WAS THAZIENNE NICHT UMBRINGT, MACHT SIE HÄRTER.
Tazi ist die einzige eheliche Tochter des mächtigen Handelsfürsten T...
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WAS THAZIENNE NICHT UMBRINGT, MACHT SIE HÄRTER.
Tazi ist die einzige eheliche Tochter des mächtigen Handelsfürsten Thamalon Uskevren. Doch in den vergangenen Jahren hat sie einen schweren Schlag nach dem anderen erlitten, manche davon durch ihre treuesten Verbündeten. Tazi kämpft darum, ihre angeschlagene Seele zu heilen, doch dazu muß sie die Sicherheit der Sturmfeste verlassen und zu einer Reise aufbrechen, die sie von den dunkelsten Seitengassen Selgaunts bis ins glänzende Herz der Calimwüste führen wird. Der unbeständige Wüstensand verbirgt einen alten Widersacher, der den Schlüssel zu Tazis Errettung in Händen hält – oder ihren Untergang.
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BAND V
Der Sand der Seele
VORONICA WHITNEY-ROBINSON 3
Autor: Deutsch von: Lektorat: Korrektorat: Art Director, Satz und Layout: Umschlagillustration:
Voronica Whitney-Robinson Daniel Schumacher Oliver Hoffmann Thomas Russow/Lars Schiele Oliver Graute Raymond Swanland
ISBN 978-3-86762-042-0 Originaltitel: Sands of the Soul © der deutschen Ausgabe Feder&Schwert, Mannheim, 2009. 1. Auflage 2009. Druck: CPI Moravia Books, CZ-Pohorelice Der Sand der Seele ist ein Produkt von Feder&Schwert. © 2002 Wizards of the Coast, Inc. All rights reserved. This material is protected under the copyright laws of the United States of America. Any reproduction or unauthorized use of the material or artwork contained herein is prohibited without the express written permission of Wizards of the Coast, Inc. Forgotten Realms and the Wizards of the Coast logo are registered trademarks of Wizards of the Coast, Inc., a subsidiary of Hasbro, Inc. All Forgotten Realms characters and the distinctive likenesses thereof are trademarks of Wizards of the Coast, Inc. U.S., CANADA, ASIA,
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Widmung Für Roderic, nach all den Jahren noch immer mein dunkelster Ritter. Über die Autorin Voronica Whitney-Robinson ist Weltenbummlerin und Freiwillige bei der Friedenstruppe in Afrika. Ihr erster Roman für Wizards of the Coast war ein RavenloftRoman zusammen mit James Lowder. Zu ihren weiteren beruflichen Erfahrungen zählten ihre Zeit als Tierarztassistentin in der Wildnis Neuseelands. Momentan ist sie in die Wildnis Seattles zurückgekehrt und arbeitet dort als Marinebiologin. Voronica stammt ursprünglich aus Massachusetts und genießt es jetzt in vollen Zügen, in den Tiefen des Waldes mit ihrem eigenen Streichelzoo zu leben. Wenn sie nicht gerade mit Haien oder Tintenfischen ringt, liebt sie es, alle Lichter in ihrem Haus auszumachen und die ganze Nacht lang Horrorfilme zu schauen. Man hat auch schon gehört, daß eines ihrer eher ausgefallenen Hobbys darin besteht, mit ihrem Motorrad mit ausgeschaltetem Scheinwerfer durch die Nacht zu brausen. Warum sie dies tut, ist unklar – vermutlich nur, um ihren Ehemann in ein bibberndes Wrack zu verwandeln.
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Im Monat Marpenot, Jahr der unbändigen Magie (1372 TZ) rollte vom Hafen heran. Ebeian Hart zog seiNebel nen leichten Umhang enger um die schmalen Schultern. Der rothaarige Elf tat es eher aus Gewohnheit, nicht, weil ihn wirklich fröstelte, da es in dieser Nacht für die Jahreszeit ohnedies ungewöhnlich warm war. Er mochte es nicht, wenn etwas in ungewohnten Bahnen lief, selbst wenn es sich dabei um so etwas Unvermeidbares wie das Wetter handelte. Vor allem dann nicht, wenn er gerade mitten in einem Einbruch steckte – und in dieser Nacht hatte er sich noch dazu etwas ganz Besonderes vorgenommen. Ebeian duckte sich hinter eine ziemlich muskulöse Statue und musterte den restlichen Innenhof eingehend. Seine schmalen Hände umfaßten den Granitbizeps, während er am gemeißelten Ellbogen des längst verflossenen, hier dargestellten Soargyl nach weiteren Wachen Ausschau hielt. Zwei miserabel ausgerüstete Wachposten waren gerade an ihm vorbeigetrottet, und 8
der Elf aus Tiefwasser zählte bis hundert, um sicherzugehen, doch keine weiteren Wachen tauchten auf, die ihre Runden drehten. Ebeian schüttelte den Kopf. Mit den SarntrompetTürmen war es zweifellos bergab gegangen, dachte er bekümmert, und das Anwesen und die Gärten wirkten herunterkommen und ungepflegt. Obgleich die Feste noch nie für ihre Schönheit bekannt gewesen war, hatte man sich in früheren Jahren zumindest um ihren Erhalt gesorgt. Anscheinend war dies nicht mehr der Fall. Ebeian war fast schon bereit, es sich anders zu überlegen, die Eskapade zu verwerfen und als nutzloses, weil nicht herausforderndes Unterfangen abzuschreiben. Doch wenn er eines noch mehr haßte als Dinge, die in ungewohnten Bahnen liefen, so war es, einmal gefaßte Pläne wieder umzustoßen. Er war so weit gegangen, und daher würde er noch viel weiter gehen, bevor sich die Nacht dem Ende neigte. Ebeian war sicher, daß er nicht mehr auf weitere Wachen treffen würde, und sprang vom Granitpodest. Noch ehe er sich seinen Weg in Richtung der fünf Steintürme, die sich inmitten des Hofes befanden, suchte, verneigte er sich kurz vor seinem stummen, vorübergehenden Komplizen aus Stein. »Sieht nicht so aus, als ob ich das diese Nacht noch benötigen würde«, flüsterte er und steckte die verzauberte Linse in eine verborgene Tasche. »Kein Grund, mein ›allsehendes Auge‹ zu vergeuden, wenn es doch augenscheinlich nichts zu sehen gibt.« Er hatte bereits herausgefunden, daß nur simple 9
Leuchtzauber die schmückenden Statuen und Brunnen, die überall im Hof des Anwesens standen, erhellten, und keiner davon diente zum Schutz oder zur Alarmierung. Ebeian hatte von seinen »Kollegen« gehört, daß Fürst Rorsin, der Patriarch der Soargyls, nicht mehr bereit oder in der Lage war, teures Geld für seine Magie zu bezahlen. Anscheinend entsprachen die Gerüchte der Wahrheit. Seit das Schicksal der Familie in den Händen des jungen Soargyl lag, hatte sich vieles zum Schlechten gewendet, und auch mit ihrem Reichtum war es bergab gegangen. Ebeian schüttelte nochmals traurig den Kopf. Der Vater Fürst Rorsins wäre sicher der erste gewesen, der zugegeben hätte, daß die breiten Schultern des jungen Burschen noch nicht bereit waren, die schwere Last der Stellung eines Handelspatriarchen zu tragen. Doch der Tod nahm auf solche Dinge keine Rücksicht. Ebeian schauderte erneut unwillkürlich und zog den dunkelgrauen Mantel noch enger um seinen Leib. Diesmal versuchte er, sich so unbewußt vor den unangenehmen Erinnerungen an die Ereignisse, die sich ein Jahr zuvor zugetragen hatten, zu schützen, schreckliche Ereignisse, die zum heruntergekommenen Zustand der Sarntrompet-Türme beigetragen hatten. Ereignisse, die Ebeian in dieser Nacht hierher geführt hatten, wenn auch auf verworrenen Pfaden. Widerwärtige Schattenmonster waren während eines Balls über das Anwesen der Uskevrens und, nicht zu vergessen, auch über das Herrenhaus der Soargyls hergefallen. Es war fast, als könne er noch immer ihre eisi10
ge Berührung spüren. Die Todesalben hatten eine Spur der Verwüstung zurückgelassen. Viele Festgäste waren nach dem Überfall auf die Sturmfeste, die mächtige Burg der Uskevrens, tot gewesen. Einige besonders unglückselige Opfer hatten den Angriff zwar überlebt, doch in einem Zustand, der den Tod beinahe erstrebenswert erscheinen ließ. Fürst und Fürstin Soargyl, die Eltern Rorsins, starben in jener Nacht in ihren Betten. Ebeian, der mit eigenen Augen gesehen hatte, wozu diese Schattenmonster fähig waren, hoffte inständig, daß die Soargyls tief geschlafen hatten, als das Unvorstellbare geschah, doch irgendwie zweifelte er daran. Unter seiner Lederkluft bildete sich eine feuchte Schweißschicht. Ebeian sog die schwere Nachtluft mit tiefen Atemzügen ein und versuchte, den Kopf wieder freizubekommen. Er konnte den salzigen Geschmack der Selgaunter Meeresluft spüren, obwohl der Hafen weit entfernt war. Natürlich gab es noch einen anderen, völlig rationalen Grund, warum die Gärten und das Herrenhaus nicht besser geschützt waren, und der hatte nichts mit Rorsins Kompetenz oder sträflichem Mangel eben derer zu tun, versuchte er sich zu beruhigen und so seiner morbiden Gedanken Herr zu werden. Mächtige Handelsfamilien wie die Soargyls oder die Uskevrens herrschten über Selgaunt. Es war eine sakrosankte Regel in der Unterwelt, daß die Behausungen dieser Elite unantastbar waren. Sie wurden schlicht und einfach nicht beraubt, und genau aus diesem Grund war Ebeian Hart auch an diesem Abend mit seinem irgendwie ungesunden Wetter hier draußen, statt ge11
mütlich in seinen Zimmern in der Schenke »Zum Schoß der Dame« zu sitzen. Er würde jetzt gerade an einem duftenden Becher Gewürzwein nippen und vielleicht eine schöne Hure mit einer seiner zahlreichen Geschichten betören. Er war hier, weil er nach einer Trophäe strebte, die nur eine einzige Frau zu schätzen wissen würde – eine Frau, die die Ironie und den Wert eines Diebstahls aus dem Anwesen einer der Familien des alten Rathes, einer Familie also, die man schlicht und einfach nicht bestahl, verstehen würde. Bei dieser Frau handelte es sich natürlich um niemand anderen als Thazienne Uskevren. Er war bereit, all dies und noch viel mehr für sie zu tun, nur um sich an ihrem Lächeln zu erfreuen oder erneut ihr unbeschwertes Lachen zu hören. »Ach, Tazi ...«, seufzte er, während er gedankenversunken von ihrem kohlrabenschwarzen Haar und ihren meergrünen Augen träumte, deren Grün sogar noch viel tiefer war als das seiner eigenen. Sie gehörte auch zu den Personen, die an diesem unglückseligen Abend vor gar nicht allzu langer Zeit angegriffen worden waren. Sie war zwar nicht gestorben, doch, so dachte zumindest Ebeian, war ihr sogar noch wesentlich Schlimmeres widerfahren. Die Liedpriester hatten fast die ganze Nacht gebraucht, um ihre aus dem Leib gerissene Seele wieder mit dem Körper zu vereinen. Selbst jetzt, einundzwanzig Monate später, war sie noch immer nicht sie selbst, sondern nur ein Schatten. Ihre Gestalt und Form mochte ja wie eh und je sein, dachte sich Ebeian, doch schien es ihr an Substanz zu 12
mangeln, so als könne sie jeden Augenblick verwehen. Natürlich ging die einzige Tochter Thamalon Uskevrens weiter ihren offiziellen Verpflichtungen nach – und vernachlässigte auch ihre riskanten, nächtlichen Unterfangen nicht, aber Ebeian spürte dennoch, daß Tazis Feuer nicht mehr heiß brannte wie einst. Er hoffte aus tiefstem Herzen, daß ihre Leidenschaft nur schlummerte. Wie eine Blume, die auf den Frühling wartete. Vielleicht brauchte Tazi ja nur ein wenig Wärme. Ach Tazi, dachte er, wie gerne würde ich dich wärmen, wenn du mich nur ließest. Ebeian schüttelte den Kopf, um die ablenkenden Gedanken zu verscheuchen. Ich kann an einem anderen Abend meinen süßen Gedanken nachhängen, ermahnte er sich. Heute wartet Arbeit auf mich. Ebeian suchte sich sorgfältig seinen Weg durch den Steingarten, in dem bis auf ein wenig Unkraut, das sich mit spinnengleichen Fäden auf die Pflastersteine vorgekämpft hatte, keine einzige Pflanze gedieh, bis er beim Zentralturm angekommen war. Wie es Rorsin fertigbrachte, im gleichen Turm, ja im gleichen Bett zu schlafen, in dem seine Eltern gestorben waren, konnte Ebeian wahrlich nicht verstehen, und erneut mußte er sich unwillkürlich fragen, ob der Junge ganz richtig im Kopf war. Welche Träume ihn plagten, war kein Thema, über das Ebeian länger nachzudenken gedachte. Ebeian entschied sich dagegen, mittels eines Schwebezaubers einfach zu jenem Fenster emporzugleiten, 13
hinter dem er das Schlafgemach vermutete. Immerhin, so sagte er sich, wäre es verkehrt, jenen Schatz, den er zu stehlen gedachte, allzuleicht zu erringen. Alles andere war schon viel zu einfach gewesen. Wenn der Preis, den er erringen wollte, etwas wert sein sollte, mußte er auch etwas Schweiß für ihn vergießen. Ebeian ließ seinen Blick über die steil aufragende Turmwand gleiten und sah in zahlreichen Steinen große Löcher. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Er hatte genau das richtige Werkzeug für diesen Streifzug bei sich. Natürlich war er stolz darauf, immer das richtige Werkzeug für jede Gelegenheit bei sich zu führen. Er griff in eine Gürteltasche, holte ein Paar verzauberte Metallkrallen hervor und stopfte seinen Umhang an ihrer Statt zurück in die Tasche. Jede Klaue hatte vier einzelne Krallen, an denen dort, wo sie mittels eines eisernen Kreuzbalkens aneinander geschmiedet waren, Lederschnüre befestigt waren. Es war schon einige Zeit her, daß er sie zuletzt benutzt hatte, aber dennoch glänzten sie in dem spärlichen Licht wie neu. Ebeian befestige die Klauen sorgfältig mit den Lederschlaufen an seinen schmalen Händen. Nun war er bereit. Die Steine im unteren Bereich des Turms wiesen bereits üble Sprünge auf. Recht mühelos zog Ebeian seinen schmalen Körper empor, und bald huschte er einer Echse gleich nach oben. Seine Finger fanden untrüglich eine Griffstelle nach der anderen, egal wie klein und unauffällig sie auch sein mochte. Die vielen Jahre, die er in der großen Stadt Tiefwasser geklettert war, hatten seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet aufs äußerste ge14
schärft. Eine solche Wand zu erklimmen fiel ihm beinahe so leicht, als wäre ihm die Fertigkeit in die Wiege gelegt worden. Je höher er kam, desto schwieriger wurde es allerdings, Halt zu finden. Da der Druck des darüberliegenden Mauerwerks immer geringer war, je höher die Steine lagen, waren sie natürlich wesentlich besser erhalten. Die Sprünge wurden seltener und kleiner. Jetzt kamen die Krallen erst richtig ins Spiel. Das hauchdünne, aber dennoch widerstandsfähige Metall ermöglichte Ebeian, in den kleinsten Spalten und Rissen Halt zu finden. »Puh, vielleicht wäre ein wenig gutes, altes Schweben doch nicht so fehl am Platz gewesen«, brummte er, während ihm der Schweiß zusehends am Körper klebte. Die feuchte Luft war auch nicht gerade hilfreich, und Ebeian war sich sicher, daß er seine Lederkluft am Ende der Diebestour nur vom Leib bekommen würde, indem er sie förmlich abschälte ... oder vielleicht würde er ja eine dralle Schankmaid dazu bringen, sie für ihn abzuschälen? Das war ein angenehmer Gedanke, dem er in dieser Lage nachhängen konnte. Ebeian dachte so versonnen darüber nach, die Hilfe welcher Schankmaid ihm wohl am liebsten wäre, daß er gar nicht bemerkte, daß der Spalt, in dem er seine Hand verankert hatte, kurz davor stand zu zerbröckeln. In dem Moment, in dem er sich endgültig hochzuziehen begann, barst der Stein unter seinem Gewicht, und Ebeian begann zu fallen. Er schlug wie wild mit seinen Krallen nach der vorbeirauschenden Turmwand und fiel ein oder zwei 15
Stockwerke tief, bevor eine der Krallen sich mit einem lauten Klang in eine Marmorplatte grub. Er stöhnte, als der plötzliche Stop einen grausamen Ruck durch sein Schultergelenk sandte, und stieß vor Schmerz zischend die Luft aus, weil es sich so anfühlte, als ob er seinen Arm ausgekugelt hätte. »Finsternis«, ächzte er. »Das wird die Sache nicht gerade beschleunigen.« Er baumelte einen Augenblick lang an seiner linken Hand. »Bei Fenmarel, ich muß aussehen wie irgendein primitives Tier aus den Dschungeln Chults, wie ich hier so am Turm schwinge.« Ebeian rang noch immer nach Atem und nutzte die Gelegenheit, um seinen Kopf soweit wie möglich zu verrenken und nach unten zu blicken. Er hatte wohl eine Glückssträhne, denn die Wachen hatten noch immer keine zweite Runde gemacht, und die schwache Verzauberung auf den Krallen hatte dafür gesorgt, daß sie bei seinen verzweifelten Versuchen, seinen Sturz zu bremsen, so gut wie kein Geräusch gemacht hatten. Als Ebeian bewußt wurde, daß der Nebel wohl dick genug war, um den Blick der Wächter auf ihn zu verschleiern, sobald sie erneut des Weges kamen, atmete er ein wenig leichter. Diesmal brauchte er doppelt so lang, um die Distanz wieder gutzumachen, die er abgerutscht war. Als er endlich unter dem Sims des Fensters angekommen war, das seiner Meinung nach in Fürst Rorsins Schlafzimmer führte, war seine gute Laune längst verflogen. Erneut 16
spielte er mit dem Gedanken, den ganzen Plan einfach aufzugeben und es in einer anderen Nacht erneut zu probieren. Doch trotz seiner oft scheinbar leichtfertigen Art war Ebeian durchaus zielstrebig und entschlossen. Tazi bedeutete ihm mehr, als er sich anmerken ließ, ja als er sich selbst eingestand. Er wollte unbedingt der sein, der es schaffte, sie zu berühren und ihr Feuer erneut zu entfachen, wenn doch scheinbar niemand mehr dazu in der Lage war. Er war sicher, daß, was immer er hier auch stehlen würde, genau jenes Geschenk war, das Tazi benötigte, um zu ihrem alten Selbst zurückzufinden. Mit neuer Entschlossenheit schwang Ebeian sein rechtes Bein empor und hängte sich mit dem Knöchel am Fenstersims ein. Elegant, wenn auch dank des pulsierenden Schmerzes in seiner verletzten Schulter nicht ganz so elegant wie üblich, zog er sich dann nach oben. Der Elf nutzte den Halt, den ihm der schmale Sims bot, und drückte kurz sein Gesicht gegen das kühle Mauerwerk. Leider konnte man auch von hier oben nicht viel sehen, da der Nebel die Lichter der Stadt praktisch ganz verschlang. Auch fiel ihm jetzt auf, wie dieser seltsame Nebel das ganze Anwesen der Soargyls wie ein Leichentuch bedeckt hatte. Die Statuen, Brunnen und anderes Schmuckwerk im Garten waren nur undefinierbare Schatten im Nebel. Erneut fröstelte er unwillkürlich. Seine Atemzüge waren schwer und angestrengt, und langsam begann sich Ebeian doch Sorgen zu machen. Der Schmerz, der von seiner Schulter ausstrahlte, wurde immer grausamer, und er fürchtete, daß er ihn in 17
einer kritischen Situation gefährlich verlangsamen konnte. »Vermutlich ist das nur die schwere Luft heute nacht«, versuchte er sich zu beruhigen. »Die Suppe ist so dick, ich könnte sie mit meinem Brotmesser schneiden.« Nachdem er diese fadenscheinige Theorie benutzt hatte, um seine überreizten Sinne zu beruhigen, wandte sich Ebeian dem Fensterrahmen zu und löste die Krallen von seinen Händen. Er rieb mit einer jetzt nicht mehr klauenbewehrten Hand über die Tätowierung in seinem Nacken. So brachte er Fenmarel ein lautloses Gebet dar, bevor er auf einen Diebeszug ging. Schwaches Licht flackerte im Raum. In dem diffusen Schein erkannte Ebeian ein großes Bett. Wahre Berge von Polstern waren ebenso daraufgehäuft wie mehrere große Decken. Ebeian dachte unfreundlich, daß Fürst Rorsin wohl nichts Lebendiges davon überzeugen konnte, ihm nächtens Gesellschaft zu leisten und Wärme zu spenden, und sich so zum Ausgleich auf diesen gewaltigen Berg Bettzeug verlassen mußte, doch das Bett war leer. »Ich frage mich, was der tumbe Bursche wohl gerade treibt. Ich war so sicher gewesen, ich würde leichtfüßig um seine monumentale Gestalt herumtänzeln müssen.« Auch das war nur ein weiterer Mosaikstein in Ebeians Plan, der in dieser Nacht einfach nicht passen wollte. Vorsichtig löste er seine Dietriche aus dem Band, mit dem er sie um den linken Unterarm gebunden hatte, 18
und achtete dabei sorgfältig darauf, die verletzte Schulter so wenig wie möglich zu belasten. Das Schloß am Fenster stellte kein Problem dar. Da niemand anwesend war, mußte er sich keine Gedanken über den kühlen Lufthauch machen, den er erzeugen würde, wenn er das Fenster zu weit öffnete. So schlüpfte Ebeian mühe- und lautlos in den Raum und wunderte sich erneut, wie leicht es doch war, hier Einlaß zu finden. Wenn das so weiterging, konnte man dem Burschen raten, sich die Mühe gleich zu sparen und die Vordertür nächtens offenzulassen. Doch irgendwie behagte die Situation dem Dieb nicht recht. Welchen Grund mochte es geben, hier alles so ungeschützt zu lassen? Konnte sich Rorsin wirklich so sicher sein, daß die ungeschriebenen Regeln Selgaunts sein Haus vor Dieben schützen würden, und selbst wenn, wie konnte er sich sicher fühlen, nachdem diese grauenerregenden Schatten seine Eltern getötet hatten? Oder gab es da noch etwas im Turm selbst, das für seine Sicherheit sorgte? Das war ein Gedanke, den er nicht aus den Augen verlieren sollte. Ebeian verharrte so lange bewegungslos, bis sich seine Augen an das diffuse Licht im herrschaftlichen Schlafzimmer gewöhnt hatten. Am Fuß des Bettes stand eine große Truhe, doch er schob den verführerischen Gedanken, darin zu stöbern, rasch beiseite. »Eine mottenzerfressene Decke würde sicher nur ein abfälliges Lächeln von Tazi ernten«, schloß er völlig korrekt, »und ich bin ja schließlich auch keine Dienstmagd, die fürs frische Bettzeug sorgt.« 19
Ebeian pirschte lautlos durch den Raum in Richtung der Frisierkommode, während er angestrengt mit seinen spitzen Ohren lauschte. Er hoffte, dort irgendeine glänzende Beute zu finden, die der ganzen Mühen wert war. Nachlässig durchsuchte er die Münzen, die auf dem Tisch aufgehäuft waren, und fühlte, wie sich Enttäuschung in ihm breitmachte. Er wollte ein Geschenk, das geradezu den Namen der Soargyls schrie, um es Tazi zu präsentieren, und bisher verliefen all seine Bemühungen im Sand. Der pochende Schmerz in seiner Schulter machte ihn zusehends ungeduldig. Ebeian wollte nicht alle Schubfächer im Tisch durchstöbern und zuviel Lärm verursachen. Während er über das Dilemma nachsann, fiel sein Blick auf eine Doppeltür, die aus dem Raum führte. Seine Neugier war geweckt. Vielleicht führte sie in eine Studierstube neben dem Schlafzimmer. Zumindest schien das logisch. Die »Berufsgenossen«, die er in der vergangenen Nacht konsultiert hatte, hatten ihm leider auch keine genaueren Details vom Inneren des Anwesens liefern können. Vielleicht gab es dort ja Dokumente über die jüngsten Geschäfte der Soargyls. Rorsin kam ihm wie jemand vor, der nachlässig genug war, um derartig wichtige Unterlagen offen liegenzulassen, und Ebeian wußte, daß Tazi jemand war, der Informationen ebenso, wenn nicht noch mehr schätzte als irgendeinen glitzernden Edelstein oder Geschmeide. Er pirschte zur Tür und ging dabei den ausgetretenen Dielenbrettern geschickt aus dem Weg. Dann drückte er den Kopf sacht gegen die Tür. Nachdem einige Zeit 20
vergangen war, in der er keinen Laut gehört hatte, öffnete er sie einen Spalt weit. Er erkannte ein Feuer, das im Marmorkamin an der Ostwand brannte. Es stellte die einzige Lichtquelle im Raum dar. Im Raum standen ein Ledersofa und mehrere Diwane sowie ein Couchtisch, aber keinerlei Schreibtisch, Schreibpult oder dergleichen. Eine Karaffe glitzerte rubinrot im Feuerschein, und zwei leere Gläser standen neben ihr. Wie im Schlafzimmer gab es hier ein wahres Meer von Polstern. Langsam, aber sicher begann Ebeian ernstlich an Fürst Rorsins Geschmack zu zweifeln. Entweder verfügte er über keinen, oder er hatte einfach alles so belassen, wie es seine Mutter hinterlassen hatte. Ebeian gelangte immer mehr zu der Ansicht, daß Fürst Rorsin einfach noch nicht bereit war, die Geschicke seines Hauses zu führen. Er schien noch ein großer Junge zu sein, der einfach dem Vorbild seiner Eltern folgte. Ebeian war so in seiner gedanklichen Analyse des jungen Soargyl gefangen, daß er die Schritte beinahe zu spät bemerkt hätte, die sich draußen auf dem Gang näherten. Doch der Elf hatte Glück, daß der Fürst ein tölpelhafter Trampel war, und so blieb ihm noch genügend Zeit, aus dem Raum zu huschen, als er das Geräusch gerade rechtzeitig wahrnahm. Ebeian war gerade dabei, die Tür zu schließen, da ließ ihn eine eiskalte Stimme mitten in der Bewegung erstarren. Ebeian schloß die Doppeltür so weit, daß gerade ein hauchdünner Spalt übrigblieb, durch den er in das Empfangszimmer blicken konnte. Er sah, wie Rorsin förm21
lich in den Raum hineinstolperte, so sehr war seine Aufmerksamkeit auf seinen Besucher gerichtet. Der rotblonde Soargyl warf immer wieder Blicke über die Schulter zurück auf die dunkle Gestalt, die ihm folgte. Was Ebeian von seinem Beobachtungsposten aus sehen konnte, sorgte dafür, daß er vor Schreck fast einen Herzschlag bekommen hätte. Wenn es sich bei der Gestalt tatsächlich um die Person handeln sollte, die er zu erkennen glaubte, dann verstand er jetzt, warum Rorsin sich nicht die Mühe für magische Schutzmaßnahmen gemacht hatte. Er würde sie in dieser Nacht nicht benötigen. Die seidige Stimme sprach erneut. Selbst aus der Entfernung hatte Ebeian keinen Zweifel mehr daran, mit wem er es zu tun hatte. Obwohl er den Mann nur bei einigen wenigen Gelegenheiten von weitem gesehen hatte, wenn man das etwas großzügig definieren wollte, mußte Ebeian das schwarze, kurzgeschorene Haar oder den Ziegenbart erst gar nicht sehen, um zu wissen, daß es sich um Ciredor handelte. Was macht er wieder hier bei den Soargyls? fragte er sich. Der Elf wußte nicht gerade viel über den Magier. Tazi hatte es vorgezogen, Ebeian möglichst wenig über ihren letzten Zusammenstoß mit Ciredor zu erzählen. Doch das wenige, was er wußte, reichte aus. Fast zwei Jahre zuvor hatte Tazis Mutter versucht, ihre aufmüpfige Tochter mit diesem Mann zu verkuppeln. Es war nicht ihr erster Versuch, die Kupplerin zu spielen, doch soweit Ebeian wußte, war es der erste Fall, in 22
dem die Matriarchin der Uskevrens einen grausamen Fehler begangen hatte. Shamur war der Ansicht gewesen, Ciredor habe das Potential, ein guter Gemahl für Thazienne zu werden. Tazi, die sich Mühe gab, die pflichtgetreue Tochter zu spielen, hatte sich bereit erklärt, sich mit ihm zu treffen, wie sie dies bei allen Galanen tat, die ihre Mutter für sie auswählte, und es wäre nicht Tazi gewesen, wenn sie nicht sogleich beschlossen hätte, etwas von ihm zu stehlen. In einer Nacht der Feierlichkeiten zu Ehren Lliiras, wobei sich Ebeian nicht mehr genau erinnern konnte, welche es gewesen war, hatte sich Tazi in den Kopf gesetzt, Ciredor eine diamantene Anstecknadel zu stehlen, die sie ihm zuvor zum Geschenk gemacht hatte. Was weiter geschah, hatte Ebeian nie so genau herausgefunden. Er wußte nur, daß Ciredor nach diesen Geschehnissen verschwand und Tazi nicht mehr sie selbst war. Sie verjagte ihren treuesten Gefährten und weigerte sich seit jenem Tag, überhaupt noch mit Steorf zu sprechen. Ebeian hatte mehrmals versucht, sie ein wenig beschwipst zu machen und die ganze Geschichte aus ihr herauszulocken, doch die eisigen Blicke, die sie ihm bei diesen Gelegenheiten zugeworfen hatte, hatten ihn davon abgehalten, tiefer in sie zu dringen. Die einzigen Informationen zu der ganzen Angelegenheit hatte er von Steorf erfahren. Der in Ausbildung befindliche Magier hatte zugegeben, Tazi sei in jener Nacht durch den Nekromanten Ciredor beinahe gestorben. Mehr zu verraten, weigerte sich auch er. Ebeian bedrängte ihn nicht weiter, da er 23
insgeheim froh war, daß Steorf nicht mehr Teil von Tazis Leben war, denn schließlich haßte er Mitbewerber um die Gunst einer schönen Frau. Doch die Tatsache, daß Ciredor zurückgekehrt war, konnte nichts Gutes für Tazi bedeuten. »Kann ich Euch etwas zu trinken anbieten?« fragte ein ängstlicher Fürst Rorsin seinen Gast gerade. »Nicht was Ihr mir anbieten könnt, macht diese Nacht so faszinierend«, antworte Ciredor glatt, »sondern das, was ich Euch anbieten könnte.« Die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. Ebeian sah ungläubig zu, wie Ciredor Rorsin mit einer flüchtigen Handbewegung aufforderte, sich doch zu setzen, ganz so, als sei er der Hausherr. Vielleicht ist er das ja heute auch, überlegte Ebeian. »Ich habe etwas für Euch. Etwas ganz Besonderes.« Damit griff Ciredor in einen versteckten Eingriff seines dunkelroten Wamses und holte ein Kristallfläschchen hervor. Er setzte es vorsichtig auf dem Teakholztisch neben der Couch ab und konnte sich dabei eine kleine ausholende Geste nicht verkneifen, so als präsentiere er einen Schatz. »Was ist das?« fragte der Fürst nach einer Pause. »Ach, und ich dachte schon, Ihr würdet nie fragen«, gab Ciredor mit einem leicht spöttischen Unterton zur Antwort. Ebeian hatte das Gefühl, der Magier spiele mit dem etwas dümmlichen Fürsten und genieße es in vollen Zügen. »Es ist etwas, für das mich Euer Vater angeheuert hat, ehe ihn sein frühzeitiger Tod ereilte. Man könnte 24
es also als seinen letzten Wunsch bezeichnen.« Ebeian sah, wie Rorsin bei der Erwähnung von seines Vaters Tod den Kopf leicht hängenließ. Auch der finstere Magier hatte es bemerkt. Was für ein Bastard, dachte Ebeian. »In diesem Kristall ist etwas Außergewöhnliches. Man könnte sagen, es handle sich um ein Unikat.« Ebeian konnte erkennen, wie Ciredor das Fläschchen nahm und so hielt, daß der Feuerschein in den Facetten tanzte. Er mußte sich widerwillig eingestehen, daß der Magier ein guter Schauspieler war. Er wußte, wie er sein Opfer anpacken mußte, und Rorsin stand von Anfang an auf verlorenem Posten. Wie es Ebeian vorausgesehen hatte, hatte der blonde junge Mann keine Chance gegen Ciredor. Er verstand die Regeln dieses Spiels nicht, war sich vermutlich gar nicht darüber im klaren, daß er darin verstrickt war. »Ihr habt mir noch immer nicht verraten, was es ist«, klagte er mit einem Anflug von Aufmüpfigkeit. »Ich hätte gedacht, Ihr hättet es inzwischen schon selbst erraten«, antwortete Ciredor und fügte dann ganz so, als könne er der Verlockung nicht widerstehen, das Messer nochmals in der Wunde umzudrehen, hinzu: »... und ich hätte gedacht, deine Mutter hätte dir bessere Manieren im Umgang mit Besuchern beigebracht.« Unvermittelt war der Magier zur vertraulichen Anrede übergegangen. Da erkannte Ebeian, daß Ciredor niemand war, den man zum Feind haben wollte. Er verstand, daß dieser 25
über die untrügliche Fähigkeit verfügte, die Schwachstelle eines Gegners zu finden und sich darin zu verbeißen. Jetzt fragte er sich nur um so mehr, was er Tazi angetan und welche Opfer sie gebracht haben mochte, um ihn wieder zu vertreiben. Er hörte noch aufmerksamer zu. Der Schmerz in seiner Schulter war praktisch vergessen. »Was ich hier habe, ist sowohl wertvoll als auch hilfreich. Merk dir meine Worte! Diese Kombination ist im Leben selten.« Er stellte das Fläschchen gewissenhaft auf den Tisch zurück. »Was wir hier haben ...«, begann er gedehnt und wies dabei mit einem langen Finger auf das Fläschchen, »... ist ein Behältnis, in dem ein Teil von Thazienne Uskevrens Seele gefangen ist!« Ebeian brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um ob dieser Enthüllung nicht vor Überraschung laut aufzuschreien. Wie konnte das sein? Wann und wie war es dem Zauberer gelungen, ihr das zu entreißen? Seine Finger krampften sich um den Türgriff, während er wie Fürst Rorsin mit angehaltenem Atem auf die Erklärung des Magiers wartete. Noch während Ciredor mit seinen Ausführungen begann, ahnte Ebeian, wann dem Magier das Furchtbare gelungen sein mochte. »Ich bin sicher, du erinnerst dich an die Nacht, in der deine Eltern ihre fleischliche Hülle zurückließen«, begann Ciredor. Rorsin nickte, und Ebeian war nicht sicher, ob es nur eine Täuschung durch das flackernde Licht war oder ob dem Burschen wirklich eine einzelne Träne aus den blaßblauen Augen über die Wange rann. Befriedigt fuhr Ciredor fort: 26
»In jener schicksalsschwangeren Nacht also gaben die Uskevrens einen Empfang. Wie du weißt, starben zahlreiche Gäste auf ähnliche Weise wie deine Eltern. Die Schattenkreaturen schienen ihren Opfern die Lebensessenz zu entreißen.« Ciredor hielt inne, und Ebeian fragte sich, ob er dies nur tat, um den dramatischen Effekt seiner Erzählung zu steigern, oder ob der Nekromant sich gar voller Verklärung an die finsteren Kreaturen erinnerte. »Ich bin recht sicher, daß du dich daran erinnern wirst, daß die Uskevrens während des Angriffs beinahe ihre einzige Tochter verloren. Oder warst du damals so von Trauer überwältigt, daß du nicht dazu in der Lage warst, diese einfache Tatsache zur Kenntnis zu nehmen?« fragte der Nekromant unerbittlich. Ebeian sah, daß Rorsins Gesicht vor Scham scharlachrot angelaufen war. Der Elf hatte sich stillschweigend auf die Seite des jungen Soargyl geschlagen und hoffte, daß dieser endlich etwas Rückgrat zeigen würde, doch das stand anscheinend nicht auf dem Programm. Auch Ciredor erkannte, daß der Bursche diesmal nicht auf seine Provokation eingehen würde, und fuhr fort: »Thazienne lag schwerverletzt darnieder, und der Haushalt war durch das Massaker in Konfusion und Aufruhr. Ich sah meine Chance.« Ebeian sah fasziniert, wie Ciredor völlig in seiner Geschichte gefangen war und sie erzählte, als sei er allein und wiederhole sie nur für sich, um sich daran zu ergötzen. »Mir war es wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis sich mir diese Gelegenheit bot. Wie lange hatte ich darauf 27
gewartet, mir die kleine Schlampe zu schnappen. Ich war ihr so vieles schuldig ...« Ciredor rieb sich gedankenverloren über die Brust, ehe er begriff, wo er sich befand, und seine Fassung zurückgewann. »Rasch verbreitete sich unter den Überlebenden des Debakels die Kunde, daß Thazienne schwer verwundet worden war, und ihr Vater schickte nach dem Hohen Liedmeister Ammhaddan. Es war eine Kleinigkeit für mich, als eben jener Priester verkleidet Uskevrens Diener abzufangen und mich in das Anwesen geleiten zu lassen. Arglos führten sie mich zum Schlafzimmer der armen kleinen Tazi, und, oh, wie sie mich anflehten, ich möge sie retten.« Ebeian verzog verärgert die Lippen, als er mit anhören mußte, wie Ciredor Thaziennes Spitznamen auf so üble Weise mißbrauchte. »Man hatte ihr die Seele teilweise aus ihrem Leib gerissen, doch dieser Teil schwebte noch immer neben ihr. Es war keine leichte Entscheidung für mich, ob ich den verlorenen Teil von ihr einfach in den Abyss schikken oder für mich selbst beanspruchen sollte.« Er warf einen Blick zu Rorsin, um sich zu vergewissern, daß ihm sein Publikum noch immer fasziniert lauschte, und wurde nicht enttäuscht. »Während dieser köstlichen Zeit des Nachsinnens«, führte der Magier aus, während er vor dem Feuer auf und ab ging, »lag sie da vor mir, so ... so köstlich und gar wunderbar verletzlich.« Ebeian fiel auf, wie Ciredor das letzte Wort genoß, 28
förmlich im Mund herumrollte wie eine Katze, die eine besonders köstliche Maus verspeiste. »Dann entschloß ich mich, das, was mir so freizügig dargeboten wurde, selbst zu nehmen. Ich erkannte den großen Wert darin, und jetzt biete ich es dir an«, beendete Ciredor seine Erzählung, wandte sich jäh um und starrte Rorsin an. Ebeian hielt den Atem an und wartete darauf, was der junge Soargyl erwidern würde. Inzwischen arbeitete sein Hirn fieberhaft daran, eine Möglichkeit zu finden, wie er Tazi ihr Seelenfragment zurückgeben konnte. Das war es also gewesen, was die ganze Zeit über nicht mit ihr gestimmt hatte, und jetzt hatte er Gelegenheit, alles wieder gutzumachen. »Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll«, stammelte Rorsin. Er hatte offenbar Angst, den Magier zu verärgern. »Dann versuch es einfach, mein Junge. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.« Mit einem Seufzer ließ sich Ciredor auf einen Diwan sinken, und seine braune Robe wallte dabei förmlich rund um ihn auf. »Äh, was ich sagen wollte, ist, daß ich ja keine Ahnung habe, was ich mit so etwas ›Wertvollem und zugleich Hilfreichem‹ anfangen könnte, wie Ihr so schön sagtet. Ich frage mich sowieso, warum Ihr dazu bereit seid, Euch davon zu trennen und es mir anzuvertrauen.« Ebeian in seinem Versteck mußte lächeln. Vielleicht hatte Rorsin ja doch Rückgrat. 29
»Also«, begann der Zauberer, »versuch, mir zu folgen. Wenn du einen Teil von Thazienne Uskevrens Seele besitzt, hast du die Fähigkeit, durch sie zu spähen.« Sowohl der Elf als auch Ciredor erkannten die Verwirrung Rorsins gleichzeitig. »Ein Fenster durch ihre Augen!« erläuterte Ciredor. »Du würdest gewissermaßen aus erster Hand an allen Geschäften ihrer Familie teilhaben. Ich denke, selbst du«, fügte er verächtlich hinzu, »solltest in der Lage sein zu erkennen, was das für dich und deine Familie für einen Wert haben könnte.« »Ich habe mich wohl noch immer nicht klar genug ausgedrückt«, begehrte Rorsin auf. »Ich verstehe noch nicht einmal, warum Ihr überhaupt dazu bereit seid, Euch von etwas so Beachtlichem zu trennen.« Gute Frage, dachte Ebeian. Der Elf hatte sich genau dieselbe Frage schon viel früher gestellt. Wenn Ciredor Tazi ob dieses unbekannten Affronts gegen ihn in der Vergangenheit so haßte, warum gab er ihre Seele dann so bereitwillig aus den Händen? Sicher verfügte der finstere Magier über genügend Phantasie, um sich ein interessanteres Schicksal für sie auszudenken. »Ich muß zugeben«, gestand Ciredor widerstrebend, »daß du eine gar nicht so uninteressante Frage gestellt hast, mein Junge.« Er stand wieder auf, und seine braune Kleidung sah im Widerschein des Feuers nun fast schwarz aus. »Ich war nie in der Lage, meine Abmachung mit deinem Vater zu erfüllen, und ich finde lose Enden, nun ... sagen wir, lästig. Mag das Bruchstück 30
von Tazis Seele auch eine Köstlichkeit sein, so darf ich mich momentan nicht mit Fragmenten belasten. Sie haben keinen Wert für mich.« Ebeian sah, daß Fürst Rorsin neugierig geworden war, und mit dieser Neugier kam der Wagemut. »Keinen Wert?« erkundigte er sich. Ciredor wandte sich ab und starrte ins Feuer, und als er wieder sprach, tat er es mehr zu sich selbst als zu seinem Gastgeber. »Ich sammle derartige Fläschchen nun schon seit einiger Zeit, und eines wie das ihre wäre in meiner aktuellen Situation nutzlos. Es würde nur mein Opfer besudeln. Ich bin nicht bereit, etwas Derartiges zu riskieren, wo ich doch nur drei weitere benötige.« »Ihr habt weitere solche Fläschchen?« Rorsin zeigte auf das Kristallfläschchen auf dem Tisch. »Hier bei Euch?« Ciredor wärmte seine langen, schlanken Finger am Feuer und machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen, um zu antworten. »Nein, nicht hier, sondern im heißen Calimhafen. Ich muß nur noch ein weiteres Opfer sammeln, und dann habe ich meine Arbeit hier in dieser elendigen, kalten Stadt getan. Fannah ist die letzte, dann benötige ich nur noch zwei geringere Seelen.« Ebeians Augen weiteten sich, als Ciredor so gelassen von einer von Tazis wenigen Freundinnen sprach. »Dennoch«, fügte Ciredor hinzu und wandte sich mit einem Lächeln erneut zu Rorsin um, »finde ich es heute nacht hier eigentlich ziemlich gemütlich.« 31
Rorsin schwieg, weil er offensichtlich nicht wußte, was er darauf antworten sollte. Ciredors Lächeln verblaßte, und er wurde erneut barsch. »So, genug gezögert, Bursche. Interessiert dich, was ich anzubieten habe, oder war dieser Abend eine Vergeudung meiner wertvollen Zeit?« Ebeian spürte die Furcht, die Rorsin vor Ciredor empfand. Sein eigener Mund fühlte sich angesichts des Handels, den die beiden schließen wollten, und des Preises, den er erfordern würde, ganz trocken an. »Ich kann so ein Angebot schwerlich ablehnen, oder?« erklärte Rorsin erstaunlich treffsicher. »Aber was könnte ich Euch dafür als Bezahlung anbieten, das angemessen wäre?« Ciredors gönnerhaftes Lächeln kehrte wie hingezaubert zurück, als er sich am Ziel sah. »Ach, darüber solltest du dir momentan nicht deinen blonden Lockenkopf zerbrechen, mein Junge. Eines Tages werde ich kommen und meine Bezahlung einfordern, und du kannst dir sicher sein, du wirst in der Lage sein, sie mir zu geben.« Mit diesen Worten griff er nach dem Fläschchen, umfaßte es mit beiden Händen und schloß die Augen. »Einige wenige Worte«, erklärte er Rorsin, »und dieser kleine Teil Thazienne Uskevrens ist dein.« Ebeian spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, als er sah, wie Ciredor die Augen schloß. Der Schmerz in seiner Schulter war nur noch eine Erinnerung. Das war der Augenblick zu handeln. Jetzt gab es kein Zurück mehr, auch wenn ein Teil von ihm, tief in ihm drinnen, 32
hier nur noch rauswollte. Ciredor hatte gerade das erste Wort gesprochen, als Ebeian aus seinem Versteck hervorstürzte. Die Doppeltür flog ob der Wucht seines Sprungs mit lautem Knall auf. Ebeian sah die Verwirrung auf den Gesichtern Rorsins und Ciredors. Die Überraschung war auf seiner Seite. Noch ehe Ciredor handeln konnte, schlug ihm Ebeian das Kristallfläschchen aus den Händen. Sein Schwung war so groß, daß Nekromant und Elf gemeinsam zu Boden gingen und der schwere Teaktisch umstürzte. Das Fläschchen zerschellte auf dem Boden. Ebeian sah voller Freude, wie goldene Schlieren zwischen den Splittern des zerstörten Behältnisses emporströmten, und hätte ob des Anblicks, den Ciredor bot, wie er da auf Knien umherrutschte und mit den Händen durch die Luft fuhr, als könnte er die Seele noch erhaschen, beinahe laut gelacht. Die Schlieren suchten sich ihren Weg zum Kaminfeuer. Plötzlich gab es ein lautes Aufbrüllen, während sie durch den Kamin in die Freiheit hinaufschossen. Kurz darauf waren sie verschwunden und das Feuer erloschen. »Sie ist frei«, flüsterte Ebeian und kam in dem plötzlich dunklen Raum mühsam auf die Beine. Er wußte, sein letztes Stündlein hatte geschlagen, aber er hatte Tazi ein Geschenk gemacht, wie es niemand sonst vermochte. Ciredor drehte sich ärgerlich zu dem Elfen um. Er streckte die Arme aus, und zwei grüne Lichtkugeln schössen aus seinen Fingerspitzen. Ebeian war angesichts des Zaubers völlig hilflos und ging zu Boden. 33
Zwei große Schritte brachten den zornentbrannten Magier an die Seite des Elfen. Durch einen Schleier von Schmerzen konnte Ebeian ausmachen, wie Ciredor die Hand hob, und er hatte keinen Zweifel daran, daß nun sein Ende gekommen war. Dann zögerte der Magier. »Ja was haben wir denn da?« fragte Ciredor fast sanft. In dem fahlen Schein, der seine Hände umspielte, waren die spitzen Ohren des Diebs sichtbar geworden. Ebeian spürte Ciredors eisige Hände auf seinem Gesicht. Durch das erdrückende Gewicht von Ciredors Magie und seine erneut wie verrückt schmerzende Schulter hatte er fast das Bewußtsein verloren. Der Elf bekam gerade noch mit, daß Ciredor seinen Kopf anhob und ihn prüfend mal nach links und mal nach rechts drehte. »Es ist beinahe zu schön, um wahr zu sein«, hauchte Ciredor fassungslos. »Ein Elf in dieser Stadt ... und noch dazu einer, der das Mal Fenmarel Mestarines trägt.« Ebeian konnte nur zusehen, wie sich der schwere Tisch von selbst aufstellte, als Ciredor eine achtlose Handbewegung machte. Er sah, daß Rorsin auf die Beine gekommen war, es fast bis zur Tür, die in den Gang führte, geschafft hatte und nicht wußte, ob er bleiben oder panisch fliehen sollte. Augenscheinlich war ihm die ganze Angelegenheit zuviel. Wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, hätte Ebeian eventuell ob des Anblicks, den der Junge bot, lauthals gelacht. Er sah so aus wie ein kleiner Bub, der darauf wartete, daß ihn sein Lehrmeister bestrafte. Ebeian begann nun rasch das Bewußtsein zu verlie34
ren. Seine Gedanken kehrten zu Tazi zurück. Er sah ihre grünen Augen, ihren zu einem Lächeln verzogenen Mund und ihr freudiges Kichern. »Du hast keine Ahnung, wie einzigartig du bist«, sagte Ciredor, »und was dich durch meine Hände für ein Schicksal erwartet.« Ebeian erwachte aus der süßen Vision, die er in seiner Benommenheit gehabt hatte, und sah schwarze Augen, deren Blick sich förmlich in ihn bohrte. Er drehte den Kopf und konnte erkennen, daß er ausgestreckt auf dem schweren Tisch lag. Fast gegen seinen Willen begannen ihm Tränen über die Wangen zu fließen, direkt zu seinen spitzen Ohren hinab. Mit tiefer, melodischer Stimme begann Ciredor eine schreckliche, unheilige Anrufung. Der Schmerz schien innerhalb und außerhalb des Körpers Ebeians förmlich zu explodieren. Rorsin kauerte in seiner Ecke und wandte den Blick ab, während Ebeians Körper von einem schrecklichen Schrei nach dem anderen förmlich durchgeschüttelt wurde. Doch nichts von all dem drang in die sembitische Nacht hinaus – der kränkliche Nebel verschluckte jegliches Licht und Geräusch.
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Einen Zehntag später
und Leere«, fluchte Tazi. Finsternis Das Haar klebte ihr im Gesicht, und es sah nicht so aus, als wolle der tosende Regen demnächst nachlassen. Es war so schon schwierig genug, auf dem straff gespannten Seil das Gleichgewicht zu wahren, doch der Wind war ein weiterer Zufallsfaktor, den sie ausgleichen mußte. Sie konnte es sich nicht einmal leisten, sich das Haar aus den Augen zu wischen, da sie ihre ausgestreckten Arme benötigte, um nicht außer Balance zu geraten. »Vor ein paar Stunden schien das alles noch so eine gute Idee zu sein«, schrie sie ihre Frustration lauthals über den tobenden Wind hinaus. Das einzige, worum sich Thazienne Uskevren im Moment nicht sorgte, war, daß sie jemand bemerken könnte. Bei einem derartig abscheulichen Wetter würde niemand, der bei Verstand war, auf den Straßen sein, geschweige denn zwischen den Schmalhäusern, die in diesem Viertel Selgaunts standen, zum Himmel spähen. Es bestand praktisch keine Gefahr, daß man sie sah 36
oder hörte, wie sie so auf dem dünnen Seil balancierte, das zwischen zwei der besser erhaltenen Häuser in der Gegend gespannt war. Sie kämpfte sich Zentimeter um Zentimeter über das schlüpfrige Seil voran. Die Beute der Nacht hielt sie mit der rechten Hand umklammert. Es war ihr erster Einbruch seit fast einem Jahr gewesen. Die Glasfigur, die Tazi erbeutet hatte, war als Geschenk gedacht, erwies sich jetzt jedoch glücklicherweise als äußerst nützlicher Ballast. Dank ihrer Beute in der einen und dem Sack mit den Diebeswerkzeugen in der anderen ausgestreckten Hand gelang es ihr, das Gleichgewicht trotz des miserablen Wetters zu wahren, und sie hatte inzwischen beinahe das gegenüberliegende Schmalhaus erreicht, wo sie in relativer Sicherheit sein würde. Ihre Lippen verzogen sich jetzt, wo ihre »Eskapade« sich einem erfolgreichen Ende näherte, zu einem wilden Grinsen. Wenn der Wind nicht so laut geheult hätte, hätte sie vermutlich das verräterische Knirschen gehört, kurz bevor das Seil riß, doch so verschluckte das brüllende Toben jedes andere Geräusch. Sie hatte nur noch wenige Schritte vor sich, als das Seil kurz vor der Stelle riß, an der es am Dach des anderen Hauses vertäut war. Tazi stürzte so überraschend ab, daß ihr nicht einmal Zeit für einen entsetzten Aufschrei blieb. Rein instinktiv ließ sie sowohl ihren Sack als auch die gläserne Trophäe, die sie gerade erst gestohlen hatte, los. Sie nutzte ein Manöver, das sie der Kämmerer der Familie, Erevis Cale, vor etlichen Jahren gelehrt hatte, warf sich zur Seite und rollte sich eng 37
zusammen. Dadurch begann sie durch die Luft zu trudeln und etwas Kontrolle über ihren Sturz zu erlangen. Sie brach ihren Überschlag ab, als sie eine Stange vorbeihuschen sah. Sie war an einer Seite des zweiten Schmalhauses befestigt. Normalerweise hätte wohl die Flagge des Hausbesitzers dort gehangen, doch dieser hatte sie aufgrund des schrecklichen Wetters eingeholt. Tazi packte im Fall die hölzerne Stange und machte ein paar wilde Überschläge, um ihren Schwung aufzubrauchen. Der Regen und das Moos hatten dafür gesorgt, daß die Fahnenstange außergewöhnlich schlüpfrig war, weswegen ihr Manöver bei weitem nicht so kontrolliert verlief, wie sie das gerne gesehen hätte. Zum Glück war es jetzt nicht mehr weit bis zum Boden. Tazi landete hart auf dem Hintern und stieß keuchend die Luft aus. Sie war kurz wie betäubt und versuchte, das Wasser aus ihren Augen zu blinzeln, was sich bei dem Guß als ziemlich sinnloses Unterfangen erwies. Selbst wenn sie nicht als Mann niedrigeren Standes verkleidet gewesen wäre, was zu ihrer normalen »Abendgarderobe« bei solchen Unterfangen gehörte, hätten wohl selbst ihre besten Freunde Schwierigkeiten gehabt, sie in ihrem momentanen Zustand zu erkennen. Die einzige Tochter einer der reichsten Handelsfamilien Selgaunts saß völlig unwürdig besudelt in einem großen Haufen Schlamm zwischen den beiden Schmalhäusern. Tazi gewann ihre Fassung zurück, stand auf und versuchte angewidert, mit ihren behandschuhten Händen 38
ihr Ledergewand zu säubern, während sie ihre Glieder durchstreckte und prüfend belastete, um zu sehen, ob sie verletzt war. Da sie bald einsehen mußte, daß sie momentan keine Chance hatte, sich vom Dreck zu säubern, hob sich ihre ohnehin schon miserable Laune nicht gerade, und ihre Gesichtszüge verfinsterten sich noch mehr. Dennoch mußte sie sich eingestehen, daß höchstens ihr Stolz verletzt war und nicht sie selbst. So begann sie, sich nach ihrem verlorenen Beutegut umzusehen. Sie mußte nicht lange suchen, bis sie ihre Tasche fand, da diese an einem der unteren Fensterstöcke des Schmalhauses hängengeblieben war. Das abgerissene Ende des Seils schwang in ihrer Nähe durch die Luft, als wolle es sie verspotten, und sie schalt sich eine Närrin, weil sie früher am Abend ihre Ausrüstung nicht sorgfältiger überprüft hatte, bevor sie auf ihre Diebestour gegangen war. Sie beschloß, später mit ihrem Schicksal und sich selbst zu hadern und das, was von dieser miserablen Nacht noch zu retten war, zu retten. Mit einem raschen Sprung holte sie sich ihren Beutel zurück und konnte dabei zumindest etwas mehr Anmut wahren als bei ihrem so kläglich gescheiterten Balanceakt. Der Glasfigur allerdings war es nicht so gut ergangen. Sie war in mehrere große Bruchstücke zerborsten. Tazi hielt sich eines der Stücke vors Gesicht und musterte es geistesabwesend, bevor sie es wieder fallen ließ. Dann trat sie die verbleibenden Fragmente wütend quer über die Straße. Zum Glück waren ihre Stiefel aus festem Leder, sonst hätte sie sich in ihrem Zorn vielleicht 39
doch noch ernstlich verletzt. »Ich kündige!« rief sie laut und stapfte dann zurück in Richtung der Rindallstraße. Wie erwartet begegnete ihr bei ihrem mühseligen Marsch zurück ins Ochsenblutviertel und zum »Kätzchen« niemand auf der Straße. Das ungewöhnlich warme Wetter, das noch vor einem Zehntag geherrscht hatte, war längst vorüber, und jetzt herrschten wieder die eisigen Winde und das unwirtliche Klima vor, das für den Monat Marpenot so typisch war. Nur besonders verzweifelte Personen oder Obdachlose, die keine andere Wahl hatten, wagten sich in dieser elendigen Nacht ins Freie – und natürlich die völlig unerschütterlichen Händler und Geschäftsleute, für die Selgaunt so berühmt war. Das Wetter paßte perfekt zu Tazis Laune – es war stürmisch. Selbst der Umhang, den sie in ihrem Beutel aufbewahrt hatte, bot ihr nur wenig Schutz vor den tobenden Elementen und wärmte praktisch nicht. Alles, was sie jetzt noch wollte, war ein warmer Krug Wein, trockene Kleidung und ihre Ruhe. So ein einfacher Bruch! schalt sie sich kopfschüttelnd. Dennoch bin ich gescheitert. Was stimmt nur nicht mit mir? Doch niemand konnte ihr die Antwort geben. Bald befand sie sich in der Larawkangasse, und das »Kätzchen« tauchte aus der Finsternis auf. Die Schenke war nun seit beinahe fünf Jahren ihre zweite Heimat. Natürlich war die Sturmfeste, das Anwesen der Uskevrens, weitläufig genug, doch Tazi hatte festgestellt, daß ihr die Räume, die sie im »Kätzchen« dauerhaft gemietet 40
hatte, eine Freiheit gaben, die sonst nur schwer zu erreichen war. Es war ein Ort, an dem Tazi, obwohl sie hier nur in Verkleidung auftrat, ganz sie selbst sein konnte. »Privatsphäre wird durch Anonymität am besten gewahrt«, hatte der Kämmerer ihrer Familie einmal gesagt. Wie so viele seiner Lektionen hatte sich Tazi diese Worte gut eingeprägt. Sie erreichte die ramponierte Tür des Kätzchens und warf sich auch innerlich noch immer vor Zorn kochend, mit voller Wucht dagegen. Die Tür ging mit lautem Krachen auf, was ihr ein paar verwirrte Blicke der wenigen Zechbrüder einbrachte, die gerade zugegen waren. Das üble Wetter hatte dafür gesorgt, daß auch in der normalerweise beliebten Schenke wenig los war. Den Schankwirt hatte das Scheppern der Tür ebenfalls aufgeschreckt, und er warf ihr einen bösen Blick zu. Tazi erwiderte ihn kurz genauso finster und wandte sich dann einfach ab, um die Tür hinter sich zu schließen. Als sie unter einem der Glühlichter durchging, das an einem Stützbalken montiert war, konnte Alall, der nicht nur Schankwirt, sondern auch Mitbesitzer war, den triefend nassen Eindringling näher mustern. Seine Gesichtszüge hellten sich auf, als er sie erkannte, und die von einem grauen Flaum bedeckten Wangen verloren ihre harte Anspannung, als er zu lächeln begann. Tazi ignorierte sein freundliches Gesicht und stapfte zu einem Tisch in der Nordwestecke der Gaststätte. Sie streifte ihren nassen Umhang ab und warf ihn gemeinsam mit ihrem Beutel auf einen Schemel. Dann ließ sie 41
sich auf einen an der Wand lehnenden Stuhl fallen und schälte einen Teil ihres triefend nassen Außengewandes ab, achtete dabei aber sorgfältig darauf, sich nicht so weit auszukleiden, daß die Illusion, es handle sich bei ihr um einen jungen Mann, gefährdet werden konnte. Das war etwas, das sie nie aus den Augen verlor. Während Tazi noch vergeblich versuchte, ihr nasses Haar auszuwringen, hielt ihr jemand plötzlich ein Geschirrtuch unter die Nase. »Da, nimm nur, Liebes«, forderte sie Alall auf. »Ich denke, du hast genug Wasser mitgebracht, um dem Arkhen Konkurrenz zu machen.« Er gab ob seines kleinen Scherzes ein heiteres Kichern von sich. Tazi nahm wortlos das Tuch und begann, ihre kurzen, dunklen Locken zu trocknen. Der Schankwirt ließ sich durch ihr Schweigen nicht im mindesten bremsen und sprach einfach weiter. »Was kann ich dir anbieten, um dich zu wärmen? Etwas heißen Most oder einen Krug Gewürzwein?« »Nur ein bißchen heißen Wein, Alall«, antwortete Tazi und machte sich nicht einmal die Mühe, ihm in die Augen zu blicken. »Kommt sofort«, antwortete er weiterhin heiter, doch inzwischen klang es etwas gezwungen. Alalls Augen waren im hohen Alter zwar nicht mehr so scharf wie einst, doch auch so erkannte er, daß die geschickt verkleidete Frau schwere Sorgen plagten. Tatsächlich vermutete er seit Monaten, daß etwas nicht stimmte. Er entschloß sich zu einer anderen Taktik. »Mal sehen, ob ich mein nichtsnutziges Weib auf42
scheuchen und für dich in die Küche schleifen kann«, sagte Alall und entzündete den Kerzenstumpf auf ihrem Tisch. Tazi blickte auf und musterte ihn böse. Erst dann erkannte sie, daß er das mit dem »nichtsnutzigen Weib« nur gesagt hatte, um sie aufzuziehen und aus der Reserve zu locken. »Ach bitte, das ist doch kein Grund, Kalli zu belästigen«, antwortete sie. »Aber du bist doch nie lästig, Liebes«, gab er zurück. Dann ging er so schnell fort, daß sich Tazi nicht rechtzeitig einen weiteren Vorwand ausdenken konnte, um nichts zu essen. Tazi seufzte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, während sie beobachtete, wie Alall geschäftig davoneilte. Sie schüttelte leicht unwillig den Kopf. Es gab einfach keine Möglichkeit, den sturen, alten Schankwirt von etwas abzubringen, wenn er sich mal eine Idee in den ergrauten Schädel gesetzt hatte. Normalerweise war das ja nicht so schlimm, und sie fühlte sich hier im »Kätzchen« sicher und geborgen, doch an diesem Tag war sie schlicht und einfach entnervt und unruhig. »Kommt sicher von der nassen Kleidung«, murmelte sie und versuchte, sich mit Alalls Küchenhandtuch zu trocknen. Während sie mit dem Tuch Kehle und Schultern abtupfte, zuckte sie plötzlich zusammen, als sie ein wenig zu fest an einer bestimmten Stelle an ihrer Brust ankam. Sie ließ das Tuch fallen und fuhr sich mit der Hand über das Brustbein. Nach all der Zeit war kaum noch 43
eine Narbe spürbar, nur die Erinnerung an die unsäglichen Schmerzen war geblieben. Fast gegen ihren Willen glitten ihre Gedanken zu dem schicksalhaften Abend vor beinahe zwei Jahren zurück. Es hatte alles ganz vielversprechend begonnen. Es war die typische Reaktion ihrer Familie auf einen bedeutungslosen Feiertag gewesen. Man hatte mal wieder gehörig übertrieben und ein rauschendes Fest ausgerichtet, auf dem die ganze Elite Selgaunts zu Gast gewesen war. Tazi hatte sich erneut ein Abendkleid im cormyrischen Stil ausgewählt, von dem sie wußte, daß es Shamur, ihre Mutter, verläßlich in den Wahnsinn treiben würde. Die Einzelheiten der Feier waren zwar nur noch vage in ihrer Erinnerung, doch sie mußte unwillkürlich lächeln, als sie sich die unvermeidlich empörte Reaktion ihrer Mutter ob der Wahl ihres Kleides vorstellte. Tazi war sich auch sicher, daß ihre Mutter an diesem Abend erneut darüber entrüstet gewesen war, daß sie die zahlreichen guten Partien, die ihr Shamur mit solcher Sorgfalt vor ihrer Nase plazierte, geflissentlich ignoriert hatte. Tazi hatte sich an diesem Abend entschlossen, den Großteil ihrer Aufmerksamkeit Meena Fuchsmantel zu schenken, der Tochter eines Freundes der Familie. Der einzige Grund, warum sie das getan hatte, war, weil sie ihre Mutter so besonders zielsicher verärgern konnte. Meena erwies sich nicht gerade als interessante Gesellschaft. Sie entpuppte sich als verschüchtertes Mäuschen. Normalerweise hätte Tazi nur Zeit mit ihr verbracht, wenn man sie dazu gezwungen hätte, doch 44
wenn sie eines wirklich genoß, dann, genau das Gegenteil von dem zu tun, was ihre Mutter von ihr erwartete, und sich den ganzen Abend über mit einem Mädchen zu unterhalten war genau das, mit dem Shamur nicht gerechnet hatte. Tazi erinnerte sich, daß sich der Abend schier unsäglich zog Und Meenas sinnloses Geschwätz nicht aufhören wollte. Sie ließ also ihren Blick über die Menge schweifen, um vielleicht doch noch Abwechslung zu finden. Sie erinnerte sich, daß ihr elfischer Freund Ebeian ebenfalls anwesend gewesen war, doch erwar so sehr damit beschäftigt, geeignete Opfer auszuspähen, daß er kaum mehr als ein freundliches Nicken in ihre Richtung erübrigen konnte. Natürlich hatte sie Erevis an diesem Abend mehr als nur einen Blick zugeworfen. Erevis Cale ... »Was kann ich dir bringen?« unterbrach sie eine freundliche, warme Stimme. Die Frage riß Tazi aus ihren Gedanken. Sie blickte auf und sah direkt in die braunen Augen von Alalls Frau Kalli. Die großgewachsene Frau ragte förmlich über Tazi auf, die noch dazu zusammengesunken auf ihrem Stuhl in der Ecke saß. Kalli war fast so alt wie ihr Gemahl Alall, aber einen guten Kopf größer. Tazi erkannte sofort, daß Kalli ebenso wie ihr Mann mit wenig Erfolg versuchte, die Sorge über sie zu verbergen. »Mach dir doch meinetwegen keine Mühe, Kalli«, antwortete Tazi mit einem erzwungenen Lächeln. »Ich habe Alall schon gesagt, er soll dich nicht belästigen, aber du weißt ja, daß er auf niemanden hört, wenn er 45
sich mal eine Idee in seinen Dickschädel gesetzt hat.« »Nun ja, er ist klug genug, auf mich zu hören«, antwortete sie scherzhaft und hätte sich fast durch Tazis leichtfertigen Kommentar ablenken lassen. Doch die vielen Jahre, die sie bei der sembitischen Armee gedient hatte, waren eine gute Schule gewesen. Sie konnte einen Versuch, sie abzulenken, meilenweit riechen. »Du machst mir wirklich keine Mühe. Du solltest zusehen, daß du etwas Ordentliches in den Magen bekommst, vor allem, wenn du mal wieder über die Stränge geschlagen hast.« Kalli nickte in Richtung von Tazis Umhang und Beutel und lächelte verschmitzt. »Selbst etwas Eintopf würde dir schon guttun.« Tazi wäre ärgerlich aufgefahren, wenn ihre Mutter versucht hätte, so mit ihr zu reden, obwohl ihre wilden Auseinandersetzungen und Schreiduelle im Lauf der Jahre weniger schlimm geworden waren und jetzt eher sorgfältig abgezirkelten, mit scharfer Zunge geführten Wortgefechten ähnelten. Doch mit Kalli hatte sie sich schon immer verbunden gefühlt. Tazi bewunderte die Disziplin, über die die ältere Frau verfügte, und beneidete sie sogar ein wenig darum. Es ging weit über die Erfahrungen hinaus, die sie in ihren Jahren des Militärdienstes und bei ihrer Grundausbildung erfahren hatte. Tazi spürte, daß Kalli völlig im Einklang mit sich und ihrem Leben war. »Na ja, vielleicht wäre ein wenig Eintopf nicht schlecht, wenn es nicht zuviel Mühe macht«, gab sie klein bei, einerseits um Kalli eine Freude zu machen, aber auch um noch ein wenig Ruhe vor drängenden Fragen zu haben. 46
Die hochgewachsene Frau strich sich eine Strähne ihres rotblonden Haars, das bereits leicht angegraut war, aus der Stirn, und ihre harten Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. »Für dich ist das keine Mühe«, sagte sie und verschwand in der Küche. Tazis Blick wanderte zum flackernden Licht der Kerze, und sie erschauerte unwillkürlich. Sie konnte den peitschenden Regen draußen hören. Es würde sicher einige Zeit dauern, bis ihr Ledergewand nach der gescheiterten nächtlichen Eskapade wieder trocken war. Obwohl es nicht lange dauern würde, in ihr gemietetes Zimmer hinaufzugehen und sich umzuziehen, fühlte sie sich plötzlich viel zu müde, um sich die Mühe zu machen. Ihr Versagen lastete schwer auf ihr. Seit jener Nacht schien nichts mehr so zu klappen, wie sie sich das vorstellte. Unabsichtlich strich sie mit den Fingerspitzen sanft über die Narbe auf ihrem Brustbein. Wieder holten die Erinnerungen sie ein. Die Nacht war so langweilig weitergegangen, daß sich Tazi nur noch an ein Detail ihres Gesprächs mit Meena erinnern konnte. Sie hatte etwas über Steorf gesagt. Dadurch hatte sie plötzlich Tazis ungeteilte Aufmerksamkeit. Es war schon Monate her gewesen, daß Tazi den Magier in Ausbildung gesehen oder etwas Näheres über ihn gehört hatte. Sie hatte ihre Freundschaft zu ihm gelöst, nachdem sie auf übelste Weise erfahren hatte, daß ihr Vater den jungen Mann angeheuert hatte, um sie von Ärger fernzuhalten und dafür zu sorgen, die Scherben, die ihre Eskapaden oft hinterließen, sozusa47
gen zusammenzukehren. Tazi hatte es nicht geschafft, das Gefühl des Verrats, das dieses Eingeständnis bei ihr ausgelöst hatte, abzuschütteln. Sie konnte ihre Freunde an einer Hand abzählen, und er war eine dieser Personen gewesen. Sie hatte es einfach nicht geschafft, mit der Tatsache umzugehen, daß er vielleicht nur zu ihrem Freund geworden war, weil man ihn dafür bezahlt hatte. Obwohl die Erinnerung schmerzte, hatte sie unwillkürlich damit begonnen, den Raum nach ihm abzusuchen, nachdem ihn Meena erwähnt hatte. Obwohl sie ihn mit ihren scharfen, meergrünen Augen nicht zu erspähen vermochte, bedeutete das noch lange nicht, daß die schlanke, blonde Gestalt nicht vielleicht doch irgendwo anwesend war. Er war trotz der Tatsache, daß er sich noch in Ausbildung befand, schon ein so erfahrener Magier, daß ein verhüllender Zauber für ihn kein Problem gewesen wäre. Sie hegte in jener Nacht nicht zum erstenmal derartige Gedanken. Manchmal spürte sie einfach, daß er ihr nah war. Ehe sie den Gedanken weiter nachgehen und sich nach ihm umsehen konnte, brach in der Haupthalle das Inferno aus. Schwarze Schattenkreaturen fielen gemeinsam mit einer Armee von Ghulen über die ahnungslosen Gäste her. Während die Ghule in vertrauter Manier kämpften, nahmen vor allem die Feiernden, die die Schattendämonen verletzten, fürchterlichen Schaden. Tazi mußte mit ansehen, wie ein Opfer nach dem anderen unter ihren Klauen fiel. Das Fleisch der Opfer wurde zerfetzt, und neblige Schleier begannen aus ihren Körpern aufzusteigen. Die infernalischen Schemen schienen sich 48
von diesen Dämpfen, die aus den Leibern der Verletzten aufstiegen, zu nähren. Sobald sie sie in sich aufgesogen hatten, begannen die Opfer in atemberaubendem Tempo zu verdorren, bis nicht mehr als ausgetrocknete Hüllen zurückblieben. Tazi konnte sich nicht mehr erinnern, wie viele der furchtbaren Kreaturen in ihr Zuhause vordrangen. Wahrend sich Ghule und Schattenmonster durch die Menschenmenge schlachteten, bildeten sich Gruppen von Personen, die sich ihnen entgegenstellten und sich gemeinsam verteidigten. Manche der Gäste fielen, und andere versuchten, sich selbst zu schützen. Sie erinnerte sich, daß sie Meena bei der Hand gepackt hatte, weil diese angesichts der Kreaturen vor Schreck erstarrt war. Tazi hatte geplant, sie zu ihren Eltern zu zerren, die die Hauswache bereits abschirmte. Sie war davon überzeugt, daß sie dort eine bessere Überlebenschance haben würden. Nur eine Handvoll Ghule stand ihr im Weg, und da Tazi die Befehle ihrer Eltern mißachtet hatte, war sie im Gegensatz zum Großteil der Gäste in der Haupthalle keineswegs unbewaffnet gewesen. Sie hatte einen magischen Dolch im Saum ihres Gewands verborgen. Sie brauchte nur ein paar Handgriffe, um ihn zu schnappen und sich gleichzeitig von einem guten Stück ihres behindernden Rocks zu trennen. Ohne Gefahr zu laufen, über den langen Rock ihres Gewandes zu stolpern, hatte sich Tazi gleich viel freier bewegen können. Ein gutes Manöver, wie sie damals gefunden hatte, denn ein Ghul beäugte sie und Meena bereits hungrig. Tazi erkannte, daß ihre Begleiterin an49
gesichts der Situation völlig hilflos war und es ihr zufiel, sie zu retten. Der Ghul erwies sich als gefährlicher Gegner und spielte auf geradezu hinterhältige Weise mit Tazi. Doch sie hatte ihre Chance erkannt und sofort genutzt, ihm mit ihrem Dolch die Kehle aufgeschlitzt und ihm den Todesstoß versetzt, als sich der Untote am Boden wand und violettes Blut in einer Fontäne emporsprudelte. Tazi hatte Meena erneut gepackt und abermals versucht, ihre Eltern zu erreichen, doch leider hatte einer der Schatten bereits andere Pläne für sie gehabt. Ihre Eltern waren nur noch wenige Schritte entfernt gewesen, als sich ein Schattendämon vor ihr herabgesenkt und ihr den Weg abgeschnitten hatte. Sie hatte Meena sofort hinter sich geschoben und ihren magischen Dolch gezückt. Von allen Ereignissen, die sich in jener Nacht zugetragen hatten, erinnerte sich Tazi noch am lebhaftesten an die eisigen gelben Augen des Schattens, die sich förmlich in ihre Essenz gebohrt hatten – und daran, wie schrecklich hungrig diese Augen gewesen waren. Sie war förmlich in diesen Augen gefangen gewesen und erst aus ihrer Erstarrung erwacht, als sie hörte, wie Cale ihren Namen schrie. Meena war so vom Schrecken überwältigt, daß sie bewußtlos wurde. Tazi hatte damals keine andere Wahl gehabt, als sich beschützend über den reglosen Leib des Mädchens zu stellen. Sie hatte es nicht über sich gebracht, Meena im Stich zu lassen. Sie hatte immer wieder vergebens nach dem Schemen, der um sie herumwirbelte, geschlagen, hatte gehört, wie Cale erneut ihren 50
Namen schrie, und erinnerte sich, aus irgendeinem Grund befürchtet zu haben, er befände sich in Todesgefahr. Eventuell hatten sie diese Gedanken damals so sehr abgelenkt, daß es dem Schatten gelungen war, ihre Verteidigung zu unterlaufen und blitzschnell mit seinen Klauen nach ihr zu schlagen. Heute war sie nicht mehr in der Lage, die Ereignisse so genau zuzuordnen. Obwohl sie geschickt genug gewesen war, um dem Angriff größtenteils zu entgehen, war es der Kreatur gelungen, ihre Schulter zu zerfetzen. Der Schlag hatte Tazi in die Knie gezwungen. Sie hatte den Dolch fallengelassen und ihre Schulter umklammert. Erneut war der Schatten herangeschossen und hatte ihr mit seinen Klauen die Brust zerfetzt. Doch statt wie erwartet zu spüren, wie ihr warmes Blut über die Brust rann, hatte eine unnatürliche Kälte sie plötzlich überwältigt. Es war gewesen, als versänke sie in eisig kaltem Wasser. Sie erinnerte sich, daß sie das Gesicht Cales vage hatte ausmachen können, doch es hatte etwas Unwirkliches an sich. Ein grauer Nebel hatte dann ihren Blick verschleiert, und alles war dunkel geworden. Tazi konnte sich kaum an weitere Einzelheiten erinnern. Ihre Eltern hatten ihr später erklärt, was sie über die Schemen herausgefunden hatten. Wie es schien, nährten sie sich von den Seelen ihrer Opfer. Viele waren in dieser Nacht gestorben, doch Tazi hatte dank Cales beherztem Eingreifen überlebt. Man hatte ihr erzählt, daß er den Schattendämon aufgehalten hatte, ehe dieser in der Lage gewesen war, ihre Seele zu ver51
schlingen. Nachdem Cale den Schattendämon verletzt und aus dem Anwesen der Uskevrens vertrieben hatte, war der Großteil von Tazis Essenz in ihren Leib zurückgeströmt. Die Liedpriester brauchten zahlreiche Stunden, um den Rest ihrer Seele und Lebenskraft wieder mit ihrem Körper zu vereinen. Tazi erinnerte sich nur zu genau an die vielen schmerzhaften Monate der Rekonvaleszenz, die folgten. Sie übte unermüdlich, um zu ihrer früheren Stärke und Gewandtheit zurückzufinden, doch jeder Tag erwies sich als harter Kampf. Sie war erstaunt darüber, wie schwach sie geworden war, und scheute davor zurück, es irgend jemand einzugestehen. Die, die ihr nahestanden, konnten natürlich erkennen, wie müde und bleich sie war, doch sie biß sich verbittert durch ihr selbstauferlegtes, hartes Trainingsprogramm und hatte einen Punkt erreicht, wo sie ihre schurkischen Aktivitäten wieder aufleben lassen konnte, oder zumindest vermeinte sie das. Als die Winde Marpenots wieder eisig geworden waren, erwachte Tazi eines Tages mit dem Gefühl alter Frische. Sie sah es als Zeichen, daß sie wieder für ihre Ausflüge bereit war, und trotzdem war sie diese Nacht gescheitert. »Ich will deine Wachträume ja nicht stören«, sprach Kalli sie an, »aber der Eintopf ist fertig.« Kalli musterte sie, ob des leeren Blicks in ihren Augen sichtbar besorgt. »Sieht gut aus«, erklärte Tazi nach kurzem Zögern. »Das wird mir guttun«, fügte sie eilig hinzu, da sie spür52
te, daß Kalli noch etwas von ihr erwartete. Kalli legte beide Hände auf den Holztisch und beugte sich ganz nah an Tazi heran. »Kindchen, was ist los mit dir?« flüsterte sie. Tazi blickte auf und sah Kalli direkt ins Gesicht. Sie konnte erkennen, wie besorgt sie war. Sie warf einen Blick über die Schulter der älteren Frau hinweg und sah, daß Alall die sich abspielende Szene von hinter dem Tresen beobachtete. Sobald er sah, daß ihn Tazi anstarrte, senkte er den Blick hastig und begann erneut, an dem Krug herumzupolieren, den er bereits seit fünf Minuten bearbeitete. Wenn alles mit mir in Ordnung gewesen wäre, hätte sie angesichts dieser zwei Mutterhennen, die sie gluckend zu umsorgen versuchten, amüsiert gelacht, doch so fühlte es sich an, als müsse sie ersticken. »Laß es einfach«, flüsterte sie zurück. Sie sah, daß ihre Worte die Frau kränkten. Kalli richtete sich steif auf und wandte sich zum Gehen. Tazi griff eilig nach ihr und hielt sie am Handgelenk fest, und Kalli wandte sich wieder um. »Eines Tages, wenn ich es kann, werde ich versuchen, es zu erklären«, versprach sie. Wenn ich je in der Lage sein sollte, es zu erklären, fügte sie in Gedanken hinzu. »Wenn du bereit bist, Kind, bin ich auch bereit, dir zuzuhören. Du weißt, ich ...« Der alten Frau ersticken die Worte in der Kehle. Tazi hatte es geschafft, sie wieder versöhnlich zu stimmen. »Ich weiß«, sagte Tazi nur und meinte es auch. Sie 53
drückte Kallis Hand nochmals und ließ sie dann los. Kalli lächelte aufmunternd und überließ sie dann wieder ihren Gedanken. Tazi stocherte geistesabwesend in Kallis dampfendem Eintopf herum, der geradezu außergewöhnlich gut schmeckte. Dennoch mangelte es ihr an Interesse am Essen. Sie wußte, daß sie zumindest vorgeben mußte, sich einige Zeit mit der Schale zu beschäftigen. Andernfalls würden Kalli oder Alall eine Ausrede finden, wieder zu ihr herüberzukommen und sie weiter zu bemuttern, und Tazi wollte wirklich nichts zu den beiden sagen, das sie später nur bedauern würde. Sie waren im Laufe vieler Jahre zu gut zu ihr gewesen, als daß sie so eine Behandlung verdienten. Die Ulols waren die einzigen Personen außer ihrer Familie, die sie länger als Steorf kannte. Warum muß ich heute nur ständig an ihn denken? fragte sie sich. Tazi schob die Schale weg und griff nach dem Weinkrug. Sie nahm langsam einen kleinen Schluck nach dem anderen und fühlte, wie sich die angenehme Wärme in ihr auszubreiten begann. Sie ermahnte sich, ohne geeignete Grundlage nicht zuviel zu trinken, doch sie hatte ohnehin bereits die Entscheidung getroffen, diese Nacht auf ihrem Zimmer hier zu verbringen. Aus diesem Grund würde es auch keine Rolle spielen, ob sie ein wenig angetrunken war oder nicht. Sie hoffte, der Wein werde ihr helfen, den verpatzten Abend und ihr Scheitern zu vergessen. Tazi setzte den Krug ab und fuhr sich mit den Fin54
gern durchs trocknende Haar. Sie lehnte sich im Stuhl an die Mauer zurück, so daß dieser auf den Hinterbeinen balancierte, und schloß die Augen. Vor ihrem inneren Auge spielte sich der Sturz vom Seil immer wieder ab. Wie ein Hund, der sich um einen Knochen sorgte, konnte sie einfach nicht loslassen. Tazi kippte mit dem Stuhl so plötzlich nach vorn, daß es einen lauten Knall gab. Sie ballte die Fäuste und starrte sie an, wie sie da auf dem Holztisch ruhten, als gehörten sie nicht zu ihr. »Warum kann es nicht mehr wie früher sein?« murmelte sie bekümmert, und erneut durchlief sie ein Schauder. Sie griff wieder nach ihrem Krug, um die innere Kälte zu vertreiben, doch in diesem Moment schloß sich eine starke Hand um die ihre. Ohne aufzublicken, um sich zu vergewissern, mit wem sie es zu tun hatte, griff sie mit ihrer freien Hand nach dem Dolch, den sie im Stiefel trug. Sie umfaßte das abgegriffene Heft und zückte die kleine, aber tödliche Waffe, die gefährlich aufblitzte. Der ungebetene Gast zuckte nicht einmal zusammen, als er mit der Waffe bedroht wurde. »Ich hatte es schon mit Schlimmerem zu tun«, sagte er nur. Tazi erstarrte beim Klang der Stimme. Sie warf einen Blick an ihm vorbei in den Schankraum, aber niemandem schien der Fremde aufgefallen zu sein, der da vor ihr stand. Tazi starrte den Kapuzenträger voller Schock und Erstaunen an. Es war nicht nötig, daß er seine dunkle Kapuze zurückwarf. Sie erkannte ihn auch so. Dennoch griff der Fremde jetzt mit der freien Hand 55
nach seiner Kapuze und schlug sie zurück, so als ob er ihre Gedanken gelesen hatte. Tazi starrte direkt in die grauen Augen eines Mannes, den sie schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte – Steorf. Sein blondes Haar war etwas länger und leicht zerzaust. Dadurch wirkte er wilder und ungestümer, als sie in Erinnerung hatte. Obwohl der dunkle Umhang seinen Körper fast vollständig verhüllte, konnte Tazi erkennen, daß er noch immer so muskulös war, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Einen Augenblick lang packte sie die Neugier, wieviel mächtiger seine magischen Künste wohl seit ihrem letzten Zusammentreffen geworden waren. Doch es dauerte nicht lange, bis ihre Überraschung verflog und Ärger Platz machte. Obwohl sie sich über ihn und seine Fähigkeiten Gedanken machte, hatte sie seinen Treubruch weder vergessen noch vergeben. Tazi senkte ihren Dolch um keinen Millimeter und gab kühl zur Antwort: »Du magst zwar glauben, es schon mit Schlimmerem zu tun gehabt zu haben, aber willst du es wirklich herausfinden?« Steorf blinzelte nicht einmal ob der forschen Aussage. Er riß sie empor, so daß sie zu stehen kam. Während sie ihn noch wie betäubt anstarrte, machte er mit der freien Hand eine weitschweifige Geste in Richtung ihres Beutels und Umhangs. »Die wirst du brauchen«, sagte er. Sie war noch immer zu überrascht, um zu sprechen, und nahm ihre Ausrüstung vom Schemel. Verblüfft fiel ihr auf, daß beide Gegenstände völlig trocken waren, 56
und mit einem raschen Griff an ihre Weste vergewisserte sie sich, daß auch ihre Kleidung auf magische Weise getrocknet war. »Warum sagst du mir nicht einfach, was du willst?« fragte sie den Magier. Sie wunderte sich, was ihn dazu gebracht haben mochte, sich so zu verhalten. Er packte sie am Arm und führte sie aus dem Schankraum in die stürmische Nacht hinaus. »Es gibt etwas, das du unbedingt sehen mußt«, antwortete er kryptisch.
