Alfred Jarry Gesammelte Werke Herausgegeben von Klaus Völker bei Zweitausendeins
Der Übermann Moderner Roman
Deutsch...
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Alfred Jarry Gesammelte Werke Herausgegeben von Klaus Völker bei Zweitausendeins
Der Übermann Moderner Roman
Deutsch von Heribert Becker
Zweitausendeins
1. Auflage, Dezember 1987. Copyright © 1987 by Zweitausendeins, Postfach, D-6000 Frankfurt am Main 61. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile. Der gewerbliche Weiterverkauf von Platten, Büchern oder anderen Sachen aus der Zweitausendeins-Produktion bedarf in jedem Fall der schriftlichen Genehmigung durch die Geschäftsleitung vom Zweitausendeins Versand in Frankfurt. Umschlag- und Buchgestaltung Hannes Jähn. Typographie und Herstellung Dieter Kohler & Bernd Leberfinger, Nördlingen. Satz Laupp & Göbel, Tübingen. Druck Wagner GmbH, Nördlingen. Einband G. Lachenmaier, Reutlingen. Printed in Germany. Diese Ausgabe gibt es nur bei Zweitausendeins im Versand (Postfach, D-6000 Frankfurt am Main 61) oder in den Zweitausendeins-Läden in Berlin, Essen, Frankfurt, Freiburg, Hamburg, Köln, München, Saarbrücken. In der Schweiz über buch 2000, Postfach 89, CH-8910 Affoltern a. A.
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(final 20020630)
2002
I WER BIETET MEHR?
»Die Liebe ist ein belangloser Akt, da man ihn beliebig oft wiederholen kann. « Alle wandten ihre Blicke dem Manne zu, der da soeben diese Ungereimtheit von sich gegeben hatte. Die Gäste André Marcueils auf Schloß Lurance waren an jenem Abend bei einem Gespräch über die Liebe angelangt, schien dies Thema doch - so die einhellige Ansicht - das am besten gewählte zu sein, zumal Damen anwesend waren, und das geeignetste, um selbst noch in diesem September des Jahres neunzehnhundertzwanzig unerquickliche Diskussionen über »die Affäre« zu vermeiden. Zugegen waren der berühmte amerikanische Chemiker William Elson, ein Witwer, der sich in Begleitung seiner Tochter Ellen befand; der schwerreiche Ingenieur, Elektrotechniker und Automobil- und Luftschiffkonstrukteur Arthur Gough und seine Frau; General Sider; Senatsmitglied Saint-Jurieu und Baronin Pusice-Euprépie de SaintJurieu; Kardinal Romuald; die Schauspielerin Henriette Cyne; Doktor Bathybius und andere. -5-
Diese unterschiedlichen und prominenten Persönlichkeiten hätten den Gemeinplatz allein dadurch mühelos in Richtung Paradoxie zu beleben vermocht, daß eine jede von ihnen ihr originelles Denken sich ausdrücken ließ; doch leider stutzten die guten Manieren die Äußerungen dieser geistreichen und illustren Menschen sogleich auf die höfliche Belanglosigkeit einer mondänen Konversation zurück. So zeitigte der unerwartete Satz dieselbe Wirkung wie die bislang noch unzureichend untersuchte eines Steines in einem Froschtümpel: nach sehr kurzer Verwirrung allseitiges Interesse. Er hätte auch andere Resultate hervorrufen können, vor allem eines: Lächeln; aber unglücklicherweise war es der Gastgeber, der ihn ausgesprochen hatte. André Marcueils Antlitz sorgte, wie sein Aphorismus, für ein Loch unter den Anwesenden: jedoch nicht durch seine Besonderheit, sondern durch seine - falls man die beiden Worte zusammenbringen darf - charakteristische Belanglosigkeit: Genauso blaß wie die Hemdbrüste im Ausschnitt der Fräcke, wäre es ohne die tintenschwarze Borte seines Bartes, den er als Vollbart trug, und der ein wenig langen Haare, die mit der Brennschere gewellt
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waren, wohl um die beginnende Glatzköpfigkeit zu kaschieren, mit der hölzernen Wandtäfelung verschmolzen, die fahl von elektrischem Licht war. Seine Augen waren vermutlich schwarz, aber sicher schwach, denn sie versteckten sich hinter den getönten Gläsern eines goldenen Kneifers. Marcueil war dreißig Jahre alt; er war von mittlerer Statur, die er durch eine gebeugte Haltung, so schien es, mit Vergnügen noch zusätzlich verkleinerte. Seine Handgelenke, die schmal und so behaart waren, daß sie exakt seinen feingliedrigen, von schwarzer Seide umschlossenen Fesseln glichen, seine Handgelenke legten wie die Fesseln den Gedanken nahe, die ganze Person müsse, zumindest nach dem zu urteilen, was von ihr zu sehen war, außerordentlich schwächlich sein. Er sprach mit leiser, schleppender Stimme, so als sei er darauf bedacht, Atem zu sparen. Falls er einen Jagdschein besaß, bestand kein Zweifel, daß folgende Personenbeschreibung darin stand: rundes Kinn, ovales Gesicht, normale Nase, normaler Mund, normale Körpergröße... Marcueil verkörperte so uneingeschränkt den Typus des normalen Menschen, daß es eigentlich schon wieder unnormal war. Wie ein Lufthauch vom Munde dieser Gliederpuppe dahingewispert, bekam der Satz einen Bei-7-
klang jämmerlicher Ironie: Marcueil hatte sicherlich keine Ahnung, wovon er sprach, denn man wußte von keiner Geliebten bei ihm, und es war zu vermuten, daß sein Gesundheitszustand ihm die Liebe untersagte. Die Anwesenden »reagierten kühl«, und irgendwer wollte gerade eilends das Thema wechseln, als Marcueil fortfuhr: »Ich spreche im Ernst, meine Herren.« »Ich dachte«, bemerkte die nicht mehr ganz junge Pusice-Euprépie de Saint-Jurieu gespreizt, »die Liebe sei ein Gefühl. « »Mag sein, Madame«, sagte Marcueil. »Man muß sich nur verständigen... was man darunter versteht. .. unter Gefühl. « »Es ist eine Stimmung der Seele«, warf der Kardinal rasch ein. »Etwas Ähnliches habe ich in meiner Kindheit bei den spiritualistischen Philosophen gelesen«, fügte der Senator hinzu. »Eine gedämpfte Empfindung«, sagte Bathybius. »Ehre den englischen Assoziationisten !« »Ich neige zur Ansicht des Doktors«, sagte Marcueil. »Eine abgeschwächte Handlung wahrscheinlich, das heißt, nicht ganz eine Handlung, oder besser: eine potentielle Handlung. «
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»Wenn man diese Definition gelten läßt«, sagte Saint-Jurieu, »würde die vollzogene Handlung die Liebe ausschließen?« Henriette Cyne gähnte ostentativ. »Sicherlich nicht«, sagte Marcueil. Die Damen glaubten, sich anschicken zu müssen, hinter ihren Fächern zu erröten oder daselbst zu verhehlen, daß sie nicht erröten würden. »Sicherlich nicht«, sprach Marcueil zu Ende, »sofern auf die vollzogene Handlung stets eine andere Handlung folgt, die insofern... Gefühl bleibt, als sie sich erst in Kürze vollziehen wird.« Diesmal konnten sich mehrere Anwesende ein Lächeln nicht verkneifen. Ganz offensichtlich gewährte ihnen ihr Gastgeber diese Freiheit, weil er sich mit dem Entwickeln eines Paradoxons vergnügte. Es ist eine häufig beobachtete Tatsache, daß gerade die schwächlichsten Menschen sich am meisten - in ihrer Vorstellung - mit körperlichen Glanzleistungen beschäftigen. Nur der Doktor wandte gelassen ein: »Aber die Wiederholung einer vitalen Handlung führt zum Absterben der Gewebe oder zu ihrer Vergiftung, die man Müdigkeit nennt. « »Wiederholung erzeugt Gewohnheit und Ge...
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schicklichkeit«, entgegnete Marcueil mit dem gleichen feierlichen Ernst. »Ein Hoch auf das Training!« rief Arthur Gough. »Den Mithridatismus!« rief der Chemiker. »Das Exerzieren!« rief der General. Und Henriette Cyne scherzte: »Das Gewehr - über ! Eins, zwei, drei...« »Ausgezeichnet, Mademoiselle«, pflichtete Marcueil ihr bei. »Wenn Sie freundlicherweise weiterzählen wollen, bis die unbegrenzte Reihe der Zahlen erschöpft ist. « »Oder, um es kürzer zu machen, die der menschlichen Kräfte«, warf Mrs. Arabella Gough mit ihrem hübschen Lispelakzent ein. »Die menschlichen Kräfte haben keine Grenzen, Madame«, versicherte André Marcueil ruhig. Man lächelte nicht mehr, trotz dieser neuen Gelegenheit, die der Redner dazu bot: Das Aufstellen eines derartigen Lehrsatzes ließ darauf schließen, daß Marcueil auf irgend etwas hinauswollte. Aber auf was? Äußerlich deutete alles an ihm daraufhin, daß er weniger als jeder andere in der Lage war, sich auf den gefährlichen Pfad des eigenen Beispiels zu wagen. Doch die Erwartung wurde enttäuscht: Er beließ es dabei, als hätte er die Diskussion unwider-
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ruflich mit einer allgemeingültigen Wahrheit abgeschlossen. Es war erneut der Doktor, der gereizt das Schweigen brach: »Wollen Sie damit sagen, daß es Organe gibt, die fast gleichzeitig arbeiten und sich ausruhen und die einem die Illusion vermitteln, als stünden sie niemals still... « »Das Herz«, sagte William Elson, »um beim Gefühl zu bleiben. « ».. .außer im Tod?« beendete Bathybius seine Frage. »Das genügt bereits zur Veranschaulichung einer menschlichen Tätigkeit«, bemerkte Marcueil. »Die Anzahl der Diastolen und Systolen eines Menschenlebens, ja, die eines einzigen Tages übertrifft alle vorstellbaren Zahlen. « »Aber das Herz ist ein sehr einfaches System von Muskeln«, berichtigte der Doktor. »Meine Motoren bleiben stehen, wenn sie keinen Treibstoff mehr bekommen«, sagte Arthur Gough. »Man könnte«, wagte der Chemiker einzuwerfen, »sich einen Nahrungsstoff für den menschlichen Motor vorstellen, der dadurch, daß er jenen nach Bedarf regeneriert, die Ermüdung der Muskeln und
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Nerven unbegrenzt hinauszögert. Ich habe vor kurzem etwas derartiges erfunden...« »Schon wieder Ihr Perpetual Motion Food!« rief der Doktor. »Sie reden ständig davon, aber zu sehen bekommt man es nie. Ich dachte, Sie wollten unserem Freund eine Kostprobe schicken...« »Wovon denn?« fragte Marcueil. »Sie vergessen, mein Lieber, daß ich nebst anderen Gebrechen auch das habe, kein Englisch zu verstehen.« »Perpetuum-Mobile-Nahrung«, dolmetschte der Chemiker. »Das ist eine vielversprechende Bezeichnung«, sagte Bathybius. »Was meinen Sie, Marcueil?« »Sie wissen doch, daß ich niemals Medikamente zu mir nehme... obwohl mein bester Freund Arzt ist«, fügte er eilends hinzu, wobei er sich in Richtung Bathybius verbeugte. »Daß er einen ständig mit der Nase darauf stoßen muß«, brummte der Doktor, »daß er nichts weiß und nichts wissen will, und daß er blutarm ist, dieser blöde Kerl!« »Das ist eine nicht sehr notwendige Chemie, glaube ich«, fuhr Marcueil, zu William Elson gewandt, fort. »Komplexe Muskel- und Nervensysteme erfreuen sich absoluter Ruhe, so scheint mir, während ihre ›Symmetrik‹ arbeitet. Es ist doch -12-
hinlänglich bekannt, daß das eine Bein eines Radfahrers sich ausruht und sogar eine automatische Massage erhält, die genauso erquickend ist wie nur irgendeine Salbe, während das andere Bein aktiv ist...« »Sieh an! Wo haben Sie denn das her?« rief Bathybius. »Sie fahren doch gar nicht Rad.« »Körperliche Übungen bekommen mir nicht sonderlich, mein Freund«, sagte Marcueil. »Dazu bin ich nicht gut genug in Schuß.« »Ach was, das ist doch ein Vorurteil«, murrte wieder der Doktor. »Unwissenheit, im Körperlichen und im Geistigen... Warum nur? Er sieht doch wahrhaftig miserabel aus.« »Sie können sich von den Wirkungen des Perpetual Motion Food ein Bild machen«, sagte William Elson zu Marcueil, »ohne sich der Unannehmlichkeit einer Kostprobe zu unterziehen, nämlich indem Sie sich als bloßer Zuschauer körperlicher Leistungen betätigen. Übermorgen findet der Start zu einem Rennen statt, bei dem ein Radfahrerteam ausschließlich diese Kost verabreicht bekommt. Falls es Ihnen nicht mißfällt, mir die Ehre zu erweisen und dem Zieleinlauf beizuwohnen... « »Gegen wen fährt sie denn, diese Mannschaft?« wollte Marcueil wissen.
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»Gegen einen Zug«, sagte Arthur Gough. »Und ich wage zu behaupten, daß meine Lokomotive Geschwindigkeiten erreichen wird, von denen man bislang nicht einmal geträumt hat. « »Aha... Und wie lang wird das Ganze sein?« fragte Marcueil. »Zehntausend Meilen«, sagte Arthur Gough. »Sechzehntausenddreiundneunzig Kilometer und zweihundert Meter«, erläuterte William Elson. »Derartige Zahlen sagen einem überhaupt nichts mehr«, konstatierte Henriette. »Das ist mehr als die Entfernung zwischen Paris und dem Japanischen Meer«, präzisierte Arthur Gough. »Da uns zwischen Paris und Wladiwostok nicht genügend Platz für exakt zehntausend Meilen zur Verfügung steht, haben wir nach dem zweiten Drittel der Strecke, zwischen Irkutsk und Stryensk, einen Wendepunkt eingebaut.« »Tatsächlich«, sagte Marcueil. »Dann wird man den Einlauf in Paris zu sehen bekommen, was auch besser ist. Nach wieviel Stunden?« »Wir veranschlagen fünf Tage für die Strecke«, entgegnete Arthur Gough. »Das ist eine Menge Zeit«, stellte Marcueil fest. Der Chemiker und der Mechaniker verkniffen sich ein Achselzucken über diese Bemerkung, wel-
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ehe die ganze Ahnungslosigkeit ihres Gesprächspartners offenbarte. Marcueil verbesserte sich: »Ich will sagen, daß es interessanter wäre, dem Rennen zu folgen, als auf den Einlauf zu warten.« »Wir führen zwei Schlafwagen mit«, sagte William Elson. »Sie stehen Ihnen zur Verfügung. Es gibt, von den Mechanikern abgesehen, keine anderen Fahrgäste als meine Tochter, mich selber und Gough. « »Meine Frau fährt nicht mit«, ergänzte letzterer. »Sie ist zu nervenschwach.« »Ich weiß nicht, ob ich nicht auch nervenschwach bin«, sagte Marcueil. »Fest steht, daß ich in der Eisenbahn immer seekrank werde und Angst vor Unfällen habe. Mögen deshalb statt meiner seßhafthäuslichen Person meine besten Wünsche Sie begleiten. « »Aber Sie werden sich doch wenigstens die Zielankunft ansehen?« ließ Elson nicht locker. »Wenigstens die Zielankunft, ich werde es versuchen«, willigte Marcueil ein, wobei er seine Worte auf merkwürdige Weise voneinander abhob. »Was ist das eigentlich, Ihr Motion Food!« fragte Bathybius den Chemiker. »Sie werden verstehen, daß ich das nicht sagen
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darf... allenfalls, daß es auf Strychnin- und Alkoholbasis hergestellt wird«, erwiderte Elson. »Strychnin in starker Dosierung ist, wie man weiß, ein Tonikum«, rief der Doktor. »Aber Alkohol, um Rennfahrer auf Trab zu bringen? Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, aber ich denke nicht daran, auf Ihre Theorien hereinzufallen. « »Mir scheint, wir kommen ganz vom Herz ab«, meldete sich Mrs. Gough zu Wort. »Meine Herren, kehren wir zum Thema zurück«, entgegnete, ohne offenkundige Impertinenz, André Marcueil mit seiner tonlosen Stimme. »Die menschlichen Liebeskräfte sind sicher unendlich groß«, hob Mrs. Gough wieder an. »Aber, wie einer der Herren vorhin bereits sagte, es geht darum, sich zu verständigen. Darum wäre es interessant zu erfahren, an welchen Punkt der... unendlichen Zahlenreihe das männliche Geschlecht das Unendliche lokalisiert. « »Ich habe gelesen, daß Cato der Ältere ihn bei zwei ansetzte«, witzelte Saint-Jurieu. »Aber das eine Mal war Winter und das andere Mal Sommer.« »Er war immerhin schon sechzig, mein Freund, vergessen Sie das nicht«, bemerkte seine Frau. »Das ist viel«, murmelte der General zerstreut,
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ohne daß man begriff, über welche der beiden Zahlen er nachsann. »In den Arbeiten des Herkules«, sagte die Schauspielerin, »bietet König Lysius dem Alkiden für ein und dieselbe Nacht seine dreißig jungfräulichen Töchter an und singt zur Musik von Claude Terrasse: ›Was sind schon dreißig für dich? Eine Bagatelle. Verzeih', daß ich nicht mehr zur Verfügung stelle.‹ »Das läßt sich singen«, sagte Mrs. Gough. »Also lohnt es sich gar nicht...«, sagte SaintJurieu. ».. .es zu tun«, unterbrach ihn Marcueil. »Und ist man überhaupt sicher, daß es nur die Zahl dreißig ist?« »Wenn meine Erinnerungen an die klassischen Autoren mich nicht täuschen«, sagte der Doktor, »haben die Verfasser der Arbeiten des Herkules die Mythologie angeblich vermenschlicht: Ich glaube, bei Diodoros aus Sizilien steht der Satz: Herculem una nocte quinquaginta virgines mulieres reddidisse.« »Und das heißt?« fragte Henriette.
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»Fünfzig Jungfrauen«, kommentierte der Senator. »Der nämliche Diodoros, mein lieber Doktor«, sagte Marcueil, »erwähnt einen gewissen Proculus.« »Ja«, sagte Bathybius, »das ist der Mann, der sich hundert sarmatische Jungfrauen ans Herz legen ließ und sich zu ihrer › Schändung* - wie es im Text heißt - nur einen Zeitraum von vierzehn Tagen erbat.« »Das steht in der Abhandlung Über die Eitelkeit der Wissenschaft, Kapitel drei«, bestätigte Marcueil. »Aber vierzehn Tage! Warum nicht innerhalb von drei Monaten?« »In Tausendundeiner Nacht«, zitierte nun auch William Elson, »wird erzählt, der dritte Saaluk, ein Königssohn, habe binnen vierzig Nächten jeweils vierzig Mal vierzig junge Mädchen besessen.« »Das sind doch orientalische Hirngespinste«, glaubte Arthur Gough erhellend anfügen zu müssen. »Ein anderer Orientglaube«, sagte Saint-Jurieu, »der, obwohl in einem heiligen Buche niedergelegt, kein Glaubensartikel ist: Mohammed brüstet sich in seinem Koran, in seiner Person die Kraft von sechzig Männern zu vereinen. « »Das besagt aber nicht, daß er sechzig Mal Liebe
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zu machen vermochte«, bemerkte recht geistreich die Frau des Senators. »Niemand, der mehr bietet?« fragte der General. »Ich habe den Eindruck, wir spielen Manille! Aber das Spiel hier ist weniger seriös. Ich passe.« Alles rief wie aus einem Munde: »Och, General!« »Aber als Sie in Afrika waren...«, raunte Henriette Cyne ihm heimtückisch unter sein Kinnbärtchen. »In Afrika?« fragte der General. »Das ist etwas anderes. Aber ich bin nicht während des Kriegs dort gewesen. Im Krieg mag es ein- oder zweimal zu Vergewaltigungen gekommen sein... « »Ein- oder zweimal?« sagte Saint-Jurieu. »Das ist eine Zahl, das sind sogar zwei Zahlen, aber sagen Sie uns genau, welche.« »Das ist doch nur eine Redensart«, erwiderte der General. »Ich fahre fort. Wie gesagt, ich bin nur in Friedenszeiten in Afrika gewesen; und was ist in Friedenszeiten die Pflicht eines im Ausland weilenden französischen Soldaten? Daß er sich aufführt wie ein Wilder oder daß er vielmehr die Zivilisation ins Land trägt und das, was das Bezauberndste an ihr ist: das französische Kavalierstum? So ist es für die Weibsbilder von Algier, wenn sie von der An-
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kunft unserer Offiziere erfahren, eine richtige Abwechslung von diesen Araber-Rohlingen, die keine Ahnung haben, was gute Manieren sind, und sie rufen: ›Ah, die Franzosen sind da! Sie werden.. .‹« »General, ich habe eine junge Tochter!« unterbrach ihn William Elson ziemlich scharf und gerade noch rechtzeitig. »Aber mir scheint«, verteidigte sich der General, »unser Gespräch ist bis jetzt mit all diesen Zahlen...« »Sprechen Sie von Geschäften, meine Herren?« erkundigte sich die junge Amerikanerin mit höchst bewundernswerter Naivität. William Elson gab Ellen einen Wink, sich zu entfernen. »Wir hätten zuerst den Doktor zu Rate ziehen sollen, meine Damen«, versetzte Mrs. Gough, »statt uns geduldig alle diese schlimmen technischen Einzelheiten anzuhören. « »Ich habe«, sagte Bathybius darauf, »in Bicêtre einen hochgradig Schwachsinnigen beobachtet, der überdies noch Epileptiker war - ein Mann, der sein ganzes Leben lang, das übrigens noch andauert, nahezu ohne Unterbrechung sexuelle Handlungen begangen hat, aber... an sich selber, und das erklärt so manches. «
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»Wie gräßlich!« entfuhr es mehreren Frauen. »Was ich sagen will, ist, daß die zerebrale Erregtheit alles erklärt«, fuhr der Doktor fort. ».. .deren Auftreten demnach von den Frauen blockiert wird?« wollte Henriette wissen. »Ich habe vorausgeschickt, daß er schwachsinnig war. Mademoiselle.« »Aber... Sie sprachen doch von seinen... zerebralen Fähigkeiten«, entgegnete Henriette. »Also kann er so schwachsinnig doch gar nicht gewesen sein.« » Übrigens ist nicht das Gehirn, sondern das Knochenmark das Zentrum jener Gemütsbewegungen«, verbesserte sich Bathybius. »Sein Knochenmark besaß Genie«, sagte Marcueil. »Aber... da wir nicht in Bicêtre sitzen... was ist außerhalb von Bicêtre?« fragte Mrs. Gough. »Nach Ansicht der Mediziner reichen die menschlichen Kräfte für neun oder allenfalls zwölf Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden, und das auch nur ausnahmsweise«, verkündete Bathybius. »Jetzt obliegt es dem Verfechter der unbegrenzten menschlichen Kräfte, der Humanwissenschaft zu antworten«, sagte William Elson nicht ohne freundschaftliche Ironie zu seinem Gastgeber.
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»Ich bedauere«, sprach André Marcueil in ein Schweigen hinein, das aus der ein wenig spöttischen Neugierde aller Anwesenden erwuchs, »ich bedauere, meine Überzeugung nicht der mondänen Meinung und der Wissenschaft anpassen zu können, ohne sie zu verfälschen; die Gelehrten halten sich, wie Sie gehört haben, an die Ansicht der Wilden im Inneren Afrikas, die, wenn sie über die Fünf hinausgehende Zahlen ausdrücken wollen - ganz gleichgültig, ob es sich um sechs oder um tausend handelt -, ihre zehn Finger bewegen und sagen: ›Viel, viel«; aber ich bin überzeugt, daß es tatsächlich ›.. .eine Bagatelle‹ ist, nicht nur die dreißig oder fünfzig jungfräulichen Töchter des Königs Lysius zu ehelichen, sondern auch den Rekord des ›von Theophrast, Plinius und Athenäus so gepriesenen« Inders zu brechen, der es, wie Rabelais im Anschluß an jene Autoren berichtet, ›mit Hilfe eines bestimmten Krauts an einem Tage siebzig Mal und öfter trieb‹.« »Siebzig... in zwei Durchgängen?« spöttelte der General, der Experte für Wortspiele war. »Septuageno coitu durasse libidinem contactu herbae cujusdam«, unterbrach ihn Bathybius zitie-
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rend. »Ich glaube, das ist der genaue Wortlaut von Plinius' Satz, frei nach Theophrast.« »Vom Verfasser der Charaktere?« fragte SaintJurieu. »Aber nicht doch!« korrigierte der Doktor. »Vom Verfasser der Geschichte der Pflanzen und der Ursachen der Pflanzen. « »Theophrast von Eresos«, sagte Marcueil, »Buch IX, Kapitel zwanzig der Geschichte der Pflanzen.« ›»Mit Hilfe eines bestimmten Krauts‹?« grübelte der Chemiker Elson. »Herbae cujusdam«, dozierte Bathybius, »cujus nomen genusque non posuit. Aber Plinius, Buch III, Kapitel achtundzwanzig, folgert, es müsse sich um das Mark der Wolfsmilchblätter handeln.« »Dann wissen wir ja mehr!« sagte Mrs. Gough. »Das ist noch unklarer als das ›bestimmte Kraut‹.« »Es ist angenehmer zu glauben«, sagte Marcueil, »daß das Bestimmte Kraut‹ von einem schüchtern veranlagten Kopisten eingefügt worden ist, um den Geist der Leser gegen eine Bestürzung zu wappnen, die er als zu heftig erachtete.« »Mit oder ohne Kraut: aber an einem Tage?« erkundigte sich Madame de Saint-Jurieu. »Das heißt, an einem einzigen, einmaligen Tag im Leben eines Mannes?«
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»Was man an einem Tag tut«, antwortete Marcueil, »kann man erst recht alle Tage tun. Gewöhnung ... Doch wenn dieser Mann höchst außergewöhnlich war, so ist es ihm möglicherweise tatsächlich gelungen, sich auf Eintägigkeit zu beschränken... Man darf aber auch mutmaßen, daß er seine Zeit jeden Tag auf diese Weise verbrachte und nur einmal Leute hat zuschauen lassen. « »Ein Indianer?« sinnierte Henriette Cyne. »Ein roter Mann mit Tomahawk und Skalps wie bei Fenimore Cooper?« »Nein, mein Kind«, sagte Marcueil, »das, was wir heute als Hindu bezeichnen; aber das Land tut nichts zur Sache. Ich teile Ihre Ansicht: Jener Satz von Rabelais klingt majestätisch - ›der von Theophrast so gepriesene Inder« -, und es wäre bedauerlich, wenn er nicht ein echter Indianer, ein Delaware oder Huron, war, um in Ihre imaginäre Szenerie zu passen. « »Ein Hindu?« fragte der Doktor. »Dabei fällt mir ein: Wenn das Unwahrscheinliche nicht so ins Auge spränge... Indien ist das Land der Aphrodisiaka. « »Das Kapitel zwanzig in Buch IX von Theophrast von Eresos ist in der Tat den Aphrodisiaka gewidmet«, sagte Marcueil. »Aber ich sage Ihnen nochmals« - und er wurde ein wenig lebhafter, und die
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Augen hinter seinem Kneifer glänzten - »daß meiner Ansicht nach weder ein Rauschmittel noch das Herkunftsland eine Rolle spielen, daß es sogar mehr Gründe gäbe für einen Weißen... Aber«, fügte er wie im Selbstgespräch hinzu, »bei einem Manne aus eigenartigen Ländern würde man die Glanztat als nicht so einzigartig, nicht so unglaublich ansehen... weil es scheint, daß es eine Glanztat ist!... Aber wie auch immer: Was ein Mann geschafft hat, kann auch ein anderer schaffen. « »Wissen Sie eigentlich, wer als erster gesagt hat, was Sie da wiederkäuen?« unterbrach ihn Mrs. Gough, die recht belesen war. »Was ich...? « »Ja, genau Ihren Satz ›Was ein Mann geschafft hat. ..‹« »Ach ja, aber daran habe ich nicht gedacht«, erwiderte Marcueil. »Er steht bei... aber natürlich: in den Abenteuern des Freiherrn von Münchhausen!« »Diesen Deutschen kenne ich nicht«, sagte der General. »Ein Oberst, General«, soufflierte Mrs. Gough, »ein Oberst der roten Husaren... in Frankreich heißt er Monsieur de Crac.«
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»Jetzt weiß ich's: Jagdgeschichten«, sagte der General. »Wahrhaftig, Monsieur«, sagte Madame de SaintJurieu zu Marcueil, »es war unmöglich, geistreicher durchblicken zu lassen, daß der Rekord des Inders oder Indianers erst von... nun ja... von dieser anderen Rothaut gebrochen würde, einem roten... Husaren... der viel Phantasie besaß!« »Das also war es«, fügte Henriette Cyne hinzu, »worauf Sie hinauswollten und wo... Sie uns auch hinbugsiert haben! Sie haben das Sichüberbieten sehr geschickt abgeschlossen, indem Sie als...« »Meistbietenden, sagen Sie's nur«, sekundierte Saint-Jurieu. »...jemanden herausgestellt haben, den.. .Worte nichts kosteten. « »Es genügt, ein tüchtiges Mundwerk zu haben«, sagte der General. »Wie in Afrika«, entfuhr es Henriette. ».. .oh, ich rede dummes Zeug. « »Meine Herren«, sagte André Marcueil ziemlich laut und sehr zeremoniell, »ich glaube, Oberst Freiherr von Münchhausen hat alles, was er gesagt hat, auch getan, und noch mehr. « »Also wird doch noch weitergeboten?« fragte Mrs. Gough interessiert.
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»Allmählich wird's ein bißchen öde«, meinte Henriette Cyne. »Hören Sie, Marcueil«, sagte Bathybius, »es ist doch Unsinn, daß ein Mann zu Pferd über einen Teich springen will wie dieser sagenumwobene Baron, dann mitten im Sprunge kehrtmacht, weil er merkt, daß er nicht genug Anlauf genommen hat, und schließlich sich und sein Pferd ans Ufer zurückmanövriert, indem er sich aus eigener Kraft an seinem Schwanz hochzieht... « »Die Soldaten trugen zu jener Zeit laut Vorschrift ›alle Haare im Schwanz«, sprich Zopf«, unterbrach Arthur Gough eher gelehrsam als schlagfertig. ».. .Das widerspricht allen physikalischen Gesetzen«, schloß Bathybius. »Etwas Erotisches hat das nicht«, bemerkte der Senator zerstreut. »Aber auch nichts Unmögliches«, konterte Marcueil. »Monsieur macht sich über Sie lustig«, informierte Pusice-Euprépie ihren Gatten. »Der Baron hat nur einen Fehler gemacht«, fuhr André Marcueil fort, »nämlich den, daß er seine Abenteuer nachher erzählt hat. Wenn es auch, wie ich zugeben muß, recht erstaunlich ist, daß sie ihm überhaupt widerfahren sind...«
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»Bestimmt!« rief Henriette Cyne. »Vorausgesetzt natürlich, daß sie ihm widerfahren sind«, fügte der Doktor eigensinnig und etwas bedächtiger hinzu. »Wenn es auch erstaunlich ist, daß sie ihm widerfahren sind«, sprach Marcueil unbeirrt weiter, »so wundert es doch weit weniger, daß man ihm keinen Glauben geschenkt hat. Und das war sehr gut so für den Baron! Denn kann man sich das unerträgliche Dasein vorstellen, das in der neidischen, gehässigen Gesellschaft der Menschen ein Mann zu fristen hätte, in dessen Leben es derartige Wunder gibt? Immer weil es so scheint, als seien es Wunder. Man würde ihn für alle ungeklärten Taten und alle noch ungesühnten Verbrechen verantwortlich machen, so wie man vorzeiten die Zauberer verbrannt hat...« »Man würde ihn anbeten wie Gott«, sagte Ellen Elson, die ihr Vater wieder hereingerufen hatte, nachdem das Gespräch, dem Freiherrn von Münchhausen zu Ehren, wieder auf den sittlichen Horizont eines jungen Mädchens herabgeschraubt worden war. »Und was für einer Freiheit würde er sich erfreuen«, sprach Marcueil zu Ende, »bedenkt man, daß ihm, beginge er tatsächlich Verbrechen, die all-
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gemeine Ungläubigkeit zu seinen Alibis verhelfen würde!« »Nun, Monsieur«, flüsterte Mrs. Gough, »wieso sind Sie dann vorhin so nahe daran gewesen, dem Baron nachzueifern?« »Ich habe nichts nachher erzählt, chère Madame«, sagte Marcueil, »da ich leider nicht zu denen gehöre, die Abenteuer erleben, welche erzählt zu werden verdienen...« »Ja, wann erzählen Sie dann? Vorher!« fragte Henriette Cyne. »Was denn erzählen? Und vor was?« fragte Marcueil zurück. »Kommen Sie, kleines Mädchen, lassen wir diese Jagdgeschichten‹, wie unser alter Freund, der General, sehr treffend sagte.« »Bravo, mein Lieber!« pflichtete Sider ihm bei. »Ich glaube nur an das Glaubhafte.« Ellen Elson war an André Marcueil herangetreten, der gebeugter denn je aussah, durch seinen dichten Bart älter wirkte, als er war, und dessen Augen noch erloschener hinter dem Kneifer hervorschauten. Er sah in seiner unpersönlichen Abendgarderobe unscheinbarer und kläglicher aus als eine Karnevalsmaske: Glas, Gold und Haare verbargen sein Gesicht; nicht einmal die Zähne waren hinter
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dem Gewirr der herabhängenden Schnurrbartborsten zu sehen. Die Jungfrau senkte ihren Blick in den pupillenlosen Blick des Kneifers: »Ich glaube an den Indianer«, murmelte sie.
