dass O. sein Leben und seinen politischen Werdegang
—————— 120 Vgl. dazu den Abdruck dieses Lebenslaufs auf der ersten Seite dieser Falldarstellung.
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im Kontext von »Weggehen und Zurückkehren« ordnet. Dementsprechend wäre zu erwarten gewesen, dass O. in der Sequenz zum politischen Werdegang in dieser bisherigen Textstruktur bleibt. Diese wird hier allerdings auf der manifesten Ebene aktiv durchbrochen. Mit der Argumentation, niemals vorher politisch tätig gewesen zu sein, so das Ergebnis der Analyse, will er genau die damit verbundene Thematik des »Weggehens und Zurückkehrens« verneinen: dass nämlich das NSDAP-Engagement für ihn auch die Bedeutung des »Zurückkehrens« ins politische Feld hat, allerdings in ein anderes politisches Lager, das jegliches Gewerkschaftsengagement aufs Schärfste bekämpft hat. Die konkrete Leugnung von lebensgeschichtlichen Erfahrungen steht, so die Analyse, mit früheren Orientierungen und Handlungen in Zusammenhang, die Rudolf O. in seiner jeweils aktuellen Situation unangenehm sind, die er lieber nicht gelebt haben will. Die Begründung für eine angebliche bisherige politische Enthaltsamkeit – nämlich erst seine Ausbildung beendet haben zu müssen – gerät auffallend schwach und keineswegs stichhaltig: Mit 31 Jahren war O. bereits seit über zehn Jahren mit seiner Ausbildung fertig. Sie gibt vielmehr einen weiteren Hinweis dafür, dass in diesem Abschnitt das frühere Gewerkschaftsengagement kopräsent ist. Denn gut denkbar ist, dass O. eine Argumentation, mit der er vor 1922 ein Gewerkschaftsengagement ablehnte – nämlich damals tatsächlich, um zunächst seine Ausbildung zu beenden – nun auf die aktuelle Argumentation überträgt. Der Zusammenhang zwischen dem früheren Gewerkschaftsengagement und der NSDAP-Aktivität im Fall Rudolf O. kommt erheblich deutlicher in den Selbstpräsentationen aus der Nachkriegszeit zum Ausdruck. Er kann jedoch bereits in diesem Lebenslauf gegenüber der NSDAP als auf der latenten Ebene vorhanden aufgezeigt werden. Auch andere Spuren der Abgrenzung finden sich im Lebenslauf vom Januar 1934: Der Vater wird beispielsweise über den beruflichen Fachbegriff »Galvanoplastiker« eingeführt, wohl um Hinweise auf sein Herkunftsmilieu, die die Berufsangabe »Buchdrucker« eventuell gegeben hätte, zu vermeiden. Auch ansonsten kommt es zu einer indirekten Abgrenzung von der Familie, indem der einzige sie betreffende Passus die Familie als etwas irrational ironisiert: »verzog meine Familie nach Offenbach a.M., um […] wieder nach Mannheim zurückzukehren.« In seinen späteren Lebensläufen während der NS-Zeit hat O. dann einen stimmigeren Ausdruck gefunden, mit dem er seine Vergangenheit leugnen kann ohne direkt zu lügen: er beschränkt sich in den weiteren Selbstdarstellungen immer auf die Argumentation, er
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sei »parteipolitisch« früher nicht aktiv gewesen; dies trifft wohl zu.121 Aber auch für den Vater als biographisch relevante Bezugsperson findet O. eine seiner aktuellen Perspektive angepasste Bezeichnung, über die er sich wieder positiv auf ihn beziehen kann: der Vater wird im Lebenslauf vom Mai 1934 als Weltkriegs-Teilnehmer unter Angabe der Kriegsorte dargestellt. Nun kann O. wieder von der Familie als »wir« sprechen.122 Für 1946 liegt in der einzigen Selbstdarstellung, in der er sich als früherer Gewerkschafter präsentiert, eine Textpassage vor, in der O. explizit seine Orientierung an Arbeitnehmerinteressen und seinen NSDAP-Beitritt miteinander in Verbindung bringt. Hier begründet O. seinen Parteibeitritt mittels auffallender temporaler und inhaltlicher Verknüpfungen, mit denen er eine politische Systeme und Lager übergreifende arbeitnehmerorientierte Perspektive suggerieren will. Er stellt dabei eine Verbindung zwischen einer Rede von Albert Buchmann, KPD-Politiker und ab Juni 1945 maßgeblich Aktiver in den Stuttgarter antifaschistischen Arbeitsausschüssen,123 Überzeugungen seines Vaters 1918/19 und seinem eigenen NSDAP-Beitritt her: »Eine politische Rede des Herrn Buchmann im August oder September 1945 weckte in mir geradezu brennende Erinnerungen. Schon nach Ende der ersten Weltkriegs hatte mein Vater den Standpunkt vertreten, dass eine gerechte Bewertung der arbeitenden Volksschichten erst dann errungen werden könnte, wenn der Unterschied zwischen den sogenannten Hand- und den als Kopfarbeiter Bezeichneten beseitigt sei. Dies Ideal schien mir am 1. Mai 1933 erreicht, als ich die Massen von Arbeitern und Angestellten dem Hof der Rotebühlkaserne in Stuttgart zustreben sah. Im Rahmen eines Betriebsappells unterschrieb ich an diesem Tag auf wärmste Befürwortung von Berufskameraden und infolge ziemlicher politischer Unreife restlos gutgläubig, die Aufnahmeerklärung in die NSDAP.« (Selbstpräsentation August 1946)
—————— 121 Dass dieses Thema für ihn wohl relevant bleibt, zeigt zudem der Umstand, dass O. diese vorauseilende Argumentation in allen anderen Lebensläufen aus der NS-Zeit, die ansonsten erheblich kürzer sind als die Darstellung vom Januar 1934, aufnimmt. 122 Lebenslauf Rudolf O., 10. Mai 1945: »Geboren bin ich als Sohn des Galvanoplastikers Rudolf O. Zunächst besuchte ich die Volksschule in Offenbach a. M., wohin meine Eltern im Jahr 1909 verzogen. Im Sommer 1915 kehrten wir nach Mannheim zurück. Mein Vater war von Weihnachten 1915 bis Kriegsende Soldat, zuerst im Westen, dann in Rumänien. Ab Sommer 1919 besuchte ich in meiner Freizeit ein Institut, um mir das Zeugnis der Obersekundareife zu erwerben, was mir im Jahr 1921 gelang. Vor meinem Eintritt in unsere Bewegung habe ich mich parteipolitisch nie betätigt.« 123 Zu dem früheren Reichstagsabgeordneten und KPD-Politiker Albert Buchmann, der, zurückkehrend aus jahrelanger Konzentrationslagerhaft, in Stuttgart eine führende Position in den antifaschistischen Arbeitsausschüssen einnimmt, vgl. Niethammer 1976, S. 566ff.; Weber/Herbst 2004, S. 129f.
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Da Rudolf O. in früheren und späteren Selbstdarstellungen und Vernehmungen zum Parteibeitritt diese Geschichte nicht wieder erwähnt und seinen Aufnahmeantrag sehr unterschiedlich datiert, ist es möglich, dass er die konkrete Beitrittssituation hier erfindet, um dramaturgisch diesen Sinnbezug zu verstärken. Es ist dieser Textstelle jedoch durchaus der Hinweis entnehmbar, dass O. vermutlich 1933 seinen NSDAP-Eintritt vor sich selbst legitimiert, beispielsweise mit Argumentationsfetzen, die vermeintlich seine frühere gewerkschaftliche Orientierung und Aktivität in seiner NS-Aktivität »aufheben«.
3.3.5. NSDAP-Funktionsausübung bis Ende der dreißiger Jahre: Politische Geltung als rühriger Ortsgruppenmitarbeiter Für die These, dass bei seinem Beitritt zur NSDAP Teilhabe an der Macht und Kontinuität zum früheren politischen Engagement relevant sind, spricht auch die frühe Bereitschaft von Rudolf O., Funktionen zu übernehmen. Bereits im Frühjahr, spätestens jedoch ab Sommer 1933 übernimmt er, zunächst vermutlich vertretungsweise, eine Funktion als Blockwart (ab Dezember 1933: Blockleiter), wird im Februar 1934 Zellenleiter und dann ab April Pressewart (später Presseamtsleiter). Weitere Tätigkeiten im Ortsgruppengeschäftsbereich kommen zeitweise oder längerfristig hinzu.124 Präferenzen und Ausmaß der Parteitätigkeit von O. kommen auch in Argumentationen aus der Nachkriegszeit zum Ausdruck, auch wenn er zu dieser Zeit die eigene Tätigkeit für die NSDAP stets verharmlosend und in entlastender Absicht darstellt. Dass O. Funktionen nicht primär als erwartete »Dienstleistungen«, vielmehr nach seinen Vorstellungen übernimmt,
—————— 124 Die Tätigkeitsliste in den NSDAP-Unterlagen von 1940 weist aus: Blockleiter von 1.5.1933–1.2.1934; Zellenleiter von 2.2.1934–12.4.1934; Presseamtsleiter von 13.4.1934– 1.11.1934; Geschäftsstellenleiter 2.11.1934–20.9.1935; Presseamtsleiter: 21.9.1935; des Weiteren gibt es in den NS-Akten Angaben, dass O. wohl in den Jahren 1936/37 zwischenzeitlich das Amt als Personalamtsleiter innehat und anschließend wieder Presseamtsleiter ist; eventuell ist die Liste auch von O. nicht ganz wahrheitsgemäß ausgefüllt. O. nutzt während und nach der nationalsozialistischen Zeit das Durcheinander in der Ortsgruppenbürokratie im Allgemeinen, in dieser Ortsgruppe im Personalbereich im Besonderen für seine Falschangaben und Argumentationen aus. Ein Großteil seiner Funktionen sind allerdings durch weitere Dokumente in der Personalakte belegt, darunter seine Posten als Zellenleiter, Personalamtsleiter und Presseamtsleiter.
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geht aus den folgenden Textstellen hervor: »Eine Dienstleistung meinerseits in der Partei hatte ich nie ins Auge gefasst und lehnte eine solche daher stets unter jeder nur möglichen Begründung ab solange dies irgendwie möglich war.« (Selbstpräsentation August 1946) Eine vertretungsweise Übernahme von Funktionen als Block- und Zellenleiter habe er lediglich aus »Gefälligkeit« den betreffenden Funktionären gegenüber übernommen, so O. in seiner Selbstpräsentation vom August 1946. Und in der Spruchkammerverhandlung im Juli 1947 gibt er an: »Im Jahre 1934 wurde ich von Ortsgruppenleiter Arndt vorgeladen und ermahnt, ein Amt zu übernehmen. Ich erklärte ihm, ich sei beruflich so in Anspruch genommen, dass ich ein Amt in der von ihm gewünschten Form nicht annehmen könne, und ging dann mit der Erklärung weg, dass ich bereit sei, in dringenden Fällen einzuspringen.« (Spruchkammerverhandlung Juli 1947)
Bereits im April desselben Jahres übernimmt Rudolf O. 1934 die Funktion eines Pressewarts. Insbesondere das Verfassen von Artikeln für die NSDAP sieht er wohl für sich als ansprechende Aufgabe und geeignet an: »und ebenso wurde mir auf meine Vorstellungen hin nur eine Sparte des Presseamtsleiters übertragen. In dieser Eigenschaft habe ich lediglich Presseberichte über parteiliche und nichtparteiliche Veranstaltungen in Zuffenhausen geschrieben.« (Spruchkammerverhandlung April 1949). Etwa wöchentlich einmal habe er für die Presse einen Bericht geschrieben, so Rudolf O. in der öffentlichen Spruchkammerverhandlung im Juli 1947. Mit dieser Tätigkeit, so die These, kann er sich in mehrfacher Weise von anderen abheben, beispielsweise vom »einfachen« Blockwart: Das Verfassen von Artikeln benötigt spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Präsentation von lokalen politischen und sozialen Ereignissen beinhaltet Gestaltungsmacht in der Weise, wie sie dargestellt werden – er ist geschmeichelt und fühlt sich wichtig. Auf den lokalen Veranstaltungen trägt er wohl stets Parteiuniform und hebt so auch auf den nichtparteilichen Veranstaltungen seine spezifische Position als Parteivertreter hervor. Dabei geht es hierbei keineswegs um unpolitische Kurznotizen, wie O. nach 1945 suggerieren will. Vielmehr liegt etwa ein ausführlicher Artikel in den Akten vor über die NS-Feier anlässlich der Trennung der Zuffenhausener Ortsgruppe in zwei Ortsgruppen, der vermutlich von O. verfasst wurde und in dem er auch die antibolschewistische und antisemitische Propaganda der
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Redner wiedergibt.125 In einer Vernehmung wegen seiner Meldebogenfälschung126 kurz vor der Spruchkammerverhandlung gibt er seine Parteitätigkeit folgendermaßen an: »Von 1934 bist 1939 habe ich durchschnittlich wöchentlich einmal auf der Geschäftsstelle der Ortsgruppe Zuffenhausen, Stadtpark, gearbeitet. Zuerst wurde ich mit der Führung der Ortschronik beauftragt. Dabei hatte ich über sämtliche Veranstaltungen politischer und kultureller Art in Zuffenhausen einen Kurzbericht zu machen, der jeweils dazu benützt wurde, in der Presse mit Abänderungen des Ortsgruppenleiters veröffentlicht zu werden.127 Selbständig habe ich keine Artikel verfasst, die in der Presse veröffentlicht wurden, da dies von der Kreisleitung verboten war. Während der gleichen Zeit (1934 bis 1939) habe ich mit Unterbrechungen auf der Geschäftsstelle im Personalamt mitgearbeitet u. zw. hauptsächlich beim Anlegen einer umfassenden Mitgliederkartei geholfen. Anschließend habe ich auf der Geschäftsstelle selbst mitgearbeitet. Meine Tätigkeit umfasste Registratur- und Korrespondenzarbeiten«. (Vernehmungsprotokoll 16. Juli 1947).
Zieht man bei diesen Vernehmungsaussagen, als O. mit zahlreichen Leugnungen und Verschleierungsversuchen konfrontiert wird, in Betracht, dass er auch hier nur einen Bruchteil seiner Tätigkeiten angibt und das Ausmaß seiner Aktivität für die NSDAP herunterspielen will, so wird doch deutlich, dass er kontinuierlich und in viele Bereiche der Ortsgruppentätigkeiten involviert ist. Dies geht auch aus den Unterlagen in seiner Personalakte hervor und deckt sich mit Zeugenaussagen im Spruchkammerverfahren, wonach er immer im nahen Umfeld des Ortsgruppenleiters Otto A. aktiv war. Das gilt insbesondere für Auftritte der NSDAP in der Öffentlichkeit, bei denen er sich wohl stets in hervorgehobener Weise positioniert. Ein überliefertes Foto, vermutlich vom NSDAP-Reichsparteitag 1935, zeigt ihn
—————— 125 Darunter sind auch etwa Aufforderungen des NSDAP-Kreisleiters, dass »jeder Parteigenosse und Kämpfer für den Nationalsozialismus mit guten Beispiel voranzugehen hat, so in seinem Verhalten gegenüber Juden, in der Grußform […]« Vgl. »Einsetzung des zweiten Ortsgruppenleiters. Kreisleiter Mauer beim Mitglieder-Appell der Ortsgruppen Zuffenhausen-Stadtpark u. Hohenstein«, o.D., o. O. 126 Auch im Meldebogen vom 20. April 1946 gibt O. keine der von ihm ausgeübten NSDAP-Funktionen an; in der betreffenden Sparte schreibt er: »gelegentl. büromäss. ehrenamt. Mitarbeit: 1933 vier Mon. lang vertretungsweise Beiträge kassiert, später gelegentl. Notizen über örtliche Veranstaltgn. zur Abfassung lokaler Pressenotizen an Ortsgruppe gegeben (ganz unregelmässig).« 127 Einige Tage nach dieser Vernehmung bringt O. in der Spruchkammerverhandlung im Juli 1947 zum Ausdruck, dass keineswegs alle Berichte vom Ortsgruppenleiter überarbeitet worden sind: »In den ersten Jahren musste ich diese dem Ortsgruppenleiter in Maschinenschrift übergeben und dieser hat sie dann entsprechend abgeändert. Später ist es dann der Überarbeitung des Ortsgruppenleiters zuzuschreiben, dass ich nicht jeden Bericht ihm vorlegen musste.«
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an zentraler Stelle inmitten anderer Politischer Leiter. Dies spricht insgesamt dafür, dass Rudolf O. sich als »wichtig« sowohl innerhalb der Ortsgruppe als auch in der Präsentation nach außen gebärdet. Das Bedürfnis, sich als überdurchschnittlich kompetent darzustellen und zu begreifen, findet auch seinen Niederschlag in der Darstellung seines beruflichen Werdegangs, mit der er sich der NSDAP gegenüber präsentiert. Darüber hinaus sind nur einige konkrete Beispiele seines Verhaltens dokumentiert. 1934 ist Rudolf O. nachweislich an einer Denunziation eines Mannes, der in der Straßenbahn regimekritische Äußerungen macht, beteiligt. Den Angaben von Rudolf O. in der Nachkriegszeit zufolge sitzen er und der Personalamtsleiter der Ortsgruppe in derselben Bahn, Rudolf O. räuspert sich wohl vernehmlich angesichts der Äußerungen. Anschließend wird der Betreffende angezeigt und Rudolf O. einige Zeit später als Zeuge bei der Gestapo vorgeladen. An diesem Termin lässt er sich von seiner Frau als krank entschuldigen; es sei ihm unangenehm gewesen, er habe auch nicht die Anzeige getätigt, wohl aber habe es nach dem Aussteigen ein Gespräch mit dem Personalamtsleiter gegeben, in dem dieser gesagt habe, gegen den Betreffenden müsse man vorgehen, so O. in der Nachkriegszeit. Der Angezeigte sagt im Spruchkammerverfahren aus, er habe nur Rudolf O. in der Straßenbahn gesehen, den anderen Funktionär habe er nicht gesehen; bei der Gestapo habe er dann den Namen von Rudolf O. als Unterzeichnenden unter der Anzeige gesehen; ihm wird im Spruchkammerverfahren Glauben geschenkt. Was lässt sich aus diesem nicht mehr vollständig rekonstruierbaren Vorfall zum Verhalten von Rudolf O. festhalten? Fest steht wohl, dass O. in der einen oder anderen Weise an der Denunziation beteiligt war, sei es als direkt Anzeigender oder in der Form des für Denunziationen typischen gemeinsamen »Sich-Austauschens« und »Echauffierens« im Vorfeld einer Denunziation.128 Nach den Angaben von Rudolf O. in der Nachkriegszeit spricht er gemeinsam mit dem Personalamtsleiter nach dem Aussteigen über das Verhalten des beobachteten Fahrgastes; es ist davon auszugehen, dass dies in kritischer Weise geschieht, zumal O. sich auch nach 1945 nicht als Verteidiger des Fahrgastes präsentiert. Dass O. dann später nicht zur Verhandlung geht, spricht dafür, dass ihm durchaus das Unrecht, das in dieser Anzeige liegt, bewusst ist. Dabei spielt möglicherweise auch eine Rolle, dass dies ihm im Stadtteil klar Gegner schaffen würde, insbesondere, da es sich auch um einen ihm be-
—————— 128 Zur Relevanz von Kommunikationsprozessen im Vorfeld von Denunziationen vgl. Marßolek 2001, S. 209ff.
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kannten Mann handelt. Hier will er sich lieber nicht eindeutig und aktenkundig positionieren. Interessant ist auch, dass Rudolf O. sich im Spruchkammerverfahren herauszureden versucht, mit einem Räuspern und einer Bewegung habe er versucht, den Fahrgast zu warnen. Dieser macht allerdings als Zeuge im Spruchkammerverfahren deutlich, er habe dies keineswegs so verstanden. Auch ein solches »Räuspern« als mehrdeutiges Handeln, bei dem man nichts riskiert, ist durchaus ein Indiz für die Handlungsstruktur von Rudolf O., sich möglichst viel offen zu halten. 1937 tritt die Ehefrau von O. in die Nationalsozialistische Frauenschaft ein und übernimmt dort ein Amt. Daher ist davon auszugehen, dass das Ehepaar den Nationalsozialismus als gemeinsamen Bezugspunkt gewählt hat und auch das Privatleben in diesem Sinn geprägt ist. Ab etwa 1940 ist Rudolf O. weniger aktiv in der NSDAP-Ortsgruppe, behält aber die Funktion als Presseamtsleiter bei. Das geht sowohl aus den Parteiakten als auch den Zeugenaussagen im Spruchkammerprozess hervor. Im Folgenden soll rekonstruiert werden, wie es zu diesem Nachlassen der NSDAP-Engagements bei Rudolf O. kommt. Er selbst stellt den Prozess folgendermaßen dar: »Ein Erlebnis in Mannheim im Jahr 38 liess mich die Unduldsamkeit und Gehässigkeit des Nationalsozialismus erkennen und in einer darauf folgenden Auseinandersetzung äusserte der Ortsgruppenleiter, ich sei für die nationalsozialistische Idee unbrauchbar. In der Folge, besonders während des Kriegs, enthielt ich mich nach Möglichkeit der laufenden Parteiarbeit und wurde nur noch zu gelegentlichen Dienstleistungen herangezogen.« (Lebenslauf Juli 1945)
Obwohl diese Darstellung vornehmlich dem Interesse dient, im Spruchkammerverfahren eine durch einen Gesinnungswandel hervorgerufene Wende im Verhalten darzustellen, geht aus dieser Textstelle dennoch hervor, dass O. verschiedene Kritikpunkte, Skrupel oder Bedenken bezüglich nationalsozialistischer Maßnahmen, hier vermutlich Verfolgungsmaßnahmen, hat. Dass diese im Zusammenhang mit einem Erlebnis in Mannheim thematisiert werden, weist auf einen Vorfall im familialen oder freundschaftlichen Umfeld seines Herkunftsmilieus hin. Dieser verdeutlicht O. möglicherweise ein weiteres Mal, dass in der nationalsozialistischen Diktatur nicht alles miteinander vereinbar ist. Gleichwohl scheint dies nicht der Anlass für die Verringerung der Parteiaktivität zu sein. Das wird insbesondere durch die genauere Rekonstruktion der damaligen Abläufe unter Hinzuziehung der Personalakten weiterer Ortsgruppenfunktionäre nahe gelegt. Gut denkbar ist ebenso, dass es 1938, eventuell im Kontext von innerparteilichen Diskussionen über Verfolgungsmaßnahmen, zu Auseinander-
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setzungen zwischen O. und dem Ortsgruppenleiter kommt. Dies ist für diese Ortsgruppe durchaus typisch, der Führungsstil des Ortsgruppenleiters führt zu zahlreichen Konflikten mit seinen Ortsgruppenmitarbeitern, Enthebungen, Beschimpfungen etc.129 Doch auch dieses Ereignis scheint nicht ausschlaggebend für die Zurücknahme des Engagements zu sein, die O. ja selbst erst auf die Kriegsjahre bezieht. Vielmehr erweist es sich als aufschlussreicher, das abflauende Interesse von Rudolf O. im Kontext der Personalentwicklung in seiner NSDAP-Ortsgruppe im Spätsommer 1939 zu interpretieren. Unmittelbar bei Kriegsbeginn steht in der Ortsgruppe die Neubesetzung des Ortsgruppenleiters an – der damalige Ortsgruppenleiter hat sich sofort für einen Kriegseinsatz gemeldet.130 Die bis dahin umfangreiche Parteiaktivität von Rudolf O. und seine hervorgehobene Stellung in der Ortsgruppe legen insbesondere in Verbindung mit seiner Aufstiegsorientierung und seinem Geltungsbedürfnis nahe, dass Rudolf O. diesen Posten anvisiert hat. Für Ambitionen auf diese Funktion spricht auch, dass Rudolf O. genau in dieser Zeit aus der Kirche austritt und damit eines der dringend erwünschten Kriterien der NSDAP bei der Besetzung von Ortsgruppenleiterposten erfüllt. Nach Gottesdienstbesuchen bei den Deutschen Christen – und einer über einige Zeit dort bestehenden Mitgliedschaft131 – entscheidet sich das Ehepaar für einen gemeinsamen Kirchenaustritt, »einige Tage vor Kriegsausbruch«.132 Rudolf O. bringt 1945 den Kirchenaustritt damit in Verbindung, dass keine der beiden großen Konfessionen ihnen »die gesuchte innere Befriedung«133 gebracht habe. Zwar gibt es einige Hinweise darauf, dass für das Ehepaar O. die Suche nach einer gemeinsamen religiösen Verortung durchaus von Bedeutung ist, insbesondere, wenn man ihre spätere Hinwendung zu den Methodisten in die Analyse mit einbezieht. Dass der Kirchenaustritt Ende August 1939 jedoch »keine politischen Ursachen« gehabt habe, wie Rudolf O. 1945 argumentiert, ist mehr als fragwürdig, interpretiert man ihn im Kontext der parallelen Personalentwicklung in der NSDAP-Ortsgruppe.
—————— 129 Vgl. auch den Fall Johannes N. im sample sowie die NSDAP-Personalakte des Ortsgruppenleiters Otto A. 130 Vgl. NSDAP-Personalakte Otto A. 131 O. gibt im Rahmen des Spruchkammerverfahrens an, er sei möglicherweise 1939 bis 1942 dort Mitglied gewesen. 132 Schreiben »Warum meine Frau und ich konfessionslos sind”, Oktober 1945. 133 Ebd.
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Rudolf O. wird letztlich vom scheidenden Ortsgruppenleiter nicht als Nachfolger vorgeschlagen. Derjenige Ortsgruppenmitarbeiter, der mit O. gemeinsam einige Jahre zuvor einen Straßenbahnfahrgast denunziert hat, in den vergangenen Jahren ebenso Konflikte mit dem Ortsgruppenleiter gehabt hat und mehrere Jahre vor O. der NSDAP beigetreten ist, bekommt diesen Parteiposten. Insbesondere dieser Umstand, den Ortsgruppenleiterposten nicht bekommen zu haben, so legt die Analyse nahe, ist ausschlaggebend für O.s nachlassendes Interesse an der NSDAP-Arbeit. Sein an die Partei gerichteter Lebenslauf von 1940 ist inhaltlich und von der Form her viel weniger sorgfältig und auf eine positive Selbstdarstellung bedacht als die früher eingereichten.134 In dieser Zeit nach der Nicht-Beförderung unterstützt Rudolf O. auch erstmals einen verfolgten Bekannten, Arthur J., den Rudolf O. aus einem Naturheilverein kennt. Als Arthur J. 1939 zum wiederholten Male wegen kommunistischer Einstellung in Haft kommt, hilft O. auf die Bitte von dessen Ehefrau hin, ein Entlassungsgesuch zu formulieren. Allerdings übt Rudolf O. auch in den folgenden Jahren noch immer die Funktion als Presseamtsleiter in der Ortsgruppe aus. Zudem ist er Mitglied in mehreren weiteren NS-Organisationen, darunter in der Deutschen Arbeitsfront, der NS-Volkswohlfahrt, dem Reichsluftschutzbund sowie dem Reichskolonialbund.
3.3.6. Umsetzen der NS-Verfolgungspolitik und Fürsprache für Verfolgte während des Krieges im beruflichen Umfeld Anfang 1941 setzt Rudolf O. seinen beruflichen Aufstieg fort. Er wird im Alter von 38 Jahren Prokurist in einer Stuttgarter Kesselschmiede, wo er deutlich besser verdient als an seiner früheren Arbeitsstelle. Der neue Chef
—————— 134 Beim Verfassen dieses maschinengeschriebenen und nur zehn Zeilen umfassenden Lebenslaufs aus dem Stammbuch, vom 1. Juni 1940, nutzt O. etwa nur ein Viertel des zur Verfügung stehenden Platzes. Er schreibt: »Ich bin geboren in Mannheim am 1.12.02 als Sohn des Galvanoplastikers Rudolf O. Im Jahr 1909 siedelten meine Eltern mit mir nach Offenbach a.M. über. Zunächst besuchte ich die Volksschule, dann ein Institut und erreichte dort die Obersecunda-Reife. Im Jahr 1917 trat ich in eine kaufmännische Lehre ein. Parteipolitisch habe ich mich vor meinem Eintritt in die NSDAP in keiner Weise betätigt. Nach Zuffenhausen bin ich im Frühjahr 1927 übersiedelt. Verheiratet bin ich seit 3. September 1927.«
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ist nicht Mitglied der NSDAP. Er gibt ebenso wie O. in der Nachkriegszeit an, Rudolf O. sei angestellt worden, obwohl, nicht weil er Mitglied der NSDAP war, unter der Vereinbarung, dass politische Belange im Betrieb keine Rolle spielen sollten. Den ganzen Krieg über ist O. »unabkömmlich« gestellt; die Firma ist in der Rüstungsproduktion tätig, wobei sie die Arbeitskraft von Fremd- und Zwangsarbeitern ausbeutet. O. agiert hier im Auftrag des Chefs und auch innerhalb seines Verantwortungsbereiches – er ist zum Beispiel für die gesamten Personalfragen verantwortlich – im betrieblichen Interesse unter Ausnutzung nationalsozialistischer Bedingungen: er meldet etwa Arbeiter des Betriebs, die er noch in der Nachkriegszeit als »widersetzliche Arbeiter« bezeichnet, dem Arbeitsamt weiter. In einem Fall führt dies 1941 zu einer sechswöchigen Einweisung in ein Arbeitslager. Nach der Rückkehr des Arbeiters in den Betrieb droht ihm O., als dieser fehlt, um seine Freistellung von der Firma zu erreichen, ihn unverzüglich der Gestapo weiter zu melden. In einem anderen Fall führen die Meldungen an das Arbeitsamt zu einer achtwöchigen Konzentrationslagerhaft eines staatenlosen Arbeiters, der anschließend wieder dem Betrieb zugewiesen wird. Im Auftrag des Chefs setzt er sich andererseits in einigen Fällen auch für verhaftete Arbeiter und Verfolgte ein. So wird er beispielsweise beauftragt, als Parteimitglied bei der Gestapo für einen verhafteten Arbeiter vorzusprechen; ihm kommt hier also wiederum eine besondere Geltung aufgrund seiner Parteimitgliedschaft zu. Ein inhaftierter Arbeiter, den O. nach der Rückkehr aus dem Konzentrationslager und nach einem Bombenschaden 1944 für eine Nacht bei sich untergebracht hat, erklärt im Spruchkammerprozess: »wenn etwas war, wollte der Betroffene immer beide Seiten zufrieden stellen.«135 Diese Beschreibung scheint nicht ganz unzutreffend, insbesondere wenn man O.s Verhalten nicht als altruistisch und uneigennützig interpretiert. Als der Firmenchef 1944 einen jüdischen Ingenieur einstellen will, trägt O. als Prokurist das mit, zahlt das Gehalt in bar aus, da es ansonsten auf Sperrkonten überwiesen worden wäre, und weiß auch darum, als der Betreffende für einige Wochen bei einem anderen Betriebsangehörigen versteckt wird. Auch dieses Verhalten, so die These, ist nicht vorrangig uneigennützig. O. handelt erstens wiederum auf Aufforderung seines Chefs, kann sich zweitens wieder als wichtig gerieren und drittens damit auch sein in den letzten Kriegsjahren deutlicheres »Sich-
—————— 135 Zeugenaussage Spruchkammerverhandlung, Juli 1947.
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verschiedene-Optionen-Offenhalten« zum Ausdruck bringen. Eine Rolle spielt hierbei wahrscheinlich, dass die Kriegsniederlage des Deutschen Reiches immer absehbarer wird. In den letzten Kriegsjahren wendet sich das Ehepaar O. den Methodisten zu. Damit suchen die Eheleute einen religiösen Zusammenhang jenseits ihrer unterschiedlichen Herkunftskonstellationen auf, der mit seiner durch Anpassung und Loyalität gegenüber dem nationalsozialistischen Staat geprägten Haltung zugleich etwas abseits der religionspolitischen Fronten im Nationalsozialismus liegt. Zudem finden Rudolf O. und seine Frau hier Zugang zu einer christlichen Gemeinschaft, ohne bereits Mitglieder zu werden – für jemand wie Rudolf O. zu jener Zeit eine durchaus ansprechende Konstruktion. Darüber, wo und wie O. das Kriegsende erlebt, liegen keinerlei Informationen vor.
3.3.7. »Aber Sturheit war nie meine Eigenschaft«: Das Verhalten in der Nachkriegszeit Aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren liegen weitere Informationen über das Verhalten von Rudolf O. vor, insbesondere zahlreiche Selbstpräsentationen, die von ihm schriftlich verfasst wurden oder in Vernehmungen und Verhandlungen mündlich erfolgten. Sie geben weitere Einblicke in seine Handlungs- und Deutungsstrukturen und bekräftigen Thesen zu systemübergreifenden biographischen Strukturen bei diesem Fall. Über verschiedene Taktiken – Leugnung, Verharmlosung, wechselnde Argumentationsstrategien, die sich durchaus auch widersprechen, und offensive Beschönigungen – versucht Rudolf O., möglichst bald beruflich nicht mehr beeinträchtigt zu sein, möglichst unbescholten aus dem Spruchkammerverfahren zu kommen und Anerkennung unter den neuen Verhältnissen zu erlangen. Hier sind durchaus Parallelen sowohl zu seinem Verhalten als auch zu seinen Selbstdarstellungen und Argumentationen von 1933 zu erkennen, nun aber mit Blick auf die Nachkriegsverhältnisse. Dies wird im Folgenden versucht, chronologisch nachzuvollziehen. Rudolf O., der inzwischen 42 Jahre alt ist, reagiert nach Kriegsende überaus schnell, um möglichst unbehelligt durch die Nachkriegszeit zu kommen. Er kann wohl zunächst nahtlos bei seiner Firma weiterarbeiten. Möglicherweise nutzt er bereits in den ersten Wochen seinen persönlichen
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Kontakt zu Arthur J., demjenigen Bekannten aus dem Naturheilverein, für den er 1939 ein Entlassungsgesuch aus der politischen Haft schreiben half. Arthur J. ist bei der »Politischen Abteilung« der Besatzungsbehörden tätig und in dieser Funktion vermutlich mit den Fragen der Feststellung nationalsozialistischer Funktionäre und Belasteter befasst. Rudolf O. lässt sich – wohl bereits in den ersten Nachkriegswochen – von Arthur J. zweimal »vernehmen«, Protokolle darüber seien seines Wissens nicht angefertigt worden, so Rudolf O. in einer Vernehmung vom 14.12.46. O. lässt sich hier also möglicherweise gezielt eine Gegenleistung für seine Unterstützung 1939 geben. In diesem Zusammenhang hätten seine Frau und er Lebensläufe eingereicht.136 In diesem Lebenslauf, datiert auf den 16. Juli 1945, beabsichtigt O., sich über biographische Entbehrungen, berufliche Bescheidenheit, erzwungene geringe Mitarbeit in der NSDAP und eine aktive Unterstützung Verfolgter zu präsentieren. Er stellt sich zugleich als jemand dar, der mit schwierigen Voraussetzungen bravourös umgegangen ist: »Lebenslauf Am 1. Dez. 1902 wurde ich in Mannheim als Sohn des gleichnamigen Buchdruckers geboren. Ich besuchte die Volksschule, eine bessere Schulbildung konnte infolge eines Unglücks, das meine Eltern im ersten Weltkrieg traf, nicht ermöglicht werden. Im Mai 1917 trat ich bei einer Zentralheizungs-Baufirma als Lehrling ein mit dem Ziel, technischer Kaufmann zu werden. Ich arbeitete deshalb auch eine zeitlang praktisch, konnte ausserdem durch Selbststudium nachträglich eine Schulreife erlangen, welche mir die Uebernahme einer grösseren Verantwortung im Arbeitsprozess ermöglichte. Ich arbeitete durchweg in Unternehmungen des Zentralheizungs- und sanitären Apparatebaues. Am 3. September 27 verheiratete ich mich, wir haben eine Tochter, die im August 1930 geboren wurde. Inmitten der Wirtschaftskrise entstand bei mir die Ansicht, eine autoritäre Leitung könne Erfolg bringen und ich trat daher am 1. Mai 33 der NSDAP bei. Ich hatte bis zum Jahr 38 Berichte über lokale Veranstaltungen abzufassen und an die Ortsgruppe zu liefern, die solche zu Presse-Veröffentlichungen benutzte. Ein Erlebnis in Mannheim im Jahr 38 liess mich die Unduldsamkeit und Gehässigkeit des Nationalsozialismus erkennen und in einer darauf folgende Auseinandersetzung äusserte der Ortsgruppenleiter, ich sei für die nationalsozialistische Idee unbrauchbar. In der Folge, besonders während des Krieges, enthielt ich mich nach Möglichkeit der laufenden Parteiarbeit und wurde nur noch zu gelegentlichen Dienstleistungen herangezogen. Eine kleine Genugtuung war es mir, während des Krieges mithelfen zu können, einen Juden vor dem Zugriff der Gestapo zu schützen, einen anderen Volksgenossen, der wegen einer unbe-
—————— 136 Die Überlieferung der Verwaltungsakten der Stuttgarter Spruchkammern im Staatsarchiv Ludwigsburg weist darauf hin, dass es im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen möglicherweise gängige Praxis der Mitarbeiter der antifaschistischen Arbeitsausschüsse war, bereits in den ersten Nachkriegsmonaten von NS-Belasteten Lebensläufe anzufordern.
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dachten politischen Aeusserung vor das Sondergericht kam, ebenfalls hilfreich beistehen zu können. Stuttgart-Zuffenhausen, 16. Juli 45 Rudolf O.« (Lebenslauf Juli 1945)
Einerseits präsentiert Rudolf O. sich hier als Opfer der sozialen und politischen Verhältnisse in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und stellt in diesem Zusammenhang seinen NSDAP-Beitritt dar. So wie er wegen des Ersten Weltkrieges und eines damit zusammenhängenden Unglücks zunächst nur eine geringe Schulbildung gehabt habe, so wird die Weltwirtschaftskrise für seinen NSDAP-Beitritt verantwortlich gemacht. Andererseits präsentiert Rudolf O. sich jedoch als jemand, der mit diesen relativ schlechten Ausgangsbedingungen denkbar lobenswert handelnd umgegangen ist: mit seinem weiteren Schulabschluss und seinem Berufsweg ebenso wie mit seinen antinationalsozialistischen Handlungen, die er mit – in diesem Falle latentem – Stolz präsentiert. In diesem Text ist gleichermaßen ein Andienen in beruflicher wie politischer Hinsicht gegenüber den Besatzungsbehörden enthalten. Möglicherweise spekuliert O. darauf, wegen seiner familialen Herkunft – der Vater wird nun als Buchdrucker bezeichnet –, seinem beruflichen Wissen und seiner Unterstützung von Verfolgten, nun nahtlos von den Alliierten für den politischen und gesellschaftlichen Wiederaufbau herangezogen zu werden. Dabei lässt er seine NSDAP-Funktionsübernahme vollständig unerwähnt, seine Tätigkeit stellt er nur zu einem Bruchteil, verharmlosend und als erzwungen dar. Vermutlich im Herbst 1945 wird O. aufgrund des Militärgesetzes Nr. 8 aus seiner Firma entlassen. Im Winter 1945/46 wendet er sich in zielgerichteten und zunehmend fordernden Schreiben an die betreffenden Stellen, um berufliche Beschränkungen aufheben zu lassen. Beantragt Rudolf O. noch im Dezember 1945, bis zur Einleitung eines ordentlichen Vorstellungsverfahrens zunächst als gewöhnlicher Arbeiter in der Kesselschmiede weiterarbeiten zu können, so macht er im Februar 1946 deutlich, dass es ihm um eine baldige Wiederanstellung als Prokurist geht. Selbstbewusst bietet er seine beruflichen Kompetenzen an: »Meiner Bitte, in der gleichen Firma als gewöhnlicher Arbeiter bezw. Angestellter weiterarbeiten zu dürfen, füge ich noch an, dass ich techn. Einkäufer mit allen für Spezial-Apparatebau notwendigen Materialkenntnissen bin und deshalb in meiner seitherigen Firma für den Wiederaufbau viel Positives leisten könnte.« (Selbstpräsentation Dez. 1945)
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Die zeitgleichen Darstellungen von Rudolf O. über sein politisches Verhalten während des Nationalsozialismus sind von zunehmenden Realitätsverschiebungen geprägt. Im Dezember 1945 argumentiert Rudolf O. bereits, seine »geringfügige und oftmals halbjährlich unterbrochene Tätigkeit« sei umso weniger als aktivistisch anzusehen, »als ihr eine Reihe von Taten meinerseits entgegenstehen, die den Beweis dafür liefern, dass ich während der nationalsoz. Herrschaft mich jeglicher Ausübung rassegedanklicher oder sonst wie aggressiver Grundsätze entgegenstemmte und keine Gefahr scheute, wenn ich Menschen helfen konnte, die aufgrund anderer Rassezugehörigkeit oder anderer politischer Einstellung in Gefahr kamen.« (Selbstpräsentation Dez. 1945).
Diese Argumentationen gipfeln dann bereits ab Januar 1946 in der Behauptung, er habe »nie Amt oder Rang in der NSDAP bekleidet«, die Rudolf O., bis ihm im Frühjahr 1947 das Gegenteil bewiesen werden kann – und teilweise noch darüber hinaus –, beibehält. Hier ist eine deutliche Parallele zu seiner Selbstdarstellung 1934 gegenüber der NSDAP erkennbar hinsichtlich des Ausmaßes der offenen Lüge, gerade, was das frühere politische Verhalten angeht. Mit seinen Anträgen und der Unterstützung seiner Firma hat Rudolf O. Erfolg, er bekommt im Frühjahr 1946 eine zunächst auf drei Monate, dann bis zum Abschluss des Spruchkammerverfahrens befristete Genehmigung zur »gewöhnlichen Arbeit« in seiner Firma. Dort ist er angeblich als Einkäufer tätig. Zu einer neuen Argumentationsstrategie greift Rudolf O. im August 1946, indem er sowohl seinen NSDAP-Beitritt als auch seine angebliche frühe Distanz zum Nationalsozialismus im Kontext eines kontinuierlichen Gewerkschaftsbezugs präsentiert.137 In einem sechsseitigen Schreiben, im Zusammenhang mit dem mittlerweile eingeleiteten Vorstellungsverfahren verfasst, versucht er, frühere biographische Relevanzen, nicht zuletzt seine 16-jährige Gewerkschaftsmitgliedschaft und sein aktives Gewerkschaftsengagement sowie die Orientierungen seines Vaters in seine Gesamtbiographie, die Zeit des Nationalsozialismus inbegriffen, zu integrieren. Dies ist an vielen Stellen nur mit Aussagen und Behauptungen, die der Lebensgeschichte diametral widersprechen, sowie mit temporalen Verschiebungen
—————— 137 Das Schreiben ist in folgende Abschnitte gegliedert: »Meine Vergangenheit vor 1933 in menschlicher, politischer und gewerkschaftlicher Hinsicht«; »Wie ich in die Partei kam und mich in dieser verhielt«; »Meine Haltung und ›Tätigkeit‹ innerhalb der vorerwähnten Partei«; es folgen 2,5 Seiten, in denen O. zwölf Personen angibt, denen er zwischen 1933 und 1945 angeblich helfen konnte; das Schreiben endet mit einer 0,5-seitigen Abschlussargumentation.
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und widersprüchlichen Argumentationen möglich. Seinen Vater betreffend äußert O. im ersten Abschnitt: »Unter völligem Eingehen auf seine menschlichen und politischen Überzeugungen bin ich aufgewachsen und habe diese zu keiner Stunde verleugnet oder vergessen.« (Selbstpräsentation August 1946) Hier wird offensichtlich die Vergangenheit massiv uminterpretiert, wiederum in dem Sinne, wie O. von seiner Gegenwart aus die Vergangenheit gerne hätte: den Vater und dessen Überzeugungen nie verleugnet zu haben. Ehemals biographisch Relevantes, das mit der Gegenwart kompatibel ist, wird hier angeführt, um Distanz zum Nationalsozialismus und antinationalsozialistisches Verhalten während der Diktatur zu plausibilisieren. Dies geschieht etwa auch in der folgenden, keineswegs stichhaltigen Argumentation: »Aus meiner sechzehnjährigen Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft und aus meiner jahrelangen positiven Mitarbeit hierin, erweist sich allein schon dass ich mich enttäuscht von den wahren Zielen der Partei abwenden musste.« (Selbstpräsentation August 1946) Im Folgenden stellt Rudolf O. sich dann als missliebiger, von den überzeugten Funktionären nicht anerkannter und auch schikanierter Parteigenosse dar. Auch in der Abschlussargumentation wird der Gewerkschaftsbezug noch einmal bemüht: »Ich bin einst in die Partei eingetreten in dem Glauben, diese Institution wolle den arbeitenden Menschen helfen, Arbeit und Brot vermehren und Frieden üben. Ich wurde grausam enttäuscht. Aber Sturheit war nie meine Eigenschaft und dies mögen die Erklärungen der meinerseits angeführten Zeugen bestätigen. Ich habe mehr politisch und rassisch Bedrängten tatkräftig und mit Erfolg geholfen als mancher Nicht-Pg. Deshalb bitte ich, mir den Eintritt in die neue Gemeinschaft wohlwollend zu ermöglichen.« (Selbstpräsentation August 1946)
Hier findet sich wiederum die bereits oben erwähnte Selbstpräsentation als jemand, der als Opfer, hier als Opfer der NSDAP, die ihm angeblich eine grausame Enttäuschung zufügte, moralisch lobenswert handelte. Selbstbewusst wird das eigene Verhalten als sich positiv abhebend von Nicht-Parteigenossen präsentiert. »Nicht stur zu sein« wird hier gewissermaßen als richtige Handlungsweise verteidigt, in Abgrenzung zu überzeugten oder »sturen« Parteimitgliedern ebenso wie in Abgrenzung zu angeblich weniger erfolgreichen Nicht-Mitgliedern. Seine Position als NSDAP-Mitglied und -Funktionär wird damit abschließend gar zum Garanten für mehr Erfolg bei der Hilfe für Verfolgte umdefiniert. Damit wird gleichzeitig seinem Bedürfnis des »Sich-Abhebens« und dem Interesse, in der Spruchkammerbeurteilung mindestens so günstig wie ein Nicht-Parteimitglied eingestuft zu werden, Rechnung getragen.
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Gleichwohl scheint diese Argumentation nicht ausschließlich strategisch mit Blick auf das Spruchkammerverfahren von O. konstruiert worden zu sein. Vielmehr zeigt sich auch der Versuch beziehungsweise das Bedürfnis, familiale Bezüge, insbesondere den Vater und dessen Überzeugungen in die eigene Lebensgeschichte gegenwartskompatibel zu integrieren. Hier zeigt sich eine Parallele zu jener Darstellung in der NS-Zeit, in der er den Vater als Weltkriegs-Teilnehmer einführte. Für diese These spricht auch, dass eine solche Rechtfertigungsstrategie im Rahmen der Spruchkammerverfahren eher selten gewählt wird, nicht zuletzt deswegen, weil sie auch belastende Dimensionen enthält. Diese werden auch innerhalb des Schreibens deutlich: O. hat merklich Schwierigkeiten mit der Argumentation, sich als jahrelang aktiver Gewerkschafter und gleichzeitig politisch unreif darzustellen.138 In späteren Schreiben und mündlichen Präsentationen, seien sie von O. oder seinem Rechtsanwalt, wird seine gewerkschaftliche Geschichte und das sozialdemokratische Herkunftsmilieu dann auch nicht mehr erwähnt. In den folgenden Monaten treten im Zuge der Spruchkammerermittlungen die Diskrepanzen zwischen dem tatsächlichen Ausmaß der NSBelastung von O. und seinen Selbstdarstellungen zu Tage. Im Dezember 1946 wird Rudolf O. auf Anordnung der Spruchkammer hin verhaftet wegen des Verdachtes, Arbeiter des Betriebs ins Konzentrationslager gebracht zu haben. Die Inhaftierung erfolgt wegen Verdunkelungsgefahr, nach zehn Tagen wird er wieder auf freien Fuß gesetzt. Während der Haft suchen Frau O. und Arthur J., mit dem sich der Kontakt in der Zwischenzeit intensiviert hat, den Firmenchef der Kesselschmiede auf. Sie wollen ihn dazu veranlassen, die betreffenden Arbeiter zur Änderung ihrer Aussagen zu bewegen. Inwieweit der Firmenchef dazu aufgefordert worden ist, den Arbeitern Geld anzubieten, bleibt in der Spruchkammerverhandlung umstritten.139 Im Frühjahr 1947 dann wird gegen O. ein Strafverfahren eingeleitet wegen Meldebogenfälschung. O. wird im Mai und im Juni in zwei Vernehmungen auf dem Polizeipräsidium Stuttgart mit der Gegenüberstellung der vorliegenden NSDAP-Akten und seinen bisherigen Angaben konfrontiert. In dieser Situation macht er einige wenige Zugeständnisse, die ihm wohl absolut unvermeidlich scheinen. O. macht auch Angaben zu sei-
—————— 138 Zu dieser häufigen und auch von Rudolf O. in demselben Schreiben geltend gemachten Entlastungsargumentation, die sich auf politische Naivität oder Unreife bezieht, s. o. 139 In Folge der Verhaftung wird dann auch Anzeige gegen Frau O. erstattet wegen Verleumdung des öffentlichen Klägers in einer Beschwerde an den Ministerpräsidenten.
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nem taktischen Vorgehen bei Selbstpräsentationen: Hier gibt er etwa zeitliche Verschiebungen in den NS-Akten zugunsten einer erwarteten positiveren Einschätzung durch die NSDAP zu.140 Noch immer lässt er aber bei der Darstellung des Beitritts verschiedene Interpretationen zu Zeitpunkt und Motivation offen: »Ich bin am 1.5.1933 der NSDAP beigetreten. Die Behauptung, dass ich schon seit März 1933 Mitglied der NSDAP sei, entspricht nicht den Tatsachen. Meinen Aufnahmeantrag in die NSDAP habe ich am 1. April 1933 gestellt. In einem Lebenslauf, den ich am 15.1.1934 geschrieben habe und der Ortsgruppe Zuffenhausen einreichte, habe ich wohl angegeben, dass ich seit März 1933 der NSDAP angehöre. Meine damaligen Angaben müssen auf einem Irrtum beruht haben. Vielleicht habe ich auch versucht, mein Eintrittsdatum zu beschönigen, da die Pg’s, die am 1.5.1933 der NSDAP beigetreten sind, von den älteren Parteigenossen als ›Maiblümchen‹ bezeichnet wurden. Mein Mitgliedsbuch Nr. 2923729, ausgestellt am 20. Mai 1936 in München, trägt das Eintrittsdatum 1. Mai 1933. Die erste Seite dieses Beweisstückes befindet sich noch in meinem Besitz.« (Vernehmungsprotokoll Mai 1947).
Zur Unterschlagung der ausgeübten Funktionen stellt O. die Behauptung auf, dass eine vorliegende Tätigkeitsliste von 1940 ihm mit Falschangaben ausgefüllt zur Unterschrift vorgelegt worden sei, da der stellvertretende Ortsgruppenleiter gegenüber der Kreisleitung eine ordnungsgemäße und lückenlose Ämterbesetzung in der Ortsgruppe habe suggerieren wollen. Dennoch, so kommen die Vernehmer zutreffend zum Schluss, sind genügend andere Dokumente vorhanden, die die zahlreichen Funktionsübernahmen von O. belegen. Nach spitzfindigen Argumentationen beschließt O. die Vernehmung am 16. Mai 1947: »Es war nicht meine Absicht, meine Arbeit für die Partei zu verschweigen, jedoch gebe ich zu, dass ich dabei versucht habe, nur das Mindestmaß meiner Tätigkeiten anzugeben, ohne dabei von der Wahrheit abzuweichen.« Dass beides der Fall war, O. absichtlich und bewusst verschwiegen hat und dabei von der Wahrheit erheblich abwich, wird auch von den Spruchkammerermittlern klar festgestellt. Im Juli 1947 findet die öffentliche Spruchkammerverhandlung statt, in der über drei Tage Zeugen befragt werden. O. selbst wendet während der Verhandlung keine weitere Argumentationsstrategie an. Wohl werden hier (und in der Berufungsverhandlung 1949) einige Ämter von ihm zugegeben, allerdings beharrt er weiter darauf, diese keineswegs oder nur geringfügig
—————— 140 Eine ähnliche Argumentation benutzt er auch in der Berufungsverhandlung im April 1949: »Die Ausfüllung in meinem Fragebogen für die Partei ist deshalb so ausführlich geschehen, um vor dem Kreisleiter nicht als Drückeberger zu gelten. Aber in Wirklichkeit habe ich diese Ämter nur zum Teil ausgeübt.«
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ausgeübt zu haben und gibt konkrete Belastungen nur in beweisbaren Fällen auf Vorhalt zu. In der Verhandlung 1947 kommt es zu gegenseitigen Belastungen zwischen dem Firmenchef der Kesselschmiede und O., der dort zu diesem Zeitpunkt wohl nicht mehr beschäftigt ist. O. verzichtet auf eine ausführlichere Eingangs- oder Schlussargumentation; »aus materieller und seelischer Not« sei er der NSDAP beigetreten, so O. 1947 lediglich recht standardisiert zu seinem Parteibeitritt. 1947 wird er als Belasteter, in einer Berufungsverhandlung 1949 dann als Minderbelasteter eingestuft.141 Über die weitere Lebensgeschichte von Rudolf O. ist kaum etwas bekannt. Es sieht danach aus, dass er den beruflichen Aufstieg – trotz zeitweiliger Unterbrechung in der Nachkriegszeit – fortsetzen konnte. Letztlich gelingt O. der Sprung zum erfolgreichen Unternehmer. Mitte der 1950er Jahre gründet er mit seinem Schwiegersohn zusammen ein mittelständisches Unternehmen, das heute zu den in Europa führenden in der betreffenden Branche zählt. Nahe läge auch ein weiteres politisches Engagement; darüber ist aber bislang nichts bekannt.
3.3.8. Zusammenfassung Die Lebensgeschichte von Rudolf O. wird strukturiert durch eine starke Orientierung an einem beruflichen Aufstieg und – nachgeordnet, aber gleichwohl vorhanden – gesellschaftlicher und politischer Aktivität und Anerkennung. Als Sohn eines Buchdruckers und Gewerkschafters ist er mit Bildungserwartungen und politischen Fragestellungen aufgewachsen. Diese bereits familial vorhandenen Themen werden von O. in biographischer Eigenleistung modifiziert verfolgt. Rudolf O. bildet ein biographisches Handlungsmuster aus, mit seinen biographischen Entscheidungen und alltäglichen Handlungen möglichst viele Optionen und Interpretationsmöglichkeiten offen zu halten, sich in viele Kontexte definieren zu können. Die Abgrenzung von Altem und der Versuch, dieses im Neuen wiederum aufzuheben zeigen sich in seinen biographischen Entscheidungen ebenso wie in seinen Selbstpräsentationen. Die Bereitschaft, sich an veränderte alltägliche, gesellschaftliche und politische Verhältnisse anzupassen und dabei seine Ziele energisch weiterzuverfolgen, ist davon ein
—————— 141 Die Zurückstufung erfolgt u. a. mit der Übernahme der Argumentation von O. in das Spruchkammerurteil, dass er diese Ämter wohl innehatte, sie aber nicht oder nicht vollständig ausgeübt habe. Insofern trägt sein jahrelanges Leugnen hier Früchte.
