Nr. 446
Der Arkonide und der Yastor Unter den Nomaden von Dorkh von Peter Terrid
Atlans kosmische Odyssee, die ihren ...
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Nr. 446
Der Arkonide und der Yastor Unter den Nomaden von Dorkh von Peter Terrid
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern, Besatzern und Invasoren zu tun haben, trachtet der Arkonide danach, die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis auszuspähen und die Kreise der Mächtigen zu stören. Gegenwärtig geht es Atlan und seinen Gefährten Razamon und Kennon/Axton allerdings nicht darum, den Machthabern der Schwarzen Galaxis zu schaden, sondern es geht ihnen ganz einfach ums nackte Überleben – und das seit der Stunde, da sie auf Geheiß des Duuhl Larx im »Land ohne Sonne« ohne Ausrüstung und Hilfsmittel ausgesetzt wurden. Die Welt, auf der die drei Männer aus ihrer Betäubung erwachen, ist Dorkh, eine Welt der Schrecken und der tödlichen Überraschungen. Kaum sind Atlan und seine Gefährten den Nachstellungen der riesigen Raubvögel und der seltsamen Gnomen entgangen, da müssen sie auch schon vor den katzenartigen Mavinen die Flucht ergreifen. Sie flüchten in den Dschungel und erreichen den »Jagdteppich« – und dort kommt es zur Begegnung: DER ARKONIDE UND DER YASTOR …
Der Arkonide und der Yastor
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan, Razamon und Axton-Grizzard - Drei Fremde unter den Nomaden von Dorkh. Grutar-Nal-Kart - Yastor der Zukahartos. Hirundo - Grutars Bruder. Lyssod - Grutars Rivale. Der Extortirnser - Das Orakel der Zukahartos.
1. Als Grutar-Nal-Kart das Knacken hörte und der Körper seines Gegners unter ihm erschlaffte, wußte der Mann, daß er dem Ziel einen Schritt näher gekommen war – einen entscheidenden Schritt sogar. Die Kernix-Zukahartos umstanden den Platz zwischen den Spitzzelten, schweigend, wie es sich bei einem Kampf dieser Art gebührte. Die Kernix-Zukahartos galten gemeinhin als einer der traditionsbewußtesten Stämme des Jagdteppichs, und sie wußten, was sich bei einem Yastor-Kampf gehörte. Grutar-Nal-Kart erhob sich langsam. Der reglose Körper seines Gegners blieb im Staub liegen. Grutar-Nal-Kart hatte ihm das Genick gebrochen. Der tödliche Ausgang eines Yastor-Kampfes war nicht ungewöhnlich, wohl aber in diesem Fall, denn beide Gegner galten als gleichermaßen stark, geschickt und wendig. »Der Sieger ist Grutar-Nal-Kart«, verkündete der Thaigoon mit weithin schallender Stimme. Leiser fuhr er fort: »Und schafft den Toten aus dem Lager.« Drei Knaben sprangen auf und packten Grutars Gegner. Der Leichnam wurde vom Kampfplatz geschleppt, ohne daß auch nur einer der Zuschauer einen Blick auf ihn verwandte. Grutar hob feierlich die Hände zur ewigen Sonne und ihrer Güte. Leise sprach er das Gebet. Er hatte es tagelang auswendig gelernt, denn er war von Anfang an sicher gewesen, daß er bei den diesjährigen YastorKämpfen unter den Kernix-Zukahartos keinen gleichwertigen Gegner finden würde. Nach dem Gebet warf sich GrutarNal-Kart auf den Boden, um die Erdgeister
um Verzeihung zu bitten. Es war Blut geflossen bei diesem Kampf, und das gehörte sich nicht. Irgendwie hatte Grutar während des Kampfes das Ohr seines Gegners zu fassen bekommen, ein wenig daran gedreht, und schon war ein Riß in der Haut entstanden, der heftig geblutet hatte. Noch waren Spuren davon auf dem Boden zu erkennen. »Oy!« rief Grutar. »Ich werde gehen.« »Und siegen!« rief die Versammlung. Es stand fest: Grutar-Nal-Kart würde die Sippe der Kernix-Zukahartos bei den Yastor-Ausscheidungen dieser Blütenperiode vertreten. Und es sah ganz danach aus, als habe er eine reelle Chance, der nächste Yastor zu werden. Hirundo trat heran und reichte Grutar ein Handtuch aus feinster Perissowolle. Langsam und bedächtig trocknete Grutar den schweißnassen Körper. Er wußte, daß ihm die versammelten Krieger aufmerksam zusahen, und schon allein aus diesem Grund ließ er sich Zeit. Die Krieger sollten seine Muskeln sehen können, die Narben auf der Vorderseite seiner Schultern und seinen Rücken, der frei war von Narben. »Wann willst du aufbrechen?« fragte Hirundo. Hirundo war Grutars jüngerer Bruder, die einzige Person im Kernix-Lager, die Grutar aufrichtig liebte – jedem anderen mißtraute er. Hirundo aber war schmal, feingliedrig und wirkte so zerbrechlich, daß die anderen jungen Männer frühzeitig die Versuche aufgegeben hatten, mit Hirundo kämpfen zu wollen. Die Gefahr war zu groß, daß man ihm versehentlich das Genick brach, und das hätte unweigerlich die Rache Grutars heraufbeschworen – und Grutar-Nal-Kart zu fürchten hatten alle frühzeitig gelernt. Grutar spähte in die Höhe.
4 Der Himmel über der Weite des Jagdteppichs war hochgewölbt und blau; keine Wolke war zu sehen. Die Zeit der Frühjahrsregengüsse war gerade erst vorbei, der Jagdteppich stand in herrlichster Blüte. Dies war die rechte Zeit, dachte GrutarNal-Kart. In zwei, höchstens drei Wochen konnte er Yastor sein, Gebieter und alleiniger Herr über Tausende von Zelten. »Morgen früh«, sagte Grutar. Er nahm aus der Hand eines Sippenmitglieds eine Schale kalten Gämmertees und trank bedächtig daraus. Grutar sah sich kurz um. Die Krieger, die er mitzunehmen gedachte, standen auf dem Platz zwischen den Spitzzelten. Grutar grinste breit. »Ihr werdet meine Unterführer sein«, versprach er. »Sobald das Heer des Yastors auf meinen Befehl hört.« Die Männer grinsten zurück. Ihre ganze Hoffnung lag auf Grutars breiten Schultern, und dort war sie gut aufgehoben. »Geht und schlaft früh«, sagte Grutar. »Morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, müssen die Tarpane gesattelt bereitstehen.« Die Männer führten kurz die Griffstücke ihrer Bögen an die Stirn, der traditionelle Gruß der Soldaten an den Heerführer. »Du bist leichtsinnig«, sagte Hirundo leise. »Dieser Gruß gebührt dir noch nicht. Laß dich nicht erwischen, die Galagos des Yastors sind geschickt, schnell und grausam.« »Ich fürchte sie nicht«, sagte GrutarNal-Kart. Er durfte sich nun so nennen, seit er seinen letzten Gegner besiegt und damit keinen Widersacher mehr auf seinem Weg hatte. Grutar zog das lederne Hemd über. Hirundo hatte es in langer Nächte Arbeit hergestellt. »Was wirst du tun, wenn du das Große Lager erreicht hast?« fragte Hirundo mit einem scheuen Seitenblick. Grutar stutzte, grinste dann breit und antwortete: »Keine Sorge, kleiner Bruder, du wirst nicht zu kurz kommen.« Hirundo lief feuerrot an, während Grutar
Peter Terrid schallend lachte. Als jemand, der sich nicht einmal um die Kandidatur zum Yastor bewerben konnte, hatte Hirundo natürlich nicht die geringste Aussicht, jemals einem Tempel der Zusammenkunft auch nur nahe zu kommen – es sei denn, Grutar wurde Yastor und nahm ihn mit. Mit einer Handbewegung schickte Grutar seine Gefolgsleute weg. Sie gehorchten sofort. Hirundo sah den Davonschreitenden aus zusammengekniffenen Augen nach. »Wir haben gute Leute, nicht wahr?« »Die besten«, antwortete Grutar-Nal-Kart, während er den Gürtel schloß. »Und wir haben mich, vergiß das nicht.« Er lächelte erheitert. Vor zwei Wochen waren die KernixZukahartos aufgebrochen. Seither hatten sie sich nur mit zwei Dingen beschäftigt – sich dem Großen Lager zu nähern und unterwegs den Yastor-Kandidaten zu bestimmen. Beide Ziele waren nahezu erreicht. Das Große Lager war im schlimmsten Fall noch zwei Tagesritte entfernt, und Grutar-Nal-Kart stand als Bewerber um die Würde des Yastors zweifelsfrei fest. In Kernix, der Felsenstadt der KernixZukahartos, waren nur die ganz Alten übriggeblieben und die ganz Jungen, die zusammen mit den Sklaven die Herden zu bewachen hatten. Alle kampffähigen Männer sowie die Alten, die zum Rat des Lagers zugelassen waren, ritten zum Großen Lager. Grutar-Nal-Kart schritt über das Gras des Lagerplatzes zu seinem Zelt. Es stand am Ende der Lagerstraße; bis zu diesem Zeitpunkt war Grutar-Nal-Kart nichts weiter gewesen als ein ganz normaler Krieger der Zukahartos, dazu noch ein sehr junger. Folglich hatte man ihm nicht erlaubt, in der Nähe des Lagerältesten sein Zelt aufzuschlagen. Das Zelt bot neun Personen und dem Zeltältesten Platz. Der bisherige Zeltälteste trat respektvoll zur Seite und hob das lange gekaute, weiche Leder des Zelteinganges beiseite – früher hatte Hirundo diese Aufgabe übernehmen
Der Arkonide und der Yastor müssen, der jüngste Krieger im Zelt. Alles war vorbereitet. Das kleine Feuer aus Tarpandung brannte, auf dem Dreifuß simmerte das Teewasser. Der anregende Duft nach gesottenem Fleisch füllte das Zelt. Grutar-Nal-Kart hockte sich auf den Boden. Nacheinander sah er seine neun Zeltgefährten an. Er hatte sie sich sorgsam ausgesucht. Jeder einzelne von ihnen wog mindestens fünf normale Kämpfer auf – Hirundo ausgenommen, aber der Kleine war ein Meister der Ränke und in dieser Eigenschaft mehr wert als eine Hundertschaft. »Oy!« sagte Grutar. »Auf den neuen Yastor!«
* Jeder konnte ihn sehen. Er ritt an der Spitze des Zuges, wie jeder Yastor-Kandidat. Zu seiner rechten Seite ritt Erinak, der schweigsame Hüne, zu seiner Linken der pfiffige Hirundo. Unmittelbar dahinter, auf sehr seltenen weißen Tarpanen, folgten der Thaigoon und Plekoth-Jur-Ger, der frühere Anführer der Kernix-Zukahartos. »Unser Zug ist nicht sehr lang und eindrucksvoll«, murmelte Grutar-Nal-Kart. »Es kommt nicht auf die Länge des Zuges an«, versetzte Hirundo einfach. »Die Spitze ist wichtig.« Grutar lächelte verhalten. Aus den Augenwinkeln heraus konnte er andere Sippen sehen, die gleich den KernixZukahartos in feierlicher Parade auf das Große Lager zuritten. Zur Linken erkannte Grutar den Zug der Bassarix-Zukahartos, deutlich am stilisierten Falken zu erkennen, dem Wappen der Bassarixe. Die Kernix-Sippe hatte noch nie einen Yastor gestellt, durfte daher kein Wappen tragen und galt infolgedessen als wenig vornehm. Über dem Lager wehte an hohem Mast die vierfache Standarte des gegenwärtigen Y-astors, Barbast-Kas-Nin, aus der Sippe der Lagotrix-Zukahartos. Sieben Perioden lang war er Yastor gewesen, nicht gerade der Rekord, aber dennoch eine beein-
5 druckende Leistung. Sieben Frühlinge lang hatte er das Heer auf den Jagdteppich geführt, sieben Sommer war er mit reicher Beute zurückgekehrt. Am Rand des Lagers machten die Reitergruppen halt. Nur auserwählte Personen hatten das Recht, sich im umfriedeten Bezirk einzuquartieren – im Fall der Kernix-Sippen waren das die führenden fünf Reiter: der Kandidat mit zwei Sekundanten, der Thaigoon der Sippe und der ehemalige Sippenchef. Dazu kam eine Zeltmannschaft Sklaven, die für die Herrschaften die Zelte aufzubauen und die Wachen zu halten hatte. Die restlichen Mitglieder der Sippen durften den Platz des Großen Lagers nicht betreten. Das Gefolge des Kernix-Kandidaten war lange vorher bestimmt worden und daher schnell zusammengestellt. Grutar brauchte nur wenige Minuten zu warten, dann durfte er seinen Tarpan über das blaßrote Band hinwegführen, das den unverletzlichen Friedensbereich des Großen Lagers kennzeichnete. Wer das Band ohne Befugnis überschritt, starb. Es fehlten nicht mehr viele Sippen, stellte Grutar-Nal-Kart fest, als er seinen Tarpan langsam über die helle Straße führte. Auf ihr zogen die Reiter in das Lager ein und aus; die dunkle Straße war dem letzten Weg zum Tode Verurteilter bestimmt. »Dort ist er«, flüsterte der Thaigoon erregt, als das Zentrum des Lagers erreicht war. Grutar konnte ihn sehen, den Tempel der Verkündung und der Unberührbarkeit. Als einziges Gebäude im Lager war der Tempel nicht aus dünnen Lederplanen in Zeltform erbaut worden; der Extortirnser, das Heiligtum, war unter einer eckigen Holzkonstruktion verborgen. Grutar wußte nicht, was er von der Angelegenheit halten sollte. Er verstand etwas von Bögen, von geraden Pfeilen und gutgeschärften Messern. Von Gottheiten und Heiligtümern verstand er nichts. Er wußte zwar, daß es den Extortirnser
6 gab, daß er bei allen Feldzügen in einer Sänfte feierlich mitgeschleppt wurde und den Zuka-hartos mit weisen Ratschlägen und Orakeln behilflich war. Grutar wußte auch, daß es Priester gab – pro Sippe jeweils einen – die sorgfältig darauf achteten, daß die vorgeschriebenen Gebetsrituale eingehalten wurden. Diese Priester verloren bei der Weihe ihren Namen und wurden nur Thaigoon genannt; bei Zusammenkünften wurden sie mit dem Namen der ihnen anvertrauten Sippen gerufen. Bislang hatte Grutar dies alles nur aus weiter Ferne miterleben können; beim letzten Ritt zum Großen Lager hatte er als Tarpanbursche im Außenlager nächtigen müssen. Nun, sagte sich Grutar-Nal-Kart, in ein paar Tagen bist du Yastor, dann kannst du den Tempel aufsuchen und den Extortirnser mit eigenen Augen sehen. Bis dahin … Er verhielt seinen Tarpan. Das Zentrum des Lagers war erreicht, das große Zelt des Yastors, über dem am Mast die Standarte wehte. Die großen Flügel des Zeltes waren zur Seite geschlagen, im Eingang saß auf dem elfenbeinernen Thron der Yastor, die offizielle Pelzmütze auf dem Kopf, in der rechten Hand ein gefülltes Trinkhorn, in der linken den Knauf seines Schwertes. »Willkommen!« rief der Yastor. Sein Gruß galt beiden Trupps, die fast gleichzeitig den Platz in der Mitte des Lagers erreicht hatten. Aus den Augenwinkeln heraus konnte Grutar-Nal-Kart die Bassarix-Standarte sehen, gehalten von dem widerwärtigen Lyssod-Fähr-Quel, dem Yastor-Kandidaten der Bassarixe. Grutar wünschte ihn zur Hölle. Die beiden Kandidaten stiegen von ihren Tarpanen. Neben dem Yastor erkannte Grutar an dem kahlen Schädel den Obersten Thaigoon, die einzige Person, die außer dem amtierenden Yastor stets Zugang zum Extortirn-ser hatte. Der Thaigoon machte ein verschlossenes Gesicht. Mit gemessenen Schritten trat Grutar auf den Yastor zu. Sein Konkurrent war ent-
Peter Terrid schieden energischer. Lyssod machte ein paar Schritte und deutete lediglich eine Verbeugung vor dem Yastor an, anstatt sich tief zu verneigen, wie es die Etikette verlangte. Der Thaigoon rümpfte die Nase, der Yastor lächelte milde. Grutar blieb höflich stehen. »Willkommen im Lager, Lyssod«, sagte der Yastor. »Ich freue mich, dich wieder zu sehen. Du willst meinen Platz einnehmen?« »Ich werde«, verbesserte Lyssod herablassend. Ein verächtlicher Blick streifte Grutar. »Thaigoon!« Eine mehr als herablassende Handbewegung galt dem Priester als Gruß. Der Yastor hob das Trinkhorn, nahm einen kleinen Schluck und reichte das Horn dann an Lyssod. Der junge Mann setzte das Gefäß an die Lippen und leerte es in einem Zug. »Prachtvoll«, sagte er dann und wischte sich die vergorene Tarpanmilch aus den Mundwinkeln. Grutar lächelte nur. Lyssod nahm sich allerhand heraus. Nun, er würde dafür bezahlen müssen. »Dein Gesicht kenne ich noch nicht«, sagte der Yastor, zu Grutar gewandt. »Aber ich kenne die Züge des Sippenältesten PlekothJur-Ger. Du mußt der Kandidat der KernixSippe sein.« »Ich bin es, Yastor«, sagte Grutar. Er grüßte vollendet den Yastor, ja er ging sogar so weit, den breiten Ring an der linken Hand des Thaigoon zu küssen – was eigentlich nur Priesteranwärter und sehr überzeugte Zukahartos taten. Lyssod kicherte in sich hinein. »Die Ausscheidungskämpfe beginnen schon morgen«, sagte der Yastor. »Ich hoffe, ihr beide seid gut vorbereitet.« »Selbstverständlich«, sagte Lyssod. »Ich hoffe«, bemerkte Grutar. Grutar bedachte Lyssod mit einem langen Blick. Dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Sieh dir Lyssod noch einmal genau an, Yastor. Du wirst ihn morgen nur noch aus der Ferne sehen können, danach nur noch tot.« Er verneigte sich vollendet vor dem Ya-
Der Arkonide und der Yastor stor und ging davon.
2. Die Schneegrenze lag bei eintausendfünfhundert Metern. Die höchsten Erhebungen dieses Gebirges, das die Sirva-Gipfel genannt wurde, lag bei nicht ganz viertausend Metern. Was sich uns in den Weg stellte, war keine Hügelkette. Wir hatten es mit einem ausgewachsenen Hochgebirge zu tun, das zu durchqueren eine Sache auf Leben und Tod sein mußte. Indes hatten wir keine andere Wahl. »Rast«, verkündete ich, und meine Gefährten dankten es mir mit Blicken. Zum Sprechen fehlte ihnen der Atem. Der Paß lag hinter uns, aber das hieß noch lange nicht, daß wir unser Ziel erreicht hätten. Vor uns lag der Abstieg, hinab in die Ebene. Ich war gespannt auf das, was uns dort erwartete. So wie ich Dorkh einschätzte, warteten dort unten allerlei Überraschungen auf uns. Auf Überraschungen waren wir bestens vorbereitet. Unsere Kleidung bestand aus Lumpen, ausgerüstet waren wir mit unseren Hirnen und Händen, mit sonst nichts. Und unser Gepäck bestand lediglich aus der langsam wachsenden Verzweiflung, daß wir es allem Überlebenswillen zum Trotz vielleicht doch nicht schaffen würden, die Ebene am Fuß der Sirva-Gipfel zu erreichen. Wir konnten das Land von unserem Rastplatz aus sehen. Fettes, grünes Land, buntgesprenkelt mit Blumen und blühenden Sträuchern. Vermutlich hatte es dort unten vor nicht allzu langer Zeit geregnet. Dort gab es alles, was wir dringend nötig hatten. Dort gab es ein Klima, in dem es nicht lebensgefährlich war, in Lumpen herumzugehen. Dort gab es Pflanzen, die man essen konnte, dort gab es weiches Gras, auf dem man ruhig schlafen konnte. Dort gab es auch höchstwahrscheinlich Tiere, die man jagen, braten und schließlich auch verspei-
7 sen konnte. Ich versuchte, an solche Genüsse besser gar nicht erst zu denken. Um uns herum gab es dreierlei: kaltes Gestein, kalte Luft und kaltes Wasser. Das Gestein waren die Schrunde und Klüfte der Sirva-Gipfel; von Weg war in dieser Felswildnis keine Rede. Die Luft war nicht nur eisig kalt, sie war obendrein auch noch arg dünn. Am besten waren wir mit Wasser versorgt. Es gab Wasser in fester Form. Es polterte ab und zu kristallin auf uns herab, und wir hatten es nur unserem Glück zu verdanken, daß wir noch nicht erschlagen worden waren. Es gab Wasser in Pulverform, feinflockigen Schnee, der manchmal in solchen Mengen auf uns herabrieselte, daß man darunter begraben werden konnte. Und es gab Bergwässer, deren Kälte bis auf die Knochen zu schneiden schien. Das Wasser war so kalt, daß man es kaum trinken konnte. »Wann wird dieses Gebirge ein Ende haben?« fragte Razamon. Er lag auf dem Boden und versuchte seine Atmung zu beruhigen. Ich deutete nach vorne, auf den grünen Fleck am Horizont. »Dort ist die Ebene«, sagte ich. »Zwei Tagesmärsche, höchstens.« »Vielleicht mehr«, bemerkte eine schwache Stimme. Grizzard machte einen sehr erschöpften Eindruck. Die Ereignisse und Strapazen der letzten Tage waren an keinem von uns spurlos vorübergegangen, aber Grizzard hatten sie besonders gezeichnet. Die Augen lagen tief in den Höhlen, wirkten düster und müde. Die Bewegungen waren langsamer geworden. »Was ist los?« fragte ich meinen Gefährten. »Irgendwelche besonderen Schwierigkeiten?« »Keine«, versetzte Grizzard matt. »Ich werde nur wesentlich rascher müde als sonst.« »Es wird an den besonderen Gegebenheiten des Gebirges liegen«, vermutete Razamon. Auch dem Berserker war anzusehen,
8 wie sehr ihn der Marsch durch die Hölle aus Fels und Eis angestrengt hatte. »Kannst du weitergehen?« fragte ich Grizzard. Er lächelte bitter. »Kann ich liegenbleiben?« fragte er bissig zurück. Er stand auf. Wir setzten unseren Marsch fort. In der Ferne winkte das Grün der Ebene, und dieser Fleck der Hoffnung gab uns Kraft. Es ging bergab auch ein wenig leichter als bergauf. Ab und zu blieb ich stehen, um meine Gefährten nachrücken zu lassen. Sie verfügten nicht wie ich über einen Zellaktivator, der verbrauchte Körperkräfte schnell regenerierte. Daher wurden sie von den Anstrengungen des Marsches wesentlich mehr erschöpft als ich. Grizzard wollte mir überhaupt nicht gefallen. Ab und zu hatten seine Bewegungen die Trägheit und Unsicherheit eines alten Mannes – ein krasser Widerspruch zum jugendlichkräftigen Aussehen des Körpers. Gab es da ein Problem? Höchstwahrscheinlich, gab der Extrasinn durch. Am Abend waren wir ein beträchtliches Stück weitergekommen. Vor allem aber hatten wir endgültig die Schneegrenze hinter uns gelassen. Wesentlich wärmer war es nicht geworden, aber immerhin, wir liefen nicht mehr Gefahr, des Nachts zugeschneit zu werden. In der Nähe des Lagerplatzes, den ich ausgesucht hatte, lag ein Haufen Knüppelholz; der nahe Bach hatte das Treibgut bei Hochwasser in einem Winkel abgeladen. Das Hochwasser war lange vorbei, das Holz war zwar kalt, aber dafür trocken. Grizzard war kaum noch in der Lage, etwas zu tun. Es blieb Razamon und mir vorbehalten, das Holz zusammenzutragen und Feuer zu machen. »Was soll das geben?« fragte Razamon mißtrauisch, als er sah, was ich dann machte.