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Die Schenke zum Schoß der Dame
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ie?« war das einzige Wort, das Tazi hervorbrachte, während sie in der Tür zu Ebeians Zimmer stand. Während des ganzen Marsches vom Ochsenblutviertel zur Schenke »Zum Schoß der Dame« hatte Steorf kein Wort mit ihr gewechselt. Um zu zeigen, daß er sie nicht völlig ignorierte, hatte er den Schutzzauber, der ihn trocken hielt, auf sie beide ausgedehnt. Unterwegs, während er immer einen Schritt voraus dahinstapfte, hatte sich Tazi schon zu fragen begonnen, ob er jetzt einfach den schweigsamen und mysteriösen Typen spielte, um sie auf irgendeine Weise zu beeindrucken. Jetzt, in der Tür zu Ebeians Zimmer stehend, verstand sie, warum er ihr nicht beschrieben hatte, was auf sie wartete. Es gab keine Worte, die er hätte verwenden können, so daß sie ihm Glauben geschenkt hätte. Tazi erinnerte sich, daß sie Ebeian immer ob seiner geradezu manischen Vorliebe für ein aufgeräumtes Zimmer geneckt hatte. Nach einer ihrer gemeinsamen nächtlichen Eskapaden hatte er ihr schließlich erklärt, daß in seinem Wahnsinn Methode steckte. 58
»Es ist so«, hatte er gesagt. »Wenn ich meinen Raum immer in makellosen Zustand erhalte, ist es viel schwieriger für jemanden, darin herumzuschnüffeln, ohne daß es mir auffällt.« Er hatte ihr einen bezeichnenden Blick zugeworfen, sich enger an sie gekuschelt und hinzugefügt: »Außerdem besteht eine geringere Gefahr, daß mir jemand auf die Schliche kommen könnte, wenn ich alles stets minutiös aufräume und auf das Minimum beschränke.« Faktisch hatte er Tazi auf frischer Tat ertappt, als sie gerade dabei gewesen war, in seinen Besitztümern herumzustöbern. Im Gegenzug hatte er an jenem Tag auch eine Handvoll ihrer Geheimnisse erfahren dürfen. Seit damals waren sie mehr als nur Freunde. Ausgerechnet ihr Vater hatte einmal versucht, sie mit dem elfischen »Silberhändler« zu verkuppeln, als Ebeian erstmals in Selgaunt auftauchte. Tazi hatte sich natürlich entschlossen, ihrem potentiellen Liebhaber selbst ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Noch ehe Ebeian ihre Nachforschungen bemerkte, hatte sie bereits herausgefunden, daß der Elf ein Schwindler war und Zahlungen von seinen Kunden aus Tiefwasser benutzte, um seine Reisen zu finanzieren. Er war nicht mehr und nicht weniger als ein gutbezahlter Diener, der für die Reichen den Laufburschen spielte, aber selbst über kein Vermögen verfügte. Sie hatte auch herausgefunden, daß er sehr ehrgeizig und stets auf der Suche nach guten Gelegenheiten war. Ebeian war sozusagen wie gemacht für Selgaunt oder besser: wie gemacht für Selgaunt gewesen, denn alles, was von ihrem einstigen Liebhaber 59
übriggeblieben war, war kreuz und quer in seinem Zimmer verstreut. Tazi trat über die Schwelle in den spärlich erleuchteten Raum, und der Gestank des verrottenden Fleisches überwältigte sie beinahe. Sie mußte all ihre Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nicht zu übergeben. An der gegenüberliegenden Wand stand Ebeians Bett. Auf ihm lag etwas, das wie sein Kopf und Teile seines Torsos aussah. Der Rest war dazwischen verstreut, und überall surrten Fliegen umher. Als sei sie in einem schlechten Alptraum gefangen, suchte sie sich sorgfältig ihren Weg um und über die Brocken auf dem Boden, die zu ihrem verblichenen Freund gehörten. Unter einem der Balken mußte Tazi sich ducken, weil dort etwas herabhing, das im Halbdunkel an Girlanden erinnerte. Sie hielt inne, um diesen seltsamen Anblick mitten in diesem Raum des Todes und Verfalls entgeistert anzustarren, und Steorf, der stets an ihrer Seite geblieben war, seit sie den Raum betreten hatte, murmelte etwas. Seine rechte Hand flammte hell auf, und er hielt sie hoch, um die Bänder zu beleuchten. Tazi fuhr ob des Anblicks, der sich ihr bot, bestürzt zurück. Die »Bänder«, die über die ganze Länge des Querbalkens drapiert waren, entpuppten sich als Gedärme. Tazi schloß die Augen und wankte, wodurch sie in etwas Weiches trat, das an einen Schwamm erinnerte. Steorf packte sie fest am Oberarm, weil er fürchtete, sie würde stolpern. Tazi wirbelte zu ihm herum. Seine Berührung hatte sie aus ihrem Schockzustand gerissen. 60
»Wer hat ihm das angetan?« verlange sie zu wissen, und in ihren meeresgrünen Augen brannte ein gefährliches Feuer. Steorf trat ob ihres jähen Ausbruchs unwillkürlich einen Schritt zurück. »Das konnte ich bisher noch nicht herausfinden«, entgegnete er. »Aber ich wollte, daß du ohne Verzögerung erfährst, was sich zugetragen hat. Wenn man die Natur deiner Freundschaft zu Ebeian bedenkt ...« Er hielt kurz inne, weil er sich beinahe an dem Wort »Freundschaft« verschluckt hätte, und zwang sich dann weiterzusprechen. »Ich meine, was mit Ebeian geschehen ist, könnte auf dich zurückfallen.« Er blickte mit seinen grauen Augen trübsinnig auf sie hinunter. Es dauerte ein wenig, bis seine Worte richtig einsickerten. Tazi reagierte beleidigt. »Willst du damit etwa sagen, daß du oder sonst jemand zu der Ansicht gelangen könnten, ich hätte das getan?« »Erneut mißverstehst du mich gründlich, Thazienne«, antwortete er ernst. »Als ich Ebeian so auffand, fürchtete ich, du könntest in ähnlicher Gefahr schweben.« Tazi fixierte Steorf einen Moment lang abschätzend und beschloß, ihre nächsten Worte sorgfältiger zu wählen. Es war gar nicht so einfach für sie, sie über die Lippen zu bringen. »Ich danke dir für deine Besorgtheit. Wir müssen herausfinden, wer ihm das angetan hat und warum.« Tazi sah verschiedene Gefühle sich kurz auf dem Ge61
sicht des jungen Magiers widerspiegeln. Er wirkte ob ihrer Worte sowohl erfreut als auch irgendwie verlegen. Dann entgegnete er: »Ich denke, unsere beste Möglichkeit besteht darin, ihn zu einem Kleriker Mystras zu bringen. Dieser wäre in der Lage, mit den Toten zu sprechen. Es ist einer jener Nekromantiezauber«, fügte er etwas leiser hinzu, »die ich noch nicht gemeistert habe.« Tazi ignorierte die Tatsache, daß er peinlich berührt war, weil er diese Magie nicht selbst zuwege brachte, und befahl: »Dann tu es gleich, bevor noch mehr Zeit verstreicht. Wenn man den Geruch und die Fliegen bedenkt«, und dabei machte sie eine weitausholende Geste, die die Insektenwolke einschloß, »haben wir schon mehr als genug Zeit verloren. Ich bezahle natürlich, was immer die Priester verlangen.« Steorf warf ihr einen harten Blick zu. »Die Bezahlung«, erklärte er ihr ruhig, »war nie ein Problem für mich. Hältst du es allein hier mit den Resten aus?« Tazi wandte sich Ebeians Bett zu, schluckte und nickte. Steorf drehte sich mit einer weitausholenden Gebärde um und wirkte mit seinem Umhang dabei wie ein großer Raubvogel, der sich in die Lüfte schwang. Dann war er auch schon verschwunden, und Tazi blieb allein zurück. Sie stand einige Schritte vom Bett entfernt und versuchte, sich zu sammeln. Jetzt, wo Steorf nicht mehr hier war, hatte der Raum auf einmal etwas Bedrohliches an sich. Jedes Knarren der Dielen, während sie sich 62
vorsichtig dem Bett näherte, das sie so oft mit dem Elfen geteilt hatte, hörte sich wie ein gepeinigter Schrei an. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Der Tod war etwas, mit dem Tazi nicht oft in Kontakt kam, doch wenn es einmal soweit war, war es bisher immer grausam und furchterregend gewesen, und diesmal hatte es jemand erwischt, der ihr sehr nahe gestanden war. Tazi erreichte die Bettstatt. Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Sie wischte sie weg und zwang sich, sich die Überreste ihres Freundes näher anzusehen. Sie setzte sich vorsichtig hin und begann, in ihrem Beutel zu wühlen. Sie stellte voller Überraschung fest, daß sie Alalls Küchenhandtuch unbewußt dort hineingestopft hatte. Fast schüchtern und ganz vorsichtig, obwohl sie natürlich wußte, daß Ebeian nichts mehr spürte, versuchte sie, das geronnene Blut von seinem Gesicht zu wischen. Sie wollte etwas für ihn tun, sein Gesicht so sehen, wie es einmal gewesen war, aber vor allem mußte sie sich beschäftigt halten, um in dieser Situation nicht den Verstand zu verlieren. Der kupferne Geruch des Blutes war überwältigend und ekelerregend, und die Eingeweide, die über dem Balken baumelten, erinnerten sie an eine grausame Nacht, die sie selbst durchlebt hatte. Sie fühlte, wie Erinnerungen in ihr emporwallten, die sie so verzweifelt für immer zu verdrängen versucht hatte. Fast zwei Jahre zuvor, in einer Nacht, in der es etwas trockener gewesen war als in dieser, hatte sich Tazi vorgenommen, einem ihrer Galane einen Streich zu spie63
len. Sie hatte vorgehabt, ihm ein Geschenk zu stehlen, das sie ihm zuvor überreicht hatte, und ihn dann deswegen aufzuziehen, doch statt dessen spazierte sie schnurstracks in einen grausamen Alptraum hinein. Ihr Verehrer war damals ein Magier namens Ciredor gewesen, der schwarze Magie praktizierte, die einen hohen Preis forderte. Tazi hatte sein verstecktes Heiligtum entdeckt und herausgefunden, daß Ciredor eine wahrlich abscheuliche und verdammenswerte Tat »egangen hatte. Er hatte einen Burschen aus dem Selgaunter Hafen entführt, seinen Bauchraum und Brustkorb geöffnet und verschiedene Organe und Innereien herausgezerrt, dabei aber durch seine Magie dafür gesorgt, daß der Unglückselige am Leben blieb, hatte den Lebensfunken des Jungen als Energiequelle für seine Magie genutzt. Einige Hinweise hatten Tazi daraufgebracht, daß eine Freundin, die sie erst kurz zuvor kennengelernt hatte, eine junge Frau aus Calimhafen namens Fannah, höchstwahrscheinlich als nächstes Opfer vorgesehen war. Tazi hatte sich geschworen, daß es nicht soweit kommen würde. Sie hatte entsetzt erkannt, daß sie den armen Burschen töten mußte, um Ciredor aufzuhalten, doch dieser hatte sie ertappt, bevor sie es über sich gebracht hatte, ihr erstes Leben zu nehmen. Tazi war in einen Kampf auf Leben und Tod mit dem finsteren Magier geraten, doch glücklicherweise war sie nicht allein gewesen. Steorf war ihr gefolgt, und ihm war es gelungen, Ciredor kurzfristig abzulenken. Doch Steorfs Sorge um ihr Wohlergehen hatte sich 64
als gefährlicher Fehler erwiesen. Es war Ciredor mit seiner Magie mühelos gelungen, ihren Freund an eine Wand zu nageln, und dann hatte er seine ungeteilte Aufmerksamkeit erneut Tazi widmen können. Sie konnte sich noch an die grausamen Schmerzen erinnern, die einer von Ciredors geringeren Zaubern verursachte, als er ihr Haar in Sekundenbruchteilen auf seine ehemalige Hüftlänge hatte wachsen lassen. Ciredor hatte gnadenlos mit ihr gespielt, und als Gnadenstoß hatte sich seine Enthüllung erwiesen, daß ihr Freund Steorf bereits seit sieben Jahren von Thamalon Uskevren für seine Dienste bezahlt wurde. Er war nicht mehr als ein bezahlter Lehnsmann. Ihr Vater kaufte Freunde für sie. Doch obwohl Tazi durch diese Enthüllung am Boden zerstört gewesen war, hatte sie sich nicht aufhalten lassen. Es war ihr gelungen, ihren smaragdenen Schutzring zu nutzen, um den todbringenden magischen Blitz, den Ciredor auf sie verschoß, abzulenken. Er war ob der Tatsache, daß es ihr gelungen war, seine Magie aufzuhalten, kurz verblüfft gewesen, und das sollte sich als entscheidend erweisen. Obwohl Tazi ob der grausamen seelischen und körperlichen Schmerzen fast blind gewesen war, war es ihr gelungen, den kleinen Dolch zu zücken, den sie stets im Stiefel verbarg und ihn direkt in seine Brust zu schleudern. Während er kampfunfähig war, hatte sie den jungen Burschen getötet, den er als Energiequelle mißbraucht hatte. Ciredor war durch die Wunde und die Magie, die er während der Auseinandersetzung verbraucht hatte, geschwächt gewesen. Er 65
hatte bittere Rache geschworen, war geflohen und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Tazi war mit der Asche des Jünglings, den sie getötet hatte, und dem bitteren Geschmack von Steorfs Verrat auf der Zunge allein zurückgeblieben. Sie schüttelte ungestüm den Kopf. Der Verwesungsgestank riß sie aus ihren Gedanken. Jäh erwies er sich als so überwältigend, daß sie hastig zum Fenster von Ebeians Zimmer rannte und es aufstieß, um sich nicht übergeben zu müssen. Sie stützte sich schwer auf das Sims, atmete die feuchte Luft ein und ließ den Regen in ihr Gesicht prasseln, um sich Kühlung zu verschaffen. Dennoch spürte sie noch immer die Asche im Mund, wenn sie an Steorfs Verrat dachte. Nichts konnte dieses Gefühl wegwaschen. Tazi wandte sich vom Fenster ab, lehnte sich an die Wand und fuhr sich mit gekrümmten Fingern durch ihre kurzen Zotteln. Was geschieht hier eigentlich? fragte sie sich. Wie kann es sein, daß Steorf auf einmal wieder in mein Leben tritt? Sie warf Ebeians Überresten erneut einen Blick zu, konzentrierte sich und versuchte zum erstenmal, seit sie in den Raum gekommen war, bewußt darüber nachzudenken, was hier eigentlich geschehen war. Jemand hatte ihn ermordet, das war offensichtlich, doch sie begann jetzt, sich bewußt umzusehen. Sie durchsuchte den Kleiderschrank und seinen Schreibtisch. Nichts fehlte, alles war an seinem Platz, und nichts lieferte ihr irgendeinen Hinweis. Sie war ziemlich sicher, daß Ebeian nicht hier in diesem Raum gestorben war. Jemand 66
hätte den Lärm gehört, wenn sich ein derartiges Massaker in der Schenke abgespielt hätte, und Ebeian hatte sich sicher nicht kampflos seinem Schicksal ergeben, dessen war sich Tazi auch sicher. Natürlich wäre ein Magier in der Lage gewesen, einen Zauber der Stille zu wirken und Ebeian dann zu töten. Steorf hatte ihn zuerst entdeckt, und es sah aus, als sei Ebeian zumindest einen Zehntag tot. Steorf ... »Ich habe zwei Jahre nicht mit ihm gesprochen, und jetzt taucht er wegen dieser Sache wieder aus der Versenkung auf, sinnierte Tazi laut. »Was hatte er mit Ebeian zu tun?« »Finsternis und Leere!« fluchte sie laut und riß entnervt die Hände in die Höhe. »Warum das und warum jetzt, wo ich doch gerade so nutzlos bin?« Tazi begann, im Kreis auf- und abzugehen, und dunkle, seltsame Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Ebeian mit Steorf zu tun gehabt haben mochte. Tazi war sich aber sicher, daß es sich nicht um eine zufällige Begegnung zwischen den beiden gehandelt hatte. Warum hat mir Ebeian nichts davon erzählt, wenn er und Steorf gemeinsam an etwas arbeiteten? fragte sie sich. Ja, sie hatte viele ihrer Beziehungen nach dem Zusammenstoß mit dem Schattendämon und den Verletzungen, die sie durch ihn erlitten hatte, erst einmal abkühlen lassen. Sie und Ebeian hatten schon seit zahlreichen Monaten keine Zeit mehr miteinander verbracht. Sie hatte alle zurückgestoßen, während sie ver67
sucht hatte, mit ihrem Verlust an Fähigkeiten und Mut klarzukommen. Jetzt, wo sie näher darüber nachdachte, wurde ihr auf einmal bewußt, daß sie zugelassen hatte, daß sich all ihre Freunde und Gefährten von ihr entfernten, und eigentlich keine Ahnung hatte, was irgend jemand von ihnen momentan genau tat. Je mehr ihr diese Tatsache klar wurde, desto mehr erkannte sie auch, daß sie momentan überhaupt keine Ahnung hatte, wozu diese einst vertrauten Menschen fähig sein mochten. »Sehen wir uns nur mal Steorf an«, sinnierte sie laut. »In der kurzen Zeit, in der wir zusammen waren, hat er mehr magische Begabung demonstriert, als ich je zuvor bei ihm erlebt habe. Er tat alles mit so einer Leichtigkeit. Zugegeben«, räumte sie im Gedankenaustausch mit sich selbst ein, während sie weiter auf und ab ging, »das waren alles nur kleine Zauber, doch wie stark ist er inzwischen wirklich? Wozu ist er tatsächlich in der Lage?« Sie ging zurück zur Bettstatt, setzte sich und blickte Ebeian ins Gesicht. »Ich weiß, du wärst jetzt sicher unvorstellbar entsetzt, wenn du sehen könntest, was für ein Saustall in deinem Zimmer ist«, erklärte sie ihm und mußte unwillkürlich albern kichern. Sie mußte sich zusammennehmen, um nicht von ihren heftigen Gefühlen überwältigt zu werden. Auf bizarre Weise sah es fast so aus, als hätte jemand seine Innereien so im Raum verstreut, daß es dem Ordnungswahn, dem Ebeian zu Lebzeiten gefrönt hatte, im Tode spottete. 68
Wie viele wußten von diesem Spleen? fragte sie sich. »Ich werde herausfinden, wer dir das angetan hat, und er wird dafür bezahlen«, schwor sie finster.
»Es scheint nicht zu funktionieren«, flüsterte Tazi. »Hab etwas Geduld«, antworte Steorf ebenso leise. »Es ist jetzt beinahe Mondschatten, und du bist gegen Mitternacht mit diesem Kleriker hier angekommen? Wieviel Zeit braucht er denn noch?« fragte sie, während sie mit dem Kopf auf den Diener der Mystra deutete. »Es ist kein einfacher Zauber«, gab er zur Antwort. Tazi war nicht sicher, aber sie glaubte, daß Steorf erschöpft klang. »Ich habe dir das doch schon ausführlich erklärt. Warum kannst du dich nicht einmal ein wenig in Geduld üben?« Bevor Tazi mit einem bissigen Kommentar kontern konnte, unterbrach der Mystrakleriker die beiden. »Es wäre hilfreich, wenn einer von euch beiden wüßte, welchem Gott Ebeian huldigte.« »Das sollte Thazienne wissen«, antwortete Steorf trocken und Wandte sich dabei der wütenden Uskevren zu. »Du standest ihm am nächsten.« Sein fast schon zynischer Tonfall entging Tazi keineswegs. Wie es aussah, begannen sie angesichts der Ereignisse und der langen Nacht beide die Nerven zu verlieren. »Es könnte Lathander gewesen sein, doch das war etwas, über das wir nie gesprochen haben«, erklärte sie 69
dem Kleriker. »Ich werde mal in seinen Besitztümern stöbern, ob ich etwas finde, das uns einen Hinweis liefert, doch wir sollten uns besser nicht darauf verlassen.« Während Tazi abermals Ebeians spärlichen Besitz durchsuchte, sah sie Steorf in ganz neuem Licht. In den Stunden, die vergangen waren, seit er aufgebrochen war, um einen Kleriker aufzutreiben, hatte sie in Gedanken verschiedene Szenarien durchgespielt. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß sich Steorf nicht all die Mühe gemacht hätte, einen Kleriker zu organisieren, wenn er tatsächlich etwas mit Ebeians Ermordung zu tun gehabt hätte. Es wäre ihm beinahe unmöglich gewesen, in den Reihen jener, die Mystra dienten, einen Lügner zu finden, der sich bereit erklärt hätte, ihm zu helfen, etwas zu vertuschen oder ihr eine Scharade vorzuspielen. Dennoch machte es ihr irgendwie Sorgen, daß es eines Priesters bedurfte, um sie von seiner Unschuld zu überzeugen. Obwohl sie inzwischen bereit war, ihn nicht mehr als Verdächtigen zu sehen, was Ebeians Tod anging, war sie noch immer zu stolz und zu verärgert, um ihn zu fragen, welche Geschäfte er mit dem Elf gemacht hatte. Vielleicht war es auch besser, dieses Geheimnis ruhen zu lassen. Was nutzte ihr die Information denn jetzt auch noch? Sie war sich auch bewußt, daß ihre Ungeduld dem Kleriker gegenüber ungerechtfertigt und unfair war. Solche Dinge erforderten einfach Zeit. Obwohl Tazi sich nicht um religiöse Dinge scherte, bedeutete das noch lange nicht, daß sie nicht zumindest grundlegend über sie Bescheid wußte. Dennoch waren inzwischen 70
Stunden verstrichen. Das erste, was Steorf und der Kleriker getan hatten, als sie angekommen waren, war gewesen, die Fenster zu schließen und Räucherwerk zu entzünden, das den Raum mit dicken Schwaden füllte. Zuerst der Gestank nach Verwesung und nun dieser schwere, parfümierte Duft – ihrer Ansicht nach stellte das keine wirkliche Verbesserung dar. Es wäre genug gewesen, um selbst dem hartgesottensten Burschen den Magen auszuheben, und Tazi wäre es vermutlich ähnlich ergangen, wenn sie im Kätzchen nur etwas mehr gegessen hätte. Sie wünschte sich beinahe, sie könnte um eine kurze Pause bitten. Wenn sie diesen Ort doch nur einen Moment oder zwei verlassen und tief Luft holen könnte! Doch wenn die beiden Männer das durchhielten, würde auch Tazi nicht kneifen. »Ich fürchte, da ist nichts«, sagte sie zu dem Kleriker. Der ältere Mann wandte sich ihr zu. Weder Steorf noch der Kleriker hatten sich mit einer Vorstellung aufgehalten, so daß Tazi nicht einmal seinen Namen kannte. Seine Purpurrobe mit den sieben Sternen und dem roten Nebel ließ keinen Zweifel daran, wem er diente, und das reichte aus. Tazi wünschte sich in diesem Moment, jeder auf dieser Welt sei so leicht zu identifizieren und zuzuordnen. Sie hatte inzwischen von Geheimnissen die Schnauze voll. »Es tut mir leid, daß es Euch so mitnimmt, hier zu sein«, erklärte er, und Tazi war verblüfft darüber, daß sich ihr Unbehagen offenbar so offen in ihrem Gesicht oder ihrer Gestik widerspiegeln mußte, »doch die Sache ist schwierig.« 71
Steorf schmunzelte, schien der Kleriker doch seine früheren Erklärungen zu bestätigen, doch sein zufriedenes Lächeln verschwand rasch, als der Kleriker fortfuhr. Es schien fast so, als habe er seine Gedanken gelesen. »Den Zauber zu wirken ist kein Kunststück für jemanden, der einigermaßen in diesen Künsten bewandert ist. Was es so herausfordernd macht, ist die lange Zeit, die seit dem Ableben Eures Freundes verstrichen ist, und der Zustand, in dem er sich befindet.« Die Tatsache, daß der Kleriker »Freund« und nicht Leichnam gesagt hatte, war Tazi nicht entgangen. Sie war gerührt, daß der alte Mann von Ebeian nicht einfach kaltschnäuzig als von einem Kadaver oder dergleichen sprach. Er war dazu in der Lage, den Elfen als Person zu sehen, oder hatte zumindest erkannt, daß es Tazi tat, und seine Worte entsprechend bedächtig gewählt. »Bitte versucht es einfach weiter und ignoriert meine Ungeduld«, entschuldigte sie sich mit einem erzwungenen Lächeln. Der Kleriker wandte sich wieder seiner Aufgabe zu. Mit neuem Eifer beugte sich der alte Mann über seinen improvisierten Altar. Tazi und Steorf hatten den kleinen Eßtisch zu diesem Zweck vor Ebeians Bettstatt geschoben. Der Kleriker hatte mehrere wuchtige Kerzen, die an kleine Säulen erinnerten, und ein Räucherbecken auf den Tisch gestellt. Tazi sah interessiert zu, wie er einen kleinen Lederbeutel unter dem Kragen seiner Robe hervorholte. Mit einer raschen Bewegung zerriß er die Kordel, mit der der Beutel um seinen Nak72
ken befestigt war, und leerte den Inhalt auf dem Tisch aus. Tazi versuchte, sich unauffällig zu nähern, um besser zu sehen, während der Kleriker die verschiedenen Dinge durchsuchte, die sich auf dem Tisch ergossen hatten, doch Steorf gebot ihr mit einer herrischen Geste stehenzubleiben. Sie warf ihm einen bösen Blick zu, bezähmte aber ihre Neugier. Der Priester studierte einen kleinen blauen Kristall, den er gegen das Kerzenlicht hielt, besonders aufmerksam und schien dann mit seiner Wahl zufrieden zu sein. Er intonierte ein paar Worte und warf den Stein einfach in die Luft. Er fing er den Stein im Fallen auf, indem er seine Hände so heftig zusammenschlug, daß das Geräusch an einen Donnerschlag erinnerte, und pulverisierte den Stein in seinem eisenharten Griff zu feinem Pulver. Er brummte ein Gebet zu Ehren Mystras und träufelte das Steinpulver über eine der Kerzen. Der Raum begann, sich mit einem blauen Schein zu füllen, und dort, wo Ebeians Kopf und Torso lagen, begann die Luft leicht zu flimmern. Tazi atmete japsend aus. Es war ihr erst jetzt aufgefallen, daß sie die ganze Zeit instinktiv den Atem angehalten hatte. Mit erstauntem Blick wandte sie sich dem Kleriker zu und erkannte beunruhigt, unter welcher Anstrengung er bereits jetzt sichtlich litt. Sein Antlitz war von einer dünnen Schweißschicht bedeckt. Er hatte die Hände zum Gebet aneinandergepreßt und die Augen fest geschlossen. Dabei wiederholte er immer wieder die gleiche Anrufung, doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte die Worte nicht wirklich ausma73
chen. Steorf berührte sie sanft am Oberarm, und sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Leuchten. Sie stöhnte, als sie sah, wie Ebeian die Augen aufschlug. »Wir haben wenig Zeit«, flüsterte der Kleriker mit zusammengebissenen Zähnen. Es gab keinen Zweifel, daß ihm der Zauber körperliche Schmerzen bereitete. »Etwas versucht, mich daran zu hindern, Euren Freund direkter zu erreichen. Beeilt Euch und stellt alle Fragen, die Ihr stellen mögt!« Dann begann der Kleriker, einen leisen Singsang anzustimmen. Tazi blickte fragend zu Steorf, doch dieser schüttelte den Kopf. »Es wäre besser, wenn du es befragst.« »In Ordnung«, zischte sie mißvergnügt. »Ich befrage es!« Sie wandte sich dem strahlenden Gesicht ihres ehemaligen Geliebten zu. »Ebeian?« Es folgte eine kurze Stille, und Tazi kam sich schon ein wenig närrisch vor, mit dem zerstörten Antlitz des Elfen zu sprechen. Sie hüstelte und wollte ihn gerade erneut ansprechen, als sich eine Stimme erhob. Es war ein Geflüster, das wie ein Lufthauch durch den Raum glitt. »Wer ist da?« fragte die Stimme. »Ich bin es, Eb. Tazi.« Als Ebeian ihren Namen hörte, wurde der Blick seiner Augen unter dem magischen Flimmern, das sich über seinem Antlitz und seinen Überresten gebildet hatte, klarer. 74
»Wo bist du?« fragte er, denn schließlich konnte er den Kopf nicht bewegen. »Ich kann dich nicht sehen.« Tazi trat näher zur Bettstatt und ließ sich nach kurzem Zögern dort niedersinken, wo sie noch vor wenigen Stunden die Totenwache gehalten hatte. Sie berührte sanft sein Antlitz. »Ich bin hier«, sagte sie und sah ihm direkt in die grünen Augen. Steorf trat ebenfalls näher und flüsterte in ihr Ohr. »Du solltest dich beeilen. Wir wissen nicht, wie lange es hierbleibt.« Tazi war noch immer ärgerlich, weil Steorf Ebeian Ständig als »Es« bezeichnete, doch sie erkannte auch, daß er recht hatte. »Wer hat dir das angetan?« Ebeian schien ob der Frage verlegen. »Du.« Tazi war sowohl bestürzt als auch verlegen. Steorf bemerkte ihre Verwirrung. »Wenn du eine Frage stellst, beantwortet sie die Leiche im wortwörtlichen Sinn. Die Antwort ist richtig. Du bist der Grund, warum der Leichnam wiederbelebt wurde. Du mußt deine Fragen genau stellen«, erklärte er. Sie nickte knapp und sagte: »Ebeian, wer hat dich getötet?« »Ciredor«, lautete die nüchterne Antwort. Die Stille im Raum war erdrückend. Tazis Blut schien bei der Erwähnung des Namens in ihren Adern zu gefrieren. Die Kontrolle über die Situa75
tion drohte ihr zu entgleiten, aber seit sie Zeuge der greulichen Szene geworden war, hatte sie tief in ihrem Inneren gewußt, daß es niemand anders außer Ciredor gewesen sein konnte. Sie spürte, wie Steorf ihr die Hände auf die Schultern legte, und einen Augenblick lang war sie ihm dankbar für die beruhigende Berührung. Sie half ihr, sich zu fangen und sich klarzumachen, daß dies alles wirklich geschah. »Ciredor ist hier?« fragte sie skeptisch. Sie konnte noch immer nicht fassen, daß der Schwarzmagier wieder in ihr Leben getreten war. »Ich kann ihn nicht sehen«, antwortete Ebeian und versuchte erneut vergeblich, den Kopf, der an seinem teilweise durchtrennten Nacken hing, zu drehen. »Denk daran, deine Fragen präzise zu stellen, da er sie wörtlich nimmt«, erinnerte sie Steorf sanft. »Ich weiß, daß es schwer ist«, fügte er hinzu, während er sie weiter beruhigend festhielt. »Wie kam es, daß du und Ciredor aufeinandertraft?« Ebeian blickte ihr direkt in die Augen und antwortete: »Wegen dir, Thazienne!« Tazi spürte, wie ihr die Tränen in die Augen zu schießen drohten, kämpfte sie aber nieder. »Was habe ich mit der Sache zu tun?« fragte sie in furchtsamer Erwartung der Antwort. »Ich brach ins Anwesen der Soargyls ein, um dir etwas Schönes zu stehlen, um dich zum Lächeln zu bringen. Ciredor war dort mit Fürst Rorsin und versuchte, dem jungen Soargyl ein Fragment deiner Seele zu verkaufen. Ich befreite diesen Teil von dir, und er tötete 76
mich, weil ich nützlich für ihn war.« Der Elf beschrieb all das mit emotionsloser Stimme. »Wie ist Ciredor in den Besitz eines Teils meiner Seele gekommen?« flüsterte Tazi. Es war eine rhetorische Frage, die sie sich selbst gestellt hatte, doch der Elf beantwortete sie dennoch. »Ich hörte, wie er Rorsin erzählte, wie er sich als Priester verkleidete, als du letztes Jahr verletzt wurdest. Statt dich zu heilen, stahl dir der verkleidete Ciredor einen Teil deiner Seele, und das quälte dich seither.« »Wann kam es zu dem Zusammentreffen mit Ciredor?« fragte sie vorsichtig. »Anfang Marpenot«, entgegnete die Leiche. Tazi war bestürzt. Anfang des Monats war sie völlig erfrischt aufgewacht und hatte sich wieder so sehr wie sie selbst gefühlt wie seit ihrer Verletzung nicht mehr. Das lag einen Zehntag zurück. »Ich wußte doch, daß ich etwas gespürt habe«, brummte sie. »Was?« fragte Steorf. Tazi griff nach oben und legte die Linke auf eine seiner Hände, die noch immer auf ihren Schultern ruhten. Ohne zu ihm aufzublicken, sagte sie: »Ich erkläre es dir später.« Das Leuchten, das Ebeians Leichnam umgab, begann zu flackern. »Beeilt Euch«, drängte der Kleriker. »Ich verliere ihn. Etwas kämpft gegen mich an, und ich glaube nicht, daß er es ist.« Tazi war sich sicher, wer für diesen Eingriff in den 77
Zauber verantwortlich war. Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie nach den richtigen Fragen suchte, während sie gleichzeitig gegen die panische Furcht kämpfte, die seit seiner Enthüllung direkt unter der Oberfläche brodelte. »Warum hat dich Ciredor gebraucht?« »Er erzählte mir, kurz bevor er mich tötete, er sammle vollständige Seelen für ein Ritual, das er in Calimhafen vollenden wolle. Meine paßte dank meiner Religiosität gut in seine Pläne.« »Er ist nach Calimhafen zurückgekehrt?« fragte Tazi. Ihr wurde bewußt, daß inzwischen ein Zehntag vergangen war, seit Ebeian angegriffen worden war, und sie hatte nichts gesehen oder gehört, das irgend etwas mit Ciredor zu tun gehabt hatte. Er mußte nach Calimhafen zurückgekehrt sein oder war in ein anderes Loch gekrochen, um sich zu verstecken. Das war das einzige, das Sinn ergab. »Ich weiß nicht, wo er ist«, antwortete der Elf. »Thazienne«, mahnte Steorf sanft. »Ebeian kann dir nur über Dinge Auskunft geben, die er erfahren hat, während er noch lebte.« Sie drehte nun doch den Kopf und blickte zu ihm empor. »Das ist nicht mehr Ebeian«, erklärte Steorf. Er sah, daß Tazi zu einem Protest ansetzen wollte und fuhr rasch fort: »Alles, was du hier vor dir siehst, ist eine Hülle. Ebs Seele ist bereits in ein anderes Reich übergetreten. Der Kleriker hat schlicht und einfach Ebeians Leib reanimiert.« 78
»Womit habe ich dann gesprochen?« verlangte sie zu wissen. »Du konntest mit den Erinnerungen kommunizieren, die noch Teil seines Körpers sind. Beeil dich bitte«, warnte er, als das Leuchten um Ebeians Torso hektisch zu flackern begann. Tazi sah wieder zu den Überresten des Elfen. Im flammenden Schein des Zaubers hatte sie fast begonnen, sich einzureden, es sei Ebeian, der in gewisser Weise wieder zum Leben erwacht war. Je mehr Fragen sie gestellt hatte, desto mehr hatte er wie der alte Ebeian geantwortet. Selbst jetzt, wo sie wußte, womit sie da eigentlich sprach, fiel es ihr schwer zu akzeptieren, daß das gar nicht mehr ihr Freund war, sondern nur noch seine verblassenden Erinnerungen. Das Leuchten verblaßte. »Was hat Ciredor mit deiner Seele vor?« »Der Schmerz war furchtbar, als er mich ermordete«, erläuterte Ebeian. »Deshalb konnte ich nicht alles hören, was er sagte.« »Was konntest du hören?« beschwor sie ihn, weil das magische Leuchten, das ihn umgab, zusehends zu verblassen begann. »Er sagte, meine und andere Seelen sollten dem ›Lauernden Gott‹ dienen, wer auch immer das sein mag.« Seine letzten Worte waren nur noch schwer zu verstehen gewesen. Tazi versuchte, die verfliegende Magie so gut wie möglich zu nutzen. Sie beugte sich ganz nah zu ihm herab und flüsterte ihm eine letzte Frage in sein spitzes Ohr. 79
»Hat er bereits alle Seelen, die er benötigt?« Sie mußte sich jetzt wirklich anstrengen, um die Antwort zu verstehen. »Nein«, wisperte der Elf. »Er benötigt noch immer Fannahs.« Das Grauen übermannte Tazi, und sie saß auf einmal so stocksteif, als wäre sie vom Blitz getroffen worden. Sie blickte fassungslos zu Steorf und dann zu dem Kleriker. Der alte Mann stöhnte und brach zusammen. Sie und Steorf eilten ihm zu Hilfe. Tazi stellte fest, daß er noch atmete, und Steorf begann augenblicklich, ihn zu verarzten. Es dauerte nicht lange, bis der Kleriker wieder zu sich kam, und Steorf stützte ihn und führte ihn zu einem Sessel. »Es geht mir wieder gut«, beteuerte er. »Es war beschwerlicher, als ich erwartet hatte. Ich weiß nicht, ob ich noch die Energie habe, um meine Aufgaben am Fünfzehnten zu erfüllen, doch irgendwie bin ich mir sicher, daß es mir Mystra in diesem Fall nachsehen wird.« »Es hatte den Anschein, als müßtet Ihr die ganze Zeit kämpfen«, stellte Steorf fest. »Etwas sehr Starkes versuchte, mich daran zu hindern, den Zauber zu vollenden.« Dann sah er Tazi direkt an. »Ihr habt einen außergewöhnlich mächtigen Feind.« Tazi, die jetzt wieder neben Ebeians Leiche saß, antwortete nur: »Ja, in der Tat.« Sie spielte zerstreut mit dem Smaragdring an ihrer linken Hand. »Ich bin ihm aber schon einmal entgegengetreten und habe gewon80
nen. Ich bin sicher, daß ich es erneut tun kann, wenn ich muß.« Irgendwie klang sie nicht einmal für sich selbst überzeugend. Steorf, der jetzt sicher war, daß es dem Kleriker wieder gut ging, trat neben Tazi. »Ich hatte ja keine Ahnung«, begann er. »Nicht von Ciredors Einmischung und nicht, daß Fannah Teil der ganzen Angelegenheit ist ...« Er verstummte, weil er nicht wußte, was er weiter sagen sollte. Als er keine Antwort von Tazi bekam, versuchte er es abermals. »Was willst du jetzt tun?« Tazi streichelte Ebeians Gesicht. »Ich wünschte, ich hätte ihm noch eine Frage stellen können«, murmelte sie, »aber ich habe meine Chance vertan.« Das Leuchten war verschwunden, und Tazi konnte erkennen, daß jetzt wirklich nur noch die leibliche Hülle von ihm übrig war. Ebeian war für immer tot, und seine Seele hatte Ciredor geraubt. Sie stand auf und wandte sich Steorf zu. »Welche Frage?« wollte der wissen. Tazi schüttelte nur den Kopf. »Ich habe ihn verloren, doch ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, daß sich dieser Bastard auch noch Fannah holt.« Steorf nickte und fragte erneut: »Was willst du tun?« Die Frage nahm Tazi förmlich den Wind aus den Segeln, und sie zögerte. »Es gibt da jemanden, mit dem ich sprechen muß«, 81
antwortete sie und wandte sich zum Gehen. Alle anderen schienen vergessen. Steorf wollte ihr folgen. »Nein«, sagte sie und legte ihm sanft die Fingerspitzen gegen seine breite Brust. »Du mußt Fannah finden und sie in mein Zimmer im ›Kätzchen‹ eskortieren. Bleib an ihrer Seite. Wo ich jetzt hingehen muß, werde ich alleine hingehen.« Dann verschwand sie in die Nacht hinaus.
82
Die Sturmfeste
T
azi verharrte zögernd mit erhobener Faust. Sie kaute auf ihrer Lippe herum und fragte sich erneut, ob dies die richtige Entscheidung war. Ich sehe keine andere Möglichkeit, sagte sie sich. Nachdem sie sich entschlossen hatte, klopfte sie kräftig gegen die wuchtige Holztür. Zuerst einmal, und als keine Reaktion erfolgte, ein zweites Mal. »Herein«, ertönte eine tiefe Stimme von drinnen. Tazi drückte die schwere Tür, die in Erevis’ Schlafzimmer führte, auf. Sie war erst einige Male dort gewesen. Der einzig andere halbprivate Raum, in dem Tazi je mit Cale allein gewesen war, war die Speisekammer gewesen. Dort hatten sie manchmal gesessen und gemeinsam an einem guten Cognac genippt. Von den beiden Räumen zog sie die Speisekammer eindeutig vor. Seine Schlafkammer war in jeder Hinsicht abweisend. Das einzige Licht im Raum stammte von einer rußigen Öllampe, die auf Cales Eichennachttisch stand. Tazis Augen hatten Mühe, sich an das diffuse Halbdunkel zu gewöhnen. Es war kein Wunder, daß Cale so 83
wenig Licht brauchte, da er die Einrichtung seines Raums auf ein Minimum beschränkte. Sie war noch spärlicher als bei ihrem elfischen Freund. Abgesehen von dem langen, gußeisernen Bett und dem Nachttisch gab es nur einen schweren, dick gepolsterten Lederstuhl und eine Truhe aus Pinienholz am Fuß des Betts. Tazis Augen ruhte kurz auf der Truhe, und trotz der schrecklichen Ereignisse, die sich in dieser Nacht zugetragen hatten, konnten sie sich angesichts der Erinnerungen, die in diesem Moment in ihr aufkeimten, ein Lächeln nicht verkneifen. Als sie etwa zwölf Jahre alt gewesen war, hatte sie begonnen, sich als Diebin zu üben. Der beste Ort, um zu üben, war anfangs das eigene Zuhause gewesen. Es hatte hier so viele Räume und so viele Leute gegeben, die beständig geschäftig hin und her eilten, daß sich ihr zahlreiche Gelegenheiten boten, sich das eine oder andere hübsche Beutestück unter den Nagel zu reißen. Eines von Mutters Schmuckstücken, ein silberner Kerzenleuchter ... und so war es immer weitergegangen. Sie hatte sich durch praktisch alle Quartiere des Anwesens gearbeitet, und als immer mehr Dinge verschwanden, hatte das Personal natürlich alle Vorwürfe abbekommen. Niemand hatte vermutet, daß es sich bei der Übeltäterin in Wahrheit um das kleine Mädchen handeln könnte. Tazi war zu diesem Zeitpunkt schon von ziemlichem Übermut erfüllt gewesen und hatte sich entschlossen, etwas aus Erevis’ Raum zu stehlen. Während der Großteil des Personals und sogar Angehörige der Familie 84
durch den neuen Kämmerer eingeschüchtert waren, hatte Tazi der hochaufgeschossene, ausgezehrte Mann fasziniert. So hatte sie keine Sekunde gezögert, als es darum ging, sich in sein Zimmer zu schleichen. Auch damals war Cales Raum schon so spartanisch eingerichtet gewesen wie heute. Die junge Tazi war etwas enttäuscht gewesen, daß sich in seiner Schlafkammer nur so wenige Möglichkeiten boten, Beute zu machen. Doch dann waren ihre Augen auf die Pinienholzkiste gefallen, und die Welt war wieder in Ordnung gewesen. Tazi hatte zufrieden festgestellt, daß sie versperrt war, ihre Dietriche ausgepackt und sich ans Werk gemacht. Sie war mehr denn je davon überzeugt gewesen, daß sich etwas Wertvolles darin verbergen mußte. Während sie da so vor der Kiste kauerte und am Schloß herumfummelte, hatte Cale den Raum betreten. »Schwierigkeiten?« hatte er die kleine Thazienne gefragt. »In der Tat. Dieses Schloß, das Ihr da habt, macht mir sogar ziemliche Schwierigkeiten«, hatte sie keck zur Antwort gegeben und weder Überraschung noch Furcht zur Schau gestellt, obschon sie auf frischer Tat ertappt worden war. Cale war an Tazi herangetreten und ragte dabei hoch über dem am Boden kauernden Kind auf. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und seine bedrohlichste Miene aufgesetzt. Der Effekt, den er damit erzielte, war für Cale völlig unerwartet gewesen. Tazi hatte zu ihm aufgeblickt, ihn lange Zeit völlig ernst gemustert und dann rasch die Hand vor den Mund gepreßt, um das 85
Kichern zu ersticken, das sie zu überwältigen drohte. Sie hatte gesehen, daß Cale durch ihre Reaktion kurz außer Fassung geraten war, doch das währte nicht lang. »Es scheint, als hätte ich endlich die Ratte gefunden, die das Anwesen während der letzten paar Zehntage so schamlos ausgeplündert hat«, hatte er gesagt. »Ja, scheint so«, hatte Tazi unerschütterlich gekontert. Sie hatte seine Maske durchschaut und erkannt, daß er in Wahrheit gar nicht böse mit ihr war. Offenbar war er ob ihrer Reaktion sogar ein klein wenig erfreut gewesen. Sie richtete sich auf, und obwohl Tazi für ihr Alter bereits hochaufgeschossen war, hatte sie der 1,85 m große Cale natürlich bei weitem überragt. Sie hatte den Kopf in den Nacken legen müssen, um ihn besser zu sehen. Cale hatte die schwarzhaarige Thazienne mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck angestarrt, als wäge er verschiedene Optionen ab. Er hatte nach unten gegriffen und ihr die Dietriche aus den Fingern genommen, ohne daß sie sich dagegen wehrte. Tazi hatte interessiert beobachtet, wie er sie in den Händen drehte und sorgfältig untersuchte. Irgendwo tief drinnen hatte sie nun doch ein wenig Furcht empfunden, was sie Mutter und Vater sagen sollte, nachdem er sie überführt hatte. In ihren Gedanken hatten sich bereits die möglichen Entschuldigungen überschlagen, als sie Cale unterbrach. »Denkst du, deine Eltern werden über diesen neuen ›Zeitvertreib‹ erfreut sein, den du dir da ausgesucht 86
hast?« hatte er gefragt. Jetzt war es an der Zeit, die Grundlagen für die Geschichte zu legen, die sie ihren Eltern später heute nacht erzählen wollte, um ihrer Bestrafung zu entgehen. Sie hatte jedoch keine Lust gehabt, das tränenüberströmte, reuige Kind für Cale zu spielen. »Ich habe es nicht für sie getan und mir auch keine Gedanken gemacht, was sie denken werden. Ich habe es für mich allein getan. Es schien mir«, sie hatte innegehalten und nach Worten gesucht, »einfach richtig für mich zu sein.« Cale hatte ihr die Dietriche mit einer langsamen Bewegung zurückgegeben. »Die hier haben wirklich eine extrem schlechte Qualität«, hatte er bemerkt und zufrieden festgestellt, daß er das junge Mädchen nun doch verblüfft hatte. »Wenn du schon dieses Leben führst, dann solltest du dein Bestes geben.« Tazi war die Kinnlade nach unten geklappt. Cale hatte ihr tatsächlich seine Unterstützung angeboten und sich ein Lächeln nicht verkneifen können. Das Lächeln hatte dafür gesorgt, daß seine normalerweise wie in Stein gemeißelten Züge auf einmal sehr weich wirkten, und in diesem Augenblick hatte sie erkannt, daß er in Wahrheit noch sehr jung war, vielleicht gerade mal knapp über zwanzig. Ohne nachzudenken hatte sie ihn spielerisch in die Seite geknufft, so wie sie es bei ihrem jüngeren Bruder Talbot immer tat, wenn er ihr einen guten Streich gespielt hatte. »Also gut«, hatte er gesagt und die Berührung schein87
bar völlig ignoriert. »Dann wollen wir mal deine Sachen einsammeln. Deine erste Lektion besteht darin zu lernen, wie wertvoll das richtige Werkzeug ist«, hatte er ihr erklärt, während er sie aus dem Zimmer zu dirigieren begann. Tazi hatte sich umgedreht, aber noch einen Blick auf die Truhe geworfen. »Was ist mit dem Schloß da?« hatte sie gefragt, während sie mit einer raschen Kopfbewegung darauf deutete. Cale hatte sie aus dem Raum geführt. »Wir heben uns das besser für später auf. Es ist komplizierter, als es den Anschein hat.« Nun trat Tazi so viele Jahre später zu derselben Truhe und konnte nicht anders, als ob der Erinnerungen zu lächeln. Eine tiefe Stimme erinnerte sie daran, daß sie nicht mehr das kleine Mädchen von einst war. »Kann ich etwas für Euch tun, Herrin?« erkundigte sich Cale. Tazi wandte sich um sah, daß Cale die ganze Zeit über in seinem Lederstuhl gesessen hatte. Sie hatte ihn einfach nicht gesehen, bis er sie angesprochen hatte. Sie war peinlich berührt, daß er sie bei ihren Tagträumen ertappt hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre es Tazi völlig egal gewesen, wenn er sie in solch einem verletzlichen Zustand gesehen hätte. Doch diese Tage waren vorüber. Inzwischen wollte sie sich niemandem gegenüber mehr eine Blöße geben. Sie ließ sich auf der Truhe nieder. Ihre Ellbogen ruhten auf den Knien, und die Hände hatte sie gefaltet. 88
»Es tut mir leid, dich noch so spät zu stören«, begann sie unbehaglich. Sie erkannte, daß sie ihn nicht geweckt hatte, da er noch immer seine schlechtsitzende Kämmererlivree trug. »Aber es sind Dinge geschehen, und ich brauche Rat. Ebeian ...« »Ist tot«, vollendete er den Satz für sie. Er machte sich nicht die Mühe aufzustehen oder Tazi etwas zu trinken anzubieten. Er saß die ganze Zeit stocksteif in seinem Lehnstuhl, die Finger unter dem Kinn verschränkt. »Ich sollte eigentlich überrascht sein, daß du schon davon erfahren hast«, antwortete sie nach kurzem Zögern, »doch du hattest schon immer ›gute Verbindungen‹, nicht wahr?« Cale bekundete seine Zustimmung nur durch ein angedeutetes Nicken. Seit er begonnen hatte, Tazi auszubilden, hatte diese in Erfahrung gebracht, daß Cale über ein ganzes Netzwerk an Bekannten verfügte, über die er mit den weniger respektablen Elementen der sembitischen Gesellschaft Kontakt hielt. Da er diese Verbindungen nie zu mißbrauchen schien, ja sie, soweit sie das beurteilen konnte, stets nur zum Wohlergehen der Uskevrens nutzte, erwähnte sie gegenüber ihren Eltern nie etwas davon. Wenn ihre Familie durch ihn allerdings in Gefahr geraten wäre, so wäre es ihr egal gewesen, welche dunklen Geheimnisse er von ihr kannte. Sie hätte ihn ohne zu zögern denunziert und ausgeliefert. Doch bisher hatte er sich stets als treuer Diener erwiesen, und jetzt wollte sie ihn und seine Verbindungen nutzen. 89
»Dann weißt du vermutlich auch bereits, wie er gestorben ist«, fuhr sie fort und machte sich gar nicht die Mühe, auf eine Antwort zu warten. »Mich hingegen hat es doppelt eiskalt erwischt. Zuerst, als mich ausgerechnet Steorf aus dem ›Kätzchen‹ zerrte, und dann natürlich, als er mich zum toten Ebeian führte.« Insgeheim hoffte ein kleiner Teil ihrer selbst, der tief in ihr verborgen war, es sei ihr gelungen, ihn durch die Erwähnung Steorfs zu verletzen. Nach ihrer ersten Begegnung mit Ciredor, als Tazi ihre Freundschaft mit dem jungen, in Ausbildung befindlichen Magier abgebrochen hatte, war ihr aufgefallen, daß Cale darüber erfreut war. Solange sie die beiden kannte, hatte sie angespannte Stimmung zwischen Cale und Steorf gespürt, und sie war sicher, daß die beiden einander nicht leiden konnten. Cales Freude verkehrte sich jedoch rasch ins Gegenteil, als Tazi bald darauf begann, ihn ebenfalls aus ihrem Leben auszuschließen. Dies und die langen Monate ihrer Genesung nach ihren Verletzungen hatten einen Keil in ihre einst so gute und freundschaftliche Beziehung getrieben. »Steorf und ich fanden heraus, daß Ciredor für Ebs Tod verantwortlich ist«, führte sie aus. »Der Bastard will sich als nächstes Fannah vorknöpfen. Er benötigt sie für etwas, das ich nicht verstehe, aber auf jeden Fall werde ich es nicht zulassen, daß ihr etwas zustößt. Steorf bewacht sie für mich in meinem Zimmer im ›Kätzchen‹, während ich mich darauf vorbereite, den Kampf zum Feind zu tragen ... und zwar direkt in Calimhafen.« »Ihr scheint Euch gut an Eure Lektionen zu erin90
nern«, rang sich Cale zu einer Reaktion durch. »›Wenn du gegen einen Feind antrittst, dann tue dies stets zu einer Zeit und an einem Ort, den du gewählt hast.‹ Nun ja ...«, sagte sie, »den Ort habe ich nicht wirklich ausgewählt, aber da sich Fannah in Calimhafen gut auskennt, kann ich mit ihrer Hilfe vielleicht doch irgendwie einen Heimvorteil herausschlagen.« Unruhe packte Tazi. Sie konnte nicht länger müßig auf der Truhe sitzen. Sie stand auf und begann, in Cales Raum auf- und abzugehen. Sie hatte ihn oft damit aufgezogen, daß er wie ein Mönch lebte. Seit dem Zwischenfall mit den Schattendämonen hatte Tazi mehrmals den Eindruck gehabt, dieser Raum sei ebenso wie sein Verhalten ihr gegenüber noch kälter geworden. Sie sah sich um und stellte fest, daß überall tiefe Schatten zu liegen schienen. Der Raum war noch geheimnisvoller geworden, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Vielleicht ist es ja nur eine Fassade, dachte sie. Ähnlich wie bei meinem Raum. Vielleicht repräsentiert diese Dunkelheit Cale ebensowenig wie die Spitzendeckchen und pastellfarbenen Gemälde in meinem Zimmer mich? »Erevis?« fragte sie schließlich mit ausgestreckter Hand. Er beantwortete ihre unausgesprochene Frage, noch ehe sie sie stellen konnte, und seine Worte waren so schmerzlich, daß sie gar nicht mehr sicher war, was sie hatte sagen wollen. »Ich kann Euch auf keinen Fall begleiten«, sagte er mit geschlossenen Augen. »Es geschehen Dinge, um die ich mich kümmern muß.« Tazi wandte sich ab und ließ die Schultern hängen. 91
Was auch immer sie erwartet hatte, mit einer so offenen Ablehnung hatte sie nicht gerechnet. Tazi schlang die Arme um die Schultern, als fröre sie plötzlich. In diesem Augenblick wünschte sie sich nur noch, irgendwo anders zu sein. Sie fühlte sich jäh und unerwartet von allen verlassen und auf sich allein gestellt. Du dummes Mädchen, schalt sie sich. Was hast du auch erwartet, daß er sagen würde? Doch das änderte nichts an ihren Empfindungen. Da sie ihm den Rücken zugewandt hatte, konnte sie nicht sehen, was er tat. Er stand langsam aus dem Lehnstuhl auf, und seine Gesichtszüge waren auf einmal ganz weich und zärtlich geworden. Er streckte einen seiner langen, muskulösen Arme fast schüchtern in ihre Richtung aus, hielt aber wenige Zentimeter, bevor er ihre Locken gestreift hätte, inne. Statt dessen ballte er die Faust und ließ sie sinken. Dann stählte er sich, streckte in fast militärischer Manier den Rücken durch und bereitete sich darauf vor, ihr die nächste Lektion zu erteilen. »Der Name Uskevren bedeutet wörtlich übersetzt ›Tapferkeit bar jeder Vorsicht‹, wie Ihr ja selbst nur zu gut wißt. Ihr solltet Euch an die wichtigste Lektion erinnern, die ich Euch je gelehrt habe: Bringt alles zu Ende, was Ihr begonnen habt«, mahnte er. »Ihr müßt diese Angelegenheit mit Ciredor beenden.« Tazi kehrte ihm weiter den Rücken zu, stand jetzt jedoch nicht mehr ganz so geknickt, als er den Namen des Nekromanten erwähnte. »Das weiß ich«, antwortete sie ruhig. 92
»Obwohl ich Euch nicht begleiten kann«, fuhr Cale fort, und Tazi war sich nicht sicher, ob nicht so etwas wie Trauer in seiner Stimme mitschwang, »kann ich Euch zumindest ein wenig helfen. Zwischen den Unterlagen auf Eurem Schreibtisch werdet Ihr ein Schriftstück mit einer Adresse finden. Es handelt sich um ein Haus in einer eher dubiosen Gegend Selgaunts, in dem mehr verborgen liegt, als auf den ersten Blick scheint.« Er hielt inne, doch Tazi wandte sich noch immer nicht um, und so fuhr er einfach fort. »Dort werdet Ihr ein Portal nach Calimhafen finden. Das wird Euch zahlreiche Tage, ja Monate langer, beschwerlicher Reise ersparen, doch die Benutzung des Portals ist mit Kosten verbunden.« »Ich weiß alles über Kosten«, murmelte sie. Cale nickte, zufrieden ob ihrer Antwort, doch das konnte Tazi natürlich nicht sehen. Sie hielt jetzt mit steif durchgedrücktem Rücken die Stellung und weigerte sich, Cale ins Gesicht zu sehen, da zu viele gegensätzliche Gefühle in ihr tobten. Es war das einzige, was sie tun konnte, um die Fassung zu wahren. Sie war nicht bereit, Cale an ihrem inneren Aufruhr teilhaben zu lassen. Dieser fuhr ungerührt mit seinen Ermahnungen fort. »Ich denke, es wäre eine gute Idee, die Schriftrollen mitzunehmen, die Ihr Ciredor abgenommen habt. Es erscheint mir wie ein Wunder, daß Ihr so geistesgegenwärtig wart, sie nach Eurem grausamen Kampf gegen Ciredor an Euch zu nehmen«, erklärte er stolz. »Ich habe das Gefühl, daß ihre Bedeutung auf Eurer Reise enthüllt werden wird.« 93
»›Es ist immer besser, vorbereitet zu sein, als mit leeren Händen dazustehen‹«, zitierte sie mit einem Anflug von Sarkasmus eine seiner zahlreichen Lektionen. »Immer«, entgegnete er trocken. »Der letzte Ratschlag, den ich Euch geben kann, ist, daß Ihr sowohl Fannah als auch Steorf mitnehmen solltet.« Tazi legte den Kopf schräg und hätte ob seiner Erwähnung Steorfs beinahe verblüfft über ihre Schulter geblickt und ihm doch noch ins Gesicht gesehen. Sie bremste sich im letzten Moment. Irgendwie wäre es ihr wie eine Niederlage vorgekommen, sich jetzt umzudrehen. Wenn er sie schon fortschickte, ohne sie zu begleiten, dann mußte es wohl so sein. Sie würde das auch allein schaffen. »Fannah ist sicherer, wenn sie ständig an Eurer Seite ist«, führte er aus, und Tazi spürte einen Anflug von Stolz angesichts dieses Kompliments, »und es mag gut sein, daß Ihr auf dieser Reise die Hilfe eines Magiers benötigt, dem Ihr voll und ganz vertrauen könnt.« Cale seufzte. Jetzt waren es seine Schultern, die wie unter einer großen Last nach unten sackten. »Steorf«, begann er, und seine Stimme war fast zu einem Flüstern abgesunken, »ist ein Magier, dem Ihr trauen könnt, Thazienne.« Mit diesem Eingeständnis wandte er sich ab und ging zu seinem Stuhl zurück. Er stand jetzt daneben, und seine Hand ruhte leicht auf der Armlehne, die gleiche Hand, mit der er Tazi so gerne zärtlich und beruhigend berührt hätte. Erneut hatte Cale sie kalt erwischt. Tazi hätte nie 94
damit gerechnet, daß er ihr raten würde, in irgendeiner Angelegenheit auf die Hilfe Steorfs zu setzen, geschweige denn bei solch einem tödlichen Unterfangen, wie sie es plante. Sie schluckte schwer und wandte sich um, um ihm endlich wieder ins Gesicht zu blicken, nur um feststellen zu müssen, daß er von ihr abgerückt war und ihr nunmehr seinen steif durchgestreckten Rücken präsentierte. »Wenn du meinst, dies sei die gescheiteste Vorgehensweise, dann werde ich deinem Rat folgen«, antwortete sie nach langem Zögern. »Du mußt tun, was du selbst für die klügste Entscheidung hältst, Thazienne«, erinnerte er sie. »Denn wenn alles gesagt und getan ist, mußt du mit deinen Entscheidungen leben.« »Danke für alles«, flüsterte sie. Cale wandte sich noch immer nicht um, sondern deutete nur ein Nicken an. Tazi war hin- und hergerissen. Sie wollte zu ihm gehen, doch gleichzeitig hatte sie Angst davor, ihm oder auch ihren eigenen Gefühlen so vollständig zu trauen. Der Moment begann sich so lange zu strecken, daß es ihr unangenehm wurde. Mit einem Ruck wandte sie sich zum Gehen. Sie drückte die schwere Tür auf, zögerte aber im Ausgang, weil sie nicht wollte, daß die Dinge so zwischen ihnen stehenblieben. Tazi warf noch einen Blick zurück und hoffte, er werde ihr direkt ins Gesicht blicken, doch Cale präsentierte ihr noch immer seinen steifen Rücken. Auf seltsame Weise brach ihr der Anblick das Herz. Die stürmi95
schen Gefühle, die er in ihr auslöste, waren selbst für sie überraschend. Während sie sich endgültig zum Gehen umwandte, fiel ihr Blick noch ein letztes Mal auf die Pinienholztruhe und ihr fiel auf einmal auf, daß sie in all den Jahren nie herausgefunden hatte, was er tatsächlich dort drinnen verschlossen hatte ... oder in seinem Herzen. Nachdem Tazi gegangen war, drehte sich Cale endlich zur Tür um. »Gute Reise, mein Herz«, flüsterte er.
Shamur Uskevren beobachtete die Szene noch einen Augenblick länger und schloß dann die Wandverkleidung über dem kleinen Guckloch wieder lautlos. Sie vergewisserte sich, daß sie dicht war, und zündete ihre Laterne wieder an. Sie war besonders vorsichtig, da sie wußte, wie aufmerksam Cale auf die kleinsten Dinge und Hinweise reagierte. Da anscheinend weder ihre Tochter Tazi noch Cale bemerkt hatten, daß sie zur Zeugin ihres ganzen Gesprächs geworden war, war sie vermutlich auch jetzt vor einer Entdeckung sicher. Sie war barfuß und trug nur ihr seidenes Nachtgewand, doch sie ignorierte die Kälte. In Gedanken war sie noch immer bei den Ereignissen, deren Zeugin sie gerade geworden war, während sie fast automatisch durch die Geheimgänge ihren Weg zurückfand. Soweit Shamur wußte, kannten nur sie und ihr Ehemann das komplizierte Netz von Geheimgängen, das praktisch die 96
gesamte Sturmfeste durchzog. Die Gucklöcher hatten sich schon mehr als einmal nützlich erwiesen, wenn Shamur die Loyalität der zahlreichen Diener und Wächter auf die Probe stellen wollte, die die Uskevrens beschäftigten. In dieser Nacht hatten sie ihr wesentlich mehr als nur Loyalität enthüllt. Shamurs Füße waren ob der Kälte so taub, daß sie kaum einen Unterschied merkte, als sie vom harten Steinboden der Geheimgänge auf den weichen Plüschteppich ihres Schlafzimmers trat. Daß die Flammen im Kamin kurz vor dem Ausgehen standen, fiel ihr aber auf, obwohl sie so geistesabwesend war. Sie trat’zum reich mit Ornamenten verzierten Kamin und warf ein neues Holzscheit in die ersterbende Glut. Sie mußte das Feuer nur kurz anfachen, und kurz darauf prasselte es wieder fröhlich im Kamin. Shamur vergewisserte sich nochmals, daß das Feuer wieder genug Nahrung hatte, und ging mit leisen Schritten um ihr Himmelbett herum an ihren Kleiderschrank. Mit ihrer Hand fuhr sie an der linken Seite der Holzwand entlang, und ihre gewandten Finger strichen dabei über mehrere hölzerne, geschnitzte Figuren. Sie drückte mehrere Vertiefungen, die geschickt in den Verzierungen eingearbeitet waren. Es war eine Kombination, die nur ihr bekannt war. Es gab ein leises Klikken, und ein Geheimfach öffnete sich. Sie griff in eine kleine Vertiefung und holte den Gegenstand hervor, der darin verborgen war. Shamur hielt die Botschaft so sorgsam, als handle es sich dabei um ein wertvolles Artefakt. Ein Hauch des Parfüms ihrer 97
Tochter haftete dem Pergament noch immer an. Sie ließ sich auf der Chaiselongue in der Nähe des Kamins nieder und ließ den Blick ihrer scharfen grauen Augen über die Botschaft streifen. Es waren nur wenige Zeilen, die da geschrieben standen, und Shamur hatte sie schon so oft gelesen, daß sie sie eigentlich auswendig kannte. Dennoch las sie sie sich noch einmal laut vor. »›Alles Gute in meinem Herzen ist nur deinetwegen dort‹«, rezitierte sie. »›Ai armiel telere, maenen hir. Dein ist mein ganzes Herz. Cale‹« Wie schon so oft in den letzten Monaten bedachte Shamur die Götter mit einem lautlosen Dankgebet, daß sie die Botschaft vor ihrer Tochter entdeckt hatte. In jener schicksalsschweren Nacht, in der Tazi so schwer verwundet worden war, hatte Shamur keinen Schlaf gefunden. Sie hatte sich einfach noch einmal mit eigenen Augen vergewissern müssen, wie sich die Brust ihrer Tochter unter ihren Atemzügen hob und senkte, um zu sehen, daß sie tatsächlich am Leben war, egal was ihr die Priester versichert hatten. Da sie natürlich keine Lust gehabt hatte, ihre Beweggründe gegenüber irgend jemand zu rechtfertigen, am allerwenigsten gegenüber dem Personal, war sie lautlos und ungesehen in Thaziennes Zimmer geschlüpft, nachdem sie beobachtet hatte, wie Cale gegangen war. Als sie zum Bett ihrer Tochter getreten war, war sie äußerst überrascht gewesen, Cales plötzlichen und völlig unvermittelten romantischen Ausbruch dort zu finden, noch dazu auf dem persönlichen Briefpapier ihrer Tochter. 98
Shamur hatte sich an jenem Abend durch die chaotischen und schrecklichen Ereignisse noch immer in einem Schockzustand befunden, und die Botschaft war schlicht und einfach zuviel für sie. Sie hatte sie an sich genommen, in ihrer Robe versteckt, und als sie später in ihre Räume zurückgekehrt war, hatte sie Cales poetische Ergüsse in dem Geheimfach ihres Schränke verstaut. Sie hatte das Gefühl gehabt, Zeit zu benötigen, um sich zu entscheiden, was am besten für ihre Tochter war. Jetzt, ein Jahr später, klaffte offenbar eine Art Kluft zwischen ihrer Tochter und Erevis Cale. Anscheinend hatte er seine Gefühle ihr gegenüber nie zum Ausdruck gebracht, außer in jener Botschaft. Vielleicht ist er es inzwischen leid, auf ein Zeichen Thaziennes zu warten, der Frau, »der sein ganzes Herz gehörte«? sagte sie sich. Dann traf sie ihre Entscheidung. Shamur blickte ein letztes Mal auf die elfischen Worte der Liebe, die ein Lakai für ihre Tochter niedergeschrieben hatte. Dann warf sie den Brief ins Feuer. Während die Flammen das Pergament gierig verschlangen, breitete sich ein Gefühl der Zufriedenheit in Shamur aus. Sie war sicher, die richtige Entscheidung für ihre Tochter getroffen zu haben. Sie liebte Tazi aus ganzem Herzen und voller Leidenschaft und war bereit, alles zu tun, um dafür zu sorgen, daß sie glücklich Wurde. Sie würde nicht zulassen, daß sich ihre Tochter in einer schmerzhaften und zum Scheitern verurteilten Liebschaft verstrickte – nicht, 99
wenn sie es verhindern konnte. Eine Verbindung zu einem gewöhnlichen Diener war schlicht und einfach nicht das richtige für ihre Tochter, auch wenn es erst dieses traurigen Zusammentreffens zwischen den beiden bedurft hatte, um ihren Entschluß zu zementieren. Shamur hatte seit Monaten um eine Entscheidung gerungen, was am besten für Tazi war, und diese Nacht erschien ihr wie ein Omen. Jetzt, wo der fatale Brief zerstört war, stand dem Glück ihrer Tochter langfristig nichts mehr im Wege. Ein leises Klopfen an der Tür schreckte Shamur aus ihren Überlegungen auf. »Herein«, sagte sie. Es war Thamalon, der eine kastanienbraune und goldfarbene Robe trug. »Ich hoffe, ich störe nicht?« fragte er. Erstmals an diesem Abend konnte Shamur lächeln. Jetzt, wo sie zum Schlafen hergerichtet war und ihr strohblondes Haar frei über ihr Gesicht fiel, sah sie eher wie ein Mädchen im Alter ihrer Tochter aus. Ihr Ehemann nahm es mit zufriedenem Kennerblick zur Kenntnis. »Komm, setz dich neben mich«, forderte sie ihn auf und tätschelte das Polster neben ihr einladend. Noch ein Jahr zuvor hätte sie ihrem Gemahl niemals so ein intimes Angebot gemacht, doch im Verlauf der letzten Monate hatten sich viele Dinge verändert, der Großteil davon glücklicherweise zum Guten. Sie mußte sich ihm gegenüber jetzt nicht mehr verstecken. Unter dem Strich gab es niemanden, mit dem sie einen kost100
baren Augenblick wie diesen lieber geteilt hätte. Thamalon setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Shamur lehnte sich an ihn, und ein leiser Seufzer entrang sich ihren Lippen. »Was hält dich so spät noch wach?« fragte Thamalon sanft. »Ich habe über unsere Kinder nachgedacht«, gab sie nach langem Zögern zur Antwort. »Es gibt vieles, das schrecklich für sie schiefgehen könnte.« Die alte Eule, wie viele ihn nannten, küßte sie sanft auf den Kopf und antwortete: »Solange du über sie wachst, kann ihnen nie etwas wirklich Böses geschehen.« »Ich bete, daß du recht hast«, sagte sie und hielt ihn ganz fest.