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Ausdruck. Erste Erfahrungen im Umgang mit einem veränderten Umfeld hat er bereits in Umzügen im Grundschul- und Jugendalter gesammelt. Besonders prägend sind vermutlich Erlebnisse und Erfahrungen, die er als Angehöriger der Kriegsjugendgeneration gemacht hat. Während des Ersten Weltkrieges, den er als Jugendlicher mit seiner Mutter in Mannheim erlebt, wird er mit Herausforderungen konfrontiert, die zeitgleich eine Überforderung, aber auch die Herausbildung eines starken Selbstbewusstseins beziehungsweise einer für diese Generation nicht seltenen Selbstüberschätzung ob der Erfahrung eines frühen Selbständig-Werdens bedeuten. Hinzu kommt eine fordernde Haltung angesichts erlebter Entbehrungen, hier etwa der unvorhergesehene Schulabgang nach der Volksschule. In diese Zeit fallen zugleich relevante Lebensentscheidungen, die Rudolf O. in Abwesenheit des Vaters trifft und bei denen er mit der Wahl einer kaufmännischen Ausbildung und dem Eintritt in eine liberale Gewerkschaft dessen Orientierungen sowohl übernimmt als auch sich von ihnen abgrenzt. Seine nachgeholte Mittelschulreife, eine frühe ehrenamtliche Funktionsübernahme im Mannheimer Vorstand seiner Gewerkschaft mit knapp 21 Jahren und mehrere mit Aufstiegen verbundene berufliche Wechsel bestärken ihn in dieser Selbsteinschätzung, zeigen seinen Ehrgeiz, aber auch seine Ungeduld im beruflichen Aufstieg. Mit zunehmendem beruflichen Aufstieg, eventuell auch vor dem Hintergrund geringer oder langsamer gewerkschaftlicher Aufstiegsperspektiven und einem beruflich bedingten Ortswechsel, gibt er das aktive Gewerkschaftsengagement auf. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten sieht Rudolf O. eine Chance zum Wiederaufgreifen politischer Aktivität in der NSDAP. Er tritt im Frühjahr 1933 in die Partei ein und übernimmt schon bald zahlreiche Funktionen auf Ortsgruppenebene. Nach außen präsentiert er sich vielfach in Uniform und über seine Funktion als »Pressewart«, in der er zahlreiche Artikel über politische und kulturelle Veranstaltungen verfasst. Einer Vorladung bei der Gestapo als Belastungszeuge 1934 entzieht er sich allerdings über Krankmeldung, eine definitive, in der Bevölkerung schlecht angesehene Beteiligung an konkreten Verfolgungsmaßnahmen gegenüber einem Bekannten will er vermeiden. Ein partieller Rückzug aus der Ortsgruppenarbeit von Rudolf O. erfolgt insbesondere ab dem Moment, als Rudolf O. 1939 nicht als Nachfolger des scheidenden Ortsgruppenleiters vorgeschlagen wird. Nach dieser Enttäuschung ist er möglicherweise auch eher bereit dazu, sich Unvereinbarkeiten nationalsozialistischer Maßnahmen mit früheren und im Be-
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kanntenkreis und Mannheimer Herkunftsmilieu noch immer vertretenen Positionen bewusst zu machen. Während des Krieges kommt Rudolf O. Bitten aus dem Bekanntenkreis und Aufforderungen seines Chefs zur Unterstützung von Verfolgten nach. Zeitgleich behält er seine NS-Funktionen bei und ist als mit Personalfragen befasster Prokurist im Betrieb an hervorgehobener Stelle an der Einweisung von Arbeitern in ein Arbeitserziehungslager beziehungsweise in ein Konzentrationslager beteiligt. Nach Kriegsende bietet Rudolf O. unverzüglich sein berufliches und vermeintlich politisches know-how dem demokratischen System an. Über einen Bekannten in der Politischen Abteilung, dem er in der NS-Zeit half, und Falschangaben in Meldebögen und Selbstpräsentationen kann er zunächst unbehelligt seine Berufstätigkeit fortsetzen. Angesichts der im Spruchkammerverfahren zu Tage tretenden Diskrepanzen zwischen der tatsächlichen NS-Belastung von Rudolf O. und seinen Selbstdarstellungen wird er Ende 1946 wegen des Verdachts auf Verdunkelungsgefahr für zehn Tage inhaftiert. Sein beruflicher Aufstieg findet in den 1950er Jahren mit einer eigenen Unternehmungsgründung seinen Abschluss. Die Selbstpräsentationen sind Ausdruck einer – im Vergleich mit anderen Fällen – außergewöhnlich starken und zuweilen affirmativ vertretenen Wendigkeit von O. Dies hängt auch damit zusammen, dass diese Wendigkeit bei O. nicht nur situativ strategisch ist, sondern biographische Struktur hat. So wie er sich mit seinen Handlungen in der Gegenwart und für die Zukunft vieles offen halten will, verfährt er auch mit seiner Geschichte, die er durch Reinterpretationen offen halten will. Wo tatsächlich Gelebtes ihm dies beschränkt, greift er gegebenenfalls zur offenen Lüge. In der Dynamik seiner Anpassungsvorgänge bei Systemwechseln sind Parallelen erkennbar. Zunächst schreibt er nach den Systemwechseln in Abkehr vom Alten unter dessen Verleugnung und sehr starkem Eingehen auf die antizipierte Erwartungen des Adressaten und dient sich dem jeweiligen Adressaten als beruflich und politisch kompetent an. In einer zweiten Phase von Präsentationen versucht er, frühere Relevanzen, insbesondere den Vater, in seine gegenwärtige Perspektive zu integrieren. Dies entspricht seinem Bedürfnis, es vielen Seiten recht machen zu wollen, und alte Verbindungen, insbesondere familiale, nicht zu kappen. Weitere Selbstpräsentationen sind bei verringertem Interesse oder Unzufriedenheiten mit den Adressaten nachlässiger und deutlich weniger sorgfältig gehalten. In der Aussage »Aber Sturheit war nie meine Eigenschaft« kommt sowohl die Handlungsstruktur als auch das von sich sehr überzeugte Selbstbild
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Rudolf O.s zum Ausdruck. Dies gilt für eine generelle biographische Ebene ebenso wie hinsichtlich des Verhaltens im Nationalsozialismus. Insofern kann diese Aussage als Ausdruck der Fallstruktur im Allgemeinen, der Verbindung von Biographie und NS-Engagement im Besonderen hervorgehoben werden.
3.4. Simon R.: »Dass ich mich vielmehr hinter meiner Krankheit verschanzte« 3.4.1. Einleitung Im Gegensatz zu nicht wenigen NSDAP-Funktionären, die dies nach 1945 lediglich so darstellen, handelt es sich bei Simon R. wohl tatsächlich um einen Fall, der 1933 unter Druck und Drohung von außen in die NSDAP eingetreten ist. Im Frühjahr 1933 beugt der damals 46-Jährige sich dem Druck seines Vorgesetzten bei der Polizei und tritt der NSDAP bei. Fünf Monate später gibt er dem Druck des NSDAP-Zellenleiters nach, eine Funktion zu übernehmen. Nach einigen Jahren, in denen R. durchaus versucht, seine Entscheidungen über eine Zustimmung zum Nationalsozialismus vor sich und nach außen zu rechtfertigen, distanziert er sich zunehmend vom Nationalsozialismus. 1936 ergreift er angesichts einer schweren Krankheit die Chance, seine Parteifunktion niederzulegen. Auch in den folgenden Jahren – als er längst wieder arbeitsfähig ist – übernimmt er keinerlei Parteiaufgaben mehr. Er ist damit der einzige im sample, der in den 1930er Jahren seine Parteifunktion erfolgreich und dauerhaft abgibt. Hier schließen sich Fragen an, inwieweit biographische Voraussetzungen, Handlungsmuster und Erfahrungen dabei unterstützend wirken. Die Fallanalyse kommt zu dem Ergebnis, dass Simon R. innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme, in denen er sich bewegt, einen spezifischen biographischen »Eigensinn« ausbildet und diesen gegebenenfalls gegenüber Anwürfen und Erwartungen anderer Mitglieder dieser Systeme verteidigt. Diese bereits vor 1933 ausgebildete Handlungsstruktur kennzeichnet auch sein Verhalten während des Nationalsozialismus. Der Begriff des »Eigensinns« kann hier in seiner doppelten Bedeutungsverwendung142 zum Verständnis dieses Falles beitragen. Nicht nur in
—————— 142 Vgl. zum Begriff des »Eigensinns« Lüdtke 2002.
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seiner geschichtstheoretischen Verwendung seit den 1980er Jahren, die sich auf »Eigenlogiken« von Handelnden bezieht, ist er hier relevant. Von seiner Umwelt wird Simon R. immer wieder als »eigensinnig« im Sinne der älteren und heute noch alltagssprachlich üblichen Verwendung des Begriffs wahrgenommen und abgelehnt. Simon R. ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, in verschiedenen Systemen und Zusammenhängen immer wieder mit diesem Vorwurf der »Nicht-Angepasstheit« konfrontiert. Die Bewahrung von »Eigensinn« kommt nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch in den Selbstdarstellungen zum Ausdruck.143 Simon R. steht zu seinen Handlungsweisen und Positionen und verteidigt sie, meist offen, zumindest aber latent. Die Selbstpräsentationen von Simon R. in der NS-Zeit sind durch Mehrdeutigkeiten gekennzeichnet. Er präsentiert sich mit einer Biographie, die sowohl als mit dem Nationalsozialismus kompatibel als auch inkompatibel gelesen werden kann. Die Selbstpräsentationen aus der Nachkriegszeit weisen – gemessen an anderen Fällen – eine vergleichsweise starke Authentizität und Ausführlichkeit auf. An einigen Stellen nehmen sie Erzählcharakter an. Dies ist ein Hinweis dafür, dass nicht eine kontrollierende und argumentierende Darstellungsweise, die Eigenerlebtes verdecken soll, im Vordergrund steht, sondern Simon R. sich – zumindest in einigen Bereichen – weitgehend unmittelbar einem Erinnerungsprozess überlassen kann.144 Dieser wird in das thematische Feld, im Maß seiner Kräfte unter Inkaufnahme von Nachteilen ab 1936 passiv und aktiv Widerstand geleistet zu haben, eingebettet.
3.4.2. Ausbildung und Bewahrung von »Eigensinn« in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen: Die Lebensgeschichte von Simon R. bis 1933 Simon R. wird 1887 in einem kleinen Dorf im württembergischen Oberamt Geislingen als Sohn selbständiger Schreinerseheleute geboren. Seinen
—————— 143 An Selbstpräsentationen aus der NS-Zeit liegen für diesen Fall ein tabellarischer Lebenslauf von 1933, ein ausformulierter Lebenslauf vom 5. Mai 1934 sowie ein weiterer stichpunktartig verfasster Lebenslauf im Formular Personen-Beschreibung von Ende Mai 1934 vor. In den Spruchkammerakten sind verschiedene ausführliche Selbstpräsentationen im Rahmen von Fragebögen und in Reaktion auf das erste Spruchkammerurteil überliefert. Zudem liegen Protokolle der Spruchkammerverhandlung vom Dezember 1947 vor. 144 Vgl. mit weiteren Literaturhinweisen Rosenthal 2005, S. 139ff.
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Angaben zufolge wird er »streng evangelisch erzogen« (Lebenslauf 5. Mai 1934), die Eltern werden als »sehr fleissig und strebsam« (Einspruch Januar 1948) beschrieben. Die Familie zieht während der Schulzeit von Simon R. mehrfach um und ist insofern – vermutlich aus materiellen Gründen – zu räumlicher Mobilität bereit. Simon R. wächst damit in einem Kontext auf, in dem vermutlich eine Bindung an Familie, Religion und materielle Absicherung eine wichtigere Rolle spielen als die wechselnden sozialen Umfelder. Simon R. hat zahlreiche Geschwister, deren genaue Anzahl für ihn unüberschaubar wird: »Meine Eltern […] haben ca. 15 Kinder gezeugt, von welchen mehrere im zartesten Kindesalter starben.« (Lebenslauf 5. Mai 1934) Als einer der älteren Geschwister hat Simon R. den Tod von mehreren Geschwistern als Kind miterlebt. Das Gefühl existentieller Bedrohung des eigenen Lebens sowie des Lebens von Familienangehörigen, das auch durch spätere Erlebnisse hervorgerufen wird und als Thema in vielen Selbstpräsentationen von Simon R. auftaucht, hat hier möglicherweise seinen Ursprung. Nach der Schulzeit ist Simon R. über 13 Jahre in verschiedenen Berufsfeldern tätig. Dies lässt ihn Erfahrungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus sammeln. Seine berufliche Entwicklung ist weniger von großen Selbstentwürfen, als von gegebenen Möglichkeiten und Überlegungen eines Einkommens und einer Absicherung geleitet. Eine Lehre ist ihm vor dem familialen Hintergrund kaum möglich. Nach Beendigung der Volksschule 1901 arbeitet Simon R. zunächst für zwei Jahre beim Vater mit, der einen Auftrag für Anstreicharbeiten auf einem militärischen Truppenübungsplatz übernommen hat, und ist nun aktiv in den selbständigen Familienbetrieb integriert. 1903 wechselt er 16-jährig in die Württembergische Metallwarenfabrik in Geislingen, wo er fünf Jahre als Magazinier und Silberarbeiter in ungelernter oder angelernter Tätigkeit beschäftigt ist. In Geislingen lernt er das starke sozialdemokratische Arbeitermilieu kennen.145 Im Herbst 1908 wird er nach Ulm zum Militärdienst eingezogen. 1910 verpflichtet sich Simon R. im Alter von knapp 23 Jahren für einige weitere Jahre beim Militär und schlägt die Unteroffizierslaufbahn ein. Dafür entscheidet er sich, weil es ihm »beim Militär gut gefiel«, so in seinem Lebenslauf von 1934. Offenbar sagt ihm die streng hierarchische, autoritäre und obrigkeitsstaatliche Struktur mit ihren Sekundärtugenden der Pünktlichkeit, Ordentlichkeit etc. soweit zu, dass er bereit ist, dort als Frei-
—————— 145 Vgl. Mai 1984.
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williger einige Zeit zu verbleiben.146 Angaben Simon R.s im Spruchkammerverfahren zufolge rät ihm auch die Familie vor dem Hintergrund des niedrigen Verdienstes in der Metallwarenfabrik zu diesem Schritt. Bei diesen finanziellen Überlegungen spielt möglicherweise auch der Tod des Vaters 1909 im Alter von 54 Jahren eine Rolle. Die Familie finanziell zu unterstützen sowie bestehende Ausbildungschancen über das Militär können also auch ein Antrieb gewesen sein. Neben der Zusammenarbeit mit dem Vater teilt Simon R. auch berufliche Erfahrungen mit seinen Geschwistern, von denen ein Großteil Arbeiter sind. Dies weist auf eine recht starke Familienbindung hin. Einige Geschwister weisen eine starke räumliche Mobilität in ihrer beruflichen Entwicklung auf; fünf von ihnen wandern, vermutlich in den Jahren 1910 bis 1920, nach New York aus. Die Abfolge und auch die Darstellung seiner verschiedenen Tätigkeiten sprechen dafür, dass Simon R. sich mit diesen jeweils weitgehend identifiziert hat, für sich anbietende und naheliegende Veränderungen jedoch offen gewesen ist. 1913 verlässt Simon R. das Militär, tritt – wohl vor dem Hintergrund der Versorgungsansprüche von Zeitsoldaten – in die Stuttgarter Polizei als Schutzmann ein und absolviert zunächst die Polizeischule. Als ein Jahr später der Erste Weltkrieg beginnt, nimmt er daran nicht teil. Er wird als Polizist unabkömmlich gestellt und scheint sich – obwohl ehemaliger Berufssoldat – auch nicht um eine Teilnahme bemüht zu haben: »Wegen meiner Zugehörigkeit zur Polizei war ich während des Weltkrieges vom Militärdienst befreit«, gibt er hierzu in seinem Lebenslauf vom 5. Mai 1934 an. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Simon R. zumindest eine gewisse Distanz gegenüber stark militaristischen Tendenzen hat. Er bleibt bei der Polizei, wo er eine geregelte Polizeilaufbahn einschlägt. 1916 heiratet Simon R., 1917 wird er Vater einer Tochter. Eine Offenheit gegenüber anderen Lebensumständen zeigt sich darin, dass seine Partnerin uneheliches Kind und katholisch ist. Einige Zeit später verliert das Ehepaar bei einem Unfall der Frau ungeborene Zwillinge. 1919, mit 32 Jahren, wird Simon R. ein schwerer Herzklappenfehler diagnostiziert, jeglichen Sport und körperliche Anstrengung solle er künftig vermeiden. Durch diese Ereignisse wird für Simon R. das Gefühl, dass er selbst sowie Familienangehörige vom Tode bedroht sind, bedeutsam. Eventuell werden diese Erlebnisse auch mit dem Verlust der Geschwister in der Kindheit
—————— 146 Vgl. zu Berufssoldaten im Kaiserreich allgemein, zu Unteroffizieren im Besonderen Schmidt-Richberg 1979, S. 84ff.; Frevert 2001, S. 228ff.
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verbunden und damit umso mehr zu einem bedrohlichen, biographisch relevanten Thema. Sein handelnder Umgang damit könnte gewesen sein, umso stärker die Familie abzusichern, sich selbst beruflich zu schonen und vorsichtig in geregelten Bahnen zu leben. Kriegsende und Revolution werden von ihm an keiner Stelle erwähnt. Möglicherweise haben sie in seinem Leben – gerade vor dem Hintergrund der persönlichen Ereignisse in dieser Zeit – keinen so großen Einschnitt bedeutet. Die berufliche Laufbahn bei der Polizei geht entsprechend auch in ruhigen Bahnen voran, 1923 wird R. Polizeioberwachtmeister, absolviert 1924/1925 einen Lehrgang für Kriminalanwärter und ist ab 1925 beim Fahndungsdienst. 1928 wir er im Alter von 41 Jahren Kriminalkommissar. Ab 1925 ist er, bewogen durch einen seiner Brüder, Bausparer und arbeitet langfristig auf ein Eigenheim hin. Dafür spart die Familie sehr, 1948 setzt er diesen Wunsch auch zu seiner Herkunftsfamilie in Beziehung: »Nachdem bereits einige meiner Geschwister die Mittel zu einem Eigenheim erspart hatten, obwohl sie nur dem Arbeiterstand angehörten, wäre es für mich geradezu beschähmend gewesen, wenn ich als Beamter nicht auch zu einem Eigenheim gekommen wäre.« (Einspruch Januar 1948). Politisch hat sich Simon R. in der Weimarer Republik nicht organisiert. In Kollegenkreisen gilt er als sozialdemokratisch eingestellt, wie aus mehreren Zeugenaussagen im Spruchkammerverfahren hervorgeht. Bisweilen wird er als kommunistisch angesehen. Anlass dafür ist unter anderem sein Austritt aus der Kirche 1924/25. Im Spruchkammerverfahren führt Simon R. als Gründe an, die Kirche habe die Steuern so rigoros eingetrieben und anlässlich einer Krankheit seiner Frau Hilfe verweigert. In einer Verteidigungsschrift eines Anwalts vom Herbst 1947 angeführte weltanschauliche Gründe benennt er selbst nicht. Wenngleich die Hintergründe dafür nicht ganz zu klären sind, ist die Entscheidung zum Kirchenaustritt jedoch ein Hinweis, dass Simon R. bereit ist, unkonventionelle Schritte zu unternehmen. Dabei nimmt er auch in Kauf, dass er etwa unter den Kollegen – politisch ein zwar gemischtes, aber mehrheitlich konservativ-nationales Milieu – abfällig als Kommunist bezeichnet wird. 1926 stimmt R. in der Volksabstimmung zur Fürstenabfindung, die im Anschluss an einen von Sozialdemokraten und Kommunisten organisierten Volksbegehr stattfindet, für die Enteignung der Fürstenhäuser und vertritt dies auch im Kollegenkreis. »Er hat nie ein Hehl aus seiner demokratischen, man kann sagen, links gerichteten Einstellung, gemacht«, so sein Vorgesetzter F. aus den Jahren 1924–31 in einem Entlastungsschreiben vom November 1947: »In
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Kollegenkreisen galt er als Sozialdemokrat.« Er sei »der Sozi« genannt worden. Ähnlich wie zuvor beim Militär scheint R. sich zwar mit seiner Tätigkeit bei der Polizei zu identifizieren, sich jedoch nicht uneingeschränkt an das jeweilige Milieu anzupassen. Simon R. selbst stellt sich im Spruchkammerverfahren im Dezember 1947 unter Berufung auf seinen Polizeiberuf bis 1933 als unpolitisch und die Wahl Hitlers auch mit nationalen Argumenten ablehnend dar: »Vor 1933 gehörte ich keiner Partei an, da ich mich nicht für Politik interessierte. In der kaiserlichen Zeit war mir dies ausserdem verboten. Ich selbst war der Ansicht, dass ein Polizeibeamter gar nicht in eine Partei sollte und somit war ich politisch ein Laie. Da ich den Standpunkt vertrat, Hitler sei ein Ausländer, der nicht gewählt werden dürfe, und weiter der Auffassung war, dass die Tätigkeit der NSDAP zu nichts Gutem führen würde, habe ich mich für die NSPropaganda gar nicht interessiert vor 1933. Im Jahre 1931/33 war ich auf der Kriminalhauptwache tätig und es wurden uns dort viele nationalsozialistische Randalisten vorgeführt, auf die ich gar nicht gut zu sprechen war.« (Spruchkammerverhandlung Dezember 1947).
In Entlastungsabsicht gibt Simon R. 1947 Hinweise darauf, dass er vermutlich Ende 1932/33 nicht gewählt hat: »Ich war z. B. im Wahllokal so bekannt, dass man mir 1934 bei einer Wahl sagte, ›wo warst Du denn früher, Du hast ja da und da gar nicht gewählt.‹ Also kann ich kein großer Nazi gewesen sein und ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass ich nie Hitler gewählt, also nicht geholfen habe, die Partei groß zu machen.« (Spruchkammerverhandlung Dezember 1947). Gegen Ende der Weimarer Republik bekommt Simon R. wiederholt Auseinandersetzungen mit seinem neuen Vorgesetzten, dem frühen Nationalsozialisten Wirth147, die er 1947 folgendermaßen darstellt: »Von diesem wurde ich 2 Jahre lang bis aufs Blut schikaniert wie ein Hund. So wurde z. B. der 24 stündige Dienst eingeführt. Weil ich ein erkannter Gegner dieser neuen Massnahme war, wurde ich erst recht herangezogen. Wirth setzte seine Schikanen unentwegt fort, indem er z.B. anlässlich einer Aktion, bei welcher Einbrecher festgestellt worden waren, die aber entkamen, mir das Misslingen in die Schuhe schob u. die Sache so darstellte, als hätte ich gerade an der Stelle geschlafen, an der die Einbrecher entkommen waren.« (Spruchkammerverhandlung Dezember 1947).
Diese Auseinandersetzungen führt Simon R. hier als »Vorgeschichte« für seinen Parteibeitritt ein. Wiederholt wirft Wirth ihm Fehler in seiner Arbeit vor. R. beginnt daraufhin ein dienstliches Tagebuch zu führen über die Anweisungen von Wirth, um im Konfliktfall nachweisen zu können, wel-
—————— 147 Zu Christian Wirth, NS-Täter im engsten Sinne, vgl. die Angaben in der Falldarstellung von Johann G. (S. 153/Fn.77), der sich in seinen NSDAP-Unterlagen positiv auf Wirth als Leumund beruft.
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che Weisungen ergangen sind. So sagt Simon R. 1947 aus, er habe »ein dienstliches Tagebuch geführt, in dem Befehle von Wirth verzeichnet waren, damit mir Wirth nicht sagen konnte, er hätte den oder jenen Befehl gar nicht gegeben.« (Spruchkammerverhandlung Dezember 1947).148 Damit legt sich Simon R., selbstbewusst eigenes Handlungspotential ausschöpfend, die Strategie zu, sich mit Genauigkeit und Akribie gegen wiederholte Anwürfe seines Vorgesetzten abzusichern und zu verteidigen.
3.4.3. NSDAP-Beitritt und Funktionsausübung unter Druck Im Frühjahr 1933 tritt Simon R. dann unmittelbar vor Inkrafttreten der Mitgliedersperre zum 1. Mai 1933 in die NSDAP ein. Seinen Beitritt stellt er in direkten Zusammenhang mit den Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten Wirth: »Als dann die Partei zur Macht kam, hat eben dieser Wirth, der, wie sich dann herausstellte, alter Kämpfer war, alle Beamte gedrängt, in die Partei einzutreten. Man kam auch zu mir und erklärte mir, alle seien nun beigetreten, nur ich noch nicht und wenn ich nicht auch beitreten würde, so würde ich entlassen oder zwangsweise eingeführt werden.« (Spruchkammerverhandlung Dezember 1947).
Ein Einspruch dagegen beim Vorgesetzten Wirths sei erfolglos geblieben, so Simon R. 1947. Das Verhältnis zwischen Wirth und Simon R. verbessert sich durch den Parteibeitritt nicht: »Im Gegenteil, das Verhältnis verschärfte sich sogar bis zu Tätlichkeiten. Nachdem er einmal einen Vorgeführten gefasst und mir mehrmals heftig vor die Brust gestossen hatte, machte ich es ebenso.« (Spruchkammerverhandlung Dezember 1947). Simon R. thematisiert hier auch körperliche Gewalttätigkeit von Wirth, dessen brutales Vorgehen gegenüber Verhafteten auch in der Forschungsliteratur überliefert ist.149 Damit bringt er auch eine Bedrohung, die von Wirth ihm gegenüber ausgeht, zum Ausdruck. In der konkreten Interaktionssituation lässt Simon R. sich auch selbst, diesen Angaben zufolge, auf Wirths Verhaltensweise ein und stößt den Verhafteten offenbar seinerseits zurück. Im Fall der Auseinandersetzung mit Wirth lässt er sich hinreißen zu einem aggressiven Konfliktverhalten, das auch eine Gewalttätigkeit
—————— 148 Simon R. begegnet damit im Spruchkammerverfahren einem Vorwurf aus dem ehemaligen Kollegenkreis, er habe als fanatischer Nazi »Aufschriebe« gemacht über das, was andere gesprochen hätten. 149 Vgl. Enzyklopädie des Holocaust 1993, Bd.3, S. 1605f.
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gegenüber einem Verhafteten bedeutet. Dass es sich dabei vermutlich um eine Reaktion aus der unmittelbaren Situation heraus handelt, wird dadurch nahe gelegt, dass R. von mehreren Kollegen generell eine »humane« Umgangsweise mit Inhaftierten bestätigt wird. Angriffe von Wirth auf R. werden auch von Kollegen nach 1945 bestätigt. Als Wirth 1933 versetzt wird, macht er den zukünftigen Vorgesetzten gezielt auf R. aufmerksam, dieser sei »bösartig und faul«, so jener Nachfolger Wirths im Dezember 1947 in der Verhandlung. Von einigen Kollegen wird Simon R. im Spruchkammerverfahren dahingegen als »zweifellos äusserst gewissenhaft« mit einem »sehr guten aufrichtigen Charakter« beschrieben, so der Vorgesetzte aus den Jahren 1924 bis 1931 beziehungsweise als »tüchtiger, pflichtbewusster Beamter, der in Ruhe seinen Dienst versah«, so der Vorgesetzte von R. ab 1937. Simon R. steht insofern hinsichtlich des Eintritts in die NSDAP durchaus unter konkretem Druck. Seine Befürchtungen, entlassen zu werden, werden im Spruchkammerverfahren von mehreren Polizeibeamten, die Wirth als rücksichtslos und einflussreich darstellen, als begründet erachtet. R. selbst spricht auch für die Zeit nach 1933 davon, er sei infolge des Kirchenaustrittes auch nach seinem Eintritt in die NSDAP von Vorgesetzten und Kameraden als kommunistisch eingestellt betrachtet worden »und hatte häufig Gelegenheit, anzügliche Redensarten darüber zu hören.« (Fragebogen zum Vorstellungsverfahren, 10. Mai 1946) Die von einigen positiv hervorgehobene Ruhe und Zurückhaltung von R. wird von anderen Kollegen als möglicher Grund gesehen, weswegen er »etwas unbeliebt« gewesen sei. Ein Polizist bezeichnet ihn auch im Spruchkammerverfahren noch als »Sonderling«.150 Auch die Übernahme eines Parteiamtes erfolgt unter Druck. »Mitte September 1933 suchte mich mein Zellenleiter S. in meiner Wohnung […] auf und sagte mir, dass er mich als Blockleiter ausersehen habe. Auf meine Einwendungen erklärte er mir, wenn ich nicht mitarbeiten wolle, solle ich ihm gleich meine Mitgliedskarte151 mitgeben, dann werde ich ausgeschlossen. Zahlende Mitglieder habe die Partei genug. Um in der damaligen Zeit, wo die Arbeitslosigkeit sehr gross war, meine Stellung als Kriminalsekretär nicht zu verlieren, Habe ich mich schliesslich bereit erklärt mitzuarbeiten.« (Fragebogen zum Vorstellungsverfahren, 10. Mai 1946)
—————— 150 Es handelt sich dabei um einen Kollegen, der nach den Angaben von R. ihm später mehrfach gesagt habe, seine Einweisung in ein KZ sei Anfang der 1940er Jahre schon vorbereitet gewesen, es habe nur noch einer Unterschrift bedurft. Im Spruchkammerverfahren wird er dazu allerdings nicht befragt. 151 Hier schreibt R. zunächst »Mitgliedsbuch« und korrigiert dieses in »Mitgliedskarte«.
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Simon R. gibt auch hier dem Druck nach. 1946 artikuliert er seine Ängste bezüglich eines Parteiausschlusses: »Ausstossung aus der Partei aber haette für mich und meine Familie die schwersten Folgen gehabt. Es wurde verschiedentlich bei Dienst-Rapporten für diesen Fall Auslöschung der ganzen Familie angekündigt.« (Fragebogen Military Government, Mai 1946). Zunächst übt Simon R. NSDAP-Funktionen als Block- und Zellenleiter zur vollen Zufriedenheit der NSDAP-Ortsgruppe aus, wie einer innerparteilichen Beurteilung vom November 1934 zu entnehmen ist. Auch besucht er die Pflichtveranstaltungen der Partei. Als Blockwart beziehungsweise Blockleiter der Partei gibt er für diese Zeitspanne als Aufgabenbereiche neben dem Kassieren von Mitgliedsbeiträgen die Rekrutierung weiterer Mitarbeiter für die Partei zur Einteilung der Parteizelle an. Damit ist er am Ausbau der Parteiorganisation auf den unteren Ebenen beteiligt, der der Errichtung eines immer dichteren Überwachungs- und Kontrollnetzes dient.152 1935 wird R. Zellenleiter und gibt auch hier im Dezember 1947 einige Tätigkeiten an, wie etwa die Koordination und Überwachung der Arbeiten der Blockleiter sowie das Verfassen von Stimmungsberichten: »Als Zellenleiter musste ich Material auf der Ortsgruppe holen und an die Blockwarte weiterleiten zur Verteilung. Wenn ich z. B. beobachtet habe, dass dieses Material aus irgend einem Grund nicht weiter geleitet worden war, so ermahnte ich die Blockwarte, das Material wenigstens nicht so offen da liegen zu lassen. Wenn es jemand sehen würde von der Ortsgruppe, so würden sie hineingeritten und das wollte ich nicht. Von Zeit zu Zeit hatte ich einen Stimmungsbericht über meine Zelle zu machen. Der musste gut sein, weil man sonst bei Abgabe eines schlechten Berichtes gesagt hätte, bei mir stimme etwas nicht. Zum Zellenleiter wurde ich, so nehme ich an, ernannt, weil ich Beamter war. Ich hatte ausdrücklich auf meine dienstliche Beanspruchung hingewiesen, dies wurde jedoch als Entschuldigung nicht angenommen.« (Spruchkammerverhandlung Dezember 1947)
1934 und 1935 nimmt R. am Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg teil. In der Spruchkammerverhandlung im Dezember 1947 argumentiert er – nicht weiter nachprüfbar – er habe nach einer Kommandierung von Seiten der Partei bei der Polizei um eine Urlaubsverweigerung gebeten, die er aber, mit den Worten, gerade er müsse »dieser Sache nähergebracht werden« nicht bekommen habe. Die Ehefrau von R. ist nach der Machtübernahme der Nationalsozialistischen Frauenschaft, die Tochter 1933 dem BDM beigetreten. Die gesamte Familie präsentiert sich damit als regimeunterstützend.
—————— 152 Diese Angaben macht R. in der Spruchkammerverhandlung im Dezember 1947.
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Das regimeunterstützende Verhalten ist bei Simon R., wie die genauere Analyse ergibt, in den ersten Jahren nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht nur »Tarnung« nach außen. Hervorzuheben ist, dass Simon R., obwohl vor allem unter Druck eingetreten, sich nicht nur in seinem Verhalten, sondern wohl auch darüber hinaus mit dem NS-Regime arrangiert. Es scheint ein Prozess der Angleichung der Deutungs- und der Handlungsebene stattgefunden zu haben. Für zumindest einige Jahre scheint er sich Argumente zurechtgelegt zu haben, um NSDAP-Beitritt und -Mitarbeit inhaltlich vor sich und nach außen zu rechtfertigen. Dies lässt sich aus mehreren seiner Äußerungen im Spruchkammerprozess schließen, in denen Simon R. die Jahre 1936/37 als Wendepunkt markiert, an dem er den Charakter der Gewaltherrschaft erkannt und sein Verhalten verändert habe. Auch in mehreren Zeugenaussagen nach 1945 wird dieser Prozess zum Ausdruck gebracht. Ein früherer Vorgesetzter hierzu im November 1947: »Im Jahre 1935, es kann auch 1936 gewesen sein, erfuhr ich, daß er ein Amt bei der Partei bekleidete. Darüber war ich sehr erstaunt und habe ihn daher angesprochen. Er meinte, er könne gut verstehen, daß ich über seine Umstellung erstaunt sei. Er sei aber der Partei nur beigetreten, weil er geglaubt habe, Gutes komme dabei heraus. Etwa 1 Jahr später konnte ich aus seinen Äusserungen entnehmen, daß er doch seiner früheren politischen Einstellung treu geblieben ist. Er liess dabei durchblicken, daß er eine grosse Abneigung gegen den Nationalsozialismus hatte und insbesondere die Anordnungen der Partei und ihre verwerflichen Methoden heftig kritisierte.« (Entlastungsschreiben F., November 1947).
Ähnlich beschreibt ein Nachbar und früheres KPD-Mitglied in der Spruchkammerverhandlung 1947 eine antinationalsozialistische Haltung bei Simon R. vor 1933, eine anfängliche Eingenommenheit für die NSDAP nach 1933 und den Eindruck ab Mitte der 1930er Jahre, dass R. eigentlich nur ein gezwungenes Mitglied sei, das ihm im Notfall sicher geholfen hätte. In dieser Zeit des Arrangements mit dem Nationalsozialismus und der aktiven Mitarbeit in der NSDAP verfasst Simon R. in den Jahren 1933 und 1934 drei Lebensläufe. Neben zwei stichpunktartig verfassten liegt ein ausformulierter Lebenslauf vom Mai 1934 in den NSDAP-Personalakten vor. Er stellt einen Versuch dar, eine Kompatibilität der Biographie mit dem Nationalsozialismus herzustellen. Neben Genauigkeitsansprüchen können in der Textanalyse aber auch verschiedene Mehrdeutigkeiten und Selbstsichten jenseits des Darstellungsinteresses herausgearbeitet werden:
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»Stuttgart den 5. Mai 1934 Ausführlicher Lebenslauf des Simon R. Am 25. November 1887 wurde ich als Simon Christoph R. zu E. O./A. Geislingen geboren. Meine Eltern, Johann Christian R., Schreiner und Angelika geborene M. haben ca. 15 Kinder gezeugt, von welchen mehrere im zartesten Kindesalter starben. Von den 9 noch lebenden, deren 5 sich z. Zt. in Neuyork aufhalten, bin ich der zweitälteste Sohn. Im Elternhaus wurde ich unter strenger Anhaltung zu Sitte und Ordnung evangelisch erzogen. Von meinem 7.-14. Lebensjahr besuchte ich die evangelische Volksschule an verschiedenen Orten, weil mein Vater seinen Besitz wiederholt wechselte. Nach der Schulentlassung arbeitete ich zunächst 2 Jahre lang bei meinem Vater, der auf dem Truppenübungsplatz Münsingen Anstreicharbeiten übernommen hatte. Dann war ich bis 1908 in der Württembergischen Metallwarenfabrik in Geislingen a.d. Steige als Magazinier und Silberarbeiter beschäftigt. In meinem 21. Lebensjahr wurde ich am 13. Oktober 1908 zu der 6. Komp. des Württb. Inf. Regts. Nr.127 in Ulm a. D. eingezogen. Da es mir beim Militär gut gefiel und ich im Herbst 1909 zum Gefreiten befördert worden war, habe ich im Herbst 1910 kapituliert. In der Folge war ich bis zum 30. September 1913 bei dem genannten Truppenteil Unteroffizier. Seit dem 15. Oktober 1913 bin ich bei der Stuttgarter Polizei tätig und zwar seit 1926 als Kriminalkommissar. Am 22. April 1916 habe ich mich mit Anna Maria G. in Stuttgart verheiratet. Unserer Ehe sind 3 Kinder entsprossen, darunter infolge eines Unfalls meiner Ehefrau totgeborene Zwillinge. Wegen meiner Zugehörigkeit zur Polizei war ich während des Weltkrieges vom Militärdienst befreit. Meine Vermögensverhältnisse sind geordnet. Ich strebe nach einem Eigenheim, bezahle monatlich einen Teil meines Gehalts an die Bausparkasse der Gemeinschaft der Freunde in Ludwigsburg und hoffe, in den nächsten Jahren zugeteilt zu werden. Durch die unter den Polizeibeamten früher allgemein verbreitete Ansicht, dass sich Träger dieses Berufs nicht politisch betätigen sollen, habe ich mich abhalten lassen, schon früher als am 27. April 1933 in die NSDAP einzutreten. Am 19. September 1933 wurde ich in Zelle 180 der Ortsgruppe Gablenberg als Blockwart aufgestellt. In dieser Eigenschaft bin ich heute noch tätig. Heil Hitler! Simon R.« (Lebenslauf Mai 1934)
Simon R. stellt sich dar als jemand, der sich in verschiedenen Lebensbereichen seines Platzes genau versichert und Klarheit und Ordnung über seine Positionen in verschiedenen Lebensphasen verschafft. An einigen Stellen sind seine Angaben ungewöhnlich genau und ausführlich. Dies gilt in besonderem Maße mit Blick auf früh verstorbene Geschwister sowie die eigenen totgeborenen Zwillinge. Die Angabe über den Tod der Geschwister ist wohl auch dem Genauigkeitsanspruch geschuldet, die Anzahl der
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Geschwister anzugeben. Zusammengenommen mit den totgeborenen Zwillingen sind diese Thematisierungen jedoch auch ein Hinweis darauf, dass R. biographische Relevanzen unabhängig von geltenden Konventionen zum Ausdruck bringt. Zwei ganze Absätze und der Beginn des dritten sind dem Themenkomplex Herkunftsfamilie gewidmet und zeigen eine starke Familienbindung von R. Zwar scheint R. durchaus auf Kompatibilität mit dem Adressaten zu achten – doch der Genauigkeitsanspruch und die eigenen Relevanzsetzungen lassen ihn doch etwa die starke protestantische Prägung in einem eigenen Absatz thematisieren, ein Umstand, dem die NSDAP womöglich nicht gewogen ist. Zwar kann die Darstellung der protestantischen Prägung als Erziehung zu »Sitte und Ordnung« als Versuch der Kompatibilitätsherstellung mit dem Nationalsozialismus gelesen werden. Zugleich aber kann sie als eine dem Nationalsozialismus übergeordnete Instanz, als eine Warnung, nicht alles mitzumachen, interpretiert werden. Auch eine Ablenkung vom Kirchenaustritt 1924/25 kann für diese starke Hervorhebung des Protestantismus ausschlaggebend gewesen sein. Mehrdeutig bleibt auch die abschließende Bemerkung, wonach R. sich früher von einem NSDAP-Beitritt abhalten ließ von einer unter Polizeibeamten breit vertretenen Ansicht der politischen Abstinenz. Ob er dies bedauert oder immer noch vertreten würde, bleibt unklar. Die Genauigkeit der Angaben scheint auch eine Vorsicht zu begründen, eine vorwegnehmende Absicherung gegen mögliche Anwürfe. Ungewöhnlich ist auch – im Vergleich zu anderen Darstellungen – dass der Lebenslauf mit »Heil Hitler« unterzeichnet ist. Diese in den Personaldokumenten eher seltene Abschlussformulierung bei Lebensläufen kann ebenso einer nationalsozialistischen Überzeugung wie einer Vorsicht und nach außen demonstrierten Korrektheit geschuldet sein. Für Letzteres spricht, dass R. zuvor keine besondere nationalsozialistische Begeisterung zum Ausdruck gebracht hat. Denkbar ist, dass er Erwartungen an den behördlichen Schriftverkehr, in dem alle Dokumente mit »Heil Hitler« unterschrieben werden sollen, auf dieses Personaldokument überträgt. Die vorgebliche Genauigkeit lässt zugleich die Frage aufkommen, ob etwas beziehungsweise was mit ihr verborgen werden soll. Frühere, den Parteien der Arbeiterbewegung nahe stehende politische Positionen, ein Kirchenaustritt 1924 und die Ablehnung der Nationalsozialisten bis 1933
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sollen damit möglicherweise kaschiert werden.153 Diese Darstellungsweise entspricht möglicherweise einem Handlungsmuster von R. in Situationen der Unsicherheit, in denen er über (selektive) Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit möglichen Anwürfen begegnet. Mit der Angabe seiner Zukunftsorientierung, dem Streben nach einem Eigenheim, sind eher private denn weltanschauliche Orientierungen thematisiert, die aber R.s Relevanzen entsprechen. Latent thematisiert er hier einen Zusammenhang zwischen seinem Engagement für den Nationalsozialismus und seinen Zukunftserwartungen. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er nicht nur seinen Arbeitsplatz, sondern auch die Realisierung seiner Hausplanung sichern will. Insofern liegt die Besonderheit dieser Selbstpräsentation in ihrer Mehrdeutigkeit und »Sperrigkeit«. Simon R. bringt hier eine Kompatibilität seiner Biographie mit dem Nationalsozialismus zum Ausdruck und stellt zugleich biographische Relevanzen dar, die auf mögliche Inkompatibilitäten mit dem Nationalsozialismus verweisen. Als einzig klare Wertung bringt R. zum Ausdruck, dass es ihm beim Militär gut »gut gefiel«; vielleicht ist dies die einzige deutliche Übereinstimmung zwischen seinem gelebten Leben und Vorstellungen der Nationalsozialisten.
3.4.4. Abgabe der Funktion und zunehmende Distanz zum Nationalsozialismus im Kontext einer schweren Erkrankung ab 1936/37 Im Sommer 1936 erkrankt Simon R. schwer an Angina Pectoris. Er ist für elf Monate krank geschrieben, seine Parteifunktion wird von einem anderen Parteimitglied übernommen. In dieser Zeit gewinnen religiöse Themen für ihn wieder an Relevanz: »Infolge meiner schweren Erkrankung im Jahr 1936 befasste ich mich mehr als früher mit religiösen Fragen und es entstand der Wunsch in mir, wieder einer Christengemeinde anzugehören.« (Schreiben R., 28. Oktober 1947). Durchaus nachvollziehbar ist, dass Simon R. sich in dieser Zeit angesichts der Krankheit verstärkt mit religiösen Fragen beschäftigt.154
—————— 153 Einen möglichen Hinweis darauf, dass hier auch die Thematisierung des Kirchenaustritts umgangen werden soll, liefert der Umstand, dass R. dann bereits drei Wochen später, Ende Mai 1934, im Fragebogen »Personen-Beschreibung« die Glaubensbewegung Deutsche Christen im Feld zur Religionszugehörigkeit angibt. 154 Vgl. Filipp/Klauer 1988, S. 62.
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Seinen Angaben aus der Nachkriegszeit zufolge macht er sich auch Gedanken um ein christliches Begräbnis155 und wendet sich für einige Zeit den Deutschen Christen zu. Nach wenigen Monaten habe er sich jedoch wegen »unchristlicher Vorfälle« (Schreiben R., 28. Oktober 1947) in deren Veranstaltungen und Gottesdiensten wieder zurückgezogen und sein Missfallen darüber dem »Kassier« zum Ausdruck gebracht. Fortan sei er nicht mehr kassiert worden. Ob er offiziell Mitglied war oder nicht, ist er sich in der Nachkriegszeit nicht sicher.156 Simon R. benennt diesen Zeitraum von 1936/37 mehrfach als Wendepunkt für sein Verhalten im Nationalsozialismus: »Nachdem ich erkannt hatte, dass die Führung der NSDAP eine Gewaltherrschaft aufrichtete, habe ich zunächst passiv und später aktiv dagegen gearbeitet und insbesondere gegen das KZ-Wesen im Kreis meiner Bekannten und Arbeitskameraden gewirkt.« (Fragebogen zum Vorstellungsverfahren, 10. Mai 1946) Die lange und schwere Krankheit, die ihm ein »Innehalten« aufnötigt und die Reflexion seines Lebens nahe legt, ermöglicht auch eine neue Positionsbestimmung. Möglicherweise wählt Simon R. als eine der Bewältigungsformen der Krankheit den Weg, hintangestellte Relevanzen und Pläne zu realisieren.157 In den vergangenen Jahren angesammelte Kritikpunkte an nationalsozialistischen Maßnahmen werden jetzt möglicherweise gebündelt und von R. zu einem Entschluss verdichtet, nicht mehr wie bisher mitzumachen. Die Krankheit liefert ihm auch einen Anlass, sich von Aktivitäten für die NSDAP zurückzuziehen, den er in den folgenden Jahren immer wieder gegenüber Parteidienststellen anführt. Auch der fast einjährige Abstand vom Polizeidienst und die Erfahrungen in einer neuen Abteilung bei seiner Rückkehr 1937 bestärken Simon R. in seiner Wende. Als er im Juli 1937 seinen Polizeidienst wieder antritt, kommt er zum Erkennungsdienst. Dort bekommt er unmittelbar von nationalsozialistischen Verbrechen mit: »Vom KZ hörte ich erstmals im Jahre 1937 durch den Erkennungsdienst. Dort kamen die Totenscheine zu mir und ich sagte damals gleich, da stimmt etwas nicht, man hat sicher den Toten die Kreislaufstörungen beigebracht.« (Spruchkammerverhandlung Dezember 1947) Veränderungen in seiner Haltung führt R. in zahlreichen Textstellen an:
—————— 155 So R. in der Spruchkammerverhandlung im Dezember 1947. 156 Allerdings gibt Simon R. bereits in seinem Fragebogen von 1934 an, der Glaubensbewegung Deutsche Christen anzugehören; es liegt nahe, dass er eventuell schon zu dieser Zeit sich zumindest Gedanken darüber macht, den Deutschen Christen beizutreten. Genau geklärt werden kann allerdings nicht, welche der Angaben zutreffen. Auch in einem Fragebogen nach 1945 gibt er als Religion »gottgläubig (früher evangelisch)« an. 157 Vgl. Filipp/Klauer 1988, S. 62.
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»Von 1937/45 habe ich mich dann politisch nicht mehr betätigt. Ich habe eher gegen die Partei gearbeitet, weil mir als Kriminalbeamten vieles nicht gefallen hat, wie die Judenverfolgungen usw. Beim Erkennungsdienst wurden mir jeden Tag politisch Verfolgte vorgeführt und ich erteilte diesen gute Ratschläge, wie sie sich, wenn sie nun fortkämen, zu verhalten hätten. Viele von diesen haben sich, wenn sie evtl. ein zweites Mal zu mir kamen, bei mir bedankt für meine Ratschläge mit dem Hinweis, sie seien gut gefahren.« (Spruchkammerverhandlung Dezember 1947)
Einen Nachweis einer oder eines direkt Betroffenen dafür gibt es nicht. Gleichwohl liegen einige Aussagen von Mitarbeiterinnen und Vorgesetzten bei der Polizei vor, wonach Simon R. Vorgeführten, insbesondere auch Ausländern, mit großer Geduld und »human« begegnet sei und seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre unter Kollegen seine Abneigung gegenüber dem Nationalsozialismus immer wieder zum Ausdruck gebracht habe. Seinen Parteidienst tritt Simon R. nicht wieder an, auch als er längst wieder arbeitsfähig ist und in seiner Freizeit in der Lage, den 1937/38 begonnenen Hausbau ständig zu begleiten und zu beaufsichtigen. Auch besucht er keine Parteiversammlungen mehr. »Ich wurde auch wiederholt von der Ortsgruppe Gablenberg und später von der Ortsgruppe Sonnenberg zur Wiedermitarbeit aufgefordert. Ich habe dabei wohl behauptet, dass mir eine Mitarbeit infolge meines Gesundheitszustandes nicht möglich sei. In Wirklichkeit aber hatten die ungesetzlichen Handlungen wie Töten von Menschen ohne Gerichtsurteil, Zerstörung von jüdischen Geschäften und die Unterbringung von Parteigegnern und vorbestraften Personen in den KZ. meine ablehnende Haltung bestimmt.« (Einspruch Januar 1948).
Simon R. bringt wohl immer wieder Kritik am Nationalsozialismus zum Ausdruck: »Vom Sommer 1936 ab habe ich gegen die NSDAP derart Stellung genommen, dass ich von andern Leitern der Ortsgruppe Gablenberg gewarnt wurde.« (Fragebogen zum Vorstellungsverfahren, 10. Mai 1946) Nach dem Umzug 1938 übernimmt er in der zuständigen Ortsgruppe keine Funktion mehr. Seine Distanzierung von einer Parteimitarbeit und der NSDAP muss er jedoch auch gegen Anwürfe durchsetzen. Mehrfach wird er auf der Straße von einem Blockleiter öffentlich gerügt, weil er sein Parteiabzeichen nicht trägt. 1939 hat Simon R. einen Konflikt mit dem Ortsgruppenleiter wegen Mietangelegenheiten. Ihm wird, seinen Angaben im Spruchkammerverfahren zufolge, untersagt, seine Ansprüche gerichtlich zu verfolgen. In diesem Zusammenhang sei ihm auch mit einer Einweisung in ein Konzentrationslager gedroht worden, wenn dem Ortsgruppenleiter noch einmal etwas Nachteiliges über R. zu Ohren käme. Der Ortsgruppenleiter habe
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gesagt, seine gegnerische Einstellung sei der Ortsgruppe längst bekannt.158 Ein ehemaliger Ortsgruppenmitarbeiter gibt in einem Entlastungsschreiben an, dass R. als »widerwilliger Parteigenosse« gegolten habe, der »das Vertrauen der örtlichen Hoheitsträger nicht besass«. In der Kriegszeit sei er daher, obwohl seine frühere Mitarbeit in einer anderen Ortsgruppe bekannt gewesen sei, selbst bei starkem Personalmangel nicht mehr zur Mitarbeit herangezogen worden, so der betreffende Zeuge. 1940/41 vermietet Simon R. einen Teil seines Zweifamilienhauses an einen Mann, der als »Halbjude« verfolgt wird. Einer Aufforderung des Einwohnermeldeamtes, diesem zu kündigen, kommt er bewusst nicht nach. In einem Entlastungszeugnis bescheinigt ihm der ehemalige Mieter, der 1941 auf eigenen Wunsch das Mietverhältnis gelöst hat, die Richtigkeit der Angaben. Er sei allerdings davon ausgegangen, dass Simon R. nicht gewusst habe, dass er als »Mischling« gegolten habe. 1942 spitzt sich für Simon R. die Auseinandersetzung mit dem Regime, in diesem Fall mit seinem Arbeitgeber, zu. Wegen längerer Krankheiten und politischer Unliebsamkeit hat er mehrfach Schwierigkeiten mit seiner Dienststelle, die 1942 mit einer Vorführung im Polizeikrankenhaus und dem Vorwurf, »Simulant« zu sein, eskalieren. Fast im Erzählduktus legt Simon R. die Ereignisse 1946 schriftlich nieder: »Im Oktober 1938 wurden mir anlässlich meines 25-jährigen Jubiläums meine häufigen Krankheiten und schlechte pol. Gesinnung vorgehalten. Dabei wurde wieder auf meinen frühen Kirchenaustritt hingewiesen. Ich musste meinem Inspektionsleiter Krim.Rat Dr. S. versprechen, meine Pensionierung einzureichen, sobald ich wieder öfter erkranken sollte. Nachdem ich wieder mehrmals krank gewesen war, habe ich mich am 30.5.42 nach einwöchiger Krankheit zum Dienstantritt gemeldet. Sofort wurde mir mitgeteilt, dass ich nach Posen versetzt sei. Weil ich wusste, dass ich dort zu Kriegsverbrechen gezwungen werden würde, habe ich mich gegen die Versetzung mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln gewehrt. Infolge der damit verbundenen Aufregung erkrankte ich erneut und musste mich am 1.6.42 wieder krank melden. Am 2.6. kam K.S. M. in meine Wohnung und wollte mich dem Polizeiarzt vorführen. Da ich meinen Hausarzt erwartete, ging ich nicht mit M. Am gleichen Tag wurde ich dann von 3 uniformierten Beamten der Polizei mittelst Kraftwagens abgeholt und in die Revierstube der Schutzpolizei in Stuttgart, Stafflenbergstrasse 32, vorgeführt. (Siehe Dienstbefehl vom 2.6.42, Anlage 1). Am gleichen Tage habe ich, eingedenk meines am 15.10.38 gegebenen Versprechens, um meine Pensionierung schriftlich nachgesucht (Anlage 2). Auf dieses Gesuch habe ich entgegen der Vorschrift bis heute keine Antwort erhalten. Am 4.6.42 wurde ich von dem Vertragsarzt Dr. B. aus der Revierkrankenstube der Schutzpolizei entlassen und mir gesagt, ich könne wieder nach
—————— 158 Vgl. hierzu die Angaben von Simon R. im Fragebogen zum Vorstellungsverfahren, 10. Mai 1946.