Peter Terrid Ich suchte alles an Kräutern und Grünzeug zusammen, was sich in der Nähe finden ließ. Ich fand auch einen großen Stein, der eine tiefe Mulde enthielt, gerade groß genug für meine Zwecke. »Ich koche«, verriet ich dem Berserker. Meinen zentnerschweren Kochtopf zu bewegen, hatte ich natürlich keine Lust. Das war auch nicht nötig. Ich füllte die Vertiefung mit Wasser, zerrieb die Kräuter und ließ sie in das Wasser fallen. »Und jetzt hältst du ein Feuerzeug daran …«, spottete Razamon. Über Grizzards Gesicht flog ein müdes Lächeln. »Nein«, sagte er matt. »Er wird einige Steine in dem Feuer hier erhitzen und dann in die Mulde werfen. Dort wird die im Stein gespeicherte Hitze die Suppe zum Kochen bringen.« »Genauso werde ich es machen.« Es erwies sich als Kunststück besonderer Art, die heiß gemachten Felsstücke vom Feuer zum Felsenkochtopf zu transportieren, aber es gelang mir. Nach einer Stunde saßen wir um einen Topf voll einer sehr gefährlich aussehenden trüben Flüssigkeit. Der Geruch war nicht minder beängstigend. »Du erwartest doch nicht, daß wir dieses Zeug tatsächlich essen!« erklärte der Berserker. »Ich erwarte das nicht nur – ich werde euch nötigenfalls prügeln, damit ihr diese Suppe eßt.« Grizzard beugte sich über den Topf und füllte die hohle Hand mit der Flüssigkeit. »Sie schmeckt, wie sie aussieht«, sagte er nach einer Kostprobe und schüttelte sich. »Aber diese Brühe ist warm, und allein das macht sie schon zur Delikatesse. Außerdem enthält sie genügend Vitamine, um uns für kurze Zeit über den Nahrungsmittelmangel hinwegzuhelfen.« Eine Suppe ohne Löffel zu essen, war wahrlich nicht einfach, aber es gelang uns. Der Geschmack war entsetzlich – einen besseren Ansporn, uns auf dem Weg hinab in die Ebene zu beeilen, konnte es nicht geben.
Der Arkonide und der Yastor
* Razamon und ich hielten Wache bis zum Morgengrauen. An Gefahr glaubten wir nicht, aber einer mußte dafür sorgen, daß das Feuer nicht erlosch. Grizzard überließen wir seinem tiefen Schlaf. Als der Morgen heraufdämmerte, ging allmählich auch das Feuer aus. Wir hatten kein Holz mehr zum Nachlegen. Es wurde Zeit aufzubrechen. Mit etwas Glück konnten wir am Abend schon am Fuß der Sirva-Gipfel lagern. Ich hatte die letzte Wache übernommen. Als erstes weckte ich Razamon, dann Grizzard. Während der Berserker nahezu übergangslos wach wurde und sofort einsatzbereit war, kehrte Grizzard nur langsam aus seinem Tiefschlaf in die Wirklichkeit zurück. Mich stimmte das besorgt, aber ich wollte die niedergedrückte Stimmung nicht noch mehr belasten. Gleichgültig, ob wir für Grizzards Erschöpfung eine Erklärung fanden oder nicht – wir mußten in jedem Fall weiter. »Ich verstehe das nicht«, murmelte Grizzard. Er wirkte nicht nur müde, er machte auch einen niedergeschlagenen Eindruck. »Du verstehst was nicht?« fragte ich beiläufig. »Meine Schwäche«, murmelte Grizzard. »Ich kann mich auch gar nicht mehr richtig konzentrieren. Nicht nur meine Muskeln sind butterweich geworden, auch meine Gedanken ermüden.« »Wir alle brauchen Ruhe«, sagte Razamon trocken. »Aber dazu brauchen wir eine weichgepolsterte Unterlage. Also vorwärts – dort unten winkt das Glück.« Wir machten uns auf den Weg. Mit jedem Kilometer, den wir zurücklegten, wurde die Sache leichter. Das Gelände war nicht mehr so entsetzlich schroff und zerklüftet, es fiel auch nicht mehr so stark ab. Auch wenn dieser Teil unserer Wanderung erheblich weniger anstrengend war als der erste – das hieß nicht, daß wir diesen
9 Marsch unbegrenzt fortsetzen konnten. Spätestens morgen abend, überlegte ich mir, mußten wir zu einer richtigen Rast kommen, einer ausreichenden Mahlzeit und genügend Schlaf. Schafften wir das nicht, mußten wir zwangsläufig vor Erschöpfung zusammenbrechen. Daß diese Gefahr nicht nur in meiner Überlegung bestand, wurde während des Marsches immer deutlicher. Grizzard bekam immer größere Schwierigkeiten, und diese Tatsache bedrückte mich sehr. Ich konnte mir vorstellen, was es für Sinclair Marout Kennon bedeuten mußte, einen solchen Körper zu haben. Und ich konnte mir auch vorstellen, was ein Wesen wie Kennon auszustehen hatte, wenn dieser Körper so bedenkliche Schwächeerscheinungen zeigte. Kennon/Grizzard mußte unter unglaublichem psychischem Druck stehen in diesen Stunden. Das Schlimmste war, daß wir ihm in keiner Weise helfen konnten. Mich tröstete dabei nur eines: daß nämlich Razamon und ich ebenfalls solcherart strapaziert wurden, daß wir die Grenzen unserer körperlichen Leistungsfähigkeit erreichten. Wenn Grizzard uns ächzen und keuchen hörte, dann sah er vielleicht ein, daß seine Schwäche erklärbar war. Nicht zuletzt von solchen Überlegungen wurde ich vorangetrieben. Wir marschierten Stunde um Stunde, immer bergab. Je tiefer wir kamen, desto dichter wurde der Bewuchs. Nutzpflanzen fanden wir keine. Unsere Aussichten, Fruchtbäume oder ähnliches finden zu können, waren recht gering. Aber das allmählich immer kräftiger werdende Grün verhieß, daß es ein Stück voraus Leben in den vielfältigsten Formen gab. Der Abend dämmerte herauf, und wir hatten die Ebene noch nicht erreicht, als Grizzard einen Schwächeanfall bekam. Er begann zu taumeln und stolperte. »Ich verstehe das einfach nicht«, murmelte Grizzard. Razamon und ich faßten ihn unter den Ar-
10 men. Wir hatten Platz genug, zu dritt nebeneinander zu gehen. Es war ohnehin höchste Zeit für eine Rast. Nach kurzer Zeit hatten wir einen beinahe idealen Platz gefunden. Windgeschützt durch hohe Felsen, in der Nähe gab es Wasser, genügend Grünzeug und auch hinreichend Treibholz. Bald brannte ein kleines Feuer, und es dauerte auch nicht lange, bis Razamon und ich aus dem vorhandenen Grünzeug eine Mahlzeit hergestellt hatten – nicht eben wohlschmeckend, dafür aber reich an Mineralien und Vitaminen. Bis zum nächsten Morgen mußte diese Mahlzeit genügen. Ich fand auch einige Beeren, die ziemlich süß schmeckten, folglich viele Kohlehydrate enthalten mußten. Es verstand sich von selbst, daß diese nährstoffreichen Beeren für Grizzard reserviert wurden, der sie am nötigsten brauchte. Grizzard/Kennon aß langsam und geduldig, er zwang auch eine Portion des Salats hinunter, mit dem Razamon und ich den quälendsten Hunger stillten. Grizzard schlief nach dem Essen ein, er konnte die Augen nicht länger offenhalten. Razamon sah mich mit einem Ausdruck großer Besorgnis an. »Was fehlt ihm?« fragte er. »Ist er einfach nur erschöpft? Oder ist er schwerkrank?« Was sollte ich auf diese Frage antworten? Ich war kein Mediziner. Es war durchaus denkbar, daß sich Kennon/Grizzard eine Grippe eingefangen hatte, vielleicht eine Lungenentzündung … es gab viele Möglichkeiten, krank zu werden, wenn man im schneebedeckten Gebirge herumkletterte. Mich bedrückte, daß bei Grizzard von normalen Krankheitssymptomen keine Rede war. Er fieberte nicht, er schwitzte nicht stärker als sonst auch, sein Puls war leicht tastbar, schlug kräftig und gleichmäßig. Was also war die Ursache der rätselhaften Schwäche, die ihn immer wieder befiel? Ich wartete auf eine kurze Erklärung des Extrasinns, der normalerweise mit Erläuterungen nicht geizte. Diesmal blieb der Logiksektor still.
Peter Terrid Es gab eine Möglichkeit, Kennons Zustand zu erklären, aber diese Interpretation schob ich vorsichtshalber beiseite, denn wenn meine finstere Vermutung zutraf, schwebte Grizzard/Kennon in einer Gefahr, aus der wir ihn beim besten Willen nicht retten konnten. Es war denkbar, daß es zwischen dem Körper des Grizzard und dem Geist des Sinclair Marout Kennon zu Schwierigkeiten kam, zu Unverträglichkeiten. Abstoßungseffekte dieser Art waren bei OrganTransplantationen an der Tagesordnung. Eiweißstoffe, die mit dem spezifischen Eiweiß des Körpers nicht übereinstimmten, wurden von der körpereigenen Abwehr vernichtet. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich bei diesem Fremd-Eiweiß um eine vereinsamte Bakterie handelte oder um die Zellen eines lebenswichtigen implantierten Organs. In beiden Fällen ging die Immunabwehr des Körpers mit unnachsichtiger Härte gegen den Fremdkörper vor, auch wenn dabei der gesamte Körper zugrunde gerichtet wurde. Hatten wir es bei Grizzard mit einem derartigen Immun-Infekt zu tun? In Grizzards Körper befindet sich nicht ein Molekül, das zu Kennons Körper gehören würde. Transplantiert wurde lediglich der Geist, aber kein Stück des Körpers. So lautete die erschöpfende Auskunft des Extrasinns. Dem gab es nichts entgegenzuhalten. Ich sah mich um. Es war Nacht geworden, Grizzard und Razamon schliefen. Das Feuer brannte mit gleichmäßig hoher Flamme. Ich schob die Hölzer ein wenig nach. Vorsicht! Ich führte die Bewegung aus, zu der ich angesetzt hatte. Alles andere wäre aufgefallen. Trotz der Warnung des Extrasinns schürte ich weiter das kleine Feuer. Es war klar, Fremde hatten unseren Lagerplatz entdeckt. Wo mochten sie sein? Einen Herzschlag später wußten wir es. Sie fielen über uns her.
Der Arkonide und der Yastor
3. Hirundo nahm das saubere Tuch und wischte damit das Blut von Grutars linkem Arm. Das Messer hatte den Muskel zur Hälfte aufgeschlitzt, ohne aber ein lebenswichtiges Gefäß getroffen zu haben. Grutar biß die Zähne zusammen, als Hirundo ein wenig Milch in die offene Wunde schüttete. Das Brennen zu ertragen, fiel schwerer als der Messerstich, den Grutar im Eifer des Gefechtes kaum gespürt hatte. »Du mußt vorsichtiger sein«, sagte Hirundo. »Dein Gegner ist stärker als du.« »Ich habe es bemerkt«, sagte GrutarNal-Kart. Melurs-Han-Faal war ein Klotz von einem Zukaharto, praktisch nichts weiter als eine Ansammlung stählerner Muskeln. Was grobe Körperkraft betraf, konnte es keiner mit ihm aufnehmen. Zum Verdruß für Grutar ab er, der nur noch diesen einen Gegner zu bezwingen hatte, um in den Endkampf zu kommen, hatte sich Melurs auch als überaus wendig und beweglich erwiesen. Ihm mit dem Messer beizukommen, war unglaublich schwer, zumal die Wettbewerbsbedingungen verboten, tödliche Hiebe oder Stiche auszuteilen. Wer nämlich diese Endkämpfe erreichte, war als Kämpfer für das gesamte Volk der Zukahartos entschieden zu wichtig, als daß man es zugelassen hätte, daß sich die Yastor-Kandidaten gegenseitig massakrierten. Der neue Yastor brauchte schließlich auch erprobte Kämpfer, die er befehligen konnte. »Ich werde ihn schlagen«, sagte Grutar zwischen zusammengepreßten Kiefern. »Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde ihn schlagen.« Es sah eher nach dem Gegenteil aus. Grutar blutete nicht mehr, aber die Wunde war schwerwiegend genug, auch wenn sie nur den linken Arm betraf. Noch eine Verletzung dieser Art, und Grutar hätte aufgeben müssen. Es wäre keine Schande gewesen – noch nie war ein Kernix der Siegerkro-
11 ne so nahe gekommen wie Grutar, aber zu Grutars Lebenseinstellung gehörte der Grundsatz, daß nur der erste Platz zählte. »Versuche es mit dem Griff, den ich dir beigebracht habe«, raunte Hirundo. Grutar winkte ab. Das sah dem Jüngeren wieder ähnlich. Da er zum richtigen Kämpfen zu schwach war, hatte er sich einige Griffe und Bewegungen ausgedacht, mit denen er seine Gegner zu besiegen gedachte. Grutar war nie dazu gekommen, sie praktisch auszuprobieren, und er war nicht der Typ Kämpfer, der mitten im Kampf zu irgendwelchen neumodischen Mätzchen seine Zuflucht nahm. Der Thaigoon des Lagers stieß ins Horn, das Zeichen für den Wiederbeginn des Kampfes. »Mach schneller!« herrschte Grutar seinen Bruder an. Hirundo zögerte, die breiten Lederriemen fest um die Unterarme zu binden. Am linken Arm mußte das bei der tiefen, bis fast auf den Knochen hinabreichenden Messerwunde entsetzliche Schmerzen hervorrufen. Grutar zog die Riemen mit den Zähnen selbst an, begleitet von einem verächtlichen Blick für den Jüngeren. Beide Kämpfer traten wieder auf den freien Platz zwischen den Zelten. Auf dem Yastor-Stuhl vor dem Tempel der Unberührbarkeit saß der noch amtierende Yastor; er hatte sich nicht wieder zur Wahl gestellt. Der Thaigoon funkelte Grutar böse an, weil der junge Kernix den Kampfbeginn offenbar zu verzögern suchte. »Hier bin ich«, sagte Grutar und stellte sich zum Kampf. Beide Gegner waren nackt, bis auf den breiten Gürtel, an dem die Messer befestigt wurden. Beide hatten ihre Körper zunächst eingeölt, um dem Angreifer keinen Halt finden zu lassen. Durch die Balgerei der letzten zwei Stunden war aus dieser Ölschicht eine schleimige Salbe geworden, die auf dem Körper förmlich klebte. Längst waren beide Kämpfer dazu übergegangen, ihre Messer zu benutzen. Der Kampf mußte in der nächsten halben Stunde
12 ein Ende finden, das stand bei Beginn dieser letzten Runde fest. Es war verboten, mit den Messern zu werfen, und daran hielten sich alle Bewerber ausnahmslos. Melurs tänzelte, das Messer in der Linken, zustoßbereit. Grutar machte zwei Schritte auf den Gegner zu, er ließ das Messer aus der rechten in die linke Hand wechseln, und wieder zurück, und noch einmal von vorn. In seinem linken Unterarm tobte der Schmerz, er hätte beinahe das Messer verloren, als er dieses Wechselspiel zum vierten Mal ausführte. Ob dieses Manöver wirkungsvoll gewesen war, ob es den Gegner davon überzeugt hatte, daß Grutar rechts wie links jederzeit zustoßen konnte – das ließ sich nicht feststellen. Das Gesicht des Gegners war wie versteinert. Nicht die geringste Gemütsregung war darin zu sehen. Dann machte Melurs den ersten Ausfall. Grutar ließ den Gegner in die Leere laufen, er machte einen Schritt zur Seite. Er hielt das Messer zu diesem Zeitpunkt in der linken Hand, und er spürte mit Entsetzen, wie seine Finger kraftlos wurden und aus der Faust das Messer fiel und im Boden steckenblieb. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Melurs hatte den Vorgang noch in der Drehung gesehen, er verzog das Gesicht zu einem boshaften Grinsen. Und hinter ihm, nur knapp zehn Mannslängen entfernt, sah Grutar das hämisch grinsende Gesicht seines schärfsten Widersachers Lyssod. Grutar begriff schlagartig. Wenn er diesen Kampf verlor – und alles sprach in diesem Augenblick dafür –, war er am Morgen nach der Amtseinführung des neuen Yastors ein toter Mann. Es ging nicht länger um die Ehre oder die Würde des Yastors in diesem Zweikampf – es ging um das nackte Leben. Grutar bückte sich, um mit der Rechten nach seinem Messer zu greifen. Auf diesen Augenblick hatte Melurs gewartet. Er griff
Peter Terrid an … … und Grutar bekam das Messer zu fassen und warf sich mit aller Kraft zur Seite. Er hörte Melurs Klinge an seinem Ohr vorbeizischen, dann konzentrierte er sich auf das, was er mit Hirundo geübt hatte. Er brachte es fertig, den Schwung seiner Bewegung auszunutzen und praktisch sofort wieder auf die Beine zu kommen. Beide Gegner waren knapp fünf Meter voneinander entfernt. Grutar wußte, er hatte bei normaler Kampfweise keine Chance mehr gegen Melurs. Das Messer war wertlos geworden, es behinderte ihn nur. Grutar drehte sich herum. Mit einer flüssigen Bewegung schleuderte er das scharfgeschliffene, perfekt ausbalancierte Messer. Es schlug eine Handbreit neben Lyssods Kopf in einer Zeltstange ein und blieb dort leise wippend stecken. Lyssod zuckte mit keiner Miene. Grutar drehte sich sofort wieder herum. Er hatte jetzt keine andere Wahl mehr. Er mußte diesen Kampf gewinnen, so oder so, notfalls dadurch, daß er seinen Gegner tötete. Verlor Grutar diesen Kampf, hatte er sich vergebens um die Würde eines Yastors bemüht und mußte diesen Versuch mit dem Tode büßen. Es gab für Grutar nur eine Überlebensmöglichkeit – er mußte Yastor werden. Grutar griff an. Er tat es so, wie es Hirundo vorgeschlagen hatte. Er machte zwei, drei Schritte, schnellte sich ab und rammte mit einem gewaltigen Sprung seinem völlig verblüfften Gegner beide Füße in die Magengrube. Melurs verlor sofort das Gleichgewicht, kippte hintenüber und ächzte vernehmlich. Dank des gründlichen Trainings kam Grutar rasch wieder auf die Füße. Drei Schritte brachten ihn an Melurs heran, der gerade versuchte, sich wieder zu erheben. Ein Fußtritt vereitelte den Versuch. Grutar war kein Freund von Grausamkeiten. Er trachtete danach, den Kampf so schnell wie möglich zu beenden – er beugte sich zu dem verkrümmten Körper seines
Der Arkonide und der Yastor Gegners hinab und schlug zu. Melurs war vor Schmerz und Schock halb besinnungslos, und Grutar hatte beide Hände zu einer Faust zusammengeballt, die er mit aller Kraft in die Magengrube des Liegenden drosch. Melurs verdrehte die Augen, sein Mund öffnete sich weit, aber der vom Schlag gelähmte Solarplexus versagte den Dienst. Melurs Gestalt streckte sich. Er hatte das Bewußtsein verloren. Grutar stand langsam auf. Von der ledernen Manschette, die seinen linken Arm umgab, troff dunkles Blut auf den Sand hinab. »Der Sieger dieses Kampfes heißt GrutarNal-Kart aus der Sippe der Kernix. Ruhm und Preis dem Sieger!« Der Thaigoon gab sich nicht sehr viel Mühe bei den traditionellen feierlichen Worten. Auf den ersten Blick hatten sich beide nicht gemocht, und das galt in gleichem Maß für den Thaigoon wie für Grutar. Da der amtierende Yastor durchaus befugt war, einen neuen Obersten Thaigoon nach eigenem Ermessen zu benennen, ging der augenblickliche Thaigoon seines Amtes vermutlich verlustig. Auf der anderen Seite schien er ganz vorzüglich mit Lyssod übereinzustimmen – Grutar vermutete, daß zwischen beiden schon seit langem eine gewisse Übereinkunft bestand. Daß Grutar bei den Ausscheidungskämpfen ausnahmslos schwere Brocken zu bewältigen gehabt hatte, war sicherlich kein Zufall – Lyssod hingegen hatte es auffällig leicht gehabt, bis in den entscheidenden Kampf vorzudringen. »Laß deine Wunde verbinden«, sagte der Yastor streng. »Und dann schafft den Toten fort.« »Er ist nicht tot«, versetzte Grutar. »Er ist nur besinnungslos. Bald wird er wieder zu sich kommen.« Der Yastor kniff die Augen zusammen. »Ich habe noch nie einen Mann so kämpfen sehen«, sagte er langsam. »Und ich sah manchen Kampf.« »Ab und zu muß sich jemand etwas Neues einfallen lassen«, gab Grutar mit einer an-
13 gedeuteten Geste des Respekts zurück. Grutar war kein Narr. Er wußte: nur der augenblickliche Yastor konnte ihm helfen, seine Machtposition zu festigen, wenn er es schaffte, den Yastor abzulösen. Er war auf die Mitarbeit dieses guten Mannes angewiesen, also galt es, die Zuneigung des Yastors zu gewinnen. »Du mußt eine Vertagung beantragen«, flüsterte Hirundo. »Unbedingt! Du hast ein Recht darauf.« Der Jüngere hatte sich rasch zu Grutar durchgearbeitet und flüsterte mit vor Erregung heiserer Stimme. Grutar winkte ab. »Keine Pause«, sagte er energisch. Die Menge erstarrte. »Du Narr!« schimpfte Hirundo. Grutar wußte, was er tat. Bis zum nächsten Morgen war die Wunde am Arm nicht geheilt; es kam im Gegenteil, vermutlich noch Wundfieber hinzu. So geschwächt hatte er gegen Lyssod keine Chance. Grutar unterschätzte die Fähigkeiten seiner Gegner niemals, und Lyssod war als Kämpfer zweifelsohne hervorragend. Und bis zum nächsten Tag konnte sich Lys-sod allerlei einfallen lassen. Es war sicher ratsam, ihm keine Chance zu geben, sich auf Grutars neue Kampfweise einzustellen. »Weitermachen«, drängte Grutar. Der Yastor sah ihn aufmerksam an, dann machte er eine weit ausholende Handbewegung. »Gebt den Kampfraum frei«, sagte er. »Lyssod, bist du bereit, den Kampf aufzunehmen?« Lyssod trat auf den Platz. Er nickte nur. Die beiden Kontrahenten stellten sich auf, die Gesichter einander zugewandt, zehn Schritte voneinander entfernt und in der rechten Hand die Messer mit den beidseitig geschliffenen Klingen. Grutar-Nal-Kart wußte, daß ihm der Tod gegenüberstand. Lyssod würde jede sich bietende Gelegenheit nützen, Grutar zu töten. Die Regeln der Ausscheidungskämpfe gal-
14 ten im Endkampf nicht. Lyssod wiegte das Messer in der Rechten. Er plante irgendein Täuschungsmanöver, denn er hielt das Messer so, daß die Klinge unter dem kleinen Finger erschien. Zustoßen konnte er damit nur von oben nach unten, und das war bei einem Messerkampf ein unsinniges Verfahren. Grutar hielt sein Messer so, daß die Klinge über dem Daumen in die Höhe ragte, gerade richtig, um die Waffe von unten her dem Gegner in den Leib zu rammen – bei diesem Verfahren wurde bei fast jedem Stich ein lebenswichtiges Organ getroffen. Alles kam jetzt darauf an, den ersten Angriff von Lyssod vorher zu berechnen und ihm mit aller Kraft und Geschicklichkeit zu begegnen. Grutar wußte, daß die ersten Augenblicke entschieden – einen längeren Kampf hätte er nicht durchstehen können. Lyssod machte aus dem Stand einen gewaltigen Satz, der ihn dicht an Grutar heranbrachte. Mit einer geschickten Armbewegung brachte er das Messer in die Höhe – und wechselte im Bruchteil einer Sekunde den Griff. Aus der Stichwaffe wurde so eine Hiebwaffe, mit der Lyssod einen fürchterlichen Hieb nach Grutars Hals führte. Die Überraschung war fast vollkommen. Mit allem hatte Grutar gerechnet, nicht aber mit dieser Variante. Für einen Stich war Lyssod nach dem ersten Ansprung viel zu weit entfernt, aber durch den blitzartigen Griffwechsel – wie lange mochte Lyssod diesen Trick geübt haben, bis er ihn mit dieser Sicherheit beherrschte? – hatte sich die Reichweite des Gegners erheblich erweitert. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Grutar ließ sich zurückfallen. Mit aller Kraft versuchte er seinen Kopf nach hinten zu werfen. Es war nur Glück, die Sache eines winzigen Herzschlags. Von der unterarmlangen Klinge von Lyssods Messer konnte ihn bei diesem Angriff nur ein kleines Stück treffen, bestenfalls eine Handbreit von der Spitze an. Aber dieses Stück, getrieben von der Wucht eines weitausholenden, mit aller Kraft ge-
Peter Terrid führten Hiebes, versehen mit fürchterlicher Schärfe, reichte, so es traf, aus, den Hals bis auf den Nackenknochen zu durchtrennen. Grutar spürte etwas Glühendheißes über seine Kehle fahren, aber das Gefühl ging unter in dem Wirbel von Empfindungen, der ihn bei seinem hastigen Rückzugsmanöver durchströmte. Die Bewegung rückwärts, der haltlos gewordene Blick, der im Leeren irrte, das gellende Schreien der Zuschauer, der Boden, auf den er prallte, die hektischen Bewegungen, die er mehr unbewußt als geplant ausführte … er wußte selbst nicht, wie es dazu kam, daß er wieder auf den Beinen stand, fest und sicher, während Lyssod Mühe hatte, seinen harten Lufthieb auszubalancieren. Grutar zögerte nicht. Er drehte sich um seine Achse, das rechte Bein abgewinkelt, in einer lächerlichen Pirouette, die aber unerhört wirkungsvoll war. Der Fußrücken traf Lyssod in der Leibesmitte, und er knickte sofort zusammen. Blitzschnell war Grutar heran. Jetzt hatte er die Oberhand. Vergessen war der feine Schmerz an der Kehle, er dachte nur an eines – den Gegner jetzt für immer zu besiegen. Er riß das rechte Knie in die Höhe, und wieder traf er Lyssod. Lyssod war geschlagen. Kein lebendes Wesen konnte die Schmerzen ertragen, die Grutars beide Treffer in den Eingeweiden des Gegners angerichtet hatten, und dabei noch kämpfen. Ein heftiger Faustschlag in den Nacken brachte das Ende des Kampfes. Wie vom Blitz gefällt, brach Lyssod zusammen und rollte in den Staub. Die Zukahartos der Versammlung standen still. In der Menge entdeckte Grutar seinen kleinen Bruder, den Mund staunend aufgesperrt, in den Augen einen Ausdruck ungläubiger Verwunderung. Vermutlich, so dachte Grutar, hatte der Kleine selbst nicht an den Erfolg seiner Tricks geglaubt. Nun, er, Grutar, hatte auch nicht daran geglaubt, und jetzt war er Yastor – und wurde ohnmächtig.
