Scan by Schlaflos
Buch Anne Dare belagert ihren wahnsinnigen Onkel im Kampf um den Thron von Crothenien, wo Krieg, Cha...
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Scan by Schlaflos
Buch Anne Dare belagert ihren wahnsinnigen Onkel im Kampf um den Thron von Crothenien, wo Krieg, Chaos und Verzweiflung herrschen. Anne Dare weiß, dass sie die Belagerung schnell beenden muss, wenn sie ihren Thron zurückgewinnen will. Und so greift sie auf magische Mittel zurück, die sie und all ihre Freunde das Leben kosten können - und ihre Seelen. Doch der Krieg ist nicht die einzige Bedrohung des Landes: Immer neue Monster erscheinen auf der Bildfläche. Als Winna, die Geliebte des Waldhüters Aspar White, von einem abscheulichen Wesen vergiftet wird, macht er sich auf den Weg, um eine gefürchtete Hexe um Hilfe zu bitten. Währenddessen entdeckt ein in Ungnade gefallener Komponist in den Kerkern unter Eslen eine Musik, die seit tausend Jahren nicht mehr gehört wurde, eine Musik, deren Klänge ihm seine Rache ermöglichen - die aber auch furchtbaren Schrecken auf die Welt zurückrufen könnte ... Autor Greg Keyes lernte schon als Kind die Kultur und Sprache der Navajo-Indianer kennen und entwickelte hierdurch eine große Faszination für Sprachen, Rituale und Mythen. Nach einem Anthropologie-Studium veröffentlichte er unter dem Namen J. Gregory Keyes seinen ersten Fantasy-Roman »Aus Wasser geboren«, mit dem er sofort in die Riege der jungen Erneuerer des Genres aufstieg. Von Greg Keyes lieferbar: DIE VERLORENEN REICHE: I. Der Dornenkönig (24260) 2. Die Rückkehr der Königin (24261) 3. Der Blutritter (24262)
Greg Keyes
Der Blutritter Die verlorenen Reiche 3 Ins Deutsche übertragen von Marie-Luise Bezzenberger blanvalet Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Blood Knight. The Kingdoms of Thorn and Bone« (Book Three) bei Del Rey/The Ballantine Publishing Group, New York. Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-OIOO Das für dieses Buch verwendete Fsc-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen. i. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung September 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © der Originalausgabe 2006 by J. Gregory Keyes Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Published in agreement with the author c/o Baror International, Inc. Armonk, New York, USA Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Schlück/Crabb/Gordon Redaktion: Alexander Groß UH • Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN-10: 3-442-24262-2 ISBN-13: 978-3-442-24262-7 www.blanvalet-verlag.de Für meinen Sohn John Edward Arch Keyes. Willkommen, Archer. Prolog In der Kammer des Waurm Lächelnd hielt Robert Dare Muriele eine rote Rose hin. »Behalte sie«, sagte sie. »Vielleicht riechst du dann besser.«
Robert seufzte und strich über sein schwarzes Bärtchen, das seine von Natur aus feinen Züge schärfer erscheinen ließ. Dann zog er Hand und Blume zurück und ließ sie an seiner Brust ruhen, während er seinen undurchdringlichen Blick auf Muriele richtete. Er sah viel älter aus als die zwanzig Winter, die er auf dieser Welt zugebracht hatte, und einen winzigen Augenblick lang verspürte sie ganz entfernt Mitleid mit diesem Mann, der ihren Gemahl und ihre Töchter ermordet hatte. Mit dem, wozu er geworden war. Was immer das auch war, auf jeden Fall war es nicht menschlicher Natur, und ihr Mitgefühl wurde von einem Aufwallen des Ekels davon geschwemmt. »So reizend wie immer, meine Liebe«, bemerkte Robert ruhig. Sein Blick huschte zur Seite, zu der anderen Frau, die mit ihnen im Zimmer stand, als wäre er eine Katze, die versuchte, zwei Mäuse im Auge zu behalten. »Und wie geht es der entzückenden Lady Berrye heute?« Alis Berrye - Murieles Zofe und Beschützerin - schenkte Robert ein herzliches Lächeln. »Mir geht es sehr gut, Euer Hoheit.« »Ja, das sehe ich.« Robert trat näher und hob die Rechte, um Alis' rotbraune Locken zu streicheln. Das Mädchen zuckte nicht, außer vielleicht ein wenig um die Augen. Tatsächlich hielt sie sehr still. Muriele konnte sich vorstellen, dass sie sich einer zum Zustoßen bereiten Natter gegenüber so verhalten würde. »In der Tat, Eure Wangen haben Farbe«, fuhr Robert fort. »Kein 9 Wunder, dass mein verblichener Bruder so hingerissen von Euch war. So jung - so voller Gesundheit und Lebenskraft, so glatt und straff. Nein, das Alter hat noch nicht einmal begonnen, Euch mit seinem Hauch zu streifen, Alis.« Dieser Köder war für Muriele bestimmt, doch sie hatte nicht vor, danach zu schnappen. Ja, Alis war eine der Geliebten ihres Mannes gewesen - die jüngste, soweit sie wusste -, doch seit seinem Tod hatte sie sich als nützliche und treue Freundin erwiesen. Seltsam, aber so war es. Das Mädchen schlug sittsam die blauen Augen nieder, antwortete jedoch nicht. »Robert«, brach Muriele das Schweigen, »ich bin deine Gefangene und dir daher auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, aber ich hoffe, ich habe deutlich gemacht, dass ich keine Angst vor dir habe. Du bist ein Brudermörder, ein Thronräuber und noch etwas viel Schlimmeres, wofür ich keinen Namen weiß. Es wird dich also nicht überraschen, wenn ich sage, dass ich deine Gesellschaft nicht schätze. Wenn du also bitte mit jedweder Demütigung, die du für mich ersonnen hast, zum Ende kommen könntest, wäre ich dir sehr verbunden.« Roberts Lächeln gefror auf seinem Gesicht. Dann zuckte er die Achseln und ließ die Blume zu Boden fallen. »Die Rose ist auch gar nicht von mir«, erklärte er. »Also gut... Bitte setz dich.« Seine zaghafte Geste deutete auf mehrere Stühle, die um einen schweren Eichentisch standen. Die Möbel ruhten auf geschnitzten Klauen, passend zu dem einem Ungeheuer gewidmeten Raum, einem kleinen, selten genutzten Gemach, verborgen im fensterlosen Inneren des Palasts, das als die Waurm-Kammer bekannt war. Zwei gewaltige Wandbehänge zierten die Mauern; einer zeigte einen Ritter in einem altertümlichen Kettenhemd, der ein unglaublich breites und langes Schwert gegen einen Waurm schwang, dessen Schuppen mit goldenen, silbernen und bronzenen Fäden gearbeitet waren. Der schlangengleiche Leib des Unge10 tüms wand sich entlang der Ränder des Tuchs zur Mitte hin, wo der Ritter stand, und dort erhoben sich tödliche Klauen, und ein mit eisernen, gifttriefenden Zähnen bewehrter Rachen war weit geöffnet. So kunstvoll war der Stoff gewirkt, dass es schien, als würde die riesige Schlange jeden Moment daraus hervorgleiten und auf den Boden kriechen. Der zweite Wandteppich schien weitaus älter zu sein. Seine Farben waren verblasst, und an einigen Stellen sah das Gewebe aus, als wäre es durchgescheuert. Er war von einfacherer, weniger wirklichkeitsgetreuer Machart und stellte einen Mann dar, der neben einem erschlagenen Waurm stand. Das Abbild der Gestalt war so schlicht gehalten, dass sie sich nicht sicher war, ob es der gleiche Ritter sein sollte und ob er eine Rüstung trug oder lediglich ein eigenartiges Wams. Die Waffe, die der Mann in der Hand hielt, war sehr viel kleiner, eher ein Messer als ein Schwert. Eine Hand hatte er zum Mund gehoben. »Du warst schon einmal hier?«, fragte Robert, als sie widerstrebend Platz nahm. »Einmal«, erwiderte sie. »Vor langer Zeit. William hat hier einen Adligen aus Skhadiza empfangen.« »Als ich dieses Gemach entdeckt habe - ich glaube, ich war ungefähr neun -, da habe ich es ganz verstaubt vorgefunden«, sagte er. »Kaum geeignet, um dort zu sitzen - und doch so anheimelnd.« »Ungemein«, bemerkte Muriele trocken und betrachtete einen grotesken Reliquienschrein, der an einer der Wände stand. Er war zum größten Teil aus Holz gefertigt, in der Form eines Mannes mit ausgestreckten Armen. Dieser hielt in jeder Klauenhand einen vergoldeten Menschenschädel. Anstelle eines menschlichen Gesichts hatte er einen Schlangenkopf mit Widderhörnern, und seine Beine waren sehr kurz und endeten in vogelähnlichen Krallen. Sein Bauch bestand aus einer Vitrine, hinter deren Glastüren sie einen schmalen, leicht geschwungenen Elfenbeinkegel ausmachen konnte, ungefähr so lang wie ihr Arm. 11 »Das da war früher nicht hier«, sagte sie. »Nein«, pflichtete Robert ihr bei. »Das habe ich vor ein paar Jahren einem Sefry-Händler abgekauft. Das, meine
Liebe, ist der Zahn eines Waurm.« Er verkündete das wie ein kleiner Junge, der etwas Interessantes gefunden hat und erwartet, mit besonderer Aufmerksamkeit belohnt zu werden. Als er keine bekam, verdrehte er die Augen und läutete eine kleine Glocke. Eine Dienstmagd erschien mit einem Tablett. Sie war jung, mit dunklem Haar und einer einzelnen Pockennarbe im Gesicht. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe zu sehen, und sie presste die Lippen so fest zusammen, dass sie ganz blass waren. Das Mädchen stellte Kelche mit Wein vor sie hin, verschwand und kehrte mit einem Teller voller Süßigkeiten zurück - kandierte Birnen, Butterplätzchen, Branntweinküchlein, süße, in Honig geröstete Käsefladen und Murieles Lieblingsleckerei: Maidenmonde, süße, mit Mandelpaste gefüllte Teigtaschen. »Bitte, bitte«, drängte Robert, trank einen Schluck von seinem Wein und deutete mit großer Geste auf die Köstlichkeiten. Muriele betrachtete ihren Wein einen Moment lang, dann nippte sie daran. Robert hatte zurzeit keinen triftigen Grund, sie zu vergiften, und wenn er jemals einen haben sollte, gab es nichts, was sie dagegen tun konnte. Alles, was sie in ihrem Kerker aß und trank, ging letzten Endes durch seine Hände. Das Getränk war eine Überraschung - es war gar kein Wein, sondern etwas, das nach Honig schmeckte. »So«, sagte Robert und stellte seinen Kelch auf den Tisch. »Lady Berrye, sagt es Euch zu?« »Es ist sehr süß«, meinte die Angesprochene. »Ein Geschenk«, erläuterte Robert. »Es ist ein besonders erlesener Met aus Haurnrohsen - ein Geschenk von Berimund von Hansa.« »Berimund ist in letzter Zeit äußerst großzügig«, bemerkte Muriele. 12 »Und er hält große Stücke auf dich«, fügte Robert hinzu. »Offensichtlich«, erwiderte sie, nicht gewillt, ihren beißenden Spott zu mildern. Robert trank einen weiteren Schluck, dann nahm er den Becher in beide Hände und drehte ihn langsam zwischen den Handflächen. »Ich habe gesehen, wie du die Wandbehänge bewundert hast«, sagte er und schaute tief in seinen Met. »Kennst du den Mann, der dort abgebildet ist?« »Nein.« »Hairugast Waurmslauth, der Erste aus dem Hause Reiksbaurg. Manche haben ihn den blodrauthin genannt, oder den Blutritter, denn es heißt, nachdem er das Ungeheuer getötet hatte, habe er das warme Blut des Waurm getrunken und es mit dem seinen vermischt. So hat er sich dessen Stärke zu Eigen gemacht, wie auch alle seine Nachkommen. Und aus diesem Grunde sind die Reiksbaurgs stark geblieben.« »So stark waren sie aber nicht, als dein Großvater sie aus Crothenien vertrieben hat«, bemerkte Muriele. Robert drohte ihr mahnend mit dem Finger. »Aber sie waren stark, als sie deinen lierischen Vorfahren den Thron entrissen haben.« »Das ist lange her.« Er zuckte mit den Schultern. »Hansa ist jetzt mächtiger als damals. Das Ganze ist ein großer Tanz, Muriele, eine Pavane der Roten Herzogin. Der Herrscher Crotheniens war lierisch, dann war es ein Hanser, jetzt ist er virgenyanischer Herkunft. Doch woher auch immer sein Blut stammt, er ist der Herrscher von Crothenien. Der Thron überdauert.« »Was willst du damit andeuten, Robert?« Er stützte sich auf die Ellbogen und betrachtete sie mit einer so ernsten Miene, dass es fast komisch war. »Wir stehen am Rande des Chaos, Muriele. Ungeheuer aus unseren finstersten Schwarzen Marys treiben ungehindert ihr Unwesen überall im Land und verbreiten Angst und Schrecken in unse13 ren Dörfern. Reiche rüsten zum Krieg, und unser Thron, der schwach erscheint, stellt ein Ziel dar, das nur wenige unbeachtet lassen können. Die Kirche sieht überall Ketzerei und hängt ganze Dorfgemeinschaften auf was mir kaum sinnvoll erscheint, aber immerhin gehört sie zu unseren wenigen Verbündeten.« »Nichtsdestotrotz wirst du Marcomir von Hansa den Thron nicht überlassen«, stellte Muriele zuversichtlich fest. »Ja, das wäre töricht, nicht wahr?«, stimmte er ihr zu. »Aber ich werde das tun, was Könige häufig tun, um ihre Macht zu sichern. Ich werde mich vermählen. Und du dich ebenfalls, teuerste Schwägerin«, fügte er hinzu. »Ich habe mich doch recht eindeutig ausgedrückt«, gab Muriele zurück. »Bring mich um, wenn du willst, aber ich werde dich nicht heiraten.« Er zuckte heftig die Achseln, als versuche er, irgendetwas abzuschütteln. »Nein, in der Tat«, sagte er trocken. »Ich sehe, dass du das nicht tun wirst. Das Messer, das du mir ins Herz gestoßen hast, war ein deutlicher Hinweis, dass du meinem Antrag nicht wohl gewogen bist.« »Wie gut, dass es nicht mehr schlägt, dein Herz.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Musst du immer so spitzfindig mit solchen Fragen sein?«, fragte er. »Wer am Leben ist, wer tot ist? Glaubst du, du bist besser dran, nur weil du ein Herz hast, das schlägt? Wie anmaßend von dir. Und - wenn ich es denn sagen muss - wie kleinlich.« »Du bist vollkommen wahnsinnig«, stellte Muriele fest. Robert grinste und öffnete die Augen. »Das ist zumindest eine wohl bekannte Klage. Aber lass mich bitte wieder zum ursprünglichen Thema zurückkehren. Tatsächlich möchte ich dir keinen neuerlichen Antrag machen -
einmal von dir erstochen zu werden genügt mir vollauf. Nein, du wirst Berimund Fram Reiksbaurg ehelichen, den Thronerben von Hansa. Und ich werde seine Schwester Alfswan heiraten. Zusammen werden wir meinen Thron sichern.« 14 Muriele lachte bitter. »Ich glaube nicht, Robert«, sagte sie. »Ich habe Berimunds Ansinnen bereits einmal zurückgewiesen.« »Eigentlich nicht«, entgegnete Robert. »Eigentlich hat dein Sohn Charles den Antrag zurückgewiesen, weil er damals schließlich König war und dieses Privileg allein ihm zustand. Natürlich ist Charles schwachsinnig, und du warst vollständig Herrin seines Handelns ... Aber er ist nicht länger König«, fuhr Robert fort. »Sondern ich. Und als mein Hoheitsrecht habe ich Berimund deine Hand zugesprochen. Die Hochzeit wird in einem Monat stattfinden.« Die Luft schien plötzlich dicker zu sein - beinahe wie Wasser. Muriele kämpfte gegen den Drang an, den Kopf über die Oberfläche zu strecken. Robert konnte das tun. Er würde es tun, und es gab rein gar nichts, was sie dagegen unternehmen konnte. »Das wird niemals geschehen«, brachte sie schließlich heraus und hoffte, dass sie noch immer trotzig klang. »Nun, wir werden sehen«, erwiderte Robert fröhlich. Dann wandte er sich ab. »Lady Berrye, ist irgendetwas?« Muriele folgte Roberts Blick und bemerkte, dass Alis plötzlich blass aussah. Ihre Augen - nein, ihre Pupillen wirkten sehr groß. »Es ist nichts«, wehrte Alis ab. »Ich habe ganz vergessen zu fragen«, sagte Robert und sah wieder Muriele an, »hattest du Gelegenheit, dir Gedanken über die musikalische Darbietung zu machen, die wir letzte Wihnaht über uns ergehen lassen mussten? Dieses Lustspiel, das dein geschätzter Cavaor Ackenzal aufgeführt hat?« Muriele rang sich ein Lächeln ab. »Wie dir das zusetzen muss als das enthüllt zu werden, was du bist, vor dem ganzen Königreich, und nichts dagegen tun zu können. Ich wage zu behaupten, dass Leovigild Ackenzal begnadet ist.« »Ich verstehe«, sagte Robert. »Dann bist du also der Meinung, der Schurke in diesem Stück sollte mich darstellen?« »Du weißt, dass es so war, und jeder, der es gesehen hat, weiß 15 das auch. Ich frage mich, wie Ackenzal das geschafft hat. Bestimmt habt du und der Praifec ihn doch genau beobachten lassen, habt seine Texte begutachtet, seine Noten, habt seine Proben beaufsichtigt - und trotzdem hat er euch als Narren vorgeführt.« »Nun«, erwiderte Robert, »ich glaube, den Praifec hat die Vorstellung sogar noch mehr aufgebracht als mich. Tatsächlich hat er es für notwendig gehalten, Fralet Ackenzal sehr eingehend zu befragen. Wirklich sehr eingehend - und außerdem einige der Schauspieler.« »Das war dumm«, sagte Alis leise und rieb sich die Stirn. »Habt Ihr etwas gesagt, Lady Berrye?« »Ja, Hoheit. Ich habe gesagt, der Praifec war töricht, den Komponisten zu foltern - und Ihr wart dumm, es ihm zu gestatten. Ihr müsst doch wissen, dass Ihr den Beistand der Landwaerde braucht, um diese Stadt gegen Angriffe zu halten. Leovigild Ackenzal war ihr Liebling, besonders nachdem er seine wundervolle Musik aufgeführt hat.« »Hmm«, grübelte Robert. »Lady Berrye, das ist eine höchst besonnene Ansicht. Solch politische Scharfsichtigkeit von jemandem, den ich lange für eine simple Hure gehalten habe.« »Man kann in der Tat ungemein simpel sein«, erwiderte Alis, »und trotzdem Dinge verstehen, die Ihr nicht begreift.« »Nun, das stimmt wohl«, gab Robert zu. »Auf jeden Fall gibt es Mittel und Wege, das Vertrauen der Landwaerde zurückzugewinnen, wenn es nötig sein sollte. Aber mit Hansa und der heiligen Kirche auf meiner Seite glaube ich nicht, dass die Landwaerde ein großes Problem sein werden. Ich brauche sie doch lediglich noch für ungefähr einen Monat ruhig zu halten, nicht wahr?« »Die Kirche?«, fragte Muriele. »Fürwahr. Der Praifec hat an Fratrex Prismo in zTrbina geschrieben, und der Fratrex hat freundlicherweise eingewilligt, ein paar Truppen zu schicken, um uns zu helfen, den Frieden zu bewahren, und das Resacaratum durchzuführen, bis dieser Thron gesichert ist.« 16 »Erst Hansa und jetzt die Kirche. Du würdest unser Land jedem Feind aushändigen, den wir haben, wenn du dir damit Zeit auf dem Thron erkaufen kannst. Du bist wirklich widerlich.« »Mir war nicht klar, dass du die Kirche als unseren Feind betrachtest«, erwiderte Robert sanft. »Praifec Hespero könnte Anstoß daran nehmen. Tatsächlich könnte er es für nötig befinden, dich zu verhören.« Jäh ertönte das Geräusch von zersplitterndem Glas. »Lady Berrye«, bemerkte Robert. »Ihr habt Euren Kelch fallen lassen.« Alis richtete Augen auf ihn, die ins Leere blickten. »Die Heiligen mögen Euch verdammen!«, stieß sie heiser hervor. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine schienen zu schwach zu sein, um sie zu tragen. Plötzliches Grauen durchzuckte Muriele wie ein Schwert. Sie streckte die Hand nach Alis aus. »Was hast du ihr
angetan, Robert?« Robert streichelte seinen Bart. »Ich habe sie dir als Zofe zugeteilt, weil ich dachte, es würde dich ärgern. Aber ganz im Gegenteil, ihr beide scheint tatsächlich Freundschaft geschlossen zu haben. Außerdem hat es den Anschein, dass unsere liebe Alis sich durch Verführung Kenntnisse von einer deiner Wachen verschafft hat, und das vielleicht bei mehr als einer Gelegenheit. Ich glaube, ich habe Lady Berrye nicht nur missverstanden, sondern sie auch unterschätzt. Und daher frage ich mich, was sie vielleicht noch alles fertig bringt. Zweifellos hast du ihr von den Geheimgängen erzählt, die dieses Schloss durchziehen, wenn sie nicht bereits davon wusste. Vielleicht hat sie Pläne geschmiedet, dich fortzuschmuggeln.« Er lächelte breit. »Wenn dem so ist, wird sie ihr Komplott nach Eslen-des-Schattens mitnehmen.« Muriele kniete jetzt neben Alis und nahm ihre Hand. Die Haut des Mädchens hatte bereits einen bläulichen Ton angenommen, und ihre Arme hatten angefangen, krampfhaft zu zucken. Ihre Finger waren eiskalt. 17 »Alis!«, keuchte Muriele. »Galgenkraut«, brachte Alis heraus; ihre Stimme war so schwach, dass Muriele sich tief zu ihr hinabbeugen musste. »Wusste ...« Sie erbebte, und schwarzer Speichel drang aus ihrem Mund. Dann murmelte sie ein paar Worte, die Muriele nicht verstand, und Muriele spürte eine leichte Hitze auf der Haut. Die Haare auf ihrem Arm stellten sich auf. »Bewahrt Euch«, flüsterte Alis. »Soinmie. Soinmie, Fienden.« Ihr Atem wurde immer unregelmäßiger, bis er schließlich mehr wie ein Schluckauf klang. Dann, mit einem jähen, lautlosen Schrei, hörte auch das auf. Muriele blickte zu Robert auf; ihr Hass war so mächtig, dass ihr keine Worte einfielen, die ihn nicht hätten klein erscheinen lassen. »Ich glaube, ich lege sie in die Krypta der Dares«, überlegte Robert. »Sollte Williams Seele je den Weg dorthin finden, wird er sich freuen.« Dann erhob er sich. »Die Schneiderinnen kommen morgen, um für dein Hochzeitskleid Maß zu nehmen«, sagte er freundlich. »Es war ein Vergnügen, dich zu besuchen, Muriele. Einen angenehmen Tag noch.« Er ließ sie mit Alis zurück, deren Leib bereits kalt war. Teil 1 Die Wasser unter der Welt Am steinigen Westufer von Roin Ieniesse traf Fren MeqLier auf den heiligen Jeroin den Seefahrer, und im Schiff des heiligen Jeroin fuhren sie, bis sie an einem öden Gestade und einem finsteren Wald anlangten. »Dies ist der Wald jenseits der Welt«, sagte der heilige Jeroin zu ihm. »Habt Acht, auf dass Euer Stiefel nicht auf das Wasser trifft, wenn Ihr aus dem Boot steigt. Berührt Ihr die Wellen auch nur leicht, so werdet Ihr alles vergessen, was Ihr jemals gewusst habt.« aus FRENN REY-EISE: EINE MÄR VOM HEILIGEN FRENN, WIE SIE AUF SKERN BERICHTET WIRD, VON SACRITOR ROGER BISHOP Die Dunkle Lady wies auf den Fluss. » Trinkt davon«, sagte sie zu Alzarez, »und Ihr werdet sein wie die Toten, ohne Erinnerung oder Sünde.« Dann deutete sie auf eine sprudelnde Quelle. »Trinkt dort, und Ihr werdet mehr wissen als jeder Sterbliche.« Alzarez betrachtete beide. »Aber die Quelle speist doch den Fluss«, sagte er. »Natürlich«, antwortete die Dunkle Lady. aus »SA ALZAREZASFILL«, einem herilanzischen Volksmärchen Ne piberos daz'uturo. Trinke das Wasser nicht. vitellianische Grabinschrift 1. Kapitel Verirrt Das wünsch ich mir heiß Einen Mann mit Lippen rot wie Blut Mit Haut schneeweiß Mit Haar blauschwarz Wie die Rabenbrut. Das wünsch ich mir. Anne Dare murmelte die Worte des Liedes; es war eines ihrer Lieblingslieder gewesen, als sie jünger gewesen war. Sie bemerkte, dass ihre Finger zitterten, und einen Augenblick lang fühlte es sich an, als gehörten sie gar nicht zu ihr, sondern seien stattdessen eigentümliche Würmer, die sich an ihre Hände klammerten. Mit Lippen rot wie Blut... Anne hatte schon oft Blut gesehen, reichlich Blut. Aber niemals so, nie von so leuchtender Farbe, so grell im Vergleich zu dem Schnee. Es war, als sähe sie zum ersten Mal die wirkliche Farbe und nicht jene blasse
Fälschung, die sie ihr Leben lang gekannt hatte. Am Rand war es von wässrigem Rosa, aber dicht an der Quelle, wo es stoßweise in das kalte Weiß hinausströmte, war es etwas von vollendeter Schönheit. Mit Haut schneeweiß Mit Haar blauschwarz ... 21 Der Mann hatte Haut, die sich grau verfärbt hatte, und strohgelbes Haar, überhaupt nicht so wie der erträumte Geliebte in dem Lied. Noch während sie zusah, lösten sich seine Finger von dem Dolch, den er in der Hand gehalten hatte, und er ließ die Kümmernisse dieser Welt hinter sich. Seine Augen wurden rund vor Staunen, als sie etwas erblickten, das sie nicht sehen konnte, jenseits der Lande des Schicksals. Dann seufzte er einen letzten, dampfenden Atemstoß in den Schnee. Irgendwo - weit entfernt, wie es schien - hörte sie einen heiseren Schrei und das Geräusch aufeinander klirrenden Stahls, gefolgt von Stille. Sie konnte keinerlei Bewegung durch die dunklen Stämme der Bäume hindurch ausmachen, nur das beständige leichte Schneetreiben. Etwas schnaubte ganz in der Nähe. Benommen drehte sich Anne um und erblickte ein Pferd, einen Apfelschimmel, der sie neugierig betrachtete. Es sah vertraut aus, und sie schnappte nach Luft, als ihr wieder einfiel, wie es auf sie losgestürmt war. Der Schnee verriet, dass es um sie herumgestampft war, aber eine Fährte aus Hufspuren führte von jenseits eines Hügels heran - die Richtung, aus der es gekommen sein musste. Einen Teil der Strecke wurden die Hufspuren von rosafarbenen Sprenkeln begleitet. Außerdem hatte das Pferd auch Blut in der Mähne. Zittrig erhob sie sich und verspürte Schmerzen im Oberschenkel, im Schienbein und an den Rippen. Sie drehte sich, um ihre Umgebung zur Gänze in Augenschein zu nehmen, suchte nach einem Anzeichen dafür, dass irgendjemand in der Nähe war. Doch da waren nur der Tote, das Pferd und Bäume, die von den Winden des Winters bis auf die Rinde entblößt worden waren. Schließlich schaute sie an sich hinunter. Sie trug einen weichen roten Mantel aus Hirschleder, mit schwarzem Hermelin gefüttert, und darunter ein schweres Reitkleid. Sie erinnerte sich, dass sie die Kleider damals in Dunmrogh bekommen hatte. Auch an den Kampf dort erinnerte sie sich, und an den Tod ih22 rer ersten Liebe und des ersten Mannes, der sie verraten hatte, Roderick. Sie schob die Hand unter die Kapuze und fühlte die Locken ihres kupferroten Haars. Es wuchs nach, war jedoch noch immer kurz, von damals, als es in Tero Galle geschoren worden war; das schien ein Menschenalter her zu sein. Also fehlten ihr nur Stunden oder Tage, nicht Wochen, Monate oder Jahre. Trotzdem war ihr die Zeit verloren gegangen, und das machte ihr Angst. Sie erinnerte sich daran, dass sie Dunmrogh verlassen hatte, mit ihrer Zofe Austra, einer Frau namens Winna und achtunddreißig Mann, zu denen auch ihr vitellianischer Freund Cazio und ihr Beschützer Sir Neil MeqVren gehört hatten. Sie hatten gerade eine Schlacht gewonnen, und die meisten waren verwundet, auch Anne selbst. Doch es war keine Zeit gewesen, in Ruhe zu genesen. Ihr Vater war tot und ihre Mutter Gefangene eines Thronräubers. Sie war aufgebrochen, fest entschlossen, ihre Mutter irgendwie zu befreien und den Thron ihres Vaters zurückzuerobern. Sie erinnerte sich, dass sie sich all dessen sehr sicher gewesen war. Was sie nicht wusste, woran sie sich nicht erinnern konnte, war, wo diese Freunde waren und warum sie nicht bei ihnen war. Oder, was das anging, wer der Tote war, der zu ihren Füßen lag. Ihm war die Kehle durchgeschnitten worden, so viel war klar - die Wunde klaffte wie ein zweiter Mund. Aber wie war das passiert? War er Freund oder Feind? Da sie ihn nicht wiedererkannte, nahm sie an, dass er wahrscheinlich Letzteres war. Sie sank gegen einen Baum und schloss die Augen, betrachtete den dunklen Pfuhl in ihrem Kopf, tauchte in ihn ein wie ein Eisvogel. Sie war neben Cazio geritten, und er hatte sich in der Sprache des Königs geübt... »Esno es caldo«, verkündete Cazio und fing eine Schneeflocke mit der Hand auf, die Augen groß vor Verwunderung. 23 »Schnee ist kalt«, verbesserte Anne, dann sah sie seine verzogenen Lippen und begriff, dass er den Satz absichtlich falsch ausgesprochen hatte. Cazio war hoch gewachsen und schlank, mit scharfen, listigen Gesichtszügen und dunklen Augen, und wenn sich sein Mund so verzog wie jetzt, war er ganz Schurke. »Was ist >esno< auf Vitellianisch?«, verlangte sie zu wissen. »Ein Metall von der Farbe Eures Haars«, erwiderte er auf eine Art und Weise, dass sie sich plötzlich fragte, wie seine Lippen wohl schmecken mochten. Nach Honig? Nach Olivenöl? Er hatte sie schon ein paar Mal geküsst, doch sie konnte sich nicht erinnern ... Was für ein törichter Gedanke. »Esno es caldo heißt >Kupfer ist heiß<, nicht wahr?«, übersetzte sie und gab sich Mühe, sich ihren Verdruss nicht anmerken zu lassen. Daran, wie Cazio jetzt grinste, erkannte sie, dass ihr irgendetwas entging. »Ja, das stimmt«, sagte er gedehnt, »wenn man es wörtlich nimmt. Aber es ist eine Art Wortspiel. Wenn ich
mich mit meinem Freund Acemeno unterhalten würde, und ich würde sagen >fero es caldo<, dann würde das heißen, >Eisen ist heiß<, aber Eisen kann auch Schwert bedeuten, und Schwert kann für die persönliche Bewaffnung eines Mannes stehen, und das wäre ein Kompliment für seine Männlichkeit. Er würde annehmen, dass ich sein Eisen meine. Und genauso kann Kupfer, das weichere, hübschere Metall, auch für -« »Ja, schön«, unterbrach Anne ihn rasch. »Das wäre dann genug vitellianische Umgangssprache für heute. Schließlich wolltet Ihr doch an Euren Fertigkeiten in der Königssprache arbeiten, oder nicht?« Er nickte. »Ja, aber es erscheint mir seltsam, dass Euer Wort für >kalt< mein Wort für >heiß< ist, das ist alles.« »Ja, und es ist sogar noch seltsamer, dass Euer Wort für >frei< Geliebte ist«, gab sie spöttisch zurück. »Wenn man bedenkt, dass man nicht gleichzeitig das Zweite haben und das Erste sein kann.« 24 Sobald sie jedoch seinen Gesichtsausdruck sah, wünschte sie sich, sie hätte nichts gesagt. Cazio zog augenblicklich eine interessierte Braue empor. »Jetzt sind wir bei einem Thema, das mir zusagt«, stellte er fest. »Aber, äh ... Geliebte} Ne commrenno. Was ist eine >Geliebte< in der Sprache des Königs?« »Das Gleiche wie eine vitellianische carilo«, antwortete sie widerwillig. »Nein«, sagte Austra. Anne zuckte schuldbewusst zusammen, denn sie hatte beinahe vergessen, dass ihre Zofe neben ihnen ritt. Sie schaute zu der Jüngeren hinüber. »Nein?« Austra schüttelte den Kopf. »Carilo ist das, was ein Vater seine Tochter nennt - ein Schätzchen, ein kleiner Liebling. Das Wort, das du suchst, ist erenterra.« »Ah, ich verstehe«, sagte Cazio. Er beugte sich hinüber, ergriff Austras Hand und küsste sie. »Erenterra. Ja, diese Unterhaltung sagt mir mit jeder Offenbarung mehr zu.« Austra wurde rot, zog ihre Hand zurück und schob goldene Locken zurück unter die schwarze Kapuze ihres Wettermantels. Cazio wandte sich wieder an Anne. »Wenn >Geliebte< also erenterra bedeutet«, meinte er, »dann muss ich Euch widersprechen.« »Vielleicht kann ein Mann Geliebte haben und frei bleiben«, sagte Anne. »Eine Frau kann das nicht.« »Unsinn«, wehrte Cazio ab. »Solange ihr ... äh, Geliebte nicht auch ihr Gemahl ist, kann sie so frei sein, wie es ihr beliebt.« Er lächelte noch breiter. »Außerdem ist nicht jede Knechtschaft unerfreulich.« »Ihr seid schon wieder ins Vitellianische verfallen«, bemerkte Anne, der Cazios Begeisterung für dieses Thema vollständig abging. Es tat ihr Leid, dass sie es angesprochen hatte. »Kommen wir zum Schnee zurück. Erzählt mir mehr darüber - in der Sprache des Königs.« 25 »Neues Ding für mich«, sagte er, wobei seine Stimme augenblicklich von zungenfertiger Beinahe-Musik zu unbeholfener, schwerfälliger Prosa überging, als er die Sprache wechselte. »Nicht geben in Avella. Sehr, äh ... vollwunder.« »Wundervoll«, verbesserte sie, während Austra kicherte. Tatsächlich fand Anne den Schnee überhaupt nicht wundervoll - sie fand ihn lästig. Aber Cazio klang so aufrichtig, und unwillkürlich musste sie lächeln, wenn sie sah, wie er die weißen Flocken angrinste. Er war neunzehn, zwei Jahre älter als sie - doch noch immer mehr Knabe als Mann. Und doch konnte sie hin und wieder den Mann in ihm erkennen, kurz davor, auszubrechen. Trotz der unersprießlichen Wendung des Gesprächs empfand Anne einen Moment lang Zufriedenheit. Sie war in Sicherheit, bei Freunden, und obgleich die Welt verrückt geworden war, wusste sie jetzt wenigstens, wo sie stand. Gut vierzig Mann waren nicht genug, um ihre Mutter zu befreien und Crothenien zurückzuerobern, doch bald würden sie die Ländereien ihrer Tante Elyoner erreichen, die über ein paar Soldaten verfügte, und Anne hoffte, dass ihre Tante wusste, wo sie mehr herbekommen konnte. Danach - nun, sie würde ihre Armee im Laufe ihres Marsches aufbauen. Sie hatte keine Ahnung, was eine Armee benötigte, und manchmal - besonders nachts - hielt dies ihr Herz zu fest gepackt, um zu schlafen. Im Augenblick jedoch hatte sie das Gefühl, dass alles gut werden würde. Plötzlich bewegte sich etwas am Rande ihres Gesichtsfeldes, doch als sie hinschaute, war es nicht da ... Anne lehnte sich gegen den Baum, atmete Reif aus und bemerkte, dass das Licht schwächer wurde. Wo war Cazio? Wo waren alle anderen? Wo war sie? Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie von der Alten Königsstraße nach Norden abgebogen waren und durch den Wald 16 von Chevroche auf Loiyes zugehalten hatten, einen Ort, wohin sie einst mit ihrer Tante Lesbeth einen Ausritt unternommen hatte, vor vielen Jahren. Ihr Leibwächter Neil MeqVren war nur ein paar Schritte entfernt dahingeritten. Austra war zurückgefallen, um sich mit Stephen zu unterhalten, dem jungen Mann aus Virgenya. Der Waldhüter Aspar White war auf Kundschaft vorausgeritten, und die dreißig Reiter, die sich ihr in Dunmrogh angeschlossen hatten, hatten sich schützend um sie geschart. Dann hatte sich Cazios Miene verändert, und er hatte nach seinem Degen gegriffen. Das Licht schien heller zu
werden, ganz gelb. War dies hier noch Chevroche? Waren Stunden vergangen? Tage? Sie wusste es nicht mehr. Sollte sie warten, bis sie gefunden wurde, oder war niemand mehr übrig, der nach ihr suchen würde? Konnte ein Feind sie ihren Bewachern geraubt haben, ohne sie alle zu töten? Mit sinkendem Mut wurde ihr klar, wie unwahrscheinlich das war. Sir Neil würde sicherlich sterben, ehe er zuließ, dass man sie entführte, und das Gleiche galt für Cazio. Noch immer zitternd begriff sie, dass der einzige Anhaltspunkt, den sie in ihrer jetzigen Lage hatte, der Tote war. Widerstrebend trottete sie durch den Schnee zurück dorthin, wo er lag. Im schwindenden Licht blickte sie auf ihn hinunter und suchte nach Einzelheiten, die sie vorher möglicherweise übersehen hatte. Er war kein junger Mann, doch sie konnte auch nicht sagen, wie alt er war - vielleicht vierzig. Er trug Hosen aus dunkelgrauem Wolltuch, im Schritt mit etwas befleckt, das sein eigener Urin sein musste. Seine Halbstiefel waren schlicht, schwarz und fast durchgelaufen. Auch sein Hemd war aus Wolle, darunter jedoch wölbte sich ein stählerner Brustharnisch. Dieser war zerschrammt und verbeult und kürzlich geölt worden. Außer dem Dolch besaß er ein kurzes, breites Schwert in einer geölten Lederscheide. Diese 27 war an einem Gürtel mit dunkel angelaufener Messingschnalle befestigt. Er trug kein sichtbares Zeichen bei sich, das darauf hinwies, mit wem er im Bunde war. Bemüht, sein Gesicht oder seine blutige Kehle nicht anzusehen, schob und tastete sie mit den Händen durch seine Kleidung und suchte nach irgendetwas, das vielleicht dort verborgen war. An seinem rechten Handgelenk bemerkte sie ein seltsames Zeichen, vermutlich in die Haut eingebrannt. Es war schwarz und stellte etwas dar, das eine Mondsichel zu sein schien. Vorsichtig berührte sie das Zeichen, und ein leichter Schwindel schoss durch sie hindurch. Sie schmeckte Salz und roch Eisen, und ihr war, als hätte sie die Hand bis zum Ellbogen in etwas Nasses und Warmes getaucht. Erschrocken begriff sie, dass, wenngleich sein Herz nicht länger schlug, doch noch Lebensgeister in dem Mann waren, auch wenn sie rasch dahinschwanden. Wie lange würde es dauern, bis alles in ihm tot war? Hatte seine Seele ihn schon verlassen? Im Konvent der heiligen Cer hatte man sie nicht allzu viel über die Seele gelehrt, obwohl sie einiges über den Körper gelernt hatte. Sie war mehrmals dabei gewesen, wenn Tote zerstückelt und ausgeweidet worden waren, und hatte auch dabei geholfen, und sie erinnerte sich - oder glaubte es zumindest - an die meisten Organe und ihre wichtigsten Säfte. Die Seele hatte keinen festen Platz, das Organ jedoch, das ihr Sprache verlieh, war jenes, das im Schädel eingeschlossen war. Als sie an den Konvent dachte, fühlte sie sich auf unerklärliche Weise gelassener, ruhiger und unbeteiligter. Versuchsweise streckte sie die Hand aus und berührte die Stirn des Leichnams. Ein Kribbeln kroch ihre Finger hinauf, durchzog ihren Arm und wanderte über ihre Brust. Als es sich ihren Nacken emporzog und ihren Kopf erreichte, fühlte sie sich plötzlich schläfrig. Ihr Körper wurde fern und weich, und sie hörte, wie ein leises Keuchen ihren Lippen entfloh. Die Welt summte mit einer Musik, die sich nicht ganz zu einer Melodie fügen wollte. 28 Ihr Kopf schwankte zurück, sank dann wieder nach vorn, und mit scheinbar großer Mühe zwang sie die Lider auseinander. Alles war anders, doch es war schwer, genau zu sagen, inwiefern - das Licht war seltsam, und alles erschien unwirklich, aber der Schnee und die Bäume blieben, wie sie gewesen waren. Als ihr Blick klarer wurde, sah sie schwarzes Wasser zwischen den Lippen des Toten hervorsprudeln. Es strömte seine Brust hinab und wand sich ein paar Königsellen weit durch den Schnee, bis es auf einen größeren Strom traf. Plötzlich konnte sie weiter sehen, und sie erblickte hundert, tausend, zehntausende schwarzer Rinnsale, die alle zu größeren Wasserläufen und Flüssen verschmolzen und sich schließlich mit einem Gewässer vereinigten, so breit und dunkel wie das Meer. Während sie zusah, strömte das letzte Überbleibsel dieses Mannes davon, und wie Blätter auf einem Fluss zog das Bild eines kleinen Mädchens mit schwarzem Haar vorbei. Der Geruch von Bier ... Der Geschmack von Schinken ... Das Gesicht einer Frau, mehr Dämon als Mensch, Grauen erregend, doch das Grauen selbst war schon fast vergessen ... Dann war er dahin. Die Flüssigkeit aus seinem Mund wurde zu einem dünnen Rieseln und versiegte. Von der lebendigen Welt jedoch flössen die dunklen Wasser immer weiter. In diesem Moment bemerkte Anne, dass etwas sie beobachtete sie spürte seinen Blick durch die Bäume hindurch. Beginnende Furcht regte sich in ihr, und jäh, mehr als alles andere, wollte sie nicht sehen, was es war. Das Bild der Dämonenfrau in den Augen des Sterbenden erwachte zu neuem Leben. Das Gesicht so grauenvoll, dass er nicht fähig gewesen war, es wirklich zu sehen.
War es Mefitis, die Heilige der Toten, die kam, um ihn zu holen? Die auch Anne holen wollte? Oder war es eine estriga, eine der Hexen, von denen die Vitellianer glaubten, dass sie die Seelen der Verdammten verschlangen? Oder etwas jenseits aller Vorstellung? 29 Was immer es auch war, es kam näher. Anne raffte den Mut in ihrem Innersten zusammen und zwang ihren Kopf, sich zu drehen - und schluckte einen Aufschrei hinunter. Es war kein deutliches Bild, lediglich eine Reihe betäubender Eindrücke. Gewaltige Hörner, die aufragten, um am Firmament zu kratzen, ein Leib, der sich zwischen den Bäumen hindurch ausdehnte ... Die schwarzen Wasser von eben hatten sich wie Blutegel an das Wesen geheftet, und obgleich es mit hundert Klauen an ihnen riss, wurde jede Faser, die sich löste, durch eine neue ersetzt, wenn nicht durch zwei. Sie hatte dieses Geschöpf schon einmal gesehen, in einem Feld aus schwarzen Rosen, in einem Wald aus Dornen. Der Dornenkönig. Er hatte kein Gesicht, bloß Träume in Bewegung. Zuerst sah sie nichts, was sie wiedererkannte, ein Brodem aus Farben, dem Geruch und Geschmack und spürbares Gefühl zu Eigen waren. Doch jetzt konnte sie nicht wegschauen, obgleich ihr Entsetzen immer größer wurde. Ihr war, als stächen Millionen giftiger Nadeln in ihr Fleisch. Sie konnte nicht schreien. Und Anne war sich zweier Dinge plötzlich sehr sicher ... Mit einem Ruck erwachte sie und stellte fest, dass ihr Gesicht in die Blutlache auf der Brust des Mannes gepresst war. Sein Leichnam war jetzt sehr kalt, und sie selbst fror ebenfalls. Würgend kam sie auf die Beine und stolperte von dem Toten fort, doch ihre Glieder waren taub. Sie schüttelte den Kopf, vertrieb die letzten Reste der Schwarzen Mary. Undeutlich wusste sie, dass sie das Pferd nehmen und den Hufspuren folgen sollte, die sie hergeführt hatten, zurück zu ihrem Anfang, doch das schien zu viel der Mühe. Außerdem fiel der Schnee jetzt dichter, und bald würden die Spuren zugeschneit sein. Also kauerte sie sich in einen Spalt zwischen den Wurzeln eines 3° riesigen Baums und sammelte - während die Wärme langsam zurückkehrte - Kraft für das, was getan werden musste. 2. Kapitel Die Fährte des Riesen Ein Pfeil prallte von Neil MeqVrens Helm ab, als er sich stapfend einen Weg durch die Schneewehe bahnte; der heisere Kampfschrei seiner Väter gellte durch die Bäume. Sein Schild wehrte einen weiteren tödlich spitzen Schaft ab. Und noch einen. Nur ein paar Königsellen entfernt hielten vier Bogenschützen ihre Stellung hinter den Schilden von sechs Schwertkämpfern. Gemeinsam bildeten die Männer eine kleine Festung, wohl platziert, um Tod auf den einzigen Weg herabregnen zu lassen, dem Neil folgen wollte - die Fährte der Reiter, die Anne fortgeschleppt hatten. Also beschloss er, geradewegs auf sie loszustürmen, so selbstmörderisch das auch sein mochte. Alles andere zögerte das Unvermeidliche lediglich hinaus. Neil sammelte sich im Laufen; er kam sich in seinem schlecht sitzenden Harnisch unbeholfen vor und sehnte sich nach der wunderschönen Herrenstahlrüstung, die Sir Fail ihm einst geschenkt hatte, die Rüstung, die jetzt auf dem Grunde des Hafens von z'Espino ruhte, hunderte von Meilen entfernt. Die Welt erschien in Augenblicken wie diesen behäbig, und ihre Einzelheiten traten auf wundersame Weise hervor. Gänse trompeteten hoch über ihm. Er roch das Harz geborstenen Kiefernholzes. Einer der Schildträger hatte leuchtend grüne Augen hinter dem polierten Nasenschutz seines Helms und einen flaumigen, rötlichen Oberlippenbart. Seine Wangen waren rot vor Kälte. Sein Ge3i sieht war verkniffen, mit einer Entschlossenheit, die Neil schon oft hinter dem Kriegswerkzeug gesehen hatte. An einem anderen Tag würde dieser junge Mann vielleicht mit seinen Freunden "Wein trinken, mit einem Mädchen tanzen, ein Lied singen, das allein in dem winzigen "Weiler bekannt war, in dem er zur Welt gekommen war. An einem anderen Tag. Heute jedoch war er bereit zu sterben, wenn es notwendig sein sollte, und mitzunehmen, wen immer er konnte, um die Fähre des heiligen Jeroin zu begrüßen. Und in den Gesichtern seiner Gefährten stand der gleiche Ausdruck. Neil stolperte, sah, wie ein Bogen sich wölbte und die Spitze eines Pfeils sich senkte, spürte die Linie, die sich durch die Luft zog, direkt auf sein Auge zu. Er wusste, dass sein Schild zu tief herabgesackt war. Dass er ihn niemals rechtzeitig würde heben können. Jäh ließ der Bogenschütze seine Waffe fallen und griff nach dem Pfeil, der plötzlich aus seiner eigenen Stirn ragte. Neil hatte keine Zeit, sich umzuschauen, wer ihm das Leben gerettet hatte. Stattdessen duckte er sich tiefer hinter seinen Schild, durchmaß die letzten paar Ellen und warf sich dann, abermals heulend, gegen den Schildwall, rammte seinen Schildbuckel gegen den des jungen Burschen mit den grünen Augen.
Der Junge tat, was er tun sollte, und wich zurück, damit seine Waffenbrüder heranrücken und Neil in ihrer Reihe einschließen, ihn umstellen konnten. Doch sie wussten nicht, was Neil bei sich trug. Die Todesklinge, die er aus den Stücken eines Mannes aufgehoben hatte, der nicht sterben konnte, zischte durch die Luft und zog einen schwachen Geruch wie von einem Blitz hinter sich her. Sie drang durch den erhobenen Schild, der vor ihm schwebte, durch die Metallkappe und den Schädel darunter, durch ein smaragdgrünes Auge und kam schließlich unter dem Ohr wieder heraus, ehe sie sich drehte, um die Rippen des nächsten Mannes zu durchschlagen. Zusammen mit seiner Schlachtenraserei verspürte Neil eine Art l1 angewiderten Zorn. Es hatte nichts Ritterliches an sich, eine solche Waffe zu benutzen. Gegen eine erdrückende Übermacht zu kämpfen war eine Sache. Den Sieg durch Hexerei davonzutragen war etwas anderes. Doch Pflicht und Ehre ließen sich nicht immer miteinander vereinbaren, das hatte er gelernt. Und in diesem Fall war es die Pflicht, die das Schwert schwang, dem er den Namen Drang gegeben hatte. Jemand umklammerte von hinten seine Knie, und Neil drosch abwärts und nach hinten, nur um einen weiteren gepanzerten Leib in seinem Weg zu finden. Draug drang tief, doch der Knauf eines Breitschwerts schlug hart gegen Neils Helm, und er kippte in den Schnee. Ein anderer Arm schlang sich um den seinen, und er konnte das Schwert nicht länger schwingen. Die Welt leuchtete ganz und gar rot auf, als er sich zur Wehr setzte und auf den Dolch wartete, der unabwendbar einen Weg an seiner Halsberge vorbei oder durch sein Visier finden würde. Plötzlich erinnerte ihn das Ganze seltsam daran, wie er damals in z'Espino in den Wellen versunken war, hinabgezogen von seiner Rüstung, wie sich seine Hilflosigkeit mit Erleichterung gemischt hatte, dass seine Prüfungen endlich vorüber waren. Nur dass es diesmal keine Erleichterung gab. Anne war dort draußen, in Gefahr, und er würde den letzten Span seiner Kraft verbrennen, um zu verhindern, dass sie zu Schaden kam. Zu noch mehr Schaden kam. Wenn sie nicht schon tot war. Also setzte er die einzige Waffe ein, die ihm geblieben war, seinen Kopf, rammte ihn in das nächste keuchende Gesicht und wurde durch das Knorpelknirschen einer brechenden Nase belohnt. Es war der Mann, der seinen linken Arm festhielt, welchen er jetzt mit der ganzen Kraft seiner Kampfeswut hochriss - er versetzte dem Burschen einen Hieb gegen die Kehle, was ihn zurücktaumeln ließ. Dann krachte etwas mit dem Gewicht der ganzen Welt gegen seinen Helm, und schwarzer Schnee fiel aus einem weißen Himmel. 33 Als sein Kopf wieder klar wurde, sah Neil, dass jemand über ihm kniete. Mit einem Knurren stemmte er sich hoch, und der Mann fuhr zurück und plapperte in einer fremden Sprache. Zu seiner Verblüffung stellte Neil fest, dass er die Glieder frei bewegen konnte. Als sich der rote Nebel teilte, begriff er, dass der Mann, der über ihm gekniet hatte, der Vitellianer gewesen war, Cazio. Der Degenkämpfer stand jetzt in respektvollem Abstand und hielt seine eigentümliche leichte Waffe in entspannter Abwehrbereitschaft. »Ruhig, Ritter«, sagte eine Stimme ganz in der Nähe. »Ihr seid jetzt unter Freunden.« Neil richtete sich auf und drehte sich um, um einen Mann in mittleren Jahren zu betrachten, mit sonnengebräuntem Gesicht und kurz geschnittenem dunklem Haar, in dem sich reichlich Silber zeigte. Dann erkannte er Aspar White, den Waldhüter des Königs. Gleich hinter ihm waren der jüngere Stephen Darige und Winna Prentiss mit dem honigfarbenen Haar; beide kauerten wachsam im blutigen Schnee. »Behaltet lieber den Kopf unten«, wies Aspar ihn an. »Da drüben ist noch ein Nest voller Bogenschützen.« Er deutete mit dem Kinn. »Ich dachte, Ihr wärt alle tot«, sagte Neil. »Ja«, brummte Aspar. »Das dachten wir von Euch auch.« »Anne ist wo?«, verlangte Cazio mit seinem schweren vitellianischen Akzent zu wissen. »Habt Ihr es nicht gesehen?«, fragte Neil anklagend. »Ihr seid doch direkt neben ihr geritten.« »Ja.« Cazio konzentrierte sich darauf, die Worte richtig auszusprechen.\ »Austra reitet ein wenig hinten, mit Stephen. Pfeile kommen, ja, und dann, äh, eponiros kommen Weg herauf, mit, äh, langen haso-« »Die Lanzenreiter, ja«, bestätigte Neil. Überall entlang ihrer Flanken waren Bogenschützen aufgetaucht, und dann war ein Keil Berittener die Straße hinunter auf sie zugeprescht. Die Reiterei 34 aus Dunmrogh hatte keine Zeit gehabt, sich zu formieren, hatte sich ihnen jedoch trotzdem in den Weg gestellt. Neil hatte eigenhändig drei der Reiter niedergestreckt, war dabei jedoch immer weiter von Anne fortgedrängt worden. Als er zum Schauplatz des Geschehens zurückgekehrt war, hatte er dort nichts als Tote vorgefunden, und keine Spur von der Thronerbin von Crothenien. »War Zaubertrick«, behauptete Cazio. »Ist gekommen, äh, aurseto, hat mich geschlagen hier ...« Er deutete auf seinen Kopf, der blutverklebt war. »Das Wort kenne ich nicht«, sagte Neil. »Aurseto«, wiederholte Cazio. »Wie, äh, Wasser, Luft -« »Unsichtbar«, unterbrach Stephen und wandte sich an Cazio. »Uno viro aurseto?«
»Ja.« Cazio nickte energisch. »Wie Wolke, Farbe von Schnee, auf epo, gleich -« »Ein Pferd und ein Reiter, die die Farbe des Schnees hatten?«, fragte Neil ungläubig. »Ja«, bestätigte Cazio. »Bewache Anne, ich höre Geräusch hinter mir -« »Und er hat Euch einen Schlag auf den Hinterkopf versetzt.« »Ja.« Cazio machte ein langes Gesicht. »Das glaube ich Euch nicht«, fuhr Neil ihn an. Ganz einverstanden war er mit dem Burschen nie gewesen, seit dieser geholfen hatte, Anne dazu zu überreden, Neil in Vitellio dem sicheren Tod zu überlassen. Es stimmte, Cazio hatte Anne mehrmals das Leben gerettet, doch seine Beweggründe schienen hauptsächlich lüsterner Natur zu sein. Neil wusste genau, dass solche Triebkräfte nicht vertrauenswürdig und heftigsten Veränderungen unterworfen waren. Ein Aufschneider war er außerdem auch noch, und obgleich er als Straßenkämpfer verdienstvoll genug war unglaublich, um genau zu sein -, besaß er nicht das leiseste Gefühl für jedwede Kriegsdisziplin. 35 Darüber hinaus hatte Neil zu seinem Bedauern gelernt, dass nur wenige Menschen auf der Welt das waren, was sie zu sein schienen. Etwas Gefährliches glitzerte in Cazios Augen, und er richtete sich höher auf, dann legte er die Hand auf das Heft seines Degens. Neil holte tief Luft und ließ seinerseits die Rechte zu Draug hinabsinken. »Glaubt ihm ruhig«, knurrte Aspar. »Aspar? Ausgerechnet du?«, fragte Winna. »Werlic. Es waren mindestes drei - was glaubt ihr denn, warum es mir nicht gelungen ist, zurückzukommen und euch vor dem Hinterhalt zu warnen? Sie sind nicht unsichtbar, nicht wirklich, aber es ist so, wie der Junge gesagt hat. Sie sind wie Rauch, und man kann durch sie hindurchsehen. Wenn man weiß, wo man hinschauen muss, merkt man, dass sie da sind, aber wenn nicht, können sie einen ganz schön überrumpeln. Außerdem werden sie wieder sichtbar, wenn man sie tötet, sie und ihre Pferde. Soweit ich es sagen kann - von irgendwelchen Zaubertricks mal abgesehen -, sind sie bloß Menschen.« Stephen furchte die Stirn. »Das erinnert mich an ... ich habe einmal von einem Pfad der Schreine gelesen ...« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Noch mehr Kirchenmänner«, brummte Aspar. »Das hat uns gerade noch gefehlt.« Cazio war noch immer angespannt, den Blick fest auf Neil gerichtet, die Hand am Griff seiner Waffe. »Meine Entschuldigung«, wandte Neil sich an den Degenkämpfer. »Persnimo. Ich bin erregt und habe voreilige Schlüsse gezogen.« ^r" Cazio entspannte sich ein wenig und nickte. »Waldhüter White«, erkundigte sich Neil, »hinterlassen diese unsichtbaren Männer Spuren?« »Ja.« »Dann lasst uns diese Kerle da drüben töten und unsere Königin suchen.« 36 Die Angreifer hatten mehr als zwei Verteidigergruppen auf ihrem Weg zurückgelassen, das wurde deutlich. Ein paar hundert perechi von dort, wo sie auf den Ritter gestoßen waren, trafen sie auf eine weitere Schar, die allerdings weniger zahlreich war. Sie hielten nicht lange stand, doch Aspar warnte die anderen, dass sie weiter vorn noch mehr Feinde erwarten würden. Cazio musste an ein Ammenmärchen von einem jungen Burschen denken, der sich im Wald verirrt hatte und dort auf ein prachtvolles Anwesen stieß. Dieses erwies sich als der Wohnsitz eines dreiköpfigen Riesen, der den Jungen fing und ihn fressen wollte. Doch stattdessen fasste die Tochter des Riesen Zuneigung zu ihm und half ihm zu entkommen. Sie flohen zusammen, verfolgt vom Vater der Maid, der schneller war und sie bald eingeholt hatte. Doch das Mädchen kannte ihrerseits Zaubertricks. Sie warf einen Kamm hinter sich, und er wurde zu einer Hecke, durch die der Riese hindurchbrechen musste. Dann warf sie einen Weinschlauch zu Boden, der zu einem Fluss wurde ... »Woran denkt Ihr?« Cazio fuhr zusammen und sah, dass der Priester nur ein paar Schritte entfernt war. Stephen sprach Vitellianisch, und obwohl es sich sehr altmodisch anhörte, war es eine Wohltat, reden zu können, ohne so viel denken zu müssen. »An Kämme und Hecken, an Weinschläuche und Flüsse«, antwortete er geheimnisvoll. Stephen grinste. »Dann sind wir also der Riese?« Cazio blinzelte. Er hatte gedacht, er sei geheimnisvoll. »Ihr denkt zu schnell«, bemerkte er trocken. »Ich habe den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten«, erwiderte Stephen. »Ich kann nichts dafür - der Heilige hat mich gesegnet.« Er verstummte und lächelte. »Ich wette, Eure Fassung der Geschichte ist anders als die, die ich kenne. Erschlägt der Bruder des Jungen den Riesen am Ende?« 37 »Nein, er führt den Riesen zu einer Kirche, und der Sacritor tötet ihn, indem er die Glocke dreimal läutet.« »Ach, das ist ja sehr interessant«, sagte Stephen. Und es schien ihm ernst damit zu sein.
»Wenn Ihr unbedingt meint«, entgegnete Cazio. »Jedenfalls, ja, wir machen es gerade umgekehrt. Wir verfolgen den Riesen, und er ist derjenige, der Hindernisse errichtet. Aber ich frage mich, warum? Bisher haben sie versucht, Anne umzubringen. Die Ritter, die uns gejagt haben, haben nie versucht, sie lebendig zu fangen. Aber wenn diese melcheos sie hätten töten wollen, hätten sie das ganz leicht tun können, als sie mich dabei erwischt haben, wie ich geschlafen habe.« Vorsichtig berührte er die Wunde an seinem Kopf. »Wenigstens habt Ihr ihn für eine Sekunde zu Gesicht bekommen«, sagte Stephen. »Ich habe nicht einmal einen Blick auf den erhascht, der Austra weggeschleppt hat. Wirklich, es ist nicht Eure Schuld.« »Natürlich ist es meine Schuld«, betonte Cazio und wischte diesen Freispruch mit einer Geste beiseite. »Ich war bei ihr - und ich werde sie zurückholen. Und wenn sie ihr etwas angetan haben, dann bringe ich jeden Einzelnen von diesen purcapercators um. Aber das beantwortet immer noch nicht meine Frage. Warum haben sie sie nicht einfach ermordet?« »Dafür könnte es jede Menge Gründe geben«, sagte Stephen. »Die Priester in Dunmrogh wollten damals ihr Blut für ein rituelles Opfer -« »Ja, aber nur, weil sie eine Frau von edler Geburt brauchten, und die, die sie hatten, war umgekommen. Außerdem haben wir diesen Umtrieben ein Ende gemacht.« »Vielleicht sind es nicht dieselben Umtriebe. Wir haben den Feind einmal gehindert, aber es gibt noch viele andere verfluchte Schreinpfade in diesem Wald, und ich wäre bereit zu wetten, dass es noch viele Abtrünnige gibt, die versuchen, sie zum Leben zu erwecken. Jeder Pfad der Schreine ist anders, mit seiner eigenen 38 Gabe - oder seinem eigenen Fluch. Vielleicht brauchen sie wieder das Blut einer Prinzessin.« »Die Männer in Dunmrogh waren zum größten Teil Mönche und Ritter aus Hansa. Die, mit denen wir es jetzt zu tun haben, habe ich noch nie gesehen.« Stephen zuckte die Achseln. »Aber wir haben schon früher gegen Feinde wie diese gekämpft, bevor wir Euch getroffen haben. Damals waren auch Mönche dabei und Männer ohne erkennbare Wappen oder Landeszugehörigkeit. Sogar Sefry.« »Dann ist die Kirche also nicht der Feind?« »Wir wissen letzten Endes nicht, wer der Feind ist«, gestand Stephen. »Die hansischen Ritter und die Kirchenbrüder in Dunmrogh hatten dieselben finsteren Ziele wie die Männer, gegen die Aspar, Winna und ich davor gekämpft haben - gar nicht weit von hier sogar. Wir glauben, dass sie alle ihre Befehle von dem Praifec von Crothenien erhalten, Marche Hespero. Aber es könnte durchaus sein, dass er Befehle von jemand ganz anderem befolgt.« »Was wollen die alle?« Stephen lachte bitter. »Soweit wir es sehen können, wollen sie ein sehr altes und mächtiges Unheil zum Leben erwecken.« »Warum?« »Aus Machtgier, nehme ich an. Ich kann es wirklich nicht sagen. Aber diese Männer, die uns jetzt angreifen? Ich weiß nicht, was sie wollen. Ihr habt Recht, sie scheinen anders zu sein. Vielleicht stehen sie im Dienst des Thronräubers.« »Annes Onkel?« Cazio nahm an, dass das der Mann war, den Stephen meinte. Für ihn war das Ganze ein wenig verwirrend. »Genau«, bestätigte Stephen. »Vielleicht hat er noch einen Grund, warum er sie lebend haben möchte.« »Nun, ich hoffe es«, sagte Cazio. »Ihr hegt Gefühle für sie?«, fragte Stephen. »Ich bin ihr Beschützer«, erwiderte Cazio, ein wenig verärgert über die Frage. 39 »Sonst nichts?« »Nein. Nichts.« »Weil es den Anschein hat, als ob -« »Nichts«, betonte Cazio. »Ich habe Freundschaft mit ihr geschlossen, ehe ich wusste, wer sie war. Und außerdem geht Euch das nichts an.« »Nein, wahrscheinlich nicht«, pflichtete Stephen ihm bei. »Hört zu, ich bin sicher, sie und ihre Zofe -« »Austra.« Stephens Augenbraue klomm empor, und er verzog den Mund zu einem irritierenden kleinen Lächeln. »Austra«, wiederholte er. »Wir werden sie finden, Cazio. Seht Ihr den Mann dort vorn?« »Asparo? Den Waldläufer?« »Ja. Er kann jeder Fährte folgen - dafür kann ich persönlich bürgen.« Cazio bemerkte, dass wieder leichte Flocken vom Himmel fielen. »Auch durch das hier?«, wollte er wissen. »Durch alles«, antwortete Stephen. Cazio nickte. »Gut.« Eine Weile ritten sie schweigend dahin. »Wie habt Ihr die Prinzessin eigentlich kennen gelernt?«, erkundigte sich Stephen. Cazio spürte, wie ein Lächeln seine Lippen in die Breite zog. »Ich bin aus Avella, wisst Ihr? Das ist eine Stadt
im Tero Mefio. Mein Vater war ein Edelmann, aber er wurde bei einem Duell getötet und hat mir nicht viel hinterlassen. Nur ein Haus in Avella und z'Acatto.« »Der alte Mann, den wir in Dunmrogh zurückgelassen haben?« »Ja. Mein Fechtmeister.« »Er muss Euch sehr fehlen.« »Er ist ein Trunkenbold, anmaßend und eingebildet - ja, er fehlt mir. Ich wollte, er wäre jetzt hier.« Er schüttelte den Kopf. »Aber Anne ... z'Acatto und ich haben eine Freundin auf dem Lande besucht - die Gräfin Orchaevia -, wegen der guten Landluft. Zufäl40 lig befanden sich ihr Anwesen und ihre Ländereien in der Nähe des Konvents der heiligen Cer. Eines Tages bin ich in diese Richtung gewandert und auf die Prinzessin gestoßen ... äh, im Bade.« Rasch wandte er sich an Stephen. »Ihr müsst verstehen, ich hatte keine Ahnung, wer sie war.« Stephens Blick wurde plötzlich schärfer. »Habt Ihr irgendetwas getan}« »Nichts, ich schwöre es.« Cazios Lächeln wurde breiter, als er sich erinnerte. »Nun ja, vielleicht habe ich ein wenig herumgeschäkert«, gab er zu. »Ich meine, mitten auf dem öden Lande ein fremdartiges Mädchen zu finden, bereits unbekleidet - es kam mir gewiss vor wie ein Zeichen von Lady Erenda.« »Habt Ihr ihren unbekleideten Körper tatsächlich gesehen}« »Äh ... na ja, nur ein wenig davon.« Stephen seufzte schwer und schüttelte den Kopf. »Und dabei hatte ich gerade angefangen, Euch zu mögen, Degenfechter.« »Ich habe es Euch doch gesagt, ich hatte keine Ahnung -« »Ich hätte wahrscheinlich das Gleiche getan. Aber die Tatsache, dass Ihr nicht wusstet, wer sie war, nun ja, das spielt keine Rolle. Cazio, Ihr habt eine Prinzessin von königlichem Geblüt nackt gesehen, eine Prinzessin, die wenn unser Unterfangen Erfolg hat -Königin von Crothenien sein wird. Hat sie es Euch denn nicht gesagt?« »Was gesagt?« »Jeder Mann, der einer Prinzessin von königlichem Blut ansichtig wird - jeder Mann, mit Ausnahme ihres ihr angetrauten Gemahls -, muss die Blendung erleiden, oder den Tod. Dieses Gesetz ist über tausend Jahre alt.« »Was? Ihr scherzt wohl!« Doch Stephen runzelte düster die Stirn. »Mein Freund«, sagte er, »es war mir noch nie so ernst.« »Aber Anne hat nie irgendetwas gesagt.« »Gewiss würde sie das auch nicht tun. Wahrscheinlich glaubt sie, sie kann Milde für Euch erwirken, aber das Gesetz ist sehr ein41 deutig, und selbst als Königin läge diese Angelegenheit nicht in ihren Händen - es würde vom Comven vollstreckt werden.« »Aber das ist doch absurd«, begehrte Cazio auf. »Ich habe nichts gesehen, außer ihren Schultern, und vielleicht habe ich einen winzigen Blick auf ... Ich wusste es nicht!« »Niemand sonst weiß davon«, sagte Stephen. »Wenn Ihr Euch davonstehlen solltet -« »Jetzt seid Ihr sogar noch lächerlicher«, entrüstete sich Cazio und spürte, wie er langsam in Wut geriet. »Ich habe für Anne und Austra viele Male den Tod riskiert. Ich habe geschworen, sie zu beschützen, und kein Ehrenmann würde sich vor einem solchen Versprechen drücken, bloß weil er irgendeine lachhafte Strafe fürchtet. Besonders jetzt, wo sie sich in der Gewalt irgendwelcher -« Er verstummte und betrachtete Stephen eingehend. »Es gibt gar kein solches Gesetz, nicht wahr?«, verlangte er zu wissen. »Oh doch«, antwortete Stephen und beherrschte sich mit sichtlicher Mühe. »Wie ich gesagt habe, es ist tausend Jahre alt. Allerdings ist es seit über fünfhundert Jahren nicht mehr zur Anwendung gekommen. Nein, ich denke, Ihr seid nicht in Gefahr, alter Knabe.« Cazio funkelte Stephen wütend an. »Wenn Ihr kein Priester wärt...« \, »Aber das bin ich doch gar nicht«, gab Stephen zurück. »Ich war Novize und habe den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten. Aber ich hatte eine Art Zwist mit der Kirche.« »Mit der Kirche selbst? Ihr glaubt, die ganze Kirche ist verderbt?« Stephen lachte leise. »Ich weiß es nicht. Allmählich fange ich an, das zu befürchten.« »Aber Ihr habt diesen Praifec erwähnt...« »Hespero. Ja, Aspar, Winna und ich sind von Praifec Hespero ausgeschickt worden, aber nicht für das, was wir schließlich getan haben. Was wir herausgefunden haben, ist, dass die Verkommen42 heit in der Kirche sehr tief reicht - vielleicht bis nach z'Irbina und zum Fratrex Prismo.« »Das ist unmöglich«, erwiderte Cazio. »Wieso unmöglich?«, wollte Stephen wissen. »Die Männer und Frauen der Kirche sind lediglich genau das: Männer und Frauen ebenso leicht durch Macht zu verführen wie jeder andere.« »Aber die Lords und Ladys -« »In der Sprache des Königs nennen wir sie Heilige«, erklärte Stephen.
»Wie immer Ihr sie auch nennt, sie würden einen so schweren Makel auf ihrer Kirche niemals dulden.« Stephen lächelte, und Cazio fand, dass es ein äußerst beunruhigendes Lächeln war. »Es gibt viele Heilige«, erklärte Stephen. »Und sie sind nicht alle makellos.« Plötzlich schien er abgelenkt. »Einen Moment«, murmelte er. »Was ist?« »Ich höre etwas«, sagte Stephen. »Noch mehr Männer vor uns. Und - noch etwas anderes.« »Eure von den Heiligen gesegneten Ohren, wie? Vorhin, als sie uns überfallen haben - wieso habt Ihr das nicht gehört?« Stephen zuckte die Achseln. »Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht hat die Heiligengabe oder der dwemor, was immer es war, das sie unsichtbar gemacht hat, mein Gehör beeinträchtigt, aber - Ihr müsst mich entschuldigen. Ich muss Aspar Bescheid sagen ... und Neil.« »Ja«, stimmte Cazio zu. »Ich halte meinen Degen bereit.« »Ja. Bitte tut das.« Cazio sah zu, wie Stephen sein Pferd Engel zu den anderen nach vorn traben ließ, zog - ein wenig trübselig Caspator aus der Scheide und rieb mit dem Daumen über die tiefe Scharte, die den breiten Teil der Klinge verunzierte; eine Scharte, die von just jenem glitzernden Hexenschwert geschlagen worden war, das Sir Neil jetzt trug. 43 Diese Scharte war Caspators Todeswunde - einen solchen Schaden konnte man nicht beheben, ohne die ganze Klinge neu zu schmieden. Und mit einer neuen Klinge wäre es nicht mehr wirklich Caspator, sondern eine andere Waffe. Doch selbst eine neue Waffe schmieden zu lassen wäre hier in diesen nördlichen Gefilden gar nicht so einfach, wo alle Welt übergroße Metzgermesser dem Rapier vorzog, der Seele der Dessrata. Dessrata war ohne die richtige Waffe nicht möglich, und wo sollte er einen neuen Degen auftreiben, der etwas taugte, ohne nach Vitellio zurückzukehren? Z'Acatto fehlte ihm wirklich. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, er wäre mit seinem alten Fechtmeister nach Vitellio zurückgekehrt. Er war mit großen Hoffnungen auf Abenteuer zu diesem Unterfangen aufgebrochen. So schrecklich es auch gelegentlich gewesen war, er hatte, seit er Vitellio verlassen hatte, mehr Wunder gesehen als zuvor in seinem ganzen Leben. Doch sie waren nur zu viert gewesen - Anne, Austra, z'Acatto und er selbst. Jetzt hatte Anne einen Ritter mit einem magischen Schwert, einen Waldläufer, der auf sechs Meilen Entfernung einen Pfeil durch eine Taube hindurchjagen konnte, und einen Priester, der in jeder Richtung auf zwölf Meilen Entfernung alles hörte. Winna schien über keinerlei geheimnisvolle Fähigkeiten zu verfügen, soweit er sehen konnte, doch es hätte ihn nicht verblüfft, wenn sie plötzlich angefangen hätte, die Tiere herbeizurufen und sie zu beschwören, an ihrer Seite zu kämpfen. Und was war er? Ein Bursche, der zugelassen hatte, dass die Königin und ihre Zofe genau vor seiner Nase entführt wurden. Der nicht einmal die Sprache dieses Königreichs beherrschte und der vollkommen nutzlos sein würde, wenn sein Degen schließlich unvermeidlich zerbrach. Das Sonderbarste war, dass ihm das gar nicht so viel ausmachte. Nun ja, es machte ihm etwas aus, aber nicht so sehr, wie es noch vor einem Jahr der Fall gewesen wäre. Er kam sich unzulänglich vor, doch das an sich war nicht das Problem. Es war nicht sein 44 Stolz, der ihn schmerzte - es war die Tatsache, dass er Anne nicht so dienen konnte, wie er es eigentlich tun sollte. Es war die Tatsache, dass sich Austra in den Händen von jemandem befand, der böse war. Er hatte versucht, sich mit selbstsüchtigen Gedanken abzulenken, um sich nicht mit der wahrhaft die Seele zermalmenden Möglichkeit auseinander setzen zu müssen, dass seine Freundinnen vielleicht bereits tot waren. Weiter vorn sah er, wie Stephen ihm mit einer Hand winkte und einen Finger der anderen auf die Lippen legte. Er trieb sein Pferd an und fragte sich, wie dieser Kampf wohl sein würde. Wie sich herausstellte, waren die Neuigkeiten gemischt. Die Männer, die Stephen gehört hatte, waren Verbündete - vier der Ritter aus Dunmrogh, die sich oben auf dem nächsten Hügel hinter einen Steinhaufen duckten. Sie kauerten dort, weil der übernächste Hügelkamm von ihren Feinden gehalten wurde. »Das war sehr gut geplant«, sagte Neil zu Aspar. »Ein Hauptangriff, um uns abzulenken, verzauberte Reiter, um die Mädchen zu rauben, und eine Reihe von Hinterhalten, um uns am Weiterziehen zu hindern, während sie entkommen. Aber warum nicht alles auf eine einzige Attacke setzen?« Aspar zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben sie von uns gehört und halten uns für stärker, als wir sind. Aber wahrscheinlicher ist, dass Ihr Euch irrt. Könnte sein, dass ihre Pläne nicht so gut gelaufen sind, wie es den Anschein hat. Ich glaube, sie hatten sehr wohl vor, uns alle bei einem einzigen Überfall zu töten, und wenn Ihr es recht bedenkt, waren sie auch ziemlich dicht davor. Wir hatten fast vierzig Mann, als wir Dunmrogh verlassen haben. Jetzt sind noch neun von uns übrig, aber das wissen sie nicht - mit all dem Schnee, und nachdem wir getrennt worden sind, sind sie genauso verwirrt wie wir. Vielleicht sind wir jetzt in der Überzahl. Das da drüben könnten die letzten drei von ihnen sein, dort auf dem Kamm, und vielleicht sind die Mädchen bei ihnen.« 45
»Es sind sechs«, sagte Stephen. »Und ich höre wirklich ein Mädchen, obwohl ich nicht beschwören kann, dass es eins von unseren ist.« »Es muss eins von unseren sein«, erwiderte Neil. »Werlic«, stimmte Aspar zu. »Also brauchen wir bloß loszumarschieren und sie uns zu schnappen.« Sein Blick wanderte gemächlich durch die Bäume, hinunter in das kleine Tal und zum gegenüberliegenden Hügelkamm hinauf. »Aspar ...«, sagte Stephen leise. »Ja?« »Da ist etwas - etwas anderes. Aber ich kann Euch nicht sagen, was es ist.« »Bei den Männern?« Stephen schüttelte den Kopf. »Nein. Es könnte sehr weit weg sein.« »Dann packen wir lieber den ersten Ast, ehe wir nach dem nächsten greifen«, erwiderte Aspar. »Aber wenn Ihr etwas Deutlicheres ausmachen könnt -« »Dann lasse ich es Euch wissen«, versprach Stephen. Neil musterte noch immer das Gelände. »Sie werden reichlich gute Möglichkeiten haben, auf uns zu schießen, ehe wir an sie herankommen«, stellte er fest. »Ja«, pflichtete Aspar ihm bei. »Das wäre ein guter Grund, nicht durch das Tal auf sie loszustürmen.« »Gibt es noch eine andere Möglichkeit?« »Jede Menge anderer Möglichkeiten. Sie haben die höchste Stelle besetzt, aber dieser Kamm da schließt zu unserer Linken an den ihren an.« »Ihr kennt diesen Ort?« Aspar runzelte die Stirn. »Nein. Aber der Bach da unten ist ziemlich klein, seht Ihr? Und ich kann die Quelle riechen. Und wenn Ihr Euch das Licht zwischen den Bäumen anseht - also, da oben ist hoch gelegenes Gelände, vertraut mir. Die Sache ist nur die, wenn wir alle dort entlanggehen, geben sie vielleicht Fersen46 eeld. Wenn sie dem Hügelkamm abwärts folgen, führt er sie zu den Sümpfen am Magierfluss, und wir bekommen sie dort zu fassen. Aber wenn sie nach Norden ziehen, den Kamm hinab, dann gelangen sie aus dem Wald ins Grasland, und dann haben sie die Wahl, entweder den Fluss zu überqueren und auf die Ebene von Mey Ghorn hinauszuziehen oder sich nach Osten zu wenden. So oder so, wir werden sie abermals einholen müssen, wenn wir können. Im Augenblick wissen wir, wo sie sind.« »Aber warum warten sie dort?«, fragte Neil. »Ich nehme an, sie haben sich verirrt«, antwortete Aspar. »Von da, wo sie sich befinden, können sie das offene Gelände nicht erkennen, aber wenn sie hundert Königsellen weit reiten, werden sie es sehen. Dann haben wir Ärger.« »Was schlagt Ihr vor? Dass jemand sich auf dem Hügel außen herumschleicht ?« »Ja.« »Und ich nehme an, dieser Jemand seid Ihr.« Als Antwort zog der Waldhüter plötzlich seine Bogensehne durch und ließ einen Pfeil fliegen. Ein scharfer Aufschrei der Empörung hallte von der anderen Seite der Hügelsenke herüber. »Nein«, sagte Aspar. »Ich werde hier gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass wir immer noch auf diesem Kamm hocken. Ihr und Cazio geht. Wenn Stephen hört, dass Ihr Euch ihnen nähert, laufen wir los, hinunter in die Senke und auf der anderen Seite wieder hinauf. Sorgt nur dafür, dass sie beschäftigt sind.« Neil dachte einen Moment lang darüber nach, dann nickte er. »Das ist einen Versuch wert«, sagte er. »Könnt Ihr leise sein?« »Im Wald? Ich werde meine Rüstung zurücklassen. Aber trotzdem ...« »Ich habe nicht das Gefühl, dass das Waldläufer sind«, erklärte Aspar. »Wir werden versuchen, hier ordentlich Lärm zu machen.« Neil schaute zu Cazio hinüber. »Stephen«, sagte er, »könntet Ihr Cazio erklären, was wir gerade gesagt haben?« 47 Stephen kam seiner Bitte nach, und als er fertig war, grinste der Degenfechter und nickte. Neil entkleidete sich bis auf sein gestepptes Wams, nahm Draug, und kurz darauf umgingen sie den Kamm im Osten, zuckten bei jedem knackenden Zweig zusammen und hofften inständig, dass Aspar in jeder Hinsicht Recht haben möge. Sie hätten sich keine Sorgen zu machen brauchen. Der Kamm machte ein Biegung, genau wie der Waldhüter es vorausgesagt hatte, und bildete unter ihnen eine Art Sackgasse. Der Hügelgrat senkte sich in der Biegung wieder und begann dann, zu jener höher gelegenen Kuppe anzusteigen, wo ihre Feinde warteten. Hin und wieder hörten sie Worte, die zwischen Aspar, Winna und Stephen und den Männern vor ihnen hin und her gebrüllt wurden. Das war eine Erleichterung, weil es ihnen im schwindenden Licht einen weiteren Anhaltspunkt gab. Neil ertappte sich dabei, dass er die Luft anhielt. Verärgert zwang er sich, gleichmäßig zu atmen. Er hatte schon öfter heimliche Angriffe durchgeführt - auf den Stränden und hoch gelegenen Wiesen der Inseln hatte er viele nächtliche Kämpfe ausgefochten, war in Stellung gegangen, um den Gegner zu überrumpeln. Doch auf den Inseln gab es Sand und Felsen, Moos und Heidekraut. Sich mit Aspars leichtfüßiger Lautlosigkeit durch diese
trügerischen Hügel und Wälder zu bewegen lag außerhalb seiner Fähigkeiten. Er blickte zu Cazio hinüber und sah, dass der Vitellianer mit der gleichen übertriebenen Vorsicht auftrat. Das Gebrüll vor ihnen kam jetzt näher. Neil duckte sich tiefer und griff nach seinem Schwert. Aspar drehte sich um, als er Stephen nach Luft schnappen hörte. »Was ist?« »Überall um uns herum«, stieß Stephen hervor. »Aus jeder Richtung.« 48 »Noch mehr von ihnen? Ein Hinterhalt?« »Nein, nein«, sagte Stephen. »Sie sind leiser als vorher, viel leiser, beinahe wie Wind in den Bäumen. Seine Macht wächst, und ihre auch ...« »Slinderlinge«, keuchte Winna. »Slinderlinge«, bestätigte Stephen. »Sceat«, knurrte Aspar. Cazio blieb stehen, als er durch die herbstkahlen Bäume hindurch etwas Buntes aufblitzen sah. Das Unterholz war dicht und dornig, von Blaubeeren, Hurenreben und Kreuzblumenranken durchwuchert. Zu seiner Rechten sah er Neil MeqVren, der ebenfalls innegehalten hatte. Das Gestrüpp war zugleich ein Vorteil und ein Problem; die Bogenschützen unter ihren Feinden würden sich schwer tun, ein Ziel zu finden, bis sie fast auf der Lichtung wären. Andererseits würde es Cazio und den Ritter behindern. Falsch. Urplötzlich stürmte Sir Neil vorwärts und wirbelte seine unheimliche Metzgerklinge vor sich herum wie das Buschmesser eines Gärtners, und das Unterholz widerstand ihr ebenso wenig wie Fleisch oder Panzerstahl. Er folgte Neil auf dem Fuße und wünschte sich, er wüsste ein klein wenig mehr über den Plan. Erregung bebte angespannt in ihm, wie das straffe Tau einer wurfbereiten Bailiste. Sobald Sir Neil auf die Lichtung hinausstürmte, huschte Cazio um ihn herum und trat direkt in die Bahn eines schwarz gefiederten Schafts. Der Pfeil schrammte über seinen Bauch, und Cazio spürte einen heftigen Schmerz. Er konnte nicht sagen, ob er ihm die Eingeweide herausgerissen oder ihn nur angekratzt hatte, und er hatte auch keine Zeit nachzusehen, da ein ungeschlachter Kerl mit einem Breitschwert eilig auf ihn zugeschnauft kam. Cazio streckte Caspator gerade nach vorn; das Rapier war mit Leichtigkeit doppelt so lang wie das Hackwerkzeug, das sein Wi49 dersacher führte. Der Bursche war schlau genug, um das zu begreifen, und er schlug heftig nach der schmalen Klinge, um sie aus seiner Bahn zu schieben. Allerdings war er nicht schlau genug, um seinen Angriff abzubremsen; anscheinend vertraute er darauf, dass sein wilder Hieb nach dem Degen erfolgreich sein würde. Doch mit einer geschickten Bewegung seines Handgelenks wich Cazio der Waffe aus, ohne dabei die vorgestreckte Stellung aufzugeben, sodass ihm der Mann höchst entgegenkommend geradewegs in die Klinge rannte. »Ca dola da -«, setzte Cazio dazu an, seinem Gegner wie gewohnt zu erklären, welche Lektion der Dessrata ihn soeben verwundet hatte. Er brachte den Satz allerdings nicht zu Ende, denn -aufgespießt oder nicht - der klobige Bursche zielte mit einem heftigen Hieb auf Cazios Kopf. Er entging ihm nur, indem er sich duckte, was einen neuerlichen Schmerzblitz über seinen Leib zucken ließ. Die Klinge verfehlte ihn, doch der Schwung des Schlags ließ den Schwertarm des Mannes gegen Cazios Schulter krachen. Cazio ergriff den Arm mit der Linken und hielt ihn fest, während er Caspator drehte und aus der Lunge des Mannes befreite. Einen Moment lang füllten seegrüne Augen Cazios Welt, und schaudernd wurde ihm klar, dass das, was er dort sah, weder Hass noch Zorn war, nicht einmal eine brodelnde Kampfeswut, sondern Entsetzen und Verzweiflung. »Nicht...«, keuchte der Mann. Cazio stieß ihn fort; ihm war übel. Es gab kein »Nicht«. Der Mann war bereits tot, er konnte diese Tatsache nur noch nicht akzeptieren. Was tat er hier? Cazio hatte sich seit seinem zwölften Lebensjahr duelliert, doch er hatte niemals gekämpft, um zu töten. Es war ganz einfach nicht nötig gewesen. Aber jetzt ist es nötig, dachte er grimmig, als er einem kauernden Bogenschützen die Sehne seiner Waffe durchschnitt und ihn damit daran hinderte, ihm ins Gesicht zu schießen. Dann ließ er 50 einen heftigen Tritt folgen, der den Mann unter dem Kinn traf und ihn in ein Bett aus Dornen und Gebüsch beförderte. Gerade drehte er sich um, um sich einem weiteren Angreifer zu stellen, als der Wald barst. Er hatte ein jähes Empfinden von Dunkelheit, nahm den Dunst ungewaschener Leiber und noch von etwas anderem wahr - ein Geruch wie der süße Rauschduft am Rebstock verfaulender Trauben, ein Geruch von schwarzer Erde. Dann schien es, als griffen hundert Glieder nach ihm, umklammerten ihn, und er wurde ins Chaos hinabgezogen. 3. Kapitel Bekanntes und fremdes Land
Annes Pferd schnaubte ängstlich, als sie sich einer weiteren Mauer aus schwarzen Dornen näherten, die sich so dicht zwischen den Bäumen dahinwanden, dass sie allem, was größer als eine Wühlmaus war, den Zutritt verwehrten. »Ruhig«, sagte Anne und klopfte dem Tier auf den Hals. Es zuckte zusammen und scheute vor ihrer Berührung zurück. »Sei brav«, seufzte Anne. »Ich gebe dir auch einen Namen, in Ordnung? Was wäre denn ein guter Name?« Mercenjoy, schien eine kleine Stimme in ihr zu kichern, und einen Moment lang war ihr so schwindlig, dass sie befürchtete, vom Pferd zu fallen. »Nein, nicht Mercenjoy«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihrem Reittier. So hieß das Pferd des Dunklen Ritters in den Phay-Märchen, fiel es ihr wieder ein, und der Name bedeutete »Mordross«. 51 »Du hast einem bösen Menschen gehört«, sagte sie so tröstend wie möglich, »aber du bist kein schlechtes Pferd. Mal sehen, ich glaube, ich nenne dich Prespine, nach der Heiligen des Labyrinths. Sie hat aus ihrem Irrgarten herausgefunden - und jetzt hilfst du mir, aus diesem hier herauszukommen.« Noch während sie das sagte, erinnerte sich Anne an einen Tag, der jetzt lange zurückzuliegen schien, einen Tag, als ihre Sorgen verhältnismäßig einfacher Natur gewesen waren und sie auf der Geburtstagsfeier ihrer Schwester gewesen war. Dort hatte es ein Labyrinth gegeben, aus Blumen und Ranken, doch binnen eines Moments hatte sie sich in einem ganz anderen Irrgarten wiedergefunden, an einem fremdartigen Ort ohne Schatten, und seitdem war nichts mehr einfach gewesen. Anne hatte nicht aufstehen wollen, um das Pferd einzufangen und loszureiten. Sie hatte zusammengekauert zwischen den Wurzeln des Baums sitzen bleiben wollen, bis jemand kam und ihr half oder bis es nicht mehr wichtig war. Doch die Angst hatte sie zum Aufstehen getrieben - die Angst, dass, wenn sie lange an einem Ort blieb, etwas noch Schlimmeres als der Tod sie einholen könnte. Sie schauderte, als der Wind sich drehte und einen Gestank von den schwarzen Ranken herbeitrug, einen Geruch, der sie an Spinnen denken ließ, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, jemals eine Spinne gerochen zu haben. Die seltsamen Gewächse hatten auch etwas Spinnenartiges. Ranken und Blätter glänzten und wirkten giftig. Sie wendete Prespine und folgte den Dornen, hielt jedoch respektvollen Abstand zu ihnen. Weit entfernt zur Linken glaubte sie, eine Zeit lang eine Art Geheul zu vernehmen, doch so schnell, wie es begonnen hatte, war es auch wieder verstummt. Die Sonne zog durch den Mittag und dann weiter auf ihr Nachtquartier im Wald-jenseits-der-Welt zu. Anne dachte bei sich, dass der Ort, wo die Sonne schlief, auch nicht eigentümlicher oder schrecklicher sein konnte als dieser hier. Die Dornenranken schie52 nen sie beinahe zu leiten, sie irgendwo hinzutreiben, wo sie fast sicher nicht hinwollte. Als der Himmel dunkler wurde, begann sie außerdem, etwas hinter sich zu spüren, und sie wusste, dass sie vorhin, bei dem Baum, Recht gehabt hatte. Irgendetwas war wirklich hinter ihr her. Es fing so klein an wie ein Insekt, doch es wuchs, die unzähligen Augen gierig auf ihren Rücken gerichtet. Aber wenn sie sich umdrehte, ganz gleich, wie rasch, war es fort. Sie hatte dieses Spiel als Kind gespielt, so wie es die meisten Kinder tun. Sie und Austra hatten so getan, als wäre der grausige Scaos hinter ihnen her, ein so schreckliches Ungeheuer, dass man es nicht ansehen konnte, ohne zu Stein zu werden. Wenn sie allein war, hatte sie sich vorgestellt, ein Gespenst wandele hinter ihr, manchmal fast am Rande ihres Gesichtsfeldes, doch es war nie da, wenn sie sich umdrehte. Manchmal hatte ihr das Angst gemacht, manchmal hatte sie es genossen; für gewöhnlich war es beides gewesen. Furcht, die man beherrschen konnte, hatte einen gewissen köstlichen Geschmack. Diese Furcht konnte sie nicht beherrschen. Sie schmeckte ganz und gar nicht gut. Und sie verdichtete sich immer mehr. Die unsichtbaren Finger tasteten sich immer näher an ihre Schulter heran, und wenn sie herumfuhr, war dort etwas, wie ein Fleck, den die helle Sonne auf der Innenseite des Augenlids zurücklässt. Die Luft schien um sie herum zu gerinnen, die Bäume sich müde erdwärts zu neigen. Etwas war ihr zurück gefolgt. Aber zurück von woher? Wo war dieser Ort der dunklen Wasser gewesen? Sie war schon früher über die Welt hinausgereist oder zumindest über ihren Teil der Welt hinaus. Meistens war sie an dem Aufenthaltsort der Glaubenden gewesen, der manchmal ein Wald war, manchmal ein enges Tal, manchmal eine Bergwiese. Einmal hatte sie Austra dorthin mitgenommen, um ein paar Rittern zu entkommen, die auf Mord sannen. Der Ort, an den sie mit dem Sterbenden geraten war, war an53 ders. War es das Land der Toten gewesen oder nur dessen Grenzgefilde? Sie erinnerte sich daran, dass es im Land der Toten zwei Flüsse geben sollte - obgleich sie nicht mehr wusste, weshalb -, aber da waren mehr als zwei gewesen; dort waren tausende gewesen. Und der Dornenkönig - er war von diesen Wassern eingeschnürt worden, oder zumindest hatten sie versucht, ihn zu fesseln. Was bedeutete das? Und wer war er?
Er hatte ihr etwas mitgeteilt, nicht mit Worten, doch sein Begehren war nichtsdestotrotz klar gewesen. Woher wusste er überhaupt, wer sie war? Das Gesicht der Dämonenfrau blitzte in ihrer Erinnerung auf, und erneut durchzuckte sie Entsetzen. War es das, was ihr folgte? Ihr fiel wieder ein, dass die Glaubenden ihr gesagt hatten, das Gesetz des Todes sei gebrochen worden, was immer das auch bedeutete. Hatte sie irgendein Verbrechen wider die Heiligen begangen und sich den Tod auf die Fersen gehetzt? Rotgoldene Sonne strömte plötzlich wie ein Wasserfall durch die oberen Äste, und mit schrecklicher Erleichterung wurde ihr bewusst, dass die Dornen ein Ende genommen hatten. Nicht weit vor ihr wurden auch die Bäume lichter und wichen einer ausgedehnten, endlosen Wiese voll vergilbtem Gras. Mit einem aus Angst und Triumph gemischten Aufschrei trieb sie Prespine aufs offene Gelände hinaus und spürte, wie die geisterhafte Gegenwart hinter ihr schwand und wieder in die Dornenschatten zurückschlich, wo sie sich wohl fühlte. Tränen schössen Anne in die Augen, als ihre Kapuze zurückfiel und der Wind durch ihr grob gekürztes Haar fuhr. Die Sonne stand dicht über dem Horizont, ein orangefarbenes Auge, halb von Wolkenlidern bedeckt, die wie dunkle Prellungen einen goldenen Westen verunzierten. Die prachtvollen Farben verblassten in einem abendlichen Himmel von so dunklem Blau, dass sie sich fast vorstellte, es sei Wasser - dass sie hineinschwimmen und sich in seinen Tiefen verstecken könnte und vor der Welt in Sicherheit wäre. 54 Die Wolken hatten sich weitgehend verzogen, es hatte aufgehört zu schneien, und alles schien besser zu sein. Doch Anne ließ Prespine weitergaloppieren, bis der Wald nur noch ein immer dünnerer Strich hinter ihr war. Dann ließ sie sie in Schritt fallen, klopfte der Stute auf den Hals und fühlte den mächtigen Puls, beinahe im Takt mit ihrem eigenen. Es war noch immer kalt - tatsächlich fühlte es sich kälter an als vorhin, als es geschneit hatte. Wo war sie? Anne ließ den Blick über die unvertraute Landschaft gleiten und versuchte, irgendeinen Anhaltspunkt heraufzubeschwören. Sie hatte den Landkarten, die ihre Lehrer ihr gezeigt hatten, als sie jünger gewesen war, nie besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das bereute sie jetzt schon seit etlichen Monaten. Der Sonnenuntergang zeigte natürlich den Westen. Die Ebene senkte sich allmählich vom Wald herab, daher konnte sie ein gutes Stück weit sehen. Im Osten ließ die Abenddämmerung einen Fluss schimmern, auf dessen anderer Seite, weit entfernt, sie die schwarze Linie weiterer Bäume erkennen konnte. Der Fluss beschrieb eine Biegung nach Norden und verschwand am Horizont. Mehr in der Nähe erblickte sie zu ihrer Freude die Spitze von etwas, das ein Glockenturm sein musste. In dieser Richtung schien die Landschaft mit kleinen Hügeln gesprenkelt zu sein - bei denen es sich, wie ihr einen Moment später klar wurde, um Heuhaufen handeln musste. Einen langen Augenblick hielt sie inne und betrachtete die fernen Zeichen menschlicher Anwesenheit; ihre Gefühle bewölkten sich ein wenig. Eine Stadt bedeutete Menschen, und Menschen bedeuteten Essen, Obdach, Wärme, Gesellschaft. Es konnte aber auch Gefahr bedeuten; der Mann, der sie angegriffen hatte - er musste sie angegriffen haben -, war irgendwoher gekommen. Dies war der erste Ort, den sie sah, der eine Erklärung für ihn sein könnte. Und wo waren Austra und die anderen? Hinter ihr, vor ihr - oder tot? 55 Sie atmete tief durch, versuchte, die Spannung in ihren Schultern zu lockern. Sie hatte sich mit Cazio unterhalten, und alles war in Ordnung gewesen. Dann war sie plötzlich allein mit einem sterbenden Mann. Die vernünftigste Schlussfolgerung war, dass er sie irgendwie entführt hatte, aber wieso konnte sie sich nicht daran erinnern, wie es passiert war? Sogar der bloße Versuch, darüber nachzudenken, verursachte jähe Panik, die drohte, alle anderen Gedanken in ihrem Verstand zu vernebeln. Also schob sie das beiseite und richtete ihr Augenmerk auf die Gegenwart. Wenn ihre Freunde noch am Leben waren, suchten sie nach ihr. Wenn nicht, war sie allein. Könnte sie eine Nacht ganz allein auf dieser Ebene überleben? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das hing davon ab, wie kalt es wurde. Prespines Satteltaschen enthielten ein wenig Brot und getrocknetes Fleisch, mehr jedoch nicht. Sie hatte zugesehen, wie Cazio und z'Acatto Lagerfeuer entzündet hatten, doch sie hatte unter den Habseligkeiten des Toten nichts gesehen, was einer Zunderbüchse ähnelte. Widerstrebend fasste sie einen Entschluss und trieb die Stute auf die Stadt zu. Sie musste zumindest wissen, wo sie sich befand. Hatte sie es bis Loiyes geschafft? Wenn ja, dann müsste das Dorf vor ihr unter der Herrschaft ihrer Tante stehen. Wenn sie nicht in Loiyes war, musste sie dorthin. Dessen war sie sich jetzt sicherer denn je, denn sie hatte es im Gesicht des Dornenkönigs gesehen. Ihr wurde klar, dass sie noch etwas wusste. Zumindest Stephen Darige war am Leben. Sie wusste das, weil der Dornenkönig es wusste. Und es gab etwas, das Stephen tun sollte. Nach kurzer Zeit stieß sie auf eine ausgefahrene Lehmstraße, die breit genug für Fuhrwerke war; tief in die Landschaft eingekerbt, war sie bisher ihrem Blick verborgen gewesen. Von dort aus, wo 56 sie sie erreicht hatte, wand sich die Straße durch bestelltes Land dahin. Sie bemerkte kleine grüne Spitzen, die
aus dem Schnee hervorlugten, woraufhin sie sich fragte, was Bauern wohl im Winter anbauten oder ob das bloß Unkraut war. Die Heuhaufen, die sie von fern gesehen hatte, waren erstaunlich groß. Dürre Vogelscheuchen in zerfetzten Lumpen starrten hohläugig aus Strohköpfen oder schwarzen, verschrumpelten Kürbisschädeln. Der Holzrauch und sein tröstlicher Geruch hüllten die kalte Erde ein, und bald darauf kam sie zu einem kleinen Haus mit weißen Lehmwänden und einem steilen Reetdach. Ein Schuppen, der an einer Seite angebaut war, schien als Stall zu dienen; eine Kuh beobachtete sie mit stumpfer Neugier unter dem Dachrand hervor. Sie konnte einen Mann in schmutzigem Wams und Beinkleidern erkennen, der mit einer hölzernen Gabel Heu von einem Heuboden herunterzerrte. »Verzeiht«, rief sie zögernd. »Könnt Ihr mir sagen, wie der Ort dort vorn heißt?« Der Mann schaute sich nach ihr um, und seine müden Augen weiteten sich ein wenig. »Ah, edeu«, sagte er. »Ist geheißen Sevoyne, Mylady« Anne stutzte angesichts seines Akzents. »Sevoyne?«, fragte sie. »Ist das in Loiyes?« »Edeu, Mylady Loiyes sein hier. Wo soll sie sein sonst mit Verlaubnis?« Anne ließ die Frage unbeachtet. »Und könnt Ihr mir sagen, wo von hier aus gesehen Glenchest liegt?«, forschte sie weiter. »Glenchest?« Seine Stirn legte sich in Falten. »Ist fastlich vier Meilen, ich glaube, entlang die Straße hier größte Stück. Ihr tut Arbeit für Herzogin dort, Lady?« »Dort will ich hin«, erwiderte Anne. »Ich habe mich nur ein wenig verirrt.« »Niemals ich so weit gewesen«, erklärte der Mann. »Aber Leute sagen, ist nicht schwerlich, dort hinzufinden.« 57 »Dann vielen Dank«, sagte Anne. »Habt Dank.« »A'plezee, und gutes Weg, Mylady«, erwiderte der Mann. Als Anne weiterritt, hörte sie eine Frauenstimme hinter sich. Der Mann antwortete, und diesmal benutzte er eine Sprache, die sie nicht kannte. Dies war also Loiyes, im Herzen Crotheniens. Wie kam es dann, dass die Bauern hier nicht zuerst die Sprache des Königs sprachen? Und wie kam es, dass sie das nicht gewusst hatte? Sie war schon oft in Loiyes gewesen, in Glenchest. Die Menschen in der Stadt Glenchest beherrschten die Sprache des Königs sehr gut. Laut diesem Mann war die Stadt weniger als einen Tagesritt von hier entfernt. Sie hatte so viel Zeit damit zugebracht, in fremden Ländern zu reisen. Der Gedanke an eine Heimkehr - daran, einen Ort zu erreichen, wo die Menschen die Mundart sprachen, mit der sie aufgewachsen war - war etwas, wonach sie sich seit Monaten gesehnt hatte. Jetzt war sie hier, bloß um zu entdecken, dass das Land ihrer Geburt ihr fremder war als je zuvor. Als Anne Sevoyne erreichte, verschwanden die allmählich zum Vorschein kommenden Sterne hinter einer neuerlichen Wolkendecke, die von Osten heranzog und Anne wieder die Beklemmungen bescherte, die sie im Wald empfunden hatte. Ihr schweigender Verfolger war abermals nahe, kühner geworden durch die tiefen Schatten. Sie kam am Horz der Stadt vorüber, der einen Stelle, wo alles vollkommen wild wachsen durfte, wenngleich gefangen innerhalb einer uralten Steinmauer. Zum ersten Mal bemerkte Anne diesen Widerspruch, und sie spürte ihn heftig, ein weiterer wohl bekannter Stein in ihrer Welt, der umgedreht wurde, um die kriechenden Wesen zu offenbaren, die darunter schwärten. Der Horz stand für die wilde, ungezähmte Natur. Seine Heili58 gen waren Seifan, Schutzpatron der Pinien, Rieyene, Bewahrerin der Vögel, und Fessa, Mutter der Blumen - die wilden Heiligen. Wie mussten die wilden Heiligen es finden, in Banden zu liegen, wenn ihnen einst die ganze Welt gehört hatte? Sie dachte an den Horz in Tero Galle, wo sie in jene andere Welt eingetreten war. Sie hatte dort ein Gefühl von krankhaftem Zorn verspürt, von hilfloser Enttäuschung, die in Wahnsinn umgeschlagen war. Einen Moment lang schienen die Steinmauern zu einer Hecke aus schwarzen Dornenranken zu werden, und das Bild von der Gestalt mit dem Geweih kehrte zu ihr zurück. Er war wild - und wie alles wirklich Wilde war er Furcht einflößend. Die Dornen versuchten, ihn zu fesseln, oder nicht? So wie die Mauern des Horz die Wildnis einschnürten. Aber wer hatte die Dornen geschickt? Und hatte sie selbst das gedacht, oder hatte er das in ihrem Kopf zurückgelassen? Wie war sie auf diese Verbindung gekommen? Einerseits konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, was mit ihr geschehen war. Andererseits kamen ihre Gedanken zu seltsamen Schlussfolgerungen. Hatte sie vollkommen die Kontrolle über ihren Verstand verloren? War sie verrückt? »Detoi, meyez«, sagte jemand und unterbrach ihren Gedankengang. »Quey veretoi adeyre en se zevie?« Anne versuchte angespannt, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Zu ihrer Überraschung stellte sich das, was ihr lediglich wie ein Schatten erschienen war, als ein Mann mittleren Alters heraus, der eine Livree trug, die sie wiedererkannte - die Sonne, den Speer und den springenden Fisch der Herzöge von Loiyes. »Sprecht Ihr die Sprache des Königs, Sir?«, fragte sie.
»Das tue ich«, antwortete der Mann. »Und ich entschuldige mich für meine Unverfrorenheit. Im Dunkeln konnte ich nicht sehen, dass Ihr eine Lady seid.« Jetzt verstand Anne das Gebaren des Bauern. Ihre Sprache und der Akzent, mit dem sie sie gebrauchte, wiesen sie augenblicklich als Adlige aus Eslen aus - oder zumindest als die Dienerin einer 59 Adligen. Ihre Kleidung, so schmutzig sie auch sein mochte, bestätigte dies. Das konnte gut oder schlecht sein. Nein, nicht gut oder schlecht. Sie war allein, ohne Beschützer. Wahrscheinlich war es schlecht. »Mit wem habe ich die Ehre, Sir?« »Mechoil MeLemved«, antwortete er. »Hauptmann der Wache von Sevoyne. Habt Ihr Euch verirrt, Lady?« »Ich bin unterwegs nach Glenchest.« »Allein? Und in diesen Zeiten?« »Ich hatte Begleiter. Wir wurden getrennt.« »Nun, kommt fort aus der Kälte, Lady. Der coirmthez - verzeiht mir, das Gasthaus - wird ein Zimmer für Euch haben. Vielleicht warten Eure Begleiter bereits auf Euch.« Annes Hoffnungen schwanden noch mehr. Der Hauptmann schien zu wenig überrascht, zu schnell bereit, ihr entgegenzukommen. »Ich sollte Euch warnen, Hauptmann MeLemved«, sagte sie, »dass schon früher versucht wurde, mich zu täuschen und mir etwas anzutun, und dass meine Geduld mit dergleichen äußerst begrenzt ist.« »Ich verstehe nicht, Prinzessin«, erwiderte der Hauptmann. »Was sollte ich Euch denn antun wollen?« Sie spürte, wie ihr Gesicht erstarrte. »Gewiss überhaupt nichts«, gab sie zurück. Sie setzte Prespine mit einem Tritt in Bewegung, schickte sich an, die Stute zu wenden. Dabei entdeckte sie, dass jemand hinter ihr war, und noch während sie dies feststellte, bemerkte sie etwas am Rande ihres Gesichtsfeldes, kurz bevor es ihr hart seitlich gegen den Kopf schlug. Sie keuchte, und im nächsten Moment gruben sich starke Finger in ihre Arme und zerrten sie vom Pferd. Sie wand sich, trat um sich und schrie, doch ihre Schreie wurden rasch von etwas erstickt, das ihr in den Mund geschoben wurde; gleich darauf folgte der Geruch von Korn, als man ihr einen Sack über den Kopf zog. Wut 60 flammte auf, und sie griff nach jenem Ort, wo Krankheit hauste, Krankheit, die sie über andere bringen konnte. Was sie stattdessen fand, war ein so heftiges Grauen, dass sie ihm nur durch einen neuerlichen Rückzug in die Finsternis entkommen konnte. Prustend erwachte sie, ihre Nase brannte, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ein scharfer Branntweingeruch umgab alles, doch das schien eigenartig weit weg zu sein. Ihre Augen öffneten sich, und durch glasigen Schwindel hindurch sah sie, dass sie sich in einem kleinen Zimmer befand, das von mehreren Kerzen erleuchtet war. Jemand zog ihr Haar nach hinten, und obgleich sie das Ziehen an den Haarwurzeln spürte, tat es nicht besonders weh. »Jetzt bist du wach, wie?«, knurrte eine Männerstimme. »Na, dann trink.« Der harte Mund einer Flasche wurde gegen ihre Lippen gepresst, und etwas Nasses strömte in ihren Mund. Sie spuckte es aus, vollkommen verwirrt; sie erkannte dieses Gefühl wieder, erinnerte sich, dass etwas passiert war, wusste jedoch nicht genau, was. Da war eine Frau gewesen, eine grauenhafte Frau, eine Dämonin, und sie war vor ihr geflohen, genau wie schon einmal... »Schlucken«, grollte der Mann. Da begriff Anne, dass sie betrunken war. Sie hatte sich schon mehrmals betrunken, mit Austra. Meistens war es angenehm gewesen, doch ein paar Mal war ihr furchtbar übel geworden. Wie viel hatten sie ihr eingeflößt, während sie geschlafen hatte? Genug. TAX ihrem Entsetzen hätte sie beinahe gekichert. Der Mann hielt ihr die Nase zu und schüttete ihr mehr von dem Zeug in die Kehle. Diesmal schluckte sie; Feuer kroch in ihren Leib, der bereits bis zum Brennen erhitzt war. Sie verspürte jähe Übelkeit, doch das verging rasch. Ihr Kopf pulsierte angenehm, und alles um sie herum schien viel zu schnell zu geschehen. 61 Der Mann trat dorthin, wo sie ihn sehen konnte. Er war nicht sehr alt - vielleicht ein paar Jahre älter als sie. Er hatte lockiges braunes Haar, das an den Spitzen heller war, und haselnussbraune Augen. Nicht gut aussehend, aber auch nicht hässlich. »Siehst du«, sagte er, »du hast keinen Grund, es mir schwer zu machen.« Anne fühlte, wie ihre Augen hervortraten, und plötzlich brannten Tränen darin. »Werdet mich umbringen«, sagte sie lallend. Sie hatte eigentlich etwas viel Komplizierteres sagen wollen, doch es war nicht herausgekommen. »Nein, das werde ich nicht tun.« »Werdet Ihr doch.« Er sah sie einen Moment lang stirnrunzelnd an, ohne zu sprechen. »Warum - warum bin ich betrunken?«, wollte sie wissen. »Damit du nicht versuchst zu fliehen. Ich weiß, dass du eine Hexe bist. Es heißt, Branntwein macht es euch schwerer, eure Künste anzuwenden.«
»Ich bin keine Hexe«, fuhr sie ihn an. Dann, alle Beherrschung war dahin, begann sie zu schreien. »Was wollt Ihr von mir?« »Ich? Gar nichts. Ich warte nur auf die anderen. Wie bist du überhaupt entkommen? Wieso warst du allein?« »Meine Freunde kommen«, behauptete sie. »Glaubt mir. Und wenn sie hier sind, werdet Ihr das bereuen.« »Ich bereue es jetzt schon«, erwiderte der Mann. »Sie haben mich für alle Fälle hier zurückgelassen, aber ich hätte nie gedacht, dass ich mich mit dir herumschlagen muss.« »Also, ich ...« Doch sobald sie den Gedanken angefangen hatte, verlor sie ihn auch schon wieder. Tatsächlich wurde es schwerer, überhaupt zu denken, und ihre Furcht von vorhin, dass sie dabei war, den Verstand zu verlieren, machte sich als eine Art geheimer Scherz erneut bemerkbar. Ihre Lippen fühlten sich riesig und schwammig an, und ihre Zunge war scheinbar so groß wie ihr Kopf. 62 »Ihr habt mir eine Menge zu dr... zu trinken gegeben.« »Ja, das stimmt.« »Wenn ich einschlafe, bringt Ihr mich um.« Sie spürte, wie sich eine Träne in ihrem Augenwinkel sammelte und ihre Wange hinunterrann. »Nein, das ist doch dumm. Ich hätte dich längst umgebracht, oder? Nein, sie wollen dich lebendig.« »Warum?« »Woher soll ich das wissen? Ich arbeite bloß für meine retoiyers. Die anderen -« »Kommen nicht wieder«, sagte Anne. »Was?« »Sie sind alle tot, seht Ihr das nicht ein? Alle Eure Freunde sind tot.« Sie lachte, wusste nicht genau, warum. »Du hast sie gesehen?«, fragte er unruhig. Anne log durch ein Kopfnicken. Es fühlte sich an, als wackle sie mit einem riesigen Kessel auf der Spitze einer dünnen Stange. »Sie hat sie getötet.« »Wer >sie« »Die, die Ihr in Euren Albträumen seht«, antwortete sie höhnisch. »Die, die sich im Finstern an Euch heranschleicht. Sie kommt, um mich zu holen. Ihr werdet hier sein, wenn sie kommt, und es wird Euch Leid tun.« Das Licht wurde schwächer. Die Kerzen brannten noch immer, doch die Helligkeit schien irgendwie verblasst zu sein. Die Dunkelheit hüllte sie ein wie eine Daunendecke. Alles drehte sich, und zu reden schien viel zu viel Mühe zu machen. »Sie kommt ...«, murmelte sie und versuchte, ein Gefühl der Dringlichkeit festzuhalten. Sie schlief nicht wirklich ein, aber ihre Augen fielen zu, und ihr Kopf schien voller seltsamer Trompeten und unnatürlicher Lichter. So trieb sie in einzelne Szenen hinein und wieder heraus; sie war in z'Espino, gekleidet wie eine Dienstmagd, und schrubbte Wä63 sehe, und zwei Frauen mit großen Köpfen machten sich in einer Sprache über sie lustig, die sie nicht kannte. Sie saß auf ihrem Pferd Windschnell und ritt so schnell, dass sie sich fast übergeben musste. Sie war im Hause ihrer toten Vorfahren, das Marmorhaus in Eslen-des-Schattens, mit Roderick, und er küsste die nackte Haut über ihrem Knie, wanderte ihren Schenkel hinauf. Sie streckte die Hand nach unten, um sein Haar zu streicheln, und als er zu ihr aufschaute, waren seine Augen von Maden wimmelnde Löcher. Sie schrie auf, ihre Augen öffneten sich flatternd und erblickten eine wässrige, halb klare Wirklichkeit. Noch immer war sie in dem kleinen Raum. Irgendjemandes Kopf presste sich gegen ihre Brust, und jemand leckte an ihr. Sie saß noch immer auf dem Stuhl, doch sein Körper war zwischen ihren Beinen, an denen sich, wie sie sehen konnte, keine Strümpfe mehr befanden. Er hatte ihre Röcke bis zur Hüfte hinaufgeschoben. »Nein ...«, murmelte sie und versuchte ihn wegzuschieben. »Nein.« »Sei still«, zischte er. »Ich hab dir doch gesagt, das hier wird gar nicht so schlimm.« »Nein!«, gelang es Anne zu schreien. »Niemand kann dich hören«, sagte er. »Beruhig dich. Ich weiß, wie man das macht.« »Nein!« Doch er achtete nicht auf Anne, begriff nicht, dass sie nicht länger ihn anschrie. Sie schrie sie an, als sie sich aus den Schatten erhob, die grauenvollen Zähne zu einem boshaften Grinsen gefletscht. 64 4. Kapitel Eine neue Musik Leoff klammerte sich an seine Schwarzen Marys. Ganz gleich, wie schrecklich sie waren, er wusste, dass das Erwachen schlimmer sein würde. Und manchmal, in dem Dunst aus Finsternis und allumfassenden Schmerzen, zwischen den verzerrten Gesichtern, welche Drohungen hervorstießen, die durch ihre Unverständlichkeit nur noch furchtbarer wurden, zwischen den von Würmern triefenden Leichnamen und der Flucht über Ebenen, in denen er bis zu den
Oberschenkeln versank wie in geronnenem Blut, leuchtete etwas Schönes hervor, wie ein klarer Sonnenstreifen in einer dunklen Wolke. Diesmal war es wie gewöhnliche Musik - die kühlen, süßen Klänge einer Hammarharfe, die wie der Atem eines Heiligen durch seine gequälten Träume schwebten. Nichtsdestotrotz wehrte er sich; Musik war schon öfter zu ihm zurückgekehrt, stets hatte sie lieblich begonnen, doch dann hatte sie sich zu schrecklichen Tonarten verzerrt, die ihn in immer tieferes Grauen gestürzt hatten, bis er die Hände auf die Ohren presste und die geweihten Heiligen anflehte, ihr ein Ende zu machen. Diesmal jedoch blieben die Töne süß, wenn auch unbeholfen und stümperhaft. Stöhnend drängte er gegen den klebrigen Schoß des Traums, bis er ins Wachsein hindurch brach. Einen Moment lang dachte er, er wäre lediglich in einem anderen Traum gelandet. Er lag nicht auf dem kalten, stinkenden Stein, an den er sich gewöhnt hatte, sondern auf einer weichen Matratze, und sein Kopf ruhte auf einem Kissen. Der Gestank seines eigenen Urins war schwachem Wacholderduft gewichen. Und vor allem - vor allem war die Hammarharfe wirklich, 65 ebenso wie der Mann, der daran saß und ungeschickt auf der Tastatur herumstocherte. »Prinz Robert«, brachte Leoff krächzend heraus. In seinen eigenen Ohren klang seine Stimme abgenutzt, als hätte all sein Schreien die Stränge seiner Kehle zerfetzt. Der Mann auf dem Hocker drehte sich um und klatschte in die Hände, als sei er entzückt, doch die harten Gemmen seiner Augen spiegelten das Kerzenlicht wider und sonst nichts. »Cavaor Leoff«, sagte er. »Wie nett von Euch, Euch zu mir zu gesellen. Schaut, ich habe Euch ein Geschenk mitgebracht.« Mit einer schwungvollen Geste zeigte er auf die Hammarharfe. »Es ist ein gutes Stück, hat man mir gesagt«, fuhr er fort. »Aus Virgenya.« Leoff spürte ein seltsames, entrücktes Summen in seinen Gliedmaßen. Er sah keine Wachen. Er war allein mit dem Prinzen, mit diesem Mann, der ihn der Gnade des Praifec und seiner Folterknechte überantwortet hatte. Langsam betrachtete er seine Umgebung. Er war in einem Raum, der erheblich größer war als die Zelle, in der er sich befunden hatte, als Schlaf und Fieberwahn ihn das letzte Mal übermannt hatten. Außer der schmalen Holzpritsche, auf der er lag, und der Hammarharfe gab es noch einen zweiten Stuhl, eine Waschschüssel nebst Krug und - und hier musste er sich die Augen reiben - ein Regal voller Bücher und Scrifti. »Kommt, kommt«, drängte der Prinz. »Ihr müsst das Instrument ausprobieren. Bitte, ich bestehe darauf.« »Euer Hoheit -« »Ich bestehe darauf«, wiederholte Robert entschieden. Unter Schmerzen setzte Leoff die Füße auf den Boden und fühlte, wie ein oder zwei Blasen an seinen Sohlen aufplatzten. Das war ein so geringfügiges Ungemach, dass er nicht einmal richtig zusammenzuckte. z""" Der Prinz - nein, er hatte sich inzwischen selbst zum König ernannt, nicht wahr? Der Thronräuber war allein. Königin Muriele war tot. Alle, an denen ihm etwas lag, waren tot. 66 Er war schlimmer dran. Leoff ging auf Robert zu und fühlte, wie sein Knie seltsam knirschte. Er würde niemals wieder rennen, nicht wahr? Nie wieder an einem Frühlingstag übers Gras laufen, niemals mit seinen Kindern spielen - wahrscheinlich würde er niemals Kinder haben, was das betraf. Er machte noch einen Schritt. Jetzt war er fast nahe genug. »Bitte«, sagte Robert müde, erhob sich von dem Hocker und packte Leoffs Schultern mit kalten, harten Fingern. »Was glaubt Ihr, was Ihr tun werdet? Mich erwürgen? Hiermit?« Er ergriff Leoffs Finger, und solche Pein zuckte durch ihn hindurch, dass sich seiner wunden Lunge ein Ächzen entrang. Früher hätte es ausgereicht, um ihn aufschreien zu lassen. Jetzt traten ihm Tränen in die Augen, als er hinabblickte, dorthin, wo die Hand des Königs die seine umklammerte. Er erkannte sie noch immer nicht wieder, seine Hände. Einst hatten sich seine Finger zu den Spitzen hin sanft verjüngt, waren schlank und geschmeidig gewesen, vollendet geeignet, über die Fidel zu gleiten oder über Tasten zu tanzen. Jetzt waren sie geschwollen und auf grauenhaft unnatürliche Weise verdreht - die Männer des Praifec hatten sie ihm methodisch zwischen jedem einzelnen Gelenk gebrochen. Damit hatten sie es allerdings nicht bewenden lassen - sie hatten auch die Knochen beider Hände zermalmt und die Handgelenke zerschmettert. Hätten sie ihm die Hände ganz abgehackt, wäre das gütiger gewesen. Doch das hatten sie nicht getan. Sie hatten sie dort baumeln lassen, eine Erinnerung an andere Dinge, die er niemals wieder tun würde. Wieder sah er die Hammarharfe an, mit ihrer wunderschönen, rot-schwarzen Tastatur, und seine Schultern begannen zu beben. Das Rieseln der Tränen wurde zu einer Flut. »Seht Ihr«, sagte Robert, »so ist es recht. Lasst es heraus. Lasst es heraus.« »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr mir noch mehr wehtun könn67 tet«, brachte Leoff heraus und biss die Zähne zusammen; er schämte sich, doch er war beinahe, endlich, jenseits aller Scham.
Der König streichelte das Haar des Komponisten, als wäre dieser ein Kind. »Hört zu, mein Freund«, sagte er. »Das hier ist meine Schuld, aber mein Vergehen besteht in Unterlassung. Ich habe den Praifec nicht hinreichend beaufsichtigt. Ich hatte keine Ahnung von den Grausamkeiten, die er Euch angetan hat.« Leoff hätte fast gelacht. »Ihr werdet mir gewiss vergeben, wenn ich misstrauisch bin«, erwiderte er. Die Finger des Thronräubers zwickten sein Ohr. »Und Ihr werdet mich mit >Euer Majestät< anreden«, sagte Robert leise. Leoff schnaubte. »Was wollt Ihr unternehmen, wenn ich es nicht tue? Mich töten? Ihr habt mir doch schon alles genommen, was ich hatte.« »Glaubt Ihr?«, fragte Robert leise. Er ließ Leoffs Ohr los und trat zurück. »Ich habe nicht alles genommen, das verspreche ich Euch. Aber lassen wir das. Ich bedaure, was Euch widerfahren ist. Mein Leibarzt wird sich von jetzt an Eurer annehmen.« »Kein Arzt kann das hier heilen«, entgegnete Leoff und hielt seine verkrüppelten Hände hoch. »Vielleicht nicht«, gab Robert zu. »Vielleicht werdet Ihr nie wieder selbst spielen. Doch soweit ich es verstehe, wird die Musik, die Ihr erschafft - komponiert -, in Eurem Kopf gemacht.« »Sie kann aber ohne meine Finger nicht aus meinem Kopf heraus«, fauchte Leoff. »Oder die Finger von jemand anderem«, sagte Robert. »Was -« Doch in diesem Augenblick winkte der König, die Tür öffnete sich, und dort, im Lampenlicht, stand ein Soldat in dunkler Rüstung. Seine Hand ruhte auf der Schulter' eines kleinen Mädchens, dessen Augen mit einem Tuch verbunden waren. »Mery?«, keuchte er. »Cavaor Leoff?«, quietschte die Kleine. Sie wollte vorwärts stolpern, doch der Soldat zog sie zurück, und die Tür schloss sich. 68 »Mery«, wiederholte Leoff und tappte auf die Tür zu, doch Robert packte ihn abermals an der Schulter. »Seht Ihr?«, sagte der Thronräuber leise. »Sie haben mir gesagt, sie wäre tot!«, keuchte Leoff. »Hingerichtet!« »Der Praifec hat versucht, Eure ketzerische Seele zu brechen«, erklärte Robert. »Vieles von dem, was seine Männer Euch erzählt haben, ist nicht wahr.« »Aber -« »Still«, mahnte der Thronräuber. »Ich war gütig. Ich kann noch gütiger sein. Aber Ihr müsst Euch bereit erklären, mir zu helfen.« »Euch wie zu helfen?« Robert lächelte ein fürchterliches kleines Lächeln. »Wollen wir das bei einem Mahl besprechen? Ihr seht halb tot aus.« Scheinbar eine Ewigkeit lang hatten Leoffs Mahlzeiten entweder aus gar nichts bestanden oder aus einem namenlosen Brei, der im besten Fall mehr oder weniger geschmacklos gewesen war und im schlimmsten nach verwesenden Abfällen gestunken hatte. Jetzt starrte er auf ein Stück Schwarzbrot hinab, auf dem sich gebratenes Schweinefleisch, in Most geschmorter Lauch, Rotbutterkäse, in Scheiben geschnittene und mit grüner Soße beträufelte gekochte Eier und Sahnegeröstetes häuften. Jeder Duft war eine liebliche Melodie, die alles zu einem überschwänglichen Ganzen ineinander wallte. Sein Kelch war mit einem Rotwein gefüllt, so herb und fruchtig, dass er es riechen konnte, ohne sich hinabzubeugen. Er schaute seine nutzlosen Hände an, dann wieder das Essen. Erwartete der König etwa, dass er das Gesicht darin vergrub wie ein Schwein? Wahrscheinlich. Und ihm war klar, dass er dies in wenigen Augenblicken auch tun würde. Stattdessen trat ein Mädchen in schwarz-grauer Livree ein, kniete neben ihm nieder und fing an, ihm kleine Stücke des Ge69 richts anzubieten. Er gab sich Mühe, sie mit ein wenig Anstand entgegenzunehmen, doch nach der ersten Geschmacksexplosion in seinem Mund schlang er alles schamlos hinunter. Robert saß ihm gegenüber am Tisch und sah ihm ohne erkennbare Belustigung zu. »Das war schlau«, sagte er nach einer Weile. »Euer Lustspiel, Eure Gesangsaufführung. Der Praifec hat Euch und die Macht, die Ihr durch Eure Musik ausübt, gewaltig unterschätzt. Ich kann Euch gar nicht sagen, wie wütend ich war, hilflos dazusitzen, während die Aufführung stattfand, nicht in der Lage zu sein, aufzustehen, zu sprechen oder Einhalt zu gebieten. Ihr habt einem König einen Knebel in den Mund geschoben, Cavaor, und Ihr habt ihm die Hände auf den Rücken gefesselt. Ich nehme doch nicht an, dass Ihr erwartet habt, ganz ohne Strafe davonzukommen?« Leoff lachte bitter. »Jetzt glaube ich das wohl kaum«, sagte er und hob trotzig den Kopf. »Aber ich erkenne Euch nicht als König an.« Robert lächelte. »Ja, das habe ich aus dem Inhalt des Stücks recht eindeutig geschlossen. Ich bin kein völliger Hohlkopf, versteht Ihr?«
»Ich habe Euch auch nie für einen gehalten«, erwiderte Leoff. Bösartig und mordgierig ja, dumm nein, schloss er im Stillen. Der Thronräuber nickte, als habe er die unausgesprochenen Gedanken gehört. Dann winkte er mit der Hand. »Nun, es ist geschehen, nicht wahr? Und ich will aufrichtig sein: Eure Komposition ist nicht ohne Wirkung geblieben. Eure Themenwahl, dass Ihr die Hauptrolle mit der Tochter eines Landwaerd besetzt habt also, es hat auf jeden Fall die Landwaerde überzeugt, und nicht zu meinen Gunsten, wie ich gehofft hatte.« Er beugte sich vor. »Seht Ihr, es gibt Menschen, die mich, so wie Ihr es tut, für einen Thronräuber halten. Ich hatte gehofft, mein Königreich gegen das Böse, das von allen Seiten auf uns eindrängt, zu vereinen, und dafür habe ich die Landwaerde und ihre Milizen gebraucht. Euer Handeln hat ihre Bündnistreue unklarer denn je werden lassen. Es ist Euch so70 gar irgendwie gelungen, Wohlwollen für eine Königin zu erzeugen, die niemand leiden konnte.« »Es war mir eine Ehre, das zu tun.« Dann verstand er. »Königin Muriele ist nicht tot, nicht wahr?« Robert nickte bestätigend, dann zeigte er mit dem Finger auf Leoff. »Ihr versteht immer noch nicht«, sagte er. »Ihr redet wie ein toter Mann, der mit der Tapferkeit des Verurteilten spricht. Aber Ihr könnt leben und komponieren. Ihr könnt Eure Freunde zurückbekommen. Möchtet Ihr die kleine Mery nicht heranwachsen sehen, die Fortschritte Eures Schützlings beaufsichtigen? Und was ist mit der liebreizenden Areana? Gewiss hat sie eine schöne Zukunft vor sich, vielleicht sogar an Eurer Seite ...« Leoff kam schwankend auf die Beine. »Wagt es nicht, sie zu bedrohen!« »Nein? Wer sollte mich daran hindern?« »Areana ist die Tochter eines Landwaerd. Wenn Ihr versucht, ihre Gefolgschaft zu gewinnen -« »Wenn ich diese Hoffnung aufgebe, wenn ich nicht durch Beschwichtigung vereinen kann, dann werde ich es durch Angst und Schrecken tun müssen«, fuhr Robert ihn an. »Außerdem neige ich gelegentlich zu - nun, sagen wir - düsteren Stimmungen. Meine Stimmung war nach der Aufführung Eurer kleinen Posse ganz besonders düster.« »Was wollt Ihr damit sagen?« »Areana wurde kurz nach Euch in Gewahrsam genommen. Ich habe schnell erkannt, dass das falsch war, aber ich muss vorsichtig damit sein, Fehler einzugestehen, das begreift Ihr sicher.« In Leoffs Kopf drehte sich alles. Irgendwann während seiner Folter war ihm gesagt worden, dass die gesamte Besetzung, die das Singspiel aufgeführt hatte, verhaftet und öffentlich gehängt worden sei und dass man Mery in aller Stille des Nachts vergiftet habe. Das war der Augenblick gewesen, als er zusammengebrochen war und »gestanden« hatte, dass er »ketzerische Zauberei der verderbtesten Art« ausgeübt hätte. 71 Jetzt erfuhr er, dass sie am Leben waren, was ihm unermessliche Freude bescherte. Doch die Bedrohung für ihr Leben war erneuert worden. »Ihr seid sehr schlau«, sagte er zu dem König. »Ihr wisst genau, dass ich es nicht riskieren werde, sie noch einmal zu verlieren.« »Warum solltet Ihr auch? Eure Gefolgschaftstreue Muriele gegenüber ist sinnlos. Sie hat kein Anrecht darauf, zu regieren, und ganz gewiss nicht die Begabung dafür. Trotz meiner Fehler bin ich das Beste, was die Familie Dare zu bieten hat. Hansa wird uns jeden Moment den Krieg erklären, es sei denn, ich kann sie besänftigen. Ungeheuer bedrohen alle unsere Grenzen und erscheinen mitten in unseren Städten. Was immer Ihr von mir haltet, Crothenien sollte hinter einem Führer vereint sein, und das werde ich sein - oder niemand, denn es gibt niemand anderen.« »Was wollt Ihr von mir?« »Dass Ihr ungeschehen macht, was Ihr getan habt. Schreibt noch ein Lustspiel, um sie auf meine Seite zu bringen. Ich habe Euch eine Hammarharfe und jedes Buch über Musik beschafft, das das Reich zu bieten hat. Ich werde dafür sorgen, dass Euch Mery und Areana als Helfer zur Verfügung stehen, um den unseligen Zustand Eurer Hände wettzumachen. Selbstverständlich werde ich Eure Arbeit gründlicher beaufsichtigen müssen, als es der Praifec getan hat, und wir werden die Musiker anstellen, die das Werk aufführen.« »Der Praifec hat mich vor aller Welt als Ketzer gebrandmarkt. Wie kann jetzt noch ein Werk von mir aufgeführt werden?« »Ihr werdet als Beweis für himmlische Vergebung und Fürsprache angeführt werden, mein Freund. Wo Ihr Eure Eingebungen früher von der Finsternis erhalten habt, werden sie Euch jetzt vom Lichte zuteil werden.« »Aber das ist eine Lüge«, wandte Leoff ein. »Nein«, entgegnete Robert trocken. »Das ist Staatskunst.« Leoff zögerte. »Und der Praifec wird das dulden?« »Der Praifec hat alle Hände voll zu tun«, erläuterte Robert. 72 »Das Reich ist anscheinend ein wahres Hornissennest der Ketzer. Ihr habt Glück, Cavaor Leovigild. Dieser Tage machen die Galgen ständig ihre eigene Musik.« Leoff nickte. »Es ist nicht notwendig, dass Ihr Eure Drohung wiederholt, Euer Majestät. Ich habe sie schon beim
ersten Mal recht gut verstanden.« »Dann heißt es also wieder >Euer Majestät^ Ich nehme daher an, dass wir Fortschritte machen?« »Ich bin Euch auf Gnade und Ungnade ausgeliefert«, erwiderte Leoff. »Ich frage mich, ob Ihr schon ein Thema für Euern Auftrag habt.« Der König schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe Eure Bibliothek gesehen, und sie enthält viele beliebte hiesige Märchen. Ich bin sicher, Ihr werdet dort Anregungen finden.« Leoff sammelte seine Willenskraft. »Eines noch«, sagte er. »Ich werde Helfer brauchen, da habt Ihr Recht. Aber bitte zeigt Erbarmen und schickt Mery zu ihrer Mutter zurück und Areana zu ihrer Familie.« Robert unterdrückte ein Gähnen. »Man hat Euch gesagt, sie wären tot, und Ihr habt es geglaubt. Ich könnte Euch erzählen, ich hätte sie heimgeschickt, aber woher wollt Ihr wissen, dass es wahr ist? Jedenfalls wäre es mir lieber, wenn Ihr Euch nicht einredet, sie wären in Sicherheit. Das könnte Euch erneut zu törichtem Verhalten verleiten. Nein, ich würde es vorziehen, dass sie Euch Gesellschaft leisten, um Euch in Eurem Unterfangen zu festigen.« Damit erhob er sich, und Leoff wusste, dass die Unterredung beendet war. Mit jähem Schaudern strebte er auf seine Pritsche zu; er konnte es kaum erwarten, die Augen zu schließen und sich abermals in Träumen zu verlieren. Stattdessen musste er an Mery denken, wie er ihr das erste Mal begegnet war, als sie sich in seinem Musikzimmer versteckt, ihm zugehört und Angst gehabt hatte, dass er sie hinausschicken würde, wenn er ihre Anwesenheit bemerkte. Also wandte er sich von seinem Ziel ab, und anstatt sich in den 73 Schlaf zu flüchten, trottete er erschöpft zu den Büchern hinüber, die der König ihm zur Verfügung gestellt hatte, und begann, die Titel zu lesen. 5. Kapitel Die Dämonin Der Mann schrie auf, als die Dämonenfrau ihre klauenbewehrten Finger in seine Brust schlug, durch harten Knochen und straffe Haut in das Weiche, Nasse darunter. Anne schmeckte Eisen auf der Zunge, als das Drehen langsamer wurde, zum Stillstand kam und seine Mitte fand. Sie schaute dem Ungeheuer ins Gesicht; ihre Furcht war plötzlich verflogen. »Kennst du mich?«, brüllte die Dämonin mit einer Stimme, die durch Fleisch und Knochen fuhr. »Weißt du, wer ich bin?« Licht blitzte hinter Annes Augen auf. Die Erde schien zur Seite zu kippen, und plötzlich saß sie auf einem Pferderücken. Abermals ritt sie neben Cazio. Sie erinnerte sich daran, wie Austra hinter ihr nach Luft geschnappt hatte, und dann an einen fürchterlichen Aufruhr. Etwas schleuderte sie zu Boden, und dann schlang sich ein harter Arm um sie und hob sie gewaltsam auf eitlen Sattel. Sie erinnerte sich an den scharfen Schweißgeruch ihres Entführers, an das Keuchen seines Atems hinter ihrem Ohr. An das Messer an ihrer Kehle. Sie konnte nur seine Hand sehen, die eine lange Narbe aufwies, vom Handgelenk bis zum ersten Knöchel seines kleinen Fingers. »Reite los«, sagte jemand. »Wir kümmern uns um die hier.« 74 Sie erinnerte sich, wie sie stumpf über den Kopf des Pferdes hinweggestarrt und dem Heben und Senken des Waldbodens zugeschaut hatte, während die Bäume verschwommen vorbeigezogen waren wie die Säulen einer endlosen Halle. »Schön still sitzen, Prinzessin«, befahl der Mann. Seine Stimme war leise und warm, überhaupt nicht unangenehm. Sein Akzent klang gebildet, ein wenig fremd, war jedoch nicht einzuordnen. »Sitzt still, macht mir keine Schwierigkeiten, dann wird es Euch besser ergehen.« »Ihr wisst, wer ich bin«, sagte Anne. »Nun, wir wussten, dass es entweder die eine oder die andere von Euch beiden ist. Ich denke, das habt Ihr gerade geklärt, aber wir bringen Euch zu jemandem, der Euer Gesicht kennt, um sicher zu sein. Es ist gleich, schließlich haben wir Euch beide.« Austra, dachte Anne. Dich haben sie also auch fortgeschleppt. Das hieß, dass ihre Freundin vielleicht noch am Leben war. »Meine Freunde werden kommen und mich holen.« »Eure Gefährten sind inzwischen wahrscheinlich tot«, erwiderte der Mann. »Wenn nicht, werden sie es schwierig finden, uns zu folgen. Aber das braucht Euch nicht zu kümmern, Prinzessin. Ich bin nicht ausgesandt worden, um Euch zu töten, sonst wärt Ihr mittlerweile tot. Versteht Ihr?« »Nein«, antwortete Anne. »Es gibt Menschen, die Euch töten wollen«, erwiderte der Mann. »Das wisst Ihr doch, oder?« »Das weiß ich allerdings.« »Dann glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass ihre Herrn und Meister nicht die meinen sind. Ich bin mit Eurer Sicherheit betraut worden, nicht mit Eurer Vernichtung.« »Ich fühle mich aber nicht sicher«, entgegnete Anne. »Wer hat Euch geschickt? Mein Onkel, der Thronräuber?«
»Ich bezweifle, dass Prinz Robert viel an Eurem Wohlergehen liegt. Wir hegen den Verdacht, dass er mit jenen im Bunde ist, die Eure Schwestern ermordet haben.« 75 »Wer ist wir« »Das kann ich Euch nicht sagen.« »Das verstehe ich nicht. Ihr sagt, Ihr wollt meinen Tod nicht. Ihr lasst durchblicken, dass Ihr mich vor Schaden bewahren wollt, und trotzdem habt Ihr mich meinen treuesten Freunden und Beschützern entrissen. Also weiß ich, dass Ihr nichts Gutes mit mir vorhabt.« Der Mann antwortete nicht, doch er packte sie fester. »Ich sehe schon«, sagte Anne, »Ihr braucht mich irgendwie, aber nicht für etwas, womit ich einverstanden wäre. Vielleicht beabsichtigt Ihr ja, mich den Dunklen Heiligen zu opfern?« »Nein«, wehrte der Mann ab. »Das ist ganz und gar nicht meine Absicht.« »Dann erleuchtet mich. Ich bin Euch ausgeliefert.« »Das seid Ihr in der Tat. Vergesst das nicht. Und glaubt mir, wenn ich sage, dass ich Euch nicht töten werde, es sei denn, ich muss.« Das Messer löste sich von ihrer Kehle. »Bitte leistet keinen Widerstand und versucht nicht zu fliehen. Vielleicht schafft Ihr es, vom Pferd zu fallen; wenn Ihr Euch nicht den Hals brecht, fange ich Euch mit Leichtigkeit wieder ein. Horcht, und Ihr wisst, dass Eure Freunde uns nicht folgen.« »Wie heißt Ihr?«, fragte Anne. Wieder ein Zaudern. »Ihr könnt mich Ernald nennen.« »Aber das ist nicht Euer Name?« Sie fühlte, wie er hinter ihr die Achseln zuckte/^ »Ernald, wo reiten wir hin?« »Jemanden treffen. Was danach geschieht, kann ich nicht mit Sicherheit sagen.« »Ich verstehe.« Sie dachte einen Augenblick lang nach. »Ihr sagt, ich werde nicht getötet werden. Was ist mit Austra, jetzt, wo Ihr sicher seid, dass sie nicht ich ist?« »Sie ... ihr wird kein Leid geschehen.« Doch Anne hörte die Lüge in seiner Stimme. Sie holte tief Luft, warf den Kopf nach hinten und fühlte, wie er 76 ins Gesicht des Mannes krachte. Der Getroffene stieß einen Schmerzenslaut aus, und Anne warf sich von der Stute. Sie landete unglücklich, und Schmerz schoss ihr Bein hinauf, das bereits von einer nicht verheilten Pfeilwunde pochte. Keuchend kämpfte sie sich auf die Beine und versuchte, sich zurechtzufinden. Sie fand die Hufspuren und begann, entlang der Fährte zurückzuhumpeln. »Cazio! Sir Neil! Helft mir!« Sie warf einen Blick über die Schulter, spürte ihn fast dort... ... doch sie sah niemanden, nur das Pferd. Wieso sollte er sich verstecken? Anne beschleunigte ihre Schritte, doch der Schmerz lähmte sie beinahe. Sie sank auf ein Knie, dann mühte sie sich verbissen wieder hoch. Etwas bewegte sich vor ihr, doch sie konnte nicht genau sehen, was. Es war wie Schatten, der kurz übers Wasser huscht. »Hilfe!«, schrie sie abermals. Dann traf eine Handfläche sie seitlich am Kopf, und als sie zu Boden ging, sah sie einen schneefarbenen Schemen. Dann wurde ihr der Arm hart auf den Rücken gedreht, und sie wurde wieder auf das Pferd zugezerrt. Sie schnappte nach Luft und fragte sich, wo Ernald hergekommen war. War er hinter ihr gewesen? Aber sie hatte sich doch nach ihm umgesehen. Wo immer er auch gewesen war, jetzt war er hier. »Versucht das nicht noch einmal, Prinzessin«, wies er sie an. »Ich habe kein Verlangen danach, Euch etwas zuleide zu tun, aber ich werde es tun, wenn ich muss.« »Lasst mich los«, verlangte Anne. Plötzlich war das Messer erneut an ihrem Hals. »Steigt wieder auf.« »Nicht ehe Ihr versprecht, dass Ihr Austra nichts tut.« »Ich habe Euch doch gesagt, dass ihr nichts geschehen wird.« »Ja, aber Ihr habt gelogen.« »Steigt auf, oder ich schneide Euch das Ohr ab.« 77 »Mein Bein ist verletzt. Ihr werdet mich hinauf heben müssen.« Er lachte schroff. Das Messer verschwand, und plötzlich packte er sie um die Taille und warf sie über den Sattel, dann schob er ihr verletztes Bein hinüber. Sie schrie auf, und grelle Flecken wirbelten vor ihren Augen. Als sie wieder denken konnte, saß er hinter ihr, erneut mit dem Messer an ihrer Kehle. »Jetzt sehe ich, dass ich mit Nettsein nicht weiterkomme«, sagte er und trieb das Pferd vorwärts.