»Ach, wie perfekt doch alles ist«, kicherte Ciredor, während er Tazi dabei beobachtete, wie sie aus Cales Schlafzimmer trat. Es gab nur wenige unbeantwortete Fragen, doch der Raum, in dem sich Ciredor momentan aufhielt, beinhaltete eine ganze Reihe davon. Die Kammer war irgendwann in der Ära des Himmelsfeuers, als sich die beiden Dschinnen Calim und Memnon in ihrem rasenden Zorn bekämpften, in die Wüstenberge gehauen worden. An den Wänden zogen sich uralte Schriftzeichen entlang, die sich all seinen Versuchen, sie zu übersetzen, hartnäckig widersetzten. Abgesehen davon gab es nur 101
sehr wenige Hinweise darauf, wer diesen Raum vor ihm benutzt haben mochte. Als er diesen Zufluchtsort viele Jahre zuvor entdeckt hatte, hatte er sich von seiner Wut überwältigen lassen und die ehemaligen Wächter des Ortes zu rasch getötet. Bald hatte er erkennen müssen, daß er eine Chance, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen, achtlos verspielt hatte. Er hatte sich seinen Fehler als eine der zahlreichen Lektionen eingestanden, die ihm das Leben erteilt hatte, und sich geschworen, ihn nie mehr zu wiederholen. An verschiedenen Stellen flackerten Glühlichter in den natürlichen Vertiefungen des Raumes, doch diese vielfältigen Lichtquellen übertraf bei weitem das Strahlen eines einzelnen, vielfach facettierten Amethysts, der nicht größer war als eine geballte, menschliche Faust. Er ruhte auf einem aus natürlichem Felsgestein geformten Podest, das als Fokus für den ganzen Raum diente. Das geisterhafte violette Licht, das von dem Stein ausstrahlte, spielte in seltsamen Mustern über die gezackten Wände und die eingefallenen Wangen Ciredors. Hinter ihm lag ein Gang, der aus dem Raum führte. Entlang der Wände des Gangs standen zehn Statuen, von denen die kleinste die Größe eines Elfen erreichte. Es schien fast, als spiele das Licht des Amethysts liebevoll mit den Statuen, liebkose sie. Doch Ciredor war förmlich verzückt. Er hatte einen beinahe zärtlichen Gesichtsausdruck, als er erneut nach dem Stein griff und mit seinen langen, dünnen Fingern über seine Oberfläche strich. Seine Berührung ließ ihn 102
noch heller aufleuchten. Er blickte tief in den Stein und mußte erneut lachen, als er die Szenen sah, die sich darin abspielten. »Meine liebe, liebe Thazienne«, sagte er zu dem Edelstein. »Wie kann es nur sein, daß soviel Zeit verstrichen ist und du doch noch immer ganz die Alte geblieben bist?« Natürlich konnte ihm niemand seine rhetorische Frage beantworten. Doch er erwartete und brauchte auch keine Antwort. Er wußte nur zu gut, daß Tazi nur aufgrund ihres unverschämten Glücks und des Familienvermögens in ihrem Rücken so lange überlebt hatte. Er fragte sich unwillkürlich, wie oft ihre Eltern schon ein stattliches Sümmchen ausgegeben hatten, um für ihre Rettung zu bezahlen, so acht- und sorglos wie sie war. Doch augenscheinlich waren ihre Eltern auch nicht so umsichtig, wie sie vielleicht glaubten. Immerhin hatten sie den Fehler begangen, ausgerechnet ihn in ihr Anwesen einzulassen, um ihren verwundeten Sproß zu »heilen«. Er hatte das Gefühl, er werde bald herausfinden, wie viele weitere Fehler sie noch bei der Erziehung ihrer Tochter gemacht hatten. »Wie närrisch und vertrauensselig du doch bist, Mädchen«, fuhr er trotz der mangelnden Antwort ungerührt fort, während er weiterhin in den Edelstein starrte. »Hast du aus unserem letzten Zusammentreffen gar nichts gelernt? Du denkst also tatsächlich, du könnest den Kampf ... ach, wie hast du es noch gleich so süß ausgedrückt?« Er hielt einen Augenblick inne, bevor er 103
fortfuhr, als müsse er sich erst ihrer Worte entsinnen. »Ja genau ... zu einer Zeit und an einem Ort deiner Wahl ausfechten.« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte erneut lauthals. »Seit wann hast du denn je etwas ausgewählt, was uns beide anbelangt? Denkst du, das Bürschchen, das sich Magier schimpft, hätte deinen elfischen Geliebten aufgrund seiner großen Fähigkeiten gefunden?« fragte er den Stein. »Ach Tazi!« Er schüttelte den Kopf. »Wie sehr ich wünschte, du könntest mich jetzt sehen, wie ich dich sehe. Es wäre köstlich, persönlich von dem Schmerz zu trinken, den du durch diese Erkenntnis erlittest. Doch Geduld, dazu wird es allzubald kommen.« Einen Augenblick lang konnte Ciredor die bittere Enttäuschung, die Tazi gefühlt hatte, als er ihr enthüllt hatte, daß ihr guter Freund und enger Vertrauter zahlreicher Jahre schlicht und einfach ein bezahlter Söldner war, förmlich wieder schmecken und auskosten. Das Leid, das sie in jener Nacht ausgestrahlt hatte, war von einer wunderbaren Süße gewesen. Damals hatte Tazi trotz des Lebenswandels, für den sie sich entschieden hatte, noch über eine gewisse Unschuld verfügt, und er war der Mann gewesen, dem das Glück beschieden gewesen war, ihr diese Unschuld zu rauben. Ciredor hatte die Erinnerung schon häufiger genossen, obwohl er gleichzeitig Haß empfand, daß er gegen solch ein unschuldiges Kind verloren hatte. Eine innere Unruhe packte ihn, und er begann im Raum auf- und abzugehen. 104
»Durch Hinweise und Zeichen lockte ich deinen Möchtegernmagier zu dem Tableau, das ich so sorgfältig für dich arrangiert hatte. Ach, ich hoffte, du würdest meine Handschrift auch ohne magische Unterstützung erkennen, doch erneut hast du dich als unwürdig erwiesen. Dennoch sollte ich wohl nicht allzu hart mit dir ins Gericht gehen. Schließlich werde ich letztlich alles von dir bekommen, was ich benötige.« Bei diesen Worten strich er sich geistesabwesend über den Spitzbart. »Im Grunde war es ziemlich vergnüglich, diesem alten Mann, den du angeheuert hast, dabei zuzusehen, wie er sich beim Versuch, den armen, toten Ebeian zu reanimieren, abgerackert und geschwitzt und gestöhnt hat, und am Ende teilte dir die Leiche gerade eben genug mit, um deinen Appetit zu wecken, so daß du von selbst zu mir kommst, und du hast auch noch vor, mir Geschenke mitzubringen. Wie aufmerksam von dir!« Er verzog eine Hälfte des Mundes zu einem Lächeln. »Aber noch immer hast du nichts begriffen.« Ciredor schritt rasch quer durch den Raum wieder an den Edelstein heran, wobei er ganz in seinem Monolog gefangen war. »Natürlich gestattete ich Ebeian zu sprechen, wie er es tat. Es waren meine behutsam gewählten Worte, die über seine zerstörten Lippen drangen. Wirst du diese zärtlichen Lippen vermissen, kleine Tazi?« fragte er sich laut. Er kniete vor dem Podest nieder, auf dem der Amethyst lag. Er drapierte einen Arm quer über die Platt105
form, legte seinen Kopf neben dem Stein aufs Podest und schaute den Edelstein mit schiefgelegtem Kopf zärtlich an, als beobachte er eine Geliebte im Schlaf. »Erneut ziehe ich an deinen Fäden, mein süßes Püppchen«, fuhr er leise fort, »und wie gehorsam du für mich doch tanzt. Ich warte hier mit offenen Armen auf dich, um dich in meinem bescheidenen Heim willkommen zu heißen. Wenn du kommst, werden wir die Schuld zwischen uns ausgleichen, Uskevren! Wenn ich mit dir und denen, die du liebst, fertig bin«, seine Stimme sank zu einem tödlichen Flüstern herab, »dann wirst du dir noch wünschen, ich hätte dich in jener Nacht, in der wir erstmals aufeinandertrafen, getötet!« Er setzte sich auf, zupfte seine Tunika zurecht, als wolle er sich vor dem Ausgehen hübsch machen, und strich und klopfte imaginären Staub aus dem Gewand. »Gegenwärtig fehlt es mir leider an Zeit, mich mit den lästigen Details zu beschäftigen«, erklärte er dem Edelstein. »Wenn du also bitte so lieb wärst, rasch zu packen, und bitte vergiß auch nicht, diese calishitische Schönheit mitzubringen, ja?« Er stand gewandt auf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Ich bin sehr dankbar für die Hilfe, die dir dein Kämmerer zuteil werden ließ. Immerhin muß ich so nicht allzulange auf deine Ankunft warten«, gab er zu und begann, im Raum hin- und herzugehen wie ein Lehrer, der vor versammelter Klasse seine Lektionen erteilte. »Ich weiß es zu schätzen, daß Cale dir nicht mehr verriet als den Standort dieses Portals. Zugegebe106
nermaßen«, räumte Ciredor widerwillig ein, »würde es mir nicht behagen, mich mit ihm anlegen zu müssen, um dich in meine Hände zu bekommen. Er hat etwas. Etwas ...«, seine Stimme wurde leiser, während er nachdachte, »... etwas, auf das ich nicht den Finger zu legen vermag.« Ciredor riß sich aus seiner Entrückung und musterte den Raum und die Statuen im Gang. Wie ein Spieß beim Militär, der seine Truppe inspiziert, schritt er die Reihe der Statuen ab. Es schien, als seien sie Teile eines Mosaiks, das er arrangiert hatte, und als vergewissere er sich nun, daß alle an ihrem Platz waren und ihre Rolle erfüllen würden. Der Magier zeigte sich zufrieden und kehrte zu dem Juwel zurück. »Bring mir die Krone für meine Königin, kleine Tazi«, befahl er. »Bring das letzte Teil meines Geschenks. Sobald es hier ist, muß ich noch bis zum Neumond warten. Nur noch ein Zehntag, und alles wird anders sein – und natürlich wirst auch du dann mir gehören.«
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Übergänge
H
ört denn dieser verdammte Regen niemals auf?« fluchte Tazi. Sie, Steorf und Fannah standen vor einem aus Backsteinen erbauten Schmalhaus in der Morgenstraße im Edisviertel. Es war weit nach Mondschatten, und ein Großteil der Wohngebäude zu beiden Seiten der Straße lag dunkel da. Ein feiner Nieselregen hing in der Luft. »Es spielt keine Rolle, ob der Regen aufhört oder nicht«, fuhr Steorf sie an. »Es ist ja nicht so, als littest du unter dem Regen.« Tazi warf ihm einen bösen Blick zu und ging dann betont ein wenig auf und ab, als sähe sie sich nach Wachen um. Steorf hatte recht. Sie hatte nicht nur die schwarze Lederkleidung an, die sie den ganzen letzten Tag über gut eingeölt hatte, sondern auch einen Reiseumhang, der ihr vom Kopf bis zu den Knöcheln reichte. Steorf und Fannah waren ähnlich gerüstet. Der Umhang schützte sie nicht nur durch seinen widerstandsfähigen Stoff, sondern auch durch die Magie, die mit ihm verwoben war, so daß die Feuchtigkeit von ihm abglitt. Sie würde also nicht klatschnaß enden wie in 108
jener schrecklichen Nacht, doch Tazi war so angespannt, daß sie einfach etwas sagen mußte. Sich über das Wetter zu beschweren war ihr einfach als das nächstliegende und unverfänglichste Gesprächsthema erschienen. »Ich werde mal auf die Mauer klettern und mich vergewissern, daß keine Wächter in der Nähe sind«, bot sie an. »Ich dachte, dein Leibdiener«, Steorf betonte das Wort ganz eigenartig, »hätte garantiert, daß das Gebäude heute nacht praktisch leerstehend sein würde.« »Es gibt keine Garantien, auf die man sich verlassen kann«, mahnte ihn Tazi. »Ausgerechnet du solltest das inzwischen eigentlich wissen.« »Es gibt zumindest ein paar, Thazienne«, flüsterte er. Da ihr keine bissige Antwort einfiel, wandte sie sich ab, ging an ihm vorbei, überquerte die Straße und ging auf die niedere Mauer um das Schmalhaus zu. In einer fließenden Bewegung schwang sie sich auf die Mauerkrone und kauerte sich gleichzeitig nieder. Es fühlte sich gut an, sich zu bewegen, selbst wenn es nur solch ein einfaches Manöver war. Sie hatte ein Gefühl, als liefen Ameisen auf ihrer Haut herum, und einen schalen Geschmack im Mund. Tazi wußte, daß sie sich schon um Fannahs willen keine Fehler erlauben durfte. Tazi warf einen Blick über die Schulter zu ihren beiden Freunden, und erneut fielen ihr die drastischen Unterschiede zwischen ihnen auf. Steorf war groß, muskulös und von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Er wirkte bedrohlich und einschüchternd, und Tazi 109
spürte, daß auch er gespannt wie eine aufgezogene Feder war. Fannah hingegen stand entspannt neben ihm, als warte sie auf lieben Besuch, der sich angekündigt hatte. Obwohl ihre Kleidung auch eher dunkel und ihr dichtes Haar zu einem einzelnen Zopf zusammengebunden war, der ihr bis zur Hüfte reichte, fiel ihr nichts Lauerndes an ihrer Gestik oder Körperhaltung auf. Fannah schien einfach abzuwarten, was geschehen würde. Nichts kann sie aus der Ruhe bringen, dachte Tazi. Das einzige Mal, daß sie Fannah aufgewühlt erlebt hatte, war in jener Nacht gewesen, als sie erstmals aufeinandertrafen. Tazi hatte ihre Lederkleidung angehabt und war gerade zum »Kätzchen« unterwegs, wo sie Pläne für jene schicksalsschwere Nacht schmieden wollte, die sich zu ihrem Zusammentreffen mit Ciredor entwickeln sollte. Plötzlich hatte sie spitze Schreie gehört. Sie war lautlos in die Seitengasse geglitten, aus der die Geräusche kamen, und hatte mit ansehen müssen, wie zwei Matrosen aus dem Selgaunter Hafen eine schöne Fremde belästigten. Als Tazi erkannte, wie schlecht sich die Fremde verteidigte, hatte sie aus einer Laune heraus beschlossen, sich einzumischen und der Sache ein Ende zu bereiten. Während des ganzen Chaos, das entstand, als Tazi als junger Mann verkleidet die beiden Seeleute vermöbelte, hätte Fannah mehr als genug Gelegenheit gehabt, sich ungesehen abzusetzen, doch sie war geblieben. Tazi hatte zuerst gedacht, die Frau stünde unter Schock oder hätte gar Angst vor ihrem Retter, weil sich dieser als größeres Problem erweisen mochte als die zwei betrun110
kenen Fische, die da aus der Bucht gekrochen waren. Es war nur ein kurzes Gefecht gewesen, das sich Tazi mit den beiden Seeleuten geliefert hatte. Diese hatten zwar blutige Verletzungen davongetragen, doch Tazi hatte sie gnädigerweise am Leben gelassen. Dann hatte sie sich dem Opfer ihrer betrunkenen Zudringlichkeiten zugewandt, um herauszufinden, warum es sich noch immer nicht in Sicherheit gebracht hatte. Die Kleidung der schwarzhaarigen Frau war an mehreren Stellen zerrissen gewesen, aber abgesehen davon hatte sie keine Verletzungen davongetragen. Als sie sie näher musterte, hatte Tazi festgestellt, daß die Calishitin über leere, völlig weiße Augen verfügte, die an Eis erinnerten, und korrekt geschlossen, daß sie blind sein mußte. Tazi war damals davon ausgegangen, daß Fannah eben aufgrund dieses Handikaps in der Gasse verblieben war, während sie ihre Angreifer verscheucht hatte. Sie vermutete, Fannah habe keine Ahnung gehabt, wohin sie fliehen sollte. Seit jenem Tag hatte sie diese Annahme freilich schon des öfteren überdacht. Obwohl Fannah zweifellos blind war, war sie in der Lage, ihre Umgebung mit geradezu untrüglicher Sicherheit wahrzunehmen. Sie hatte beispielsweise nur einen Augenblick gebraucht, um Tazis Verkleidung zu durchschauen. Obwohl praktisch jeder, der sehen konnte, auf ihre Verkleidung hereinfiel und sie für einen jungen Mann hielt, was sie durchaus stolz machte, hatte Fannah durch ihren Geruch und Berührung erkannt, daß sie in Wirklichkeit eine Frau war. Sie wäre während des Kampfes jederzeit in der Lage gewesen, die 111
Seitengasse zu verlassen. Statt dessen hatte sie sich entschlossen zu bleiben. Sie hatte Tazi ihr völliges Vertrauen geschenkt und ihre Sicherheit in ihre Hände gelegt. Jetzt hat sie es erneut getan, wunderte sich Tazi. Wenn sie sich meiner so sicher ist, vielleicht schaffe ich es dann auch, es selbst zu sein. Es war niemand zu sehen. Cale hatte erneut recht gehabt, es gab tatsächlich keine Wächter außerhalb des Anwesens. Tazi ließ sich geräuschlos von der Mauer gleiten und kehrte zu ihren Gefährten zurück. »Es sieht aus, als sei drinnen alles ruhig«, teilte sie ihnen mit. »Ich denke, es wäre am besten, wenn du, Steorf, nach einem möglichst unauffälligen und lautlosen Weg suchst, nach drinnen zu kommen.« Tazi sprach seinen Namen so direkt aus, damit Fannah trotz ihrer Blindheit wußte, wer gemeint war. »Ich denke, du bist von unserer Gruppe am besten geeignet, einen Weg zu finden, möglichst unauffällig hineinzuschlüpfen.« Jetzt war es Steorf, der sie überrascht anblickte. »Du möchtest unauffällig hineinschlüpfen?« fragte er ein wenig ungläubig. »Du weißt, das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.« »Ich bin sicher, daß du es noch immer kannst, oder bringst du es etwa nicht mehr?« zog sie ihn mit einem unschuldig wirkenden Augenaufschlag auf. »Oh! Ich denke mal, du wirst feststellen, daß ich noch immer gut darin bin ... und bei ein paar anderen Dingen auch.« Mit diesen Worten trat er vor, um das Anwesen und das Grundstück mit völlig anderen Blicken als zuvor zu 112
mustern, und die Frauen waren kurz unter sich. »So, du und Steorf, ihr seid also schon wieder soweit, daß ihr in ›Dinge‹ hineinschlüpft?« fragte Fannah spöttisch. Tazi sah sie verlegen an. »Ich bin blind«, setzte Fannah mit ihrer melodischen Stimme hinzu. »Nicht taub!« Tazi mußte ob der Spitze lachen. »Dir entgeht aber auch nichts«, gab sie zu. »Man sollte meinen, ich müßte das inzwischen wissen.« Sie holte tief Luft und fuhr fort: »Es ist schon verdammt lange her, daß er und ich so etwas gemeinsam durchgezogen haben. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich machte mir keine Sorgen.« »Du wärst eine Närrin, so etwas zu sagen«, berichtigte Fannah sie ruhig. Sie legte ihre grazile Hand auf Tazis sehnigen Arm. »Du bist aber keine Närrin, Thazienne. Das warst du noch nie.« Fannah konnte den dankbaren Blick nicht sehen, den sie ihr zuwarf, aber Tazi war sich sicher, daß Fannah auch so um ihre Gefühle wußte. Seit den Anfängen ihrer ungewöhnlichen Freundschaft hatte Tazi stets den Eindruck gehabt, sie könne auf den Grund ihrer Seele blicken, obwohl sie blind war. Im Laufe der Jahre hatte sich nichts daran geändert. Sie tätschelte zärtlich Fannahs Hand und war gleich darauf fast peinlich berührt ob der vertrauten Geste, zu der sie sich durchgerungen hatte. »Sind die Damen bereit?« fragte Steorf mit gespielter Steifheit. 113
Er war lautlos hinter sie getreten. Tazi wußte, daß er die Frage humorvoll gemeint hatte, aber sie empfand sie dennoch als passend. Wenn sie nicht tatsächlich voll und ganz bereit waren, würde dieses ganze Unterfangen in einer Katastrophe enden. Sie wägte noch einmal ihre Möglichkeiten ab und blickte ihre Gefährten dann hart an. Es gab keine andere Wahl. »Tragen wir die Auseinandersetzung zu Ciredor«, sagte«sie, »und bringen wir es zu Ende!« »Dann sollten wir uns aufmachen«, sagte Steorf und legte den Kopf schräg. »Hm, wenn es dich nicht stört«, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, »dann werde ich rasch einen Zauber sprechen, um deine klappernden Rapiere zum Schweigen zu bringen. Also wirklich, Thazienne, mit dem ganzen Lärm machst du noch alle auf uns aufmerksam.« Tazi wirbelte zu ihm herum, und ihre ärgerliche Antwort brannte ihr bereits auf der Zunge. Ihre sembitischen Schutzklingen waren ebenso lautlos wie sie selbst, und sie war drauf und dran, Steorf ziemlich unverblümt auf seinen Fehler hinzuweisen. Sie sah direkt in sein Gesicht und erkannte, daß er sie schon wieder aufgezogen hatte. Das war jetzt schon das zweite Mal, dachte sie sich. Gegen ihren Willen mußte sie grinsen. »Du bist ziemlich empfindlich heute, was?« sagte er. Steorf schwang sich auf die Mauer und streckte eine Hand nach unten. Tazi legte ihre Hand in die seine, so daß sie gemeinsam eine Kuhle bildeten, und dann hoben sie Fannah auf die Mauer. Kurz darauf kauerten alle 114
drei auf der Mauerkrone. Steorf wies auf eine Tür, bei der es sich wohl um den Dienstboteneingang handelte, und informierte sie durch eine Reihe von knappen Gesten, er erachte diese Einstiegsmöglichkeit als besten Weg. Fannah verhielt sich während ihres Austauschs völlig lautlos. Tazi drückte ihre Fingerspitzen in Fannahs Hand und erklärte ihr die Eckpunkte des Planes, indem sie ein paar Symbole in der Codesprache übermittelte, die sie miteinander vereinbart hatten. Tazi wußte, daß Fannah sich auf ihr Urteilsvermögen verlassen und erst dann wieder etwas laut sagen würde, wenn sie oder Steorf dies zuerst taten. Zwischen der Mauer und dem Dienstboteneingang befand sich ein kleiner Steingarten. Er war geschmackvoll in einem komplizierten Muster arrangiert und stellte gleichzeitig einen einfachen, aber dennoch effizienten Alarmmechanismus dar. Ein derartiger Steingarten mit seinen vielen kleinen Kieseln war im Gegensatz zu einem normalen Garten mit Gras und Erdreich ungleich schwieriger lautlos zu durchqueren. Jeder Stein, den ein Eindringling verschob, würde später enthüllen, daß jemand den Garten betreten hatte. Tazi berührte Steorfs Arm, doch der war schon einen Schritt weiter. Mit geübten Gesten wirkte er den Zauber, über den er zuvor gescherzt hatte. Dank seiner Magie waren sie in der Lage, ein paar wenige Zentimeter über dem Boden dahinzuschreiten, ohne einen einzigen Stein zu verschieben. Sie erreichten die Tür, und Tazi gebot Steorf mit knappen Gesten, zur Seite zu treten. Sie war sicher, daß 115
der Dienstboteneingang nicht mit Schutzzaubern versehen war, und griff in den Ärmel ihres Hemds, um ihre Dietriche hervorzuholen. Dann machte sie sich am Schloß zu schaffen. Drei rasche Drehungen reichten aus, und es sprang auf. Das richtige Werkzeug für die richtige Aufgabe, dachte sie mit einem Anflug von Zufriedenheit und verstaute das Diebeswerkzeug wieder unter der Parierschiene an ihrem Arm. Steorf trat in die hinter der Tür liegende Schwärze und breitete die Finger aus. Nach kurzem Schweigen flüsterte er: »Ich glaube nicht, daß jemand hier ist.« »Wir wollen nichts riskieren«, flüsterte Tazi zurück. »Beschränke den Einsatz deiner Magie auf ein Minimum.« Sie wollte jetzt keine Fehler machen, und ihre Besorgnis entsprang zum Teil ihrer Befürchtung, daß sie sich nicht wirklich sicher war, wie gut er seine Magie kontrollieren konnte. Fannah orientierte sich daran, daß ihre beiden Gefährten wieder miteinander sprachen und fragte: »Warum?« »Nun ja«, entgegnete Tazi, »keiner meiner Informantenn hatte irgendwelche Kenntnisse über den Hexenmeister, der das Portal hier kontrolliert. Wir können nicht sicher sein, daß er nicht auf irgendeine Weise mit Ciredor in Verbindung steht oder gar mit ihm verbündet ist. Da Steorf auch nichts über ihn weiß, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen. Daher ist es besser, wenn wir so wenig wie möglich Spuren hinterlassen, 116
egal ob magischer oder sonstiger Natur.« Tazi konnte es zwar nicht sehen, doch Steorf hatte sich unwillkürlich ein wenig aufgerichtet, während sie so von ihm sprach. »Weißt du, wo das Portal ist?« fragte Fannah. »Cale war nicht sicher, aber er nahm an, es sei im Keller«, antwortete Tazi und mußte dabei hart schlukken. Sie sagte nichts, aber insgeheim fürchtete sie sich bereits davor, was dort auf sie warten mochte. Sie hatte schon immer Angst vor Kellern gehabt, die sich nur allzuoft als Fallen erwiesen. Nach dem, was sie in den Tiefen des Kellers erlebt hatte, in dem Ciredor seine Lagerstätte aufgeschlagen hatte, hatte sie keinen Fuß mehr in einen Keller gesetzt. »Wir sollten uns vorsichtig bewegen«, warnte Steorf, nachdem er in einen Türstock gerannt war. »Ich denke, der Besitzer hat irgendeine Art von Schattenzauber auf das Schmalhaus gewirkt. Die Dunkelheit hier ist geradezu absolut.« Noch ehe Steorf und Tazi die Lage weiter besprechen konnten, übernahm Fannah die Führung. Von ihnen allen war sie am besten dazu in der Lage, sich angesichts der hier vorliegenden Bedingungen im Schmalhaus zu orientieren. Da sie von Geburt an blind war, war sie von der Dunkelheit in keiner Weise betroffen. Fannah umfaßte Tazis Hand mit sanftem Griff, und Steorf folgte dicht hinter Tazi. Tazi war immer wieder verblüfft, über welches räumliche Orientierungsvermögen Fannah verfügte. Ihre Fähigkeit, die Abmessungen 117
und Entfernungen zwischen Gegenständen exakt abzuschätzen, grenzte an ein Wunder. Auch dieses Mal sollte keine Ausnahme darstellen. Fannah führte sie durch das Haus, als hätte sie ihr ganzes Leben hier verbracht. Zuerst bewegten sie sich vorsichtig durch den Bereich des Hauses, den vermutlich die Dienstbotenquartiere einnahmen, dann erreichten sie die Küche. Es roch nach ranzigem Fett und Schimmel. Tazis Magen war ohnehin bereits in Aufruhr, und sie befürchtete, sich angesichts des widerlichen Gestankes übergeben zu müssen. Sie fragte sich, wie lange es her sein mochte, daß jemand die Küche geputzt hatte, beziehungsweise wie lange es überhaupt her sein mochte, daß es in diesem Haus so etwas wie eine Dienerschaft gegeben hatte. Der Staub, den sie aufwirbelten, kitzelte sie in der Nase, und sie mußte sich sehr zusammenreißen, um nicht lauthals zu niesen. Nach ein paar weiteren Schritten führte sie Fannah in eine Speisekammer. Tazi stellte erschöpft fest, daß der Geruch hier auch nicht besser war. Fannah tastete die Regale mit sicherem Griff ab und berührte dabei verdorbenes Essen und ruinierte Vorräte nur kurz, bis ihre tastenden Finger schließlich den Türknopf fanden, der zur Tür in den Keller gehörte. Zuerst öffnete sie die Tür nur einen Spalt weit, um zu überprüfen, ob die Angeln noch funktionierten oder ob die Tür kurz davor stand, aus denselben zu kippen. Anscheinend hatte zumindest sie jemand in letzter Zeit geschmiert, denn die Tür öffnete sich völlig lautlos. Fannah ging einen Schritt weit die Treppe hinunter, die glücklicherweise auch nicht 118
knarrte oder knirschte, und hielt dann abrupt inne. Tazi wäre fast in sie hineingelaufen. »Was ist?« flüsterte sie in Fannahs Ohr. »Da unten riecht etwas«, antwortete sie. »Hmm, wahrscheinlich nur noch mehr verdorbenes Essen«, versuchte sie Tazi zu beschwichtigen. Fannah zögerte noch immer. »Ja, das rieche ich auch, aber da ist noch etwas anderes.« »Was?« fragte Steorf, der nun auch nach unten getreten war und auf derselben Stufe wie Tazi stand. »Ich rieche verdorbenes Essen und etwas anderes. Etwas, das wie Tierkot riecht.« »Deswegen können wir jetzt auch nicht umdrehen«, drängte Tazi. Steorf schob sich an Fannah vorbei und übernahm die Führung. Diesmal folgten ihm Tazi und Fannah dichtauf. Im gleichen Augenblick, in dem er am Ende der Treppe angekommen war, flammte plötzlich ein Licht auf, und alle drei erstarrten. In dem schwachen Schein konnte Tazi erkennen, daß der Keller nicht groß war. Er war nur neun Meter lang und sechs Meter breit, doch nicht der Raum bereitete Tazi Sorgen. Sie hatte schon in größeren »Fallen« gesteckt. Die Wände bestanden aus einem dunklen, grob behauenen Flußgestein und sonderten fortwährend Feuchtigkeit ab. Deshalb waren sie auch mit Fäulnis und Schimmel überzogen, und der Geruch von Verwesung hing schwer im ganzen Raum. Tazi sah sich um und erkannte, daß hier keine Möbel oder Vorräte lagerten. Der Raum war leer bis auf das, weswegen sie hier119
her gekommen waren. Ein steinerner Torbogen, höher als Steorf und beinahe ebenso breit wie hoch, stand in die gegenüberliegende Ecke gedrückt. Abgesehen von der Größe war nichts Besonderes an dem Torbogen. Tazi konnte durch das Portal blicken, und dahinter sah man nur die Wand. »Da sind wir«, sagte sie und trat neben Steorf. »Gehen wir.« Steorf hielt sie mit einem Arm davon ab, einfach loszustürmen. »Nein«, sagte er. »Fannah hatte recht. Hier ist noch etwas. Sieh doch!« Er zeigte auf eine Schüssel in der Nähe des Portals, die bis zum Bersten mit irgend etwas gefüllt war, das wie Fleischstücke aussah. Tazi konnte sie allerdings im düsteren Licht kaum erkennen. »Es ist kein Lebewesen hier«, versuchte sie zu argumentieren. Sie drehte sich einmal im Kreis und erklärte im Brustton der Überzeugung: »Wir sind allein. Es gibt hier keinen Ort, an dem sich jemand verstecken könnte.« Unerwartet ertönte ein dumpfes Knurren, das den ganzen Keller erfüllte. Das Trio wirbelte in Richtung des Portals herum und sah, wie eine große, graue Kreatur dahinter hervorschlurfte. Tazi war verblüfft und etwas überrascht. Seit sie vor langer Zeit einmal ein Hund angegriffen hatte, litt sie an einer tiefverwurzelten Angst vor diesen Tieren. Doch das hier war mehr als ein einfaches Tier. Die Kreatur war etwas größer als eine typische Bull120
dogge, hatte ein dunkles Fell, und ihre Augen glühten in einem tiefen Rot. Das Scheusal zog die Lefzen zurück und gab ein warnendes Knurren von sich. Dadurch wurde das Maul sichtbar, in dem sich eine schier unmögliche Menge scharfer Reißzähne drängte. Die Bestie schwang den massiven Kopf bedächtig hin und her und musterte zuerst Tazi, dann Steorf, dann erneut Tazi. Dabei mahlte sie bedrohlich mit den Zähnen. »Aber man konnte durch das Portal hindurchsehen«, protestierte Tazi schwach, »und dieses Ding war gerade eben noch nicht da.« »Portale können die Wahrnehmung ebenso verzerren wie die Zeit und den Raum«, erklärte Steorf. »Ich kümmere mich darum.« Steorf trat vor, und die Hundebestie sprang. Das Vieh war so groß wie ein Mensch und benötigte nur zwei weite Sprünge, um die Entfernung zu dem Trio zu überbrücken. Steorf hob die Arme und sprach ein Wort, das Tazi nicht kannte. Ein zuckender Lichtblitz schoß aus seinen Fingern und schlug in das Tier ein. Was immer er auch erwartet hatte, der Zauber war offenbar gescheitert. Die Bestie schoß völlig ungerührt ob des magischen Angriffs weiter durch die Luft heran, riß ihn um und fetzte mit einem ersten Biß einen guten Teil seines Lederhandschuhs weg. Zum Glück hatte er seine Hände reflexartig vors Gesicht gerissen. Der Hund schüttelte den Handschuh verbissen hin und her und beschrieb dann einen Kreis, um erneut anzugreifen. »Tu etwas!« schrie Tazi, doch der muskulöse Magier 121
hatte sich nur halb aufgesetzt und starrte seine Hände an, so als ob er völlig benommen wäre. »Dein Schwert«, rief Tazi. Das Scheusal hatte jetzt offenbar genug davon, mit Steorfs Handschuh zu spielen und ihn zu zerfetzen, und sprang den Magier erneut an. Steorf wurde erneut umgerissen und packte den Halsreif der Bestie mit beiden Händen. Es gelang ihm mit aller Kraft, die wild schnappenden Kiefer von seinen Augen fernzuhalten, doch er verlor an Boden. Tazi erkannte, daß Steorf in dieser Lage unmöglich seine Waffe ziehen konnte, um sich zu verteidigen, und warf sich ebenfalls in die Schlacht. Sie schob Fannah hinter sich, riß ihren Reiseumhang von den Schultern und wickelte ihn teilweise um ihren linken Arm. Dann stürzte sie sich auf das Bündel aus Freund und Fell. Tazi gelang es, fast perfekt auf dem Rücken des Tiers zu landen. Sie legte den linken Arm um seine Kehle und warf einen Teil des Umhangs mit ihrer rechten Hand über seine Schnauze. Durch dieses Manöver und den Schwung ihres Sprungs gelang es ihr, die Bestie von Steorf wegzureißen. Tazi warf dem jungen Magier einen kurzen Blick zu, um sich zu vergewissern, daß es ihm gut ging. Steorf wirkte unverletzt, war aber wohl noch immer benommen. Sie fragte sich, wann er sich wohl das letzte Mal wirklich auf seine Fähigkeiten im körperlichen Kampf hatte verlassen müssen, konnte es sich allerdings nicht leisten, derartigen Spekulationen nachzuhängen. Sie war kaum in der Lage, das schnappende und gei122
fernde Monster unter Kontrolle zu halten, das mindestens doppelt soviel wog wie sie selbst. Kurz darauf schmetterte die tobende Bestie Tazi auch schon gegen eine Wand. Die Wucht des Aufpralls trieb ihr die Luft aus der Lunge, und der Hund nutzte die günstige Gelegenheit, um seine Schnauze von dem Umhang zu befreien. Tazi streckte die linke Hand vor und sprach das Befehlswort, das den Smaragdring aktivierte. Diesmal tauchte allerdings kein grauer Schild auf, um sie zu schützen, und die Aktivierung fügte ihr auch keine grausamen Schmerzen zu, wie dies bisher immer der Preis des Rings für seinen Schutz gewesen war. Tazi stellte fest, daß sie direkt in die rotglühenden Augen der Bestie blickte, die beinahe so sehr funkelten wie das edelsteinbesetzte Halsband. Der Atem des Hundes strich ihr in kurzen, heißen Stößen übers Gesicht. An ihrem rechten Handgelenk sah man noch immer die Narben des Hundeangriffs, dessen Opfer sie vor zahlreichen Jahren geworden war, und derart mit einer ihrer Urängste konfrontiert, schlug der unbändige Schrecken über ihr zusammen, den nur ein Kind empfinden konnte, das sich vor Monstern fürchtet. Sie drückte sich intuitiv gegen die Mauer und krabbelte panisch rückwärts. Das Tier hielt die Stellung und sah ihrem Rückzug interessiert zu. Dann merkte auch Tazi, daß ihr die dunkelhaarige Bestie nicht folgte. Sie sah sich eilig nach Steorf um. Er hatte sich von der Stelle entfernt, an der er angegriffen worden war und krabbelte jetzt auch am Boden herum. 123
Wahrscheinlich suchte er etwas, das sich als Schild gegen das Tier nutzen ließ. Sie blickte kurz zur Treppe und sah, daß sich Fannah noch immer genau an jener Stelle aufhielt, an die sie sie geschoben hatte. Dann noch ein schneller Blick zurück zu dem Hund, um sich zu vergewissern, daß er ihr noch immer nicht folgte. Die Bestie saß völlig ungerührt neben den Überresten ihres Umhangs und musterte sie ihrerseits. Sie rückte noch ein wenig von ihr ab. »Steorf, flüsterte sie vorsichtig über die Schulter. »Ich denke, das Scheusal greift nur an, wenn sich jemand dem Portal zu nähern versucht.« Der junge Magier kam schwankend auf die Füße. »Das spielt keine Rolle«, gab er zur Antwort, nachdem er Luft geschnappt hatte. »Die Kreatur scheint gegen Magie immun zu sein. Ich schätze, ihr Halsband schützt sie. Es gibt keine Möglichkeit, wie wir sie bezwingen können. Wir sollten verschwinden und einen anderen Weg finden.« Tazi bemerkte das Zittern in seiner Stimme und war kurz verblüfft darüber, wie rasch er sich geschlagen gab. Sie fragte sich, ob er nicht in Wahrheit sagen wollte, daß es keine Möglichkeit für ihn gab, die Bestie auf magischem Weg zu besiegen, doch irgendwie hätte sie am liebsten auch Fersengeld gegeben. Ihr mächtigstes Werkzeug war gegen das Tier nutzlos. Ein rascher Rückzug schien tatsächlich angebracht und logisch. Dann warf sie jedoch einen Blick zu Fannah. Die Frau mit dem rabenschwarzen Haar stand noch immer ruhig auf der untersten Stufe. Sie wirkte verletzlich, aber ge124
faßt. Bei diesem Anblick preßte Tazi die Lippen zusammen und richtete sich auf. »Nein«, gab sie Steorf zur Antwort. »Es gibt keinen anderen Weg als diesen. Ich laufe nicht mehr davon oder versuche, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.« Tazi trat einen Schritt vor. Wie sie erwartet hatte, setzte sich das Tier ebenfalls augenblicklich in Bewegung, sobald es sah, daß sie sich wieder dem Portal näherte. Tazi beobachtete, wie sich seine mächtigen Muskeln anspannten. Dann sprang der Wächter mit einem gefährlichen Knurren auf sie zu, ähnlich wie er es bei Steorf getan hatte. Tazi überkreuzte die Arme in Hüfthöhe und zog in einer fließenden Bewegung ihre sembitischen Schutzklingen. Obwohl sie wußte, daß sich ihre Verzauberung gegen den Wächter als nutzlos erweisen würde, handelte es sich noch immer um guten, scharfen Stahl. Es gab nicht viele Dinge auf der Welt, die dagegen immun waren. Tazi setzte den Schwung des Geschöpfs gegen es ein. Sie streckte den rechten Arm mit einer fließenden Bewegung durch, und obwohl die Bestie die Bedrohung kommen sah, konnte sie ihren Sprung nicht mehr abbrechen. Die Wucht des Aufpralls war so groß, daß sich das Tier praktisch selbst auf Tazis rechtem Rapier aufspießte. Sie führte gleichzeitig einen Angriff mit ihrer linken Klinge und köpfte das Ding fast damit. Schwung und Gewicht des Hundes sorgten dennoch dafür, daß beide zu Boden gerissen wurden. 125
Tazi kämpfte gegen das Gewicht des toten Tiers an, und schließlich gelang es ihr, die Kreatur von sich herunterzuwälzen. Während sie auf die Beine kam, eilte Steorf an ihre Seite, der ein wenig beschämt dreinblickte. Tazi fiel er im ersten Augenblick gar nicht auf, da sie so damit beschäftigt war, zu überprüfen, ob das Monster wirklich tot war. Obwohl sie über und über mit dem Blut der Bestie besudelt war, wollte sie der Sache noch nicht so recht trauen. Sie rechnete eigentlich damit, daß das Biest jede Sekunde die Augen aufreißen und mit seinen scharfen Zähnen nach ihr schnappen würde. Als sie sich den beinahe vollständig vom Rumpf getrennten Kopf jedoch näher besah, verflogen ihre Zweifel. Tazi packte die Klinge, die noch immer im Leib des Wächters steckte, mit beiden Händen und begann zu ziehen. Sie mußte letztlich sogar einen Fuß gegen die Flanke des Tiers stemmen, um genügend Druck auszuüben, so tief steckte die Waffe in der Brust der Bestie. Steorf reichte ihr den anderen Stoßdegen. »Alles klar, Fannah«, rief sie, während sie die Überreste ihres Umhangs aufhob. Sie nutzte die Fetzen, um ihre Waffen zu säubern, bevor sie sie wieder wegsteckte. Bald darauf hatte sich Fannah ihren schwer atmenden Freunden angeschlossen. »Irgend etwas sagt mir, daß ihr zwei einen ziemlich spektakulären Anblick bieten müßt«, meinte Fannah. Tazi mußte ob des Kommentars lächeln, doch Steorf sagte nichts dazu. 126
»Nun ja«, begann Tazi, während sie auf den riesengroßen Kadaver und die immer größer werdende Blutlache blickte, die sich rund um ihn ausbreitete, »ich muß zugeben, das Hinterlassen keiner Spuren haben wir wohl ziemlich gründlich vermasselt.« Sie grinste Steorf bei diesem flapsigen Kommentar an. Dieser trat nur zu dem Hund und kniete sich neben ihm nieder. Er legte die Hände auf den glanzlosen Halsreif und entfernte ihn, was ein klickendes Geräusch verursacht. Dann legte er die Hände auf die Flanke der toten Bestie und schloß die Augen. Tazi beobachtete voll stiller Faszination, wie ein blaues Leuchten den Hund umhüllte. Die Wunden des Tiers begannen sich zu schließen, und das Blut löste sich auf. Kurz darauf öffnete das Tier die Augen und wedelte ein paarmal mit dem Schwanz, während ihm Steorf das edelsteinbesetzte Halsband wieder anlegte. Tazi trat vorsichtig einen Schritt zurück, doch der Hund kam niit einer Rolle auf die Beine, trottete zur gegenüberliegenden Seite des Portals und ließ sich dort so gemütlich nieder, als kuschle er sich vor ein wärmendes Kaminfeuer. Fannah ging zu dem Hund und berührte ihn vorsichtig. Der Wächter wedelte erneut zufrieden mit dem Schwanz. Tazi wandte sich Steorf zu, und die Verblüffung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Du sagtest doch, wir sollen keine Spuren hinterlassen. Sobald die Bestie tot war, konnte ich das verzauberte Halsband entfernen«, erklärte er ruhig. »Sobald wir diesen Ort verlassen, wird die Kreatur wieder ihr 127
früheres Verhalten annehmen und sich ungebetenen Gästen wie eh und je von ihrer ekligsten Seite zeigen.« Sie warf ihm einen verblüfften Blick von der Seite zu und meinte: »Ich dachte, du hättest vor kurzem gesagt, du wärst in Nekromantie nicht besonders gut.« »Ich habe für diese Reise geübt«, war seine schlichte Antwort. Tazi knuffte ihn gutmütig gegen die Schulter. »Das war gut so, würde ich sagen.« Sie lächelte ihn an und versuchte so, etwas von der alten Kameradschaft, die einst zwischen ihnen existiert hatte, aufs neue zu entfachen. Sie tat es nicht für sich selbst, sondern für Fannah, doch er erwiderte ihr Lächeln nicht. »Es tut mir leid«, flüsterte er und blickte betreten auf seine schlaff herabhängenden Hände. »Es ist nur so, daß ...«, die Worte kamen ihm sichtlich schwer über die Lippen, »ich mich in dem Kampf irgendwie vergessen habe.« Tazi trat näher an ihn heran und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Unterarm. »Komm schon, nur weil du dich einmal für einen Moment vergessen hast, heißt das noch lange nicht, daß du dich verloren hast. Denk immer daran«, erklärte sie ihm ernst. Er starrte sie einen Augenblick lang an, bevor er das Gesagte scheinbar doch akzeptierte und seine Hand kurz auf die ihre legte. »Danke!« Fannah trat zu den beiden und fragte: »Ist es jetzt Zeit aufzubrechen?« 128
Tazi musterte ihre beiden Begleiter. »Ich denke schon. Steorf, kannst du uns irgend etwas darüber sagen, womit wir bei dieser Reise durchs Portal rechnen müssen?« »Ich habe schon viele Geschichten über magische Portale gehört«, erläuterte er. »Dummerweise sind sie alle widersprüchlich. Entweder waren alles nur Lügenmärchen, oder sie waren alle wahr, was bedeuten würde, daß jedes Tor anders ist.« »Was meinst du denn?« fragte ihn Tazi, die tatsächlich seine Einschätzung der Lage erfahren wollte, was Steorf zufrieden zur Kenntnis nahm. »Ich denke, jedes Portal ist unterschiedlich«, antwortete er ernst. »Dann werden wir wohl nur herausfinden, wie dieses Portal ist, indem wir hindurchgehen«, schloß sie. Sie warf dem Hund einen letzten Blick zu. Die Bestie lag friedlich auf der Seite und schnarchte leise. Sie schüttelte nochmals ungläubig den Kopf, hielt eine Hand aber stets an einer ihrer Waffen, nur um sicherzugehen. Alte Ängste verschwanden nicht einfach so mit einer Geste. Das Trio näherte sich dem Torbogen zögernd und vorsichtig. Es sah so aus, als sei das Portal aus rosafarbenem Sandstein, wie man ihn vor allem in der Wüste abbauen konnte. Tazi konnte durch den Torbogen hindurch noch immer ganz normal die Kellerwand sehen. Ihr Herz schlug ein wenig schneller, und ihr Mund fühlte sich ganz trocken an. Es war lange her, daß sie so empfunden hatte. Während des ganzen letzten Jahres 129
hatte sie sich bei keiner ihrer Eskapaden so lebendig gefühlt wie jetzt. Obwohl sie und ihre Freunde vielleicht dem Tod oder einem noch schlimmeren Schicksal entgegengingen, mußte sie unwillkürlich grinsen. »So, jetzt«, sagte sie zu den anderen. Tazi, Steorf und Fannah traten durch das Portal. Tazis Sinne wurden völlig aufgewühlt und von einer Woge hinweggefegt. Sie hatte den Eindruck, als sei sie mitten in einen Sturm getreten, einen Sturm von solch einer Macht, wie sie zum Jahreswechsel oft tobten und die Schiffe im Selgaunter Hafen beutelten. Rund um sie wogten und heulten Blau- und Gelbtöne in allen möglichen Schattierungen. Wo sie sich momentan befand, gab es weder einen Boden noch einen Himmel. Tazi war völlig konsterniert, weil es nichts zu geben schien, an dem sich ihre Sinne orientieren konnten. Sie hatte keine Ahnung, ob sie sich vorwärts oder rückwärts bewegte, und Fannah und Steorf waren nirgends zu sehen. Trotz ihrer früheren Entschlossenheit geriet sie nun doch ein wenig in Panik und mußte das aufkeimende Gefühl hinunterwürgen. Tazi versuchte, sich so gut wie möglich vorwärts zu bewegen, und konnte jetzt zu ihrer Linken einen Schatten ausmachen. Sie strengte ihre Augen an, um genauer zu sehen, dann rief sie der Gestalt etwas zu, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie kniff die Augen jetzt noch mehr zusammen, und endlich konnte sie etwas erkennen. Sie keuchte vor Erstaunen auf und gab einen erstickten Aufschrei von sich. Bei der Gestalt handelte es sich um ihren toten elfischen Freund. 130
»Ebeian!« schrie sie. Tazi sah, daß er wieder heil, aber im Mahlstrom des Tors gefangen war. Sie mußte mit ansehen, wie er sich hin und her wand und stöhnte, als traktiere ihn jemand mit weißglühenden Eisen. Es gab keinen Zweifel, daß er fürchterliche Schmerzen erlitt. Tazi streckte die Hand aus und versuchte, nach ihm zu greifen. »Eb!« rief sie, dann wurde es dunkel. Tazi ging in die Knie. Sie atmete schwer, und ihre Haut war mit kaltem Schweiß überzogen. Sie öffnete und schloß die Augen mehrmals, bis ihr bewußt wurde, daß die treibenden Farbschlieren verschwunden waren. Unter ihren Knien und Händen befand sich eine feste Oberfläche, und es herrschte eine bedrückende Stille. »Ist da jemand?« fragte sie, um nur etwas zu sagen und die furchtbare Stille zu durchbrechen. Kurz darauf kamen schwache Antworten Steorfs und Fannahs. Tazi war etwas leichter ums Herz, nachdem sie ihre Stimmen gehört hatte. Die drei saßen einfach einige Zeit da und warteten, bis ihr Gleichgewichtsgefühl wieder ins Lot geriet. »Habt ihr etwas sehen können?« fragte Tazi, während sie unsicher auf die Beine kam. »Nichts, das Sinn ergeben hätte – und du?« antwortete Steorf. »Ich habe Ebeian gesehen«, stieß sie hervor. »Er wirkte ... gepeinigt.« Steorf suchte sich behutsam seinen Weg durch die Dunkelheit, bis er neben ihr stand. »Das war er nicht«, beschwichtigte er. »Seine Seele 131
hat ihre letzte Reise angetreten. Ich denke, das Tor hat einfach gespürt, was in unseren Gedanken war, und es uns gezeigt.« »Glaubst du wirklich, das war alles?« fragte Tazi mit wieder aufkeimender Hoffnung. Der Gedanke, Ebeian könne so leiden, hatte sie schwer erschüttert. »Ja«, antwortete er im Brustton der Überzeugung. »Bist du nicht auch meiner Meinung, Fannah?« »Ich bin nicht sicher«, sagte Fannah vorsichtig. »Ich bin von Geburt an blind, aber dennoch konnte ich etwas sehen.« »Was denn?« fragte Tazi. »Was ich sah, war für mich allein bestimmt. Zumindest denke ich das. Ich konnte aber nirgends in dem Wirbelwind Ebeian sehen«, bestätigte sie Steorfs Mutmaßung. »Nun gut«, begann Tazi, nachdem sie über das Gesagte nachgedacht hatte. »Dann sollten wir versuchen herauszufinden, wo wir gelandet sind. Zumindest stinkt es hier nicht.« Der Raum war dunkel, aber trocken und sauber. Fannah übernahm die Führung, wie sie das auch im letzten Keller getan hatte. Sie benötigte nicht lange, um eine Treppe zu finden und ihre sehenden Freunde, die in der Dunkelheit rein gar nichts sehen konnten, nach draußen zu führen. Am Ende der Treppe ertastete Fannah eine Türschließe. Sie öffnete die Tür langsam, und grelles Licht fiel in den Raum. Sowohl Tazi als auch Steorf zuckten schmerzerfüllt zusammen. 132
Fannah trat auf die geschäftige Straße hinaus und breitete die Arme aus. Sie schloß die eisfarbenen Augen, legte den Kopf in den Nacken und seufzte tief, bevor sie sich wieder Tazi und Steorf zuwandte. Tazi stand im Eingang und sog den Geruch von Staub und Sand ein. Ihre Augen hatten sich noch nicht an das gleißende Sonnenlicht gewöhnt, und sie hielt eine Hand an die Stirn, um sie ein wenig abzuschirmen. Zwinkernd blickte sie zu Fannah. Alles, was sie erkennen konnte, war eine schwarze Silhouette vor einem flirrenden, goldenen Feld. Die melodiöse Stimme ihrer Freundin allerdings hörte sie laut und deutlich: »Willkommen in Calimhafen, Tazi!«
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Calimhafen
T
azi war umringt ... ... vom brodelnden Leben! Sie, Fannah und Steorf standen mitten in einem besonders geschäftigen Viertel Calimhafens. Die Sonne brannte heiß auf sie herunter, und Tazi nahm alle Eindrücke gierig in sich auf. Viele Männer und eine Handvoll Frauen drängten sich an ihnen vorbei. Die Männer trugen weite Hosen, Hemden, bestickte Wämser und Roben. Die meisten von ihnen trugen irgendeine Kopfbedeckung in den unterschiedlichsten Stilen. Vielleicht hat die Art der Kopfbedeckung ja etwas mit ihrem gesellschaftlichen Status zu tun, dachte Tazi. Die Frauen waren in Roben gehüllt, die ihren Körper völlig bedeckten, ja sie trugen sogar Schleier vor den Gesichtern. Manchmal, wenn ihre Roben bei der Bewegung ein wenig verrutschten, konnte sie Pumphosen erkennen, aber das war es auch schon. Die, die relativ armselig gekleidet waren, führten Lasttiere, die schwer beladene Karren hinter sich herzogen, durch die Straßen. Tazi mußte mehrfach hastig ausweichen, um zu
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verhindern, daß ihr einer der Wagen über die Zehen fuhr. Hier gab es niemanden, der nicht geschäftig war und es eilig zu haben schien. Tazi warf einen Blick gen Horizont und sah schlanke Türme, die sich hoch in den strahlend hellen Himmel reckten. Manche der Türme stürzten unglaubliche Kuppeln, die im Sonnenlicht glitzerten und funkelten. Hier und da schwebte ein fliegender Teppich zwischen den Brustwehren hin und her. Blickte man weiter nach unten, nahmen die Häuser ein weniger prunkvolles und extravagantes, aber für ihre Augen noch immer wundersames Aussehen an. Etliche waren durch aufwendige Mosaike geschmückt. Tazi wurde plötzlich bewußt, daß sie inmitten einer geschäftigen Menschenmenge stand und dabei Maulaffen feilhielt. »Ich muß wie ein Fisch aussehen, den man gerade aus der Selgaunter Bucht gefischt hat und der sein Maul auf- und zuklappt und nach Luft ringt«, gestand sie leise kichernd ein. »Was hast du gesagt?« fragte Steorf. Tazi war wieder ganz in ihren Beobachtungen gefangen. Keiner der Verkaufsstände und Torbögen war mit Namen oder Zeichen beschriftet, die sie hätte identifizieren können. Die Tür, aus der sie getreten waren, lag in einer schmutzigbraunen Ziegelmauer und verfügte über keinerlei Identifikationsmerkmale. Als sie auf einmal ein verräterisches Klicken hinter sich hörte, griff sie rasch zum Türknopf, mußte aber feststellen, daß sich die Tür hinter ihnen verriegelt hatte. Tazi vermutete, 135
daß sie sich nicht wieder öffnen würde und es auch vermutlich keinen Weg gab, sie selbst zu öffnen. Dieser Rückweg war ihnen versperrt. Als sich erneut jemand ruppig an ihnen vorbeidrängte, wurde ihr klar, daß sie hier nicht länger herumstehen konnten, wenn sie nicht bald Aufmerksamkeit erregen wollten. Sie mußte förmlich schreien, um sich bei all dem Lärm verständlich zu machen, den die Marktbudenbesitzer, die ihre Waren anzupreisen versuchten, verursachten. »Wir sollten zusehen, daß wir weiterkommen und hier nicht ewig herumstehen.« Sowohl Steorf als auch Fannah wandten sich an sie. Erwartung spiegelte sich auf ihren Gesichtern wider. »Ich würde dir ja gerne sagen, wo wir hingehen sollen, aber ich habe nicht einmal eine Ahnung, wo wir uns befinden. Ich denke, Fannah ist derzeit unsere beste Führerin.« Steorf nickte, und Fannah trat einen Schritt näher an Tazi heran. »Beschreib mir, was du siehst«, forderte sie die Calishitin auf. »Die Wände aus getrockneten Schlammziegeln sehen alle gleich aus«, mußte Tazi zugeben. »Ich kann auch keine Zeichen erkennen. Ich sehe nur ein Symbol, das hoch oben an einer Mauer angebracht ist, doch an einem Torbogen nicht unweit davon befindet es sich ebenfalls. Es kann also nicht viel bedeuten.« »Beschreib es«, sagte Fannah. »Es sieht wie der Schattenriß eines Einmasters aus.« 136
»Sind die Segel gehißt?« fragte Fannah. »Ja!« entgegnete Tazi, die inzwischen ahnte, daß das Symbol vielleicht doch etwas bedeuten mochte. »Die Segel sind im Wind gebläht.« Tazi sah, wie über Fannahs Antlitz die Andeutung eines Lächelns huschte. »Gut, und jetzt mußt du mir noch sagen, ob dir ein Gebäude in der Nähe auffällt, das aus den anderen hervorsticht.« Tazi sah sich um. Ein fünfstöckiges Haus, auf dem oben noch ein sechsstöckiges Minarett thronte, fiel ihr ins Auge. Es stand kaum einen Steinwurf weit von ihrer Position entfernt. Sie beschrieb Fannah das Haus und war schon ein wenig entnervt, daß sich die Calishitin mit ihrer Antwort, ob sie wußte wo sie waren oder nicht, so bitten ließ. Doch auch, wenn sie nicht leichtfertig antwortet, hat sie mir bisher stets die richtigen Antworten gegeben, ermahnte sich Tazi. »Wir sind im Piqaz Drudach innerhalb des Osiir Sabban. Das ganze Gebiet ist als Hakenviertel bekannt. Hier bin ich zu Hause!« erläuterte Fannah schließlich. »Das ist mir jetzt ein zu großer Zufall«, murmelte Steorf. »Da hast du vielleicht recht«, stimmte ihm Tazi zu, beschloß aber, sich später darüber Gedanken zu machen. »Was ist das also für ein Gebäude da vor uns?« fragte sie Fannah. »Das Bauwerk ist als der Leuchtturm des Mondes bekannt«, erklärte ihr Fannah. »Es ist nicht nur der 137
einzige Leuchtturm innerhalb der Hafenmauern, sondern zugleich der hiesige Tempel Selûnes.« »Das ist ein Tempel?« fragte Steorf ungläubig. »Ja, die Priester Selûnes betreiben den Leuchtturm«, antwortete Fannah. »Doch seit achthundert Jahren ist das einfach. Sie müssen nichts tun, um ihn zum Leuchten zu bringen. Im Minarett befindet sich ein Spiegel, der das Mondlicht sammelt und in den Hafen hinauswirft. Niemand ist es bisher gelungen, es zum Verlöschen zu bringen. Es gibt nur eine Nacht pro Monat, in der der Leuchtturm aus ist – die Neumondnacht.« Tazi starrte zum Spiegel hinauf. »Das ist aber sehr praktisch, wenn man über ein so verläßliches Leuchtfeuer verfügt.« Fannah mußte erneut schmunzeln. »Es ist erstaunlich, wie viele Kreaturen fälschlicherweise die Nacht fürchten, als sei die Dunkelheit an und für sich böse. Sie erkennen nicht, daß sie in die Tiefen ihrer eigenen Seele blicken sollten. Daß sie in Wirklichkeit die innere Finsternis fürchten sollten.« Fannah zog die Kapuze ihres Reiseumhangs über den Kopf, und Steorf folgte ihrem Beispiel. Von Tazis Umhang allerdings waren nach ihrem Zusammenstoß mit dem Hund nur noch Lumpen übrig. Sie erkannte, daß sie das einzige Gruppenmitglied war, das auffiel. »Es würde helfen, wenn wir uns Gewänder beschaffen könnten, die hier nicht ganz so sehr auffallen«, merkte sie an. Sie hatte bereits die Blicke etlicher Männer länger auf sich verweilen gespürt, als sie dies gewohnt war, obwohl sie doch eigentlich für ihre Vorstel138
lung unauffällig gekleidet war. »Wie überall in Calimhafen verkaufen auch im Hakenviertel die Händler praktisch alle nur erdenklichen Waren. Es sollte uns nicht schwerfallen, uns entsprechend auszurüsten«, erklärte ihr Fannah. Tazi und Steorf nahmen Fannah in die Mitte, während sie sich ihren Weg durch die tosende Menschenmenge suchten. Fannah schritt kräftig und ohne zu zögern aus, und Tazi hatte ein wenig Gelegenheit, sich genauer umzusehen. Wie auch in Selgaunt kauften und verkauften die Leute hier nur alle erdenklichen Güter. Doch was sie verwirrte, war die Tatsache, daß hier auch mehrere Priester die Dienste ihrer Götter feilboten, als handle es sich bei göttlicher Gnade schlicht um eine Ware. Vor dem Leuchtturm predigten Bekehrte Selûnes in ihren feinen, weißblauen Zeremoniengewändern einer Gruppe von Sklaven. Tazi nahm zuerst an, die Sklaven würden eher zuhören, um eine Ausrede für eine kleine Pause zu haben denn aus wirklichem Interesse, doch dann stießen zwei weitere Akolythen zu der kleinen Versammlung. Einer trug das Schwarz und Purpur Shars und die andere eine Tunika, auf der die zwei weißen, gefesselten Hände Ilmaters prangten. Es dauerte nicht lange, bis der Sermon zu einer Schimpftirade wurde, mit der die Angehörigen der drei Kirchen einander eindeckten. Tazi hatte noch nie erlebt, daß ein Tempel Selgaunts ein solches Verhalten seiner Priester toleriert hätte. »Was geht hier vor?« fragte sie Fannah. 139
Fannah warf ihr einen Seitenblick zu. »Was meinst du?« »Die Bekehrten da drüben stehen doch kurz davor, gegeneinander zu kämpfen!« rief sie aus. »Ach das!« lachte Fannah. »Hier gibt es das geflügelte Wort, im Hakenviertel breche zumindest zweimal täglich ein Heiliger Krieg aus!« »Ich kann nicht glauben, daß sie es für angemessen halten, sich so zu benehmen«, mischte sich nun Steorf ein, der schon länger geschwiegen hatte. »Beschämt ihr Verhalten nicht ihre Götter?« »Steorf, du verstehst das nicht«, erklärte ihm Fannah sanft. »Praktisch jede Gottheit, die in Faerûn existiert, hat hier in Calimhafen einen Tempel. Die Konkurrenz ist hart, und die Kleriker müssen um ihre Anhänger kämpfen, oder ihr Tempel leidet. Tatsächlich ist es sogar ihre Pflicht. So ist es etwa eine akzeptierte und weithin verbreitete Praxis, daß die Kleriker weltliche Positionen in der Stadt innehaben und ihr Salär an den Tempel geht.« »Ich schätze, ich verstehe die einheimischen Bräuche einfach nicht«, antwortete Steorf kopfschüttelnd. Er blickte sich unbehaglich um, und Fannah lächelte ihm gönnerhaft zu. »Zugegeben, es ist für Fremde nicht ganz einfach. So, und jetzt kommt weiter. Selameks Lagerhaus ist nicht mehr weit weg. Dort können wir uns mit ein paar Dingen eindecken.« Das Trio war in grob südöstlicher Richtung unterwegs und kämpfte sich weiter durch die Menschen140
massen. Tazi warf noch einen letzten Blick über die Schulter zu der heftigen Debatte zurück. Sie wollte wissen, ob die Priester tatsächlich begonnen hatten, einander zu schlagen, doch die Menschenmenge verdeckte ihr bereits das Blickfeld. Fannah führte sie gekonnt durch die labyrinthartigen Straßen. Die Menschenmenge war so dicht gedrängt, daß Tazi manchmal regelrecht in Fannah hineinstolperte, weil schlicht und einfach kein Platz mehr zum Ausweichen war. Der Calishitin schienen diese beengten Verhältnisse nicht einmal aufzufallen, doch ein Blick zu Steorf zeigte Tazi, daß dieser sich ebenso unwohl fühlte wie sie. Obwohl Selgaunt auf seine eigene Art ebenfalls eine geschäftige Handelsstadt war, fühlte sich Tazi hier in Calimhafen beinahe erstickt. Die Straßen waren außergewöhnlich eng und gewunden, und Mauern aus den allgegenwärtigen, schlammbraunen Backsteinen teilten und zergliederten jede verfügbare Freifläche. Obwohl die Straßen natürlich zum Himmel hin offen waren, hatten die Händler quer über die Drudachs oft Stangen gelegt. An diese Stangen hängten die ausgefuchsten Händler dann noch mehr Waren. Von manchen hingen Wandteppiche und Teppiche, während von anderen edelsteinbesetzte, frisch getrocknete Fäden wie glitzernde Spinnweben baumelten. Es gab praktisch keine Brise, und die drückende Hitze sorgte zusätzlich dafür, daß sich Tazi gefangen fühlte und an Klaustrophobie zu leiden begann. »Fannah«, flüsterte sie ihrer Freundin ins Ohr, da sie 141
Steorf nicht wissen lassen wollte, wie sie sich fühlte. Zum Wohle der ganzen Gruppe und weil sie der Ansicht war, daß er noch immer unter seinem Versagen beim Kampf mit der Hundebestie litt, wollte sie jetzt keine Furcht zur Schau stellen. »Wäre es nicht einfacher, wenn wir oben entlang der Mauern gehen würden, statt uns hier unten gegen die Menschenflut zu stemmen?« Tazi war aufgefallen, daß auf den höher gelegenen Wegen mehr Platz war und daß sie auch bei weitem nicht so beengt wirkten. »Wenn wir das täten«, begann Fannah, »würden wir wesentlich mehr Aufmerksamkeit erregen. Die oberen Pfade sind für die Adligen und andere Leute höheren Standes bestimmt. Hier unten zu bleiben bietet uns Anonymität, und darin liegt Sicherheit. Aber keine Sorge«, fügte sie noch hinzu. »Am Geruch kann ich schließen, daß wir bald da sind.« Kurz darauf verstand Tazi, was sie mit ihrem letzten Kommentar gemeint hatte. Ein saurer Geruch hing in der stehenden Luft, und Tazi fühlte, wie ihr übel wurde. Ohne ein Wort beschied ihnen Fannah mit Gesten, ihr in eine der Seitenstraßen zu folgen, und Tazi konnte eine große, aus Ton gefertigte Plattform mit zwanzig Vertiefungen erkennen, die so groß war, daß sie als Fundament eines Hauses hätte dienen können. Jedes dieser Löcher war so groß wie ein kleiner Brunnen und bis zum Rand mit einer bunten Flüssigkeit gefüllt, wobei diese in jeder Vertiefung eine andere Farbe hatte. Roben tragende Männer standen gebeugt über den Lö142
chern, und es sah so aus, als schrubbten sie Wäsche. »Hier wird Leder gefärbt«, erläuterte Steorf. »Ein ziemlich unverwechselbarer Geruch, was?« antwortete Tazi und strich sich gedankenverloren über ihre eigene Lederweste. Die drei kamen um eine Ecke, und dann standen sie vor einem von Calimhafens offiziellen Basaren: das Straßenhändler-Lagerhaus zum scharlachroten Kreuz. Hier standen die Zelte und Marktstände an beständiger und stabiler wirkenden Gebäuden, und überall feilschten Händler und ihre Kunden mit lauter Stimme. Während Tazi und ihre Gefährten sich ihren Weg durch den Wirrwarr suchten, hielten ihnen die Händler ihre Waren oft völlig schamlos fast mitten ins Gesicht. »Ein Lederbeutel für eure Schätze?« rief einer der Verkäufer. »Etwas, was zugleich scharf und glänzend ist für die Dame?« rief ein anderer. Tazi war verblüfft, wie der Händler schlicht und einfach etliche Schwerter und ein Kettenhemd auf sie zuschweben und sie dann vor ihr in der Luft herumwirbeln ließ, damit sie sie näher inspizieren konnte. Sie sah, wie Steorf zusammenzuckte, als der Verkäufer den gleichen Trick bei ihm wiederholte. Tazi fiel auf, daß sich die Art der Waren veränderte, je tiefer sie in den Markt vordrangen. In den äußeren Läden waren Gebrauchsgüter und Waffen zu finden, während weiter drinnen grobe Stoffe und unterschiedliche Arten von Gewändern zu finden waren. Fannah kämpfte sich ein paar Schritte vor ihnen 143
durch den Basar und hatte offenbar gerade gefunden, wonach sie suchte. Sie eröffnete die Verhandlungen mit einem der Kaufleute, und Tazi fiel auf, daß sie sie auf Alzhedo, also in der Landessprache, führte. Tazi hörte die Sprache erstmals und empfand sie als eine der melodischsten, die sie je vernommen hatte. Nur Elfisch ist noch schöner und eleganter, dachte sie sich, als sie sich unwillkürlich an ein paar der elfischen Worte erinnerte, die ihr Ebeian einmal zugeflüstert hatte. Der Kaufmann und Fannah feilschten einige Zeit und wurden dann handelseinig. Der Alte drehte sich zur Rückwand des Ladens um und zeigte mit einem Finger auf mehrere Roben, die dort hingen. Eine Robe nach der anderen flog quer durch den Laden, um dann vor Tazi ihren Reigen zu tanzen. »Such dir eine Dschellaba aus, die dir gefällt«, erklärte Fannah wieder in der Handelssprache. Sie wählte eine Robe mit blauweißen Streifen und zahlte den vereinbarten Preis. Tazi zog das Gewand an und fühlte sich gleich weniger fremd und nicht mehr allen neugierigen Blicken schutzlos ausgeliefert. »Ich scheine nicht glücklich zu sein, wenn ich nicht verkleidet bin«, flüsterte sie Steorf ins Ohr und versuchte, ihn durch den Scherz ein wenig aus der trübseligen Stimmung zu reißen, die er seit seinem Scheitern beim Kampf gegen den Hund verbreitete. Der Magier antwortete nicht einmal. Wie Tazi die Leute und die Architektur fasziniert angestarrt hatte, als sie in der Stadt angekommen waren, schien nun er völ144
lig entrückt. Tazi nahm an, ihn fasziniere all die Magie, von der sie umgeben waren. »Ich muß zugeben«, sagte sie und beugte sich näher zu ihm, während sie gleichzeitig ihre Kapuze über den Kopf warf, »daß man hier in Calimhafen wesentlich offener mit magischen Fähigkeiten umgeht.« »Fähigkeiten?« wütete Steorf. »Das sind doch nur Taschenspielertricks, und ihre Zurschaustellung ist geradezu obszön. Genauso wie das Spektakel vor dem Tempel Selûnes – und sie wagen es, uns als Barbaren zu bezeichnen.« Tazi musterte ihn nun doch leicht besorgt. Er fällt sein Urteil ziemlich rasch, dachte sie. Aber andererseits hatte er bisher ja auch keine Gelegenheit, Sembia zu verlassen. »Fannah«, wandte sie sich wieder an ihre Gefährtin. »Ich zähle auf deine Hilfe, damit wir hier keine Fehler machen. Nach allem, was ich über Calimhafen gelesen und bisher mit eigenen Augen gesehen habe, unterscheiden sich die Konventionen hier gewaltig von denen Sembias. Ich will nicht zu vielen Leuten auf die Füße treten.« »Wenn ich ›sehe‹, wie du kurz davor stehst, jemand auf die Füße zu treten, werde ich eingreifen. Aber er ist der Hexenmeister hier, und meine Fähigkeiten sind begrenzt«, erklärte sie schnippisch, während sie gleichzeitig untrüglich auf Steorf zeigte. Die beiden Frauen mußten kichern, und Steorf entspannte sich nun doch ein bißchen. Tazi nahm befriedigt zur Kenntnis, daß Fannah mit ihrem kleinen Scherz 145
die erhoffte Wirkung bei ihm erzielt hatte, und drängte ihre Gruppe weiterzugehen. »Man muß hier doch irgendwo auch etwas zu essen bekommen?« fragte sie Fannah. »Weiter drinnen im Basar, in der Nähe des eigentlichen Lagerhauses, sind die wertvollen und verderblichen Güter zu finden«, erklärte Fannah. »Dann sollten wir zusehen, daß wir weiterkommen. Selbst mit diesen Gewändern fühle ich mich noch immer ein wenig entblößt. Falls uns jemand belauschen will, wird er es außerdem in all dem Trubel schwer haben, wenn wir nicht an einer Stelle verharren.« »Nun ja, das ist sicher wahr. Ich kann dich bei dem Lärm selbst kaum hören«, mischte sich Steorf ein. Tazi mußte über die Spitze lachen, doch gleichzeitig machte sie sich Sorgen darüber, daß er anscheinend seine ablehnenden Blicke noch immer nicht von der offenen Zurschaustellung von Magie abwenden konnte. Ich kümmere mich später darum, dachte sie sich. »Als ich dir von Ebs Tod erzählte, hast du erwähnt, du seist mit dem Lauernden Gott vertraut«, erinnerte sie Fannah. »Befindet sich sein Tempel auch hier im Hakenviertel?« »Nein«, antwortete Fannah, während sie einem großen, mit Früchten beladenen Korb auswich, der ziemlich rasch an ihrem Kopf vorbeisauste. »Manchmal kann man auf den Straßen der verschiedenen Viertel auf seine Bekehrten treffen, aber vom Lauerer in der Dunkelheit existiert kein richtiger Tempel in den Straßen Calimhafens.« 146
Sie griff zu dem Korb und fischte ein paar Früchte für sich, Tazi und Steorf heraus. Dann warf sie dem Bauern, dem er gehört hatte, zielsicher eine Münze zu. Tazi war beeindruckt. »Ich hörte, wie der Korb durch die Luft pfiff«, erklärte sie ihren Gefährten, die zwar nichts sagten, aber auf deren Frage sie offenbar gewartet hatte, »und konnte natürlich die Früchte selbst riechen.« »Aber woher hast du gewußt, wo der Händler stand?« verlangte Steorf zu wissen. »Nun ja, ich habe einfach auf mein Glück vertraut«, gab ihm Fannah lachend zur Antwort. »Außerdem wußte ich, daß sich schon jemand das Geldstück aus der Luft fischen würde, wenn ich es im Basar einfach durch die Gegend werfe. Wenn ich den falschen Kaufmann erwischt hätte, hätte er es sich schon zurückgeholt.« Tazi mußte über die kluge Lösung ihrer Freundin lachen. Das Trio verließ den Basar und kam dann durch einen Torbogen in eine der dekadentesten Gegenden der Stadt – das südliche Ende Erare Sabbans. Zu ihrer Linken befand sich offensichtlich eine Festhalle. Die Steinfassade war leicht heruntergekommen, aber nichtsdestotrotz opulent. Das ausgedehnte Gebäude fiel vor allem durch die sieben Steinsäulen vor der Anlage auf. Jede der Steinsäulen stellte eine mehr oder weniger unbekleidete Frau dar. Tazi sah, daß Steorf die freizügigen Darstellungen peinlich berührt musterte, und wandte sich ab, nur um gleich darauf wegen der Statuen, die sie auf der rechten Seite sah, ebenfalls rot anzulaufen. 147
Selbst Tazi hatte ihre Grenzen. »Das Gebäude auf der linken Seite ist als die Sieben tanzenden Jhasinas bekannt«, erklärte ihnen Fannah ungerührt. »Wie ihr vermutet haben werdet, kommt der Name von den sieben Figuren vor dem Gebäude. Das Bauwerk auf der anderen ist die Festhalle der endlosen Entzückungen.« »Die Besucher stellen ihre Entzückung offenbar ganz unverblümt zur Schau«, brachte Tazi heraus. Steorf hatte es die Sprache verschlagen, und Fannah schob die beiden an dem bacchantischen Bild der Gäste, die förmlich aus dem Eingang herausquollen, vorbei. Sie befanden sich wie die sieben Jhasinas in verschiedenen Stadien der Entblößung. Fannah gebot ihnen stehenzubleiben, nachdem sie etliche Häuser weiter waren. »Das war ein eindrucksvoller Anblick«, brachte Tazi hervor, »aber so rasch hättest du uns dann doch nicht vorbeidirigieren müssen. Ich bin in der Beziehung nicht ganz unerfahren.« »Das war ein Tempel der Sharess«, erklärte ihr Fannah. »Das war ein Tempel?« stieß Steorf hervor, der noch immer ganz rot im Gesicht war. »Es ist der größte Tempel zu Ehren meiner Göttin, und ich hatte nur Angst, daß mich jemand erkennen könnte, wenn wir zu lange verweilten.« »Das ist die Göttin, der du und deine Mutter dienten?« versuchte Tazi klarzustellen. »Genau. Ich bin mir sicher, daß ihr von dem, was ihr gesehen habt, schockiert wart, wenn ihr auch nur einen 148
kurzen Blick darauf erhaschen konntet. Die Priesterschaft ist besonders gläubig und frönt dem Hedonismus zu Ehren Sharess’ in vollen Zügen. Selbst die Jhasinas, die für die Säulen Modell standen, wurden Priesterinnen, nachdem Sharess über sie gekommen war.« »Aber es schien mir so ... so ... chaotisch«, versuchte Steorf diplomatische Worte für das Gesehene zu finden. »Leider hegen die meisten Gäste des Tempels nicht gerade heilige Gedanken, wenn sie ihn erstmals besuchen. Sie sehen unsere Doktrin als Entschuldigung für verschiedene Exzesse an.« »Ja, das hat man gesehen«, entfuhr es Tazi. »Was sie nicht verstehen oder nicht verstehen wollen ist, daß die Anbetung Sharess’ bedeutet, die eigenen Sinne zu erforschen und ganz in sie einzutauchen.« Tazi sah eine Verzückung bei der blinden Frau, die sie nie zuvor bei ihr erlebt hatte. »Sharess zu dienen bedeutet, die Schönheit der Welt zu sehen. Es bedeutet, ganz am Leben zu sein, ganz der zu sein, der man durch Sicht, Geruch und Berührung ist. Hier«, erklärte sie, »lehrte man mich, wie ich meine fehlende Sicht durch meine anderen Sinne auszugleichen vermochte.« »Deine Mutter war Priesterin im Tempel«, erinnerte sich Tazi. »Genau«, nickte Fannah. »Doch das war, als Sharess noch unter dem Einfluß Shars stand. Nach der Zeit der Sorgen fand sich Sharess wieder und wurde zu der strahlenden Göttin, die sie schon immer war. Dieses Gebäude dient ihrem Lobpreis.« 149
Tazi erkannte, daß es Fannah bedrückte, von ihrer Mutter zu sprechen. Sie erinnerte sich, daß Fannah ihr einmal erzählt hatte, daß ihre Mutter sie nur deswegen nicht gleich nach der Geburt getötet hatte, weil es ihr durch ihre Religion verboten war. Fannah hatte ihre Kindheit nur aufgrund des religiösen Eifers ihrer Mutter überlebt, nicht dank ihrer Liebe. Tazi beschloß, das Thema zu wechseln, da sie ihre Freundin nicht weiter belasten wollte. »Du hast vor kurzem erwähnt, es gäbe keinen Tempel zu Ehren des Lauernden Gottes. Wie wollen wir ihn oder jene, die ihm folgen, dann finden?« Fannahs Laune besserte sich ob des Themenwechsels. »Ich sagte, er hat keine Tempel in Calimhafen. Wir müssen in Calimhafens Muzad, die Stadt unter den Straßen der Stadt, reisen und dort eine obskure Menschensekte aufspüren, die ihn noch immer anbetet.« »Er hat also nicht mehr viele Anhänger?« fragte Steorf. »Ich schätze, das wäre eine gute Begründung dafür, daß ich noch nichts von ihm gehört habe.« »Nein, das ist nicht ganz wahr«, entgegne Fannah. »Ibrandul hat sowohl hier als auch in Tiefwasser zahlreiche Anhänger. Unter Calimhafen sind der Großteil seiner Anhänger graue Lauerer, aber ich hatte schon mal mit seinen menschlichen Anhängern zu tun und kann daher mit einiger Sicherheit sagen, daß sie uns vermutlich helfen werden.« »Der Fürst der trockenen Tiefen ist ein uralter Gott«, erläuterte Fannah und verwendete dabei eine sehr alte Bezeichnung unter den vielen, unter denen Ibrandul 150
bekannt war. »Seine Anbetung begann bereits in der Frühgeschichte Calimshans, noch vor der Begründung der Shoon-Dynastie. »War er schon immer unter der Stadt?« fragte Tazi neugierig. »Vor langer Zeit wurde ein Menschenstamm von Drow aus der Calimwüste entführt. Sie dienten ihnen viele Jahrhunderte als Sklaven. Nach langer Zeit wurden sie von einer gigantischen Echse befreit. Manche Menschen blieben im Unterreich, während andere an die Oberfläche zurückkehrten, um vom Lauerer in der Dunkelheit zu künden.« »Ibrandul beschützt also die, die in den Tiefen gefangen sind«, schloß Steorf. »Soweit ich weiß, ist das der Fall. Er soll es sich zur Aufgabe gemacht haben, für die Sicherheit der Menschen zu sorgen, die durch die dunklen Reiche reisen müssen. Außerdem schützt und führt er natürlich jene, die ihn verehren. Manchen erscheint er als rote Echse, anderen als Mann mit nacktem Oberkörper und leuchtenden Augen, dessen Züge wie aus Stein gemeißelt scheinen. Manchmal ist er auch einfach ein Wind in den Tunneln, die sich durch die Tiefen ziehen.« »Das ist alles?« unterbrach sie Tazi. »Das ist alles, was ich weiß«, antwortete Fannah schlicht. Tazi schnalzte mit der Zunge und runzelte die Stirn. »Stimmt etwas nicht?« fragte Steorf. »Ich verstehe nicht, was Ciredor mit Ibrandul zu tun 151
haben sollte. Es ergibt einfach keinen Sinn«, antwortete sie ihm. »Vielleicht sind ja die Anhänger Ibranduls dazu in der Lage, unsere Fragen zu beantworten«, bot ihr Steorf eine Lösung an. »Das hoffe ich«, stimmte Tazi bedeutungsvoll zu. »Ich hoffe es wirklich! Wie weit ist es noch?« fragte sie, wieder an Fannah gewandt. »Wir müssen nur noch durch ein weiteres Viertel, bis wir das Gruftviertel erreicht haben. Dort, im Vergessenen Sabban, befindet sich ein Durchgang, der uns direkt zu den Mazhajaarnadah führen wird.« »Zur Dunkelheit, die in der Tiefe lauert«, vollendete Tazi den Satz leise für sich.
»Wohin?« fragte Tazi Fannah. »In östlicher Richtung«, antwortete Fannah. Die drei bahnten sich vorsichtig ihren Weg durch das Gruftviertel, und Tazi und Steorf achteten dabei darauf, dicht hinter Fannah zu bleiben. Tazi hatte noch niemals einen so riesigen Friedhof gesehen; einige der Mausoleen waren zwar protzig, aber dennoch gleichzeitig elegant. Sie ließ ihren Blick schweifen und hielt nachdenklich inne. »Was ist los?« fragte Steorf sanft. »Sieh dir mal das Feld im Osten an«, forderte sie ihn auf. Steorf folgte ihrem Blick an den Gräbern vorbei zu einem Bereich, der nur durch einen Metallzaun, dessen 152
Enden wie spitze Lanzen aussahen, begrenzt war. Dort standen keine Gebäude – ein starker Kontrast zum restlichen Calimhafen, durch das Tazi und ihre Gefährten bisher gekommen waren. Im Sabban stand nur eine Handvoll Obelisken und Brunnen, und hier und da auch eine Bildsäule, die einen Teil der Sicht versperrte. Nach den dichten Menschenmengen und der Geschäftigkeit in den anderen Vierteln eine durchaus willkommene Abwechslung. »Was sehr ihr euch da an?« fragte Fannah. »Ich habe Steorf nur den Park da drüben gezeigt«, erklärte Tazi. »Das ist der Vergessene Sabban«, informierte sie Fannah. »Obwohl das schon immer einer der beliebtesten Parks in Calimhafen war, dient der Ort auch als Platz für unzählige Massenbegräbnisse.« »Der Park ist ein Friedhof?« fragte Steorf ungläubig. »Seit dem sechsten Zeitalter Calimshans. Außerdem liegt in diesem Sabban einer der geheimen Wege in den Muzad.« »Es gibt keine richtigen Mauern«, stellte Tazi fest, »und ich kann auch keine der typischen Sabbanmarkierungen sehen wie bei den anderen Drudachs.« »Das Viertel ist insofern ungewöhnlich, als es über keine Mauern und keine Zeichen verfügt. Das ist nebenbei einer der Gründe, warum es seinen Namen trägt«, erläuterte Fannah. Steorf reihte sich wieder hinter Fannah ein, doch Tazi stand noch einen Augenblick länger und musterte grübelnd den Park. Sie war sich nicht sicher, ob es dar153
an lag, daß dieser Ort vielleicht die letzte Ruhestätte tausender Menschen war oder daß er so eine prächtige grüne Oase inmitten des ganzen menschlichen Chaos darstellte, das Calimshan verkörperte, auf jeden Fall war sie zutiefst beeindruckt. Sie beobachtete, wie die untergehende Sonne die Luft rosa einfärbte, und sog den Geruch von Staub und Gras mit tiefen Atemzügen ein. Schatten griffen mit gierigen Fingern in das tiefe Grün des Parks, und fremdartige Insekten surrten leise durch die Luft. Sie hatte das Gefühl, als sei sie in einem fremden Traum gefangen. »Kommst du?« rief Steorf. Tazi riß sich aus ihrer Andacht und ging hinter ihren Gefährten her, um wieder aufzuschließen. Fannah hatte eines der wenigen Gebäude in Sicht erreicht, doch aufgrund der hereinbrechenden Dunkelheit hatte Tazi langsam bereits Schwierigkeiten, es klar auszumachen. Fannah strich sanft mit ihren zarten Fingern an der Außenseite des Mausoleums entlang. Ihre suchenden Hände erkannten einen der in Stein gemeißelten Sätze wieder und sie legte wie ein neugieriges Vöglein den Kopf schief. »Jemand, den du kennst?« fragte Tazi, die sich sorgte, daß vielleicht ein Freund oder Verwandter Fannahs hier bestattet sein könnte. Fannah mußte lächeln und korrigierte ihre sembitische Begleiterin sanft: »Nicht jemand, etwas, das ich kenne.« Mit wenigen entschlossenen Bewegungen ihrer Finger entriegelte Fannah die Tür, und diese schwang langsam auf. 154
»Hier herein«, forderte Fannah ihre Begleiter auf. Tazi sah sich kurz um, doch obwohl Fannah kurz zuvor betont hatte, das Vergessene Viertel sei ein beliebter Ort, um sich zu entspannen, war keine Menschenseele zu sehen. Sie mußte sich allerdings eingestehen, daß die langen Schatten des Abends vermutlich mehr verbargen, als sie sich vorstellte, und daß sie sich einfach nicht sicher sein konnte, wer oder was sie beobachten mochte. Dennoch hoffte sie, in dieser seltsamen Stadt möglichst lange unbemerkt zu bleiben. Sie nickte Steorf zu, und dann betraten sie hinter Fannah das Grabmal. Tazi war erstaunt, es leer vorzufinden. Sie hatte mit abgestandener Luft und damit, daß ihr der Gestank von Verwesung entgegenschlagen würde, gerechnet, doch statt dessen war es hier im Grabmal kühl, ja geradezu erfrischend. Sie und Steorf sahen sich um und stellten fest, daß sich in dem kleinen Gebäude außer ihnen beiden und Fannah niemand aufhielt. »Nicht alle Mausoleen im Gruftviertel sind, was sie auf den ersten Blick scheinen. Dies ist auch einer der Gründe, warum das Viertel so beliebt ist«, erklärte ihnen Fannah. »Dies ist keineswegs das einzige Mausoleum, das in die Muzad führt, allerdings ist es das einzige, von dem ich weiß, daß es uns direkt zum Tempel Ibranduls führen wird.« Fannah wandte sich ab und öffnete mit mehreren Handgriffen eine weitere Tür. Dahinter lag unzweifelhaft ein Tunnel, der in die Tiefen unter Calimhafen führte. Die Öffnung lag dunkel vor ihnen und wirkte 155
nicht gerade einladend. Tazi übernahm die Führung, und Steorf sorgte für ein schwaches Licht, das nur wenig über sie hinausreichte. Sie rang kurz mit sich, ob sie ihn auffordern sollte, das Licht zu löschen, entschied sich allerdings dagegen. Sie war noch immer nicht ganz sicher, wie sie mit Steorf umgehen sollte, und diese Unsicherheit bereitete ihr Unbehagen. Ein Teil von ihr wollte ihm wieder vertrauen, ja brauchte ihn sogar. Gleichwohl war da noch immer die nagende Stimme des Zweifels in ihrem Hinterkopf. Beobachte ihn einfach und finde es heraus, forderte sie sich selbst auf. Der innere Durchgang im Grabmal führte in einen sanft nach unten geneigten Tunnel. Er war kühl, trokken und anscheinend leer. Sobald sie ihn betreten hatten, stellten Tazi und Steorf fest, daß der Stollen nicht nur breit genug war, daß sie alle drei nebeneinander gehen konnten, sondern daß auch der Lichtzauber gar nicht nötig war. Alle paar Meter befanden sich natürliche Vertiefungen in der Felswand, die eine ähnliche Funktion wie Fackelhalter hatten. In ihnen befanden sich kleine, leuchtende Kugeln, die den Pfad ausreichend erhellten. »Führt dieser Weg nur zum Tempel?« fragte Tazi Fannah leise. »Wenn ich mich richtig erinnere, ja. Ich glaube nicht, daß es größere Kreuzungen gibt, ehe wir zum eigentlichen Tempel kommen. Es sollte eigentlich ganz nahe sein.« 156
»Gut«, antwortete Tazi und übernahm die Führung. Steorf nahm eine Position leicht seitlich versetzt hinter ihr ein, und Fannah ließ sich ein kleines Stück zurückfallen. Tazi war mißtrauisch und sah sich beständig nach links und rechts um. Je weiter sie voranschritten, desto tiefer führte sie ihre Reise auch unter die Oberfläche. Ebenso wie ihr die überfüllten Straßen Calimhafens zugesetzt hatten, sorgte nun der Tunnel dafür, daß ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Sie wirbelte bei jedem Geräusch herum, egal ob es echt oder nur eingebildet war. Sie sah aus den Augenwinkeln, daß Steorf sie ab und zu seltsam ansah, und war nicht sicher, wie sie seine Blicke deuten sollte. Hat er mitbekommen, wie schlimm es um meine Nerven bestellt ist, oder orientiert er sich nur an meiner Führung? fragte sie sich. Der Tunnel bog ein Stück vor ihnen nach links ab. Dadurch konnte Tazi nicht mehr erkennen, was vor ihnen lag. Sie legte die Hände auf ihre Waffen und war sich ganz sicher, daß die Biegung mit Absicht so konstruiert worden war, um etwas zu verbergen. Sie sah, daß Steorf nun auch ernster und wachsamer wirkte. »Wartet«, warnte Fannah leise. Also doch, dachte sich Tazi. Dann flüsterte sie: »Was ist?« »Ich rieche etwas, obwohl der Geruch nur ganz schwach ist. Es riecht verbrannt oder verkohlt.« »Vielleicht der Geruch einer Fackel«, versuchte Steorf zu erklären. »Oder vielleicht gehört der Geruch zu ei157
nem Zauber, der hier vor längerer Zeit gewirkt wurde.« »Nein, ich denke nicht. Obwohl es bei diesem Tempel früher nie der Fall war, habe ich schon gehört, daß Wächter viele Tempel Ibranduls schützen.« »Was für Wächter?« fragte Tazi. »Es gibt eine Echsenart, die Ibrandlin. Sie errichten ihre Lagerstätten häufig außerhalb von derartigen Tempeln und können Feuer speien.« »Steorf, du achtest auf Fannah, und ich schleiche mal vor, um zu sehen, was dort ist«, erklärte Tazi Steorf. »Sei vorsichtig«, mahnte er. Sie zwinkerte ihm zu. »Immer!« Tazi entfernte sich ein Stück von ihren Begleitern und drückte sich dann an die Tunnelwand. Sie rückte daran vor und warf, bevor sie um die Biegung kam und sie aus den Augen verlor, noch einen Blick zurück. Dann bahnte sie sich vorsichtig einen Weg um ein paar kleinere Felsen herum und achtete dabei peinlich darauf, nur ja keinen Stein loszutreten. Mit angehaltenem Atem kam sie um eine zweite Biegung im Tunnel, dann spürte sie einen deutlichen Lufthauch am Arm. Der Tunnel muß sich weiter vorne öffnen, dachte sie. Sie spähte um die Ecke, um einen raschen Blick zu erhaschen, doch das war alles, was sie brauchte. Fannah hat recht gehabt, mußte sie sich eingestehen. Es gibt tatsächlich einen Wächter. Vor dem aus Stein gehauenen Doppelportal lag eine Echse, genau wie Fannah vermutet hatte. Aus ihrem Versteck heraus schätzte Tazi das Scheusal auf gut neun Meter Länge. Es hatte eine silbergraue Hautfarbe 158
und schien zu schlafen. Zusammengerollt wie die Echse dalag, war es schwer zu erkennen, aber Tazi glaubte, vier Beine und einen langen, schlangenartigen Schwanz zu sehen. Außerdem schimmerte eine der todbringenden Klauen im fahlen Licht. Na toll, und Feuer speien kann das Vieh auch noch, dachte sie entmutigt. Tazi spähte noch einmal aus ihrem Versteck, um ganz sicher zu gehen, daß es keinen Weg an der Kreatur vorbei gab. Sie fand ihre Sorgen bestätigt. Wenn sie und ihre Freunde in den Tempel wollten, würden sie sich mit dem Ibrandlin auseinandersetzen müssen, so oder so. Sie wich von der Öffnung im Tunnel zurück und schlich sich genauso vorsichtig und lautlos zu Fannah und Steorf zurück, wie sie gekommen war. Nachdem sie zurückgekehrt war, fragte Steorf: »Ist es so, wie Fannah vermutet hat?« »Das ist die größte Echse, die ich je gesehen habe«, antwortete sie und beschrieb Steorf die Größe noch detaillierter, damit er sich eine klare Vorstellung machen konnte. Nachdem er ihr genau zugehört und die Sache abgewogen hatte, meinte er: »Nun gut, aber ich denke, du und ich gemeinsam sollten in der Lage sein, die Bestie zu töten.« »Das dachte ich auch zuerst, doch dann habe ich den Gedanken weitergesponnen.« »Was soll das heißen?« fragte Steorf. »Wir brauchen die Hilfe der Anhänger Ibranduls. Oder wie, denkst du, werden sie reagieren, wenn wir 159
hier als Fremde ankommen, zuerst ihre Wachechse abschlachten und ihnen dann erklären, daß wir uns gerne mit ihnen unterhalten möchten?« Steorf dachte darüber nach. »Gut, ich verstehe, was du meinst«, stimmte er ihr gedehnt zu. »Aber wenn ich an die Größe des Scheusals denke, zweifle ich daran, daß ich sie lange genug mit meinen Zaubern abhalten kann daß ihr zwei in den Tempel schlüpfen und Kontakt aufnehmen könnt, ohne daß jemand verletzt wird.« Tazi kräuselte die Lippen. Die Zwickmühle, in der sie sich befanden, frustrierte sie. »Fannah«, fragte sie schließlich, »hast du eine Ahnung, wie klug diese Echsen sind? Können wir eine von ihnen hereinlegen?« »Tut mir leid, aber ich weiß nicht viel über die Ibrandlin«, antwortete sie fast entschuldigend. »Doch nach dem, was ich gehört habe, sollen sie nicht besonders intelligent sein. »Das ist zumindest nützlich.« »Sie sind klug genug, um die Anhänger Ibranduls zu erkennen und ihren Befehlen zu folgen«, fügte Fannah hinzu. »Welche Farben und Roben tragen die Anhänger Ibranduls?« bohrte Steorf nach. »Normalerweise tragen sie violette und schwarze Gewänder, wobei der Bekleidungsstil selbst aber unterschiedlich ist. Höherrangige Mitglieder tragen kurze purpurne Umhänge mit einer Art kreisförmigem Muster«, führte sie aus. 160
»Dann nehmen wir also Violett«, erklärte Steorf und berührte sowohl Tazi als auch Fannah. Tazi warf einen Blick auf Steorfs Hand, die auf ihrer Schulter ruhte. Ein purpurner Fleck begann, sich von seinen Fingerspitzen auszubreiten, und floß über ihre blauweißgestreifte Robe, die sie über der Lederkluft trug. Kurz darauf hatte ihr Außengewand eine tiefviolette Färbung wie ein Amethyst angenommen. Sie gab einen leisen, erstaunten Aufschrei von sich, als sie sah, daß sich auch Steorfs und Fannahs Gewänder in violetten und schwarzen Tönen eingefärbt hatten. Auf Steorfs violettem Umhang zeichneten sich außerdem kleine Kreise ab, die auf der ganzen Länge verliefen. »Es ist nicht permanent«, beantwortete er ihre Frage, bevor sie sie stellen konnte. »Es sollte aber lange genug halten, um die Echse zu narren.« »Das könnte tatsächlich funktionieren«, gratulierte sie ihm zu seiner Idee. »Es gibt allerdings nur eine Möglichkeit, es sicher herauszufinden.« Tazi führte ihre Freunde um die scharfen Biegungen und hielt inne, kurz bevor sich der Tunnel verbreiterte. »Wenn das, was du gesagt hast, stimmt«, wandte sie sich an Fannah, »dann sollten wir doch eigentlich jetzt dazu in der Lage sein, einfach an dem Ding vorbeizuspazieren.« »Zumindest habe ich das so gehört«, bestätigte Fannah. Die drei traten um die Ecke und begannen die sechs Meter zu durchmessen, die sie von dem offensichtlichen Haupteingang des Tempels trennten. Sie hatten 161
gerade mal ein paar Schritte gemacht, als die Echse die Augen aufriß. Der Kopf pendelte langsam von links nach rechts und dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe von fast sechs Metern auf. Tazi kämpfte gegen ihre Instinkte an und hätte am liebsten blankgezogen. Es war eine Sache, einen Plan auszuhecken, der darin bestand, völlig passiv darauf zu warten, wie der Wächter auf sie reagieren würde, und eine ganz andere, ihn auch durchzuziehen, wenn man einer derartig furchterregenden Kreatur direkt in die Augen blickte. »Tu einfach nichts«, flüsterte sie Steorf zu und fragte sich dabei insgeheim, ob es gleich sie sein würden, die nach Verbranntem stinken würden. Dann schoß der Kopf des Ibrandlin blitzschnell abwärts, und seine große flache Schnauze kam direkt vorTazis Gesicht zur Ruhe. Sie blieb stocksteif stehen, während sich der Echsenschädel von einer ihrer Schultern über ihren Kopf zu ihrer anderen Schulter bewegte. Die ganze Zeit spürte sie die heiße Luft, die aus den Nüstern des Viehs in Stößen über sie hinwegströmte. Tazi vermeinte sogar, Rauchgeruch wahrnehmen zu können. Dann folgte die gleiche Prozedur bei Steorf und Fannah, und schließlich gab sich der Ibrandlin zufrieden und krabbelte ein Stück zur Seite, um ihnen den Eingang freizumachen. Tazi trat zögernd einen Schritt vor, stapfte dann aber entschlossen durch das Tor. Fannah folgte ihr dichtauf, und Steorf bildete die Nachhut. Nachdem sie es sicher ins Innere geschafft hatten, warf 162
Tazi noch einen Blick zum Ibrandlin zurück. Die Echse schien sie schon wieder vergessen zu haben und rollte sich gerade wieder wie eine große, zufriedene Raubkatze vor dem Portal zusammen. Sie schüttelte den Kopf und stieß einen befreiten Seufzer aus. Als sie wieder zu ihren Begleitern schaute, sah sie, wie die violette Farbe, die Steorf geschaffen hatte, aus den Gewändern floß, zu Boden tropfte und sich dort spurlos auflöste. Ehe sie ihm erneut zu seiner Idee gratulieren konnte, tauchten auf einmal mehrere junge Männer aus einem Nebenraum auf, der so geschickt verborgen war, daß sie ihn bisher völlig übersehen hatte, und stellten sich ihnen in den Weg. Tazi konnte erkennen, daß es allesamt Calishiten waren und daß sie ebenfalls die Farben Ibranduls trugen. »Wer seid ihr?« verlangte einer von ihnen zu wissen. Es war Tazi nicht entgangen, daß die Anhänger Ibranduls sie inzwischen umzingelt hatten. »Wir sind hier, um den Beistand Ibranduls zu erflehen«, erklärte ihnen Fannah. »Das mag wohl sein«, beschied ihnen der Sprecher der Akolythen. »Doch wie seid ihr hier hereingekommen?« Steorf holte tief Luft, doch noch bevor er etwas sagen konnte, drückte ihn Tazi heftig am Arm. »Wir sind hier«, antwortete Fannah glatt, »und heißt er nicht alle willkommen, die Schutz vor Dingen suchen, die in der Dunkelheit lauern?« Das war ihre ganze Antwort. Gut gemacht, Mädchen! dachte Tazi. Kein Grund, 163
unsere Karten auf den Tisch zu legen, wenn es nicht unbedingt nötig ist. »Der Lauerer muß davon erfahren«, murmelte einer der Tempeldiener. »Wenn ihr der Hilfe des Lauernden Gottes bedürft, dann folgt mir«, sagte der erste Akolyth, der sie angesprochen hatte, nur schroff und wandte sich ab. Da sie noch immer von den anderen Akolythen umringt waren, schienen ihnen nicht viele Wahlmöglichkeiten zu bleiben. »Dann führt uns zu ihm«, verlangte Fannah, so als ob sie in der Sache etwas zu entscheiden hätten. Die Gruppe entfernte sich wie eine stille Prozession vom kleinen Eingangsraum, bis sie einen wesentlich größeren Raum erreichten. Er war ganz aus Felsgestein gehauen, und den einzigen Schmuck stellten natürliche Vertiefungen und Nischen dar. Der Hohepriester trat ein. Er trug tiefviolette Gewänder mit einem schwarzen Seidengürtel. Die Überrobe war mit einem silbernen Kreismuster überzogen, die auf Tazi den Eindruck von Schuppen machten. Sein Bart war weißmeliert, und seine Haut wirkte ledrig. Tazi fragte sich, wie er hier unten in der feuchten Dunkelheit so trocken und ausgedörrt wirken konnte. »Was sucht ihr?« wandte sich der Alte an die ganze Gruppe. »Wir sind Neuankömmlinge hier in Calimhafen, oh geheimnisvoller Lauerer«, sprach ihn Fannah mit seinem korrekten Titel in der Handelssprache an. »Meine Gefährten sind Thazienne und Steorf, sie wies auf die 164
beiden, »und wir sind in einer äußerst ernsten Angelegenheit hier. Thazienne kann sie Euch am besten erläutern.« Damit hatte sie ihre kurze Ansprache beendet. Tazi, die eigentlich nicht damit gerechnet hatte, so rasch wieder in die vorderste Reihe gestoßen zu werden, wirkte überrascht. »Ich sehe, daß Eure Gefährten neu hier in Calimhafen sind, aber Ihr seid es gewiß nicht«, sagte der Lauerer und sprach ein paar Worte in Alzhedo. Fannah nickte nur. Die nachfolgende Stille begann sich unangenehm auszudehnen, und Tazi faßte sich schließlich ein Herz und trat einen Schritt weit von ihren Gefährten und den Kinder Ibranduls, die sie hierher geführt hatten, vor. »Ich möchte mich zuerst bei Euch bedanken, geheimnisvoller Lauerer, daß Ihr uns gestattet habt, Euren Tempel zu betreten«, begann sie. »Ibrandul öffnet sein Haus für alle Menschen, die Schutz vor der Dunkelheit benötigen, und bietet ihnen Zuflucht«, erklärte er theatralisch. »Ich bin allerdings nicht sicher, ob wir es sind, die des Schutzes bedürfen, oder Ihr«, fuhr sie fort. Eines der Kinder Ibranduls, das so jung war, das auf dem Kinn des Jünglings gerade die ersten Bartstoppeln standen, kam ob dieser Wort drohend auf sie zu, und Steorf stellte sich ihm in den Weg. Der Lauerer gebot dem Novizen jedoch mit einer knappen Geste abzulassen. Tazi erkannte ihren Fehler. »Ich wollte Euch keineswegs drohen«, erläuterte sie. 165
»Ich bringe Euch eine Warnung und hoffe, rechtzeitig zu kommen.« »Sprecht weiter«, forderte sie der Lauerer auf. »Meine Begleiter und ich verfolgen die Spur eines bösen Nekromanten. Er hat bereits jemanden getötet, der mir sehr nahe steht, und ich weiß, daß er diese Frau ebenfalls töten will.« Sie machte eine Geste in Fannahs Richtung. »Seine Spur führte mich nach Calimhafen und zu Eurem Gott.« Die Novizen begannen, ob dieser Behauptung aufgebracht untereinander zu tuscheln, doch der Lauerer brachte sie mit einem eisigen Blick zum Schweigen. »Was willst du damit sagen?« verlangte er zu wissen. »Ich kann nur Mutmaßungen anstellen. Ich nehme an, daß er auf ein größeres böses Ziel hinarbeitet und vorhat, Euren Gott für seine finsteren Zwecke einzuspannen. Sein verborgenes Ziel muß auch der Grund sein, warum er so viele Seelen sammeln muß. Um ehrlich zu sein«, gestand sie verlegen, »hatte ich gehofft, Ihr hättet eine Ahnung, was er mit dem Fürsten der Trokkenen Tiefen vorhat oder zu tun hat.« Der Hohepriester schwieg, und Tazi vermutete, er denke über ihre Worte nach. Schließlich antwortete er: »Ibrandul schützt alle Reisenden, die ihn in der Dunkelheit besuchen. Ihr seid gekommen, um Antworten zu erhalten. Im Laufe zahlloser Jahre gab es schon zahlreiche Versuche von Personen mit niederen Beweggründen, die Kräfte des Lauernden Gottes für seine Zwecke zu mißbrauchen. Dieser Nekromant, von dem Ihr da sprecht, ist nicht 166
der erste, und ich fürchte, er wird auch nicht der letzte sein.« Der geheimnisvolle Lauerer blickte hinter sich, bevor er fortfuhr. »Vielleicht ist es unser Buch, nach dem dieser Nekromant strebt. Zahlreiche Jahre schon sammeln wir die heiligen Schriften Ibranduls. Selbst ich habe nicht alle Worte des Fürsten der Trockenen Tiefen gelesen, doch ich weiß, daß sie von Macht erfüllt sind. Macht über die Dunkelheit.« Mit diesen Worten wandte sich der Priester ab und wies auf ein Steinpodest hinter ihm. Tazi konnte ein großes Buch erkennen, das auf diesem Alter ruhte. Sie trat zögernd näher. »Ich frage mich«, sinnierte sie laut, »ob das etwas mit den Schriftrollen zu tun haben könnte, die ich Ciredor abgenommen habe.« Die Anhänger Ibranduls warfen sich auf diese Anmerkung hin Blicke zu, die sie nicht zu deuten vermochte. Tazi stand jetzt beim Podest und konnte erkennen, daß ein schuppiger Einband die zahlreichen Pergamente schützte, die hier zu einem Buch zusammengefaßt worden waren. Behutsam streckte sie die Hand aus, um das Buch zu berühren. Der Novize Ibranduls, der schon auf ihre ersten Worte so überempfindlich reagiert hatte, löste sich aus der Gruppe und rannte zum Podest. Ehe Tazi noch nach dem Buch greifen oder sonst irgendwie reagieren konnte, hatte sie das Kind Ibranduls schon an den Fingern gepackt, bog sie mit einem harten Ruck zurück und verdrehte ihr dabei fast das Handge167
lenk. Tazi schrie vor Schmerz und Überraschung auf. »Kein Gharab, kein Fremder, hat das Recht, das Buch Ibranduls zu berühren«, stieß er hervor. Das reichte, um Steorfs Ärger endgültig zum Überkochen zu bringen. Er löst sich von Fannahs Seite und warf sich auf das Kind Ibranduls. Tazi fuhr herum und konnte erkennen, wie Steorf mit erhobenen Händen ein paar Worte schrie, die aber offensichtlich kein Resultat erzeugten. Der Lauerer befahl den anderen Kindern Ibranduls, sich nicht einzumischen. Der Novize ignorierte seinen Hohepriester und frohlockte über das Scheitern des Magiers. »Ha! Kein Glück, Gharab? Über was für eine Magie du auch immer gebietest, sie wird hier im Tempel nicht funktionieren.« Als der Knabe sah, daß Steorf angesichts dieser Aussage tatsächlich verunsichert wirkte, lachte er erneut lauthals. »Hast du vergessen, wie man kämpft?« Steorf grunzte böse und sprang dem deutlich schlankeren Calishiten förmlich an die Gurgel. Der junge Mann wich Steorfs ungestümem Ansturm allerdings mühelos aus, und dieser rannte mit fast ungebremster Wucht in Tazi. Sie wurde gegen das Podest geschleudert und stieß den Folianten mit ihrer wild durch die Luft rudernden Hand herunter. Die Pergamentbögen flatterten kreuz und quer zu Boden, begleitet von den erschrockenen Schreien der Gläubigen. Steorf warf ihr einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder dem Knaben zu. 168
»Was ist denn nur los mit dir?« verspottete ihn der junge Calishit weiter. »Du kannst nicht nur nicht kämpfen, nein, du bist so ein Tölpel, daß du bei deinen erbärmlichen Versuchen nur noch mehr Durcheinander machst.« Er tanzte praktisch um Steorf herum. Der Magier versuchte es mit einem weitausholenden Schlag, und dem Kind Ibranduls gelang es gerade noch auszuweichen und ein paar Schritte rückwärts zu tänzeln. Die Hände in die Hüften gestemmt reizte der Novize Steorf weiter. »Weißt du was, Gharab? Langsam denke ich, daß selbst die blinde Frau besser kämpft als du – und was meinst du, wird deine Frau von dir denken?« Er nickte in Tazis Richtung. »So wie du sie jetzt enttäuscht und gezeigt hast, daß du nicht Manns genug bist, um irgend etwas ohne Magie zu bewerkstelligen?« Tazi erkannte, daß die Tatsache, daß der Novize nun auch noch sie ins Spiel brachte, bei Steorf endgültig das Faß zum Überlaufen brachte. Das Kind Ibranduls trat einen Schritt näher. Die Anmaßung des jungen Akolythen sorgte dafür, daß er unvorsichtig wurde. Steorfs Hand schoß vor, und er bekam den Novizen an der Purpurrobe zu packen. »Ich werde dir schon zeigen, was für ein Mann ich bin«, spie er ihn förmlich an. Mit der gespreizten linken Hand brachte er einen brutalen Schlag an, der genau an der Kehle des Jünglings landete. Er ließ ihn los, und der Akolyth krümmte sich zusammen und schnappte nach Luft. Während der 169
Novize keuchend nach Atem rang, ließ Steorf sein Knie mitten in sein Gesicht krachen, und Tazi sah, wie Steorf angesichts des häßlichen Geräusches, mit dem Knochen brachen, zufrieden grinste. Sie erkannte, daß Steorf die Kontrolle über sich verloren hatte. Der Novize überschlug sich rückwärts, und das Blut schoß förmlich aus seiner gebrochenen Nase. Steorf trat zu, während er noch durch die Luft flog, und traf das Kind Ibranduls genau an der Kniescheibe, wodurch der Novize endgültig mit einem lauten Krachen zu Boden ging. Doch Steorf hatte noch nicht genug. Er ließ sich auf den jungen Mann fallen und drückte ihm die Knie in die Brust, während er wie wild mit beiden Fäusten auf sein blutüberströmtes Gesicht einschlug. Das Kind Ibranduls war nicht mehr in der Lage, sich zu wehren, und Steorf war so in seinem Blutrausch gefangen, daß er nicht ans Aufhören dachte. Tazi konnte es nicht mehr mit ansehen. Sie lief zu den beiden Kontrahenten und packte Steorf am erhobenen Arm. Die Hand hatte er bereits wieder zur Faust geballt. »Hör auf!« schrie sie ihm mitten in sein vor Zorn verzerrtes Gesicht. Er riß sich los und landete einen weiteren Treffer im Gesicht des Novizen. Tazi stieß Steorf nun einfach von dem Jugendlichen herunter. »Er hat genug!« donnerte sie. Inzwischen übermannte sie selbst die Wut. Steorf saß schwer atmend am Boden und warf Tazi 170
einen undurchdringlichen Blick zu. Mehrere Kinder Ibranduls umringten den jungen Akolythen, so daß Tazi nicht mehr zu ihm hinsehen konnte. Sie erkannte, daß sie nichts mehr für den jungen Burschen tun konnte, und trat langsam zum Hohepriester, der sie mit steinerner Miene musterte. »Ich biete Euch meine tiefempfundene Entschuldigung für das, was sich soeben zugetragen hat, an«, begann sie behutsam. »Das einzige, was ich zu unserer Verteidigung vorbringen kann, ist die Tatsache, daß mich mein Freund beschützen wollte, nachdem mich der Novize bedroht hatte. Das kann natürlich keine Entschuldigung für das sein, was geschehen ist, lediglich der Versuch einer Erklärung.« Es vergingen einige gespannte Augenblicke, bis der Priester antwortete. Auch er wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich möchte sagen, daß es sich um ein schändliches Fehlverhalten auf beiden Seiten gehandelt hat. Gleichwohl verstehe ich, warum diese Männer taten, was sie getan haben. Es sind keine Abbitten erforderlich.« Tazi atmete erleichtert auf. »Ich hatte schon befürchtet, dieser Zwischenfall hätte all unsere Hoffnungen zerstört, uns Eurer Hilfe gegen Ciredor zu versichern und Ihr würdet uns und der Tatsache, daß wir von aufrichtigen Motiven getrieben werden, keinen Glauben mehr schenken.« »Fehler sind Fehler, nicht mehr und nicht weniger«, antwortete der Lauerer. »Ich glaube zu wissen, was euch antreibt. Wir werden tun, was wir können.« 171
Aus dem Augenwinkel konnte Tazi erkennen, daß Fannah neben den verstreuten Pergamenten kniete. Sie war dabei, sie aufzusammeln und wieder zwischen die schützenden Umschläge zu sortieren. Dann legte sie den Wälzer zurück auf das Podest. Tazi seufzte nochmals erleichtert. Zumindest eine von uns hat ihren kühlen Kopf bewährt und richtig gehandelt. »Wie wollen wir anfangen?« fragte sie. »Ihr übergebt uns Fannah!« antwortete er.