Der Arkonide und der Yastor
* Als er wieder zu sich kam, wußte GrutarNal-Kart sofort, daß er der neue Yastor war. Er brauchte nur die Augen zu öffnen – der Anblick der Umgebung verriet, daß er nicht mehr in seinem eigenen kleinen Zelt lebte, das ziemlich ärmlich eingerichtet war. Das Zeltdach über seinem Kopf bestand aus feinster Seide; die Sonne schimmerte hindurch und erfüllte den Raum mit bläulichem Dämmerlicht. Grutar richtete sich langsam auf. Sie hatten sich um sein Lager versammelt: Hirundo, die Gefährten aus dem Zelt, der Oberste Thaigoon, der alte Yastor … mindestens dreißig Personen standen im Zelt. Es war Hirundo, der als erster sprach. »Er ist erwacht«, verkündete Grutars jüngerer Bruder. Er löste seinen Gürtel, hängte ihn sich um den Hals und beugte das Knie – die uralte, geheiligte Unterwerfungsgeste der Untertanen gegenüber dem amtierenden Yastor. Grutar lächelte gerührt. Daß sich sein Bruder als erster zur Unterwerfung bereitfand, war ein deutliches Zeichen brüderlicher Liebe – immerhin hatte Hirundo viel zum Gelingen von Grutars Plänen beigetragen, und unter Brüdern waren solche Gesten eigentlich nicht erforderlich. Nacheinander huldigten die Männer im Zelt ihrem neuen Anführer. Ein Sklave trat auf einen Handwink heran und überreichte Grutar eine Schale Gämmertee. Grutar nippte daran, dann gab er die Schale an Hirundo weiter. »Trink«, sagte Grutar. »Wir werden diesen Tee unter uns teilen, und keine Macht wird uns daran hindern können.« Niemand im Zelt mußte diese Sätze in Klartext übersetzen. Grutar versprach damit auch die Beute des alljährlichen Raubzugs gerecht unter seinen Gefolgsleuten aufzuteilen – und es war Ziel des Großen Lagers, diesen alljährlichen Beutezug vorzubereiten. Grutar betrachtete seinen Unterarm. Die
15 Wunde war kunstvoll versorgt worden. Sie schmerzte nicht mehr. Grutar hatte demnach beste Aussichten, ein Jahr lang als Yastor amtieren zu können, wenn es dabei blieb und der Wundbrand ihn verschonte. »Fühlst du dich kräftig genug, Yastor?« fragte der Thaigoon. Er stand – und er wußte es – auf Grutars Liste obenan; zwischen diesen beiden war keine Freundschaft möglich. Der Thaigoon hatte sich auch bei der Unterwerfungsgeste sehr viel Zeit gelassen. »Ich bin stark genug, Thaigoon«, sagte Grutar. Er erhob sich von seinem Lager. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er auf so weichen Fellen geschlafen – es war in jeder Beziehung vorteilhaft, Yastor zu sein. Ein Sklave reichte Grutar das Hemd, gearbeitet aus weichstem Leder, kunstvoll verziert, das Abzeichen seiner Würde. Auf dem Rücken zeigte er das Wappen der Kernix-Sippe. Die Sklaven mußten wie besessen gearbeitet haben, um das Hemd in der kurzen Zeit seiner Ruhe hergestellt zu haben. Grutar ließ sich Zeit beim Ankleiden, natürlich nur, um die Grobheit des Thaigoons zu erwidern. Nach einer halben Stunde war Grutar endlich fertig. Er konnte das Heiligtum der Zukahartos aufsuchen, den Extortirnser. Alle Kampffähigen hatten sich auf dem freien Platz des Lagers versammelt, säuberlich in Sippen und Zelte geordnet. Grutar musterte flüchtig die ihm unterstellten Truppen; er grinste vergnügt: mit diesem Haufen ließ sich eine prächtige Jagd veranstalten. Zwei Wachen standen vor dem Eingang des Tempels. Der Thaigoon wollte programmgemäß vorangehen, aber Grutar hielt ihn zurück. »Ich gehe allein«, sagte Grutar kalt. Das war sein uraltes Recht, das allerdings nur höchst selten angewandt wurde. Der Thaigoon erstarrte und knirschte leise mit den Zähnen. Aber er blieb stehen. Grutar trat in den Tempel. Ein geisterhaftes rötliches Licht erfüllte den Raum. Von dem Götzen war nichts zu
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Peter Terrid
sehen. Erkennbar war nur unerhört kostbarer Schmuck aus feinstem Eisen. Man hatte eine Art Rüstung daraus gebaut, eine ziemlich verrückte Rüstung, dachte Grutar. Er trat näher, um sich diese seltsame Rüstung einmal aus der Nähe ansehen zu können. In diesem Augenblick erklang die Stimme des Extortirnsers: »Nicht anfassen, um Himmels willen, nicht anfassen. Nimm die Finger weg, du Tölpel!«
4. Der Kampf dauerte nicht lange. Wir waren unseren Gegner allein an Zahl hoffnungslos unterlegen, und dazu kam der Erschöpfungszustand, der uns befallen hatte. Ich versuchte zwar, mich zu wehren, bekam aber nach kurzer Zeit einen harten Gegenstand auf den Schädel und schied aus dem Kampf aus. Dieser Hieb reichte nicht aus, mich völlig zu betäuben. Er versetzte mich lediglich in einen Dämmerzustand. Ich konnte sehen, wie die Angreifer auch über die beiden Schläfer herfielen, die gegen diesen Ansturm keinerlei Chancen hatten. Zwar schaffte es Razamon noch einmal, sich von der Übermacht loszureißen, aber dann donnerte auch auf seinenSchädel eine Keule hinab, und der Kampf hatte ein Ende. Ich fühlte harte Klauen in das Fleisch meiner Arme eindringen, als ich hochgerissen wurde. Ich sah in ein annähernd humanoides Gesicht, das zu einem haarlosen Schädel gehörte. Die Augen auffällig schmal, die Wangenknochen traten stark hervor. Die Leichtigkeit, mit der meine Gegner meinen Körper hin und her stießen, ließ auf beachtliche Körperkräfte schließen. Die Eingeborenen waren ein wenig kürzer als ich, sehr stämmig gewachsen, ihre Haut hatte, soweit sie zu sehen war, etwas Ledernes. »Fesselt sie!« hörte ich eine rauhe Stimme rufen. Ich konnte die Stimme verstehen, und das war sehr beruhigend. Vielleicht ließen die
Eingeborenen mit sich reden. Einstweilen war an eine vernünftige Unterhaltung nicht zu denken. Die Eingeborenen hatten vorsorglich Lederriemen mitgeführt, und nach kurzer Zeit war ich sicher und solide verpackt. Als meine Besinnung zurückkehrte, war es bereits zu spät. Ich zog und zerrte probehalber an meiner Fesselung, vergebens. Die Eingeborenen verstanden sich auf diese Kunst; wahrscheinlich wäre auch der legendäre Entfesselungskünstler Houdini in dieser Verpackung hängengeblieben. »Legt sie auf die Tiere«, rief der Anführer der Eingeborenen. Wieder fühlte ich schmerzhaft die Klauen der Eingeborenen. Sie packten mich und schleppten mich fort. In einiger Entfernung hatten sie ihre Reittiere zurückgelassen, recht seltsame Kreaturen, wie ich im Dämmerlicht erkennen konnte. Die Tiere hatten vier Beine und zwei Hörner, dazu zwei beachtlich lange Schlappohren und ein Fell, das mich unwillkürlich an die Zeichnung eines irdischen Zebras erinnerte. Kein Zusammenhang, gab der Logiksektor durch. Sie schnürten mich auf dem Rücken eines der Tiere fest. Zuerst wollten sie mich rückwärts durchbiegen, dann aber folgerten sie aus meinen Schreien, daß dieses Verfahren nicht praktikabel war. Anschließend wurde ich so auf einem der Tiere festgeschnallt, das sich beim Ritt die Beine unmittelbar vor meiner Nase bewegten und ich allerhand Kunststücke und Verrenkungen durchführen mußte, wenn ich nicht von einem der Hufe am Kopf getroffen werden wollte. Infolgedessen bekam ich von dem eigentlichen Ritt nicht viel mit. Es ging über Stock und Stein, ein Fluß mußte durchwatet werden, bei dem mir das Wasser bis zum Hals ging und ich beinahe ertrank, weil niemand auf mein Gurgeln hörte. Es ging an Felsen vorbei, die ich nicht sehen konnte, wohl aber fühlen, weil sie mir den Rücken zerkratzten. Zudem sonderten die Reittiere der Eingeborenen Gerüche ab …
Der Arkonide und der Yastor Obwohl mir mein Verstand, sagte, daß mich dort der Tod erwartete, war ich doch heilfroh, als wir endlich die Siedlung der Eingeborenen erreicht hatten. Es war Tag geworden unterdessen, und ich konnte die Siedlung gut sehen. Im ersten Augenblick fühlte ich mich an die Pueblos erinnert, die ich im südlichen Teil Nordamerikas gesehen hatte. Dann fielen mir die Höhlen ein, die in Anatolien als Wohnungen dienten. Die Eingeborenen lebten teils in Höhlen, die sie vorgefunden hatten, teils in künstlich geschaffenen Höhlungen im Fels, teils auch in Häusern, die aus dem Felsgestein gebaut und sehr geschickt der Gesamtanlage angepaßt worden waren. Ich wußte nicht zu sagen, wieviel Eingeborene in dieser Siedlung lebten, aber es konnten sehr wohl einige tausend sein. An dieser Stelle ging das Gebirge ziemlich rasch in die weite Savanne über, und vor den Felsbauten gab es eine Reihe spitzer Zelte, den Tipis der nordamerikanischen Indianer nicht unähnlich. Die Ähnlichkeit lag allerdings nicht daran, daß beide miteinander verwandt waren – die Eingeborenen und die Indianer hatten lediglich mit dem gleichen Problem zu kämpfen gehabt und beide die richtige Lösung gefunden. Räder waren überall im Universum rund. Ein Stück vom Lager entfernt war ein großer Pferch zu sehen, in dem einige Dutzend der seltsamen Reittiere grasten; in größerer Entfernung waren freilebende Herden dieser Tiere zu erkennen. Wir hatten es mit einer seltsamen Mischform höheren Lebens zu tun. Diese Eingeborenen verbanden die Lebensgewohnheiten der Seßhaften mit der Freiheit der Nomaden – und diese Mischung konnte verhängnisvoll sein. Ich kannte die Geschichte der Nomadenvölker aus eigener Erfahrung, und ich erinnerte mich gut, was sie auf der Erde angerichtet hatten. Wir erreichten den Platz vor den Felshäusern. Aus allen Öffnungen kamen Bewohner hervorgestürzt, um uns zu begaffen.
17 »Grizzard!« rief ich halblaut. »Razamon?« »Ich bin bei Bewußtsein«, verkündete Razamon gedämpft. »Und Grizzard wird auch gerade wach.« Wenigstens konnten wir sehen, was mit uns geschah. Jemand knüpfte die ledernen Riemen auf, mit denen ich auf dem Rücken des Tieres festgebunden war. Ich plumpste auf den Boden, unfähig auch nur ein Glied zu rühren. Bei den Eingeborenen löste das schallendes Gelächter aus. Offenbar waren wir dazu ausersehen, zur Volksbelustigung zu dienen – ein Gedanke, der mich alles andere als erheiterte. Ich versuchte trotz meiner Fesselung auf die Füße zu kommen. Es gelang mir nach einigen Verrenkungen, die größte Heiterkeit bei den Bewohnern der Felsenstadt auslöste. Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich sehen, wie man Grizzard und Razamon auf die Füße stellte. Mit Püffen und Knüffen trieb man sie zu mir. Mindestens fünfhundert Einwohner der Felsenstadt konnte ich sehen – und darunter merkwürdigerweise nicht eine einzige Frau. Das konnte daran liegen, daß die Eingeborenen eingeschlechtlich waren; diese Interpretation erschien mir allerdings gewagt. Vielleicht durften die Frauen die Häuser nicht verlassen – wie es auf der Erde im antiken Griechenland und im Orient oft üblich gewesen war. Mir fiel auch auf, daß es nur wenige kampffähige Männer gab, fast nur Jünglinge und Greise. Das hieß indessen nicht, daß wir uns irgendwelche Freiheiten herausnehmen durften. Die Alten hielten Waffen in Händen, und sie wußten bestimmt, wie man damit umzugehen hatte. Einer der Alten trat auf uns zu. »Wer seid ihr, und was wollt ihr im Land der Zukahartos?« Wenigstens wußten wir jetzt, wie unsere »Gastgeber« sich nannten. Ich versuchte ein Lächeln. »Wir sind Wanderer, Fremde, und wir ha-
18 ben das Land der Zukahartos nicht freiwillig betreten. Eure Männer haben uns im Gebirge meuchlings überfallen und gefangengenommen.« Razamon funkelte böse. »Sie kamen von hinten, Alter.« Der Greis fuhr hoch. »Das hast du nicht umsonst gesagt, Fremder«, zischte er. »Niemand behauptet, unsere Krieger seien Feiglinge – niemand, und wenn es einer tut, dann wird er dafür büßen.« »Wenn ihr so tapfer seid, Zukahartos, warum habt ihr es dann nötig, drei waffenlose Männer solcherart zu fesseln?« Der Alte machte eine herrische Geste, und sofort machten sich ein paar Zukahartos daran, unsere Fesselung abzunehmen. Die Zuka-hartos waren offenbar sehr besonnene und nüchterne Nomaden – sie verzichteten darauf, unsere Fesseln mit dramatischer Geste zu zerschneiden. Sie knüpften vielmehr langsam und umständlich jeden einzelnen Knoten auf, und als ich mich wieder normal bewegen konnte, sah ich, wie die Riemen säuberlich wieder aufgewickelt wurden. »Also? Woher kommt ihr?« »Aus dem Gebirge«, antwortete ich. »Und wir wußten nicht, daß dies das Land der Zukahartos ist.« »Unsinn«, fauchte der Alte. »Wessen sollte das Land sonst sein, wenn nicht unser?« »Wir wußten nicht einmal, daß es euch Zukahartos überhaupt gibt«, sagte ich. Mit mehr Wucht und Zielsicherheit hätte niemand ins Fettnäpfchen treten können. Der Alte riß Augen und Mund weit auf und prallte zurück. »Was?« fragte er gedehnt. »Was sagst du da?« »Ich wollte sagen, daß wir nicht wußten, daß unser Lagerplatz zum Land der Zukahartos gehört«, versuchte ich meinen Patzer auszubügeln. »Daß es dort, wo wir, lagerten, überhaupt Zukahartos gab, hat uns verwundert.« Der Alte machte eine weitausholende Geste.
Peter Terrid »Was immer du siehst, Fremder, es gehört uns. Uns gehört die Weite des Jagdteppichs jede Kreatur, die darauf und davon lebt, das Gebirge, die Weite des Himmels – und euer Leben, Fremde.« »Oha«, sagte ich. An diesem Punkt hörte die Diplomatie auf. »Da wäre ich nicht so sicher. Unser Leben gehört uns.« Der Alte sagte, begleitet vom beifälligen Gemurmel der Umstehenden: »Nichts gehört euch. Ihr werdet uns als Sklaven dienen oder sterben!« Jetzt galt es, großen Worten mit großen Worten zu begegnen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun denn, so sterben wir. Wo ist der tapfere Zukaharto, der den Mut hat, drei halbverhungerte waffenlose Wanderer abzustechen?« Ich drehte mich um und kehrte dem Alten meinen Rücken zu. Razamon grinste breit und verächtlich und folgte meinem Beispiel. Grizzard tat wortlos das gleiche. Sekunden vergingen. Wir konnten hinaussehen in die Weite des Landes. Irgendwo in der Ferne verschwamm das Grün der Savanne mit dem Himmel. Das Gras war hoch und saftig, ein wahres Paradies für die Nomaden. Ich versuchte mir auszurechnen, was der Alte mit uns anfangen würde. Uns abzuschlachten verbot ihm die Würde seines Stammes, ganz besonders, nachdem ich ihn zum Meuchelmord angestiftet hatte. Was also konnte er tun? Es gab eine einfache Lösung – aus der Sicht des Alten. Er konnte uns von seinen Kriegern niederknüppeln und in irgendeine Tretmühle schleppen lassen. Hunger und der andauernde Gebrauch einer Peitsche würden die widerborstigen Sklaven früher oder später kirre machen. Zu unserem Glück dachte der Anführer der Zukahartos nicht ganz so nüchtern. Meine Rechnung ging auf. »Ihr werdet sterben«, sagte er mit düsterer Stimme. »Aber erst werdet ihr um euer Leben kämpfen müssen.«
Der Arkonide und der Yastor Ich drehte mich langsam herum. »Ohne Waffen?« fragte ich. Der alte Zukaharto war sehr erbost. Er hatte begriffen, daß er in meine psychologischeFalle getappt war, und er fand keinen Dreh, sich aus dieser Falle geschickt herauszuwinden. »Und halbverhungert?« ergänzte Razamon. Ich sah zu Grizzard hinüber. Er war sehr schweigsam geworden. Sein Gesicht zeigte die mühsam bewahrte Beherrschung eines Mannes, der um keinen Preis seinen Schmerz offen zeigen will. Der Alte klatschte in die Hände. »Holt Nahrung«, befahl er einigen Zukahartos, die sich ihm sehr unterwürfig näherten. Ihre Rücken waren von Peitschenstriemen gezeichnet, ihre Gesichter verrieten nur Resignation. Das war das Schicksal, dem wir zu entgehen trachteten. Eine Handbewegung sorgte dafür, daß sich die Bewaffneten in unserer Nähe aufhielten. An ein Entkommen war unter diesen Umständen nicht zu denken. Wir hockten uns auf den Boden. Es gab jetzt, überlegte ich mir, nur eine brauchbare Strategie. Wir mußten jeden Plan, der der Alte oder einer seiner Gefährten ausheckte, von vorneherein durchkreuzen. Nur wenn wir, ungeachtet der Verhältnisse, das Heft in der Hand hielten, nur wenn wir bestimmten, was geschah, nur dann hatten wir eine echte Chance, dem Tod oder der Sklaverei zu entgehen. Zunächst lief alles ganz vorzüglich. Daß wir es wagten, uns zu setzen, erstaunte die Zukahartos nicht schlecht. Einer versuchte, uns solche Flausen auszutreiben. Er versuchte es mit einer Peitsche, zunächst bei Razamon. Dabei kam er an den Falschen. Der Pthorer bekam mit einer blitzschnellen Bewegung das Ende des Lederstreifen in der Luft zu fassen. Sofort schlang sich die Schnur um seinen Unterarm. Razamon zog mit gewaltiger Kraft den Peitschenschläger zu sich heran. Der Zukaharto konnte sich nicht dagegen wehren; er
19 hatte sich eine Schlinge am Ende des Peitschenstiels um das Handgelenk geschlungen und kam nun nicht aus der Schlinge heraus. Als der Zukaharto nahe genug heran war, beförderte Razamon ihn mit einem weiteren Ruck in die Reichweite seiner Füße. Ein Tritt in die Magengrube ließ den Peitschenschwinger wie vom Blitz gefällt zusammenbrechen. Allein die Tatsache, daß Razamon dieses Kunststück zuwege brachte, ohne auch nur aufzustehen, versetzte den Zukahartos einen nicht geringen Schock. Unsere Aktien begannen zu steigen. Die Sklaven kamen und brachten das Essen. Mit grimmigen Gesichtern räumten einige Zukahartos ihren betäubten Stammesgenossen zur Seite. Ihre Gesichter verhießen uns einen grausamen Tod, der uns auf der Stelle ereilt hätte, hätte der Alte seine Leute nicht mit wütenden Blicken gezügelt. Eines stand in diesem Augenblick unwiderruflich fest – wenn wir dieses Pokerspiel um unser Leben verloren, würden sich die Zukahartos alle Mühe geben, unser Ende so langwierig und qualvoll zu machen wie das nur möglich war. Die Nahrungsmittel der Zukahartos entsprachen nicht gerade dem, was wir erhofft hatten. Wir bekamen einen sehr faden Tee zu trinken, der zudem nach ranzigem Fett roch. Dazu gab es getrocknetes Fleisch, das unseren Zähnen allerhand zumutete. »Wasser!« forderte ich. Eine herrische Geste scheuchte einen Sklaven eilfertig davon. Mein Gegenüber wäre um ein Haar geplatzt – nicht er, ich hatte den Sklaven in Marsch gesetzt, und der Mann hatte unwillkürlich gehorcht. »Bitte!« sagte ich und hielt dem Anführer der Zukahartos eine Schale mit Tee entgegen. »Sei unser Gast!« Russisches Roulette war ein Kinderspiel, verglichen mit den Frechheiten, die ich mir erlaubte. Ich konnte hören, wie Grizzard neben mir scharf die Luft durch die Zähne einsog. Der Alte wies den Tee mit größtmöglicher
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Peter Terrid
Würde zurück. Ich schielte zu seinen Gefolgsleuten hinüber. Die Zukahartos hatten ihre Wut teilweise vergessen – sie waren größtenteils fassungslos. Meine ChuzpeStrategie schien aufzugehen. »Wie werden wir kämpfen?« fragte ich beiläufig. »Wer gegen wen, und vor allem womit.« »Wir kennen da mehrere hübsche Spiele«, sagte der Alte mit boshaftem Lächeln. »Wie geschaffen für euch.« »Ich nehme an, daß die Anführer gegeneinander kämpfen werden«, sagte ich nebenbei. »Was ist deine Waffe?« Der Alte grinste mich satanisch an. »Du wirst es noch erleben«, sagte er höhnisch. »Aber iß und trink, Fremder. Du brauchst viel Ziegelfleisch und Gämmertee, wenn du lange leben willst.« Er stieß ein spöttisches Kichern aus, und mir wurde sehr unwohl in meiner Haut. Was denn, wollte der Alte tatsächlich gegen mich antreten? Mir schwante, daß ich den alten Zukaharto unterschätzt hatte – und dieser Fehler konnte sehr leicht tödlich sein.