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Hause gehen. Der ärztliche Befund wurde mir nicht mitgeteilt. Am 8.6.42 wurde ich zu meinem Amtsvorstand, Oberregierungsrat E., bestellt. Derselbe empfing mich mit den Worten: ›Sie sind ein Simulant, Sie gehören ins KZ.‹ Nachdem ich mich gegen diesen Anwurf verwahrt hatte, sagte Ob.Reg.Rat E., das habe der Arzt in dem Zeugnis geschrieben. Durch meinen Hausarzt, Dr. N., Degerloch, habe ich einige Tage später erfahren, dass Dr. B. ihm auf Befragen erklärt habe, es sei nicht wahr, dass er geschrieben habe, ich sei Simulant und gehöre ins KZ. Er habe auch festgestellt, dass ich nicht dienst- und einsatzfähig sei. Er sei aber mit dieser seiner Ansicht gegenüber Oberfeldarzt Dr. P. (der mich nicht untersucht hatte) nicht durchgedrungen. Er habe schliesslich schreiben müssen, was Dr. P. verlangt habe. Am 17.8.42 wurde ich noch immer dienstunfähig in das Staatskrankenhaus der deutschen Polizei in Berlin, Scharnhorststrasse 13, zur Untersuchung abgeordnet (Anlage 3 und 4) und von dort am 25.8.42, nachdem ich auch dem Generalarzt vorgestellt worden war, entlassen (Anlagen 5 und 6). Der untersuchende Arzt im Staatskrankenhaus in Berlin, Stabsarzt der Polizei Dr. H. sagte mir nach Übergabe der Entlassungspapiere, dass er leider nicht berechtigt gewesen sei, mich dienstunfähig zu schreiben, wenn er auch festgestellt habe, dass ich dauernder aerztlicher Behandlung bedürfe. Wenn ich aber für dienstfähig erachtet werde, habe er mich auch für einsatzfähig schreiben müssen. Der Dienst im Einsatz im besetzten Gebiet sei genau so, wie zu Hause. Ich bin überzeugt, dass mein Vorgesetzter, Oberegierungsrat E., mit allen diesen Machenschaften mich wegen meiner Einstellung gegen das KZ-Unwesen, die ihm zu Ohren gekommen sein dürfte, selbst in ein KZ bringen wollte. Krim. Sekr. K. sagte mir auch später wiederholt, dass der Akt zu meiner Einweisung in ein KZ fertig gewesen sei, bis auf die Unterschrift.« (Fragebogen zum Vorstellungsverfahren, 10. Mai 1946)
Simon R. legt hier detailliert die Abfolge und Verkettung von Ereignissen aus seiner Sicht nieder. Dass er die Darstellungsform der Erzählung wählt, kann als ein Hinweis dafür gesehen werden, dass Simon R. sich – zumindest hinsichtlich bestimmter Erlebnisse – im Spruchkammerverfahren nicht vor allem hinter Argumentationen aus der Gegenwart verbirgt, sondern bereit ist, sich vielmehr vergangenen Erlebnissen zuzuwenden und diese von sich aus transparent zu machen. Der spezifische Erzählduktus erinnert zudem an polizeiliche Vernehmungsprotokolle, in denen es insbesondere um die Dokumentation von Ereignisabfolgen und -verkettungen sowie die Ermittlung von Motiven und Verantwortlichkeit der Handelnden geht.159 In der Wahl des ihm vertrauten Textformates nutzt Simon R. hier auch sein professionelles Wissen, um vergangene Ereignisabläufe darzulegen. Simon R. wird nach Aktenlage weder pensioniert noch versetzt. Er versieht bis Kriegsende weiter seinen Dienst bei der Stuttgarter Kriminalpolizei.
—————— 159 Vgl. zur Nutzung erzählgenerierender Verfahren bei Polizei- und Gerichtsverhören Schütze 1976, S. 27.
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In seinem sich vom Nationalsozialismus distanzierenden Verhalten muss Simon R. Anwürfen, Drohungen und Schmähungen von außen standhalten. Insbesondere nach den biographischen Ereignissen der Jahre 1936/37 ist er offenbar bereit auszuhalten, als widerwilliger Parteigenosse, unzuverlässig, krank, schwach und als »Simulant« angegangen zu werden. Auch Drohungen, ihn ins Konzentrationslager zu verbringen, hält er nun aus und pocht beharrlich auf seinen Gesundheitszustand. Die Krankheit bildet einen Anlass und eine Gelegenheit, gegen Funktionen sich zu erwehren, zu einem Zeitpunkt als das Regime eine starke Unterstützung aus der Gesellschaft hat. Simon R. scheut nicht mehr davor zurück, auch politisch immer wieder gegen den Nationalsozialismus Position zu beziehen. Hilfreich in seinem resistenten Verhalten sind dabei frühere Erfahrungen und Strategien im beruflichen Umfeld, sich gegenüber Angriffen zu wehren und eine gewisse »Außenseiterposition« inne zu haben, auszuhalten und zu behaupten.
3.4.5. »Eigensinniges« Handeln im Spruchkammerverfahren Im Mai 1945 wird Simon R. aus dem Polizeidienst entlassen. Wegen Herzund Kreislaufstörungen ist er nach ärztlichem Zeugnis zu körperlicher Arbeit nicht in der Lage. Er lebt von Ersparnissen und der Miete aus seinem Haus. Im April 1946 füllt er den neu eingeführten Fragebogen aus, in dem er sich selbst in die Gruppe der Entlasteten eingliedert mit der Bemerkung: »Ich habe vom Jahr 1936 ab nach Maß meiner Kräfte aktiv Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistet und dadurch Nachteile erlitten. Ich bitte, mich hiezu mündlich oder schriftlich äußern zu dürfen.« (Meldebogen, April 1946) Diese Bemerkung kann als das thematische Feld bezeichnet werden, in das Simon R. seine Äußerungen während des gesamten Spruchkammerverfahrens einbettet. Am 15. Mai 1946 wird das Haus von Simon R. zur Unterbringung von Angehörigen der amerikanischen Besatzungsmacht gegen Quartiervergütung vom Besatzungskostenamt beschlagnahmt. Zeitgleich mit der Beschlagnahmung seines Hauses stellt er im Mai 1946 einen Antrag auf Einleitung des Vorstellungsverfahrens. Diesem legt Simon R. mehrere ausgefüllte Fragebögen bei, die seinen Mitteilungsdrang zum Ausdruck bringen. Eine Freifläche in einem der Fragebögen nutzt er in diesem Zusammenhang für eine ausführliche Selbstpräsentation, die er über den vorgegebe-
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nen Rahmen hinaus durch die Einlage eines eng beschriebenen weiteren Blattes ausdehnt. R. stellt mit drastischen Worten darin seinen Parteibeitritt und die Funktionsübernahme als unter Druck und Drohung erfolgt dar. Er präsentiert sich als jemand, der ab Mitte der 1930er Jahre gegen das Regime im Maß seiner Kräfte wirkte. Besonders detailliert handelt er die Schwierigkeiten ab, die er 1942 angesichts seiner Krankheit und der Einschätzung als politisch unliebsamer Polizeibeamter hatte. Die Bedrohungen durch seine Dienststelle werden fast erzählerisch ausgebaut. Dies ist einerseits ein Indiz für eine erlebensnahe Darstellung. Allerdings handelt es sich dabei auch um Erlebnisse, die nach 1945 in entlastender Absicht ausgebaut werden können. Dahingegen wird die erste Phase der Zustimmung nur indirekt oder am Rande erwähnt. Das Ausbauen der Drohung hat hier die Funktion, so die Analyse, die anfängliche Zustimmung in den Hintergrund zu drängen. Eigensinniges Verhalten von Simon R. in seiner doppelten Bedeutung ist auch im Spruchkammerverfahren erkennbar. Es zeigt sich insbesondere in der Detailliertheit und Beharrlichkeit seiner Ausführungen. Die Detailliertheit seiner Darstellung, die immer wieder in einen Erzählduktus mündet, geht über den Erwartungshorizont der Behörden hinaus. In Antworten an die Spruchkammer aus den Jahren 1946–48 reagiert Simon R. in langen Ausführungen akribisch genau auf einzelne Absätze der erhaltenen Post. Bestimmte Ziffern von Fragebögen ergänzt er durch weitere detaillierende Angaben. In seinen Schreiben verwendet Simon R. Argumentationen, die durchaus nicht nur nach gegenwärtigem Opportunitätsprinzip gewählt werden. Sie sind bisweilen unkonventionell, im Rahmen des Verfahrens auch politisch nicht nur vorteilhaft. Ein Beispiel dafür ist sein Begleitschreiben zu einem Formular der Spruchkammer im Oktober 1947, in dem er zu Mitgliedschaften von Frau und Tochter in den NS-Organisationen weitere Angaben macht: »Zu Ziffer 5. Meine Ehefrau und meine Tochter, welche beide sehr gesellig veranlagt sind, hatten sich entschlossen, der NSF bzw. dem BdM beizutreten, wo sie einen Ersatz für früher besuchte Veranstaltungen nun aufgelöster Vereine zu finden hofften und wo sich viele ihrer Bekannten bereits befanden. Als Beamter war ich von meiner vorgesetzten Behörde aufgefordert, ihren Eintritt in diese Gliederungen nicht nur zu gestatten, sondern nötigenfalls zu bewerkstelligen. Da ausserdem die NSDAP auf gesetzlicher Grundlage an die Macht gekommen war, hatte ich keine Bedenken, ihnen den Eintritt zu gestatten, zumal ich im Weigerungsfalle mit dem Verlust meiner Dienststellung und damit meines Einkommens hätte rechnen müssen. Meine Ehefrau ist selbständig. Wenn ich ihrem Wunsch entgegengetreten wäre, hätte ich meinen häuslichen Frieden gefährdet.
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Den Eltern war in Bezug auf die Jugendverbände das Erziehungsrecht ihrer Kinder entzogen. Sowohl meine Ehefrau als auch meine Tochter blieben den Veranstaltungen der NSF bzw. des BdM fern, als sie bemerkten, dass dort politische Ziele verfolgt wurden. Sie haben auch die sogenannten Pflichtversammlungen nicht mehr besucht und wurden hiewegen oft gerügt.« (Schreiben R., 28. Oktober 1947)
Simon R. verbindet hier Argumentationen des Drucks und des Einverständnisses. Mit der Argumentation, die NSDAP sei auf legalem Wege an die Macht gekommen, macht er indirekt darauf aufmerksam, wie er sich in etwa das Arrangieren mit dem Nationalsozialismus zurechtgelegt hat und vertritt dieses Argument bis in die Gegenwart. Unkonventionell ist die Argumentation, angesichts einer selbständigen Frau den häuslichen Frieden nicht mit einer Intervention von seiner Seite stören zu wollen. Simon R. lässt sich darin beispielsweise nicht von Normen der Beziehungsdarstellung leiten. Auch an anderen Stellen macht er Angaben und Ausführungen, die für ihn nicht unbedingt von Vorteil sind: So bezeichnet er sich auch im Jahr 1946 in einem Fragebogen noch als »gottgläubig (früher evangelisch)« und verwendet damit einen explizit nationalsozialistischen Begriff bei der Angabe seiner Religionszugehörigkeit. An einigen wenigen Stellen werden von R. auch Daten »verschoben« – wie die Zuwendung zu den Deutschen Christen – und Dokumente unterschiedlich kontextualisiert. Das Schreiben, das 1942 seine Dienstfähigkeit dokumentiert, nimmt er 1946 als Beleg, um zu zeigen, wie er als Kranker schikaniert wurde. 1948 zieht Simon R. dasselbe Dokument heran, um zu argumentieren, dass er durchaus gesund genug war, um Parteidienst machen zu können. Er reagiert zu diesem Zeitpunkt auf die Argumentation im Spruchkammerbeschluss, er habe lediglich aus gesundheitlichen Gründen die Parteifunktion nicht mehr wahrnehmen können. Ende Oktober 1947 erhält Simon R. die Klageschrift mit dem Antrag, ihn als Belasteten einzustufen. Mitte Dezember findet die mündliche Verhandlung statt. In der Analyse der Interaktion zwischen R. und dem Vorsitzenden zeigt sich ein interessantes Phänomen, das eventuell eine ähnliche Struktur aufweist wie R. sie aus anderen durch Vorbehalte geprägten Interaktionen, so im Kollegenkreis vor und nach 1933, kennt: Simon R. präsentiert sich bei den zu Beginn eingeholten Angaben zur Person in seinen biographischen Daten zunächst ähnlich wie 1934. Nach einer daran anschließenden kurzen Eingangsargumentation über seine frühere politische Abstinenz und seine Ablehnung der Nationalsozialisten vor 1933 beginnt er, die »Vorgeschichte« seines Parteibeitritts zu erzählen. Er
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wird sehr bald vom Vorsitzenden unterbrochen und mit Anschuldigungen und einer recht fertigen Vorstellung über den Fall seitens des Vorsitzenden konfrontiert, nach der es sich bei R. um einen überzeugten Nationalsozialisten handelt. Simon R. wird in seinen Darlegungen kein Glauben geschenkt, er ist dem Vorsitzenden auch offensichtlich unsympathisch. Dies hängt möglicherweise auch mit der »Widerspenstigkeit« dieses Spruchkammerkandidaten zusammen, der mit seinen akribischen Darstellungen vor und während der Verhandlung den Erwartungen der Spruchkammer nicht entspricht und sich in seinen Argumentations- und Handlungsmustern einfachen Kategorisierungen entzieht. Lediglich ein aus der Dienststelle von R. erhobenen Vorwurf,160 er sei fanatischer Nazi gewesen, der zu Denunziationszwecken abfällige Redensarten seiner Kameraden über das Nazi-System sorgfältig aufgeschrieben habe, wird aufgrund zahlreicher Zeugenaussagen als abwegig verworfen. Der Spruch, der ihn als Minderbelasteten einstuft, ist vergleichsweise harsch und ungenau gehalten. Ende Januar 1948 reagiert Simon R. auf diese Einstufung mit einem Einspruch, in dem er sich auf sechs eng bedruckten Seiten mit den einzelnen Angaben und Argumentationen im Spruch auseinandersetzt und einige weitere Angaben zu familialen Bindungen macht. Im Februar legt ein neuer Anwalt Berufung ein, im August 1948 wird Simon R. im schriftlichen Verfahren als Mitläufer eingestuft. Hervorzuheben ist aus diesem Einspruch eine Textstelle, in der R. fragt, ob er die Parteizugehörigkeit hätte aufgeben sollen, nachdem er die »wahren Ziele der Parteileitung erkannt« hatte. Nachdem er befürchtete mögliche Folgen, wie Entlassung, Einweisung in ein Konzentrationslager, Arbeitslosigkeit und Not der Familie skizziert hat, fragt er: »War es unter diesen Umständen verwerflich, dass ich als für meine Familie stehts treu sorgender Familienvater diesen Weg nicht beschritt? Dass ich mich vielmehr hinter meiner Krankheit verschanzte, um als Kriminalbeamter im Dienst zu bleiben, ohne für die Partei tätig sein zu müssen.« (Einspruch Januar 1948) Denkbar ist, dass Simon R. sich diese Frage auch selbst stellt und dass sein Beharren auf den Dimensionen des Drucks und der Distanzierung vom Nationalsozialismus nicht nur der Entlastungsabsicht im Spruch-
—————— 160 Dessen Urheber wird ihm – auch auf mehrere Anfragen von R. und seinem Anwalt – nicht bekannt gemacht. Im Spruchkammerverfahren ist R. möglicherweise nicht bekannt, dass Christian Wirth bereits seit 1944 tot ist. Sein Anwalt fragt in der Verteidigungsschrift an, ob die Beschuldigungen gegenüber R. wegen Kollegendenunziationen etwa direkt von Wirth oder aus dessen Vertrautenkreis gekommen seien.
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kammerverfahren geschuldet sind. Möglicherweise hat dieses Beharren auch die Funktion, diese Frage in einer persönlichen Auseinandersetzung mit sich selbst in den Hintergrund zu drängen.
3.4.6. Zusammenfassung Simon R. ist einer von zwei Fällen im sample, der unter erheblichem Druck von Nationalsozialisten in die NSDAP eintritt und eine Funktion übernimmt. Er ist der einzige, der die Funktion nach einigen Jahren abgibt, ohne eine andere Funktion im kommunalen Bereich oder in weiteren NSOrganisationen zu übernehmen. Beide Themenkomplexe, Parteibeitritt und Funktionsübernahme unter Druck sowie die Abgabe der Funktion galt es in der Fallrekonstruktion im biographischen Kontext zu interpretieren. Als zentrales biographisches Handlungsmuster erwies sich im Fall Simon R. ein an materieller Absicherung orientiertes und familienbezogenes Handeln. Die Thematik der materiellen Absicherung ist in diesem Fall eng verbunden mit einer existentiellen Bedrohung durch Tod und Krankheit in der Herkunfts- und Gründungsfamilie. In der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt bildet Simon R. innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme, in denen er sich bewegt, einen an seinen biographischen Relevanzen orientierten »Eigensinn« aus und verteidigt diesen gegebenenfalls auch gegenüber Anwürfen und Erwartungen anderer Mitglieder dieser Systeme. Dieses bereits vor 1933 ausgebildete Handlungsmuster kennzeichnet auch seinen Umgang mit dem nationalsozialistischen Regime. Der 1887 in einem württembergischen Dorf als zweitältester Sohn von selbständigen Schreinerseheleuten geborene Simon R. erlebt bereits als Kind mehrere Umzüge, die vermutlich mit dem Ziel der Verbesserung der ökonomischen Lage der Familie zusammenhängen. Zudem erlebt er den Tod von mehreren Geschwistern. Die Fallanalyse legt nahe, dass die Bedrohung der Familie durch Tod und das Erleben ökonomischer Unsicherheit von Simon R. möglicherweise bereits in der Kindheit als miteinander verbundene Themen wahrgenommen werden. Simon R. greift die in seiner Herkunftsfamilie praktizierte geographische und tätigkeitsbezogene Mobilität zur materiellen Absicherung auf. Bei ihm zeigt sich diese insbesondere in der Ausübung verschiedener beruflicher Tätigkeiten: Nach einer mehrjährigen Mitarbeit im Schreinerbetrieb seines Vaters arbeitet er fünf Jahre in der Geislinger Metallwarenfabrik. Im
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Anschluss an seine Militärdienstzeit und nach dem Tod des Vaters verpflichtet er sich 1910 für einige weitere Jahre im Heer, bis er von da aus 1913, im Alter von 26 Jahren, mit einer Stellung als Polizeibeamter ein erhebliches Maß an materieller Absicherung erreichen kann. Damit ergreift Simon R. die zu unterschiedlichen Zeiten in seiner Berufsbiographie bestehenden Chancen zu einer zunehmenden Absicherung und sammelt Erfahrungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus. Während des Ersten Weltkriegs, an dem Simon R. nicht aktiv teilnimmt, heiratet er und wird 1917 Vater einer Tochter. Einige Zeit später verliert das Ehepaar ungeborene Zwillinge und bei Simon R. wird 1919 im Alter von 32 Jahren eine schwere chronische Krankheit diagnostiziert. Damit wird die existentielle Bedrohung des eigenen Lebens sowie des Lebens von Familienangehörigen auch in seiner Gründungsfamilie zu einem biographisch sehr relevanten Thema. Die Analyse ergab, dass Simon R. sich durchaus mit den unterschiedlichen Tätigkeiten identifiziert, sich jedoch nicht uneingeschränkt an die jeweiligen Milieus anpasst. So tritt er 1924/1925 aus der Kirche aus und stimmt 1926 für die Enteignung der Fürstenhäuser. Er steht zu diesen Entscheidungen auch in seinem beruflichen Umfeld und nimmt damit in Kauf, unter den mehrheitlich konservativ orientierten Kollegen bei der Polizei mitunter abfällig als »Sozi« oder »Kommunist« bezeichnet zu werden. Beruflichen Auseinandersetzungen mit seinem Vorgesetzten, einem frühen Nationalsozialisten, begegnet er am Ende der Weimarer Republik, indem er ein dienstliches Tagebuch zu führen beginnt, um sich abzusichern. 1933 beugt er sich dem Druck des nationalsozialistischen Vorgesetzten und tritt vor dem Hintergrund einer Entlassungsdrohung in die NSDAP ein. In demselben Kontext übernimmt er kurze Zeit darauf zunächst eine Blockleiter-, dann eine Zellenleiterfunktion in der NSDAP. Die Androhung des Verlusts seiner gesicherten Stellung als Polizist durch einen für brutale Methoden bekannten und überzeugten Nationalsozialisten scheint in diesem Fall ausschlaggebend für Parteibeitritt und -funktionsübernahme gewesen zu sein. Simon R. führt die ihm übertragenen Aufgaben auch zunächst zur Zufriedenheit der NSDAP-Ortsgruppe aus und scheint seinen Beitritt auch über partielle Zustimmung zum Nationalsozialismus vor sich und nach außen gerechtfertigt zu haben. 1936 nimmt Simon R. jedoch eine elfmonatige schwere Erkrankung zum Anlass, seine Parteifunktion abzugeben. Er ergreift die Gelegenheit,
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angesichts seiner Krankheit auch künftig alle Aufforderungen zu politischer Mitarbeit zurückzuweisen. Zunehmend distanziert er sich vom Nationalsozialismus und dessen Verbrechen, von denen er in seinem Dienst erfährt, und bringt dies in seinem Umfeld immer wieder zum Ausdruck. Dabei nimmt er auch Missachtung und Drohungen von Seiten der Ortsgruppenmitarbeiter in Kauf. Der Aufforderung des Einwohnermeldeamtes, einem »rassisch« verfolgten Mieter zu kündigen, kommt er nicht nach. Als Simon R. 1942 nach Posen versetzt werden soll, stellt er einen Antrag auf Pensionierung aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung und hält Vorwürfen, »Simulant« zu sein, die in einer Vorführung im Berliner Polizeikrankenhaus gipfeln, stand. Auch in dieser Auseinandersetzung kann er auf frühere Erfahrungen im Umgang mit Erwartungen aus seinem Umfeld, denen er nicht nachkommen will, zurückgreifen: eigene Positionen beharrlich zu vertreten, gegebenenfalls auch Schmähungen und Angriffe aus der Umwelt auszuhalten und als »Außenseiter« zurechtzukommen. Die Bewahrung von »Eigensinn« kommt nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch in den Selbstdarstellungen von Simon R. zum Ausdruck. Simon R. steht zu seinen Relevanzen, Handlungsweisen und Positionen und verteidigt sie, meist offen, zumindest aber latent. Dies zeigt sich sowohl hinsichtlich der von ihm thematisierten Inhalte als auch in seinem Umgang mit vorgegebenen Formaten. Die Selbstpräsentationen gegenüber der NSDAP bringen eine gewisse Vorsicht im Umgang mit dem Adressaten zum Ausdruck. Mit dem Nationalsozialismus nicht kompatible Inhalte finden stärker auf der latenten Ebene ihren Niederschlag. Hingegen sprengt Simon R. in Darstellungen aus der Nachkriegszeit in seiner Gründlichkeit und Detailliertheit jegliche vorgegebenen Formate und vertritt beharrlich seine Positionen im gesamten Spruchkammerprozess. Indem er den Erwartungen der Spruchkammer nicht nachkommt, wird ihm auch hier wieder mit vergleichsweise starker Ablehnung begegnet.
4. Kontrastiver Vergleich und Diskussion der Ergebnisse
4.1. Kontrastiver Vergleich anhand ausgewählter Aspekte 4.1.1. Einleitung In diesem Kapitel werden die Ergebnisse aus den Fallauswertungen anhand ausgewählter Aspekte kontrastiv miteinander verglichen und auf dieser Basis theoretische Verallgemeinerungen formuliert. Dabei werden sowohl die in Kapitel 3 dargestellten Fälle als auch die Ergebnisse von 19 weiteren Fallanalysen herangezogen.1 Als ein zentrales Ergebnis der Auswertung kann verallgemeinernd festgehalten werden, dass es einen Zusammenhang zwischen dem biographischen Kontext, in dem eine NSDAP-Funktion übernommen worden ist, und Form und Verlauf der Funktionsausübung sowie dem Verhalten im Spruchkammerprozess gibt. Im vorigen Kapitel wurde anhand von vier einzelnen Falldarstellungen exemplarisch aufgezeigt, wie die nationalsozialistische Aktivität unterer NSDAP-Funktionäre von der jeweiligen biographischen Fallstruktur geprägt und in diese eingebettet ist. Im Gegensatz zur Fokussierung auf die einzelne Fallrekonstruktion geht es im Folgenden darum, verschiedene für das Feld »NSDAP-Parteitätigkeit« relevante Aspekte getrennt und systematisch in ihren Bezügen zu biographischen Handlungsmustern und -orientierungen der NSDAP-Funktionäre zu behandeln. Dabei werden neben der Einbettung der Ergebnisse in die bisherige Forschungsliteratur an ausgewählten Stellen auch methodische Fragen diskutiert. Die ausgewählten Aspekte werden in einer Reihenfolge diskutiert, die an die Prozesshaftigkeit eines NSDAP-Engagements angelehnt ist: So wird die Diskussion mit der Hinwendung zum Nationalsozialismus und dem
—————— 1 Ausgewählte Ergebnisse der weiteren 18 Globalanalysen sowie der extensiven Fallrekonstruktion im Fall Johannes N. werden im Anhang der Arbeit kurz dargestellt (6.1.).
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Parteibeitritt begonnen und mit der Übernahme einer Parteifunktion fortgesetzt. Im Anschluss daran werden die Aspekte »Schwerpunkte und Formen der Parteitätigkeit« sowie »Verlauf einer Parteitätigkeit« abgehandelt. Nach der Diskussion der schriftlichen Selbstpräsentationen gegenüber der NSDAP und dem Verhältnis der Funktionäre zum Parteiapparat wird abschließend deren Verhalten im Entnazifizierungsverfahren behandelt. Diese Aspekte wurden ausgehend von der Fragestellung und den Ergebnissen der Fallauswertungen ausgewählt (vgl. auch Kapitel 2.4.). Einige der Aspekte und ihr Zusammenhang sind von zentraler Bedeutung für den Prozess der Typenbildung in Kapitel 4.2., bei der die Ergebnisse in vier Typen biographischer Funktionen einer Parteitätigkeit gebündelt werden.
4.1.2. Hinwendung zum Nationalsozialismus und Parteibeitritt Aus einer biographischen Perspektive betrachtet stellen die Hinwendung zur nationalsozialistischen Bewegung und der Parteibeitritt politisch-gesellschaftlich eine Möglichkeit für beziehungsweise ein Angebot an »Volksgenossen« dar, in dieser Weise mit bestimmten biographischen Problemlagen handelnd umzugehen oder biographische Orientierungen zu verfolgen. Sowohl Zeitpunkte als auch biographische Kontexte der Hinwendung sind im untersuchten sample breit gestreut. Da der Parteibeitritt die zentrale formale Voraussetzung für eine Funktionsübernahme darstellt, soll dieser Aspekt als erster beleuchtet werden. Im Folgenden wird nach der Diskussion der Zeitpunkte der Hinwendung und des Parteibeitritts die Verknüpfung biographischer Themen mit Elementen der NS-Weltanschauung bei den analysierten Fällen diskutiert. Zeitpunkte der biographischen Hinwendung zum Nationalsozialismus und des Parteibeitritts Hinsichtlich der zeitlichen Dimension von Hinwendung und Beitritt zur NS-Bewegung können verallgemeinernd im untersuchten sample drei Gruppen herausgearbeitet werden. Damit werden auch die in der Literatur festgestellten zahlreichen Gründe für einen Parteibeitritt2 stark verallgemeinernd gebündelt, indem die Bedeutung, die dem NSDAP-Parteibeitritt in
—————— 2 Vgl. Allen 1966, S. 85, 241ff.; vgl. auch Hans-Ulrich Thamer zu Parteieintritten von Beamten und Lehrern 1933 »aus tausend verschiedene Gründen«, Thamer 1986, S. 354.
KONTRASTIVER VERGLEICH
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der Lebensgeschichte der analysierten Fälle zukommt, fokussiert wird. Mit dem Zeitpunkt der Hinwendung und des Beitritts sind jeweils einige spezifische Dispositionen für den späteren Verlauf einer Parteitätigkeit verbunden, auf die im Folgenden auch aufmerksam gemacht werden soll. Allerdings sagt der Zeitpunkt von Hinwendung und NSDAP-Beitritt allein noch nichts über einen späteren Verlauf einer Parteitätigkeit aus. So sind in allen drei Gruppen unterschiedliche Verläufe der Parteitätigkeit möglich und empirisch feststellbar. a) Bei einer ersten Gruppe von Funktionären stellt der NSDAP-Beitritt die Institutionalisierung einer seit Jahren bestehenden rechtsextremen Orientierung dar. Eine Verortung innerhalb der extremen Rechten geht der Mitgliedschaft in der NSDAP Jahre voraus und hat sich bereits während der Weimarer Republik im Lebenslauf niedergeschlagen. Die Bindung an die extreme Rechte bezieht sich jeweils vor allem auf einige Themen dieses politischen Spektrums, die in der gelebten Geschichte bereits vor 1933 als handelnder Umgang mit biographischen Krisen oder lebensgeschichtlichen Themen gewählt werden. Selbstinitiativer Parteibeitritt und Funktionsübernahme erfolgen zu einem Zeitpunkt, an dem den Betreffenden ein Beitritt aus ihrer biographischen Handlungsstruktur heraus in einer bestimmten Lebenssituation »sinnvoll« erscheint. Sie treten nach Jahren nichtinstitutionalisierter Anhängerschaft der NSDAP bei. Der konkrete Zeitpunkt des Eintritts hängt jeweils mit fallspezifischen biographischen Relevanzen zusammen. Zu dieser Gruppe können sowohl vor als auch nach der Machtübernahme in die NSDAP Eingetretene zählen. Im untersuchten sample gehören etwa Johann G. und Rudolf B. dieser Gruppe an. Beide verorten sich seit spätestens Anfang der Weimarer Republik in der extremen Rechten und treten Jahre später, Johann G. 1931, Rudolf B. 1935, der NSDAP bei. Der Parteibeitritt kann auch bei diesen Fällen langjähriger ideologischer Kontinuität und selbst bei einer ähnlichen Abfolge von lebensgeschichtlichen Daten unterschiedliche biographische Funktionen haben: So ergibt die Analyse, dass der Parteibeitritt bei Johann G. Anfang 1931 insbesondere damit verbunden ist, Anerkennung innerhalb der NS-Bewegung als früher Nationalsozialist auch institutionell abzusichern, zu einem Zeitpunkt, als die NSDAP einen Zustrom an Mitgliedern verzeichnen kann. Er erfolgt zudem einige Jahre nach der Entlassung aus dem Polizeidienst, in einer sozialen biographischen Krisensituation. Für Rudolf B. hingegen ergibt die Analyse, dass er sich in Zeiten eigener wirtschaftlicher Prosperität in einflussreichen Parteien der extremen Rechten
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organisiert. Für ihn ist politische Organisierung mit gesellschaftlichem Status verbunden. Nachdem er sich nach einer mehrjährigen Krise wirtschaftlich wieder stabilisiert hat, bemüht er sich 1935 um einen Parteibeitritt. Die beiden Fälle zeigen auch, dass die spätere Ausübung einer Parteifunktion von Funktionären aus dieser Gruppe unterschiedliche Formen und Verläufe aufweisen kann (vgl. Kapitel 4.2. und 6.1.). Gemeinsam ist ihnen aber eine Kontinuität rechtsextremer Einstellungen bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes und eine vergleichsweise enge ideologische Bindung an den Nationalsozialismus. Der erhebliche zeitliche Abstand zwischen einer frühen Hinwendung zur NS-Bewegung und der faktischen Organisierung verweist zudem auf einige Dispositionen bei diesen Funktionären hinsichtlich ihrer Stellung und ihres Verhaltens innerhalb der NSDAP-Ortsgruppen. Innerhalb der Ortsgruppen-Organisation haben sie aufgrund ihrer frühen NS-Orientierung und insbesondere im Falle einer seit vor 1933 bestehenden Mitgliedschaft gute Aufstiegschancen, eine gewisse Unberechenbarkeit kann aber auch zu einem Hindernis für eine Parteikarriere werden. Die frühe Hinwendung zur nationalsozialistischen Bewegung und der erst viel später erfolgte Beitritt geben Hinweise auf bestimmte Vorbehalte gegenüber der NSDAP, einen strategischen Umgang mit politischer Organisierung oder eine gewisse Eigenständigkeit im Spektrum rechtsextremer Positionen. Eine Eigenmächtigkeit in der Funktionsausübung ist möglich vor dem Hintergrund der langjährigen Verortung in einem breiteren Spektrum der extremen Rechten ohne frühe Bindung an die NSDAP. So bringen Funktionäre aus dieser Gruppe in ihrer Tätigkeit und in der Interaktion mit der Partei gegebenenfalls einen Habitus des Überlegenheitsgefühls aufgrund von gewaltbezogenen »Erfolgen« in der »Kampfzeit« der Bewegung oder aufgrund ihrer frühen Hinwendung zur extremen Rechten zum Ausdruck. Dies kann auch zu Konflikten innerhalb der Parteiorganisation nach der Machtübernahme führen. b) Für eine zweite Gruppe von Funktionären innerhalb des sample liegen Hinwendung zum Nationalsozialismus und Organisierung in einem wesentlich geringeren zeitlichen Abstand voneinander in den letzten Jahren der sogenannten Bewegungsphase. Hinwendung und Beitritt sind hier Ausdruck einer biographischen Krisenbewältigungs- oder Verwirklichungsstrategie am Ende der »Bewegungsphase« der NSDAP. Die späteren Funktionäre lassen sich ansprechen von unterschiedlichen Fragmenten der NS-Propaganda oder von Einheiten der Bewegung, die ihnen die Lösung biographischer Krisen
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oder Verwirklichung biographischer Entwürfe verheißen, und entscheiden sich relativ bald für einen Parteibeitritt. Allerdings ist auch in dieser Gruppe nicht ein bestimmter Verlauf einer späteren Parteitätigkeit angelegt. Dieser ist insbesondere auch abhängig von den mit Hinwendung und Beitritt konkret verbundenen Themen und Intentionen sowie deren Realisierbarkeit innerhalb der NSDAP. Bei Funktionären, die dieser Gruppe zuzuordnen sind, kommt es später zu sehr heterogenen Verläufen einer Parteitätigkeit, bisweilen auch zu einer im Vergleich zu Funktionären mit langjähriger ideologischer Kontinuität in der extremen Rechten stärkeren Distanzierung vom Nationalsozialismus. Dies hängt zum einen generell mit Strukturen der Zuwendung zu sozialen Bewegungen in der Mobilisierungsphase zusammen, die von einer spezifischen Dynamik gekennzeichnet sind und Sammlungsbecken für sehr unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse darstellen können. Erst einige Zeit später stellt sich hier vielfach heraus, inwieweit ein »Passungsverhältnis« von biographischen Orientierungen und jeweiliger Bewegung im einzelnen Fall gegeben ist oder nicht. Zudem hängt dies mit der spezifischen Entwicklung der NS-Bewegung zusammen, die vor und nach 1933 teilweise unterschiedliche Bedürfnisse bediente. Zu dieser Gruppe zählen etwa Hans D., Willy W., Gustav R. oder Walter R. Als vor der Machtübernahme Organisierte haben diese Funktionäre vergleichsweise gute Aufstiegschancen innerhalb der lokalen Parteiapparate. Aufgrund eines Beitrittes vor 1933 haben sie eine niedrigere Mitgliedsnummer als das Gros der Ortsgruppenmitglieder, was als Symbol für höheren Status innerhalb der NSDAP gilt. Vor diesem Hintergrund haben sie teilweise mehr Handlungsspielräume innerhalb der Ortsgruppe. Einige Funktionäre dieser Gruppe nehmen in ihrem Handeln innerhalb der Ortsgruppe mehr Freiheiten für sich in Anspruch als später Eingetretene, da sie teilweise grundsätzlich weniger an aktuellen Herrschaftsverhältnissen orientiert sind als nach 1933 Eingetretene und eher dazu bereit sind, sich gegen ein herrschendes System zu stellen. Dies gilt etwa für den selbständigen Handwerksmeister Gustav R., der, 1932 in die NSDAP eingetreten, ab 1935 ihm übertragene Parteiämter nur nachlässig ausführt, diese 1940 dann abgibt und später Bunkerkommandant wird, die ganze Zeit über gleichwohl Nationalsozialist bleibt. c) Schließlich kann eine Gruppe ausgemacht werden, für die Hinwendung und Organisierung in der NSDAP Ausdruck von biographischen Anpassungsvorgängen an veränderte Herrschaftsverhältnisse sind. Sie stellt im untersuchten sample die größte Gruppe dar. Zu ihr gehören Funktionäre, die nach der
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Machtübernahme der Nationalsozialisten ab Februar 1933 in die Partei eingetreten sind.3 Den nach 1933 Beigetretenen ist gemeinsam, dass sie unter den veränderten Herrschaftsbedingungen agieren, mit ihren Beitritten und Funktionsübernahmen auf diese reagieren. Es geht mithin um biographische Anpassungsprozesse an die veränderten Herrschaftsverhältnisse. Mit einer Hinwendung zur NSDAP und einem Parteibeitritt sollen bereits bestehende biographische Orientierungen unter veränderten Herrschaftsbedingungen weiter gelebt werden. Diese biographischen Orientierungen und entsprechend auch die Anpassungsprozesse können sehr unterschiedlich sein. So gehören aus dem sample etwa Rudolf O. und Adolf P. dieser Gruppe an, die beide im Frühjahr 1933 der NSDAP beitreten. Tritt der leitende Angestellte Rudolf O. bei, um einem Drang nach politischer Geltung nachzugehen, so steht der Parteibeitritt bei Adolf P. im Kontext eines beruflichen Selbstverständnisses als Richter, den politischen Erwartungen des jeweiligen Staates an Beamte nachzukommen. Auch bei den Angehörigen dieser Gruppe sind verschiedene Verläufe der Parteitätigkeit feststellbar (vgl. Kapitel 4.2.). Gleichwohl fällt auf, dass auch diese Funktionäre es in der Regel – selbst wenn es zu Unstimmigkeiten gekommen ist – nicht zum Bruch mit der NSDAP kommen lassen. Dies wird in dieser Gruppe auch der starken Orientierung an den jeweiligen Herrschaftsbedingungen zugeschrieben. Auch nach 1945 orientieren sich viele dieser Funktionäre wieder an den veränderten Herrschaftsverhältnissen. Eine besondere Stellung nehmen innerhalb dieser Gruppe diejenigen ein, die diese Anpassungsvorgänge unter konkreten Drohungen vollziehen. Dies ist etwa der Fall bei Simon R., der sich nach einigen Jahren der Funktionsausübung einer weiteren aktiven Mitarbeit verweigert. Den Mitgliedern, die ab 1933 der NSDAP beigetreten sind, sollen verschiedenen Parteianordnungen nach der Machtübernahme zufolge zunächst keine Funktionen übertragen werden. Diese Anweisungen werden – wie an mehreren Funktionären im sample deutlich wird, die noch im Jahr ihres Beitrittes 1933 bereits eine Parteifunktion übernehmen – nur be-
—————— 3 Ihr gehören sowohl Funktionäre an, die in der Zeit zwischen dem 30. Januar 1933 und dem Inkrafttreten der ersten sogenannten Mitgliedersperre am 1. Mai 1933 eingetreten sind, als auch jene Fälle, die bei den beschränkten Aufnahmen 1935 oder 1937 nach der Lockerung der Mitgliedersperre als in anderen NS-Organisationen bereits »bewährte« Nationalsozialisten eingetreten sind. Schließlich sind auch Funktionäre dazu zu rechnen, die in den folgenden Jahren, u. a. nach der Aufhebung der Mitgliedersperre 1939, eingetreten sind; das letzte Beitrittsjahr, das im sample vertreten ist, ist 1940.
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grenzt umgesetzt.4 In den NSDAP-Ortsgruppen werden den spöttisch als »Märzgefallenen« oder »Maiveilchen« bezeichneten Mitgliedern, die im Frühjahr 1933 eingetreten sind, sowie denen, die erst in den folgenden Jahren der NSDAP beigetreten sind, zunächst nur untere Funktionen übertragen. Ihnen werden häufig im Laufe des Nationalsozialismus bei erhöhtem Personalbedarf, so im Zuge der Neuorganisation der Ortsgruppen 1936/37 oder angesichts Personalmangels während des Krieges, weitere Funktionen übertragen. Bei Beitritten ab Ende der 1930er Jahre ist mehrfach auch die Reihenfolge verkehrt: Einigen Funktionären im sample werden bereits vor dem NSDAP-Beitritt Parteifunktionen übertragen. Dies ist etwa bei Adolf F. der Fall, der zu einer Amtsübernahme und einem späteren Parteibeitritt durch den zuständigen Ortsgruppenleiter gedrängt wird, unter Drohung des Arbeitsplatzverlustes bei der Reichsbahn und mit Hinweisen darauf, seine gegnerische Haltung sei bekannt. Die Verknüpfung biographischer Themen mit Elementen der NS-Weltanschauung Im Folgenden wird die ideologisch-politische Positionierung als Nationalsozialist in ihrem biographischen Entstehungsprozess bei den untersuchten Fällen eingehender thematisiert. Aus der Fülle des fallspezifisch je variierenden Faktorenbündels wird hier die ideologisch-politische Positionierung als Spezifikum hervorgehoben. Indem die unteren Funktionäre eine Hinwendung zum Nationalsozialismus als handelnden Umgang mit biographischen Themen und Problemlagen wählen, verschränken sie, so ein verallgemeinerbares Ergebnis der Fallanalysen, ihre Biographie beziehungsweise ihre biographischen Themen5 mit dem Nationalsozialismus. Im Akt der Hinwendung zur extremen Rechten, spätestens im Zuge des Parteibeitrittes kommt es in allen untersuchten Fällen zur Übernahme nationalsozialistischer Einstellungen. Das Spektrum reicht hier von unterschiedlichen Kombinationen einzelner ideologischer Fragmente bis zur Übernahme eines weitgehend geschlossenen nationalsozialistischen Weltbildes. Von den einzelnen Funktionären wird vor dem Hintergrund ihrer
—————— 4 Vgl. ein Beispiel, in denen aus diesem Grund ein Funktionär im Juni 1933 von der Kreisleitung nicht bestätigt wird, in StAL, PL501/I/Bü.188, Brief des Ortsgruppenleiters Fritzsche an Dr. Fritz Sch. 5 Zu biographischen Themen und Relevanzen vgl. Schütz/Luckmann 1979, S. 124ff., S. 224ff.
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jeweiligen biographischen Erfahrungen jeweils fallspezifisch eine Verbindung biographischer Orientierungen mit dem Nationalsozialismus hergestellt. Dabei sind bei den einzelnen Funktionären unterschiedliche biographische Themen feststellbar, die über eine Zuwendung zum Nationalsozialismus »bearbeitet« werden. Die Analyse ergibt, dass mit diesen biographischen Themen korrespondierend beziehungsweise vor dem Hintergrund der bis zu diesem Zeitpunkt gemachten biographischen Erfahrungen vielfach Schwerpunkte auf jeweils einige Bereiche nationalsozialistischer Ideologie gelegt werden und spezifischen Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes zugestimmt wird. Dies wird auch in den Fallrekonstruktionen in Kapitel 3 deutlich: Bei Johann G. haben etwa eine frühe Hinwendung zum Nationalsozialismus und eine Schwerpunktsetzung auf bestimmte nationalsozialistische Themen folgende Reihenfolge: Nach Ende des Ersten Weltkrieges orientiert und organisiert er sich in einer revisionistischen Regimentsvereinigung und verbleibt beruflich in uniformierten Verbänden. Die Fortsetzung einer gewalttätigen Handlungsstruktur äußert sich nun insbesondere in Gewaltakten gegenüber Kommunisten als »inneren Feinden«. Bei Johann G. bleiben antikommunistische Deutungsmuster und Handlungen besonders relevant und bilden einen Schwerpunkt in seinem Selbstverständnis und Agieren als Ortsgruppenleiter in einem Stuttgarter Arbeiterviertel. Sie werden ergänzt durch weitere Elemente seiner Handlungs- und Deutungsstruktur, die kompatibel sind mit dem Nationalsozialismus, so seine Orientierung an Hierarchien und militärisch-uniformierten Zusammenhängen. Hans D. hingegen stellt im Akt der Zuwendung zur NS-Bewegung eine Kompatibilität zwischen für seine Biographie zentralen pietistischen Orientierungen und dem Nationalsozialismus her. Aus der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda lässt er sich vor allem ansprechen durch Gedanken einer »Volksgemeinschaft«, einer vermeintlichen »Heilslehre« und einer Überwindung von Konflikten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, etwa zwischen den christlichen Konfessionen. Die biographische Problematik, die ambivalent besetzten pietistischen Orientierungen und Muster einer pietistischen Missionarsfamilie im bisherigen Leben nicht realisieren zu können, wird über eine Verbindung dieser Themen und Bedürfnisse mit dem Nationalsozialismus »bearbeitet«. Die Verbindung nationalsozialistischer und pietistischer Aspekte bei Hans D.
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kommt in mehreren Selbstpräsentationen vor und nach 1945 zum Ausdruck. Diese Thesen der Verbindung biographischer Themen mit der nationalsozialistischen Positionierung gelten auch für diejenigen, die erst vor dem Hintergrund der veränderten Herrschaftsbedingungen in die NSDAP eingetreten sind. Auch hier spielen oftmals biographische Orientierungen eine Rolle, die bis dahin noch nicht an den Nationalsozialismus gebunden waren. So wird in einigen Biographien über ein berufliches Selbstverständnis der Staatsloyalität die Verbindung zwischen Biographie und Nationalsozialismus hergestellt. Der Richter Adolf P. entscheidet sich insbesondere vor dem Hintergrund dieses beruflichen Selbstverständnisses, den Erwartungen des jeweiligen Staates an das politische Verhalten der Beamten nachzukommen, für einen Eintritt in die NSDAP. Noch im Spruchkammerverfahren verteidigt er mit dieser Argumentation die Übernahme nationalsozialistischer Haltungen und auch, dass er zahlreiche Todesurteile auf der Grundlage nationalsozialistischer Gesetze und Verordnungen gefällt hat. Hier wird auf dem Weg eines politisch-beruflichen Selbstverständnisses eine Verknüpfung zwischen biographischen Orientierungen und dem Nationalsozialismus hergestellt. Eine besondere Relevanz im Prozess der politischen Positionierung als Nationalsozialist kommt im untersuchten sample verschiedenen gesellschaftlich vorhandenen politisch-kulturellen Deutungsmustern zu, die im Zuge des Sozialisationsprozesses bewusst oder unbewusst übernommen worden sind, und die zugleich ideologische Bestandteile des Nationalsozialismus sind oder eine Hinwendung zum Nationalsozialismus in bestimmten biographischen Situationen befördern.6 Mehrere dieser im sample auffindbaren Deutungsmuster sind in der Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus im Zusammenhang mit Diskussionen um einen »deutschen Sonderweg« thematisiert worden und betreffen dessen mentalitätsgeschichtliche und politisch-kulturelle Aspekte.7 Im Prozess der Hinwendung zum Nationalsozialismus wird von den untersuchten Fällen auf diese Deutungsmuster Bezug genommen, sie werden aktiviert, reaktiviert und modifiziert. In der Analyse der Fälle erscheinen sie in vielfältigen biographischen Konkretisierungen, mitunter werden mehrere Deutungsmuster je fallspezifisch miteinander verbunden. Gerade
—————— 6 Vgl. hierzu auch Abel 1966. 7 Vgl. Kocka 1998, Plessner 1959, Elias 1990, Sontheimer 1968, Parsons 1964; Herbst 1996, S. 25–58.
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in diesen Konkretisierungen werden sie wirksam im sozialen Handeln der einzelnen Gesellschaftsmitglieder. Diese Deutungsmuster, etwa eine als Beamter am jeweiligen Staat orientierte Haltung, können in einigen Fällen von eigenständiger Relevanz für einen Parteibeitritt sein – so im Fall des Richters Adolf P. – oder aber sie dienen der Legitimation des Beitritts, so etwa bei dem unter Druck erfolgten und instrumentell orientierten Beitritt des Polizisten Simon R. So wird in den Fallanalysen deutlich, dass beispielsweise militaristische beziehungsweise mit militärischen Strukturen und Gepflogenheiten zusammenhängende Orientierungen in mehreren Fällen von erheblicher Relevanz für die Hinwendung und Organisierung in der NSDAP sind. Dabei kann es sich um verschiedene mit dem Militär verbundene Aspekte handeln: Bei Johannes N. etwa geht es bei seinem NSDAP-Beitritt um eine aktive Bekundung staatlicher Loyalität als ehemaliger Berufssoldat, bei Wilhelm W. um die Erinnerung an die im Ersten Weltkrieg Gefallenen und eine Orientierung an Kriegerverbänden, bei Eugen W. unter anderem um eine Reaktivierung militärischer Orientierungen und Gepflogenheiten in nationalsozialistischen Verbänden. Eine an den Erwartungen des jeweiligen Staates an seine Beamten orientierte Haltung ist bei mehreren Beamten bei ihrem Parteibeitritt relevant: dies gilt etwa für den Richter Adolf P. Ein NSDAP-Beitritt im Kontext einer stark an der eigenen beruflichen Entwicklung orientierten Haltung ist auch bei Nicht-Beamten teilweise feststellbar. Dies gilt etwa für den Ingenieur Emil F., der sich von einem Parteibeitritt die Überwindung einer beruflichen Krise verspricht. Vermeintlich soziale und zugleich antisozialistische Haltungen, die sich dann im »National-Sozialen« bündeln, sind bei Rudolf O. oder Johannes N. feststellbar. Gemeinschaftsbezogene Orientierungen sind etwa bei Hans D. von Relevanz. In mehreren Selbstpräsentationen aus NS- und Nachkriegszeit wird von den Funktionären Antiparlamentarismus zum Ausdruck gebracht. Ein starker Antikommunismus wird bei Johann G. als ein relevanter Bezugspunkt deutlich. Inwieweit antisemitische Haltungen für eine Organisierung in der NSDAP bei den untersuchten Fällen von hervorgehobener biographischer Relevanz sind, ist anhand der vorliegenden Quellen schwer feststellbar (vgl. dazu auch Kapitel 4.1.6. und 4.1.7. zur Struktur der Selbstpräsentationen).8 In nicht wenigen Fällen gibt es gleichwohl
—————— 8 Andere überlieferte Selbstpräsentationen von Nationalsozialisten stellen zu diesen Fragen erheblich ergiebigeres Material dar, so die in den Hoover Archives in Stanford archivierte Abel-Collection, die ich im Sommer 2002 gesichtet habe. Lohnenswert erscheint, diese Quellen allein unter dem Gesichtspunkt der Relevanz des Antisemi-
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deutliche Hinweise auf antisemitische Haltungen: Dies gilt etwa für die Fälle Rudolf B., der in einer Selbstdarstellung innerhalb eines Fragebogens namentlich ein jüdisches Bankhaus für seinen Bankrott Ende der 1920er verantwortlich macht, oder den selbständigen Handwerksmeister Gustav R., der mehrfach in seinem Wohnviertel Zustimmung zu den Gewalttätigkeiten während der Reichspogromnacht äußert. Willi W. verhaftet als NSDAP-Ortsgruppenleiter am 9. November 1938 einen »rassisch« Verfolgten, bringt ihn in einer Menge von Nationalsozialisten zur Ortsgruppe, verhört ihn dort und übergibt ihn dann an die Gestapo, wo der Betroffene einem weiteren mehrstündigen Verhör unterzogen wird. Generell ist bei den unteren Funktionären von einem erheblichen Maß an Antisemitismus auszugehen, das allein durch ein »In-Kauf-Nehmen« der Judenpolitik ihrer Partei als mindeste Form des Antisemitismus unter den unteren Funktionären der NSDAP gegeben ist. Ausnahmen können hier zum Beitritt erheblich Gedrängte bilden, im untersuchten sample etwa Adolf F. Insofern wird von den Funktionären im untersuchten sample im Prozess der politischen Positionierung als Nationalsozialist in erheblichem Maß mittels biographisch relevanter politisch-kultureller Deutungsmuster an den Nationalsozialismus angeknüpft. Bei vielen Funktionären lässt sich zugleich partielle Kritik an einzelnen Aspekten nationalsozialistischer Ideologie und Maßnahmen feststellen, was mittlerweile auch in der Forschungsliteratur zu NS-Funktionären als generell feststellbares Phänomen angesehen wird.9 Die Fallanalysen machen deutlich, dass hier bei den einzelnen Funktionäre früher relevant gewesene und mit Ideologie und Praktiken des Nationalsozialismus nicht vereinbare Deutungsmuster aus dem Sozialisationsprozess, wie etwa eine frühere Orientierung am sozialdemokratischen Milieu oder eine starke christliche Prägung in die nationalsozialistische Gegenwart hinein wirken.10
—————— tismus bzw. der verschiedenen Formen von Antisemitismus unter frühen Nationalsozialisten genauer zu untersuchen. 9 Vgl. Herbert 2004, S. 37ff. Vgl. zur Konzeption des »Mitmachens und Hinnehmens« die – auf das Verhalten der »Vielen« im Nationalsozialismus fokussierten – Arbeiten von Alf Lüdtke seit den 1980er Jahren, so etwa Lüdtke 1987. 10 Rainer Lepsius schlägt vor, den Umgang von Menschen mit gleichzeitig bestehenden konformen und abweichenden Haltungen auch in der Diktaturforschung mit Hilfe der Theorie der kognitiven Dissonanz zu erklären; vgl. Lepsius 1995, S. 614. Vor dem Hintergrund der hier vorgelegten Arbeit erscheint es interessant, in künftigen Forschungen nach der theoretischen Verbindbarkeit rekonstruktiver Biographieforschung mit der handlungstheoretischen Variante der Theorie der kognitiven Dissonanz zu fragen und
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Zum Verhältnis von Parteieintritt und Verlauf einer Parteitätigkeit Verallgemeinernd soll abschließend festgehalten werden, dass allein der Zeitpunkt des Parteieintrittes noch nichts aussagt über die biographische Bedeutung und den Verlauf einer NSDAP-Funktionstätigkeit. Aber auch die biographische Bedeutung und Funktion eines Parteibeitrittes sagt nur bedingt etwas aus über den Verlauf der Parteitätigkeit und dessen biographische Bedeutung. Zwar gibt es Fälle im sample, bei denen die biographische Bedeutung von Parteibeitritt und -tätigkeit identisch ist. Dies gilt etwa für die Fälle Johann G., Hans D., Karl Ki., Ludwig L., Simon R. oder Adolf F. Bei anderen Fällen aber fällt die biographische Bedeutung von Parteibeitritt und Funktionsausübung auseinander: Das sind einmal Fälle, die zwar in die NSDAP eintreten wollten und überzeugte Parteigenossen sind, an einer Funktionsausübung aber aus verschiedenen Gründen kein Interesse haben, wie etwa Adolf P. oder Gustav R. Dies gilt auch für Fälle, die sich in der Zeit zwischen dem Beitritt und der Funktionsübernahme von der NSDAP mehr oder weniger distanziert haben, aus instrumentellen Gründen aber nicht austreten, wie etwa Walter R., zunächst auch Emil F. Insofern kann weder vom Zeitpunkt des Beitritts noch von den biographischen Funktionen eines Parteibeitrittes verallgemeinernd auf den Verlauf einer späteren Parteitätigkeit geschlossen werden. Dieser ist wiederum jeweils am einzelnen Fall zu rekonstruieren. Dadurch werden auch Grenzen der Aussagekraft des bloßen Parteieintrittsdatums für die Fragestellung deutlich.