Anne rang nach Atem. Es fühlte sich an, als hätte der Schmerz irgendetwas in ihr gelöst, und die ganze Welt brandete heran, wie ein Wirbelwind oder ein Sturm vom Meer her. Sie schauderte und spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken sträubten. »Lasst mich los«, sagte sie, während ihr Herz in der Brust dröhnte. »Seid still.« »Lasst mich los.« Diesmal versetzte er ihr einen leichten Schlag mit dem Messerknauf. »Lasst mich los!« Die Worte brachen aus ihr hervor, und der Mann schrie. Anne fühlte das Messer plötzlich in ihrer Hand, mit weißen Fingerknöcheln umklammert, und mit furchtbarer Verzweiflung stieß sie es ihm in den Hals. Im selben Moment spürte sie einen seltsamen Schmerz in ihrer eigenen Kehle, und ein Gefühl, als glitte etwas unter ihre Zunge. Sie sah, wie seine Augen groß und schwarz wurden, und in diesen schwarzen Spiegeln erblickte sie das Bild eines Dämons, der aus der Tiefe empor tauchte. Schreiend riss sie die Klinge durch seine Kehle und bemerkte, noch während sie dies tat, dass ihre Hände leer waren, dass es gar nicht sie war, die das Messer hielt. Und sie begriff gerade genug, um zu fliehen, um in die tiefe Dunkelheit hineinzurennen, wo ihre Wut herkam, um die Augen zu schließen und sich die Ohren zuzuhalten, damit sie sein Röcheln nicht hörte ... 78 Das Licht wurde trüber, und sie fand sich abermals auf ihrem Stuhl wieder, jenem anderen Mann gegenüber, dem, der versucht hatte, sich an ihr zu vergehen. Die Dämonin war da, beugte sich über ihn, genauso, wie sie über Ernald hergefallen war. »Oh nein«, murmelte sie leise und starrte in das grauenvolle Antlitz empor. »Oh ihr Heiligen, nein.« Sie erwachte auf einer schmalen Matratze - ungefesselt, die Kleider wieder schicklich geordnet. In ihrem Kopf pochte es, und sie erkannte die Anfänge eines Katers. Ihr Bewacher saß ein paar Königsellen entfernt auf dem Boden und weinte leise. Von der Dämonin war nichts zu sehen. Anne schickte sich an, sich zu erheben, aber eine jähe Woge der Übelkeit ließ sie wieder zurücksinken. Doch das war nicht genug, und sie musste sich auf Hände und Knie empor kämpfen, um sich zu übergeben. »Ich hole Euch etwas Wasser«, hörte sie den Mann sagen. »Nein«, knurrte sie. »Ich trinke nichts mehr, was Ihr mir gebt.« »Wie Ihr wünscht, Euer Hoheit.« Schwach empfand sie Verblüffung, durch ihre Übelkeit und ihre Verwirrung hindurch. »Es tut mir Leid«, fügte er hinzu und begann erneut zu weinen. Anne stöhnte. Wieder war ihr Zeit verloren gegangen. Die Dämonin hatte diesen Mann nicht getötet, so wie sie Ernald getötet hatte, aber sie hatte irgendetwas getan ... »Hört mir zu«, sagte sie. »Wie heißt Ihr?« Er schien verwirrt. »Euer Name?« »Wist«, murmelte er. »Wist. Man nennt mich Wist.« »Ihr habt sie gesehen, Wist, nicht wahr? Sie war hier?« Seine Augen versuchten, aus dem Kopf zu treten, und er japste nach Luft und krallte die Hände in seine Brust. »Ich kann mich nicht genau erinnern«, antwortete er. »Es war das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Ich kann ... ich kann das nicht noch einmal sehen.« 79 »Hat sie mich losgebunden?« »Nein, das war ich.« »Warum?« »Weil ich sollte«, wimmerte er. »Weil ich Euch helfen soll.« »Hat sie Euch das gesagt?« »Sie hat gar nichts gesagt«, antwortete er. »Nicht dass ich mich erinnern kann. Das heißt, da waren Worte, aber ich konnte sie nicht verstehen, außer dass sie wehgetan haben, und sie tun immer noch weh, es sei denn, ich tue, was ich soll.« »Und was sollt Ihr sonst noch tun?«, fragte sie misstrauisch. »Euch helfen«, wiederholte er. »Mir wobei helfen?« Hilflos hob er die Hände. »Bei allem, was Ihr wollt.« »Tatsächlich«, erwiderte sie. »Dann gebt mir Euer Messer.« Mühsam kam er auf die Beine und hielt ihr die Waffe mit dem Heft voran hin. Sie streckte die Hand danach aus und rechnete damit, dass er sie wegziehen würde, doch stattdessen spürte sie den glatten Holzgriff. Sie würgte, krümmte sich und übergab sich abermals. Als sie fertig war, schmerzte ihr Kopf, als würde von innen mit einem Hammer darauf eingeschlagen. Ihre Brust fühlte sich an wie entzweigerissen, und sie konnte nur verschwommen sehen. Ihr früherer Kerkermeister
wimmerte noch immer und hielt ihr das Messer hin. Sie ordnete ihre Kleider neu und stand auf, wobei sie feststellte, dass der Schmerz in ihrem Bein nur wenig nachgelassen hatte. »Jetzt möchte ich Wasser«, sagte sie. Er brachte ihr Wasser und Brot, und sie nahm von beidem ein bisschen zu sich. Danach fühlte sie sich besser, ruhiger. »Wist, wo sind wir?«, fragte sie. »Im Keller der Bierhalle«, antwortete er. »In Sevoyne?« »Ja, in Sevoyne.« »Und wer weiß, dass ich hier bin?« 80 »Ich und der Hauptmann der Wache. Sonst niemand.« »Aber es kommen andere, und sie werden wissen, wo sie uns finden«, drängte sie weiter. »Ja«, gab er zu. »Ja, Majestät«, verbesserte sie sanft. Diese simple Handlung half ihr, ihre Mitte zu finden. »Ja, Majestät.« »Gut. Und wer kommt?« »Penby und seine Bande sollten Euch in den Wäldern auflauern. Sie sollten inzwischen wieder zurück sein, aber ich ... ich weiß nicht, wo sie sind. Habt Ihr sie getötet?« »Ja«, log sie. Zumindest einer von ihnen ist tot. »Treffen sie sich hier mit jemand anderem?« Er duckte sich ein wenig tiefer. »Ich darf nicht.« »Antwortet mir.« »Jemand soll sie treffen, ja. Ich weiß keinen Namen.« »Wann?« »Bald. Ich weiß es nicht, aber bald. Penby hat gesagt, heute Nachmittag.« »Nun, dann sollten wir uns lieber auf den Weg machen«, meinte Anne und nahm das Messer. Seine Züge verzerrten sich. »Ich ... ja, ich soll das tun.« Anne sah ihm eindringlich in die Augen. Sie verstand nicht, was hier vor sich ging. War die Dämonin, grauenvoll, wie sie war, eine Verbündete} Sie hatte einen von Annes Feinden getötet und schien ... irgendetwas mit diesem hier gemacht zu haben. Doch wenn das, was ihr aus dem Land der Toten hierher gefolgt war, ihr freundlich gesonnen war, warum fürchtete sie es dann so sehr? Und es bestand noch immer die Möglichkeit, dass dies irgendein Trick von Wist war, obgleich sie nicht wusste, welchen Sinn eine solche Täuschung haben sollte. »Sie haben mir nicht gesagt, wer Ihr seid ...«, begann er, hielt jedoch inne. »Wenn Ihr gewusst hättet, wer ich bin, hättet Ihr dann auch ver81 sucht, mich zu schänden?«, wollte sie mit jäh aufflammendem Zorn wissen. »Nein, bei den Heiligen, nein«, beteuerte er. »Das macht es nicht besser, wisst Ihr«, bemerkte sie. »Es macht Euch noch immer zu einem feigen Scheusal.« Daraufhin nickte er nur. Einen Moment lang wollte sie mit ihrer Macht in ihn hineingreifen, so wie sie es mit Roderick getan hatte, damals in Dunmrogh, wie sie in die Männer bei Khrwbh Khrwkh hineingegriffen hatte. Um ihm Schmerz zuzufügen, ihn vielleicht zu töten. Doch sie verwarf die Idee. Im Augenblick brauchte sie ihn. Sollte dies sich jedoch als sonderbarer Trick erweisen, würde sie keine Gnade walten lassen. »Nun gut«, sagte sie. »Helft mir, Wist, und vielleicht verdient Ihr Euch meinen Schutz. Stellt Euch noch einmal gegen mich, und nicht einmal die Heiligen können Euch bewahren.« »Wie kann ich Euch dienen, Prinzessin?« »Was glaubt Ihr? Ich will hier weg. Wenn der Hauptmann der Wache uns sieht, sagt ihm, der Plan hätte sich geändert und Ihr sollt mich woanders hinbringen.« »Und wohin gehen wir?« »Das sage ich Euch, wenn wir aus der Stadt heraus sind. Jetzt bringt mir meinen Wettermantel.« »Er ist oben. Ich hole ihn.« »Nein. Wir gehen ihn zusammen holen.« Mit einem Kopfnicken zog Wist einen Messingschlüssel hervor und steckte ihn in das Schloss der Tür. Sie öffnete sich knarrend und gab den Blick auf eine schmale Treppe frei. Wist nahm eine Kerze und stieg hinauf. Anne folgte ihm, dorthin, wo die letzte Stiege anscheinend an die Decke stieß. Wist drückte dagegen, und die Decke hob sich in einen weiteren dunklen Raum. »Es ist ein Lagerraum«, flüsterte er. »Wartet.« Er ging zu einer Holzkiste hinüber und griff hinein. Anne verkrampfte sich, doch das, was er zum Vorschein brachte, war nichts
82 anderes als ihr Mantel. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, legte sie ihn sich um die Schultern. »Ich muss jetzt die Kerze ausblasen«, sagte er. »Sonst sieht noch jemand das Licht, wenn ich die Tür aufmache.« »Dann tut das«, stimmte Anne zu und verkrampfte sich erneut. Er hob die Kerze dicht vor sein Gesicht. In dem gelben Schein sahen seine Züge jung und unschuldig aus, ganz und gar nicht so, wie das Gesicht eines Frauenschänders aussehen sollte. Er spitzte die Lippen, blies, und Dunkelheit senkte sich herab. Sie kroch wie Tausendfüßler über Annes Haut, während sie Augen und Ohren anstrengte, die Hand am Heft von Wists Messer. Sie vernahm ein leises Quietschen, dann erblickte sie einen immer breiter werdenden Streifen nicht ganz so schwarzer Finsternis. »Hier entlang«, flüsterte Wist. Jetzt sah sie seine Silhouette. »Ihr geht vor«, entschied sie, tastete nach der Tür und fühlte ihre Kante. »Nehmt Euch mit der Stufe in Acht«, wisperte er. Anne sah, wie der Schatten seines Kopfes ein Stückchen tiefer glitt. Sie prüfte den Boden mit dem Fuß und fand die Stufe. Dann trat sie auf die Straße hinaus. Draußen war es bitterkalt. Kein Mond und keine Sterne spähten herab; die einzigen Lichter waren Lampen und Kerzen, die hier und dort noch brannten. Wie spät war es? Sie wusste es nicht. Sie wusste noch nicht einmal, wie lange sie in dem Keller gewesen war. Der Branntwein war noch immer in ihr. Wut und Panik hatten sich einen Weg hindurchgebahnt, und jetzt fühlte sie sich allmählich zerschlagen und krank, doch das stumpfsinnige Gefühl hielt an. Die Kühnheit, die der Alkohol mit sich gebracht hatte, begann zu vergehen und hinterließ eine dumpfe Angst. Der Schatten, der Wist war, bewegte sich plötzlich, und Anne spürte, wie sich eine Hand um ihren Arm schloss. Ihre andere Hand umklammerte das Messer fester. 83 »Still, Majestät«, sagte er. »Da kommt jemand.« Sie hörte, was er meinte: das Klappern von Pferdehufen. Wist zog sie an die Wand eines anderen Hauses und wich dann langsam daran entlang zurück, als das Geräusch näher kam. Anne konnte nichts sehen, doch es fühlte sich plötzlich an, als drücke etwas gegen ihre Augen. Es war kein Licht, sondern eine Gegenwart, ein Gewicht, das alles an sich zu ziehen schien. Wists Griff um ihren Arm schien plötzlich das Tröstlichste auf der ganzen Welt zu sein. Sie hörte jemanden absteigen und spürte Füße auf der Erde auftreffen wie schwere Hämmer. Dann vernahm sie kurzes Geflüster, und dann knarrte die Tür und klang sehr nahe. Sie wich rascher zurück, sehnte sich schmerzhaft danach, sich einfach umzudrehen und davonzurennen. Doch Wist ließ es nicht zu. Er zitterte, und sein Atem kam ihr unglaublich laut vor, genau wie ihr eigener. Die Tür klappte zu, und sie fühlte, wie die Gegenwart verging. Nun zerrte Wist drängender an ihrem Arm. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, und sie begann vage Umrisse auszumachen. Anscheinend kamen sie in die Mitte des Dorfes, auf einen breiten Platz, umgeben von den hoch aufragenden Schatten mehrstöckiger Gebäude. »Wir müssen uns beeilen«, sagte er. »Es wird nicht lange dauern, bis sie merken, dass wir fort sind.« »Wer war das?«, wollte sie wissen. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich würde es Euch sagen, wenn ich es wüsste. Jemand Wichtiges, derjenige, der uns gedungen hat, glaube ich. Ich bin ihm nie begegnet.« »Woher wisst Ihr dann -« »Ich weiß es nicht«, zischte er. »Sie haben gesagt, er würde kommen. Sie wussten nicht, wie er aussieht, aber es hieß, er würde sich, äh - schwer anfühlen. Bis jetzt habe ich nicht gewusst, was das bedeutet. Aber Ihr versteht?« »Ja, ich weiß, was Ihr meint. Ich habe es auch gefühlt.« Sie pack84 te ihn am Arm. »Ihr hättet ihn rufen können. Wieso habt Ihr es nicht getan?« »Nein, ich konnte nicht«, erwiderte er kläglich. »Ich wollte, aber ich konnte nicht. Wo gehen wir jetzt hin?« »Könnt Ihr Glenchest finden?« »Glenchest? Auy, das liegt einfach nur die Straße hinunter.« »Wie weit ist es zu Fuß?« »Wir könnten um die Mittagszeit dort sein.« »Gehen wir also.« »Wahrscheinlich suchen sie in dieser Richtung.« »Trotzdem.« In der grauen Morgendämmerung sah Wist müde aus, viel verlebter, als sein Alter es zulassen sollte. Seine Kleider waren schmutzig, und er war es auch; es war eine hartnäckige Sorte Schmutz -wahrscheinlich hätte man ihn ein Jahr lang abschrubben können, und er wäre irgendwie immer noch unrein gewesen. Er erschien ihr auch wieder gefährlich, wenn auch auf unterwürfige Art und Weise, wie ein bösartiger Hund, den
man so lange geprügelt hatte, bis er eine Zeit lang still lag. Er warf ihr immer wieder Blicke zu, die darauf schließen ließen, dass er sich fragte, was er eigentlich tat und warum. Sie fragte sich das Gleiche. Die Landschaft war recht öde. Gehöfte und Felder drängten sich bis an die Straße, aber dahinter lagen flache Ebenen, auf denen es wenig interessante Dinge zu sehen gab. Sie fragte sich, ob von ihren Freunden wohl noch jemand am Leben war, ob die Straße nach Glenchest der richtige Weg war, ob sie dorthin zurückkehren sollte, wo man sie entführt hatte. Doch wenn sie tot waren, gab es nichts, was sie tun konnte. Wenn sie um ihr Leben kämpften, konnte sie daran auch nicht viel ändern, nicht mit nur einem einzigen, sehr wenig vertrauenswürdigen Begleiter. Nein, sie musste Tante Elyoner erreichen und die Ritter, die sie befehligte. 85 Vorausgesetzt, sie waren noch in Glenchest. Was, wenn sie bereits nach Eslen gezogen waren, um gegen den Thronräuber zu kämpfen? Oder, noch schlimmer, wenn Elyoner sich auf Roberts Seite geschlagen hatte? Anne hielt das nicht für sehr wahrscheinlich, doch sie wusste auch nicht genau, was eigentlich vor sich ging. Tatsächlich hatte sie ihren Onkel Robert eigentlich immer recht gern gemocht. Es erschien ihr seltsam, dass er sich des Throns bemächtigt hatte, während ihre Mutter und ihr Bruder noch am Leben waren, doch so lauteten die Neuigkeiten, die in Dunmrogh eingetroffen waren. Vielleicht wusste Robert etwas, das sie nicht wusste. Sie seufzte und versuchte, den Gedanken zu verdrängen. »Still«, sagte Wist plötzlich. Anne bemerkte, dass er jetzt ein Messer in der Hand hielt und dass er nahe genug war, um es ohne Schwierigkeiten gegen sie wenden zu können. Er blickte sich um. Sie waren in einem kleinen Wäldchen voller muhendem Vieh, und die Sicht war nicht besonders gut. Doch Anne hörte und fühlte die näher kommenden Pferde. Viele Pferde. 6. Kapitel Die Slinderlinge Slinderlinge«, sagte Stephen. Aspar hatte den Blick fest auf die andere Seite des Tals gerichtet und wartete darauf, dass einer ihrer neu eingetroffenen Widersacher sich zeigte. »Von Osten«, stellte Stephen klar. »Sie bewegen sich schnell -und für ihre Verhältnisse leise.« 86 Aspar strengte seine eigenen Ohren an, um zu hören, was Stephens Gehör ausgemacht hatte. Einen Moment später hatte er es; ein Geräusch wie ein leiser, scharfer Wind, der durch den Wald fuhr, der Lärm so vieler Füße, dass er keine einzelnen Schritte heraushören konnte - und mit ihm ein schwaches Summen im Boden. »Sceat.« Slinderling war der Name, den die Ootisch sprechenden Einheimischen den Dienern des Dornenkönigs gegeben hatten. Einst waren sie Menschen gewesen, doch die, die Aspar zu Gesicht bekommen hatte, schienen nicht mehr viel Menschliches an sich zu haben. Sie trugen wenige oder gar keine Kleider und liefen heulend wie Tiere umher. Er hatte sie Menschen in Stücke reißen und das rohe, blutige Fleisch verschlingen sehen, hatte erlebt, wie sie sich in Speere stürzten und ihre sterbenden Leiber an den Schäften hinaufzogen, um ihre Feinde zu erreichen. Man konnte nicht mit ihnen reden, und schon gar nicht vernünftig. Und sie waren bereits nahe. Wie konnte er sie nicht gehört haben? Wie hatte Stephen sie nicht bemerken können, mit seinen von den Heiligen geschärften Sinnen? Der Junge schien nachzulassen. Rasch sah er sich um. Die am nächsten stehenden Bäume waren meist dünn, mit glatten Stämmen, doch ungefähr fünfzig Königsellen entfernt sah er eine mächtige Eiseneiche, die sich nach dem Himmel streckte. »Zu diesem Baum«, befahl er. »Sofort.« »Aber Neil und Cazio -« »Wir können nichts für sie tun«, blaffte Aspar. »Wir können sie nicht rechtzeitig erreichen.« »Wir können sie warnen«, wandte Winna ein. »Sie sind schon dort drüben«, sagte Stephen. »Seht Ihr?« Er zeigte mit dem Finger. Auf der anderen Seite des schmalen Tals strömten Leiber über den Rand und den steilen Hang hinab. 87 Es sah aus, als spüle eine Flut ein ganzes Dorf voller Menschen eine Klamm hinunter - nur dass kein Wasser zu sehen war. »Bei der Mutter des heiligen Tarn«, keuchte einer der Soldaten aus Dunmrogh. »Was -« »Lauft\«, bellte Aspar. Sie liefen. Aspars Muskeln drängten ihn schmerzhaft, vorzustürmen, doch er musste erst Winna und Stephen mit dem Klettern beginnen lassen. Er hörte den Waldboden hinter sich rumoren und musste an eine Heuschreckenwolke denken, die einmal tagelang durch die nördlichen Hochlande geschwirrt war und alles Grüne abgenagt hatte. Sie hatten die Eiche halb erreicht, als Aspar aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Er drehte den Kopf, um genauer hinzusehen.
Auf den ersten Blick schien das Wesen nur aus Gliedmaßen zu bestehen, wie eine riesige Spinne, doch Vertrautheit klärte den Blick rasch. Das Ungeheuer hatte nur vier lange Glieder, nicht acht, und sie endeten in etwas, das krallenbewehrten menschlichen Händen glich. Der Rumpf war stämmig, muskulös und, verglichen mit den Beinen, kurz, von der Form her jedoch mehr oder weniger menschenähnlich, wenn man nicht auf die Schuppen und die dichten schwarzen Haare achtete. Das Gesicht hatte wenig Menschliches an sich; die gelben, an Karbunkel gemahnenden Augen saßen über zwei Schlitzen, wo vielleicht eine Nase sein mochte, und einem Maul voller schwarzer Zähne, das eher zu einem Frosch oder einer Schlange zu gehören schien als zu einem Menschen. Die Kreatur galoppierte auf allen vieren auf sie zu. »Ein Uttin«, keuchte Aspar leise. Er war schon einmal einem solchen Wesen begegnet und hatte es getötet, doch dazu war ein Wunder nötig gewesen. Ein Wunder hatte er noch, doch als er an der Schulter des Uttin vorbeischaute, sah er, dass er zwei brauchte, denn ein genau gleiches Geschöpf rannte kaum dreißig Königsellen dahinter. 88 Aspar hob den Bogen, schoss und landete einen der glücklichsten Treffer seines Lebens; er traf das vordere Ungetüm ins rechte Auge, worauf es zu Boden stürzte. Noch während Aspar seine Flucht in Richtung Baum fortsetzte, rollte es sich wieder auf die Füße und kam erneut auf ihn zu. Das andere Wesen - das das erste jetzt fast eingeholt hatte - schien Aspar anzugrinsen. Dann waren die Slinderlinge da, strömten zwischen den Bäumen hervor. Die Uttins stießen ihre seltsam hohen Schreie aus, als Männer und Frauen mit wahnsinnigen Augen sich auf sie stürzten, erst zu zweien, dann zu dreien und dann zu Dutzenden. Die Slinderlinge und die Uttins waren einander nicht freundlich gesonnen, schien es. Oder vielleicht waren sie sich auch nicht einig darüber, wer Aspar White verspeisen sollte. Endlich erreichten sie die Eiche, und Aspar formte mit den Händen einen Tritt, um Winna zum untersten Ast hinaufzuhelfen. »Kletter weiter«, schrie er. »Weiterklettern, bis es nicht mehr geht.« Stephen kam als Nächster an die Reihe, doch noch ehe seine Füße festen Halt gefunden hatten, war Aspar gezwungen, dem schnellsten der Angreifer entgegenzutreten. Der Slinderling war ein großer Mann mit harten Muskeln und borstigem schwarzem Haar. Sein Gesicht war so wild, dass es Aspar an die Legenden vom wairwulf erinnerte, und er fragte sich, ob diese wohl hier ihren Ursprung hatten. Jedes andere törichte Phay-Märchen schien wahr zu werden. Wenn es je einen Mann gegeben hatte, der zu einem Wolf geworden war, dann war es dieser. Wie alle seinesgleichen ging der Slinderling auf seinen Gegner los, ohne sich um sein eigenes Leben zu scheren; er fauchte und streckte blutige Hände mit abgebrochenen Fingernägeln nach Aspar aus. Der Waldhüter schlug als Finte mit der Axt in seiner Linken zu. Der Slinderling achtete nicht auf den vorgetäuschten Angriff und stürmte auf ihn ein, ließ es zu, dass die Axt seine Wange aufriss. Aspar rammte seinen Dolch unter die letzte Rippe und zog die Klinge rasch aufwärts, durch die Lunge und auf das 89 Herz zu, just als die Menschenbestie gegen ihn krachte und ihn gegen den Baum rammte. Das war schmerzhaft, doch es bewahrte ihn davor, zu Boden geschleudert zu werden. Er stieß den sterbenden Slinderling von sich fort, gerade noch rechtzeitig, um sich den nächsten beiden zu stellen. Sie stürzten sich gemeinsam auf ihn, und als er seinen Axtarm hob, um sie abzuwehren, grub der eine seine Zähne in Aspars Unterarm. Aufbrüllend stieß der Waldhüter ihm den Dolch in den Unterleib und spürte, wie heißes Blut über seine Hand spritzte. Wieder riss er das Messer hoch, schlitzte den Leib auf. Der Slinderling ließ seinen Arm los, und er versenkte seine Axt im Hals des zweiten. Hunderte mehr waren nur noch wenige Schritte entfernt. Die Axt steckte fest, also ließ er sie zurück, sprang nach dem niedrigsten Ast und erwischte ihn mit vor Blut glitschigen Fingern. Er gab sich alle Mühe, den Dolch festzuhalten, doch als einer der Slinderlinge ihn am Knöchel packte, ließ er ihn fallen, um seinen dürftigen Halt zu sichern, und versuchte, beide Arme um den gewaltigen Ast zu schlingen. Ein Pfeil schwirrte von oben herab, dann noch einer, und der Griff seines Gegners löste sich. Aspar schwang die Beine hoch und zog sich dann rasch auf den Ast hinauf. Ein rascher Blick nach unten zeigte, dass die Slinderlinge gegen den Baumstamm brandeten wie Wellen, die sich an einem Felsen brachen. Ihre Leiber begannen sich zu einem Haufen aufzutürmen, wodurch die neu Eintreffenden in der Lage waren, sich emporzuziehen. »Sceat«, zischte Aspar. Am liebsten hätte er sich übergeben. Er kämpfte den Drang nieder und schaute nach oben. Winna war ungefähr fünf Königsellen höher als der Rest, hatte ihren Bogen in der Hand und schoss in das Gedränge hinein. Stephen und die beiden Soldaten waren ungefähr ebenso hoch wie er. »Weiterklettern!«, schrie Aspar. »Dort hinauf. Je dünner die Äste sind, desto weniger können uns auf einmal folgen.« 90
Er trat nach dem Kopf des nächsten Slinderlings, einer hageren Frau mit verklebtem rotem Haar. Sie fauchte, rutschte von dem Ast ab und landete mitten unter ihren durcheinander wimmelnden Artgenossen. Die Uttins, stellte er fest, lebten noch. Jetzt konnte er drei sehen, die in der Horde der Slinderlinge um sich schlugen. Aspar fühlte sich an eine Hundemeute erinnert, die einen Löwen zur Strecke brachte. Blut spritzte überall um die Slinderlinge herum, während sie fielen, die Gliedmaßen ausgerissen und vom Brustbein bis zum Schritt von den grausigen Krallen und Zähnen der Ungeheuer aufgeschlitzt. Doch sie waren im Begriff, durch schiere Überzahl den Sieg davonzutragen. Noch während er hinsah, ging einer der Uttins mit durchtrennten Kniesehnen zu Boden, und innerhalb von Augenblicken waren die Slinderlinge dunkelrot von seinem öligen Blut. Es würden noch reichlich Slinderlinge übrig sein, wenn die Uttins tot waren. Aspar gab die vage Hoffnung auf, dass seine Widersacher sich gegenseitig unschädlich machen könnten. Winna, Stephen und die beiden Männer aus Hornladh hatten getan, was Aspar sie geheißen hatte, und jetzt folgte er ihnen, bis sie schließlich einen sicheren Platz oberhalb eines langen, fast senkrechten Astes fanden. Aspar nahm den Bogen von der Schulter und wartete darauf, dass die Kreaturen ihnen folgen würden. »Sie sind anders«, murmelte er und durchbohrte den Ersten, der den Ast erreichte. »Inwiefern anders?«, schrie Stephen von oben herab. Aspars Nackenhaare stellten sich auf - jetzt schienen Stephens unheimliche Sinne bestens in Ordnung zu sein. »Sie sind zäher, stärker«, erwiderte er. »Die Alten sind weg.« »Ich habe ja nur die Toten bei dem Schrein am Naubagm gesehen«, sagte Winna. »Aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie so tätowiert gewesen wären.« Aspar nickte. »Genau. Das ist es, worauf ich nicht gekommen bin. Das ist auch neu.« 9i »Die Bergstämme tätowieren sich«, meinte Ehawk. »Richtig«, pflichtete Aspar ihm bei. »Aber die Slinderlinge, die wir bisher gesehen haben, kamen von ganz verschiedenen Stämmen und Dörfern.« Er schoss dem nächsten Kletterer ins Auge. »Diese hier haben alle die gleiche Tätowierung.« Das stimmte. Bei jedem wand sich eine Schlange mit einem Widderkopf um den Unterarm, und auf dem Bizeps desselben Arms prangte ein Gryffin. »Vielleicht sind sie alle vom selben Stamm«, sagte Ehawk. »Kennst du einen Stamm mit dieser Tätowierung?« »Nein.« »Ich auch nicht.« »Die widderköpfige Schlange und der Gryffin sind beides Symbole, die mit dem Dornenkönig in Verbindung gebracht werden«, sagte Stephen. »Wir sind immer davon ausgegangen, dass der Dornenkönig diese Leute in den Wahnsinn getrieben, ihnen den menschlichen Verstand geraubt hat. Aber was ist, wenn ...« »Was?«, fragte Winna. »Ihr denkt, sie haben sich das selbst ausgesucht} Sie können doch noch nicht einmal sprechen!« »Ihr werdet demnächst anfangen müssen, Pfeile nach unten durchzureichen«, bemerkte Aspar und schoss abermals. »Ich habe nur noch sechs. Der Rest hängt an Unholds Sattel.« »Die Pferde!«, stieß Winna hervor. »Die können selbst auf sich aufpassen«, sagte Aspar. »Oder auch nicht. Wir können nichts daran ändern.« »Aber Unhold -« »Ja.« Er schob den Schmerz beiseite. Unhold und Engel waren schon lange bei ihm. Doch alles starb irgendwann einmal. Immer neue Slinderlinge kamen aus dem Wald, es war kein Ende abzusehen. So viele wimmelten unten durcheinander, dass er auf hundert Königsellen den Waldboden nicht sehen konnte. »Was machen wir, wenn uns die Pfeile ausgehen?«, wollte Winna wissen. 92 »Dann trete ich sie hinunter«, erwiderte Aspar. »Ich dachte, Ihr steht mit dem Dornenkönig und seinen Freunden auf freundschaftlichem Fuß«, bemerkte Stephen. »Letztes Mal haben sie Euch am Leben gelassen.« »Letztes Mal hatte ich den König genau vor dem Pfeil«, gab Aspar zurück. »Vor dem, den die Kirche uns gegeben hat.« »Habt Ihr ihn noch?« »Ja. Aber solange der König nicht höchstpersönlich sein Gesicht zeigt, werde ich ihn nicht benutzen, bis es der Letzte ist, den ich übrig habe.« Ihm fiel außerdem ein, dass damals die Sefry-Frau Leshya bei ihnen gewesen war. Vielleicht hatte das den Unterschied ausgemacht; auf wessen Seite Leshya wirklich stand, war in gewisser Weise ein Rätsel - war stets ein Rätsel gewesen. »Das wird nicht mehr lange dauern«, sagte Winna. Aspar nickte und ließ seinen Blick umherschweifen. Vielleicht konnten sie ja einen anderen Baum erreichen, einen mit einem geraderen, höheren Stamm, und dann die Äste abhacken, auf denen sie hinübergelangt waren.
Er hielt gerade nach einem solchen Fluchtweg Ausschau, als er den Gesang vernahm. Es war eine eigentümliche, an- und abschwellende Melodie, die an irgendetwas in seinen Knochen hängen blieb. Er war sich sicher, dass er das Lied schon einmal gehört hatte, konnte sich den Sänger beinahe vorstellen - doch die wahre Erinnerung entzog sich ihm. Die Quelle dieses Liedes war allerdings sichtbar. »Ihr Heiligen«, stieß Stephen hervor, denn er hatte es ebenfalls gesehen. Der Gesang kam von einem kleinen, krummbeinigen Mann und einem schlanken, hellhäutigen Mädchen, dessen grüne Augen selbst auf diese Entfernung loderten, die etwa fünfzig Königsellen betrug. Das Mädchen sah aus, als wäre es erst zehn oder elf - der jüngste Slinderling, den Aspar je zu Gesicht bekommen hatte. Sie hielt in jeder Hand eine Schlange - aus dieser Entfernung gesehen, 93 schienen es Rasselvipern zu sein -, und der Mann hatte einen krummen Stab in der Hand, an dem ein abwärts gebogener Tannenzapfen befestigt war. Beide wiesen ebenfalls die Tätowierungen auf. Abgesehen davon waren sie nackt wie am Tage ihrer Geburt. Sie richteten ihr Lied himmelwärts, doch es war nur ein Augenblick nötig, um zu begreifen, dass sie nicht für den Himmel sangen. Eiseneichen, die uralt waren, hatten so riesige und schwere Äste, dass diese oft bis zum Erdreich hinabsanken. Die, auf der Aspar und seine Gefährten hockten, war noch nicht so alt; nur zwei Äste waren überhaupt nahe genug am Boden, dass man sie im Sprung erhaschen konnte. Doch noch während der Waldhüter hinsah, bebten die Spitzen der entferntesten Äste erdwärts und begannen dann, sich zu biegen, als wären sie die Finger eines Riesen, der sich bückte, um etwas vom Boden aufzuheben. »Beim Wüterich«, fluchte Aspar. Ohne auf den nächsten Slinderling zu achten, der den Baum heraufkletterte, zielte er auf den singenden Mann und ließ den Pfeil fliegen. Er hatte gut gezielt, doch irgendwie sprang ein anderer Slinderling in die Flugbahn des Pfeils und bekam die Spitze in die Schulter. Beim nächsten Schuss passierte das Gleiche. »Das ist schlimm«, stellte Stephen fest. Jetzt erschauerte der ganze Baum, als die dickeren Äste anfingen, sich auf das Paar zuzubiegen. Ihre Artgenossen, die sie umringten, begannen hochzuspringen und nach den sich senkenden Zweigen zu greifen, und obgleich sie noch nicht tief genug waren, um sie zu erreichen, würde es bald so weit sein. Dann würden sie durch den ganzen Baum schwärmen. Aspar sah die Soldaten an. »Ihr beiden«, sagte er. »Fangt an, die Äste abzuhacken. Alles, was hierher führt. Klettert dorthin, wo sie dünner sind, damit man sie leichter durchhauen kann.« »Das ist ... unser Verhängnis«, stammelte einer der Männer. »Unser Herr war verderbt, und jetzt bezahlen wir den Preis dafür, dass wir ihm gedient haben.« 94 »Ihr dient ihm aber jetzt nicht«, fuhr Winna ihn an. »Ihr dient Anne, der rechtmäßigen Königin von Crothenien. Ermannt Euch und tut, was Aspar sagt. Oder gebt mir Euer Schwert und lasst mich es tun.« »Ich habe gehört, was sie getan hat«, erwiderte der Mann und machte mit dem Finger das Zeichen gegen das Böse auf seiner Stirn. »Diese Frau, die Ihr Königin nennt. Sie hat Männer getötet, ohne sie zu berühren, hat sich der Hexenkunst bedient. Es ist alles vorüber. Die Welt geht unter.« Stephen, der dem Mann am nächsten war, streckte die Hand aus. »Gebt mir Euer Schwert«, sagte er. »Gebt es her, sofort.« »Gib es ihm schon, Ional«, fauchte der andere Soldat. Er sah Stephen an. »Ich bin noch nicht bereit zu sterben. Ich steige dort hinauf. Nehmt Ihr die andere Seite?« »Ja«, stimmt Stephen zu. Aspar warf Stephen und dem Mann aus Hornladh einen raschen Blick zu, als sie in die Baumkrone hinaufkletterten. Wenn sie alle Zugangswege zu dem Hauptast, auf dem sie hockten, abtrennen konnten, war vielleicht noch nicht alles verloren. Doch Winna sah ihn an, und er fühlte, wie etwas in seinem Innern durch seine Eingeweide sank. Winna war das Beste, das am wenigsten Erwartete, das seit langer Zeit in sein Leben getreten war. Sie war jung, ja, so jung, dass es ihm manchmal so schien, als käme sie vielleicht aus einem anderen Land jenseits eines fernen Meeres. Meistens jedoch schien sie ihn zu kennen, ihn auf eine Art und Weise zu kennen, die unwahrscheinlich war - und manchmal mehr beunruhigend als wohltuend. Er war lange allein gewesen. Während der letzten paar Tage hatte sie nicht viel mit ihm geredet - seit sie ihn dabei angetroffen hatte, wie er bei der verwundeten Leshya Wache gehalten hatte. Zumindest was das betraf, kannte sie ihn nicht so gut, wie sie es vielleicht könnte. Was er für Leshy empfand, war nicht Liebe oder gar Wollust. Es war etwas anderes, etwas, das zu benennen sogar ihm selbst schwer fiel. Aber es ähnelte - dachte er bei sich - einer Blutsverwandtschaft. Die Sefry95 Frau war auf eine Art und Weise wie er, wie Winna es niemals sein konnte. Doch vielleicht verstand Winna das ganz genau. Vielleicht war das das Problem. Wenn uns die Slinderlinge zufassen bekommen, ist das alles eitler Tand, dachte er, und fast hätte er leise gelacht.
Es hörte sich an wie eine dieser Redeweisen. Mach lieber den Hals für den Wüterich lang, als zu heiraten. Ein guter Tag ist ein Tag, den man lebend übersteht. Wenn die Slinderlinge kommen, ist alles Tand... Sceat, er fing schon an, genauso zu denken wie Stephen. Er schoss einen weiteren Slinderling ab. Noch drei Pfeile. Äste abzuhacken war nicht so leicht, wie Stephen es sich vielleicht gewünscht oder vorgestellt hatte. Das Schwert hatte eine Schneide, doch sie war nicht sonderlich scharf, und er hatte nicht oft Holz gehackt, daher war er sich nicht sicher, wie er es am besten anstellen sollte. Ein rascher Blick zeigte ihm, dass die äußersten Äste beinahe tief genug herabgesunken waren, dass die Slinderlinge sie erreichen konnten. Was bedeutete, dass er sich beeilen musste. Er holte aus, um fester zuschlagen zu können, und wäre beinahe abgestürzt. Er saß rittlings auf einem Ast und umklammerte ihn mit den Schenkeln wie ein Pferd. Doch genau wie ein Pferd verharrte auch der Ast nicht still und unbeweglich, und bis zum Boden schien es Schwindel erregend weit. Er fand sein Gleichgewicht wieder und schlug etwas weniger heftig zu, fühlte, wie das lebendige Holz unter dem Hieb erschauerte, und sah einen kleineren Span auffliegen. Vielleicht, wenn er erst senkrecht und dann schräg zuschlug ... So machte er es, und das zeigte bessere Wirkung. Er konnte nicht aufhören, dem Lied der Slinderlinge zu lauschen. Es lag eine Sprache darin, er spürte den Rhythmus, das Fließen der Bedeutungen. Doch er konnte es nicht verstehen, nicht ein einziges Wort, und in Anbetracht seiner von den Heili96 een gesegneten Erinnerung und Sprachkenntnisse war das erstaunlich. Im Geiste verglich er die Laute mit allem von Altvad-hiianisch bis zu dem wenigen, was er von der haddamischen Sprache kannte, doch nichts passte. Nichtsdestotrotz hatte er das Gefühl, dass die Bedeutung unglaublich nahe war, auf seiner Nase ruhte, zu dicht an seinen Augen, um sie zu sehen. »Slinderling« war ein ootisches Wort, das schlicht »Fresser« bedeutete oder »Verschlinger«. Doch was waren sie wirklich? Die kurze Antwort lautete, dass sie einmal Menschen gewesen waren, die im Königswald oder in dessen Nähe gelebt hatten, bevor der Dornenkönig aufgewacht war. Seit seinem Erwachen hatten ganze Stämme ihre Dörfer verlassen, um dem König zu folgen, was immer er auch war. Natürlich gab es Legenden über derlei Dinge. Es war eine Einzelheit in der Mär von Galas, dem einzigen erhaltenen Text aus dem uralten, verschwundenen Königreich Tirz Eqqon. Der große Stier des Ferigolz war von Vhomar-Riesen gestohlen worden, und Galas wurde ausgeschickt, um ihn zurückzuholen. Bei seinem Unterfangen war er einem Riesen namens Koerdwiz begegnet, der einen magischen Kessel hatte; ein Trunk daraus verwandelte Menschen in Tiere unterschiedlicher Art. Vom heiligen Fufluns hieß es, er besitze eine Flöte, deren Musik Menschen mit Wahnsinn erfüllte und sie dazu trieb, ihresgleichen zu verschlingen. Grim dem Wüterich - jener finstere, schreckliche Ingorn-Geist, dessen Namen Aspar als Fluch benutzte - sagte man ebenfalls nach, Schlachtenwahnsinn unter seinen Anbetern hervorzurufen und sie zu Birsirks zu machen. Der Ast gab mit einem Knacken nach, hing einen Moment lang an der Rinde und stürzte dann hinunter. Der Teil, auf dem Stephen saß, schnellte wie der Arm eines Katapults nach oben, und er fand sich plötzlich in der Luft wieder und kam sich töricht vor. Über allerlei Narreteien des Zuvieldenkers, begann er im Geiste eine neue Abhandlung, die er soeben im Kopf zu schreiben beschlossen hatte. Er schätzte, dass ihm ungefähr noch Zeit für eine 97 weitere Zeile blieb, während er wild um sich griff und nach einem Halt suchte. Sein Schenkel schlug gegen einen Ast, und er haschte danach; dabei ließ er natürlich das Schwert los, und festhalten konnte er sich auch nicht. Als er nach oben schaute, sah er Winnas Gesicht, weit über ihm, winzig und wunderschön. Wusste sie, dass er sie liebte? Es tat ihm Leid, dass er es ihr nicht gesagt hatte, selbst wenn es das Ende ihrer Freundschaft bedeuten mochte - und das seiner Freundschaf mit Aspar. Seine Hand bekam einen Ast zu fassen, und Feuer schien seinen Arm hinaufzuschießen, doch nichtsdestotrotz hielt er sich fest. Keuchend warf er einen Blick nach unten. Dort waren die Slinderlinge, sprangen hoch und verfehlten seine baumelnden Füße ungefähr um eine Elle. Der größte Vorzug des Zuvieldenkers ist, dass er höchstwahrscheinlich nicht abermals seinesgleichen zeugen wird, da sein Mangel an Aufmerksamkeit vordringlichen Dingen gegenüber zu einem verfrühten Ableben führt. Seine einzige Tugend ist die Liebe zu seinen Freunden und sein Bedauern, dass er ihnen nicht mehr von Nutzen sein konnte. Er sah, dass die Äste des verzauberten Baums den Boden erreicht hatten und die Menschenbestien in die Krone hinaufschwärmten. Dann schaute er gerade noch rechtzeitig auf, um ein lüstern grinsendes Gesicht zu erblicken, ehe ein anderer Körper sich auf den seinen stürzte und ihn in die geifernde Menge unter ihm hinabriss. »Es tut mir Leid, Aspar!«, konnte er noch schreien, ehe er von gierigen Händen überwältigt wurde. 98 7. Kapitel Rache
Leoff würgte vor Schmerz, als seine Finger auf etwas zugestreckt wurden, das einst für sie eine normale Stellung gewesen war. »Dieses Gerät ist meine eigene Erfindung«, erklärte der Wundarzt stolz. »Ich hatte schon großen Erfolg damit.« Leoff blinzelte durch Tränen und betrachtete das Ding. Im Großen und Ganzen war es ein schwerer Handschuh aus schmiegsamem Leder, mit kleinen Metallhaken an jeder Fingerspitze. Seine Hand war in den Handschuh geschoben und auf eine Metallplatte gelegt worden, in die verschiedene Löcher gebohrt worden waren, in welche die Haken greifen konnten. Der Arzt hatte seine Finger in die Richtungen gestreckt, in denen sie liegen sollten, und sie dann mit den Haken dort festgemacht. Dann - das war der schmerzhafteste Teil - wurde eine zweite Platte über seiner Hand angebracht und mit Schrauben an der ersten befestigt. Die Sehnen seines Arms standen in Flammen, und er überlegte, ob das hier wohl lediglich eine weniger offensichtliche Art der Folter war, ersonnen vom Thronräuber und seinen Heilern. »Versuchen wir es doch wieder mit der Wärme und den Kräutern.« Er krümmte sich. »Der Teil der Behandlung hat gut getan.« »Das war nur dazu gedacht, das Ganze zu lockern«, erklärte der Arzt, »und die heilenden Säfte in Fluss zu bringen. Dies hier ist der wichtige Teil. Eure Hände waren dabei, völlig falsch zu verheilen, aber glücklicherweise hat man das nicht allzu lange andauern lassen. Jetzt müssen wir sie in die richtige Form bringen; danach kann ich feste Schienen anfertigen, die sie so halten, dass die wahre Heilung vonstatten gehen kann.« »Dann kommt so etwas oft vor?« Leoff rang nach Luft, als der Mann die Schrauben noch fester anzog. Seine Hand lag noch lan99 ge nicht flach auf, doch er konnte bereits ein immer stärkeres und häufigeres Reißen und Knacken im Innern seines geschundenen Fleisches spüren. »Nicht so wie das hier«, gab der Feldscher zu. »Ich habe noch nie Hände behandelt, die so übel zugerichtet waren. Aber Hände, die von einem Schlag mit der Kampfkeule oder dem Schwert zerschmettert worden sind, sind keine Seltenheit. Ehe ich Seiner Majestät als Heiler diente, war ich Wundarzt am Hofe des Grefft von Othen. Er hat jeden Monat Turniere veranstaltet, und er hatte fünf Söhne und dreizehn Neffen, die alt genug waren, um die Lanze zu führen.« »Dann seid Ihr also erst vor kurzem nach Eslen gekommen?«, erkundigte sich Leoff, froh über die Ablenkung. »Ich bin vor ungefähr einem Jahr hergekommen, wenngleich ich damals als Gehilfe des Arztes tätig war, der König William gedient hat. Nach dem Tod des Königs habe ich kurze Zeit Ihrer Majestät der Königin gedient, ehe ich König Roberts Wundarzt zugeteilt wurde.« »Ich bin auch erst seit kurzem hier«, sagte Leoff. Der Arzt zog die Schrauben an. »Ich weiß natürlich, wer Ihr seid. Ihr habt Euch recht schnell einen Ruf erworben, möchte ich sagen.« Der Mann lächelte dünn. »Ihr hättet vielleicht ein wenig mehr Besonnenheit walten lassen sollen.« »Vielleicht«, gab Leoff zu. »Aber dann hätten wir nicht das Vergnügen, herauszufinden, wie wirkungsvoll Euer Gerät sein wird.« »Ich will Euch nichts vormachen«, sagte der Wundarzt. »Der Zustand Eurer Hände kann gebessert werden. Aber man kann sie nicht völlig wiederherstellen.« »Damit habe ich auch niemals gerechnet.« Leoff seufzte und blinzelte Tränen des Schmerzes weg, als ein weiterer halb verheilter Knochen brach und knirschend eine neue Stellung fand. Am nächsten Tag wühlte er ungeschickt in den Büchern herum, die der Thronräuber ihm zur Verfügung gestellt hatte, mit Hän100 den, die in starren Handschuhen aus Eisen und schwerem Leder steckten. Die Finger waren gespreizt und völlig gestreckt, und das Ganze hatte viel zu große Ähnlichkeit mit den drollig übertrieben dargestellten Händen einer Marionette. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er komisch oder grauenhaft aussah, als er die Seiten mit seinen klobigen Handschuhen umblätterte. Allerdings vergaß er das alsbald, weil er vollkommen verwirrt war. Das Buch war ein älteres Werk, in altertümlichen almanischen Lettern gedruckt. Es trug den Titel Luthes sa Felthan ya sa Birmen - »Lieder aus Feld und Flur« -, und das waren die einzig verständlichen Worte in dem Buch. Der Rest war in Schriftzeichen verfasst, die Leoff noch nie gesehen hatte. In mancher Hinsicht ähnelten sie dem Alphabet, das Leoff kannte, doch richtig sicher konnte er sich bei keinem einzigen Buchstaben sein. Es gab auch ein paar Seiten mit eigentümlich poetisch anmutenden Strukturen, die ebenfalls ein wenig vertraut aussahen, aber alles in allem schien es, als gehörten das Buch und sein Einband nicht zusammen. Selbst das Papier im Innern des Buchs schien nicht zu passen - es sah viel älter aus als die Buchdeckel. Er hatte gerade eine ungemein interessante Seite mit Diagrammen gefunden, die auch nicht mehr Sinn ergaben als der Text, als er abermals jemanden an der Tür rütteln hörte. Seufzend wappnete er sich für eine weitere Stunde mit dem Prinzen oder seinem Wundarzt. Doch es war keiner der beiden, und Leoff empfand ein Aufwallen reiner, ungetrübter Freude, als ein kleines Mädchen durch die Tür kam, die augenblicklich hinter ihm zuschlug und abgeschlossen wurde.
»Mery!«, rief er. Sie zögerte einen Moment, dann rannte sie ihm in die Arme. Er hob sie hoch, seine lächerlichen Hände hinter ihrem Rücken gekreuzt. »Urf!«, ächzte Mery, als er zudrückte. 101 »Es ist ja so schön, dich zu sehen«, erklärte er, als er sie absetzte. »Mutter hat gesagt, Ihr wärt wahrscheinlich schrecklich tot«, berichtete Mery und sah furchtbar ernst dabei aus. »Ich habe so gehofft, dass sie sich irrt.« Er streckte den Arm aus, um ihr das Haar zu zausen, doch beim Anblick seiner Pranken weiteten sich ihre Augen. »Ach«, sagte er und schlug die Handschuhe zusammen, »das ist nichts weiter. Nur etwas, damit es meinen Händen besser geht. Wie geht es denn deiner Mutter, der Lady Gramme?« »Ich weiß nicht«, antwortete Mery »Ich habe sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen.« Er kniete sich hin und spürte, wie es in seinen Beinen knackte und zerrte. »Wo halten sie dich fest, Mery?« Sie zuckte die Achseln und starrte seine Hände an, sah ihm nicht direkt ins Gesicht. »Sie verbinden mir die Augen.« Ihre Miene hellte sich ein wenig auf. »Aber es sind achtundsiebzig Schritte. Jedenfalls meine Schritte.« Er lächelte über ihre Gewitztheit. »Ich hoffe, dein Zimmer ist schöner als das hier.« Sie sah sich um. »Ja, ist es. Ich habe wenigstens ein Fenster.« Ein Fenster. Befanden sie sich nicht mehr in den Verliesen? »Geht man Stufen hinauf oder hinunter, um hierher zu gelangen?«, erkundigte er sich. »Hinunter, zwanzig Stück.« Sie hatte nicht aufgehört, seine Hände anzustarren. »Was ist damit passiert?«, fragte sie und zeigte mit dem Finger darauf. »Ich habe mich verletzt«, antwortete er leise. »Das tut mir Leid«, sagte Mery »Ich wünschte, ich könnte sie wieder heil machen.« Ihre Miene verfinsterte sich. »So könnt Ihr gar nicht auf der Hammarharfe spielen, nicht wahr?« Er spürte, wie ihm jäh die Kehle eng wurde. »Nein, das kann ich nicht. Aber du kannst für mich spielen. Würde dir das etwas ausmachen?« 102 »Nein«, versicherte sie. »Aber Ihr wisst doch, dass ich nicht sehr gut spiele.« Er sah ihr eindringlich in die Augen und legte sanft seine Hände auf ihre Schultern. »Ich habe dir das bisher nie gesagt«, erwiderte er, »jedenfalls nicht direkt. Aber du hast das Zeug dazu, eine hervorragende Musikerin zu werden. Vielleicht die beste.« Mery blinzelte. »Ich?« »Lass dir das ja nicht zu Kopf steigen.« »Mein Kopf ist sowieso zu groß für meine Schultern, sagt Mutter.« Sie runzelte die Stirn. »Meint Ihr, ich könnte jemals komponieren, so wie Ihr? Das wäre das Allerbeste.« Leoff erhob sich und blinzelte verblüfft. »Eine Komponistin? Von so etwas habe ich noch nie gehört. Aber ich sehe keinen Grund ...«Er ließ den Satz unvollendet. Wie würde man ein solches Geschöpf behandeln, eine Komponistin? Würde sie Aufträge bekommen? Würde man ihre Taschen mit Gold füllen? Wahrscheinlich nicht. Ebenso wenig würde es ihre Aussichten auf eine gute Vermählung verbessern -vermutlich würde es sie sogar verschlechtern. »Nun, lass uns darüber reden, wenn es so weit ist, ja? Und jetzt, warum spielst du mir nicht etwas vor - alles, was du möchtest, etwas zum Vergnügen -, und dann bekommst du Unterricht, einverstanden?« Sie nickte glücklich und nahm vor dem Instrument Platz, legte die kleinen Finger auf die roten und schwarzen Tasten. Versuchsweise schlug sie eine an und hielt sie niedergedrückt, ließ sie mit dem Finger zart tremolieren. Der Ton klang so lieblich in dem Steingemach, dass Leoff glaubte, sein Herz müsse zerfließen wie warmes Wachs. Mery hustete leise und begann zu spielen. Sie fing einfach an, mit einer Melodie, die er als lierisches Wiegenlied wiedererkannte, eine simple Tonfolge, die recht natürlich in etrama vorgetragen wurde, der Tonart, die als die Lampe der Nacht 103 bekannt war: beschwingt, traurig, wohltuend. Mery spielte die Melodie mit der rechten Hand und fügte mit der linken eine sehr einfache Begleitung aus getragenen Dreiklängen hinzu. Es war absolut entzückend, und sein Erstaunen wuchs, als ihm klar wurde, dass er ihr das nicht beigebracht hatte - sie musste es sich selbst ausgedacht haben. Er wartete ab, wie es wohl weitergehen würde. Wie er geahnt hatte, hing der letzte Akkord in der Luft, zog ihn in den nächsten Satz hinein, und jetzt wurden die summenden Akkorde zu einem anrührenden Geflecht aus Kontrapunkten. Die Harmonien waren makellos, gefühlsselig, jedoch nicht in übertriebenem Maße. Es war eine Mutter, die ihren Säugling an sich drückte und ein Lied sang, das sie schon hundertmal gesungen hatte. Leoff konnte beinahe die Decke an seiner Haut spüren, die Hand, die seinen Kopf streichelte, die leise Brise, die von den Nachtwiesen her durch das Fenster ins Kinderzimmer wehte.
Wieder wurde der letzte Akkord gehalten, und er war sehr eigenartig. Die Harmonien lockerten sich plötzlich, öffneten sich, als wäre die Melodie zum Fenster hinausgeflogen und hätte Mutter und Säugling zurückgelassen. Leoff begriff, dass die Tonart gewechselt hatte, von der sanften zweiten zur beklemmenden siebten, sefta, doch selbst für diese Tonart war die Begleitung sonderbar. Und sie wurde noch sonderbarer, als Leoff klar wurde, dass Mery von einem Schlummerlied zu einem Traum und jetzt - ziemlich rasch - zu einem Albtraum übergegangen war. Die Bassbegleitung war eine Schwarze Mary, die unter sein Bett kroch; die Melodie war auf irgendeine fast vergessene mittlere Tonlage umgesprungen, und die hohen Töne erinnerten an Spinnen und den Geruch versengenden Haars. Merys Gesicht war vor Versunkenheit völlig ausdruckslos, weiß und glatt, wie es nur das Antlitz eines Kindes sein kann, unentstellt vom Zug der Jahre, dem Stempel von Sorgen und Schrecken, Enttäuschung und Hass. Doch es war nicht ihr Gesicht, das er jetzt hörte, sondern eher etwas, das aus ihrer Seele gekommen war, und diese - das war ganz eindeutig - war nicht unversehrt. 104 Ehe er sich's versah, war die Melodie plötzlich geborsten, zersplittert, strebte danach, sich wieder zusammenzusetzen, konnte es jedoch nicht, so als hätte sie sich selbst vergessen. Das Wiegenlied war zu einem Tanz im Dreitakt geworden, beschwor Bilder von einem irrwitzigen Maskenball herauf, auf dem die Gesichter unter den Masken schlimmer waren als die Verkleidungen selbst -Ungeheuer, die sich als Menschen maskierten, welche sich als Ungeheuer verkleidet hatten. Dann, ganz langsam, fügte sich unter all dem Wahnsinn die Melodie wieder zusammen und gewann an Kraft, aber jetzt befand sie sich am unteren Ende der Tonleiter, mit der linken Hand gespielt. Sie versammelte den Rest der Töne um sich und beschwichtigte sie, bis der Kontrapunkt fast hymnisch war. Mery hatte sie ins Kinderzimmer zurückgeführt, zurück dorthin, wo sie sicher waren, doch die Stimme hatte sich geändert. Es war nicht länger eine Mutter, die da sang, sondern ein Vater - und diesmal löste sich der letzte Akkord schließlich auf. Leoff ertappte sich dabei, wie er Tränen wegblinzelte, als es vorüber war. Von der Technik her wäre dies von einem langjährigen Schüler erstaunlich gewesen, Mery jedoch hatte nur ein paar Monate Unterricht bei ihm genommen. Und doch war die schiere Wucht ahnenden Erkennens darin - die Seele, die das Stück andeutete absolut verblüffend. »Hier sind die Heiligen am Werk«, murmelte er. Im Laufe der Folter hatte er beinahe aufgehört, an die Heiligen zu glauben, oder zumindest hatte er aufgehört zu glauben, dass sie sich in irgendeiner Weise um ihn scherten. Mit ein paar Bewegungen ihrer Hände hatte Mery das alles geändert. »Hat es Euch nicht gefallen?«, fragte sie schüchtern. »Ich fand es wunderbar, Mery«, hauchte er. Er gab sich alle Mühe, seine Stimme nicht zittern zu lassen. »Es ist kannst du es noch einmal so spielen? Genau so?« Sie furchte die Stirn. »Ich glaube schon. Das ist das erste Mal, dass ich es gespielt habe. Aber es ist in meinem Kopf.« 105 »Ja«, sagte Leoff. »Ich weiß, was du meinst. So ist es bei mir auch. Aber ich habe noch nie jemanden - kannst du noch einmal von vorn anfangen, Mery?« Sie nickte, legte die Hände auf die Tasten und spielte das Stück noch einmal, Note für Note. »Du musst lernen, deine Musik aufzuschreiben«, entschied er. »Würdest du das gern lernen?« »Ja«, antwortete die Kleine. »Sehr gut. Du wirst es selbst tun müssen. Meine Hände sind ...« Hilflos hielt er sie hoch. »Was ist mit ihnen passiert?«, fragte Mery abermals. »Ein paar böse Männer haben das getan«, gab er zu. »Aber sie sind nicht mehr hier.« »Ich würde die Männer gern sehen, die das getan haben«, sagte Mery »Ich würde gern sehen, wie sie sterben.« »Sprich nicht so«, erwiderte er leise. »Hass ist sinnlos, Mery Er ist ganz und gar sinnlos, und er tut dir nur weh.« »Es würde mir nichts ausmachen, dass es mir wehtut, wenn ich denen wehtun könnte«, beharrte Mery »Vielleicht«, sagte Leoff. »Aber es würde mir etwas ausmachen. Also, üben wir Schreiben, einverstanden? Wie heißt das Lied?« Plötzlich sah sie verlegen aus. »Es ist für Euch«, antwortete sie. »Leoffs Lied.« Leoff tauchte aus dem Schlaf empor; er dachte, er hätte etwas gehört, war sich aber nicht sicher, was. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und zuckte dann zusammen, als er daran erinnert wurde, dass selbst etwas so Simples kompliziert und ein wenig gefährlich geworden war. Trotzdem, es ging ihm besser. Merys Besuch hatte ihm mehr geholfen, als er sich selbst eingestehen mochte, ganz gewiss mehr, als er seinen Kerkermeistern gegenüber jemals zugeben würde. Wenn dies eine neue Art der Folter war - ihm Mery erst wieder zu zeigen und sie ihm dann wegzunehmen -, dann würden die Folterer 106 kein Glück haben. Was auch immer der Thronräuber zu ihm gesagt, was immer er darauf erwidert hatte, er wusste, dass seine Tage gezählt waren. Selbst wenn er das Mädchen niemals wieder sah, war sein Leben doch bereits besser, als es sonst gewesen wäre.
»Ihr irrt Euch, wisst Ihr«, flüsterte eine Stimme. Leoff war gerade im Begriff gewesen, sich wieder auf seinem einfachen Bett auszustrecken. Jetzt erstarrte er mitten in der Bewegung, unsicher, ob er die Stimme tatsächlich vernommen hatte oder nicht. Sie war sehr schwach und heiser gewesen. Konnten es seine Ohren gewesen sein, die die Bewegung einer Wache draußen im Korridor in einen Einspruch gegen seine Gedanken verwandelt hatten? »Wer ist da?«, fragte er leise. »Hass ist die Mühe sehr wohl wert«, fuhr die Stimme fort, diesmal viel deutlicher. »Tatsächlich ist Hass das einzige Holz, das manche Essen verbrennen.« Leoff konnte nicht sagen, wo die Stimme herkam. Nicht aus dem Innern des Gemachs und nicht von der Tür her. Woher dann? Er stand auf, zündete unbeholfen eine Kerze an und suchte die Wände ab, während er herumstolperte. »Wer spricht zu mir?«, fragte er. »Der Hass«, kam die Antwort. »Lo Husum. Ich glaube, ich bin ewig geworden.« »Wo seid Ihr?« »Es ist immer Nacht«, erwiderte die Stimme. »Und einst war es still. Aber jetzt vernehme ich so viel Schönheit. Sagt mir, wie das kleine Mädchen aussieht.« Leoffs Blick fiel auf eine Ecke des Zimmers. Endlich begriff er, und er kam sich dumm vor, weil er es nicht schon früher erraten hatte. Es gab außer der Tür nur eine Öffnung im Raum, und das war ein kleiner Luftschacht, jede Seite ungefähr einen Fußbreit lang, zu klein, als dass selbst ein Säugling hätte hindurchkriechen können jedoch nicht zu klein für eine Stimme. 107 »Ihr seid auch ein Gefangener?« »Gefangener?«, murmelte die Stimme. »Ja, ja, das ist auch eine Möglichkeit, es auszudrücken. Ich werde abgehalten, abgehalten von dem, was mir am meisten bedeutet.« »Und was ist das?«, wollte Leoff wissen. »Rache.« Die Stimme war leiser denn je, doch jetzt, da Leoff näher bei dem Luftschacht stand, war sie sehr deutlich zu verstehen. »In meiner Sprache nennen wir sie Lo Videicba. Das ist in meiner Sprache mehr als nur ein Wort - es ist eine ganze Philosophie. Erzählt mir von dem kleinen Mädchen.« »Ihr Name ist Mery. Sie ist sechs Jahre alt. Sie hat nussbraunes Haar und strahlend blaue Augen. Heute hatte sie ein dunkelgrünes Kleid an.« »Sie ist Eure Tochter? Eure Nichte?« »Nein. Sie ist meine Schülerin.« »Aber Ihr liebt sie«, beharrte die Stimme. »Das geht Euch nichts an«, sagte Leoff. »Ja«, erwiderte der Mann, »das hieße, mir ein Messer geben, ja, wenn ich Euer Feind wäre. Aber ich glaube, wir sind keine Feinde.« »Wer seid Ihr?« »Nein, das ist zu vertraulich, versteht Ihr? Denn das ist eine sehr lange Antwort, und sie wohnt in meinem Herzen.« »Wie lange seid Ihr schon hier?« Ein harsches Lachen folgte, eine kurze Stille, dann ein Geständnis. »Ich weiß es nicht«, bekannte der Sprecher. »Vieles, woran ich mich erinnere, ist fragwürdig. So viel Schmerz, und ohne Sonne, Mond und Sterne, um die Welt unter mir zu behalten. Ich bin sehr weit fortgetrieben, aber die Musik bringt mich zurück. Habt Ihr vielleicht eine Laute oder eine chitara}« »Hier ist eine Laute in meiner Zelle, ja«, antwortete Leoff. »Könntet Ihr dann wohl etwas für mich spielen? Etwas, das mich an Orangenhaine erinnert und an Wasser, das aus einem tönernen Rohr rieselt?« 108 »Ich kann überhaupt nichts spielen«, sagte Leoff. »Meine Hände sind zermalmt worden.« »Natürlich«, sagte der Hass. »Das ist Eure Seele, Eure Musik, das ist sie. Also haben sie darauf gezielt. Sie haben ihr Ziel verfehlt, denke ich.« »Sie haben es verfehlt«, stimmte Leoff zu. »Sie geben Euch ein Instrument, um Euch zu verhöhnen. Aber warum lassen sie zu, dass das Mädchen Euch besucht, was glaubt Ihr? Warum geben sie Euch die Möglichkeit, Musik zu machen?« »Der Prinz will, dass ich etwas tue«, erwiderte Leoff. »Er will, dass ich für ihn komponiere.« »Werdet Ihr es tun?« Leoff trat von dem Loch im Boden zurück, plötzlich voller Argwohn. Die Stimme konnte jedem gehören - Prinz Robert, einem seiner Helfershelfer - jedem. Ganz offenkundig wusste der Thronräuber, wie er Praifec Hespero überlistet hatte. So etwas würde er doch nicht noch einmal geschehen lassen, nicht wahr? »Was mir angetan wurde, haben andere getan«, sagte er schließlich. »Der Prinz hat ein Stück bei mir in Auftrag gegeben, und ich werde es so gut verfassen, wie ich kann.«
Eine Pause entstand, dann ertönte ein leises, finsteres Lachen. »Ich verstehe. Ihr seid ein kluger Mann. Gewitzt. Ich muss mir wohl etwas ausdenken, um Euer Vertrauen zu gewinnen.« »Wieso wollt Ihr mein Vertrauen gewinnen?«, fragte Leoff. »Es gibt ein Lied, ein sehr altes Lied aus meinem Heimatland«, sagte der Mann. »Ich kann versuchen, es in Eure Sprache zu übersetzen, wenn Ihr möchtet.« »Wenn es Euch Freude macht.« Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann begann der Mann. Der Klang war unrein, und Leoff verstand sofort, was er da hörte - die Stimme eines Mannes, der vergessen hatte, wie man singt. Die Worte reihten sich zögernd, aber deutlich aneinander. 109 Die Saat im Winter liegt und träumt Vom Baum, zu dem sie heranwachsen wird Der Wurm im Katzenfell sehnt sich Nach dem Schmetterling, in den er sich einst verwandelt Die Kaulquappe zuckt mit dem Schwänze Sehnt sich jedoch nach den Beinen von morgen Ich hin der Hass Doch ich träume davon, die Rache zu sein. Nach der letzten Zeile lachte der Mann gedämpft. »Wir werden wieder plaudern, Leffo«, versprach er. »Denn ich bin euer malasono.« »Dieses Wort kenne ich nicht«, erwiderte Leoff. »Ich weiß nicht, ob es in Eurer Sprache ein solches Wort gibt«, sagte der Mann. »Es ist ein Gewissen, die Sorte Gewissen, die einen dazu bringt, bösen Menschen Böses anzutun. Es ist der Geist von Lo Videicha.« »Dafür habe ich kein Wort«, bestätigte Leoff. »Und ich will auch keines dafür haben.« Doch in der Dunkelheit, später, als sich seine Finger nach der Hammarharfe sehnten, begann er zu überlegen. Seufzend, unfähig, Schlaf zu finden, nahm er das seltsame Buch wieder zur Hand, das er vorhin studiert hatte, und rätselte abermals darüber. Dabei schlief er ein, und als er aufwachte, hatte sich plötzlich etwas ineinander gefügt, und in einer jähen Erleuchtung wurde ihm mit einem Schlag klar, wie es ihm vielleicht möglich sein könnte, Prinz Robert zu töten. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Doch wenn er konnte, würde er es ganz bestimmt tun. 110 8. Kapitel Eine schwere Entscheidung Aspar fuhr auf Winnas Schrei hin herum, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Stephen von dem Ast gezerrt wurde. Das Ganze schien irgendwie vertraut und spielte sich langsam genug ab, dass Aspar es begreifen konnte. Es war wie ein Sefry-Puppentheater, eine Miniatur der Welt, unwirklich. Aus dieser Entfernung war Stephens Gesicht nicht ausdrucksvoller als das einer aus Holz geschnitzten Fadenpuppe, und als er ein letztes Mal zu Aspar emporschaute, war dort nichts - nur die dunklen Flecken seiner Augen, der runde Kreis seines Mundes. Dann war er verschwunden. Dann schwang sich eine weitere Gestalt durchs Bild, ebenso durch die Entfernung verzerrt wie Stephen. Ein Messer blitzte in ihrer Hand, als sie sich entschlossen vom Ast in den Hain der hochgereckten Arme und ihrer fünfblättrigen Blüten hinabschwang. Ehawk. Ganz in der Nähe vernahm Aspar einen wilden Wutschrei. Ein Teil von ihm fragte sich verschwommen, wer da geschrien hatte, und erst später, als er das wunde Gefühl in seiner Kehle bemerkte, wurde ihm klar, dass er selbst es gewesen war. Er schob sich auf seinem Ast vorwärts, doch es gab nichts, was er tun konnte. Winna schrie abermals auf, ein Laut, der ein wenig dem Namen des Jungen ähnelte. Mit erstarrtem Herzen sah Aspar zu, wie Stephens Gesicht einmal auftauchte, mit Blut bespritzt, und dann wieder in der Masse versank. Ehawk sah er nicht wieder. Er zielte mit seinem Bogen, fragte sich, welches Ziel er treffen sollte, was für ein wundersamer Schuss seine Freunde retten könnte. 111 Doch der kalte Klumpen in seiner Brust kannte die Wahrheit; sie waren bereits tot. Wut wallte in ihm auf. Er schoss trotzdem, wollte noch einen von ihnen töten, wünschte sich, er hätte genug Pfeile, um sie alle niederzustrecken. Es war ihm gleich, was sie gewesen waren, ehe die Welt den Verstand verloren hatte. Bauern, Jäger, Väter, Brüder, Schwestern - es kümmerte ihn nicht. Er schaute Winna an, sah die in Tränen schwimmenden Augen, die vollständige Hilflosigkeit, die das Spiegelbild der seinen war. Ihr Blick flehte ihn an, etwas zu unternehmen. Sein Überlebensinstinkt ließ ihn sich umdrehen, um seine letzten Pfeile auf die Slinderlinge abzuschießen, die ihnen nachklettern würden, doch zu seiner Verblüffung sah er, dass sie fort waren. Vor seinen Augen sprangen die letzten Angreifer vom Baum, und so wie eine Welle sich zurückzieht, nachdem sie auf den Kies gebrandet ist, strömte die Masse der grotesken Leiber ins Zwielicht davon.
Binnen einiger weniger Herzschläge war nur noch das gedämpfte Geräusch ihres Rückzugs durch den Wald zu hören. Aspar kauerte weiter auf seinem Ast und starrte ihnen nach. Er fühlte sich unglaublich müde, alt und verloren. »Es schneit wieder«, sagte Winna einige Zeit später. Aspar nahm die Wahrheit dieser Worte mit einem leichten Achselzucken zur Kenntnis. »Aspar.« »Ja«, seufzte er. »Komm her.« Er erhob sich auf seinem Platz und half ihr herab. Sie warf die Arme um ihn, und sie hielten einander ein paar Augenblicke lang fest umschlungen. Ihm war bewusst, dass die beiden Soldaten sie beobachteten, doch im Moment scherte ihn das nicht. Ihre Wärme und ihr Geruch taten gut. Er erinnerte sich daran, wie sie ihn zum ersten Mal geküsst hatte, an die Verwirrung und das Hochgefühl, und er wollte zu jenem Augenblick zurückkehren, damals, bevor alles so verworren geworden war. 112 Bevor Stephen und Ehawk umgekommen waren. »Hallo!«, rief eine Stimme von unten herauf. Aspar spähte an Winnas krausen, schneefeuchten Locken vorbei und erblickte den Ritter Neil MeqVren. Der vitellianische Degenfechter stand neben ihm, und das Mädchen, Austra. Ein versteckter schwarzer Zorn regte sich. Diese drei, und die Soldaten -sie waren beinahe Fremde. Warum sollten sie leben dürfen, wenn Stephen in Stücke gerissen wurde? Sceat drauf. Es gab Dinge, die getan werden mussten. »Lass mich los«, brummte Aspar schroff und zog an Winnas Armen. »Ich muss mit ihnen reden.« »Aspar, das waren Stephen und Ehawk.« »Ja. Ich muss mit diesen Männern reden.« Sie ließ ihn los, und er wich ihrem Blick aus, als er ihr das letzte Stück vom Baum herunterhalf. Er machte einen Sprung, um nicht auf den Leichen zu landen, die sich auf den breiten Wurzeln häuften, und blieb wachsam, falls einer oder mehrere vielleicht noch am Leben waren. Doch keiner rührte sich. »Seid Ihr wohlauf?«, fragte er Neil. Der Ritter nickte. »Nur durch die Gnade der Heiligen. Diese Wesen hatten kein Interesse an uns.« »Was meint Ihr damit?«, wollte Winna wissen. Neil hob die Hände. »Wir hatten uns gerade auf Austras Entführer gestürzt, als sie aus dem Wald geströmt kamen. Ich habe drei oder vier von ihnen erschlagen, ehe mir klar wurde, dass sie nur versucht haben, um uns herumzurennen. Dann haben wir an einem Baum Schutz gesucht, damit sie uns nicht niedertrampeln. Als sie vorbeigelaufen waren, haben wir mit Austras Häschern gekämpft. Ich fürchte, wir mussten sie alle töten.« Austra nickte, als stimme sie dem zu, doch sie schien zu durcheinander zu sein, um zu sprechen; sie drängte sich eng an Cazio. »Sie sind an Euch vorbeigerannt«, wiederholte Aspar und versuchte zu verstehen. »Dann waren sie also hinter uns her?« »Nein«, sagte Winna nachdenklich. »Nicht hinter uns - sie wa113 ren hinter Stephen her. Und sobald sie ihn hatten, sind sie abgezogen. Ehawk ...« Ihre Augen weiteten sich. »Aspar, was ist, wenn sie noch leben? Wir haben doch nicht wirklich gesehen ...« »Ja«, sagte er nachdenklich. Immerhin hatten sie Stephen schon einmal für tot gehalten, und damals hatten sie sogar seinen Leichnam gehabt. Winna hatte Recht. »Nun, dann müssen wir ihnen nach«, entschied Winna. »Einen Moment, bitte«, sagte Neil und betrachtete noch immer das Leichenfeld. »Es gibt hier eine Menge Dinge, die ich nicht verstehe. Diese Wesen, die uns angegriffen haben - sind das die Slinderlinge, die ihr der Königin am ersten Tag unserer Reise beschrieben habt?« »Das sind sie«, bestätigte Aspar, während die Ungeduld allmählich in ihm wuchs. »Und sie dienen dem Dornenkönig?« »So ist es«, erwiderte Aspar. »Und was ist das da}« Neil zeigte auf den halb abgenagten Kadaver eines Uttin. Aspar warf einen Blick auf das Ungetüm und dachte, dass Stephen es wahrscheinlich gern so zerstückelt gesehen hätte, um es studieren zu können. Statt mit Haut war der Uttin mit hornigen Panzerplatten bedeckt. Aus den Fugen zwischen diesen Platten spross borstiges schwarzes Haar. Aspars Erfahrung nach taugte dieser natürliche Panzer durchaus dazu, Pfeile, Dolche und Äxte abprallen zu lassen, doch irgendwie hatten die Slinderlinge ein paar der Platten aufgebogen und sich in das Fleisch gewühlt, hatten die feuchten Organe im Innern des starkknochigen Brustkorbs freigelegt. Die Augen des Wesens waren ausgekratzt und der Unterkiefer gebrochen und halb weggerissen worden. Ein menschlicher Arm, an der Schulter abgetrennt, steckte in seiner Kehle. »Wir nennen sie Uttins«, sagte Aspar. »Wir haben schon einmal gegen einen gekämpft.« 114
»Aber diese hier sind von den Slinderlingen getötet worden.« »Ja.« »Dann sind die Slinderlinge nach dem, was Ihr gesagt habt, nur auf die Uttins und Frete Stephen losgegangen.« »So sieht es aus«, erwiderte Aspar brüsk. »Das haben wir doch gesagt.« »Aber Ihr glaubt, sie haben Stephen lebendig verschleppt?« Als Antwort machte Aspar auf dem Absatz kehrt und schritt zu der Stelle hinüber, wo er seinen Freund zum letzten Mal gesehen hatte, wo die unnatürlich verbogenen Äste der Eiche noch immer den Boden berührten. Die anderen folgten ihm. »Ich habe die Slinderlinge töten sehen«, sagte der Waldhüter. »Entweder sie fressen die Toten an Ort und Stelle, oder sie lassen sie in Stücke gerissen liegen. Davon ist hier nichts zu sehen, also haben sie Stephen und Ehawk mitgenommen.« »Aber warum sollten sie nur diese beiden mitnehmen?«, fragte Neil. »Was sollten sie ausgerechnet von ihnen wollen?« »Was spielt das für eine Rolle?«, fuhr Winna zornig auf. »Wir müssen sie zurückholen.« Neil errötete, doch er hob die Schultern und reckte das Kinn empor. »Weil«, sagte er, »weil ich verstehe, wie es ist, Gefährten zu verlieren. Ich kenne den Zwiespalt zwischen zwei verschiedenen Treuepflichten sehr gut. Aber Ihr habt geschworen, Ihrer Majestät zu dienen. Wenn Eure Freunde tot sind, sind sie tot, und daran ist nichts zu ändern. Wenn sie noch leben, dann wurden sie aus irgendeinem Grund verschont, über den wir ebenfalls keine Gewalt haben. Ich bitte Euch inständig -« »Neil MeqVren«, sagte Winna; ihre Stimme war jetzt kalt vor Wut. »Ihr wart dabei, in Cal Azroth, als der Dornenkönig erschienen ist. Wir haben alle zusammen gekämpft, und in Dunmrogh haben wir wieder gekämpft. Wenn Stephen nicht gewesen wäre, wären wir alle tot, und Ihre Majestät auch. So gefühllos könnt Ihr doch nicht sein.« Neil seufzte. »Memey Winna«, erwiderte er, »ich habe nicht den 115 Wunsch, Euch zu verletzen oder zu kränken. Aber ohne irgendeine andere Bindung sind wir alle - außer Cazio Untertanen des Throns von Crothenien. Unsere erste Gefolgschaftspflicht liegt dort. Und wäre dies nicht so, denkt daran, dass wir alle einen Eid abgelegt haben, bevor wir von Dunmrogh aufgebrochen sind, dass wir geschworen haben, Anne, der rechtmäßigen Erbin dieses Throns, zu dienen und sie in Amt und Würden zu sehen oder zu sterben. Stephen und Ehawk haben diesen Eid ebenfalls geleistet.« Seine Stimme wurde ein wenig lauter. »Und wir haben sie verloren. Jemand hat sie uns genommen, und wir - die eigentlich ihre Beschützer sein sollten - sind sehr viel weniger als vorher. Jetzt beabsichtigt Ihr, uns noch weiter aufzuteilen, Memey. Bitte entsinnt Euch Eures Versprechens und helft mir, Anne zu finden. Um der Heiligen willen, wir wissen doch noch nicht einmal, ob Stephen und Ehawk noch am Leben sind.« »Wir wissen auch nicht, ob sie noch am Leben ist«, entgegnete Aspar. »Ihr seid der Waldhüter des Königs«, sagte Neil entschieden. Aspar schüttelte den Kopf. »Nein, das bin ich nicht. Ich wurde dieses Postens enthoben. Eigentlich unterstehe ich dem Praifec, und der hat mir aufgetragen, den Dornenkönig zu töten. Diejenigen, die Stephen fortgeschleppt haben, sind die Diener des Dornenkönigs, und ich denke, sie werden mich zu ihm führen.« »Derselbe Praifec hat hinter den Morden und der Hexerei in Dunmrogh gesteckt und war wahrscheinlich mit den Meuchelmördern in Cal Azroth im Bunde«, wandte Neil ein. »Er ist der Feind Eurer rechtmäßigen Herrscherin, und deshalb schuldet Ihr ihm keinerlei Gefolgschaftstreue.« »Das weiß ich aber nicht mit Sicherheit«, knurrte Aspar. »Außerdem, wenn ich der Waldhüter bin, wie Ihr sagt nun, dann fällt dieser Wald in meinen Zuständigkeitsbereich, und ich sollte herausfinden, was das alles zu bedeuten hat. So oder so, es ist meine Entscheidung.« »Ich weiß, dass es Eure Entscheidung ist«, erwiderte Neil. 116 »Aber ich bin der Einzige hier, der für Anne sprechen kann, und ich flehe Euch an, meine Einwände zu bedenken.« Aspar begegnete dem ernsten Blick des Ritters, dann sah er Winna an. Er wusste nicht genau, was er sagen würde, doch das Geräusch von etwas, das durch den Wald kam, ersparte ihm, es auszusprechen. »Hört Ihr das?«, fragte er Neil. »Ich höre etwas«, antwortete der Ritter. »Reiter, und zwar eine ganze Menge«, knurrte Aspar. »Ich würde sagen, diese Angelegenheit kann warten, bis wir wissen, was für neues Ungemach uns jetzt auf den Fersen ist.« 9. Kapitel Wiedergeburt Die Toten flüsterten sie wach. Ihr erster Atemzug war qualvoll, als sei ihre Lunge aus Glas geblasen gewesen und dann beim Einatmen zersprungen. Sämtliche Muskeln versuchten, von ihren Knochen zu kriechen. Sie hätte geschrien, doch ihr Mund und ihre Kehle waren mit geronnener Galle und Schleim verstopft. Ihr Kopf hämmerte gegen Stein, und sie konnte nichts dagegen tun, außer den Funken zuzusehen, die sich in
ihren Augen bildeten. Dann bog sich ihr ganzer Körper zurück, als sei sie ein Bogen, der von einem Heiligen gespannt wurde, und der Pfeil brach nass aus ihrem Mund hervor, wieder und wieder, bis sich endlich alles löste und sie still dalag, während der Atem ohne Eile in sie hinein- und aus ihr herausfuhr, während die Schmerzen langsam davon flossen und Erschöpfung zurückließen. 117 Sie hatte das Gefühl, in etwas Weichem zu versinken. Ihr Heiligen, vergebt mir, betete sie stumm. Ich wollte nicht. Ich musste. Das stimmte nur zur Hälfte, doch sie war zu müde, um es ihnen zu erklären. Die Heiligen schienen ohnehin nicht zuzuhören, obgleich die Toten noch immer wisperten. Sie dachte, sie hätte sie verstanden, vor noch gar nicht langer Zeit, hätte die seltsam gesetzten Zeitformen ihrer Grammatik erfasst. Jetzt huschte das Geflüster der Stimmen am Rande ihres Begriffsvermögens dahin, alle außer einer, und diese eine versuchte, in ihr Ohr zu gleiten wie die Zunge eines Geliebten. Sie wollte es nicht hören, wollte nicht zuhören, aus Angst, dass ihre Seele wieder in die Vergessenheit zurücksinken würde, wenn sie es tat. Doch die Stimme ließ sich von etwas so Simplem wie Angst nicht abweisen. Nein, bei den Verdammten, schnarrte sie. Ihr könnt mich hören. Ihr werdet mich hören. »Wer seid Ihr?«, gab sie nach. »Bitte ...« »Mein Name?« Augenblicklich gewann die Stimme an Kraft, und sie fühlte, wie sich eine Hand an ihre Wange presste. Die Hand war sehr kalt. »Mein Name war Erren, glaube ich. Erren. Und wer seid Ihr? Ihr seid mir bekannt.« Da wurde ihr klar, dass sie ihren eigenen Namen vergessen hatte. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte sie. »Aber ich erinnere mich an Euch. Die Assassine der Königin.« »Ja«, bestätigte die Stimme triumphierend. »Ja, das bin ich. Und jetzt erkenne ich Euch. Alis. Alis Berrye.« Etwas wie ein glucksendes Lachen folgte. »Bei den Heiligen. Ich habe Euch übersehen, wusste nicht, was Ihr wart. Wie habe ich Euch übersehen können?« 118 Alis! Ich bin Alis!, dachte sie mit verzweifelter Erleichterung. »Ich wollte nicht entdeckt werden«, erklärte Alis. »Aber ich hatte immer Angst, dass Ihr mich erwischen würdet. Wirklich, ich habe mich schrecklich vor Euch gefürchtet.« Die Hand strich liebkosend über ihren Hals. »In einem Konvent geschult, ja«, seufzte die Tote. »Aber nicht in einem richtigen Konvent der Kirche, nicht wahr? Halaruni?« »Wir nennen uns die Veren«, antwortete Alis. »Ah, ja, natürlich«, sagte Erren. »Veren. Das Zeichen des Sichelmondes. Ich weiß ein wenig über Euch. Und jetzt seid Ihr die Beschützerin meiner Königin.« »Das bin ich, Lady.« »Wie habt Ihr es fertig gebracht, dem Tod zu entrinnen? Euer Herz war so langsam geworden, dass es nur einmal am Tag geschlagen hat, Euer Atem war zum Stillstand gekommen. Euer Blut hat nach Galgenkraut gestunken, aber jetzt ist es rein.« »Wenn er kein Galgenkraut verwendet hätte - wenn er Lauvleth oder Merwaurt oder Schierling genommen hätte -, dann wäre ich wirklich tot«, erwiderte Alis. »Ihr sterbt vielleicht trotzdem«, gab Erren zu bedenken. »Selbst jetzt seid Ihr dem Tod sehr nahe. Etwas so Körperloses wie ich kann nicht viel ausrichten, aber Ihr seid uns so nahe, ich glaube, ich könnte es schaffen ...« »Dann hat sie niemanden mehr, der ihr hilft«, sagte Alis. »Sagt mir rasch, warum Ihr nicht gestorben seid. Ich kenne keinen Pfad der Schreine und keine Zauberei, die der Wirkung von Galgenkraut Einhalt gebieten können.« »Unsere Methoden sind anders«, erwiderte Alis. »Und das Gesetz des Todes ist gebrochen worden. Die Grenzgefilde zwischen den Lebenden und den Toten sind viel breiter als früher, die Reise in beide Richtungen weniger sicher. Galgenkraut ist verlässlicher als die meisten anderen Gifte, weil es nicht nur auf den Körper wirkt, sondern auch auf die Seele. In unserem Orden gibt es eine sehr alte Geschichte von einer Frau, die sich vom Tod übermannen 119 lässt und trotzdem zurückkehrt. Das war, als das Gesetz des Todes das letzte Mal gebrochen wurde, während der Zeit des Schwarzen Narren. Ich hatte das Gefühl, mir könnte vielleicht das Gleiche gelingen, und ich kannte die Sacaums, die notwendig sind, um es zu versuchen. Und ich hatte wirklich keine andere Wahl. Das Gift war bereits in mir.« Sie hielt inne. »Ihr solltet mich nicht töten, Sor Erren.« »Kennt meine Königin das Ziel Eures Ordens?« »Mein Orden ist tot. Alle außer mir«, entgegnete Alis. »Ich bin nicht länger an ihr Bestreben gebunden.« »Dann kennt sie es also nicht.« »Natürlich nicht«, erwiderte Alis. »Wie hätte ich es ihr sagen können? Sie muss mir vertrauen.« »Im Augenblick«, murmelte Errens Schatten, »bin ich es, die Euch vertrauen muss.« »Ich hätte sie viele Male töten können«, gab Alis zu bedenken. »Und doch habe ich es nicht getan.«
»Vielleicht wartet Ihr ja auf die Tochter.« »Nein«, beteuerte Alis, allmählich verzweifelt. »Ihr versteht die Veren nicht so gut, wie Ihr denkt, wenn Ihr andeutet, dass wir Anne etwas antun würden.« »Aber vielleicht wollt Ihr sie beherrschen«, sagte Erren. »Die wahre Königin beherrschen.« »Das kommt der Wahrheit schon näher, jedenfalls soweit es den Konvent anging«, gab Alis zu. »Aber ich habe nicht zum inneren Kreis gehört. Ich habe die Ziele der Veren nie ganz verstanden, und jetzt ist es mir gleichgültig.« »Ihr habt gesagt, die Schwestern sind alle tot. Was ist mit den Brüdern?« Alis fühlte, wie ihr Herz stolperte. »Ihr wisst von ihnen?« »Bisher nicht. Ich habe geraten. Der Orden der heiligen Cer hat sein männliches Gegenstück. Bei den Veren muss es genauso sein. Aber begreift Ihr, wie gefährlich es ist, wenn nur die Männer übrig bleiben? Wenn nur ihre Stimmen im Rat erhoben werden?« 120 »Nein«, sagte Alis. »Nein, das begreife ich nicht. Ich möchte nur Muriele dienen, sie in Sicherheit bringen, helfen, ihr Land zu bewahren.« »Ist das wahr?« Alis spürte, wie etwas irgendwo in ihrem Innern zupackte. Es tat nicht weh, doch sie fühlte sich plötzlich sehr schwach, und ihr Puls schlug seltsam, als versuche er, aus ihrem Körper zu entfliehen. »Ich schwöre Euch, dass es wahr ist«, keuchte sie. »Ich gelobe es bei der Heiligen, auf die wir schwören.« »Nennt sie mir.« »Virgenya.« Einen Moment später ließ der Druck ein wenig nach, verschwand jedoch nicht. »Es ist so schwer, nicht loszulassen«, sagte Erren. »Wir vergessen, die Toten.« »Ihr scheint noch eine ganze Menge zu wissen«, stellte Alis fest. Langsam gewann sie ihre Fassung wieder. »Ich klammere mich an das, was ich muss. Ich erinnere mich nicht an meine Eltern oder daran, ein kleines Mädchen gewesen zu sein. Ich weiß nicht mehr, ob ich jemals einen Mann geliebt habe oder eine Frau. Ich kann die Form meines lebendigen Antlitzes nicht mehr vor mir sehen. Aber ich erinnere mich an meine Pflicht. Daran erinnere ich mich. Und ich erinnere mich an sie. Könnt Ihr sie schützen? Werdet Ihr es tun?« »Ja«, sagte Alis schwach. »Ich schwöre es.« »Und was ist, wenn die Männer der Veren noch am Leben sind und zu Euch kommen? Was dann? Was ist, wenn sie zu Euch kommen und Euch auffordern, ihr oder ihrer Tochter Leid zuzufügen?« »Ich gehöre jetzt zur Königin«, beharrte Alis. »Zu ihr, nicht zu ihnen.« »Es fällt mir schwer, das zu glauben.« »Ihr wurdet im Konvent geschult. Wenn die Kirche Euch aufgefordert hätte, Muriele umzubringen, hättet Ihr es getan?« 121 Errens Lachen war leise und bar jeglichen Humors. »Ich bin dazu aufgefordert worden.« Die Haare in Alis' Nacken stellten sich auf. »Wer?«, wollte sie wissen. »Wer hat Euch diesen Befehl gegeben? Hespero?« »Hespero?« Ihre Stimme schien jetzt ferner. »An diesen Namen erinnere ich mich nicht. Vielleicht ist er nicht wichtig. Nein, ich weiß nicht mehr, wer die Botschaft geschickt hat. Aber es muss jemand von sehr hohem Rang gewesen sein, sonst hätte ich es niemals erwogen.« »Ihr habt es erwogen}«, fragte Alis schockiert. »Ich glaube, das habe ich getan.« »Dann muss es einen Grund gegeben haben«, stellte Alis fest. »Nicht Grund genug, um es zu tun.« »Was geschieht hier, Erren? Die Welt fällt auseinander. Das Gesetz des Todes ist gebrochen worden. Wer ist der Feind?« »Ich bin ums Leben gekommen, Alis«, sagte der Schatten. »Hätte ich all das gewusst, hätte ich gewusst, wovor ich auf der Hut sein muss, glaubt Ihr, ich wäre dann tot?« »Oh.« »Eure Feinde sind ihre Feinde. Das ist alles, was Ihr wissen müsst. Das macht es einfach.« »Einfach«, stimmte Alis zu, obwohl sie wusste, dass es nicht einfach sein konnte. »Ihr werdet leben«, sagte Erren. »Alle glauben, Ihr wärt tot. Was werdet Ihr tun?« »Anne ist am Leben«, erwiderte Alis. »Anne?« »Murieles jüngste Tochter.« »Ach ja. Das habe ich ihr gesagt.« »Sie lebt, und Fail de Liery auch, und viele andere, die der Königin treu ergeben sind. Robert fürchtet, dass sich eine Armee hinter Anne scharen wird, und das nicht ohne Grund.« »Eine Armee«, sann Erren. »Die Tochter, die eine Armee anführt. Ich frage mich, wie das wohl gehen wird.« 122
»Ich glaube, ich kann helfen«, sagte Alis. »Die Königin wird zu streng bewacht, und sie wird im Wolfspelzturm festgehalten, weitab von allen geheimen Gängen. Ich glaube, ihre einzige Hoffnung auf Freiheit ist, dass Anne siegt - aber das muss bald geschehen, ehe Hansa und die Kirche sich einmischen können.« »Und wie werdet Ihr helfen? Indem Ihr Robert ermordet?« »Daran habe ich natürlich gedacht«, entgegnete Alis. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt getötet werden kann. Er ist auch von den Toten zurückgekehrt, Lady Erren, aber er war ganz und gar tot. Er blutet nicht wie ein Mensch. Ich weiß nicht, wie man das tötet, zu dem er geworden ist.« »Vielleicht habe ich solche Dinge einst gewusst«, sagte Erren. »Aber jetzt nicht mehr. Wie also sonst?« »Es gibt da einen Mann, den der Thronräuber eingekerkert hat. Wenn ich ihn in Annes Namen befreien kann, glaube ich, dass selbst die widerwilligsten Landwaerde sich auf ihre Seite schlagen werden. Das sollte den Ausschlag geben.« »Also die Geheimgänge.« »Es wird gefährlich sein«, meinte Alis. »Prinz Robert ist darin einzigartig unter den Männern, dass er von den Gängen weiß und sich an sie erinnern kann. Aber -« »Aber er hält Euch für tot«, sagte Erren. »Ich verstehe. Das ist eine Waffe, die Ihr wirklich nur einmal benutzen könnt.« »Genau«, pflichtete Alis ihr bei. »Nehmt Euch in Acht«, sagte Erren. »Es gibt Wesen in den Verliesen von Eslen, die schon vor langer Zeit hätten sterben sollen. Haltet sie nicht für hilflos.« »Ich werde ihr helfen, Erren«, versprach Alis. »Ja, das werdet Ihr«, stimmte Erren zu. »Ich kann Euch nicht ersetzen, ich weiß. Aber ich werde mein Bestes tun.« »Mein Bestes war nicht gut genug. Seid besser.« Ein Frösteln durchfuhr Alis, und die Stimme war verschwunden. 123 Ihr Kopf war plötzlich vom Gestank verwesenden Fleisches erfüllt, und als ihre Sinne zurückkehrten, konnte sie Rippen fühlen, die sich in ihren Rücken drückten. Die Hand auf ihrer Wange war immer noch da. Sie berührte sie; sie war nass und schleimig und bestand fast nur noch aus Knochen. Robert hatte Muriele angelogen. Er hatte sie tatsächlich in die Gruft der Dares gelegt, aber nicht in Williams Grab - sie lag im selben Sarkophag wie Erren. Direkt auf ihr. Ein kleiner Scherz von ihm, oder ein Zufall? Vielleicht ein Fehler von ihm. Eine Weile lag sie schaudernd da, sammelte ihre Kräfte, dann stemmte sie sich gegen den Stein über ihr. Er war schwer, zu schwer, doch sie suchte tief in ihrem Innern, fand mehr Kraft und drückte fest genug, um ihn ein Stückchen von der Stelle zu bewegen. Sie ruhte sich aus, dann drückte sie noch einmal dagegen. Diesmal erschien ein Lichtstreifen in der Finsternis. Sie entspannte sich, ließ frische Luft hereinströmen, um sich zu stärken. Mit Händen und Füßen stemmte und schob sie mit aller Macht, die ihre schlanke Gestalt aufbringen konnte. Der Deckel knirschte einen weiteren Fingerbreit zur Seite. Sie hörte eine ferne Glocke und begriff, dass es zur Mittagsstunde läutete. Die Welt der Lebenden, des Sonnenlichts und der süßen Luft war plötzlich wieder wirklich für sie. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, doch sie war noch immer sehr, sehr schwach. Erst sechs Glockenschläge später - beim Abendläuten - gelang es ihr, den Deckel ganz zu öffnen und von dem verfaulenden Leichnam ihrer Vorgängerin herunterzukriechen. Ein wenig Licht fiel aus der Vorhalle herein, doch Alis sah sich nicht nach ihrer Gastgeberin um; ebenso wenig hatte sie im Augenblick die Kraft, den Deckel wieder zu schließen. Sie konnte nur hoffen, dass niemand einen Grund fand, hierher zu kommen, bevor es ihr gelungen war, wieder genug zu Kräften zu kommen oder Hilfe zu finden. Alis Berrye kam sich so zerbrechlich und leicht vor wie ein Be124 senreis, als sie aus der Gruft heraustappte, hinein nach Eslen-des-Schattens, der dunklen Schwester der lebendigen Stadt auf dem Hügel hoch darüber. Als sie zu Eslens Türmen und Zinnen hinaufschaute, fühlte sie sich einen Augenblick lang verzagter und einsamer als jemals zuvor. Die Aufgabe, die sie gewählt hatte - die zu bewältigen sie einem Geist versprochen hatte -, schien ihre Fähigkeiten bei weitem zu übersteigen. Dann erinnerte sie sich mit einem spöttischen Auflachen daran, dass sie nicht nur eines der tödlichsten Gifte der Welt überlebt hatte, sie war auch direkt vor den Augen des Thronräubers Robert Dare einfach verschwunden. Als er sich für vorsichtig gehalten hatte, war er achtlos geworden. Sie würde einen Dolch aus diesem Fehler schmieden, mit dem sie sein Herz treffen und vergießen würde, was immer darin an fremdartigem Blut vor sich hin faulte. Teil II Das Gift in den Wurzeln Fram tid du tid ya yer du yer Taelned sind thae manns daghs
Müh barns, razens, ja rengs gaeve Bagmlic is gemaunth sik Sa bagm woltheg mith luths niwat Sa aeter in sin rots Von Flut zu Flut und Jahr zu Jahr Sind die Tage eines Mannes gezählet Reich an Kindern, Heimen und Ringen Fühlt er sich stark, wie ein Baum Ein Baum, von Ästen strotzend, fühlt vielleicht Das Gift in seinen Wurzeln nicht. altes almanisches Sprichwort 10. Kapitel Bei ihnen Stephen wusste nicht genau, wie lange er sich gegen die Slinderlinge zur Wehr gesetzt hatte, doch er wusste, dass er keine Kraft mehr hatte. Seine Muskeln waren schlaffe Bänder, geschüttelt von gelegentlichen schmerzhaften Krämpfen. Sogar seine Knochen schienen zu schmerzen. Seltsamerweise wurden die Hände, die ihn festhielten, eigenartig sanft, als er aufgehört hatte, sich zu wehren, als wäre er wie die streunende Katze, die er einst aus dem Sonnenzimmer seines Vaters getragen hatte. Als die Katze gezappelt hatte, hatte er sie festhalten müssen, sogar ein bisschen grob, doch nachdem sie sich beruhigt hatte, konnte er seinen Griff lockern, sie streicheln, ihr zeigen, dass er niemals vorgehabt hatte, ihr etwas zuleide zu tun. »Sie haben uns nicht gefressen«, hörte er eine Stimme neben sich sagen. Erst da begriff er, dass eine der Hände, die ihn gepackt hatten, Ehawk gehörte. Er erinnerte sich an das Gesicht des Wattau-Knaben in den ersten Augenblicken des Durcheinanders, als er grob über den Waldboden geschleift worden war. Jetzt wurde er mit dem Gesicht nach oben auf den ineinander geschlungenen Armen von acht Slinderlingen getragen und an den Handgelenken festgehalten. Ehawk wurde auf ähnliche Weise dahingeschleppt, doch seine rechte Hand klammerte sich fest um Stephens linke. »Nein, das stimmt«, pflichtete der Novize ihm bei. Er hob die Stimme. »Kann keiner von euch sprechen?« Keiner von denen, die sie trugen, antwortete. »Vielleicht wollen sie uns erst kochen«, meinte Ehawk. 129 »Vielleicht. Wenn dem so ist, haben sie ihre Gewohnheiten geändert, seit Aspar sie das letzte Mal gesehen hat. Er hat gesagt, sie hätten ihre Opfer roh und bei lebendigem Leib verschlungen.« »Ja. Das habe ich auch gesehen, als sie Sir Oneu getötet haben. Die hier sind anders. Dies alles ist anders.« »Hast du gesehen, was aus Aspar und den Übrigen geworden ist?«, wollte Stephen wissen. »Ich glaube, alle Slinderlinge, die den Baum angegriffen haben, sind mit uns gekommen«, sagte Ehawk. »Sie haben gar nicht versucht, die anderen zu kriegen.« »Aber wieso sollten sie nur uns beide wollen?«, grübelte Stephen. »Wollten sie ja gar nicht«, erwiderte Ehawk. »Sie wollten nur Euch. Sie haben erst angefangen, mich auch mitzuschleppen, als ich mich an Euch festgekrallt hatte ...« Und warum wollten sie dann mich mitnehmen?, überlegte Stephen. Was kann der Dornenkönig von mir wollen? Er versuchte, sich zu Ehawk umzudrehen, doch ihr Gespräch schien den Slinderlingen nicht behagt zu haben, und einer von ihnen versetzte dem Handgelenk des Jungen einen so harten Schlag, dass dieser nach Luft schnappte und losließ. Sie schickten sich an, den Knaben von Stephen fortzutragen. »Ehawk!«, schrie Stephen und versuchte, die Kraft aufzubringen, sich abermals zur Wehr zu setzen. »Lasst ihn ja in Ruhe, hört ihr? Oder, bei allen Heiligen ... Ehawk!« Doch seine Gegenwehr ließ seine Häscher nur fester zupacken. Ehawk antwortete nicht, und schließlich wurde Stephens Stimme heiser, und er versank düster in seinen eigenen Gedanken. Er hatte im vergangenen Jahr viele seltsame Reisen mitgemacht, und wenngleich dies auch nicht die seltsamste war, so verdiente sie doch gewiss einen Platz in seinen Wunderlichen und kuriosen Beobachtungen. Zum Beispiel war er noch niemals irgendwohin unterwegs gewesen und hatte dabei die meiste Zeit nach oben geschaut. Ohne 130 einen gelegentlichen flüchtigen Blick auf den Erdboden, ohne das Gefühl seiner Füße darauf oder der Masse eines Pferdes zwischen seinen Beinen fühlte er sich losgelöst - wie ein dahintreibender Zephir. Die vorüberziehenden Äste und der dunkelgraue Himmel waren seine Landschaft, und als es zu schneien begann, schrumpfte das gesamte Universum zu einem Tunnel aus wirbelnden Flocken. Dann war er kein Wind mehr, sondern weißer Rauch, der durch die Welt wallte. Schließlich, als die Nacht ihn seines Augenlichts beraubte, kam er sich vor wie eine Woge, vorangetragen von der Tiefe. Möglicherweise döste er, und als seine Wahrnehmung sich erneut schärfte, hatten die Geräusche etwas Hohles angenommen, als hätte die See, die ihn mit sich riss, sich in einen Spalt ergossen und wäre zu einem unterirdischen Fluss geworden. Ein schwach orangefarbener Himmel erschien. Zuerst dachte er, die Sonne ginge bereits auf, dann jedoch wurde ihm klar, dass die "Wolken gar keine Wolken waren, sondern eine Decke aus unregelmäßigem Gestein, und dass das von einem riesigen Feuer stammende Licht gewaltige Flammenfäuste zur Höhlendecke hinaufstieß. In dem riesigen Raum drängten sich unzählige Slinderlinge - sie schliefen lang ausgestreckt oder saßen wach da, liefen oder standen herum und starrten anscheinend ins Nichts. So groß war ihre Zahl, dass die Höhle kaum
einen Boden zu haben schien. Abgesehen von dem allgegenwärtigen beißenden Rauch war die Luft von Ammoniakgestank verpestet, von scharfem Tiergeruch nach Schweiß und dem süßlichen Fäulnisdunst menschlicher Ausscheidungen. Seiner Meinung nach stanken die Gossen von Ralegh so sehr nach Kot und Jauche, wie es irgendeinem Ort nur möglich war, hier jedoch wurde ihm sein Irrtum bewiesen. Die feuchtkalte Luft schien seine Haut so gründlich mit dem Gestank zu überziehen, dass wohl tagelanges Baden nötig sein würde, damit er sich wieder sauber fühlte. Ohne Vorwarnung stellten die Slinderlinge, die Stephen trugen, 131 ihn plötzlich unsanft auf die Füße. Seine geschwächten Knie gaben nach, und er ging dort zu Boden, wo sie ihn abgesetzt hatten. Er stützte sich auf die Arme und schaute sich um, doch von Ehawk war nichts zu sehen. Hatten sie den Jungen am Ende doch gefressen? Hatten sie ihn getötet? Oder ihn lediglich aus dem Zug verbannt, ihn nicht weiter beachtet, so wie Aspar, Winna und die Ritter? Jäh drang Essensgeruch durch die Ausdünstungen der Slinderlinge und traf ihn wie ein Schlag. Er konnte das Aroma nicht genau zuordnen, aber es roch wie Fleisch. Als er begriff, um was es sich wahrscheinlich handelte, krampfte sich sein Magen zusammen, und hätte er etwas im Leib gehabt, das er hätte erbrechen können, so hätte er es bestimmt getan. Hatte Ehawk Recht gehabt? Hatten die Slinderlinge sich feinere Essgewohnheiten zugelegt? Sollte er gesotten, geröstet oder gebraten werden? Was immer sie letzten Endes beabsichtigten, im Augenblick schienen sie nicht auf ihn zu achten, also betrachtete er die Szenerie um ihn herum und versuchte, einen Sinn darin zu erkennen. Zuerst hatte er nur die riesige Lohe in der Mitte der Höhle gesehen und eine ununterscheidbare Masse von Leibern, jetzt jedoch bemerkte er Dutzende kleinerer Feuer, um die sich Slinderlinge gruppiert hatten, wie nach Clans oder Kadern geordnet. Über den meisten Feuern hingen kupferne oder gusseiserne Kessel, wie er sie auf jedem Gehöft und in jedem Dorf finden könnte. Einige der Slinderlinge rührten tatsächlich in den Töpfen, was für ihn irgendwie das Merkwürdigste war, das er bisher gesehen hatte. Wie konnten sie so völlig bar jeder Vernunft und doch zu häuslichen Verrichtungen fähig sein? Er stützte sich mit den Händen ab, kam unsicher auf die Beine und drehte sich um, während er versuchte, sich daran zu erinnern, aus welcher Richtung sie gekommen waren. Unverhofft blickte er direkt in ein leuchtend blaues Augenpaar. Erschrocken trat er zurück, und das Gesicht wurde erkennbar. Es gehörte einem Mann, wahrscheinlich um die dreißig Jahre alt. 132 Sein Antlitz war mit roter Farbe beschmiert, und sein Körper war ebenso nackt und tätowiert wie die der anderen, doch seine Augen wirkten - verständig. Stephen erkannte ihn als den Zauberer wieder, der die Äste zum Erdboden hinab gerufen hatte. Der Mann hielt eine Schale in den Händen, die er Stephen anbot. Stephen begutachtete das Gefäß; es war mit einer Art Eintopf gefüllt. Das Gericht roch gut. »Nein«, sagte er leise. »Das ist kein Menschenfleisch«, erklärte der Mann in der Sprache des Königs, mit dem ootischen Schnarren der Hochlande. »Es ist Wildbret.« »Ihr könnt sprechen?«, entfuhr es Stephen. Der Mann nickte. »Manchmal«, erwiderte er. »Wenn der Wahn sich lichtet. Esst. Ich bin mir sicher, dass Ihr Fragen für mich habt.« »Wie heißt Ihr?« Die Stirn des Mannes furchte sich. »Es scheint lange her zu sein, dass ich einen Namen hatte, der von Bedeutung war«, meinte er. »Ich bin ein dreodh. Nennt mich einfach Dreodh.« »Was ist ein Dreodh?« »Äh ... ein Führer, eine Art Priester. Wir waren diejenigen, die geglaubt haben, die die alten Bräuche am Leben erhalten haben.« »Oh«, sagte Stephen, »jetzt verstehe ich. Das vadhiianische dhravhydh bezeichnete eine Art Waldgeist. Auf Mittellierisch war ein dreufied eine Art Wilder, der im Wald hauste, eine heidnische Kreatur.« »Ich bin nicht so gelehrt darin, wie unser Name missbraucht worden ist«, entgegnete Dreodh, »aber ich weiß, was ich bin. Was wir sind. Wir bewahren die Bräuche des Dornenkönigs. Dafür ist unser Name von anderen geschmäht worden.« »Der Dornenkönig ist euer Gott?« »Gott? Heiliger? Das sind Worte. Sie haben keinerlei Wert. 133 Aber wir haben auf ihn gewartet, und wir haben Recht behalten«, sagte er bitter. »Ihr klingt nicht gerade erfreut darüber«, bemerkte Stephen. Dreodh zuckte mit den Schultern. »Die Welt ist, was sie ist. Wir tun, was getan werden muss. Esst, und wir können uns weiter unterhalten.«
»Was ist mit meinem Freund geschehen?« »Ich weiß von keinem Freund. Ihr wart das Ziel ihrer Bemühungen, niemand sonst.« »Er war bei uns.« »Wenn es Euch beruhigt, werde ich nach ihm suchen. Jetzt esst.« Stephen stocherte in dem Eintopfgericht herum. Es roch wie Wildbret, andererseits, wie roch Menschenfleisch? Er glaubte sich zu erinnern, dass es angeblich Schweinefleisch ähnelte. Und wenn es nun Menschenfleisch war, was dann? Wenn er es aß, würde er dann so werden wie die Slinderlinge? Er stellte die Schale weg und bemühte sich, nicht auf die Schmerzen in seinem Magen zu achten. Es war es nicht wert, auf keiner Ebene, die er sich vorstellen konnte. Ein Mensch konnte sehr lange ohne Nahrung auskommen. Dessen war er sich sicher. Dreodh kam zurück, warf einen Blick auf die Schale und schüttelte den Kopf. Er verschwand abermals und kehrte mit einem kleinen Lederbeutel zurück, den er Stephen zuwarf. Als dieser ihn öffnete, fand er darin trockenen, ein wenig angeschimmelten Käse und hartes, altbackenes Brot. »Traut Ihr dem hier?«, fragte er. »Ich will dem hier nicht trauen«, erwiderte Stephen. Aber er tat es dennoch, schabte den Schimmel ab und schlang das scharf riechende Zeug mit ein paar raschen Bissen hinunter. »Die, die Euch hergebracht haben - sie erinnern sich nicht an Euren Freund«, berichtete Dreodh, während Stephen aß. »Ihr müsst verstehen, wenn der Ruf über uns kommt, nehmen wir die Dinge nicht so wahr, wie Ihr es tut. Wir erinnern uns nicht.« 134 »Der Ruf?« »Der Ruf des Dornenkönigs.« »Glaubt Ihr, sie haben ihn getötet?« Dreodh schüttelte den Kopf. »Der Ruf hat nur befohlen, Euch zu finden und Euch herzubringen, nicht, zu töten und uns zu laben.« Stephen beschloss, diese Einzelheiten fürs Erste auf sich beruhen zu lassen. Er hatte eine dringlichere Frage. »Ihr sagt, die Slinderlinge wären hinter mir her gewesen. Warum?« Dreodh zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht genau. Der Gestank der Sedhmhari haftet Euch an, daher sagen uns unsere Instinkte, dass Ihr vernichtet werden solltet. Aber der Herr des Waldes denkt anders, und wir können nur gehorchen.« »Sedhmhari - dieses Wort kenne ich. Die Sefry verwenden es für Ungeheuer, wie Gryffins und Uttins.« »Genau. Ihr könntet Eurer Liste noch die schwarzen Dornen hinzufügen, die den Wald verschlingen. Alle Geschöpfe des Bösen.« »Aber der Dornenkönig ist kein Sedhmhari?« Zu Stephens Überraschung sah Dreodh völlig entgeistert aus. »Natürlich nicht«, sagte er. »Er ist ihr größter Feind.« Stephen nickte. »Und er spricht zu euch?« »Nicht so, wie Ihr es versteht«, antwortete Dreodh. »Er ist der Traum, den wir alle teilen. Fühlt er etwas, fühlen wir es auch. Bedürfnisse. Verlangen. Hass. Schmerz. Wie jedes Lebewesen versuchen wir, wenn wir Durst empfinden, diesen zu löschen. Er hat uns einen Durst nach Euch eingegeben, also haben wir Euch gefunden. Ich weiß nicht, warum, aber ich weiß, wo ich Euch hinbringen soll.« »Wohin?« »Morgen«, sagte der Slinderling und wischte die Frage mit dem Handrücken beiseite. »Darf ich selber laufen, oder muss ich wieder getragen werden?« J35 »Ihr dürft selbst laufen. Wenn Ihr Euch widersetzt, werdet Ihr getragen.« Stephen nickte. »Wo sind wir?« Dreodh gestikulierte mit der Hand. »Unter der Erde, wie Ihr seht. Eine alte Rewn, die die Halafolk verlassen haben.« »Wirklich?« Das weckte Interesse in ihm. Aspar hatte ihm von den Rewns der Halafolk erzählt, den geheimen Höhlen, wo die meisten jener sonderbaren Rasse hausten, die als die Sefry bezeichnet wurden. Die Sefry, welche die meisten Menschen kannten, waren die Kaufleute, die Gaukler und Mimen, diejenigen, die auf der Oberfläche der Erde umherzogen. Sie waren jedoch die Minderheit. Der Rest hatte bis vor kurzem in dunklen Höhlen im Königswald gelebt. Dann hatten sie die Behausungen verlassen, die sie ungezählte Jahrtausende bewohnt hatten, waren vor dem Kommen des Dornenkönigs geflohen. Aspar und Winna waren in so einer verlassenen Rewn gewesen - jetzt befand er sich anscheinend selbst in einer. »Wo ist ihre Stadt?« »Nicht weit von hier... was noch davon übrig ist. Wir haben angefangen, sie zu schleifen.« »Wieso?« »Alle Werke der Menschen und Sefry werden vernichtet werden, überall im ganzen Königswald.«
»Noch einmal, wieso?« »Weil sie nicht hier sein sollten«, sagte Dreodh. »Weil Menschen und Sefry das geheiligte Gesetz gebrochen haben.« »Das Gesetz des Dornenkönigs.« »Ja.« Stephen schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Ihr müsst doch alle einmal in einem Dorf gelebt haben, in einem Stamm. Ihr müsst im Königswald gewohnt haben, oder in seiner Nähe.« »Ja«, erwiderte Dreodh leise. »Das war unsere Sünde. Jetzt bezahlen wir dafür.« 136 »Durch welche Hexerei bringt er euch dazu? Nicht jeder gerät in seinen Bann - ich habe den Dornenkönig gesehen, und ich bin kein Slinderling geworden.« »Natürlich nicht. Ihr trinkt nicht aus dem Kessel. Ihr legt die Gelübde nicht ab.« Stephen spürte, wie seine Kehle trocken wurde, als die Welt ihn einmal mehr zu verlassen schien, ein paar Mal herumwirbelte und völlig verzerrt zurückkehrte. »Damit ich das richtig verstehe«, sagte er und gab sich Mühe, seine Empörung nicht in seiner Stimme durchklingen zu lassen. »Ihr wolltet es so? All diese Menschen dienen dem Dornenkönig aus freien Stücken?« »Ich weiß nicht mehr, was das heißt, etwas so wollen«, erwiderte Dreodh. »Nun, lasst es mich klar und deutlich ausdrücken«, entgegnete Stephen. »Mit es so wollen meine ich, eine bewusste Entscheidung treffen. Damit meine ich, habt Ihr Euch eines Tages am Kinn gekratzt und gesagt: >Bei meinem Barte! Ich glaube, ich laufe ab jetzt nackt herum wie ein Tier, verzehre das Fleisch meiner Nachbarn und hause in Höhlen unter der Erde Mit es so wollen meine ich, hättet Ihr - sagen wir - das hier nicht tun können?« Dreodh senkte den Kopf und nickte. »Und warum dann?«, brach es aus Stephen hervor. »Warum, bei den Heiligen, habt ihr euch entschieden, niedere Tiere zu werden?« »An den Tieren ist nichts Niedriges«, sagte Dreodh. »Sie sind heilig. Die Bäume sind heilig. Die Heiligen sind es, die die Verderbtheit sind.« Stephen setzte zu einem Protest an, doch Dreodh winkte ab. »Es hat jene unter uns gegeben, die schon immer die alten Bräuche gepflegt haben - seine Bräuche. Wir haben die alten Opfer dargebracht. Doch das, woran wir uns erinnerten, hatten wir nicht wahrhaftig im Gedächtnis behalten. Wir haben nicht vollkommen verstanden. Wir dachten, weil wir ihn ehrten, würden wir verschont bleiben, wenn er zurückkehrt. Aber der Dornenkönig 137 weiß nichts von Ehre, Wahrheit oder Täuschung oder von irgendwelchen menschlichen Tugenden. Sein Begreifen ist das Begreifen des Jägers und des Gejagten, der Erde und der Verwesung, der Saat und des Frühlings. Nur ein einziges Abkommen ist je zwischen ihm und unserer Rasse getroffen worden, und wir haben es gebrochen. Und daher müssen wir ihm jetzt dienen.« »Müsst ihr?«, fragte Stephen. »Aber Ihr habt doch gerade gesagt, dass Ihr eine Wahl hattet.« »Und dies hier ist das, was wir gewählt haben. Ihr hättet das Gleiche getan, wärt Ihr einer von uns gewesen.« »Nein«, entgegnete Stephen. »Das glaube ich eher nicht.« Abrupt erhob sich Dreodh. »Kommt mit. Ich werde Euch etwas zeigen.« Stephen folgte ihm und umging dabei vorsichtig die Slinderlinge. Im Schlaf wirkten sie wie normale Männer und Frauen, abgesehen von ihrem unbekleideten Zustand. Er dachte bei sich, dass er bisher nur selten eine nackte Frau zu Gesicht bekommen hatte. Einmal, als er zwölf gewesen war, hatten er und ein paar seiner Freunde durch einen Mauerspalt zugesehen, wie ein Mädchen den Kittel gewechselt hatte. In jüngerer Vergangenheit hatte er versehentlich einen Blick auf Winna erhascht, als sie gebadet hatte. Beide Male schien sich der Anblick durch seine Augen hindurchgesengt zu haben, geradewegs durch den Bauch hindurch und dorthin, wo seine Lust zu Hause war. Zu anderen Zeiten stellte schon der bloße Gedanke daran, wie eine Frau wohl unter ihren Kleidern aussehen mochte, eine heftige Ablenkung dar. Jetzt bekam er Dutzende von Frauen zu sehen, manche davon durchaus schön, alle so nackt, wie die Heiligen sie geschaffen hatten, und er empfand gar nichts, außer einer Art allgemeinem Ekel. Sie wateten durch einen flachen Wasserlauf und gerieten bald aus dem Lichtkreis heraus. »Behaltet die Hand auf meiner Schulter«, wies Dreodh ihn an. Stephen tat es und folgte ihm durch die Finsternis. Obgleich die 138 Heiligen seine Sinne gesegnet hatten, konnte er ganz ohne Licht nichts sehen. Allerdings konnte er die Form der Höhle beinahe am Hall ihrer Schritte erlauschen, und er achtete sorgsam darauf, sich die Abbiegungen zu merken, und wie viele Schritte es bis zu jeder von ihnen waren. Bald zeigte sich ein neues, bleiches Licht vor ihnen, und sie erreichten das steinige Ufer eines unterirdischen Sees, wo ein Boot auf sie wartete, vertäut an einem Kai aus poliertem Kalkstein. Dreodh bedeutete ihm hineinzusteigen, und binnen weniger Augenblicke waren sie dabei, das schwarze Wasser zu überqueren. Das Licht stammte von tanzenden Funken, wie Glühwürmchen, und im Schein ihrer kleinen Lampen nahm die Stadt Gestalt an, traumhaft und zerbrechlich. Hier schimmerte plötzlich eine Turmspitze wie der Splitter eines
Regenbogens, dort hielten hohle Fensteraugen Ausschau wie wachsame Riesen. »Das da werdet ihr zerstören?«, hauchte Stephen. »Aber es ist doch wunderschön.« Dreodh antwortete nicht. Stephen bemerkte, dass ein paar der schwebenden Lichter auf sie zukamen. »Hexenlichter«, erklärte Dreodh. »Sie sind nicht gefährlich.« »Aspar hat mir davon erzählt«, sagte Stephen und streckte die Hand nach einem der Funken aus. Sie waren wie kleine, leuchtende Rauchfetzen, Flammen ohne Substanz und ohne Hitze. Noch mehr gesellten sich zu ihnen, geleiteten sie zur anderen Seite hinüber. » Stephen vernahm bereits gedämpftes Geplapper von drüben, ob Menschen- oder Sefry-Stimmen, wusste er nicht zu sagen, doch die Stimmen waren ziemlich hoch. Als er die kleinen Gestalten am Ufer erblickte, schwach beleuchtet von den körperlosen Lichtern, begriff Stephen plötzlich. »Kinder«, flüsterte er. »Unsere Kinder«, stellte Dreodh klar. Sie stiegen ans Ufer, und ein paar der Kinder kamen zu ihnen herüber. Stephen erkannte eines davon wieder, das Mädchen von 139 vorhin bei dem Baum, das ebenfalls gesungen hatte. Sie richtete den Blick fest auf Dreodh. »Warum hast du ihn hergebracht?«, fragte sie. »Er ist gerufen worden. Ich soll ihn zu den Revesturi bringen.« »Trotzdem«, wandte sie ein und klang ungemein erwachsen, »warum bringst du ihn hierher?« »Ich wollte, dass er die Kinder sieht.« »Nun, hier sind wir«, verkündete das Mädchen. »Ehawk hat gesagt, er hätte nie Spuren von Kindern in den verlassenen Dörfern gesehen«, sagte Stephen. »Ich glaube, jetzt verstehe ich. Er hält eure Kinder als Geiseln fest, nicht wahr? Wenn ihr dem Dornenkönig nicht dient, ist das Leben eurer Kinder verwirkt.« »Sie dienen dem Dornenkönig«, erwiderte das Mädchen, »weil wir es ihnen gesagt haben.« 11. Kapitel Unterhaltung mit der Herzogin Das Geräusch von Pferdehufen im Schnee kam näher, begleitet von Gesprächsfetzen. Die Mundart hörte sich an wie die Sprache des Königs, doch im Wald klangen Geräusche oft täuschend. Aus diesem Grund - und aus vielen anderen Gründen - war Neil diesen Wald leid. Die Insel Skern, wo er geboren worden war, war ein Ort der Berge und des Meeres, doch man konnte sie der Länge und der Breite nach abschreiten, vom höchsten, felsigsten 140 asher bis zum tiefsten gleinn, und nie mehr als drei struppige Büsche an ein und demselben Fleck wachsen sehen. Diese Bäume hier machten ihn blind und taub; sie ließen ihn Entfernungen falsch einschätzen. Noch mehr als das, Neil war außerdem überzeugt davon, dass Wälder Orte des Todes waren, wo Fäulnis stets allerorten lauerte und die ältesten, verkommensten Wesen der Welt zu hausen schienen. Sollte man ihm doch die reine, offene See geben oder windzerzaustes Heideland, und dem heiligen Loy sei gedankt. Aber ich bin nun einmal im Wald, dachte er, und so wie es sieb anhört, werde ich dort auch sterben. Er kauerte sich ein wenig tiefer ins Gestrüpp. Die Pferde ihres Trupps waren in alle Winde zerstreut, wenn die Slinderlinge sie nicht aufgefressen hatten, und zu Fuß konnte keiner von ihnen gegen Berittene bestehen, mit der möglichen Ausnahme von Aspar White. Doch Neil konnte sich nicht vorstellen, dass der Waldhüter Winna ihrem Schicksal überlassen würde. Wenn dies also ein neuer Feind war - oder noch mehr von den alten -, dann würden sie sich versteckt halten oder umkommen. Und dann, als die vordersten Reiter in Sicht kamen, sah Neil rotes Haar aufleuchten und erblickte das Gesicht von Anne Dare. Die Reiter, die sie begleiteten, trugen eine Standarte, die ihm bekannt war - das Wappen von Loiyes. Erleichterung durchströmte ihn. Gerade schob er sein Schwert in die Scheide und schickte sich an, hervorzutreten und sie zu grüßen, als ihm ein Gedanke kam und ihn zurückhielt. Was war, wenn die Männer, die sie überfallen hatten, von Loiyes ausgeschickt worden waren? Was, wenn die wankelmütige Elyoner sich auf die Seite ihres Bruders, des Thronräubers, geschlagen hatte? Doch Anne schien keine Gefangene zu sein; selbstbewusst saß sie auf ihrem Pferd, die Kapuze ihres Wettermantels zurückgeschlagen. Auf ihrem Gesicht lag ein suchender Ausdruck, doch sie sah nicht ängstlich aus. Als sie und ihre neuen Begleiter die Leichen erblickten, zügelten sie ihre Pferde und hielten an. 141 »Was ist hier passiert?«, hörte er Anne fragen. »Ich kann es Euch nicht sagen, Majestät«, antwortete eine Männerstimme. »Aber Ihr solltet Euch ein derart unziemliches Gemetzel nicht ansehen.« Diesen Worten folgte ein Frauenlachen, das zwar nicht von Anne stammte, das Neil jedoch sofort wieder erkannte.
Er seufzte und erhob sich aus seinem Versteck. Seine Freude darüber, Anne lebendig und allem Anschein nach unversehrt vorzufinden, beschwichtigte sein neu erwachtes Misstrauen nicht völlig, doch er sah keinen Sinn darin, sich noch länger zu verbergen. »Euer Majestät«, rief er. »Ich bin es, Neil MeqVren.« Alle Köpfe fuhren zu ihm herum, und er hörte Bögen knarren. »Nein«, sagte Anne im Befehlston. »Das ist mein Ritter. Sir Neil, seid Ihr wohlauf?« »Das bin ich, Euer Majestät.« »Und die anderen?« Sie lächelte unsicher, dann hob sie die Hand. » Tio video, Cazio.« Neil folgte ihrem Blick und sah, dass auch Cazio aus seinem Versteck gekommen war. Er rief Anne etwas auf Vitellianisch zu, das genauso klang, wie Neil zumute war - erleichtert und überglücklich. »Was ist mit Austra?«, rief Anne dann. »Habt ihr Austra gesehen?« Doch Austra rannte bereits auf Anne zu, und die Thronerbin von Crothenien ließ alle Würde fahren, sprang vom Pferd und empfing ihre Freundin mit einer heftigen Umarmung. Augenblicklich schluchzten beide und redeten ungeheuer schnell, doch Neil konnte nicht verstehen, was sie sagten, und er versuchte es auch gar nicht. »Sir Neil«, schnurrte die Stimme, die zu dem wohl bekannten Lachen gehörte. »Was für ein wunderbarer Glücksfall, Euch wiederzusehen.« Neil folgte jener kehligen Musik zu der Lady, die sie hervorgebracht hatte. Dunkelblaue Augen neckten ihn, und ihr kleiner Mund bog sich zu einem schelmischen Lächeln. Einen Augenblick 142 lang wurde er in einen anderen Tag hineinversetzt, einen Tag, als seine Seele ihm nicht ganz so schwer erschienen und etwas von dem Jungen in ihm noch lebendig gewesen war. »Herzogin«, sagte er und verbeugte sich. »Es ist mir ebenfalls ein Vergnügen, Euch zu sehen, und noch dazu bei guter Gesundheit.« »Meine Gesundheit ist leidlich annehmbar«, erwiderte sie naserümpfend. »Ich wage zu behaupten, dass dieser Ritt durch die Kälte ihr nicht eben förderlich ist.« Doch ihr Lächeln wurde breiter. »So viele Helden von Cal Azroth sind hier versammelt«, stellte sie fest. »Aspar White und Winna Prentiss, nehme ich an.« »Mylady«, ließen sich die beiden einstimmig vernehmen. »Befinden wir uns hier in Gefahr, Sir Neil?«, erkundigte sich Anne und blickte von Austras Schulter auf. Wieder war Neil verblüfft über die Befehlsgewalt, die von ihr ausging, etwas, das er noch vor ein paar Monaten an der jungen Frau nicht bemerkt hatte. »Ich weiß von keiner unmittelbaren Bedrohung, Mylady, aber ich halte diesen Wald nicht für sicher«, erklärte er. »Die meisten der Männer, die uns aus Dunmrogh begleitet haben, sind jetzt jenseits der Wälder im Westen. Was Ihr hier seht, sind alle, die meines Wissens noch am Leben sind.« »Wo ist Frete Stephen?« Neil warf Aspar einen raschen Blick zu. »Er ist von den Slinderlingen entführt worden«, sagte der Waldhüter steif. »Er und Ehawk.« Anne spähte in den Wald, als suche sie nach den beiden jungen Männern, dann richtete sie den Blick wieder auf den Waldhüter. »Glaubt Ihr, dass sie tot sind?«, fragte sie. »Nein, das glaube ich nicht.« »Ich auch nicht«, sagte Anne. »Waldhüter White, ein Wort unter vier Augen, wenn es Euch beliebt.« Neil sah mit leisem, hilflosem Groll zu, wie seine Schutzbefohlene und der Waldhüter ein Stück von den anderen wegtraten. Es fiel ihm schwer, sie nicht zu beobachten, also wandte er sich abermals der Herzogin zu. 143 »In Glenchest steht alles zum Besten?«, erkundigte er sich. »Glenchest ist so schön wie eh und je«, antwortete sie. »Und unberührt von dem gegenwärtigen Zwist?« »Unberührt, nein. Nichts bleibt unberührt von dem unbesonnenen Handeln meines Bruders. Aber ich glaube nicht, dass er mich je für eine Bedrohung gehalten hat.« »Sollte er das tun?«, fragte Neil. Die Herzogin lächelte liebreizend. »Manche verbreiten die Ansicht, ich sei eine Bedrohung für die Tugend«, erwiderte sie. »Und ich hoffe sehr, dass ich die Feindin der Langeweile bin, wo immer ich sie antreffe. Aber mein Bruder weiß, dass ich nicht das leiseste Verlangen nach dem Thron verspüre - und nach all dem lächerlichen Stumpfsinn, der damit einhergeht. Ich bin es zufrieden, einfach unbehelligt meinem eigenen Zeitvertreib nachgehen zu können.« »Dann zieht Ihr also keinen der Anwärter dem anderen vor?« Die Herzogin hob die Hand, um ein Gähnen zu unterdrücken. »Ich hatte ganz vergessen, Sir Neil, dass hübsch und jung zu sein Euch nicht daran hindert, gelegentlich ein wenig langweilig zu sein.« »Um Vergebung, Hoheit«, sagte Neil, dem vollkommen klar war, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte. Das konnte ein gutes Zeichen sein; die Herzogin war ganz offensichtlich Herrin der Lage. Sie könnte es sich leisten, ihm ihre Absichten kundzutun, selbst wenn sie ihm nicht zusagen würden. Ein rascher Blick zeigte ihm, dass Annes Unterredung mit dem Waldhüter zu Ende war und Aspar White jetzt
auf sie zukam. »Herzogin«, sagte Aspar und machte eine recht ruppige Verbeugung. »Waldhüter. Wie geht es Euch und Eurer jungen Gefährtin?« »Recht gut, Euer Exzellenz. Und Euch?« »Ich habe ein wenig Appetit«, gurrte sie leise. »Auf Wildbret. Da ist wohl gerade nichts zur Hand, oder?« »Ah ...«, sagte Aspar. 144 »Für gewöhnlich bevorzuge ich ja etwas Zartes, mit Milch gemästet«, fügte sie hinzu, »oder wenigstens noch nicht lange entwöhnt. Aber manchmal verlangt es einen nach etwas, das ein bisschen mehr abgelagert ist, findet Ihr nicht?« »Ich bin nicht ... wegen den Slinderlingen und alldem ist das meiste Wild ... äh, Euer Exzellenz ...« »Tante Elyoner«, ging Anne dazwischen, »lass den armen Mann in Frieden. Es nützt nichts, ihn so zu quälen. Er muss jetzt fort, und er versucht lediglich, sich zu verabschieden.« »Ist das wahr?«, fragte Neil den Waldhüter. »Dann habt Ihr sie also überzeugt?« Offenkundig erleichtert, dem Gespräch eine andere Wendung geben zu können, kratzte Aspar sich am Unterkiefer und wandte sich Neil zu. »Nun ja, nein, eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ihre Hoheit hält es für das Beste, wenn Winna und ich uns auf die Suche nach Stephen machen.« »Ich wünschte, ich hätte dazu auch ein oder zwei Worte sagen können«, bemerkte Neil tonlos. Die Miene des Waldhüters verfinsterte sich, doch Anne hob die Hand, ehe er antworten konnte. »Er hat mich von überhaupt nichts überzeugt, Sir Neil. Ich habe eigene Gründe, ihn nach Frete Stephen auszuschicken.« Damit ging sie zurück zu ihrem Pferd. Neil straffte sich und war plötzlich wieder vollkommen ratlos. Königin Muriele hatte ihn oft dadurch benachteiligt, dass sie ihn nicht genug hatte wissen lassen - anscheinend würde Anne eine ähnliche Dienstherrin sein. »Es tut mir Leid«, wandte er sich an Aspar. »Ich kenne Euch noch nicht lange, aber so gut kenne ich Euch doch. Ich kämpfe auf Gelände, das mir nicht liegt, Aspar White. Das macht mich nervös.« »Ich verstehe«, erwiderte Aspar. »Aber Ihr seid für so etwas besser geeignet als ich. Ich verstehe nichts von Königshöfen oder Staatsstreichen, oder davon, mit Armeen zu kämpfen. Ich nütze 145 Euch nichts, wenn es darum geht, sie auf den Thron zu bringen. Grim, ich verstehe nicht einmal alles, was hier im Wald vor sich geht, aber ich weiß, dass hier mein Platz ist. Ich glaube, Ihre Majestät weiß das auch.« Neil nickte und ergriff seinen Arm. »Ihr seid ein guter Mann, Waldhüter. Es war mir ein Vergnügen, an Eurer Seite zu kämpfen. Ich hoffe, ich sehe Euch wieder.« »Ja«, brummte Aspar. »Nere deafleyent teuf lerne«, sagte der Ritter in seiner Muttersprache. »Mögen die Heiligen Eure Hand nicht schwächen.« »Und Ihr haltet die Augen offen«, erwiderte Aspar. Dass die Slinderlinge kein Interesse daran gehabt hatten, sie aufzufressen, hatte augenscheinlich auch für ihre Pferde gegolten, denn während sie sich unterhielten, führte Unhold die anderen Tiere ruhig zu den Versammelten. Aspar streichelte Unholds Nüstern, während die Männer der Herzogin sie mit frischem Proviant versorgten. Als das getan war, stiegen er und Winna auf. Stephens Pferd Engel am Zügel mit sich führend, ritten sie entlang der recht deutlich sichtbaren Fährte davon, und Neil blieb zurück und fühlte sich schutzloser denn je. Sobald der Waldhüter aufgebrochen war, machte sich der Rest des Trupps auf den Weg nach Glenchest. Neil hörte mit wachsendem Entsetzen zu, als Anne berichtete, was ihr zugestoßen war - ihre Entführung, ihre Flucht und wie sie in Sevoyne zum zweiten Mal gefangen genommen worden war. »Nachdem Wist mir geholfen hatte zu entkommen«, schloss sie, »haben wir uns nach Glenchest aufgemacht, sind aber geradewegs Tante Elyoner in die Arme gelaufen.« »Das war wirklich ein Glück«, meinte Neil. »Die Glaubenden müssen über Euch gewacht haben.« »Preist die Glaubenden nicht über Gebühr«, mischte Elyoner, die in Hörweite ritt, sich in das Gespräch ein. »Loiyes ist meine Provinz, und ich bin in diesem Lande aufgewachsen. Es gibt nicht 146 viele Orte, an denen ich keine Augen und Ohren habe. Man hat mir von den Männern berichtet, die euch überfallen haben. Sie sind von Osten gekommen und haben vorgegeben, sie wären eine Kompanie Soldaten, die aus den Diensten meines Vetters Artwair abkommandiert worden sei. Außerdem war mir Kunde von einem Mädchen mit rotem Haar und dem Zungenschlag hoher Geburt zu Ohren gekommen, das Sevoyne betreten hatte und dann auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Ich habe beschlossen, dass das meine persönliche Aufmerksamkeit verdient.« Sie gähnte. ' »Außerdem ist es mir in letzter Zeit entsetzlich schwer gefallen, Zerstreuung zu finden. Seit einer Ewigkeit hat mich niemand Interessantes mehr besucht, und ich bin nicht gerade besonders angetan von dem gegenwärtigen Hofstaat in Eslen.« Nachdenklich neigte sie den Kopf zur Seite. »Obwohl ich gehört habe, dass dort während der
Festtage ein recht interessantes Musikstück aufgeführt worden ist.« »Ihr habt neue Nachrichten vom Hofe?«, fragte Neil eifrig. Er hoffte, sie hätte auch noch nützlichere Neuigkeiten. »Dummes Ding«, tadelte Elyoner. »Natürlich.« Neil wartete, doch das schien alles zu sein, was die Herzogin zu äußern beabsichtigte. »Es ist ein langer Ritt nach Glenchest, Tante Elyoner«, sagte Anne schließlich. »Du könntest es ihm erzählen.« »Aber Liebes, das bin ich doch schon alles mit dir durchgegangen«, beklagte sich Elyoner. »Du willst doch nicht, dass man mir nachsagt, ich würde mich wiederholen, oder?« »Ich könnte es durchaus ertragen, es noch einmal zu hören«, entgegnete Anne. »Ich bin jetzt viel wacher.« »Du meinst wohl nüchterner.« »Ja, was das betrifft«, hakte Neil nach. »Dieser Bursche, dieser Wist. Was ist aus ihm geworden?« »Wir haben ihn selbstverständlich geköpft«, antwortete die Herzogin fröhlich. 147 »Oh«, sagte Neil. »Ihr habt ihn doch vorher verhört, hoffe ich?« »Wieso hätte ich das tun sollen?«, fragte die Herzogin. »Sie treibt schon wieder ihre Scherze mit Euch, Sir Neil«, beschwichtigte Anne. »Er ist gleich dort drüben, unter Bewachung -seht Ihr?« Neil schaute sich um und sah einen Mann mit mürrischem Gesicht auf einer braunen Stute sitzen, aufmerksam bewacht von Soldaten. »Ah.« »Und, soll ich Euch jetzt mit den Zuständen bei Hofe langweilen?«, erkundigte sich Elyoner. »Bitte tut das, metreine.« Sie seufzte. »Nun, Schwarz ist dort die Farbe, heißt es. Angeblich, weil der Hof Trauer trägt, aber es ist seltsam, dass darauf eigentlich gar nicht geachtet wurde, bis Prinz Robert wieder aufgetaucht ist, und dabei war er doch einer von denen, um die getrauert wurde! Nein, ich glaube, in Wirklichkeit liegt es daran, dass der Prinz Schwarz trägt. Obgleich ich ihn jetzt wohl König nennen sollte.« »Thronräuber reicht vollkommen«, bemerkte Anne. »Und Königin Muriele?« Neil gab sich Mühe, seine Stimme nicht gepresst klingen zu lassen; er fürchtete sich davor, die Antwort zu erfahren. »Wie geht es Mylady? Habt Ihr Kunde von der Königin?« »Muriele?«, erwiderte Elyoner. »Nun, sie ist in einem Turm eingekerkert, wie diese Zwiebelmaid in dem PhayMärclien.« Neil spürte, wie sein Herzschlag sich verlangsamte. »Aber sie lebt?« Elyoner tätschelte seinen Arm. »Meine Berichte sind ein paar Tage alt, aber es wurde keine Hinrichtung durchgeführt, und es ist auch keine angesetzt worden. Das wäre ein schlechter Spielzug von Robert. Nein, ich bin sicher, er führt etwas anderes im Schilde.« »Wie genau ist das alles geschehen? Wie hat die Königin die Kontrolle verloren?« 148 »Nun, wie nicht}«, fragte Elyoner zurück. »Nachdem der König ermordet worden war, hatte Muriele wenig Verbündete, auf die sie zählen konnte. Charles hat natürlich den Thron bestiegen, aber auch wenn Charles ein reizender Junge ist, weiß doch das ganze Reich, dass er ... nun ja, von den Heiligen berührt worden ist.« Neil nickte. Der wahre Thronerbe besaß die Gestalt eines erwachsenen Mannes, aber den Verstand eines Kindes. »Damit war Muriele die Macht, die hinter dem König stand. Aber es gab noch viele andere, die diese Rolle gern gespielt hätten - Praifec Hespero, jede Menge Adlige aus dem Comven, Fürsten aus Hansa, Liery und Virgenya. Und dann war da noch Lady Gramme, die ihren eigenen Anwärter auf den Thron hat.« »Meinen Halbbruder«, murmelte Anne. »Unehelich, aber nichtsdestotrotz vom Blute der Dares«, sagte Elyoner. »Auf jeden Fall hätte Muriele Charles vielleicht auf dem Thron halten können, aber sie hat mehr als nur ein paar Fehltritte begangen. Sie hat ihre Leibwache durch Krieger aus Liery ersetzt, unter dem Befehl ihres Onkels, eines Herzogs von dort.« »Ich kenne Sir Fail«, sagte Neil. »Er ist mein Schirmherr.« »Fast ein Vater, hat man mir gesagt«, bemerkte Elyoner. »Ihr werdet wissen wollen, dass auch er am Leben ist und in Sicherheit.« Neil spürte, wie sich seine Muskeln noch mehr lockerten. »Danke«, sagte er. Er vermisste Sir Fail mehr, als er es jemals ausdrücken konnte. Nie hatte er den Rat des alten Mannes dringender gebraucht als in den letzten paar Monaten. »Nun, wie auch immer«, fuhr Elyoner fort, »das wurde als Zeichen angesehen, dass sie vorhatte, den Thron ihren lierischen Verwandten von jenseits des Meeres zu übergeben. Dann sind ihre Männer bei einem Ball auf dem Landgut der Lady Gramme eingedrungen. Diejenigen, die dort versammelt waren, waren zum größten Teil Landwaerde, keine Edelleute, aber -« »Landwaerde?«, fragte Neil. 149 Die Herzogin sah ihn blinzelnd an. »Ja. Wieso?«
»Ich, äh, ich habe keine Ahnung, was das ist.« »Ach, mein Lämmchen«, sagte Elyoner. »Adlige Blutlinien regieren, versteht Ihr - der König das Land, die Erzgreffte die Grefftschaften, die Herzöge und Herzoginnen die Herzogtümer, und so weiter. So ist es in den meisten Ländern, und in den meisten Gegenden Crotheniens. Aber in der Provinz von Neuland -wo Eslen liegt sind die Dinge ein wenig anders. Es liegt unterhalb des Meeresspiegels, wisst Ihr. Die Malenden, die das Wasser hinauspumpen, müssen ständig arbeiten, die Deiche müssen instand gehalten werden. Seit Jahrhunderten hat die Krone jenen Land verliehen, die sich als fähig erwiesen haben, alles in Ordnung zu halten. Das sind die Landwaerde. Die meisten von ihnen sind vermögender als der Adel, sie befehligen Truppen, und sie genießen normalerweise das Vertrauen der Menschen, die auf ihrem Land leben und arbeiten. Kurz gesagt, sie sind eine Macht, die man berücksichtigen muss, aber der Hof ist ihnen seit mehr als einem Jahrhundert mit Gleichgültigkeit begegnet. Lady Gramme hat sie umworben, hat versucht, sie dazu zu bringen, ihren Anspruch auf den Thron zu unterstützen, daher hat Muriele sich ihren Zorn zugezogen, als sie Grammes Fest überfallen hat. Und dann ist mein armer toter Bruder Robert aufgetaucht - mitnichten so tot, wie allgemein angenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Muriele keine offenkundigen Freunde mehr außer ihren lierischen Wachen; die Adligen haben alle Robert den Vorzug vor Charles gegeben, und die Kirche ebenfalls. Der einzige weitere Erbe war Anne - und niemand wusste, wo sie war. Muriele hat ein großes Geheimnis daraus gemacht, wo sie sie hingeschickt hatte. Ich denke, Fastia hat es gewusst...« Ihre Züge wurden weicher, und Neil nahm an, dass man seiner Miene etwas hatte anmerken können. »Es tut mir Leid, mein Lieber«, sagte Elyoner, und ausnahmsweise klang ihr Mitgefühl durchaus echt. »Ich hätte sie nicht erwähnen sollen.« 150 »Wieso denn?«, fragte Anne abrupt. Neil blickte weg; er fühlte sich plötzlich unbehaglich und versuchte, aus dem Wirrwarr seiner Gedanken etwas herauszusuchen, was er sagen könnte. »Ich hätte nicht davon anfangen sollen«, wiederholte Elyoner. »Fürs Erste nichts mehr über die, die von uns gegangen sind.« »Nein, schon gut. Ich glaube, ich verstehe«, sagte Anne. Ihr Ton war ausdruckslos, und Neil konnte nicht erkennen, ob sie zornig war oder nicht. »Auf jeden Fall«, setzte die Herzogin ihren Bericht fort, »hat Muriele die Lage hinlänglich erfasst, um Charles mit Sir Fail und ihrer lierischen Leibwache fortzuschicken ... und auch die Handwerksmeister, die ihr anscheinend immer noch treu ergeben sind, trotz der Behandlung, die sie ihnen hat angedeihen lassen. Sir Fail hat Charles nach Liery gebracht, wo er fürs Erste in Sicherheit ist.« »Und was ist mit den Handwerksmeistern?«, wollte Neil wissen. Elyoners rechte Braue hob sich. »Nun, seht Euch doch um, Sir Neil.« Neil tat es. Von Anfang an waren ihm vage bekannte Gesichter unter Elyoners Wachen aufgefallen, doch er hatte gedacht, es läge daran, dass er ihrer Leibwache schon einmal begegnet war. Jetzt wurde ihm klar, dass einige von ihnen in der Tat Männer waren, die er zum ersten Mal in Eslen gesehen hatte. »Sie tragen ihre Farben nicht«, bemerkte er. »Sie sind geächtet«, erwiderte Elyoner. »Es erschien mir voreilig, dass sie sich zu Zielscheiben machen sollten, bevor sie etwas haben, wofür sie kämpfen können, und jemanden, der sie anführt.« Neil nickte. Er war selbst ohne Standarte unterwegs gewesen, damals in Vitellio. »Dann hat sich die Königin also ihres Schutzes beraubt?« »Genau. Sie muss gewusst haben, dass sie keine Möglichkeit hatte, den Staatsstreich abzuwehren, also hat sie ihre Männer fortgeschickt, dorthin, wo sie am meisten nützen würden - außerhalb I51 der Stadtmauern. Jedenfalls, daraufhin hat Robert sie in den Turm gesperrt. Hin und wieder holt er sie heraus und führt sie vor, um zu zeigen, dass sie noch am Leben ist.« »Wenn die Königin so unbeliebt geworden ist, warum sollte es ihn dann kümmern, ob die Menschen das wissen?« Elyoner lächelte schwach. »Weil sich etwas höchst Merkwürdiges ereignet hat. Die Aufführung irgendeines Musik-Bühnenstücks - ich habe es vorhin schon erwähnt. Irgendwie hat das viele der Landwaerde wieder auf Murieles Seite und die ihrer Kinder gebracht. Zum Teil, weil die Tochter einer der Landwaerd-Familien daran beteiligt war und von Robert wegen Verrats verhaftet wurde. Außerdem hat der Praifec sie wegen Ketzerei und Hexenkunst verdammt, zusammen mit dem Komponisten des Stücks -ein Mann, der schon vorher als Held von Neuland sehr beliebt war. Robert neigt dazu, gelegentlich mehr aus Wut als aus Vernunft zu handeln, fürchte ich. Jetzt muss er feststellen, dass die Landwaerde ihn eigentlich doch nicht mögen.« »Dann haben wir eine Chance«, sagte Neil. »Wie viele Männer befehligen diese Landwaerde?« »Ihre Milizen zählen alle zusammen achttausend, hat man mir berichtet«, antwortete Elyoner. »Robert kann vielleicht zwölftausend Mann um sich scharen, von den Edelleuten, die ihm weiterhin treu ergeben sind. Die Adligen im Osten und entlang des Waldes sind zu sehr damit beschäftigt, gegen Slinderlinge - und noch seltsamere Wesen - zu kämpfen, als dass sie Truppen entbehren könnten, um entweder Robert oder seinen Widersachern zu helfen.«
»Was ist mit Hornladh und den Midenlanden?« »Ich denke, es könnte Anne gelingen, ein Heer aufzustellen, das der Armee, die Eslen verteidigt, ebenbürtig ist«, sagte Elyoner. »Wir werden sehr bald mehr darüber hören.« »Nun«, grübelte Neil, »dann können wir wirklich gegen sie antreten.« »Nur, wenn Ihr es sehr bald tut«, entgegnete Elyoner. 152 »Wieso das?« »Weil Muriele den Thronerben von Hansa heiraten soll, Prinz Berimund. Es ist bereits alles verkündet worden. Wenn diese Vermählung stattfindet, kann Hansa Truppen schicken, ohne den Unwillen der Kirche zu riskieren. Tatsächlich hat Robert sich bereits damit einverstanden erklärt, dass z'Irbina fünfzig Ritter der Kirche - und ihre Wachen - in Eslen postiert, um jegliche Verfügung von Fratrex Prismo durchzusetzen. Ihr könnt nicht gegen Robert, Hansa und die Kirche kämpfen.« »Und Ihr, Herzogin? Welche Rolle werdet Ihr bei alldem spielen?«, fragte Neil. »Für jemanden, der es mit keiner der beiden Seiten halten wird, scheint Ihr ungemein interessiert an den kleinsten Einzelheiten dieses Zwists zu sein.« Elyoner lachte leise. Es war ein seltsamer Laut, gleichzeitig kindlich und abgeklärt. »Ich habe niemals behauptet, ich hätte nicht Partei ergriffen, mein Täubchen«, erwiderte sie. »Es ist nur so, dass ich die Frage meiner Gefolgschaftstreue langweilig finde, genau wie den Rest dieser Angelegenheit. Krieg liegt mir nicht besonders. Wie gesagt, ich will hauptsächlich in Ruhe gelassen werden, um zu tun, was mir gefällt. Mein Bruder versichert mir, dass dies der Fall sein könne, solange ich seine Anweisungen befolge.« In Neils Kopf lautete eine Alarmglocke. »Und diese Anweisungen lauten ...?«, fragte er. »Sie waren recht eindeutig«, erwiderte die Herzogin. »Wenn Anne auf meiner Schwelle erscheint, soll ich sicherstellen, dass sie augenblicklich und für alle Zeit verschwindet - sie und alle, die sie begleiten.« 153 12. Kapitel Kinder des Wahnsinns Stephen warf Dreodh einen raschen Blick zu, doch der Mann widersprach der Behauptung des Mädchens nicht. »Ihr habt eure Eltern geheißen, Slinderlinge zu werden?«, fragte Stephen und versuchte, irgendeine Möglichkeit zu finden, dieser Erklärung einen Sinn zu geben. »Warum?« Stephen betrachtete das Mädchen forschend, suchte nach einem Anzeichen dafür, dass sie etwas anderes war, vielleicht eine alte Seele, die in einen jungen Körper verpflanzt worden war, oder ein Geschöpf, das einem Menschen nur so weit ähnelte, wie ein Kolibri einer Biene glich. Alles, was er sah, war jedoch jener eigentümliche lange Moment, der zwischen Kind und Frau schwebte. Anders als die Erwachsenen waren die Kinder nicht nackt; das Mädchen trug einen einfachen gelben Kittel, der an ihr hing wie eine schmale Glocke. Ein wenig verblasste Stickerei am Saum der Ärmel zeigte, dass irgendjemand Mutter, Großmutter, Schwester, vielleicht auch die Kleine selbst - irgendwann einmal versucht hatte, das Kleidungsstück hübscher zu machen. Sie war schlank, doch ihre Hände, ihr Kopf und die in Schuhen aus Rindleder steckenden Füße wirkten zu groß. Ihre Nase war ein kleines, geschwungenes Gefälle - noch immer eine Kindernase -, aber ihre Wangenknochen begannen bereits, ihr Gesicht zu dem einer Frau anzuheben. Im blassen Licht schienen ihre Augen haselnussbraun zu sein. Ihr braunes Haar war oben auf dem Kopf und an den Spitzen heller. Und er konnte sie sich leicht auf einer Wiese vorstellen, mit einer Kette aus Kleeblättern, wie sie herumwirbelte, sodass ihr Kittel sich bauschte wie ein Ballkleid. »Der Wald ist krank«, erklärte das Mädchen. »Die Krankheit 154 breitet sich aus. Wenn der Wald stirbt, stirbt die Welt. Unsere Eltern haben das uralte Gesetz gebrochen und mitgeholfen, diese Krankheit über die Bäume zu bringen. Wir haben sie gebeten, alles wieder gutzumachen.« »Als Ihr das Hörn geblasen habt, habt Ihr den Dornenkönig herbeigerufen, damit er sein Werk in der Welt verrichtet«, erklärte Dreodh. »Aber sein Weg wurde schon seit Generationen bereitet. Vor zwölf Jahren haben wir Dreothen die alten Riten gesungen und die sieben Opfer dargebracht. Zwölf Jahre - der Herzschlag einer Eiche -, so lange hat die Erde gebraucht, um ihn endlich freizugeben. Und in diesen zwölf Jahren ist jedes Kind, das auf dem geheiligten Grund und Boden des Waldes zur Welt gekommen ist, aus einem Schöße geboren worden, der von Schierling und Eiche liebkost worden war, von Esche und Mistel. Als sein Kind. Als er erwacht ist, sind sie erwacht.« »Wir wussten, was wir tun mussten, alle auf einmal«, sagte das Mädchen. »Wir haben unser Zuhause verlassen, unsere Städte und Dörfer. Die, die zum Laufen zu klein waren, haben wir getragen. Als unsere Eltern uns gefolgt sind, haben wir ihnen gesagt, wie es sein würde. Manche haben sich gesträubt - sie wollten den Met nicht trinken und das Fleisch nicht essen. Aber die meisten haben getan, worum wir sie gebeten haben. Jetzt sind sie seine Armee, sein Heer, das den Wald von der Verderbnis säubern wird.« »Met?«, fragte Stephen. »Ist es das, was in den Kesseln ist? Ist es Met, was ihnen die Sinne raubt?« »Met ist ein gebräuchliches Wort«, sagte Dreodh, »aber es stammt nicht von Honig ab. Es ist Oascef, das Wasser des Lebens, es ist Oasciaodh, das Wasser der Poesie. Und es raubt uns nicht die Sinne - es stellt sie wieder her.