5. Grutar-Nal-Kart erstarrte. Woher war die Stimme gekommen? Doch nicht etwa …? »Wer spricht?« fragte Grutar halblaut. Er kam sich närrisch vor, mit einem Unsichtbaren zu sprechen. »Ich bin der Extortirnser«, sagte die Stimme. »Und fasse mich ja nicht an. Ich kann das nicht vertragen.« »Wo bist du, ehrwürdiger Extortirnser?« fragte Grutar. Er wünschte sich in diesem Augenblick, den Thaigoon mitgenommen zu haben. Die ganze Sache war sehr geheimnisvoll und gefährlich. »Ich stehe vor dir, Yastor«, sagte die Stimme. »Nimmst du wohl die Finger weg, du Tropf!« Grutar zuckte zurück. Das war unmöglich. Das durfte es einfach nicht geben. Dieses lächerliche Ding aus
Metall, das da auf einem Holzklotz stand, sollte der Götze der Zukahartos sein? Der sagenumwobene Extortirnser, der – so hieß es an den Lagerfeuern, so weit der Jagdteppich reichte – vom allerersten Yastor KamEl-Krim entgegengenommen worden war, von einer unbekannten Gottheit. Seither hatte der Extortirnser das Leben der Zukahartos mitentschieden. Oft waren seine Orakelsprüche und Hinweise wichtige Helfer in der Not gewesen. Unwillkürlich hatte Grutar versucht, das seltsame Ding zu berühren, dessen Sinn und Zweck ihm unklar geblieben waren. Offenbar war eben dieses Ding der Extortirnser. Jetzt, da er das Geheimnis kannte, begriff Grutar auch, warum die Gottheit stets mitgenommen werden konnte, wenn der große Beutezug über den Jagdteppich gestartet wurde. Er verstand auch, warum man über der Gottheit eine feste Konstruktion aus Holz errichtet hatte – offenbar war jede Berührung für den Extortirnser ein Frevel. »Du also bist der neue Yastor«, stellte der Extortirnser fest. »Tritt einen Schritt zurück, und wehe dir, wenn du versuchst, mich zu berühren. Meine Macht würde dich zerschmettern.« Grutar leistete dem Gebot des Götzen Folge. »Ich bin Grutar-Nal-Kart«, sagte der Yastor. »Aha«, antwortete der Extortirnser. »Und warum kommst du nicht in Begleitung des Obersten Thaigoon?« »Ich brauche ihn nicht mehr«, sagte Grutar. »Und künftig wird außer dem Yastor niemand mehr zu dir vordringen.« »Eine sehr gute Idee«, sagte der Extortirnser. Es hörte sich tatsächlich so an, als käme die Stimme aus irgendeinem Winkel der Metallkonstruktion. Wieviel Messer und Pfeilspitzen mußte man aus diesem Metall herstellen können, überlegte Grutar automatisch. »Was willst du wissen, Yastor?« fragte der Extortirnser. »Wird unsere Jagd erfolgreich sein in die-
Der Arkonide und der Yastor sem Jahr?« »Es gibt viele Blumen, die blühen, und manche davon wird gepflückt«, erwiderte der Götze der Zukahartos weise. Die Auskunft half Grutar nicht sonderlich weiter, aber er wußte, daß der Götze sich auch in früheren Jahren sehr seltsam ausgedrückt hatte – soviel war über den Extortirnser jedenfalls bekannt. »Darf ich einmal um dich herumgehen, großer Götze?« fragte Grutar. »Wozu, weshalb, wieso?« fragte der Extortirnser sofort. »Willst du etwa nach mir greifen, mich verunreinigen, herabwürdigen, ja sogar beschädigen …?« »Keineswegs«, antwortete Grutar. »Aber ich will mich vergewissern, daß außer mir niemand im Heiligtum ist.« »Du zweifelst an mir?« »Ich zweifle nicht«, sagte Grutar. »Ich will nur sichergehen.« »Tu was du willst«, sagte der Götze schließlich. »Aber wehe, du berührst mich.« »Ich halte Abstand«, sagte Grutar. »Ich weiß, was sich einem Götzen gegenüber gebührt.« Er traute der Angelegenheit nicht. Da er vor dem Extortirnser stand, konnte er nicht sehen, wer hinter dem Ding stand und so tat, als könne das metallene Ding richtiggehend reden. Grutar war fest entschlossen, diesem faulen Humbug ein Ende zu bereiten – und den Thaigoon, das nahm er sich vor, würde er mit eigener Hand töten. Er ging vorsichtig um den Götzen herum, und mit jedem Meter, den er zurücklegte, wuchs sein Erstaunen – und seine Furcht. Denn er sah, daß es keinen Humbug geben konnte. Dazu war der Extortirnser viel zu kurz und zu wenig dick. Er reichte zwar über Grutars Kopf, aber das war nur auf den hölzernen Klotz zurückzuführen, auf dem der Extortirnser stand. Auf den Boden gestellt, hätte der Extortirnser Grutar bis an die Hüfte gereicht, und was die Dicke betraf, war der Extortirnser nicht einmal umfänglich genug, um Grutars Oberschenkel aufzunehmen.
21 Es gab also nur zwei Erklärungen. Entweder saß in diesem Heiligtum ein besonders winziger Zukaharto, oder aber der Götze war echt. Grutar konnte sich vorstellen, daß es vielleicht einen so winzigen Zukaharto gab, daß er in dem Extortirnser Platz fand. Aber es war undenkbar, daß es jahrhundertelang immer wieder einen passenden Winzling gab, den man in den Extortirnser hätte schmuggeln können. Es blieb nur noch eine Möglichkeit übrig – der Götze war echt. Grutar kehrte an seinen Ausgangspunkt zurück, überzeugt. »Großer Extortirnser«, sagte er ehrfürchtig. »Was kann ich zu deinem Wohlbefinden tun?« »Nichts«, sagte der Extortirnser sofort. »Gar nichts. Und faß mich nicht an, hörst du!« »Ich werde gehorchen«, versprach Grutar. »Ich frage dich, großer und erhabener Extortirnser: können wir zu unserer Jagd aufbrechen?« »Ihr könnt«, sagte der Götze. »Aber zuvor, so rate ich dir, suche mit deinen Kriegern die Felsenstädte auf. Du weißt schon, warum.« Grutar lief dunkelrot an, und als er das bemerkte, schämte er sich noch mehr. »Wir werden es so machen«, sagte er hastig, dann verließ er rasch das Heiligtum der Unberührbarkeit. Er sah, als er auf dem Großen Platz ankam, die Gesichter seiner Männer auf ihn gerichtet, voll freudiger Erwartung. Grutar fing sich wieder. »Freunde!« rief er laut. »Brecht die Zelte ab. Wir ziehen los – zunächst zu den Felsenstädten, danach auf den Jagdteppich.« Ungeheurer Jubel schlug ihm entgegen, und ohne Verzug machten sich die Zukahartos daran, ihre Zelte abzubrechen – als letztes das Prunkzelt des neuen Yastors. Hirundo schob sich langsam an Grutar heran. »Nun?« fragte er leise. »Was hat es mit
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dem Extortirnser auf sich?« Grutar sah seinen Bruder ernst an. »Erstens gibt es ihn«, sagte er dann leise. »Und zum zweiten hat er mir geraten, diesen Zug zu beginnen.« Hirundo machte ein verwundertes Gesicht. »Du glaubst an diesen Humbug?« fragte er entgeistert. »Du, der immer wieder über den lächerlichen Extortirnser-Aberglauben gelästert hat?« »Ich habe mich überzeugen lassen«, sagte Grutar-Nal-Kart würdevoll. In einiger Entfernung stand der Oberste Thaigoon und sah zu Grutar hinüber. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. Grutar winkte ihn heran. »Ich muß dir Abbitte leisten, Thaigoon«, sagte Grutar. Er sagte es laut genug, daß einige Umstehende es hören können. Das Gesicht des Priesters glänzte vor Zufriedenheit. »Ich habe den großen Götzen unseres Volkes gesehen, und ich weiß nun, daß es ihn gibt. Er läßt dir, Thaigoon, aber sagen, daß er künftig nur den amtierenden Yastor zu sehen wünscht – und niemand sonst.« Schlagartig veränderte sich der Gesichtsausdruck des Thaigoons und wurde zu einer Grimasse der Wut und des Hasses. Grutar hatte ihn mit dieser Entscheidung völlig entmachtet – jedenfalls vorläufig.
* Grutar sah zur Seite, wo sein Bruder ritt, und er lächelte verhalten. Hirundo fieberte förmlich, er konnte sich kaum ruhig im Sattel halten. Nun, das war erklärlich. Die Felsenstadt lag nur wenige Reitstunden voraus. »Beherrsche dich«, sagte Grutar sanft. »Es ziemt sich nicht für einen Ratgeber des Yastors, solche Hast und Hektik zu zeigen.« Hirundo zuckte mit den Schultern und seufzte leise. Grutar sah über die Schulter hinweg nach seinen Männern. Der Zug war beeindruckend. Mehr als fünfzehnhundert Zeltschaften folgten dem
Thaigoon, und Grutar wußte, daß die Zahl der Krieger in den nächsten Tagen noch einmal um diesen Betrag anwachsen würde. Dreißigtausend Mann, dazu an die hunderttausend Tarpane. Es würde eine prächtige Jagd werden. »Wie lange willst du dich in der Stadt aufhalten?« wollte Hirundo wissen. »Nicht länger als nötig«, sagte Grutar. »Zwei, höchstens drei Tage.« Hirundo machte ein sehr enttäuschtes Gesicht. »Nicht länger?« »Es ist schwer, dreißigtausend Mann im Lager bei Laune zu halten«, sagte Grutar ruhig. »Das einzige, was den Leuten Abwechslung bringen kann, ist die Jagd. Sie warten ein ganzes Jahr darauf – und wir würden ebenso handeln, hätten wir nicht gewonnen. Oder irre ich mich?« Hirundo schüttelte den Kopf. »Trotzdem«, sagte er schmollend. Er ließ seinen Tarpan ein wenig zurückfallen. Hirundo dachte – natürlich – an die Tempel der Zusammenkunft, die es in den Felsenstädten gab. Sie waren wenigen vorbehalten; es gab strenge Regeln – nur der Yastor war von diesen Vorschriften befreit. Beim Gedanken an die Tempel der Zusammenkunft beschlich auch Grutar ein seltsames Gefühl. Er hatte noch nie einen Tempel von innen gesehen und wußte daher nicht einmal annähernd, was ihn dort erwartete – und was man von ihm erwartete. Was er an Lagerfeuern aufgeschnappt hatte, war als Information alles andere als präzise und erschöpfend gewesen. Die meisten Männer sprachen von den Tempeln entweder im Ton der Herablassung, und das waren meistens die, die nur die Mauern zu sehen bekommen hatten; andere, die einen Tempel betreten hatten, ergingen sich in geheimnisvollen Schwärmereien, die nicht minder schwerverständlich waren. Von Barbast-Kas-Nin, der nun wieder als einfacher Krieger im Gefolge Grutars ritt, hatte man gesagt, er sei ein ausgemachter Wüstling gewesen, und niemand hatte genau gewußt, was mit dem Wort ge-
Der Arkonide und der Yastor meint war – die einen hatten es verächtlich, die anderen grinsend anerkennend gemeint. »Wir werden sehen«, murmelte Grutar. Das Wetter war hervorragend, der Jagdteppich war fruchtbar wie selten. Die Leute vom Dscharkin-Fluß hatten wahrscheinlich ebenfalls ein gutes Jahr gehabt, das brachte den Zukahartos reiche Beute – genau das, was ein Yastor brauchte, um seine Stellung zu festigen. Bei diesem Stichwort mußte Grutar an Lyssod denken, seinen Gegner im Kampf um die Würde des Yastors. Auch LyssodFähr-Quel ritt im Gefolge des Yastors; seiner Tapferkeit wegen gehörte er sogar zur Unzerreißbaren Kette, der Leibwache des Yastors. Grutar machte sich keine Illusionen, was Lyssod betraf. Es gab in dieser Auseinandersetzung nur zwei Möglichkeiten – entweder wurde er von Lyssod irgendwann umgebracht, oder er tötete Lyssod. Grutar überlegte, wen er mit der heiklen Aufgabe betrauen konnte, Lyssod zu töten. Für Grutar verstand es sich von selbst, daß er danach auch den Attentäter würde töten lassen müssen. Das Dilemma war, daß er die Ermordung Lyssods einem guten Kämpfer und vertrauenswürdigen Freund übertragen mußte, und Grutar hatte nur wenige Freunde, denen er eine solche Meucheltat zumuten durfte. Grutar bemerkte, daß die Tarpane von sich aus das Tempo erhöhten. Offenbar war man der Felsenstadt näher, als Grutar gedacht hatte. Die Tiere witterten Wasser. »Oy!« rief Grutar und machte eine ausholende, energische Handbewegung. »Vorwärts!« Er rammte seinem Tarpan die Hacken in die Weichen und preschte los. Es tat gut, den Wind über den Schädel streichen zu spüren, das Gefühl der Geschwindigkeit zu genießen. Grutars Tarpan war ein Tier der Sonderklasse, man saß im Galopp darauf wie in einem Sessel. Das Trommeln Tausender Hufe ließ den Boden dröhnen. Das ganze Heer hatte sich
23 in Bewegung gesetzt, ein allgemeines Wettreiten war ausgebrochen. Jeder ritt gegen jeden, die Tarpanburschen natürlich ausgenommen. Sie hatten alle Mühe, die Tiere zu beruhigen, die sie am Zügel führten. Hirundo schloß wieder zu Grutar auf. Er strahlte über das ganze Gesicht. Hirundo war ein vorzüglicher Reiter, und dieser Galopp machte ihm größtes Vergnügen. Von links kam ein anderer Unterführer aus Grutars Leibwache näher. Er und Hirundo führten je drei Tarpane. Auf einem ritten sie selbst, einen besaßen sie zum Wechsel in fliegendem Galopp, und der dritte Tarpan bei jedem der beiden war für den Yastor bestimmt. Grutar lachte breit und winkte Hirundo heran. Sofort schloß der Bruder eng auf. Ein Satz genügte, um Grutar von einem Sattel in den nächsten zu bringen. »Jetzt du!« schrie Grutar. »Wir wechseln um die Wette!« Hirundo grinste breit. Dies war eine gute Gelegenheit, dem Heer zu zeigen, aus welchem Holz der neue Yastor geschnitzt war. Der Wechsel von einem Tar-pan zum anderen war normalerweise sehr leicht; die Kinder übten diesen Trick bereits. Die Sache sah aber anders aus, wenn drei Männer gleichzeitig auf den sieben zur Verfügung stehenden Tieren hin und her sprangen. Sehr leicht konnte es zu einem Zusammenstoß kommen. Wer aber vom Tarpan fiel, war unrettbar verloren – hinter den drei tollkühnen Reitern an der Spitze preschte eine Armee von hunderttausend Tarpanen in vollem Galopp über den Jagdteppich. Wer unter diese Hufe geriet, war im Bruchteil eines Herzschlags zermalmt. Grutar lachte aus vollem Herzen, während er mit Hirundo und dem Leibwächter immer wieder die Tarpane tauschte. Ein Wagnis dieser Art war ganz nach seinem Herzen. Und dann entschloß er sich, dem Heer noch ein weiteres Schauspiel zu bieten. Er wußte, daß jeder ihn sah, und was er in die-
24 sen Stunden tat, das würde seinen Ruf bei den Zukahartos bestimmen. »Genug!« rief Grutar. »Haltet ein.« Dem Leibwächter kam dieses Kommando gerade recht, er war sichtlich erschöpft; Hirundo hätte am liebsten weitergemacht, das war ebenso deutlich. Grutar ließ sich im Sattel nach hinten gleiten, bis er am Ende des Tarpans saß. Die Hände hatte er um das Sattelhorn gekrallt. Dann ließ er sich zur Seite fallen. Ein Aufschrei ging durch das Reiterheer. Auch damit hatte Grutar gerechnet. Seine Füße berührten für einen kurzen Augenblick den Boden, dann riß ihn der Schwung des galoppierenden Tarpans wieder in die Höhe. In einem gekonnten Bogen schwang Grutar in den Sattel zurück, dann ließ er sich auf der anderen Seite abrutschen. Als er den frenetischen Jubel hinter sich hörte, wußte Grutar-Nal-Kart, daß er sein Spiel gewonnen hatte. Noch einmal vollführte er das Kunststück, für das er lange und schmerzhaft geübt hatte, dann blieb er im Sattel sitzen. »Wo hast du das gelernt?« fragte Hirundo fassungslos. Grutar lächelte, vergnügt, aber außer Atem. »Zwischendurch«, sagte er keuchend. »Und wie du sehen kannst – man kann solche Kunststückchen ab und zu brauchen.« »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagte der Gardist. »Ich habe große Angst um dich gehabt, Yastor.« »Das ehrt dich«, gab Grutar zurück. Er sah zur Seite und lächelte. »Versuche es nicht, Bruder«, warnte er Hirundo. »Nicht hier und jetzt. Die Gefahr ist zu groß.« »Ich habe keine Angst«, versetzte Hirundo empört. »Das weiß ich«, erwiderte GrutarNal-Kart. »Aber du weißt noch nicht, wo die Grenze liegt zwischen Mut und Tollkühnheit. Ichhabe lange gebraucht, dieses Kunststück zu üben.« »Wenn du meinst«, gab Hirundo zurück.
Peter Terrid Gänzlich zufriedengestellt war er nicht, das war seiner Stimme deutlich anzuhören. »Die Stadt kommt in Sicht«, sagte der Gardist. »Soll ich voranreiten und den Einwohnern melden, daß der Yastor kommt?« Grutar parierte seinen Tarpan durch. Mit einer Handbewegung gebot er auch dem Heer Halt. Die Führer der Tausendschaften preschten heran. »Wir lagern hier!« bestimmte Grutar. »Baut die Zelte auf, gebt den Tieren zu fressen und zu saufen.« Die Tausendschaftsführer rissen ihre Tarpane herum und jagten zum Heer zurück, aus dessen Reihe sich langsam der besondere Troß löste, der einzig zur Bedienung des Yastors bestimmt war. »Ich will sehen, was in der Stadt geschieht«, sagte Grutar. »Keine Meldung an die Bewohner.« Er deutete der Reihe nach auf ein Dutzend seiner Leibwachen, darunter auch Lyssod. »Ihr werdet mich begleiten, du ebenfalls, Hirundo!« sagte Grutar. Der kleine Trupp setzte sich in Marsch. Grutar achtete darauf, welche Position Lyssod einnehmen würde. Grutar hatte keine Ordnung bestimmt, jeder konnte sich seinen Platz suchen, wo es ihm gefiel. Lyssod suchte weder Grutars Nähe, noch mied er sie in auffälliger Weise. Er benahm sich wie jeder andere Gardist, und das gab Grutar besonders zu denken. Er war auf der Hut.
6. Der Spaß war wirklich prächtig, jedenfalls für die Zukahartos. An Kampf war nicht zu denken. Man hatte sich auf uns gestürzt, uns überrumpelt und erneut gebunden. Jetzt standen wir auf der Savanne vor der Felsenstadt, weit genug entfernt, um den Reitern Raum zu geben, nahe genug, um die Einwohner von den Dächern herab gut sehen zu lassen. Man hatte uns Messer gegeben; sie waren sogar recht scharf. Wir durften auch unsere
Der Arkonide und der Yastor Arme bewegen, ja, wir durften sogar ein Stück weit gehen – aber nicht sehr weit, denn an den Knöcheln unserer Füße – jeweils am rechten Fuß – saß die Schlinge einer zehn Meter langen Lederschnur, die am anderen Ende an einem in den Boden gerammten Pfahl befestigt war. Die Pfähle hatte man sorgsam so in den Boden geschlagen, daß zwischen uns dreien genügend Raum blieb – wir konnten uns selbst mit weit ausgestreckten Armen nicht berühren. Die Distanz betrug nur Zentimeter, aber sie genügte. Der Spaß bestand darin, daß einzelne Zukahartos auf ihren flinken Reittieren herangesprengt kamen und versuchten, uns den Garaus zu machen. Einige versuchten es mit eingelegten Lanzen, andere mit Wurfspeeren, wieder andere rückten uns mit Schwertern zu Leibe. Die Mehrzahl versuchte uns aufzuspießen, und wenn wir diesem Schicksal entgehen wollten, mußten wir die abenteuerlichsten Bocksprünge vollführen. Dabei mußten wir zusätzlich aufpassen, uns nicht in den Leinen zu verheddern – die Reiter kamen in genau berechneter, dichter Folge, und wer nicht binnen weniger Augenblicke wieder auf den Beinen stand, bereit zu einem neuen Satz, der lag gewiß einen Herzschlag später im Sand. »Wenn ich einen von diesen Burschen zu fassen bekomme«, brüllte Razamon wütend. »Er wird diesen Tag nicht vergessen!« Vorläufig sah es nicht danach aus, als wäre einer von uns in der Lage, den Zukahartos einen Denkzettel zu verpassen. Im Gegenteil, es waren die Nomaden, die uns das Fürchten zu lehren suchten. Ab und zu, wenn ich für ein paar Atemzüge Ruhe hatte, sah ich zu Grizzard hinüber. Er hielt sich prächtig, aber es war nicht zu verkennen, daß er sich erheblich mehr anstrengen mußte, um dem Tod zu entgehen. Sinclair Marout Kennon war sehr glücklich gewesen, diesen Körper zu besitzen; jetzt aber sah es aus, als würde aus dem biologischen Präzisionsinstrument ein lebendes
25 Wrack. Noch war der Effekt nur in den Ansätzen zu erkennen, aber wer Grizzard genau beobachtete, sah die leise Unsicherheit, die vielen seiner Bewegungen anhaftete. Immerhin, noch vermochte er sich gegen die Zukahartos zur Wehr zu setzen, und das allein zählte. Wieder jagte einer der Reiter auf mich zu, die Lanze gefällt. Sie waren prachtvolle Reiter, diese Zukahartos, und daß sie noch keinen von uns richtig getroffen hatten, lag nicht zuletzt daran, daß sie dieses grausige Spiel bestens beherrschten und möglichst in die Länge zu ziehen suchten. Der Reiter war nur noch ein paar Dutzend Schritte von mir entfernt, als ich mich zu einem überaus gewagten Manöver entschloß. Dieser Trick konnte sehr leicht ins Auge gehen, aber er bot eine Chance. Ich wartete, bis der Reiter nahe genug heran war. Dann warf ich mich wieder einmal mit aller Kraft zur Seite – dieses Mal aber nicht von dem Reiter weg, sondern vielmehr auf ihn zu. Ich sah noch, wie der überraschte Zukaharto die Lanze nach links schwenkte, dorthin, wo ich normalerweise mit meinem Satz gelandet wäre. Das nächste, was ich zu sehen bekam, waren die heranjagenden Hufe des Reittiers. Der Trick gelang. Die Tarpane der Eingeborenen zeigten die gleiche Scheu, auf lebende Körper oder gar Leichen zu treten wie irdische Pferde. Der Tarpan ging hoch, bäumte sich auf, und begleitet vom Schrei der Menge stürzte der Reiter aus dem Sattel und krachte auf den Boden. Noch während das Tier in die Höhe stieg, hatte ich mich zur Seite gerollt. Jetzt kam es darauf an, schneller zu sein als der Reiter – und vor allem nicht von dem um sich schlagenden Tarpan getroffen zu werden. Beides gelang mir. Der Reiter lag halb betäubt am Boden. Es war nicht schwer, ihn mit zwei weiten Sätzen zu erreichen. Ein Handkantenschlag setzte ihn vollends außer Gefecht. »Bravo!« schrie Razamon.