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II DAS HERZ WEDER LINKS NOCH RECHTS
Außer zum Zwecke seiner Geburt hatte André Marcueil zunächst keinerlei Kontakt mit dem Weibe, wurde er doch, wie ein simpler Jupiter, von einer Ziege gesäugt. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr hatte er, nach dem Tode seines Vaters von der Mutter und einer älteren Schwester großgezogen, eine Kindheit von sorgsam gehüteter Reinheit erlebt - sofern der Katholizismus recht hat, die unter Androhung ewiger Strafen geübte Vernachlässigung gewisser Körperteile als Reinheit zu bezeichnen. Mit zwölf Jahren, noch in eine weite Kittelschürze und nacktbeinig in bauschige kurze Hosen gekleidet, widerfuhr ihm die Feierlichkeit seiner Ersten Kommunion, und ein Schneider maß ihm seinen ersten Männeranzug an. Der kleine André verstand nicht ganz, weshalb die Männer - das waren die kleinen Buben, die älter als zwölf sind - nicht mehr von einer Schneiderin eingekleidet werden dürfen... und er hatte noch nie sein Geschlechtsteil gesehen.
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Er hatte sich noch nie anders als vollständig bekleidet im Spiegel betrachtet, bevor er ausging. Er fand sich sehr häßlich unter der schwarzen langen Hose... und dabei waren seine jungen Kameraden so stolz, die ihre erstmals tragen zu dürfen! Übrigens fand auch der Schneider, daß der ihm zugeschnittene Anzug nicht besonders gut saß. Irgend etwas unterhalb des Gürtels und diesem ganz nahe verursachte eine unansehnliche große Falte. Der Schneider flüsterte der Mutter, die daraufhin errötete, einige befangene Worte zu, und Marcueil begriff dunkel, daß er irgendwie mißgestaltet war sonst hätte man in seiner Gegenwart nicht so leise über ihn gesprochen -, daß er nicht so gewachsen war wie alle anderen. »Gewachsen sein wie alle anderen, wenn ich erst groß bin« wurde zu einer fixen Idee. »Rechts«, sagte der Schneider geheimnisvoll unverständlich, wie um einen Kranken nicht zu erschrecken. Sicher meinte er damit: Das Herz sitzt rechts. Kann aber das Herz, selbst bei Erwachsenen, sich unterhalb des Gürtels befinden? Der Schneider, immer noch ratlos, strich, ohne
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sich etwas dabei zu denken, mit dem Daumen die ungewöhnliche Stelle glatt. Tags darauf, nach einer Änderung, erneute Anprobe nach neu genommenen Maßen, die aber kein besseres Ergebnis zeitigten. Denn zwischen links und rechts gibt es noch eine andere Richtung: darüber. André, aus dem seine Mutter, wie alle geborenen Mütter und sogar die anderen, einen Soldaten machen wollte, schwor sich, nicht länger eine Ursache für bestellte und nicht abgeholte Bekleidungsartikel zu sein, und rechnete aus, daß er acht Jahre Zeit hatte, seine Mißbildung zu beheben, bevor der beschämende Augenblick kam, wo er sie vor dem Musterungsausschuß enthüllen mußte. Da er beharrlich keusch blieb, bekam er keine Gelegenheit, sich sagen zu lassen, ob es sich wirklich um eine Mißbildung handelte. Und als er dann die ersten »Mädchen-Bekanntschaften machte - was nach dem humanistischen Abitur fester Brauch ist, und Marcueil hatte ein Jahr übersprungen, war also zwölf Monate eher an der Reihe -, mußten besagte Mädchen sich einbilden, er sei nur ein paar Augenblicke lang »Mann« wie die anderen Männer, denn er ging immer nur »auf einen Sprung« mit ihnen nach oben.
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Fünf Jahre lang trieb ihn die Kirchenprosa um: »Hostemque nostrum comprime... « Fünf Jahre lang aß er Bromsilber und trank Seerosenaufguß, versuchte, sich durch körperliche Übungen zu entkräften, was aber nur dazu führte, daß er bärenstark wurde, zügelte sich mit Hilfe von Lederriemen und schlief auf dem Bauch, dem Aufruhr des »Tiers« immer das ganze Gewicht seines drahtigen Turnerkörpers entgegenstemmend. Später, viel später dachte er darüber nach, daß er vielleicht nur daran gearbeitet hatte, eine Kraft niederzuhalten, die gar nicht zutage getreten wäre, hätte sie nicht eine Bestimmung zu erfüllen gehabt. Als Gegenreaktion hielt er sich dann wie ein Verrückter Mätressen, doch weder sie noch er kosteten die Lust: Für ihn war es ein - so »natürliches«! Bedürfnis und für sie eine Fron. Logischerweise versuchte er es mit »widernatürlichen« Lastern, und zwar gerade so lange, um aus Erfahrung zu begreifen, welcher Abgrund zwischen seiner und der Kraft anderer Männer klaffte. Dann starb seine Mutter, und bei der Durchsicht von Familienpapieren stieß er auf einen merkwürdigen Vorfahren, der ein wenig sein Ahnherr war, obgleich er nicht zu seiner Erzeugung beigetragen
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hatte, nämlich seinen Großonkel mütterlicherseits, einen vor der Zeit dahingerafften Menschen, der ihm wahrscheinlich seine »Fähigkeiten« vererbt hatte. Der Sterbeurkunde war ein kurzer Vermerk aus der Feder eines Arztes beigefügt, dessen kindlichen, unkorrekten Schreibstil wir nachstehend wiedergeben, und mit dickem, schwarzem Faden war ein Stück Leichentuch an sie angenäht, das ganz steif war von sonderbaren Flecken: »Auguste-Louis-Samson de Lurance, verstorben am 15. April 1849 im Alter von neunundzwanzig Monaten und dreizehn Tagen an nicht zum Stillstand zu bringendem grünem Erbrochenen; da er bis zum letzten Atemzug eine weit über sein Alter hinausgehende Charakterfestigkeit bewahrte, hat die viel zu üppige Phantasie (sie) im Verein mit seinem hinsichtlich einer bestimmten Entwicklung allzufrühreifen Organismus erheblich zu der schmerzvollen Trauer beigetragen, in die er seine Familie für immer versetzt hat. Möge Gott ihm beistehen! Dr. (unleserlich)« Von nun an hätte keine Mißgeburt, kein von irgendeinem Jahrmarktsunternehmen gejagtes »menschliches Wunderwesen« mehr Einfallsreichtum als André Marcueil entfaltet, um in der Masse
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unterzutauchen. Die Anpassung an die Umwelt, die sogenannte Mimikry, ist ein Gesetz zur Erhaltung des Lebens. Es ist weniger sicher, Lebewesen zu töten, die schwächer sind als man selber, als sie nachzuahmen. Nicht die Stärksten überleben, denn sie sind allein. Es ist eine große Kunst, seine Seele nach der eines Portiers zu formen. Doch weshalb verspürte Marcueil das Bedürfnis, sich zugleich zu verstecken und zu verraten? Seine Kraft zu leugnen und sie zu dokumentieren? Wohl um zu prüfen, ob seine Maske richtig saß... Vielleicht war es aber auch »das Tier«, das ohne sein Wissen hervortrat.
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III ES IST EIN WEIBCHEN, ABER EIN SEHR STARKES
Die Gäste gingen. In einem Doppelstrom fluteten die in Pelze gehüllten Gestalten rechts und links die hohe Freitreppe herab. Dann folgte, unter den elektrischen Kugelleuchten auf den fünf eisernen Pfählen, die in unregelmäßigen Abständen die breite Zufahrtsallee säumten, das Auf und Ab anderer Lichter, das Klappern von Pferdehufen, das Motorgebrumm etlicher Automobile. William Elson und seine Tochter brausten zusammen mit den Goughs auf einem unwirklich aussehenden Gefährt, scharlachrot und schnaubend, davon, das mit ein paar großen, elastischen Hüpfern entschwand. Nacheinander folgten auch die diversen anderen Fahrzeuge, und bald war vor dem Schloß kein anderes Geräusch mehr zu hören als das Gemurmel des fließenden Wassers im Schloßgraben. Lurance, André Marcueils mütterliches Erbteil,
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war unter Ludwig XIII. erbaut worden; doch es schien die natürlichste Sache der Welt zu sein, daß seine riesigen schmiedeeisernen Laternenpfähle durch Bogenlampen vervollständigt wurden und daß die Kraft seiner natürlichen Wasserläufe Maschinen antrieb, deren Aufgabe es war, die elektrische Beleuchtung zu speisen. Desgleichen sah es so aus, als seien die endlosen Alleen, die in breiten Strahlen nach allen Seiten hin den Ausblick beherrschten, nicht für gemächlich dahinkriechende Pferdekarossen entworfen worden, sondern als habe der Architekt sie aus einer dunklen, aber genialen Vorahnung heraus dreihundert Jahre vor der Zeit für moderne Fahrzeuge geplant. Mit Sicherheit gibt es keinen Grund, daß Menschen sich bemühen, Dauerhaftes zu schaffen, wenn sie nicht unbewußt davon ausgehen, daß ihr Werk ein Mehr an Schönheit zu erwarten hat, das sie ihm heute nicht mitzugeben imstande sind, das aber die Zukunft für es bereithält. Man macht etwas nicht groß, man läßt es groß werden. Lurance liegt, in südwestlicher Richtung, nur wenige Kilometer außerhalb von Paris; und Marcueil, durch das Gespräch des zurückliegenden Abends ganz offensichtlich auf seltsame Weise erregt, verbarg sein Verlangen nach Zerstreuung
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hinter einer Aufmerksamkeit gegenüber seinen Gästen: Er brachte den Doktor und den General selber nach Paris zurück. Mit Rücksicht auf den Letztgenannten, der den neuen Fortbewegungsmitteln ablehnend gegenüberstand, und da es in der Nähe von Lurance keinen Bahnhof gibt, hatte er ein Coupé anspannen lassen. Das Wetter war trocken, klar und kalt. Die Landstraße klang, als sei sie aus Pappe. In weniger als einer Stunde waren sie am Etoile, und da es noch nicht spät war - nicht einmal zwei Uhr nachts -, suchten sie eine englische Stehkneipe auf. »Guten Tag, Marc-Antony«, begrüßte Bathybius den Barkeeper. »Aha, Sie sind Stammgast«, sagte der General. »Erfreut sich denn dieser große Kerl«, fragte Marcueil, »legitimerweise eines so shakespearehaft römischen Namens?« »Ja, man hat mir erzählt«, erwiderte Bathybius, »daß er diesen historisch-dramatischen Beinamen der außerordentlichen Feierlichkeit verdankt, mit der er seine Kunden anspricht, eine Feierlichkeit, die angeblich nur mit derjenigen von Shakespeares Marcus Antonius bei seiner klassischen Rede an Caesars Grab vergleichbar ist. Und seine Kunden -
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Jockeys, Trainer, Stallburschen, Boxer, allesamt große Freunde von Prügeleien - bedürfen sehr häufig der Ansprache.« »Ich hoffe, daß wir das gleich werden beurteilen können«, sagte Marcueil, »das wird uns auf andere Gedanken bringen. « Sie wurden bedient. Der General trank stout, der Doktor pale-ale, und Marcueil, der - außer wenn er sich damit amüsierte, irgendein paradoxes Theorem von sich zu geben - eine entschiedene Unentschiedenheit praktizierte, bestellte sich eine anteilsgleiche Mischung aus den beiden erwähnten Bieren, einen sogenannten half-and-half. Der Vorhersage des Doktors zum Trotz ging es in der Kneipe ruhig zu, die gerade so sehr von Stimmengewirr erfüllt war, daß sich ihre eigenen Stimmen von ihm abhoben. Der Doktor konnte es sich nicht verkneifen, noch einmal auf die in Lurance gefallenen Äußerungen zurückzukommen, um Marcueil diskret mit ihnen aufzuziehen. Im Grunde war er ein wenig ungehalten darüber, daß sein Freund nicht einmal zum Spaß seiner Autorität als berühmtem Mann der Wissenschaft das letzte Wort gelassen hatte. »Jetzt, da wir unter Männern sind«, sagte er, »noch eine Bemerkung, um einmal mit Ihren
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mythologischen Legenden aufzuräumen: Alle diese Proculusse, Herkulesse und anderen fabelhaften Helden fanden ihre numerischen Glanzleistungen noch nicht rühmlich genug und weniger fabelhaft als ihre Bedichter. Es war ›eine Bagatelles wie Sie sagen, ein Kinderspiel. Deshalb erhöhten sie spielerisch die Schwierigkeit: Jungfrauen, viele Jungfrauen! Nun ist es aber eine medizinische Wahrheit... « »...und eine experimentelle«, unterbrach der General. »Ich weiß schon, was Sie sagen wollen.« »...es ist eine medizinische Wahrheit, daß der Beischlaf mit einer Jungfrau schwierig und schmerzhaft genug ist, um dem Manne die Lust oder die Möglichkeit zu nehmen, ihn so häufig zu wiederholen. « »Daran hat unser keuscher Freund nicht gedacht«, sagte der General. »Die Antwort ist einfach«, entgegnete Marcueil. »Um ein historisches Beispiel zu nennen - oder ein mythologisches, wenn Sie diese Bezeichnung vorziehen: Man muß natürlich einräumen, daß Herkules in seiner gesamten Person den anderen Männern überlegen war in puncto... - wie soll ich sagen? - in puncto Statur, in puncto Körperbau... « »In puncto Kaliber«, sagte der General. »Es sind
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keine Damen zugegen, und außerdem ist das ein Begriff aus der Waffentechnik. « »Die Gynäkologen kennen die Maßeinheit Halbjungfrau«, fuhr Marcueil fort. »Nehmen wir einmal an, in einem weniger gängigen Zweig der Heilkunde gäbe es die Maßeinheit... Halbgott, so steht fest, daß für... gewisse Männer alle Frauen Jungfrauen sind... einmal mehr, einmal weniger...« »Daß mir die Schlußfolgerung, bitte sehr, nicht über die Prämissen hinausgeht!« protestierte der Doktor. »Sagen Sie nicht: gewisse Männer; nur Herkules allein, wenn ich bitten darf... « »Und der ist nicht da«, glaubte der General geistreich einflechten zu müssen. »Der... ist nicht da, in der Tat... das habe ich vergessen«, sagte Marcueil mit einem merkwürdigen Unterton. »Dann ein anderes Beispiel: Nehmen Sie einmal an, eine Frau ließe eine bestimmte Zahl von sexuellen Attacken über sich ergehen, sagen wir fünfundzwanzig... um eine feste Vorstellung zu vermitteln, wie die Professoren sagen... « »In einem Feendrama heißt es: ›Schon wieder ein Stern auf meinem Teller! ‹« knurrte der Doktor halb verärgert. »Genug der Paradoxa, mein Lieber, hören Sie auf, damit um sich zu werfen... wenn Sie
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möchten, daß wir wissenschaftlich diskutieren... obwohl das sehr diskutabel ist. « »Ihnen zu Gefallen fünfundzwanzig verschiedene Männer, Doktor!« »Das ist schon normaler«, sagte der General. »Sagen Sie: wissenschaftlicher«, verbesserte ihn Bathybius mit unvermuteter Milde. »Was würde sich physiologisch abspielen? Das affizierte Gewebe zöge sich zusammen... « Der Doktor brach in ein schallendes Gelächter aus: »Vonwegen! Im Gegenteil, es würde schlaff werden, und zwar schon bei einer geringeren Belastung. « »Woher haben Sie diesen Blödsinn?« fragte der General Marcueil. »Ist das wieder so ein historisches Beispiel?« »Es ist nach wie vor höchst einfach«, fuhr Marcueil fort: »Die Frau, die geschichtlich dafür bekannt ist, daß sie an einem Tage mehr als fünfundzwanzig Liebhaber abgefertigt hat, ist... « »Messalina!« riefen die beiden anderen. »Sie sagen es. Nun gibt es einen Vers von Juvenal, den niemand zu übersetzen vermochte, und falls irgendwer ihn dennoch begriffen hat, so konnte er seine wirkliche Bedeutung nicht publik machen,
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weil seine Leser ihn für hirnrissig gehalten hätten. Der Vers lautet wie folgt: .. .Tarnen ultima cellam Clausit, adhuc ardens RIGIDAE tentigine vulvae. Und danach heißt es«, zitierte der Doktor weiter: »Et lassata viris nec-dum satiata recessit.« »Wissen wir«, sagte Marcueil. »Doch die neuere Philologie hat nachgewiesen, daß dieser Vers wie alle berühmten Verse nachträglich eingefügt worden ist. Berühmte Verse sind wie Sprichwörter... « »Die Weisheit der Völker«, sagte der General. »Das haben Sie sehr fein durchschaut, General. Sie werden nicht leugnen, daß die Entstehung der Völker auf das Sich-Zusammenscharen einer sehr großen Zahl von Erstbesten zurückgeht... « »Ach, was Sie nicht sagen!« begann der General. »Hören Sie doch 'mal zu, General«, unterbrach ihn Bathybius, »jetzt wird's interessant. Was wollten Sie sagen, Marcueil?« »Daß Messalina, aus den Armen von fünfundzwanzig oder noch weit mehr Liebhabern kommend. .. ich übersetze wörtlich: noch feurig ist, das heißt für mich: noch feurig erhalten wird von... Im Französischen werden die Worte, selbst unter Män-
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nern, ein wenig unanständig, aber der Rest des lateinischen Satzes versteht sich ja von selber. « »Ja, ich verstehe das letzte Wort des Verses«, sagte der General, der sich ein weiteres stout genehmigte. »Dieses Wort ist nicht wichtig«, sagte Marcueil, »sondern das dazugehörige Adjektiv: RIGIDAE.« »Ich sehe keine Möglichkeit, Ihre Deutung zu widerlegen«, sagte Bathybius. »Aber... Messalina war eine Nymphomanin, weiter nichts. Dieses... hysterische Beispiel beweist also gar nichts. « »Es gibt keine echten Frauen außer den Messalinen«, murmelte Marcueil, ohne daß jemand es hörte. Dann fuhr er fort: »Die Organe der beiden Geschlechter bestehen doch - nicht wahr, Doktor? - aus den gleichen, wenn auch ein wenig auseinanderentwickelten Bestandteilen?« »So in etwa«, erwiderte der Arzt. »Worauf wollen Sie denn jetzt schon wieder hinaus?« »Auf die logische Tatsache«, sagte Marcueil, »daß es überhaupt keinen Grund gibt, weshalb beim Manne, von einer bestimmten Zahl an, nicht die gleichen physiologischen Phänomene auftreten sollen wie bei einer Messalina. «
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»Also rigidi tentigo veretri! Aber das ist doch Unsinn, blühender Unsinn!« rief der Doktor. »Es ist sogar das Fehlen dieses unerläßlichen Phänomens, das stets der Möglichkeit entgegenstehen wird, daß der Mann zahlenmäßig über das hinausgelangt, was nun einmal die menschlichen Kräfte sind!« »Verzeihen Sie, Doktor, aus meiner... Argumentation folgt, daß jene Manifestation in dem Maße stetig und exzessiv wird, wie man sich von den menschlichen Kräften entfernt, nachdem man sie in Richtung auf das numerische Unendliche hinter sich gelassen hat; und daß es mithin von Vorteil ist, sie in der kürzestmöglichen oder - wenn man so will - denkbar kürzesten Frist hinter sich zu lassen. « Bathybius ließ sich zu keiner Antwort herbei. Und der General hatte das Interesse am Gespräch verloren. »Eine andere Frage, Doktor«, hakte Marcueil nach: »Sind Sie nicht auch der Ansicht, daß ein Mann, der von einer Million Gelegenheiten nur eine ergreift, ein maßvoller, im sexuellen Bereich ein enthaltsamer Mann ist?« Der Doktor sah ihn an. »Und ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, Doktor, daß die Zahl der Gelegenheiten, welche die
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Natur für den Vollzug des Fortpflanzungsaktes bereithält, daß die Zahl der Eier bei jeder Frau...« ».. .achtzehn Millionen beträgt«, ergänzte Bathybius schroff. »Achtzehn pro Tag, daran ist also nichts Übernatürliches! Einmal bei einer Million! Und ich gehe von einem gesunden Mann aus; aber Sie haben ja wohl pathologische Fälle beobachtet...?« »Kann man sagen«, entgegnete Bathybius unwirsch: »Priapismus, Satyriasis... Aber urteilen wir doch nicht aufgrund von Krankheiten. « »Und der Einfluß von Anregungsmitteln?« »Wenn wir die Krankheiten ausklammern, sollten wir auch die Aphrodisiaka weglassen. « »Und Zusatznahrung, etwa Alkohol? Denn der ist ja Mastfutter, so ähnlich wie Ochsenfleisch, weichgekochte Eier oder Schweizer Käse?« »Sie haben Definitionen auf Lager!« entgegnete Bathybius, der plötzlich wieder ganz aufgeräumt war. »Das klingt ja wie aus dem Munde unseres Freundes Elson. Jetzt ist mir klar, daß Sie es nicht eine Minute lang ernst gemeint haben. Ist auch besser so. Im übrigen führt Alkohol zur Sklerose des Gewebes. « »Wozu, bitte?« fragte der General. »Zur Verhärtung«, sagte Bathybius. »Die Arte-
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rien der Alkoholiker verkalken, was bedeutet, daß sie vorzeitig altern. « »Nun«, sagte Marcueil, ».. .gehen Sie jetzt nicht an die Decke, Doktor: Ist dann ein gewisses... unerläßliches Phänomens wie Sie sich ausdrücken, nicht eine Sklerose?« »Klingt sehr ulkig«, sagte Bathybius, »ist aber naiv. Aus histologischer Sicht ist es Schwachsinn. Experimentell betrachtet, gibt es nichts, das weniger viril wäre als ein Alkoholiker. Alkohol ist sehr praktisch, um Kinder zu konservieren, aber meines Wissens nicht, um welche zu machen!« »Und ein Alkoholisierter?« fragte Marcueil. »Die Wirkung ist nicht von Dauer, denn die Gefahr beim Alkohol ist, daß die Reaktion, zu der er führt, über die Erregung hinausgeht. « »Sie sind ein Gelehrter, Doktor, ein großer Gelehrter, der kundigste Gelehrte Ihrer Zeit, was leider impliziert, daß Sie ein Kind eben dieser Zeit sind. Sie sind - dieser Tatsache zolle ich die gebührende Achtung - um einiges älter als ich, Doktor. Aber wissen Sie, was man heute, da unsere neue Generation noch ganz jung ist, das heißt, da ihre Wissenschaft um den Bruchteil eines Jahrhunderts älter ist als Ihre, was man heute lehrt: Die deprimierende Reaktion des Alkohols geht
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bei bestimmten Temperamenten der Erregung voraus!« »Es ist nicht möglich, daß sie vorausgeht«, widersprach der Doktor. »Sie muß auf eine ihr vorausgehende Erregung folgen. « »Sie sagen also - und das schmeichelt mir -, daß ich und andere das Ergebnis von Generationen sind, die übererregt wurden vom Blut des Fleisches und von der Kraft der Weine... das Explodieren von etwas Zusammengepreßtem! Die Mode der Definitionen ändert sich. Ein kleines Stück näher zur Steinzeit, im neunzehnten Jahrhundert zum Beispiel, hätte man so etwas ›Rasse besitzen‹ genannt! Doktor, es ist an der Zeit, daß die Bourgeois - mit diesem Wort bezeichne ich alle Söhne des trüben Wassers und des nicht weißen Brotes - Alkohol zu trinken beginnen, wenn sie möchten, daß ihre Nachkommenschaft soviel taugt wie wir!« »Sie sprechen schlecht vom Wasser?« wunderte sich der Doktor. »Mein lieber Sangrado, seien Sie unbesorgt«, fuhr Marcueil fort, dem es anscheinend ein lebhaftes Vergnügen bereitete, den Doktor zu necken: »Diese Flüssigkeit hat keinen über die Maßen Übelkeit erregenden Geschmack, wenigstens bei Fußbädern und Einlaufen nicht! Sie für diese Zwecke
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aufzuheben, heißt, ihr einen recht hübschen Platz einräumen! Nun, was würden Sie davon halten, methodisch - in Form einer geometrischen Reihe, nehme ich an - das Quantum eines Alkoholikers zu erhöhen? Was hielten Sie davon, einen Alkoholiker zu alkoholisieren?« »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen«, war Bathybius' brummige Antwort, die er schon William Elson gegeben hatte. »Ich lege keinerlei Wert auf Alkohol, genauso wenig wie auf jedes andere Anregungsmittel«, entschuldigte sich Marcueil, »doch ich halte es für denkbar, daß ein Mann, der beliebig oft den Liebesakt vollzieht, ebenso wenig Schwierigkeiten hat, irgend etwas anderes beliebig oft zu tun: Alkohol trinken, verdauen, Muskelkraft verbrauchen usw. Welcher Art auch die Handlungen sein mögen, die letzte gleicht der ersten, so wie auf einer Landstraße, falls der Tiefbauverwaltung kein Fehler unterlaufen ist, der letzte Kilometer wie der erste ist!« »Die Wissenschaft hat darüber andere Ansichten«, sagte der Doktor, der allmählich böse wurde. »Außerhalb des Gebiets des Unmöglichen, das Gelehrte nicht anerkennen, weil sie dort keinen Lehrstuhl haben, entwickeln sich die Energien nur - und
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das auch nicht unbegrenzt! -, wenn sie spezialisiert sind: Ein Ringer ist kein Zuchthengst und auch kein Denker; den universalen Herkules hat es nie gegeben und wird es auch nie geben; und was die Segnungen des Alkoholismus angeht: Stiere saufen nur Wasser!« »Nun sagen Sie bloß, Doktor«, erwiderte Marcueil, so unschuldsvoll er nur konnte, »Sie haben noch nicht versucht, ihnen Alkohol zu saufen zu geben!« Doch Bathybius hörte nichts mehr: Er war, geräuschvoll die Kneipentür hinter sich zuschlagend, gegangen. Übrigens wohnte er nur ein paar Schritte weiter. Da geschah plötzlich etwas: Marcus Antonius zuckte zusammen, machte sich lang wie ein zum Sprung ansetzender Löwe, schraubte sich in gekonnten Abstufungen über seinen Schanktisch empor, breitete die Arme aus, hüstelte und sagte bedächtig: »Order, please!« Das war alles, und er setzte sich wieder. Der General, betreten über den Ausfall des Doktors, bemühte sich, André Marcueils Gedanken in eine andere Richtung zu lenken: »Ein reizender Abend vorhin bei Ihnen«, sagte er. »Sie hatten ja eine Menge Leute im Hause.«
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André fuhr mit einer Heftigkeit zusammen, die durch die Originalität dieser Bemerkung in keiner Weise gerechtfertigt war. »Wo Sie davon sprechen, General: Sie sind's, dem ich die Ehre verdanke, daß ich Monsieur William Elson empfangen durfte. Er ist ein sehr bedeutender Gelehrter. « »Pah!« sagte der General in der durch das stout geförderten löblichen Absicht, den Bescheidenen zu spielen, so als habe er das Kompliment auf sich selber bezogen. »Irgend so ein Chemiker, nicht weiter wichtig; reden wir nicht davon, mein Lieber. Was ist denn schon, unter uns gesagt, die Chemie, mein junger Freund? So etwas wie eine Art Photographie, bei der man nie die Abzüge einrahmen kann. « »Und...«, sprach André zögernd weiter, ».. .dieses Mädchen, Mademoiselle Elson?« »Pah!« rief erneut der General, der jetzt, in der Kunst, Lob zurückzuweisen, so in Schwung war, als gälte es, in einem Galopp quer durch ganz Afrika zu reiten. »Pah, das kleine Persönchen... « Er wußte selber nicht, wie das Ende seines Satzes ausfallen würde, doch man durfte vermuten, daß es abfällig war. André Marcueil stand auf, wobei er den Tisch zum Tanzen brachte und die zinnenen Trinkbecher
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umwarf; sein von jähem Zorn belebtes Gesicht neigte sich zu dem des Generals hinüber, und sein Kneifer hüpfte auf und ab, als hätten seine Blicke die Macht, ihn seinem Gesprächspartner gegen die Wange zu schleudern. Der General war völlig verblüfft, und das erst recht, als er die folgende barocke Drohung in sein Ohr zischen hörte: »General, ich glaubte, Sie besäßen ein bißchen... französische Kavaliersmanieren! Ich sollte Sie in zwei Stücke schlagen, doch das lohnt sich nicht - Sie sind nicht stark genug!« »Order, please! Order!« donnerte gleichzeitig Mister Marc-Antonys Stimme, welche die Marcueils übertönte. Der General glaubte, nicht recht gehört zu haben: erstens, weil er nicht begriff, welchen Grund Marcueil haben mochte, so in Rage zu geraten, und zweitens, weil er ihn die Becher umwerfen sah. Dies interpretierte er zur Besänftigung seines Gehirns als: ».. .dieses staut ist nicht stark genug.« »Barkeeper!« rief er. Und zu Marcueil: »Was trinken Sie?« Doch Marcueil zahlte seine Zeche, packte den Ge-
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neral am Arm und zerrte ihn im Eilschritt zunächst aus der Kneipe und dann - nachdem er den Kutscher seines Coupés mit einer Handbewegung angewiesen hatte, an derselben Stelle auf sie zu wartenin Richtung Bois de Boulogne. »Das ist doch gar nicht mein Heimweg!« protestierte der General. »Ich wohne im Saint-SulpiceViertel.« »Er ist sicher betrunken«, ging es ihm durch den Kopf, »obschon weder er noch ich etwas zu uns genommen haben.« Und laut sagte er: »Heda, mein alter... mein junger Freund, wollte ich sagen, wir sind auf dem Holzweg. Wenn Sie Schlagseite haben - ich verstehe das, ich bin auch einmal jung gewesen -, soll ich Sie zu Ihrem Wagen zurückbringen?« »Sie sind nicht stark genug«, erwiderte André Marcueil ungerührt. »Wie bitte? Das ist ja allerhand!« entrüstete sich der andere und schüttelte Marcueil am Arm. Dieser trat ein paar Schritte zurück. »Wo ist er denn hin?« fragte sich der General suchend. »Sowas redet von Herkules und läßt sich vom Händedruck eines alten Mannes aus den Schuhen schubsen. Wo sind Sie denn, junger Freund? Ist die Nacht so stockfinster, oder sind Sie etwa zum Neger geworden?«
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Er trällerte: »Einen Neger, so stark wie ein Herkules, Attackierte ein kleiner Soldat... « »Wir sind da«, sagte Marcueil. »Wo denn?« wunderte sich Sider. »Bei Ihnen? Bei mir?« Ein weißes Etwas plusterte sich neben ihnen auf, so wie die Milchglaskugel einer Nachtlampe aufleuchtet. Zwei Töne, wie von einem Violoncello, wimmerten nachtvogelartig. Ein Stück weiter fort liefen irgendwelche Pfoten umher, und ein langgezogenes Kläffen wurde laut. »Die Schakale?« Sofort danach lachte der General mit jener großen, lauteren Seelen eigenen Mühelosigkeit, sich über nichts in der Welt zu wundern, aus vollem Halse los. »Wann und von wo sind wir hier hereingekommen? Nachts ist doch geschlossen! Ah, ich weiß! Warum haben Sie nicht gleich gesagt, mein junger Freund, daß Sie eine Wohnung im Jardin d'Acclimatation haben - falls es nicht die Ihrer Mätresse ist! Das wundert mich gar nicht, Sie sind ja so exzentrisch! Ich hätte es mir denken können. « Heiser schrie ein Ära die beiden Silben seines
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Namens; hinter ihrem Gitter knurrten die wilden Hunde, und aus ihrem engen Käfig heraus starrte eine Schnee-Eule mit ihren blonden Augen auf die beiden Männer. »Ich wohne nicht hier, und eine Mätresse habe ich auch nicht«, sagte Marcueil langsam, »aber hier wohnt etwas, das mir stark genug ist, um damit zu spielen. « Sie gingen an der Umzäunung entlang; große schwarze Formen sprangen in ihrem Gefolge empor, jede innerhalb ihres Gatters, und beim Weiterspazieren tauchten immer neue auf. »Oh je, er ist wirklich blau«, sagte der General. »Eine komische Gegend, um den Kraftmeier zu spielen. « Der Elefant trompetete in seinem Haus herum, daß die Fensterscheiben zitterten und bebten. »Will er etwa mit den Kängeruhs boxen? Aber so etwas hat man vor dreißig Jahren im Zirkus gemacht, das ist doch ein alter Hut! Hören Sie, mein Lieber, gehen wir jetzt; es reicht, daß wir über den Zaun geklettert sind, denn die Aufseher des Bois werden uns Scherereien machen: Ich weiß, was Disziplin ist!« Zu ihrer Rechten erhob sich meergrün das Aquarium. Marcueil wandte sich nach links, und der Ge-
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neral atmete auf, denn dort endeten die Tiergehege, und er brauchte vonseiten seines Gefährten nicht länger irgendeine waghalsige Säufertorheit zu befürchten. »Da, sehen Sie, jetzt werde ich das Tier umbringen«, sagte Marcueil sehr ruhig. »Was für ein Tier? Du bist besoffen, mein alter... junger Freund«, sagte der General. »Das Tier«, sagte Marcueil. Vor ihnen kauerte im Mondlicht ein gedrungenes, eisernes Ding mit so etwas wie Ellbogen auf seinen Knien und gepanzerten Schultern ohne Kopf darüber. »Der Kraftmesser!« krähte der General vergnügt. »Das werde ich jetzt umbringen«, wiederholte Marcueil starrsinnig. »Mein junger Freund«, sagte der General, »als ich so alt wie Sie, ja sogar jünger war und ›Maulwurf‹ im Stanislaus, habe ich oft genug Schilder abmontiert, Pissoirbecken losgeschraubt, Milchkannen gestohlen und Saufbrüder in Hausflure gesperrt, aber Automaten habe ich noch nie geknackt! Man hält's nicht für möglich, du denkst, das sei ein Automat! Na ja, er ist halt blau... Aber paß nur auf, für dich ist da nichts drin, mein junger Freund!«
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»Es ist voll, voller Kraft und voll, voller Zahlen da drin«, plauderte André Marcueil mit sich selber. »Meinetwegen«, sagte der General gönnerhaft, »ich will dir gern behilflich sein, das Ding zu zertrümmern. Aber wie? Fußtritte, Fausthiebe? Soll ich dir meinen Säbel leihen, damit du's in zwei Teile spalten kannst?« »Es zertrümmern? Oh nein«, sagte Marcueil. »Ich will es umbringen.« »Dann Vorsicht vor einer Anzeige wegen mutwilliger Zerstörung eines gemeinnützigen... Bauwerke!« sagte der General. »Umbringen... mit einer Genehmigung«, lallte Marcueil. Und er kramte aus seiner Westentasche ein französisches Zehn-Centimes-Stück hervor. Vertikal schimmerte der Schlitz des Kraftmessers. »Es ist ein Weibchen«, sagte Marcueil todernst, ».. .aber ein sehr starkes.« Die Münze löste ein Klicken aus: Es war, als ginge die massive Maschine hinterlistig in Verteidigungsstellung. André Marcueil packte das wie eine Art eiserner Sessel aussehende Ding an beiden Armlehnen und zog ohne erkennbare Anstrengung: »Kommen Sie, Madame«, sagte er.
