GOTTFRIED HEROLD
Der berühmte Urgroßvater Illustrationen von Bernhard Nast
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
Alle Rechte ...
2 downloads
276 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
GOTTFRIED HEROLD
Der berühmte Urgroßvater Illustrationen von Bernhard Nast
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
Alle Rechte vorbehalten Printed in the German Democratic Republic
Lizenz-Nr. 304-270/23/61-(30-1 VA) Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden ES9D2 Für Leser von 8 Jahren an 1. Auflage
Es ist Erntezeit. In einem kleinen Dorf des Erzgebirges fahren die Bauern das Getreide ein. Die Schulferien sind vorüber. Die vielen fleißigen Kinder, die vor wenigen Tagen noch in den Kornpuppen Versteck gespielt haben, sitzen wieder artig in der Schule. Draußen rattern die Erntewagen mit den Korngarben vorbei. Die Jungen und Mädchen der Klasse 3 hören, was ihnen die Lehrerin erzählt. Es ist eine spannende Geschichte von tapferen Arbeitern, die vor dreißig Jahren um mehr Brot für ihre Kinder kämpften. Die Lehrerin sieht natürlich sofort, wenn eines der Kinder zum Fenster hinausträumt. „Ob du mir wohl sagen kannst, wer Otto Buchwitz ist?“ fragt sie den Träumer. Noch bevor sich dieser von seinem Schreck erholen und eine Antwort stammeln kann, lacht der kleine Jürgen und ruft vergnügt: „Otto Buchwitz, das ist doch mein Großvater. Pionierehrenwort! Oder mein Urgroßvater!“ Jürgen ist das so herausgerutscht, als würde er seiner Mutter sagen: Heute habe ich im Rechnen wieder eine Eins bekommen. Die anderen Kinder denken, der Jürgen ist plötzlich ein Prahlhans geworden. Die Lehrerin sagt nur: „Ich weiß, Jürgen. Setz dich!“ Dann erzählt sie, daß Otto Buchwitz ein verdienter Arbeiterführer ist, den die guten Menschen in der ganzen Welt alle sehr gern haben. Das kennt Jürgen
schon alles. Er ärgert sich, daß er es hat nicht erzählen dürfen. Als in der Pause der Pionierleiter bittet, er möchte doch um fünf Uhr nachmittags ins Pionierzimmer kommen, knurrt Jürgen nur: „Vielleicht.“ Im stillen nimmt er sich vor: Ich gehe nicht ins Pionierzimmer! Um fünf Uhr ist Jürgen aber doch pünktlich in der Schule; denn er ist ein guter Jungpionier. Und deshalb muß sein Trotzkopf nachgeben. Jürgen wundert sich ein bißchen, daß alle Versammelten so freundlich zu ihm sind. „Du hast doch einen berühmten Großvater oder Urgroßvater, Jürgen“, spricht der Pionierleiter. „Was würdest du sagen, wenn wir ihn zu uns einladen?“ Jürgen sagt erst einmal nichts. Dann fragt er: „Habt ihr denn seine Adresse?“ „Wir wollten dich bitten, uns die Adresse aufzuschreiben.“ Jetzt freut sich Jürgen. Die Freude ist in seinem Gesicht zu sehen. Langsam buchstabiert er die Anschrift des berühmten Großvaters oder Urgroßvaters. „Ich weiß aber nicht, ob er kommen kann.“ Er zuckt ein paarmal mit den Achseln und erzählt: „Er hat nämlich viel Arbeit in Dresden und in Berlin. Aber ich glaube, zu Kindern kommt er trotzdem.“
Eines Morgens erhält Otto Buchwitz einen Brief aus jenem kleinen Erzgebirgsdorf, wo Jürgen zur Schule geht. In dem Brief heißt es: LIEBER GENOSSE OTTO BUCHWITZ! Mit uns geht ein Pionier in die Schule, der behauptet, Sie wären sein Großvater oder sein Urgroßvater; genau weiß er es nicht, aber eines von beiden wird schon stimmen. Unsere Lehrerin hat uns schon vieles
von Ihnen erzählt. Vielleicht könnten Sie einmal Ihren Urenkel besuchen und uns dann in unserer Schule etwas erzählen. Bitte schreiben Sie uns, wann Sie kommen werden. „So eine freundliche Einladung. Da muß ich ja wohl bald hinfahren“, sagt Otto Buchwitz zu seiner Frau. Sie weiß, wenn ihn Kinder um etwas bitten, kann er es nicht abschlagen. Als Otto Buchwitz zur Arbeit fährt, überlegt er schon den Brief an die Kinder im Erzgebirge. Zwei Tage später wissen die Kinder, wann ihr Gast kommt. Bald ist jener aufregende Tag herangerückt. Schon in der Frühe hängen die Pioniere Girlanden über die Dorfstraße. Die Muttis oder Omas bügeln die blauen Halstücher und die weißen Blusen und Hemden. Die Aula der Schule, darin der hohe Gast sprechen soll, wird mit Fahnen geschmückt. Aus dem ganzen Dorf tragen die Kinder die Blumen zusammen. Jürgen hat ein bißchen Angst. Was wird der Opa sagen, wenn er erfährt, wer die Adresse verraten hat. Um ein Uhr muß Jürgen zum zweiten Male an diesem Tag in der Schule sein. Es sollen noch einmal die Lieder für die Feier geprobt werden. Gegen zwei Uhr wird der Opa zu Hause erwartet. Jürgen hält gerade seinen schwarzen Wuschelkopf unter den Wasserhahn, um ja eine ordentliche Frisur zustande zu bringen, da klopft jemand an die Tür.
Pudelnaß geht Jürgen öffnen. Vor Schreck weiß er nicht gleich, was er sagen soll. „Na, Steppke, willst du deinen Opa nicht reinlassen?“ fragt Otto Buchwitz. „Aber natürlich will ich ihn reinlassen!“ Jürgen lacht. Da kommt zum Glück die Mutter. Im Dauerlauf flitzt Jürgen zur Schule. „Er ist da! Zu Hause sitzt er und trinkt mit der Mutti Kaffee“, ruft er in den Saal. „So ein Kaffeetrinken wird eine halbe Stunde dauern“, rechnet der Pionierleiter. „Bis die Zigarre aufgeraucht ist, vergeht auch einige Zeit, also können wir den Genossen Buchwitz in einer Stunde bei euch zu Hause abholen.“ Jürgen seufzt. „Da macht man was mit, wenn man so einen berühmten Urgroßvater hat.“ Aber niemand hat Zeit, Jürgen zu bedauern. „Wie sieht er denn aus?“ will ein neugieriges Mädchen wissen. „Na, er hat graue Haare. Sehr groß ist er auch nicht, aber ein prima Kumpel, kann ich euch sagen. Pionierehrenwort!“ „Und ist er nun dein Großvater oder dein Urgroßvater?“ fragt ihn ein anderes Mädchen. „Das kannst du doch ausrechnen; wenn er von meiner Mutti der Großvater ist, ist er von mir der Urgroßvater.“ So hatte es ihm die Mutti heute morgen erklärt. Um fünfzehn Uhr sind alle zweihundertzwanzig Kinder in der Aula versammelt. Als Otto Buchwitz mit den besten Pionieren, auch Jürgen ist dabei, die Aula betritt, schallt ihm ein Lied
entgegen. Jürgen wollen plötzlich die Beine gar nicht mehr richtig gehorchen. Er strampelt ganz außer Takt vor zur ersten Reihe. Otto Buchwitz winkt den Kindern zu beiden Seiten zu und tritt an den kleinen Tisch, neben dem ein bequemer Sessel bereitsteht. Dann lauschen die vielen Kinder, wie sie noch nie jemandem gelauscht haben. Was der alte Arbeiterführer aber auch alles zu erzählen weiß! Der kleine Jürgen hat keine Angst mehr wegen der verratenen Adresse, weil sein Opa dort vorn so ein prima Kumpel ist.