26 Ich mußte mich höllisch beeilen. Zwei weitere Zukahartos galoppierten auf mich zu. Ursprünglich hatten sie Razamon und Griz-zard angreifen wollen, waren dann aber zu der Einsicht gekommen, daß es besser war, mir den Garaus zu machen. Einen der beiden konnte ich Razamon überlassen. Ich sah, daß der Pthorer sein Messer zum Wurf vorbereitete. Ich konnte mich darauf verlassen, daß er seinen Mann traf. Ich riß meinem betäubten Gegner die Lanze aus den Händen. Da ich nicht vorhatte, zu töten, drehte ich die Lanze so, daß das stumpfe Ende in die Höhe ragte. Der Reiter kam heran. Nun, sollte er es nur versuchen. Ich hatte schon weit bessere Reiter als die Zukahartos aus den Sätteln geholt. Dies war beileibe nicht die erste Kavallerieattacke meines Lebens. Der Angriff der beiden Zukahartos schlug fehl. Der eine stürzte zu Boden, als ihn meine Lanze aus dem Sattel hob; der andere landete unmittelbar vor meinen Füßen, in der Schulter stak Razamons Messer. Ich gab dem Zukaharto eins mit der Lanze über den Schädel, und er brach sofort zusammen. Ich zog das Messer aus der Wunde und warf es Razamon zu. Schlagartig hatte sich unsere Lage verbessert. Während die Nomaden noch genug damit zu tun hatten, die letzten Kämpfe zu diskutieren, sorgte ich dafür, daß die Waffen unserer Gegner auf uns verteilt wurden. Mit Schwertern und Lanzen ließ sich schon erheblich mehr anfangen als mit den Messern. »Nachschub!« schrie Razamon voreilig. »Wo bleiben eure wackeren Krieger?« Das wütende Gemurmel der Menge wurde lauter. »Reize sie nicht unnötig«, riet Grizzard, noch bevor ich Razamon mit dem gleichen Ratschlag bedenken konnte. »Na wenn schon«, sagte Razamon. Dann sahen wir, daß die Zukahartos zum letzten Angriff ansetzten. Sie hatten offenkundig vor, uns keine Chance mehr zu ge-
Peter Terrid ben. Knapp fünfhundert Meter vor uns formierte sich eine Reihe, drei Glieder tief, fünfzig Glieder breit, die Lanzen eingelegt. Dann setzte sich diese Phalanx zu Pferde in Bewegung. »Haltet die Lanzen in der rechten Hand«, rief ich meinen beiden Gefährten zu. »Und dann, wenn sie heran sind, müßt ihr blitzschnell wechseln. Ihre linke Seite ist ungedeckt.« »Glaubst du noch an eine Chance?« Ich fand keine Zeit, auf Razamons Frage zu antworten. Sie donnerten heran, umweht von einer immer größer werdenden Staubwolke. Der Boden dröhnte unter dem Tritt der Tarpane. »Jetzt!« schrie ich. Wir hatten nur den Bruchteil einer Sekunde, aber die Zeit reichte. Ein Schritt zur Seite, die Lanze gewechselt, und dann nach vorne geworfen, um den Anprall aufzufangen. Die Zukahartos wurden überrascht. Drei ihrer Reiter wurden aus den Sätteln gehoben, gerieten zwischen die Beine der Tarpane. Die Tiere scheuten, bäumten sich auf und warfen weitere Reiter ab. Ich schlug mit der weitreichenden Lanze auf alles ein, was in meine Reichweite geriet. Als das Holz zerbrach, griff ich nach dem erbeuteten Schwert. Ein Hieb, und die lederne Fessel war durchtrennt. Ich war wieder frei. Frei, mich in das Getümmel zu stürzen oder davonzulaufen. An Flucht war nicht im Ernst zu denken, dafür war das Chaos zu groß. Es gab nur eines, was ich tun konnte – meine Haut so teuer wie möglich verkaufen. Das erwies sich als leicht gesagt, leichter als in die Tat umgesetzt. Wir staken in einem Gewirr aus Zukaharto- und Tarpan-Leibern, in einem wirren Knäuel aus sich bewegenden Gliedmaßen. Die Tar-pane traten und bissen in ihrer Not, die Zukahartos schrien, brüllten, stöhnten oder jammerten und schlugen auf alles ein, was in ihren Gesichtskreis kam, gleichgültig, ob es sich dabei um Freund oder Feind,
Der Arkonide und der Yastor Tarpan oder Zukaharto handelte. Ich schlug mit der flachen Klinge, ich wollte kein Blut vergießen, und als ich mitten im Getümmel eine Keule fand, ließ ich das Schwert fallen und drosch mit der Keule auf jeden kahlen Schädel ein, den ich zu sehen bekam. Der Kampf konnte nicht sehr lange dauern, das stand fest. Früher oder später mußte sich das Gewirr lichten. Tarpane galoppierten davon, Zukahartos rollten sich aus der Gefahrenzone. Das Kampffeld begann immer übersichtlicher zu werden. Ich ließ meine Keule auf einen Schädel herabsausen. Der Getroffene brach lautlos zusammen. Und auch um mich herum war es still geworden. Ich sah auf. Sie hatten uns umringt, jeder trug ein Schwert in der Hand. In den Gesichtern der meisten Zukahartos stand nackte Mordlust geschrieben. Und dann gellte aus dem Hintergrund eine Stimme: »Macht sie nieder, erschlagt die Fremden!« Der Ring um uns wurde enger und enger. Ich hatte keine Lust zu warten, bis wir kein Glied mehr rühren konnten. »Es gibt nur eines«, sagte ich halblaut. Mein Atem ging hörbar, mein Körper war schweißbedeckt, und auf dem Schweiß klebte der Staub. »Drauf und dran, bis zum Ende.« »Mir nach!« schrie Razamon. Er stürzte nach vorne, auf die Reihen der Schwertträger zu. Ein letztes Mal entbrannte der Kampf. Er mußte bald ein Ende finden, wir waren erschöpft, und ich machte mir keine Illusionen, wie dieses Ende aussehen mußte. Metall klirrte auf Metall, und nach kurzer Zeit floß das erste Blut. Ich wurde leicht an der Schulter verwundet. Der Schmerz war nicht sehr groß, ich nahm ihn im Eifer des Gefechtes zunächst kaum wahr. Aber er gab mir noch einmal die Kraft zum Kampf.
27 Nun, da klargestellt war, daß Blut fließen mußte, war mir jedes Mittel recht, das mir helfen konnte. Ich legte alle Kraft in meine Schwerthiebe, und einige Schritte entfernt konnte ich Razamon toben hören. Wir waren ein wenig größer als die Zukahartos und körperlich entschieden kräftiger. Wuchtig fielen unsere Hiebe, und sie schufen uns Raum. Ich trieb einen überaus gewandten Zukaharto vor mir her und setzte ihn mit einem Schlag gegen die Waffe außer Gefecht. Die Wucht meines Hiebes trieb dem Mann die eigene Klinge ins Fleisch. Er schrie auf und ließ sich fallen. Der nächste. Ein Schlag gegen den ledernen Schild, der unter der Wucht des Hiebes birst. Ein Schlag auf die Kante des Schildes, der sofort aufklafft. Dann ein Hieb auf den ledernen Helm, der Gegner fällt nach hinten. Eine Kreisbewegung, wie eine Sichel fährt die Klinge durch die Luft, zwei weitere Angreifer werden verletzt, lassen die Waffen fallen und taumeln zurück, die Hände vor den Leib gepreßt, und zwischen den Fingern quillt Blut. Schweiß strömt über meinen Körper, rinnt mir über das Gesicht, brennt in den Augen, in den kleinen Wunden und Schrammen, und im Arm wütet der Schmerz der Müdigkeit. Ein Hieb läßt eine Lanze zerspellen, ein anderer schlägt einem Angreifer die Waffe aus der Hand. Eine unbewußt ausgeführte, blitzschnelle Bewegung lenkt mit einem Schwerthieb ein Messer im Flug aus der Bahn. Hinter mir greift sich ein Zukaharto an die Schulter. Und noch hat der Kampf kein Ende, er wird fortgeführt bis zum unausweichlichen Ende, bis der müde Arm das Schwert nicht mehr in die Höhe bekommt, bis sich kalter Stahl ins eigene Fleisch bohrt oder ein Schlag auf den Kopf allem Denken, Fühlen und Schmerz ein Ende bereitet. Der Schlag bleibt aus. Statt dessen schrillt eine Fanfare über das Feld. Die Zukahartos halten ein. Wieder erklingt die Fanfare, schauerlich schlecht geblasen. Die Zukahartos weichen zurück. Der
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Kampf ist aus.
* Wir drängten uns zusammen. Grizzard blutete aus einer Beinwunde, Razamon hatte eine unbedeutende Stirnverletzung, die aber wie alle Wunden dieser Art grauenerregend blutete. Unsere Gesichter waren gezeichnet von den Spuren der Kämpfe, bedeckt von Schweiß, von Blut – eigenem wie fremdem – und vom Sand der Walstatt. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Grizzard schweratmend. Ich zuckte mit den Schultern. Die Wunde hatte ich dabei vergessen, und der Schmerz entlockte mir ein Stöhnen. »Wir werden sehen«, sagte ich. Ich sah mich um. Wer auch immer kam und offenbar über sehr schlechte Musiker gebot, die Zukahartos hatten einen Höllenrespekt vor diesem Jemand. Sie ließen uns in Ruhe und nahmen Haltung an. Mit großer Geschwindigkeit formierten sie ihre Abteilungen, und selbst die Verletzten sahen zu, daß sie ihren Kameraden folgten. Dann konnten wir den Ankömmling sehen. Es war eine Gruppe von Zukahartos auf ihren Tarpanen; auf den ersten Blick war nichts Besonderes zu erkennen. Dann aber fiel mir auf, daß die Gruppierung der Reiter eine gewisse Rangordnung erkennen ließ. Offenbar näherte sich ein Fürst der Zukahartos der Felsenstadt. Ob das für uns gut war oder schlecht, mußte sich erst noch herausstellen. Der Trupp hielt in unmittelbarer Nähe des Kampfplatzes, der auf den ersten Blick zu erkennen war. Wir hielten unsere Schwerter und Keulen in der Hand. Wir waren bereit, den Kampf sofort wieder aufzunehmen. Derjenige, in dem ich den Anführer vermutete, trieb sein Tier dicht an mich heran. Er wirkte erstaunlich jung, ein kräftiger Bursche, der ein erstaunlich wenig geschmücktes Tier ritt. Neben ihm war ein anderer Zukaharto zu erkennen, den Gesichtszügen
nach zu schließen der jüngere Bruder des Anführers. Er machte in der gesamten Gruppe den intelligentesten Eindruck. Der Rest war offenbar Leibwache, darunter einige Schlagetots, vor denen man sich in acht zu nehmen hatte. »Laßt die Waffen unten«, sagte ich halblaut. »Wir wollen den Mann nicht provozieren.« Aus dem Hintergrund schob sich der Chef der Stadt nach vorn, sichtlich nervös und sichtlich verärgert, daß er uns wider Willen präsentieren mußte. »Herr«, sagte das Oberhaupt der Stadt. »Was verschafft …« »Ich bin der neue Yastor«, unterbrach ihn der Fürst. »Und ich will wissen, was das zu bedeuten hat.« Ich sah, wie der Chef der Stadt schluckte. Durch die Reihen der Stadtbewohner ging ein Raunen. Mühsam nach Worten suchend, erklärte man dem neuen Yastor, was sich zugetragen hatte. Unser Freund, der Stadtkommandant, sparte dabei nicht an Lügen und Verleumdungen. Als er geendet hatte, wandte sich der Yastor an mich. »Stimmt das?« »Nur teilweise«, antwortete ich ruhig. Der Yastor sah mich mit ausdruckslosem Gesicht an. Im Hintergrund erkannte ich, daß sich ein ganzes Heer heranschob, mindestens ein paar tausend Mann. Die Lage wurde immer verwickelter. »Nun«, sagte der Yastor. »Was die Zurückgebliebenen nicht schaffen, das müßte eigentlich das Heer erreichen können.« »Herr«, mischte sich einer seiner Begleiter. »Laßt mich das machen.« Ohne sich umzuwenden, sagte der Yastor: »Meinetwegen, Lyssod. Aber wahre deinen Namen.« Während der Zukaharto namens Lyssod vom Tarpan stieg, musterte mich der Yastor. Ich glaubte, in seinen Zügen so etwas wie stille Schadenfreude entdecken zu können. Ich begriff. Der Mann hatte mit List er-
Der Arkonide und der Yastor reicht, daß ich mich mit einem Gegner messen mußte, der dem Yastor aus irgendwelchen Gründen nicht gefiel. Wahrscheinlich war mir der Reiterfürst außerordentlich dankbar, wenn ich seinem heimlichen Feind das Gesicht auf den Rücken drehte. Lyssod war ein Bulle von einem Mann, stark und gewandt. Und er war frisch und ausgeruht. Wieder wurde ein Kampfplatz freigegeben, aber diesmal standen nicht Alte und Jünglinge um uns herum – diesmal wurden wir von einer Armee eingekreist. »Wie willst du sie töten?« fragte der Yastor lächelnd. »Mit Schwert, Speer und Messer. Ihn mit dem Speer, diesen mit Schwert und Messer, und diesen da werde ich erwürgen.« Dieser da war ich. Lyssod hatte sich allerhand vorgenommen. »Mit wem willst du beginnen?« Ich hatte es befürchtet, konnte aber nicht eingreifen. Lyssod griff nach seinem Speer und ließ die Spitze auf Grizzard zeigen. »Keine Sorge«, sagte Grizzard. Ich hörte der Stimme an, wie ausgelaugt Grizzard war. Dieser Kampf war kein ehrliches Gefecht, es war ein Abschlachten. Ich sah, wie Grizzard schwankte, und öffnete den Mund, um gegen diesen ungleichen Kampf zu protestieren. In diesem Augenblick schickte Lyssod das todbringende Geschoß auf die Reise. »Volltreffer«, sagte der Extrasinn im voraus. Der Extrasinn irrte sich. Noch einmal nahm Grizzard alle Kräfte zusammen, noch einmal spornte Sinclair Marout Kennon seinen Gastkörper zu höchster Leistung an. Der Speer kam herangeflogen, und Grizzard rührte sich nicht. Er streckte nur den rechten Arm aus. Das Kunststück hatte ich schon einige Male in meinem langen Leben gesehen, aber noch nie mit dieser vollkommenen Ruhe und Sicherheit. Grizzard fing den Speer im Flug auf. Die Spitze kam unmittelbar vor seiner Brust zum
29 Stillstand. Totenstille unter den Zukahartos. Von Grizzards Lippen ein leises Seufzen. Ein Schritt zurück, den Speer gedreht, dann ruckte Grizzards Arm nach vorn. Er traf.
7. Das Gelage war in vollem Gang. Die meisten Gäste lagen bereits sinnlos betrunken am Boden. Die Zukahartos brauten aus unbekannten Ingredienzien ein alkoholisches Getränk, das es wahrhaft in sich hatte. Und sie besorgten ihre Gelage mit der gleichen Gründlichkeit, mit der sie ihre Tarpane zuritten. Im großen Prunkzelt des Yastors gab es nur vier Personen, die nicht völlig berauscht waren. Diese vier Personen waren der Yastor und sein Bruder Hirundo, Razamon und ich. Uns war sogar verboten worden, von dem Schnaps zu trinken, der dem Geruch nach zu schließen aus Tarpanmilch gewonnen wurde. Razamon und ich waren im Dienst – als Leibwächter des Yastors. Der dritte im Bunde, Grizzard, durfte seine Erschöpfung ausschlafen. Er hatte sie bitter nötig. In dem Augenblick, in dem sein Speer Lyssod durchbohrt und getötet hatte, war Grizzard zusammengebrochen. Seither lag er auf weichen Polstern und schlief. Razamon und ich waren unterdessen zu Leibwachen des Yastors erkoren worden. Dieser Aufstieg war nur begrenzt als Ehre anzusehen, denn Grutar hatte uns bereits verkündet, daß er in absehbarer Zeit zu einem Kriegszug aufzubrechen gedachte – und daß er ebenfalls gedachte, sich in keiner Weise beim Kämpfen zurückzuhalten. Das bedeutete, daß er einen beachtlichen Verschleiß an Leibgardisten haben würde – mit uns an der Spitze. Vorläufig war uns das gleichgültig. Wir waren am Leben, man hatte uns zu essen gegeben, zu trinken, warme Kleidung, ein eigenes Zelt. Was wollte man mehr in unserer
30 Lage? »Fällt dir etwas auf?« fragte Razamon. Ich nickte. »Es gibt keine Frauen«, sagte der Pthorer. »Nicht im Zelt und nicht im Lager.« Was das bedeutete, lag auf der Hand. Es gab da ein Geheimnis, was die Frauen betraf – und dieses Geheimnis war derart wichtig, daß nicht einmal der Yastor Frauen in seinem Zelt haben durfte. Leicht schwankend stand Grutar-Nal-Kart auf. Er grinste in der typischen selbstgefälligen Art der Betrunkenen. »Ich werde euch nun verlassen, meine Freunde«, verkündete er, und sein Grinsen ließ keine Zweifel offen, wohin er zu gehen gedachte. »Auch du, Hirundo, wirst hier bleiben müssen – wenigstens heute.« Razamon und ich hatten die Hände an den Schwertknäufen. Aufrecht standen wir neben dem Yastor und starrten unverwandt nach vorn, obwohl in dem verräucherten Zelt kaum noch etwas zu erkennen war. Die Situation war von bösartiger Ironie: Ich hatte früher Schlachtflotten kommandiert, schwere und schwerste Einheiten durch die Galaxis geführt … und jetzt tat ich Dienst als Leibwächter eines Nomadenfürsten, der weder lesen noch schreiben konnte. Ist das seine Schuld? fragte der Logiksektor trocken. Oder dein Verdienst, daß du zum Ausfechten von Zwistigkeiten Atombomben gebraucht hast? Grutar schnippte mit den Fingern. Das galt uns. Wir sahen ihn an. »Ihr kommt mit«, entschied der Yastor. »Eure Konkurrenz brauche ich wohl nicht zu fürchten, hehehe.« Die Meute fiel in das meckernde Gelächter ein. Grutar stieg die wenigen hölzernen Stufen hinab, die seinen Thron über die Bänke seiner Untertanen erhoben. Razamon und ich folgten. Dabei bemühten wir uns, so ernsthaft und gelassen wie möglich auszusehen. Die vielen scheelen Blicke, die man uns zugeworfen hatte, waren mir nicht entgangen. Es gab etliche Zukahartos, die uns lieber tot gesehen hätten.
Peter Terrid Im Augenblick aber waren wir nicht gefährdet. Wir standen im Schutz des Yastors, und die Zukahartos dachten im Augenblick an ganz andere Dinge. Die Blicke, mit denen Grutar auf seinem Weg verfolgt wurde, waren neiderfüllt und gierig. Es tat gut, die klare Luft im Freien einzuatmen. Grutar hingegen machte der plötzliche Sauerstoffüberfall ein wenig Schwierigkeiten. Er begann zu taumeln. Er wäre der Länge nach hingeschlagen, hätten Razamon und ich ihn nicht aufgefangen. »Wohin, Herr?« fragte ich eilfertig. Grutar konnte nur noch lallen. Wenn ich ihn richtig verstand, wollte Grutar zu einem Tempel der Zusammenkunft geführt werden, und er war auch noch nüchtern genug, uns den Weg zu weisen. Ihn ohne fremde Hilfe zu gehen, war er nicht mehr imstande, also faßten wir den Yastor unter den Armen und trugen ihn zu seinem Bestimmungsort. Der Weg war recht weit. Der Tempel lag am höchsten Punkt der Siedlung, bereits im Gebirge. Der Weg war steil und beschwerlich, und während wir uns in die Höhe arbeiteten, hatte ich immer wieder das Gefühl, von irgend jemand beobachtet zu werden. Es war still in der Felsenstadt, nur aus den Zelten der Krieger ertönte ab und zu Lärmen. Die meisten Soldaten schliefen bereits. »Wer kommt?« Es war eine klare Frauenstimme, die das fragte. Ich hatte mich nicht geirrt, es gab Zukaharto-Frauen, und sie lebten in den Tempeln der Zusammenkunft. »Der Yastor«, antwortete ich. »Grutar-Nal-Kart.« »Kommt näher«, sagte die Frau. Ich entdeckte Fackelschein voraus. Auf dieses Licht hielten wir zu. Es entpuppte sich als kunstvoll aus Bronze geschmiedete Laterne, die einen metallbeschlagenen Torbogen beleuchtete. Darin standen drei Frauen, deren Bewaffnung eindrucksvoll war. Die Gesichter deuteten an, daß diese Frauen sehr wohl wußten, wie man mit Schwert und Dolch hantierte.
Der Arkonide und der Yastor »Wer seid ihr? Die Fremdlinge?« »Wir sind es«, bestätigte ich. Grutar war unfähig, auf die Fragen zu antworten. Er war während des Transports eingeschlafen. Die Frauen waren nach den Maßstäben der Zukahartos jung und recht attraktiv. Anders als ich erwartet hatte, machten sie keinen unterwürfigen Eindruck – die Assoziation mit einem orientalischen Harem hatte sich geradezu aufgedrängt. »Wir bringen den Yastor hinein«, sagte ich. »Das geht nicht«, erwiderte die Frau und hob abwehrend die Hand. »Nur der Yastor darf den Tempel betreten, niemand sonst darf über die Schwelle.« Ich sah auf Grutar, der schlaff in unserem Griff hing. »Der Yastor ist außerstande zu gehen. Kommt und holt ihn.« »Wir dürfen den Tempel nicht verlassen, das ist Gesetz seit ewiger Zeit.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Was war nun zu tun? »Können wir den Yastor auf der Schwelle absetzen?« Eine Pause entstand, dann sagte die Frau: »Bringt ihn her, aber wagt es nicht, den Fuß über die Schwelle zu setzen. Es wäre euer sicherer Tod.« Wir machten uns daran, diesen Vorschlag in die Tat umzusetzen. Grutar bekam von alledem nicht viel mit, er schnarchte leise. Mit vereinten Kräften wuchteten wir Grutar auf die Schwelle des Tempels. Wir stellten ihn auf die Füße und ließen ihn los. Während wir zwei Schritte zurück machten, fingen die Frauen den nach vorne kippenden Yastor auf und trugen ihn ins Innere des Tempels. »Ihr seid entlassen«, sagte die Anführerin. »Geht!« Wir machten kehrt und gingen den Weg zurück, den wir gekommen waren. Nach kurzer Zeit aber machte ich halt. Das also war ein Tempel der Zusammenkunft, ein ziemlich hochtrabender Name für ein Frauen-Wohnheim. Ich hatte im Lauf des Tages einiges über die Tempel erfahren,
31 deren es in jeder Felsenstadt einen gab. Die gemeinen Soldaten redeten von den Tempeln und ihren Bewohnerinnen im Ton größter Ehrfurcht; man hätte glauben können, dort lebten Göttinnen. Die Edlen der Zukahartos aber, die wir im Zelt des Yastors kennengelernt hatten, schlugen ganz andere Töne an. Was war von diesen Erzählungen wahr? Und warum wurde um die ZukahartoFrauen ein solcher Wirbel gemacht? Ich besprach die Angelegenheit mit Razamon. »Hm«, sagte der Pthorer nach einigem Nachdenken. »Genaugenommen haben wir andere Dinge zu tun, als uns um Frauenhäuser zu kümmern. Auf der anderen Seite können wir es uns kaum leisten, irgendein Geheimnis von Wichtigkeit ungelüftet zu lassen. Ich nehme an, du willst dir auch den sagenumwobenen Extortirnser ansehen.« »Ganz bestimmt«, sagte ich. Wir kehrten um, zurück zum Tempel der Zusammenkunft. Natürlich waren wir nicht so dumm, uns den Eintritt erzwingen zu wollen. Wir versuchten es auf anderen Wegen. Ich hatte an einem Felshang Licht gesehen, einen gelblichen Schein, der aus einem Loch im massiven Fels zu fallen schien. Daß der größte Teil des Tempels in den Felsen hineingearbeitet worden war, lag auf der Hand. Vielleicht hatte man auch eine bereits vorhandene Höhlung zu diesem Zweck ausgebaut. Ich deutete auf das Licht, hinter dem ich einen Raum vermutete. »Dort hinauf?« fragte Razamon. »Wir sollten es versuchen«, antwortete ich. Das sagte sich leicht. Wir mußten all unsere Kräfte und unsere ganze Geschicklichkeit aufbieten, um diesen Aufstieg ins Werk setzen zu können. Der Fels ragte an dieser Stelle fast senkrecht in die Höhe, und wir mußten höllisch aufpassen, daß wir nicht den Halt verloren. Endlich erreichte ich das Fenster. Es maß knapp zwei Meter im Quadrat, war also groß genug, uns ins Innere zu lassen.