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Dieser kurze Satz ging in einem fürchterlichen Scheppern wie von Alteisen unter, zerbrochene Federn wanden sich am Boden wie die Eingeweide des Tiers; das Zifferblatt mit der Skala schnitt Grimassen, und sein Zeiger sauste mit wilden Zuckungen zwei- oder dreimal um die Scheibe wie ein in die Enge getriebenes Wesen, das verzweifelt einen Ausweg sucht. »Hauen wir ab«, schlug der General vor. »Dieser Blödmann hat sich, um mir zu imponieren, ganz clever ein Gerät ausgesucht, das nicht stabil war. « Nun wieder beide bei klarem Verstand, obwohl Marcueil nicht daran gedacht hatte, die beiden Griffe wegzuwerfen, die wie antike Kampfhandschuhe in seinen Fäusten glänzten, stiegen sie erneut über den Zaun und gingen die Avenue hinunter zurück zum Coupé. Wie das Licht einer anderen Welt brach die Morgendämmerung an.
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IV EIN KLEINES PERSÖNCHEN
Eine Frau, die eine Wohnung betritt, verbreitet dasselbe Froufrou wie eine, die sich entkleidet. Am nächsten Morgen betrat Miss Elson die Wohnung André Marcueils. Er hatte gerade sein erstes Frühstück zu sich genommen - heimlich, denn er machte gerade eine Diät aus rohem Hammelfleisch, wie ein verzweifelter Schwindsüchtiger oder ein kerngesunder Wilder. Anschließend hatte er sich seinen komplizierten Waschungen unterzogen, wie sie sonst nur ein blindgläubiger Adept der Methode des Pfarrers Kneipp praktiziert hätte... oder eine professionelle Prostituierte. Er war noch in feuchte Tücher gewickelt, über denen er eine Art Mönchsgewand aus grober Wolle trug, eine der Gesundheit förderliche Vermummung, die »Spanischer Mantel« genannt wird. Just in diesem Augenblick erschien Ellen. Ein Surren, das an Lautstärke zunahm, hatte ihr Kommen angekündigt. Es klang wie eine Dampfersirene, und solange das Surren zu hören war,
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hatte Marcueil eben dieses Wort in den Ohren: Sirene. Ein monströs großes Automobil - das einzige Exemplar eines Rennmodells, das Arthur Gough erst kürzlich erfunden hatte und das von einem Knallgasgemisch angetrieben wurde, dessen Zusammensetzung nur William Elson kannte -, das nämliche Gefährt, auf dem Elson und seine Tochter am Abend zuvor davongebraust waren, das diesmal aber von Ellen ganz allein gesteuert wurde, war im Pegasustempo auf die Freitreppe zugerast. Sirene - auf die Bezeichnung hatte Marcueil das Bullern des Motors gebracht, das die Fensterscheiben von Lurance erzittern ließ. Die maskenartige Autokappe aus rosarotem Plüsch, die Ellen trug, verlieh ihrem Kopf etwas seltsam Vogelartiges, und Marcueil fiel ein, daß die echten Sirenen der Sage keine Meeresungeheuer waren, sondern phantastische Seevögel. Mit der Geste eines Grüßenden nahm Ellen ihre Kopfbedeckung ab. Sie war nicht groß - ein kleines Persönchen, wie der General gesagt hatte -, dunkelhaarig und bis auf etwas Rosa auf den Wangen blaß, hatte ein rundes Gesicht, eine leichte Stupsnase, schmale Lippen, riesengroße Wimpern und fast keine Brauen,
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so daß ihr, wenn sie den Kopf ins Profil drehte, die langen, dunklen Wimpern weit aus dem Gesicht standen und man sich - da ihre Haare unter der Wildledermütze verborgen waren - einbilden konnte, sie sei blond. Nach etlichen banalen Sätzen sagte Ellen: »Mein Besuch ist nicht korrekt.« Der Aufzug Marcueils, der immer noch in seinen spanischen Mantel eingerollt war, nahm ihm mit Beredtheit die Antwort ab, daß jener nicht minder unkorrekt war. Doch so bizarr und ein wenig lächerlich dieser Aufzug auch war, selbst die Schamhaftigkeit eines Zönobiten hätte ihn nicht mißbilligt. Das grobe, braune Wollgewand umschloß Marcueil vom Nakken bis zu den Knöcheln. Ganz ohne sich zu zieren, ließ Ellen ihren Blick hinab auf die Füße wandern, die nackt in Holzpantinen steckten: Sie waren außergewöhnlich klein, so wie auf antiken Vasen die Füße der Faune dargestellt werden; und sie sah von ihnen nur den Wulst der Ferse und den dicken Zeh, während sich die Wölbung des Spanns unter dem Gewand verlor, so als erhöbe sich da ein winzig kleines Gewölbe. Wie eine Losung, die nur von Marcueil und von ihr selber verstanden würde, murmelte sie vor sich
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hin: »Der von Theophrast so gepriesene Indianer... « Marcueil, der seinen Kneifer nicht trug, schlug plötzlich die Augen nieder, als wollte er vor dem Mädchen seine Seele - oder irgend etwas anderes Innerliches - verhüllen. In aller Ruhe setzte Ellen einen Dialog fort, der nie begonnen hatte: »Raten Sie, warum ich an den Indianer glaube. Weil kein Mensch an ihn glauben wird... zum Glück! öffentlich, vor allen Leuten, würde ich übrigens nicht an ihn glauben... Wundern Sie sich nicht, wenn ich mich, sollten wir uns einmal in irgendeinem Salon begegnen, mehr und unbarmherziger als jede andere Frau über den ›Mann, dessen Kraft grenzenlos ist‹, lustig mache...« »Wieviele Liebhaber haben Sie gehabt?« fragte Marcueil mit kühler Sachlichkeit. Ohne die Frage zu beantworten, sagte sie: »Lieben Sie Zahlen? Nun gut. Die Chancen stehen eins zu tausend, daß es den ›Indianer‹ gibt, und für diese eine Chance lohnt es sich herzukommen. Es steht tausend zu eins - und das ist wichtig für meinen guten Ruf -, daß niemand an die Existenz des Indianers glaubt. Alles in allem gibt es also tausendundeins gute Gründe dafür, daß ich Sie aufgesucht habe.«
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»Wieviele waren es?« wiederholte Marcueil ein wenig zudringlich. »Aber... es waren überhaupt keine, lieber Monsieur«, erwiderte Ellen voller Würde. »Lügen ist typisch weiblich, aber unklar«, sagte Marcueil. »Sie haben weder in den Augen der Welt, die nichts von ihnen erfahren hat, noch in den meinen gezählt, denn ich träumte weiter! Den Absoluten Liebhaber muß es geben, weil die Frau ihn denkt so wie es ja auch nur einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele gibt, nämlich den, daß der Mensch sich aus Angst vor dem Nichts nach ihr sehnt!« »Oh je!« dachte Marcueil, der weder die Scholastik noch irgendeine andere Art von Philosophie oder Literatur mochte, vielleicht deshalb, weil er sie zu gründlich kannte. Laut brachte er dann, um Ellen in puncto Gelehrsamkeit nichts schuldig zu bleiben, das Zitat an: »Ipsissima verba sancti Thomae. « »Wie gesagt«, fuhr Ellen sehr ungekünstelt fort, »ich glaube an ihn, weil kein Mensch an ihn glauben wird... weil es absurd ist... so wie ich auch an Gott glaube: erstens, weil ich ihn, wenn andere an ihn glauben würden, nicht mehr für mich allein hätte, mich betrogen fühlte und eifersüchtig wäre, und
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zweitens macht es mir Spaß, auf die einzige Weise Jungfrau zu bleiben, die nicht unvereinbar ist mit der Wollust und die von der Welt anerkannt wird; man ist Jungfrau, wenn man gleichzeitig zwei Bedingungen erfüllt: daß man nicht verheiratet und daß der Liebhaber unbekannt ist... oder unmöglich!« »Den Indianer als Liebhaber, sagt Ihr«, wiederholte Marcueil. »Ich sage übrigens Ihr nicht aus übertriebener Ehrerbietung, sondern weil ich vermute, daß Ihr mehrere Frauen zugleich seid, nein?« Und seine Stimme veränderte sich und wurde väterlich sanft, als tröstete er ein kleines Mädchen wegen eines ihm vorenthaltenen Spielzeugs, das ihm zu schenken er unklug gefunden hätte: »Der ›Indianer‹, das ist eine Kuriosität, oder es ist Literatur, aber amüsant ist es nicht! So etwas verlangt eine Menge kleiner Schwindeleien! Von... ELF an aufwärts, beispielsweise, um nur vom allerersten Anfangsstadium zu reden und da wir um Zahlen nun einmal nicht herumkommen... kurz bevor wir von den menschlichen Kräften Abschied nehmen -, dürfte die Lust in etwa die gleiche sein, welche die mit einer Feile zugeschliffenen Zacken einer Säge verspüren mögen! Man muß Zuflucht zu Verbänden und Salben nehmen...«
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»Von elf an aufwärts«, konstatierte Ellen. »Und danach?« »Danach kommt irgendwo ganz weit hinten in der Zahlenreihe der Augenblick, da die Frau sich brüllend um die eigene Achse dreht und im Zimmer umherrennt wie - der derbe Ausdruck ist äußerst treffend - wie eine vergiftete Ratte! Es gibt... das heißt, vielleicht gibt es ihn nicht, den Indianer! Das ist einfacher. « Wenn ein Mann und eine Frau so lange und mit solcher Ruhe etwas erörtern, so deshalb, weil der oder die - eine hofft, daß sie über kurz oder lang einander in die Arme sinken werden. »Du bist herzlos!« rief Ellen. »Ich... bin herzlos, Madame, mag sein«, sagte Marcueil. »Dann habe ich statt des Herzens wohl etwas anderes... sonst wären Sie nicht hier. « Er biß sich auf die Lippen und öffnete das Fenster. Damit endete die Traulichkeit ihres Gesprächs, das jetzt durch die breite Fensteröffnung hindurch von Hausdienern, die im Hof emsig hin- und herliefen, mitgehört werden konnte. Ellen ergriff Marcueils Hand. »Sind Sie Chiromantin?« fragte er spöttisch, als verstünde er die banale Geste nicht.
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»Nein, aber ich lese in deinen Augen - deinen Augen, die ich heute völlig nackt sehe -, daß du, falls man an die Seelenwanderung glauben soll, irgendwann einmal in grauer Vorzeit eine uralte Kurtisanenkönigin gewesen bist... « »Alle Kurtisanen sind Königinnen«, erwiderte Marcueil, um etwas Belangloses zu sagen, und ließ mit kühler Galanterie flüchtig seine von Haaren umwucherten Lippen über Ellens Handschuh streichen. Der Handschuh zog sich wie ein seltsames kleines Tier, erregt oder gereizt, zusammen. Marcueil hätte sich nicht allzu sehr gewundert, wenn er ihn hätte kläffen hören. Am Fuße der Freitreppe brach Ellen mit fiebernder Hand eine rote Rose. Marcueil, immer noch ernst, fragte interpretierend: »Sie lieben Blumen?« Er tat so, als hielte er die Gebärde für eine Laune und entschuldigte sich, daß er dieser nicht zuvorgekommen war. Die Rosen von Lurance hätten das durchaus gerechtfertigt: Sie hatten von alters her einen hervorragenden Ruf, und mehrere von ihnen waren Züchtungen, die es nur hier gab. Marcueil klappte die zum Blumenschneiden vorgesehene Klinge seines Taschenmessers auf und trat an das Beet.
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Miss Elson dankte mit einer Kopfbewegung. »Nicht nötig. Ich verreise morgen. Zwar sähe ich gern, wenn ihr Duft und ihre Farben mir die lange, eintönige Wegstrecke und die rauchigen Abteile etwas aufheiterten, aber sie würden verwelken. « Mit einer Bereitwilligkeit, die Ellen schockierte, ließ Marcueil sein Schneidewerkzeug wieder verschwinden. »Ach richtig, ich vergaß: das große Rennen... Ja... Verwelken sollen sie nicht... « Um sich nicht eingestehen zu müssen, daß sie Marcueils Gebaren auf eine etwas zu abrupte Weise unhöflich fand, bestieg Ellen brüsk ihr Gefährt, das sogleich zu schnauben begann. Ohne jede Verzierung und völlig komfortlos, nur notdürftig mit Mennige gestrichen, stellte die Maschine schamlos, um nicht zu sagen: voller Stolz, ihre Antriebsorgane zur Schau. Sie sah aus wie ein lüsterner Fabelgott, der sich anschickte, das Mädchen zu entführen. Doch dieses drehte mittels einer Art Krone den Kopf des fügsamen Monsters beliebig nach rechts und links... Die Drachen in den Sagen tragen stets Kronen. Wie ein großer Skarabäus breitete das Metalltier prüfend seine Flügeldecken aus, scharrte über
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den Boden, erzitterte bis ins Innerste, bewegte mummelnd seine Fühler und hüpfte davon. Ellen, die ein blaßgrünes Kleid trug, sah aus wie eine kleine Alge, die quer über einem riesigen, von der Strömung fortgespülten Korallenstock hängt... Besorgt lauschte Marcueil dem leiser werdenden Brummen und Pfeifen des Motors; er lauschte noch der in seinen Ohren nachklingenden Erinnerung daran, als das wirkliche Geräusch bereits lange erstorben war. »Verwelken sollen sie nicht«, sinnierte er. Schließlich, als sei er plötzlich aufgewacht, rief er den Gärtner herbei und befahl ihm, sämtliche Rosen abzuschneiden.
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V DAS ZEHNTAUSENDMEILENRENNEN
William Elson hatte die Vierzig bereits hinter sich, als seine Tochter Ellen geboren wurde. In diesem Jahre neunzehnhundertzwanzig war er schon über sechzig, doch seine schlanke, hochgewachsene Gestalt, seine kernige Gesundheit und sein heller Geist straften die Jahreszahlen und seinen weißen Bart Lügen. Durch seine toxikologischen Entdeckungen war er ein berühmter Mann geworden, und man hatte ihn an dem Tag zum Präsidenten sämtlicher neuen Mäßigkeitsvereine der Vereinigten Staaten ernannt, als aufgrund einer vorausgesagten Kehrtwendung der wissenschaftlichen Mode verkündet wurde, das einzige hygienische Getränk sei reiner Alkohol. William Elson verdankte man die philanthropische Erfindung, durch Leitungen in die Häuser geführtes Wasser so zu denaturieren, daß es als Trinkwasser ungenießbar wurde, während es jedoch für den Toilettengebrauch geeignet blieb. Als er nach Frankreich herüberkam, wurden
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seine Theorien von einigen den früheren Lehrmeinungen anhängenden Ärzten in Zweifel gezogen. Als schärfster Gegner tat sich dabei Doktor Bathybius hervor. Er machte, als er einmal mit Elson in einem Restaurant zu Abend speiste, vor allem den Einwand geltend, daß er sicher sei, an ihm das für Alkoholiker typische Händezittern erkannt zu haben. Statt einer Antwort zog der alte Elson lediglich seinen Revolver und zielte auf den Knopf der elektrischen Klingel. »Ein schnelles Auge und weiter nichts, könnten Sie mir entgegenhalten«, sagte er zu dem Doktor. »Seien Sie also so freundlich und halten Sie mir diese Speisekarte hier vors Gesicht. « Seine Hand blieb völlig ruhig, auch nachdem die Sichtblende zwischen Auge und Hand geschoben worden war. Dann krachte der Schuß. Die Waffe war mit Dumdumgeschossen geladen. Von dem Klingelknopf blieb nichts übrig, von der Wand recht wenig und von einem friedlichen Gast, der in dem angrenzenden Séparé vor seinem Hors d'oeuvre saß, nur ein paar nicht zu Ende gebrüllte Schreie. Eine Sekunde lang aber hatte der genau in der Mitte durchschossene Knopf Strom an das Läutewerk der Klingel geleitet.
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Prompt erschien der Kellner. »Noch eine Flasche Alkohol«, verlangte Elson. Das war der Mann, den seine Forschungen schließlich zur Erfindung des Perpetual Motion Food führten. Daß William Elson, nachdem er endlich dieses Perpetual Motion Food fabriziert hatte, im Einvernehmen mit Arthur Gough beschloß, sein Erzeugnis mittels eines großen Rennens zwischen einem ausschließlich mit dieser Nahrung verköstigten Radfahrerteam und einem Schnellzug »auf den Markt zu werfen«, ist durchaus nichts Einmaliges. In Amerika hatten bereits in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts Fünfer- oder Sechsermannschaften mehr als einmal D-Züge über eine Strecke von ein oder zwei Meilen hinter sich gelassen. Völlig neu aber war die Behauptung, der menschliche Motor sei auch über große Entfernungen den mechanischen Motoren überlegen. Das enorme Vertrauen in seine Entdeckung, mit dem sein Erfolg William Elson in der Folgezeit erfüllte, mußte ihn nach und nach den Vorstellungen André Marcueils über die Unbegrenztheit der menschlichen Kräfte näherbringen. Doch als Pragmatiker mochte er jene nur bei Verwendung des Perpetual Motion Food als unbegrenzt ansehen. Darüber zu befinden, ob André
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Marcueil dem Rennen nun beiwohnte oder nicht, überlassen wir, auch wenn Miss Elson überzeugt war, ihn dort gesehen zu haben, in diesem Kapitel dem Leser selber. Um der größeren Genauigkeit willen übernehmen wir den Bericht über das sogenannte Perpetual-Motion-Food- oder »Zehntausend-Meilen«-Rennen aus der Darstellung eines der Männer des Fünferteams, Ted Oxborrow, so wie sie vom New York Herald aufgezeichnet und veröffentlicht wurde: »Waagrecht auf dem Fünfertandem liegend - dem 1920er Standardmodell für Rennen: ohne Lenkstange, Fünfzehn-Millimeter-Reifen, siebenundfünfzig Meter achtunddreißig zurückgelegte Strecke pro Pedalumdrehung -, die Gesichter tiefer als die Sättel und durch Masken geschützt, die Wind und Staub von ihnen abhalten sollten, unsere zehn Beine rechts und links durch je eine Aluminiumstange miteinander verbunden: So setzten wir uns auf der schier endlosen Piste in Bewegung, die über die gesamten zehntausend Meilen hinweg parallel zur Trasse des Fernschnellzuges angelegt worden war; wir setzten uns, angeschleppt von einem Automobil, das die Form einer Granate hatte, mit einer vorläufigen Geschwindigkeit von
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einhundertzwanzig Stundenkilometern in Bewegung. Wir waren ohne Möglichkeit, von uns aus abzusteigen, auf die Maschinen geschnallt, und zwar in dieser Reihenfolge: hinten ich, Ted Oxborrow; vor mir Jewey Jacobs, George Webb, Sammy White ein Neger - und der Pilot unserer Mannschaft, Bill Gilbey, den wir scherzhaft Corporal Gilbey nannten, weil er für vier Männer verantwortlich war. Nicht mitgezählt habe ich einen Zwerg namens Bob Rumble, der in einem Anhänger hinter uns her rumpelte, um als Ballastgewicht die Bodenhaftung unseres Hinterrades zu verringern oder zu erhöhen. Corporal Gilbey reichte uns in regelmäßigen Zeitabständen über seine Schulter hinweg die farblosen, bröckeligen und bitter schmeckenden Perpetual-Motion-Food-Würfelchen, die beinahe fünf Tage lang unsere einzige Nahrung waren; er nahm sie, jeweils fünf auf einmal, von einer ans Heck der Schrittmachermaschine montierten Ablageplatte. Unter dieser Platte schimmerte das weiße Zifferblatt des Geschwindigkeitsmessers hervor; unter dem Zifferblatt wiederum hing eine drehbare Walze, die einen möglichen Aufprall des Vorderrades unseres Fünfsitzers abdämpfen sollte. Bei Anbruch der ersten Nacht wurde diese
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Walze, ohne daß die Leute von der Lokomotive es merkten, so mit den Rädern des Schrittmacherautomobils gekoppelt, daß sie sich gegenläufig zu diesen drehte. Dann ließ Corporal Gilbey uns so nahe heranfahren, daß unser Vorderrad auf die Walze zu stehen kam, durch deren Rotation wir in den ersten Nachtstunden wie von einem Triebwerk mogelnd und ohne Anstrengung mitgezogen wurden. Im Windschatten unseres Zugpferdes wehte natürlich kein Lüftchen; rechts von uns graste wie ein gutmütiges großes Tier die Lokomotive immer die gleiche Stelle unseres Gesichtsfeldes ab, ohne vorzurücken oder zurückzufallen. Zu bewegen schien sich an ihr nur ein leicht zitternder Teil in ihrer Flanke - wo anscheinend die Schubstange hin- und herzuckte -, und am vorderen Ende konnte man die Eisenstäbe des Schienenräumers zählen, die genau wie ein Gefängnisgitter oder die Reusen eines Mühlenwehrs aussahen. All das traf ziemlich genau die Vorstellung einer sehr friedlichen Flußlandschaft das stille Band der glatten Piste war der Fluß -, und das regelmäßige Gurgeln und Glucksen des großen Tiers ähnelte sehr dem Geräusch eines Wasserfalls. Wiederholt sah ich durch die Fensterscheiben des ersten Wagens hindurch flüchtig Mister Elsons lan-
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gen, weißen Bart, der sich auf und ab bewegte, als wiege sich sein Träger unbekümmert in einem Schaukelstuhl. Auch die neugierigen großen Augen Miss Elsons erschienen einen Augenblick lang an der ersten Tür des zweiten Wagens, der einzigen, die ich sehen konnte, und auch das nur auf die Gefahr hin, mir den Hals zu verrenken. Die emsige, mit einem blonden Schnurrbart geschmückte kleine Gestalt von Mister Gough rührte sich nicht von der Plattform der Lokomotive. Denn wenn William Elson das Rennen auch vom Zug aus verfolgte, so tat er dies doch mit dem Wunsch, der Zug möge unterliegen; Mister Gough hingegen stachelte die abgeschlossene hohe Wette dazu an, die ganze Bandbreite seiner Sachkenntnisse als Heizer zu entfalten. Sammy White trällerte im Takt unserer Pedaltritte das Kinderliedchen Twinkle, twinkle, little star... Und hinter uns jaulte die Fistelstimme von Bob Rumble, der ein wenig schwach im Kopf war, in die einsame Nacht hinaus: ›Da ist etwas hinter uns her!‹ Dabei hätte bei einem Tempo wie dem unseren
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weder etwas Lebendiges noch etwas Mechanisches uns zu folgen vermocht, und außerdem konnten die Leute im Zug die einförmige, leere Piste hinter Bob Rumble gut überblicken. Zwar war es unmöglich, die wenigen Meter Schotter hinter den Waggons zu sehen - letztere hatten nur an den Seiten Fenster und Türen, und wir auf dem Rennrad konnten uns nicht umschauen -, aber es war doch recht unwahrscheinlich, daß jemand uns auf dem holprigen Schotter hinterherfuhr. Vermutlich wollte der Wicht nur zum Ausdruck bringen, wie stolz ihn das Gefühl machte, mit seiner kindischen Person in unserem Schlepptau zu reisen. Als die Morgendämmerung des zweiten Tages anbrach, trieb mir ein durchdringendes metallisches Grollen, ein gewaltiges Vibrieren, in das wir wie eingetaucht waren, fast das Blut aus den Ohren. Ich erfuhr, daß das letzte geschoßförmige Automobil ›losgelassen‹ und anschließend durch eine fliegende Maschine in Form einer Trompete ersetzt worden war. Diese drehte sich um sich selber und schraubte sich, ein kleines Stück vom Boden abhebend, vor uns in die Luft, und ein heftiger Luftstrom saugte uns an ihren Trichter heran. Der seidene Faden des Geschwindigkeitsmessers zitterte mit unveränderter Gleichmäßigkeit, wobei er an der linken Backe
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Corporal Gilbeys eine lotrechte, blaue Spindelform hervortreten ließ, und ich las auf dem elfenbeinernen Zifferblatt die für diese Tageszeit vorgesehene Stundenkilometerzahl: 250 Der Zug hatte seine bisherige Position nicht verändert: immer noch die gleiche scheinbare Bewegungslosigkeit, mit allen Sinnen, sogar mit dem Tastsinn - dem meiner rechten Hand - wunderbar leicht nachprüfbar; doch das Wasserfallgeräusch war überlaut geworden, und nur einen Millimeter von der glutheißen Feuerungskammer der Lokomotive entfernt herrschte aufgrund der Geschwindigkeit eine eisige Kälte. Mister W. Elson war nirgends zu sehen. Ungehindert drang mein Blick von einem Fenster zum anderen durch seinen Waggon. Aber irgend etwas versperrte mir die freie Durchsicht, als ich rasch einen Blick in den Wagen Miss Elsons werfen wollte. Das erste Fenster des langen, mit Mahagoniholz getäfelten Abteils, das einzige, das in meinem Blickfeld lag, war zu meinem größten Erstaunen von außen mit einer dicken, scharlachroten Polsterung verbarrikadiert. Es sah aus, als hätten innerhalb dieser einen Nacht blutige Champignons die Fensterscheibe überwuchert...