4.1.3. Übernahme einer NSDAP-Funktion Von den im sample Untersuchten wird vielfach angegeben, sie seien durch Ortsgruppenmitarbeiter zur Funktionsübernahme aufgefordert worden. Dies entspricht der in der NSDAP üblichen Rekrutierungsform (vgl. Kapitel 1.2.).11 Diese Aufforderung konnte direkt vom Ortsgruppenleiter bei
—————— deren spezifischen Beitrag für die Analyse politischen Handelns genauer herauszuarbeiten; vgl. Beckmann 1984. 11 In den überlieferten Verwaltungsakten der Stuttgarter NSDAP gibt es nur sehr vereinzelt Hinweise auf eine selbstinitiative Bewerbung auf ein Amt; vgl. als ein Beispiel StAL, 501/I, Bü.188, Antwortschreiben des Gauinspekteurs vom 13. April 1933 an ein Parteimitglied, das sich um ein Amt beworben hat.
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Vorladungen auf der Ortsgruppe ergehen. Vielfach erfolgte sie beim Hausbesuch durch Block- oder Zellenleiter, die mit der Rekrutierung geeigneter neuer Mitarbeiter kontinuierlich beauftragt waren. Ein Ämterwechsel innerhalb der NSDAP-Ortsgruppe fiel in den Zuständigkeitsbereich des Ortsgruppenleiters, der die Funktionäre einsetzte und Funktionsübertragungen mitunter mit den Funktionären verhandelte. Die meisten Funktionäre im sample waren mehrfach in einer Rekrutierungssituation: etwa dann, wenn sie innerhalb von Stuttgart umgezogen und damit einer neuen Ortsgruppe zugeteilt worden waren oder wenn es zu einem Ämterwechsel oder Parteiaufstieg innerhalb einer Ortsgruppe kam. Als Spezifikum hinsichtlich einer Amtsübernahme bei der NSDAP ist deren Konzept einer »aktiven Mitgliedschaft« anzuführen: Von den Mitgliedern wurde eine aktive Mitarbeit erwartet und dies im Rekrutierungsprozess gegenüber Mitgliedern teilweise auch deutlich zum Ausdruck gebracht; mitunter wurde für den Fall einer Verweigerung mit einem Parteiverfahren oder einer Meldung an die Arbeitsstelle, insbesondere bei Beamten, gedroht. Wie diese Aufforderung zur aktiven Mitarbeit von Parteimitgliedern wahrgenommen und wie auf sie reagiert wurde, steht im Zusammenhang damit, wie das Verhältnis des Angefragten zur NSDAP und einer Parteifunktion zum Zeitpunkt der Aufforderung gewesen ist. Hierbei sind, wie die Fallanalysen ergeben, auch biographische Verhaltensmuster und -repertoires von Relevanz. Dieses Spektrum reicht von Begeisterung bis hin zu dem Versuch, eine Funktion nicht übernehmen zu müssen: Johann G. etwa betrinkt sich »vor Freude« über die Ankündigung, er sei als Nachfolger für den frei werdenden Posten des Ortsgruppenleiters vorgesehen, öffentlich dermaßen, dass die Berufung um einige Monate verschoben wird, in denen er sich bewähren soll. Andere übernehmen ebenfalls gern oder mit Stolz eine Funktion, wenngleich sich dies nicht in der Form wie bei Johann G. äußert. So übernimmt etwa Hans D., der bereits vor 1933 bei der Ortsgruppe mitgearbeitet hat und eine Funktion im NSLB innehatte, nach seinem Beitritt in die NSDAP 1933 nahtlos nun auch Parteifunktionen. Bei einer anderen Gruppe von Funktionären ist im Zuge der Übernahme von Parteiaufgaben festzustellen, dass sie versuchen, bestimmte Arbeitsfelder zugeteilt zu bekommen, um spezifischen biographischen Handlungsorientierungen nachgehen zu können. Dies gilt etwa für Rudolf O.: Er verhandelt gewissermaßen bei einer Vorladung beim Ortsgruppenleiter und übernimmt dann die Pressearbeit – nicht zuletzt, um sich von
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»einfachen« Blockleitern abzuheben und seinem Geltungsdrang nachzugehen. Wiederum andere akzeptieren die Erwartung von Seiten der Partei, wenngleich sie sich nicht um eine Funktion bemüht hätten. So bringt etwa der Bezirksnotar Helmut K. im Spruchkammerverfahren zum Ausdruck, die Argumentation des rekrutierenden Parteimitarbeiters sei zutreffend gewesen: er habe ja wirklich Zeit nach Dienstschluss gehabt und habe auch nicht lügen wollen. So sei er der Erwartung nachgekommen. Helmut K. gehört im sample einer Gruppe von Beamten an, die bereits mit ihrem Parteibeitritt 1933 einer Aufforderung (damals im Arbeitszusammenhang), nachgekommen sind. Nicht wenige im sample versuchen, eine Funktion nicht übernehmen zu müssen. Im Detail belegt ist dies bei dem Maschinen-Ingenieur Emil F., dem ein Parteiamt nach vier Jahren Mitgliedschaft 1937 angetragen wird, zu einem Zeitpunkt, als er Kritik an der NSDAP hat und gerade kurz vorher aus der SA ausgetreten ist. An ihn liegt ein Schreiben vor, dass seine Ablehnung nicht akzeptiert werde. Er übernimmt dann die Funktion. Zu dieser Gruppe gehören aber auch diejenigen Funktionäre, die zwar durchaus überzeugte Parteimitglieder sind, an einer unteren Parteifunktion aber kein Interesse haben. Zu diesen gehört etwa der Richter Adolf P., der ebenfalls versucht, kein Amt übernehmen zu müssen und auch später mehrfach versucht, es abzugeben. Bei dieser Gruppe von Funktionären spielt die Erwartungshaltung der NSDAP eine erhebliche Rolle bei der Übernahme von Parteiaufgaben. Sie übernehmen eine Funktion, da sie ihre Mitgliedschaft nicht aufs Spiel setzen und potentielle Schwierigkeiten oder Kritik der Partei an sich vermeiden wollen. Im gesamten sample ist nur ein Fall, der – nachdem er bereits von 1933–1936 Funktionen innehatte – wiederholten Rekrutierungsversuchen ab 1937 standhält. Es handelt sich dabei um Simon R., der zuvor bereits nur unter erheblichem Druck in die NSDAP eingetreten ist.
4.1.4. NSDAP-Funktionsausübung: Schwerpunktfelder und Interaktionsmuster Im folgenden Kapitel werden Ergebnisse der Fallanalysen hinsichtlich der konkreten Funktionsausübung der unteren Funktionäre diskutiert. Vor der Diskussion von zwei spezifischen Aspekten – auffindbaren Schwerpunkt-
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feldern und generellen Interaktionsmustern in der Ausübung der Funktion – soll vorab festgehalten werden: Die untersuchten Funktionäre haben alle, wie die Fallanalysen zeigen, in erheblichem Maß ihnen zugeteilte Aufgaben in die Praxis umgesetzt. Zugleich können im Spruchkammerverfahren, insbesondere angesichts des umfangreichen Arsenals an Überwachungs-, Verfolgungs- und Propagandatechniken der NSDAP sowie deren Anspruch auf »Allzuständigkeit der Funktionsträger auf der jeweiligen Ebene«,12 alle darauf verweisen, sich generell oder situativ an bestimmten Maßnahmen der Partei nicht beteiligt zu haben. In mehreren Fällen haben Funktionäre im sample in konkreten Situationen auch einen verfolgten Menschen, insbesondere im näheren oder weiteren persönlichen Umfeld, unterstützt. Inwieweit es sich bei diesen Handlungen tatsächlich um einen sich in die Praxis niederschlagenden partiellen oder grundlegenden Dissens mit dem Regime gehandelt hat, und wie sich die jeweils spezifische »Gemengelage« von Forcieren, Mitmachen und Nicht-Mitmachen bei der Umsetzung nationalsozialistischer Politik über die jeweilige biographische Fallstruktur erklären lässt, wurde in den extensiven Fallrekonstruktionen in Kapitel 3 an einzelnen Fällen diskutiert. Dass sich für jeden Funktionär eine Maßnahme finden lässt, die dieser nicht umgesetzt hat, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass alle Funktionäre im sample in der kontinuierlichen und außeralltäglichen Umsetzung parteilicher Anordnungen die Durchsetzung und Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Diktatur unmittelbar unterstützt haben. Dabei lassen sich in der konkreten Funktionsausübung, so Ergebnisse der Fallanalysen, deutliche Unterschiede feststellen. So setzen die im sample untersuchten unteren NSDAP-Funktionäre in ihrem NS-Engagement auf unterschiedliche inhaltliche Bereiche Schwerpunkte. Auch in der Form ihrer Parteitätigkeit, den in den Fallanalysen rekonstruierten Interaktionsmustern, können erhebliche Unterschiede festgestellt werden. Die Analyse ergibt, dass diese Unterschiede aus der jeweiligen biographischen Fallstruktur erklärbar sind und mit den biographischen Themen, die mit dem Nationalsozialismus verschränkt wurden, zusammenhängen.
—————— 12 Mommsen 1995, S. 264f.
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Inhaltliche Schwerpunktfelder In der Ausübung der Funktion sind bei vielen Funktionären des untersuchten sample Schwerpunkte und ein besonderes Engagement in verschiedenen nationalsozialistischen Themenfeldern erkennbar. Es handelt sich hierbei oft um jene Themen, die bereits bei der Hinwendung zur extremen Rechten eine hervorgehobene Rolle gespielt haben. Die Schwerpunktsetzungen erfolgen beispielsweise innerhalb einer Funktion als Ortsgruppenleiter und werden über Parteiakten, Selbstpräsentationen und die Analyse von Beund Entlastungsschreiben rekonstruierbar. Auf die immer wieder auf Kommunisten und Sozialisten zielende Amtsausübung bei Johann G. wurde bereits hingewiesen. Hans D. hingegen betont im Spruchkammerverfahren mit seelsorgerischem Vokabular die Betreuung von »Volksgenossen« in Not, darunter beispielsweise Familien gefallener Soldaten. Selbst gesetzte Schwerpunktfelder sind zudem bei denjenigen erkennbar, bei denen ein Verhandlungsprozess hin zu einer bestimmten oder weg von einer bisherigen Parteifunktion stattgefunden hat: Rudolf O. etwa bemüht sich um eine exponierte Funktion innerhalb der Ortsgruppe, Emil F. um einen Wechsel vom »Außendienst« in die Ortsgruppenverwaltung; der kaufmännische Verkaufskorrespondent Ludwig L. betreibt 1944 einen Wechsel von seiner vorrangig instrumentell ausgeübten Funktion als Blockleiter zu einer in seinen Augen weniger politischen Funktion als Stollengeschäftsführer. Unabhängig davon, ob der Betreffende dies intendiert hat, wird oftmals einem Parteimitglied eine Funktion zugeteilt, für die ihm aufgrund seines beruflichen Hintergrunds spezifische Kompetenzen zugeschrieben werden. Dies ist etwa der Fall bei Johannes N., dem vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Berufssoldat und kaufmännischer Angestellter Funktionen wie »Schießwart«, »Marschblockleiter« und Ortsgruppengeschäftsführer übertragen werden. Das heißt in vielen Fällen werden spezifische biographische, oftmals berufliche Kompetenzen in den Dienst der NSDAP gestellt und mit dem Nationalsozialismus und nationalsozialistischem Engagement verschränkt. Dies lässt auch weitergehende Fragen aufkommen nach berufsbezogenen Identifikationsprozessen mit dem Nationalsozialismus und deren Bedeutung für die weitere Biographie nach dessen Zerschlagung. Vor dem Hintergrund der jeweiligen Schwerpunktsetzungen in der Funktionsausübung sind auch die Entlastungsschreiben zu werten, die sich die NSDAP-Funktionäre in der Regel nach 1945 hinsichtlich jener natio-
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nalsozialistischen Praktiken ausstellen lassen können, die nicht ihre konkrete Belastung betreffen. Über diese Entlastungsschreiben wird vielfach – und oftmals erfolgreich – von der eigentlichen Belastung abgelenkt. Interaktionsmuster der Funktionsausübung Auch die Formen und Interaktionsmuster der Funktionsausübung sind bei den untersuchten Fällen sehr unterschiedlich. Sie stehen, wie die Analysen ergeben, in einem Zusammenhang mit der jeweiligen Fallstruktur, insbesondere mit im Lauf der Lebensgeschichte ganz allgemein ausgebildeten Interaktions- und Verhaltensmustern. Gemeint sind damit Habitusformationen, die sich – gewissermaßen als »biographische Habitusformationen« – fallspezifisch im Sozialisationsprozess gebildet haben. Sie sind zu einem erheblichen Teil unbewusst und als »lebenspraxisbestimmende Habitusformationen«13 sehr stark in der Biographie verankert. Daher werden sie auch in der Literatur als von politischen und gesellschaftlichen Zäsuren kaum beeinflusst beschrieben.14 Diese Beobachtung hat sich – worauf an anderer Stelle noch zurückzukommen ist – auch in der systemübergreifenden Analyse von Selbstpräsentationen bestätigt. So konnten in der Auswertung verschiedene Formen der Funktionsausübung und deren Zusammenhang mit der jeweiligen biographischen Fallstruktur rekonstruiert werden: ein gewaltförmiges Interaktionsmuster bei Johann G., das einer Handlungsstruktur entspricht, die bereits für die 1920er Jahre nachweisbar ist; ein aufopfernd-dienendes Interaktionsmuster bei Hans D., das zusammenhängt mit seiner pietistischen Orientierung und deren Transformation in sein nationalsozialistisches Engagement und das sich etwa in der Bearbeitung von Verwaltungsangelegenheiten der NSDAP bis in die Nachtstunden hinein äußert; ein geltungsbezogenes und sich dabei auch verschiedene Optionen offen haltendes Interaktionsmuster bei Rudolf O., das in engem Zusammenhang mit seinen biographischen Handlungsmustern steht; ein auf »Kollegialität« ausgerichtetes Interaktionsmuster innerhalb der NSDAP-Verwaltung bei Emil F., das zusammenhängt mit seiner Gruppenorientierung; ein durch »Gewissenhaftigkeit« geprägtes Interaktionsmuster bei Simon R., das auch seinem beruflichen Verhalten bei der
—————— 13 Vgl. Oevermann 2001, S. 46. 14 Vgl. dazu und zur Abgrenzung solcher Habitusformationen von stärker auf kognitive Bildungen bezogenen und eher veränderbaren Deutungsmustern Oevermann 2001, S. 45ff.
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Polizei entspricht; ein unauffällig »pflichterfüllendes« Interaktionsmuster bei Helmut K., der aus einem Selbstverständnis als Beamter heraus den Erwartungen des Systems nachkommt; ein soldatisches Interaktionsmuster bei Johannes N., das stark an Prägungen aus seiner Zeit als Berufssoldat angelehnt ist. Bei dem letztgenannten Fall wird deutlich, dass mit einem solchen Habitus auch ein breiteres Repertoire an Interaktionsmustern abgedeckt sein kann: So greift Johannes N. auf verschiedene Verhaltensmuster aus seiner Militärzeit zurück, je nachdem, ob er vorwiegend Verwaltungsangelegenheiten der Partei regeln oder »Ordnung in eine Wohnsiedlung« bringen soll.15 Einen maximalen Kontrastfall zu diesen Interaktionsmustern, die Ausdruck eines schon vor der Funktionsübernahme bestehenden biographischen Habitus sind, scheint – soweit dieser rekonstruierbar ist – der Fall Willy W. darzustellen. Die Analyse weist darauf hin, dass bei ihm – der als 20-Jähriger in einer weitgehend perspektivlosen und suchenden Situation in die NSDAP eintritt und schon zwei Jahre später Ortsgruppenleiter wird – eine seine weitere Biographie prägende Habitusformation in diesem Zeitraum als NSDAP-Funktionär vermutlich erst ausgebildet wird. Er entwickelt eine herrisch-drohende Funktionsausübung, in der er das gesamte Spektrum der NS-Ideologie übernimmt und tätig in die Praxis umsetzt.
4.1.5. Verlauf der Parteitätigkeit Im Folgenden werden die biographische Fallstruktur und der Verlauf einer NSDAP-Tätigkeit zueinander ins Verhältnis gesetzt. Als zum Verlauf einer Parteitätigkeit gehörend werden mehrere Aspekte einer »Parteikarriere« verstanden. Neben der formalen Abfolge von Ämtern wird auch das Ausmaß des Engagements behandelt: ob ein Funktionär sich zunehmend oder abnehmend für die NSDAP engagiert hat, ob versucht wurde, weitere Ämter zu bekommen oder ein Parteiamt abzugeben, ob Konflikte mit der Partei entstanden sind und ob Beförderungen oder Amtsenthebungen vorgekommen sind. Verallgemeinernd kann zu diesem Bereich auf der Grundlage der untersuchten Fälle festgestellt werden: Der Verlauf einer Parteitätigkeit steht in einem interdependenten Zusammenhang mit der biographischen Funktion,
—————— 15 Vgl. ausführlich zu diesem Fall auch Müller-Botsch 2006.
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die eine Parteitätigkeit für die einzelnen Funktionäre hat. Das heißt, dass in den untersuchten Fällen die biographische Funktion, die eine NSDAPTätigkeit zum Zeitpunkt der Übernahme einnimmt, den Verlauf maßgeblich bestimmt. Ebenso können die in der Ausübung der Parteitätigkeit gemachten Erfahrungen wiederum Einfluss auf die biographische Funktion der NSDAP-Tätigkeit haben. Durch diese während der Parteitätigkeit gemachten Erfahrungen kann sich die biographische Funktion der Amtsausübung und als Folge auch der Verlauf der Amtsausübung verändern. Der interdependente Zusammenhang zwischen dem Tätigkeitsverlauf und der biographischen Funktion der NSDAP-Parteitätigkeit steht im Zentrum der Typenbildung in Kapitel 4.2. Daher wird er – in seiner idealtypischen Verallgemeinerung – an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. Hier sollen vielmehr einige spezifische Aspekte von NSDAP-Funktionsverläufen vertieft werden, die in der Typologie nur am Rande erwähnt werden können. Dies gilt insbesondere für Veränderungen im Verlauf der Parteitätigkeit, die im Folgenden näher diskutiert werden sollen. Veränderungen und Brüche im Verlauf der Parteikarriere Wenngleich vor dem Hintergrund der Analyse der biographischen Funktion der Parteitätigkeit idealtypisch ein bestimmter Verlauf der politischen Tätigkeit skizzierbar ist, so sind gleichzeitig bei allen untersuchten Funktionären Veränderungen in der Ausübung ihrer NSDAP-Tätigkeit denkbar: sei es ein plötzlich abnehmendes Engagement nach jahrelanger Aktivität, eine deutliche Zunahme des Engagements nach einer Phase einer wenig engagierten Parteitätigkeit oder auch die Abgabe einer Funktion. Zu Wechseln im Verlauf kommt es dann, so die Ergebnisse der Analyse, wenn Ereignisse stattfinden, die vor dem Hintergrund der spezifischen Fallstruktur eine Veränderung der Funktionsausübung zur Folge haben. Dabei kann es sich um ganz unterschiedliche Ereignisse handeln: Diese können eher im familialen oder beruflichen Umfeld stattfinden. Sie können aber auch die Organisation der Ortsgruppe, gesellschaftlich-politische Makroereignisse wie den Kriegsbeginn oder spezifische Maßnahmen des Regimes betreffen. Entscheidend dafür, ob ein Ereignis zu einer Veränderung im Verlauf der Parteitätigkeit führt, ist seine strukturelle Bedeutung für die Lebensgeschichte der Funktionäre. Wenn durch die fallspezifische Erfahrungsverarbeitung dieser Ereignisse auch die biographische Relevanz, die eine bishe-
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rige NSDAP-Aktivität eingenommen hat, verändert wird, so kann es zu Wechseln im Engagement kommen. Ein Beispiel für Veränderungen in der Funktionsausübung, die durch Ereignisse im familialen Umfeld begründet sind, ist etwa der Fall Walter R. Bei ihm sind bereits die Hinwendung zum Nationalsozialismus und erste Funktionsübernahmen mit familialen Orientierungen verbunden, hier insbesondere am bereits nationalsozialistisch aktiven Bruder. Eine sukzessive Distanzierung geht bei ihm wiederum mit familialen Orientierungen einher, die sich nun vor allem auf die Familie der künftigen Frau beziehen. Mit dem Kennenlernen seiner späteren Frau und der Berührung mit deren katholischem Umfeld kommt es bei R. zu einer Veränderung in der politischen Haltung und des NSDAP-Engagements. So versucht er, die Mitglieder einer oppositionellen katholischen Jugendgruppe, in der auch sein künftiger Schwager ist, zu schützen und unterstützt protestantische Einrichtungen in Konflikten mit dem Regime. Bei diesem Fall kommt es zu einer sukzessiven Abnahme des Engagements und einem Übertritt zum katholischen Glauben 1940. Ereignisse im NSDAP-Ortsgruppenumfeld bewirken zum Beispiel Veränderungen im Parteiverhalten von Rudolf O.: Als dieser feststellt, dass seine partielle Kritik innerhalb der Ortsgruppe nicht gebilligt wird, und er, als bis dahin sehr engagierter Mitarbeiter, bei einem anstehenden Wechsel der Ortsgruppenführung nicht als Ortsgruppenleiter vorgeschlagen wird, zieht er sich sukzessive aus der Ortsgruppenarbeit zurück. Sein biographischstruktureller Drang nach Aufstieg und Geltung, mit dem auch die bisherige Parteitätigkeit verbunden war, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Makrogesellschaftliche und -politische Veränderungen beeinflussen etwa den Verlauf der Parteitätigkeit bei Rudolf B. Nach Beginn des Krieges, als die Tätigkeit innerhalb der Ortsgruppen zunehmend zur Organisation einer »inneren Front« wird, ist er, der bis dahin eher unauffällig Dienst als Blockund Zellenleiter versehen hat, verstärkt im Ortsgruppengeschehen präsent und aktiv. Seine stets in Uniform erfolgende Beteiligung an der Organisation der »Heimatfront« ist insbesondere auch mit seiner Offizierslaufbahn während des Ersten Weltkrieges verbunden.
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4.1.6. Selbstpräsentation gegenüber der NSDAP und Verhältnis zur Partei In diesem Kapitel werden auf der Grundlage der Analyseergebnisse die Selbstpräsentationen gegenüber der NSDAP als ein Bestandteil der Interaktion der Funktionäre mit ihrer Partei diskutiert. Nach der Darstellung einiger zentraler Ergebnisse zu biographischen Prozessen, die in diesen Selbstpräsentationen zum Ausdruck kommen, werden zwei Aspekte eingehender diskutiert: Der Umgang mit Schreibspielräumen wird am Beispiel expliziter politischer Bekenntnisse und deren Bedeutung in Lebensläufen von NSDAP-Funktionären diskutiert. Dies geschieht auch unter Berücksichtigung einiger methodischer Aspekte. Im Anschluss daran werden Kontinuitäten und Veränderungen in den schriftlichen Funktionärslebensläufen gegenüber der NSDAP thematisiert. Mit der hier bereits beginnenden Bezugnahme auf Selbstpräsentationen nach 1945 wird zum nächsten Unterkapitel übergeleitet. Die Analyse der Selbstpräsentationen erweisen diese als Schreibakte, in denen Funktionäre vor die Aufgabe gestellt sind, ihre Lebensgeschichte zur NSDAP ins Verhältnis zu setzen. Dafür existieren formalisierte Rahmenvorgaben, wie in Kapitel 2.2. dargestellt worden ist. Die Analyse zeigt, wie unterschiedlich die verschiedenen Funktionäre – innerhalb der vorgegebenen Rahmen, mitunter diese auch sprengend – mit dieser Aufforderung umgegangen sind. Dies hängt, so die Ergebnisse der Fallrekonstruktionen, mit verschiedenen Faktoren zusammen: Mit der biographischen Selbstsicht zum Zeitpunkt des Schreibens, der Art und Weise der Einbettung von NSDAP-Beitritt und Parteiaktivität in die jeweilige Biographie, mit dem zum Zeitpunkt des Schreibens bestehenden Verhältnis des Schreibenden zur NSDAP, der vom Schreiber antizipierten Erwartung der NSDAP sowie mit einem generellen biographischen Habitus, der sich auch in einem entsprechenden Schreibstil niederschlägt. Wie in den Falldarstellungen in Kapitel 3 deutlich wird, ist jeweils fallspezifisch zu rekonstruieren, wie die Funktionäre sich vor dem Hintergrund ihrer biographischen Handlungsmuster und Handlungsorientierungen zur NSDAP ins Verhältnis setzen. Verallgemeinernd kann zur Struktur der Selbstpräsentationen in den untersuchten Fällen festgestellt werden: Die Verfasser bemühen sich, nichts ihrer Selbstsicht Entgegenstehendes zu formulieren und zugleich einen aus ihrer Sicht mit dem Nationalsozialismus kompatiblen Lebenslauf einzureichen. Die Analyse ergibt, dass auch in dieser Form der Selbst-
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präsentation das Bedürfnis der Verfasser wirksam ist, einen kohärenten und für sie selbst stimmigen Lebenslauf einzureichen.16 Dies beinhaltet für alle, ihre Lebensgeschichte in mehr oder weniger starkem Maße gegenüber früheren Lebensläufen, die nicht im NS-Kontext verfasst wurden, zu reformulieren: sei es, dass zum ersten Mal eine schon länger veränderte Sicht niedergelegt wird, oder dass erst im Zug des Ausfüllens der Fragebögen und des Schreibens des Lebenslaufs die Sicht auf das eigene Leben modifiziert wird. Der Akt des Neu-Ordnens der Biographie wiederum bekräftigt beziehungsweise befördert ein Selbstverständnis als Nationalsozialist.17 Über die Schreibstruktur kommen auch spezifische Interaktionsmuster der einzelnen Funktionäre im Umgang mit der NSDAP zum Ausdruck. Das Verhältnis zur NSDAP erweist sich im Zuge der Textanalyse bei Johann G. als gespannt, bei Hans D. als hingebungsvoll-dienend, bei Rudolf O. als sich selbstbewusst anbietend und bei Simon R. als durch Vorsicht und Genauigkeit geprägt. Dabei zeigt sich, dass der jeweilige biographische Habitus, der in der Form der Amtsausübung zum Ausdruck kommt, sich auch in der Schreibstruktur niederschlägt: etwa der selbstbewusst-aggressive Habitus bei Johann G., der sich in latenter bis offener Aggressivität nicht nur gegenüber politischen Feinden, sondern auch gegenüber dem Adressaten äußert oder eine grundsätzlich dienende Haltung gegenüber seiner Umwelt und nun gegenüber der NSDAP bei Hans D.; entsprechend lässt sich bei Rudolf O. eine geltungsorientierte Darstellungsweise und bei Simon R. eine durch Genauigkeit und Detailliertheit geprägte Darstellung feststellen. Schreibspielräume Der Schreibspielraum innerhalb des vorgegebenen Rahmens »handgeschriebener Lebenslauf« besteht grundsätzlich in der Auswahl und Verknüpfung von biographischen Themen und Angaben. Neben der je fallspezifischen Auswahl und Verknüpfung gilt es in der Auswertung auch zu rekonstruieren, welche biographischen Daten und Themen verschwiegen werden.18
—————— 16 Vgl. hinsichtlich erzählter Lebensgeschichten Fischer 1978, insbesondere S. 322f. 17 Vgl. in Anlehnung an Michel Foucault hierzu generell Schäfer/Völter 2005, S. 166ff. 18 Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein fokussiertes Thema verschiedene Funktionen haben kann: Es kann systemübergreifend biographisch Relevantes zum Ausdruck brin-
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a) Verschwiegenes. Generell verschwiegen werden im untersuchten sample beispielsweise frühere Mitgliedschaften und Aktivitäten in der SPD, KPD oder in Gewerkschaften sowie allein eine Nähe zu diesen. Auch eine Organisierung in christlichen Vereinen, etwa in christlichen Studentenverbindungen wird nicht angeführt. Mit einer früheren Organisierung in nationalistischen und liberalen Parteien wird unterschiedlich umgegangen: Rudolf B. etwa benennt seine frühere Parteimitgliedschaft in der DNVP, Hans D. seine Mitgliedschaft in der DVP, Eugen E. hingegen verschweigt eine frühere Mitgliedschaft und Funktionsübernahme in der DDP. Dies zeigt einen häufig strategischen und vorsichtigen Umgang von den betreffenden Funktionären mit dem Parteiapparat sowie die Akzeptanz nationalsozialistischer Feindbildkonstruktionen, unabhängig davon, wie die aktuelle Bindung an den Nationalsozialismus ist. Bei einigen Funktionären wird in der Fallanalyse deutlich, inwieweit Verschwiegenes gleichwohl latent in die Selbstpräsentation mit einfließt. So wird in der feinanalytischen Auswertung des Lebenslaufs von Rudolf O. vom Januar 1934 das frühere Gewerkschaftsengagement als kopräsentes Thema deutlich. b) Zur Bedeutung politischer Bekenntnisse zu NSDAP und Nationalsozialismus im Rahmen der Selbstpräsentationen. Ein Schreibspielraum besteht auch hinsichtlich der Frage, inwieweit explizit auf die Hinwendung zum Nationalsozialismus, den Parteibeitritt und die Funktionsübernahme eingegangen wird oder nicht. Die Analyse ergibt, dass von Seiten der NSDAP nicht verlangt wird, im Lebenslauf in irgendwelcher Form ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus abzulegen.19 Die untersuchten Funktionären gehen mit diesem diesem Themenfeld sehr unterschiedlich um: So liegen im sample von insgesamt 23 Funktionären für acht Funktionäre Lebensläufe vor, in denen die Verfasser weder zur Hinwendung zum Nationalsozialismus und zum Parteibeitritt noch zu ihren Parteifunktionen irgendwelche explizite Angaben oder Ausführungen machen. Dies sind jedoch nicht unbedingt die am wenigsten engagierten oder die gegenüber der NSDAP distanziertesten Funktionäre; so zählt zu diesen Dokumenten etwa der Lebenslauf von Hans D. von 1934 sowie die
—————— gen, aus der aktuellen Situation heraus gegenüber dem Adressaten bestimmte biographische Erfahrungen in den Vordergrund rücken oder aber auch dazu dienen, andere Themen zu verschweigen. Vgl. dazu auch die folgenden Ausführungen. 19 Vgl. dahingegen in diktaturvergleichender Perspektive Lebensläufe von SED-Funktionären in den 1950er Jahren an ihre Partei, in denen die Darstellung der politischen Entwicklung und politische Argumentationen subtanzielle Bestandteile der Selbstpräsentationen sind, die von der SED auch verlangt und ggf. eingefordert werden.
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Lebensläufe der ebenfalls engagierten NSDAP-Funktionäre Emil F. und Karl Kn. Auf der anderen Seite benennen nur sechs der Funktionäre konkret ihre Parteifunktion. Bei diesen handelt es sich wiederum keineswegs vor allem um besonders engagierte Nationalsozialisten; unter ihnen sind etwa auch die bereits unter Druck Eingetretenen Simon R. und Adolf F. Explizite Angaben und/oder Begründungen zum Parteibeitritt finden sich in Lebensläufen von neun Funktionären. Auch hier ist keine verallgemeinerbare biographische Bedeutung des Parteibeitritts feststellbar. Dieser Befund verweist darauf, dass ein allein inhaltsanalytisches Vorgehen hinsichtlich dieser Thematik über die biographische Bedeutung von Parteitätigkeit und Parteibeitritt keine Aussagen machen kann. Vielmehr müssen im Einzelfall die spezifischen Funktionen rekonstruiert werden, die eine Bezugnahme oder eine Nicht-Bezugnahme auf Beitritt und Parteitätigkeit im Rahmen der Selbstdarstellung haben. Dies kann über die verschiedenen Bedeutungen, die das Benennen der konkreten Parteifunktion im untersuchten sample eingenommen hat, veranschaulicht werden: So legt die Analyse nahe, dass das Anführen der Parteifunktion bei Rudolf B. 1943 auch dazu dient, als mittlerweile sehr engagierter Funktionär seinen »späten« Parteibeitritt 1935 in den Hintergrund zu rücken. Bei anderen soll die Funktionsbenennung zum Ausdruck bringen, dass die Betreffenden die Erwartungen der NSDAP an sie erfüllen, so etwa bei Adolf P., Simon R. und Adolf F., die alle kein besonderes Interesse an einer Funktionsausübung haben und nicht weiter behelligt werden wollen. Im Gegensatz dazu wurde in der sich als kompetent andienenden Präsentation von Rudolf O. der Verweis auf die Erfüllung des unteren Parteidienstes als Aspiration auf höhere Posten gedeutet. Bei August S., der nach kaserniertem SA-Dienst über die NSDAP eine Stelle in den öffentlichen Verkehrsbetrieben vermittelt bekommt, ist die Angabe seiner Parteifunktion kurz nach seiner unehrenhaften Entlassung aus der SA als Versicherung analysiert worden, noch innerhalb der NS-Bewegung verortet zu sein, den Erwartungen der Partei nachzukommen und kein unzuverlässiges Parteimitglied zu sein. Das heißt, im Gegensatz zu einer inhaltsanalytischen Auswertung können im Rahmen eines biographischfallrekonstruktiven Vorgehens empirisch begründete Hypothesen aufgestellt werden, womit das Benennen der Parteifunktion in verschiedenen Fällen verbunden sein kann. Anhand der empirischen Analyseergebnisse kann ebenso gezeigt werden, dass auch bei den Argumentationen der NSDAP-Funktionäre eine in-
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haltsanalytische Auswertung angesichts der Forschungsfragen nicht sinnvoll ist. Dies zeigt sich etwa mit Blick auf das Auftreten ähnlicher Argumentationen, welche jedoch fallspezifisch und mit Blick auf das Verhältnis zur NSDAP ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. So können etwa sehr ähnlich scheinende Argumentationen eine ganz unterschiedliche Funktion in der Biographie oder in Hinblick auf den Adressaten haben. Verdeutlicht werden kann dies im Folgenden an der Argumentation, aufgrund eines früheren Berufsverständnisses vor 1933 in keiner politischen Partei beziehungsweise nicht bereits in der NSDAP gewesen zu sein: Bei Johannes N. findet sich beispielsweise die Argumentation, er habe vor seinem Eintritt in die Partei nie einer anderen Partei angehört, was ihm auch infolge seines langen Soldatenberufes fremd gewesen sei: die Analyse legte nahe, dass damit in diesem Fall ein »später« Beitritt gerechtfertigt wird über die für N. noch immer im Vordergrund stehende soldatische Orientierung. Auf der latenten Ebene wird hier zudem eine gewisse andauernde »Fremdheit« gegenüber der NSDAP als Partei zum Ausdruck gebracht; dies geschieht zu einem Zeitpunkt, als N. zunehmend Auseinandersetzung mit dem Ortsgruppenleiter hat. Simon R. argumentiert ähnlich: Er habe sich aufgrund gängiger Vorstellungen in der Polizei vor 1933 von einem früheren Parteibeitritt abhalten lassen. Diese Argumentation dient in diesem Fall nicht zuletzt dazu, so die Analyseergebnisse, sich über eine Institution, hier die staatliche Polizei, gewissermaßen »Rückendeckung« zu holen für seinen »späten« und auf Druck erfolgten Eintritt 1933 und angesichts der in Kollegenkreisen anhaltenden Vorwürfe, er sei doch immer Nazigegner gewesen. Eine ähnliche Argumentation bei Rudolf O. hat wiederum eine andere Funktion. Er schreibt ihm Januar 1934, er habe niemals vorher einer anderen Partei angehört, wie er sich vor dem Anbruch der nationalen Erhebung in keiner Weise politisch betätigt habe, da er erst seine berufliche Ausbildung habe vollenden müssen. Die Analyse ergibt, dass es sich in diesem Fall neben einem manifesten »Andienen« vor allem um eine Verschleierungsargumentation handelt, die O. auch in den folgenden Jahren immer wieder anführt: Über den Fokus, er habe sich parteipolitisch früher nie betätigt (so in den Lebensläufen vom Mai 1934 und 1940), verschweigt er sein aktives Engagement in einer liberalen Gewerkschaft in den 1920er Jahren. Dies ist auch ein Beispiel dafür, wie das Fokussieren eines Themas – hier des Themas »frühere Parteizugehörigkeit« – vor allem dem Verschweigen eines anderen dienen kann.
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Kontinuitäten und Veränderungen der Selbstpräsentationen im Zeitverlauf In allen untersuchten Fällen können Kontinuitäten und Veränderungen in den Selbstpräsentationen im Zeitverlauf festgestellt werden. Sie können auf unterschiedlichen Ebenen liegen und sowohl thematische Inhalte als auch Aspekte der Schreibstruktur betreffen. Die Kontrastierung von mehreren Selbstpräsentationen von einem Funktionär aus verschiedenen Jahren ermöglicht herauszuarbeiten, inwieweit sich die Sicht auf das eigene Leben, die Haltung zur NSDAP und die Bedeutung der Parteifunktion während des Nationalsozialismus verändert. Damit kann insbesondere auch der Prozesshaftigkeit des Biographischen Rechnung getragen werden. Die Analyse ergibt, dass Kontinuitäten und Veränderungen jeweils fallspezifisch in ihrer Bedeutung rekonstruiert werden müssen. So gibt es im sample Fälle, bei denen eine zweite oder dritte Selbstpräsentation gegenüber der NSDAP erheblich weniger sorgfältig und ausführlich ausfällt. Dies kann, wie in den Fallanalysen deutlich wird, mit einem sinkenden Interesse an NSDAP und Parteifunktion in Zusammenhang stehen, so etwa die Hypothese bei Johannes N. Bei Rudolf O. ist hingegen eine zweite, kürzere und äußerlich viel weniger sorgfältige Selbstpräsentation vom Mai 1934 gleichwohl Ausdruck eines biographischen Prozesses, seine Lebensgeschichte zunehmend auf den Nationalsozialismus zuzuschneiden, wie in der sequentiellen Textanalyse deutlich wird. Seine dritte Selbstpräsentation dann, die kürzeste und formal nachlässigste, die er 1940 – einige Monate, nachdem er nicht Ortsgruppenleiter geworden ist – einreicht, ist jedoch, so die Analyse, zugleich Ausdruck eines sinkenden Interesses. Bei anderen Fällen kann die Dynamik festgestellt werden, dass sie insbesondere in Zeiten, in denen die Parteiarbeit einen zunehmenden Stellenwert in ihrem Alltag bekommen hat, ausführlichere Lebensläufe erstellen, in welchen sie sich stärker als in früheren Lebensläufen als überzeugte Nationalsozialisten präsentieren. In diesen Fällen hat sich nicht die biographische Bedeutung einer Funktion geändert, vielmehr die Realisierung der damit verbundenen Erwartungen in der Zwischenzeit zunehmend eingestellt. Dies gilt etwa für Hans D. und Johann G., die beide im Jahr 1937 ausführliche und dezidiert nationalsozialistische Lebensläufe verfassen. Allerdings sind in den beiden entsprechenden extensiven Fallauswertungen prägnante Unterschiede hinsichtlich des Schreibkontextes und der Funktion dieser Präsentation für den Verfasser in der damaligen Situation analysiert worden.
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Inwieweit ein Thema vor allem in der Gegenwartsperspektive und bezogen auf die NSDAP ausgebaut und ihm damit auch biographische Relevanz zugeschrieben wird, kann durch die Kontrastierung verschiedener Selbstpräsentationen eines Funktionärs während und nach dem Nationalsozialismus verdeutlicht werden. Dies zeigt sich etwa bei der Analyse der Selbstpräsentationen von Helmut K. Seine Selbstdarstellung von 1939 verfasst er im Dezember, kurz nachdem er für einige Monate zur Wehrmacht eingezogen gewesen ist. Neben seiner beruflichen Entwicklung bis zu seiner Ernennung zum Bezirksnotar 1937 hebt er vor allem seine Militär- und Kriegsdienstzeiten und seine Verwundung im Ersten Weltkrieg hervor. In seinen Selbstdarstellungen in der Nachkriegszeit werden seine Militär- und Kriegsdienstzeiten kaum mehr erwähnt – dieses Thema ist gegenüber seiner beruflichen Entwicklung deutlich in den Hintergrund getreten. Dies führte zu der These, dass das Thema Kriegsdienst 1939 im Akt der Zuwendung zu seinem Lebenslauf an die NSDAP stark mit der Gegenwarts- und Adressatenorientierung zusammenhängt. Ihm kommt darüber hinaus aber keine dauerhafte Bedeutung in der Selbstpräsentation zu. Dagegen ist etwa für Johannes N. in allen seinen Selbstdarstellungen, aus NS- und Nachkriegszeit, seine Orientierung am Berufssoldatentum konstitutiv für seine Selbstdarstellung. Dies hängt in diesem Fall, wie in der Fallanalyse deutlich wird, auch mit deren Relevanz für sein gelebtes Leben zusammen.
4.1.7. Selbstpräsentationen und Verhalten im Spruchkammerprozess In der bisherigen Literatur werden Selbstdarstellungen und Angaben im Entnazifizierungsverfahren unterschiedlich eingeschätzt. Während nach den Erkenntnissen von Lutz Niethammer die Meldebögen zu »weit über 90% […] im Rahmen des Möglichen korrekt ausgefüllt«20 wurden, begegnet die Forschung den Ausführungen der Funktionäre während des Verfahrens in der Regel mit großer Skepsis. Was den »objektiven« Wahrheitsgehalt dieser Äußerungen angeht, geschieht das auch begründet. In vielen Fällen konnte in früheren Studien und auch im Rahmen dieser Arbeit aufgezeigt werden, wie viel die Funktionäre im Entnazifizierungsverfahren
—————— 20 Niethammer 1982, S. 569 und ff.
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verschwiegen und angesichts konkreter Belastungen leugneten.21 Hervorgehoben wird in der bisherigen Literatur ein stereotyper Charakter der angeführten Argumentationen.22 Unter Verweis auf spezifische Entnazifizierungsdiskurse kommt Christine Arbogast zu der Einschätzung, dass die Selbstpräsentationen der Belasteten letztlich mehr aussagen »über den allgemeinen gesellschaftlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit als über die jeweiligen Personen, die sich zu verantworten hatten.«23 Im folgenden Abschnitt soll aufgezeigt werden, inwieweit über ein fallrekonstruktives biographisches und textanalytisches Vorgehen durchaus einiges über Handlungsmuster und Sinnbezüge, die mit dem NS-Engagement zusammenhängen, aus Selbstpräsentationen im Entnazifizierungsverfahren herausgearbeitet werden kann. Hier finden sich im Vergleich zu den Selbstdarstellungen gegenüber der NSDAP in der Regel weitaus mehr Äußerungen zu Parteibeitritt und Funktionsausübung. Auch die angeführten Argumentationen erweisen sich bei einem fallrekonstruktiven Vorgehen in vielen Fällen nicht als bloß stereotype Reproduktionen der Entnazifizierungsdiskurse. Vielmehr können die Selbstpräsentationen der NSDAPFunktionäre im Spruchkammerverfahren als ein Prozess der selektiven Aufnahme und des Mitkonstituierens der westdeutschen Entnazifizierungsdiskurse vor dem Hintergrund verschiedener biographischer Fallstrukturen beschrieben werden.24 Einige Ergebnisse hinsichtlich des Verhaltens der untersuchten Gruppe im Spruchkammerverfahren können in ihrem Zusammenhang mit der biographischen Funktion einer Parteitätigkeit und dem Verlauf der Amtsausübung als typenspezifisch im Rahmen der Typologie (Kapitel 4.2.) formuliert werden. Im Folgenden werden weitere verallgemeinerbare Ergebnisse zu Selbstpräsentationen im Spruchkammerverfahren dargestellt. Nach der Formulierung der Struktur der untersuchten Selbstpräsentationen werden Prozesse diskutiert, wie die ehemaligen NSDAP-Funktionäre ihre Biographie und ihr Verhalten im Nationalsozialismus im Rückblick neu ordnen. Hier wird als handelnder Umgang mit den Bedingungen des Entnazifizierungsverfahrens Fokussiertes und Verleugnetes ebenso behandelt wie Reformulierungen der Lebensgeschichte bis 1933. Im letzten Ab-
—————— 21 Vgl. etwa Arbogast 1998, S. 199ff. 22 Vgl. Niethammer 1982, S. 610ff.; Arbogast 1998, S. 221ff. 23 Arbogast 1998, S. 217. 24 Zur Verbindung von Biographieforschung und Diskursanalyse vgl. Völter 2003, Schäfer/Völter 2005.
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schnitt wird am Beispiel der Darstellung des Parteibeitrittes im untersuchten sample aufgezeigt, inwieweit Argumentationen der belasteten NS-Funktionäre zugleich biographischen Bezug haben und als Ausdruck des aktiven Mitkonstruierens der westdeutschen Entnazifizierungsdiskurse zu verstehen sind. Zur Struktur der Selbstpräsentationen im Entnazifizierungsverfahren Verallgemeinernd kann auf der Grundlage der ausgewerteten Fälle formuliert werden, dass die Selbstpräsentationen der ehemaligen NSDAP-Funktionäre im Spruchkammerverfahren von zweierlei Bemühungen geprägt sind: Die früheren Funktionäre versuchen, möglichst unbescholten aus dem Verfahren zu kommen. Zugleich geht es ihnen darum, eine kohärente Darstellung ihres Lebenslaufs und eine Einbettung der NS-Belastung in diesen Lebenslauf zu liefern, die von ihnen selbst – zumindest in Teilen – als biographisch stimmig verstanden werden. Die Orientierung am Adressaten und dem Bedürfnis, möglichst »glimpflich davonzukommen« und der zeitgleiche Versuch, in der Darstellung einen Bezug zu biographischen Themen herzustellen, bilden das Spannungsgefüge, in dem diese Texte produziert werden: Eine Darstellung zu liefern, die Bezug zu biographischen Themen hat und zugleich der Entlastung dient. Dies bedeutet, dass etwa ein NS-Funktionär, der Zeit seines Lebens fundamentaler Gegner der Arbeiterbewegung war, nun nach Kriegsende nicht auf einmal eine frühere SPD-Nähe konstruiert.25 Dies hat aber auch zur Folge, dass die ehemaligen Funktionäre zuweilen, der biographischen Selbstsicht geschuldet, nicht unbedingt die im Rahmen des Verfahrens günstigsten Argumentationsweisen wählen und – je fallspezifisch – belastende Handlungen verteidigen, sei es der Parteibeitritt oder verschiedene Verhaltensweisen während der Funktionsausübung.26 Dies verstärkt die These, dass es den Betreffenden vielfach auch um subjektive Kohärenz der biographischen Darstellung geht. Andererseits werden biographische Themen jetzt, in Entlastungsabsicht und Zukunftsorientierung, anders gruppiert, gewichtet, ausgewählt
—————— 25 So wird im Entnazifizierungsverfahren hinsichtlich des Wahlverhaltens 1932 und 1933 nur in den wenigsten Fällen angegeben, damals SPD gewählt zu haben. In diesen Fällen, so ergab die Analyse, ist dies vor dem Hintergrund der Fallstruktur auch durchaus denkbar, so etwa im Fall Johannes N. oder Ludwig L. 26 Dieses Phänomen wird bereits von Lutz Niethammer kurz thematisiert, vgl. Niethammer 1982, S. 611.
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oder in den Hintergrund geschoben. Bei diesem Konstruktionsprozess ist unter anderem auch die Haltung der ehemaligen NSDAP-Funktionäre gegenüber dem Nationalsozialismus zum Zeitpunkt des Schreibens von Relevanz. Fokussieren, Verleugnen, Reformulieren: Der handelnde Umgang der ehemaligen Funktionäre mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen Bei der fallspezifischen und mehr oder weniger starken Neu-Ordnung der Biographie und der Darstellung des Verhaltens während des Nationalsozialismus orientieren sich die NS-Funktionäre in erheblichem Maß an den gesetzlichen Bedingungen des Entnazifizierungsverfahrens. (vgl. Kapitel 1.2.) Um nicht als Belasteter eingestuft zu werden – die für die unteren Funktionäre formal vorgesehene Einstufungskategorie – müssen die ehemaligen Funktionäre nachweisen, dass in ihrem Fall eine Einstufung als Minderbelasteter, Mitläufer oder Entlasteter gerechtfertigt sei. Insofern finden sich im Spruchkammerverfahren, sei es in Schreiben der Belasteten, Vernehmungsprotokollen oder Verhandlungsprotokollen, mehr Äußerungen hinsichtlich der eigenen Funktionsausübung und des Verhaltens im Nationalsozialismus als in den Selbstdarstellungen in den NSDAP-Personalakten. Auf der Basis der ausgewerteten Fälle können einige generalisierende Ergebnisse hinsichtlich auffindbarer Mechanismen formuliert werden, mittels derer die NS-Funktionäre im untersuchten sample während des Verfahrens ihre Biographie in Entlastungsabsicht neu ordnen. Die konkreten Reformulierungen erfolgen stets fallspezifisch und in unterschiedlichen Kombinationen. a) Fokussiertes: In der kontextbezogenen Restrukturierung der Darstellung der Funktionsausübung fokussieren die meisten ehemaligen Funktionäre im sample nun diejenigen Aspekte nationalsozialistischer Ideologie und Maßnahmen, mit denen sie nicht einverstanden waren. Sie schieben jetzt jene Situationen in den Vordergrund, in denen sie sich unter Handlungsdruck gefühlt haben und suchen nach Situationen, die als ein Zeichen für Hilfsbereitschaft gegenüber NS-Verfolgten gedeutet werden können. Sie besorgen sich sowohl Entlastungsschreiben für jene Felder nationalsozialistischer Parteitätigkeit, die nicht ihre persönliche Belastung betreffen als auch zielgerichtete Entlastungsschreiben, mit denen sie versuchen, den in der Klageschrift enthaltenen Belastungsvorwürfen zu begegnen. Auf diese Weise werden von vielen Funktionären Dimensionen der Zustimmung
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und individuellen Belastung in den Selbstdarstellungen weggelassen, verschwiegen und geradezu dethematisiert. Dies geschieht gleichwohl in den untersuchten Fällen in ganz unterschiedlichem Ausmaß, das jeweils fallspezifisch zu rekonstruieren und erklären ist. So gibt es auch Fälle wie Hans D., der zu Beginn des Verfahrens vor allem seine Begeisterung für den Nationalsozialismus zum Ausdruck bringt und erst in späteren Schreiben Aspekte des Dissenses thematisiert. In ihrem an Entlastung orientierten handelnden Umgang mit den Vorgaben und Möglichkeiten des Entnazifizierungsverfahrens führen ehemalige NSDAP-Funktionäre gegebenenfalls Kriegsgefangenschaft, Kriegsbeschädigungen und Krankheiten als spruchmildernde Aspekte an. Vielfach nutzen sie auch ein begrenztes Wissen der Spruchkammer aus: So wird etwa die in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre für Stuttgart nachweislich flächendeckend eingeführte Erfassungstätigkeit im Wohngebiet von den ehemaligen unteren Funktionären durchgängig nicht benannt. Diese Dimension der Parteitätigkeit war in den Jahren der Spruchkammertätigkeit nicht im Blickfeld der öffentlichen Kläger. Während des Verfahrens versuchen viele ehemalige Block- und Zellenleiter, nicht selten erfolgreich, ihre Tätigkeit in der Vorkriegszeit als ausschließliches »Beiträge-Kassieren« zu verharmlosen. Zudem nehmen ehemalige Funktionäre im sample – insbesondere in Fällen, in denen die Spruchkammerermittlungen eine starke Aktivität nahe legen – spezifische temporale Verschiebungen und thematische Fokussierungen ihres Engagements vor. Mehrere heben ein Engagement in den letzten beiden Kriegsjahren hervor, sei es im Luftschutz, in Aufräumarbeiten nach Bombenangriffen oder bei der Zuweisung von Wohnraum, so etwa Emil F. Dieses Aufrechterhalten der Heimatfront wird als soziales und humanitäres Handeln dargestellt. Dabei werden Deutsche als Opfer der Bombardierung fokussiert und entsprechende Entlastungsschreiben von Ausgebombten, die über die NSDAP-Ortsgruppe Unterstützung erhielten, besorgt. Hier stellen sich auch weiterführende Fragen, inwieweit gerade durch diese Selbstkonstruktionen im Kontext der Entnazifizierung bestimmte Nachkriegsdiskurse, die teilweise bis heute wirksam sind, befördert und mitproduziert werden. Ebenso wie die Darstellung als Kriegsgeschädigter befördert auch der Mechanismus, Hilfeleistung während des Bombenkrieges als Tätigkeitsfeld zu fokussieren, den Nachkriegsdiskurs »Deutsche als Opfer«. Es stellt sich, von diesen Ergebnissen ausgehend, die Frage, in-
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wieweit es genau diese im Kontext des Entnazifizierungsverfahrens hergestellten Selbstdarstellungen sind – als jemand, der Dissens mit dem Regime hatte, unter Druck gehandelt hat, gegebenenfalls Verfolgten geholfen hat und selbst durch das Regime geschädigt wurde – die von den Belasteten von da ab vertreten und bis heute an die folgenden Generationen weiter vermittelt werden.27 b) Verschwiegenes und Verleugnetes: Vor dem Hintergrund insbesondere des Interesses, möglichst unbescholten durch das Spruchkammerverfahren zu kommen, gibt es einige Themenbereiche, die von den Funktionären im untersuchten sample durchgängig nicht zugegeben werden: Zurückgewiesen wird jegliche direkte Beteiligung an nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, etwa Denunziationen oder die Beteiligung am Novemberpogrom 1938. Wenn beispielsweise NS-Funktionären im Verfahren die Urheberschaft einer Anzeige nachgewiesen werden kann, modifizieren die Belasteten ihre Unschulds-Argumentation, um sie weiter aufrechtzuerhalten. Dies konnte etwa im Fall der Anzeige eines Arbeiters beim Arbeitsamt durch Rudolf O. oder auch bei der Beteiligung von Willy W. am Novemberpogrom 1938 aufgezeigt werden. Ähnlich gehen Funktionäre mit weiteren gesetzesrelevanten und in der Klageschrift spezifisch thematisierten Aspekten um: In diesem Sinne weisen sie vielfach zurück, materiell »Nutznießer« gewesen zu sein oder Propaganda betrieben zu haben.28 c) Latentes: Nicht Thematisiertes, Verschwiegenes und Verleugnetes kann, wie die extensiven Fallanalysen zeigen, gleichwohl auf der latenten Ebene zum Ausdruck kommen. So bringen die ehemaligen Funktionäre in der Darstellungsweise der Funktionsausübung auch solche Bedeutungsgehalte, die die Parteitätigkeit für sie hatte und die sie auf der manifesten Ebene zurückweisen, auf der latenten Ebene zum Ausdruck: Die Relevanz der Macht- und Herrschaftsausübung konnte etwa bei den Fällen Johannes N., Willy W. oder Johann G. analysiert werden; die Relevanz öffentlicher Geltung etwa bei Rudolf O. Ambivalente Gefühle gegenüber der Funktionsausübung, die durch eine relative Distanz zur NSDAP bei der Funktionsübernahme und das gleichzeitige Bedürfnis nach kooperativer Zusammenarbeit in sozialen und politischen Zusammenhängen entstanden, konnten etwa bei Emil F. herausgearbeitet werden. Eine Verwirklichung
—————— 27 Vgl. hierzu etwa die Forschungsergebnisse bei Welzer/Moller/Tschugnall 2002, S. 205– 210. 28 Dies waren Belastungsbestände, für die nach Gesetzeslage eine Einstufung mindestens als Belasteter vorgesehen war.