DER KLEINE PLAKATKLEBER
Als Otto Buchwitz ein kleiner Junge war, wollte er abends nie gern zu Bett gehn. Immer hatte er irgendeine Ausrede. Vor allem dann, wenn die Arbeitskollegen seines Vaters kamen. Was gab es da nicht alles zu hören, von Lokomotiven und Kesseln und Dampf. Manchmal brachte einer der Männer für Otto etwas mit: eine selbstgebaute Sandschaufel oder sogar eine Dampfwalze, aus der sich Rauch kräuselte, wenn man eine Räucherkerze hineinstellte. Alle Männer, die zu ihnen kamen, waren Arbeiter. Vater nannte sie Genossen. Eines Abends, Otto mochte damals so sechs Jahre alt gewesen sein, war er schon zeitig ins Bett geschickt worden. Die Genossen in der Stube redeten wieder einmal alle durcheinander. Man konnte kein Wort verstehen, und an der Tür lauschen war vom Vater verboten. Auf einmal ging langsam die Tür auf. Schnell legte sich der kleine Junge in seinem Bett wieder hin. Er tat, als ob er schliefe, und schnarchte ein bißchen. „Lausejunge“, sagte der Vater leise. „Schläfst du schon?“ „Ja, Vater, ganz fest“, piepste Otto. „Komm, steh mal auf!“ Sofort war der kleine Kerl aus dem Bett. Die Mutter bat den Vater, er möchte das Kind
schlafen lassen, es sei doch gefährlich mitten in der Nacht! Wie leicht könne etwas passieren. Aber Otto war mit Vaters Hilfe schon in die Hosen gestiegen. Er war sehr glücklich, daß es etwas Gefährliches war, was er nun erleben sollte. „Ich habe gar keine Angst“, versicherte Otto. Er konnte kaum erwarten, daß es fortging. Zuvor mußte er den Genossen versprechen, niemand etwas darüber zu erzählen. „Bestimmt, ich sag es niemand!“ versprach Otto. Draußen war es dunkel und still. Nur das Tappen der Männer hörte man. Sie gingen in verschiedenen Richtungen davon. Der Vater trug einen kleinen Marmeladeneimer voll Leim und eine Rolle Plakate. Otto schleppte die große Pinselbürste, mit der Vater sonst die Wände anstrich in der Stube. Vater blieb manchmal stehen, sah sich nach allen Seiten um und lauschte ein paar Sekunden. „Ich habe gar keine Angst, Vater“, flüsterte der Junge dann jedesmal. Er war gespannt, wann die Sache denn nun gefährlich werden würde. Am großen Bretterzaun der Eisenbahnwerkstätten blieb der Vater erneut stehen. Dann setzte er den Eimer hin, bestrich die Rückseite des ersten Plakates mit Leim und hob sich den erschrockenen Jungen auf die Schultern. Während er ihm das Plakat hochreichte, sagte er: „Drücke es fest an, so hoch es geht! Damit es niemand abreißen kann.“
Otto tat, was der Vater ihm sagte, und war bald wieder unten. Zehn Meter weiter wurde er erneut auf die Schultern des Vaters gehoben. Das ging so lange, bis am Ende der Straße plötzlich jemand das Lied „Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein…“ zu pfeifen begann. Der Vater wußte genau, wer das Lied pfiff und warum. Schnell hob er sich den Jungen von der
Schulter und rannte mit ihm fort. Den alten Eimer konnte die Polizei ruhig finden. Der Leim war alle, auch das letzte Plakat angeklebt. Die Pinselbürste hatte der kleine Otto noch erwischt. Der Posten hatte rechtzeitig zu pfeifen begonnen. Otto schien es, als suche der Vater irgend etwas, so kreuz und quer rannten sie durch die Stadt. Als sie dann zu Hause unterschlüpften und Otto seine Jacke zurechtziehen konnte, fragte der Vater: „Na, war es sehr gefährlich?“ „Ja, Vater.“ „So, warum denn?“ „Weil man herunterfallen kann von dort oben, wenn man nicht fest sitzt. Und als du so gerannt bist mit mir, hätte ich bald meine Schuhe verloren.“ Der Vater lachte. „Warum haben wir denn soviel Zettel mit roter Schrift angeklebt?“ wollte Otto noch wissen, als der Vater ihm die Sachen auszog. „Wir wollen, daß jeder Arbeiter seinen gerechten Lohn erhält, damit alle Kinder Kuchen und Schokolade essen können. Verstehst du?“ „Ja, Vater! Die Genossen sind gut zu den Kindern“, murmelte Otto und lachte den Vater noch einmal müde an. In dieser Nacht träumte der kleine Junge von einem Teller so groß wie ein Wagenrad. Darauf lagen Berge von süßem, duftendem Kuchen. Als er dann am
nächsten Morgen wie immer nur Marmeladenschnitten bekam, wußte er, die Zettel mit der roten Schrift waren auch für ihn, und niemand konnte sie abreißen, so hoch hatte er sie angeklebt.
DER GUTE MEISTER GOLIATH
„Wenn du noch mal fünf Ziegel auf einmal nimmst, reiße ich dir die Ohren ab. Und komme jetzt frühstücken!“ Otto Buchwitz war schon zehn Jahre alt und fürchtete nicht um seine Ohren. Er schämte sich, daß er wieder kein Frühstück mithatte. „Soll ich dir die Wurstbrote noch hinbringen?“ rief der Mann, der ihm die Ohren abreißen wollte. Otto lief schnell zu ihm. Seitdem er keinen Vater mehr hatte, waren die Hafenarbeiter seine Väter. Jeden Ferientag ging er zu ihnen. Er half den Männern bei der Arbeit und bekam immer viel zu essen dafür. Dankbar nahm er die Wurstbrote aus der großen Hand des Mannes, den die anderen den Meister Goliath nannten, weil er sehr groß war und stark. Manchmal lachten die Männer auch über ihn und hießen ihn das Kindermädchen. Aber deshalb mochten sie ihn genauso gern wie den Jungen. Meister Goliath erzählte oft Geschichten zum Frühstück. Meist waren es recht abenteuerliche Dinge, die er erlebt hatte, als er noch ein junger Seemann gewesen war. Heute war der gute Meister Goliath wohl ein bißchen traurig. Vielleicht, weil er nicht wußte, wie lange sie auf den Schleppkahn warten mußten, oder…?
Otto konnte sich die Traurigkeit des starken Goliath nicht recht erklären. Er sah den Meister an und die Männer, und dann fragte er etwas, was ihm schon seit Tagen wissenswert schien: „Meister, nicht wahr, in einer Hängematte schläft man besser als auf einem Plättbrett?“ „Dumme Frage, Junge! Ist doch klar. Kannst dich ja mal auf so einer Holzlatte langlegen.“ „Ja, ich weiß, man kann nicht einschlafen und fällt auch runter.“ „Was denn?“ forschte der Meister und drehte sich halb dem Jungen zu. In seinen Augen war Neugier. „Woher weißt du denn solches Zeug?“ „Seit die Mutter mein Bett an den Bäcker hat verkaufen müssen für Brot, schlafe ich auf so einem Brett. Vielleicht wäre eine Hängematte für mich auf einem Kahn aufzutreiben?“ „Der Junge schläft auf einem Plättbrett, habt ihr da noch Worte?“ fragte der Meister seine Männer und schlug sich empört mit seinen großen Händen auf die Knie. Einer wollte wissen: „Hat er denn keine Verwandten, die Geld haben?“ Otto antwortete: „Doch, solche Verwandten haben wir. Manchmal geben sie mir auch einen Groschen. Meist muß ich aber lange vor der Tür stehn, und dann gibt mir doch niemand etwas.“ „Solche Verwandte hat er, habt ihr da Worte?“ fragte Goliath wieder und sah die Männer an. „Ich
kannte einen, der ist ein Dieb geworden, weil er nichts zu essen hatte.“ „Einmal sollte ich auch schon einer sein“, sagte Otto zum besorgten Goliath. „Damals hatten sie dem Fleischerjungen in unserer Klasse die Buntstifte gestohlen. Ich war es nicht gewesen, aber der Lehrer hat mich jeden Morgen an die Tafel kommen lassen, und dort hat er mich verprügelt. Zehn Tage hat er das gemacht, dann hat sich der richtige Dieb gemeldet. Der Bäckerssohn war es!“ „Zehn Tage Prügel, habt ihr’s gehört?“ Die Männer sahen bedauernd auf den kleinen Buchwitzjungen. Er spürte ihr Mitleid. „Aber geheult habe ich nicht! Der Lehrer hat gedacht, ich sei ein ganz großer Dickkopf. Jeden Tag habe ich noch mehr Prügel bekommen deshalb. Und ich habe doch nur nicht geheult, weil es nicht schön aussieht bei einem Jungen und weil ich einmal ein Genosse werden will!“ „Hast recht“, sagte Goliath. „Und iß noch den Apfel. Dann legst du dich in den Lagerschuppen und schläfst.“ Meister Goliath ließ sich nicht widersprechen. „Wenn Feierabend ist, wecken wir dich. Wer in der Nacht nicht schläft, muß es am Tage tun.“ Zu Mittag kam endlich der Schleppkahn. Otto hörte nicht einmal die Schiffssirene tuten, wie Meister Goliath befürchtete. Der Junge schlief wie eine Fledermaus im Winterschlaf. Erst als um vier Uhr
nachmittags jemand heftig an die Schuppenwand donnerte, erwachte Otto. Auf seinem Bauch lag seine Mütze. Als er sich aufrichtete, rutschte sie hinunter, so schwer war sie von dem vielen Geld, das darin war. Zuerst dachte Otto, der liebe Gott hätte die Münzen hineingelegt, wie so etwas oft in den Lesebüchern erklärt wird. Aber dann fand er unter dem Geld einen Zettel, auf den Goliath mit einem dicken Bleistift geschrieben hatte. ANBEI GELD FÜR EIN NEUES BETT. DU SOLLST GUT SCHLAFEN! Meister Goliath sah durch einen Spalt in der Holzwand des Schuppens, wie der Junge langsam aufstand. Da lief er davon, so schnell er konnte. Als Otto mit der Mütze und dem Geld aus dem Schuppen trat, war Meister Goliath nur noch ganz klein in der Ferne zu erkennen. „Guter, lieber Goliath“, sagte Otto leise und ging nach Hause. „Die Hafenarbeiter haben das Geld für mich gesammelt, zum Lohn für meine Hilfe“, erklärte er der Mutter. „Du sollst Brot und Wurst und Kartoffeln kaufen, soll ich bestellen.“ Den Zettel des guten Meisters Goliath versteckte Otto.