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Es war inzwischen taghell, und ich konnte an dem, was ich sah, nicht zweifeln: Alles, was ich von dem Waggon erkennen konnte, verschwand unter roten Rosen, riesigen, weit geöffneten Rosen, die so frisch waren, als seien sie gerade erst gepflückt worden. Ihr Duft breitete sich in der ruhigen Luft hinter dem Windabweiser aus. Als das Mädchen das Wagenfenster herunterdrückte, riß es einen Teil des Blumen Vorhangs entzwei, doch die Blumen fielen nicht sofort zu Boden: Einige Sekunden lang flogen sie mit derselben Geschwindigkeit wie die Maschinen durch den Raum; die größte von ihnen wurde durch den jähen Fahrtwind ins Wageninnere geschleudert. Mir schien, als stieße Miss Elson einen lauten Schrei aus und griffe sich mit der Hand an die Brust, und während des ganzen eintönigen Rests dieses Tages bekam ich sie nicht mehr zu Gesicht. Die Rosen verloren durch das Rütteln des Zuges nach und nach ihre Blütenblätter, flogen einzeln oder zu dritt oder viert davon, und schließlich kam unversehrt wieder das lackierte Holz des Schlafwagens zum Vorschein und warf klarer als ein Spiegel Bob Rumbles unansehnliches Profil zurück. Am nächsten Tag war die blutrote Blütenpracht wieder nachgewachsen. Ich fragte mich, ob ich im
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Begriff sei, verrückt zu werden, und von da an wich Miss Elsons banges Gesicht nicht mehr von der Fensterscheibe. Doch ein noch schwerwiegenderer Vorfall nahm meine Aufmerksamkeit in Anspruch. An diesem Morgen des dritten Tages geschah etwas Furchtbares - furchtbar vor allem deshalb, weil es für uns zum Verlust des Rennens hätte führen können. Jewey Jacobs, der den Platz unmittelbar vor mir einnahm und dessen Knie nur ein Yard von meinen Knien entfernt waren, mit denen sie die beiden Aluminiumstangen verbanden; Jewey Jacobs, der vom Beginn des Rennens an so phantastisch kraftvoll in die Pedale trat, daß das durch unsere Marschtabelle vorgeschriebene Tempo sich zum falschen Zeitpunkt erhöht hatte und ich gezwungen gewesen war, mehrmals gegen ihn anzustrampeln; Jewey Jacobs schien plötzlich ein diebisches Vergnügen daran zu finden, selber die Knie steif zu machen, was dazu führte, daß mir meine eigenen Knie auf unliebsame Weise gegen das Kinn schlugen und ich meinen Beinen Schwerstarbeit abverlangen mußte. Weder Corporal Gilbey noch die hinter ihm sitzenden Sammy White und George Webb waren imstande, sich mit ihren Verschnürungen und Masken
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umzudrehen, um nachzusehen, was mit Jewey Jacobs los war; ich aber konnte mich ein wenig vorbeugen und sein rechtes Bein sehen: Mit den Zehen immer noch in dem ledernen toe-clip steckend, hob und senkte es sich zwar ganz isochron, doch der Knöchel schien starr und gefühllos zu sein, und ein ankle-play fand nicht mehr statt. Außerdem - aber vielleicht ist das ein zu fachspezifisches Detail - hatte ich nicht weiter auf einen eigentümlichen Geruch geachtet, von dem ich annahm, er ginge von seiner schwarzen Jerseyunterhose aus, worin er, wie wir vier anderen, auf Walkerde die eine wie die andere Notdurft verrichtete; plötzlich aber schoß mir ein Gedanke durch den Kopf, der mich schaudern ließ, ich sah mir nochmals den plumpen, steinharten Knöchel an, der ein Yard von meinem Bein entfernt und mit diesem gekoppelt war, und atmete den Leichengestank, von etwas unbegreiflich rasch Verwesendem ein. Ein halbes Yard rechts von mir fiel mir eine andere Veränderung in die Augen: Statt der Mitte des Tenders erblickte ich neben mir die zweite Tür des ersten Waggons. ›Wir haben Sand im Getriebe !‹ schrie in diesem Augenblick George Webb. ›Wir haben Sand im Getriebe !‹ wiederholten
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Sammy White und George Webb. Und da eine moralische Lähmung Arme und Beine stärker schwächt als körperliche Erschöpfung, tauchte neben meiner Schulter bereits die letzte Tür des zweiten Wagens auf, die letzte blumengeschmückte Tür des zweiten und letzten Wagens; die Stimme Arthur Goughs und die der Maschinisten intonierten laute Hurrarufe. Jewey Jacobs ist tot!‹ schrie ich kläglich, aber aus Leibeskräften. Der dritte und der zweite Mann des Teams brüllten es hinter ihren Masken bis zu Bill Gilbey weiter: Jewey Jacobs ist tot!‹ Der Klang ihrer Stimmen wirbelte mit dem saugenden Luftstrom bis tief in die Trichterwandung der trompetenförmigen Flugmaschine hinein, aus der es dreimal zurückschallte - denn sie war so riesig, daß sich in dem langen Trichter zwei Echos bildeten -, aus der es vom Himmel herab auf die sagenhafte Piste hinter uns zurückschallte wie eine Vorladung zum Jüngsten Gericht: Jewey Jacobs ist tot... tot... tot!‹ ›Ach, er ist tot? Ich pfeif drauf‹, rief Corporal Gilbey. »Achtung: WIR SCHLEPPEN JACOBS MIT!‹ Das war eine zermürbende Plackerei, wie ich sie
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nie wieder bei einem Rennen erleben möchte. Der Kerl bockte, blockierte uns, war Sand im Getriebe. Unwahrscheinlich, wie haargenau dieser Ausdruck, den man bei nicht reibungslos laufenden Maschinen gebraucht, auf den Leichnam zutraf! Und bei all dem fuhr er auch noch fort, vor meiner Nase in die Walkerde fallen zu lassen, was er fallen zu lassen hatte! Zehnmal waren wir in Versuchung, die Muttern abzuschrauben, welche die fünf Beinpaare, das des Toten eingeschlossen, aneinanderkoppelten. Aber dieser Tote hockte angeschnallt, festgezurrt, verplombt, versiegelt und amtlich beurkundet auf seinem Sattel, und außerdem wäre er nur - sagen wir's rundheraus - totes Gewicht gewesen, und wenn wir dieses schwere Rennen gewinnen wollten, konnten wir kein totes Gewicht gebrauchen. Corporal Gilbey war ein praktisch veranlagter Mann, so wie William Elson und Arthur Gough praktisch veranlagte Gentlemen waren, und so befahl uns Corporal Gilbey, was jene selber befohlen hätten. Jewey Jacobs war vertraglich verpflichtet, als vierter Mann bei dem großen, prestigeträchtigen Perpetual-Motion-Food-Rennen mitzufahren; er hatte sich kontraktlich zu einem Bußgeld von fünfundzwanzigtausend Dollar verpflichtet, zahlbar aus den Honoraren für seine künftigen Rennen. Als
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Toter würde er aber keine Rennen mehr fahren und folglich auch nicht seine Konventionalstrafe zahlen können. Er mußte also weiterstrampeln, tot oder lebendig. Auf einer Maschine schläft sich's gut, auf einer Maschine läßt sich's auch gut sterben - da ist nichts weiter dabei. Und schließlich nannte sich unser Rennen ja Perpetuum-mobile-Rennen! William Elson erklärte uns später, die Leichenstarre - die er, glaube ich, rigor mortis nannte habe überhaupt nichts zu bedeuten und unterliege schon der ersten Bemühung, mit ihr fertig zu werden. Was aber die sofort einsetzende Verwesung betrifft, so gestand er, daß er selber nicht wisse, worauf sie zurückzuführen sei... vielleicht, so meinte er, auf die außergewöhnlich hohe Sekretion von organischen Giftstoffen in den Muskeln. Da strampelte er also, unser guter Jewey Jacobs, zunächst noch widerwillig, ohne daß zu erkennen war, ob er, die Nase immer noch hinter seiner Maske, Grimassen schnitt oder nicht. Wir feuerten ihn mit freundschaftlich gemeinten Beschimpfungen an, wie sie schon unsere Großväter beim ersten Paris-Brest-Rennen Terront an den Kopf warfen: ›Los, fahr' zu, du Sch...kerl!‹ Nach und nach fand er Gefallen an der Sache, und bald folgten seine Beine dem Rhythmus der unseren, auch das ankle-
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play war wieder da, bis er schließlich sogar begann, wie ein Wilder draufloszutreten. ›Wie ein Schwungrads sagte der Corporal. ›Er zieht gleich. Und ich denke, bald wird er sich selbst übertreffen. ‹ Und tatsächlicher zog nicht nur gleich, sondern explodierte förmlich, und der Sprint des toten Jacobs war ein Sprint, von dem sich die Lebenden gar keinen Begriff machen können, so daß der letzte Waggon, der während dieses Nachhilfeunterrichts für Verblichene unseren Blicken entschwunden war, größer und größer wurde und wieder seinen angestammten Platz einnahm, den er eigentlich nie hätte verlassen dürfen: nämlich irgendwo hinter mir, so daß sich die Mitte des Tenders ein halbes Yard rechts von meiner rechten Schulter befand. Das Ganze ging natürlich nicht ab, ohne daß wir hinter unseren vier Masken hervor nun unsererseits ein donnerndes Hurragebrüll losließen: ›Hipp-hipp-hurra für Jewey Jacobs!‹ Und die fliegende Trompete echote weit zum hohen Himmel hinauf: ›Hipp-hipp-hurra für Jewey Jacobs !‹ In der Zeit, da wir den Toten zu leben lehrten, hatte ich die Lokomotive und ihre beiden Waggons aus den Augen verloren; als Jewey sich wieder
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allein zu helfen vermochte, sah ich, wie das hintere Ende des letzten Waggons größer wurde, als sei er es, der auf uns zu käme, um sich nach dem neuesten Stand der Dinge bei uns zu erkundigen. Vermutlich war es eine Halluzination, eine verzerrte Spiegelung unseres Fünfertandems auf dem mehr als spiegelblanken Mahagoniholz des großen Schlafwagens: Etwas, das wie ein buckliger Mensch aussah - bucklig oder mit einer gewaltigen Last auf dem Rücken -, radelte hinter dem Zug einher. Die Beine der Gestalt bewegten sich exakt mit der gleichen Geschwindigkeit wie unsere eigenen. Die Vision verschwand sofort wieder, denn schon überholten wir den Waggon, dessen Hinterkante sich vor jenes Bild schob. Es kam mir sehr komisch vor, wie bereits zuvor einmal das Gekläffe des blödsinnigen Bob Rumble zu hören, der in seinem Weidenkörbchen aufgeregt hin und her hüpfte wie ein Affe im Käfig und dazu schrie: ›Da radelt etwas, da ist etwas hinter uns her!‹ Die Schulung Jewey Jacobs' hatte uns einen ganzen Tag Zeit gekostet: Es war jetzt der Morgen des vierten Tages, drei Minuten, sieben zwei Fünftel Sekunden nach neun; und der Geschwindigkeitsmesser hatte den höchsten Punkt seiner Skala erreicht, den er nach den Plänen seines Konstruk-
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teurs auch nicht überschreiten würde: dreihundert Stundenkilometer. Die fliegende Maschine leistete uns gute Dienste, und wenn ich auch nicht weiß, ob wir das zuletzt angezeigte Tempo noch übertrafen, ich bin sicher, daß wir dank ihr nicht langsamer wurden, denn der Zeiger des Meßgeräts stand nach wie vor auf dem Extrempunkt der Skalenscheibe. Der Zug blieb stets unverändert auf gleicher Höhe mit uns, aber man hatte dort, als man sich mit Brennmaterial eindeckte, anscheinend nicht eine derartige Geschwindigkeit veranschlagt, denn die Passagiere - es gab keine anderen als Mister Elson und seine Tochter begaben sich, ihre Eßvorräte und Getränke mitschleppend, durch den Gang bis zum Lokführer vorn auf die Plattform der Lokomotive. Das hinreißend tatendurstig aussehende Mädchen hatte zudem ein Toilettenköfferchen bei sich. Alle - sie waren insgesamt zu fünft oder sechst - machten sich daran, die Waggons zu zerkleinern und alles, was irgendwie brennbar war, in das Feuerungsloch zu werfen. Die Geschwindigkeit nahm zu - um wieviel Kilometer, kann ich nicht beurteilen; jedenfalls wurde das Brummen der fliegenden Trompete um etliche Halbtöne heller, und ich hatte den Eindruck, als
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löste sich der Widerstand unter meinen Schuhsohlen völlig in nichts auf- wie widersinnig! -, je mehr ich mich ins Zeug legte. Sollte dieser erstaunliche Jewey Jacobs weitere Fortschritte gemacht haben? Ich sah unter meinen Füßen nicht mehr den eintönigen Asphalt der Rennpiste, sondern... weit weg... die Oberseite der Lokomotive! Der Kohlen- und ölqualm machte uns in unseren Masken zu Blinden. Die fliegende Maschine schien zu kriechen. ›Geierflug‹, erklärte uns zwischen zwei Hustenanfällen Corporal Gilbey bündig. ›Fallt mir ja nicht vom Rad!‹ Es ist bekannt - Arthur Gough könnte das besser erläutern als ich -, daß ein in rollender, ausreichend schneller Bewegung befindlicher Körper vom Boden abhebt und in der Luft schwebt, da die Bodenhaftung durch die Geschwindigkeit aufgehoben wird. Freilich läuft er Gefahr, wieder herunterzufallen, wenn er nicht mit geeignetem technischem Gerät ausgestattet ist, das ihn ohne festen Ansatzpunkt voranzutreiben vermag. Als unser Fünfsitzer wieder herunterfiel, erzitterte er wie eine Stimmgabel. ›All right‹, sagte plötzlich der Corporal, nachdem er, mit der Nase dicht über seinem Vorderrad, eine -88-
Zeitlang auf merkwürdige Weise herumhantiert hatte. Alles rollte wieder wie vorher. ›Hab' Vorderreifen zerstochen‹, erklärte Bill in beruhigendem Tonfall. Rechts war von den Waggons keine Spur mehr zu sehen: Riesige Holzhaufen und ein Berg von Benzinkanistern stapelten sich auf dem Tender; die ihrer Aufbauten beraubten Waggons waren abgehängt worden und fielen mehr und mehr zurück. Selbst wenn sie aufgrund der erreichten Eigengeschwindigkeit noch eine Weile mitgerollt wären, hätten sie durch die Erschütterungen auf jeden Fall Fahrt verloren. Im Moment war es noch möglich, das Sich-drehen ihrer Räder zu verfolgen. Die Lokomotive befand sich nach wie vor auf der gleichen Höhe. ›Nochmals Geierflugs sagte Bill Gilbey. ›Gefahr, von Rad zu fallen, beseitigt. Hinterreifen zerstochen. All right.‹ Sprachlos hob ich den Kopf von meiner horizontalen Maske hoch und schaute in die Luft: Die fliegende Maschine war verschwunden; sicher fiel sie, zusammen mit den abgekoppelten Waggons dahinten, immer weiter hinter uns zurück. Dennoch war alles in Ordnung, wie der Corporal sagte; der Geschwindigkeitsmesser neben seiner Backe zeigte vibrierend immer noch ein gleich-
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mäßig beschleunigtes Tempo an, das schon lange über dreihundert Stundenkilometern lag. Am Horizont ragte die Wendemarke auf. Das war ein hoher, ungedeckter Turm in Form eines Kegelstumpfes, der an seiner Basis einen Durchmesser von zweihundert Metern hatte und hundert Meter hoch war. Massive Strebepfeiler aus Stein und Eisen stützten ihn ab. Die Rennpiste und der Schienenstrang schössen durch eine Art Tor in das Bauwerk hinein; und in seinem Inneren sausten wir, ganz schräg auf der Seite liegend, aber vom Schwung unseres Tempos hochgehalten, den Bruchteil einer Minute lang rings über die Wände, die nicht bloß senkrecht waren, sondern nach innen überhingen wie die Wände in einer Dachkammer. Wir kamen uns wie Fliegen vor, die über eine Zimmerdecke krabbeln. Die Lokomotive hing waagrecht über uns wie das Brett eines Bücherregals. Lautes Brummen erfüllte den Kegelstumpf. Und jenen Bruchteil einer Minute lang hörten wir alle inmitten dieses Turmes, der einsam und verlassen in der von der Transsibirischen Eisenbahn durchschnittenen Steppe stand, deren unwirtliches, menschenleeres Innere wir soeben durchquert hatten, eine laute, vom Echo vervielfachte Stimme, die
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direkt hinter der Lokomotive hereingekommen zu sein schien. Diese Stimme schimpfte, fluchte und lästerte. Ich verstand deutlich folgenden skurrilen, in gutem Englisch herausgebrüllten Satz - englisch sicher, damit er uns ja nicht entginge: ›Saukopf, du schneidest mir in die Schultern!‹ Dann ein dumpfer Knall. Schon waren wir im Begriff, die Wendemarke wieder zu verlassen, da schaukelte auf einmal quer zu jener torartigen Öffnung, die wir wenige Sekunden zuvor noch ungehindert durchfahren hatten, ein dickes Faß von einem Volumen, das die Engländer als hogshead bezeichnen - und das heißt tatsächlich › Saukopf‹; es faßt vierundfünfzig Gallonen -, ein Faß, das an der Stelle des Spundlochs eine breite, rechteckige Öffnung hatte und zur Mitte hin mit zwei Riemen, ähnlich den Traggurten eines Tornisters, versehen war, so als hätte man es auf dem Rücken herbeigeschleppt - dieses Faß also schaukelte dort hin und her wie alle gerundeten Gegenstände, die abrupt auf den Boden gestellt werden wie eine Kinderwiege zum Beispiel. Der Schienenräumer der Lokomotive kickte es fort wie einen Fußball: Es besprenkelte die Schienen und unsere Piste mit etwas Wasser und einer
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Anzahl von Rosensträußen, von denen einige, die mit ihren Dornen an den bereits geplatzten Reifen unserer Räder hängenblieben, noch eine Zeitlang im Kreis herumgewirbelt wurden. Die Nacht des vierten Tages brach herein. Obwohl wir vier Tage gebraucht hatten, um die Wendemarke zu erreichen, mußten wir, wenn unser derzeitiges Tempo sich durchhalten ließ, in weniger als vierundzwanzig Stunden am Ziel der Zehntausend Meilen sein. Da es, wie gesagt, dunkel wurde, warf ich einen letzten Blick auf die Meßskala, die ich bis zum Morgengrauen nicht mehr würde konsultieren können; und als ich so auf sie schaute, flammte der an seinem Extrempunkt vor der blockierten Verengung des Räderwerks sich drehende und vibrierende Seidenfaden noch einmal als große, blaue Spindel auf, bevor alles in Dunkelheit versank. Da plötzlich ging wie ein Meteoritenregen ein Hagel von zugleich harten und weichen, spitzen und flaumigen, blutenden, kreischenden und unheimlichen Gegenständen auf uns nieder, die wir durch unsere Geschwindigkeit einfingen wie Fliegen; der Fünfsitzer brach heftig zur Seite aus und stieß gegen die scheinbar immer noch bewegungslos neben uns stehende Lokomotive, an der er über einige
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Meter hinweg hängenblieb, ohne daß unsere automatisch strampelnden Beine ihre Tätigkeit unterbrachen. ›Ist nichts‹, sagte der Corporal. ›Nur Vögel.‹ Wir fuhren nicht mehr im Windschatten der Schrittmachermaschinen, und es wunderte mich, daß uns diese Unannehmlichkeit nicht schon eher, gleich nach der Abkoppelung des fliegenden Trichters, widerfahren war. In diesem Augenblick kroch der Knirps Bob Rumble, ohne erst einen Befehl des Corporals abzuwarten, über die Deichsel seines Anhängers auf mich zu, um mit seinem ganzen Gewicht auf das Hinterrad zu drücken und dessen Bodenhaftung zu verstärken. Dieses Manöver verriet mir, daß unsere Geschwindigkeit weiter zunahm. Als ich Bobs Zähne klappern hörte, begriff ich, daß er sich nur an uns herangearbeitet hatte, um dem, was er ›Da ist etwas hinter uns her‹ nannte, zu entfliehen. Er zündete, schräg links hinter meinem Rücken, eine Karbidlampe an, die vor uns, schräg rechts (die Lokomotive befand sich ja jetzt zu unserer Linken), den bizarren, fünfteiligen Schatten des Teams auf die weiße Piste projizierte. In diesem lustigen Lichtschein hörte der Zwerg
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mit seinem Gejammer auf. Und wir ließen uns VON UNSEREN SCHATTEN vorwärtsziehen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie schnell wir jetzt fuhren. Ich versuchte, einige Bruchstücke von den blödsinnigen kleinen Liedern mitzubekommen, die Sammy White vor sich hin summte, um einen Takt zu haben, nach dem er in die Pedale treten konnte. Kurz bevor der Faden des Geschwindigkeitsmessers aufflammte, brabbelte er den wie prasselnder Hagel klingenden Refrain zu seinem Endspurt, den man bei seinen Rekordrennen über die ganze oder die halbe englische Meile auf den Serpentinenpisten von Massachussets so oft gehört hat: ›Poor papa paid Peter's potatoes!‹ Alles weitere hätte er sich selber ausdenken müssen, doch seine Beine bewegten sich zu schnell für sein Gehirn. Das Denken, zumindest dasjenige Sammy Whites, ist nicht so schnell, wie man sagt, und ich kann mir nicht vorstellen, daß es auf einer x-beliebigen Rennstrecke eine ›Vorführung‹ veranstaltet. Es gibt wirklich nur einen Rekord, den weder Sammy White als Weltmeister noch ich noch unsere Fünferequipe als ganze so bald brechen werden:
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den Rekord des Lichts; und doch habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er gebrochen wurde: Als Bob Rumbles Windlicht hinter uns anging und unser Schatten von hinten nach vorn lang auf die Piste fiel, ein Schatten, der aus unseren fünfzig Meter vor uns so blitzschnell vereinigten und miteinander verschmolzenen fünf Einzelschatten bestand, daß man wirklich hätte meinen können, es handele sich um einen einzigen von hinten gesehenen Rennfahrer, der vor uns herfuhr - die Simultaneität unserer Pedaltritte vollendete diese Illusion, von der ich inzwischen weiß, daß es keine Illusion war -, als unser Schatten also nach vorn projiziert wurde, da hatten wir alle das überdeutliche Gefühl, ein lautloser, unwiderstehlicher Gegner, der uns seit Tagen belauerte, sei soeben rechts von uns und zur gleichen Zeit wie unser Schatten, in diesem verborgen und mit ihm den Fünfzig-MeterVorsprung gewinnend, losgespurtet; da erfüllte uns ein so wilder Wetteifer, daß unsere Tretkurbeln anfingen, sich genauso temperamentvoll um sich selber zu drehen, wie ein tollwütiger Hund sich, nach seinem Schwänze schnappend, im Kreise drehen würde, wenn er in nichts Besseres zu beißen hätte. Indessen hielt sich die ihre Waggons verfeuernde Lokomotive immer noch auf der gleichen Höhe und
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bot ein Bild größter Ruhe direkt neben einem Geysir. .. Es schien, als befördere sie kein anderes lebendes Wesen als Miss Elson, die mit brennender, kaum erklärlicher Neugierde die - zugegeben ziemlich grotesken - Verrenkungen unseres entfernten Schattens verfolgte. William Elson, Arthur Gough und die Mechaniker rührten sich nicht. Wir anderen, in einer Reihe unter dem fahlen Lichtschein unseres Windlichts hockend und so tief in unsere Masken geduckt, daß der durch unsere Geschwindigkeit sich bildende orkanartige Fahrtwind uns kaum berührte, ich glaube, wir erlebten, jedenfalls meinen persönlichen Gefühlen nach, noch einmal die Kindheitsabende unter der Lampe, wenn wir über die Schulaufgaben gebeugt am Tisch saßen. Und es hatte den Anschein, als erlebten wir eine der Visionen nach, die ich an jenen Abenden hatte: Ein großer Totenkopffalter, der durchs Fenster hereingeflogen kam, kümmerte sich seltsamerweise überhaupt nicht um die Lampe, sondern strebte kriegslustig auf seinen eigenen, von der Flamme auf die Zimmerdecke geworfenen Schatten zu und stieß mit sämtlichen Stoßwerkzeugen seines haarigen Körpers immer wieder auf ihn ein: tock, tock, tock... Bei diesen Gedanken oder diesem Träumen merk-
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te ich nicht, daß das Windlicht unter der Einwirkung des Fahrtwindes erloschen war, und dennoch: fünfzig Meter voraus, gut sichtbar, da die Piste sehr weiß und die Nacht ziemlich hell war, immer noch derselbe farblose Umriß, der für uns ›das Tempo machte ‹! Vom Licht der Lokomotive konnte er nicht herrühren: Sogar das Petroleum für die beiden Vorderleuchten war schon lange dazu verwendet worden, den finsteren Dampfkessel zum Glühen zu bringen. Aber Gespenster gibt es doch nicht... Was war das also für ein Schatten! Corporal Gilbey hatte das Erlöschen unserer Karbidlampe nicht bemerkt, sonst hätte er Bob Rumble tüchtig die Leviten gelesen: Launig und praktisch wie immer stachelte er uns mit seinen Witzeleien an: ›Los Kinder, holt mir das Ding da ein! Das wird nicht lange durchhalten! Wir kommen ihm schon näher. Dem fehlt öl, das ist kein Schatten, das ist ein Bratenwender !‹ Inmitten der tiefen Nachtstille sputeten wir uns noch mehr. Auf einmal... hörte ich... glaubte ich, etwas wie Vogelgepiepse zu hören, das aber eigenartig metallisch klang.
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Ich hatte mich nicht getäuscht: Da war wirklich ein Geräusch, irgendwo vorn, ein schepperndes Geräusch wie von rostigem Eisen... Da ich meiner Sache sicher war, wollte ich losschreien, den Corporal verständigen, aber ich war zu entsetzt über meine Entdeckung. Der Schatten knarrte wie eine alte Wetterfahne! Es bestand kein Zweifel mehr an dem einzigen wirklich ein bißchen außergewöhnlichen Ereignis des Rennens: am Auftauchen des RADLERTÖLPELS. Und dennoch werde ich nie im Leben glauben, daß ein Mensch oder ein Teufel uns während der Zehntausend Meilen gefolgt ist... und überholt hat! Wenn ich schon an das Aussehen dieser Figur denke! Folgendes muß passiert sein: Der Radlertölpel, der sich natürlich hatte einholen lassen und links, fast vor der Lokomotive, fuhr, der in dem Augenblick, als der Schatten verschwand, urplötzlich auftauchte und eine Sekunde lang mit ihm verschmolz, kreuzte mit hanebüchener Ungeschicklichkeit, aber einem wie durch die Vorsehung bestimmten Glück für ihn selber und für uns unmittelbar vor dem Fünfsitzer die Piste. Dabei stieß er mit seinem apokalyptischen Gefährt gegen die erste Schiene...
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Er fuhr derartige Zickzacklinien, daß man wahrhaftig hätte meinen können, er praktiziere das Radfahren allenfalls seit drei Stunden und kaum eine Minute länger. Er rollte also im rechten Winkel und unter der Gefahr, sich sämtliche Knochen zu brechen, über die erste Schiene hinweg und schaute so verzweifelt drein wie jemand, der genau weiß, daß er es nie zustande bringen wird, auch die zweite zu überqueren; ganz in Anspruch genommen durch das Manövrieren seiner Lenkstange, die Augen starr auf seinen Vorderreifen gerichtet, machte er nicht den Eindruck, als merke er, daß er alle seine blödsinnigen kleinen Hampeleien vor einem mit mehr als dreihundert Stundenkilometern auf ihn losrasenden Fernschnellzug trieb. Plötzlich aber schien ihm irgendein höchst kluger und ingeniöser Einfall durch den Kopf zu zucken: Er bog holterdiepolter nach links ab und fuhr, vor der Lokomotive flüchtend, schnurstracks auf den Schotter. Genau in diesem Augenblick erreichte das Vorderende der Lok sein Hinterrad. In der Sekunde, die seiner Zermalmung vorausging, prägte sich seine ganze ulkige Silhouette, bis hin zu Einzelheiten wie den Speichen seines Rades, mit photographischer Genauigkeit in meine Netzhaut ein. Dann machte ich die Augen zu, weil ich
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keine Lust hatte, die zehntausend Einzelteile zu zählen, in die er zerfetzt werden würde. Er trug einen Kneifer und war nicht eigentlich bärtig; nur die schüttere, sich kräuselnde Andeutung eines Bartes verunzierte wie Schmutz sein Gesicht. Bekleidet war er mit einem Gehrock und einem Zylinder, der grau von Staub war. Sein rechtes Hosenbein war auf eine Weise hochgekrempelt, als hätte er die Absicht verfolgt, damit leichter in seiner Kette hängenzubleiben; das linke war mit Hilfe einer Hummerschere straff um den Unterschenkel gedrückt. Die in Hartgummipedale tretenden Füße steckten in Gummizugstiefeletten. Seine Maschine war ein Gesundheitsrad mit Vollgummireifen, wie man es nirgends mehr finden würde, nicht einmal gegen Gold aufgewogen - und es war alles andere als leicht! -, vorn und hinten mit je einem eisernen Schutzblech versehen. Ein großer Teil der Speichen - direkte Speichen - war geschickt durch Regenschirmstäbe ersetzt worden, deren Gabelungen, die man nicht entfernt hatte, mit den sich drehenden Rädern in Form einer 8 herumschlenkerten. Überrascht, eine gute halbe Minute nach der vermeintlich unvermeidlichen Katastrophe das regelmäßige Surren eben jener Räder sowie das Quiet-
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sehen der ausgeleierten Kugellager zu hören, schlug ich die Augen wieder auf und wollte ihnen nicht trauen, ja, konnte nicht einmal glauben, daß sie überhaupt offen waren: Links von uns radelte der Radlertölpel nach wie vor gemütlich über den Schotter! Die Lokomotive fuhr haarscharf hinter ihm, doch das schien ihn nicht im mindesten zu stören. Hier nun die Erklärung für das Wunder: Der elende Primitivling wußte wohl nicht, daß der Fernschnellzug von hinten auf ihn zugerast kam, sonst hätte er schwerlich eine so gediegene Kaltblütigkeit an den Tag gelegt. Die Lok war sanft auf das Fahrrad aufgefahren und schob es jetzt am Schutzblech des Hinterrades vor sich her! Was die Radkette angeht - denn selbstverständlich wäre das lächerliche, verrückte Individuum nicht imstande gewesen, seine Beine mit einem derartigen Tempo zu bewegen -, die Kette war bei dem Aufprall glatt gerissen, und der Radlertölpel strampelte jubilierend in der leeren Luft herum - unnötigerweise übrigens, weil der Wegfall jedweder Transmission ihm zu einem prächtigen ›Freilauf‹ (und das sozusagen als Dauerlauf) verhalf - und beglückwünschte sich zu seiner Leistung, die er zweifellos seinen natürlichen Fähigkeiten zuschrieb. Ein apotheoseartiges Licht stieg über den Hori-
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zont empor, und seine Aureole umhüllte als ersten den Radlertölpel. Es war die Festbeleuchtung am Ziel der Zehntausend Meilen! Mir war, als ginge ein Alptraum zu Ende. ›Los, reißt euch noch einmal zusammen! ‹ rief der Corporal. ›Zu fünft können wir den Kameraden noch »packen« !‹ Diese klare Stimme machte mir begreiflich - so wie jemandem, der seekrank in einer nach dem Prinzip der kardanischen Aufhängung montierten Koje liegt, ein fester Bezugspunkt die Schwankungen des Schiffes nur um so deutlicher vor Augen führt -, diese Stimme des Corporals machte mir klar, daß ich betrunken, sterbenselend betrunken vor Müdigkeit oder vom Alkohol des Perpetual Motion Food war - Jewey Jacobs war tatsächlich daran gestorben! -, und zugleich machte sie mich wieder nüchtern. Aber ich hatte nicht geträumt: Ein sonderbarer Rennfahrer radelte da vor der Lokomotive einher; doch er saß gar nicht auf einem Gesundheitsrad mit Vollgummireifen, er trug gar keine Gummizugstiefeletten, sein Gefährt quietschte gar nicht, höchstens in meinen Ohren, in denen es rauschte! Ihm war gar nicht die Kette gerissen, denn er fuhr eine kettenlose Maschine! Die Enden eines losen,
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schwarzen Gurts flatterten hinter ihm drein und umspielten die Spitze der Lokomotive! Das hatte ich für ein Schutzblech und die Schöße eines Gehrocks gehalten! Seine kurze Hose war durch das Anschwellen seiner Streckmuskeln an den Oberschenkeln aufgeplatzt! Sein Rad war ein Rennmodell, wie ich noch nie eines gesehen habe, mit mikroskopisch schmalen Reifen und einer Übersetzung, die der unseres Fünfsitzers überlegen war; es fuhr sich spielend leicht und tatsächlich so, als strampelte sein Fahrer in der leeren Luft herum. Der Mann lag vor uns: Ich sah seinen Nacken mit den flatternden langen Haaren; der Fahrtwind hatte die Schnur seines Kneifers - oder eine Locke seines schwarzen Haars - nach hinten über seine Schultern geweht. Seine Wadenmuskeln zuckten wie zwei Alabasterherzen. Auf der Plattform der Lokomotive regte sich etwas, als würden dort gleich große Dinge geschehen. Arthur Gough schob Miss Elson, die sich vorbeugte, um sich - anscheinend sehr liebevoll - den unbekannten Rennfahrer anzusehen, sanft zurück. Der Ingenieur schien hart mit Mister Elson zu verhandeln, um irgendein sehr weitgehendes Zugeständnis von ihm zu erwirken. Die flehende Stimme des alten Herrn drang an mein Ohr:
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›Sie werden den doch nicht etwa der Lokomotive zu saufen geben! Das bekäme ihr schlecht! Sie ist schließlich kein Mensch! Machen Sie doch das arme Tier nicht kaputt !‹ Und nach einigen hastig gesprochenen Sätzen, die ich nicht verstehen konnte, hörte ich ihn sagen: ›Dann lassen Sie mich selber das Opfer vollziehen! Ich werde mich erst im letzten Augenblick von ihm trennen! ‹ Mit äußerster Behutsamkeit hob der weißbärtige Chemiker mit beiden Händen eine Phiole empor, die, wie ich später erfahren habe, einen phantastischen Rum enthielt, der dem Alter nach sein Großvater hätte sein können und den er sich aufgehoben hatte, um ihn einmal ganz allein zu trinken; diesen allerletzten Brennstoff goß er nun in das Feuerungsloch der Lokomotive... Der Trank war wohl zu phantastisch: Die Maschine machte pschhchchhh... und blieb stehen. So kam es, daß der Perpetual-Motion-Food-Fün£sitzer das Zehntausend-Meilen-Rennen gewann; doch weder Corporal Gilbey noch Sammy White noch George Webb noch Bob Rumble noch, wie ich meine, Jewey Jacobs in der anderen Welt noch ich selber, Ted Oxborrow, der ich für uns alle meinen Namen unter diesen Bericht setze, werden je dar-
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über hinwegkommen, daß wir bei unserer Ankunft am Zielpfosten - wo niemand uns erwartete, weil niemand mit einem so zeitigen Einlauf gerechnet hatte - eben diesen Pfosten mit roten Rosen bekränzt fanden, denselben penetranten roten Rosen, die wie Meßstäbe den gesamten Verlauf des Rennens markiert hatten... Kein Mensch konnte uns sagen, was aus dem unglaublichen Rennfahrer geworden war.«
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VI DAS ALIBI
Noch am Morgen seiner Rückkehr nach Lurance ließ Marcueil etliche Rohrpostbriefe auf ein Pariser Postamt bringen: An Doktor Bathybius schrieb er: »Mein lieber Doktor, Seien Sie mir wegen meiner ›Paradoxa‹ nicht länger böse: Der Inder bzw. Indianer ist gefunden. Kein Gelehrter ist würdiger als Sie, sein Theophrast zu sein und sich auf jenem Möbel niederzulassen, das Sie neulich als ›Lehrstuhl auf dem Gebiet des Unmöglichen‹ bezeichneten. Also kommen Sie heute abend. A. M. « Dem Siebengestirn der an der Liebesbörse zu den höchsten Tageskursen gehandelten großen »Gunstgewerblerinnen« ließ er die Anschrift von Schloß Lurance und die Uhrzeit des Empfanges zukommen, beides mit Hilfe einer Silbermünze in schwarzen Strichen schräg über eine Banknote gekritzelt obgleich es doch verboten ist, in Rohrpostkuverts Bargeld befördern zu lassen.