32 Vorsichtig spähte ich über den Rand. Der Raum war leer. Ich sah nur eine kärgliche Pritsche, einen Tisch nebst zwei Stühlen und auf dem Tisch einen Leuchter mit sechs Kerzen. Rasch schlüpfte ich hinein, dann half ich Razamon. »Sieht aus wie die Zelle eines Mönchs«, murmelte Razamon. Ich stoppte. Auf der anderen Seite der hölzernen Tür wurden Geräusche hörbar, Fußtritte, metallisches Scheppern, dann das Klirren von Ketten. Ich gab Razamon einen Wink. Wir stellten uns flach an die Stirnwand des Zimmers. Die Schritte näherten sich, stoppten, dann wurde ein Schlüssel ins Schloß gesteckt. Mir fiel auf, daß es auf der Innenseite der Tür weder Schloß noch Riegel noch eine Klinke gab. Kreischend bewegte sich die Tür in den Angeln. »Vorwärts!« hörten wir eine energische Frauenstimme, dann flog eine Gestalt an uns vorbei und landete dumpf auf dem Boden. Ketten klirrten, dann wurde die Tür wieder geschlossen. Während sich die Schritte langsam entfernten, blieb die Gestalt reglos am Boden liegen. Es war eine Frau, an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt. Ich ging zu ihr hinüber und griff nach ihr. Den fürchterlichen Schrecken, den sie empfinden mußte, als sich in der Einsamkeit der Zelle eine Hand über ihren Mund legte, konnte ich ihr nicht ersparen. Sie hätte möglicherweise geschrien, die Wachen auf uns aufmerksam gemacht und so unseren Tod heraufbeschworen. Ich spürte, wie die Frau zusammenzuckte und dann ganz steif und starr wurde vor Angst. »Wir wollen dir nichts tun«, sagte ich leise. »Du darfst nur nicht schreien.« Ich behielt meine Hand auf dem Mund der Frau, als ich sie langsam herumdrehte. Ihre Augen weiteten sich in panischer Furcht, als sie mich sah. Hinter mir tauchte
Peter Terrid Razamon in ihrem Gesichtsfeld auf, und auch das erschreckte die Frau sehr. Sie rollte mit den Augen, aber sie machte keinerlei Anstalten zu schreien oder mich in die Hand zu beißen. Vorsichtig lockerte ich meinen Griff, jederzeit bereit, den kleinsten Laut zu ersticken. Die Frau holte tief Luft, dann begriff sie, daß ihr von uns keine Gefahr drohte. »Wer seid ihr? Doch nicht die beiden Fremdlinge? Ihr müßt es sein, denn eure Schädel tragen Haare. Was erlaubt ihr euch, hier einzudringen?« Ich versuchte so freundlich wie möglich zu lächeln. »Wir wollten wissen, was es mit den Tempeln der Zusammenkunft auf sich hat, mehr nicht.« Sie sah mich finster an. »In den Tempeln leben wir Frauen«, sagte sie. »Das ist das ganze Geheimnis.« Ich deutete auf die Einrichtung, dann auf ihre Fesseln. »Hat man dich bestraft?« fragte ich. Sie preßte die Lippen aufeinander. »Ja«, sagte sie dann. »Wegen einer Kleinigkeit.« »Was hast du getan?« »Einen Becher Tee verschüttet. Dafür muß ich drei Tage hier büßen.« »Wir könnten dich mitnehmen, wenn du fliehen willst«, sagte ich. Ich wußte selbst nicht, wie ich auf diesen absurden Vorschlag verfallen war. »Mitnehmen? Wohin? Ich will den Tempel nicht verlassen.« »Nicht einmal der Freiheit zuliebe?« Sie runzelte die Stirn. »Fremder«, sagte sie dann. »Du redest irre. Was heißt Freiheit? Ich lebe im Tempel der Zusammenkunft, was will ich mehr?« »Warum hält man euch hier gefangen?« fragte ich. »Ich habe keine einzige Frau auf den Straßen gesehen, nicht einmal im Zelt des Yastors.« »Niemand darf uns sehen«, sagte die Frau. »Auch eure Köpfe sind dem Henker
Der Arkonide und der Yastor verfallen, wenn man euch hier trifft.« »Und dein Kopf?« Die Frau zwinkerte verwundert. »Mein Kopf?« »Wirst du nicht bestraft, wenn man uns hier trifft?« »Selbstverständlich nicht«, sagte die Frau. »Niemand schreibt mir meinen Umgang vor.« »Ich verstehe das nicht«, murmelte Razamon. »Warum trägst du Ketten?« »Auf Befehl der Hohen Frauen.« »Wer sind die Hohen Frauen?« »Die Ältesten und Ehrwürdigsten unter uns«, sagte die junge Frau. »Sie haben alle mindestens zwei Mädchen geboren.« Ich starrte sie verblüfft an. »Mädchen?« Die Auskunft war hochgradig verworren. Die Zukahartos waren ganz eindeutig eine männerorientierte Gesellschaft, wie man es bei einem kriegerischen Nomadenvolk erwarten durfte. Und bei Nomadenvölkern dieser Art war eine Vorstellung vom Wert der Frau durchaus üblich, die sich auf der Erde kein weibliches Wesen mehr hätte gefallen lassen – meist galten Frauen als eine verbesserte Form von Zucht- und Arbeitstier. Offenbar galten bei den Zukahartos andere Spielregeln. Und mir dämmerte auch, was die Ursache für diese seltsame Sozialordnung war. »Laß mich raten«, sagte ich. »In eurem Volk werden sehr viele Knaben geboren, aber nur sehr wenige Frauen?« Sie senkte beschämt den Kopf, als sei dies ihre Schuld. »So ist es«, flüsterte sie. Jetzt begriff ich die Regeln dieses Spieles. Ursprünglich einmal waren die Zukahartos ein ganz normales Nomadenvolk gewesen. Die Männer hüteten das Vieh und führten mit den Nachbarn Krieg; die Frauen durften das Haus hüten, arbeiten und Kinder gebären. Dann aber waren immer weniger Mädchen geboren worden, und im gleichen Maß, in dem die Zahl der Frauen zurück-
33 ging, nahm ihr Wert in der Zukaharto-Gesellschaft zu. Jetzt hatten die wenigen Frauen … »Wieviel Frauen leben in diesem Tempel?« fragte ich. »Achtundsiebzig, davon sind vierzig noch fähig zu empfangen«, lautete die Antwort. … kein Wunder, daß die Frauen jetzt in den Rang von Göttinnen erhoben worden waren. Von dieser Betrachtung ausgenommen waren nur jene, die schon früher über allen anderen gestanden hatten, der Yastor und seine unmittelbaren Gefährten. »Gefällt dir dieses Leben?« fragte ich die Frau. Sie lächelte zurückhaltend. »Es ist nicht immer schön«, sagte sie. »Aber ich würde nicht tauschen wollen.« Es gehörte viel Pragmatismus dazu, die Sache so zu sehen. Die Frauen durften nur mit auserwählten Kriegern der Zukahartos Umgang haben, und diese Auswahl trafen sie höchstwahrscheinlich nicht selbst. Von einem partnerschaftlichen Geschlechterverhältnis waren die Zukahartos weit entfernt, sie hatten lediglich die veralteten Herrschaftsstrukturen den veränderten Bedingungen ihres Lebens angepaßt. Ich vermutete, daß die Anführerinnen der Frauen in Wirklichkeit einen erheblich stärkeren Einfluß auf die Zukahartos und ihr Leben ausübten als der stolze Yastor und seine Freunde ahnten. »Woher kommt ihr, Fremdlinge?« Ich versuchte, der Frau die Zusammenhänge zu erklären. Es gelang leidlich. Sie verstand, daß es auch noch andere Dinge gab als den Jagdteppich und die Tempel der Zusammenkunft. »Weißt du, Fremder, ein Mittel, das uns helfen kann?« fragte die Frau schließlich. »Irgendwann wird es keine Zukaharto-Frauen mehr geben, und dann wird unser Volk aussterben.« Was sollte ich dazu sagen? Die Zukahartos waren nicht das einzige Volk des Universums, das im Lauf der Geschichte verschwunden war. Wer trauerte heute noch auf
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der Erde den Sumerern nach, den Hethitern oder anderen hochzivilisierten Völkern des Altertums? Niemand. Sie waren im Lauf der Jahrhunderte in anderen Völkern aufgegangen, und nur ein paar Züge ihrer Kultur waren weitergegeben worden. »Ihr müßt der Natur vertrauen«, sagte ich. »Ihre Entscheidung kann niemand umstoßen.« Eine andere Antwort verbot sich von selbst. Es wäre grausam gewesen, der Frau zu erklären, daß es zwar mögliche Hilfsmittel der Medizin und Erbbiologie gab, daß aber diese Mittel für ihr Volk unerreichbar waren. Die Frau sah zum Fenster. »Es wird besser sein, wenn ihr bald geht«, sagte sie. »Es wird bald dämmern, und wenn der Yastor seinen Rausch ausgeschlafen hat, wird er sich hier umsehen wollen.« »Wir können nichts für dich tun?« fragte ich die Frau. Sie sah nach irdischen Maßstäben überaus fremd aus, nach dem Wertsystem der Zukahartos mochte sie eine Schönheit sein. »Nichts«, sagte die Frau lächelnd. »Ich werde meine Strafe abbüßen und in die Gemeinschaft der Frauen zurückkehren.« »Wirst du ihnen berichten, daß wir hier gewesen sind?« fragte ich. Wieder lächelte sie. »Nein«, sagte die Frau. »Ich werde euch nicht erwähnen, Männer von den Sternen.«
8. Es war ein Anblick, den niemand vergaß, der ihn jemals gesehen hatte. Dreißig Tausendschaften Reiter hatte der Yastor aufgeboten, dazu kam ein beachtlicher Troß und ein Aufgebot an Tarpanen, das seinesgleichen suchte. »Noch nie ist ein Yastor mit einem solchen Heer aufgebrochen«, sagte Grutar stolz. »Wir werden reiche Beute machen, und unser Name wird den Jagdteppich mit Furcht und Schrecken erfüllen.« Das konnte ich mir sehr gut vorstellen.
Grutars Krieger waren ausgeruht und kampfbereit – und sie waren gute Kämpfer. Hart, erfahren die meisten, Meister der List und Heimtücke ihre Anführer, beutegierig ihr Fürst. Unwillkürlich mußte ich an einen anderen Reiterfürsten denken, an Temudschin, den Anführer der Kiut-Bürtschigin. Als Dschingis-Khan kannte ihn die Welt, sein Reich war das größte, das je errichtet worden. Was Gru-tar-Nal-Kart, den Yastor der Zukahartos, mit Dschingis verband, war unbeugsamer Siegeswille und die ans Märchenhafte grenzende reiterliche Perfektion ihrer Heere. An die Wesen, die Opfer dieses Raubzugs werden sollten, wagte ich nicht zu denken. »Welchen Rat hat der Extortirnser dir gegeben?« erkundigte sich der grazile Hirundo. Ihm war die Leibwache unterstellt worden, damit war er auch mein Chef und der Razamons. Der Yastor streckte mit Emphase die Hand aus, eine meisterlich einstudierte Geste. »Zunächst nach Südwesten, dann den Dscharkin entlang. Und danach … man wird sehen!« Hirundos Gesicht strahlte vor Zufriedenheit. »Oy!« sagte er. »Brechen wir auf!« Das Heer setzte sich in Bewegung, geordnet und diszipliniert. Hinter uns blieb die Felsenstadt mit ihren Bewohnern. Von den Insassinnen des Tempels hatten wir nichts gehört, die Frau hatte also Wort gehalten. Grutar hatte ein paar seiner Vertrauten die Erlaubnis erteilt, den Tempel aufzusuchen, den Rest hatte er auf später vertröstet. Es ließ sich leicht ausrechnen, daß die einfachen Zukahartos wie rasend kämpfen würden, um dieser Ehre würdig zu sein. Die Truppe fiel in Trab, dann in Galopp. Die Zukahartos waren meisterliche Reiter, und sie wechselten ihre Tarpane in vollem Galopp. Das gab ihren Angriffszügen eine Geschwindigkeit und Weiträumigkeit, mit der die meist gepanzerten Heere von Stadtbewohnern nicht fertig werden konnten.
Der Arkonide und der Yastor Razamon hielt sich an meiner Seite. »Was willst du machen, Freund?« fragte er mich leise. »Zusehen, wie diese Nomaden die Leute am Fluß Dscharkin abschlachten?« »Wir warten ab«, antwortete ich. »Irgendwann wird sich eine Möglichkeit finden, den geheimnisvollen Extortirnser zu besuchen, der den Zukahartos die Kriegspläne ausarbeitet. Ich bin gespannt, was es mit dem Orakel auf sich hat.« »Und dann?« »Fliehen wir«, sagte ich. »Wir müssen nur eine Stelle finden, an der die Zukahartos ihre Überlegenheit nicht ausspielen können.« »Das wird nicht leicht sein«, bemerkte Grizzard. Er hatte sich in den letzten Tagen gut von den Strapazen der Gebirgsdurchquerung erholt. Dennoch war er nicht völlig wiederhergestellt. Er kränkelte, ohne daß wir die genaue Ursache dafür kannten. Immerhin war er leidlich gekräftigt, so daß er durchaus in der Lage war, unseren Ritt zu begleiten. Jagdteppich nannten die Zukahartos die weite Ebene, und der Name paßte. Wie ein buntgesprenkelter Teppich erstreckte sich die Savanne, weit und endlos. Zwischen dem Grün der Gräser waren Sträucher zu erkennen, die in schillernden Farben blühten. Ein voller Galopp auf solchem Geläuf mußte jedem Nomaden das Herz weit machen. An den Reaktionen der Tiere war zu erkennen, daß auch sie diesen Ritt genossen. Die Luft war angenehm klar und warm, ein schwacher Wind wehte uns entgegen und trieb den Staub, den die Tarpane aufwirbelten, von uns weg. Nach kurzer Zeit fächerte das Heer auseinander, jeder Reiter sollte genügend Raum für sich und seine Tiere haben. Ich hatte die Truppe manövrieren sehen: Im Ernstfall formierten sich die Schwärme blitzartig zu kompakten Kavallerieeinheiten, deren Ansturm jede Infanterie ohne hochmoderne Waffen niederwalzen mußte. Die Zukahartos waren bis an die Zähne bewaffnet. Ihr wichtigstes Angriffswerkzeug
35 waren Pfeil und Bogen. Die hochwertigen Reflexbögen vermochten die Zukahartos noch im vollen Galopp zu spannen, und fast immer saßen die Pfeile im Ziel. Damit bekämpften sie gegnerische Reiter. Fußtruppen sollten mit verheerenden Lanzenattacken niedergeworfen werden; den Rest des blutigen Handwerks besorgte dann das leicht gekrümmte Schwert. Ich trug kein Verlangen, diese Truppe bei der Arbeit zu sehen. Das hieß, daß ich in den nächsten Tagen bereits eine Möglichkeit zur Flucht zu finden hatte. Vorher aber wollte ich einen Blick auf den Extortirnser werfen, das rätselhafte Orakel der Zukahartos. Das Ding oder die Person wurde in einer Spezialsänfte im Heer mitgeführt. Ich brauchte nur über die Schulter zu sehen, um das Gespann erkennen zu können. Ein Schwarm von Schamanen – sie wurden Thaigoon genannt – hielt in der Nähe des Heiligtums Wacht. Abends wurde der Extortirnser in einer festen hölzernen Hütte geborgen, während der Yastor sich mit einem prunkvollen, aber nichtsdestotrotz ledernen Zelt zu begnügen hatte. Vielleicht bot sich am Abend eine Gelegenheit, den Extortirnser zu besuchen. Der Zutritt war jedermann außer dem Yastor verboten, und da die Zukahartos den Befehlen ihrer Anführer widerspruchslos zu folgen gewohnt waren, erübrigte sich eine Nachtwache beim Extortirnser. Es mußte daher einigermaßen leicht möglich sein, zu dem geheimnisvollen Orakel vorzudringen. Ich war fest entschlossen, etwas gegen dieses Orakel zu unternehmen, das hauptsächlich dazu benutzt wurde, die Kriegszüge der Zukahartos zu planen und auszuführen. Ich war mir klar darüber, daß dies ein schwerwiegender Eingriff in die Geschichte dieses Landes darstellte, aber ich fühlte mich dazu berechtigt, den Zukahartos über ihr seltsames Orakel die Augen zu öffnen. Aberglaube hatte noch keiner Zivilisation geholfen. An diesem ersten Tag unserer Jagd – so bezeichneten die Zukahartos ihre Raubzüge
36 – legten wir eine außerordentlich große Strecke zurück, und jedermann im Heer war müde, als der Abend herandämmerte. Erst als die Nacht fast schon angebrochen war, gab der Yastor den Befehl zum Halten. Auch wir waren dankbar für diesen Stop. Der Ritt war anstrengender gewesen, und für Ungeübte war es sowohl gefährlich als auch unerhört mühsam, den Tarpanwechsel im Galopp vorzunehmen. Wozu die Zukahartos einige Augenblicke brauchten, benötigten wir mehrere Minuten, angefüllt mit harter Arbeit und einer gehörigen Portion Aufregung. »Sehr oft werde ich diesen Spaß nicht aushalten«, sagte Grizzard, als er steif vom Tarpan stieg. »Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als mit diesen Wölfen zu heulen«, sagte Razamon. »Jedenfalls vorerst.« Ich sah, wie Grutar mich heranwinkte. Seit Grizzard den aufrührerischen Lyssod ausgeschaltet hatte, genossen wir die besondere Gunst des Yastors – mit allen Vorteilen und Gefahren, die damit verbunden waren. »Ihr haltet euch gut«, sagte Grutar. »Nur eure Wechsel sind erbärmlich. Gibt es dort, wo ihr herkommt, keine Tarpane?« »Nicht so gute«, erwiderte ich diplomatisch. »Und deswegen sind wir auch keine so guten Reiter wie die Zukahartos, deren Kunst alles übersteigt, was wir je gesehen haben.« Das war eine faustdicke Schmeichelei, aber sie kam an. Grutar lächelte selbstgefällig. Seine Gefolgsleute waren unterdessen eifrig damit beschäftigt, das Lager aufzubauen. Als erstes wurde die Holzkonstruktion für den Extortirnser errichtet, der danach in seinem sänftenähnlichen Behälter in das Innere der Hütte transportiert wurde. Ich war gespannt, was es in der Sänfte zu sehen geben würde. Insgeheim rechnete ich sogar damit, daß unter der Maske des Extortirnsers die Frau – oder eine davon – des Yastors unerkannt den Raubzug begleiten durfte. Grutar wäre nicht der erste Heerführer gewesen, der
Peter Terrid sich über seine eigenen Regeln hinwegsetzte. Danach wurde das Zelt für den Yastor errichtet. Grizzard und ich bauten uns vor dem Eingang auf, Razamon sorgte für unsere Tar-pane. Wenig später kehrte er zurück. »Ich habe gehört, daß es nicht mehr weit zum Fluß ist«, sagte er. »Sollen wir es heute abend versuchen?« Ich überlegte kurz. Warum nicht? Wenn die Gelegenheit günstig war, war dieser Abend so gut wie jeder andere. Wenn wir erst den Fluß hinter uns gebracht hatten … es gab da einige Tricks, die ich gegen den Yastor und sein Heer auszuspielen gedachte. Zu meiner großen Freude spielte der Yastor in meinem Plan sogar mit. Ich hatte gehofft, daß er an diesem Tag ein ähnliches Benehmen zeigen würde wie im Lager bei der Felsenstadt. Dort hatte er sich mit bestechender Regelmäßigkeit voll Alkohol gepumpt, und da er erheblich mehr vertrug als seine Lehnsleute, bedeutete der Vollrausch des Yastors, daß das Heer der Zukahartos in den späten Abendstunden praktisch führerlos war. Diese Tatsache galt es auszunutzen. Und tatsächlich gab Grutar auch an diesem Abend nach einer kargen Mahlzeit das Zeichen zum Beginn des Gelages. Er war sichtlich gut gelaunt. »Ihr da, Wachen, trinkt mit!« forderte er uns auf. »Herr«, wagte ich einzuwenden, »das würde die Schärfe unserer Sinne mindern. Wir könnten dich nicht mehr schützen, wenn wir trunken sind.« »Ein paar Schlucke werdet ihr wohl vertragen«, entgegnete Grutar. Er hatte wirklich gute Laune – andere hatten geringeren Widerspruch bitter bereut. Ich trank von dem Rauschmittel, das mir der Yastor eigenhändig entgegenhielt. Der Geschmack war entsetzlich, die Wirkung verheerend. Es war kein Wunder, daß die Wesen in diesem Land nicht sonderlich alt wurden, wenn sie ihre inneren Organe von diesem Schnaps zerfressen ließen. Auch Grizzard nippte nur vorsichtig an
Der Arkonide und der Yastor dem Schnaps. Bei ihm mußte ich doppelt aufpassen – wenn er die Kontrolle über seinen Körper verlor, wie das bei Betrunkenen üblich war, konnte das wesentlich gefährlicher werden als normal. Das Gelage nahm seinen Gang. Es wurde getrunken, gelacht und geprahlt, und Grutar erzählte von den Stunden, die er im Tempel der Zusammenkunft verbracht hatte. Ich hatte alle Mühe, dabei ernst zu bleiben – offenbar hatten die Hohen Frauen den Yastor rasch und gründlich gezähmt. Seine Sprache war zwar immer noch reichlich rüde, ließ aber einen gewissen zähneknirschenden Respekt vor den Frauen erkennen. Nach zwei Stunden Wache erschienen Zukahartos, um uns abzulösen. Wenn Grutar uns auch vertraute, seine Nachtruhe ließ er von eigenen Leuten sichern, von Mitgliedern seiner Sippe. Unser Zelt wurde von nur drei Personen bewohnt. Kein Zukaharto hatte Lust gehabt, sich mit uns ein Zelt zu teilen – uns hatte das natürlich gefreut. Razamon hatte eine Mahlzeit vorbereitet, die wir hastig herunterschlangen. »Ich habe ein paar ausgesucht schöne Tarpane abgeteilt und in einem besonderen Pferch gesammelt – angeblich auf Befehl des Yastors. Wenn morgen herauskommt, daß es gar keinen Befehl gab …« Razamon hatte recht. Die Nacht der Entscheidung war gekommen. »Werdet ihr trotz der Müdigkeit reiten können?« fragte ich, vor allem an Grizzard gerichtet. Der gab mit einem Lächeln und einem Nicken zu verstehen, daß er sich noch allerlei zutraute. Hoffentlich, dachte ich, hatte er mit dieser Einschätzung recht. Sinclair Marout Kennon war ein vorzüglicher Kriminalist und Interpret fremder Gedanken gewesen, aber ich wußte aus eigener Erfahrung, wie leicht es selbst für große Geister war, sich selbst zu täuschen. Ich spähte durch den Vorhang hinaus. Noch gab es Leben im Lager. »Wir können schlafen«, sagte ich. »Zwei, drei Stunden lang, mehr nicht.«