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beruflicher Leidenschaften in den innerhalb der NSDAP gewählten Tätigkeitsfeldern wurde bei Eugen W. deutlich, der bei der Reorganisation der Parteistruktur für die DAF und später im Luftschutzbereich technische Zeichnungen anfertigt. Nicht thematisiert oder zurückgewiesen werden auf der manifesten Ebene auch antisemitische Einstellungen und Handlungen. Sie können gleichwohl in einigen der Selbstpräsentationen und Verhaltensweisen im Verfahren zum Ausdruck kommen. Dies gilt etwa für Johann G., der sich als früherer Angestellter im Passamt ein als »Entlastungszeugnis« gedachtes Schreiben vom früheren Leiter der Stelle für jüdische Auswanderung ausstellen lässt, dass er Angelegenheiten in der Zusammenarbeit mit dieser Stelle stets rasch und zuvorkommend erledigt habe. d) Reformulierung des Lebens bis 1933: Im Zuge des Spruchkammerverfahrens sind zudem in vielen Fällen – gegenüber den Selbstpräsentationen zur NS-Zeit – Reformulierungen der Lebensläufe und biographischen Bezüge von unteren NSDAP-Funktionären für die Zeit bis 1933 festzustellen. Dies kann der Absicht geschuldet sein, Distanz zum Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 ausdrücken zu wollen. Anderen Funktionären geht es zugleich oder stärker darum, Distanz zum Nationalsozialismus in der Gegenwart des Schreibens zum Ausdruck zu bringen und Wertbezüge zu benennen, die für ein nicht-nationalsozialistisches Verhalten in der Zukunft bürgen sollen. Sie orientieren sich damit auch an dem mit dem Entnazifizierungsverfahren verbundenen Ziel, das Verhalten der NS-Belasteten für die Zukunft einzuschätzen. So führen ehemalige Funktionäre jetzt etwa Bezüge zu Parteien und Vereinen der Arbeiterbewegung und Gewerkschaften für die Zeit vor 1933 als sozialisatorisch relevant an; dies ist etwa der Fall bei Johannes N., Rudolf O., August S. oder Ludwig L. Letzterer berichtet in seinem Lebenslauf von 1941 von einem Umzug der Familie 1914 infolge einer Versetzung seines Vaters; 1945 wird diese Versetzung als Strafversetzung des Vaters als Sozialist dargestellt, zwei Jahre später, bereits im Kalten Krieg, als Strafversetzung des Vaters als Sozialdemokrat bezeichnet. Andere Funktionäre geben jetzt frühere Mitgliedschaften in christlichen Studentenverbindungen oder überhaupt eine kirchliche Bindung für die Zeit bis 1933 an. In einigen Fällen, wie im Fall Eugen E., wird auch ein früheres Engagement in der DDP als Gewähr für eine demokratische Einstellung angegeben. Bei diesen angeführten nicht-nationalsozialistischen Bezügen aus der Zeit vor 1933 gilt es jeweils fallspezifisch einzuschätzen, welche Bedeutung diesen während des Nationalsozia-
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lismus zukam. Andere Funktionäre hingegen geben genau dieselben biographischen Daten und Bezüge an wie zur NS-Zeit, so etwa Hans D. (auf seine Präsentation 1934 bezogen) oder Karl Kn. Dies kann auch, wie die Analyse gezeigt hat, verschiedene, jeweils fallspezifische Gründe haben. e) Darstellungsspezifika bei Internierten: Im Rahmen der Entnazifizierungsverfahren gelten in Hinblick auf Selbstpräsentationen unterschiedliche Bedingungen für internierte und nicht-internierte frühere NSDAP-Funktionäre. Die im sample im Frühjahr 1947 Internierten werden dezidiert zum Schreiben eines Lebenslaufs sowie zum Schreiben einer vorläufigen Rechtfertigungsschrift aufgefordert. Als ein Ergebnis der Unterlagen der Internierten kann hier bereits festgehalten werden: Die getrennte Einforderung eines Lebenslaufs und eines Schreibens hinsichtlich der NS-Belastungen, die wohl aus verwaltungspragmatischen Gründen erfolgte, bietet den Funktionären die Gelegenheit, ihre Biographie aufzuteilen: in eine von aller NS-Belastung nicht tangierte Biographie, die als Nachkriegsbiographie fungieren konnte, und eine davon abgetrennte NS-Belastung. Dies ergibt die Analyse der Lebensläufe der Internierten, die von ihrer politischen Verstrickung in den Nationalsozialismus (nahezu) völlig bereinigt sind. Dies konnte etwa bei den Fällen Hans D. und Johann G. aufgezeigt werden. Die Darstellung von Parteibeitritt, Funktionsübernahme und -ausübung: Produktion und Reproduktion von Nachkriegsdiskursen im biographischen Kontext Bei der Auswahl der Argumente für die Hinwendung zum Nationalsozialismus und bei der Darstellung der Funktionsübernahme und -ausübung handelt es sich – entgegen bisheriger Einschätzungen – bei den ausgewerteten Fällen in der Regel nicht um eine lediglich standardisierte und stereotype Wiedergabe der Entnazifizierungsdiskurse. Die Argumentationen und Darstellungen sind vielmehr eng mit jenen biographischen Handlungsmustern und -orientierungen verbunden, die auch das spezifische Verhalten im Nationalsozialismus strukturiert haben. Die Präsentationen sind, wie die einzelnen Fallrekonstruktionen aufzeigen können, in einem erstaunlichen Maß verbunden mit den jeweiligen biographischen Erfahrungen und Sinnbezügen. Insofern konstruieren die Funktionäre mit ihren Argumentationen die Nachkriegsdiskurse in einem erheblichen Maße mit beziehungsweise wählen – interaktionistisch verstanden – aus dem Pool
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der Nachkriegsdiskurse diejenigen aus, die für sie »passen« und die mit ihrer Biographie verbunden sind. Es kann, wie die Auswertung zeigt, keineswegs davon ausgegangen werden, dass eine angeführte Argumentation tatsächlich unmittelbar den ausschlaggebenden biographischen Hintergrund eines Parteibeitrittes betrifft, zumal ohnehin ein fallspezifisches Zusammentreffen mehrerer Faktoren die Regel ist. Doch erlaubt ein fallrekonstruktives und textanalytisches Vorgehen, empirisch begründbar einzuschätzen, welche Funktion einem angeführten Argument im Rahmen der Selbstdarstellung fallspezifisch zukommt. Dazu gehört auch die Einschätzung, inwieweit Argumente durchaus mit zentralen biographischen Themen verbunden sind. Vor dem Hintergrund des Interesses einerseits nach Entlastung und andererseits nach subjektiv stimmiger Selbstdarstellung lassen sich verschiedene Formen des argumentativen Einbaus des Parteibeitrittes in die Biographie feststellen, die durchaus einen unmittelbaren thematischen Zusammenhang mit biographischen Themen aufweisen. In der Regel werden mehrere Argumente angeführt, die fallspezifisch kombiniert werden. Die Argumentation von Willy W., wären seine Freunde Kommunisten gewesen, wäre er womöglich Kommunist geworden, bekräftigt die in früheren Auswertungsschritten aufgestellte Hypothese, dass für Willy W. auch eine Suche nach einem ideologisch begründeten Gruppenzusammenhang beitrittsrelevant ist, als er im Herbst 1932 nach zweijährigem Krankenhaus- und Heilstättenaufenthalt in sein Wohnviertel zurückkehrt. Der als SA-Schläger bekannte Bruder bleibt hingegen unerwähnt. Eine solche Argumentation, sie hätten auch Kommunist werden können, wäre bei anderen Funktionären, etwa Johann G. oder Hans D. ziemlich abwegig. Mit beruflichen Orientierungen wird insbesondere von denjenigen argumentiert, für die auch in anderen Auswertungsschritten eine starke Berufsorientierung analysiert wurde: Ein NSDAP-Beitritt wird hier insbesondere mit der Absicherung von Positionen begründet. Dies gilt etwa für Emil F.: Sein starkes Bedürfnis, nach der Wirtschaftskrise die berufliche Entwicklung wieder zu stabilisieren, ist durchaus ein Grund für seinen Beitritt. Zuweilen werden auch berufsständische Argumente angeführt. Dies gilt etwa für den selbständigen Handwerksmeister Gustav R., insbesondere aber für verbeamtete Funktionäre. Deren Verbindung des Parteibeitrittes mit einer beruflich begründeten Staatsorientierung und -loyalität wird etwa in der Argumentation des Richters Adolf P. besonders deutlich: Dieser bezieht sich bei der Begründung seines Parteibeitrittes nicht auf vermeintlichen oder tatsächlichen
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Druck, sondern auf sein Selbstverständnis, als Richter der Erwartungshaltung des Staates an Loyalität zu entsprechen. Obwohl Lehrer, sind dementsprechende Argumentationen für Hans D. hingegen nicht von Relevanz: Er gibt nach 1945 pietistische Orientierungen wie eine Gemeinschaftsorientierung, Überkonfessionalität und »selbstlose Aufopferung« als das ihn Anziehende an der NS-Bewegung an. Starke Kritik an Parlamentarismus und Demokratie wird ebenfalls noch in der Nachkriegszeit als ein Faktor für die Entscheidung zum NSDAP-Beitritt angegeben. Solche Argumentationen finden sich etwa bei Hans D., der den »Parteienhader« vor 1933 kritisiert, sowie bei Rudolf O., der angesichts der Wirtschaftskrise eine »autoritäre Leitung« als sinnvolle Lösung erachtet. Auch Argumentationen von Druck im Entnazifizierungsverfahren sind in einigen Fällen durchaus als beitrittsrelevant analysiert worden; dies gilt etwa für Simon R. und Adolf F., die unter Androhungen des Arbeitsplatzverlustes und einer möglichen politischen Verfolgung in die Partei gedrängt wurden, aber auch für Ludwig L. und einige andere, die sich durch konkrete soziale und familiale Notlagen zum Parteibeitritt gedrängt sahen. In anderen Fällen erweisen sich angeführte Argumente im Zuge der intensiven Rekonstruktion als nicht unmittelbar thematisch mit den beitrittsrelevanten biographischen Themen verbunden. Hinsichtlich dieser Argumentationen besteht gleichwohl eine Verbindung zur Fallstruktur und zu biographischen Handlungsmustern auf anderen Ebenen: Selbst wo die Auswahl der Argumente beliebig, unüberlegt und taktisch durchsichtig erscheint, wird durch die gesamte Fallrekonstruktion und die sorgfältige Textanalyse ein Bezug zu biographischen Handlungsmustern erkennbar. Dies zeigte sich etwa bei der Fallanalyse von Johann G., der sich in seiner gesamten Argumentation offensiv-aggressiv wenig Mühe gibt, eine plausible Darstellung zu liefern. Damit bringt er seine Ablehnung gegenüber dem Verfahren zum Ausdruck. Hier handelt es sich um einen Fall, für den es kaum möglich ist, eine Argumentation zu konstruieren, die zugleich seiner Selbstsicht entspricht und einer Entlastung dienen soll. Die Textanalyse ergab zudem Hinweise auf seine noch andauernde Statusorientierung – als Polizist und als NSDAP-Ortsgruppenleiter. Die Auswahl der Argumente der ehemaligen Funktionäre zeigt auch, was von ihnen als »sagbar«, akzeptiert und mit der Nachkriegsgesellschaft kompatibel angesehen wird: Von den mentalitätsgeschichtlichen Bezügen eines »deutschen Sonderwegs« werden auch im Spruchkammerverfahren beispielsweise Orientierungen am beruflichen Status und den Vorgaben
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des jeweiligen Staates sowie starke Skepsis gegenüber Parlamentarismus und Demokratie als akzeptable biographische Orientierungen verteidigt. Auf andere, wie Antisemitismus, Revisionismus oder Imperialismus, wird kein Bezug mehr genommen. Auch in diesem Sinne können die Selbstpräsentationen der NSDAP-Funktionäre im Spruchkammerverfahren als ein Prozess des aktiven Mitkonstruierens der westdeutschen Nachkriegsdiskurse beschrieben werden. Die spezifische Beteiligung der einzelnen Funktionäre daran erfolgt vor dem Hintergrund der jeweiligen biographischen Erfahrungsaufschichtung und der darin eingebetteten spezifischen NS-Geschichte. Hier wurden Fragen aufgeworfen nach der Relevanz dieser im Entnazifizierungsverfahren konstruierten Selbstsichten für die Nachkriegszeit und die Bearbeitung der NS-Vergangenheit in der bundesdeutschen Gesellschaft, auch in transgenerationeller Perspektive.
4.2. Typen biographischer Bedeutung der NSDAPParteitätigkeit Im vorangegangenen Abschnitt wurden einzelne Aspekte der NSDAPParteitätigkeit im Kontext biographischer Fallstrukturen diskutiert. Daran anschließend werden in diesem Kapitel weitere theoretische Verallgemeinerungen in Form einer Typenbildung formuliert. Als ein zentrales Thema, das mehrere gegenstandsrelevante Aspekte idealtypisch zu bündeln vermag (vgl. Kapitel 2.4.), kristallisierte sich im Forschungsprozess zunehmend die biographische Bedeutung einer NSDAP-Tätigkeit heraus. Sie erwies sich in der Analyse als ein den Verlauf der Funktionsausübung maßgeblich steuerndes Moment. Darüber hinaus steht sie auch in einem sinnlogischen Zusammenhang mit dem Verhalten der Funktionäre im Spruchkammerverfahren.29 Daher wurde die biographische Bedeutung der Parteitätigkeit zur Grundlage der folgenden Typenbildung gemacht. Die Typologie zeigt auf, dass die biographische Bedeutung der Parteitätigkeit mit einem bestimmten Verlauf der Parteitätigkeit und einem bestimmten Verhalten im Spruchkammerverfahren korrespondiert. Es wurden vier Typen biographischer Bedeutungen einer NSDAP-Funktionstä-
—————— 29 Vgl. zur Sinnadäquanz bei der Bildung von Typen Weber 1980 (zuerst 1921), S. 10.
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tigkeit auf der Grundlage der Ergebnisse der Fallrekonstruktionen und Globalanalysen gebildet: – Typus 1: NSDAP-Parteitätigkeit als biographische Chance – Typus 2: NSDAP-Parteitätigkeit als Modifikation biographischer Handlungsorientierungen angesichts veränderter Herrschaftsverhältnisse – Typus 3: NSDAP-Parteitätigkeit als Instrument zur Fortsetzung anderer biographischer Handlungsorientierungen – Typus 4: Beitritt und Funktionsausübung als erzwungener Bruch mit biographischen Handlungsorientierungen Die idealtypisch angelegten Verläufe sind jedoch keineswegs die in der Empirie allein möglichen. Die Typenbildung dient vielmehr dazu, die einzelnen in der Empirie vorkommenden Fälle im Sinne eines je spezifischen »Abstands« innerhalb der Typologie verorten zu können.30 Zu zwei Typen wurden Untertypen gebildet. Zudem kann es zu Wechseln von einem zu einem anderen Typus kommen (zu entsprechenden Veränderungen im Verlauf einer Parteikarriere vgl. Kapitel 4.1. und 6.1.). Obwohl alle Fälle im sample im Sinne einer »Abstandsmessung« innerhalb der Typologie verortet werden können, erhebt diese nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Eine Ergänzung durch weitere Typen und Untertypen ist möglich. Diese Typologie soll den empirischen Befund verdeutlichen, dass die biographische Bedeutung einer NSDAP-Parteitätigkeit für den Verlauf der NSDAP-Tätigkeit innerhalb der NSDAP-Ortsgruppen erheblich relevanter ist als andere in der Literatur fokussierte Aspekte bei der Untersuchung von NSDAP-Mitgliedern und Funktionären. So vermag sie den Verlauf der Funktionsausübung erheblich besser zu erklären als soziale Merkmale wie Alter, soziale Herkunft und Lage oder Parteieintrittsdatum.
4.2.1. Typus 1: NSDAP-Parteitätigkeit als biographische Chance Dieser Typus wird von Fällen repräsentiert, für die die Ausübung einer NSDAP-Funktion eine biographische »Chance« darstellt. Über die Funktionsausübung werden zentrale biographische Handlungsentwürfe und -muster realisiert, die im bisherigen Leben gar nicht oder unter nun wegfal-
—————— 30 Vgl. ebd.
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lenden Schwierigkeiten gelebt wurden.31 Bei den Funktionären, die diesen Typus repräsentieren, handelt es sich um sehr engagierte, aktive Parteimitarbeiter und überzeugte Nationalsozialisten, die eng an das NS-System gebunden sind. Für die Realisierbarkeit dieser Entwürfe sind insbesondere die Bedingungen des Nationalsozialismus an der Macht relevant. Diese Funktionäre übernehmen zahlreiche Funktionen. Ihre Bindung an das NSSystem besteht auch über 1945 hinaus und kommt im Spruchkammerverfahren deutlich zum Ausdruck. Die Parteitätigkeit kann mit sehr unterschiedlichen biographischen Themen verbunden sein, die sich auch in konkreten Formen und Feldern der Funktionsausübung niederschlagen. Die biographisch relevanten Themen können in Verbindung mit einer seit Jahren bestehenden nationalsozialistischen Gesinnung stehen. Es kann sich dabei aber ebenso um Themen handeln, die zunächst nicht mit nationalsozialistischen Inhalten verbunden waren. Auch der Zeitpunkt der Hinwendung zum Nationalsozialismus und der Zeitpunkt des Beitritts zur NSDAP können variieren, sie können sowohl vor als auch nach der Machtübernahme liegen. Entscheidend für diesen Typus ist, dass es bei der Funktionsausübung um eine früher überhaupt nicht erfolgte oder mit Schwierigkeiten verbundene Realisierung zentraler biographischer Themen geht. Diese beiden Konstellationen führen zur Bildung zweier Untertypen: Untertypus 1.1.: Funktionsausübung als legitimiertes Ausleben einer bislang negativ sanktionierten Handlungsstruktur Dieser Untertypus wird repräsentiert von Fällen, für die eine Funktionsausübung ein nun legitimiertes Ausleben einer bislang negativ sanktionierten Handlungsstruktur bedeutet. Für sie ist von besonderer Relevanz, dass jene Bestandteile ihrer Geschichte, die früher negativ sanktioniert wurden, in den Reihen der NSDAP und im NS-System anerkannt und honoriert werden. Diesen Typus verkörpert ein aktiver Funktionär, dessen Funktionsausübung durch eine gewaltförmige Handlungsstruktur geprägt ist. Vertreter dieses Untertypus sind besonders eng an den Nationalsozialismus gebunden, da eine seit Jahren praktizierte gewaltförmige biographische Handlungsstruktur nun vom nationalsozialistischen System legitimiert und honoriert wird.
—————— 31 Zu biographiebezogenen Chancen und Handlungsentwürfen und zu – in der biographischen Artikulation – Gelebtem und Nicht-Gelebtem vgl. Schütz/Luckmann 1979, S. 124ff.
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Die Hinwendung zum Nationalsozialismus und die Organisierung innerhalb der NSDAP erfolgt bei demjenigen, der im vorliegenden sample diesen Typus repräsentiert, bereits vor 1933; prinzipiell kann der Parteibeitritt bei Angehörigen dieses Typus aber auch erst nach der Machtübernahme liegen. Funktionäre, die diesen Typus repräsentieren, bringen einen Habitus der Überlegenheit und nicht selten eine Anspruchshaltung aufgrund ihrer von Gewalt geprägten »Erfolge« oder ihrer »Opfer« während der »Kampfzeit« der Bewegung in ihrer Tätigkeit und in der Interaktion mit der Partei zum Ausdruck. Dies führt unter Umständen auch zu Eigenmächtigkeit im Handeln innerhalb der Organisation oder zu Konflikten zwischen den »alten Kämpfern« und der Parteiverwaltung nach der Machtübernahme. Innerhalb der Ortsgruppen-Organisation haben sie im Falle einer frühen NS-Orientierung beziehungsweise Mitgliedschaft gute Aufstiegschancen, ihre Unberechenbarkeit kann aber auch zu einem Hindernis für eine Parteikarriere werden. Vertreter dieses Typus behalten nationalsozialistische Einstellungen, eine enge Bindung an das NS-System und ihre Handlungsstrukturen über 1945 hinaus bei, mit geringer Bereitschaft, diese aufzugeben. Dies schlägt sich auch in ihrem Verhalten im Spruchkammerprozess nieder. Der Polizist Johann G. (*1893) repräsentiert im untersuchten sample diesen Untertypus. Die Fallanalyse erwies Johann G. als überzeugten Nationalsozialisten, dessen Amtsausübung als NSDAP-Ortsgruppenleiter ab 1937 von Brutalität und Willkür gekennzeichnet ist. Diese spezifische Amtsausübung steht im Kontext einer allgemeinen biographischen Handlungsstruktur, die bereits für die 1920er Jahre nachweisbar ist. Phasen der Ordnung, Disziplin und Einordnung in die jeweilige Hierarchie werden durchbrochen durch unkontrollierte Wutausbrüche, exzessiven Alkoholmissbrauch und Gewalttaten, insbesondere rechtsextrem motivierte Gewalttaten. Die Handlungsstruktur von Johann G. ist mit den Anforderungen der Polizei in der Weimarer Republik unvereinbar: 1926 wird er aus dem Polizeidienst entlassen. Der NSDAP-Beitritt 1931 und die erste Funktionsübernahme 1932 stehen in Kontinuität mit einer Orientierung an uniformierten und bewaffneten Institutionen und rechtsextremen Einstellungen spätestens ab Ende des Ersten Weltkrieges. Der Parteibeitritt erfolgt Anfang 1931 zu einem Zeitpunkt, als Wahlerfolge und Parteieintritte stark zunehmen. Zu dieser Zeit wird auch deutlich, dass innerparteiliche Reputation, die auch bei einer möglichen künftigen Veränderung der Herrschaftsverhältnisse geltend gemacht werden kann, mit einem frühen Parteibeitritt in Verbindung gebracht wird. Johann G. dokumentiert nun durch seinen Beitritt seine nationalsozialistische Gesinnung. Mit der NS-Gewaltstruktur ist seine Handlungsstruktur kompatibel. Die Wiederaufnahme in die Polizei nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und außerordentlich schnelle Beförde-
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rungen bestätigen ihn in seiner Handlungs- und Deutungsstruktur. Zwar wird er auch innerhalb des Parteiapparates wegen seines Verhaltens mehrfach gerügt und verwarnt, andererseits werden aber seine Gewalttaten gegenüber Kommunisten in der »Bewegungsphase« explizit honoriert und wird ihm vor deren Hintergrund der Posten als Ortsgruppenleiter der NSDAP in einem Stuttgarter Arbeiterviertel übertragen.
Neben Fällen mit einer körperlich-gewalttätigen Handlungsstruktur wären diesem Untertypus auch Fälle zuzurechnen, bei denen nationalsozialistische Deutungsmuster den Hintergrund früherer negativer Sanktionierungen (oder früherer Selbstbeschränkungen auf Grund befürchteter Sanktionierungen) darstellen. Untertypus 1.2.: NSDAP-Funktion als Gelegenheit zur Realisierung bislang nicht gelebter biographischer Entwürfe Diese Ausprägung wird von Fällen repräsentiert, bei denen mit einem NSDAP-Beitritt und der Übernahme und Ausübung einer Funktion biographische Handlungsentwürfe und -orientierungen realisiert werden, die bis dahin nicht verwirklicht werden konnten. Die Übernahme einer NSFunktion im Nationalsozialismus an der Macht wird hier als Chance zur Verwirklichung von bislang nicht Gelebtem ergriffen. Dabei werden zentrale biographische Themen auf ein NS-Engagement übertragen beziehungsweise durch ein NS-Engagement verwirklicht. Die biographischen Orientierungen, die in der NS-Funktion umgesetzt werden, können unterschiedlichen Inhalts sein. Sie sind ursprünglich nicht unbedingt an nationalsozialistische Inhalte gebunden. Es kommt darauf an, dass die Vertreter dieses Typus sie in der aktiven Unterstützung für die NSDAP subjektiv realisieren können. Der Parteibeitritt kann bei Repräsentanten dieses Typus sowohl vor als auch nach 1933 liegen. Im untersuchten sample handelt es sich um Fälle, die am Ende der Bewegungsphase den Nationalsozialismus entdecken, weil bestimmte Aspekte der NS-Bewegung für sie relevante biographische Themen ansprechen und ihnen die Erfüllung eines biographischen Bedürfnisses verheißen. In den analysierten Fällen allerdings gewährleistet insbesondere der Umstand, dass der Nationalsozialismus ab 1933 an der Macht ist, die Realisierbarkeit dieser Themen. Dies sichert dem Regime bleibende Begeisterung von den Repräsentanten dieses Untertypus. Die Vertreter dieses Untertypus sind bereit, nationalsozialistische Ideen weitgehend zu übernehmen und sind eng gebunden an das NS-System. Sie
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übernehmen zahlreiche Funktionen, ihre Funktionsausübung ist engagiert. Sie hat bei diesen Fällen erhebliche biographische Relevanz. Ihr Engagement für den Nationalsozialismus kann hinsichtlich der Form und bevorzugter Tätigkeitsfelder in der Amtsausübung auch eine deutliche Eigenlogik aufweisen. Die Parteitätigkeit ist mit den biographischen Themen, die damit bearbeitet werden, verbunden. Das gilt besonders für die Fälle, in denen das mit der NSDAP-Funktion realisierte biographische Projekt ursprünglich eigene ideologische Bestandteile hat. Wegen der Erstmaligkeit oder Einmaligkeit ihrer Chance sind sie jedoch bereit, Widersprüche zu glätten oder Unstimmigkeiten gar nicht erst wahrzunehmen. Die Bindung an den Nationalsozialismus ist über das Kriegsende hinaus in den Äußerungen im Spruchkammerverfahren erkennbar. Mitunter sind erste Schritte der allmählichen Abkoppelung des biographischen Themas vom Nationalsozialismus erkennbar. Aufgrund der biographischen Relevanz, die das NSDAP-Engagement für diese Fälle gehabt hat, wird die Bindung vermutlich auch weiter bestehen bleiben. Dies ist umso mehr der Fall, je weniger die biographischen Themen künftig in anderen Feldern realisiert werden können. Hans D. und Willy W. gehören beide diesem Typus an. Hinsichtlich sozialer Merkmale wie Alter, Schichtzugehörigkeit oder soziale Lage bei Parteibeitritt weisen die beiden Fälle starke Unterschiede auf. Auch die Ausübung der Funktion ist unterschiedlich. Die Unterschiede in der Funktionsausübung ergeben sich insbesondere dadurch, dass sie mit ihrer NSDAP-Funktion sehr unterschiedliche lebensgeschichtliche Projekte realisieren. Sie gehören jedoch beide diesem Typus an: Der Fall des Lehrers Hans D. (*1889) ist geprägt durch spezifische Sozialisationsbedingungen als Sohn eines pietistischen Missionars. Nach einer Abwendung von seinem weithin negativ erlebten pietistischen Lebensumfeld in Kindheit und Jugend lebt Hans D. mit einem Engagement für die NSDAP gleichwohl Bedürfnisse nach einer Lebensweise aus, die durch soziokulturelle pietistische Orientierungen und Handlungsmuster geprägt ist. Er überträgt diese Lebensweise auf ein hingebungsvolles Engagement für den Nationalsozialismus, konstruiert ideologische Kompatibilitäten zwischen Nationalsozialismus und Pietismus und übernimmt zahlreiche Funktionen innerhalb der NSDAP. Das NS-Engagement wird – ähnlich wie in Missionarsfamilien – als Familienprojekt angelegt, in dem alle Familienmitglieder organisiert und aktiv sind. D. tritt nach einem Umzug nach Stuttgart, das mit der Familiengeschichte eng verbunden ist, 1931 in den nationalsozialistischen Lehrerbund ein und wird dort aktiv. Nach der Machtübernahme tritt er der NSDAP bei und übernimmt auch dort bald Funktionen.
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Auch der Fall Willy W. (*1912) gehört zu diesem Untertypus. Der Beitritt in die SA und kurz darauf in die NSDAP erfolgt in diesem Fall im Herbst 1932, 20-jährig, unmittelbar nach einem zweijährigen Aufenthalt in Krankenhaus und Lungenheilstätte. W., aus schwierigen sozialen und familialen Verhältnissen kommend, tritt der SA und der NSDAP in einer relativ perspektivlosen Lebenssituation und in Orientierung an dem zwei Jahre älteren Bruder bei, der als SA-Schläger bekannt ist. Der Übergang von der SA in die Parteiorganisation und die Übernahme einer Funktion bietet ihm eine Aufgabe, innerparteiliche Anerkennung und – insbesondere durch die Machtübernahme – eine gesamtbiographische Perspektive. Dies gilt auch für eine berufliche Entwicklung, die über die NSDAP vermittelt und kontinuierlich befördert wird. Bereits 1934 wird W. NSDAP-Ortsgruppenleiter. Er wird auch innerparteilich kontinuierlich gefördert, geschult und 1944 noch für eine weitere Parteikarriere vorgeschlagen. Er ist ein Beispiel für eine sehr aktive, drohend-herrische Funktionsausübung im Kontext der Sozialisation innerhalb der NSOrganisationen, bei der die gesamte NS-Propaganda übernommen wird. Zustimmung und Einsatz für das NS-System halten bis zur Zerschlagung des NSSystems an und kommen auch im Spruchkammerverfahren noch deutlich zum Ausdruck.
4.2.2. Typus 2: NSDAP-Parteitätigkeit als Modifikation biographischer Handlungsorientierungen angesichts veränderter Herrschaftsverhältnisse Dieser Typus wird repräsentiert von Fällen, die mit und durch eine NSDAP-Funktionsausübung biographische Handlungsmuster unter den veränderten Herrschaftsverhältnissen weiterleben. Die mit der Funktionsausübung weitergelebten Handlungsorientierungen und -muster waren vor der Organisierung in der NSDAP nicht mit der NS-Bewegung verbunden. Bei diesem Typus finden sich auch Fälle, die vor 1933 der Sozialdemokratie nahe standen oder in Gewerkschaften aktiv waren. Ähnlich wie bei Typus 1 »biographische Chance« hat bei diesen Fällen speziell die Funktionsausübung biographische Relevanz. Sie unterscheiden sich vom Typus 1 aber durch ihre strukturelle Flexibilität. Von Typus 1.1. unterscheiden sie sich darin, dass sie früher wegen dieser Handlungsmuster weder negative Sanktionen erfuhren noch Schwierigkeiten hatten. Von Typus 1.2. unterscheiden sie sich dadurch, dass sie schon bestehende Handlungsorientierungen, die sie während des Kaiserreiches und der Weimarer Republik auf andere Weise bereits gelebt haben, über eine NSDAP-Funktion weiterzuleben versuchen. Die mit der Parteitätigkeit verbundenen biographischen
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Themen haben sie bereits früher in anderen Feldern gelebt. Für sie wird durch die Veränderung der Machtverhältnisse eine Modifikation eines Handlungsmusters subjektiv nötig oder möglich. Da sie die Erfahrung haben, dass diese Themen potentiell auch in anderen Feldern realisierbar sind, ist ihre Bindung an die NSDAP-Funktion weniger stark als beim Typus 1. Diese biographische Konstellation führt zu einer anderen Dynamik hinsichtlich des Verlaufs der Parteiausübung. Der Parteibeitritt erfolgt selbstinitiativ, Repräsentanten dieses Typus treten vor allem nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die NSDAP ein. Im sample repräsentieren aber auch Fälle diesen Typus, die bereits vor 1933, also im Kontext sich verändernder Machtverhältnisse am Ende der Weimarer Republik in die NSDAP eingetreten sind. Im Akt der Umorientierung vollziehen die Repräsentanten dieses Typus ideologische Anpassungsvorgänge. Sie sind bereit zu raschen Umdefinitionen im Dienst der Fortsetzung bestimmter biographischer Handlungsorientierungen. Frühere Überzeugungen werden umgedeutet, Skrupel beiseite gedrängt. Funktionäre, die diesen Typus repräsentieren, übernehmen bereits sehr früh, oft schon einige Wochen oder Monate nach dem Parteibeitritt, NSDAP-Funktionen. Innerhalb der Ortsgruppenorganisation erfolgt ein rascher Aufstieg. Die Funktionsausübung ist sehr engagiert, aber wegen ihrer Verbindung mit den spezifisch verfolgten Handlungsorientierungen beziehungsweise den biographischen Fallstrukturen mit Eigenlogiken versehen, die unter Umständen auch zu Konflikten mit dem NSDAP-Apparat führen können oder zu inneren Konflikten und Schwankungen im NSEngagement. Diese entstehen vor allem dann, wenn Bestandteile der verfolgten Handlungsorientierung nicht umgesetzt werden können oder mit dem NS-System nicht vereinbar sind. Auch wirken Bestandteile, die früher mit diesen biographischen Orientierungen verbunden waren und mit den Erwartungen der NSDAP an die Funktionäre nicht kompatibel sind, in die Funktionsausübung hinein. Sie führen bei diesem Typus potentiell zum Konflikt mit dem Parteiapparat. So kann es bei Funktionären, die den Typus »Modifikation« repräsentieren, nach einigen Jahren zum Konflikt mit Vorgesetzten, zur partiellen Abwendung vom Parteiapparat und zu Umorientierungen kommen. Dieser Typus, der so flexibel ist, Handlungsorientierungen in verschiedenen Systemen oder Bereichen zu verwirklichen, ist auch eher als Typus 1 »biographische Chance« in der Lage, ein alternatives Feld zur Umsetzung seiner
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Handlungsorientierungen zu finden. Bis zum Ende des Regimes lassen es Funktionäre dieses Typus aber nicht zum Bruch mit der NSDAP kommen. Im Spruchkammerverfahren distanzieren sich die Vertreter dieses Typus stark vom Nationalsozialismus. Sie präsentieren sich über die Differenzen, die sie mit dem Nationalsozialismus oder einzelnen Vorgesetzten und NS-Feldern hatten. Das mit ihren biographischen Handlungsmustern zumindest zeitweise eng verflochtene NS-Engagement wehren sie ab. Nach 1945 wird bei den Vertretern spezifisch dieses Typus überaus deutlich, dass sie danach trachten, ihre weiter bestehende biographische Handlungsorientierung, die sie zum Beitritt in die NSDAP brachte, unter den veränderten Bedingungen der Besatzung und der frühen Bundesrepublik wiederum umzusetzen. Der leitende Angestellte Rudolf O. (*1902) repräsentiert diesen Typus. Seine Lebensgeschichte wird strukturiert durch eine Orientierung an einem beruflichen Aufstieg und – dieser nachgeordnet aber gleichwohl vorhanden – gesellschaftlicher und politischer Aktivität und Anerkennung. Diese Orientierungen sind teilweise bereits im sozialdemokratisch und gewerkschaftlich organisierten Elternhaus vorhanden, werden von ihm aber mit Ehrgeiz und Ungeduld in einer Dynamik der »Abgrenzung und Kontinuität« modifiziert verfolgt. Nach einer frühen Funktionsübernahme in einer liberalen Gewerkschaft arbeitet er in der zweiten Hälfte der 1920er vor allem an seinem beruflichen Aufstieg. 1933 sieht er für sich eine Chance für politische Aktivität und Funktionsübernahme in der NSDAP an der Macht. Er übernimmt schnell zahlreiche Funktionen auf Ortsgruppenebene, präsentiert sich nach außen vielfach in Uniform und über seine Funktion als Pressewart, in der er zahlreiche Artikel über politische und kulturelle Veranstaltungen verfasst. Ende der 1930er kommt es zu Auseinandersetzungen mit dem Ortsgruppenleiter, in denen er sich anlässlich von Vorfällen in seinem Herkunftskontext kritisch über nationalsozialistische Maßnahmen äußert. Einige Zeit später wird er – beim Weggang des Ortsgruppenleiters zur Wehrmacht – nicht als dessen Vertreter eingesetzt. In den folgenden Jahren zieht Rudolf O. sich partiell aus der Ortsgruppenarbeit zurück und verlegt seinen Wirkungsbereich vor allem in den Betrieb. Gegen Ende des Krieges hilft er in einigen Fällen Verfolgten. Ein weiterer Vertreter dieses Typus ist der frühere Berufssoldat und kaufmännische Angestellte Johannes N. (*1889). Eine während des Kaiserreiches erworbene spezifische berufssoldatische Prägung bestimmt N.s weitere Biographie, etwa seine gleichermaßen loyale Haltung gegenüber der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus an der Macht, die er aktiv zum Ausdruck bringt. Bekundet er seine Staatsloyalität nach 1918 über sein Handeln als Soldat in den die Republik verteidigenden Schutzmannschaften, so bringt er seine Staatsloyalität 1933 – mittlerweile ausgeschieden aus dem Militär – mit seinem NSDAP-Beitritt und aktiver Funktionsausübung zum Ausdruck. Noch um die Jahreswende 1932/33 der Sozialdemo-
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kratie nahe stehend, tritt er im Frühjahr 1933 in die NSDAP ein und übernimmt bald, rasch aufsteigend, Funktionen. Unter anderem enttäuscht von seinem NSMentor, einem Ortsgruppenleiter, äußert er sich seit 1935 zunehmend kritisch über Personen und Maßnahmen der NSDAP. Dies endet 1938 in der Enthebung von der Funktion als Ortsgruppengeschäftsführer. Eine erneute NSDAP-Funktionsübernahme 1940–1944 hingegen ist gekennzeichnet durch einen Machtausbau im Kasernenhofstil innerhalb einer Wohnsiedlung als NSDAP-Zellenleiter und Vertrauensmann der städtischen Siedlungsgenossenschaft: N. agiert in Verbindung dieser beiden Ämter im Stil eines Feldwebels beziehungsweise als »Ortsgruppenleiter im Kleinen« drohend und schikanierend. Nach 1945 will er im Spruchkammerprozess diese Tätigkeit als unpolitisch darstellen. Es sei lediglich seine Aufgabe gewesen, angesichts der Kriegssituation Ordnung in die Siedlung zu bringen.
4.2.3. Typus 3: NSDAP-Parteitätigkeit als Instrument zur Fortsetzung anderer biographischer Handlungsorientierungen Dieser Typus wird repräsentiert von Fällen, für die eine NSDAP-Funktionsübernahme instrumentelle Bedeutung hat. Den Vertretern dieses Typus geht es darum, mit ihrer NSDAP-Funktion während des Nationalsozialismus an der Macht andere, nicht konkret mit der Parteitätigkeit verbundene biographische Handlungsorientierungen fortzusetzen oder nicht zu gefährden, etwa ein politisches Selbstverständnis als Nationalsozialist, eine berufliche Karriere, oder ein berufliches Selbstverständnis etwa als Beamter, eine Sicherung oder Verbesserung der familialen Situation etc. Der Parteibeitritt geschieht selbstinitiativ oder auf Aufforderung, etwa im beruflichen Kontext. Er kann unterschiedliche biographische Funktionen haben, was bei diesem Typus zur Bildung von Untertypen führt. Der Beitritt kann auch zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgen, sowohl vor als auch nach 1933. Spätestens im Zuge des Beitritts findet ein ideologisches Zurechtlegen der Entscheidung statt. Diese Funktionäre übernehmen – in unterschiedlichem Ausmaß – nationalsozialistische Einstellungen. Entscheidend für die Funktionäre, die diesen Typus repräsentieren, ist, dass sie an einer Funktionsübernahme wenig Interesse haben. Ihr kommt zumindest keine besondere biographische Relevanz zu. Sie übernehmen Funktionen nur auf Aufforderung. Einige versuchen, Funktionen nicht übernehmen zu müssen oder sie abzugeben. Sie riskieren allerdings keine Konflikte, um nicht die Fortsetzung ihrer Handlungsorientierung in anderen Bereichen zu gefährden. Die Ausübung der Funktion ist nicht beson-
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ders engagiert. Die Repräsentanten dieses Typus machen weitgehend Dienst wie vorgeschrieben und geben keinen Anlass zu innerparteilichen Beschwerden. Sie funktionieren somit gut und bilden eine wesentliche Stütze des Parteiapparates. Sie sind nicht bei denjenigen, die innerhalb der Ortsgruppenhierarchie schnell aufsteigen. Erst in den letzten Kriegsjahren nehmen sie – angesichts langjähriger Mitarbeit und zunehmenden Personalmangels – oftmals Vertretungsposten in der Ortsgruppenverwaltung ein. Als die Kriegsniederlage offensichtlich und die instrumentelle Bedeutung ihrer Funktionsausübung perspektivisch obsolet wird, sinkt ihre Bereitschaft zur unauffälligen und reibungslosen Mitarbeit. Nach 1945 distanzieren die Vertreter dieses Typus sich in erheblichem Maß vom Nationalsozialismus. Sie betonen, dass sie keine Funktion übernehmen wollten, stellen die Funktionsübernahme als unter Erwartungsdruck erfolgt dar und weisen so jede Verantwortung für ihr Handeln von sich. Hier gibt es auch Unterschiede zwischen den gebildeten Untertypen. Bei diesem Typus kann sich – im Gegensatz zu den anderen Typen – die biographische Bedeutung des Parteibeitrittes von der der Funktionsausübung unterscheiden. Daher werden zu diesem Typus Untertypen gebildet, die den Zusammenhang zwischen Parteibeitritt und Funktionsübernahme betreffen. Untertypus 3.1.: Funktionsausübung als Instrument zur Dokumentation nationalsozialistischer Gesinnung Für Funktionäre, die diesen Untertypus repräsentieren, hat der Parteibeitritt, der einer späteren Funktionsübernahme teilweise erheblich vorausgeht, eine eigenständige biographische Relevanz. Er hängt mit politischbiographischen Handlungsorientierungen zusammen und ist – im Gegensatz zu Untertypus 3.2. – nicht vorwiegend instrumentell. Der Beitritt ermöglicht ihnen, politische und biographische Orientierungen zum Ausdruck zu bringen. Der Beitritt kann sowohl vor als auch nach 1933 erfolgen. Unter den Repräsentanten dieses Untertypus sind sowohl Fälle, die bereits lange vor ihrem Beitritt sich dem Nationalsozialismus zugewandt haben, als auch Fälle, die erst im Kontext veränderter Herrschaftsverhältnisse Nationalsozialisten werden. Ihnen gemeinsam ist, dass sie mit dem Beitritt biographisch-politische Handlungsorientierungen verbinden, mithin explizit in die NSDAP als politische Partei eintreten wollen, an einer Funktionsausübung jedoch – vor dem Hintergrund unterschiedlicher Fallstruktu-
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ren – kein Interesse haben. Diese ist instrumentell und steht im Dienste der Nichtgefährdung ihrer Parteimitgliedschaft und der damit zum Ausdruck gebrachten Gesinnung und Zugehörigkeit zum nationalsozialistischen Lager. Unterschiede zum Typus 3.2. zeigen sich bei Repräsentanten dieses Typus unter anderem in ihrem sonstigen Verhalten im Nationalsozialismus jenseits der Parteitätigkeit. Auch das Verhalten im Spruchkammerverfahren ist vor diesem Hintergrund etwas anders konturiert. So wird etwa der Beitritt vielfach nach 1945 noch verteidigt. An verschiedenen Stellen werden auch nationalsozialistische Praktiken, innerhalb oder jenseits der Parteitätigkeit, als unpolitisch kaschiert. Betont wird hingegen das Desinteresse an der Funktion. Dass der instrumentelle Typus mit wenig Interesse an einer Parteifunktion nicht gleichbedeutend sein muss mit beschränkter Unterstützung des NS-Regimes, zeigt der Fall Adolf P. (*1896) Er tritt im Frühjahr 1933 in die NSDAP ein. Bei ihm spielt ein berufliches Selbstverständnis als Richter, das er nach der Machtübernahme nationalsozialistischen Bedingungen anpasst, eine hervorgehobene Rolle für seinen Beitritt. Er kommt Erwartungen des Regimes nach »Loyalität« nach und übernimmt dessen Vorgaben als loyaler Richter. Auf Aufforderung übernimmt er ein Blockleiteramt, das er weitgehend zur Zufriedenheit der Parteidienststellen ausübt. Als Sonderrichter am Stuttgarter Sondergericht ab 1938 fällt er zahlreiche Todesurteile und wird zum NS-Täter. Viele der Todesurteile werden von ihm im Spruchkammerprozess noch verteidigt. Mehrfach versucht er, aufgrund einer Schwerbeschädigung aus dem Ersten Weltkrieg die Parteifunktion abzugeben – niemals jedoch seine Funktion als Richter und Sonderrichter. Er bleibt Parteifunktionär und Sonderrichter bis 1945. Zu diesem Untertypus gehört auch der selbständige Flaschnermeister Georg R. (*1885). Er tritt 1932 der NSDAP bei. Dieser Beitritt ermöglicht ihm hinsichtlich seiner Fallstruktur – die ein Pendeln zwischen konventionellem und regelbrechendem Handeln darstellt – zweierlei: Ein (vermeintliches) Vertreten seiner Interessen als Handwerksmeister, verbunden mit einer Zustimmung zu Regellosigkeit, Regelüberschreitung, Gesetzesverletzung und Aggressionsentladung. Georg R. übernimmt 1934/35 auf Aufforderung und nach mehrfacher Ablehnung eine Funktion als Blockleiter, die er »befriedigend« ausübt. 1939 wird er Zellenleiter und kann dann bald darauf seine Funktion abgeben. Während des Krieges übernimmt er die Aufsicht über den Bau eines Luftschutz-Stollens, in dem er dann Luftschutzkommandant wird. Dass er an der NSDAP-Funktionsausübung kein Interesse hat und diese auch nur leidlich ausübt, ist auch hier kein Ausdruck einer Abwendung von der NSDAP. So ist für diesen Fall zumindest die explizit im Viertel kundgetane Zustimmung zur Reichspogromnacht überliefert, eine eigene Beteiligung kann im Spruchkammerverfahren nicht abschließend geklärt werden.
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Untertypus 3.2.: Parteibeitritt und Funktionsausübung als Instrumente zur Fortsetzung anderer biographischer Handlungsorientierungen Für Repräsentanten dieses Untertypus hat nicht nur die Funktionsausübung sondern – im Gegensatz zu Typus 3.1. – auch bereits der Parteibeitritt vorwiegend instrumentelle Funktion. Diesen Funktionären geht es darum, mittels eines Beitrittes andere biographische Handlungsorientierungen fortzusetzen. Im ausgewerteten sample finden sich neben bereits 1933 Beigetretenen mehrere Fälle, die diesem Typus angehören, die seit Ende der 1930er Jahre der NSDAP beitreten. Es handelt sich um einen spezifischen aktiven Umgang mit einer Lebenssituation unter den Bedingungen des Nationalsozialismus. Diese Fälle nehmen einen Parteibeitritt in Kauf, um ihnen wichtige andere biographische Handlungsorientierungen fortsetzen zu können. Dazu zählen auch Fälle, die in die NSDAP eintreten, um an soziale Dienst- und Hilfeleistungen in der etablierten Diktatur zu kommen. Insofern sind hier, obgleich der Beitritt freiwillig stattfindet, zuweilen Übergänge zu Typus 4 »Druck« festzustellen. Dabei handelt es sich nicht um einen konkreten äußeren Druck, der NSDAP beizutreten, vielmehr in einigen Fällen um materielle und private Notlagen, in denen sich Repräsentanten dieses Typus für einen Parteibeitritt entscheiden. Ihr Engagement verläuft allerdings ähnlich wie bei Typus 3.1. Sie übernehmen Funktionen nur auf Aufforderung, die Funktionsausübung hat ebenfalls eine instrumentelle Funktion. In der Funktionsausübung »funktionieren« sie allerdings, ohne weitere Beanstandungen von Seiten der Partei. Zuweilen erfolgt bei den Ende der 1930er Jahre eingetretenen Fällen eine Funktionsübernahme vor dem Parteibeitritt, was mit den Rekrutierungsmustern der NSDAP ab 1937 und dem erheblich gestiegenen Personalbedarf nach der Umstrukturierung der Parteiorganisation 1936 und später im Krieg zusammenhängt. Bei diesem Typus bleiben Vorbehalte gegenüber der NSDAP bestehen. Allerdings kommt es bei der Entscheidung zum Parteibeitritt und zur Funktionsübernahme auch bei ihnen zu Anpassungsprozessen, in denen sie sich Aspekte des Nationalsozialismus als akzeptabel zurechtlegen, um die Entscheidung vor sich und nach außen zu legitimieren. Einige versuchen, die Parteitätigkeit abzugeben und auf ein vom Regime als Äquivalent akzeptiertes Feld auszuweichen, so etwa ein Engagement im Luftschutz. Vertreter dieses Typus bleiben bis 1945 insoweit konform, als sie keine Konflikte mit der Partei riskieren. Nach 1945 zeigen sie sich im Spruchkammerprozess als sehr distanziert zum Nationalsozialismus und heben private oder andere Aspekte für ihre
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Beitrittsentscheidung hervor. Repräsentanten dieses Untertypus äußern sich am ehesten selbstkritisch über ihren Parteibeitritt und die Funktionsübernahme. Dies hängt mit dem Umstand zusammen, dass sie sich bereits beim Eintritt in die NSDAP darüber klar sind, dass sie in diese Partei »eigentlich« niemals eintreten dürften. Zu diesem Typus zählt etwa Ludwig L. Der 1904 geborene leitende Angestellte in der Metallbranche kommt, wie seine Ehefrau, aus einer in der Arbeiterbewegung engagierten Familie. Auch als Erwachsener bewegt er sich noch im Milieu der Arbeiterbewegung, wie den Arbeitersportlern und Naturfreunden, ohne sich jedoch politisch in Gewerkschaften oder Parteien der Arbeiterbewegung zu organisieren. Vielmehr ist er seit dem 18. Lebensjahr im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband. Diese Konstellation und sein Verhalten sprechen in politischer Hinsicht für eine eher lose Anbindung an die Arbeiterbewegung und eine konfliktvermeidende Haltung. Diese kommt auch zum Ausdruck in seiner Bereitschaft, für seinen Chef, der zugleich NSDAP-Ortsgruppenleiter in einem kleinen württembergischen Ort ist, in den Jahren 1932 bis 1936 Schreibarbeiten für die NSDAP zu erledigen. Seine sukzessiven Beitritte in die NS-Organisationen DAF 1936, NSV 1938 und NSDAP 1940 stehen im Zusammenhang mit beruflichen und familialen Orientierungen. Im Kontext einer benötigten Wochenbettbetreuung für seine Frau tritt er 1938 in die NSV ein, im Kontext starker Mietstreitigkeiten mit Blick auf ein Siedlungshaus für seine siebenköpfige Familie 1940 in die NSDAP. Bereits einige Monate vor dem Beitritt übernimmt er ein Blockhelferamt, kurz nach dem Beitritt wird er Blockleiter. Bis 1944 ist er Blockleiter und wechselt dann von der Parteiorganisation in den Luftschutzbereich als kaufmännischer Stollengeschäftsführer.
4.2.4. Typus 4: Beitritt und Funktionsausübung als erzwungener Bruch mit biographischen Handlungsorientierungen Dieser Typus wird von Fällen repräsentiert, die im Nationalsozialismus an der Macht auf erheblichen Druck von Partei- und Arbeitsstellen hin in die NSDAP eingetreten sind oder, wie im Fall Adolf F., zuerst zur Funktionsübernahme, dann zum Parteibeitritt gedrängt wurden. Diese in der gesamten Recherche seltenen Fälle beugen sich vor dem Hintergrund konkreter Drohungen des Arbeitsplatzverlustes und Drohungen hinsichtlich politisch missliebiger Äußerungen und Haltungen, treten der NSDAP bei und übernehmen Funktionen. Die Sicherung des Arbeitsplatzes und die Drohung einer politischen Verfolgung können dafür ausschlaggebend sein. Auch bei ihnen kommt es zur partiellen Übernahme nationalsozialistischer Ideologie und nationalsozialistischer Praktiken.
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Die Ausübung ihrer Funktion verläuft – zumindest über einige Jahre – wie beim instrumentellen Typus weitgehend reibungslos mit Blick auf vorgesetzte Parteidienststellen. Funktionäre des Typus 4 »Druck« entsprechen hierin weitgehend Typus 3 »Instrument« und riskieren angesichts des bei ihnen erhöhten und mit konkreten Drohungen verbundenen Erwartungsdrucks keinen Konflikt mit der NSDAP. Gegebenenfalls nutzen Funktionäre, die den Typus 4 repräsentieren, jedoch Gelegenheiten zum Ausstieg aus der Parteitätigkeit. Da Beitritt und Funktionsausübung einen erzwungenen Bruch mit biographischen Handlungsorientierungen darstellen, ist in diesen Fällen die Möglichkeit angelegt, dass die früheren Orientierungen stark in die Gegenwart hinein wirken. Das bedeutet, dass Funktionäre, die diesen Typus repräsentieren, potentiell in einer spezifischen Situation, die zentrale Aspekte der früheren Handlungsorientierungen und -muster berührt, wieder politisch missliebig werden und Kritik und Distanz zum Nationalsozialismus zum Ausdruck bringen. Im Spruchkammerverfahren wird von Repräsentanten dieses Typus vor allem der auf sie ausgeübte Druck hervorgehoben. Ein Repräsentant dieses Typus ist der Polizist Simon R. (*1887). R. wird von seinem Vorgesetzten bei der Polizei im Frühjahr 1933 massiv zum NSDAP-Beitritt gedrängt. R., der unter Kollegen als der »Sozi« bezeichnet wurde, hat mit diesem Vorgesetzten, einem frühen Nationalsozialisten, bereits vor 1933 Auseinandersetzungen. Auch dem Druck eines NSDAP-Zellenleiters, eine Parteifunktion zu übernehmen, gibt er nach und wird 1933 Blockleiter, 1935 Zellenleiter. Seine Parteiämter übt Simon R. bis 1936 zur Zufriedenheit der Partei aus und rechtfertigt seinen Wandel vor sich und nach außen auch über eine teilweise ideologische Anpassung. Eine Wende in dieser Dynamik stellt das Jahr 1936 dar, als Simon R. schwer an Angina Pectoris erkrankt und fast ein Jahr krank geschrieben ist. Er nimmt die Krankheit zum Anlass, seine Parteifunktion aufzugeben und an dieser Entscheidung auch in den folgenden Jahren – als er wieder arbeiten kann – festzuhalten. Als er ab 1937 bei einer anderen Dienststelle der Polizei über den Eingang von Totenscheinen aus den Konzentrationslagern von den KZ-Verbrechen erfährt, beginnt er, wieder missliebig zu werden, sich zunehmend kritisch gegenüber dem NS-System zu äußern und im Kollegen- und Bekanntenkreis NS-Verbrechen zu kritisieren. Anwürfen, Drohungen und auch einer Einweisung in das Polizeikrankenhaus in Berlin wegen des Vorhalts, »Simulant« zu sein, hält er stand. Auch von dem Reichsbahner Adolf F. (*1902) wird dieser Typus repräsentiert. Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten Mitglied in Organisationen der Arbeiterbewegung bei der Reichsbahn wird er 1933 (straf)versetzt. 1938, zeitgleich mit einer Beförderung bei der Reichsbahn, wird er bei einer Vorladung beim NSDAP-Ortsgruppenleiter unter Druck gesetzt, Aufgaben eines Blockleiters zu
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übernehmen, da man wisse, dass er mit Juden verkehre und kommunistisch eingestellt sei. Andernfalls werde er seine Arbeit verlieren. Adolf F. gibt diesem Druck nach und übernimmt Aufgaben eines Blockleiters. 1939 wird er wieder von der NSDAP-Ortsgruppe und dieses Mal auch von der Reichsbahn vorgeladen und massiv zum Parteibeitritt gedrängt. Daraufhin tritt er auch der NSDAP bei, wird Block-, später Zellenleiter bis 1945. Es liegen in den Akten keine individuellen Belastungen über sein Verhalten gegenüber der Bevölkerung vor. F. scheint seine Gesinnung nicht geändert zu haben, auch hält er seine Freundschaft mit einem »rassisch« Verfolgten weiter aufrecht.