Es gibt uns dem Wald zurück, und der Gesundheit.« »Tatsächlich?«, sagte Stephen. »Die Slinderlinge, die mich hergebracht haben, schienen ziemlich ... verrückt zu sein. Dieses Oascef wird nicht zufällig aus einem Pilz gemacht, der dem Glied eines Mannes ähnelt, oder?« 155 »Was Ihr Wahnsinn nennt, ist göttlich«, erwiderte das Mädchen, ohne auf seine Frage einzugehen. »Er in uns. Es gibt weder Furcht noch Zweifel, weder Schmerz noch Verlangen. In diesem Zustand können wir seine Worte vernehmen und seinen Willen erkennen. Und nur er kann diese Welt vor dem Fieber retten, das an ihren Wurzeln empor kriecht.« »Dann verstehe ich wohl nicht«, sagte Stephen. »Ihr sagt, ihr habt euch entschieden, das zu werden, was ihr seid, dass die unaussprechlichen Dinge, die ihr tut, gerechtfertigt sind, weil die Welt krank ist. Nun gut - was ist das für eine Krankheit? Was genau bekämpft ihr?« Dreodh lächelte. »Jetzt habt Ihr angefangen, die richtigen Fragen zu stellen. Jetzt fangt Ihr an zu verstehen, warum er nach Euch gerufen und befohlen hat, dass Ihr zu uns gebracht werdet.« »Nein, das tue ich nicht«, widersprach Stephen. »Ich fürchte, ich verstehe ganz und gar nicht.« Dreodh zögerte, dann nickte er mitfühlend. »Und wir sind auch nicht diejenigen, die es Euch erklären. Aber wir werden Euch zu dem bringen, der das tun wird. Morgen.« »Und bis dahin?« Dreodh zuckte die Achseln. »Dies hier ist das, was von der Halafolk-Siedlung noch übrig ist. Im Laufe der Zeit wird es zerstört werden, aber wenn Ihr wünscht, es zu erkunden, nur zu. Schlaft, wo Ihr wollt - wir werden Euch finden, wenn die Zeit gekommen ist.« »Kann ich eine Fackel haben, oder -« »Die Hexenlichter werden Euch begleiten«, sagte Dreodh. »Und die Häuser haben ihre eigene Beleuchtung.« Stephen ging durch die dunklen, schmalen Straßen und versuchte, sich darüber klar zu werden, was das Vordringlichste war, doch er sah sich von der Stadt in ihren Bann gezogen. Die Straße wurde zu beiden Seiten von zwei-, drei-, manchmal sogar vierstöckigen Gebäuden gesäumt. Sie waren unglaublich schmal, viele Seite an Seite miteinander verbunden, andere durch schmale Gassen vonei156 nander getrennt. Obgleich aus Stein errichtet, hatten sie etwas Spinnwebartiges, und dort, wo die Hexenlichter dicht an sie herantrieben, schimmerten sie wie polierter Onyx. Die ersten paar Bauwerke waren von weiteren Kindern bewohnt. Er konnte Gelächter hören, Gesang und das leise Wispern der Schlafenden. Wenn er seine Sinne anspannte, konnte er das Gemurmel von mindestens tausend von ihnen vernehmen, wenn nicht mehr. Ein paar der ganz Kleinen weinten, doch abgesehen davon hörte er nichts, was er als Angst, Schmerz oder Verzweiflung bezeichnet hätte. Er konnte sich nicht sicher sein, wie viel von dem, was das Mädchen und Dreodh ihm erzählt hatten, wahr war, doch eins schien gewiss: Diese Kinder waren keine Gefangenen - jedenfalls keine Gefangenen von etwas, wovor sie sich fürchteten. Stephen drang tiefer in die uralte Stadt vor, suchte die Einsamkeit. Ihm war klar, dass er nach einem Fluchtweg Ausschau halten sollte, doch es schien unwahrscheinlich, dass seine Häscher ihm erlauben würden, frei umherzuwandern, wenn es eine Möglichkeit gäbe zu entkommen. Außerdem war er im Moment zu neugierig, um wirklich entkommen zu wollen. Wenn Dreodh die Wahrheit sagte, waren Aspar und Winna in Sicherheit, zumindest vor den Slinderlingen. Wenn er log, waren seine Freunde beinahe sicher bereits tot. Er glaubte das nicht -wollte es nicht glauben oder auch nur zu viel darüber nachdenken -, bis er irgendeinen Beweis dafür hatte. Aber die Gelegenheit, mehr darüber herauszufinden, was hier eigentlich vorging, was der Dornenkönig wollte - nun, das war es doch, worauf sie alle aus waren, nicht wahr? Wie hätte er dabei von Nutzen sein sollen, einer Prinzessin zu helfen, ihren Thron zurückzuerobern? Er war kein Krieger oder Schlachtenplaner. Er war ein Gelehrter mit Interesse für die Vergangenheit und für herkömmliche und unbekannte Sprachen. Gewiss kann ich hier mehr ausrichten, als wenn ich nach Eslen marschiere. 157 Von seiner Neugier geleitet, versuchte er sich an einer der Türen. Sie war aus Holz und nicht allzu alt. Die Halafolk, überlegte er, mussten ständig Handel mit ihren Nachbarn an der Oberfläche getrieben haben. Schließlich hatten sie essen müssen, und wenngleich unterirdische Seen vielleicht ein paar Fische hervorbringen mochten und irgendwelche Pflanzen vielleicht ohne Sonnenlicht angebaut werden konnten, so musste doch das meiste ihrer Lebensmittel von dort oben gekommen sein. Stephen überlegte kurz, wie dieser Handel wohl zustande gekommen war, während die genaue Lage der Rewns geheim gehalten worden war, doch die Antwort lag so klar auf der Hand, dass er sich für die drei Herzschläge, die er darüber nachgedacht hatte, töricht vorkam. Die Sefry. Diejenigen, die oben umherzogen, in ihren Planwagen - sie waren die Versorger. Die Tür schwang leicht nach innen auf und gab den Blick auf eine Behausung aus Stein frei. Die Wohnstatt roch ein wenig pfeffrig. Der harte Fußboden wurde durch einen Teppich gedämpft, der aus Wolle gewoben zu sein schien. Konnten Schafe unter der Erde leben? Er bezweifelte es. Das Muster war vage vertraut, ein bisschen wie die bunten, abstrakten Kringel, die auf die Wagen und Zelte der Sefry gemalt waren. Vier Kissen bildeten einen
lockeren Kreis um einen niedrigen runden Tisch. In einer Ecke wartete ein Webstuhl geduldig auf einen Weber. War der Teppich darauf gefertigt worden? Nahe stehende Weidenkörbe quollen über von Garnsträngen und hölzernen Werkzeugen, die er nicht kannte. Der Raum wirkte recht wohnlich, so als hätten die Halafolk nicht viel mitgenommen, als sie aufgebrochen waren. Wo waren sie hingegangen? Waren sie vor dem Dornenkönig geflohen oder vor der geheimnisvollen Krankheit, von der Dreodh sprach? Nicht lange, nachdem sie sich begegnet waren, hatte Aspar etwas davon gesagt, dass der Wald sich für ihn »krank anfühle«. Aspar hatte sein ganzes Leben im Pulsschlag der Wälder gelebt, er sollte es also wissen. 158 Dann waren sie auf den Gryffin gestoßen, eine so giftige Bestie, dass schon ihr Fußabdruck töten konnte, und bald darauf waren die schwarzen Dornen in den Spuren des Dornenkönigs emporgesprossen und gewachsen, um alles Leben zu ersticken, das sie überwucherten. Dann waren noch mehr Ungeheuer aus Schwarzen Marys erschienen - Uttins, der Nicwer - »Sedhmhari« hatte Dreodh sie genannt. Die beste Übersetzung, die Stephen dafür zustande brachte, war »Sedos-Dämon«. Wandelten die Ungeheuer wie die menschlichen Priester auf den Pfaden der Schreine und erhielten Gaben von ihnen? Besonders irgendetwas an den Uttins machte ihm zu schaffen. Er wäre beinahe von einem getötet worden, doch mittlerweile wäre er schon von etlichen Geschöpfen beinahe getötet worden. Nein, es war noch etwas anderes. Dann begriff er, was ihn Umtrieb. Der Uttin, der ihn angefallen hatte, war der Einzige gewesen, dem er jemals begegnet war, doch aus irgendeinem Grund dachte er in der Mehrzahl an sie. Es hatte nur einen Gryffin gegeben, obgleich Aspar noch einen gesehen hatte, nachdem er den ersten zur Strecke gebracht hatte. Doch niemand, den er kannte, hatte mehr als eines dieser Ungetüme auf einmal zu Gesicht bekommen. Warum also dachte er Uttins anstatt Uttin? Er schloss die Augen, beschwor das Erinnerungsvermögen herauf, mit dem der heilige Decmanus ihn beschenkt hatte, dachte an den Augenblick zurück, als die Slinderlinge angegriffen hatten. In dem Durcheinander war noch etwas anderes gewesen ... Da. Jetzt konnte er es deutlich sehen, als hätte ein peinlich genauer Künstler die Szene für ihn gemalt. Er blickte über die Schulter, während er Winna in den Baum hinaufstieß. Dort war Aspar, fuhr, das Messer in der Hand, herum. Dahinter waren die Slinderlinge, die aus dem Wald hervorbrachen. Doch was schaute Aspar an? Nicht die Slinderlinge ... Es war am Rande von Stephens Blickfeld gewesen; er sah nur die Glieder und ein Stück des Kopfes, doch die Kreatur war unver159 wechselbar. Dort war ein Uttin gewesen, dicht vor den Slinderlingen. Vielleicht mehr als einer. Was war dann mit ihnen geschehen? Hatten die Slinderlinge sie getötet, oder machten die Uttins gemeinsame Sache mit den Slinderlingen? Letzteres schien nicht wahrscheinlich. Der Gryffin, der erste Uttin, der Nicwer, auf den sie im Fluss bei Whitraff gestoßen waren, die schwarzen Dornen ... Die schwarzen Dornen wuchsen in den Fußspuren des Dornenkönigs, und doch klammerten sie sich so bösartig an ihn, als strebten sie danach, über ihn hinwegzuwuchern, ihn in die Erde hinabzuzerren. Aspars Worten zufolge war er tatsächlich einst von ihnen gefangen gehalten worden, in einem in den Hasenbergen verborgenen Tal. Slinderlinge waren über die Männer hergefallen, die überall im Wald auf den Sedos-Hügeln Menschenopfer dargebracht hatten, und hatten sie niedergemacht, und diese Männer schienen mit dem Gryffin im Bunde zu sein - sie waren die einzigen Geschöpfe, die sich in seiner Nähe aufhalten konnten, ohne todkrank zu werden. Nein, verbesserte er sich stumm. Die abtrünnigen Mönche waren nicht die Einzigen, die immun gegen das Gift des Gryffin waren. Er selbst war dem Blick eines Gryffin ausgesetzt gewesen und hatte keinerlei ungute Nachwirkungen verspürt. Auch Aspar schien zumindest mehr davon vertragen zu können, seit der Dornenkönig ihn von der Berührung des Ungeheuers geheilt hatte. Was bedeutete das also? Lag es daran, dass er den Pfad der Schreine beschritten hatte? Waren alle geweihten Priester immun gegen Sedhmhari? Die Heiligen sind es, die die Verderbtheit sind, hatte Dreodh behauptet. Wenn die Slinderlinge das Heer des Dornenkönigs waren, waren die Ungeheuer, die ihnen begegnet waren, auch Teil irgendeiner Streitmacht - der Armee des Widersachers des Dornenkönigs. Doch wer konnte das sein? 160 Die natürlichste Antwort war die Kirche. Er wusste, dass die verkommenen Mönche Freunde von so hohem Rang hatten wie den Praifec von Crothenien, Marche Hespero. Ihr Einfluss mochte durchaus noch höher hinaufreichen. Doch selbst wenn Fratrex Prismo höchstpersönlich daran beteiligt war - hieß das, dass er der Gebieter des Gryffin war? Oder war er lediglich ein weiteres Ungeheuer, das einer noch größeren Macht diente? Er dachte an alles zurück, was er über den Dornenkönig gelesen hatte, versuchte sich daran zu erinnern, wer
seine Feinde sein sollten, doch nur wenige Quellen hatten irgendwelche Feinde erwähnt. Der König entstammte der Zeit vor den Heiligen, vor der Menschheit, vielleicht sogar vor den Skasloi, die die Rasse der Menschen und die der Sefry in uralten Zeiten versklavt hatten. Er erschien als Vorbote des Endes aller Zeitalter. Wenn der König Feinde hatte, so mussten es wohl - wie Dreodh angedeutet hatte - die Heiligen selbst sein. Und das brachte ihn wieder zur Kirche zurück, oder nicht? Nun, man hatte ihm für morgen Aufklärung versprochen. Er war nicht naiv genug zu glauben, dass alle seine Fragen beantwortet werden würden, doch wenn er überhaupt mehr erfuhr, als er wusste, wäre das immerhin etwas. Er schritt eilig weiter durch das Halafolk-Haus, und da er nichts fand, was seine Aufmerksamkeit wirklich gefesselt hätte, verließ er es wieder und schlenderte weiter in die dem Untergang geweihte Stadt hinein. Dabei überquerte er Brücken über stille Kanäle, alles halb sichtbar im Hexenlicht. Das ferne Kinderschwatzen war von einem atonalen, rhythmischen Sprechgesang abgelöst worden, noch weiter entfernt; wahrscheinlich kam es aus der ersten Höhle, in die man ihn gebracht hatte. Rüsteten sich die Slinderlinge für einen neuerlichen Streifzug? Tranken sie ihren Met und steigerten sich in ihren Blutdurst hinein? Die Straße senkte sich abwärts, und er folgte ihr, hoffte vage, ir161 gendeine Art Scriftorium zu finden - eine Verwahrungsstätte für die Schriften der Sefry. Ihre Rasse war uralt sie war unter den Ersten gewesen, die von den Skasloi versklavt worden waren. Es war gut möglich, dass sie Dinge aufgezeichnet hatten, die bei den anderen Rassen in Vergessenheit geraten waren. Während er überlegte, wie ein Sefry-Scriftorium wohl aussehen mochte, ging Stephen auf, dass er noch nie irgendetwas von Sefry Geschriebenes gesehen hatte; ebenso wenig hatte er jemals von einer eigenen SefrySprache gehört. Sie neigten dazu, sich der Mundart des jeweiligen Ortes zu bedienen, an dem sie lebten. Sie hatten eine Art eigenen Dialekt, benutzten ihn jedoch nur selten. Aspar hatte Stephen einmal etwas davon vorgesprochen, und Stephen hatte Wörter aus ungefähr fünfzehn verschiedenen Sprachen wieder erkannt, aber nicht ein einziges, das wirklich eigenständig geklungen hätte. Die Vermutung drängte sich auf, dass sie vor so langer Zeit versklavt worden waren, dass ihnen jegliche Sprache, die sie vielleicht einst besessen hatten, verloren gegangen war und sie stattdessen jenes gebrochene Kauderwelsch gesprochen hatten, das die Skasloi für ihre Sklaven geschaffen hatten. So verhasst war ihnen diese Sprache gewesen, dass sie sie abgelegt hatten, sobald ihre Herren alle tot gewesen waren, und stattdessen die Mundart ihrer menschlichen Zeitgenossen angenommen hatten. Es schien vollkommen nahe liegend. In verschiedenen Büchern hatte er gelesen, dass die Sprache der Skasloi von menschlichen Kehlen und Zungen nicht wiedergegeben werden konnte, also hatten sie eine Mundart ersonnen, die sowohl von ihnen selbst als auch von ihren Sklaven gesprochen werden konnte. Menschliche Sklaven mussten sich alle jenes Kauderwelschs bedient haben, doch viele hatten sich ihre eigene Sprache erhalten, um sich untereinander verständigen zu können. Und doch war fast kein Wort dieser Sklavensprache in irgendeinem modernen Dialekt erhalten geblieben. Virgenya Dare und ihre Anhänger hatten sämtliche Werke der Skasloi den Flammen 162 überantwortet und die Sprache der Sklaverei verboten. Sie lehrten sie ihre Kinder nicht, und so starb das Kauderwelsch aus. Skaslos war vielleicht das einzige Wort jener Sprache, das überdauert hatte, überlegte Stephen, und selbst dieser Begriff zeigte die Einzelform »os« und die Mehrzahl »oi«, die dem älteren Cavari eigen war, einer Menschensprache. Vielleicht war sogar der Name jener Dämonenrasse vergessen worden. Er hielt inne und fand sich vor einem Kanal wieder, der breiter war als die, die er bisher überquert hatte. Seine Haut kribbelte, als ihm ein unheiliger Gedanke kam. Was, wenn die Skasloi nicht alle umgekommen waren? Was war, wenn sie, wie die Gryffins, Uttins und Nicwers, lediglich irgendwo anders hingegangen waren, um ein sehr langes Schläfchen zu halten? Was war, wenn diese Krankheit, dieser Widersacher, der älteste Feind von allen war? Stunden später nahm er diesen beunruhigenden Gedanken mit in den Schlaf, auf einer Matratze, die nach Sefry roch. Er erwachte von einem heftigen Stoß in die Rippen und erblickte das Mädchen, das auf ihn herabstarrte. »Wie heißt du?«, murmelte er. »Starqin«, antwortete sie. »Starqin Walsdootr.« »Starqin, ist dir klar, dass eure Eltern sterben?« »Meine Eltern sind tot«, sagte sie leise. »Sie sind im Osten getötet worden, als sie gegen einen Gryffin gekämpft haben.« »Und doch empfindest du keine Trauer.« Sie schürzte die Lippen. »Ihr versteht nicht«, sagte sie schließlich. »Sie hatten keine Wahl. Ich hatte keine Wahl. Jetzt kommt mit, bitte.« Er folgte ihr zurück zu dem Boot, in dem er gekommen war. Sie bedeutete ihm einzusteigen.
»Nur wir beide?«, fragte er. »Wo ist Dreodh?« 163 »Er macht unsere Leute bereit für den Kampf«, antwortete sie. »Den Kampf gegen was?« Sie zuckte die Achseln. »Irgendetwas kommt«, sagte sie. »Etwas sehr Schlimmes.« »Hast du keine Angst, dass ich versuchen könnte, dich zu überwältigen und zu fliehen?« »Wieso solltet Ihr das tun?«, fragte Starqin. Im schwachen Licht sahen ihre Augen so dunkel und schmelzend aus wie Teer. Ihr Gesicht und ihr Haar dagegen wirkten geisterhaft. »Vielleicht weil es mir nicht behagt, gefangen gehalten zu werden.« Starqin ließ sich am Steuerruder nieder. »Würdet Ihr rudern?«, fragte sie. Stephen nahm seinen Platz ein und legte die Hände auf die Ruder. Sie fühlten sich kühl und leicht an. »Ihr wollt bestimmt mit ihm reden - mit dem, den wir aufsuchen werden«, erklärte Starqin. »Und ich glaube nicht, dass Ihr mich ermordet.« Stephen zog die Ruder zu sich, und das Boot glitt fast lautlos von dem steinernen Steg fort. »Es ist interessant, dich von Mord sprechen zu hören«, sagte er. »Die Slinderlinge gehen nicht nur auf Gryffins los, weißt du. Sie töten auch Menschen.« »Ja«, erwiderte Starqin fast geistesabwesend. »Das habt Ihr auch getan.« »Böse Menschen.« Daraufhin lachte sie, und Stephen kam sich plötzlich dumm vor, als hätte er einem Sacritor einen Vortrag über heilige Schriften gehalten. Doch gleich darauf wurde sie ernster. »Nennt sie nicht Slinderlinge«, sagte sie. »Das entwürdigt ihr Opfer.« »Wie nennst du sie denn?«, wollte er wissen. »Wothen«, antwortete sie. »Wir nennen uns die Wothen.« »Das heißt einfach nur wahnsinnig, nicht wahr?« 164 »Eigentlich göttlich wahnsinnig, oder beseelt. Wir sind ein Sturm, der den Wald reinigt.« »Werdet ihr dem Dornenkönig wirklich helfen, die Welt zu vernichten?« »Wenn das die einzige Möglichkeit ist, sie zu retten.« »Erscheint dir das tatsächlich sinnvoll?« »Ja.« »Woher weißt du, dass er Recht hat, der Dornenkönig? Woher weißt du, dass er euch nicht belügt?« »Er belügt uns nicht«, sagte sie. »Und das wisst Ihr auch.« Sie steuerte sie über das dunkle Wasser, und bald befanden sie sich in einem so niedrigen Tunnel, dass Stephen den Kopf einziehen musste, um ihn sich nicht anzustoßen. »Woher kommst du, Starqin?«, erkundigte er sich. »Aus welchem Ort?« »Aus Colbaely, in der Grefftschaft von Holtmarh.« Ein leises Frösteln kroch ihm das Rückgrat hinauf. »Ich habe eine Freundin von dort«, sagte er. »Winna Prentiss.« Starqin nickte. »Winna war nett. Sie hat immer Holderbaum mit uns gespielt und uns den Gerstenkuchen geschenkt, nachdem ihr Vater Bier gebraut hat. Aber sie war zu alt. Keine von uns.« »Sie hatte einen Vater -« »Dem hat das Wirtshaus Zur Sauzitze gehört.« »Ist er ein Wothen?« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist fortgegangen, als wir angefangen haben, das Dorf niederzubrennen.« »Ihr habt euer eigenes Dorf niedergebrannt?« Das Mädchen nickte. »Es musste sein. Das Dorf sollte dort nicht sein.« »Weil der Dornenkönig es gesagt hat.« »Weil es nicht sein sollte. Wir Kinder haben das immer gewusst. Wir mussten die Erwachsenen überzeugen. Ein paar waren nicht überzeugt, aber die sind weggegangen. Fralet Prentiss war einer von ihnen.« 165 Schweigend fuhren sie weiter; Stephen wusste nicht genau, was er noch sagen sollte, und ohne Fragen schien Starqin nicht geneigt, das Gespräch fortzusetzen. Die Decke wurde wieder höher, bis sie aus dem schwachen Schein des Hexenlichts entschwand. Einige Zeit später machte sich eine neue Beleuchtung bemerkbar, ein ferner, schräger Lichtstrahl, der sich als Sonnenlicht erwies, das durch ein Loch hoch oben im Höhlendach hereinfiel. Starqin ließ das Boot an einem weiteren Steinsteg anlegen, der anscheinend von Sefry geschaffen worden war. »Da sind Stufen in den Stein gehauen«, sagte sie. »Sie führen zum Ausgang hinauf.« »Du kommst nicht mit?« »Ich habe andere Dinge zu tun.« Stephen betrachtete die Augen des Mädchens, die jetzt wie Jade glänzten. »Das kann nicht richtig sein«, sagte er zu ihr. »All dieses Töten -es kann nicht richtig sein.« In ihrer Miene tat sich kurz etwas, das er nicht verstand, doch es war wie das Aufblitzen eines silbrigen Fisches
in einem tiefen Teich. Dann war das Wasser wieder leer und still. »Das Leben kommt und geht ständig«, sagte sie. »Wenn Ihr hinseht. Immer wird etwas geboren, immer stirbt etwas. Im Frühling wird mehr geboren - im Spätherbst stirbt mehr. Der Tod ist natürlicher als das Leben. Die Gebeine der Welt sind tot.« Stephen fühlte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. »Kinder sollten nicht so reden.« »Kinder wissen so etwas«, gab sie zurück. »Es sind bloß die Erwachsenen, die uns beibringen, dass eine Blume schöner ist als ein verrottender Hund. Er hat uns nur geholfen, das Wissen zu behalten, mit dem wir geboren wurden, das, was jedes Tier, das nicht weiß, wie man sich selbst belügt, tief im innersten Mark begreift.« Stephens Kummer und Mitleid schlugen plötzlich um, und einen Moment lang war er so zornig auf das Mädchen, dass er es am 166 liebsten erwürgt hätte. Inmitten seiner Zweifel und seiner Unsicherheit war die schiere Befriedigung dieses absoluten Gefühls so wunderbar und so schrecklich, dass er nach Luft rang, und als es verging - was es Augenblicke später tat -, zitterte er tatsächlich. Starqin war es nicht entgangen. »Außerdem«, sagte sie leise, »habt Ihr ganze Jahreszeiten des Todes in Euch.« »Wie meinst du das?« Doch sie stieß sich ab und antwortete nicht, und bald war das Boot außer Sicht. Also machte sich Stephen an den Aufstieg. Die Steinstufen zogen sich im Zickzack die Felswand hinauf, bis sie ihn schließlich zu einem kleinen Treppenabsatz brachten. Die Höhlenöffnung war ziemlich klein, und dahinter konnte er wenig mehr sehen als ein Dickicht aus Schilfrohr. Doch ein schmaler Pfad führte durch die steifen Halme hindurch, und er folgte ihm, bis sich plötzlich die Flanke des Hügels vor ihm öffnete. Er blickte auf Weideland hinab, und dahinter auf ordentliche Reihen aus Apfelbäumen. Jenseits des kleinen Tals, oberhalb der Bäume, erhob sich ein steinernes Gebäude. Unwillkürlich schnappte er nach Luft, als Gefühle sich auf ihn stürzten wie alte Bekannte - freudige Erwartung, knabenhafte Erregung, Schmerz, Enttäuschung, nackte Angst. Zorn. Es war das Kloster d'Ef, wo er zum ersten Mal erfahren hatte, wie verderbt die Kirche seiner Kindheit geworden war, wo er Desmond Spendlove begegnet und von ihm gequält worden war. Wo er gezwungen worden war, die Scrifti zu entschlüsseln, die möglicherweise die Welt dem Untergang geweiht hatten. »Wilhuman, werliha. Wilkuma hemz«, sagte eine raue Stimme hinter ihm. Willkommen, Verräter. Willkommen daheim. 167 13. Kapitel Rose Du sollst mich umbringen?«, fragte Anne und sah Elyoner unverwandt an. Die Herzogin von Loiyes lächelte träge. Anne konnte fast spüren, wie Neil MeqVren sich neben ihr anspannte. Sie hat gewartet, bis ich Aspar fortgeschickt habe, dachte sie. Nicht dass er und Winna gegen so viele einen Unterschied ausgemacht hätten... Sie hob die Hand, um sich die Stirn zu reiben, ließ sie jedoch wieder sinken. Die Geste würde sie nur schwach erscheinen lassen. Zu viel war geschehen, und viel zu schnell. Sie war noch immer benommen vom Branntwein gewesen, als sie Elyoner und ihren Männern auf der Straße begegnet war. Und dann war die Erleichterung darüber, ein vertrautes Gesicht zu erblicken - sogar das Gesicht einer Verwandten -, so groß gewesen, dass sie sich nicht gestattet hatte, das Offenkundigste zu denken. Dass Elyoner die Männer geschickt hatte, die sie überfallen hatten. Elyoner Dare war Anne stets ein Rätsel gewesen, wenn auch ein erfreuliches. Sie war die Schwester von Annes Vater, älter als Robert und Lesbeth, doch sie war ihr immer viel jünger erschienen als ihr Vater. Anne schätzte sie auf um die dreißig. Familienausflüge nach Glenchest waren stets etwas Besonderes gewesen; die Kinder hatten sogar das Gefühl gehabt, dass sie den Erwachsenen mehr Vergnügen bereiteten als ihnen, obwohl ihr erst viel später aufgegangen war, welcher Art dieses Vergnügen gewesen war. 168 Dieser Eindruck hatte sich verstärkt, als Anne älter geworden war. Elyoner schien immer ziemlich genau das zu tun, was sie wollte. Obgleich sie irgendwo einen Gemahl hatte, trat er niemals wirklich in Erscheinung, und Elyoner war bekannt dafür, dass sie sich junge und höchst vorübergehende Liebhaber nahm. Muriele, Annes Mutter, schien nicht viel von Elyoner zu halten, was für Anne lediglich eine weitere Tatsache war, die für ihre Tante sprach. Obwohl diese viel für Klatsch und Gerüchte übrig hatte, hatte sie niemals den Anschein erweckt, sich auch nur im Mindesten für Staatsangelegenheiten zu interessieren. Jetzt wurde Anne schlagartig klar, dass sie ihre Tante eigentlich gar nicht kannte. »Dich umbringen und den Leichnam irgendwo verscharren, wo er nicht gefunden wird«, führte Elyoner näher
aus. »So lauten die Anweisungen. Als Gegenleistung, sagt Robert, wird mein Leben in Glenchest im Großen und Ganzen so weitergehen wie immer.« Sie seufzte sehnsüchtig. »So ein tröstlicher Gedanke.« »Aber du wirst es nicht tun«, sagte Anne. »Du wirst mich nicht töten lassen ... nicht wahr?« Elyoners blaue Augen hefteten sich scharf auf sie. »Nein«, antwortete sie. »Nein, natürlich nicht. Mein Bruder kennt mich nicht so gut, wie er glaubt, was ein bisschen bedrückend ist.« Ihre Miene wurde ernster, und sie richtete einen anklagenden Zeigefinger auf Anne. »Aber du hättest mir niemals trauen sollen, denn vielleicht hätte ich es ja getan. Denk daran, wenn dein lieber Oheim Robert befohlen hat, dich zu ermorden, ist keiner deiner Verwandten vertrauenswürdig, mit der möglichen Ausnahme deiner Mutter. Mich auf deine Seite zu schlagen macht mein Leben ungemein schwierig und könnte ihm sogar ein Ende setzen. Das ist keine leichte Entscheidung, nicht einmal dir zuliebe, mein Herz.« »Aber du hast dich entschieden.« Elyoner nickte. »Nach dem, was Fastia und Elseny zugestoßen ist, fast in meinem eigenen Wohnzimmer - nein, nicht auch noch du. Ich habe William mehr geliebt als alle meine anderen Ge169 schwister - ich könnte seine letzte Tochter niemals auf diese Weise verraten.« »Glaubst du, Onkel Robert ist verrückt geworden?«, wollte Anne wissen. »Ich glaube, er ist verrückt geboren worden«, erwiderte Elyoner. »Bei Zwillingen kommt so etwas vor, verstehst du? Lesbeth hat aus der Vereinigung ihrer Eltern alles mitbekommen, was gut war, und für Robert blieb nur der Rest übrig.« Ihr Blick huschte zur Seite, zu Sir Neil. »Ihr könnt Euch jetzt entspannen, holder Ritter«, sagte sie. »Um mich in eindeutigen Worten zu wiederholen, ich bin hier, um Anne zu helfen, nicht um ihr etwas zuleide zu tun. Wenn ich ihren Tod wollte, hätte ich das erreichen können, lange bevor wir Euch gefunden haben, und dann hätte ich Eure Trauer ausnutzen können, um Euch zu meinem Geliebten zu machen. Oder irgendetwas anderes Unfeines und Erbauliches.« »Ihr sprecht immer so tröstliche Worte«, erwiderte Neil. Anne dachte bei sich, dass die vertraute Antwort zu bestätigen schien, was Elyoner vorhin angedeutet hatte dass Sir Neil und Fastia irgendein Verhältnis miteinander gehabt hatten. Oberflächlich betrachtet schien das unmöglich. Fastia war geradezu lächerlich pflichtbewusst gewesen, und Neil war genauso. Man sollte meinen, sie hätten diese Eigenschaft ineinander eher verstärken müssen, anstatt sie zu schwächen. Doch Anne lernte schnell, dass an Herzensangelegenheiten nichts einfach war, oder vielmehr, dass sie sehr einfach waren - die Folgen jedoch waren bizarr. Auf jeden Fall hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken, was ihre Schwester mit diesem jungen Ritter angestellt hatte oder auch nicht. Für sie hatten andere Dinge Vorrang. »Da du sie gerade erwähnst, gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Lesbeth?«, erkundigte sich Anne. »Nein«, antwortete Elyoner. »Es geht das Gerücht, dass sie von ihrem Verlobten, Fürst Cheiso von Safnien, verraten worden sei, 170 dass er sie irgendeinem Verbündeten Hansas ausgeliefert hat, damit sie William erpressen konnten. Das war der Grund, weshalb dein Vater zur Landspitze von Aenah geritten ist - um die Bedingungen für ihre Freilassung auszuhandeln. Ich glaube, nur Robert weiß, was dort wirklich geschehen ist.« »Dann denkst du, Onkel Robert hatte irgendetwas mit dem Tod meines Vaters zu tun?« »Natürlich«, sagte Elyoner. »Und Lesbeth? Was, glaubt du, ist wirklich mit ihr passiert?« »Ich glaube nicht...« Elyoners Stimme versagte einen Moment lang. »Ich glaube nicht, dass sie noch am Leben ist.« Anne atmete tief durch und versuchte, dies zu erfassen. Es hatte erneut zu schneien begonnen, und sie verabscheute den Schnee. Sie hatte das Gefühl, als sei irgendwo in ihrem Innern ein Knochen gebrochen. Zwar nur ein kleiner Knochen, jedoch einer, der niemals ganz verheilen würde. »Glaubst du wirklich, Onkel Robert würde seine eigene Zwillingsschwester umbringen?«, wandte sie schließlich ein. »Er hat sie mehr geliebt als irgendjemanden sonst. Er war völlig vernarrt in sie.« »Nichts kann schneller zu blutigem Meuchelmord führen als wahre Liebe«, bemerkte Elyoner. »Wie gesagt, Robert war nie aus dem besten Holz geschnitzt.« Anne öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und stellte fest, dass sie nichts zu sagen hatte. Der Schnee fiel dichter und ließ ihre Nase vor Kälte und Nässe taub werden. Wo bin ich gewesen?, fragte sie sich. Wo war das alles, als ich herangewachsen bin? Doch sie kannte die Antwort. Sie hatte Pferderennen veranstaltet, um die Wachen zu ärgern, hatte Wein gestohlen und ihn im Westturm getrunken, hatte sich davongeschlichen, um in Eslen-des-Schattens mit Roderick herumzutändeln. Fastia hatte versucht, es ihr zu sagen. Und Mutter. Sie auf all dies vorzubereiten. 171 Mutter. Jäh erinnerte sie sich an das Gesicht ihrer Mutter, traurig und streng, in jener Nacht, als sie sie fortgeschickt
hatte, zum Konvent der heiligen Cer. Anne hatte ihr gesagt, sie würde sie hassen ... Jetzt waren ihre Wangen nass. Ohne es zu wissen, hatte sie angefangen zu weinen. Es zu merken machte alles nur noch schlimmer, und heftige Schluchzer stiegen würgend aus ihrem Bauch empor. Sie fühlte sich entblößt, wie damals, als ihr Haar abgeschnitten worden war, wie damals, als sie als kleines Mädchen nackt draußen im Korridor erwischt worden war. Wie konnte sie Königin sein? Sie verstand doch überhaupt nichts, hatte nichts in ihrer Gewalt - nicht einmal ihre eigenen Tränen. Alles, was sie im letzten Jahr gelernt hatte, war, dass die Welt riesengroß und grausam war und außerhalb ihres Begriffsvermögens lag. Der Rest - die Wahnvorstellung von Bestimmung und Macht, die Entschlossenheit, die ihr noch vor ein paar Tagen so wirklich erschienen war - kam ihr jetzt dumm vor. Eine Pose, die jeder außer ihr durchschauen konnte. Eine Hand legte sich auf ihr Bein, und sie fuhr unter ihrer Wärme zusammen. Es war Austra, deren Augen ebenfalls in Tränen schwammen. Die anderen Reiter hatten ihnen ein wenig Raum gegeben, wahrscheinlich damit sie so tun konnten, als sähen sie ihren Schmerz nicht. Sir Neil ritt direkt hinter ihr, jedoch außer Hörweite geflüsterter Worte. Cazio ritt vorn neben Elyoner. »Ich bin so froh, dass du am Leben bist«, sagte Anne zu ihrer Freundin. »Ich habe versucht, nicht daran zu denken, mich auf andere Dinge zu konzentrieren, aber wenn du tot gewesen wärst...« »Dann würdest du weitermachen, genau das würdest du tun«, sagte Austra. »Weil du musst.« »Muss ich?«, fragte Anne. Sie hörte den Groll in ihrer Stimme, wusste, dass das kleinmütig war, und scherte sich nicht darum. »Ja. Wenn du nur hättest sehen können, was ich vom Wald aus 172 gesehen habe, damals in Dunmrogh. Als du vorgetreten bist, tollkühn wie ein Stier, und diesen Mördern gesagt hast, wer du bist -wenn du das gesehen hättest, wüsstest du, was dir zu tun bestimmt ist.« »Haben die Heiligen dich berührt?«, fragte Anne leise. »Kannst du meine Gedanken hören?« Austra schüttelte den Kopf. »Ich werde niemals jemanden besser kennen, als ich dich kenne, Anne. Ich weiß nie genau, was du denkst, aber für gewöhnlich kann ich sehen, aus welcher Richtung der Wind weht.« »Hast du das alles gewusst? Über Robert?« Austra zögerte. »Bitte«, drängte Anne. »Es gibt Dinge, über die wir niemals geredet haben«, sagte Austra widerstrebend. »Du hast immer so getan, als wäre ich wie eine Schwester, und das war schön, aber ich konnte nie die Wahrheit vergessen. Ich konnte mir nie erlauben, die Wahrheit zu vergessen.« »Dass du eine Dienerin bist«, sagte Anne. »Ja«, bestätigte Austra. »Ich weiß, dass du mich lieb hast, aber selbst du schaust den Tatsachen schließlich ins Gesicht.« Anne nickte. »Ja«, gestand sie. »In Eslen, im Schloss - Diener haben ihre eigene Welt. Sie ist ganz nahe an der euren - darunter, darum herum -, aber sie ist davon getrennt. Diener wissen eine Menge über eure Welt, Anne, weil sie darin überleben müssen aber ihr wisst nicht viel über die ihre.« »Vergiss nicht, ich habe auch als Dienerin gearbeitet«, wandte Anne ein. »Im Hause Filialofia.« Austra gab sich Mühe, damit ihr Lächeln nicht herablassend wirkte. »Nicht ganz zwei Wochen lang«, gab die Zofe zu bedenken. »Aber denk doch mal nach - hast du in der Zeit irgendetwas erfahren, das die Hausherrin nicht wusste?« Anne überlegte einen Moment lang. »Ich habe erfahren, dass ihr 173 Gemahl den Hausmädchen nachgestellt hat, aber ich glaube, das wusste sie, hat es fast erwartet«, sagte sie. »Aber was sie nicht gewusst hat, war, dass er auch etwas mit ihrer Freundin hatte, dat Ospellina.« »Und das hast du durch Beobachten herausgefunden.« »Ja.« »Und die anderen Dienstboten - haben sie mit dir geredet?« »Nicht viel.« »Genau. Weil du neu warst, weil du eine Ausländerin warst - sie haben dir nicht getraut.« »Da hast du Recht«, gab Anne zu. »Und trotzdem haben der Hausherr und die Hausherrin diesen Unterschied nicht wahrgenommen, wette ich. Für sie warst du eine Dienerin, und wenn du brav deine Arbeit verrichtet hast, warst du unsichtbar, genauso Teil des Hauses wie die Geländer oder die Fenster. Sie haben dich nur bemerkt -« »Wenn ich etwas falsch gemacht habe«, vollendete Anne den Satz. Allmählich begriff sie. Wie viele Bedienstete gab es in Eslen? Hunderte? Tausende? Stets in der Nähe, jedoch kaum vorhanden, soweit es die Hochgeborenen betraf. »Weiter«, bat Anne. »Erzähl mir etwas von den Dienern in Eslen. Etwas Kleines.« Austra zuckte die Schultern. »Hast du gewusst, dass der Stallbursche - der, den wir Gimlet genannt haben - der Sohn von Demile war, der Schneiderin?«
»Nein.« »Weißt du noch, von wem ich rede?« »Gimlet? Gewiss.« Ich habe mich nur niemals gefragt, wer seine Mutter war. »Aber er ist nicht der Sohn von Armier, Demiles Mann. Sein richtiger Vater ist Cullen, vom Küchengesinde. Und weil Cullens Frau Helena deswegen so wütend war, hat Gimlet - sein richtiger Name ist übrigens Amleth nie eine Stellung im Schloss bekomJ74 men, weil Helenas Mutter >Der Keiler< ist, die alte Lady Golskuft -« »Die Haushaltsvorsteherin.« Austra nickte. »Die wiederum die uneheliche Tochter von Lord Raethvess und einem Landwaerd-Mädchen ist.« »Du willst also sagen, die Dienstboten treiben es mehr untereinander, als dass sie arbeiten?« »Wenn eine Schildkröte in einem Teich Luft holt, sieht man nur ihre Nasenspitze. Alles, was ihr über die Diener von Eslen wisst, ist das, was sie euch sehen lassen. Der größte Teil ihres Lebens -ihre Neigungen, Leidenschaften, Verbindungen - wird vor euch verborgen.« »Trotzdem scheinst du ja eine ganze Menge zu wissen.« »Bloß genug, um zu verstehen, was ich nicht weiß«, erwiderte Austra. »Weil ich dir so nahe stand, weil ich behandelt wurde, als wäre ich von edler Geburt, hat man mir nicht sehr vertraut - oder mich sehr gemocht.« »Und was hat das alles mit meinem Onkel Robert zu tun?« »Unter den Dienstboten gehen sehr finstere Gerüchte über ihn um. Sie sagen, als Knabe sei er äußerst grausam gewesen ... und unnatürlich.« »Unnatürlich?« »Eine der Stubenmägde ... sie hat gesagt, Robert hätte sie gezwungen, Lesbeths Kleid anzuziehen, und verlangt, dass sie auf ihren Namen hört. Und dann hat er -« »Hör auf«, wehrte Anne ab. »Ich glaube, ich kann es mir vorstellen.« »Ich glaube, das kannst du nicht«, entgegnete Austra. »Das haben sie getan, ja, aber seine Wünsche waren in mehr als einer Hinsicht unnatürlich. Und dann ist da noch die Geschichte von Rose.« »Rose?« »Darüber sprechen sie kaum. Rose war die Tochter von Emme Starte, die in der Wäscherei gearbeitet hat. Robert und Lesbeth haben sie zu ihrer Spielgefährtin gemacht, haben sie in feine Kleider 175 gesteckt, haben sie auf Spaziergänge mitgenommen, auf Ausritte und zu Picknicks. Sie haben sie behandelt, als wäre sie von edlem Blut.« »Genau so, wie du behandelt worden bist«, bemerkte Anne und fühlte einen Stich in ihrer Brust. »Ja.« »Wie alt waren sie?« »Zehn. Und hier ist es, Anne - das, was sie sagen, aber es ist so schwer zu glauben.« »Ich denke, im Moment würde ich alles glauben«, erwiderte Anne. Sie fühlte sich abgestumpft, ein Messer, mit dem zu oft Knochen durchtrennt worden waren. Austra senkte die Stimme noch mehr. »Es heißt, als sie jung waren, sei Lesbeth genauso gewesen wie Robert grausam und eifersüchtig.« »Lesbeth? Lesbeth ist die liebste, sanfteste Frau, die ich je gekannt habe.« »Und dazu ist sie geworden, heißt es - nachdem Rose verschwunden ist.« »Verschwunden?« »Auf Nimmerwiedersehen. Niemand weiß, was passiert ist. Aber Lesbeth hat tagelang ununterbrochen geweint, und Robert schien noch erregbarer zu sein als sonst. Danach hat man Robert und Lesbeth nicht mehr so oft zusammen gesehen. Lesbeth war wie ein neuer Mensch, hat sich immer bemüht, Gutes zu tun, zu leben wie eine Heilige.« »Ich verstehe nicht. Willst du damit sagen, Robert und Lesbeth haben Rose umgebracht?« »Wie gesagt, niemand weiß es. Ihre Familie hat geweint und gebetet und Bittschriften eingereicht. Kurz darauf sind ihre Mutter und ihre engsten Verwandten an den Haushalt der Greffte von Brogswell ausgeliehen worden, hundert Meilen entfernt, und dort sind sie geblieben.« »Das ist ja grauenhaft. Ich kann nicht - willst du behaupten, 176 mein Vater hat niemals irgendwelche Nachforschungen deswegen angestellt?« »Ich bezweifle sehr, dass es deinem Vater überhaupt zu Ohren gekommen ist. Das Ganze wurde innerhalb der Welt des Gesindes geregelt. Wenn das Gerücht deine Familie erreicht hätte, hätten ebenso leicht die Widersacher deines Vaters darauf aufmerksam werden können. In diesem Fall hätte jeder Bedienstete, der etwas wusste, vielleicht ebenso plötzlich verschwinden können wie Rose - und ohne jede Erklärung. Also hat der Keiler verbreiten lassen, dass Rose nach Virgenya gegangen wäre, um dort zusammen mit ihrer Schwester zu arbeiten, und hat dafür gesorgt, dass ihre Bitte, das tun zu dürfen, schriftlich vermerkt wurde. Roses restliche Familie wurde still und leise fortgeschafft, damit sie in ihrem Kummer nicht anfangen würde, mit den falschen Leuten zu reden.«
Anne schloss die Augen und spürte dort ein Gesicht, gegen ihre Lider gedrängt, ein hübsches Gesicht mit grünen Augen und einer Stupsnase. »Ich erinnere mich an sie«, keuchte sie. »Sie haben sie Base Rose genannt. Das war damals auf Tom Woth, bei der Feilteme-Feier. Ich kann nicht mehr als sechs Winter alt gewesen sein.« »Ich war fünf, also warst du sechs«, bestätigte Austra. »Und du denkst wirklich, dass sie sie umgebracht haben?«, fragte Anne leise. Austra nickte. »Ich glaube, sie ist tot. Vielleicht war es ein Unfall oder ein Spiel, das zu weit getrieben wurde. Robert kennt viele Spiele, heißt es.« »Und jetzt sitzt er auf dem Thron. Auf dem Thron meines Vaters. Und er hat meine Mutter in einem Turm eingekerkert.« »Ja ...«, sagte Austra. »Aber er hat ihr bestimmt nichts zuleide getan.« »Er hat meinen Tod befohlen«, entgegnete Anne. »Niemand kann wissen, was er meiner Mutter antun wird. Das ist es, worauf ich mich konzentrieren muss, Austra. Nicht darauf, ob ich Köni177 gin sein kann oder nicht - sondern darauf, meine Mutter zu befreien und Robert dorthin zu bringen, wo er keinen Schaden mehr anrichten kann. Nur darauf, fürs Erste.« »Das klingt vernünftig.« Anne atmete tief durch und spürte, wie sich ein wenig Gewicht von ihren Schultern hob. Sie waren jetzt wieder aus dem Wald heraus und ritten zur Straße hinunter. In der Ferne konnte Anne Sevoyne sehen, und sie fragte sich, ob sie diesmal wohl tatsächlich daran vorbeikommen würde. »Anne!«, rief jemand von hinten. »Casnara ... äh ... rediatural« Sie schaute sich um und erblickte Cazio, der auf allen Seiten dicht von Handwerksmeistern eingekeilt war. »Was gibt es, Cazio?«, fragte sie auf Vitellianisch. »Würdet Ihr diesen Männern bitte sagen, dass ich einer Eurer hoch geschätzten Gefährten bin? Falls dem in der Tat so ist?« »Natürlich.« Anne wechselte in die Sprache des Königs. »Dieser Mann ist einer meiner Leibwächter«, teilte sie den Handwerksmeistern mit. »Er darf sich mir nähern, wann immer es ihm beliebt.« »Um Vergebung, Hoheit«, sagte einer der Ritter, ein junger Mann mit freundlichem Gesicht und kastanienbraunem Haar, der etwas leicht Gänseähnliches an sich hatte. »Aber wir dürfen nichts als selbstverständlich betrachten.« Sie nickte. »Wie ist Euer Name, Sir Ritter?« »Mit Verlaub, Majestät, ich heiße Jemme Bishop.« »Ein guter virgenyanischer Name«, sagte Anne. »Ich danke Euch sehr für Euren Schutz. Trotz seines Auftretens genießt dieser Mann mein Vertrauen.« »Wie Ihr befehlt, Majestät«, erwiderte der Bursche. Die Pferde machten ein wenig Platz und ließen Cazio vortraben. »Wir haben wieder ein Gefolge«, stellte er fest und warf einen Blick nach hinten auf die Ritter. »Ich frage mich nur, ob dieses hier länger überleben wird als das letzte.« 178 »Hoffen wir es«, erwiderte Anne. »Es tut mir Leid, dass wir bis jetzt nicht miteinander gesprochen haben. Die Dinge werden immer verworrener, und gewiss kommt es Euch noch viel mehr so vor.« »Der Tag ist für mich erheblich schöner geworden, als ich herausgefunden habe, dass Ihr noch am Leben seid«, sagte Cazio. Betreten rieb er sich den Kopf. »Ich war Euch ein armseliger Leibwächter - Euch beiden. Ich habe mich bei Austra entschuldigt, und jetzt entschuldige ich mich bei Euch.« »Ihr habt Euer Leben für uns aufs Spiel gesetzt, Cazio«, wehrte Anne ab. »Sein Leben kann jeder aufs Spiel setzten«, entgegnete Cazio. »Ein Mann ohne Geschick und ohne Verstand hätte für Euch sterben können. Ich hatte gehofft, ich wäre besser als das. Wenn ich dabei umgekommen wäre, zu verhindern, dass Ihr entführt werdet, wäre das eine Sache. Aber gedemütigt zurückzubleiben, während man Euch verschleppt -« »Ist eine Frage des persönlichen Stolzes«, vollendete Anne den Satz. »Seid nicht töricht, Cazio. Ich bin am Leben, wie Ihr seht. Wir haben alle geschlafen: Aspar, Sir Neil, Frete Stephen - ich auch. Ihr wart in guter Gesellschaft.« »Es wird nicht wieder vorkommen«, beharrte Cazio. »Wenn Euch das Freude macht«, erwiderte Anne. Cazio nickte. »Diese Lady - sie ist mit Euch verwandt?« »Elyoner? Ja, sie ist meine Tante, die Schwester meines Vaters.« »Und sie ist vertrauenswürdig?« »Ich habe beschlossen, ihr zu vertrauen. Wenn Ihr aber etwas bemerkt, das darauf hinweist, dass ich es nicht tun sollte, so macht mich bitte darauf aufmerksam.« Cazio nickte. »Wo reiten wir hin?«, wollte er wissen. »Nach Glenchest, zu ihrem Wohnsitz.«
»Und was werden wir dort tun?« »Wir werden wohl planen, in den Krieg zu ziehen, vermute ich«, antwortete Anne. 179 »Ah. Nun, dann werdet Ihr es mich wissen lassen, wenn ich helfen kann, ja?« »Ja.« »Anne!« Elyoners Stimme trieb zu ihnen nach vorn. »Sei ein Schatz und schick diesen vitellianischen Burschen wieder nach hinten. Allmählich finde ich diesen Ritt ungemein langweilig.« »Er beherrscht aber die Sprache des Königs nicht besonders gut«, erwiderte Anne. »Fatio Vitelliono«, gab ihre Tante liebenswürdig zurück. »Benos, midella.« »Sie spricht meine Sprache«, stellte Cazio glücklich fest. »Ja«, sagte Anne. »So scheint es. Und bestimmt will sie mit Euch üben.« Er warf einen Blick nach hinten. »Soll ich?«, fragte er. »Ja«, antwortete Anne. »Aber seht Euch vor - meine Tante kann tugendsamen Männern gefährlich werden.« Cazio lächelte und setzte seinen breitkrempigen Hut wieder auf. »Sollte ich also einem solchen Mann begegnen«, erwiderte er, »werde ich ihn warnen.« Er machte kehrt und ritt zurück. Austra sah ihn mit recht beklommener Miene davonreiten. »Austra«, sagte Anne. »Die Männer, die dich entführt haben -haben sie etwas gesagt?« »Sie dachten, ich wäre du«, erwiderte Austra. »Oder sie dachten, ich könnte du sein.« Anne nickte. »Ich hatte auch den Eindruck, dass die Beschreibung, die sie von mir hatten, nicht besonders gut war. Haben sie jemanden namentlich erwähnt?«, fragte sie. »Irgendjemanden?« »Nicht dass ich mich erinnere.« »Haben sie dich angerührt?« »Natürlich. Sie haben mich gefesselt, mich auf ein Pferd gesetzt -« »Das habe ich nicht gemeint«, sagte Anne. »Nicht - oh. Nein, nichts dergleichen. Ich meine, sie haben da180 von geredet, mir sogar damit gedroht, haben versucht, mich dazu u bringen, zu sagen, ob ich du sei oder nicht. Aber sie haben nichts getan.« Jäh weiteten sich ihre Augen. »Anne, haben sie -wurdest du...?« Anne deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf Wist. »Er hat es versucht. Irgendetwas ist passiert.« »Lass Sir Neil ihn töten«, knurrte Austra. »Oder sag es Cazio und lass ihn den Kerl zum Duell fordern.« »Nein. Es ist ihm nicht gelungen, und vielleicht brauche ich ihn noch«, wehrte Anne ab. Sie betrachtete die Zügel in ihren Händen. »Irgendetwas ist geschehen, Austra. Der Mann, der mich entführt hat, er ist ums Leben gekommen.« »Hast du - hast du ihn getötet, so wie du diese fürchterlichen Männer in dem Wäldchen getötet hast?« »Ich habe die Männer in dem Wäldchen getötet, indem ich ihren Tod gewünscht habe«, sagte Anne. »Dort war Macht, unter mir, wie ein Brunnen, aus dem ich schöpfen konnte. Ich habe ihre Eingeweide gefühlt und sie verdreht. Es war das Gleiche wie damals, als ich den Ritter geblendet habe, damals in Vitellio, oder als ich Erieso mit Übelkeit geschlagen habe - nur, nun ja, mehr. Aber das jetzt war anders. Der Mann, der mich verschleppt hat, wurde von einer Dämonin getötet. Ich habe sie gesehen.« »Sie?« Anne zuckte mit den Schultern. »Ich bin irgendwo anders hingegangen. Ich glaube, sie ist mir auf dem Rückweg gefolgt. Sie hat Wist daran gehindert, mich zu schänden.« »Vielleicht ist sie dann ja gar keine Dämonin«, gab Austra zu bedenken. »Vielleicht ist sie mehr ein Schutzengel.« »Du hast sie nicht gesehen, Austra. Sie war grauenhaft. Ich weiß nicht einmal, wen ich nach solchen Sachen fragen kann.« »Nun, Frete Stephen schien eine Menge zu wissen«, sagte Austra mit kummervoller Stimme. »Aber er ist wohl « »Er ist wohlauf«, erklärte Anne. »Und wird anderswo gebraucht.« 181 »Wirklich? Woher weißt du das?« Anne dachte an den Dornenkönig und an die Dinge, die sie in seinen Augen gesehen hatte. »Ich will nicht mehr darüber reden«, wehrte sie ab. »Später. Später.« »Na schön«, erwiderte Austra mit beschwichtigender Stimme. »Später.« Anne holte tief Luft. »Du hast gerade gesagt, du kennst mich besser als irgendjemanden sonst. Ich glaube, das stimmt. Und deshalb musst du mich beobachten, Austra. Achte auf mich. Und wenn du jemals glaubst, dass ich den Verstand verloren habe, dann musst du es mir sagen.« Austra lachte ein wenig ängstlich. »Ich werde es versuchen.« »Früher habe ich dir manche Dinge verschwiegen«, sagte Anne. »Ich brauche ... ich brauche wieder jemanden, mit dem ich reden kann. Jemanden, dem ich trauen kann, der meine Geheimnisse keiner lebenden Seele verrät.« »Ich würde niemals deine Geheimnisse verraten.« »Nicht einmal Cazio?« Austra blieb einen Moment lang stumm. »Merkt man es ?«, fragte sie. »Dass du ihn liebst? Natürlich.«
»Das tut mir Leid.« Anne verdrehte die Augen. »Austra, ich empfinde freundschaftliche Zuneigung für Cazio. Er hat uns mehrmals das Leben gerettet, was ungemein einnehmend sein kann. Aber ich liebe ihn nicht.« »Und selbst wenn du es tätest«, entgegnete Austra abwehrend, »wäre er nicht standesgemäß.« »Darum geht es doch gar nicht, Austra. Ich liebe ihn nicht. Es macht mir nichts aus, wenn du es tust, solange ich mich darauf verlassen kann, dass du ihm nichts erzählst, was ich dich bitte, für dich zu behalten.« »Ich bin zuallererst dir treu ergeben, war es immer und werde es immer sein, Anne«, antwortete Austra. 182 »Das glaube ich dir.« Anne umklammerte die Hand ihrer Freundin. »Ich musste es nur noch einmal hören.« Im schwindenden Tageslicht erreichten sie Glenchest. Das Anwesen sah genauso aus, wie Anne es in Erinnerung hatte, ganz und gar Türmchen, Gärten und Glas, wie ein von einer phay aus Spinnweben gewirktes Schloss. Als Kind hatte sie es für verwunschen gehalten. Jetzt fragte sie sich, wie - oder ob - es verteidigt werden konnte. Es schien nicht geeignet, einer Belagerung zu widerstehen. Am Tor warteten zehn Männer zu Pferde, in schwarze Überwürfe gekleidet. Der Anführer, ein hoch gewachsener, hagerer Mann mit kurz geschorenem Haar und einem schmalen Bart, ritt ihnen entgegen. »Oh weh«, flüsterte Elyoner. »Früher, als ich gehofft hatte.« »Herzogin«, sagte der Mann und verbeugte sich im Sattel. »Ich wollte gerade losreiten und Euch suchen. Mein Gebieter wird über Euer Betragen nicht erfreut sein. Ihr solltet mich in Eurem Hause erwarten.« »Mein Bruder ist selten erfreut über mein Betragen«, erwiderte Elyoner. »Aber in diesem Fall ist er vielleicht gar nicht so unzufrieden. Herzog Ernst, darf ich Euch meine Nichte Anne Dare vorstellen? Sie scheint verloren gegangen zu sein, und alle sind herumgehastet und haben sie gesucht, und schaut her - ich habe sie gefunden. Und so wie ich es verstehe, ist sie gekommen, um sich der Krone Eures Herrn zu bemächtigen.« 183 14. Kapitel In den Bäumen Sagst du mir, was das alles bedeuten sollte?«, erkundigte sich Winna, während ihre Pferde sie über einen niedrigen Hügelkamm trugen, außer Sicht der Prinzessin - oder Königin, oder was auch immer sie war - und ihrer neuen Rittereskorte. »Ja«, antwortete Aspar. Nach ein paar weiteren Augenblicken des Schweigens zog Winna die Zügel an und brachte ihre Stute zum Stehen. »Also?« »Du meinst jetzt}« »Ja, jetzt. Wie hast du Ihre Majestät dazu gebracht, dich ziehen zu lassen, um Stephen zu folgen?« »Nun ja, wie sich gezeigt hat, war es gar nicht nötig, sie dazu zu bringen. Sie wollte, dass ich Stephen folge.« »Das war nett von ihr.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, es war seltsam. Sie hat gesagt, er würde unsere Hilfe brauchen und wir hätten eine Aufgabe zu erledigen, und es wäre genauso wichtig, dass wir mit Stephen gehen, wie dass sie den Thron zurückerobert. Vielleicht noch wichtiger.« »Hat sie gesagt, warum?« »Sie wusste eigentlich nicht, warum. Sie hat gesagt, sie hätte eine Vision vom Dornenkönig gehabt, und er hätte ihr in den Kopf gesetzt, dass Stephen irgendwie wichtig sei. Und in Gefahr.« »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn«, wandte Winna ein. »Die Slinderlinge sind gekommen und haben ihn geholt, und sie sind die Kreaturen des Dornenkönigs. Warum sollte er also in Gefahr sein? Und wenn Seine Moosige Majestät wollte, dass wir mitkommen, warum hat er uns dann nicht einfach auch entführen lassen?« »Da fragst du den Falschen«, erwiderte Aspar. »Ich glaube noch 184 nicht einmal an Visionen. Ich bin nur froh, dass sie uns hat gehen lassen. Obwohl...« »Was?« »Du hast doch die Uttins gesehen, oder?« »Uttins?« Sie wurde blass. »Wie dieses Ungetüm, das ...« Sie verstummte. »Ja. Mindestens drei. Die Slinderlinge haben sie getötet. Vielleicht waren sie auch hinter Stephen her. Vielleicht hat der König die Slinderlinge deshalb geschickt: um ihn zu beschützen.« »Ich dachte, du glaubst nicht an Visionen?« »Ich rede nur so dahin«, sagte Aspar. »Ich bin einfach bloß froh, unterwegs zu sein.« »Was hat Ihre Majestät noch gesagt?« »Das war's - folgt Stephen. Findet ihn, beschützt ihn, helft ihm. Sie hat gesagt, ich soll mich von meinem eigenen Urteil leiten lassen. Hat gesagt, ich wäre ihr >Stellvertreter< in dieser Gegend, was immer das bedeutet.« »Wirklich? Ihr Stellvertreter?« »Du weißt, was das heißt?«
»Da ist virgenyanisch. Es bedeutet, dass du die gleiche Befehlsgewalt innehast wie sie - dass sie sich für dich verbürgt. Sie hat dir wohl nichts gegeben, womit du deine Befugnis beweisen kannst?« Aspar lachte. »Was denn zum Beispiel? Einen versiegelten Brief, einen Ring, ein Zepter? Das Mädchen ist um die halbe Welt gejagt worden, und nach dem, was ich mitbekommen habe, hat sie die meiste Zeit nur das besessen, was sie am Leibe trug. Ich nehme an, das wird später geregelt werden, wenn es da etwas zu regeln gibt. Jedenfalls, im Augenblick denke ich, von ihr bevollmächtigt zu sein bedeutet nicht allzu viel, nicht wahr? Sie mögen sie ja Königin nennen, aber noch ist sie keine.« »Werlic«, murmelte Winna. »So kann man das auch sehen.« Eine Weile ritten sie schweigend dahin. Aspar wusste nicht genau, was er sagen sollte; jedes Mal, wenn er sie anschaute, sah Winna beklommener aus. 185 »Stephen und Ehawk passiert bestimmt nichts«, versicherte er ihr. »Wir finden sie. Wir haben schon Schlimmeres durchgestanden als das hier, wir vier.« »Ja«, sagte sie kläglich. Er kratzte sich an der Wange. »Ja. Ihnen ist nichts passiert.« Sie nickte, antwortete jedoch nicht. »In der Zwischenzeit ist es schön ... ich meine, wir waren schon eine ganze Weile nicht mehr allein.« Scharf fuhr ihr Blick zu ihm empor. »Was soll das denn heißen?«, fragte sie. _^/ »Ich ... äh ... weiß nicht.« Er merkte deutlich, dass er auf die Nase gefallen war, doch er wusste nicht, worüber er gestolpert war. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, dann setzte sie erneut an. »Das ist jetzt nicht der richtige Augenblick. Wir müssen Stephen finden.« »Der richtige Augenblick wofür?«, fragte Aspar. »Nichts.« »Winna -« »Zwei Wochen lang warst du so abweisend wie ein Zaunpfosten«, brach es aus ihr heraus, »und ganz plötzlich versuchst du, Süßholz zu raspeln?« »Es ist irgendwie schwer, luvrood zu machen, wenn so viele Menschen um einen herum sind«, knurrte Aspar. »Es ist ja nicht so, dass ich Blumen und Gedichte erwarte«, fuhr Winna fort. »Nur hin und wieder einen Händedruck und ein paar ins Ohr geflüsterte Worte. Wir hätten umkommen können, ohne ...« Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen fest aufeinander. »Ich dachte eigentlich, dass du wusstest, worauf du dich einlässt, als du ...« Er verstummte, unsicher, was er als Nächstes sagen sollte. »Mich dir an den Hals geworfen habe?«, vollendete sie den Satz für ihn. »Das hatte ich nie vor. Als ich dich am Taffbach gesehen habe, dachte ich, du wärst tot. Ich dachte, du wärst gestorben, 186 0hne je zu erfahren, wie ich empfinde. Und als du wieder am Lehen warst und wir weg von allem waren - von meinem Vater, vom Wirtshaus, von ganz Colbaely -, da war es mir einfach gleichgültig, die Folgen, die Zukunft, nichts davon hat mich gekümmert.« »Und jetzt?« »Jetzt ist mir das immer noch gleichgültig, du verdammter Trottel. Aber ich fange langsam an, mir wegen dir Gedanken zu machen. Damals, als wir allein waren, war es wunderbar. Die Hälfte der Zeit habe ich vor Angst fast den Verstand verloren, aber abgesehen davon bin ich in meinem ganzen Leben nie glücklicher gewesen. Es war genau das, was ich mir immer von dir erträumt habe - Abenteuer, Liebe und viel Spaß im Dunkeln. Aber bring ein paar Leute mit ins Spiel, und plötzlich bin ich so etwas wie deine lästige kleine Schwester. Sie taucht auf, so viel mehr wie du, als ich es jemals sein kann -« Er unterbrach sie. »Winna, wünschst du dir denn nicht die ganz normalen Dinge? Ein Haus? Kinder?« Sie schnaubte. »Ich glaube, ich warte, bis die Welt gerade einmal nicht untergeht, ehe ich eine Familie gründe, vielen Dank.« »Ich meine es ernst.« »Und ich auch.« Ihre grünen Augen waren eine einzige Herausforderung. »Willst du damit sagen, mit dir kann ich all das nicht haben?« »Ich habe wohl nie wirklich darüber nachgedacht.« »Also redest du nur so laut dahin, ohne näher darüber nachzudenken, was du sagst.« »Ah ... wahrscheinlich.« »Ja, werlic. Das solltest du lieber bleiben lassen.« Unbehagliches Schweigen senkte sich auf sie herab. »Ich betrachte dich nicht als Schwester.« »Nein, natürlich nicht - noch keinen Glockenschlag allein, und schon legst du es darauf an, mir den Rock hochzuheben.« »Ich wollte nur sagen, dass ich froh war, wieder allein mit dir zu sein, das ist alles«, erklärte Aspar. »Einfach weg von den andern.
187 Und es ist nicht so, wie du denkst. Ich bin Waldhüter - ich bin nie irgendetwas anderes gewesen. Damit kenne ich mich aus. Ich arbeite allein, in meinem eigenen Tempo, so wie ich will, und ich bringe etwas zuwege. Ich bin kein Anführer, Winna. Dafür bin ich nicht geschaffen. Vier waren schon schlimm genug. Fünf war so gut wie unerträglich ...« »Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass es dir irgendetwas ausgemacht hat, als Leshya sich uns angeschlossen hat.« j »Hier geht es nicht um Leshya«, wehrte Aspar verzweifelt ab. »Ich versuche, dir etwas zu sagen.« »Weiter.« »Also, dann sind wir plötzlich fünfzig Leute, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin kein Ritter und auch kein Soldat. Ich arbeite allein.« »Und was sagt das über mich?« Er holte tief Luft und fühlte sich, als wäre er im Begriff, kopfüber in einen sehr tiefen Teich zu springen. »Mit dir zusammen zu sein - und nur mit dir - ist wie allein sein, aber besser.« Blinzelnd starrte sie ihn an. Er sah Feuchtigkeit in ihren Augen, und sein Herz wurde schwer. Ihm war klar, was er hatte sagen wollen, aber ihm fehlten eindeutig die richtigen Worte. »Winna -«, begann er abermals. »Sei still«, fiel sie ihm ins Wort. »Das ist das Beste, was du seit langer Zeit zu mir gesagt hast - vielleicht jemals -, also solltest du jetzt wahrscheinlich den Mund halten.« Erleichterung durchströmte Aspar. Er befolgte ihren Rat und überließ sich dem Ritt. Schnee rieselte unstet herab, doch er machte sich keine großen Sorgen, dass die Fährte zuschneien würde; die Spur von ein oder zwei Slinderlingen mochte er im dichten Schneetreiben vielleicht verlieren, nicht jedoch die von hunderten, die hier entlanggekommen waren. Und es waren nicht nur Fährten, die er fand, sondern Blutspuren und gelegentlich einen Leichnam. Es konnte sein, dass 188 sie weder Schmerz noch Angst fühlten, doch sie starben genauso wie alles andere. Das Tageslicht gab ein paar Glockenschläge später ohne großen Kampf auf; Blei dunkelte zu Schwarz, mit einem unangenehmen Versprechen von harter Kälte. Sie zündeten Fackeln an. Es schneite heftiger, und die Flammen zischten und wirbelten im Schneefall. Obgleich Aspar es nicht zugeben wollte, war er müde, so müde, dass seine Knie an Unholds Flanken zitterten. Und auch wenn sie nicht klagte, schien Winna doch ebenfalls dem Umfallen nahe zu sein. Es war ein sehr langer Tag gewesen, ein Tag, den sie fast ausschließlich am Rande des Todes verbracht hatten, und das konnte Eisen zu Rost zermahlen. »Wie hältst du dich da drüben?«, erkundigte sich Aspar. »Der Schnee wird die Spuren zudecken, wenn wir Halt machen«, seufzte sie. »Nicht so, dass ich die Fährte nicht finden kann«, sagte Aspar. »Selbst wenn keine Leichen mehr daliegen, sie haben Baumrinde angekratzt, Äste abgebrochen - ich kann ihnen folgen.« »Was ist, wenn wir anhalten, und sie töten Stephen, während wir uns ausruhen?« »Das werden sie nicht tun - nicht, wenn wir Recht haben.« »Aber vielleicht irren wir uns ja. Möglicherweise schneiden sie ihm um Mitternacht das Herz heraus.« »Möglicherweise«, stimmte Aspar zu. »Aber wenn wir ihn jetzt finden, in der Verfassung, in der wir sind, glaubst du wirklich, wir könnten ihm irgendwie helfen?« »Nein«, gab Winna zu. »Ist das wirklich wichtig?« »Ja«, erwiderte Aspar. »Ich bin kein Ritter aus irgendeinem Kindermärchen, bereit zu sterben, weil die Geschichte behauptet, so müsse es sein. Wir werden Stephen retten, wenn ich glaube, dass wir es überleben können oder zumindest eine leidliche Chance haben. Im Augenblick brauchen wir ein bisschen Ruhe.« 189 Winna nickte. »Ja. Du hast mich überredet. Willst du hier lagern?« »Nein, lass mich dir etwas zeigen. Gleich da vorn.« , »Fühlst du die Kerben?«, fragte Aspar, tastete in der Dunkelheit herum und fand Winnas Hinterteil. »Ja. Und pass ja auf deine Tatzen auf, du alter Bär. So nachsichtig bin ich auch wieder nicht - nicht wenn du mich zwingst, schon wieder auf einen Baum zu klettern.« »Dieser hier sollte leichter zu ersteigen sein.« »Stimmt. Wer hat eigentlich diese Kerben gemacht? Sie sind alt - ich kann Rinde fühlen, die darüber gewachsen ist.« »Ja. Ich habe sie geschlagen, als ich noch ein Junge war.« »Du hast das hier ja von langer Hand geplant.« Aspar hätte beinahe leise gelacht, doch er war zu erschöpft. »Nur noch ein bisschen höher«, versprach er. »Dann kannst du einen Vorsprung fühlen.« »Hab ihn«, meldete Winna. Kurz darauf folgte Aspar ihr auf eine harte, gerade Fläche.
»Dein Winterpalast?«, fragte sie. »So was Ähnliches«, antwortete er. »Ein paar Wände würden ihm nicht schaden.« »Nun, dann könnte ich ja nichts sehen, nicht wahr?«, wandte Aspar ein. »Wir sehen auch so nichts«, erwiderte Winna. »Stimmt. Jedenfalls hat er ein Dach, und hier sollte ein Stück Leinwand liegen, das wir aufspannen können, um uns das Ärgste von diesem noar'wis vom Leib zu halten. Nimm dich vor dem Rand in Acht. Ich habe das hier nur für eine Person gebaut.« »Dann bin ich also die erste Frau, die du mit nach Hause gebracht hast?« »Äh ...« Er hielt inne, fürchtete sich, darauf zu antworten. »Oh«, stieß sie hervor. »Tut mir Leid, ich habe nur einen Scherz gemacht. Ich wollte nicht davon anfangen.« 190 »Es ist lange her«, sagte Aspar. »Es macht mir nichts aus. Ich habe nur nicht...« Jetzt war er sich sicher, dass er nicht noch mehr sagen sollte. Doch dann spürte er ihren Handschuh auf seinem Gesicht. »Ich bin nicht eifersüchtig auf sie, Aspar. Das war, bevor ich geboren war, wie könnte ich also eifersüchtig sein?« »Richtig.« »Richtig. Also, wo ist der Ofen?« »Äh, ich glaube, du hast gerade die Hand darauf gelegt«, sagte er. »Oh, na schön«, seufzte Winna. »Das ist wohl besser als Erfrieren.« Es war erheblich besser als Erfrieren, dachte Aspar, als das Morgengrauen ihn weckte. Winna war in seine Armbeuge geschmiegt, ihre bloße Haut noch immer heiß an der seinen, und sie waren beide in Felle und Decken eingerollt. Sie hatten Lebensgeister entdeckt, von denen keiner von ihnen geglaubt hatte, dass sie vorhanden seien, genug, dass es ein Wunder war, dass sie während der Nacht nicht von der Plattform gerollt waren. Er atmete weiter tief und langsam, wollte sie noch nicht wecken. Doch er ließ seinen Blick umherschweifen, staunte noch immer über das, was ihn vor all den Jahren als Knabe mit Ehrfurcht erfüllt hatte. »Da bist du ja«, murmelte Winna. »Du bist wach?« »Schon vor dir«, antwortete sie. »Hab nur geschaut. Ich hatte keine Ahnung, dass es einen solchen Ort gibt.« »Ich nenne sie die Tyrannen«, sagte Aspar. »Tyrannen?« Er nickte und blickte zu den weit verzweigten, ineinander verflochtenen Ästen des gewaltigen Baums empor, in dem sie ruhten, und zu den Ästen derer überall rundherum. »Ja. Das hier ist der größte, älteste Eiseneichenhain im ganzen Wald. Keine anderen Bäume können hier leben die Eichen neh191 men ihnen das Licht. Sie sind die Könige, die Herrscher des Walcjes. Es ist eine völlig andere Welt hier oben. Es gibt Lebewesen, die hier auf diesen Ästen hausen und nie auf den Boden hinuntersteigen.« Winna lehnte sich vor, um über den Rand der Plattform zu spähen. »Wie tief geht es denn - oh!« »Nicht runterfallen«, mahnte er und fasste sie ein wenig fester. »Das ist weiter, als ich dachte«, keuchte sie. »Viel weiter. Und wir wären fast, letzte Nacht hätten wir beinahe -« »Nein, niemals«, log Aspar. »Ich hatte uns die ganze Zeit im Griff.« Sie lächelte spöttisch und küsste ihn. »Weißt du«, sagte sie, »als ich jünger war, dachte ich, du wärst aus Eisen. Weißt du noch, wie du und Dovel die Leichen des Schwarzen Warg und seiner Männer gebracht habt? Es war, als wärst du der leibhaftige heilige Michael. Ich dachte, mit dir an seiner Seite brauchte man sich wegen nichts Sorgen zu machen.« Ihre Augen waren ernst, so schön, wie er sie noch nie gesehen hatte. Irgendwo in der Nähe hämmerte ein Krähenspecht gegen einen Baum und stieß dann ein kehliges Trillern aus. »Jetzt weißt du es besser«, erwiderte er. »Fend hat dich mir weggenommen, direkt vor meiner Nase.« »Ja«, sagte sie leise. »Und du hast mich zurückgeholt, aber da war es zu spät. Da wusste ich schon, dass du scheitern kannst, dass, ganz gleich wie stark und entschlossen du bist, das Böse mich trotzdem kriegen kann.« »Es tut mir Leid, Winna.« Sie umklammerte seine Hand. »Nein, du verstehst nicht. Ein Mädchen verliebt sich in einen Helden. Eine Frau verliebt sich in einen Mann. Ich liebe dich nicht, weil ich glaube, dass du mich beschützen kannst - ich liebe dich, weil du ein Mann bist, ein guter Mann. Es ist nicht entscheidend, ob du immer Erfolg hast, sondern dass du es immer versuchen wirst.« Sie schaute weg, wieder hinunter zum fernen Waldboden, was gut war, denn ihm fiel keine Antwort darauf ein. 192 Er erinnerte sich an Winna als Kind, ein Bündel aus Beinen, Händen und blondem Haar, das im Dorf herumgerannt war und ständig Geschichten aus der weiten Welt hören wollte. Aspar war sich nicht sicher, was Liebe war. Nachdem seine erste Frau Querla ermordet worden war, hatte er zwanzig Jahre lang Frauen und die Verstrickungen, die sie mit sich brachten, gemieden. Winna hatte ihn
überrumpelt, hatte sich als kleines Mädchen getarnt, als er es schon längst hätte besser wissen müssen. Doch am Ende war die Überraschung erfreulicher Natur gewesen, und für kurze Zeit hatte er sich ihr so sehr hingegeben, wie er es eigentlich gar nicht für möglich gehalten hätte. Das war gewesen, bevor Fend sie verschleppt hatte. Fend hatte seine erste Liebe umgebracht; es schien seine Bestimmung zu sein, sie alle zu töten. Auf jeden Fall hatte Aspar sich seitdem mehr und mehr unbehaglich gefühlt, war sich seiner Gefühle immer weniger sicher gewesen. Er wusste, dass sie vorhanden waren, doch worauf es hinauslief, war, dass es, solange sie unterwegs waren, kämpften und sich ständig in Lebensgefahr befanden, einfach war, nicht an die Zukunft zu denken. Dass man sich leicht vorstellen konnte, Winna würde, wenn all dies vorbei war, wieder zu ihrem Leben zurückkehren, und er zu seinem, und dass er sie vermissen und schöne Erinnerungen behalten würde, doch dass es auch ein wenig eine Erleichterung wäre. Jetzt jedoch wurde ihm plötzlich klar, wie tief das Wasser war, und er war sich einfach nicht sicher, ob er darin schwimmen konnte. Ohne es zu wollen, dachte er an Leshya. Die Sefry-Frau war zäh und klug und behielt, was sie an Gefühlen hatte, für sich. Mit ihr würde es keine Verwirrung geben; mit ihr wäre alles aufrichtig und einfach Jäh fühlte er den Baum erbeben. Nicht durch den Wind, der Rhythmus war völlig falsch, und es stieg aus den Wurzeln herauf. 193 Winna musste sein Stirnrunzeln gesehen haben. »Was ist?« Er legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf, dann schaute er wieder zum Boden hinunter. Das Vibrieren in dem Baum hörte nicht auf, doch er konnte sich nicht denken, was es war. Vielleicht ein paar hundert Reiter, so viele, dass das Hämmern der Hufe ineinander verschmolz. Vielleicht waren es wieder Slinderlinge, obwohl es sich auch danach nicht anfühlte. Das Beben hatte etwas Anhaltendes, das nichts glich, was er jemals erlebt hatte - und es wurde stärker. Er atmete flacher, wartete auf das Geräusch. Hundert Herzschläge später vernahm er eine Art Schaben - einen knirschenden Laut. Ein paar tote Blätter lösten ihren Klammergriff an den Zweigen und taumelten zu Boden. Aspar konnte noch immer nichts sehen, doch ihm fiel auf, dass der Krähenspecht verstummt war - wie alle Vogellaute. Das Geräusch war jetzt vernehmlicher, und das Zittern des Baums war sogar noch deutlicher zu spüren, sodass er schließlich einen schweren Rhythmus fühlte. Ein dumpfes Wump-wump-wump, fast zu tief, um hörbar zu sein, das Aspar verriet, dass etwas sehr Großes und sehr Schweres durch den Wald rannte, schneller, als ein Pferd galoppieren konnte. Und es schleppte etwas Riesiges hinter sich her. Er bemerkte, dass Winnas Atem schneller ging, als er vorsichtig nach seinem Bogen und den Pfeilen griff, also fasste er abermals ihre Hand und drückte sie. Er schaute zum Himmel hinauf; er war immer noch grau, doch die Wolkendecke war hoch und eher licht. Es sah nicht so aus, als ob es noch mehr Schnee geben würde. Was immer es war, es kam aus derselben Richtung wie sie, aus Nordwest. Die Äste der Bäume in dieser Richtung schwankten sichtbar. Er atmete tiefer und langsamer, heftete den Blick fest auf die Alte Königsstraße unter ihnen, ein Stück weit nördlich. Zuerst erhaschte er nur kurze Blicke auf etwas ungeheuer Großes, Schwarzes und Grau-Grünes, das sich durch die Bäume wand, 194 etwas, das seine Sinne jedoch nicht zu einer Wirklichkeit vereinigen konnten. Er konzentrierte sich auf zwei riesige Tyrannen, die sich über eine lange Lichtung auf der Alten Königsstraße wölbten; wahrscheinlich würde er es dort zum ersten Mal gut sehen können. Ein Nebel ergoss sich durch die Bäume, und dann erschien etwas Dunkles, Geschmeidiges, das sich so schnell bewegte, dass Aspar zuerst glaubte, er erblicke eine eigenartige Flut, einen Fluss, der über der Erde dahinströmte. Doch dann hielt es ebenso plötzlich an wie das Beben seines Dahinrasens und das Zittern des Baums. Der Nebel wallte, und etwas wie eine grüne Lampe brannte sich durch ihn hindurch. Augenblicklich spürte Aspar, wie seine Haut prickelte und brannte, wie der Beginn eines Fiebers, und er legte Winna die Hand übers Gesicht, um ihr die Sicht zu nehmen. Denn als sich der Nebel lichtete, sah er, dass die grüne Lampe ein Auge war, nur als ein schmaler Spalt sichtbar, da sie oberhalb von ihm waren. Der Kopf, schätzte er, war so lang, wie ein normal gewachsener Mann groß war. Das Wesen hatte eine lange, spitz zulaufende Schnauze mit fleischigen Nüstern, ein wenig wie die eines Pferdes, doch zum Hals hin wurde der Schädel dicker und breiter, sodass er dem einer Natter ähnelte. Zwei schwarze, hornige Knochenkämme ragten direkt hinter den Augen hervor, die aus runden, knochigen Höhlen hervorquollen. Das Geschöpf hatte keine sichtbaren Ohren, dafür aber eine Halskrause aus Stacheln, die an der Schädelbasis begann und sich am dornigen Rückgrat hinabzog. Es war keine Schlange, denn er konnte sehen, dass es nach ungefähr vier Königsellen sehr breitem Hals auf zwei ungeheuer dicken Beinen stand, die in etwas endeten, das wie riesenhafte, fünffach gespaltene Hufe aussah.
Nichtsdestotrotz zog es seinen Bauch wie eine Schlange über den Boden, und sein Leib wand sich hinter ihm, so lang, dass er nicht erkennen konnte, ob es Hinterbeine besaß oder nicht - und er konnte schätzungsweise zehn oder zwölf Königsellen der Kreatur sehen. Der Kopf hob sich, und einen Moment lang fürchtete er, das 195 Wesen würde seine tödlichen Augen auf sie richten, doch stattdessen senkte es die Nüstern zum Boden und begann, an der Fährte zu schnüffeln. Der Hals bog sich hierhin und dorthin. Ist es uns gefolgt oder den Slinderlingen?, fragte er sich. Und wem wird es jetzt folgen? Erst da fiel ihm etwas auf, das er vorher nicht bemerkt hatte. Oberhalb der Beine wurde der Leib des Geschöpfs breiter, um einen mächtigen Wulst aus Schultermuskeln zu tragen - und da, an der dicksten Stelle, war etwas Seltsames, ein Farbfleck, der nicht dorthin zu gehören schien, etwas ragte dort empor ... Dann erfasste er es. Es war ein Sattel, der um den Körper der Kreatur geschnallt war, und darauf saßen zwei Gestalten. Der Kopf der einen war unbedeckt, und die andere trug einen breitkrempigen Hut. »Sceat«, murmelte Aspar. Wie zur Antwort blitzte etwas Bleiches auf, als der Mann mit dem Hut emporschaute. Und obgleich die Entfernung groß war und der Nebel ihm immer wieder die Sicht nahm, erkannte Aspar an der Augenklappe und der Form der Nase genau, wer es war. Fend. 15. Kapitel Spuk Herzog Ernst griff nach seinem Schwert, doch Neils Klinge fuhr bereits aus der Scheide, und Hexenschein züngelte daran hinauf. Ernst erstarrte und gaffte, ebenso wie seine Männer, und Neil ließ sein Pferd rückwärts gehen, um nicht eingeengt zu sein, um sowohl Ernst als auch Elyoner im Blick zu haben. 196 »Bei meinen Vätern und Vorvätern«, knurrte er. »Anne Dare steht unter meinem Schutz, und ich werde jeden niederstrecken, der droht, Hand an sie zu legen.« Eine zweite Waffe zischte aus der Scheide, und Cazio war mit einem Satz vom Pferd herunter und trat zwischen Anne und Ernst; allerdings wandte er den Handwerksmeistern den Rücken zu, was nach Neils Ansicht jetzt möglicherweise ein Fehler war. »Zauberei!«, stieß Ernst hervor, der immer noch Draug anstarrte. »Hexenkunst. Der Praifec wird sich mit Euch befassen, wer immer Ihr seid.« »Das wird Eurem Leichnam ein großer Trost sein«, entgegnete Neil. »Auf jeden Fall habe ich dieses Schwert einem Diener des Praifec abgenommen, was Euch gewiss ebenso seltsam vorkommt wie mir.« Ernst zog blank. »Ich habe keine Angst vor Eurem Schwert und keine Lust auf Eure Lügen«, verkündete er. »Ich werde den Befehl meines Herrn ausführen.« »Mein Oheim ist ein Thronräuber«, sagte Anne. »Ihr schuldet ihm keine Treue. Ihr schuldet sie mir.« Ernst spuckte aus. »Euer Vater mag dem Comven so lange zugesetzt haben, bis er Euch zur rechtmäßigen Erbin erklärt hat, aber lasst Euch nicht verwirren, Prinzessin. Es gibt nur einen Dare, dessen Blut dick genug ist, um Crothenien zu regieren, und das ist König Robert. Auf was für ein kindisches Abenteuer Ihr Euch auch immer eingelassen habt, ich versichere Euch, hier ist es zu Ende.« »Ach, lasst das Mädchen doch noch ein bisschen Kind sein«, mischte Elyoner sich ein. »Herzogin?«, fragte Ernst. »Anne, Liebes«, sagte Elyoner, »vielleicht schließt du jetzt lieber die Augen.« Neil hörte das jähe Surren von Bogensehnen, und seine Haut wurde kalt und heiß, während er seine Dummheit verfluchte. Doch es war Herzog Ernst, der die größte Überraschung erleb197 te. Ein Pfeil durchbohrte seine Kehle, und ein zweiter verschwand zu einem Viertel der Schaftlänge in seiner rechten Augenhöhle. Weitere Geschosse folgten, und binnen weniger Herzschläge waren Ernsts Reiter allesamt aus dem Sattel gestürzt. Erst dann tauchten vier Männer in gelben Beinkleidern und orangefarbenen Überwürfen hinter der Mauer auf. Sie machten sich daran, den Verwundeten mit langen, scharfen Messern die Kehlen durchzuschneiden. Anne schnappte vor Staunen nach Luft. »Ach, Liebes«, tadelte Elyoner. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht hinsehen.« »Das ist nicht das erste Mal, dass ich Menschen sterben sehe, Tante Elyoner«, erwiderte Anne. Sie sah blass aus, und ihre Augen waren feucht, doch sie sah dem Morden mit festem Blick zu. »Traurigerweise, ja«, sagte Elyoner. »Trotz eines Rests von Naivität kann ich sehen, dass du erwachsen geworden bist, wie? Nun, genug von dieser unerfreulichen Angelegenheit«, fuhr sie fort und zog die Zügel an. »Schauen wir nach, was mein Gesinde in der Küche auftreiben kann.« Als sie die Allee hinauf auf das Haus zuritten, ließ Neil seine Stute vortraben, bis er neben Elyoner ritt. »Herzogin -«
»Ja, Sir Ritter, ich weiß, dass es ungehobelt war, mich für eine Verräterin und Lügnerin zu halten, aber Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen«, fiel sie ihm ins Wort. »Versteht Ihr, ich hatte nicht erwartet, dass der Herzog vor morgen hier eintrifft - und ich hatte Vorkehrungen getroffen, dass ihm etwas Unliebsames widerfährt, bevor er Glenchest überhaupt erreicht.« »Robert wird bald wissen, dass ihnen etwas zugestoßen ist«, sagte Neil. »Tss, tss«, seufzte Elyoner. »Dies sind schlimme Zeiten. Ungeheuer und schreckliche Menschen gehen auf den Straßen um. Nicht einmal die Männer des Königs sind sicher.« »Ihr glaubt, Robert wird das nicht durchschauen?« 198 »Ich denke, wir haben ein wenig Zeit, Täubchen«, versicherte ihm Elyoner. »Zeit genug, um zu essen, zu trinken und uns auszuruhen. Morgen ist noch früh genug für Pläne, würde ich sagen. Wir müssen frisch sein, wenn wir besprechen, was als Nächstes zu tun ist. Schließlich habt Ihr doch nicht gedacht, dass Ihr einfach nach Eslen reitet und verlangt, dass sie Euch die Stadttore öffnen, oder?« Neil spürte, wie sich sein Mund ein wenig verzog. »Nun ja, das ist das Problem«, erwiderte er. »Wenn ich freimütig sprechen darf, Herzogin ...« »Ihr dürft so freimütig mit mir sprechen, wie Ihr mögt«, sagte sie trocken. »Oder Ihr könnt mich täuschen und verhöhnen. So oder so werde ich meine Zerstreuung finden.« Ihre Lippen wölbten sich ein wenig. »Ich habe viele Schlachten geschlagen«, erklärte Neil, ohne auf ihr Getändel zu achten. »Mein Vater hat mir das erste Mal einen Speer gegeben, als ich neun war, um Weihand-Piraten zu töten, die in Hansas Diensten standen. Nachdem mein Fah tot war, hat mich Herzog Fail de Liery in seinen Haushalt aufgenommen, und ich habe für ihn gekämpft. Jetzt bin ich ein Ritter Crotheniens. Aber ich weiß nicht viel darüber, wie man Krieg führt, versteht Ihr? Ich habe Überfälle angeführt und Schanzen verteidigt, aber eine Stadt und eine Festung einzunehmen - besonders eine wie Eslen -, wie man das macht, weiß ich nicht. Und Anne genauso wenig, fürchte ich.« »Ich weiß«, pflichtete Elyoner ihm bei. »Es ist alles so kostbar, dieser Feldzug, auf dem Ihr Euch da befindet. Aber, versteht Ihr, mein Herzblatt, das ist ein Grund mehr, weshalb Ihr ein wenig Zeit mit mir verbringen solltet. Damit ich Euch mit den richtigen Leuten bekannt machen kann.« »Was meint Ihr damit?« »Bitte habt ein wenig Geduld, Täubchen. Vertraut Elyoner. Habe ich Euch je schlecht beraten?« »Ein Beispiel fällt mir ein«, bemerkte Neil steif. 199 »Nein«, erwiderte Elyoner leise. »Ich denke nicht. Dass nichts Gutes dabei herausgekommen ist, war nicht meine Schuld. Euer Stelldichein mit Fastia hat ihren Tod nicht verursacht, Sir Neil. Sie ist von bösen Menschen getötet worden. Glaubt Ihr, ein Ritter, der sie nicht geliebt hat, hätte sie retten können?« \ »Ich war abgelenkt«, sagte Neil. »Das glaube ich nicht. Muriele hat es nicht geglaubt, und ich weiß, dass Fastia Euch niemals einen Vorwurf machen würde. Ebenso wenig würde sie wollen, dass Ihr Euch übermäßig lange grämt. Ich weiß, dass Ihr um sie getrauert habt, aber sie ist tot, und Ihr seid noch am Leben. Ihr solltet - oh weh.« Neil spürte, wie seine Wangen brannten. »Sir Neil?« »Herzogin?« »Euer Gesicht ist so reizend ehrlich. Ihr habt gerade so verlegen ausgesehen. An wem habt Ihr denn Gefallen gefunden?« »An niemandem«, antwortete Neil hastig. »Hah. Ihr meint, Ihr wünscht, niemand hätte es Euch angetan. Ihr meint, jemand hat Euch den Kopf verdreht, aber irgendwie glaubt Ihr, das wäre falsch. Das schlechte Gewissen ist Eure wahre Geliebte, Sir Ritter. Nennt mir eine Frau, die Ihr geliebt habt, ohne wegen dieser Zuneigung ein schlechtes Gewissen zu haben.« »Bitte, Herzogin, ich möchte nicht darüber sprechen.« »Vielleicht braucht Ihr mehr von meinem Kräutergebräu.« Neil blickte verzweifelt nach vorn, hoffte auf Erlösung von diesem Gespräch. Das Haus war so weit von den Toren entfernt. Vorhin war ihm die Entfernung gar nicht so groß vorgekommen. Seit er Anne in Dunmrogh gefunden hatte, war es ihm gelungen, sein Herz schweigen zu lassen, aber Glenchest weckte es erneut. Er erinnerte sich daran, wie er zum ersten Mal hierher geritten war, auf einem sehr viel unbeschwerteren Ausflug. Er erinnerte sich, wie Fastia ihm eine Blumenkette geflochten hatte, die er sich um den Hals hatte hängen sollen. Und dann, später, nachdem viel getrunken worden war, war sie in seine Kammer gekommen ... 200 Die Tochter meiner Königin, die zu beschützen ich geschworen hatte. Eine verheiratete Frau. Sie war in seinen Armen gestorben, und er hatte geglaubt, sein Herz wäre so verwüstet, dass es niemals wieder würde fühlen können. Bis er Brinna begegnet war, die ihm das Leben gerettet und ihren Traum geopfert hatte, damit er seine Pflicht erfüllen konnte. Er liebte sie nicht, nicht so, wie er Fastia geliebt hatte. Doch irgendetwas war da.
Wo war sie jetzt? Auch tot? Wieder in dem Kerker, aus dem sie geflohen war? »Armes Ding«, seufzte Elyoner. »Armes Ding. Euer Herz ist für Tragödien geschaffen, fürchte ich.« »Deshalb muss meine Pflicht auch meine einzige Liebe sein«, erwiderte er, abermals steif. »Und das wäre die allergrößte Tragödie«, sagte Elyoner, »wenn Ihr glaubt, Ihr könntet Euch daran halten. Aber Euer Herz ist viel zu romantisch, um all seine Tore zu verschließen.« Und endlich, zu spät, erreichten sie den Eingang des Herrenhauses. Cazio stützte die Hand gegen die Mauer, um sich aufrecht zu halten, rülpste und hob die Weinkaraffe an die Lippen. Er trank einen tiefen Schluck. Der Wein war anders als alles, was er je getrunken hatte - trocken und fruchtig, mit einem Nachgeschmack von Aprikosen. Die Herzogin hatte behauptet, er werde in einem nahe gelegenen Tal angebaut, was ihn zu dem ersten crothenischen Wein machte, den er je gekostet hatte. Er blickte zum mondlosen Himmel auf und hob die Karaffe. »Z'Acatto«, sagte er. »Du hättest mitkommen sollen! Wir hätten wegen dieses Weins streiten können. Auf dich, alter Mann!« Z'Acatto hatte gesagt, es gäbe keinen Wein nördlich von Tero Galle, der es wert sei, getrunken zu werden, doch dieser hier be201 wies, dass er sich irrte. Ob er zu starrsinnig wäre, um das zuzugeben, das war natürlich die Frage. Cazio überlegte, wie es seinem Lehrmeister wohl erging. Bestimmt hütete er angesichts seiner Verletzungen noch immer in Dunmrogh das Bett. Er sah sich in dem Garten um, den er entdeckt hatte. Das Abendessen war hervorragend und fremdartig gewesen. Die Länder des Nordens mochten ja ein wenig barbarisch sein, das Essen jedoch war auf jeden Fall interessant, und bei der Herzogin gab es reichlich davon. Doch nach ein paar Gläsern Wein war das Stimmengewirr um ihn herum völlig unverständlich geworden. Die Herzogin war in der Lage, eine recht annehmbare Unterhaltung auf Vitellianisch zu führen, doch obgleich sie während des Ritts mit ihm herumgeschäkert hatte, war sie natürlich darauf bedacht, Annes Neuigkeiten zu erfahren. Er war zu müde, um zu versuchen, sich unbeholfen in der Sprache des Königs verständlich zu machen, also hatte er sich nach dem Mahl auf die Suche nach ein wenig Abgeschiedenheit gemacht und sie hier gefunden. Glenchest - es gab so sonderbare Namen in diesem Teil der Welt - schien mehr aus Gärten zu bestehen als aus irgendetwas anderem. So ähnlich wie das Anwesen des Mediccio in z'Irbina, wo er und z'Acatto einmal eine Flasche des berühmten Echi'dacrumi de Sahto Rosa gestohlen hatten. Natürlich war in z'Irbina kein eiskalter Regen gefallen, und ebenso wenig neigten vitellianische Gärten zu Hecken, die in Form von Steinmauern zurechtgestutzt waren, so wie hier, doch das Ergebnis war trotzdem hübsch. Es gab sogar eine Statue der heiligen Fiussa, deren Abbild auch den Marktplatz seiner Heimatstadt Avella zierte. Dadurch fühlte er sich ein wenig wie zu Hause. Er zog den Hut vor der nackten, zierlichen Heiligen, die in der gepflasterten Mitte eines kleinen, kleeblattförmigen Hofs stand, und ließ sich auf einer Marmorbank nieder, um seinen Wein auszutrinken. Seine Hände schmerzten vor Kälte, doch der Rest von ihm war verblüffend warm, was nicht nur dem Wein zu verdanken war, sondern auch den ausgezeichneten Kleidern, die die Herzo202 gin ihm gegeben hatte. Die orangefarbenen Beinkleider waren dick und aus Wolle, und das schwarze Wams war aus weichem, pelzgefüttertem Leder. Darüber trug er einen gesteppten Mantel mit weiten Ärmeln, und seine Füße steckten in Lederschuhen. Er saß in dem warmen Lichtfleck, den seine Lampe verbreitete, und hob gerade erneut die Karaffe, um auf den hervorragenden Geschmack der Herzogin in Sachen Kleidung zu trinken, als eine weibliche Stimme seine Träumereien störte. »Cazio?« Er drehte sich um und erblickte Austra, die dastand und ihn betrachtete. Elyoner hatte auch sie beschenkt - ein dunkelblaues Kleid, über dem sie einen Mantel aus irgendeinem tiefbraunen Pelz trug, den Cazio nicht kannte, obwohl er dachte, dass die Kapuze mit weißem Nerz gefüttert war. Ihr Gesicht wirkte gerötet, selbst im Lampenlicht - wahrscheinlich von der Kälte. »Hallo, Schönheit«, sagte er. »Willkommen in meinem kleinen Königreich.« Austra antwortete einen Augenblick lang nicht. Cazio war sich nicht sicher, ob es am Licht lag, dass sie auf den Fersen vor- und zurückzuschwanken schien, als versuche sie, auf etwas Schmalem das Gleichgewicht zu halten. »Findet Ihr mich wirklich schön?«, platzte sie heraus, und Cazio begriff, dass sie mindestens ebenso viel Wein getrunken hatte wie er. Das war anscheinend etwas, worin die Herzogin gut war - andere Leute dazu zu bringen, ihren Wein zu trinken. »Wie das Licht des Sonnenaufgangs, wie die Blütenblätter des Veilchens«, beteuerte er. »Nein«, wehrte sie ein wenig ärgerlich ab. »Keine solchen Schmeicheleien. So etwas sagt Ihr zu jeder Frau, der Ihr begegnet. Ich will wissen, was Ihr über mich denkt, nur über mich.« »Ich -«, setzte er an, doch sie sprach hastig weiter. »Ich dachte, ich müsste sterben«, sagte sie. »Ich habe mich noch
203 nie so vollkommen allein gefühlt. Und ich habe gebetet, dass Ihr mich findet, aber ich hatte Angst, Ihr wärt schon tot. Ich habe Euch zu Boden fallen sehen, Cazio.« »Und ich habe Euch gefunden«, bemerkte er. »Ja, das stimmt«, erwiderte sie. »Ihr habt mich gefunden, und es war wunderbar. Wie das erste Mal, als Ihr mich ... als Ihr uns gerettet habt, in der Nähe des Konvents. Ihr habt Euch zwischen uns und das Verderben gestellt, ohne auch nur zu fragen, wieso. Damals habe ich mich in Euch verliebt, wusstet Ihr das?« »Ich ... nein«, antwortete er. »Aber dann habe ich Euch besser kennen gelernt, und mir ist klar geworden, dass Ihr das für jeden getan hättet. Ja, Ihr habt Anne den Hof gemacht, aber selbst wenn Ihr keine von uns gekannt hättet, hättet Ihr das Gleiche getan.« »Das würde ich nicht sagen«, wehrte Cazio ab. »Ich schon. Ihr seid wie ein Schauspieler auf einer Bühne, Cazio - nur ist das, was Ihr spielt, Euer eigenes Leben. Ihr denkt Euch Eure Reden und Eure Gesten aus, Ihr stellt Euch fast andauernd in Pose. Aber unter alldem, ob Ihr es nun wisst oder nicht, das, was Ihr zu sein vorgebt - das seid Ihr wirklich. Und jetzt, wo ich das verstanden habe, begreife ich, dass ich Euch umso mehr liebe. Ich verstehe auch, dass Ihr mich nicht liebt.« Cazios Inneres zog sich zusammen. »Austra -« »Nein, still. Ihr liebt mich nicht. Ihr küsst mich gern. Aber Ihr liebt mich nicht. Vielleicht liebt Ihr Anne, darüber bin ich mir nicht ganz im Klaren, aber Ihr versteht doch jetzt, dass Ihr sie nicht haben könnt, oder?« Sie weinte, und plötzlich wünschte sich Cazio nichts so sehr, wie diese Tränen zu trocknen, doch er fühlte sich auf seltsame Weise gelähmt. »Ich weiß, dass Ihr mit mir herumgetändelt habt, um sie eifersüchtig zu machen. Und wie ich Euch kenne, macht die Tatsache, dass Anne unerreichbar ist, sie wahrscheinlich noch reizvoller. Aber ich bin hier, Cazio, und ich liebe Euch, und auch wenn Ihr 204 nicht das Gleiche empfindet, sehne ich mich nach Euch, sehne ich mich nach dem, was Ihr mir geben könnt.« Sie drängte die Tränen zurück und trat trotzig einen Schritt näher. »Im letzten Jahr bin ich ein Dutzend Mal nur knapp dem Tod entronnen. Ich hatte Glück, aber es wird alles noch schlimmer werden. Ich glaube nicht, dass ich meinen nächsten Geburtstag erleben werde, Cazio. Wirklich nicht. Und bevor ich sterbe, will ich ... ich will mit Euch zusammen sein, versteht Ihr? Ich erwarte keine Heirat, oder Liebe, oder auch nur Blumen, aber ich sehne mich nach Euch, jetzt, solange noch Zeit ist.« »Austra, habt Ihr das wirklich gut bedacht?« »Sie haben davon geredet, mich zu schänden, Cazio«, sagte Austra. »Glaubt Ihr, ich will meine Jungfräulichkeit auf diese Weise verlieren? Bin ich so hässlich, dass -« »Halt«, unterbrach er sie mit erhobener Hand, und sie verstummte. Ihre Augen wirkten größer als sonst, sanfte Schatten auf ihrem Gesicht. »Das wisst Ihr doch besser.« »Ich weiß gar nichts besser.« »Wirklich? Ihr scheint aber eine ganze Menge über mich zu wissen«, erwiderte er. »Was ich empfinde, was ich nicht empfinde. Also, lasst mich Euch Folgendes sagen, Austra Orunsadata -« »Rungsdautar«, verbesserte sie ihn. »Wie auch immer man das ausspricht. Worauf ich hinauswill -« »Worauf wollt Ihr hinaus?« »Ich ...« Er hielt inne, suchte einen Moment lang, und der Augenblick kam zurück, kurz bevor die Slinderlinge angegriffen hatten, als er sie erblickt hatte, gefesselt, als er gesehen hatte, dass es Austra war und nicht Anne. Er fasste sie bei den Schultern und küsste sie. Zuerst waren ihre Lippen kalt und regungslos, dann jedoch zitterten sie unter den seinen, und ihre Arme schlangen sich um ihn, und sie seufzte, während ihr Körper weich wurde und sich an ihn schmiegte. »Worauf ich hinauswill«, sagte er und löste sich nach langer, langer Zeit von ihr, und er war sich einigermaßen sicher, was er sa205 gen wollte. »Worauf ich hinauswill, ist, dass du mich nur halb so gut verstehst, wie du denkst. Ich liebe dich nämlich doch.« »Oh«, sagte sie, als er sie abermals an sich zog. »Oh.« Als der Diener die Tür hinter ihr schloss, sank Anne aufs Bett und lauschte dem leisen Wispern von Schuhen auf Stein, bis es verklang. Das Abendessen war fast unerträglich gewesen; es war eine Ewigkeit her, dass sie an einer förmlichen Tafel gespeist hatte, und obgleich es an Elyoners Tisch ausgelassener zuging als an den meisten anderen, hatte sie trotzdem das Bedürfnis gehabt, mit geradem Rücken dazusitzen und sich um geistreiche Unterhaltung zu bemühen. Den Wein, der ihr vielleicht geholfen hätte, sich zu entspannen, hatte sie gemieden, weil ihr bei dem Gedanken an starke Getränke immer noch ein wenig übel wurde. Das Essen war köstlich gewesen, nach dem Verhalten ihrer Gefährten zu urteilen, doch sie hatte kaum etwas geschmeckt. Jetzt, endlich, hatte sie etwas, das sie sich seit - nun ja, seit Monaten gewünscht hatte. Sie war allein.
Sie streckte die Hand nach dem Fuß des Bettes aus, wo ein hölzerner Löwenkopf auf dem Bettpfosten Wache hielt, und rieb die glasglatte Wölbung des Schädels. »Hallo, Lew«, seufzte sie. Es war alles so vertraut und gleichzeitig so seltsam. Wie oft hatte sie in diesem Zimmer gewohnt? Fast einmal im Jahr. Das erste Mal, erinnerte sie sich, war sie ungefähr sechs gewesen, und Aus-tra fünf. Elseny, Annes Zweitälteste Schwester, war acht gewesen. Es war das erste Mal, dass Fastia, die Älteste, damit betraut worden war, auf die drei Mädchen aufzupassen; sie musste ungefähr dreizehn gewesen sein. Anne konnte sie jetzt vor sich sehen; ihren jüngeren Augen war Fastia natürlich schon beinahe erwachsen erschienen, eine Frau. Wenn sie sie jetzt betrachtete, in ihrem Baumwollnachthemd, war sie noch immer nur ein dünnes junges Mädchen, die Brüste win206 zige Wölbungen. Ihr Gesicht hatte bereits die oft gerühmte Schönheit ihrer Mutter, jedoch noch immer in mädchenhafter Tarnung. Ihr langes dunkles Haar wellte sich, weil es vorhin für den Abend geflochten gewesen war. »Hallo, Lew«, hatte Fastia gesagt und den Löwenkopf zum ersten Mal gerieben. Elseny hatte gekichert. »Du bist verliebt!«, behauptete sie. »Du bist in Leuhaert verliebt!« Anne konnte sich kaum noch erinnern, wer Leuhaert gewesen war. Der Sohn irgendeines Grefft oder Herzogs, der einmal zur Zeit der Wintersonnenwende an den Hof gekommen war; ein gut aussehender Knabe, dessen Manieren, wenngleich gut gemeint, niemals wirklich passend gewesen waren. »Vielleicht«, sagte Fastia. »Und weißt du, was sein Name bedeutet? Löwenherz. Er ist mein Löwe, und da er nicht hier ist, muss eben der alte Lew herhalten.« Anne legte die Hand auf den Löwenkopf. »Oh, Lew!«, sagte sie fröhlich. »Bring mir auch einen Prinzen.« »Und mir auch!«, kicherte Austra und klatschte auf das Holz. Während der nächsten zehn Jahre hatten sie das zur Gewohnheit gemacht, hatten immer Lews Kopf gerieben, auch nachdem Fastia geheiratet hatte. In Erinnerungen versunken, hatte sie die Lider geschlossen, doch als eine Hand die ihre streifte, riss sie die Augen wieder auf und schnappte nach Luft. Ein Mädchen stand dort, ein Mädchen mit goldenem Haar. »Elseny?«, fragte Anne und zog ihre Hand weg. Es war Elseny, augenscheinlich im selben Alter, in dem Anne sie zuletzt gesehen hatte. »Hallo, Lew«, sagte Elseny, ohne auf Anne zu achten. »Hallo, alter Junge. Ich glaube, Fastia hat etwas Unziemliches vor, aber wenn du nichts sagst, sage ich auch nichts. Und ich werde heiraten, stell dir das mal vor!« Noch einmal tätschelte Elseny den hölzernen Kopf und ging 207 dann wieder zur Tür. Anne hörte den Atem in ihren Ohren rauschen. »Elseny!«, rief sie, doch ihre Schwester antwortete nicht. Wieder blickte sie auf und sah Fastia dort stehen. »Hallo, Lew.« Fastia bedachte den Bettpfosten mit einer Liebkosung, bei der ihre Hand verweilte. Sie sah beinahe genauso aus, wie Anne sie das letzte Mal gesehen hatte, nur dass ihr Gesicht gelöst war, die öffentliche Maske war zur Seite gelegt worden. Es wirkte weich, traurig und jung, gar nicht so anders als das des jungen Mädchens, das Lew seinen Namen gegeben hatte. Anne fühlte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Als sie das letzte Mal gesprochen hatten, hatte sie so zornige Worte zu Fastia gesagt. Wie hätte sie wissen können, dass sie niemals wieder miteinander reden würden? »Was soll ich tun?«, murmelte Fastia. »Ich sollte es nicht tun. Ich sollte nicht...« Schlagartig deutete Anne den glasigen Blick ihrer Schwester. Sie war betrunken. Schwankend stand sie da, und plötzlich kamen ihr die Tränen. Sie schaute Anne direkt an, und einen Moment lang war sich Anne sicher, dass Fastia sie sehen konnte. »Es tut mir Leid, Anne«, flüsterte sie. »Es tut mir so Leid.« Dann schloss Fastia die Augen und begann leise zu singen. Das wünsch ich mir heiß Einen Mann mit Lippen rot wie Blut Mit Haut schneeweiß Mit Haar blauschwarz Wie die Rabenbrut. Das wünsch ich mir. Davon träume ich Ein Mann, mich zu halten sicher und warm Niemanden sonst, nur mich Bis die Sterne erlöschen 208 Bis die See vertrocknet, in seinem Arm. Das wünsch ich mir. Sie beendete das Lied, und Anne sah sie durch einen Tränenschleier an.
»Leb wohl, Lew«, sagte Fastia. Als sie sich anschickte, sich umzudrehen, wurde aus Annes stummem Weinen tiefes Schluchzen. Fastia ging zu einem Wandbehang hinüber, auf dem ein Ritter auf einem Hippocampus ritt, und hob ihn hoch. Dahinter klopfte sie gegen die Wand, und ein Teil der Täfelung glitt zur Seite. Fastia hielt an der Schwelle zur Finsternis inne. »Es gibt viele solcher verborgenen Orte, dort, wo wir herkommen«, sagte sie. »Aber das für später. Jetzt musst du das hier überleben.« Und dann der Geruch von verfaulendem Fleisch, und Fastias Augen waren voller Würmer, und Anne schrie auf ... ... und fuhr schreiend hoch, die Hand noch immer am Bettpfosten, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich der Wandbehang hob. 16. Kapitel Die Revesturi Der Mann war so nahe, dass Stephen seinen Atem im Nacken spüren konnte. »Ich dachte immer, das wäre nur eine Redensart«, murmelte er. »Was ist eine Redensart?«, fragte der Mann. »Gozh dazh, brodar Ehan«, sagte Stephen. »Ah, ja, das ist eine Redensart - >guten Tag<«, erwiderte Ehan. »Aber das weißt du doch.« 209 »Darf ich mich umdrehen?« »Oh, gewiss«, versicherte Ehan. »Ich habe nur versucht, dich zu erschrecken.« »Du hast ganze Arbeit geleistet«, stellte Stephen fest und wandte sich langsam um. Er sah einen fast zwergenhaft kleinen Mann mit leuchtend rotem Haar vor sich, der strahlend zu ihm aufschaute, die Fäuste in die Hüften gestemmt, die Ellbogen unter einem dunkelgrünen Gewand abgespreizt. Jäh streckte er eine Hand vor, und Stephen zuckte ein wenig zurück, bis er sah, dass sie leer war. »Ganz schön schreckhaft, wie?«, bemerkte Ehan, als Stephen mit einiger Verspätung die dargebotene Hand ergriff. »Nun ja, es ist nur, dass du damit den Anfang gemacht hast, mich einen Verräter zu nennen, Bruder Ehan.« »Nun, das stimmt«, erwiderte Ehan. »Es gibt einige in der Kirche, die dich für einen Verräter halten würden, aber ich gehöre nicht dazu. Und du wirst in d'Ef auch niemanden finden, der so denkt. Jedenfalls nicht im Moment.« »Woher hast du gewusst, dass ich hier sein würde?« »Die unten haben mir gesagt, dass sie dich heraufschicken«, antwortete Ehan. »Dann bist du mit den Slinderlingen im Bunde?« Ehan kratzte sich am Kopf. »Mit den Wothen? Ja, ich glaube schon.« »Das verstehe ich nicht.« »Nun, an mir ist es nicht, dir das zu erklären«, erwiderte Ehan. »Aus Sorge, dass ich es nicht richtig hinbekomme. Ich bin nur hier, um dich zu dem zu bringen, der es dir erklären wird, und um dir zu versichern, dass du unter Freunden weilst - oder zumindest nicht unter Feinden. Hier gibt es keine Helfershelfer des Praifec.« »Dann weißt du also davon?«, erkundigte sich Stephen. »Oh, gewiss«, antwortete Ehan. »Macht es dir etwas aus, wenn wir losgehen? Wenn wir uns nicht beeilen, verpassen wir wahrscheinlich das Praicesnu.« 210 Stephen atmete tief durch. Er und Ehan waren Freunde gewesen, oder zumindest hatte er das einst geglaubt. Sie hatten einander gegen Desmond Spendlove und die anderen abtrünnigen Mönche des Klosters d'Ef beigestanden. Doch Stephen hatte seither ein paar Studien betrieben, deren Lektion im Großen und Ganzen Folgendes war: Niemand war, was er zu sein schien - ganz besonders die Kirche. Ehan hatte Stephen niemals Anlass gegeben, ihm zu misstrauen. Er hätte ihn genauso von hinten niederstrecken wie ihn begrüßen können. Doch vielleicht war das, was er wollte, heikler als Meuchelmord. »Dann lass uns gehen«, sagte Stephen. Ehan führte ihn einen Pfad, der sich im Zickzack durch Waldausläufer und Weiden wand, hangabwärts, über einen kleinen, mit einem Baumstamm überbrückten Bach, durch den riesigen Obstgarten voller Apfelbäume und dann den nächsten Hügel hinauf, auf das weitläufige Kloster zu. Trotz der schlimmen Erinnerungen, die er mit diesem Ort verband, war es doch ein schönes Bauwerk. Aus dem hochgiebligen Hauptschiff ragte ein zweibogiger Glockenturm aus rosafarbenem Granit empor, um die Morgensonne einzufangen wie blasses Feuer, ein zu Baukunst gewordenes Gebet. »Was ist passiert, seit ich fortgegangen bin?«, erkundigte sich Stephen, als sie den letzten, steilsten Teil des Anstiegs zurücklegten. »Ah, nun ja - ich denke, einen Teil davon kann ich dir erzählen. Nachdem du den Waldhüter vor Bruder Desmond und seiner Bande gerettet hast, haben sie euch verfolgt. Natürlich haben wir später erfahren, was dabei herausgekommen ist. Inzwischen hatten wir die Nachricht erhalten, dass der Praifec einen neuen Fratrex geschickt hätte, der hier im Kloster weitermachen sollte. Also, wir haben ja gewusst, dass Desmond ein Schurke ist, aber wir haben nicht gewusst, dass er für die Hierovasi gearbeitet hat...« »Hierovasi?«
»Ich - richtig, lass ihn das lieber erklären. Mach dir deswegen 211 im Moment keine Gedanken. Sagen wir, die Bösen. Tatsächlich wussten die meisten von uns gar nichts von den Hierovasi, genau wie du. Aber wir konnten uns zusammenreimen, dass Hespero einer von ihnen war, was bedeutete, dass der Fratrex, den er schicken wollte, höchstwahrscheinlich auch dazugehört. Und so war's auch, und wir hatten einen kleinen Kampf auszufechten. Wir hätten verloren, aber wir hatten Verbündete.« »Die Slinderlinge?« »Die Dreothen, und, ja, durch sie die Wothen. Das gefällt dir nicht?« »Sie fressen Menschen«, sagte Stephen. Ehan gluckste. »Ja, das spricht gegen sie. Aber in diesem Fall haben sie die richtigen gefressen, also haben wir uns nicht allzu sehr beklagt... Seitdem sind wir mehr geworden, weil sich das alles herumspricht. Wir sind noch ein paar Mal von den Hierovasi angegriffen worden, aber die haben im Augenblick andere Dinge im Kopf - das Resacaratum, zum Beispiel.« »Davon habe ich in Dunmrogh gehört, hauptsächlich Gerüchte.« »Wenn es nur Gerüchte wären. Aber es sind keine - es geht um Folter, Scheiterhaufen, Erhängen, Ertränken und den ganzen Rest. Jeder, den sie nicht leiden können, jeder, von dem sie glauben, er könnte vielleicht gefährlich sein -« »Mit sie meinst du diese Hierovasi?« »Ja, aber sie sind diejenigen, die das beherrschen, was die meisten Menschen als die Kirche ansehen, verstehst du?« »Nein«, antwortete Stephen. »Davon habe ich überhaupt nichts gewusst.« Doch er spürte einen plötzlichen Hoffnungsfunken. Ehan deutete an, dass nur ein Teil der Kirche verderbt war, wenngleich der mächtigste Teil. Was bedeutete, dass er vielleicht doch noch eine Seite finden konnte, auf der es sich zu kämpfen lohnte. »Nun, es sind zu wenige«, sagte Ehan. »Die davon wissen, meine ich. Jedenfalls, das ist es, was wir hier getrieben haben.« 212 »Warte mal. Diese Hierovasi - sie beherrschen die Caillo Vaillamo in zTrbina?« »Das kann man wohl sagen. Fratrex Prismo ist einer von ihnen.« »Niro Lucio?« »Äh ... nein.« Ehan schüttelte den Kopf, während sie durch die hohen Bogentüren des Vordereingangs schritten und auf den Hof des weitläufigen Westflügels zuhielten. »Lucio ist einem sonderbaren, unerwarteten Magenleiden erlegen, wenn du verstehst, was ich meine. Jetzt ist es Niro Fabulo.« »Also ist d'Ef dem Allerheiligsten nicht länger gehorsam?« »Nein.« »Und wer ist dann hier zuständig?« »Na, der Fratrex«, antwortete Ehan. »Fratrex Pell? Aber ich habe ihn doch sterben sehen.« »Nein«, behauptete eine wohl bekannte Stimme. »Nein, Bruder Stephen, Ihr habt mich im Sterben liegen sehen. Ihr habt mich nicht sterben sehen.« Augenblicklich huschte Stephens Blick zum Urheber dieser Worte hinüber. Fratrex Pell, der höchste Würdenträger von d'Ef, war der erste Bruder aus dem Kloster gewesen, der Stephen begegnet war. Der Fratrex hatte sich als Greis ausgegeben, der versuchte, ein Bündel Brennholz hochzuheben. Stephen hatte die Last getragen, doch er hatte die Gelegenheit genutzt, diesen Mann zu beeindrucken, den er für einen Einfaltspinsel hielt. Tatsächlich war es jetzt, wenn er darauf zurückblickte, ein wenig schmerzhaft, wie herablassend er den Alten behandelt hatte. Doch der Fratrex war derjenige gewesen, der seine Scherze mit ihm getrieben hatte, und der Fratrex hatte Stephens Torheit bald offenbart. Und da war er jetzt, saß in einem ziemlich eigenartig aussehenden Lehnstuhl an einem Holztisch; seine veilchenblauen Augen glitzerten unter buschigen grauen Brauen. Er trug eine einfache braune Kutte mit zurückgeschlagener Kapuze. »Fratrex«, hauchte Stephen. »Ich ... ich dachte, Ihr wärt tot. 213 Was ich mit angesehen habe, und dann die Nachforschungen des Praifec ...« »Ja«, erwiderte der Fratrex leutselig. »Denkt doch einmal scharf über Letzteres nach, ja?« »Oh«, sagte Stephen. »Dann habt Ihr also vorgegeben, Ihr wärt tot, um dem Praifec zu entgehen?« »Ihr wart schon immer ein schlauer Bursche, Bruder Stephen«, meinte der Fratrex trocken. »Obgleich es um Haaresbreite keine Täuschung gewesen wäre. Nachdem Desmond Spendlove sein wahres Gesicht gezeigt hatte, war mir klar, in wessen Diensten er stand. Allerdings habe ich Hespero vertraut... ich dachte, er wäre einer von uns. Aber jeder macht Fehler.« »Trotzdem«, beharrte Stephen. »Als Ihr mir das Leben gerettet habt, wurdet Ihr niedergestochen, und dann ist die Mauer eingestürzt.« »Ich bin nicht gerade unversehrt geblieben«, bemerkte Pell.
Das war der Moment, wo die Einzelheiten sich zusammenfügten: wie spitz und dünn die Knie des Mönchs waren, die sich unter der Kutte abzeichneten, wie eigenartig sich sein Oberkörper bewegte. Und der Stuhl hatte natürlich Räder. »Es tut mir Leid«, sagte Stephen. »Nun, bedenkt die andere Möglichkeit. Und so wie ich es verstehe, ist dies eine besonders ungute Zeit, um tot zu sein.« »Aber Ihr habt mir geholfen.« »Das ist wahr«, gab der Fratrex zu, »obwohl ich das nicht nur aus persönlicher Zuneigung getan habe. Wir brauchen Euch, Bruder Stephen. Wir brauchen Euch lebendig. Tatsächlich letzten Endes sogar mehr, als wir mich brauchen.« Irgendwie gefiel es Stephen ganz und gar nicht, wie sich das anhörte. »Ihr sagt immer >wir<«, erwiderte er. »Ich habe so ein Gefühl, dass Ihr nicht den Orden des heiligen Decmanus meint. Oder die Kirche, nach dem, was Bruder Ehan angedeutet hat.« 214 Fratrex Pell lächelte nachsichtig. »Bruder Ehan«, sagte er. »Ob Ihr uns wohl etwas von dem grünen Apfelmost bringen würdet? Und vielleicht ein wenig von dem frisch gebackenen Brot, das ich da rieche?« »Es wäre mir eine Ehre, Fratrex«, erwiderte Ehan und eilte davon. »Kann ich helfen?«, fragte Stephen. »Nein, bleibt hier, nehmt Platz. Wir haben viel zu bereden, und ich habe nicht vor, das aufzuschieben. Die Zeit ist zu knapp geworden, um sich geheimnisvoll zu geben. Gebt mir nur einen Augenblick, um meine Gedanken zu sammeln. In letzter Zeit scheinen die recht weit verstreut zu sein.« Ehan brachte den Most, einen runden roaglaef, der nach schwarzen Walnüssen roch, und einen harten weißen Käse. Der Fratrex nahm ein wenig von allem und beugte sich unter einigen Schwierigkeiten vor; sein rechter Arm schien besonders beeinträchtigt zu sein. Der Most war kalt, stark und prickelte noch ein wenig. Das Brot war warm und tröstlich und der Käse scharf, mit einem Nachgeschmack, der Stephen an Eiche gemahnte. Der Fratrex lehnte sich zurück und umklammerte unbeholfen einen Weinkelch. »Wie haben unsere Vorfahren die Skasloi besiegt, Bruder Stephen?« Das kam ihm vor wie eine seltsame Abschweifung, doch Stephen fügte sich. »Die virgenyanischen Gefangenen haben einen Aufstand angezettelt«, antwortete er. »Ja, natürlich«, erwiderte der Fratrex recht ungeduldig. »Aber selbst aus unseren dürftigen Berichten wissen wir, dass es schon früher Aufstände gegeben hat. Wie haben die Sklaven, die von Virgenya Dare angeführt wurden, geschafft, woran die anderen gescheitert sind?« 215 »Die Heiligen«, sagte Stephen. »Die Heiligen waren auf der Seite der Sklaven.« »Noch einmal«, beharrte der Fratrex, »warum genau dann und nicht vorher?« »Weil die, die sich vorher erhoben haben, nicht fromm genug waren«, antwortete Stephen. »Ah. War das die Antwort, die Ihr auf der Schule in Ralegh gelernt habt?«, wollte der Fratrex wissen. »Gibt es denn eine andere?« Fratrex Pell lächelte wohlwollend. »Eingedenk dessen, was Ihr gelernt habt, seit Ihr die Schule verlassen habt was denkt Ihr?« Stephen seufzte und nickte. Er schloss die Augen, rieb sich die Schläfen und versuchte nachzudenken. »Ich habe nie irgendetwas gelesen, worin das gestanden hätte, aber es scheint offensichtlich, dass Virgenya Dare und ihre Gefolgsleute Schreinpfade beschritten haben - ihre Fähigkeiten, ihre Waffen-« »Ja«, sagte der Fratrex, »aber was liegt jenseits des Offensichtlichen? Auch die Skasloi haben Zauberkräfte besessen - mächtige Zauberkräfte. Kamen sie von den Heiligen?« »Nein«, entgegnete Stephen. »Selbstverständlich nicht.« »Seid Ihr sicher?« »Die Skasloi haben die Älteren Götter angebetet, die von den Heiligen besiegt wurden«, sagte Stephen. Seine Miene hellte sich auf. »Ich nehme an, die Heiligen haben keinem der früheren Aufstände beigestanden, weil sie die Älteren Götter noch nicht geschlagen hatten.« Fratrex Pells Mund zog sich noch ein wenig in die Breite. »Ist es Euch nie ein wenig zu glatt vorgekommen, ein wenig zu sauber, dass die Älteren Götter und die Skasloi zur selben Zeit besiegt wurden?« »Das ist wohl ganz einfach sinnvoll.« »Es wäre noch sinnvoller, wenn die Älteren Götter und die Skasloi ein und dasselbe gewesen wären«, sagte der Fratrex. 216 Stephen widmete diesen Worten einen Moment, dann nickte er langsam. »Das ist nicht unmöglich«, stimmte er zu. »Ich habe noch nie darüber nachgedacht, weil es Ketzerei ist und ich immer noch dazu neige, das zu vermeiden, wenn ich kann, aber es ist möglich. Die Skasloi hatten Zauberkräfte, die ...« Er zog die Brauen zusammen. »Ihr wollt doch wohl nicht sagen, die Skasloi hätten ihre Zauberkraft von den Heiligen verliehen bekommen?«
»Nein, Holzkopf. Ich sage, dass weder die Älteren Götter noch die Heiligen Wirklichkeit sind.« Unvermittelt fragte sich Stephen, ob der Fratrex vielleicht verrückt geworden war. Schmerz, tiefe Bewusstlosigkeit, Blutverlust, Luftmangel in der Lunge, der Schock, verkrüppelt zu sein ... Er rief seinen irrlichternden Verstand zur Ordnung. »Aber die ... Ich bin doch selbst auf dem Pfad der Schreine gewandelt. Ich habe die Macht der Heiligen gefühlt.« »Nein«, sagte der Fratrex sanft. »Ihr habt Macht gefühlt. Und das ist das Einzige, von dem Ihr und ich wissen, dass es Teil der Wirklichkeit ist. Der Rest - wo die Macht herkommt, wieso sie so auf uns wirkt, wie sie es tut, wie sie sich von der unterscheidet, über die die Skasloi geboten haben -, davon wissen wir nichts.« »Noch einmal, wenn Ihr >wir< sagt -« »Die Revesturi«, erklärte Fratrex Pell. »Revesturi?«, wiederholte Stephen. »Ich erinnere mich, von ihnen gelesen zu haben. Eine ketzerische Bewegung innerhalb der Kirche, die vor tausend Jahren in Verruf geraten ist.« »Vor elfhundert Jahren«, verbesserte der Fratrex. »Während des Sacaratum.« »Richtig. Es war eine von vielen Ketzereien.« Der Fratrex schüttelte den Kopf. »Es war mehr als das. Geschichte handelt oft weniger von der Vergangenheit als von der Gegenwart; Geschichte muss denen, die an der Macht sind, dienlich sein, wenn sie weitergegeben wird. Ich werde Euch etwas über das Sacaratum erzählen, von dem ich sehr stark bezweifle, dass es Euch bekannt ist. Es war mehr als ein heiliger Krieg, mehr als eine 217 Woge der Bekehrung und Heiligung. Ganz unten an seiner Wurzel war es ein Bürgerkrieg, Bruder Stephen. Zwei Gruppierungen, beide gleich mächtig, haben um die Seele der Kirche gerungen -die Revesturi und die Hierovasi. Der Anfang des Streits war eine Frage der Lehre - das Ende nicht. Es gibt ganze Gruben voller RevesturiGebeine.« »Ein Bürgerkrieg innerhalb der Kirche?«, fragte Stephen. »Davon hätte ich doch gewiss gehört.« »Eigentlich hat es zwei solche Auseinandersetzungen gegeben«, fuhr der Fratrex fort. »In der ersten Kirche war das höchste Oberhaupt stets eine Frau, nach dem Beispiel von Virgenya Dare. Der erste Fratrex Prismo hat sich seinen Platz mit Gewalt erkämpft, und die Frauen wurden von der Hierarchie abgespalten und in ihre eigenen, vorübergehend machtlosen und sorgsam kontrollierten Konvente gesteckt.« Wieder jene Verschiebung der Perspektiven, die die ganze Welt veränderte. Warum gab es kein Wort dafür?, überlegte Stephen. »Dann ist alles ... ist denn alles, was ich weiß, eine Lüge?« »Nein«, sagte der Fratrex, »es ist Geschichte. Die Frage, die Ihr zu jeder Darstellungsweise der Geschichte stellen müsst, ist, wem diese Darstellung nützt. Im Laufe von tausend Jahren - oder zweitausend - ändern sich die Interessen der Herrschenden häufig, und so auch die Erzählungen, die ihre Throne stützen.« »Sollte ich dann nicht fragen, wem Eure Darstellung der Ereignisse nützt?«, wollte Stephen wissen. Er fand sich selbst ein wenig schroff, doch das war ihm egal. »Unbedingt«, entgegnete der Fratrex. »Aber vergesst nicht, es gibt absolute Wahrheiten - Dinge, die tatsächlich passiert sind. Echte Tatsachen, echte Leichen in der Erde. Nur weil Ihr ein paar Verzerrungen hingenommen habt, heißt das noch nicht, dass es nichts Wirkliches auf der Welt gibt; es erfordert lediglich, dass Ihr Euch irgendeiner Methode bedient, die Wahrheit zu entdecken, sie den Dingen zu entreißen.« »Ich war noch nie so naiv, jeder Meinung Glauben zu schenken, 218 die mir zu Ohren kommt«, sagte Stephen. »Es gibt immer Debatten innerhalb der Kirche, und ich gehöre zu denen, die sie ausgefochten haben. Es ist nicht nur eine Frage des Hörens und Glaubens, sondern des Verständnisses dafür, wie jede Behauptung ins Ganze hineinpasst. Und wenn man mir sagt, etwas verträgt sich nicht mit dem, was ich weiß, dann hinterfrage ich es.« »Aber versteht Ihr denn nicht? Das heißt doch nur, sich einer fragwürdigen Quelle zu bedienen - oder noch schlimmer, einer ganzen Sammlung solcher Quellen -, um eine andere zu bewerten. Ich habe Euch nach dem Aufstand gegen die Skasloi gefragt, der Haupttatsache unserer Geschichte, und was hattet Ihr mir Handfestes zu bieten? Auf welche Quellen konntet Ihr mich verweisen? Woran merkt Ihr, dass das, was man Euch erzählt hat, wahr ist, außer daran, dass es andere Dinge bestätigt, die man Euch erzählt hat? Und was ist mit den Ereignissen des letzten Jahres? Ihr wisst, dass sie sich zugetragen haben, Ihr wart bei einigen selbst zugegen - könnt Ihr diese Dinge mit dem in Einklang bringen, was man Euch gelehrt hat?« »Die echten Überlieferungen aus der Zeit des Aufstands sind verloren gegangen.« Stephen versuchte, die schwerwiegendere Streitfrage mit der geringfügigeren beiseite zu schieben. »Wir vertrauen den Quellen, die wir haben, weil das alles ist, was wir haben.« »Ich verstehe. Wenn Ihr also drei Leute in ein Zimmer sperrt, mit einem Dolch und einem Sack Gold, und dann die Tür wieder öffnet und zwei von ihnen sind tot, würdet Ihr dann den Worten des Dritten Glauben schenken, nur weil es das einzige Zeugnis ist, das Euch zur Verfügung steht?« »Das ist nicht das Gleiche.« »Es ist genau das Gleiche.« »Nicht, wenn das Zeugnis von den Heiligen eingegeben wurde.«
»Und wenn es gar keine Heiligen gibt?« »Jetzt haben wir den Kreis geschlossen«, sagte Stephen, der all219 mählich müde wurde. »Und Ihr lasst mir noch immer die Wahl entweder eine Gruppierung zu unterstützen, die Kinder foltert und opfert, oder eine, die gemeinsame Sache mit Menschenfressern macht. Wollt Ihr sagen, es gibt keine Mitte zwischen den Hierovasi und den Revesturi?« »Doch, natürlich gibt es eine - da wäre noch die größte Gruppe von allen. Die Unwissenden.« »Das heißt, ich.« »Ja, bis jetzt. Aber irgendwann wäre man zu Euch gekommen, entweder eine Partei oder beide.« »Erst erzählt Ihr mir, alle Revesturi wären in einem Bürgerkrieg abgeschlachtet worden, von dem ich noch nie gehört habe, und jetzt sagt Ihr, sie sind eine mächtige Gruppierung in der Kirche von heute. Also, was denn nun?« »Beides natürlich. Die meisten von uns wurden während des Sacaratum erschlagen oder verbannt. Aber auch wenn man Männer und Frauen töten kann, so ist es doch schwerer, eine Idee umzubringen, Bruder Stephen.« »Und was ist das für eine Idee?«, wollte Stephen wissen. »Versteht Ihr den Namen >Revesturi« »Ich vermute, er kommt von dem Verb revestum, >untersuchen<.« »Genau. Unsere sehr simple Überzeugung ist, dass unsere Geschichte, unsere Ansichten - ja, die ganze Welt um uns herum -streng genommen Gegenstand unserer Beobachtung sind. Alle Schilderungen müssen überdacht und abgewogen, alle Tatsachen müssen in jedes Streitgespräch mit einbezogen werden.« »Das ist ein ziemlich ungenauer Auftrag, um dafür zu sterben«, bemerkte Stephen. »Nicht, wenn Ihr die Debatten bedenkt, die sich daraus ergeben«, wandte der Fratrex ein. »Zum Beispiel darüber zu streiten, ob es Heilige gibt oder nicht, ist nicht hinnehmbar, nicht wahr?« »War das die Debatte, die zum Bürgerkrieg geführt hat?« »Nicht ganz. Die simple Tatsache ist, dass dieser besondere 220 Streit so gründlich unterdrückt wurde, dass wir nicht wissen, worum es ging. Aber wir kennen den Anlass.« »Und was war der Anlass?« »Das Tagebuch von Virgenya Dare.« Einen Moment lang fiel Stephen nichts ein, was er hätte sagen können. Virgenya Dare, die Befreierin, die Retterin der menschlichen Rasse, die Frau, die die Sedoi entdeckt hatte, die Schreinpfade, die Wege zu den Heiligen. Ihr Tagebuch. Er schüttelte den Kopf und versuchte, seine Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu richten. »Das hätte in Altvirgenyanisch verfasst sein müssen«, murmelte er. »Oder vielleicht in Älterem Cavari. Ihr Tagebuch}« Der Fratrex lächelte. Stephen rieb sich das Kinn. »Dann hatten sie es also tatsächlich in ihrem Besitz?«, sann er staunend. »Ihr Tagebuch, noch zur Zeit des Sacaratum? Unglaublich. Und trotzdem haben sie keine Abschriften angefertigt oh. In dem Tagebuch steht etwas, das den Hierovasi nicht gefallen hat. Wollt Ihr mir das sagen?« »In der Tat«, bestätigte Fratrex Pell. »Tatsächlich gab es mehrere Abschriften. Alle wurden vernichtet. Das ursprüngliche Tagebuch allerdings nicht.« »Was? Das Buch gibt es noch?« »Fürwahr. Ein Mitglied unseres Ordens ist damit geflohen und hat es an einem sicheren Ort versteckt. Unglücklicherweise ging die Kunde, wo genau es verborgen worden war, verloren - eine Schande, denn ich glaube, das Einzige, was uns retten kann - was die Welt retten kann -, ist das, was in diesem Tagebuch steht.« »Einen Moment. Was? Woraus folgt das?« »Dreodh hat Euch die Grundsätze der Wothen erläutert?« »Ihr meint den Glauben, dass die Welt selbst krank geworden ist?« »Ja.« »Ja, das hat er getan.« »War das für Euch nachvollziehbar?« 221 Widerstrebend nickte Stephen. »Ein wenig. Zumindest der Wald scheint zu sterben. Die Ungeheuer, die jetzt auf Erden umgehen, wirken beinahe wie Verkörperungen von Krankheit und Tod.« »Genau. Und es wird Euch nicht überraschen, nehme ich an, wenn ich Euch sage, dass dies sich schon früher ereignet, dass es solche Bestien schon zu früheren Zeiten gegeben hat.« »Die Legenden deuten darauf hin. Aber -« Der Fratrex hob die Hand. »Es gibt keine Abschriften von Virgenya Dares Tagebuch, doch es gibt einige wenige, äußerst heilige Schriften, die es erwähnen. Natürlich werde ich sie Euch zeigen, aber lasst sie mich jetzt zusammenfassen. Dieses Siechtum kommt in regelmäßigen Abständen über die Welt. Wird es nicht aufgehalten, so wird es jegliches Leben vernichten. Virgenya Dare hat eine Möglichkeit gefunden, ihm Einhalt zu gebieten, einmal, aber wie sie das getan hat, wissen wir nicht. Wenn dieses Geheimnis irgendwo überdauert hat, dann wird es in ihrem Tagebuch stehen.«
»Gemäß Eurer eigenen Überzeugung ist diese Überlegung ohne das Tagebuch allerdings nur Schall und Rauch.« »Ohne das Tagebuch, ja«, pflichtete der Fratrex ihm bei. »Aber wir waren nicht vollkommen selbstgefällig. Wir haben zwei Hinweise auf seinen Verbleib gefunden; einer ist ein sehr alter Verweis auf einen Berg namens Vhelnoryganuz, von dem wir glauben, dass er irgendwo in den Bairghs liegt. Der andere ist das hier.« Der Fratrex hob ein schmales Zedernholzkästchen von seinem Schoß und schob es Stephen zu. Dieser griff behutsam danach und hob den Deckel. Darin lag eine verwitterte Rolle aus Bleifolie. »Wir können sie nicht lesen«, sagte der Fratrex. »Wir hoffen, Ihr könnt es.« »Warum?« »Weil Ihr das Tagebuch von Virgenya Dare finden müsst«, antwortete der Fratrex. »Ich wiederhole - ohne dieses Buch, fürchte ich, sind wir alle verloren.« 222 17. Kapitel Szenenwechsel Leoff erwachte von einem leisen Kratzen an der Tür. Er rührte sich nicht, sondern öffnete stattdessen die Augen einen Spalt und versuchte, sich durch den Gedankennebel hindurchzudenken, der ihm aus dem Schlaf gefolgt war. Seine Kerkermeister brauchten niemals so lange an der Tür. Sie steckten ihren Schlüssel ins Schloss, der Schlüssel drehte sich, die Tür ging auf. Und er hatte gelernt, das Geräusch eines Schlüssels im Schloss zu erkennen - nein, dies hier war höher, ein kleineres Metallstück. Noch ehe er entscheiden konnte, was genau das bedeutete, verstummte das Kratzen, die Tür schwang auf, und im trübe flackernden Licht der schwachen Öllampe sah er einen Schatten hindurchhuschen. Leoff fiel kein Grund ein, weiterhin so zu tun, als schliefe er. Stattdessen schwang er die Beine aus dem Bett und stellte die Füße auf den Boden. »Seid Ihr gekommen, um mich zu töten?«, fragte er den Schatten leise. Es war wirklich ein Schatten, oder zumindest etwas, das seine Augen nur mit Mühe durchdringen konnten. Es ließ sich nicht einmal als bestimmte Form einordnen. Mehr als alles andere kam es ihm vor wie ein blinder Fleck in seinem Augenwinkel - nur dass dieser Fleck genau vor ihm stand. Während er fortfuhr zu starren, wurde die Dunkelheit irgendwie weicher, gewann Konturen und formte sich zu einer menschlichen Gestalt, gekleidet in weite schwarze Hosen und Wams. In Handschuhe gehüllte Hände hoben sich und schlugen eine Kapuze zurück. 223 Die Wirklichkeit, hatte Leoff herausgefunden, war die Summe einer Reihe mehr oder weniger beständiger Selbsttäuschungen. Seine war durch Folter, Not und Verlust zerschmettert worden, und er hatte noch keine Zeit gehabt, sich abermals selbst zu betrügen. Entsprechend wäre er nicht überrascht gewesen, wäre das Gesicht, das da zum Vorschein kam, die Chimärenmaske der Phay-Königin gewesen, die mitleidigen Züge des heiligen Anemlen oder die schauerliche Fratze eines Unholds, der gekommen war, um ihn zu verschlingen. Der Augenblick schien voll mit dem Unmöglichen. Dass die zurückgeschlagene Kapuze das Antlitz einer jungen Frau mit leuchtend blauen Augen enthüllte, war daher unerwartet, jedoch nicht verblüffend. Allerdings änderte es seine Sichtweise. Sie war zierlich und mehr als einen Kopf kleiner als Leoff. Ihr kastanienbraunes Haar hatte sie zurückgebunden, die Linie ihres Kiefers war weich. Er bezweifelte, dass sie schon zwanzig Jahre zählte. Außerdem kam sie ihm bekannt vor; er war sich sicher, sie bei Hofe gesehen zu haben. »Ich bin nicht hier, um Euch zu töten«, sagte sie. »Im Namen von Königin Muriele, ich bin gekommen, um Euch zu befreien.« »Um mich zu befreien«, wiederholte er langsam. Plötzlich sah er ihr Gesicht neu vor sich, wie aus zwanzig Ellen Entfernung, gleich neben dem von Muriele, der Königin. Das war es, wo er sie gesehen hatte, bei der Aufführung seines Gesangsstücks. »Wie habt Ihr das angestellt? Euch unsichtbar zu machen?« »Ich bin von den Heiligen gesegnet«, antwortete sie. »Es ist ein Konventgeheimnis. Das ist alles, was ich Euch verraten kann. Und jetzt, wenn Ihr mir einfach folgt -« »Wartet«, sagte Leoff. »Wie seid Ihr hier hereingekommen?« »Unter großen Schwierigkeiten und erheblichen Risiken«, erwiderte sie. »Und jetzt hört bitte auf, Fragen zu stellen.« »Aber wer seid Ihr?« »Mein Name ist Alis Berrye, und ich besitze das Vertrauen der Königin. Sie hat mich geschickt, versteht Ihr? Und jetzt, bitte ...« 224 »Lady Berrye, ich bin Leovigild Ackenzal. Wie geht es der Königin?« Alis blinzelte. »Sie ist leidlich wohlauf«, berichtete sie. »Zurzeit.« »Wieso hat sie Euch geschickt, um mich zu befreien?«
»Das zu erklären würde lange dauern, und wir haben nicht viel Zeit. Deshalb, bitte -« »Tut mir den Gefallen, Mylady« Sie seufzte. »Nun gut, in aller Kürze. Die Königin ist im Wolfspelzturm eingekerkert. Sie hat von Eurer Gefangenschaft gehört, und auch von der tiefen Zuneigung, die die Bürger dieser Stadt und die Menschen von Neuland für Euch empfinden. Sie glaubt, dass es ihre Lage verbessern könnte, wenn Ihr frei seid.« »Wie das?« »Sie glaubt, der Thronräuber könnte gestürzt werden.« »Wirklich. Nur meinetwegen. Wie ungemein merkwürdig. Und wie seid Ihr hier hereingekommen?« »Es gibt Wege, Geheimnisse, die mein ...« Sie hielt inne, dann setzte sie erneut an. »Von denen ich weiß. Ihr werdet mir vertrauen müssen. Vertraut außerdem darauf, dass wir, wenn wir nicht sehr bald aufbrechen, diesen Ort nicht lebend verlassen werden.« Leoff nickte und schloss die Augen. Er dachte an blauen Himmel und warme Winde aus dem Süden, die Liebkosung von Regen auf seinem Gesicht. »Ich kann nicht fort«, seufzte er. »Was?« »Es werden noch andere hier gefangen gehalten - Mery Gramme und Areana Wistbirm. Wenn ich entkomme, werden sie leiden, und das geht nicht. Befreit sie, und beweist mir, dass sie frei sind, und ich werde mit Euch gehen.« »Ich weiß nicht, wo die kleine Gramme festgehalten wird. An das Wistbirm-Mädchen komme ich nicht heran, fürchte ich, sonst würde ich sie gewiss auch befreien.« »Dann kann ich nicht mit Euch gehen«, erwiderte Leoff. 225 »Hört mir zu, Cavaor Ackenzal«, beschwor ihn Alis eindringlich. »Ihr müsst Euren eigenen Wert begreifen. Es gibt Menschen, die sterben würden, um Euch zu befreien. Was Ihr in Broogh getan habt, ist nicht vergessen, aber Eure Musik im Kerzenhain hat ein Feuer entfacht, das nicht verglüht ist. Tatsächlich ist es nur immer stärker geworden. Lieder aus Eurem Lustspiel werden im ganzen Land gesungen. Die Menschen sind bereit, gegen den Schurken aufzustehen, gegen den Thronräuber, aber sie haben Angst vor dem, was er Euch antun könnte. Wenn Ihr frei wärt, würde sie nichts zurückhalten.« Ihre Stimme wurde leiser. »Es heißt, ein wahrer Thronerbe sei ins Reich zurückgekehrt - Prinzessin Anne, die Tochter von William und Muriele. Sie werden sie auf den Thron heben, aber sie kämpfen für Euch. Ihr seid der wichtigste Mann im ganzen Königreich, Cavaor.« Leoff lachte darüber. Er konnte nicht anders - es kam ihm zu lächerlich vor. »Ich werde nicht mit Euch gehen«, sagte er. »Nicht, bevor Mery und Areana in Sicherheit sind.« »Nein, nein, nein, nein, nein«, begehrte Alis auf. »Ist Euch klar, was ich durchgemacht habe, um zu Euch zu gelangen? Es war fast unmöglich - geradezu ein Wunder, sodass man mich dafür eigentlich zur Heiligen erklären müsste. Und jetzt sagt Ihr, Ihr kommt nicht mit? Tut mir das nicht an. Lasst Eure Königin nicht im Stich.« »Wenn Ihr ein Wunder wirken könnt, dann bringt Ihr auch ein zweites zuwege. Befreit Mery. Befreit Areana. Dann werde ich mit Freuden mit Euch gehen - solange Ihr beweisen könnt, dass sie wohlauf und in Sicherheit sind.« »Denkt wenigstens an Eure Musik«, drängte Alis. »Ich habe Euch doch gesagt, dass Eure Lieder berühmt sind. Habe ich auch erwähnt, dass es als Hexerei gilt, sie zu spielen? Es wurde versucht, das ganze Stück aufzuführen, in Wistbirm. Die Bühne wurde von den "Wachen des Praifec in Brand gesteckt. Aber die Aufführung war ohnehin schon ein Fehlschlag, weil die feineren Nuancen Eures Werks sich selbst den begabtesten Musikern nicht er226 schließen wollten. Wenn Ihr frei wärt, könntet Ihr es noch einmal schreiben, ihre Darbietung berichtigen -« »Und noch mehr Unglückliche zu meinem Schicksal verdammen?«, fragte er und hob seine nutzlosen Hände. »Das ist sehr seltsam.« Alis schien die Streckhandschuhe zum ersten Mal zu bemerken. Sie schüttelte den Kopf, wie um ihn wieder klar zu bekommen. »Schaut, es ist ein Schicksal, das sie selbst wählen.« Jäh hatte Leoff das Gefühl, gefährlich in der Schwebe zu hängen. Diese Frau -und wieso eine Frau ? Die Geschichte dieser Frau war bestenfalls unglaubwürdig. Höchstwahrscheinlich war hier Robert am Werk, der ihm erneut zusetzen wollte. Bisher hatte er nichts getan, was es schlimmer gemacht hätte; Robert wusste genau, dass Leoff niemals auch nur einen Finger für ihn rühren würde, es sei denn, Mery und Areana befanden sich in Gefahr. Und wenn Alis es ehrlich meinte, so war sein Entschluss zu bleiben trotzdem folgerichtig. Doch es gab da ein Problem. Was er hier offenbarte, könnte Robert zu etwas verhelfen, das der Thronräuber noch nicht besaß. Etwas, das von großem Wert zu sein schien. Und doch mochte es das Risiko wert sein. Wahrscheinlich. »Im Kerzenhain«, sagte er und brach das Schweigen. »Was im Kerzenhain?« »Unter der Bühne, ganz rechts, ist ein Hohlraum über der Strebe. Ich wusste, dass sie meine Noten verbrennen würden, und ich wusste, dass sie meine Gemächer nach Kopien durchsuchen würden. Aber ich habe dort eine versteckt - vielleicht haben Roberts Männer sie ja übersehen.«
Alis runzelte die Stirn. »Wenn ich hier herauskomme, werde ich sie finden. Aber Ihr wärt mir lieber.« »Ihr kennt meine Bedingungen«, entgegnete er. Alis zögerte. »Es war mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen«, sagte sie. »Ich hoffe, wir sehen uns wieder.« 227 »Das wäre schön«, erwiderte Leoff. Alis seufzte und schloss die Augen. Sie zog die Kapuze über. Er dachte, sie hätte vielleicht irgendetwas gemurmelt, und dann war sie abermals etwas nicht Vorhandenes, ein Schatten. Die Tür öffnete und schloss sich. Er hörte, wie das Schloss verriegelt wurde, und dann lange Zeit nichts mehr. Schließlich schlief er wieder ein. Als die Tür am nächsten Tag rasselnd aufging, geschah das auf die übliche Art und Weise. Leoff hatte keine Möglichkeit, festzustellen, wie spät es war, doch er war lange genug wach, um es auf Mittag zu schätzen, zumindest nach seiner Zeitrechnung. Zwei Männer traten ein. Beide trugen schwarze Überwürfe über Brustharnischen, die schwarz bemalt oder emailliert worden waren, und jeder hatte ein Breitschwert an der Hüfte hängen. Sie glichen keiner der Kerkerwachen, die Leoff bisher zu Gesicht bekommen hatte, aber sie hatten große Ähnlichkeit mit Roberts Leibwächtern. »Haltet still«, befahl einer der beiden. Leoff antwortete nicht, als der eine ein dunkles Tuch hervorzog, es ihm um Schläfen und Augen schlang und die Binde dann festzog, bis er nichts mehr sehen konnte. Dann hoben sie ihn auf die Füße. Leoffs Haut fühlte sich an wie kaltes Wachs, als sie sich anschickten, ihn den Korridor hinunterzuführen. Er versuchte, auf Richtungen und Entfernungen zu achten, so wie Mery es getan hatte, zählte zwölf Stufen, die sie erklommen, dann dreiundzwanzig Schritte einen weiteren Korridor entlang, achtundzwanzig einen Gang hinauf, der so schmal war, dass gelegentlich beide Schultern gleichzeitig die Wände streiften. Danach war es, als seien sie unvermittelt in den Himmel hinausgetreten; Leoff fühlte Raum um sich herum und Strömungen in der bewegten Luft. Ihre Schritte hallten nicht mehr, und er nahm an, dass sie im Freien waren. Als Nächstes führten sie ihn zu einer Kutsche und hievten ihn hinein, und er spürte, wie ihn eine gewisse Verzweiflung überkam. 228 Er unterdrückte den Drang zu fragen, wohin sie fuhren, denn offensichtlich hatten sie ihm die Augen verbunden, damit er genau das nicht herausfand. Die Kutsche rollte an, zuerst auf Stein, dann auf Kies. Plötzlich begann Leoff sich zu fragen, ob er nicht von Verbündeten jener Frau entführt worden war, die gestern erschienen war, um ihn »zu retten«. Sich die Livree von Roberts Leibwache anzueignen wäre einfach genug zu bewerkstelligen. Sein Herz wurde noch schwerer, als er anfing, darüber nachzusinnen, was geschehen würde, wenn Robert entdeckte, dass er verschwunden war. Es musste dunkel gewesen sein, als sie aufgebrochen waren, jetzt jedoch begann Licht durch das Tuch zu schimmern. Außerdem wurde es kälter, und Salzgeruch machte sich in der Luft bemerkbar. Nach unendlich langer Zeit kam die Kutsche zum Stehen. Inzwischen war er durchgefroren und sehr steif. Es fühlte sich an, als wären ihm Stahlschrauben in Kniescheiben, Ellbogen und Rückgrat getrieben und angezogen worden. Seine Hände schmerzten furchtbar. Sie versuchten ihn zu tragen, doch er wehrte sich, um die Füße auf dem Boden zu behalten, um Schritte zu zählen, auf Kies, dann auf Stein, dann auf Holz, dann wieder auf Stein ... und schließlich Stufen. Er schreckte zurück, als ihm plötzlich Hitze entgegenwallte, und die Augenbinde wurde abgenommen. Er blinzelte in einer Rauchwolke, die von einem gewaltigen Feuer in einem außergewöhnlich großen Kamin aufstieg. Eine Rehseite am Spieß brutzelte fröhlich darüber und erfüllte die Luft mit dem Geruch nach gebratenem Fleisch. Der Raum war rund, mit einem Durchmesser von vielleicht fünfzehn Königsellen, und die Wände waren mit Wandbehängen verhüllt, deren Themen für ihn nicht sofort erkennbar waren, die jedoch im Feuerschein leuchteten - braun, golden, rostrot und waldgrün. Ein riesiger Teppich bedeckte den Boden. Zwei Mädchen hatten gerade einen großen Holzbalken vom Feuer weggedreht. Ein eiserner Kessel hing daran, aus dem sie 229 dampfendes Wasser in ein in den Boden eingelassenes Badebecken gössen. Ein paar Ellen entfernt saß Robert der Thronräuber zurückgelehnt in einem Sessel und schien sich in einem schwarz-gold geblümten Morgenmantel sehr behaglich zu fühlen. »Ah«, sagte Robert. »Mein Komponist. Euer Bad ist bereit.« Leoff sah sich um. Außer Robert und den Dienstmägden befanden sich die Männer im Raum, die ihn hergebracht hatten, zwei weitere, ähnlich gekleidete Soldaten, ein Sefry, der auf einem Schemel saß und eine große Theorbo safnischer Bauart zupfte, ein affektierter jüngerer Bursche in einem roten Gewand und einer schwarzen Kappe und schließlich der Wundarzt, der Leoff im Kerker behandelt hatte. »Nein, danke, Majestät«, brachte Leoff heraus. »Nun, ich bestehe ausdrücklich darauf«, entgegnete Robert. »Es geht nicht nur um Euer Wohlbefinden, wisst Ihr - wir haben alle Nasen.«
Allgemeines gedämpftes Gelächter folgte dieser Bemerkung, doch die Leutseligkeit trug nicht dazu bei, Leoff zu entspannen; schließlich waren dies hier Roberts Freunde, denen es vielleicht noch größere Kurzweil bereitet hätte, einem Kleinkind den Leib aufzuschlitzen. Er seufzte, und die Soldaten machten sich daran, ihm die Kleider auszuziehen. Seine Ohren brannten, denn die Dienstmädchen waren im mündigen Alter, und er fand es äußerst unschicklich, dass sie ihn betrachten mussten. Allerdings schien ihnen nichts aufzufallen - ebenso gut hätte er ein weiteres Möbelstück sein können. Trotzdem fühlte er sich unwohl und entblößt. Im Wasser jedoch ging es ihm besser. Es war so heiß, dass es brannte, doch als er erst einmal eingetaucht war, fühlte er sich nicht länger nackt, und die Hitze begann sich angenehm bis in seine Knochen auszubreiten, linderte die Schmerzen, die die Kälte dort hervorgerufen hatte. »Na also«, sagte der Thronräuber. »Ist es so nicht besser?« 230 Widerstrebend musste Leoff zugeben, dass dem so war. Es wurde sogar noch besser, als eine der Mägde ihm einen Becher mit heißem, gewürztem Met brachte und die andere eine große, saftige Scheibe von dem Wildbret abschnitt und sie ihm bissenweise reichte. »Jetzt, wo Ihr es bequem habt«, sagte Robert, »würde ich Euch gern unseren Gastgeber vorstellen, Lord Respell. Er hat sich freundlicherweise bereit erklärt, Euer Wächter zu sein, während Ihr an dem Musikstück arbeitet, das ich von Euch erbeten habe, Euch zu bieten, was immer Ihr benötigt, und für Euer Wohlergehen zu sorgen.« »Das ist sehr gütig«, erwiderte Leoff, »aber ich dachte, ich sollte in meiner alten Kammer arbeiten.« »In dem feuchten Loch? Nein, das hat sich in mehrfacher Hinsicht als ungünstig erwiesen.« Bei diesen Worten wurde sein Blick ein wenig raubvogelartig. »Ihr hattet gestern nicht zufällig Besuch?«, erkundigte er sich. Ah, dachte Leoff. So ist das also. Es war eine List, und das hier ist meine Belohnung dafür, dass ich nicht in die Falle getappt bin. »Nein, Majestät«, antwortete er, nur um zu sehen, was für eine Wirkung das haben würde. Nicht die, die er erwartet hatte. Pvobert zog die Brauen zusammen und legte die Arme auf die Armlehnen seines Sessels. »Die Verliese sind nicht so sicher, wie meine Vorgänger geglaubt haben«, erklärte er. »Gestern ist ein Dieb dort eingedrungen. Er wurde ergriffen, verhört und erdrosselt, doch wo einer eindringen kann, mögen andere folgen. Seht Ihr, es gibt geheime Gänge, die das Gestein unter dem Schloss von Eslen durchziehen, und viele davon führen - natürlicherweise, nehme ich an - durch die Verliese. Ich habe angefangen, sie zuschütten zu lassen.« »Ist das wahr, Sire?«, fragte Lord Respell. Er klang verblüfft. »Geheimgänge unter dem Palast?« »Ja, Respell«, erwiderte Robert und wischte die Frage mit einer Handbewegung beiseite. »Das habe ich Euch bereits gesagt.« 231 »Wirklich?« »Ja. Komponist, könnt Ihr mir noch folgen?« Leoff schüttelte den Kopf. War er eingedöst? Er hatte das Gefühl, etwas nicht mitbekommen zu haben. »Ich - ich habe vergessen, was Ihr gerade gesagt habt«, gestand Leoff. »Natürlich. Und Ihr werdet es wohl wieder vergessen, genau wie Respell.« »Was vergessen, Sire?«, fragte Respell. Robert seufzte und hob eine Hand an die Stirn. »Die Geheimgänge in den Verliesen. Es sind zu viele, um sie ausfindig zu machen und sie zu versperren - nun, ich brauche keine Einzelheiten anzuführen. Alles in allem, Cavaor Leoff, habe ich das Gefühl, Ihr werdet Euch hier wohler fühlen und vor weiteren ... Einbrüchen sicher sein. Ist das nicht so, Lord Respell?« Der junge Mann schüttelte die verwirrte Miene ab und nickte. »Viele haben schon versucht, in diese Burg einzudringen«, verkündete er stolz. »Keinem ist es je gelungen. Ihr werdet hier in Sicherheit sein.« »Und meine Freunde?«, fragte Leoff. »Nun, das sollte eigentlich eine Überraschung sein«, erwiderte Robert. Er winkte den Mägden, die kurz verschwanden und dann mit Mery Gramme und Areana Wistbirm zurückkamen. Leoffs erste Regung, als er die beiden erblickte, war reine Freude, rasch gefolgt von tiefer Demütigung. Areana war eine reizende junge Dame, siebzehn Jahre alt, und es war wohl kaum schicklich, dass sie ihn in dieser Lage zu Gesicht bekam. Oder in diesem Zustand. Er war sich seiner Hände und der fürchterlichen Streckhandschuhe deutlich bewusst und versenkte sie tiefer im Wasser. »Leoff!«, keuchte Areana und stürzte vor, um neben dem Becken niederzuknien. »Mery hat gesagt, sie hätte Euch gesehen, aber -« »Ihr seid wohlauf, Areana?«, erkundigte er sich steif. »Sie haben Euch nichts zuleide getan?« 232 Areana blickte zu Robert auf, und ihre Miene verdüsterte sich. »Ich bin entführt und unter höchst unangenehmen Bedingungen eingesperrt worden«, berichtete sie, »aber mir ist nichts wirklich Schlimmes zugestoßen.« Jäh füllten sich ihre Augen mit Entsetzen. »Mery hat gesagt, Eure Hände -« »Areana«, flüstere Leoff verzweifelt. »Mir behagt das ganz und gar nicht. Sie haben mir nicht gesagt, dass Ihr
hier seid.« »Es ist, weil er nackt ist«, erklärte Mery hilfsbereit. »Mutter sagt, Männer sind es nicht gewohnt, nackt zu sein, und sie kommen nicht besonders gut damit zurecht. Sie sagt, sie sind nicht besonders schlau, wenn sie nichts anhaben.« »Oh«, hauchte Areana. »Natürlich.« Wieder blickte sie zu Robert empor. »Macht Euch nichts daraus«, sagte sie zu Leoff. »Er denkt, indem er uns in törichte Lagen bringt, macht er uns kleiner und schwächt uns.« »Ich habe schon an Eurem Gesang erkannt, dass Ihr eine beachtliche Zunge habt, Mylady«, bemerkte Robert. »Cavaor Leovigild, meine Anerkennung dafür, was für Sänger Ihr Euch ausgesucht habt.« Roberts Stimme klang jetzt noch seltsamer als sonst. Leoff war das Eigentümliche daran schon aufgefallen, als er sie das erste Mal gehört hatte. Es war, als strenge sie sich an, die natürlichen Töne der menschlichen Sprache hervorzubringen, und doch waren da sehr unnatürliche - sogar beängstigende - Untertöne, wie sein Ohr sie noch nie vernommen hatte. Manchmal glaubte er, andere Sätze in dem zu hören, was der Mann sagte - nicht getrennt von seinen offenkundigen Reden, sondern daneben her, wie eine kontrapunktische Tonfolge. Im Augenblick schien Robert damit zu drohen, Areana die Zunge herauszuschneiden. »Danke, Euer Majestät«, sagte er und gab sich Mühe, willig zu klingen. »Ich denke, Ihr werdet sehr zufrieden mit der Rolle sein, die ich in meinem neuen Stück für sie geschrieben habe. Sie wird ein Hauptbestandteil des Werkes sein.« 233 »Ja, Euer neues - wie sollen wir es nennen? Es ist kein Lustspiel, eigentlich nicht, nicht wahr? Und genauso wenig ist es ein einfaches Mimenstück. Wir brauchen eine Bezeichnung dafür, denke ich. Wisst Ihr eine?« »Noch nicht, Majestät.« »Nun, denkt darüber nach. Oder vielleicht wird es mein Beitrag zu diesem Unterfangen sein, einen Namen dafür zu finden.« »Wovon redet er, Leoff ?«, wollte Areana wissen. »Habe ich Euch das nicht erzählt?«, fragte Robert. »Cavaor Leoff hat eingewilligt, uns wieder eines von seinen Singstücken zu schreiben. Ich war so angetan von dem letzten, dass ich einfach noch eins haben musste.« Er wandte sich wieder Leoff zu. »Sagt mir, habt Ihr schon ein Thema gefunden?« »Ich glaube ja, Euer Majestät.« »Das kann nicht Euer Ernst sein«, stieß Areana hervor und trat ein wenig zurück. »Damit würdet Ihr alles verraten, was Ihr geleistet habt. Was wir geleistet haben.« »Es ist uns allen hier sehr ernst«, bemerkte Robert. »Jetzt erzählt, mein Freund.« Leoff wappnete sich gegen Areanas Pein und räusperte sich. »Ist Euch die Mär von Maersca bekannt?«, fragte er. Robert überlegte einen Moment. »Allzu bekannt ist sie mir möglicherweise nicht.« Nein, sagte der Kontrapunkt, und wehe, Ihr versucht, mich unwissend erscheinen zu lassen. »Mir auch nicht, bis ich die Bücher gelesen habe, die Ihr mir gegeben habt«, fuhr Leoff rasch fort. »Sie hat sich, so wie ich es verstanden habe, in Neuland zugetragen, vor langer Zeit - ehe dieser Landstrich überhaupt den Namen Neuland erhalten hat, als die ersten Kanäle gebaut wurden und das Land trockengelegt wurde.« »Ah«, rief Robert. »Ohne Zweifel ein Thema, das den Landwaerden am Herzen liegt - nicht wahr, Areana?« »Bei uns ist das eine beliebte Erzählung«, erwiderte Areana steif. »Daher überrascht es mich nicht, dass Ihr sie nicht kennt.« 234 Robert zuckte gleichmütig die Achseln. »Euer Freund Leoff kannte sie auch nicht. Das hat er gerade gesagt.« »Er ist aber auch nicht im Herzen von Neuland aufgewachsen«, gab Areana zurück. »Euer Majestät schon.« »Ja«, knurrte Robert ein wenig gereizt. »Und ich habe für Euresgleichen getan, was ich konnte, sogar das eine oder andere Kind gezeugt, um Euer dickes Blut zu veredeln. Und jetzt bitte, junge Dame, erzählt uns die Geschichte.« Areana warf Leoff einen raschen Blick zu. Dieser nickte. Allmählich fühlte er sich ziemlich runzlig, doch er hatte nicht die Absicht, darum zu bitten, aus dem Bad steigen zu dürfen, während die Mädchen zugegen waren. »Es war, als sie den großen Kanal gebaut haben«, begann sie. »Sie wussten es nicht, aber als sie den Lauf des Flusses geändert haben, haben sie ein Königreich zerstört, ein Reich der Saethoid.« »Saethoid? Ein Königreich der Meermänner? Wie entzückend.« »Nur eine hat überlebt. Maersca, die Tochter des Königs, die Enkelin des heiligen Lier. Sie schwor Rache, und so nahm sie menschliche Gestalt an, um sich zu rächen. Als der Kanal fertig war, ging sie zum großen Schleusentor, in der Absicht, das soeben trockengelegte Land zu überfluten. Doch auf dem Deich sah sie Brandel Aethelson. Sie sprach mit ihm, täuschte frauliches Interesse vor, fragte, wie es käme, dass das Wasser zurückgehalten wurde, und wie man es freisetzen könnte. Sie war schlau, und er ahnte nicht, was sie ihm Schilde führte. Tatsächlich begann er, sein Herz an sie zu verlieren. Maersca dachte, sie könnte noch größeres Unheil anrichten, wenn sie mehr erfuhr, und gab vor, ihn ebenfalls zu lieben, und bald wurden sie vermählt. Sie versteckte ihre Meerhaut in einer Truhe in den Dachbalken des Hauses, und sie nannte ihm diese Bedingung: dass sie jedes Jahr am Tag des heiligen Lier allein baden musste, und er durfte ihr dabei nicht zusehen.