37 Wir räumten das Zelt auf und legten uns nieder. Nach kurzer Zeit waren wir eingeschlafen.
* Ich erwachte als erster. Meine innere Uhr hatte mich nicht getrogen. Ich war genau rechtzeitig aufgewacht. Ich weckte meine Gefährten. »Ihr bereitet die Flucht vor, wie besprochen. Ich gehe zum Extortirnser.« Sie nickten und huschten aus dem Zelt. Das kleine Feuer brannte noch. Ich entzündete eine Fackel daran und steckte sie in den Boden. Wir würden sie noch brauchen, später. Durch das nächtliche Lager schlich ich zum Extortirnser. Nichts rührte sich. Die Zukahartos hatten es nicht nötig, sich vor Überfällen in acht zu nehmen – das einzige Volk im Umkreis, das solche Raubzüge startete, waren sie selbst, und wenn es zur alljährlichen Jagd auf den Jagdteppich ging, waren alle Streitigkeiten der Sippen untereinander vergessen. Niemand konnte mich sehen oder hören, als ich zum Heiligtum schlich. Am Eingang blieb ich vorsichtig stehen und lauschte. Im Innern rührte sich nichts. So geräuschlos wie möglich schlüpfte ich hinein. Es gab kein Orakel, wie ich es erwartet hatte. Ich hatte mich auch mit der Interpretation geirrt, Grutar schleppe unter dieser Tarnung eine Frau mit. Es gab eine Ampel im Innern der Holzhütte, in der ein Docht brannte und Licht gab. In diesem rötlichen Licht war der Extortirnser genau zu erkennen. Er mußte es sein, denn außer ihm gab es nichts im Zelt. Der Extortirnser war ein Roboter, präzise formuliert, das Wrack oder Bruchstück eines Roboters, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß irgend jemand einen derart absurd aussehenden Roboter baute. Es handelte sich um einen Zylinder von knapp einem Meter Höhe, der auf einem Holzsockel stand. Der
38 Extortirnser mochte vierzig Zentimeter durchmessen, jedenfalls galt das für den eigentlichen Rumpf, der mit Ausbuchtungen, Antennen, Sensoren, Erhebungen, Fühlern und Schaltern gespickt war, daß man beim besten Willen nicht sagen konnte, wozu diese Apparaturen wohl dienen mochten. Offenbar war der Robot oder die Positronik desaktiviert. Ich konnte jedenfalls kein Zeichen von Tätigkeit an dem Extortirnser erkennen, zumal es auch keine Energieversorgung für die Positronik zu geben schien. Die ganze Angelegenheit entpuppte sich als Bluff. Irgendwie war dieses technische Monstrum nach Dorkh geraten, vielleicht hatte es sogar eine Zeitlang funktioniert und den Zukahartos gute Ratschläge gegeben. Jetzt war nur noch der lächerliche Aberglaube übriggeblieben, und niemand wagte es, dem Volk den technischen Tod des Extortirnsers mitzuteilen. Ich wandte mich zum Gehen. Mit dem Ding ließ sich nichts anfangen, man verlor nur Zeit. In dem Augenblick, in dem ich den Vorhang ergriff, um ihn zur Seite zu schieben und ins Freie zu schlüpfen, hörte ich eine Stimme. »Bleib«, sagte die Stimme. »Bleib und hilf mir, Fremder. Aber fasse mich nicht an, um Himmels willen, fasse mich nicht an!« »Allmächtiger«, platzte ich heraus, als die weinerliche Stimme erklang. »Nein, ich bin der Extortirnser, und du bist kein Zukaharto, wie ich sehe. Wer bist du, und was willst du?« Die Positronik arbeitete also noch. Eine Überraschung mehr. Ich drehte mich herum. Tatsächlich blinkten jetzt kleine Lampen am Rumpf des Extortirnsers. Bevor ich die ersten Fragen beantworten konnte, setzte der Extortirnser sein Verhör fort. »Bist du ein Freund oder ein Feind der Zukahartos?« wollte die Positronik wissen. »Kannst du mich retten?« Das Ding war völlig verschaltet, im positronischen Sinn übergeschnappt. Aber
Peter Terrid vielleicht konnten wir über den Extortirnser wichtige und wertvolle Informationen über die Zukahartos und Dorkh im allgemeinen bekommen. »Retten?« fragte ich. »Wovor?« »Errette mich«, flehte die Positronik. »Aber fasse mich nicht an, du wirst nur alles zerstören. Rette mich aus den Klauen dieser Wilden, und ich werde dich reichlich belohnen.« »Bist du denn nicht das Heiligtum dieses Volkes?« fragte ich erstaunt. »Doch, das bin ich«, sagte der Extortirnser. »Bitte dreh dich um, damit du deinen Atem nicht unmittelbar auf meinen Leib bläst. Er enthält sicherlich korrodierende Feuchtigkeit. Aber diese Zukahartos wollen den Preis nicht zahlen für meine Ratschläge, und dauernd fassen sie mich an, diese Barbaren. Kannst du mich nicht nach Tirn bringen?« »Was ist Tirn, und wo liegt es?« fragte ich sofort, mit dem Rücken zum Extortirnser. »Das werde ich dir unterwegs sagen, wenn du mich rettest«, versprach die Positronik. Ich hätte gerne gewußt, wozu dieses Ding früher einmal zu gebrauchen gewesen war. Der Schaltbaum, wie ich ihn insgeheim getauft hatte, war die verrückteste Maschine, die mir je untergekommen war. Was war zu tun in dieser Lage? Sollten wir uns auf der Flucht, die auch ohne den hypernervösen Extortirnser lebensgefährlich war, auch noch mit einer jammernden Positronik belasten? Der Extortirnser, meldete sich der Logiksektor, kennt die Verhältnisse besser als du. Er kann dir nützlich sein. Ich hatte gelernt, den Ratschlägen des Extrasinns zu folgen. Damit war die Entscheidung gefallen. »Wir werden dich retten«, versprach ich. »Wir?« »Meine Freunde und ich«, antwortete ich. »Dann mach zu«, sagte der Extortirnser. »Und sage deinen Freunden, daß sie ihre
Der Arkonide und der Yastor Finger bei sich behalten sollen.« Ich seufzte leise. Die Reise versprach interessant zu werden: ein ehemaliger Arkonprinz und USO-Lordadmiral, König von Atlantis ohne Atlantis, dazu ein Berserker mit einem Zeitklumpen, nebst einem Körper mit einem darin wohnenden Fremdgeist … und nun stieß auch noch eine prüde Positronik dazu.
9. Hinter uns loderte die Steppe. Die Flammen schlugen bis an den Himmel, sie gaben uns Licht und wiesen uns den Weg. Außerdem trieben sie unsere Feinde vor sich her, zumindest deren Reittiere. Den Steppenbrand hatten wir entfacht, um unsere Spuren zu verwischen. Ihn ausbrechen zu lassen, war vergleichsweise einfach gewesen – als Brennmittel hatte uns der hochprozentige Schnaps der Zukahartos gedient, von dem sie außerordentliche Mengen mit sich führten. Eine leicht brennbare Spur rings um die riesigen Tarpankoppeln hatte völlig genügt. Wir hatten für uns erstklassige Tarpane besorgt, in aller Ruhe und ungestört den Extortirnser in seiner Sänfte aufgeladen und dann den Schnaps mit einer Fackel in Brand gesteckt. Die Stampede, die wir ausgelöst hatten, trieb die Tarpane der Zukahartos von uns weg, zurück zu den Felsenstädten. Wir hofften, daß uns dieser Trick genügend Vorsprung gab, um den Fluß Dscharkin zu erreichen und zu durchqueren. Dort mußten wir unsere Verfolger endgültig abschütteln. Das würde in jedem Fall nötig sein. Die Zukahartos waren nicht blöde, und vom Spurenlesen verstanden sie etwas. Daß wir drei den Brand gelegt und mit dem Heiligtum verschwunden waren, würden sie sehr bald herausgefunden haben – und was der Yastor in dieser Lage unternehmen würde, war leicht auszurechnen. Er würde sein ganzes Heer hinter uns herschicken um uns zu fangen. Waren wir erst einmal in seiner Hand, würden wir wahrscheinlich derartig
39 mißhandelt werden, daß wir unserem Tod mit Hoffnung entgegensahen. Einstweilen war es noch nicht soweit, und bis die Zukahartos die riesige Herde verstörter Tarpane wieder eingefangen hatten, mußte geraume Zeit vergehen. »Wohin sollen wir uns wenden«, fragte ich den Extortirnser. Der Schaltbaum steckte in seiner hölzernen Sänfte, in der er zu bleiben wünschte, bis Tirn erreicht war. Wir hatten uns da einen sehr seltsamen Reisebegleiter ausgesucht. »Genau nach Süden«, gab der Extortirnser bekannt. »Erst müssen wir den Dscharkin überqueren, und danach geht unsere Reise zum Cañon von Fryg.« »Aha«, sagte ich, obwohl ich nichts verstand. »Und dann?« »Das werde ich später eröffnen«, gab der Extortirnser bekannt. »Und reitet nicht so dicht neben mir. Ich möchte nicht riskieren, beschädigt zu werden.« Diese Maschine hatte eine grauenvolle Furcht vor jeder nur denkbaren Beschädigung. Stets und überall witterte sie Gefahr und Unheil. Es war fast ein Wunder, daß sie sich uns anvertraut hatte. Zudem hatte sich das Verhältnis zwischen dem Extortirnser und uns in wesentlichen Punkten geändert. Ursprünglich hatte die Maschine von uns gerettet werden wollen, war also auf unsere Hilfe angewiesen gewesen. Unterdessen aber hatte sich das ins Gegenteil verkehrt, jedenfalls nach Ansicht des Extortirnsers. Die Maschine gebärdete sich, als seien wir ihre Untertanen. Immer wieder gab sie Kommentare ab und überschüttete uns mit Anordnungen und Weisungen. Ab und zu spähte ich nach hinten. Der Himmel war glutrot, noch immer brannte die Steppe. Es war bereits früher Morgen, und wir waren die ganze Nacht hindurch geritten. Nach menschlichem Ermessen hatten wir einen ordentlichen Vorsprung gewonnen. »Wie weit ist es noch bis zum Fluß?« fragte ich den Extortirnser.
40 »Er müßte bald in Sicht kommen«, gab die Positronik zurück. »Sucht übrigens gar nicht erst nach einer Furt. Wir werden den Dscharkin nur auf einem Schiff überqueren, auf einem großen Schiff, versteht sich. Eine andere Art der Überquerung kommt nicht in Frage.« »Er könnte naß werden, der Arme!« höhnte Razamon. »Hört auf zu spotten«, ermahnte uns die Positronik. »Ich muß unbedingt nach Tirn, und das natürlich unversehrt. Nässe könnte meinen Schaltungen schaden.« »Was sollen wir in Tirn?« wollte ich wissen. Mit dieser Positronik war nicht leicht auszukommen. »Wir würden lieber nach Osten reiten.« »Wir müssen südwärts«, versetzte der Extortirnser. »Tirn liegt im Süden. Seht euch vor, und paßt auf, daß sie mir nichts tun.« »Wer?« fragte ich und sah mich um. Niemand war zu sehen. Wir sahen nur die Steppe vor uns. »Die Dee-Amie-Doffs«, sagte der Extortirnser. »Seht ihr sie denn nicht?« Wieder sah ich mich um. Kein Lebewesen war zu sehen, von ein paar Vögeln abgesehen, die über der Savanne kreisten. »Oben!« sagte der Extortirnser. »In der Luft.« Ich sah schärfer hin. Es war durchaus möglich, daß es sich bei den DeeAmie-Doffs um Vogelwesen handelte. Auf der Savanne bedeutete das eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Diese Wesen hatten gleichsam die Lufthoheit, und in der offenen Steppe gab es vor ihren Angriffen keine Deckung. Ich griff nach meinem Schwert, meine Gefährten taten das gleiche. »Gebt acht, daß ihr beim Kampf kein Blut auf mich verspritzt«, ermahnte uns die Positronik. »Blut ist naß und klebrig und schadet mir.« »Wir werden unser Möglichstes tun«, versprach Grizzard kopfschüttelnd. Langsam sanken die Vogelwesen zu uns herab. Recht bald sah ich, daß uns von die-
Peter Terrid sen Geschöpfen wenig Gefahr drohte. Sie waren unbewaffnet, und die Art, in der sie sich uns näherten, verriet wenig Angriffslust. »Haltet sie mir vom Leibe«, kreischte der Extortirnser. »Vernichtet, sie. Weg mit ihnen.« »Sie kommen in friedlicher Absicht«, sagte ich laut. »Das sagen sie alle«, jammerte die Positronik, »und dann grabschen sie nach mir und tun womöglich sogar noch Schlimmeres.« »Halt's Maul!« schnauzte Razamon, und das half. Der Tonfall ließ den Extortirnser verstummen. In gehörigem Abstand landete eine Gruppe von einem knappen Dutzend der Vogelwesen im Gras der Steppe. Sie waren sehr groß für Vögel, mit riesigen Schwingen und gelblichen Schnäbeln. Entfernt erinnerten sie an Adler, nur fehlten ihnen die Krallen. Statt dessen besaßen sie ein paar außerordentlich geschickte Füße mit einem abgestellten großen Zeh – der Fuß konnte also auch zugreifen, wie es bei irdischen Affen üblich war. Langsam kamen die Vogelwesen näher, und allein das genügte, mich von ihrer Friedfertigkeit zu überzeugen. Zu Fuß waren sie außerordentlich ungeschickt. Sie watschelten mehr, als daß sie gingen. »Willkommen«, sagte einer der Näherkommenden mit melodischer Stimme. »Ihr seid keine Zukahartos?« »Wir sind auf der Flucht vor ihnen«, verriet ich. »Seht ihr das Feuer hinter uns? Es treibt die Zukahartos in ihre Felsennester zurück.« »Es wäre schön, wären deine Worte wahr, Fremdling. Aber sie stimmen nicht.« »Ihr wißt es besser?« Das vorderste der Vogelwesen machte eine zuckende Bewegung mit dem linken Flügel. »Wir haben sie gesehen, wie immer. Wir sind die Beobachter unserer Siedlung, und jedesmal, wenn eine Blütenperiode aus-
Der Arkonide und der Yastor bricht, verfolgen wir die Bewegungen der Zukahartos. Sie sind im Anmarsch!« Ich unterdrückte eine Verwünschung. Mit einer solchen Entwicklung der Dinge hatte ich nicht gerechnet. »Wie nahe sind die Zukahartos?« fragte ich besorgt die Vogelwesen. »Sie werden in weniger als drei Stunden hier sein«, sagte der Sprecher der DeeAmie-Doffs. »Wenn ihr wollt, führen wir euch zum Fluß.« »Wir wären euch dankbar dafür«, sagte ich. »Wo ist eure Siedlung?« »Am Ufer des Flusses«, sagte der Sprecher. Er stieg auf und umschwebte uns in großem Abstand. Seine Schwingen schlugen kraftvoll und regelmäßig, aber er mußte laut sprechen, um sich mit uns verständigen zu können. »Wir leben dort als Fischer. Ihr könnt ein Boot von uns bekommen, mit dem ihr den Fluß überqueren könnt.« »Ein großes Boot, will ich hoffen«, meldete sich der Extortirnser. »Genügend groß für euch und eure Tiere«, antwortete unser Gastgeber. Wir trieben unsere Tarpane zu höchster Schnelligkeit an. Jetzt kam es auf die Minute an. »Habt ihr keine Angst vor den Zukahartos?« »Doch«, erwiderte unser Freund von oben. »Aber sie können uns nichts anhaben. Wenn sie kommen, steigen wir in die Lüfte und warten, bis sie sich wieder verziehen.« »Und was tun die Zukahartos?« »Sie plündern unsere Siedlungen und setzen sie in Brand«, erklärte das Vogelwesen. Die freundlichen Wesen schienen unter dem Terror der Zukahartos sehr geduldig und fatalistisch geworden zu sein. Die Stimme des Sprechers verriet jedenfalls nur geringe Empörung über die angreifenden Nomaden. »Hast du diese Raubzüge ausgebrütet?« fragte ich den Extortirnser. »Ich?« fragt die Maschine zurück. »Der Extortirnser? Sicherlich nicht, oder vielleicht doch …?«
41 »Heiliges Pthor«, murmelte Razamon. »An Gedächtnisschwund leidet der Schaltbaum auch noch.« »Wie hast du mich genannt?« fragte der Extortirnser, denn Razamon hatte die letzten Worte laut gesprochen. »Schaltbaum«, sagte Razamon, der den von mir geprägten Begriff übernommen hatte. »Unerhört!« empörte sich die Positronik. »Eine Beleidigung wie diese ist mir noch nie widerfahren.« »Erhitze dich nicht«, gab Razamon trocken zurück. »Deine Schaltkreise könnten leiden.« Das brachte den Extortirnser zum Verstummen, vermutlich nur für kurze Zeit. Die Siedlung der Vogelwesen tauchte auf. Es war eine Gruppe von Hütten, am Rand eines breiten Stromes. Aus der Ferne wirkten diese Unterkünfte wie auf den Kopf gestellte Horste, gebaut aus Blattwerk und Ästen. Die Siedlung war sauber und regelmäßig angelegt, sie entsprach ganz dem Bild, das ich mir von den Vogelmenschen gemacht hatte. Am Ufer erkannte ich einige größere Segelboote, etwa zwölf bis fünfzehn Meter lang, marconigetakelt und offenbar klar zum Ablegen. Zwischen uns und dem Ufer hatten sich die Dorfbewohner versammelt, eine muntere Schar. Vor allem die Kleinen fanden ihre Freude daran, um uns herumzusegeln, Angriffe vorzutäuschen und dicht vor unseren Köpfen abzudrehen. Der Extortirnser wimmerte leise, unterließ aber jede Bemerkung. »Führt eure Tiere an Bord«, sagte der Anführer der Vogelwesen. »Ihr anderen packt eure Sachen. Wir brechen auf. Die Zukahartos sind nahe, wenigstens ihre Vorhut.« Wir brauchten eine knappe Stunde, bis wir unsere Tarpane an Bord gebracht hatten. Die Tiere waren die Steppe gewohnt, und der Anblick des Stromes ängstigte sie. Am meisten fürchtete sich, wie nicht anders zu erwarten, unser metallischer Freund.
42 Was der Extortirnser an Jammern, Heulen, Wehklagen und Schimpfen von sich gab, war abendfüllend. Er überschüttete uns mit seiner Klage, und im Lauf einer Stunde benutzte er kein Klagewort öfter als einmal. Endlich hatten wir den Schaltbaum samt Sänfte auf dem Boot verstaut. Es wurde Zeit, das Weite zu suchen. Die Dee-Amie-Doffs hatten unterdessen alle Habseligkeiten zusammengepackt und sich auf dem Platz zwischen den Hütten versammelt. Ich verließ das Boot und ging auf den Häuptling zu. »Wollt ihr immer nur fliehen?« fragte ich ihn. »Niemals Widerstand leisten?« Ich war nicht fähig, die Bewegungen der Vogelwesen zu deuten. Der Häuptling bewegte leicht die Schwanzfedern. »Was rätst du uns, Fremdling?« Ich überlegte nicht lange. »Ihr könntet Feuer anzünden, Fackeln herstellen«, sagte ich. »Ihr könntet den Zukahartos entgegenfliegen, die Savanne in Brand setzen und sie zurücktreiben. Ihr könnt ihnen damit drohen, aus der Luft einen Ring aus Feuer um sie herum zu entfachen, der sie alle vernichten wird.« Wieder bewegte sich das Vogelwesen. Es war still geworden. »Wir haben längst getan, was du uns geraten hast, Atlan. Wir haben sie zurückzudrängen versucht, mit dem gleichen Ergebnis wie du. Wenn die Zukahartos jetzt kommen, werden sie zerstören, was wir in langer Arbeit aufgebaut haben. Verletzen oder töten können sie uns nicht, und wir können sie nicht töten.« »Sie werden immer wiederkommen«, sagte ich. »Gewiß«, wurde mir geantwortet. »Immer wieder weht der Wind über die Savanne, und immer wieder duckt sich der Halm unter seiner Gewalt. Was hätte der Halm davon, den Wind für immer abzustellen?« Ich lächelte. »Ihr habt mich überzeugt«, sagte ich. »Ich wünsche euch den Frieden, den ihr verdient.«
Peter Terrid Die Vogelwesen brachten den Rest ihrer Habseligkeiten auf die Boote, dann stießen sie ab. Der größte Teil des gefiederten Volkes stieg in die Lüfte auf und kreiste über der Flottille, die sich langsam in Bewegung setzte. Unser Plan stand fest. Wir wollten uns der Flucht der Vogelwesen nicht anschließen. Wir wollten nur übersetzen und auf der anderen Seite des Flusses unsere Spuren so verwischen, daß die Zukahartos uns nicht mehr fanden. Ich traute mir und meinen Freunden durchaus zu, unsere Spuren so gründlich verschwinden zu lassen, daß die Zukahartos glauben mußten, wir hätten uns in Luft aufgelöst. Nur: wir brauchten Zeit für dieses Manöver. Ich war davon ausgegangen, daß wir genügend Zeit haben würden – aber offenbar hatten die Zukahartos sofort nach dem Entdecken unserer Flucht einen Verfolgungstrupp in Marsch gesetzt. »Wir müssen die Sänfte demontieren«, sagte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Auf keinen Fall«, schrie der Extortirnser. »Niemals!« »Schweig, oder wir werfen dich ins Wasser«, herrschte ich ihn an. Das Jammern und Wehklagen der Maschine ging mir auf die Nerven. »Los, helft mir!« Wir machten uns an die Arbeit. Dabei wußten wir, daß in unserem Nacken gleichsam der Sekundenzeiger einer Zeitbombe tickte. Wir mußten unser Manöver abschließen, bevor die Zukahartos uns auf dem Fluß sehen und erkennen konnten. Immer wieder zur Siedlung der Vogelwesen hinüberspähend, holten wir den still leidenden Extortirnser aus seiner Sänfte, dann zerlegten wir die Aufbauten, unter denen die Positronik bislang verborgen gewesen war. Auf dem Deck des Schiffes bauten wir sie wieder auf. »Bringt uns ans Ufer«, baten wir die Vogelwesen, und sie erfüllten uns den Wunsch. Noch immer war von den Zukahartos
Der Arkonide und der Yastor nichts zu sehen. Mit vereinten Kräften schafften wir unsere Tiere und den nun wieder jammernden Extortirnser ans andere Ufer. »Kehrt auf die Mitte des Flusses zurück«, bat ich die Vogelwesen. »Die Zukahartos sollen das Boot sehen können!« Auch dieser Wunsch wurde uns erfüllt. Es tat weh, diese Hilfsbereitschaft und Güte mitansehen zu müssen und zu wissen, wie erbarmungslos diese Wesen von den Zukahartos unterdrückt wurden. »Wohin werdet ihr fliehen?« wollte ich wissen. »Nirgendwohin«, bekam ich zur Antwort. »Wir warten, bis die Zukahartos wieder fort sind, dann bauen wir unsere Siedlung neu auf.« Wieviel Geduld, Einsicht und Demut gehörte dazu, ein solches Leben zu führen; wieviel Friedensliebe, die Machtmittel, über die sie zweifelsfrei geboten, nicht einzusetzen. Sie hätten ihre Gegner vernichten können, aber sie taten es nicht, weil sie ein Zukaharto-Leben höher bewerteten als ihre Siedlung. Ob der Dunkle Oheim für diese Geisteshaltung Verständnis aufgebracht hätte …? Das Boot trieb davon, auf die Mitte des Flusses zu. Wir führten unsere Tarpane weit genug vom Ufer fort, daß sie nicht gesehen werden konnten, dann schlichen wir uns ans Ufer zurück. Gespannt warteten wir auf die Ankunft der Zukahartos. Wir brauchten nicht lange zu warten. Ein einzelner Reiter erschien am Rande des Gesichtsfelds, dann ein zweiter. Bald war eine ganze Abteilung beisammen, die nach kurzem Sammeln losgaloppierte, auf die Siedlung zu. Derweil tauchten am Horizont weitere Scharen auf. Wir konnten sehen, wie sie die Siedlung erreichten. Sie hielten ihre Tarpane an, sahen sich um. Einer entdeckte die langsam da-vontreibende Flotte der Segelboote und machte sich sofort daran, sie zu verfolgen. Er versuchte, sein Reittier in den Fluß zu
43 treiben, aber der Tarpan bäumte sich auf und verweigerte den Gehorsam. Ich sah, wie die Zukahartos wild gestikulierten. Einige blieben in der Nähe des Ufers und starrten, offensichtlich wutentbrannt, den davonsegelnden Schiffen nach. Die anderen machten sich daran, die Siedlung zu plündern. Große Beute machten sie nicht, die Vogelwesen waren nicht nur friedliebend, sondern auch arm. Wenig später ging die erste Hütte in Flammen auf. Ich preßte die Kiefer aufeinander. Immer größer wurde die Schar der Zukahartos, immer mehr Hütten loderten auf. Dann erschien auf einem besonders reich geschmückten Tarpan einer der Tausendschaftsführer. Er sah sich nur kurz um, dann gab er seine Befehle. Die Zukahartos ließen ihre Beute liegen. Sie rissen ihre Tarpane herum und jagten den Fluß entlang, hinter den Schiffen her. Ich lächelte zufrieden.