172
Muzad
W
as soll denn das heißen?« verlangte Steorf ärgerlich zu wissen, der gerade wieder auf die Beine
kam. Er wollte schon zornig auf den Lauerer losgehen, aber Tazi versperrte ihm den Weg, packte ihn an der Schulter und sah ihn warnend an. Dann wandte sie sich an den Priester. »Was wollt Ihr damit sagen?« fragte sie wesentlich ruhiger. »Ich werde es euch erklären«, antwortete der Lauerer mit erhobener Hand, »doch zuerst will ich mich um das Kind Ibranduls kümmern.« Mit diesen Worten trat er zu dem Kreis der Akolythen, der den gefallenen Novizen umringte. Tazi nutzte die Gelegenheit, um sich rasch zu vergewissern, wie es Fannah ging. Die Blinde stand völlig unbekümmert neben dem Podest. Sie schienen die Ereignisse in keiner Weise zu bekümmern. Da es ihr gut zu gehen schien, beschloß sie, sich um Steorf zu kümmern. Er hielt die Stellung, doch Tazi erkannte un173
schwer, daß er noch immer vor nur schwer unterdrücktem Zorn kochte. Sie ging wieder zu ihm und umschloß seine Hände mit ihren. Normalerweise waren Steorfs Hände immer sauber und perfekt gepflegt. Sie drehte sie hin und her und zuckte unwillkürlich zusammen, als sie die aufgeschürften Knöchel und das Blut sah, das bereits zu trocknen begann. »Tut es sehr weh?« fragte sie trotz des Ärgers, den sie über seinen Ausbruch empfand. »Sicher nicht halb so sehr wie ihm«, antwortete er grob. Tazi runzelte kritisch die Stirn. »Weißt du, ich muß schon sagen, du hast vielleicht ein klein wenig überreagiert«, beschied sie ihn kühl. »Soll ich vielleicht einfach herumstehen, während du angegriffen wirst?« schnappte er. »Das war ja wohl nicht wirklich ein Angriff. Du hast einfach überhastet reagiert.« »Ich werde nicht zulassen, daß dir noch irgendwann jemand weh tut«, antwortete er mit zusammengebissenen Zähnen. »Nur weil ich zu langsam war oder mich habe ablenken lassen. Du hast ja keine Ahnung, was ich durchgemacht habe, als du das letzte Mal verwundet wurdest. Ich werde nicht zulassen, daß so etwas noch einmal geschieht, nicht, wenn es in meiner Macht steht, es zu verhindern.« Tazi starrte ihn sprachlos an. »Ich weiß das zu schätzen«, antwortete sie schließlich. »Ich denke nur, es wäre klüger, wenn du zuerst ein wenig nachdenkst, bevor du überreagierst.« 174
Da ihr jedoch klar war, was er ihr eigentlich sagen wollte, fügte sie rasch hinzu: »Natürlich sollst du auch nicht zu lange zögern. Schließlich brenne ich nicht gerade darauf, daß mir etwas Schlimmes zustößt.« Sie sah nach unten und strich ihm sanft über die aufgeschürften Knöchel. Als sie wieder aufblickte, lag auf seinem Gesicht die Andeutung eines Lächelns, was bei ihm schon enorm viel bedeutete. Tazi, die mit ihren Gefühlen für Steorf selbst noch nicht im Reinen war, wandte sich peinlich berührt ab und konnte gerade noch erkennen, wie etliche Kinder Ibranduls ihren verletzten Gefährten durch eine Seitentür aus dem Haupttempel trugen. Der Lauerer, dessen Roben nun ein paar Blutflecke hatten, kam gerade wieder zu ihnen zurück. »Hören wir uns doch einfach an, was er zu sagen hat«, flüsterte sie Steorf zu. »Wenn es uns mißfällt, können wir noch immer Fannah packen und von hier verschwinden.« »Ich werde darüber nachdenken, bevor ich überreagiere«, flüsterte er zurück. Trotz der angespannten Situation mußte Tazi ein Lächeln unterdrücken. »Wird er wieder gesund werden?« fragte sie, sobald der Lauerer wieder bei ihnen stand. »Sobald ausreichend Zeit verstrichen ist, wird Ashraf wieder ganz der Alte sein. Dennoch werden ihm ein paar Narben als Erinnerung daran bleiben, welchen Preis man zahlen muß, wenn man überhastet handelt. Man sollte immer zweimal nachdenken, bevor man etwas Falsches tut.« 175
Bei diesen Worten warf Tazi Steorf einen Seitenblick zu. »Doch genug davon«, fuhr der Lauerer fort. »Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen darüber sprechen, was euch zu uns führt.« »Stimmt. Doch zuerst möchte ich wissen, was Ihr meintet, als Ihr sagtet, wir sollen Euch Fannah übergeben.« »Wenn dieser Nekromant so gefährlich ist, wie ihr behauptet ...« »Natürlich ist er das!« unterbrach ihn Steorf. »Wenn er also so gefährlich ist, wie ihr behauptet«, fuhr der Lauerer ungerührt fort, doch Tazi hatte das Gefühl, daß auch seine Geduld sich langsam erschöpfte, »dann schwebt eure Freundin in allerhöchster Gefahr!« »Ja, und deshalb wollen wir ja auch ...«, begann Steorf in entnervtem Tonfall, doch er brach ab, als ihn Tazi heimlich, aber ziemlich fest am Unterarm drückte. »Ja, sie schwebt in großer Gefahr«, übernahm Tazi in durchaus ruhigerem Tonfall das Wort. »Deswegen sind wir hier.« Der Lauerer nickte zustimmend. »Ihr habt es zweifellos auch gut bis hierher geschafft«, begann er zu erklären, »doch ich habe doppelt gute Gründe, warum ich Fannah hierbehalten will.« »Fahrt fort«, sagte Tazi, während sie Steorfs Unterarm zur Sicherheit weiterhin sanft, aber bestimmt umklammert hielt. »Der erste und offensichtliche Grund ist natürlich der, daß sie hier so sicher wie nur möglich sein wird. 176
Selbst wenn einem oder beiden von euch etwas zustoßen sollte, wird Ciredor nicht wissen, wo sie sich befindet. Der Tempel verfügt über mehrere Schutzzauber, um fremde Magie zu stören, und wie dein junger Freund gerade herausgefunden hat, sind diese sehr effizient.« Tazi schaute ob der versteckten Ermahnung betreten zu Boden, doch Steorf wirkte noch immer in keiner Weise beschämt. »Dann wäre da noch etwas, das ihr vielleicht nicht bedacht habt. Dieser Nekromant hatte bereits früher Zugriff auf diese Frau. Wenn er tatsächlich so gefährlich ist, wie ihr behauptet, dann könnte er durch ihre blinden Augen sehen oder über die Fähigkeit verfügen, sie auf andere Weise gegen euch zu wenden. Egal welchen Plan wir auch fassen mögen, es mag sein, daß er über die Möglichkeit verfügt, ihn auszuhebeln, und zwar nur deswegen, weil ihr drei zusammenbleibt. Daher ist es am sichersten, sie in unserer Obhut zu belassen«, schloß er. Tazi zögerte noch immer. Irgend etwas an der Logik des Hohepriesters kam ihr seltsam vor. Dennoch zögerte sie, mit ihrem Gastgeber darüber zu streiten, vor allem, weil sie seine Gastfreundschaft ohnehin bereits einmal beleidigt hatten, um es noch milde auszudrükken. Steorf hingegen schien keine derartigen Skrupel zu hegen. »Wollt Ihr uns etwa unterstellen, wir könnten nicht auf unseresgleichen aufpassen?« fuhr er den Kleriker 177
barsch an. »Wir sind immerhin ohne Probleme bis hierher gekommen.« Tazi zuckte unwillkürlich zusammen, als sie Steorfs ruppige Worte hörte. Sie hatte das Gefühl, er reagiere schon wieder über, genauso wie er sich von dem Novizen Ibranduls sofort hatte aus der Fassung bringen lassen. Sie konnten es sich nicht leisten, diese Leute noch mehr zu verärgern. Obwohl sie natürlich gern die ganze Sache mit Steorf und Fannah unter sechs Augen besprochen hätte, wußte sie, daß das wohl nicht möglich war. Tazi konnte allerdings auch erkennen, daß Fannah durch die ganze Zwickmühle nicht eben beunruhigt wirkte. Sie unterhielt sich gerade flüsternd mit einem der Novizen, der im Haupttempel verblieben war und nur ein paar Schritte neben dem Podest stand. Sie hat schließlich auch gesagt, sie kenne sie von früher, dachte Tazi, und Steorf hat die Situation gerade eben falsch eingeschätzt. »Ich denke, Ihr habt recht«, sagte sie schließlich. Der Priester lächelte, als er ihre Entscheidung hörte, doch Steorfs Schweigen war eisig. »Ich will nur noch ein paar Worte mit ihr wechseln«, sagte Tazi. »Aber sicher!« antwortete der Priester. »Macht euch bitte keine Sorgen, wir werden für ihre Sicherheit sorgen, völlig egal, wer ihr Böses will.« Tazi sah ihm direkt ins Gesicht und nickte knapp. Sie glaubte zu erkennen, wie ehrlich er die letzte Aussage gemeint hatte. Dann ging sie zu Fannah. Der Hohepriester machte 178
eine unauffällige Handbewegung, und der Novize entfernte sich. »Der Lauerer glaubt, du wirst bei ihnen sicher sein«, begann Tazi. »Denkst du, das ist die beste Vorgehensweise?« fragte Fannah. »Seine Gründe sind verständlich und nicht von der Hand zu weisen.« Fannah nahm Tazis Hände. »Folge deinen Instinkten«, forderte sie Tazi sanft auf. »Steorf ist seinen Instinkten gefolgt, und du hast ja gehört, wo uns das hingeführt hat. Die ganze Sache wäre uns fast um die Ohren geflogen.« Tazis Bemerkung war nicht nur im übertragenen Sinn gemeint. Sie sah noch immer aufgewirbelte Steine und etwas Schutt am Boden, wo Steorf und der Novize gegeneinander gekämpft hatten. »Das mag sein«, stimmte ihr Fannah zu, »aber dennoch ist er sich selbst treu geblieben. Ich kann den Ärger noch immer in seiner Stimme hören, doch er ist in keinem so großen Aufruhr wie du.« »Aber hier steht dein Leben auf dem Spiel!« beschwerte sichTazi. »Ich habe allen Grund, verwirrt und unsicher zu sein.« »Ich habe nicht vergessen, was auf dem Spiel steht«, erinnerte sie Fannah. »Es tut mir leid«, entschuldigte sich Tazi, die es haßte, wenn sich Fannah schlecht fühlte. »Natürlich weißt du am besten von uns allen, wie wichtig die ganze Angelegenheit ist.« 179
»Wenn der Plan des Lauerers gut ist, dann folge ihm. Mir wird hier nichts geschehen, und wenn ich euch begleitete, falle ich euch vielleicht sogar zur Last. Wenn er sich allerdings geirrt haben sollte«, bei diesen Worten machte sie eine kurze Pause, »dann kommt einfach wieder zurück. Wir werden gemeinsam einen neuen Weg finden.« »Ich werde dich finden, egal wo du auch sein magst«, versprach ihr Tazi. »Ich verlasse mich drauf, antwortete Fannah und blickte Tazi mit ihren kalkweißen Augen mitten ins Gesicht. Tazi drückte die Hand der Blinden kurz und lächelte. Nachdem sie Fannah losgelassen hatte, näherte sich ein Kind Ibranduls und geleitete Fannah durch die gleiche Seitentür, durch die die anderen Akolythen mit dem verwundeten Novizen verschwunden waren. »Wir sind bald zurück!« rief Tazi Fannah laut nach und fügte dann flüsternd hinzu: »Ich schwöre es!« Steorf und der Lauerer traten zu ihr und blickten ebenfalls Fannah hinterher. »Wollen wir?« fragte der Lauerer und vollführte eine langsame, weitausholende Geste, die in eine andere Richtung wies. Der Lauerer ging voraus, und sie folgten ihm in einen abzweigenden Tunnel. »Den habe ich zuvor gar nicht gesehen, obwohl wir eigentlich daran vorbeigekommen sein müßten«, flüsterte Tazi. Steorf beugte sich zu ihr hinüber und antwortete: 180
»Sie nutzen die natürlichen Felsformationen ziemlich geschickt aus. Wenn man nicht weiß, wo die Öffnung liegt, oder im genau richtigen Winkel davorsteht, sieht sie aus wie normaler Fels, der im Schatten liegt.« Der Hohepriester führte sie um eine Kurve und dann einen kurzen Tunnel hinab, der in einen kleineren Vorraum führte. In der Mitte des Raumes stand ein solider Eichentisch, um den wohl gut zwanzig Personen gemütlich Platz gefunden hätten. Das Holz war uralt und an vielen Stellen stark abgewetzt. Eine Handvoll dicker Kerzen und mehrere subtil plazierte Glühzauber erhellten den Raum. An den Wänden standen viele Regale, die vor Büchern und Schriftrollen förmlich überquollen. Tazi sah eine Handvoll Karten, die an den wenigen freien Wandflächen hingen, und fragte sich, ob auf ihnen die unterirdischen Tunnel abgebildet waren, die laut Fannah Calimhafens Muzad durchzogen. Ehe sie sie näher betrachten konnte, traten sieben Kinder Ibranduls in den Raum und machten sich rasch an allen aufgerollten Karten und Schriftrollen zu schaffen. Sie rollten sie eilig zusammen und verstauten sie in den Regalen. »Nett, was?« ätzte Steorf flüsternd an Tazi gewandt. »Na ja, wir haben ihnen ja bisher auch nicht viel Anlaß gegeben, uns zu trauen«, entgegnete sie. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Wandteppich, den die Kinder Ibranduls nicht abgenommen hatten. Tazi begriff, daß das aufwendige Muster eine Art Irrgarten darstellte. Unwillkürlich ertappte sie sich dabei, wie sie versuchte, den Weg durch das Labyrinth zu su181
chen. Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Ich fühle mich verloren, als sei ich in diesem Labyrinth gefangen, dachte sie. Ich weiß nicht, wem ich trauen soll und wem nicht. »Setzt euch«, forderte sie der Lauerer auf. Er selbst nahm am Kopfende des Tisches Platz. Tazi und Steorf setzten sich zu seiner Rechten, und die anderen Kinder Ibranduls verteilten sich unregelmäßig am restlichen Tisch. »Es besteht kein Zweifel«, begann der Hohepriester, ohne sich Zeit für eine langwierige Einleitung zu nehmen, »daß wir diesen Nekromanten aufhalten müssen. Unsere Gäste haben erklärt, daß er für mehrere Todesfälle verantwortlich ist.« »Ja, in der Tat«, führte Tazi aus. »Er hat einen meiner besten Freunde und mehrere andere unschuldige Personen, von denen ich weiß, getötet. Ganz zu schweigen davon, daß er plant, auch Fannah zu töten.« Mit diesen Worten wandte sie sich an alle Anwesenden und hoffte, ihnen so klar zu machen, wie ernst die Situation war. »Warum, wißt ihr aber nicht genau. Ist das wahr?« fragte eines der Kinder Ibranduls. »Der Mann ist böse. So einfach ist das«, erläuterte Steorf harsch. »Was auch immer er für einen Zweck damit verfolgt, es kann keinen Zweifel daran geben, daß es ein monströser sein wird, da er ein Spiegelbild dieses Mannes darstellt.« »Die Taten einer Person spiegeln ihren Geist wider«, stimmte einer der Novizen zu und warf Steorf dabei 182
einen bezeichnenden Blick zu. »Dennoch wäre es hilfreich zu wissen, wie seine Pläne aussehen«, fügte der Lauerer hinzu. Er warf seinen Kindern Ibranduls einen strengen Blick zu. Offenbar sah er es nicht gern, wenn sie sich in seine Ausführungen einmischten. »Wenn wir seine Absichten kennten, hätten wir auch einen Hinweis darauf, wo er sich momentan aufhält, oder wo wir vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt auf ihn treffen können«, stimmte Tazi zu. »Ich habe das Gefühl, euch läuft die Zeit davon«, erklärte der Lauerer auf einmal ominös. »Ich befürchte, Ihr habt recht. Habt Ihr denn keine Idee, wo er sich aufhält und welche Verbindung er zu Ibrandul haben könnte? Gar keine?« fragte Tazi. »Ich kann nicht mal raten. Eventuell hat er sich ja irgendwo in den Tunneln verborgen. Immerhin beschützt der Lauernde Gott all jene, die sich in den unteren Tiefen aufhalten. Möglicherweise verläßt er sich ja auf diesen Schutz. Angesichts der mangelnden Informationen ist es mir unmöglich, etwas mit Gewißheit zu sagen.« »Dann sind wir wieder genau dort, wo wir angefangen haben«, klagte Tazi. »Wir sollten gehen, Fannah mitnehmen und es anders versuchen«, mischte sich Steorf ein. »Ihr seid sehr vorschnell bei Euren Handlungen«, bemerkte der geheimnisvolle Lauerer. »Daß wir momentan nicht wissen, wo sich Ciredor aufhält, bedeutet noch lange nicht, wir hätten keine Möglichkeit, seinen Aufenthaltsort herauszufinden.« 183
»Ist Eure Macht hier unten groß genug, um ihn aufzuspüren?« fragte Tazi. »Nein, mein Kind«, antwortete er fast entschuldigend. »Ich weiß aber, wo ihr hingehen solltet, um die Informationen zu erlangen, nach denen ihr sucht.« »Wohin denn bitte?« fragte Steorf. »Ihr braucht starke magische Mittel, um seine Pläne und seinen Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen. Die einzige Chance, die ihr habt, um diesen Mann rechtzeitig aufzuspüren, besteht darin, den Dunklen Basar aufzusuchen.« Tazi bemerkte, wie sich Steorf unwillkürlich versteifte, als der Lauerer von »starken magischen Mitteln« sprach. Sie wußte, daß er nicht mehr viele derartige subtile Kommentare und Anfeindungen beziehungsweise bezeichnende Blicke, wie sie ihm die anderen Kinder Ibranduls zuwarfen, tolerieren würde. Sie glaubte nicht, daß ihn der Lauerer absichtlich zu beleidigen versuchte, doch sie zweifelte nicht daran, daß Steorf es genau so aufnahm und daß der bisherige Verlauf des Gesprächs seinen Stolz zutiefst verletzt hatte. »Was ist der Dunkle Basar?« fragte sie. »Hat euch eure calishitische Begleiterin noch nicht davon erzählt?« fragte der Lauerer vorsichtig. »Es gibt hier soviel zu sehen, und wir hatten so wenig Zeit, seit wir hier sind. Ich fürchte, ich werde noch lange brauchen, um alle Geheimnisse Calimhafens kennenzulernen.« Der Lauerer ließ seinen gestrengen Blick durch den Raum schweifen, dann ließ er sich wieder gemütlich in 184
seinem Stuhl zurücksinken. Er scheint Unterbrechungen nicht gerade gut zu vertragen, dachte Tazi, aber dennoch hat er unser Fehlverhalten und unseren Bruch der Gastfreundschaft toleriert. »Niemand kennt die Ursprünge der Dunklen Basare«, begann der Lauerer mit der Andeutung eines Lächelns zu erklären, »aber sie existieren seit zahlreichen Jahren.« »Handelt es sich um eine Art Nachtmarkt?« fragte Tazi. »In Selgaunt wird ständig irgendwo Handel getrieben, egal um welche Tageszeit. Wenn ich mir so die Größe Calimhafens ansehe, schätze ich, daß es hier ähnlich ist.« Sie war so von der Idee fasziniert, daß sie ihre Beobachtung, daß der Priester offenbar Unterbrechungen nicht mochte, völlig vergessen hatte. Diesen schien die Zwischenfrage aber nicht zu stören. »Natürlich gibt es auch in Calimhafen immer mehr Nachtmärkte, die den Platz der normalen Geschäfte einnehmen, die untertags an ähnlichen Standorten stattfinden, doch handelt es sich beim Dunklen Basar um etwas völlig anderes als eine nächtliche Abart eines normalen Basars.« Steorf verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Tazi wußte die Geste gut zu deuten. Er tat dies immer, wenn er den Eindruck hatte, jemand tische ihm ein Märchen auf. In den Jahren, in denen sie gemeinsam unterwegs waren, hatte er häufig so dagesessen, wenn ihre Berichte 185
von ihren persönlichen, nächtlichen Ausflügen mal wieder mythische Ausmaße angenommen hatten. Insgeheim wünschte sie sich allerdings, er stünde den Kultisten nicht so feindselig gegenüber und würde dies vor allem nicht so offen zur Schau stellen. Sie waren hier zu Gast, und sie verspürte das Bedürfnis, seine Grobheit durch ihr eigenes höfliches Verhalten irgendwie auszugleichen. »Fahrt fort«, drängte sie. Sie war sich wohl bewußt, daß sie der Lauerer gerade an wichtigen Informationen teilhaben ließ und keineswegs nur irgendeine Wirtshausgeschichte zum besten gab. »Auf einem Dunklen Basar sind keine gewöhnlichen Kunden zugegen. Dort trifft man nicht nur auf Kreaturen aus ganz Faerûn, sondern auch von anderen Ebenen. Ich habe gehört, es seien oft sogar Elementare zu Besuch.« »Ihr habt gehört? Dann wart Ihr offensichtlich noch nie selbst auf solch einem Basar?« merkte Steorf an. »Nein. Die Pfade des Dunklen Basars sind schwierig zu beschreiten, und ich hatte bisher noch nie das Bedürfnis oder die Notwendigkeit, es zu wagen.« »Wie könnt Ihr Euch dann so sicher sein, daß ich dort finde, was ich benötige?« fragte Tazi. »Ich bin natürlich nicht sicher, doch ich glaube, es ist auf jeden Fall eure beste Chance. Die wenigen Worte, die je über den Dunklen Basar niedergeschrieben wurden, sprechen von phantastischen Gegenständen wie Traumdämpfe oder elfisches Kiira, die dort ausgetauscht werden. Die häufigste Handelsware des Dunk186
len Basars ist aber Wissen.« »Ausgetauscht?« fragte Tazi nach. »Genau. Der Warenaustausch stellt auf dem Dunklen Basar die einzige Chance dar, Güter, Wissen oder Geheimnisse zu erstehen. Soweit ich weiß, gibt es nur eine einzige Regel für die Transaktionen, die auf dem Dunklen Basar stattfinden – man kann nur Dinge von gleichem Wert gegeneinander tauschen. Außerdem kann man bei seinem Besuch nur je einen Handel schließen. Der Vorteil ist, daß die Informationen, die man auf diesem Weg erlangt, stets verläßlich sind.« »Was geschieht, wenn man den Handel abgeschlossen hat?« fragte Steorf. »Wie man mir versichert hat«, formulierte der Priester vorsichtig, »wird man anschließend aus dem Basar geleitet.« »Von wem?« erkundigte sich Tazi. »Auch dessen«, begann der Lauerer und zupfte dabei, wie Tazi fand, fast ängstlich an seiner Robe herum, »bin ich mir nicht sicher. Die meisten, die etwas mit dem Basar zu tun haben, sagen, er werde vom Tempel der Alten Nacht betreut.« »Der Tempel der Alten Nacht?« bohrte Tazi nach. »Er gehört zu Shar«, antwortete Steorf für den Priester. »Das ist korrekt«, bestätigte der Lauerer, und man hörte deutlich die Überraschung in seiner Stimme. »Ihr kennt den Tempel der Alten Nacht?« »Ich kenne einiges«, antwortete Steorf kryptisch. Tazi beobachtete die beiden Männer konzentriert. Sie 187
war auch erstaunt darüber, daß Steorf über den Tempel der Alten Nacht Bescheid wußte. Ihre Bewunderung seines Wissens verwandelte sich jedoch bereits wieder in Erbitterung. Sie hatte sofort erkannt, daß Steorf dem Lauerer beweisen wollte, wieviel er doch wußte, doch das war jetzt wirklich nicht die Zeit für solch lächerliche Spielchen. Der Lauerer sah ganz so aus, als wolle er sich auf die Herausforderung einlassen. »Spielt es denn eine Rolle, wer den Basar leitet?« fragte Tazi und unterbrach so das sich abzeichnende Wortgefecht. »Es ist immer klug zu wissen, auf was man sich einläßt«, antwortete Steorf nur und ließ dabei den Lauerer keine Sekunde aus den Augen. »Zumindest soweit einem dies möglich ist«, fügte der Priester hinzu. Die Kinder Ibranduls schwiegen während der ganzen Auseinandersetzung, und Tazi fiel auf, daß einige von ihnen die Blicke gesenkt hatten. »Wenn das die beste Chance ist, die wir haben«, entschied sich Tazi, »sollten wir sie auch ergreifen.« »Mir selbst fällt keine bessere ein«, stimmte ihr der Lauerer zu. »Ich habe selbst großes Interesse daran, euch zu helfen, die Angelegenheit zu eurer Zufriedenheit zu beenden. Die anderen Kinder Ibranduls und ich wollen schließlich nicht, daß unser Glauben durch irgendein dunkles Ritual besudelt wird.« »Wie kommen wir dorthin?« fragte Tazi, die innerlich bereits zum Aufbruch drängte. »Der Weg zum Dunklen Basar ist ziemlich gefährlich, 188
und nur die Fähigsten finden ihn überhaupt«, begann der Lauerer zu erklären. »Da es uns ebenso wichtig wie euch ist, Ciredor aufzuhalten, werde ich euch drei Kinder Ibranduls mitschicken, die euch durch die Tunnel geleiten. Sie können euch dorthin führen, wo der letzte Dunkle Basar stattfand. Von dort aus könnt ihr den Zeichen folgen, die euch zum wahrscheinlichsten Standort des nächsten Dunklen Basars führen werden.« Als sie diese Worte hörten, warfen die Novizen einander vielsagende Blicke zu. »Ihr könntet uns einfach den Weg beschreiben«, sagte Steorf unfreundlich. »Wenn es tatsächlich so gefährlich ist, wie ihr behauptet, dann möchten wir nicht, daß einem eurer ›Kinder‹ etwas zustößt.« Tazi versetzte ihm unter dem Tisch einen ungestümen Tritt. Sie war nicht begeistert von seinem Kommentar, der bestenfalls wie eine Beleidigung und schlimmstenfalls wie eine kaum verhohlene Drohung geklungen hatte. »Es würde wesentlich mehr Zeit erfordern, euch den Weg zu beschreiben, als ihn euch einfach zu zeigen«, antwortete der Lauerer nur. Insgeheim war Tazi froh darüber, daß der Lauerer Steorf seine Worte nicht übel genommen hatte oder es sich zumindest nicht offen anmerken ließ. »Das wäre sicherlich am besten«, stimmte ihm Tazi zu, bevor Steorf weitere Dummheiten von sich geben konnte. »Ich denke, der Sand zerrinnt uns schon zwischen den Fingern.« Der Lauerer stand auf und glättete seine Roben. Er 189
gebot einem der Kinder Ibranduls, zu ihm kommen. Dann wisperte er dem Novizen etwas ins Ohr. Es war offenbar eine recht lange Botschaft, und der Novize nickte mehrmals bekräftigend, bis der Priester fertiggesprochen hatte. Steorf musterte Tazi während des ganzen Austausches fragend, und man konnte die Zweifel und die Besorgnis, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelten, mühelos erkennen. »Ich glaube, wir haben keine andere Wahl«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. »Man hat immer eine Wahl«, flüsterte er zurück. »Zugegeben, man kann sich manchmal nur zwischen Mumienfäule und Teufelszuckungen entscheiden.« Tazi kaute zerstreut auf den Lippen. »Eines der Kinder Ibranduls wird euch in einen kleinen Raum führen, wo ihr euch auf die Reise vorbereiten könnt«, erklärte der Lauerer. »Dort werdet ihr auch Nahrung, Wasser, verschiedene Waffen und Vorräte vorfinden.« »Waffen?« fragte Steorf mit hochgezogener Braue. »Ibrandul hilft jenen, die seiner Hilfe bedürfen, doch es schadet nicht, auf alles vorbereitet zu sein«, fügte der Priester nur hinzu. Mit diesen Worten zog sich der Mysteriöse Lauerer endgültig in die Räume hinter dem Besprechungszimmer zurück. Dabei erzeugten die Glühzauber tanzende Lichtreflexe auf den Silberkreisen seiner Überrobe, und Tazi mußte just in diesem Moment erneut daran denken, wie sie sie doch an die Schuppen einer Echse erinnerten. 190
Wortlos bedeutete ihnen eines der Kinder Ibranduls, ihm zu folgen. Es führte sie zurück in den Haupttunnel und dann in einen anderen Nebenraum. Dort angekommen konnten sich Tazi und Steorf vergewissern, daß alles so war, wie es ihnen der Lauerer versprochen hatte. In dem Raum standen mehrere Sessel, ein Arbeitstisch und eine kleine Tafel, auf der ein bescheidenes Mahl vorbereitet war. An einer Wand prangte eine reiche Auswahl an Waffen. Tazi ging zu der Mauer und nahm einen kleinen, eleganten Krummsäbel mit aufwendig geschmücktem Heft herunter. Sie wog die Waffe in der Hand und bewunderte ihr Gewicht und ihre Ausgewogenheit. »Ich werde euch nun kurz euch selbst überlassen«, erklärte das Kind Ibranduls, »doch ich kehre bald mit zwei anderen zurück, die uns begleiten werden.« Tazi dankte ihm. Er ging und schloß die Tür hinter sich. »Was hast du dir dabei gedacht?« zischte Steorf sie an, kaum daß sich die Tür geschlossen hatte. Tazi legte einen Finger auf die Lippen und machte eine Bewegung mit der anderen Hand, die den ganzen Raum einschloß. Steorf trat zu ihr. Diesmal versuchte er, deutlich leiser zu sprechen, doch Tazi konnte erkennen, daß er noch immer vor Wut kochte. »Der Raum scheint sicher zu sein«, informierte er sie. »Ich dachte«, flüsterte sie zurück, »Ashraf habe erklärt, hier im Tempel wirkt fremde Magie nicht.« »Ich denke, in Wahrheit funktioniert sie nicht, wenn man sie gegen jemanden einsetzt«, erläuterte Steorf. 191
»Seitdem uns der Lauerer in seinen Besprechungsraum geführt hat, habe ich unauffällig ausprobiert, wie weit ich mich vorwagen kann.« »Was hast du herausgefunden?« »Solange ich meine Zauberkunst nicht zu offen einsetze, scheint es zu gehen. Ich konnte magische Artefakte und Zauber der Ausspähung erkennen. Im Besprechungszimmer war beides mehrfach vorhanden.« »Ja und?« Tazi sah ihn auffordernd an. »Wir sollten uns hier ungestört unterhalten können«, versicherte er ihr. Dann fügte er scharf hinzu: »Also, was hast du dir nur dabei gedacht?« Tazi schüttelte den Kopf und ging im Raum umher, um sich zu vergewissern, ob nicht irgendwelche nichtmagischen Mittel eingesetzt wurden, um sie auszuspionieren. Nachdem sie sicher war, daß dies nicht der Fall war, kehrte sie zu Steorf zurück. »Wenn du es nur schaffen würdest, dein Temperament im Zaum zu halten«, erklärte sie ebenso entnervt, »hätte ich vielleicht Zeit gehabt, einige Dinge in Ruhe zu bedenken, statt ständig darauf zu achten, daß sich nicht alle hier in die Haare kriegen.« »Was soll das jetzt wieder heißen?« fragte er verblüfft. »Während du und der Priester einander an die Gurgel gegangen seid, habe ich mich wie eine Jongleurin gefühlt, die versuchen muß, dafür zu sorgen, daß du dich beruhigst, er sich aber nicht zu sehr empört, und gleichzeitig alles beurteilen und abwägen muß, was gesagt wurde. Doch was noch wichtiger ist, ich mußte parallel zu beurteilen versuchen, was nicht gesagt wurde.« 192
»Du traust ihnen also nicht«, erwiderte er und ignorierte dabei geflissentlich ihre Kritik an seinem Verhalten. »Ich weiß weder wem, noch worauf ich vertrauen kann«, gab sie völlig aufrichtig zu. Sie ließ sich auf einem Schemel neben dem Arbeitstisch nieder, stützte die Ellbogen auf den Tisch und strich sich gedankenverloren über die Lippen. Steorf trat neben sie und meinte entschuldigend: »Tut mir leid, daß ich dir keine größere Hilfe war.« »Ich weiß ja, daß du es gut meinst und daß ich eigentlich nicht gerade das Recht habe, mich über Zornausbrüche zu beschweren, doch wir bewegen uns auf verdammt dünnem Eis.« »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Vertraust du ihnen?« »Ich sagte doch, daß ich bei dieser Sache so an einigen Dingen meine Zweifel habe. Der Lauerer«, führte sie aus, »fühlt sich auf jeden Fall irgendwie unbehaglich. Aber ob das daran liegt, daß er uns mißtraut oder daß er mit gespaltenen Gefühlen herauszufinden versucht, welche Rolle sein Gott oder vielleicht sogar seine Gläubigen bei der ganzen Sache spielen, weiß ich nicht.« Sie stand von ihrem Platz bei der Arbeitsbank auf, trat zur Wand und begann, die Waffen anzustarren. »Fannah schien keine Probleme mit ihnen zu haben. Ich muß sagen ...«, sie hielt unwillkürlich inne, weil sie wußte, daß ihn die nächsten Worte verletzen würden, »... daß ich meine Entscheidung eigentlich nur getroffen habe, weil ich ihren Instinkten traue.« 193
Steorf preßte die Lippen zusammen und war auf einmal ebenfalls damit beschäftigt, eingehend zu studieren, was die Wand zu bieten hatte. Die unangenehme Stille zwischen ihnen zog sich immer mehr in die Länge. »Ich schätze mal«, kommentierte er schließlich, ohne Blickkontakt zu suchen, »das ist tatsächlich die klügste Vorgehensweise für dich. Von uns allen ist sie die einzige, die schon einmal in Calimhafen war und mit diesen Kultisten zu tun hatte.« Er lachte spöttisch. »Tja, und ich? In dieser Stadt voller Magie habe ich dir nichts zu bieten, was du nicht auch anderswo bekommst, und zu allem Überfluß habe ich dich jetzt bereits schwer enttäuscht.« Plötzlich wußte sie, warum er bei jeder Gelegenheit so übertrieben reagierte. Er wollte sie beeindrucken. »Du«, sagte sie und starrte ihm dabei mitten ins Gesicht, »hast mich nicht enttäuscht. Natürlich hast du recht, daß es hier Magie an jeder Straßenecke gibt, aber es ist deine Magie, der ich vertrauen kann, und dafür danke ich Selûne aus vollem Herzen. Du mußt mir nichts beweisen.« Steorf schaffte es endlich, ihr wieder in die Augen zu sehen. »Denk daran«, bat er, »Fannah war schon lange nicht mehr in Calimhafen. Dinge können sich verändert haben, so daß wir uns nicht mehr auf ihre Erfahrungen verlassen können.« »Viele Dinge haben sich verändert«, antwortete sie leise. 194
Etwas lauter fügte sie hinzu: »Das war erneut ein guter Einwurf. Du solltest nie glauben, ich wüßte deinen Standpunkt oder deine Meinung zu unserer Lage nicht zu schätzen.« Tazi fühlte sich plötzlich unwohl und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den Waffen an der Mauer. Sie ließ ihre Blicke über die Auswahl streifen, bis sie auf einer bizarr geformten Pike zu ruhen kamen. Sie berührte sie und wandte sich dann an Steorf. »Erinnerst du dich noch an die Nacht, in der wir eine unserer ersten Eskapaden gestartet haben?« fragte sie lächelnd. »Wir sind diesem Fischhändler in die Quere geraten, und er hat versucht, uns mit seiner Pike aufzuspießen. Ich dachte, er sei ein leichtes Opfer. Wenn du mich nicht zur Seite gestoßen hättest, hätte ich sicher als Fischspieß mein Ende gefunden.« Sie mußte lachen, doch jetzt, wie sie so nachträglich darüber nachdachte, wurde ihr plötzlich bewußt, daß er wesentlich mehr für sie getan hatte, als es ein einfacher Leibwächter je tun würde. Vielleicht waren viele seiner Handlungen von mehr motiviert als von dem Bestreben, seine Aufgabe zu erfüllen und sein Geld zu verdienen. »Ich habe die Narbe noch immer«, sagte er leise. »Wirklich?« »Viele Dinge von dir begleiten mich, Thazienne.« Es war ein magischer Augenblick, und irgendwie stand er auf einmal sehr nah bei ihr. Steorf umfaßte ihre Hände, und Tazi sträubte sich nicht gegen die Geste. Er strich ihr fast ebenso sanft über ihre schlanken Finger, wie sie es zuvor bei seinen verletzten Händen getan 195
hatte. Tazi starrte ihn wortlos an und war nicht sicher, wie sich die ganze Sache weiter entwickeln würde. Dann fiel ihr etwas auf. »Deine Hände«, rief sie, aber nicht laut, um die Stimmung nicht zu zerstören. Steorf mußte lächeln, als sie seine Hände untersuchte, ließ dabei ihre Hände allerdings nie ganz los. »Sie sind wieder völlig glatt«, stellte sie freudig erregt fest. »Kein Kratzer! Du hast wirklich probiert, wie weit du gehen kannst, was?« Steorf zuckte nur die Achseln, doch Tazi erkannte dennoch, daß er sich darüber freute, daß sie es bemerkt hatte. Sein angedeutetes Lächeln verflog, und er drückte erneut ihre Hände. Tazi legte den Kopf schräg und öffnete leicht die Lippen. Sie musterte ihn fragend, und ihr Herz schlug schneller. Steorfs Mund näherte sich dem ihren, und dann ... öffnete sich die Tür hinter ihnen mit einem lauten Krach. Beide fuhren erschreckt hoch. Tazi trat einen Schritt rückwärts und sah, wie drei Kinder Ibranduls in den Raum kamen. Der erste Novize war der Akolyth, der sie in den Raum geführt hatte, den zweiten Novizen kannte sie nicht, und der dritte war Ashraf. »Stören wir?« fragte dieser. Tazi konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß seine Frage spöttisch geklungen hatte. »Wir haben nur besprochen, wie wir weiter vorgehen wollen«, antwortete Tazi eilig. Sie hatte Angst davor, was Steorf sagen würde, wenn sie ihm die Gelegenheit dazu lassen würde. Außerdem war sie dankbar dafür, 196
daß sie die Chance erhielt, darüber nachzudenken, was beinahe zwischen ihnen geschehen wäre. Sie warf Steorf einen Blick zu und war erleichtert zu sehen, daß er völlig friedlich wirkte. Er verblüffte sie noch weiter, als er zu Ashraf trat und das Gesicht des jungen Mannes musterte. Tazi fand, daß Ashraf abgesehen von seiner Nase ganz gut aussah. Seine Nase hingegen hatte, obwohl sie natürlich nicht mehr blutig und blau angelaufen war, einen kleinen Höcker. Ein definitives Zeichen dafür, daß sie gebrochen gewesen war. Das muß das Andenken sein, das ihm bleiben wird, von dem der Lauerer gesprochen hat, dachte sie. »Gute Arbeit«, erklärte Steorf leichthin und drehte das Gesicht des Novizen von einer Seite auf die andere. »Hast du daran gezweifelt?« fragte der junge Mann frech, obwohl er bei Steorfs Berührung unwillkürlich zusammenzuckte. »An der Arbeit anderer habe ich immer Zweifel«, sagte Steorf nur, während er bestätigend nickte. Tazi seufzte, doch der Novize entschloß sich diesmal dazu, nicht auf Steorfs Beleidigung einzugehen. Er drückte den Rücken durch und sah Steorf in die Augen. Tazi spürte, daß er sich noch nicht ganz erholt hatte, obwohl man ihn natürlich gesäubert und alles getan hatte, um die bleibenden Spuren des Kampfes mit Steorf zu beseitigen. Ashraf grinste ihn schief an, und Tazi wurde auf einmal bewußt, daß er noch jünger sein mußte, als sie ihn ursprünglich geschätzt hatte. Obwohl sein Leib noch 197
nicht vollständig geheilt war, war zumindest sein Verhalten jetzt angenehmer. Entweder hatte ihm der Lauerer eine Strafpredigt gehalten, oder er war von selbst zu dem Entschluß gekommen, sich einfach nicht mehr darum zu scheren, was die Gharabs sagten. Er packte Steorfs Hand und revanchierte sich mit gleicher Münze. »Ich könnte das gleiche über deine Arbeit sagen«, merkte er an. Auch ihm war nicht entgangen, daß Steorfs Hände nicht mehr verletzt waren. Steorf löste seine Finger aus den Händen des Akolythen. »Ja«, sagte er nur. Tazi schüttelte den Kopf. Ihr wurde klar, daß sich durch ihr Gespräch mit Steorf in Wahrheit nicht viel geändert hatte. Er war noch immer so unbeugsam und stur wie zuvor. Doch würde ich es wirklich gerne sehen, wenn er sich zu sehr ändern würde? fragte sie sich. »Was jetzt?« fragte sie Ashraf. »Nun ja, wenn ihr zwei genügend Zeit hattet, um euch zu erfrischen«, er hielt kurz inne und warf den beiden einen verschmitzten Blick zu, »dann sollten wir zusehen, daß wir weiterkommen.« Noch bevor Steorf wieder etwas Ärgerliches sagen konnte, ergriff Tazi wieder das Wort: »Du begleitest uns?« Sie sah aus dem Augenwinkel, daß Steorf ärgerlich die Zähne zusammengebissen hatte. »Aber sicher doch«, antwortete Ashraf leichthin. »Oh!« brummte Tazi. »Na, das wird ja eine interessante Reise werden.« 198
Die Tunnel der Muzad
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ohin jetzt?« fragte Tazi. Sie, Steorf, Ashraf und die anderen zwei Kinder Ibranduls waren noch nicht lange in den tieferen Tunneln unterwegs, doch bereits jetzt konnte sich Tazi eines gewissen Gefühls der Desorientierung nicht erwehren. Die Stollen sahen alle gleich aus, da es nur wenige Kennzeichen gab, wie man sie voneinander unterscheiden konnte. Für sie waren Steine schlicht und einfach Steine, so wenig unterschiedlich wie die Grashalme auf einer Wiese. »Ich verstehe nicht, wie ihr einen Tunnel vom anderen unterscheiden könnt«, wunderte sie sich laut. »Das ist logisch«, erklärte der einzige glattrasierte Novize in der Gruppe. Tazi war nicht sicher, ob der Kommentar herablassend gemeint war. Ihr fiel jetzt erst so richtig auf, daß sich keines der Kinder Ibranduls die Mühe gemacht hatte, sich ihnen vorzustellen. Tatsächlich kannten sie und Steorf Ashrafs Namen auch nur deswegen, weil ihn der Lauerer in ihrer Anwesenheit erwähnt hatte. 199
Hat man ihnen aufgetragen, uns ihre Namen nicht zu verraten, oder ist das wieder so eine subtile Stichelei? fragte sich Tazi. »Deswegen haben wir ja auch solches Glück, daß ihr uns führt«, antwortete sie geschickt. Sie erhielt keine Reaktion darauf und wandte sich mit hochgezogener Braue an Steorf, als wolle sie sagen: »Siehst du, ich habe wenigstens versucht, nett zu sein!« Doch der schwieg ebenso verbissen, und sie gab es auf, Konversation zu betreiben. Ich frage mich, wie es mein Vater zuwege bringt, einen ganzen Raum voller Händler, die allesamt völlig unterschiedliche Interessen haben, in seinem Sinn zu manipulieren und dafür zu sorgen, daß etwas weitergeht, dachte sie ein wenig neidisch auf seine Fähigkeit, andere wie Schachfiguren zu benutzen. Nun gut, wenn ein Kompliment schon vergebliche Liebesmühe war, konnte sie es ja mal mit einer direkten Frage versuchen. »Wie lange ist eigentlich der letzte Dunkle Basar her?« fragte sie. Keines der Kinder Ibranduls antwortete. Nachdem sie sich mit Blicken verständigt hatten, ergriff schließlich der bartlose Novize das Wort. »Wahrscheinlich war er letzte Nacht.« »Aber ihr wißt es nicht sicher?« stellte Steorf fest. Tazi war sich darüber im klaren, daß es ihm Freude bereitete, ihr zu demonstrieren, daß ihre Führer alles andere als allwissend waren. »Wir sind noch nie auf einem Dunklen Basar gewesen«, ergriff nun auch Ashraf das Wort. 200
»Warum nicht?« fragte Tazi und war insgeheim dankbar darüber, daß offenbar zumindest Ashraf dazu bereit war, ein paar Informationen herauszurücken, ohne daß man ihn allzusehr bedrängte. »Es handelt sich um extrem wichtige und ernste Treffen«, unterbrach ihn der bartlose Novize ärgerlich und warf Ashraf einen strafenden Blick zu, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Wie euch der Geheimnisvolle Lauerer bereits erklärt hat, mußten wir bisher niemals auf derartige Mittel zurückgreifen, um Informationen zu erlangen.« Tazi war jetzt sicher, daß sie der bartlose Akolyth von oben herab behandelte. »Verzweifelte Zeiten erfordern den Einsatz ebensolcher Mittel«, erklärte sie ihm. Sie war die verbalen Spiegelfechtereien und angedeuteten Beleidigungen langsam, aber sicher leid. »Wir fürchten uns nicht, jedes nur mögliche Mittel zu nutzen, um Fannah zu retten, koste es, was es wolle.« Steorf nickte zustimmend. Nach diesem Austausch marschierten sie und Steorf wieder hinter den drei Kindern Ibranduls schweigend durch die Dunkelheit. Tazi erschauerte manchmal unwillkürlich, während sie immer tiefer in den Untergrund vordrangen und es zusehends kühler wurde, und sie dachte wehmütig an die Dschellaba, die sie im Tempel zurückgelassen hatte. Sie trug nur ihre Lederkleidung, weil diese sie im Gegensatz zu einem Gewand nicht einschränkte. Dadurch waren allerdings ihre Arme nackt, und sie muß201
te immer wieder schaudern. Während sie so durch die Gänge schritten, versuchte sie, sich die verschiedenen Felsformationen einzuprägen und sich irgendwelche Kennzeichen zu merken, anhand derer sie sich orientieren konnte. Manche Tunnel waren so schmal, daß sie hintereinander gehen mußten. Andere wieder öffneten sich und waren so breit, daß alle fünf nebeneinander Platz fanden. In den meisten Tunneln gab es zumindest ein wenig Licht, und Tazi meinte, in einigen der ersten Stollen, die sie auf ihrem Weg in die Tiefen benutzten, eine Art Hauptverkehrsadern durch die Muzad zu erkennen. Sie waren alle durch halbpermanente Glühzauber erhellt. Je tiefer sie allerdings in das Tunnelsystem vordrangen, desto sporadischer wurde die Beleuchtung. Tazi mußte sich ganz auf die untrügliche Fähigkeit der Kinder Ibranduls verlassen, sich in der Dunkelheit zu orientieren. »Kennst du die diese Tunnel wirklich so gut?« sprach sie schließlich Ashraf an, weil sie das ständige Schweigen einfach nicht mehr aushielt. Der junge Calishit knetete seine schwarzviolette Robe nervös mit den Fingern und warf den anderen Kindern Ibranduls einen Blick zu. Tazi erkannte, daß er mit ihr sprechen wollte, aber zögerte, um sich nicht erneut eine Zurechtweisung einzufangen. Sie wurde fast unmerklich langsamer. Ashraf erkannte, was sie vorhatte, und gemeinsam fielen sie ein kleines Stück hinter Steorf und die anderen beiden Novizen zurück. »Ich würde mich hier unten allein heillos verirren«, 202
sagte Tazi. »Hast du lange gebraucht, um den Aufbau all dieser Stollen zu lernen?« »Oh!« antwortete Ashraf, nachdem er sich vergewissert hatte, daß seine beiden Gefährten inzwischen außer Hörweite waren. »Ich kenne noch lange nicht alle Tunnel. Ich glaube nicht, daß ich dazu je in der Lage wäre. Selbst dann nicht, wenn ich mich den Rest meines Lebens damit beschäftige.« »Es gibt tatsächlich so viele Tunnel unter Calimhafen?« fragte Tazi, die ihn dazu bringen wollte weiterzusprechen. »Es gibt so viele Tunnel wie Sandkörner in der Calimwüste«, antwortete er mit so etwas wie Ehrfurcht. »Gleichwohl kennst du dich scheinbar perfekt in diesen hier aus.« »Ich kenne viele Tunnel«, erklärte er durchaus stolz, »und natürlich weiß ich, wo die gefährlicheren in unserer Gegend liegen, doch einige, durch die wir gerade gehen, sind selbst für mich neu.« »Aber du bewegst dich mit einer Zielsicherheit durch die Dunkelheit, als wäre es hellichter Tag.« Sie konnte sein verschmitztes Lächeln im Zwielicht erkennen, und er antwortete: »Das ist nur, weil ich auf dem Dunklen Pfad Ibranduls schreite. Es ist ein einfacher Zauber, den alle Novizen beherrschen.« »Er läßt dich im Dunkeln sehen«, schloß Tazi. Ashraf mußte lachen. »Du hast eine schnelle Auffassungsgabe«, gratulierte er ihr. »Aber so einfach ist es nicht. Der Zauber läßt mich nicht im Dunkeln sehen, er läßt mich wissen, wo 203
Dinge sind. Verstehst du den Unterschied?« Tazi tippte sich an den Kopf. »Aber ja, ich habe ja eine rasche Auffassungsgabe«, erklärte sie mit einem freundlichen Lächeln. Ashraf mußte erneut lachen, und Tazi dachte unwillkürlich, daß seine Stimme auf ähnliche Weise angenehm musikalisch war wie die Fannahs. Steorf hatte ihre angeregte Unterhaltung bemerkt und ließ sich ebenfalls zurückfallen, um daran teilzuhaben. Tazi sah, daß der bartlose Novize und sein schweigsamer Gefährte bisher offensichtlich nichts von ihrem Austausch mitbekommen hatten. Die zwei sprachen jetzt auf Alzhedo miteinander, und es schien, als diskutierten sie über irgendwelche Markierungen an der Wand. Der Schweigsame deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren, doch der Bartlose schüttelte den Kopf und zeigte nach vorne. Wäre das nicht irgendwie lustig, wenn sie sich einmal verirrt hätten? lachte sie innerlich. »Welchen Ärger heckst du denn aus?« fragte Steorf Tazi, warf aber auch Ashraf einen Blick zu. Tazi dachte, daß er sich wohl so freundlich gab, um sich irgendwie für sein erstes Zusammentreffen mit Ashraf zu entschuldigen. Ich weiß allerdings nicht, ob Ashraf das richtig begreifen wird, dachte sie sich. »Keinen, aus dem sich eine Person mit rascher Auffassungsgabe nicht wieder herausfinden könnte«, sagte sie und zwinkerte Ashraf verschwörerisch zu. »Wollt ihr beide euch zum Dunklen Basar zwin204
kern?« spottete Steorf freundlich. »Wenn es sein muß, dann werden wir das auch tun, oder, Ashraf?« fragte sie und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. Der bisher lächelnde Novize war auf einmal still. Tazi fürchtete schon, sie hätte ihn irgendwie beleidigt, indem sie einen Witz über den Dunklen Basar gerissen oder ihn mit Namen angesprochen hatte oder vielleicht auch beides. Sie wollte ihn gerade fragen, was los war, als die beiden anderen Kinder Ibranduls zurückkamen. »Warum steht ihr hier alle herum?« verlangte der bartlose Novize barsch zu wissen. »Es ist meine Schuld«, begann Tazi, damit Ashraf keinen Ärger bekam. »Ich bin in der Dunkelheit übel gestolpert, und mein Gefährte und das Kind Ibranduls hielten an, um mir zu helfen.« Sie hatte sorgfältig darauf geachtet, nicht Ashrafs Namen zu nennen. Der Novize, der normalerweise keinen Laut von sich gab, kicherte abfallig, und der Bartlose antwortete: »Na gut, dann paßt in Zukunft auf, wo Ihr hintretet. Wir können Euch schließlich nicht den ganzen Weg tragen, wenn Ihr Euch verletzt.« Tazi drückte Steorfs Hand, ehe er etwas sagen konnte, und versicherte: »Ich werde versuchen, weniger tolpatschig zu sein.« »Tut das«, antwortete der Bartlose knapp und wandte sich dann gemeinsam mit seinen Gefährten ab, um ihren Marsch wieder aufzunehmen. Steorf und Tazi reihten sich hinter ihnen ein, und 205
Ashraf übernahm die Rückendeckung. »Warum hast du das gesagt?« fragte Steorf sie leise. »Ich weiß, daß die zwei da vorne uns ohnehin für närrisch und inkompetent halten. Ich habe mir also schnell eine Ausrede ausgedacht, die sie glauben würden. In Wahrheit wollte ich nicht, daß Ashraf Ärger bekommt, weil er so bereitwillig mit uns gesprochen hat.« Steorf zog einen Mundwinkel hoch und sah sie wohlwollend von oben herab an. »Du bist eigentlich ganz in Ordnung ...«, sagte er, »... zumindest manchmal!« Tazi schubste ihn ein wenig und antwortete: »Du eigentlich auch ... manchmal.« Sie mußte leise lachen. Ashraf beobachtete Tazi und Steorf genau, und wenn sie in seine Richtung geblickt hätten, hätten sie gesehen, daß er besorgt wirkte. Nachdem sie wieder lange lautlos durch die Dunkelheit gestapft waren, kamen sie zu einer Tunnelbiegung, und dahinter lag eine große unterirdische Kammer, die beinahe so groß war wie der Hauptaltarraum im Tempel des Lauernden Gottes. Große Stalaktiten und Stalagmiten waren überall verteilt, und wenn es nicht schwach leuchtende Flechten an den Wänden gegeben hätte, wäre die Höhle völlig stockdunkel gewesen. Es sah hier aus wie an der Oberfläche in einer sternenklaren Nacht. Es fehlte eigentlich nur der Mond. »Es ist wunderschön«, erklärte Tazi mit ehrerbietigem Staunen. 206
»Ja«, stimmte ihr Steorf zu. »Aber dennoch – hörst du vielleicht irgend etwas?« Tazi horchte angestrengt. »Tropfendes Wasser. Wie kann das möglich sein?« fragte sie an Ashraf gewandt. »Ich bin nicht sicher, ob ich etwas höre«, antwortete er, und es kam ihr vor, als schwinge ein besorgter Unterton in seiner Stimme mit. »Ich erfinde das nicht«, verteidigte sie sich. »Ich höre in der Ferne Wasser tropfen.« »So tief unten gibt es kein Wasser«, erläuterte Ashraf. »Aber ...« Er hielt kurz inne, als suche er nach Worten. »Ich habe gehört, Ibrandul manifestiere sich manchmal auf diese Weise hier in den trockenen Gebieten. Zumindest sagte man mir das.« Die anderen beiden Novizen entfernten sich von ihnen, um etwas zu untersuchen, das Tazi in dem fahlen Licht nicht genau ausmachen konnte, egal wie sehr sie ihre Augen auch zusammenkniff. Sie nutzte die Gelegenheit, um Ashraf eine weitere Frage zu stellen. »Könnt ihr uns sonst noch etwas über Ibrandul verraten, das für uns wichtig sein könnte? Ich weiß«, fügte sie sicherheitshalber hinzu, um ihn nicht zu verletzen, »daß alles, was mit Ibrandul zu tun hat, für dich wichtig ist. Aber was sollten wir wissen?« Ehe er antwortete, vergewisserte sich Ashraf, daß die anderen Kinder Ibranduls zu weit entfernt waren, um etwas zu hören. »Ibrandul erhob sich in Gestalt einer mächtigen Echse, um Menschen zu befreien, die seit Jahrhunderten von bösen Drow versklavt waren. Er 207
zieht es vor, allein durch die Tunnel zu wandeln. Manchmal erscheint er anderen als mächtige Echse und manchmal als Mann mit brennenden Augen, der wie aus Obsidian gehauen wirkt.« »Tut er sonst noch etwas, außer in den Tunneln umherzustreifen?« fragte Steorf. »Der Fürst der trockenen Tiefen hilft Menschen, die durch gefährliche unterirdische Passagen reisen, und schützt jene, die ihn verehren, davor, daß ihnen jemals wieder durch die Drow Leid geschieht«, erläuterte Ashraf. Eine Albinomotte, die so groß war wie ein kleiner Vogel, flatterte vorbei, und Tazi keuchte ob des Anblicks unterdrückt auf. Gleich darauf mußte sie ob ihrer närrischen Reaktion über sich selbst kichern, und Ashraf lachte mit ihr. »Hier unten ist wohl alles anders, als du gewohnt bist. Gibt es droben etwa keine derartigen Kreaturen?« fragte er. »Geht ihr nie nach oben?« fragte Steorf, noch ehe Tazi die Gelegenheit hatte, die Frage zu beantworten. »Ich habe noch nie die Sonne gesehen«, antwortete er ernst. »Nie?« rief Tazi verblüfft. »Sobald wir in die umhüllende Dunkelheit initiiert wurden, wie unser Glaube korrekt bezeichnet wird, lernen wir, daß in absolutem Dunkel uneingeschränkte Freiheit liegt. Wir lassen uns nicht durch das willkürliche Auf- und Untergehen einer flammenden Kugel unseren Tagesablauf diktieren. Dinge im Finstern sind 208
nicht gut oder böse. Sie sind einfach.« »Aber das Land oben nie zu schauen ...«, begann Tazi zögernd. »Du hast sicher auch noch nie das Unterreich betreten, bevor du hierhergekommen bist, oder?« fragte er nur. »Stimmt auch wieder.« »Hat dir etwas gefehlt oder hast du dich gar vom Schicksal betrogen gefühlt, weil du nie die perfekte Dunkelheit erfahren durftest?« forderte sie Ashraf weiter heraus. »Ich denke nicht, daß ich betrogen wurde«, entgegnete sie vorsichtig. »Aber ich bin froh, daß ich hierhergekommen bin und das sehen durfte.« »Daß ich nicht alle Farben des Steins sehen kann, heißt nicht, daß ich seine Schönheit nicht erkenne«, erklärte der Novize. Er strich langsam mit der Hand über den glatten Fels. »Die Kühle des Steins, seine Oberfläche unter meinen Fingern, all das ist Teil seiner Einzigartigkeit, die ich in vollen Zügen in mich aufnehmen. Nein, meine Eltern trafen die richtige Entscheidung, als sie sich dazu entschlossen, mich als Säugling hier den Tunneln anzuvertrauen.« »Sie haben dich hier unten ausgesetzt?« stieß Steorf bestürzt aus. »Keineswegs. Sie haben mich Ibranduls Schutz anvertraut«, korrigierte Ashraf. »Hier lebe ich, und hier werde ich eines Tages auch sterben.« Der ruhige Stolz und die Zufriedenheit in seiner Stimme waren Tazi nicht entgangen. 209
»Es wird ein erfülltes Leben sein«, fügte sie hinzu. »Du hast tatsächlich eine schnelle Auffassungsgabe«, neckte er sie. Tazi lachte ob des kleinen Scherzes. Sie entfernte sich ein Stück von der Gruppe und strich mit ihrer Hand über ein paar Stalagmiten. Auf einmal wußte sie die Textur des Felsen richtig zu schätzen. Sie schaute zu, wie noch mehr der geflügelten Insekten wie kleine Sternschnuppen zwischen den Stalaktiten dahinschossen. Ashraf musterte Steorf und wandte sich schließlich an ihn: »Du hingegen kannst noch immer nicht verstehen, wie ich mit dem hier zufrieden sein kann.« »Nein«, gestand dieser ein. »Das kann ich wirklich nicht.« »Uns alle leiten und treiben Kräfte und Beweggründe. Nur können wir die, die andere leiten, manchmal nicht sehen. Daher tut man sich schwer, den anderen zu verstehen.« »Wird wohl so sein«, stimmte Steorf zu. »So weiß ich zum Beispiel nicht, warum du hier bist und diese komplizierte, schwierige Mission auf dich genommen hast.« »Ich bin hier, weil mich eine gute Freundin gebeten hat, sie zu begleiten. Daran ist nichts mystisch oder kompliziert«, antwortete Steorf. Der junge Calishit lehnte sich nah zum Magier und flüsterte: »Sie ist ein wenig mehr als eine gute Freundin, oder?« Tazi spürte förmlich, wie Steorfs Blicke in ihrem Rücken brannten, und tat, als wäre sie völlig von der 210
Stalaktitenformation fasziniert und nähme die Konversation, die ein paar Schritte von ihr entfernt stattfand, überhaupt nicht wahr. Sie wollte Steorf nicht bloßstellen, indem sie ihn aufzog, aber da war auch ein Teil in ihr, der zu gerne seine ehrliche Antwort auf die Frage gekannt hätte. »Wovon redest du?« fragte Steorf Ashraf, nun ebenfalls mit gesenkter Stimme. Der junge Mann lächelte und erklärte nur: »Du stellst deine Gefühle für sie mit all deinen Handlungen zur Schau.« »Wie bitte?« »Du bist förmlich explodiert und bist eingeschritten, als du dachtest, ich könnte ihr ein Leid zufügen, und du ...«, begann Ashraf. »Ich hätte das für jeden meiner Freunde getan«, fuhr ihm Steorf über den Mund. »Außerdem wärst du nicht in der Lage gewesen, ihr Leid zuzufügen«, ermahnte er ihn mit einem drohenden Unterton und erhobenem Finger. »Du denkst, dazu wäre ich nicht fähig gewesen?« fragte Ashraf. Steorf erkannte gerade noch rechtzeitig, daß der junge Mann nur spaßte, und entspannte sich ein wenig. »Selbst diese Aussage zeigt, wie du wirklich empfindest.« »Ich bin eben loyal«, versuchte Steorf erneut abzuwiegeln. Weder er noch Ashraf sahen, daß Tazi unwillkürlich ein wenig zusammenfuhr. Seit Steorf ihr von Ebeians Tod berichtet hatte, hatte sich wieder so etwas wie die 211
alte Nähe und Vertrautheit zu ihm zu entwickeln begonnen. Schließlich hatten sieben Jahre Freundschaft und zahlreiche gemeinsam ausgestandene Eskapaden dafür gesorgt, daß sie ein ganz spezielles Band miteinander verband – eines, wie sie es zu keiner anderen lebenden Seele hatte. Die Zeit war nur schwer zu verdrängen oder zu vergessen gewesen. Tazi begann langsam, aber sicher zu erkennen, daß auch die zweijährige Pause in ihrer Beziehung wenig zwischen ihnen geändert hatte. Sie und Steorf fanden bereits in den alten, eingespielten Rhythmus zurück, und kurz bevor sie die Kinder Ibranduls für ihre Expedition abgeholt hatten, hatte es einen magischen Moment zwischen ihnen gegeben, in dem es beinahe endgültig gefunkt hätte. Doch als Tazi hörte, wie Steorf das Wort »loyal« benutzte, war das, als habe er eine gerade verheilte Wunde wieder aufgerissen. All die Anschuldigungen, die Ciredor zwei Jahre zuvor erhoben hatte, und die Tatsache, daß Steorf nur ein von ihrem Vater bezahlter Gefährte gewesen war, schlugen förmlich über ihr zusammen. Wieder fragte sie sich, ob sie all das wirklich hinter sich lassen und ihm je wieder völlig vertrauen konnte. Ashraf und Steorf bekamen von ihrem inneren Aufruhr nichts mit und unterhielten sich ungerührt weiter über sie. »Natürlich bist du loyal, das sehe ich. Du begleitest sie auf einer tödlichen Mission, um sie zu beschützen, wo immer du kannst. Doch was noch wichtiger ist, ich sehe auch, wie du sie anschaust.« 212
»Wie denn, deiner Meinung nach?« fragte Steorf freimütig. »Manchmal blickst du sie so an, als sei sie ein wertvoller Edelstein, der dein Herz bezaubert hat, und bisweilen wie ein Mann, der sich in der Wüste verirrt hat und auf einmal einen kühlen See voll köstlichen Wassers sieht.« Tazi freute sich lautlos. Ashraf hat auf jeden Fall einen blumigen Umgang mit Worten, dachte sie sich. Einige dieser Bücher im Besprechungszimmer enthielten wohl auch romantische Geschichten oder Gedichte. Er sollte wirklich zusehen, daß er häufiger an die Oberfläche kommt. Tazi hatte wirklich keine Lust, Steorfs zweifellos sarkastische Antwort auf diesen poetischen Erguß zu hören, und beschloß, etwas schneller zu gehen, um die älteren Kinder Ibranduls wieder einzuholen. Dadurch geriet sie außer Hörweite. Steorf musterte Ashraf einige Zeit lang schweigend. Dann entgegnete er: »Du verfügst tatsächlich über die Fähigkeit, klar zu sehen. Thazienne hat etwas, das wie Balsam für den Aufruhr in meiner Seele ist.« Ashraf war überrascht. »Ich hätte nicht gedacht, daß du es so leicht eingestehen würdest.« »Aller Wahrscheinlichkeit werden wir dieses Zusammentreffen mit Ciredor ohnedies nicht überleben. Mein Geheimnis wird also mit dir sterben.« »Ach weißt du, ich bin ziemlich schwer zu töten«, antwortete Ashraf unbekümmert. »Deine Freundin wird 213
also dein kleines schmutziges Geheimnis vielleicht doch erfahren.« Steorf wußte augenscheinlich nicht, was er darauf sagen sollte, deswegen meinte er nur barsch: »Wir sollten besser zusehen, daß wir wieder zu deinen Gefährten aufschließen, bevor sie sich noch zu sehr darüber aufregen, ständig auf uns närrische Oberweltler zu warten.« Er und Ashraf schlossen zu den beiden anderen Kindern Ibranduls auf. Dabei rannte er praktisch in Tazi hinein. »Ich habe dich nicht gesehen«, erklärte er. »Ich weiß. Ich werde immer besser darin, mich hier durchs Dunkel zu schleichen. Vielleicht steht ja Ibrandul doch auf unserer Seite«, antwortete sie völlig ernst. Da es so dunkel war, konnte Tazi nicht sehen, wie Ashraf ob ihrer Worte die Stirn runzelte. Als sie wieder bei den beiden anderen Kindern Ibranduls angelangt waren, überraschte der Bartlose Tazi und Steorf mit seinen Worten. »Es tut mir leid, daß das alles so lange gedauert hat, aber wir wollten sichergehen, daß wir«, und damit zeigte er auf sich und seinen schweigsamen Begleiter, »die Zeichen richtig interpretiert haben. Es ist uns klar, wie wichtig es für euch ist, den Nachtmarkt zu finden.« »Dort hinten«, fuhr er fort und zeigte auf einen Tunnel, der aus der Höhle führte, »geht der Pfad noch ungefähr sechs Meter lang weiter und gabelt sich dann.« »Ihr müßt darauf achten, auf der rechten Seite zu bleiben«, ermahnte sie der normalerweise schweigsame 214
Novize mit ernstem Unterton in der Stimme. Nachdem sie die Kaverne verlassen hatte, wurde es rasch noch dunkler. Sowohl Tazi als auch Steorf konnten nicht mal mehr die Hand vor den Augen sehen und mußten sich vorantasten. Tazi war zufrieden mit sich, daß sie das immer besser schaffte, je länger sie in diesen Tunneln unterwegs waren. Allerdings war ihr nicht bewußt, daß sich die älteren Kinder Ibranduls hatten zurückfallen lassen. Tazi konnte Steorf gerade noch als Schatten aus den Augenwinkeln heraus wahrnehmen, so finster war es inzwischen geworden. Ein Stück hinter ihnen hörte sie Ashraf etwas murmeln und mußte lächeln. Der Bursche ist ja wirklich gesprächig, dachte sie sich amüsiert und war auf einmal froh darüber, daß er einer der drei Novizen war, die der Lauerer als ihre Begleitung ausgewählt hatte. Ihr wurde bewußt, daß er sich von seinen Gefährten wie Tag und Nacht unterschied. Wenn wir nur die zwei namenlosen Novizen als Führer hätten, würde ich inzwischen daran zweifeln, daß wir den Dunklen Basar überhaupt finden werden. Mit Ashraf als Begleitung hingegen ist das ganz etwas anderes. Tazi war so damit beschäftigt, sich den Weg in den nächsten Tunnel zu ihrer rechten Hand zu ertasten, daß ihr gar nicht auffiel, daß Steorf und sie auf einmal völlig allein waren.
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Ashraf stand an der Kreuzung. Sein jugendfrisches Gesicht war verzerrt. Er war hin- und hergerissen und kaute heftig auf seiner Unterlippe. Er warf einen Blick nach links und sah, wie sich die beiden älteren Kinder Ibranduls durch die Tunnel zurückzogen. Es waren Männer, mit denen er zahlreiche Jahre gemeinsam studiert und die er ob ihrer größeren Erfahrung verehrt hatte. Rechts konnte er gerade noch Tazis schlanke Gestalt ausmachen, so schwer hingen dort die Schatten. Er wußte jetzt, daß sie und ihr Begleiter nicht die schreckliche Gefahr darstellten, die man ihm versucht hatte einzureden. Nachdem er noch einen Herzschlag gezögert hatte, rang er sich zu einer Entscheidung durch. Entschlossen eilte er den Gang entlang, in dem sich Tazi und Steorf befanden. Doch er war kaum losgelaufen, als auch schon die Schreie begannen.
Die Kammer lag tief unter dem Besprechungszimmer, das zu betreten er den Gharabs gestattet hatte. Der Geheimnisvolle Lauerer saß hinter einem aufwendig verzierten Steintisch. Er hatte seine Überrobe abgelegt und über einen Diwan geworfen, der an einer Wand stand. Abgesehen von diesen beiden Möbelstücken war der Raum völlig schlicht. Sonst befand sich hier nur noch ein Bücherregal. Aber im Gegensatz zum Besprechungszimmer, in dem die Bücherregale förmlich vor Büchern und Schriftrollen übergequollen waren, befan216
den sich hier nur eine Handvoll Pergamente im Regal. Sie waren alle sorgfältig aufgerollt und zugebunden, nicht so achtlos verstreut wie jene, auf die die Fremden einen Blick hatten erhaschen können. Während er einen weiteren Schluck aus einem Obsidiankelch nahm, fragte er sich kurz, wie weit die Kinder Ibranduls und die Fremden wohl bereits auf ihrer Reise sein mochten. Der Kleriker schüttelte ob seiner grüblerischen Gedanken den Kopf. Er wußte, seine Kinder würden ihn nicht enttäuschen. Er lehnte sich in der Gewißheit zurück, daß die Novizen die beiden genau dorthin führen würden, wo er sie haben wollte, und daß ihre Rolle in all dem erfüllt werden würde. Der Lauerer holte einen kleinen Stapel Pergament aus einer Nische in seinem Schreibtisch und studierte sie sorgfältig. Er rieb sich über die Augen und holte die Kerze auf seinem Tisch etwas näher heran, so daß ihr roter Schein auf das Papier fallen konnte. »Meine Augen sind müde«, sagte er seufzend und legte die Papiere wieder auf den Tisch ab. Der Lauerer ließ seinen Kopf in den Händen ruhen und hörte das leise Rascheln hinter seinem Rücken überhaupt nicht. Eine dunkel gewandete Gestalt trat aus den Schatten an der hinteren Wand. »Müde?« fragte die Gestalt mit seidenglatter Stimme. Der Lauerer wirbelte in seinem Stuhl herum und kniff die Augen zusammen. »Wer ist da?« fragte er. Die geheimnisvolle Gestalt trat ins Kerzenlicht. Ciredor war noch immer dunkel gekleidet, obwohl er sein 217
eng anliegendes Ledergewand gegen die lose fallenden Seidenroben der Mächtigen Calimhafens getauscht hatte. In seiner Kleidung verliefen Stickereien aus Goldfäden und woben ein bizarres Muster, dessen wahre Bedeutung wohl nur ihm bewußt sein mochte. Seine Überrobe schien wie eine Sturmwolke hinter ihm zu treiben, während er auf den Hohepriester Ibranduls zuschritt. »Was machst du denn hier?« fragte der Lauerer, und so etwas wie Furcht hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Ich bin nur hier, um meinen Teil der Abmachung zu erfüllen«, entgegnete Ciredor glatt. Ohne ein weiteres Wort zog er ein zusammengefaltetes Bündel Pergament hervor. Der Lauerer wischte sich über die Lippen und nahm es mit bebenden Fingern entgegen. Er sah dabei aus wie ein Ertrinkender, der sich nach der hilfreich dargebotenen Hand streckte. Er tat sich schwer, das gierige Funkeln in seinen Augen zu verbergen, und war sich sicher, daß seine Begierde auch Ciredor nicht entgangen war. Nachdem er rasch zweimal durch den Stapel geblättert hatte, sah der Lauerer mit kaum verborgener Ehrfurcht zu Ciredor auf. In seiner Stimme lag ein Beben, als er sich erneut an den Nekromanten wandte. »Ich, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es dir gelungen ist, diese Seiten zu finden«, begann er. Ciredor nickte herablassend, doch er machte keine Anstalten zu erklären, wo er die schweren, handgeschöpften Pergamentseiten herhatte. 218
»In den letzten Monaten«, fuhr der Lauerer fort, nachdem er sich sicher wahr, daß Ciredor weiter wortkarg bleiben würde, »hast du die verlorenen Worte Ibranduls mit einem ungeheuren Eifer aufgespürt. Wenn du nicht zu uns gekommen wärst, wer weiß, in wessen Hände diese Seiten vielleicht gefallen wären. Selbst ich wußte nichts von ihrer Existenz.« »Ich bin schon lange ein Diener des Lauerers in der Finsternis«, erklärte Ciredor schließlich. »Es war nicht nur meine Pflicht, sondern die meines Vaters und meines Großvaters, unser Leben der Suche nach diesen Artefakten zu weihen.« »Ich bin leider der erste in meiner Familie, der die Lehren des Fürsten der Trockenen Tiefen lebt«, erklärte der Priester mit gesenktem Kopf. Er fühlte sich in Gegenwart Ciredors, der Ibrandul offenbar mit solchem Eifer diente, beschämt. Der Priester spürte einen eiskalten Finger unter seinem Kinn, mit dem Ciredor seinen Kopf etwas anhob. »Es freut mich tatsächlich«, erklärte er, »eine Sekte der Kinder Ibranduls gefunden zu haben, die meinem Gott so getreulich dient.« Seine Worte klangen aufrichtig und völlig ernst. »Nur in Tiefwasser konnte ich sonst noch Anhänger Ibranduls finden, die seinen Wegen tatsächlich treu waren, und selbst sie können in ihrem Glauben eurem Tempel in keiner Weise das Wasser reichen.« Der Lauerer saß jetzt wieder etwas aufrechter. Sein Selbstwertgefühl war durch das scheinbar aufrichtige Kompliment wieder gestärkt worden. Er glaubte ja tat219
sächlich, seine Novizen seien äußerst fähig und treu im Glauben. Der neu gefundene Stolz ermöglichte ihm zu antworten. »Es ist nur würdig und recht, wenn wir uns als die treusten Diener Ibranduls erweisen. Immerhin ist Calimshan die Heimat Ibranduls. Er hat sich aus unserer Wüste erhoben.« Er wollte auch keine andere Gruppe von Anhängern Ibranduls beleidigen, und es war ihm auf einmal bewußt, daß Ciredor zu einer dieser anderen Gruppen gehören mußte, so daß er hastig hinzufügte: »Natürlich sind die anderen Sekten auch getreulich und eifrig in ihrem Glauben, doch wir leben im Herzen des Mysteriums.« Der Lauerer musterte Ciredor aufmerksam, um sich zu vergewissern, ob er seinen Gönner nicht vielleicht doch irgendwie verärgert hatte, doch statt dessen breitete sich langsam ein befriedigtes Lächeln auf dem Gesicht des Nekromanten aus. »Du hast recht. Unser Herz liegt in der Calimwüste.« Der Lauerer war erleichtert, daß er Ciredor nicht beleidigt hatte. Dennoch wußte er mit seiner kryptischen Bemerkung über das Herz nicht viel anzufangen. Der Lauerer dachte, der Magier könne wohl gemeint haben, daß ihr Ursprung in der Wüste lag, doch er wollte es nicht erneut riskieren, das Falsche zu sagen, oder jetzt gar anfangen, an der Wortwahl Ciredors herumzudeuteln. Um sich noch zusätzlich in ein gutes Licht zu setzen, berichtete er detailliert über sein Zusammentreffen mit Tazi und Steorf, da er sicher war, daß der Ausgang 220
des Ganzen Ciredor erfreuen würde. »Diese Fremden sind zu uns gekommen, wie du es vorausgesagt hast«, erklärte er dem Magier enthusiastisch, begierig, ihn zufriedenzustellen. Erstmals in diesem Dialog sah er so etwas wie ein aufgeregtes Funkeln in den schwarzen Augen des Magiers. »Wirklich?« fragte Ciredor gespannt. »Die zwei aus Selgaunt und die Calishitin kamen vor wenigen Stunden zu uns«, stellte der Priester klar. Das Interesse, das Ciredor jetzt zeigte, spornte ihn sichtlich an. »Waren sie, wie ich sie beschrieb?« fragte der Magier vorsichtig. »Sobald die Frau mit dem kurzen schwarzen Haar von den heiligen Schriften hörte, eilte sie sofort zum Buch.« »Genau wie ich es vorhergesagt hatte«, stimmte Ciredor mit einem mildtätigen Unterton zu. »Was dann?« »Einer meiner jüngsten und zugleich besonders emsigen Novizen hinderte sie daran, die verlorenen Handschriften zu berühren. Erst dann ließen sie die Maske wirklich fallen.« »Wie das?« erkundigte sich Ciredor. »Der muskulöse junge Begleiter der Frau versuchte, das Kind Ibranduls mit magischen Mitteln anzugreifen. Natürlich«, fügte der Priester hastig hinzu, erfreut darüber, daß sein Sponsor seinem Bericht offensichtlich so begeistert folgte, »hatte er keine Chance.« »Nicht in diesem Heiligtum«, stimmte Ciredor zu. »Wie ist die Sache ausgegangen?« 221
»Diese Bestie begann, über den Novizen herzufallen – einen Gegner, der viel schwächer war als er selbst.« Der Lauerer schüttelte angewidert den Kopf. »Der Mann wurde so grob und brutal, daß ihn seine eigene Gefährtin von seinem Opfer zerren mußte.« »Sie haben sich tatsächlich nicht geändert«, kicherte Ciredor, und der Lauerer war sich nicht sicher, ob die Bemerkung für ihn bestimmt gewesen war oder ob der Magier nur laut gedacht hatte. »Das Weib hat sich dann auch noch verraten und zugegeben, daß es mehrere Schriftrollen mit sich führte, die es dir gestohlen hat.« Ciredor nickte bedächtig, als er das hörte. »Das ist das einzige, was mir Sorgen macht«, fügte der Priester hastig hinzu. »Ich bin nicht sicher, ob wir diese Schriftrollen werden bergen können.« »Warum nicht?« fragte Ciredor, doch der Lauerer stellte zu seiner Erleichterung fest, daß ihn dieses Geständnis nicht allzusehr aufzuregen schien. »Diese Muzha-Dahyarifs sind bereits auf dem Weg in einen Tod, der ihnen gebührt. Mehrere Kinder Ibranduls, unter ihnen auch der Novize, den der junge Magier so übel zusammengeschlagen hat, führen sie gerade jetzt in eine Falle, die tief in den Tunneln der Muzad liegt. Dort werden sie herausfinden, was es bedeutet, Ibrandul zu verraten.« »Daran habe ich keinen Zweifel«, stimmte Ciredor salbungsvoll zu, »und mach dir keine Sorgen wegen der Schriftrollen. Wenn ich darüber nachdenke, habe ich vielleicht noch irgendwo Abschriften davon. Doch was 222
ist mit der Calishitin?« fragte er, und der Lauerer hatte den Eindruck, er klinge nun fast begierig. »Sie ist in Sicherheit, Gebieter!« beruhigte ihn der Priester. »Wir konnten sie sofort von ihren Gefährten aus fremden Landen trennen. Sie befindet sich in einer Kammer unter unserer Haupthalle.« »Fabelhaft!« »Sie ist sehr gefügig gewesen, seitdem wir sie von ihren Gefährten trennen konnten«, merkte der Lauerer an. »Außerdem kennt sie einige Kinder Ibranduls noch aus ihrer Jugend.« Ihn selbst hatte diese Entdeckung überrascht. »Warum seid ihr darüber so verblüfft?« fragte Ciredor, dem wieder einmal nichts entgangen war. »Ich bin erstaunt darüber, daß sich eine Calishitin so leicht in die Irre führen ließ«, gestand der Priester ein. »Diese junge Frau könnte eine von uns sein, und dennoch ist sie in ihrer Gesellschaft gereist.« »Ihr müßt verstehen«, erläuterte Ciredor leichthin, »daß diese zwei Selgaunter sehr überzeugend sein können. Fannah reiste vor einiger Zeit mit mir nach Sembia, um dort gemeinsam nach den verlorenen Worten zu suchen, als wir getrennt wurden. Sie geriet in eine nicht besonders ernstzunehmende Gefahrensituation, und diese Thazienne nutzte ihre Lage gnadenlos aus.« »Was ist geschehen?« fragte der Lauerer. So ausführlich hatte ihm sein Gönner noch nie etwas erklärt, und er war von der Geschichte fasziniert. »Tazi fiel Fannah in der Menschenmenge sofort auf. Sie war augenscheinlich eine Fremde und mit den gieri223
gen und kaufmännischen Bräuchen der Selgaunter nicht vertraut. Sie heuerte eine Handvoll ihrer verkommenen Gefährten an. Diese sollten Fannah ›angreifen‹, so daß sie ihr zu Hilfe eilen und sie retten konnte. Obwohl Fannah eine sehr kluge, aufmerksame junge Frau ist, ist sie dennoch noch zu vertrauensselig.« »Ich bin sicher, das wird sich noch bessern. Wenn sie erst einmal mein Alter erreicht und ebenso lebenserfahren ist wie du oder ich, wird sie viel weiser und abgeklärter sein.« Ciredor lächelte angesichts dieser Theorien des Priesters breit, und der Lauerer freute sich insgeheim darüber, daß er es endlich geschafft hatte, so etwas wie eine gemeinsame Basis mit dem Mann zu erreichen, der den Glauben und die Anbetung Ibranduls für immer verändern und prägen würde. »Doch entschuldige bitte, ich habe dich in deiner Erzählung unterbrochen«, erklärte der Lauerer. »Meine Geschichte ist bereits fast zu Ende. Fannah, reinen Herzens wie sie ist, empfand Tazi gegenüber große Dankbarkeit. Soweit ich die Geschehnisse nachträglich rekonstruieren konnte, versicherte sich Thazienne der Hilfe ihres gedungenen Magiers, um Fannahs Verstand zusätzlich durch den Einsatz finsterer Magie zu verwirren, so daß sie den beiden unabsichtlich das Versteck etlicher Schriftrollen enthüllte, die wir vor den gierigen Händlern Selgaunts in Sicherheit zu bringen vermochten.« Der Lauerer zischte empört auf, als er das hörte. »Ich weiß, es ist grauenvoll, nur darüber nachzuden224
ken«, stimmte ihm Ciredor zu, »und diese Thazienne hätte nur allzu gerne all unsere heiligen Schriften in ihre gierigen Klauen gebracht. Ich bin sicher, daß sie schon klingende Münzen und wertvolle Edelsteine von unschätzbaren Wert vor ihrem inneren Auge sah, als sie die Sammlung auf dem Podest erspähte.« »Das wird nie geschehen«, versprach der Lauerer entschlossen, und Ciredor mußte erneut lächeln. »Ihr habt es schlau angestellt, die heiligen Schriften zu schützen, ohne ihr Mißtrauen zu erregen. Jetzt müssen wir nur noch auf die Verkündung der Schatten warten, die weniger als einen Zehntag vor uns liegt«, erklärte der Magier. »Die Nacht des Neumondes«, stimmte ihm der Lauerer ehrfürchtig zu. »Genau. Die Zeit, in der auch das Land an der Oberfläche in tiefste Schwärze getaucht ist ...« »Die Nacht, in der wir Ibranduls Versprechen feiern, das obere und das untere Land in totale Finsternis zu tauchen«, vollendete der Priester für Ciredor. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, wenn er an das bevorstehende Ritual dachte. »Fannah mag sich von ihren Wurzeln entfernt haben«, fügte Ciredor hinzu, »aber dennoch wird sie eine entscheidende Rolle bei der Verkündung der Schatten spielen. Ich würde es vorziehen, wenn ihr dafür sorgt, daß sie die Zeit bis dahin in Klausur verbringt.« »Willst du sie nicht sehen?« fragte der Lauerer. »Ich würde es vorziehen, wenn sie etwas Zeit für sich selbst hätte«, erläuterte ihm Ciredor. »So kann sie sich 225
eventuell aus eigener Kraft von dem finsteren Einfluß lösen, den die Sembiten auf sie hatten. Jetzt, umgeben von den bekannten Gerüchen und Gefühlen ihrer Heimat. Ich denke, sie wird auch ohne magische Intervention wieder zu Sinnen kommen.« »Alles wird geschehen, wie du es wünscht«, versicherte ihm der Priester eilfertig, und Ciredor mußte ob dieser Zurschaustellung lächeln. »Instinktiv spürte ich bereits, als ich dich zum erstenmal traf, daß ich das wahre Zuhause für Ibranduls verlorene Worte gefunden hatte. Diese Verkündung der Schatten wird wie keine andere je zuvor sein.« »Wirst du uns dann aus den Schriftrollen lesen und uns Ibranduls Worte verkünden?« fragte der Priester den Magier, und es schien fast, als bettle er darum. »Das werde ich tun und noch so viel mehr ...«, versprach Ciredor.
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Die tiefsten Tunnel
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leib in meiner Nähe«, flüsterte Tazi. Das beinahe völlige Dunkel im Tunnel machte sie vorsichtig. Sie tastete sich zögernd an der Mauer entlang. »Ich bin direkt neben dir«, antwortete Steorf. »Sind die Kinder Ibranduls hinter uns?« Noch bevor Tazi antworten konnte, sah sie, wie sich ein großer Schatten vor ihnen durch die Dunkelheit schlängelte. Tazi spürte, wie etwas Behaartes über ihre ausgestreckte Hand streifte. Sie erstarrte mitten im Schritt und hielt die andere Hand schützend vor Steorfs Brust, um ihm zu bedeuten, ebenfalls nicht weiterzugehen. »Hier ist etwas«, flüsterte sie warnend. »Dann wollen wir mal sehen, wie gut meine Magie hier unten wirkt«, erwiderte Steorf, und es klang fast wie ein Knurren. Er schüttelte Tazis Hand ab und hob beide Hände. Tazi erkannte am Klang seiner Stimme, daß er richtiggehend froh war, seine Kräfte wieder einsetzen zu kön227
nen. Ein paar Worte kamen über seine Lippen, und ein strahlend helles Licht umhüllte gleich darauf seine Hände. Das Licht strömte förmlich aus seinen Fingern in den Tunnel hinein, bis dieser so hell erleuchtet war, als ob hier tief unter der Erde gerade die Morgensonne aufgegangen wäre. Das gleißende Licht, das von Steorfs Händen ausging, zeigte ihr, daß der Tunnel von ihrem jetzigen Standort noch ungefähr fünfzehn Meter weiterging. Der Fels war unauffällig. Man hätte also sagen können, es gebe eigentlich nichts, was diesen Tunneln von den anderen unterschied, die sie bisher durchschritten hatten, wären da nicht seine Bewohner gewesen – verdammt große Bewohner. Ein paar Schritte vor Tazi und Steorf krabbelte ein Dutzend Spinnen umher. Jede der Bestien war ungefähr so breit wie Steorf groß. Einige von ihnen huschten am Boden umher, andere hingen an den Mauern und der Decke. Doch das war noch keineswegs das Ende ihrer Schwierigkeiten. Tazi mußte voller Erstaunen mit ansehen, wie sich etliche der größten Spinnen direkt vor ihren Augen in Drow verwandelten. Eine davon stellte eine Art Hybrid aus Spinne und Drow dar. Ohne Vorwarnung fiel das Rudel über sie her. Tazi wandte sich schreiend ab und rannte vor der nächsten Spinne davon. Aus dem Augenwinkel sah sie, daß Steorf angesichts ihrer panischen Flucht schockiert und ungläubig dreinschaute. Doch darüber konnte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Eine der größten 228
Spinnen kam ihr nach. Genau das hatte sie gehofft und geplant. Sie war erst einige Meter weit gekommen, als es so aussah, als stolpere und falle Tazi. Die Spinne stürzte sich sofort auf sie. Tazi schlug am Boden auf, rollte sich zusammen und kullerte nach vorne. Gleichzeitig holte sie das Stilett aus ihrem rechten Stiefel. Die Spinne landete genau in dem Moment auf ihr, in dem Tazi sich fertig abgerollt hatte. Dadurch befand sie sich mit gezücktem Stilett genau unter dem Bauch des Monsters. Sie nutzte den Schwung ihrer Bewegung aus, um die Klinge tief in den Bauch der Spinne zu treiben und durch ihren Körper zu ziehen. Schwarzes Blut strömte aus der Wunde, und Tazi erkannte instinktiv, daß diese widerwärtige Flüssigkeit vermutlich ebenso tödlich wie die Spinne selbst war, wenn nicht sogar noch tödlicher. Tazi entfernte sich hastig von dem zuckenden Monster und warf dabei ihr besudeltes Stilett von sich. Dann zog sie mit einem wilden Schrei ihre sembitischen Schutzklingen. »Eine weniger«, rief sie Steorf triumphierend zu. Es blieb allerdings keine Zeit, sich gegenseitig zu gratulieren, da beide gleich darauf in einen wilden Kampf verstrickt waren. Tazi fand sich von drei Spinnen umringt, und Steorf mußte sich mit mehreren Drow herumschlagen. Tazi hielt ihre rechte Schutzklinge abwehrend in Richtung zweier Spinnen und streckte die linke so in die Luft, daß sie sie wie einen Wurfspeer hielt. Mit einer 229
weit ausholenden Gebärde warf sie die Waffe und nagelte die dritte Spinne direkt an die Wand. Das riesengroße Ungeziefer kreischte gepeinigt auf und wand sich hin und her, konnte sich aber nicht befreien. Die Spitze von Tazis Klinge hatte sich in einer Lücke im Fels verkeilt. Die Notschreie der Spinne wurden immer spitzer und panischer, während ihr eigenes Gewicht sie nach unten zog, während die Klinge selbst unverrückbar im Fels steckte. Das Spektakel endete abrupt, als das Schwert ihren Kopf zerteilte. Es fiel Tazi nicht schwer, mit den anderen beiden Spinnen kurzen Prozeß zu machen. Vermutlich stellen sie nur die Vorhut dar, dachte sie sich und sollte recht behalten. Sie sah, daß Steorf mit den Drow alle Hände voll zu tun hatte. Es gelang ihm, die vorderste der Drow zu packen. Er schlug ihr mit der flachen Hand mitten ins Gesicht. Tazi wunderte sich, daß er seine Fäuste und nicht seine Zauber einsetzte. Vielleicht will er nicht den gleichen Fehler machen wie beim Kampf mit dem Hund, oder vielleicht genießt er es einfach, so zu kämpfen, dachte sie. Wie im Tempel Ibranduls hörte Tazi das Krachen von Knochen. Als sie allerdings sah, daß die Drow tot umfiel, war sie doch verblüfft. Sie erkannte, daß Steorf die Drow mit solcher Wucht getroffen hatte, daß es ihr das Nasenbein direkt ins Gehirn getrieben hatte. Er wandte sich zu einem weiteren Drow und warf ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, daß sein Schädel brach. Der dritte Drow erwies sich als schwerer zu packen. Er 230
tänzelte außerhalb der Reichweite seines menschlichen Gegners herum. »Auch gut«, zürnte Steorf und entfesselte einen magischen Blitz. Der Blitzschlag fuhr durch den Drow hindurch und sprengte einen Teil der Wand hinter dem Dunkelelfen weg. Steorf mußte mit ansehen, wie die Gestalt vor ihm einfach verblaßte. Dann traf ihn eine Energiewelle von hinten am Schädel. Er drehte sich um und sah, daß der gleiche Drow jetzt hinter ihm stand. »So«, rief er, »du kennst also auch ein paar magische Tricks, was?« »Ich kenne mehr als genug, um Nieten wie euch zu töten«, versuchte ihn der Drow zu provozieren. »Das werden wir ja sehen«, antwortete Steorf grimmig, während er sich das Blut aus dem Gesicht wischte, das in einem dünnen Rinnsal aus einem Mundwinkel lief. Tazi wollte ihm schon zu Hilfe eilen, als sich weitere Spinnen vor ihr zu Boden fallen ließen. »Ihr denkt wohl, ihr könnt mich aufhalten, ihr dummen Tiere«, spottete sie. Sie schlug nach einer Spinne, und diese starb praktisch augenblicklich. Doch als sich Tazi den anderen beiden zuwandte, erkannte sie, daß die Tote durch ihr Opfer nur ihren Kameraden Zeit gekauft hatte. Die anderen beiden verwandelten sich vor ihren Augen in Drow. Dann zückten die Dunkelelfen ihre Klingen. Tazi wußte, daß der Kampf jetzt richtig ernst wurde. Sie fand, jetzt müßten die Kinder Ibranduls eigentlich endlich mal eingreifen, um für etwas ausgewogenere 231
Kräfteverhältnisse zu sorgen, und fragte sich gleichzeitig, wo sie eigentlich steckten. Es konnte doch nicht sein, daß sie in Wirklichkeit so inkompetent waren, daß sie es nicht wagten, sich in diesen Kampf einzumischen!