Und so hegte sie monatelang ihre Rachegelüste, und aus den Monaten wurden Jahre, und während dieser Zeit wurde ihnen ein 235 Knabe geboren, und dann ein Mädchen, und auf ihre eigene Art und Weise begann sie, ihren Gemahl zu lieben und Neuland zu lieben, und ihr Rachedurst verging.« »Oh weh«, sagte Robert. »Aber die Freunde ihres Mannes schalten ihn«, fuhr Areana fort. »>Wohin geht dein Weib am Tag des heiligen Lier?< Sie gaben ihm den Gedanken ein, dass sie einen heimlichen Liebsten hätte und dass seine Kinder in Wirklichkeit gar nicht von seinem Blute wären. Und so wurde er im Laufe der Jahre unsicher, und schließlich, an einem Liersdag, folgte er ihr. Sie ging zum Deich und warf ihre Kleider ab, und dann streifte sie ihre Fischhaut über, und er erblickte sie als das, was sie war - und sie wusste es. >Du hast deinen Eid gebrochen<, sagte sie zu ihm. >Jetzt muss ich ins Wasser zurückkehren. Und wenn ich jemals wieder herauskomme, an die Luft, so muss ich sterben, denn diese Verwandlung kann nur einmal geschehene Verzweifelt flehte er sie an, nicht fortzugehen, aber sie ging doch und ließ ihn mit seinen Kindern und seinen Tränen zurück. Viele Jahre vergingen, und er suchte in allen Flüssen und Kanälen, die er kannte, nach ihr. Ein- oder zweimal glaubte er, ihr Lied zu vernehmen. Er wurde alt, und seine Kinder wuchsen heran und heirateten. Dann zogen die Heere des Skellander aus dem Nordland heran und brannten auf ihrem Wege alles nieder, und als Nächstes war Neuland an der Reihe. Die Menschen versammelten sich auf den Deichen und schickten sich an, das Wasser loszulassen und ihr Land zu überfluten, denn das war ihre einzige Verteidigung gegen die Angreifer. Doch die Abdeckung wollte nicht brechen - sie war zu fest gebaut. Und jetzt war das Heer bereits nahe. Da sah der alte Mann seine Frau wieder, so schön, wie sie an dem Tag gewesen war, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie tauchte aus dem Wasser empor und legte die Hand auf die Abdeckung, und sie brach entzwei, und die Fluten schwemmten das Heer der Eindringlinge fort. Doch das Unglück war geschehen, 236 denn Maersca hatte ihre Haut abstreifen müssen, um aus dem Wasser zu steigen, und indem sie das tat, brachte sie den Fluch ihrer Vorfahren über sich. Sie verschied in den Armen des alten Mannes. Und er starb kurz darauf.« Ihr Blick huschte zu Robert hinüber. »Ihre Kinder gehörten zu den ersten Landwaerden. Viele von uns leiten ihre Herkunft von Maersca her.« Robert kratzte sich am Kopf und sah verdutzt aus. »Das ist eine schwierige Geschichte«, sagte er. »Ich frage mich, ob Ihr nicht versucht, irgendwelche wenig schmeichelhaften Bemerkungen über mich darin zu verstecken, so wie Ihr es schon einmal getan habt?« »Das werde ich nicht tun«, beteuerte Leoff. »Ich habe lediglich vor, mich einer Erzählung zu bedienen, die bei den Landwaerden beliebt ist, so wie letztes Mal. Es war ein König in Eslen, der Maerscas Kindern zum Dank ihre Ämter verliehen hat. Er war der jüngste Sohn des vorigen Königs, und es heißt, als er jung war, hätte er mit dem Volk auf den Deichen gearbeitet. In ihm könnten wir Euch andeuten - einen Monarchen, dessen Herz für Neuland und seine Wächter schlägt.« »Und wer ist der Bösewicht in dem Stück?« »Ah«, sagte Leoff. »Der Skellander wurde von keinem anderen als von der Tochter des alten Königs nach Neuland geführt, der Schwester von Thiodric - eine abscheuliche Hexe, die ihren Vater vergiftet und alle ihre Brüder erschlagen hatte. Außer dem jüngsten, der - wie wir sehen werden - von niemand anderem vor dem Ertrinken gerettet worden war als von Maersca.« »Und diese Schwester könntet Ihr rothaarig sein lassen«, sann Robert laut. »Wohlan, es gefällt mir. Wie schon gesagt, ich zweifle nicht daran, dass Ihr schlau genug seid, mich irgendwie zu betrügen, auch wenn ich Euch eine Handlung vorschreibe. Seid also gewiss: Wenn Ihr mich noch mehr beschämt, werde ich kaum noch etwas zu verlieren haben, und ich werde diesen beiden jungen Damen eigenhändig die Kehle durchschneiden, in Eurem Beisein. Lasst mich sogar noch direkter werden. Selbst wenn Euer Werk 237 anscheinend in gutem Glauben komponiert worden ist, ihr Geschick wird das sein, welches ich soeben beschrieben habe, wenn Euer Stück die Landwaerde nicht wieder auf meine Seite bringt.« Er klopfte Leoff auf den Rücken. »Genießt Euren Aufenthalt hier. Ich denke, Ihr werdet ihn mehr als behaglich finden.« 18. Kapitel Der Woorm Aspars Finger zitterten leicht, als er den Pfeil an die Sehne legte. Fend, der seine erste Liebe getötet hatte. Fend, der versucht hatte, Winna das Gleiche anzutun. Fend, der jetzt auf dem Rücken eines ungeheuren Woorms ritt. An dem Pfeilschaft entlang maß er die Entfernung ab. Er kam ihm riesengroß vor, der Pfeil, und jede seiner Einzelheiten war ihm deutlich bewusst: die mit rotem, gewachstem Faden befestigte Befiederung aus Falkenfedern, die fast unmerkliche Krümmung des Holzes, die berücksichtigt werden musste, das matte
Schimmern des Sonnenlichts auf der leicht angerosteten Spitze, der Ölgeruch vom Köcher. Die Luft wallte und strömte um ihn herum, und tote Blätter wiesen ihm - wie die Signalflaggen eines Heeres den Weg zu Fends Fleisch, Blut und Knochen. Und doch konnte er es nicht ganz fühlen. Auf diese Entfernung, aus diesem Winkel, war es ein unsicherer Schuss. Und selbst wenn der Pfeil traf, war da immer noch die grauenvolle Gegenwart des Woorms. Kein Pfeil keine noch so große Anzahl von Pfeilen - konnte dieses Wesen töten. Doch nein, das stimmte nicht ganz. Da war noch der schwarze 238 Pfeil, den Praifec Hespero ihm gegeben hatte, der, mit dem er den Uttin zur Strecke gebracht hatte. Angeblich konnte der Pfeil selbst den Dornenkönig töten; er sollte also auch einen Woorm niederstrecken können. Winna zitterte, doch sie sagte nichts. Der Woorm und Fend hatten beide die Köpfe gesenkt, und die Kreatur setzte sich erneut in Bewegung. Aspar entspannte sich ein wenig, rollte sich in Deckung und hielt Winna eng umschlungen, bis der Lärm, den das Ungetüm machte, verklungen war. »Oh ihr Heiligen«, hauchte Winna schließlich. »Ja«, pflichtete Aspar ihr bei. »Gerade wenn ich denke, ich hätte alle Nachtmahre aus sämtlichen Kindermärchen gesehen ...« Sie schauderte. »Wie fühlst du dich?«, fragte er. Ihre Haut war kalt und feucht. »Als hätte mich ein Alven-Pfeil getroffen«, antwortete sie. »Ein bisschen fiebrig.« Sie schaute zu ihm auf. »Das muss Gift sein, so wie der Gryffin es abgesondert hat.« Aspar hatte den Gryffin beim ersten Mal anhand seiner Fährte aus toten und sterbenden Pflanzen und Tieren gefunden. Allerdings waren Gryffins nicht viel größer als Pferde. Dieses Geschöpf dagegen ... »Sceat«, murmelte er. »Was ist?« Er legte die Hand gegen den Stamm des Baums und wünschte sich, dieser hätte einen Puls wie ein Mensch, doch er spürte die Wahrheit irgendwie in den Knochen. »Er hat den Baum getötet«, flüsterte er. »Alle diese Bäume.« »Und uns?« »Ich glaube nicht. Seine Berührung, der Dunst, den er ausatmet - das ist unten. Die Wurzeln sind tot.« Einfach so. Dreitausend Jahre lang am Leben ... »Was war das?«, wollte Winna wissen. Hilflos hob Aspar die Hände. »Es ist doch gleich, wie wir es nennen, oder? Aber ich glaube, es ist ein Woorm.« 239 »Oder vielleicht ein Drache?« »Wenn ich mich recht erinnere, haben Drachen Flügel.« »Gryffins auch.« »Ja. Stimmt. Also, wie gesagt, es spielt keine Rolle, wie wir es nennen. Nur was es ist und was es tut. Und Fend -« »Fend?« Richtig, er hatte ihr ja die Augen zugehalten. »Ja, Fend ist auf dem verdammten Vieh geritten.« Sie runzelte leicht die Stirn, als hätte er ihr gerade ein Rätsel aufgegeben und sie versuche, es zu lösen. »Fend reitet auf dem Woorm«, sagte sie schließlich. »Das ist einfach, einfach so ...« Ihre Hände krallten sich in ihre Seiten, als sei das Wort, nach dem sie suchte, vielleicht dort zu erhaschen. »Wo hat Fend denn einen Woorm her?«, war das, wofür sie sich schließlich entschied. Aspar dachte über etwas nach, das er für eine vollkommen sinnlose Frage hielt. Während der meisten seiner fünfundvierzig Lebensjahre hatte er im Königswald gelebt und geatmet, hatte seine finstersten, dichtesten Winkel gesehen, von den Hasenbergen bis zu den wilden Klippen und Weelvholzsümpfen der Ostküste. Er kannte die Gewohnheiten und Zeichen jedes Lebewesens in dem ganzen riesigen Gebiet, und niemals - jedenfalls bis vor ein paar Monaten -hatte er auch nur die Losung eines Gryffin, eines Uttin oder eines Woorms zu Gesicht bekommen. Wo hatte Fend einen Woorm her? Wo war der Woorm hergekommen? Hatte er in irgendeiner tiefen Höhle geschlummert, in den Tiefen des Meeres gelauert? Grim allein wusste es. Und Fend schien es zu wissen. Er hatte einen Gryffin aufgetrieben - und jetzt hatte er etwas noch Schlimmeres gefunden. Aber warum? Fends Beweggründe waren für gewöhnlich einfach zu durchschauen, Gewinnsucht und Rache waren die häufigsten. Bezahlte die Kirche ihn jetzt? Das müsste ein hoher Betrag sein. 240 »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. Dann spähte er über den Rand. Der Dunst, den der Woorm zurückgelassen hatte, schien sich verzogen zu haben. »Sollen wir hinunterklettern?«, fragte Winna. »Ich glaube, wir sollten noch warten. Und wenn wir hinunterklettern, dann da drüben, abseits von seiner Spur. Um das Gift zu meiden.«
»Und was dann?« »Er folgt den Slinderlingen, denke ich, und die Slinderlinge haben Stephen. Also folgen wir jetzt wohl dem Woorm.« Eine längere Zeitspanne verstrich, und Aspar war schon im Begriff, vorzuschlagen, dass sie sich an den Abstieg machen sollten, als er gedämpftes Stimmengeplapper vernahm. Er legte einen Finger an die Lippen, doch Winna hatte sie bereits gehört. Mit einem Kopfnicken gab sie ihm zu verstehen, dass sie verstanden hatte. Kurz darauf kamen sechs Reiter mitten in der Furche dahergeritten, die der Woorm gezogen hatte. Drei waren von schlanker Gestalt, mit schmalen Schultern, und trugen die bezeichnenden breitkrempigen Hüte, die die Sefry vor dem Licht der Sonne schützten. Die drei anderen waren größer und trugen keine Kopfbedeckungen - wahrscheinlich Menschen. Die Pferde waren alle eher klein und hatten das struppige Aussehen der nördlichen Rassen. Aspar fragte sich, wo wohl seine eigenen Pferde waren. Vielleicht waren sie alle drei tot, falls sie dem Brodem des Woorms zu nahe gekommen waren, doch Pferde - und ganz besonders Unhold - schienen ein gutes Gespür für derlei Dinge zu haben. Jedenfalls waren die Reiter da unten nicht tot. Fend auch nicht, und er ritt auf dem Ungetüm. Vielleicht war der Woorm nicht so giftig wie der Gryffin. Schließlich war der Uttin auch nicht giftig gewesen. Andererseits schienen die Mönche am Naubagm-Hügel immun gegen den Einfluss des Gryffin gewesen zu sein, und eine Sefry-Hexe, die sich Mutter Gastya nannte, hatte Aspar einst mit 241 einer Arznei ausgestattet, die die Wirkung des Giftes zunichte machte. Aspar klopfte auf den Ast und formte mit den Lippen die Worte »Warte hier«. Winna machte ein besorgtes Gesicht, nickte jedoch. Vorsichtig tappte er den mächtigen Ast entlang. Hier war dieser so dick, dass er keine kleineren Zweige zum Rascheln bringen und sich verraten würde wie ein riesiges Eichhörnchen. Er stieg auf einen tiefer gelegenen Ast hinab, und dann weiter, bis er direkt hinter den Reitern war und sich gleichzeitig noch ein gutes Stück über ihnen befand. Sie hatten jetzt aufgehört zu reden, was ihn vor ein Problem stellte. Er hatte gehofft, sie würden etwas sagen, womit sie ihre Absichten enthüllen würden - so etwas wie »Vergesst nicht, Freunde, wir stehen in Fends Diensten« -, doch es schien nicht sehr wahrscheinlich, dass dies in nächster Zeit geschehen würde. Drei mögliche Gründe fielen ihm ein, warum diese Männer dem Woorm hinterherritten, der den Slinderlingen nachspürte. Erstens, dass sie zu Fend gehörten und ihm folgten - zu dem gleichen verderbten Zweck, jedoch langsamer. Zweitens, dass sie Feinde von Fend waren und ihn aus dem gleichen Grund verfolgten wie Aspar - um ihn zu töten. Drittens, dass sie eine Gruppe Reisender waren, die dem Woorm aus reiner Neugier hinterherritt. Wenn die Spur der Bestie giftig war, dann konnte die letzte Möglichkeit gleich entfallen - zufällige Wanderer würden höchstwahrscheinlich kein Gegenmittel für Woorm-Gift mit sich herumtragen und wären inzwischen ziemlich krank. Also waren sie entweder Fends Verbündete oder seine Widersacher. Nun, er hatte nicht mehr viel Zeit, um darüber nachzudenken, und das Schlimmste, was ein Mann tun konnte, war zu zaudern. Es waren bei weitem zu viele, um höflich zu fragen. Also spähte er an seinem ersten Pfeil entlang und zielte auf den Nacken des Letzten - ein Mensch. Wenn er einen oder zwei von 242 ihnen niederstrecken konnte, bevor die anderen begriffen, was geschah, würde das seine Überlebenschancen erheblich verbessern. Aber ... Mit einem Seufzer zielte er neu und schoss dem Burschen den Pfeil stattdessen in den rechten Oberarm. Wie zu erwarten gewesen war, schrie der Getroffene auf, fiel vom Pferd und schlug wild um sich. Die meisten der anderen schauten ihn lediglich verdutzt an und versuchten herauszufinden, was los war, einer jedoch - und jetzt konnte Aspar sehen, dass es wirklich ein Sefry war - sprang aus dem Sattel und machte sich daran, seinen Bogen zu spannen, während seine Augen die Bäume absuchten. Aspar traf ihn in die Schulter. Der Mann schrie nicht, doch sein scharfes Atemholen war selbst auf diese Entfernung für Aspar zu vernehmen, und der Sefry entdeckte augenblicklich den Urheber seiner Verwundung. »Waldhüter!«, brüllte er. »Es ist der Waldhüter, ihr Narren! In den Bäumen! Der, vor dem Fend uns gewarnt hat!« Na also, dachte Aspar. Das hätte ich ja lieber gehört, bevor sie wussten, dass ich hier bin, aber... Ein weiterer Mann hatte seinen Bogen jetzt gespannt, bemerkte Aspar. Er schoss auf den Burschen, doch dieser bewegte sich, und der Pfeil nahm nur ein wenig von seinem Ohr mit. Der andere schoss zurück, ein verdammt guter Schuss, alles in allem, aber Aspar ließ sich bereits auf den nächsttieferen Ast fallen. Er landete mit leicht gebeugten Knien, zuckte unter einem Schmerz in den Gelenken zusammen, der vor fünf Jahren noch nicht da gewesen wäre, und schoss seinen nächsten Pfeil auf den anderen Schützen ab. Dieser hielt sich sein verwundetes Ohr und fing gerade an zu schreien, als der Pfeil seinen Kehlkopf durchbohrte und ihn nachhaltig zum
Schweigen brachte. Aspar legte einen neuen Pfeil an und schoss mit großer Sorgfalt auf einen weiteren Sefry, der gerade einen Schaft auf die Sehne legte. Er traf ihn innen am Oberschenkel, worauf er wie ein Sack Mehl umfiel. 243 Ein rot gefiedertes Geschoss prallte wuchtig gegen Aspars Brustharnisch aus gekochtem Leder, und im nächsten Moment wurde ihm klar, dass seine Füße nicht mehr auf dem Ast standen, sich aber noch mehr oder weniger unter ihm befanden. Sein linker Fuß kam zuerst am Boden auf, doch sein Körper war zu weit nach hinten gekippt, um im Gleichgewicht zu bleiben und den Aufprall abzufedern. Es gelang ihm, sich zu drehen und einen Teil davon mit der Schulter abzufangen, doch das brachte neue Schmerzen mit sich. Ächzend rollte er sich ab und stellte fest, dass er seinen Bogen nicht mehr hatte. Er griff nach seiner Streitaxt, und als er hochkam, starrte er an dem Pfeilschaft des dritten Sefry entlang. Er warf die Axt und wirbelte nach links. Die Axt verfehlte den anderen um Haaresbreite, jedoch nur, weil der Sefry zurückzuckte und dadurch seinerseits daneben schoss. Grollend warf sich Aspar auf seinen Gegner und riss seinen Dolch aus der Scheide. Zehn Königsellen hätten dem Sefry reichlich Zeit geben sollen, einen weiteren Pfeil anzulegen und aus nächster Nähe zu schießen, doch anscheinend wusste er das nicht und schien stattdessen unentschlossen, ob er schießen, sein Messer ziehen oder davonlaufen sollte. Schließlich entschied er sich für das Messer, doch da war Aspar schon bei ihm; er trat nahe heran, packte den Sefry mit der freien Hand an der Schulter und drehte ihn herum, sodass seine linke Niere ungedeckt war. Sein erster Stoß traf auf Panzerstahl, also änderte er die Höhe des Angriffs und schlitzte die Halsschlagader auf, kniff die Augen gegen das spritzende Blut zusammen und rannte weiter, während sich sein Widersacher in einen Leichnam verwandelte. Jäh kam er sich vor wie blind, weil ihm klar war, dass es einen unverletzten Kämpfer gab, den er aus den Augen verloren hatte. Die beiden ersten, auf die er geschossen hatte, könnten vielleicht ebenfalls Ärger machen, doch es war unwahrscheinlich, dass einer von ihnen einen Bogen handhaben konnte. 244 Der vierte Mann kündigte sich durch schnaufenden Atem an. Aspar wirbelte herum und sah ihn, ein Breitschwert schwingend, auf sich zustürmen. Aspars Knie wurden weich, und ihm war, als habe er Nesseln in der Lunge das Gefühl war vertraut, wie damals, als der Gryffin ihn zum ersten Mal angesehen hatte. Damit wäre das beantwortet, dachte er. Gift. Ein kluger Mann mit einem Schwert sollte in der Lage sein, einen Mann mit einem Dolch zu töten. Glücklicherweise schien dieser hier nicht allzu klug zu sein. Er hatte die Waffe für einen Hieb von oben hoch erhoben; Aspar tat, als spränge er verzweifelt nach vorn - völlig unmöglich, angesichts der Entfernung -, und der Bursche tat ihm den Gefallen und schlug schnell und hart zu. Doch Aspar wich zurück, kam nicht ganz in Reichweite, und als das zischende Schwert auf dem Weg nach unten an ihm vorbeifuhr, mit zu viel Schwung, um die Bewegung umzukehren, sprang er doch vor, packte den Arm, der das Schwert führte, mit der Linken und rammte seinen Dolch tief in den Unterleib des Mannes, gleich links neben seinem eisernen Gemächtschutz. Der Mann würgte und stolperte zurück, ruderte wild mit den Armen, um nicht zu Boden zu gehen. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Aspar hörte ein gurgelndes Geräusch hinter sich und fuhr auf unsicheren Beinen herum, um den ersten Sefry zu erblicken, der auf ihn geschossen hatte und ihn jetzt verblüfft anstarrte. Er hielt ein kurzes Schwert in der Hand, doch noch während Aspar das sah, entglitt es seinen Fingern, und er sank in die Knie. Ungefähr zehn Königsellen hinter ihm senkte Winna mit grimmiger Miene ihren Bogen. Sie sah blass aus, ob von dem Gift oder vor Angst, wusste er nicht. Wunderbar. Nun konnte er fühlen, wie das Fieber in ihm brannte. Schon jetzt war er fast zu schwach, um den Dolch zu halten. Er zwang sich trotzdem, die Runde zu machen, vergewisserte sich, dass seine Feinde tot waren - alle außer einem, dem Ersten, auf den er geschossen hatte. Der Mann kroch über den Boden, 245 hielt sich den Arm und wimmerte. Als er Aspar kommen sah, versuchte er, schneller zu kriechen. Er weinte bereits; nun begannen seine Tränen, noch heftiger zu fließen. »Bitte«, keuchte er. »Bitte.« »Winna«, rief Aspar. »Durchsuch die Leichen nach irgendetwas Ungewöhnlichem. Erinnerst du dich an das Zeug, das Mutter Gastya mir gegeben hat? Irgendetwas in der Art.« Er stellte einen Stiefel auf den Nacken des Mannes. »Guten Morgen«, sagte er und versuchte, sicherer zu klingen, als ihm zumute war. »Ich will nicht sterben«, winselte der Mann. »Fein«, erwiderte Aspar. »Ich auch nicht, verstehst du? Und außerdem will ich nicht, dass mein hübsches junges Mädchen hier stirbt. Aber wir werden sterben, nicht wahr, weil wir diesem verdammten Ding da in den Weg geraten sind, das Fend hervorgezaubert hat. Also, alle deine Freunde habe ich zu Grim geschickt, als Frühstück,
und sie rufen von der anderen Seite des Flusses nach dir. Ich kann dich da hinüberschicken, ganz schnell, indem ich einfach dieses Messer hier unten in deinen Kopf stoße.« Er kniete nieder und drückte die Finger gegen die Stelle, wo das Rückgrat auf den Schädel traf. Der Mann schrie auf, und Aspar roch Gestank. »Fühlst du das?«, erkundigte er sich. »Da ist ein Loch. Das Messer geht da so leicht hinein wie in Butter. Aber ich muss das nicht tun. Die Wunde da in deinem Arm ist nicht schlimm, und du könntest dich in die Midenlande verdrücken, dir eine Frau suchen und für den Rest deines Lebens am Butterfass stehen. Aber erst musst du dafür sorgen, dass ich nicht sterbe und dass meine Gefährtin nicht stirbt.« »Fend wird mich umbringen.« Aspar lachte. »Das ist doch albern. Wenn du mir nicht hilfst, bestehst du zum größten Teil aus Maden, ehe Fend überhaupt erfährt, was dir zugestoßen ist.« »Ja«, stieß der Mann verzagt hervor. »Es gibt eine Arznei. Raff hat sie bei sich, in einer blauen Flasche. Ein Trunk am Tag, so viel, 246 wie auf einen kleinen Löffel passt. Aber Ihr müsst mir etwas davon dalassen.« »Wirklich?« »Weil ich sonst trotzdem sterbe«, erklärte der Mann. »Die Medizin macht das Gift nicht unwirksam, sie verlangsamt es nur. Wenn man sie ein paar Tage lang nicht einnimmt, ist man genauso tot, wie man es sonst gewesen wäre.« »Tatsächlich. Und welcher Narr ... ha Jetzt verstehe ich. Fend hat euch das nicht gesagt, bis es zu spät war, nicht wahr?« »Ja. Aber er hat das Gegengift. Wenn wir es zu Ende gebracht hätten, hätte er es uns gegeben.« »Ich verstehe.« Mit großer Mühe hob er den Kopf. »Winna? Es ist in einer blauen Flasche.« »Die habe ich gefunden«, rief sie zurück. »Bring sie her.« Er setzte dem Mann die Dolchspitze an den Schädel. Gleich darauf sank Winna neben ihm auf die Knie. Ihre Augen waren rot, die Haut kalkweiß. »Trink etwas davon«, wies er sie an. Er drückte ein wenig mit dem Messer zu. »Wenn es sie umbringt, bist du der Nächste.« »Gebt zuerst mir etwas«, sagte der Mann. »Ich beweise Euch, dass es kein Gift ist.« Winna hob die blaue Flasche, nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Einen langen Moment geschah nichts. »So ist es besser«, sagte Winna. »Es dreht sich nicht mehr alles.« Aspar nickte, nahm die Flasche und trank seinerseits. Es schmeckte widerlich, wie gekochte Tausendfüßler und Wermut, doch er fühlte sich fast augenblicklich besser. Sorgsam verkorkte er die Flasche und steckte sie in seinen Rucksack. »Wobei helft ihr Fend eigentlich?«, fragte er. »Was solltet ihr zu Ende bringen, bevor er euch das Gegengift gibt?« »Wir sollen ihm einfach folgen und alles niedermachen, was der Woorm nicht umbringt.« »Ja? Warum?« 247 »Zum einen will er die Slinderlinge töten«, antwortete der Mann. »Aber da gibt es auch so einen Burschen, den er finden soll; ich weiß nicht, wie er heißt. Ich glaube, er sollte eigentlich mit Euch zusammen sein.« »Fend hat die Uttins auf ihn gehetzt?«, fragte Aspar. »Ja. Sie sind vorausgegangen und nicht zurückgekommen.« »Wo bekommt Fend diese Ungeheuer her?« »Den Woorm hat er von der Sarnwaldhexe, oder jedenfalls hat er das behauptet. Aber die Ungeheuer sind Fend nicht zu Diensten. Er und die Bestien dienen demselben Herrn.« »Und wer ist das?« »Keiner von uns weiß es. Es gibt da einen Priester aus Hansa namens Ashern. Ich glaube, er weiß es, aber er sitzt zusammen mit Fend auf dem Woorm. Der Sefry hat uns nur zum Plündern gedungen. Hat gesagt, wir können alles behalten, was wir auf der Spur des Woorms finden. Dann hat er gesagt, wir sind vergiftet, und hat Galus verrecken lassen, um's zu beweisen. Bitte, Waldhüter, ich flehe Euch an.« »Das ist alles, was du weißt?« »Das ist alles.« Aspar drehte den Mann auf den Rücken. Er zuckte zusammen und schloss die Augen. Aspar schüttelte die Flasche. Sie war mehr als halb voll. »Mach den Mund auf.« Der Mann gehorchte, und Aspar träufelte ein paar Tropfen hinein. »Erzähl mir etwas Neues«, verlangte er, »und ich gebe dir noch ein bisschen mehr. Wenn du lange genug durchhältst, verschwindet das Gift des Woorms ja vielleicht von selbst aus deinem Körper, nicht wahr? Oder du könntest dir einen Hexenmeister suchen, der dir hilft. Jedenfalls wäre es eine Chance für dich, den nächsten Vollmond zu erleben. Besser als das, was du jetzt hast.« »Ja. Was wollt Ihr wissen?«
»Warum hat Fend die Mädchen entführen lassen?« 248 »Mädchen?« »An der Grenze zu Loiyes. Wo er die Uttins hingeschickt hat.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Diese Burschen? Mit denen hatten wir nichts zu tun. Der Woorm und die Uttins haben Euren Kameraden aufgespürt - irgendwie haben sie ihn gerochen. Diese anderen Kerle - wir haben ein paar von ihnen getötet, als wir zufällig auf sie gestoßen sind. Fend hat uns gesagt, wenn wir zwei Mädchen sehen, sollten wir sie einfach auch umbringen, aber wir sollten uns nicht besonders darum bemühen. >Das ist nicht unsere Aufgaben hat er gesagt. >Darüber sollen sich andere den Kopf zerbrechen.<« Aspar träufelte dem Mann noch ein paar Tropfen auf die Zunge. »Was noch?« »Sonst weiß ich nichts. Mir war nicht klar, worauf ich mich da einlasse. Ich bin doch bloß ein Dieb. Ich habe sogar vorher noch nie jemanden umgebracht. Ich hab nie daran geglaubt, dass es solche Wesen gibt, aber jetzt habe ich sie gesehen, und ich will einfach nur fort. Ich will einfach nur am Leben bleiben.« »Ja«, sagte Aspar. »Dann geh.« »Aber das Gift...« »Ich habe dir so viel gegeben, wie ich konnte. Den Rest brauche ich, um Fend zu finden, ihn zu töten und mir sein Gegengift zu holen. Weißt du, wie es aussieht?« »Nein.« »Ich könnte dich immer noch einfach umbringen ...« »Ich weiß es wirklich nicht.« Was bedeutet, dass es vielleicht gar kein Gegengift gibt, dachte Aspar grimmig. »Komm, Winna«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, wir sollten uns lieber auf den Weg machen.« 249 19. Kapitel Klingenklänge Von Entsetzen gelähmt sah Anne zu, wie sich der Wandbehang hob und Finsternis dahinter erschien. Die Kerzen waren alle erloschen, und obgleich das einzige Licht das des Mondes war, konnte sie jede Einzelheit des Zimmers deutlich erkennen. Der Puls in ihrem Kopf hämmerte so heftig, dass sie fürchtete, sie würde ohnmächtig werden, und sie wollte wegschauen von dem, was auf sie zukam. Sie hatte von Fastia geträumt, mit Würmern in den Augen, die hinter den Wandbehang getreten war und eine Geheimtür geöffnet hatte. Jetzt sah sie, dass es die Tür tatsächlich gab, und etwas kam daraus hervor. Hier, in der Welt der Wachenden. War sie wirklich wach? Die Gestalt, die ins Zimmer trat, war nicht Fastia. Zuerst schien es ein Schatten zu sein, doch dann enthüllte das Mondlicht jemanden, der ganz in Schwarz gekleidet und mit Maske und Kapuze vermummt war. Eine zierliche Statur, eine Frau, oder vielleicht ein Kind, das etwas Langes, Dunkles und Spitzes in der einen Hand hielt. Assassine, dachte sie. Plötzlich fühlte sie sich wie betäubt und kam sich sehr langsam vor. Dann erschienen die Augen des Eindringlings, und Anne wusste, dass sie entdeckt worden war. »Hilfe!«, schrie sie entschlossen. »Hilfe, Mörder!« Ohne einen Laut stürzte sich die Gestalt auf sie. Annes Lähmung verflog schlagartig; sie rollte sich vom Bett auf die Beine und taumelte auf die Tür zu. Etwas Kaltes, Hartes traf sie am Oberarm, und sie konnte den Arm nicht mehr rühren. Er schien mitten in der Bewegung er250 starrt zu sein - sie konnte ihn weder heben noch senken. Sie schaute hin und sah, dass etwas Dunkles, Dünnes sich dicht unterhalb des Knochens ins Fleisch gebohrt hatte. Es war glatt hindurchgedrungen und auf der anderen Seite herausgekommen, wo es in Lew stecken geblieben war. Anne hob den Blick und sah nur eine Handspanne entfernt violette Augen fest auf sie gerichtet. Wieder blickte sie hinab und begriff, dass das dünne Ding in ihrem Arm die Klinge einer Waffe war, die der Mann in der Hand hielt. Irgendwie wusste sie, dass es sich um einen Mann handelte, ganz gleich, wie zierlich er gebaut war. Ein Sefry, ging es ihr auf. Er riss an dem Degen, der im Bettpfosten feststeckte. Doch dann senkte sich seine andere Hand zur Taille. Unvermittelt traf sie der Schmerz der Klinge in ihrem Arm, doch die Angst erwies sich als stärker, denn sie wusste, dass er nach einem Messer griff. Also streckte sie den Kopf in den Mond, vergrub die Füße in den dunklen, verschlungenen Wurzeln der Erde, packte mit der freien Hand sein Haar und küsste ihn. Seine Lippen waren warm, sogar heiß, und als sie sie berührte, schien ein Blitz ihr Rückgrat hinabzufahren, und der Geschmack von Schlangenmoschus und verbranntem Wacholder brannte in ihrer Kehle. Im Inneren war er feucht und nass, wie alle Menschen, jedoch schrecklich verkehrt, kalt, wo er hätte heiß sein, heiß, wo er hätte kalt sein sollen, und nichts war vertraut. Er schien wie zerbrochen und neu geformt, jede Krümmung seiner Knochen wie ein verheilter Splitterbruch, jedes Gewebe eine Narbe.
Er schrie auf, und sie fühlte einen jähen, harten Ruck an ihrem Arm, als er zurückfuhr. Der Degen wurde herausgerissen, und sie glitt zu Boden und landete auf dem Hinterteil, die Beine vor sich ausgestreckt. Der Sefry trat zurück und schüttelte den Kopf wie ein Hund, der Wasser im Ohr hat. Anne versuchte abermals zu schreien, stellte jedoch fest, dass sie 251 keine Luft bekam. Sie umklammerte ihren Arm, und alles war nass und klebrig vor Blut, das, wie ihr klar wurde, das ihre war. Die Tür jedoch suchte sich genau diesen Augenblick aus, um aufzufliegen, und zwei von Elyoners Wachen kamen hereingestürzt, mit Fackeln, die so hell zu brennen schienen, dass Anne fast geblendet war. Der Angreifer, durch die Helligkeit zu einem dunklen Schemen geworden, schien sich zu erholen. Seine lange Klinge zuckte vor und traf eine der Wachen in die Kehle. Der arme junge Mann fiel auf die Knie, ließ die Fackel fallen und griff nach der Wunde, versuchte, sein Leben mit beiden Händen festzuhalten. Anne fühlte mit ihm, während Blut zwischen ihren eigenen Fingern hervorspritzte. Der andere Mann brüllte um Hilfe und war ein wenig umsichtiger. Er trug eine Halbrüstung und ein schweres Schwert, mit dem er nach dem Eindringling stieß, anstatt zum Schlag auszuholen. Der Sefry versuchte ein paar Attacken, die der Mann abwehrte. »Lauft, Prinzessin«, sagte die Wache. Anne bemerkte, dass zwischen ihm und der Tür eine Lücke war; sie würde fliehen können, wenn sie ihre Beine dazu zwingen konnte, sie zu tragen. Sie versuchte, sich auf die Knie zu erheben, glitt jedoch in dem Blut aus und fragte sich, wie nahe sie wohl daran war zu verbluten. Der Sefry griff an und strauchelte. Mit einem Aufbrüllen schlug die Wache heftig zu; Anne konnte dem, was dann geschah, nicht folgen, doch Stahl klirrte gegen Stahl, und Elyoners Mann taumelte an dem Sefry vorbei und krachte gegen die Wand. Dort brach er regungslos zusammen. Der Meuchelmörder wandte sich gerade wieder zu ihr um, als eine weitere Gestalt durch die Tür stürmte. Es war Cazio. Er sah merkwürdig aus, sehr merkwürdig, und einen Moment lang kam Anne nicht darauf, wieso. Dann begriff sie, dass er nackt war wie am Tag seiner Geburt. 252 Doch er hielt Caspator in der Hand. Mit lediglich einem winzigen Augenblick des Zauderns, in dem er die Lage erfasste, warf er sich auf den Attentäter. Cazio zielte mit Caspator nach der dunklen Gestalt. Doch die Klinge wurde mit der flinken, vertrauten Parade des pert abgefangen, gefolgt von einer starken Blockade in uhtavo. Ohne nachdenken zu müssen, führte Cazios Hand die Attacke in eine zurückweichende Parade und erwiderte mit einem Stoß gegen die Kehle. Sein Gegner entging dem Angriff, indem er zurückwich, und einen Augenblick lang bewegte sich keiner von ihnen. Cazio empfand einen Moment lang leise Scham, weil er nackt war, doch Austra und er waren beide in diesem Zustand gewesen, einen Raum weiter, als er Annes Schrei gehört hatte. Wenn er gezögert hätte, um sich anzuziehen, wäre sie jetzt vielleicht tot. Wahrhaftig, sie war bereits verwundet, und Angst um sie löschte die Befangenheit wegen seiner fehlenden Kleider aus. Das, und die jähe Erkenntnis, dass er endlich, nach all diesen Monaten, einem anderen Schüler der Dessrata gegenüberstand. »Kommt«, sagte Cazio. »Bringen wir das hier zu Ende, ehe jemand auftaucht und sich einmischt.« Er hörte bereits weitere Wachen kommen. Der Mann neigte den Kopf zur Seite, dann täuschte er einen Angriff vor. Cazio wich zurück; er traute der Wahrhaftigkeit der Attacke nicht und war verblüfft, als der Bursche plötzlich zur Wand hinüberhuschte, einen Wandbehang hochhob und in einer dunklen Öffnung dahinter verschwand. Fluchend sprang Cazio hinter ihm drein und schob den Wandbehang mit der Linken zur Seite. Eine Klinge zuckte aus der Finsternis hervor, und er konnte sie gerade noch abwehren. Er trat an der Spitze vorbei, drückte die Waffe mit der freien Hand gegen die Mauer - und rannte dann geradewegs gegen eine Faust. Sie traf ihn am Unterkiefer; der Schlag war weniger heftig als überraschend. Er ließ die Klinge los. 253 Cazio stolperte zurück, fuchtelte in heftigen Paraden mit Caspator herum und hoffte, so eine Attacke abzufangen, die er nicht sehen konnte - doch leiser werdende Schritte verrieten ihm, dass der Bursche jetzt davonrannte, ohne den Kampf von neuem aufzunehmen. Fluchend rannte Cazio ihm nach. Ein paar Augenblicke später gewann die Vernunft wieder die Oberhand, und er verlangsamte seine Schritte. Schließlich konnte er überhaupt nichts sehen. Er erwog, zurückzugehen und sich eine Fackel zu holen, doch er konnte noch immer leise Schritte vor sich hören, und er wollte die Fährte nicht verlieren. Also ging er rasch weiter, die linke Hand an der Wand und Caspator vor sich ausgestreckt wie den Stab eines Blinden. Fast wäre er gestrauchelt, als aus dem Gang Stufen wurden, die in engen Windungen abwärts führten. Vor sich hörte er ein Klicken und sah einen kurzen Moment lang, wie Mondlicht einen menschlichen Schatten auf den Treppenabsatz unter ihm warf. Dann war das Licht verschwunden.
Er erreichte den Absatz, und nach kurzem Suchen fand er die Tür und drückte sie auf. Der Gang endete an einer Gartenmauer, die von einer Hecke verborgen war. Ein kurzer Pfad führte auf eine offene, grasbewachsene Lichtung hinaus, die vom Mondschein erhellt wurde. Der Mann, der Anne angegriffen hatte, war nirgends zu sehen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann genug Zeit gehabt hatte, die offene Grasfläche zu überqueren, also rollte er sich ab, anstatt vorzutreten, und fand seine Schlussfolgerung durch das Zischen von Stahl bestätigt, dort, wo sein Kopf hätte sein sollen. Die Klinge abwehrbereit in prismo, kam er auf die Beine. »Das ist enttäuschend«, bemerkte er. »Ich bin über Land und Meer und wieder über Land gereist und nie einem anderen Dessrator begegnet. Ich bin das Fleischhacken, das in diesen barbarischen Nordlanden als Fechtkunst durchgeht, 50 leid. Jetzt finde ich endlich jemanden, der mir ein wenig Unterhaltung bieten könnte, 254 und ich stelle fest, dass er ein Feigling ist, nicht bereit, sich zu stellen und zu kämpfen.« »Tut mir Leid«, erwiderte der Bursche mit gedämpfter Stimme. »Aber Ihr müsst verstehen, dass es mir zwar nichts ausmacht, mit Euch zu fechten, ich aber keine Lust habe, gegen das ganze Schloss anzutreten. Und wenn ich zulasse, dass Ihr mich aufhaltet, werde ich mich in genau dieser Lage befinden.« Das stimmte, sie waren in Annes Gemach gewesen. Cazio hatte hinter sich die Wachen kommen hören, und dann ... Sie waren im Freien. Wie hatte sich das zugetragen? Verschwommen erinnerte er sich daran, dem Mann hinterhergerannt zu sein, aber wenn er ihm aus Annes Zimmer gefolgt war, hätten sie dann nicht an den herbeieilenden Wachen vorbeikommen müssen? Waren sie aus einem Fenster gesprungen? Der Mann machte Cazios Grübeleien ein Ende, indem er angriff. Er war klein, flink - ein Sefry vielleicht? Cazio hatte noch nie gegen einen Sefry-Dessrator gefochten. Die Klinge des Mannes war mit Lampenruß geschwärzt und schwer zu sehen. Cazio parierte, doch die Attacke erwies sich als Finte, und der wahre Angriff erfolgte auf einer tiefen Linie. Cazio trat einen Schritt zurück, um Zeit zu haben, die Klinge zu erkennen, was ihm auch gelang; er parierte sie im seft, dann drehte er sich zur Seite, um dem blitzschnellen Folgeangriff auf der hohen Linie zu entgehen. Die Klinge wisperte dicht an seinem Hals durch die Luft, und er streckte den Arm. Sein Gegner lenkte den Stoß mit der flachen Hand ab, und plötzlich standen sie einander wieder in allernächster Nähe gegenüber. Cazio trat rasch vor und rammte den anderen mit der Schulter, dann ließ er einen kurzen Ausfall folgen, der einen Arm ritzte. Er fing sich wieder, bereit, den Mann zu bedrängen, als er bemerkte, dass dieser abermals das Weite suchte. »Mamres verfluche Euch, bleibt stehen und wehrt Euch!«, brüllte Cazio. Ihm wurde jetzt kalt, seine bloßen Füße knirschten auf dem Schnee. 255 Wieder jagte er hinter dem flüchtigen Degenkämpfer her und keuchte Drachenatem. Seine Finger, die Nasenspitze und anderes wurden allmählich taub vor Kälte, einer Kälte, wie er sie noch niemals erlebt hatte, und ihm fielen Geschichten ein, die er gehört hatte, von Körperteilen, die abfroren. Konnte so etwas wirklich geschehen? Es war ihm immer absurd erschienen. Sie brachen aus dem Labyrinth hervor und rannten durch einen Garten, wo eine leicht bekleidete Statue der Lady Erenda über einem marmornen Liebespaar in einem zugefrorenen Becken thronte. Ein Stück voraus konnte Cazio einen Kanal erkennen, und das Ziel des Degenfechters - ein in einem kleinen Hain angebundenes Pferd. Er versuchte, seine Geschwindigkeit zu verdoppeln, mit begrenztem Erfolg. Der Schnee und seine tauben Zehen machten es schwer, das Gleichgewicht zu halten. Der Dessrator bemühte sich gerade, sein Reittier loszubinden, als Cazio auf ihn losging. Der Mann gab das Unterfangen auf und fuhr herum, um sich ihm zu stellen. Überrascht sah Cazio, dass er seine Maske herabgezogen hatte - wahrscheinlich, um besser Luft zu bekommen. Das Gesicht war in der Tat das eines Sefry, zart und im Mondlicht fast blau, mit so hellem Haar, dass es aussah, als habe er keine Augenbrauen oder Wimpern, als wäre er aus Alabaster gemeißelt. Er wich Cazios Ansturm aus, drehte seinen Körper zur Seite und ließ die Degenspitze stehen, damit Cazio sich daran aufspießte. Doch Cazio bremste seinen ungestümen Angriff ab und nahm die vorgestreckte Waffe in eine Blockade. Er konnte keinen Gegenstoß ausführen, drängte sich jedoch vorbei, und beide drehten sich, um sich erneut gegenüberzustehen. »Ich werde Euch wirklich töten müssen«, bemerkte der Sefry. »Euer Vitellianisch klingt seltsam, fast wie Safnisch«, stellte Cazio fest. »Sagt mir, wie Ihr heißt, oder wenn nicht, dann wenigstens, wo Ihr herkommt.« »Sefry kommen nirgendwoher, wie Ihr bestimmt wisst«, erwi256 derte der Assassine. »Aber mein Clan hat die Handelsrouten von Abrinia bis Virgenya bereist.« »Ja, aber Eure Dessrata habt Ihr nicht in Abrinia oder Virgenya gelernt. Wo dann?« »In Toto da'Curnas«, antwortete der Sefry »In den Alixanath-Bergen. Der Name meines Mestro war Espedio
Raes da Loviada.« »Mestro Espedio?« Z'Acatto hatte bei Espedio die Fechtkunst erlernt. »Mestro Espedio ist schon lange tot«, wandte Cazio ein. »Und Sefry leben sehr lange«, gab der andere zurück. »Sagt mir, wie ich Euch nennen soll.« »Nennt mich Acredo«, erwiderte der Sefry »Das ist der Name meines Rapiers.« »Acredo, ich glaube Euch ebenso wenig, dass Ihr bei Mestro Espedio gelernt habt, wie dass Ihr auf dem Mond Kaninchen gejagt habt, aber lasst einmal sehen - ich greife mit dem caspo dolo didieto dacht pere an ...« Er machte einen Ausfall gegen den Fuß des anderen. Acredo antwortete, indem er augenblicklich mit einer Gegenattacke auf Cazios Gesicht zielte, und Cazio änderte seinen Angriff, um entlang der Klinge zuzustoßen. Acredo zog sich insprismo zurück und schlug dann über Cazios Klinge hinweg zu, für ein caspo en pert. Cazio wich nach rechts aus und ripostierte gegen Acredos Augen. Dieser duckte sich, machte einen Ausfall auf Cazios Fuß und beendete die Attacke dort, wo sie begonnen hatte - nur dass sich seine Klinge durch Cazios gefühllosen Fuß und in den kalten Boden darunter bohrte. »Die korrekte Erwiderung?«, fragte Acredo, zog seine blutige Waffe zurück und nahm wieder die Ausgangsposition ein. Cazio zuckte zusammen. »Nicht schlecht«, gab er zu. »Jetzt bin ich an der Reihe«, verkündete Acredo und führte einen Wirbel von Finten und Attacken aus. »Der Heimweg des gehörnten Gemahls.« Cazio erkannte die Technik. Er antwortete mit dem angemessenen Gegenstoß, doch 257 wieder schien Acredo eine Bewegung mehr zu kennen als er, und diesmal hätte der Schlagabtausch fast mit seiner Klinge in Cazios Kehle geendet. Z'Acatto, du alter Fuchs, dachte er. Der Alte hatte die letzten Gegenzüge aus Espedios Kampfabläufen weggelassen. Das hatte bisher niemals eine Rolle gespielt, weil Cazio bis jetzt niemandem begegnet war, der den Stil des alten Mestro gemeistert hatte; es war ihm stets geglückt, auf halbem Weg durch die Abfolgen einen Treffer zu erzielen. Hier würde ihm das nicht gelingen - tatsächlich war das ein fast sicherer Weg zur Niederlage. Cazio würde seine eigenen Tricks anwenden müssen. Doch zum ersten Mal seit sehr langer Zeit dachte er bei sich, dass dies ein Duell war, das er vielleicht verlieren könnte. Ums Leben zu kommen war ein Gedanke, an den er sich beim Kampf gegen übernatürliche Ritter mit Zauberschwertern gewöhnt hatte. In einem Dessrata-Duell jedoch war ihm seit seinem fünfzehnten Lebensjahr allein z'Acatto gewachsen gewesen. Er verspürte ein wenig Angst, jedoch noch mehr freudige Heiterkeit. Endlich, ein Duell, das auszufechten sich lohnt. Er täuschte tief an und vollendete hoch, doch Acredo wich einen Schritt zurück, blockierte Caspator und machte dann einen Ausfall. Cazio fühlte, wie die Spannung seine Klinge hinauflief, und dann, mit einem erschreckenden stählernen Klirren, brach Caspator endgültig entzwei. Acredo zögerte, dann drängte er vor. Fluchend wich Cazio zurück, den Stumpf seines alten Freundes in der Hand. Er wappnete sich für einen letzten, verzweifelten Satz in Acredos Degenreichweite hinein, in der Hoffnung, ihn niederzuringen, als der Sefry plötzlich aufkeuchte und auf ein Knie fiel. Cazios erster Gedanke war, dass dies irgendeine merkwürdige Einleitung war, wie der »Dreibeinige Hund«, doch dann sah er den Pfeil aus dem Schenkel des Mannes ragen. »Nein!«, schrie Cazio. 258 Doch bewaffnete Wachen schwärmten jetzt entlang des Kanals herbei. Trotzig hob Acredo seine Waffe, doch ein Bogenschütze schoss ihm aus fünf Ellen Entfernung in die Schulter, und im nächsten Augenblick durchbohrte ein dritter Pfeil seine Kehle. Der Sefry hob die Hand zu der Wunde und sah Cazio unverwandt an. Er wollte etwas sagen, doch stattdessen sprudelte Blut über seine Lippen, und er fiel mit dem Gesicht voran in den Schnee. Wütend schaute Cazio auf und erblickte Sir Neil. Der Ritter war ohne Rüstung, wenngleich ein wenig besser gekleidet als der Vitellianer, noch immer in weißem Hemd, Hosen und, worum Cazio ihn am meisten beneidete, mit Schuhen. »Sir Neil!«, rief Cazio. »Wir haben uns duelliert! Er hätte nicht so sterben sollen!« »Dieses Stück Abschaum hat auf Ihre Majestät eingestochen«, erwiderte Neil. »In einem kaltblütigen Mordversuch. Er verdient die Ehre eines Duells nicht - oder irgendeine ehrbare Form des Todes.« Er blickte auf Acredo hinunter. »Ich hätte ihn allerdings wirklich gern lebend ergriffen, um herauszufinden, wer ihn geschickt hat.« Er warf Cazio einen harten Blick zu. »Das hier ist kein kurzweiliger Zeitvertreib«, sagte er. »Wenn Ihr glaubt, es sei so wenn Eure Begeisterung für Duelle wichtiger ist als Annes Sicherheit -, dann frage ich mich, ob Ihr in ihrer
Gesellschaft am rechten Platz seid.« »Wenn ich nicht da gewesen wäre, wäre sie jetzt wirklich tot«, wandte Cazio ein. »Das stimmt«, erwiderte Neil. »Trotzdem bleibe ich bei meiner Ansicht.« Cazio nahm dies mit einem knappen Nicken zur Kenntnis. Er hob das Rapier des Sefry auf. Es war hervorragend ausbalanciert, jedoch ein wenig leichter als Caspator. »Ich werde mich Eurer Waffe annehmen, Dessrator«, sagte er zu dem Gefallenen. »Ich wünschte nur, ich hätte sie mir im ehrlichen Zweikampf verdient.« 259 Irgendjemand legte einen Mantel um Cazios Schultern, und ihm wurde bewusst, dass er fast unkontrollierbar zitterte. Außerdem ging ihm auf, dass Sir Neil vermutlich Recht hatte. Doch er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass jeder Dessrator, ganz gleich, was für ein Schurke er auch gewesen war, es verdiente, durch die Klinge eines Rapiers zu sterben. »Setzt mich auf«, befahl Anne. Allein diese Worte auszusprechen genügte schon, dass sie beinahe ohnmächtig geworden wäre. »Ihr solltet liegen bleiben«, sagte Elyoners Wundarzt. Er war ein junger Mann und auf feminine Art gut aussehend. Anne überlegte, wie viel Heilkunst er wohl beherrschte, die nichts mit Wollust zu tun hatte. Er hatte die Blutung gestillt und irgendetwas auf ihren Arm geschmiert, wodurch dieser nicht mehr ganz so heftig pochte, doch das gewährleistete nicht, dass sie nicht in ein paar Tagen an Wundbrand sterben würde. »Ich werde mich aufsetzen, gegen die Kissen gelehnt«, beharrte sie. »Wie Euer Majestät wünschen.« Er half ihr, sich aufzurichten. »Ich brauche etwas zu trinken«, sagte Anne. »Ihr habt sie gehört«, blaffte Elyoner. Ihre Tante war in einen violetten Morgenmantel gehüllt und sah betrunken und besorgt aus. Interessanter war Austra, die nichts außer einem Betttuch am Leib trug, das sie eng um die Schultern gezogen hatte. Sie war nur wenige Augenblicke, nachdem Cazio verschwunden war, aufgetaucht, was Anlass zu Mutmaßungen gab, da Cazio splitternackt gewesen war. »Austra, zieh dir etwas an«, sagte sie sanft. Austra nickte dankbar und verschwand im Ankleidezimmer nebenan. Gleich darauf erschien ein junges Mädchen mit blonden Lo260 cken, braunem Rock und roter Schürze und brachte einen Becher, dessen Inhalt sich als mit Wasser verdünnter Wein erwies. Anne stürzte ihn durstig hinunter; ihre Abneigung gegen berauschende Getränke gehörte der Vergangenheit an. Das Mädchen ging zu Elyoner und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Elyoner seufzte sichtlich erleichtert. »Der Attentäter ist tot«, verkündete sie. »Und Cazio?« Elyoner sah das Mädchen an, das errötete und etwas erwiderte, zu leise, als dass Anne es hätte hören können. Elyoner kicherte. »Er ist mehr oder weniger wohlauf, allerdings besteht womöglich die Gefahr, dass er sich etwas abgefroren hat.« »Wenn er sich angekleidet hat, will ich ihn sprechen. Und Sir Neil auch.« Sie drehte sich um und sah zu, wie Elyoners Männer die Leichen der Wachen fort trugen. Austra erschien ein paar Augenblicke später, nachdem sie sich hastig ein Unterkleid und einen weiten Morgenrock aus nahzgavianischem Filz übergeworfen hatte. Anne erkannte den Morgenmantel; Fastia hatte ihn früher gern getragen. Das war doch Fastia gewesen, oder? Ihr Geist oder ihre Seele, die ihr im Traum erschienen war. Hätte sie sie nicht geweckt, so hätte der Sefry sein Werk ungehindert zu Ende bringen können; sie hätte ihr Leben ohne Gegenwehr im Schlaf ausgehaucht. »Tante Elyoner«, sagte sie. »Du hast gewusst, dass es diesen Gang gibt?« »Gewiss, Liebes«, antwortete ihre Tante. »Aber nur wenige andere wissen davon. Ich dachte, es wäre sicher.« »Ich wünschte, du hättest mir davon erzählt.« »Ich auch, Täubchen«, beteuerte sie. »Onkel Robert müsste doch davon gewusst haben, oder?« Mit großer Entschiedenheit schüttelte Elyoner den Kopf. »Nein, mein Herz. Das ist unmöglich. Ich hätte nie gedacht ... aber ich weiß wohl doch nicht so viel über Sefry, wie ich vielleicht geglaubt habe.« 261 »Wie meinst du das?« Cazio suchte sich genau diesen Moment für sein Eintreffen aus. Er kam ins Zimmer gehumpelt und tat nach besten Kräften so, als hinke er gar nicht, doch der Verband um seinen Fuß war ein recht deutlicher Beweis dafür, dass er eine Verwundung davongetragen hatte. »Anne!«, stieß er hervor und eilte herbei, um neben ihrem Bett niederzuknien. »Wie schlimm ist es?« Er griff nach der Hand ihres unversehrten Arms, und sie merkte verblüfft, wie kalt sie war.
»Seine Klinge hat das Fleisch meines Arms durchbohrt«, antwortete Anne, ihm zuliebe auf Vitellianisch. »Die Blutung ist gestillt. Glücklicherweise war kein Gift daran. Und Ihr?« »Nichts von Bedeutung.« Sein Blick huschte hoch und zur Seite, dorthin, wo Austra stand. »Austra?« »Ich war natürlich überhaupt nicht in Gefahr.« Austra klang ein wenig atemlos. Cazio ließ Annes Hand los - ein bisschen zu schnell, dachte sie. »Er hat Euch getroffen?«, fragte sie. »Eine kleine Wunde, im Fuß. Ich denke, ich hätte ihn besiegt.« »Ihr denkt}« »Er war ziemlich gut. Ein Schüler des Mestro meines Mestro.« »Ah.« Das sagte ihr nicht viel, doch für ihn schien es von großer Bedeutung zu sein. »Cazio«, sagte Elyoner, »man hat Euch beide unten am Kanal gefunden. Wie seid Ihr dort hingekommen?« »Ich bin ihm vom Heckenlabyrinth dorthin gefolgt, Herzogin«, antwortete der Degenfechter. »Führt der Geheimgang dort ins Freie?«, wollte Anne wissen. »Bei dieser Mauer in der Grotte?« »Geheimgang?« Cazio runzelte die Stirn. »Ja«, sagte Anne. »Der Gang dort, in der Mauer. Hinter dem Wandbehang.« Cazio warf einen Blick auf den Wandbehang. »Dahinter ist ein Geheimgang versteckt? Ist er so hereingekommen?« 262 »Ja.« Anne wurde allmählich gereizt. »Und so ist er auch wieder hinausgekommen. Ihr seid ihm doch gefolgt, Cazio.« »Ich bedaure, ich habe nichts dergleichen getan.« »Ich habe es doch gesehen.« Cazio blinzelte, und zum vielleicht zweiten oder dritten Mal in den Monaten, die sie ihn jetzt kannte, schien es ihm tatsächlich die Sprache verschlagen zu haben. »Cazio«, fragte Elyoner sanft, »was glaubt Ihr denn, wie Ihr dort hinausgekommen seid? Zu dieser Grotte in dem Labyrinth?« Cazio stemmte die Hände in die Hüften. »Nun, ich ...«, setzte er selbstbewusst an, dann hielt er inne und runzelte abermals die Stirn. »Ich ...« »Seid Ihr verrückt geworden?«, wollte Anne wissen. »Wie betrunken seid Ihr eigentlich?« »Er kann sich nicht daran erinnern, Täubchen«, erklärte Elyoner. »Kein Mann kann das. Es ist eine Art Blendzauber. Frauen können sich an die Gänge in diesen Mauern erinnern. Frauen können sie benutzen. Einen Mann kann man durch einen von ihnen hindurchführen, doch das bleibt ihm nie im Gedächtnis. In ein paar Augenblicken wird der arme Cazio nicht einmal mehr wissen, wovon wir geredet haben, und jeder andere Mann hier auch nicht.« »Das ist doch absurd«, sagte Cazio. »Was ist absurd, mein Teuerster?«, fragte Elyoner. Cazio blinzelte, dann sah er ein wenig verängstigt aus. »Siehst du?« »Aber der Sefry war ein Mann. Da bin ich mir ziemlich sicher.« »Das werden wir ganz genau herausfinden«, erwiderte Elyoner. »Es gibt Mittel und Wege, das festzustellen, weißt du. Aber ich nehme an, der Blendzauber war für Menschen gedacht. Vielleicht wirkt er bei Sefry nicht.« »Das ist alles sehr merkwürdig.« »Dann hat dir deine Mutter niemals die Gänge im Schloss von Eslen gezeigt?« 263 »Geheimgänge, meinst du?« »Ja. Austra?« Anne drehte sich zu Austra um, die die meiste Zeit zu Boden blickte. »Ich habe davon reden gehört«, sagte die Zofe leise. »Ich war nur einmal in einem solchen Gang.« »Und du hast mir nichts davon erzählt?«, fragte Anne. »Ich wurde gebeten, es nicht zu tun.« »Im Schloss von Eslen gibt es also Gänge wie diesen hier?« »Fürwahr«, erwiderte Elyoner. »Das Schloss ist förmlich von ihnen durchlöchert.« »Und Onkel Robert weiß nichts davon«, grübelte Anne. »Ich könnte eine Armee dort hineinführen und das Schloss von innen einnehmen.« Elyoner lächelte schwach. »Du hättest Schwierigkeiten, wenn die Armee aus Männern besteht, würde ich meinen.« »Ich könnte sie anführen!«, wandte Anne ein. »Vielleicht«, sagte Elyoner. »Natürlich werde ich dir erzählen, was ich über sie weiß.« »Enden irgendwelche dieser Gänge außerhalb der Stadt?« »Ja«, antwortete Elyoner. »Zumindest einer. Und mehrere enden innerhalb der Stadt, an verschiedenen Orten. Ich kann dir sagen, wo sie sind, dir vielleicht auch eine kleine Karte zeichnen, wenn mein Gedächtnis mich nicht im Stich lässt.«
»Gut«, sagte Anne. »Das ist gut.« Jetzt begriff Anne, dass sie bereit war. Nicht weil sie wusste, was sie tat, sondern weil ihr keine Wahl blieb. Zehn Jahre lang die Kriegskunst zu erlernen und eine Armee aufzubauen würde sie vielleicht geeigneter für dieses Unterfangen machen, doch in ein paar Wochen würde ihre Mutter vermählt werden, und dann müsste sie nicht nur gegen die Männer kämpfen, die Robert aufbringen konnte, sondern auch gegen Hansa und die Kirche. Nein, sie war bereit - weil ihr nichts anderes übrig blieb, als bereit zu sein. 264 20. Kapitel Die Epistel Obwohl sie aus Blei war, ging Stephen behutsam mit der Folie um, als sei sie das winzigste aller Neugeborenen, eines von denen, die zu früh auf die Welt gekommen sind. »Sie ist gereinigt worden«, stellte er fest. »Ja. Kennt Ihr die Schriftzeichen?« Stephen nickte. »Ich habe sie auf ein paar Grabsteinen gesehen, in Virgenya. Auf sehr, sehr alten Grabsteinen.« »Genau«, sagte der Fratrex. »Dies ist die alte virgenyanische Schrift.« »Einiges davon«, belehrte ihn Stephen. »Aber nicht alles. Dieser Buchstabe, und dieser hier - beide sind aus der Thiuda-Schrift, so, wie sie von den Cavari übernommen wurde.« Er tippte auf ein Quadrat, in dessen Mitte ein Punkt gedrückt worden war. »Und dies hier ist eine sehr primitive Variante des Vitellianischen, wo es als >th< oder >dh< ausgesprochen wurde - wie in >tbaum< oder, äh ->dreodh<.« »Dann ist dies hier also eine Mischung aus verschiedenen Schriften.« »Ja.« Stephen nickte. »Es ist...« Er stockte und fühlte, wie ihm das Blut in die Kopfhaut schoss und sein Herz dröhnte wie eine Kriegstrommel. »Bruder Stephen, geht es dir gut?«, fragte Ehan. »Wo habt Ihr das hier her?«, fragte Stephen schwach. »Eigentlich wurde es gestohlen«, antwortete der Fratrex. »Es wurde in einer Gruft in Kaitbaurg-des-Schattens gefunden. Jemand, der in einem Konvent geschult worden war, hat es für uns geborgen.« »Also, jetzt lass mich nicht im Dunkeln tappen«, unternahm 265 Ehan zumindest einen Versuch, die Stimmung zu heben. »Was haben wir hier, Bruder Stephen?« »Es ist eine Epistel«, antwortete Stephen. Er glaubte es noch immer nicht. Der Mund des Fratrex formte ein kleines »o«. Ehan hob lediglich verwirrt die Schultern. »Das ist ein sehr altes Wort auf Virgenyanisch, das in der Sprache des Königs nicht mehr verwendet wird«, erklärte Stephen. »Eine Epistel ist eine Art Brief. Als sie ihren Aufstand geplant haben, haben die Sklaven der Skasloi einander diese Episteln zukommen lassen. Sie waren verschlüsselt, damit wenigstens der Inhalt sicher war, wenn sie von ihren Feinden abgefangen wurden.« »Wenn das da verschlüsselt ist, wie kannst du es dann lesen?« »Ein Code kann entschlüsselt werden«, erwiderte Stephen, nunmehr in freudiger Erregung. »Aber wenn ich das tun soll, brauche ich ein paar Bücher aus dem Scriftorium.« »Was immer wir haben, steht Euch zur Verfügung«, sagte der Fratrex. »Welche habt Ihr denn im Sinn?« »Nun ja«, überlegte Stephen. »Das Taflicum Eingadeicum natürlich - den Caidex Comparakinum Prismum, das Deifteris Vetis und das Runaboka Siniste, für den Anfang.« »Diese Titel hatte ich mir bereits gedacht«, entgegnete der Fratrex. »Sie sind schon fertig eingepackt.« »Eingepackt?« »Ja. Die Zeit ist knapp, und Ihr könnt nicht hier bleiben«, sagte der Fratrex. »Einen Angriff der Hierovasi haben wir zurückgeschlagen, aber es werden weitere folgen - entweder von ihnen oder von unseren anderen Feinden. Wir haben hier nur ausgeharrt, um Euch zu erwarten.« »Um mich zu erwarten?« »Fürwahr. Wir wussten, dass Ihr die Quellen aus dem Scriftorium benötigen würdet, aber wir können nicht mehr als einen Bruchteil mitnehmen. Also mussten wir es bis zu Eurer Rückkehr bewahren, weil ich nicht wusste, was Ihr alles brauchen würdet.« 266 »Aber ich bin doch gewiss nicht der Einzige, der Sprachen studiert -« »Ihr seid der beste Gelehrte, der unter uns noch am Leben ist«, sagte der Fratrex. »Und Ihr seid der Einzige, der den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten hat. Aber es ist noch mehr als das, fürchte ich. Ich will Euch nicht belasten, aber alle Vorzeichen deuten auf Eure ganz persönliche Bedeutung in den kommenden Umwälzungen hin. Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, dass Ihr derjenige gewesen seid, der das Hörn geblasen und den König geweckt hat, obwohl unklar ist, ob Ihr wichtig seid, weil Ihr das Hörn geblasen habt, oder ob Ihr das Hörn habt ertönen lassen, weil Ihr wichtig seid - versteht Ihr? Die Welt des Übersinnlichen hält stets ein paar Geheimnisse fest.« »Aber was genau soll ich tun?« »Sucht die Bücher und Schriftrollen zusammen, von denen Ihr wisst, dass Ihr sie brauchen werdet, allerdings nicht mehr, als auf ein Maultier und ein Pferd geladen werden können. Seid morgen früh zum Aufbruch bereit.«
»Morgen früh? Aber das ist nicht genug Zeit - ich muss nachdenken! Versteht Ihr denn nicht? Wenn das hier eine Epistel ist, dann ist es wahrscheinlich die einzige, die überdauert hat.« Ehan hustete. »Bitte um Verzeihung, aber das stimmt nicht. Meine Studien waren nicht besonders gründlich, ich weiß - mein Interesse galt immer den wertvollen Eigenschaften von Gesteinen -, aber in der ahavshez in Skefhavnz habe ich John Wootens Brief an Sigthors studiert. Das Wort Epistel kannte ich nicht, aber das ist doch eine, nicht wahr?« »Ja«, sagte Stephen. »Wenn das, was du gelesen hast, wirklich ein Brief von Wooten an Sigthors wäre - aber es war keiner. Was du gelernt hast, war eine Wiederherstellung jenes Textes von Wislan Fethmann, vor vierhundert Jahren. Er hat sich dabei auf eine kurze Zusammenfassung gestützt, die sechzig Jahre nach dem Sieg über die Skasloi von einem von Sigthors' Großneffen verfasst wurde. 267 Sigthors wurde in der Schlacht getötet - der Großneffe hatte seine Kenntnisse von Wignaft, Sigthors' Sohn, der am Leben geblieben war und den er befragt hatte. Wignaft war sieben gewesen, als sein Vater den Brief seinen Getreuen laut vorgelesen hatte, und er war siebenundsechzig, als er aufgefordert wurde, sich ins Gedächtnis zu rufen, was darin gestanden hatte. Außerdem war eine einzige Zeile überliefert worden, angeblich von Thaniel Farre, dem Kurier, der den Brief überbracht hat. Aber wir haben das Original von Farre nicht, nur eine Kopie aus dritter Hand von einem Zitat von Farre in den Tafles Vincum Maimum, das volle tausend Jahre nach seinem Tod verfasst wurde. >Komme, was da wolle, keines meiner Enkelkinder soll je auch nur eines einzigen Sonnenuntergangs in Sklaverei ansichtig werden. Obsiegen wir nicht, so werde ich meinem Geschlecht mit eigenen Händen ein Ende bereiten.<« Ehan zwinkerte. »Dann ist das also gar nicht wirklich das, was niedergeschrieben worden war?« »Um die Wahrheit zu sagen, wir können es unmöglich wissen«, antwortete Stephen. »Aber gewiss muss Fethmann doch von den Heiligen angeleitet gewesen sein, eine genaue Wiederherstellung zu erschaffen.« »Nun, das ist eine Sichtweise«, bemerkte Stephen trocken. »Auf jeden Fall hat er sie auf Mittelhansisch geschrieben, nicht in der ursprünglichen verschlüsselten Form, also ist jene >Epistel< keine Hilfe dabei, diese hier zu entschlüsseln, ob sie nun unter Anleitung der Heiligen zustande gekommen ist oder nicht. Übrigens gibt es noch ein paar andere Episteln mit der gleichen zweifelhaften Herkunft wie die, die du anführst. Tatsächlich ist es nicht ungewöhnlich, dass sie von Sefry-Karawanen zum Kauf angeboten werden, sowohl als die in Kauderwelsch verfassten >Originale< als auch als Übersetzungen.« »Na schön«, erwiderte Ehan brüsk. »Also war unsere Epistel ein Schwindel, eine nicht von der Kirche genehmigte örtliche Überlieferung. Na und? Gibt es denn keine echten Episteln?« »Es gibt zwei Fragmente, keines davon mit mehr als drei voll268 ständigen Zeilen. Bei denen scheint es sich um Originale zu handeln, allerdings befindet sich keins davon hier. Aber angeblich sind sie in der Casti Noibhi wirklichkeitsgetreu nachgebildet.« »Wir haben die dhuvienische Abschrift dieses Buchs«, sagte der Fratrex. »Ich würde mir eine bessere Fassung wünschen«, erwiderte Stephen. »Aber wenn das das Beste ist, was Ihr habt, wird es reichen müssen.« Ihm kam ein Gedanke, und er sah dem Fratrex eindringlich in die Augen. »Einen Moment. Ihr habt gesagt, diese Epistel - wenn es denn eine ist - ist ein Hinweis darauf, wo sich Virgenya Dares Tagebuch befindet. Wie kann das sein, wenn ihr Tagebuch erst Jahrhunderte nach dem Ende des Aufstands versteckt worden ist?« »Ah«, sagte der Fratrex. »Ja, das.« Er machte Ehan ein Zeichen, der ein in Leder gebundenes Buch hinter seiner Sitzbank hervorholte. »Das hier ist das Leben des heiligen Anemlen«, erklärte der Fratrex. »Während er sich am Hofe des Schwarzen Narren aufhielt, kam Anemlen ein Gerücht über seinen Bruder Choron zu Ohren, dessen Händen das Tagebuch anvertraut worden war. Angeblich hatte Choron zehn Jahre, bevor der Schwarze Narr seinen blutigen Thron gewonnen hatte, im Reich geweilt und dem Monarchen als Ratgeber gedient, der damals regierte. Das Buch war eine Weile dort geblieben. In einem Absatz berichtet Anemlen, dass Choron - in einem Reliquienschrein - die Bleirolle entdeckte, die Ihr jetzt in Händen haltet. Ohne zu sagen, was es war, gab er an, dass darin von einer >Festung< in einem Berg die Rede war, achtzehn Tagesritte weit im Norden, und dass dieser Berg als Vhelnoryganuz bekannt war. Er machte sich auf, um ihn zu suchen, angeblich, weil er meinte, jenes heiligste aller Dokumente wäre dort sicherer. Er ist zum Vhelnoryganuz aufgebrochen, aber er ist nicht zurückgekehrt. Wie Ihr wisst, hatte der Schwarze Narr seinen Hof dort, wo sich 269 heute die Stadt Werthen befindet, wenngleich nur noch wenig von der ursprünglichen Feste übrig ist. Doch als die Kirche diese Gegend befreite, hat sie alle Scrifti zusammengerafft, die sie finden konnte. Die verderbten wurden vernichtet, zum größten Teil. Die, die nicht übler Natur waren, wurden gesammelt und kopiert. Und dann gab es noch ein paar, die im Scriftorium aufbewahrt wurden, weil niemand genau wusste, was sie waren. Dies hier war so eine Schriftrolle. Bruder Desmond hat sie für mich beschafft -den Heiligen sei Dank,
dass er nicht erkannt hat, welcher Art sie ist. Wir haben sie kurz vor Eurer Flucht aus dem Kloster erhalten. Hätte alles sich so entwickelt, wie wir es gehofft hatten, hättet Ihr sie schon vor Monaten studiert, und mit sehr viel mehr Muße. Unglücklicherweise haben sich die Dinge nicht so entwickelt, wie wir gehofft haben.« »Höchst unglücklich«, pflichtete Stephen ihm bei. Er richtete sich auf und legte die Hände auf die Knie. »Brüder, wenn meine Zeit wirklich so knapp bemessen ist, sollte ich mich jetzt ins Scriftorium begeben.« »Unbedingt«, stimmte der Fratrex zu. »Inzwischen kümmern wir uns um andere Vorbereitungen.« Der Tod folgte dem Woorm auf dem Fuße. Die Ooten nannten die kalte Jahreszeit Winter, doch das Problem am Winter war, dass er Bauern und Dörflern eine Menge Zeit zum Nachdenken verschaffte, eingekerkert in ihren Häusern, während sie darauf warteten, dass die Erde wieder Essbares hervorbrachte. Wenn die Menschen zu viel Zeit zum Nachdenken hatten, war Aspar aufgefallen, kamen dabei meistens zu viele Worte heraus - Stephen war das vollendete Beispiel dafür. Die Ooten nannten den Winter also Winter, doch sie nannten ihn auch Bärennacht und Sonnendüster und die Drei Monde des Todes. Aspar hatte niemals Grund gehabt, ihm mehr als einen Namen zu geben, der letzte jedoch erschien ihm besonders dumm. Der Wald war im Winter nicht tot, er leckte nur seine Wunden. 270 Heilte. Sammelte Kräfte, um die Schlacht zu überstehen, die als Frühling bekannt war. Einige der Eiseneichen, die der Woorm gestreift hatte, waren Sämlinge gewesen, als die Skasloi noch die Welt beherrscht hatten. Sie hatten zugesehen, in ihrer standhaften, gemächlichen Art, wie ungezählte Menschen- und Sefry-Stämme unter ihren Ästen vorübergezogen und in der Ferne der Zeit verschwunden waren. Sie würden kein weiteres Frühlingslaub mehr erleben. Schon begann stinkendes Harz aus Rissen in ihrer Rinde hervorzuquellen, wie Eiter aus einer fauligen Wunde. Das Gift des Woorms schien in Holz noch schneller zu wirken als in Fleisch; die Flechten, Moose und Farne, die die Bäume wie dichter Pelz überzogen, waren bereits schwarz. Seine Hand senkte sich, um die Pfeilhülle an seinem Gürtel zu berühren. Die Waffe darin stammte aus dem Callio Vallaimo, dem Tempel im Herzen, in der Mitte und der tiefsten Seele der Kirche. Man hatte ihm gesagt, er könne nur noch zweimal verwendet werden, und einmal hatte er ihn schon benutzt, um einen Uttin zu erschießen. Ihm war befohlen worden, den Dornenkönig damit zur Strecke zu bringen. Doch der Dornenkönig tötete den Wald nicht, den Aspar liebte. Wenn überhaupt, so kämpfte der Gebieter der Slinderlinge darum, ihn zu retten. Ja, er metzelte Männer und Frauen nieder, doch wenn man ihr Leben gegen das der Eiseneichen aufwog ... Aspar warf Winna einen Blick zu, doch sie starrte nach vorn, auf den Weg konzentriert. Winna verstand eine Menge an ihm, doch diese Gefühle konnte er niemals mit ihr teilen. Auch wenn sie sich in der Wildnis besser zurechtfand als die meisten anderen Menschen, kam sie doch aus der Welt von Heim und Herd, der Welt innerhalb der Zäune der Menschen. Ihr Herz war verletzlich, wenn es um andere ging. Und wenngleich Aspar ein paar Menschen durchaus nahe standen, machten die meisten doch wenig Eindruck auf ihn. Die meisten Leute waren Schatten für ihn, der Wald jedoch war Wirklichkeit. 271 Und wenn das Leben des Waldes nur durch die Auslöschung der menschlichen Rasse erkauft werden konnte ... Und wenn er, Aspar, diese Entscheidung in seinen Händen hielt? Nun, er hatte seine Chance ja bereits gehabt, vor gar nicht langer Zeit, nicht wahr? Es war Leshya gewesen, die ihn überzeugt hatte, es nicht zu tun, Leshya und der Dornenkönig selbst. Wie viele Dörfler waren umgekommen, seit er diese Entscheidung getroffen hatte? Wäre der Woorm jetzt hier, wenn der Dornenkönig bereits durch seine Hand den Tod gefunden hätte? Natürlich wusste er es nicht, und er konnte es nicht wissen. Wenn er den Woorm also wieder zu Gesicht bekam, würde er dann mit dem Pfeil auf ihn schießen oder nicht? Bei Grim, ja. Das Ungeheuer meuchelte alles, was es berührte. Und wenn das noch nicht genug war, Fend ritt auf seinem Rücken. Hätte er Zeit gehabt, ein bisschen mehr nachzudenken, so hätte er das Ungetüm bereits getötet, als er es das erste Mal erblickt hatte. Die Pferde wurden langsamer, da sie zu schwach wurden, um sie zu tragen; also saßen Aspar und Winna ab und führten sie, wobei sie sich bemühten, den vergifteten Boden zu meiden. Unholds Augen waren blutunterlaufen und tränten, und Aspar hatte Angst um ihn, doch er wusste, dass er nichts von dem Trank entbehren konnte, nicht wenn Winna in Gefahr war. Er konnte nur hoffen, dass die Tiere dem Atem des Woorms nicht direkt ausgesetzt gewesen waren und an einer geringfügigeren Vergiftung litten - einer Vergiftung, die sie vielleicht überleben konnten. Die Spur endete an einem Loch in einem Hügel. Mit leisem Erschrecken erkannte Aspar den Ort wieder. »Das hier war mal Rewn Rhoidal«, sagte er zu Winna. »Eine Rewn ...«, murmelte sie. Winna war vertraut mit den Wohnstätten der Halafolk, sie war schon einmal mit Aspar in einer gewesen - Rewn Aluth. Die Rewn war aufgegeben worden. Alle waren aufgegeben worden. 272 »Ist das hier ... kommt Fend von hier?« Aspar schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, hat Fend nie in einer Rewn gelebt. Er war einer von den Wanderern.«
»Wie die, die dich aufgezogen haben?« »Ja.« Winna zeigte auf den breiten Eingang. »Ich dachte, die Halafolk würden ihre Behausungen ein bisschen besser verbergen.« »Tun sie auch. Dieser Zugang war ziemlich klein, aber es sieht so aus, als hätte der Woorm ihn groß genug gegraben, um hindurchzupassen.« »Gegraben, durch Fels?«, fragte Winna. Aspar streckte die Hand aus und brach ein Stück des rötlichen Gesteins ab. »Tonstein«, erklärte er. »Nicht besonders hart. Trotzdem, eine Menge Männer mit Hacken und Schaufeln würden lange brauchen, um das Loch so sehr zu erweitern.« Winna nickte. »Was jetzt?« »Ich denke, die einzige Möglichkeit ist, da hineinzugehen«, antwortete Aspar und machte sich daran, Unhold abzusatteln. »Ist noch etwas von dem Öl übrig?« Wieder ließen sie die Pferde zurück und suchten sich einen Weg einen Geröllhang hinunter. Der Schutt sah frisch aus - höchstwahrscheinlich stammte er vom Eindringen des Woorms. Ihr Fackellicht wallte, als unruhige Luft an den Flammen zerrte, und Aspar konnte erkennen, dass sie in einen recht großen Hohlraum in der Erde hinabstiegen. Selbst unterirdisch war die Spur des Woorms nicht schwer zu verfolgen. Bald gerieten sie entlang eines abschüssigen, breiten Ganges aus der Eingangskammer aus Tonstein in härteren, älteren Fels, und sogar dort hatte der dahinschleifende Leib der Bestie Stalagmiten glatt an der Basis abgebrochen. An einer Stelle, wo sich die feuchte Decke tief herabsenkte, hatte der Rücken der Kreatur auch die abwärts strebenden Stalaktiten zerschmettert. 273 In der Rewn war es still, abgesehen vom Knirschen des Gerölls, als sie hinabstiegen, und dem Geräusch ihres Atems. Aspar blieb stehen, um nach irgendeinem Anzeichen dafür zu suchen, dass Fend hier abgestiegen war schließlich musste er doch abgestiegen sein -, doch was an Spuren nicht durch den Woorm ausgelöscht worden war, hatten hunderte von Slinderlingen unkenntlich gemacht. Sie drangen weiter vor, und bald hörten sie Stimmen, gedämpft durch den Fels, der sie umschloss. Aspar konnte sehen, dass der Gang vor ihnen in etwas sehr viel Größeres mündete. »Vorsicht«, flüsterte er. »Dieser Lärm«, sagte Winna. »Das müssen die Slinderlinge sein.« »Ja.« »Was ist, wenn sie mit dem Woorm im Bunde sind?« »Das sind sie nicht«, sagte Aspar. Sein Fuß rutschte ein wenig auf etwas Glitschigem. »Kannst du dir da sicher sein?« »Ziemlich sicher«, erwiderte er sanft. »Pass auf, wo du hintrittst.« Doch das war eine nutzlose Bemerkung. Die letzten paar Ellen des Tunnels waren mit Blut und Fleischfetzen beschmiert. Es sah aus, als wären fünfzig Leichen in einem Mörser fein zerstoßen und dann auf dem Höhlenboden verteilt worden wie Butter auf Brot. Hier und dort konnte er ein Auge ausmachen, eine Hand, einen Fuß. Es stank bestialisch. »Oh ihr Heiligen«, keuchte Winna, als ihr klar wurde, um was es sich handelte. Sie krümmte sich und begann zu würgen. Aspar konnte es ihr nicht verdenken; auch ihm drehte sich der Magen um, und er hatte in seinem Leben schon eine Menge gesehen. Er kniete neben ihr nieder und legte ihr die Hand auf den Rücken. »Vorsicht, Lubulih«, sagte er. »Mir wird noch schlecht, wenn du das tust.« 274 Sie gab ein wehmütiges kleines Lachen von sich und machte noch eine Weile weiter. »Tut mir Leid«, brachte sie heraus, als sie fertig war. »Jetzt weiß wohl die ganze Höhle, dass wir hier sind.« »Ich glaube nicht, dass das irgendjemanden interessiert«, erwiderte Aspar. Das Scriftorium musste man durch eine Tür betreten, die so niedrig war, dass er kriechen musste, um »auf Knien zum Wissen zu kommen«. Doch es war beim Aufstehen, dass Stephen tiefe Demut empfand, als er sich dem Wunder des Scriftoriums gegenübersah. Stephen war nicht als armer Mann geboren worden. Seine Familie - wie er einst gern verkündete hatte - waren die Chavelkap-Dariges. Das Anwesen seines Vaters war alt, auf den ausgedehnten, vom Meer zerfressenen Klippen über der Bucht von Ringmere gelegen und aus dem gleichen gelb-braunen Stein erbaut. Die ältesten Gemächer waren einst Teil einer Burg gewesen, obgleich nur noch einige wenige der ursprünglichen runden Mauern übrig waren. Das Haupthaus hatte fünfzehn Räume, mit etlichen angebauten Wohngebäuden, Stallungen und Gesindequartieren. Die Familie züchtete Pferde, aber der größte Teil des Einkommens kam aus dem Besitz von Ackerland, Küstengebieten und Booten. Das Scriftorium seines Vaters galt als ansehnlich, für eine private Sammlung. Er besaß neun Bücher - Stephen kannte sie alle auswendig. Morris Top - eine Wegstunde entfernt gelegen und die größte Stadt im attischen Land - konnte sich eines Scriftoriums mit fünfzehn Büchern rühmen, und das gehörte der Kirche.
Die Schule in Ralegh - bei weitem die größte Hochschule Virgenyas - nannte insgesamt achtundfünfzig Schriftrollen, Tafeln und gebundene Bücher ihr Eigen. Hier stand Stephen im Innern eines runden Turms, der tausende von Büchern enthielt. Er ragte in vier Etagen empor, mit lediglich schmalen Umläufen in jedem Stockwerk. Leitern überbrück275 ten die senkrechten Zwischenräume, und die Bücher wurden mithilfe von Körben, Seilen und Flaschenzügen hinauf- und hinunterbefördert. Seit er zum letzten Mal hier gewesen war, hatte sich einiges verändert. Damals hatte es in dem Raum von Mönchen gewimmelt, die kopierten, lasen, sich Notizen machten und studierten. Jetzt war außer ihm nur ein einzelner Klosterbruder anwesend, der hastig Schriftrollen in Koffer aus geöltem Leder packte. Der Bursche winkte, wandte sich jedoch rasch wieder seiner Arbeit zu. Stephen kannte ihn ohnehin nicht. Seine unwillkürliche Ehrfurcht ließ nach, als ihm die Lage erneut bewusst wurde. Wo beginnen? Er fühlte sich überwältigt. Also, die Casti Noibhi war eindeutig wichtig. Er fand das Buch auf der zweiten Ebene und blätterte, an das Geländer gelehnt, rasch mit dem Daumen die Seiten aus gepresstem Leinen durch. Schnell fand er die Epistelfragmente, angeblich in der ursprünglichen verschlüsselten Form niedergeschrieben. Er erkannte auf den ersten Blick, dass die Symbole, wie er es geahnt hatte, hauptsächlich aus der alten virgenyanischen Schrift stammten, mit Beimischungen von Thiuda und frühem Vitellianisch. Das trug mehr dazu bei, seine Annahme zu bestätigen, als alles andere. Mit einem Kopfnicken ging er in einen anderen Teil des Scriftoriums hinüber und wählte eine Schriftrolle mit Grabinschriften und Klagesprüchen aus Virgenya. Die Rolle selbst war ziemlich neu, die Inschriften jedoch waren von Grabsteinen abgeschrieben worden, die bis zu zweitausend Jahre alt waren. Die Verschlüsselung der Epistel war wahrscheinlich um eine der Sprachen aus der Zeit des Sklavenaufstands herum gebaut worden. Die vorrangigen waren Altvitellianisch, Thiuda, Altes Cavari und Altvirgenyanisch. Von diesen vier Sprachen stammten die meisten Mundarten ab, die in der Welt gesprochen wurden, welche Stephen kannte. Doch es gab noch andere Sprachen, mit anderen Stammbäumen. Viele lagen in weiter Ferne; die Skasloi hatten Länder jenseits der 276 Meere beherrscht, und ihre Sklaven dort hatten ganz andere Sprachen gesprochen als die in Crothenien. Jene würden in dem Aufstand hier keine Rolle gespielt haben. Außerdem gab es noch das Sklavenkauderwelsch, über das spätere Gelehrte fast nichts wussten. Stephen bezweifelte, dass seine Vorfahren sich dieses Dialekts als Geheimsprache bedient hatten, da die Skasloi selbst an der Erfindung dieser Mundart beteiligt gewesen waren. Dann gab es noch Yezic, Vhilatauta und Yaohan. Spätformen von Yezic und Vhilatauta wurden in Vestrana und Iutin und den Bairghs gesprochen, und ein paar Stämme - wie zum Beispiel der von Ehawk - bedienten sich der yaohanischen Sprache. Er hielt inne. Ehawk. Mit einem jähen Schuldgefühl wurde Stephen klar, dass er ihn vergessen hatte. Was war mit dem Jungen geschehen? Eben war er noch da gewesen, hatte seinen Arm umklammert, und dann ... Er würde den Fratrex bitten, Erkundigungen bei den Slinderlingen einzuziehen. Das war alles, was er unternehmen konnte. Eigentlich hätte er das schon längst tun müssen, doch es gab so viel zu tun, und die Zeit war so knapp. Nun gut. Je obskurer eine Sprache war, desto besser eignete sie sich als Code. Also brauchte er alles, was er an Nachschlagewerken zu all den Muttersprachen finden konnte. Sein Zielort lag angeblich in den Bairghs, was bedeutete, dass ein paar Kenntnisse der Tochtersprachen des Vhilatauta vielleicht auch nützlich wären. Sofort machte er sich daran, diese Bücher aufzuspüren. Als er sie mit dem Korb zum Boden hinuntergelassen hatte, kam ihm ein weiterer, sehr viel interessanterer Gedanke, und er eilte in die Abteilung für Erdkunde und Landkarten. Die Gebirgsregionen der Bairghs waren wirklich sehr groß. Selbst nachdem er die Epistel übersetzt hätte - falls er sie übersetzte -, würde er die kürzeste Route zum Berg Vhelnoryganuz planen müssen, sonst wären alle seine Bemühungen umsonst. Stephen war sich nicht sicher, wie viele Stunden vergangen wa277 ren, als Ehan ihn fand, doch die Glaskuppel über ihm war schon lange dunkel geworden, und er arbeitete bei Lampenlicht an einem der großen Holztische auf der untersten Ebene. »Der neue Tag zieht herauf«, meldete Ehan. »Brauchst du denn gar keinen Schlaf?« »Ich habe keine Zeit dafür«, erwiderte Stephen. »Wenn ich wirklich bei Sonnenuntergang von hier fortmuss -« »Vielleicht auch schon früher«, sagte Ehan. »Unten in der Rewn geht irgendetwas vor. Wir haben eine Wache aufgestellt, aber wir wissen nicht genau, was dort geschieht. Was machst du da?« »Ich versuche, unseren Berg zu finden«, antwortete Stephen. »Es ist wohl nicht so, dass er einfach auf der Karte zu finden wäre, wie?«, fragte Ehan.
Müde schüttelte Stephen den Kopf und lächelte. Ihm wurde klar, dass er trotz allem lange nicht mehr so glücklich gewesen war. Er wünschte, diese Suche müsste nicht zu Ende gehen. »Nein.« Er legte den Finger auf eine große, neue Karte, die die Midenlande und die Bairghs zeigte. »Ich habe eine Schätzung angestellt, wie weit man in achtzehn Tagen von Werthen aus reiten kann«, erklärte er. »Der Fratrex hat Recht: Die Bairghs sind das einzige Gebirge, in dem unsere >Festung< liegen könnte. Aber wie du sagst, wenn es einen Berg namens Vhelnoryganuz gibt, dann ist er hier nicht verzeichnet.« »Vielleicht hat sich der Name ja mit der Zeit geändert«, gab Ehan zu bedenken. »Natürlich hat er sich geändert«, erwiderte Stephen; dann wurde ihm klar, dass sich das ein wenig herablassend angehört hatte. »Was ich meine«, erklärte er, »ist, dass Vhelnoryganuz altvadhiianisch ist, die Sprache, die im Reich des Schwarzen Narren gesprochen wurde. Es bedeutet Verräterische Königin<. Vadhiianisch wird nicht mehr gesprochen, also wurde der Name bestimmt verballhornt.« »Aber es ist doch nur ein Name - man braucht doch nicht zu 278 wissen, was er bedeutet, um ihn zu wiederholen oder ihn seinen Kindern beizubringen. Wieso sollte er sich verändern? Ich meine, ich könnte es ja verstehen, wenn der Berg umbenannt worden wäre ...« »Ich gebe dir mal ein Beispiel«, sagte Stephen. »Die Hegemonie hat eine Brücke über einen Fluss im Königswald gebaut und sie die Pondro Oltiumo genannt, was >die fernste Brücke< heißt, weil sie sich damals nahe an der Grenze befand - es war die am weitesten von zTrbina entfernte Brücke. Nach einer Weile wurde der Name auf den Fluss selbst übertragen, wurde aber zu Oltiumo abgekürzt. Als neue Völker dort siedelten, die Altootisch sprachen, fingen sie an, den Fluss den Aid Thiub zu nennen, >Alter Dieb< -weil sich Oltiumo ein wenig so anhörte, so wie sie es aussprachen -, woraus dann die virgenyanischen Siedler wiederum >Eulengruft< gemacht haben, und so heißt der Fluss noch immer. Also könnte aus einem so schwierigen Wort wie Vhelnoryganuz am Ende ohne weiteres - ich weiß nicht - Fell Norrick oder so etwas geworden sein. Aber ich kann auf der Karte nichts finden, was wie eine einfache Verballhornung aussieht.« »Ich verstehe«, sagte Ehan. Doch er schien nicht bei der Sache zu sein. »Also habe ich als Nächstes überlegt, dass der Berg vielleicht immer noch Verräterische Königin< genannt wird, aber in der heutige Sprache dieser Gegend - das kommt manchmal vor. Allerdings ist das ein komischer Name für einen Berg.« »Eigentlich nicht«, wandte Ehan ein. »Im Norden bezeichnen wir Berge oft als Könige oder Königinnen, und einer, der viele Reisende das Leben gekostet hat, könnte verräterisch genannt werden. Was wird denn in den Bairghs gesprochen?« »Dialekte, die mit Hansisch, Almanisch und Vhilatautisch verwandt sind. Aber um das Ganze noch schwieriger zu machen, diese Karte stützt sich auf eine Landkarte, die während der lierischen Herrschaft gezeichnet worden ist.« »Du kommst also nicht weiter.« 279 Stephen lächelte boshaft. »Oh, dann hast du es also ausgeknobelt«, verbesserte sich Ehan und klang allmählich ungeduldig. »Nun ja«, sagte Stephen, »mir ist eingefallen, dass in den Bairghs nie Vadhiianisch gesprochen wurde, also ist die Bezeichnung, die wir für den Berg haben, bereits eine vadhiianische Variante eines wahrscheinlich vhilatautischen Namens. Nachdem ich erst einmal angefangen hatte, in diese Richtung zu denken, habe ich mir das tautische Wörterbuch gesucht und angefangen zu vergleichen. Vhelnoryganuz könnte in diesem Fall eine Fehlübersetzung von Velnoiraganas sein, das würde auf Altvhilatautisch so etwas wie >Hexenhorn< bedeuten.« »Und gibt es in den Bairghs ein Hexenhorn?« Stephen legte den Finger auf die Karte, neben die Zeichnung eines Bergs von sonderbarer Form, ein wenig wie die eines Kuhhorns. Daneben - in winziger lierirscher Handschrift - stand esliefvendve. »Hexenberg«, übersetzte er Ehan zuliebe. »Nun«, bemerkte Ehan, »das war ja einfach.« »Und stimmt wahrscheinlich trotzdem nicht«, sagte Stephen. »Aber es ist das Beste, was ich habe, bis ich die Epistel übersetzt habe. Ich denke, ich fange vielleicht damit -« In der Ferne ertönte der Klang eines Horns. »Du wirst sie auf dem Pferderücken zu Ende übersetzen müssen«, stieß Ehan hastig hervor. »Das ist das Alarmsignal. Komm, schnell jetzt.« Er winkte, und zwei Mönche eilten herbei, packten die Scrifti und Pergamentrollen, die Stephen ausgesucht hatte, in wetterfeste Taschen und verließen tief gebückt das Scriftorium. Stephen folgte und raffte ein paar vereinzelte Dinge an sich. Er hatte nicht einmal Zeit für einen letzten Blick. Draußen standen drei Pferde, stampften mit den Hufen und rollten die Augen, als die Mönche sie mit den kostbaren Büchern beluden. Stephen strengte sich an, zu erlauschen, was sie ängstig280 te doch zunächst wurden auch seine von den Heiligen gesegneten Sinne nicht fündig.
Tatsächlich schien das Tal still, unter einem kalten, klaren Himmel. Die Sterne leuchteten so groß und hell, dass sie unwirklich wirkten, wie die, die man im Traum sieht, und einen Moment lang fragte sich Stephen, ob er wirklich träumte - oder tot war. Manche Leute behaupteten, Geister wären verwirrte Seelen, die ihr Schicksal nicht begriffen und verzweifelt versuchten, weiterhin in der Welt zu wandeln, die sie kannten. Vielleicht waren ja alle seine Gefährten tot. Anne und ihr Heer aus Schatten würden körperlos auf die Mauern von Eslen einstürmen, während deren Verteidiger in ihrer Gegenwart wenig mehr als ein vages Frösteln empfanden. Aspar würde sich davonmachen, um für den Wald zu kämpfen, den er liebte, ein noch entsetzlicheres Schreckgespenst als selbst Grim der Wüterich. Und Stephen -er würde weiterhin auf Geheiß des toten Fratrex und des toten Ehan Geheimnissen nachspüren. Wann waren sie dann also ums Leben gekommen? In Cal Azroth? Bei Khrwbh Khrwkh? Beides schien gut möglich ... Dann vernahm er es, das Rauschen von Atem durch eine so lange Lunge, dass er einen Ton erzeugte, der weit unter der tiefsten Note lag, die einer Bassfiedel entlockt werden konnte. Der Laut stöhnte dicht über der Tonlage, in der Felsen und Steine sangen, und war zunächst in diesen Klängen verborgen gewesen. Jetzt fühlte er mehr, als dass er hörte, wie Sand von Steinen abgerieben wurde, Äste brachen und eine ungeheure Masse in Bewegung war. Das Hörn verstummte. »Was ist das?«, flüsterte Stephen. Ehan stand ein kleines Stück abseits und wisperte hastig mit einem anderen Mönch, einem grauhaarigen Burschen, den Stephen noch nie gesehen hatte. Die beiden umarmten sich kurz, und der Graukopf eilte davon. »Komm einfach«, wies Ehan ihn an. »Wenn es das ist, was wir glauben, haben wir keine Zeit zu verlieren. Ein paar Männer war281 ten am unteren Ende des Tals auf uns und sorgen dafür, dass von dort nichts kommt.« »Was ist mit dem Fratrex?« »Jemand muss als Köder herhalten, damit er eine Weile hier bleibt.« »Wovon redest du eigentlich?« Sein Verstand raste rückwärts, um sich das geflüsterte Zwiegespräch zwischen Ehan und dem anderen Mann ins Gedächtnis zu rufen; er hatte nicht darauf geachtet, aber seine Ohren hätten es trotzdem erlauschen müssen ... Richtig. »Ein Waurm?«, keuchte er. Bilder drängten sich in seinem Kopf, alle von Wandbehängen, Zeichnungen, Kindermärchen und uralten Legenden. Er starrte den Abhang hinauf. Im schwachen Sternenlicht sah er die Bewegung der Bäume, eine lange, gewundene Linie. Wie lang war sie? Hundert Ellen? »Der Fratrex kann doch nicht zurückbleiben und gegen das da kämpfen«, stieß Stephen hervor. »Er wird nicht allein sein«, sagte Ehan. »Jemand muss die Kreatur hier aufhalten, sie glauben machen, ihre Beute wäre noch in d'Ef.« »Ihre Beute?« »Das, hinter dem das Biest her ist«, erwiderte Ehan. Die Gereiztheit in seiner Stimme war jetzt deutlich zu hören. »Du.« 282 21. Kapitel Herzen und Schwerter Feuer ist etwas Wunderbares«, verkündete Cazio glücklich. Er bediente sich seiner Muttersprache, damit er sich selbst verstehen konnte. »Eine Frau ist etwas Wunderbares. Ein Degen ist etwas Wunderbares.« Er ruhte auf einem samtenen Liegebett neben dem riesigen Kamin im Großen Empfangssaal von Glenchest; seine eine Hälfte röstete, und die andere lag warm und weich. Wäre kein Feuer im Kamin, so könnte ein Mann ohne weiteres hineintreten und sich aufrichten, so groß war er, ein riesiger Orangenschnitz, ein Halbmond am Horizont, Austras Lächeln verkehrt herum. Träge griff er nach der Weinflasche, die die Herzogin ihm gegeben hatte. Eigentlich war es gar kein Wein, sondern ein bitteres, grünliches Gebräu, das es viel mehr in sich hatte als das Blut des heiligen Pacho. Zuerst hatte es ihm nicht geschmeckt, doch mit dem Tonikum und dem Kaminfeuer war ihm, als sei sein Körper aus Pelz, und sein Verstand war mit einer angenehmen Rückschau beschäftigt. Esverinna Tarochi dachi Calavai. Sie war groß gewesen - so groß wie Cazio -, mit Gliedmaßen, die ein wenig lang und unbeholfen wirkten. Augen wie eine Mischung aus Honig und Haselnuss, langes, langes Haar, am Ansatz fast schwarz, das jedoch zu den Spitzen hin zur Farbe ihrer Augen ausblich. Er erinnerte sich, dass sie stets ein wenig gebeugt ging, als schäme sie sich ihrer königlichen, hoch gewachsenen Gestalt. In seinen Armen hatte sich ihre Länge wunderbar angefühlt, etwas, woran er sich für alle Zeit ausstrecken konnte. Sie war schön, war sich dieser Schönheit jedoch nicht bewusst. Leidenschaftlich, jedoch in ihrem Verlangen unschuldig. Sie waren 283 beide dreizehn gewesen; Esverinna war bereits einem viel älteren Mann aus Esquavin zur Ehe versprochen. Er
hatte vorgehabt, den Mann zu töten, das wusste er noch, doch sie hatte ihn mit den Worten davon abgehalten: Du wirst mich niemals wirklich lieben. Er liebt mich auch nicht, aber vielleicht wird er es tun. Maio Dechiochi d'Avella war ein entfernter Vetter des Mediccio von Avella gewesen, Cazios Geburtsstadt. Wie die meisten wohlhabenden jungen Männer dieses Ortes studierte er die Fechtkunst unter Mestro Estenio. Cazio war wegen des Ausgangs eines Würfelspiels mit ihm in Streit geraten. Klingen wurden gezogen. Cazio erinnerte sich daran, wie verblüfft er gewesen war, Furcht in Maios Augen zu sehen. Er selbst hatte lediglich freudige Erregung empfunden. Das Duell hatte aus genau drei Schlagabtauschen bestanden; eine wenig überzeugende Finte von Maio, die zu einer Attacke im sept gegen Cazios Schenkel wurde, seine Parade dieses Angriffs und der Gegenstoß im prismo, der zu Maios kopflosem Rückzug außer Reichweite führte. Cazio griff erneut an; Maio parierte heftig, ripostierte jedoch nicht. Cazio hatte die Attacke wiederholt, genau die gleiche wie zuvor; wieder blockte Maio ihn ab, ohne zu erwidern, anscheinend zufrieden damit, den Stoß abgewehrt zu haben. Cazio setzte rasch nach und traf ihn in den Oberarm. Er war zwölf, und Maio dreizehn. Es war das erste Mal gewesen, dass er gespürt hatte, wie Fleisch unter seinem Stahl nachgab. Marisola Serechii da Ceresa. Feines, nachtschwarzes Haar, das Antlitz eines Kindes, das Herz einer Wölfin. Sie wusste, was sie wollte, und was sie wollte, war zusehen, wie Cazio um sie kämpfte, und dann das, was von seinen Kräften noch übrig war, zwischen den Seidenlaken ihres Bettes erschöpfte. Sie leckte, biss, schrie, und sie ging mit seinem Körper um, als wäre er eine seltene Leckerei, von der sie niemals genug bekommen würde. Sie hatte ihm kaum bis zur Brust gereicht, doch mit drei Berührungen konnte sie ihm jeden Willen rauben. Sie war achtzehn gewesen und er sechzehn. Er hatte sich oft gefragt, ob sie wohl eine Hexe 284 sei, und glaubte fest daran, als sie ihn fortschickte. Er konnte es nicht fassen, dass sie ihn nicht liebte, und Jahre später erzählte ihm einer seiner Freunde, dass ihr Vater gedroht hatte, Meuchelmörder anzuheuern, wenn sie nicht mit Cazio brach und den Mann heiratete, den er ausgewählt hatte. Cazio kam nie dazu, sie danach zu fragen, denn ein Jahr nach ihrer Vermählung starb sie im Kindbett. St. Abulo Serechii da Ceresa, Marisolas älterer Bruder, hatte einige Zeit in ihrer Heimatstadt Ceresa verbracht, die Kunst des Schreibens studiert und beim Mestro seines Großonkels Fechten gelernt. St. Abulo wusste von Cazios Beziehung zu seiner Schwester und hatte eine beiläufige, beleidigende Bemerkung über ihn fallen lassen, wohl wissend, dass sie ihm zugetragen werden würde. Sie hatten ein Treffen in einem Apfelbaumwäldchen außerhalb der Stadt vereinbart, jeder mit einem Sekundanten und einer Horde Bewunderer. St. Abulo war klein, wie seine Schwester, aber er war unglaublich flink, und er pflegte den ein wenig veralteten Brauch, einen mano netro zu benutzten, einen Dolch für die linke Hand. Der Kampf endete, als St. Abulo einen Gegenstoß zum falschen Zeitpunkt ausführte; er traf Cazio in den Schenkel, dieser jedoch durchbohrte ihm das Ohr. Beiden war klar, dass Cazio ihm genauso leicht ins Auge hätte stechen können. St. Abulo nahm die Niederlage an, sein Sekundant jedoch war nicht einverstanden, und so hatten er und Cazios Sekundant das Duell fortgeführt. Bald darauf waren auch die Zuschauer aufeinander losgegangen. Cazio und St. Abulo hatten sich zurückgezogen, um der Massenschlägerei zuzusehen, ihre Wunden zu verbinden und etliche Flaschen Wein zu leeren. St. Abulo gab zu, dass er sich eigentlich nicht allzu große Sorgen um die Tugend seiner Schwester machte, dass jedoch sein Vater ihn dazu angestiftet hatte. Er und Cazio schüttelten sich die Hand und schieden als Freunde voneinander, bis St. Abulo den Wunden erlag, die er davontrug, als er den Mann tötete, dessen Kind seine Schwester das Leben gekostet hatte. Naiva dazo trivo Abrinasso. Die Tochter von Herzog Salalfo 285 von Abrinia und einer Kurtisane aus dem fernen Khorsu. Naiva hatte die schwarzen Mandelaugen ihrer Mutter. Sie hatte auch nach Mandeln geschmeckt - und nach Honig und Orangen. Ihre Mutter war am Hofe des Herzogs in Ungnade gefallen, als er gestorben war, doch er hatte ihr eine Triva in der Nähe von Avella vermacht. Cazio war Naiva in den Weinbergen begegnet, als sie mit bloßen Füßen herabgefallene Weinbeeren zerquetschte. Sie war gebildet und abgeklärt. Sie glaubte sich in die fernsten Gefilde der Erde verbannt, und er hatte stets geglaubt, dass sie sich bei ihm mit etwas Geringerem begnügte, als sie es sich eigentlich vorgestellt hatte. Er erinnerte sich an ihre Schenkel im Sonnenlicht, heiß unter seinen Fingern, und an das Seufzen, das beinahe ein Kichern war. Sie war eines Tages einfach verschwunden, ohne ein Wort. Es ging das Gerücht, dass sie nach Abrinia zurückgekehrt und Kurtisane geworden sei, wie ihre Mutter. Lärche Peicassa dachi Sallatotti. Der Erste, der bekundete, und zwar wortwörtlich, dass Naiva nicht viel mehr gewesen sei als eine wohlerzogene Hure. Cazio hatte seine Klinge blockiert und ihm mit solcher Wucht die Lunge durchbohrt, dass Caspator am Rücken wieder herausdrang. Lärche war der erste Mann gewesen, den Cazio hatte töten wollen. Es war ihm nicht gelungen, doch der Mann war bei dem Kampf auf Lebzeiten zum Krüppel geworden, musste seither an einer Krücke dahinhumpeln. Austra. So helle Haut, dass sie selbst im Feuerschein weiß war. Bernsteinfarbenes Haar, Wangen, die sich so rosig färbten wie eine Morgenlilie. Sie fürchtete sich mehr davor, ihre Finger mit den seinen zu verschlingen, als vorm Küssen, als sei die Berührung zweier Hände irgendwie eine Umarmung, die für das Herz viel gefährlicher war.
Sie war ungeschickt, leidenschaftlich, ängstlich und voll schlechtem Gewissen gewesen. Glücklich, jedoch, wie stets, mit einem Auge nach dem Ende des Glücks spähend. Liebe war seltsam und schrecklich. Cazio hatte gedacht, nach Naiva könne er die Liebe meiden. Um jemanden werben machte 286 Spaß, mit jemandem das Bett zu teilen machte wirklich sehr großen Spaß, und Liebe - nun, das war ein sinnloser Wahn. Vielleicht glaubte er das immer noch, oder ein Teil von ihm glaubte es. Doch wenn dem so war, warum wollte er dann seine Finger mit Austras verschlingen, bis sie ihm glaubte, bis sie ihre Furcht, ihren Argwohn und ihre Selbstzweifel fahren ließ und verstand, dass er sie wirklich gern hatte? Acredo. Nicht sein richtiger Name, natürlich - es hieß einfach nur »scharf«. Der erste Degenkämpfer seit so langer Zeit, der ihn wahrhaftig auf die Probe gestellt hatte ... Die Herzogin und ein paar andere spielten am anderen Ende des Raums Karten, doch er stellte fest, dass ihre Stimmen wie das Zwitschern von Vögeln geworden waren, melodisch, jedoch völlig unverständlich. Daher brauchte er einen Augenblick, um zu begreifen, dass jemand sehr dicht neben ihm stand und dass die musikalischen Klänge, die am lautesten waren, zur Verständigung gedacht waren. Er hob den Kopf und sah, dass es Sir Neil war. Cazio grinste und hob die Flasche. »Wie geht es Eurem Fuß?«, erkundigte sich Neil. »Ich kann im Moment nicht sagen, dass er schmerzt«, antwortete Cazio fröhlich. Neil nickte und sah ihn ernst an. »Was ist denn?«, fragte Cazio. »Ich habe die größte Hochachtung vor Eurer Tapferkeit und Eurem Geschick mit dem Degen -«, begann Neil. »Das solltet Ihr auch«, ließ Cazio ihn wissen. Neil hielt inne, nickte erneut und fuhr dann fort. »Es ist meine Pflicht, Anne zu beschützen«, erklärte er. »Sie vor allem zu beschützen.« »Nun, dann hättet Ihr also gegen Acredo kämpfen sollen, und nicht ich? Ist es das?« »Ich hätte gegen ihn kämpfen müssen«, stimmte Neil gleichmütig zu, »aber ich musste mit der Herzogin darüber sprechen, wie 287 viele Männer sie hat und was wir zu erwarten haben, und unglücklicherweise war es mir nicht möglich, gleichzeitig an zwei Orten zu sein. Und es wäre auch nicht schicklich gewesen, wenn ich mich bei ihr im Gemach befunden hätte, als sie überfallen wurde.« »Niemand war bei ihr im Zimmer«, sagte Cazio. »Deshalb ist sie ja auch fast getötet worden. Vielleicht sollte jemand bei ihr im Zimmer sein, >schicklich< oder nicht.« »Ihr wart nicht bei ihr?« »Natürlich nicht. Was glaubt Ihr denn, wieso ich nackt war?« »Das genau ist meine Frage. Man hatte Euch in einem anderen Teil des Hauses einquartiert.« »Das stimmt«, erwiderte Cazio. »Aber ich war bei Aus-« Er hielt inne. »Das geht Euch wirklich nichts an.« »Austra?«, zischte Neil und senkte die Stimme. »Aber sie war doch diejenige, die bei Anne im Zimmer hätte sein sollen.« Cazio stemmte sich mit einem Arm hoch und starrte den Ritter unverwandt an. »Was wollt Ihr damit sagen? Dass es Euch lieber gewesen wäre, wenn sie beide umgekommen wären? Acredo hat die Wachen getötet. Wäre ich nicht in der Nähe gewesen, was glaubt Ihr wohl, wie das Ganze geendet hätte?« »Ich weiß.« Neil rieb sich die Stirn. »Ich hatte nicht die Absicht, Euch zu beleidigen, ich wollte nur verstehen, was ... was passiert ist.« »Und jetzt wisst Ihr es.« »Jetzt weiß ich es.« Der Ritter zögerte, und sein Gesicht wurde auf beinahe komische Weise lang. »Cazio, es ist sehr schwer, jemanden zu beschützen, den man liebt. Versteht Ihr das?« Cazio verspürte plötzlich große Lust, mit dem Degen auf den Ritter loszugehen. »Das weiß ich sehr gut«, sagte er ruhig. Er hatte vor, noch mehr zu sagen, doch irgendetwas in Neils Augen verriet ihm, dass das nicht nötig war. Also sagte er, anstatt die Angelegenheit weiterzutreiben: »Setzt Euch und trinkt mit mir.« 288 Neil schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe zu viel zu tun. Aber ich danke Euch.« Er überließ Cazio zunehmend lebhaften Erinnerungen, Vorstellungen ... und schon bald darauf Träumen. Als Neil Cazio verließ, kam er sich auf unbestimmte Art und Weise unrein vor. Von ihrer ersten Begegnung an hatte er geargwöhnt, dass der Vitellianer und Anne irgendwie miteinander verbunden waren - er erinnerte sich an Annes Ruf. Ihre Mutter hatte sie genau deshalb fortgeschickt, in einen Konvent in Vitellio, weil sie bei einem verfänglichen Stelldichein mit Roderick von Dunmrogh ertappt worden war. Daher wäre es keine Überraschung, wenn... da sie die ganze Zeit über miteinander unterwegs gewesen waren... etwas zwischen der Prinzessin und dem Degenfechter vorgefallen wäre. Neil konnte Cazio auch nicht dafür verurteilen; er selbst hatte sich auf eine unangemessene Verbindung mit einer Prinzessin des Reichs eingelassen, und er war von weniger hoher Geburt als der Vitellianer. Aber er hatte doch fragen müssen, oder? Trotzdem gefiel sie ihm nicht, diese Rolle. Es passte ihm nicht, erwachsene Männer nach ihren Absichten zu
fragen, sich darüber Gedanken zu machen, wer mit wem nackt im Bett war. Das waren nicht die Dinge, für die er sich interessieren wollte. Er kam sich alt dabei vor, wie irgendjemandes Vater. Tatsächlich waren er und Cazio ungefähr im selben Alter, und Anne war nicht viel jünger. Er erinnerte sich an Erren, die Leibwächterin der Königin, die ihn davor gewarnt hatte, Muriele zu lieben, dass es ihr den Tod bringen würde, wenn er sie liebte. Erren hatte natürlich Recht gehabt, nur hatte sie sich in der Person vertan. Es war Fastia gewesen, die er geliebt hatte, Fastia, die ums Leben gekommen war. Plötzlich vermisste er Erren heftig; er hatte sie nicht gut gekannt, und wenn sie miteinander gesprochen hatten, dann meistens, damit sie ihn in die Schranken hatte weisen können. Aber Anne brauchte jemanden wie Erren, jemanden, der tödlich, tüch289 tig und weiblich war. Jemanden, der sie mit einem Messer beschützen konnte, und mit weisen Worten. Doch Erren war umgekommen, als sie ihre Königin verteidigt hatte, und es gab niemanden, der ihren Platz einnehmen konnte. Er schaute nach Anne. Die Herzogin hatte sie in ein anderes Zimmer bringen lassen, und obgleich Neil sich nicht mehr an den Grund dafür erinnern konnte, war er sich gewiss, dass sie dadurch sicherer sein sollte. Er fand Anne allem Anschein nach schlafend vor, und Austra saß bei ihr. Das Mädchen sah aus, als hätte es geweint, und ihre Wangen färbten sich hochrot, als sie ihn erblickte. Neil betrat das Schlaf gemach und ging, so leise er konnte, auf die andere Seite des Raums hinüber. Austra erhob sich und folgte ihm. »Sie schläft?« »Ja. Der Trunk, den die Herzogin ihr gegeben hat, scheint zu wirken.« »Gut.« Austra biss sich auf die Lippe. »Sir Neil, ich würde gern einen Augenblick mit Euch reden, wenn ich darf. Ich habe etwas zu beichten. "Werdet Ihr mich anhören?« »Ich bin kein Sacritor, Lady Austra«, entgegnete er. »Das weiß ich natürlich. Ihr seid unser Beschützer. Und ich fürchte, ich habe meine Herrin im Stich gelassen, als sie meiner am dringendsten bedurfte.« »Wirklich? Glaubt Ihr, Ihr hättet den Meuchelmörder aufhalten können? Habt Ihr Mittel und Wege, von denen ich nichts weiß?« »Ich habe ein Messer.« »Der Attentäter hat zwei Männer getötet, die Schwerter hatten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Euch besser ergangen wäre als ihnen.« »Trotzdem hätte ich es versuchen können.« »Glücklicherweise ist es nicht dazu gekommen. Ich war auch nicht hier, Austra. Wir hatten alle großes Glück, dass Cazio zufällig in der Nähe war.« 290 Austra zögerte. »Er war nicht einfach nur ... zufällig ... in der Nähe.« »Zweifellos haben die Heiligen ihn geleitet«, sagte Neil. »Das ist alles, was ich wissen muss.« Eine kleine Träne zeigte sich in Austras Augenwinkel. »Es ist zu viel«, sagte sie. »Es ist alles zu viel.« Neil dachte, sie würde weinend zusammenbrechen, doch stattdessen trocknete sich das Mädchen die Augen mit dem Ärmel. »Aber es kann nicht sein, nicht wahr?«, fuhr sie fort. »Ich werde bei ihr sein, Sir Ritter, von jetzt an, das versichere ich Euch. Ich werde mich nicht ablenken lassen. Und ich werde auch nicht schlafen, wenn sie schläft. Wenn einmal aufzuschreien das Einzige ist, was ich tun kann, bevor ich sterbe, dann sterbe ich wenigstens nicht mit dem Gedanken, völlig versagt zu haben.« Neil lächelte. »Das sind starke Worte.« »Ich bin nicht stark«, widersprach Austra. »Ich bin eigentlich gar nicht viel - bloß eine Dienerin. Ich habe keine edle Geburt vorzuweisen, keine Eltern, nichts, was für mich spricht, außer ihrer Zuneigung. Ich habe mich und meinen Stand vergessen. Das werde ich nicht wieder tun.« Neil legte ihr die Hand auf die Schulter. »Sprecht nicht mit Scham von Eurer Geburt«, sagte er. »Meine Mutter und mein Vater waren Kleinbauern, weiter nichts. Auch in mir ist kein edles Blut, aber ich wurde guten Menschen geboren, ehrbaren Menschen. Niemand kann mehr verlangen als das. Und niemand, ganz gleich von welcher Geburt, kann etwas Besseres verlangen als eine treue Freundin. Ihr seid stark, ich kann es in Euch sehen. Und Ihr seid ein bemerkenswerter Mensch, Austra. Rauer Wind und Regen können selbst einem Stein beikommen, und Ihr habt Sturm um Sturm abgewettert. Und doch seid Ihr immer noch bei uns, geschunden, aber trotzdem bereit, für das zu kämpfen, was Ihr liebt. Verschachert Euch nicht für nichts. Die einzige Schande entsteht daraus, sich der Verzweiflung zu ergeben. Das ist etwas, was ich nur allzu gut weiß.« 291 Austra lächelte schwach. Sie hatte wieder angefangen zu weinen, doch ihre Miene war gefasst. »Ich glaube, das wisst Ihr wirklich, Sir Neil«, sagte sie. »Danke für Eure gütigen Worte.« Er drückte ihre Schulter und ließ die Hand sinken. Wieder kam er sich älter vor.
»Ich bin draußen vor der Tür«, sagte er. »Wenn Ihr ruft, bin ich da.« »Ich danke Euch, Sir Neil.« »Und ich Euch, Mylady. Und trotz Eures Schwurs bitte ich Euch inständig, jetzt zu schlafen. Ich werde es nicht tun, das verspreche ich Euch.« Anne erwachte aus einem Traum, so unverständlich, dass er schrecklich war. Keuchend lag sie da, starrte an die Decke und versuchte sich einzureden, dass die Schwarzen Marys, an die sie sich nicht erinnern konnte, die besten waren. Als der Nachtmahr verging, nahm sie ihre Umgebung in sich auf. Sie befand sich in dem Gemach, das sie und ihre Schwestern immer »die Höhle« genannt hatten, weil es keine Fenster hatte. Außerdem war es recht groß und von eigenartiger Form. Sie hatte noch nie in diesem Raum gewohnt, doch sie hatten alle darin gespielt, als sie noch sehr klein gewesen war, hatten so getan, als sei er der Unterschlupf eines Scaos, wo sie vielleicht einen Schatz finden könnten - allerdings nur unter großen Gefahren, versteht sich. Vermutlich hatte Tante Elyoner sie hier unterbringen lassen, weil sie hier vor einem weiteren Mordanschlag sicherer wäre. Das hieß wohl, dass es hier keine verborgenen Gänge gab, um ihrem Tod Einlass zu gewähren. Austra lag rücklings auf einer Ruhebank, den Kopf zurückgelehnt, den Mund offen; ihr raues BeinaheSchnarchen war ein tröstlich normales Geräusch. Ein paar Kerzen brannten hier und dort, und im Kamin loderte ein sehr kleines Feuer. Anne fragte sich zum ersten Mal, warum es in diesem Raum so 292 viele Ruhebänke und Betten gab. Bei näherem Nachdenken beschloss sie, dass sie eigentlich gar nicht wissen wollte, was für Kurzweil Elyoner in einem Gemach ohne Fenster planen würde. »Wie fühlst du dich, Herzchen?«, erkundigte sich eine leise Stimme. Anne fuhr ein wenig zusammen, drehte den Kopf und setzte sich auf. Sie musterte Elyoner, die auf einem Schemel saß und ein paar Spielkarten betrachtete, die auf einem kleinen Tischchen lagen. »Mein Arm tut weh«, sagte Anne. Das stimmte, der Arm pochte unter dem straffen Verband im Takt mit ihrem Herzschlag. »Ich lasse dich später noch einmal von Elcien untersuchen. Er hat mir versichert, dass man kaum sehen wird, dass es passiert ist, wenn der Arm heilt. Nicht so wie diese hässliche Stelle an deinem Bein. Wie hast du dir das denn geholt?« »Ein Pfeil«, antwortete Anne. »In Dunmrogh.« »Du hast ein ganz ordentliches Abenteuer hinter dir, nicht wahr?« Anne hustete ein schwaches Lachen hervor. »Ordentlich genug, um zu wissen, dass es so etwas wie Abenteuer nicht gibt.« Elyoner lächelte ihr geheimnisvolles kleines Lächeln und zog eine weitere Karte. »Natürlich gibt es Abenteuer, Täubchen. Genauso wie es Gedichte, Epen, Tragödien gibt. Es gibt sie nur nicht im wirklichen Leben. Im richtigen Leben erleben wir Schrecken und Probleme und Wollust. Zum Abenteuer wird so etwas, wenn es als Geschichte erzählt wird.« »Das ist genau das, was ich gemeint habe«, erwiderte Anne. »Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder dazu imstande sein werde, solche Geschichten zu lesen.« »Vielleicht nicht«, sagte Elyoner. »Aber ganz gleich, wie alles ausgeht, es wird einige Zeit dauern, bevor du auch nur Gelegenheit dazu bekommen wirst. Obwohl ich dir zuliebe hoffe, meine Teure, dass dir letzten Endes genug Langeweile geschenkt wird, um es in Erwägung zu ziehen.« Anne lächelte. »Ja, das hoffe ich auch, Tante Elyoner. Also, er293 zähl, ist irgendetwas Furchtbares geschehen, während ich geschlafen habe?« »Furchtbar? Nein. Dein junger Ritter hatte ein paar Fragen an deinen jungen Degenkämpfer, bezüglich seines Duellkostüms.« »Ich vermute, er war nebenan bei Austra«, murmelte Anne. Vorsichtig warf sie einen raschen Blick zu ihrer Freundin hinüber, doch die atmete ruhig weiter. »Wahrscheinlich«, pflichtete Elyoner ihr bei. »Stört dich das?« Anne überlegte einen Moment lang, den Kopf zur Seite geneigt. »Ganz und gar nicht«, erwiderte sie. »Sie kann ihn haben.« »Wirklich?« Ein eigenartiges Trillern lag in Elyoners Stimme. »Wie freimütig von dir.« Anne bedachte ihre Tante mit einem Blick, von dem sie hoffte, dass er diesem Thema ein Ende bereiten würde. Tatsächlich war sie gar nicht so glücklich darüber. Dass Austra und Cazio unbekleidet gewesen waren, dass sie beinahe sicher das getan hatten, nur eine Wand von ihr entfernt, erschien ihr - nun ja, respektlos. Trotzdem war Cazios Anwesenheit ein Glücksfall gewesen. Wieder einmal. Es war schön zu wissen, dass sie jemanden hatte, der sich splitternackt einem Feind entgegenwarf, um sie zu verteidigen, besonders, wenn sein Herz anderweitig beschäftigt zu sein schien. Sie hatte Cazio vollkommen falsch eingeschätzt, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren; sie hatte ihn für einen Aufschneider, ein Großmaul und einen unverbesserlichen Frauenhelden gehalten. Letzteres traf noch immer zu, und ihre größte Sorge um Austra war, dass er sich auch noch als wankelmütig erweisen könnte.