EINE SCHÖNE BESCHERUNG
Seit zwei Tagen hatte es ununterbrochen geschneit. Alle Kinder freuten sich darüber. Otto aber wünschte, die Sonne möge den Schnee ganz schnell wegtauen. Der Hausbesitzer hatte nämlich zur Mutter gesagt: „Der Otto ist nun bald vierzehn Jahre alt, er kann früh um sechs aufstehn und den Schnee vorm Haus wegschaufeln. Dafür brauchen Sie in den Wintermonaten zwei Mark Miete weniger zu bezahlen.“ Die Buchwitzmutter durfte nicht lange überlegen. Am nächsten Morgen hatte sie den Otto halb sechs Uhr geweckt und ihm eine dicke Mehlsuppe gekocht. Eine halbe Stunde später war der Junge auf der verschneiten Straße gewesen. So war es nun jeden Tag. Am Sonntag vor Weihnachten sang Otto ein fröhliches Lied beim Schneeschippen; er freute sich. Wenn es Abend war, sollte er in eine Gaststätte kommen, in der sonst nur die reichen Leute sonntags Kaffee tranken. Die Tante hatte gestern extra deswegen ein Mädchen geschickt.
Es hatte gesagt: „Die gnädige Frau läßt bestellen, der Otto soll zur Weihnachtsfeier der armen Kinder kommen. Ein sauberes Hemd soll er anziehn und dem lieben Gott danken für die Gnade.“
Otto schien dieser Sonntag so lang wie drei Tage. Er wußte kaum, wie er die vielen Stunden bis zum Abend herumbringen sollte. Als es endlich dunkel wurde, brachte die Mutter ihm das frisch gebügelte Hemd. „Du solltest doch schnell ein bißchen beten“, sagte sie. „Unsere Tante wird danach fragen.“ „Ach, was habe ich mit dem lieben Gott zu schaffen?“ fragte Otto. „Um ein paar neue Schuhe könntest du ihn bitten, beispielsweise, und um einen Anzug, wenn du aus der Schule gehst.“ Otto wußte es besser: „Das muß ich der reichen Tante sagen, wenn’s in Erfüllung gehen soll. Beten hilft sowieso nicht!“ Die Mutter seufzte nur. Sie hatte auch noch nicht erlebt, daß ein neuer Anzug vom Himmel gefallen war. So einen Baum wie im Märchen vom Aschenputtel müßten wir haben, dann brauchte ich die schönsten Anzüge und Schuhe nur aufzusammeln, dachte Otto, während er sein Sonntagshemd anzog. Die Mutter gab ihm eine Ermahnung um die andere mit auf den Weg: „Mache eine Verbeugung, wenn du der Tante guten Abend sagst! Iß nicht zuviel! Sei nicht vorlaut! Lache nicht über den Pfarrer!“ Es war so viel, daß Otto sich gar nicht alles merken konnte. Neugierig betrat er den großen Saal der Gaststätte. Schöne Düfte von Äpfeln, Pfefferkuchen und Backpflaumen stiegen ihm in die Nase. Auf den glitzernden Zweigen eines hohen Tannenbaumes
brannten die Lichter. Auf den langen Tischen lagen viele Pakete, größere und kleinere. Eines davon wurde wahrscheinlich für ihn sein. Plötzlich kam ein langes, fremdes Fräulein und nahm Otto an der Hand, um ihn in ein kleines Nebenzimmer zu fuhren. Dort saß auf einem krummbeinigen Stuhl seine Tante. Sie hatte ein Kreuz umhängen, so groß, wie das auf der Kirchturm spitze aussah, wenn man hinaufblickte. Es hing an einer dünnen, goldenen Kette. Otto rief laut: „Guten Abend, Tante!“ und verbeugte sich, wie es die Mutter gewünscht hatte. „Schön, schön, mein Junge. Hör zu! Du wirst einen Anzug bekommen und Schuhe. Freust du dich?“ „Ja, Tante. Aber beten habe ich vergessen.“ „Dafür wirst du dem Pfarrer die Hand küssen. Alle Kinder werden es tun. Auch den Tanten und mir küßt du artig die Hand. Hörst du?“ „Ja.“ „Aber eines merke dir: Ich wünsche nicht, daß du Tante zu mir sagst, wenn du dich bedankst. Es braucht niemand zu wissen, daß wir miteinander verwandt sind.“ „Ja, aber…“, stotterte Otto betroffen. „Warum denn, Tante, warum?“ Die Tante spielte mit dem goldenen Kreuz. „Weißt du“, sagte sie, „das verstehst du nicht. Geh jetzt zu den anderen Kindern und tu, was ich dir gesagt habe.“ Otto stand wie festgefroren. Er sah an sich hinab. Das Sonntagshemd trug er zwar, aber die Hosen hatten einen Flicken und die Schuhe schon
keinen Glanz mehr vom Alter. Und er blickte auf die Tante. Ihr Kleid duftete und knisterte. Er wußte plötzlich genau, daß sich die Tante seiner schämte. Nicht, daß er ein sauberer, guter Junge war, sah sie, sondern nur den Flicken auf der Hose und die alten Schuhe. Und die Mutter hatte sich so gemüht, daß der Flicken nicht so sehr zu sehen ist. Otto hätte losheulen mögen. Langsam wandte er sich und ging zur Tür. Im Saal waren die Kinder zu einem Chor aufgestellt. „Stille Nacht, heilige Nacht…“, sangen sie. Vorn betete der Pfarrer. Otto lief hinaus in den Abend, wo so viel Stille war und so viel Schnee. Die Mutter sah ihn lange an, weil er mit leeren Händen kam. „Sie hat gesagt, ich durfte nicht Tante zu ihr sagen. Nur weil ich arm bin, verstehst du? Die anderen Leute sollen nicht wissen, daß sie mit so einem armen Kind verwandt ist! Da bin ich lieber schnell fortgerannt. Von solchen Leuten will ich nichts geschenkt bekommen. Und die Hände sollte ich auch noch allen küssen.“ „Du wirst nun keinen Anzug haben, wenn du aus der Schule gehst“, sagte die Mutter. „Lieber keinen neuen Anzug, als solchen dicken Tanten Dankeschön sagen müssen!“ „Wenn man arm ist, muß man kuschen wie ein Hund vor den Reichen. Du wirst es noch spüren, Junge.“ Die Mutter tat die Hände vor das Gesicht. „Ich will nicht kuschen, Mutter. Der Vater hat gesagt: ,Die Armen dürfen nicht kuschen vor den Reichen.
Kämpfen müssen sie!‘ Ich will auch kämpfen, Mutter!“ „Iß Abendbrot, Junge, und geh zu Bett!“ Ganz müde klangen die Worte der Mutter. Während Otto seine Käseschnitten aß, dachte er: Wenn ich aus der Schule bin, will ich alles Geld, das ich verdiene, der Mutter geben. Dann wird sie sicher nicht mehr so traurig sein.