Weder Tazi noch Steorf konnten Ashraf sehen, der den Tunnel entlang in ihre Richtung gelaufen kam. Doch ehe er die beiden erreichte, stellte sich ihm bereits eine Hybridkreatur in den Weg. Das Wesen ragte höher auf als Ashraf und verfügte über zwei Augenpaare. Eines der Augenpaare befand sich dort, wo man es bei einem normalen Menschen erwartet hätte, und das andere saß weiter oben in Höhe der Schläfen. Die Kreatur verfügte nicht nur über zwei menschliche Arme, sondern auch über drei Paar Spinnengliedmaßen, die an seiner Seite verliefen und tiefer unten entsprangen als die menschlichen Arme. Jeder Finger an den acht Händen verfügte über ein zusätzliches Gelenk und voll funktionsfähige Spinndrüsen. Gefährliche aussehende Fangzähne standen aus dem menschlichen Mund hervor und schnappten drohend. Die Kreatur versuchte, Ashraf daran zu hindern, weiter in den Tunnel vorzustoßen, und griff ihn nicht direkt an. Eine Mischung aus Klicken und Stöhnen kam aus dem dunkelelfischen Kopf, während das Monster die Spinnenarme ausbreitete und dem Kind Ibranduls so den Weg versperrte. Ashraf täuschte zur linken Seite an und versuchte dann, an dem Mischwesen aus Drow 232
und Spinne vorbeizuschlüpfen, doch einer seiner Arme verfing sich in den haarigen Klauen des Hybriden. Voller Panik zog Ashraf seinen Krummsäbel und hackte drei der klauenähnlichen Hände ab, die ihn am linken Arm gepackt hatten. Die Kreatur schrie vor Schmerz und Wut auf und stürzte sich auf Ashraf. Das Kind Ibranduls hatte jedoch inzwischen seine Furcht überwunden und köpfte die Bestie mit einem einzigen entschlossenen Streich. Er riß sich zwei der Klauen herunter, die noch immer an seiner Robe klebten, und rannte dann weiter, um Tazi und Steorf zu Hilfe zu eilen.
Tazi hatte die Verschlagenheit der beiden Drow unterschätzt. Es gelang ihnen, sie langsam, aber sicher von Steorf wegzulocken. Während einer der Drow mit seiner Klinge attackierte, schlüpfte der andere hinter sie, verwandelte sich wieder in eine Spinne und begann, hastig ein Netz quer über den Tunnel zu spinnen. Sobald der Drow sah, daß sein Gefährte genügend Fäden gesponnen hatte, ließ er die Waffe fallen. Tazi war nicht sicher, warum der Drow das getan hatte, wollte sich aber die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Sie spießte ihn mit einer eleganten Bewegung auf und wandte sich Steorf zu. Doch als sie eilig in seine Richtung lief, verfing sie sich in dem geschickt plazierten Netz. Sie war gefangen. Wo sie das Netz berührte, egal ob mit Haut oder 233
Kleidung, klebte sie fest. »Verdammt«, schrie sie ihre Frustration und ihren Zorn hinaus. Je mehr sie gegen das Netz kämpfte, desto mehr verstrickte sie sich darin. Sie hatte noch immer ihre Schutzklinge in der rechten Hand, doch das nutzte ihr nicht viel. Durch die Lücken im Netz konnte sie erkennen, daß Steorf in ein tödliches Duell mit dem magisch begabten Drow verstrickt war und zu verlieren drohte. Sie zog noch härter an den Spinnweben, die stark wie Stricke waren. Alles, was sie damit erreichte, war, ihre Kräfte noch weiter zu vergeuden. Tazi stand kurz davor, vor Frustration in Tränen auszubrechen. Sie war hilflos und mußte mit ansehen, wie Steorf starb. Plötzlich hörte sie ein zwitscherndes Geräusch über sich und legte den Kopf in den Nacken, so gut dies angesichts ihrer Lage möglich war. Der Drow, der sich in eine Spinne verwandelt hatte, seilte sich gerade an einem Spinnwebfaden, der etwa so stark wie ihr Daumen war, auf sie herab. Wie die Kreatur so über ihr hing, konnte Tazi ein gebrochenes Spiegelbild ihrer selbst in den zwei dunklen Kugeln ausmachen, die die Augen der Bestie darstellten. Erneut bäumte sie sich hilflos in den seidenen Fesseln auf. Jetzt konnte sie die Fänge bereits schnappen hören, und ein mit struppigem Haar besetzter Arm drückte ihren Kopf gegen das Netz. »Mach endlich Schluß!« schrie sie die Kreatur an und schloß die Augen. Sie spürte einen scharfen Schmerz, als die spitzen 234
Zähne in ihren Hals drangen, und von der Wunde begann sich eine unerträgliche Hitze auszubreiten. »Tazi!« Es war Ashrafs Stimme, die da plötzlich aus dem Nichts erklang. Gleich darauf begann er, auf das Netz einzuhacken, in dem sie gefangen war. Tazi spürte, wie ihr Schwertarm freikam, und obwohl sie abgesehen davon noch immer im Netz feststeckte, vergeudete sie keine Zeit. Sie schlug mit der Klinge direkt vor ihrem Gesicht nach oben durch das Netz hindurch, um die Spinne aufzuspießen. Die Spinne fiel kreischend herab und wand sich in Todeszuckungen auf dem Boden. Tazi lächelte voller grimmiger Zufriedenheit, während Ashraf sie endgültig befreite. »Schön, dich zu sehen«, begrüßte sie ihn und gönnte ihm ein kurzes Lächeln. Dann bückte sie sich, um ihre Klinge aus dem Bauch der Spinne zu befreien. Als sie sich wieder aufrichtete, schwindelte ihr. Ashraf erwiderte ihr Lächeln, doch ihm fiel auch gleich auf, daß ihr der Schweiß auf der Haut stand. »Hat dich die Aranea schon gebissen?« fragte er besorgt, während er Tazi eingehend musterte. Tazi erhielt keine Gelegenheit, ihm zu antworten, da bereits eine weitere Spinne auf sie zugehuscht kam. Ashraf befreite Tazi mit einem Ruck von den verbleibenden Fäden und rief ihr zu: »Ich kümmere mich darum. Steorf braucht deine Hilfe.« Tazi zögerte. Ihre Kehle fühlte sich seltsam an – zugleich irgendwie taub und heiß brennend. Sie rieb gedankenverloren an der Verletzung, die die Spinne ihr 235
zugefügt hatte, und versuchte, sich zu sammeln. Nein, keine Spinne, eine »Aranea«, was immer das sein mag, korrigierte sie sich selbst. Ich frage mich, ob Steorf über diese Biester Bescheid weiß? Der Name des Magiers schien in ihrem Kopf dröhnend widerzuhallen, und sie begann sich zu fragen, wie sie seine Zwangslage hatte vergessen können. Sie wandte sich zu dem Bereich des Stollens, wo der Kampf tobte. Der Drow hatte Steorf offenbar niedergerungen und hob gerade sein Schwert, um den tödlichen Streich zu führen. »Nein!« schrie Tazi, und es war ein Schrei, der sich aus den Tiefen ihrer Seele entrang. Sie stürmte, so schnell ihre Füße sie trugen, auf den Drow los und erschrak darüber, wie unsicher sie sich bereits fühlte, weil das Gift seine Wirkung zu entfalten begann. Ich kann einfach nicht glauben, daß mir dieser kleine Kratzer so zusetzt, dachte sie.
Steorf hatte seine Fähigkeiten stärker ausgeschöpft als je zuvor. Der Drow hatte jeden seiner Zauber gekontert und ihn letztlich zu Boden gezwungen. Jetzt, im endgültigen Todeskampf, stellte der junge Magier verblüfft fest, wie sich sein Geist auf einmal mit völlig unwichtigen Details befaßte. Offenbar war er nicht bereit, das bevorstehende Ende zu akzeptieren, auch wenn sich sein Körper schon in sein Schicksal 236
gefügt hatte. So fiel ihm beispielsweise auf, daß auf der Tunika des Drow eine schwarze Scheibe mit violettem Rand prangte. »Was ist das für ein Zeichen?« flüsterte er, während ihn das Zauberschild des Drow unerbittlich zu Boden drückte. Auf einmal fiel ihm auf, daß er es bei jedem Drow und allen Spinnen gesehen hatte. »Sieh es dir nur an, es ist das letzte, was du je sehen wirst«, spie ihm der Drow verächtlich ins Gesicht. Mit einem heimtückischen Feixen hob er das Schwert hoch empor. »Das bezweifle ich«, mischte sich Tazi ein. Selbst in dem miserablen Zustand, in dem er sich selbst befand, hörte er die Schwäche in ihrer Stimme. Der überraschte Drow konnte nur entsetzt nach unten starren und mit ansehen, wie die Schutzklinge von hinten seine Brust durchstieß. Sie hatte sie mit einem einzigen Streich mitten durch sein Herz getrieben. Dem Drow blieb gerade noch genug Zeit, seinen Kopf beim Klang ihrer ärgerlichen Stimme leicht zu wenden und in ihre unheilvollen, meergrünen Augen zu blicken, bevor er wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte. Der Drow schlug mit solcher Wucht auf dem Boden auf, daß er Tazis Klinge beinahe wieder rückwärts aus seinem Leib getrieben hätte. Nach seinem Tod fielen die magischen Fesseln, die ihm der finstere Magier angelegt hatte, von Steorf ab. Dieser blickte dankbar zu Tazi empor. »Wird ja auch Zeit, daß du dich blicken läßt«, neckte er sie. 237
Er streckte ihr im Scherz die Hand hin, als benötige er ihre Hilfe, um aufzustehen, doch Tazi antwortete ihm nicht einmal. Jetzt sah er auch, daß sie stark schwitzte. Steorf vertrödelte keine Zeit mehr mit Spielchen, sondern kam eilig auf die Füße. Tazi sah zuerst alles doppelt, dann tanzten die Dinge in ihrem Gesichtsfeld umher und vervielfachten sich weiter. Kurz darauf begann alles zu verschwimmen. Sie spürte, wie sie schwankte, und wußte, daß es völlig nutzlos war, dagegen anzukämpfen. Erfolglos versuchte sie, die Schleier fortzuwischen. »Steorf«, lallte sie und versuchte, mit der anderen Hand nach ihm zu greifen. Ehe sie ihn zu fassen bekam, sackte sie wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte, zu Boden. Steorf konnte Tazi gerade noch auffangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Er hielt sie in den Armen und legte sie ganz vorsichtig nieder. »Tazi!« rief er verzagt, während er neben ihr niederkniete. Sie reagierte weder auf seine Stimme noch auf seine sanften Versuche, sie wachzurütteln. Sie war jetzt schweißgebadet, und Zuckungen durchliefen ihren Leib. Steorf fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippe und tastete ihren Körper nach Verletzungen ab, konnte aber nichts Ernstes finden. Ihre Lippen waren weiß geworden, und sie fiel in tiefe Bewußtlosigkeit. Ihr Atem ging so flach, daß man ihn kaum noch wahrnehmen konnte. Steorf, der nicht wußte, wie er ihr helfen konnte, 238
nahm sie in die Arme und wiegte sie sanft hin und her. Dadurch fiel ihr Kopf gegen seine Brust. Ihr Hals wurde sichtbar, und er konnte die Ursache ihres Zustandes erkennen. Direkt unter ihrem Kinn befand sich eine kleine, entzündete Wunde, und er erkannte, daß eine der Spinnen sie gebissen haben mußte. Er umfaßte ihre Schulter mit einem Arm und legte die andere Handfläche auf die Wunde. »Ich werde nicht zulassen, daß du mich verläßt«, murmelte er. Steorf warf noch einen Blick auf ihr leichenblasses Gesicht und schloß die Augen. Während der Tage, die zwischen der Entdeckung von Ebeians Leiche und ihrer Reise durch das Portal vergangen waren, hatte Steorf wie ein Verrückter Magie studiert. Er hatte die umfangreiche Sammlung von Zaubern, über die seine Mutter verfügte, gesichtet und soviel Nützliches wie möglich gelernt, bevor sie Selgaunt verlassen hatten. Obwohl er sein Wissen beträchtlich erweitert hatte, hatte er etliche der neuen Zauber noch nie in der Praxis erproben können. Es fehlte ihm also noch an den entsprechenden Fertigkeiten in ihrer Anwendung. Was er versuchte, war nicht erprobt, doch er wußte, ihm blieb keine andere Wahl. Steorfs Hand wurde zuerst weiß und verdunkelte sich dann rasch, während er Tazis Körper das Gift entzog. Das verletzte Fleisch in ihrem Hals begann sich unter seiner Berührung zu schließen, bis keine Spur mehr von der kleinen Verletzung zu sehen war. 239
Steorf öffnete langsam die Augen und sah Tazi gespannt an. Ihre Augen waren noch immer geschlossen, doch er sah, daß sich ihr Brustkorb jetzt in gleichmäßigen Zügen hob und senkte. Ein frischer Schein begann sich langsam wieder über ihre kalkweißen Lippen zu verbreiten. Steorf strich ihr zärtlich eine Strähne kohlrabenschwarzen Haars aus den Augen und hielt vor Anspannung unbewußt den Atem an. Kurz darauf riß Tazi panisch die Augen auf und begann, vor Verwirrung um sich zu schlagen. Steorf schaffte es mühelos, ihre Hände mit einer der seinen zu packen und festzuhalten, und redete beruhigend auf sie ein. »Es ist alles in Ordnung, mein Herz«, murmelte er. »Was ist geschehen?« fragte Tazi, nachdem sie sich etwas gefangen hatte, zitternd. »Ich denke, die Anstrengungen des Kampfes haben dich einfach nachträglich überwältigt«, meinte er leichthin, doch sein Tonfall strafte seine Worte Lügen. Tazi sah, daß sich die Sorge um sie noch immer tief in sein Gesicht gegraben hatte. »Es war wohl ein wenig mehr als das«, antwortete sie. Ihre Stimme wurde mit beinahe jedem Wort fester und sicherer. »Ich denke, ich war schon tot.« »Das würde ich nie zulassen«, sagte Steorf nur. Sie sahen einander einige Zeit schweigend in die Augen. Steorf erkannte, daß sie ihre Kraft rasch zurückerlangte. Er ließ ihre Hände los und stand auf. Dann half er ihr ebenfalls hoch. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie sicher auf den Füßen stand, ließ er sie los. 240
»Du mußt mich nicht die ganze Zeit wie ein Falke mustern«, schnappte Tazi, nachdem sie bemerkt hatte, daß er beobachtete, wie sie ihre Gliedmaßen streckte. »Nicht?« fragte er. Sie hatte die Auswirkungen des Gifts dank Steorfs Hilfe inzwischen fast vollständig abgeschüttelt. Jetzt musterte sie ihn mißtrauisch. Er wirkte verdammt müde, und sie erkannte, daß, was immer er auch getan haben mochte, um den Giftstoff aus ihrem Körper zu ziehen, ihn an seine Grenzen geführt hatte. Erneut hatte er eine seiner Stärken gezeigt, von denen sie bisher nicht gewußt hatte, daß er über sie verfügte. Der Tunnel war jetzt bei weitem nicht mehr so hell erleuchtet wie zuvor, und Tazi wurde klar, daß dies an der Schwäche Steorfs liegen mußte. Sie strich ihm ein paar seiner widerborstigen blonden Locken aus den Augen und ahmte damit unbewußt seine Geste von zuvor nach. »Vielleicht sollte ich dich besser im Auge behalten«, sagte sie sanft. Ashraf hatte den letzten Gegner erledigt und stand schwer keuchend im Gang. Er sah, wie Steorf Tazis Hand umfaßte. Offenbar hatte sich die Sembitin dank der Heilung durch ihren Magier vollständig erholt. Er war so fasziniert davon, was sich zwischen den beiden abspielte, daß er vergaß, auf seine Umgebung zu achten. Eine Aranea in Spinnengestalt, die sie alle drei aus den Augen verloren hatten, näherte sich Ashraf von hinten und kletterte dann hinter ihm die Felswand empor. Sobald die Spinne an der Höhlendecke direkt über ihm war, ließ sie einen seidenen Spinnwebfaden drei Meter 241
weit nach unten, so daß der dicke Strang direkt hinter Ashrafs Nacken baumelte. Dann wartete die Kreatur geduldig, bis das Unvermeidbare geschah. Sie mußte nicht lange warten. Ashraf trat einen Schritt rückwärts und besiegelte sein Schicksal. Sobald er den Faden streifte, klebte sein Nacken unlösbar daran fest. Instinktiv wirbelte Ashraf herum, um zu sehen, was ihn davon hinten gepackt hatte, und verschlimmerte seine Situation dadurch nur noch. Durch die hastige Bewegung hatte er den Spinnwebfaden fast vollständig um seinen Hals gewickelt. Darauf hatte die Aranea nur gewartet. Sie zog Ashraf an dem Faden so mühelos zu sich empor, als sei er leicht wie eine Feder. Tazi und Steorf, die sich noch von den Nachwehen des Kampfes erholten, bemerkten von all dem nichts. Als er dem fangzahnbewehrten Scheusal plötzlich mitten ins Antlitz starrte, stieß er ein verzweifeltes Stoßgebet aus: »Ibrandul, rette mich vor dieser Bestie!« Trotz seiner Verzweiflung schien das Gebet nicht die Aufmerksamkeit seiner Gottheit erregt zu haben, denn es geschah schlicht und einfach gar nichts. Zum Glück hatte Tazi jedoch seinen Aufschrei gehört und wirbelte herum. Sie mußte voller hilflosem Schrecken mit ansehen, wie die Spinne Ashraf mit ihren zahlreichen Beinen umfaßte und sich in seiner Schulter verbiß. Ashraf zischte vor Schmerz auf, und Tazi eilte zu dem toten Drow, um ihre Schutzklinge aus seinem Leib zu ziehen. Steorf hatte sich inzwischen ebenfalls soweit erholt, 242
daß ihm Ashrafs Notlage auffiel. »Nein!« schrie er, und ein Flammenstrahl schoß aus seinen ausgestreckten Händen. Sobald die Flamme die Aranea berührte, ließ sie Ashraf fallen. Er schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Höhlenboden auf. Die Aranea kreischte panisch auf, als ihre Chitinpanzerung Feuer fing, und fiel kurz darauf ebenfalls von der Decke herab. Die Spinne landete auf dem Rücken und kreischte noch ein paar Augenblicke lang mitleiderregend, während ihre dünnen Beinchen hilflos durch die Luft ruderten. Dann hörten sie auf zu zucken, und die Höhle füllte sich mit dem scharfen Gestank verbrannten Arachnidenfleischs. Tazi wich den vor sich hin schmorenden Überresten der Spinne aus und eilte zu Ashrafs bewegungsloser Gestalt. Steorf folgte ihr. Tazi ging neben Ashraf in die Knie und drehte ihn mit zitternden Fingern auf den Rücken. Seine Augen waren fest zusammengepreßt, und er zitterte ob der Schmerzen, die der giftige Biß verursachte. Tazi hob seinen Kopf sanft an und bettete ihn in ihren Schoß. Sie hatte kaum bemerkt, daß Steorf neben ihr auch in die Knie gegangen war. Er griff nach Ashrafs Schulter und riß die Robe an jener Stelle entzwei, an der die Spinne ihn mit ihrem giftigen Biß verletzt hatte. Tazi verzog bestürzt das Gesicht, als Steorf seine Schulter freilegte und sie sehen mußte, daß diese bereits stark angeschwollen war. Violette Linien, die die Bahnen nachzeichneten, entlang derer sich das Gift in seinem Körper voranfraß, zogen sich auf den Hals, den 243
Kopf und das Herz zu. Sie blickte Steorf mit einem Gefühl der Hilflosigkeit an, während sich Ashraf vor Schmerzen krümmte. Er erwiderte ihren Blick ruhig und musterte dann das verletzte Kind Ibranduls mit grimmiger Entschlossenheit. Sie spürte, was Steorf vorhatte, und wollte keinesfalls, daß Ashraf starb, doch sie befürchtete, angesichts seines angeschlagenen Zustande könnte der Versuch, ihn zu retten, zuviel für Steorf sein. »Steorf«, begann sie, doch dieser schüttelte den Kopf. Mit einer entschlossenen Geste riß er die Robe Ashrafs weiter auf, so daß seine verwundete Seite vollends freigelegt war. Dann legte er dem Schwerverletzten die Hände auf. Ashraf riß die Augen auf, sobald er Steorfs Berührung spürte. Er griff mit einer teilweise gelähmten Hand ängstlich nach Steorfs Handgelenk. »Nicht«, flehte er den jungen Magier an, und in seinen Augen lag ein verzweifelter Ausdruck. »Warum nicht?« fragte Steorf nur. »Weil es so sein soll«, begründete er schwach. »Was?« fragte nun auch Tazi bestürzt. Ashraf versuchte, sie anzulächeln, schaffte es aber nicht. Statt dessen flüsterte er nur heiser: »Das ist meine Strafe, und ich akzeptiere sie bereitwillig.« »Warum solltest du bestraft werden?« fragte Steorf. Seine Stimme klang hart und gequält angesichts der Hilflosigkeit, die er empfand, weil Ashraf seine Hilfe ablehnte. Dennoch hatte er Ashraf während dieser letzten Stunden zu respektieren gelernt, und Tazi erkannte, daß er sich nicht über dessen Wünsche hinwegsetzen und ihn gegen seinen Willen heilen würde. 244
»Weil ich Ibrandul verraten habe«, antwortete Ashraf mit ersterbender Stimme. Tazi strich dem jungen Mann sanft übers Gesicht, und seine Augenlieder flatterten. Er schaffte es, noch einmal zu lächeln. »Ich wollte nicht glauben, daß ihr zwei böse seid«, flüsterte er, und dann tat er seinen letzten, keuchenden Atemzug. Tazi und Steorf knieten erstarrt und schockiert neben ihm und wußten nicht, was sie tun oder sagen sollten. Dann legte Tazi seinen Kopf sanft auf dem Boden ab und stand auf. Steorf blieb noch an der Seite Ashrafs. Er hatte die Beine gekreuzt und den Kopf in den Händen geborgen. Tazi warf noch einen Blick auf Ashrafs Leiche, wirbelte herum und begann unruhig in der Höhle auf- und abzugehen, die nur noch von der verkohlenden Leiche der letzten Spinne sanft erhellt wurde, da Steorfs Lichtzauber inzwischen praktisch verblaßt war. Das Licht reichte gerade aus, um zu erkennen, daß überall auf dem Höhlenboden Aranealeichen herumlagen. Sie trat zu einem Haufen von drei Kadavern und trat wütend auf sie ein. »Das macht auch nichts besser«, versuchte Steorf sie schließlich zu bremsen, als sie nicht damit aufhören wollte. »Es macht auch nichts schlechter«, blaffte sie zurück und trat weiter auf ein zuckendes Spinnenglied ein. »Finsternis und Dunkelheit«, schrie sie anklagend mit zurückgelegtem Kopf zur Höhlendecke empor, »ich dachte, er schützt seine Kinder vor den Monstern in der Dunkelheit.« 245
Schließlich übermannten sie die Ermüdung des Kampfes und ihres Zornesausbruchs doch noch. Sie stürmte zornig zu einer Wand, lehnte sich dagegen und ließ sich langsam daran herunterrutschen, bis sie auf dem Boden angelangt war. Dort saß sie mit angezogenen Knien, die Arme auf die Knie gestützt und die Hände schlaff herunterbaumelnd. Sie hörte, wie ihr Atem in rauhen Stößen ging, spürte, wie ihr Herz so heftig hämmerte, daß es ihre Lederweste zu sprengen drohte, und erkannte, daß keine Anklage oder Tirade dieser Welt etwas besser machen würde. Sie wollte nicht riskieren, Steorfs Heilungsbemühungen wieder zunichte zu machen. So legte sie nur erschöpft den Kopf in den Nacken, so daß er gegen die Höhlenwand stieß, und verfluchte lautlos alle Götter der Welt. Steorf hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt und warf ein: »Wenn ihn sein eigener Gott nicht retten konnte, vielleicht war ihm dann keine Rettung bestimmt.« Tazi schluckte die ärgerliche Erwiderung hinunter, die ihr auf der Zunge brannte. Sie erkannte, daß Steorf ebenso erschöpft wie sie sein mußte und außerdem noch an der schweren Last trug, daß er vielleicht dazu in der Lage gewesen wäre, Ashraf zu retten, wenn ihn dieser nur gelassen hätte. Tazi stand auf und begann erneut, in der Kammer auf- und abzugehen, während sie sich gleichzeitig wie in einem unwirklichen Traum gefangen vorkam. Ihr Blick glitt über Ashraf und dann zu den vielen Aranealeichen. 246
Zögernd machte sich ein Gedanke in ihrem Hinterkopf bemerkbar. »Hier ist etwas nicht richtig«, sagte sie. »In der Dunkelheit gibt es kein gut oder böse«, zitierte Steorf mit einem verbitterten Unterton die Worte des verstorbenen Kindes Ibranduls. »Das ist genau, was ich sagen will«, stimmte sie ihm zu. »Das hier war doch genau die Art von Feinden, gegen die ihn sein Gott hätte schützen müssen. Ashraf war eine der gläubigsten Personen, die ich je in meinem Leben getroffen habe. Man konnte es aus jedem Wort heraushören, wenn er von seinem Glauben sprach.« Sie baute sich vor Steorf auf und zeigte auf Ashrafs leblosen Körper. »Er hätte beschützt werden müssen, aber es geschah nicht«, stellte sie anklagend fest. Tazi war sicher, daß sie auf einer heißen Spur war, und begann, den Tunnel zu durchsuchen. Sie wendete alle Leichen und stellte fest, daß es sich bei all ihren Angreifern um Aranea gehandelt hatte. Diese gigantischen Spinnen konnten sich in Drow oder andere humanoide Kreaturen verwandeln, um ihre Beute zu verwirren, zu täuschen oder einzuschüchtern. Es waren vernunftbegabte Kreaturen, die sicherlich nicht in so großer Zahl einfach zufällig in der Finsternis unterwegs gewesen waren, als sie auf sie stießen. Die ganze Mission irritierte sie, und langsam begannen die Mosaiksteine in ihrem Kopf, ein Bild zu ergeben. »Die anderen beiden Kinder Ibranduls sind nicht hier«, erklärte sie gedehnt. 247
Steorf stand auf und sah sich um. »Ich denke, sie sind uns nicht bis hierher gefolgt«, antwortete er. Tazi ballte ihre Hand zur Faust und schlug ärgerlich gegen die Tunnelwand. »Das haben sie also so lange in der letzten Höhle besprochen«, stieß sie aus. »Diese hinterhältigen Bastarde haben darüber diskutiert, in welche Falle sie uns am besten locken sollen«, vollendete Steorf ihren Gedankengang verbittert. Tazi wurde plötzlich kreidebleich. »Sie haben Fannah! Sie haben uns gleich am Anfang von ihr getrennt«, erkannte sie mit einem Gefühl aufsteigender Panik, »und dann haben sie uns in die Irre geschickt, und wir sind ihren Ratschlägen brav gefolgt.« »Wir werden sie zurückholen«, schwor Steorf, »und selbst, wenn wir dazu über all ihre verwesenden Leichen hinwegsteigen müssen.« Er begann sofort, in die Richtung loszustürmen, aus der sie gekommen waren, doch Tazi packte ihn am Arm und bremste ihn. »Ich denke nicht, daß sie allein schuld sind«, erklärte sie ihm. »Was?« fragte Steorf bestürzt. Der Gedanke, daß sie die Verrätern Schutz nehmen konnte, war ihm unerklärlich. »Bist du sicher, daß du dich schon ganz erholt hast?« »Erinnere dich doch an Ashrafs letzte Worte. Er hat gesagt, er glaubte nicht, daß wir böse seien.« 248
»Ja und?« fragte er weiter. Er war noch immer zu verärgert, um sich die Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken, was sie gesagt hatte. »Das muß bedeuten, daß andere glauben, wir seien böse. Jemand hat sich bei diesen Kindern Ibranduls eingeschlichen und ihnen eine hinterhältige Lügengeschichte aufgetischt, damit er sie für seine Zwecke einspannen konnte«, erklärte sie ihm. »Ich kenne nur einen Mann, der dazu fähig wäre – Ciredor!« »Du denkst, er hat sie manipuliert?« fragte Steorf, der sich langsam ein wenig beruhigte. »Ich weiß es«, erklärte sie ihm mit absoluter Bestimmtheit. Ehe Steorf noch darauf antworten konnte, trat eine Gestalt in grauer Kapuzenrobe aus den tiefsten Schatten der Höhle hervor. Die Gestalt war so groß wie Steorf, doch man konnte keine Einzelheiten ausmachen. Weder Tazi noch Steorf konnten erkennen, ob sie überhaupt menschlich, geschweige denn ob es ein Mann oder eine Frau war. Sie blickten der Gestalt unbewegt entgegen, doch Tazis linke Hand wanderte unwillkürlich zum Heft einer ihrer Schutzklingen. »Wer seid Ihr?« rief sie den Fremden an, als er noch etwa drei Meter weit entfernt war. »Meine Dame«, eröffnete die Gestalt in einer tiefen, sonoren Stimme das Gespräch, »ich bin gekommen, um nach Euch zu rufen.« Der graue Rufer hob langsam einen Arm, der mit rauchfarbenem Stoff verhüllt war, und zeigte direkt auf Tazi. 249
Sie spürte, wie sich Steorf anspannte und zum Angriff bereitmachte. »Was wollt Ihr von uns?« fragte sie, da der Rufer noch keine offensichtlich feindlichen Handlungen vorgenommen hatte. »Meine Dame«, antwortete der Rufer, »indem Ihr das durchschautet, was Euch getäuscht hat, habt Ihr meine Aufmerksamkeit erregt. Ihr seid eine würdige Seele. Ich bin gekommen, um Euch eine Einladung zu überbringen und meine Dienste anzubieten.« »Eine Einladung wozu?« fragte sie und machte einen Schritt von Steorf weg. »Ich bin hier, um Euch zum Dunklen Basar zu geleiten. Natürlich nur, wenn Ihr wollt«, erläuterte der graue Rufer. »Ja, das wäre mir sehr recht«, antwortete Tazi, nachdem sie kurz über die Worte der Gestalt nachgedacht hatte und sich schlußendlich dazu entschlossen hatte, sich auf ihre Intuition zu verlassen. Sie und Steorf traten auf den Rufer zu, doch die Gestalt machte keinerlei Anstalten loszugehen und sie irgendwohin zu führen, sondern blieb einfach stehen. »Die Einladung gilt nur für die Dame«, sagte der Rufer schließlich. Tazi wandte sich an Steorf und nahm seine Hände. »Bleib einfach hier. Ich werde zusehen, daß ich so schnell wie möglich zurückkomme. Du solltest hier sicher sein. Die anderen Kinder Ibranduls denken, wir wären tot, und sind bereits auf dem Weg zurück zu ihrem Tempel.« 250
»Wie kannst du nach dem, was sich gerade zugetragen hat, diesem Ding da vertrauen?« fragte er ungläubig. »Es fühlt sich richtig an«, erklärte sie ihm und ließ seine Hände los. »Vertrau mir.« Dann wandte sie sich an den Grauen Rufer: »Ich bin bereit.« »Hier entlang, meine Dame«, forderte die Gestalt sie auf und zeigte auf das gegenüberliegende Ende der Höhle. Während sie langsam nebeneinander her schritten, wandte sich Tazi an den Rufer und fragte: »Es gibt keine bestimmte Straße oder einen bestimmten Weg, dem man folgen könnte, um den Dunklen Basar zu erreichen, wie es uns die Kinder Ibranduls glauben ließen. Der Weg, den wir jetzt beschreiten, ist der einzige wahre Pfad zum Nachtmarkt, nicht wahr?« Der Rufer nickte nur, und sie versuchte, einen Blick unter die Kapuze zu erhaschen, doch dort konnte sie nur treibende Schatten erkennen. »Nur die, die eingeladen werden, dürfen den Dunklen Basar betreten, um Geheimnis gegen Geheimnis zu tauschen. Nur die, die Täuschungen zu durchschauen vermögen oder sich auf andere Art und Weise würdig erweisen, werden je dazu eingeladen. Eure Instinkte dienen Euch wohl, wenn Ihr bereit seid, Euch auf sie einzulassen.«
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Steorf rang mit sich, ob er ihnen folgen sollte oder nicht, und kam dann zu einer Entscheidung. Er begann, hinter ihnen herzueilen, und hatte es schon fast geschafft, Tazi und ihren Führer einzuholen. »Tazi«, rief er, aber sie drehte sich nicht um. Er griff nach ihrer Schulter, um sie aufzuhalten, doch seine Hand fuhr durch sie hindurch, als bestünde sie nur aus Luft. Dann waren sowohl Tazi als auch der graue Rufer verschwunden.
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Der Dunkle Basar
T
azi glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Der graue Rufer hatte sie nur um eine Kurve im Tunnel geführt, und auf einmal öffnete sich der Tunnel in einen geisterhaften Markt im Zwielicht. Sie blieb abrupt stehen. Tazi hatte den Eindruck, die Höhle sei größer als jede, die sie zuvor gesehen hatte. Irgendwo in der Ferne hörte sie das Tropfen von Wasser. Selbst in ihrem Erstaunen bemerkte sie allerdings, daß etwas mit ihrer Wahrnehmung nicht stimmte. In der gesamten Höhle war die Sicht durch einen leichten Nebel verzerrt, der alles zu bedecken schien. Sie blickte an sich selbst herab und stellte fest, daß ihre halbnackten Arme leicht veilchenblau leuchteten. Der graue Rufer schien nun beinahe schwarz zu sein, und sein Umhang hatte einen roten Schimmer. Von ihrem Standort aus konnte sie das Gemurmel zahlloser Stimmen hören, aber nicht ausmachen, was sie sagten. Sie konnte schemenhafte Gestalten, aber keine Leute erkennen. Tazi war sich bewußt, daß die Grenze zwischen 253
Illusion und Realität an diesem Ort hauchdünn war. »Sind wir angekommen?« flüsterte sie. Der graue Rufer nickte. Tazi begann, sich ihren Weg durch das Labyrinth aus Stalagmiten in die eigentliche Haupthöhle zu suchen. Sie zögerte, die natürliche Steintreppe hinabzugehen. Sie fühlte sich wie eine junge Frau, die ihren ersten großen öffentlichen Auftritt auf einem Ball oder einer Gesellschaft hatte und auf der bei dieser Gelegenheit alle Blicke ruhten. Doch gab es weder eine Fanfare noch gaffende Bewunderer oder gar grausame Neider, die nur darauf warteten, daß sie sich einen Fehler erlaubte, um sich über sie zu amüsieren. Die gedämpfte Natur des Ortes trug zu ihrer Desorientierung bei. Sie konnte zwar ihre eigenen Schritte hören, doch selbst diese schienen fern und verhalten. Manchmal lösten sich kleine Steinchen, und sie wußte, daß sie die Treppe hinunterkullern mußten, doch deren Geräusch konnte sie nicht einmal mehr ausmachen. Lichtfünkchen tauchten manchmal in ihrer Nähe auf und verschwanden sogleich wieder. Hier zu gehen ist fast so, als gehe man allein über ein weites, verschneites Feld, dachte sie. Als Tazi schließlich am Boden der Höhle angekommen war – zumindest nahm sie an, daß es sich um den Boden der Höhle handelte –, konnte sie erstmals unterschiedliche Schatten im Nebel voneinander getrennt ausmachen. Die Stalagmiten und Stalaktiten sorgten für natürliche Partitionen, und diese bildeten in gewisser Weise Nischen oder Buchten in der Höhle. Sie sah in 254
jeder dieser Nischen kleine Gruppen von Gestalten. Kerzen sorgten für Beleuchtung, doch die seltsame Aura, die den Kerzenschein hier umgab, sorgte, selbst wenn sie relativ nahe an ihnen vorbeiging, dafür, daß sie verschwommen und unklar waren. Doch da war mehr. Als sie sich den seltsamen »Marktständen« weiter näherte, konnte sie die Stimmen klarer vernehmen, doch die Sprachen waren allesamt unterschiedlich. Tazi, die in einer Handelsstadt aufgewachsen war, erkannte anhand der Tonlage und des Ablaufs der Gespräche, daß hier gehandelt und gefeilscht wurde, obwohl sie kein Wort verstand. Dann kam sie aber einer der Buchten nahe genug, um einen Blick ins Innere riskieren zu können, um einen Blick auf die Gestalten darin zu erhaschen und auf einmal wechselte die Sprache zur Handelssprache, so daß alles Gesagte verständlich wurde. Sie riß vor Überraschung die Augen weit auf. »Wie ist das möglich?« fragte sie ihren Begleiter. Die Gestalt schritt wie ihr Schatten nur einen oder zwei Meter hinter ihr durch die Höhle. Sie stellte fest, daß sie keineswegs die einzige war, die ein derartiger Schatten eskortierte. Viele Leute schritten durch die Kaverne, von ihrem eigenen grauen Rufer begleitet. Tazi beobachtete, wie einer der Rufer förmlich mit dem Hintergrund verschmolz, nachdem sein Gast bei einem Händler Platz genommen hatte. Anscheinend spielte er bei dem sich anbahnenden Handel keine Rolle. Tazi ging davon aus, daß es sich dabei um eine der Regeln des Marktes handelte. 255
»Es gibt hier keine Schranken, die einen Handel verhindern, nicht einmal die Sprache«, erläuterte der Rufer. »Wir überlassen Euch die Wahl Eurer Handelspartner in jeder Hinsicht selbst.« Als sie am nächsten Marktstand vorbeikamen, keuchte Tazi vor Erstaunen und Ehrfurcht unwillkürlich auf. Ein sehr alter Mann mit langem, weißen Haar und einem ebensolchen Bart und Schnurrbart war gerade in ein intensives Gespräch verstrickt. Es war aber sein Gesprächspartner, der eine solche Reaktion bei Tazi ausgelöst hatte. Der Mann sprach mit einem verdammt großen, verdammt ärgerlichen schwarzen Drachen. Tazi konnte Teile der Konversation erlauschen. »Ich frage mich, wie mich Sturm Silberhand dazu bringen konnte, mich mit Euch einzulassen«, brachte der alte Mann gerade vor Wut stotternd hervor, »aber es fällt mir eben einfach schwer, ihr irgend etwas abzuschlagen. Selbst so etwas!« Der Drache spannte daraufhin nervös die Flügel. Bevor Tazi die nun sicherlich folgende Tirade des Drachen anhören konnte, dirigierte sie der graue Rufer geschickt weiter, so daß die beiden Streitenden rasch außerhalb ihres Sichtbereichs gerieten. Sobald sie sie nicht mehr sehen konnte, wurde auch das Gespräch wieder unverständlich. »Ich hätte gerne gehört, was der Drache darauf gesagt hat«, erklärte sie dem grauen Rufer ein wenig trotzig. Die schemenhafte Gestalt machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Aufgrund seiner Reak256
tion auf ihre Neugier schloß sie, daß es ihr nicht gestattet war, länger an einem der Stände zu verweilen, wenn sie nicht selbst an der Konversation teilnahm. Dennoch war es schwer, der Verlockung zu widerstehen. Je tiefer sie in den Dunklen Basar vorstießen, desto mehr Dinge erregten ihre Aufmerksamkeit, ihr Erstaunen und Befremden. Manche Händler und Kunden waren menschlich oder zumindest Kreaturen, die sie wiedererkannten, doch keineswegs alle. Tazi sah, wie mehrere Menschen scheinbar über einen Säugling diskutierten, der höchstens ein paar Zehntage alt war. Sie konnte ihrer Neugier nicht widerstehen und wurde unwillkürlich langsamer, egal was sich der Rufer dabei denken mochte. Der Säugling lag in der Mitte eines Tisches, und zuerst dachte sie, sein Körper sei von seltsamen Tätowierungen überzogen. Als sie sich der heftig diskutierenden Gruppe näherte, erkannte sie, daß das Baby nicht auf dem Tisch lag, sondern gemütlich auf dem Tisch herumlümmelte, und daß jenes kleine Wesen das ganze Gespräch leitete. Auch die bizarren Muster am Körper erwiesen sich bei näherem Hinsehen keineswegs als Tätowierungen. Überall, wo sich eigentlich eine rosige Hautfalte hätte befinden sollen, verlief statt dessen eine blutrote Furche. Der ganze Torso war von blutigen Linien überzogen, und die Augen, Lippen und Augenlider der Kreatur waren strahlend rot. Tazi fröstelte es bei dem absonderlichen Anblick unwillkürlich. »Wer ist nur dazu in der Lage, all das hier zu ermög257
lichen?« fragte sie voll ehrfürchtigen Staunens. »Darüber Auskunft zu geben steht mir nicht zu«, informierte sie der graue Rufer. »Die anderen meiner Art und ich sind nur dazu auserkoren, jene, die als würdig erachtet wurden, hierher zu führen und dafür zu sorgen, daß die Sicherheit dieses Ortes nie gefährdet wird.« »Ihr müßt doch einer höheren Macht unterstehen«, bohrte Tazi weiter. Der graue Rufer hielt inne und hob beschwörend eine Hand. »Wir sind Teil von etwas, für das Faerûn noch nicht einmal einen Namen hat. Spart Euch Eure Fragen für Euren Handelspartner auf, Thazienne Uskevren, und vergeudet sie nicht an mich. Ich bin es nicht, der hier Handel treibt.« Nach diesem Tadel löste sich Tazi wieder von der Seite des Rufers und schritt weiter durch den Basar. Jeder Schritt, den sie machte, enthüllte weitere Marktstände und bisher verborgene Nischen. Tazi fiel auf, daß ihr der graue Rufer weiter diskret folgte. Sie verzichtete darauf, ihrem Begleiter weitere Fragen zu stellen. Wenn sie etwas herausfinden wollte, war sie wohl auf sich allein gestellt. Sie kam an einer weiteren hitzig geführten Diskussion zwischen einem distinguiert aussehenden Mann mit Halbglatze und einem Bart, in dem ein einzelner grauer Streifen verlief, und einer Frau, deren blutroter Umhang sie ohne jeden Zweifel als rote Magierin aus Tay auswies, vorbei. Das einzige Wort, das sie verstand, war 258
»Tiefwasser«. Dann nahm sie eine alte Frau wahr, die hinter einem wackligen Tisch allein in ihrer Nische saß. Tazi fühlte sich ein wenig an jene Wahrsagerinnen erinnert, die ihre Dienste auf den Jahrmärkten feilboten, die manchmal in Selgaunt zu Gast waren. Die abrupten, abgehackt wirkenden Bewegungen der Frau erinnerten an die eines Vogels, und Tazi stellte verblüfft fest, daß ihr Gebaren auf seltsame Weise etwas Vertrautes hatte. Wo habe ich das nur schon einmal gesehen? fragte sie sich. Sie beschloß, sich zu einem späteren Zeitpunkt mit der Frage herumzuschlagen. Sie sieht aus, als käme sie aus Calimhafen. Vielleicht sollte ich hier mein Glück versuchen? »Nun gut«, sagte sie zum grauen Rufer, »das ist bisher die einzige Person, die mir zumindest vage vertraut vorkommt und zu der ich eine Art von Band zu spüren vermeine.« »Die Wahl ist und wird stets einzig und allein die Eure sein, meine Dame«, antwortete die Gestalt nur. Sie nickte dem Rufer zu und ging dann zum Marktstand mit der Frau hinüber. Jetzt, wo sie näherkam, erkannte Tazi, daß sie ihr Alter stark unterschätzt hatte. Die Nebel des Dunklen Marktes hatten ihre Züge geglättet. Als Tazi näherkam, stellte sie schockiert fest, daß ihr Gesicht und ihre Hände mit tiefen Furchen überzogen waren. Zum Glück entpuppten sie sich dann bei näherem Hinsehen doch als recht normale Falten, wenn auch in großer Zahl, und nicht als etwas wie die blutenden Striche bei dem Säugling, an dem sie früher 259
vorbeigekommen war. Das Haar der Frau war fast weiß, nur noch von einer Handvoll schwarzer Strähnen durchzogen. Es fiel lose bis zu ihren Hüften herab. Ihre Haut erinnerte an Leder und wirkte so trocken, daß Tazi schon befürchtete, sie könnte jeden Augenblick reißen. Die Kleidung war eindeutig im calishitischen Stil, doch war sie fast vollständig ausgeblichen und sogar an einigen Stellen zerrissen. Als Tazi die Frau musterte und einzuschätzen versuchte, fiel ihr nur ein Wort ein, um sie zu charakterisieren – wettergegerbt. Als sie die gedämpften Schritte Tazis hörte, blickte die verhutzelte Calishitin auf. Ihre Augen waren von einem matten Braun, doch Tazi vermeinte ein verschlagenes Funkeln darin zu erkennen. »Kann ich Platz nehmen?« fragte sie. »Vorübergehend«, antwortete die Alte. Tazi zog sich den Stuhl heran und setzte sich erwartungsvoll gegenüber der Frau nieder. Es verging einige Zeit, während derer sie einander schweigend musterten, bis Tazi erkannte, daß die alte Frau nicht zuerst das Wort ergreifen würde. »Ich bin nicht sicher, was ich eigentlich tun soll«, mußte Tazi schließlich zugeben. »Vielleicht solltest du wieder gehen«, schlug die Calishitin mit brüchiger Stimme vor. Allein der Klang dieser Stimme macht Tazi spontan durstig. »Ich bin weit gereist«, erklärte sie. »Zu weit, um jetzt einfach aufzustehen und zu gehen.« »Mädchen, ich denke nicht, daß du schon begreifst, 260
was es heißt, einen weiten Weg hinter sich zu haben«, kicherte die Alte. »Möglicherweise nicht«, stimmte sie zu, »aber es könnte genau so gut sein, daß Ihr Euch irrt.« Als sie das hörte, nickte die alte Calishitin zustimmend. »Das könnte wohl sein«, stimmte sie Tazi ein wenig reumütig zu, »und es wäre nicht der erste Fehler, den ich begangen habe.« »Ihr wollt sagen, daß ihr doch für Möglichkeiten offen seid, wenn sich etwas ergibt?« fragte Tazi nach. Die alte Frau legte langsam den Kopf in den Nacken und begann zu lachen. Irgendwo in diesem trockenen Glucksen war ein fast melodischer Ton verborgen, etwas, das an die Schönheit erinnerte, die die Stimme der alten Frau einst besessen haben mußte. Ich frage mich, wie sie in jüngeren Jahren ausgesehen hat, dachte sich Tazi. »Du starrst mich an«, stellte die Frau fest. »Tut mir leid, aber ich bin eben neugierig«, erklärte Tazi. »Neugier kann ein Fluch sein«, belehrte sie die Alte mit vor Trockenheit knisternder Stimme, »und oft bezahlt man unglaublich, wenn man sich diesem Luxus hingibt.« »Früher oder später müssen wir doch alle bezahlen, oder?« antwortete Tazi ominös. Die Alte musterte sie daraufhin sorgfältig. »Ich sehe, du hast doch schon eine Handvoll Lektionen gelernt.« 261
»Trotz meines kurzen Lebens waren es einige, und sie haben mich alle viel gekostet«, erklärte ihr Tazi, und sie tat es keineswegs stolz, sondern völlig nüchtern. »Ich selbst habe eine Ewigkeit gebraucht, um meine zu lernen«, gestand die Calishitin, und es war fast, als spräche sie mit sich selbst, »und um endlich zu lernen, mußte ich zuerst das aufgeben, was ich am meisten liebte.« Sie schien völlig gedankenverloren, und Tazi war sich nicht sicher, was sie nun sagen oder tun sollte, doch dann schüttelte die Frau die Tagträume ab. Oder sind es vielleicht gar Alpträume? überlegte Tazi. »Also dann, Mädchen. Bist du wegen einer Geschichte gekommen, oder willst du die Geheimnisse der Calimwüste erfahren?« kicherte sie. »Ich bin wegen etwas äußerst Wichtigem hier, aber ich weiß nicht, welche Form es annehmen wird.« »Die Regeln hier sind ganz einfach, Gharab«, begann die Calishitin zu erklären. »Du kannst einen Schatz erstehen. Welche Form dieser Schatz hat, liegt ganz an dir. Es kann eine Karte, ein Edelstein, ein Dolch oder ...«, sie machte eine ominöse Pause und lehnte sich über den wackeligen Tisch, um zu flüstern: »... ein Geheimnis sein.« Den letzten Satz brachte sie so keuchend hervor, daß sich Tazi spontan fragte, ob die Alte Sand im Hals haben mochte. »Ich bin aber nicht sicher, was ich benötige«, versuchte Tazi ein wenig lahm zu erklären. Die Frau setzte sich auf einmal auf und fuhr sie an: 262
»Dann verschwinde von hier, kleines Mädchen. Dieser Markt ist nicht für Touristen, sondern nur für jene, die tatsächlich einen Handel schließen wollen. Ich habe keine Zeit, um dich an der Hand zu nehmen und zum Wasser zu führen.« »Jetzt hört mir mal zu«, schnappte Tazi zurück. »Es geht hier um Leben und Tod, und alles, was ich möchte, ist, einen Fehler zu vermeiden. Ich will das Richtige tun.« »All das hier«, sagte die Frau und machte eine weitausholende Geste, die den ganzen Raum zu umfassen und gleichzeitig weit über ihn hinauszugehen schien, »dreht sich um Leben und Tod. Manchmal trifft man alle richtigen Entscheidungen und verliert trotzdem. Du solltest dir diese Lektion zu Herzen nehmen. So«, fuhr sie barsch fort, »und jetzt sag mir endlich ohne viel Federlesens, was du willst.« »Es gibt da einen Geisterbeschwörer, der meiner Meinung nach aus Calimhafen stammt. Vielleicht kennt Ihr ihn, vielleicht aber auch nicht. Er heißt Ciredor.« Tazi hielt inne, um zu sehen, ob sich im Gesicht der Frau Erkennen widerspiegelte. Entweder kannte ihn die Frau wirklich nicht, oder sie beherrschte sich hervorragend. Keine Gefühlsregung spiegelte sich auf ihrem faltigen Antlitz wider. Ihre Enttäuschung war während des Gesprächs immer mehr gewachsen. Sie hielt es nicht mehr aus, und es sprudelte aus ihr heraus: »Ich muß wissen, was er plant!« Sie wartete mit angehaltenem Atem, doch die Frau 263
machte keine Anstalten, ihre Frage zu beantworten. »Dafür mußt du bezahlen«, informierte sie Tazi schließlich. Tazi fiel erneut auf, wie ausgedorrt die alte Frau doch aussah und klang. Es schien fast, als hätte sie ihr ganzes Leben in der Wüste verbracht und wäre dort von der Sonne und vom Wind gegerbt worden. Die Alte sah sie erwartungsvoll an. Tazi suchte in der Außentasche ihrer Lederhose herum. Sie holte eine Handvoll Sonnen hervor und stapelte sie feinsäuberlich auf dem Tisch auf. Das Metall erzeugte dabei ein dumpfes Geräusch. Erneut war Tazi darüber verblüfft, wie gedämpft auf dem Markt alles wirkte. Die Alte schubste den Münzstapel um und stocherte dann mit einem verwitterten Finger darin herum. Schließlich lehnte sie sich zurück. »Diese Geldstücke sind nicht das, was dir etwas bedeutet«, erklärte sie, während sie eine achtlose Geste in Richtung des umgeworfenen Stapels machte. »Das ist alles, was ich bei mir habe«, entschuldigte sich Tazi. Plötzlich hatte sie Angst, sie könnte die ganze gefahrvolle Reise umsonst gemacht haben. »Ich habe sonst nichts, das ich Euch anbieten könnte.« »Du irrst«, erklärte ihr die alte Calishitin mit einem Funkeln in den Augen. »Die Regel hier auf dem Markt lautet, daß Gleiches nur gegen Gleiches getauscht werden kann. Die Information, um die du mich bittest, ist für dich von unschätzbarem Wert, oder etwa nicht?« »Ich denke, sie ist meine einzige Hoffnung«, antwortete ihr Tazi wahrheitsgemäß. 264
»Dann hast du nur einen Gegenstand, den du dafür tauschen kannst.« Mit diesen Worten tippte sie Tazi auf die linke Hand. »Meinen Ring?« flüsterte diese. »Der Ring ist das einzige, was ich akzeptieren werde. Er ist der einzige Wertgegenstand, den du besitzt, den ich wirklich begehre.« Tazi sah ihren Smaragdring an. Ein Mondelf namens Durlan hatte ihr den Ring gegeben, um sie zu schützen, als sie als kleines Kind in den Straßen Selgaunts aufgewachsen war. Sie hatte ihn schon einmal erfolgreich als Verteidigung gegen Ciredor eingesetzt. Die Schmerzen, die ihr der Ring dabei verursacht hatte, waren fast unerträglich gewesen, doch sie war auch sicher, daß sie es nur dem Reif zu verdanken hatte, daß es ihr damals, zwei Jahre zuvor, gelungen war, den Schwarzmagier aufzuhalten. Wie werde ich ihn ohne den Ring aufhalten? fragte sie sich entmutigt. »Tick, tack, tick, tack, die Uhr, sie schlägt. Die Zeit zerrinnt dir zwischen den Fingern, denn diese Nacht neigt sich dem Ende zu«, erinnerte sie die weißhaarige Frau. Tazi ballte die Finger der linken Hand mehrmals zur Faust. Schließlich rang sie sich zu einer Entscheidung durch, zog den Ring mit einer entschlossenen Bewegung ab und legte ihn auf den Tisch, ohne ihn allerdings loszulassen. »Nun, kleines Mädchen, willst du einen Handel schließen oder nicht?« 265
Tazi kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum und sagte schließlich: »Ich habe mich bisher noch nie von diesem Ring getrennt, doch wenn er der einzige Gegenstand ist, den Ihr anzunehmen bereit seid, dann nehmt ihn.« Mit diesen Worten zog sie ihre Hand weg. Mit einer Geschwindigkeit, die ihrem Greisenalter zu spotten schien, schoß die klauenartige Hand der Frau vor, und kurz darauf war der Ring bereits in einer Tasche verschwunden. In diesem Moment bereut Tazi bereits, was sie getan hatte, doch jetzt war es zu spät dafür. Die alte Frau sah Tazi ins Gesicht und legte den Kopf wie ein Vogel schief. Erneut schien ihr die Geste auf geradezu unheimliche Weise vertraut, und wieder schob sie den Gedanken für den Moment einfach beiseite. »Haben wir eine Abmachung?« fragte Tazi. »Aber sicher«, antwortete die Alte.
Ciredor blätterte gelangweilt in einem der Folianten des Lauerers. Der Mann hatte ihm das innere Heiligtum abgetreten, damit der Magier in Ruhe meditieren konnte. Ciredor vermutete, daß der Hohepriester in Wahrheit zumindest bis zu einem gewissen Grad Angst vor ihm hatte und ihm seine Räumlichkeiten nur deswegen abgetreten hatte, weil er sich so mit einem guten Vorwand aus der Gesellschaft des Magiers absentieren konnte. Doch welche Beweggründe der Lauerer auch 266
immer haben mochte, Ciredor sollte es nur recht sein. Er nutzte die Zeit, um sich an der Situation zu ergötzen. »Es ist fast soweit«, murmelte er und rieb gedankenverloren an dem Medaillon, das er üblicherweise unter seiner Kleidung verborgen trug, das jetzt aber offen um seinen Hals hing. Die dunkle Scheibe glitzerte am Rand amethystfarben. Da hörte er plötzlich ein zögerliches Klopfen an der Tür. Ciredor ließ die Scheibe wieder unter sein Gewand gleiten und genoß das Gefühl des kühlen Metalls auf der Haut. »Herein«, befahl er. Der Geheimnisvolle Lauerer öffnete die Tür einen Spalt weit und blickte zu Ciredor. »Ja?« fragte der Magier, als er erkannte, daß ihn der Priester wohl endlos so anstarren würde, wenn er ihn nicht aufforderte, endlich das Wort zu ergreifen. »Ich habe Neuigkeiten für dich, Gebieter«, begann er vorsichtig. Ciredor lächelte abfällig ob des Titels, war aber dennoch irgendwie darüber erfreut, daß der Priester ihm so kriecherisch gegenüber trat. »Die wären?« versuchte er das Gespräch weiterzubringen, während er mit seiner Hand einen Kreis beschrieb. »Zwei der Kinder Ibranduls sind zurück«, eröffnete ihm der Priester zögernd. »Ich denke, du solltest mit ihnen reden.« »Dann schick sie herein«, befahl Ciredor, der langsam, aber sicher die Stirn zu runzeln begann. 267
Die Tatsache, daß ihm der Lauerer die Neuigkeiten nicht selbst überbringen wollte, ließ keinen Zweifel daran, daß es sich nicht um gute Neuigkeiten handelte. Der Lauerer schob die Eingangstür zum Studierzimmer nun ganz auf, und Ciredor konnte erkennen, daß die beiden Akolythen bereits hinter ihm standen. Sie machten wie der Hohepriester selbst ein betretenes Gesicht und schienen sich hinter den fließenden Purpurroben des Lauerers verbergen zu wollen. »Kommt herein«, grollte Ciredor. Ich bin schon so nahe. Ich kann jetzt keine Zeit mit dummen Spielchen vergeuden, dachte er. Der Geheimnisvolle Lauerer machte einen weiteren Schritt zur Seite, murmelte zum Abschied irgend etwas und verschwand in den Schatten des Vorraums. Die beiden Kinder Ibranduls trotteten mit hängenden Köpfen in den Raum. »Was ist geschehen?« verlangte er zu wissen. Dann fügte er eisig hinzu: »Mein Ärger wächst ins Unermeßliche, wenn man mich noch länger warten läßt.« Die beiden Novizen tauschten hastig einen Blick miteinander aus, dann trat einer von ihnen vor. »Gebieter«, begann er in einem tiefen Bariton, der so gar nicht zu seiner dürren Gestalt passen wollte. »Leider müssen wir Euch schlechte Kunde bezüglich der Fremden bringen.« Er verstummte und musterte seine Sandalen, wohl um zu sehen, ob er irgendeinen eingebildeten Schmutz oder Beschädigungen an ihnen erkennen konnte. Ciredor musterte nachdenklich seine Fingernägel und ergriff 268
dann mit zuckersüßer Stimme das Wort: »Dem Anschein nach habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Ich will es daher demonstrieren.« Er machte eine achtlose Handbewegung in Richtung des Novizen, als wolle er ein Insekt wegscheuchen. Ein grüner Lichtbolzen schoß aus seiner Hand und traf den jungen Mann mitten in den Hals. Das Kind Ibranduls schmetterte gegen die Felswand, wo ihn die grüne Energie festhielt. Der Zauber hatte eine Art Halsfessel gebildet und hielt ihn einen guten Meter über dem Boden fest. Die Beine strampelten hilflos in der Luft, und der Novize versuchte verzweifelt, sich mit beiden Händen zumindest ein wenig an dem Energiereif hochzuziehen und so den Druck auf seine Kehle zu verringern. Ciredor schritt hinüber zu der Stelle, wo er hing. »Was ist passiert?« verlangte er zu wissen. Das Kind Ibranduls würgte und japste, doch es gelang ihm nicht, verstehbare Worte herauszubringen. »Auch gut«, entgegnete Ciredor und wandte sich jetzt dem bartlosen Novizen zu, während er dessen Partner an der Wand zappeln ließ. Das andere Kind Ibranduls hatte verzweifelt versucht, hinter einem der Bücherregale zu verschwinden und mit der Dunkelheit zu verschmelzen, doch vor dem gnadenlosen Blick des wütenden Magiers gab es kein Entrinnen. Ein weiterer grünlicher Energieblitz zuckte durch den Raum, verwandelte das Bücherregal in einen Haufen Brennholz und entblößte so den Novizen. Ciredor durchquerte den Raum mit zwei ärgerlichen Schritten. »Du bist dran! Was ist geschehen?« zischte Ciredor 269
dem entsetzten Kind Ibranduls ins Gesicht. Der Novize warf seinem Gefährten einen ängstlichen Blick zu und antwortete mit zitternder Stimme: »Es ist uns nicht gelungen, sie zu töten.« »Bitte erklär es mir«, forderte ihn der Magier nun fast freundlich auf. Der Akolyth schöpfte wieder Hoffnung, da der Magier auf einmal doch nicht mehr so übelgelaunt wirkte, und versuchte zu erklären: »Wir haben sie in den Tunnel mit den Aranea geführt, und sie sind mitten in die Falle hineinspaziert. Doch das dritte Kind Ibranduls, das bei uns war, erwies sich als Verräter und lief ihnen nach, um ihnen zu helfen.« »Was ist dann geschehen?« drängte Ciredor. Die Augen des Novizen suchten das Gesicht seines Bruders, das inzwischen purpurrot angelaufen war und teilweise bereits violett wurde. Sein Stöhnen und Würgen kam nur noch sporadisch. Ciredor machte ein tadelndes Geräusch angesichts dieses Mangels an Aufmerksamkeit, und der bartlose Novize blickte hastig zu ihm zurück. »Ashraf schloß sich den beiden Fremden im Kampf gegen die Aranea an, ja er ging sogar so weit, die schwarzhaarige Frau vor dem sicheren Tod im Netze einer Aranea zu retten ... doch er wurde kurz darauf getötet. Offensichtlich«, schlußfolgerte der junge Priester, »gelang es Ibrandul, ihn für seinen Verrat büßen zu lassen.« »Was ist mit den Fremden?« mahnte Ciredor ruhig und versuchte so, ihn bei der Sache zu halten. 270
Der Novize leckte sich ängstlich über die Lippen und sagte: »Sie haben überlebt.« »Überraschenderweise habe ich das dank meines scharfen Verstandes schon selbst geschlossen. Sonst noch etwas?« Jetzt wurde das Kind Ibranduls endgültig kalkweiß. »Ja, mein Gebieter«, brachte der Novize flüsternd hervor und warf seinem baumelnden Gefährten einen verstohlenen Blick zu. Das am Hals gefesselte Kind Ibranduls gab keinen Laut mehr von sich, nur seine Glieder zuckten hin und wieder noch. Ciredor legte eine eiskalte Hand auf das Gesicht des bartlosen Novizen und drehte es zu sich, so daß er direkt in seine haselnußbraunen Augen starren mußte. »Ich werde nicht noch einmal fragen«, warnte ihn Ciredor mit einem bösartigen Unterton in der Stimme. »Was ist mit der Frau?« »Ein grauer Rufer erschien, um sie zum Dunklen Basar zu geleiten.« Ciredor schrie zornig auf und entlud mit einer fließenden Handbewegung seine ganze magische Macht. Das Kind Ibranduls wurde durch die Luft geschleudert und krachte mit dem Gesicht voraus mit solcher Wucht gegen den prächtig verzierten Tisch des Lauerers, daß der Schädelknochen mit einem dumpfen Knall brach und graue Hirnmasse über den Tisch spritzte. Ciredor stürmte aus dem Raum. Außerhalb des Studierzimmers wartete der geheimnisvolle Lauerer. Er hatte die Finger so fest in seine 271
Robe gekrallt, daß seine Knöchel weiß hervortraten. »Mein Gebieter, wohin des Wegs?« fragte er vorsichtig. Ciredor fuhr herum und hätte ihn in seinem blinden Zorn in diesem Augenblick beinahe auch getötet. Im letzten Moment erkannte er, daß ihm der Tod des Priesters in dieser Situation alles andere als dienlich sein würde, und er schluckte seinen rasenden Zorn hinunter. »Ich breche auf«, informierte er den Lauerer. Ciredor konnte erkennen, in welchem verzweifelten Dilemma der Priester steckte. Er fürchtete seinen Zorn und wollte nichts sagen, um ihn weiter aufzubringen, aber gleichzeitig fürchtete er, so die verlorenen Worte Ibranduls zu verspielen. »Wirst du zurückkehren?« würgte er schließlich hervor. »Sobald ich meine Geschäfte geregelt habe«, erklärte Ciredor kalt, der inzwischen seine Fassung fast vollständig wiedergefunden hatte. »Bist du vielleicht zum Dunklen Basar unterwegs?« fragte der Lauerer zögernd. »Da deine Kinder so kläglich gescheitert sind, bleibt mir wohl keine andere Wahl, oder?« »Aber«, stammelte der Lauerer, »jeder ist der Ansicht, daß der Tempel der Alten Nacht den Markt kontrolliert. Du weißt, daß er Shar geweiht ist. Bist du dir sicher, daß es das Risiko wert ist, vor allem, wenn man bedenkt, wie sie und der Fürst der Trockenen Tiefen, dem du ja auch getreulich dienst, zueinander stehen?« 272
Zum ersten Mal, seit er vom Versagen der Kinder Ibranduls erfahren hatte, konnte Ciredor wieder lächeln. »Es gibt kein Risiko, wenn der Glaube stark ist«, beschied er dem Priester. Der Lauerer starrte ihn voll ängstlicher Bewunderung an. »Du wärst wirklich bereit, alles für deinen Gott zu riskieren«, brachte er schließlich voller Ehrfurcht hervor. »Selbstverständlich«, antwortete ihm der Nekromant leichthin. »Oh, fast hätte ich es vergessen«, fügte er hinzu, »du solltest jemand in dein Studierzimmer schikken, um aufzuwischen.« Ehe der Priester dies kommentieren konnte, verblaßte die Gestalt Ciredors bereits. Er erschien nur einen guten Meter von Tazi entfernt.
»Wenn das dazu dient, Fannah zu retten, dann ist es das auch wert«, murmelte Tazi leise. »Was habt Ihr gerade gesagt?« fragte die Alte. Tazi war nicht klar gewesen, daß die andere Frau sie gehört hatte. »Es war nicht wichtig«, wiegelte sie ab. Sie wirkte plötzlich irritiert und hatte den Eindruck, als greife eine eisige Kälte nach ihr. »Was ich tue, tue ich für eine Freundin.« Die alte Calishitin wirkte allerdings noch immer aufgeregt und schien nicht bereit, die Sache auf sich beru273
hen zu lassen. »Habe ich dich eben richtig verstanden? Hast du ›Fannah‹ gesagt?« fragte sie mit einem rauhen Flüstern. »Ja«, entgegnete Tazi. Es machte sie argwöhnisch, daß der Name ihrer Freundin der verblühten Frau vor ihr etwas sagte. »Was spielt das für eine Rolle?« Tazi hätte nicht gedacht, daß das überhaupt möglich wäre, aber die Alte runzelte die Stirn so sehr, daß noch mehr Falten darauf auftauchten. »Es ist nur so ...«, setzte die Frau an, unterbrach sich aber abrupt, als ein grauer Rufer langsam an ihnen vorbeiglitt. Die verhüllte Gestalt drehte ihren Kopf in Richtung der Calishitin, und diese klappte mitten im Satz den Mund zu. »Stimmt etwas nicht?« fragte Tazi. »Nichts, es ist nichts«, erwiderte die Alte nur. »So, wir haben uns auf einen Preis geeinigt. Was war es noch gleich, was du wissen wolltest?« Tazi holte tief Luft und stellte ihre Frage: »Was plant Ciredor?« »Dann will ich dir also deine Frage beantworten. Schatz für Schatz. Ciredor«, begann die Calishitin mit unheilschwangerer Stimme, »sammelt Seelen als Opfergabe. Er will sie seiner Göttin als dunkles Geschenk darbringen.« »Wo bewahrt er sie auf?« fragte Tazi nach. Tazi war nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, als wirke die Alte auf einmal sehr traurig. »Unser Geschäft ist abgeschlossen. Eine Sache er274
kauft mit einer anderen. So lauten die Regeln, und daher mußt du jetzt gehen!« Noch während die Calishitin diese Worte sprach, stellte Tazi fest, daß der Markt plötzlich noch ätherischer als kurz zuvor schien und sich dieser Zustand rapide auszubreiten begann. Alles wirkte noch düsterer, und alle Geräusche wurden verschluckt, während der Nebel förmlich in die Höhle zu strömen schien. Ein kalter Hauch strömte über Tazi hinweg, und sie fröstelte. Sie faßte sich instinktiv mit der Hand an die Kehle und wurde von einem Gefühl drohenden Verderbens überwältigt. Selbst die alte Frau wirkte überrascht. Dennoch versuchte Tazi, diese letzte Chance zu nutzen, um mit ihr zu sprechen. »Ich flehe Euch an. Sagt mir, was Ihr mir verraten könnt. Ich gäbe alles, um Fannah zu retten.« Die Calishitin hob sich jetzt kaum noch von den treibenden Nebelschleiern ab, die den ganzen Markt verhüllten. Sie hob eine Hand und rief etwas. Der Nebel verschluckte das Geräusch fast vollständig. Tazi konnte trotz aller Anstrengungen nur zwei Worte ausmachen: »Fannah« und »Tochter«. Jetzt wußte Tazi, wo sie die Gestik, die sie spontan an einen Vogel erinnerte hatte, zuvor gesehen hatte. Fannah benutzte sie ebenfalls. »Ibina il’Qun!« schrie Tazi über den Nebel hinweg, doch Fannah und ja, der ganze Dunkle Basar waren verschwunden. Tazi starrte direkt auf eine Felsmauer.
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Ciredor hatte sich mühelos in den Tunnel transportiert, den seine magische Aufklärung als den genauen Standort des Dunklen Basars und Thazienne Uskevrens enthüllt hatte. »Es ist alles so einfach, Tazi. Du kannst dich vor mir nicht im Reich meiner Gebieterin verbergen«, erklärte er mit unerschütterlichem Selbstvertrauen. Ciredor befand sich tief in der Muzad, in der gleichen Höhle wie der Dunkle Basar. Der Nebel war dicht und flüsterte zu dem geheimnisvollen Magier. Er bewegte sich durch den Nebel und vermeinte, Tazi ein kleines Stück vor sich zu hören, doch mit jedem Schritt, den er tat, wurde der Nebel dichter und wogte in immer wilderen Schlieren um ihn. Er konnte dunkle Umrisse erkennen und Gesprächsfetzen erlauschen, doch alles war unklar und verschwommen. Was aus wenigen Metern Entfernung noch wie eine Gruppe von Leuten ausgesehen hatte, der er sich näherte, entpuppte sich nur als eine Handvoll Schatten, durch die er einfach hindurchschreiten konnte. Er wußte, daß er ganz nahe war, doch alles war unmittelbar außerhalb seiner Reichweite. Der Nekromant wurde zusehends gereizt. »Warum leuchtest du mir nicht den Weg?« rief er dem Äther anklagend zu. Als wäre das ein Stichwort gewesen, leuchtete ein Licht zu seiner Linken auf. Sein Selbstvertrauen kehrte augenblicklich zurück, und er leckte sich erwartungs276
froh die Lippen. Er wußte mit absoluter Sicherheit, daß es sich um die Richtung handeln mußte, in die er gehen sollte. »Danke, Shar!« flüsterte er inbrünstig. Ciredor schoß fast schon auf das Licht zu, doch sobald er es erreicht hatte, verblaßte es, nur um ein paar Schritte entfernt zu seiner Rechten wieder aufzutauchen. Es muß die ganze Aufregung sein. Mir schwindelt schon! dachte er. Er korrigierte seinen Weg und eilte zum neuen Standort des Lichts. Doch auch diesmal verschwand das flatterhafte Leuchten, ehe er es erreichen konnte, nur um hinter ihm wieder aufzutauchen. Er wirbelte mit wachsendem Zorn herum. »Welche üblen Streiche spielt man mir?« verlangte er bedrohlich zu wissen. Er versuchte, das Licht auf magischem Weg auszuspähen, doch all seine Versuche scheiterten. Schließlich erstrahlte das Leuchten sanft in einer kleinen Seitennische der Höhle, und er fügte sich in sein Schicksal und folgte widerstrebend dem Licht. Je näher er kam, desto stärker breitete sich der Schein in der Höhle aus und erleuchtete einen größeren Bereich. Als er ganz nahe war, glaubte er, Tazi erkennen zu können, wie sie mit einer anderen Frau sprach. Die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, war jedoch verschwommen, als spiele sich das Geschehen unter Wasser ab. Er konnte die beiden schemenhaften Gestalten kaum ausmachen, erkannte jedoch, daß die eine Gestalt der 277
anderen etwas übergeben hatte. Ciredor vergeudete keine Zeit mehr. Er stürmte einfach mitten in die Szene und sprang Tazi an, doch seine Hände gingen einfach durch das Abbild hindurch. Im gleichen Atemzug erlosch die Szene auf dieselbe Weise, wie das Irrlicht stets im letzten Moment verloschen war, das ihn auf diese sinnlose Schattenjagd geführt hatte. Ciredor schlug mit der Faust gegen die Mauer hinter der Marktbude und schrie vor Wut. Das Flüstern wurde jetzt immer lauter, und als er von der Grotte ins Zentrum des nebligen Mahlstroms vorstieß, waren die Geräusche überall rings um ihn. Sie waren auf verlockende Weise nah, doch er konnte niemanden erkennen. Wie irr begann sich Ciredor in der Höhle zu drehen und vor unbändigem Zorn wie ein gepeinigtes Tier zu heulen. Das Echo hallte noch lange an den Wänden wider.
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Rückkehr in die Tunnel
D
a bist du ja«, rief Steorf Tazi erleichtert zu. »Wie?« fragte diese völlig konfus. Tazi wandte sich von der Felswand ab und erkannte, daß Steorf direkt neben ihr stand. Es gab keine Spur mehr vom Eingang, der zum Nachtmarkt geführt hatte. Steorf legte ihr nun ein wenig beunruhigt die Hand auf den Arm. »Bist du dir wirklich sicher, daß du dafür bereit bist?« erkundigte er sich. Tazi starrte ihn mit völligem Unverständnis an. »Wovon redest du?« Jetzt war Steorf an der Reihe, sie einigermaßen perplex zu mustern. Er versuchte zu erklären: »Ich will dich begleiten. Ich möchte nicht, daß du nur mit diesem Ding als Führer aufbrichst.« Er gestikulierte in die Gegend hinter Tazi, und auf einmal wurde ihm erst bewußt, daß der graue Rufer verschwunden war. »Wo ist er hin?« verlangte Steorf zu wissen, »Ich wußte doch, daß hier irgend etwas nicht stimmt.« 279
»Wie lang war ich fort?« fragte Tazi. »Fort?« entgegnete Steorf ungläubig. »Du hast dich eben erst von mir abgewandt und bist losgegangen.« »Ich war schon dort«, sagte sie und begriff endlich, warum er so konsterniert war. »Ich muß den Dunklen Basar stundenlang durchstreift haben.« »Bist du sicher, daß du wirklich dort warst?« fragte Steorf mit einem Anflug von Skepsis. »Ja, und ich weiß jetzt, was Ciredor plant«, erklärte sie ihm und ließ sich durch seine Zweifel in keiner Weise aus dem Takt bringen. »Ich weiß noch nicht, wo er sich aufhält, doch eigentlich habe ich eine verdammt gute Ahnung. Wir müssen los ... und zwar jetzt!« Tazi merkte, daß er noch immer einigermaßen konsterniert war. Denk daran, ermahnte sie sich, er erholt sich gerade eben erst von dem Kampf und ist daher noch nicht so schnell von Begriff. Ich hatte Zeit, um mich auszuruhen. »Wir müssen sofort zum Tempel Ibranduls zurück und Fannah befreien«, sagte sie. »Du weißt, was Ciredor will?« fragte er. »Wie Eb sagte, sammelt er Seelen. Jetzt wissen wir auch warum. Er will sie Shar opfern.« »Die Spinnen ... die Aranea ...«, murmelte Steorf. »Was ist mit ihnen?« wurde nun Tazi neugierig. Einerseits wollte sie wissen, was er herausgefunden hatte, andererseits brannte ihr die Zeit unter den Nägeln, und sie wollte endlich aufbrechen. »Mir fiel auf, daß sie alle das gleiche Zeichen trugen. 280
Ich hätte es eigentlich gleich erkennen müssen. Die dunkle Scheibe, die von Purpur umrahmt ist, ist Shars heiliges Symbol«, erklärte er und verstummte dann. »Ja, ich weiß ja, daß du müde und erschöpft bist, aber wir müssen wirklich zusehen, daß wir so rasch wie möglich zum Tempel zurückkommen«, drängte sie ihn erneut. »Was sollen wir mit Ashraf machen?« fragte Steorf und zeigte auf die Leiche des Novizen. Tazi schämte sich fast ein wenig, als sie sich bewußt wurde, daß sie Ashrafs noble Selbstaufopferung schon vergessen hatte. Sie blickte auf sein junges Gesicht hinab, und ein Gefühl der Trauer überkam sie. Als sie wieder zu Steorf blickte, wußte sie, was er dachte und was er versuchen wollte, egal was es ihn kosten mochte. Sie strich ihm sanft übers Gesicht. »Nein«, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf. »Wir können nichts mehr für ihn tun, außer seine Wünsche zu achten. Er hatte das Gefühl, dies sei das Schicksal, das ihm sein Gott abforderte, und wir müssen das würdigen.« Dann kniete sie sich nieder und verhüllte Ashrafs Leiche sorgfältig mit seiner Dschellaba. Sobald sie aufgestanden war, vollführte Steorf eine Geste mit der Hand, und der Leichnam des Kinds von Ibrandul begann zu verbrennen. Im Gegensatz zu der Spinne, deren brennende Leiche die Höhle zuvor mit einem widerwärtigen Gestank erfüllt hatte, erzeugte dieses Feuer keinen Geruch. Sowohl Tazi als auch Steorf hielten stumm Wacht, während die Flammen den 281
Körper verschlangen. Schließlich durchbrach Steorf die Stille. »Noch einer, für den Ciredor bezahlen wird«, schwor er. »Wir werden ihn aufhalten, ehe es noch weitere Opfer gibt«, stimmte ihm Tazi zu. Tazi und Steorf sahen sich noch einmal genau in der Höhle um und nahmen ihre Waffen wieder an sich. Nachdem sie sicher waren, nichts vergessen zu haben, machten sie sich wieder auf den Rückweg. Schnell mußten sie feststellen, daß sich ihre Rückreise ohne die Hilfe der Kinder Ibranduls wesentlich schwieriger gestalten würde. »Ich gebe es ja ungern zu«, sagte Tazi schließlich, »aber das war alles doch ein wenig einfacher mit den Kindern Ibranduls an unserer Seite und ihrer Magie des Dunklen Pfades.« Steorf reagierte sofort und wirkte einen geringen Zauber, der seine rechte Hand erhellte. Das Licht reichte etwa zwei Meter weit. »Ich kann auch ein helleres Licht entstehen lassen«, informierte er sie. »Ja, ich weiß, daß du das kannst. Aber ich will nicht, daß du dich wegen so etwas noch weiter erschöpfst. Außerdem lauern vielleicht die zwei Novizen noch irgendwo, und wer weiß, was sonst noch alles unseren Weg kreuzen wird.« Steorf stimmte ihr zu. Dann kehrten sie aus dem Tunnel zurück, der zu einer Art riesiger Gruft geworden war, und kamen zurück in die große Höhle, die von den 282
phosphoreszierenden Flechten erhellt wurde. Tazi hatte eigentlich fast erwartet, daß die beiden verbleibenden Kinder Ibranduls ihnen dort einen Hinterhalt gelegt hätten, doch die Höhle schien leer. »Das paßt gut zu diesen Feiglingen. Sie sind zurück in ihren Bau geflohen«, knurrte Steorf. »Entweder haben sie gedacht, daß uns die Aranea ohnehin töten würden«, begann Tazi laut zu denken, »oder sie haben uns lange genug beobachtet und sind jetzt zurück geeilt, um den Lauerer oder sogar Ciredor davon in Kenntnis zu setzen, daß wir überlebt haben?« »Wenn dem so ist, können wir nicht einmal ahnen, was auf uns bei unserer Rückkehr wartet«, wies sie Steorf auf die Konsequenzen ihrer Schlußfolgerung hin. »Wir wissen zwar nicht, was uns erwartet. Aber wir können uns sicher sein, daß es kein angenehmes Wiedersehen werden wird.« kommentierte Tazi. »Und hast du eigentlich je wirklich daran gezweifelt, daß es so enden würde?« fragte Steorf mit einem Anflug von Sarkasmus. »Du hattest also recht, ja«, gab sie widerstrebend zu. »Wir hätten ihnen nicht vertrauen dürfen. Und, zufrieden?« »Geradezu ekstatisch«, war die trockene Antwort. Die zwei Abenteurer verließen die Höhle. Nun lag die äußerst herausfordernde Aufgabe vor ihnen, sich an den Weg zu erinnern, den sie im Dunkeln zurückgelegt hatten, und ihn in umgekehrter Reihenfolge zu beschreiten. Tazi war davon überzeugt, daß sich Steorf seiner Sache dabei auch nicht sicherer war als sie selbst. 283
Sie versuchten, sich gemeinsam zu erinnern. »Wohin jetzt?« fragte Steorf an einer der ersten Abzweigungen, zu der sie kamen. Tazi musterte beide Pfade eingehend und schloß kurz die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Als sie sie wieder öffnete, sah sie Steorf ein wenig verlegen an. »Ich bin mir einfach nicht sicher«, gestand sie. »Finsternis!« fluchte sie dann lauthals und trat gegen einen kleinen Haufen Steine. Diese kollerten mit einem irgendwie klagenden Geräusch den Tunnel hinunter. »Ich bin mir nicht sicher, welchen Weg ich gehen muß, und zu allem Überfluß habe ich auf dem Dunklen Basar einen schweren Fehler begangen«, beklagte sie ihr Schicksal. Steorf versuchte sie zu besänftigen und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Jetzt komm schon! Du hast immerhin Ciredors Plan herausgefunden«, erinnerte er sie. »Jetzt wissen wir viel besser, mit was wir rechnen müssen.« Sie blickte kurz zu ihm auf, wandte den Blick aber gleich wieder ab. »Ja, zugegeben. Das habe ich herausgefunden. Dennoch hätte ich mir meine Frage viel genauer überlegen müssen. Wenn ich nur klug genug gewesen wäre, hätte ich sicher eine Möglichkeit gefunden nach seinem Plan und seinem Aufenthaltsort zu fragen. Ich habe einen hohen Preis bezahlt, und dennoch stehen wir jetzt nicht wirklich besser da als zuvor.« 284
Bei diesen Worten rieb sie sich geistesabwesend an dem nun leeren Finger. »Natürlich hättest du deine Frage mit mehr Bedacht stellen können, doch bis du vom Dunklen Basar zurückgekehrt und mich wiedergefunden hättest, hätte Ciredor schon wieder ganz woanders sein können. Ich denke, daß du das Beste aus der Situation gemacht hast. Manchmal kann man alles richtig machen, und es reicht dennoch nicht aus. Manchmal hingegen schon.« »Danke für den Trost«, antwortete sie, obwohl sie noch immer nicht ganz überzeugt klang. »Das einzige, wo ich dir wirklich zustimmen kann, ist allerdings die Tatsache, daß die Reise zum Nachtmarkt nützlich gewesen ist. Vielleicht sogar weit über den Handel hinaus, den ich dort schließen konnte. Wenn wir es nicht versucht hätten, hätten wir vielleicht nie die Wahrheit über die Kinder Ibranduls herausgefunden, und wer weiß, was dann geschehen wäre. Und außerdem kann ich Fannah ganz erstaunliche Neuigkeiten bringen, sobald wir wieder vereint sind.« »Und die wären?« fragte Steorf, der nun auch neugierig geworden war. Tazi begann von ihrem Zusammentreffen mit Fannahs Mutter zu erzählen, doch noch bevor sie fertig war, hörten sie ein huschendes Geräusch im Tunnel, nur ein kurzes Stück weit entfernt. Tazi und Steorf erstarrten förmlich. Sie warfen sich bezeichnende Blicke zu, zogen dann praktisch gleichzeitig ihre Waffen und brachten sie in die Paradestellung. Dann rückten sie in jene Richtung weiter vor, von der sie dachten, daß es 285
sich am ehesten um den richtigen Weg zurück handeln mochte. Gleichzeitig versuchten sie allerdings, die Quelle des Geräusches zu lokalisieren. Doch es waren die Ratten, die sie fanden, und nicht umgekehrt. Sie waren wesentlich größer als jene Nagetiere, die Tazi schon des öfteren im Selgaunter Hafen auf der Suche nach Fischüberresten gesehen hatte. Diese unterirdischen Kreaturen hatte eine krankhaft wirkende weiße Farbe und Tazi schätzte, daß sie zumindest teilweise blind sein mußten. Das Rudel bestand aus ungefähr fünfzehn Tieren. Einige von ihnen huschten davon, als sie den Geruch Steorfs und Tazis erschnüffelten, doch der Großteil hielt die Stellung. Einige besonders vorwitzige Biester kamen sogar auf sie zugeschwappt. »Zurück, Ungeziefer«, schrie Steorf. Es gelang ihm, eine Handvoll Ratten zurückzutreiben, indem er mit seiner leuchtenden Hand nach ihnen stieß. Tazi hörte, wie die Ratten vor Furcht und Wut fiepten. Sie erledigte beim ersten Ansturm mühelos zwei der Kreaturen, wobei sie jeweils eine auf jeder Schutzklinge aufspießte. Eine dritte Ratte durchbrach allerdings ihre Deckung und grub ihre rasiermesserscharfen Nagezähne in ihren Knöchel. »Mistvieh!« zischte Tazi, aber eher aus Zorn denn aus wirklichem Schmerz heraus. Sie trat die Ratte heftig. Das Tier war fast so groß wie ein Hund, doch ihr Tritt war so wuchtig gewesen, daß es dennoch in die Luft geschleudert wurde und gegen 286
die Tunnelwand krachte. Der Schädel der Ratte barst unter der Wucht des Aufpralls, und der Körper zuckte noch ein paarmal, bevor sie still dalag. Das Blut war kaum vergossen, da stürzten sich auch schon drei der Albinomonster auf ihren ehemaligen Rudelgefährten und rissen ihn in Fetzen. Die hohen Schreie der sterbenden Ratte und der Angreifer waren geradezu ohrenbetäubend. Einer der Ratten war es gelungen, einen großen Fleischbrocken aus dem Kadaver zu reißen, mit dem sie sich jetzt hastig in Sicherheit brachte. Zwei andere nahmen jetzt ihren Platz ein und begannen sich nun auch um die Leiche zu streiten. »Zurück!« rief Steorf Tazi zu, die das ganze Spektakel mit einer gewissen morbiden Faszination beobachtet hatte. Sobald sie sich ein Stück abgesetzt hatte, fackelte Steorf die Nagetierhorde mit einem Zauber schlicht und einfach ab. Die Ratten, die noch nicht nahe genug am Leichnam gewesen waren, um vom Feuer erfaßt zu werden, flohen vor der intensiven Hitze in panischer Furcht und stoben in alle Richtungen auseinander. Tazi lehnte an einer Wand und rieb ihren geschundenen Knöchel. »Langsam bin ich die ganzen Grillfeste, die wir heute feiern, ein wenig leid«, versuchte sie zu scherzen. »Wie schlimm hat dich das Tier verletzt?« fragte Steorf, der an ihre Seite getreten war. Tazi warf ihm ein gequältes Grinsen zu. »Ich bin sicher, daß mir ein schöner blauer Fleck 287
bleiben wird. Zum Glück ist es dem kleinen Scheusal nicht gelungen, durch das feste Leder meines Stiefels zu beißen.« Sie hielt einen Zahn hoch, der in ihrem Stiefel stekkengeblieben war, und schnippte ihn angewidert weg. »Ich frage mich, was sonst noch hier unten alles so lebt«, rätselte Steorf. »Ich hoffe, wir werden es nicht herausfinden. So, ich denke, es geht jetzt hier lang«, antwortete Tazi und zeigte auf einen Gang zu ihrer Linken. Sie richtete sich wieder auf, und sie suchten sich weiter ihren Weg entlang des verschlungenen Pfades. Im Laufe der Zeit fiel den beiden auf, daß sie zwar fast unmerklich, aber dennoch unaufhaltsam mit jeder Biegung des Tunnels weiter nach oben kamen. In den zahllosen weiteren Tunneln, durch die sie stapften, trafen sie weder auf weitere Ratten noch Spinnen. Tazi sah das als gutes Omen an, sie marschierten allerdings dennoch die ganze Zeit über mit gezückten Waffen. »Wie lange ist es wohl noch?« fragte sie Steorf. »Ich bin nicht sicher, aber mein Gefühl sagt mir, daß wir schon ziemlich nahe sein müssen. Denkst du, es gibt Alarmzauber, die die Kinder Ibranduls warnen, wenn wir uns nähern? Sie müssen doch eigentlich mit uns rechnen.« »Gute Frage. Die Gefahr besteht eigentlich immer, aber ich werde die Augen offenhalten, was derartige Magie angeht«, entgegnete er. »Andererseits gehen sie vielleicht einfach davon aus, 288
daß schon irgendwelche der zahllosen Kreaturen, die hier unten leben, dafür sorgen werden, daß wir hier unser Ende finden.« »Aber gewiß nicht«, scherzte Steorf. »Es braucht schon wesentlich mehr als ein bißchen Ungeziefer, um ...« Tazi wirbelte herum, weil Steorf plötzlich mitten im Satz abgebrochen hatte. Sie konnte ihn allerdings im Dämmerlicht nirgends ausmachen. »Steorf?« rief sie besorgt und wäre fast in den Abgrund gestürzt, der sich vor ihren Füßen auftat. In letzter Sekunde fing sie sich. Hätte sie die Abrißkante nur einen Augenblick später bemerkt, wäre sie sicher mit wild rudernden Armen nach unten gekippt. Tazi kniete vorsichtig an der Kante nieder und spähte nach unten. Vier oder fünf Meter unter ihr hing Steorf an einer Hand. Es war ihm gerade noch gelungen, sich an einer kleinen Spalte in der Mauer festzuklammern. Weitere fünf Meter tiefer konnte Tazi gerade noch eine Handvoll Stalagmiten mit rasiermesserscharfen Spitzen im Dunkel ausmachen. Sie würden einen Menschen, der auf sie stürzte, aufspießen. »Halt dich fest!« rief sie. »Bleibt mir denn eine andere Wahl?« kam die spöttische Antwort. Sie holte eine Schnur aus einer Tasche ihrer Lederhose. Dann befestigte sie die Schnur an einem Stalagmiten in ihrer Nähe, holte aus und rief Steorf zu: »Achtung! Seil!« Steorf kniff die Augen zusammen und konnte die 289
Schnur sehen, die ein Stück neben ihm baumelte. Er wickelte sie sich mehrmals um die freie Hand und rief: »Bereit!« Tazi hielt die Schnur mit der linken Hand, führte sie um ihre Hüfte und umfaßte das restliche Stück mit der Rechten. Dann stemmte sie sich mit den Fersen in den Höhlenboden und rief: »Ich habe dich!« Steorf fluchte halblaut und begann, nach oben zu klettern. Tazi half ihm so gut wie möglich, indem sie mit aller Kraft zog. Sie sorgte dafür, daß das Seil auf ihrer Seite sicher verankert war, und war darauf vorbereitet, es noch fester zu packen und zu halten, falls Steorf abrutschte. Wenige Atemzüge später tauchte sein Blondschopf über der Kante auf, und kurz darauf hatte er sich ganz emporgezogen. »Geht es dir gut?« fragte Tazi, während sie den Strick vom Stalagmiten löste und aufzuwickeln begann. »Ich werde es überleben«, antwortete er trocken, während er seine Schulter massierte. »Mal im Ernst. Geht es dir wirklich gut?« »Ja, danke.« Sie grinste ihn von unten her an und klopfte spielerisch den Staub von seinem schwarzen Hemd. »Vergiß das nie«, ermahnte sie ihn mit einem verschmitzten Zwinkern. Dann ging es weiter durch das ewige Dunkel, wobei sie jetzt noch besser auf die potentiellen Gefahren ihrer unterirdischen Umgebung achteten. Bei der nächsten 290
Kreuzung waren sie uneins, in welche Richtung es weitergehen sollte. »In dem Gang wird es definitiv etwas heller, und ich habe dieses Muster schon einmal gesehen«, erklärte sie ihm, während sie auf eine auffällige Struktur an der Wand des Tunnels zeigte, der rechts abbog. »Tazi!« stöhnte Steorf entnervt auf. »Das ist kein Zeichen oder Muster. Ich habe solche natürlichen Gesteinsmuster in zahllosen Tunneln gesehen, durch die wir bisher gekommen sind.« »Vertrau mir. Jetzt, wo es heller wird, kannst du auch deine Kraft ein wenig sparen«, erklärte sie mit einem Nicken auf seine leuchtende Hand. »Ich bin sicher, daß wir sie bald benötigen werden.« »Na gut«, stimmte Steorf widerwillig beiden Vorschlägen zu. Um die gereizte Stimmung, die durch ihre kleine Auseinandersetzung aufgekommen war, ein wenig zu zerstreuen, fügte er hinzu: »Wenn ich allerdings recht behalten sollte, schuldest du mir eine Runde im ›Kätzchen‹.« »Kann ich dir leicht versprechen. Du denkst doch wohl nicht ernsthaft, wir schaffen es lebend zurück, oder?« kam die trockene Antwort. Steorf musterte sie eindringlich. Tazi versuchte, ihre Sorgen hinter leichtfertigen Scherzen zu verbergen, doch Steorf durchschaute die heitere Fassade mühelos. »Ich weiß es!« antwortete er ihr ernst. »Du wirst dich also nicht so leicht aus deinen Wettschulden herausreden.« 291
»Du kennst mich einfach zu gut«, konterte sie, wobei sie ein wenig lächeln mußte. »Keine Frage. Wie viele Runden schuldest du mir inzwischen eigentlich?« Tazi mußte lächeln, und sie setzten ihren Weg fort. Dann begann der Tunnel eine kurze Strecke weit abwärts zu führen, und Steorf schlug vor, daß sie besser umdrehen sollten. Tazi ließ sich allerdings in ihrem Glauben, sie befänden sich auf dem rechten Weg, nicht so leicht erschüttern. Es sollte nicht lange dauern, bis es wieder aufwärts ging, und jetzt vermeinte auch Steorf, eine Handvoll vertraute Kennzeichen zu erkennen. Sie marschierten jetzt in grimmigem Schweigen dahin, da sich beide sicher waren, daß es nicht mehr weit zum Tempel sein konnte. Tazis Herz begann, schneller zu schlagen, und ihr Mund fühlte sich ganz trocken an. Mit einem Blick auf Steorf vergewisserte sie sich, daß es ihm nicht anders erging. Dann erspähten Tazi und Steorf den aus dem Gestein gemeißelten Eingang zum Tempel Ibranduls. Zwei Novizen erwarteten sie bereits in der Haupthalle, allerdings war der Geheimnisvolle Lauerer nirgends zu sehen. Sie hatten keine Muße, sich lange Gedanken darüber zu machen. Die Kinder Ibranduls teilten sich auf. Eines griff Steorf an, das andere stürzte sich auf Tazi. Die Novizen waren mit Krummsäbeln bewaffnet, ähnlich der Waffe, die Ashraf geführt hatte, schienen allerdings sonst über keine Ausrüstung zu verfügen. Das Kind Ibranduls, das Tazi den Weg abgeschnitten 292
hatte, war einer der Novizen, der am Vortag während der Besprechung anwesend gewesen war. Dadurch sah sie ihren Kontrahenten mit neuen Augen. Es fiel ihr noch immer schwer, ihn nicht zu hassen, während das Gesicht des toten Ashraf vor ihrem inneren Auge hinund hertanzte und die Sorge um Fannah sie fast zerfraß, von der sie befürchtete, daß sie bereits das gleiche Schicksal ereilt haben mochte. Dennoch versuchte sie, sich davon zu überzeugen, daß er nur benutzt worden war, wie dies bereits bei so vielen Opfern Ciredors der Fall gewesen war. Die Klinge mit beiden Armen über den Kopf gereckt, stürmte er auf sie ein. Sobald er in Reichweite war, führte er einen mächtigen Schlag von oben herab, der gereicht hätte, sie auf der Stelle zu töten. Doch sie fing seinen Krummsäbel mit gekreuzten Schutzklingen ab und hebelte ihm die Waffe mit einer fließenden Bewegung aus der Hand. Sie packte ihn an den Ohren und riß seinen Kopf nach unten und ihr Knie nach oben, so daß diese mit voller Wucht Bekanntschaft schlossen. Keuchend ging er zu Boden. Tazi ging neben ihm in die Knie und schlug ihm den Griff einer Schutzklinge mit voller Wucht gegen die Schläfe. Er wurde bewußtlos, doch sie ließ ihn am Leben. Während Tazi ihren Novizen ausgeschaltet hatte, hatte Steorf mit seinem Gegner alle Hände voll zu tun. Das Kind Ibranduls und Steorf tauschten mehrere Schläge, Hiebe und Paraden aus. Doch dann war dem Kind Ibranduls das Glück hold. Steorfs Klinge war seit 293
den wilden Kämpfen mit den Drow beschädigt. Durch schieres Glück gelang es dem Novizen, die Schwachstelle der Waffe mit seinem Krummsäbel zu treffen, und Steorfs Schwert zersplitterte ihm in den Händen. Steorf schrie wutentbrannt auf und warf die Überreste seiner Waffe weg. Er schlug dem Kind Ibranduls so plötzlich und überraschend mit der Rückhand ins Gesicht, daß es nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Zugleich krachte sein anderer Arm auf den Schwertarm des Novizen herunter, wodurch dieser seinen Krummsäbel fallen ließ. Jetzt waren beide Kontrahenten entwaffnet und damit wieder ebenbürtig. Sie versuchten, einander zu packen. Im Kampf taumelten Steorf und das zweite Kind Ibranduls gegen das Podest, wodurch das heilige Buch durch die Luft flog. Der Novize war kurz abgelenkt, während die heiligen Seiten durch die Luft flatterten und er instinktiv versuchte, sie zu schützen. Steorf nutzte die Gelegenheit, packte den Novizen an den Schultern und schlug seinen Kopf gegen das Podest. Ohnmächtig ging sein Gegner zu Boden. »Du und dein göttliches Geschreibsel sollen in der Hölle schmoren«, fluchte Steorf und breitete die Hände weit aus, um es zu Ende zu bringen. »Nicht«, rief Tazi und packte Steorf am Handgelenk. Sie begriff, daß er im Blutrausch war, und mußte sich regelrecht zwischen ihn und sein Opfer drängen, um ihn davon abzuhalten, etwas Schreckliches zu tun. Erst als er erkannte, daß er sie ebenfalls rösten mußte, um das Kind Ibranduls zu erwischen, kehrte so etwas wie 294
ein Anflug von Verstand in seine irr flackernden, stahlblauen Augen zurück. »Aus dem Weg«, knurrte er, während er vor Anstrengung keuchte. »Nein«, antwortete Tazi, die das bewußtlose Kind Ibranduls noch immer mit ihrem Körper deckte, nur. »Ich werde das nicht zulassen.« »Warum nicht?« Er hatte sich offenbar noch immer nicht beruhigt, und Tazi erkannte, daß die Lage auch für sie gefährlich wurde. In diesem Zustand ist er unberechenbar, ermahnte sie sich. Ich weiß nicht, wozu er fähig ist, wenn ich ihm weiter den Weg verstelle. In einem ruhigen Tonfall versuchte sie, ihn zu besänftigen: »Weil das einfach nicht du bist. Du mordest nicht gnadenlos und gedankenlos wie Ciredor.« Steorf sah sie mit einem Anflug von Nachdenklichkeit an. »Wir sind im Krieg!« antwortete er schließlich. »Ja«, stimmte sie ihm zu. »Doch in einem Krieg gibt es immer unschuldige Opfer, und das hier ist eines. Er kann uns nichts mehr tun.« Steorf begann, sich etwas zu beruhigen. Er trat einen Schritt zurück und musterte die Szene. Tazi beschloß, die günstige Gelegenheit zu nutzen. »Sie sind ebenso Opfer Ciredors wie wir. Er hat sie belogen und manipuliert ... und wir wissen ja noch nicht einmal, welche anderen Bösartigkeiten er bereits mit ihnen angestellt oder noch für sie vorgesehen hat.« 295
»Es gibt viel, wofür er uns Rechenschaft schuldet«, knurrte Steorf und senkte die Hände. »Ja, und deswegen sollten wir seinem Treiben ein Ende bereiten, im Interesse aller.« Steorf blickte noch einmal auf den reglosen Novizen hinab, ehe er ihr zustimmte: »Du hast recht. Gehen wir Fannah suchen.« »Wir fangen mit unserer Suche in dem Besprechungszimmer an, zu dem sie uns geführt haben«, legte Tazi fest. Obwohl sie ständig damit rechneten, auf weitere Widersacher zu treffen, gab es keine neuerlichen Zusammenstöße zwischen Tazi, Steorf und den Kindern Ibranduls. Das Besprechungszimmer war leer und sah größtenteils so aus, wie sie es zuletzt gesehen hatten. Steorf bemerkte eine Tür im hinteren Bereich des Raumes und gab Tazi lautlos mit Handzeichen Bescheid. Keiner von beiden entdeckte Schutzzauber oder andere Sicherungsmaßnahmen, und Tazi öffnete die Tür lautlos. Dahinter kam das Studier- und Arbeitszimmer des Lauerers zum Vorschein. Tazi mußte unwillkürlich würgen, und Steorf verzog angewidert das Gesicht. Die Leichen der beiden Kinder Ibranduls, die sie in die Falle geführt hatten, lagen noch immer dort, wo sie Ciredor zurückgelassen hatte. Der Schweigsame war allerdings nicht mehr von Ciredors magischer Fessel an die Wand gekettet, sondern am Boden zusammengesunken. Im ganzen Raum stank es widerwärtig. Das lag an der Hirnmasse des Bartlosen, die überall klebte. Tazi mußte schwer schlucken, um sich nicht zu übergeben. 296
»Bei den Göttern, ich hoffe, Fannah ist nichts zugestoßen«, brachte sie erschüttert hervor. »Wir müssen weitersuchen.« Sie erkannten schnell, daß es vom Studierzimmer des Lauerers aus nicht weiterging. Sie kehrten zuerst ins Besprechungszimmer und dann in den Gang zurück, der dorthin geführt hatte. Hinter den nächsten Türen fanden sie nur leere, nicht weiter auffällige Räume. Tazi versuchte, sich nicht entmutigen zu lassen. »Es kann sein, daß Ciredor sie mitgenommen hat«, verlieh Steorf den unausgesprochenen Ängsten, die sie beide heimlich gehegt hatten, endlich Ausdruck. »Sie ist hier«, erklärte Tazi energisch. »Sie muß es einfach sein.« Sie waren jetzt fast am Ende des Tunnels, und es gab nur noch eine Tür, die sie nicht geöffnet hatten. Tazi holte tief Luft und stieß sie auf. Der Raum wirkte wie ein gewöhnlich eingerichtetes Zimmer an der Oberfläche, ja er erinnerte an einen fast gemütlichen Wohnraum. Neben einem großen Sofa und einem Tisch standen zahlreiche Bücherregale an den Wänden. Die Freiflächen zierten Gobelins. Überall brannten Kerzen und tauchten den Raum in einen behaglichen Schein. Am anderen Ende des Zimmers stand ein großer Webstuhl. Fannah saß am Webstuhl, hatte einen Schlitten in der Hand und arbeitete geschäftig. Tazi hätte vor Erleichterung fast laut aufgelacht. »Fannah!« rief sie voller Freude. Als sie Tazis Stimme hörte, hob Fannah den Kopf mit den blinden Augen und legte ihn leicht schief. 297
»Tazi! Du bist zurück.« Steorf bewachte die Tür, während Tazi an Fannahs Seite eilte. Die beiden Frauen verschränkten kurz, aber innig die Finger ineinander, und es gelang ihr nicht, das breite Grinsen zu unterdrücken, das noch immer ihr Gesicht überzog. »Hast du herausgefunden, was du wissen wolltest?« fragte Fannah. »Ich denke, ich habe herausgefunden, was wir wissen müssen«, entgegnete Tazi und warf einen Blick auf das Werkstück auf dem Webstuhl. Sie war überrascht, als sie einen aufwendigen Turm erkannte, von dem ein blaues Leuchten strahlte. »Was ist das?« fragte sie ihre blinde Freundin. »Ich will ja nicht stören«, mischte sich Steorf von der Tür her in das Gespräch ein, »aber wir sollten wirklich zusehen, daß wir weiterkommen.« »Er hat recht. Wir müssen von hier verschwinden und zusehen, daß wir an einen sicheren Ort gelangen.« Sie und Steorf nahmen Fannah in die Mitte, und dann machten sie sich auf den Rückweg durch die Stollen. Der Hauptraum war noch immer leer bis auf die zwei bewußtlosen Kinder Ibranduls. Sie kamen an dem Podest vorbei, und Fannah stieß mit einer Sandale gegen ein paar der verstreuten Pergamente. Sie hielt inne, beugte sich nieder und begann, sie aufzulesen. »Was tust du da?« fragte Tazi, die zuerst dachte, Fannah habe vielleicht das Gleichgewicht verloren. Dann erkannte sie jedoch, daß ihre blinde Freundin die verstreuten Pergamente sorgfältig einsammelte. 298
»Daß wir und die Kinder Ibranduls einander letztlich feindselig gegenüberstanden, heißt doch nicht, daß diese Leute böse sind«, erklärte sie. »Ich will nicht, daß ihre heiligen Schriften unnötig besudelt und entweiht werden.« »Also gut, aber beeil dich«, forderte Tazi sie auf. »Steorf, du bewachst die innere Tür.« Sie wies auf den Eingang, durch den sie gerade gekommen waren. Fannah brauchte einige Zeit, um all die heruntergefallenen Papiere einzusammeln. Tazi bewachte sie mit gezückter Klinge. »Beeil dich, Fannah«, ermahnte sie sie. Gleichzeitig fiel ihr auf, daß ihre Freundin gedankenvoll die Stirn gerunzelt hatte. »Stimmt etwas nicht?« Fannah stand vorsichtig auf, den Pergamentstapel in Händen. Sie reichte sie Tazi und fragte: »Gehören diese Seiten alle zu dem Buch, von dem sie gestern gesprochen haben?« Tazi runzelte nun ebenfalls die Stirn, nahm aber den Stapel schweren, handgeschöpften Pergaments entgegen. Sie steckte ihr Schwert weg und blätterte den Stapel durch, bevor sie ihn Fannah zurückreichte. »Soweit ich das beurteilen kann, sind alle Schriftstücke in derselben Handschrift geschrieben. Wieso?« »Weil«, begann Fannah, »der Stapel deutlich schwerer ist als gestern.« »Bis du dir sicher?« Bevor die beiden Frauen weitere Schlußfolgerungen 299
aus diesen Entdeckungen ziehen konnten, eilte Steorf zu ihnen. »Meine Damen! Ich schlage vor, wir gehen. Dort hinten schlängelt sich irgend etwas, und es kommt näher«, informierte er sie. Hastig flohen die drei aus der Muzad.