Doch er war als ihr Beschützer so verlässlich gewesen, so unerschütterlich, dass sie allmählich zu glauben begann, er sei in Herzensangelegenheiten vielleicht gar nicht so unstet, wie er anfangs gewirkt hatte. Wenn sie das geahnt hätte, als sie ihm damals zum ersten Mal begegnet war ... Ihr wurde klar, dass Elyoner jetzt sie betrachtete, und nicht die Karten. Das Lächeln ihrer Tante war breiter geworden. 294 »Was ist?«, wollte sie wissen. »Gar nichts, Täubchen.« Die Herzogin schaute wieder auf ihre Karten. »Auf jeden Fall ist Austra völlig außer sich. Sie ist die ganze Nacht aufgeblieben und hat über dich gewacht; erst als ich gekommen bin, war sie bereit zu schlafen. Das Gleiche gilt für Sir Neil-« »Erzählst du mir, was zwischen ihm und Fastia vorgefallen ist?«, fragte Anne. Elyoner schüttelte leicht den Kopf. »Nichts Unnatürliches. Nichts gar so Verwerfliches, und nicht annähernd so viel, wie beide verdient hatten. Belassen wir es dabei, j a? Es wäre viel besser so.« »Ich habe sie gesehen«, sagte Anne. »Gesehen? Wen?« »Fastia. In meinem Traum. Sie hat mich vor dem Attentäter gewarnt.« »Das hätte sie bestimmt getan«, erwiderte Elyoner ohne einen Hauch von Zweifel. »Sie hat dich immer geliebt.« »Ich weiß. Ich wollte, ich wäre netter zu ihr gewesen, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe.« »Die einzige Möglichkeit, dieses Bedauern nie zu empfinden, ist, immer und unfehlbar nett zu sein«, bemerkte Elyoner. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie grässlich das Leben wäre, wenn ich es so verbringen müsste.« »Aber du bist doch immer nett, Tante Elyoner.« »Pah«, wehrte die Herzogin ab. Dann weiteten sich ihre Augen. »Nun sieh dir das an! Die Karten sagen für heute gute Nachrichten voraus.« Anne hörte Stiefel auf dem Gang, und die Haare auf ihren Armen kribbelten jäh. »Was denn?«, wollte sie wissen. »Ein Blutsverwandter kommt und bringt Geschenke.« Es klopfte an der Tür. »Sind wir bereit, Besuch zu empfangen?«, erkundigte sich Elyoner. 295 »Wer ist das?«, fragte Anne zögerlich. Elyoner schnalzte mit der Zunge und wedelte mit dem Finger. »So eindeutig sind die Karten nicht, fürchte ich.« Anne zog die Falten des Morgenmantels enger um sich. »Herein«, rief sie. Die Tür knarrte, und eine hoch gewachsene Männergestalt wurde sichtbar. Es dauerte etliche Herzschläge, bis Anne ihn erkannte. »Vetter Artwair!«, rief sie. »Hallo, kleine Sattelklette«, erwiderte Artwair, trat an ihr Bett und griff nach ihrer Hand. Seine Augen waren streng, so wie immer, doch sie merkte, dass er sich freute, sie zu sehen. Schon lange war sie nicht mehr »Sattelklette« genannt worden, und ihr fiel wieder ein, dass es Artwair gewesen war, der sie mit diesem Spitznamen bedacht hatte. Er hatte sie in den Ställen gefunden, hinter einem Haufen Sättel versteckt, als sie acht gewesen war. Sie wusste nicht einmal mehr, wovor sie sich damals gedrückt hatte, nur wie Vetter Artwair sie mit seinen starken Händen hochgehoben hatte ... Dann ging ihr schlagartig etwas auf, und sie schnappte nach Luft. Artwair hatte jetzt nur noch eine Hand. Wo seine Rechte hätte sein sollen, war bloß ein verbundener Stumpf. »Was ist mit Eurer ... oh, Artwair, es tut mir so Leid.« Er hob den Stumpf, betrachtete ihn und zuckte die Achseln. »Es braucht Euch nicht Leid zu tun. Das ist das Leben eines Kriegers. Ich habe Glück, dass das alles war, was ich eingebüßt habe. Wie kann ich mich beklagen, wenn ich noch eine zweite habe, und Augen, um Euch damit zu sehen? So viele meiner Männer haben alles verloren.« »Ich ... ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll«, stammelte Anne. »So viel ist passiert...« »Eine Menge davon weiß ich«, sagte Artwair. »Ich weiß von Eurem Vater und von Euren Schwestern. Elyoner hat mich auf den neuesten Stand gebracht, was den Rest betrifft.« 296 »Aber was ist mit Euch? Wo seid Ihr gewesen?« »In den östlichen Marschen des Königswaldes, im Kampf gegen ...« Er zögerte. »Geschöpfe. Am Anfang schien es wichtig zu sein, aber dann ist uns klar geworden, dass sie niemals wirklich aus dem Wald herauskommen. Dann habe ich erfahren, was Robert in Eslen angerichtet hat, und ich dachte, ich sollte nach dem Rechten sehen.« »Mein Onkel Robert ist wahnsinnig geworden, denke ich«, sagte Anne. »Er hat meine Mutter eingesperrt, wusstet Ihr das?« »Auy«
»Ich bin fest entschlossen zu tun, was ich kann, um sie zu befreien und den Thron zurückzuerobern.« »Nun«, erwiderte Artwair, »da könnte ich vielleicht behilflich sein.« »Ja«, sagte Anne. »Ich hatte gehofft, dass Ihr das sagen würdet. Ich verstehe nicht viel vom Kriegführen, wirklich nicht, und auch keiner von meinen Gefährten. Ich brauche einen Heerführer, Vetter.« »Es wäre mir eine Ehre, Euch als solcher zu dienen«, erwiderte Artwair. »Selbst ein einziger Mann kann etwas bewegen.« Dann lächelte er ein wenig breiter und zauste ihr liebevoll das Haar. »Außerdem habe ich natürlich meine Armee mitgebracht.« 297 22. Kapitel Sonittun Graue Morgendämmerung ergoss sich in das Tal, als Stephen und Ehan auf den Fluss zueilten. Die Pferde erwiesen sich als unreitbar, sie bockten und stiegen, sodass sie sie führen mussten. Die Erde erschauerte unter Stephens Stiefeln, und krankhafte, blinde Furcht drohte ihn zu überwältigen. Es fühlte sich an, als wäre alles zu laut, zu grell, und er wollte allen sagen, dass er einfach Ruhe brauchte, einen Tag für sich allein. Auch Ehan war hochrot im Gesicht und hatte die Augen weit aufgerissen. Stephen fragte sich, ob sich Feldmäuse wohl so fühlten, wenn sie den Schrei des Falken vernahmen und den Schrecken in ihren Knochen fühlten, auch wenn sie den Raubvogel selbst nicht gesehen hatten. Er drehte sich immer wieder um, und gerade als sie den Obstgarten erreichten, erblickte er die Kreatur. Das Kloster selbst war auf einem Hügel errichtet worden, und sein eleganter Umriss zeichnete sich vor einem bleiernen Himmel ab. Ein eigentümliches violettes Licht flackerte in einem der höchsten Fenster des Glockenturms; Stephen spürte, wie sein Gesicht warm wurde, als schaue er in die Sonne. Ein geisterhafter Nebel erhob sich an den Grundfesten des Bauwerks, und zuerst dachte Stephen, was er sah, wäre aufsteigender Rauch, bis seine von den Heiligen geschärften Augen die Einzelheiten ausmachten, die grünen Lampen der Augen, die Zähne, die das Geschöpf zeigte, als es den Rachen aufriss, der lange Bogen seines Leibes, der sich den Turm hinaufwand. Alles andere verblasste: Ehan, der ihn weiterdrängte, die am Fuß des Hügels verzweifelt rufenden Männer, das ferne Schlagen der Uhr. Es gab nur das Ungeheuer. 298 Ungeheuer war jedoch nicht annähernd das richtige Wort. Der Gryffin war ein Ungeheuer. Der Uttin, der Nicwer - das waren Ungeheuer. Kreaturen einer älteren Zeit, die irgendwie wieder in eine Welt zurückgekehrt waren, die sich für geistig intakt hielt. Doch alles in Stephen schrie, dass dies etwas anderes war, nicht nur was das Ausmaß, sondern auch was die Art betraf. Kein Ungeheuer, sondern ein Gott, ein verdammter Heiliger. Seine Beine zitterten, und er fiel auf die Knie, und als er das tat, richteten sich die Augen des Wesens auf ihn. Über eine Entfernung von einer Viertelmeile hinweg begegneten sich ihre Blicke, und Stephen fühlte etwas so weit jenseits menschlichen Gefühls, dass sein Körper es nicht fassen, geschweige denn verstehen konnte. »Ihr Heiligen«, stieß Ehan hervor. »Ihr Heiligen, er sieht uns. Stephen -« Was immer Ehan hatte sagen wollen, blieb unvollendet, als das violette Licht erneut aufleuchtete - diesmal jedoch beschränkte es sich nicht auf das eine Fenster, sondern brach aus jedem Teil des riesigen Klostergebäudes hervor. Es wurde unsäglich hell, und d'Ef war plötzlich verschwunden. Stattdessen war dort eine Sphäre von unerträglichem Glanz. »Fratrex Pell!«, hörte Stephen Ehan aufkeuchen. BETRACHTUNGEN ÜBER DAS VITELLIANISCHE VERB »SONITUM« Es hat eine sehr klare Bedeutung, nämlich »von Donner taub gemacht sein«. Es erscheint merkwürdig, dass die Hegemonie über einen so peinlich genauen Begriff verfügte; ein Verb, das »taub machen« bedeutet, ist vorhanden (ehesurdum), ebenso wie das Wort »Donner« (tonarus). Es weist darauf hin, dass Ertauben durch Donner häufig genug vorkam, um eine eigene Bezeichnung dafür zu rechtfertigen. Gab es in der Vergangenheit mehr Donnerschläge? Wahrscheinlich keine natürlichen. Doch als die Heiligen und die Alten Götter Krieg mitei299 nander führten, dürfte es wohl recht geräuschvoll zugegangen sein... Die erste Schallwoge trieb ihm Tränen des Schmerzes und des Grauens in die Augen. Dann hörte er überhaupt nichts, obgleich er die Druckwelle auf seinem Gesicht spürte. Als seine restlichen Sinne zurückkehrten, packte Stephen Ehan und stieß ihn zu Boden, gerade als die zweite Welle vorbeifegte, ein waagrechter Hagel aus Steinen und Hitze, der durch die oberen Äste der Bäume fuhr und Schauer aus brennenden Zweigen auf sie herabregnen ließ. Ehans Mund bewegte sich, doch es war kein Geräusch zu vernehmen, außer einem lang gezogenen Klingen, wie von der größten Glocke der Welt. Sonitum: »von Donner taub gemacht sein«. Sonifed som: »Ich bin von Donner taub gemacht worden ...« Stephen erhob sich vorsichtig, und sein Blick wanderte dorthin, wo er das Kloster zuletzt gesehen hatte. Jetzt sah er nur eine dunkle Rauchwolke. Sein erster Schmerz galt den Büchern, den kostbaren, unersetzlichen Büchern. Dann dachte er an die Männer, die
sich geopfert hatten, und ein schuldbewusstes Schaudern durchrann ihn. Er hob die Hände, berührte seine Ohren und überlegte, ob die Trommelfelle geplatzt waren, ob der Verlust seines Gehörs vorübergehend oder von Dauer sein würde. Das Klingen in seinem Kopf war so laut, dass ihn schwindelte, und die Welt, die seine Augen erblickten, kam ihm unwirklich vor. Es erinnerte ihn daran, wie er den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten hatte - seine Sinne waren ihm genommen worden, einer nach dem anderen, bis er nichts weiter war als eine Gegenwart, die sich durch den Raum bewegte. Ein anderes Mal war er allem Anschein nach tot gewesen, und wenngleich er nichts von der le300 bendigen Welt hatte sehen können, so konnte er sie doch fühlen und hören. Hier war er abermals ein wenig über die Grenzen der •weit hinausgedrängt worden - als wäre dies der Ort, wohin er gehörte. Er runzelte die Stirn, dann dachte er an damals, als seine Freunde ihn für tot gehalten hatten. Da war ein Gesicht gewesen, ein Frauengesicht, mit rotem Haar, jedoch mit Zügen, die zu grauenvoll waren, um sie anzusehen. Wie konnte er das vergessen haben? Wieso fiel es ihm jetzt wieder ein? Schwindel überwältigte ihn. Wieder fiel er auf die Knie und übergab sich. Er spürte Ehans Hand auf seinem Rücken und schämte sich dafür, auf allen vieren zu kauern wie ein Tier, doch er konnte nichts dagegen tun. Als sein Atem ruhiger wurde und er sich ein wenig besser fühlte, bemerkte er, dass das Beben wieder da war, ein Zittern der Erde unter seinen Händen und Knien. Sein Verstand, normalerweise so behände, brauchte einen Augenblick, um zu erfassen, was sein Körper ihm zu sagen versuchte. Unsicher kam er auf die Beine und schaute abermals in Richtung d'Ef. Er konnte noch immer nichts sehen außer Rauch, doch das spielte keine Rolle. Er fühlte es kommen. Was für eine entsetzliche Macht der Fratrex auch entfesselt hatte, es war nicht genug gewesen, um den Woorm zu töten. Er packte Ehan zittrig am Arm und zog ihn zu den Pferden hinüber. Dort waren noch zwei andere Männer, einer davon ein junger Bursche in einem rotbraunen Kirchengewand. Er hatte eine große, knollige Nase, grüne Augen und Ohren, die an einem größeren Kopf vielleicht besser ausgesehen hätten. Den anderen Mann erkannte Stephen - ein Jäger namens Henne. Er war ein wenig älter, vielleicht dreißig, mit sonnengebräuntem Gesicht und abgebrochenen Zähnen. Stephen hatte ihn als tüchtig, unkompliziert und auf raue Art freundlich in Erinnerung. 301 Im Augenblick waren beide durch die Erkenntnis abgelenkt, dass sie nichts hören konnten. Stephen machte sie auf sich aufmerksam, indem er mit den Händen fuchtelte, dann tat er, als lege er die Hand auf den Boden, zeigte dorthin zurück, wo d'Ef gestanden hatte, schüttelte verneinend den Kopf und zeigte dann auf die Pferde. Der andere Mönch verstand bereits, Henne nickte jäh und stieg auf; er winkte ihnen allen, ihm zu folgen. Wahrscheinlich ebenfalls gehörlos, schienen die Pferde weniger nervös als vorher, wenn auch durchaus geneigt, von hier zu verschwinden. Im Sattel konnte Stephen den Woorm nicht mehr durch den Erdboden hindurch fühlen, doch er hatte keinen Zweifel daran, dass er näher kam. Er muss der Witterung folgen, überlegte er, wie ein Bluthund, oder vielleicht bedient er sich einer Wahrnehmung, von der niemals berichtet wurde. Er wünschte, er hätte die Kreatur genauer betrachten können. Während sie durch den auf unheimliche Weise lautlos gewordenen Wald ritten, dachte er darüber nach, was die Legenden von solchen Wesen erzählten, doch woran er sich hauptsächlich erinnerte, waren Sagen von Rittern, die gegen sie kämpften und sie mit Schwert oder Lanze besiegten. Nachdem er den Woorm aus der Ferne gesehen hatte, erschien ihm das so unmöglich, dass Stephen davon ausging, dass solche Geschichten von einem kleineren Vetter jenes Geschöpfs handeln mussten, das er gerade zu Gesicht bekommen hatte, falls überhaupt etwas Wahres daran war. Woran konnte er sich sonst noch erinnern? Sie lebten in Höhlen oder in tiefem Wasser, sie horteten Gold, ihr Blut war Gift, konnte jedoch widersinnigerweise unter den richtigen Umständen übernatürliche Kräfte verleihen. Sie hatten große Ähnlichkeit mit Drachen, aber Drachen hatten angeblich Flügel. Und Woorme waren keine dummen Tiere. Angeblich konnten sie sprechen und besaßen einen furchtbaren, gerissenen Verstand, der ständig Böses ersann. Es hieß, sie seien Zauberer, und die äl302 testen Texte, an die er sich erinnern konnte, deuteten an, dass sie ein ganz besonderes Verhältnis zu den Skasloi gehabt hätten. Außerdem fiel ihm ein Kupferstich ein, der den Dornenkönig darstellte, der eine gehörnte Schlange umklammerte. Der Titel hatte gelautet... Hatte gelautet... Er schloss die Augen und sah die Seite vor sich. Vincatur Ambiom. »Woorm-Bezwinger«. Also brauchten sie nur den Dornenkönig zu finden, und er würde sie retten. Stephen lachte darüber, doch niemand hörte ihn. Ehan mochte vielleicht gedacht haben, er hätte Schmerzen, denn er sah ängstlicher aus denn je, was im Augenblick wirklich eine beachtliche Leistung war. Einen Glockenschlag später stiegen sie in eine Tiefebene mit weißen Birken hinab und überquerten die
ausgefahrenen Furchen der Königsstraße. Der Tag war kalt und klar angebrochen. Weit entfernt von dem Woorm, hatten sich die Pferde hinlänglich beruhigt, dass man sie reiten konnte. Stephen schätzte, dass sie nach Norden ritten, parallel zum Fluss Ef, der sich zu ihrer Rechten befinden sollte. Das Gelände wurde flacher und feuchter, bis die Pferde durch stehendes Wasser wateten. Die Bäume lichteten sich, und Farne und Katzenschwanzgras reichten bis zu ihren Köpfen und versperrten die Sicht, abgesehen von dem schmalen Pfad, dem sie folgten und der für Stephen mehr und mehr wie eine Art Wildwechsel wirkte. Schließlich führte Henne sie auf etwas höher gelegenes Gelände und auf einen Weg, der recht ausgetreten aussah. Er ließ die Pferde antraben, und sie wechselten vielleicht zwei Glockenschläge lang zwischen dieser Gangart und zügigem Schritt, bis sie ziemlich unverhofft auf eine kleine Ansammlung von Häusern stießen. Stephen hielt es nicht für ein Dorf, eher für eine Art ausgedehntes Familiengehöft. Außerdem war es offensichtlich verlassen. Der 3°3 Schweinepferch war zu einem Wust aus groben hölzernen Zaunpfählen zusammengesunken, das größte der Häuser wies Löcher in seinem mit Zedernschindeln gedeckten Dach auf. Abgestorbenes Unkraut hatte sich durch harte Erde gezwängt, und auf dem Hof waren Schneereste zu sehen. Henne ritt an alldem vorbei, einen sanften Abhang hinunter, zu einem dahinfließenden Strom, der eigentlich zu klein schien, um die Ef zu sein. Er saß ab und ging zu etwas hinüber, das zwischen zwei Bäumen hing, bedeckt von einer Plane. Einen Augenblick lang fürchtete Stephen, er würde einen Leichnam enthüllen, als er die Leinwand wegzog, dass dies ein Begräbnis war, wie es dem Hörensagen nach bei einigen der Bergstämme üblich war. Tatsächlich hatte er sich in der Größe vertan - es war ein Boot, das mit Seilen oberhalb der Hochwasserlinie aufgehängt worden war. Es schien in recht gutem Zustand zu sein, und es war groß genug für sie. Jedoch nicht für ihre Pferde. Henne wies sie an, Sättel und Zaumzeug abzunehmen, und diese wurden in das Boot geladen. Das war nicht unsinnig, die Ef floss nach Norden, in die Richtung, die sie einschlagen wollten, aber bei der Stadt Werthen würde sie in den Weißen Magierfluss münden und sich nach Westen wenden. Vielleicht würden sie von Werthen aus flussaufwärts fahren, wenn sie ein passendes Boot fanden, doch irgendwann würden sie sich neue Pferde besorgen und weiter nach Nordosten reiten müssen, um die Bairghs zu erreichen. Es wäre besser, wenn sie nicht auch noch neues Sattelzeug würden kaufen müssen. Nachdem dies getan war, stiegen sie in das Boot. Henne setzte sich ans Steuer, und Ehan und der andere Mönch ergriffen die Ruder. Stephen beobachtete die Pferde, die sie neugierig beäugten, als sie stromabwärts losfuhren. Er hoffte, dass sie genug Verstand besaßen, sich davonzumachen, ehe der Woorm sie fand. Er tippte Ehan an und machte eine Ruderbewegung, doch der kleine Mann schüttelte den Kopf und zeigte stattdessen auf die Pa304 cken mit den Scrifti und Büchern. Stephen nickte und machte sich daran, sie mit Schnüren zu sichern, für den Fall, dass das Boot kenterte. Als er damit fertig war, tauchte er die Hand in das eiskalte Wasser, das die Berge noch nicht lange verlassen hatte. Er glaubte, das schwache Beben des Woorms zu spüren, konnte es jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Während er zusah, wie der Bug des Bootes den Fluss entzweischnitt, begannen ein paar Schneeflocken zu fallen; sie verschwanden, ohne Kreise zu hinterlassen, wenn sie auf die quecksilbrige Oberfläche trafen. Es schien eine ungeheure Bedeutung darin zu liegen, doch er war zu müde, viel zu müde, um danach zu suchen. Er fragte sich, wie es Winna wohl erging. Und Aspar. Und dem armen Ehawk. Seine Glieder waren aus Stein, er konnte sich nicht bewegen, und nur unter schrecklichen Mühen war er in der Lage, die Augen zu öffnen. Er lag in seinem eigenen Bett, daheim am Chavelkap, doch die vertraute Matratze war mit weichen schwarzen Laken bedeckt, und die Vorhänge, die um das Bett herumhingen, waren ebenfalls schwarz - wenn auch durchsichtig genug, dass er den Schein des Kerzenlichts im Zimmer dahinter sehen konnte. Ihm war, als versinke er in sich selbst, würde schwerer. Ihm war klar, dass dies ein Traum sein musste, doch er konnte dem Versinken ebenso wenig Einhalt gebieten, wie er seine Gliedmaßen regen oder schreien konnte. Jenseits des Vorhangs bewegte sich etwas, eine Dunkelheit fiel auf den Stoff, ging um sein Bett herum, eine Gestalt, manchmal menschlich und manchmal ... etwas anderes. Etwas, das ebenso wenig groß war wie klein ... etwas, das war, was immer es sein wollte. Seine Augen - das Einzige, was er bewegen konnte - folgten ihm, bis es hinter ihm war. Er konnte den Kopf nicht drehen, um ihm auch dort zu folgen, doch er konnte seine schweren Schritte hören, riechen, wie die 305 Luft dicker wurde, als die Vorhänge leise raschelten und der Schatten auf sein Gesicht fiel. Jäh war er sich seiner Männlichkeit deutlich bewusst, einer Wärme und eines Kribbeins, das zusammen mit seinem Entsetzen immer stärker wurde. Es war, als berühre ihn etwas, etwas Weiches. Er blickte auf und sah sie. Sein Herz dehnte sich wie seine Lunge, und es war auf erlesene Weise schmerzlich. Ihr Haar war strahlendes Kupfer, so hell, dass es sich durch seine Lider brannte, als er sie schloss. Ihr Lächeln
war boshaft, sinnlich und schön, und ihre Augen waren wie Juwelen von leuchtender, aber unbekannter Farbe. Alles in allem war ihr Antlitz so entsetzlich und so herrlich, dass er es nur einen Augenblick lang ertragen konnte. Sein ganzer Körper zitterte vor unbekannten Gefühlen, als sie sich auf ihn herabpresste; ihr Fleisch schmolz auf ihn nieder wie Butter und Honig, und noch immer konnte er sich nicht rühren. Mein Kind, mein Mann, mein Geliebter, summte sie mit einer Stimme, die ebenso wenig eine Stimme war, wie ihre Züge ein Gesicht bildeten. Du wirst mich kennen. Keuchend erwachte er, oder vielmehr mit dem Gefühl zu keuchen. Es war kein Geräusch zu hören. Ehans Gesicht wurde erkennbar, ebenso wie Hennes. Er war wieder in dem Boot, und er konnte sich wieder bewegen. Und er erinnerte sich an etwas, an etwas Wichtiges. »Welcher Fluss ist das?«, fragte er; er fühlte die Worte, hörte sie jedoch nicht. Ehan sah, wie sich seine Lippen bewegten, und sah wütend aus; er berührte seine Ohren mit den Händen. Stephen zeigte auf den Strom. Der Wasserlauf, auf dem sie losgerudert waren, war wahrscheinlich ein Seitenarm, jetzt jedoch befanden sie sich auf einem Fluss von beachtlicher Größe, begrenzt von mächtigen Ufern. 306 »Ist das hier die Ef oder irgendein Nebenfluss?« Ehan zog die Brauen zusammen, dann formte er mit dem Mund ein Wort, das wie »Ef« aussah. Stephen setzte sich auf. Wie lange hatte er geschlafen? »Sind wir in der Nähe von Whitraff ?«, fragte er. »Wie weit sind wir von Whitraff entfernt?« Er übertrieb die Form der Worte, doch Ehans verständnisloser Gesichtsausdruck wurde nicht von irgendetwas anderem abgelöst. Aufgebracht machte sich Stephen an den Schnüren einer der geölten Ledertaschen zu schaffen und wühlte nach Pergament und Tinte. Es war dumm, Pergament so vergeuden zu müssen, doch ihm fiel keine andere Möglichkeit ein. Die Tinte war nicht dort, wo er gedacht hatte, und als er sie endlich gefunden hatte, wurden Häuser entlang des Flusses verdächtig häufig. Verzweifelt, auf Knien, kritzelte er die Nachricht hin. In der Nähe des Dorfes Whitraff gibt es ein Ungeheuer, einen Nicwer. Er lebt im Wasser. Er ist sehr gefährlich. Er reichte Ehan den Zettel. Der kleine Mann blinzelte, nickte und bedeutete Stephen, sein Ruder zu übernehmen. Dann ging er nach hinten zum Steuerruder, um mit Henne zu reden. Oder vielmehr zu gestikulieren. Als er Henne Stephens Botschaft zeigte, zuckte dieser lediglich die Achseln. Ehan zeigte auf das Ufer. Im nächsten Moment sah Stephen die Gebäude von Whitraff in Sicht kommen. Aspar, Winna, Ehawk, Leshya und er waren vor weniger als zwei Monaten hier gewesen und den Aufmerksamkeiten des Nicwer nur knapp entronnen. Henne steuerte sie zu einem der verfallenen Stege hinüber, wo Ehan zu versuchen begann, ihm durch Zeichensprache klar zu machen, was los war. Stephen suchte das Wasser nach irgendwelchen Hinweisen auf die Bestie ab, konnte jedoch nichts entdecken. Es war schwer, ohne Worte zu streiten, doch Henne zeigte auf den Fluss und hielt die Hände dann eine Spanne weit auseinander. Dann zeigte er in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und 3°7 breitete die Arme aus, so weit er konnte. Nach einigem weiteren Mummenschanz verstand Stephen, dass Henne im Wesentlichen der Meinung war, was auch immer bei Whitraff im Wasser lauerte, könne unmöglich so schlimm sein wie der Woorm und ihre beste Chance, diesen hinter sich zu lassen, sei der Fluss. Also waren sie trotz Stephens Warnung kurz darauf abermals auf dem Wasser unterwegs. Doch sie passierten Whitraff ohne Zwischenfälle. Wieder einmal fragte sich Stephen, wo Aspar und Winna waren. Hatten sie nach ihm gesucht? Winna würde das tun wollen. Aspar vielleicht auch, obwohl, wenn er allmählich Stephens Gefühle für Winna zu erahnen begann, dann vielleicht nicht. Auf jeden Fall würden beide tun müssen, was immer Anne Dare befahl, und diese brauchte jedes Messer, jedes Schwert und jeden Bogen, wenn sie vorhatte, den Thron zurückzuerobern. Vielleicht war Winna ihm allein gefolgt - schließlich hatte sie sich auch allein auf die Suche nach Aspar gemacht. Allerdings liebte sie Aspar auch oder glaubte zumindest, es zu tun. Stephen erschien das ein wenig lächerlich. Aspar war zwanzig Jahre älter als Winna. Sie würde die mittleren Jahre ihres Lebens damit zubringen, ihm den Sabber vom Gesicht zu wischen. Würde er ihr Kinder schenken? Auch das konnte Stephen sich nicht vorstellen. Der Waldhüter war in vielerlei Dingen bewundernswert, aber nicht in denen, die einen guten Ehemann ausmachten. Andererseits war Stephen nicht viel besser, oder? Würde er Winna wirklich lieben, so würde er gerade jetzt nach ihr suchen, würde an ihrer Seite sein wollen. Und das wollte er auch, wirklich. Doch dies hier wollte er noch mehr: die Geheimnisse von Sprache und Zeit enträtseln. Deswegen tat er das hier. Nicht weil der Fratrex ihn darum gebeten hatte, nicht weil er den Woorm fürchtete, nicht einmal, weil er glaubte, verhindern zu können, was auch immer an neuem Grauen auf die Welt losgelassen werden sollte - sondern weil er wissen musste. 308
Sie bekamen den Nicwer nicht zu Gesicht. Vielleicht war er seinen Wunden erlegen, vielleicht war er Menschen gegenüber ganz einfach misstrauisch geworden. Vielleicht konnte er spüren, dass seine Beute sein tödliches Lied nicht hören konnte. Am nächsten Tag jedoch, als tote Fische an die Wasseroberfläche zu steigen begannen, dachte Stephen, dass der Nicwer vielleicht wusste, wann er einem Stärkeren weichen musste. 23. Kapitel Kriegsrat Anne hatte die große Halle von Glenchest schon oft gesehen. Manchmal leer, wenn sie und ihre Schwestern sich hineingeschlichen hatten, um sich an den Echos zu erfreuen, die in den dunklen, höhlenartigen Nischen ihres hochgewölbten Daches hallten. Bei anderen Gelegenheiten hatte sie die Halle voller Licht erlebt, glitzernd vor Zierrat, voller Lords in elegantem Hofstaat und Ladys in prachtvollen Kleidern. Sie hatte sie noch nie voller Krieger gesehen. Elyoner hatte befohlen, einen riesigen, langen Tisch hereinzuschaffen und eine Art kleinen Thron an seinem Kopfende aufzustellen. Dort saß Anne jetzt und fühlte sich unbehaglich, starrte die Gesichter ringsherum an und bemühte sich, selbst denen, die ihr vertraut schienen, Namen zuzuordnen. Sie wünschte, sie hätte am Hof ihres Vaters besser aufgepasst, doch daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Diese Männer - und es waren alles Männer, alle zweiunddreißig - schauten sie ihrerseits an; manche starrten offen, andere 309 wandten den Blick ab, wenn sie dachten, sie sähe zu ihnen herüber. Doch sie wusste, dass sie alle sie musterten, sie begutachteten, versuchten, aus ihr schlau zu werden. Sie überlegte gerade, was sie sagen sollte, als Artwair aufstand und sich verbeugte. »Darf ich, Euer Majestät?«, fragte er und deutete mit einer Geste auf die Versammlung. »Bitte«, sagte sie. Er nickte, dann hob er die Stimme. »Seid willkommen, Ihr alle«, begann er, und das Stimmengemurmel wurde leiser. »Ihr alle kennt mich. Ich bin ein einfacher Mann, lange Reden liegen mir nicht, schon gar nicht in Zeiten wie diesen. Dies ist eine Zeit für Speere, nicht für Worte, aber ich schätze, ein paar Worte müssen gesprochen werden, um die Speere zusammenzurufen. So wie ich es sehe, läuft es auf Folgendes hinaus. Es ist kein Jahr her, dass unser Lehnsherr, König und Herrscher ermordet wurde, und ebenso zwei seiner Töchter. Ob dies das Werk des Schwarzen Rob ert war, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass Crothenien einen König hatte, einen vollkommen rechtmäßigen Herrscher, und dass jetzt ein Thronräuber die Krone trägt. Vielleicht würde ich das noch hinnehmen, aber er hat Hansa auf Besuch eingeladen und ihnen unsere frühere Königin Muriele angeboten. Ihr alle wisst, was das heißt.« »Vielleicht wissen wir's, vielleicht auch nicht«, rief einer der Männer zurück. Er war von mittlerer Statur, mit einem Haaransatz, der fast bis zum Schädeldach zurückgewichen war, und verblüffend blauen Augen. »Vielleicht ist Frieden mit Hansa alles, was das heißt.« »Und vielleicht hocken die Krähen nur auf den Toten, um sie zu segnen und ihnen Respekt zu zollen, auy, Lord Kenwulf? Ich weiß genau, dass Ihr nicht so töricht seid, Mylord.« Kenwulf zuckte widerwillig mit den Schulten. »Wer weiß, was Robert geplant hat? Der Praifec unterstützt ihn. Es könnte sein, 310 dass wir zu wenig über seine Pläne wissen. Vielleicht erscheinen sie nur aus der Ferne unheilvoll. Und Ihr müsst zugeben - ohne Erzgrefftin Anne zu nahe treten zu wollen -, dass wir uns einen besseren Herrscher wünschen könnten als Charles.« »Ich denke, wir alle verstehen, was Ihr über Charles sagen wollt«, erwiderte Artwair. »Die Heiligen haben geruht, ihn zu berühren, und gewiss würde selbst seine Mutter zugeben, dass der Thron nicht das Richtige für ihn ist. Aber es gibt noch eine weitere rechtmäßige Thronerbin, und sie sitzt hier.« Ein untersetzter Mann mit grellrotem Haar und schwarzen Augen stemmte sich auf die Beine. »Darf ich dazu etwas sagen, Mylord?« »Unbedingt, Lord Bishop«, antwortete Artwair. »König William hat es geschafft, den Comven dazu zu überreden, das Gesetz zu billigen, das es einer Frau erlauben würde, den Thron zu besteigen. Aber das ist etwas, das noch niemals wirklich geschehen ist. Es wurde nie erprobt. Dass etwas Derartiges überhaupt jemals in Erwägung gezogen wurde, lag allein an Jung Charles' Zustand. Der älteren Regel nach würde die Krone, wenn der König nicht in der Lage ist zu regieren, auf seinen Sohn übergehen - den Charles natürlich nicht hat. Da das also nicht möglich ist, geht die Krone rechtmäßig an Robert als den einzigen verbliebenen männlichen Erben.« »Ja, ja«, unterbrach ein Mann mit fahlem Gesicht gereizt. Anne hatte ihn als den Grefft von Dealward in Erinnerung. »Aber Lord Bishop, Ihr verschweigt die Tatsache, dass wir nicht nur in Bezug auf Charles unsere Zweifel hatten, sondern auch in Bezug auf Robert. Deswegen haben wir ja so abgestimmt, wie wir es getan haben.«
»Ja«, räumte Bishop ein. »Aber manche würden behaupten, dass ein Unhold auf dem Thron besser wäre als eine unerprobte Maid, besonders in Zeiten wie diesen.« »Wenn Unholde frei umherstreifen, meint Ihr?«, fragte Artwair 3" trocken. »Ihr hättet das Böse gern innerhalb und außerhalb der Mauern?« Bishop zuckte die Achseln. »Die Gerüchte über Robert werden finsterer. Ich habe sogar vernommen, dass er nicht blutet wie andere Männer. Aber uns sind auch Dinge über Anne zu Ohren gekommen. Der Praifec selbst hat sie als Hexe verdammt, das Ergebnis einer Lehre in einem Konvent, der sich ganz und gar dem Bösen zugewandt hat ... Und was wir über ihr Handeln in Dunmrogh hören, ist... bestürzend«, fügte er hinzu. Daraufhin empfand Anne ein seltsames Verschieben, als betrachte sie das Geschehen aus weiter, weiter Ferne. Konnten die Männer tatsächlich über sie reden? Konnte das alles wirklich so verdreht worden sein? Oder war es überhaupt verdreht worden? Sie war nur in einem einzigen Konvent gewesen - dem Konvent der heiligen Cer. Es stimmte, dass sie in Dingen wie Gift und Mord unterwiesen worden war. War das nicht böse? Und was sie tun konnte - getan hatte -, würde man das nicht als Hexerei bezeichnen? Was wäre, wenn der Praifec Recht hatte und ... Nein. »Wenn Ihr mich eines Vergehens bezichtigen wollt oder dergleichen, Lord Bishop, bitte habt den Anstand, mich direkt anzusprechen«, hörte sie sich sagen. Jäh hatte sie das Gefühl, wieder in ihren Körper zurückgekehrt zu sein, und sie beugte sich auf dem behelfsmäßigen Thron vor. »War Virgenya Dare eine Hexe, weil sie sich der Macht der Heiligen bedient hat?«, fuhr sie fort. »Der Mann, der mich anklagt, Praifec Hespero - ich habe Beweise, genauer gesagt, einen Brief, der beweist, dass er mit den Kirchenmännern im Bunde war, die an heidnischen Gräueltaten teilgenommen und dabei grausame Morde verübt haben. Wenn Ihr etwas über Dunmrogh vernommen habt, dann wisst Ihr, dass nicht ich es war, die Männer, Frauen und Kinder an Holzpfosten genagelt und ihnen die Eingeweide herausgerissen hat. 312 Nicht ich war es, die über unschuldigem Blut Beschwörungsformeln gesungen hat, um irgendeinen grauenvollen Dämon zu wecken. Aber meine Gefährten und ich haben ihnen Einhalt geboten, ihnen und ihrem grässlichen Ritual. Vielleicht, Lord Bishop -und ihr alle -, nun, vielleicht bin ich also wirklich eine Hexe. Vielleicht bin ich verderbt. Aber wenn das der Fall ist, dann gibt es hier überhaupt nichts Gutes, denn der Praifec und die Kirchenmänner, die ihm zu Diensten waren, dienen ganz sicher nicht den erhabenen Heiligen. Und mein Oheim Robert auch nicht. Er wird unser Land den finstersten Mächten ausliefern, die Ihr Euch vorstellen könnt, und Ihr alle wisst es. Deshalb seid Ihr hier.« Sie lehnte sich zurück, und in der kurzen Stille, die folgte, fühlte Anne die unverhoffte Aufwallung von Selbstbewusstsein wanken. Doch ein weiterer der Männer, die sie kannte - Sighbrand Haergild, Marhgrefft von Dhaerath -, gluckste vernehmlich. »Die Lady hat eine scharfe Zunge«, wandte er sich an die Versammelten. Er erhob sich, ein hagerer alter Mann, der sie irgendwie an die Bäume auf den Küstenklippen erinnerte, eine von Wind und Gischt geformte Eiche, mit Holz so hart wie Eisen. »Ich gebe zu, ich bin der Erste, der sich fragt, ob eine Frau herrschen sollte«, sagte er. »Ich habe mich gegen Williams Anliegen gestellt, und gegen die Entscheidung des Comven. Und doch sind wir hier, und es ist geschehen. Ich verstehe nicht alles von diesem Gerede über Hexerei und Heilige. Der einzige Heilige, dem ich je getraut habe, ist der, der in meinem Schwert wohnt. Aber ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht, Hansa über den Taufluss hinweg anzustarren. Ich habe die volle Wucht der Ränke des Marschlandes zu spüren bekommen, und ich will Williams Gemahlin nicht mit einem Hanser vermählt wissen, will keinen von denen in Eslen auch nur auf einem Nachttopf sitzen sehen. Robert ist mit Sicherheit verrückt geworden, wenn er irgendeinen Handel mit den Reiksbaurgs abschließt, und das ist Beweis genug für mich, dass William Recht hatte - dass die einzige Hoffnung für Crothenien in diesem Mädchen liegt. 313 Ich halte es nicht für einen Zufall, dass ihre Schwestern am selben Tag umgebracht wurden wie William, ihr etwa?« Er starrte in die Runde, und niemand antwortete auf seine Herausforderung. »Nein, der Schwarze Robert räumt sich den Weg zum Thron frei.« »Das wissen wir nicht«, erwiderte Kenwulf. »Es könnte genauso gut sein, dass sie das alles angezettelt hat.« Er deutete auf Anne. Die Worte durchfuhren sie wie ein Blitzschlag. »Was ... habt... Ihr gesagt?«, würgte sie mühsam hervor. »Ich will nicht - ich sage nur, Lady, nach allem, was wir wissen ... Ich beschuldige Euch nicht...« Anne erhob sich, war sich des plötzlichen Pochens in ihren Armen und Beinen überdeutlich bewusst. »Hier sehe ich Euch in die Augen, Lord Kenwulf, und ich sage Euch, dass ich nichts mit dem Tod meiner Angehörigen zu tun habe. Schon allein der Gedanke ist widerwärtig. Ich bin von denselben Meuchelmördern durch die halbe Welt gejagt worden. Aber seht Ihr mir in die Augen. Und dann tut das Gleiche mit meinem Oheim, und dann schaut, wer Eurem Blick standhält und nicht blinzelt.«
Sie fühlte eine Art Rauschen in ihren Ohren und vernahm irgendwo hinter sich grelles, dämonisches Gelächter. Nein, dachte sie. Würden selbst so viele Männer ausreichen, um sie zu beschützen? Wahrscheinlich nicht... Plötzlich wurde ihr klar, dass sie wieder saß und dass Austra ihr Wasser anbot. Außerdem hatte sie das Gefühl, etwas nicht mitbekommen zu haben. Alle starrten sie mit besorgter Miene an. »... Verletzungen, die ihr sowohl in Dunmrogh als auch bei einem versuchten Attentat vor drei Nächten hier in Glenchest zugefügt worden sind«, sagte Artwair gerade. »Sie ist noch schwach, und schändliche Verleumdungen wie die, die Lord Kenwulf ersinnt, tun ihr nicht gut, das versichere ich Euch.« »Ich hatte niemals die Absicht ...« Kenwulf seufzte. »Ich entschuldige mich, Euer Hoheit.« »Angenommen«, sagte Anne frostig. 3M »Nachdem das jetzt erledigt ist«, erklärte Artwair, »lasst uns wieder zur Sache kommen, einverstanden? Mylords, Marhgrefft Sighbrand sagt die Wahrheit, nicht wahr? Die meisten von Euch sind hier, weil sie bereits sicher sind, was wir tun müssen. Mir sind Streitereien dieser Art sehr gut bekannt, und ich weiß, dass sie unnütz sind. Ich weiß auch, dass wir keine Zeit dafür haben. Hier ist mein Vorschlag, Mylords. Jeder von Euch sagt - in klarer Sprache des Königs -, welche Vorteile Ihr Euch von Ihrer Majestät wünscht, wenn sie erst einmal auf den Thron gehoben wurde. Ich denke, Ihr werdet sie in der Behandlung ihrer Verbündeten gerecht und großzügig finden. Wir werden mit Euch anfangen, Lord Bishop, wenn es Euch beliebt.« Der Rest des Tages war eine Schwarze Mary für Anne. Die meisten Forderungen verstand sie kaum - nun, sie verstand sie, aber nicht, warum sie wichtig waren. Der Grefft von Roghvael zum Beispiel bat darum, die Steuer zu senken, die auf den Roggenhandel erhoben wurde, eine Bitte, von der Artwair ihr riet, sie ihm abzuschlagen und ihm stattdessen einen Sitz im Comven zuzugestehen. Lord Bishop wünschte sich eine Stellung und einen Titel im königlichen Haushalt - eine Erbstellung. Dies gewährte sie ihm -abermals auf Artwairs Rat hin. Und so ging es weiter. Der kurze Augenblick, in dem sie sich ein wenig wie eine Königin gefühlt hatte, war dahin, und sie war wieder das kleine Mädchen, das seine Lektionen nicht gelernt hatte. Nach allem, was sie wusste, machte sie Artwair zum König - und angesichts dessen, was ihre Tante über das Vertrauen zu Verwandten gesagt hatte, waren das keine müßigen Bedenken. Doch sie wusste auch, dass sie allein niemals etwas so Kompliziertes wie einen Krieg planen könnte. Die Verhandlungen endeten nur, weil Artwair eine Unterbrechung bis zum nächsten Morgen verkündete. Ihre Tante hatte Zerstreuungen für die Gäste vorbereitet, doch Anne ging dem aus dem Weg. Sie schickte Austra in die Küche, um etwas Suppe und Wein zu holen, und zog sich in ihre Gemächer zurück. 3*5 Neil MeqVren ging mit ihr. »Habt Ihr irgendetwas von alldem verstanden?«, wollte sie wissen, nachdem sie sich gesetzt hatten. »Nicht sehr viel, fürchte ich«, gestand er. »Wo ich herkomme, war Krieg viel einfacher.« »Wie meint Ihr das?« »Meine Familie hat Herzog Fail gedient. Wenn er uns befohlen hat, irgendwo hinzugehen und zu kämpfen, haben wir es getan, weil es das war, was wir eben taten. Viel mehr war nicht dabei, den Heiligen sei Dank.« »Ich habe mir wohl vorgestellt, dass ich eine Art Rede über Recht und Unrecht halten würde, und über die Ehre, für den Thron zu kämpfen, und die Männer würden sich einfach einreihen«, seufzte sie. Neil lächelte. »Für eine Schlacht könnte das reichen. Für einen Krieg nicht, denke ich. Andererseits kenne ich mich hauptsächlich mit Schlachten aus. Und ich fand, Ihr habt es recht gut gemacht, wisst Ihr.« »Aber nicht gut genug.« »Nein, zumindest jetzt noch nicht. Es ist eine Sache, Männer zu bitten, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, aber etwas ganz anderes, sie aufzufordern, ihre Familien zu riskieren, ihre Ländereien, ihr Streben, ihre Träume ...« »Die meisten sind einfach nur habgierig, glaube ich.« »Das auch«, räumte Neil ein. »Aber Tatsache ist, es ist sehr gut möglich, dass wir diesen Krieg verlieren werden, und sie alle wissen das. Ich wünschte, Gefolgschaftstreue Eurer Majestät gegenüber könnte genügen, damit sie dieses Risiko eingehen, aber -« »Aber es genügt nicht. Ich bin eigentlich nur ein Symbol für sie, nicht wahr?« »Vielleicht«, erwiderte Neil. »Für einige von ihnen. Vielleicht sogar für die meisten. Aber wenn Ihr gewinnt, werdet Ihr sowohl tatsächlich Königin sein als auch dem Namen nach. In diesem Fall könnt Ihr sogar Artwair oder wer immer Euch berät - alle wich316 tigen Entscheidungen treffen lassen. Aber ich glaube nicht, dass es so sein wird. Ich denke, Ihr werdet Euch nur so lange auf jemanden stützen, bis Ihr stehen könnt.« Anne starrte auf ihren Schoß hinab. »Ich habe das alles niemals gewollt, wisst Ihr«, sagte sie leise. »Ich wollte nur in Ruhe gelassen werden.« »Das steht Euch nicht wirklich frei«, erwiderte Neil. »Jetzt nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr je die Wahl hattet.« »Das weiß ich«, sagte Anne. »Mutter hat versucht, es mir zu erklären. Damals habe ich es nicht verstanden. Vielleicht jetzt auch nicht - aber ich fange allmählich an, es zu verstehen.« »Das stimmt«, sagte Neil. »Und das tut mir Leid.«
24. Kapitel Ein Hinterhalt Nachdem sie die Halafolk-Rewn betreten hatten, verlor Winna binnen eines Glockenschlags den Verstand. Aspar war bereits aufgefallen, dass sie immer hastiger atmete, aber plötzlich begann sie zu würgen, versuchte zu sprechen, bekam jedoch kein Wort heraus. Sie setzte sich schwer auf einen Steinvorsprung und ruhte sich dort aus, rieb ihre Schultern und versuchte, zu Atem zu kommen. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen. Die Höhle war zu einem Schlachthaus geworden, zu einem Ort des Todes, der alles in den Schatten stellte, was Aspar jemals gesehen hatte. Die Toten lagen zu beiden Seiten eines Flusses aus Blut aufgetürmt, und es war leicht, sich vorzustellen, was geschehen war - wie der Woorm dahingekrochen war und sich die Slinderlinge von beiden Seiten auf 3i7 ihn geworfen und mit bloßen Händen und Zähnen an seinem Panzer gerissen hatten. Diejenigen, die nicht von ihm zermalmt worden waren, waren seinem Gift zum Opfer gefallen. Natürlich waren sie noch nicht alle tot - ein paar regten sich noch. Den Ersten hatten er und Winna noch zu helfen versucht, doch sie waren so eindeutig jenseits aller Hoffnung, dass sie es schließlich aufgaben. Die meisten schienen sie nicht einmal zu sehen, und Blut rann ihnen in Strömen aus Mund und Nasenlöchern. Daran, wie sie atmeten, konnte er erkennen, dass irgendetwas in ihrem Innern nicht stimmte, in ihren Lungen. Gewiss war es zu spät, als dass die Sefry-Arznei noch etwas hätte bewirken können. Und außerdem brauchten er und Winna das, was davon noch übrig war. Sollten sie auf Stephen oder Ehawk stoßen ... »Stephen!«, brüllte Aspar in die hallende Leere. »Ehawk!« Die beiden konnten überall sein. Es könnte Monate dauern, sie zu finden, wenn sie unter den Toten waren. Aspar legte die Hand auf Winnas Schulter. Sie zitterte und murmelte vor sich hin. »Wir sind ... wir sind nicht ...« Wieder und wieder. »Komm«, sagte er. »Komm schon, Winna, machen wir, dass wir hier rauskommen.« Sie blickte zu ihm auf - in ihren Augen lag mehr Verzweiflung, als er jemals für möglich gehalten hätte. »Wir können nicht hinaus«, sagte sie leise. Dann schien irgendetwas in ihr zu bersten. »Wir können nicht hinaus!«, kreischte sie. »Verstehst du denn nicht? Wir können nicht hinaus! Wir waren hier! Wir waren schon hier, und es wird immer nur schlimmer und schlimmer, alles, wir sind ... wir sind nicht...« Ihre Worte erstarben zu einem unverständlichen Jammerlaut. Er hielt ihre Schultern; alles, was er tun konnte, war zu warten, bis es vorbeiging, das war ihm klar. Falls es vorbeiging. Mit einem Seufzer setzte er sich neben sie. 3r8 »Ich war schon einmal in dieser Rewn.« Er wusste nicht genau, ob sie zuhörte. »Es ist nicht mehr weit bis zur Stadt. Wir könnten ... dort müsste es sauberer sein. Du könntest dich ausruhen.« Sie antwortete nicht. Ihre Zähne waren fest zusammengebissen, die Augen zugekniffen, und ihr Atem jagte noch immer mit ihrem Herzschlag um die Wette. »Das reicht«, verkündete Aspar. Er hob sie hoch. Sie leistete keinen Widerstand, sondern barg den Kopf in der Armbeuge und weinte. Er zögerte kurz, hin- und hergerissen zwischen Zurückgehen und Vordringen, doch dann erkannte er, wie absolut töricht es wäre, Fend und einem Woorm zu folgen und dabei Winna die ganze Zeit zu tragen. Gewiss, er könnte sie in der Sefry-Stadt verstecken, doch es war möglich, dass Fend und sein Schoßtier genau dort Halt gemacht hatten. Bei seinem Glück würde Fend sich von hinten anschleichen, sobald er loszog, um nach ihnen zu suchen, und sich abermals mit Winna davonmachen. Also schickte er sich an, den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren. Der Woorm war in die Rewn gekrochen - er musste wieder herauskommen. Aspar waren nur drei Zugänge zu der Rewn bekannt, dieser hier, ein zweiter viele Meilen im Norden und ein dritter, gleich hinter dem nächsten Hügelkamm. Und plötzlich hatte er einen Plan, der sinnvoll erschien. Die Pferde waren noch draußen - und am Leben -, als er aus der Höhle kam. Er hob Winna auf ihre Stute, vergewisserte sich, dass sie genug Geistesgegenwart besaß, um oben zu bleiben, und stieg dann auf Unholds Rücken. Sie begannen, im Zickzack den Hügel hinaufzureiten. Nach einiger Zeit fühlte er, wie sein Atem leichter ging, und begann zu schwitzen, obgleich es bitterkalt war. Unholds Schritte wurden kräftiger, und zuerst dachte Aspar, es läge nur daran, dass sie sich von dem Pfad des Woorms abgewandt hatten. 3J9 Dann wurde ihm klar, dass es mehr war als das - er war wieder von Leben umgeben. Eichhörnchen huschten über ihnen durch die Aste, und ein Schwärm Pfeifgänse sang hoch am Himmel. Er sah ihnen nach und lächelte unwillkürlich, verspürte jedoch ein leises Frösteln, als sie jäh den Kurs änderten. »Na also«, sagte er und trieb Unhold in die Richtung den Hang hinauf, die die Vögel gemieden hatten. »Er ist dort, genau wie ich dachte.« Zwei Glockenschläge später, ungefähr einen Glockenschlag vor Sonnenuntergang, erreichten sie den
Hügelkamm. Winna hatte sich beruhigt, und Aspar hob sie vom Pferd und machte es ihr zwischen den Wurzeln eines großen Baums bequem. Widerstrebend ließ er die Pferde gesattelt, denn es war durchaus möglich, dass sie Hals über Kopf losreiten müssten. War ein Pferd schneller als ein Woorm? Vielleicht für kurze Zeit. »Winna?« Er kniete nieder und stopfte noch eine Decke um sie herum fest. »Es tut mir Leid«, flüsterte sie. Die Worte waren leise, und es klang nicht gut, doch es hob die ärgste Furcht von seinem Herzen - dass ihr Lebensgeist sie verlassen hatte. Er hatte so etwas schon erlebt; einmal hatte er einen Knaben gerettet, dessen Familie vom Schwarzen Warg niedergemetzelt worden war. Er hatte den Jungen in der Obhut einer Witwe in Walker's Bailey zurückgelassen. Sie hatte versucht, sich seiner anzunehmen, doch er hatte kein Wort gesprochen, zwei Jahre lang nicht, und dann hatte er sich im Mühlbach ertränkt. »Das sind finstere, grauenvolle Wesen«, sagte er. »Ich würde mir noch größere Sorgen machen, wenn sie dich nicht aus der Fassung brächten.« »Ich war mehr als aus der Fassung gebracht«, erwiderte sie. »Ich war ... unnütz.« »Still. Hör zu - ich klettere dort hinauf, um besser sehen zu können. Du bleibst hier - beobachte Unhold. Wenn irgendetwas kommt, merkt er das früher als du. Kannst du das?« 320 »Ja«, sagte Winna. »Das kann ich.« Er küsste sie, und sie erwiderte den Kuss mit einer Art verzweifeltem Hunger. Er wusste, dass er irgendetwas sagen sollte, doch nichts schien zu passen. »Ich gehe nicht weit«, waren die Worte, für die er sich schließlich entschied. Er hatte sie auf einen Teil des Kamms geführt, der zu felsig war, als dass dort viele Bäume wachsen konnten. Als Wachturm suchte er sich eine Honigkarube aus, die am Rande eines Felsvorsprungs wuchs. Von dort aus konnte er auf diesen neuen Eingang zu der Rewn hinabblicken. Obwohl er die Öffnung selbst nicht sehen konnte, war er nahe genug, dass er das gewaltige Ungetüm bemerken würde, wenn es auftauchen sollte. Wenn er in die andere Richtung schaute, hatte er sogar eine noch bessere Aussicht. Die Ef wand sich durch ein liebliches Tal voller Felder und Obstgärten. Auf einer Anhöhe, ungefähr eine Meile weit entfernt, konnte er den Glockenturm des Klosters ausmachen, zu dem Stephen unterwegs gewesen war, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Als Aspar das letzte Mal dorthin gekommen war, war er verwundet und halb von Sinnen gewesen, und wäre Stephen nicht gewesen, wäre er gestorben. Im Augenblick sah das Tal im Zwielicht friedlich aus, in einen leichten Nebel gehüllt, der zwischen den ordentlichen Reihen der Apfelbäume dahintrieb. Wo war Stephen jetzt? Wahrscheinlich tot, da er bei den Slinderlingen gewesen war. Ehwak war wahrscheinlich auch tot. Er sollte etwas fühlen, hatte etwas gefühlt, als er die Jungen vom Baum hatte stürzen sehen. Doch sein Herz hatte sich in seinem Innern zusammengezogen, und die einzige Empfindung, die er wiedererkannte, war Zorn. Das war wohl gut so, dachte er. Nacht sickerte durch die Wolken, und als die Welt, die seine Augen kannten, verging, wurde die tiefer liegende Domäne von Lau321 ten und Gerüchen stärker. Die Geräusche des Winters waren spärlich: das unheimliche Kreischen einer Schreieule, der Wind, der an knochigen Ästen hängen blieb, das Scharren kleiner Krallen an Rinde. Der Geruchssinn war die greifbarere Wahrnehmung: in kalten Tümpeln aufweichende Blätter, der Geruch von durch die Kälte verlangsamter Fäulnis, der schmierige Dunst von Kuhdung von den Weiden tief unten ... und Rauch - altes Apfelbaumholz, das unten im Tal brannte, wurmstichige Wiatec-Scheite, wenn der Wind drehte und von den Midenlanden her blies, und etwa Näheres - Eiche, ja, doch er konnte auch den Minzeduft von Sassafras ausmachen, und Sumach, Heidelbeere ... Gestrüpppflanzen aus dem Unterholz. Und Kienspäne. Er strengte seine Ohren an und vernahm das leise Knistern und Knacken eines Feuers. Es war weiter unten am Hang, nicht allzu weit weg. Behutsam glitt er vom Baum, wagte kaum zu atmen. Wenn dort unten ein Mönch war, der wie Stephen den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten hatte ... Dann hätten sie ihn wahrscheinlich schon gehört. Die Ordensbrüder des Mamres - zu denen die meisten seiner kirchlichen Widersacher gehörten - kämpften wie tollwütige Löwen, doch ihre Sinne waren nicht schärfer als die seinen. Es waren jene, die sowohl auf den Schreinpfaden des Decmanus als auch des Mamres gewandelt waren, die die größte Gefahr darstellten. Er fand Winna schlafend vor und war abermals einen Moment lang unentschlossen, doch die Angst, sie unbewacht zurückzulassen, wurde von der Notwendigkeit aufgewogen, zu wissen, wer dort unten am Hang war. Außerdem war immer noch Unhold da -er würde zumindest Lärm schlagen, wenn jemand kam. Also begann er, langsam hügelabwärts zu pirschen, hangelte sich an Gestrüpp und kleinen Bäumen hinab, die sich an Felsen und in steinige Erde krallten. Er hatte es nicht eilig; er ging davon 322 aus, dass er die ganze Nacht Zeit haben würde - was gut war, da er sich nach Gefühl und Instinkt vorantasten musste. Seiner Schätzung nach war es einen oder zwei Glockenschläge nach Mitternacht, als er endlich einen Hauch
orangefarbenen Scheins an einem Baumstamm unter ihm erblickte. Das Feuer selbst konnte er nicht sehen, und er war zu weit östlich heruntergekommen; eine senkrecht abfallende Felswand verhinderte, dass er dort in Stellung gehen konnte, wo er wollte. Also klomm er den Hügel wieder hinauf und arbeitete sich nach Westen vor. Der Lichtschimmer verschwand, doch er wusste jetzt, wo er hinwollte, und kurz vor Sonnenaufgang fand er es. Inzwischen bestand das Feuer zum größten Teil aus glühenden Kohlen, mit nur einigen wenigen Flammenzungen. Aspar konnte eine liegende und eine sitzende Gestalt erkennen, jedoch nicht viel mehr. Das Lager befand sich etwa zwölf Königsellen unterhalb von ihm, unter einem langen, flachen Felsenüberhang. Würde er einen guten Schuss auf sie abgeben können? Der Winkel war ungünstig. Die Wolken waren verschwunden, doch es war kein Mond zu sehen, nur die fernen, wenig hilfreichen Lampen der Sterne. Vielleicht konnte Aspar eine bessere Position finden, wenn die Sonne ihr Auge aufschlug. Also ließ er sich nieder, wartete und hoffte, dass Winna nicht aufwachte und in Panik geriet. Er glaubte nicht, dass sie das tun würde, doch nach dem heutigen Tag ... Die Erde unter ihm grollte. Er hörte einen Stein zerspringen und dann das jähe Rauschen von Felsen, die einen Hang hinabrutschten. Es war nicht nahe, doch es war auch nicht weit weg. Bald vernahm er das Fauchen und Brüllen der Atemzüge und roch den schwachen, Übelkeit erregenden Brodem. Wie er es sich gedacht hatte, war der Woorm durch die Rewn gekrochen und kam jetzt an der d'Ef zugewandten Seite des Hügels heraus. Was bedeutete, dass er sich etwa eine Viertelmeile zu Aspars Linker befand. 323 Er konnte das Ungeheuer immer noch nicht sehen, doch er konnte ohne weiteres hören, wie es den Hang hinunterwalzte, auf die Talsohle zu. »Da ist das Biest ja«, sagte eine unbekannte Männerstimme. Sie hatte einen seltsamen, nördlich klingenden Akzent. »Ich habe es dir doch gesagt«, erwiderte ein zweiter Mann. Diese Stimme war ganz und gar nicht unbekannt. Es war Fend, womit Aspar beinahe gerechnet hatte. Schließlich war es ja schön und gut, auf einem Woorm zu reiten, wenn dieser sich über offenes Gelände bewegte, aber wenn das Reittier sich durch die Erde wühlte, wollte man wohl lieber nicht darauf sitzen. Und es wäre auch nicht sehr sicher gewesen, durch ein Meer feindlich gesinnter Slinderlinge zu reiten. Nein, dafür war Fend zu schlau. Der Woorm entfernte sich jetzt von ihm. Fend war gleich dort unten. Immer eins nach dem anderen. Aspar tastete nach einer Felskante, einem Ast, irgendetwas, das ihm den nötigen Blickwinkel für einen sauberen Schuss gestatten könnte. Zu seiner Freude fand er einen Felsvorsprung, von dem er nicht gewusst hatte, dass er dort war. Vorsichtig - sehr vorsichtig -ließ er sich bäuchlings darauf sinken, dann legte er einen Pfeil an die Sehne. »Sollen wir ihm dort hinunter folgen?«, fragte die unbekannte Stimme. Fend lachte kurz auf. »Die Revesturi werden nicht alle fliehen. Ein paar werden kämpfen.« »Gegen den Waurm?« »Vergiss nicht, wer sie sind. Die Revesturi kennen einige sehr alte Schreinpfade und ein paar sehr mächtige Sacaumi. Es stimmt, wahrscheinlich kann keiner davon unserem kleinen Liebling den Garaus machen, aber stell dir mal vor, mit was für einem Sacaum sie es bei ihren Bemühungen versuchen könnten.« »Ah. Also ist es wieder einmal besser für uns, nicht im Weg zu sein.« »Genau. Wenn alles gut geht, tötet die Kreatur die Revesturi, und wenn der kleine Darige dort ist, wird sie ihn zu uns bringen. Aber wenn die Priester irgendeine Überraschung geplant haben...« Aspar erstarrte, als Stephens Name fiel. »Was ist, wenn Darige dabei getötet wird?« »Sie wollen seinen Tod genauso wenig wie wir«, erwiderte Fend. »Aber wenn das passiert, passiert es eben.« »Das wird ihm nicht gefallen.« »Nein, bestimmt nicht - das wäre ein schwerer Rückschlag. Aber nur ein Rückschlag.« Aspar lauschte aufmerksam, bemüht, jedes Wort zu erhaschen. Wieso war Fend hinter Stephen her? Wie konnte ein Ungeheuer wie der Woorm »ihn bringen«? In seinem Rachen? Wer in Grims Namen waren die Revesturi, und in wessen Diensten stand Fend} Eine der Gestalten stocherte in dem Feuer herum, und es flackerte plötzlich heller auf, spendete genug Licht, dass er Fends Gesicht erkennen konnte. Aspar spähte an dem Pfeil entlang, sein Atem ging langsam und beherrscht. Dies war ein Schuss, den er ins Ziel bringen konnte - daran hegte er keine Zweifel. Und Fend wäre endlich tot. Es bestand die Möglichkeit, dass durch Fends Tod einige Fragen unbeantwortet blieben, doch dieses Risiko musste er eingehen. Wer auch immer der Bursche bei ihm war, er schien zu wissen, wer ihr Herr und Meister war. Ein zweiter Pfeil würde ihn verwunden, ihn jedoch am Leben lassen, um Antworten zu geben. Dann würde Aspar das Gegengift an sich nehmen und sich selbst, Winna und die Pferde heilen. Wenn der Woorm zurückkehrte, hatte er für ihn den Pfeil der Kirche. Und vielleicht würde Stephen bei dem Ungetüm sein. Er zog die Sehne zurück.
Etwas blitzte am Rande seines Gesichtsfeldes auf, ein violettes Licht. Fend sah es ebenfalls und richtete sich auf. 325 Alles wurde weiß, als Aspar die Sehne losließ. Unwillkürlich schlössen sich seine Augen, und er hörte Fend vor Schmerz aufschreien. Er versuchte, die Augen zu öffnen, zu sehen ... ... als etwas den Berg traf wie eine Faust. Er bekam ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, und plötzlich begriff er, dass der Fels, auf dem er lag, unter ihm wegrutschte. Er fiel. Er griff um sich, versuchte etwas zu finden, woran er sich festhalten konnte, doch da war nichts, und er fiel für die Dauer eines ganzen Atemzugs, ehe er auf etwas aufschlug, das sich bog, brach und ihn weiterfallen ließ, bis er hart gegen einen Felsen prallte. Er öffnete die Augen, ohne zu wissen, wie lange sie geschlossen gewesen waren. Sein Mund schmeckte nach Staub, und seine Augen waren voller Dreck. Seine Ohren dröhnten, als hätte Donner gerade in einen drei Ellen entfernten Baum eingeschlagen. Er schaute auf seine Hand, die von blassgrauem Licht beleuchtet wurde. Irgendjemand schrie ganz in der Nähe - das hatte ihn aufgeweckt. Er hob den Kopf, doch alles, was er sah, war ein Gewirr aus geknickten Pflanzen. Ihm tat alles weh, doch er konnte nicht sagen, ob etwas gebrochen war. Das Schreien wurde zu harschem Keuchen. »Das war's«, hörte er die fremde Stimme sagen. »Es blutet schlimm.« »Halt die Augen nach ihm offen«, befahl Fends Stimme ge-presst. »Das war Aspar, ich weiß verdammt noch mal, dass er es war, und du wirst ihn niemals kommen hören, nicht nach alldem.« Aspar gestattete sich ein verkniffenes Grinsen. Bei dem Sturz hatte er seinen Bogen verloren, aber seinen Dolch und seine Axt hatte er noch. Mit einer Grimasse zog er sich hoch und kam auf die Beine. Das ließ einen solchen Schwindel in ihm aufwallen, dass er sich beinahe wieder hingesetzt hätte, doch er wartete, bis es verging, 326 atmete, so tief er konnte. Fend hatte Recht, er konnte ihre Stimmen hören - gerade eben noch -, doch das Klingen in seinen Ohren würde die leisen Geräusche eines sich anschleichenden Feindes übertönen. Also, wo genau waren sie? Er machte einen Schritt in die Richtung, die er für die richtige hielt, und glaubte einen Moment lang, einen Blick auf jemanden vor ihm zu erhaschen, doch das Licht war noch immer schwach. Er schickte sich gerade an, näher heranzugehen, als jemand ihn von hinten packte und ihm einen Unterarm ins Gesicht drückte. Er ächzte und versuchte, den Angreifer abzuwerfen, doch er war bereits aus dem Gleichgewicht, und jetzt stürzte er ziemlich schwer, das Gesicht in die Erde gepresst. Er wand sich und trat aus, war sich vage bewusst, dass der Boden bebte, und ein Gesicht tauchte in seinem Blickfeld auf. Es war ein bekanntes Gesicht, aber nicht Fends. Ehawk. Der Junge drückte einen Finger auf die Lippen und deutete. Vier Königsellen entfernt glitt eine gewaltige Mauer aus Schuppen durch die Bäume. Teil III Das Buch der Rückkehr Nichts ist jemals vernichtet, gleichwohl es oft verändert ist. Manche Dinge mögen für lange Zeit verloren sein, das ist wahr - doch die Wasser unter der Welt werden sie schließlich heimtragen. aus GHRAND ATEHZ, oder DAS BUCH DER RÜCKKEHR, Anonymus Jeder Schrein, den ich aufsuchte, rauhte mir etwas von meinen Sinnen - Gefühl, Gehör, Augenlicht, und schließlich mein Seihst. Am Ende jedoch kehrte alles wieder, und noch viel, viel mehr. aus dem CODEX TEREMINNAM, Anonymus 25. Kapitel Labyrinth Alis hatte vorgehabt, das Rückgrat des Mannes direkt an der Schädelbasis zu durchtrennen, doch ihre vor Müdigkeit tauben Füße rutschten auf den glitschigen Steinen aus, und die Spitze ihres Dolches bohrte sich stattdessen in sein Schlüsselbein. Er schrie auf und wirbelte herum. Sie besaß gerade noch genug Geistesgegenwart, um sich unter seinen fuchtelnden Armen wegzuducken, doch sein gestiefelter Fuß traf ihre Schienbeine, und sie schnappte nach Luft, als der Schmerz gezackte Linien durch ihr Blickfeld schießen ließ und sie rückwärts gegen die Wand stolperte. Er hatte seine Laterne nicht fallen lassen, und sie starrten einander in ihrem rötlichen Licht an. Der Mann war hoch gewachsen - über sechs Fuß groß - und ganz in Schwarz, einer der Nachtschreiter des Thronräubers. Sein Gesicht war erstaunlich weibisch für einen so großen Kerl, mit sanft zulaufendem Kinn und runden Wangen. »Miststück«, fauchte er und zog sein Messer. Hinter ihm kauerte ein Mädchen - sie war vielleicht elf - an der Mauer. Alis versuchte, den Schatten herbeizurufen; manchmal war das leicht, als schnalze sie im Kopf mit den Fingern, und manchmal war es sehr schwer, besonders wenn jemand sie bereits gesehen hatte. Er kam nicht sofort, und sie hatte keine Zeit, sich darum zu bemühen. Also stieß sie den Atem aus und ließ die
Schultern herabsinken, die Hand mit dem Messer fiel an ihrer Seite herab. Er entspannte sich ebenfalls einen Moment lang, und mit dem, 331 was von ihrer Kraft noch übrig war, schlug sie zu, sprang von der Mauer weg, ihre leere Linke auf sein Gesicht gerichtet. Sie spürte eine flüssige, zerteilende Empfindung, als sie das Messer in seine linke Seite rammte und es immer wieder vor- und zurückbewegte. Wieder schrie er, und eine Faust traf sie am Kopf, doch sie stieß weiter mit der Klinge zu, bis ihre Hand so glitschig vom Blut war, dass sie die Waffe nicht mehr festhalten konnte. Dann drückte sie sich weg, keuchte und spürte ein seltsames Reißen im Arm. Ihr wurde klar, dass ihr Arm schmerzte, dass auch sie verletzt worden war. Sie wich in den Schatten zurück. Trotz seiner Wunden ließ der Mann ebenfalls nicht von dem Kampf ab. Er tappte ihr nach, und sie rannte los, ertastete sich ihren Weg durch die Dunkelheit, bis sie den Eingang des Tunnels erreichte. Sie duckte sich dort hinein und hörte nur das Pfeifen ihres Atems, dann zerrte sie an ihrem Rock, versuchte, ein Stück abzureißen, um es um ihren Arm zu binden. Doch es gelang ihr nicht, den Stoff zu zerreißen, also presste sie lediglich die Hand auf die Wunde und wartete. Noch immer konnte sie den Feuerschein hinter der Ecke ausmachen; er war dort, wartete. Sie brauchte das Messer, um einen Streifen Stoff abzuschneiden. Und sie konnte auch nicht mehr viel länger warten, sonst würde sie so viel Blut verlieren, dass sie zu gar nichts mehr in der Lage wäre. Leise fluchend erhob sie sich unsicher und taumelte zurück zum Licht. Er lag mit dem Gesicht nach unten da, und irgendetwas an seiner Haltung sagte ihr, dass das kein Täuschungsversuch war. Die Lampe war zu Boden gefallen, jedoch nicht zerbrochen; sie lag heftig flackernd auf der Seite, schon fast ausgegangen. Sie richtete sie auf. Er hatte auch sein Messer fallen lassen, und das ihre ragte noch immer zwischen seinen Rippen hervor. Während sie sich alle Mühe gab, nicht ohnmächtig zu werden, ergriff Alis sein Messer und trieb es sorgsam in sein Rückgrat, so wie sie es vorhin beabsichtigt hatte. 332 Daraufhin ertönte ein Aufkeuchen von der Wand neben der Treppe. Dann ein Wimmern. Das Mädchen. Sie hatte das Mädchen vergessen. »Bleib da«, befahl Alis knapp. »Bleib, wo du bist, sonst bringe ich dich um, so wie ich ihn umgebracht habe.« Das Mädchen sagte nichts, wimmerte aber weiter. Alis schnitt ein Stück von ihrem Rock ab und legte einen Druckverband an, dann setzte sie sich hin, um wieder zu Atem zu kommen und ... zu lauschen. Hatte jemand den Nachtschreiter schreien hören? Wenn ja, könnten sie dann herausfinden, woher der Schrei gekommen war? Mit der Zeit ja. Was bedeutete, dass sie in die Tunnel zurückmusste, in die, an die Männer sich nicht erinnern konnten. Es würde ihnen schwer fallen, ihr dort zu folgen. »Mädchen, hör mir zu«, sagte sie. Ein Gesicht spähte aus dem grauen Stoffbündel hervor. »Ich will nicht sterben«, murmelte die Kleine leise. »Tu, was ich sage, und ich verspreche dir, dass du am Leben bleibst«, erwiderte Alis. »Aber Ihr habt ihn getötet.« »Ja, das stimmt. Wirst du mir zuhören?« Eine kleine Pause. »Ja.« »Gut. Hast du etwas zu essen? Wasser? Wein?« »Reck hat etwas zu essen, glaube ich. Vorhin hatte er Brot. Und Wein, glaube ich.« »Dann hol mir das her. Und alles, was er sonst noch bei sich hat. Aber versuch nicht wegzulaufen. Hast du schon davon gehört, dass man Messer auch werfen kann?« »Ich habe das mal einen Mann auf der Straße tun sehen. Er hat einen Apfel gespaltet.« »Ich kann das noch besser. Wenn du versuchst wegzulaufen, bekommst du das hier mitten in den Rücken. Hast du verstanden?« »Ja.« 333 »Wie heißt du?« »Helen.« »Helen, tu, was ich gesagt habe. Hol seine Sachen und bring sie her.« Sie sah zu, wie das Mädchen sich dem Leichnam näherte. Als die Kleine ihn berührte, begann sie zu weinen. »Hast du ihn gemocht?«, fragte Alis. »Nein. Er war gemein. Aber ... ich habe noch nie jemanden tot gesehen.« Und ich habe noch nie jemanden getötet, dachte Alis. Trotz ihrer Ausbildung kam es ihr immer noch unwirklich vor. »Helen«, fragte sie, »haben alle Wachen Mädchen bei sich?« »Nein, Lady. Nur die Nachtschreiter.«
»Und was genau macht ihr mit ihnen?« Das Mädchen zögerte. »Helen?« »Der König sagt, hier unten gibt es geheime Tunnel, Tunnel, die nur Mädchen sehen können. Wir sollen sie für sie finden. Die Männer sollen uns beschützen.« »Vor mir?«, fragte Alis und täuschte ein kleines Lächeln vor. Helens Augen glänzten vor Angst. »N... nein«, stotterte sie. »Der König hat gesagt, in den Verliesen geht ein Meuchelmörder um. Ein Mann. Ein großer Mann.« Helen war fleißig gewesen, während sie redete, und hatte einen kleinen Haufen verschiedener Dinge zusammengetragen. Sie hob sie auf, doch es schien ihr noch mehr zu widerstreben, sich Alis zu nähern als dem Toten, was durchaus verständlich war. »Siehst du«, sagte Alis. »Braves Mädchen.« »Bitte«, flüsterte Helen. »Ich sage auch nichts.« Alis verhärtete ihr Herz. Der einzige Vorteil, den sie hatte, war, dass Robert sie für tot hielt. Wenn das Mädchen sie beschrieb oder, schlimmer noch, wusste, wer sie war -, wäre dieser Vorteil dahin. Sie fasste das Messer fester. »Komm einfach her«, wies Alis sie an. 334 Das Kind blinzelte Tränen fort und kam näher. »Bitte tut es schnell«, sagte Helen, so leise, dass Alis sie fast nicht verstanden hätte. Alis schaute in die Augen des jungen Mädchens, stellte sich vor, wie das Leben daraus entwich, und seufzte. Sie packte Helens Schulter und fühlte, wie sie zitterte. »Halte dein Wort, Helen«, sagte sie. »Erzähl niemandem, dass du mich gesehen hast. Sag einfach, du bist fortgegangen, um dem Ruf der Natur zu folgen, und als du zurückgekommen bist, hast du ihn tot vorgefunden. Ich schwöre bei allen Heiligen, dass du damit das Richtige tust.« In Helens Gesicht leuchtete Hoffnung auf. »Und Ihr werft das Messer nicht nach mir?« »Nein. Sag mir einfach, wie du in die Verliese hineingekommen bist.« »Über die Treppe am Arnturm.« »Richtig«, murmelte Alis. »Wird sie noch bewacht?« »Von zehn Männern«, bestätigte Helen. »Weißt du sonst noch etwas, das mir helfen könnte?« Das Mädchen dachte einen Moment lang nach. »Sie schütten die Verliese zu«, sagte sie. Alis nickte müde. Auch das wusste sie bereits. »Lauf«, sagte sie. »Such dir einen Weg hinaus.« Helen stand auf und machte ein paar zittrige Schritte, dann rannte sie davon. Alis lauschte dem gehetzten, verklingenden Geräusch ihrer Füße und wusste, dass sie das Mädchen hätte töten sollen - und war froh, dass sie es nicht getan hatte. Dann wandte sie sich den Habseligkeiten des Nachtschreiters zu. Viel war es nicht - schließlich war er nicht hergekommen, um hier unten zu bleiben. Es war mehr Glück als irgendetwas anderes, dass er ein Tuch bei sich gehabt hatte, in das ein harter Brotkanten und ein Stück Käse eingewickelt waren, und ein noch größerer 335 Glücksfall, dass er einen Weinschlauch mitgenommen hatte. Sie nahm das Tuch und den Schlauch, sein Messer, einen Lederriemen von seinem Harnisch, die Lampe und die Zunderbüchse. Alis aß ein wenig Brot und trank etwas Wein, dann raffte sie sich auf und kehrte in den alten Gang zurück, wo sie verhältnismäßig sicher war. Als sie meinte, weit genug weg zu sein, machte sie Halt und verband ihren Arm neu. Die Wunde war nicht so schlimm, wie sie gefürchtet hatte; das Messer war zwischen den beiden Knochen ihres Unterarms eingedrungen und dort festgeklemmt, bis sie sich losgerissen hatte. Deswegen war er nicht in der Lage gewesen, wieder und wieder auf sie einzustechen, so wie sie es mit ihm getan hatte, oder das Messer in der Wunde zu drehen. Ja, alles in allem war dies ein Glückstag gewesen. Oder eine Glücksnacht. Sie hatte nicht mehr die leiseste Ahnung, welche Tageszeit es war. Ihrer Schätzung nach saß sie bereits über eine Woche hier unten fest. Aber vielleicht war es auch schon doppelt so lange her, dass sie hier heruntergekommen war, um Leovigild Ackenzal zu befreien. Wahrscheinlich war es gut gewesen, dass er sich geweigert hatte, sie zu begleiten. Auf dem Rückweg aus den Verliesen hatte sie festgestellt, dass der Zugang schwer bewacht wurde. Das war nicht gut, denn es bedeutete, dass ihre Anwesenheit entdeckt worden war, und es war der einzige sichere Weg hinaus, den sie kannte. Trotzdem, das Labyrinth aus offen sichtbaren und verborgenen Gängen war so weitläufig und verschlungen, dass es noch einen anderen Ausgang geben musste. Sie fragte sich, woher sie wussten, dass sie in die Verliese eingedrungen war, doch Prinz Robert war nicht dumm. Und dank seiner ... Verfassung ... konnte er sich an die versteckten Tunnel erinnern. Er musste Wachen aufgestellt oder irgendeine Alarmvorrichtung angebracht haben. Möglicherweise hatte Hespero oder jemand anders aus der Kirche dabei mitgeholfen, doch es könnte auch so
etwas Simples gewesen sein wie 336 Mehl auf dem Boden, um ihre Spuren sichtbar zu machen schließlich war sie im Dunkeln herumgeschlichen. Im Laufe der letzten Woche hatte der Thronräuber die Gänge ausfindig gemacht und sie zugeschüttet. Die Verliese bebten vom Werk der königlichen Baumeister, die schürften, gruben und unterhöhlten. Oh, es gab eine Menge Tunnel, die er nicht gefunden hatte, doch keiner davon schien irgendwo anders hinzuführen als zu den Verliesen - und dieses Gebiet wurde systematisch zugeschüttet und abgeriegelt, zumindest jene Teile, die ihr Zugang zum Schloss gewähren konnten. Ein ganzer Bereich - mitsamt den Insassen - war bereits abgeschnitten. Die, die dort schmachteten, waren noch nicht tot - manchmal konnte sie sie noch immer hören, wie sie um Essen und Wasser bettelten. Doch ihre Schreie wurden schwächer. Sie fragte sich, was sie getan hatten, um überhaupt im Kerker zu enden, und ob sie ihr Schicksal wohl verdient hatten. Mit dem Brot und dem Wein, die sich in ihrem Bauch auflösten, fühlte sie sich jetzt etwas besser und machte sich auf den Weg zurück in die Tiefe. Es gab einen Teil der Verliese, den sie gemieden hatte, von dem sie trotz allem gehofft hatte, ihn nicht auf sich nehmen zu müssen, auch wenn es sich um einen Ort handelte, den vollständig abzuriegeln Robert nicht wagte. Doch sie konnte dieser Furcht nicht länger nachgeben; die Lebensmittel, die sie gerade an sich genommen hatte, waren wahrscheinlich das Letzte, was sie an Essbarem bekommen würde - ob Helen nun etwas verriet oder nicht, ein Nachtschreiter war tot, und Robert würde seine Patrouillen zweifellos verstärken. Bisher hatte sie von Essensresten von den Gefangenen gelebt, und bis vor zwei Tagen hatte sie Zugang zu frischem Wasser gehabt, bis die Erdwälle ihn versperrt hatten. Jetzt war das einzige Wasser, an das sie herankam, schmutzig und verseucht. Sie wusste, dass sie es eine Weile würde trinken können, wenn sie es mit Wein mischte, doch der Wein würde bestenfalls für ein paar Tage reichen. 337 Von jetzt an würde sie nur immer schwächer werden. Also wandte sie sich in Richtung des Flüsterns. Es war nicht wie die Stimmen der Gefangenen. Zuerst hatte sie gedacht, es wären ihre eigenen Gedanken, die zu ihr sprachen, ein Zeichen, dass sie verrückt wurde. Die Stimme sagte nicht viel Sinnvolles, zumindest nicht in Worten, doch was sie an Worten aussprach, war mit Bildern und Gefühlen beladen, die nicht in den Kopf eines Menschen gehörten. Dann jedoch fiel ihr ein Ausflug in den Kerker ein, mit Muriele, und sie wusste, dass die Stimme, die sie hörte, die des Bewahrten war. Der Bewahrte wurde so genannt, um ihn nicht als das bezeichnen zu müssen, was er in Wirklichkeit war - der Letzte der Dämonenrasse, die sowohl Menschen als auch Sefry versklavt hatte. Der letzte der Skasloi. Als sie sich seinem Reich näherte, wurde das Flüstern lauter, und Bilder wurden deutlicher, Gerüche stärker. Ihre Finger fühlten sich an wie Klauen, und wenn sie die Hand an die Mauer legte, spürte sie ein raues Scharren, als wären ihre Hände aus Stein oder Metall. Sie roch etwas wie verfaulte Birnen und Schwefel, sah in grellen Lichtblitzen eine Landschaft mit schuppigen, blattlosen Bäumen vor sich, eine seltsame, gewaltige Sonne, eine schwarze Festung am Meer, so uralt, dass ihre Mauern und Türme verwittert waren wie ein Berg. Ihr Körper kam ihr abwechselnd winzig klein und riesengroß vor. Ich bin ich, beharrte sie stumm. Alis Berrye. Mein Vater war Wallis Berrye, der Mädchenname meiner Mutter war Wenefred Vicars... Doch ihre Kindheit schien aberwitzig fern. Mit Mühe rief sie sich das Haus in Erinnerung, ein weitläufiges Gebäude, das so schlecht erhalten war, dass in manchen Räumen die Böden durchgerottet waren. Doch wenn sie versuchte, es sich bildlich vorzustellen, sah sie stattdessen ein steinernes Labyrinth vor sich. Das Gesicht ihrer Mutter war ein verschwommener Schemen, 338 umgeben von flachsblondem Haar. Ihr Vater war sogar noch undeutlicher, obwohl sie ihn erst vor einem Jahr gesehen hatte. Ihre große Schwester Rowyne hatte blaue Augen wie sie, und raue Hände, die ihr Haar streichelten. Sie war fünf gewesen, als die Lady in dem dunklen Kleid gekommen war und sie mitgenommen hatte, und danach hatte es zehn Jahre gedauert, bis sie ihre Eltern wieder gesehen hatte, und dann hatten diese sie lediglich nach Eslen gebracht. Nicht einmal da hatten sie die Wahrheit gekannt, dass sie ihnen nur deswegen zurückgegeben worden war, damit der König sie bemerken und sie zu seiner Geliebten machen würde. Ihre Mutter war im darauf folgenden Jahr gestorben. Ihr Vater hatte sie zwei Jahre später besucht, hatte gehofft, Alis könnte den König überreden, ihm Mittel zu gewähren, um den schwärenden Sumpf trockenzulegen, der sich über den größten Teil seiner einst bestellten Ländereien ausgebreitet hatte. William hatte ihm Geld und einen Baumeister zur Verfügung gestellt, und das war das letzte Mal gewesen, dass sie jemanden aus ihrer Familie zu Gesicht bekommen hatte. Schwester Margery mit ihrem schiefen Lächeln und dem lockigen roten Haar, Schwester Grene mit der dicken Nase und den großen Augen, Altmestra Cathmay, zaundürr und mit eisengrauem Haar, mit Augen, die alles durchschauten - sie waren ihre Familie gewesen.
Alle jetzt tot, höhnte die Stimme. So sehr tot. Und doch ist der Tod nicht länger fern ... Jäh hatte sie das Gefühl zu schweben, und Alis brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie fiel, so mannigfaltig und sonderbar waren die Empfindungen, die mit der Stimme kamen. In einem verzweifelten Versuch, etwas zum Festhalten zu finden, schlug sie mit Armen und Beinen um sich. Unglaublicherweise hatte sie Erfolg, als ihre Handflächen sich gegen Wände stemmten, ehe die Arme halb gestreckt waren. Schmerz schoss ihre Arme hinauf, als versuchten sie, sich von ihren Schultern los339 zureißen, und die Pein von ihrer Wunde entriss ihr einen Aufschrei. Dann fiel sie abermals, ihre Knie und Ellbogen schrammten gegen die Wände des Schachts, bis weißes Licht in ihren Fußsohlen aufblühte und durch sie hindurchfuhr, sie glatt aus ihrem Körper riss und in die schwarzen Winde hoch über ihr schleuderte. Singen brachte sie wieder zu sich, ein rauer, kratziger Sprechgesang in einer Sprache, die sie nicht kannte. Ihr Gesicht war gegen einen feuchten, schmutzigen Fußboden gepresst. Als sie es hob, schössen Schmerzen über ihren Schädel und das Rückgrat hinunter. »Oh!«, keuchte sie. Der Gesang verstummte. »Alis?«, fragte eine Stimme. »Wer ist da?«, erwiderte sie und betastete ihren Kopf. Er war klebrig, und sie fühlte eine Platzwunde am Haaransatz. Keiner ihrer Knochen schien gebrochen zu sein. »Ich bin es, Lo Videicho«, sagte die Stimme. Die Finsternis war undurchdringlich, und die Wände ließen das Geräusch seltsam klingen, doch Alis schätzte, dass der Sprecher nicht weiter als vier oder fünf Ellen entfernt war. Sie griff nach unten, zu ihrem Gürtel und dem Messer, das sie dort trug. »Das hört sich vitellianisch an.« Sie versuchte, ihn zum Weiterreden zu bringen, damit sie wusste, wo er war. »Ah, nein, meine dulcha«, widersprach er. »Vitellianisch ist Essig, Zitronensaft, Salz. Ich spreche Honig, Wein, Feigen. Safnisch, midulcha.« »Safnisch.« Jetzt hatte sie das Messer gefunden, packte es mit festem Griff und setzte sich auf. »Ihr seid ein Gefangener?« »Ich war einer«, sagte Lo Videicho. »Jetzt... ich weiß es nicht. Sie haben den Weg hinaus zugemauert. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten mich töten, aber sie haben es nicht getan.« »Woher kennt Ihr meinen Namen?« 340 »Ihr habt ihn meinem Freund verraten, dem Musikmann, bevor sie ihn fortgeschafft haben.« Leoff. »Sie haben ihn fortgeschafft?« »Oh ja. Euer Besuch war recht unerwünscht, denke ich. Sie haben ihn mitgenommen.« »Wohin?« »Oh, ich weiß es. Ihr denkt, ich weiß es nicht? Ich weiß es.« »Das bezweifle ich nicht«, versicherte Alis. »Aber ich würde es auch gern wissen.« »Ihr versteht, ich habe den Verstand verloren«, vertraute Lo Videicho ihr an. »Für mich klingt Ihr ganz vernünftig«, log Alis. »Nein, nein, es stimmt. Ich bin wahnsinnig. Aber ich denke, ich sollte warten, bis wir aus diesen Verliesen heraus sind, bevor ich Euch sage, wo unser Freund hingeschafft worden ist.« Alis begann, nach einer Wand zu tasten. Sie fand eine und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Ich weiß nicht, wie man hinauskommt«, sagte sie. »Nein, aber Ihr wisst, wie man hereinkommt.« »Der Weg hinein ist - Ihr meint, hier herein, nicht wahr?« »Ja, schlaues Ding«, antwortete Lo Videicho. »Ihr seid dort hinuntergefallen.« »Wenn Ihr das wisst... warum macht Ihr Euch dann nicht einfach davon? Wieso braucht Ihr mich?« »Ich würde niemals eine Lady zurücklassen«, verwahrte sich der Mann. »Aber außerdem ...« Sie hörte ein metallisches Rasseln. »Oh. Ihr könnt nicht fliehen. Ihr sitzt in einer Zelle.« Sie musste in einen Vorraum gestürzt sein, anstatt in der Zelle selbst zu landen. »Es ist ein Palast, mein Palast«, widersprach Lo Videicho. »Aber die Türen sind alle verschlossen. Habt Ihr einen Schlüssel?« »Möglicherweise kann ich Euch da herausholen. Vielleicht können wir uns einig werden. Aber zuerst müsst Ihr mir sagen, warum Ihr hier seid.« 34i »Warum ich hier bin? Weil die Heiligen dreckige Schweinehunde sind, jeder Einzelne. Weil sie die Bösen begünstigen und den Guten Trauer und Gram bringen.« »Das stimmt wahrscheinlich«, gab Alis zu. »Aber ich hätte gern eine genauere Antwort.« »Ich bin hier, weil ich eine Frau geliebt habe«, sagte er. »Ich bin hier, weil mir das Herz herausgerissen wurde, und dies ist das Grab, in das sie mich gelegt haben.«
»Was für eine Frau?« Seine Stimme veränderte sich. »Schön, sanft, gütig. Sie ist tot. Ich habe ihren Finger gesehen.« Ein leises Frösteln kroch Alis' Rückgrat hinauf. Safnisch. Da war doch ein Safnier gewesen, der mit Prinzessin Lesbeth verlobt war. Sie war verschwunden, und es hatte geheißen, sie sei von ihrem Verlobten verraten worden. Sie erinnerte sich, dass William im Schlaf seinen Namen gemurmelt hatte - es hatte fast den Anschein gehabt, als würde er sich bei ihm entschuldigen. »Seid Ihr ... seid Ihr Fürst Cheiso?« »Ah!«, keuchte der Mann. Eine Pause entstand, und dann vernahm sie ein leises Geräusch, das vielleicht Schluchzen sein mochte. »Ihr seid Cheiso, der mit Lesbeth Dare verlobt war.« Das Geräusch wurde lauter, doch jetzt klang es mehr wie Gelächter. »Das war mein Name«, sagte er. »Vorher, vorher. Ja, wie schlau. Schlau.« »Ich habe gehört, Ihr wärt zu Tode gefoltert worden.« »Er wollte mich lebendig«, erwiderte Cheiso. »Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht, warum. Oder vielleicht hat er es vergessen, das ist alles.« Alis schloss die Augen und versuchte, ihr Denken neu einzurichten, den safnischen Fürsten in ihre Pläne mit einzubeziehen. Befehligte er Truppen? Aber die würden zu Schiff hersegeln müssen, oder? Ein weiter Weg. 342 Doch er wäre gewiss nützlich. Cheiso kreischte unvermittelt auf, ein die Kehle zerreißendes Wutgeheul, das kaum menschlich schien. Sie hörte einen dumpfen Aufprall und nahm an, dass er sich gegen die Wände warf, während er weiter in seiner Sprache schrie. Ihr wurde bewusst, dass sie das Messer so fest umklammert hielt, dass ihre Finger taub geworden waren. Nach einiger Zeit erstarben seine Schreie zu haltlosem Schluchzen. Einem Impuls folgend löste Alis ihre Hand vom Messergriff und tastete sich durch die Dunkelheit, bis sie die Eisenstäbe seiner Zelle fühlte. »Kommt her«, sagte sie. »Kommt her.« Vielleicht würde er sie töten, doch der Tod war so nahe, dass sie angefangen hatte, den Respekt vor ihm zu verlieren. Sie konnte fühlen, wie er zögerte, dann jedoch hörte sie ein rutschendes Geräusch, und gleich darauf streifte eine Hand die ihre. Sie ergriff sie, und Tränen traten ihr bei der Berührung in die Augen. Es kam ihr wie Jahre vor, seit jemand ihre Hand gehalten hatte. Sie spürte, wie seine Finger zitterten; die Handfläche war glatt und weich die Handfläche eines Fürsten. »Ich bin weniger als ein Mann«, keuchte er. »Ich bin so viel weniger.« Alis' Herz krampfte sich zusammen; sie versuchte ihre Hand zu lösen, doch er umklammerte sie nur noch fester. »Schon gut«, beschwichtigte sie. »Ich will nur Euer Gesicht berühren.« »Ich habe kein Gesicht mehr«, entgegnete er, ließ ihre Finger jedoch trotzdem los. Vorsichtig hob sie die Hand, bis sie den Bart auf seinen Wangen fühlte, dann tastete sie sich höher hinauf, wo sie auf eine Masse aus Narbengewebe stieß. So viel Schmerz. Wieder griff sie nach ihrem Messer. Ein einziger Stoß in die Höhlung seines Auges, und er würde vergessen, was sie ihm angetan hatten, würde seine verlorene Liebe vergessen. In seiner Stimme konnte sie hören und es in seinem Griff fühlen, 343 dass er gebrochen war. Trotz seiner gespielten Tapferkeit und seines Geredes von Rache war nicht mehr viel von ihm übrig. Doch sie war nicht ihm verpflichtet, sondern Muriele und ihren Kindern - und in gewisser Weise auch dem armen toten William. Sie hatte ihn auf ihre Art und Weise geliebt; er war ein anständiger Mann gewesen, in einer Lage, in der kein anständiger Mann sein sollte. Wie dieser safnische Fürst. »Fürst Cheiso«, flüsterte sie. »Das war ich einst«, erwiderte er. »Das seid Ihr immer noch«, beharrte sie. »Hört mir zu. Ich werde Euch aus Eurem Käfig befreien, und wir werden zusammen hier herausfinden.« »Und ihn töten«, sagte Cheiso. »Den König töten.« Mit leisem Kribbeln wurde Alis klar, dass er William meinte. »König William ist bereits tot«, sagte sie. »Er ist nicht Euer Feind. Euer Feind ist Robert, versteht Ihr? Prinz Roberts Wort hat Euch hierher gebracht. Dann hat er seinen Bruder umgebracht, den König, und Euch hier schmachten lassen. Er weiß wahrscheinlich nicht einmal mehr, dass es Euch gibt. Aber Ihr werdet ihn daran erinnern, nicht wahr?« Lange herrschte Schweigen, und als Cheiso endlich etwas sagte, tat er das mit überraschend leidenschaftsloser, gefasster Stimme. »Ja«, antwortete er. »Ja, das werde ich tun.« Alis zog ihr Einbrecherwerkzeug hervor und machte sich ans Werk. 344
26. Kapitel Der Poel Anne holte ein paar Mal tief Atem und schloss die Augen vor ihrem Zelt und seiner kargen Einrichtung. Sie hatte Austra fortgeschickt, und das Mädchen schien mit einem Gefühl der Erleichterung verschwunden zu sein. Wollte das mannstolle kleine Ding nur weg von ihr, oder wollte sie zu Cazio? Still, befahl sie sich selbst. Sei still. Du wirst nur wütend auf dich selbst. Kein Wunder, dass Austra ihre Zeit lieber mit jemand anderem verbringen möchte. Anne ließ sich in die Finsternis sinken und schaute dann tiefer, versuchte, den Weg zum Wohnort der Glaubenden zu finden, damit sie sie um Rat fragen konnte. In der Vergangenheit hatte sie ihren Ratschlägen misstraut, doch sie fand, dass sie irgendetwas brauchte - irgendeine Anleitung von jemandem, der die tiefgründige Welt besser kannte als sie. Schwaches Licht erschien, und sie konzentrierte sich darauf, versuchte, es näher zu sich zu ziehen, doch es glitt an den Rand ihres Gesichtsfeldes, aufreizend, außer Reichweite. Sie versuchte sich zu entspannen, es wieder herbeizulocken, doch je mehr sie sich bemühte, desto weiter zog sich das Licht zurück, bis sie in jäher Wut danach griff, es zu sich heranriss und die Dunkelheit ihrerseits zudrückte, sich zusammenzog, bis sie keine Luft mehr bekam. Etwas Raues schien sich gegen ihren Körper zu pressen, und ihre Finger und Zehen wurden taub vor Kälte. Der Frost kroch an ihr hinauf, raubte ihr jegliches Gefühl, bis nur noch das Pulsieren ihres Herzens blieb, das gefährlich heftig schlug. Sie konnte weder Atem holen noch einen Laut hervorbringen, doch sie vernahm 345 Gelächter und spürte Lippen an ihrem Ohr, die warme Worte wisperten, Worte, die sie nicht verstand. Licht flammte auf, und plötzlich sah sie das Meer vor sich ausgebreitet. Auf den Wogen ritten Dutzende von Schiffen, die das schwarz-weiße Schwanenbanner von Liery gesetzt hatten. Ihr Blickwinkel veränderte sich, und sie sah, dass sie auf Thornrath zuhielten, die große Seewall-Festung, die den Zugang nach Eslen schützte. Sie ragte so mächtig auf, dass selbst eine derart riesige Flotte dagegen winzig wirkte. Dann war das Licht plötzlich verschwunden, und sie lag auf den Knien, die Hände gegen Stein gepresst, den Geruch von Erde und Verwesung in der Nase. Allmählich sickerte schwaches Licht von oben herein, und langsam, als erwache sie aus einem Traum, begriff sie, wo sie sich befand. Sie war in Eslen-des-Schattens, im heiligen Hain hinter den Grüften ihrer Vorfahren, und ihre Finger waren gegen einen steinernen Sarkophag gepresst. Und sie wusste, war sich sicher, dass sie immer gewusst hatte, und sie schrie in der allertiefsten Verzweiflung auf, die sie jemals empfunden hatte. Still, Kind, sagte eine kleine Stimme. Sei still und hör zu. Die Stimme beschwichtigte ihr Entsetzen, wenn auch nur wenig. »Wer seid Ihr?«, fragte sie. Ich bin dein Freund. Und du hast Recht, sie kommt, um dich zu holen. Ich kann helfen, aber du musst mich aufsuchen. Du musst zuerst mir helfen. »Wer ist sie? Wie könnt Ihr helfen?« Zu viele Fragen, und die Entfernung ist zu groß. Finde mich, und ich werde dir helfen. »Wo soll ich Euch finden?« Hier. Sie erblickte das Schloss von Eslen, sah es aufplatzen wie einen Kadaver, um seine verborgenen Organe und Säfte zu enthüllen, Seuchenherde und Throne der Gesundheit, und gleich darauf verstand sie. 346 Schreiend erwachte sie; Neil und Cazio starrten auf sie herab. Austra war neben ihr und hielt ihre Hand. »Majestät?«, fragte Neil. »Ist etwas nicht in Ordnung?« Etliche Herzschläge lang wollte sie es ihm sagen, wollte rückgängig machen, was kommen würde. Doch das konnte sie nicht, oder? »Es war ein Traum, Sir Neil«, sagte sie. »Eine Schwarze Mary, nichts weiter.« Der Ritter sah nicht überzeugt aus, dann jedoch nahm er ihre Erklärung mit einem Nicken zur Kenntnis. »Nun, dann hoffe ich, der Rest Eures Schlummers ist traumlos«, erwiderte er. »Wie lange noch, bis wir das Lager abbrechen?« »Vier Glockenschläge.« »Und wir werden Eslen heute erreichen?« »So die Heiligen wollen, Majestät«, antwortete Neil. »Gut.« Bilder von Schiffen - und noch schrecklicheren Dingen - brannten noch immer hinter Annes Augen. Eslen würde der Anfang sein. Die Männer gingen hinaus, doch Austra blieb und strich ihr über die Stirn, bis sie einschlief. Anne hatte die Reise von Glenchest nach Eslen viele Male gemacht. Mit vierzehn war sie auf ihrem Pferd Windschnell hingeritten, begleitet von einer Leibwache aus Handwerksmeistern. Das hatte zwei Tage gedauert, mit einer Übernachtung auf den Gütern ihres Vetters Nod. Mit der Kutsche oder auf dem Kanal konnte es noch einen Tag länger dauern. Ihre Armee jedoch hatte einen vollen Monat gebraucht, obwohl das meiste ihrer Vorräte mit Kähnen
flussabwärts geschafft wurde. Und es war ein blutiger Monat gewesen. Anne hatte Turniere gesehen - Zweikämpfe mit der Lanze, Männer, die mit Schwertern um sich schlugen, so etwas eben. Sie hatte auch richtige Schlachten erlebt, und reichlich Gemetzel. 347 Doch bis zu dem Tag, als sie von Glenchest losmarschierten, hatte sie alles, was sie über Armeen und Krieg wusste, von Barden gehört, in Büchern gelesen und bei Mimenvorstellungen gesehen. All dies hatte sie glauben lassen, sie würden geradewegs nach Eslen marschieren, die Schlachthörner ertönen lassen und es auf dem Poel des Königs ausfechten. Die Barden hatten das eine oder andere ausgelassen, und Schloss Gable war, was das betraf, die erste Lektion gewesen. In den Liedern mussten Armeen ihre Versorgungswege nicht sichern, daher brauchten sie auch nicht bei jeder feindselig gesonnenen Burg im Umkreis von fünf Tagesritten Entfernung von ihrer Marschroute Halt zu machen und sie »unschädlich« zu machen. Die meisten Burgen, stellte sich heraus, waren feindselig, weil Robert entweder die Besitzer der Schlösser dazu genötigt oder überredet hatte, für ihn zu kämpfen, oder die Festungen ganz einfach mit seinen eigenen, sorgfältig ausgewählten Truppen besetzt hatte. Anne hatte noch nie gehört, dass mit dem Ausdruck »unschädlich machen« die Eroberung einer Burg und das Niedermetzeln der Verteidiger beschrieben wurde, und sie kam rasch zu dem Schluss, dass dafür ein besseres Wort benötigt wurde. Die Belagerung von Gable kostete sie mehr als hundert Männer und fast eine Woche, und als sie abzogen, mussten sie weitere hundert zurücklassen, um die Burg zu bemannen. Dann kamen Langraeth, Tulg, Fearath ... In den alten Liedern war auch nicht oft die Rede davon, dass Frauen ihre Kinder über die Mauern warfen, in einem wahnwitzigen Versuch, sie vor den Flammen zu retten, oder von dem Geruch von hundert Toten, wenn der morgendliche Reif zu tauen begann. Oder dass ein Mann ganz und gar von einem Speer durchbohrt sein konnte und es nicht zu fühlen schien, weiterredete, als sei nichts passiert, bis zu dem Moment, da seine Augen blicklos und seine Lippen träge wurden. Sie hatte schon früher grauenhafte Dinge gesehen, und dies hier war mehr von einem anderen Ausmaß als von anderer Art. 348 Doch das Ausmaß machte einen Unterschied. Hundert tote Männer waren schrecklicher als ein einzelner Toter, so ungerecht das dem Einzelnen gegenüber auch scheinen mochte. In den alten Balladen klagten die Frauen vor Gram über den Verlust ihrer Lieben. Auf dem Marsch nach Eslen war niemand umgekommen, der Anne nahe stand. Sie klagte nicht vor Gram, stattdessen lag sie nachts wach und versuchte, ihre Ohren vor den Schreien der Verwundeten zu verschließen, versuchte, sich nicht an die Bilder des Tages zu erinnern. Sie stellte fest, dass der Branntwein, den Tante Elyoner ihr mitgegeben hatte, dabei hilfreich war. Die Barden neigten auch dazu, die öderen Seiten der Staatskunst nicht zu erwähnen: vier Stunden lang zuzuhören, wie der Aithel von Wife über die beträchtlichen Vorzüge von Braunvieh schwafelte, ein ganzer Tag in Gesellschaft der Gemahlin des Gravewaerd von Langbrim, und ihre nicht besonders feinfühligen Versuche, ihren hoffnungslos stumpfsinnigen Sohn als mögliche Partie für »irgendjemanden - nicht Eure Majestät natürlich, aber irgendjemanden - von Bedeutung« anzubieten, zwei Stunden in Penbale, um der Vorführung des Musiktheaterstücks beizuwohnen, das den Landwaerden »die Augen geöffnet hatte«, was Roberts Übeltaten anbetraf. Lediglich die Tatsache, dass die meisten der Sänger so furchtbar falsch sangen, ließ sie die Augen offen halten, wenngleich sie sich danach fragte, wie wohl die ursprüngliche Aufführung gewesen sein mochte. Das einzig Lustige daran war die Darstellung von Robert, zu der eine aus irgendeiner Art Flaschenkürbis gefertigte Maske gehörte, und eine Nase, die eindeutig und unschicklich so geformt war, dass sie einem anderen, tiefer gelegenen Körperteil glich. All das, weil es nicht ausreichte, die Burgen zu besetzen: Die Landbewohner mussten umworben werden. Abgesehen davon, weitere Soldaten um sich zu scharen, musste sie sichergehen, dass ihre Lastkähne Loiyes ungehindert erreichen und verlassen konn349 ten, von wo ihr Nachschub und ihr Proviant kamen. Während Artwair und seine Ritter Burgen unschädlich machten, verbrachte sie ihre Zeit damit, die umliegenden Städte und Dörfer zu besuchen, sich mit den Landwaerden zu treffen, sich ihrer Unterstützung zu versichern und um ihre Erlaubnis zu bitten, noch mehr Soldaten zurückzulassen, um die Deiche und Malenden zu bewachen, die das Land trocken hielten. Dies erwies sich als fast ebenso beschwerlich wie ihre Flucht aus Vitellio, wenn auch auf sehr andere Art und Weise, eine tagtägliche Folge von Audienzen und Abendessen mit Stadtaitheln und Gravwaerden, denen sie schmeichelte oder Angst machte, je nachdem, was mehr Erfolg zu versprechen schien. Letzten Endes waren die meisten bereit, sie unbeteiligt zu unterstützen - sie würden ihren Marsch nicht behindern, sie würden zulassen, dass sie Truppen zurückließ, um die Deiche zu besetzen, damit die Kanäle nicht geflutet oder mit Ketten gesperrt werden konnten -, doch nur wenige waren willens, Männer abzustellen. Im
Laufe des Monats schlössen sich nur etwa zweihundert Kämpfer ihren Streitkräften an, was ihre Verluste nicht einmal annähernd ausglich. Alldem zum Trotz hatte sie irgendwie den Gedanken im Hinterkopf, dass sie dennoch die letzte Schlacht auf dem Poel schlagen würden, wenn sie Eslen erreichten. Was sie stattdessen vorfand, war das, was sie jetzt von der Krone des Norddeichs aus betrachtete. Artwair, Neil und Cazio standen neben ihr. »Ihr Heiligen«, hauchte sie. Sie war sich nicht ganz sicher, was genau sie empfand. Dort war ihr Zuhause - die Insel Ynis, ihre steinigen Hänge in Nebel gehüllt; die hohen Hügel blickten über Neuland hinweg, die Stadt Eslen ragte auf dem höchsten dieser Hügel auf. Innerhalb ihrer mehrfachen Ringmauer standen die riesige Festung und der Palast, dessen Türme in die unteren Provinzen des Himmels vorzustoßen schienen. Sie sahen unglaublich riesig und von diesem seltsamen Aussichtspunkt aus doch lächerlich klein aus. 35° »Das ist Euer Heim?«, fragte Cazio. »Ja«, antwortete Anne. »So einen Ort habe ich noch nie gesehen«, sagte Cazio. Ehrfurcht schwang in seiner Stimme mit - etwas, wovon Anne sich nicht sicher war, ob sie es jemals gehört hatte. Dank Elyoners Lehrern und Cazios rascher Auffassungsgabe bediente er sich der Sprache des Königs. »Es gibt keinen zweiten Ort wie Eslen«, sagte Neil. Anne lächelte; ihr wurde bewusst, dass Neil selbst Eslen vor weniger als einem Jahr zum ersten Mal erblickt hatte. »Aber wie kommen wir dorthin?«, wollte Cazio wissen. »Das wird das Problem.« Artwair kratzte sich gedankenverloren am Kinn. »Das gleiche Problem, mit dem wir uns auf jeden Fall hätten herumschlagen müssen, nur vervielfacht. Ich hatte gehofft, er würde das nicht tun.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Cazio. »Nun ja«, erklärte Anne, »Ynis ist eine Insel an einer Stelle, wo zwei Ströme zusammenfließen - der Magierfluss und der Taufluss. Sie ist also immer von Wasser umgeben. Man kann Eslen nur mit dem Boot erreichen.« »Aber wir haben doch Boote«, wandte Cazio ein. Das stimmte; sie nannten noch immer alle fünfzehn Lastkähne und die sieben Kanalwölfe ihr Eigen, die sie zu Beginn der Reise gehabt hatten. Es hatte keine Kämpfe zu Wasser gegeben. »Ja«, stimmte Anne zu. »Aber normalerweise würden wir bloß einen Fluss überqueren, versteht Ihr? Dieser See, den Ihr jetzt vor Euch seht, war früher trockenes Land.« Mit einer Geste zeigte sie auf die riesige Wasserfläche, die jetzt vor ihnen lag. Cazio zog die Brauen zusammen. »Vielleicht habe ich Euch nicht verstanden. Habt Ihr gesagt >trockenes Land Tero arido?« »Ja«, bestätigte Anne. »Eslen ist von Poels umgeben. So nennen wir Land, das wir dem Wasser abgerungen haben. Ihr habt doch gewiss bemerkt, dass unsere Flüsse und Kanäle alle über dem Land dahinfließen?« 35i »Ja«, erwiderte Cauzio. »Das erscheint mir sehr unnatürlich.« »Ist es auch. Und deshalb, wenn ein Deich bricht oder durchstochen wird -« »- wird alles wieder überflutet. Aber warum haben sie nicht gewartet, bis wir hier sind und über den Poel marschieren, ehe sie ihn aufgemacht haben? Dann wären wir vielleicht ertrunken.« »Das wäre zu riskant gewesen«, belehrte ihn Artwair. »Wenn der Wind aus der falschen Richtung bläst, kann es lange dauern, bis die Poels voll laufen, und wir hätten es vielleicht auf die andere Seite geschafft. So hat Robert es uns sehr, sehr schwer gemacht.« »Aber wir haben immer noch unsere Boote«, sagte Cazio. »Auy«, entgegnete Artwair. »Aber seht einmal dorthin, durch den Nebel.« Er zeigte auf die Basis des großen Hügels. Anne erkannte die schattenhaften Umrisse, doch Cazio wusste nicht, wo er hinschauen sollte. »Sind das Schiffe?«, fragte er schließlich. »Schiffe«, bestätigte Artwair. »Ich wette, wenn der Nebel sich lichtet, bekommen wir fast die gesamte Flotte zu sehen. Kriegsschiffe, Cazio. Im Fluss hätten die nicht besonders gut manövrieren können, aber jetzt haben sie einen ganzen See. Wir hätten vielleicht über den Taufluss setzen und einen Brückenkopf errichten können, aber jetzt müssen wir das alles da überqueren, direkt vor den Augen der Flotte des Reiches.« »Geht das?«, wollte Cazio wissen. »Nein«, antwortete Artwair. »Aber es gibt doch mehr als einen Weg nach Eslen«, sagte Neil. »Was ist mit der Südseite, der Magierflussseite? Haben sie die Poels dort auch geflutet?« »Das wissen wir nicht, noch nicht«, gab Artwair zu. »Doch selbst wenn diese Seite nicht geflutet worden ist, ist es sehr schwer, von dort aus an die Stadt heranzukommen. Durch die Marschen zu marschieren ist schwierig, und ein paar Bogenschützen auf den Anhöhen können sie mit Leichtigkeit verteidigen. Und dann die 352 Hügel - schwer einzunehmen, aber leicht zu halten ... Aber Ihr habt Recht, wir müssen jemanden auf die andere Seite der Insel schicken. Eine kleine Gruppe, denke ich, die schnell und leise vorrücken kann, unbemerkt.«
»Das klingt wie etwas, das ich tun könnte«, erbot sich Cazio. »Nein«, sagten Anne, Neil und Austra gleichzeitig. »Wozu bin ich denn sonst gut?«, fragte der Degenkämpfer gereizt. »Ihr seid ein hervorragender Leibwächter«, erwiderte Neil. »Ihre Majestät braucht Euch hier.« »Außerdem kennt Ihr die Gegend nicht«, fügte Anne hinzu. »Der Herzog wird bestimmt gute Männer für diese Aufgabe auswählen lassen.« »Ja«, sagte Artwair. »Ich werde ein paar Mannschaften zusammenstellen. Aber Ihr kennt Eslen genauso gut wie jeder andere hier, Anne. Was denkt Ihr? Fällt Euch irgendetwas ein?« »Ihr habt unsere Verwandten in Virgenya benachrichtigt?« »Ja. Aber Ihr wisst ja, dieser Brunnen ist vergiftet. Roberts Cuveiture waren vor uns unterwegs, mit der Kunde, dass Eure Mutter im Begriff war, Liery den Thron zu überlassen.« »Und doch will mein Oheim das Reich an Hansa aushändigen. Was wäre ihnen denn lieber?« »Hoffentlich keins von beiden«, antwortete Artwair. »Ich habe darauf hingewiesen, dass wir, wenn sie für Euch kämpfen, eine Dare auf dem Thron halten können - eine Herrscherin, die Virgenya gewogen ist. Aber das Ganze ist ziemlich verzwickt. Viele Virgenyaner würden es vorziehen, wieder einen Hochkönig auf ihrem eigenen Thron zu sehen, ohne einen Herrscher in Crothenien, dem sie sich beugen müssen. Selbst wenn er - oder sie einer der ihren ist. Diese Gruppe ist der Ansicht, dass Hansa sich mit Crothenien zufrieden geben und Virgenya sich selbst überlassen würde.« »Oh«, sagte Anne. »Auy Und selbst wenn sie noch heute aufbrechen, es würde 353 Monate dauern, bis virgenyanische Truppen über Land hier einträfen, und auf dem Seeweg fast genauso lange, wenn man bedenkt, dass sie durch die Straße von Rusimmi segeln müssten, um hierher zu gelangen. Nein, ich denke, wir müssen das hier planen, ohne auf Virgenya zu zählen.« Cazio deutete. »Was ist das?« Anne folgte dem Finger des Vitellianers. Ein kleines Boot näherte sich, ein Kanalboot, das die Flagge von Eslen gesetzt hatte. »Das wird Roberts Gesandter sein«, erwiderte Artwair. »Kommt wahrscheinlich, um ein Treffen zu vereinbaren. Wir sollten uns anhören, was mein Vetter zu sagen hat, ehe wir zu viele Pläne schmieden.« Als das Boot näher kam, stellte Anne fest, dass der »Gesandte« niemand anders als Robert selbst war. Etwas in ihrem Leib zog sich zusammen. Sein vertrautes Gesicht spähte zu ihr hinüber, unter einer schwarzen Kappe und dem goldenen Reif hervor, den ihr Vater immer zu weniger förmlichen Staatsanlässen getragen hatte. Er saß in der Mitte des Bootes, in einem Sessel, umringt von Gestalten in Schwarz. Sie sah keine Bogenschützen - tatsächlich sah sie überhaupt keine Waffen. Jäh hatte sie das deutliche Gefühl, dass hier ein Irrtum vorlag. Robert war nur vier Jahre älter als sie, er hatte mit ihr gespielt, als sie klein gewesen war. Sie hatte ihn immer für einen Freund gehalten. Es war unmöglich, dass er all das getan hatte, was die Leute behaupteten, und plötzlich war sie sich sicher, dass er alles aufklären würde. Es würde überhaupt kein Krieg notwendig sein. Als das Boot anlegte, sprang eine schlanke Gestalt in schwarzem Überwurf und schwarzen Beinkleidern an Land, um die Leinen festzumachen. Anne brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Gestalt weiblichen Geschlechts war, ein Mädchen von vielleicht dreizehn. Einen weiteren Lidschlag später wurde ihr klar, dass Roberts Gefolge mit einer Ausnahme ausschließlich aus 354 unbewaffneten jungen Frauen bestand. Der einzige Mann trug eine filigrane Goldbrosche an seinem Mantel, die ihn als Ritter auswies, war jedoch ebenfalls waffenlos. Robert schien sich wahrhaftig keine großen Sorgen zu machen. Als das Boot festgemacht war, erhob er sich grinsend von seinem behelfsmäßigen Thron. »Meine liebe Anne«, sagte er. »Lasst Euch anschauen.« Er trat aus dem Boot auf die Steine, und Anne fühlte, wie ein Schlag ihre Füße durchzuckte. Der Felsen unter ihr wurde plötzlich weich wie warme Butter, und alles verschwamm. Es war, als schmölze die Welt um sie herum. Und dann, genauso abrupt, war alles wieder fest, neu geformt. Aber anders. Robert war immer noch da, stattlich anzusehen in einem schwarzen Wams aus Seehundfell, das mit kleinen Diamanten bestickt war. Doch er stank wie verwesendes Fleisch, und seine Haut war durchsichtig, ließ das dunkle Gefäßgeflecht darunter erkennen. Was noch merkwürdiger war, seine Adern endeten nicht in seinem Fleisch, sondern schlängelten sich weiter in die Luft und in den Erdboden hinein, vereinigten sich mit den dunklen Wassern aus ihrer Vision. Doch anders als bei dem Mann, den sie hatte sterben und den letzten Rest seines Lebens in den Oberlauf des Todes hatte verströmen sehen, floss hier alles in Robert hinein, füllte ihn, hielt ihn aufrecht wie eine in eine Handpuppe geschobene Hand. Sie bemerkte, dass sie einen Schritt zurückgewichen war und dass ihr Atem hastig ging. »Das ist nahe genug«, entschied Artwair.
»Ich will meiner Nichte doch nur einen Kuss geben«, sagte Robert. »Das ist doch nichts Besonderes, oder?« »Unter den gegebenen Umständen doch, denke ich«, erwiderte Artwair. »Keiner von euch sieht es, nicht wahr?«, fragte Anne. »Ihr seht nicht, was er ist.« Die verwirrten Blicke, die diese Worte ihr eintrugen, bestätig355 ten ihre Vermutung, und selbst für ihre Augen verblassten die schwarzen Rinnsale, verschwanden allerdings nicht völlig. Robert hielt ihrem Blick stand, und sie sah etwas Sonderbares in seinen Augen, eine Art Erkennen oder Verblüffung. »Was bin ich denn, meine Teure? Ich bin Euer geliebter Onkel. Ich bin Euer guter Freund.« »Ich weiß nicht, was Ihr seid«, erwiderte Anne. »Aber Ihr seid nicht mein Freund.« Robert seufzte dramatisch. »Ihr seid völlig außer Euch, das sehe ich, und steht unter schlechtem Einfluss. Aber ich kann Euch versichern, ich bin Euer Freund. Warum sonst sollte ich Euren Thron schützen, so wie ich es getan habe?« »Meinen Thron?« »Natürlich, Anne. Liery hat Charles entführt, und in seiner Abwesenheit habe ich als Regent fungiert. Aber Ihr seid die Thronerbin, meine Teuerste.« »Ihr gebt das zu?«, fragte Anne. »Selbstverständlich. Wieso sollte ich nicht? Ich habe keinen Grund, gegen die Entscheidung des Comven aufzubegehren. Ich habe lediglich auf Eure Rückkehr gewartet.« »Und jetzt habt Ihr vor, mir die Krone zu überreichen?« Anne starrte ihn noch immer ungläubig an. »In der Tat, das werde ich tun«, bestätigte Robert. »Unter gewissen Bedingungen.« »Ah, jetzt kommen wir zum Angebot der Natter«, brummte Artwair. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft sah Robert verärgert aus. »Ich bin überrascht, was für einen Umgang Ihr pflegt, Anne«, sagte er. »Herzog Artwair war befohlen worden, unsere Grenze zu verteidigen. Er hat sich dieser Verpflichtung entzogen, um gegen Eslen zu marschieren.« »Um den Thron seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückzugeben«, sagte Artwair. »Ach, tatsächlich? Als Ihr zu Eurem Marsch nach Westen auf356 gebrochen seid, habt Ihr gewusst, dass Anne am Leben, wohlauf und bereit war, ihren Platz in Eslen einzunehmen? Aber das war doch, bevor Ihr sie gesehen und mit ihr gesprochen habt. Woher also konntet Ihr das wissen?« Er richtete seinen Blick wieder auf Anne. »Was meint Ihr, woher er das wusste, meine Liebe? Habt Ihr Euch je gefragt, was genau unser guter Herzog vielleicht von diesem Abkommen erwartet?« Tatsächlich hatte Anne sich genau das gefragt, doch sie behielt es für sich. »Wie lauten Eure Bedingungen?«, fragte sie. Robert nickte beifällig. »Ihr seid erwachsen geworden, wie? Obwohl ich sagen muss, ich weiß nicht recht, ob mir Euer Haar kurz geschnitten gefällt. Das wirkt so männlich. Wenn es lang ist, seht Ihr fast aus wie -« Jäh hielt er inne, und das wenige, was dort an Farbe gewesen war, war schlagartig aus seinem Gesicht gewichen. Er schaute weg - zuerst zum westlichen Himmel hinauf, dann zu der fernen Anhöhe von Breun-Trey. Schließlich räusperte er sich. »Jedenfalls«, sagte er in gedämpfterem Tonfall, »werdet Ihr verstehen, dass ich angesichts der Art und Weise Eures Eintreffens ein wenig besorgt bin.« »Das sehe ich«, entgegnete Anne. »Eure Männer haben sich unserem Marsch hierher widersetzt, und Ihr habt die Poels geflutet. Ganz offensichtlich seid Ihr auf einen Krieg vorbereitet. Warum solltet Ihr also plötzlich kapitulieren?« »Ich hatte keine Ahnung, dass diese Armee von Euch angeführt wurde, meine Teuerste. Ich habe angenommen, sie sei mehr oder weniger das, was sie zu sein schien - eine Revolte habgieriger, unzufriedener Adliger aus den Provinzen. Leute, die diese Zeiten der Unruhe als Vorwand nutzen würden, um einen Emporkömmling auf den Thron zu setzen. Jetzt, da ich sehe, dass sie Euch zu ihrer Marionette gemacht haben, ändert das natürlich vieles.« »Marionette?« »Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass sie Euch Königin sein lassen werden, oder?«, fragte Robert. »Ich denke, dafür seid Ihr zu 357 klug, Anne. Ihr musstet ihnen allen irgendetwas versprechen, nicht wahr? Wenn sie erst Blut vergossen, Männer und Pferde eingebüßt haben, glaubt Ihr etwa, ihre Begehrlichkeiten werden nachlassen? Ihr habt hier eine Armee, der Ihr nicht vertrauen könnt, Anne. Und mehr noch, selbst wenn Ihr das könntet, könnt Ihr Eslen nicht ohne weiteres einnehmen - wenn überhaupt.« »Ich habe noch immer nicht gehört, was Ihr vorschlagt.« Er hob die Hände. »Es ist gar nicht kompliziert. Ihr kommt in die Stadt, und wir richten eine Krönungszeremonie aus. Ich werde Euer Erster Berater sein.« »Und wie lange werde ich diese Ehre wohl überleben?«, fragte Anne. »Wie lange wird es dauern, bis ein
vergifteter Dolch mein Herz findet?« »Ihr könnt natürlich eine Gefolgschaft von vertretbarer Größe mitbringen.« »Meine Armee ist von vertretbarer Größe, finde ich«, erwiderte Anne. »Es wäre töricht, all diese Männer in die Stadt zu bringen«, wehrte Robert ab. »Tatsächlich kann ich das nicht zulassen. Ich traue ihnen nicht, und Ihr solltet es auch nicht tun. Bringt eine starke Leibwache mit. Lasst den Rest hier draußen zurück. Wenn der Abjudicator der Kirche eintrifft, wird er alles klären, und wir werden uns seiner Entscheidung beugen.« »Das ist ein leichtes Versprechen für Euch!«, fuhr Artwair auf. »Es ist allgemein bekannt, dass Ihr und der Praifec bei alldem hier die Schurken seid.« »Der Abjudicator kommt direkt aus zTrbina«, wandte Robert ein. »Wenn Ihr unseren allerheiligsten Vätern nicht mehr vertrauen könnt, kann ich mir nicht vorstellen, wem Ihr überhaupt noch trauen würdet.« »Ich fange damit an, Euch nicht zu trauen, und arbeite mich von dort aus weiter vor.« Robert seufzte. »Ihr werdet doch nicht tatsächlich darauf bestehen, diesen albernen Krieg zu führen, oder?« 358 »Wieso ist meine Mutter eingekerkert?«, wollte Anne wissen. Robert senkte den Blick. »Zu ihrem eigenen Schutz«, antwortete er. »Nach dem Tod Eurer Schwestern wurde sie zuerst schwermütig, dann war sie untröstlich. Sie war nicht mehr Herrin ihrer Sinne, und das hat sich zu ihrem Nachteil auch beim Regieren gezeigt. Ihr habt doch von dem Gemetzel an Unschuldigen auf dem Landsitz von Lady Gramme gehört, nehme ich an? Trotzdem habe ich mich erst genötigt gesehen einzuschreiten, als sie das Undenkbare versucht hat.« »Das Undenkbare?« Seine Stimme wurde leiser. »Das ist ein streng gehütetes Geheimnis«, sagte er. »Wir haben es verschwiegen, um Peinlichkeiten und, ganz ehrlich, Verzweiflung zu vermeiden. Eure Mutter hat versucht, sich das Leben zu nehmen, Anne.« »Wirklich?« Anne hatte so klingen wollen, als zweifle sie daran, doch irgendetwas zog ihr die Kehle zusammen. Konnte das wahr sein? »Wie gesagt, sie war untröstlich. Das ist sie immer noch, aber unter meinem Schutz ist sie wenigstens vor sich selbst in Sicherheit.« Anne dachte über Roberts Angebot nach. Sie traute ihm nicht, doch wenn sie erst einmal im Schloss war, konnte sie die Geheimgänge finden - dort wäre sie vor Robert und seinen Männern in Sicherheit, und sie konnte die Tunnel öffnen, die zu den Marschen hinausführten, und Männer in die Stadt bringen, wenn nicht gar ins Schloss selbst. Hier bot sich eine Gelegenheit, und sie hatte nicht vor, sie zu versäumen. »Ich möchte sie sehen«, sagte sie. »Das lässt sich leicht einrichten«, versicherte ihr Robert. »Ich möchte sie jetzt sehen.« »Soll ich nach ihr schicken?«, fragte Robert. Anne holte tief Luft. »Ich glaube, ich würde lieber zu ihr gehen.« »Ich habe ja schon gesagt, dass Ihr ein Gefolge ins Schloss mitbringen könnt. Wir können als Erstes Eure Mutter besuchen.« 359 »Es wäre mir lieber, wenn Ihr hier bleibt«, entgegnete Anne. Robert zog die Brauen hoch. »Ich bin unter Parlamentärflagge hergekommen, unbewaffnet und ohne Wachen. Ich hätte nie gedacht, dass Ihr so unehrenhaft sein könntet, mich gefangen zu nehmen. Wenn Ihr das tut, ich warne Euch - dann werdet Ihr Eslen niemals betreten. Eher brennen meine Männer es nieder, wenn mir etwas zustößt.« »Ich bitte mir das als einen Gefallen aus«, erwiderte Arne. »Ich bitte Euch, Euch bereit zu erklären, hier zu verweilen, während ich mit meiner Mutter spreche. Ich werde nur fünfzig Männer mitnehmen. Im Gegenzug werdet Ihr Euren Männern mitteilen, dass sie mir freien Zutritt zum Palast zu gewähren haben, damit ich mich vergewissern kann, dass all das, was Ihr sagt, der Wahrheit entspricht. Dann - und erst dann - können Ihr und ich vielleicht zu einer Übereinkunft kommen.« »Selbst wenn ich Euch vertraue«, erwiderte Robert, »so habe ich doch bereits deutlich gemacht, dass ich Euren Leuten nicht traue. Wie wollt Ihr sicher sein, dass sie mich nicht ermorden, während Ihr fort seid?« Er warf Artwair einen viel sagenden Blick zu. »Weil mein persönlicher Leibwächter, Sir Neil MeqVren, Euch verteidigen wird. Ihr könnt ihm absolut vertrauen.« »Er ist nur ein Mann«, wandte Robert ein. »Wenn Sir Neil etwas zustößt, weiß ich, dass ich verraten worden bin«, sagte Anne. »Das wird für meine Leiche nur ein schwacher Trost sein.« »Robert, wenn es Euch mit Euren guten Absichten ernst ist, dann habt Ihr jetzt Gelegenheit, das zu beweisen. Andernfalls werde ich Euch nicht trauen, und dieser Krieg wird beginnen. Die meisten der Landwaerde sind auf meiner Seite. Und Sir Fail wird bald mit einer Flotte eintreffen, zweifelt nicht daran.«
Robert strich sich einen Moment lang über den Bart. »Einen Tag«, sagte er schließlich. »Ihr kehrt mit meinem Wort nach Eslen zurück, auf meinem Boot, und ich werde hier bleiben, unter der Obhut von Sir Neil, an dem nicht einmal ich zweifle. Ihr sprecht 360 mit Eurer Mutter und überzeugt Euch von ihrem Zustand. Dann kommt Ihr zurück, und wir besprechen, wie Ihr auf den Thron gelangt. Einen Tag. Einverstanden?« Anne schloss einen Moment lang die Augen, versuchte zu erkennen, ob sie etwas übersehen hatte. »Euer Majestät«, sagte Artwair. »Das ist höchst unklug.« »Dem schließe ich mich an«, fügte Sir Neil hinzu. »Nichtsdestotrotz«, entgegnete Anne, »soll ich Königin sein, oder zumindest sagt ihr das alle. Es ist meine Entscheidung. Robert, ich bin mit Euren Bedingungen einverstanden.« »Mein Leben liegt in Euren Händen, Majestät«, versicherte Robert. 27. Kapitel In den Bairghs Während Gefahr in seinem Rücken kribbelte, blieb Stephen stehen, um Atem zu schöpfen. Hinter ihm sagte Ehan etwas, doch obgleich seine Ohren allmählich verheilten, war der Klang noch immer zu undeutlich, um es zu verstehen, als hätte er Wasser in den Ohren. Er tippte sich seitlich gegen den Kopf, um das zu zeigen, etwas, woran sie sich in den letzten Wochen alle gewöhnt hatten. »Ausruhen?«, wiederholte der kleine Mann ein wenig lauter. Widerstrebend nickte Stephen. Während seiner Zeit mit dem Waldhüter hatte er geglaubt, sein Körper sei durch das Reisen abgehärtet worden, doch der Pfad war zu steil zum Reiten, also mussten sie die Pferde führen. Seine Beine waren allem Anschein nach durch die Monate im Sattel nicht viel kräftiger worden. 361 Er ließ sich auf einem Felsen nieder, während Ehan eine Wasserflasche und ein wenig von dem Brot hervorzog, das sie im letzten Dorf gekauft hatten, durch das sie gekommen waren, eine Ansammlung von Hütten namens Crothaem. Das lag jetzt irgendwo weit unter ihnen, jenseits des namenlosen Tals und der Falten der HaulandVorgebirge, die sich daran entlangzogen. »Was glaubst du, wie hoch wir sind?«, fragte Ehan. Jetzt, wo sie einander gegenübersaßen, war es leichter, sich verständlich zu machen. »Schwer zu sagen«, antwortete Stephen, denn das war es wirklich, selbst als gröbste Schätzung. »Inzwischen müssen wir im eigentlichen Gebirge sein.« »Das Problem ist, dass es keine Bäume gibt«, sagte Ehan. Stephen nickte. Das war wirklich ein Problem, oder zumindest eins von den Problemen. Es war, als hätte irgendein uralter Heiliger oder Gott ein gigantisches Wiesenstück aus den Midenlanden gerissen und es wie ein Laken über die Bairghs gebreitet. Stephen nahm an, dass das, was er hier vor sich sah, das Ergebnis von zweitausend Jahren menschlichen Treibens war - Abholzen, um Bau- und Feuerholz zu gewinnen, und Roden, um Weideland für Schafe, Ziegen und die pelzigen Kühe zu schaffen, die anscheinend überall waren. Das Resultat jedoch war ein verwirrender Verlust der Perspektive. Das Gras milderte scheinbar die Steilheit der Hänge und täuschte das Auge, was Entfernungen betraf. Nur wenn er den Blick fest auf etwas Bestimmtes richtete - eine Ziegenherde oder eines der gelegentlichen mit Grassoden gedeckten Bauernhäuser -, konnte er die gewaltigen Ausmaße des Ganzen einigermaßen erfassen. Und die Gefahr. Steigungen, die sanft und freundlich wirkten von denen er tatsächlich dachte, er könnte sie hinunterrollen wie ein Kind auf einem kleinen Hügel -, verbargen in Wirklichkeit tödliche Schluchten. Glücklicherweise hatten dieselben Jahrtausende und dieselben 362 Menschen, die die baumlose Landschaft hervorgebracht hatten, auch gut ausgetretene Pfade hinterlassen, die ihnen verrieten, wo man ungefährdet gehen konnte - und wo nicht. »Glaubst du, der Woorm folgt uns immer noch?«, wollte Ehan wissen. Stephen nickte. »Er folgt uns nicht direkt«, sagte er. »Er ist uns nicht über die Hochlande von Brogh-y-Stradh gefolgt; er ist den Then hinaufgeschwommen, um uns abzupassen.« »Irgendwie verständlich, dass er lieber in Flüssen unterwegs ist - ein Wesen von dieser Größe.« »Darum geht es aber gar nicht«, sagte Stephen. »Als wir die Ef hinuntergefahren sind, zum Grauen Magierfluss, hat er uns sogar überholt, wie wir dann in Ever herausgefunden haben.« »Stimmt«, erwiderte Ehan; seine Stirn furchte sich bei der Erinnerung. Ever war ein Dorf der Toten gewesen. Die wenigen Überlebenden hatten ihnen erzählt, dass der Woorm erst ein paar Tage zuvor dort vorbeigekommen war. »Von dort aus hätten wir uns überallhin wenden können. Und selbst wenn er fest entschlossen gewesen wäre, uns zu folgen und dabei die Flüsse zu nutzen, hätte er vielleicht den Magierfluss hinaufschwimmen können, bis zum Zusammenfluss bei Werthen. Er hätte bis nach Eslen schwimmen können. Aber das hat er nicht getan - er ist den Then stromaufwärts geschwommen, um uns den Weg über Land abzuschneiden -, und beinahe hätte er uns gekriegt.« Er schauderte bei der Erinnerung daran, wie der Kopf des Ungeheuers wie ein Boot aus Eisen durch die vereiste
Oberfläche des Stroms gebrochen war. Der Eindruck war durch die beiden in Pelze gehüllten Passagiere auf seinem Rücken noch verstärkt worden. Er hatte sich gefragt, was die beiden wohl tun würden, falls der Woorm je unter die Oberfläche tauchen sollte, als der Blick der Bestie - ihr grauenvoller Blick - ihn aufgespürt und er tief in seinem Herzen gewusst hatte, dass dies das Ende war. Doch sie hatten sich abgewandt und in dieser Nacht beinahe 363 ihre Pferde zuschanden geritten. Und seither hatten sie ihn nicht mehr gesehen. »Aber wir wissen doch, dass er auf dem Hinweg zum Kloster durch Ever gekommen war«, gab Ehan zu bedenken. »Vielleicht hat er zurück nur wieder denselben Weg genommen, und wir hatten das Pech, dass wir uns den gleichen Weg ausgesucht hatten.« »Ich wünschte, ich könnte das glauben, aber ich kann nicht«, sagte Stephen. »Das wäre ein viel zu großer Zufall.« »Vielleicht ist es dann ja gar kein Zufall«, drängte Ehan. »Vielleicht ist das alles Teil irgendeines großen Plans.« »Dem Bein würde ich nicht allzu viel Gewicht anvertrauen«, warf Henne ein, der sie beide eingehend musterte. »Da sitzen doch zwei Burschen auf seinem Rücken, oder? Wenn einer von denen die Gegend gekannt und etwas vom Spurenlesen verstanden hat, hätten sie sich ausrechnen können, wo wir hinwollen. Ihr Heiligen, sie könnten auch Halt gemacht haben, um die armen Leute bei Whitraff zu befragen, die, mit denen wir gesprochen haben. Die würden sich an uns erinnern, schließlich waren wir damals fast taub, und ich glaube nicht, dass sie einem Woorm-Reiter etwas verschweigen würden. Nachdem sie erst einmal wussten, auf welcher Straße wir unterwegs waren, konnte sie sich denken, wo wir den Then überqueren mussten - da gibt's nur ein paar Furten und keine Brücke.« »Das ist möglich«, räumte Stephen ein. »Er hat uns nicht an der Fähre über den Weißen Magierfluss erwartet. Wenn er uns jetzt folgt, kommt er wieder über Land.« »Es sei denn, Ihr habt Recht«, sagte Henne, »und er weiß, wo wir hinwollen. In diesem Fall wäre er den Welph hinaufgeschwommen und würde zwei Täler weiter auf uns warten.« »Was für ein wunderbarer Gedanke«, brummte Ehan. Am Nachmittag erreichten sie die Schneegrenze, und bald wurde der nasse, schlammige Pfad hart wie Stein. Auf Hennes Vorschlag hin hatten sie in Crothaem einen Schneider aufgetrieben und vier 364 Paiden erstanden, eine Art mit Schaffell gefütterter, gesteppter Filzmantel, der in dieser Gegend gebräuchlich war. Die Paiden hatten mehr als die Hälfte von dem gekostet, was der Fratrex ihnen mitgegeben hatte, und Stephen war der Preis unglaublich hoch vorgekommen. Inzwischen hatte er seine Meinung nachhaltig geändert, als sie in die tief hängenden Wolken hinaufstiegen und feststellten, dass sie aus eiskaltem Nebel bestanden. Die Pferde rutschten zu oft aus, als dass sie hätten reiten können, und das Gehen wurde schwieriger, zum einen, weil der Pfad steiler wurde, zum anderen, weil die Luft weniger gehaltvoll zu sein schien. Stephen hatte von schlechter Luft auf Berggipfeln gelesen. In den Hasenbergen konnte man angeblich auf den höchsten Gipfeln - denen, die als Sa'Ceth afSa'Nem bekannt waren - die Luft überhaupt nicht mehr atmen. Bis jetzt hatte er am Wahrheitsgehalt dieser Berichte gezweifelt, aber dieser Teil der Bairghs war für ein Gebirge gar nicht besonders hoch, und doch wurde er bereits zum Bekehrten. Es wurde dunkel, als sie auf einen Ziegenhirten stießen, der seine Herde den Weg hinabtrieb, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Stephen begrüßte ihn in seinem besten Nordalmanisch. Der Hirte - eigentlich ein Knabe von vielleicht dreizehn Jahren, mit rabenschwarzem Haar und blassblauen Augen - lächelte und antwortete in etwas, das dieser Sprache sehr ähnelte, allerdings mit so eigentümlicher Aussprache, dass Stephen Zeit brauchte, um ihn zu verstehen. »D'rt d'n Weg hinauf 'st ein Vel, 's heißt Demsted«, ließ der Junge sie wissen. »Ung'fähr ein Meil'. D'rt findet 'r ein Gastw'rthaus. Mein Vaad'rbrud'r Ansgif, d'r gibt Euch d'rt allen ein' Kamm'r.« »Danx«, erwiderte Stephen, der die hier übliche Dankbarkeitsäußerung richtig erraten hatte. »Sag - hast du je von einem Berg namens eslief vendve gehört?« Der Knabe kratzte sich einen Augenblick lang am Kopf. 365 »Slivendy?«, fragte er schließlich. »Vielleicht«, antwortete Stephen vorsichtig. »Er liegt weiter im Nordosten.« »Je, s'r weit«, bekräftigte der Junge. »Hat noch ein' and'rn Nam' - hm, net gemoonu ... wiss n'cht mehr. Fr'gt mein' Vaad'rbrud'r, je? 'r spr'cht bess'r Almanisch.« »Und sein Name ist Ansgif ?« »Je, im Gastw'rthaus, heißt >Svartboch<. 'ch heiß' Ven. Sagt, dass 'r mit m'r g'red't habt.« »Mekle danx, Ven«, sagte Stephen. Der Junge lächelte, winkte und setzte seinen Weg fort; er verschwand im Nebel, obgleich sie die Glocken seiner Ziegen noch eine Weile hören konnten. »Was war das denn?«, knurrte Ehan, nachdem der Junge außer Hörweite war. »Am Anfang habe ich dich noch verstanden, aber dann hast du angefangen, genauso zu reden wie der Bengel, und dann war alles nur noch
Kauderwelsch.« »Wirklich?« Stephen dachte an das Gespräch zurück. Er hatte lediglich sein Almanisch anhand des Dialektes, den der Junge gesprochen hatte, neu ausgerichtet und erraten, wie die Worte in seiner Mundart klingen sollten. »Nachdem du ihn begrüßt und nach einer Bleibe für die Nacht gefragt hast, habe ich kein Wort mehr verstanden.« »Nun, es gibt eine Bleibe - einen Ort namens Demsted, in der Klamm dort vorn. Wir sollen nach einem Gasthaus mit dem Namen Svartboch - Schwarzer Bock - Ausschau halten, und sein Onkel Ansgif wird uns ein Zimmer vermieten. Von unserem Berg hat er auch gehört, und er sagt, er hat noch einen anderen Namen, der ihm aber nicht mehr eingefallen ist. Er hat gesagt, wir sollen seinen Onkel auch danach fragen.« »Bleibt das von jetzt an so, dass die Leute unverständliches Zeug plappern?« »Nein«, sagte Stephen. »Wahrscheinlich wird es eher schlimmer.« 366 Ihr Tag wurde wirklich schlimmer, wenn auch nicht auf die Art und Weise, wie Stephen es vorausgesagt hatte. Kurz nachdem der Pass wieder unter die Schneegrenze tauchte und der Weg sich allmählich abwärts schlängelte, wurde Stephen durch einen erstickten Schrei von Ehan aus seinen Überlegungen zum Standort des Berges gerissen, den er suchte. Der Schrei brachte seinen Verstand augenblicklich wieder zurück zu seinen Füßen und ließ einen Ruck durch Herz und Lunge schießen. Als er in die Richtung spähte, in die Ehans Finger wies, war es ihm zunächst unmöglich, das, was er sah, zu deuten. Es war ein Baum, besonders bemerkenswert, weil es einer der wenigen war, die er während vieler Meilen zu Gesicht bekommen hatte. Er kannte die Art nicht, doch der Baum war unbelaubt, und seine Äste waren vom Gebirgswind knorrig und verdreht. In seiner Krone jedoch hockte ein großer Vogelschwarm. Vögel, und Menschen, die den Baum erkletterten ... Nein, sie kletterten nicht. Sie hingen davon herab. Acht Leichname mit schwarz angelaufenen Gesichtern baumelten an dicken Seilen, die an die Äste gebunden waren. Ihre Augen waren verschwunden, vermutlich von den Krähen gefressen, die jetzt laut kreischten und krächzten. »Anzuf af se friz ya s'uvil«, fluchte Ehan. Stephen ließ den Blick durch den schmalen Pass wandern. Er sah und hörte niemanden, doch sein Gehör war noch immer geschädigt, also war das nicht überraschend. »Gebt Acht«, sagte er. »Wer auch immer das getan hat, ist vielleicht noch in der Nähe.« »Ja«, stimmte Ehan zu. Stephen ging auf die Leichen zu, um sie näher zu betrachten. Es waren fünf Männer und drei Frauen, alle unterschiedlichen Alters. Die Jüngste war ein Mädchen, das kaum älter als sechzehn gewesen sein konnte, der Älteste ein Mann von vielleicht sechzig Wintern. Alle waren nackt und schienen durch den Strang gestorben zu sein. Doch sie alle wiesen noch andere Wunden auf: die Rü367 cken fast bis auf die Knochen von Hieben zerfleischt, Verbrennungen und Abschürfungen. »Noch mehr Opfer?«, fragte Bruder Themes. »Wenn dem so ist, dann sind sie nicht so wie die, die ich damals gesehen haben, bei den Schreinen«, sagte Stephen. »Denen waren die Eingeweide herausgerissen worden, und sie waren rund um den Sedos an Pfosten genagelt worden. Hier sehe ich keinen Sedos-Schrein, und diese Leute sehen aus, als hätte man sie einfach gefoltert und dann aufgehängt.« Er dachte, dass ihm eigentlich übel sein sollte, stattdessen jedoch war ihm eigenartig schwindlig - eine abwegige Regung, nahm er an, ausgelöst von dem grauenhaften Anblick. »Es gibt bestimmt alte Götter und sogar Heilige, die ihre Opfer an Bäumen hängend entgegennehmen«, fuhr er fort. »Und es war auch in Ländern der Kirche üblich, Verbrecher so zu hängen, zumindest bis vor ein paar Jahren.« »Vielleicht hat der Junge deswegen nichts davon gesagt«, überlegte Themes. »Vielleicht ist das hier einfach nur der Ort, wo sie in seiner Stadt die Verbrecher hinbringen.« »Wahrscheinlich«, sagte Stephen. »Das klingt vernünftig.« Doch trotz dieser Erklärung waren das Knarren der Seile und die augenlosen Gesichter Stephen ein paar Glockenschläge später noch sehr gut in Erinnerung, als Demsted in Sicht kam. Für Stephen waren die meisten Ortschaften, die er zu Gesicht bekommen hatte, seit sie die Ruinen von Ever hinter sich gelassen hatten, nicht das gewesen, was er als richtige Stadt bezeichnen würde, und er erwartete nicht viel von Demsted. Umso überraschter war er, als sie durch den Nebel hangabwärts stiegen und Myriaden von Lichtern in der Klamm unter ihnen erblickten. Im Zwielicht konnte er die Umrisse eines Glockenturms ausmachen, die spitzgiebligen Dächer von einigen Häusern, die mehr als ein Stockwerk aufzuweisen hatten, und ein gedrungenes, rundes Bauwerk, bei dem es sich um eine alte Festung handeln mochte. 368 Die ganze Stadt war von einer festen Steinmauer umgeben. Es war nicht Ralegh oder Eslen, doch angesichts dessen, wo sie sich befanden, war Stephen ehrlich verblüfft. Wie konnte eine Hand voll Schafhirten eine Stadt von dieser Größe erhalten? Der Bergpfad vereinigte sich mit einer älteren, von Böschungen gesäumten Straße, kurz bevor sie die Stadt
erreichten. Noch eine Überraschung: Sie ähnelte den Straßen, die die Hegemonie gebaut hatte, doch soweit es Stephen bekannt war, hatte die Hegemonie nicht bis in die Bairghs gereicht. Bald fanden sie sich vor dem Eingang zur Stadt wieder, zwei mit Eisenbändern beschlagene Tore, ungefähr vier Königsellen hoch. Noch waren sie nicht geschlossen, doch ein heiserer Ruf von oben warnte sie, sie sollten anhalten. Oder zumindest nahm Stephen an, dass es eine Warnung war. »Wir sind Reisende«, schrie er hinauf. »Sprecht Ihr die Sprache des Königs oder Almanisch?« »Ich kann die Königssprache sprechen«, brüllte der Mann zurück. »Ihr seid mächtig spät draußen. Wir wollten gerade die Tore schließen.« »Wir hätten in den Bergen übernachtet, aber wir haben einen Jungen getroffen, der uns gesagt hat, wir könnten hier Obdach finden.« »Wie hieß der Junge?« »Er nannte sich Ven.« »Je«, sagte der Mann nachdenklich. »Schwört ihr, dass ihr keine Zauberer, Wirjawalvs oder andere boshafte oder verderbte Kreaturen seid?« »Wir sind Mönche des heiligen Decmanus«, rief Ehan hinauf, »oder zumindest drei von uns. Der Vierte ist Jäger und unser Freund.« »Wenn ihr die Prüfung gestattet, könnt ihr hereinkommen.« »Prüfung?« »Tretet durch das Tor.« Das Tor öffnete sich nicht unmittelbar zur Stadt hin, sondern 369 führte in einen ummauerten Hof. Noch während sie eintraten, sah Stephen, wie das gegenüberliegende Tor zuschlug. Er wartete darauf, dass auch das, durch das sie eben gekommen waren, sich schloss, doch anscheinend wollten die Stadtbewohner lieber eine Tür offen lassen, durch die Stephen und seine Gefährten entweichen konnten, falls sie doch Zauberer oder Wirjawalvs waren. Eine Tür öffnete sich zu ihrer Linken am Fuße der Mauer, und Stephens Nackenhaare stellten sich auf, als zwei große, vierbeinige Gestalten heraustraten; ihre Augen glitzerten rot im Fackelschein. Er konnte nicht sagen, ob es Hunde oder Wölfe waren. Es dauerte einen Moment, bis er bemerkte, dass jemand bei den Tieren war. Wer immer es war, trug einen Wettermantel und einen Paida, und sein Gesicht lag im Schatten. Die Bestien kamen jetzt knurrend näher, und Stephen nahm an, dass es sich um eine Doggenart handelte, wenn auch so groß wie Ponys. »Wohl fühle ich mich dabei ja nicht«, bemerkte Henne. »Haltet einfach still«, sagte die Gestalt, die die Hunde begleitete. Stephen dachte bei sich, dass sie sich wie eine Frau anhörte, wenn auch ein wenig heiser. »Macht keine plötzlichen Bewegungen.« Stephen versuchte zu gehorchen, doch es war nicht leicht, als die gewaltigen, nassen, zahnbewehrten Schnauzen der Tiere an ihm herumschnüffelten. »Das ist die Prüfung?«, fragte er, um seine Nervosität zu zügeln. »Jeder Hund kann riechen, was nicht natürlich ist«, antwortete die Frau. »Aber diese hier wurden dafür gezüchtet.« Der Hund, der an Stephen schnupperte, bellte plötzlich auf, fletschte die Zähne und wich mit sichtbar gesträubtem Rückenfell zurück. »Ihr seid mit irgendetwas befleckt«, sagte die Frau. »Ja«, erklärte Stephen. »Wir sind auf etwas gestoßen, in den Midenlanden. Einen Woorm. Vielleicht haben wir immer noch seine Witterung an uns.« 370 Sein Gehör wurde erst jetzt langsam wieder normal; die von den Heiligen geschenkte Fähigkeit, ein Flüstern auf hundert Königsellen zu hören, musste er erst noch zurückerlangen - wenn sie ihm denn je wieder zuteil wurde. Aber er brauchte sie nicht, um sich das Knarren der Bögen vorzustellen, die um sie herum gespannt wurden. Doch als die Frau zurückwich, beruhigten sich die Hunde rasch, und sie schien sich ein wenig zu entspannen. Er hörte, wie sie den Tieren etwas zuflüsterte, und die Hunde kamen zurück, um ein zweites Mal Witterung aufzunehmen. Diesmal schienen sie zufrieden zu sein. Offenkundig hatten es sich die Leute hier zur Gewohnheit gemacht, Fremde zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass sie keine Ungeheuer waren. Das bedeutete entweder, dass sie gute Gründe dafür hatten, oder dass sie hoffnungslos abergläubisch waren. Stephen war sich nicht sicher, was ihm lieber wäre. »Sie sind befleckt«, sagte die Frau laut. »Aber sie sind Menschen.« »Das genügt«, antwortete eine Stimme von der Mauer her. Stephen stellte sich vor, wie sich das Holz der Bögen langsam streckte, und er fühlte, wie seine Schultern sich ein wenig lockerten. »Ich heiße Stephen Darige«, sagte er zu der Frau. »Mit wem habe ich die Ehre?« Die Kapuze hob sich ein wenig, doch er konnte noch immer keinerlei Gesichtszüge erkennen.
»Mit einer ergebenen Dienerin der Heiligen«, antwortete sie. »Man nennt mich Pale.« »SorPales?« Sie lachte leise. »Eck nomniss ...« »... sverripatenar«, vollendete er. »In welchem Konvent wart Ihr?« »Im Konvent der heiligen Cer von Tero Galle«, erwiderte sie. »Und Ihr habt Eure Studien in d'Ef betrieben?« 37i »So ist es«, antwortete Stephen vorsichtig. »Darf ich fragen, ob Ihr in Angelegenheiten der Kirche unterwegs seid? Wurdet Ihr geschickt, um den Sacritor zu unterstützen?« Stephen wusste nicht, wie er darauf antworten sollte, außer mit der Wahrheit. »Wir sind im Auftrag unseres Fratrex unterwegs«, erklärte er, »aber wir sind nur auf der Durchreise durch Eure Stadt. Ich kenne Euren Sacritor nicht.« Langes, merkwürdiges Schweigen folgte auf seine Worte. »Ihr habt Ven erwähnt«, sagte die Frau schließlich. »Ja. Er hat gesagt, sein Oheim würde uns ein Zimmer geben, im, äh, Svartboch.« »Ihr würdet lieber in einem Gasthaus wohnen als in der Kirche, wo Ihr umsonst Obdach finden würdet?« »Ich will dem Sacritor keine Umstände machen«, erwiderte Stephen. »Und wir brechen bei Tagesanbruch auf. Unser Fratrex hat uns genug Geld für die Reise mitgegeben.« »Unsinn«, unterbrach eine Männerstimme. »Wir haben reichlich Platz für Euch.« Stephen warf einen Blick in Richtung der neuen Stimme und sah sich einem Ritter in einer mit Messing ziselierten Rüstung gegenüber. Er hatte den Helm abgenommen, und in dem düsteren Licht der Fackeln bestand sein Gesicht hauptsächlich aus Bart. »Schwester Pale, Ihr solltet es wirklich besser wissen. Ihr hättet darauf bestehen müssen.« »Das hatte ich vor, Sir Eiden«, entgegnete Schwester Pale. Sir Eiden vollführte eine kleine Verbeugung. »Willkommen, liebe Brüder, im Attish von Ing Fear und in der Stadt Demsted. Ich bin Sir Eiden vom Orden des heiligen Nod, und es wäre mir eine große Ehre, Euch zu Euren sicheren Ruhestätten zu geleiten.« Obgleich er es sich verzweifelt wünschte, fiel Stephen keine Möglichkeit ein abzulehnen. »Das ist sehr freundlich« sagte er. 372 Die Straßen von Demsted waren schmal, finster, unordentlich und weitgehend leer. Stephen ertappte ein paar neugierige Seelen dabei, wie sie aus dunklen Fenstern zu ihnen herüberspähten, zumeist jedoch war die Stadt unheimlich still. Die einzige Ausnahme war ein großes Gebäude, aus dem der Klang von Flöten und Harfen ertönte, gemischt mit Klatschen und Gesang. Eine Laterne, die an einem Pflock vor der Tür hing, wies es - wie Stephen gedacht hatte als den Svartboch aus. »Hier wollt Ihr bestimmt nicht wohnen«, widersprach Sir Eiden Stephens unausgesprochenem Wunsch. »Das ist nicht der richtige Ort für Männer der Heiligen.« »Ich bin gern bereit, Euch das zu glauben«, log Stephen. »Sehr vernünftig. Ihr werdet sehen, der Tempel wird Euch viel mehr zusagen. Demsted selbst kann eine rechte Prüfung sein.« »Ich war überrascht, in einer so entlegenen Gegend eine Stadt von dieser Größe vorzufinden«, sagte Stephen. »Ich finde nicht, dass dies eine besonders große Stadt ist«, erwiderte der Ritter. »Aber ich weiß wohl, was Ihr meint. In den Hügeln nördlich von hier wird nach Silber geschürft, und Demsted ist der Markt, wo die Händler das Erz kaufen. Außerdem entspringt hier der Kae und fließt in den Unterlauf des Welph, und von dort in den Magierfluss. Wenn Ihr von Süden gekommen seid, über den Pass, ist Eure Überraschung, überhaupt etwas vorzufinden, durchaus verständlich.« »Ah. Und wie lange seid Ihr schon hier, Sir Eiden?« »Einen Monat, nicht länger. Ich bin mit dem Sacritor gekommen, um das Werk des Resacaratum zu verrichten.« »In dieser Einöde?« »Die schlimmsten Gifte schwären an den unzugänglichsten Orten«, erwiderte der Ritter. »Wir haben reichlich Ketzer und Zauberer entdeckt. Vielleicht habt Ihr ein paar davon an dem Baum auf dem Pass gesehen.« Einen Moment lang war Stephen so erschrocken, dass er nicht antworten konnte. 373 »Das habe ich«, sagte er schließlich. »Ich habe sie für Verbrecher gehalten.« Es war zu dunkel, um Sir Eldens Gesicht zu erkennen, doch sein Ton ließ erkennen, dass er in Stephens Bemerkung etwas gehört hatte, was ihm missfiel. »Es waren Verbrecher, Bruder - von der allerschlimmsten Sorte.« »Gewiss«, sagte Stephen vorsichtig. »In diesen Bergen wimmelt es förmlich von Hexenbrut«, fuhr der Ritter fort. »Widerwärtige Bestien, aus der Tiefe der Erde heraufbeschworen. Ich selbst war Zeuge, wie eine Frau einen grässlichen Uttin geboren hat, womit sie bewies, dass sie unreinen Dämonen beigelegen hat.«
»Ihr habt das gesehen)« »Oh ja. Nun, die Niederkunft, nicht den Beischlaf, aber das eine leitet sich vom anderen ab. Diese Lande werden von den Armeen des Bösen belagert. Wie, glaubt Ihr, Schwester Pales Überprüfung war eitler Schein? In der ersten Woche, die ich hier verbracht habe, ist ein Wirjawalv in die Stadt eingedrungen und hat vier Bürger ermordet und drei weitere verletzt.« Er hielt inne. »Ah, da sind wir ja.« »Ich würde gern mehr über diese Dinge hören«, sagte Stephen. »Wir müssen noch weiter in die Berge reisen. Wenn es Gefahren gibt, auf die wir dort stoßen könnten ...« »Es gibt reichlich Gefahren«, versicherte ihm der Ritter. »Was für ein Anliegen führt Euch in diese heidnischen Gefilde? Welcher Fratrex hat Euch hergeschickt?« »Mein Auftrag muss vertraulich bleiben, fürchte ich«, wehrte Stephen ab. »Aber ich wüsste gern, gibt es eine Sammlung von Serifti und Karten in Demsted?« »Ein paar gibt es«, erwiderte der Ritter. »Ich selbst habe sie nicht in Augenschein genommen, aber ich bin sicher, der Sacritor wird Euch gestatten, sie zu betrachten, wenn Ihr ihm Euren Bedarf und die Wahrhaftigkeit Eurer Behauptungen erst glaubhaft 374 gemacht habt. Bis dahin, kommt, bringen wir Eure Pferde in den Stall und geleiten Euch zu Euren Quartieren. Ich hole den Sacritor, und Ihr könnt Euch miteinander bekannt machen.« Es war zu finster, um von außen viel von dem Tempel erkennen zu können; er war größer, als Stephen gedacht hatte, mit einem von einer Kuppel gekrönten Hauptschiff im Stil der Hegemonie. Kurz überlegte er, ob das Bauwerk vielleicht tatsächlich so alt war - ob irgendein vergessener Bekehrungsfeldzug weiter in die Berge vorgedrungen war, als es der Geschichte bekannt war. Aber wie Sir Eiden gesagt hatte, Demsted war abgelegen, doch es war nicht vom Rest der Welt abgeschnitten. Und wäre die Kirche wirklich so uralt, wäre dies einem der zahlreichen Sacritore, Attish-Priester oder Mönche, die hier gelebt hatten, aufgefallen, und er hätte diese Tatsache niedergeschrieben. Der Ritter öffnete die Tür, und sie traten ein. Der Marmorboden war so abgetreten, dass die Pfade, wo Füße gewandelt waren, sich tatsächlich ein wenig hineingegraben hatten, was Stephens Eindruck von gewaltigem Alter noch verstärkte. Doch die Bauweise war nicht die der Hegemonie - zumindest passte sie zu keinem Hegemonie-Tempel, den er jemals gesehen hatte, ob als Abbildung oder leibhaftig. Die Durchgänge waren hoch, gewölbt und schmal, die Säulen, die die mächtige Decke trugen, eigenartig zierlich. Anstelle der üblichen halbkugelförmigen Kuppel schien das Mittelschiff von einem spitzen Kegel gekrönt wenngleich die flackernden Kerzen und Fackeln, die den Altar und die Gebetsnischen beleuchteten, nicht ausreichten, um ihren oberen Bereich zu erhellen. Am allermeisten, begriff er, erinnerte ihn das Gebäude an die wenigen Zeichnungen, die er von den verwegenen Bauwerken aus der Ära der Magierkriege gesehen hatte. Sie durchschritten das Hauptschiff und gelangten in einen stillen Korridor, der nur von ein paar Kerzen erhellt wurde, obgleich der Stein so blank poliert war, dass er wie Glas glänzte und das Licht nach Kräften nutzte. Dann traten sie durch eine Tür in einen 375 behaglichen Raum, den Stephen rasch als Bibliothek erkannte. Hinter einem schweren Tisch saß ein Mann über ein offenes Buch gebeugt. Eine Lampe beleuchtet die Seiten, nicht jedoch sein Gesicht. »Sacritor?«, fragte Sir Eiden. Der Mann blickte auf, und das gebündelte Licht der Lampe streifte sein Antlitz, ließ Züge mittleren Alters sichtbar werden, die durch einen kleinen Kinnbart länger wirkten. Stephens Herz schlug plötzlich schneller, und er empfand das jähe Begreifen, das ein Wolf fühlt, wenn sich die Falle um seine Pfote schließt. »Ah«, sagte der Mann. »Wie schön, Euch zu sehen, Bruder Stephen.« Einen Augenblick lang hatte er gehofft, dass er sich irrte - hatte gehofft, das Gesicht sei ein Streich, den ihm das Licht und die Erinnerung spielten. Doch die Stimme war unverwechselbar. »Praifec Hespero«, sagte Stephen. »Was für eine Überraschung.« 28. Kapitel Eine neue Tonart Leoff erinnerte sich an Blut, das auf den Boden spritzte, jeder Tropfen wie ein Granat, bis es auf den leicht porösen Stein traf, wo es sich ausbreitete und aufgesogen wurde, Juwelen, die sich in Flecken verwandelten. Er erinnerte sich, dass er überlegt hatte, wie lange sein Blut Teil des Steins sein würde, ob er in einem gewissen Sinne unsterblich geworden war, indem er sein Leben hier verströmt hatte. Wenn ja, dann war es eine niedere Form der Unsterblichkeit- eine gewöhn376 liehe Art, nach der Anzahl der Flecken zu urteilen, die bereits vorhanden waren. Er blinzelte und rieb sich mit der knotigen Rückseite seiner Handgelenke die Augen, seltsam hin- und hergerissen zwischen einem Wutanfall und völliger Erschöpfung, als er zusah, wie Tintenkleckse in das Pergament sickerten, so sehr wie Blut auf Stein. Er schien zwischen zwei Augenblicken zu zittern - damals, die Peitsche auf seinem Rücken, der bizarre Schmerz so allumfassend, dass er schwer als solcher zu erkennen war, und jetzt, da Tinte von seinem bebenden Federkiel spritzte.