STREIT IN DER DACHKAMMER
Dem Schlosserlehrling Otto Buchwitz erging es nicht besser als jedem anderen Lehrling vor fünfundsechzig Jahren: „Hole Frühstück!“ „Geh der Meisterin die Teppiche ausklopfen!“ „Gib den Hammer her!“ „Ich hau dir eine runter!“ „Kehre die Werkstatt aus!“ „Singe nicht bei der Arbeit!“ So einem Lehrling ging es wie einem Hund, den niemand liebhat: Wer nur wollte, konnte ihn verhauen. Das war jeden Tag so, zwölf und mehr Stunden, vier lange Jahre. Der Lehrling Buchwitz wußte: Der Geselle Eduard war der Schlimmste. Er war der Mann von der Tochter des Chefs. Viele Ohrfeigen hatte Otto schon von ihm bekommen. Wenn Eduards Hand zufällig danebentraf, schlug er vor Zorn mit beiden Fäusten zu. Wieder einmal hatte Eduard seinen schlechten Tag. Wütend schmiß er das Werkzeug auf dem Tisch herum. Otto, der neben ihm arbeiten mußte, ahnte nichts Gutes für sich. Unruhig schielte er ab und zu unauffällig zu dem Gesellen hin. Da war es auch schon geschehen. Es knackte, Otto war ein Bohrer abgebrochen.
Eduard hatte es bemerkt. Endlich sah er einen Grund, seinen Zorn auszutoben. „Nichtsnutz!“ schrie er und hob auch schon die Hand, um den Lehrling zu schlagen. Otto wich aus. Die anderen Gesellen legten ihr Werkzeug hin. Eduard packte den schmächtigen Lehrling. Otto versuchte, sich zu wehren, aber der Geselle schlug schon unbarmherzig zu. Da biß ihn Otto so heftig in den Arm, daß Eduard brüllte, als wollte ihn jemand ins eiskalte Wasser werfen. In seiner Wut ergriff er eine meterlange Eisenstange. Er holte aus… Da packte ihn der Altgeselle Striegler und warf ihn zu Boden. Sofort sprangen die anderen Gesellen herbei, hielten Eduard fest, und nun schlug Striegler zu. „Wenn du nicht aufhörst, die Lehrlinge so boshaft zu quälen, und weiter hier den Chef spielen willst, bekommst du jeden Tag solche Prügel!“ Eduard jammerte: „Ich tu’s nicht wieder.“ Die anderen ließen ihn los. Er ging fort, ohne sich noch einmal umzusehen. „Zusammenhalten müssen die Arbeiter!“ sagte der alte Striegler. „Dann sind wir stark. Dann kann uns keiner mehr behandeln wie einen Hund.“ An diesem Abend stieg Otto freudig in seine Dachkammer. Der Fleischerlehrling Richard hatte schon den Tisch gedeckt. Er brachte oft etwas Wurst und Speck aus dem Laden mit. Die beiden Lehrlinge wohnten zusammen. Abends erzählten sie sich, was
sie am Tage erlebt hatten. Otto berichtete, was in der Werkstatt geschehen war. „Wenn wir zusammenhalten“, sagte Otto, „sind wir stark. Du mußt auch in die Gewerkschaft gehen, Richard!“ „Ich gehe nicht! Fange nicht wieder damit an.“ „Wenn ich nicht drin wäre, hätten mir die anderen heute nicht geholfen. Vielleicht hätte mich dieser Eduard totgeschlagen.“ Richard lachte. „Gewerkschaft kostet Geld. Ich kaufe mir lieber Tabak dafür.“ „Tabak hilft aber nicht gegen solche, die Lehrlinge totschlagen wollen.“ „Du bist ja dumm“, Richard tippte sich an den Kopf. „Fünf Mark Lohn gibt dir der Meister in der Woche. Fünfzig Pfennig läßt dir die Mutter Taschengeld. Zehn Pfennige mußt du in der Woche an die Gewerkschaft bezahlen. Bleiben ganze vierzig Pfennige! Wie ich dich kenne, kaufst du dir davon auch noch unnützen Bücherkram.“ „Bücher sind gut. Man lernt was daraus.“ „Papperlapapp“, machte Richard. „Die Hauptsache, ich weiß, wie Wurst gemacht wird.“ „Aber ob die Pinguine am Nordpol leben oder am Südpol, weißt du nicht, was?“ „Aus Pinguinen kann man keine Mettwurst machen.“ Meine Güte, ist der Richard dumm, dachte Otto. Er überlegte angestrengt, wie er ihm erklären sollte, daß
man als Lehrling in der Gewerkschaft sein mußte. Richard stopfte seine Strümpfe, so lange durfte die Kerze noch brennen. „Weißt du, Richard, mit der Gewerkschaft ist das wie mit der Wurst. Wenn du die. Speckstückchen, das Fleisch und die Gewürze in einen Darm steckst, kann man in die Wurst hineinbeißen.“ Richard wunderte sich. Woher wußte Otto, daß in eine Wurst auch Gewürze hineingehören? Es blieb ihm jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken. Otto sprach schon weiter: „Wenn ich aber eine dicke Schale aus Eisen um so eine Wurst mache, beißen sich die Leute die Zähne aus daran.“ „Na und?“ fragte Richard neugierig. „So begreif doch: Die Gewerkschaft ist wie so eine Eisenschale. Wenn man drin ist, kann niemand ran an einen.“ „Licht aus!“ brüllte der Meister unten im Hof. Otto blies die Kerze aus. Richard stach sich in den Finger beim Stopfen. „Da hast du’s“, triumphierte er. „Nun mache etwas gegen den Meister mit deiner Gewerkschaft.“ Otto hängte eine Decke vor das Fenster und brannte die Kerze wieder an. „Wenn du es dem Meister nicht erzählst, wenn wir zwei zusammenhalten, dann können wir Licht brennen, so lange wir wollen. Wir haben eine Eisenschale um uns.“ Sie lagen schon in den Betten, als Otto die Kerze auslöschte. Richard sagte noch: „Die zehn Pfennige in der Woche wurde
ich bezahlen, wenn ich wußte, daß der Meister mich dann nicht mehr mit dem Beilstiel verhauen darf.“
„Wenn er’s macht, kommen die anderen aus der Gewerkschaft und verprügeln ihn wie wir heute den Eduard. Bestimmt!“
Richard wollte gleich am nächsten Tag den ersten Groschen für die Gewerkschaft bezahlen gehen. Und was sich der Richard einmal vornahm, das tat er auch. Auf Richard war Verlaß.