10. Er mußte sich festhalten, um nicht umzufallen. Grizzards Gesicht war wachsbleich, seine Hände zitterten. Der Mann schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Ich sah dies mit steigender Besorgnis. Sinclair Marout Kennon bekam mit dem Körper, den er übernommen hatte, immer größere Schwierigkeiten. Seine Feinmotorik ließ deutlich zu wünschen übrig. Noch zeigten sich diese Erscheinungen am Ende eines strapazenreichen Tages, aber es würde wahrscheinlich nicht viel Zeit vergehen müssen, bis er bereits am Morgen Händezittern bekam, Werkzeuge fallen ließ und sogar ab und zu einen Sprachfehler an den Tag legte. »Wir rasten!« bestimmte ich. »Das werden wir nicht tun«, widersprach man mir. »Wir müssen weiter, nach Tirn. Dieses Klima schadet meinen Innereien. Jeder Tag, den wir hier verbringen, läßt mich hinfälliger werden. Und dieses Rumpeln und Schaukeln und Stoßen bekommt mir eben-
44 falls nicht.« Unschwer zu erraten, der Extortirnser war es, der diesen Protest einlegte. Ständig beschwerte sich der Schaltbaum, unablässig keifte, jammerte, zankte er. Es war eine Tortur für das Gemüt, diesen Ergüssen lauschen zu müssen. Leider hatte ich nicht herausfinden können, wo der Extortirnser seine Sprechwerkzeuge hatte. Dazu hätten wir ihn anfassen müssen, und das verbot er uns strikt. Ich hatte es einmal, mehr zufällig als absichtlich, versucht, und das Geheul, das er angestimmt hatte, hatte die Tarpane verrückt spielen lassen und uns fast um den Verstand gebracht. »Wir rasten!« bestimmte ich energisch. »Und wenn du nicht ruhig bist, schütten wir kaltes Wasser über dich.« Der Extortirnser verstummte. Meine Drohung hatte ihm die Sprache verschlagen. Ich war allerdings nicht so leichtgläubig anzunehmen, daß dies von langer Dauer sein würde. »Ruhe dich aus«, schlug ich Grizzard vor. Er war tatsächlich nicht nur körperlich erschöpft; er litt auch unter immer schwerer werdenden psychischen Ausfallerscheinungen. Das war nicht verwunderlich. Kennon hatte schon immer unter psychischen Erkrankungen gelitten, und völlig stabilisiert worden war sein Geist nie. Ich konnte mir vorstellen, mit was für Ängsten dieser Mann nun leben mußte, zumal die heraufdämmernde Katastrophe bei weitem nicht der einzige Schicksalsschlag dieser Größenordnung war, den Sinclair Marout Kennon hinzunehmen gehabt hatte. Die niemals abreißende Kette von Katastrophen hätte auch stärkere Gemüter zermürbt. Die depressive Struktur seines Charakters kam jetzt wieder voll zur Geltung. Wenn Grizzard meiner Aufforderung sofort Folge leistete, ja, nicht einmal mehr den Versuch machte, Stärke und Gewandtheit vorzutäuschen, dann war es schlimm um ihn bestellt. »Probleme?« fragte ich knapp, während ich das Holz zusammenschichtete, das Raza-
Peter Terrid mon gesammelt hatte. Er suchte jetzt nach Nahrung, während ich mich um das Feuer, Grizzard und den Extortirnser kümmerte. Grizzard sah mich an. In seinen Augen war kein Ausdruck zu erkennen. »Möglich«, sagte er nur. »Schmerzen?« »Weiß nicht …« Ich kannte solche Dialoge. Grizzard war im Augenblick nicht recht ansprechbar. Für Grizzard war alles gleichgültig geworden. In ihm war, das konnte jeder sehen, nur noch eine große Leere, die zu füllen er außerstande war. Ob er lebte oder starb, was zählte das? Ich wußte, daß gegen diesen depressiven Schub nichts zu unternehmen war. Grizzard hätte in die Hände eines erfahrenen Psychotherapeuten gehört, aber der war nicht zu finden. »Wie weit haben wir bis Tirn noch zu reiten?« fragte ich den Extortirnser. Irgend etwas machte ein Geräusch, das ich aber nicht eindeutig identifizieren konnte. Ich wiederholte meine Frage und bekam ein Wispern zur Antwort: »Darf ich reden?« »Ja, du darfst«, beantwortete ich die fast unhörbare Frage des Extortirnsers. Versuchte die Maschine mich auf den Arm zu nehmen? Oder war sie tatsächlich derart sonderbar konstruiert worden? »Ich weiß es nicht«, sagte der Extortirnser, nun wieder mit normaler Lautstärke. »Ich weiß aber, daß der Rauch und die Hitze dieses Brandes meinen Schaltungen ganz erheblich zusetzen wird. Macht das Feuer aus!« »Wir frieren sonst in der Nacht«, sagte ich. »Und bei mir verbiegen sich wegen der Hitze alle Gelenke«, erklärte die Positronik. »Ihr seid nur irgendwelche Lebewesen, aber ich bin der Extortirnser und darf erwarten, daß man Rücksicht auf mich nimmt.« »Pah«, sagte Razamon. »Du bist nichts weiter als ein fehlprogrammierter Computer,
Der Arkonide und der Yastor wie man ihn in dieser Preisklasse in Kaufhäusern findet. Plustere dich nur nicht auf …« Das Geräusch, das der Schaltbaum machte, erinnerte mich stark an ein Zähneknirschen. Razamon hatte seinem Selbstbewußtsein einen fürchterlichen Schlag versetzt. »Ist schon gut«, sagte Razamon plötzlich. »Ich entschuldige mich in aller Form.« Ich drehte mich herum, und sah, daß der Extortirnser den größten Teil seiner Antennen und Auswüchse eingezogen hatte. Außerdem stand er offenbar mit dem Rücken zu uns und produzierte einen tiefen Baßton; das Heiligtum der Zukahartos schmollte. »Nimmst du die Entschuldigung an?« fragte ich den Extortirnser. »Ungern«, erklärte die Maschine. »Ihr seid barbarische Rohlinge. Ich werde euch mit Verachtung strafen.« Bei solcher Strafe konnte man zum Masochisten werden. Es war eine Wohltat; zum ersten Mal seit geraumer Zeit speisten wir ohne betrunkene Zukahartos, ohne Schneestürme, ohne einen weinerlichen Roboter. Das Mahl war kärglich, sättigte aber. Nach meiner Schätzung hatten wir mindestens einen Tag Vorsprung vor den Zukahartos, und da wir unsere Spuren auf dem südlichen Ufer des Flusses gründlich verwischt hatten, durften wir sogar hoffen, den Zukahartos endgültig entronnen zu sein – obwohl ich mir ab und zu insgeheim wünschte, sie möchten kommen und uns von dem Extortirnser befreien, dessen Gesellschaft zur Plage geraten war. Grizzard streckte sich nach dem Essen aus und war nach ein paar Sekunden eingeschlafen. »Was machen wir mit ihm?« fragte Razamon. »Du kannst ihm nicht helfen, ich kann ihm nicht helfen, der Extortirnser kann es ebensowenig …« »Wer hat das gesagt?« empörte sich die Maschine. »Ich weiß zwar nicht, was eurem Freund fehlt, aber in Tirn wird man ihm sicherlich helfen können. Tirn ist nämlich eine intakte Stadt, müßt ihr wissen.«
45 »Was heißt das, intakte Stadt?« »Was es heißt? Nun, was ich gesagt habe. Es ist eine intakte Stadt. Man wird euch sicherlich sehr dankbar sein, daß ihr mich zu meinen Leuten zurückbringt.« »Wie sieht eine intakte Stadt aus?« fragte ich den Extortirnser. »Ich weiß es nicht genau«, sagte die Maschine mit einem traurigen Unterton. »Es ist viel Zeit seither vergangen, und diese Barbaren haben mich sehr schlecht behandelt. Meine Speicher sind nicht mehr die besten. Was wollt ihr wissen?« »Wie eine intakte Stadt aussieht?« fragte ich. »Worin besteht der Unterschied zu anderen Städten.« »Nun, Tirn ist intakt, und die anderen Städte sind es nicht, glaube ich jedenfalls.« Nichts liebte ich mehr, als Informationen mit solcher Präzision und Aussagekraft zu bekommen. Mit dem Extortirnser hatten wir uns einen sehr merkwürdigen Reisegefährten eingehandelt. »Könntet ihr das Feuer noch ein wenig schüren, oder mich näher an die Flammen heranrücken. Die Hitze beschleunigt so angenehm die Zirkulation der Hydraulikflüssigkeit«, sagte der Computer zur allgemeinen Überraschung. »Welches Gebiet erreichen wir als nächstes?« fragte ich, nachdem ich mit Razamons Hilfe den Extortirnser näher an das Feuer gerückt hatte. »Auf was für Wesen werden wir stoßen?« »Laßt mich nachdenken«, sagte der Extortirnser. Auf seinem metallenen Körper warf das Feuer seltsam zuckende Schatten. Fast hätte man glauben mögen, der Schaltbaum habe ein Gesicht. »Da wären zunächst die Saddier«, erinnerte sich der Extortirnser. »Was sind das für Leute?« fragte Razamon. Ab und zu warf er einen Blick auf Grizzard. Unser Freund schlief wie ein Toter. »Freundlich?« »Sehr!« betonte der Extortirnser. »Ganz reizende Wesen, liebenswürdig und umgänglich – glaube ich jedenfalls. Sie leben
46 auf Bergen und ernähren sich vom Abendtau.« Razamon und ich sahen uns an. Wir waren allerlei gewohnt, aber das …? Von Abendtau hatte ich noch nichts bemerkt in diesem Land, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß es irgendeine lebende Spezies gab, die von kondensierter Luftfeuchtigkeit allein leben konnte. Zu allem Überfluß aber gab es in Sichtweite nur ein einziges Gebirge, in dem die Saddiers hätten leben können, und das waren die Sirva-Gipfel, die hinter uns lagen. »Wie weit sind wir von den Saddiers entfernt?« wollte ich wissen. »Nicht sehr weit«, sagte unser robotischer Freund. »Höchstens eine Tagesreise.« »Aber im Umkreis einer Tagesreise ist nicht ein einziger Berg zu sehen«, warf Razamon entgeistert ein. »Nicht?« wunderte sich der Extortirnser. »Seltsam, wirklich seltsam. Sollten die Saddiers umgezogen sein? Oder handelte es sich um negative Berge?« »Was soll denn das sein, ein negativer Berg?« erkundigte ich mich. »Nun, ein Berg, der nicht in die Höhe geht, sondern in die Tiefe«, belehrte mich der Schaltbaum. »Es gibt auch negative Flüsse.« »Bei denen das Wasser bergauf fließt?« »Nein, nein. Das Wasser bleibt stehen, aber das Bett bewegt sich bergauf.« Razamon und ich starrten uns wieder an. Die Sache wurde immer rätselhafter. Auf was für einer Welt waren wir gelandet? »Kennst du noch andere Naturerscheinungen dieser Art?« fragte ich. »Viele«, sagte der Extortirnser. »Es ist wirklich angenehm an diesem Ort. Ja, es gibt da noch die Sturzwolken …« »Was sind das für Gebilde? Fallen sie auf die Bewohner von Dorkh herab?« »Sie steigen in die Höhe, ganz rasch und plötzlich. Sie bilden sich ganz rasch, und plötzlich steigen sie auf und fallen zum Himmel. Dort schlagen sie sich als Abendtau nieder und davon ernähren sich Sad-
Peter Terrid dier.« »Faß mit an«, sagte ich zu Razamon. »Unser Freund verträgt keine Hitze. Er dreht durch.« »He!« rief der Extortirnser. »Was wollt ihr von mir? Laßt mich los, ihr Schurken! Ich will beim Feuer sitzen, nur noch ein paar Augenblicke, gar nicht lange. Bitte, bitte, nur noch ein paar Minuten am Feuer!« Wir packten zu und wuchteten den Extortirnser vom Feuer weg, das er offenbar sehr schlecht vertrug – oder viel zu gut, das hing vom Betrachtungsabstand ab. Unser Freund aus Metall jedenfalls legte genau das Verhalten an den Tag, das man von einem Süchtigen erwarten durfte, dem man plötzlich seine Droge entzieht. Er jammerte und drohte, bat und schimpfte, er tat alles, uns dazu zu bewegen, ihn zum Feuer zurückzutragen. Wir achteten nicht auf sein Heulen und ließen ihn erst einmal auskühlen. »Was meinst du?« fragte Razamon, als wir an das Feuer zurückgekehrt waren. »Sollen wir das Blechding nicht besser hier lassen? Er hält uns nur auf, und was von seinen Informationen zu halten ist, haben wir ja gerade gehört.« Ich wartete auf einen Kommentar des Logiksektors, der sich auch prompt meldete. »Wir nehmen ihn mit«, entschied ich schließlich. »Der Extortirnser ist das hochwertigste technische Gerät, das wir bisher auf Dorkh gesehen haben. Wenn wir ihn zu seinem Volk zurückbringen, kann uns das von Nutzen sein.« »Wer weiß, wie lange der Blechkerl schon bei den Zukahartos herumgestanden hat, bis wir ihn befreiten? Vielleicht Jahrtausende. Bei diesem Ding weiß man nie, woran man ist.« »Ich vermute, daß er seit Jahrhunderten im Besitz der Zukahartos ist, aber das ändert nichts daran, daß wir kaum eine andere Wahl haben, als ihn mitzunehmen. Er weiß zwar nicht viel, und es ist eine Menge Falsches darunter, aber er weiß wenigstens etwas, während wir gar keine Kenntnisse ha-
Der Arkonide und der Yastor ben. Wir müssen nur aufpassen, daß er künftig nicht mehr so stark erwärmt wird – das scheint ihn völlig zu berauschen.« »Vielleicht wird er in der Kälte der Nacht depressiv, und bei zuviel Helligkeit schizoid, und bei zu großer Luftfeuchtigkeit entwickelt er Verfolgungswahn …« Wider Willen mußte ich lachen. Razamon mochte den Extortirnser nicht sehr. Das war verständlich, mir gefiel der Schaltbaum auch nicht sehr gut. »Eines möchte ich klarstellen«, sagte Razamon plötzlich, ohne mich anzusehen. »Selbst wenn er nur noch röcheln kann – im Zweifelsfall werde ich stets zuerst Grizzard zu retten versuchen, sollte das notwendig werden.« Ich lächelte. »Ich würde nicht anders handeln«, sagte ich. »Leg dich hin und schlafe. Ich werde Wache halten.« »Glaubst du, daß das notwendig ist?« fragte Razamon, während er sich ausstreckte. Das Feuer knisterte sehr leise, und irgendein harziger Ast darin entwickelte einen betäubenden Duft. »Nein«, sagte ich. »Wir sind hier völlig sicher. Die Zukahartos haben wir längst abgehängt.« »Hoffentlich hast du recht«, murmelte Razamon. Er wickelte sich in seine Decke, und ein paar Augenblicke später war er eingeschlafen. Und irgendwo hinter mir stand der Extortirnser im Freien und summte leise. Ihm schien dieses Leben zu gefallen, hatte es den Anschein. Ich war gespannt, mit was für Überraschungen Dorkh und der Extortirnser noch aufwarten würden.
* Grutar-Nal-Kart, Yastor der Zukahartos, sah in die Höhe. »Vogelgesindel!« schimpfte er halblaut. Er ärgerte sich, daß nicht einmal der beste Bogenschütze der Zukahartos in der Lage war, einen der Gefiederten vom Himmel zu
47 holen. Sie kreisten über dem Heer der Zukahartos, weit außerhalb der Reichweite der Bögen, und was den Yastor fast noch mehr ärgerte, war die Tatsache, daß die Vogelwesen keinen Angriff starteten. Grutars Heer war kleiner geworden. Ungefähr zehntausend Mann hatte er eingebüßt. Diese Reiter waren damit beschäftigt, die Tarpane wieder einzufangen, die bei dem Steppenbrand ausgerissen waren, und sie würden mindestens ein paar Tage brauchen, bis die Herden wieder zusammengetrieben worden waren. Der Rest des Heeres war schändlich beritten. Die meisten Männer hatten nur einen einzigen Tarpan zur Verfügung, nur einige wenige besaßen zwei Reittiere. Dadurch wurde der Vormarsch der Zukahartos sehr behindert. Man mußte auf die Tarpane Rücksicht nehmen, sie brauchten häufiger eine Pause, mehr Futter und Wasser. Und an allem waren diese Schurken schuld, die mit dem Heiligtum der Zukahartos verschwunden waren. Der Yastor knirschte mit den Zähnen, wenn er daran dachte. In Gedanken malte er sich aus, was er mit den drei Verbrechern anfangen würde, wenn er ihrer habhaft wurde. Man konnte sie beispielsweise in eine frisch abgezogene Tarpanhaut einnähen und in die Sonne legen. Es dauerte für gewöhnlich Stunden, bis sich das trockene Leder so weit zusammengezogen hatte, daß dem Verurteilten endgültig die Luft ausging. Man konnte sie auch bis zum Hals in Tarpanmist eingraben, dann wurden sie im Lauf der nächsten Tage durch die Hitze getötet, die darin entstand. Dies und einige andere Möglichkeiten erschienen Grutar-Nal-Kart unangebracht. Er nahm sich vor, sich etwas wesentlich Besseres einfallen zu lassen – vor allem mußte das ganze Heer etwas von der Hinrichtung haben. Grutar wußte, daß sein Ruf schwer angeschlagen war.
48 Es hatte Yastors gegeben, die nach ihrem Amtsantritt nicht mehr aus den Tempeln der Zusammenkunft herausgekommen waren. Es hatte Yastors gegeben, die vom ersten bis zum letzten Tag ihrer Amtszeit berauscht gewesen waren. Es hatte Yastors gegeben, die wichtige, manchmal sogar entscheidende Schlachten durch Unfähigkeit verloren hatten – aber noch kein Yastor hatte sich den kostbarsten Besitz der Zukahartos abnehmen lassen, noch dazu auf so schmähliche Weise und von drei hergelaufenen Halunken zweifelhafter Abstammung. Wenn es GrutarNal-Kart nicht gelang, den Extortirnser zurückzuerobern und die Übeltäter angemessen zu züchtigen, würde seine Regierungszeit sehr schnell ein Ende finden. Wahrscheinlich würden die Zukahartos ihn hinrichten; der Einmaligkeit des Verbrechens würde die Einmaligkeit dieser Hinrichtung angemessen sein. »Wie lange noch bis zur ersten Siedlung der Flatterer?« fragte der Yastor. »Eine knappe Stunde Weges!« sagte Hirundo. Er wirkte bedrückt. Kein Wunder, er würde das Schicksal des Yastors teilen müssen, so oder so. »Glaubst du, daß sie sich zu den Flußfischern geflüchtet haben?« »Die Spuren sind eindeutig«, sagte Grutar. Ein Reiter erschien auf dem Hügelkamm voraus. Er sah das heranrückende Heer und verhielt. Ein Zeichen mit der Feldfahne ließ ihn antraben. Er ritt zu Grutar hinüber. »Wir haben sie!« verkündete der Reiter. »Wir haben die Verbrecher gefunden.« »Wo?« »Sie haben sich mit den Flußbewohnern zusammengetan und fliehen mit ihnen den Fluß entlang.« Grutar kniff die Augen zusammen. »Woher wollt ihr das wissen?« »Wir konnten sie sehen«, sagte der Bote. »Sie haben ein großes Boot genommen, und oben darauf steht die Sänfte des Heiligtums.« »Hm«, machte Grutar. Er traute dem Braten nicht.
Peter Terrid Wie es die Schurken geschafft hatten, mit einem Schlag den halben Jagdteppich anzuzünden, war ihm ein Rätsel. Wie sie es des weiteren bewerkstelligt hatten, den stets jammernden Extortirnser zu verschleppen, ohne daß dessen Geschrei das ganze Lager geweckt hätte, war das nächste Rätsel. Personen, die solche Kunststücke zuwegebrachten, traute Grutar noch ganz andere Listen zu. »Wir werden uns die Sache ansehen«, bestimmte er. »Los, treibt die Tarpane an. Wir haben es eilig.« Einmal mehr wurden die Tiere vorangetrieben. Grutar gönnte seinen Männern so wenig Schonung wie sich selbst. Er brauchte eine knappe halbe Stunde, bis er das Ufer des Dscharkin erreicht hatte. Dabei wiesen ihm die Rauchsäulen über den lichterloh brennenden Hütten den Weg. »Wo sind sie?« erkundigte sich Grutar, als er das Wasser des Flusses vor sich sah. Er spürte größte Lust, seinen müden, verschwitzten Körper mit einem Bad im Fluß zu erfrischen, aber er wußte, daß er dazu keine Zeit hatte. Außerdem sahen seine Untertanen, jedenfalls die meisten von ihnen, ein Bad als eine Art unsittlicher Handlung an. »Dort, flußabwärts«, wußte der Anführer des kleinen Trupps zu berichten, der vom Vorauskommando zurückgeblieben war. »Die Hauptstreitmacht des Generals ist dem Boot schon auf den Fersen.« Grutar rieb sich mit der flachen Hand durch das Gesicht, das von Müdigkeit und Erschöpfung gezeichnet war. »Wir rasten«, sagte er schließlich. »Und sucht eine Furt, wir setzen noch heute über den Strom.« »Willst du denn …« »Hirundo«, sagte Grutar müde. »Nie und nimmer ist dieser Verbrecher mit dem Extortirnser zusammen in einem Boot den Fluß hinuntergefahren. Er weiß, daß wir mit unseren Tieren schneller sind als das schnellste Boot. Wir würden ihn finden.« »Aber die Sänfte!« sagte der Jüngere.
Der Arkonide und der Yastor
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»Man hat sie deutlich gesehen.« »Natürlich«, sagte Grutar. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem wassergefüllten Kürbis, den man ihm entgegenhielt. »Genau das war auch bezweckt. Oh, er ist listig, dieser Atlan, gerissen und hinterhältig. Er will, daß wir den Fluß entlangjagen und ihn an seinen Ufern suchen. Er wird sich verrechnen.« Er stieg vom Tarpan und ging langsam zum Fluß hinunter. Seine Männer ruhten sich entweder aus oder bereiteten den Übergang vor. Knapp fünfzehntausend Mann standen Grutar jetzt zur Verfügung, und das war eine Streitmacht, mit der sich etwas anfangen ließ. »Du willst tatsächlich übersetzen?« fragte Hirundo. »Zu den Saddiers?« »Warum nicht?« »Sie gelten als heimtückisch und verschlagen«, sagte Hirundo, der sich in solchen Dingen auskannte. »Vielleicht gehört Atlan zu diesen Saddiers«, sagte Grutar. Er legte sich in das saftige Gras neben dem Wasser. »Wir wissen gar nicht, wie es auf der anderen Seite aussieht, wenn man von den ersten Reitstunden absieht. Tief in das Land jenseits des Dscharkin ist noch kein Zukaharto vorgedrungen. Heda, Kurier!« Der Reiter nahm Haltung an. »Nimm dir das beste Tier, das du finden kannst, und jage hinter dem Tropf von Führer her. Er soll seine Tausendschaften kehrtmachen lassen. Sie sollen hier warten, bis der Rest des Heeres sich gesammelt hat, und dann auf unserer Spur folgen.« Der Kurier wiederholte den Befehl, einschließlich des Wortes Tropf, was Grutar sichtlich amüsierte, dann machte er sich auf den Weg. »Du wagst viel«, sagte Hirundo. »Pah«, sagte Grutar. »Was soll's? Was werden unsere Leute mit mir – und auch dir, kleiner Bruder – machen, wenn der Extortirnser verschwunden bleibt?« »Sie werden uns töten«, sagte Hirundo dumpf.
»Und was werden die Saddiers mit uns tun, schlimmstenfalls?« »Uns töten«, sagte Hirundo wieder. »Wo also ist das Risiko? Beide Wege können in den Tod führen. Der eine Weg ist sicher, der andere bietet viele Möglichkeiten und Überraschungen. Welchen Weg wirst du wählen?« Hirundo lächelte. »Angriff!« sagte er. »Über den Fluß hinweg. Welchen Weg wird Atlan nehmen?« Grutar brauchte nicht lange zu überlegen. Mit dieser Frage hatte er sich seit Stunden beschäftigt. »Er wird nach Süden reiten«, sagte der Yastor. »Und zwar ziemlich genau südwärts, auf das Gebiet der Saddiers zu. Nur dort kann er hoffen, Verbündete gegen uns zu finden.« »Er könnte sich in die Weite des jenseitigen Jagdteppichs flüchten«, bemerkte Hirundo. »Er ist keiner von uns«, sagte Grutar selbstsicher. »Die Weite ist nicht seine Sache. Außerdem, was will er mit dem Extortirnser auf dem Jagdteppich? Nein, er wird nach Süden gehen wollen, zu den Saddiers. Und dort werden wir ihn finden.« »Und dann?« Grutar lächelte. »Wenn wir ihn haben, wird er sterben, langsam und qualvoll, und mit ihm seine Gefährten. Sie werden den Tag verfluchen, da sie geboren wurden.« Er stand langsam auf, sah über den Fluß hinweg. »Er ist dort drüben«, sagte er langsam. »Ich weiß es genau, und bei allen Göttern, wir werden ihn dort finden.« Er stieg die leichte Schräge des Ufers hinauf. Seine Reiter warteten. Er schwang sich in den Sattel, sah sich um. »Aufgesessen. Die Jagd beginnt!«
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Peter Terrid Weiter geht es in Band 148 von König von Atlantis mit: Die Jäger von Dorkh von Peter Terrid