Für einen langen Moment brach der Unterschied zwischen damals und jetzt zusammen, und er fragte sich, ob er noch dort war, im Verlies. Vielleicht war das Jetzt nur ein hübsches Gaukelbild, das sein Verstand erschaffen hatte, um ihm das Sterben zu erleichtern. Wenn dem so war, so waren seine Gaukelbilder von schlechter Machart. Er konnte keinen Federkiel halten, hatte sich jedoch von Mery einen an seine Hand binden lassen. Anfangs hatte sich sein Arm rasch - und ungemein schmerzhaft - verkrampft, doch das war lediglich ein Bruchteil der Schmerzen, die er ertrug. Um Musik niederzuschreiben, musste er sie hören, und das im Kopf zu tun war stets seine große Begabung gewesen. Er konnte die Augen schließen und sich jede Note von fünfzig Instrumenten vorstellen, konnte Kontrapunkte weben, Harmonien andeuten. Alles, was er schrieb, hörte er zuerst, und das war für ihn niemals etwas anderes gewesen als eine Freude - bis jetzt. Eine Woge der Übelkeit durchflutete ihn. Ruckartig fuhr er von seinem Schemel hoch und stolperte zu dem schmalen Fenster hinüber. Sein Bauch fühlte sich an, als sei er voller Maden, seine Knochen so verrottet wie von Termiten befallene Äste. Könnte es ihn umbringen, sich diese Akkorde einfach nur vorzustellen? Aber wenn das der Fall war ... Alle Mutmaßungen wurden beiseite gewischt, als er sich aus dem Fenster beugte und zu würgen begann. Er hatte kaum etwas 377 zu Abend gegessen, doch sein Körper scherte sich nicht darum. Als sein Magen leer war, schürfte er tiefer, schüttelte ihn mit Krämpfen, bis seine Arme und Beine nachgaben und er zusammensank, das Gesicht an Stein gepresst. Im Geiste sah er sich selbst als Blutstropfen vor sich, ein Granat, der zu einem Flecken wurde ... Er wusste nicht genau, wie lange es dauerte, bis er die Kraft fand, wieder aufzustehen. Abermals zog er sich zum Fenster hoch, sog in gierigen Zügen die salzige Luft ein. Der Mond war aufgegangen, kalt und rund, und die eisige Luft ließ sein Gesicht gefühllos werden. Tief unten schlug Silber in kleinen Wellen gegen Ebenholz, und Leoff sehnte sich plötzlich danach, sich ihnen anzuschließen, durch das Fenster die Freiheit zu finden, sein zerstörtes Skelett auf den Felsen zu zerschmettern und die Lande des Schicksals jenen zu überlassen, die stärker und tapferer waren. Jenen, die gesund waren. Er schloss die Augen und fragte sich, ob er wahnsinnig war. Gewiss wäre er in seinen finstersten Träumen niemals imstande gewesen, sich die Musik vorzustellen, die ihm jetzt so zusetzte, wenn er nicht auf die Weise gefoltert, gebrochen und gedemütigt worden wäre, wie es ihm geschehen war. Das wusste er mit absoluter Sicherheit. Die obskure Notenschrift in dem Buch, das er gefunden hatte, wäre ebenso unverständlich geblieben wie die Schrift, in der das Werk verfasst worden war. Sie war mit keinem Musiksystem verwandt, das ihm bekannt war, doch nachdem er jenen ersten Akkord gesehen hatte, hatte er sie irgendwie in seinem Kopf gehört, und der Rest war ganz von allein an Ort und Stelle gerückt. Doch ein geistig gesunder Mann - ein Mann, dem das Grauen, das er durchlitten hatte, nie widerfahren war - hätte diesen Akkord niemals hören können. Ganz gewiss hätte er niemals weitermachen können - hätte sich niemals absichtlich solche Pein zufügen können, wie er es jetzt tat. Jeder, der sein Leben liebte - der sich eine Zukunft vorstellte -, könnte diese Musik niemals schreiben. 378 Seine Träume für seine Musik waren grandios gewesen - seine Träume für sich selbst dagegen nie besonders ehrgeizig. Eine Frau, die ihn liebte, Kinder, Abende des gemeinschaftlichen Singens, Enkel in einem behaglichen Haus und ein sich gütig heranschleichendes Greisenalter, ein langes, angenehmes, erbauliches Erinnern vor dem Ende des Lebens. Das war alles, was er gewollt hatte. Und er würde nichts davon bekommen. Nein, alle derartigen Hoffnungen für ihn selbst waren tot, doch es gab noch immer seine Musik. Ja, er konnte vielleicht noch immer etwas erreichen, wenn er gewillt war, sich selbst zu zerstören. Und es war so wenig übrig, das zerstört werden konnte, dass es beinahe eine Freude war. Kein Sturz auf die Felsen für ihn. Zurück zu Papier und Tinte. Er hatte gerade die nächste Fortschreitung begonnen, als er ein leichtes Klopfen an seiner Tür vernahm. Einen Moment lang starrte er die Tür verständnislos an, bemühte sich, die Bedeutung des Geräuschs zu enträtseln. Er war sich sicher, dass er es wissen sollte; es war wie ein beinahe erinnertes Wort, das ganz unten in der Kehle steckte. Es geschah abermals, lauter diesmal, und jetzt fiel es ihm ein. »Kommt herein, wenn Ihr wollt«, sagte er. Knarrend öffnete sich die Tür. Areana stand im Rahmen, und für einen langen Augenblick konnte er nicht sprechen. Der Schmerz in ihm floh, wie Schatten das Licht fliehen, und er hatte eine jähe, glückliche Erinnerung an seine erste Begegnung mit ihr, auf dem Ball auf Lady Grammes Landsitz. Sie hatten getanzt - er konnte sich an die Musik erinnern, ein ländlicher Volkstanz, der als Whervel bekannt war. Er hatte die Schritte nicht beherrscht, doch sie hatte sie ihm mit Leichtigkeit beigebracht. Wie das Bild eines Meistermalers stand sie da, von der Türöffnung eingerahmt; ihr blaues Kleid leuchtete im Mondlicht, hinter ihr lag die Dunkelheit des Flurs. Ihr rotgoldenes Haar wirkte geschmolzen, dunkel, sinnlich. 379
»Leoff«, sagte sie fragend, »komme ich ungelegen?« »Areana«, gelang es ihm zu krächzen. »Nein, bitte. Kommt herein. Nehmt Platz.« Er versuchte, sich das zerwühlte Haar aus der Stirn zu streichen, und stach sich fast den Federkiel ins Auge. Seufzend ließ er die Hände sinken. »Es ist nur - Ihr seid gar nicht mehr herausgekommen«, sagte sie und ging quer durchs Zimmer, um neben ihm stehen zu bleiben. »Ich mache mir Sorgen um Euch. Halten sie Euch hier drinnen fest?« »Nein, ich kann mich frei im Schloss bewegen«, erwiderte Leoff. »Oder so sagt man mir. Ich habe es nicht ausprobiert.« »Nun, das solltet Ihr aber tun«, erklärte sie. »Ihr könnt doch nicht die ganze Zeit hier oben sitzen.« »Nun ja«, sagte er, »ich habe viel zu arbeiten.« »Ja, ich weiß.« Sie lächelte. »Euer Singspiel über Maersca.« Sie trat näher und senkte verschwörerisch die Stimme. »Und was werdet Ihr diesmal tun? In Wirklichkeit?« »Genau das, was er verlangt.« Ihre dunklen Augen weiteten sich. »Glaubt Ihr etwa, ich würde Euch verraten?« »Nein«, antwortete er. »Ihr wart bei alldem sehr tapfer. Ich bin nie dazu gekommen, Euch zu sagen, wie vollkommen Euer Gesang an jenem Abend war. Es war ein Wunder.« »Das Wunder war die Musik«, entgegnete Areana. »Mir war ... ich dachte, ich wäre sie, Leoff. Wirklich. Mir ist das Herz gebrochen, und als ich aus dem Fenster gesprungen bin, dachte ich, ich würde sterben. Es ist so viel Magie in Euch ...« Sie streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu streicheln. Er war zu verblüfft, um zu handeln, bis sie ihn berührte, dann zuckte er zurück. »Was sie Euch angetan haben ...« Sie seufzte. »Ja, nun, ich habe gewusst, dass das passieren könnte«, wehrte er ab. »Aber Euch habe ich etwas Besseres versprochen. Es tut mir so Leid.« 380 »Nein, Ihr habt mich gewarnt«, widersprach sie. »Ihr habt uns alle gewarnt, und wir haben alle zu Euch gehalten. Wir haben an Euch geglaubt.« Sie kam näher, und ihr Atem war süß. »Ich glaube immer noch an Euch. Ich will Euch helfen ... bei dem, was Ihr tatsächlich tut, was auch immer es ist...« »Ich habe es Euch doch gesagt«, murmelte er. Ihre Hand war warm, und hätte er sein Gesicht den Bruchteil eines Zolls bewegt, hätte er sie küssen können. Noch eine weitere kleine Bewegung und er könnte ihre Lippen erreichen. Doch er konnte seine Hand nicht auf die ihre legen. Nicht so. Also wandte er sich ein wenig ab. »Ich tue, was er verlangt hat«, sagte er. »Sonst nichts.« Sie zog ihre Hand weg und trat zurück. »Das könnt Ihr nicht tun«, sagte sie. »Haltet mich nicht zum Narren.« »Ich muss. Er wird Euch töten, und Mery«, erwiderte er. »Versteht Ihr denn nicht?« »Ihr könnt doch nicht meinetwegen nachgeben.« »Oh«, sagte er, »oh doch - doch, das kann ich. Und das werde ich auch.« »Glaubt Ihr nicht, dass er uns sowieso umbringen wird?« »Nein«, antwortete Leoff. »Das glaube ich nicht. Das würde alles zunichte machen. Er versucht, Eure Familie und die anderen Landwaerde - wieder auf seine Seite zu ziehen.« »Ja, aber die Wahrheit ist doch, dass Ihr gefoltert wurdet und dann gezwungen worden seid, das zu tun. Prinz Robert kann nicht zulassen, dass sich das herumspricht. Und doch gibt es uns drei, die das wissen. Ganz zu schweigen von dem, was sie - nun, das ist nicht weiter wichtig. Glaubt Ihr wirklich, wir werden am Leben bleiben dürfen, bei dem, was wir wissen?« »Wir haben eine größere Chance, als wenn ich mich ihm widersetze«, entgegnete Leoff. »Das wisst Ihr doch. Wenn ich mich gegen ihn auflehne, wird er Euch vor meinen Augen zu Tode foltern, und dann wird er sich Mery vornehmen. Oder vielleicht auch andersherum, ich weiß es nicht, aber ich kann nicht ertragen -« 381 »Ich kann nicht ertragen, zu sehen, wie Ihr ihm zu Willen seid«, fuhr Areana auf, und jäh sah er echten Zorn in ihren Augen. »Das ist widerwärtig, eine Entstellung Eures Talents!« Einen Augenblick starrte er sie, ohne zu blinzeln, an, während ihm etwas aufging, das sie nicht ganz ausgesprochen hatte. »Was haben sie Euch angetan?«, fragte er. Sie errötete und trat noch einen weiteren Schritt zurück. »Sie haben mir nichts zuleide getan, nicht so wie Euch«, sagte sie leise. »Das sehe ich.« Allmählich wurde er wütend. »Aber was haben sie Euch getan?« Sie zuckte bei seinem Ton zusammen. »Nichts«, antwortete sie. »Nichts, worüber ich reden möchte.« »Sagt es mir«, bat er leiser. Tränen traten ihr in die Augen. »Bitte, Leoff. Bitte lasst es gut sein. Wenn ich es Euch nicht erzähle -« »Wenn Ihr mir was nicht erzählt?« Ihr Mund öffnete sich. »So habe ich Euch noch nie gesehen.« »Ihr habt mich überhaupt kaum gesehen«, zischte Leoff. »Glaubt Ihr etwa, Ihr kennt mich?«
»Leoff, bitte seid nicht zornig auf mich.« Er holte tief Luft. »Seid Ihr geschändet worden?« Sie schaute weg, und als sie sich ihm wieder zuwandte, war ihre Miene finsterer. »Würde das für Euch einen Unterschied machen?« »Wie meint Ihr das?« »Ich meine, könntet Ihr mich noch lieben, wenn ich geschändet worden wäre?« Jetzt merkte er, dass sein Unterkiefer vollständig heruntergeklappt war. »Euch lieben? Wann habe ich je gesagt, dass ich Euch liebe?« »Nun, das habt Ihr nicht getan, nicht wahr? Ihr seid zu schüchtern, und zu zerstreut. Ich weiß nicht, vielleicht ist Euch gar nicht bewusst, dass Ihr mich liebt. Aber Ihr liebt mich.« »Wirklich?« 382 »Natürlich. Und es ist nicht so, dass ich denke, jeder würde mich lieben, wisst Ihr? Aber manchmal weiß man das als Mädchen, und bei Euch weiß ich es. Oder habe es gewusst.« Leoff fühlte, wie ihm Tränen übers Gesicht strömten. Er hielt seine Hände hoch. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist mir gleich«, sagte sie leise. »Mir nicht«, erwiderte er. »Was haben Sie Euch angetan?« Sie senkte den Kopf. »Das, was Ihr gesagt habt«, gestand sie. »Wie oft?« »Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« »Es tut mir so Leid, Areana.« »Bedauert es nicht.« Sie blickte wieder auf. Ihre Augen loderten jetzt. »Lasst sie dafür bezahlen.« Einen kostbaren Moment lang wollte er ihr von seinem Plan erzählen, das, was von seinen Armen noch übrig war, um sie legen. Doch das würde ihn lediglich schwächen - und jetzt, dringender denn je, brauchte er das Schlimmste, was er in sich hatte. »Robert bezahlt nicht«, sagte er. »Robert kommt damit davon, und wir bezahlen. Geht jetzt, bitte. Ich habe zu arbeiten.« »Leoff...« »Geht. Bitte.« Er wandte sich ab, und ein paar Herzschläge später vernahm er Schritte, die sich langsam entfernten und dann schneller wurden. Als er wieder hinsah, war sie fort, und das Gefühl der Übelkeit kehrte zurück, stärker als zuvor. Er setzte sich wieder vor sein Notenpapier und begann von neuem. 383 29. Kapitel Rückkehr nach Eslen Anne betrachtete sich zweifelnd im Spiegel. . »Jeder Zoll eine Königin«, versicherte ihr Austra. Darauf konnte Anne nur mit einem missmutigen kleinen Auflachen antworten; sie dachte an ihre Mutter, mit ihrer Alabasterhaut, ihren makellosen Händen und dem langen, seidigen Haar. Was sie in dem fleckigen Spiegel sah, den Artwair irgendwo aufgetrieben hatte, war ein völlig anderes Bild. Das Wetter hatte ihr Gesicht gegerbt und gerötet, und ihre Sommersprossen - stets allgegenwärtig - waren mit vitellianischem Sonnenschein gemästet worden. Ihr geschorenes Haar war unter einem Schleier von der Sorte verborgen, die seit der Zeit vor ihrer Geburt außerhalb eines Konvents nicht mehr als zeitgemäß galt. Das Kleid war allerdings hübsch, aus rotgoldenem Brokat nicht zu prächtig, nicht zu schlicht. Trotzdem, sie kam sich vor wie eine Kröte in einem seidenen Unterrock. »Du hast das richtige Auftreten«, fügte Austra hinzu, die ihre Zweifel ganz offenkundig verstand. »Danke.« Anne wusste sonst nichts zu sagen. Ob irgendjemand in Eslen der gleichen Meinung sein würde? Sie würde es wohl herausfinden. »Also, was soll ich anziehen?«, überlegte Austra. Anne zog eine Braue empor. »Das sollte eigentlich egal sein. Du kommst nicht mit.« »Natürlich komme ich mit«, widersprach Austra entschieden. »Ich dachte, ich hätte dich gebeten, mein Wort nie wieder infrage zu stellen«, entgegnete Anne. »Das hast du nie gesagt«, begehrte Austra auf. »Du hast gesagt, 384 ich kann mit dir streiten, versuchen, dich zu überreden, aber am Ende wäre dein Wort Gesetz. Das ist immer noch der Fall. Aber es wäre töricht, mich nicht mitzunehmen.« »Und wieso das?« »Wie sieht das denn aus, eine Königin ohne Bedienstete?« »Es wird aussehen, als hätte ich keine nötig«, erklärte Anne. »Das glaube ich nicht«, gab Austra zurück. »Es wird ein Zeichen deiner Schwäche sein. Du musst ein Gefolge mitnehmen. Du musst eine Zofe haben, sonst wird dich niemand ernst nehmen.« »Ich nehme Cazio mit. Oder geht es bei alldem hier darum}«
Austra errötete, und ihre Brauen zogen sich zornig zusammen. »Ich tue ja gar nicht so, als ob ich nicht in seiner Nähe bleiben wollte«, sagte sie. »Aber ich will auch in deiner Nähe sein. Und ich stehe zu meiner Ansicht. Du erhebst den Anspruch, Königin zu sein, du bist hier, um den Thron zu besteigen - du musst dich entsprechend benehmen. Und überhaupt, hast du wirklich solche Angst?« »Ich habe schreckliche Angst«, gestand Anne. »Robert war so bereitwillig einverstanden, so zuversichtlich. Ich weiß nicht, was das bedeutet.« »Wenigstens das ist eine kluge Einschätzung«, ließ sich Artwairs Stimme von draußen vernehmen. »Darf ich eintreten?« »Ihr dürft.« Die Klappe wurde zur Seite geschoben, und ihr Vetter trat gebückt hindurch, gefolgt von einem Wachposten. »Dann habt Ihr Vorbehalte?«, fragte Anne. »Bei allen Heiligen, ja. Ihr habt keine Ahnung, was für ein Spiel Robert spielt, Anne. Vielleicht werdet Ihr umgebracht, sobald Ihr außer Sichtweite seid.« »Dann schlägt Sir Neil Robert den Kopf ab«, gab Anne zu bedenken. »Was hätte er davon?« »Vielleicht werdet Ihr stattdessen gefangen genommen und gefoltert, bis Ihr befehlt, ihn freizulassen. Oder lediglich festgehalten, bis Hansas Truppen eintreffen.« 385 »Ich habe meinem Oheim deutlich zu verstehen gegeben, dass sein Kopf rollt, wenn ich in irgendeiner Weise behelligt werde. Außerdem nehme ich fünfzig Männer mit.« »Robert hat tausende in Eslen. Fünfzig sind bloß eine Geste, sonst nichts. Denkt nach, Anne! Wieso sollte Robert zulassen, dass Ihr ihn in diese Lage bringt? Er hätte Eslen mit Leichtigkeit gegen uns halten können, bis seine Verstärkung eintrifft.« »Dann ist er sich vielleicht gar nicht so sicher, ob seine Verstärkung tatsächlich rechtzeitig eintrifft«, erwiderte Anne. »Oder vielleicht ist er auch gar nicht so zuversichtlich, dass seine Verbündeten ihn überhaupt unterstützen werden. Was ist, wenn die Kirche einen Hanser als Regenten ausruft und meinen Onkel zum Galgen schickt?« »Das ist möglich«, sagte Artwair, dann seufzte er. »Aber wenn das der Fall ist, warum öffnet er dann nicht die Tore und lässt uns alle herein? Ich glaube, er hat irgendeinen finsteren Plan. Oder vielleicht ist es noch schlimmer - vielleicht ist Robert hier gar nicht der Herr und Meister, und er wird geopfert, um Euch in die Klauen desjenigen zu locken, der wirklich den Befehl hat.« »Und wer sollte das sein? Praifec Hespero?« »Möglicherweise.« »Möglicherweise«, wiederholte Anne. Sie hielt dem Blick ihres Vetters stand und wünschte, sie könnte ihm ihre Visionen erklären: dass sie die geheimen Wege gesehen hatte, die in den Mauern von Eslen verborgen waren. Was immer ihre Feinde auch geplant hatten, sie waren Männer, und Männer konnten nicht über die versteckten Tunnel Bescheid wissen. Unglücklicherweise machte derselbe Blendzauber es unmöglich, Artwair das zu erklären. »Vielleicht ist all das wahr«, gab sie zu. »Aber was seht Ihr für eine andere Möglichkeit? Ihr habt gerade zugegeben, dass wir Eslen nicht ohne weiteres mit Gewalt einnehmen können. Außerdem, ganz gleich, was Robert plant, ich habe einen Vorteil, von dem er nichts wissen kann.« 386 »Was für einen Vorteil?« »Ich könnte es Euch sagen«, antwortete Anne, »aber Ihr würdet Euch nicht daran erinnern.« »Was soll denn das heißen?«, fragte Artwair gereizt. Anne biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe eine Möglichkeit, Truppen in die Stadt zu bringen.« »Das kann nicht sein. Ich wüsste davon, wenn es so wäre.« »Aber Ihr irrt Euch«, beharrte Anne. »Nur sehr wenige wissen darüber Bescheid.« Er rieb sich kurz den Stumpf seines Handgelenks. »Wenn das stimmt ...« Er schüttelte den Kopf. »Ihr müsst schon etwas genauer werden.« »Das kann ich nicht«, erwiderte Anne. »Ich habe einen Eid geschworen.« »Das reicht nicht«, entschied Artwair. »Ich kann das nicht zulassen.« Anne fühlte sich plötzlich sehr leicht. »Was sagt Ihr da, Vetter?« »Wenn ich Euch vor Euch selbst schützen muss, werde ich es tun.« Anne holte tief Luft und betrachtete die Wache. Wie viele hatte er noch draußen postiert? Nun, jetzt galt es. »Wie habt Ihr vor, mich zu schützen, Artwair? Was glaubt Ihr, was Ihr tun werdet?« Artwairs Miene zuckte unter irgendeiner Gefühlsregung, doch Anne konnte nicht erkennen, was es war. »Wir brauchen Euch, Anne. Ohne Euch hat diese Armee kein Ziel.« »Was Ihr meint, ist, ohne mich habt Ihr keine Armee.« Einen langen Moment stand er schweigend da. »Wenn Ihr es denn so ausdrücken müsst, Anne, dann ja. Was versteht Ihr schon von diesen Dingen? Ich habe Euch immer gern gemocht, Anne, aber Ihr seid nur ein junges Mädchen. Vor ein paar Monaten habt Ihr Euch nicht im Mindesten um dieses Reich oder
387 um irgendjemanden darin geschert, außer um Euch selbst. Ich weiß nicht, was für naive Vorstellungen Ihr -« »Das spielt keine Rolle«, sagte Neil MeqVren und drängte sich ins Zelt. Cazio folgte ihm auf dem Fuße, und hinter ihnen konnte Anne ein Dutzend oder mehr von Artwairs Wachen sehen, die wie gebannt zusahen. »Anne ist Eure Königin.« »Ihr solltet doch Prinz Robert bewachen«, sagte Artwair. »Er ist in sicheren Händen. Ich bin hier - genau wie Ihr -, um ihr dieses gefährliche Unterfangen auszureden.« »Dann rate ich Euch dringend, Euch nicht einzumischen.« »Dafür habt Ihr schon gesorgt«, erwiderte Neil. »Sie lässt sich nicht überzeugen, und Ihr dürft nicht versuchen, sie zu zwingen.« »Ich glaube kaum, dass Ihr das durchsetzen könnt«, bemerkte Artwair trocken. »Ich helfe ihm dabei«, verkündete Cazio. Die beiden schoben sich an Artwair vorbei, um sich an Annes Seite zu stellen. Sie wusste, dass Neil und Cazio keine Chance gegen die Männer ihres Vetters hatten, nicht einmal mit Neils sonderbarer Waffe. Doch es tat gut, sie neben sich zu wissen. Artwair verzog das Gesicht. »Anne -« »Wie sieht Euer Plan aus, Herzog Artwair?«, unterbrach ihn Anne. »Wie habt Ihr vor, Euren Thron zu erobern?« »Ich will keinen Thron für mich selbst«, beteuerte Artwair, jetzt ernsthaft erbost. »Ich will nur das Beste für Crothenien.« »Und Ihr denkt, ich will das nicht?« »Ich habe keine Ahnung, was Ihr wollt, Anne, aber ich glaube, Euer Wunsch, Eure Mutter zu retten, hat Euer Urteilsvermögen getrübt.« Anne ging zur Zeltklappe hinüber, schlug sie auf und wies mit ausgestrecktem Finger auf das nebelverhangene Eiland. Die Männer draußen traten zurück. »Dort ist der Thron, jenseits dieses Wassers, auf dieser Insel. Deswegen sind wir hier. Ich habe eine Chance -« »Ihr habt überhaupt keine Chance. Robert ist zu verschlagen. 388 Es ist besser, wenn wir uns zurückziehen, unser Heer verstärken, uns mit Liery verbünden -« »Liery«, verkündete Anne, »ist bereits dort draußen. Glaubt Ihr allen Ernstes, dass Sir Fail nicht schon eine Flotte im Wasser hat, in diesem Augenblick?« »Und wo sind sie dann?« »Unterwegs.« »Sie werden uns niemals erreichen«, wandte Artwair ein. »Welche Flotte kann schon Thornrath einnehmen?« »Keine«, antwortete Anne. »Aber Ihr könntet es.« Artwair öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder. »Es wäre möglich«, sagte er. »Aber nicht sehr wahrscheinlich. Andererseits, wenn hier eine lierische Flotte eintrifft ...« Nachdenklich blickte er in die Ferne. »Sie wird eintreffen«, verkündete Anne. »Ich habe sie gesehen. In zwei Tagen ist sie hier. Wenn wir Thornrath nicht in unsere Gewalt bringen, werden sie vernichtet, werden zwischen dem Wall und einer hansischen Flotte zermalmt.« »Gesehen?« »In einer Vision, Vetter.« Artwair lachte bellend. »Visionen nützen mir nichts.« Anne packte seinen Arm und sah zu ihm auf, starrte ihm in die Augen. »Was Ihr über mich gesagt habt, war wahr«, gab sie zu. »Aber ich habe mich geändert. Ich bin nicht mehr das Mädchen, das Ihr kanntet. Und ich weiß mehr als Ihr, Vetter Artwair. Nicht von Taktiken und Strategien, da gebe ich Euch Recht - aber von anderen Dingen von vielleicht größerer Bedeutung. Ich weiß, wie man Truppen nach Eslen hineinschaffen kann, ich weiß, dass Fail kommt. Ihr braucht mich wirklich, aber nicht als die Galionsfigur, die Ihr Euch vorstellt. Ich werde nicht - wie Robert es ausgedrückt hat - Eure Marionette sein. Wir machen dies hier so, wie ich es will, oder wir tun es überhaupt nicht. Es sei denn, Ihr glaubt, diese Armee wird meinem Leichnam folgen. Oder Eurem.« Ihr Zorn war jetzt gewachsen, ein Kern aus Fäulnis in ihrem 389 Leib. Wieder fühlte sie die Wasser des Lebens und des Todes um sich herum pulsieren und folgte ihnen durch die Fugen von Artwairs Rüstung, vorbei an der kratzigen Oberfläche seiner Haut, in das Gewirr blutigen Gewebes und zu dem pumpenden Muskel seines Herzens. Einen Moment lang spürte sie es schlagen, dann liebkoste sie es sanft. Die Wirkung trat sofort ein. Artwairs Augen quollen hervor, und seine Knie drohten einzuknicken. Sein Wachmann hielt ihn fest, als er die Hände in die Brust krallte. »Nein«, keuchte er. »Nein.« »Ihr sagt, ich bin Eure Königin, Artwair«, sagte Anne leise. »Sagt es jetzt. Sagt es. Sagt es noch einmal.« Sein Gesicht war hochrot, doch seine Lippen verfärbten sich blau. »Was ...?« »Sagt es!«
»Nicht... so.« Sie fühlte, wie sein Herz krampfhaft zuckte, und ihr wurde klar, dass er bald sterben würde, wenn sie nicht aufhörte. Wie wundersam empfindlich das Herz doch war. Doch sie wollte Artwairs Tod nicht, also ließ sie mit einem Seufzer von ihm ab. Er schnappte nach Luft und sackte zusammen; dann versuchte er, sich aufzurichten. Tränen des Schreckens und der Furcht standen in seinen Augen. »Ich bin nicht das, was Ihr glaubt«, sagte sie und ließ seinen Arm los. »Nein«, brachte er schwach heraus, während seine Augen immer noch weit aufgerissen waren. »Das seid Ihr nicht.« »Die Flotte kommt - das weiß ich. Ihr wisst, wie man Kriege führt. Können wir zusammenarbeiten?« Artwair hielt ihrem Blick lange stand, dann nickte er. »Gut«, sagte sie. »Besprechen wir das, aber schnell. In einem Glockenschlag fahre ich nach Eslen.« 390 Einen Glockenschlag später, als sie auf Roberts Boot zuschritt, verspürte Anne einen plötzlichen Ruck. Es war, als erwache sie aus einem jener Träume, die sie als Kind oft gehabt hatte. Ein Traum vom Fallen. Was diese Träume so beunruhigend machte, war, dass sie häufig vorkamen, wenn sie gar nicht wusste, dass sie schlief. Ein wenig davon fühlte sie jetzt. Ihre Auseinandersetzung mit Artwair war ihr noch lebhaft im Gedächtnis, doch die Erinnerung hatte etwas Unwirkliches, wurde plötzlich klar in ihr Blickfeld gerückt, als die Bilder, Gerüche und Geräusche um sie herum sich mit solcher Schärfe wieder einstellten, dass sie sie völlig bannten. Der Eisenund Jodgeruch des Wassers war überwältigend, und Wasserfälle aus flüssigem Gold schienen durch die Wolken zu stürzen. Sie bemerkte die feinen Fältchen in Artwairs Augenwinkeln und hörte das leise Knirschen ihrer Füße auf dem vergilbten Gras, gefolgt vom gedämpften Scharren von Stein und Leder. Und Eslen. Vor allem Eslen, mit seinen weißen Türmen, hier brennend hell im Sonnenlicht und dort geisterhaft bleich im Schatten unter den zerrissenen Wolken, während die Wimpel wie Drachenschwänze im Himmel flatterten. Zur Rechten zeigten die beiden niedrigeren Zwillingshügel Tom Cast und Tom Woth gelbbraune Kuppen über Schultern aus Immergrün. Sie fühlte sich emporgehoben und gleichzeitig orientierungslos. Sie hatte Artwair nicht gefürchtet, jetzt jedoch war ihre Angst wieder da. Sie wollte zu ihrem Vetter zurücklaufen, sich in seine Obhut begeben, ihn die Verantwortung und die Macht übernehmen lassen, nach denen es ihn so offenkundig verlangte. Doch nicht einmal das würde sie retten, und im Augenblick war es genau das, was sie weitergehen ließ. Sie hatte die Ankunft der lierischen Schiffe gesehen, wie sie es Artwair gesagt hatte. Sie hatte die Geheimgänge gesehen, die nur für Frauen sichtbar waren. Doch sie hatte noch etwas anderes erblickt: die Ungeheuerfrau aus ihren Schwarzen Marys, die unter dem kalten Stein der Stadt der Toten kauerte. 39i Sie war acht gewesen, als sie und Austra die Gruft entdeckt hatten; sie hatten sich ausgemalt, es wäre die Grabkammer von Virgenya Dare, obwohl niemand wusste, wo die Geborene Königin begraben worden war. Sie hatten Gebete und Flüche in Bleifolie gekratzt, sie durch den Spalt in dem Sarkophag geschoben und beinahe wirklich geglaubt, dass ihre Bittschriften wirkten. Und wie sich herausstellte, hatten sie Recht gehabt. Anne hatte darum gebeten, dass Roderick von Dunmrogh sie lieben sollte, und er war vor Liebe vollkommen wahnsinnig geworden. Sie hatte darum gebeten, dass ihre Schwester Fastia netter sein möge, und das war sie auch gewesen - anscheinend hauptsächlich zu Neil MeqVren, wenn man Tante Elyoner glauben konnte. Worin sie sich geirrt hatten, war, wer in der Gruft lag. Wer ihre Gebete erhörte. Sie tauchte aus ihrer Versunkenheit auf und stellte fest, dass Robert an der Staumauer des Deiches lehnte und sie beobachtete. »Nun, teuerste Nichte«, sagte er, »seid Ihr bereit heimzukehren?« Etwas an der Art und Weise, wie er das sagte, schien seltsam, und abermals fragte sie sich, ob das alles seine Idee gewesen war. »Betet, dass ich meine Mutter wohlauf vorfinde«, erwiderte sie. »Sie ist im Wolfspelzturm«, erklärte Robert hilfsbereit. Mit einem Kopfnicken deutete er auf seinen einzigen männlichen Begleiter, einen gedrungenen Mann mit breiten Schultern und derben Gesichtszügen, die von dem gleichen affektierten Schnurrund Kinnbart geziert wurden, wie Robert ihn trug. »Dies ist mein treuer Freund Sir Clement Martyne. Er ist mit meinen Schlüsseln und meiner Vollmacht ausgestattet.« »Ich bin Euer ergebener Diener«, versicherte der Mann. »Wenn ihr ein Leid geschieht, Sir Clement«, sagte Neil, »werdet Ihr mich besser kennen lernen, das verspreche ich Euch.« »Ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht«, erwiderte Sir Clement, »aber ich würde Euch mit Freuden näher kennen lernen, Sir Neil, unter jeglichen Bedingungen, die Ihr wünscht.« 392 »Jungs«, mahnte Robert. »Seid nett zueinander.« Er griff nach Annes Hand. Sie war so verblüfft, dass sie es ihm gestattete. Als er sie an die Lippen hob, musste sie einen heftigen Brechreiz unterdrücken. »Eine gute Reise wünsche ich Euch«, sagte er. »Wir werden uns alle nach einem Tag wieder hier treffen, nicht
wahr?« »Ja«, antwortete Anne. »Und über die Zukunft sprechen?« »Und über die Zukunft sprechen.« Kurz darauf befand sie sich mit ihren Männern und den Pferden auf einer Kanalbarke und glitt über das Wasser auf Eslen zu. Tief in ihren Knochen fühlte es sich an, als sei das ein Ort, an dem sie noch nie gewesen war. Als sie die Kais erreichten, saßen sie auf, und der Eindruck wurde noch stärker. Das Schloss von Eslen war auf einem hohen Hügel errichtet worden, geschützt von drei Mauern, von denen immer eine innerhalb der nächsten verlief. Die Festungsmauer - die äußerste - war die eindrucksvollste, vierzig Fuß hoch und von acht Türmen bewacht. Davor, auf dem breiten, tiefer gelegenen Gelände zwischen dem ersten Tor und den Kais, war im Laufe der Jahre eine Stadt entstanden - die Hafenstadt, eine Ansammlung von Schenken, Bordellen, Lagerhäusern und Trinkstuben, alles, was ein reisender Seemann begehren mochte, ob er nun an Land kam, wenn die Stadttore offen oder geschlossen waren. Normalerweise war dies eine geschäftige, raue Gegend, die als gefährlich genug galt, dass Anne sich bei den wenigen Malen, wenn sie sie zu Gesicht bekommen hatte, immer unerkannt aus dem Schloss geschlichen hatte, gegen den Wunsch ihrer Eltern. Heute war es ruhig, und die einzigen Seeleute, die sie sah, trugen die königlichen Insignien. Es waren allerdings nicht viele - die meisten Männer befanden sich bei der Flotte, an der ihr Boot auf dem Weg hierher vorbeigekommen war. 393 Durch offene Türen und Fenster erhaschte Anne flüchtige Blicke auf Männer, Frauen und Kinder - die Menschen, die tatsächlich hier lebten - und fragte sich, was wohl aus ihnen werden würde, falls und wenn die Kämpfe begannen. Sie dachte an die kleinen Dörfer im Umkreis der Burgen, die ihre Armee unschädlich gemacht hatte. Es war ihnen nicht gut ergangen. Nach einigen Erklärungen von Sir Clement - und dem Vorzeigen eines Briefes in Roberts Handschrift - wurden die Tore geöffnet, und sie ritten nach Eslen hinein. Die Stadt war ein wenig lebhafter als das Hafenviertel. Das musste wohl auch so sein, dachte Anne - auch wenn Krieg drohte, musste dennoch Brot gebacken und gekauft, Kleidung musste gewaschen und Bier gebraut werden. Trotz des Gewühls zog ihr Gefolge eine Menge neugierige Blicke auf sich. »Sie erkennen mich nicht«, stellte Anne fest. »Sehe ich denn so anders aus?« Cazio lachte leise über diese Worte. »Was ist?«, wollte sie wissen. »Warum sollten sie Euch erkennen?«, fragte der Vitellianer. »Selbst wenn sie mich nicht als ihre Königin erkennen, ich war siebzehn Jahre lang ihre Prinzessin. Jeder kennt mich.« »Nein«, verbesserte Austra. »Jeder im Schloss kennt dich. Die Edelleute, die Ritter, das Gesinde. Die meisten von ihnen würden dich wiedererkennen. Aber wie sollten die Leute auf der Straße dich erkennen, es sei denn, du trägst ein Symbol deines Amtes?« Anne blinzelte. »Das ist ja unglaublich.« »Eigentlich nicht«, entgegnete Cazio. »Wie viele von ihnen hatten die Gelegenheit, Euch zu begegnen, von Angesicht zu Angesicht?« »Ich meine, es ist unglaublich, dass ich nie daran gedacht habe.« Anne wandte sich an Austra. »Wenn wir früher in die Stadt gegangen sind, habe ich mich immer verkleidet. Wieso hast du damals nichts gesagt?« »Ich wollte dir nicht den Spaß verderben«, gestand Austra. 394 »Und außerdem gibt es sehr wohl Leute, die dich erkannt hätten, und ein paar davon wären vielleicht die falschen Leute gewesen.« Als sie ihre Gefährten grinsen sah, hatte Anne das unerklärliche Gefühl, man habe sich gegen sie verschworen, als hätten Austra und Cazio diese kleine Torheit irgendwie geplant. Doch sie unterdrückte ihren Verdruss. Die gewundene Straße wurde steiler, bevor sie das zweite Tor erreichten. Die Stadt war ein wenig so angelegt wie ein über einen Ameisenhügel gebreitetes Spinnennetz; die Hauptstraßen verliefen parallel zu den großen Kreisen der alten Stadtmauern, und die kleineren Straßen zogen sich wie Flüsse die Hänge hinunter. Die größten Prachtstraßen jedoch, die von Armeen und Kaufleuten benutzt wurden, schlängelten sich den Hügel hinauf, was verhinderte, dass sie für Fuhrwerke und gepanzerte Schlachtrösser zu steil wurden. Genau so einer Route folgten sie jetzt - der Rixplaf -, und so führte ihr Weg sie durch die meisten Stadtviertel des Westhügels. Jedes war einzigartig, jedenfalls hatte man ihr das gesagt. Bei manchen war das offensichtlich; die Häuser im alten Firoy hatten die steilsten Dächer in der ganzen Stadt, alle aus schwarzem Schiefer, sodass es war, als blicke man auf steinerne Meereswogen hinunter, wenn die Straße oberhalb des Viertels verlief. Die Menschen dort waren blass und sprachen mit einem trillernden Akzent. Die Männer trugen zweifarbig karierte Jacken, und die Röcke der Frauen wiesen nur selten weniger als drei leuchtende Farben auf. Der Bezirk des heiligen Neth dagegen fühlte sich einzigartig an, doch es gab nichts, anhand dessen Anne hätte erklären können, warum. Dennoch, von den meisten der achtzehn Bezirke der Stadt hatte Anne nur die vordersten Häuserfronten an der Straße gesehen und verlockende Blicke in die schmalen Gassen erhascht.
Einmal hatten sie und Austra sich in den Hof der Gobelins hineingeschlichen, in das Sefry-Viertel, das sie damals für den fremdartigsten Teil der Stadt gehalten hatte, mit seinen leuchtenden Farben, der unbekannten Musik und den seltsamen, würzigen Gerüchen. 395 Jetzt - nach ihren Erfahrungen in den ländlichen Gebieten Crotheniens - überlegte Anne, ob die Wohngegenden der Menschen nicht vielleicht ebenso sonderbar und einzigartig waren. Kurz und gut, wer waren die Menschen von Eslen? Ihr wurde klar, dass sie es nicht wusste, und sie fragte sich, ob ihr Vater es wohl gewusst hatte. Oder ob irgendein König oder Herrscher des crothenischen Reiches es jemals gewusst hatte, und ob man so etwas überhaupt wissen konnte. Im Augenblick befanden sie sich im Onderwaerd-Viertel, wo das Zeichen des zackenrückigen Schweins überall zu sehen war als Türklopfer oder auf kleinen Bildern, die über Türen gemalt worden waren, als Windfahnen auf den Dächern. Die verputzten Häuser hatten alle mehr oder weniger den gleichen braunen Farbton, und die Männer trugen Hüte, deren Krempen auf einer Seite hochgesteckt worden waren. Viele von ihnen waren Metzger, und tatsächlich wurde der Mimhus-Platz von der imposanten Fassade der Metzgergilde beherrscht, einem zweistöckigen Gebäude aus gelbem Stein, mit schwarzen Fensterflügeln und schwarzem Dach. Als sie auf den Platz kamen, wurde Annes Aufmerksamkeit mehr von dem sich ihr bietenden Schauspiel als von den umliegenden Häusern in Bann gezogen. Eine große Menschenmenge hatte sich um ein erhöhtes Podium in der Mitte des Platzes geschart, wo zahlreiche seltsam gekleidete Menschen anscheinend von Soldaten bewacht wurden. Die Soldaten trugen viereckige Kappen und schwarze Überwürfe mit den Insignien der Kirche. Über ihnen - im wahrsten Sinne des Wortes, auf einem sehr wacklig aussehenden, hochbeinigen Stuhl - schien ein Mann im Gewand eines Attish-Priesters einer Art Gerichtsverhandlung vorzusitzen. Ein Galgen ragte hinter ihm auf. Anne hatte so etwas noch nie gesehen. »Was geht hier vor?«, fragte sie Sir Clement. »Die Kirche benutzt die Plätze der Stadt als öffentliche Gerichtshöfe. Ketzer sind in der Stadt keine Seltenheit, und es sieht so aus, als hätte das Resacaratum wieder welche ausfindig gemacht.« 396 »Sie sehen aus wie Schauspieler«, bemerkte Austra. »Wie Straßenmimen.« Sir Clement nickte. »Wir haben festgestellt, dass Schauspieler höchst anfällig für die Verlockungen gewisser Ketzereien sind.« »Tatsächlich?«, fragte Anne. Sie trieb ihr Pferd auf den Attish-Priester zu. »Einen Augenblick!«, rief Sir Clement erschrocken. »Ich habe meinen Oheim sagen hören, dass Ihr meinem Befehl untersteht«, erwiderte sie über die Schulter hinweg. »Ich frage mich, ob Ihr wohl das Gleiche gehört habt.« »Ja, gewiss, aber -« »Ja, Hoheit«, sagte Anne eisig. Sie bemerkte, wie Cazio sich so platzierte, dass er sich zwischen sie und Roberts Ritter schieben konnte, sollte es notwendig werden. »Ja ... Hoheit«, murmelte Sir Clement. Der Priester beobachtete sie jetzt. »Was ist hier los?«, rief er. Anne richtete sich hoch auf. »Kennt Ihr mich, Priester?«, fragte sie. Seine Augen wurden schmal und dann riesengroß. »Prinzessin Anne«, antwortete er. »Und kraft Gesetzes des Comven Herrscherin über diese Stadt«, fügte Anne hinzu. »Zumindest in Abwesenheit meines Bruders.« »Das ist strittig, Hoheit«, entgegnete der Priester, dessen Blick nervös zu Sir Clement hinüberhuschte. »Mein Oheim hat mir freies Geleit in die Stadt gewährt«, ließ Anne ihn wissen. »Es hat also den Anschein, als schenke er meinem Anspruch Glauben.« »Ist das wahr?«, fragte der Priester Sir Clement. Dieser zuckte die Achseln. »Es sieht so aus.« »Auf jeden Fall«, fuhr der Attish-Priester fort, »bin ich mit Angelegenheiten der Kirche befasst, nicht mit denen der Krone. Es ist gleichgültig, wer auf dem Thron sitzt, soweit es diese Abläufe betrifft.« »Oh, ich versichere Euch, dem ist nicht so«, gab Anne zurück. 397 »Und jetzt sagt mir bitte, welcher Vergehen diese Leute angeklagt werden.« »Ketzerei und Hexenwerk.« Anne betrachtete die Truppe. »Wer ist Euer Anführer?«, wollte sie von ihnen wissen. Ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar verbeugte sich vor ihr. »Ich, Majestät. Pendun MaypValclam.« »Was habt ihr getan, um vor dieses Gericht gebracht zu werden?« »Wir haben ein Stück aufgeführt, Majestät, sonst nichts - eine Art Singspiel.« »Das Stück des Hofkomponisten meiner Mutter, Leovigild Ackenzal?« »Ja, genau das, Majestät, so gut, wie wir es vermocht haben.« »Dieses Stück ist zu Hexerei der übelsten Sorte erklärt worden«, empörte sich der Priester. »Schon mit diesem Geständnis allein überantworten sie sich dem Halsband des heiligen Woth.«
Anne betrachtete den Attish-Priester mit hochgezogenen Brauen, dann drehte sie sich um und ließ den Blick über den Platz schweifen, über die Gesichter der Zuschauer. »Ich habe von diesem Stück gehört«, verkündete sie und hob die Stimme. »Ich habe gehört, es erfreut sich großer Beliebtheit.« Sie richtete sich im Sattel auf. »Ich bin Anne, die Tochter von William und Muriele. Ich bin gekommen, um den Thron meines Vaters zu besteigen. Ich bin geneigt, als meine erste Amtshandlung diese armen Mimen zu begnadigen, denn mein Vater hätte eine solche Ungerechtigkeit niemals hingenommen. Was sagt ihr dazu, Volk von Eslen?« Ein Moment fassungslosen Schweigens folgte. »Sie ist's wirklich«, hörte sie jemanden aus der Menge rufen. »Ich hab sie früher mal gesehen!« »Lasst die Leute frei!«, brüllte jemand anders, und binnen eines Augenblicks schrien alle außer den Soldaten und den Männern der Kirche, man solle die Mimentruppe laufen lassen. 398 »Ihr könnt gehen«, verkündete Anne den Schauspielern. »Meine Männer werden euch von diesem Platz geleiten.« »Genug!«, brüllte Sir Clement. »Genug von diesem Unfug!« »Anne!«, warnte Cazio. Doch sie sah sie, wie sie es halb erwartet hatte - Fußtruppen in Roberts Farben, die aus allen Richtungen auf den Platz strömten und sich durch die empörte Menge drängten. Anne nickte. »Nun ja«, sagte sie, »besser, das jetzt zu erfahren als im Wolfspelzturm, findet Ihr nicht?« »Was sollen wir tun?«, fragte Cazio. »Kämpfen, natürlich«, erwiderte sie. 30. Kapitel Kreuzwege Winna geht es nicht gut«, sagte Ehawk leise. Aspar seufzte und ließ den Blick über den fernen Hügel wandern. »Ich weiß«, erwiderte er. »Sie hustet Blut. Du auch.« Er zeigte mit dem Finger. »Siehst du, da?« »Ja«, antwortete Ehawk. »Er ist dort drüben aus dem Wasser gekommen.« Etwas, das eine Spur wie diese hinterließ, sollte nicht schwer zu verfolgen sein, doch der Woorm machte sich für einen großen Teil seines Weges die Flüsse zunutze, und das war ein Problem, besonders wenn ein Wasserlauf von dem Strom abzweigte. Sie hätten ihn vielleicht verloren, als er den Then hinaufgeschwommen war, wären die toten Fische nicht gewesen, die aus dessen Mündung in den Magierfluss hinabgetrieben waren. Sie folgten der Spur in größtmöglicher Entfernung, ohne jemals 399 den Fuß darauf zu setzen oder flussabwärts davon Wasser zu schöpfen, und Aspar hatte gehofft, das Gift, das bereits in ihnen war, würde sich verflüchtigen. Das war nicht geschehen. Die Arznei, die sie Fends Männern abgenommen hatten, hatte sie am Leben erhalten, doch sie waren gezwungen, jeden Tag weniger zu nehmen, damit sie länger vorhielt. Den Pferden schien es besser zu gehen, allerdings hatte keins der Tiere tatsächlich vergifteten Boden betreten oder den Brodem des Ungeheuers eingeatmet. Nicht weit entfernt hustete Winna. Ehawk kniete nieder und stocherte in den Überresten eines Lagerfeuers herum. »Ihr glaubt, das hier ist Stephens Fährte?« Aspar sah sich um. »Vier Mann, und sie sind nicht vom Fluss gekommen. Sie sind von der Broghy-Stradh heruntergekommen. Wenn es Stephen ist, dann folgt der Woorm ihm nicht direkt - aber ihre Wege kreuzen sich immer wieder.« »Vielleicht weiß er, wo sie hinwollen.« »Vielleicht. Aber im Moment geht es mir mehr darum, Fend zu finden.« »Vielleicht ist er gestorben.« Aspar stieß ein scharfes, bellendes Lachen hervor, aus dem ein Husten wurde. »Das bezweifle ich. Ich hätte ihn erledigen sollen.« »Ich weiß nicht, wie. Als wir Euren Pfeil gefunden hatten, war der Woorm schon fort. Ihr könnt doch nicht geglaubt haben, Ihr könntet ihn mit Eurem Dolch töten.« »Nein, aber Fend hätte ich töten können.« »Der Woorm ist mit ihm im Bunde. Wir hatten Glück, dass wir entkommen sind.« »Also krepieren wir jetzt langsam.« »Nein«, widersprach Ehawk. »Wir werden ihn einholen. Er ist jetzt auf dem Trockenen, da wird er nicht so schnell sein.« »Hmm«, knurrte Aspar ein wenig zweifelnd. Ehawk hatte wahrscheinlich Recht, doch auch sie wurden jeden Tag langsamer. 400 »Kümmere dich um die Pferde und das Lager«, sagte er. »Ich besorge uns etwas zu essen.« »Ja«, erwiderte Ehawk. Aspar fand einen Wildwechsel und einen geeigneten Hochsitz auf einer Platane. Dort machte er es sich bequem
und überließ seinen Körper der Erschöpfung, während er sich bemühte, Augen und Verstand scharf zu halten. Es war zehn Jahre her, seit er zum letzten Mal im sumpfigen Tiefland um den Then herum gewesen war, bei einem seiner seltenen Ausflüge über die Grenzen des Königswaldes hinaus. Er hatte ein paar Banditen beim Magistrat von Ofthen abgeliefert, und während er dort gewesen war, hatte er interessante Geschichten über den Sarnwald gehört - und über die Hexe, die dort hausen sollte. Damals war er völlig ungebunden gewesen und hatte vorgehabt, sich anzusehen, was es mit dem alten Wald, in dem es angeblich spukte, auf sich hatte. Er hatte den Weg erst zur Hälfte zurückgelegt, als Neuigkeiten vom Schwarzen Warg ihn wieder umkehren und nach Süden streben ließen, und er hatte die Reise nie wieder unternommen. Doch er hatte hier ein paar Tage Halt gemacht, um zu jagen. Das war im Sommer gewesen, als alles üppig und grün war. Jetzt erschien alles karg, eine Landschaft aus Binsen und geknicktem Katzenschwanzgras; brüchiges Eis schimmerte auf den stehenden Wasserflecken. Zur Rechten konnte er die schwarzen Überreste einer Mauer ausmachen und ein Stück weiter einen Hügel, der verdächtig regelmäßig aussah. Er hatte gehört, hier sei einmal ein mächtiges Königreich gewesen, vor langer Zeit. Stephen könnte sich wahrscheinlich in schier unglaublicher Länge darüber auslassen, doch alles, was Aspar wusste, war, dass es schon lange dahin war und dass dies einer der ödesten Teile der Midenlande war, wenn man sich erst ein paar Meilen von Ofthen entfernt hatte. Der Boden war schlecht, auch nachdem das Land trockengelegt worden war, und die wenigen Menschen, die in dieser Gegend leb401 ten, waren zumeist Flussfischer oder Ziegenhirten, doch selbst von denen waren nicht viele Anzeichen zu sehen. Vage erinnerte er sich, auch irgendetwas davon gehört zu haben, dass das Land während der Magierkriege verflucht worden sei, doch auf so etwas hatte er noch nie besonders geachtet. Obgleich er das rückblickend vielleicht hätte tun sollen. Etwas zog seinen Blick auf sich - keine Bewegung, sondern etwas Eigenartiges, etwas, das nicht hier sein sollte ... Ein widerliches Kribbeln kroch ihm die Schultern hinauf, als ihm klar wurde, was es war; schwarze Dornen waren aus einer toten Zypresse gesprossen und hatten sich in die nahen Bäume gerankt. Natürlich hatte er solche Dornen schon früher gesehen, zuerst in dem Tal, wo der Dornenkönig schlief, und später als Landplage im Königswald. Und hier waren sie auch. Hieß das, dass der Dornenkönig hier vorbeigekommen war? Oder dass sich die Dornen jetzt überall ausbreiteten? Er schauderte, dann wurde ihm schwindlig, und er wäre fast von seinem Sitz gefallen. Verzweifelt klammerte er sich an die Äste; sein Atem ging unregelmäßig und stoßweise. Flecken tanzten vor seinen Augen. Die letzten paar Tage hatte er nur so getan, als würde er seinen Bruchteil der Arznei trinken, und das begann allmählich, seinen Tribut zu fordern. Er musste Fend erwischen. Wo wollte dieser Sceathaoveth hin? Etwas hatte ihm zu schaffen gemacht, und jäh wurde ihm klar, was es war. Noch ehe er weiter darüber nachdenken konnte, fiel ihm eine Bewegung auf. Er atmete kaum, während er abwartete, bis sie als Rehgeiß zu erkennen war. Dann zwang er seine zitternden Hände zur Ruhe, zielte und jagte ihr einen Pfeil durch den Hals. Das Tier schoss davon, und mit einem Seufzer kletterte er von dem Baum herunter. Jetzt würde er der Geiß eine Weile folgen müssen. »Ich habe einen neuen Plan«, eröffnete er Winna und Ehawk. Winna sah sogar noch schlechter aus als vorhin, und es fiel ihr 402 sichtlich schwer zu essen. »Aber da er uns alle betrifft, möchte ich, dass ihr beide darüber nachdenkt.« »Was denn?«, fragte Winna. »Es geht um etwas, das Leshya gesagt hat, als wir ihr das erste Mal begegnet sind. Sie hat erzählt, sie hätte gehört, Fend wäre bei der Sarnwaldhexe gewesen.« »Ja«, sagte Winna. »Daran erinnere ich mich.« »Es gibt eine Menge Geschichten über die Hexe«, fuhr Aspar fort, »und ihr kennt mich ja, ich achte meistens nicht auf so etwas. Aber was ich noch von ihr weiß, ist, dass sie angeblich die Mutter der Ungeheuer sein soll. Die Sefry sagen das, und die Leute, die hier in der Gegend wohnen, auch.« »Das habe ich auch gehört«, sagte Winna. »Ja, also - was ist, wenn Fend wirklich dort war? Was ist, wenn er den Woorm von dort hat?« »Das wäre vielleicht eine Erklärung.« »Nein«, wehrte Aspar ab, »eigentlich überhaupt nicht, aber es ist genauso sinnvoll wie alles andere, was in letzter Zeit passiert ist.« »Du glaubst, er will dorthin zurück?« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber darum geht es mir gar nicht. Wenn er den Woorm von der Hexe hat, dann hat er dort wahrscheinlich auch das Gegengift bekommen.« »Oh.« Winna blickte auf. »Ha«, stieß Ehawk hervor. »Genau. Hört zu, alle beide, wir holen diesen Woorm nicht mehr ein. Nicht bevor wir sterben. Er ist uns Tage voraus, und, ja, auf dem Land ist er langsamer, aber ich habe ihn kriechen sehen, und er ist immer noch so
schnell wie ein Pferd. Und wenn er wieder in einen Fluss taucht...« »Also willst du stattdessen die Mutter der Ungeheuer suchen gehen und sie um das Gegenmittel für das Gift ihrer Kinder bitten?«, fragte Winna. »Ich hatte nicht vor, Fend darum zu bitten«, gab Aspar zurück. »Und sie werde ich auch nicht bitten.« 403 »Aber wir wissen, dass Fend das Mittel hat.« »Eigentlich nicht. Oder vielmehr, so wie ich Fend kenne, hat er nur genug für sich selbst.« »Oder vielleicht gibt es gar kein Gegengift«, sagte Winna. »Vielleicht ist Fend wie Stephen, und das Gift macht ihm überhaupt nichts aus.« »Das ist möglich«, räumte Aspar ein. »Aber Mutter Gastya hatte eine echte Arznei. Mutter Gastya war eine Hexe, also ist dieses Sarnwaldweib vielleicht...« Er beendete den Satz nicht und zuckte mit den Schultern. Winna dachte einen Moment lang darüber nach, dann lächelte sie schwach. »Die Reise lohnt sich schon, um zu sehen, wie du einem Kindermärchen nachjagst«, erklärte sie. »Ich bin dafür.« Ehawk antwortete lange nicht. »Sie frisst Kinder«, sagte er schließlich. »Nun ja«, erwiderte Aspar, »ich bin kein Kind.« Sie überquerten den Then stromaufwärts von der Woorm-Fährte; Unhold brach ihnen durch das dünne Eis Bahn. Auf der anderen Seite war der Boden fester und stieg rasch zu niedrigen, terrassenartigen Hügeln an, die dicht mit Weiden und Sassafras-Lorbeer bewachsen waren. Als die Sonne hoch am Himmel stand, befanden sie sich in wogendem Grasland, unterbrochen von Weiden und Feldern, auf denen der leuchtend grüne Winterweizen wadenhoch stand. Es gab nur wenige, weit verstreute Bäume, und Haine von mehr als einem halben Dutzend waren fürwahr selten. Aspar gefiel so viel Offenheit nicht; es fühlte sich an, als könne irgendetwas aus dem Himmel auf ihn herabstoßen. Wenn es eine Schlange von einer halben Meile Länge geben konnte, dann gab es vielleicht auch Adler in dieser Größe. Außerdem gab es zu viele Menschen in den Midenlanden, zumindest hatte es zu viele gegeben. Sie bauten keine riesigen Städte wie an den beiden Küsten, doch Gehöfte waren häufig - ein Haus, ein Stall, ein paar kleinere Gebäude -, und alle paar Meilen gab es 404 Dörfer mit einem halben Dutzend Häusern. Fast alles, was wie ein Hügel aussah, war von einer Burg gekrönt; manche waren verfallen, aus anderen quoll Rauch als Zeichen, dass sie noch bewohnt waren. Das hieß, sie sahen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang drei davon, da die Landschaft nicht allzu viele Erhebungen aufwies, aus der die Fantasie einen Hügel machen konnte. Doch sie bekamen keine Menschen zu Gesicht - nicht an diesem ersten Tag, weil sie sich noch immer recht strikt nach der Woorm-Fährte richteten und das Ungetüm anscheinend jedes Mal einen Umweg gemacht hatte, wenn Häuser in Sicht kamen. Sie sahen auch keine Kühe, Schafe, Ziegen oder Pferde. Die Kreatur musste fressen, und in Anbetracht ihrer Größe musste sie wahrscheinlich eine Menge fressen. Früh am nächsten Tag jedoch wandte die Spur des Ungeheuers sich mehr nach Norden, als Aspar lieb war, und es war an der Zeit, seine Entschlossenheit auf die Probe zu stellen. Ein Blick auf Winna bestärkte ihn in seiner Entscheidung, und sie ritten nach Nordosten, auf den Sarnwald zu. Innerhalb weniger Glockenschläge stießen sie auf einige auf Futtersuche herumstreifende Kühe - und auf zwei Menschen. Als sie näher kamen, sah Aspar, dass es ein Junge und ein Mädchen waren, beide nicht älter als vielleicht dreizehn. Anfangs sahen sie aus, als wollten sie davonlaufen, doch sie blieben stehen, bis Aspar und seine Gefährten auf ungefähr fünfzig Königsellen heran waren. »Hallo!«, rief das Mädchen. »Wer seid Ihr?« Aspar hob seine leeren Hände. »I haet Aspar White«, rief er zurück. »Ich bin der Waldhüter des Königs. Dies sind meine Freunde. Wir wollen euch nichts tun.« »Was ist ein Waldhüter?«, fragte das Mädchen. »Ich passe auf den Wald auf«, erwiderte er. Die Kleine kratzte sich am Kopf, dann schaute sie sich um, als suche sie einen Wald. »Habt Ihr Euch verirrt?«, wollte sie wissen. 405 »Nein«, antwortete Aspar. »Aber kann ich näher kommen? Von all diesem Geschrei wird meine Kehle ganz heiser.« Die beiden sahen sich an, dann betrachteten sie wieder die drei Reisenden. »Ich weiß nicht«, sagte das Mädchen. »Wir sollten absteigen«, schlug Winna vor. »Sie haben Angst.« »Sie haben Angst vor mir«, entgegnete Aspar. »Ich steige ab. Winna, warum reitest du nicht zuerst näher heran? Aber bleib auf deinem Pferd, zumindest bis du bei ihnen bist.« »Das ist eine gute Idee«, stimmte sie zu. Aethlaud und ihr Bruder Aoshli waren blonde, rotwangige Kinder. Sie war dreizehn, er zehn. Sie hatten ein wenig Brot und Käse bei sich, und Aspar ergänzte dies durch eine großzügige Portion des Wildbrets von gestern. Er hatte keine Zeit gehabt, das Fleisch richtig einzusalzen - was sie also nicht verzehrt hatten, würde in ein paar Tagen ohnehin schlecht werden. Sie saßen auf einer sanften Anhöhe unter einer einsamen Persimone und sahen den Kühen zu.
»Wir treiben sie nach Haemeth hinunter«, erklärte Aethlaud. »Aber wir sollen sie unterwegs grasen lassen.« »Wo ist das?«, erkundigte sich Aspar. Ihrer Miene war zu entnehmen, dass jeder, der keine Ahnung hatte, wo Haemeth war, eigentlich fast gar nichts wusste. »Ungefähr eine Meile in diese Richtung«, antwortete sie und zeigte nach Nordosten. »An der Straße nach Thaurp-Crenreff.« »In diese Richtung reiten wir auch«, sagte Winna. Aspar wollte sie zum Schweigen bringen, ehe sie den Kindern anbot, sie zu begleiten. Er wollte sich nicht an das Marschtempo der Kühe halten müssen. Doch sie sah so verhärmt und zerbrechlich aus, dass ihm die Stimme gefror. »Seid Ihr krank?«, platzte Aoshli heraus. »Ja«, sagte Winna. »Wir sind alle krank. Aber es ist nicht ansteckend.« »Das kommt von dem Waurm, nicht wahr?« 406 Sie waren nicht mehr in ootischen Landen, und die Aussprache war ein wenig anders, doch es war nicht zu verkennen, was er meinte. »Ja«, bestätigte Aspar. »Haudy hat ihn gesehen«, vertraute der Junge ihnen an. Seine Schwester versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Aethlaud«, fauchte sie. »Ich bin zu alt für diesen Spitznamen. Nächstes Jahr werde ich verheiratet sein, und Mam wird dich zu mir schicken, damit du bei mir wohnst, und ich gebe dir Kalfsceit zu essen, wenn du mich so nennst.« »Mam nennt dich doch immer noch so.« »Aber nur Mam«, erwiderte das Mädchen. »Du hast den Woorm gesehen?«, unterbrach Winna. »Westlich von hier?« »Nein«, antwortete das Mädchen. »Da ist er wohl auf dem Rückweg, glaube ich.« »Wie meinst du das?«, fragte Aspar und beugte sich vor. »Das war vor dem Winterfest«, erzählte sie. »Ich bin mit Mams Bruder Orthel zur Mael gegangen, um ein bisschen Roggen mahlen zu lassen. Das ist am Fennbach, der in den Magierfluss fließt. Wir haben ihn im Fluss gesehen. Die Leute da in der Gegend, von denen sind viele krank geworden, genau wie ihr.« »Vor dem Winterfest.« »Ja.« »Also ist er wirklich aus dem Sarnwald gekommen.« »Oh ja«, bekräftigte das Mädchen. »Woher denn sonst?« Das hob Aspars Stimmung, wenn auch nur ein wenig. Er hatte einmal richtig geraten - möglicherweise traf auch der Rest seiner »Vielleichts« zu. »Was wisst ihr über den Sarnwald?«, erkundigte er sich. »Der ist voller Geister und Alven und Booygshins!«, verkündete Aoshli. »Und die Hexe«, fügte Aethlaud hinzu. »Vergiss die Hexe nicht.« 407 »Kennt ihr jemanden, der schon mal dort war?«, fragte Winna. »Ah ... nein«, antwortete das Mädchen. »Weil jeder, der da hingegangen ist - der ist nie wiedergekommen.« »Außer Grootfa«, verbesserte der Junge. »Stimmt«, gab Aethlaud zu. »Aber der war westlich von dem Wald.« »Wollt Ihr dorthin?«, fragte Aoshli Aspar. »In den Sarnwald?« Aspar nickte. Der Junge blinzelte, dann warf er einen Blick auf Unhold. »Wenn Ihr tot seid, kann ich dann Euer Pferd haben?« Ehawk, der normalerweise nicht zu Gefühlsausbrüchen neigte, platzte daraufhin laut heraus. Er lachte so sehr, dass Winna davon angesteckt wurde, und schließlich merkte selbst Aspar, dass er grinste. »Jetzt wünschst du dir etwas, das du vielleicht lieber nicht hättest«, meinte er. »Unhold ist vielleicht ein bisschen zu viel für dich.« »Nein, mit dem komm ich schon zurecht«, widersprach Aoshli. »Wie lange, glaubt ihr, braucht ihr noch bis Haemeth?«, erkundigte sich Winna. »Noch zwei Tage«, antwortete Aethlaud. »Wir wollen ja nicht, dass sie sich das Fett ablaufen.« »Ist das nicht gefährlich - ihr beiden ganz allein hier draußen?« Aethlaud hob die Schultern. »Früher war's wohl nicht so gefährlich.« Sie runzelte die Stirn, dann fuhr sie ein wenig trotziger fort: »Aber uns bleibt nicht viel anderes übrig - es ist sonst niemand da, der es tun könnte, nicht, seit unser Vater gestorben ist. Und wir haben das schon öfter gemacht.« Winna sah Aspar an. »Vielleicht könnten wir -« »Das geht nicht«, sagte er. »Das können wir nicht. Zwei Tage -« »Einen Moment hier drüben, Aspar?«, fragte Winna und deutete mit einer Kopfbewegung. »Gut.« »Du bist nicht so krank wie ich«, flüsterte Winna einen Mo408
ment später. »Irgendetwas ist passiert, als der Dornenkönig dir das Leben gerettet hat. Etwas, das dich stärker gemacht hast. Du trinkst die Medizin, die du Fends Mann abgenommen hat, gar nicht mehr, nicht wahr?« Er bestätigte das mit einem knappen Nicken. »Ich fühle es trotzdem«, gab er zu, »aber, ja, ich bin nicht so krank wie du.« »Wie weit ist es noch bis zum Sarnwald?« Er überlegte. »Drei Tage.« »So langsam, wie wir reiten, meine ich.« Er seufzte. »Vier, vielleicht fünf.« Sie hustete, und er musste sie festhalten, damit sie nicht umfiel. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in zwei Tagen nicht mehr auf einem Pferd sitzen kann, Aspar. Du wirst mich festbinden müssen. Ehawk hält wohl noch ein wenig länger durch.« »Aber wenn wir hier Zeit verlieren -« »Nur ich und Ehawk, Aspar.« Ihre Augen waren voller Tränen. »Wenn ich nur noch ein paar Tage zu leben habe, würde ich sie lieber dafür verwenden, den beiden zu helfen, dorthin zu gelangen, wo sie hinwollen, als irgendeiner Heilung nachzujagen, die es gar nicht gibt.« »Es gibt sie«, beharrte Aspar. »Du hast sie doch gehört - Fend hat den Woorm aus dem Sarnwald. Bestimmt hat er da auch das Gegenmittel bekommen.« »Ich habe auch gehört, wie sie gesagt haben, dass so ziemlich jeder, der jemals in den Sarnwald gegangen ist, nie wieder herausgekommen ist.« »Weil bisher niemals ich derjenige war.« Müde schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Bringen wir die zwei nach Haemeth. Du kannst dich dort erkundigen, kannst mehr über diese Hexe herausfinden.« »Das können wir auch so, ohne herumzutrödeln, um Vieh zu treiben.« »Ich möchte ihnen helfen, Aspar.« »Sie brauchen keine Hilfe«, widersprach er. Verzweiflung 409 schlich sich in seine Worte. »Sie haben das schon öfter getan. Das haben sie gesagt.« »Sie haben schreckliche Angst«, erwiderte Winna. »Wer weiß, was ihnen hier draußen in zwei Tagen alles begegnet. Wenn nicht ein Woorm oder ein Gryffin, dann vielleicht bloß Viehdiebe.« »Für die beiden muss ich nicht sorgen, Winna - für dich schon.« »Ja. Ich weiß. Aber tu es für mich.« Sie weinte unverhohlen, aber lautlos. Ihr Gesicht war gerötet, die Lippen bläulich verfärbt. »Ich werde gehen«, sagte er. »Ich gehe allein. So ist es einfacher, da hast du Recht. Bis dahin wird Ehawk nicht mehr in der Lage sein zu kämpfen, das stimmt. Ich habe nicht nachgedacht.« »Nein, Liebster«, erwiderte Winna. »Nein. Dann sterbe ich ohne dich, verstehst du? Ich will mein Leben in deinen Armen aushauchen. Ich will, dass du da bist.« »Du wirst nicht sterben«, sagte er ruhig. »Ich komme zurück, mit deinem Heilmittel. Wir treffen uns in Haemeth.« »Hörst du mich denn nicht? Ich will nicht allein sterben! Und sie wird dich töten!« »Und was ist mit Ehawk? Du hast dich aufgegeben, aber vielleicht ist ja noch Zeit, ihn zu retten, sogar nach deiner Schätzung.« »Ich ... Aspar, bitte. Ich bin nicht stark genug für so etwas.« Seine Kehle war wie zugeschnürt, und sein Puls dröhnte in den Ohren. »Genug«, entschied er. Er nahm sie auf die Arme, ging zu ihrem Pferd zurück und hob sie in den Sattel, dann wehrte er ihre klammernden Hände ab. »Ehawk«, rief er. »Komm her.« Der Junge gehorchte. »Du und Winna, ihr begleitet die beiden zu dieser Stadt. Dann suchst du einen Arzt, hörst du? Die Leute hier verstehen vielleicht mehr von Ungeheuern und ihrem Gift, als wir denken. Ihr wartet dort, und ich komme zurück.« »Aspar, nein!«, jammerte Winna schwach. 410 »Du hattest Recht!«, rief er zurück. »Geh mit ihnen.« »Komm auch mit!« Anstatt zu antworten, schloss er den Mund und schwang sich auf Unhold. »Ich sage ihm, dass er dich suchen soll, wenn ich tot bin«, sagte er zu Aoshli. »Aber du musst dich gut um ihn kümmern.« »Auy, Sir!« Er drehte sich nach Winna um und fand sie und ihr Pferd nur wenige Schritte entfernt. »Verlass mich nicht«, flüsterte sie. Ihre Lippen bewegten sich, doch er hörte sie kaum. »Nicht lange«, versprach er. Sie schloss die Augen. »Dann küss mich«, sagte sie. »Küss mich noch einmal.«
Kummer wallte auf wie ein weiteres Ungeheuer, klomm aus den Höhlen seiner Eingeweide empor und versuchte, sich mit Gewalt einen Weg aus seinen Augen ins Freie zu bahnen. »Behalte den Kuss«, sagte er. »Ich hole ihn mir, wenn ich zurückkomme.« Dann machte er kehrt und ritt los und schaute nicht zurück -konnte nicht zurückschauen. 31. Kapitel Der tolle Wolf Robert Dare strich über seinen Schnurrbart, nippte an seinem Wein und seufzte. Von ihrem Aussichtspunkt auf dem Deich blickte er über das überflutete Land auf Eslen. »Ich habe stets die galleanischen Weine vorgezogen«, bemerkte 411 er. »Man kann beinahe das Sonnenlicht darin schmecken, wisst Ihr? Die weißen Steine, die schwarze Erde, die dunkeläugigen Mädchen.« Er hielt inne. »Ihr wart doch dort, Sir Neil? Vitellio, Tero Galle, Hornladh - Ihr habt diesen Kontinent wahrhaftig weit bereist. Ich hoffe wirklich, Ihr kommt dazu, auch den Rest zu sehen. Sagt mir es heißt, das Reisen erweitert den Verstand, schult den Gaumen. Habt Ihr auf Euren Fahrten etwas gelernt?« Als er den Prinzen betrachtete, hatte Neil den sonderbaren Eindruck, eine Art Insekt vor sich zu sehen. Es war nichts Offensichtliches, sondern irgendetwas an der Art, wie er sich bewegte. Ein Hund, ein Hirsch, sogar ein Vogel oder eine Eidechse - all diese Wesen bewegten sich gleichmäßig, im Einklang mit der großen Welt um sie herum. Ein Käfer dagegen bewegte sich seltsam. Es lag nicht nur daran, dass er flink war oder sechs Beine hatte -es war mehr, als bewege er sich zu den Rhythmen einer anderen Welt, einer kleineren Welt, oder vielleicht zu kleineren Rhythmen dieser Welt, die Riesen wie Neil nicht fühlen konnten. So war es mit Robert. Seine Gesten studierten die Normalität, konnten sie jedoch nicht wiedergeben. Aus dem Augenwinkel gesehen, wirkte selbst das Offnen seiner Lippen eigenartig monströs. »Sir Neil?«, drängte Robert höflich. »Ich habe nur gerade überlegt«, sagte Neil, »wie ich es am besten zusammenfassen soll. Zuerst war ich überwältigt von der Größe der Welt, davon, wie viele Teile sie hat. Ich war erstaunt darüber, wie verschieden die Menschen sind, und gleichzeitig darüber, wie gleich sie alle sind.« »Interessant«, erwiderte Robert in einem Ton, der andeutete, dass dies alles andere als interessant war. »Ja«, sagte Neil. »Bis ich nach Eslen gekommen bin, dachte ich, meine Welt sei groß. Die See kommt einem schließlich endlos vor, wenn man darauf segelt, und die Inseln scheinen unzählbar. Doch dann habe ich herausgefunden, dass das alles in eine Tasse passen würde, wenn die Welt ein Tisch wäre.« 412 »Poetisch«, bemerkte Robert. »In dieser kleinen Tasse der Welt, in der ich gelebt habe«, fuhr Neil fort, »war alles recht einfach. Ich wusste, für wen ich kämpfe, ich wusste, warum. Dann bin ich hierher gekommen, und alles wurde verwirrend. Als ich weiter in die Welt hinausgezogen bin, wurde es noch verwirrender.« Robert lächelte nachsichtig. »Inwiefern verwirrend? Habt Ihr Euer Gespür für Recht und Unrecht eingebüßt?« Neil erwiderte das Lächeln. »Ich bin mit Kämpfen aufgewachsen, und meistens habe ich gegen Weihand-Piraten gekämpft. Sie waren schlechte Menschen, weil sie mein Volk angegriffen haben. Sie waren schlechte Menschen, weil sie für Hansa gekämpft haben, Leute, die mein Volk einst in Knechtschaft gehalten hatten und es wieder tun würden, wenn sie könnten. Und trotzdem, wenn ich zurückschaue, waren die meisten der Männer, die ich getötet habe, wahrscheinlich gar nicht so anders als ich. Wahrscheinlich sind sie in dem Glauben gestorben, dass ihre Sache gerecht war, und haben gehofft, dass ihre Väter von jenseits der Welt zuschauen und stolz auf sie sind.« »Ja, ich verstehe«, sagte Robert. »Ihr wisst es vielleicht nicht, aber es gibt eine Denkweise von erheblichem Gewicht, die auf dieser Annahme fußt. Allerdings ist das keine Denkweise für schwache Geister, denn sie legt nahe - so wie Ihr es gerade eben angedeutet habt -, dass es so etwas wie Gut und Böse in Wirklichkeit nicht gibt. Dass die meisten Menschen das tun, was sie für das Richtige halten. Es ist lediglich der Mangel an Einigkeit darüber, was richtig ist, der uns dazu verleitet, an Gut und Böse zu glauben.« Beinahe begierig beugte er sich vor. »Ihr seid weit gereist, Sir Neil. Meilenweit. Doch man kann sozusagen auch in der Zeit reisen, durch das Studium der Geschichte. Bedenkt die Streitfrage, die uns jetzt vorliegt; ich werde dafür geschmäht, dass ich versuche, unsere Freundschaftsbande mit Hansa zu stärken und so einen Krieg abzuwenden, den wir uns nicht leisten können. Die, die mich verunglimpfen, weisen darauf 4r3 hin, dass ich damit Bedingungen schaffe, die es vielleicht einem Reiksbaurg ermöglichen könnten, in ein paar Jahren den Thron zu besteigen. Nun, warum sollte das für Unrecht gehalten werden? Weil Hansa böse ist? Weil es die Herrschaft über dieses Königreich anstrebt? Und doch hat meine Familie - die Dares - Hansa Crothenien in blutigem Zwist entrissen. Mein Ururgroßvater hat den Reiksbaurg-Herrscher in der Halle der Tauben ermordet. Wer war damals gut und wer böse? Das ist doch eine bedeutungslose Frage, findet Ihr nicht?« »Ich bin nicht so gebildet wie Ihr«, räumte Neil ein. »Ich weiß wenig von Geschichte und über Philosophie sogar noch weniger. Schließlich bin ich ein Ritter, und meine Aufgabe ist, zu tun, was mir gesagt wird. Ich habe viele Männer getötet, die ich vielleicht gemocht hätte, wären wir uns unter anderen Umständen begegnet, weil sie
nicht - wie Ihr es ausdrückt - böse waren. Wir haben lediglich Herren gedient, die gegensätzliche Ziele verfolgt haben. In manchen Fällen war es nicht einmal das - um meine Pflicht zu tun, musste ich am Leben bleiben, und am Leben zu bleiben heißt manchmal, andere zu töten. Wie Ihr sagt, die meisten Menschen auf dieser Welt versuchen bloß, das Beste zu tun, diejenigen, die sie lieben, und das Leben, das sie kennen, zu bewahren, ihren Aufgaben und Verpflichtungen gerecht zu werden.« »Alles vollkommen verständlich.« »Ja«, fuhr Neil fort. »Und deshalb sticht das wirklich Böse umso mehr hervor, wenn ich ihm begegne, wie ein hoher schwarzer Baum auf einer grünen Heide.« Roberts Augenlider flatterten, dann gluckste er belustigt. »Ihr glaubt also trotz alldem noch immer daran, dass es wahrhaft böse Menschen gibt. Irgendwie besitzt Ihr die Fähigkeit, in ihren Herzen zu lesen und zu sehen, dass sie nicht so sind wie die meisten Menschen, die glauben, das Richtige zu tun.« »Lasst es mich anders ausdrücken«, erwiderte Neil. »Oh, bitte tut das.« »Kennt Ihr die Insel Leen?« 414 »Ich fürchte nein.« »Es gibt auch keinen Grund, warum Ihr sie kennen solltet. Eigentlich ist es nicht viel mehr als ein Felsen, allerdings ein Felsen mit tausend Tälern und Schluchten. Es gibt dort Wölfe, aber die bleiben auf den Hügeln. Sie kommen nicht herunter, dorthin, wo die Menschen wohnen. Als ich fünfzehn war, habe ich den größten Teil eines Sommers auf Leen verbracht, bei einer lierischen Garnison. Und in diesem Jahr ist doch ein Wolf heruntergekommen - ein großer. Zuerst hat er nur Ziegen und Schafe gerissen, aber bald hat er auch angefangen, Kinder zu töten, und dann erwachsene Männer und Frauen. Er hat nicht gefressen, was er getötet hat, müsst Ihr wissen, er hat die Leute einfach nur zerrissen und sie sterbend liegen lassen. Nun kann es alle möglichen Gründe dafür gegeben haben, dass er das getan hat; vielleicht war seine Mutter mitsamt seinen Geschwistern umgekommen, und er war außerhalb des Rudels aufgewachsen, ein Einzelgänger, bei seinesgleichen verhasst. Vielleicht war er von irgendetwas gebissen worden, das ihn mit der Wasserfurcht-Tollheit angesteckt hat. Vielleicht hat ein Mensch ihn einmal misshandelt, und er hatte unserer ganzen Rasse Vergeltung geschworen. Wir haben diese Fragen nicht gestellt. Das war nicht nötig. Dieses Wesen sah aus wie ein Wolf, aber es hat sich nicht wie ein Wolf verhalten. Man konnte es nicht verjagen, oder es besänftigen, oder vernünftig mit ihm reden. Die einzige Möglichkeit, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, war, diese Bestie daraus zu entfernen - und das haben wir getan.« »Man könnte einwenden, dass ihr die Welt nicht zu einem besseren Ort für den Wolf gemacht habt.« »Man könnte entgegnen, dass es die Welt niemals zu einem besseren Ort für irgendjemanden machen könnte, wenn man von ihr verlangt, sich nach den Bedürfnissen eines einzelnen, toll gewordenen Wolfes zu richten. Und der Wolf, der so etwas von der Welt verlangen würde - nun, das ist mein schwarzer Baum auf einer grünen Heide, versteht Ihr?« 4i5 »Warum nicht ein grüner Baum auf einer schwarzen Heide?«, sinnierte Robert. »Warum nicht?«, stimmte Neil zu. »Auf die Farbe kommt es wirklich nicht an.« »Hier ist also meine Frage.« Robert trank den Rest seines Weins aus und griff nach der Flasche. Mitten in der Bewegung hielt er inne. »Darf ich?« »Wenn Ihr wollt.« Robert schenkte sich ein, nippte, dann wandte er sich wieder Neil zu. »Meine Frage. Angenommen, Ihr hättet das Gefühl, jemand sei dieser schwarze Baum, dieser wahrhaft böse Mensch. Ein toller Wolf, der zur Strecke gebracht werden muss. Wieso würdet Ihr auf sein Versprechen hin jemals die Sicherheit von, sagen wir, einer jungen Frau riskieren?« »Weil er nur sich selbst dient«, antwortete Neil. »Niemals etwas Höherem. Daher kann ich sicher sein, dass er sich niemals selbst opfern wird.« »Wirklich? Nicht einmal aus Bosheit, oder aus Rache? Ich meine, wir müssen doch alle sterben. Da sehe ich keinen Ausweg, Ihr etwa? Nehmen wir an, dieser Mann wäre ehrgeizig, und zu sehen, wie man ihm das, wonach er strebt, verwehrt, wäre ihm einfach nun ja - unmöglich. Wenn ein Mann das Haus, das er begehrt, nicht erben kann, könnte er es dann nicht niederbrennen? Würde das nicht zu dem Menschen passen, den Ihr beschrieben habt?« »Ich bin dieses Geplänkel leid«, sagte Neil. »Wenn Anne etwas zustößt, werdet Ihr nicht schnell sterben.« »Was wohl ihr Signal ist, frage ich mich? Woher wollt Ihr wissen, dass sie wohlauf ist?« »Es gibt ein Signal«, versicherte Neil. »Etwas, das wir von hier aus sehen können. Wenn wir es vor Sonnenuntergang nicht sehen, schneide ich Euch einen Finger ab und schicke ihn Euren Männern. Das geht dann so weiter, bis sie entweder frei oder ihr Tod bewiesen ist.« »Ihr werdet Euch ja so töricht vorkommen, wenn das alles vor416
bei ist und Anne und ich dicke Freunde sind. Was glaubt Ihr, was mit einem Ritter passiert, der seinen Lehnsherrn bedroht?« »Im Augenblick«, erwiderte Neil, »betrifft mich das nicht. Wenn es mich betrifft, werde ich selbstverständlich jegliches Los annehmen, von dem die Königin meint, dass ich es verdiene.« »Selbstverständlich«, höhnte Robert. Er schaute zum Himmel empor und lächelte flüchtig. »Ihr habt gar nicht nach Eurer letzten Königin gefragt, nach Muriele. Seid Ihr nicht neugierig, wie es ihr geht?« »Ich bin mehr als neugierig«, antwortete Neil. »Ich habe nicht nach ihr gefragt, weil ich keinen Grund habe, auch nur ein Wort von dem zu glauben, was Ihr sagt. Was auch immer Ihr mir erzählt, wird mich zweifeln lassen. Ich werde noch zur rechten Zeit erfahren, wie es ihr geht.« »Und angenommen, sie beklagt sich darüber, wie ich sie behandelt habe? Angenommen, hier geht sonst alles gut - ich danke ab, Anne besteigt den Thron -, und Muriele hat trotzdem etwas an ihrer Behandlung auszusetzen?« »Dann werden Ihr und ich uns noch einmal über tolle Wölfe unterhalten.« Robert leerte seinen Becher und griff abermals nach der Flasche. Doch als er sich einschenken wollte, stellte er fest, dass sie leer war. »Bestimmt gibt es hier doch noch mehr davon«, sagte er laut. Auf Neils Nicken hin eilte einer von Artwairs Knappen davon, um eine neue Flasche zu holen. »Es geht hier doch nicht etwa um Fastia, oder?«, fragte Robert. »Diese Gefühle, die Ihr hegt? Darum geht es doch nicht in Wirklichkeit, hoffe ich.« Bis zu diesem Zeitpunkt war es Neil gelungen, vornehmlich Verachtung für Robert zu empfinden. Das war gut, denn es hielt seine Mordlust dem Mann gegenüber im Zaum. Jetzt jedoch brandete die Wut heulend hervor, und nur mit großer Mühe konnte er sie wieder in sein Innerstes zurückzwingen. 417 »So eine Tragödie«, sagte Robert. »Und die arme Elseny, so kurz vor ihrer Vermählung. Hätte William doch nur mehr Verstand besessen.« »Wie könnt Ihr dem König die Schuld geben?«, fragte Neil. »Er hat den Comven gezwungen, seine Töchter als Erben anzuerkennen. Wie konnte er glauben, dass sie nicht zu Zielscheiben werden würden?« »Zielscheiben für wen, Prinz Robert?«, fragte Neil. »Für einen Thronräuber?« Robert seufzte schwer. »Was wollt Ihr damit andeuten, Sir Neil?« »Ich dachte, Ihr wärt derjenige, der Andeutungen macht, Prinz Robert.« Robert beugte sich vor, und seine Stimme wurde sehr leise. »Wie hat es sich angefühlt? Königliche Wolle? Anders als die geringere Sorte? Das habe ich immer so empfunden. Aber sie bocken und schreien wie Tiere, alle, nicht wahr?« »Haltet den Mund«, knurrte Neil. »Versteht mich nicht falsch, Fastia hatte es wirklich nötig, einmal ordentlich hergenommen zu werden. Sie ist mir immer vorgekommen wie die Sorte, die es von hinten mag, auf allen vieren, wie ein Hund. War es so?« Neil merkte, dass er rau und heftig atmete und dass die Welt jene grelle Schärfe annahm, die mit der quetiac einherging, der Schlachtenraserei. Seine Hand umklammerte bereits das Heft der Todesklinge. »Ihr solltet jetzt still sein«, sagte er. Der Bursche kam mit einer neuen Weinflasche. »Das wird mich beruhigen«, sagte Robert. Doch als er die Flasche ergriff, erhob er sich plötzlich und schmetterte sie dem Jungen an den Kopf. Es schien sehr langsam vor sich zu gehen, der schwere Glasbehälter, der gegen die Schläfe des Knappen krachte, das aufspritzende Blut. Neil sah ein Auge aus seiner Höhle springen, als sich der 418 Schädel unter dem Aufprall verformte. Gleichzeitig sah er Robert nach dem Schwert des Burschen greifen. Und er war froh. Froh, weil die Todesklinge jetzt aus der Scheide surrte und er vorsprang. Robert riss den sterbenden Burschen vor sich, doch die Klinge schnitt hindurch und drang tief in den Prinzen. Neil spürte einen eigenartigen Ruck, fast ein Aufbegehren der Waffe, und seine Finger lockerten sich unwillkürlich. Aus dem Augenwinkel sah er Roberts Faust kommen, noch immer mit dem Hals und dem oberen Drittel der Weinflasche darin. Ohne nachzudenken, riss er die Hand hoch. Zu spät. Eine Seite seines Kopfes schien in einer weiß glühenden Erschütterung zu bersten. Er ging unter dem Schlag zu Boden; seine Raserei ließ ihn bei Bewusstsein bleiben, doch als er wieder auf die Beine kam, war Robert bereits zwei Ellen weit entfernt und hielt die Todesklinge in der Hand. Ein dämonisches Grinsen lag auf seinem Gesicht. Benommen griff Neil nach seinem Messer, wobei ihm klar war, dass es gegen die Hexenwaffe wenig ausrichten würde. Doch ein Pfeil traf den Prinzen in die Brust, und dann noch einer, und er stolperte rückwärts, heulte auf und kippte über die Deichkante ins Wasser. Neil taumelte hinter ihm her, das Messer fest in der Hand. Artwairs Männer bekamen ihn auf der Deichkrone zu fassen und hinderten ihn daran, die acht Königsellen hinab ins Wasser zu springen. »Nein, Ihr Narr«, rief Artwair. »Überlasst ihn den Bogenschützen!«
Neil wehrte sich gegen die Männer, die ihn festhielten, doch eines seiner Augen war voller Blut, und seine Muskeln fühlten sich grauenhaft schlaff an. »Nein!«, brüllte er. Doch danach senkte sich tiefe Stille herab. Sie warteten darauf, dass der Prinz auftauchte, tot oder lebendig. Doch auch nach vielen langen Atemzügen tauchte er nicht auf. Artwair schickte Männer ins Wasser, doch sie fanden nichts. 419 Ein kalter Nebel zog an diesem Abend den Fluss herauf, doch der Pelikan-Turm ragte über all dem empor, seine Nordzinne deutlich sichtbar und dunkel. »Auch wenn sie das Licht löscht«, sagte Neil und drückte einen sauberen Stofffetzen gegen seine Kopfwunde, »könnte das lediglich heißen, dass sie das Signal unter der Folter preisgegeben hat.« »Auy«, pflichtete Artwair ihm bei. »Das Einzige, was wirklich etwas bedeuten würde, wäre, wenn sie das Licht überhaupt nicht löscht.« »Das würde Euch gefallen, nicht wahr?«, blaffte Neil. »Von Roberts Männern getötet, könnte Anne Euch vielleicht nützlicher sein als lebendig - zumindest jetzt, wo Ihr wisst, was sie denkt.« Artwair blieb einen Moment lang stumm, dann nahm er einen Zug aus der grünen Glasflasche, die er zwischen sie auf die Bodenbretter gestellt hatte. Die beiden Männer saßen im obersten Stock einer halb ausgebrannten Malend und hielten Ausschau nach Annes Signal. Er bot Neil die Flasche an. »Ich will nicht behaupten, dass sie mich heute Vormittag besonders glücklich gemacht hat«, sagte der Herzog. »Sie hat direkt in mich hineingegriffen. Ich konnte sie dort drinnen fühlen. Was ist mit ihr geschehen, Sir Neil? Zu was ist dieses Mädchen geworden?« Neil zuckte die Achseln und griff nach der Flasche. »Ihre Mutter hat sie in den Konvent der heiligen Cer geschickt. Hat das irgendeine Bedeutung für Euch?« Artwair starrte zweifelnd und ungläubig, während Neil aus der Flasche trank und Feuer, Torf und Seetang schmeckte. »Das ist aus Skern«, stellte er fest. »Auy. Oicbe de Fie. Der Konvent der heiligen Cer, wie? Eine konventgeschulte Prinzessin. Muriele ist eine interessante Frau.« Er nahm die Flasche und schluckte mehr von dem Gebräu. Neil hatte niemals viel getrunken, das stumpfte den Verstand ab. Im Augenblick kümmerte ihn das allerdings nicht weiter - sein 420 Verstand hatte sich als ziemlich nutzlos erwiesen, und ihm tat alles weh. »Aber Ihr irrt Euch in mir, Sir Neil«, verkündete Artwair. »Nur weil ich glaube, dass ein Mädchen von siebzehn Wintern nicht die nötigen Fähigkeiten besitzt, um die größte Festungsstadt der Welt zu belagern, heißt das nicht, dass ich auf den Thron aus bin. Mir machen meine langweiligeren Pflichten als Herzog schon genug zu schaffen, ohne dass ich mit dem Comven geschlagen bin. Glaubt es mir oder nicht, ich denke wirklich, dass sie diejenige ist, die auf dem Thron sitzen sollte, und ich versuche, sie dorthin zu bringen.« Er trank abermals. »Nun, sie hat ihren Willen bekommen, und jetzt seht, was passiert ist.« »Meinetwegen.« Neil nahm die Flasche wieder in Empfang und schluckte heftig. Einen Moment lang dachte er, er würde gleich würgen, doch dann glitt das Zeug hinunter; diesmal fühlte es sich milder an. »Wegen meiner Wut.« »Robert hat Eure Wut angestachelt«, wandte Artwair ein. »Er wollte sterben.« »Er wollte, dass ich auf ihn losgehe«, entgegnete Neil und ignorierte Artwairs ausgestreckte Hand lange genug, um noch einmal zu trinken. Dann gab er die Flasche zurück. »So viel ist wahr, und ich bin darauf hereingefallen wie der hohlköpfige Tor, der ich nun einmal bin. Ich habe zugelassen, dass der Zorn mir den gesunden Menschenverstand geraubt hat. Aber er ist nicht tot, das ist es ja gerade.« »Ich habe es nicht gesehen, aber es heißt, Ihr hattet ihn gründlich durchbohrt, und hochgekommen ist er ganz sicher nicht«, wandte Artwair ein. »Nun, heutzutage ist überhaupt nichts sicher«, erwiderte Neil. »Sowohl in Vitellio als auch in Dunmrogh habe ich gegen einen Mann gekämpft, der nicht sterben konnte. Das erste Mal hätte er mich beinahe umgebracht. Beim zweiten Mal habe ich ihm den Kopf abgeschlagen, und trotzdem hat er sich immer noch bewegt. Am Schluss haben wir ihn in hundert Stücke gehackt und sie ver421 brannt. Ein Freund von mir hat gesagt, er sei ein Geschöpf gewesen, das man Nauschalk nennt, dass es ihn geben könne, weil das Gesetz des Todes gebrochen worden sei. Ich bin bei weitem kein Gelehrter in diesen Dingen, aber ich habe gegen einen Nauschalk gekämpft, und ich bin mir ziemlich sicher, dass Prinz Robert auch einer ist.« Artwair fluchte in einer Sprache, die Neil nicht kannte, dann sagte er so lange nichts, wie es dauerte, dass jeder von ihnen dreimal aus der Flasche trinken konnte. Es war das übliche Schweigen, nachdem von etwas Widernatürlichem gesprochen worden war. »Es gibt Gerüchte«, sagte er schließlich. »Gerüchte, die so etwas andeuten, aber ich habe nichts darauf gegeben.
Robert hatte schon immer ungesunde Vorlieben, und die Leute übertreiben.« Neil nahm einen weiteren Schluck. Inzwischen fühlte sich das oiche an wie ein alter Freund, der eine Decke über ihn breitete, um ihn zu wärmen. »Das war es, was wir übersehen haben«, sagte er. »Wahrscheinlich hat er seinen Mann angewiesen, Anne zu töten oder gefangen nehmen zu lassen, sobald sie durch das Tor kommt. Dann brauchte er nur noch dafür zu sorgen, dass wir ihn nicht einsperren oder in Stücke hauen. Alles, was er tun musste, war, mich so lange zu reizen, bis ich auf ihn losgehe, was er ja auch sehr gut gemacht hat.« »Ja, aber was immer Ihr auch getan hättet, für Anne wäre dasselbe dabei herausgekommen, versteht Ihr?« »Es sei denn, sie ist sicher, bis er zurückkehrt«, sagte Neil. »Das wäre der klügere Plan. Wenn er zurück ist, wenn er sicher wieder in der Stadt ist, dann schnappt die Falle zu.« »Auy«, räumte Artwair ein. »Das wäre wohl sinnvoller, nehme ich an. Aber Anne ist auch nicht gerade hilflos. Ich wette, Robert weiß nicht, wozu sie in der Lage ist. Und sie hat fünfzig gute Männer bei sich.« Von jenseits des Wassers vernahmen sie den ersten melodischen Klang der Abendglocke. 422 Das Fenster des Pelikan-Turms blieb dunkel. »Sie setzt sich vielleicht eine Weile zur Wehr, wenn sie einen geeigneten Ort gefunden hat, um sich zu verteidigen. Wenn man sie nicht überlistet hat, Gift zu nehmen, oder ihr einen Pfeil ins Auge gejagt hat.« »Ich bezweifle, dass sie sich überlisten lässt«, sagte Artwair. »Der Turm ist nicht erleuchtet. Das heißt, sie ist entweder tot, gefangen oder aus irgendeinem anderen Grund nicht im Schloss. Was immer es ist, unsere Aufgabe ist eindeutig.« »Und das wäre?« »Wir müssen zuschlagen, und zwar sofort. Inzwischen hat sich das Gerücht verbreitet, was mit Robert geschehen ist. Selbst wenn er noch am Leben ist, werden alle ihn für tot halten. Wenn wir ihm Zeit geben, wieder aufzutauchen, wird das Verwirrung stiften. Also greifen wir an, sofort, solange wir können.« »Was greifen wir an?«, wollte Neil wissen. »Thornrath. Nach dem, was sie heute Vormittag mit mir gemacht hat, bin ich versucht, Annes Prophezeiung von Herzog Fail und der lierischen Flotte zu glauben. Wir haben zwei Tage Zeit, Thornrath einzunehmen. Wenn wir das schaffen - und wenn Fail eintrifft, wie vorhergesagt -, dann haben wir eine Chance, Eslen zu erstürmen und sie zu retten.« »Es sei denn, sie ist schon tot.« »Dann werden wir sie rächen. Auf gar keinen Fall will ich Robert auf dem Thron sehen - und Ihr gewiss auch nicht.« »Da habt Ihr Recht«, stimmte Neil zu und hob die Flasche. Das Gebräu war jetzt eine Flut, die seinen Zorn hinweghob, während die Nacht dunkler und das Wasser tiefer wurde. »Können wir Thornrath einnehmen?« »Möglicherweise«, antwortete Artwair. »Es wird uns allerdings teuer zu stehen kommen.« »Darf ich den Angriff anführen?« Artwair schwenkte die Flasche im Kreis, dann nippte er daran. »Ich hatte vor, Euch das tun zu lassen«, sagte er. »Wegen Eurer To423 desklinge. Der Zugang ist schmal, und dieses Schwert hätte vielleicht den Ausschlag gegeben. Jetzt...« »Ich würde die Attacke trotzdem gern anführen«, beharrte Neil. »Ich bin ein Krieger. Ich kann töten. Von Strategie verstehe ich wenig. Da Anne nicht hier ist, wäre es das Nützlichste, was ich tun könnte.« »Ihr werdet wahrscheinlich fallen«, sagte Artwair. »Anne würde glauben, ich hätte Euch ins Verderben geschickt, um mich an ihr zu rächen. Ich kann nicht zulassen, dass sie das denkt.« »Ich hänge nicht allzu sehr an diesem Leben«, gestand Neil. »Und es kümmert mich nicht mehr besonders, was Ihre Hoheit denkt, wenn sie überhaupt noch etwas denken kann. Sie ist diejenige, die mich in diese Lage gebracht hat. Ich bin es müde, Aufgaben gestellt zu bekommen, an denen ich scheitere, nur um weiterzuleben und dieses Scheitern zu beklagen. Lasst mich diesen Angriff anführen, und ich werde eigenhändig ein Schreiben verfassen, das Ihr geben mögt, wem immer es wichtig ist. Wahrscheinlich wird das niemand sein.« »Ihr habt einen besseren Ruf, als Ihr denkt«, sagte Artwair. »Dann lasst mich ihn noch mehr verbessern und in den Liedern weiterleben«, gab Neil zurück. »Ich brauche keine Todesklinge. Beschafft mir einfach ein paar Speere und ein Breitschwert, das nicht beim ersten Hieb abbricht. Dann gebt mir ein paar Männer, die den Tod lieben, und ich gebe Euch Thornrath.« Artwair reichte ihm die Flasche. »Wie Ihr wünscht, Sir Neil«, sagte er. »Ich würde einem guten Manne niemals seine Bestimmung verweigern.« 424 32. Kapitel Eine wohlerzogene Viper Hespero lächelte und erhob sich von seinem Stuhl. »Praifec?«, keuchte Ehan. »Ihr scheint betrübt«, bemerkte Hespero und betrachtete den kleinen Mann mit hochgezogener Augenbraue. »Überrascht vielleicht«, erwiderte Stephen. »Sir Eiden hat uns einen einfachen Sacritor angekündigt.« »Aber ich bin doch ein Sacritor.« Hespero strich sich über den Kinnbart. »Und ein Fratir, ein Attish-Priester, ein
Pelish und ein Agreon.« »Gewiss, Euer Exzellenz«, räumte Stephen ein. »Es ist nur so, dass man üblicherweise unter seinem erhabensten Titel bekannt ist.« »Das stimmt im Allgemeinen, je nachdem, was man bezweckt.« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Bruder Stephen, freut Ihr Euch nicht, mich zu sehen?« Stephen blinzelte. KURIOSE UND WUNDERLICHE BETRACHTUNGEN ÜBER DIE WOHLERZOGENE VLPER Möglicherweise die Tödlichste ihrer Art, kann die wohlerzogene Viper sich ungemein reizend geben und ihr Opfer mit honigsüßen Worten anlocken. Bei ihr handelt es sich um ein höchst ungewöhnliches Raubtier, da sie die Gewohnheit pflegt, andere Tiere dazu zu veranlassen, für ihre Nahrung und zu ihrer Belustigung zu töten. Nur indem man die Mitte des Auges beobachtet, wo die eisige Flüssigkeit, welche ihr als Blut dient, sichtbar gerinnt, kann man ihre wahre Natur er425 kennen, und ist man ihr erst einmal so nahe, so ist es oft zu spät, um sich noch zu retten. Die Vervollkommnung ihres Wissens ist oft ausschlaggebend für das Überleben, denn glaubt die Viper, man leiste ihr gute Dienste, so wird sie dem Dienenden möglicherweise gestatten, am Leben zu bleiben und eine weitere Aufgabe zu bewältigen. "Wähnt sie sich jedoch hintergangen und offenbart sich ihre wahre Natur, dann wehe der unglücklichen Maus oder Kröte, die sich jenen schimmernden, giftigen Fängen gegenübersieht ... »Bruder Stephen?«, drängte der Praifec ungeduldig. »Praifec, ich -« »Vielleicht rührt Eure Beklommenheit von dem her, was Ihr mir zu sagen habt. Ich habe nichts von Euch gehört. Wo ist der Waldhüter und wo Eure Freundin Winna? Seid Ihr an der Aufgabe gescheitert, mit der ich Euch betraut habe?« »Sie sind getötet worden, Euer Exzellenz«, sagte er und setzte die trübseligste Miene auf, die er zustande brachte. »Dann hat der Pfeil also nicht gewirkt?« »Wir sind nicht dazu gekommen, ihn zu verwenden, Euer Exzellenz. Wir sind von Slinderlingen überfallen worden. Den Dornenkönig haben wir gar nicht zu Gesicht bekommen.« »Slinderlinge?« »Bitte um Vergebung, Euer Exzellenz. Das ist die ootische Bezeichnung für die wilden Männer und Frauen, von denen Ehawk Euch berichtet hat.« »Ah, ja«, sagte Hespero. »Habt Ihr wenigstens mehr über sie herausgefunden?« »Nichts von Bedeutung, Euer Exzellenz«, log Stephen. »Wie schade. Aber ich verstehe trotzdem nicht. Woher habt Ihr gewusst, dass Ihr mich hier finden würdet? Ich bin heimlich hierher gekommen.« »Euer Exzellenz, ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ich 426 Euch hier antreffen würde.« Stephens Verstand wirbelte die Lügenstraße hinunter, die er baute, und fragte sich, was er wohl jenseits des nächsten Hügels vorfinden würde. Der Praifec runzelte die Stirn. »Warum seid Ihr dann hier? Bei dem, was ich Euch aufgetragen habe, seid Ihr gescheitert. Ich würde doch annehmen, dass es Euer vordringlichstes Anliegen sein müsste, dieses Scheitern zu melden, und der naheliegendste Ort dafür wäre Eslen. Was in aller Welt hat Euch in diese entlegene Gegend geführt?« Stephens Straße war zu einem schmalen Seil geworden, eins von jenen, auf denen Gaukler balancierten, um Kinder zu erheitern. Er hatte das einmal versucht, auf dem Stadtplatz von Moris Top, und die Erleichterung darüber, zwei Schritte geschafft zu haben, hatte sich wie ein Triumph angefühlt. Doch es war kein Triumph gewesen, es waren lediglich zwei Schritte, und dann hatte er das Gleichgewicht verloren und war hinuntergefallen. »Wir sind auf meine Bitte hin hergekommen, Euer Exzellenz«, warf Bruder Ehan ein. Stephen versuchte, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen. Er hoffte, dass es ihm geglückt war, obgleich der Blick des Praifec bereits zu dem Herilanzer hinübergehuscht war. »Verzeihung?«, sagte Hespero. »Ich glaube, ich kenne Euch nicht.« Ehan verbeugte sich. »Bruder Alfraz, Euer Exzellenz, zu Euren Diensten. Ich habe Fratrex Laer begleitet, als er zum Kloster d'Ef gereist ist, um die Ketzer dort zu läutern.« »Tatsächlich. Und wie befindet sich Fratrex Laer?« »Dann habt Ihr es noch nicht vernommen, Euer Exzellenz? Inzwischen hätte Euch die Nachricht erreichen müssen - wir haben Boten nach Eslen ausgesandt. Die Slinderlinge haben ihn getötet. Die, von denen Bruder Stephen gesprochen hat. Wir hatten Glück, dass wir entkommen konnten.« »So viele Glücksfälle«, bemerkte der Praifec. »Trotzdem, wie erklärt das Eure Anwesenheit hier?« 427 »Wir haben das Kloster erreicht und nur Haufen von Gebeinen vorgefunden. Alle waren verschwunden - oder zumindest dachten wir das. Aber an jenem Abend haben wir Fratrex Pell entdeckt, im obersten
Meditationsgemach eingeschlossen. Er war völlig von Sinnen und faselte vom Ende der Welt und dass es unsere einzige Hoffnung sei, einen ganz bestimmten Berg in den Bairghs zu finden. Weniger als einen Glockenschlag später ereilte uns das gleiche Schicksal, das auch den Mönchen von d'Ef zuteil geworden war, und die Slinderlinge griffen an. Aber Fratrex Laer war der Ansicht, Bruder Pells wirres Gerede sei vielleicht wichtig, und trug uns auf, die Bücher zu retten, die dieser im Turm bei sich gehabt hatte, und den Berg zu finden, von dem Pell gesprochen hatte. Fast zu spät entdeckten wir Bruder Stephen, der in einer Turmzelle eingesperrt war. Der Fratrex hatte ihn gefangen gehalten und ihn gezwungen, die finstereren Texte zu übersetzen.« »Ich bin verwirrt. Wie seid Ihr in den Turm gekommen, Bruder Stephen?« »Als Aspar, Winna und Ehawk erschlagen wurden, habe ich den einzigen Ort aufgesucht, den ich kannte«, erklärte Stephen und versuchte, beide Füße fest auf das wild schwankende Seil zu stellen. »Der einzige Ort, den ich im Königswald kannte, war d'Ef. Doch sobald ich dort angelangt war, hat Fratrex Pell mich gefangen genommen.« »Ich glaube, Ihr habt mir seinerzeit berichtet, Fratrex Pell sei tot«, wandte Hespero mit misstrauischer Stimme ein. »Ich hatte mich geirrt«, erwiderte Stephen. »Er war verkrüppelt - seine Beine waren zerstört -, aber er war am Leben. Und, wie Bruder Alfraz bereits gesagt hat, völlig verrückt.« »Und doch habt Ihr seinen wilden Fantasien geglaubt?« »Ich -« Stephen stockte. »Ich hatte versagt, Euer Exzellenz. Meine Freunde waren tot. Wahrscheinlich habe ich nach jeder Aussicht auf Wiedergutmachung gegriffen.« »Das ist alles sehr interessant«, sagte der Praifec. »In der Tat, sehr interessant.« Seine Augen verengten sich. »Morgen früh wer428 de ich mehr davon hören. Ich bin besonders begierig zu erfahren, was Fratrex Pell für so dringlich gehalten hat. Für heute Nacht werde ich Euch zu Eurem Quartier geleiten lassen und sehen, was sich hinsichtlich eines Abendmahls tun lässt. Gewiss seid Ihr hungrig.« »Ja, Euer Exzellenz«, sagte Stephen. »Vielen Dank, Euer Exzellenz.« Ein Mönch namens Bruder Dhomush erschien und führte sie in einen kleinen Schlafsaal irgendwo in dem Gebäude. Der Raum hatte keine Fenster und nur eine Tür, wodurch Stephen sich ungemein beengt fühlte. Sobald sie allein waren, wandte er sich an Bruder Ehan. »Was sollte das alles?«, wollte er wissen. Das Herz hämmerte in seiner Brust. Seine tief abgetauchte Panik hatte den Weg nach oben gefunden, jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorüber schien. »Irgendetwas musste ich doch sagen«, verteidigte sich Ehan. »Fratrex Laer hat das Unternehmen angeführt, uns in d'Ef zu ersetzen - er war natürlich ein Hierovasi, wie Hespero. Mithilfe der Slinderlinge haben wir sie alle vernichtet. Ich dachte, er wüsste das vielleicht, aber nicht die Einzelheiten. Sieht so aus, als hätte ich Recht gehabt.« »Ich weiß nicht«, sagte Stephen zweifelnd. »Das Einzige, was ich weiß, gefällt mir nicht.« »Und was ist das?« »Dass wir hier sind. Und Hespero ist hier. Hältst du das wirklich für einen Zufall?« Ehan kratzte sich am Kopf. »Wahrscheinlich habe ich einfach gedacht, das sei Pech.« »Das ist unmöglich«, verkündete Stephen. »Entweder folgt er uns, oder er ist auf dasselbe aus wie wir. Mir fällt keine andere Erklärung ein. Dir etwa?« Ehan grübelte immer noch darüber nach, als Bruder Dhomush mit Brot und Hammelbrühe zurückkehrte. 429 Dhomush und zwei weitere Mönche übernachteten bei ihnen im Schlafsaal, doch als sich die Nacht über ihren Köpfen zur Hälfte geneigt hatte, verriet ihr Atem Stephen, dass sie schliefen. Leise schob er die Füße von der harten Holzpritsche und tappte zur Tür. Er fürchtete, dass sie verschlossen sein oder, wenn nicht, laut knarren würde. Beides traf nicht zu. Leise über Marmor zu schleichen kam der absoluten Lautlosigkeit so nahe, wie es nur menschenmöglich war. Ein anderer Jünger des heiligen Decmanus hätte ihn vielleicht gehört, doch im Vorbeigehen hatte er gesehen, dass der Altar der Kirche der heiligen Froa geweiht war, zu deren Gaben geschärfte Sinne normalerweise nicht zählten. Es war nicht schwer, den Weg zurück in die Bibliothek zu finden. Vorsichtig näherte er sich, aus Angst, Hespero könnte noch immer dort sein, doch er fand den Raum dunkel vor. Ein Augenblick des Lauschens offenbarte weder Atem noch Herzschlag, doch er hatte noch immer das Gefühl, seinen Ohren nicht trauen zu können. Henne hatte mehr oder weniger sein normales Gehör zurückgewonnen, und Ehan auch, doch keiner von ihnen hatte vorher die Fähigkeit besessen, den Flügelschlag eines Schmetterlings zu hören. Da er wusste, dass er es irgendwann würde wagen müssen, betrat er die Bibliothek und tastete an der Wand entlang nach dem Fenstersims, wo er vorhin eine Zunderbüchse gesehen hatte. Er fand sie, und es gelang ihm, eine kleine Kerze anzuzünden. In ihrem freundlichen Licht begann er mit seiner Suche. Es dauerte nicht lange, bis er zum ersten Mal fündig wurde - ein Band, der die Geschichte des Tempels schilderte. Er war groß, sehr dick und weithin sichtbar auf einem Pult ausgestellt. Er schloss das Buch
augenblicklich ins Herz, weil er sehen konnte, dass es oft neu gebunden worden war, um neue Seiten aufzunehmen. Alle Schichten der Zeit waren hier, in den Buchstaben und dem jeweiligen Zustand der Scrifti, die in dieses Werk gebunden worden waren. 430 Die jüngsten Seiten waren glatt und weiß, in einem geheimen Kirchenverfahren in Vitellio aus Leinen geschöpft. Die nächste Schicht war spröder und vergilbt, mit rauen Kanten, eine lierische Bindung, die zum größten Teil aus gestampften Maulbeerfasern bestand. Die ältesten Blätter waren aus Pergament, dünn und biegsam. Hier und dort war die Schrift abgerieben, das Scrift selbst jedoch würde seine jüngeren Nachbarn überdauern. Unwillkürlich lächelte er, als er die ersten paar Seiten durchblätterte, in der Hoffnung, herauszufinden, wann der Tempel gegründet worden war. Die erste Seite nützte ihm nichts, eine Widmung an Praifec Tysgaf von Crothenien, für seine Weitsichtigkeit, die Kirche in Demsted gegründet zu haben. Tysgaf war vor kaum dreihundert Jahren Praifec gewesen, was bedeutete, dass der Tempel dem scheinbaren Alter des Bauwerks zum Trotz nicht in den Zeiten der Hegemonie oder sogar vorher gegründet worden war. Was wiederum bedeutete, dass er hier nichts Nützliches finden würde. Oder zumindest dachte er das, bis er zum letzten Absatz der Einleitung kam. Des Weiteren ziemt es sich, dass wir den gesunden Verstand und die grundlegende Ehrbarkeit jener preisen, welche diesen Ort vor uns gehütet haben. Wenngleich es ihnen an den erleuchteten Lehren der wahren Kirche mangelte, so bewahrten sie doch über viele Generationen ein Licht der Gelehrsamkeit in Gefilden, die ansonsten eine finstere Wildnis sind. Die Legende, die unter ihnen umgeht, besagt, dass sie in uralten Zeiten, vor der Ankunft der Hegemonie, in einem höchst heidnischen Zustande lebten und Steinen, Bäumen und Wassertümpeln opferten. Während jener Zeit kam ein heiliger Mann aus dem Süden, der sie in Arzneikunde, in der Schreibkunst und den einfachsten Grundsätze der wahren Religion unterwies und dann auf Nimmerwiedersehen von dannen 43i zog. Dunkle Tage folgten, da die Heere des Schwarzen Narren die Herrschaft über jene Lande gewannen, und doch hielten sie ihrem Lehrer die Treue. Ohne Anleitung haben die Jahrhunderte ihre Lehre verfälscht, doch anstatt sich unserem Kommen zu widersetzen, haben sie uns mit offenen Armen empfangen, als die Bringer des Glaubens ihres Verehrten namens Kauron. Beinahe hätte Stephen laut gelacht. Choron, der Priester, der Virgenya Dares Tagebuch bei sich gehabt hatte. Nicht nur hatte er hier Halt gemacht, er hatte eine Religion begründet! Stephen blätterte vor und stellte zu seinem Entzücken fest, dass die nächste Seite älter war, in einer eigentümlichen, aber verständlichen Variante der vitellianischen Schrift verfasst. Die Sprache jedoch war nicht Vitellianisch, sondern ein vhilatautischer Dialekt. Stephen hatte nicht genug Zeit, den Text zu lesen, daher überflog er ihn rasch. Er fand den Namen »Kauron« viele Male, doch erst nach zwei Glockenschlägen entdeckte er, wonach er wirklich suchte, das Wort Velnoiraganas in Verbindung mit einem Verb, das »er ging« zu heißen schien. Stephen konzentrierte sich auf diesen Abschnitt. Kurz darauf machte er sich daran, im Raum herumzustöbern, bis er einen Papierfetzen, ein Tintenfass und einen Federkiel fand. Er kopierte den größten Teil der Seite Wort für Wort und kritzelte dann die beste Übersetzung hin, die er zustande brachte. Er zog von dannen und (konnte? wollte?) nicht sagen, warum(wohin?) er ging. Doch sein Führer sagte später, dass sie entlang des Stromes(Flusses? Tals?) Enakaln (aufwärts?) nach hadivaisel(eine Stadt?) und dann zum Hexenhorn wanderten. Er sprach mit den (alt? Bauch?) hadivara(?) Ich ging(folgte?) zum Fuße(niedrigerem Teil?) des Horns, bezawle(wohin die Sonne niemals fällt?) geheißen, und dort schickte er mich fort. Ich sah ihn niemals wieder. 432 Niemals, flüsterte jemand direkt in sein rechtes Ohr. Er spürte den Atemstoß, und seine Muskeln verhärteten und verkrampften sich vor nacktem Schrecken, jemanden so dicht neben sich zu finden, ohne dass er es bemerkt hätte. Er schlug mit dem rechten Arm nach dem Geräusch und stolperte gleichzeitig zur Seite. Doch dort war niemand. Sein Verstand weigerte sich, das anzuerkennen, und er ließ den Blick suchend durch die Schatten wandern. Aber niemand konnte sich so schnell bewegen, eben noch den Mund dicht an seinem Ohr haben und im nächsten Moment verschwunden sein. Doch er hatte es gefühlt, einen Doppelhauch, weil »niemals« nhyrmh gewesen war, in einem vadhiianischen Dialekt, so deutlich, wie es überhaupt nur möglich war - und es war nicht seine Stimme gewesen. »Wer ist da?«, flüsterte Stephen und drehte sich ständig auf der Stelle, nicht gewillt, irgendetwas den Rücken zuzukehren. Es kam keine Antwort. Das einzige Geräusch, das nicht von seinem Körper verursacht wurde, war das schwache Zischen der Kerze, die einzige Bewegung das Spiel von Licht und Schatten durch dieselbe kleine Flamme. Er versuchte, sich zu entspannen, doch ein Teil von ihm fühlte sich in jenem Moment gepackt, wie ein Fisch, der nach dem Köder schnappt und sich am Haken wieder findet. Hilflos betrachtete er das zufällige Wechselspiel von Düster zu Schwarz und zu Licht und sah allmählich das,
was er am meisten fürchtete - dass das Spiel von Licht und Dunkelheit nicht zufällig war. Dass er von dem Augenblick an, da er die Kerze entzündet hatte, von etwas umgeben gewesen war, das ihn eingehender studiert hatte als er das Buch. Voll Entsetzen sah er zu, wie sich Buchstaben und Schriftzeichen an den Wänden formten und wieder verblassten - immer in Andeutung eines Sinns, ohne ihn je preiszugeben. »Was bist du?« Er dachte, Sprechen würde helfen, doch es half nicht - es machte alles nur noch schlimmer, als wäre er von einem 433 Unhold angegriffen worden, hätte ein Messer gezogen und festgestellt, dass es aus einem grünen Blatt bestand. Der Woorm bäumte sich auf. Der Uttin kauerte in der Ecke. Der Gryffin stelzte aus dem Rand seines Gesichtsfeldes hervor. Ihm war, als befände er sich in einem in fröhlichen Farben gestrichenen Haus, doch als er sich gegen die Wand lehnte, zerfiel sie und enthüllte das verrottete Holz voller Termiten und Rüsselkäfer. Nur dass es kein Raum war, sondern die Wände der Welt; die bunte Illusion der Wirklichkeit zerstob, um das Grauen zu offenbaren, das dahinter lauerte. Beinahe weinend zwang er den Blick von dem Schatten fort, zurück zu der Kerze. Die Flamme hatte ein kleines Gesicht geformt, mit schwarzen, runden Augen und einem Mund. Mit einem erstickten Aufschrei löschte er das Licht, und Finsternis strömte herbei, um ihn zu trösten. Er wankte zum Fenster, kauerte dort mit wogender Brust auf den alten Steinen und versuchte, sich zu sammeln. Versuchte zu glauben, dass es nicht geschehen sei. Er zog Arme und Beine an und hielt sich eng umschlungen, fühlte, wie sein Herz allmählich langsamer schlug, und hatte Angst, sich zu rühren, damit das nicht alles zurückbrächte. Abermals vernahm er eine Stimme, doch diese war nicht in seinem Ohr. Es war eine vollkommen normale Stimme, draußen auf dem Gang. Das Buch. Hastig griff er nach oben und ertastete es mit den Fingern. Er konnte den Teil mit dem alten Pergament fühlen. Vielleicht war dies die letzte Gelegenheit, es zu sehen, doch er wagte nicht, die Kerze erneut anzuzünden. Konnte er die Seiten herausreißen? Schon beim bloßen Gedanken daran wurde ihm übel, doch die Antwort lautete ohnehin Nein - das Pergament würde man zerschneiden müssen, und er hatte nichts, was scharf genug gewesen wäre. Rasch blätterte er zurück zum Anfang, und als er 434 das tat, huschte etwas an seiner Hand vorbei. Er fuhr zurück, doch es berührte sein Gewand und glitt dann weiter zum Fußboden. Jetzt hörte er Schritte. Eilig rutschte er unter einen anderen Tisch. Die Schritte kamen näher, und gleich darauf zeichnete sich die Tür im Schein einer Kerze ab. »Wer ist da?«, wiederholte eine unbekannte Stimme seine Frage von eben. Fast hätte Stephen geantwortet; er dachte, er könnte sich vielleicht irgendeine Ausrede einfallen lassen, doch dann hörte er etwas weiter entfernt einen Tumult. Er erstarrte, und seine Handflächen fühlten sich auf dem Boden kalt und feucht an. Er konnte Ehan seinen Namen brüllen hören, hörte ihn rufen, er solle fliehen, vernahm das dumpfe Dröhnen gestiefelter Füße, das Geräusch blankgezogenen Stahls. Der Mann an der Tür gab einen erstickten Laut von sich und rannte davon. Ehan hörte auf zu brüllen. »Ihr Heiligen«, murmelte Stephen. Er tastete über den Boden, suchte nach dem Stück Papier, das herausgefallen war. Der Mann auf dem Korridor kam jetzt im Laufschritt zurück. Stephens Finger berührten das Papier, und dann hatte er es und war auf den Beinen, stürzte auf das Fenster zu. Es war schmal, und er musste sich drehen, um sich in die kalte Nachtluft hinauszuquetschen, ehe er sich zwei Königsellen tief auf den hart gefrorenen Boden fallen ließ. Der Fall schmerzte mehr, als er erwartet hatte, doch ihm war, als habe er Feuer in den Adern. Rasch rannte er um das Gebäude herum und suchte nach den Ställen. Er hatte jenes grauenhafte Schwarze-MaryGefühl, zu laufen, ohne irgendwo hinzugelangen, und sein Puls machte ihn taub für jeden, der ihm vielleicht nachjagte. Das Ding aus der Bibliothek schien überall um ihn herum zu sein, und alles, woran er denken konnte, war, zu fliehen, zu rennen, bis er einen Ort fand, wo die Sonne aufgegangen war und niemals untergehen würde. Er fand die Ställe mehr durch den Geruch als durch sein Ge435 dächtnis, und als er drinnen war, begann er nach dem Pferd zu suchen, das er seit Ever geritten hatte. Er wünschte sich, er hätte ein Licht. Dieser Wunsch ging jäh in Erfüllung, als er die Blende einer Lampe knirschen hörte und sich ihr feuriges Auge auf ihn richtete. Er konnte nicht erkennen, wer das Licht hielt, doch wer auch immer es war, hatte ein Schwert; Stephen konnte es in den Lichtkegel ragen sehen. »Halt«, befahl eine Stimme. »Auf Befehl Seiner Exzellenz des Praifec von Crothenien, bleibt stehen.« Einen Augenblick lang stand Stephen wie erstarrt da. Die Lampe kam auf ihn zu, schwankte und fiel zu Boden, wo sie ihren Lichtstrahl zur Seite richtete. Stephen schoss auf die offene Stalltür zu. Er war nur ein paar Schritte weit gekommen, als jemand ihn am Arm packte. Nach Luft schnappend zerrte er, und der Griff löste sich. »Ihr braucht meine Hilfe«, sagte eine leise Stimme eindringlich. Er wusste sofort, wer es war.
»Schwester Pale?« »Euer Decmanusianer-Gedächtnis lässt Euch nicht im Stich«, antwortete sie. »Ich habe gerade einen Mann für Euch getötet. Ich finde, Ihr solltet mir zuhören.« »Ich glaube, meine Freunde sind in Gefahr«, entgegnete er. »Ja. Aber Ihr könnt ihnen jetzt nicht helfen. Vielleicht später, wenn sie am Leben bleiben. Kommt, wir müssen fort.« »Wohin?« »Wo immer Ihr hinwollt.« »Ich brauche ein paar Sachen von meinem Pferd.« »Die Bücher? Die hat der Praifec. Seine Männer haben sie mitgenommen, noch ehe Ihr zu ihm gebracht worden seid. Beeilt Euch, sonst bekommt er Euch auch noch.« »Wie kann ich Euch trauen?« »Wie könnt Ihr mir nicht trauen? Kommt mit.« Hilflos, die Gedanken in Aufruhr, tat Stephen wie geheißen. 436 33. Kapitel Haut Leoff erwachte von Schreien und einem feuchten Tuch auf seiner Stirn. Die Schreie waren natürlich seine eigenen, und einen Augenblick lang war es ihm gleichgültig, wo das Tuch herkam, doch als es sich bewegte, schlug er danach und fuhr im Bett hoch. »Still«, flüsterte eine Frauenstimme. »Ihr habt nichts zu befürchten. Wartet nur einen Moment.« Er hörte das Geräusch einer Laterne. Ein winziges Licht erschien, wurde heller und schließlich zu einer Flamme, die aschblonde Locken beleuchtete, welche ein herzförmiges Gesicht umrahmten. Es war seltsam, dachte Leoff, dass er niemals wirklich Merys Ursprung im Gesicht ihrer Mutter gesehen hatte, aber bei diesem Licht war die Ähnlichkeit unverkennbar. »Lady Gramme«, murmelte er. »Wie ...« Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sein Oberkörper nackt war, und er zog die Decke hoch. »Es tut mir Leid, Euch zu stören, Cavaor Ackenzal«, sagte Lady Gramme, »aber ich muss Euch wirklich sprechen.« »Habt Ihr Mery gesehen? Wie habt Ihr uns gefunden?« Ein hässlicher Gedanke ging ihm durch den Kopf, als die Worte über seine Zunge schlüpften - dass Lady Gramme irgendwie an dem Ganzen beteiligt war. In gewisser Weise war das nicht abwegig. Sie war schließlich ein höchst politisches Geschöpf. Er sprach es nicht aus, doch sie musste es in seinen Augen gesehen haben. Lächelnd tupfte sie ihm abermals die Stirn ab. »Ich bin nicht mit Robert im Bunde«, versicherte sie ihm. »Bitte glaubt mir, wenn ich sage, ich würde ihm Mery niemals für irgendetwas leihen.« 437 »Wie kommt Ihr dann hierher?« Wieder lächelte sie; eigentlich war es mehr eine schwermütige Grimasse. »Ich war fast zwanzig Jahre lang die Geliebte des Königs«, sagte sie. »Wusstet Ihr das? Ich war fünfzehn, als ich das erste Mal sein Bett geteilt habe. Diese Zeit habe ich nicht nur auf dem Rücken verbracht. Es gibt nur wenige Orte in Eslen, auf Ynis oder in Neuland, wo ich keine Augen und Ohren habe und wo man mir keine Gefälligkeiten schuldet. Ich habe eine Weile gebraucht, um meine Tochter zu finden, nachdem Ihr aus den Verliesen fortgeschafft worden wart, aber es ist mir gelungen. Danach ging es lediglich darum, die richtigen Schmiergelder zu bezahlen.« »Wie ging es Mery, als Ihr sie gesehen habt?« »Sie war verschlafen. In Sorge um Euch. Sie glaubt, dass es Euch nicht gut geht. Jetzt, wo ich Euch sehe, verstehe ich das.« »Ich habe gearbeitet. Es ist - anstrengend.« »Das kann man wohl sagen. Dreht Euch um.« »Mylady?« »Auf den Bauch.« »Ich verstehe wirklich nicht -« »Ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, um mit Euch zu sprechen«, sagte Lady Gramme. »Das Mindeste, was Ihr tun könnt, ist, Euch jeder meiner Launen zu fügen - besonders wenn es zu Eurem eigenen Besten ist.« Widerstrebend gehorchte Leoff, sorgsam darauf bedacht, dass das Laken nicht verrutschte. »Schlaft Ihr immer ohne Nachthemd?«, wollte sie wissen. »Das bin ich so gewohnt«, antwortete er steif. Sein Rücken war kalt. Er fragte sich, ob sie von jemandem geschickt worden war, um ihm ein Messer oder eine vergiftete Nadel ins Rückgrat zu rammen, damit er Roberts Singspiel nicht schreiben konnte. Das sollte ihm nicht gleichgültig sein. Doch es kümmerte ihn nicht; seine Empörung war irgendwo noch vorhanden, doch seine
438 Träume pflegten sie zu verlegen. Es war einiges an wacher Entfernung von diesen Träumen notwendig, um die Empörung wieder zu finden. Lady Grammes Finger streiften seinen Rücken, und zu seinem Entsetzen hörte er sich aufstöhnen. Es war das erste wirklich Angenehme, was seine Haut seit langem verspürt hatte, und es war unbeschreiblich schön. Die Fingerspitzen begannen, sich sanft in seine Muskeln zu graben und Schmerzen und Verhärtungen herauszupressen. »Mir ist niemals irgendetwas Besonderes beigebracht worden«, sagte sie leise. »Für mich gab es keine Schulung in einem Konvent. Aber William hat Lehrerinnen in Dienst genommen, um mich in gewissen Künsten zu unterweisen. Die, die mich das hier gelehrt hat, war aus Hadam, ein Mädchen mit dicken Fingern und sehr dunklem Haar; sie hieß Besela.« »Ihr solltet das nicht... das ist nicht...« »Schicklich? Mein teurer Leovigild, Ihr seid von einem wahnsinnigen Thronräuber eingekerkert worden. Findet Ihr das vielleicht schicklich? Wir werden entscheiden - Ihr und ich -, was schicklich ist. Gefällt Euch das?« »Ja, sehr«, gestand er. »Dann entspannt Euch. Wir haben einiges zu besprechen, aber ich kann dabei das hier mit Euch tun. Einverstanden?« »Ja«, ächzte er, als sie sich zu beiden Seiten seiner Wirbelsäule hinaufarbeitete und dann seine Schultern und Arme knetete. »Es ist nichts besonders Kompliziertes«, fuhr sie fort. »Ich glaube, ich kann euch helfen, zu entkommen, euch allen dreien.« »Wirklich?« Er versuchte sich aufzusetzen, um ihr in die Augen zu sehen, doch sie drückte ihn wieder hinunter. »Hört einfach zu«, wies sie ihn an. Als er nicht wieder aufbegehrte, sprach sie weiter. »Eine Armee belagert Eslen«, berichtete sie. »Eine Armee, die -so scheint es - von Murieles Tochter Anne befehligt wird. Wie groß ihre Chancen sind, Robert zu besiegen, weiß ich nicht. Er 439 wird in Kürze Unterstützung bekommen, sowohl von der Kirche als auch von Hansa, aber wenn Liery mit auf den Plan tritt, könnte dieser Krieg sich eine ganze Weile hinziehen.« Ihre beiden Hände hatten sich jetzt seinen rechten Arm vorgenommen; ihre Finger gruben sich tief in die verdrehten Sehnen seines Unterarms. Er schnappte nach Luft, als er kleine Zuckungen in seinen Fingern spürte, wo er jegliches Gefühl verloren gewähnt hatte. Eine Mischung aus Schmerz und Wohlbehagen ließ seine Augen feucht werden. »Worauf ich eigentlich hinauswill - Robert ist im Augenblick ziemlich abgelenkt. Ich habe ein paar Freunde in diesem Schloss, und ich glaube, ich kann sie nötigen, Euch, Mery und das Landwaerd-Mädchen heimlich an einen sicheren Ort zu schaffen.« »Das ist gewiss mehr, als man hoffen kann«, wandte Leoff ein. »Ich wüsste Mery und Areana gern in Sicherheit. Was mich betrifft -« »Das kommt auf dasselbe heraus«, erwiderte Lady Gramme unverblümt. »Wenn ich sie hier herausschaffen kann, kann ich auch Euch befreien. Und ich bitte Euch nur um eins.« Natürlich, dachte Leoff. »Und was ist das, Lady?«, erkundigte er sich. »Muriele schätzt Euch. Ihr findet Gehör bei ihr. Ich gebe zu, dass ich früher einmal gedacht habe, ich würde vielleicht meinen Sohn auf den Thron heben können - schließlich ist er Williams Nachkomme -, aber jetzt will ich nur Schutz für meine Kinder. Wenn Anne gewinnt und Muriele wieder Königinmutter ist... ich bitte Euch nur darum, sie wissen zu lassen, dass ich Euch geholfen habe. Mehr nicht.« »Das kann ich ohne Bedenken tun«, sagte Leoff. Jetzt massierte sie ihn mit nur einer Hand, und er wunderte sich gerade darüber, als sie sich auf ihn presste und er etwas Feuchtes, Warmes an seinem Rücken fühlte, das ihm einen Schauer bis in die Zehen hinunterjagte. Ein lächerliches Japsen entfuhr ihm. Sie hatte mit der anderen Hand ihr Mieder geöffnet und presste jetzt ihre 440 nackten Brüste gegen ihn. Was für Mieder konnte man denn mit einer Hand öffnen? Hatten alle Frauen so etwas, oder besaßen Kurtisanen eigens dafür geschneiderte Kleider? Dann kniete sie rittlings über ihm, glitt seinen Rücken hinunter und küsste an seinem Rückgrat entlang, schob das Laken mit ihrem Oberkörper hinab, und sein ganzer Körper war augenblicklich hellwach, brannte lichterloh. Er konnte es nicht ertragen; heftig drehte er sich unter ihr herum, und sie war weder schwer noch stark genug, um ihn daran zu hindern. »Lady«, keuchte er und bemühte sich, den Blick abgewendet zu lassen. Sie trug noch immer ihr Kleid, doch es war bis zur Taille hochgeschoben, und er konnte die elfenbeinweiße Haut ihrer Schenkel über dem Rand ihrer Strümpfe sehen. Und natürlich waren da auch ihre Brüste, Alabaster und Rosen ... »Still«, sagte sie. »Das ist Teil der Behandlung.« Er hielt seine Hände hoch. »Seht mich an, Lady Gramme«, sagte er. »Ich bin ein Krüppel.«
»Ich denke, unter den gegebenen Umständen solltet Ihr mich vielleicht Ambria nennen«, erwiderte sie. »Und Ihr scheint an den Stellen, die mich interessieren, durchaus intakt zu sein.« Sie beugte sich herab und küsste ihn, mit einem warmen, vertrauten, äußerst geübten Kuss. »Das hier ist nicht Liebe, Leovigild, und es ist auch keine Wohltätigkeit. Es ist irgendetwas dazwischen - ein Geschenk, für das, was Ihr für Mery getan habt, wenn Ihr so wollt. Und es zurückzuweisen würde Euch wirklich sehr hartherzig erscheinen lassen.« Wieder küsste sie ihn, dann aufs Kinn, auf den Hals. Sie hob sich, und nach ein wenig Herumhantieren war sie plötzlich ganz und gar über ihm, und er konnte ganz bestimmt nicht länger protestieren. Er versuchte mitzumachen, ein Mann zu sein, doch sie brachte ihn sanft von allem ab, außer davon, sie zu erleben. Es war langsam, größtenteils lautlos und wirklich sehr schön. Ambria Gramme war nicht die erste Frau, der er beigewohnt hatte, doch dies hier ging weit über alles hinaus, was er jemals erfah441 ren hatte, und plötzlich wurde ihm etwas über sie klar, das er vorher niemals gedacht hatte. Was er mit Musik machen konnte, konnte sie mit ihrem Körper tun. Zum ersten Mal begriff er, dass Liebe eine Kunst und eine Geliebte eine Künstlerin sein konnte. Für diese Einsicht würde er dankbar sein, all die Tage, die ihm noch in den Landen des Schicksals blieben, wie viele es auch sein mochten. Und daher fühlte er sich ein klein wenig schuldig, als es, in seinem hilflosesten Augenblick, Areanas Gesicht war, das er vor sich sah, und nicht Ambrias. Als sie fertig waren, schenkte sie ihnen Wein ein und lehnte sich, noch immer nackt, gegen ein Kissen. Sie war ihm groß erschienen, als er ihr zum ersten Mal begegnet war, aber eigentlich stimmte das gar nicht. Sie war recht zierlich - fast ebenso schmal, wie sie in ihrem Korsett aussah -, doch ihr Körper wölbte sich in prachtvollen Kurven, und er konnte gerade noch die tigerstreifenähnlichen Spuren auf ihrem Bauch erkennen, die die Schwangerschaften mit Williams Kindern hinterlassen hatten. »Und jetzt fühlt Ihr Euch besser, nicht wahr?«, erkundigte sie sich. »Ich gebe es zu«, antwortete er. Sie streckte die Hand aus und schloss die Blende der Lampe, sodass sie zu einer Alabastergöttin in dem Streifen aus Mondlicht wurde, der durchs Fenster fiel. Dann trank sie den Wein aus, kroch unter die Decke und drehte ihn so, dass sie mit der Brust an seinen Rücken geschmiegt dalag. »In drei Tagen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Drei Tage von heute, um Mitternacht. Ihr werdet Euch in der Eingangshalle mit mir treffen. Ich werde Mery und Areana bei mir haben. Seid bereit.« »Ich werde bereit sein«, versprach Leoff. Er dachte einen Moment lang nach. »Solltet Ihr - werdet Ihr hier entdeckt werden?« »Ich werde für die nächsten paar Stunden hier sicherer sein als 442 an jedem anderen Ort, den ich mir vorstellen kann«, erwiderte sie. »Es sei denn, Ihr wollt, dass ich gehe.« »Nein«, sagte Leoff. »Das will ich nicht.« Ihre Wärme an seinem Leib war schön, noch immer sinnlich, jedoch auf eine abgeschwächte Art und Weise, die es ihm erlaubte, in angenehmen, behaglichen Schlaf zu sinken. Als er abermals erwachte, wusste er nicht genau, weshalb, doch ein leises Geräusch ließ ihn aufblicken. Zuerst dachte er, es sei wieder Ambria, die in der Dunkelheit auf ihn herabblickte - doch Ambria lag noch immer an seinen Rücken gekuschelt da. Und dann, selbst in dem schwachen Licht, erkannte er Areana. Ihre Tränen glitzerten. Bevor ihm etwas einfiel, was er sagen könnte, eilte sie davon. 34. Kapitel Der Hof der Gobelins Cazio glaubte, recht gut zu verstehen, was vorging, bis Anne sich in ihren Steigbügeln aufrichtete, ein kurzes Schwert schwang und schrie: »Ich bin eure Geborene Königin! Ich werde meinen Vater und meine Schwestern rächen, ich werde mir mein Königreich zurückholen!« Zum einen war das Schwert, mit dem sie herumfuchtelte, so albern, dass er lieber mit einem Stück altbackenem Brot gefochten hätte. Andererseits kämpfte sie nicht damit - sie führte damit. In Überwürfe gekleidete Männer strömten auf den Platz, und Anne schien nicht überrascht zu sein. So wie er es sah, sollte sie eigentlich überrascht sein, und wenn sie es nicht war, dann, bei Lord Mamres, sollte er eigentlich wissen, wieso nicht. 443 Hatte sie das die ganze Zeit über geplant, auf einem öffentlichen Platz in einen Hinterhalt zu geraten? Das war kein besonders sinnvoller Plan. »Was sollen wir tun?«, schrie er. »Bleibt dicht bei mir«, antwortete Anne, dann hob sie die Stimme, deutete auf die Männer, die auf den Platz geeilt kamen, und rief: »Haltet sie zurück!« Vierzig der fünfzig Mann von Annes Eskorte sprengten daraufhin über den Platz auf die Stadtwache zu oder auf Roberts Leibwache, oder wer immer diese Burschen auch waren. Es war von Anfang an eine hässliche Angelegenheit, da der Platz voller Menschen war, und obgleich die Menge versuchte, das Schlachtfeld zwischen
den beiden bewaffneten Truppen zu räumen, wurde allenthalben gestoßen, geschoben und geschrien. Annes verbliebene Bewacher scharten sich um sie, als sie absaß und auf die Mimen zuging. Überrumpelt sprang Cazio so schnell aus dem Sattel, dass er beinahe gestürzt wäre. Als seine Füße auf dem Platz landeten, war er plötzlich sehr froh, wieder Kopfsteinpflaster unter den Sohlen zu haben. Kein Gras, kein bestelltes Ackerland oder Waldboden oder eine von allen Lords verlassene Wüste oder einen Weg in der Mitte von Nirgendwo, sondern eine Straße in einer Stadt. Fast hätte er vor Freude laut aufgelacht. Er begriff, dass er Annes Ziel falsch gedeutet hatte. Sie strebte nicht auf die Mimen zu, sondern auf Sir Clement, der vom Pferd gesprungen und zu dem Attish-Priester hinüber gerannt war und sich jetzt mit dem Schwert eines der Wächter des Kirchenmannes bewaffnete. Die anderen Kirchensoldaten senkten die Speere, sodass sie eine Art Wall um den Priester bildeten, und hoben sich ihre Schwerter für später auf. Clement jedoch, der sie verraten hatte, war ein Ritter - bestimmt würde er ein Schwert vorziehen. Cazio schoss vor, um sich zwischen Anne und den Ritter zu stellen. 444 »Gestattet, Hoheit«, sagte er, und dabei fiel ihm der irgendwie unnatürliche Ausdruck in Annes Augen auf, gar nicht viel anders als an jenem Abend in Dunmrogh, und ihm wurde klar, dass er Clement einen Gefallen tat. Sie nickte knapp, und Cazio zog blank, während Clement auf ihn losging. Es war nicht Caspator, sondern Acredo, das Rapier, das er dem toten Sefry-Dessrator abgenommen hatte. Die Waffe fühlte sich fremd an, zu leicht, eigenartig ausbalanciert. »Zo dessrator, nip zo chiado«, erinnerte er seinen Gegner. Der Fechter, nicht der Degen. Clement beachtete ihn nicht und stürmte weiter auf ihn ein. Zu Cazios Entzücken war der Kampf nicht so simpel, wie er hätte sein können. Gegen Ritter zu kämpfen, das hatte Cazio herausgefunden, war unglaublich schwierig, wenn sie in voller Rüstung waren, doch das hatte nichts mit ihren Fechtkünsten zu tun, die unweigerlich unbeholfen waren und einen fast zu Tränen langweilen konnten. Zum Teil lag das an ihren Waffen, bei denen es sich eigentlich mehr um flache Stahlkeulen mit scharfen Schneiden handelte. Das Schwert, das Clement führte, war ein wenig leichter und schmaler als die meisten anderen, die er gesehen hatte, seit sie aus Vitellio aufgebrochen waren, aber im Großen und Ganzen war es die gleiche Sorte Schneidewerkzeug. Was wirklich anders war, war die Art und Weise, wie der Ritter seine Klinge hielt. Gerüstete Ritter neigten dazu, mit ihrer Waffe weit auszuholen und aus Schulter und Hüfte zuzuschlagen. Sie fürchteten den raschen Stoß gegen Hand, Handgelenk oder Brust nicht, da sie für gewöhnlich in Eisen gehüllt waren. Sir Clement jedoch duckte sich in eine seitliche Kampfstellung, der eines Dessrators nicht allzu unähnlich, wenngleich er ein wenig mehr Gewicht auf sein hinteres Bein verlagerte, als Cazio empfohlen hätte. Das Schwert hielt er vor sich, den Arm gestreckt auf Cazios Kopf gerichtet, sodass dieser direkt auf die Fingerknö445 chel des Ritters schaute, während die Schwertspitze seltsamerweise abwärts zeigte, sodass sie ungefähr auf Cazios Knie zielte. Neugierig machte Cazio einen Ausfall nach dem entblößten Handrücken. Clement drehte lediglich das Handgelenk, mit einer leichten Bewegung des Unterarms und völlig ruhiger Schulter, wobei er das Schwert viel schneller bewegte, als Cazio es für möglich gehalten hätte. Diese rasche, einfache Drehung hob die Mitte seiner Klinge an, um Cazios Stoß zu kreuzen. Auch die Spitze kam hoch, fuhr schnell an Cazios Rapier entlang, drängte es zur Seite und entblößte sein Handgelenk für eine Attacke, die ihr Ziel getroffen hätte, wäre Cazio nicht bereit gewesen, einen Schritt zurückzuweichen. »Das ist ja sehr interessant«, sagte er zu Clement, der seiner Riposte folgte, indem er vorsprang, in Cazios Reichweite hinein. Dabei senkte er abermals die Schwertspitze und hob die Hand an, um Cazios Degen nach außen pariert zu halten. Mit jener eigenartigen Handgelenkdrehung schlug er nach der rechten Seite von Cazios Hals. Dieser verlängerte seinen Rückwärtsschritt und parierte rasch, wobei er das Heft fast bis an seine rechte Schulter hob; dann warf er sich schnell nach links und senkte die Spitze, sodass sie auf das Gesicht des Ritters zielte. Clement duckte sich und führte einen kräftigen Hieb mit dem ganzen Arm gegen Cazios Seite, als er heran war. Cazio spürte den Luftzug, und dann war er an seinem Gegner vorbei und fuhr herum, in der Hoffnung, einen Stoß gegen dessen Rücken führen zu können. Doch Clement stand ihm bereits abwehrbereit gegenüber. »Zopertumo tertio, compostroperopraisef«, verkündete Cazio. »Was immer das heißen soll«, erwiderte Clement. »Ich kann gewiss von Glück sagen, dass Eure Zunge kein Dolch ist.« »Ihr missversteht mich«, beteuerte Cazio. »Würde ich Eure Person beurteilen - und Euch zum Beispiel ein ungehobeltes Schwein ohne jegliche Ehre nennen -, so würde ich das in Eurer eigenen Sprache tun.« 446 »Und wenn ich Euch einen lachhaften Gecken nennen würde, würde ich das in meiner Sprache tun, aus Angst, dass es mich zum Weichling machen würde, die Eure zu sprechen.« Ganz in der Nähe schrie jemand auf, und voll Verdruss begriff Cazio schlagartig, dass er kein Duell ausfocht,
sondern in einer Schlacht kämpfte. Anne hatte sich von ihm entfernt, und er konnte nicht nach ihr suchen, ohne das Risiko einzugehen, kampfunfähig gemacht zu werden. »Um Vergebung«, sagte er. Clement sah einen Moment lang verwirrt aus, doch dann griff Cazio erneut an. Er begann genauso wie bei der letzten Attacke, mit einem Ausfall gegen den Handrücken, und erzielte das gleiche Ergebnis. Der Hieb folgte, genau wie zuvor, doch Cazio wich der Parade mit einer geschickten Drehung seines eigenen Handgelenks aus. Sir Clement, das musste man ihm lassen, sah, was jetzt kommen würde, und trat schnell einen Schritt zurück, wobei er die Spitze seiner Waffe senkte, um den Stoß abzuwehren, der jetzt auf die Unterseite seiner Hand zielte. Er ließ seine Klinge ein wenig zurückweichen und schlug dann heftig an Cazios Klinge hinauf nach dessen vorgestrecktem Knie. Cazio ließ den Hieb kommen und zog sein Knie rasch zurück, führte den Fuß aus der Ausfallposition ganz nach hinten, neben den anderen, sodass er aufrecht dastand, ein wenig nach vorn geneigt. Gleichzeitig nahm er seine Klinge aus der Bahn des gegnerischen Hiebes und richtete sie auf Clements Gesicht. Die Schlagwaffe, eine Handbreit kürzer als Cazios Rapier, zerschnitt die Luft, doch Clements Vorwärtsschwung trieb ihn in die Spitze von Cazios vorgestreckter Klinge, die sauber in sein linkes Auge glitt. Cazio öffnete den Mund, um die Kombination zu erklären, doch Clement starb mit einem Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht, und plötzlich verspürte Cazio keine Lust, ihn zu verhöhnen, was immer er auch getan hatte. »Gut gekämpft«, sagte er stattdessen, als der Ritter zusammenbrach. 447 Dann drehte er sich um, um zu sehen, was vor sich ging. Er erfasste es in kurzen Bruchstücken. Austra war noch immer da, wo sie sein sollte - abseits der Kämpfe, bewacht von einem der Handwerksmeister. Anne stand da und schaute auf den Priester hinunter, der eine Hand in seine Brust gekrallt hatte. Sein Gesicht war hochrot, die Lippen blau, doch es war kein Blut zu sehen. Seine Wachen waren größtenteils tot, obgleich ein paar noch in einen aussichtslosen Kampf mit den Handwerksmeistern verstrickt waren, die Anne bewachten. Auch auf der anderen Seite des Platzes schienen ihre Leute die Oberhand zu gewinnen. Anne blickte zu ihm auf. »Befreit die Mimen«, befahl sie knapp. »Dann steigt wieder auf. Gleich reiten wir.« Cazio nickte, sowohl begeistert als auch beunruhigt von der Macht ihres Befehls. Das hier war nicht die Anne, die er von ihrer ersten Begegnung her in Erinnerung hatte - ein Mädchen, ein Mensch, jemand, den er gern hatte -, und zum ersten Mal fürchtete er, sie könnte verschwunden sein, könnte durch jemand ganz anderen ersetzt worden sein. Er schnitt die Mimen los, nahm lächelnd ihren Dank entgegen und stieg dann wieder auf sein Pferd, wie Anne ihn geheißen hatte. Die Schlacht auf dem Platz war fast vorüber, und ihre Krieger sammelten sich erneut um sie. Seiner raschen Zählung der Gefallenen nach hatten sie nur zwei Männer verloren - ein gutes Geschäft. Anne saß hoch aufgerichtet in ihrem Sattel. »Wie ihr alle sehen könnt, sind wir verraten worden. Mein Oheim hat beabsichtigt, uns ermorden oder gefangen nehmen zu lassen, sobald wir durch das Tor kamen. Ich habe keine Ahnung, wie er seiner eigenen Strafe zu entgehen gedenkt, aber ich zweifle nicht daran, dass er es weiß. Wir hatten Glück, dies zu entdecken, bevor wir das Schloss betreten haben, denn von dort hätten wir uns niemals den Weg ins Freie erkämpfen können.« Sir Leafton, der Führer der Handwerksmeister, räusperte sich. 448 »Was ist, wenn das hier gar nicht der Fall war, Majestät? Was, wenn uns diese Soldaten irrtümlich angegriffen haben?« »Irrtümlich? Ihr habt Sir Clement doch gehört - er hat den Befehl gegeben. Er wusste, dass die Männer da waren.« »Ja, aber genau das meine ich ja. Vielleicht war Sir Clement, äh, erzürnt über Euer Gespräch mit dem Priester und hat einen Befehl gegeben, von dem Prinz Robert gar nicht gewollt hätte, dass er ihn gibt.« Anne zuckte mit den Schultern. »Ihr seid zu höflich, um es auszusprechen, Sir Leafton, aber Ihr wollt andeuten, dass vielleicht mein mangelndes Urteilsvermögen an allem schuld ist. Dem ist nicht so, aber das spielt jetzt auch keine Rolle. Wir können nicht zum Schloss weiterreiten, und ich hege den starken Verdacht, dass wir uns auch den Rückweg zum Tor hinaus nicht freikämpfen können. Selbst wenn wir das könnten, die Flotte liegt zwischen uns und unserer Armee ... Hier können wir ganz gewiss nicht länger bleiben.« »Wir könnten möglicherweise den Ostturm der Festungsmauer einnehmen«, schlug Sir Leafton vor. »Vielleicht können wir ihn lange genug halten, dass der Herzog uns zu Hilfe kommen kann.« Anne nickte nachdenklich. »An so etwas habe ich auch gedacht, aber ich hatte mehr den Hof der Gobelins im Sinn«, sagte sie. »Könnten wir den halten?« Sir Leafton blinzelte und öffnete den Mund, dann befingerte er grübelnd sein Ohr. »Das Tor ist stabil, und die Straßen in dem Viertel sind alle schmal genug, um brauchbare Schanzen errichten zu können. Aber mit dieser Truppenstärke weiß ich nicht, wie lange wir ihn halten könnten. Das käme darauf an, wie sehr sie sich bemühen, uns aufzuhalten.« »Wenigstens ein paar Tage?« »Vielleicht«, antwortete er vorsichtig.