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An die engsten Freunde, aber »nur für Männer«, wie es auf den Anschlägen der Jahrmarktskabinette heißt, lediglich an die unverheirateten oder verwitweten Freunde schickte er eine kurze, auf Visitenkarten gedruckte Einladung. William Elson wurde nicht benachrichtigt, denn seine Tochter ging zwar ohne ihn aus, er aber selten ohne seine Tochter. Außerdem war zu vermuten, daß er sich zur fraglichen Zeit noch von den Strapazen der Reise erholte. Die Kurtisanen trafen als erste ein. Danach kam der General. Dann Bathybius. »Was soll dieser Ulk?« waren die ersten Worte des Doktors. Ohne sich um sein zweifelndes, ungehaltenes Kopfschütteln zu kümmern, erklärte ihm Marcueil, was er von ihm erwartete. Es handele sich lediglich darum - »Lediglich!« stöhnte Bathybius -, den Versuch zu überwachen, den im großen Saal von Lurance ein »Indianer« unternehmen werde, zwischen Mitternacht und Mitternacht den »von Theophrast so gepriesenen« Rekord zu brechen. Für den großen Saal, in dem zu diesem Anlaß eine Bettcouch aufgestellt worden war, hatte man sich nicht wegen seiner Ausmaße entschieden, sondern weil ein an-
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grenzendes kleines Zimmer, das von dort durch ein Rundfensterchen Tageslicht erhielt, es gestattete, das Geschehen nebenan zu beobachten. In diesem als Ankleidezimmer hergerichteten Kämmerchen würde Bathybius überdies alle physiologischen Tatbestandsaufnahmen vornehmen können, die er für notwendig erachtete, um die Authentizität des Experiments zu ermitteln. Bathybius war unschlüssig. »Wo ist der Indianer?« fragte er schließlich. Die Frauen seien bereits da, sagte Marcueil, aber der Indianer erscheine erst zum Souper. Übrigens werde man schon zeitig, nämlich um elf Uhr, soupieren. Nach kurzem Zaudern willigte der Doktor ein, sich zu der sonderbaren Rolle herzugeben, die Marcueil ihn zu spielen bat. Im Grunde ging es ja nur darum, sich vierundzwanzig Stunden lang der angenehmen Gastlichkeit von Lurance zu erfreuen; und was den fragwürdigen »Rekord« und den nicht minder problematischen »Indianer« anging, so war er in seinem Guckkämmerchen bestens plaziert, um den Mißerfolg aus nächster Nähe mitzuerleben und über ihn zu lachen... bestens plaziert auch, um vierundzwanzig Stunden lang ohne viele Hüllen die sieben schönsten Pariser Mädchen in allerlei interes-
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santen Körperhaltungen auf sich wirken zu lassen. Schließlich war er ein schon recht betagter Herr. Die Ankunft des Generals verlief wie gewöhnlich rauh, aber herzlich. »Wie geht's Ihnen, junger Freund, und was treiben Sie zur Zeit? Immer noch Pissoirbecken demolieren?« Marcueil verstand nicht sofort, aber dann erinnerte er sich. »Was für Pissoirbecken? Das kann man doch nicht einen Apparat demolieren nennen, wenn man feststellt, daß er nicht stabil genug ist, um dem Gebrauch standzuhalten, für den er bestimmt ist, mein Lieber!« »Nun ja!« sagte der General, den Bathybius mit ein paar Worten über die Attraktion des Abends unterrichtete. »Dann wollen wir hoffen, daß wenigstens die jungen Damen stabil genug sind.« »Es sind sieben Stück«, sagte Marcueil. Woraufhin der General eiligst Richtung Salon entschwand. Es war zehn Uhr, und André Marcueil suchte nach einem Vorwand, sich davonzustehlen, um dem Indianer Platz zu machen. Der Zufall - vielleicht auch eine dem Zufall zuvor geleistete Hilfestellung - verschaffte ihn ihm.
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»Da ist jemand«, sagte ein Kammerdiener, »der Monsieur zu sprechen wünscht. « Dieser unverzüglich ins Arbeitszimmer geführte Jemand war ein Gendarm. Keineswegs einer von diesen entsetzlichen schnauzbärtigen Bütteln, gegen die Kasperle unsere Kindheit stählt, sondern ein bartloser Polizist in bescheidener Ausgehuniform, in so bescheidener Ausgehuniform, daß man ihn kaum für einen Briefträger halten mochte, ein Gendarm, der statt des legendären Dreispitzes eine schlichte Schirmmütze zwischen den Fingern kreisen ließ. Der biedere Bursche schien in einer heiklen Mission gekommen zu sein, denn er war sehr verlegen. »Sprechen Sie nur, mein Freund«, redete Marcueil ihm begütigend zu. Und um ihn diese Güte deutlicher spüren zu lassen, läutete er, damit man ihm etwas zu trinken bringe. Der Gendarm probierte von dem Rum, den man ihm vorsetzte, und pries ihn mit derselben Unterwürfigkeit, als rühme er den edlen Spender selbst. Offensichtlich wünschte er, Marcueils Wohlwollen zu gewinnen. »Dienst ist Dienst...«, begann er. »Wir haben nicht absichtlich, versteht sich! - auf dem Territorium von Lurance ein kleines Mädchen gefunden,
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das geschändet worden und schon vor sechs Tagen gestorben ist - auf eine recht ungewöhnliche Weise gestorben: Man hat es nicht zuerst geschändet und dann ermordet, wie es sonst üblich ist, sondern... wie soll ich sagen?... zu Tode geschändet.« Er sprach etwas stockend, aber ziemlich fehlerfrei und ohne allzu viele Umstandswörter. »Vor sechs Tagen?« fragte Marcueil. »Die Justiz arbeitet langsam... Sechs Tage... Genau am Tag meiner Abreise, denn ich habe eine kleine Reise gemacht... mit Freunden... per Eisenbahn. Das heißt, sie reisten per Eisenbahn... Was für ein seltsamer Ausflug: Ein merkwürdiger Zufall will es, daß es genau auf unserer Route noch weitere Vergewaltigungen gegeben hat und auch, wie's der Himmel fügt, einen bewaffneten Raubüberfall sowie zwei Morde - man weiß nicht wieso und weshalb. Aber Sie sprachen von einer Schändung auf dem Territorium von Lurance?« Er legte die Stirn in Falten und läutete erneut. »Schicken Sie mir den Aufseher Mathieu herein.« Kaum war der Privatwächter zur Stelle, da fuhr der Gendarm, jenem das Wort abschneidend, fort: »Verzeihung, Monsieur. Es gab da in der Tat Selbstschüsse, die sich gelöst haben; es war sogar der Friedensrichter, der den kleinen Leichnam ent-
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deckt hat, als er wegen eines Lokaltermins unterwegs war... Und auf einmal: bum, bum... zwei Schüsse, die ganz von allein losgingen und von denen einer ihn schwer am Bein verletzt hat, den armen Mann!« »Mathieu, ich habe mich geirrt«, sagte Marcueil. »Weder Ihre noch die Wachsamkeit Ihrer Kameraden gibt zu Tadeln Anlaß. Sie werden eine Sonderprämie erhalten... Sie dürfen sich zurückziehen. « »Sie sehen, Gendarm«, fügte er hinzu, »ich lasse meine Ländereien gut genug bewachen, um mich mit Fug und Recht wundern zu dürfen, daß man auf ihnen ein Verbrechen entdecken konnte. Womit befaßt sich denn eigentlich die französische Gendarmerie?« »Entschuldigen Sie, Monsieur«, stotterte der Gendarm, »unser Revier umfaßt acht Gemeinden, und wir sind nur zu fünft. « »Ich mache Ihnen ja auch keine Vorwürfe, mein Freund«, erwiderte Marcueil gönnerhaft und schenkte ihm großzügig ein Glas Rum nach. »Der Dienst ist sehr schwer«, fuhr der Gendarm fort. »Ach, wenn ich das vorher gewußt hätte! Ehe ich die Uniform anzog, war ich Privataufseher wie Ihr Monsieur Mathieu, irgendwo in der Nähe der Celle-Saint-Cloud. Und Wild gab es in der Gegend!
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Sollten Sie einmal Lust haben, dort im Moor einen Reiher zu schießen... « »Dazu hätte ich höchstens in der Schonzeit die Muße«, sagte Marcueil, »und ich habe nie daran gedacht, mir einen Jagdschein zu besorgen. « Der Gendarm trank, schnalzte mit der Zunge und zwinkerte Marcueil zu. »Über Jagdzeiten und Jagdscheine entscheiden wir!« rief er lachend und schlug sich aufsein Lederzeug. »Entschuldigen Sie nochmals, daß ich gekommen bin, Sie wegen dieser kleinen Rotznase zu ver... befragen. Sie verstehen: Dienstobliegenheiten!« »Das verstehe ich sogar so gut«, sagte Marcueil, »daß ich diesen Obliegenheiten zu Ehren eine spezielle Treppe habe einbauen lassen. « Und er hieß den Ordnungshüter, der große, runde Augen machte, sich erheben und beleuchtete mit dem auf seinem Schreibtisch stehenden Kerzenleuchter in Revolverform die in schönen, goldenen Lettern über einer Tür prangende Aufschrift DIENSTBOTENAUFGANG. Verwirrt sah der Gendarm sich um, wo er, bevor er hinabstieg, seine Stiefel abtreten könnte. »Bedanken Sie sich nicht«, sagte Marcueil.
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»Nicht Sie ehre ich, sondern Ihre Uniform. Wenn Sie mir wieder einmal das Vergnügen Ihres Besuches angedeihen lassen, irren Sie sich nicht in der Tür: Über der, die unten im Hof zu dieser Treppe führt, steht die nämliche Aufschrift, die Sie hier lesen. Aber gehen Sie nicht einfach so fort: Nach dem, was Sie mir vorhin mitgeteilt haben, sind Straßen und Wege nicht allzu sicher. Man wird Sie im Wagen zu Ihrer Gendarmerie zurückbringen.« Und Marcueil kehrte in den Salon zurück. Er kehrte gerade zum richtigen Zeitpunkt zurück, um den sieben Mädchen die Stirn zu bieten, die, vom General über die seltsame Mitarbeit, um welche man sie ersuchte, in Kenntnis gesetzt, sehr ärgerlich geworden waren und nun mit ihrem Abgang drohten. Die unterkühlte Korrektheit Marcueils brachte ihr Gezeter augenblicklich zum Verstummen, und eine weitere Handvoll blauer Banknoten zauberte wieder ihren Liebreiz und ihr Lächeln hervor. In knappen Worten gab Marcueil bekannt, eine dringende Angelegenheit zwinge ihn, seine Gäste für etliche Stunden, zumindest aber für die Dauer des Soupers, allein zu lassen, doch das sei ja nicht weiter schlimm, und sie sollten sich nur wie zu Hause fühlen.
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Der General verlangte ausführlichere Erklärungen, doch Marcueils Schritte verloren sich bereits im Vestibül. Bathybius, argwöhnisch, ohne zu wissen weshalb, schlich sich hinaus auf die Freitreppe. Dort war Marcueil nicht mehr, aber der Doktor sah, wie der Wagen abfuhr, und hörte auch, wie er davonrollte; freilich entdeckte er nicht, daß sich in ihm, stolz und allein, der Gendarm herumfläzte. Zehn Minuten danach schlug es elf Uhr. Der Butler öffnete die Türen des Saals, in dem soupiert werden sollte. Der Indianer war noch nicht aufgetaucht. Die sieben Mädchen schritten am Arm der Herren voran. Vorhanden waren eine Rothaarige, schlank und rank, mit kupferfarbenem Haar, vier Brünette mit blassem oder goldfarbenem Teint sowie zwei Blondinen, die eine klein mit kunstvoll geknüpften, aschfarbenen Zöpfen, die andere üppig mit Grübchen überall und einem Teint wie Email. Sie hörten auf die züchtigen Vornamen - die womöglich gar nicht ihre eigenen waren; jedenfalls hörten sie stets auf sie - auf die Vornamen Adèle, Blanche, Eupure, Herminie, Irène, Modeste und Virginie, an die sich jeweils Familiennamen anschlössen, die allzu ausgefallen und bomba-
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stisch waren, als daß es nötig wäre, sie hier zu erwähnen. Drei von den Damen waren in hochgeschlossenen Kleidern erschienen, den hermetischsten, die man sich denken kann, die aber durch das Lösen eines einzigen Häkchens augenblicklich von ihnen abfielen, und dann standen sie splitternackt da; vier trugen, sich an die gerade aktuelle Mode haltend, einen Droschkenpelz, und als man sie im Vestibül aus dieser Hülle herausgeschält hatte, prangten sie in einer Spitzenunterwäsche, mit der sie mehr bestickt als bekleidet waren: eine durchscheinende Umhüllung, die Herminie mit einem Zungenschlag, der dazu angetan war, die alten Herren in Wallung zu bringen, als ihren Unterzieher bezeichnete. Plötzlich huschten rasche Schritte, schleppend und leichtfüßig zugleich, draußen über den Korridor. »Da kommt Marcueil«, sagte Bathybius. »Er wird etwas vergessen oder sich das Wegfahren aus dem Kopf geschlagen haben. « »Er kommt genau zur rechten Zeit zurück«, sagte der General. »Die ›Attacke‹ hat eben erst begonnen. « Die Tür flog auf, und vor ihnen stand der »Indianer«.
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Obschon dieser Auftritt erwartet wurde, schauten einen Augenblick lang alle sehr verdutzt drein. Der Eintretende war ein gutaussehender, athletisch gebauter Mann, zwar nur normal groß, aber unvergleichlich wohlproportioniert. Sein Gesicht war bartlos - oder sorgfältigst rasiert oder epiliert -, das Kinn kurz und in der Mitte gefurcht. Sein pechschwarzes, dichtes und glattes Haar war straff nach hinten frisiert. Die Brust war nackt, so daß unter der linken Brustwarze ein Mal zu erkennen war, und die Haut schimmerte in einem kupferroten, aber matten, wie überpudert wirkenden Ton. Eine Schulter und die Lenden waren mit dem kompletten Fell eines Grizzlybären verhängt, dessen mächtiger Kopf ihm bis auf die Knie herabhing. In diesem urwüchsigen Wehrgehenk staken eine Friedenspfeife und ein Tomahawk. Ferner trug die Erscheinung sowohl gewickelte als auch stiefelschaftartige Gamaschen sowie mit Stachelschweinborsten gespickte Mokassins aus gelbem, geschmeidigem Leder. Als er zufällig einen Arm hob, war, blau auf die mit Bimsstein polierte Epidermis seiner Achselhöhle tätowiert, das Totem des Lamas zu erkennen. Es fiel auf, daß Achselhöhlen und Kniekehlen nicht, wie diese Worte eigentlich besagen, Vertiefungen waren, sondern sich vor lauter Muskeln
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nach außen wölbten: eine körperliche Eigentümlichkeit, die man seit dem berühmten Gewichtheber Thomas Topham bei niemandem mehr hatte beobachten können. »Was für ein Prachtviech!« entfuhr es den Frauen spontan. Selbstredend meinten sie damit nicht das grobschlächtig gezeichnete Lama, sondern den Mann. Für Mädchen ist man immer ein Prachtviech, wenn man ein bißchen nacktes Fleisch zeigt. Der Indianer sagte keinen Ton, setzte sich, ohne sie eines Blickes zu würdigen, zu Tisch und begann, wie ein ungezwungener Mensch - oder gar vier von ihnen - zu essen.
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VII DAMEN UNTER SICH
Kurz vor Mitternacht geschah es, daß die Mädchen, vielleicht aus einer Art Schamgefühl gegenüber den Anspielungen der Männer, so diskret diese Bemerkungen auch waren, die ihnen aber um so mehr unter die Haut gingen, je näher die Stunde rückte, in der sie sie bestätigen würden, ungehalten vor allem über den unerschütterlichen »mohikanischen« Gleichmut des Indianers, daß die Mädchen sich fortstahlen und, aufs Geratewohl durch die Gänge und Winkel des Schlosses streifend, das Weite suchten. Sie stiegen ein Stockwerk höher und fanden sich unbeabsichtigt in einer geräumigen Galerie wieder, der Gemäldegalerie, die auf halber Höhe in die für den »Rekord« vorgesehene Halle hineinragte und vorzeiten einmal, als der weitläufige Saal noch für Theater- und andere Aufführungen benutzt wurde, mit diesem verbunden gewesen war. Man stelle sich eine riesige Loge im ersten Geschoß eines Theaters vor, bei der man aber die Sicht auf die Bühne vermauert hat. Dort angekommen, schien es den Mädchen fast,
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als seien sie zu Hause, denn hier waren sie ganz unter sich. Wie Papageienweibchen, von deren Käfig man sich entfernt, schnatterten sie munter los, mit kristallhellen, entzückend schief klingenden Stimmen, hell und schief wie etwa die Noten von Liebesinstrumenten, wenn sie gestimmt werden. Parallel dazu drang von unten ein Geigenvorspiel herauf. Natürlich sprachen sie über alles Mögliche, außer über das, woran sie alle dachten: den Indianer. »Nein, meine Lieben«, sagte Blanche, »es ist nichts Herrlicheres erfunden worden, als auf die Mode von vor zwanzig Jahren zurückzugreifen, das System mit den vier am Mieder befestigten Strumpfhaltern, zwei vorn und zwei an den Seiten. « »Die vorderen nehmen einem nur Platz weg... und Zeit dazu«, warf Irène ein. »Das ist mir egal«, entgegnete Blanche. »Ich darf sagen, daß ich sie gut finde, denn... ich trage nämlich gar keine. « Und sie hob den Rock hoch, um ihre schwarzen Kniestrümpfe mit den rosanen Ziernähten vorzuführen; sie hob ihn sogar viel höher, als nötig war. »Du ziehst Kniestrümpfe an?« fragte Modeste.
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»Der... Wilde - ich weiß nicht recht, was er da anhat: Sieht aus wie Kanalreinigerstiefel mit Stacheln dran.« »Jetzt sind wir beim Thema«, sagte Blanche. »Ich hab' gar nicht mehr an ihn gedacht. Aber 'mal ehrlich: Der Kerl sieht unheimlich gut aus.« »Ich finde ihn zu bunt angemalt«, sagte Virginie. »Er sollte sich bleichen lassen.« »Du hast ja einen richtigen Waschfimmel! « widersprach Herminie. »Aber es wird Ihnen bestimmt nicht schwerfallen, chère Madame, ihn gleich abzuschminken. « »Neger bleicht man nicht«, wagte Eupure zu behaupten. »Wieso, gleich?« fragte Virginie. »Nach Ihnen ... falls dann noch was übrig ist! Denn anscheinend - sagte mir jedenfalls der General - werden wir in alphabetischer Reihenfolge ›zur Sache gebeten^« »Falls was übrig ist?« wollte Adèle wissen. »Farbe?« »Ich bin als zweite dran«, stellte Blanche fest. »Aber das ist dann vielleicht nur noch ein Kinderspiel. « »Eine ulkige Geschichte«, sagte Irène. »Das klappt doch nie.«
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»Gratulieren wir der ›Ersten‹ jugendlichen Liebhaberin«, riefen sechs Mädchen und machten einen tiefen Knicks vor Adèle. Plötzlich raschelte es draußen auf dem Treppenabsatz. »Pst, da ist jemand heraufgekommen«, flüsterte Adèle. »Bestimmt er«, sagte Virginie. »Wird aber auch Zeit, daß er auftaut; bis jetzt hat er nur zum Spachteln die Zähne auseinanderbekommen. « »Er hat schöne Zähne«, befand Herminie. »Damit kaut er normalerweise bestimmt nur zerbrochenes Glas. « »Zerstampftes«, korrigierte Irène. »Wenn es stimmt, was man sich von ihm erzählt. « »Pst!« wiederholte Adèle. Dieselben leichtfüßigen, raschen Schritte, die den Auftritt des Indianers angekündigt hatten, näherten sich draußen, diesmal sogar noch leichtfüßiger und rascher. Etwas Nacktes oder Seidiges strich über die Tür. »Sein Bärenfell raschelt wie ein Kleid«, sagte Blanche. »Die behängen sich wie Frauenzimmer in dem Land...«, flüsterte eine Stimme. »Bloß dekolletierter«, flüsterte es zurück.
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Jemand machte sich am Türschloß zu schaffen. Die Frauen verstummten. Aber die Tür sprang nicht auf. Die Schritte entfernten sich wieder die Treppe hinab. Plötzlich das geräuschvolle Trippeln von Absätzen und ein silberhelles, rasch verklingendes Lachen. »Was soll das denn heißen?« fragte eines der Mädchen. »Höflich ist er nicht, der Wilde.« »Er traut sich nicht... He, Josef, Sie vergessen Ihr Bärenfell!« »Er hat kein Benehmen«, erläuterte Virginie, die sich etwas auf ihre Erziehung zugute hielt. »Dabei hat er berappt wie ein Negerkönig«, sagte eine andere. »Oder sein Bärenführer hat's für ihn hingeblättert. « »Wirklich grauslich!« meinten mehrere. »Aber es stimmt, er hat sich nicht lumpen lassen. « »Vielleicht wollte er uns andeuten, daß gleich Mitternacht ist. Wie war's, wenn wir hinuntergingen, die Damen?« »Ja, gehen wir hinunter!« riefen alle und rafften ihre über mehrere Möbelstücke verstreuten Hüte zusammen. »Hilf mir 'mal, Virginie«, bat Adèle. »Die Tür klemmt entsetzlich... «
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Eine nach der anderen versuchte, sie aufzubekommen, dann stemmten sie sich gemeinsam dagegen ... Doch so absurd ihnen die Tatsache erschien, sie waren eingesperrt! »So ein Schwachsinn«, sagte Virginie. »Dieser Wilde, der kein Französisch kann, hat anscheinend noch nie ein Türschloß gesehen: Er hat den Schlüssel verkehrt herum gedreht. Der dachte, er schließt uns auf. « »Wir müssen rufen«, meinte Modeste. Und ein Chor von Stimmen, die einstweilen noch keine Aufregung verrieten, schrie: »He, Monsieur! Wilder! Irokese! Schätzchen!« Es schlug Mitternacht. Die Uhr befand sich offenbar direkt über der Galerie, denn der langgestreckte Raum war ganz von ihrem dumpfen Dröhnen erfüllt, der Kronleuchter pendelte leicht hin und her, die Bilderrahmen bebten, und nahe dem Plafond vibrierte eine Fensterscheibe. »Sie werden uns schon holen kommen«, sagte Adèle. »Warten wir's ab. « »Du hast's eilig, du bist ja die erste«, sagte Blanche. »Wir anderen haben Zeit. « Während ihres bereits durch kleinere Nervenzusammenbrüche aufgelockerten Wartens hörten
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sie es viertel nach, halb, viertel vor und ein Uhr schlagen. »Was treiben die bloß da unten?« ereiferte sich Modeste. »Sie müssen uns doch gehört haben. Wir hören ja auch die Musik.« Tatsächlich drangen, so wie Kirchturmspitzen durch einen Nebel stoßen, in unregelmäßigen Abständen die schrillsten Töne der Quintensaiten zu ihnen herauf. Sie schrien wieder aus Leibeskräften, bis sie ganz rot im Gesicht waren und in Tränen ausbrachen. »Vertreiben wir uns die Zeit«, sagte Adèle, die ruhig wirken wollte und vor den Gemälden herumschlenderte. »Meine Damen, wir befinden uns hier im Louvre. Dieser hochgewachsene Herr mit der weißen Perücke und dem großen Säbel, das ist... » »Das ist...?« fragte Irène. »Ach, ich weiß es nicht mehr! « Und Adèle weinte. Die Porträts strahlten allesamt das selbstgefälliggönnerhafte Gehabe älterer Herren aus, die gerade eine Schar kleiner Mädchen bestraft haben. Sie verrieten keine Ungeduld, diesen Raum zu verlassen. In ihrem Alter hat man es nicht mehr eilig. Eines der Mädchen warf sich gegen die hohe, mit Eisenbändern verstärkte Tür und trommelte mit ihren kleinen Fäusten dagegen.
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Als habe sie damit das Läutewerk in Gang gesetzt, schlug es viermal ein Viertel und dann zwei Uhr. »Sch... !« sagte Virginie. »Ich leg" mich schlafen. « Sie streckte sich auf einem vergoldeten Konsoltischchen aus, die Füße am einen Ende überstehend, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Brüste entblößt in die Luft gestreckt. Blanche sah von weitem zu ihr herüber; sie saß mit baumelnden Beinen auf einer Anrichte und machte sich mit den Händen unauffällig unter ihrem Rock zu schaffen. »Meine Damen«, sagte Blanche, dann zögerte sie. ».. .anscheinend kommt man ohne uns aus. Er braucht vielleicht andere... vielleicht haben sie schon angefangen.« »Half den Mund, Baby!« rief, wütend sich aufrichtend, die hochgewachsene Irène. Sie wußte selber nicht, wie sie es dann fertigbrachte, Blanche, um sie zum Schweigen zu bringen, den Mund mit ihrem eigenen zu verschließen. Modeste vergrub, nachdem sie schluchzend in der Galerie herumgeirrt war, ihr verzweifeltes Gesicht an Virginies Busen. Als sie wieder aufstand, zierte ein dunkler Kreis die Bluse, die jetzt an dieser Stelle durchsichtig war und eine rosarote Erhe-
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bung durchschimmern ließ - ein Kreis, der nicht von Tränen stammte. »Es ist zu heiß hier«, sagte Irène, und schon flogen ihre Spitzen. »Daß mir jetzt keiner hereinkommt, Männer, ich bin im Hemd. « »Dann zieh' es doch aus«, sagte Eupure. Und ihre Hand griff Irène an den Nacken. So geschah es, daß sich das Schluchzen nach und nach in Seufzen verwandelte und die Münder sich in andere Realien verbissen als tränengetränkte Taschentücher. Das hitzige Getrappel schluckte der Teppich, weil die Akteure jetzt barfuß waren. In einer Ecke improvisierte Virginie, da man ja nicht hinauskonnte, auf der farbigen Wolle ungeniert das Murmeln einer Quelle. Erst später, kurz vor drei, ging das elektrische Licht aus. Es war, als hätten die betagten Herrschaften auf den Porträts sich lautlos davongeschlichen ... und dennoch fanden die tastenden Hände keine Tür! Nach einer Öffnung ins Freie suchend, stießen sie wie zum Hohn nur auf Münder oder Geschlechtsorgane. Dann blaute die Morgendämmerung und übergoß die feuchtwarmen Leiber mit kühlen Wellen, die sie frösteln ließen.
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Danach strich die Sonne von der Fensterscheibe unterm Plafond herab trocknend über den besudelten Teppich hinweg. Es wurde Mittag, und das Schlagwerk, das die Gefangenschaft eingeläutet hatte, erklang ein zweites Mal. Die jungen Frauen waren hungrig und durstig und balgten sich. Die eine verspeiste ein Döschen Traubencreme für die Lippen, die andere knetete sich aus Tränen, Spucke und Gesichtspuder ein wohlriechendes, salziges, ungebackenes und abscheulich schmeckendes Brot. Es schlug eins, es schlug alles Mögliche, schließlich schlug es elf Uhr abends, und die ferne Musik piekste so wirr in die Stille hinein, wie nervöse Finger sich mit einem Faden an einem Nadelöhr abquälen. Das elektrische Licht war noch nicht wieder angegangen... Aber eine seitlich eindringende Helligkeit, die kein Tageslicht war, breitete sich von hoch oben durch eine Mattglasscheibe aus. Die Frauen schrien, freuten sich, fielen sich um den Hals und bissen sich, sie stapelten Tische aufeinander und kletterten darauf, purzelten zwei-
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oder dreimal herunter, und schließlich schlug eine mit Ringen gepanzerte, aber dennoch blutende Faust ein sternförmig gezacktes Loch in die Scheibe. Nackt, zerzaust, ungeschminkt, ausgehungert, brünstig und verdreckt fielen die Frauen über das Fensterchen her, hinter dem es Licht gab und... Liebe. Denn der zwar unüberwindliche, aber immerhin Sicht gestattende eiserne Fensterrahmen war die einzige Sperre zwischen der Galerie und der Halle des Indianers. Obwohl bereits die zweite Mitternacht vorbei war, erschien es ihnen völlig normal - sie dachten schon so viele und endlose Stunden daran! -, ihn dort vorzufinden. Als Kleidung war an dem rothäutigen Mann nur eine nackte Frau zu sehen, die völlig erschlafft quer über seiner Brust lag; sie selber bedeckte ihre Blöße nur mit einer Maske aus schwarzem Plüsch.
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VIII DAS OVULUM
Vierundzwanzig Stunden zuvor war Bathybius an das Rundfenster getreten. Der Blick durch dessen Scheibe war auf der Seite des kleinen Ankleideraumes, der dem Doktor als Beobachtungsstand diente, durch zwei von einem Riegel zusammengehaltene Fensterläden aus massivem Holz versperrt. Bathybius tastete umher und drehte entschlossen und mit einer Präzision, als handhabe er von Berufs wegen die Schneckenschraube seines Spekulums, den Griff der Verriegelung herum. Lautlos wie sich entfaltende Schmetterlingsflügel klappten die Läden auseinander. Das Rundfenster erstrahlte im goldgelben Lichte sämtlicher Lampen der Halle; wie ein Gestirn ging es in dieser engen Kammer über dem kurzen Horizont des Tisches auf, an dem der Doktor sitzen sollte. Soviel geballte Helligkeit zwang Bathybius' Augen ein wenig zum Blinzeln, diese ins Leere blickenden oder vielmehr fortwährend starr auf irgendei-
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nen unsichtbaren Punkt gerichteten Augen, deren Ausdruck aufgrund einer noch unzureichend geklärten Zufälligkeit gleichermaßen den meisten großen Medizinern wie etlichen gefährlichen, auf Lebenszeit hinter Gitter lebenden Monomanen eigen ist. Mit seinen schönen, fleischigen Chirurgenhänden, von denen die eine mit dicken Siegelringen bestückt war, strich er sich seine auseinanderstrebenden weißen Backenbarthälften glatt. Er legte das Blatt Papier, auf dem er seine Beobachtungen festhalten wollte, auf den Tisch, zog seinen Füllfederhalter hervor, warf einen Bück auf seine Uhr und wartete. Obgleich Bathybius als Mann von besonnenem, ernstem Geiste sehr genau wußte, daß er auf der anderen Seite seines runden Fensters nur Menschen in ganz normal und ganz armselig menschlichen Körperhaltungen zu sehen bekäme, beugte er sich zu der Scheibe vor, als nähere er sein Auge dem Okular eines phantastischen Teleskops, das durch ein gigantisches Räderwerk hinauf unter seine bebende Kuppel befördert und auf eine noch unerforschte Welt gerichtet wird. »Aber, aber«, sagte er zu sich selber, »laß diese Hirngespinste. « Und um die Vision zu verscheuchen, aber auch, um auf seinem Schreibtisch besser sehen zu können,
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drückte er den Stecker einer kleinen Lampe mit türkisfarbenem Schirm in die Steckdose. Am darauffolgenden Abend war er baß erstaunt, unter den vor ihm liegenden Papieren in seiner eigenen, kaum getrockneten Handschrift das sonderbare wissenschaftlich-lyrisch-philosophische Elaborat zu finden, das wir weiter unten zitieren. Wahrscheinlich ist, daß er es in der langen Mußezeit, die er hatte, zu Papier brachte - in der guten Stunde, während der die beiden Liebesakteure gierig aßen, und in den zehn weiteren Stunden, in denen sie an einem Stück schliefen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß er unter einer merkwürdigen Persönlichkeitsspaltung zu leiden hatte, indem er einerseits bei jedem Erscheinen des Indianers in dem kleinen Ankleideraum technische Daten chronometrisch erfaßte, kontrollierte, analysierte, notierte und verifizierte, andererseits aber seine Eindrücke dadurch, daß er sie verallgemeinerte, in die folgende Art von Literatur umsetzte, die man sonst nicht von ihm gewöhnt war: »GOTT IST UNENDLICH KLEIN. Wer behauptet das? Gewiß kein Mensch. Denn der Mensch hat Gott geschaffen, zumindest
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den Gott, an den er glaubt, er hat ihn geschaffen, und nicht Gott hat den Menschen geschaffen (das ist eine heute unbestrittene Wahrheit); der Mensch hat Gott nach seinem Ebenbild und Gleichnis geschaffen, die er so lange ins immer Größere steigerte, bis der menschliche Geist sich keine Dimensionen mehr vorstellen konnte. Was nicht bedeutet, daß der vom Menschen vorgestellte Gott dimensionslos ist. Er ist größer als jede Dimension, ohne deshalb außerhalb jeder Dimension oder immateriell oder unendlich zu sein. Er ist nur unbegrenzt. Diese Vorstellung mochte in jener Zeit genügen, die derjenigen ein wenig vorausging, in welcher die beiden Völker, die wir Adam und Eva nennen, durch die gewerblichen und industriellen Erzeugnisse von Händlern, die als Totem die Schlange hatten, in Versuchung geführt wurden und arbeiten mußten, um jene Produkte erwerben zu können. Heute wissen wir, daß es einen anderen Gott gibt, einen Gott, der tatsächlich den Menschen geschaffen hat, der im Lebenszentrum aller Menschen weilt und der die unsterbliche Seele des Menschen ist. LEHRSATZ: Gott ist unendlich klein.