300
Rituale
klagte der Geheimnisvolle Lauerer, und es Fort!« klang beinahe flehentlich. »Alles fort!« Der alte Priester wanderte ziellos im Haupttempel auf und ab und achtete kaum auf die beiden verletzten Novizen, die ängstlich dort herumstanden. Er hatte nur Augen für das wieder aufrecht stehende, aber leere Podest. »Wie konnte das geschehen?« stöhnte er. »Wie konnte was geschehen?« wiederholte eine bösartig klingende Stimme aus der Dunkelheit die Frage. Der Lauerer fuhr herum und wäre beinahe über seine eigene Robe gestürzt, die sich um seine Beine gewickelt hatten. Mit wachsender Furcht sah er, wie sich Ciredor aus den tiefen Schatten hinter dem Podest löste. Der Priester konnte erkennen, daß der Nekromant vor Wut kochte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, panisch die Flucht zu ergreifen, doch er wußte, daß ihm keine Wahl blieb, als sich dem dunklen Magier zu stellen. »Gebieter«, klagte er, »diese Gharabs sind mit den heiligen Schriften Ibranduls entkommen. Ich weiß 301
nicht, wie ... wie ich mich entschuldigen soll.« Er umklammerte seine Robe so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Was ist geschehen?« verlangte Ciredor zu wissen. »Vor ... vor ein paar Stunden«, begann der Priester stotternd, »gelang es den beiden Sembiten, den Weg aus der Muzad zurück hierher zu finden, wo sie das Buch stahlen.« »Hmmm, und ich dachte, du würdest dich um sie kümmern«, verspottete ihn Ciredor. »Sie sind deiner Falle mit den Aranea entkommen, doch du hast geschworen, daß sie nie lebend hierher zurückkommen würden.« Der Lauerer ließ seine Roben los und rang verzweifelt die Hände. »Das wären sie auch nicht«, protestierte er, und seine Stimme ging dabei beinahe in ein Kreischen über. »Wenn dieser Paria Ashraf nicht gegen seine Befehle verstoßen hätte.« Er fuhr etwas zuversichtlicher fort, da ihm eine Möglichkeit eingefallen war, einen Teil der Schuld von sich zu weisen. »Wenn diese beiden Kinder Ibranduls stärker im Glauben gewesen wären, hätten sie die beiden Sembiten hier aufgehalten ... für immer!« »Verlaßt den Raum«, befahl Ciredor den Kindern Ibranduls, deren Anwesenheit ihm erst jetzt so richtig bewußt geworden war. Als sie zögerten, senkte sich seine Stimme zu einem bedrohlichen Zischen: »Sofort!« Die Novizen flohen förmlich, ohne auch nur einen Blick zurück auf den Lauerer zu werfen, der sich auf 302
einmal sehr alleingelassen vorkam. Ciredor begann, den Priester langsam zu umkreisen. Der Lauerer senkte den Kopf ob der peinlichen Musterung und begann sich langsam, aber sicher, damit abzufinden, daß es allein seine Verantwortung gewesen war, Ibranduls heiliges Buch zu schützen. Er konnte den anderen keinen Vorwurf machen. »Was sollen wir jetzt nur tun?« flüsterte Ciredor aalglatt. »Jetzt, wo das Buch fort ist und, wie ich wohl annehmen muß, Fannah auch? Was schlägst du vor?« Währenddessen schritt er ohne Unterlaß um den Priester herum. Das war zuviel für den treuen Diener Ibranduls. Er konnte es nicht länger ertragen, brach in die Knie und begrub sein Gesicht in den Händen. »Es ist meine Schuld, meine Schuld allein«, jammerte er. »Du hast diese erstaunlichen Worte entdeckt, dein ganzes Leben der Aufgabe geweiht, sie aufzuspüren, und jetzt, von einem Augenblick zum anderen, sind sie verloren. Ich habe sie verloren.« Der Lauerer warf sich in den Staub und klagte: »Ich habe meinen Gott verraten. Ich verdiene es nicht zu leben!« Ciredor ragte hoch über ihm empor und tappte mit dem Fuß auf den Boden. Dem Magier schien eine Idee gekommen zu sein, denn er ging langsam vor dem Lauerer in die Knie und packte ihn hart an den Schultern. Er hob den Priester an, so daß er ihm ins Gesicht sehen mußte, und meinte: »Du willst sterben, ja? Nun, wenn du willst ...« 303
Der Lauerer befreite sich panisch aus Ciredors eisigem Griff und versuchte, ein Stück rückwärts zu krabbeln. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er mit ansehen mußte, wie Ciredor mit einer fließenden Bewegung aufstand und mit der rechten Hand in die Falten seiner dunklen Seidenrobe griff. Der Priester krümmte sich unwillkürlich, als er einen strahlenden Amethyst hervorholte und ihn auf seiner ausgestreckten Hand präsentierte. Der Anblick des unheiligen Artefakts ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Irgendwie schaffte er es, die Kraft zu finden, mit zitternder Stimme zu fragen: »W... was ist das?« Ciredor grinste. Es war ein Lächeln, das sich nicht in seinen schwarzen Augen widerspiegelte. »Keine Angst«, meinte er besänftigend. »Immerhin hast du gesagt, du verdientest es nicht zu leben. Nun denn«, fuhr er gleichmütig fort und trat dabei näher an den Lauerer heran, »Freue dich, denn ich werde dich dorthin schicken, wo du deinem geliebten lauernden Gott Gesellschaft leisten kannst.« Als Ciredor Ibrandul bei seinem Titel nannte, durchbrach irgend etwas die lähmende Furcht, die sich wie ein Nebel über den Verstand des Priesters gelegt hatte. Er fand sogar den Mut, von Ciredor eine Antwort zu verlangen: »Wovon redest du? Du wirst doch ...« Ciredor trat weiter auf den Priester zu und streckte den linken Arm aus. Ein grüner Blitz zuckte aus seinen Fingern und umhüllte den Priester. Eine grün leuchtende Sphäre hüllte den Priester ein und teilte sich dann in vier kleinere, leuchtende Kugeln, die kurz darauf die 304
Arme und Beine des Priesters umschlossen und förmlich am Boden festnagelten. Der Geheimnisvolle Lauerer konnte sich nicht mehr bewegen. »Was ist hier los?« schrie er voller Panik. Der mysteriöse Magier trat zu dem gefesselten Priester und ließ den Amethyst unzeremoniell auf seine Brust fallen. Das Juwel funkelte und glitzerte im Licht, und trotz seiner gefährlichen Lage stellte der Hohepriester fest, daß das faszinierende Funkeln seinen Blick unwillkürlich gefangennahm. Erneut bäumte er sich gegen die magischen Fesseln auf – vergeblich. Er war Ciredors Gnade ausgeliefert. Wenn Ciredor überhaupt so etwas wie Gnade kennt, dachte er verzweifelt. Ciredor trat jetzt direkt hinter den Kopf des Priesters. Dieser mußte sich anstrengen, um seinen Kopf so weit in den Nacken zu legen, daß er Ciredor von unten her mit den Blicken verfolgen konnte. Dabei schürfte er sich den Kopf auf, doch der Lauerer befürchtete, daß eine derartige Verletzung wohl momentan noch seine geringste Sorge darstellte. Dann ließ sich Ciredor elegant auf die Knie nieder und senkte den Kopf, um dem Priester ins Ohr zu flüstern. »Dein Fürst der trockenen Tiefen ist seit etlichen Jahren tot«, erklärte er. »Lügen! Nichts als Lügen!« kreischte der Lauerer. »Welche Flunkereien willst du mir da auftischen?« Sein Zorn wollte ihn angesichts dieser Behauptungen schier überwältigen, und zumindest für den Moment hatte er seine Zwangslage völlig vergessen. 305
»Sicherlich erinnerst du dich an die Zeit der Sorgen vor vielen Jahren und an den Krieg der Götter, oder?« fuhr Ciredor ungerührt fort. »Ah, Schweigen bedeutet Zustimmung.« Der Schwarzmagier mußte unwillkürlich lachen. »Meine Güte, ist dieser Boden aber hart und unbequem.« Er stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Der Lauerer versuchte, ihn so gut wie möglich im Auge zu behalten, während Ciredor um seine ausgestreckte Gestalt herum schritt. »Während er so im Dunkeln lauerte ... wenn du den kleinen Scherz verzeihst ...«, erklärte der geheimnisvolle Magier mit einer spöttischen Entschuldigung, »tief im Unterreich unter Tiefwasser, hatte Ibrandul ein Zusammentreffen mit meiner eigenen Göttin. Shar tötete den lauernden Feigling ohne viel Federlesens.« »Nein ...«, keuchte der Lauerer, doch seine Abwehr klang bereits wesentlich schwächer. Aus irgendeinem Grund ergab das, was Ciredor ihm da beschrieb, auf perverse Weise Sinn. Ihm war tatsächlich in den vergangenen Jahren aufgefallen, daß es immer weniger Berichte über Begegnungen mit dem Fürsten der trockenen Tiefen gab. Seit mehreren Monaten, seit Ciredor begonnen hatte, ihn mit den »verlorenen Worten Ibranduls« zu versorgen, erfüllte ihn ein nagendes Gefühl des Zweifels. Es war fast so gewesen, als habe er bereits auf unbewußte Weise gespürt, daß da etwas nicht stimmen konnte. »Wie kann das sein?« fragte er schwach, noch immer völlig schockiert von der Erkenntnis, daß sein Gott viel306
leicht tatsächlich tot war. »Es war eine Zeit der großen Veränderungen«, erklärte Ciredor und genoß dabei das Leid und das Elend, das der Lauerer durchlebte, als verkoste er einen guten Wein. »Ibranduls Avatar stellte für den meiner Königin wahrlich keine Herausforderung dar. Nach seinem Ableben riß sie seine Kräfte, seinen Herrschaftsbereich und seine Anhänger an sich.« »Aber es gab Zeichen des Lauerers in der Dunkelheit«, argumentierte der Priester schwach. »Nicht viele, zugegeben, aber dennoch Zeichen.« Er versuchte, sich voller Verzweiflung an die Hoffnung zu klammern, daß sein Gott noch leben könnte. Ciredor lächelte und schüttelte den Kopf. »Aber, aber. Das war stets Shar selbst. Sie erhielt für euch die Illusion aufrecht, euer Lauerer lebe noch. Einerseits gefiel ihr die Scharade, und andererseits nutzte sie ihr in ihrem fortwährenden Kampf gegen Selûne.« Fast verzückt fügte er hinzu: »Tatsächlich ist meine Herrin so unvorstellbar weise.« »Es gibt keinen Grund mehr für mich, weiterzuleben«, sagte der Priester völlig entmutigt. Jetzt, wo er dem Tode so nahe war, wurde ihm bewußt, wie sehr er sein ganzes Leben Ibrandul geweiht hatte und daß er ihm tatsächlich voll und ganz verschrieben war. Vielleicht konnte er ja in diesem Wissen so etwas wie Frieden zu finden. »Das will ich nicht abstreiten«, stimmte ihm Ciredor zu. »Aber du solltest nicht unglücklich sein. Dein Tod wird einen Sinn haben. Tatsächlich«, fügte er aalglatt 307
hinzu, »wird er vermutlich sogar mehr Sinn haben, als dein Leben je hatte.« Der Lauerer erkannte natürlich, daß Ciredor nur darauf wartete, daß der Priester ihn bat, seine kryptischen Worte näher zu erläutern. Indem er jedoch Stärke im Glauben fand, fand er auch die Kraft, dieser letzten Verlockung Ciredors zu widerstehen. Er schwieg verbissen. Ein pikiertes Stirnrunzeln zeichnete sich auf der Stirn des Nekromanten ab, da der Priester schwieg, statt wie vorgesehen seine Rolle zu spielen. »Hast du etwa Angst?« fragte er honigsüß. »Das solltest du auch, denn deine Seele ist fast die letzte, die ich noch benötige.« Der Lauerer zuckte nicht einmal mit der Wimper, und Ciredor sah sich gezwungen, mit seinen Erklärungen unaufgefordert fortzufahren. »Ich sammle diese Facetten für meine Göttin nun schon seit vielen Jahren. In diesem Juwel«, und mit diesen Worten zeigte er auf dem Stein, der auf der Brust des Lauerers ruhte, »befinden sich zehn Seelen. Doch bei keiner davon handelt es sich um eine gewöhnliche Seele. Es sind allesamt die Seelen von Wesen, die Shar auf die eine oder andere Weise verehrten.« Er schritt um den Lauerer herum, und dieser erkannte, daß der Schwarzmagier von seiner eigenen Erzählung gefangen war. »Einige der Seelen waren sich der Tatsache bewußt, daß sie Shar verehrten, andere nicht. So befindet sich dort drinnen etwa die Seele eines Elfen, der mir im wahrsten Sinne des Wortes in die Hände fiel und nicht 308
einmal wußte, daß seine Gottheit Teil meiner dunklen Göttin war.« Der dunkle Magier war jetzt so von seinem Monolog gefangen, daß der Priester den Eindruck hatte, er hätte ihn völlig vergessen. »Fannah wird der krönende Abschluß sein, denn sie und die Angehörigen ihrer Familie sind Priesterinnen Sharess’, einer Göttin, die für viele, viele Jahre völlig unter dem Einfluß Shars stand, bevor es ihr gelang, sich zu befreien. Ich werde all diese Seelen vereinen und sie Shar als ultimatives Opfer darbringen – als ein Geschenk der Einheit. Ich werde ihr ... sie selbst geben.« Der Geheimnisvolle Lauerer begriff, daß sich Ciredor angesichts seines eigenen Plans in einem wahren Zustand der Verzückung befand. Obwohl er selbst dem Tode nahe war, fand er die Angelegenheit höchst erstaunlich und irgendwie faszinierend. »Was hast du von diesem ›Geschenk‹?« fragte er. Ciredor sah auf den gefesselten Priester hinab und erklärte schlicht: »Shar wird erkennen, daß ich sie besser verstehe als alle anderen Sterblichen und ihre Geheimnisse in meinem Herzen trage. Deswegen wird sie mich als ihren Bräutigam erwählen.« »Das also hast du die ganze Zeit heimlich für die Verkündung der Schatten geplant«, erkannte der Lauerer. »Am Schluß schimmert doch noch so etwas wie Weisheit durch«, gratulierte Ciredor dem Priester spöttisch. »Bei der Nacht des Neumonds, die ich für die ›Verkündung der Schatten‹ vorgesehen haben, handelt 309
es sich in Wahrheit um eine Nacht, die im Tempel der alten Nacht, dem wahren Tempel Shars, als Kuß der Dame bezeichnet wird, und in jener Nacht werde ich sie in meiner Wüstenfestung mit meinem Geschenk ehren – meinem Herzen, wenn man es so nennen will –, und im Gegenzug wird Shar mich ehren.« »Du wirst scheitern«, erklärte ihm der Lauerer entschlossen. »Ich habe viele Fehler gemacht und werde für sie alle bezahlen müssen, doch ebenso wirst du für die deinen bezahlen. Die Sembiten werden dich aufhalten.« Ciredor schüttelte sich vor Lachen. »Du bist wirklich sehr unterhaltsam«, antwortete der Nekromant. »Ich weiß, meine Göttin wird dich ebenso amüsant finden. Immerhin hat sie es schon genossen, dich in den letzten vierzehn Jahren zu täuschen. Sie wird deine Seele ganz wundervoll finden.« Ciredor trat ein paar Schritte zurück. Der Lauerer beobachtete ihn mit einem Gefühl der distanzierten Faszination, als beträfen die sich hier abspielenden Geschehnisse ihn in Wahrheit gar nicht. Ciredor schloß die Augen und begann mit einem tiefen Singsang. Der Lauerer stellte verblüfft fest, daß er die Stimme des Schwarzmagiers als süß und melodisch empfand, obwohl er doch gleichzeitig wußte, daß sie sein eigenes Ende einläutete. Es wird gut sein, dachte er mit einem Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit, wenn ich endlich mit Ibrandul eins werde. Sein Gefühl der Ruhe war bereits kurz darauf wie 310
weggeblasen. Ciredors Litanei erreichte ihren tosenden Höhepunkt, und die Welt des Lauerers schien zu explodieren. Unvorstellbare Schmerzen breiteten sich in jedem Millimeter seines Körpers aus, und er begann sich in grausamer Qual hin- und herzuwerfen. Seine Augen rollten in den Höhlen zurück, und er weinte blutige Tränen. Er krallte mit solcher Verzweiflung die Finger in den Boden, daß er sich das Fleisch von den Knochen schürfte, und hörte auch dann nicht auf, als die Knochen zu splittern begannen. Der Schmerz war so unsäglich, daß er sich nicht mehr in Schreie fassen, ja nicht mehr begreifen ließ, und bei all dem pulsierte der Edelstein auf seiner Brust. Das letzte, was er in seinem Leben sah, war das ruhig und vage interessiert wirkende Antlitz Ciredors. Dann spürte der geheimnisvolle Lauerer, wie seine Essenz aus seinen Poren strömte, und hatte den Eindruck, als steige grauer Nebel von seinem Körper auf. Der Edelstein sog den Rauch geradezu hungrig auf, und sobald der letzte Rauchfaden, der die Seele des Lauerers verkörperte, darin verschwunden war, erschlaffte auch der gequälte Leib endlich. Ciredors Lachen hallte noch lange durch den verlassenen Tempel.
»Was wollt ihr damit sagen, ich kann nicht mit?« verlangte Steorf zu wissen. Er, Tazi und Fannah waren aus dem falschen Tempel 311
Ibranduls entkommen und hatten den Weg zurück ins Hakenviertel gefunden. Obwohl es Fannah bedrückte, davon zu hören, wie sich die Kinder Ibranduls hatten täuschen lassen, war sie doch nicht völlig überrascht. »Wir wissen doch beide nur zu gut, wie verführerisch und auf tückische Weise trügerisch Ciredor sein kann, wenn er es will«, hatte sie Tazi erinnert. Obwohl sie es nur ungern zugab, mußte auch Tazi zugeben, daß sie von Ciredor völlig eingenommen gewesen war, als ihr ihre Mutter den eleganten Schwarzmagier vorgestellt hatte. »Zugegeben, er hat etwas Betörendes an sich«, gab sie widerwillig zu. Als sie erkannte, wie Steorf ihr ob dieser Aussage einen strafenden Blick zuwarf, fügte sie eilig hinzu: »Obwohl er natürlich ein widerwärtiges Monster ist!« Fannah hatte sie in die Festhalle der endlosen Entzückungen geführt, obwohl beide heftig errötend und ausführlich protestiert hatten. »Es ist aus mehreren Gründen der einzige Ort, an dem wir uns in Abgeschiedenheit ausruhen können«, hatte Fannah schlicht und einfach erklärt und so ihre Einwände vom Tisch gewischt. Tazi war aufgefallen, daß ihre calishitische Freundin nicht davon gesprochen hatte, sich zu verstecken. »Da er ein Diener Shars ist, stellt der Tempel Sharess’ unsere einzige logische Wahl dar«, hatte sie ausgeführt. »Shars Einfluß kann uns an diesem Ort nicht erreichen, und wir können uns in Ruhe auf den bevorstehenden Sturm vorbereiten.« 312
Fannah hatte dann mit einer alten Bekannten im Tempel gesprochen, und kurz darauf stellte man ihnen entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung. Steorf ließ es sich nicht nehmen, etwas von Fannah, alten Freunden und Fallen in seinen Bart zu murmeln. Tazi hatte ihn daraufhin scharf ermahnt, Fannah habe nur gesagt, sie kenne die Kinder Ibranduls. Sie hatte nie behauptet, sie sei mit ihnen verbündet oder befreundet, wie dies bei den Priesterinnen Sharess’ augenscheinlich der Fall war. Tazi war auf jeden Fall bereit, ihrer blinden Freundin nochmals voll und ganz zu vertrauen. Nachdem sie den Großteil ihres Gepäcks, darunter das heilige Buch Ibranduls, sicher in ihren Räumen verstaut hatten, führte sie Fannah zu einem speziellen Raum im unteren Stockwerk, wobei sie zahlreiche Hallen und Räume durchquerten, in denen sich Szenen des Exzesses und der Lüste abspielten. Steorf, der sich weigerte, von Tazis Seite zu weichen, folgte ihr dabei getreulich, obwohl die Anblicke, derer er dabei ansichtig wurde, dafür sorgten, daß er puterrot anlief. Doch als sie bei der besagten Tür angekommen waren, hatte ihm Fannah die Hand auf die breite Brust gelegt und ihm erklärt, er könne sie nicht mehr weiter begleiten. »Es tut mir leid«, antwortete sie auf seine ungestüme Frage, »doch der Ort hinter dieser Tür ist Frauen alleine vorbehalten. Du darfst nicht eintreten.« Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Tazi hatte Fannah zuvor noch nie so entschlossen gesehen. Sie erkannte, daß sie in diesem Fall nicht nachgeben würde. 313
»Steorf, sagte Tazi sanft und zog ihn ein Stück zur Seite. »Ich bin mit Fannah hier in Sicherheit. Wenn es dir nicht erlaubt ist, diesen Raum zu betreten, dann darfst du nicht mitkommen. Du kannst nicht einfach ihre geheiligten Bräuche mißachten.« Steorf verlagerte sein Gewicht aufgeregt von einem Fuß auf den anderen, doch er schien ebenso entschlossen, seine Meinung durchzusetzen, wie Fannah. Tazi versuchte es mit einer anderen Strategie. Sie holte die Schriftrollen aus ihrem Rucksack, die sie Ciredor vor all den Monaten gestohlen hatte – in gewisser Weise kam es ihr fast schon vor, als sei das in einem anderen Leben gewesen – und legte sie Steorf in die Hände. Dabei versuchte sie, möglichst würdevoll zu wirken, um ihm zu vermitteln, wie ernst ihr die Sache war. »Ich bin nicht sicher, was Fannah mit uns vorhat, aber wir können es uns nicht erlauben, noch mehr Zeit zu vergeuden«, erklärte sie. »Während ich mich um diese Angelegenheit kümmere«, und damit wies sie auf die geschlossene Tür, »mußt du Ciredors Schriftrollen entziffern. Ich bin sicher, daß die Informationen, die nötig sind, um ihn aufzuhalten, irgendwo in diesen Schriften und in diesem Buch, das er gefälscht hat, verborgen sind.« Steorf stopfte die Schriftrollen in sein Cape und starrte Tazi an. Sie erkannte, daß er sich ihrer Argumentation widerstrebend anzuschließen begann. Sie trat einen Schritt näher und flüsterte ihm ins Ohr: »Es gibt niemanden, dem ich diese Aufgabe eher anvertrauen würde als dir.« 314
»Ich werde dich nicht enttäuschen«, entgegnete er. Er warf Fannah und dem verbotenen Raum noch einen schnellen Blick zu und machte sich dann wieder auf den Rückweg in ihre Zimmer. »Ich bin bereit«, erklärte Tazi, nachdem Steorf verschwunden war. »Nein, das bist du nicht«, sagte Fannah sanft, »aber du wirst es sein.« Mit dieser kryptischen Aussage öffnete Fannah die Tür und trat ein. Tazi folgte ihr. Der Raum war geräumig, und Dampfschwaden hingen in der Luft. Der Fußboden und alle Wände waren mit winzigen Mosaiksteinchen bedeckt, die atemberaubende Muster bildeten. Tazi hatte schon früher gehört, daß Teile Calimhafens mit solchen Kunstwerken geschmückt waren, und als sie direkt nach ihrer Ankunft durch die Stadt gehetzt waren, hatte sie den einen oder anderen Blick auf derartige Mosaike erhaschen können. Im Vergleich dazu, wie dieser Raum geschmückt war, verblaßten sie allerdings völlig. Die Mosaiksteinchen waren geradezu winzig, und Tazi fragte sich staunend, wie viele es wohl sein mochten. Es mußte den Künstler Jahre, wenn nicht ein ganzes Leben gekostet haben, den Raum auf diese Weise zu schmücken, dachte sie. Fast ehrfurchtsvoll strich sie mit den Fingern über die erstaunlich kühlen Steinchen und bewunderte die exquisiten Darstellungen. Sie zeigten Schrift in einer Sprache, die Tazi nicht erkannte, und Darstellungen von fantastischen Kreaturen. All das war in einer gera315
dezu unvorstellbaren Detailverliebtheit ausgeführt. Keinerlei Fenster durchbrachen die Muster an den Wänden, aber Tazi konnte etliche Luftschlitze erkennen, die diskret in die Mauern eingearbeitet waren. Bänke, die im gleichen Stil mit Mosaiken verziert waren, standen an den Wänden, an denen sich glänzende Messingarmaturen befanden. Den Großteil des Raumes nahm allerdings ein dampfendes Becken, das mit heißem Wasser gefüllt war, ein. »Bitte, setz dich«, forderte Fannah sie auf und wies auf eine der Bänke. Sie selbst setzte sich, und Tazi folgte dem Beispiel ihrer blinden Freundin. Fannah begann, sich langsam und bedächtig auszuziehen, und stapelte ihre gefaltete Kleidung auf der geschmückten Bank neben sich auf. Tazi tat es ihr nach und legte ihr Ledergewand ab. Ihr fiel auf, daß neben jeder Bank ein kleiner Kübel mit Seifenwasser stand. Fannah griff nach ihrem Eimer und einem Stoffetzen und machte sich daran, sich den Dreck und Schweiß der letzten Tage vom Körper zu schrubben. Erneut folgte Tazi ihrem Beispiel und stellte dabei fest, daß das Wasser einen kräftigen Geruch verströmte, der an eine Mischung aus Gewürzen und dem Duft der Ozeane erinnerte. Sie sog das Aroma in tiefen, genußvollen Zügen ein. Überall, wo sie sich abschrubbte, kitzelte ihre Haut, und sie war froh, endlich den ganzen Staub und das Blut der Muzad von sich abzuwaschen. Nachdem sich Fannah vollständig gereinigt hatte, nahm sie einen zweiten Eimer mit klaren Wasser und 316
kippte ihn sich über den Kopf, so daß die letzten Dreckreste fortgespült wurden. Während Tazi ihre Reinigung vollendete, trat Fannah an eine spezielle Nische in der Mauer. Dort holte sie ein Körbchen hervor, das mit getrockneten Kräutern gefüllt war, und trat damit an den Rand des Beckens. »Tazi!« forderte sie ihre Freundin mit sanfter, aber eindringlicher Stimme auf. »Es ist Zeit, daß du in die heiligen Wasser Sharess’ eintauchst.« Tazi tappte langsam auf nackten Füßen zum Becken und erkannte, daß eine Reihe von Stufen am Rand eingelassen war, die ins Wasser hinabführten. Langsam und bedächtig stieg sie ins Wasser und keuchte ob der Hitze unwillkürlich auf. Sie spürte, wie ihr durch die intensive Wärme das Blut ins Gesicht schoß, und hätte das Becken am liebsten gleich wieder verlassen, da die Hitze beinahe zuviel für sie war. Ihr war jedoch auch bewußt, daß ihrer Freundin dieses Zeremoniell sehr wichtig war, und so zwang sie sich, an der tiefsten Stelle des Beckens zu stehen. Das Wasser ging ihr bis zu den Schultern, und der ganze Raum war in schwere, scharf duftende Dampfschwaden gehüllt. Tazi war nicht sicher, ob Fannah sprach oder sang, da ihre Stimme so leise zu ihr drang. Sie erkannte auch die Sprache nicht genau, war aber der Ansicht, es müsse sich um Alzhedo handeln. Sie sah zu, wie Fannah immer wieder in den Korb griff und eine Handvoll Kräuter ins Becken warf, während sie kurz in ihrem Gebet innehielt. Tazi stand einfach nur im Becken, bewegte langsam und träge ihre 317
Glieder im heißen Wasser und spürte, wie sich ihre verspannten Muskeln endlich lockerten. Sie ließ einfach alles geschehen und wartete, was als nächstes folgen mochte. Nachdem der Korb leer war, stellte Fannah ihn zurück in die Nische und begab sich auch ins Wasser. Als sie nur noch einen knappen Meter von Tazi entfernt war, starrte sie ihr mit ihren eisig weißen Augen ins Gesicht. Nachdem sie sie einige Zeit durchdringend gemustert hatte, ergrififsie endlich das Wort: »Du stehst kurz davor, dich dem größten Bösen zu stellen, dem du je gegenübertreten mußtest. Wenn du eine Chance auf Erfolg haben willst, mußt du dich vor der bevorstehenden Schlacht reinigen. Du mußt die verschiedenen Gesichter verstehen, die du im Laufe deines Lebens getragen hast. Du mußt alles, was du bist, endlich in dir vereinen und als Ganzes akzeptieren. Nur so hast du eine Chance, ihn zu bezwingen und als Siegerin aus der Schlacht hervorzugehen.« Dann schwieg Fannah wieder. Tazi war nicht sicher, was Fannah eigentlich von ihr erwartete. Sie stellte fest, daß der treibende Dampf immer dichter wurde, so daß sie jetzt nicht einmal mehr Fannah ausmachen konnte. Tazi wußte, daß ihre Freundin nur eine Armlänge von ihr entfernt war, doch der Dampf war inzwischen so dicht, daß man die Hand nicht mehr vor Augen sah. Schweiß begann, ihr in die Augen zu rinnen, und sie mußte blinzeln, weil die beißende Flüssigkeit ihre Augen reizte. Je mehr sie blinzelte, desto mehr hatte sie den Eindruck, der Schleier lich318
te sich. Jetzt war sie sogar in der Lage, Fannahs Umriß im Nebel wieder zu erkennen. Doch als Fannahs Abbild schärfer hervorzutreten begann, fuhr sie bestürzt zurück. Das Gesicht im Dampf war nicht das ihrer Freundin, sondern ihr eigenes, das ihr entgegenstarrte. Es stellte allerdings keineswegs ihr Spiegelbild dar, sondern ihr Antlitz als sechsjähriges Kind. In den Augen des Mädchens lag ein Leuchten, das die ältere Tazi sofort wiedererkannte. Es bedeute, das das Mädchen gerade erfolgreich etwas gestohlen hatte und daher unglaublich zufrieden mit sich selbst war. Es hatte rabenschwarzes Haar, das in leichten Locken fiel, die Zunge etwas herausgestreckt, und sein junges Gesicht war wild entschlossen. Die ältere Tazi hätte in diesem Moment am liebsten laut losgekichert. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob der Anblick ihres jüngeren Ichs dieses Gefühl auslöste oder ob es die Gefühle waren, die ihr jüngeres Selbst in diesem Augenblick empfunden hatte und die sie nun teilte. »Dafür wirst du bezahlen, du kleine Ratte«, drohte eine Stimme. Die ältere Tazi stand plötzlich im gleichen Gang wie das Mädchen und drehte sich beim Klang der Stimme genauso um. Die ältere Tazi erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte ihrem älteren Bruder Tamlin, der den Gang entlangstürmte. Augenscheinlich hatte sie etwas getan, was ihn maßlos aufregte. Zweifellos hatte er es damals verdient, dachte Tazi. Aber er wird mich dafür bezahlen lassen. Das hat er immer getan. 319
Laut rief sie ihrem sechsjährigen Ich zu: »Lauf!« Es war, als hätte das Mädchen sie gehört. Sie stellte fest, daß sie auf einmal den Gang hinuntersauste. Die ältere Tazi spürte, wie ihr Herz wie wild schlug und sich ein wildes Grinsen auf ihrem Gesicht breitmachte. »So funktioniert das nicht, Thazienne«, ermahnte sie Cale. Tazi drehte sich um und sah sich mit dreizehn oder vierzehn Jahren. Die junge Tazi stand über einer Truhe gebeugt. Sie hatte wesentlich bessere Dietriche in der Hand als den ersten Satz, den sie ihr eigen genannt hatte. Cale stand neben ihr in seinem Wohnzimmer und beobachtete sie. Die ältere Tazi sah fasziniert zu, wie Cale zu ihr hinuntergriff und ihre Hand mit seinen langen Fingern umfaßte. Tazi spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hüpfte, als habe Cale ihre Hand gerade jetzt berührt. »Das, was du hier tust, erfordert eine gewisse Finesse«, erklärte er ihr mit seiner sonoren Stimme. »Du mußt dich von deinen Gefühlen leiten lassen.« Tazi sah, wie die Jugendliche voller Hochachtung und mit dem Anflug eines wesentlich tiefergehenden Gefühls zu Cale aufsah. Sie mußte schwer schlucken, als sich diese Szene vor ihren Augen entfaltete. »Ich werde es ihr zeigen«, hörte sich Tazi sagen. Sie drehte sich um und stellte fest, daß sie in ihrem Schlafzimmer in der Sturmfeste stand. Diese Version ihrer selbst war nur wenige Jahre jünger. Sie sah, wie die junge Frau wütend vor ihrer Frisierkommode auf- und abstapfte. Tazi kräuselte die Lippen, denn sie wußte 320
bereits jetzt, was ihr jüngeres Ich vorhatte. »Du wirst es ihr zeigen«, feuerte sie die jüngere Tazi an. Die junge Frau packte eine Schere, die zwischen all den Fläschchen und Gefäßen auf der Kommode lag, und starrte in den Spiegel. »Versuch mal, diese neue Spinnerei deiner Tochter, diesen dummen Hennen zu erklären, die du als deine ›Freundinnen‹ bezeichnest, Mutter!« fluchte sie. Dann umfaßte sie eine Handvoll ihres hüftlangen Haars mit einer Hand und reckte mit der anderen die Schere. Ein Schnitt reichte, und die Strähnen glitten zu Boden. Es dauerte nur ein paar wilde Augenblicke, und die junge Thazienne trug die Haartracht, die Tazi seit jenem Tag bevorzugte. Damit war sie natürlich in den modebewußten adligen Kreisen Selgaunts völlig unten durch gewesen. »Gut gemacht«, gratulierte sie der jungen Thazienne, und die beiden Frauen blickten mit dem gleichen Gesichtsausdruck der Zufriedenheit in den Spiegel. Als sich Tazi von sich und der Frisierkommode abwandte, konnte sie eine noch ältere Version ihrer selbst am Fenster sehen. Sie war ganz in schwarzes Leder gekleidet. Tazi konnte durch das Fenster sehen und entdeckte einen jüngeren Steorf, der begierig darauf wartete, daß sie sich ihm anschloß. Er war auch passend für eine ihrer nächtlichen Eskapaden gekleidet, und Tazi spürte, wie sich ihr Herzschlag in Vorfreude auf die nächtliche Tour beschleunigte. Sie konnte erkennen, daß ihr jüngeres Ich ebenso empfand. 321
Ein Hilfeschrei zerriß den Raum. Tazi drehte sich nochmals um und fand sich im Keller von Ciredors Schmalhaus wieder. Ihr gefror das Blut in den Adern. Sie mußte mit ansehen, wie Ciredors Magie ihr jüngeres Ich in die Knie zwang. Während sie zusah, wie sie gegen Ciredor kämpfte, strich sie sich geistesabwesend durchs Haar und war unwillkürlich verblüfft, daß es nicht hüftlang war. Als sie damals gegen Ciredor gekämpft hatte, hatte er gnadenlos mit ihren Gefühlen gespielt. Unter anderem hatte er ihr Haar rasend schnell wieder wachsen lassen, so daß es erneut seine alte Länge erlangt hatte. Der Vorgang war qualvoll gewesen, was Ciredor natürlich voll und ganz beabsichtigt hatte. Tazi rieb sich unwillkürlich über die Kopfhaut, während sie nochmals mit ansehen mußte, wie sich diese schrecklichen Augenblicke, die nun schon zwei Jahre in der Vergangenheit lagen, erneut vor ihren Augen abspielten. Ihr jüngeres Ich ließ seinen Blick von dem Jungen, den Ciredor ausgeweidet hatte, um seine dunkle Magie mit Macht zu erfüllen, zu Steorf gleiten, der an der Kellerwand gefesselt war. Tazis Herz schlug wie wild, und ihr Mund war ebenso ausgetrocknet wie jener ihres Gegenstücks, während sie die Worte flüsterte, die in den Smaragdring graviert waren, den ihr Durlan gegeben hatte. Sie keuchte auf, als der graue Energieschild, der sich um ihr anderes Ich gebildet hatte, den magischen Blitz, den Ciredor entfesselt hatte, ablenkte. Tazi war den Tränen nahe, als sie Zeugin der alten Schlacht wurde. Ihr war auf einmal klar, daß sie bei weitem nicht die 322
Entschlossenheit verspürte, die sie damals empfunden hatte. Während sie zusah, wie ihr jüngeres Ich den verborgenen Dolch aus dem Stiefel zog und ihn Ciredor präzise direkt unter dem Herzen in den Leib trieb, konnte sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, was es gewesen war, über das ihr jüngeres Selbst im Gegensatz zu ihr noch verfügt hatte: Mut. »Nein!« schrie Tazi voller maßloser Furcht auf. Sie hievte sich aus dem heiligen Becken und stand zitternd am Rand. Jemand legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter, und Tazi wirbelte schwer atmend herum. Tazi wußte nicht, was auf sie wartete, und tat sich schwer, ihr rasendes Herz wieder unter Kontrolle zu bringen und sich wieder etwas zu beruhigen. Doch es war nur Fannah, die neben ihr stand und ihr ruhig ein großes weißes Badetuch entgegenhielt. Tazi nahm es und wickelte es mit zitternden Fingern um sich. Fannah wies auf eine der Bänke und setzte sich neben sie, nachdem Tazi Platz genommen hatte. Tazi starrte ihr ins Gesicht und versuchte noch immer, ihr rasendes Herz wieder zu besänftigen. Sie schwieg und wartete, bis Fannah das Wort ergriff. Fannah lächelte sie an und sagte nur: »Es ist immer ein Schock, wenn man sich selbst sieht.« Sie tätschelte beruhigend Tazis Hand. »Wenn du deinen Geistern tapfer gegenübergetreten bist«, fuhr sie fort, »bist du für das bereit, was auf dich wartet. Wie die Wüste nicht nur aus einem einzelnen Sandkorn besteht, bist du selbst nicht nur eine Facette, 323
sondern bestehst aus Tausenden.« Der Dampf hatte sich jetzt beinahe aufgelöst, und Tazi dachte lange über das Gesagte nach, bevor sie antwortete: »Ich denke, du hast völlig recht, Fannah.« »Ruh dich ein paar Minuten aus«, forderte diese Tazi auf. »Dann wollen wir zurück zu Steorf gehen und sehen, was er herausgefunden hat.« Tazi lehnte das Haupt gegen die kühlen Mosaiksteinchen und schloß die Augen. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wie es war, über die Fähigkeit zu verfügen, die es mir ermöglichte, Ciredor zu besiegen, dachte sie, und wenn ich mich nicht daran erinnern kann, wie soll ich ihn dann nur diesmal bezwingen? Zerstreut strich sie sich über den leeren Finger. Ich bin nicht mehr die Frau, die ich einst war, dachte sie. Es war niemand da, der ihr widersprochen hätte.
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Die Calimwüste denke, ich konnte wieder etwas herausfinden«, Icherklärte Steorf Tazi und Fannah. Tazi lenkte ihr Reittier mit den Knien näher zu Steorf heran. »Bist du deswegen die letzten paar Stunden so schweigsam gewesen?« fragte sie. »Ich habe versucht, Kräfte zu sparen«, stellte er nüchtern fest. »Aber natürlich habe ich auch über diese Schriften nachgedacht. Ich wünschte nur, wir hätten mehr Zeit gehabt, sie in Calimhafen zu studieren. Die Umgebung dort war wesentlich besser dafür geeignet, und natürlich war es auch viel bequemer.« Er rutschte ungemütlich im Sattel hin und her, und Tazi mußte ob seiner letzten Bemerkung lächeln. Die drei waren nun schon seit zwei Tagen in der Wüste unterwegs, und so etwas wie Bequemlichkeit stand nicht mehr auf der Tagesordnung. Als sie die Stadt durch das Malikhantor im Handelsviertel verlassen hatten und Tazi ihren ersten Blick auf die schier endlose Calimwüste hatte erhaschen können, war sie wie vom 325
Donner gerührt gewesen. Calimhafen war schon phantastisch genug für sie gewesen, aber letzlich war es doch auch eine Stadt wie jede andere. In den wenigen Tagen, die Tazi dort verbracht hatte, hatte sie bereits begonnen, ein Gefühl für den Pulsschlag der Stadt und der einzelnen Viertel zu entwikkeln. Der Handel war in Calimhafen ein ebenso wichtiger Bestandteil des Lebens wie in Selgaunt. Die Stadt war verhältnismäßig leicht zu verstehen, doch die schier endlose Einöde, die sich so weit das Auge reichte vor ihr ausstreckte, seit sie die Stadt verlassen hatten, verschlug ihr die Sprache. Die Calimwüste reichte von der Stadt aus fast dreihundert Kilometer weit nach Norden, Osten und Westen. »Wie kann ein solches Ödland überhaupt existieren?« fragte sie Fannah. »Rundherum ist Meer.« »Vor Jahrtausenden kämpften zwei mächtige Dschinnen namens Calim und Memnon in dieser Gegend um die Vorherrschaft«, erläuterte diese. »Sie wurden schließlich durch mächtige elfische Zauber gebunden. Jene, die sie gefangennahmen, vertraten die Ansicht, der Schaden, den sie dem ehemaligen Schlachtfeld der beiden zufügten, sei nichts im Vergleich zu dem, was die beiden Dschinne angerichtet hätten, wenn man sie hätte gewähren lassen.« Fannah breitete die Arme aus, wie um die Wüste zu umschließen. »Das ist der Preis, den wir für ihre Einkerkerung zahlen.« Tazi starrte auf die leblosen Dünen und die Kilome326
ter und Aberkilometer salziger Ebenen. Die goldweiße Unendlichkeit der Wüste stellte eine völlige neue Erfahrung für sie dar. Ihre Jugend hatte aus Türmen und dicht gedrängten Straßen bestanden, in denen die prächtigst gekleideten Adligen und die armseligsten Straßenkinder oft fast Schulter an Schulter standen. Natur kannte Tazi nur in Form von sorgfältig gepflegten Parkanlagen oder prächtig gedeihenden Wäldern, also von allem, was grün war und lebte. Jetzt stand sie auf einmal einem Ozean aus leblosem Weiß gegenüber, und der Anblick drohte ihren Verstand zu überfordern. Sie und ihre Freunde würden diese Wüste durchqueren müssen. Irgendwo tief in dem tödlichen Ödland versteckte sich Ciredor. Gemeinsam waren sie zu der Ansicht gelangt, der Einsatz magischer Hilfs- oder Transportmittel wäre in der leblosen Einöde wie ein Leuchtfeuer, das Ciredor sofort auf ihren Standort aufmerksam machen würde. Außerdem drängte es nach dem tragischen Zusammentreffen mit den Anhängern Ibranduls ohnehin keinen von ihnen wirklich danach, sich der Magie irgendeines fremden calishitischen Magiers oder Hexenmeisters anzuvertrauen. Aus diesem Grund kauften sie Pferde, reichhaltige Vorräte und machten sich auf eigene Faust in die Wüste auf. Fannah hatte sie ermahnt, daß sie wahrscheinlich kaum Wasser und noch weniger Nahrung finden würden und mit ihrem Proviant sorgfältig haushalten mußten. Sie mußten sich mit jedem nur erdenklichen Ausrüstungsgegenstand eindecken, der sich eventuell als 327
überlebensnotwendig herausstellen mochte. Außerdem benötigten sie spezielle Kleidung, die sie vor der sengenden Sonne schützte. Sie trugen wie Wüstennomaden weite Baumwollgewänder mit Kopfschutz, Aba genannt. Zwei Tage später, während Tazi gerade unbequem in ihrem Sattel hin- und herrutschte und ob ihrer schmerzenden Muskeln das Gesicht verzog, mußte sie sehnsüchtig an die Flottille fliegender Teppiche zurückdenken, die bei einem der Marktstände angebunden gewesen waren, an dem sie vorbeigekommen waren. Sie legte eine Hand auf ihren verlängerten Rücken und versuchte, den schmerzhaften Muskelknoten zu massieren, der sich nach zwei Nächten, die sie im Sattel geschlafen hatte, gebildet hatte. Selbst sie mußte sich widerwillig eingestehen, daß sie der Ritt langsam, aber sicher an ihre Grenzen brachte. »Verrate uns doch, was du herausgefunden hast«, forderte sie Steorf auf. »Wenn es dir nur irgendwie gelingt, mich von meinen schmerzenden Knochen abzulenken, reicht das schon.« Steorf erkannte, daß ihre Aussage nur halb im Scherz gemeint war. Er nahm einen Schluck Wasser aus seiner Trinkflasche und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Soweit ich feststellen konnte«, begann er, »sind wir noch immer in die richtige Richtung unterwegs.« »Na, das will ich aber auch hoffen«, mischte sich Fannah scherzhaft ein, und sowohl sie als auch Tazi mußten unwillkürlich kichern. 328
Ihr Pferd war lose mit Tazis verbunden. Sie hatte ihren Freunden gestanden, daß es schon einige Zeit zurücklag, seit sie geritten war, und sie fühlte sich sicherer, wenn sie einem ihrer sehenden Freunde nahe war. Erstmals während ihrer langen Freundschaft war sich Tazi so richtig darüber bewußt, daß Fannah ja eigentlich blind war. »Ich habe auch herausgefunden, daß Ciredor plant, sein Ritual morgen nacht zu vollenden«, fuhr Steorf fort. »In der ersten Nacht des Neumonds«, bemerkte Fannah. »Genau«, stimmte ihr Steorf zu. »In der Nacht also, in der alles vom Schleier der Dunkelheit verhüllt ist. Ciredors jüngster Eintrag in seinem heiligen Buch enthüllt, daß diese besondere Nacht vom Tempel der alten Nacht zum ›Kuß der Dame‹ erhoben wurde.« »Zum ›Kuß der Dame‹?« fragte Tazi. »Genau. Soweit ich herausfinden konnte, scheint es sich dabei um den wichtigsten Festtag für jene zu handeln, die Shar verehren. Es soll eine Nacht voll grausamer Taten im Namen Shars sein. Die Nacht endet mit einem Festschmaus im Morgengrauen.« »Konntest du herausfinden, wo er dieses Ritual vollführen wird?« fragte Fannah neugierig. »Ich bin ziemlich sicher, daß er die dunkle Zeremonie in einer bestimmten Gruppe von Minaretten durchführen will, die sich nahe dem Herzen der Wüste befinden.« Steorf hielt inne und ließ den Blick über den Horizont schweifen. 329
»Ich weiß allerdings noch nicht, welche Minarette das sind«, beendete er seine Ausführungen. Tazi erkannte, daß er frustriert darüber war, daß er zumindest seiner Einschätzung nach beim Entziffern von Ciredors Manuskripten so langsam vorankam. »Du arbeitest schon so schnell du kannst«, versuchte sie, ihn zu ermutigen. »Ich kann mir kaum vorstellen, was für eine unbefriedigende Arbeit das sein muß. Wenn du eine Seite übersetzt, verändert sich dadurch die Codierung der nächsten, und du mußt wieder ganz von vorne mit dem Entschlüsseln anfangen.« Steorf murmelte als Antwort etwas in seinen Bart. Tazi erkannte, daß er nicht wollte, daß jemand an seiner Statt für seine Fähigkeiten oder deren Mangel Entschuldigungen fand. Taktvoll versuchte sie, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. »Wie viele derartige Türme mag es in der Calimwüste geben?« fragte sie Fannah. »Wie können sie nur so lange die ungünstigen Witterungsbedingungen überstehen?« »Zur Zeit der Shoon-Dynastie wurde die Handelsstraße erbaut. Die Steine, die bei ihrer Errichtung und der Bauwerke entlang der Straße Verwendung fanden, wurden so mit Magie verwoben, daß die Hitze und die anderen widrigen Bedingungen der Wüste ihnen praktisch nichts anhaben können«, erläuterte sie Tazi. »Alle drei Kilometer hat man zwei Minarette errichtet. Die Türme sind zwölf Meter hoch, und jeder von ihnen verfügt an der Spitze über eine Art umlaufenden, offenen Wehrgang. Aufwendig verzierte Torbögen tragen 330
die vergoldeten Dächer. Manche sagen, die Spitze wäre durch undurchdringliches Glas oder schützende Magie versiegelt, so daß man die Feuer, die in den Kohleschalen mitten auf den Turmspitzen brennen, nicht zu erreichen vermag.« »Damit nichts diese Lichter löschen kann«, mutmaßte Tazi. »Ich habe gehört, daß Erstaunliches passiert, wenn man die Brennschalen in einem Minarettpaar mit den blauen Kristallen im Minarett entzündet.« »Nämlich?« bohrte Tazi nach, während sie ihren Kopfschutz neu arrangierte, um ihre Augen besser vor dem Gleißen des Wüstensands zu schützen. »Ein blaues Leuchten umhüllt beide Türme in Form einer schützenden Sphäre, die weder Bestien noch schlechtes Wetter durchdringen können.« »Wenn das tatsächlich wahr ist«, fragte Steorf, »warum ist es dann eigentlich so schwierig, die Calimwüste zu durchqueren? Natürlich verstehe ich, daß wir nicht diese gepflasterte Straße bis zu Ciredors Haustür entlangspazieren und bei ihm anklopfen können, aber warum benutzen nicht Kaufleute und Reisende diese Route? Wenn sie so gut geschützt ist, wäre sie dann nicht vielleicht sogar gemütlicher, sicherer, ja schneller als eine Reise zur See?« »Vor vielen Jahren wurde ein Großteil der alten Handelsstraße zerstört. Natürliche Erdverschiebungen sorgten dafür, daß zahlreiche Schutzzauber der Straße versagten«, begann Fannah. »Einige Türme wurden teilweise oder ganz verschüttet, während bei vielen an331
deren die Edelsteine gestohlen wurden. Unser SylPasha würde die Straße gerne reparieren. Er hat auch schon Fortschritte erzielt, doch es ist ein langer, schwieriger und zeitaufwendiger Vorgang.« Tazi warf Fannah und Steorf einen prüfenden Blick zu. Natürlich war die Blinde gegen die gleißende Helligkeit immun, die entstand, wenn sich die Wüstensonne auf dem reflektierenden Sand spiegelte, doch die Hitze nahm sie ebenso mit wie sie und Steorf. Die drei ritten nun schon seit Stunden ohne Pause, und daher entschloß sich Tazi eine solche auszurufen. »Ich denke, wir könnten alle eine Stunde Rast vertragen«, meinte sie. »Gute Idee«, stimmte Steorf zu. »Das gibt mir auch erneut Gelegenheit, mich mit diesen Schriftrollen zu beschäftigen.« Sie verhielten die Reitpferde in der Nähe einer Felsgruppe. Das Terrain hatte sich verändert, während sie tiefer in die Wüste vorgedrungen waren, doch waren diese Veränderungen nur marginal. So waren sie beispielsweise zahlreiche Kilometer über sanft geschwungene Dünen geritten, um dann in ein Gebiet völlig flacher Salzebenen zu kommen, das nur die eine oder andere Felsnadel durchbrach. Der Boden rund um diese Felsgruppe bestand mehr aus Salz als aus Sand, und es gab sogar einen kleinen Bereich im Schatten der Felsen, wo der Boden erdig und etwas feucht war. Die Pferde nutzten die Gelegenheit und leckten die wenige Feuchtigkeit, die sie hier fanden, begierig auf. Tazi ließ sich dankbar aus dem Sattel gleiten und streckte ihre 332
schmerzenden Beine. Es dauerte ein wenig, bis sie nicht mehr O-beinig ging. Nachdem sie ihre Muskeln etwas gelockert hatte, half sie Steorf, ein Seidentuch an ein paar Felsen zu befestigen, so daß es eine Art improvisiertes Zelt bildete. Dann breiteten sie ein weiteres Tuch auf dem Boden aus und ließen sich im Schatten nieder. Tazi trank gierig aus ihrem Wasserschlauch. Obwohl sie ihr Aba, das aus Baumwolle gefertigt war, als Außengewand trug, hatte sie nicht auf ihre Lederkleidung verzichtet. Sie wußte, daß sie wie verrückt schwitzte und genügend trinken mußte, um nicht auszutrocknen. Sie hatte auch noch keine Möglichkeit gefunden, ihre Hände zu bedecken, während sie damit die Zügel hielt. Durch die sengende Sonne waren sie inzwischen krebsrot. Tazi rieb sich vorsichtig die schmerzenden Finger. »Eventuell hättest du dich doch entschließen sollen, einige der leichteren Kleidungsstücke zu kaufen, die wir auf dem Markt gesehen haben«, erinnerte Fannah, die gehört hatte, wie gierig Tazi getrunken hatte, sie. »Zugegeben, das war keine leichte Entscheidung«, stimmte ihr Tazi zu, »aber ich bin eher bereit, ein wenig mehr zu schwitzen, als auf den zusätzlichen Schutz zu verzichten.« Tazi hatte sich auf dem Markt geweigert, sich von ihrer Lederkleidung zu trennen. Insgeheim hatte sie gefürchtet, so nach dem Ring noch allen anderen Schutz zu verlieren, den sie gewohnt war und auf den zu vertrauen sie gelernt hatte. »Wir haben mehr als genug Wasser mitgenommen. 333
Es sollte also nicht zum Problem werden«, meinte Fannah gedankenvoll. Tazi wandte sich Steorf zu. Sie fragte sich, warum er so still war. Während sie mit Fannah gesprochen hatte, hatte er alle Pergamente Ciredors, die sie in ihren Besitz gebracht hatten, hervorgeholt und einen Teil davon auf dem salzigen Boden ausgebreitet. Er war völlig in der Arbeit mit den Dokumenten gefangen. Tazi mußte ob des Anblicks unwillkürlich den Kopf schütteln. Er kann nicht aufgeben, dachte sie sich. Sie strich sich zerstreut mit den Fingern durch ihre kurzen Locken und stellte verblüfft fest, wie steif diese geworden waren. Sie musterte ihre Hand und sah, daß sie mit etwas Sand bedeckt war. »Das tückische Zeug kriecht wohl überall rein«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu jemand anderem und streifte die Hand an ihrem Ledergewand ab. Sie zog die Stiefel aus und schüttelte sie aus. Mißbilligend sah sie, wie auch aus den Stiefeln Sand rieselte. »Er ist absolut überall«, seufzte sie. Während Fannah eine Bestandsaufnahme ihrer Vorräte machte und eine Mahlzeit zubereitete, meldete sich Steorf wieder zu Wort: »Ich denke, ich weiß jetzt, wo sich diese Minarette befinden.« Tazi krabbelte auf Händen und Knien zu Steorf hinüber, der an einen der Felsen gelehnt saß. Sie sah sich das Pergament an, das er gerade studierte, und erkannte, daß es sich um eines der wenigen Schriftstücke handelte, die sie Ciredor zwei Jahre zuvor abgenommen hatte. 334
»Soweit ich sagen kann, befinden sich diese Minarette irgendwo in der Nähe eines Ortes, der als Teshyll bekannt ist«, führte Steorf aus. Tazi versuchte, die Worte zu studieren, die er gerade übersetzte. Die verschnörkelte Handschrift war für sie völlig unverständlich. Die Buchstaben erinnerten in ihrer Schönheit vage an Alzhedo, allerdings war es damit mit der Ähnlichkeit auch schon zu Ende. Aus dem Augenwinkel heraus konnte sie mit ansehen, wie ein Flimmern alle anderen Dokumente erfaßte, als Steorf sie auf den Namen Teshyll auf dem einen Pergament hinwies. Die Schrift begann, sich wie eine Flut dünner Würmer zu schlängeln und zu verändern, bis sie eine neue Position und Ausrichtung auf dem schweren Pergament eingenommen hatte. Jede Seite bis auf die, die Steorf gerade in Händen hielt, war erneut zum Mysterium geworden. Wie sollen wir ihn bloß besiegen? fragte sich Tazi entmutigt. »Teshyll war vor achttausend Jahren, als diese Gegend noch reich und fruchtbar war, eine Stadt, die den Bauern der Teshyllfelder einen Marktplatz für ihre Waren bot«, erklärte ihnen Fannah. »Calim hatte dort einen Palast, in dem sich sein Harem befand. Es war eines der denkwürdigsten Bauwerke, die je der Gravitation gespottet haben.« Tazi mußte ob des scharfen Gehörs ihrer Freundin lächeln. Es hatte ausgesehen, als konzentriere sich Fannah ganz darauf, einen Teller mit köstlichen Früchten für sie alle kunstvoll zu arrangieren, aber dennoch hatte 335
sie alles von ihrem Gespräch mitbekommen. »Gibt es Überreste der Stadt?« fragte Steorf und biß in ein Stück geschnittene Frucht. »Nein. Von den Gebäuden sind nur noch eine Handvoll Ecksteine und Grundpfeiler übrig.« Obwohl sie durstig war, hatte Tazi Schwierigkeiten, viel zu essen. Ihr fiel auf, daß es Steorf nicht besser ging. Die sengende Hitze drückte sie alle wie eine schwere Last, und kräftig zu essen zählte so ziemlich zu den letzten Dingen, zu denen Tazi momentan Lust verspürte. Dennoch wußte sie, daß es notwendig war, da sie alle ihre Kraft so gut wie möglich bewahren mußten. Sie zwang sich also, mehr zu essen, als ihrem Appetit entsprach, und ermahnte ihre Freunde, es ihr gleichzutun. »Schließen wir eine Stunde lang oder so die Augen, und dann reisen wir weiter«, sagte sie. Fannah rollte sich zusammen und war beinahe augenblicklich eingeschlafen. Tazi erkannte, daß sie und Steorf zwar verspannt und steif sein mochten, daß die Reise durch die Wüste für ihre blinde Freundin allerdings noch wesentlich anstrengender sein mußte. Tazi bewunderte ihre Ruhe, doch sie wußte, daß der Körper ihrer blinden Freundin bei weitem nicht über die gleiche Ausdauer verfügte wie ihr starker Verstand. Sie beobachtete Fannah, die ruhig schlief, eine Weile und lehnte sich schließlich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurück. Zwischen den Sprüngen in den Felsen sah sie goldene Echsen umherhuschen, die ungefähr eine Handbreit groß waren. Diese Geckos waren die einzigen Tiere, die sie seit ihrem Aufbruch 336
gesehen hatten. Wie es aussah, wagten sich nicht einmal Vögel in die Calimwüste. Andererseits sollten wir uns eigentlich glücklich schätzen, daß diese kleinen, harmlosen Echsen die einzigen Kreaturen sind, auf die wir gestoßen sind, versuchte Tazi sich zu überzeugen. Sie schloß die Augen, doch obwohl sie müde war, wirbelten ihre Gedanken wie verrückt durcheinander. Ein raschelndes Geräusch zu ihrer Linken schreckte sie auf. Sie öffnete die Augen und rollte sich instinktiv nach links ab, nur um zu sehen, daß es nur Steorf war, der wieder die Pergamente studierte. »Ich dachte, wir wollten uns ausruhen«, flüsterte sie so leise wie möglich, um Fannah nicht zu stören. Sie vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, daß sich an Fannahs ruhigem Atem nichts geändert hatte. »Ich kann nicht ausruhen«, antwortete ihr Steorf, ohne überhaupt von seiner Arbeit aufzusehen. »Es ist noch so viel in diesen Seiten verborgen, was wir herausfinden können.« Tazi schob sich näher zu ihm und berührte sanft seine Hand. »Wir brauchen diese Informationen. Das bestreitet auch niemand, doch wir brauchen genauso unsere Rast.« Steorf blickte auf. Er sah zuerst Tazi ins Gesicht, dann ließ er seinen Blick über Fannah und ihre bereits mageren Vorräte schweifen. »Ich denke nicht, daß diese oder eine andere Rast den 337
Krieg gegen Ciredor zu unseren Gunsten entscheiden wird«, sagte er ruhig. Seine Worte trafen Tazi hart. Seit ihrem Aufbruch aus Calimhafen hatte auch sie sich ständig Sorgen gemacht. Daß sie beim Reinigungsritual gescheitert war, war eine weitere Sorge, die ihr keine Ruhe ließ. Sie durfte sich den anderen zuliebe ihre Sorgen allerdings nicht anmerken lassen. Fannahs Leben hing von ihrer Entschlossenheit ab, und sie wollte auch nicht zulassen, daß Steorf an ihrer Verzweiflung teilhatte. »Wir sind schon so weit gekommen«, versuchte sie, ihn mit falscher Zuversicht aufzumuntern. »Wir haben alle Hindernisse und Gefahren überwunden, die sich uns in den Weg gestellt haben. Wenn Ciredor keine Angst vor uns hätte, wäre er wohl nicht in die Wüste geflohen. Er wäre in Calimhafen geblieben und hätte versucht, uns dort zu töten. Das ist doch auch ein Trost!« »Ich wünschte nur, es wäre wahr«, antwortete Steorf, und seine Dankbarkeit ob ihrer Versuche, ihn aufzumuntern, schwang in seiner Stimme mit. »Ich fürchte allerdings, er ist nur deswegen in die Wüste gereist, weil er genau hier sein muß, um sein Geschenk an Shar zu vollenden. Die Zeit, es zu vollenden, ist knapp, und deswegen mußte er herkommen. Ich würde ja auch gern glauben, daß er Angst vor uns hat, Tazi, aber ich fürchte, daß dem keineswegs so ist.« Alles, was er gesagt hatte, war völlig logisch. Tazi weigerte sich dennoch, es anzuerkennen. Es wäre einem Eingeständnis ihres drohenden Scheiterns gleichgekommen. 338
»Das sollte er aber«, antwortete sie völlig ernst. »Er sollte besser verdammt viel Angst vor uns haben. Was hast du inzwischen herausgefunden?« fügte sie dann noch hinzu, um wieder zu einem produktiveren Thema zurückzukehren. Jetzt zeichnete sich der Anflug eines Lächelns auf Steorfs Gesicht ab. »Ich bin verdammt nahe dran, die genaue Entfernung der Minarette von Calimhafen zu berechnen, aber ich habe es noch nicht ganz geschafft. Jedes Mal, wenn ich die verdammten Pergamente weglege, sind sie kurz darauf völlig umgeschrieben.« In seiner Stimme schwang eine kaum verhüllte Enttäuschung mit. »Eines frage ich mich schon seit einiger Zeit«, begann Tazi. »Warum hat Ciredor all das wohl niedergeschrieben, wenn darin so viele Hinweise auf seine Pläne verborgen sind?« »Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht haben wir Ciredor falsch eingeschätzt, als wir davon ausgingen, es müsse sich bei ihm um einen Magier handeln. Vielleicht ist er ein Nachtmantel Shars, ein Angehöriger ihrer Elitekaste von Priestern. Soweit ich weiß«, führte Steorf weiter aus, »sind sie nicht befugt, spezielle Aufträge ohne die direkte Weisung ihrer obersten Vorgesetzten zu übernehmen und durchzuführen. Vielleicht hat Ciredor jemand anderem Bericht erstattet, und diese Dokumente fanden dabei Verwendung. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich«, überlegte er laut, »daß er allein agiert und diese Sammlung von Schriftstücken als eine Art Hinterlassenschaft dient, die andere seines 339
Glaubens finden sollen und die für die Zeit bestimmt ist, nachdem er Shar sein Geschenk präsentiert hat.« »Etwas, das er zurücklassen will, damit es andere finden können«, flüsterte Tazi, und in ihrem Verstand überschlugen sich die Gedanken, als sie darüber nachdachte, welch umfassende Auswirkungen das Ritual haben mochte, an dem sich Ciredor versuchen wollte, wenn er es als notwendig erachtete, der Welt eine Art Nachlaß zu hinterlassen. »Eventuell hat er den Anhängern Ibranduls deswegen auch eingeredet, es handle sich um ein Buch ihres Gottes«, spann Steorf den Gedanken weiter. »Er wollte eine entschlossene Gruppe, die sein Vermächtnis für ... danach schützt.« Nach diesen Überlegungen schwiegen beide und hingen ihren Gedanken nach. Schließlich wandte sich Steorf erneut an Tazi. »Es gibt etwas, das ich noch wissen möchte.« Irgendwie machte ihr sein Tonfall auf unerklärliche Weise Angst. Sie zeichnete mit dem Finger Figuren in den Sand, wagte es aber nicht, ihn direkt anzublicken. »Das wäre?« fragte sie mit belegter Stimme. »Ich weiß nicht, wie die Sache für uns alle ausgehen wird«, begann er. Tazi blickte auf und legte ihm beschwichtigend einen Finger auf die aufgesprungenen Lippen. »Pst! Sag so etwas nicht!« beschwor sie ihn. Er löste ihre Hand sanft von seinem Mund und drückte sie. »Ich muß darüber sprechen. Keiner von uns kann sa340
gen, was uns erwartet und mit uns geschehen wird. Ich möchte nur, daß du etwas weißt, und dies ist vielleicht die letzte Chance, die ich habe, um es dir zu sagen.« »Dann solltest du dir aber besser sicher sein, daß es etwas ist, mit dem du auch leben kannst, nachdem wir wohlbehalten zurück in Sembia sind«, lachte sie. »Du weißt, ich werde ewig darauf herumreiten, sobald wir wieder daheim sind.« »Falls wir zurückkehren«, korrigierte sie Steorf sanft, »möchte ich auch nicht, daß du je vergißt, was ich dir jetzt sagen werde.« »Nun gut«, antworte Tazi schlagartig völlig ernst. »Ich weiß, wie sehr es dich kränkte, als du von Ciredor erfuhrst, daß mich Thamalon Uskevren bezahlte.« Tazi ließ den Kopf hängen. Er griff ihr sanft unters Kinn und hob ihren Kopf, so daß sie ihm wieder ins Gesicht sehen mußte. »Es ist wahr, dein Vater hat mich viele Jahre dafür bezahlt, daß ich so gut wie möglich auf dich aufpasse. Was du allerdings nicht weißt, ist, daß ich schon viel länger auf dich aufpasse. Ich passe auf dich auf, seit wir beide Kinder sind.« »Was?« »Seit damals, als du diesen Säugling aus dem Komposthaufen gerettet hast und Durlan dich mit dem Ring belohnte, bin ich dir heimlich gefolgt. Damals gehörte Durlan zu meinen Ausbildern, und er erzählte mir von deinen Taten. Wie du dir denken kannst, hat mich die Geschichte stark beeindruckt. Eines Tages beschloß ich also, mehr von dir zu erfahren.« 341
Nun war Tazi völlig fassungslos. Dabei hatte sie doch gedacht, sie könne nichts mehr überraschen! »Meine Mama ist wie deine Eltern sehr auf den richtigen Umgang bedacht. Als wichtigste Magierin Selgaunts muß sie das auch sein. Deshalb habe ich eine ziemlich abgeschiedene Kindheit verbracht.« Tazi hörte tiefe Trauer in seiner Stimme. Dies war eine Facette seiner Jugend, die er bisher vor ihr geheimgehalten hatte. »Ich denke, ich habe mich wohl aus den gleichen Gründen wie du heimlich nächtens aus dem Haus gestohlen – ich wollte die Freiheit genießen. Die Freiheit von Pflichten, Verpflichtungen und ständig wachsamen Augen. Als meine Fähigkeiten und magischen Künste wuchsen, trat dein Vater an meine Mutter Elaine heran. Er wollte mit ihr einen Handel schließen. Er war überzeugt, meine Fähigkeiten seien groß genug, um für dich als eine Art Beschützer zu fungieren. Er ging davon aus, es müsse mir möglich sein, mich mit dir bekannt zu machen, ohne dein Mißtrauen zu erwecken, da wir ein ähnliches Alter hatten. Du solltest mich für einen weiteren deiner vielen Bewunderer halten.« »Warum hast du mir nicht schon früher die Wahrheit gesagt?« verlangte Tazi zu wissen, die zwischen Zorn und einem Gefühl hin- und hergerissen war, das sie gar nicht einzuordnen wagte. »Erstens war die Annahme deines Vaters, du würdest jede Art von Schutz vehement ablehnen, wohl korrekt«, erklärte Steorf. Als Tazi daraufhin schwieg, blickte Steorf sie ernst an und meinte: »Komm schon, sei ehrlich. Wenn du auch 342
nur geahnt hättest, daß ich ein Leibwächter sein könnte, wärst du mir dann nicht bei der erstbesten Gelegenheit entschlüpft und hättest dich dabei auch noch königlich amüsiert?« Tazi senkte den Blick und unterdrückte ein Kichern, da sie Fannah nicht wecken wollte. »Ich hätte das sicher auch prächtig gedeichselt«, antwortete sie, nachdem sie den Kopf wieder gehoben hatte. »Na ja, du hättest es zumindest probiert«, antwortete er mit einem Anflug der alten Selbstsicherheit. »Doch darum ging es nicht, da meine Mutter die Abmachung ablehnte. Sie war der Ansicht, früher oder später würde jemand Wind davon bekommen, und sie wollte nicht, daß man ihr eine direkte Allianz mit einem Mitglied des Alten Rathes nachweisen konnte. Damit wäre die Sache eigentlich erledigt gewesen, doch ich erfuhr vom Versuch deines Vaters, mit meiner Mutter ins Geschäft zu kommen. So trat ich auf eigene Faust an ihn heran, um sein Angebot zu akzeptieren. Er sagte, er sei beeindruckt ›von meiner Fähigkeit, über die engen Roben meiner Mutter hinauszusehen‹, doch ich schätze, das war nur eine etwas blumige Formulierung dafür, daß er äußerst zufrieden damit war, doch noch seinen Willen durchgesetzt zu haben. Er erkannte natürlich nicht, daß in Wahrheit ich es war, der seinen Willen durchgesetzt hatte. So war es mir möglich, das Leben, das ich mir so lange erträumt hatte, sieben Jahre lang zu leben. Du hattest keine Ahnung von der Abmachung, die ich mit deinem Vater getroffen hatte, und meine Mutter kam 343
mir nie auf die Schliche und ertappte mich nicht bei meinen geheimen Ausflügen. Sie hätte mich auch nicht verstanden. Elaine will nur, daß ich der nächste Hochmagier Selgaunts werde, und unsere nächtlichen Exkursionen passen überhaupt nicht in diesen Plan.« »Aber du hast das Zeug dafür«, erklärte Tazi. »Das weiß ich. Ich weiß aber nicht, ob ich es will. Ich will meine Entscheidung selbst treffen, nicht einfach einen Lebensweg gehen, den man mir auferlegt. Ich möchte über die Freiheit einer Wahlmöglichkeit verfügen. Du selbst bist doch jemand, der den Wert einer freien Entscheidung besonders zu schätzen weiß.« Tazi nickte. »Mit dir an meiner Seite war ich plötzlich frei«, fuhr Steorf fort. »Ich erkannte in dir eine verwandte Seele. Glaube mir, ich wollte dir oft von meiner Abmachung mit deinem Vater berichten, doch ich fürchtete deine Wut. Ich hoffte, du würdest es nie herausfinden. Indem ich dieses Geheimnis vor dir bewahrte, habe ich uns für Ciredor angreifbar gemacht, und ich werde nie wieder zulassen, daß so etwas geschieht.« »Ich wünschte nur, du wärst von Anfang an ehrlich zu mir gewesen. Ich will eigentlich glauben, daß ich es genossen hätte, wenn wir so unsere Eltern gemeinsam veräppelt hätten«, entgegnete Tazi, die von der Ehrlichkeit von Steorfs Geständnis nicht völlig überzeugt war. »Das kannst du nicht wissen. Ich wollte nicht alles riskieren, nachdem wir einander so nahegekommen waren.« 344
»Nein. Natürlich kann ich nicht mit Sicherheit sagen, wie ich reagiert hätte«, stimmte sie ihm zu. »Dennoch werden wir es jetzt wohl nie erfahren, und die zwei Jahre, die wir verloren haben, werden wir auch nie wieder zurückbekommen. Jetzt können wir nur nach vorn schauen.« »Das hoffe ich.« »Ich denke, wir sollten jetzt packen«, sagte Tazi. Einerseits wollte sie natürlich zusehen, daß sie weiterkamen, aber in Wahrheit wollte sie Zeit für sich selbst. In ihrer Lage war die Zeit im Sattel noch am besten geeignet, um in Ruhe über Steorfs Enthüllungen nachzudenken. Ja, sie wollte ihm glauben, doch die Wunde war noch immer tief und verlief wie ein klaffender Riß in dem Fundament, auf dem ihre Beziehung stand. Tazi weckte Fannah, die sofort hellwach war und aufstand. Sie brauchten nicht lange, um ihr improvisiertes Lager zusammenzupacken und alles auf die Pferde zu verladen. Tazi inspizierte ihre Reittiere und konnte nur hoffen, daß diese genügend Zeit gehabt hatten, um sich ebenfalls ausreichend zu erholen. Laßt uns bloß nicht im Stich, beschwor sie ihr Pferd lautlos, während sie seine Flanke tätschelte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir das zu Fuß schaffen. Steorf gab ihnen die Richtung vor, und dann ritten sie für mehrere Stunden praktisch wortlos hintereinander her. Natürlich ergab es Sinn, wenig zu sprechen, um sich nicht noch zusätzlich zu verausgaben, doch Tazi war sich darüber bewußt, daß ihr Steorf in Wahr345
heit Zeit geben wollte, um über das Gesagte nachzudenken. Sie wollte ja an ihn glauben und ihm vertrauen, wie sie es einst getan hatte. Doch wie findet man zu dem zurück, was einst war, wenn das Vertrauen so tief enttäuscht wurde? fragte sie sich. »Steorf ...«, begann sie und durchbrach damit das lähmende Schweigen, während sie ihr Pferd gleichzeitig anspornte, um zu ihm aufzuschließen. Sie sollte nicht dazu kommen, den Satz zu beenden. Fannah keuchte bestürzt auf, als ihr Reittier einknickte und zu Boden ging. Tazi und Steorf schwangen sich eilig von ihren Pferden, um sich um Fannah und ihr gestürztes Tier zu kümmern. »Geht es dir gut?« fragte Tazi, während sie der blinden Frau aufhalf. »Ja, ich scheine noch ganz zu sein«, antwortete diese erschüttert. »Was ist mit meinem Pferd? Hat es sich den Fuß in einem Erdloch verletzt?« Steorf kniete neben dem kläglich wiehernden Tier nieder. Ein Vorderlauf war gebrochen, doch es gab weit und breit kein Anzeichen dafür, was den Sturz ausgelöst haben mochte. »Soll ich versuchen, es zu heilen?« fragte er. Tazis Herz blutete beim Anblick des leidenden Hengstes, doch sie wußte, daß sie ihre Ressourcen sorgfältig einteilen mußten, und dazu gehörte auch Steorfs magische Kraft. Sie schüttelte traurig den Kopf und kniete neben dem Tier nieder. 346
Dann zog sie ihren kleinen, rasiermesserscharfen Dolch und sagte leise: »Es tut mir ja so leid.« Sie streichelte den Nacken des Pferdes und bereitete sich innerlich darauf vor, ihm die Kehle durchzuschneiden. Das Pferd zuckte, als sich ihre Hand seinem Kiefer näherte. Konsterniert legte sie den Dolch nieder und spreizte sanft sein Maul auf. »Brrr«, würgte sie hervor. Das Maul war mit aufgeblähten, schwarzen Egeln förmlich übersät. Sie durchtrennte die Halsschlagader des Tiers, um seinem Leiden ein Ende zu setzen. Es gab nichts mehr, was sie für es tun konnte. Das Blut des Pferdes begann, sich in einer schwarzen Lache im Sand rund um Tazis Knie zu sammeln. Sie kam wieder auf die Füße. »Wir müssen die anderen beiden Tiere überprüfen«, informierte sie Fannah und Steorf. Wie sie erwartet hatte, fanden sich auch in den Mäulern der anderen beiden Reitpferde die gierigen Blutsauger, allerdings nicht in so großer Zahl. Sie und Steorf lösten die Schmarotzer vorsichtig ab. Da sich die Blutegel bereits fast vollständig vollgesaugt hatten, ließen sie sich leicht lösen. Aufgebläht wälzten sich die schwarzen Biester im Sand. Tazi zertrat gnadenlos einen Egel nach dem anderen und versuchte, sich angesichts des nassen Geräusches, das sie machten, wenn sie sie unter dem Stiefelabsatz zermalmte, nicht zu übergeben. »Wie haben die Pferde sie bekommen?« fragte Fannah, nachdem Tazi und Steorf mit den Schädlingen kurzen Prozeß gemacht hatten. 347
»Es ist meine Schuld«, erklärte Tazi kopfschüttelnd. »Ich hätte sie bei unserer letzten Rast nicht von dem brackigen Wasser trinken lassen sollen. Ich dachte, es sähe halbwegs rein aus, und wollte unsere Wasservorräte so weit wie möglich strecken. Dein Reittier«, sagte sie zu Fannah, »war vermutlich durch den Blutverlust bereits so geschwächt, daß es gestrauchelt ist und sich das Bein gebrochen hat.« Sie ging zum Kadaver von Fannahs Pferd und begann, die Vorräte auf Steorfs Reittier zu laden. Während sie wütend mit einem der Gurte kämpfte, mit denen der Proviant festgezurrt war, informierte sie Steorf über die Schulter über ihre weitere Vorgehensweise: »Ich lasse Fannah hinter mir reiten, und dein Pferd kann die zusätzlichen Vorräte tragen. Ich hoffe, die Pferde schaffen das.« Steorf half ihr mit dem Gepäck. »Du hast es nicht wissen können. Keiner von uns hat daran gedacht.« »Aber ich hätte daran denken müssen«, blaffte sie ärgerlich. »Ich kann es mir nicht erlauben, hier draußen noch weitere solche Fehler zu machen.« »Das werden wir auch nicht«, gelobte er. Tazi wandte sich ab und ging zu Fannah hinüber, die auf sie wartete. So allein mitten in der Calimwüste wirkte die blinde Frau plötzlich unglaublich einsam und verletzlich. »Ich darf einfach nicht scheitern«, murmelte Tazi.