»Nun, das wird genügen müssen. Wir reiten jetzt dorthin, und zwar schnell«, entschied sie. »Aber ich brauche vier Freiwillige für etwas, das ein bisschen gefährlicher ist.« 449 Als sie die krummen Straßen hinunterritten, musste Anne der Versuchung widerstehen, ihr Pferd losstürmen zu lassen, um den Mimhus-Platz und seine Umgebung so schnell wie möglich zu verlassen. Der Attish-Priester hatte gewusst, was mit ihm geschah. Sie hatte nicht vorgehabt, ihn zu töten, er hatte nur Angst vor ihr haben sollen. Doch je heftiger sie sein fettes, verderbtes Herz zusammengedrückt, je mehr er sie angefleht und gebettelt hatte, sie möge ihn verschonen, desto zorniger war sie geworden. Trotzdem hatte sie gedacht, sie hätte ihn rechtzeitig losgelassen. Sein Herz musste schon vorher schwach gewesen sein. »Wahrscheinlich wäre er ohnehin bald gestorben.« »Was?«, fragte Austra. Da begriff Anne, dass sie laut gesprochen haben musste. »Nichts«, antwortete sie. Glücklicherweise fragte Austra nicht weiter nach, und sie ritten weiter hügelabwärts, durch das südliche Embratur-Tor in den tiefer gelegenen Teil der Stadt. »Warum so viele Mauern?«, fragte Cazio. »Äh ... ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Anne, ein wenig verlegen, jedoch froh, ein unverfängliches Thema zu haben. »Ich habe meinen Lehrern nie richtig zugehört.« »Sie -«, setzte Austra an, doch dann stockte sie. Anne sah, dass das Gesicht ihrer Freundin kalkweiß war. »Geht es dir gut?«, erkundigte sie sich. »Alles bestens«, antwortete Austra nicht sehr überzeugend. »Austra.« »Ich habe bloß Angst«, sagte Austra. »Ich habe ständig Angst. Das alles hier nimmt nie ein Ende.« »Ich weiß, was ich tue«, versicherte Anne. »Das macht mir mehr Angst als alles andere«, gab Austra zurück. »Erzähl Cazio von den Mauern«, sagte Anne. »Ich weiß genau, dass du es noch weißt, du hast immer gut aufgepasst.« 450 Austra nickte, schloss die Augen und schluckte. Als sich ihre Lider wieder hoben, waren sie feucht. »Sie ... die Mauern wurden zu verschiedenen Zeiten errichtet. Am Anfang war Eslen nur ein Schloss - eigentlich ein Turm. Im Laufe der Jahrhunderte haben sie es erweitert, aber das meiste wurde auf einmal erbaut, von König Findegelnos dem Ersten. Sein Sohn hat die erste Stadtmauer gebaut, die Embratur-Mauer - das ist die, durch die wir gerade gekommen sind. Aber die Stadt ist außerhalb der Mauer weiter gewachsen, also hat ein paar Jahrhunderte später - während der De-Loy-Herrschaft - Erteume der Dritte die Nod-Mauer gebaut. Die äußere Mauer - das, was wir als Festungsmauer bezeichnen - wurde während der Herrschaft der Reiksbaurgs errichtet, von Tiwshand dem Zweiten. Sie ist die einzige, die völlig intakt ist - die inneren Mauern haben Lücken, wo Steine für andere Bauten herausgebrochen worden sind.« »Dann ist also die letzte die einzig richtige Mauer.« »Das letzte Mal ist die Stadt von Annes Ururgroßvater eingenommen worden, von William dem Ersten. Auch nachdem er durch die Festungsmauer durchgebrochen war, hat er Tage gebraucht, um das Schloss zu erreichen. Die Verteidiger haben Barrikaden in den Lücken der älteren Mauern errichtet. Es heißt, das Blut sei die Straßen hinuntergeflossen.« »Hoffen wir, dass das diesmal nicht passiert.« »Hoffen wir, dass es nicht unser Blut ist«, warf Anne in der Hoffnung ein, für Erheiterung zu sorgen. Cazio lächelte, aber Austras Lächeln glich eher einer Grimasse. »Jedenfalls«, fuhr Anne fort, »war ich schon öfter im Hof der Gobelins, und mein Vater hat mir etwas sehr Ungewöhnliches darüber erzählt.« »Und was?«, wollte Cazio wissen. »Es ist der einzige Ort in der ganzen Stadt, wo zwei der Mauern aufeinander treffen. Die Nod-Mauer stößt direkt an die Festungsmauer. Sie bilden eine Art lange Sackgasse.« 451 »Ihr meint, da führt nur ein Weg hinaus«, sagte Cazio. »Mehr oder weniger. Es gibt ein Tor in der Nähe der Stelle, wo sie aufeinander treffen, aber es ist nicht besonders groß.« »Deswegen hast du dich also für den Hof der Gobelins entschieden?«, fragte Austra. »Ich wusste gar nicht, dass du so viel von Strategie verstehst. Hast du mit Artwair darüber gesprochen, bevor du hergekommen bist? War das alles ein geheimer Plan von dir?« Anne verspürte ein jähes Aufwallen von Zorn. Warum musste Austra alles hinterfragen, was sie tat? »Ich habe nicht mit Artwair darüber gesprochen«, sagte sie ausdruckslos. »Und das war kein Plan, das war eine Möglichkeit. Ich wäre lieber ins Schloss geritten, wie es abgemacht war, aber ich habe nicht wirklich geglaubt, dass Robert sein Wort halten würde. Also, ja, ich habe schon vorher daran gedacht.«
»Aber wieso hast du dann überhaupt eingewilligt, wenn du so sicher warst, dass wir verraten werden würden?«, wunderte sich Austra. »Weil ich etwas weiß, das niemand sonst weiß«, erwiderte Anne. »Aber du wirst mir nicht sagen, was es ist, nicht wahr?« »Ganz bestimmt werde ich das tun«, versicherte Anne. »Weil ich nämlich deine Hilfe brauchen werde. Aber nicht hier. Nicht jetzt. Bald.« »Oh«, sagte Austra. Anne fand, dass sie danach ein wenig zufriedener aussah. Nach Annes Beschreibung fiel es Cazio nicht schwer, den Hof der Gobelins zu erkennen, als sie das Viertel betraten. Sie kamen durch ein bescheidenes Tor in einer sehr viel eindrucksvolleren Mauer aus rötlichen Steinen. Auf der anderen Seite eines Platzes mit Kopfsteinpflaster stieß eine Reihe recht fremdartiger Gebäude nur dreißig Königsellen entfernt an eine weitere Mauer. Diese zweite Mauer war noch gewaltiger; sie bestand aus fast schwarzen 452 Steinen, und Cazio nahm an, dass es sich um die Festungsmauer handelte. Er bemerkte, dass die beiden Mauern in der Tat aufeinander trafen, und genau in der Ecke schien sich ein merkwürdiges, schmales Haus geradezu in den Winkel zu schmiegen, den sie bildeten. Es sah unheimlich aus. Der Zwischenraum zwischen den beiden Mauern wurde ein wenig breiter, blieb jedoch ungemütlich eng, während die Befestigungsanlagen sich den Hügel hinaufzogen und außer Sicht gerieten. Er verstand nicht viel von Krieg und Strategien, doch dies hier sah für ihn nicht wie ein Ort aus, den fünfzig Mann leicht würden halten können. Zum einen war die äußere Mauer mit Sicherheit in der Hand des Schlosses. Was hinderte die Truppen daran, sie von oben mit heißem Öl und Pfeilen einzudecken? Oder Krieger an Seilen herabklettern zu lassen? Die Nod-Mauer war hoch genug, doch auf ihrer anderen Seite waren Häuser direkt daneben gebaut worden, die als Trittsteine dienen konnten, auf denen Angreifer bis auf wenige Ellen an die Mauerkrone herangelangen könnten, selbst wenn keine Treppen dort hinaufführten, was wahrscheinlich der Fall war. Kurz und gut, Cazio kam das Ganze sehr viel mehr wie eine Falle vor als wie eine sichere Zuflucht. All seinen Bedenken zum Trotz war er fasziniert. Die Gebäude, die Schilder und die bleichen Gesichter, die unter breitkrempigen Hüten und Schleiern hervorspähten, alles erschien ihm fremdartig. »Echi'Sievri«, sagte er. »Ja«, pflichtete Anne ihm bei. »Sefry.« »Ich habe noch nie so viele auf einmal gesehen.« »Wartet nur ab«, sagte Anne. »Die meisten kommen erst nachts heraus. Dann erwacht der Hof der Gobelins wirklich zum Leben. Die Leute nennen dies hier auch das Sefry-Viertel. Hunderte von ihnen leben hier.« Die Wohnviertel auf der anderen Seite der Mauer konnte man 453 bestenfalls schäbig nennen; verfallene Hütten mit undichten Dächern, Steinbauten, deren Tage der Pracht Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte zurücklagen, Straßen voller Schutt, Abfälle und schmutziger Kinder. Der Hof der Gobelins jedoch war ordentlich, sauber und farbenfroh. Die Gebäude waren hoch und schmal, mit so steilen Dächern, dass es komisch wirkte. Sie waren alle säuberlich gestrichen - Rostrot, Senfgelb, Orangebraun, Violett, Pfauenblau und andere gedeckte, aber schöne Schattierungen. Bunte Kleider flatterten wie Banner an Leinen, die zwischen den obersten Fenstern gespannt waren, und braune Schilder mit schwarzen Lettern wiesen auf Läden von Wahrsagern, Kartenlesern und Arzneikundigen hin. »Majestät«, brach Sir Leafton den Bann, »wir haben nicht viel Zeit.« »Wohlan«, sagte Anne. »Was schlagt Ihr vor?« »Das Wichtigste ist die Festungsmauer. Wir müssen sie erklimmen und den Turm des heiligen Ceasel sowie den Vexel-Turm in unsere Gewalt bringen, und den ganzen Abschnitt dazwischen. Als Nächstes müssen wir nördlich von hier eine Barriere errichten - Wertons Kreuz wäre wohl am besten dafür geeignet, denke ich. Und ich brauche auch Männer auf der Nod-Mauer. Das ist leicht, auf dieser Seite gibt es Treppen. Die Festungsmauer wird ein bisschen schwieriger.« Wer sagt, ich verstehe nichts von Strategie?, dachte Cazio. Laut gab er einen Vorschlag zum Besten. »Das Haus da in der Ecke reicht fast bis an die Mauerkrone«, bemerkte er. »Vielleicht können wir das letzte Stück klettern.« Leafton nickte. »Möglich. Ich lasse ein paar der Männer die Rüstungen ablegen und -« »Das wird Zeit kosten«, wandte Cazio ein. »Warum lasst Ihr mich nicht den Anfang machen?« »Du musst Anne bewachen«, erklärte Austra. »Aber ich trage doch schon keine Rüstung. Wenn wir irgendje454 mandem Zeit geben, da oben auf der Mauer in Stellung zu gehen, werfen die Steine auf uns herab, ehe wir's uns versehen.« »Er hat Recht«, sagte Anne. »Sir Leafton kann mich bewachen, bis er das erledigt hat. Nur zu, Cazio. Die Handwerksmeister werden sich Euch anschließen, sobald sie ihre Rüstungen ausgezogen haben.« Sie ritten zu dem Haus hinüber, wo Cazio absaß und an die Tür klopfte. Kurz darauf öffnete eine Sefry-Frau. Sie
war so sehr mit orangerotem Stoff verhüllt, dass Cazio nicht viel von ihr sehen konnte, außer einem einzelnen blassblauen Auge, umgeben von einem Flecken so weißer Haut, dass er die Adern darunter erkennen konnte. Sie gab ihnen keine Gelegenheit, ein Wort zu sagen. »Dies ist mein Haus«, verkündete die Frau. »Ich bin Anne Dare«, erwiderte Anne vom Pferderücken aus. »Dies ist meine Stadt, also ist das hier auch mein Haus.« »Gewiss«, erwiderte die Frau gleichmütig. »Ich habe Euch erwartet.« »Tatsächlich?«, fragte Anne ein wenig kalt. »Dann wisst Ihr auch, dass dieser Mann auf kürzestem Wege auf Euer Dach gelangen muss.« »Nein, das wusste ich nicht«, entgegnete die Frau, »aber natürlich werde ich dafür sorgen.« Sie richtete den Blick ihres Auges wieder auf Cazio. »Geht hinein, geradeaus. In der Mitte des Hauses ist eine Wendeltreppe, die bis ganz nach oben reicht. Die kleine Tür führt auf den höchsten Balkon hinaus. Von dort aus werdet Ihr aufs Dach klettern müssen.« »Ich danke Euch, Lady«, sagte Cazio freundlich. Er zog den Hut und winkte damit den Mädchen zu. »Ich bin gleich wieder da.« Anne sah zu, wie Cazio die Treppe hinauf verschwand, und fühlte, wie Austra sich neben ihr versteifte. »Ihm passiert schon nichts«, flüsterte sie. »Cazio lebt für solche Sachen.« 455 »Ja«, erwiderte Austra. »Und solche Sachen werden sein Tod sein.« Jeder stirbt, dachte Anne, doch sie wusste, dass es im Augenblick nicht angebracht war, das laut zu sagen. Stattdessen wandte sie sich wieder der Sefry-Frau zu. »Ihr habt gesagt, Ihr hättet mich erwartet. Was habt Ihr damit gemeint?« »Ihr habt vor, den Crepling-Gang zu benutzen. Das ist der Grund, weshalb Ihr gekommen seid.« Anne warf Sir Leafton einen Blick zu. »Könnt Ihr wiederholen, was sie gerade gesagt hat?«, fragte sie den Handwerksmeister. Leafton öffnete den Mund, dann machte er ein verdutztes Gesicht. »Nein, Euer Hoheit.« »Du, Austra?« »Natürlich. Sie hat gesagt, wir sind gekommen, um den Crepling-Gang zu benutzen.« »Euer Majestät -«, begann Sir Leafton in erregtem Tonfall. »Sir Leafton«, wies Anne ihn an, »regelt alles Weitere zu unserer Verteidigung. Im Augenblick bin ich hier gut aufgehoben.« »Das behagt mir nicht besonders, Majestät«, wandte er ein. »Kümmert Euch darum. Bitte.« Er spitzte die Lippen, dann seufzte er. »Ja, Majestät«, sagte er und eilte davon, um seine Männer einzuteilen. Anne drehte sich wieder zu der Sefry um. »Wie heißt Ihr?« »Man nennt mich Mutter Uun.« »Mutter Uun, wisst Ihr, was der Crepling-Gang ist?« »Das ist der lange Tunnel«, antwortete die Frau. »Er beginnt in den Tiefen von Schloss Eslen und endet in Eslendes-Schattens. Ich bin seine Bewacherin.« »Bewacherin? Das verstehe ich nicht. Hat Euch mein Vater dazu ernannt? Meine Mutter?« Die alte Frau - oder zumindest hatte Anne den Eindruck, dass sie alt war - schüttelte den Kopf. »Die erste Königin in Eslen hat die Ersten von uns ernannt. Seitdem haben wir jemanden aus unserer Mitte ausgewählt.« 456 »Ich verstehe nicht. Wovor bewacht Ihr den Gang?« Das Auge wurde größer. »Vor ihm natürlich.« »Ihm?« »Das wisst Ihr nicht?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr jetzt redet.« »Also wirklich. Wie interessant.« Mutter Uun trat ein wenig zurück. »Hättet Ihr etwas dagegen, dieses Gespräch drinnen fortzusetzen? Das Sonnenlicht tut meinem Auge weh.« Sie trat noch weiter zur Seite, als sechs Handwerksmeister herankamen, nur mit ihren gesteppten Wämsern bekleidet. Die Alte wiederholte die Anweisungen, die sie Cazio gegeben hatte, und sie gingen an ihr vorbei ins Haus. »Euer Hoheit?«, drängte die Sefry Doch ehe Anne antworten konnte, ließ Austras erstickter Schrei sie auffahren. Die blauen Augen ihrer Freundin waren fest auf etwas hoch über ihnen gerichtet, und Anne folgte rasch dem Pfeil ihres Blicks. Sie sah eine winzige Gestalt - Cazio -, die sich irgendwie die Mauer über dem hohen Giebeldach hinaufarbeitete. Es sah aus, als hätte er es gar nicht weit, nur ein paar Königsellen. Doch auf der Mauerkrone kamen zwei gepanzerte Soldaten auf ihn zugerannt. 35. Kapitel Sarnwald Der Mann musterte Aspar mit durchdringenden grauen Augen und einer hochgezogenen Braue von oben bis
unten. »Ihr seid ein toter Mann«, sagte er. 457 Der dürre Greis sah selbst so aus, als sei er dem Tode nahe. Sein graues Haar war dünn und zerzaust, die Haut seines Gesichts war von der Sonne gebräunt und hing von seinem Schädel herab wie eine unförmige Maske. Seine Worte waren schlicht, ohne Ironie oder Drohung - ein alter Mann, der die Dinge so darstellte, wie er sie sah. »Habt Ihr sie jemals gesehen?«, fragte Aspar. Der Alte blickte zur grünen Linie des Waldes hinüber. »Manche Leute sagen, es sei besser, über diese Dinge nicht einmal zu reden«, erklärte er. »Ich gehe dort hinein, um sie zu finden«, verkündete Aspar. »Ihr könnt mir helfen oder es bleiben lassen.« Wieder zog der alte Mann eine Augenbraue hoch. »Das war keine Drohung«, versicherte Aspar rasch. »Eyab«, sagte der Mann. »Ich habe mein ganzes Leben einen Steinwurf von diesem Wald entfernt verbracht. Also, eyab, ich denke, ich habe sie gesehen. Oder das, was sie mich sehen lassen wollte.« »Wie meint Ihr das?« »Ich meine, sie ist nicht immer dieselbe, das meine ich«, antwortete der Alte. »Einmal ist ein Bär in die Senke heruntergekommen. Ein großer schwarzer Bär. Ich hätte das Vieh vielleicht erschossen - bestimmt hätte ich es erschossen -, bis sie mich angesehen hat, es mich hat wissen lassen. Manchmal ist sie ein Krähenschwarm. Manchmal eine Sefry-Frau, heißt es, aber das habe ich nie gesehen. Diejenigen, die sie in der Gestalt eines Menschen oder einer Sefry sehen, haben in den Landen des Schicksals meistens nicht mehr viele Atemzüge übrig.« »Woher wollt Ihr das wissen? Ich meine, wenn jemand sie sieht -« »Manche von ihnen leben noch ein Weilchen«, erklärte der Mann. »Damit sie es uns erzählen können. Damit der Rest von uns es weiß.« Er beugte sich vor. »Sie spricht nur zu den Toten.« »Und wie reden die Leute dann mit ihr?« 458 »Sie sterben. Oder sie nehmen jemand Toten mit.« »Was zum Sceat soll das denn heißen?« »Ist nur das, was die Leute sagen. Sie kann nicht so reden wie wir. Oder jedenfalls tut sie es nicht. Ich denke, sie würd's vielleicht tun, nur hat sie Mord lieber, so oft, wie sie nur welchen kriegen kann.« Seine Miene war düster. »Ich rechne jeden Tag damit, dass sie kommt, um mich zu holen.« »Ja.« Aspar seufzte. »Könnt Ihr mir sonst noch etwas sagen?« »Eyab. Da ist der Weg, der Euch zu ihr bringt. Aber bleibt auf dem Pfad.« »Schön«, sagte Aspar und ging wieder zu Unhold hinüber. »Reisender!«, rief der alte Mann. »Ja?« »Ihr könntet heute Nacht hier bleiben. Das Ganze noch mal überdenken. Ein bisschen Suppe essen - dann sterbt Ihr wenigstens nicht mit leerem Magen.« Aspar schüttelte den Kopf. »Ich habe es eilig.« Er wollte sich abwenden, schaute dann noch einmal zu dem Greis zurück. »Wenn Ihr sie so sehr fürchtet, warum wohnt Ihr dann noch hier?« Der Mann sah ihn an, als sei er von Sinnen. »Das habe ich Euch doch gesagt. Ich bin hier geboren worden.« Der alte Mann war nicht der Einzige, der sich wegen des Sarnwaldes Sorgen machte. Eine lange Reihe Pfähle, auf denen Kuh-, Pferde- und Hirschschädel steckten, deutete darauf hin, dass auch andere furchtsame Gedanken über den Wald gehegt haben mochten. Aspar wusste nicht genau, was die Knochen bewirken sollten, doch manche der Pfähle wiesen ungefähr auf halber Höhe kleine Plattformen aus ineinander verflochtenen Weidenzweigen auf, und darauf sah er die verfaulenden Überreste von Schafen und Ziegen, Flaschen, die wohl mit Bier oder Wein gefüllt waren, sogar schwarz vertrocknete Blumensträuße. Als glaubten die Leute, die Hexe ließe sich vielleicht mit irgendetwas besänftigen, wüssten jedoch nicht genau, mit was. 459 Der Wald selbst lag gleich hinter den Pfählen, zog sich von den Hügeln hinunter in das breite Tal des Weißen Magierflusses. Der Fluss verschwand ein paar Bogenschussweiten nördlich von ihm im farnbewachsenen Schlund des Waldes. Aspar ließ den Blick über jeden Zoll der Baumsilhouetten gleiten, die er sehen konnte, versuchte, den Wald einzuschätzen. Schon auf den ersten Blick unterschied er sich vom Königswald. Der vertraute Saum aus Eichen, Hickorybäumen, Weißeschen, Lärchen und Ulmen wurde durch hohe grüne Fichtenund Schierlingstannenspeere ersetzt, durch dicht gedrängte - wenngleich zurzeit blattlose - Eisenholzdickichte und Birken, so weiß, dass sie vor den grünen Nadelbäumen wie Gebeine aussahen. Zum Fluss hin beherrschten schwarze Erlen sowie verschlungene Weiden und Kiefern das Bild. »Na, Unhold«, brummte er. »Was meinst du?« Unhold äußerte sich nicht, bis sie näher herangekommen waren, und auch dann tat er es stumm, durch ein Anspannen der Muskeln und ein wohl überlegtes Zaudern, das für den Hengst ungewöhnlich war. Natürlich war er müde und hungrig und fühlte immer noch die Wirkung des Woorm-Gifts, aber trotzdem ... Aspar ertappte sich dabei, wie er sich zu entsinnen versuchte, wie alt Unhold war, während der Weg sie unter
den ersten Ästen des Sarnwaldes hindurchführte. Es fiel ihm wieder ein, und die Antwort behagte ihm nicht; stattdessen begann er zu überlegen, warum es in einem Wald, den niemand zu betreten wagte, einen Weg geben sollte. Was verhinderte, dass er zuwucherte? Ihm blieben noch ein paar Stunden Tageslicht, doch der bedeckte Himmel und die hohen, immergrünen Bäume brachten Aspar und seinem Pferd früh die Abenddämmerung. Er spannte seinen Bogen und legte ihn über den Sattelknauf, fühlte die Bewegung der mächtigen Muskeln zwischen seinen Schenkeln, als Unhold widerstrebend voranschritt und häufig durch Wasserläufe trottete, die nach Aspars Ansicht von der Schneeschmelze in den Vorgebirgen herrührten. Trotz der Kälte war das Unterholz bereits grün von Farnwedeln, und smaragdgrünes Moos bedeckte sowohl den 460 Boden als auch Äste und Stämme der Bäume. Dem Auge erschien der Wald gesund, doch er roch nicht so. Noch mehr als der Königswald schien er irgendwie verseucht. Seiner Meinung nach waren sie ungefähr eine Meile weit in den Wald vorgedrungen, als es schließlich dunkel genug wurde, um das Nachtlager aufzuschlagen. Es war kalt, und Aspar konnte nicht weit entfernt Wölfe erwachen hören, daher beschloss er, dass es ihm ziemlich gleichgültig war, was die Hexe von Feuer hielt. Er sammelte Zunder, Zweige und Äste, errichtete daraus einen kegelförmigen Haufen und erweckte das Ganze mit einem Funken zum Leben. Es war kein großes Feuer, doch es reichte, um eine Seite von ihm warm zu halten. Er setzte sich auf eine abgestorbene Linde, sah den Flammen beim Brennen zu und fragte sich düster, ob Winna wohl noch am Leben war, ob er hätte bleiben sollen, wie sie ihn gebeten hatte. Um ihre letzten Worte zu hören* Sceat darauf. Das Grauenhafte war, dass ein Teil von ihm bereits darüber nachsann, wie das Leben ohne sie wohl sein würde. Derselbe Teil, der ohnehin vor einer dauerhaften Verbindung zurückschreckte. Woraus waren Männer gemacht, wunderte er sich, dass sie solche Gedanken hatten? Wollte er im tiefsten Innern seines Herzens, dass sie starb? Als Qerla »Nein«, sagte er, laut genug, dass Unhold zu ihm herüberschaute. Genau das war es. Als er Qerla begegnet war, war er sehr jung gewesen, jünger als Winna. Er hatte sie mit einem absoluten Wahn geliebt, den noch einmal zu empfinden er sich nicht vorstellen konnte. Noch immer konnte er sich an ihren Geruch erinnern, wie in der Blüte einer Orchidee gefangenes Wasser. Die Berührung ihrer Haut, ein wenig heißer als die eines Menschen. Wenn er jetzt zurückdachte, war sie sogar noch mehr von Sinnen gewesen als er, denn während Aspar, was Gemeinschaft und Freunde anging, nicht viel zu verlieren gehabt hatte, war Qerla in eine Familie hineingeboren wor461 den, die für ihre Seher berühmt war. Sie hatte Vermögen und die allerbesten Chancen auf eine angemessene Heirat. Doch sie war mit ihm durchgebrannt, um allein im Wald zu leben, und eine Weile hatte das genügt. Eine sehr kurze Weile. Vielleicht, wenn sie hätten Kinder bekommen können. Vielleicht, wenn sowohl die Welt der Menschen als auch die der Sefry ein wenig aufgeschlossener gewesen wäre. Vielleicht. Vielleicht. Doch stattdessen war es schwer, und es wurde jeden Tag schwerer, so schwer, dass Qerla mit einem alten Geliebten schlief. So schwer, dass ein Teil von Aspar erleichtert war, dass es vorbei war, als er ihren Leichnam fand. Er hasste Fend dafür, dass er Qerla getötet hatte, doch jetzt erkannte er, dass er Fend noch mehr dafür hasste, dass er ihm dieses schmutzige Geheimnis über ihn selbst offenbart hatte. Aspar hatte zwanzig Jahre ohne Geliebte verbracht, jedoch nicht, weil er Angst gehabt hatte, sie zu verlieren. Sondern weil er wusste, dass er nicht würdig gewesen war, jemanden zu lieben. Das war er immer noch nicht. »Sceat«, sagte er zu dem Feuer. Wann hatte er denn mit dieser ganzen Nachdenkerei angefangen? Das half ihm wirklich nicht weiter. Die Wölfe hatten ihn gefunden. Er konnte sie im Dunkeln rascheln hören, und hin und wieder tauchte ein Augenpaar oder eine graue Flanke im Feuerschein auf. Sie waren groß, größer als alle Wölfe, die er bisher zu Gesicht bekommen hatte, und er hatte schon ein paar ziemlich große gesehen. Er glaubte nicht, dass sie ihn anfallen würden, nicht solange das Feuer brannte, doch das hing davon ab, wie hungrig sie waren. Außerdem hing es davon ab, ob sie so waren wie die Wölfe, die er kannte. Er hatte von einer Unterart im Norden erzählen hören, die nicht die gleichen Ängste vor dem Menschen empfand wie die gewöhnliche Sorte. Fürs Erste hielten sie Abstand. Bei Tageslicht könnten sie vielleicht ein größeres Ärgernis sein. 462 Er ließ das Feuer heller auflodern, indem er ein paar Mal darin herumstocherte, drehte sich nach einem der Holzstücke um, die er neben sich gelegt hatte - und hielt inne. Sie war nur vier Königsellen entfernt, und er hatte nichts gehört, nicht das leiseste Geräusch. Doch da saß sie, kauerte auf den Fußballen und betrachtete ihn mit salbeigrünen Augen; das lange schwarze Haar lag auf ihren Schultern, die Haut war so bleich wie die Birken. Sie war nackt und sah sehr jung aus, doch das oberste Paar
ihrer sechs Brüste war geschwollen, was bei Sefry erst nach dem zwanzigsten Lebensjahr geschah. »Qerla?« Sie spricht nur zu den Toten. Doch Qerla war sehr tot. Gebeine. Die Stadtleute sahen die Toten in der Temnosnaht, oder zumindest behaupteten sie das. Alte Sefry-Weiber taten ständig so, als redeten sie mit ihnen. Und er selbst hatte im tiefen Labyrinth von Rewn Aluth etwas gesehen, das entweder ein Hirngespinst gewesen war oder - etwas anderes. Dies hier jedoch ... »Nein«, sagte er. »Ihre Augen waren violett.« Doch abgesehen davon war sie Qerla so ähnlich - die schwache Krümmung ihrer Lippen, die Adern an ihrer Kehle, an einer Stelle fast wie die eines Rotdornblatts geformt. Sehr ähnlich. Ihre Augen weiteten sich beim Klang seiner Stimme, und er wagte kaum zu atmen. Seine rechte Hand war noch immer nach dem Stück Holz ausgestreckt, die Linke hatte instinktiv nach seiner Axt gegriffen und ruhte noch immer dort, auf dem kalten Stahl des Axtkopfes. »Bist du sie?«, fragte er. Diejenigen, die sie in der Gestalt eines Menschen oder einer Sefry sehen, haben in den Landen des Schicksals meistens nicht mehr viele Atemzüge übrig, hatte der alte Mann gesagt. Sie lächelte schwach, und der Wind erhob sich, ließ sein Feuer flackern und hob ihr feines Haar. 463 Dann war sie fort. Es war, als habe er sie in einem riesigen Auge gespiegelt gesehen und das Auge habe geblinzelt. Am nächsten Morgen atmete er immer noch und brach beim ersten Sonnenstrahl auf. Er machte sich Sorgen wegen der Wölfe, doch bald fiel ihm auf, dass sie den Weg, dem er folgte, nicht kreuzen - oder auch nur betreten - mochten. Irgendwie störte ihn das noch mehr. Wölfe gehörten in den Wald. Was konnte an diesem bisschen Grund und Boden so schlimm sein, dass sie nicht darüber gehen wollten? Er zählte ein Rudel von ungefähr zwölf Tieren. Konnten er und Unhold es mit so vielen aufnehmen, in ihrem Zustand? Vielleicht. Der Wald lichtete sich eine Zeit lang, da die Bäume dicker wurden und hier und dort den Blick auf kleine, moosige Wiesen freigaben. Der Himmel, wenn er ihn sehen konnte, war blau, blendend hell, wenn einer oder zwei seiner Strahlen bis auf den Waldboden durchdrangen. Die Wölfe folgten ihm bis Mittag, dann verschwanden sie. Nicht lange danach hörte er Wildrinder erschrocken röhren und wusste, dass sie auf Beute gestoßen waren, die sie wohl für lohnend erachteten. Er war froh, die Wölfe los zu sein, doch irgendetwas folgte ihm immer noch: Es bog Äste, allerdings nicht wie ein Windstoß, sondern wie ein Gewicht, das sich von oben darauf herabsenkte. Als schreite es auf ihnen dahin, auf allen gleichzeitig - oder zumindest auf allen um ihn herum. Wenn er Halt machte, hielt es ebenfalls an, und er musste an eine sehr alberne Vorstellung denken, die eine reisende Mimentruppe einst in Colbaely zum Besten gegeben hatte. Ein Mann war verstohlen hinter einem anderen hergeschlichen und hatte seine Bewegungen genau nachgeahmt, und jedes Mal, wenn der Verfolgte sich umgedreht hatte, war der andere einfach erstarrt, und der Narr vor ihm hatte ihn nicht gesehen. Aspar hatte die Darbietung eher ärgerlich als komisch gefunden; die Vorstellung, dass irgendjemand so dumm sein könnte ... Aber Hirsche konnten einen nicht sehen, wenn sie ästen. Wenn 464 sie die Köpfe zum Boden gesenkt hatten, konnte man geradewegs auf sie zugehen, solange man sich gegen den Wind bewegte und sie einen nicht wittern konnten. Auch Frösche konnten einen nicht wahrnehmen, solange man sich nicht bewegte. Also war Aspar für das, was ihm folgte, vielleicht mehr oder weniger ein Frosch. Möglicherweise war es die Erschöpfung, aber das fand er jetzt doch komisch. Er lachte leise vor sich hin. Vielleicht hätte er den Mimen etwas mehr Glauben schenken sollen. Ein raues Keuchen ließ ihn aufhorchen, ein kleines Stück abseits des Weges. Er hatte die Warnung des Alten, den Pfad nicht zu verlassen, nicht vergessen, allerdings gab er nicht viel darauf. Was nützte es schließlich, Anweisungen zu befolgen, wenn sowieso niemand es überlebte, hier durchzukommen? Daher lenkte er Unhold nach nur kurzem Zögern auf das Geräusch zu. Er ritt nicht weit, bevor er es erblickte, eine schwarze, haarige Gestalt, die im Farn erbebte. Sie hob einen borstigen Kopf und grunzte, als sie ihn sah. Unhold wieherte. Es war ein Wildschwein, eine mächtige Bache, noch gewaltiger, weil sie trächtig war. Damit war sie ein wenig früh dran - normalerweise kamen die Frischlinge zusammen mit den ersten Blumen -, doch hier stimmte noch etwas Grundlegenderes nicht, das konnte er sehen. Was immer sich aus ihrem Leib hervordrängte, war viel größer als ein Ferkel. Und sie blutete, blutete heftig - überall um das Tier herum war Blut, rann aus den keuchenden Nüstern, aus ihren Augen. Sie merkte nicht einmal, dass er da war; ihr Grunzen war ein Laut des Schmerzes gewesen, nicht des Wahrnehmens. Einen halben Glockenschlag später verendete die Bache vor seinen Augen, doch was immer in ihr steckte,
bewegte sich weiter. Aspar stellte fest, dass er zitterte, doch er wusste nicht, weswegen, nur dass es keine Angst war. Er fühlte die Last über sich, das Ding, das die Äste verbog, und plötzlich platzte die Flanke des Wildschweins auf. 465 Ein blutiger Schnabel, ein gelbes Auge und ein schleimiger, geschuppter Körper drängten sich heraus. Ein Gryffin. Sehr bedächtig stieg er ab, während das Wesen sich abmühte, sich aus dem Leichnam seiner Mutter zu befreien. »Halt mich auf, wenn du kannst«, sagte er zu dem Wald. Die Schuppen des Geschöpfs waren noch weich, nicht hart wie die eines ausgewachsenen Artgenossen, doch es dauerte lange, bis sein wütender Blick sich trübte, selbst nachdem der Kopf abgetrennt war. Er wischte seine Axt an totem Laub ab, dann krümmte er sich würgend vornüber. Doch wenigstens wusste er jetzt, warum er vierzig Jahre im Königswald verbracht hatte, ohne jemals die Spur eines Gryffin, eines Uttin oder dergleichen zu Gesicht zu bekommen, und warum die ganze Welt nichtsdestotrotz plötzlich voll davon war. Die Leute hatten gesagt, sie würden »erwachen«, wie der Dornenkönig, was voraussetzte, dass sie geschlafen hatten, wie ein Bär in einem hohlen Baum - nur eben tausend Jahre lang. Sie hatten nirgends geschlafen. Sie wurden geboren. Ein altes Märchen fiel ihm ein, von Basilnixen, die aus Hühnereiern schlüpften. Sceat, wahrscheinlich taten sie das wirklich. Er wartete darauf, dass der Zorn der Hexe über ihn kam, doch nichts geschah. Also stieg er, noch immer zitternd, wieder auf und ritt weiter. Fast überraschte es ihn nicht, als er Knospen an den Bäumen erblickte. Keine natürlichen Knospen, sondern schwarze Stacheln, die aus Stämmen und Ästen hervorbrachen. Es war leicht genug, die schwarzen Dornen wiederzuerkennen, die er im Königswald gesehen hatte, und dann abermals in den Midenlanden. Hier sprossen sie aus den Bäumen selbst, und je tiefer er vordrang, desto mehr solche Gewächse erblickte er - und desto mehr verschiedene Formen. 466 Die Dornen im Königswald hatten alle gleich ausgesehen, hier jedoch fielen ihm viele verschiedene Sorten auf manche waren dünn und ihre Stacheln in ihrer Zartheit fast federartig, während andere stumpfe, knotige Höcker trugen. Binnen eines Glockenschlags konnte er nicht einmal mehr die Bäume erkennen, aus denen sie hervorwuchsen; wie die Bache gebaren sie Ungeheuer und wurden selbst dabei verschlungen. Dann erreichte er das Ende des Weges und einen geisterhaften Teich - unter den Ästen des seltsamsten Waldes, den er jemals gesehen hatte. Die größten der Bäume waren mit rauen Schuppen bedeckt, aus jedem Ast sprossen fünf kleinere Äste, und aus jedem von diesen fünf weitere, endlos, sodass die Zweige wie eine Wolke waren. Andere sahen aus wie Trauerweiden, nur dass ihre Zweige schwarz und gezahnt waren wie der Schwanz einer Zauneidechse. Manche der Schösslinge sahen aus, als hätte ein wahnsinniger Heiliger Kiefernzapfen genommen und sie auf zehn Ellen Höhe gedehnt. Andere Pflanzen waren ein wenig natürlicher - bleiche, fast weiße Farne und riesige Rohrkolben säumten die Ränder des Teichs, der sich vor ihm erstreckte. Dahinter, zu seiner Rechten und Linken, ragten Felswände auf, sodass er und der Teich sich am Grund einer Schlucht befanden. Die gesamte Grotte war mit menschlichen Schädeln geschmückt, die ihn von den Bäumen, aus Felsspalten und vom Boden entlang des Teichufers aus angrinsten. Alles neigte sich auf ihn zu. »Nun«, knurrte Aspar. »Hier bin ich.« Er spürte die Gegenwart, doch die Stille dehnte sich, bis sich -sehr leise - das Wasser emporzuwölben begann und sich etwas aus dem Teich erhob. Es war nicht die Sefry-Frau, sondern etwas Größeres, ein Berg aus schwarzem, von Wasserkraut, toten Blättern und Fischgräten verklebtem Fell. Das Geschöpf stand mehr so da wie ein Bär als wie ein Mensch, doch sein Gesicht ähnelte dem eines Froschs; ein einziges blindweißes Glotzauge war sichtbar, das andere war hin467 ter einer Masse öliger Strähnen verborgen, die beinahe von seinem Kopf herabzufließen schienen. Sein Mund war ein abwärts gewölbter Bogen, der den größten Teil der unteren Gesichtshälfte einnahm. Seine Arme baumelten bis zum Wasser herab und hingen an gewaltigen, abfallenden Schultern. Es hatte nichts Weibliches oder, was das betraf, Männliches - an sich. Aspar stand dem Wesen einen Augenblick lang gegenüber, bis er sich sicher war, dass es nicht angreifen würde zumindest nicht gleich. »Ich bin gekommen, um mit der Frau vom Sarnwald zu sprechen«, sagte er. Schweigen folgte, mehrere Herzschläge lang. Aspar fing gerade an, sich ein wenig töricht vorzukommen, als sich noch etwas anderes im Wasser regte, direkt vor dem Was-immer-es-sein-mochte. Ein Kopf tauchte auf. Zuerst dachte Aspar, es sei lediglich eine weitere, kleinere Ausgabe der Kreatur, doch die Ähnlichkeit war nur oberflächlich. Dies hier war einst ein Mensch gewesen, obgleich seine Augen jetzt von einem Schleier überzogen waren und seine Haut einen hässlichen Blau-Grau-Ton angenommen hatte. Aspar
konnte nicht erkennen, was ihn getötet hatte, doch abgesehen von der Tatsache, dass er aufrecht dastand, war er eindeutig schon lange tot. Jäh begann der Leichnam zu zucken, und Wasser spritzte zwischen seinen Lippen hervor. Als das andauerte, kam auch eine Art nasses, japsendes Geräusch heraus und wurde lauter. Und endlich, nach dem letzten Wasser, begann Aspar Worte zu erkennen, sehr undeutlich, aber verständlich, wenn er sich konzentrierte. »Sie bringen Blut, diejenigen, die kommen, um mich zu sehen«, sagte der Leichnam. »Blut, und jemanden, der für mich spricht. Dieser hier ist schon fast zu lange tot.« »Ich hatte niemanden, den ich mitbringen konnte.« »Der alte Mann wäre geeignet gewesen.« 468 »Aber ich habe ihn nicht mitgebracht. Und Ihr sprecht mit mir.« Die Hexe bewegte ihren gewaltigen Kopf, und auch ohne menschliches Mienenspiel fühlte er ihren Zorn. »Ich möchte dich töten«, sagte sie. Aspar hob hoch, was er in der Hand hielt - den Pfeil, den er von Hespero bekommen hatte, der Kirchenschatz, dem man nachsagte, dass er alles töten könne. »Das hier war dazu gedacht, den Dornenkönig zur Strecke zu bringen«, sagte er. »Ich denke, es wird auch Euch den Garaus machen.« Der Leichnam begann zu keuchen, als schnappe er nach Luft. Es dauerte eine Weile, bis Aspar das Geräusch als Gelächter erkannte. »Was willst du töten?«, fragte die Hexe. »Das hier?« Die gewaltige Pranke hob sich, um die Brust des Wesens zu berühren. »Das hier magst du vielleicht umbringen.« Die Bäume um ihn herum knarrten und stöhnten plötzlich, und er spürte die Gegenwart, die ihm gefolgt war, seit er den Wald betreten hatte - sie lastete mit unglaublichem Gewicht auf ihm und schien sich dann durch ihn hindurchzupressen, sodass er unsanft auf die Knie fiel. Er versuchte, den Pfeil zum Bogen zu heben, doch beide waren plötzlich zu schwer, um sie zu halten. »Alles um dich herum«, gurgelte der Leichnam. »Alles, was im Sarnwald wächst oder schleicht oder kriecht das bin ich. Kannst du das mit einem Pfeil treffen?« Aspar antwortete nicht; er konzentrierte seine Willenskraft auf die gewaltige Anstrengung aufzustehen, um wenigstens nicht auf den Knien zu sterben. Mit zitternden Muskeln hob er ächzend zuerst ein Knie an und dann das andere und versuchte, sich aus der Hockstellung hochzustemmen. Es fühlte sich an, als stünden zehn Männer auf seinen Schultern. Es war zu viel, und er sank wieder zu Boden. Zu seiner großen Überraschung ließ der Druck plötzlich nach. »Ich verstehe«, sagte die Hexe. »Er hat dich berührt.« »Er?« 469 »Er. Der Gehörnte Lord.« »Der Dornenkönig?« »Ja, er. Warum bist du hergekommen?« »Ihr habt einen Woorm von hier ausgesandt, mit einem Sefry namens Fend.« »Ja, das habe ich getan. Du hast mein Kind gesehen, nicht wahr? Ist es nicht wunderschön?« »Ihr habt Fend ein Gegenmittel für sein Gift gegeben. Das brauche ich.« »Oh. Für deine Geliebte.« Aspar runzelte die Stirn. »Wenn Ihr das bereits wusstet -« »Aber ich wusste es nicht. Du sagst bestimmte Dinge, ich sehe andere. Wenn du nie etwas sagst, sehe ich nie etwas.« Aspar beschloss, nicht darauf einzugehen. »Werdet Ihr mir helfen?« Die Blätter raschelten um ihn herum, und er hörte einen Krähenschwarm irgendwo in den Bäumen krächzen. »Wir verfolgen nicht dieselben Absichten in dieser Welt, Waldhüter«, verkündete die Sarnwaldhexe. »Mir will kein Grund einfallen, warum ich jemandem helfen sollte, der entschlossen ist, mein Kind zu töten. Der bereits drei meiner Kinder erschlagen hat.« »Sie haben versucht, mich zu töten«, sagte Aspar. »Das hat für mich keine Bedeutung«, erwiderte die Hexe. »Wenn ich dir die Arznei gebe, die du suchst, wirst du zu der Fährte meines Woorms zurückkehren, und mit deinem Pfeil dort wirst du versuchen, ihn niederzustrecken.« »Der Sefry bei Eurem Kind, Fend -« »Hat dein Weib getötet. Weil sie es wusste. Weil sie es dir sagen wollte.« »Mir sagen? Mir was sagen?« »Du wirst versuchen, mein Kind zu töten«, wiederholte die Hexe, doch diesmal in sehr anderem Tonfall weniger so, als spreche sie eine Tatsache aus, als vielmehr nachdenklich, grübelnd. »Er hat dich berührt.«
470 Aspar stieß einen langen Atemzug aus. »Wenn Ihr Winna rettet -« »Du sollst dein Gegengift haben«, unterbrach ihn die Hexe. »Ich habe beschlossen, dich doch nicht zu töten, und du wirst versuchen, meinen Sohn umzubringen, ob ich dir nun das Heilmittel gebe oder nicht. Ich sehe keinen Grund, dir zu helfen, aber wenn du einwilligst, mir einen Dienst schuldig zu sein, sehe ich keinen Grund, dich zurückzuweisen.« »Ich -« »Ich werde nicht das Leben von irgendjemandem fordern, den du liebst«, versicherte ihm die Hexe. »Ich werde nicht verlangen, dass du eines meiner Kinder verschonst.« Aspar dachte einen Moment lang darüber nach. »Einverstanden«, sagte er schließlich. »Hinter dir«, wies die Hexe ihn an. »Der dornige Busch mit den Fruchttrauben tief zwischen den Blättern. Der Saft von dreien dieser Früchte sollte ausreichen, einen Mann von dem Gift zu reinigen. Nimm, so viele du willst.« Immer noch auf eine List gefasst, drehte Aspar sich langsam um und entdeckte harte, schwärzlich violette Früchte, ungefähr so groß wie wilde Pflaumen. Trotzig schob er sich eine davon in den Mund. »Wenn das Gift ist«, sagte er, »werde ich es jetzt wohl herausfinden.« »Wie du willst«, entgegnete die Hexe. Die Frucht schmeckte scharf und säuerlich, mit einem leicht fauligen Nachgeschmack, doch er verspürte keine sofortige schädliche Wirkung. »Was seid Ihr?«, fragte er. Abermals lachte der Leichnam. »Alt«, antwortete sie. »Die schwarzen Dornen. Sind das auch Eure Kinder?« »Ja. Meine Kinder werden jetzt allenthalben geboren«, sagte sie. »Sie vernichten den Königswald.« »Oh, wie traurig«, fauchte sie. »Mein Wald wurde schon vor 47i langer Zeit vernichtet. Was du hier siehst, ist alles, was noch davon übrig ist. Der Königswald ist ein Setzlingshain. Seine Zeit ist gekommen.« »Warum? Wieso hasst Ihr ihn?« »Ich hasse ihn nicht«, erwiderte die Hexe. »Aber ich bin wie eine Jahreszeit, Aspar White. Wenn es Zeit für mich ist, komme ich. Allerdings habe ich mit der Abfolge der Jahreszeiten nichts zu tun. Verstehst du?« »Nein«, antwortete Aspar. »Ich eigentlich auch nicht«, gab die Hexe zurück. »Geh jetzt. In zwei Tagen wird dein Mädchen tot sein, und all das hier wird umsonst gewesen sein.« »Aber könnt Ihr sie sehen? Werde ich sie retten?« »Ich sehe nichts dergleichen«, erwiderte die Hexe. »Ich sage dir nur, dass du dich beeilen sollst.« Also pflückte Aspar so viele von den Früchten, wie in seine Satteltasche passten, gab Unhold eine Hand voll davon zu fressen und verließ den Sarnwald. 36. Kapitel Schwester Pale Ohne Fackel führte Schwester Pale Stephen durch die Nacht. Irgendwie wusste sie, wo sie hinwollte, und hielt Stephens Hand fest in der ihren. Es war ein seltsames Gefühl, so Haut an Haut mit einer Fremden. Er hatte nicht oft die Hand einer Frau gehalten - die seiner Mutter, natürlich, und die seiner großen Schwester. Peinlicherweise kam er sich, als er sich daran erinnerte, sehr wie 472 ein kleiner Junge vor, durch den liebevollen Griff von Fingern um seine Hand vor Dingen beschützt, die er nicht verstand. Doch da dies hier nicht seine Mutter oder seine Schwester war, rief die Berührung auch andere, erwachsenere Gefühle wach. Er wusste nicht, wie sie aussah, plagte sich jedoch selbst mit einem Bild, das auf den schattenhaften Eindrücken aufgebaut war, die er bekommen hatte. Erst nach ungefähr einem Glockenschlag wurde ihm klar, dass das Bild Winna darstellte, fast haargenau. Sie waren nicht allein auf dem Pfad; er hörte das Schnüffeln der Hunde um sie herum, und einmal stieß einer von ihnen seine Schnauze gegen seine freie Hand. Stephen fragte sich, welchen Schreinpfad die Schwester wohl beschritten hatte, der es ihr gestattete, sich in so vollkommener Finsternis zu bewegen; nicht einmal seine von den Heiligen gesegneten Sinne erlaubten das. Schließlich ging der Mond auf, nur halb zu sehen und von einem eigentümlichen, harten Gelb, wie Stephen es noch nie beobachtet hatte. Sein Licht ließ ein wenig mehr von seiner Begleiterin und seiner Umgebung erkennen - die Kapuze und den Rücken ihrer Paida, gezackte Landschaftslinien, die unglaublich hoch über ihnen zu verlaufen schienen, die Silhouetten der Hunde. Keiner von ihnen hatte etwas gesagt, seit sie die Stadt durch ein geheimes Tor verlassen hatten, von dem Stephen sicher war, dass er es niemals wieder finden würde. Er hatte sich zu sehr darauf konzentriert, nicht zu stolpern
und auf den Lärm möglicher Verfolger zu horchen - und auf die Hand, die die seine hielt. Doch schließlich waren die gedämpften Geräusche Demsteds im südlichen Viertel des Windes verklungen, und er konnte keine Hufschläge oder Schritte hören, die ihnen folgten. »Wo gehen wir hin?«, flüsterte er. »Zu einem Ort, den ich kenne«, gab sie nicht sehr hilfreich zur Antwort. »Dort finden wir Reittiere.« »Warum helft Ihr mir?«, fragte er geradeheraus. »Sacritor Hespero - der Mann, den Ihr als Praifec kennt -, er ist Euer Feind. Wusstet Ihr das?« 473 »Das weiß ich sehr gut«, sagte Stephen. »Ich war mir nur nicht sicher, ob er es wusste.« »Er weiß es«, erwiderte Pale. »Habt Ihr es für einen Zufall gehalten, dass er kurz vor Euch eingetroffen ist? Er hat auf Euch gewartet.« »Aber woher hat er gewusst, dass ich hierher kommen würde? Das ergibt keinen Sinn, es sei denn ...« Er ließ den Satz unvollendet. Es sei denn, der Praifec und Fratrex Pell waren miteinander im Bunde. Pale schien den Gedanken aus seinem Kopf zu pflücken. »Ihr wurdet nicht von demjenigen verraten, der Euch geschickt hat, wer immer es auch war«, sagte sie. »Zumindest wäre das nicht nötig, um zu erklären, warum Hespero hier ist. Vielleicht hat er nicht einmal gewusst, dass Ihr derjenige sein würdet, der kommt.« »Das verstehe ich nicht.« »Das dachte ich mir«, erwiderte sie. »Seht Ihr, bevor er Praifec von Crothenien wurde, war Hespero viele Jahre lang Sacritor hier in Demsted. Zuerst mochten wir ihn - er war weise, bemüht und sehr klug. Er hat Kirchengelder dazu verwandt, einiges im Dorf zu verbessern. Unter anderem hat er den Tempel ein wenig vergrößert, um eine Pflegestätte für die Alten einzurichten, die keine Verwandten hatten, die sich um sie kümmern konnten. Die Ältesten haben versucht, ihn daran zu hindern.« »Warum? Das scheint doch ein achtbares Unterfangen zu sein.« »Der Meinung waren die Ältesten auch. Es war der Ort, gegen den sie etwas einzuwenden hatten. Um den Anbau zu errichten, hat er einen alten Teil des Tempels abgerissen, einen Teil, der früher das Allerheiligste des alten heidnischen Tempels gewesen war, der vorher hier stand. Und er hat etwas gefunden, etwas, das unsere Vorväter versteckt hatten, anstatt es zu vernichten. Das Ghrand Ateiiz.« »Buch ... äh, zurückkehren?« 474 Sie drückte seine Hand mit etwas, das sich wie Zuneigung anfühlte, und er hätte beinahe nach Luft geschnappt. »Das Buch der Rückkehr«, verbesserte sie ihn. »Nachdem er es gefunden hatte, hat sich Hespero verändert. Er wurde viel zurückhaltender. Er hat immer noch den Attish geleitet - besser denn je sogar -, aber seine Liebe zu uns schien vergessen. Er hat angefangen, lange Ausflüge in die Berge zu unternehmen, und seine Führer kamen von Furcht gezeichnet zurück. Sie wollten nicht darüber sprechen, was geschehen war, oder auch nur davon, wo sie gewesen waren. Mit der Zeit wurde er das leid und hat sein ganzes Streben darauf gerichtet, in der Kirchenhierarchie aufzusteigen. Als er befördert wurde und endlich fortging, waren wir erleichtert, aber das hätten wir lieber nicht sein sollen. Jetzt ist das Resacaratum über uns gekommen, und ich fürchte, er wird jeden in Demsted aufhängen.« »Seid Ihr denn alle Ketzer?«, wollte Stephen wissen. »In gewisser Weise ja«, antwortete sie mit verblüffender Offenheit. »Wir fassen die Lehre der Kirche ein wenig anders auf als die meisten anderen.« »Weil Eure Kirche von einem Revesturi gegründet wurde?« Sie lachte leise. »Bruder Kauron hat unsere Kirche nicht gegründet. Weil er Revesturi war, hat er gesehen, dass wir den Heiligen bereits gefolgt sind, auf unsere eigene Weise. Er hat uns lediglich geholfen, das Bild zu formen, das wir nach außen abgegeben haben, sodass die Kirche uns nicht als Ketzer verbrennen würde, wenn sie schließlich zu uns kam. Er hat uns geholfen, unsere alten Bräuche zu bewahren. Er hat sie hoch geschätzt, und uns auch.« »Also geht es in dem Buch der Rückkehr ...« »Es handelt von Kaurons Rückkehr. Oder vielmehr vom Kommen seines Erben.« »Erbe? Der Erbe von was?« »Ich weiß es nicht. Keiner von uns hat das Buch je gesehen. Wir dachten, Kauron hätte es mitgenommen. Unsere Überlieferungen wurden mündlich weitergegeben, und wir wissen, dass es diese 475 Zeiten vorhersagt. So viel ist durch die Dinge, die sich ereignet haben, klar geworden. Und wir wissen, dass Kaurons einziger Erbe kommen wird, von einer Schlange in die Berge getrieben. Der, der da kommen wird, wird in vielen Zungen reden, und er ist derjenige, der den Alq finden wird.« »DenAlql« »Das bedeutet eine Art heiligen Ort«, erklärte sie. »Einen Thron. Oder einen Sitz der Macht. Wir haben endlos darüber gestritten, ob es wohl ein tatsächlich vorhandener Ort ist oder ein Amt, wie das eines Sacritors. Was immer es ist, es war ihm bestimmt, verborgen zu bleiben, bis zu dem Tag, da der Eine zurückkehrt.
Und dieser Eine scheint Ihr zu sein. Wir wussten, dass Ihr kommen würdet, und wir besitzen nur jene Reste von Wissen, die aus dem Buch der Rückkehr in Erinnerung geblieben sind. Hespero hat das Buch selbst, daher ist seine Kenntnis der Zeichen genauer. Er hat auf Euch gewartet, weil er wusste, dass Ihr ihn zu dem Alq führen könnt.« »Dann braucht er uns doch nur zu folgen«, gab Stephen zu bedenken und schaute unwillkürlich über die Schulter in die Dunkelheit. »Richtig. Aber so haben wir eine Chance, vor ihm dort einzutreffen und zu verhindern, dass er der Erbe wird.« »Aber wie könnte er das tun? Ihr habt doch gerade zugegeben, dass Ihr nicht einmal wisst, was das bedeutet.« »Nein, das wissen wir nicht - nicht genau«, räumte Schwester Pale ein. »Aber wir wissen, dass nichts Gutes dabei herauskommen kann, wenn Hespero der Erbe wird.« »Und woher wisst Ihr, dass ich besser wäre?« »Das ist doch ganz offensichtlich. Ihr seid nicht Hespero.« Darin lag eine Logik, der Stephen nicht widersprechen konnte. Außerdem kam das seinen eigenen Absichten entgegen. »Verraten Euch Eure Überlieferungen auch, wer den Woorm geschickt hat oder warum er mich verfolgt?« 476 »Über den Khirme - das, was Ihr den Waurm nennt - wird nicht viel gesagt, und was wir zusammengetragen haben, ist widersprüchlich. Eine Legende besagt, dass er Euer Verbündeter ist.« Stephen gab ein freudloses Lachen von sich. »Ich glaube, darauf verlasse ich mich lieber nicht«, bemerkte er. »Es ist tatsächlich eine umstrittene Überlieferung«, gab sie zu. »Außer von dem Khirme ist noch von einem Feind die Rede, der der Khraukare genannt wird. Er ist ein Diener des Vhelny, der nicht will, dass Ihr den Preis gewinnt.« Allmählich brummte Stephen der Kopf. »Khraukare. Übersetzt heißt das >Blutritter<, nicht wahr?« »Das stimmt.« »Und der Vhelny?« »Vhelny Das heißt, äh, eine Art König - ein Gebieter der Dämonen.« »Und wo sind diese Leute? Wer sind sie?« »Wir wissen es nicht. Wir haben auch nicht gewusst, wer Kaurons Erbe war - bis Ihr aufgetaucht seid.« »Könnte Hespero dieser Blutritter sein - der Diener des Vhelny?« »Das ist möglich. Der Vhelny hat noch andere Namen, Wind des Blitzes, Himmelszertrümmerer, Vernichter. Sein einziges Streben ist, das Ende der Welt zu erleben, und das Ende von allem darin.« »Vielleicht meint Ihr den Dornenkönig?« »Nein. Der Dornenkönig ist der Gebieter von Wurzel und Blatt. Warum sollte er die Erde zerstören?« »Es gibt Prophezeiungen, die besagen, dass er das tun könnte.« »Es gibt Prophezeiungen, die besagen, dass er die menschliche Rasse vernichten könnte«, verbesserte sie. »Das ist nicht das Gleiche.« »Aber warum sollte Hespero die Welt vernichten wollen?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Schwester Pale. »Vielleicht ist er verrückt. Oder sehr, sehr enttäuscht von allem.« 477 »Und Ihr, Schwester Pale? Was ist Euer Interesse an alldem? Woher weiß ich, dass Ihr nicht insgeheim eine Verbündete von Hespero seid und mich überlistet, damit ich Euch zu dem Alq führe?« »Wahrscheinlich könnt Ihr das nicht wissen. Und es gibt nichts, was ich sagen kann, um Euch zu überzeugen. Ich könnte Euch erzählen, dass ich aus der Linie jener Priesterinnen stamme, die Kauron angetroffen hat, als er hierher kam. Ich könnte Euch erzählen, dass ich in einem Konvent geschult worden bin, aber dass es kein Konvent der heiligen Cer war. Und ich könnte Euch sagen, dass ich hier bin, um Euch zu helfen, weil ich mein ganzes Leben lang darauf gewartet habe, dass Ihr kommt. Aber Ihr habt keinen Grund, all das zu glauben.« »Besonders, da Ihr mich schon einmal belogen habt. Oder vielleicht zweimal«, gab er zurück. »Das eine Mal verstehe ich - was ich Euch über die heilige Cer erzählt habe. Aber wann habe ich Euch ein zweites Mal angelogen?« »Als Ihr gesagt habt, Ihr wärt in einem anderen Konvent gewesen. Es gibt viele Konvente, aber alle gehören zum Orden der heiligen Cer.« »Wenn das wahr ist, würde das heißen, dass ich beim ersten Mal die Wahrheit gesagt habe und erst jetzt lüge. Also ist es immer noch nur eine Lüge, unter Freunden eigentlich gar nicht so viel.« »Jetzt macht Ihr Euch über mich lustig.« »Ja. Was habe ich Euch vorhin gesagt, darüber, anzunehmen, dass man alles weiß?« »Dann gibt es also wirklich einen Konvent, der einem anderen Heiligen gewidmet ist als der heiligen Cer? Und das ist keine ketzerische Sekte?« »Ich habe nie behauptet, er wäre nicht ketzerisch«, erwiderte Pale. »Ganz bestimmt wird er nicht von z'Irbina gebilligt. Aber die Revesturi werden auch nicht von der Kirche gebilligt, und trotzdem seid Ihr einer.« »Das bin ich nicht!«, fuhr Stephen auf. »Bis vor ein paar Wo478
chen hatte ich noch nie von den Revesturi gehört, bis ich zu dieser verdammten Suche aufgebrochen bin. Und jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!« Er riss seine Hand los und tastete sich ins Dunkel davon. »Bruder Darige -« »Bleibt weg«, fauchte er. »Ich traue Euch nicht. Jedes Mal, wenn ich denke, ich habe eine leise Ahnung davon, was eigentlich los ist, passiert das.« »Passiert was?« »Das hier! Blutritter, Vernichter, Preise, Schatzhöhlen, Prophezeiungen und Alqs... und ...« »Oh«, sagte sie. Jetzt konnte er im Mondlicht fast die Form ihres Gesichts ausmachen und das feuchte Schimmern ihrer Augen. »Ihr meint Wissen. Ihr meint Lernen. Ihr denkt, Ihr wärt zufriedener, wenn die Welt weiterhin bestätigen würde, was Ihr für wahr gehalten habt, als Ihr fünfzehn wart.« »Ja!«, brüllte Stephen. »Ja, ich glaube, das wäre mir lieber!« »Dann verstehe ich eins nicht. Wenn Lernen für Euch so schmerzlich ist, warum strebt Ihr dann danach? Warum wart Ihr heute Nacht im Scriftorium?« »Weil...« Er hatte nicht übel Lust, jemanden zu erwürgen, möglicherweise sich selbst. »Lasst das«, sagte er mürrisch. »Was?« »Vernünftig sein. Noch besser, redet überhaupt nicht mit mir.« Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, war sie ihm viel näher, nahe genug, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. Er konnte die Wölbung ihrer Wange erkennen, gerundet, sodass sie jung aussah. Elfenbein im Mondlicht. Ein Auge war noch immer dunkel, das andere jedoch schimmerte wie Silber. Er konnte auch die Hälfte ihrer Lippen sehen; entweder waren sie schmollend verzogen, oder sie hatten von Natur aus diese Form. Ihr Atem war süß, roch schwach nach Kräutern. 479 »Ihr habt doch damit angefangen«, hauchte sie. »Ihr habt angefangen zu reden. Ich war es vollkommen zufrieden, schweigend Eure Hand zu halten, Euch zu helfen, Euch dorthin zu bringen, wo Ihr hinmüsst. Aber Ihr musstet ja anfangen, all diese Fragen zu stellen. Könnt Ihr die Dinge nicht einfach geschehen lassen?« »Das tue ich doch die ganze Zeit.« Stephens Stimme überschlug sich. »Es ist wie einer von diesen Träumen, wo man versucht, irgendetwas zu tun, aber man wird immer wieder abgelenkt, kommt vom Weg ab, und der eigentliche Zweck entgleitet einem mehr und mehr. Und ich verliere andere Menschen. Ich habe Winna und Aspar verloren. Ich habe Ehawk verloren. Und jetzt habe ich auch noch Ehan, Henne und Themes verloren, und ich versuche die ganze Zeit, so zu tun, als ob das keine Rolle spielt, aber das tut es doch.« »Winna, Aspar, Ehawk. Sind sie alle tot?« »Ich weiß es nicht«, antwortete er unglücklich. »War Winna Eure Geliebte?« Das drang durch wie ein Pfeil. »Nein.« »Ah. Ich verstehe. Aber Ihr wolltet, dass sie es ist.« »Was hat das denn mit alldem hier zu tun?« »Vielleicht gar nichts.« Er fühlte, wie sich ihre Hand wieder um die seine schlang. »Waren sie mit Euch auf Eurer Suche?«, fragte sie weiter. »Hat der Waurm sie getötet?« »Nein«, antwortete Stephen. »Das versuche ich Euch ja zu sagen. Ich bin nach Crothenien gekommen, um ins Kloster d'Ef einzutreten. Auf dem Weg dorthin bin ich von Wegelagerern entführt worden. Aspar - das ist der Waldhüter des Königs - hat mich vor ihnen gerettet.« »Und dann?« »Nun ja, dann bin ich nach d'Ef weitergezogen, aber erst, nachdem ich von fürchterlichen Dingen im Wald gehört habe, und vom Dornenkönig. Und dann, in d'Ef ...« Er stockte. Wie konnte er mit ein paar Worten das Gefühl des Verratenseins erklären, das ihn überkommen hatte, als er die Verderbtheit in d'Ef entdeckt hatte? 480 Als er die erste Tracht Prügel von Bruder Desmond und seinen Getreuen bezogen hatte? Warum sollte er? Sie drückte ihm aufmunternd die Hand. »Dort ist alles schief gegangen«, sagte er schließlich. »Man hat von mir verlangt, schreckliche Dinge zu übersetzen. Verbotene Dinge. Es war, als hätte es die Welt, die ich kannte, plötzlich nicht mehr gegeben. Auf jeden Fall war die Kirche anders, als ich geglaubt hatte. Dann ist Aspar wieder aufgetaucht, fast tot, und es war an mir, ihm zu helfen, und ganz plötzlich war ich auf seiner Suche, unterwegs, um Winna zu retten - und dann auch noch die Königin, ausgerechnet!« »Und das habt Ihr getan?« »Ja. Und dann hat uns der Praifec ausgeschickt, um den Dornenkönig zu jagen, aber auf halbem Wege sind wir dahinter gekommen, dass Hespero selbst der eigentlich Böse war, und am Ende haben wir versucht, ihre Pläne
zu durchkreuzen, einen Schreinpfad der Verdammten Heiligen zum Leben zu erwecken. Danach haben wir uns einer Prinzessin angeschlossen, um ihren Thron von einem Thronräuber zurückzuerobern - etwas, wovon ich wirklich nichts verstanden habe -, und plötzlich werde ich von Slinderlingen entführt und sitze mit meinem alten Fratrex zusammen, von dem ich geglaubt hatte, er sei tot, und er erzählt mir, die einzige Hoffnung der ganzen Welt wäre, dass ich hier heraufkomme ... ich wollte doch nur Bücher lesen!« Er konnte nicht fortfahren. Wieso faselte er überhaupt so? »Es tut mir Leid«, brachte er schließlich heraus. »Das muss sich alles völlig lächerlich anhören.« »Nein«, sagte sie. »Es klingt vernünftig. Ich kannte mal ein Mädchen, das im Konvent der heiligen Cer Schriften studieren wollte. Das hatte sie tun wollen, seit sie fünf Jahre alt war und bei ihrer Tante gelebt hatte, die in Demsted immer die Tempelbibliothek abgestaubt hat. Alles sah hoffnungsvoll für sie aus, aber dann schien ein Junge, den sie schon ihr ganzes Leben lang gekannt, 481 über den sie aber nie weiter nachgedacht hatte, plötzlich zu leuchten wie ein Wachstern, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, seine Berührung nie gekannt zu haben. Und dann stellte sie fest, dass sie schwanger war, und ihre Träume von einer Ausbildung im Konvent waren dahin. Urplötzlich war die Ehe - etwas, das sie immer hatte vermeiden wollen - ihre einzige Möglichkeit. Sie hatte gerade angefangen, sich daran zu gewöhnen - ihren Groll dagegen ein wenig zu verlieren -, als ihr Mann starb, und dann ihr Kind. Um leben zu können, musste sie Dienstmagd bei einem ausländischen Edelmann werden und Kinder betreuen, die nicht ihre eigenen waren. Dann erschien eines Tages eine Frau und bot ihr eine zweite Chance an, ihren Traum zu verwirklichen und in einem Konvent zu lernen ...« Ihre Stimme hatte begonnen, ihn in ihren Bann zu ziehen, und er konnte jetzt ihre beiden Augen sehen, kleine Halbmonde. »So ist das Leben eben, mein Freund. Eures scheint sonderbar, weil es voller fantastischer Wunder ist, aber es ist eine Tatsache, dass nur wenige Menschen auf dem Pfad bleiben, auf dem sie ihre Reise beginnen. Die Wahrheit ist, wir haben Träume wie die, die Ihr beschreibt, weil unsere Träume dunkle Spiegel des Wachens sind ... Aber in einem habt Ihr Glück gehabt«, fuhr sie fort. »Ich bin gekommen, um Euch wieder auf Euren Pfad zurückzuführen. Ihr habt Euch der Kirche zugewandt, weil Ihr Wissen geliebt habt, nicht wahr? Weil Ihr Mysterien geliebt habt, alte Bücher, die Geheimnisse der Vergangenheit. Wenn wir den Ort finden, den Ihr sucht - wenn wir den Alq finden -, werdet Ihr all das bekommen, und mehr.« Stephen war, als könne er nicht atmen, als fiele ihm absolut nichts ein, was er sagen könnte. »Dieses Mädchen, das im Konvent -« Sie beugte sich vor, und ihre Lippen trafen auf die seinen, liebkosten sie leicht. Ein Schrecken zuckte sein Rückgrat hinunter, ein sehr angenehmer Schrecken. 482 Doch er fuhr zurück. »Tut das nicht«, sagte er. »Warum? Weil es Euch gefällt?« »Nein. Ich habe Euch doch gerade gesagt, ich traue Euch nicht.« »Hmmm«, murmelte sie und beugte sich erneut vor. Er hatte vorgehabt, sie abzuwehren, wirklich, doch irgendwie waren ihre Lippen wieder auf den seinen, und es gefiel ihm, natürlich gefiel es ihm, und als wäre er verrückt geworden, ließ er jäh ihre Hand los und schlang den Arm um sie, zog sie an sich, und verblüfft wurde ihm klar, wie zierlich sie war, wie schön sie sich anfühlte. Winna, dachte er und berührte ihr Gesicht, ließ die Finger unter ihre Kapuze und in ihr blondes Haar gleiten, sah sie vor seinem inneren Auge, mit der vollendeten Deutlichkeit, die nur ein dem Decmanus Geweihter heraufbeschwören konnte. Dann legte sie beide Hände auf seine Brust und drückte ihn sanft weg. »Hier können wir nicht bleiben«, sagte sie. »Es ist nicht mehr weit, dann sind wir sicher.« »Ich -« »Still. Versuch, nicht zu viel darüber nachzudenken.« Er konnte nicht anders. Er lachte leise. »Das wird sehr schwer«, sagte er. »Denk stattdessen über Folgendes nach«, erwiderte sie, nahm abermals seine Hand und schickte sich an, ihn zu dem Pfad zurückzuführen. »Bald geht die Sonne auf, und du wirst sehen, dass ich nicht sie bin. Darauf solltest du gefasst sein.« Der Sonnenaufgang fand sie auf einem felsigen weißen Weg, der sich durch ein baumloses Hochmoor wand. Die Wolken hingen tief, nass und kalt, doch der Boden war von leuchtendem Grün bedeckt, und Stephen fragte sich, was das wohl für Gewächse sein mochten. Könnte Aspar ihren Namen wissen, oder waren sie zu fern von den Pflanzen, die der Waldhüter kannte? Schnee lag auf den Berggipfeln, doch er musste wohl schmelzen, denn oft kreuzten Rinnsale ihren Weg, und kleine Wasserfälle 483 schäumten die Hänge zahlreicher Hügel hinunter. An einem davon machten sie Halt, um zu trinken, und Pale schlug die Kapuze ihres Mantels zurück.
In jenem grauen Licht sah er sie endlich. Ihre Augen waren wirklich silbern - oder vielmehr blau-grau, so hell, dass sie manchmal das Licht auf diese Weise einfingen. Ihr Haar allerdings war nicht blond, sondern von einem satten Rotbraun, schlicht und kurz geschnitten. Ihre Wangen waren rund, wie es im Dunkeln zu erahnen gewesen war, doch während Winnas Gesicht oval war, lief Pales zum Kinn hin dreieckig zu. Ihre Lippen waren schmaler, als es ihm vorgekommen war, als er sie geküsst hatte, doch sie hatte genau den natürlichen Schmollmund, den er sich vorgestellt hatte. Auf der Stirn hatte sie zwei große Pockenmale und auf der linken Wange eine lange, wulstige Narbe. Sie hielt den Blick beim Trinken abgewandt, dann betrachtete sie ihre Umgebung; sie wusste genau, dass er sie musterte, und gab ihm Gelegenheit dazu. Es war enttäuschend. Nicht nur war sie nicht Winna, sie war auch nicht so schön wie Winna. Ihm war klar, dass das ein schrecklicher Gedanke war, doch er konnte diese Regung nicht verleugnen. In den Phay-Märchen bekam der Held stets die wunderschöne Jungfrau, und alle anderen mussten sich mit dem begnügen, was übrig war. Aspar war der Held dieser Geschichte, nicht Stephen - das wusste er schon seit geraumer Zeit. Winna war keine Jungfrau, aber sie hatte diese ganz bestimmte Ausstrahlung, die Ausstrahlung des Heldenpreises. Dann neigte Pale den Kopf, um ihn anzusehen, und er hätte beinahe nach Luft geschnappt. Er musste daran denken, wie Sacritor Bürden damals versucht hatte, ihm die Heiligen zu erklären; er hatte ein Stück Kristall hervorgeholt, mit dreieckigem Querschnitt, aber lang, wie das Dach eines Gästehauses. Der Kristall hatte interessant ausgesehen, sogar ungewöhnlich, und als der 484 Sacritor den Stein ins Sonnenlicht gehalten hatte, hatte er hübsch gefunkelt. Doch erst als er ihn auf eine ganz bestimmte Weise drehte, hatte der Kristall die Farben des Regenbogens ausgestrahlt und die Schönheit offenbart, die dort verborgen gewesen war. Als er jetzt ihrem Blick begegnete, war dort plötzlich so viel mehr, als seine erste Betrachtung entdeckt hatte, und ihre Züge traten deutlicher hervor. Zum ersten Mal nahm er sie als die ihren wahr. »Nun«, bemerkte sie, »das hast du davon, wenn du ein Mädchen küsst, bevor du es gesehen hast.« »Du hast mich geküsst«, platzte er heraus, wobei ihm im selben Atemzug klar wurde, dass dies nicht das war, was er hätte sagen sollen. Sie zuckte bloß mit den Schultern und zog die Kapuze wieder über den Kopf. »Ja«, gab sie zu. »Warte«, stieß er hervor. Sie drehte sich um und legte den Kopf schief. »Was geht hier vor?«, fragte er verzweifelt. »Höchstwahrscheinlich brechen der Praifec und seine Männer gerade auf, um uns zu verfolgen«, antwortete sie. »Wir brauchen Reittiere, und ein Stück weiter vorn können wir welche bekommen. Danach können wir sie vielleicht hinter uns lassen.« »Das habe ich nicht gemeint.« »Ich weiß«, entgegnete sie. »Also? Ich meine, ich kenne dich doch kaum. Es ist einfach nicht vernünftig -« »Wo ich herkomme«, sagte Pale, »ist nicht alles vernünftig. Und wir warten nicht ein Leben lang auf einen vollkommenen Kuss von einem vollkommenen Menschen, weil wir dann einsam sterben. Ich habe dich geküsst, weil ich es wollte und weil du wolltest, dass ich es tue, und vielleicht haben wir das beide gebraucht. Und bis die Sonne aufgegangen ist, schienst du damit durchaus zufrieden und vielleicht auch gern bereit, es noch öfter zu tun. Aber stattdessen sind wir jetzt hier, und auch so ist das Leben, und es 485 lohnt sich nicht, darauf herumzureiten. Wir können nur soundso viel schaffen, ehe wir sterben, nicht wahr? Also lass uns gehen.« 37. Kapitel Crepling Cazio hörte, wie jemand seinen Namen schrie - es war ein dünner, ferner Laut. Seine Aufmerksamkeit war zum größten Teil aufs Klettern gerichtet, darauf, Finger- und Stiefelspitzen in die trügerischen Kerben zu zwängen, die in Stein und Mörtel gehauen waren. Er war hocherfreut gewesen, sie dort vorzufinden, und fragte sich, wer sie wohl ursprünglich gemeißelt hatte. Irgendein Dieb aus uralter Zeit? Kinder, die die Mauer erkundet hatten, oder vielleicht ein Sefry-Magier? Eigentlich spielte es keine Rolle. Wahrscheinlich wäre ihm der Aufstieg auch in dem Winkel zwischen den beiden Mauern gelungen, nur mithilfe des dürftigen Halts, den das Mauerwerk von Natur aus bot, doch der Kletterer aus alter Zeit hatte ihm beträchtlich geholfen. Die Kerben verbesserten seine Überlebensaussichten allerdings nur geringfügig, als er die Soldaten erblickte, die auf ihn zurannten. Er hatte noch eine Königselle zurückzulegen, und bei der Geschwindigkeit, mit der er empor klommm, würde er das nicht schaffen, ehe sich kaltes Eisen mit ihm vermählte. Also beugte er mit einem stummen Gebet an Mamres und Fiussa die Knie und sprang mit aller Kraft ab, hoch und nach rechts, auf den ersten Speerträger zu. Das Problem dabei war, dass der Sprung ihn von der Mauer abdrängte. Nicht viel, aber weit genug, dass er sie nicht mehr würde
486 erreichen können. Er fühlte die Pflastersteine des Hofs der Gobelins unter sich, begierig, sein Rückgrat zu zerschmettern, während er die Arme so weit ausstreckte, dass er sie sich beinahe auskugelte. Und wie er es in seinem Gebet erfleht hatte, war der Soldat völlig verblüfft, als er einen Wahnsinnigen auf sich zuspringen sah. Falls er sich von verständigem Denken leiten ließ, würde er zurücktreten, zusehen, wie Cazio nach leerer Luft griff, und lachen, wenn er abstürzte. Stattdessen handelte der Mann instinktiv und stach mit seinem Speer nach dem Angreifer. Cazio bekam den dicken Schaft direkt oberhalb der grausam scharfen Spitze zu fassen, und zu seinem Entzücken bestand die nächste Impulshandlung der Wache darin, die Waffe zurückzureißen. Damit zog er Cazio wieder an die Mauer heran, und er ließ los, um sich mit Armen und Brustkorb an den oberen Rand des Bauwerks zu klammern. Der Speerträger, aus dem Gleichgewicht gebracht, kippte hintenüber. Die Mauer war breit genug, sodass er nicht abstürzte, doch jetzt, wo er dalag und sein Gefährte noch immer ein paar Schritte entfernt war, hatte Cazio Zeit, mit einem Ruck auf die Beine zu kommen und Acredo zu ziehen. Dessen ungeachtet senkte der zweite Soldat die Spitze seines Speers und setzte zum Angriff an. Cazio sah mit Freuden, dass er lediglich Kettenhemd, Brustharnisch und Helm trug und keine vollständige Ritterrüstung. Als der Stoß kam, parierte er im prismo und trat rasch auf seinen Gegner zu. Er hob die linke Hand, um den Speerschaft zu packen, und ließ dabei die Spitze seiner Waffe zu einem langen Stoß emporschnellen, der in der Kehle des Mannes endete. Wäre der Mann nicht gepanzert gewesen, so hätte er es mit einem weniger tödlichen Treffer versucht, doch das Einzige, was noch ungeschützt war, war der Oberschenkel, wo seine Degenspitze im Knochen stecken bleiben könnte. 487 Als der Mann seinen Speer fallen ließ und verzweifelt durch ein neues Lippenpaar pfiff, wandte Cazio sich an den Ersten, der gerade wieder auf die Beine kam. »Contro z'osta«, verkündete er. »Zo dessrator comatia anter c'acra.« »Was faselst du da?«, schrie der Mann, offenkundig völlig verstört. »Was hast du gesagt?« »Um Vergebung«, sagte Cazio. »Wenn ich über Liebe, Wein oder die Fechtkunst spreche, fällt es mir leichter, mich meiner eigenen Sprache zu bedienen. Ich zitiere die berühmte Abhandlung von Mestro Papo Avradio, der uns belehrt -« Er wurde rüde unterbrochen, als der Mann aufbrüllte und vorwärts stürmte. Cazio fragte sich, wie gründlich diese Männer eigentlich ausgebildet worden waren. Er stellte das hintere Bein noch weiter nach hinten und senkte Körper und Kopf unter die Stoßlinie, während er den Arm gerade nach vorn streckte. Vom Schwung getragen, spießte sich der Soldat mehr oder weniger selbst auf Cazios Degenspitze auf. »>Gegen den Speer möge der Fechter sich in die Reichweite der Waffe hineinbegeben<«, setzte Cazio seine Ausführung fort, als der Mann sich krümmte und zur Seite kippte. Da kam noch einer aus dem Turm zu seiner Linken. Cazio nahm Kampfstellung ein und wartete, während er überlegte, gegen wie viele dieser Burschen er wohl würde antreten müssen, bis die Handwerksmeister zu ihm stießen. Dieser Gegner erwies sich als interessanter, weil ihm klar war, dass Cazio in Reichweite seiner Waffe kommen musste. Also benutzte er seine Füße wie ein Dessrator und bot Cazio etwas, das wie eine gute Gelegenheit aussah, an ihn heranzukommen, in Wirklichkeit jedoch ein Täuschungsmanöver war, mit dem er ihn zu einem unbedachten Angriff verleiten wollte. Noch interessanter waren das Gebrüll, das er hinter sich vernahm, und der nächste Mann, der in die Richtung die Mauerkrone entlang rannte, in die Cazio schaute. 488 Mit grimmigem Lächeln begann er, den Rest von Mestro Papos Kapitel »Contro z'osta« zu unterrichten. Atemlos sah Anne zu, wie Cazio auf die für ihn typische Art und Weise das Verrückteste tat, was man sich nur vorstellen konnte, und irgendwie am Leben blieb. Austra stand da, die Fäuste an die Seiten gepresst, und wurde immer weißer, je länger das Gefecht andauerte, bis endlich die Handwerksmeister erschienen, die Mauer emporschwärmten und sich zu dem Vitellianer gesellten. Dann teilten sie sich und rannten auf die Türme zu. Kurz darauf kamen sie wieder zum Vorschein und schwenkten Wimpel. Cazio tauchte auf, den breitkrempigen Hut in der Hand. »Ihr Heiligen«, hauchte Austra. »Warum muss er immer ...« Sie vollendete den Satz nicht, sondern seufzte stattdessen. »Er liebt das Kämpfen mehr als mich.« »Das ist ganz bestimmt nicht wahr«, erwiderte Anne und gab sich alle Mühe, überzeugend zu klingen. »Und überhaupt, wenigstens ist es keine andere Frau.« »Das wäre mir fast lieber«, erklärte Austra. »Wenn das passiert«, sagte Anne, »frage ich dich noch einmal.« »Du meinst, falls das passiert.« Austra klang ein wenig, als müsse sie sich verteidigen. »Ja, genau das habe ich gemeint«, versicherte Anne. Doch sie wusste es besser. Männer nahmen sich Geliebte,
oder etwa nicht? Ihr Vater hatte viele gehabt. Die Damen des Hofs waren sich stets einig gewesen, dass dies in ihrer Natur lag. Sie warf einen Blick zu dem Sefry-Haus. Sie und Austra waren zurückgetreten, um das Geschehen auf der Mauer zu verfolgen, doch Mutter Uun wartete noch immer im Schatten ihrer Haustür. »Ich entschuldige mich für die Ablenkung, Mutter Uun«, sagte sie. »Aber es wäre mir ein Vergnügen, jetzt über den Crepling-Gang zu sprechen.« »Gewiss«, antwortete die alte Frau. »Bitte kommt herein.« 489 Der Raum, in den die Sefry sie führte, war enttäuschend gewöhnlich. Sicher, er hatte etwas Fremdländisches ein bunter Teppich, eine Öllampe aus irgendeinem Knochen, in Gestalt eines Schwans geschnitzt, dunkelblaue Glasscheiben, die dem Zimmer ein angenehm düsteres Unterwassergefühl verliehen. Abgesehen von Letzterem jedoch hätte das Zimmer jedem Kaufmann gehören können, der mit Waren von jenseits des Meeres handelte. Mutter Uun wies auf etliche Lehnstühle, die im Kreis aufgestellt worden waren, und wartete, bis sie sich niedergelassen hatten, ehe sie selbst Platz nahm. Fast im selben Moment betrat ein weiterer Sefry - ein Mann mit einem Tablett den Raum. Er verbeugte sich, ohne die Teekanne und die Tassen, die er trug, zu gefährden, dann stellte er alles auf einen kleinen Tisch. »Möchtet Ihr Tee?«, fragte Mutter Uun freundlich. »Das wäre schön«, erwiderte Anne. Der Sefry-Mann schien jung zu sein, nicht älter als Annes siebzehn Winter. Er sah auf eigentümliche Art gut aus, und seine Augen waren von einem auffallenden Kobaltblau. Dann verschwand er, nur um gleich darauf mit Walnussbrot und Marmelade zurückzukehren. Anne nippte an ihrem Tee und stellte fest, dass er nach Zitronen, Orangen und irgendeinem Gewürz schmeckte, das sie nicht kannte. Ihr kam der Gedanke, dass es sich um Gift handeln könnte. Mutter Uun trank aus derselben Kanne, doch seit sie den Sefry-Attentäter berührt und ihn in seinem Innern so falsch gefunden hatte, hielt sie es für möglich, dass etwas, das für einen Menschen Gift war, für einen Sefry ein Genuss sein könnte. Ihr nächster kleiner Schluck war nur vorgetäuscht, und sie hoffte, dass Austra das Gleiche tat, obwohl, wenn ihre Zofe den Tee trank, würde sie wenigstens herausfinden, ob er vergiftet war oder nicht. Entsetzen folgte diesem Gedanken auf dem Fuß. Was war bloß los mit ihr? Austras Gesicht legte sich in besorgte Falten, was alles nur noch schlimmer machte. 490 »Anne?« »Es ist nichts«, log sie. »Ich hatte einen unguten Gedanken.« Ihr fiel wieder ein, dass ihr Vater einen Vorkoster gehabt hatte. So jemanden brauchte sie auch, jemanden, an dem ihr nichts lag. Aber doch nicht Austra. Mutter Uun nippte an ihrem Tee. »Als wir hier eingetroffen sind«, begann Anne, »habt Ihr gesagt, dass Ihr wegen jemandem Wache halten würdet. Würdet Ihr das erklären?« In dem blauen Licht wirkte Mutter Uuns Haut weniger durchscheinend, weil die feinen Adern nicht länger sichtbar waren. Im Stillen überlegte Anne, ob sie sich wohl deshalb für indigofarbene Scheiben anstelle von orangefarbenem oder gelbem Glas entschieden hatte. Außerdem kam sie ihr irgendwie größer vor. »Ich denke, Ihr habt ihn gehört«, sagte Mutter Uun. »Sein Wispern ist inzwischen laut genug, um aus seinem Kerker zu dringen.« »Noch einmal«, beharrte Anne ungeduldig, »von wem sprecht Ihr?« »Ich werde seinen Namen nicht aussprechen, noch nicht«, antwortete die alte Sefry-Frau. »Aber ich bitte Euch, Euch an Euren Geschichtsunterricht zu erinnern. Wisst Ihr noch, was einst dort war, wo jetzt diese Stadt steht?« »Ich war in jedem Fach eine schlechte Schülerin«, sagte Anne, »einschließlich Geschichte. Aber das weiß doch jeder. Eslen wurde auf den Ruinen der letzten Scaosen-Festung errichtet.« »Scaosen«, wiederholte Mutter Uun nachdenklich. »Wie die Zeit doch die Worte entstellt. Der ältere Ausdruck war natürlich Skasloi - obwohl selbst das nur ein Versuch war, das Unaussprechliche auszusprechen. Aber, ja, hier hat Eure Ahnin Virgenya Dare ihre letzte Schlacht gegen unsere uralten Herren gewonnen und ihren Stiefel auf den Nacken des Letzten seiner Art gestellt. Hier wurde das Zepter von der Rasse der Dämonen an die der Frauen weitergereicht.« 491 »Ich kenne die Geschichte«, sagte Anne verwirrt. Die seltsame Formulierung der Sefry war interessant. »Als die Skasloi hier herrschten, war dieser Ort als Ulheqelesh bekannt«, fuhr Mutter Uun fort. »Es war die größte aller Festungen der Skasloi, ihr Herr der Mächtigste seiner Rasse.« »Ja«, meinte Anne, »aber warum sagt Ihr >Frauen< und nicht >Menschen« »Virgenya Dare war eine Frau«, erwiderte Mutter Uun. »Das ist mir klar«, sagte Anne. »Aber der Name ihrer Rasse war doch nicht >Frauen<.« »Ich habe wohl die Rasse gemeint, zu der Frauen gehören«, sagte die Sefry »Aber Ihr seid doch eine Frau, oder nicht, wenn auch nicht von der Menschenrasse?« »In der Tat«, erwiderte sie. Ihre Mundwinkel hoben sich leicht. Anne runzelte die Stirn, doch sie war sich nicht sicher, ob sie tiefer in dieses seltsame Labyrinth der
Bedeutungslehre kriechen wollte, nicht, wenn es der Sefry-Frau so vollkommen recht zu sein schien, sich weiter und weiter von der ursprünglichen Frage zu entfernen. »Wie auch immer«, sagte sie. »Diese Person, von der Ihr behauptet, dass sie mir etwas zuflüstert. Ich will etwas über sie wissen.« »Ah«, sagte Mutter Uun. »Ja. Virgenya Dare hat den letzten der Skasloi nicht getötet. Sie hat ihn am Leben gelassen, im Verlies von Eslen. Er ist noch immer dort, und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er dort bleibt. « Ein unerwarteter Schwindel überkam Anne - ihr war, als sei ihr Stuhl an die Decke genagelt und sie müsse die Armlehnen fest umklammern, um nicht herauszufallen, als sich das Zimmer langsam drehte. Wieder vernahm sie unverständliche Worte, die ihr ins Ohr gehaucht wurden, doch diesmal glaubte sie, sie ... beinahe ... zu verstehen. Die Stimmen fremdartiger Vögel trillerten vor dem Fenster. 492 Nein, es waren gar keine Vögel, sondern Austra und Mutter Uun. Sie konzentrierte sich auf die beiden. »Das ist unmöglich«, erklärte Austra gerade. »Die Geschichte besagt eindeutig, dass sie ihn getötet hat. Außerdem wäre er dann über zweitausend Jahre alt.« »Er war älter als zweitausend Jahre, als sein Reich zusammenbrach«, erwiderte Mutter Uun. »Die Skasloi alterten nicht so wie Euresgleichen. Manche von ihnen sind überhaupt nicht gealtert. Qexqaneh ist einer von jenen.« »Qexqaneh?« Als sie den Namen aussprach, spürte Anne plötzlich, wie etwas Raues über ihre Haut glitt. Ein Geruch wie brennendes Kiefernholz erfüllte ihre Nase, und sie musste husten. »Ich hätte Euch warnen sollen, mit diesem Namen vorsichtig zu sein«, bemerkte Mutter Uun. »Er weckt seine Aufmerksamkeit -aber er gibt Euch auch die Macht, ihm zu befehlen, wenn Euer Wille stark genug ist.« »Warum?«, fragte Anne heiser. »Wieso sollte man so ein Wesen am Leben lassen?« »Wer kann sagen, was die Geborene Königin sich gedacht hat?«, erwiderte Mutter Uun. »Anfangs vielleicht, um ihn zu verhöhnen. Oder vielleicht aus Angst. Er hat eine Prophezeiung ausgesprochen, wisst Ihr das?« »Davon habe ich noch nie gehört«, sagte Anne. Mutter Uun schloss die Augen, und ihre Stimme veränderte sich. Sie wurde tiefer und lag irgendwo zwischen Gesang und rhythmischem Sprechen. »Ihr wurdet als Sklaven geboren«, sagte sie. »Ihr werdet als Sklaven sterben. Ihr habt lediglich einen neuen Herrn heraufbeschworen. Die Töchter eurer Saat werden sich dem gegenübersehen, was ihr geschaffen habt, und es wird sie auslöschen.« Anne war, als hätte sich ihr eine Hand über Mund und Nase gelegt. Sie konnte kaum atmen. 493 »Was hat er damit gemeint?«, brachte sie heraus. »Niemand weiß es«, antwortete die Sefry-Frau. »Aber die Zeit, von der er gesprochen hat, ist gekommen, so viel ist sicher.« Jetzt hatte ihre Stimme wieder ihren normalen Klang, doch sie flüsterte beinahe. »Selbst in Banden ist er furchtbar gefährlich. Um ins Schloss zu gelangen, müsst Ihr an ihm vorbei. Seid stark. Tut nichts, was er verlangt, und vergesst nicht, dass es Euch im Blut liegt, ihn zu beherrschen. Wenn Ihr ihm eine Frage stellt, kann er nicht lügen -aber er wird trotzdem sein Bestes tun, Euch in die Irre zu führen.« »Mein Vater? Meine Mutter? Wussten sie von ihm?« »Alle Könige von Eslen wussten von dem Bewahrten«, sagte Mutter Uun. »So wie Ihr es tun werdet. So wie Ihr es tun müsst.« »Sagt mir«, fragte Anne, »wisst Ihr etwas über eine ganz bestimmte Grabkammer, unter dem Horz in Eslen-desSchattens?« »Anne!«, stieß Austra hervor, doch Anne brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Mutter Uun hielt inne, die Tasse nur wenige Zoll von den Lippen entfernt, und ihre glatte Stirn furchte sich. »Nein, ich denke nicht«, antwortete sie schließlich. »Was ist mit den Glaubenden? Könnt Ihr mir irgendetwas über sie sagen?« »Ich nehme an, Ihr kennt sie besser als ich«, erwiderte die alte Frau. »Aber ich wäre äußerst erfreut zu erfahren, was Ihr über sie wisst«, gab Anne in einem Tonfall zurück, von dem sie hoffte, dass er beharrlich klang. »Zauberinnen von der allerältesten Art«, erklärte die alte Frau. »Manche Leute sagen, sie seien unsterblich, andere behaupten, sie seien die Anführerinnen eines Geheimordens und würden in jeder Generation ersetzt.« »Tatsächlich? Und welche Erklärung sagt Euch am meisten zu?« »Ich weiß nicht, ob sie unsterblich sind, aber ich vermute, dass sie lange leben.« 494 Anne seufzte. »Das ist auch nicht mehr als das, was ich bereits gehört habe. Erzählt mir etwas, das ich noch nicht weiß. Sagt mir, warum sie wollen, dass ich Königin in Eslen werde.« Mutter Uun schwieg einen Moment lang, dann seufzte sie. »Die großen Mächte dieser Welt sind sich ihrer selbst nicht bewusst«, sagte sie. »Das, was den Wind antreibt,
was den fallenden Stein zur Erde hinabzieht, was Leben in unsere Hüllen haucht und was es ihnen wieder entreißt - diese Dinge sind ohne Sinn und Verstand, ohne Willen, ohne Vernunft, ohne Wünsche oder Absichten. Sie sind einfach da.« »Und doch beherrschen die Heiligen dies alles«, gab Anne zu bedenken. »Wohl kaum. Die Heiligen - nein, lassen wir das. Hier ist das Entscheidende: Diese Mächte können gewisslich durch Künste gelenkt werden. Der Wind kann dienstbar gemacht werden, um Wasser zu pumpen oder ein Schiff voranzutreiben. Ein Fluss kann eingedämmt, seine Strömung dazu genutzt werden, eine Mühle zu drehen. Die Macht eines Sedos kann abgezogen werden. Doch die Kräfte selbst bestimmen letztlich die Form der Dinge und das tun sie aufgrund ihrer Natur, nicht aufgrund ihres Plans. Die Skasloi haben das gewusst; sie haben keinen Göttern gehuldigt, oder Heiligen oder derartigen Kreaturen. Sie haben die Machtquellen gefunden und gelernt, sie zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sie haben um die Herrschaft über diese Quellen gekämpft, haben jahrtausendelang gekämpft, bis ihre Welt so gut wie zerstört war. Schließlich haben sich einige ihrer Rasse zusammengetan, und um sich zu retten, haben sie ihre Artgenossen niedergemacht und die Welt neu geschaffen. Sie haben die Throne entdeckt und sie dazu benutzt, die Mächte in Schach zu halten.« »Throne?« »Eigentlich ist das kein guter Ausdruck dafür. Es sind keine Stühle, oder auch nur Orte. Sie sind eher so etwas wie die Stellung eines Königs oder einer Königin - ein Amt, das besetzt wird, und 495 ist es erst einmal besetzt, so überträgt es die Macht und die Verpflichtungen des jeweiligen Throns auf denjenigen, der es innehat. Es gibt mehrere Arten von geheimnisvollen Mächten in den Landen des Schicksals, und jede von ihnen besitzt einen Thron. Diese Mächte können stärker oder schwächer werden. Der Thron, der die Mächte beherrscht, die Ihr als Sedoi kennt, wird seit Jahrtausenden stärker.« »Aber Ihr sagt, es gibt noch andere?« »Gewiss. Glaubt Ihr, der Dornenkönig wird von den Sedoi erhalten? Mitnichten. Er sitzt auf einem ganz anderen Thron.« »Und die Glaubenden?« »Ratgeberinnen. Königinnenmacherinnen. Sie kämpfen darum, dass Euch die Macht zuteil wird, dass Ihr den Sedos-Thron besteigt, statt zu erleben, dass er in die Hände eines anderen fällt. Aber sie haben Feinde, genau wie Ihr.« »Aber die Sedoi werden doch von der Kirche beherrscht«, wandte Anne ein. »Bisher schon - soweit sie überhaupt beherrscht wurden.« »Dann sitzt doch gewiss Fratrex Prismo bereits auf diesem Thron«, sagte Anne. »Das tut er nicht«, antwortete Mutter Uun. »Niemand sitzt auf diesem Thron.« »Aber warum nicht?« »Die Skasloi haben ihn versteckt.« »Versteckt? Aber wieso?« »Sie haben die Verwendung der Sedos-Macht verboten«, antwortete die Sefry. »Von allen Mächten, die sie kannten, war sie die zerstörerischste und konnte am wirkungsvollsten gegen die anderen Throne eingesetzt werden. Wer immer auf dem Sedos-Thron sitzt, kann die Welt vernichten. Virgenya Dare hat den Sedos-Thron gefunden, hat ihn dazu benutzt, Euer Volk und das meine zu befreien, und hat dann seiner entsagt, aus Angst, was er anrichten könnte. Seit zweitausend Jahren haben die Menschen vergeblich danach gesucht. Aber jetzt, wie eine Jahreszeit, die sich lange 496 ankündigt, wie eine langsam steigende Flut, wächst die Sedos-Macht, und der Thron wird sich offenbaren. Wenn das geschieht, ist es wichtig, dass die richtige Person ihn erobert.« »Aber warum ich?«, wollte Anne wissen. »Der Thron steht nicht einfach jedem offen«, erklärte Mutter Uun. »Und von den möglichen Anwärtern halten die Glaubenden Euch für die beste Möglichkeit, die Welt zu erhalten.« »Und der Dornenkönig?« »Wer weiß, wonach er streben mag? Aber ich würde denken, seine Absicht ist, denjenigen zu vernichten, der den Thron innehat, bevor die Sedos-Macht ihn vernichten kann, und alles, was er verkörpert.« »Und was ist das?« Mutter Uun zog eine Braue hoch. »Geburt und Tod. Keimen und Vergehen. Leben.« Anne stellte ihre Tasse ab. »Und woher wisst Ihr das alles, Mutter Uun? Woher wisst Ihr so viel über die Skasloi?« »Weil ich einer seiner Bewahrer bin. Und zusammen mit ihm gibt mein Clan das Wissen über ihn weiter, von einer Generation zur nächsten.« »Aber was ist, wenn nichts davon wahr ist? Was ist, wenn das alles Lügen sind?« »Nun, dann weiß ich nur sehr, sehr wenig«, erwiderte die Sefry. »Ihr müsst selbst entscheiden, was wahr ist. Ich kann Euch nur sagen, was ich glaube. Der Rest liegt bei Euch.« Anne nickte nachdenklich. »Und der Crepling-Gang? Es gibt einen Eingang hier in diesem Haus, nicht wahr?«
»In der Tat. Ich kann ihn Euch zeigen, wenn Ihr bereit seid.« »Ich bin noch nicht darauf vorbereitet«, wehrte Anne ab. »Aber bald. Ihr scheint sehr hilfreich, Mutter Uun.« »Gibt es sonst noch etwas, Euer Majestät?« »Männliche Sefry können sich an die Tunnel erinnern, nicht wahr?« »Ja. Unsere Rasse ist anders.« 497 »Gibt es Sefry-Krieger hier im Hof der Gobelins?« »Das kommt darauf an, was Ihr meint. Alle Sefry - männlich und weiblich - werden in den Künsten des Krieges unterwiesen. Viele, die hier leben, wandern weit in der Welt herum, und viele haben Kämpfe erlebt.« »Dann -« Mutter Uun hob abwehrend die Hand. »Die Sefry vom Hof der Gobelins werden Euch nicht helfen. Indem ich Euch den Gang zeige, erfülle ich die einzige Verpflichtung, die wir haben.« »Vielleicht solltet Ihr es nicht unter dem Gesichtspunkt der Verpflichtungen betrachten«, sagte Anne, »sondern unter dem der Belohnungen.« »Wir suchen uns unseren Weg in der Welt selbst, wir Sefry«, antwortete Mutter Uun. »Ich verlange nicht, dass Ihr uns versteht.« »Nun denn«, sagte Anne. Aber ich werde mich daran erinnern, wenn ich erst auf dem Thron sitze. Sie erhob sich. »Ich danke Euch für den Tee, Mutter Uun - und für das Gespräch.« »Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte die Sefry-Frau. »Ich komme bald wieder.« »Wann immer Ihr wünscht.« »Du hast gesagt, du erzählst mir, was hier los ist«, erinnerte Austra sie, als sie wieder ins Sonnenlicht traten. Sie schirmten die Augen gegen die grelle Helligkeit ab. Irgendetwas schien am anderen Ende des Platzes vorzugehen, doch Anne konnte nicht erkennen, was es war. Eine kleine Schar Männer löste sich von den anderen und kam auf sie zu. »Ich habe Träume«, sagte Anne. »Das weißt du ja.« »Ja. Und deine Träume haben dir das von diesem Crepling-Gang verraten?« »Ich habe alle Gänge gesehen«, erklärte Anne. »Ich habe eine Karte in meinem Kopf.« 498 »Das ist ja wirklich praktisch«, erwiderte Austra. »Wer hat dir diese Karte gezeigt?« »Wie meinst du das?« »Du hast doch gesagt, du hättest eine Vision gehabt. Waren es wieder die Glaubenden? Waren sie es, die dir von den Tunneln erzählt haben?« »Es sind nicht immer die Glaubenden«, entgegnete Anne. »Eigentlich sind sie eher verwirrend als hilfreich. Nein, manchmal weiß ich Sachen einfach.« »Dann hat also niemand mit dir gesprochen?«, fragte Austra. Ihre Stimme klang zweifelnd. »Was weißt du darüber?« Anne versuchte, ein plötzliches Aufwallen von Zorn zu unterdrücken. »Ich glaube, ich war dabei, das ist alles«, antwortete Austra. »Du hast im Schlaf geredet, und es schien, als ob du mit jemandem sprichst. Und du bist schreiend aufgewacht, weißt du noch?« »Ich weiß es noch. Ich weiß auch noch, dass ich dir gesagt habe, du sollst mich nicht so unverfroren ausfragen.« Austras Gesicht versteinerte. »Um Vergebung, Euer Majestät, aber das habt Ihr nicht gesagt. Ihr habt gesagt, es stünde mir frei, Euch Fragen zu stellen und unter vier Augen meine Einwände vorzubringen, dass ich mich aber, wenn Ihr über etwas entschieden hättet, dieser Entscheidung beugen müsste.« Jäh wurde Anne klar, dass Austra bebte und den Tränen nahe war. Sie ergriff die Hand ihrer Freundin. »Du hast Recht«, sagte sie. »Es tut mir Leid, Austra. Bitte versteh mich. Du bist nicht die Einzige, die unter Druck steht, weißt du.« »Ich weiß«, sagte Austra. »Und du hast auch Recht mit der Vision. Da war wirklich jemand in dem Traum, und er war es auch, der mir die Gänge gezeigt hat.« »Aber du hast doch gesagt, Männer können sie nicht sehen.« »Sefry-Männer können sie wahrnehmen und sich an sie erin499 nern«, wandte Anne ein. »Aber ich glaube nicht, dass das ein Sefry war. Und es war auch kein Mensch.« »Dann der Bewahrte? Der Scaos? Aber wie könntest du dieser Kreatur jemals trauen?« »Ich traue ihm ja auch nicht. Bestimmt will er als Gegenleistung für seine Hilfe freigelassen werden. Aber denk daran, was Mutter Uun gesagt hat - dass ich ihn beherrsche. Nein, er wird mir geben, was ich will, nicht umgekehrt.« »Ein echter Scaos«, murmelte Austra staunend. »Der die ganze Zeit direkt unter uns gehaust hat. Mir wird schon übel, wenn ich nur daran denke. Das ist, als ob man aufwacht und eine Schlange findet, die sich einem um die Füße gerollt hat.« »Wenn unsere Vorfahren ein solches Wesen am Leben erhalten haben, müssen sie ihre Gründe dafür gehabt haben«, erwiderte Anne.
Während sie sich unterhielten, waren fünf ihrer Handwerksmeister herangetreten und hatten einen Wall um sie gebildet. Sie bemerkte, dass auch Sir Leafton näher kam. »Was ist da am anderen Ende des Platzes los?«, wollte Anne wissen. »Ihr solltet Euch lieber einen sicheren Ort suchen, Majestät«, sagte Leafton. »Irgendetwas, das leicht verteidigt werden kann. Wir werden bereits angegriffen.« Teil IV Throne Die Sefry sind fast überall bekannt, mit Ausnahme der Inseln, denn sie fahren nicht gern übers Wasser. In der Geschichte jedoch sind sie seltsamerweise beinahe unsichtbar. Sie schlagen keine Schlachten; sie gründen keine Königreiche. Sie hinterlassen ihre Namen nicht auf irgendwelchen Dingen. Sie sind überall und nirgends. Man fragt sich, was sie im Schilde führen. aus der AMENA TIRSON von Presson Manteo Wenn du wissen willst, was ein Mann wirklich ist, so gib ihm eine Krone. Sprichwort aus den Bairghs 38. Kapitel Der Scharlatan Aspar hörte die Totenglocken, bevor er die Stadt Haemeth erblickte. Das Läuten hallte in langen, wunderschönen Klängen den Weißen Magierfluss entlang und veranlasste einen Schwärm Wasserhühner dazu, verstohlen die Flucht zu ergreifen. Der südliche Himmel war dunkel vor Rauch, doch der Wind blies in diese Richtung, daher konnte Aspar nicht riechen, was dort brannte. Sie ist eine Fremde. Würden sie für eine Fremde die Glocke läuten? Er wusste es nicht. Er wusste überhaupt nicht viel über die Sitten der nördlichen Midenlande. Er ließ Unhold antraben. Das mächtige Pferd war im Laufe des Ritts den Magierfluss hinunter stetig wieder zu Kräften gekommen, hatte Gerste und frühes Sumpfgras gefressen und war schon nach zwei Tagen fast wieder der Alte gewesen. Das gab Anlass zur Hoffnung, doch Aspar versuchte, sich von diesem gefährlichen Gemütszustand fern zu halten. Winna war viel kränker gewesen als Unhold, und keine Arznei konnte die Toten zurückbringen. Die Straße wand sich am tief gelegenen Rand des Flusstals entlang, und kurz darauf kam Haemeth schließlich in Sicht. Die Stadt lag auf dem nächsten Hügel und war von erstaunlicher Größe; sie war von Gehöften umgeben, die sich in die Ebene und entlang der Straße erstreckten. Jetzt konnte er den Ursprung der Trauerklänge sehen, einen schlanken Glockenturm aus weißem Stein, von schwarzem Schiefer gekrönt und so spitz, dass das ganze Gebäude mehr wie ein Speer aussah. Ein zweiter Turm, dicker und oben mit Zinnen versehen, stand 5°3 auf dem höchsten Punkt am anderen Ende der Stadt, und es hatte den Anschein, als wären die beiden Türme durch eine lange Steinmauer miteinander verbunden. Höchstwahrscheinlich verlief die Mauer um die ganze Stadt herum, doch da Aspar von unten hinaufblickte, war alles, was er sehen konnte, eine Hand voll Dächer, die über die Mauerkrone lugten. Der Rauch kam von mehreren gewaltigen Scheiterhaufen, die unten am Fluss errichtet worden waren, und jetzt, da der Wind ein wenig gedreht hatte, wusste er, was sie dort verbrannten. Er trieb Unhold zum Galopp an. Mehr als nur ein paar Köpfe drehten sich nach Aspar um, als Unhold ihn auf die Menge zutrug, doch er achtete nicht auf die Rufe, die forderten, dass er sich zu erkennen geben solle; stattdessen schwang er sich vom Pferd und schritt auf das Feuer zu. Es war schwer, die Leichen zu zählen, aufgestapelt, wie sie waren, doch er schätzte, dass es über fünfzig waren. Zwei der Feuer waren bereits so heiß, dass weiße Gebeine angefangen hatten zu knacken und in die Glut zu fallen, doch im dritten konnte er noch Gesichter erkennen, auf denen sich Blasen bildeten. Sein Herz war schwer, als er nach Winnas liebreizenden Zügen suchte; Rauch brannte ihm in den Augen. Die Hitze zwang ihn zurückzutreten. »He«, brüllte ein stämmiger Bursche. »Passt doch auf. Was macht Ihr denn?« Aspar drehte sich zu ihm um. »Wie sind diese Menschen ums Leben gekommen?«, wollte er wissen. »Sie sind umgekommen, weil die Heiligen uns hassen«, antwortete der Mann zornig. »Und ich will wissen, wer Ihr seid.« Ungefähr sechs Männer hatten sich hinter dem Sprecher versammelt. Ein paar von ihnen hatten Mistgabeln oder lange Stangen in den Händen, mit denen sie die Feuer geschürt hatten, doch abgesehen davon schienen sie unbewaffnet zu sein. Sie sahen aus wie Kaufleute und Bauern. 504 »Ich bin Aspar White«, knurrte er. »Der Waldhüter des Königs.« »Waldhüter? Der einzige Wald im Umkreis von sechs Tagesritten ist der Sarnwald, und da gibt's keinen Waldhüter.« »Ich bin Waldhüter im Königswald«, ließ Aspar den Burschen wissen. »Ich bin auf der Suche nach zwei Fremden - eine junge Frau mit blondem Haar und ein dunkelhaariger junger Mann. Sie müssten zusammen mit zwei Kuhhirten hier eingetroffen sein.«
»Wir haben nicht viel Zeit, nach Fremden Ausschau zu halten«, erwiderte der Mann. »Anscheinend ist Trauer alles, wofür wir dieser Tage Zeit haben. Und nach allem, was ich weiß, bringt Ihr uns vielleicht noch mehr davon.« »Ich will Euch nichts zuleide tun«, erwiderte Aspar. »Ich will nur meine Freunde finden.« »Dann arbeitet Ihr also für den König?«, fragte ein zweiter Mann. Aspar warf ihm aus dem Augenwinkel einen Blick zu; er wollte den bedrohlicheren stämmigen Kerl nicht ganz aus den Augen lassen. Der neue Sprecher war sonnenverbrannt, mit kurz geschorenem, halb grauem und halb schwarzem Haar. Oben rechts fehlte ihm ein Zahn. »Nach dem, was ich gehört habe, gibt's keinen König mehr.« »Stimmt, aber es gibt eine Königin«, entgegnete Aspar. »Und ich bin ihr Stellvertreter, bevollmächtigt, ihre Gesetze durchzusetzen.« »Eine Königin, wie?«, sagte der zweite Mann. »Na ja, wir könnten's brauchen, dass man bei ihr ein gutes Wort für uns einlegt. Ihr seht ja, was hier mit uns geschieht.« »Die in Eslen scheren sich nicht darum, was aus uns wird«, fuhr der erste Mann auf. »Ihr seid alle Narren. Sie haben diesen Mann nicht hergeschickt, um uns zu helfen. Der ist nur wegen seiner Freunde hier, genau wie er gesagt hat. Und soweit es ihn betrifft, kann der Rest von uns verrotten.« »Wie heißt Ihr?«, erkundigte sich Aspar mit leiserer Stimme. 505 »Raud Achenson, falls Euch das irgendetwas angeht.« »Dann habt Ihr wohl auch jemanden auf den Scheiterhaufen da gelegt.« »Verdammt richtig. Mein Weib. Meinen Vater. Meinen Jüngsten.« »Also seid Ihr wütend. Ihr würdet gern jemandem die Schuld geben. Aber ich habe sie nicht dorthin gebracht, versteht Ihr? Und Grim ist mein Zeuge, ich lege Euch dazu, wenn Ihr noch ein Wort von Euch gebt.« Raud lief dunkelrot an, und seine Schultern spannten sich. »Wir stehen dir bei, Raud«, sagte ein Bursche hinter ihm. Das ließ den stämmigen Mann losschnellen wie von einem Katapult, und er stürzte sich auf Aspar. Der Waldhüter versetzte ihm einen harten Faustschlag gegen die Kehle, und Raud ging zu Boden. Ohne innezuhalten, sprang Aspar vor und bekam den Mann zu fassen, der seinen Gegner angefeuert hatte. Er packte ihn an den Haaren, riss seinen Dolch heraus und setzte dem Mann die Spitze unters Kinn. »Also, warum versucht Ihr, Euren Freund umzubringen?«, fragte er. »Hab doch gar nicht ... tut mir Leid ...«, keuchte der Mann. »Bitte ...« Aspar ließ ihn mit einem heftigen Stoß los, der ihn der Länge nach hinschlagen ließ. Raud lag am Boden, japste nach Luft und bekam nur wenig - doch Aspar hatte ihm nicht die Luftröhre zerquetscht. Der Waldhüter bedachte den Rest der Menge mit einem harten Blick, bemerkte jedoch niemanden, der aussah, als würde er es darauf ankommen lassen wollen. »Also«, verlangte er zu wissen, »was ist hier passiert}« Der Mann mit dem schwarzgrauen Haar betrachtete seine Füße. »Ihr werdet es nicht glauben«, sagte er. »Ich hab's selbst gesehen, und ich glaub's nicht.« »Ich denke, ich werde es trotzdem versuchen.« 506 »Es war so etwas wie eine Schlange, aber so groß - es hat stromaufwärts den Fluss überquert. Wir glauben, dass das Biest das Wasser vergiftet hat. Der Grefft hat ihm seine Ritter hinterhergeschickt, aber es hat die meisten von ihnen getötet.« »Ich habe es auch gesehen«, sagte Aspar. »Also fällt es mir nicht schwer, Euch zu glauben. Jetzt frage ich Euch noch einmal, und diesmal will ich eine Antwort hören. Zwei Fremde, ein Mann und eine Frau, die Frau mit weizenfarbenem Haar. Sie müssten mit zwei Kindern gekommen sein, Kuhhirten namens Aethlaud und Aoshli. Wo finde ich sie?« Eine Frau in mittleren Jahren räusperte sich. »Vielleicht sind sie im Haken und Köder«, sagte sie unsicher. »Ihr da!« Der Ruf kam vom Hügel, und als Aspar sich umdrehte, sah er einen Mann aus dem Stadttor zu ihnen herunterreiten. Er trug eine Herrenrüstung und saß auf einem schwarzen Hengst mit weißer Blesse. »Ja?«, antwortete der Waldhüter. »Ihr seid Aspar White?« »Ja.« »Dann solltet Ihr mit mir reden.« Der Mann streckte die Hand nach unten und ergriff Aspars Rechte; dann stellte er sich als Sir Peren vor, in Diensten des Grefft von Faurstream, der seinen Sitz in Haemeth hatte. Der Waldhüter bestieg Unhold, und gemeinsam ritten sie den Hügel hinauf. »Eure Freunde haben von Euch gesprochen«, sagte Peren. »Winna und Ehawk.« »Ihr kennt sie? Wo sind sie?« »Ich will Euch nicht anlügen«, antwortete Peren. »Ich habe sie heute Morgen zum letzten Mal gesehen. Sie lagen im Sterben. Vielleicht sind sie jetzt schon tot.«
»Bringt mich zu ihnen.« Aspar wusste, dass seine Stimme schroff klang; er konnte nichts dagegen tun. 507 Peren warf ihm einen Blick zu. »Dann habt Ihr es also gefunden?«, fragte er. »Das Heilmittel?« Aspar schaute den Hügel hinab, betrachtete die Scheiterhaufen. Eine ganze Stadt, die vom Gift des Woorms verseucht war, und er mit einer Tasche voller Früchte. »Ist der Grefft erkrankt?«, erkundigte er sich, anstatt geradeheraus zu antworten. »Nein, aber sein Sohn hat uns gegen den Waurm angeführt«, erwiderte Sir Peren. »Auch er liegt auf dem Totenbett.« Der Mann wirkte nervös, dachte Aspar bei sich. Mit einem tiefen Atemzug lockerte der Waldhüter seine Schultern. Sie hatten auf ihn gewartet - entweder Ehawk oder Winna hatte erzählt, dass er aufgebrochen sei, um ein Gegengift zu finden, und das hatte sich herumgesprochen. War er ein Gefangener? Allmählich fühlte es sich so an. Wahrscheinlich könnte er Peren töten und entkommen, doch das hieß, dass Winna und Ehawk mit Sicherheit sterben würden - wenn sie nicht schon tot waren. »Ich werde nach meinen Freunden sehen«, sagte er. »Dann kümmern wir uns um den Grefftsohn.« Als sie den Turm erreichten, hatten sich Peren zwei weitere bewaffnete Männer angeschlossen, um ihn zu eskortieren. Als sie die äußere Festungsmauer passierten, nahm ein Bediensteter ihm Unhold ab, seinen einzigen Verbündeten, und als sie auf den Hof kamen und schließlich vor den Grefft traten, folgten ihm sieben Wachen. Die Grefftschaft von Faurstream war kein großes, wohlhabendes Lehen, und der Audienzsaal spiegelte diese Tatsache in seiner Bescheidenheit wider. Ein uralter Thron aus Eichenholz stand auf einem kleinen Steinpodest; auf einem Banner dahinter war ein Falke abgebildet, der ein Zepter und einen Pfeil in den Klauen hielt. Auch der Mann auf dem Thron war alt, mit einem silbernen Bart, der fast auf seinem Schoß lag, und grauen Triefaugen. 508 Peren sank auf ein Knie nieder. »Grefft Ensil«, verkündete er, »dies ist Aspar White, der Waldhüter des Königs.« Der Greis zitterte, als er den Kopf hob, um den Besucher zu betrachten. Einen langen, vergeudeten Augenblick starrte er Aspar an. »Ich dachte, ich würde nie einen Sohn haben«, sagte er schließlich. »Die Heiligen schienen es mir zu verwehren. Fast hatte ich mich schon damit abgefunden, und dann - als ich sechzig war -wirkten die Heiligen ein Wunder und schenkten mir Emfrith. Emfrith, meinen wunderbaren Knaben.« Mit flammenden Augen beugte er sich vor. »Könnt Ihr das verstehen, Waldhüter? Habt Ihr Kinder?« »Nein«, antwortete Aspar. »Nein«, wiederholte Ensil. »Dann könnt Ihr es nicht verstehen.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Vor drei Tagen ist er ausgeritten, um ein Ungetüm zur Strecke zu bringen, von dem ich geglaubt habe, so etwas gäbe es nur in den Legenden. Er zog aus wie ein Held, und er ist auch wie einer gefallen. Er stirbt. Könnt Ihr ihn retten?« »Ich bin kein Wundarzt, Mylord«, sagte Aspar. »Verspottet mich nicht«, fuhr der Greis ihn schrill an. »Das Mädchen hat es uns erzählt. Ihr seid in den Sarnwald geritten, um nach dem Heilmittel für dieses Gift zu suchen. Habt Ihr die Arznei gefunden?« »Lebt sie noch?«, fragte Aspar. Die Männer um Ensil herum machten plötzlich unbehagliche Gesichter. »Lebt sie noch?«, wiederholte Aspar lauter. Ensil schüttelte den Kopf. »Sie ist gestorben«, verkündete er. »Der junge Bursche auch. Wir konnten nichts tun.« Und plötzlich roch Aspar Herbstlaub, und er wusste, dass Mord in der Nähe lauerte - doch ob dieser Mord bereits geschehen oder erst im Anzug war, wusste er nicht. Die Kehle wurde ihm eng, und seine Augen brannten, doch er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und ließ seine Miene zu Stein werden. 509 »Dann will ich ihre Leichen sehen«, sagte er. »Ich will sie sofort sehen.« Ensil seufzte und winkte mit der Hand. »Durchsucht ihn.« Aspar ließ die Hand zum Dolch sinken. »Hört gut zu, Grefft Ensil. Merkt Euch meine Worte. Ich habe das Heilmittel für Euren Sohn, aber es ist kein einfacher Trank oder so etwas. Es muss auf eine ganz besondere Weise verabreicht werden, sonst besteht die Wirkung in einem Gift, das ihn nur noch schneller umbringt. Und hier ist noch etwas: Wenn Winna Prentiss wirklich schon tot ist - aus welchen Gründen auch immer -, dann werde ich Euch nicht helfen. Wenn Ihr versucht, mich zu zwingen, werde ich mich zur Wehr setzen und wahrscheinlich sterben, und ich schwöre Euch, genauso wird es Eurem Sohn ergehen. Versteht Ihr? Also, ich denke, Ihr behauptet, meine Freunde wären tot, weil Ihr fürchtet, dass ich nur genug Gegengift für einen oder zwei dabeihabe. Das Problem dabei ist, wenn sie gar nicht tot sind, werdet Ihr sie bald töten, damit ich nicht erfahre, dass ich hinters Licht geführt worden bin. Aber ich weiß es bereits, und ich habe genug Arznei für alle drei. Das Einzige, was Euren Sohn retten wird, ist, dass dieses Mädchen noch atmet. Und deshalb will ich sie sehen, tot oder lebendig, sprootlic. Sofort!« Einen weiteren ausgedehnten Moment lang starrte Ensil ihn an, während Aspar gegen seine Zweifel ankämpfte. Hatte er richtig geraten? Oder war sie wirklich tot? Letzteres konnte er nicht glauben, also musste er Ersteres glauben, selbst wenn es sein Tod war. »Bringt ihn hin«, murmelte Ensil.
Aspar spannte sich kampfbereit, doch dann sah er, wie sich der Kammerdiener verbeugte und nach links deutete. »Hier entlang«, sagte der Mann. Aspar weinte nicht oft, doch als Winnas schwacher Atem sich als Nebel auf dem polierten Stahl seiner Dolchklinge niederschlug, drang ein einzelner salziger Tropfen aus jedem seiner Augenwinkel. 510 Sie befanden sich in einem behelfsmäßigen Krankengemach, das früher eine Kapelle gewesen war. Ehawk lag auch hier, bewusstlos, doch er atmete ein wenig besser, und außerdem zwanzig andere, von denen viele noch wach genug waren, um zu jammern und zu stöhnen. Aspar holte die Beeren aus seinem Beutel und wollte gerade anfangen, sie Winna in den Mund zu stecken, als er innehielt. Er hatte Recht gehabt, was die Absichten des Grefft betraf. Vielleicht würde er Winna ein paar Beeren verabreichen können, doch sobald sie begriffen, dass er hinsichtlich der Kompliziertheit der Heilung gelogen hatte, würden sie ihm wahrscheinlich den ganzen Beutel abnehmen. »Wo ist der Grefftsohn?«, wollte Aspar wissen. »Das hier sollte besser auf einen Schlag getan werden.« »Er ist in seinen eigenen Gemächern.« »Dann schafft ihn herbei, und zwar schnell.« Dann kniete er wieder nieder und streichelte Winnas Gesicht. Sein Herz machte seltsame Bewegungen in seinem Brustkorb. »Durchhalten, Mädchen«, murmelte er. »Nur noch ein paar Augenblicke.« Er berührte ihren Hals, konnte dort jedoch nur das allerschwächste Pulsieren fühlen. Wenn sie während der Zeit starb, die sie brauchten, um diesen anderen Burschen hier herunterzuschaffen ... »Ich muss unbeobachtet arbeiten«, teilte er den restlichen Männern mit. »Wir müssen eine Art behelfsmäßiges Zelt um ihre Betten herum errichten.« »Wieso?«, wollte der Kammerdiener wissen. Aspar heftete den Blick fest auf den Mann. »Ihr habt doch von der Sarnwaldhexe gehört, oder? Ihr wisst, wie viele vor sie hintreten und am Leben bleiben? Und doch habe ich genau das getan, und sie hat mir eins ihrer Geheimnisse zum Geschenk gemacht. Aber ich war gezwungen, einen geos zu schwören, dass keine anderen Augen außer den meinen Zeuge dieser Heilung sein wür511 den. Jetzt tut, was ich sage, und tut es sprootlicl Und bringt auch ein wenig Wein und ein kleines weißes Tuch.« Der Kammerdiener sah aus, als hätte er Zweifel, doch er schickte Bedienstete aus, um die Dinge zu holen, die Aspar verlangt hatte. Kurz darauf trugen ein paar Männer eine Bahre ins Zimmer, auf der ein junger Mann von vielleicht neunzehn Wintern lag. Seine Lippen waren blau, und er sah ungemein tot aus. »Sceat«, brummte Aspar leise. Wenn der Grefftsohn tot war, würde er hier nicht lebend herauskommen, und Winna oder Ehawk ebenso wenig. Doch dann hustete der Junge, und Aspar begriff, dass die blaue Farbe größtenteils von einer Art Paste herrührte, mit der man ihn bestrichen hatte. Höchstwahrscheinlich irgendein hiesiger Behandlungsversuch. Mit Stangen und Laken errichteten die Männer des Grefft rasch ein Zelt um die drei Kranken und stellten ein kleines Kohlenbecken hinein, zusammen mit dem Wein. Sobald sich das Laken geschlossen hatte, begann Aspar in dem Sefry-Singsang seiner Kindheit vor sich hin zu brabbeln, so wie Jesp es getan hatte, wenn sie vorgab, Magie zu wirken. Er war verblüfft, wie leicht es ihm fiel, wenn man bedachte, wie viele Meilen er zwischen sich und all das hatte legen wollen. Normalerweise hing sein Überleben von seinen sechs Sinnen, seinem Verstand und seinen Waffen ab. Heute kam es darauf an, wie gut er sich daran erinnerte, wie man den Scharlatan mimte. Abwechselnd singend und murmelnd, zerquetschte er ein paar Beeren und schob Winna fünf davon, so sanft er konnte, in den Schlund, gefolgt von ein wenig Wein, dann hielt er ihr den Mund zu, bis sie schwach schluckte. Danach ging er zu Ehawk hinüber und tat das Gleiche. Die Augenlider des Grefftsohns öffneten sich flatternd, als er sich anschickte, die Prozedur bei ihm zu wiederholen. »Schlucken«, befahl Aspar. Mit verwirrter Miene tat der Junge wie geheißen. 512 Aspar hob die Stimme und beendete den Gesang. Er ging wieder zu Winna zurück, die - wie er mit bleiernem Herzen feststellte - völlig unverändert aussah. Er verabreichte ihr noch zwei Beeren, dann schlug er die Zeltklappe auf. Der Grefft war in einer Art Lehnstuhl hereingetragen worden; er saß da und betrachtete ihn mit zweifelnden Augen. »Nun?«, knurrte er. »Jetzt warten wir ab«, sagte Aspar wahrheitsgemäß. »Wenn er stirbt, sterbt Ihr auch.« Aspar zuckte die Achseln und ließ sich neben Winna auf einem Schemel nieder. Er warf Grefft Ensil einen kurzen Blick zu. »Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, der einem teuer ist«, sagte er. »Ich weiß, wie es ist, von diesem Verlust bedroht zu sein. Und ich würde wohl einen Fremden sterben lassen, wenn ich damit
jemanden retten könnte, den ich liebe. Ich mache Euch keine Vorwürfe wegen Eurer Gefühle oder wegen der Lüge. Aber Ihr hättet mir vielleicht gute Absichten unterstellen können.« Die Miene des alten Mannes wurde ein wenig weicher. »Ihr versteht das nicht«, sagte er. »Ihr seid zu grün an Jahren, um das zu verstehen. Ehre und Tapferkeit sind etwas für die Jungen. Sie haben die Natur dafür ... aber keinen Verstand, überhaupt keinen Verstand.« Aspar bedachte dies einen Augenblick. »Ich will nicht behaupten, dass ich sehr viel von Ehre verstehe«, sagte er schließlich. »Schon gar nicht nach dem Mummenschanz, den ich gerade aufgeführt habe.« »Wie meint Ihr das?«, fragte Ensil. Aspar holte die restlichen Sarnwaldfrüchte hervor. »Ich bin das alles leid«, verkündete er. »Ich habe Eurem Jungen und meinen Freunden mehr davon gegeben, als laut der Hexe nötig wäre, um sie zu heilen. Ich habe sie selbst probiert, daher weiß ich, dass sie nicht giftig sind. Meinem Pferd haben sie auch geholfen. Drei Beeren pro Nase, so viel soll man verabreichen.« Er griff in den Beutel und nahm ein paar Früchte heraus. »Die hier behalte ich, denn wenn das hier vorbei ist, werde ich den Woorm suchen und ihn tö513 ten, und vielleicht brauche ich sie noch. Aber da sind noch reichlich mehr drin. Verteilt sie so, wie Ihr es für richtig haltet.« »Aber das Gemurmel? Der Gesang? Der Wein?« Aspar zählte an den Fingern ab. »Täuschung, Betrug, und ich hatte Durst. Aber die Beeren sind echt.« Er warf dem Kammerdiener den Beutel zu, der ihn auffing, als wären rohe Eier darin. »Also«, fuhr er fort, »ich bin ein paar Tage ohne Schlaf geritten. Ich werde versuchen, ein Nickerchen zu machen. Wenn Ihr Ehrenmänner mir die Kehle durchschneiden wollt, während ich beim heiligen Soan weile, versucht, dabei keinen Lärm zu machen.« Finger auf seinem Gesicht streichelten ihn sehr viel zärtlicher wach, als es der Kuss einer Klinge getan hätte. Zuerst fürchtete er, es sei nur ein Traum, dass Winnas halb geöffnete Augen ihn nicht wirklich von der anderen Seite der Pritsche her ansahen. Doch nachdem er sich umgeschaut und seine Lage erfasst hatte, gelang es ihm, sich selbst zu überzeugen. Winnas Hand fiel schlaff herunter. »Schwach«, flüsterte sie. Dann fanden ihre Augen an ihm Halt. »Schön, dass du es dir anders überlegt hast«, wisperte sie. »Schön, dich noch ein letztes Mal zu sehen.« Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln. »Ich habe es mir nicht anders überlegt«, sagte er. »Ich habe die Hexe gefunden. Sie hat mir gegeben, worum ich gebeten habe.« »Nein.« »Doch.« Sie schloss die Augen und holte ein paar Mal keuchend Atem. »Ich fühle mich gar nicht gut, Aspar.« »Es geht dir besser als vorher«, versicherte er ihr. »Du warst dicht vor dem Tor des heiligen Dun, als ich hier angekommen bin.« Er nahm ihre Hand in die seine. »Wie in Grims Namen bist du denn im Schloss gelandet?« »Oh. Das Mädchen, Hauda, sie hat irgendjemandem davon erzählt. Sie sind gekommen und haben uns geholt, habe viele Fragen 5J4 über dich gestellt.« Abermals schloss sie die Augen. »Ich habe ihnen gesagt, wenn du kämst, würdest du die Arznei nicht haben. Ich hätte nicht gedacht, dass du es schaffen würdest. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich wiedersehen würde.« »Nun, hier bin ich, mitsamt dem Heilmittel.« »Ehawk?« Er schaute zu dem Jungen hinüber. Ehawk schlief, doch sein Gesicht schien nicht mehr ganz so bleich zu sein. Auch der Grefft schlummerte, bewacht von vier Rittern, doch zu seiner Überraschung stellte Aspar fest, dass der Grefftsohn sie ansah. »Was ist los?«, brachte der junge Mann heraus. »Was geht hier vor?« »Es heißt, Ihr hättet versucht, gegen einen Waurm zu kämpfen«, sagte Aspar. »Auy«, erwiderte der Jüngling. »Das stimmt, und dann ...« Grübelnd verzog er das Gesicht. »Danach erinnere ich mich nicht mehr an viel.« »Emfrith! Mein geliebter Junge!« Die Wachen hatten ihren Herrn wachgerüttelt und halfen dem gebrechlichen alten Mann jetzt zur Pritsche seines Sohnes hinüber. »Atta!«, erwiderte Emfrith. Aspar sah zu, wie sich die beiden umarmten. »Wie fühlst du dich?«, fragte der Grefft. »Schwach. Krank.« »Du warst nicht bei Sinnen, hast nicht einmal deinen eigenen Vater erkannt.« Kurz darauf richtete der Grefft sich auf und wandte sich an Aspar. Seine Augen waren tränennass. »Ich bedaure ...« Er stockte, als mühe er sich unter einer schweren Last einen Berg hinauf. »Ich bedaure die Behandlung, die ich Euch habe zuteil werden lassen, Meister Waldhüter. Ich werde Euch das hier nicht vergessen. Wenn Ihr von hier fortgeht, werdet Ihr alles haben, was ich geben kann, um Euch auf Eurem weiteren Weg zu helfen.«
515 »Danke«, erwiderte Aspar. »Verpflegung und ein paar Pfeile, das wäre genug. Aber ich brauche sie bald.« »Wie bald?« »Gegen Mittag, wenn es Euch beliebt, Grefft. Ich muss einen Woorm zur Strecke bringen, und ich habe es eilig damit.« Winnas Hand kehrte zu der seinen zurück und griff danach. »Verstehst du das?«, fragte er sie. »Ich würde bei dir bleiben oder warten, bis du wieder reiten kannst -« »Nein«, wehrte sie ab. »Das würde zu lange dauern.« »Braves Mädchen.« Er beugte sich herab, um sie zu küssen, und bemerkte, dass sie weinte. »Wir werden nicht zusammen alt werden, nicht wahr, Aspar?«, flüsterte sie. »Wir werden keine Kinder haben, oder einen Garten, oder irgend so etwas.« »Nein«, sagte er leise. »Ich glaube nicht.« »Aber du liebst mich?« Er wich ein wenig zurück und wollte lügen, doch er konnte nicht. »Ja«, antwortete er. »Mehr, als Worte sagen können.« »Dann versuch, dich lieber später umbringen zu lassen als früher«, erwiderte sie. Einen Glockenschlag später schlief sie abermals, doch ihr Gesicht hatte wieder Farbe. Der Grefftsohn konnte sich sogar schon aufsetzen, und Ensil hatte Wort gehalten und ihm zwei Maultiere gegeben, die mit Proviant und Kleidung für die Berge beladen waren. Als die Sonne einen Glockenschlag im Nachmittag stand, verdunkelten die Scheiterhaufen von Haemeth den Himmel hinter ihm. 516 39. Kapitel Auf Ziegenrücken BEMERKUNGEN ÜBER DEN VIRGENYANISCHEN SCHWACHKOPF In den meisten Breiten eher ungewöhnlich, ist diese absonderliche Kreatur an abgelegenen Nistplätzen anzutreffen - in selten genutzten Stuben, kleinen Gartennischen und den entlegensten Winkeln von Klöstern und Scriftorien. Gestellt, oder auch nur bemerkt, zieht sie sich für gewöhnlich in Festungen zurück, die ausschließlich in ihrer Fantasie existieren. Sie lebt von Abgeschiedenheit. Auffällig unter den anderen Tieren, die zu eindeutigen Paarungsritualen neigen, nimmt der virgenyanische mindere Schwachkopf eine Reihe merkwürdiger, verkrampfter Stellungen ein, welche, weit entfernt davon, die Fortpflanzung seiner Rasse zu fördern, ihn dem Aussterben noch rascher entgegentreiben. Seine Merkmale ... Stephen«, fragte Pale. »Bist du da?« »Ja«, antwortete er. »Entschuldigung.« »Deine Augen waren ganz glasig geworden, und hier geht es steil hinunter. Soll ich wieder deine Hand nehmen?« »Ah ... nein, danke. Ich glaube, ich komme zurecht.« Er konzentrierte sich jetzt auf den schmalen Weg. Vorhin war eine Wolke vorbeigezogen und hatte sie eingehüllt, eine eigentümliche Erfahrung für einen Jungen aus dem Flachland. Nun stiegen sie aus der Wolke heraus in ein kleines Hochtal hinunter. 5i7 Schafpferche von ungefähr rechteckiger Form kamen in Sicht, aus angehäuften Steinen erbaut. Sie zeugten vom hiesigen Broterwerb, genau wie die Schafe selbst. Ein schiefer Rauchfaden stieg von der einzigen offenkundig menschlichen Behausung auf, einer mit Grassoden gedeckten Hütte mit ein paar kleineren Schuppen. »Was ist das denn für ein Geruch?« Stephen rümpfte die Nase. »Oh, daran solltest du dich lieber gewöhnen«, sagte sie. Der Schafhirte war ein junger Mann mit schwarzem Haar, dunklen Augen und langen, schlanken Gliedmaßen. Er begrüßte Stephen mit unverhohlenem Argwohn und Schwester Pale mit großer Freude, umarmte sie heftig und küsste sie auf die Wange, was Stephen, wie er feststellte, überhaupt nicht gefiel. Es gefiel ihm sogar noch weniger, als sie anfingen, sich in einer Sprache zu unterhalten, die ihm vollkommen fremd war. Es war nicht das gebrochene Almanisch, das er in Demsted gehört hatte, und wahrscheinlich auch keine damit verwandte Mundart. Er hielt es für einen vhilatautischen Dialekt, doch mit diesen hatte er nur in Schriftform Erfahrung, und dieser hier war ganz anders als die jahrtausendealten Sprachen, die er studiert hatte. Zum ersten Mal verdross die Begegnung mit einer fremden Mundart ihn mehr, als dass sie ihn neugierig gemacht hätte. Worüber redeten die beiden? Warum lachte sie? Und was war das für ein sonderbarer, möglicherweise verächtlicher Blick, den ihm der Bursche da zuwarf? Nachdem dies scheinbar viel zu lange angedauert hatte, streckte der junge Mann Stephen schließlich die Hand hin. »Ich bin Pernho«, sagte er. »Ich helfen dir und Zemle. Kann auf mich zählen. Äh - du wollen wohin?« Stephen schielte zu Pale hinüber - oder Zemle? In ihrer Eile zu entkommen, war dies eine Frage gewesen, über die sie niemals gesprochen hatten. Er versuchte, seinem Gesicht nichts anmerken zu lassen, doch offensichtlich war er in so etwas nicht besonders gut, denn sie bemerkte sein Misstrauen sofort. 518
»Ich weiß, dass es im Norden liegt«, sagte sie. »Das weiß jeder. Aber jetzt müssen wir uns entscheiden Nordosten, Nordwesten oder was auch immer.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf Pernho. »Wenn du mir vertraust, musst du ihm auch vertrauen.« »Ja, das ist das Problem, nicht wahr?«, erwiderte Stephen. Schwester Pale zuckte mit den Schultern und hob ergeben die Hände. Stephen verdrehte die Augen. »Mir bleibt eindeutig nichts anderes übrig«, fuhr er fort. Mit Ehan und Henne hätte er vielleicht einen Weg über diesen Wirrwarr aus Bergen finden können, ohne sie schien das jedoch unmöglich. »Ich liebe zuversichtliche Männer«, bemerkte Schwester Pale trocken. »Also, wo wollen wir hin?« »Zu einem Berg«, erklärte Stephen. »Ich weiß nicht, wie er jetzt genannt wird. Vor zweitausend Jahren hieß er Velnoiraganas. Ich glaube, heute ist er vielleicht als esliefvendve bekannt, oder als Slivendy.« »Xal Slevendy«, überlegte Pernho laut. »Aber wir auch nennen Ranhan, >das Horn<. Das nicht so weit, wie Adler fliegt. Aber Weg ist ...« Er furchte die Stirn und machte eine Drehbewegung mit den Händen. »Nhredhe. Kein Pferde. Ihr braucht Kalboks.« »Kalboks?«, fragte Stephen. »Du hast dich doch nach dem Geruch erkundigt«, meinte Schwester Pale. »Gleich wirst du herausfinden, wo der herkommt.« Kalbok: So unwahrscheinlich wie ein Geschöpf aus einem Kinder-Tierbuch, scheint der Kalbok ein Verwandter des Schafs oder der Ziege zu sein. Er besitzt die gleichen waagrechten Pupillen und nach hinten gebogenen Hörner und ist von allgemein wolligem Äußeren. Allerdings hat er die Schulterhöhe eines kleinen Pferdes und ist auch ähnlich bemuskelt, wodurch eine seltsam klobige Erscheinung entsteht, die jedoch auf Beinen ruht, die im Vergleich recht dürftig wirken. 5i9 Die Bewohner der Bairghs ziehen Kalboks für Bergritte Pferden vor, was ihrer angeborenen Behändigkeit auf Felsen oder steilem Gelände geschuldet ist. Sie lassen sich satteln oder beladen, allerdings mit einer "Widerspenstigkeit und einem Unwillen, den selbst ein Maultier für übertrieben halten dürfte. Und sie haben noch eine weitere unverkennbare Eigenheit, der man sich nicht entziehen kann. Kalbok: ein wandelnder Gestank. »Ich habe noch nie von Menschen gehört, die auf Ziegen reiten«, brummte Stephen. »Ich könnte mir vorstellen, dass es viele Dinge gibt, von denen du noch nie gehört hast«, sagte Pale. »Ich muss mich gleich wieder übergeben«, warnte Stephen. »So schlimm riechen sie nun auch wieder nicht«, erwiderte Schwester Pale. »Ich weiß ja nicht, was für dich stinkt, aber ich möchte dem niemals begegnen«, sagte Stephen und kämpfte den Brechreiz nieder. »Wäscht dein Freund die Biester denn nie? Oder bürstet ihnen wenigstens mal die Maden aus dem Fell?« »Einen Kalbok waschen? Was für ein merkwürdiger Gedanke«, sann Schwester Pale. »Ich kann's kaum erwarten, was dir wohl als Nächstes einfällt, um das Leben von uns simplen Bergbewohnern schöner zu machen.« »Jetzt, wo du es erwähnst, ich hätte da ein paar Ideen, wie man eure Straßen verbessern könnte«, entgegnete Stephen. Tatsächlich rührte seine Übelkeit nur zur Hälfte von den Ausdünstungen des Kalbok her, der Rest wurde davon ausgelöst, dass das Tier über etwas schritt, das selbst Aspar White unmöglich als Straße hätte bezeichnen können. Es auch nur einen Pfad zu nennen wäre so gewesen, als verwechsle man eine Erdhütte mit einem Palast. Ihr Weg wand sich dicht an Schluchten entlang und steil zu Vorsprüngen hinauf, die anscheinend lediglich von den Wurzeln vereinzelter, halb toter Wacholderbüsche an ihrem Platz gehalten 520 wurden. Selbst die Hunde gaben bei jedem Schritt sorgfältig Acht, wo sie hintraten. »Nun«, erklärte Pale, »vergiss bloß nicht, Praifec Hespero deine Vorschläge zu unterbreiten, wenn wir ihn wieder sehen. Als Attish-Priester hat er in solchen Dingen einiges zu sagen.« »Das werde ich tun«, gab Stephen zurück. »Ich werde ihm mit ausführlichen Vorschlägen auf die Nerven gehen, während seine Männer uns an die Bäume nageln.« Jäh kam ihm ein beunruhigender Gedanke. »Dein Freund. Wenn Hespero uns folgt -« »Pernho wird nicht dort sein, wenn sie kommen. Mach dir seinetwegen keine Sorgen.« »Gut.« Er schloss die Augen und bereute es umgehend, denn davon wurde ihm nur noch schwindliger. Mit einem Seufzer öffnete er sie wieder. »Er hat dich irgendwie genannt«, sagte er. »Zemle.« »Zemle, ja. Das ist mein Geburtsname.« »Was heißt das?« »Das ist unser Name für die heilige Cer«, erklärte sie. »Und die Sprache, die ihr gesprochen habt?« »Wir nennen sie Xalma.« »Ich würde sie gern lernen.«
»Wieso? Sie ist nicht sehr verbreitet. Wenn du dich in den Bergen verständlich machen willst, solltest du lieber Meel lernen.« »Ich kann ja beides lernen«, schlug Stephen vor. »Wenn du mich unterrichtest. Das würde helfen, uns die Zeit zu vertreiben.« »Na schön. Was zuerst?« »Deine Sprache. Xalma.« »Aha. Dann weiß ich auch genau, womit wir anfangen.« Sie berührte ihr Brustbein mit der Hand. »Nhen«, verkündete sie. Dann zeigte sie auf ihn. »Wir. Ash esme nhen. Ju esh wir. Pernho est wir. Ju be Pernho este abe wire ...« Der Unterricht dauerte den Rest des Tages fort, während die Kalboks stetig höher klommen, zuerst durch felsige Wiesen und 521 dann, als sie die Schneegrenze erreichten, in einen düsteren, immergrünen Wald. Noch vor dem Abend war der Forst einer öden, eisverkrusteten Heidelandschaft gewichen, wo rein gar nichts wuchs, und Schwester Pales Worte drangen gedämpft durch ihren Schal. Stephens Paida und sein Wettermantel waren in Demsted zurückgeblieben, und er war dankbar für den knöchellangen gesteppten Mantel und das dicke Filzwams, die Pernho ihm gegeben hatte. Was die kegelförmige Mütze betraf, war er sich nicht so sicher - er hatte das Gefühl, damit ungemein albern auszusehen -, doch wenigstens hielt sie seine Ohren warm. Wolken hüllten sie während des größten Teils ihres Ritts ein, doch als die Sonne unterging, klärte sich die Luft, und Stephen bestaunte ehrfürchtig die Giganten aus Eis und Schnee, die allenthalben auf den Horizont zumarschierten. Er kam sich vor, als wäre er gleichzeitig winzig klein und riesengroß, und er war ungemein dankbar, am Leben zu sein. »Was ist denn los?«, fragte Pale und betrachtete sein Gesicht. Stephen verstand die Frage nicht, bis er bemerkte, dass er weinte. »Du bist wohl daran gewöhnt«, sagte er. »Ah«, erwiderte sie. »Daran gewöhnt, ja. Aber es verliert niemals seine Schönheit.« »Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie das möglich sein könnte.« »Schau mal dorthin.« Sie zeigte nach hinten. Nach einem Augenblick glaubte er, Bewegung zu erkennen, wie eine Kolonne schwarzer Ameisen auf weißem Grund. »Pferde?«, fragte er. »Hespero. Mit an die sechzig Reitern, würde ich sagen.« »Wird er uns einholen?« »Nicht in nächster Zeit. Er wird Halt machen müssen, wenn es Nacht wird, genau wie wir. Und mit Pferden ist er viel langsamer.« Sie versetzte ihm einen Klaps auf den Rücken. »Wo wir ge522 rade davon reden, wir sollten uns lieber einen Lagerplatz suchen. Heute Nacht wird es sehr, sehr kalt werden. Zum Glück weiß ich einen.« Der Lagerplatz, den sie meinte, erwies sich als eine Höhle, lauschig, trocken und sehr klein, als sie beide, ihre Hunde und die Kalboks erst einmal drinnen waren. Pale zauberte ein kleines Feuer hervor und wärmte etwas Pökelfleisch darauf, das Pernho ihnen gegeben hatte, und dazu tranken sie etwas, das sie Gerstenwein nannte und das ein wenig wie Bier schmeckte. Das Zeug war ziemlich stark, und viel war nicht nötig, bis Stephen ein wenig schwindlig war. Er stellte fest, dass er die Züge der Frau vor ihm eingehend studierte, und zu seiner Verlegenheit ertappte sie ihn dabei. »Ich ... äh, ich hätte dir das wohl schon längst sagen sollen«, stammelte Stephen. »Aber ich finde dich schön.« Ihre Miene veränderte sich nicht. »Wirklich?« »Ja.« »Ich bin die einzige Frau im Umkreis von fünfzig Meilen, und wir übernachten unbeaufsichtigt in einer Höhle. Stell dir nur vor, wie geschmeichelt ich mich fühle, wenn du mich mit Komplimenten überschüttest.« »Ich ... nein. Du verstehst nicht...« Er stockte und rieb sich die Stirn. »Schau, du denkst bestimmt, ich verstehe etwas von Frauen. Aber das tue ich nicht.« »Was du nicht sagst.« Stephen runzelte die Stirn, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Das hier führte zu nichts. Er wusste nicht einmal genau, warum er überhaupt damit angefangen hatte. »Wie weit ist es noch?«, erkundigte er sich stattdessen. »Zwei Tage, vielleicht auch drei, je nachdem, wie viel Schnee wir im nächsten Pass vorfinden. Und das nur bis zu dem Berg. Weißt du, wo es hingeht, wenn wir einmal dort sind?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Kauron hat ei523 nen Ort namens hadivaisel aufgesucht. Vielleicht ist das eine Stadt.« »Es gibt keine Stadt am Xal Slevendy«, erwiderte sie. »Jedenfalls ...« Sie hielt inne. »Adiwara ist ein Wort für
Sefry. Die alten Leute sagen, dort gäbe es eine Sefry-Rewn.« »Dann muss es das sein«, beschloss Stephen. »Hast du eine Ahnung, wie wir sie finden sollen?« »Überhaupt keine. Kauron hat etwas davon gesagt, dass er mit einem alten hadivara gesprochen hat, aber das weist darauf hin, dass er die Rewn bereits gefunden hatte. Und das war alles vor sehr langer Zeit.« »Du wirst sie finden«, sagte sie mit fester Stimme. »Du bist dazu ausersehen.« »Aber wenn Hespero uns zuerst findet...« »Das wird ein Problem«, räumte sie ein. »Also wirst du die Rewn schnell finden müssen.« »Richtig«, erwiderte er ohne viel Hoffnung. Allmählich ging ihm auf, wie groß Berge sein konnten. Und er erinnerte sich an den Ausgang der Rewn im Königswald; aus vier Ellen Entfernung war er unsichtbar gewesen. Das würde so sein, als suche man in einem Fluss nach einem Regentropfen. Er zog die Seiten hervor, die er kopiert hatte, in der Hoffnung, dass ihm eine bessere Übersetzung einfiel. Pale sah ihm wortlos zu. Zwischen den Seiten steckte das lose Blatt, das er gefunden hatte - er hatte es fast vergessen. Es war sehr alt, und die Lettern darauf waren verblasst, doch er erkannte die gleiche merkwürdige Schriftzeichenmischung wie auf der Epistel, die er bei sich gehabt hatte, und mit wachsender Erregung wurde ihm klar, dass das, was er hier in Händen hielt, tatsächlich ein Schlüssel war, mit dem er sie übersetzen könnte. Natürlich hatte Hespero jetzt die Epistel, doch er müsste sich eigentlich daran erinnern können ... Jäh durchzuckte ihn etwas. 524 »Was ist?«, fragte Pale. »Da war etwas in der Kapelle«, sagte er. »Ich habe noch nicht richtig Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Aber ich schwöre, ich habe eine Stimme gehört. Und meine Lampe, da war ein Gesicht drin -« »In der Lampe?« »In der Flamme.« Sie schien nicht überrascht zu sein. »Geister verirren sich manchmal in den Bergen«, meinte sie. »Der Wind bläst sie in die hoch gelegenen Täler, und sie können nicht hinaus.« »Wenn das ein Geist war, war es ein sehr alter Geist. Er hat eine Sprache gesprochen, die seit tausend Jahren tot ist.« Sie zögerte. »Niemand weiß, was mit Kauron geschehen ist«, erklärte sie schließlich. »Manche sagen, er sei nie zurückgekehrt, dass er in den Bergen verschwunden sei. Aber andere sagen, er wäre eines Nachts sehr spät in der Kapelle aufgetaucht und hätte wirres Zeug geredet wie ein Mann im Fieber, obwohl seine Haut kühl war. Der Priester, der ihn gefunden hat, hat ihn zu Bett gebracht, und am nächsten Morgen war keine Spur von ihm zu finden. Das Bett zeigte keine Anzeichen dafür, dass jemand darin geschlafen hätte, und der Priester hat sich gefragt, ob er ihn tatsächlich gesehen oder ob er lediglich eine Vision oder einen Traum gehabt hat.« »Hast du dort jemals irgendetwas gespürt?« »Nein«, gab sie zu. »Ich habe auch nie jemand anderen von so etwas berichten hören. Aber du bist anders - ein Revesturi und Kaurons Erbe. Vielleicht hat er deswegen zu dir gesprochen.« »Ich weiß nicht. Wer auch immer - was auch immer das war, es schien nicht freundlich gesonnen zu sein oder auch nur hilfsbereit. Es hat sich angefühlt, als würde es mich verspotten.« »Nun ja, dann habe ich keine Ahnung«, sagte sie. »Vielleicht hatte Kauron ja Feinde, und du hast sie jetzt auch auf dem Hals. In den Bergen sind Gegenwart und Vergangenheit keine entfernten Vettern und Basen. Sie sind Brüder und Schwestern.« 525 Stephen nickte und faltete seine Notizen wieder zusammen. »Nun ja«, sagte er, »ich glaube, ich versuche, ein bisschen zu schlafen.« »Was das angeht.« Sie seufzte. »Weißt du, ich muss dir vielleicht noch eine Chance geben.« »Wie meinst du das?« »Weil, wie gesagt, heute Nacht wird es schrecklich kalt werden.« Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie verschloss ihn mit einem Kuss, der angenehm nach Gerstenwein roch. Er ließ die Augen offen, wunderte sich darüber, wie anders ein Gesicht aus solcher Nähe aussah. Sie knabberte sich bis zu seinem Ohr vor und dann seitlich an seinem Hals hinunter. »Ich verstehe wirklich nicht viel von Frauen«, entschuldigte er sich. »Das hast du bereits gesagt. Dann ist es wohl an der Zeit, dass du Unterricht bekommst. Die endgültige Lektion kann ich dir nicht erteilen - um diese Zeit im Monat könntest du mich schwängern, und das wollen wir doch nicht. Aber es hat ohnehin keinen Sinn, bis zum Schluss des Buches vorzublättern, nicht wahr? Ich glaube, ein paar von den ersten Kapiteln könnten recht unterhaltsam sein.« Stephen antwortete nicht; alles, was er sagte, könnte das Falsche sein. Außerdem war ihm das Interesse am Reden ziemlich vergangen. 526
40. Kapitel Eine neue Geschichtsansicht Ohne auf Sir Leaftons Protest zu achten, eilte Anne zum anderen Ende des Platzes hinüber, wo die Handwerksmeister hastig eine Barrikade errichtet hatten, indem sie Kisten, Bretter, Ziegel und Steine zwischen zwei Gebäuden aufgehäuft hatten, die beide zusammen den größten Teil des Stücks zwischen den zwei Mauern beherrschten. In den paar Glockenschlägen, die ihnen dafür geblieben waren, hatten sie recht ordentliche Arbeit geleistet, doch es reichte nicht aus. Noch während Anne zusah, krachte eine Woge aus acht Reihen gepanzerter Kämpfer gegen die Sperre; ungefähr die Hälfte davon hatte Piken, um die Handwerksmeister auf Abstand zu halten, während Männer mit Schwert und Schild vorwärts drängten. Schon kamen sie über die Barrikade geschwärmt. So schnell sah Anne ihre Pläne zunichte werden. Es würde nur noch Augenblicke dauern, bis ihre Reihen durchbrochen wurden. »Ihr Heiligen!«, schrie Austra und drückte auch Annes Gefühle aus, als sie einen ihrer Männer fallen sah; ein Speer war so tief in seinen Mund getrieben worden, dass die Spitze wie die Zunge eines Ungeheuers aus seinem Hinterkopf hervorragte. »Bogenschützen!«, brüllte Leafton, und plötzlich fiel schwarzer Hagel von den Dächern und den oberen Fenstern der Häuser. Der Angriff geriet ins Stocken, als Schilde sich hoben, um den gefiederten Tod abzuwehren, und die Reihe der Handwerksmeister schloss sich fest und drängte zurück zur Barrikade. Anne verspürte ein kurzes Aufblitzen der Hoffnung, doch 527 noch immer waren sie schrecklich in der Unterzahl. Sollte sie verschwinden, jetzt, da sie die Möglichkeit dazu hatte? Austra und Cazio in die Tunnel führen? Wenigstens würde sie der Gefangenschaft entgehen, und Artwair wären die Hände nicht durch Drohungen gebunden, sie zu töten. Doch der Gedanke, ihre Männer einfach dem Tod zu überlassen, war unerträglich. Die Angreifer formierten ihre Reihen neu und stürmten abermals auf die Barrikade ein. Viele fielen, doch sie drängten weiter. »Majestät«, sagte Leafton, »ich bitte Euch, zieht Euch von hier zurück. Sie werden jeden Augenblick durchbrechen.« Anne schüttelte seinen Arm ab und schloss die Augen, fühlte das Klirren von Stahl und heisere Schmerzensschreie durch sich hindurchbeben, griff durch das Getöse hindurch und unter sich nach der Macht, die sie brauchte, um Blut und Mark zum Sieden zu bringen. Wenn sie dieselbe Macht heraufbeschwören konnte wie bei Khrwbh Khrwkh, könnte sie das Blatt vielleicht wenden oder ihren Männern zumindest eine Atempause verschaffen. Doch bei Khrwbh Khrwkh war etwas Mächtiges in der Erde gewesen, eine eingeschlossene Blase voller Krankheit, die sie an die Oberfläche hatte ziehen können wie Eiter aus einem Karbunkel. Hier spürte sie etwas Ähnliches, doch es war ferner und unauffälliger - und dahinter konnte sie die Dämonin lauern fühlen, die daraufwartete, dass sie ihr den Weg frei machte. Daher zauderte ein Teil von ihr. Doch ein jäher neuer Unterton mischte sich in den Schlachtenlärm, und sie öffnete die Augen, um zu sehen, was geschehen war. Ihr Herz sank, als sie sah, dass die Angreifer Verstärkung bekommen hatten und sich ihre Anzahl jetzt fast verdoppelt hatte oder zumindest dachte sie das zunächst. Dann wurde ihr klar, dass das ganz und gar nicht der Fall war; die Neuankömmlinge hatten keine Rüstungen, zumindest die meisten nicht. Sie trugen Gildentrachten und Kaufmannskluft, wollenes Tuch und Arbeiterkleidung aus grobem Flanell. In den 528 Händen hielten sie Keulen und Mistgabeln, Fischspeere, Jagdbögen, Messer und sogar ein paar Schwerter, und sie warfen sich von hinten auf die Angreifer. Die Handwerksmeister brüllten wie ein Mann auf und stürmten wild um sich schlagend über die Barrieren, und Blut rann wie Regenwasser die Straßen des Hofs der Gobelins hinunter. »Das Volk von Eslen«, hauchte Austra. Anne nickte. »Ich habe vier Männer ausgeschickt, um die Kunde zu verbreiten. Ich dachte, ich überprüfe die Theorie, dass sie mich unterstützen.« Sie wandte sich an ihre Freundin und lächelte. »Es sieht ganz so aus, als täten sie es - zumindest einige von ihnen.« »Und warum sollten sie auch nicht?«, erwiderte Austra aufgeregt. »Du bist doch ihre Königin!« Bei Sonnenuntergang stand Anne am Fenster des Turms des heiligen Ceasel. Es war ein schöner Nachmittag; der dicke Bauch der Sonne hatte sich auf den fernen Türmen von Thornrath aufgespießt und machte einen roten Spiegel aus der Ensae, die sie zwischen den großen Wölbungen von Tom Woth und Tom Cast gerade noch ausmachen konnte. Auch die Schleppe konnte sie sehen, bereits samtig von Schatten überzogen, und weit darunter die von Ranken bedeckten Behausungen der Toten in Eslen-des-Schattens, und noch weiter entfernt die dunstigen Wasserläufe der Marschen. Der Wind kam vom Meer, und er roch gut und kräftig. Dies war ihr Zuhause, dies waren die Bilder und Gerüche ihrer Kindheit. Und doch war es jetzt sonderbar. Bis vor einem Jahr hatte dieses Bild, das sie jetzt betrachtete - Thornrath, die Marschen -, den größten Teil der Welt
enthalten, die sie kannte. Oh, sie war schon bis Loiyes gereist, jetzt jedoch wusste sie, dass das nur ein kleines Stück weit war. Heute konnte sie mit ihrem geistigen Fernblick über die Marschen hinausschauen, zu den Hügeln und zum Wald hinüber, über die Ufer und Ebenen von Hornladh und Tero Galle hinweg, bis zur südlichen Lierischen See und zu den weißen Hügeln und roten Dächern Vitellios. 529 Jeder Anblick, jedes Geräusch, jede zurückgelegte Meile hatte sie anders werden lassen, und »Zuhause« passte nicht mehr so wie früher einmal. Sie richtete den Blick nach Norden, auf die Stadt. Dort war der Palast, natürlich, das Einzige, was noch wirklich über ihr stand, und dort unten war ihr kleines Königreich im Hof der Gobelins. Immer mehr Freiwillige trafen ein, und Leafton und die anderen Handwerksmeister sorgten rasch dafür, dass sie sich nützlich machten. Die Barrikade war unendlich viel sicherer, als sie es beim ersten Angriff gewesen war, und alle Mauern waren jetzt gut bemannt. Roberts Männer waren selbstverständlich nicht untätig gewesen. Sie konnte sie überall um den Hof herum sehen, ein paar Straßen von ihren Stellungen entfernt, wie sie ihre eigenen Feldlager errichteten und versuchten, jegliche Unterstützung von außen abzuschneiden. Sogar kleineres Belagerungsgerät hatte sie den Hügel hinunterrumpeln sehen, doch die meisten Straßen, die ins Viertel führten, waren nicht breit genug dafür. »Glaubt Ihr, sie werden heute Nacht wieder angreifen?«, fragte sie Leafton. »Ich bezweifle es. Und ich glaube, sie werden auch morgen früh nicht kämpfen. Eine Belagerung ist schon eher das, was ich mir vorstelle. Er wird versuchen, uns hier festzuhalten, bis uns die Verpflegung ausgeht.« »Gut«, sagte Anne. »Euer Majestät?« »Ich habe heute Nacht etwas zu tun«, erklärte sie ihm. »In dem Sefry-Haus. Ich werde die ganze Nacht unerreichbar sein, möglicherweise bis in den morgigen Tag hinein. Ich darf auf keinen Fall gestört werden, und ich überlasse die Verteidigung des Hofs vollständig Euch.« »Selbstverständlich müsst Ihr Euch ausruhen«, pflichtete Leafton ihr bei. »Aber in einem Notfall -« »Ich werde nicht erreichbar sein«, wiederholte sie. »Ich suche 53° mir vier Männer als Leibwachen aus, aber abgesehen davon schickt Ihr nach mir niemanden in dieses Haus, versteht Ihr?« »Das verstehe ich nicht, Majestät, nein'« »Was ich gemeint habe, war: > Werdet Ihr gehorchen ?<«, stellte Anne klar. »Natürlich, Majestät.« »Sehr gut. Austra, Cazio - es ist Zeit aufzubrechen.« Sie legte Leafton die Hand auf den Arm. »Ihr seid ein tüchtiger Mann«, sagte sie. »Ich vertraue auf Euch. Sorgt für die Sicherheit meiner Männer. Bitte.« »Jawohl, Majestät.« Anne wusste nicht genau, wie sie sich den Eingang zum Crepling-Gang vorgestellt hatte, doch sie hatte gedacht, dass er verborgen sein würde - eine unsichtbare Wandtäfelung, ein drehbares Bücherregal, eine Falltür unter einem Teppich. Wenigstens befand er sich in dem kalten Keller des Gebäudes, hinter Regalen mit Weinflaschen und herabhängenden Fleischstreifen. Doch der Eingang selbst bestand einfach aus einer kleinen Tür, in den festen Fels eingefügt, in den das Sefry-Haus hineingebaut war. Sie war aus irgendeinem dunklen Metall gefertigt, mit Angeln und Schließe aus poliertem Messing. Mutter Uun zog einen ziemlich großen Schlüssel hervor. Sie drehte ihn im Schloss, und die Tür öffnete sich fast geräuschlos und gab den Blick auf eine Treppe frei, die abwärts führte. Anne gestattete sich die Andeutung eines Lächelns. Artwair und andere in ihrer Truppe hatten ihr versichert, dass die Stadt und das Schloss von Eslen beinahe uneinnehmbar waren, dass ihre gewaltigen Mauern und Poels so gut wie jeder Armee trotzen konnten. Und doch war die Stadt mehr als einmal gefallen. Sie versuchte sich zu erinnern, mit welchen Strategien ihre Vorfahren sie eingenommen hatten. Dunkel erinnerte sie sich an die betreffende Geschichtsstunde als an eine, bei der sie ein wenig aufgepasst hatte. 53i Rückblickend schien alles recht vage, die Schilderung dieser Belagerung. Es war viel von Tapferkeit und blutiger Entschlossenheit die Rede gewesen, doch es wurden wenig Einzelheiten darüber geboten, wie William der Erste schließlich in der Halle der Tauben geendet war, sein Schwert in Thiuzwald Fram Reiksbaurgs Leber. Wie oft war es so gewesen? Eine kleine Gruppe Frauen oder Sefry, die durch diesen Tunnel eindrangen, um irgendein Unheil anzurichten, um das untere Tor zu öffnen, damit eine größere Streitmacht hineinstürmen konnte? Mutter Uun, so schien es ihr, war die Bewahrerin von viel zu viel Macht. Das Geschick einer Dynastie konnte von ihren Sefry-Launen abhängen. Doch ein Mann, der sie um Hilfe bat, würde nicht mehr wissen, was genau geschehen war, hätte keine Ahnung, wie er ins Schloss gelangt war, würde sich nicht daran erinnern, wie viel Macht diese einzelne Sefry-Frau innehatte. Anne jedoch würde sich daran erinnern. Sie würde sich erinnern, und sie würde etwas dagegen unternehmen. Wenn sie Königin war, würde niemand einfach unbehelligt ins Schloss hineinspazieren können.