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Denn damit er Gott ist, muß seine Schöpfung unendlich groß sein. Hielte er an irgendeiner beliebigen Dimension fest, würde er seine Schöpfung begrenzen, wäre er nicht mehr Derjenige-der-allesgeschaffen-hat. So kann er sich seiner Güte, seiner Liebe und seiner Allmacht rühmen, die nichts in der Welt aussparen. Gott ist außerhalb jeder Dimension, er ist inwendig. Er ist ein Punkt. Quod erat demonstrandum. Man weiß, daß der Mensch aus zwei Teilen besteht. Der eine ist sichtbar und vergänglich, es ist die Gesamtheit der Organe, die wir als Körper, als Soma bezeichnen; und dieser vergängliche Teil schließt sogar die ›kleine Turbulenz‹ ein, die aus jenem resultiert und die Denken oder ›unsterbliche‹ Seele genannt wird. Der andere Teil ist unvergänglich und mikroskopisch klein und pflanzt sich seit Anbeginn der Welt von Generation zu Generation fort: das germen, die Gesamtheit der Keim- und Geschlechtszellen. Der Keim ist jener Gott in zwei Personen, jener Gott, der aus der Vereinigung der beiden winzigsten lebenden Dinge entsteht, der Halbzellen Spermatozoon und Ovulum.
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Die eine wie die andere haust in nachtschwarzen und trübroten Schlünden, umtost von Strömungen - unserem Blut -, die planetenweit voneinander entfernte Körperchen hin- und herbewegen. Die weiblichen Halbzellen sind achtzehn Millionen Königinnen, und sie warten tief im Inneren ihrer Höhle. Sie ergründen die Welten mit ihrem Blick und herrschen über sie. Sie sind auf unendliche Weise Göttinnen. Physikalische Gesetze gibt es nicht für sie - sie mißachten die Gravitation -, der Massenanziehungskraft der Gelehrten setzen sie ihre eigentümlichen Affinitäten entgegen; für sie existiert nur, was ihnen gefällt. In anderen, ebenso gewaltigen Abgründen findet sich das männliche Gegenstück, Millionen von Göttern, die Hüter der Kraft sind und am ersten Tage Adam erschaffen haben. Wenn Gott und Göttin sich vereinigen wollen, bringen sie, ein jeder von seiner Seite und aufeinander zu, die Welt mit, die sie bewohnen. Mann und Weib glauben, sie entschieden sich füreinander ... so als erhöbe die Erde den Anspruch, sie drehe sich mit Vorbedacht! Diese Passivität eines fallenden Steines nennen Mann und Weib Liebe.
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Gott und Göttin wollen sich vereinigen... Um zueinander zu finden, benötigen sie einen Zeitraum, der nach menschlichen Maßstäben zwischen einer Sekunde und zwei Stunden schwankt... Nur ein Weilchen noch, und eine andere Welt wird erschaffen sein, ein kleiner Buddha aus blassem Korallengestein, der seine Augen verbirgt, die von der allzu großen Nähe zum Absoluten so geblendet sind, daß sie sich nie geöffnet haben, der seine Augen verbirgt mit seiner kleinen Hand, die wie ein Stern aussieht... Aber da erwachen Mann und Weib, ersteigen den Himmel und zertreten die Götter, dieses Geschmeiß. Der Mensch heißt an diesem Tage Titan oder Malthus.«
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IX DER VON THEOPHRAST SO GEPRIESENE INDIANER
Man betrat die Halle durch eine doppelte Tür. Der Indianer öffnete die erste und zog sie dann wieder hinter sich zu. Draußen hörte er das Geräusch des Riegels, den Bathybius vorschob und der erst in vierundzwanzig Stunden wieder geöffnet würde. Er selber legte den inneren Riegel vor und streckte die Hand nach der zweiten Tür aus... Aber die war schon von selber aufgegangen, während er sich umgedreht hatte, und nun erkannte er, stehend an den Türrahmen gelehnt, ganz rosafarben und splitternackt, fast durchscheinend unter dem Licht der Lampen, Ellen Elson, die ihm entgegenlächelte. Zusammen mit dem Bart, dem Kneifer und den Allerweltskleidern hatte Marcueil sich aller Dinge entledigt, sogar der Erinnerung an die Welt. Da waren nur noch ein Mann und eine Frau, für eine Ewigkeit frei einander zugewandt. Vierundzwanzig Stunden - war das nicht eine
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Ewigkeit für den Mann, der lehrte, daß Zahlen gänzlich belanglos seien? Es war das Endlich allein eines Mannes und einer Frau, die allem entsagen, um sich in der Umarmung ganz auf sich selber zurückzuziehen. »Ist es möglich?« seufzten ihre Münder; mehr konnten sie nicht sagen, denn die beiden Lippenpaare vereinigten sich. Doch die kalte Ironie trat ihre Rechte über Marcueil nicht ab, mochte er noch so sehr mit rotem Goldpulver bestäubt und als Indianer geschminkt sein, als der er im Grunde - das wurde ihm plötzlich klar - genauso lächerlich war wie der Weltmann Marcueil. »Endlich allein!« feixte er bitter und schob Ellen von sich. »Was ist mit den sieben Mädchen, die gleich kommen, und mit dem Doktor, der zuschaut?« Nun lachte auch Ellen; es war das mißtönende Lachen eines betrunkenen Straßenmädchens: das schönste Lachen, das es gibt. »Deine Weiber? Da hast du sie!« Und sie nahm irgend etwas Kaltes wie eine blanke Waffe vom Bett und warf es dem Indianer gegen die Brust. »Da hast du den Schlüssel zu deinem Weibertresor! Der ist dicht! Ich heb' sie dir auf, sie sind bestens aufgehoben. Aber gehören tun sie mir, deine Wei-
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her, weil du mir gehörst! ›Wie viele seid Ihr‹?, hat mich einmal ein barfüßiger, in eine Mönchskutte gewickelter kleiner Herr gefragt. Ganz einfach: ICH BIN SIEBEN! Genügt Ihnen das, Herr Indianer?« »Das ist doch Irrsinn«, sagte Marcueil, der geneigt schien, neben anderen Unendlichkeiten auch die der Kälte auszuschöpfen. »Dieser Doktor, der gleich sehen wird... er wird dich erkennen. « »Ich habe meine Maske mitgebracht«, erwiderte Ellen. »Äußerst schlau! Deine Autofahrerkappe... als trüge jede zweite Frau so ein Ding und als wüßte man nicht, daß Miss Elson eine emsige Autofahrerin ist! Das hat jeder gesehen. Bathybius wird dich nur um so besser erkennen, weiter nichts. « »Meine Autokappen sind rosa, und die hier ist schwarz!« »Weiberlogik... « »Na, und? Taugt die etwa nichts? Hör zu, das ist die Kappe einer deiner Frauen; es gibt sogar vier, die so eine tragen. Sie sind jetzt Mode... Und außerdem... ha... und außerdem ist das sehr gut für einen Doktor! Hinzu kommt: Die Kappe eines deiner Weiber, das wird dir Spaß machen, du wirst glauben, du küßt ihr Gesicht... und ich werde glauben, ich hab' ihr den Kopf abgehackt... Und
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außerdem... ich bin kein richtiges Strichmädchen, also möchtest du doch wohl nicht, daß ich richtig splitternackt bin!« Ihr Gesicht verschwand hinter dem schwarzen Sammet. Nur ihre Augen und ihre Zähne schimmerten. Eine Sekunde danach war ein Klicken zu hören, und hinter einer kleinen Fensterscheibe am Ende des Saales erschien wie Rauhreif undeutlich Bathybius' weißes Haar. »Nun komm' schon, Indianer«, sagte Ellen nekkend. »Die Wissenschaft hat ein Auge auf Sie, die Wissenschaft mit Großbuchstaben oder besser, denn das ist noch nicht imposant genug: die WISSENSCHAFT mit einem großen SCHAFT ... « Marcueil darauf, noch immer sehr kühl: »Weißt du überhaupt, ob ich der Indianer bin? Ich werde es sein... vielleicht... hinterher. « »Ich weiß nicht«, sagte Ellen, »ich weiß gar nichts. Du wirst es sein, und dann wirst du es nicht mehr sein... du wirst mehr sein als der Indianer. « »UND ÖFTER?«, sinnierte Marcueil. »Was heißt das? Das ist wie der flüchtende Schatten bei jenem Rennen... Und öfter, das ist nichts Festes mehr, das entzieht sich noch weiter als das Unendliche, das ist nicht greifbar, ein Phantom... «
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»Sie waren der Schatten«, sagte Ellen. Er umarmte sie zerstreut, um sich an etwas Greifbarem festzuhalten. Aus einer hohen Glasvase, die auf einem Tisch stand, dufteten sie einige noch nicht verwelkte Perpetuum-Mobile-Rosen an. Wie zu einem Kranz geflochtener Lorbeer, dessen Blätter sich im Winde bewegen, flatterte vor Marcueils Augen, immer deutlicher Gestalt annehmend, die Bezeichnung für jenen Menschen herum, der sich bald als »über dem Indianer stehend« erweisen würde: »DER ÜBERMANN«. Die Uhr verkündete, daß es Mitternacht war, und Ellen lauschte den Schlägen nach: »Ist es vorbei?... Also dann... schießen Sie los, Meister. « Und sie sanken aufeinander zu, ihre Zähne schlugen aneinander, und der Hohlraum zwischen ihren Oberkörpern - so absolut gleich groß waren sie schmatzte wie ein Saugnapf. Sie begannen, sich zu lieben, und es war wie der Aufbruch zu einer ausgedehnten Expedition, zu einer langen Hochzeitsreise, die nicht durch Städte führte, sondern durch alle Landschaften der Liebe.
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Als sie sich zum ersten Male vereinigten, konnte Ellen nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, und ihr Gesicht verzerrte sich. Um den heftigen Schmerz, den sie verspürte, zu ersticken, brauchte sie etwas, in das sie hineinbeißen konnte, und das war die Lippe des Indianers. Marcueil hatte Recht gehabt, als er sagte, für bestimmte Männer seien alle Frauen Jungfrauen, und Ellen erlitt den Beweis dafür, doch obwohl sie verletzt war, schrie sie nicht. Sie ließen genau in dem Augenblick voneinander ab, da andere sich noch enger umschlingen, denn sie hatten beide nur sich selber im Sinn und wollten kein neues Leben zeugen. Doch wozu, wenn man noch jung ist? Das sind Vorsichtsmaßnahmen, die man im hohen Alter ergreift - oder aufhört zu ergreifen -, nachdem man sein Testament gemacht hat, auf dem Sterbebett. Die zweite, schon mit mehr Ruhe genossene Umarmung war wie die nochmalige Lektüre eines geliebten Buches. Aber erst nach einigen weiteren vermochte Ellen in den kaltfunkelnden Augen des Indianers so etwas wie Lust zu erkennen... es kam ihr vor, als freute er sich, daß sie glücklich war bis zur Pein. »Sadist!« zischte sie. Marcueil lachte frei heraus. Er gehörte nicht zu
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den Leuten, die Frauen prügeln. Etwas in ihm war viel zu grausam für sie, als daß er dem noch etwas hätte hinzufügen müssen. Sie liebten sich weiter, und jede ihrer Umarmungen war ein Zwischenaufenthalt in einem jeweils anderen Land, wo sie etwas entdeckten, und es war jedes Mal etwas Besseres. Ellen schien entschlossen, ein wenig öfter glücklich zu sein als ihr Liebhaber und das von Theophrast gesteckte Ziel vor ihm zu erreichen. Der Indianer spürte in ihr Quellen angstvoller Lust auf, an die noch kein anderer Liebhaber gerührt hatte. Bei Nummer ZEHN sprang sie leichtfüßig aus dem Bett und kam mit einer niedlichen Schildpattdose zurück, die sie aus dem Ankleideraum geholt hatte. »Bei ZEHN, haben Sie gesagt, Meister, müssen die Verwundungen mit bestimmten Balsamen versorgt werden... Das hier ist ein ausgezeichneter Balsam, in Palästina destilliert... « »Ja, der Schatten knarrte«, murmelte Marcueil. Sanft korrigierte er sie: »Bei ELF. Später.« »Sofort«, widersprach Ellen. Über die menschlichen Kräfte wurde hinausgegangen, so wie man aus einem Eisenbahnwagen die
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vertraute Landschaft eines Vororts entschwinden sieht. Ellen entpuppte sich als fachkundige Kurtisane, doch das war auch ganz natürlich! Denn der Indianer wirkte sehr wie irgendein aus unbekannten, reinen Materialien geschnitztes Idol, an dem jeder Teil, den man liebkoste, der reinste war. Gegen Ende der Nacht und den ganzen Vormittag über hatten die Liebenden weder eine Ruhenoch eine Essenspause: Sie hätten nicht zu sagen gewußt, ob sie schlummerten oder wachten; sie knabberten an Gebäck und kalten Gerichten herum; und das Trinken - aus ein und demselben Pokal war nur eine der tausend Varianten ihrer Umarmung. Gegen Mittag - der Indianer hatte Theophrasts Zahl fast erreicht, während Ellen sie längst übertroffen hatte - jammerte letztere ein wenig. »Mir ist so warm!« stöhnte sie und wanderte, die Hände auf ihre straffen Brüste gedrückt, im Saale umher. »Ich bin nicht nackend genug. Könnte ich mir nicht dieses Ding vom Gesicht nehmen?« Die Augen des Doktors lauerten hinter der Fensterscheibe. »Wann werden wir's wegnehmen?« wiederholte sie ihre Frage.
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»Wenn die Ringe um deine Augen unter der Maske hervorschauen«, sagte Marcueil. »Hoffentlich tun sie das bald!« seufzte Ellen. Er hob sie vom Boden und trug sie auf seinen Armen, wo sie sich einrollte wie ein zur Kugel zusammengeknüllter Seidenschal; er legte sie aufs Bett zurück wie ein kleines Mädchen, ließ sie sich ausstrecken, zog ihr das Bärenfell über die Füße und erzählte, um sie zum Lachen zu bringen, in komischem Schulmeisterstil: »Aristoteles schreibt in seinen Problemata: Weshalb hilft es bei der Liebe nicht, kalte Füße zu haben?« Und er trug ihr Fabeln von Florian vor: »Einst pflückte ein junges Affenweibchen Eine Walnuß in ihrer grünen Schale... « Plötzlich entdeckten sie, daß sie Hunger hatten. Sie fielen über den gargantualisch gedeckten Tisch her und aßen wie arme Leute in einer Volksküche - arme Leute, die sich mit Milliardärsaperitifs die Eingeweide heißhungrig gemacht haben. Der Indianer verschlang alles rote Fleisch und Ellen sämtliche Konditoreiprodukte; doch den ganzen Champagner trank er nicht, denn die Frau zweigte vom ersten Pokal einer jeden Flasche den
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Schaum für sich ab. In diesen biß sie hinein, als schlüge sie die Zähne in ein Sahnebaiser. Anschließend küßte sie ihren Liebhaber, so daß er zusätzlich zu seiner roten Bemalung eine Glasur aus Zuckerwerk erhielt, die alle seine Körperteile überzog. Danach liebten sie sich zweimal hintereinander ... sie hatten Zeit: Es war noch nicht zwei Uhr nachmittags. Dann schliefen sie ein. Und um elf Uhr siebenundzwanzig abends schliefen sie immer noch, tief und fest wie zwei Tote. Der Doktor, mit vornübersinkendem Kopf selber nahe daran einzunicken, brachte die bis dahin erreichte Gesamtzahl zu Papier: 70 Und er steckte seinen Füllfederhalter wieder weg. Theophrasts Zahl war egalisiert, aber noch nicht überboten. Um elf Uhr achtundzwanzig wachte Marcueil auf, oder genauer gesagt: der Indianer in ihm wachte auf, und er tat es, bevor er selber erwachte. Ellen schrie unter seiner Umarmung vor Schmerz laut auf und erhob sich ein wenig taumelnd, eine Hand auf den Busen, die andere auf ihr
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Geschlecht gepreßt; suchend blickten ihre Augen umher, so wie ein Kranker nach einer Arznei oder ein Äthersüchtiger nach seiner Droge Ausschau hält... Dann sank sie wieder auf das Bett: Ihr Atem erzeugte zwischen ihren fest aufeinandergepreßten Zähnen hindurch dasselbe kaum hörbare Zischen, das Krebse hervorbringen, jene Tiere, die vielleicht nachsummen, an was sie sich in bezug auf die Sirenen zu erinnern versuchen... Immer noch mit ihrem ganzen Körper nach dem Vergessen der tiefen Verbrennung tastend, fand ihr Mund den Mund des Indianers... Und sie dachte an keinen Schmerz mehr. Bis Mitternacht blieben ihnen noch dreißig Minuten, eine Zeitspanne, die ihnen genügte, um noch einmal, die schon zurückgelegte Teilstrecke mitgerechnet, die bekannte Weglänge der menschlichen Kräfte zu erleben... 82 notierte Bathybius. Als sie es hinter sich hatten, setzte Ellen sich auf, brachte ihre Haare in Ordnung und starrte ihren Liebhaber feindselig an: »Amüsant war das gar nicht«, sagte sie. Er griff sich einen herumliegenden Fächer, fal-
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tête ihn halb auf und schlug ihn ihr links und rechts um die Ohren. Sie sprang auf, zog eine lange, wie ein Schwert aussehende Nadel aus ihrem Haar und zielte, postwendend Rache nehmend, auf Marcueils Augen, die in Höhe ihrer eigenen vor ihr schimmerten. Marcueil ließ seine Kraft spielen: Seine Augen verteidigten sich ganz von selbst. Unter ihrem hypnotischen Blick fiel die Frau, gerade als sie mit ihrer Waffe zustoßen wollte, in einen katalepsieartigen Schlaf. Der in eine Stahlspitze auslaufende Arm erstarrte waagrecht in der Luft. Da legte Marcueil seinen Zeigefinger zwischen Ellens Augenbrauen und weckte sie augenblicklich wieder auf, denn die Zeit war um.
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X WER BIST DU, MENSCH?
Ein jämmerliches kleines Etwas schepperte hell wie das eisenbeschlagene Ende einer Krücke, das über holpriges Pflaster schleift; ein jämmerliches kleines Etwas: Auf der altersschwachen Turmuhr von Lurance bimmelte die Mitternacht ihre zwölf Schläge herunter. Dieses irdische Geräusch ließ Ellen wieder zu sich kommen, denn sie begann erneut zu entschlummern, diesmal in einen natürlichen Schlaf. Sie zählte die traurigen Anschläge der Glocke: »Haha, die menschlichen Kräfte!« lachte sie spöttisch, aber auch ein wenig verärgert darüber, daß ein so belangloser Eindringling wie jene Glocke sie störte; und vor lauter Lachen verkrampfte sie sich, schlief dann aber, eingerollt in ihren Heiterkeitsanfall, wieder ein. Die Tür ging auf. Auf der Schwelle stand der Doktor. Bathybius schwankte einige Sekunden hin und her, ganz benommen von dem Geruch nach Liebe und geblendet vom alles erhellenden Weiß der elek-
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trischen Lampen, die allesamt in dem ganzen riesigen Saale brannten wie sämtliche Kerzen auf einem für eine Märchenhochzeit hergerichteten Altar. Mit schwellenden Brüsten, die Finger und Zehen krampfartig verdreht und ein wenig zitternd, lag die maskierte Frau, deren Lachen im Schlaf zu einem ganz sanften Geröchel wurde, wie hingegossen quer über dem Bärenfell... Die scharlachfarbene, nackte, muskulöse und unflätige Gestalt des Indianers sprang dem bekleideten, weißhaarigen, affenbärtigen Geschöpf entgegen, das da durch die Tür trat, ohne zu begreifen, über was für eine Grenzlinie es hinwegstieg. Und der Übermann empfing Bathybius, knurrend wie ein in seiner Suhle aufgestörtes Tier, mit dem gleichen Satz (denn einen anderen gab es nicht zu sagen), mit dem der Dämon Dröhnender Donner in Tausendundeiner Nacht die Abgesandten des Wesirs begrüßt: »Wer bist du, Mensch?« Eine Menge Leute drängten sich durch die Galerien, und im hintersten Winkel des letzten Salons, winzig klein, zirpte eine Schar Männer auf Musikinstrumenten wie Grillen in einer Schachtel.
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XI UND ÖFTER
Der nackte, zinnoberrot bemalte Indianer wurde inmitten eines alles mit sich reißenden Menschengewimmels hinweggeschleppt, eines Gewimmels, wie es Champions, Schauspielern oder gekrönten Häuptern zuzujubeln pflegt. Weit hinten, am Ende der festlich beleuchteten Flucht der Salons, mühten Geigen- und andere Bögen sich zuckend ab, den Saiten so etwas wie das Te Deum der entfesselten Liebe zu entlocken. Ein schwarzer Frack, übersät mit einem ganzen Beet üppig blühender, aber schlecht ausgejäteter Orden - denn wie Unkraut verbarg sich darunter die Medaille für Verdienste um die Landwirtschaft -, scharwenzelte eilig auf Marcueil zu, der, in seiner falschen Indianerepidermis selber nicht identifizierbar, Saint-Jurieu erkannte. » ›Bevölkerungsrückgang‹ ist nur mehr ein leeres Wort!« jubelte der Senator, vor Bewunderung fast in Tränen ausbrechend. »Weniger als ein Wort«, echote tirilierend der General.
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»Das Vaterland kann täglich mit hundert weiteren Verteidigern rechnen«, krähten sie im Chor. »Nein, bloß mit zweiundachtzig«, korrigierte Bathybius sie stammelnd. »Doch wenn der Indianer geruht, sich etwas ins Zeug zu legen, sind es in vierundzwanzig Stunden - geht man nur von SECHS in der Stunde aus - ... hundertvierundvierzig!« »Ein ganzes Gros«, resümierte Saint-Jurieu. »Prächtig... oder besser gesagt: trächtig!« »Letzteres wäre man bereits bei einer weniger hohen Zahl«, sagte der General. »Und diese Quote ließe sich durch die künstliche Befruchtung noch beliebig steigern«, fuhr der Doktor fort, der zusehends in Wallung geriet. »Und das sogar ohne Beisein des... « ».. .des Autors, dessen Verleger Sie sind, lieber Doktor!« tönten neckend einige Stimmen. »Ich möchte eine Sonderauflage vorbestellen«, platzte Henriette Cyne, die Gott weiß wie hereingekommen war, sarkastisch dazwischen. Als Antwort auf all dies Gerede schüttelte der Indianer nur ruhig den Kopf: Nein! »Was meint er?« brummelte der General. »Daß er keine Kinder machen will? Aber wer soll denn welche machen?«
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Der Indianer, der immer noch schwieg und keine Miene verzog, ließ seinen Blick rings über die Anwesenden schweifen, hob den Zeigefinger und drückte ihn auf Saint-Jurieus mit Orden übersäte Brust. »Immer versuchen es die, die nicht können«, interpretierte Henriette Cyne mit stoischem Gleichmut. Und der Indianer machte sich unauffällig aus dem Staub, den er aufgewirbelt hatte, besorgt über Ellens Inkognito, das vielleicht nicht gewahrt würde. Er lief zu der großen Halle, deren Tür er vorhin wieder zugesperrt hatte. Kaum hatte er den Raum betreten, da umschlang ihn auch schon, noch warm von seinen eigenen Armen, ein biegsamer Körper und warf ihn auf das Bärenfellager. Und bei einem Kuß, so leidenschaftlich, daß ihm Hören und Sehen verging, wisperte es aus dem Munde der jungen Frau: »Endlich haben wir die Wette vom Halse, die wir eingegangen sind, um diesem... Monsieur Theophrast gefällig zu sein! Wie war's, wenn wir jetzt an uns dächten? Wir haben uns ja noch gar nicht geliebt... zum Vergnügen, meine ich!« Sie hatte die beiden Riegel vorgeschoben.
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Plötzlich zersprang hoch oben nahe der Decke eine Fensterscheibe, und Glassplitter regneten auf den Teppich herab.
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XII O SCHÖNE NACHTIGALL
Es war der Augenblick, da die Frauen in der Galerie das Fenster einschlugen. Im ersten Moment klirrten die Scherben gewaltig, tauchten dann aber in den Flor des Teppichs ein, in dem das Geräusch erstickte, so wie ein lautes Lachen, wenn es merkt, das es falsch klingt, abrupt abbricht. Die Frauen versuchten nicht gleich loszulachen. »Heda, Liebespärchen!« rief Virginie schließlich. »Seid ihr immer noch nicht fertig, obwohl ihr schon seit vorgestern zu Gange seid?« fragte Irène. »Sie sagen ja selber, sie hätten noch gar nicht angefangen«, kicherte Eupure. »Habt ihr auf uns gewartet?« wollte Modeste wissen. Dicht zusammengedrängt standen sie hinter dem eisernen Fensterrahmen, aber André und Ellen konnten nur die obere Hälfte ihrer Gesichter sehen. »Gibt es keine Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen?« knurrte der Übermann. »Versteck' dich«, befahl er Ellen.
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»Ist mir völlig egal, wenn sie uns sehen, solange sie dir nichts anderes zeigen als ihr Gesicht«, sagte Ellen. »Außerdem trage ich ja meine Maske. « So wie eine Majestät voller Stolz die unvergleichliche Schatulle mit den königlichen Diamanten öffnen würde, löste sie die Arme des Indianers, die sie umschlangen und so ein wenig von ihren Schultern verdeckten, von ihrem Körper. Dann machte sie die Gebärde, die nur Herrscherinnen gestattet ist: Sie sank vor dem Mann auf die Knie. Nur Mädchen, die als Dienstmägde geboren sind, glauben, sie müßten sich durch eine Tarifzulage für ihre Dienstleistungen schadlos halten. Ellen liebkoste Marcueil sehr hingebungsvoll. Ihr beißender Mund nahm es dem Manne übel, daß er noch nicht erschlafft war. Das hieß, daß er sie nicht liebte, denn er hatte sich noch nicht völlig ausgegeben - so ausgegeben, daß es nichts mehr zu geben gab. Der Indianer geriet mehrmals in Ekstase, einmal passiv wie ein Mann, einmal wie eine Frau... Das war sicher die Erfüllung dessen, was Theophrast mit »... und öfter« gemeint hatte. Die Verwünschungen der sieben Mädchen überwölbten die beiden wie ein Baldachin.
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Anfangs belustigte sie das, doch dann packte sie die Wut. Marcueil stand auf, griff sich eine dünnwandige japanische Porzellanvase und holte schon aus, um sie hinauf in das Guckfenster zu schleudern. Doch im letzten Augenblick besann er sich eines Besseren: Er war hier nicht zu Hause, denn er war ja der Indianer. »Aber wir brauchen irgendwelchen Lärm, damit sie still sind«, sagte er. »Wenn ich bloß ein Jagdhorn hätte!« Sein Blick wanderte suchend über den mit allerlei Dingen überladenen großen Tisch, auf den er die Vase zurückgestellt hatte. Und mit der jähen Entschlossenheit eines Mannes, der angegriffen wird und rasch seinen Revolver lädt, zog er plötzlich einen zylindrischen Gegenstand aus der Schublade. Die Stimmen hoch oben unter der Decke klangen mit einem Mal sehr aufgeregt. »Machen Sie keine Dummheiten, Herr Wilder!« schrie Virginie, die von dem Fensterloch nicht fortkonnte, weil sie als erste an es herangetreten war und nun von ihren nachdrängenden Kolleginnen vor ihm festgeklemmt wurde. »Haben Sie keine Angst«, spottete Ellen und packte André mit einem Griff von tragischer Scham-
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losigkeit. »Haben Sie keine Angst, meine Damen, ich halte ihn fest!« André machte sich von ihr los, zuckte mit den Achseln, und es sah aus, als zöge er mit einem Schlüssel eine Art Kasten auf, über dem sich ein kristallener Blütenkelch erhob, der nämliche, in den man ohne Hinzufügung von Wasser das Rosenbukett hineingestopft hatte und der nur durch das Gewicht der Blumen so schräg zu stehen schien; und ein Phonograph mit Lautsprecher, der mitten auf dem Tisch stand, an dem sie gegessen hatten, ließ aus seinem eigenartig mit Düften und Farben verstopften Schallbecher ein machtvoll-schmetterndes Lied hervordringen, das die ganze Halle erfüllte. »Bravo!« rief erneut Virginie. Das Wort war nicht zu hören, doch man sah die Bewegung der feisten Hände des Mädchens, das sich bemühte, ironisch Beifall zu klatschen, ohne dabei von seinem Beobachtungsposten herunterzurutschen. »Und warum nicht« - sie schrie aus Leibeskräften, um das orgelartige Gedröhn des enormen Geräts zu übertönen - »warum nicht ein Kinematograph?« Die Lippen der Mädchen bewegten sich, doch was sie sagten, ging jetzt gänzlich im Lärm unter.