DIE SUCHE NACH DEM MAIPLAKAT
Die Stadt Dresden war schon damals eine der schönsten in Deutschland. Anmutig schlängelte sich die Elbe unter weitschwingenden Brücken hindurch. Viele schöne Türme reckten sich aus dem Häusermeer hinauf gen Himmel. Im Dresdener Schloß wohnte ein König und in den hohen,’ dunklen Mietshäusern viele fleißige Leute. Sie waren meist sehr arm, weil allen Reichtum, den sie mit ihrer Hände Arbeit schafften, dieser König für sich allein verbrauchte, überall in Deutschland, wo Otto Buchwitz herumgewandert war, hatte er viele fleißige Leute getroffen. Überall, wo er dazu Gelegenheit fand – im Betrieb, im Haus, in den Versammlungen der Arbeiter – erklärte er den fleißigen Menschen, was sie stark machte gegen ihre Unterdrücker. Das war gefährlich, denn die Unterdrücker hatten die Polizei. Gaben sie ihr den Befehl: Schießt auf die Arbeiter, so taten es die Polizisten. Manche Arbeiter hatten deshalb Angst vor der Polizei. Auch die Wirtin, bei der Otto Buchwitz in Dresden wohnte, zitterte vor ihr. Dabei war sie sonst eine beherzte, gutmutige Frau. Wenn Otto Buchwitz von der Arbeit nach Hause kam, brachte sie ihm mit liebevollem Eifer sein
Essen. Auch diesmal blieb sie wie gewöhnlich bei ihm sitzen und fragte nach seiner Arbeit. Plötzlich entdeckte sie eine Papierrolle, die auf Ottos Bett lag. Da die Frau ein bißchen neugierig war, wollte sie sehen, was in die Rolle hineingewickelt war. „Nicht aufmachen!“ gebot ihr Buchwitz. „Sind wohl verbotene Plakate drin?“ fragte die Wirtin argwöhnisch. „Nein, heute nicht!“ „So, was dann?“ „Es steckt eine Zeichnung von einer Maschine drin, mit der man Löcher in Eisen bohren kann. Eine Bohrmaschine nennt man das.“ „Die Polizei können Sie meinetwegen beschwindeln, junger Mann. Einer alten Frau sollten Sie die Wahrheit sagen.“ Aber gerade das durfte Otto nicht wagen. Wenn die Frau nämlich einmal von so einem Geheimpolizisten ausgefragt würde, konnte sie alles ausplaudern, ohne daß sie es wollte und merkte. Deshalb durfte Otto ihr nichts verraten. „Junger Mann“, begann die Wirtin wieder, „Sie sollten vorsichtiger sein. Kaum haben Sie Arbeit bekommen, halten Sie eine politische Rede im Betrieb gegen den Chef, und er setzt Sie dann wieder auf die Straße.“ „Leider.“ Der junge Mann lachte. „Und nie sind Sie abends zu Hause. Jeden Abend rennen Sie in eine Versammlung.“ „Es ist wichtig, Frau Wirtin. Man lernt was dabei.“ „Sie haben aber auch keine Ohren.“
Otto griff sich an die Ohren. „Sind alle beide dran.“ Da mußte auch die Wirtin lachen. „Ich sage es Ihnen“, sprach sie beim Hinausgehn, „eines Tages wird die Polizei kommen und Sie verhaften. Man hat schon keine ruhige Minute mehr. Jedesmal, wenn es klopft, erschrickt man.“ Gut, daß sie fort ist mit ihrem Gejammer, dachte Buchwitz. Dann rasierte er sich und zog ein frisches Hemd an. Er hörte die Wirtin in der Köche mit Töpfen klappern. Sorgsam steckte er die Papierrolle unter die Jacke. Da wurde heftig an die Flurtür geklopft. Otto wartete, bis die Wirtin geöffnet hatte. „Polizei, wir wollen zu Buchwitz!“ hörte Otto eine Männerstimme im. Flur sagen. Schnell lief er zum Fenster, riß es auf, hängte die Rolle mit den Plakaten an einer Schnur unters Fensterbrett. Draußen war es schon dunkel. Von dort konnte also niemand die Rolle hängen sehen. Die beiden Geheimpolizisten traten hochnäsig in das kleine Zimmer. Sie trugen enge Hosen, große Strohhüte, und jeder hatte einen Spazierstock am Arm hängen. „Buchwitz?“ fragte der ältere, dem ein Bart unter der Nase wuchs. „Herr Buchwitz“, antwortete der Gefragte. Der junge Polizist lächelte schadenfroh. „Sie haben verbotene Zeitungen hier!“ behauptete der mit dem Bart. „So?“ wunderte sich Buchwitz. „Wir werden
das Zeug finden. Und dann passiert Ihnen was, das kann ich Ihnen sagen.“ An der Tür stand die Wirtin. Sie zitterte vor Angst. Die Polizisten wühlten in Buchwitz’ Kommode herum, warfen die Sachen aus dem Schrank, zerrten Federdecke und Matratze aus dem Bett. „Wo haben Sie die verbotenen Zeitungen?“ brüllte der Bärtige. „Ich habe keine. Es tut mir leid, daß Sie sich vergeblich abgemüht haben.“ „Wir erwischen Sie schon noch. Heute haben Sie jedenfalls in der Firma Hempel eine aufrührerische Rede gehalten. Sie haben gesagt, die Arbeiter mußten mehr Lohn vom Chef verlangen. Und der Chef dürfe nicht jeden Sonntag tausend Mark im Pferderennen verwetten.“ „Hab ich gesagt!“ Buchwitz nickte. Der Chef hatte ihn also bei der Polizei angezeigt. Da wurde er ihn auch morgen aus der Arbeit entlassen. „Sie sind ein ganz besonders frecher Lümmel, Buchwitz. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie eines Tages im Zuchthaus landen.“ Buchwitz mußte plötzlich lachen. Der Bart des älteren Polizisten war ja nur angeklebt! Er hing ihm jetzt ganz schief unter der Nase. Es sah lustig aus. „Sie sollten den Bart fester ankleben, Herr Polizist. Wenn Sie das Ding verschluckten, könnten Sie daran sterben.“
Der jüngere der beiden Beamten hätte am liebsten mitgelacht. Der mit dem falschen Bart aber ging schnell zur Tür. „Werfen Sie den Kerl hinaus!“ sagte er noch zur Wirtin. Dann war er fort. Sein Kumpan mußte sehen, daß er mitkam.
Dann holte Otto rasch die Plakate herein. „Na, wie ists, werfen Sie mich wirklich hinaus?“ fragte er die Wirtin. Sie zitterte immer noch. Aber sie war selbst eine von den Armen und sagte nur, sie könne ihm nicht böse sein. Otto rannte die Treppe hinunter. Hinter einem Baum, dem Haus gegenüber, wartete seit einer Stunde der Fleischergeselle Richard. Otto hatte ihn nach fünf Jahren in Dresden wiedergefunden. Gemeinsam klebten sie nun in der Dresdner Neustadt die Plakate an. Damit wurden alle Arbeiter aufgefordert, am 1. Mai auf der Straße zu marschieren, wie es heute alle Arbeiter tun. Richard hatte gehalten, was er einst versprochen hatte. Otto sagte sogar schon „Genosse“ zu ihm. Richard war sehr stolz darauf.
DIESER BUCHWITZ IST SCHLAU
In der Oberlausitz, dort, wo in den großen Tälern buntbemalte Holzhäuschen stehen, nennen die Leute das Dorfgasthaus den Kretscham. In dieser Gegend arbeitete der Genosse Buchwitz, als er dreißig Jahre alt war. Im Saal des Kretschams wären schon viele Leute versammelt, als Otto Buchwitz dort eintraf. Er war der Leiter der großen Versammlung. Es wurde noch ein Genosse erwartet, der die Rede halten sollte. Otto Buchwitz setzte sich an seinen Platz auf der Bühne. Am gleichen Tisch saßen mit finsteren Gesichtern der Bürgermeister und der Polizist des Dorfes. Sie waren von den reichen Gutsbesitzern als Aufpasser geschickt worden. Die Versammlung sollte um sechs Uhr beginnen. Es war zehn Minuten nach sechs. Der Redner war noch nicht da. Der Bürgermeister tuschelte mit dem Polizisten. Der nickte zufrieden und blinzelte dem Bürgermeister zu. Dann stand er gewichtig auf: „Wenn die Versammlung halb sieben nicht angefangen hat, wird sie aufgelöst!“ „Dann werde ich die Rede halten“, sagte Buchwitz entschlossen. „Nein! Es redet hier nur der, der uns gemeldet ist. Verstanden!“ schnauzte der Polizist.
Buchwitz dachte jedesmal, wenn die Saaltür aufging: Jetzt muß der Redner kommen. Schon blieben nur noch zehn Minuten. Dann würde der Polizist die Versammlung schließen, und niemand hatte den armen Steinbrechern und Leinewebern erklärt, daß sie alle zusammenhalten müßten gegen
die Reichen und deren Polizei. Fünf Minuten vor halb sieben Uhr erhob sich der Genosse Buchwitz: „Verehrte Anwesende! Wir müssen zunächst zehn Leute wählen, die mit hier vorn auf der Bühne sitzen sollen. Bei einer Versammlung ist das so üblich.“ „In geheimer Wahl?“ fragte jemand im Saal. „In geheimer Wahl“, antwortete Buchwitz. „Ihr schlagt vor, und wer einverstanden ist, schreibt den genannten Namen auf seine Einladung. Die zehn Leute, die auf den meisten Zetteln stehn, werde ich dann nach vorn bitten.“ Dreiviertel sieben waren vier Namen genannt. Der Redner war immer noch nicht da. Aber die Versammlung hatte begonnen. Der Bürgermeister und der Dorfpolizist waren fürs erste überlistet. Nun, da im Saal alle durcheinanderredeten, konnten sie nicht gegen die vielen Menschen aufkommen. „Weitere Namen!“ rief Buchwitz. Immer wieder sah er zur Tür. Er hatte fünf Genossen mit Fahrrädern fortgeschickt, sie sollten den Redner suchen. Um sieben standen sechs Namen auf den Zetteln. Der Bürgermeister brummte den Polizisten an: „Verbieten! Der Redner kommt ja doch nicht mehr!“ „Kann ich nicht, Bürgermeister. Ich habe gesagt, wenn die Versammlung halb sieben nicht begonnen wird, ist sie verboten. Fünf vor halb sieben hat dieser Buchwitz angefangen!“
Um viertel acht waren neun Namen genannt. „Trottel!“ fauchte der Bürgermeister den Polizisten an. Halb acht wurden die Wahlzettel eingesammelt und mit dem Zählen der Namen begonnen. Wenige Sekunden danach kam der Redner in den Saal gelaufen. Er warf den Mantel über einen Stuhl. Seine
Stimme zitterte noch vom schnellen Atmen, als er seine Rede begann. Die Polizei hatte ihn verfolgt. Er mußte einen großen Umweg machen. Der Genosse erzählte den Dorfleuten vom Kampf der Arbeiter in den Städten. Die ihm zuhörten, machte stark, was er sagte. Nun wurden auch sie besser gegen ihre Unterdrucker kämpfen können. Der Bürgermeister und der Polizist hielten die Hände gefaltet. Oder sollten sie vielleicht auch noch Beifall klatschen wie alle anderen im Saal? „Dieser Buchwitz ist schlau!“ flüsterte der Polizist dem Bürgermeister ins Ohr. „Er hat uns überlistet mit seinem Wahlquatsch.“ Der Bürgermeister war wütend. Morgen würden alle Leute im Dorf über ihn lachen. Er wollte einen Bericht schreiben, daß dieser Buchwitz endlich eingesperrt würde. Den Polizisten würde er absetzen. Am liebsten hätte er gleich alle im Saal verhaften lassen. Doch das waren über dreihundert Menschen. Und wenn die wollten, konnten sie ihn zum Fenster hinauswerfen. Vor Angst ging er nach der Versammlung ganz zuletzt aus dem Saal.