4.3. Biographie und Organisation: Heterogenität nationalsozialistischer Praktiken als Merkmal der unteren NSDAP-Apparate In diesem Kapitel wird an einigen Beispielen aufgezeigt, inwieweit die theoretischen Verallgemeinerungen, die bisher auf der Basis der Fallrekonstruktionen formuliert wurden, dazu beitragen, die Funktionsweise der unteren NSDAP-Apparate ab 1933 zu analysieren. Von diesen Verallgemeinerungen ausgehend, erweisen sich Funktionsweise und Entwicklung der unteren NSDAP-Apparate als durch eine erhebliche Heterogenität nationalsozialistischer Praktiken geprägt. Diese Heterogenität ist sowohl durch die biographischen Handlungsmuster und Handlungsorientierungen der Funktionäre begründet als auch durch Angebote und Maßnahmen der Parteiorganisation. In den folgenden Ausführungen wird ausgegangen von den in Kapitel 2 dargelegten biographietheoretischen Grundüberlegungen und Potentialen biographischer Forschungsansätze zur Analyse politischer Parteien und Bewegungen. Aus dieser Perspektive stellte die NSDAP-Organisation Gesellschaftsmitgliedern eine »Gelegenheitsstruktur und Möglichkeitsräume«32 zur Verfolgung biographischer Handlungsorientierungen bereit. Zugleich ermöglichten die Handlungsweisen der Funktionsträger nicht nur überhaupt erst die Macht der Partei, sondern prägten auch deren Funktionsweise, innerparteilich ebenso wie in ihrer Betätigung und Wirkungsweise gegenüber der Bevölkerung. Mit diesem auf politische Prozesse angewandten interaktionistischen Gesellschaftsverständnis wird auch an die
—————— 32 Vgl. Wohlrab-Sahr 1993, S. 105f.
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in den letzten Jahren in Sozial- und Geschichtswissenschaft immer wieder vertretene Position angeknüpft, den »Funktionär als sowohl organisationsprägende als auch geprägte Figur«33 zu begreifen. Davon ausgehend stellte die Funktionsweise der unteren Parteiapparate das jeweilige Resultat eines interaktiven Prozesses dar. Das politische Handeln der Funktionäre stand zu den Maßnahmen, Angeboten und Vorgaben des lokalen, regionalen und zentralen Parteiapparates in einem interdependenten Verhältnis. Im Folgenden werden zunächst Handlungsweisen und -bezüge der Funktionäre dargestellt. Dies ermöglicht zu formulieren, mit welchen Dispositionen seiner Mitglieder und Funktionäre der NSDAP-Parteiapparat ab 1933 konfrontiert war. Die Handlungsweisen und -bezüge der Funktionäre werden dann in einem zweiten Schritt mit personalpolitischen und anderen Maßnahmen der Partei kontrastiert. Hier wird aufgezeigt, womit die Funktionäre von Seiten der NSDAP konfrontiert waren. Im Anschluss daran wird der handelnde Umgang leitender Ortsgruppenfunktionäre mit unterschiedlichen Handlungsmustern und -orientierungen der ihnen Unterstellten auf Ortsgruppenebene diskutiert. Abschließend werden, von den Biographieanalysen ausgehend, relevante Aspekte der Funktionsweise der lokalen Parteiapparate an der Macht in ihrer Entwicklung skizziert. Biographisch begründete Heterogenität der Funktionsausübung als charakteristisches Merkmal der unteren NSDAP-Apparate Die Analysen erweisen eine erhebliche Heterogenität nationalsozialistischer Praktiken der Funktionsausübung als charakteristisch für die Funktionsweise der unteren NSDAP-Apparate: sehr unterschiedliche Formen, Schwerpunktsetzungen und Verläufe der Funktionsausübung wurden für die NSDAPFunktionäre auf Ortsgruppenebene herausgearbeitet. Diese heterogenen Formen wurden zurückgeführt auf die unterschiedlichen biographischen Handlungsorientierungen und -muster der unteren NSDAP-Funktionäre, die in der Funktionsausübung nicht etwa zugunsten eines einheitlichen Funktionärsverhaltens aufgegeben, sondern vielmehr fortgesetzt beziehungsweise modifiziert wurden. Die unterschiedliche Intensität von Funktionsausübungen wurde zudem als eng verbunden mit den jeweiligen Be-
—————— 33 Kössler/Stadtland 2004, S. 9; vgl. für eine handlungstheoretische Perspektive auf Parteiorganisationen Wiesendahl 1998; für eine interaktionistische organisationssoziologische Perspektive in Anlehnung an Anthony Giddens vgl. Walgenbach 2001.
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deutungen, die eine Funktionstätigkeit für ihre Träger eingenommen hat, analysiert. So konnte – zumindest auf der Grundlage der analysierten Quellen – weder ein kollektiver Habitus in der Funktionsausübung noch eine »kollektive politische Mentalität«34 für diese Funktionärsgruppe festgestellt werden. Vielmehr wurde eine Vielfalt an Formen der Funktionsausübung ermittelt, die eher über biographisch gewachsene Habitusformationen der einzelnen Funktionäre erschlossen werden konnten als über einen Gruppenhabitus. Die unteren NSDAP-Funktionäre verkörperten also keinen neuen einheitlichen Funktionärstyp, wie er von der NSDAP selbst propagiert und auch in totalitarismustheoretischen Arbeiten beschrieben wurde.35 Anhand der in Kapitel 4.2. entwickelten Typen kann verdeutlicht werden, mit welchen unterschiedlichen Dispositionen seiner Funktionäre der NSDAP-Apparat ab 1933 konfrontiert war. Sie zeigen, dass vereinheitlichende Thesen über die Bereitschaft zur Funktionsausübung durch untere Parteifunktionäre wenig sinnvoll sind: Mit Typus 1 »biographische Chance« hat die NSDAP Funktionäre in ihren Reihen, die sehr motiviert und engagiert und oftmals auch ideologisch eng gebunden an die NSDAP ihre Funktion ausfüllen. Teilweise ist der Apparat bei diesen Funktionären mit Eigenlogiken konfrontiert, die Vorgaben oder Zielen der Partei nur eingeschränkt entsprechen. Diese Funktionäre sind aber wegen der bislang in ihrem Leben nicht verwirklichten biographischen Chance, die für sie mit der Funktionstätigkeit verbunden ist, bereit, vieles »zurechtzubiegen« oder Forderungen des NSDAP-Apparates im Konfliktfall nachzukommen. Bei Typus 2 »Modifikation« sieht sich der Apparat Funktionären gegenüber, die potentiell wechselhaft engagiert sind. Dies liegt in den Handlungslogiken und -orientierungen begründet, die diese Funktionäre – wie bereits in der Vergangenheit – potentiell auch zukünftig in anderen Feldern als der NSDAP zu verfolgen in der Lage sind; dies kann gegebenenfalls zum Konflikt mit dem Parteiapparat, einem Rückzug oder Umorientierungen führen.
—————— 34 Eine spezifische »kollektive politische Mentalität« wird bspw. für die Gruppe der Kreisleiter von Armin Nolzen vermutet, bislang aber noch nicht empirisch nachgewiesen, vgl. Nolzen 2003. 35 Bspw. bei Neumann 1969, S. 322f; vgl. Kapitel 1.2.4.
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Mit Typus 3 »Instrument« hat der Apparat Funktionäre vor sich, die nur auf Aufforderung hin aus instrumentellen Gründen eine Funktion übernehmen, diese dann aber – oftmals ohne Beanstandungen von Seiten des Apparates – ausüben. Typus 4 »Druck« schließlich betrifft eine Funktionärsgruppe, die bereits nur auf erheblichen Druck der NSDAP beitritt; das Gleiche gilt für eine Funktionsübernahme. Diese Funktionäre gelten dem Apparat als potentiell unzuverlässige Funktionäre; für sie liegt es nahe, Gelegenheiten zum Ausstieg aus der Funktion zu nutzen. Als ein Charakteristikum der NSDAP-Organisation kann festgehalten werden, dass sie in der Lage war, sehr unterschiedliche Handlungsorientierungen und -muster in die Partei und das Funktionärskorps zu integrieren. Dieser Befund richtet den Blick auch auf das Agieren der NSDAP gegenüber ihrem Funktionärskorps auf der unteren Parteiebene, dessen Angehörige oftmals ideologisch wie in ihren Handlungsorientierungen nur lose verbunden scheinen. Zu fragen ist etwa, wie angesichts der festgestellten Heterogenität diese unteren Parteiorganisationen funktionierten und innerhalb des NS-Regimes ihre herrschaftsdurchsetzende und -erhaltende Bedeutung erlangen konnten. Maßnahmen der NSDAP hinsichtlich des heterogenen Funktionärskorps auf der lokalen Ebene Ausgehend von der Heterogenität der Handlungsmuster und -orientierungen der NSDAP-Funktionäre, die sich auch in der Funktionsausübung niederschlug, werden im Folgenden exemplarisch einige Maßnahmen der NSDAP-Apparate gegenüber ihren Mitgliedern und Funktionären dargestellt und in ihrer Wirksamkeit erörtert. Dabei soll auf Maßnahmen aufmerksam gemacht werden, die Heterogenität im Funktionärskörper geradezu befördern. Zudem werden Maßnahmen angesprochen, die auf eine stärkere Bindung an den Nationalsozialismus und eine Integration der Funktionäre in ein »Korps der Politischen Leiter« zielten oder diese zur Folge haben konnten. Eine erhebliche Heterogenität der Handlungsorientierungen der Mitglieder und Funktionäre wurde allein durch die Vagheit der Programmatik der NSDAP befördert. Jenseits ihrer antisemitischen, antidemokratischen und antibolschewistischen Grundpositionen, die bereits im 25-Punkte-Programm von 1920 zu finden waren und von den Funktionären durchweg
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geteilt oder zumindest in Kauf genommen wurden, hielt die NSDAP programmatische Fragen bewusst offen und vage und bot auf diesem Wege »Vielen Vieles« an. Diese Breite an Anschlussstellen wurde auch bei der Untersuchung der Hinwendung zum Nationalsozialismus und der gesetzten Schwerpunktfelder bei den Funktionären im sample deutlich. Auch das Konzept einer »aktiven Mitgliedschaft« in der NSDAP, auf das im Folgenden eingegangen wird, beförderte Heterogenität im Funktionärskorps. Dies geschah, wie die Fallanalysen zeigen, in doppelter Hinsicht: hinsichtlich der unterschiedlichen Bereitschaft, sich für die NSDAP einzusetzen, und hinsichtlich unterschiedlicher Kompetenzen und Fähigkeiten, die über diesen Mechanismus im Funktionärskorps versammelt wurden. Indem die NSDAP ihre Erwartungshaltung an Parteimitglieder, sich aktiv zu engagieren und eine Funktion zu übernehmen, im Rahmen der Rekrutierung einsetzte, versammelte sie erstens unterschiedliche Bereitschaften zur Funktionsausübung in den Reihen ihrer Funktionäre. Zugleich handelte es sich bei dieser Rekrutierungspraxis zweitens um ein Instrument, unterschiedliche Kompetenzen und Fähigkeiten von Parteimitgliedern für die Parteiarbeit zu gewinnen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der »Neumitglieder« 1933, unter denen sich verstärkt Angehörige des oberen Mittelstandes, Akademiker, Beamte und leitende Angestellte befanden. So wurde im Fall Rudolf O. deutlich, dass er erst auf Aufforderung und unter Verweis auf eine entsprechende Erwartungshaltung der NSDAP eine Funktion übernahm, dann aber über Jahre seine kommunikativen und organisatorischen Fähigkeiten in den Dienst dieser Partei stellte. Dieses Spezifikum von Parteien in modernen Diktaturen, dass eine nichtaktive Mitgliedschaft nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, ist insofern auch als ein Faktor bei der Herstellung von Heterogenität an Kompetenzen und Handlungsweisen in den unteren Parteiapparaten der NSDAP anzusehen. Dasselbe gilt für die erschwerten »exit-Optionen« unter den Bedingungen der Diktatur.36 Eine übernommene Funktion
—————— 36 Zu entry- und exit-Optionen als Analysedimension bei der Erforschung der Funktionsweise von Parteien in modernen Diktaturen am Beispiel kommunistischer Staatsparteien vgl. Flam 2000; für die NSDAP ist die spezifische Dynamik, die durch die gleichzeitige Erwartung einer aktiven Mitgliedschaft und die Aufnahmesperre beziehungsweise deren Lockerungen entsteht, in ihren Folgen hinsichtlich der Entwicklung des Funktionärskörpers noch genauer zu analysieren.
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wieder aufzugeben war, wie die Fallanalysen zeigten, unter Umständen nicht einfach.37 Angesichts dieser Heterogenität im Funktionärskorps griff die NSDAP zu verschiedenen Maßnahmen, rekrutierte Funktionäre an die Partei zu binden und in diese zu integrieren. Als ein solcher Mechanismus – neben vielen anderen – hat sich in der Analyse das Ausfüllen der Personalunterlagen erwiesen. Im Rahmen der Fallanalysen wurde deutlich, inwieweit dies für die Funktionäre ein Anlass war, sich aktiv zur NSDAP ins Verhältnis zu setzen. Im Prozess des Ausfüllens wurde die Biographie mit Blick auf Relevanzen der NSDAP hin reorganisiert und als zur NSDAP passend definiert. Eine Folge dieses Prozesses ist eine Bestärkung, in einigen Aspekten erst die Konstruktion einer Lebensgeschichte und eines Selbstverständnisses, die mit Ideen und Praktiken des Nationalsozialismus vereinbar waren. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies mit dem Anlegen dieser umfangreichen Personalunterlagen von Seiten der NSDAP intendiert wurde oder einen nichtintendierten, integrierend wirkenden Nebeneffekt bei der Zusammenstellung von Personalunterlagen darstellte. Interessant ist hier auch der Befund, dass die NSDAP zwar durch die einzelnen Rubriken in den Fragebögen ihre Relevanzen markierte, gleichwohl ein dezidiertes politisches Bekenntnis nicht gefordert war. Wie in der Analyse deutlich wurde, entstanden dadurch Spielräume für die Verfasser der Selbstpräsentationen, sich von sich aus – vor dem Hintergrund der biographischen Handlungsorientierungen und der besonderen eigenen Geschichte – ins Verhältnis zur NSDAP zu setzen. Als sozialtechnologisches Instrument, das die Bandbreite von Verhaltensweisen der Funktionäre thematisierte und zu lenken versuchte, soll abschließend die Zeitschrift Der Hoheitsträger angeführt werden, die seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre als parteiinterne Zeitschrift auch an die Ortsgruppen verschickt wurde.38 Der darin konstruierte Idealtypus eines Politischen Leiters der NSDAP kann vor dem Hintergrund der empirischen Befunde als zur Orientierung dienendes Regulativ hinsichtlich der Integration und Lenkung unterschiedlicher Verhaltensweisen begriffen werden. In zahlreichen Artikeln wird vorbildliches und zu vermeidendes Funktionärsverhalten, sei es innerparteilich oder gegenüber der Bevölke-
—————— 37 Die Folgen einer Beitritts- oder Funktionsverweigerung oder eines Parteiaustrittes sind bislang unzureichend erforscht. Zu Parteigerichtsverfahren vgl. Mc Kale 1974, Nolzen 2000; zu Stuttgart Müller-Botsch 2003, S. 51f. 38 Eine intensive Analyse dieser Zeitschrift steht bislang noch aus.
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rung, thematisiert. So wird etwa gefordert, im Alltag nicht zu forsch, brutal oder herrisch aufzutreten. Andere Artikel thematisieren Handlungsweisen von Funktionären als zu lax und fordern ein stärker kämpferisches Vorgehen. Zudem wird die jeweilige »Tages«-Politik gerechtfertigt, Empfehlungen zu deren Vermittlung an untergeordnete Funktionäre sowie im Kontakt mit der Bevölkerung werden gegeben. Insofern wirkte diese Zeitschrift angesichts der unterschiedlichen Handlungsweisen mittels Lob und Kritik »rahmengebend«. Nach den empirischen Ergebnissen hatten diese Lenkungsversuche nur begrenzt Einfluss auf Handlungsmuster und Stile der einzelnen Funktionäre, jedoch konnte jeder Funktionär etwas in diesen Ausführungen finden, das seine Handlungsweisen bestätigte, bestimmte Aufforderungen als überdenkenswert reflektieren und gegebenenfalls einige Handlungsanregungen aufnehmen. Zum handelnden Umgang mit biographisch begründeter Heterogenität im Funktionärskorps innerhalb der Ortsgruppen Aus dieser Perspektive lassen sich auch einige Ergebnisse hinsichtlich der parteiinternen Interaktion auf Ortsgruppenebene formulieren. So legen die Analysen nahe, dass für die Rekrutierung zuständige Funktionäre der NSDAP teilweise gezielt mit spezifischen Handlungsorientierungen und -mustern der für ein Parteiamt infrage kommenden Funktionäre arbeiteten. Johann G. etwa wurde vom NSDAP-Kreisleiter gezielt als gewalttätiger und Kommunisten hassender Funktionär in einem Stuttgarter Arbeiterviertel eingesetzt. In zahlreichen anderen Fällen bekamen Parteimitglieder Funktionen übertragen, die nicht nur mit ihren Qualifikationen, sondern auch ihren biographischen Handlungsorientierungen gut korrespondierten: so wurde etwa Johannes N. die militärische Ausbildung übertragen, Rudolf O. bekam eine von den untersten Ämtern deutlich abgesetzte Stellung im Ortsgruppenapparat. Auch zwischen dem Leitungsstil innerhalb einer Ortsgruppe und der Bereitschaft zum aktiven Einsatz eines Funktionärs konnte ein Zusammenhang festgestellt werden. Je nachdem, welcher Leitungsstil auf welche biographischen Kontextualisierungen traf, konnte dies ein zunehmendes oder auch abnehmendes Engagement zur Folge haben. Wenn der NSDAP-Apparat, in diesem Fall die Ortsgruppenleitung, die Handlungsmuster und -orientierungen von Funktionären integrierte, konnte er mit einem zunehmenden Engagement von Seiten dieser Funktionäre rechnen.
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Dies war etwa der Fall bei Emil F., der 1937 nachweislich versucht hatte, eine Funktion nicht übernehmen zu müssen und dann nach einiger Zeit als Blockleiter um eine Versetzung in die innere Verwaltung der Ortsgruppe bat. Er engagierte sich zunehmend in den folgenden Jahren, nachdem der zuständige Ortsgruppenleiter diesem Anliegen nachgekommen war. Wenn hingegen Eigenlogiken ignoriert wurden, wie etwa in den Fällen Johannes N. und Rudolf O. in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, distanzierten sich diese Funktionäre tendenziell von der Ortsgruppenarbeit. Die Fallrekonstruktionen legen nahe, dass sich in einem anderen Setting diese beiden dem Typus 2 »Modifikation« zugerechneten Funktionäre weiterhin sehr für den Nationalsozialismus engagiert hätten. Diese Befunde zu unterschiedlichen Leitungsstilen und sozialtechnologischem know-how innerhalb von Ortsgruppen und deren Relevanz für die Funktionsweise der unteren Parteieinheiten könnten in weiteren gezielten Forschungen vertieft werden. Heterogenität als interaktiv hergestelltes Funktionsprinzip der unteren Parteiapparate: Zur Entwicklung der unteren NSDAP-Parteiapparate an der Macht Die Heterogenität an Formen, Schwerpunktsetzungen und Verläufen der Parteitätigkeit im Funktionärskorps entstand, wie das Vorangegangene nahelegt, sowohl biographisch begründet als auch durch Angebote und Maßnahmen der Parteiapparate produziert. Das Handeln der Funktionäre und Maßnahmen des Apparates standen dabei in einem Verhältnis der wechselseitigen Beeinflussung. Im Folgenden soll die Entwicklung der unteren Parteiapparate aus dieser Perspektive diskutiert werden. Die bisherigen Ergebnisse werfen die Frage auf, inwieweit auch die Entwicklung des Organisationsprofils und die Herausbildung der verschiedenen Tätigkeitsfelder der unteren NSDAPApparate durch diese Dynamik geprägt wurden. Hier wird die Entwicklung der Apparate zwischen 1933 und 1945 als interaktiver Prozess diskutiert, der durch strukturelle Möglichkeiten und Bedingungen nach der Machtübernahme gegeben ist – auf gesamtgesellschaftlicher, parteilicher und biographischer Ebene. Die Heterogenität an Formen, Schwerpunktsetzungen und Verläufen der Parteitätigkeit korrespondierte, so das Ergebnis der Analysen, mit der Bandbreite an Tätigkeitsfeldern, die während der nationalsozialistischen Herrschaft in den unteren Parteiapparaten entsteht. Im Folgenden werden daher abschließend Überlegungen skizziert, inwieweit die
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Entwicklung der Parteiapparate in verschiedenen Phasen des NS-Regimes durch diesen interaktiven Prozess bestimmt wurde. 1933–1935: Zunächst ist die Machtübertragung an die Nationalsozialisten und deren beginnende Diktaturdurchsetzung als einschneidendes Ereignis für die weitere Entwicklung der lokalen Parteiapparate der NSDAP zu nennen.39 Auch die Funktionäre im untersuchten sample wären, wie die Analysen deutlich machen, in ihrer überwiegenden Mehrzahl ohne Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht in die NSDAP eingetreten. Die Fallrekonstruktionen erweisen den Machtwechsel als entscheidende veränderte gesellschaftlich-politische Voraussetzung für die seit 1933 Eingetretenen, sich für einen Parteibeitritt zu entscheiden. Doch was kann vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Fallanalysen und dem bislang vorliegenden organisationsgeschichtlichen Wissen über die dann entstehende Dynamik in der Entwicklung der Ortsgruppen seit 1933 ausgesagt werden? In den Fallanalysen wurde deutlich, dass bereits seit Sommer 1933 unter den unteren Funktionären alle vier vorgestellten Typen vertreten waren. Damit lag in der Parteiorganisation eine erhebliche (potentielle) Bandbreite an Funktionärshandeln vor, das mit unterschiedlichen biographischen Handlungsmustern und -orientierungen verbunden war. Organisationsgeschichtlich stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Zwar war der Parteiapparat in den Jahren vor der Machtübernahme schon hierarchisch und nach dem Führerprinzip strukturiert und jegliche Funktionärswahl abgeschafft worden. Gleichwohl war in den ersten Jahren nach der Machtübernahme die Parteiorganisation noch keineswegs durch Routinen und verfestigte Interaktionsmuster geprägt.40 In die ersten Jahre nach der Machtübernahme fielen Ausbau und Bürokratisierung. Gleichzeitig bestand eine Unsicherheit, welche Stellung und Aufgaben dem Parteiapparat im Herrschaftsgefüge des Nationalsozialismus künftig zukommen würden. Viele der Rekrutierten waren erst kurze Zeit in der NSDAP, tradierte Handlungsweisen innerhalb der Partei-Organisation waren wenig vorhanden oder verfestigt. In dieser Situation bestanden erhebliche Spielräume für unterschiedliche Handlungsweisen in der Funktionsausübung: Funktionäre beteiligten sich aktiv an Verhaftungen nach der Machtübernahme (wie bei Willy W. im Spruchkammerverfahren nahe gelegt), nahmen am Boykott jüdischer Geschäfte teil, engagierten sich in der Bürokratisierung der Ortsgruppenarbeit
—————— 39 Vgl. Steinbach 1983. 40 Vgl. zu diesem Aspekt in der Analyse von politischen Parteien generell Wiesendahl 1998, S. 116ff.
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oder suchten sich Funktionen, die bis dahin in den wenigsten Ortsgruppen bestanden, wie etwa die Funktion eines Pressewarts im Falle Rudolf O. Die Ämter und Aufgabenfelder, die die unteren Parteiapparate dann in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre charakterisieren, schälten sich in diesen Jahren allmählich heraus. Insofern drängt sich die Frage auf, inwieweit die Entwicklung des Gesamtprofils der unteren NSDAP-Apparate nicht zuletzt durch diese partiell offene Situation in den unteren Ebenen in den ersten Jahren der NS-Herrschaft entstand, in denen die dort aktiven Funktionäre ihre Handlungsorientierungen in die NSDAP-Praxis umsetzten. Diese Überlegung wird auch durch bisherige Forschungsergebnisse gestützt, wonach oftmals Praktiken auf Ortsgruppenebene entwickelt wurden, dann von übergeordneten Stellen verboten wurden und einige Zeit später als allgemeinverbindliche Anordnungen an alle unteren Parteiorganisationen ergingen.41 Auch durch den »ehrenamtlichen« Charakter der Parteiämter auf Ortsgruppenebene, deren Träger weitgehend in ihre bisherigen beruflichen, familialen und sozialen Kontexte eingebunden blieben und nicht, wie in anderen NS-Verbänden – etwa der SA oder dem Reichsarbeitsdienst – oftmals kaserniert oder in Lagern wohnten, wurden heterogene Handlungsweisen und Stile im Rahmen der Funktionsausübung eher befördert. 1936–1939: In den Jahren 1936/37 waren Ausbau und Umstrukturierungen sowie die Festlegung von Aufgabenfeldern der lokalen Parteiapparate zunächst weitgehend abgeschlossen. Die Breite der Tätigkeitsfelder und unterschiedliche Praktiken wurden in parteioffiziellen Darstellungen festgelegt. Weiterentwicklungen in allen Bereichen – beim Erfassen, Betreuen, Mobilisieren, Überwachen und Verfolgen – fanden im Einzelnen und oftmals von lokalen Initiativen ausgehend statt.42 So stellten auch die in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre bestehenden Tätigkeitsfelder der NSDAP-Ortsgruppen den Funktionären eine Bandbreite an Betätigungsmöglichkeiten zur Verfügung. In den damit potentiell verbundenen Formen der Funktionsausübung konnten Funktionäre durchaus unterschiedlichen Handlungsorientierungen nachgehen. Mithin erweist sich die Entwicklung des Organisationsprofils und die auf biographischen Handlungsmustern und -orientierungen basierende Parteitätigkeit der unteren Funktionäre als ein interdependentes Verhältnis.
—————— 41 Vgl. dazu zahlreiche Beispiele bei Reibel 2002. 42 Vgl. ebd.
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Bei der Lockerung der Mitgliedersperre 1937, die zeitlich mit dem stark erhöhten Personalbedarf nach der Umstrukturierung der Blöcke zusammenfiel, wurde versucht, gezielt »Volksgenossen« aufzunehmen, die zu aktiver Mitarbeit bereit waren und dies bereits in anderen NS-Organisationen in den vergangenen Jahren unter Beweis gestellt hatten. Auch im sample sind einige dieser Funktionäre, die die letztgenannte Voraussetzung erfüllten. Ihre Mitarbeit in der Partei war gleichwohl unterschiedlich; sie war wiederum davon abhängig, welche biographische Bedeutung spezifisch eine Parteitätigkeit einnahm. 43 1939–1945: Der Kriegsbeginn hatte erhebliche Auswirkungen auf die Funktionsweise der unteren NSDAP-Apparate. Diese Phase ging einher mit einem Machtzuwachs der Parteiapparate und deren zunehmenden Verflechtungen mit kommunalen Aufgaben, dem Luftschutz, Versorgung etc. Hier führten zum Teil die angesichts der Kriegssituation hinzu gekommenen Aufgaben und Tätigkeitsfelder zu Veränderungen im Engagement von Funktionären, wie etwa dem zunehmenden Engagement im Fall Rudolf B. Eine interessante Entwicklung in der Parteitätigkeit der Funktionäre zeigt sich insbesondere in den letzten Kriegsjahren, als die Organisierung der »Heimatfront« zur Hauptaufgabe der NSDAP wurde und Rückwirkungen des Krieges in Form alliierter Bombardements in den deutschen Großstädten ankamen. In der Alltagsorganisation der Kriegssituation und dem zunehmenden Chaos in den Großstädten kam es innerhalb des Parteiapparates zunehmend zu Überlappungen verschiedener Tätigkeitsbereiche, viele der Funktionäre im sample hatten zu dieser Zeit mehrere Funktionen inne, ihre Tätigkeiten deckten sich nicht unbedingt mit den ihnen übertragenen Aufgabenbereichen. Durch die Einberufungen und freiwillige Meldungen zur Wehrmacht wurde sukzessive die Fluktuation in der Besetzung von Parteiämtern verstärkt. Es entstanden in der Verwaltung des zunehmenden Chaos größere Handlungsspielräume in der Wahl und Ausgestaltung der
—————— 43 Im untersuchten sample gehören etwa Wilhelm W. und Eugen W. zu diesen Parteimitgliedern. Beide haben hinsichtlich ihrer bisherigen Aktivität in NS-Organisationen Typus 2 »Modifikation« angehört. Allerdings sind sie hinsichtlich einer NSDAP-Funktionsausübung unterschiedlichen Typen zuzurechnen: Für Wilhelm W. hatte die NSDAP-Funktion nur instrumentelle Bedeutung, für ihn blieb vor allem sein bisheriges Engagement in Kriegervereinen relevant. Bei Eugen W. zeigte sich hingegen, dass er – ebenso wie in seiner früheren DAF-Tätigkeit – auch hinsichtlich der Parteitätigkeit Typus 2 zuzurechnen ist; er setzte auch hier biographisch relevante Handlungsorientierungen und -muster fort.
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Tätigkeitsfelder und -schwerpunkte. So zeigen sich in den Handlungsweisen der untersuchten Funktionäre stärker als in den Jahren zuvor deren mit der Funktion verbundene Orientierungen: Hans D. etwa sah sich nun geradezu als eine Art Seelsorger in der Überbringung der Nachricht gefallener Soldaten, Rudolf B. und Johannes N. griffen verstärkt auf ihre Umgangsweisen aus der Zeit beim Militär vor oder während des Ersten Weltkriegs zurück, Johann G. ging zunehmend brutaler gegen Ortsgruppenbewohner und -bewohnerinnen vor. Hier, in den letzten Kriegsjahren waren auch die exit-Optionen aus Parteifunktionen erleichtert: Mehrere der Funktionäre aus dem sample, die ihre Parteifunktion aufgeben, gleichzeitig aber ihre Loyalität mit dem System nicht aufkündigen wollten, wechselten nun in Bereiche des kommunalen oder vergleichbaren NS-Engagements, so etwa Ludwig L. in den Luftschutz. Andere Repräsentanten des Typus 3 »Instrument« führten gegen Ende des Krieges, als die baldige Kriegsniederlage offensichtlich wurde, ihre Funktionen mit nachlassendem Engagement aus, so etwa Helmut K. oder Adolf P. Es kam hier gewissermaßen zu einer Verstärkung der jeweiligen mit der Funktionsausübung verbundenen Handlungsorientierungen und -muster. Relativ schneller Zusammenbruch der Parteiorganisation nach Kriegsende: Die Fallrekonstruktionen und die darauf aufbauende Typenbildung können auch dazu beitragen, den relativ schnellen Zusammenbruch der NSDAPParteiorganisation nach Kriegsende zu erklären. So konnte in der Analyse herausgearbeitet werden, dass bis auf diejenigen Funktionäre, die Typus 1 »biographische Chance« repräsentieren, sich die Mitglieder des Funktionärskorps im Kontext systemübergreifender biographischer Handlungsorientierungen alle ziemlich schnell von der NSDAP-Organisation und dem Nationalsozialismus abwendeten (siehe Kapitel 4.2.). Gleichwohl, wie anhand der Selbstpräsentationen und Verhaltensweisen im Spruchkammerverfahren gezeigt werden konnte, blieb durchaus »etwas hängen«: So wie bei Typus 2 »Modifikation« zum Beispiel Orientierungen aus der Zeit vor seiner Hinwendung zum Nationalsozialismus in die NSDAP-Funktionsausübung einwirkten, so wurde von den Funktionären auch das, was sie sich während des Nationalsozialismus an Handlungsweisen und Deutungen angeeignet und gelebt hatten, in die Zeit nach 1945 mitgenommen. Zahlreiche Hinweise für derartige Folgen konnten im Rahmen der vorliegenden Untersuchung für die unmittelbaren Nachkriegsjahre im Kontext der Spruchkammerverfahren festgestellt werden, etwa in der Sprachwahl und der Verteidigung bestimmter Handlungsweisen und Einstellungen
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auch über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Aneignungen des Nationalsozialismus sich an ganz unterschiedlichen Punkten in der weiteren Lebensgeschichte der früheren Funktionäre als handlungs- oder deutungsrelevant geäußert haben werden. Das Hineinwirken der Erfahrungen als NSDAP-Funktionär in die weitere Lebensgeschichte wird mit dem Ende des Spruchkammerprozesses nicht abgeschlossen gewesen sein.
5. Ergebnisse und Perspektiven
Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Frage, inwieweit mit einem fallrekonstruktiven biographischen Forschungsansatz auf der Grundlage schriftlicher Selbstpräsentationen die Hinwendung zum Nationalsozialismus, die Funktionsübernahme und der Verlauf der Parteitätigkeit von unteren NSDAP-Funktionären erklärt werden können. Zudem wurde gefragt, welchen Beitrag diese Herangehensweise für die Analyse der Funktionsweise der unteren NSDAP-Apparate leisten kann. Dafür wurde ein Verfahren entwickelt, NSDAP-Personalakten und Spruchkammerakten mit besonderem Fokus auf darin enthaltene Selbstpräsentationen biographieanalytisch auszuwerten. Im Folgenden werden zentrale inhaltliche und methodische Ergebnisse der Arbeit noch einmal zusammengefasst und Ausblicke auf künftige Forschungen gegeben. Biographische Fallstruktur und NSDAP-Funktion Der fallrekonstruktive Forschungsansatz hat wesentlich neue Perspektiven auf die Funktionäre der NSDAP eröffnet. Die vier Einzelfalldarstellungen zeigen, dass die Hinwendung zum Nationalsozialismus und die NSDAPParteitätigkeit im Kontext der jeweiligen biographischen Handlungsmuster und -orientierungen erfolgten und durch diese stark geprägt waren. Das Gemeinsame in den untersuchten Fällen belief sich auf drei Aspekte, die jedoch von den einzelnen Funktionären in sehr unterschiedlichen Variationen gelebt wurden: Alle untersuchten Funktionäre übernahmen Elemente nationalsozialistischer Ideologie und befürworteten nationalsozialistische Maßnahmen. Diese Übereinstimmung konnte von einem nahezu geschlossenen nationalsozialistischen Weltbild bis zu einer partiellen Übereinstimmung mit einzelnen Fragmenten der Ideologie oder NS-Politik reichen. Zweitens konnte bei allen Fällen eine partielle Kritik an Teilen nationalsozialistischer Ideologie und Praxis festgestellt werden, die vor allem im
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Spruchkammerprozess hervorgehoben wurde. Diese Kritik betraf wiederum verschiedene Aspekte und hatte ein sehr unterschiedliches Ausmaß. Sowohl die Bereiche der Übereinstimmung als auch die Bereiche der partiellen Distanz waren oftmals eng mit biographischen Themen der einzelnen Funktionäre verbunden. Schließlich setzten alle untersuchten Funktionäre die ihnen zugeteilten Parteiaufgaben um. In der empirischen Analyse wurde allerdings eine erhebliche Spannbreite hinsichtlich des Ausmaßes des Engagements und der Formen der Umsetzung deutlich. Die unteren NSDAP-Funktionäre verkörperten also nicht einen neuen einheitlichen Funktionärstyp, von dem die NSDAP-Propaganda sprach und dessen Existenz auch in totalitarismustheoretischen Arbeiten konstatiert wurde. Bereits von einzelnen Fallanalysen ausgehend können Verbindungen zu bestehenden Analysekonzepten über Verhaltensweisen im Nationalsozialismus geknüpft werden. Dies gilt etwa für Alf Lüdtkes Konzept von »Eigensinn« und »Gemengelagen«, das die Gleichzeitigkeit von Hinnehmen und Mitmachen, Unterstützung und partieller Distanz zum Thema macht. »Eigensinn« wie auch »Gemengelage«1 werden in biographischen Fallanalysen empirisch rekonstruierbar. Allerdings, so die Analyseergebnisse, erweisen sich »eigensinnige Akte« als viel weniger diffus und unverknüpft als Lüdtke annimmt.2 Vielmehr unterliegt dieser »Eigensinn«, das je fallspezifische Aneignen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, einer biographischen Strukturiertheit. Durch lebensgeschichtliche Analysen werden Elemente des jeweiligen »Gemenges« in ihrem Zusammenhang rekonstruierbar. Bemerkenswert ist die systemübergreifende Kontinuität der jeweiligen biographischen Handlungsorientierungen und Handlungsmuster bei den untersuchten Fällen, die sich in den Lebensgeschichten teilweise bereits beim Übergang vom Kaiserreich in die Weimarer Republik, dann von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus und vom Nationalsozialismus in die Nachkriegszeit zeigt. Auf der Basis von 23 Fallanalysen wurden im Zuge kontrastiver minimaler und maximaler Fallvergleiche theoretische Verallgemeinerungen formuliert. Dies geschah zunächst entlang einiger ausgewählter Aspekte: So erwiesen sich bereits die Hinwendung und der Parteibeitritt als mit biographischen Handlungsorientierungen und -mustern eng verbunden. Die politische Selbstdefinition als Nationalsozialist erfolgte vielfach unter Be-
—————— 1 Vgl. Lüdtke 1987, insbesondere S. 19–23. 2 Vgl. Lüdtke 2002, S. 66; ders. 1993, S. 13.
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zugnahme auf jene mentalitätsgeschichtlichen Aspekte eines »deutschen Sonderwegs«, die fallspezifisch in der bisherigen Lebensgeschichte bereits von Relevanz waren; dabei konnte es sich um antisozialistische, antiparlamentarische, antisemitische, etatistische, nationalistische oder militaristische Orientierungen handeln. Ebenso entwickelten sich Schwerpunktsetzungen und Formen der Funktionsausübung im Kontext der jeweiligen biographischen Handlungsmuster und Handlungsorientierungen. So legten einige Funktionäre einen Schwerpunkt auf militärische, andere auf organisatorisch-planerische Aspekte der Parteiarbeit. Je nach ihrer Vorgeschichte und ihren biographischen Handlungsorientierungen wurden sie besonders aktiv in bestimmten Bereichen nationalsozialistischer Politik – in einer Bandbreite, die von der Verfolgung politischer Gegner und der jüdischen Bevölkerung bis zur gleichsam seelsorgerischen Betreuung von »Volksgenossen« reichte. Zudem konnten etwa »dienende«, offen gewalttätige sowie bürokratisch pflichtbewusste Formen der Funktionsausübung identifiziert werden. Sie sind zugleich Ausdruck biographisch gewachsener Habitusformationen. Als Schlüssel zum Verständnis verschiedener Funktionärskarrieren erwies sich die Rekonstruktion der biographischen Bedeutung des Engagements. In einer Typenbildung, die auf dem kontrastiven Vergleich entlang einzelner Aspekte aufbaute, wurden vier Typen hinsichtlich der biographischen Bedeutung der Funktionsausübung konstruiert. Diese Typologie zeigt, inwieweit die biographische Bedeutung einer NSDAP-Funktionsausübung idealtypisch mit einem bestimmten Verlauf des Engagements sowie einem bestimmten Verhalten im Spruchkammerprozess korrespondiert. Mit den Typen »biographische Chance«, »Modifikation biographischer Handlungsorientierungen angesichts veränderter Herrschaftsverhältnisse«, »Instrument zur Fortsetzung anderer biographischer Handlungsorientierungen« und »erzwungener Bruch mit biographischen Handlungsorientierungen« kann insbesondere auch der Prozesshaftigkeit politischen Handelns in den unteren NSDAP-Apparaten ab 1933 Rechnung getragen werden. Die Typenbildung liegt quer zu Gruppierungen nach sozialer Schichtung oder etwa Generationen. So können Funktionäre unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher sozialer Lage und Herkunft ein und demselben Typus hinsichtlich der biographischen Bedeutung der Aktivität angehören. Der Verlauf der Funktionsausübung kann offenbar über die mit der Tätigkeit verbundenen Bedeutungsgehalte besser erklärt werden, als dies
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über soziale Merkmale der Funktionäre wie Alter, soziale Herkunft und Lage oder Parteieintrittsdatum möglich ist. Durch Heterogenität geprägte Funktionsweise der unteren NSDAP-Apparate Die Frage, inwieweit auf der Grundlage biographischer Fallanalysen ein Beitrag zur Analyse der Funktionsweise der unteren NSDAP-Parteiapparate geleistet werden kann, wurde abschließend aus einer interaktionstheoretischen Perspektive auf politische Organisationen und Prozesse erörtert. Ausgehend von den Fallanalysen und dem bisherigen organisationsgeschichtlichen Wissen erweisen sich die unteren Parteiapparate als durch eine erhebliche Heterogenität geprägt. Diese entsteht durch die wechselseitige Beeinflussung des politischen Handelns der Funktionäre im Kontext ihrer biographischen Handlungsmuster und -orientierungen und der Maßnahmen, Angebote und Vorgaben des lokalen, regionalen und zentralen Parteiapparates. Die Heterogenität nationalsozialistischer Praktiken erweist sich als sowohl biographisch als auch durch Angebote und Maßnahmen des Parteiapparates begründet. So wurden in den Fallanalysen sehr unterschiedliche Formen, Schwerpunktsetzungen und Verläufe der Funktionsausübung herausgearbeitet, die eng mit den jeweiligen biographischen Handlungsmustern und -orientierungen der Funktionäre verbunden sind. Diese im untersuchten sample auffindbare Heterogenität der Parteitätigkeit ist gleichwohl durch Angebote und Maßnahmen der NSDAP mit produziert. Dies gilt etwa hinsichtlich der bewussten Vagheit der Programmatik. Ebenso rekrutierte die NSDAP über die Durchsetzung des Konzeptes einer aktiven Mitgliedschaft eine große Bandbreite an Handlungsorientierungen und Kompetenzen in ihr Funktionärskorps. Der von Michael Kater eher beiläufig konstatierte heterogene Charakter der unteren Parteikader3 und die von Detlef Schmiechen-Ackermann festgestellten unterschiedlichen Verhaltensweisen von Funktionären4 können nunmehr genauer gefasst und in ihrer Entstehung und Ausprägung erklärt werden. Ebenso wurde die bereits von William S. Allen vertretene These, dass die NSDAP den Menschen »alles mögliche bedeutet« habe,5 in den empirischen Fallanalysen konkretisiert und darüber hinaus auch auf die
—————— 3 Vgl. Kater 1983, S. 193. 4 Vgl. Schmiechen-Ackermann 2000, S. 599f. 5 Allen 1966, S. 241; vgl. auch ebd., S. 248.
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Ausübung einer Parteitätigkeit bezogen. So konnte gezeigt werden, dass die Parteitätigkeit den Funktionären sehr Unterschiedliches bedeutet hat und die NSDAP hinsichtlich einer Parteitätigkeit ebenfalls verschiedene Angebote machte. Darüber hinaus verweisen die Ergebnisse darauf, die Gesamtentwicklung der unteren Parteiapparate ab 1933 selbst als einen spezifischen interaktiven Prozess zu begreifen, der in seiner Dynamik durch die aufgezeigte Heterogenität bestimmt ist. Die weiteren Perspektiven der unteren Parteiapparate waren nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunächst relativ unklar. Vor dem Hintergrund der Analyseergebnisse kann die Entwicklung dieser Apparate zwischen 1933 und 1945 als eine wechselseitige Beeinflussung von Funktionären und Organisation verstanden werden, die Heterogenität in mehrfacher Hinsicht produzierte. So ermöglichte und begünstigte die Breite an den mit einer Parteitätigkeit verbundenen biographischen Handlungsmustern und Orientierungen im Funktionärskörper ab 1933 die Herausbildung eines Organisationsprofils, das in seinen Aufgabenbereichen der Überwachung, Verfolgung, »Betreuung«, Mobilisierung und Verwaltung nach und nach wiederum eine immense Breite und Heterogenität nationalsozialistischer Praktiken aufwies. Ihre multifunktionale und herrschaftsstabilisierende Wirkung, wie sie Carl Reibel herausgearbeitet hat, konnten die unteren Parteiapparate nicht zuletzt auch auf Grund dieser Entwicklungsdynamik entfalten. Methodische Ergebnisse In methodischer Hinsicht war zu fragen, inwieweit es überhaupt möglich ist, mit den ausgewählten Quellen fallrekonstruktiv zu arbeiten. Basierend auf biographietheoretischen Grundüberlegungen wurden Prinzipien aus der fallrekonstruktiven Auswertung von narrativen Interviews übernommen und auf die vorliegenden Quellen angewandt. Für die Interpretation von schriftlichen Selbstpräsentationen im institutionellen Kontext wurden drei Entstehungskontexte herausgearbeitet, die für die Produktion dieser Texte besonders relevant sind und damit zugleich Fragen des Aussagepotentials der Quellen betreffen. Dabei handelt es sich erstens um die Berücksichtigung spezifischer Textformate und die hiermit verbundenen Gestaltungsvorgaben, -spielräume und -grenzen, zweitens um die spezifische Interaktion zwischen Schreiber und Adressat und die damit
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verbundene Adressatenorientierung sowie schließlich um den biographischen Kontext des Verfassers eines Lebenslaufes. Gerade für die Analyse dieser meist kurzen Texte erwies es sich als sinnvoll, in Anlehnung an bereits entwickelte Verfahren vorab eine biographische Datenanalyse durchzuführen, die alle in den Akten überlieferten Daten einbezog. Zugleich bildete der Text eine empirische Grundlage, bereits gebildete Strukturhypothesen zur erlebten Geschichte zu überprüfen. Dabei erzielte die abduktiv und sequentiell vorgehende feinanalytische Textanalyse interessante Ergebnisse: sie ließ eine Kongruenz von Handlungs- und Schreibstruktur erkennen. Wiederholt konnte ein Durchbrechen der Textstruktur festgestellt werden an Stellen, wo etwas verschwiegen werden sollte. Die Quellen sind demnach gut geeignet, um biographische Handlungsorientierungen und -muster zu rekonstruieren, die in Beziehung zur NSDAP-Funktionsausübung standen. Grenzen wurden deutlich hinsichtlich der Rekonstruktion der Genese der Fallstruktur, das heißt der Entstehung der das Handeln strukturierenden Regeln: Aufgrund der Spezifik der Quellen mangelte es oft an Informationen zu Kindheit und Jugend der untersuchten Fälle. So sind etwa die spezifische politische Sozialisation und deren Verarbeitung oft nur bruchstückhaft rekonstruierbar. Dies liegt auch daran, dass in der Regel Narrationen in den untersuchten Formaten kaum vorkommen; diese sind vielmehr durch Bericht und Argumentation dominiert. Zudem fehlt – im Gegensatz etwa zum Interview – die Möglichkeit des Nachfragens. Dies spricht dafür, in Forschungsgebieten, in denen dies möglich ist, die Auswertung von schriftlichen Selbstpräsentationen um eine Erhebung und Auswertung narrativer Interviews zu ergänzen. Gleichwohl konnten anhand des ausgewerteten Materials bestehende biographische Handlungs- und Orientierungsmuster klar herausgearbeitet und in ihrer systemübergreifenden Reproduktion oder Modifikation aufgezeigt werden. Dabei erwies sich insbesondere die Entscheidung, Selbstpräsentationen aus den in vieler Hinsicht komplementären Überlieferungen der NSDAP und der Spruchkammern auszuwerten und miteinander zu kontrastieren, als sehr hilfreich. So ermöglichte die Verwendung und Gegenüberstellung beider Überlieferungen, Prozesse der Reorganisation der Biographie nach beiden Systemwechseln in der untersuchten Gruppe zu erforschen. Sie erleichterte die Rekonstruktion sowohl von Orientierungen am Adressaten als auch von Handlungsmustern im Umgang mit Institutionen.
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Durch den Befund, dass der jeweilige gesellschaftliche und institutionelle Kontext erhebliche Reorganisationen der Biographie hervorrufen kann, die dann durchaus als stimmiges Selbstbild empfunden und angenommen werden, ergeben sich interessante Fragestellungen für weitere Forschungen. Gerade in der Analyse von Selbstpräsentationen in institutionellen Kontexten kann der Frage nachgegangen werden, inwieweit gesellschaftliche und institutionelle Vorgaben, Relevanzen und Erwartungshaltungen in die Selbstverständnisse der Menschen hineinwirken. Hier liegt ein spezifisches Potential in der Analyse von Selbstpräsentationen in institutionellen Kontexten. Ebenso wurde deutlich, wie Biographen vor dem Hintergrund ihrer Handlungs- und Deutungsmuster in der Interaktion mit Institutionen gesellschaftliche Diskurse mit konstituieren. Diese Ergebnisse legen nahe, auch in der künftigen Forschung zu politischem Handeln Biographie- und Diskursanalyse stärker miteinander zu verbinden.6 Deutlich wurde, dass Selbstpräsentationen aus institutionellen Kontexten ein weitaus höherer Erkenntniswert zukommt als bislang angenommen. Die gängige Praxis, selbst verfasste Lebensläufe und Personalfragebögen weithin als Fundus für sozialstrukturelle Daten zu benutzen, bleibt problematisch – zumindest soweit nicht ergänzende Quellen als Korrektiv herangezogen werden können. Das Potential, das in diesen Dokumenten liegt, wird auch durch eine inhaltsanalytische Auswertung nicht ausgeschöpft. Durch das hier adaptierte fallrekonstruktive hermeneutische Auswertungsverfahren lassen sich hingegen im Text enthaltene latente Sinnbezüge ebenso erschließen wie Funktionen, die bestimmte Darstellungen für den jeweiligen Verfasser haben. Perspektiven der Forschung Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Arbeit können abschließend einige Forschungsperspektiven formuliert werden: Es ergeben sich zunächst einige weitere Forschungsfragen. Hinsichtlich der unteren NSDAP-Apparate sollten ergänzend jene frühen Funktionäre untersucht werden, die auf Grund der Anlage der Untersuchung nicht erfasst worden sind, weil sie nie Blockleiter waren. Die Erkenntnisse über die Entwicklung der Parteiapparate legen eine vertiefende Forschung zu sozialtechnologischen Maßnahmen der NSDAP nahe, denen durch Analy-
—————— 6 Vgl. Schäfer/Völter 2005.
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sen der Akten auf Kreis-, Gau- oder Reichsebene sowie des parteiinternen Schulungsmaterials nachgegangen werden kann. Auch können vor dem Hintergrund der vorliegenden Ergebnisse weitere Forschungen hinsichtlich der Wirkung der heterogenen Funktionsausübung in der Bevölkerung sinnvoll sein: Die Fähigkeit der NSDAP, unterschiedliche Handlungsorientierungen und -muster in ihrer Partei und ihrem Funktionärskorps zu integrieren, wirft auch die Frage auf, inwieweit dies eine besondere Stärke der NSDAP im Wohnbezirk ausmachte. Nicht zuletzt angesichts der nach 1945 massenhaft ausgestellten Entlastungsschreiben bleibt auch zu fragen, ob die unteren Funktionäre in der Bevölkerung durchgängig so abgelehnt wurden, wie es in der Literatur zuweilen dargestellt wird.7 Weiteren Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Funktionsweise des Nationalsozialismus versprechen ähnliche Untersuchungen zu Angehörigen anderer NS-Verbände: Hier könnte auch vergleichenden Fragen nachgegangen werden, die sich etwa mit der Bedeutung von Ehrenamtlichkeit, Hauptamtlichkeit und Kasernierung hinsichtlich der Beibehaltung und Veränderung biographischer Handlungsmuster und Orientierungen beschäftigen. Über den Vergleich mit Untersuchungen über Aktivistinnen in NS-Frauenverbänden können geschlechtsspezifische Dimensionen von NS-Tätigkeit genauer erforscht werden.8 Zu fragen wäre hier, inwieweit geschlechtsspezifisch bestimmte Ideologiefragmente hervorgehoben wurden oder inwieweit eine NS-Aktivität geschlechtsspezifische biographische Chancen bot. Was wäre das Pendant zu den Männern, die oftmals über ihre militärische Sozialisation oder ihr Selbstverständnis als Beamte Schnittstellen zur NSDAP konstruierten? Schließlich erscheint es vielversprechend, in ähnlicher Weise widerständiges Handeln zu untersuchen und mit dem hier vorgestellten Forschungsansatz die biographischen Kontexte genauer zu erforschen, in denen Menschen zu Widerstand bereit und in der Lage waren.9 Über die NS-Forschung hinaus bietet die angewandte Methode Möglichkeiten zu einer methodisch kontrollierten hermeneutischen Interpretation schriftlicher Selbstpräsentationen aus institutionellen Kontexten, wie sie seit der aufkommenden Moderne in großem Umfang erzeugt worden sind. Zumal für die Untersuchung des Verhältnisses von Biographie und
—————— 7 Vgl. Unger 1974, S. 103f. 8 Vgl. hierzu etwa Arbogast 1998 sowie die Beiträge in dem von Sybille Steinbacher 2007 herausgegebenen Sammelband über »Volksgenossinnen«. 9 Vgl. Steinbach 2000.
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Politik eröffnen sich hier neue Forschungsperspektiven. Dies gilt nicht nur für die Erforschung moderner Diktaturen, sondern auch für die Untersuchung demokratisch verfasster Gesellschaften. Insbesondere wird es dadurch möglich, biographieanalytisch zu historisch-politischen Prozessen und politischen Organisationen zu arbeiten, deren Akteure nicht mehr interviewt werden können. Darüber hinaus stehen weitergehende theoretisch-konzeptionelle Überlegungen an, politisches Handeln als biographisch kontextualisiertes zu konturieren. Insofern versteht sich die Arbeit auch als ein Beitrag zur Weiterentwicklung einer historisch orientierten Politischen Soziologie.10 Fallrekonstruktive biographische Forschungsansätze können einen wichtigen Beitrag bei der Erforschung von Entstehung, Entwicklung und Wandel politischer Organisationen darstellen. Sie eignen sich insbesondere, um Fragen einer »Neueren Politikgeschichte«11 und einer »Kulturgeschichte des Politischen«12 empirisch zu bearbeiten. Dies gilt insbesondere angesichts des Potentials, das fallrekonstruktiven biographischen Analysen bei der Erforschung politischer Organisationen, Prozesse und Diskurse aus interaktionistischer Perspektive innewohnt.