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Die Wüste lebt
W
ie schlägt sich dein Reittier?« fragte Steorf Tazi und durchbrach damit das drückende Schweigen, das in der Wüstenhitze schwer auf ihnen lastete. »Es geht ihm gut«, entgegnete sie. Sie war sicher, daß ihr Pferd ebenso erschöpft sein mußte wie sie selbst, aber es blieb ihnen einfach keine Wahl als weiterzumachen und die Tiere einfach voranzutreiben. Der Verlust des dritten Pferdes sorgte dafür, daß die verbleibenden durch die zusätzliche Last rasch an Kräften verloren. Die Salzebene war jetzt wieder in sanft geschwungene Dünen übergegangen, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. Dadurch wurde das Vorwärtskommen zusätzlich ungeheuer erschwert. Die Tiere fanden auf dem rutschigen Sand wesentlich schwerer Halt, und die Tatsache, daß sie überlastet waren, machte die Angelegenheit auch nicht gerade einfacher. Tazi erkannte, daß die ständige Gleichförmigkeit der Wüste an ihr nagte und ihre Entschlossenheit untergrub. »Blau und Gold, so weit das Auge reicht«, flüsterte sie. 349
»Was hast du gesagt?« fragte Fannah und beugte sich ein Stück im Sattel nach vorne. »Oh, entschuldige bitte. Ich habe gar nicht mitbekommen, daß ich laut gesprochen habe.« »Schon gut«, ermunterte sie Fannah, deren Lippen auch bereits rissig und aufgesprungen waren. »Also, was hast du gesagt?« »Überall, wo ich hinsehe, bietet sich mir der gleiche Anblick – weiter, blauer, wolkenloser Himmel über unverändertem goldweißem Boden.« »Na ja, ein wenig Konstanz im Leben ist auch nicht schlecht, oder?« scherzte Fannah, doch für Tazi klang der Witz irgendwie schwach. »Ich könnte ein bißchen Veränderung gut vertragen«, murmelte sie. Die drei und ihre Tiere trotteten weiter. Tazi wußte, daß sie immer schwächer wurden, je weiter sie in die Wüste vordrangen. Sie hatte sich geweigert, Steorf zu erlauben, seine Magie für etwas anderes aufzuwenden als für die Versuche, Ciredors Buch zu entschlüsseln. Das Wasser wurde streng zwischen ihnen und den Reittieren rationiert, da sie es nicht mehr riskieren wollte, ihre Reittiere an den sporadischen Wasserlöchern zu tränken, an denen sie vorbeikamen. Sie hatten keine Möglichkeit festzustellen, ob diese Wasserstellen nicht vielleicht auch mit Blutegeln oder anderen Parasiten verseucht waren. Eine der tückischen Angelegenheiten bei einer derartigen Reise durch die Wüste war die Tatsache, daß sie ständig durchs Schwitzen Flüssigkeit verloren, diese 350
aber praktisch augenblicklich durch den Wind verdunstete. Sie hatten keine Möglichkeit, wirklich abzuschätzen, wie stark sie bereits an Wassermangel litten. Plötzlich wurde der Wind fast unmerklich stärker und änderte seine Richtung. »Calims Atem«, hauchte Fannah. »Wie bitte?« fragte Steorf. »Wenn der Wind hier draußen seine Richtung ändert, dann ist es der Dschinn Calim, der so seine Präsenz offenbart – so sagt man zumindest«, erklärte sie. »Ich hoffe, sein Atem bringt uns gute Neuigkeiten«, kommentierte Steorf trocken. »Sieh nach Osten«, rief Tazi plötzlich aufgeregt. »Was ist da?« erkundigte sich Fannah. »Ich denke, es handelt sich um ein Wasserbecken, und es ist nicht einmal weit entfernt«, beschrieb sie ihre Entdeckung voller Aufregung Fannah. »Ich denke nicht, daß das möglich ist«, antwortete diese zweifelnd. »Ich glaube aber, Tazi hat recht«, schlug sich Steorf auf ihre Seite. »Es muß sich um ein natürliches Wasservorkommen handeln. Ich kann nichts Magisches daran entdecken.« »Das einzige Wasservorkommen von nennenswerter Größe so tief in der Wüste ist als die ›Wandernde Oase‹ bekannt. Es handelt sich um ein Wasserbecken und schattenspendende Palmen, die jedes Jahr im Frühjahr an einer anderen Stelle der Calimwüste auftauchen. Aber zu dieser Jahreszeit ist die Wandernde Oase normalerweise bereits ausgedörrt, und ihre Bäume sind 351
verwittert und von der Hitze verbrannt.« »Aber du kannst dir nicht sicher sein, oder?« wandte Tazi ein. »Ich denke, es könnte sich lohnen, der Sache nachzugehen.« »Ich bin ihrer Ansicht«, stimmte ihr Steorf zu. »Wir benötigen dringend zusätzliches Wasser, genauso wie die Pferde.« »Es ist nicht weit«, sagte sie über die Schulter hinweg zu Fannah. »Wir reiten einfach mal hinüber und sehen uns das an. Wenn ich mich irren sollte, haben wir nicht allzuviel Zeit vergeudet.« Doch es spielte scheinbar keine Rolle, wie lange Tazi und ihre Freunde auch versuchten, die schillernde, blaue Wasserfläche zu erreichen – sie kamen ihr keinen Schritt näher. Schließlich konnte auch Tazi nicht mehr anders, als ihren Fehler einzugestehen. »Nun gut, wir können aufgeben, glaube ich«, sagte sie« zu Steorf und wischte sich wieder einmal das Salz aus den Augen. »Es muß sich um irgendeine Illusion durch die flirrende Hitze handeln. Wenn die Oase real wäre, müßten wir längst dort sein.« Tazi drückte die Schultern durch und machte sich auf eine Ermahnung durch Fannah gefaßt, die sie jetzt sicherlich gleich darauf hinweisen mußte, daß es besser gewesen wäre, ihrem Wissen über die Wüste zu vertrauen. Doch Fannah sollte sie erneut überraschen. »Es war die Mühe wert«, sagte sie. »Aber ich habe mich geirrt«, mußte Tazi zugeben. »Wenn man etwas aus den richtigen Gründen probiert, gibt es kein Falsch.« 352
Ehe Tazi noch antworten konnte, stiegen plötzlich ihr und Steorfs Pferd. Tazi kämpfte wie Steorf verzweifelt darum, das Gleichgewicht zu wahren, und obsiegte schließlich, doch Fannah wurde überrascht. Sie fiel rückwärts vom Pferd und prallte hart auf den sandigen Wüstenboden. Sobald es Tazi gelungen war, ihr Pferd unter Kontrolle zu bringen, schwang sie sich hastig aus dem Sattel und eilte an Fannahs Seite. »Geht es dir gut?« fragte sie ihre blinde Freundin besorgt. »Wie du siehst«, begann Fannah mit einiger Selbstironie, während sie aufstand und den Staub aus ihrer Robe klopfte, »habe ich nicht gelogen, als ich meinte, es sei schon ziemlich lange her, seitdem ich geritten bin.« Tazi mußte trotz der Situation lachen. »Wie gelingt es dir nur bei all dem, deine gute Laune zu bewahren?« wunderte sie sich. »Warum sollte ich schlechter Laune sein, wenn ich Zeit mit meinen Freunden verbringen kann?« sagte Fannah nur. Steorf gesellte sich zu ihnen. Er führte beide Reitpferde an den Zügeln. »Ich weiß nicht, was mit den Tieren los ist«, erklärte er, und man konnte die Anspannung in seiner Stimme deutlich hören. »Ich weiß es auch nicht, aber ich sehe es als Omen, daß wir besser mal ein Stück zu Fuß gehen sollten«, beschloß Tazi. »Die Pferde können die Pause gut vertragen, wenn sie uns einmal einige Zeit lang nicht tra353
gen müssen, und wir können uns zugleich die Beine vertreten.« Tazi und Fannah gingen zu beiden Seiten ihres Reittiers, und Steorf übernahm die Rückendeckung. Tazi warf einen Blick zurück, um ihm eine Frage zu stellen, bemerkte aber, daß er in Gedanken versunken war. Sie beschloß, ihn nicht zu stören. Zweifellos ging er gerade noch mal im Geiste Ciredors Schriften durch und versuchte, die Worte, die er bisher hatte übersetzen können, in Zusammenhang zu bringen. Eins muß man ihm lassen. Er gibt nicht so schnell auf, dachte sie. Tazi sah wieder nach vorne. Es war schwer abzuschätzen, ob sie überhaupt vorankamen, da hier in der Wüste praktisch keinerlei kennzeichnende Landschaftsmerkmale zu sehen waren. »So wie der Wind bläst und die Dünen bewegt, hat es fast den Eindruck, als wanderten sie«, sagte sie zu Fannah, um ein wenig Konversation zu betreiben. »Welcher Wind?« fragte diese nur völlig ruhig. Tazi erkannte, daß sich tatsächlich kein Lüftchen regte und daß sie auch keine anderen Geräusche rund um sich hören konnte. Die Luft war drückend, aber der Sand schien dennoch ständig seine Richtung zu ändern. »Ich verstehe ...«, begann sie, und dann schienen die Dünen rund um sie zu explodieren. Die Pferde stiegen und wieherten vor maßloser Angst, wodurch sie ihre Zügel losrissen. Tazi packte Fannah am Arm und versuchte, sie festzuhalten. Sie sah, daß Steorf auch wie wild gebeutelt wurde. Alles 354
begann im Sand zu versinken. »Es ist wie Wasser«, schrie Tazi. »Wir sinken immer tiefer.« »Wehrt euch nicht«, rief Fannah. »Das macht es nur schlimmer!« Tazi war der Verzweiflung nahe. Sie war fast bis zu den Schienbeinen im Sand versunken und erkannte, daß sie mit ihrer Aussage völlig falsch gelegen hatte. Der Untergrund verhielt sich in keiner Weise wie Wasser. Sie sank nicht beständig ein, sondern sie war vom Sand gefangen, als sei er zu einer festen Masse erstarrt. Dann spürte sie, wie sich der Sand unter ihr erneut in verschiedene Richtungen bewegte und ihre Füße voneinander weggezogen wurden. Die Pferde wieherten schrill in wilder Panik. Tazi schaffte es, sich so weit umzudrehen, daß sie mit ansehen konnte, wie ihr Reittier so tief einsank, daß nur noch sein Kopf zu sehen war. Die Augen des Hengstes rollten wie verrückt umher, und auf einmal verstummte das gepeinigte Tier. Voller Schrecken mußte Tazi mit ansehen, wie eine Blutfontäne aus dem Maul des Tiers schoß und den Sand schwarz färbte. Während die Düne seinen Kopfendgültig verschlang, tauchte einer der Vorderläufe plötzlich in einem guten Meter Entfernung wieder aus dem Sand auf wie ein Baumstamm, der in einem tosenden Sturm auf offener See an der Oberfläche trieb. »Die Düne hat das arme Tier entzweigerissen«, schrie sie Steorf zu, der dem Untergang des Tiers ebenfalls fast wie hypnotisiert zugesehen hatte. »Irgendwie scheint sie 355
von Leben erfüllt zu sein!« Ihre Rufe rissen ihn aus seiner Erstarrung, und irgendwie gelang es ihm, durch den zupackenden Sand bis zu Tazi und Fannah zu stapfen. »Wir müssen hier raus«, rief er dabei laut. Er wies nach Norden, wo in ungefähr zehn Metern Entfernung die Dünen endeten. »Da drüben beginnt wieder die Salzebene. Ich denke, wir wären in Sicherheit, wenn wir es bis dorthin schaffen würden.« »Wie können wir das?« erkundigte sich Tazi. »Kämpft nicht gegen den Sand«, forderte sie Fannah auf. »Es ist nur eine Frage des richtigen Augenblicks. Wir müssen uns bewegen, wenn der Sand ruhig ist.« Steorfs Reittier schrie klagend auf, und als sich Tazi umdrehte, sah sie, wie auch es in einer Düne gefangen um sein Leben kämpfte. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sich Ciredors Schriftstücke noch immer in einem der Lederbeutel befanden, die am überlebenden Pferd hingen. Sie konnten es sich nicht leisten, die einzige Waffe zu verlieren, die sie potentiell im Kampf gegen den Nekromanten hatten. Tazi wälzte sich herum, als taumle sie in einem Erdbeben auf die andere Seite, und drückte Fannah Steorf praktisch in die Hände. »Sieh zu, daß du mit ihr hier herauskommst«, befahl sie ihm. »Was?« erwiderte dieser völlig verständnislos. Tazi vergeudete keine weitere Zeit mit einer Erklärung. Wenn sie das gepeinigte Gurgeln von Steorfs Reittier korrekt einschätzte, blieb auch diesem Pferd 356
nicht mehr lange. Sie vertraute darauf, daß es Steorf gelingen würde, Fannah auf die sichere Salzebene zu bugsieren. Sie versuchte, sich an Fannahs Ratschlag zu halten, und schlüpfte praktisch zwischen dem nachgebenden Sand hindurch. Sie erreichte das Pferd gerade rechtzeitig, um mit ansehen zu müssen, wie es endgültig vom Sand verschluckt wurde. »Nein«, schrie sie enttäuscht auf und begann, auf der Suche nach dem Sack wie verrückt mit den Händen im Sand zu graben. Sie ließ sich tiefer in den Sand sinken, achtete jedoch darauf, mit dem Kinn über der Oberfläche zu bleiben. Sie tastete mir ihren Armen hin und her, und gerade als sie schon dachte, einer ihrer suchenden Finger hätte den Sack erreicht, wurde er wieder außerhalb ihrer Reichweite gerissen. Es blieb ihr keine andere Wahl. Tazi holte tief Luft und tauchte in die Düne. Sie hielt Augen und Mund geschlossen, aber sie spürte, wie ihr der Sand in Nasenlöcher und Ohren drang. Sie versuchte, nicht daran zu denken, und schwamm mit kräftigen Zügen tiefer in die Düne hinab. Jetzt war keine Zeit, irgendwelche Gedanken daran zu verschwenden, was passieren mochte, wenn sie den Sack nicht bald aufspürte. Da! Die Finger ihrer linken Hand streiften eine Lederschlaufe, und sie umfaßte sie mit hartem Griff. Jetzt mußte sie nur noch eine Möglichkeit rinden, wieder herauszukommen. Sie wendete, soweit ihr das möglich war, doch gleichzeitig erkannte sie, daß sie mehr oder weniger nur raten 357
konnte, in welcher Richtung oben war. Ihre Lungen brannten, und der Druck des ständig seine Richtung ändernden Sandes drohte sie zu zerquetschen. Wie eine Brustschwimmerin versuchte sie, mit weitausholenden Bewegungen ihrer Beine und Arme voranzukommen, doch sie konnte nicht einmal feststellen, ob sie dadurch irgendwelche Fortschritte im Kampf gegen den Sand erzielte. Unter Zuhilfenahme all ihrer Willenskraft schaffte sie es, nicht wie die Pferde in blinde Panik zu geraten und wild um sich zu schlagen, sondern statt dessen zu versuchen, mit den Bewegungen der Düne zu fließen. Der Drang, einen tiefen Atemzug zu tun, wurde schier überwältigend, doch sie wußte, daß sich ihr Mund, ihre Luftröhre und ihre Lungen augenblicklich mit Sand füllen würden, wenn sie ihm nachgab. Ohne Vorwarnung packte Tazi plötzlich etwas hinten an ihrer Wüstenrobe. Sie wurde in die Gegenrichtung jener Richtung, in der sie bisher unterwegs gewesen war, gerissen und kämpfte instinktiv mit aller Kraft dagegen an. All ihre guten Vorsätze, an denen sie sich noch einen Atemzug zuvor orientiert hatte, waren vergessen. Vage Bilder von einem Monster, das im Sand verborgen sein mußte und an ihr zerrte, flackerten vor ihrem inneren Auge. Tazi wurde jetzt allerdings zusehends schwächer, und der Zug wurde noch heftiger. Sie schaffte es nicht, sich ihm noch länger zu widersetzen, und stellte ihre Gegenwehr ein. Plötzlich spürte sie nicht mehr das scharfe Kratzen des Sandes im Gesicht und wagte es, vorsichtig ein Auge zu öffnen. Sie war teilweise frei. Hastig holte sie tief 358
Luft, was in einem wilden Hustenanfall endete. »Was hast du dir nur dabei gedacht?« verlangte Steorf, der ihre zerschlissene Robe weiterhin mit eisenhartem Griff gepackt hielt, brüllend zu wissen. Er hatte offenbar nicht mit einer Antwort gerechnet, denn er hob sie einfach auf seine starken Arme und kämpfte sich mit ihr aus der tödlichen Düne auf die Salzebene hinaus, wo Fannah bereits auf sie wartete. Tazi holte gierig Luft, während sie Steorfs Reisebeutel noch immer mit verkrampften Fingern umklammert hielt. »Wie hast du mich gefunden?« schaffte es Tazi endlich zu fragen, während sie auf dem salzigen Boden saß und versuchte, irgendwie den Sand aus ihren Ohren zu bekommen. »Blankes Glück«, erklärte Steorf. »Ich habe einfach im Sand herumgewühlt, nachdem du unter der Oberfläche verschwunden warst. Glücklicherweise konnte ich deine Robe an einem Zipfel zu fassen bekommen.« »Wie bist du so schnell zu mir herübergekommen?« wollte Tazi nun wissen. »Nun ja, zuerst versuchte ich, über den Sand zu levitieren, doch ohne eine beständige Oberfläche unter den Füßen funktionierte der Zauber nicht so gut wie eigentlich erwartet«, erklärte er ihr mit einem Anflug von Frustration in der Stimme. »Dennoch konnte ich durch die Unterstützung der Magie in gewisser Weise fast über den Sand zu dir schreiten.« Die drei verstummten, während sie die fast hypnotischen Bewegungen der Sanddünen musterten. Es 359
schien fast, als wolle sich die Düne mit den Pferden, die sie verschlungen hatte, zufriedengeben oder als erkenne die Düne sie und entferne sich dann in sanften Wellenbewegungen in südlicher Richtung von der Salzebene. Tazi stand auf, schälte sich aus den zerschlissenen Überresten ihrer Robe und machte eine Bestandsaufnahme ihrer Vorräte. Ihr schützendes Kopftuch war ebenfalls fortgerissen worden, und während der kleine Dolch noch immer sicher in ihrem Stiefel verstaut war, hatte sie das Abenteuer auch eine ihrer Schutzklingen gekostet. Steorf verfügte noch immer über all seine Waffen, allerdings hing sein Obergewand ebenfalls in Fetzen an ihm herunter. Fannah war sichtlich erschüttert, aber ansonsten unverletzt. Alles, was von ihren Vorräten übriggeblieben war, war der Beutel, den Tazi mit ihrem Leben erkämpft hatte. Ciredors Manuskript befand sich noch immer darin, doch das war auch alles. Dummerweise hatten sie sonst nichts in dem Beutel verstaut, weil sie gefürchtet hatten, aus Versehen das Pergament zu beschädigen. »Ich schätze, wir sollten zusehen, daß wir weiterkommen«, ergriff Tazi das Wort. Steorf schätzte ihren Standort aufgrund der Position der Sonne, und dann trotteten sie einfach weiter. Nachdem sie gefühlsmäßig etwa eine Stunde lang unterwegs gewesen waren, kamen sie gemeinsam zu dem Entschluß, bei einer kleinen Felsformation eine Pause einzulegen. Sowohl Tazi als auch Steorf hatten inzwischen einen qualvollen Sonnenbrand im Gesicht, 360
während es Fannah dank ihrer dunkleren Hautfarbe deutlich besser ergangen war. Dennoch änderte das nichts an dem lästigen Durst, der alle drei gleichermaßen betraf. Nicht einmal die langsam untergehende Sonne stellte eine Erleichterung dar. Während Fannah Steorf für alle Fälle eine Reihe nährstoffreicher Früchte beschrieb, die er vielleicht entlang ihres Weges erspähen mochte, stand Tazi auf und begann, sich ein wenig von ihrem Lager entfernt die Füße zu vertreten. Die Nacht brachte nach der sengenden Hitze des Tages die andere Gefahr für jeden Wüstenreisenden – eisige, klirrende Kälte. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und zog schmerzhaft die Luft ein, als sie dabei auf den schmerzenden Sonnenbrand griff, der sich ihre nackten Arme entlangzog. Das ist alles nur meine Schuld, dachte sie mißmutig. Fannah hatte recht. Dadurch, daß ich das Ritual nicht korrekt vollendet habe, habe ich unsere ganze Mission zum Scheitern verurteilt. »Ich denke, wir sollten das wenige Gehölz, das wir hier finden können, einsammeln und möglichst rasch ein Feuer entzünden«, sagte Steorf von irgendwo hinter ihr. Tazi drehte sich zu ihm um. Sie war zu einer Entscheidung gekommen. »Ich kann es alleine schaffen. Was du für mich tun mußt, ist, Fannah von hier wegzubringen.« »Wovon redest du jetzt schon wieder?« fragte Steorf verblüfft. »Das alles funktioniert nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben, und wir können es uns nicht leisten, 361
noch länger mit Fannahs Leben zu spielen. Du hattest offensichtlich recht. Wir hätten in Calimhafen bleiben, dort in aller Ruhe Ciredors Schriften übersetzen und vor allem für Fannahs Sicherheit sorgen sollen.« »Aber ich bin doch in Sicherheit«, sagte Fannah, die neben Tazi und Steorf getreten war, ruhig. »Nein, das bist du nicht«, widersprach ihr Tazi. »Ich hätte dich auch in keine gefährlichere Situation bringen können, wenn ich dich direkt in Ciredors Arme befördert hätte, und im Prinzip ist das doch genau das, was wir hier tun.« »Aber sicher«, knurrte Steorf. »Wir wären in einer fremden Großstadt, in der wir niemanden kennen und uns nicht sicher sein können, wie viele Schergen Ciredor dort hat, viel besser behütet gewesen. Wer weiß, ob ihm dort Hunderte, Tausende oder noch mehr hörig sind. Das war genau das, was er von uns erwartet hatte. Daß wir uns irgendwo zu verkriechen versuchen, nicht daß wir den Kampf zu ihm tragen.« »Sieh uns doch mal an«, versuchte es Tazi weiter, wobei ihre aufgesprungenen Lippen schmerzten. »Wir leiden unter Durst und sind entkräftet. Wir haben keine Nahrung, kein Wasser und sind zu Fuß mitten in der Wüste unterwegs.« »Wir sind am Leben«, wies Fannah sie sanft zurecht. »Wer weiß, wie lange noch«, brummte Tazi finster. »Ihr müßt nach Calimhafen zurückkehren. Seht das doch endlich ein!« »Tazi, wir wissen inzwischen, wo sich Ciredor aufhält, oder kennen seinen Standort zumindest ziemlich 362
genau«, beschwor Steorf sie. »Der schwierigste Teil ist schon so gut wie vorbei.« »Ich weiß«, antwortete Tazi nur, »und deswegen könnt ihr jetzt zurückkehren. Ich werde mich ihm allein stellen.« Sowohl Steorf als auch Fannah weigerten sich schlicht und einfach, auf ihren Vorschlag einzugehen. »Kommt überhaupt nicht in Frage«, erklärte Fannah. »Ich denke, wir sind nur deswegen alle noch am Leben, weil wir zusammengeblieben sind«, fügte Steorf hinzu. Tazi drehte ihren Begleitern den Rücken zu. »Gut, ihr weigert euch also zu gehen«, sagte sie nach langem Schweigen. »Dann können wir die Diskussion wohl vergessen und uns darum kümmern, ein Feuer zu machen.« Sie sah, daß ihre Freunde über ihren Sinneswandel erleichtert waren. Tazi war natürlich noch immer der Ansicht, daß sie einen Fehler begingen, aber gleichzeitig hatte sie eingesehen, daß sie keine Möglichkeit hatte, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Während das Feuer prasselte, beschäftigte sich Steorf erneut mit der Übersetzung von Ciredors Schriften. Fannah hatte sich in der Nähe des Feuers zusammengerollt und war eingeschlafen. Tazi saß mit angezogenen Beinen am Feuer, die Hände um die Knie geschlungen. Der Mond hatte die Gestalt einer hauchdünnen Sichel. Er leuchtete so kraftlos, daß er den Sternen keine Konkurrenz machte. Diese funkelten strahlend hell über dem klaren Wüstenhimmel. 363
Tazi hatte den Eindruck, als seien die Sterne nahe genug, um sie zu berühren, wenn sie nur den Arm ausstreckte, um danach zu greifen. Sie hatte nie zuvor einen schöneren Sternenhimmel gesehen. Während ihr Blick von Steorf zu Fannah glitt, konnte sie sich des nagenden Gefühls nicht erwehren, daß sie nie wieder eine Nacht wie diese miteinander teilen würden.
»Ärger im Paradies, kleine Tazi?« fragte Ciredor mit vor Sarkasmus triefender Stimme. Er sah in die Sphäre der Ausspähung, die er mit seiner Magie erschaffen hatte und die nun auf seinen gespreizten Fingern balancierte. In dieser kleinen Kugel konnte er verfolgen, wie Tazi, Steorf und Fannah miteinander rangen und argumentierten, bis sie sich schließlich einig waren, weiter gemeinsam vorzugehen. »Ich denke, du hast recht, Thazienne«, sprach er mit süffisantem Unterton an die Sphäre gewandt. »Es wird Zeit, daß sich eure Reihen ein wenig lichten. Doch statt daß Steorf Fannah aus der Wüste eskortiert, würde ich es vorziehen, wenn du sie wie geplant direkt zu mir bringst. Ich denke nicht, daß wir unseren tapferen Jungmagier zu diesem Zeitpunkt noch benötigen. Wer weiß schon, was für schmutzige Geheimnisse er noch in diesen meinen Schriften zu entdecken vermag?« Er wandte sich abrupt ab, und die Sphäre entglitt seinen Fingern. Nicht mehr durch die Magie Ciredors gestützt, sauste sie auf den Boden zu, verschwand aber 364
kurz vor dem Aufschlag wie von selbst. Ciredor trat auf den Wehrgang des Minaretts, das ihm als persönlicher Tempel diente. Er schritt bis zum Rand und schloß die Augen. Dann legte er den Kopf in den Nacken und sog mit tiefen Atemzügen den warmen Geruch von Sand und Staub ein. Als er die Augen wieder öffnete, hatte er sich entschlossen, wie er weiter vorgehen wollte. Ciredor ging an den noch unfertigen Dingen in seinem Turm vorbei und begann, die Treppe zum Eingang hinabzuschreiten. Dabei ging er gedanklich seine Pläne durch. »So viel zu tun«, brummte er, »und so wenig Zeit. Natürlich ist die Zeit anderer Leute bereits ganz abgelaufen, so daß ich mich nicht beschweren sollte.« Während er die Melodie eines obszönen Liedes summte, das er als Kind gelernt hatte, riß er die Tore, die in die Calimwüste hinausführten, weit auf und mußte unwillkürlich lächeln. »Ich fürchte, dein magisch begabter Gefährte könnte meine Pläne ernstlich in Gefahr bringen, meine kleine Tazi«, fuhr er fort, mit der nicht anwesenden Tazi zu sprechen, als hielte er seine magische Sphäre noch immer in Händen und beobachtete sie weiterhin, »und natürlich werde ich nicht zulassen, daß irgend etwas meine Pläne in Gefahr bringen könnte, jetzt, wo alle Puzzlesteine so perfekt fallen. Du hingegen, liebe Thazienne, wirst keinerlei Problem darstellen, wenn deine Zeit gekommen ist. Natürlich hattest du deine glorreichen Momente und hast mir mit deiner unvorhersehba365
ren Art das eine oder andere Problem bereitet«, gestand er dem Wind, »doch letztlich bist du nicht viel mehr als eine Straßenschlägerin, wenn auch eine verdammt hübsche. Hmm, vielleicht gibt es da noch das eine oder andere, das ich mit dir anstellen könnte, bevor ich endgültig mit dir fertig bin ... Ha, was für ein exquisiter neuer Gedanke. Ich sollte darüber noch ein wenig nachsinnen«, fügte er im Selbstgespräch hinzu. Ciredor trat in den Sand hinaus und entfernte sich etliche Schritte von den offenstehenden Toren des Minaretts. Er kniete nieder, legte die Handflächen auf den heißen Sand und schloß die Augen. Dann senkte der Nekromant den Kopf, bis seine Stirn den rauhen Sand der Calim berührte. Ciredor schien im Gebet versunken. Seine Lippen formten lautlos Worte, und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Mehrere Minuten vergingen. Dann ertönte ein tiefes Grollen in der Ferne und brachte den Wüstenboden zum Zittern. Sobald die Vibrationen begannen, hob Ciredor langsam den Kopf. Das Vibrieren kam näher, bis es auf den Bereich des Minaretts zentriert war. Etliche Meter vor ihm begannen Sandfontänen nach oben zu spritzen, und zwei Purpurwürmer der Wüste brachen aus dem Boden hervor. Sie hatten ungefähr die gleiche Größe, und Ciredor vermutete daher, daß sie aus demselben Wurf stammten. »Wenn man eure Größe so ansieht, seid ihr noch sehr jung, ja?« erklärte er abschätzend und sichtlich zufrieden. 366
Die beiden Würmer waren je gut drei Meter lang und hatten einen Durchmesser von etwa sechzig Zentimetern. Dornen, die circa fünfzehn Zentimeter lang waren, verliefen entlang der Außenkante ihrer kreisförmigen Mäuler. Diese versetzten sie in die Lage, sich durch den Wüstensand zu graben und ihre Beute zu zerreißen. Ihre Schwänze liefen in feucht glitzernde Stacheln aus, die dazu dienten, ihrer Beute ein tödliches Gift zu injizieren. Er war mit ihrer schnellen Ankunft sehr zufrieden, wenn sie natürlich auch wesentlich kleiner waren als ausgewachsene Exemplare ihrer Gattung. Die beiden Würmer stiegen vor ihm empor und peitschten mit den Köpfen hin und her. Offenbar waren sie gar nicht erfreut, daß er sie aus der Sicherheit ihrer Baue gerufen hatte und sie sich jetzt völlig schutzlos an der Oberfläche präsentieren mußten. Ihre Augen waren so gut wie nicht vorhanden, was für Lebewesen, die an ein unterirdisches Leben angepaßt waren, typisch war. Während sich die beiden Würmer geräuschlos hin- und herwanden, spazierte Ciredor wie ein Ausbilder, der seine Truppen inspizierte, mit prüfenden Blick um sie herum. »Ihr paßt«, stellte er mit einem zufriedenen Nicken fest. Ohne Vorwarnung schoß der Wurm auf der rechten Seite plötzlich auf Ciredor zu. Vielleicht wurde er von seinem Hunger überwältigt, oder der Ärger über die Herbeirufung gegen seinen Willen hatte ihn gepackt. Der Zauberer war über die ungeplante Aufmüpfigkeit des von ihm beschworenen Lebewesens überrascht. 367
Seine pfeilschnellen Reflexe retteten ihn jedoch vor dem zuschnappenden Maul des Wurmes. Er warf sich nach links, und der Wurm krachte mit dem Schädel an jener Stelle auf den Wüstensand, an der der Magier noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte. Ciredors Lächeln war wie weggeblasen. Lauernd musterte er den Wurm, um abzuschätzen, was dieser als nächstes tun würde. Das aufsässige Monster bäumte sich auf und bereitete sich auf seinen nächsten Angriff vor. Der zweite Wurm wand sich weiter an der Stelle, an der er aufgetaucht war, hin und her. Er tat jedoch nichts, um seinen Bruder zu behindern oder zu unterstützen. Er schien abzuwarten, wie die Auseinandersetzung ausgehen würde. Er mußte nicht lange warten. Als der Wurm erneut vorwärtsschoß, wich Ciredor nicht zurück. Ohne Magie einzusetzen, packte Ciredor den Wurm mit beiden Händen direkt unter dem klaffenden Maul. »Vergiß es«, zürnte er und kämpfte mit aller Gewalt gegen die schnappenden Kiefer. Langsam, aber sicher drückte er sie von seinem Gesicht weg. Der Zauberer genoß die körperliche Herausforderung sichtlich. Mit einem plötzlichen Kraftausbruch stieß Ciredor den Wurm förmlich weg und warf ihn auf den Boden. Das Monster hatte jedoch noch nicht kapituliert. Es bäumte sich nochmals auf und versuchte erneut, sich auf Ciredor zu stürzen. Der geheimnisvolle Magier täuschte nach rechts an, und der Wurm krachte erneut auf den Wüstenboden. Im selbem Atemzug sprang Ci368
redor auf seinen Rücken. Wie ein ungezähmter Hengst stieg der Wurm und warf sich dabei wild von Seite zu Seite. Trotz seines Tobens gelang es ihm allerdings nicht, Ciredor abzuschütteln. Der Zauberer hielt sich mit dem linken Arm am Nacken des Wurms fest und rammte die rechte Hand in die weiche Oberseite des Kopfes hinein. Mit einem triumphierenden Schnauben fetzte Ciredor den Großteil des primitiven Hirnstamms aus seinem Leib. Die Kreatur brach schlaff zusammen. Ciredor kletterte vom Rücken des leblosen Wurms. Von seinem rechten Arm troff stinkender Schleim herunter. Er musterte seine befleckte Robe mit einem leichten Anflug von Widerwillen. Mit geübter Geste strich er zuerst mit der linken über die rechte Hand und dann über alle verschmutzten Teile des Seidengewands. Nach dieser magischen Geste glänzte das ebenholzschwarze Material im Sternenlicht, als käme es gerade frisch vom Webstuhl. Dann wandte er sich dem zweiten Wurm zu. Beim Ableben ihres Gefährten hatte sich die Kreatur zu Boden gesenkt. Ciredor musterte den Wurm mit einem kühlen Blick, und dieser begann sich unterwürfig zu seinen Füßen zu krümmen, als handle es sich bei ihm um ein gezähmtes Haustier. Zerstreut tätschelte Ciredor dem Wurm die Seite, und dieser erschauerte ob dieser Geste seines Meisters beinahe vor Zufriedenheit. Nachdem der Wurm ein paarmal um Ciredors Füße gekrochen war, bewegte er sich zögernd auf seinen toten Artgenossen zu. Die Kreatur hob den Kopf und bereitete sich offenbar darauf vor, ihren toten ehemali369
gen Gefährten zu verschlingen. Nichts ging in der Calim verloren. »Das wäre keine kluge Idee«, mahnte Ciredor mit süßer Stimme und hob dabei mahnend einen Zeigefinger. Der Wurm hielt augenblicklich inne und wandte sich dem Magier zu. Ciredor trat neben den jungen Wurm und beugte sich zu seinem Kopf hinunter. »Ich möchte doch nicht, daß du dir schon jetzt den Appetit verdirbst«, belehrte er die Kreatur im Tonfall einer Mutter, die ihr aufmüpfiges Kind ermahnt. »Ich habe ein anderes Abendessen für dich vorgesehen. Falls du nachher noch Hunger hast, kannst du ja zurückkommen und deinen Bruder dann auffressen. Er wird sich schon nicht davonmachen.« Ciredor mußte ob seines eigenen Witzes lachen. »Jetzt erkläre ich dir, was du zu tun hast«, sprach der Nekromant, und seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. Nachdem er dem Wurm seine Anweisungen erteilt hatte, tätschelte er seinen Leib. »So, und jetzt los mit dir«, befahl er. Der Wurm bäumte sich auf und verschwand im Sand. »Was für ein liebes, kleines Tierchen«, kommentierte Ciredor. Er warf noch einen gleichgültigen Blick auf den toten Wüstenwurm und wandte sich dann wieder dem Minarett zu. »Du kümmerst dich um unseren Jungmagier«, sprach er zu dem abwesenden Wurm, der ihn schon nicht 370
mehr hören konnte, »und meine kleine Tazi wird Fannah unverletzt zu mir bringen. Ich weiß einfach nicht, was ich ohne so zuverlässige Diener täte.« Sobald er die Schwärze des Treppenhauses im Turm erreicht hatte, in dem es noch kühler war als in der Nachtluft der Wüste, überkam ihn ein Augenblick der absoluten Klarheit. Er warf die Tore zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, sobald sie ins Schloß gefallen waren. Jetzt wo er erneut in seinem heiligen Tempel war, senkte er die Stimme ehrfürchtig und flüsterte: »Alles entwickelt sich genau, wie ich es geplant habe. So wie ich die Zeichen deute, die du mir geschickt hast, sieht es aus, als ob du mich bereits akzeptiert hättest, Shar.« Einer seiner Mundwinkel verzog sich zu einem schiefen Grinsen, und er widerstand nur mühselig dem Drang, seine Hände in Vorfreude gegeneinander zu reiben. »Es ist beinahe Zeit«, flüsterte er und nahm voller Eifer zwei Stufen auf einmal wie ein eifriger Bräutigam, der es nicht erwarten konnte, seine Angetraute in die Arme zu schließen.
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Tod in der Wüste
E
ine aufgebläht wirkende rote Sonne warf ihre ersten Strahlen auf den Sand, als Tazi und ihre Gefährten beschlossen, wieder aufzubrechen. Widerstrebend gestand sie sich ein, daß ihre Freunde nicht bereit waren, die logische Alternative der Rückkehr in die relative Sicherheit Calimhafens ohne sie überhaupt in ernsthafte Erwägung zu ziehen. Es gab keinen Grund, noch länger mit ihnen zu argumentieren, wenn sie nicht noch die letzte, wertvolle Ressource vergeuden wollten, über die sie verfügten – Zeit. »Na gut«, begann Tazi in einem sarkastischen Tonfall während sie eine Handvoll Sand auf ihr kleines Feuer warf, um es zu verlöschen, »wir werden wenigstens nicht lange brauchen, um unsere Sachen zu packen. Seht ihr? Fertig!« »Ich habe deine Fähigkeit, die positive Seite der Dinge zu sehen, stets bewundert«, antwortete Steorf ebenso bissig. »Spürt ihr es?« unterbrach Fannah ihre Frotzeleien mit ernstem Tonfall und einem besorgten Gesichtsausdruck. 372
»Was?« fragte Tazi, die Verteidigungshaltung einnahm, obwohl sie keine Ahnung hatte, wovon ihre Freundin sprach. »Ein Zittern im Boden«, erklärte Fannah. »Es ist nicht allzu tief unter der Oberfläche, und es kommt näher. Könnt ihr es jetzt endlich spüren?« »Ich bin nicht sicher, ob ...«, begann Steorf, als ihre ehemalige Feuergrube förmlich explodierte. Die Heftigkeit der Explosion warf Tazi und Fannah zu Boden, während Sand und Schutt über sie regneten. Steorf schaffte es schwankend auf den Beinen zu bleiben. Wie ein Leviathan, der aus den Tiefen des Ozeans emporsteigt, hob sich der Kopf des Wüstenpurpurwurms. Sein Körper verdeckte die aufgehende Wüstensonne wie eine Sturmwolke. »Was ist denn das?« schrie Tazi. Sie und Steorf zogen fast gleichzeitig ihre Waffen, und Tazi wurde klar, daß Fannah unbewaffnet war. Sie griff in ihren Stiefel und rief Fannah zu: »Rechts, Fannah!« Ihre Freundin streckte die Hand aus, und Tazi warf ihr den Dolch so zielsicher zu, daß er mit dem Heft perfekt in ihrer Handfläche landete. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Fannahs Finger den Dolch umschlossen und wandte sich wieder dem Gegner zu. Zumindest ist sie jetzt bewaffnet, dachte sie sich. Der Wurm schwang den Kopf von einer Seite auf die andere, und voller Verblüffung erkannte Tazi, daß er die Gruppe abzuschätzen schien. Es ist fast so, als müsse der Wurm erst entscheiden, 373
wen er zuerst angreifen würde. Warum spielt das eine Rolle für eine derartige Kreatur? Tazi sollte nicht lange Gelegenheit haben, über die Absichten des Wurms nachzusinnen. Sie wurden kurz darauf klar. Die Kreatur legte den Kopf schief und schoß dann auf Steorf zu. Fast wäre es dem jungen Magier nicht mehr gelungen, dem zuschnappenden Zahnring auszuweichen, der in Höhe seiner Füße in den Wüstenboden krachte. Keiner hatte damit gerechnet, daß der Wurm einfach weiter nach unten schießen würde. Doch genau das tat das Wesen. Es grub sich einfach in den Boden hinein und war kurz darauf verschwunden. Die drei sahen sich wild suchend um und versuchten abzuschätzen, wo die Bestie wieder auftauchen würde. Der Boden unter ihnen begann große Wellen zu werfen, und Steorf verlor das Gleichgewicht. Während er dahinkullerte, brach der Wurm auf seiner rechten Seite hervor. Steorf rollte sich verzweifelt nach links, und der Kopf krachte dort zu Boden, wo der Magier kurz zuvor gelegen hatte. Das Tier ließ sich durch sein Scheitern in keiner Weise beeindrucken. Steorf mußte sich immer wieder zur Seite rollen, während der Kopf des Wurms ein ums andere Mal nach ihm stieß und ihn immer knapper verfehlte. Steorf gelang es schließlich, aus einer Rolle heraus in eine kauernde Position zu kommen und mit seinem Schwert nach dem Wurm zu schlagen. Er zog einen langen, flachen Schnitt über seine Kehle. Der Wurm 374
schrie gepeinigt auf, doch die Verletzung war nicht tief genug, um ihn wirklich aufzuhalten. Sie machte das Scheusal höchstens noch rasender. Tazi stürmte mit gezückter Schutzklinge heran, und Fannah folgte ihr. Der Wurm drehte sich indes sofort in ihre Richtung und blies einen Sandstrom aus seinen Nasenlöchern in Richtung der Frauen. Tazi schrie vor Schmerz und Überraschung. Der beißende Sand sorgte dafür, daß sie kurz geblendet war. Der Wurm pendelte wieder in Steorfs Richtung. Seine anderen Ziele schienen vergessen. Fannah tauchte hinter dem sich schlängelnden Scheusal auf. Da Tazis Leib sie vor dem Sandstrahl weitgehend geschützt hatte, war sie völlig unverletzt. Wie wild begann die Blinde mit dem Dolch auf den Wurm einzustechen. Aus den Stichwunden trat zwar eine violette Flüssigkeit aus, aber abgesehen davon schienen sie keinen weiteren Effekt zu haben. Während Tazi am Boden kniete und sich den Sand aus den blutenden Augen wischte, dachte sie, sie müsse wohl noch immer an Sehstörungen leiden, so seltsam war das, was sie da zu sehen bekam. Der Wurm wirbelte zu Fannah herum und wollte zustoßen. Weder Tazi noch Steorf waren nahe genug, um ihn daran zu hindern. Tazi hätte jedoch hinterher schwören können, daß der Wurm innehielt, als er bemerkte, wer es war, der ihm da so lästige Nadelstiche zufügte. Es war fast so, als erkenne er Fannah. Statt die nahezu wehrlose Frau mit seinem zahnbewehrten Maul zu beißen, veränderte er leicht seine Position und schlug Fannah 375
dann mit dem Schwanz zur Seite, wie ein Pferd lästige Fliegen verscheucht. Fannah wankte rückwärts und landete hart auf dem Boden. Tazi erkannte, daß sie nicht ernstlich verletzt war, sondern nur vorübergehend nach Luft rang. Der Wurm widmete seine Aufmerksamkeit jetzt wieder Steorf. Der Zauberer hatte kaum Zeit gehabt, eine Verteidigung vorzubereiten, da ihn das Geschehen um Fannah ebenfalls so fasziniert hatte, daß er den erneuten Angriff gegen ihn fast zu spät bemerkte. Der Wurm stieß auf ihn herab, und er versuchte erneut, sich zur Seite zu werfen, doch diesmal war er nicht schnell genug. Der Zahnring des Wurms riß ein Stück von Steorfs Ledertunika von seinem Leib, so daß ein Teil seiner Brust freigelegt wurde. Während Steorf eilig rückwärts taumelte und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden und dabei sein Schwert in Verteidigungsstellung zu bringen, schüttelte der Wurm den Kopf ärgerlich hin und her. Das Leder hatte sich in seinen Zähnen verfangen, und der Wurm beutelte den Kopf wie ein Hund, der mit einem Stoffetzen spielt, und versuchte, das lästige Lederstück wieder loszuwerden. Tazi nutzte die Gelegenheit, um auf den Wurm loszustürmen. Es gelang ihr, ihn beinahe an der gleichen Stelle am Hals zu treffen wie Steorf. Dadurch erweiterte sie die Wunde, und ein Schwall violetten Exkrets schoß heraus. Tazi warf sich instinktiv zur Seite, und wo die widerliche Flüssigkeit auftraf, kochte der Sand. »Bring dich in Sicherheit!« schrie sie Steorf zu. 376
Sie hob die Waffe und schlug erneut nach der Bestie. Diesmal war die Kreatur auf ihren Angriff gefaßt. Sie bog ihren kräftigen Hinterleib nach vorn und parierte den Schlag mit dem scharfen Schwanzstachel. Tazi versuchte, erneut nach dem Wurm zu schlagen, doch dem gelang es, auch diesen Schlag zu blocken. Der Wurm traf ihre Waffe direkt am Griff und verfehlte dabei ihre Hand mit seinem rasiermesserscharfen Stachel. Mit einer nachlässigen Bewegung hebelte er ihr die Schutzklinge aus der Hand und schleuderte sie davon. Tazi hatte nicht einmal Zeit zu versuchen, davonzulaufen. Der Wurm traf sie mit voller Wucht mit der flachen Seite seines Hinterleibs und schmetterte sie quer über den Sand. Sie krachte gegen einen Felshaufen und war kurzfristig betäubt. Erneut zögerte das Monster, obwohl sie ihm in diesem Moment praktisch hilflos ausgeliefert war. Steorf und Fannah standen Seite an Seite und schrien aus Leibeskräften, um den Wurm von ihr abzulenken. Anscheinend hatten sie noch nicht die gleichen Schlußfolgerungen wie sie gezogen, bei wem es sich um das tatsächliche Ziel des Wurms handelte. Der Kopf der Kreatur pendelte herum, dann verschwand sie erneut im Sand. Steorf und Fannah teilten sich auf und liefen in gegenüberliegende Richtungen davon. Tazi beobachtete die Szene völlig erschöpft. Sie ging davon aus, daß der Wurm nochmals Steorf angreifen würde, obwohl er zwischen zwei Opfern wählen konnte. 377
Vermutlich verursacht er stärkere Vibrationen, weil er schwerer als wir ist, dachte sie sich. Der Wurm durchbrach den Wüstenboden direkt vor Steorf und besprühte ihn mit einem Regen aus Staub und Geröll. Dann hob er den Kopf und spie einen konzentrierten Sandstrom auf Steorf, wie er das bereits bei Tazi getan hatte. Steorf stöhnte schmerzerfüllt auf und versuchte, sich den Sand mit einer Hand aus den Augen zu wischen, während er gleichzeitig mit der anderen drohend das Schwert vor sich hielt. Doch je mehr er rieb, desto mehr verletzte er sich die Augen. Mehr Ablenkung brauchte der Wurm nicht. Er stieß den Kopf vorwärts, und das vor tödlichen Zähnen starrende Maul schoß auf Steorf zu. Der war durch den Sand noch immer teilweise geblendet und parierte nur das zustoßende Maul mit seiner Waffe. Was er übersah, war die Tatsache, daß der Wurm auch den Hinterleib zum Zustoßen erhoben hatte und sich dieser wie eine bösartige Schlange aufbäumte. Tazi, die inzwischen auf die Füße gekommen war, erkannte die drohende Gefahr. »Steorf!« rief sie verzweifelt, doch ihre Warnung kam zu spät. Steorf hatte sein Schwert zwischen mehreren Zähnen verkeilt und es mit aller Kraft mit beiden Händen umfaßt, um die schnappenden Kiefer von seiner Kehle fernzuhalten. In diesem Augenblick stieß der Hinterleib zu. Wie von einem eigenen, unheimlichen Leben erfüllt, kratzte der Schwanzstachel quer über Steorfs Leib. 378
Diesmal waren die Reflexe des jungen Magiers ein wenig zu langsam. Er warf sich zurück, und fast wäre es ihm gelungen, dem bösartig glitzernden Schwanzstachel auszuweichen, doch diesmal hatte der Wurm das Duell für sich entschieden. Der scharfe Stachel zog einen blutenden Striemen über Steorfs Brust, und zwar genau an der Stelle, an der der Wurm kurz zuvor einen Teil seiner Lederrüstung weggefetzt hatte. Fast sah es aus, als habe die Bestie den ganzen Kampf über mit einem tückischen Plan agiert. Steorf verzog ob der klaffenden Wunde, die sich in seiner Brust auftat, schmerzerfüllt das Gesicht und ließ kraftlos die Arme sinken. Tazi erkannte, daß er weiteren Angriffen des Wurms schutzlos ausgeliefert war, und rannte verzweifelt in seine Richtung. Auch Steorf erkannte die gefährliche Lage, in die er da geraten war, und versuchte zurückzuweichen, stolperte dabei aber über seine eigenen Füße. Tazi hatte den Eindruck, er bewege sich wie ein Betrunkener, und fragte sich, ob ihm der Wassermangel wohl inzwischen so heftig zusetzte. Doch solche Überlegungen waren ohnehin Makulatur, da ihn der Wurm jeden Augenblick töten würde. Ihr Herz raste angesichts der tödlichen Gefahr, in der sich Steorf befand, und ihre Verzweiflung gab ihr die Kraft für einen letzten, entscheidenden Spurt. Sie schnellte auf ihr Ziel zu. »Nein!« schrie sie aus Leibeskräften. Schwer atmend landete Tazi auf dem Rücken der Bestie und packte ihren Nacken. Die Kreatur bäumte sich auf und versuchte, sie abzuwerfen, scheiterte allerdings. 379
Tazi schlang ihre Beine unerbittlich um den Leib des Wurms und hob ihre Schutzklinge mit beiden Händen hoch über den Kopf. Die Spitze zeigte nach unten. Dann setzte sie jedes Quentchen Kraft ein, über das sie noch verfügte, und trieb die Klinge mit einem lauten Aufschrei in den Leib der Kreatur. Das Tier stieß ein spitzes Geheul aus. Tazi verzog schmerzerfüllt das Gesicht, da sie das Gefühl hatte, das Geräusch würde ihre Trommelfelle platzen lassen, aber dennoch lockerte sie ihren Griff um das Schwert keine Sekunde. Das sterbende Tier ließ sich schlaff auf den Wüstenboden fallen und stieg dann sofort wieder wild empor. Es war ein letzter, verzweifelter Versuch, Tazi abzuschütteln. Tazi biß die Zähne zusammen. Als das Tier das Manöver nochmals versuchte und erneut mit aller Wucht auf den Boden aufprallte, drehte sie die Klinge mit aller Gewalt nach rechts und durchtrennte dadurch den Gehirnstamm des Monsters. Kraftlos fiel es zu Boden und war tot. Tazi versuchte, ihren keuchenden Atem unter Kontrolle zu bringen. Erschöpft senkte sie vorübergehend den Kopf auf ihre Hände, die noch immer das Schwert umfaßt hielten. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß der Wurm wirklich tot war, versuchte sie, ihre Klinge aus dem Kopf der Bestie zu ziehen. Während sie mit ihrer Waffe kämpfte, stellte sie bestürzt fest, wie sehr sie der kurze Kampf erschöpft hatte. Mit einem ekelhaften Geräusch löste sich die Schutzklinge schließlich doch noch aus 380
dem Kopf. Tazi überraschte das völlig, und sie taumelte ein paar Schritte rückwärts. Sie war so ausgepumpt, daß sie nicht einmal daran dachte, ihre Klinge abzustreifen, ehe sie sie wegsteckte. Cale würde mich häuten, wenn er mich dabei ertappen würde, daß ich meine Waffen so miserabel behandle, dachte sie selbstironisch. Aber momentan wäre mir vermutlich selbst das egal. Tazis Amüsement war wie weggeblasen, als sie zufällig einen Blick auf Steorf erhaschte. Sie kannte ihn schon lange, und noch nie war er ihr verwundbar erschienen. Doch jetzt, wie er da elend an ein paar Felsen lehnte, wollte Tazi vor Furcht um ihn schier das Herz stehenbleiben. Er hatte das Haupt mit dem struppigen Haar gesenkt, und sie merkte, daß sowohl er als auch Fannah versuchten, die Wunde, die sich quer über seine Brust zog, abzutupfen. Tazi hatte ihre Ermüdung völlig vergessen und eilte an seine Seite. Als sie Gelegenheit hatte, sich die klaffende Wunde, die über Steorfs Brust verlief und dabei auch die Stelle, an der sein Herz saß, durchschnitt, näher zu besehen, erkannte sie mit Schrecken, daß es keine herkömmliche Verletzung war. Am Rand hatte sich das durchschnittene Fleisch gewölbt, und der Schnitt hatte eine seltsame violette Färbung. Nur wenig Blut troff aus der Wunde die Brust herab, aber statt dessen trat eine milchig-weiße Flüssigkeit aus. Tazi sah, daß Steorf sie direkt anblickte. »Was ist mit dir?« fragte sie atemlos, obwohl sie die Antwort bereits kannte. 381
Steorf verzog schmerzerfüllt das Gesicht und entgegnete: »Ich denke, das verdammte Ungeziefer hat mich mit seinem Schwanz vergiftet.« »Na gut«, forderte ihn Tazi trocken auf, »dann sieh zu, daß du das Gift los wirst.« »Rate mal, was ich schon die ganze Zeit über probiere«, antwortete ihr mit zusammengebissenen Zähnen. Als Fannah mit dem Stück ihrer Robe, das sie abgerissen hatte, um die Wunde zu säubern, über eine bestimmte Stelle strich, mußte Steorf die Zähne fest zusammenbeißen, um nicht laut aufzuschreien. Schnaufend ließ er den Kopf sinken. Obwohl Fannah blind war, blickte sie auf und Tazi genau ins Gesicht. »Er versucht es schon die ganze Zeit«, erklärte sie. »Ich denke, er ist zu schwach, um das Gift aus seinem Körper zu vertreiben.« Tazi weigerte sich, das zu akzeptieren. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihm unnachgiebig in die Augen. »Wenn du mich vor dem Gift der Spinne retten konntest, kannst du es auch bei dir selbst schaffen.« Steorf nickte. Er schob Fannahs Hände zur Seite und schloß die Augen. Er legte beide Hände auf die nässende Wunde, und Tazi beobachtete voller Hoffnung, wie ein schwaches weißes Licht seine Finger umspielte. Mehr geschah nicht. Schweißtropfen rannen über Steorfs Gesicht. Er gab wie ein geschlagener Recke einen tiefen Seufzer von sich und ließ die Hände müde herabsinken. »Es hat keinen Sinn«, wisperte er. »Ich kann nicht al382
les Gift aus meinem Körper ziehen. Ich beherrsche den Zauber noch nicht gut genug.« »So geht das nicht«, erklärte ihm Tazi, stand auf und hob einen seiner Arme auf den ihren. »He, was soll denn das?« verlangte er verblüfft zu wissen. »Wie sieht es denn aus? Ich helfe dir auf die Füße!« stellte sie in einem Tonfall fest, der keinen Widerspruch duldete. Steorf rührte sich nicht. Er mobilisierte noch einmal all seine Kräfte, packte Tazi am Arm und zog sie so heftig nach unten, daß sie in die Knie ging. »Ich bin nur eine Belastung für euch. Außerdem bin ich so gut wie tot«, ächzte er. »Ich weigere mich, das zu akzeptieren«, erklärte sie ihm. »Jetzt sei doch nicht so blind. Ich weiß nicht, wie weit ich noch gehen kann, und du und Fannah, ihr könnt mich unmöglich den restlichen Weg tragen. Ich bin euch nicht mehr von Nutzen, und du mußt zusehen, daß du die Verluste minimierst.« Tazi stand auf und sah nach Norden. Wie viele Kilometer sind es noch? fragte sie sich. Ich muß ihm jetzt mit einer blinden Frau und einem sterbenden Magier an meiner Seite gegenübertreten. Ich habe kein Wasser und nur noch ein Schwert. Ach ja, aber ich muß ihn ja auch nur daran hindern, die Seele meiner Freundin einer Göttin als Geschenk darzubringen. Sie schüttelte den Kopf und hätte fast laut losgelacht, so absurd war die Situation, in der sie sich befand. 383
Sie wandte sich wieder Steorf zu. »Du hast recht. Ich muß die Verluste minimieren.« Er schloß die Augen, beinahe dankbar über ihre ruppige Äußerung. »Ich wußte ja, daß du zu Sinnen kommen würdest und einsehen würdest, daß ich recht habe«, stöhnte er. Tazi kauerte sich vor ihm nieder und entgegnete: »Wie könnte ich gegen so eine Logik ankämpfen?« Fannah warf ihr einen besorgten Blick zu, und Tazi lehnte sich ihn ihre Richtung und tätschelte sie lautlos am Unterarm, um sie zu beruhigen und ihr zu vermitteln, daß sie einen Plan hatte. »Ich brauche dein Hilfe, Fannah«, informierte sie ihre blinde Freundin. »Könntest du bitte Steorfs Beutel nehmen?« Fannah entgegnete nichts, sondern nahm den Beutel entgegen, den Tazi Steorf abnahm. »Es ist die einzige Wahl, die ihr habt«, versuchte er der Calishitin zu vermitteln. »So«, sagte Tazi, »und jetzt packst du ihn am rechten Arm. Ich schnappe mir seinen linken, und dann können wir ihn auf die Füße hieven.« »Aber ...«, begann Steorf zu widersprechen. »Du hast recht. Gegenwärtig kann ich mir keine zusätzlichen Schwächen leisten, und deswegen mußt du mitkommen.« »Aber Tazi ...«, begann er beschwörend. »Nein«, schnitt sie ihm schroff das Wort ab. »Spar dir deinen Atem. Wir haben nur eine Chance, Ciredor zu besiegen. Unsere Stärke liegt in unserer Einheit, und 384
deswegen werden wir ihm auch gemeinsam entgegentreten.« Tazi packte Steorfs linken Arm und legte ihn sich über ihre Schultern, während es Fannah ihr mit dem rechten Arm gleichtat. Er schüttelte widerwillig den Kopf, doch als die Frauen versuchten aufzustehen, kämpfte er sich mühselig gemeinsam mit ihnen auf die Beine. Gleichzeitig rappelten die drei sich aus dem blutigen Sand hoch und trotteten weiter.
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Der letzte Weg
war im Verlauf der letzten Stunden wiederholt Steorf zwischen klarem Bewußtsein und einem seltsamen Wahnzustand hin- und hergeglitten. Er sprach immer weniger zusammenhängende Dinge und murmelte statt dessen sinnlos scheinende Wörter und Sätze, während ihm Fannah und Tazi halfen, sich durch die Wüste zu schleppen. »Die Wüstennomaden sagen, das Verdursten in der Calim bestehe aus sechs Phasen«, erklärte Fannah. »Zuerst kommt die redselige. Ich denke, es ist recht offensichtlich, daß er sich bereits in diesem Zustand befindet.« Tazi lehnte sich ein Stück vor, um an Steorfs herabhängendem Kopf vorbei zu Fannah zu blicken. »Ich denke, du hast recht. Wie geht es weiter?« »Wenn das Wurmgift nicht in seinem Körper toben würde, das eine genaue Voraussage, was mit ihm geschehen wird, erschwert, wären die nächsten Phasen ausgedörrter Mund, geschwollene Zunge, eingetrocknete Zunge, blutige Tränen und schließlich lebender 386
Tod. Ich bin nicht sicher, auf welche Weise das Wurmgift diese Phasen beeinflussen oder gar beschleunigen wird.« Tazi schüttelte verzagt den Kopf. Ihr fiel nichts Besseres als Antwort ein, als das ohnehin Offensichtliche zu verkünden: »Wir müssen es einfach schaffen, Wasser für ihn aufzutreiben.« »Wir müssen alle Wasser finden, Tazi«, erinnerte Fannah sie. »Uns droht bald das gleiche Schicksal wie ihm.« Tazi weigerte sich schlicht und einfach, darüber nachzudenken. Sie spürte die ersten quälenden Auswirkungen des Wassermangels bereits am eigenen Leib. Ihre Augen zogen sich langsam in die Höhlen zurück, und ihre Nase fühlte sich wie ein kleiner Fremdkörper an, der von ihrem Gesicht hing. Sie konnte auch noch andere subtile und weniger subtile Anhaltspunkte spüren, daß ihr Körper versuchte, Wasser zu sparen. Besonders hinterhältig war allerdings die Tatsache, daß ihr Körper selbst entschied, welche Teile von ihr nötig waren und welche nicht. Sie hatte die Kontrolle verloren. Steorfs Kopf rollte zurück. Die Bewegung riß Tazi aus ihren schwarzen Gedanken. Sie sah, wie er die Augen leicht öffnete. Er blickte sie und Fannah an, und ein undefinierbarer Ausdruck breitete sich in seinem Gesicht aus. Sie wollte Fannah gerade durch Handzeichen zu verstehen geben, langsamer zu gehen, als Steorf all seine Kräfte zusammennahm und sich von den beiden Frauen losmachte. »Verschwindet. Laßt mich in Ruhe«, schrie er. 387
Er stand schwankend im Sand. Mit einer Hand rieb er sich völlig wirkungslos über die eingetrockneten Augen. Seine Augenlider waren ausgetrocknet, und Tazi war bereits aufgefallen, daß er zusehends Schwierigkeiten damit hatte, sie zu schließen. Deshalb starrte er jetzt meist blicklos ins Leere. Mit seiner Hand wedelte er vor seinem Körper herum und versuchte, Angreifer abzuwehren, die einzig und allein seiner Einbildung entsprangen. »Was ist los?« fragte Tazi. »Es ist alles in Ordnung«, versuchte ihn Fannah zu beruhigen, die besser dazu in der Lage schien, seinen verwirrten Geisteszustand einzuschätzen. »Wir sind ja da.« Die Worte beider Frauen verfehlten die beabsichtigte Wirkung bei dem Magier, dessen Zustand sich zusehends verschlechterte. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts von ihnen davon und begann, an seinem zerschlissenen Hemd zu zerren. »Wo ist Tazi?« verlangte er von den eingebildeten Gestalten zu wissen, die ihn bedrängten. »Was habt ihr mit ihr gemacht?« Ehe Fannah reagieren und sie aufhalten konnte, ging Tazi langsam auf Steorf zu. »Ich bin hier. Genau vor dir«, versuchte sie, ihn zu überzeugen. »Laß es. Er erkennt nicht mehr, wer wir sind«, warnte Fannah sie. Steorf zog an seinem ohnehin bereits zerfetzten Hemd, und Tazi erkannte verblüfft, daß er vorhatte, es 388
sich völlig vom Leib zu reißen. Ohne nachzudenken, griff sie zu und versuchte, seine zitternden Finger zu umfassen. In dem Augenblick, in dem sie seine heiße, trockene Haut berührte, versuchte Steorf ansatzlos, sie mit einem Faustschlag zu treffen. Der einzige Grund, warum er nicht traf, bestand darin, daß er bereits so erschöpft war, daß sein Schwinger kraftlos danebenging. Tazi selbst war so verblüfft, daß sie nicht einmal versucht hatte auszuweichen. Steorf taumelte vom Schwung seines Schlages noch ein paar Schritte vorwärts, fing sich jedoch rasch und schrie: »Wo ist sie?« »Wir müssen ihn aufhalten, bevor er sich wehtut«, erklärte Fannah, die sich Steorf jetzt von einer Seite näherte. Tazi erkannte, was sie vorhatte, und begann, ihn von der anderen Seite in die Zange zu nehmen. Oder bevor er uns unbeabsichtigt mit seinen Fäusten oder seiner Magie verletzt, fügte sie gedanklich hinzu. Steorf versuchte gerade, mit ungeschickten Bewegungen sein Schwert aus der Scheide zu bekommen. Tazi sprang ihn an, versuchte ihn dabei allerdings nicht so zu erwischen, daß seine Wunde wieder aufbrach. Sie traf ihn mit ausgestreckten Händen an den Schultern und riß ihn mit sich zu Boden, wobei sie sich durch einen Überschlag sofort aus seiner Reichweite brachte. Sobald ihre Füße am Boden aufkamen, wirbelte sie herum, hastete auf ihn zu und legte ihm den rechten Arm von hinten um die Kehle. Sie kniete nun hinter ihm, packte seine linke Schulter mit der rechten Hand und hielt ihn fest. Dann schob sie den linken Unterarm zwi389
schen ihrer Brust und seinem Hinterkopf durch und erhöhte den Druck, bis er sich nicht mehr regte. Es war die sanfteste Möglichkeit, ihn ins Reich der Träume zu schicken, die ihr auf die Schnelle einfiel. »Tut mir leid«, flüsterte sie, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß er bewußtlos war, und ihren Griff gelöst hatte. Sie gestattete sich sogar den Luxus, ihm sanft mit einer Hand durchs Haar zu fahren. Es fühlte sich wie sprödes Stroh an, und das diente nur noch als zusätzliche Erinnerung daran, in welcher Zwangslage sie sich alle befanden. »Geht es dir gut?« fragte Fannah behutsam. »Ja«, würgte Tazi mühselig hervor. »Aber wir können so nicht weitermachen.« »Dann sollten wir eine Rast einlegen«, antwortete Fannah schlicht und kniete nieder. Fannah begann, den Sand vor sich zur Seite zu schaufeln. Tazi sah ihr verblüfft zu und fragte schließlich: »Was tust du da eigentlich?« »Ich entferne die obersten, heißesten Sandschichten. Wenn ich mich eine gute Handbreit nach unten gegraben habe, ist der Sand wesentlich kühler«, erklärte sie Tazi. Tazi ging jetzt auch in die Knie und half ihr, den Sand zur Seite zu schaufeln. Sobald sie einen Bereich freigemacht hatte, der groß genug war, um Steorfs liegendem Körper Platz zu bieten, zerrten ihn Fannah und Tazi gemeinsam in die entstandene Kuhle und legten ihn hin. Für Tazi erweckte es fast den Eindruck, als 390
bette sie ihn in ein flaches Grab, und sie versuchte verzweifelt, dieses Bild so rasch wie möglich wieder zu verdrängen. Tazi konnte nur hilflos mit ansehen, wie Steorf in wortloser Qual litt. Er kam kurz, nachdem sie ihn in der etwas kühleren Vertiefung plaziert hatten, wieder zu sich, doch er warf sich unkontrolliert hin und her und wurde von Fieberkrämpfen geschüttelt. Dann flatterten seine Augenlider, und er blickte Tazi an. Zumindest erkannte er sie. »Was ist passiert?« fragte er schwach. »Du warst vorübergehend ein wenig verwirrt«, versuchte sie es sanft. »Ja und?« bohrte er nach. Tazi war nicht sicher, was sie zumindest vorübergehend am meisten erleichterte – die Tatsache, daß er sie wiedererkannte oder daß man offensichtlich wieder eine verständliche Konversation mit ihm führen konnte. »Ich denke, du wolltest dich für all die Jahre revanchieren, in denen ich dir immer wieder Streiche gespielt habe. Du hast versucht, mir eine zu verpassen«, erklärte sie leichthin. »Ist dir etwas passiert?« fragte er besorgt. Sie lehnte sich ganz nah zu ihm und flüsterte: »Komm schon, du weißt doch, daß du nicht einmal an deinen besten Tagen eine Chance gehabt hättest, mich zu erwischen.« Steorf versuchte zu lachen, doch statt dessen mußte er schmerzerfüllt das Gesicht verziehen. Es gelang ihm gerade noch, einen Aufschrei zu unterdrücken. Obwohl 391
er versuchte, nach außen hin den Tapferen zu spielen, spürte Tazi dennoch, daß er im Sterben lag. Das schwache Lächeln, das sich angesichts ihres spielerischen Austausches auf ihren ausgedörrten Lippen breitgemacht hatte, war wie weggewischt. Sie und Fannah versuchten, ihn in eine so bequeme Lage wie möglich zu bringen. Fannah zog ihr Obergewand aus und knüllte es zu einem Kissen zusammen, das sie unter seinen Kopf schob. »Wir können sonst leider nicht viel für ihn tun«, flüsterte sie Tazi zu. Sie untersuchte ihn näher und stellte fest, daß die Wunde noch immer ein wenig näßte. Es handelte sich um ein Gemisch aus dem milchigen Gift des Wurms und etwas Blut Steorfs. Was Tazi mit Schrecken erfüllte, waren die roten Linien, die sich von der ursprünglichen Verletzung aus über seiner Brust ausgebreitet hatten. Tazi erkannte, daß sie langsam, aber unerbittlich auf Steorfs Herz zukrochen und letztlich sein Ende bedeuten würden. »Ich bin nicht bereit, sein Schicksal einfach so hinzunehmen«, sagte Tazi entschlossen. Sie wurde vom unbändigen Drang, etwas zu tun, irgend etwas, egal was, nahezu überwältigt. »Es muß etwas geben, was wir tun können.« »Ich kenne nichts in der Calim, das ihn von der Wirkung des Gifts heilen könnte«, erklärte ihr Fannah. Tazi rieb sich die Stirn, um ihre Ermattung zu verscheuchen. »Denk doch nach!« herrschte sie Fannah an. »Es 392
muß etwas geben. Egal was!« Nach längerem Nachdenken meinte Fannah: »Es könnte da zumindest etwas geben, das sein Leid ein wenig zu lindern vermag.« »Nämlich?« fragte Tazi ungeduldig, die bereit war, nach jedem Strohhalm zu greifen. »Ehe uns der Wurm angegriffen hat, habe ich Steorf von einer Pflanze erzählt, nach der er Ausschau halten sollte, weil wir vielleicht unterwegs über sie stolpern. Man bezeichnet sie als Calimkaktus.« »Was ist so besonders an dieser Pflanze?« »Das Gewächs ist ziemlich unscheinbar. Es wird nur knapp zehn Zentimeter groß, und sein Nährwert ist gering. Es verfügt allerdings über ein weitverzweigtes Wurzelwerk, das sich tief in den Wüstenboden erstreckt.« Fannah beschrieb das Gewächs so detailliert, damit Tazi es sich gut vorstellen konnte. »Inwiefern ist das nützlich für uns?« fragte Tazi weiter, die sich Mühe gab, sich jedes Wort von Fannahs Beschreibung genau zu merken. Langsam begann wieder so etwas wie Hoffnung in ihr zu keimen. »Die Pflanze bohrt ihre Wurzeln an die Oberfläche, um Feuchtigkeit zu absorbieren, und zieht sie dann wieder unter den Wüstenboden zurück.« »Die Wurzeln sind also voller Wasser?« schloß Tazi mit zunehmender Aufregung. »Genau, aber wir müssen Pflanzen finden, deren Wurzeln sich gerade unter der Erde befinden«, warnte sie Fannah. »Nur ihre Wurzeln sind auch tatsächlich 393
mit Wasser gefüllt.« »Ich werde sie finden«, schwor Tazi. »Du bleibst bei Steorf, falls er etwas braucht.« »Aber ich weiß doch gar nicht, was ich für ihn tun kann«, erklärte Fannah peinlich berührt. »Sei einfach nur für ihn da, damit er Ansprache hat und weiß, daß er nicht allein ist.« Fannah nickte und setzte sich neben Steorf. Sie umschloß eine seiner Hände und drückte sie. Tazi war nicht sicher, ob er noch irgend etwas von seiner Umgebung mitbekam. Sie leerte die Tasche mit Ciredors Schriftstücken aus und ließ diese in Fannahs Obhut zurück. »Ich brauche schließlich einen Behälter, in dem ich die Wurzeln verstauen kann«, erklärte sie Fannah zuversichtlich. Sie strich Steorf noch einmal über die Stirn und erschrak darüber, wie heiß sie war. »Ich werde mich so sehr beeilen, wie ich nur kann«, versprach sie ihren Freunden. Tazi wandte sich ab und marschierte gen Westen. Die Sonne hatte den Zenit erreicht, und Tazis Arme brannten unter ihren unnachgiebigen Strahlen. Da sie nur noch über ihre Lederweste und Hosen verfügte, um sich vor der gleißenden Sonneneinstrahlung zu schützen, waren ihre Arme inzwischen sichtbar verbrannt, und die Haut begann Blasen zu werfen. Während sie dahinmarschierte, wischte sie sich hin und wieder unbewußt über die Augen, die ebenfalls bereits grausam schmerzten. Sie litt immer stärker unter dem akuten 394
Wassermangel und spürte förmlich, wie ihre Augäpfel in die Höhlen zu sinken begannen. Tazi wurde in diesem Augenblick bewußt, daß ihre Augen größtenteils aus Wasser bestanden und sie dieses Wasser in geradezu alarmierender Geschwindigkeit verlor. Ihr Körper hatte offenbar begonnen, sich selbst zu kannibalisieren. Sie konnte allerdings nichts tun, um etwas an ihrer Situation zu ändern. Sie mußte schlicht und einfach weiter versuchen, diesen besonderen Kaktus zu finden. Ihr Verstand sagte ihr, daß sie eigentlich bereits zum Scheitern verurteilt waren. Es gab angesichts ihrer momentanen Lage einfach keine andere logische Schlußfolgerung mehr. Doch im Grunde ihres Herzens war sie einfach noch nicht bereit aufzugeben, und das war auch die Kraft, die sie weiter vorantrieb. Es war fast, als habe die Wüste alles fortgebrannt, was sie schon so lange mit sich herumgeschleppt hatte. Nur der Kern ihres Wesens war intakt geblieben. Die wilden Wüstenwinde hatten diesen Kern geformt und abgeschliffen und ihre Entschlossenheit zurückkehren lassen. »Das ist also der Grund, warum Fannah meinte, es wäre wichtig, das Ritual erfolgreich zu bestehen«, dachte sie laut über ihre plötzlichen Erkenntnisse nach. »Hier draußen bleibt nur unser wahres Ich übrig, wie auch immer es aussehen mag.« Ein wenig weiter im Westen vermeinte sie auf einmal, ein Gewächs auf ein paar Felsen zu erspähen. »Bitte«, flüsterte sie mit flehentlicher Stimme, die zusehends heiser wurde. »Bitte laß es diesmal echt sein. Keine Täuschungen und Trugbilder mehr.« 395
Sie trottete näher, und das Gewächs verblaßte weder, noch behielt es seine Entfernung bei. Sie kam ihm tatsächlich immer näher. Davon angespornt wurde sie schneller, und bald fand sie sich in einem kleinen Gebiet mit Unterholz wieder. Der Großteil hier waren Felsen und ein paar hin und her huschende winzige Echsen, doch da war auch Flora. Doch alle Pflanzen, die sie sah, waren ausgetrocknet und tot. Tazi sank zu Boden und ließ den Kopf hängen. Die Wüste hatte sie geschlagen, und wenn sie nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte sie ihre Frustration lauthals herausgeschrien. Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und flüsterte: »Mir bleibt nicht einmal genug Körperflüssigkeit, um Tränen zu vergießen. Letztlich hat mir die Wüste nicht einmal diese Gnade gelassen.« Sie überlegte, ob sie weiter in die Wüste vordringen sollte, doch sie wußte, daß sie bereits jetzt an ihre Grenzen gegangen war. Wenn sie den Weg zurück zu ihren Begleitern noch schaffen wollte, mußte sie umkehren. »Wenn ich schon sterben muß«, kam sie zu einer Entscheidung, »gibt es keine Gesellschaft, in der ich es lieber täte.« Sie begann, sich mühselig aufzurappeln, als aus dem Augenwinkel heraus zu ihrer Rechten eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie sah etliche gefleckte Echsen, die aus einer Gruppe von Steinen heraus und wieder hinein huschte. Eine der Echsen saß auf einem nahen Felsbrocken und leckte sich die Flüssigkeit von ihrem eigenen Augapfel, fast als wolle sie Tazi verspot396
ten. Tazi spielte kurz mit dem Gedanken zu versuchen, eine Handvoll der Echsen zu fangen, verwarf ihn aber rasch wieder. »Selbst wenn ich euch kleine Dämonen allesamt pakken könnte, würde nicht einmal ich davon satt werden«, mußte sie sich eingestehen. Gleichwohl erweckte irgend etwas an den Echsen ihre Aufmerksamkeit. In so großer Zahl hatte sie sonst nirgends an diesem kleinen Zufluchtsort inmitten der Wüste Leben gesehen. »Was ist denn an diesen Felsen eigentlich so besonders, daß ihr euch alle darin versteckt?« fragte sie sich laut. Sie ging zu der Felsgruppe hinüber, um sich die Sache näher anzusehen. In dem Augenblick, in dem ihr Schatten auf die kleinen Echsen fiel, stoben sie wild auf ihren dürren Beinchen auseinander und waren kurz darauf verschwunden. Sie machte sich nicht einmal Gedanken darüber, ob sie giftig sein mochten, für den Fall, daß noch welche zurückgeblieben waren. Sie griff einfach in die kleine natürliche Höhle und begann, darin umherzutasten. Ja! Dort drinnen in der schützenden, kleinen Höhle befand sich eine Ansammlung von Pflanzen, bei denen es sich zweifellos um Calimkakteen handeln mußte. »Ich danke dir!« stieß sie erleichtert aus, wobei sie sich nicht einmal sicher war, ob das jetzt an irgendeine Gottheit oder sonstwen gerichtet war. In ihrer Lage waren die Pflanzen wertvoller als Gold und bedeuteten vielleicht tatsächlich die Rettung. Tazi 397
war schier außer sich vor Freude, als sie feststellte, daß es sich um mehrere Kakteen handelte und keines der Gewächse seine Wurzeln an der Oberfläche hatte. Sie wischte sorgfältig ein wenig Sand zur Seite und begann, die Kakteen aus dem Boden zu lösen. Sie hatten spitze Dornen, die sich in ihre aufgesprungenen Hände bohrten, doch Tazi spürte den Schmerz kaum, während sie voller Begeisterung den einzigen Schatz, der in der Wüste wirklich einen Wert besaß, aus dem Erdreich zog. Fannah hatte mit ihrer Beschreibung recht behalten. Die Pflänzchen verfügten über extrem lange Wurzeln, und Tazi spürte, daß sie angesichts der vielen Flüssigkeit, die sie aufgesogen hatten, dick und schwer waren. Sie setzte ihr Schwert ein, um die Wurzeln von den dornigen Gewächsen zu schlagen. Dann warf sie die Kakteen zurück in den Sand und hoffte, sie würden neue Wurzeln schlagen. »Für die nächste verlorene Seele, die hier vielleicht eines Tages entlangkommt«, erklärte sie einer der kleinen Echsen, bevor diese davonhuschte. Nachdem sie ihre Tasche mit den wertvollen Pflanzen praktisch vollgestopft hatte, wollte sie sich schon abwenden, als ihr Blick auf einen letzten noch stehenden Kaktus fiel. Da sich die Wurzeln dieser Pflanze vollständig an der Oberfläche befanden, hätte sie sie fast als wertlos abgetan, denn schließlich hatte ihr Fannah ja erklärt, daß die Pflanze in diesem Zustand nach Wasser suchte und keines gespeichert hatte. Doch dann hatte sie eine Idee. »Na ja, probieren schadet nichts«, sagte sie zu sich 398
selbst, während sie sorgfältig die ganze Pflanze ausgrub. Sie trug sie in der Hand und stopfte sie nicht in den Beutel mit den vollgesogenen Wurzeln, um sie nicht zu beschädigen. Dann nahm sie den langen Marsch zurück in Angriff. Sie haderte einige Zeit mit ihrem Schicksal, weil sie probieren wollte, bereits unterwegs das Wasser aus einer der Wurzeln zu saugen. Ihr Verstand argumentierte, sie könne die zusätzliche Energie gut gebrauchen, da sie auf ihrer Suche nach den Pflanzen so viel davon vergeudet hatte, doch letztlich brachte sie es nicht übers Herz, ihren Durst zu stillen, weil sie wußte, daß Steorf und Fannah noch immer grausam litten. »Bald haben wir alle ausreichend Wasser«, beschwichtigte sie die kleine, flüsternde Stimme, die ihr einreden wollte, ihre eigenen Bedürfnisse über die der anderen zu stellen. Entweder hatte sie schlicht den Überblick über die Zeit verloren, oder ihre Aufregung hatte ihre Schritte beflügelt – auf jeden Fall hatte sie den Eindruck, als sei der Rückweg zu ihren Freunden im Gegensatz zu ihrer Suche verblüffend kurz gewesen. Selbst aus einiger Entfernung war Fannahs trübsinnige Miene nicht zu mißdeuten. Steorf blieb nicht mehr viel Zeit. Sie eilte an ihre Seite. »Fannah«, hustete sie, und ihre Stimme drohte nun endgültig zu versagen. »Ich habe sie gefunden.« »Dank sei Sharess. Ich wußte, daß sie dir den Weg zeigen würde.« Fast hätte Tazi einen Witz über Sharess und gewisse gefleckte Echsen gerissen, konnte es sich aber gerade 399
noch verkneifen. Sie war nicht sicher, ob nicht vielleicht tatsächlich eine wohlmeinende Hand sie zu den Pflanzen geführt hatte oder ob es blanker Zufall gewesen war. Auf jeden Fall war es besser, keine dummen Scherze über gütige Mächte zu machen, die eventuell zu ihrer Rettung beigetragen hatten. Statt dessen ließ sie einfach die volle Tasche vor Fannah zu Boden gleiten und stellte die intakte Pflanze neben Steorf ab. »So. Wie holt man das Wasser jetzt am sichersten aus ihnen heraus?« fragte sie. Fannah brach ein Stück von einer der Wurzeln ab und schnitt mit Tazis Dolch eine Kerbe hinein. Wasser begann herauszusickern. »Du hältst das Stück mit beiden Händen«, erläuterte sie. »Dann saugst du daran. Wenn du so kein Wasser mehr herausbekommst, nimmst du den Rest in den Mund und kaust ihn so lange, bis du den letzten Tropfen herausgequetscht hast.« Tazi nahm das erste Stück, das Fannah vorbereitet hatte, und führte es an Steorfs Lippen. Sein Gesicht war gerötet, und Tazi stellte alarmiert fest, daß er offenbar schon so entwässert war, daß er nicht einmal mehr schwitzte. Zuerst reagierte er nicht einmal auf die Wassertropfen, die langsam in seinen Mund tropften, und Tazi befürchtete schon, zu spät gekommen zu sein. Sie lehnte sich ganz nah an sein Ohr und beschwor ihn: »Komm schon. Nimm das Wasser. Du weißt, daß ich ohne dich nicht weitergehe.« Unabsichtlich hielt sie den Atem an. Schläfrig, sehr schläfrig begannen Steorfs Augenlider 400
zu flattern, und seine Zunge tastete vorsichtig nach den benetzten Lippen und dem seltsamen Gegenstand an seinem Mund. Er öffnete leicht die Augen, und Tazi sah, daß er sie wiedererkannte. Sie hatte ihn noch nicht verloren. »Sag nichts«, wisperte sie. »Saug an der Wurzel. Ich erkläre alles später.« Sie legte seine Hände auf die Pflanze, damit er sie halten konnte, wie es für ihn bequem war. »Hier, für dich«, sagte Fannah und gab ihr ein eingeschnittenes Stück Wurzel. Während Tazi an der lebensrettenden Pflanze lutschte, fragte Fannah: »Hast du die kleinen Kakteen selbst auch mitgebracht?« »Ich habe kurz mit dem Gedanken gespielt«, erklärte ihr Tazi zwischen einzelnen Schlürflauten. »Doch dann habe ich sie zurückgelassen, wo ich sie gefunden habe. Ich hoffe, daß sie erneut Wurzeln schlagen und wieder wachsen werden. Vielleicht werden sie so eines Tages für einen anderen Reisenden zur Rettung.« Jetzt, wo sie ihre Idee laut aussprach, kam sie ihr auf einmal ziemlich lächerlich und albern vor. Ich hätte sie vielleicht doch mitnehmen sollen. Sie hätten zwar nur wenig als Nahrung ausgegeben, aber wohl besser als nichts, rügte sie sich selbst. Fannah hingegen nickte zufrieden. »Eine weise Gabe an die Wüste«, lobte sie ihre verblüffte Freundin. »Du weißt mehr über den Kreislauf des Lebens, als du bereit bist, dir einzugestehen.« »Ich habe allerdings eine Pflanze im Ganzen mitgebracht, weil ich da eine Idee hatte. Du hast mir doch 401
erklärt, daß der Kaktus seine Wurzeln verwendet, um Flüssigkeit aufzusaugen, oder?« Fannah nickte, und Tazi konnte an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, daß ihrer Freundin bereits dämmerte, worauf sie hinauswollte. »Ich habe einen Kaktus gefunden, der noch durstig war«, erläuterte Tazi weiter, »und ich bin mir sicher, daß er durch den Transport und die sengende Sonne sogar noch durstiger geworden ist. Vielleicht habe ich ja bereits einen Sonnenstich, aber ich will es einfach ausprobieren.« Tazi wußte, daß Fannah sie verstanden hatte, und wandte sich an Steorf. »Ich habe eine Idee, die ich an dir ausprobieren möchte«, sagte sie zu Steorf. Er war sich nicht bewußt, worauf sie hinauswollte, vertraute ihr aber dennoch. Tazi schnappte sich den Kaktus, umfaßte die Pflanze mit einer Hand und hielt eine der längsten Wurzeln, die beinahe einen Meter lang war, mit der anderen Hand direkt an die Wunde in seiner Brust. Sie sah, wie das dürre Gewächs die nässende, weißliche Flüssigkeit praktisch augenblicklich aufsog. Mehrere Minuten vergingen, und die Wurzel begann dort, wo sie Steorf berührte, anzuschwellen. Langsam, aber sicher schwoll so die Wurzel auf der ganzen Länge an. Als die Schwellung den eigentlichen Kaktus erreichte, begann dieser in sich zusammenzusacken. Rasch zog sie das sterbende Gewächs von Steorf weg. Sie war sich darüber bewußt, daß es der Pflanze wohl nicht gelungen war, alles Gift aus seinem Körper zu 402
saugen, doch so wie die Wurzel jetzt angeschwollen war, mußte es sich durchaus um eine beträchtliche Menge handeln. Durch das Absaugen des Gifts und die erfrischende Wirkung des Wassers war Steorfs Blick wieder klar geworden. Tazi drückte ermutigend seine Hand und gab ihm ein neues, angeschnittenes Stück Wurzel. Nachdem sie alle Wurzeln ausgesaugt hatten, war Steorf wieder hellwach. Obwohl er sich bereits gut erholt hatte, war er dadurch allerdings keinesfalls vollständig von den Auswirkungen des Wurmgifts geheilt. »Wenn alles vorbei ist, werde ich zusehen, daß ich dich zu einem richtigen Heiler schaffe«, meinte sie. »Wenn alles vorbei ist ...«, wiederholte er und schien offensichtlich über ihre Wortwahl nachzudenken. »Ja, genau«, bestätigte Tazi, »wenn wir hier fertig sind.« »Wenn du dich schon besser fühlst«, unterbrach Fannah die beiden, »könntest du vielleicht zusehen, daß du hiermit fertig wirst.« Damit gab sie ihm den Stapel von Ciredors Schriftstücken, und Steorf nahm die Pergamente entgegen. Tazi und Fannah halfen ihm gemeinsam in eine sitzende Haltung hoch. Er sah seine Freunde sorgenvoll an. »Ich bin nicht sicher, ob ich das schaffe«, gestand er schließlich. »Aber ich«, ermutigte ihn Tazi. »Du warst doch schon fast fertig mit der Entschlüsselung, ehe du verletzt wurdest. Ich bin sicher, daß du sie jetzt zu Ende bringen kannst.« 403
Tazi sah, wie stark Steorf in diesem Augenblick an sich selbst zweifelte. Sie nahm an, er befürchte, seine magischen Fähigkeiten könnten ebenfalls versagen, wo ihn sein Körper so im Stich gelassen hatte. »Fannah braucht deine Hilfe«, erklärte sie ihm mit leiser Stimme, so daß nur er sie hören konnte. »Ich kann diese Dokumente nicht übersetzen, und wir müssen Ciredor ausfindig machen.« »Du hast recht«, stimmte er ihr nach längerem Zögern zu. »Gib mir etwas Zeit.« Er gab ihr die Pergamente zurück. Tazi hielt sie fest umklammert, während sie ihm aufmerksam zusah. Steorf schloß die Augen und konzentrierte sich. Tazi fürchtete, er würde gleich wieder bewußtlos werden, doch dann begannen seine Hände in einem wesentlich helleren Weiß zu strahlen als bei seinem ersten Versuch, das Gift aus seinem Körper zu vertreiben, den er unternommen hatte, direkt nachdem er dem Wurm zum Opfer gefallen war. Tazi stellte fest, daß sie unwillkürlich den Atem angehalten und ihre Hände so um die Dokumente verkrampft hatte, daß sie knitterten. »Bitte ...«, murmelte sie. Steorf begann zu schwitzen, und Tazi wurde bewußt, in welcher Zwangslage er sich befand. Er war durch das Gift äußerst entkräftet und versuchte, die mageren Reserven, die ihm verblieben waren, dazu einzusetzen, sich zu heilen. Tazi schüttelte den Kopf, als sie begriff, daß sie der Reihe nach ihre Kräfte aufbrauchten, bis sie nichts mehr übrig hatten. 404
Seine Hände wurden langsam bräunlich, doch er hatte offensichtlich keine Möglichkeit, das sich ansammelnde Gift irgendwohin zu kanalisieren. Ohne lange nachzudenken, ließ sie die Schriftstücke fallen und packte seine Hände. Tazi spürte, wie ihre Hände ganz taub wurden, und mußte mit ansehen, wie ihre Haut erbleichte. Ehe allerdings noch mehr von dem Gift auf sie übergehen konnte, riß Steorf auf einmal die Augen auf und erkannte, was da gerade vor sich ging. Hastig riß er sich los. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?« verlangte er barsch zu wissen, doch Tazi lachte nur, als sie sah, daß etwas gesunde Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt war. »Ich tat, was ich tun mußte. Genau wie du. Ich tue es für uns alle. Mach dir keine Sorgen um mich. Mir geht es gut«, versuchte sie ihn zu beschwichtigen, während sie ihm wieder Ciredors Schriften reichte. Steorf bedachte sie mit einem dubiosen Blick und widmete sich dann wieder den finsteren Worten des Schwarzmagiers. Seine Augen waren klar, und er wirkte geistig völlig erfrischt. Sowohl sie als auch Fannah knieten neben ihm im Sand nieder. Sie konnten ihn bei dieser Arbeit in keiner Weise unterstützen, außer dadurch, daß sie ihm Gesellschaft leisteten. Tazi hatte den Eindruck, daß Steorf an der ruhigen Kraft, die sie ihm zu vermitteln versuchten, teilhatte. Nach etlichen Minuten ergriff Steorf schließlich wieder das Wort. »Entweder bin ich noch immer nicht ganz bei Verstand, oder der Text hier beginnt tatsächlich langsam, Sinn zu ergeben.« 405
»Worum geht es in dem Abschnitt?« erkundigte sich Fannah. »Mehrheitlich handelt es sich um eine Abhandlung über seine Göttin. Tatsächlich beschreibt er hier ihre Tugenden recht ausführlich.« »Aber Shar ist eine Göttin der Finsternis«, warf Tazi ein. »Das ist teilweise korrekt«, erklärte Fannah. »Die Finsternis ist eines ihrer Elemente, doch herrscht sie auch über verschwiegene Schmerzen und verdrängte Eifersucht.« »Warum sollte jemand auf die absurde Idee kommen, so eine Göttin anzubeten?« fragte Tazi. »Wer kann schon sagen, was die Seele wirklich antreibt oder warum jemand das tut, was er tut?« fragte Fannah kryptisch. »Dennoch weiß ich, daß Shars Berührung Erleichterung bringt und tiefgreifende Schmerzen zu lindern vermag.« »Sie nimmt ihren Anhängern den Schmerz?« fragte Steorf neugierig. »Nein, so funktioniert es nicht«, korrigierte ihn Fannah. »Es ist eher so, daß sie den Schmerz dämpft, und ihre Anhänger akzeptieren dies als eine gute Möglichkeit, mit ihm zu leben. Es handelt sich um eine Art pervertierte Akzeptanz inneren Schmerzes. Was sie am meisten haßt, sind wohl das Licht und die Hoffnung.« »Vielleicht war es mein Schmerz, der mir half, Ciredors Schriften besser zu verstehen. Vielleicht hat er mich ihm irgendwie nähergebracht«, murmelte Steorf nachdenklich. 406
»Woher weißt du so viel über sie?« wunderte sich Tazi. »Denk daran, Sharess stand einst unter ihrem Einfluß, bevor sie sich befreien konnte«, erklärte ihr Fannah. »Unsere Kirche hat uns in den Lehren Shars unterwiesen, auf daß wir die Finstere in jeder Verkleidung zu erkennen vermögen und ihrer dunklen Berührung nie mehr erliegen sollen.« Tazi nickte. Fannahs Ausführungen ergaben Sinn. »Vielleicht ist es das, was dich für Ciredor so besonders macht«, begann sie den Faden weiterzuspinnen. »Du stellst die ultimative Verkörperung dessen war, was Shar verlor. Ein Geschenk des Verlustes an die Göttin des Verlustes. Ich hasse es ja, es mir einzugestehen, aber auf seine perverse Art und Weise hat er vermutlich das einzige Geschenk gefunden, das ein Sterblicher dieser Göttin machen kann, das ihr wirklich etwas bedeutet.« Fannah antwortete nicht, und Steorf warf Tazi einen eisigen Blick zu. Plötzlich fühlte sie sich schuldig. Sie hatte sich von Ciredors Denkweise mitreißen lassen. Zum ersten Mal hatte Tazi völlig nüchtern vom Wert Fannahs für Ciredor gesprochen, als handle es sich bei ihr um irgendeinen magischen Schatz und nicht um ein Wesen aus Fleisch und Blut. Sie hatte völlig vergessen, was für ihre Freundin auf dem Spiel stand. Das Schweigen begann sich unangenehm in die Länge zu ziehen, und Steorf vergrub sich wieder in die Dokumente. »Da ist noch mehr«, erläuterte er schließlich triumphierend. »Er spricht hier noch einige Zeit über Shar«, 407
dabei zeigte er auf die Abschnitte des Pergaments, die er offensichtlich gerade studiert hatte, »und dann erklärt er hier, er habe den perfekten Standort für sein Herz gefunden. Dabei muß es um eines der Minarette gehen.« »Was steht dort genau?« fragte Tazi, die nur allzugerne einen Grund fand, um das gequälte Schweigen zu durchbrechen. Sie warf Fannah einen vorsichtigen Blick zu und stellte erleichtert fest, daß ihre Freundin offensichtlich nicht beleidigt war. Du bist wirklich der einzige Mensch, den ich kenne, der immer die Person hinter den Worten sieht, dachte sie. Steorf kniff die Augen zusammen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Tazi erkannte, daß er sich noch immer nicht vollständig erholt hatte. »Er schreibt hier, die Türme seien perfekte Edelsteine in der Wüste und fährt mit dem Ausblick fort, den er von dort genießt. Er scheint wirbelnde Festungen und Schutt zu sehen, und irgendwie ist das alles fürchterlich romantisch für ihn.« »Was war das noch mal?« fragte Fannah, die bei dieser Beschreibung aufgehorcht hatte. »Irgend etwas über eine wirbelnde Festung oder so«, versuchte Tazi zu helfen. »›Im Westen kann ich fast die Wirbelnde Festung von Siri’wadjen sehen, und im Osten kann ich noch immer all die Schönheit und Majestät Teshylls erkennen, obwohl jetzt alles in Schutt und Asche liegt‹«, zitierte Steorf den Text wortwörtlich, um ihr weiterzuhelfen. 408
»Ich weiß jetzt, wo er ist«, rief Fannah aus. »Es ergibt alles Sinn.« »Wo?« fragte Tazi. »Ciredor hat die Minarette, die gleichzeitig im Herzen der Teshyllwüste und der Calim liegen, mit Beschlag belegt. Es ist unweit von hier.« »Dann hätten wir es also geschafft. Jetzt müssen wir uns nur noch auf unsere weitere Vorgehensweise einigen«, erklärte Tazi. Sie dachte darüber nach, während sie abwechselnd Steorf und Fannah musterte. »Ich hätte einen Vorschlag«, meinte Fannah. »Sprich«, ermutigte sie Tazi. »Wir sollten auf der Handelsstraße reisen. Von hier aus bis zu unserem Ziel ist sie ziemlich gut erhalten, und das wird uns enorm helfen, rasch weiterzukommen.« »Damit würden wir Ciredor auf unsere bevorstehende Ankunft aufmerksam machen«, protestierte Steorf. Ehe Fannah ihre Idee noch weiter erläutern konnte, schlug sich Tazi bereits auf ihre Seite. »Ich denke, das spielt keine Rolle mehr. Ich fürchte, er weiß ohnehin schon seit längerem, wo wir sind. Als uns der Wurm angriff, hatte ich den Eindruck, daß er egal, was wir anderen taten, immer wieder versuchte, nur dich zu attackieren.« Sie warf ihm einen unnachgiebigen Blick zu. »Erklär mir das genauer«, verlangte er. »Die Kreatur hatte mehr als nur eine gute Gelegenheit, mich oder Fannah zu töten, hat aber nicht einmal Anstalten dazu gemacht. Wenn sie uns angriff, hat die 409
Bestie jedes Mal versucht, keine tödliche Gewalt gegen uns einzusetzen. Bei dir sah die Sache ganz anders aus. Ciredor hat uns das Biest auf den Hals geschickt. Augenscheinlich sieht er dich dank deiner magischen Fähigkeiten als die größte Bedrohung an«, beendete sie ihre Ausführungen. Steorf senkte den Blick. »Ja. Ich und meine allmächtigen Fähigkeiten«, lachte er. »Eventuell sind da drinnen ja Informationen verborgen, die wir nicht haben sollten«, sagte sie, während sie eines der Pergamente emporhielt. »Wir werden es wohl nie genau wissen, doch ich kann dir ohne Zweifel versichern, daß er dich vernichten wollte. Auch Wenn er vielleicht nicht unseren exakten Standort kannte, hat er doch genug über unseren Fortschritt durch die Wüste gewußt, um diesen Angriff zu ermöglichen. Ich glaube, er will, daß ich ihm Fannah bringe. Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht zu versuchen, sie sich selbst zu holen«, schloß sie widerwillig. »Das heißt?« fragte Steorf. »Das heißt«, erwiderte Tazi mit einer eisigen Entschlossenheit in der Stimme, »daß sich gar nichts geändert hat. Wir bleiben bei unserem Plan und tragen den Kampf zu ihm, und darin bringen wir die Sache ein- für allemal zu Ende!« »Entlang der Handelsstraße?« vergewisserte sich Steorf. »Fannah?« Die Blinde blickte zuerst Steorf und dann Tazi mit 410
ihren leeren, weißen Augen an. »Ja, ich denke, das ist tatsächlich unsere beste Chance. Wie ich euch bereits erklärt habe, hat man die Steine beim Bau mit mächtiger Magie erfüllt. Die Wüstenwürmer vermögen sie nicht zu durchdringen, falls sich Ciredor entscheiden sollte, weitere derartige Angreifer auf uns zu hetzen, und ich denke, daß die wandernden Dünen ähnliche Schwierigkeiten hätten wie die Würmer. Natürlich«, fügte sie hinzu, »führt sie direkt zu den Minaretten, die wir suchen ...« »... und damit zu Ciredor«, vollendete Steorf den Satz für sie. »Dann ist das der Weg, den wir einschlagen. Wir werden ihn direkt ins Herz treffen«, beschloß Tazi. Sie stand gemeinsam mit Fannah auf, und dann gaben sie Steorf die Hände, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Ärgerlich versuchte er, sie abzuwehren. »Wenn du dich schon wieder gegen uns wehren kannst, muß es dir besser gehen«, spöttelte sie. »Aber ernsthaft, du mußt mit deiner Kraft haushalten«, fügte sie hinzu und ignorierte geflissentlich seine Versuche, ohne Hilfe aufzustehen. Sie half ihm auf und legte sich dann seinen linken Arm über die Schulter. »Bitte«, bat sie ihn, und es war nicht nur ihre Stimme, sondern auch der weiche Blick aus ihren meergrünen Augen, der ihn anflehte, sich nicht weiter so stur zu geben. »Ich hab dir doch noch nie etwas abschlagen können«, sagte er, und zum ersten Mal, seit sie einander 411
kannten, war sein Lächeln völlig offen. »In welche Richtung geht es?« fragte Tazi hastig und wandte sich, nun wieder ganz bei der Sache, an Fannah. »Ich bin etwas desorientiert«, mußte die blinde Frau zugeben. »In welcher Richtung geht die Sonne unter?« Tazi und Steorf drehten sich suchend um. Dadurch wurden sie sich ziemlich abrupt darüber bewußt, wie dunkel es bereits geworden war. Schließlich sagte Tazi: »Ich denke, auf deiner linken Seite.« »Stimmt etwas nicht?« fragte Fannah, beantwortete ihre Frage aber gleich selbst. »Es ist auf einmal kühl, aber dafür ist es noch zu früh. Es ist noch einige Zeit bis zum Sonnenuntergang.« Tazi suchte den Horizont in dem Bereich ab, wo eigentlich die Sonne stehen sollte. Sie konnte nur noch einen schwachen Umriß ausmachen. Die kurz zuvor noch helle Sonnenscheibe verdunkelte ein treibender Schleier, der rasch finsterer wurde. In der Ferne konnte sie ein Jaulen vernehmen. »Irgend etwas braut sich da im Westen zusammen«, erklärte sie. Fannah stand völlig still. Sie legte den Kopf anmutig zur Seite und lauschte wie ein Singvogel, der sich vergewissert, ob Raubtiere in der Nähe sind. »Es ist ein Sandsturm«, wisperte sie. Sie wandte sich wieder Tazi zu. »Wir müssen uns jetzt sehr beeilen. Unsere Zeit ist bereits knapp, aber wir sollten eigentlich in der Lage sein, Ciredors Minarette zu erreichen, bevor der Sandsturm bei uns ist.« 412
Ohne weitere Worte packte Fannah Tazi am Arm und zog ihre Freunde in westlicher Richtung mit sich. Wie sie ihnen bereits versichert hatte, war die Handelsstraße tatsächlich nicht mehr fern.