DIE FLUCHT MIT DEM GROSSEN HUT
Die Faschisten in den braunen Uniformen waren gemein. Sie hatten schon viele gute Menschen eingesperrt. Mitten in der Nacht holten sie sie aus den Betten und schafften sie ins Gefängnis. Eine schreckliche Zeit hatte in Deutschland begonnen. Zum Frühjahr 1933 hatten die Faschisten eine Sitzung einberufen. Sie fand im Reichstagshaus in Berlin statt. Einige Genossen, die von den Arbeitern gewählt worden waren, um sie bei der Regierung zu vertreten, waren ebenfalls gekommen. Vor einer Verhaftung fürchteten sie sich noch nicht, da die Faschisten sie ja eingeladen hatten. Auch Otto Buchwitz kam. Die Faschisten freuten sich darüber. Sie hatten vor, ihn nicht mehr nach Hause gehen zu lassen. Buchwitz sollte ins Gefängnis gebracht werden. Er war den braunen Gesellen zu mutig. Sie mußten Angst vor ihm haben. In einer Pause kam ein Genosse zu Otto Buchwitz. Er sagte zu ihm: „Buchwitz, du sollst heute verhaftet werden. Ich habe es gehört von so einem in brauner Uniform.“ „Lebendig bekommen mich die Strolche nicht!“ „Rede keinen Unsinn, Buchwitz!“ „Unsinn sagst du? Na, ich will denen nicht in die Hände fallen.“
„Wer hat denn gesagt, daß sie dich überhaupt bekommen?“ „Sie werden alle Ausgänge besetzen.“ „Das können sie.“ „Soll ich vielleicht zum Fenster hinausspringen?“ „Da wurdest du nicht mehr am Leben sein, wenn du unten bist.“ „Also, was redest du, Schlaumeier?“ „Ich habe hier schon einige Genossen herausgeführt. Ich bringe dich nach der Sitzung fort. Du mußt mir aber einen neuen Hut kaufen, einen grauen. Für heute habe ich einen schwarzen besorgt. Wenn ich den aber das nächste Mal wieder nehme, fällt es den Faschisten auf.“ „Einen grauen Hut? Mache keine Scherze. Mir ist nicht lustig zumute.“ „Reg dich nicht auf, Otto. Höre dir noch den Quatsch an, den der Chef von den Braunhemden reden wird. Dann wartest du an der Treppe zum dritten Stock auf mich.“ Wollte der ihn in eine Falle locken? fragte sich Buchwitz. Als die Rede im Saal beendet war, ging er dennoch zum vereinbarten Ort. Der Freund stand bereits dort. Er sagte zu ihm: „Herr Graf, Ihre Garderobe!“ Er hielt ihm weiße Handschuhe und einen großen schwarzen Hut hin, der eine sehr breite Krempe hatte. „Ich bin kein Graf, sondern ein Arbeiter. Laß den Unsinn!“
„Anziehen, schnell“, flüsterte der Freund. „Und dann komm immer hinter mir her. Du mußt denken, daß du wirklich ein reicher Graf bist. Es waren ja genügend hier.“ Der Freund hatte sich als Kellner verkleidet, wie es viele in der Gaststätte des großen Hauses gab. Er ging Buchwitz voran. Treppauf, einen langen Gang entlang, hier durch ein Zimmer, dort wieder eine Treppe hinunter. Bald so wie damals, als mein Vater mit mir durch die ganze Stadt gelaufen ist, nachdem wir die Plakate angeklebt hatten, dachte Buchwitz. Wenn sie jemand begegneten, machte der Kellner eine Verbeugung und sah sich dann schnell nach seinem Grafen um. Plötzlich standen sie vor einer kleinen Tür. Sie führte nach draußen. Der Kellner ließ Buchwitz vorangehen. Draußen standen etwa dreißig Männer in braunen Uniformen um ein Auto. Würden sie ihn jetzt in das Auto werfen? War der Kellner vielleicht doch ein Verräter? fragte sich Otto Buchwitz mißtrauisch. „Herr Graf, Ihr Wagen steht leider ganz hinten am Ende der Straße. Gestatten Sie, daß ich Sie geleite“, sprach der Kellner sehr laut. Die in den braunen Uniformen hörten es deutlich. Ein Graf, das war ein sehr reicher Mann. Einer von denen, die Geld für die braunen Uniformen und die Messer gegeben hatten.
Die Braunhemdenmänner knallten die Stiefelabsätze zusammen und grüßten den Grafen mit erhobenem Arm. Der falsche Graf winkte mit der Hand im weißen Handschuh und folgte seinem Freund, dem falschen Kellner.
Am Ende der Straße stieg Buchwitz in ein Taxi, gab dem falschen Kellner Geld für den Hut und druckte ihm lange die Hand. „Auf Wiedersehen und alles Gute!“ sagte der Freund. Er sah noch lange dem Auto nach, in dem Otto Buchwitz glücklich davonfuhr, irgendwohin, wo die Genossen ihn erwarteten.
SPEZIALIST FÜR BOHRMASCHINEN
Durch viele Länder der Erde war Otto Buchwitz gekommen: zu Fuß und mit der Eisenbahn. Er war mit dem Schiff über die Meere gefahren, und überall hatte er den Arbeitern geholfen, überall auch hatten sie ihm beigestanden. Er war mutig. Er wollte in aller Welt beweisen, daß es auch noch gute Menschen gab, die aus Deutschland kamen. Daß nicht alle Deutschen mit Panzern und Flugzeugen in fremde Länder kamen und Menschen töteten, nur, weil die Faschisten es befohlen hatten. Viele Jahre hielten die Soldaten aus Deutschland fremde Länder besetzt. Und überall, wo sie waren, suchten sie nach Buchwitz. Im Jahre 1940 hatten sie den sechzigjährigen, tapferen Arbeiter in Dänemark gefangen. Sie brachten ihn nach Deutschland. Das höchste Gericht verurteilte ihn zu vielen Jahren Zuchthaus. Man schlug ihn, ließ ihn hungern. Aber alle jene, die aus gleichen Gründen hinter Gittern waren, hälfen Buchwitz. Sie wußten, wie tapfer er gewesen war. Sie wußten, sie konnten viel von ihm lernen. Auch im Zuchthaus half er den Genossen, stark zu bleiben. Nachts, in den Zellen, oder am Tage, wenn sie in großen Sälen arbeiten mußten, sprach er mit ihnen. Es
war an einem Vormittag. Draußen schien die Sonne. Die Aufseher kontrollierten die Arbeit der Gefangenen. „Wo ist er?“ klang plötzlich von der Tür her die Stimme eines Wachtmeisters in den Saal. Die Gefangenen kannten ihn nicht. Er kam aus einem anderen Gebäude. Der Gefangene, der den Wachtmeister begleitete, sagte: „Dort!“ und wies auf Buchwitz. Beide kamen zu ihm an den Arbeitsplatz. „Sind Sie der Gefangene Buchwitz?“ versicherte sich der Wachtmeister noch einmal. „Ja, der bin ich.“ „Sind Sie Spezialist für Bohrmaschinen?“ Der Gefangene, der mitgekommen war, zwinkerte Buchwitz zu. Niemand bemerkte es, nur Buchwitz verstand dieses Augenzwinkern. „Ja, ich verstehe mich ausgezeichnet auf solche Maschinen“, sprach er schnell. „Sie kommen mit. Sie werden im Haus zwei eine solche Maschine reparieren.“ „Gut.“ Buchwitz ging mit den beiden in das andere Gebäude. Sie kamen in einen Raum, in dem zwischen verschiedenen anderen Maschinen tatsächlich eine Bohrmaschine stand. Zwei Gefangene arbeiteten daran. „Sie dreht sich nicht mehr“, sagte der eine. Der Wachtmeister knurrte: „Wenn der Spezialist fertig ist, wird mir das sofort gemeldet! Er muß wieder hinüber.“
„Jawohl!“ Dann war Buchwitz mit den Gefangenen allein. „Ich verstehe aber von solchen Maschinen nicht sehr viel“, sagte er lachend.