—————— 10 Vgl. Böhnisch 2006, S. 28ff. 11 Vgl. Frevert 2005, Haupt 2005. 12 Vgl. Stolberg-Rilinger 2005.
6. Anhang
6.1. Kurzdarstellungen der weiteren Fälle Neben den vier in Kapitel 3 dargestellten Fällen wurden ein weiterer Fall extensiv1 und 18 Fälle globalanalytisch ausgewertet. Bei den Globalanalysen wurde zunächst über die erste Grundrecherche hinausgehend eine intensive Auswertung der überlieferten Akten durchgeführt. Auf dieser Basis wurden die biographischen Daten zusammengestellt und sequentiell analysiert. Hierbei wurden auch Recherchen in der Sekundärliteratur einbezogen. Im Anschluss daran wurden eine oder mehrere Selbstpräsentationen sequentiell analysiert. Auf der Basis dieser Vorarbeiten wurden Hypothesen zur gelebten und dargestellte Geschichte kontrastiert.2 Zu allen nicht in Kapitel 3 dargestellten Fällen werden im Folgenden in alphabetischer Reihenfolge zunächst einige Angaben zur biographischen Entwicklung gegeben, die auf der Basis der Analyseergebnisse ausgewählt wurden. Am Ende der Kurzdarstellungen werden die jeweiligen Fälle in der in Kapitel 4.2. formulierten Typologie verortet.
Rudolf B., *1892 *1892 in Schwäbisch Gmünd als Sohn eines Kaufmanns geboren, evangelisch 1908: Abschluss Realgymnasium mit Mittlerer Reife 1908–1911: Banklehre, zunächst in Schwäbisch Gmünd, nach Umzug der Familie in Stuttgart 1911–1914: Bankangestellter in Stuttgart 1914: Soldat, Kommandierung zu einem Offiziers-Aspiranten-Kurs; ab 1915 bei der Württ. Gebirgs-Kompanie, 1915 Unteroffizier, 1917 Leutnant der Reserve, 1918 Ordonnanz-
—————— 1 Siehe Johannes N., *1889; vgl. Müller-Botsch 2006. 2 Vgl. zu Globalanalysen Rosenthal 2005, S. 93f.
ANHANG
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Offizier im Regimentsstab; 1918: Verwundung; Dez. 1918 Austritt; zahlreiche Kriegsauszeichnungen 1920: kaufmännischer Leiter in der Fabrik des Schwagers in Lorch; Heirat, zwei Söhne (*1921; *1922) 1922/23: Kontakt zur NS-Bewegung; gehört am 9.11.23 einer »Kampfgruppe« in Lorch an 1924–1927: DNVP-Mitglied, ohne Aktivitäten 1929: Zusammenbruch der Firma; Vorbestrafung wegen Betrugs ab 1929: Besuch nationalsozialistischer Versammlungen gemeinsam mit der Ehefrau, Gelegenheitsarbeiten Nov. 1933: Anstellung als Bankkaufmann bei Württembergischen Kreditverein AG in Stuttgart 1934: Eintritt in DAF und NSV Aug. 1935: Eintritt in NSDAP 1936: Umzug nach Stuttgart 1936: NSDAP-Blockleiter-Funktion, 1940 Vertretung eines Zellenleiters und des Organisationsleiters, Oktober 1942-Mai 1945 Vertretung des Geschäftsführers; gibt 1943 an, »gottgläubig« zu sein; 1943 Antrag der Ortsgruppe auf Ernennung zum Ausbildungsleiter; reicht u. a. ein Passbild in Uniform mit Parteiabzeichen und Kriegsauszeichnungen ein, auf dem er einen »Hitlerbart« trägt.
Im Fall Rudolf B. ist eine politische Positionierung in der extremen Rechten bereits in der ersten Hälfte der 1920er belegt. Der gelernte Bankkaufmann, der während des Ersten Weltkrieges zahlreiche Kriegsauszeichnungen bekommen und eine Offizierslaufbahn eingeschlagen hat, ist im Umfeld des Hitlerputsches in einer nationalsozialistischen Kampfgruppe in Lorch organisiert. Von 1924–1927 ist er nichtaktives Mitglied in der DNVP. Die in der ersten Hälfte der Weimarer Republik florierende Firma seines Schwagers, in der er kaufmännischer Leiter ist, wird 1929 liquidiert und Rudolf B. in diesem Zusammenhang vorbestraft. Ab Ende der 1920er besucht er nationalsozialistische Veranstaltungen. Nachdem er nach einer mehrjährigen beruflichen Krise Ende 1933, vermittelt über einen alten Kriegskameraden, wieder einen gut bezahlten Arbeitsplatz bekommt, bemüht er sich um einen Beitritt in der NSDAP. Mit dieser Absicht hat er 1935 Erfolg, während die so genannte Mitgliedersperre prinzipiell noch nicht gelockert worden ist. Die Analyse ergab, dass B. sich in Zeiten eigener wirtschaftlicher Prosperität in starken Flügeln der extremen Rechten organisiert. Für ihn ist politische Organisierung mit gesellschaftlichem Status und dessen Absicherung verbunden. Mit seinem Parteibeitritt 1935 manifestiert er eine biographisch-politische Orientierung, hat an einer Funktionsausübung aber kein besonderes Interesse. NSDAP-Funktionsübernahme und -ausübung ab 1936 haben bis Anfang der 1940er Jahre für ihn instrumentelle Funktion. Während der Kriegsjahre allerdings übernimmt Rudolf B. zunehmend Funktionen und ist ab 1942 innerhalb der Ortsgruppe sehr präsent. Nahe liegt, dass dieses zunehmende Engagement mit militärischen Orientierungen seit dem Ersten Weltkrieg in Verbindung steht. B. trägt stets Uniform, wird als – für militärische Übungen zuständiger – Ausbildungsleiter eingesetzt und präsentiert sich auch gegenüber der NSDAP durch ein Passbild in Uniform mit Kriegs-
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auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. In der Organisation und Aufrechterhaltung der »Heimatfront« handelt er auch nach Relevanzen, die mit den durch die Partei geforderten nicht immer übereinstimmen. In diesem Kontext ist sein Handeln als Funktionär gegen Ende des NS-Regimes zu interpretieren, als er mehrfach auch Verfolgte unterstützt. Womöglich bereitet er sich damit auch gezielt auf die Nachkriegszeit vor. In seinen Selbstpräsentationen gegenüber der NSDAP präsentiert B. sich insbesondere über seine frühe Hinwendung zum Nationalsozialismus. Hier zeigt sich auch ein Beispiel, inwieweit innerhalb eines Fragebogens antisemitische Positionen zum Ausdruck gebracht werden: So macht B. 1938 den angeblichen Rückzug einer Kreditzusage durch einen jüdischen Bankier für seine gerichtliche Strafe Ende der 1920er Jahre verantwortlich. Im Spruchkammerverfahren bringt B. in einer schriftlichen Selbstpräsentation 1947 nach Erhalt der Klageschrift, im Kontext der Thematik »Arbeitslosigkeit« deutlich seine Zustimmung zur NSDAP nach der Machtübernahme zum Ausdruck. Seinen Parteibeitritt begründet er damit, dass er seine Stellung nach Jahren der Arbeitslosigkeit in jeder Form habe festigen wollen. Ansonsten thematisiert B. insbesondere die im Spruchkammerverfahren bezeugten Hilfeleistungen für Bedrängte und Verfolgte in den letzten beiden Kriegsjahren und führt diese als Nachweis an, dass er die »Gewaltherrschaft der NSDAP« nicht unterstützt habe. Von der Spruchkammer wird er zuerst als Minderbelasteter, dann als Mitläufer eingestuft. Innerhalb der Typologie ist Rudolf B. zunächst Typus 3 »Instrument« zuzuordnen. Bei ihm kommt es allerdings während der Kriegsjahre zu einem stärkeren Engagement, die Funktionsausübung verliert den nur instrumentellen Charakter und entspricht zunehmend Typus 2 »Modifikation«.
Eugen E., *1881 *1881 in Tuttlingen als Sohn eines Instrumentenmachers geboren, evangelisch ca. 1887–1895: Besuch der Volks- und Realschule 1895–1905: Lehrzeit und Gehilfentätigkeit im Verwaltungsfach, Besuch des Staatlichen Verwaltungskurses 1902/03 1905–1907: Verwalter in einer Fabrikkrankenkasse, anschließend in einer privaten Pflegeanstalt 1907–1914: Eigenes Büro in Rechtssachen, Hypothekenverkehr, Konkursabwicklung ca. 1907: Wiederverheiratung nach dem Tod der ersten Ehefrau 1904; in den Jahren 1908– 1919 werden sechs Kinder geboren 1914–1917: zur Verfügung des roten Kreuzes im Bereich der Feldposthilfe und Leichentransporte vom Feld 1917: Meldung als Kriegsfreiwilliger; Landsturm in Stuttgart, dann Tuttlingen 1918–21: Fabrikation von Schuhwaren;
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um 1920: für einige Zeit Mitglied, 1920 im Vorstand der DDP in Tuttlingen 1921–23: Konkursabwicklung der eigenen Firma 1924: Umzug nach Stuttgart 1924–26: Mitarbeit bzw. Mitbeteiligung an einem Bankhaus und einer Importfirma bis zu deren Auflösung 1926–29: eigenes Büro in Rechts-, Wirtschafts- und Steuerberatung, Konkurs- und Vergleichsabwicklungen 1929–1931: Generalvertreter einer Berliner Bausparkasse in Süddeutschland 1931: Prozess wegen Betrugsverdachts, u. a. 90 Tage Haft, arbeitslos 1931: Aufnahmegesuch an die NSDAP wird abgelehnt 1933/34: einige Monate bei einer Firmenabwicklung in Stuttgart Sommer 1934-Anfang 1936: arbeitslos August 1935: Eintritt in die NSDAP 1936: Blockleiterfunktion, Beitritt bei Deutschen Christen, Anstellung beim Finanzamt Stuttgart-Ost; zahlreiche Anträge auf berufliche Beförderung bis 1945 1938: ehrenamtliche Funktion als Hilfsrevisor bei der NSV; einem Antrag auf Enthebung von der Blockleiterfunktion wird daher und wegen körperlichen Gebrechens (steifes Bein) statt gegeben. 1943–1944: ehrenamtlich Kreisrevisor der NSDAP
Die Biographie von Eugen E. ist geprägt durch zahlreiche berufliche Wechsel seit Ende des 19. Jahrhunderts: Tätigkeiten als Verwalter unterschiedlicher Einrichtungen, als freier Wirtschaftsberater und Konkursabwickler sowie als Firmengründer und -teilhaber wechseln sich ab und enden in vielen Fällen mit der Konkursabwicklung der jeweiligen Firma. Auf dieses Feld spezialisiert sich E. dann auch beruflich. Politische Verortung erfolgt jeweils in Verbindung und unter Bezugnahme auf politisch jeweils einflussreiche Personen im lokalen Umfeld und ist auf eigene wirtschaftliche Prosperitätserwartung bezogen. Dies gilt vermutlich bereits für die Mitgliedschaft in der DDP um 1920, wie entsprechende Darlegungen im Spruchkammerverfahren nahe legen. In demselben Kontext ist die Hinwendung zur NSDAP zu interpretieren, die, in der Hoffnung auf Unterstützung durch diese in einem Strafverfahren, 1931 unter Bezugnahme auf das in Stuttgart einflussreiche NSDAP-Mitglied Karl Waldmann erfolgt. Der Aufnahmeantrag wird jedoch mit Verweis auf das laufende Betrugsverfahren zunächst abgelehnt. 1935 wird E. dann in die NSDAP aufgenommen und bekommt 1936 eine Anstellung beim Finanzamt. Ebenfalls 1936 übernimmt er eine Blockleiterfunktion und ist ab 1938 als Revisor für die NSV, später die NSDAP aktiv. Im Spruchkammerverfahren wird er durchgängig als jemand beschrieben, der politisch im Wohnumfeld und im Finanzamt nicht hervorgetreten sei. Die Selbstpräsentation 1936 gegenüber der NSDAP ist in Form eines tabellarischen Lebenslaufs verfasst. Hinweise auf eine politische Verortung bringt E. lediglich bei von ihm selbst strukturierten, kurzen persönlichen Angaben am Anfang des Lebenslaufs zum Ausdruck, wo er auf seine Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen und eine »arische Abstammung« verweist und damit Hinweise auf antisemitische Ressentiments gibt. Naheliegend ist es, dass diese vermutlich schon länger
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bestehen und E. darüber ideologisch eine Anknüpfung an die NSDAP vornimmt. Insbesondere zählt E. in dieser Selbstpräsentationen zahlreiche berufliche Tätigkeiten auf und hebt angeblich durch andere verschuldete finanzielle Verluste bei der Auflösung einzelner Firmen hervor. In der Selbstpräsentation im Spruchkammerverfahren gibt E. an, sich aufgrund der Erwartung, in seinem Verfahren Anfang der 1930er Unterstützung durch die NSDAP zu bekommen, dieser zugewendet zu haben. In dem gegen ihn laufenden Strafverfahren sei er zunächst durch den Staat von Weimar, dann später aber auch durch den nationalsozialistischen Staat schlecht behandelt worden und habe dadurch hohe finanzielle Einbußen gehabt. Den Parteibeitritt 1935 verteidigt er unter Bezug auf seine damalige Arbeitslosigkeit. Im April 1948 wird er als Minderbelasteter eingestuft, im Herbst 1948 wird das Spruchkammerverfahren aufgrund der Weihnachtsamnestie eingestellt. Die Globalanalyse legt nahe, Eugen E. sowohl hinsichtlich des NSDAP-Beitritts als auch der Funktionsübernahme dem instrumentellen Typus zuzurechnen. Aspekte der ideologischen »Passung« mit bisherigen Haltungen bilden hier womöglich antisemitische Ressentiments.
Adolf F., *1902 *1902 in Stammheim bei Stuttgart als Sohn eines Schuhmachers und Landwirtes geboren, evangelisch 1908–1916: Besuch der Volksschule ab 1916: arbeitet im Landwirtschaftsbetrieb des Großvaters und in Firma Robert Bosch ab ca. 1920: Eintritt in Eisenbahndienst, Bahnbetriebswerk Kornwestheim Mitglied im Einheitsverband der deutschen Eisenbahner 1931: Heirat und Umzug nach Stuttgart-Zuffenhausen Vermutlich 1932: Verbeamtung September 1933: Versetzung nach Esslingen 1935: Geburt des ersten Sohnes (1940 Geburt des zweiten Sohnes, 1942 Geburt der Tochter) Juni 1938: Tätigkeit als Blockleiter August 1938: Lagermeister bei der Deutschen Reichsbahn August 1939: Tätigkeiten eines Zellenleiters Oktober 1939: NSDAP-Beitritt ca. 1943/44: Kriegsverdienstkreuz II. Klasse der OG Zuffenhausen Feb. 1945: Oberlagermeister bei der Deutschen Reichsbahn
Adolf F. kommt aus der Umgebung von Stuttgart und arbeitet nach Beendigung der Volksschule 1916 für einige Jahre in der Landwirtschaft seines Großvaters und bei der Firma Bosch. Anfang der 1920er Jahre tritt er zunächst als Arbeiter bei der
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Reichsbahn ein und zieht nach seiner Heirat nach Stuttgart. Als Mitglied des Einheitsverbandes Deutscher Eisenbahner ist er in der Arbeiterbewegung organisiert. 1932 wird er Beamter. 1933 wird F. als »politisch nicht einwandfrei« von Kornwestheim nach Esslingen versetzt. Als Beamter ist F. ab 1933 Mitglied im RDB. Im Frühjahr 1938 wird er auf die NSDAP-Ortsgruppe Zuffenhausen vorgeladen und unter Druck gesetzt, Tätigkeiten eines Blockleiters zu übernehmen, da man wisse, dass er mit Juden verkehre und kommunistisch eingestellt sei; andernfalls werde er seine Arbeit verlieren. F. gibt dem Druck nach und übernimmt die Funktion. Kurz darauf wird er nach der entsprechenden Weiterqualifizierung bei der Bahn zum Lagermeister befördert. Nach weiteren Vorladungen, u.a. bei der Reichsbahndirektion, in denen F. massiv zum Parteibeitritt gedrängt wird, tritt er im Oktober 1939 der NSDAP bei. Kurz zuvor wurde ihm nach der Einberufung eines Zellenleiters zur Wehrmacht dessen Funktion übertragen. Kommissarisch führt er, von der Reichsbahn unabkömmlich gestellt, die Zellenleiterfunktion bis Kriegsende ohne Beanstandungen der NSDAP aus und trägt damit auch zu deren Funktionsfähigkeit bei. Für Rettungsaktionen im Bombenkrieg wird ihm das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse verliehen. Gleichwohl scheint er seine Gesinnung nicht geändert zu haben. So hält er etwa den Kontakt zu einem jüdischen Freund aufrecht und unterstützt diesen. Im Spruchkammerverfahren liegen keine individuellen Belastungen hinsichtlich seines Verhaltens außerhalb der Partei bzw. gegenüber der Bevölkerung vor. Belastungen, wonach er seinerseits Parteimitglieder erheblich zu Funktionsübernahmen gedrängt habe, werden letztlich als nicht erwiesen eingeschätzt. Eine Selbstpräsentation im Jahr 1940 hält Adolf F. sehr kurz und formal. Er führt explizit seine Funktion als Blockleiter an und unterzeichnet mit »Heil Hitler«. Für die Nachkriegszeit liegen mehrere ausführlichere Selbstpräsentationen vor, in denen Adolf F. den auf ihn ausgeübten Druck betont und insbesondere auch mit seiner Situation als Vater von drei kleinen Kindern argumentiert. Zunächst verschiebt er den Zeitpunkt der Funktionsübernahme und des Parteibeitrittes auf die Zeit ab 1940. Teilweise recht stark differierende zeitliche Angaben (sowohl von Adolf F. selbst als auch in Zeugenbefragungen und Auskunftserteilungen) können auf der Basis der Quellenlage nur annäherungsweise geklärt werden. Im Spruchkammerverfahren wird F. im Januar 1948 als minderbelastet, ein Jahr später als Mitläufer eingestuft. Hinsichtlich der Typologie scheint Adolf F. Typus 4 zuzugehören, der unter erheblichem Druck – nicht zuletzt hinsichtlich seiner bisherigen politischen Einstellung – eine Parteifunktion übernimmt und in die NSDAP eintritt.
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Emil F., *1902 *1902 in Stuttgart als Sohn eines Wagnermeisters geboren, evangelisch 1908–1918: Besuch der Grund- und Realschule 1918–1922: vierjährige Lehre als Mechaniker und technischer Zeichner 1922–1925: Maschinenbaustudium an der Technischen Hochschule Stuttgart; Abschluss als Maschinen-Ingenieur ab 1922: Mitglied in der Deutschen Landsmannschaft (DL) 1925–1928: Konstrukteur bei Firmen in Kornwestheim und Berlin-Lichtenberg 1928–1930: Betriebsingenieur in einer Firma in Stuttgart-Feuerbach November 1929: Heirat 1930–1932: Berufliche Probleme, Gehaltskürzungen, Arbeitszeitkürzung 29.9.1932: F. wird gekündigt; am selben Tag stirbt der Vater von Emil F. zwischen Sept. 1932 und Dez. 1933: Wiederbeschäftigung unter schlechten Bedingungen, Arbeitslosigkeit, Reisender für Büroartikel und Sparfeuerung, Fortbildungskurse als Kalkulator 1.5.1933: NSDAP-Beitritt 1.6.1933: SA-Beitritt ab Dez. 1933: Anstellung bei Firma Bosch als Kalkulator 1934 und 1935: Beitritt NSV und DAF Sept. 1935: Ingenieur bei Bosch 1936: Austritt aus der SA; »ehrenvolle Entlassung« aus beruflichen Gründen ab 1936/1937: Beitritt Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund (NSDStB), Nationalsozialistischer Bund Deutscher Technik (NSBDT) seit Feb. 1937: Blockleiter in OG Zuffenhausen Dez. 1937: Geburt des Sohnes ab 1938/1939: Teilbetriebsleiter bei Bosch Ende 1938/Anfang 1939: Zellenleiterfunktion Herbst 1939: Wechsel von »Außen«- in »Innendienst« der NSDAP-Ortsgruppe: Registraturarbeiten/Post; zunehmend mit anderen Arbeiten beauftragt, u. a. auch politische Beurteilungen, später Evakuierungen nach Luftangriffen etc. während des Krieges: U.k.-Stellung ab Mai 1943: als OG-Hauptstellenleiter Statistik bei Organisationsleiter bestätigt; aktiv im Stollenbau, Stollenkommandant Dezember 1945-Juli 1946: Internierung (automatic arrest) als ehemaliger Hauptstellenleiter
Die Biographie von Emil F. ist geprägt durch einen Bildungsaufstieg, der mit einer Orientierung an »peers« verbunden wird. Als Student an der Technischen Hochschule organisiert er sich 1922 in der schlagenden und »vaterländisch« orientierten Studentenverbindung Deutsche Landsmannschaft, der er bis zu ihrer Auflösung Mitte der 1930er angehört. Stark berufsorientiert, erlebt er Anfang der 1930er angesichts zeitweiliger Arbeitslosigkeit eine Krise, in der er 1933 Ratschlägen aus seinem Umfeld folgt und zum 1. Mai in die NSDAP eintritt. Durch Bekannte geworben, tritt er auch der SA bei. Ab Ende 1933 stabilisiert sich seine berufliche
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Entwicklung, er bekommt eine Anstellung bei Bosch und steigt dort kontinuierlich auf. U. a. durch kritische Briefe von Freunden in den USA angeregt, positioniert er sich distanzierter zum Nationalsozialismus, tritt 1936 aus der SA aus und versucht nachweislich, aber erfolglos, eine ihm angetragene Blockleiterfunktion nicht zu übernehmen. Zunächst nur auf Druck übernimmt Emil F. 1937 einen Blockleiterposten. 1939 bittet er als Block- bzw. Zellenleiter um eine Versetzung vom »Außendienst«, der ihm unangenehm ist. Auf seinen eigenen Vorschlag hin wechselt er vom Dienst im Wohnviertel in die Ortsgruppenverwaltung. Dort wird er sukzessive zu einem der engsten Mitarbeiter des Ortsgruppenleiters und dessen Nachfolgers. Die Analyse ergab, dass ein wohl kollegial-kameradschaftlicher Arbeitsstil, den F. – zumindest teilweise – innerhalb des Ortsgruppenstabes erlebt und selbst pflegt, mit seiner starken peer- und Generationsorientierung korrespondiert. Teilweise versucht F., in Partei, Beruf und Privatleben hinsichtlich nationalsozialistischer Maßnahmen und Praktiken mäßigend zu agieren: Er verteidigt protestierende Beschäftigte, protestiert gegen den Ausschluss eines jüdischen Bundesbruders aus der Studentenverbindung und unterstützt einen politisch Verfolgten. Gleichwohl ist die Ausübung der Funktionen im Ortsgruppenstab engagiert und derart im Sinne des Ortsgruppenleiters, dass dieser ihn bei seinem Weggang als Nachfolger in Erwägung zieht. 1943/1944 lehnt er ab, als Nachfolger des ausscheidenden Ortsgruppenleiters vorgeschlagen zu werden. Mit dem dann eingesetzten Ortsgruppenleiter kommt es aufgrund dessen schroffen und scharfen Vorgehens und bereits früherer Auseinandersetzungen zu einer zunehmenden Distanzierung vom Ortsgruppenzusammenhang. In seinem Lebenslauf an die NSDAP stellt F. sich 1938 sehr kurz und berufsorientiert dar und macht keinerlei Angaben oder Ausführungen zum Eintritt in die NSDAP oder zu seinen Funktionen. In einem langen, neunseitigen Lebenslauf vom Juli 1945 stellt F. sich insbesondere berufsbezogen dar. Dabei baut er berufliche Probleme und Existenzängste seit 1930 sowie einen korrekten Umgang mit Mitarbeitern und Ausländern in seiner Tätigkeit ab 1933 bei Bosch aus. Der Parteibeitritt wird in den Kontexten der beruflichen Krise und entsprechender Ratschläge aus dem Umfeld dargestellt, eine Distanzierung ab Mitte der 1930er und die Ablehnung der Funktionsübernahme sowie später eines Ortsgruppenleiterpostens werden hervorgehoben. Im Anschluss an eine Beschreibung der Tätigkeiten werden die Auseinandersetzungen mit dem letzten Ortsgruppenleiter hervorgehoben und eine zweiseitige Beschreibung einzelner Ortsgruppenmitarbeiter («Psychogramm der Ortsgruppen-mitarbeiter«) vorgenommen. Abschließend bekundet F. seine Ablehnung des Nationalsozialismus: Er bereue und bedauere den Beitritt; in den letzten Kriegsjahren sei er bemüht gewesen, helfend und ausgleichend zu wirken. Im April 1948 wird Emil F. als Mitläufer eingestuft.
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Hinsichtlich der Typologie sind Beitritt und Funktionsübernahme instrumentell einzuschätzen. Der Fall Emil F. ist daher Typus 3 bzw. 3.2. zuzuordnen. Im Lauf der Parteikarriere wird F. jedoch, im Kontext einer als kollegial-kameradschaftlich erlebten Zusammenarbeit auf Ortsgruppenebene, die mit biographischen Relevanzen von ihm korrespondiert, immer engagierter und weist Züge von Typus 2 »Modifikation« auf.
Alfons K., *1904 *1904 in Tuttlingen als Sohn eines Instrumentenmachers geboren, evangelisch 1911–1918: Volksschule 1918–1922: Lehre als Feinmechaniker, Gewerbeschule ab 1922: Mitglied im Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV) verschiedene Arbeitsstellen, ab 1925 bei Fortuna-Werken in Cannstatt 1928: Heirat 1929: Geburt des Sohnes 1931: Entlassung, Anfang 1932: Weiterbildungskurs für arbeitslose Metallarbeiter November 1932: Wiederanstellung bei Fortuna-Werken ab 1933: DAF 1933: Geburt der ersten Tochter 1934: Bewerbung um Siedlerstelle; im selben Jahr Zuteilung 1937: Unterkassierer im Siedlerbund 1937: Eintritt in NSV 1938: Geburt der zweiten Tochter vermutlich Nov. 1938: Blockhelfer 1939: schwere Erkrankung der Frau 1939: Parteibeitritt ab 1940: Blockleiter-Funktion
Der NSDAP-Beitritt des bis 1933 im Deutschen Metallarbeiter-Verband organisierten Feinmechanikers erfolgt 1939, nachdem die Frau schwer erkrankt und pflegebedürftig geworden ist, die Kinder ein, sechs und zehn Jahre alt sind. Alfons K. verspricht sich Erleichterungen angesichts öffentlicher Hilfeleistungen, auf die die Familie von da an angewiesen ist. Es liegen keine Belastungszeugnisse vor, hingegen mehrere Entlastungszeugnisse, die die familiale Not der Familie, die nicht-nationalsozialistische Gesinnung von Alfons K. und geringes Umsetzen der Parteiaufgaben betonen. Bei diesem Fall scheinen Beitritt und Funktionsausübung in erheblichem Maß instrumentell, er repräsentiert mithin Untertypus 3.2.
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Karl Ki. *1888 *1888 in Ravensburg als Sohn eines Lokmotivführers geboren, katholisch 1894–1904: Bürger- und Realschule in Stuttgart; Reifezeugnis für den einjährig freiwilligen Militärdienst ab 1904: kaufmännische Lehre in einer Stuttgarter Import-Firma 1909–1913: Berufstätigkeit in Triest 1913-Januar 1915: tätig bei einer Import-Firma (überseeische Häute) in Stuttgart Januar 1915–1918: Kriegsdienst, letzter Dienstgrad: Feldwebel bei einer Nachrichtentruppe Ende 1918–April 1919: im Sicherungsdienst in Litauen eingesetzt ab 1919: tätig bei Import-Firma (Südfrüchte) in Stuttgart 1921: Heirat 1922: Geburt des Sohnes angeblich langjähriger DDP-Wähler nach 1933: Eintritt in DAF, ab 1939 Betriebsobmann Januar 1940: NSDAP-Beitritt ab Herbst 1940: Einsatz als Blockleiter Februar 1943: Tod der Frau nach langer Krankheit August 1943: Tod des Sohnes nach schwerer Kriegsverwundung August 1944: Einberufung zum Landesschützenbataillon V in Lahr/Baden; Unterricht in Bewachung zur »Bewachung und Betreuung kriegsgefangener Soldaten« Ende August 1944: Überstellung zur SS mit Rang eines Oberscharführers, Konzentrationslager Flossenbürg, Außenkommando Hersbruck, in Verwaltung des KZ-Außenlagers eingesetzt (im Quartieramt, später als Küchenbuchführer der Truppenküche) Anfang Mai 1945: amerikanische Gefangenschaft ab Juni 1945: Internierungslager Dachau Mai–Sep. 1947: Internierungslager 74, Ludwigsburg
Der Parteibeitritt steht bei diesem Fall im Kontext mit dem schlechten Geschäftsgang der Firma, in der Karl Ki. seit 20 Jahren Geschäftsführer ist. Der Inhaber ist Schweizer. Stark berufsorientiert und mit der Firma verbunden, tritt er 1940 der NSDAP bei, um die Bedingungen der Firma, die Südfrüchte importiert, zu verbessern. In diesem Kontext steht auch die Übernahme einer Blockleiterfunktion Ende 1940. Der Geschäftsgang verbessert sich jedoch nicht. 1944 wird ein Antrag auf u.k.-Stellung abgelehnt, Karl Ki. wird im Alter von 46 Jahren eingezogen und nach kurzer Zeit bei einem Landesschützenbataillon dem KZ-Personal in einem Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg zugeteilt. Ein Versuch, sich vom Landesschützenbataillon noch in eine andere Einheit der Wehrmacht zu bewerben, bleibt erfolglos. Karl Ki. ist dort bis zur Befreiung in der Lagerverwaltung tätig. Im Spruchkammerverfahren kann er Entlastungszeugnisse von ehemaligen KZ-Inhaftierten vorlegen. Hinsichtlich seiner Parteitätigkeit liegen keine Belastungsschreiben vor; Ki. reicht u. a. Entlastungsschreiben ein, die betonen, dass er mit Gegnern des Nationalsozialismus beruflich und persönlich verkehrt und nie agitiert habe.
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Hinsichtlich der NSDAP-Tätigkeit repräsentiert dieser Fall Typus »Instrument«, wobei hier sowohl Parteibeitritt als auch Parteitätigkeit instrumentelle Funktion haben.
Karl Kn., *1890 *1890 in Oberrot, Kreis Gaildorf als uneheliches Kind der Katharina K. geboren; die Mutter heiratet später einen anderen Mann als den Vater ca. 1896–1905: Besuch der Volkschule im Heimatort ab 1904: Flaschnerlehre in Feuerbach, Gewerbeschule ab ca. 1908: aktives Mitglied im Arbeiter-Turnerbund Feuerbach 1910: Geburt einer Tochter 1914: Heirat 1914–1918: Württ. San. Komp. Nr. 32; u. a. Eisernes Kreuz Zweiter Klasse, Frontkämpferkreuz 1917: Geburt des ersten Sohnes 1919: Meisterprüfung als Kupferschmied 1919: Eintritt in Schutzmannschaft, Polizeiausbildung, Feuerbacher Stadtpolizei ab 1924: Kriminalpolizei 1924: Geburt des 2. Sohnes 1920er: Mitglied in Baugenossenschaft Heimstättenkolonie 1920er, evtl. bereits früher: langjähriges SPD-Mitglied 1932: Eintritt in NSDAP, Beitritt in bürgerlichen Turnverein; »Exerzierübungen« ab September 1933: Blockleiter der NSDAP, ab 1934 Marschblockleiter, ab Okt. 1934 Zellenleiter, ab 1935 Ortsgruppen-Organisationsleiter Mitgliedschaft in NS-Kriegerbund (RKB), Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen (NSRL), NSV 1930er: setzt sich für den Sohn eines Bekannten ein, der wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« verhaftet worden ist 1940: Kommandierung nach Diedenhofen/Lothringen, ab Juli 1947 nach Metz/Lothringen; bis Ende 1941 angeblich Kriminalpolizei Stuttgart unterstellt, ab dann vermutlich dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) 1943: Herzleiden Juli 1944: Pensionierung, von da an zunächst in Feuerbach, nervliche Probleme Okt. 1944: nach Bombenschaden Rückkehr nach Oberrot Mai 1945 bis April 1947: Internierung, Entlassung wegen Herzmuskelschwäche
Nachdem er über viele Jahre sehr aktiv in der Arbeiterbewegung war, tritt Karl Kn. 1932 – »über Nacht«, wie es in seinem Umfeld wahrgenommen wurde – in die NSDAP ein und ist dort sehr aktiver Parteimitarbeiter bis zu seiner Kommandierung ins besetzte Frankreich. Zwischen 1940–1943/1944 ist er in der Besatzungsverwaltung tätig. Hinsichtlich seiner Parteitätigkeit scheint er biographische Hand-
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lungsmuster und -orientierungen, die er zuvor in der Arbeiterbewegung gelebt hat, modifiziert in der NSDAP weiter zu leben. Mit seinem Beitritt vor 1932 kommt es zu dieser Modifikation jedoch vor der Machtübernahme; sie erfolgt damit im Kontext sich allmählich verändernder Machtverhältnisse. Möglicherweise würde er in Typus 2 »Modifika« einen Untertypus repräsentieren. Eine intensive Fallauswertung ist durch die Quellenlage erschwert, da kaum Selbstpräsentationen von Karl Kn. vorliegen. Karl Kn. wird hinsichtlich seiner Tätigkeit in der Parteiverwaltung als sehr aktiv beschrieben, Belastungsschreiben über individuelle Verfolgung liegen in den Spruchkammerakten nicht vor. Hinsichtlich seiner Parteitätigkeit weist Karl Kn. Züge von Typus 2 »Modifikation biographischer Handlungsorientierungen« auf.
Helmut K., *1897 *1897 in Ebingen als Sohn eines Volkschulrektors geboren, evangelisch Realschulabschluss ab 1912: Lehre als Kanzleiangstellter bei einem Notar, dann Kanzleigehilfe bei verschiedenen Amtsgerichten Nov. 1916–Juni1918: Gefreiter bei Feldartellerie (Beckenschuss wohl Mai 1917, Blasenverletzung, Blasenleiden); Ehrenkranz für Frontkämpfer, Verwundetenabzeichen Juni–Dez.1918: Gehilfe bei der Verwaltung des Städtischen Krankenhauses Bad Cannstatt Nov. 1919–Sommer 1920: staatlicher Notariatsunterrichtskurs in Stuttgart: gehobene mittlere Justizdienstprüfung; dann als Urkundsbeamter unständig verwendet bei verschiedenen Gerichten in Württemberg 1926: Heirat in Blaubeuren, zwei Töchter (*1927, *1931) 1927: Obersekretär beim Amtsgericht Stuttgart 1.2.33: unständige Verwendung im Notariatsdienst, Grundbuchamt Ludwigsburg Beitritt in NSDAP zum 1.5.33 1934: Eintritt in NSV, RDB, NS-Rechtswahrerbund 1934–37: Hilfsnotar bei den Grundbuchämtern Stuttgart-Zuffenhausen und Ludwigsburg; lehnt Übernahme einer NSV-Funktion 1935/1936 mit der Begründung einer häufig auswärtigen Tätigkeit zu dieser Zeit ab August 1937: Ernennung zum Bezirksnotar am Grundbuchamt Zuffenhausen Herbst 1937: zwei Wochen Gauschule Metzingen ab Nov. 1938: NSDAP-Blockleiter Sept.–Dez. 1939: Heeresdienst ab Okt. 1944: stellv. Kassenleiter Apr. 1945: Amtsenthebung K. lässt sich unmittelbar nach Kriegsende im Kreis Tübingen als Notar nieder.
Der 1897 geborene Helmut K. schlägt nach einem mittleren Bildungsabschluss eine Laufbahn im Notariatswesen ein. Nach der Rückkehr aus dem Ersten Welt-
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krieg aufgrund einer schweren Verwundung knüpft er ab 1918 an diese Laufbahn an. Zum 1. Mai 1933 tritt er der NSDAP bei. Seine Selbstpräsentationen und seine äußere Erscheinung (auf dem Passbild trägt er »Hitlerbart« und »großdeutschen Haarschnitt«) legen nahe, dass er 1933 in die NSDAP eintreten will. In den Spruchkammerakten erfolgt keinerlei Erklärungsversuch hinsichtlich des Parteieintritts. Ein Amt jedoch will er nicht übernehmen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund beruflicher Orientierungen und Beanspruchungen. 1936 lehnt K. ein Amt bei der NSV mit Verweis auf seine zahlreichen Dienstreisen ab. 1938 übernimmt er, mittlerweile Notar beim Grundbuchamt Stuttgart-Zuffenhausen, dann auf Aufforderung ein Blockleiteramt und führt dieses »pflichtgemäß« bis 1944 aus. Im Spruchkammerverfahren begründet er die Funktionsübernahme damit, dass ihm kein beruflicher oder persönlicher Ablehnungsgrund zur Verfügung gestanden habe und er nicht habe lügen können und wollen. Ein ihm 1944 übertragenes Amt als stellvertretender Kassenleiter führt er nur eingeschränkt aus, im April 1945 wird er nachts um 1.00 Uhr zur Ortsgruppe bestellt und seines Amtes enthoben, da er beruflich zu sehr belastet sei und oft nicht zum Dienst erscheine; angeblich soll aber seine religiösen Einstellung der Grund gewesen sein. Da K. offenbar zumindest auch aus Überzeugung der NSDAP beitritt, die Funktionsausübung jedoch instrumentelle Bedeutung hat, repräsentiert er mit Blick auf die Typologie Typus 3 »Instrument«, Untertypus 3.1.
Ludwig L., *1904 *1904 in Mannheim als Sohn eines sozialdemokratischen Reichsbahnbeamten geboren, evangelisch 1914: Umzug nach Villingen 1921: Realschulabschluss Frühjahr 1921: kaufm. Lehre in einer Metallgießerei, anschließend verschiedene Arbeitgeber, u. a. 1931 bei Hansa-Metallwerke AG, Stuttgart-Möhringen 1932: Heirat 1932/1933: angeblich SPD-Wähler 1932–1936: Geschäftsführer in Metallwarenfabrik Vosseler und Hauser Aldingen 1933: Geburt des ersten Sohnes, 1934 Geburt der ersten Tochter ab 1936: Verkaufskorrespondent in Metallfabrik, Stuttgart-Zuffenhausen 1936: DAF-Beitritt 1936: Geburt des zweiten Sohnes, 1937 Geburt des dritten Sohnes (verstorben 1939) 1938: Kirchenaustritt, Geburt der zweiten Tochter, NSV-Beitritt Februar 1940: Blockhelfer April 1940: Eintritt in die NSDAP, 1940 Eintritt in RLB ab Okt. 1940: Blockleiter-Funktion 1941: Eintritt RDF
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ca. 1941: Geburt eines weiteren Kindes 1942–1945 Werkluftschutz Karl Michael GmbH, Stuttgart-Zuffenhausen, Luftschutzmann, u.k.-Stellung
Der 1904 geborene leitende Angestellte in der Metallbranche kommt, wie seine Ehefrau, aus einer in der Arbeiterbewegung engagierten Familie. Auch als Erwachsener bewegt Ludwig L. sich noch im Milieu der Arbeiterbewegung, wie den Arbeitersportlern und Naturfreunden, ohne sich jedoch politisch in Gewerkschaften oder Parteien der Arbeiterbewegung zu organisieren. Vielmehr ist er seit dem 18. Lebensjahr im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband (DHV). Diese Konstellation und sein Verhalten sprechen in politischer Hinsicht für eine eher lose Anbindung an die Arbeiterbewegung und eine konfliktvermeidende Haltung. Diese kommt auch zum Ausdruck in seiner Bereitschaft, für seinen Chef, der zugleich NSDAP-Ortsgruppenleiter in einem kleinen württembergischen Ort ist, in den Jahren 1932 bis 1936 Schreibarbeiten für die NSDAP zu erledigen. Seine sukzessiven Beitritte in die NS-Organisationen DAF 1936, NSV 1938 und NSDAP 1940 stehen im Zusammenhang mit beruflichen und familialen Orientierungen. Im Kontext einer benötigten Wochenbettbetreuung für seine Frau tritt er 1938 in die NSV ein, im Kontext starker Mietstreitigkeiten mit Blick auf ein Siedlungshaus für seine siebenköpfige Familie 1940 in die NSDAP. Bereits einige Monate vor dem Beitritt übernimmt er ein Blockhelferamt, kurz nach dem Beitritt wird er Blockleiter. Bis 1944 ist Ludwig L. Blockleiter und wechselt dann von der Parteiorganisation in den Luftschutzbereich als kaufmännischer Stollengeschäftsführer. Dieser Fall repräsentiert Typus 3.2., bei dem sowohl Parteibeitritt als auch Funktionsübernahme vor allem instrumentelle Bedeutung haben.
Johannes N., *18893 *1889 als fünfter Sohn eines Zimmermannsmeisters auf der schwäbischen Alb geboren, katholisch 1903: Tod des Vaters, Mitarbeit im elterlichen Betrieb, Handelsschule 1909: Militärdienst, anschließend Verpflichtung; im Ersten Weltkrieg u. a. als Kantinen- und Kammerverwalter, Rechnungsführer ab 1916: Sympathien für die Bahai-Religion 1919: als Berufssoldat in Württembergische Schutzmannschaften überführt; 1925 nach Ende der Dienstpflicht als kaufmännischer Angestellter in einer Möbelfabrik, vermittelt über den früheren Chef der Schutzmannschaften und nun Designer in dieser Möbelfabrik, Paul Hahn 1924: Heirat, zwei Kinder bis 1933: SPD-Wähler
—————— 3 Zur extensiven Auswertung des Falls Johannes N. vgl. Müller-Botsch 2006.
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Mai 1933: Eintritt in NSDAP Okt. 1933–Feb. 1934: NSV-Walter in OG Fangelsbach 1934–1935 Blockleiter in Fangelsbach Aug. 1935: Blockleiter in OG Zuffenhausen-Stadtpark, ab Oktober 1935: OG-Geschäftsführer, Schießwart 1935: Beitritt DAF 1937: Beitritt RLB 1938: Enthebung von der Funktion als OG-Geschäftsführer ab 1939: Angestellter bei der Wehrmacht 1940: erhält eine 1934 beantragte und seit 1938 zugesagte Siedlerstelle; Zellenleiter, parallel: Verbindungsmann der städtischen Siedlungsgenossenschaft in einer Wohnsiedlung
Eine während des Kaiserreiches erworbene spezifische berufssoldatische Prägung bestimmt die weitere Biographie von Johannes N., etwa seine gleichermaßen loyale Haltung gegenüber der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus an der Macht. Bekundet er seine Staatsloyalität nach 1918 über sein Handeln als Soldat in den die Republik verteidigenden Schutzmannschaften, so bringt Johannes N. seine Staatsloyalität 1933 – mittlerweile ausgeschieden aus dem Militär – mit seinem NSDAP-Beitritt zum Ausdruck. Sein Handeln ist verbunden mit der Übernahme untergeordneter aber »unentbehrlicher« Funktionen, insbesondere Verwaltungsfunktionen und einer Orientierung an konkreten Personen als Autoritäten – so etwa am zeitweilig sozialdemokratischen Chef der Stuttgarter Schutzmannschaften, Paul Hahn, der später im Widerstand aktiv wird und N. mehrmals, zuletzt 1937, Arbeitsplätze vermittelt. Ein unterschiedliches Funktionärshandeln N.s innerhalb der NSDAP erklärt sich vor dem Hintergrund dieser biographischen Orientierungs- und Handlungsstrukturen sowie der Analyse der jeweils konkreten Bedingungen seiner Amtsausübung. Enttäuscht von seinem NS-Mentor und Ortsgruppenleiter, äußert er sich zunehmend kritisch über Maßnahmen der NSDAP und des Ortsgruppenleiters. Dabei bezieht er sich darauf, dass er früher bei der Schutzpolizei dessen Vorgesetzter war. 1938 wird er seines Amtes als Ortsgruppengeschäftsführer enthoben. Seine NSDAP-Funktionsausübung der Jahre 1940– 1944 hingegen ist gekennzeichnet durch einen Machtausbau im Kasernenhofstil innerhalb einer Wohnsiedlung als NSDAP-Zellenleiter und Vertrauensmann der städtischen Siedlungsgenossenschaft. Johannes N. agiert in Verbindung dieser beiden Funktionen drohend und schikanierend und sieht seine Tätigkeit als ein unpolitisches »Ordnung-in-die-Siedlung-Bringen« an. Hinsichtlich der Typologie repräsentiert Johannes N. Typus 2 »Modifikation biographischer Handlungsmuster«.
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Adolf P., *1896 *1896 in einer württembergischen Kleinstadt als Sohn von Geschäftsleuten geboren, evangelisch ab 1910: Gymnasium Heilbronn, Internat Juli 1914: Abitur Aug. 1914: Meldung als Kriegsfreiwilliger Nov. 1914: schwere Verwundung in Nordfrankreich Apr. 1917: als dienstuntauglich aus dem Lazarett entlassen; Ehrenkreuz mit Schwertern, Verwundetenabzeichen ca. 1917: Beginn des Studiums der Rechtswissenschaft in Tübingen, Fortsetzung in München; christliche Studentenverbindung »Wingolf« 1921–1924: mehrfach wegen Lungen-Tuberkulose bis zu einem Jahr krank; Sanatoriumsaufenthalte in Davos Herbst 1925: Hilfsrichter und Amtsanwalt in Freudenstadt (evtl. erneut Jan. 1937) Okt. 1925: Heirat, 3 Kinder (*1927, *1929, *1931) Okt. 1932: Berufung ans Amtsgericht Stuttgart I, Amtsrichter im Zivil- und Strafrecht, Arbeitsgericht 1.5.1933: Eintritt in die NSDAP Herbst 1934: Blockleiter-Funktion 1935: Landgerichtsrat 1935: Förderndes Mitglied der SS Anfang 1938: Berufung ans Sondergericht Stuttgart als Beisitzer und Vorsitzender; fällt zahlreiche Todesurteile bis 1945 1938: Mitglied VDA ab 1943: stellvertretender Personalamtsleiter der Ortsgruppe; vertretungsweise Betreuung der Evakuierten und Bombengeschädigten Mai 1945: Verhaftung, zunächst zwölf Wochen Gefängnis, anschließend Internierungshaft als höherer Beamter und Mitglied des Sondergerichts; Krankheit Nov. 1946: Entlassung aus der Internierung aus gesundheitlichen Gründen 1948: Einstufung als Mitläufer Adolf P. ist in den 1950er Jahren wieder als Richter tätig.
Der Richter Adolf P. tritt im Frühjahr 1933 in die NSDAP ein. Bei ihm spielt ein berufliches Selbstverständnis als Richter, das er nach der Machtübernahme nationalsozialistischen Bedingungen anpasst, eine hervorgehobene Rolle für seinen Beitritt. Er kommt Erwartungen des Regimes nach »Loyalität« nach und übernimmt dessen Vorgaben als loyaler Richter. Auf Aufforderung übernimmt er ein Blockleiteramt, das er weitgehend zur Zufriedenheit der Parteidienststellen ausübt. Als Sonderrichter am Stuttgarter Sondergericht ab 1938 fällt er zahlreiche Todesurteile und wird zum NS-Täter. Viele der gefällten Todesurteile werden von ihm im Spruchkammerprozess noch verteidigt. Auch seinen Parteibeitritt verteidigt er noch. Mehrfach versucht er, aufgrund einer Schwerbeschädigung aus dem Ersten Weltkrieg die Parteifunktion abzugeben – niemals jedoch seine Funktion als Rich-
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ter und Sonderrichter. Ab 1943 ist er stellvertretender Personalamtsleiter in der Ortsgruppe, übt dieses Amt jedoch kaum aus. P. bleibt unterer Parteifunktionär und Sonderrichter bis 1945. Hinsichtlich seiner Parteitätigkeit repräsentiert Adolf P, den »instrumentellen« Typus, Untertypus 3.1., der aus Überzeugung eintritt, die Funktion jedoch nur aus instrumentellen Gründen übernimmt.
Walter R., *1907 *1907 in Marbach/Neckar als Sohn eines mittleren Postbeamten geboren, evangelisch, Vater aktiv im CVJM 1908: Tod des Vaters Besuch des Gymnasiums bis zur mittleren Reife 1923–1928: Bezirksnotariat in Marbach; Vorbereitungsdienst für die mittlere Justizlaufbahn in Württemberg 1929: Besuch des Staatlichen Notariatsunterrichtskurses in Stuttgart; Notariatsexamen ab 1.11.29: Beamteter Anwärter beim Liegenschaftsamt der Stadtverwaltung Stuttgart Nov. 1931: Eintritt in die NSDAP Nov. 1931-Nov.1932: NSBO-Pressewart; Mitarbeit beim älteren Bruder, der NS-Bezirksbetriebszellenwalter in Marbach ist 1933: ab ca. Juni Blockleiter, ab Nov. Zellenleiter in der NSDAP-Ortsgruppe Wilhelma; Beitritt in RDB Dezember 1933: Beförderung zum Obersekretär, rückwirkend ab 1.10.1932 8.4.–28.4.1934 Gauführerschule Rötenbach bei Nagold 1935–1941: Vertrauensmann des RDB 1935: Geschäftsführer der Ortsgruppe Wilhelma ab 1935: unterstützt kirchliche Einrichtungen in Auseinandersetzungen mit NSDAP; lässt auf der Ortsgruppe eingegangene Anzeigen gegen Mitglieder der katholisch-bündischen Jugendopposition »Burgsturm Niederalfingen« und katholische Stadtpfarrer verschwinden ab 1936: kommt mit dem Bruder gemeinsam für den Unterhalt der Schwester auf, die wegen Geisteskrankheit seit 1935 in die Heilanstalt Rottenmünster eingewiesen ist 1937: beantragt Förderung als »alter Kämpfer«; Eintritt in NSV 1938: Stadtoberinspektor 1940: Konversion zum Katholizismus; kirchliche Heirat 1940: Umzug innerhalb Stuttgarts 1941: Geburt und Taufe eines Kindes, Mitglied im Deutschen Caritasverband 1942: Einberufung zur Wehrmacht, Obergefreiter 1945–Juni 1947: Kriegsgefangenschaft
Walter R. (*1907), arbeitet seit 1929 als Beamter bei der Stuttgarter Stadtverwaltung. Er wächst in einer protestantisch und national orientierten Familie auf, in der
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es eine Tradition gesellschaftlichen Engagements gibt. 1931 tritt er der NSDAP bei und übernimmt Aufgaben in der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO), in der sein Bruder eine regionale Funktion innehat. 1933 bis 1935 übernimmt er zunehmend Parteifunktionen. Parallel wendet er sich sukzessive vom Nationalsozialismus ab, nicht zuletzt im Kontext der stark katholisch orientierten Familie seiner Verlobten. Sein Handeln ist erheblich am jeweiligen familialen Umfeld orientiert. Er nutzt seine Funktion nachweislich, um Mitglieder aus einer oppositionellen katholischen Jugendgruppe zu schützen, in der sein künftiger Schwager Mitglied ist, und um kirchliche Träger in Auseinandersetzungen mit der NSDAP zu unterstützen. 1940 konvertiert er zum Katholizismus und heiratet kirchlich. Nach einem Umzug innerhalb Stuttgarts 1940 hat er (vermutlich) keine Funktion mehr inne, ab 1942 ist er zur Wehrmacht eingezogen. Im Fall Walter R. sind – auf die Typologie bezogen – vor allem Züge des Typus 2 »Modifikation« erkennbar; ab 1935 nutzt er seine Parteitätigkeit auch, um antinationalsozialistische Zusammenhänge zu unterstützen; sie bekommt in diesem Sinne zunehmend eine instrumentelle Bedeutung.
Gustav R., *1885 *1885 in Stuttgart-Gablenberg als Sohn eines Oberforsthauers und Weingärtners geboren, evangelisch ca. 1891–1899: Volksschule in Gablenberg ab ca. 1899: Lehre und Berufstätigkeit im Installationshandwerk, Flaschnermeister 1907: Geburt der Tochter 1908: Heirat 1909: Geburt des Sohnes 1.9.1914–30.10.1918: im Ersten Weltkrieg, ab 1917 Gefreiter; Friedenstruppe Reg. 115, ab 6.1.1915 im Feld, Regiment 119; ab August 1915 Kraftwagenführer bei Sanka 5; Eisernes Kreuz und Ehrenkreuz 1918/19: Eröffnung eines eigenen Betriebs (Installationsgeschäft Gas/Wasser) Okt. 1932: Beitritt in NSDAP 1934: NSV April-Okt.–1934: »Zellenleiter« der NSV 1934: Blockleiter der NSDAP Geldstrafe wegen Beleidigung Nov. 1938: während der Pogromnacht in der Stuttgarter Innenstadt; zahlreiche Hinweise auf Beteiligung ca. 1939: Zellenleiter der NSDAP 1940: gibt das Amt des Zellenleiters ab ca. 1943: Leitung beim Bau eines Luftschutzstollens; zunächst Stollenwart, dann Stollenkommandant; es kommt zu lautstarken und tätlichen Auseinandersetzungen mit R. 1945, kurz vor Kriegsende: beteiligt an der Denunziation einer Frau bei der Gestapo
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1945: verlässt bei Kriegsende Stuttgart; übergibt im Sommer sein Geschäft an den Sohn; endgültige Rückkehr ins Wohnviertel August 1946.
Georg R. (*1885), tritt 1932 der NSDAP bei. Dieser Beitritt ermöglicht ihm hinsichtlich seiner Fallstruktur – die ein Pendeln zwischen konventionellem und regelbrechendem Handeln darstellt – zweierlei: Ein (vermeintliches) Vertreten seiner Interessen als Handwerksmeister, verbunden mit einer Zustimmung zu Regellosigkeit, Regelüberschreitung, Gesetzesverletzung und Aggressionsentladung. Georg R. übernimmt 1934/35 auf Aufforderung und nach mehrfachen Versuchen, dies abzulehnen, eine Funktion als Blockleiter, die er »befriedigend« ausübt. 1939 wird er Zellenleiter und gibt die Funktion ca. 1940 ab. Während des Krieges übernimmt er die Aufsicht über den Bau eines Luftschutzstollens, in dem er dann Luftschutzkommandant wird. Dass er an der NSDAP-Funktionsausübung kein Interesse hat und diese auch nur leidlich ausübt, ist nicht Ausdruck von einer Abwendung von der NSDAP. So war er in der Pogromnacht 1938 in der Stuttgarter Innenstadt und es liegen deutliche Hinweise für seine Beteiligung vor. Auch ist seine explizit im Wohnviertel kundgetane Zustimmung zum Novemberpogrom überliefert. Kurz vor Kriegsende ist R. an der Denunziation einer Frau aus dem Wohnviertel beteiligt. Hinsichtlich seiner Parteitätigkeit repräsentiert Gustav R. den instrumentellen Typus, Untertypus 3.1., der an einer Funktionsausübung kein Interesse hat, seine nationalsozialistische Haltung vielmehr in lautstarker und gewalttätiger Weise zum Ausdruck bringt.