Bald stießen die drei auf die Überreste einer einst wohl prächtigen Straße. Sie war breit genug, um drei schwerbeladenen Fuhrwerken Platz zu bieten. Der Zahn der Zeit und das rauhe Klima der Wüste hatten ihr jedoch hart zugesetzt. Viele Pflastersteine waren geborsten, und scharfe Gesteinstrümmer standen empör. Etliche Einbrüche hatten Teile der Straße verschluckt, und die drei Abenteurer mußten sie sorgsam umgehen, um nicht in diese Bereiche voll abgesenktem Schutt und Sand zu geraten. Nicht weit entfernt konnte Tazi zwei Minarette ausmachen. »Die Straße ist beeindruckend«, staunte Steorf. Tazi fiel auf, daß er gerade mal wieder versuchte, sich nicht so schwer auf sie zu stützen. Sie zupfte ihn sanft am Arm. »Es geht schon«, mahnte sie ihn. Er sah sie direkt an, und auch im beständig nachlassenden Dämmerlicht, das inzwischen herrschte, konnte sie die Schmerzen erkennen, die sich in seinen grauen Augen widerspiegelten. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augenhöhlen. »Du wirst deine Kraft auch noch brauchen«, erinnerte er sie. Dann wandte er sich an Fannah. »Ich habe den 413
Eindruck, man konnte früher in Sechserreihen auf dieser Straße reiten.« »Ich habe gehört, es müsse sich während der Hochblüte tatsächlich um eine gar wundersame Straße gehandelt haben.« Zu ihrer Linken kam der treibende Sand nun rasch näher. Tazi war vor allem verblüfft, was für einen Lärm der Sturm selbst auf diese Entfernung verursachte. Die Wüste hatte sich bisher als tödlicher, aber dennoch größtenteils lautloser Feind erwiesen. Damit ist es jetzt wohl vorbei, dachte Tazi. »Der Sturm hat uns fast erreicht«, meinte Fannah, deren scharfen Ohren auch diesmal nichts entging. »Wir müssen zusehen, daß wir die Türme so schnell wie möglich erreichen«, rief Steorf. Tazi sah fasziniert und erschreckt zugleich mit an, wie rasch jetzt Finsternis hereinbrach. »Unsere Zeit ist gerade eben abgelaufen«, sagte sie nur noch, bevor der tobende Mahlstrom sie verschlang.
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Die Minarette
W
o bist du?« schrie Tazi aus Leibeskräften. Sie, Fannah und Steorf hatten es erst ein kleines Stück weit nach Westen auf der Handelsstraße geschafft, als der Sturm sie einholte. Zuerst dachte sich Tazi noch, die Sache sei eigentlich gar nicht so schlimm wie befürchtet. Sie waren alle drei zusammen, und Fannahs große Besorgnis ob des Sturms schien sich gerade als völlig überzogen zu erweisen. Natürlich war es verdammt ungemütlich, während der Wind den Sand aufwirbelte, doch es war keineswegs unerträglich, und die Türme waren ja auch nicht mehr weit. Wir schaffen das, dachte sie. »Ich glaube nicht, daß wir größere Probleme bekommen«, rief sie Fannah über den Lärm des Sturms hinweg zu. Fannah schüttelte nur den Kopf. »Wir befinden uns erst in den Ausläufern des Sturms. Ab jetzt wird es nur schlimmer.« Während sie sich langsam entlang der Handelsstraße weiter auf die Türme zuarbeiteten, begann der Wind 415
immer heftiger zu toben, und Tazis Optimismus bekam einen gewaltigen Dämpfer. Sie und Steorf mußten die Augen zu Schlitzen zusammenpressen, um die Sandkörner daran zu hindern, ihre Augäpfel wundzuscheuern. Tazi war sicher, daß sie gerade ihre oberen Hautschichten an den Sand verlor, während der Sturm immer noch an Geschwindigkeit zunahm. Die drei mußten sich aneinanderklammern, um nicht fortgeweht zu werden, und auf einmal packte eine heftige Böe Steorfs Beutel, riß ihn von seinen Schultern und schleuderte ihn nach hinten. Tazi löste sich von den anderen, um ihm durch die treibenden Schlieren zu folgen, und bedeckte ihre Augen mit einer Hand. »Ich hole ihn«, rief sie. Irgendwie hoffte sie noch immer, die Schriften enthielten einen verborgenen Hinweis, wie sie Ciredor besiegen konnten, und wollte nicht ihre einzige Waffe verlieren, die sie noch gegen ihn besaßen. »Vergiß ihn«, sagte Steorf. Fannah schrie: »Nein!« Trotzdem schüttelte Tazi ihren Griff ab und kämpfte sich auf den Beutel zu. Dieser lag nur ein paar Schritte außerhalb ihrer Reichweite verkehrt herum am Boden. Der Wind trieb Tazi nach links, als habe ihr ein Riese einen ärgerlichen Schubs versetzt, und Tazi versuchte auszugleichen, während sie auf den Beutel zustolperte. Diesen jedoch erfaßte nur eine weitere Böe und trieb ihn noch ein Stück weit davon. Die Sonne begann jetzt endgültig hinter dem Horizont zu verschwinden, und 416
Tazi verlor den Beutel aus den Augen. Sie hielt inne und mußte sich eingestehen, daß Ciredors Schriften im tobenden Wüstensturm verloren waren. Leider erging es ihr auch nicht besser. Sie drehte sich um ihre Achse und konnte überall nur rasch wachsende Finsternis erkennen. Sie schrie nach ihren Freunden, doch der Wind tobte jetzt so laut, daß sie nicht einmal ihre eigene Stimme hörte. Sie legte die Hände an den Mund und versuchte es erneut, doch auch diesmal vernahm sie nur das Tosen des Windes. Tazi stand schwankend im Sturm, der sie durchschüttelte. Sie legte die Hände vor die Augen und bildete Gucklöcher, während sie sich nach Steorf und Fannah umsah. Sie konnte sie jedoch nirgendwo entdecken, sondern sah nur befremdliche Muster, die der wirr tanzende Sand vor ihren Augen entstehen ließ. Der Anblick war schwindelerregend. Die Wüste schien kein Ende zu kennen. Alles war Sand, und alles war eins. Himmel und Erde hatten aufgehört, getrennt zu existieren. Ihre Welt bestand aus einem unerträglichen Heulen. Tazi fühlte sich, als sei sie erneut in dem Portal gefangen, das sie nach Calimhafen gebracht hatte. Ihr Herz schlug wie wild, und sie konnte ihre Furcht förmlich auf der Zunge schmecken. Das bringt mich jetzt auch nicht weiter, ermahnte sie sich streng. Steorf und Fannah brauchen mich. Verbissen hielt sie die Stellung gegen den tobenden Wind und versuchte zuerst einmal, ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen und ihre Furcht niederzukämpfen. 417
Ich bin sicher, daß ich noch nicht weit gekommen war, als ich die Verfolgung des Beutels aufgegeben habe, überlegte sie. Anschließend habe ich mich praktisch um hundertachtzig Grad gedreht. Wenn ich recht habe, müßte ich eigentlich nur geradeaus marschieren, und ich komme direkt zu Fannah und Steorf zurück. Aber wenn ich mich irre, dachte sie sarkastisch, spaziere ich auf Nimmerwiedersehen in den Sturm hinein. Mit diesen »tröstlichen« Gedanken machte sich Tazi an den beschwerlichen Rückweg. Der Wind trieb sie weiter von einer Seite auf die andere. Um möglichst gerade zu bleiben, setzte sie immer einen Fuß direkt vor den anderen – Ferse an Fußspitze. Einmal ließ sie sich sogar auf alle Viere nieder, um den Boden abzutasten, ob sie irgendwo die gepflasterte Handelsstraße fände, doch der Wind und die Sandverwehungen brachten auch diesen Versuch zum Scheitern. Sie gab also auf und beschloß, es wieder mit ihrem ursprünglichen Plan zu versuchen. Die Zeit verlor jegliche Bedeutung, und Tazi fühlte sich der Panik nahe. Es dauerte bereits zu lang, und sie war sicher, daß sie eigentlich längst auf ihre Freunde hätte getroffen sein müssen, wenn sie den richtigen Weg eingeschlagen hätte. Sie hielt inne und versuchte, im tobenden Sandsturm irgend etwas zu erkennen. Kurz bevor sie unwiderruflich aufgeben wollte, glaubte sie, durch das Tosen des Windes etwas zu hören. »Steorf?« schrie sie aus Leibeskräften und horchte. Das schwache Geräusch wurde lauter, und sie brüllte 418
erneut: »Ruf weiter!« Tazi war sicher, daß es sich um ihre Freunde handelte. Sie senkte den Kopf und kämpfte sich wie eine Betrunkene mit weit ausholenden, taumelnden Schritten auf das schwache Geräusch zu. Zwischendurch warf sie immer wieder Blicke nach vorn, und auf einmal konnte sie in den treibenden Schlieren zwei schattenhafte Umrisse erspähen, die so etwas wie eine konstante Form hatten. Tazi mobilisierte ihre letzten Kräfte und wäre in den ausgestreckten Armen ihrer wartenden Freunde fast zusammengesackt. Die drei klammerten sich kurz aneinander. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?« brüllte ihr Steorf direkt ins Gesicht. »Ciredors Buch!« versuchte sie zu erklären. »Ich mußte versuchen, es zu bergen.« »Soll es doch der Wind haben«, erklärte er ärgerlich. »Wir hätten dich beinahe verloren.« »Mich doch nicht«, antwortete sie frech und mußte schon wieder lächeln, wenn es auch nur ein schiefes Grinsen wurde. »Wir dürfen einander nicht loslassen. Nicht einmal eine Sekunde, oder wir laufen Gefahr, einander nie wiederzufinden«, rief Fannah. »Wie sollen wir jetzt nur die Türme finden?« fragte Steorf. Die Frage drückte Tazi ebenfalls. Sie waren blind in einem tobenden Sturm gefangen. Als sie das dachte, schoß ihr auch schon die Antwort auf ihr Dilemma durch den Kopf. 419
»Fannah muß uns führen«, rief sie. Dank der untergegangenen Sonne und des Sandsturms sah man fast die Hand vor Augen nicht. Sie war nicht sicher, aber sie vermeinte, Fannah zustimmend nicken zu sehen. »Haltet euch an mir fest«, rief sie. Die drei lehnten sich in den Wind und kämpften sich Schritt für Schritt vorwärts. Tazi hielt sich unerbittlich an Steorf und Fannah fest. Es wurde nun sogar noch dunkler, und ihr Gefühl der völligen Desorientierung wuchs praktisch mit jedem Schritt. Es gab nirgends irgendwelche Bezugspunkte, und sie hatte jegliche Verantwortung an Fannah abgegeben. Sie hoffte einfach, daß diese, die ja ihr ganzes Leben daran gewohnt war, sich in völliger Dunkelheit zu orientieren, trotz des tosenden Sturms den Weg finden konnte. So verloren, wie sie in dieser Situation war, wo sie einfach nur einen Fuß vor den anderen setzte, während die Zeit sich nahezu endlos streckte, flatterten seltsame Gedanken durch ihren Verstand. Seltsamerweise mußte sie immer wieder an eine bestimmte Fabel denken. Als sie noch sehr jung gewesen war, hatte ihr ihr Vater einmal eine Geschichte von Kindern erzählt, die sich im Wald verirrt hatten. Als Erwachsene war ihr natürlich klar, welchen Zweck die Geschichte gehabt hatte – sie sollte sie ermahnen und dazu bewegen, achtsam zu sein, weil sie sonst im Leben verlorengehen könnte. Damals, als kleines Kind, als sie die Geschichte erstmalig hörte, war sie so darüber erschrocken, daß sie unkontrolliert geweint hatte und alle Versuche, sie zu be420
ruhigen, scheiterten. Ihr Vater hatte völlig hilflos mit einem kleinen, panischen, dreijährigen Kind dagestanden. Tazi erinnerte sich, daß es ihre Mutter schließlich geschafft hatte, sie noch zu beruhigen, indem sie ihr erzählt hatte, ein guter Geist wache über alle verirrten Kinder. Inmitten des tosenden Sturmes gefangen mußte Tazi nun unwillkürlich lächeln, während sie ihrem ganz persönlichen guten Geist in Gestalt Fannahs in die Sicherheit folgte. »Kannst du etwas sehen?« schrie Steorf in ihre Richtung gewandt und riß sie damit aus ihren Gedanken. »Nein«, schrie Tazi zurück. »Aber wenn jemand dazu in der Lage ist, etwas in diesem Sturm zu finden, ist es Fannah.« »Ich hoffe es«, rief er zurück und faßte ihren Arm noch fester. Tazi sah, daß Fannah sich durch den tobenden Sturm offenbar in keiner Weise aus der Ruhe bringen ließ und sie sicher führte. Sie wollte sie schon fragen, wie sie das machte, verbiß es sich aber, weil sie fand, es sei besser, sie so wenig wie möglich von ihrer Aufgabe abzulenken. Der treibende Sand und das unablässige Heulen führten dazu, daß Tazi schwindelte und ihr beinahe schlecht wurde. Sie versuchte es mit geschlossenen Augen, aber das machte alles nur noch schlimmer. Vielleicht kann sie ja die Pflastersteine unter ihren Sohlen spüren? dachte Tazi. Oder vielleicht marschiert sie einfach weiterhin untrüglich in die ursprüngliche 421
Richtung, da dieses Inferno ihren Richtungssinn nicht auf gleiche Weise verwirrt, wie das bei uns der Fall ist? Schließlich obsiegte doch die Neugier, und sie versuchte, Fannahs Aufmerksamkeit zu erregen. »Fannah!« rief sie und lief sofort in Steorf hinein. Der Zauberer war stehengeblieben. »Was ist?« fragte sie. »Das!« rief er und zeigte nach vorn. Im Dämmerlicht war der riesige Schatten kaum auszumachen, und immer noch wurde es finsterer. »Das östliche Minarett«, erklärte Fannah. Tazi mußte hart schlucken. »Du hast es geschafft«, rief sie. Die drei marschierten Seite an Seite bis zum Eingang. Jetzt, wo sie dem Bauwerk so nahe waren, konnte Tazi trotz der stark eingeschränkten Sicht ein paar Details ausmachen. Der Turm war etwa zwölf Meter hoch, so wie es Fannah gesagt hatte. Tazi tastete nach der Mauer, und ihre Hand strich über Steine und Ziegel. »Ich denke, wir können einander loslassen, wenn wir das Bauwerk berühren«, informierte sie Steorf und Fannah. »Aber daß mir keiner allein einen Schritt vom Minarett wegmacht, ja? Wir müssen die Tür finden.« Sie legte beide Hände gegen die Mauer und lehnte sich auch noch mit dem Kopf gegen die feste Wand. Ihr revoltierender Magen brauchte dieses Gefühl der Beständigkeit, das das Minarett bot, dringend. Sobald sie sich wieder besser fühlte, begann sie ebenso wie Steorf und Fannah, sich auf der Suche nach einem Eingang um das Minarett herum zu tasten. 422
»Hier drüben!« rief Fannah. Steorf und Tazi arbeiteten sich mit ständigem Kontakt zur Mauer zu ihr vor. »Wir haben Glück«, schrie Fannah. »Die Tore sind nicht allzutief vom Sand begraben.« Die drei fielen auf die Knie und setzten Hände und Arme ein, um den Sand von der Tür wegzuschaufeln. Sobald die Tore so gut wie frei waren, versuchte Tazi, sie aufzuziehen, doch sie rührten sich keinen Millimeter. »Ich denke, sie sind versperrt«, rief sie ihren Freunden zu. Derweil gewann der Wind noch immer an zusätzlicher Wucht. Endlich eine Herausforderung, die jedes Schloßknakkers würdig ist, dachte sie. Im Dunkeln, im tobenden Sturm und mit einem monströsen Magier, der auf uns lauert. Doch noch bevor sie ihr Diebeswerkzeug hervorholen konnte, das sie in ihrer Weste verstaut hatte, fragte Steorf: »Bist du dir sicher, daß sie versperrt sind?« »In dem verdammten Sturm kann ich mir wegen gar nichts sicher sein«, mußte Tazi gestehen. »Dann laß mich mal etwas probieren«, schrie Steorf. Tazi legte ihm die Hand auf den Arm. »Bist du sicher?« fragte sie, doch sie konnte seine Antwort nicht hören. Steorf legte seine Hände auf die Türgriffe, und ein grünes, gleißend helles Licht zerschnitt die Düsternis wie ein Leuchtfeuer. Steorf wurde von den Portalen, die 423
plötzlich weit aufschwangen, förmlich von den Füßen gewischt. Tazi half ihm auf. »Geht es dir gut?« schrie sie ihm ins Gesicht. Sie sah, daß Steorf völlig fertig war. »Fannah! Kannst du seinen Arm packen und mir helfen?« rief sie ihrer Freundin zu. Gemeinsam zerrten sie Steorf durch die Tore ins Innere. Tazi ließ ihn sanft zu Boden gleiten, und dann stemmten sie und Fannah sich gegen die Tore, die nun begonnen hatten, im Sturm zu schlagen, um sie wieder zu schließen. Mit einiger Mühe siegten sie gegen den Wind, und auf einmal war das Heulen nur noch halb so laut. »Finsternis!« rief Tazi, und erst als sie ihre eigene Stimme hörte, wurde ihr klar, wie laut sie die ganze Zeit hatte schreien müssen. Sie vergewisserte sich, wie es Steorf ging. »Es ist dir gelungen, sie zu öffnen«, informierte sie den benommenen Zauberer. »Ich denke, ich hätte es nicht geschafft.« »Ciredors Schutzzauber ...«, murmelte er nur, noch immer völlig ausgelaugt von der Anstrengung. »Du und Fannah, ihr bleibt hier. Ich gehe nach oben«, informierte sie ihn. Er nahm sie an der Hand und sagte: »Ich denke, er ist nicht hier. Wahrscheinlich hat er in diesem Turm nichts benötigt oder wollte hier nichts durcheinanderbringen. Sei aber bitte vorsichtig.« »Du kennst mich ja«, meinte sie augenzwinkernd. »Ganz oben sollte sich ein Kohlebecken befinden«, er424
innerte sie Fannah. »Die Geschichten besagen, die Türme seien vor den Elementen geschützt, wenn es uns gelingt, die Kohlebecken in beiden Türmen zu entzünden.« »Wenn Ciredor nicht hier ist«, spann Tazi den Gedanken weiter, »können wir den Schild vielleicht nutzen, um ihn abzuhalten, und derweil sein kostbares Geschenk zerstören. Wenn er seinen Zauber nicht in dieser besonderen Nacht an diesem besonderen Ort zu wirken vermag, ist vielleicht alles für ihn ruiniert. Ihr bleibt hier.« Tazi stand auf und sah sich in dem verstaubten, dunklen Turm nach einer Fackel um. Sie entdeckte eine an einer der Mauern und löste sie. Während sie in ihrer Weste nach Feuerstein und Zunder suchte, zeigte Steorf lässig mit einem Finger auf die Fackel und entzündete sie damit. Tazi warf ihm ein kurzes, dankbares Lächeln zu, wechselte die Fackel in die linke Hand und zückte ihr verbleibendes Schwert mit der rechten. Der Turm hatte keinen besonders großen Durchmesser, und daher war es nicht weiter schwierig, die Treppe zu finden. Dabei kam sie an uralten Waffen vorbei, die hier gelagert wurden. Sie rang kurz mit sich, ob sie die Piken und Schwerter durchstöbern sollte, die dort an der Mauer befestigt waren, entschied sich aber dagegen. Sie hatte so viele Jahre mit der sembitischen Schutzklinge trainiert, daß sie zu einem Teil ihrer selbst geworden war. Sie begann sich die Treppe nach oben zu arbeiten. Tazi ging am äußeren Rand der Stiege. Es war fast zur Gewohnheit geworden. Cale hatte sie gelehrt, daß 425
Holzdielen am äußeren Rand einer Treppe am seltensten quietschten. Natürlich würde es ohnehin außergewöhnlich scharfe Ohren erfordern, angesichts des noch immer tobenden Sturms ein derartig leises Geräusch überhaupt zu hören. Die Wendeltreppe verlief nicht kreisförmig, sondern hatte alle zehn Stufen einen Absatz und knickte dort jeweils um neunzig Grad ab. In der Mitte befand sich ein Schacht, der vom Fußboden bis zur Spitze des Turms verlief. Wenn sie sich zur Seite lehnte, konnte Tazi hinauf- oder hinunterblicken. Außerdem bedeutete das natürlich, daß ein einziger falscher Schritt ausreichen würde, um tief zu fallen. Unwillkürlich flüsterte sie einen Vers aus einem melancholischen Liebeslied, das sie einmal in einer Schenke gehört hatte: »So ist mein Leben wie die brüchige Treppe im alten Turm, führt nirgendwo hin und dreht sich doch ewig im Kreis.« Sie hielt im ersten Stock an und sah sich um. Hier gab es nur eine Reihe von Holzpritschen entlang der Mauern. Tazi nahm an, hier sei vor langer Zeit zumindest eine Garnison stationiert gewesen. Gemeinsam mit den schützenden Sphären hatten es die Reisenden damals noch sehr einfach, dachte sich Tazi. Ich frage mich, was dazu geführt haben mag, daß dies alles gefallen ist. Sie nahm sich vor, Fannah danach zu fragen, sobald sie wieder in Calimhafen waren. Da war es wieder! Dieses Gefühl der Sicherheit. Bin ich davon überzeugt, daß wir es schaffen werden, oder 426
bin ich einfach nicht bereit, den Tod zu akzeptieren? Das dritte Stockwerk stand völlig leer, und Tazi näherte sich vorsichtig dem vierten. Sie war sehr wachsam, hatte allerdings das Gefühl, daß der lange Weg nach oben umsonst sein würde. Wenn sich Ciredor schon die Mühe gemacht hat, den Eingang zu verbarrikadieren, ist er vermutlich auch nicht im Turm. Es wird wohl so sein, wie Steorf bereits vermutet hat. Außerdem konnte sie seine unangenehme Präsenz nicht spüren. Als sie den Wehrgang oben auf den Turm erreicht hatte, konnte sie wieder den Sturm sehen, der draußen toste. Dennoch wirkte er gedämpft, zumindest von dort, wo sie stand. Tazi sah den schwachen Widerschein einer Fackel. Im Halbdunkel erinnerte er an einen offenen Torbogen. Tazi trat an die Öffnung heran und stach mit dem Schwert hinein. Die Spitze ihrer Waffe erzeugte ein klackendes Geräusch, und sie vermutete, daß zumindest ein Teil des Wehrgangs verglast sein mußte. In der Mitte des Raumes stand ein Messingkohlebecken auf einem steinernen Fundament. Tazi trat an das Becken heran und hielt ihre Fackel darüber. Sie musterte die Decke, die auf extrem fragil wirkenden Säulen ruhte, und erkannte mehrere blaue Kristalle, die in der Decke eingelassen schienen und im Fackellicht leuchteten. Sie steckte ihre Klinge weg. Tazi hielt die Fackel ins Kohlebecken, und es dauerte kaum eine Minute, bis dort, wo seit tausenden Jahren kein Feuer gebrannt hatte, wieder eine Flamme tanzte. 427
Sie beobachtete voller Staunen, wie das Feuer der Flamme die Kristalle erwärmte und diese zum Leben erwachten. Die Saphire leuchteten strahlend hell, und Tazi sah, wie der Sand draußen in das azurne Licht, das vom Minarett ausstrahlte, getaucht wurde. Das Treiben des Sandes schien ein wenig nachzulassen, und auch das Heulen des Windes verlor an Intensität. »Fannah hatte recht«, sprach sie ihre Gedanken laut aus. Tazi hastete die Treppe nach unten und hätte sich auf einer losen Stufe fast den Knöchel verstaucht, so eilig hatte sie es. Sie fing sich gerade noch, eilte weiter und fluchte lautlos über sich selbst, weil sie die Fackel oben vergessen hatte. Unten warteten Fannah und Steorf schon auf sie. Steorf wirkte noch immer etwas unsicher auf den Füßen. Er hob eine Hand und beleuchtete so den Raum. »Es hat funktioniert. Genau wie du es vorausgesagt hast, Fannah«, informierte sie ihre Freunde. »Die Steine waren also noch alle da?« fragte Fannah. »Sie waren in der Decke eingelassen. Warum?« »Ich habe von Banditen gehört, die etliche Steine entlang der Handelsstraße stahlen und reich wurden, indem sie sie in Memnon oder Calimhafen verkauften. Soweit ich weiß, werden diese Steine nur im Omlarandingebirge Tethyrs abgebaut. Sie sind also praktisch unersetzlich, und wenn ein einziger von ihnen fehlt, versagt die Magie.« »Es waren alle vorhanden«, informierte sie Tazi, die von ihrem Erfolg oben im Turm noch immer ganz sie428
gestrunken war. »So, und jetzt wollen wir das andere Kohlebecken entzünden, und dann wollen wir mal sehen, ob wir so nicht Ciredor aussperren können.« Tazi öffnete die Tore, um zum Westminarett vorzudringen. Sie rechnete damit, gleich wieder vom tobenden Wind gebeutelt zu werden, doch offensichtlich entfalteten die Steine bereits einen Teil ihrer Magie. Es war ruhiger, obwohl draußen natürlich noch immer Sand in dichten Schwaden trieb und in ihren Augen stach. Das Westminarett war gut erkennbar. Diesmal mußten die drei einander nicht an den Händen fassen, um die Handelsstraße zu überqueren, ohne Gefahr zu laufen, einander zu verlieren. Sobald sie den Westturm erreichten, hob Steorf wieder die Hände, um die Schutzzauber auf den Toren zu entfernen. Kurz darauf senkte er sie ganz langsam wieder, und Tazi fragte sich, ob er bereits zu schwach war oder seine magischen Fähigkeiten so stark beansprucht hatte, daß sie nun zu versagen drohten. »Was ist?« fragte sie. Er wandte sich an sie und erklärte unheilschwanger: »Dieses Tor ist ungeschützt.« Tazi zog ihr Schwert und trat ein, dicht gefolgt von Steorf und Fannah. Sie zogen die Tore hinter sich zu, und Tazi flüsterte: »Ich habe das Gefühl, wir sollten uns nicht zuviel erhoffen. Ich glaube nicht, daß es so leicht wird, wie es aussieht.« Steorf wirbelte plötzlich zu Tazi herum und musterte sie nachdenklich. 429
»Was?« fragte sie verblüfft. »Ich denke, Hoffnung könnte noch zu Ciredors Untergang werden.« Tazi nickte zerstreut. Sie war viel zu konzentriert darauf, in ihrer Aufmerksamkeit keine Sekunde nachzulassen, als daß sie Gelegenheit gehabt hätte, über seine Aussage nachzudenken. »Vielleicht haben wir es tatsächlich geschafft, vor ihm hier einzutreffen«, erklärte sie ihren Freunden. »Ihr bleibt hier unten und bewacht das Tor.« »Wie bitte?« wisperte Steorf drängend. »Kommt nicht in Frage. Ich begleite dich.« »Nein! Wenn er nicht hier ist, müßt ihr das Tor bewachen, um ihn aufzuhalten. Wenn er hier ist«, sie hielt kurz inne, »werdet ihr wohl schnell genug die paar Stufen hinaufkommen, um mich zu unterstützen.« Insgeheim wußte sie, daß Steorf so gut wie erschöpft war. Ein Teil von ihr fürchtete, er könne bei ihrem Kampf gegen Ciredor zum Hindernis werden. Widerwillig stimmte ihr Steorf zu. Er holte eine Fackel von der Wand und wollte sie Tazi reichen, doch diese lehnte ab. »Ich denke, es ist in dieser Situation besser, wenn ich mich nicht allzusehr zur Zielscheibe mache. Es ist besser, im Dunkeln zu munkeln«, flüsterte sie. »Außerdem habe ich Feuerstein und Zunder in meiner Weste.« Sie tätschelte die Tasche, um sich zu vergewissern, daß ihr Inhalt tatsächlich noch vorhanden war. »Das Glück sei mit dir«, wünschte ihr Fannah. »Ich sehe euch bald wieder«, erklärte sie bestimmt. 430
Tazi tastete sich vorsichtig durchs Dunkel zur Treppe. Aus einem kindischen Aberglauben heraus warf sie keinen Blick mehr zurück zu ihren Freunden, während sie sich an den Aufstieg machte. Die ersten beiden Etagen waren praktisch identisch mit denen im östlichen Minarett. Als sie freilich weiter nach oben kam, fielen ihr einige Unterschiede auf. In dem fahlen Licht, das durch die winzigen Schießscharten im Stein fiel, konnte sie seltsame Inschriften an den Wänden ausmachen. Sie untersuchte sie im fahlen, blauen Schein näher und stellte fest, daß sie an die dürren, krakeligen Schriftzüge Ciredors erinnerten, mit denen er seine Schriftrollen bedeckt hatte. Zwischen etlichen Absätzen befanden sich Nischen in den Mauern, in denen obszön wirkende Statuen standen. Tazi keuchte unwillkürlich auf, als sie eine der Statuen aus dem Schmalhaus, das Ciredor in Selgaunt gemietet hatte, wiedererkannte. »Schwein«, fluchte sie flüsternd und war überrascht, daß ein Zittern in ihre Stimme gekrochen war. Sie umfaßte ihre Klinge noch fester und setzte ihren Aufstieg fort. Schließlich kam sie auf dem dunklen Wehrgang an. Obwohl es draußen weiter blau leuchtete, war hier oben auf dem Turm alles in tiefe Schatten getaucht. Tazi hielt die Luft an. Sie mußte sich anstrengen, um in dem Zwielicht etwas zu sehen, während sie herauszufinden versuchte, warum es hier eigentlich so dunkel war. Soweit sie das feststellen konnte, waren die Glaswände mit irgend etwas bespannt oder abgedeckt. 431
Vielleicht wollte Ciredor das Licht draußen halten. Gut, darüber kann ich mir später Gedanken machen; dachte sie. Tazi wurde klar, daß ihr nur noch sehr wenig Zeit blieb. Die Sonne war endgültig hinter dem Horizont verschwunden, und Fannah befand sich damit in tödlicher Gefahr. Sie ging zur Mitte des Raums und stellte voller Erleichterung fest, daß das Kohlebecken intakt war. Doch als sie den Kopf in den Nacken legte, um die Decke zu mustern, war es mit ihrer Erleichterung schon wieder vorbei. Das fahle Licht von draußen spiegelte sich in den Kristallen wider, und Tazi konnte ein schwarzes Loch erkennen. Das konnte nur bedeuten, daß einer der Kristalle fehlte. Sie drohte zu verzagen. »Finsternis und Leere«, murmelte sie. »Nicht jetzt, wo wir dem Ziel schon so nahe waren.« Sie dachte daran, was ihr Fannah über Banditen und die Seltenheit der Kristalle gesagt hatte. Sie fürchtete das Schlimmste. Sie stand ganz ruhig und spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Nein!« verkündete sie dann mit einem Tonfall grimmiger Entschlossenheit. Sie ließ sich auf die Knie fallen und begann, den Boden abzutasten. Wenn Ciredor sonst schon keine guten Seiten haben mag, so ist er zumindest gründlich, argumentierte sie mit sich selbst. Entweder wären noch alle Edelsteine hier, oder keiner! Sie tastete den Fußboden unter den Kristallen einmal 432
vollständig ab, doch ihre Hände fanden nur kleine Steinchen. Dann kam ihr der Gedanke, er habe vielleicht einen Kristall mitgenommen, als er den Turm verlassen hatte. Ganz so, wie jemand den Schlüssel mitnimmt. So war es unmöglich, die Türme hinter ihm zu versperren. Sie weigerte sich allerdings, diese Idee zu akzeptieren, und ermahnte sich sogleich, solch niederschmetternde Gedanken besser gleich sein zu lassen. Dann begann sie erneut, den Boden abzutasten. Es sollte nicht lange dauern, bis sie mit den Fingern über einen harten, kalten Gegenstand strich. Sie packte das Ding und stellte fest, daß es über zahlreiche glatte Facetten verfügte. »Hab ich dich«, murmelte sie. Tazi stand auf und erkletterte das steinerne Fundament der Schale. Indem sie sich so weit wie möglich reckte, gelang es ihr gerade eben, den Edelstein in die leere Fassung zu schieben. Sie hüpfte zu Boden und spürte, wie der Aufprall schmerzhafte Wellen durch ihre Gelenke sandte. Ihr Körper teilte ihr auf diesem Wege unmißverständlich mit, wie dringend er doch Wasser benötigte. »Bald«, murmelte sie. »Wir sind fast fertig.« Tazi holte den kleinen Beutel aus der Tasche, in dem sie ihren Feuerstein und ein wenig Zunder aufbewahrte. Sie häufte ein wenig Zunder in die Mitte des Kohlebekkens und suchte nach einem geeigneten Stück Stein am Boden. Dann hielt sie es über den Zunder und schlug mit dem Feuerstein dagegen. Es dauerte ein wenig, doch dann schaffte sie es, den nötigen Funken zu er433
zeugen. Sanft blies sie in das leicht brennbare Material, und eine kleine Flamme tanzte empor. Sie reichte aus, um das Kohlebecken zu entfachen, wodurch sich die Steine in der Decke erwärmten. Doch statt den Raum in einen blauen Schein zu tauchen, erhellten die Steine alles amethystfarben. Der Wind draußen verstummte. Tazi war über die unerwartete Stille völlig verblüfft, so sehr hatte sie sich bereits an das Heulen gewohnt. Doch noch überraschender als die Stille war das, was im amethystfarbenen Schein jetzt offensichtlich wurde. Obwohl die Steine noch nicht ihre volle Intensität erreicht hatten, reichte ihr Licht aus, um zu enthüllen, was die verhüllten Glaswände des Turmes gegen das Licht von draußen abgeschirmt hatte. Den ganzen Raum umringten mumifizierte Körper. Das makabere Arrangement schockierte Tazi. Das Flämmchen erwärmte die Kristalle jetzt noch mehr, so daß sie immer heller strahlten. Tazi erkannte, daß der Kristall, den sie selbst wieder eingesetzt hatte, die Quelle des violetten Scheins war. Im Gegensatz zu den Kristallen aus Tethyr, die die Handwerker der Shoon-Dynastie im Minarett montiert hatten, handelte es sich um einen unheiligen Amethyst. Das Licht des Edelsteins erreichte jetzt durch die Hitze seine volle Stärke, und gleißende Lichtstrahlen schossen plötzlich quer durch den Raum. Jeder Lichtstrahl traf einen der mumifizierten Körper und beleuchtete sein Gesicht. Trotz der Abscheu, die sie empfand, ging Tazi an der Wand entlang und musterte die Toten. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sich die Körper schon hier befinden 434
mochten, da sie völlig vertrocknet und somit perfekt konserviert waren. An der Glaswand waren die unterschiedlichsten Lebewesen aufgereiht. Manche von ihnen waren ihr bekannt, während sie bei anderen beim besten Willen nicht sagen konnte, um welche Geschöpfe es sich zu Lebzeiten gehandelt haben mochte. Das Flattern einer Robe erweckte ihre Aufmerksamkeit, und als sie sich die Mumie näher besah, sah sie zahlreiche Silberkreise auf dem dunkelvioletten Stoff glitzerten. Sie mußte unwillkürlich an Echsenschuppen denken und wußte bereits, um wen es sich handelte, noch bevor sie zum Gesicht aufblickte. »Der Geheimnisvolle Lauerer«, flüsterte. »So dankt dir Ciredor also deine Verläßlichkeit.« Tazi verstummte schockiert, als sie die Mumie zu ihrer Rechten erkannte. Sie streckte eine zitternde Hand zu dem Gesicht aus, das sie selbst im Tod stets wiedererkennen würde: Ebeian! »Wie hat er das bloß gemacht?« fragte sie, und wieder versagte ihr ihr ausgedörrter Körper die befreienden Tränen. »Und warum?« Sie legte den Kopf schräg und zog eilig die Hand zurück. Sie schlang die Hände um ihren Oberkörper und brachte es nicht über sich, den Elf zu berühren, der ihr früher so viel bedeutet hatte. In ihrer Verzweiflung nahm sie die leisen Schritte hinter sich überhaupt nicht wahr. »Ah, was für eine wunderbare Überraschung, hier auf dich zu treffen«, flüsterte die seidenglatte Stimme hinter 435
ihr. »Obwohl es natürlich in Wirklichkeit überhaupt keine Überraschung ist.« Tazi gefror regelrecht das Blut in den Adern. Mit erhobener Waffe drehte sie sich langsam um, die eingesunkenen Augen weit aufgerissen. Ciredor stand neben der Wendeltreppe und wirkte wie ein Kunstwerk in Schwarz. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Tazi selbstzufrieden. »Meine liebe Thazienne«, begrüßte er sie scheinbar freundlich, »willkommen zu Hause!«
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Letzte Begegnungen
D
ie Stille lastete schwer auf Tazi. Vom Lärmen des Windes war nichts mehr zu hören. Die Sonne war unwiderruflich unter- und der Neumond aufgegangen. Tazi ging behutsam ein paar Schritte rückwärts. Sie hielt ihr Schwert weiterhin schützend vor sich, doch es gelang ihr nicht, ihren bestürzten Gesichtsausdruck zu unterdrücken. Ciredor lächelte nur noch breiter. »Aber meine kleine Thazienne«, lästerte er. »Du hast mich doch nicht etwa schon vergessen, oder?« Tazi schluckte schwer und spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Vor ihr stand der Mann, der ihr seit ihrem letzten Zusammentreffen Angstträume bereitet hatte. Seine Stimme klang schwer und süßlich, und sie mußte an sich halten, um nicht zu taumeln. Der Moment der Konfrontation war unvermeidlich gewesen, aber dennoch war sie beinahe überwältigt. »Ah«, sagte er. »Wie ich sehe, bin ich dir nach all den Jahren noch immer nicht gleichgültig. Wie herrlich.« Er trat an das Kohlebecken und musterte Tazis Arbeit prüfend. Ciredor runzelte mit leichter Mißbilligung 437
die Stirn und schnappte sich den Schürhaken, der in der Nähe des Beckens stand. Als er die Hand um den Schürhaken schloß, hob Tazi das Schwert noch weiter und umfaßte es mit beiden Händen, doch Ciredor beachtete sie nicht. Statt dessen gebrauchte er den Schürhaken, um in den Kohlen zu stochern. Die verbesserte Luftzirkulation sorgte dafür, daß die Flammen emporschossen. Der Amethyst leuchtete unter Ciredors liebevollem Eifer noch heller. »Schon besser«, erklärte er, und Tazi erkannte, daß er mit sich selbst sprach. Es war fast, als sei sie gar nicht mehr im Raum. Sie wich noch ein paar Schritte zurück, und als sie hinter sich ein widerwärtiges Knirschen hörte, wußte sie, daß sie in eine der Mumien gelaufen war. Ciredor lehnte sich lässig auf den Schürhaken wie auf einen Gehstock und meinte gutgelaunt: »Du kannst nirgendwohin fliehen, Kleines – und warum denn auch? Heute werde ich die Früchte meiner Arbeit ernten, bei der du gar nicht mal eine so kleine Rolle gespielt hast. Das willst du dir doch nicht entgehen lassen, oder? Eben! Sieh genau hin.« Er wedelte mit der linken Hand wie ein Schauspieler, der sich verbeugt. Tazi sah sich hektisch im Raum um und verstand endlich, warum Ciredor die mumifizierten Leichen hier als Wächter des Seelensteins drapiert hatte. Nun, da das Licht des Amethysts sie von einer Seite beschien und das des Neumondes von der anderen, entstand ein schrecklicher Effekt. 438
Tazi konnte nur starr vor Schreck mit ansehen, wie Leben in die konservierten Leichen kam. Sie spürte, wie vertrocknete Hände ihre Schultern betasteten, und als sie herumwirbelte, starrte Ebeian sie aus leeren Augenhöhlen an. Schluchzend unterdrückte sie einen Schrei. »Nun denn«, bemerkte Ciredor anzüglich. »Dann will ich euch beiden Turteltäubchen mal alleine lassen. Ich sehe, ihr habt einander viel zu sagen, und es gibt noch so viel zu tun, ehe diese Nacht vorbei ist.« Tazi konnte nur zusehen, wie der schmale Magier zur Decke emporblickte, mit einem Finger winkte und der Amethyst sich löste und schnurstracks auf die Flammen zuschoß. Ciredor starrte Tazi unverwandt an, während er blitzschnell ins Feuer griff und sein wertvolles Artefakt auffing. Der Schürhaken fiel laut scheppernd zu Boden. Ciredor inspizierte den Stein prüfend und rieb ihn an seiner Tunika wie jemand, der einen Apfel poliert, bevor er hineinbeißt. Er grinste zufrieden. »Dann will ich mal meine gerechte Belohnung empfangen«, erklärte er und wandte sich ab. »Aber mach dir mal keine Sorgen«, rief er Tazi noch über die Schulter zu. »Ich komme dich später holen. Wenn dann noch etwas von dir übrig ist.« Mit diesen Worten verschwand er die Stiege hinunter. Tazi merkte, daß die Mumien nun, da ihre Körper nicht mehr in das Strahlen des Amethysts getaucht waren, nur noch aktiver wurden. Sie fragte sich, ob sie vielleicht verärgert sein mochten, daß der Stein nicht 439
mehr hier war, oder ob es die magischen Eigenschaften des Amethysts gewesen waren, die sie zuvor noch unbeweglich gehalten hatten. Sie neigte eher zur ersten Theorie, da sie ziemlich sicher war, daß es sich bei Ciredors Stein um das Gefäß handeln mußte, in dem ihre gestohlenen Seelen eingekerkert waren. Sie hatte allerdings keine Zeit, diesen Überlegungen nachzuhängen. Eine der Mumien zischte unheilvoll, wodurch ihre Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt zurückkehrte. Im Feuerschein sah sie, daß sie sie allesamt anstarrten. Vielleicht machten sie sie sogar für die Abwesenheit des Steins verantwortlich. Der Kreis der Mumien begann sich um sie zu schließen. Tazi drehte sich und bereitete sich darauf vor zuzuschlagen, obwohl sie wußte, daß es angesichts der Übermacht eigentlich hoffnungslos war. Ein Schrei von der Tür her erregte die Aufmerksamkeit einiger Untoter. Sie blickte hinüber und stellte fest, daß Steorf und Fannah in den Aussichtsraum gekommen waren. »Was ist los?« rief Steorf, während sich mehrere der Mumien aus dem Kreis lösten und mit ihren seltsamen, schlurfenden Schritten auf die Neuankömmlinge zukamen. Tazi sah, daß Steorf sein Schwert gezogen hatte und daß Fannah noch immer mit dem Dolch bewaffnet war, den sie ihr während des Wurmangriffs zugeworfen hatte. »Er ist hier!« rief sie zurück. Sie zog ihr Schwert über den Arm der nächststehen440
den konservierten Leiche. Dadurch durchtrennte sie ihn teilweise, und er baumelte an einem Stück vertrockneter Sehne. Den erbarmungslosen Vormarsch der Kreatur hielt dies allerdings in keiner Weise auf. Tazi ging rückwärts und stieß gegen das Kohlebecken. Die Mumie, die sie verfolgte, zuckte angesichts der Flammen zusammen. »Natürlich«, erkannte Tazi. »Du hast Angst vor Feuer, was?« Sie ging in die Knie und tastete mit ihrer freien Hand nach dem Schürhaken, den Ciredor fallen gelassen hatte. Als sie ihn gefunden hatte, stand sie auf und stieß ihn ins Feuer. »Hast du eine Fackel?« rief sie Steorf zu. Steorf sah eine Fackel neben dem Eingang an der Wand hängen. Hastig riß er sie von der Wand und warf sie Tazi zu, die das alte Holzstück mit der linken Hand auffing. Während sie ihr Schwert weiter mit der rechten Hand schützend vor sich hielt, stieß sie das Holz in die rotglühende Kohle, wodurch es augenblicklich Feuer fing. Sie fuchtelte mit der Fackel vor den mumifizierten Überresten des Geheimnisvollen Lauerers herum, und dieser hob schützend die verfallenen Hände vors Gesicht. Tazi nutzte die Gelegenheit, um an dem schlurfenden Schrecken vorbeizuhuschen und sich ihren Freunden anzuschließen. »Ich muß ihn aufhalten«, erklärte ihnen Tazi außer Atem. Ein tiefes, vielstimmiges Stöhnen ließ die drei herumfahren. Die Mumien hatten sich inzwischen zu einem 441
Pulk zusammengeschlossen und strömten auf den Eingang zu. »Geh!« rief Steorf. »Wir decken dir den Rücken.« Einen Moment lang war Tazi zwischen den beiden Möglichkeiten hin- und hergerissen. Sie blickte zum dunklen Eingang, dann wieder zu dem Raum voller schlurfender Leichen und wieder zurück. Es war Fannah, die ihr die Unsicherheit nahm. »Du mußt ihn aufhalten«, beschwor sie Tazi. »Niemand sonst vermag es.« Tazi blickte zu ihrer blinden Freundin und drückte dankbar ihren Arm. »Ich werde wieder wiederkommen«, versicherte sie und gab die Fackel weiter. Dann hastete sie nach unten, hinter Ciredor her.
Die Wächter knurrten ob Tazis Verschwinden. Steorf warf Fannah einen raschen Blick zu und stellte fest, daß die Calishitin den Dolch fest umfaßt und die Fackel emporgereckt hatte. »Bist du bereit?« fragte er die Blinde. »Ja«, antwortete sie ohne Zögern. Gemeinsam traten sie in den Raum, und die Mumien kamen langsam, aber unerbittlich auf sie zu. Steorf köpfte die erste, die in seine Reichweite geriet, mit einem heftigen Hieb, spürte allerdings, wie sehr ihn bereits diese Kraftanstrengung erschöpfte. Das Wurmgift hatte ihm schwer zugesetzt, und er war sich darüber im 442
klaren, daß es ihm momentan an Kraft für selbst einfachste Zauber mangelte. Fannah blieb an seiner Seite. Er war nicht sicher, ob sie an seiner Seite Schutz suchte oder ihn ihrerseits schützen wollte. Allerdings spielte das auch keine Rolle. Fannah stieß ihre Fackel ins Gesicht eines mumifizierten Trolls, der an ihrer Seite aufgetaucht war. Die Kreatur kreischte auf, wich ein Stück zurück und schlug panisch auf die brennenden Stellen ein, wo die Fackel die lederartige Haut in Brand gesteckt hatte. Während die Mumie abgelenkt war, zog ihr Fannah den Dolch mit voller Kraft über die Kehle. Da die Kreatur bereits lange tot war, sickerte nicht einmal Flüssigkeit heraus. Der Schnitt war allerdings so tief, daß der Schädel nach hinten kippte. Sein Gewicht und die Schwerkraft beendeten die Sache. Der Schädel des Trolls brach richtiggehend ab und kollerte über den Boden, während der Körper noch ziellos weiter durch die Gegend torkelte. Steorf mußte angesichts dessen, wie tapfer sich Fannah hielt, lächeln. Er hatte jedoch nicht lange Zeit, ihr bewundernd zuzusehen, sondern mußte sich um seine eigenen Probleme kümmern. Zwei weitere Wesen waren zu ihm geschlurft. Während ein muskulöser Mensch blindwütig mit einem Schwert nach Steorf stocherte, sprang eine Halbelfe wild kreischend in seinen Rücken. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und ihre schlanken, verrottenden Beine um seine Hüfte. Während er mit dem Schwert nach dem Menschen schlug, dabei aber nur die Luft zerteilte, versuchte die Halbelfe, 443
ihm die Augen auszukratzen, und biß ihm gleichzeitig ins Ohr. Die Mumie mit dem Schwert schlug blind nach Steorf, was er mühelos parierte. Die Halbelfe stellte hingegen ein ernsthaftes Problem dar. Steorf mußte den Kopf ständig wie wild hin- und herschwenken, um zu verhindern, daß ihre spitzen Finger ein Ziel fanden. Wo die Mumie sein Ohrläppchen durchgebissen hatte, strömte warmes Blut über seinen Nacken, und er war kurz überrascht darüber, daß er angesichts dessen, wie ausgetrocknet er war, überhaupt noch bluten konnte. »Genug!« rief er. Fannah wandte sich zu ihm um. Als er sie sah, kam ihm eine Idee. Steorf schlug wilder und heftiger mit dem Schwert zu und trieb die menschliche Mumie zurück. Mit jedem Hieb verlor die Kreatur an Boden, bis sie schließlich über das steinerne Fundament des Messingbeckens stolperte und ihre Waffe fallenließ. Die Kreatur taumelte rückwärts in die Flammen. Sie warf sich herum und schaffte es, wieder aufzuspringen, so rasch ihr das eben angesichts ihres unbeholfenen, schweren Körpers möglich war. Dann machte die Mumie einen schwerfälligen, taumelnden Schritt, bevor die Flammen den trockenen Leib förmlich emporschossen. Sie stürzte zu Boden, wälzte sich noch kurz hin und her und verbrannte dann. Beißender Qualm erfüllte den Raum. Steorf hatte allerdings keine Zeit, sein Werk zu bewundern. Die Halbelfe hatte es geschafft, ihre Krallen in seiner Brustwunde zu verankern und sie wieder aufzu444
reißen. Steorf brüllte zornig auf und warf sich mit voller Wucht gegen den metallenen Türrahmen, während die Halbelfe weiterhin an ihm hing. Es gab ein ekelerregendes Knirschen, und als er wieder einen Schritt vor machte, lockerte die Kreatur ihren Griff und sackte schlaff zu Boden. Sie kippte nach vorn, und Steorf sah, daß ihr Rückgrat gebrochen war. Dennoch versuchte sie noch immer, mit einer Hand nach ihm zu krallen. Voller Ekel trat er mit voller Wucht auf die Hand und pulverisierte sie förmlich. »Damit wirst du niemandem mehr die Augen auskratzen«, spuckte er und entfernte sich dann mit einem hastigen Schritt vonder noch immer zuckenden Mumie. Fannah, die drei Untote in die Enge getrieben hatten, schwang die Fackel in einem schützenden Halbkreis vor sich. Steorf erkannte, daß sie in der Klemme steckte, und eilte zu ihr, um ihr zu helfen. Er hob sein Breitschwert mit beiden Händen und kam damit über die Mumien wie jemand, der mit einem Dreschflegel in einem Getreidefeld wütete. Seine Wut entfesselte seine letzten Reserven. Er hieb die Mumien in der Mitte entzwei, und sie gingen wie Bauklötze, denen man einen Stoß versetzt hat, zu Boden. Steorf vergewisserte sich, daß es Fannah gut ging. Sie war erleichtert, als sie die Mumien fallen hörte, doch abgesehen davon spiegelte sich auf ihrem Gesicht nicht einmal der Anflug von Furcht wider. Er packte sie am Handgelenk und zog sie ein Stück von den abgetrennten Torsos weg, die noch immer nach ihren Füßen zu greifen versuchten. 445
»Wir haben es fast geschafft«, sagte er, und sie lächelte. »Ich wußte, wir würden es schaffen«, antwortete sie. »Woher?« »Weil es zu den Dingen gehört, die ich im Portal gesehen habe«, erwiderte sie schlicht. Ehe Steorf darauf antworten konnte, erspähte er eine weitere Mumie, die mit erhobener Waffe hinter Fannah aufgetaucht war. »Runter!« rief er der Calishitin zu und stieß sie heftig beiseite. Er parierte den Schlag des Monsters und traf die Mumie mit seinem nach oben schießenden Knie in der Leibesmitte. Der Tritt war so wuchtig, daß die Mumie zusammenklappte, und Steorf rammte ihr das Heft des Breitschwerts in den Nacken. Ihr Schädel explodierte in einem Schauer aus Staub und verrottenden Trümmern. »Hinter dir«, warnte ihn Fannah. »Ich höre etwas.« Steorf wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie der Geheimnisvolle Lauerer mit ausgestreckten Armen auf ihn zutorkelte. Steorfs Erschöpfung war zusehends gewachsen, und diesmal waren seine Reflexe zu langsam. Ehe er noch dazu in der Lage war, sein Schwert emporzureißen, schlang der alte Priester seine großen Hände um Steorfs Kehle. Steorf ließ sein Schwert fallen und versuchte, die Hände des Lauerers von seiner Kehle zu lösen, doch es nutzte alles nichts. Der Griff des Lauerers war hart wie Stahl, und Steorf spürte, wie sein Blut in den Ohren zu rauschen begann. Kleine schwarze Flecken tanzten am 446
Rande seines Gesichtsfeldes. Das Gesicht des untoten Lauerers blieb völlig emotionslos, während er Steorf am Hals herumschwang und den jungen Magier rückwärts auf das Kohlebecken zuschob, als wolle er sich für seine verbrannten Brüder rächen.
Tazi suchte sich behutsam ihren Weg die Treppe hinunter, da sie im Dunkeln keine Ahnung hatte, wo sich der Nekromant aufhalten mochte. Er mußte sich irgendwo versteckt haben, da ihm Fannah und Steorf nicht auf der Treppe begegnet waren. Sie arbeitete sich mit dem Rücken an der Wand entlang weiter hinunter. Dadurch scheuerte ihre Lederrüstung am Stein und verschmierte so Ciredors Inschriften. Nachdem sie einige Stufen weit gekommen war, hielt sie inne und lauschte. Sie vermeinte, ein Flüstern zu hören. In der dritten Etage hielt Tazi erneut inne und spähte vorsichtig um eine Ecke. Sie war jetzt sicher, daß sie ein tiefes, melodisches Flüstern hörte und daß es aus diesem Stockwerk kommen mußte. Sie packte ihr Schwert mit beiden Händen und ging seitwärts, wobei sie die Mauern, wo immer das möglich war, als Deckung benutzte. Im Gegensatz zum Ostturm war diese Etage nicht leer. Ciredor hatte sie in ein verschwenderisch eingerichtetes Quartier umgewandelt, ähnlich wie er das mit seinen Geheimräumen in Selgaunt getan hatte. Alles 447
hier sprach von Dekadenz. Während sich Tazi um eine Ecke schob, spürte sie die samtenen Wandbehänge im Rücken. Er hatte den gesamten Raum mit dem edlen Stoff ausgekleidet und so auch alle Fenster verdeckt. Felle lagen überall auf dem Boden. Insgeheim dankte sie ihm für seinen ausgefallenen Geschmack. Alles war so gut gepolstert, daß sie nicht einmal in der Lage war, ein verräterisches Geräusch zu machen, das ihn alarmieren könnte. Ciredor saß mit überkreuzten Beinen inmitten eines Haufens großer, luxuriöser Polster. Seine Fersen ruhten auf den gegenüberliegenden Waden. Sie hatte Cale einmal so sitzen sehen, als sie ihn tief in Meditation versunken erwischt hatte. Dann erkannte sie, daß Ciredor, der ihr den Rücken zugewandt hatte, nicht auf den Polstern saß, sondern ein gutes Stück darüber schwebte. Sie glaubte, das violette Funkeln des Edelsteins erspäht zu haben, der wohl vor ihm schwebte. Er ist von dem Ding wie hypnotisiert, beruhigte sie sich. Er wird mich gar nicht kommen hören. Tazi näherte sich mit angehaltenem Atem. Sie holte zum alles entscheidenden Streich aus, mit dem sie ihn zu enthaupten hoffte. »Ich höre doch dein Herz schlagen«, eröffnete ihr Cifedor und rotierte in der Luft, so daß er in ihre Richtung blickte. Ein grünlicher Lichtblitz schoß aus einem seiner Finger, und Tazi wurde quer durch den Raum gegen eine Mauer geschleudert, wo sie zusammensackte. Ciredor entfaltete seine Beine und richtete sich auf. 448
»Ich werde dich immer hören können, liebste Thazienne.« Mit diesen Worten trat er zu ihr, während der Edelstein hinter ihm funkelte.
Steorf war der Bewußtlosigkeit nahe, während der Lauerer seinen Kopf unerbittlich immer näher an die Flammen drückte. Die ersten Strähnen seines rotblonden Haars begannen, Feuer zu fangen, und der Gestank, mit dem er selbst zu verbrennen begann, brachte Steorf wieder zu sich. Er versuchte, mit den Händen von oben nach unten mit voller Wucht nach der Mumie zu schlagen, doch der Lauerer ließ sich auch dadurch nicht stören. Steorf hatte keine Ahnung, was er sonst noch probieren konnte, und während er so seinen Tod unweigerlich näherkommen sah, fragte er sich unwillkürlich, was mit Fannah geschehen sein mochte. Er holte noch einmal mit den Armen hinter dem Kopf aus, um mit letzter Kraft zu versuchen, nach dem Lauerer zu schlagen, als seine Hände etwas Metallenes streiften. Steorf war der Ohnmacht nahe und schloß die Finger mehr automatisch um den Gegenstand. Er erkannte, daß es sich um den Schürhaken handelte, den Tazi im Kohlebecken zurückgelassen hatte. Mit letzter Kraft hob Steorf ihn und stach dem Lauerer die rotglühende Spitze durch ein Auge direkt in den Kopf. Das Metall zischte, während es mühelos durch das vertrocknete Fleisch des ehemaligen Ibrandulpriesters fuhr. Der Lauerer 449
wedelte wie wild mit den Armen und versuchte, das brennende Metallstück aus seinem Kopf zu ziehen. Steorf tat ihm den Gefallen und zog den Schürhaken aus seinem Kopf. Während der Lauerer in einem letzten Versuch, Steorf doch noch zu töten, noch einmal die Arme hob, knurrte dieser: »Das ist für Ashraf!« Damit stach er dem Priester direkt ins Herz. »Rache schmeckt doch süß«, zischte Steorf. Der mumifizierte Lauerer ging zu Boden und wand sich wie ein Käfer, den man zu Studienzwecken auf einem Holzbrett aufspießt. Er versuchte, den Schürhaken aus seinem Leib zu ziehen, doch das heiße Metall steckte jetzt zu allem Überfluß auch noch seine Robe in Brand. Während ihn die Flammen verschlangen, verstummte der Lauerer endgültig. Steorf lehnte sich gegen das Steinfundament und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er ließ den Blick über den Raum voller verrotteter Knochen und Leichen schweifen. Der schmierige Rauch stach ihm in die Augen, aber er war so ausgedörrt, daß ihm nicht einmal die Tränen kamen. Er rieb sich mit der Hand über die blutende Brust und murmelte: »Hast du das für mich vorgesehen, Mutter? Ein Leben voller Tod im Namen der Gerechtigkeit?« Es gab niemanden mehr im Raum, der ihm seine Frage hätte beantworten können. In diesem Augenblick fiel ihm auf, daß Fannah verschwunden war. Steorf sah sich panisch um, doch sie war auch nicht 450
unter den Gefallenen. Dann erspähte er sie draußen auf dem Wehrgang, wo sie gerade mit der letzten verbleibenden Mumie kämpfte. »Halte durch!« rief er, während er eilig ein Tor nach draußen suchte. Als Steorf schließlich den Weg nach draußen gefunden hatte, sah er, wie Fannah der Mumie ruhig mit gezücktem Dolch gegenüberstand. Die Mumie hatte ebenfalls innegehalten, und Steorf hatte fast das Gefühl, als musterten sie sich gegenseitig im Fackelschein. Als er näherkam, gab Steorf ein ersticktes Keuchen von’sich. Bei der letzten Mumie handelte es sich um seinen alten Widersacher um Tazis Gunst. Es war Ebeian. »Er ist es, oder?« erkundigte sich Fannah. »Ja«, wisperte Steorf. »Irgendwie muß es Ciredor gelungen sein, sich seinen Körper zu besorgen und wieder zusammenzufügen.« Der augenlose Elf stand ruhig da und ließ seinen leeren Blick von Fannah zu Steorf und zurück schweifen. Obwohl sein vertrocknetes, lederartiges Gesicht völlig emotionslos war, konnte Steorf sich des Eindrucks nicht erwehren, als flehe ihn der Elf an, ihm zu helfen. Steorf fuhr sich mit der Zunge über die rissige Unterlippe und meinte: »Vielleicht kann ich ihn retten. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, seine Seele wieder mit seinem Körper zu vereinen.« Er zermarterte sich den Kopf, doch ihm fiel kein geeigneter Zauber ein. »Ciredor wüßte das«, erkannte er. 451
Fannah hielt ihn mit einem einzigen Wort zurück: »Nein!« Als der mumifizierte Elf das hörte, sprang er Fannah an. Diese ließ Dolch und Fackel fallen, um ihr Schicksal gleichmütig zu akzeptieren. Steorf schrie, sie solle sich in Sicherheit bringen, während er sich gleichzeitig dem Elfen entgegenwarf. Der muskulöse junge Magier warf sich mit solcher Wucht in die ausgedorrte Hülle Ebeians, daß die Mumie über den Wehrgang flog und vom Turm stürzte. Steorf lehnte sich mit ausgestreckter Hand über die Mauer, als wolle er seinen toten Freund im letzten Moment fangen, doch der Elf flatterte bereits wie ein ausgetrocknetes Blatt im Wind nach unten. Er schlug mit einem dumpfen Knall am Boden auf, und Steorf konnte im blauen Schein des anderen Minaretts erkennen, daß er zu Staub zerfallen war. »Nein«, flüsterte er und ließ die Schultern hängen. Fannah trat hinter ihn und legte ihm begütigend die Hände auf den Rücken. Er drehte sich um und nahm ihre schlanken Hände. Als er schließlich das Wort ergriff, klang er fast erstickt. »Warum hast du nicht zugelassen, daß ich versuche, ihn zu retten?« Sie löste eine Hand aus der seinen und strich ihm über die Wange. »Verstehst du denn nicht?« fragte sie sanft. »Du hast ihn doch gerettet.«
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»Es gibt niemanden, der dich jetzt noch retten könnte, meine kleine Tazi«, spottete Ciredor. Tazi blinzelte. Der wuchtige Schlag gegen die Mauer hatte sie benommen gemacht. Ciredor ging neben ihr in die Knie, packte sie am Schopf und riß ihren Kopf empor, damit er ihr direkt in die eingesunkenen, grünen Augen sehen konnte. Sie spürte, wie unbändiger Schrecken in ihr aufstieg. Erneut fühlte sie sich wie die geschlagene Frau zwei Jahre zuvor in dem Keller. »Du hast mir mit langen schwarzen Locken besser gefallen«, schalt er sie. »Du bist vom Schicksal begnadet und erkennst es nicht einmal. Shar bevorzugt Frauen mit schwarzem Haar. Sie tragen ihr Haar lang und offen, um sie zu ehren. Du solltest dasselbe tun und dich ob dieses Geschenks glücklich schätzen.« Er ließ ihren Kopf los, und sie sackte wieder in sich zusammen. »Egal«, fuhr er fort, während er sich abwandte. »Um die Details muß ich mich später kümmern. Du bist ein braves Mädchen und bleibst einfach liegen, ja? So spät am Abend kann ich dir wirklich nicht mehr gestatten, meine Pläne noch zu stören.« Er wandte sich zu ihr um und starrte auf die zusammengesunkene Gestalt herab. »Du bist also diejenige, die mich aufhalten wollte? Dachtest du wirklich, meine Göttin würde zulassen, daß jemand wie du meine Pläne ruiniert?« fragte er ärgerlich und trat ihr in die Rippen. Tazi rollte sich zusammen und umklammerte ihren 453
Oberkörper. Ciredor lachte und ging wieder zu seinem Stein. Durch einen Schleier aus Schmerzen sah Tazi, wie Ciredor mit bebender Hand nach dem Edelstein griff und sanft darüber strich. »Es ist nun beinahe soweit, und mit jedem Zeichen, das du mir schickst, meine geliebte Shar, weiß ich, daß mir deine dunkle Gunst leuchtet«, erklärte er mit wilder Entschlossenheit, bevor er erneut mit seinem dumpfen Gesang begann. Unwissentlich hatte Ciredor Tazi geholfen. Nachdem er sie gegen die Wand geschleudert hatte, hatte sie mit der Bewußtlosigkeit gerungen. Durch den stechenden Schmerz in ihrer Seite war das kein Problem mehr. Sie schätzte, daß er ihr zumindest eine Rippe gebrochen hatte, und jeder Atemzug fühlte sich wie ein Dolchstich an. Andererseits gab der Schmerz ihr etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte. Tazi hustete und spuckte Blut. Dann legte sie die Hände flach auf den Boden und stemmte sich hoch. Der Raum schwankte, doch sie zwang sich, sich auf Ciredor zu konzentrieren. Während sie darum kämpfte, nicht erneut umzufallen, hörte sie ihn murmeln: »Die Zeit ist gekommen ...« Er packte den Stein, drückte ihn an die Brust und marschierte an Tazi vorbei. Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, begann er, die Stufen nach oben zu erklimmen. Tazi hob ihr Schwert auf und folgte ihm mit zittrigen Knien. Ciredor befand sich noch immer auf der Treppe, 454
und sie stürmte hinter ihm her. Mit einem Wutschrei versuchte sie, nach seinem Rücken zu stechen. Ihre Schmerzen sorgten dafür, daß sie närrisch und ohne nachzudenken agierte. Ciredor duckte sich und wirbelte herum. Während er den leuchtenden Edelstein weiter gegen seine Brust drückte, schlug er ihr mit dem Handrücken mitten ins Gesicht. Tazis Klinge flog ihr aus der Hand, und sie taumelte so heftig zurück, daß sie eine der kleinen Statuen aus einer Nische umstieß. Sie verlor endgültig den Halt, rutschte von der Treppe und hing kurz darauf an einer Hand neun Meter hoch über dem Abgrund. Ciredor summte weiter vor sich hin, während er die Treppe emporschritt. Tazi sah die Statue wie in Zeitlupe fallen und am Boden zerschellen. Das Gefühl von Déjà vu war beinahe überwältigend. Plötzlich hing sie wieder über den Dächern Selgaunts und mußte mit ansehen, wie ihre wertvolle Beute im peitschenden Regen in tausend Stücke ging. Das, was ich verloren habe, dachte sie traurig. Sie spürte, wie sie den Halt zu verlieren begann, während Ciredors Stimme gleichzeitig von oben zu ihr drang. »Fannah! Ja, wo bist du denn?« Tazi legte den Kopf in den Nacken und schrie vor maßlosem Zorn und Entschlossenheit wild auf. »Ich werde nicht zulassen, daß du sie tötest«, spuckte sie. Irgendwo tief drinnen fand sie die Stärke, um ihr Bein nach oben zu schwingen und am Geländer einzuhaken. 455
Sie zog sich auf dem Bauch über den Rand, und die Schmerzen, die ihre gebrochenen Rippen verursachten, stachen wie tausend Stilette in ihren Leib. Keuchend, mit blutigen Knien und aufgeschürften Händen durchzuckte sie erneut eine Erinnerung. Diesmal befand sie sich im Keller in Selgaunt. Sie war durch Ciredors Angriffe geschunden, und Schmerzen durchzuckten sie, die ihr ihr Schutzring zugefügt hatte, um den Angriff Ciredors abzuwehren. In diesem Moment hatten sie die unerschütterliche Entschlossenheit und der grenzenlose Mut erfüllt, ihn zu besiegen, koste es, was es wolle. Sie hatte damals so empfunden, und in diesem Augenblick nahm sie von dem Gefühl wieder für sich Besitz. Es war das alles entscheidende Gefühl, das ihr bei dem gemeinsamen Ritual mit Fannah entglitten war. Sie kam auf die Füße und lief die Stufen empor, während sie den Namen des Magiers schrie. Tazi kam gerade rechtzeitig auf der Turmspitze an, um zu sehen, wie Ciredor sein geliebtes Juwel in die Flammen warf. Dort hing der Amethyst in der Luft und pulsierte wie ein schlagendes Herz, während er den ganzen Raum in seinen purpurnen Schein tauchte. Fannah und Steorf eilten vom Wehrgang herbei, kamen allerdings zu spät, um den Nekromanten aufzuhalten. Ciredor stand wie gebannt im Licht des Edelsteins und vollendete seine furchtbare Anrufung. Elektrizität knisterte in der Luft, und alle standen wie gebannt. Das Pulsieren wurde immer stärker, und ein schwarzer Tentakel wand sich aus dem Edelstein. Die Finsternis war absolut, aber an den Rändern umspielte sie ein 456
violetter Schein. Langsam wand sich der Tentakel auf Fannah zu. Tazi sah, wie sich die Distanz zwischen ihrer Freundin und dieser Manifestation der Dunkelheit verringerte. Fannah blickte Tazi ruhig und zuversichtlich mit ihren eisig weißen Augen an und umfaßte dann den schwarzen Strang. Der Tentakel riß ihr die Seele aus dem Leib und zog sie in das Juwel, während Fannahs Körper nach hinten kippte und zusammenbrach. Tazi schrie vor Schmerz auf, und Steorf sah aus wie die personifizierte Wut, während das Gift in seinem Körper den letzten noch verbleibenden Rest von klarem Verstand verbrannte. Er rannte zu Fannah, und der Blick, den er Tazi zuwarf, sagte ihr, daß sie ihre Freundin verloren hatte. Wahrend Steorf vor Wut heulte, schrie Tazi: »Genug! Das Töten muß aufhören!« Sie wandte sich Ciredor zu. Der Schwarzmagier bot einen imposanten Anblick. Er war in das amethystfarbene Licht getaucht, und sein Gesicht wirkte beinahe engelsgleich. Tazi sah, daß er in den Krallen von Begehren und Hoffnung gefangen war. Das Wort schien in ihrem Verstand widerzuhallen. Er hofft, er hofft, er hofft ... »Jetzt kommst du, um mich zu holen«, flüsterte Ciredor. »Du hast mein letztes Geschenk akzeptiert, meine Krönung, und jetzt wirst du mich akzeptieren. Es ist, was ich verdiene«, wisperte er, völlig in seinem Begehren gefangen. »Ich bin bereit, dir zu dienen, meine Königin.« 457
In Tazi zerbrach etwas. Während Steorf blind vor Wut auf die Beine kam, war Tazi bereits unterwegs. Noch ehe einer der beiden Männer begriff, was sie plante, packte Tazi den ekstatischen Nekromanten und schob ihn auf seinen magischen Edelstein zu. »Ich bin sicher, daß dich Shar mit offenen Armen empfangen wird!« schrie sie aus Leibeskräften. »Immerhin trägst du das einzige Geschenk in dir, daß sie ablehnen muß – deine strahlende und unerschütterliche Hoffnung!« Der Nekromant taumelte auf den Amethyst zu und schaffte es gerade noch, den Kopf zu drehen und zu ihr zu blicken, bevor er die Flammen berührte. Dutzende schwarze Tentakel schossen aus dem Stein und verankerten sich wie gierige Egel in verschiedenen Teilen seines Körpers. Was auch immer er hatte sagen wollen, er kam nicht mehr dazu. Dann zogen sich die Tentakel wieder in den Stein zurück, während sie den Leib des Nekromanten an verschiedenen Stellen gepackt hielten. Seine Schreie waren ohrenbetäubend. Blut schoß aus jeder Körperöffnung, und Ciredor ging in die Knie, während er blutige Tränen weinte. Während die satten Tentakel im Edelstein verschwanden, tauchten immer neue auf, um sich ebenfalls ein Stückchen des gefallenen Magiers zu sichern. Ehe er das Bewußtsein verlor, gelang es Ciredor noch einmal, zu Tazi zu blicken, und sie war sicher, daß das letzte, was sie in seinen flackernden, schwarzen Augen sah, Furcht war. Nachdem der Magier verzehrt war und die schwarzen 458
Tentakel sogar sein vergossenes Blut vom Boden aufgeleckt hatten, zogen sie sich in den Stein zurück. Damit war die Sache indes noch nicht ausgestanden. Tazi war sicher, daß sie ein violettes Auge sehen konnte, daß sie aus dem Inneren des Seelenedelsteins anstarrte. Sie hielt die Stellung, und zwei weitere schwarze Fäden glitten aus dem Stein. Sie konnte sehen, wie sich einer auf Steorf zubewegte und der andere nach ihr tastete. Im Gegensatz zu den Tentakeln, die Giredor in heißhungriger Gier zerfetzt hatten, zögerten diese jedoch. Tazi zuckte zusammen, als der Tentakel sie an der Stirn berührte, doch es war eine sanfte, beinahe zärtliche Berührung. Sie erfaßte vage, daß sich der andere Tentakel Steorf auf ähnliche Weise näherte, und dann sah sie nichts mehr. Rund um sie war totale Finsternis. Allumfassende Kälte umgab und durchdrang sie. Ihre Haut brannte nicht mehr, und auch ihre Rippen hatten zu schmerzen aufgehört. Obwohl sie allein zu sein schien, spürte Tazi eine geheimnisvolle Präsenz, die mit ihr die Finsternis teilte. Dann sprach die Manifestation Shars zu ihr, doch es war mehr eine Gewißheit dessen, was sie ihr sagen wollte, als wirklich Worte. »Ich kann dir vieles bieten, Thazienne Uskevren. Vieles, das ich dem Nekromanten gegeben hätte, doch er erwies sich als unzureichend.« »Warum bietest du es dann mir an?« fragte Tazi die Präsenz. »Weil du mich so gut kennst. Mit dir teile ich ein instinktives Verständnis, und wer wäre besser geeignet als 459
eine aus dem Haus Uskevren, um ihr meine Geschenke anzubieten?« »Was soll das heißen?« fragte Tazi. »Ich fühle den brennenden Zorn in dir, eine Dunkelheit, die selbst jene des gefallenen Magiers Ciredor übertrifft. Ich bitte dich nur, dich deinen Gefühlen zu ergeben. Laß mich deine Schmerzen und deine Pein nähren und besänftigen. Sie sind ein so wichtiger Teil von dir, und sie haben dich so viel gelehrt.« Tazi wußte, daß die Präsenz recht hatte. In den letzten Jahren waren ihre Schmerzen immer stärker geworden, und die brütende Pein in ihrem Herzen war stets präsent. Doch sie waren nur ein Teil von ihr. Sie gehörten zu ihr, machten sie aber nicht aus. Obwohl der Schmerz heiß und inbrünstig in ihr brannte, war da auch Licht. Schmerz war ein nötiger Bestandteil des Lebens, aber nichts, das man einfach akzeptieren und hinnehmen durfte. »Ich danke dir, aber ich muß das großzügige Angebot ablehnen«, teilte sie der Wesenheit mit. Tazi spürte, wie sich das Dunkel zurückzog. Ein letzter Gedanke wurde ihr noch zuteil. »Wie du wünscht, Thazienne Uskevren. Ich werde dich vorübergehend verlassen. Doch der Tag wird kommen, an dem meine Berührung nicht so kalt erscheint. Es wird ein Tag kommen, an dem du meine Umarmung willkommen heißen wirst.« Tazi war wieder im Aussichtsraum des Minaretts. Der Tentakel zog sich in den Stein zurück, und das violette Auge schien verschwunden. 460
Sie drehte sich um und stellte fest, daß Steorf noch immer in der Umarmung des anderen Onyxtentakels gefangen war. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und sie konnte nur erahnen, was er durchleiden mußte, um Shars Geschenk abzulehnen. Schließlich entließ der Tentakel auch ihn aus seinem Griff und zog sich in den Seelenstein zurück. Mit einer letzten violetten Lichtexplosion barst der Amethyst in tausend Stücke. Tazi mußte ihre Augen vor den herumfliegenden Bruchstücken schützen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, daß das Leuchten sowohl innerhalb als auch außerhalb des Turms verblaßte. Sie und Steorf blieben allein in der Dunkelheit zurück. Tazi ging vorsichtig zu Steorf hinüber und umarmte ihn heftig. Er reagierte nicht sofort, doch dann packte er sie ebenfalls. »He, he, mal langsam«, sagte sie schließlich und löste sich sanft aus seiner Umarmung. »Ich habe nämlich vermutlich die eine oder andere gebrochene Rippe.« Sie wandte sich von ihm ab, hielt aber weiter seine Hand. Der Sandsturm war irgendwann während des Kampfes endgültig abgeflaut, und Sternenlicht durchflutete den Raum. Das reine, weiße Licht spiegelte sich in den geborstenen Überresten des Seelensteins und beschien die vernichteten Mumien. Die Zerstörung des Edelsteins hatte die Leichen geheilt. Sie waren nicht mehr eingeschrumpft und vertrocknet. Alle Opfer Ciredors waren in den Zustand zurückversetzt worden, in dem sie sich zu Lebzeiten 461
befunden hatten. Auf den Gesichtern der Toten spiegelte sich ein Ausdruck der Zufriedenheit und der Ruhe wider, die ihnen bisher verwehrt gewesen waren. Tazi hob die Hand an den Mund, und endlich konnte sie weinen. »Es ist vorbei«, schluchzte sie. Steorf nahm ihre andere Hand und trat vor sie. »Ich habe dich noch nie weinen gesehen«, sagte er leise. Sanft fing er eine Träne mit einer Fingerspitze auf. »So vieles ist verloren«, wisperte sie. »Fannah ...« Sie klammerte sich ein paar Atemzüge lang an Steorf. Als sie sich von ihm löste, wandte sie sich den Toten zu. »Ich werde dich kurz mit ihr allein lassen«, sagte er sanft. »Dann sollten wir die Rückreise nach Calimhafen und damit auch nach Selgaunt in Angriff nehmen.« Tazi nickte, während er auf den Wehrgang hinaustrat. Tazi sah sich in der Nähe des Kohlebeckens um, doch Fannahs Leichnam schien verschwunden. Ein Stück des Seelensteins, nicht größer als ein Daumennagel und wie eine Träne geformt, erweckte ihre Aufmerksamkeit. Sie hob ihn auf und trat auf den Wehrgang zu Steorf hinaus. Er sah zum Nachthimmel empor, und Tazi war verblüfft, wie hochaufgerichtet er dastand; sein Rücken war nicht mehr vom Schmerz gebeugt. Sie berührte ihn sanft im Gesicht. Es fühlte sich kühl an. Das Fieber war wie weggeblasen. »Du bist ja völlig in Ordnung«, staunte sie. »Das muß ein Abschiedsgeschenk Shars gewesen 462
sein«, erklärte er vage. »Willst du Fannah begraben?« fragte er dann, und Tazi war sich sicher, daß er das Thema so rasch wie möglich wechseln wollte. »Sie ist nicht hier«, informierte ihn Tazi, die nicht sicher war, was das Verschwinden ihrer Freundin zu bedeuten hatte. »Was?« fragte Steorf sichtlich verblüfft. »Was bedeutet das wohl?« Tazi lehnte sich gegen das Geländer. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf und drehte den Edelsteinsplitter in den Händen. »Vielleicht heißt es nur, daß die Welt noch immer voller Rätsel ist«, entgegnete sie. »Auch voller Hoffnung?« fragte Steorf langsam. »Auch voller Hoffnung!« Tazis Blick wanderte über die schier endlose Wüste, die nur vom Sternenlicht beschienen wurde – stets im Wandel, aber dennoch stets konstant. Obwohl sie es nicht sehen konnte, wußte Tazi, daß jenseits dieser Wüste Calimhafen auf sie wartete und jenseits von Calimhafen Sembia – ihre Heimat.
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