„Das macht nichts“, tröstete ihn der älteste der drei Gefangenen, der Bruno hieß. „Haben wir sie entzwei bekommen, werden wir sie auch wieder reparieren. Wir fanden nur keine andere Ausrede, um mit dir sprechen zu können, Genosse Buchwitz.“ „Was habt ihr denn für Sorgen?“ „Wie geht es dir? Du siehst krank aus.“ „Ist das jetzt das wichtigste?“ fragte Buchwitz erstaunt. „Es ist auch wichtig“, antwortete Bruno. „Ich weiß, aber wichtiger wäre jetzt eine geheime Gruppe, welche die Gefangenen führt.“ Bruno berichtete: „Wir haben hier im Haus Nummer 2 schon eine Leitung. Du sollst dazu gehören. Du hast die meisten Erfahrungen.“ Buchwitz bedankte sich, weil die Genossen ihm vertrauten. Sofort wußte er, was zu tun nötig war. „Wir müssen versuchen, Verbindung zu den sowjetischen Soldaten zu bekommen. Es muß unter den Gefangenen ein zuverlässiger, mutiger Genosse gefunden werden, der uns einen Sender bauen kann.“ „Das wird schwer sein“, sagte Bruno. Ein anderer warnte: „Wenn man uns erwischt, erschießt man uns.“ „Man wird uns nicht erwischen“, sprach ihm Buchwitz Mut zu. „Und jetzt muß die Bohrmaschine in Ordnung gebracht werden. Wenn ich zu lange hier bin, fällt es auf. Wenn ihr mich wieder braucht, wird die Maschine schon entzweigehn.“
Bald kam der Wachtmeister und führte Otto Buchwitz zurück in das andere Gebäude. „Haben Sie die Maschine repariert?“ fragte er. „Ja, eine Verbindung mußte geflickt werden am Motor. Es ist möglich, daß sie mal wieder reißt. Es ist schon eine alte Maschine. Wenn Sie mich holen, bringe ich es gern wieder in Ordnung.“ Die Maschine ging fast jede Woche einmal entzwei, und jedes Mal mußte der Spezialist Buchwitz aus dem Haus 1 geholt werden. Als er in der vierten Woche zu den drei Genossen kam, sagte Bruno stolz: „Genosse Buchwitz, der Sender ist fertig.“ „Wir nehmen sofort Verbindung zu den sowjetischen Soldaten auf. Sie können nicht mehr weit sein.“ Seit diesem Tage hatten sie neuen Mut. Bald würden sie befreit werden. Jedesmal wenn die Faschisten wieder aus einem Land hinausgeworfen worden waren, hatten sich die Gefangenen gefreut. Jetzt jubelten sie über jeden Kilometer, den die sowjetischen Soldaten näher kamen. Wann wurden sie wohl vor dem großen Tor stehen?
DIE GEBURTSTAGSFEIER
Der 27. April war für Otto Buchwitz ein besonderer Tag. Es war sein Geburtstag. Im Jahre 1945 wurde er Sechsundsechzig Jahre alt. Immer noch war er eingesperrt. Aber die Befreier kamen näher und näher. In der Ferne hörten die Gefangenen schon den Donner ihrer Kanonen. In den Arbeitssälen wurde jetzt nicht mehr gearbeitet. Die Aufseher waren in der vergangenen Nacht geflohen. Die Faschisten waren geschlagen. Die Leitung der Gefangenen bestimmte nun, was zu tun sei. Zuerst wurden die finsteren Zellen geöffnet, in denen seit Monaten viele Genossen eingesperrt waren, die erschossen werden sollten. Sie lachten und weinten vor Freude, als sie endlich die Sonne wiedersahen, überall standen die Gefangenen in Gruppen zusammen, besuchten Genossen, die in den anderen Gebäuden untergebracht waren, und hatten keine Angst mehr. An jenem schönen Aprilmorgen sangen über hundert Gefangene dem Genossen Otto Buchwitz als Geburtstagsgeschenk ihr schönes Lied: Brüder, in eins nun die Hände! Alle wünschten ihm Gesundheit, und einer brachte sogar eine Zigarre. Er hatte sie jahrelang versteckt. Erst an dem Tage, an dem sie befreit würden, hatte er sie rauchen wollen.
Als Buchwitz das hörte, sagte er: „Da bewahre sie nur noch die paar letzten Stunden auf. Bestimmt werden mir heute die sowjetischen Soldaten auch noch zum Geburtstag gratulieren.“ Einige lachten. „Heute werden wir hier herauskommen“, versicherte Buchwitz noch einmal. Dann beriet er mit den Genossen der Leitung den Plan zur Verteidigung der Gebäude vor deutschen Truppen. Bruno sagte: „Wenn die zurückkommen, müssen wir uns darauf gefaßt machen, daß sie uns alle erschießen.“ „Wir sind dreihundert Mann.“ „Sie machen es aber überall so“, antwortete Bruno. „Panzer kommen!“ rief, plötzlich einer der Gefangenen in das Zimmer, in dem die Gefangenenleitung versammelt war. „Sowjetische?“ fragte Buchwitz. Der Gefragte wußte es nicht. Alle sahen gespannt zum Tor, über den Sender kam keine Antwort mehr. Mit den wenigen Waffen, die sie den Aufsehern weggenommen hatten, wurden alle wichtigen Punkte des Zuchthauses besetzt. Das Gerassel der Panzer kam näher. Was würde in der nächsten halben Stunde geschehen? Kein Schuß fiel, das war verdächtig. Vom Dach aus beobachteten Buchwitz und die Genossen das umliegende Gelände. Von jedem Gebäude wartete ein Melder bei ihnen. „Dort!“ rief Bruno plötzlich erschrocken. „Panzer!“ schrien alle durcheinander.
„Wartet noch, Genossen!“ befahl Bruno den Meldern. Buchwitz sagte ganz ruhig: „Genossen, seht die Fahne, unsere Fahne, die rote Fahne der Arbeiterklasse!“ Die Melder rannten davon. Sie sahen nicht mehr, daß Bruno vor Freude weinte. Ein paar Minuten später wurde unten das große Tor geöffnet. Sowjetische Soldaten traten in den Hof. Aus den Häusern kamen die Gefangenen gerannt. Die sowjetischen Soldaten umarmten sie. „Drushba!“ riefen sie dabei. „Freundschaft“, jubelten die Befreiten. Und immer wieder erklang es aufs neue: „Drushba – Freundschaft!“ Rings um die Gebäude des Zuchthauses hatten sich sowjetische Panzer aufgestellt. In den Hof fuhren zwei Lastwagen. An jedem hing eine Feldküche. Aus den kleinen Blechschornsteinen stieg Rauch in den Frühlingshimmel. Die deutschen Genossen mußten ihre Eßschüsseln holen. Es gab Soljanka, das ist eine russische Fleischsuppe, die sehr gut schmeckt. „Wo sein Genosse Buchwitz?“ rief ein sowjetischer Offizier über den großen Hof, auf dem die deutschen Genossen mit ihren sowjetischen Freunden saßen. Langsam ging Buchwitz zu ihm. Vor Freude konnte er nichts sagen.