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Ob André und Ellen nun Virginies Frage verstanden hatten oder nicht, sie schienen bereit, der Bitte zu entsprechen und sie durch eine theatralische Attitüde zu erfüllen: Der Indianer hatte aus dem erwähnten Bukett eine Rose hervorgezogen, die er nun mit amüsiert-zeremoniöser Zärtlichkeit der maskierten Frau auf der Bettcouch überreichte; dann drückten sie eine Minute lang ihre Münder aufeinander, ohne sich noch länger um etwaige Augenzeugen zu kümmern, die sie nun nicht mehr zu stören vermochten, und wiegten sich in den weiten Schwingungen der wogenden Musik. André hatte wahllos irgendeine Walze in den Phonographen geschoben; und als er zu Ellen zurückkehrte, um auf ihrem jungen, elfenbeinfarben schimmernden Fleisch die zinnoberrote Rose niederzulegen, die wie ein aus seiner ganz mundfarbenen Indianerepidermis herausgetrenntes Stück Haut aussah, begann das Gerät, eine volkstümliche alte Romanze zu spielen. Obgleich André Marcueil durchaus wußte, daß das Lied sehr bekannt und in mehreren Folkloresammlungen abgedruckt war, schrak er angesichts der sonderbaren Übereinstimmung seiner Geste mit den Anfangsversen unangenehm berührt zusammen:
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»Ich habe meinem Feinsliebchen Eine rote Rose gebrochen, 0 schöne Nachtigall!« Ellen entfuhr ein Schrei, sie verbarg ihren Kopf unter Marcueils Arm, zog ihn dann wieder hervor und schaute ihrem Liebhaber mit einem Gesichtsausdruck in die Augen, der ungeachtet der Maske eindeutig besagte: »Das ist ja ein tolles Stück, aber wenn du's warst, der's fertiggebracht hat, wundert's mich gar nicht!« Als André, seine Betroffenheit verbergend, sich wieder gefangen hatte, begann sie, ausgelassen zu lachen; doch bei einer zweiten Musterung von Marcueils Physiognomie entdeckte sie in ihr, so kurz jene auch war, eine dunkle Wolke, die sie sich indes erklären zu können glaubte. »Sie werden doch nicht etwa eifersüchtig werden, Monsieur«, sagte sie, »nur weil dieser gläserne Mund sich rühmt, er habe mir Blumen geschenkt? Er hat recht, Liebster, sie gehörten ihm. Er bringt Ihnen bei, was galant ist.« Und da sie unfeine Worte wußte, fügte sie präzisierend hinzu: »Hurenbock mit Zaster, so sagt man doch, nicht wahr?«
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Unterdessen hatte das Gerät wiederholt: »Ich habe meinem Feinsliebchen Eine rote Rose gebrochen. « Dann stieß es eine Art makabren Triller aus, ein nicht endenwollendes krrr..., wie um die junge Frau wegen ihrer Vertraulichkeit zu schelten oder einfach um sich zu räuspern; doch es war bloß die Pause vor der zweiten Strophe: »Ach, die Rose, die ich ihr bringe, Wird nicht ihr Dasein erhellen, 0 schöne Nachtigall! Ach, die Rose, die ich ihr bringe, Wird nicht ihr Dasein erhellen. « Der Kristalltrichter erbebte und zog so die letzten beiden Silben derart in die Länge, daß es klang wie ein ersterbender Ruf: »El - len!« Zusammen mit den restlichen Blumen sah er aus wie ein großes, zu ihnen herüberäugendes Monokel für bösartige Zyklopen oder wie der trichterförmig geweitete Lauf einer uralten Räuberflinte, die ihnen auf der großen Landstraße ihrer Liebe ent-
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gegenstarrte, oder - was noch schlimmer war - wie das Knopfloch eines todschicken älteren Herrn, ein Knopfloch, in dem ein ganzes Sammelsurium blutiger Dinge prangte, die ebenfalls »nicht das Dasein erhellen« würden. »Bei der ersten Drehung des Tanzes Wechselt Feinsliebchen die Fa - arbe, 0 schöne Nachtigall!« »Bei der ersten?« fragte Ellen, die tatsächlich die Farbe wechselte, denn sie errötete. »Das Väschen da hat die Blumenstiele, die es im Auge hatte, aber reichlich spät herausgezogen, wenn es uns jetzt erst entdeckt... « »Bei der Liebe ist jedes Mal das erste Mal«, sagte der Indianer. Ellen antwortete nicht, denn sie liebten sich. Der ältere Herr mit dem Kristallmonokel war ein weitaus indiskreterer Voyeur als Bathybius, denn ohne viel Zeit zu verlieren und sie offenbar gleichzeitig beobachtend, fuhr er krächzend fort: » . . . gall hehehehehehe... Krrr... -162-
Bei der ersten Drehung des Tanzes Wechselt Feinsliebchen die Fa - arbe.« Es klang äußerst komisch, wenn er mit seiner aspirierten und abgehackten Sprechweise wiederholte: » ... a - arbe. « Es war wie ein Schluckauf, wie ein Schluchzer... und wie ein assonierendes Wortspiel, so als lachte er schadenfroh: Haha, bäh! Dann machte er wieder krrr... und wartete, schlicht und einfach wie Bathybius. Er hatte die Frauen droben in der Galerie endgültig zum Schweigen gebracht, und mit leicht erzitterndem Monokel - sowohl Ellen als auch André fanden dieses blumengeschmückte Ding abstruser als irgendeinen anderen menschlichen oder übermenschlichen Gegenstand - hob er von neuem an: »Bei der zweiten Drehung des Tanzes...« Ohne ausdrücklich dazu aufgefordert zu sein, wie hypnotisiert von einer Art magischer Erotik, gehorchten André und Ellen auch diesmal wieder:
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»Wechselt Feinsliebchen erneu - eut, 0 schöne Nachtigall! He. . . he... he... Bei der zweiten Drehung des Tanzes Wechselt Feinsliebchen erneu - eut. « Es hörte sich an wie bereu - eut, fast wie ein beängstigender Barbarismus. In dem Augenblick, als das Blumenwesen km machte, sank Ellens Kopf nach hinten, begleitet von einem leisen Röcheln, das kein Liebesgeröchel war, und der Übermann spürte, wie sein eigenes Haupt sich zu drehen und aberwitzige Gedankenassoziationen und ausgefallene Wortverbindungen zu produzieren begann: »bereut . .. gefreit... « »Das reimt sich! Bereut, bereuen ist ziemlich klar - es ist nicht ganz BEJAMMERN, Tränen vergießen, Rotz und Wasser heulen, H20. Aber trotzdem, da stimmt etwas nicht: Viel gefreit, stets bereut ... « »Ich bin ein bißchen besäuselt«, murmelte Ellen dazwischen. »Mir geht's so schlecht!« Und mitten in diesem Irrsinn, wie von einem
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Geistesblitz getroffen, begriff Marcueil urplötzlich: Wenn er nicht unverzüglich diese gebieterische Stimme dort auf dem Tisch zum Schweigen brächte, so wie er die Mädchen zum Schweigen gebracht hatte, diese Stimme, die seine überreizten Sinne, sein Mark und beinahe auch sein Gehirn beherrschte, dann würde er diese Frau immer weiter besitzen müssen - sein Geschlecht wäre außerstande, sie nicht zu besitzen -, diese Frau, die im Sterben lag und die er immer noch fest in seinen Armen hielt. Er hätte sie jetzt gern getötet, mit Messerstichen, um sie nicht auf andere Art quälen zu müssen. Ihre Augen waren geschlossen; zwei kleine Tränen quollen, sie ein wenig öffnend, unter den Lidern hervor und benetzten die Augenblende ihrer Maske. Es sah aus, als sei es diese Maske, die weinte. Die Brüste drückten in ihrer schwellenden Fülle eine Lust oder ein Leid aus, die schon nicht mehr von dieser Welt waren. André wollte aufstehen, um den Phonographen anzuhalten oder zu zerschlagen, die Porzellanvase zu ergreifen und damit den gläsernen Schalltrichter zu zerschmettern. Überrascht, daß sie ihm erst jetzt wieder einfielen, bemerkte er neben dem Bett, in Reichweite seines Arms, die Requisiten seiner Verkleidung als Operettenindianer. Er schleuderte den Tomahawk, den er natürlich
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nicht zu werfen verstand und der, sämtlichen Erzählungen Fenimore Coopers zum Hohn, mit dem stumpfen Ende gegen die Rückenlehne eines Stuhls prallte; danach schmiß er mit einem Pantoffel Ellens, der schon mehr Unheil anrichtete: Das Projektil stieß gegen den Rand des kristallenen Blütenkelches, der zwar erzitterte, aber weder zerbrach noch umstürzte, und fegte dabei die letzten Rosen hinweg, die zu Boden fielen. All das, war wir hier so lange und breit erzählen, ereignete sich im Zeitraum eines A-Tons, auf den die beiden Silben o-ot gesungen wurden. Der Schalltrichter des Phonographen sah aus wie das glänzende Maul einer Schlange, drohend aufgesperrt und nicht länger unter Blumen verborgen; und André mußte gebannt dem Befehl gehorchen, und auch sein Geschlecht mußte ihm Folge leisten: Das Untier aber befahl mit klarer, durchdringender Stimme: »Bei der dritten Drehung des Tanzes... Sinkt Feinsliebchen zu Boden, to - ot, 0 schöne Nachtigall! Bei der dritten Drehung des Tanzes Sinkt Feinsliebchen zu Boden, to...«
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Den abschließenden Schluckauf hörte André nicht mehr: Ein gewaltiger, markerschütternder Schrei, der aus sieben Einzelschreien bestand, schrillte aus der Galerie der Frauen herab, deren Gesichter im Nu aus der Fensteröffnung verschwanden. Als der Zauberbann gebrochen war, rappelte André sich auf, ohne dem manischen Drang bis zum bitteren Ende gehorcht zu haben... Der Phonograph krächzte ein letztes krrr und stand still. Es klang genau wie das Rasseln eines Weckers, obwohl es diesmal nicht das Ende eines Traumes markierte. Von den hochgelegenen Fenstern der Halle herab ließ die blaue, kalte Morgendämmerung des zweiten Tages, den sie hier verbrachten, ihr Leichentuch über die Bettstatt herabsinken. Ellen atmete nicht mehr, ihr Herz stand still, ihre Füße und Hände waren so eisig wie die Morgenfrühe. Ein erneutes Gewimmel barocker Erinnerungen tobte mit lautem Geschnatter in dem wehrlosen Gehirn des Übermannes: » ›Weshalb‹, schreibt Aristoteles in seinen Problemata, ›hilft es bei der Liebe nicht, kalte Füße zu haben?‹« Ungewollt lachte er höhnisch auf, obwohl ein dunkles Ich ihm in seinem Inneren zuraunte, daß er
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Grund zum Weinen hatte; dann weinte er, obwohl ein anderes Ich, das gegen das vorige ganz persönliche Haßgefühle zu hegen schien, ihm ausführlich, obschon in Sekundenschnelle erklärte, dies sei der richtige Zeitpunkt, um aus vollem Halse zu lachen. Danach wälzte er sich von einem Ende des Saales zum anderen am Boden. Dabei traf sein völlig nackt über die Fliesen rollender Körper auf ein kleines Rechteck, das sich haarig und samtweich anfühlte. Er war so fassungslos, daß er glaubte, er sei verrückt geworden - fassungslos, daß das als Teppich dienende Bärenfell auf dies winzige Format zusammengeschrumpft war. Aber es war nur Ellens Maske, die bei ihrem Todeskampf heruntergefallen war.
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XIII DIE ENTDECKUNG DES WEIBES
Ihre Maske war heruntergefallen... Ellen war nun vollkommen nackt. Abgesehen von ihrer Maske besaß er sie seit zwei Tagen ganz... Vor diesen zwei Tagen hatte er sie oft ohne ihre Maske gesehen; doch Zeit wird nach der Zahl der Geschehnisse gemessen, die ihr Fülle und Ausdehnung verleihen. Die Minute, da sie ihn erwartet hatte, ganz rosafarben und mit erhobenem rechtem Arm an den Türrahmen gelehnt, mußte bis zum Anbeginn der Zeiten zurückreichen... ... bis zu der Zeit, da etwas Übermenschliches das Weib erschuf. »Ist es möglich?« hatten sie in dieser fernen Vorzeit gefragt. Die Maske war heruntergefallen, und dem Übermann fiel es nun plötzlich wie Schuppen von den Augen, daß er Ellen, obwohl er sie seit zwei Tagen in völliger Nacktheit besaß, noch nie gesehen hatte, selbst ohne ihre Maske nicht. Und er hätte sie auch nie zu sehen bekommen,
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wenn sie nicht gestorben wäre. Verschwender werden im allgemeinen genau dann zu Geizhälsen, wenn sie merken, daß ihr Reichtum vergeudet ist. Der Übermann würde Ellen nicht wiedersehen, und bald würde ihre Gestalt aufgrund der Muskelstarre, die der Verwesung vorausgeht, in den Zustand vor aller Gestalt zurückkehren. Er hatte sich nie die Frage gestellt, ob er sie liebte und ob sie schön war. Er hörte sich noch einmal den Satz sprechen, aus dem heraus das großartige Abenteuer entstanden war, und er hörte ihn so, wie er ihn als betont unscheinbarer Dutzendmensch aus einer Laune heraus von sich gegeben hatte: »Die Liebe ist ein belangloser Akt, da man ihn beliebig oft wiederholen kann. « Beliebig oft... O ja. Doch es gab ein Ende. Das Ende des Weibes. Das Ende der Liebe. Der »von Theophrast so gepriesene Indianer« wußte sehr wohl, daß das Ende von der Frau kommen würde, doch er nahm an, daß dieses hübsche, zerbrechliche und leichtsinnige Wesen (bei dem Wort »leichtsinnig« - futile - mußte er lachen, denn er stellte es sich im Geiste in der lateinischen
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Aussprache eines Dominikaners vor: foutile), daß dieses leichtsinnige Wesen der Wollust entsagen würde, wenn letztere nicht mehr das unmittelbare Ende (im Sinne von Zweck), wenn sie lediglich Mittel und Weg zu einer noch rasenderen, heroischeren und der Schmerzgrenze näheren Wollust wäre. Er hatte sieben Frauen als Reserve in die Galerie gesperrt und damit nichts anderes getan als etwa ein Arthur Gough, der sieben Ersatzautomobile bereitgehalten hätte. .. für den Fall, daß eine Panne passierte. Er lachte noch einmal, doch als er Ellen ansah, wurde das Lachen zu einem nervösen Schluchzen. Sie war sehr schön. Ihr Versprechen hatte sie gehalten: Die Maske war gefallen, doch an deren Stelle waren die Ringe um ihre Augen getreten - und was für Ringe! Bald würden weitere Masken sich allenthalben auf sie legen wie Flocken violetten Schnees: die Leichenflecken, die zuerst an den Nasenflügeln und am Bauch hervortreten. Aber noch war der Marmor der Lebenden flekkenlos und leuchtend hell: am Busen und an den Hüften das gleiche kaum erkennbare dunkle Filigran wie bei frisch geschnittenem Elfenbein. Als er mit dem Zeigefinger behutsam ihre Lider
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anhob, stellte Marcueil fest, daß er nie bemerkt hatte, welche Farbe die Augen seiner Geliebten hatten. Sie waren so dunkel, daß es schwer war, ihre Tönung zu beschreiben, dunkel wie die welken Blätter, die so tiefbraun auf dem Grunde des durchsichtig klaren Wassergrabens rings um Lurance lagen; und sie sahen aus wie zwei Brunnen, die jemand in den Schädel gegraben hatte, um sich durch sie hindurch mit Wonne das Inwendige des Haars anzusehen. Die Zähne waren akkurate, ordentlich nebeneinandergestellte Spielsachen. Der Tod hatte ihre beiden Reihen vorsichtig zueinander bewegt wie winzige Dominosteine ohne »Augen« - sie waren noch zu kindlich, um schon zählen zu können - in einer Wunderschachtel. Die Ohren hatte zweifellos eine Spitzenklöpplerin »gebosselt«. Die Brustwarzen waren eigenartige rosane Dinger, die nur sich selber und nichts anderem glichen. Das Geschlecht hingegen sah wie ein ausnehmend dummes kleines Tier aus, so dumm wie eine Muschel - der ähnelte es auch wirklich -, aber nicht minder rosig. Der Übermann begriff, daß er dabei war, das
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Weib zu entdecken, eine Erfahrung, für die er bislang noch keine Muße gehabt hatte. Wer wie ein Karnickel Liebe macht, raubt sich die Zeit, Liebe zu empfinden. Wie seltene Juwelen, von denen er sich in wenigen Augenblicken für immer würde trennen müssen, küßte er andächtig alle seine Entdeckungen. Er küßte sie - was ihm noch nie in den Sinn gekommen war, weil er sich einbildete, damit dokumentiere er ein zeitweiliges Unvermögen zu virileren Zärtlichkeiten -, er küßte sie als Belohnung dafür, daß er sie hatte entdecken - fast hätte er gesagt: erfinden - dürfen. Und er begann, an der Seite seiner im Absoluten schlafenden Gefährtin sanft einzuschlummern, so wie einst der erste Mann an der Seite Evas erwacht war und glaubte, sie sei seiner Rippe entsprungen, weil sie neben ihm lag - ein Erwachen, das ihn mit einem mehr als verständlichen Staunen darüber erfüllte, an der Stelle, an der sich irgendein noch anthropoides Weibchen niedergelegt hatte, strahlend vor Liebe die erste Frau vorzufinden. Er murmelte ihren Namen, dessen Bedeutung ihm erst jetzt aufging: »Ellen, Hélène!« »Helena, Helena!« tönte ihm eine Musik durchs
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Gehirn, als liefe der Phonograph immer noch und zwänge ihn in einen Rhythmus. Und Marcueil stellte fest, daß in diesem Stadium der Verausgabung seiner Energie, in dem ein anderer Mann längst erschöpft gewesen wäre, er selber gefühlsselig wurde. Das war seine persönliche Art, das post coitum animal triste zu verarbeiten. So wie die Liebe für ihn eine Erholung von jener Beinarbeit gewesen war, verlangte nun, aus einem ähnlichen Bedürfnis nach Ausgleich heraus, auch sein Gehirn danach, in Aktion zu treten. Und nur um einzuschlafen, begann er, Verse zu schmieden: Eine nackte Gestalt, die voll heißem Verlangen Die Arme ausbreitet und ruft: »Ist es möglich?« Dann strahlend vor Wonne, mit hochroten Wangen: »Nennt' euren Wert ich, Juwelen, so log' ich. « Arme, so schlaff nach dem vielen Umschlingen, Mir zu Willen das Fleisch eines anderen Leibs, Ohne Falsch, selbst lügend, die Augen des Weibs: »Salz' die Tränen nicht so, ich will sie trinken. « In aufrechter Starre ist sie im Schlummer Ein teures Kissen, in welchem ein Herz schlagt; Doch nichts ist so süß wie ihr Mund, ihr dummer, Ihr holder Mund, der ach so glühend mich erregt.
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Oh Münder, bildet doch ein einz'ges Schlafgemach, So wie man zwei Käfige miteinander verbindet, Damit dort der Löwe freiend zur Löwin findet. Nur zu gern tun uns're Zungen es ihnen nach. So wie Adam, den ein doppelter Odem durchweht, Beim Erwachen Eva an seiner Seite entdeckt, Find' ich nun Ellen neben mir ausgestreckt. Helena - uralter Name, der für Schönheit steht. Aus fernen Zeiten tönt's herauf wie ein Gebet: »Helena, Hellas' Wellen Schwellen Wie ein Heros Vor Eros. Einmal mehr Auf dem Meer Ein Heer: Woher Dräut Arges? Von Argos.
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Mit im Spiel Ist Achill. Sein Ziel: Daß zerfiel' Trojas Feste In Reste. « Die Spur seines Wagens, der rings um die Mauern Hektar schleift, dem der tödliche Zweikampf mißglückt, Umrahmt einen Spiegel, in welchen ohne Bedauern, Ganz nackt, mit wildem Haar und wie verzückt Hellas' Helena Blickt. »Helena, Hellas' Wellen Schwellen Wie junge Triebe Vor Liebe. « Vom Turm fleht der alte Priamos traurig und trübe: »Achill, Achill, noch härter ist dein ehern Herz Als alles Gold und Eisen am Harnisch eines Kriegers!
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Achill, Achill, du härter als der Zahn des Tigers, Als uns'rer Mauern Fels, als uns'rer Tore Erz!« Sich schminkend, entgegnet Helena mauerwärts: »Da irrst du, Priamos, ich sog's dir unumwunden: Nichts ist so hart wie meiner prallen Brüste Kegel, Deren Knospen mir schwellen im Blute der Wunden, Korallenrot wie die Augen der weißen Meeresvögel: Tief in der kalten Pupille scharlachfarben die Seele. Oh nein, so hart ist auf dem Grabe nicht die Stele. « Und Paris, der Perverse, Wie Cupido so geil, Schießt listig einen Pfeil In des Achilles' Ferse. Doch wahr bleiben sollte, was wahr ist: Ein Heros des Eros ist dieser Paris, Der über Göttinnen einst ein kühles Urteil fällte Und sich entschloß, ein ird'sches Weib zu lieben. So kam's, daß er der schönen Helena nachstellte Und dreist sie raubte mit ein paar gedung'nen Dieben.
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Er ist als Bube nun entlarvt, des alten Priams Sohn: Seht, jauchzend überrollt ihn der Streitwagen schon, Bald treffen ihn der Geier gier'ge Schnabelhiebe: »Helena, Hellas' Wellen Schwellen Wie jene Diebe Vor Liebe. « »Schicksal, Schicksal, ach grausames Schicksal! Der Säufer des Bluts der Sterblichen schlemmt: Von toten Helden ist die Ebene weit überschwemmt, Schicksal und Geier hocken gemeinsam beim Mahl. Grausam Geschick, das uns alle zum Hades trägt!« Doch Helena, die kokett ihre Augen aufschlägt: »Schicksal? Ein hohles Wort: Der Himmel ist leer. Außer dem meiner Augen gibt's keinen Himmel mehr. Ihr Sterblichen, wagt es, ohne verzagt zu erbleichen,
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In ihre Bläue zu blicken, worin ihr die Wahrheit lest: Menelaos, Paris, Geliebter und Gatte, sind beide verwest, Und die Ebene ist übersät mit vielen anderen Leichen, Nur damit ich auf weicherem Grunde zu wandeln vermag, Einem Liebesteppich, gewebt aus Not und zuckendem Tod. Außerdem ist es so: Grün trag' ich fast jeden Tag, Und... ich weiß nicht... an Tagen wie heut' mag ich rot. »Helena ist tot«, murmelte im Schlaf der »von Theophrast so gepriesene Indianer« immer wieder vor sich hin. »Was bleibt mir von ihr? Die Erinnerung an ihren Liebreiz, die leichte, zarte, duftende Erinnerung an sie, das fließende, entzückende Bild der Lebenden, entzückender fast als die Lebende selbst, denn ich bin sicher, daß es mich nie mehr verlassen wird, und nur die Sehnsucht nach unmöglicher Ewigkeit quält und verdirbt die vergänglichen Freuden der Liebenden. Ihr Andenken werde ich immer bei mir tragen, die leichte, fließende und duftende und unvergängliche Trophäe des Geden-
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kens an sie, ein teures Phantom, dessen wogende, zerfließende Form als wollüstige Hydra meinen Kopf und meine Lenden mit der Liebkosung ihrer Tentakel umhüllen wird. Von Theophrast so gepriesener Indianer, du wirst es immer bei dir tragen, das ein wenig blutige, so duftende, leichte und fließende Gedenken an sie, du wirst es bei dir tragen wie ein skalpjagender Indianer... ihr Haar!« Und aus dem tiefsten, innersten Wesen dieses Mannes, der so anormal war, daß er sein Herz erst am Eise eines Leichnams hatte erwärmen können, stieg, von einer Kraft emporgerissen, das Bekenntnis einer sicheren Gewißheit auf seine Lippen: »Ich vergöttere sie.«
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XIV DIE LIEBESMASCHINE
In dem Augenblick, da Marcueil »Ich vergöttere sie« sagte, lag Ellen schon nicht mehr an seiner Seite. Ellen war gar nicht tot. Nur ohnmächtig oder sonstwie von Sinnen: Frauen sterben nie an derlei Abenteuern. Der Vater reagierte auf die Heimkehr seines kranken, umnebelten, glücklichen und schamlosen Kindes mit großer Betroffenheit; und Bathybius, der umgehend verständigt wurde, Bathybius bestätigte ungeachtet der Maske, welche die Frau getragen hatte, ungeachtet auch des Berufsgeheimnisses, vor allem jedoch seinen beruflichen Vorurteilen zum Trotz: »Ich habe es gesehen - so wahr, als hätte ich's unterm Mikroskop oder Spekulum gehabt -, ich habe Auge in Auge das Unmögliche gesehen. « Doch die mittlerweile befreiten Mädchen konnten nicht den Mund halten, und ihre Eifersucht nahm Rache. So kreuzte Virginie bei Elson auf, sehr schön, wunderbar geschminkt, mit so reiner Stirn und so
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treuherzigen Augen, daß sie wie die fleischgewordene Wahrheit aussah, und erklärte: »Der Doktor ist ein alter Esel. Wir sind die ganze Zeit über dort gewesen. Es ist nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Am zweiten Tag hatten sie noch nichts geleistet, und als wir ihnen zuschauten, haben sie sich, um uns zu imponieren, dreimal geliebt; danach wollte die Frau nicht mehr. « Ellen selber vermochte man nichts anderes zu entlocken als den Satz: »Ich liebe ihn.« »Liebt er dich?« fragte ihr Vater. Welche Dosis an Schimpf und Schande der Übermann auch verspritzt haben mochte, für den Amerikaner ließ sich daraus nur eine Konsequenz ableiten: André Marcueil mußte seine Tochter heiraten. »Ich liebe ihn«, lautete Ellens stereotype Antwort auf alle Fragen. »Also liebt er dich nicht?« wollte Elson wissen. Dieser voreilige Schluß sorgte zu einem erheblichen Teil für den tragischen Ausgang der ganzen Geschichte. Bathybius, durch das, was er gesehen hatte, aus der Fassung gebracht, trug dazu bei, daß sich bei
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William Elson die Überzeugung festsetzte: »Das ist kein Mensch, das ist eine Maschine.« Und er fügte den alten Satz hinzu, den er bei jeder Gelegenheit von sich gab, wenn er von Marcueil sprach: »Dieser blöde Kerl will von nichts etwas wissen. « »Und doch muß er meine Tochter lieben«, überlegte Elson, aufgeschreckt und pragmatisch zugleich, gewillt, sich sogar pragmatisch bis zur Absurdität zu zeigen, falls es notwendig war. »Hören Sie, Doktor, die Wissenschaft muß doch da irgend etwas ausrichten können!« Doch Bathybius' ins Wanken geratene Wissenschaft war recht gut mit einem Kompaß vergleichbar, dessen Nadel wie ein Makronenquirl im Kreise herumsaust und Gott weiß wo zum Stillstand kommt, nur nicht im Norden. Das Gehirn des Arztes mußte sich annähernd in demselben Zustand befinden wie der unlängst vom Übermann zertrümmerte Kraftmesser. »Die Antike hatte ihre Zauber- und Liebestränke«, sinnierte der Chemiker. »Man müßte an die alten Fertigungsverfahren, alt wie der menschliche Aberglaube, herankommen können, durch die man eine Seele zur Liebe zwingt!« Der zu Rate gezogene Arthur Gough meinte:
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»Es gibt die Suggestion... die Hypnose... die sind unfehlbar, aber dafür ist der Doktor zuständig. « Bathybius lief es kalt den Rücken hinunter. »Ich habe gesehen, wie er die Frau in Schlaf versetzt hat... m articula mortis in Schlaf versetzt... für sich selber, denn sie wollte ihm gerade ihre Haarnadel in die Augen stechen... Mit diesen Augen kann er jeden auf der Stelle umfallen lassen... Kein Mensch ist so verrückt, nehme ich an, nächtlicherweise dem doppelten Vorderlicht einer heranbrausenden, immer größer werdenden Lokomotive in die Augen zu sehen.« »Also greifen wir auf alte Techniken zurück«, sagte Arthur Gough. »Die Wüstenheiligen kannten eine Maschine, die dem, was wir brauchen, vielleicht sehr nahekommt, falls man sich auf die folgende Passage aus der vom heiligen Hieronymus verfaßten Lebensgeschichte des heiligen Hilarion verlassen darf: ›Gewiß, deine Kraft [Dämon] muß sehr groß sein, da du derart gefesselt und angeschmiedet bist durch eine kupferne Platte und ein Drahtgeflecht!‹« »Ein elektromagnetischer Apparat!« rief William Elson wie aus der Pistole geschossen.
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Und so geschah es, daß Arthur Gough, der zum Bau aller erdenklichen Gerätschaften befähigte Mechaniker, aufgefordert wurde, die ungewöhnlichste Maschine der Neuzeit herzustellen, eine Maschine, die nicht dazu bestimmt war, physikalische Wirkungen hervorzubringen, sondern bislang als nicht greifbar geltende Kräfte zu beeinflussen: die Liebeserweckungsmaschine. Wenn André Marcueil eine Maschine oder ein gleichsam eiserner Organismus war, der mit Maschinen spielend fertig wurde, nun, dann würde das Bündnis aus Ingenieur, Chemiker und Arzt zur optimalen Aufrechterhaltung der bürgerlichen Wissenschaft, Medizin und Humanität Maschine mit Maschine begegnen. Wenn dieser Mensch zum Mechanismus wurde, dann mußte halt, zur notwendigen Wiederherstellung des Gleichgewichts der Welt, ein anderer Mechanismus ... Seele erzeugen. Der Bau des Apparats war für Arthur Gough kein Problem. Den beiden anderen Gelehrten gegenüber blieb er indes jede Erklärung schuldig. Innerhalb von zwei Stunden war alles beisammen. Gough inspirierte sich an den Experimenten Faradays: Wenn man zwischen die beiden Pole eines starken Elektromagnets ein Stück Kupfer wirft, so kann dieses Stück, da es aus unmagnetischem Me-
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tall besteht, nicht beeinflußt werden und fällt trotzdem nicht einfach hindurch: Es sinkt so langsam herab, als befände sich irgendeine zähe Flüssigkeit zwischen den Polen des Magnets. Wenn man nun den Mut aufbringt, anstelle des Metallteils seinen Kopf zwischen die Pole zu halten - und Faraday wagte bekanntlich dies Experiment -, dann spürt man überhaupt nichts. Gerade das aber, daß man nichts spürt, ist das Außergewöhnliche; und das Furchtbare ist, daß auf dem Gebiet der Wissenschaften NICHTS nie etwas anderes bedeutet hat als »Man weiß nicht was«, eine unvorhersehbare Kraft, die Unbekannte x, den Tod vielleicht. Ein anderes bekanntes Faktum, das ebenfalls zur Herstellung des Apparats herangezogen wurde: In Amerika werden zum Tode Verurteilte gewöhnlich durch einen Stromstoß von zweitausendzweihundert Volt Spannung hingerichtet. Dabei tritt der Tod auf der Stelle ein, der Körper wird buchstäblich gegrillt, und die tetanischen Zuckungen sind derart entsetzlich, daß es so aussieht, als wolle der Apparat, nachdem er getötet hat, dem Leichnam noch so lange zusetzen, bis er ihn wieder zum Leben erweckt. Wird man nun aber einer mehr als viermal so hohen Stromspannung ausgesetzt - nämlich zehntausend Volt -, geschieht nichts.
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Halten wir zum Verständnis des Folgenden fest, daß das fließende Wasser des Schloßgrabens von Lurance einen Dynamo von elftausend Volt antrieb. André Marcueil, immer noch in seinen bleiernen Schlaf versunken, wurde von seinen Dienstboten allenthalben gehorchen die Dienstboten einem Arzt, wenn dieser Arzt diagnostiziert, daß ihr Arbeitgeber krank oder verrückt ist - auf einem Sessel festgeschnallt. Seine Arme und Beine wurden mittels Riemen in vier verschiedene Richtungen gezogen, dann wurde ihm ein merkwürdiger Gegenstand auf den Schädel gesetzt: eine Art Krone aus Platin, deren Zacken aber nach unten zeigten. Vorn und hinten hatte sie, wie es schien, je einen dicken, glattflächig geschliffenen Diamanten: Denn die Krone bestand aus zwei Teilen, von denen man jeden mit einer Ohrenklappe aus reinem Kupfer versehen hatte, die wiederum mit einem angefeuchteten Schwamm gefüttert war, der links und rechts an den Schläfen für den notwendigen Kontakt sorgte; die beiden metallenen Halbkreise waren durch zwei dicke Glasplättchen voneinander isoliert, deren äußere Schnittflächen über Stirn und Hinterkopf glitzerten wie kristallene Nägel. Marcueil wachte nicht einmal auf, als die Spannfedern der beiden
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seitlich angebrachten Anoden ihm schmerzhaft auf die Schläfen drückten, doch in diesem Augenblick träumte er von Skalps und Haarschöpfen. Der Doktor, Arthur Gough und William Elson observierten, selber unsichtbar, vom Nebenzimmer aus; und der gekrönte Patient, den man noch nicht wieder angekleidet hatte und dessen Bemalung stellenweise abgegangen war, so wie ein Standbild mit der Zeit seine Vergoldung verliert, bot einen so erbarmungswürdigen Anblick, daß die beiden Amerikaner, die, auch in bezug auf das Neue Testament, »bibelfest« waren, etlicher Minuten kühler Besinnung auf ihren praktischen Geist bedurften, um sich das mitleiderregende, übernatürliche Bild des dornengekrönten und ans Kreuz genagelten Königs der Juden aus dem Kopf zu schlagen. War das, was sie da in die äußerste Enge getrieben hatten, eine Kraft, die imstande war, die Welt zu erneuern oder zu zerstören? Mit Guttapercha und grüner Seide umkleidete Elektrodenkabel hielten den Übermann von den Schläfen her am Bändel; sie schlängelten sich über den Boden und verloren sich, wie nagend die Flucht ergreifendes Ungeziefer die Wand durchstoßend, irgendwohin in Richtung auf das knatternde Gebrumm des Dynamos.