August S., *1912 *1912 in Ellmenegg/Südschwarzwald als Sohn eines Dachdeckermeister geboren, katholisch 1919–1927: Volkschule; ein Jahr Fortbildungsschule; während dieser Zeit Arbeit im elterlichen Betrieb 1928–31: Malerlehre, anschließend in diesem Beruf tätig 1932, evtl. bereits 1931: Mitglied der KPD in Waldshut, Schriftführer 1932 bis Frühjahr 1933: Arbeit als Maler in der Schweiz April 1933: Eintritt in NSDAP und SA Januar 1934: SA-Schule auf dem Heuberg Oktober 1934: arbeitslos Nov. 1934 bis Anfang 1936: kasernierte SA, 1933/1934, SWI/Sturm 2 der SA Gruppe Südwest in »Kaserne Burgholzhof«, Bad Cannstatt Anfang 1936: Straßenbahnführer bei Stuttgarter Straßenbahn 24.3.1936: Heirat ca. Mai 1936: »unehrenhafte« Entlassung aus SA, Beitritt DAF ab Juli 1936: Blockleiter-Funktion; Geburt der Tochter; ein weiteres Kind wird geboren und stirbt vor 1939
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1938: Beitritt NSV; zudem Mitglied VDA 1940: Geburt eines Sohnes 1940: Einberufung zur Wehrmacht Nov. 1942: schwere Verwundung; nach Lazarettaufenthalt bei Eltern im Schwarzwald
August S. (*1912) tritt, nach einer Organisation in der KPD Anfang der 1930er Jahre, 1933 der NSDAP bei und geht 1934–1936 zur kasernierten SA. Diese Zeit empfindet er keineswegs als Erfüllung seiner Vorstellungen, bald nach seinem Ausscheiden wird er »unehrenhaft« aus der SA entlassen. Bei diesem Fall kommt es jedoch nicht zu einer Neuorientierung. Zwar sind entsprechende Versuche erkennbar, sich neu zu orientieren, etwa in der Heirat einer Frau aus der Arbeiterbewegung, die die Nationalsozialisten ablehnt. Doch findet bei S., wie die Globalanalyse nahe legt, eine klare Umorientierung nicht statt. Es scheint vielmehr ein Prozess einer negativen biographischen »Verlaufskurve« (Schütze) in Gang zu kommen. Eine ihm übertragene Funktion als – zunächst kommissarischer – Blockleiter führt er von 1936 bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht 1940 aus, er gilt nicht als besonders zuverlässiger Parteigenosse. 1942 wird er schwer verwundet und ist zur Zeit des Spruchkammerprozesses noch immer im Schwarzwald, wo seine Eltern ihn pflegen. Er plant keine Rückkehr nach Stuttgart zu seiner Frau, die unter Krankheiten leidet, und zu den Kindern. Der Fall August S. trägt Züge von Typus 2 »Modifikation«. Allerdings scheint es bei diesem Fall weniger um die Realisierung von biographischen Handlungsorientierungen, als um die Suche nach biographisch Sinngebendem zu gehen.
Hans V., *1890 *1890 in Wittlingen b. Urach als Sohn eines Bauernehepaares geboren, evangelisch 1896–1904: Volkschule in Wittlingen 1905–1908: Schlosserlehre, dann in diesem Beruf tätig Heirat (o. D.) 1908: Geburt der ersten Tochter 1910–1912: Militärdienst Inf.Reg. 180 in Tübingen 1912–1914: Schlosser bei Städt. Elektr. Werk Stuttgart ab Aug. 1914: Teilnahme am Ersten Weltkrieg; Aug. 1915 schwere Verwundung, in deren Folge im Juni 1916 Entlassung aus dem Heer (50 Prozent Schwerkriegsbeschädigung); Württ. Verdienstmedaille, Frontkämpferkreuz 1916: seit Entlassung wieder beim Städtischen Elektr. Werk/Technische Werke Stuttgart tätig, bis 1923 als Betriebsmonteur 1916: Geburt der 2. Tochter ab 1918: mehrere Jahre Betriebsrat 1921: Geburt der dritten Tochter ab 1923: Maschinenmeister, ab 1926 Obermaschinenmeister
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1927–1930: SPD-Mitgliedschaft vor 1933: mit Tätlichkeiten verbundene Auseinandersetzung mit frühem NSDAP-Mitglied und Mitarbeiter bei Technischen Werken Stuttgart 1933: Antrag auf Eintritt in die NSDAP; wird nicht aufgenommen 1933: Eintritt NSKOV, RDB, NSV 1934: Parteieintritt wird genehmigt 1935: Blockleiter in der OG Stöckach 1937: Werkmeister, 1938 Beamter auf Lebenszeit bis 1938: Kontakte mit jüdischen Bekannten in seiner Wohnung 1941: Kirchenaustritt Juli 1942: Zellenleiter Okt. 1944: vom Amt des Zellenleiters enthoben aufgrund der Inanspruchnahme bei den Technischen Werken Stuttgart Okt. 1945: Entlassung durch Amerikanische Militärregierung seit Dez. 1945: als Bauhilfsarbeiter in gewöhnlicher Arbeit
Bei Hans V. steht der Antrag auf Parteiaufnahme 1933 auch im Kontext von Auseinandersetzungen mit einem Kollegen und frühen NSDAP-Mitglied vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Als einem früheren Betriebsrat und SPD-Mitglied wird Hans V. von diesem NSDAP-Mitglied mehrfach mit Entlassung gedroht, sollten sich die Zeiten ändern. U. a. kommt es bereits vor 1933 zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit diesem Mann in einem Gasthaus. Hans V. wird angesichts seiner Kriegsbeschädigung von Freunden verteidigt. Die Konflikte setzen sich auch zumindest in den ersten Jahren nach der Machtübernahme fort. 1934 wird dem Aufnahmeantrag statt gegeben. Hans V. übernimmt ab 1935 unter Verweis auf eine mögliche Meldung an die Kreisleitung ein Amt als Blockleiter. Im Kontext der Verbeamtung 1938 bestätigt die NSDAP-Kreisleitung auf Anfrage, es bestünden keine Bedenken gegen die politische Zuverlässigkeit von Hans V. 1942 wird V. als Zellenleiter eingesetzt. Im Oktober 1944 wird er aufgrund seiner Aufgaben bei den Technischen Werken von der Parteifunktion enthoben. Hans V. repräsentiert der Globalanalyse zufolge vermutlich Typus 3.2., bei dem sowohl Beitritt als auch Funktionsübernahme in erheblichem Maß instrumentell begründet sind.
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Eugen W., *1899 1899* in Rechenberg als Sohn eines Sattlermeisters geboren, evangelisch 1900: Heirat der Eltern 1906–1913: Besuch der Volksschule in Herrenalb, nebenbei Französischkurse und Kurse in Technisch-Zeichnen 1913–1916: praktische Lehre in der Feinmechanik in Karlsruhe; erlernt Maschinentechniker; nebenher Sonderkurse am Polytechnikum in Durlach ab Nov. 1916: Deutsche Waffen- und Munitionswerke in Karlsruhe als Automateneinsteller Juni 1917: Kriegsfreiwilliger, Infanteriedivision an der Westfront; 1918 Gefreiter; Oktober 1918 Verwundung, Lazarettaufenthalt; Entlassung April 1919; Eisernes Kreuz I. Klasse und II. Klasse, Frontkämpferehrenkreuz 1919: Freiwillige Meldung in das Westfälische Freikorps »Lichtschlag« (Paderborn); Unteroffizier; von da in ein Reichswehrregiment überführt; fordert zum 1.1.1920 Entlassung 1920–1922: Feilenfabrik in Ettlingen 1922–1923: Geigersche Fabrik in Karlsruhe als Reisemonteur Okt. 1923 bis Februar 1924: arbeitslos Februar–August 1924: Stelle in einem Betrieb in Frankfurt, von dort aus Wechsel zu dessen Generalvertretung nach Stuttgart ab August 1924: Union Special Maschinenfabrik in Stuttgart als Mechaniker; verschiedene Abteilungen; u. a. Überwachung Akkordarbeit 1926–1929: drei Semester Abend-Fachschule sowie Lehrgänge in Kalkulation, Buchführung und technischem Zeichnen 1929: Staatliche Werkmeisterprüfung als Techniker 1929: Heirat spätestens 1930er Jahre: Leichtathletik (Halle) und Kleinkaliberschießen Dez. 1933: Eintritt in DAF, seit 1935 Vertrauensrat Nov. 1936: Einwöchige Gauschule in Wildbad Mai 1937: NSDAP-Beitritt 1937: DAF-Blockwalter, ab Nov. 1937 DAF-Zellenwalter; Zeichnungen von Block- und Zellenplänen Okt. 1938: NSDAP-Blockleiter Aug. bis Dez. 1939: Wehrmacht Apr. 1940: Bitte um Wiedereinberufung; April bis August erneut bei der Wehrmacht Apr. 1942–1944: Ortsgruppen-Organisationsleiter, u.a. wohl: Löschtrupps, Stollenbau, Prüfung und Anfertigung von Bauzeichnungen, Statistik, Auskunft, Post- und Zeitschriftenversand, Gartenlandverteilung; Überwachung; W. verwaltet Einziehen der Waffen in der Ortsgruppe gegen Ende des Krieges und hat diese auf seinem Schreibtisch liegen, während Besucher da sind; aktiv im Volkssturm, wohl auch noch außerhalb Stuttgarts; bis Mitte 1946: französische Kriegsgefangenschaft Sept. 1947: Spruch: Belasteter; 2 Jahre Arbeitslager; etc. Sept. 1947 bis April 1948: Internierungslager Ludwigsburg/Arbeitslager Februar 1949: Einstufung als Mitläufer
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Im Fall Eugen W. lassen sich stark militaristische Orientierungen und ein beruflicher Ehrgeiz in Anpassung an die jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Bedingungen erkennen. Nach dem Ersten Weltkrieg meldet er sich freiwillig in ein Freikorps und beteiligt sich in den Ruhrkämpfen an der Niederschlagung revolutionärer Unruhen. Während der Weimarer Republik treibt er allerdings insbesondere seine berufliche Entwicklung voran. Insofern geht er verschiedenen parallelen Orientierungen nach ohne sich in Konflikt mit den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen zu begeben. So geht er seiner Begeisterung für Waffen in Friedenszeiten im Sport nach. Die NS-Organisationen bieten ihm die Möglichkeit, seine unterschiedlichen Interessen und Orientierungen stärker miteinander zu verbinden. Ende 1933 tritt er in die DAF ein und wird dort auf betrieblicher Ebene aktiv. 1937 tritt er in die NSDAP ein und übernimmt auch in dieser Funktionen. Hier bringt er etwa, wie zuvor bereits in der DAF, seine Kenntnissen im Technisch-Zeichnen in die Parteiarbeit ein. Er engagiert sich stark für den Nationalsozialismus und greift auch zu drohendem Gebaren in Wohnbezirk und Betrieb. Im Betrieb will er eine »Plotzmannschaft« (Prügelmannschaft) gegen unliebsame »Elemente« gründen. Seine starke militaristische Orientierung und Begeisterung für Waffen kommt neben seinen Meldungen zur Wehrmacht und dem Kleinkaliberschießen auch in seiner Tätigkeit für die NSDAP zum Ausdruck. Dort übernimmt er gegen Kriegsende das Einziehen von Waffen und lässt diese – etwa während der Rekrutierung von Bewohnern des Viertels zum Volkssturm – herumliegen. In einigen Fällen unterstützt er Verfolgte. Am Ende des Nationalsozialismus ist er beim Volkssturm und kämpft mit diesem wohl auch noch außerhalb von Stuttgart, bis er in französische Gefangenschaft kommt. Hinsichtlich seiner Parteitätigkeit repräsentiert Eugen W. zunächst vor allem den Typus 2 »Modifikation biographischer Handlungsmuster und -orientierungen«. Da der Nationalsozialismus ihm die Möglichkeit bietet, seine verschiedenen Interessen und Orientierungen im Engagement für die NS-Organisationen stärker miteinander zu verbinden, lassen sich in diesem Fall zunehmend auch Züge von Typus 1 »biographische Chance« feststellen.
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Raimund W., *1903 *1903 in Ulm als Sohn von Arbeitereheleuten geboren, katholisch 1909–1918: Besuch der Elementar- und Realschule; mittlere Reife 1918 bis 1924: Ausbildung bei Bezirksnotariat und Amtsgericht Ulm 1924/1925: Staatlicher Notariatshauptkurs Stuttgart, Notariatshauptprüfung ab 1926: Amtsgerichte Stuttgart und Heidenheim als Hilfsgerichtsvollzieher und Notariatspraktikant 1928: Heirat, seit 1928 wohnhaft in Stuttgart seit April 1933: Verwendung als Urkundsbeamter im württ. Justizdienst Mai 1933: NSDAP-Beitritt, Eintritt in NS-Rechtswahrerbund Okt. 1933: Blockleiter Feb. 1934: Sektionsabrechner der NSDAP-Ortsgruppe 1935: Obersekretär beim Amtsgericht Stuttgart 1935: NSV-Blockwalter 1936: NSDAP-Zellenleiter 1936 zehntätige Schulung des NS-Rechtswahrerbund in Gauführerschule Rötenbach, vom Amtsgericht aus organisiert 1938: Personalamtsleiter der NSDAP-Ortsgruppe 1942 oder 1943: Einberufung, 1942 Austritt aus katholischen Kirche 1943: Einberufung: Stab Div (mot) 155, Gefreiter; als Beamter der Wehrmacht im Rang eines Inspektors bei versch. Dienststellen, u. a. in Krakau 1945: Kriegsgefangenschaft bis August 1945, anschließend Holzfäller 1947: Wiederbeschäftigung bei der Justiz
Raimund W. schafft, nachdem er in einer armen Familie in Ulm aufgewachsen ist und zahlreiche Geschwister verloren hat, einen erheblichen beruflichen Aufstieg in den württembergischen Justizdienst. Politisch hat er sich vor 1933 nicht organisiert, einer Aufforderung zum Beitritt in den Jungstahlhelm aus seinem Umfeld in den 1920er Jahren kommt er nicht nach. Nach seinen Angaben war seine Erziehung sozialistisch und vor allem antimilitaristisch geprägt. 1933 kommt er der nachdrücklichen Aufforderung eines Kollegen an seinem Arbeitsplatz nach, in die NSDAP einzutreten. Kurz darauf wird er in seiner Wohnung zur Übernahme einer Funktion aufgefordert und, als er diese ablehnt, auf die Ortsgruppe bestellt. Dort erklärt er sich infolge der Drohung, eine Weigerung an die Dienststelle zu melden, zur Amtsübernahme bereit. In den folgenden Jahren übernimmt er auf Aufforderung zahlreiche Ämter in der NSDAP und trägt damit kontinuierlich und in erheblichem Maße zum Funktionieren der Ortsgruppe bei. An vielen Punkten kritisch gegenüber dem Regime, versucht er, mäßigend zu wirken und, etwa im Kontakt mit politisch Inhaftierten bei Gericht, diesen Erleichterungen zu verschaffen und Tipps zu geben. 1943 empfindet er, seinen Angaben aus der Nachkriegszeit zufolge, die Einberufung zur Wehrmacht insofern als eine Erleichterung, als er nun die Parteitätigkeit beenden kann. Er bringt im Spruchkammerverfahren vielfach
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selbstkritisch zum Ausdruck, dass er den Mut nicht aufbrachte, sich dem Beitritt und den Funktionsausübungen zu verweigern. Insofern repräsentiert Raimund W., der Globalanalyse zufolge, Typus »Instrument«, Untertypus 3.2. Parteibeitritt und Funktionsübernahme erfolgen, um in einem ungesicherten Anstellungsverhältnis beruflich nichts zu riskieren »aus mangelndem Mut«. Hier wird deutlich, wie kontinuierlich und umfangreich eine Parteitätigkeit auch bei Funktionären, die diesen Typus repräsentieren, sein kann.
Wilhelm W., *1888 *1888 in Stuttgart als Sohn eines Maschinenbaumeisters geboren, evangelisch Besuch der Wilhelmsrealschule bis zur mittleren Reife 1904: Tod des Vaters dreijährige Lehre bei Stuttgarter Bankhaus 1908/1909: Militärdienstpflicht bei Reg. 119 Mitglied im CVJM, bis dieser seine Arbeit einstellen muss 1909–1912: Deutsche Bank Filiale Hamburg ab Juli 1912: Württembergische Vereinsbank (spätere Deutsche Bank), Filiale Stuttgart 2.8.1914: Heirat mit einer Versicherungsangestellten 4.8.1914–1918: Soldat bei Reg. 125 und Reg. 121, u. a. Eisernes Kreuz I. und II. Klasse 1917: Geburt des Sohnes bis Nov. 1919: englische Gefangenschaft; aus dem Heer als Oberleutnant d. R. a.D. entlassen Ende 1920: Geburt der Tochter 1922: Geburt des 2. Sohnes seit 1920er Jahre: aktives Mitglied in der Regimentskameradschaft Kaiser Friedrich 1928/29: Auseinandersetzung um scharfen Ton von W. («Kasernenton«) mit Kollegen in Deutscher Bank; Apr. 1933: Mitglied der NSBO, für diese auch im Betrieb als »Amtswalter« aktiv Okt. 1933: Frau verliert Arbeitsplatz bei einer Lebensversicherung im Rahmen der »Doppelverdiener«-Kampagne Juli 1934 bis Ende 1935: Mit der Führung eines SA-Landsturms innerhalb Kriegerkameradschaft Kaiser Friedrich beauftragt; wird von SA-Führung 1935 aufgelöst 1935: NSKOV-Beitritt ab 1936: Ehefrau nimmt wieder Berufstätigkeit auf, bei einer »obersten Behörde«, wo sie unter anderem Information über Verfolgung von Pfarrern erhält; 1936: Beitritt in NSV und DAF; DAF-Funktion im Betrieb eventuell bereits ab 1936 mit den Aufgaben eines Blockleiters beauftragt Juli 1937: Parteieintritt, Blockleiterfunktion (Ernennung 1938) W. trägt häufig die »blaue Uniform des Kyffhäuserbundes« 1937/1938: Überführung der Regimentskameradschaft in den Nationalsozialistischen Reichskriegerbund
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1941: zur Wehrmacht eingezogen, Enthebung von der Parteifunktion Beförderung vom Oberleutnant zum Hauptmann 1943–45: Streifenführer einer Wehrmachtsstreife Mai bis Aug. 1945: bei Feldkirch französische Gefangenschaft Sept. 1945: Wiederaufnahme Tätigkeit bei Deutscher Bank Okt. 1945: Entlassung Feb./März 1946: Pg-Einsatz beim Städtischen Tiefbauamt
Im Fall Wilhelm W. sind stark militaristisch-revisionistische Orientierungen während der Weimarer Republik überliefert. Er organisiert sich in einem Kriegerverein und wird dort aktiv. 1937 schreibt er an die NSDAP, dass er sich nur schwer in die Verhältnisse von Weimar habe einleben können. So knüpft er an den Nationalsozialismus vor allem über seine militärische Vergangenheit und nationalistische Orientierungen an. In diesem Kontext organisiert er sich in den NS-Verbänden, übernimmt dort auch Funktionen und positioniert sich, etwa innerhalb des Betriebs, in »scharfem« Kasernenton als Nationalsozialist. Weiterhin bleibt er stark an Kriegervereinen orientiert und trägt häufig die Uniform des Kyffhäuser-Bundes. Von der Wehrmacht 1941 einberufen, ist er dort ab 1943 als Wehrmachtsstreifenführer in Zügen aktiv. Der Parteibeitritt stellt ein klares und auch nach außen hin vertretenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus v.a. aufgrund dessen Passungsverhältnisses mit Orientierungen in den Kriegerverbänden dar. Die Parteifunktion als Blockleiter hat hingegen eher instrumentelle Bedeutung. Hier engagiert sich Wilhelm W. – insbesondere im Vergleich mit seiner Aktivität für den Kriegerverein – nicht besonders, auch trägt er keine Parteiuniform. Gleichwohl ist er bereit, die Funktion auf Aufforderung zu übernehmen und den damit verbundenen Aufgaben nachzukommen. An verschiedenen Maßnahmen des Nationalsozialismus haben er und seine Frau Kritik. Sein Bezugspunkt bleiben vor allem die unmittelbar militärbezogenen Zusammenhänge, in denen er sich dann auch – stets als bekennender Nationalsozialist – während des Krieges wieder zunehmend engagiert. Hinsichtlich seiner Parteitätigkeit repräsentiert er mithin Typus »Instrument«, hier Untertypus 3.1.
Willi W., *1912 *1912 in Stuttgarter Arbeiterviertel als dritter von sechs Söhnen eines Schneiders geboren, evangelisch; problematische familiale Verhältnisse, wie durch Dokumente der Fürsorge und des Jugendamts in den Akten überliefert 1918–1924: Volkschule, im Anschluss daran zwei Jahre Handwerksschule 1927: Beginn einer Sattlerlehre, nicht beendet aufgrund der Auflösung der Firma; Arbeit in verschiedenen Lederfirmen 1929: Beitritt in Neuapostolische Kirche, Austritt aus der evangelischen Kirche
334
»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
1930 bis Herbst 1932: Krankenhaus/Heilstätte (Blinddarmentzündung, Rippenfellentzündung, Tuberkulose) 1931: Vater Invalide Herbst 1932, nach Verlassen der Heilstätte: Beitritt in SA und NSDAP (Bruder bereits in SA und bekannt als SA-Schläger) arbeitslos Feb. 1933: Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung (Kontext unklar) Juni 1933: Arbeit in einer Lederfirma Nov. 1933: Zellenleiter Feb. 1934: Ortsgruppenleiter Frühjahr 1934: Anstellung bei den Technischen Werken Stuttgart auf Drängen der NSDAP; W. wird in den folgenden Jahren immer wieder auf sein und der Partei Drängen hin überdurchschnittlich schnell als »alter Kämpfer« befördert 1935: Heirat, 1940 Scheidung 1940: zur Wehrmacht einberufen, kriegsbegeisterte Feldpostbriefe 1943/1944: nach schwerer Verwundung zeitweise wieder Ortsgruppenleiter Mai 1945–Dez. 1947: Internierung; Entlassung aus der Internierung nach einem Unfall ab Dez. 1947: W. wohnt bei seinem (oben erwähnten) Bruder 1948: Einstufung als Belasteter 1949/50: Antrag auf Berufung 1949; wird ein Jahr später abgelehnt unter Verweis auf nicht eingehaltene Frist
Der Beitritt in die SA und kurz darauf in die NSDAP erfolgt in diesem Fall im Herbst 1932 20-jährig unmittelbar nach einem zweijährigen Aufenthalt in Krankenhaus und Lungenheilstätte. W., aus schwierigen sozialen und familialen Verhältnissen kommend, tritt der SA und der NSDAP in einer relativ perspektivlosen Lebenssituation und in Orientierung an seinem zwei Jahre älteren Bruder bei, der als »SA-Schläger« bekannt ist. Der Übergang von der SA in die Parteiorganisation und die Übernahme einer Funktion bietet ihm eine »Aufgabe«, innerparteiliche Anerkennung und – insbesondere durch die Machtübernahme – eine gesamtbiographische Perspektive. Dies gilt insbesondere auch für eine berufliche Entwicklung, die über die NSDAP vermittelt und kontinuierlich befördert wird. Bereits 1934 wird W. NSDAP-Ortsgruppenleiter. Er wird auch innerparteilich kontinuierlich gefördert, in Schulungen »weitergebildet« und 1944 noch für eine weitere Parteikarriere vorgeschlagen. Er ist ein Beispiel für eine sehr aktive, drohend-herrische Funktionsausübung im Kontext der Sozialisation innerhalb der NS-Organisationen, bei der die gesamte NS-Propaganda übernommen wird. An Anzeigen und Verhaftungen ist er maßgeblich beteiligt, darunter an der Verhaftung eines jüdischen Bewohners im Ortsgruppengebiet im November 1938. Aus dem Krieg gegen die Sowjetunion schreibt er kriegsbegeisterte, von der NS-Hasspropaganda durchdrungene Briefe an Vorgesetzte in Partei und Beruf. Nach Verwundung und Lazarettaufenthalt ist er vorübergehend wieder Ortsgruppenleiter und wendet in dieser Zeit u. a. körperliche Gewalt gegenüber Kriegsgefangenen an. Zustimmung und Einsatz für das NS-System halten bis zur Zerschlagung des NS-Systems an und kommen auch im Spruchkammerverfahren noch deutlich zum Ausdruck.
ANHANG
335
Der Fall Willy W. repräsentiert innerhalb der Typologie Typus 1 »biographische Chance«.
6.2. Dokumentation von Auswertungsschritten 6.2.1. Sequenzierung Lebenslauf Hans D., Frühjahr 1947 1,5 Z. 3,3 Z.
Bericht
5 Z.
Bericht/ Argumentation
8,5 Z.
Beschreibung
1 Z. 4,5 Z.
Bericht Eingeschobener Bericht/ Argumentation
2 Z.
Fortsetzung Bericht Bericht/ Argumentation Eingeschobener Bericht
0,5 Z. 1 Z.
Bericht/ Argumentation
27.10.1889 in Hongkong geboren; Vater damals Missionar der Basler Mission in China 1894 Eltern zum Erholungsurlaub in der Heimat; gehen nach Cannstatt; dort jüngstes der 3 Geschwister geboren; zugleich letztes Jahr, das er im Kreis der Familie erleben durfte Eltern verließen Europa, nachdem sie Geschwister im Alter von 2 und 3 Jahren in württ. Pfarrhaus unterbrachten; halbjährige Schwester mitgenommen nach China, er in Missionserziehungsanstalt in Basel eingewiesen, wo er bei alten Pflegeeltern freudlose Jugend erlebte Ein Wohnzimmer für immer gestrichen, bis zur Entlassung nach der Konfirmation von Zaun und Mauer umgeben; nur halbstündige Spaziergänge unter Aufsicht von Lehrern // Erziehung streng und lieblos, nur wenig Lichtblicke; Unterricht durch junge unerfahrene Lehrer und alten Pflegevater, kein freier Nachmittag, »stille Selbstbeschäftigung« im Schulzimmer // Nach Konfirmation Lehrerberuf zugewandt Während Seminarzeit kamen Eltern 1907 zurück und ließen sich in Stuttgart nieder; durfte nur während der Ferien nach Hause; so kam es, dass der langen Trennungszeit zufolge enges Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Eltern und Geschwistern nicht aufkommen konnte Nach Seminar unständige Verwendung in Bonlanden, LehrenSteinsfeld, Uhlbach // Dort Frau kennen gelernt Nach erfolgter Dienstprüfung 1916 ständige Anstellung in Mühlacker
336 2,5 Z.
»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
1 Z. 5,5 Z.
Fortsetzung Bericht/ Argumentation Bericht Argumentation/ Globalevaluation
2 Z.
Bericht
Erst mit 27 Jahren im eigenen Heim hohen Wert einer gemütlichen Wohnstube kennengelernt; Frau und er durften im Lauf der Jahre viel Freude an 3 gesunden Kindern erleben // 1929 Schulstelle an der Johannesschule in Stuttgart Neben Freude am Lehrberuf Befriedigung in Ausübung der Direktion von Männerchören gefunden; beides, Aufgehen in Erziehen der Kinder und Leitung von Chören haben mein Leben voll und ganz ausgefüllt; freundschaftliche enge Verbindung mit eh. Schülern, Kollegen u. Sängern, darf deren Wertschätzung genießen und erfahren // Am 12.10.45 infolge pol. Tätigkeit zunächst für 5 Tage ins Gefängnis, danach in das Int. Lager 75 Kornwestheim eingeliefert.
Tabelle 2: Sequenzierung nach Themen- und Textsortenwechseln4; vom Verfasser gesetzte Absätze werden durch »//« markiert.
—————— 4 Vgl. zu Textsorten Rosenthal 1995, S. 240f.
ANHANG
337
6.2.2. Sequenzierung »Verteidigungsschrift« Hans D., 1947 1Z.
Evaluation
7 Z.
Argumentation/ Beschreibung
2Z.
Argumentation
3 Z.
Argumentation/ Bericht
1 Z. 6,5 Z.
Evaluation Argumentation/ Bericht
13 Z.
Argumentation
12 Z.
Bericht/ Argumentation
14 Z.
Bericht/ Argumentation
Versetzung nach Stuttgart wurde bestimmend für die künftigen Jahre Ruhe nach starker Beanspruchung durch Schuldienst und Männerchöre; Freude an ruhigem und schönem Familienleben, das so lange entbehrt Ruhe durch damalige wirtsch. und pol. Verhältnisse unterbrochen Politik früher: Gespräche mit Freunden, kurze Zeit DVPMitglied, weiteres Abgeben mit Politik war nie seine Sache gewesen Dies alles änderte sich in den Jahren nach 1930 Interesse durch pol. Versammlungen und politische Verbände auf der Straße: Wachsende Arbeitslosigkeit u. trostloses Bild der Straßen mussten jeden Einsichtigen mit Sorge erfüllen; Besuch von Versammlungen der verschiedensten Parteirichtungen Widersprechende Anschauungen der bisherigen Parteien führten zu keinem Ziele, Verhältnisse wurden schlimmer; NS-Ideen und -Schriften schienen ihm angetan, totale Änderung der damals verwirrten Zustände herbeizuführen: »Volksgemeinschaft«, »Gemeinnutz vor Eigennutz«; so kam es, dass er sich aus rein idealen Gründen diesen Gedankengängen hingab Beitritt NSLB 1931; Menschen, denen neue pol. Ideen ernst waren / Uneigennützigkeit; Einigung der zersplitterten Erzieherverbände als Idealziel: Beseitigung konfessioneller Unterschiede, Hierarchien, Ausrichtung auf ein Ziel, einem geeinten Volk zu dienen, bestimmten ihn, ruhige Position zu verlassen; fühlte sich gezwungen, für Gedanken einzusetzen, in deren Verwirklichung er Ausweg aus Wirrsal jener Zeit sah 1933 Parteibeitritt, um am Aufschwung teilnehmen und nach gegebenen Grundsätzen wirken zu dürfen; damals zum Obmann des NSLB an Johannesschule bestimmt; bedurfte kein Zureden, um Kollegen und Freunde umzustimmen; harmonisches Verhältnis
338
»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
8,5 Z.
Bericht/ Argumentation
7,5 Z.
SelbstBeschreibung/ Argumentation Aufforderung
8,5 Z.
Argumentation/ Bericht
23 Z.
Argumentation/ Beschreibung
11 Z.
Argumentation/ Bericht
8,5 Z. 6 Z.
Bericht/ Argumentation Argumentation
Im Lauf der Zeit auch in Stuttgart Männerchören Dienst zur Verfügung gestellt; nie gespannte Verhältnisse, nicht alle Mitglieder auf Boden der neuen Verhältnisse: »Die Harmonie der Töne ließ keine Disharmonie der Meinungen aufkommen« Ungezwungen Mitarbeit in Partei, zunächst als Block-, dann Zellenleiter; (Angabe der Straßenzüge) Aufforderung, sich über Tätigkeit in diesen Blocks zu erkundigen Erst der Krieg mit vielen Einberufungen brachte es mit sich, dass er Ende 1942 Leitung zu übernehmen hatte; als Zellenleiter Schriftstücke im Auftrag des KL zu unterzeichnen längere Mitarbeit, Kenntnis der Verhältnisse, Zeitressourcen Mit Politischen Leitern und gesamter Bevölkerung stets gutes Verhältnis, Härten nach Möglichkeit beseitigt; Hauptaufgaben: Sammlungen; Betreuung der Soldaten und Verwundeten; Zeitungen und Zeitschriften versandt; Betreuung der Volksgenossen; viel Freude bereitet Schwerste Aufgabe: Gefallenen-Nachrichten; bedurfte viel Herzensgüte; Wenn für diese Arbeit zur Rechenschaft gezogen, werde er dieses Letzte auf sich nehmen; Betreute werden diese Härte niemals verstehen Nie mit Polizei oder Gestapo in Verbindung gestanden, nie Drohungen ausgesprochen; ihm nicht bekannt dass irgendeinem Juden – nur sehr wenige in der OG – etwas zu Leid geschehen; Politische Leiter zur selbstlosen Betreuung angehalten Ende der Tätigkeit durch Umsiedlung der Schulen; einerseits froh: Kraftaufzehrung / Aufgaben eines Lehrers Trage im Stillen Trauer über den Untergang von Volk und Vaterland; Bevölkerung werde Tätigkeit nicht verabscheuen
Tabelle 3: Sequenzierung nach Themen- und Textsortenwechseln
ANHANG
339
6.2.3. Sequenzierung Lebenslauf Johann G. vom Frühjahr 1937 2 Z.
Bericht
5 Z.
Bericht/ Argumentation
4 Z.
Argumentation/ Bericht
15 Z.
Bericht/ Argumentation
3 Z.
Bericht
10 Z.
Bericht/ Argumentation
1 Z.
Argumentation/ Bericht Erzählung
19 Z.
3 Z. 6 Z.
Argumentation/ Bericht Bericht/ Argumentation
Geburtsdatum, -ort; Vater Weichenwärter, Namen der Eltern; kath. getauft und erzogen Besuch der Volksschule, 2 Jahre Fortbildungsschule; musste früh arbeiten, 6 Geschwister, Vater geringes Einkommen Nach der Schulzeit zwei Jahre in der Landwirtschaft, da Vater Lohn benötigte, konnte kein Handwerk erlernen; mit knapp 17 Jahren nach Stuttgart / Packer und Hausdiener Musste 1913 zum Militär einrücken; kam schon August 1914 ins Feld, dauernd in vorderster Linie, Verwundungen / Lazarette, konnte nicht mehr ins Feld; Ersatz-Battallion des Regiments Herbst 1918 bis März 1919; (Aufzählung der Auszeichnungen für freiwillige Patrouillentätigkeit) sein Name in Regimentsgeschichte »ehrend« erwähnt; Zeugnis »vorzüglich« Laufbahn bei der Polizei (Aufzählung); darin eingebaut: Meldung auf bekannte Eberhardswache Bei Demonstrationen einen Kommunisten erschossen; von nun an ganze KPD gegen sich, Kommunisten stellen Fallen, daher bald wieder Zusammenstoß; Zeitungen wetteifern miteinander, ihn öffentlich anzuprangern; bei Versetzung 1924 nach Heidenheim Kommunisten dort bekannt, wer er ist, daher bald wieder Zusammenstöße mit KPD, kam bis vors Landgericht; öffentlich angeprangert beim Kommunistischen Jugendtag Konnte auch verhindern, dass Glockenseile der Kath. Kirche abgeschnitten wurden Musste nach Tod der ersten Frau wieder Familie gründen; viele Mädchen »scharf« auf ihn, zwei gleichzeitig schwanger; auf Drängen der Verwandtschaft Katholische von beiden 1926 geheiratet; Verwandte der anderen Frau veranlassen Erhebungen gegen ihn, als Folge auf 1.9.1926 gekündigt; da keine Gelegenheit zur Äußerung nahm er Kündigung an; Rückkehr nach Esslingen / 3 Jahre Einkassierer in Stuttgart 2. Ehe unglücklich: Scheidung wegen Untreue der Frau 1930; «jene andere« Frau geheiratet, altes Unrecht gutgemacht 1929–1933 Vertreter, im Sommer bei Städt. Feldpolizei; ab 1934 wieder bei Stuttgarter Polizei (Werdegang); hofft nun Weg zum Aufstieg offen zu haben
340 1 Z. 10 Z.
2 Z. 3 Z. 2 Z.
»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
RahmenschaltElement Argumentation/ Bericht
Argumentation Bericht/ Argumentation Argumentation
Mein politischer Werdegang Schon 1920 in Ortsgruppe der Regimentsvereinigung gegründet; von Anfang an für NS interessiert, Versammlungen besucht, Zeugen dafür; nach Entlassung vollends System erkannt, aus finanziellen Gründen noch nicht Mitglied geworden; 1931 trotz Arbeitslosigkeit Mitglied geworden; nicht sofort aktiv mitgemacht auf Rat von Kreisleiter Maier Bei alten Pg kein Unbekannter, überall offen zum NS bekannt In kath. Verwandtschaft deshalb verpönt; 1931 nach Schlägerei mit 6 Kommunisten bettlägerig Tätigkeit bei Ortsgruppe dürfte bekannt sein
Tabelle 4: Sequenzierung nach Themen- und Textsortenwechseln
6.2.4. Sequenzierung Lebenslauf Johann G. von 1947 6,5 Z. 6,5 Z. 6 Z. 7 Z.
Bericht
Herkunft/Schule/Arbeit in Landwirtschaft und in Stuttgart
Bericht/ Argumentation Bericht Bericht/ Argumentation
Militärzeit/ununterbrochen an der Front bis Frühjahr 1918/Verwundung/Auszeichnungen Polizeilaufbahn, Entlassung 1926 Folgende Tätigkeiten, u. a. bei »jüd. Fa. Deutsche Bekleidungsgesellschaft« / Lesezirkel Daheim; 1931 arbeitslos gemeldet; dann Saisonarbeit städtische Feldpolizei Wiederanstellung bei der Polizei; Prüfungen / Beförderungen bis zum Polizei-Inspektor; als solcher »bis zum Schluss« beschäftigt Verheiratungen, Kinder aus den Ehen; Tod eines 6-jährigen Sohnes 1944; ein Sohn aus 2. Ehe gefallen; ältester bis Nov. 1946 in ital. Kriegsgefangenschaft; 2. Sohn noch in Gefangenschaft in Sibirien Frau und kleine Kinder 1943 evakuiert, noch heute in Steinheim; Stuttgarter Wohnung Oktober 1944 ausgebombt; nur Kleinigkeiten konnten gerettet werden.
11,5 Z.
Bericht
15 Z.
Bericht
5,5
Bericht/ Argumentation
Tabelle 5: Sequenzierung nach Themen- und Textsortenwechseln
ANHANG
341
6.3. Ausgewählte Dokumente
Abb.1: »Block- und Zellensystem der NSDAP«, graphische Darstellung der vertikalen Gliederung der Ortsgruppe. Quelle: Organisationsbuch der NSDAP 1937, hg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, München, S. 115.
342
»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
Abb.2: »Der Ortsgruppenleiter der NSDAP«, graphische Darstellung der horizontalen Gliederung der Ortsgruppe. Quelle: Organisationsbuch der NSDAP 1937, hg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, München, S. 125.
ANHANG
343
344
»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
Abb. 3: »Personen-Beschreibung«, Personalfragebogen der NSDAP für Funktionäre, ausgefüllt von Hans D., undatiert (1934). Quelle: © StAL (PL 502/29)
ANHANG
345
346
»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
Abb. 4: »Meldebogen auf Grund des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5.3.1946«, Fragebogen des Military Government of Germany, ausgefüllt von Hans D., 1947. Quelle: © StAL (EL 902/20)
Quellen und Literatur
Archivalien Archiv der Basler Mission (ABM) BV III: Basler Mission Brüderverzeichnis. Personalfaszikel Johannes D. sen. QT: Knabenanstalt/Kinderhaus.
Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL) EL 51/1. EL 902/20. EL 903/3. PL 501/I. PL 502/29.
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348
»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
Organisationsbuch der NSDAP (1937), hrsg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, München. Partei-Statistik 1935, Band II: Politische Leiter, hrsg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, o.O. (München). Woweries, F. H. (1937): Der Hoheitsträger. Ein zentrales Führungsmittel für Hoheitsträger, Schulungsleiter und in der Organisation tätige Amtsleiter der Partei, in: Der Hoheitsträger, H. 1/Oktober 1937, S. 12–15. Zimmermann, Hilde 1942: Einsatz der Frau im Alltag der Partei, in: Der Hoheitsträger, H. 4/1942, S. 10–11.
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350
»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
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»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
— (1986) (Hg.): Die Hitlerjugend-Generation. Biographische Thematisierung als Vergangenheitsbewältigung, Essen: Die blaue Eule. — (1997) (Hg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern, Gießen: Psychosozial. Roth, Claudia (1997): Parteikreis und Kreisleiter der NSDAP unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, München: C. H. Beck. Ruck, Michael (2000): Bibliographie zum Nationalsozialismus, 2 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Ruge, Wolfgang (1968): Deutsche Volkspartei (DVP), 1918–1933, in: Fricke u.a. (Hg.), Bd. I, S. 645–666. Schäfer, Thomas/Völter, Bettina (2005): Subjekt-Positionen. Michel Foucault und die Biographieforschung, in: Völter/Dausien/Lutz/Rosenthal (Hg.), S. 161– 185. Schäfer, Wolfgang (1957): NSDAP. Entwicklung und Struktur der Staatspartei des Dritten Reiches, Hannover/Frankfurt a. M.: Norddeutsche Verlagsanstalt O. Goedel. Scharfe, Martin (1980): Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn. — (1982): »Lebensläufle«. Intentionalität als Realität. Einige Anmerkungen zu pietistischen Biographien, in: Brednich, Rolf Wilhelm u.a. (Hg.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung, Freiburg i. Br., S. 116–130. Schaser, Angelika (2005): Fragebogen für Mitglieder der Reichsschrifttumskammer, ausgefüllt von Gertrud Bäumer am 26. Dezember 1936. Kommentiert von Angelika Schaser, in: Jancke, Gabriele/Ulbrich, Claudia: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, Göttingen: Wallstein, S. 223–231. Schmidt, Christoph, (1981): Zu den Motiven »alter Kämpfer« in der NSDAP, in: Peukert/ Reulecke/Castell Rudenhausen (Hg.), S. 21–43. Schmidt-Richberg, Wiegand (1979): Die Regierungszeit Wilhelms II., in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648–1939, Bd. 3, Abschnitt V, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München: Bernhard & Graefe, S. 9–156. Schmiechen-Ackermann, Detlef (2000): Der »Blockwart«. Die unteren Parteifunktionäre im nationalsozialistischen Terror- und Überwachungsapparat, in: VfZg Jg. 48, S. 575–602. — /Stiepani, Ute/Toelle, Claudia (1998) (Hg.): Alltag und Politik in einem Berliner Arbeiterbezirk. Neukölln von 1945 bis 1989, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte. Schneider, Michael (1987): Höhen, Krisen und Tiefen. Die Gewerkschaften in der Weimarer Republik 1918 bis 1933, in: Tenfelde, Klaus u.a. (Hg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945, Köln: Bund-Verlag, S. 279– 446.
QUELLEN UND LITERATUR
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»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
— (1987): Geschichte und Politikwissenschaft, in: Geschichte. Politik und ihre Didaktik, H. 3/4, S. 195–202. — (2000): »Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt …« Widerstehen im Jahrhundert der Diktaturen, in: Immerfall, Stefan (Hg.): Parteien, Kulturen und Konflikte. Beiträge zur multikulturellen Gegenwartsgesellschaft. Festschrift für Alf Mintzel, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 19–50. Steinbacher, Sybille (Hg.) (2007): Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft, Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Bd. 23, Göttingen: Wallstein. Steinke, Ines (2004): Gütekriterien qualitativer Forschung, in: Flick/Kardorff/ Dies. (Hg.), S. 319–331. Stelbrink, Wolfgang (2003): Die Kreisleiter der NSDAP in Westfalen und Lippe. Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang, Münster: Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv. Stevenson-Moessner, Jeanne (1989: Theological Dimensions of Maturation in a Missionary Milieu, Bern u.a.: Peter Lang. Stiepani, Ute (1998): Alltagsgeschichte und Oral History. Theoretisch-methodische Zugänge zum Verhältnis von »Alltag« und »Politik«, in: Schmiechen-Ackermann/Stiepani/Toelle (Hg.), S. 21–37. Stierlin, Helm (1978): Delegation und Familie. Beiträge zum Heidelberger familiendynamischen Konzept, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stolberg-Rilinger, Barbara (Hg.) (2005): Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: Dies. (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin: Duncker & Humblot, S. 9–24. Straub, Jürgen (1993): Geschichte, Biographie und friedenspolitisches Handeln. Biographieanalytische und sozialpsychologische Studien auf der Basis von narrativen Interviews mit Naturwissenschaftlern und Naturwissenschaftlerinnen, Opladen: Leske & Budrich. Strauss, Anselm L. (1994): Grundlagen qualitativer Sozialforschung: Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen und soziologischen Forschung, München: UTB. Thamer, Hans-Ulrich (1986): Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945, Berlin: Siedler. Thierfelder, Jörg (1980): Die Auseinandersetzungen um Schulform und Religionsunterricht im Dritten Reich zwischen Staat und evangelischer Kirche in Württemberg, in: Heinemann, Manfred (Hg.): Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Teil 1: Kindergarten, Schule, Jugend, Berufserziehung, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 230– 250. Thomas, William I./Znaniecki, Florian (1927): The Polish peasant in Europe and America, New York: Knopf. Tyrell, Albrecht (Hg.) (1991): Führer befiehl … Selbstzeugnisse aus der Kampfzeit der NSDAP. Dokumentation und Analyse, Bindlach: Gondrom (zuerst 1969). Übelacker, Matthias (1895): Große deutsche Aufsatzschule für den Schul- und Selbstunterricht, 5. Auflage, Berlin: August Schultze. — (1898a): Kleine Deustche Aufsatzschule für den Schul- und Selbstunterricht, 6. Auflage, Berlin: August Schultze.
QUELLEN UND LITERATUR
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— (1898b): Kleiner Muster-Briefsteller, 6. Auflage, Berlin: August Schultze. — (1916): Deutsche Aufsatzschule für den Schul- und Selbstunterricht, 10. Auflage, Berlin: Friedrich Euler. — (1926): Deutsche Aufsatzschule für den Schul- und Selbstunterricht, 20. Aufl., Berlin: August Schultze. — (1938): Deutsche Aufsatzlehre, neubearbeitet von Johannes von Kunowski, 26. Auflage, Berlin: August Schultze. Ulbrich, Claudia (1996): Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts., in: Schulze, Winfried (Hg.), S. 207–226. Unger, Aryeh (1974): The Totalitarian Party. Party and People in Nazi Germany and Soviet Russia, Cambridge University Press. Völter, Bettina (2003): Judentum und Kommunismus. Familiengeschichten in drei Generationen, Opladen: Leske & Budrich. — /Dausien, Bettina/Lutz, Helma/Rosenthal, Gabriele (2005) (Hg.): Biographieforschung im Diskurs, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Wagner, Caroline (1998): Die NSDAP auf dem Dorf. Eine Sozialgeschichte der NSMachtergreifung in Lippe, Münster: Aschendorff. Walgenbach, Peter (2001): Giddens’ Theorie der Strukturierung, in: Kieser, Alfred (Hg.): Organisationstheorien, Stuttgart: Kohlhammer, S. 355–375. Weber, Hermann/Herbst, Andreas (2004): Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin: Dietz. Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr. Weiß, Hermann (1997): Nationalpolitische Erziehungsanstalten, in: Benz, Wolfgang/ Graml, Hermann/Weiß, Hermann (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München: dtv, S. 597ff. Weißbecker, Manfred (1970): Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei 1919– 1945 in: Friccke (Hg.), Bd. II, S. 384–437. Welzer, Harald (2005) unter Mitarbeit von Michaela Christ: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M.: Fischer. — /Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline (2002): »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a. M.: Fischer. Wendt, Bernd Jürgen (1995): Deutschland 1933–1945. Das »Dritte Reich«. Handbuch zur Geschichte, Hannover: Fackelträger. Wiedemann, Peter (1991): Gegenstandsnahe Theoriebildung, in Flick, Uwe u.a. (Hg.), S. 440–450. Wiesendahl, Elmar (1998): Parteien in Perspektive. Theoretische Ansichten der Organisationswirklichkeit politischer Parteien, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Wildt, Michael (2002): Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg: Hamburger Edition. Wilhelm, Friedrich (1989): Die württembergische Polizei im Dritten Reich. Dissertation, Historisches Institut der Universität Stuttgart.
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»DEN RICHTIGEN MANN AN DIE RICHTIGE STELLE«
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Abkürzungsverzeichnis
ABM BDM CSVD CVD CVJM DAF DC DDP DHV DL DMV DNVP DVP GdA HJ KdF KPD KZ (KL) Napola NS, ns NSBDT NSBO NSDAP NSDStB NSF NSKOV NSLB NSRL NSV OG Pg. RDB
Archiv der Basler Mission Bund deutscher Mädel in der HJ Christlichsozialer Volksdienst Christlicher Volksdienst Christlicher Verein junger Männer Deutsche Arbeitsfront Deutsche Christen Deutsche Demokratische Partei Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband Deutsche Landsmannschaft Deutscher Metallarbeiter-Verband Deutschnationale Volkspartei Deutsche Volkspartei Gewerkschaftsbund der Angestellten Hitler-Jugend NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« Kommunistische Partei Deutschlands Konzentrationslager Nationalpolitische Erziehungsanstalt Nationalsozialismus, nationalsozialistisch Nationalsozialistischer Bund Deutscher Technik Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Nationalsozialistische Frauenschaft Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung Nationalsozialistischer Lehrerbund Nationalsozialistischer Reichsbund für Leibesübungen Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Ortsgruppe (der NSDAP) Parteigenosse (der NSDAP) Reichsbund der Deutschen Beamten
366 RDF RKB RLB SA SD SPD SS StAL u.k. VDA
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Reichsbund Deutsche Familie Deutscher Reichskriegerbund »Kyffhäuser«/ Nationalsozialistischer Reichskriegerbund Reichsluftschutzbund Sturmabteilungen Sicherheitsdienst des Reichsführers SS Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Staatsarchiv Ludwigsburg unabkömmlich Verein/Volksbund für das Deutschtum im Ausland
Dank
Abschließend möchte ich all jenen danken, die mich beim Schreiben dieser Arbeit begleitet und unterstützt haben. Über Peter Steinbach fand ich während des Studiums den Zugang zur interdisziplinären Herangehensweise an politikwissenschaftliche Fragen. Ich danke ihm herzlich für die inhaltlichen Anregungen und die forschungsorganisatorische Unterstützung seit dieser Zeit. Besonders danken möchte ich auch Gabriele Rosenthal. Sie unterstützte mich maßgeblich in der methodologischen und methodischen Anlage der Arbeit und ermöglichte mir über eine Forschungswerkstatt am Methodenzentrum Sozialwissenschaften der Universität Göttingen einen Arbeits- und Diskussionszusammenhang, der in den letzten Jahren von großer Bedeutung für mich war. Die Realisierung der Dissertation wurde möglich über ein Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung, die die Arbeit in den Jahren 2000– 2005 förderte und einen Druckkostenzuschuss bereit stellte. Neben der Hans-Böckler-Stiftung danke ich Richard Saage, der die Arbeit als deren Vertrauensdozent mit Interesse begleitete. Zudem gilt ein herzlicher Dank der Stiftung Erinnerung Lindau, die die Veröffentlichung mit einem weiteren Druckkostenzuschuss unterstützte. Herzlich danken möchte ich Johannes Tuchel und Ute Stiepani, die über ihre jahrelange inhaltliche Begleitung und die Anbindung des Dissertationsprojektes an die Forschungsstelle Widerstandsgeschichte der FU Berlin und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Arbeitsbedingungen schufen, die das Schreiben der Arbeit sehr unterstützten. Roswitha Breckner vermittelte mir in den 1990er Jahren Methodologie und Methode fallrekonstruktiver Biographieforschung und begleitete mich bei den ersten Schritten, mit diesem Forschungsansatz das vorliegende Material auszuwerten. Ihr sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Unterstützung fand ich auch während der Archivrecherchen. Stellvertretend für die Mitarbeiter/innen im Staatsarchiv Ludwigsburg danke ich
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Norbert Hofmann und Stephan Molitor. Im Archiv der Basler Mission betreuten mich Guy Thomas und Paul Jenkins und gaben mir wertvolle Hinweise bei Recherchen zum württembergischen Pietismus und zur Familiengeschichte von Hans D. Marie D. unterstützte den Zugang zu diesen Archivalien. Herzlich danke ich auch Manfred Warnecke, dem Leiter der Bibliothek der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, für seine Unterstützung. In vielen Gesprächen und Diskussionen erhielt ich Anregungen und Hinweise für das Fortkommen der vorliegenden Arbeit. Danken möchte ich an dieser Stelle Klaus Bästlein, Dieter Fitterling, Andreas Graf, Andreas Herbst, der verstorbenen Ulrike Hett, Helgard Kramer, Peter Merkl, Kathrin Meyer, Carl Reibel, Hubert Rottleuthner, Fritz Schütze und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern verschiedener Colloquien, in denen ich meine Arbeit zur Diskussion stellen konnte. Neben den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Forschungswerkstatt am Göttinger Methodenzentrum Sozialwissenschaften möchte ich Michaela Köttig und Nicole Witte als Mitveranstalterinnen für ihre stets kritischen Rückmeldungen herzlich danken. Meine Berliner Arbeitsgruppe hat an der Entstehung der Dissertation durch die kontinuierliche gemeinsame Arbeit am empirischen Material und zahlreiche Textdiskussionen mitgewirkt. Ich danke hier Anne Blezinger, Stefan Bamberg, Nelly Gonzalez, Kerstin Kammerer, Asiye Kaya, Carla Wesselmann, Hee Young Yi, Halil Can, Rixta Wundrak und Elif Yesilbas. Den drei Letztgenannten sei auch herzlich für ihre Bereitschaft zum Selbstexperiment »Lebenslaufverfassen im institutionellen Kontext« gedankt. Carla und Gustav Wesselmann danke ich zudem für die Gastfreundschaft während der Aufenthalte in Göttingen. Für ihre Unterstützung beim Schlusslektorat danke ich herzlich Anneke de Rudder, für technische Unterstützung Susanne Brömel. Schließlich danke ich meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden, die mich in vielerlei Hinsicht unterstützt haben. Ein besonderer Dank gilt meinen Eltern Inge und Adolf Müller, durch deren Förderung, Hilfen und Ermutigungen ich diese Arbeit schreiben konnte. Inge Zuleger und Petra Müller danke ich ebenso für ihre Unterstützung wie Jael BotschFitterling, Dieter Fitterling und Hanno Botsch. Für Diskussionen und Zuspruch im Freundeskreis danke ich Julia Gerlach, Nathalie Guegnard, Christoph Kopke, Irmtraudt Kuß, Katrin Passens, Sabine Rietz, Thomas Rink und Imke Scheurich. Herzlich danke ich den Familien v. Bassewitz,
DANK
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Demuth/Busuiocescu, Gehe-Becker, Rosenhain-Osowska und Stobbe/da Oliveira Pinto für ihre Unterstützung im Leben mit Kindern. Gideon Botsch danke ich für zahllose Gespräche und Anregungen und seine tägliche und außeralltägliche Unterstützung. Mirjam und Hannah danke ich, dass sie bei uns sind.