Der Offizier grüßte ihn, als stünde der höchste General vor ihm: „Ich bin sehr froh, daß Sie leben!“ sagte er zu Buchwitz. Dann umarmten sich beide lange und herzlich. Als Buchwitz wieder zu den anderen trat, sagte einer zu ihm: „Jetzt sag mir aber, wie hast du wissen
können, daß wir gerade zu deinem Geburtstag befreit werden?“ Buchwitz lachte ihm ins Gesicht. „Ein Sozialist muß eben alles wissen.“ Dann beriet der sowjetische Offizier mit den deutschen Genossen, was zu tun sei. Der Krieg war noch nicht zu Ende. Die Befreiten mußten in Sicherheit gebracht werden. Als es dunkel wurde, waren alle angetreten. Die Kranken wurden gefahren. Eine starke Kolonne sowjetischer Soldaten übernahm den Schutz der deutschen Genossen. Der Weg führte sie ostwärts, dorthin, wo schon Frieden war. Die ganze Nacht wurde marschiert. Morgens machten sie Rast in einem kleinen Dorf. Im Osten war ein rotes Leuchten am Himmel. Die Sonne ging auf. Es wurde ein schöner Tag werden. Sowjetische Soldaten brachten Brot, Speck und Eier zum Frühstuck. Als die Sonne hoch am Himmel stand, waren alle dreihundert deutsche Genossen in Sicherheit. Die wenigen Tage, die der Krieg noch dauerte, warteten sie ungeduldig. Dann konnten sie heimkehren zu ihren Frauen und Kindern, die sie viele Jahre nicht gesehen hatten.
EINE GROSSE FREUNDSCHAFT
Die sowjetischen Soldaten hatten den Frieden zu uns gebracht. Die Arbeiter jagten ihre Unterdrücker fort. Arbeiter und Bauern, Genossen wie Otto Buchwitz, wurden jetzt Minister. Sie hatten eine schwere Arbeit. Im Krieg waren viele Häuser, Fabriken und Schulen zerstört worden. Es gab wenig zu essen. Jeder bekam auf die Lebensmittelkarte für vier Wochen nur so viel zu kaufen, wie er in einer Woche bequem hätte aufessen können. Die Minister rechneten hin und her, wie sie den fleißigen Menschen in den Fabriken und Bergwerken mehr zu essen geben könnten. Eines Nachts saß Otto Buchwitz zu Hause am Tisch und überlegte eine Rede, die er am nächsten Tage halten sollte. Es klingelte. Ein anderer Minister, Genosse Friedrichs, kam und erklärte: „Genosse Buchwitz, wir haben nicht mehr so viel Lebensmittel, daß wir im nächsten Monat den Leuten das geben können, was wir versprochen haben.“ Das war eine traurige Nachricht. Wieder mußte man rechnen. Aber fünf weniger zwei bleibt drei, und wenn man eine ganze Woche daran herumrechnet. Am Morgen wurden Boten in andere Städte geschickt. Sie sollten fragen, ob man der Stadt Dresden und den vielen kleinen Städten ringsum
etwas borgen könne. Abends jedoch kamen die Boten mit leeren Händen zurück. Niemand konnte etwas abgeben. Die Minister mußten beschließen, den Arbeitern weniger zu essen zu geben, viel weniger. Vielleicht würden welche vor Hunger sterben. Die zweite Nacht saßen die Minister nun schon im Gebäude der Landesregierung zusammen. Gemeinsam berieten sie, wie sie den Arbeitern den Beschluß erklären sollten. Um Mitternacht meldete der Pförtner einen sowjetischen Offizier. Er wolle dringend den Genossen Buchwitz sprechen. Der Offizier gab den Ministern die Hand. „Genosse Buchwitz, ich soll Sie sofort nach Berlin zu unserem Marschall bringen. Bitte nehmen Sie noch einen Genossen mit. Wir können sofort losfahren. Der Marschall erwartet Sie! Um vier Uhr morgens waren sie in Berlin. Jetzt wird der Marschall noch schlafen.“ Buchwitz lachte. Der Offizier belehrte ihn: „Unser Marschall hat viele Sorgen mit Deutschland. Wenig Zeit zum Schlafen.“ Dann führte er sie in das Zimmer, in dem der Marschall bereits auf sie wartete. „Ich habe gehört, Sie haben keine Lebensmittel mehr“, sprach er nach der Begrüßung. „Zu wenig, Genosse Marschall“, erklärte Buchwitz. „Bitte setzen Sie sich. Wir werden probieren.“ Er telefonierte mit verschiedenen Freunden in anderen Städten. Er bettelte, lachte und schimpfte in russischer
Sprache. Nach einer Stunde entschied er: „Ich werde unsere Regierung in Moskau anrufen.“ Minister Friedrichs, der mitgefahren war, sagte sofort: „Das können wir nicht annehmen. Die Deutschen haben den Krieg in Ihr Land gebracht. Die Sowjetbürger haben selbst Not zu leiden.“ „Nun, wir werden probieren, Genossen.“ Der Marschall lächelte. „Wir sind doch jetzt Freunde, da muß einer dem anderen helfen.“
Während er mit seinen Gästen etwas zum Frühstück aß, ließ er sich erzählen, wieviel Fabriken schon wieder aufgebaut waren, wieviel Häuser, und fragte, ob die Kinder in den neuen Schulen, auch fleißig lernten. Das Telefon klingelte. Der Marschall nahm den Hörer ab: „Hier spricht Marschall Sokolowski in Berlin…“ Er erklärte seiner Dienststelle in Moskau, was er festgestellt hatte. Dann hörte er, was ihm aus Moskau geantwortet wurde. Mal lächelte er dabei, mal zeigten sich Falten auf seiner hohen Stirn. Es dauerte lange, bis er den Hörer hinlegte. Schließlich setzte er sich wieder zu seinen Gästen, trank ein ganzes Glas Tee leer und sagte: „Die Regierung der Sowjetunion hat mich beauftragt, Ihnen sofort alles abzugeben, was in den Verpflegungslagern unserer Soldaten irgendwie entbehrlich ist. Wir werden unsere Lager dann aus der Heimat wieder auffüllen lassen.“ Die beiden deutschen Genossen wollten dem Marschall danken. Er wehrte ab. „Nichts zu danken. Wir sind Freunde für immer. Sagen Sie bitte den deutschen Arbeitern, sie sollen ein schönes Deutschland aufbauen, das nie mehr Krieg macht. Die deutschen Arbeiter sind tüchtige Arbeiter. Wenn sie einig sind, werden sie es schaffen!“ Es ist ganz still in der großen Aula der Schule. Otto Buchwitz erhebt sich. „Damals, als ich mit dem
Fleischerlehrling Richard zusammen in der kleinen Dachkammer wohnte, habe ich dem Sozialismus mein Ehrenwort gegeben, wie man es einem guten Freunde gibt. Und so ein Ehrenwort darf man nicht brechen, auch wenn man geschlagen und viele Jahre eingesperrt wird für sein Versprechen. Stimmt es, Jürgen?“ „Ja!“ sagt Jürgen. Er ist heute sehr stolz auf seinen Opa. Und genauso wie dieser möchte er einmal werden. „Ihr, liebe Kinder, habt eurem Vaterland, unsrer Deutschen Demokratischen Republik, euer Ehrenwort gegeben. Ich weiß, ihr werdet es halten. Lernt in der Schule fleißig, und vergeßt nicht: Viele gute Menschen haben sterben müssen, daß es heute so schön in unserer Heimat ist. Und nun will ich mich von euch verabschieden. Es war sehr schön bei euch. Recht vielen Dank, daß ihr mich eingeladen habt.“ Ein kleiner Junge soll Otto Buchwitz einen Strauß roter Nelken schenken. „Geh hin zu ihm“, flüstert der Pionierleiter. Vorsichtig gibt er dem Jungen den Strauß in die Hand. Da steht ganz unvorhergesehen ein kleines Mädchen auf und bittet Otto Buchwitz: „Bleib ok hoch e bissel do!“ Alle lachen. Der Junge mit den Blumen weiß gleich nicht mehr, was er sagen sollte. Er ist rot bis hinter die Ohren. Unbeholfen hält er Otto Buchwitz die Nelken hin. „Von uns sind sie. Vielen Dank und alles Gute für die Gesundheit!“
Dann rennt er auf seinen Platz. Jürgen geht mit seinem Opa nach Hause. Alle Kinder stehen draußen vor der Schule und singen das Lied vom kleinen Trompeter. Lange noch winken sie Otto Buchwitz und Jürgen nach.
„Opa“, fragt Jürgen, „muß man auch gute Zensuren haben, wenn man sein Ehrenwort gegeben hat?“ „O ja“, spricht der Opa, „man muß viel wissen und tun, wenn man ein guter Mensch sein will.“