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William Elson, wissensdurstiger Gelehrter und praktisch denkender Vater, schickte sich an, den Strom einzuschalten. »Einen Augenblick noch«, sagte Arthur Gough. »Was gibt's?« fragte der Chemiker. »Nun ja«, gab der Ingenieur zu bedenken, »schon möglich, daß dies Gerät uns das gewünschte Ergebnis beschert... möglich ist aber auch, daß es uns gar nichts oder etwas ganz anderes beschert. Außerdem ist das Ding ein bißchen auf die Schnelle zusammengebastelt worden... « »Um so besser, dann ist es eben ein Experiment«, schnitt Elson ihm das Wort ab und drückte auf den Schalterknopf. André Marcueil rührte sich nicht. Es sah sogar eher so aus, als verspürte er angenehme Empfindungen. Die drei gespannt zuschauenden Gelehrten deuteten das dahingehend, daß Marcueil sehr wohl begriff, was die Maschine von ihm wollte. Denn genau in diesem Augenblick stieß er aus seinem Traum hervor: »Ich vergöttere sie.« Die Maschine funktionierte also entsprechend den Vorausberechnungen ihrer Erbauer; doch dann geschah etwas, das unbeschreiblich war und
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dennoch in den Gleichungen hätte auftauchen müssen. Wie jedermann weiß, ist es, wenn zwei elektrodynamische Maschinen miteinander verbunden sind, immer diejenige mit der höheren Leistungsfähigkeit, die die andere auflädt. Bei diesem antiphysikalischen Stromkreis jedoch, in dem das Nervensystem des Übermannes und jene elftausend Volt, die vielleicht schon gar keine Elektrizität mehr waren, zusammengeschaltet wurden, vermochten weder der Chemiker noch der Doktor noch der Ingenieur die augenscheinliche Tatsache zu leugnen, daß es der Mensch war, der die Liebeserweckungsmaschine beeinflußte, und nicht umgekehrt. Wenn also, wie mathematisch vorauszuberechnen war, die Maschine tatsächlich Liebe produzierte, dann lediglich in der Weise, daß DIE MASCHINE SICH IN DEN MENSCHEN VERLIEBTE. Mit ein paar langen Sätzen stürzte Arthur Gough hinunter zum Dynamo und telefonierte entsetzt, der rezeptive Teil sei tatsächlich die Maschine: Sie drehe sich mit einer ungeheuren, nie erlebten Geschwindigkeit. .. verkehrt herum! »Das hätte ich nie und nimmer für möglich gehalten«, hauchte der Doktor, »... nie und nimmer...
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dabei ist es eigentlich völlig natürlich: Heutzutage, wo das Metall und das Maschinelle allmächtig sind, muß der Mensch, um zu überleben, stärker werden als die Maschinen, so wie er einst stärker gewesen ist als die wilden Tiere... Ein simples Sichanpassen an die veränderte Umwelt... Aber dieser Mann dort ist der erste Mensch der Zukunft... « Unterdessen schloß Arthur Gough, da er wie die beiden anderen ein pragmatisch denkender Mann war und jene unverhofft freigewordene Energie nicht ungenutzt lassen mochte, mit einem reflexartigen Handgriff den Dynamo an eine Akkumulatorenbatterie an... Kaum war er wieder oben, da wurde er Zeuge eines grausigen Schauspiels: Sei es, daß die nervliche Anspannung des Übermannes ein allzu exzessives Maß erreicht hatte, sei es, daß sie - ganz im Gegenteil - unversehens nachließ (vielleicht weil er im Begriff war aufzuwachen) und die vorhin durch ihn aufgeladenen Akkumulatoren nun stärker waren und ihren Überfluß zurückströmen ließen, sei es aus irgendeinem anderen Grunde - die Platinkrone begann plötzlich, hellrot zu glühen. Mit äußerster Kraftanstrengung und unter großen Schmerzen sprengte Marcueil die Gurte, mit denen seine Unterarme festgeschnallt waren, und
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griff sich an den Kopf; seine Krone verzog sich vermutlich aufgrund eines Konstruktionsfehlers, den William Elson Arthur Gough seither bitter zum Vorwurf machte: das Glasplättchen sei nicht dick genug oder zu leicht schmelzbar gewesen -, die Krone verzog sich und bog sich dann in der Mitte durch. Geschmolzenes Glas rann wie Tränen über das Gesicht des Übermannes. Als die Tropfen den Boden berührten, explodierten mehrere laut knallend, wie Glastränen. Bekanntlich löst sich Glas, wenn es verflüssigt und unter bestimmten Bedingungen abgeschreckt wird - in diesem Falle im angesäuerten Wasser der Kontaktschwämme -, in leicht explodierende Tropfen auf. Die drei versteckten Beobachter sahen deutlich, wie die Krone nach vorn rutschte und, zu einer inzwischen weißglühenden Kinnbacke geworden, dem Mann alle ihre Zähne in die Schläfen schlug. Marcueil schrie wie ein Tier und sprang auf, wobei er seine letzten Fesseln abstreifte und sich die Elektroden herunterriß, deren Spiralkabel sich hinter ihm raschelnd am Boden wanden. Marcueil stürmte die Treppe hinab... Die drei Männer begriffen, wie bejammernswert tragisch
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ein Hund sein kann, dem man einen Kochtopf an den Schwanz gebunden hat. Als sie auf die Freitreppe hinaustraten, sahen sie nur mehr eine wild herumfuchtelnde Gestalt, die der Schmerz mit übermenschlicher Geschwindigkeit von einer Seite der Allee zur anderen stürzen ließ, die sich dann mit stählerner Faust an das Gitter krallte, nur beseelt von dem Gedanken zu fliehen und um sich zu schlagen, und die schließlich zwei Vierkantstäbe dieses kolossalen Gitters auseinanderbog. Währenddessen zuckten und zischten im Vestibül die abgerissenen Drähte umher, töteten auf der Stelle einen herbeigeeilten Dienstboten und setzten einen Wandbehang in Brand, der sich, ohne daß Flammen zu sehen waren, mit heimtückischer Langsamkeit selber hinwegfraß und dabei aussah, als leckte er sich die roten Lippen. Und der Körper André Marcueils, splitternackt und nur noch stellenweise mit Rotgold überzogen, wand sich immer noch um die Gitterstäbe - oder die Gitterstäbe um seinen Körper... Der Übermann war tot, verflochten mit dem Eisen. ...........................................
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Ellen Elson ist geheilt und verheiratet. Bei der Zustimmung zu einem Ehegatten bestand sie lediglich auf der Einhaltung einer einzigen Klausel: daß der Mann imstande wäre, seine Liebe im gesitteten Rahmen der menschlichen Kräfte zu halten... Ihn zu finden, war... »eine Bagatelle«. Von einem geschickten Juwelier ließ sie sich in einen Ring, den sie treu am Finger trägt, statt der dicken Perle eine der verfestigten Tränen des Übermannes einsetzen.
ZU DIESER AUSGABE
Während Jarrys Roman »Messalina« im alten Rom spielt, ist die Handlung des komplementär gedachten »modernen« Romans »Der Übermann« in das Jahr 1920 vorverlegt. Für den »Übermann« André Marcueil ist die Liebe »ein belangloser Akt, da man ihn beliebig oft wiederholen kann« und deshalb lediglich eine sportliche Angelegenheit - einem Radrennen vergleichbar. Marcueil kann den Liebesakt zweiundachtzig Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden vollziehen und bricht damit sogar den von Theophrast, Plinius und Athenäus überlieferten Rekord des Indianers, der die Zahl 70 erreicht haben soll. Ellen Elson, die Tochter des Chemikers William Elson, dessen toxikologische Experimente die Herstellung von »Perpetual-Motion-Food« ermöglichen, ein Antriebsmittel, das aus einer Strychnin-Alkohol-Mischung besteht und im Zehntausendmeilenrennen erprobt wird, begeistert sich sofort für die Geschichte von dem »Indianer« und sperrt die sieben Dirnen, die sich auf Schloß Lurance eingefunden haben, um Marcueil den neuen
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Rekord zu ermöglichen, im entscheidenden Moment ein, weil sie allein in den Genuß der Liebespotenz des Übermanns kommen will. Dem »Experiment« ist sie erstaunlich gut gewachsen, sie verliebt sich in ihren »Indianer« und will ihn unbedingt heiraten, aber der amerikanische Erfinder widersetzt sich dem Wunsch seiner Tochter und beauftragt den Elektriker und Automobilkonstrukteur Arthur Gough mit der Konstruktion einer Liebesmaschine, die Marcueil töten wird. An den Schluß seines »modernen Romans« setzt Jarry die sarkastische Mitteilung von der Heilung (von ihrer Liebe geheilt) und Heirat der Ellen Elson mit Gough. Marcueil aber erfährt seinen wahren Triumph im Tode, so wie schon der Rennfahrer Jewey Jacobs, der während des Rennens der immerwährenden Bewegung stirbt und unter den anfeuernden Rufen seiner Kameraden »Dalli Dalli, du Saukopf!« als toter Mann noch größere Leistungen vollbringt: »Der Sprint des toten Jacobs war ein Sprint, von dem sich die Lebenden gar keinen Begriff machen können. « Das Zehntausendmeilenrennen, die rasende Wettfahrt zwischen einem Quintuplett und einem Rapidexpress, die die Überlegenheit menschlicher Kraft gegenüber maschineller auch auf größeren Strecken demonstrieren soll, zeigt, wie weit die
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Verbrüderung von Mensch und Maschine schon vorangekommen ist. André Marcueil vertritt die Idee »von der Unbegrenztheit des menschlichen Vermögens«. William Elson als ein Mann der Praxis überprüft diese Idee durch den Einsatz seiner Erfindungen. Die im »Übermann« vorgeführte technische Welt ist gefühlsleer, der Mensch ist dieser Welt ausgeliefert, sie erscheint ihm als dämonische Farce; und unter Aufgabe seiner menschlichen Eigenschaften nimmt er den Kampf gegen die Welt auf und besteht groteske Abenteuer. Die Fahrer der Zyklistenmannschaft sind eng mit ihrer Maschine verschmolzen, die wie ein burleskes Fabeltier wirkt. Ein Auto wird von Jarry als bastardartige Erscheinung aus animalischen und metallischen Bestandteilen beschrieben: »Wie ein großer Skarabäus breitete das Metalltier prüfend seine Flügeldecke aus, scharrte über den Boden, erzitterte bis ins Innerste, bewegte mummelnd seine Fühler und hüpfte davon. « Wie einerseits der Mensch durch die Maschine angetrieben wird, erhält die Maschine andererseits menschliche Impulse zugewiesen. Durch Jarry erfährt der bei Cyrano de Bergerac überlieferte Orest-Pylades-Mythos von der unvermeidlichen Anziehungskraft konträrer Wesen, wenn sie einmal
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von den Äpfeln, die die Freundschaft von Orest und Pylades wachsen ließ, genossen, eine neue, bestürzende Bekräftigung. Die Sage von Pygmalion ist diesem mythologischen Komplex eingefügt, ebenso die Erklärung aller magnetischen Wirkungen. Mit großer poetischer Überzeugungskraft hat Bergerac diese Zusammenhänge in seiner »Geschichte der Vögel« geschildert. Jarry, der Marcueil mit einer Liebesinspiriermaschine konfrontiert, berücksichtigt in diesem Zusammenhang auch die reziproke Wirkung: »Wenn dieser Mensch zum Mechanismus wurde, dann mußte halt, zur notwendigen Wiederherstellung des Gleichgewichts der Welt, ein anderer Mechanismus ... Seele erzeugen. « Das heißt, die Maschine, die den Übermann noch zu gesteigerten Liebesleistungen antreiben soll, verliebt sich ihrerseits in Marcueil, sie entbrennt in Liebe und versetzt sich in eine Hochspannung, die den Partner vernichtet. Im Tod ereignet sich die Erfüllung, denn die schmelzende Masse elektrischer Drähte, die todbringend auf Marcueil stürzt, ist als seelenvoller Tränenstrom beschrieben. Der mechanisierte Mensch und die vermenschlichte Maschine vereinigen sich. Da Jarry seinen »Übermann« als Zukunftsroman konzipiert hat, könnte man Marcueil einen »Adam
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Future« nennen, unter Bezugnahme auf den 1885 erschienenen Roman »Eve Future« von Villiers de l'Isle-Adam. Alfred Jarry und Villiers de l'IsleAdam haben sich mit gleicher Entschiedenheit dem Problem der Mechanisierung gewidmet. Beide stammen übrigens aus der Bretagne, beide wurden in Rennes und Saint-Brieuc erzogen. Sie hatten also die gleichen landschaftlichen und bildungstechnischen Jugendeindrücke. Die literarische Nachwirkung der »Eve Future« auf »Le Surmâle« ist klar. Und doch gibt es sehr wichtige Unterschiede: Die »Eva der Zukunft« ist ein Geschöpf des Erfinders Edison, ein maschinelles Gebilde wird hier zu einem vollkommenen Menschen erklärt. Villiers de l'IsleAdam ist noch der Romantik verpflichtet, er gibt eine neue Variation des Fauststoffs, gesehen mit den Augen einer Mary Shelley, der Schöpferin des Frankenstein-Monstrums. In der »Eva der Zukunft« wird das Künstliche gegen die »Wirklichkeit« gestellt. Die menschliche Maschine Hadaly ist kein Ungeheuer, das wie Frankensteins Monstrum hilflos und ungeliebt durch die Welt irren muß, sondern ist die Inkarnation des menschlichen Ideals, die Verwirklichung verlorener Hoffnungen der Menschheit. Lord Ewald verliebt sich in dieses Werk Edisons und zieht die Qualitäten des künst-
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liehen Geschöpfs der Schönheit seiner Geliebten Alicia vor, »denn ich muß einsehen, daß von euch beiden in Wahrheit die Lebende es ist, die Phantom genannt werden muß«. Das Weib der Zukunft bleibt aber Utopie. Der Erzähler läßt Hadaly vor ihrem endgültigen Glück und menschlichen Sein an der Seite Lord Ewalds bei einem Schiffsunglück versinken. Die technische Welt wird von Villiers de l'IsleAdam ausgesponnen und phantastisch überspitzt. Sein Übermann ist der »Phonographenpapa« Edison. Unbegrenzte Möglichkeiten hat demnach der, »der es wagt zu wollen«, der Erfinder. Ganz anders bei Jarry. Für ihn ist die Technik eher ein Alptraum. »Unbegrenztheit« ist von ihm rein mechanisch aufgefaßt, und mechanische Leistungen eines Menschen können beliebig gesteigert werden. Diese Leistungen machen den Übermann aus. Marcueil ist ein ganz normaler Mensch, von ihm heißt es, »er verwirklichte so unbedingt den Typus des gewöhnlichen Menschen, daß dies freilich ungewöhnlich wurde«. Die Technik ist in ihrer Vollkommenheit bereits vorausgesetzt, der Übermann wird mit seinen übermenschlichen Eigenschaften im Wettlauf mit technischen Apparaten eingesetzt. Er ist denn auch der phantastische Mitfahrer beim
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Zehntausendmeilenrennen, das er auf einem kettenlosen Fahrrad als Schatten verfolgt. Für die Gestalt des Übermanns gilt die Charakteristik der Figuren Jarrys, die Roger Shattuck in seinem Buch »Die Belle Epoque« gibt: »Sie sind aus Monstren zusammengesetzt, aus dissonanten Elementen, doch weniger fiktiven als immanenten. « Der Übermann agiert nur als ein Objekt der Technik. Jarry macht daraus keine Tragödie. Mit großer Akribie und ernster Wissenschaftlichkeit stilisiert seine schriftstellerische Phantasie die Welt zur Farce. Die Erstausgabe, die der Übersetzung von Heribert Becker als Vorlage diente, erschien 1902 im Verlag Éditions de la Revue Blanche. Die Ergebnisse des kritischen Editionsberichtes »Errata des éditions du Surmâle« von Thieri Foule und die kommentierenden Hinweise in den dem Roman Jarrys gewidmeten Beiträgen von Heft 20-21 der »Subsidia Pataphisica« (Collège de Pataphysique, 18. Gidouille 100 E. P.) wurden dankbar benutzt. Seite 5 die Affäre: Anspielung auf die Dreyfus-Affäre, die über ein Jahrzehnt (1894-1906) die Öffentlichkeit beschäftigte und Frankreich in zwei Lager spaltete. Seite 10 Mithridatismus: der eiserne Wille und die Eroberermentalität, die dem königlichen Feldherrn Mithridates
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(132-63 v. Chr.) zu Erfolg und gefürchtetem Ansehen verhalfen. Mithridates war der Name mehrerer pontischer Könige, aber nur der Ruhm des »Eupator« genannten Mithridates überlebte: er eroberte Kleinarmenien, Kolchis, Kappadozien und kollidierte in Kleinasien mit den die Weltmacht beanspruchenden Römern. Es kam zu mehreren mithridatischen Kriegen, an deren Beginn eine »kleinasiatische Vesper« veranstaltet wurde (Mithridates befahl die Ermordung von etwa 100000 Italikern, die in kleinasiatischen Städten lebten), in deren Endphase dann die römischen Feldherrn Sulla, Lucullus und schließlich Pompejus Siege erfochten. Die entscheidende Niederlage allerdings brachte dem Mithridates der Aufruhr seines Sohnes Pharnakes, der ihn zum Gift-Selbstmord veranlaßte. Als alles Gift nicht »half«, bat Mithridates einen Sklaven, sich seiner zu erbarmen: so leicht war der »Mithridatismus« eben nicht totzukriegen. Seite 14 Zehntausend Meilen: Die Umrechnung der Meilen in Kilometer, die William Elson anführt, beträgt in der Erstausgabe 1693,2 km. Dieser offensichtliche Fehler wurde in der »großen« Fasquelle-Ausgabe (und der ihr folgenden Ausgabe der »Gesammelten Werke« von 1948) auf 1693 km abgerundet, also nur verschlimmbessert. Ein findiger Lektor korrigierte in der »kleinen« Fasquelle-Ausgabe von 1953 in 16930 km. In Wirklichkeit scheint aber bei der Erstausgabe anstelle von »mille« irrtümlich »cent« gedruckt worden zu sein, so daß die Zahl korrekt 16093,2 km lauten muß. Thieri Foule hat in einem kleinen Beitrag über »Die Länge von zehntausend Meilen« die Editionsgeschichte dieses »Fehlers« abgehandelt (Subsidia
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Pataphysica, Nr. 20-21, S. 115 f. Paris 1974 vulgo). Erstaunlich ist noch, daß der »Amerikaner« Elson die nur für Großbritannien gültige Umrechnung in Yard benutzt, korrekt wäre nämlich 16093,4 km. Seite 16 Cato der Ältere: Hier spielt Jarry auf eine Stelle in dem von ihm geschätzten und als »Quelle« oft benutzten Buch »Der Weg zum Erfolg« von Béroalde de Verville (1556-1623) an (Kap. XLIV): Der Andere: Mit eurer Verlaubnis sage ich euch, daß fünfundzwanzig Jahre ein viel schöneres Alter sind; ja, trotz Cato, so soeben erst gesagt hat, daß er ein so guter Geselle wäre, und daß er es im Alter von sechzig Jahren noch zweimal machte. Cato: 0 du täppisches Knäblein, liebwerter Freund, das ist einmal im Sommer und das andere Mal im Winter. (Deutsch von Mario Spiro, Berlin 1914. S. 185.) Seite 17 Claude Terrasse (1867-1925): mit Jarry befreundeter Komponist, der u. a. auch die Musik zur Uraufführung des »Ubu Roi« komponierte und für den Jarry ein »Pantagruel«-Libretto verfaßte. Zu seiner Operette »Die Arbeiten des Herkules« verfaßten die beliebten Boulevard-Autoren Flers und Caillavet das Libretto. Die von Jarry zitierte Stelle aus dem Libretto findet sich in der 12. Szene des 3. Akts der Operette, die Sache mit den dreißig Jungfrauen ist in der Szene zuvor abgehandelt worden, das Wort »dreißig« hat Jarry für »bah!« eingesetzt. Seite 17 Dwdaros aus Sizilien (bzw. Diodorus Siculus, gest. 21 n. Chr.): In seiner (in griech. Sprache verfaßten) »Welt-
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geschichte« (Bibliotheca historica, IV, 29) erwähnt er die fünfzig Töchter des Thespios, mit denen Herkules in einer Nacht - nach anderen Quellen in sieben bzw. fünfzig Nächten - fünfzig Söhne, die Thespiaden, zeugte. Jarry, der die griechischen und römischen Klassiker gut kannte, zitiert hier und generell in diesem Roman nur selten nach den originalen Quellen, sondern hält sich meistens an den Wortlaut der Zitate, wie sie Rabelais oder Verville angeben (oder in den editorischen Kommentaren zu Ausgaben dieser Autoren zu finden sind) und folgt damit dem Beispiel der betr. Autoren: Rabelais beruft sich auf Plinius, der wiederum Theophrast als Zeugen nennt, der sich seinerseits auf mündliche Überlieferungen stützt. Zudem ist ja die erzählerische Situation ein Gespräch von Betrunkenen, die nicht mehr so genau »wissen«, die »ich glaube« sagen und dem »on dit« zuneigen. Seite 18 Über die Eitelkeit der Wissenschaft: Ein derartiges Werk von Diodoros gibt es nicht. »Kapitel drei« ist ein Indiz dafür, daß das dritte Buch von »Gargantua« die eigentliche Quelle ist, und dort erwähnt (im 27. Kapitel) Rabelais neben Herakles die »Hurenhengste« Proculus Cäsar und Mahom (Mohammed). Rabelais' Quelle wiederum war das berühmte Werk des Agrippa von Nettesheim (1486-1535), »De incertitudine et vanitate scientiarum«, dessen 63. Kapitel »Von der Hurenkunst« handelt. Rabelais übrigens nennt Cornelius Agrippa Her Trippa. In der von Fritz Mauthner 1913 bei Georg Müller edierten Ausgabe von Agrippas »Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften« heißt es (S. 263): »Proculus, der römische Kaiser, hat in dieser Hurenkunst eine nicht geringe Ehre
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weggetragen. Aber das ist nichts dagegen, was bekanntlich die Poeten vom Herkule schwätzen, daß er in einer Nacht fünfzig Jungfern soll zu Weibern gemachet haben. « Ausgerechnet in diesem 63. Kapitel sah sich der so sprachsensible Mauthner zu Kürzungen veranlaßt von Sätzen, »die unserer prüden Sprache nicht geläufig sind«: »Agrippa schrieb die überaus deutliche Sprache des sechzehnten Jahrhunderts und war - was man auch sonst gegen ihn sagen mag - ein Schriftsteller von reinlicher Phantasie; ich möchte Lesern von unreinlicher Phantasie nicht gern gefällig sein.« Jarrys Quelle, die ihm Rabelais erschlossen hat, war der lat. Originaltext Agrippas: »Ipse etiam Proculus imperator in hac arte non postremam gloriam reportavit, qui (ut testatur eius ad Metianum epistola) ex captis centum Sarmaticis virginibus decem prima nocte iniit, omnes autem intra quindecim dies constupravit. Sed maius illo est quod poetae narrant de Hercule, illum quinquaginta virgines una nocte omnes mulieres reddidisse. Narrat etiam Theophrastus gravis autor, herbulam quandam Indicam tantae virtutis, ut quidam ea comesta ad septuagesimum coitum processerit.« - Was schließlich Mohammed anlangt, so ist der erhobene Vorwurf übermäßiger Potenz ein beliebtes Vorurteil, eine entsprechende Koran-Stelle, auf die sich schon Rabelais beruft, gibt es nicht. Seite 18 Tausendundeine Nacht: Jarry bevorzugte die von Galland übersetzte Ausgabe (wie aus dem »Faustroll« hervorgeht). Hier hält er sich an die von Mardrus besorgte Ausgabe (die betr. Stelle bezieht sich auf die 60. Nacht dieser Ausgabe), die er regelmäßig in der Zeitschrift »La Revue Blanche« besprach.
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Seite 20 Bicètre: Vorort von Paris mit psychiatrischer Anstalt. Seite 22 Athenäus: Wie Plinius stützt sich Athenaios aus Naukratis (Ägypten), ein Autor des 5.Jahrhunderts n. Chr., in seinem Werk »Das Gelehrtengastmahl« auf Theophrast. Im schon erwähnten 3. Buch von »Gargantua« (Kap. 27) schreibt Rabelais: »Red mir auch nicht von dem durch Theophrastus, Plinius und Athenäus so beschrieenen Indianer, der es mit Hülf eines sichern Kräutleins über siebzig Mal des Tags prästiert.« Seite 23 Plinius (der Ältere, 23-79): Nicht in Buch III, Kap. 28, sondern in Buch XXVI, Kap. 63 äußert sich Plinius über Aphrodisiaka und schreibt: »Auch wer das Mark aus den Zweigen der Wolfsmilch bei sich trägt, soll mehr zum Beischlaf geneigt werden. Seltsam ist, was Theophrastus, ein sonst ernst zu nehmender Autor, in diesem Zusammenhang berichtet, daß bei einem Manne durch Berühren eines gewissen Krautes, dessen Namen und Art er nicht angegeben hat, nach siebzigmaligem Geschlechtsverkehr die Brunst noch angehalten habe.« Im Original: »... septuageno coitu durasse libidinem contactu herbae, cuius nomen genusque non posuit.« (Ausgabe der Naturkunde, Lateinisch und Deutsch, Artemis Verlag, München 1983, S. 74/75.) Seite 23 Theophrast (370-287 v.Chr.): Der bedeutendste Schüler des Aristoteles hat sowohl die berühmten »Charaktere« verfaßt, als auch »Die Ursachen der Pflanzen« und »Die Geschichte der Pflanzen« bzw. »Pflanzenkunde«, in deren Buch IX, Kap. 20, sich die von Plinius zitierte Stelle befindet.
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Seite 24 Indianer. Im Französischen heißt sowohl der Inder als auch der Indianer »indien«. Seite 25 Münchhausen: Besonders in französischen Kinderbuch-Ausgaben der Abenteuer Münchhausens heißt der Lügenbaron Monsieur de Crac. Der Name Crac tauchte erstmals im 1853 erschienenen »Almanach du Baron de Crac« auf, der S. 1-168 die »Aventures du Baron de Münchhausen, racontées par lui-même« enthält. Eines der schönsten Kinderbücher ist »Monsieur de Crac« mit den Zeichnungen von Geoffroy, erschienen bei Hetzel, Paris 1878. Seite 44 ... Tarnen ultima: Juvenal (60-140) berichtet in der 6. seiner insgesamt 16 erhaltenen Satiren von der unter dem Namen Lysiska im Bordell sich vergnügenden Kaiserin Messalina. Die Übersetzung der hier zitierten Verse 129 und 130 lautet: »Als letzte schloß sie die Zelle, noch heiß von der Brunst ihrer lüsternen Scheide, und zog, erschöpft von Männern, doch nimmer befriedigt, nach Hause. « Seite 49 Mein lieber Sangrado: Sangrado heißt der reiche, recht bornierte und geizige Doktor in Valladolid, bei dem Gil Blas seine Arztlehre erhält. Sangrado ist Alkoholgegner und schwört auf das Allheilmittel Wasser. Sein einziges Arztrezept besteht im Zuraderlassen und der Verabreichung von Wasserkuren. »Die Geschichte des Gil Blas von Santillana« verfaßte Alain René Lesage (1668-1747). Seite 55 Jardin d'Acclimatation: Eine Art Zoologischer Garten und Prater im Nordosten des Bois de Boulogne. Seite 57 Maulwurf: Der »Taupin« ist ein Schüler in der mathematischen Vorbereitungsklasse für die Ecole Polytechnique.
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Seite 64 sancti Thomae: Thomas von Aquino (1224-1274) dürfte diese von Ellen geäußerten Ansichten wohl nicht gehabt haben. Ellens »weil es absurd ist« paraphrasiert das Sprichwort »Credo, quia absurdam«, das von Tertullian abgeleitet wird: »Und gestorben ist Gottes Sohn; es ist ganz glaubwürdig, weil es ungereimt ist. Und begraben, ist er auferstanden; es ist gewiß, weil es unmöglich ist.« Seite 67 Kurtisanenkönigin: Selbstverständlich meint Marcueil die Gemahlin von Kaiser Claudius, Messalina. Seite 76 Twinkle, twinkle, Utile star. Jarry zitiert hier ein in England sehr populäres Kinderlied, das von Jane Taylor (1783-1827) stammt: Twinkle, twinkle, little star, How I wonder what you are! Up above the world so high, Like a diamond in the sky! In »Alice's Adventures in Wonderland« von Lewis Carroll heißt das Liedchen: Twinkle, twinkle, little bat! How I wonder what you're at! Up above the world you fly! Like a teatray in the sky. Seite 115 die sieben Mädchen: Das Erscheinen des »Siebengestirns« auf Schloß Lurance, auch die Beschreibung der sieben Freudenmädchen sind der Geschichte der überraschenden Begegnung Abu el-Hassans mit sieben Jungfrauen nachempfunden, wie sie in der 634. Nacht der von Mardrus besorgten französischen Ausgabe von »Tausendundeine Nacht« erzählt wird.
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Seite 145 Aristoteles: Im 5. Kapitel von Buch IV der »Problemata« setzt sich Aristoteles mit den Beischlaf betreffenden Fragen auseinander und vertritt die Meinung, daß der Mensch, nur wenn ihm warm ist, zum Beischlaf fähig ist. Beweis: Wer beim Schlafen kalte Füße bekommt, erlebt keine Pollutionen. Sich »abzukühlen« sei dem Beischlaf abträglich. Seite 145 Fabeln von Florian: In vielen Werken Jarrys finden sich immer wieder Verweise auf den Fabeldichter Jean-Pierre Claris de Florian (1755-1794). Aus der »Nüsse«-Fabel zitiert Jarry auch in »Die absolute Liebe« (S. 230). Seite 184 der heilige Hieronymus: Die Bedeutung des lateinischen Kirchenvaters Sophronius Eusebius Hieronymus (340-420) beruht vor allen Dingen darauf, daß er dem Abendland die Schätze der griechischen Theologie übermittelt hat. Sein bekanntestes Werk ist die sogenannte »Vulgata«, die lat. Bibel-Übersetzung. Durch Abfassung der Lebensgeschichten des heiligen Paulus, Hilarion und Malchus begründete er die Tradition der Heiligenlegende. Das Hieronymus-Zitat befindet sich in Kap. XIX der Lebensgeschichte des heiligen Hilarion. Der befreundeten Schriftstellerin Rachilde, Autorin der Romane »Madame de Sade« und »Der Liebesturm«, überreichte Jarry den »Übermann« mit der Widmung »Für Rachilde (in aller Bescheidenheit) diesen Turm des sexuellen Schraubstocks«.
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Die Abbildung auf der vorderen Umschlagseite ist eine Zeichnung Jarrys, Père Ubu: »Quo vadis!«, enthalten auf einer Postkarte von Jarry und Eugène Demolder an den Verleger Alfred Vallette vom 1.4.1902. - Die Vignette auf der hinteren Umschlagseite ist von Pierre Bonnard und stammt aus dem » Almanach illustré du Père Ubu« von 1901. - Die Abbildung auf Seite 195 ist eine Zeichnung von Pierre Bonnard zum »Übermann« aus dem Jahr 1902.
INHALT
I Wer bietet mehr? .................................. II Das Herz weder links noch rechts............ III Es ist ein Weibchen, aber ein sehr starkes ..................................................... IV Ein kleines Persönchen............................ V Das Zehntausendmeilenrennen ............... VI Das Alibi .................................................. VII Damen unter sich .................................. VIII Das Ovulum ............................................. IX Der von Theophrast so gepriesene Indianer ................................................ X Wer bist du, Mensch?............................... XI Und öfter ................................................. XII 0 schöne Nachtigall ................................. XIII Die Entdeckung des Weibes ................. XIV Die Liebesmaschine .................................
5 31 37 60 70 106 119 130 137 149 151 155 169 181
Zu dieser Ausgabe............................................. 197