Mit jähem Schreck bemerkte Anne, wie eingehend Mutter Uun sie beobachtete. Konnte die Sefry ihre Gedanken lesen? »Nun?«, fragte sie. »Am Fuß der Treppe werdet Ihr den Gang finden«, erklärte die alte Frau. »Wenn Ihr Euch nach rechts wendet, führt er Euch aus der Stadt heraus, in die Marschen. Geht nach links, und Ihr kommt in die Verliese, und von dort aus ins Schloss, wenn Ihr es wünscht. Wenn der tiefer gelegene Teil voll Wasser ist, so findet Ihr die Ventile, die ihn trockenlegen, in einer kleinen Kammer zur Linken, kurz vor der Stelle, wo das Wasser die Decke erreicht. Es wird natürlich eine Weile dauern, bis sie sich öffnen - ungefähr einen halben Tag.« Anne nickte. Falls ihre Vision stimmte, würde Sir Fails Flotte in zwei Tagen eintreffen. Wenn sich Thornrath bis dahin in Artwairs Hand befand, konnte ihr Vetter die Flotte einsetzen und die äuße532 ren Tore lange genug offen halten, dass sie hinauskonnte, um dann eine größere Streitmacht hineinzuführen. Sie hatte erwogen, den Palast mit den Männern einzunehmen, die sie bei sich hatte, doch sie glaubte nicht, dass es genug sein würden. Es gab hunderte von Wachen im Schloss. Und es würde wahrscheinlich schwierig werden, Männer dazu zu bringen, ihr durch ein Tor zu folgen, an das sie sich nicht einmal erinnern konnten, wenn sie es vor sich sahen. Doch es war möglich - Cazio hatte es schließlich geschafft, ihrem Möchtegern-Meuchelmörder zu folgen. Und ihrem Bruder, Onkel Fail und den Handwerksmeistern war es irgendwie gelungen, Eslen zu verlassen, geführt von einer Frau namens Alis, wenn die Gerüchte zutrafen. Ja, es war möglich, und sie musste den ersten Schritt machen -sicherstellen, dass der Weg frei war. »Nimm Cazios Hand, Austra«, sagte Anne. »Ihr anderen, haltet euch ebenfalls an den Händen. Lasst nicht los, bis ich es euch sage. Habt ihr verstanden?« »Ja, Majestät.« »Gut. Und jetzt gehen wir.« »Wohin?«, wollte Cazio wissen. Cazio überlegte, ob er sich betrunken hatte, ohne es zu merken. Austras Hand war ihm bewusst, die Steine unter seinen Füßen, Annes Gesicht im Lampenlicht, doch er verlor sich immer wieder in den Einzelheiten. Er wusste tatsächlich nicht mehr, was er machte oder wo sie sich befanden. Es war, als würde er durch eine Art grauenvollen Traum wandern. Ständig glaubte er aufzuwachen, nur um festzustellen, dass er auch das nur geträumt hatte. Er erinnerte sich, dass sie in das Sefry-Haus gegangen waren und dass Anne mit der alten Frau über irgendetwas gesprochen hatte. Er wusste noch, dass sie in den kalten Keller hinabgestiegen waren, was ihm merkwürdig schien. 533 Doch es kam ihm vor, als sei das lange her. Vielleicht war es wirklich ein Traum, beschloss er. Oder vielleicht war er betrunken. Vielleicht - er blinzelte. Anne sprach wieder mit jemandem. Jetzt schrie sie etwas. Und jetzt rannte er. Aber warum? Er verlangsamte seine Schritte, um sich umzuschauen, doch Austra zerrte heftig an seiner Hand und schrie ihm zu, er solle weiterlaufen. Irgendwo hörte er unbekanntes Gelächter. Er schmeckte Blut auf den Lippen, was ihm ganz besonders seltsam vorkam. 41. Kapitel Todeslieder Neil fühlte, wie sich die Todesruhe auf ihn herabsenkte. Sein Atem wurde gleichmäßig, und er genoss die Salzluft, während er zusah, wie sich ein Seeadler in einem Himmel, der zu gleichen Teilen blau und grau war, in die Kurve legte. Der Wind blies sanft aus Südwesten, zauste das weiche neue Gras auf dem Hügel, wie eine Million Finger, die leuchtend grünes Haar kämmten. Alles schien still. Er schloss die Augen und murmelte ein paar Liedzeilen vor sich hin. Mi, Etier meuf, eyoiz'etiern rem, Crach-toi, frennz, mi viveut-toi dein ... 534 »Was habt Ihr gesagt, Sir Neil?« Er öffnete die Augen. Die Frage war von einem Mann gestellt worden, der ungefähr so alt war wie er, ein Ritter namens Edhmon Archard, aus der Grefftschaft von Seaxeld. Er hatte flinke blaue Augen und Haar, so weiß wie Distelflaum. Seine Rüstung war von guter, schlichter Machart, und Neil konnte nicht eine Delle darin entdecken. Natürlich war seine eigene Rüstung ebenso neu. Er hatte sie in seinem Zelt vorgefunden, an dem Morgen, nachdem Robert entkommen war. Ein Geschenk, das Elyoner Dare geschickt hatte, die seinerzeit »für neue Kleider« bei ihm Maß hatte nehmen lassen, oder zumindest hatte sie das behauptet. Trotzdem hatte Neil den Eindruck, dass in Sir Edhmons Fall der Mann in der Rüstung ebenso unerprobt war wie der Stahl selbst. »Das ist ein Stück von einem Lied«, erwiderte er. »Ein Lied, das mich mein Vater gelehrt hat.« »Und was heißt das?« Neil lächelte. »>Ich, mein Vater, meine Ahnen allhier, schreit nur, ihr Raben, bald schwelget ihr.<« »Nicht sehr aufmunternd«, bemerkte Edhmon.
»Es ist ein Todeslied«, erklärte Neil. »Ihr glaubt, Ihr werdet sterben?« »Oh, ich werde sterben, das ist sicher«, erwiderte Neil. »Die Frage wann, wo und wie ist es, worüber ich mir nicht ganz im Klaren bin. Aber mein Fah hat immer gesagt, es sei das Beste, sich selbst schon als tot zu betrachten, wenn man in die Schlacht zieht.« »Und das bringt Ihr fertig?« Neil zuckte mit den Schultern. »Nicht immer. Manchmal habe ich Angst, und manchmal überkommt mich die Raserei. Aber manchmal gewähren die Heiligen mir die Todesruhe, und das ist mir am liebsten.« Edhmon errötete ein wenig. »Das ist meine erste Schlacht«, gestand er. »Ich hoffe, ich bin bereit dafür.« 535 »Ihr seid bereit«, sagte Neil. »Ich bin nur das Warten so leid.« Noch während er das sagte, fuhr er zusammen, als eine der Bailisten hinter ihnen mit einem dröhnenden Surren abgeschossen wurde und einen fünfzig Pfund schweren Stein im flachen Bogen über ihre Köpfe hinwegschleuderte. Der Stein krachte gegen die äußere Wehrmauer von Thornrath und ließ Granitsplitter in alle Richtungen fliegen. »Ihr werdet nicht mehr lange warten müssen«, versicherte Neil dem Ritter. »Diese Mauer wird binnen eines Glockenschlags einstürzen. Sie sammeln bereits ihre Reiterei im Hof.« »Warum? Warum bringen sie sie nicht in die Festung hinauf? Warum sie gegen uns aufs Spiel setzen?« Neil überdachte seine Erwiderung eine Weile; er hoffte, eine Antwort zu finden, die Edhmon nicht allzu sehr ängstigen würde. »Thornrath ist noch nie erobert worden«, sagte er schließlich. »Vom Meer her ist es wahrscheinlich unmöglich. Die Seemauer ist zu dick und zu hoch, und Schiffe sind einem Beschuss von oben völlig schutzlos ausgeliefert. Auch die Klippen des Kaps kann man von der Seeseite aus nicht leicht erklimmen. Ein paar Verteidiger können beliebig viele Angreifer daran hindern, dort hinaufzuklettern, besonders, wenn diese versuchen, Pferde und Belagerungsgerät dort hinaufzuschaffen. Und ohne solches Gerät stehen sie vor dem Waerd, der sich so nicht einnehmen lässt.« Er zeigte nach Süden, den Landstreifen entlang, der sie von der Mauer trennte, ein Kamm von nur zehn Königsellen Breite, der in steilen Klippen zur Schaumbrecherbucht zur Rechten und zur Ensae zur Linken hin abfiel. So zog sich der Streifen vierzig Königsellen weit dahin und verbreiterte sich dann genug für den Waerd, eine keilförmige Befestigungsanlage, deren spitzes Ende auf sie gerichtet war und deren Tore auf ihrer Rückseite verborgen waren. Sie hatte drei Türme und war um ungefähr zehn Ellen von der eigentlichen Mauer getrennt. »Wir können nicht einfach um den Waerd herumreiten, sonst 536 fegen sie uns mit allem, was sie nach uns werfen können, glatt von der Klippe - Steine, kochendes Öl, geschmolzenes Blei, all so etwas. Wir würden es niemals um die Festung herum schaffen, um uns auch nur an den Toren zu versuchen. Also müssen wir die Mauer von dieser Seite des Waerd aus einreißen, und zwar nach Möglichkeit aus einiger Entfernung. Hier draußen haben wir einen unendlichen Vorrat an Wurfgeschossen, allerdings haben wir es nicht mit einer geraden Mauer zu tun. Meistens gleiten unsere Steine einfach ab.« »Das sehe ich alles«, antwortete Sir Edhmon. »Aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit der Reiterei zu tun hat.« »Nun ja, wenn die Mauer fällt, müssen wir immer noch über diese Landbrücke und durch die Bresche, ehe wir die Festung einnehmen können. Und es können immer nur ein paar auf einmal hinüber, vielleicht sechs oder sieben nebeneinander. Dann wird die Reiterei uns in Empfang nehmen, bevor der Landstreifen dort hinten breiter wird. In der Zwischenzeit heben sie sich ihre Wurfgeschosse für den Augenblick auf, wenn wir in Reichweite kommen, ungefähr zehn Schritte die Landbrücke hinunter. Während ihre Berittenen uns aufhalten, werden sie Steine oder sonst etwas auf diejenigen von uns schleudern, die sich hinten angestellt haben. Und wenn sie es richtig machen, werden für jeden von ihnen vier oder fünf von uns fallen. Vielleicht auch mehr. Würden die Ritter im Waerd bleiben, wären sie nicht viel mehr nütze als jeder Fußsoldat. Wenn sie gegen uns reiten, können sie wirklichen Schaden anrichten. Wir werden etliche Männer durch die Wurfmaschinen verlieren, während wir die Bresche stürmen, aber wir werden hineinkommen, unser eigenes Belagerungsgerät heranschaffen und anfangen, die Tore von Thornrath unter Beschuss zu nehmen. Aber bevor es dazu kommt, töten sie vielleicht genug von uns, dass wir uns das Ganze doch noch einmal überlegen. Schlimmstenfalls haben sie unsere Anzahl deutlich verringert.« Er schlug dem jungen Ritter auf die Schulter. »Und außerdem sind das Ritter. Ritter reiten in 537 die Schlacht. Was glaubt Ihr, wie sie sich da hinter der Mauer fühlen würden, wenn sie mit Steinen nach uns werfen müssten?« »Aber es muss doch einen einfacheren Weg dort hinein geben«, sagte Edhmon. »Das ist der einfache Weg dort hinein«, entgegnete Neil. »Um das hier versuchen zu können, müsste eine
eindringende Armee entweder fünfzig Meilen nördlich von hier anlanden, sich an den Seefestungen vorbeikämpfen oder die Grenze zwischen Crothenien und Hansa überschreiten und Neuland durchqueren, das, wie Ihr gesehen habt, überflutet werden kann. Laut Herzog Artwair ist dies das erste Mal, das Thornrath vom Land aus verteidigt werden muss.« »Aber so, wie Ihr es schildert, klingt es hoffnungslos«, erklärte Edhmon. »Genauso gut könnten wir über den Rand einer Klippe reiten - und die vor uns werden mit Sicherheit fallen.« »Nur wenn alles so abläuft, wie sie wollen«, wandte Neil ein. »Wie kann es sonst ablaufen?« »So wie wir wollen. Unser erster Angriff trifft sie so hart, dass wir direkt durch die Reiterei hindurchbrechen und in die Bresche stürmen. Wenn sie uns nicht aufhalten können, können sie uns auch nicht beschießen - jedenfalls nicht lange.« »Aber dazu wäre ein Wunder nötig, nicht wahr?« Neil schüttelte den Kopf. »Als ich Thornrath zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich, es müsste das Werk von Riesen oder Dämonen sein. Aber die Seefestung wurde von Menschen errichtet, von Menschen wie uns. Es war kein Wunder nötig, um sie zu erbauen, und es wird keins nötig sein, um sie einzunehmen. Aber Männer werden nötig sein. Versteht Ihr?« »So ist's recht, Sir Neil, sagt ihm nur, wie es ist!« Neil schreckte bei dem Ruf auf und sah, dass es Sir Fell Hemmington war, der ihn ausgestoßen hatte. »Habt ihr das gehört, Jungs? Ein Angriff oder nichts!« Zu Neils völliger Verblüffung griff plötzlich die ganze Kolonne den Refrain auf. 538 »Ein Angriff oder nichts!« Er hatte sich mit Edhmon unterhalten, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass noch andere zugehört hatten. Aber er war schließlich der Anführer, oder etwa nicht? Wahrscheinlich hätte er ohnehin eine Art Rede halten müssen. Das Gebrüll ertönte mit doppelter Wildheit, als ein weiterer Stein den Waerd traf und die Mauer mit einem dumpfen Poltern einstürzte, sodass eine Lücke von vielleicht fünf Königsellen Breite entstand. Im selben Moment kam die feindliche Reiterei zu beiden Seiten um die Festung herum in Sicht. »Lanzen!«, brüllte Neil und legte seinen eigenen langen Speer an. In der gesamten vorderen Reihe folgten die anderen links und rechts von ihm seinem Beispiel. »Ein Angriff!«, schrie er und gab seinem Pferd die Sporen. Noch immer verspürte er Ruhe, als das Tier im gestreckten Galopp losstürmte. Das Meer war wunderschön, wie immer. 42. Kapitel Hexenhorn Was ist denn das für eine Miene?«, fragte Zemle vom Rücken ihres Kalbok aus, ein paar Königsellen entfernt. »Das ist doch nicht etwa das schlechte Gewissen, das an dir nagt, oder?« Stephen schaute zu ihr hinüber. Im buttergelben Licht der Morgensonne sah ihr Gesicht frisch und sehr jung aus, und einen Moment lang stellte er sie sich als kleines Mädchen vor, das durch die Bergwiesen wanderte, Ziegen betreute und im Klee nach einem vierblättrigen Glücksbringer suchte. 539 »Sollte ich ein schlechtes Gewissen haben?«, fragte er. »Selbst wenn man das, was wir getan haben, für ... äh ...« Ihre hochgezogenen Brauen ließen ihn mitten in seinen Spitzfindigkeiten verstummen. Also kratzte er sich am Kinn und fing noch einmal von vorn an. »Ich habe nie ein Keuschheitsgelübde abgelegt«, sagte er, »und ich bin kein Anhänger der heiligen Elspeth.« »Aber du hattest vor, ein Decmanusianer zu werden«, erinnerte sie ihn. »Du hättest das Gelübde abgelegt.« »Kann ich dir ein Geheimnis verraten?«, fragte er. Sie lächelte. »Das wäre nicht das erste.« Er fühlte, wie sein Gesicht warm wurde. »Komm schon«, drängte sie. »Es war gar nicht meine Idee, Priester zu werden. Mein Vater wollte es so. Also, versteh mich nicht falsch - du kennst meine Interessen. Ich hätte mich ihnen niemals widmen können, ohne mich irgendwie an z'Irbina zu binden, also habe ich eingewilligt. Aber ich habe mich nicht besonders auf das Keuschheitsgelübde gefreut. Ich habe mich wohl mit dem Gedanken getröstet, dass ich wahrscheinlich sowieso weitgehend keusch bleiben würde, ob ich nun das Gelübde ablege oder nicht.« »Das ist doch albern«, erwiderte sie. »Ich würde dich nicht gerade hässlich nennen. Ein bisschen ungeschickt vielleicht...« »Oh«, stammelte Stephen. »Das tut mir Leid.« »Aber durchaus gelehrig«, vollendete sie ihren Satz. »Ein taflo anscriftas.« Jetzt brannten seine Ohren. »Wie auch immer«, fuhr er fort, »ich habe wohl gehofft, ich könnte irgendwie einem der weniger ... strengen Orden beitreten. Und so, wie die Dinge liegen, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass ich die DecmanusianerGelübde ablegen werde. Oder auch nur sehr viel länger leben werde. Wir hätten früher aufbrechen sollen.«
»Dieser Pass ist ohne Tageslicht zu gefährlich«, entgegnete sie. 540 »Wir sind so früh aufgebrochen, wie die Vernunft es zugelassen hat. Was das andere betrifft, bestimmt hast du jetzt das Gefühl, du könntest auf der Stelle glücklich das Zeitliche segnen. Aber ich versichere dir, es gibt noch eine Menge, wofür es sich zu leben lohnt.« »Daran zweifle ich nicht«, erwiderte Stephen. »Aber Hespero ist immer noch dort hinter uns, und dann ist da noch der Woorm. Natürlich haben wir den in letzter Zeit nicht zu Gesicht bekommen. Vielleicht hat er die Jagd aufgegeben.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Zemle. »Wieso?« »Ich habe es dir doch erzählt - weil die Prophezeiung besagt, dass es der Woorm sein wird, der dich zu dem Alq treibt«, antwortete sie. »Aber was ist, wenn ich gar nicht derjenige bin, von dem in der Prophezeiung die Rede ist? Setzen wir hier nicht ziemlich viel voraus?« »Der Woorm ist dir nach d'Ef gefolgt, und von d'Ef mindestens bis zum Then. Wieso solltest du jetzt anfangen, daran zu zweifeln, dass er dir folgt?« »Aber warum sollte er mir denn folgen?« »Weil du derjenige bist, der den Alq finden wird.« Eine Andeutung von Gereiztheit lag in ihrer Stimme. »Das ist ein >catel turistat suus caudam<-Argument«, protestierte er. »Ja«, stimmte sie zu. »Das Ganze dreht sich im Kreis. Das heißt nicht, dass es nicht wahr ist.« »Nun, wird er mich töten - Kaurons Erben?« »Ich habe dir schon gesagt, was ich weiß«, erwiderte sie. Stephen erinnerte sich an den Blick des Ungeheuers, wie er ihn auf eine halbe Meile Entfernung entdeckt hatte. Er schauderte. »Ist es so schlimm?«, fragte sie. »Ich hoffe, du musst das nie herausfinden, ganz gleich, was die Prophezeiung besagt«, antwortete Stephen. 54i »Eigentlich bin ich ein bisschen neugierig. Aber lassen wir das alles einmal beiseite - du hast wirklich ein komisches Gesicht gemacht. Wenn es kein schlechtes Gewissen war, was war es dann?« »Ach, das.« Ihre Augen wurden schmal. »Was meinst du mit >das Untersteh dich, zu sagen, du willst nicht darüber reden.« »Ich ...« Er seufzte. »Ich habe mich gefragt, was wohl passieren würde, wenn wir diese ganze Prophezeiungssache einfach vergessen und uns irgendwohin in die Berge absetzen würden. Vielleicht würden Hespero und der Woorm sich gegenseitig umbringen, und alle würden den Alq vergessen.« Ihre Brauen klommen in die Höhe. »Zusammen fortgehen? Du und ich? Du meinst, wie Mann und Frau?« »Ah, nun ja, das habe ich wohl gemeint.« »Das ist ja alles gut und schön, aber ich kenne dich kaum, Stephen.« »Aber wir -« »Ja, nicht wahr? Und ich fand es sehr schön. Ich mag dich, aber was hat jeder von uns dem anderen zu bieten? Ich habe keine Mitgift - glaubst du, deine Familie würde mich unter diesen Bedingungen aufnehmen?« Darüber brauchte Stephen nicht lange nachzudenken. »Nein«, gab er zu. »Und ohne deine Familie, was kannst du mir da bieten? Liebe?« »Vielleicht«, sagte er vorsichtig. »Vielleicht. Stimmt genau. Vielleicht. Du wärst nicht der Erste, der Wollust mit Liebe verwechselt, Stephen. Und das ist eine törichte Verwechslung. Jedenfalls warst du noch vor einem Tag verzweifelt in jemand anderen verliebt. Können ein paar wohl platzierte Küsse das so schnell ändern? Wenn ja, wie kann ich dann bei dir auf Beständigkeit zählen?« »Jetzt machst du dich über mich lustig«, beschwerte sich Stephen. »Ja, das tue ich, und nein, das tue ich nicht. Weil ich nämlich wü542 tend werden könnte, wenn ich nicht über dich lache - und das kann im Moment keiner von uns brauchen. Wenn du in die Berge durchbrennen willst, musst du es allein tun. Ich werde zum Hexenhorn weiterreiten und versuchen, den Alq selbst zu finden. Weil es, selbst wenn der Praifec und der Waurm sich gegenseitig vernichten, noch andere gibt, die danach suchen, und irgendjemand wird ihn irgendwann finden.« »Woher weißt du das alles?«, fragte Stephen. »Das Buch der Rückkehr -« »Aber du hast das Buch der Rückkehr doch nie gesehen«, fauchte Stephen und schnitt ihr das Wort ab. »Alles, was du weißt, beruht auf einem tausend Jahre alten Gerücht, von einem Buch, das niemand je zu Gesicht bekommen hat - außer Hespero, falls wenigstens das stimmt. Woher weißt du also, dass irgendetwas von alldem wahr ist?« Sie setzte zu einer Antwort an, doch er kam ihr abermals zuvor. »Hast du jemals die Legende von Walker gelesen?«
»Ich habe davon gehört«, antwortete sie. »Sie handelt von einem virgenyanischen Krieger, der die Dämonenflotte von Thiuzan Hraiw abgewehrt hat, nicht wahr?« »Ja. Aber die Sache ist die: Der Geschichtsschreibung nach hat Walker ungefähr ein Jahrhundert vor dem Ausbruch der Magierkriege gelebt, hundertfünfzig Jahre, bevor Thiuzan Hraiw überhaupt angefangen hat, seine Flotte zu bauen. Chetter Walker hat eine Flotte zurückgeschlagen, stimmt -wenn man zehn Schiffe eine Flotte nennen will. Und sie waren aus Ihnsgan, einem alten Königreich im Eisenmeer. Aber verstehst du, das Epos wurde fünfhundert Jahre später verfasst, nach dem Chaos der Magierkriege, als Virgenyas neuer Feind Hansa hieß. Thiuzan Hraiw stammte aus Hansa, und sein Name hat einen sehr hansischen Klang. Also haben die Barden - die geschworen hatten, alle Lieder genau so zu belassen, wie sie sie vernommen hatten, bei Strafe eines Fluchs der heiligen Rosemary - Walker nichtsdestotrotz im falschen Jahrhundert leben und gegen den fal543 sehen Feind kämpfen lassen, mit Waffen, die damals noch gar nicht erfunden waren. Mündliche Überlieferungen versprechen immer, dass sie die Geschichte wahrheitsgetreu wiedergeben, aber sie tun es nie. Wie kommst du also darauf, dass deine Vorfahren ihr kleines Lied nicht verfälscht haben?« »Weil«, gab sie störrisch zurück, »ich das Buch doch gesehen habe - oder zumindest einen Teil davon, den Teil über dich.« Das ließ ihn stutzen. »Wirklich? Und wie hast du das geschafft?« Sie schloss die Augen, und er sah, wie sich ihr Unterkiefer spannte. »Weil ich Hesperos Geliebte war«, antwortete sie. An diesem Nachmittag zeigte Zemle ihm den Gipfel des Hexenhorns. Wahrscheinlich hatte Stephen sich etwas vorgestellt, das wie das Hörn eines Ochsen geformt war und sich in den Himmel emporkrümmte, umgeben von Sturmwolken, Blitzen und den fernen, dunklen Gestalten böser Geister, die um seinen Gipfel herumwirbelten. Stattdessen unterschied sich der Berg, abgesehen davon, dass er ein wenig höher war als seine Nachbarn, zumindest für ihn nicht im Mindesten von irgendeinem anderen in den Bairghs. »Morgen Mittag erreichen wir seinen Fuß«, erklärte sie. Er nickte, antwortete jedoch nicht. »Du hast seit heute früh kein Wort gesagt«, meinte sie. »Allmählich werde ich ärgerlich. Dir war doch bestimmt klar, dass du nicht mein erster Liebhaber warst.« »Aber Hespero}«, brach es aus ihm heraus. »Oh, ich denke, das hättest du vielleicht erwähnen können, bevor ich dir hier herauf gefolgt bin, bevor ich mein ganzes Vertrauen in dich gesetzt habe.« »Nun, es ging ja gerade darum, dass du mir vertraust«, wandte sie ein. »Stimmt. Und das habe ich auch getan. Jedenfalls bis jetzt.« »Ich bin nicht stolz darauf, Stephen, aber die Heiligen hassen Lügner. Du hast gefragt, und ich habe es dir gesagt. Es ist wichti544 ger, dass du an die Prophezeiung glaubst, als dass du viel von mir hältst.« »Wie alt warst du, als das passiert ist? Zehn?« »Nein«, sagte sie geduldig. »Ich war fünfundzwanzig.« »Du hast gesagt, er hätte euer Dorf vor Jahren verlassen«, fuhr Stephen sie an. »Du kannst jetzt nicht viel älter sein als fünfundzwanzig.« »Schmeichler. Ich bin genau fünfundzwanzig, seit letzter Woche.« »Du meinst -« »Seit er zurückgekommen ist, ja«, bestätigte sie. »Ihr Heiligen, das ist ja noch schlimmer!« Von ihrem Kalbok aus funkelte sie ihn wütend an, über ungefähr drei Ellen schroffen Bodens hinweg. »Wenn ich nahe genug wäre«, verkündete sie, »würde ich dich ohrfeigen. Ich habe getan, was ich tun musste. Ich bin keine Närrin, weißt du? Ich hatte genau die gleichen Zweifel an der Prophezeiung wie du. Jetzt habe ich keine mehr.« »Hat es dir Spaß gemacht?«, wollte er wissen. »Er hat deutlich mehr Erfahrung als du«, schoss sie zurück. »Ah. Kein taflo anscriftas, wie?«, bemerkte er bissig. Ihr Gesicht verzerrte sich, und sie setzte zu einer Erwiderung an, dann jedoch schloss sie die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie gefasster. »Es ist meine Schuld«, sagte sie ruhig. »Ich wusste, dass du jung und unerfahren warst. Ich hätte wissen müssen, dass es dazu führen würde.« »Wozu?« »Dass du vor Eifersucht töricht wirst. Du bist eifersüchtig auf einen Mann, mit dem ich geschlafen habe, bevor wir uns begegnet sind. Findest du das in irgendeiner Weise logisch?« »Nun ja, es ist nur, dass -« »Ja?«, fragte sie so geduldig, dass er sich schon wieder wie ein kleiner Junge vorkam. 545
»Er ist böse«, schloss er schwach. »Wirklich?«, fragte sie. »Ich weiß nicht. Gewiss ist er unser Feind, weil er dasselbe will wie wir. Aber ich habe dich nicht an ihn verraten - tatsächlich habe ich ihn an dich verraten. Also hör auf, so ein Kindskopf zu sein, und versuch ausnahmsweise einmal, ein Mann zu sein. Dafür brauchst du keine Erfahrung - bloß Mut.« Diese Nacht erlebte keine Wiederholung der vorausgegangenen. Stephen lag viele Glockenschläge lang wach und war sich jeder Bewegung und jedes Atemzugs von Zemle schmerzhaft bewusst. Sein Verstand tauchte immer wieder dem Schlaf entgegen, doch stets holte ein heftiges Atmen oder ein Drehen ihres Körpers ihn wieder zurück. Sie ist wach. Sie hat mir verziehen ... Doch er war sich nicht sicher, ob er der Verzeihung bedurfte. Sie hatte mit dem Praifec geschlafen. Gewiss war das eine Sünde, selbst wenn Hespero die Wiedergeburt eines Skaslos war. Und das kurz, bevor Er seufzte. Das war gar nicht das eigentliche Problem, nicht wahr? Hesperos Berührung war der Schatten unter der seinen. Die Berührung eines Mannes, der wusste, wie man einer Frau Vergnügen bereitete. Er kreiste in immer kleineren Umlaufbahnen der Reue und des Zorns, bis sich der Steinboden wie Seidenpapier teilte und irgendetwas ihn durch den Spalt zog. Plötzlich war er nass und klebrig, und sein Fleisch und seine Knochen schmerzten, als hätte er hohes Fieber. Panik ließ ihn um sich greifen, nach irgendetwas, doch er befand sich in einer Leere -er fiel nicht, sondern schwebte, auf allen Seiten von Schrecken umgeben, die er nicht sehen konnte. Er versuchte zu schreien, doch irgendetwas verstopfte ihm den Mund. Gerade war er am Rande des Wahnsinns, als eine beruhigende 546 Stimme ihm etwas zumurmelte, mit Worten, die er nicht verstand, die ihn aber trotzdem trösteten. Dann legte sich ein Band aus Farben sanft über seine Augen, und sein Herz kam zur Ruhe. Sein Blick wurde klar, und er sah das Hexenhorn, fast genauso, wie es im Licht des Sonnenuntergangs ausgesehen hatte, allerdings mit mehr Schnee. Wie ein Vogel schwebte er abwärts darauf zu, über ein Tal hinweg, über ein Dorf, und dann - mit einem Hauch von Schwindel - seine Hänge hinauf, einen gewundenen Pfad entlang, zu einem Haus in einem Baum. Ein Gesicht erschien, bleich und mit kupferfarbenen Augen, ein Hadivar-Gesicht, und jetzt wusste er, dass das ganz einfach Sefry hieß. Noch mehr Worte ertönten, und noch immer konnte er sie nicht verstehen, doch dann landete er. Er ging zur Nordseite des Berges, wo das Moos regierte, zu einer Steinwand und durch eine geschickt verborgene Tür, und dann war er in der Rewn. Begann zu verstehen. Freude erfüllte sein Herz. Er erwachte von einer leichten Berührung auf seinem Gesicht und erblickte Zemle, die Brauen besorgt zusammengezogen, ihr Gesicht - ihre Lippen - nur eine kleine Bewegung entfernt. Doch als sie sah, dass er wach war, richtete sie sich auf, und der sorgenvolle Gesichtsausdruck verschwand. »Schlecht geträumt?«, erkundigte sie sich. »Eigentlich nicht«, antwortete er und schilderte ihr seine Vision. Zemle schien nicht überrascht. »Wir werden essen«, verkündete sie. »Dann brechen wir auf und hoffen, dass wir deine geheimnisvolle Stadt finden.« Er lächelte und rieb sich den Schlafsand aus den Augen; er fühlte sich viel erholter, als es der Fall hätte sein sollen. Choron, fragte er staunend zum Himmel empor, seid Ihr ein Heiliger geworden? Seid Ihr es, der mich leitet? Der Abstieg war erheblich mühsamer, als er es in seinem Traum gewesen war, und sein Vertrauen in die Vision schwand, als sie sich die zerklüfteten Hänge hinuntertasteten, hinein in einen tiefen, nach Harz duftenden Wald aus immergrünen Bäumen. 547 »Weißt du, wo es hingeht?«, fragte Zemle zweifelnd. Einen Moment lang verstand er ihre Frage nicht, doch dann wurde ihm klar, dass sie die Rollen getauscht hatten. Seit sie in das Tal gekommen waren, hatte sie sich auf ihn als Führer verlassen. »Ich glaube schon«, antwortete er. »Es gibt nämlich einen kürzeren Weg zu dem Berg.« Er nickte. »Vielleicht, aber ich möchte etwas sehen.« Einen Glockenschlag später begannen die Anzeichen sichtbar zu werden. Anfangs waren sie unauffällig seltsame Erhebungen im Waldboden, Senken, die ausgetrockneten Flussbetten ähnelten, aber zu gerade dafür waren -, doch schließlich konnte er Mauerreste erkennen, wenngleich selten mehr als kniehoch. Er setzte seinen Weg zu Fuß fort und führte sein Reittier, und zwischen einzelnen Schritten sah er Bilder von schmalen, verzierten Gebäuden und bunt gekleideten Gestalten vor sich aufblitzen. »Hadivaisel«, verkündete er und deutete mit einer ausholenden Geste. »Oder das, was noch davon übrig ist.« »Dann ist das also gut?«, fragte sie. »Nun ja, zumindest bedeutet es, dass ich wirklich weiß, wo es hingeht.«
Und so strebten sie weiter nach Osten, auf den Berg und auf die Spuren des Pfades zu. Das Baumhaus aus seiner Vision war verschwunden, doch er erkannte den Baum wieder, obgleich er älter und dicker war. Von dort aus begann er sie nach Norden zu führen und stetig höher zu steigen, nach Bezlaw, wo der Schatten des Berges niemals wich und das Moos dicht und tief wucherte, wo weiße Röhrenpilze auf verrottenden Baumstämmen standen und Spinnen, so groß wie seine Hand, ihre kunstvollen Netze zwischen dunklen Stämmen spannen. Der Abend dämmerte schon fast, als sie die uralte Schattengrenze erreichten und Zemle vorschlug, dass sie Halt machen sollten. Stephen war einverstanden, und sie machten sich daran, einen Nachtplatz für die Tiere zu finden. Die Hunde jedoch wollten sich nicht zur Ruhe begeben: Ihr Na548 ckenfell war gesträubt, und sie knurrten ohne Unterlass die immer tiefere Finsternis an. Auch Stephens Nackenhaar stellte sich auf -seine Ohren hatten sich im Laufe der letzten Tage gebessert, und sie fingen zumindest einen Teil von dem auf, was die Hunde hörten. Und das gefiel ihm gar nicht. Denn dort kamen Geschöpfe auf zwei Beinen heran, ungehindert von der Dunkelheit. Und einige sangen. 43. Kapitel Die Spur des Todes Der Tod wies Aspar den Weg. Tote Bäume im Wald, abgestorbenes Gras und Stechginster und Heidekraut auf offenem Gelände, tote Fische in den Flüssen und Strömen, für die das Ungeheuer eine Vorliebe zeigte. Indem er dem Tod folgte, folgte er dem Woorm, und mit jedem Tag wurde seine Fährte deutlicher, als würde seine giftige Natur immer stärker. Im Welph stauten sich Kadaver, seine Seitenarme waren zu Schlachthäusern geworden. Aus Frühlingsknospen troff stinkender Eiter, und das Einzige, was hier wuchs und gesund aussah, waren die nur allzu vertrauten neuen Sprösslinge der schwarzen Dornen. Seltsamerweise fühlte Aspar sich mit jedem Tag stärker. Wenn sich die Macht des Woorm-Gifts vervielfachte, so tat die Wirksamkeit der Hexenarznei dasselbe. Auch Unhold schien lebhafter zu sein als seit Jahren, als wäre er wieder ein Junghengst. Und jede sinkende Sonne brachte sie der Bestie näher - und Fend. 549 Jenseits des Welph kannte Aspar die Namen der einzelnen Orte nicht mehr, und die Berge ragten um ihn herum auf. Der Woorm bevorzugte Täler, doch gelegentlich überquerte er auch niedrige Pässe. Einmal folgte er einem Strom unter einem Berg hindurch, und Aspar verbrachte einen Tag im Dunkeln damit, ihn bei Fackellicht zu verfolgen. Als das Ungetüm das zum zweiten Mal tat, gab er bald auf, weil sich der Tunnel mit Wasser füllte. Stattdessen trat er fluchend den Rückzug ins Tageslicht an und arbeitete sich die Bergflanke hinauf, bis er einen Kamm erreichte, von dem aus er einen guten Blick ins nächste Tal hatte. Er versprach dem Wüterich ein Opfer, wenn das Ungeheuer nicht entkam. In der Dämmerung strengte er seine Augen an, bis er endlich den Kopf des Woorms in einem zwei Meilen entfernten Fluss Wellen schlagen sah, und er machte sich an den Abstieg. Danach war es einfach, und er war ihm so dicht auf der Spur, dass er Tiere und Vögel fand, die noch nicht ganz verendet waren. Natürlich ragte am Ende des Tals ein weiterer gewaltiger Berg auf, der Probleme machen könnte, wenn die Bestie dort einen unterirdischen Weg fand. Doch er hatte vor, sie einzuholen, bevor sie den Berg erreichte. Am nächsten Morgen war es noch nicht so weit, doch er war dicht dran. Das merkte er an dem Geruch. Er überprüfte den Pfeil, dann löschte er - wie er es jeden Morgen tat - die restliche Glut seines Lagerfeuers und kehrte zu der Fährte zurück. Das Tal stieg an, füllte sich mit Fichten, Schierling und Klettengehölz. Er ritt auf der Südseite dahin, am Fuß einer Klippe aus ausgelaugtem gelbem Stein, die ungefähr zwanzig Ellen hoch aufragte; darüber konnte er etwas erkennen, das wie ein Weg aussah, der sich durch felsiges, mit Gestrüpp bewachsenes Gelände wand. Er musterte die lange Felswand und überlegte, dass er, wenn er einen Weg dort hinauffände, vielleicht eine höhere, bessere Angriffsstellung einnehmen könnte. Viel Hoffnung darauf bestand seiner Ansicht nach allerdings nicht er hatte ein Gefühl dafür, wie das Gelände beschaffen war, und es sah nicht so aus, als wür55° de die Klippe in absehbarer Zeit einem sanfteren Hang Platz machen. Über der Klippe reckten sich weitere Berge in die Höhe. Manchmal sichtbar, manchmal durch den Winkel seinem Blick entzogen. Er dachte, er hätte etwas gehört, und hielt an, um zu lauschen. Wieder ertönte das Geräusch, deutlicher - eine menschliche Stimme, die etwas brüllte. Gleich darauf fand er den Urheber der Stimme. Auf dem Weg über ihm war eine Reihe von ungefähr sechzig Reitern aufgetaucht; vielleicht waren sie gerade von einem anderen Pfad aus darauf gestoßen, den er nicht sehen konnte. Hier war die Klippe ungefähr dreißig Ellen hoch, und die Reiter befanden sich ein wenig hangaufwärts von ihrem Rand. Der Mann, der brüllte, zeigte auf ihn hinunter. »Gute Augen«, knurrte Aspar verdrossen. Die Sonne stand hinter den Männern, daher konnte er ihre Gesichter nicht sehen, doch ihr Anführer schien
Kirchengewänder zu tragen, was Aspar augenblicklich misstrauisch machte. Er bemerkte, dass drei der Männer ihre Bögen bereithielten. »Hallo da unten«, rief der Anführer. Aspar war verblüfft, wie bekannt ihm die Stimme vorkam, obgleich er sie nicht sofort einordnen konnte. »Hallo da oben auf dem Kamm«, antwortete er laut. »Ich hatte gehört, Ihr wärt tot, Aspar White«, erwiderte der Mann. »Ich glaube wirklich, man kann niemandem mehr vertrauen.« »Hespero?« »Ihr werdet ihn gefälligst mit >Euer Exzellenz< anreden!«, verlangte der Ritter an Hesperos Seite. »Gemach, Sir Eiden«, beschwichtigte Hespero. »Das ist mein Waldhüter, wusstet Ihr das nicht?« Nach der Lautstärke zu urteilen, hatte er das ganz allein für Aspars Ohren verkündet. Aspar erwog mitzuspielen, verwarf diesen Gedanken jedoch 55i rasch wieder. Er war lange genug allein im Wald gewesen, dass ihm jegliche Lust auf Heuchelei vergangen war. »Jetzt nicht mehr, Euer Exzellenz!«, rief er zurück. »Ich habe genug von Eurem Werk gesehen.« »Das ist nur angemessen«, gab Hespero zurück. »Ich habe genug über das Eure gehört. So lebt denn wohl, Waldhüter.« Aspar wandte den Kopf und tat, als wolle er davonreiten, hielt jedoch den Blick nach oben gerichtet. Er sah, wie Sir Eiden seinen Bogen spannte. »Ja, das ist alles, was ich an Ausreden brauche«, murmelte er. Er hatte sich gefragt, ob das nötig sein würde, doch Hespero hatte das Problem für ihn gelöst, mit einem Wort, das zu leise gewesen war, als dass er es hätte hören können. Aspar sprang von Unholds Rücken, als der erste Pfeil ihn um mehr als eine Elle verfehlte, und als er auf dem Boden aufkam, zielte er ruhig und traf den Schützen von unten genau durchs Kinn. Er legte einen zweiten Pfeil an die Sehne und schoss auf Hespero, doch ein weiterer Berittener geriet in die Flugbahn des Pfeils und bekam ihn in die gepanzerte Seite. Die restlichen schussbereiten Bogenschützen sprangen hastig von den Pferden, und er sah mindestens sechs weitere ihre Bögen bereitmachen. Wieder schoss er und wirbelte dann auf ein Krachen im Unterholz hin herum. Er stellte fest, dass er an seinem Pfeilschaft entlang auf den Leichnam des ersten Mannes blickte, den er niedergeschossen hatte: Er war von der Klippe gestürzt und lag zerschmettert auf einem Felsen an deren Fuß. Aspar trat dort hinüber und duckte sich unter einen Überhang, just als Pfeile wie rot gefiederter Weizen aus der Erde zu sprießen schienen. Von dort aus bekam er den Toten zu fassen und zog ihn in seine Deckung, dann durchsuchte er die Leiche rasch. Er nahm die Pfeile und die Verpflegung des Mannes an sich und entdeckte dann etwas mehr, als er erwartet hatte. Denn in der Provianttasche des Mannes steckte ein Hörn - und nicht nur das, es war ein Hörn, das Aspar wiedererkannte, aus weißem Knochen, mit seltsamen Figuren graviert. 552 Es war das Hörn des Dornenkönigs, das Hörn, das er in den Hasenbergen gefunden hatte. Das Hörn, das Stephen geblasen hatte, um den Dornenkönig herbeizurufen. Das Hörn, das sie Hespero zum Studium überlassen hatten. Aspar steckte das Hörn wieder in die Tasche, hängte sich diese um den Hals, holte tief Luft und rannte los. Der größte Teil des Beschusses verfehlte ihn; ein Schaft traf seinen Harnisch und glitt ab, und dann war er im Schutz der Bäume, wieder auf Unholds Rücken, und ritt im Galopp davon. Als klar war, dass er alle, die ihm vielleicht folgen mochten, hinter sich gelassen hatte, verlangsamte er das Tempo und hatte dann Zeit, sich zu fragen, was es wohl zu bedeuten hatte, dass Hespero hier war. Zufälle gab es, doch er war sich sicher, dass dies keiner war. Er dachte darüber nach, während er in einigermaßen zügigem Tempo weiterritt und zunächst ungefähr alle dreißig Schritte nach hinten schaute, später seltener. Eine Klippe hinunterzusteigen war leichter, als eine zu erklimmen, besonders mit Seilen, und er hätte gewettet, dass Hesperos Truppe Seile dabeihatte. Pferde die Felswand hinabzulassen würde einige Zeit dauern, falls es ihnen überhaupt gelang, also sollte er in der Lage sein, sich jegliche Verfolger vom Hals zu halten - wenn er sich von den Felsspalten fern hielt. Natürlich war es durchaus möglich, dass sie das Gelände besser kannten als er. Vielleicht wurde aus der Klippe bald ein flacher Abhang, oder es führte eine Klamm nach unten. Doch daran konnte er nichts ändern. Aspar überlegte, ob Hespero wohl ebenfalls dem Woorm folgte - obgleich das nicht logisch erschien, wenn man bedachte, aus welcher Richtung er gekommen war. Vielleicht verfolgte er stattdessen das, hinter dem der Woorm her war - was, wenn er Fend Glauben schenkte, Stephen war. Was also hatte Stephen hier in den Bergen zu schaffen? Und warum interessierte sich alle Welt so sehr dafür? 553 Das wusste er nicht, doch er nahm an, dass er es bald herausfinden würde, denn alle Wege schienen zusammenzulaufen. Es dürfte recht interessant werden, wenn es so weit war, dachte er bei sich. Hier war der Wald noch nicht verendet, obgleich die Fährte, der er folgte, wahrscheinlich eine Todeswunde war. Schade, denn er stellte fest, dass ihm diese an Nadelwäldern so reiche Landschaft zusagte. Aspar war schon öfter in immergrünen Wäldern gewesen, jedoch nur in den Hasenbergen. Ihm gefiel das Neue daran, einen solchen Wald auf relativ ebenem Gelände anzutreffen.
Wie waren wohl die Wälder von Vestrana und Nahzgave beschaffen? Sie lagen noch weiter im Norden. Er hatte von riesigen, kalten Sümpfen berichten hören und von gewaltigen Nordlandbäumen, die ihre Wurzeln in einem Erdboden versenkten, der mehr als ein halbes Jahr lang gefroren war. Solche Orte hätte er gern einmal gesehen. Warum hatte er so lange gewartet? Vielleicht gab es sie gar nicht mehr. Möglicherweise hatten dort oben im Norden Gyffins und Woorme und alles mögliche andere Gezücht die Erde schon seit Jahren vergiftet. Jetzt wusste er zwar, woher sie kamen, doch er wusste nicht, warum oder wie. Vielleicht konnte Stephen das ausknobeln, wenn Stephen noch am Leben war. War es eine Krankheit, eine Fäulnis, irgendetwas, das hin und wieder einfach in der Welt vorkam? Gab es Jahreszeiten, die länger als Jahrhunderte andauerten, Phasen des Heranwachsens und des Vergehens? Oder verursachte irgendjemand - oder irgendetwas das alles? Steckte Hespero dahinter? Fend? Bestimmt gab es doch jemanden, den er töten konnte, damit das aufhörte. Oder vielleicht hatte der Dornenkönig Recht. Vielleicht waren die Menschen selbst die Krankheit, und alle mussten getötet werden. Nun, das war alles Zunder ohne Funken, und er würde kein Feuer in Gang bekommen, indem er lediglich darüber nachdachte. Er wusste, dass einiges von dem aufhören würde, wenn er den Woorm zur Strecke brachte, und Hespero und Fend zu töten würde vielleicht auch helfen. Auf jeden Fall war er gewillt, es zu versuchen. 554 Unhold suchte sich einen Weg über eine Ansammlung von Steinen, die einer eingestürzten Mauer merkwürdig ähnlich sah, und er bemerkte noch weitere solcher Steinhaufen. Männer und Frauen hatten einst hier gelebt, hatten Häuser gebaut. Jetzt labte sich der Wald an ihren Gebeinen. So war es nun einmal - nichts war von Dauer. Bäume brannten ab, und es entstanden Wiesen, aus Wiesen wurde Dickicht, und schließlich kehrten die Baumriesen zurück und nahmen dem Gras und den Büschen und den kleineren Bäumen mit ihrem Schatten die Lebensgrundlage. Menschen legten Weiden und Felder an und nutzten sie ein paar Leben lang, dann holte der Wald sie sich zurück. So war es schon immer gewesen - bis jetzt. Er würde das wieder in Ordnung bringen oder sterben. Andere Möglichkeiten sah er nicht. Kurze Zeit später kam er auf eine breite Lichtung, wo er die ganze Masse des Berges vor ihm erkennen konnte. Ihm wurde klar, dass er sich bereits auf seinen unteren Hängen befand, und aus diesem Winkel konnte er die Woorm-Fährte als schmale, aber deutliche Linie erkennen, die sich zum Gipfel emporwand. Er konnte sogar einen Teil des Schwanzes sehen, obgleich die Entfernung zu groß war, um die Bestie selbst ausmachen zu können. Sie hielt auf die Nordwand zu. Außerdem konnte er Hesperos Männer hören, zu seiner Rechten. Wahrscheinlich waren sie jetzt alle auf demselben Hang, nachdem der Kamm und das Tal miteinander verschmolzen waren. Aus dem Getöse, das sie machten, schloss er allerdings, dass sie wahrscheinlich fast eine Meile entfernt waren, und wenn sie nicht über irgendwelche Hexenkünste verfügten, würde es ihnen schwer fallen, seine Spur zu finden, ohne entlang der Klippe zurückzureiten. Er klopfte Unhold auf den Hals. »Wie sieht's mit einem kleinen Rennen aus, alter Junge?«, fragte er. »Wir müssen als Erste dort sein.« Eifrig hob Unhold den Kopf, und gemeinsam stürzten sie sich auf den Berg. 555 Während Anne floh, hallte Roberts spöttisches Gelächter in ihren Ohren wider. Wie war er Sir Neil entkommen? Woher hatte er gewusst, wo er ihr einen Hinterhalt legen musste, und wie hatte er überhaupt von den Geheimgängen wissen können? Doch Robert war in Wirklichkeit gar kein Mensch mehr, das wusste sie. Wahrscheinlich war er so wie die hansischen Ritter und konnte nicht sterben. Hatten er und Sir Neil miteinander gekämpft? Hatte er ihren Ritter getötet? Oder waren die Heere Hansas bereits eingetroffen und hatten Artwair und ihre Armee zermalmt? So würde sie nicht denken. So durfte sie nicht denken. Alles, worauf es jetzt ankam, war, ihm lange genug zu entfliehen, um nachzudenken, um sich und ihre Gefährten in Sicherheit zu bringen. Einer ihrer Männer war bereits tot, war vom Blendzauber der Tunnel zu verwirrt gewesen, um loszurennen, als sie es befohlen hatte, und hatte von einem von Roberts Soldaten einen Speer in den Rücken bekommen. Damit blieben Anne noch fünf Begleiter - drei Handwerksmeister, Cazio und Austra. Er hatte sie erwartet - mit zwanzig Mann und einer Hand voll seiner schwarz gekleideten Frauen, die sie führten. Cazio, den Heiligen sei Dank, war noch immer bei ihr. Sie versuchte, ihre Angst und ihre Enttäuschung beiseite zu schieben und sich zu konzentrieren. Dort vorn sollte der Gang sich eigentlich gabeln, oder nicht? Sie war noch nie hier gewesen, doch sie kannte diesen Gang, konnte fühlen, wohin er führte. Wenn sie sie ins Schloss bringen konnte, in die Tunnel dort, dann konnten sie sich vielleicht verstecken. In der Zwischenzeit würden ihre Männer im Hof der Gobelins alle sterben, denn selbst wenn es Artwair gelang, Thornrath rechtzeitig einzunehmen, um Onkel Fails Flotte hereinzulassen, würde es trotzdem zu lange dauern, durch eine Belagerung zu siegen, jetzt, da ihr törichter kleiner Plan angefangen hatte, sich in seine Bestandteile aufzulösen. 556
Sie fühlte sich hilflos, doch tot oder als Gefangene wäre sie noch hilfloser. »Hände festhalten!«, rief sie. »Haltet euch alle fest an den Händen!« Suchend schaute Anne über die Schulter, sah jedoch kein verräterisches Laternenlicht hinter ihnen. Natürlich machte der Gang genug Biegungen, sodass ihre Verfolger gar nicht weit sein mussten, um ungesehen zu bleiben. Austra - vor der sie herlief - hielt die einzige intakte Lampe, die sie hatten, und jetzt zeigte diese ihnen zwei Möglichkeiten. »Die rechte Abzweigung«, entschied sie, doch nach nur sechzehn Schritten stießen sie auf eine Mauer, die ihnen den Weg versperrte. Sie war erst vor so kurzer Zeit errichtet worden, dass sie noch den Mörtel riechen konnte. Das hatte sie nicht vorhergesehen. Vor ihrem inneren Auge wand sich der rechte Tunnel durch die Außenmauer des Schlosses und schließlich direkt in das alte Sonnengemach ihrer Mutter. »Er hat sie zugemauert«, murmelte sie verbittert. »Natürlich.« Das war genau das, was sie vorgehabt hatte. »Die andere Abzweigung?«, fragte Austra hoffnungsvoll. »Die führt unter das Schloss, in die Verliese.« »Das ist doch besser, als gefangen genommen zu werden, oder?« »Ja«, stimmte Anne zu. »Und aus den Verliesen führen Wege ins Schloss. Bete nur, dass er die nicht auch versperrt hat.« Der Lärm der Verfolger schien sehr nahe, als sie zur linken Abzweigung zurückkehrten. »Wo gehen wir hin?«, wollte Cazio wissen. »Stellt keine Fragen«, wies Anne ihn an. »Das macht alles nur noch schlimmer.« »Noch schlimmer«, brummte Cazio. »Es ist doch schon noch schlimmer. Lasst mich wenigstens kämpfen.« »Nein. Noch nicht. Ich sage es Euch, wenn Ihr kämpfen sollt.« Cazio antwortete nicht. Vielleicht hatte er schon vergessen, dass sie miteinander gesprochen hatten. 557 Der Tunnel gabelte sich erneut, doch wie sie geargwöhnt hatte, war der Weg, den sie einschlagen wollte, versperrt, diesmal sehr viel weniger ordentlich - die Decke war zum Einsturz gebracht worden. Es sah aus, als wäre das in aller Eile geschehen, die Wirkung jedoch war in jeder Hinsicht dieselbe. »Er kann sie nicht alle kennen«, sagte sie zu Austra. »Das kann einfach nicht sein.« »Was ist, wenn er irgendeine Karte hat? Vielleicht hatte deine Mutter eine, oder Erren.« »Vielleicht«, räumte Anne ein. »Wenn es so ist, sind wir verloren.« Sie blieb stehen, und ein kleines Frösteln kroch ihr Rückgrat hinauf. »Hast du das gehört?«, fragte sie Austra. »Ich habe nichts gehört«, antwortete ihre Freundin. Doch Anne vernahm es abermals, ein fernes Wispern ihres Namens. Und sie erinnerte sich. »Es gibt da einen Gang«, murmelte sie. »Ich habe den Eingang gesehen, aber nicht einmal ich konnte sehen, wo er hinführt. Da ist eine Art Nebel, und noch etwas ...« »Etwas Schlimmeres als Robert?« Daraufhin blitzte ein Bild auf, schmerzhaft grell, von der rothaarigen Dämonin. Doch das war nicht richtig. Sie war es nicht, die ihr zuflüsterte. »Du weißt, was es ist«, sagte sie. Sie gelangten in eine kleine Steinkammer, aus der zwei Gänge hinausführten. Beide waren versperrt. »Du meinst ihn}«, zischte Austra. »Den Letzten der ...« Sie brachte den Gedanken nicht zu Ende. Ihr Atem ging schwer. »Ja.« Anne traf ihre Entscheidung und streckte die Hand nach der Stelle aus, von der sie instinktiv wusste, dass sie da war, eine kleine Vertiefung im Stein. Sie fand den Riegel und drückte darauf. Etwas im Innern klickte, und ein Stück der Wand öffnete sich. Anne sah, dass der Stein 558 sehr dünn gehauen und irgendwie an einer dicken Holztäfelung befestigt worden war. »Schnell«, wies sie die anderen an. Sie drängte sie durch den Eingang, trat selbst hindurch und zog die Tür zu, lauschte auf das Klicken und vernahm es, als der Riegel einrastete. Sie konnten zu sechst gerade noch auf einem kleinen Absatz in einem roh in den Fels gehauenen Tunnel kauern. Hinter dem Absatz führte der Gang ziemlich dramatisch abwärts. Wäre er nicht so schmal gewesen, so hätte man wahrscheinlich nicht anders als fallend hinuntergelangen können; so jedoch konnten sie den Abstieg meistern, indem sie sich mit den Händen an den Wänden abstützten. Austra reichte die Lampe nach hinten an Cazio weiter, und Anne übernahm die Führung, während das Licht von hinten kam und ihren Schatten auf diesen sonderbaren Irrgarten warf. Eine Art verbrannter Geruch lag schwer in der Luft, doch es war nicht heiß - wenn überhaupt, fröstelte sie. »Er ist dort unten«, murmelte sie. »Was will er wohl von dir?«, überlegte Austra.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Anne, »aber es sieht so aus, als würden wir es herausfinden.« »Was ist, wenn das alles zu Roberts Falle gehört?«, wollte Austra wissen. »Was ist, wenn er dir diese Vision gesandt hat? Vielleicht kann er das ja.« »Vielleicht«, erwiderte Anne. »Aber ich glaube nicht, dass er mich darüber täuschen könnte, wer er ist. Und Robert ist hinter uns. Ich kann den Bewahrten vor uns hören.« »Aber ein Skaslos ...« »Virgenya Dare hat ihn zu unserem Sklaven gemacht«, sagte Anne mit fester Stimme. »Ich bin die rechtmäßige Königin, also ist er jetzt mein Diener. Fürchte dich nicht vor ihm. Vertrau mir.« »Ja«, murmelte Austra schwach. »Weißt du noch, wie wir damals immer im Horz gespielt haben?«, fuhr sie einen Moment später fort. 5 59 »Ja, das weiß ich noch«, antwortete Anne. Sie griff hinter sich nach Austras Hand. »Irgendwie passiert das alles deswegen. Weil wir das Grab gefunden haben.« »Virgenya Dares Grab?« »Was das betrifft, habe ich mich geirrt«, sagte Anne. »Du? Dich geirrt?« »Das kommt vor«, bemerkte Anne trocken. »Also, sind wir bereit, einem echten, lebendigen Scaos zu begegnen?« »Ja.« Austra klang nicht gerade zuversichtlich. »Dann los. Cazio, seid Ihr noch da? Und ihr anderen?« »Ja«, antwortete Cazio, und die anderen stimmten ein. »Aber über wen redet Ihr da, bei Ontro? Und wie sind wir in diesen elenden Tunnel geraten?« »Wie war das?«, fragte Anne. »Ich habe gesagt, wie sind wir in diesen Tunnel geraten?« »Ich glaube, er weiß, wo er ist, und er erinnert sich auch wieder«, meinte Austra. »Was soll das heißen, wieder erinnern?«, wollte Cazio gereizt wissen. »Ich war noch nie hier. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich hierher gekommen bin.« »Dieser Gang muss älter sein als der Blendzauber«, stellte Anne fest. »Das ist wahrscheinlich gut.« »Blendzauber?«, brummte Cazio. »Was für ein Blendzauber? Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist das SefryHaus. Bin ich verhext worden?« »Bei mir ist es genauso!«, rief einer von Leaftons Männern -Cuelm MeqVorst - aufgeregt. »Ja«, sagte Anne. »Ihr habt unter einem Zauberbann gestanden, aber jetzt haben wir ihn hinter uns, und es ist keine Zeit, das zu erklären. Der Thronräuber und seine Männer verfolgen uns.« »Dann lasst uns gegen sie kämpfen«, rief Cazio. »Nein, es sind zu viele«, entgegnete Anne. »Aber ihr ganz hinten, passt auf. Wenn sie irgendwie den Weg hier herein finden, werden wir kämpfen müssen.« 560 »Es kommt doch immer nur einer an uns heran«, erklärte Cazio. »Stimmt«, erwiderte Anne. »Vielleicht gelingt es Euch, sie uns lange genug vom Hals zu halten, damit wir verdursten können.« »Und was machen wir jetzt?«, wollte MeqVorst wissen. Panik schwang in seiner Stimme mit. »Ihr folgt mir«, sagte Anne entschieden. »Vielleicht werdet ihr seltsame Dinge hören oder sehen, doch solange wir nicht von hinten angegriffen werden, haltet die Hände still, bis ich etwas anderes sage. Habt ihr alle verstanden?« »Nicht ganz«, antwortete Cazio, und die drei anderen Männer murmelten zustimmend. »Wo gehen wir hin?« »In die einzige Richtung, die uns bleibt. Hinunter.« Der versengte Geruch wurde stärker, und Anne war, als könnte sie damit vermischt den scharfen Dunst der Angst jener riechen, die hinter ihr gingen. »Jetzt höre ich es«, keuchte Austra. »Ihr Heiligen, er ist in meinem Kopf.« »Wir können nicht weiter«, protestierte MeqVorst angstvoll. »Gegen Männer kann ich kämpfen, aber ich lasse mich nicht von irgendeiner verdammten Riesenspinne auffressen.« »Es ist keine Spinne«, sagte Anne und fragte sich gleichzeitig, ob das wahr war. Schließlich wusste niemand, wie die Skasloi aussahen - zumindest hatte sie nie etwas dergleichen gehört oder gelesen. Sie waren als Dämonen des Schattens bekannt, deren wahre Gestalt von der Finsternis verborgen wurde. »Ruhig bleiben, ihr alle«, befahl sie. »Er kann euch nichts tun, solange ihr bei mir seid.« »Ich ... es fühlt sich an ... die Stimme ...« Der Krieger vollendete den Satz nicht, und Anne glaubte, ihn schluchzen zu hören. Das Gemurmel wurde lauter, blieb jedoch unverständlich, bis sie endlich wieder ebenen Boden erreichten. Dann schien es zu verstummen, als sie den Weg abermals versperrt fanden. Wieder wusste Anne, wo sich der verborgene Eingang befand. 561 Sie ertastete den Riegel und verspürte dabei ein merkwürdiges Kribbeln.
Die Mauer vor ihnen schwang geräuschlos auf, und Lampenlicht ergoss sich aus dem Tunnel in eine niedrige, runde Kammer. Etwas bewegte sich in dem neuen Licht, etwas Falsches, und sie erstickte einen Aufschrei. Austra gelang das nicht, und ihr Schrei gellte durch die hallende Tiefe. Anne stand steif da; ihr Herz hämmerte, und vor ihren Augen verschwamm alles. Erst nach einigen nervenzerrenden Augenblicken wurde ihr klar, dass sie kein Ungeheuer vor sich sah, sondern eine Frau und einen Mann. Der Mann war grauenhaft entstellt; sein Gesicht war zerschnitten, verbrannt, und die Heiligen mochten wissen, was noch alles. Seine schmutzigen Lumpen bedeckten nur sehr wenig von seinem Körper. Das Gesicht der Frau war verschmiert und blutig. Sie trug dunkle Männerkleidung. Zu ihrer Verblüffung erkannte Anne sie. »Lady Berrye?« »Wer ist da?«, fragte Alis Berrye benommen. Sie klang, als wäre sie betrunken. »Seid Ihr echt?« »Ja, das bin ich.« Alis Berrye lachte und drückte die Schulter des Mannes. »Es sagt, es wäre echt«, erklärte sie ihm. »Alles sagt, dass es echt ist«, knurrte der Mann mit einem sonderbaren Akzent. »Aber das sagen wir selbst uns auch, wenn wir auf dem Gräberhof wandeln, ja?« »Ihr wart die Geliebte meines Vaters«, sagte Anne. »Ihr seid kaum älter als ich.« »Seht Ihr?«, fragte Alis Berrye. »Es ist Anne Dare, Williams jüngste Tochter.« »Ja«, erwiderte Anne ein wenig verärgert. »So ist es.« Daraufhin runzelte Alis Berrye die Stirn und kam schwankend auf die Beine. Angst zeichnete sich auf ihrer Miene ab. »Bitte«, flüsterte sie. »Ich kann nicht, nicht noch einmal.« 562 Sie kam näher, und Anne sah, wie mager sie war. Alis Berrye war ihr stets fröhlich erschienen, eine junge Frau, die gerade ihre Mädchenjahre hinter sich ließ, mit rosigen, glatten Wangen. Jetzt schmiegte sich ihre Haut eng an den Schädel, und ihre leuchtend blauen Augen wirkten schwarz und fiebrig. Sie streckte eine zitternde Hand nach Anne aus. Ihre Finger waren schmutzig und zerschrammt. Der Mann stemmte sich ebenfalls hoch und murmelte in einer Sprache, die Anne nicht kannte. Sobald Alis Berryes Finger Annes Gesicht streiften, riss sie sie zurück, als habe sie sie sich verbrannt. »Ihr Heiligen«, stieß sie hervor. »Sie ist wirklich echt. Oder echter als die anderen ...« Anne griff nach der Hand der anderen Frau. »Ich bin echt«, bestätigte sie. »Hier seht Ihr meine Zofe Austra. Die anderen hier dienen mir ebenfalls. Lady Berrye, wie seid Ihr hierher gekommen?« »Es ist so lange her ...« Die junge Frau schloss die Augen. »Mein Freund braucht Wasser«, sagte sie. »Habt Ihr welches?« »Ihr braucht beide Wasser«, erklärte Anne. »Wie lange seid Ihr schon hier unten?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Alis Berrye. »Vielleicht kann ich es ausrechnen. Ich glaube, es war der dritte Tag des Prismen.« »Also zwei Wochen.« Cazio reichte Anne einen Wasserschlauch, und sie gab ihn an Alis Berrye weiter. Diese brachte ihn rasch zu dem von Narben gezeichneten Mann. »Trinkt langsam«, wies sie ihn an. »Sonst behaltet Ihr es nicht bei Euch.« Er trank ein paar Schlucke, dann schüttelte ein Hustenanfall seinen Körper so sehr, dass er hinfiel. Berrye trank ebenfalls ein bisschen, dann kniete sie nieder, um ihm noch mehr zu geben. Während sie das tat, begann sie zu sprechen, obgleich ihr Blick auf den Mann geheftet blieb. »Ich bin eine Dienerin Eurer Mutter«, erklärte sie. 563 »Das bezweifle ich sehr«, entgegnete Anne. »Ich wurde in einem Konvent unterwiesen, Euer Majestät. Nicht in einem Konvent der heiligen Cer, aber nichtsdestotrotz bin ich eine Schwester. Meine Aufgabe war, die Geliebte Eures Vaters zu sein. Doch nach seinem Tod habe ich Eure Mutter aufgesucht.« »Wieso?« »Wir brauchten einander. Ich weiß, dass es Euch schwer fällt, das zu glauben, aber ich habe ihr gedient, so gut ich konnte. Ich bin in die Verliese heruntergekommen, um einen Mann namens Leovigild Ackenzal zu befreien « »Der Komponist. Ich habe von ihm gehört.« Anne warf einen Blick auf den verstümmelten Mann. »Ist das ... ?« »Nein«, sagte Alis Berrye. »Ackenzal wollte nicht mitkommen. Robert hält Menschen, die ihm teuer sind, als Geiseln fest, und er hat sich geweigert, für seine Freiheit zu riskieren, dass ihnen etwas geschieht. Nein, dies ist soweit ich das sagen kann - Fürst Cheiso von Safnien.« Anne schnappte nach Luft; ihr war, als habe sie eine Ohrfeige bekommen. »Lesbeths Verlobter?« Als der Name ihrer Tante fiel, stöhnte der Mann auf und begann unverständliche Schreie auszustoßen. »Still.« Alis Berrye streichelte seinen Kopf. »Das hier ist ihre Nichte. Das ist Anne.« Das verwüstete Antlitz wandte sich ihr zu, und einen Moment lang konnte Anne den stattlichen Mann erkennen, der er einst gewesen war. Seine Augen waren dunkel, und Welten des Leids strömten daraus hervor.
»Meine Liebste«, sagte er. »Ewig meine Liebste.« »Robert hat ihn beschuldigt, Lesbeth entführt und sie dem Feind ausgeliefert zu haben. Ich dachte, er wäre hingerichtet worden. Ich habe ihn gefunden, als ich einen Weg hinaus gesucht habe, nachdem ich entdeckt hatte, dass Robert die meisten Gänge zugeschüttet hatte.« Plötzlich sah sie ein wenig panisch aus. »Euer Oheim, wisst Ihr -« 564 »Ist nicht menschlich? Das ist mir bekannt.« »Habt Ihr ihm den Thron entrissen? Hat seine Schreckensherrschaft ein Ende?« »Nein. Er sucht nach uns, gerade jetzt. Das hier war der einzige Tunnel, den er nicht versperrt hat.« »Ich weiß. Ich hatte gehofft, ich könnte einen Weg hinaus finden, in den Labyrinthen um den Bewahrten. Stattdessen hat er uns hier gefangen.« »Ihr seid dem Bewahrten begegnet?« »Nein. Eure Mutter ist einmal hergekommen, um mit ihm zu sprechen, und ich war bei ihr. Aber Robert hat den einzigen Schlüssel, von dem ich weiß. Wir konnten nicht hinein.« »Dann können wir immer noch nicht hinein.« Alis Berrye schüttelte den Kopf. »Ihr versteht nicht. Der Schlüssel ist für den Haupteingang, er bringt einen zu dem Vorraum außerhalb seiner Zelle. Außerhalb, versteht ihr? Damit er in Wänden uralter Magie eingeschlossen ist. Damit er beherrscht werden kann. Anne, wir sind in seiner Zelle.« Als sie das sagte, schienen die Wände selbst sich zu regen, wie riesige Windungen, und Austra löschte die Lampe und tauchte sie in völlige Finsternis. »Was?«, schrie Anne auf. »Austra?« »Er hat es mir befohlen ... ich war nicht... ich konnte nicht...« Doch dann war die Stimme wieder da, sie flüsterte nicht länger, sondern bebte durch den Stein und in ihre Knochen hinein. »Euer Majestät«, sagte sie in spöttischem Tonfall. Anne spürte sauren Atem auf ihrem Gesicht, und die Dunkelheit begann sich langsam und schrecklich zu drehen. 565 44. Kapitel Triey Leoff lächelte über den kleinen Notenschnörkel, den Mery der normalerweise getragenen, melancholischen Triey für den heiligen Resümier hinzufügte. Das war durchaus erlaubt - die Triey-Form lud zu Ausschmückungen aus dem Stegreif ein -, doch wo die meisten Musiker ein oder zwei schwermütige Verzierungen eingefügt hätten, versuchte Mery es stattdessen mit einer sehnsüchtigen, im Grunde jedoch freudigen Wiederholung eines vorangegangenen Themas. Da das Stück eine Meditation über Erinnerung und Vergessen war, war diese Variante trotz ihrer Ungewöhnlichkeit einfach vollkommen. Als sie geendet hatte, schaute sie - wie stets - erwartungsvoll zu ihm auf. »Gut gemacht, Mery«, lobte er. »Es erstaunt mich, dass jemand in deinem Alter diese Komposition so gut versteht.« »Wie meint Ihr das?«, fragte sie und kratzte sich an der Nase. »Es geht darin um einen alten Mann, der an seine Jugend zurückdenkt«, führte Leoff aus. »Der sich an glücklichere Zeiten erinnert - aber oft nicht mehr ganz richtig.« »Sind die einzelnen Themen deswegen so bruchstückhaft?«, wollte sie wissen. »Ja, und sie werden nie zur Gänze zusammengefügt, nicht wahr? Das Ohr ist nie ganz zufrieden.« »Deswegen gefällt es mir ja«, erwiderte Mery »Es ist nicht zu einfach.« Sie blätterte in den Notenblättern auf ihrem Pult. »Was ist denn das?«, fragte sie. »Das könnte der zweite Akt von Maersca sein«, antwortete er. »Lass mal sehen ...« Plötzlich fühlte es sich an, als sei sein Herz in Blei gegossen. 566 »Hier«, sagte er und versuchte, unbekümmert zu klingen. »Gib mir das.« »Was ist das?«, fragte Mery und schaute auf das Blatt. »Das verstehe ich nicht. Das sind ja fast nur wechselnde Akkorde - wo ist denn die Melodie?« »Das ist nicht für dich gedacht«, sagte Leoff um einiges heftiger, als er es vorgehabt hatte. »Entschuldigung.« Mery zog die Schultern ein. Er merkte, dass er schwer atmete. Hatte ich das nicht weggeräumt? »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es ist nicht deine Schuld, Mery«, beschwichtigte er. »Ich hätte das nicht herumliegen lassen sollen. Das ist etwas, das ich angefangen habe, aber nicht beenden werde. Denk nicht länger darüber nach.« Die Kleine sah blass aus. »Mery«, erkundigte er sich, »ist irgendetwas?« Mit großen Augen blickte sie zu ihm auf. »Das ist schlimm«, sagte sie. »Diese Musik ...« Er kniete nieder und ergriff ihre Hand ungeschickt mit seiner verkrüppelten Pranke. »Dann denk nicht daran«, riet er. »Versuch nicht, sie in deinem Kopf zu hören, verstehst du, sonst macht sie dich krank. Verstehst du das?«
Sie nickte, doch in ihren Augen standen Tränen. »Wieso schreibt Ihr so etwas?«, fragte sie kläglich. »Weil ich geglaubt habe, ich müsste das tun«, sagte er. »Aber jetzt denke ich, es ist vielleicht doch nicht notwendig. Mehr kann ich wirklich nicht erklären. Verstehst du das?« Wieder nickte sie. »Also - warum spielen wir nicht etwas Fröhlicheres?« »Ich wünschte, Ihr könntet mit mir zusammen spielen.« »Nun ja«, sagte er. »Ich kann immer noch singen. Meine Stimme war nie besonders großartig, aber ich kann den Ton halten.« Sie klatschte in die Hände. »Und was sollen wir dann spielen?« Unbeholfen suchte er in den Notenblättern auf seinem Schreib567 tisch. »Hier«, verkündete er. »Das ist aus dem zweiten Akt von Maersca. Es ist eine Art Zwischenspiel, eine komische Nebenhandlung. Der Sänger heißt Droep, ein Jüngling, der Pläne schmiedet, ein Mädchen ... äh ... des Nachts zu besuchen.« »So wie meine Mutter immer den König besucht hat?« »Äh, nun ja ... davon weiß ich nichts, Mery«, wich Leoff aus. »Jedenfalls, es ist Nacht, und er steht unter ihrem Fenster und tut so, als wäre er ein Meeresprinz aus einem sehr fernen Land. Er erzählt ihr, dass er mit den Fischen in der See reden kann, und erklärt, wie die Kunde von ihrer Schönheit unter den Wogen und über die ganze Welt hinweg zu ihm gelangt ist.« »Ich kann es mir vorstellen«, sagte Mery. »Die Brasse erzählt es der Krabbe, und die Krabbe erzählt es dem Dorsch ...« »Genau. Und jeder hat ein kleines Thema ...« »Bis wir zum Delfin kommen, der es dem Prinzen erzählt.« »Richtig. Dann fragt sie, wie er aussieht, und er sagt, er sei der Stattlichste von allen, die in seinem Lande leben was in gewisser Weise auch stimmt, er hat das Land ja erfunden.« »Nein«, widersprach Mery »Das ist trotzdem eine Lüge.« »Aber lustig, finde ich«, entgegnete Leoff. »Die Melodie ist jedenfalls lustig.« »Ah, schon jetzt eine Kritikerin«, stellte Leoff fest. »Aber um mit der Geschichte weiterzumachen, sie verlangt, ihn zu sehen, aber er schwört, es wäre ihm nur durch Magie möglich gewesen, zu ihr zu kommen, und würde sie sein Gesicht sehen, so müsste er in seine Heimat zurückkehren und könnte niemals wiederkommen. Sollte sie jedoch drei Nächte lang das Lager mit ihm teilen, ohne sein Gesicht zu sehen, so wäre der Bann gebrochen.« »Aber dann würde sie doch wissen, dass er gelogen hat«, wandte Mery verwirrt ein. »Ja, aber er glaubt, dass es ihm bis dahin gelingt, sie ... äh ... ihr einen Kuss zu geben.« »Das ist aber ganz schön viel Mühe für einen Kuss«, meinte Mery zweifelnd. 568 »Stimmt«, pflichtete Leoff ihr bei. »Aber so ist das nun einmal bei Jungen in diesem Alter. Warte nur, bis du ein bisschen älter bist, dann wirst du sehen, wie viel Mühe sich die jungen Männer geben werden, um dich auf sie aufmerksam zu machen. Allerdings würde ich dir raten, dass du, sollte einer behaupten, aus irgendeinem fernen Land zu sein, einem, von dem du noch nie gehört hast -« »Dann sollte ich darauf bestehen, sein Gesicht zu sehen«, kicherte Mery »Genau. Also, bist du so weit?« »Wer soll die Stimme der Frau singen?« »Kannst du das tun?« »Das ist zu tief für mich.« »Nun gut«, sagte Leoff. »Dann singe ich eben Falsett.« »Und das Duett?« »Ich werde improvisieren«, antwortete Leoff. »Hier, wir überspringen den Teil, wo er sich vorstellt, und fangen gleich mit dem Lied an.« »Schön.« Mery legte die Finger auf die Tasten und begann. Unter ihrem Einfluss hüpfte die Begleitung sogar noch prahlerischer dahin, als er es sich vorgestellt hatte. Er räusperte sich, als sein Einsatz kam. Von der See hab ich's vernommen Von des Meeres viel Getier Tausend Meilen weit geschwommen Kam die Kunde bald zu mir. Kund' von einer Maid so liebreich Fern und weit in einem Land Dass ich, Prinz von Ferrowigh Eilen muss zu deinem Strand. Da du badetest am Deich Sah die Brasse deine Schönheit 569 Sagt's dem Freund, der Krabbe, gleich Der vorbeikroch aus Gewohnheit Und die Krabbe sagt's dem Dorsche Dieser ruft's Sardinen zu Dass ich, Prinz von Ferrowigh, Eilen muss ohn' Rast und Ruh ... Zum ersten Mal seit langem stellte Leoff fest, dass er glücklich war. Und mehr noch, zuversichtlich. Die Schrecken der letzten Monate wichen, und ihm war, als könnte tatsächlich wieder etwas Gutes geschehen. Ihm wurde klar, dass er an Ambrias Versprechen, ihnen die Flucht zu ermöglichen, glaubte, es von dem Moment
an geglaubt hatte, wo sie es ihm gegeben hatte. Doch in gewisser Weise spielte das jetzt keine Rolle. »Na, wir sind aber vergnügt«, unterbrach eine Frauenstimme den Gesang. Er zuckte zusammen. Areana stand in der Tür und sah ihnen zu. Sie hatte seit dem Morgen, als sie ihn mit Ambria überrascht hatte, nicht mehr mit ihm gesprochen. »Areana!«, rief Mery. »Wollt Ihr nicht mitmachen? Wir brauchen wirklich jemanden, der die Taleath singt!« »Ach ja?«, fragte sie zweifelnd, den Blick fest auf Leoff geheftet. »Bitte«, sagte dieser. Sie stand einfach nur da. »Kommt«, drängte Leoff. »Ihr müsst uns doch gehört haben. Ich weiß, dass Ihr den Part gern singen würdet.« »Wirklich?«, fragte sie kalt. »Ich möchte, dass Ihr ihn singt«, erwiderte er. »Ich kann noch mal von vorn anfangen«, erbot sich Mery. Areana seufzte. »Na schön. Fang noch einmal an.« Einen Glockenschlag später wurde Mery müde und ging, um ein Nickerchen zu machen. Leoff fürchtete schon, dass auch Areana 57° sich verabschieden würde, doch stattdessen ging sie zum Fenster hinüber. Nach kurzem Zögern trat Leoff zu ihr. »Da drüben bei der großen Mauer geht irgendetwas vor, glaube ich«, sagte er. »Bei Thornrath? Seit Tagen steigt Rauch auf.« Sie nickte, schien jedoch nicht zu der Seefestung hinüberzublicken oder irgendwo anders hin. »Ich fand, Ihr habt die Taleath sehr gut gesungen«, versuchte er es von neuem, »obwohl das gar nicht die Rolle ist, die ich für Euch geschrieben habe.« »Für mich wird es in diesem Possenspiel keine Rolle geben«, fauchte sie. »Dabei mache ich nicht mit.« Er senkte die Stimme. »Ich arbeite doch nur daran, um Robert davon abzuhalten, Euch oder Mery etwas zuleide zu tun«, sagte er. »Ich habe nicht vor, das Stück aufzuführen.« »Wirklich?« Ihr Blick wurde ein wenig weicher. Er nickte. »Wirklich. In Wirklichkeit arbeite ich an etwas ganz anderem.« »Gut«, sagte sie und schaute wieder zum Fenster hinaus. Er mühte sich ab, das Gespräch irgendwie in Gang zu halten, doch seine Zunge fand keine passenden Worte. »Ihr habt mich ziemlich zur Närrin gemacht«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Wirklich ziemlich zur Närrin.« »Das wollte ich nicht.« »Das macht es nur noch schlimmer. Warum habt Ihr mir nichts von Euch und Lady Gramme erzählt? Wahrscheinlich hätte ich es mir denken müssen - sie war Eure Gönnerin, und sie ist schön und erfahren, und Ihr versteht Euch prächtig mit Mery« »Nein«, beteuerte Leoff. »Ich ... da gab es nichts zu erzählen, bis zu jener Nacht. Sie ist zu mir gekommen ... ich war gar nicht darauf gefasst...« Sie lachte verdrossen. »Oh ja, ich auch nicht. Und es lässt sich nicht verbergen, dass ich die gleiche Idee hatte. Ich dachte, ich könnte vielleicht Eure Pein lindern, und ich ...« Sie begann zu weinen und schluckte. 57i »Areana?« »Wisst Ihr, ich war noch Jungfrau. Nicht sehr zeitgemäß in Eslen, aber draußen in den Poelerlanden zählt das noch etwas ...« Hilflos wedelte sie mit der Hand. »Nun, wie dem auch sei, das ist dahin. Aber ich dachte, wenn ich mit jemandem zusammen bin, der liebevoll und zärtlich ist, mit jemandem, der mir nicht wehtun will, dann könnte ich vielleicht fortwaschen, was ...« Sie legte den Arm auf das Fenstersims und vergrub ihr Gesicht in der Armbeuge. Hilflos sah er zu, dann streckte er die Hand aus und streichelte ihr Haar. »Ich wünschte, das wäre nie passiert«, sagte er. »Ich hatte niemals vor, Euch wehzutun.« »Ich weiß«, schluchzte sie. »Und ich erwarte zu viel. Wer würde mich denn jetzt noch berühren wollen?« »Ich berühre Euch«, sagte er. »Seht mich an.« Sie hob das tränenüberströmte Gesicht. »Ich glaube, Ihr hattet Recht«, gestand er. »Damit, wie ich für Euch empfinde. Aber Ihr müsst eins verstehen. Was sie mir in den Verliesen angetan haben - es hat mich verändert. Ich meine nicht nur meinen Körper und meine Hände - es hat mich im Innern verändert. So lange - so unendlich lange - konnte ich mir kein besseres Ende für all das hier vorstellen als Rache. Das war alles, worüber ich wirklich nachgedacht habe. Alles, was ich geplant habe. Im Kerker bin ich einem Mann begegnet - nun ja, jedenfalls habe ich seine Stimme gehört. Wir haben miteinander gesprochen. Er hat gesagt, in Safnien, wo er herkäme, gelte Rache als Kunst, etwas, das mit Sorgfalt ausgeführt und genossen werden müsse. Mir schien es vernünftig, Robert für das bezahlen zu lassen, was er getan hat. Diese andere Musik, an der ich gearbeitet habe - das ist meine Rache.« »Wie meint Ihr das?« Er schloss die Augen; er wusste, dass er es ihr nicht erzählen sollte, doch er sprach trotzdem weiter. »Es gibt mehr als acht Tonarten«, sagte er leise. »Es gibt noch 572
ein paar andere, so streng verboten, dass nur im Flüsterton darüber gesprochen wird, sogar an den Akademien. Ihr habt gesehen -gefühlt -, wie Musik wirkt, wenn sie richtig komponiert ist. Wir konnten nicht nur Gefühle erzeugen und lenken, wir haben es im wahrsten Sinne des Wortes für jeden unmöglich gemacht, uns aufzuhalten, bis wir fertig waren. Und dabei haben wir uns hauptsächlich der Tonarten bedient, die wir kennen, doch was das Stück so ungemein wirkungsvoll gemacht hat, war, dass ich - oder eigentlich Mery - eine sehr alte, verbotene Tonart wieder entdeckt hatte. Und jetzt habe ich wieder eine gefunden, eine, die seit den Tagen des Schwarzen Narren nicht mehr verwendet worden ist.« »Wie wirkt sie?« »Sie kann viele Dinge bewirken. Aber ein richtig aufgebautes Stück könnte - wenn es gespielt wird - jeden töten, der es hört.« Sie runzelte die Stirn und musterte sein Gesicht mit einem eindringlichen Blick, der ihm eindeutig klar machte, dass sie nach Anzeichen von Wahnsinn Ausschau hielt. »Ist das wahr?«, fragte sie schließlich. »Ich habe es natürlich nicht ausprobiert - aber, ja, ich glaube, es ist wahr.« »Wenn ich nicht dort gewesen, wenn ich nicht Teil der Musik im Kerzenhain gewesen wäre, würde ich Euch bestimmt nicht glauben«, sagte sie. »Aber so denke ich, Ihr könnt beinahe alles tun, wenn Ihr es Euch in den Kopf setzt. Das ist es also, woran Ihr gearbeitet habt?« »Ja. Um Prinz Robert zu töten.« »Aber das ist...« Ihre Augen wurden schmal. »Aber Ihr könnt doch gar nicht spielen.« »Ich weiß. Das war die ganze Zeit das Problem. Aber Robert kann spielen. Ich dachte, wenn ich die Technik so einfach wie möglich gestalte, spielt er es vielleicht selbst.« »Aber wahrscheinlicher wäre doch, dass Mery es spielt.« »In diesem Fall müsste ich ihr Wachs in die Ohren stopfen«, 573 sagte Leoff. »Versteht Ihr, ich bin ganz Eurer Meinung - das war ich immer -, ich glaube, er hat vor, uns alle drei umzubringen. Ich hatte gehofft, euch beiden eine Chance zu verschaffen, aber wenn mir das nicht möglich wäre ...« »Dann hattet Ihr vor, ihn mitzunehmen.« »Ja.« »Aber was hat sich geändert?« »Ich habe aufgehört, daran zu arbeiten«, sagte er. »Ich werde das Stück nicht fertig schreiben.« »Wieso nicht?« »Weil ich jetzt Hoffnung habe«, erwiderte er. »Und selbst wenn daraus nichts wird ...« »Hoffnung?« »Auf etwas Besseres als Rache.« »Auf was denn? Flucht?« »Es gibt eine Möglichkeit«, sagte er. »Eine Chance, dass wir das hier überstehen und unser Leben unter schöneren Bedingungen zu Ende leben. Aber wenn wir das nicht können ...«Er legte ihr seine ruinierte Hand auf die Schulter. »Um diese Musik zu schaffen, diese Musik des Todes, muss ich mich dem Finstersten in meinem Innern ergeben. Ich kann es mir nicht leisten, Freude, Hoffnung oder Liebe zu empfinden, sonst kann ich sie nicht schreiben. Aber heute ist mit klar geworden, dass es mir lieber wäre, noch lieben zu können, wenn ich sterbe, als meine Rache zu bekommen. Ich würde lieber Mery sagen können, dass ich sie lieb habe, als alle verderbten Prinzen dieser Welt niederzustrecken. Und ich würde lieber Euch so zärtlich berühren, wie ich es nur vermag, mit diesen Dingern, die früher einmal meine Hände waren, als eine so grauenvolle Musik in die Welt zu setzen. Hat das irgendeine Bedeutung für Euch? Ist das verständlich?« Jetzt weinten sie beide leise. »Es ist verständlich«, sagte sie. »Es ist verständlicher als alles, was ich in letzter Zeit gehört oder gedacht habe. Es macht Euch zu dem Mann, in den ich mich verliebt habe.« 574 Sie ergriff seine Hand und küsste sie sanft - einmal, zweimal, dreimal. »Wir sind beide verletzt«, sagte sie. »Und ich habe Angst. Große Angst. Ihr sagt, wir könnten vielleicht entkommen ...« »Ja«, setzte er an, doch sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Nein«, wehrte sie ab. »Wenn das passiert, passiert es eben. Ich will nicht mehr wissen. Wenn ich gefoltert werde, werde ich gestehen. Das weiß ich jetzt über mich. Ich bin keine tapfere Heldin.« »Und ich bin kein Ritter«, erwiderte Leoff. »Aber es gibt viele Möglichkeiten, tapfer zu sein.« Sie nickte und kam näher. »Ganz gleich, wie viel Zeit wir haben«, sagte sie. »Ich möchte Euch gern helfen, wieder heil und ganz zu werden. Und ich möchte gern, dass Ihr mir helft.« Leoff beugte sich herab und berührte ihre Lippen mit den seinen, und einen langen Augenblick standen sie so da, gefangen in diesem sehr einfachen Kuss. Sie griff nach den Schnüren ihres Mieders. Er hielt sie zurück.
»Heilung geht langsam vonstatten«, sagte er sanft. »Immer nur ein bisschen auf einmal.« »Vielleicht haben wir nicht viel Zeit«, erwiderte sie. »Was dir zugestoßen ist, sollte niemandem widerfahren«, sagte er. »Und vielleicht wird es schwerer, darüber hinwegzukommen, als du glaubst. Ich würde dich sehr gern lieben, Areana - aber nur, wenn es das erste Mal von vielen Malen wäre, und von vielen anderen Dingen, die ein Mann und eine Frau miteinander tun, miteinander sein können. Wenn wir das jetzt versuchen und scheitern - dann fürchte ich die Folgen. Glaub also fürs Erste einfach, dass wir am Leben bleiben werden, und lass uns Zeit.« Sie drückte den Kopf gegen seine Schulter und legte die Arme um ihn, und gemeinsam sahen sie dem Sonnenuntergang zu. »Du musst in dein Gemach zurückkehren«, sagte Leoff ein paar Glockenschläge später zu ihr. Sie lagen still auf seinem Bett, ihr Kopf ruhte auf seiner Brust. 575 »Ich würde gern hier bleiben«, erwiderte sie. »Können wir nicht einfach schlafen - richtig schlafen? Ich möchte mit dir aufwachen.« Widerstrebend schüttelte er den Kopf. »Heute Nacht geht es los«, sagte er. »Jemand wird in dein Zimmer kommen. Ich weiß nicht genau, was passieren wird, wenn du nicht dort bist. Wir sollten uns lieber an den Plan halten.« »Ist das dein Ernst? Du glaubst wirklich, wir können heute Nacht vielleicht entfliehen?« »Zuerst wollte ich es auch nicht glauben, aber, ja, ich glaube, die Möglichkeit besteht tatsächlich.« »Na schön.« Sie löste sich von ihm, stand auf und strich sich das Kleid glatt. Dann bückte sie sich und küsste ihn; es war ein langer, inniger Kuss. »Bis wir uns wiedersehen«, sagte sie. »Ja«, erwiderte er leise. Als sie fort war, schlief er nicht ein, sondern lag wach, bis er glaubte, die Mitternachtsglocke müsse gleich schlagen. Dann kleidete er sich an, in ein dunkles Wams, dunkle Beinkleider und einen warmen Mantel. Er raffte seine Notenblätter zusammen, und just, als die Glocke zu schlagen begann, schlich er aus seinem Zimmer und die Treppe hinunter. Es waren keine Wachen zu sehen, an denen er vorbeischlüpfen musste. Die Flure waren leer, still und dunkel, abgesehen von der Kerze, die er trug. Als er den langen Gang betrat, der zur Eingangshalle führte, erblickte er ein Licht vor sich, ebenso winzig wie sein eigenes. Als er näher kam, konnte er ein dunkelrotes Kleid ausmachen und beschleunigte seine Schritte; sein Herz schlug viel zu schnell, wie ein Orchester, das dem Takt seines Kapellmeisters entglitten war. Im Türbogen blieb er verwirrt stehen. Ambria saß in einem Sessel und wartete auf ihn. Sie hielt die Kerze nicht in der Hand - sie flackerte in einem kleinen Leuchter auf einem Tisch neben dem Sessel. Ihr Kinn ruhte auf ihrer Brust, und er fand es merkwürdig, dass sie in einem so angespannten Moment eingeschlafen sein sollte. Doch natürlich schlief sie nicht. Jeder Winkel ihres Körpers war 576 irgendwie verkehrt, und als er nahe genug herankam, um ihr Gesicht zu erkennen, sah es zerschlagen und geschwollen aus, und ihre Augen wirkten viel zu groß. »Ambria!«, keuchte er und sank auf ein Knie. Er ergriff ihre Hand. Sie war kalt. »Leovigild Ackenzal, nehme ich an«, sagte eine Stimme ganz in der Nähe. Leoff war stolz auf sich; er schrie nicht auf. Er erhob sich und reckte das Kinn, fest entschlossen, tapfer zu sein. »Ja«, flüsterte er. Ein Mann trat aus dem Schatten. Er war gewaltig, mit einem von grauen Bartstoppeln bedeckten, halb rasierten Gesicht und Händen, so groß wie Räucherschinken. »Wer seid Ihr?«, fragte Leoff. Der Mann gab ein grauenvolles kleines Grinsen zum Besten, bei dem den Komponisten ein heftiger Schauer durchlief. »Ihr könntet mich den heiligen Dun nennen«, sagte er. »Ihr könntet mich auch Tod nennen. Fürs Erste betrachtet Euch als gewarnt.« »Ihr hättet sie nicht töten müssen.« »In diesem Leben muss man gar nichts, außer sterben«, erwiderte der andere. »Aber ich arbeite für Seine Majestät, und das ist nun mal das, worum er mich gebeten hat.« »Er hat es die ganze Zeit gewusst.« »Seine Majestät ist sehr beschäftigt. In letzter Zeit habe ich nicht mit ihm gesprochen. Aber ich kenne ihn, und das hier ist das, was er gewollt hätte. Lady Gramme wusste nichts von mir, versteht Ihr? Ich bin in ihren Plänen nicht vorgekommen.« Er trat näher. »Aber Ihr wisst von mir«, fügte er leise hinzu. »Und Ihr müsst wohl erfahren, dass man mich nicht bestechen oder auf andere Weise kaufen kann, wie manch anderen hier. Jetzt weiß Seine Majestät, wer seine Freunde sind, oder er wird es wissen, wenn er zurückkehrt und sie noch am Leben vorfindet. Und was Euch betrifft, so fordere ich Euch auf, Euch zu entscheiden.« 577 »Nein«, sagte Leoff. »Oh doch«, erwiderte der Mann. Mit einer Geste deutete er auf Ambrias Leichnam. »Das ist der Preis, den sie
für diesen kleinen Versuch bezahlt. Der Preis für Euch ist, zu entscheiden, wer als Nächster dran glauben muss Lady Grammes Balg oder das Landwaerd-Mädchen.« Er lächelte und zauste Leoff das Haar. »Keine Angst. Ich verlange nicht, dass Ihr Euch sofort entscheidet. Ich gebe Euch Zeit bis morgen Mittag. Ich werde in Euer Zimmer kommen.« »Tut das nicht«, sagte Leoff leise. »Das ist nicht anständig.« »Die "Welt ist nicht anständig«, erwiderte der Meuchelmörder. »Das solltet Ihr doch bestimmt inzwischen wissen.« Er deutete mit dem Kinn. »Geht schon.« »Bitte.« »Geht.« Leoff kehrte in sein Zimmer zurück. Er warf einen Blick auf das Bett, wo Ambria gelegen hatte, dachte an ihre Berührung. Dann ging er zum Fenster und schaute in die mondlose Nacht hinaus, atmete tief und langsam durch. Schließlich zündete er seine Kerzen an, holte sein unvollendetes Stück hervor, nahm Federkiel und Tinte - und begann zu schreiben. 45. Kapitel Die Schlacht um den Waerd Dies war kein Turnier, und man konnte sich nicht im letzten Moment behände wegdrehen, um den Stoß abgleiten zu lassen. Nicht, wenn die Pferde Flanke an Flanke dahingaloppierten, 5/8 nicht, wenn jedes Ablenken der gegnerischen Lanze mit dem Schild dazu führen konnte, dass sie den Waffenbruder zur Rechten oder zur Linken durchbohrte. Man konnte versuchen, den Stoß mit einer Schildbewegung im letzten Moment nach oben abzulenken, doch dann verlor man seinen Widersacher aus den Augen. Nein, das hier war mehr wie Kriegsgaleonen, die einander mit voller Fahrt rammten, Bug gegen Bug. Was blieb, war, zurückzuzucken oder nicht. Neil zuckte nicht zurück, er fing den Rammstoß der tödlichen Spitze mit der Schildmitte auf und stieß dabei bewusst den Atem aus, damit es ihm nicht die Luft aus der Lunge trieb. Sein Gegner dagegen geriet in Panik und zog den Schild zur Seite, sodass Neils Stoß dessen gewölbten Rand traf. Als die Wucht des Aufpralls durch ihn hindurchfuhr, sah Neil, wie seine Waffe nach rechts gelenkt wurde, den Schildbruder seines Feindes in die Kehle traf, seinen Hals zu einem blutigen Brei zerfetzte und ihn rückwärts in die nächste Reiterreihe hineinschleuderte. Der abgebrochene Lanzenschaft des ersten Ritters traf Neils Helm und riss ihm den Kopf halb herum, und dann folgte der eigentliche Zusammenprall, als das volle Gewicht von Pferden, Panzerschabracken, Rüstungen, Schilden und Männern gegeneinander krachte. Pferde gingen wiehernd und um sich tretend zu Boden. Sein eigenes Ross, ein Wallach namens Winlauf, stolperte, stürzte jedoch nicht, was hauptsächlich an dem Gedränge um ihn herum lag. Neil griff nach dem Schwert, das Artwair ihm gegeben hatte, eine gute, solide Waffe, die er Quichet Schlachtenhund - genannt hatte, nach dem Schwert seines Vaters. Doch noch ehe er es fassen konnte, bohrte sich die mörderische Lanzenspitze eines der Verteidiger Thornraths in der zweiten Schlachtenreihe durch seinen Schild und in das Schultergelenk seiner Rüstung, ehe der Schaft abbrach. Ihm war, als sei er splitternackt durch die eisige Oberfläche ei579 nes winterlichen Teichs gestürzt. Schlachtenhund glitt in seine Hand und schien sich von selbst zu heben. Das Pferd des Mannes, der ihn getroffen hatte, stolperte soeben über das des ersten Reiters, mit dem er die Lanze gekreuzt hatte und das bei dem Aufprall gestürzt war. Der Ritter - der noch immer den abgebrochenen Lanzenschaft in der Hand hielt - löste sich aus den Steigbügeln und kam wie ein Wurfspeer auf Neil zugeschossen. Schlachtenhund streckte Neils Arm und ließ die Gelenke einrasten, sodass der durch die Luft fliegende Mann die tödliche Spitze der Waffe in seiner Halsbeuge wieder fand. Der Stoß schleuderte Neil seinerseits rückwärts aus den Steigbügeln, sodass er über die Kruppe seines Pferdes kippte und unter die Hufe seiner eigenen zweiten Reihe fiel. Dann war alles Blut und Lärm, und sein Körper verkrampfte sich vor Schmerz. Aufzustehen verursachte ihm finsterste Qualen, und er wusste nicht genau, wie lange er dafür brauchte. Als er es geschafft hatte, sah er, dass Reiter und Pferde in Haufen auf der Landbrücke lagen, doch seine Männer drängten noch immer voran. Über ihnen hagelten Flammen, Steine und gefiederter Tod auf das Schlachtfeld herab, doch ihr Angriff stieß hindurch. Brüllend straffte er die Schultern. Winlauf war tödlich verletzt, und nur wenige Männer saßen auf beiden Seiten noch zu Pferd. Dies war der Augenblick; wenn sie jetzt zurückgedrängt wurden, würden die meisten von ihnen in den Todeszonen der Katapulte und Bailisten zugrunde gehen. Hier befanden sie sich zu nahe an den feindlichen Stellungen, um für irgendetwas anderes als Pfeile erreichbar zu sein, und die Anwesenheit der Verteidiger verhinderte einen Beschuss. »Ein Angriff!«, heulte er, unfähig, sich selbst wirklich zu hören. Eine Hälfte seines Körpers fühlte sich an, als sei sie gar nicht mehr vorhanden, doch es war nicht die Hälfte, die Schlachtenhund führte. Während der Himmel selbst in Flammen aufzugehen schien, setzte Neil alles ein, was in ihm war, um zu töten.
580 »Was ist das?«, fragte Stephen Zemle. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Geister? Hexen?« »Kennst du die Sprache des Liedes?« »Nein. Es hört sich ein wenig wie die alte Sprache an. Ein paar Worte klingen vertraut.« Dann sah Stephen ein Schimmern, Augen, in denen sich das Licht des Feuers spiegelte. Die Hunde bellten und heulten, als seien sie toll geworden. Was immer sie auch waren, es waren keine Slinderlinge, wie er anfangs gefürchtet hatte. Dazu näherten sie sich viel zu behutsam. Genau konnte er es nicht sagen, doch nach dem Benehmen der Hunde zu urteilen, kreisten die Neuankömmlinge das Lager ein. »Wer immer ihr seid«, rief er, »wir wollen euch nichts zuleide tun.« »Das ist bestimmt sehr tröstlich für sie«, bemerkte Zemle. »Wenn man bedenkt, dass sie mindestens zu zehnt und wir mehr oder weniger unbewaffnet sind.« »Ich kann ganz schön beängstigend sein«, gab Stephen zurück. »Nun ja, wenigstens bist du kein stammelnder Feigling«, stellte sie fest. »Eigentlich doch«, gestand er, obgleich ihm bei ihrer Beurteilung plötzlich sehr warm geworden war. »Aber nach einer Weile ist man einfach wie betäubt und bleibt auch wie betäubt. Ich habe nicht mehr genug Verstand, um Angst zu haben.« Er runzelte die Stirn. Der Gesang war verstummt, doch es wurden Worte gewechselt, und dann konnte er die Laute endlich einordnen. »Qey thu menndhzi?«, rief er. Schlagartig wurde es still im Wald. »Was war das?«, wollte Zemle wissen. »Die Sprache, die sie sprechen, glaube ich. Ein vadhiianischer Dialekt. Kaurons Sprache.« »Stephen!«, stieß Zemle hervor. Die Hunde duckten sich zu Boden; sie knurrten noch immer, schienen jedoch seltsam eingeschüchtert. 581 Jemand war auf die Lichtung getreten. Im Feuerschein konnte Stephen nicht erkennen, welche Farbe seine Augen hatten, doch sie waren groß. Sein Haar war ebenso milchweiß wie seine Haut, und er trug Kleider aus weichem braunem Leder. »Sefry«, flüsterte er. »Deine Hadivara«, meinte Zemle. »Ihr sprecht mit alten Worten«, sagte der Sefry »Wir denken, Ihr seid der Eine.« »Wer seid Ihr?« Der Fremde betrachtete die beiden noch ein wenig, dann neigte er den Kopf. »Mein Name ist Adhrekh«, sagte er. »Ihr sprecht die Sprache des Königs«, bemerkte Stephen. »Ein wenig«, erwiderte Adhrekh. »Es ist lange her, seit ich sie zum letzten Mal benutzt habe.« Weitere Sefry tauchten am Rande des Feuerscheins auf. Alle waren mit Schwertern bewaffnet, die fast ebenso schmal waren wie der Degen, den Cazio trug. Die Mehrzahl von ihnen hatte außerdem noch Bögen, und die meisten der Pfeile auf diesen Bögen schienen auf ihn gerichtet zu sein. »Mein ... äh ... mein Name ist Stephen Darige«, erwiderte er. »Dies ist Schwester Pale.« Er wusste nicht genau, warum er vor dem vertrauteren Namen zurückschreckte, den er verwendet hatte. Adhrekh wischte seine Worte mit einer Handbewegung fort. »Der Khriim ist hier. Ihr sprecht in der Zunge der Uralten. Sagt mir - wie war sein Name?« »Sein Name? Ihr meint Bruder Kauron? Oder Choron, in Eurer Sprache.« Adhrekh hob den Kopf, und seine Augen blitzten triumphierend. Die anderen Sefry lösten die Pfeile von den Bogensehnen und verstauten sie wieder in ihren Köchern. »Nun«, sagte Adhrekh nachdenklich. »Ihr seid also endlich gekommen.« 582 Stephen wusste nicht recht, was er darauf sagen sollte, also ging er nicht darauf ein. »Warum habt Ihr das Dorf verlassen?«, wollte er wissen. Adhrekh zuckte die Achseln. »Wir haben geschworen, in den Bergen zu leben, dort Wache zu halten, und das haben wir getan. So ist es bei uns Brauch.« »Ihr lebt in dem Alq}«, wollte Zemle wissen. »Das ist unser Vorrecht, ja.« »Und es war Bruder Choron, der Euch gebeten hat, ihn zu bewachen?« »Bis zu seiner Rückkehr«, antwortete Adhrekh. »Bis jetzt.« »Ihr meint, bis zur Rückkehr seines Erben«, verbesserte Zemle. »Wie Ihr wollt.« Adhrekh wandte sich wieder Stephen zu. »Möchtet Ihr den Alq sehen, Pathikh?« Stephen verspürte ein Frösteln, halb aus Erregung, halb aus Furcht. Pathikh bedeutete etwas Ähnliches wie Lord, Gebieter, Fürst. Hatte Zemle tatsächlich Recht? War er wirklich der Erbe dieser uralten Prophezeiung? »Ja«, antwortete er. »Aber wartet. Ihr habt gesagt, der Khriim wäre hier. Meint Ihr den Woorm?« »Ja.«
»Im Tal? Wo?« »Nein - nachdem Ihr ihn nahe genug herbeigeführt habt, konnte er den Weg selbst finden. Er wartet auf Euch, im Alq.« »Er wartet auf mich?«, fragte Stephen. »Vielleicht versteht Ihr nicht. Er ist gefährlich. Er tötet alles, was er berührt - alles, was in seine Nähe kommt.« »Er hat gesagt, er würde es nicht verstehen«, ließ sich ein anderes Mitglied der Sefry-Gruppe vernehmen - eine Frau mit verblüffend blauen Augen. »Ich verstehe, dass ich nicht in den Berg gehe, wenn der Woorm dort ist«, entgegnete Stephen. »Nun«, sagte Adhrekh mit betrübter Miene, »ich fürchte, das werdet Ihr doch tun, Pathikh.« 583 »Qexqaneh«, keuchte Anne und hoffte, dass sie sich die Aussprache richtig gemerkt hatte. Das Wesen in der Finsternis schien innezuhalten und sich dann gegen ihr Gesicht zu pressen, wie ein Hund, der seinen Herrn mit der Schnauze anstößt. Erschrocken schlug sie nach ihm, doch dort war nichts, obgleich das Gefühl anhielt. »Süße Anne«, schnüffelte der Bewahrte. »Frauengeruch, süßer, kranker Frauengeruch.« Anne versuchte sich zu fassen. »Ich bin die Thronerbin von Crothenien. Ich befehle dir bei deinem Namen, Qexqaneh.« »Jaaaa«, schnurrte der Bewahrte. »Zu wissen, was man will, ist nicht das Gleiche, wie es zu haben. Ich kenne Eure Absicht. Alis-riecht-nach-Tod weiß es besser. Sie hat es Euch gerade gesagt.« »Tatsächlich?«, fragte Anne. »Wirklich? Ich stamme in direkter Linie von Virgenya Dare ab. Kannst du dich mir wirklich widersetzen?« Eine weitere Pause entstand, in der Annes Selbstvertrauen wuchs; sie versuchte, nicht allzu eingehend darüber nachzudenken, was sie hier tat. »Ich habe Euch hergerufen«, murmelte der Bewahrte. Sie konnte seine ungeheure Größe fühlen, die sich in sich selbst zusammenzog. »Ja, das hast du getan. Du hast mich hergerufen, eine Karte in meinem Kopf erscheinen lassen, damit ich dich finden kann, hast mir versprochen, dass du mir gegen sie beistehen kannst, die Dämonin in dem Grab. Also, was willst du}« Er schien sich noch weiter zurückzuziehen, doch sie hatte urplötzlich das Gefühl, dass Millionen winziger Spinnen in ihrem Schädel nisteten. Sie würgte, doch als Austra nach ihr griff, stieß Anne sie weg. »Was tust du, Qexqaneh?«, verlangte Anne zu wissen. Wir können auf diese Weise miteinander reden, und sie können uns nicht hören. Seid einverstanden. Ihr wollt nicht, dass sie Bescheid wissen. Bestimmt nicht. 584 Also gut, formte Anne lautlos mit den Lippen. Wieder war ihr, als würde sie herumwirbeln, diesmal jedoch war es nicht beängstigend, es war mehr wie ein Tanz. Dann, als öffne sie die Augen, stand sie auf dem Abhang eines unbewohnten Hügels. Ihr Körper fühlte sich so leicht an wie Distelflaum, so flüchtig, dass sie fürchtete, jede Brise könnte sie davonwehen. Überall um sich herum sah sie dunkles Wasser - die Wasser hinter der Welt. Doch diesmal schien ihr Blickwinkel andersherum zu sein; anstatt zu sehen, wie die Wasser zusammenströmten - wie aus Rinnsalen Wasserläufe wurden, Wasserläufe sich in Bäche ergossen, Bäche in Ströme flössen und Ströme in Flüsse mündeten -, sah Anne den Fluss diesmal wie ein riesiges dunkles Tier mit hundert Fingern, und an jedem dieser Finger hundert weitere, und an jedem davon tausend mehr, mit wiederum tausend, die in jeden Mann und in jede Frau, in jedes Pferd und in jeden Ochsen hineingriffen, in jeden Grashalm, die kitzelten, gestikulierten ... warteten. In alles - außer in den formlosen Schatten, der vor ihr stand. »Was ist das für ein Ort?«, wollte sie wissen. »Ynis, mein Fleisch«, antwortete er. Bevor sie etwas erwidern konnte, wurde ihr klar, dass das stimmte. Es war Ynis, just jener Hügel, auf dem sich Eslen erhob. Doch dort war kein Schloss, keine Stadt, kein Werk von Menschen oder Sefry. Nichts zu sehen. »Und diese Wasser? Ich habe sie schon öfter gesehen. Was sind sie?« »Leben und Tod. Erinnerung und Vergessen. Das eine trinkt, das andere gibt zurück. Pisse zur Linken, Süßwasser zur Rechten.« »Ich möchte gern, dass du dich klarer ausdrückst.« »Ich möchte gern wieder Regen riechen.« »Bist du derjenige?«, fragte sie. »Der Mann, der mich am Wohnort der Glaubenden angegriffen hat? Warst du das?« »Interessant«, grübelte Qexqaneh. »Nein. Ich kann nicht so weit wandern. Nicht so, hübsche Maid, widerwärtiges Ding.« 585 »Wer war es dann?« »Nicht wer«, antwortete Qexqaneh. »Wer sein könnte. Wahrscheinlich wer sein wird.«
»Das verstehe ich nicht.« »Ihr seid noch nicht verrückt, wie?«, gab er zurück. »Mit der Zeit.« »Das ist keine Antwort.« »Gut genug für den geos, Milchkuh«, erwiderte er. »Dann eben sie«, fuhr Anne ihn an. »Die Dämonin. Was ist sie?« »Was war, was wieder zu sein hofft. Manche haben sie die Königin der Dämonen genannt.« »Was will sie von mir?« »Wie der andere«, antwortete Qexqaneh. »Sie ist nicht sie. Sie ist ein Ort, dort zu sitzen, ein Hut, ihn zu tragen.« »Ein Thron.« »Jedes Wort in Eurer grauenhaften Sprache tut es so gut wie jedes andere.« »Sie will ich werden, nicht wahr? Sie will in meine Haut schlüpfen. Ist es das, was du sagst?« Der Schatten lachte. »Nein. Sie bietet Euch nur einen Platz zum Sitzen an, das Recht zu herrschen. Sie kann Euren Feinden schaden, aber Euch kann sie nichts zuleide tun.« »Es gibt Geschichten von Frauen, die die Gestalt anderer annehmen und ihnen ihr Leben stehlen -« »Geschichten«, unterbrach er sie. »Stellt Euch stattdessen vor, dass diesen Frauen endlich aufgegangen ist, was sie schon die ganze Zeit über gewesen sind. Die um sie herum haben die Wahrheit nicht begriffen. Es sind Dinge in Euch, Anne Dare, nicht wahr? Dinge, die niemand versteht. Die niemand verstehen kann.« »Sag mir einfach, wie ich sie bekämpfen kann.« »Ihr wahrer Name ist Iluumhuur. Verwendet ihn und sagt ihr, dass sie verschwinden soll.« »So einfach ist das?« »Ist das einfach? Ich weiß es nicht. Es kümmert mich nicht. 586 Und es sollte Euch auch nicht kümmern, da Ihr nicht lange genug leben werdet, damit das eine Rolle spielen könnte. Die Krieger Eures Oheims versperren jeden Ausgang. Ihr werdet hier sterben, und ich kann mich nur an Eurer Seele ergötzen, während sie sich davonmacht.« »Es sei denn ...«, sagte Anne. »Es sei denn?«, wiederholte der Bewahrte spöttisch. »Nicht diesen Ton«, verwahrte sich Anne. »Ich habe Macht, das weißt du. Ich habe getötet. Vielleicht gehe ich ja doch noch als Siegerin aus alldem hervor. Vielleicht wird sie mir helfen.« »Vielleicht«, sagte er. »Ich weiß es nicht. Ruft ihren wahren Namen und findet es heraus.« Anne bellte ein spöttisches Lachen. »Irgendwie halte ich das für eine ausnehmend schlechte Idee, trotz deiner aufmunternden Worte. Nein, du wolltest mir einen Weg an den Truppen meines Onkels vorbei anbieten. Also, wie mache ich das?« »Ich wollte Euch gerade meine Hilfe dabei anbieten, sie zu besiegen«, schnurrte er. »Ah. Und das hieße ...« »Mich freilassen.« »Warum habe ich bloß nicht selbst daran gedacht?«, sann Anne. »Den Letzten der Dämonenrasse befreien, die die Menschheit hundert Generationen lang in Sklaverei gehalten hat. Was für eine wunderbare Idee.« »Ihr habt mich viel zu lange bewahrt«, fauchte er. »Meine Zeit ist vorüber. Lasst mich gehen, auf dass ich mich meiner Rasse im Tode anschließen kann.« »Wenn es der Tod ist, den du begehrst, dann sag mir, wie man dich töten kann.« »Ich kann nicht getötet werden. Der Fluch hält mich hier fest. Bis das Gesetz des Todes wieder gilt, kann ich ebenso wenig sterben wie Euer Oheim. Befreit mich, und ich werde das Gesetz des Todes wiederherstellen.« »Und selbst sterben?« 587 »Ich schwöre, dass ich, wenn Ihr mich freilasst, Euch aus diesem Verlies erretten werde. Ich werde fortgehen, und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um zu sterben.« Anne dachte lange darüber nach. »Du kannst mich nicht belügen.« »Ich weiß, dass ich das nicht kann.« »Angenommen, ich würde das in Erwägung ziehen«, sagte Anne langsam. »Wie würde ich dich befreien?« Der Schatten schien einen Moment lang zu wanken. »Setzt Euren Fuß auf meinen Nacken«, knurrte er, »und sagt: >Qexqaneh, ich gebe dir die Freiheit.<« Annes Herz raste schneller, und ihr Bauch schien sich mit Hitze zu füllen. »Ich will jetzt zurück zu meinen Freunden«, wies sie ihn an. »Wie Ihr wünscht.« Und damit stand sie abermals im Finstern, und die Erde zerrte heftiger an ihren Füßen. Aspar folgte der Woorm-Fährte einen von jungen Bäumen bewachsenen Geröllhang hinauf, zu einem großen Spalt im Berg, einer natürlichen Sackgasse, fünfzig Fuß breit am Eingang und schmal am Ende, wo ein gewaltiger Wasserfall von hoch oben herunterstürzte. Wie nicht anders zu erwarten, hatte der Wasserfall sich einen tiefen Pfuhl gegraben, und wie ebenfalls nicht anders zu erwarten gewesen war, verschwand die Spur des Ungetüms darin.
Der Waldhüter stieg vom Pferd und ging zu der Grenze zwischen Erde und Wasser. Er hielt Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass die Bestie in der Nähe war, fand jedoch lediglich bestätigt, was er bereits wusste - sie war jetzt in dem Berg. Ob sie ihren Bestimmungsort erreicht hatte oder wieder nur hindurchkroch, wusste er nicht. »Sceat«, murmelte er und setzte sich auf einen Stein, um nachzudenken. Ritt Fend den Woorm noch immer? Das letzte Mal, als er mit je588 mandem gesprochen hatte, der das Ungeheuer gesehen hatte, war ihm von zwei Reitern auf dessen Rücken berichtet worden. Wenn das der Fall war, dann war die Reise durchs Wasser entweder kurz genug, dass die Männer sie überleben konnten, oder die beiden waren abgestiegen - wie sie es im Tal der Ef getan hatten. Wenn das stimmte, warteten sie irgendwo darauf, dass der Woorm tat, was immer er hier zu erledigen hatte. Die dritte Möglichkeit war, dass Fend und sein Kumpan ertrunken waren, doch das hielt er nicht für sehr wahrscheinlich. Auf die Chance hin, dass sie abgestiegen waren, suchte er sorgfältig nach Fährten, sah jedoch weder Fußabdrücke noch andere menschliche Spuren. In Anbetracht der Tatsache, dass die Erde hier mit dickem Moos, Farnkraut und Schachtelhalm bewachsen war, wäre es beinahe unmöglich, keine Spuren zu hinterlassen -sogar für einen Sefry. Das deutete darauf hin, dass die Woorm-Reiter mit ihrem Ungetüm schwimmen gegangen waren, woraus er wiederum schloss, dass er ihnen vielleicht folgen könnte. In dieser Annahme wurde er noch durch die Wahrscheinlichkeit bestärkt, dass dies hier der Eingang zu einer weiteren Halafolk-Rewn war. Sefry konnten die Luft nicht länger anhalten als Menschen, also sollte er in der Lage sein, das Stück zu schwimmen, wie er es getan hatte, um Rewn Aluth zu betreten. Natürlich konnte das, was für das Ungeheuer eine kurze Strecke war, für ihn sehr lang sein. Trotzdem, ihm zu folgen war jetzt wahrscheinlich seine einzige Hoffnung. Das hieß, dass er und Unhold sich - wieder einmal - trennen mussten. Er verlor keine Zeit, schnallte den Sattelgurt des Hengstes los und zog Sattel und Decke herunter. Dann nahm er das Zaumzeug ab und versteckte alles unter einem kleinen, überhängenden Felsen. Unhold beobachtete ihn die ganze Zeit und schien sonderbar aufmerksam. Aspar führte ihn zurück zum Eingang der Spalte und dann um 589 die Bergflanke herum, die von der Richtung abgewandt war, aus der er Hespero und seine Männer erwartete. Dort lehnte er seine Stirn gegen Unholds Kopf und tätschelte die samtigen Wangen seines Pferdes. »Du warst ein guter Freund«, sagte er. »Hast mir öfter das Leben gerettet, als ich zählen kann. Egal, wie das hier ausgeht, du hast dir dein Futter verdient. Wenn ich nicht wieder rauskomme, nun, ich denke, du kommst schon zurecht. Wenn ich es schaffe, suche ich ein ruhiges Plätzchen für dich, wo du fressen und Stuten decken kannst. Keine Pfeile mehr, und kein Gryffin-Gift oder was weiß ich noch alles, ja?« Der Braune warf den Kopf hoch, als wollte er Aspars Umarmung abschütteln, doch der Waldhüter beschwichtigte ihn, indem er ihm noch ein paar Mal die Wange streichelte. »Bleib einfach hier drüben«, wies er ihn an. »Ich will nicht, dass einer von Hesperos Kerlen dich reitet. Du wohl auch nicht, nehme ich an, und wahrscheinlich würden sie dich dann töten, also ruh dich einfach aus. Kann gut sein, dass ich noch einen schnellen Ritt aus dir rausholen muss, bevor das hier vorbei ist.« Unhold stampfte, als sein Herr fortging, und Aspar warf einen Blick zurück und hob einen mahnenden Zeigefinger. »Lifst«, befahl er. Unhold wieherte leise, doch er gehorchte und folgte Aspar nicht. Zurück am Teich, löste Aspar seine Bogensehne und wickelte den Bogen in ein geöltes Biberfell, das er fest zuband. Die Sehne verstaute er in einem gewachsten Beutel, den er ebenfalls fest verschnürte. Seine Pfeile - ganz besonders den Pfeil - hüllte er in Otterfell und band alles an dem Bogen fest. Dann vergewisserte er sich, dass er Dolch und Handaxt bei sich hatte, setzte sich an den Rand des Teichs und atmete tief, um sich auf einen langen Tauchgang vorzubereiten. Beim achten Atemzug erschienen Blasen im Teich, und plötzlich begann sich das Wasser emporzuheben. Aspar schaute ein paar 590 Herzschläge lang wie angewurzelt zu, doch als ihm klar wurde, was da geschah, griff er sich seine Sachen und schoss zwischen den Bäumen hindurch auf die Felswand zu, wo er zu klettern begann, so schnell er konnte. Die Wand war nicht schwer zu erklimmen, und als eine plötzliche Flutwelle gegen den Felsen schwappte, befand er sich bereits gute vier Königsellen darüber. Doch es war nicht das Wasser, dessentwegen er sich Sorgen machte, also kletterte er weiter, streckte die Glieder und schwang sich von einem Halt zum nächsten. Er vernahm einen leisen, dumpfen Schlag, und gleich darauf ging ein kurzer Wasserschauer auf ihn nieder, obgleich er schon so hoch war wie die Wipfel der niedrigeren Bäume. Als er über die Schulter blickte, sah er den Woorm emporragen, in giftige Dämpfe gehüllt. Seine Augen glühten wie grüne Monde unter dem Schatten des Himmels.
46. Kapitel Ein unerwarteter Verbündeter WUNDERLICHE UND KURIOSE BETRACHTUNGEN. DER VIRGENYANISCHE SCHWACHKOPF, TEIL II: DER EWIGE GEFANGENE Etliche Gelehrte haben sich in der Vergangenheit gefragt, wozu der Schwachkopf Füße, Beine oder überhaupt Gliedmaßen jeglicher Art benötigt. Als Grund für ihre Verwirrung führen sie die Tatsache an, dass diese Kreatur den bei weitem 59i größten Teil ihrer Zeit in Gefangenschaft verbringt und von ihren Häschern hierhin und dorthin geschleppt wird. Was sie nicht erkennen können, ist die humoristische Seite des Werdegangs des gemeinen virgenyanischen Schwachkopfes, will sagen, dass, obschon er häufig ein hilfloser Gefangener ist, sich seine Natur gegen derartige Demütigung auflehnt. Seine Beine dienen folglich dem einzigen Zweck, von einer Gefangenschaft in die nächste zu wandern. Dem Gemisch aus Zorn, Furcht und Enttäuschung zum Trotz, das in Stephen kochte, musste er zugeben, dass die Sefry bessere Gastgeber waren als die Slinderlinge. Gewiss, er und Zemle waren insofern Gefangene, als man ihnen keine Wahl ließ, wohin es ging. Nichtsdestotrotz behandelten die Sefry sie zuvorkommend - sogar geradezu königlich -, trugen sie auf kleinen Stühlen, die auf Holzstangen befestigt waren, und schränkten ihre Bewegungsfreiheit mehr durch ihre Anzahl ein als mit Gewalt. Ihr Weg wand sich tiefer in den Schattenwald hinein, zwischen farnartigen Bäumen und dichten Ranken hindurch, die sie immer fester, enger und finsterer umgaben, bis Stephen erschrocken begriff, dass sie in den Felsen des Berges eingedrungen waren, ohne dass er den Übergang bemerkt hätte. Dort wurde die Reise noch schrecklicher, und er wünschte sich, man hätte ihm gestattet, zu Fuß zu gehen, als die Sefry eine steile, schmale Treppe hinunterstiegen. Zur Rechten war Fels und zur Linken nichts als eine Ferne, die ihre Laternen nicht durchdringen konnten. Nicht einmal die Rewn war ihm so riesig erschienen. Stephen überlegte, ob der Berg wohl ganz und gar hohl war, eine brüchige, mit Dunkelheit gefüllte Hülle. Doch nein, nicht nur mit Dunkelheit; irgendetwas zupfte leicht an den Haaren auf seinen Armen und in seinem Nacken, und ein ganz schwaches Summen, wie Musik, ging von dem Fels aus. Hier war Macht gegenwärtig, Sedos-Macht, wie sie der Pfad der Schrei592 ne, den er beschritten, und die anderen, die er kennen gelernt hatte, lediglich andeuteten. Nicht einmal in Dunmrogh, bei Khrwbh Khrwkh, wo von Anne Dare die schlummernde Gewalt eines uralten Schreins entfesselt worden war, hatte er diese Art fein gesponnener Macht gespürt. Dankenswerterweise zeigte ihnen der scheinbar bodenlose Abgrund endlich sein Fundament, und die Sefry trugen sie durch eine leichter begehbare Höhle, immer noch gewaltig, jedoch niedrig genug, dass er die glitzernden Steinzähne erkennen konnte, die von ihrer Decke herabhingen. »Das ist wunderschön«, murmelte Zemle und zeigte auf eine Säule, die wie poliert im Lampenschein glänzte. »Ich habe noch nie gesehen, dass Stein solche Formen annimmt - oder ist das überhaupt Stein?« »Ich habe von so etwas gelesen«, antwortete Stephen. »Und es anderswo schon gesehen. Presson Manteo nennt die, die herabhängen, >Tropfer<, und die, die nach oben zeigen, >Fänger<. Er glaubt, dass sie mehr oder weniger genauso entstehen wie Eiszapfen.« »Ich sehe die Ähnlichkeit«, sagte Zemle. »Aber wie kann Stein denn tropfen}« »Stein hat sowohl eine flüssige als auch eine feste Essenz«, erklärte Stephen. »Die feste Essenz ist die vorherrschende, aber unter besonderen Bedingungen, unterirdisch, kann sie flüssig werden. Möglicherweise sind diese Höhlen so entstanden - der Stein hat sich verflüssigt, ist davon geströmt und hat nur leeren Raum hinterlassen.« »Glaubst du das?« »Ich weiß es nicht«, sagte Stephen. »Im Augenblick interessiert es mich sehr viel mehr, warum wir Gefangene sind.« »Ihr seid keine Gefangenen«, widersprach Adhrekh. »Ihr seid unsere geehrten Gäste.« »Wunderbar«, erwiderte Stephen. »Dann vielen Dank für Eure Gastfreundschaft, und würdet Ihr uns jetzt bitte zurückbringen?« »Ihr seid weit gereist, durch viel Not und Gefahr, Pathikh«, 593 wandte Adhrekh ein. »Wie können wir zulassen, dass Ihr fortgeht, ohne das zu erreichen, weshalb Ihr gekommen seid?« »Ich bin nicht gekommen, um den verdammten Woorm zu finden«, fauchte Stephen laut genug, dass seine Stimme durch das Felsgemach hallte. »Den hätte ich auch damals in d'Ef kennen lernen können, wenn ich gewollt hätte.« »Ja«, ließ sich eine andere Stimme trocken vernehmen. »Das hättet Ihr tun können. Hätte uns allen übrigens vielleicht eine Menge Mühe erspart.« Irgendwie war die Stimme vertraut.
Als Stephen dem Klang mit dem Blick folgte, kam der Zug zum Stehen, und die Träger setzten sie behutsam auf dem Felsboden ab. Der Stein hier sah aus, als sei er behauen worden, und er roch Wasser. Sein Blick fiel auf ein bekanntes Gesicht, und das Herz stolperte in seiner Brust. »Fend«, sagte er. Der Sefry lächelte. »Ich bin geschmeichelt, dass Ihr Euch an mich erinnert«, bemerkte er. »Unser letztes Zusammentreffen war sehr aufregend, nicht wahr? All diese Pfeile und Schwerter, Gryffins und Dornenkönige. Damals war wirklich nicht viel Zeit, um sich richtig vorzustellen.« »Du kennst ihn?«, fragte Zemle. »Gewissermaßen«, erwiderte Stephen ausdruckslos. »Ich weiß, dass er ein Meuchelmörder und ein Schurke ist, ohne Ehre, Mitleid oder irgendeine andere bewundernswerte Eigenschaft.« Fends eines Auge weitete sich. »Woher könnt Ihr denn das wissen? Könnt Ihr vorgeben, meine Gedanken zu erlauschen? Ihr verlasst Euch doch nicht etwa vollkommen auf Aspars Meinung über mich, oder doch?« »Nein«, gab Stephen zurück. »Ich kenne auch noch Winnas Meinung. Sie war in Eurer Gewalt, wie Ihr Euch vielleicht erinnert. Und ich habe mit eigenen Augen gesehen, was in dem Hain bei Cal Azroth geschehen ist. Und ich habe die Leichen der Prinzessinnen gesehen, die Ihr dort ermordet habt.« 594 Fend zuckte leichthin die Achseln. »Ich habe Dinge getan, die bedauerlich erscheinen mögen, dem stimme ich zu. Aber ich bedaure sie nicht, weil ich verstehe, warum ich sie getan habe. Wenn auch Ihr versteht, werdet Ihr besser über mich denken, glaube ich. Ich hoffe es, denn ich stehe in Euren Diensten.« Er nickte Adhrekh zu. »Ich danke Euch, Sir, für Eure Gastfreundschaft und Eure Hilfe dabei, diesen Ort zu finden.« Der andere Sefry zuckte mit den Schultern. »Wir sind nur seine Hüter«, sagte er. Stephen hatte sich so sehr auf Fends boshaftes Gesicht konzentriert, dass ihm anfangs gar nicht aufgefallen war, was der Sefry trug. Es war eine Rüstung von ungemein altmodischer und verschnörkelter Machart, Panzer und Kettenhemd, aus einem Metall getrieben, das Messing ähnelte. Der Brustpanzer war es, der Stephens Aufmerksamkeit wirklich auf sich zog, weil er einen bärtigen, mit Hörnern geschmückten Menschenkopf zeigte. Als er in d'Ef gewesen war und nach Hinweisen auf den Dornenkönig gesucht hatte, war er auf einen fast identischen Kupferstich gestoßen. Zuerst hatte er gedacht, er solle den König darstellen, der für gewöhnlich mit Hörnern abgebildet wurde. Doch die Unterschrift unter dem Stich hatte etwas völlig anderes besagt... Mit einem Frösteln wurde ihm klar, dass er, ohne es richtig zu merken, ein paar Schritte auf Fend zugemacht hatte. Rasch trat er zurück. »Könntet Ihr das Letzte noch einmal wiederholen?«, fragte Stephen. »Dass Ihr jetzt mir dient?« »Genauso ist es«, antwortete Fend. »Ich habe seit Monaten versucht, Euch zu finden - um Euch meine Dienste anzubieten.« »Ihr seid mir gefolgt, um den Berg zu finden«, wehrte Stephen ab. »Lasst Euch nicht von ihm täuschen, Adhrekh. Er führt nichts Gutes im Schilde.« »Nur Ihr konntet den Berg finden«, erwiderte Fend. »Und wahrscheinlich stimmt es, dass es mir, wäre es mir früher gelungen, Euch einzuholen, bestenfalls sehr schwer gefallen wäre, Euch 595 dazu zu überreden, hierher zu kommen. Aber dies ist der Ort, an dem Ihr sein sollt - genauso, wie es mir bestimmt war, Euch zu begleiten und Euch jetzt zu dienen. Es wird wirklich gar nicht so verwirrend sein, wenn Ihr erst alles versteht.« Er trat vor und zog einen hässlichen Dolch aus dem Gürtel. Stephen zuckte zurück, doch Fend hielt ihm die Waffe mit dem Heft voran hin und kniete dann zu seinen Füßen nieder. »So war es besser«, sagte er. »Ich bin hier, ich habe den geheimen Berg und die Rüstung meines Standes gefunden. Jetzt biete ich Euch mein Leben.« Stephen nahm den Dolch, in einen Dunst absoluten Unglaubens gehüllt. Fend war böse, daran gab es keinen Zweifel. Was für ein Spiel spielte er hier? Aspar würde nicht zögern, nicht wahr? Er würde geradewegs mit dem Messer zustoßen und später versuchen, herauszubekommen, was der Sefry vorhatte. Und er schuldete Aspar so viel, schuldete ihm mindestens den Tod dieses Mannes ... Doch er war nicht Aspar. Und vielleicht wäre nicht einmal Aspar imstande, einen Mann niederzustrecken, der vor ihm kniete. Stephen wollte gern denken, dass Aspar das nicht fertig brächte. Also ließ er das Messer zu Boden fallen. »Erklärt mir das«, verlangte er und zeigte erst auf Fend und dann auf den Rest des Zugs. »Irgendwer von Euch. Sagt mir, was hier vorgeht.« »Du bist Kaurons Erbe«, sagte Zemle. Erschrocken fuhr er zu ihr herum. »Hast du es gewusst - warst du ein Teil dieser Falle?« Ihre Augen weiteten sich. »Nein. Ich meine, ich kannte die Einzelheiten nicht. Ich wusste, dass du Kaurons Erbe bist. Diesen Mann kenne ich nicht, Stephen. Ich bin keinem dieser Männer jemals begegnet.« Als er die Gruppe eingehender betrachtete, bemerkte Stephen eine weitere Gestalt, die hinter Fend stand. Zu seiner Verblüffung wurde ihm klar, dass es ein Mensch in einer Mönchsrobe war. 596
»Ihr da!«, schrie er. »Wer seid Ihr?« Der Mann trat vor. »Mein Name ist Bruder Ashern«, sagte er und verbeugte sich. »Auch ich stehe in Euren Diensten.« »Seid Ihr Hierovasi oder Revesturi?« »Ich bin keins von beiden«, antwortete der Mann. »Ich bin dem Heiligen des Berges verschworen. Das scheint Ihr zu sein, Stephen Darige.« »Ihr seid alle verrückt, nicht wahr?« »Nein«, entgegnete Fend. »Nicht verrückt. Entschlossen, ja. Und unglücklicherweise ist nicht genug Zeit für die Sorte Debatte, die alles zur Gänze aufklären würde. Praifec Hespero und seine Männer sind fast da. Es wäre ein Fehler zuzulassen, dass sie den Berg betreten. Selbst auf den Hängen könnte Hespero in der Lage sein, von der Macht der sieben Schreine zu schöpfen. Wenn er das Innere des Berges betritt, wird nicht einmal der Woorm ihn aufhalten können.« »Aber wenn Bruder Stephen Zeit hätte, den Pfad der Schreine zu beschreiten -«, setzte Bruder Ashern an, doch Fend schüttelte den Kopf. »Das würde Tage dauern. Hespero kommt näher. Ich habe ihn gesehen. Ist es nicht so, Stephen?« »Er ist uns gefolgt«, gab Stephen zu. Er sah Fend scharf an. »Aber Ihr und er wart doch Verbündete.« »Ich habe einst mit ihm zusammengearbeitet«, räumte der Sefry ein. »Das war notwendig, um diesen gegenwärtigen Punkt zu erreichen. Aber unsere Interessen sind nicht länger dieselben. Er will, was dem Recht nach Euer ist. Ihr habt das Hörn geblasen, das den Dornenkönig geweckt hat. Ihr habt diesen Ort gefunden.« »Aber ich weiß doch noch nicht einmal, was dies für ein Ort ist!« »Nicht?«, fragte Fend. »Wisst Ihr nicht, wer Euer erster Vorgänger war? Der Erste Euresgleichen, der hierher gekommen ist?« »Choran?« »Choran? Nein, der hat bloß etwas an seinen angestammten Platz zurückgebracht. Es war Virgenya Dare, die diesen Ort ge597 funden hat, Stephen. Hier hat sie den Pfad der Schreine beschritten. Hier hat sie die Zauber entdeckt, die die Skasloi vernichtet haben. Würdet Ihr Hespero solche Macht überlassen?« »Nein«, sagte Stephen, dem der Kopf schwirrte, »aber Euch würde ich sie auch nicht überlassen.« »Ich verlange doch gar nicht danach, Ihr schwachsinniger Tropf«, fauchte Fend. »Ich bitte Euch lediglich, sie für Euch selbst zu beanspruchen.« »Warum?« »Weil das die einzige Möglichkeit ist«, erwiderte der Sefry. »Die einzige Möglichkeit, die Welt zu retten.« »Ich verstehe immer noch nicht, was Ihr von mir erwartet.« »Ich stehe Euch zu Befehl«, sagte Fend. »Der Woorm steht Euch zu Befehl. Diese Krieger stehen Euch zu Befehl. Sagt uns einfach, was wir tun sollen.« »Ihr erwartet, dass ich das alles glaube?«, fuhr Stephen, dessen hilflose Verwirrung überkochte, ihn an. »Ich bin gegen meinen Willen hierher gebracht worden. Jetzt behauptet Ihr, Ihr werdet meinen Befehlen folgen? Das ergibt doch keinen Sinn!« »Wir mussten Euch herbringen«, erklärte Adhrekh. »Es tut mir Leid, dass wir Zwang anwenden mussten, um so weit zu kommen, aber weiter können wir Euch nicht zwingen. Ihr seid Chorans Erbe. Wenn Ihr gehen wollt, geht. Aber wenn Ihr das tut, wird dieser andere Euren Platz einnehmen.« »Wollt Ihr damit sagen, Ihr würdet Hespero gehorchen?« »Es ist das geos diese Ortes«, sagte Fend. »Wenn Ihr das Zepter nicht ergreift, wird es jemand anders tun. Und wenn er es tut, müssen wir ihm folgen. Ihr müsst entscheiden.« »Und wenn ich einwillige und wenn ich Euch befehle, Hespero und seine Streitmacht zu vernichten?« »Dann werden wir es versuchen«, antwortete der Sefry. »Ich denke, wir werden gewinnen. Aber wie ich schon sagte, seine Macht wächst. Im Gegensatz zu Euch hat er schon seit Jahrzehnten von diesem Ort geträumt.« 598 Stephen warf Zemle einen Blick zu, dann sah er Adhrekh an. »Ich will einen Moment mit Schwester Pale allein sein«, verkündete er. »Lasst Euch nicht zu lange Zeit«, warnte Fend. »Eine verzögerte Entscheidung könnte gar keine Entscheidung mehr sein.« »Hier stimmt irgendetwas ganz und gar nicht«, sagte Stephen zu Zemle, als sie allein waren. »Auf jeden Fall ist es verwirrend«, räumte sie ein. »Verwirrend? Nein, es ist mehr als das. Es ist Wahnsinn. Weißt du, wer Fend ist? Was er getan hat? Was immer ich sonst noch über diese Lage weiß oder nicht, ich weiß, dass man Fend nicht trauen kann.« »Das kann sein, aber wenn er Recht hat, was Hespero angeht, dann sollten wir uns wegen des Sefry vielleicht später den Kopf zerbrechen.« »Du meinst, ich soll tun, was er verlangt? Ihnen befehlen, Hespero anzugreifen? Ich - nein, das ist doch aberwitzig. Wenn Fend unbedingt will, dass ich irgendetwas tue, dann ist das ein hervorragendes Zeichen dafür, dass ich es nicht tun sollte. Außerdem scheinen sich Fend und Adhrekh einig zu sein, was den Praifec angeht.
Fend hat den Woorm geritten, also nehme ich an, dass er ihn irgendwie beherrscht. Adhrekh und seine Leute haben aus freien Stücken gehandelt. Warum brauchen sie also mich, um ihnen zu befehlen, das zu tun, was sie ohnehin tun wollen?« »Sie haben irgendetwas von einem geos gesagt -« »Ja«, erwiderte Stephen. »Ich weiß. Aber es klingt falsch.« »Vielleicht...«, setzte Zemle an, dann schüttelte sie den Kopf. »Was?«, fragte er. »Vielleicht bist du schon -« »Was?« Sie stieß einen langen Atemzug aus. »Was du da gesagt hast, vor ein paar Tagen. Dass du immer wieder vom Weg abkommst. Du hast für andere Menschen gelebt, Stephen. Sogar die Art und Wei599 se, wie du über Aspar redest - du warst sein Gefährte, aber du warst ihm nie gleichgestellt. Könnte es sein - denk einfach mal darüber nach - könnte es sein, dass du vielleicht Angst vor der Macht hast, die dir angeboten wird? Könnte es sein, dass du ihr nicht traust, weil du ihr nicht trauen kannst, weil du, wenn du den Befehl hast, niemand anderem die Schuld geben kannst als dir selbst, wenn etwas schief geht?« »Das ist ungerecht«, stieß Stephen hervor. »Vielleicht«, erwiderte Zemle. »Ich kenne dich noch nicht so lange. Aber ich glaube ... ah, ich glaube, ich weiß ein paar Dinge über dich. Ich glaube, ein paar Dinge an dir sehe ich viel klarer, als du sie selbst siehst.« Sie streckte die Hände aus und ergriff die seinen. »Denk nach, Stephen. Auch wenn Fend lügt - selbst wenn Virgenya Dare niemals hier war -, trotzdem, was für Geheimnisse mag dieser Ort bergen? Was könntest du alles lernen? Ich kann die Macht hier fühlen, also weiß ich, dass es dir genauso gehen muss. Dafür bist du hergekommen, und alles, was du tun musst, ist, dich bereit zu erklären zuführen.« Er schloss die Augen. Zemle hatte ganz bestimmt Recht, was den Schrecken betraf, den ihm die Vorstellung einjagte, das Kommando zu übernehmen. Wie konnte er jemanden in den Kampf und in den Tod schicken? Und doch, was, wenn seine anderen Unsicherheiten - wie sie behauptete - lediglich seine Methode waren, Untätigkeit zu rechtfertigen? Schließlich unterschied sich das, was Fend und Adhrekh sagten, gar nicht so fürchterlich von dem, was Fratrex Pell gesagt hatte. Vielleicht war es ja wahr. Vielleicht war er derjenige, dem es bestimmt war, das zu tun. Er hatte es einfach nur niemals geglaubt. Er war die ganze Zeit davon ausgegangen, dass er Virgenya Dares Tagebuch finden und es übersetzen würde, und wenn er etwas Nützliches entdeckte, würde er das tun, was er immer getan hatte - damit zu jemand an600 derem gehen, zu jemandem, der wusste, wie diese Erkenntnis zu verwenden war. Und doch, wie hatte das stets geendet? Desmond Spendlove hatte seine Übersetzungen dazu benutzt, grauenvolle Dinge zu tun. Stephen hatte Praifec Hespero die Früchte seiner Nachforschungen nutzen lassen, und das Ergebnis war gewesen, dass noch mehr Menschen eines entsetzlichen Todes gestorben waren. Und jetzt war Hespero hinter ihm her. Vielleicht war es wirklich Zeit, dass er aufhörte, die Machtquelle anderer Leute zu sein. Vielleicht wurde es Zeit, das Heft selbst in die Hand zu nehmen. Zemle hatte Recht. Wenn die Bedrohung, die Hespero darstellte, abgewehrt war, dann würde er Muße haben, sich mit dieser Situation zu befassen, bis er sie vollkommen verstand. Dann konnte er darüber nachdenken, wie er mit Fend verfahren sollte. Er packte Zemle an den Schultern und küsste sie. Sie machte sich steif, und zuerst dachte er, sie würde ihn wegstoßen, doch dann entspannte sie sich und erwiderte den Kuss mit Nachdruck. »Danke«, sagte er. Er fand die anderen mehr oder weniger so vor, wie er sie verlassen hatte; sie warteten auf ihn. »Wenn es Euch ernst damit ist«, verkündete Stephen, »dann möge es geschehen. Haltet Praifec Hespero auf ganz gleich, was geschieht, lasst ihn nicht in den Berg. Nehmt ihn gefangen, wenn Ihr könnt, aber tut, was Ihr tun müsst.« »So ist's recht«, lobte Fend. Er verbeugte sich. »Wie Ihr befehlt, Pathikh, so soll es geschehen.« Stephen fühlte, wie sich seine Zähne aufeinander pressten; er fürchtete, irgendeinen uralten Fluch entfesselt zu haben, geradewegs in eine Falle hineingetappt zu sein. Doch nichts passierte, außer dass sich alle anderen Sefry ebenfalls verbeugten - was an und für sich gewiss eigenartig genug war. »Wo ist der Woorm?«, fragte Stephen. Fend lächelte, stieß einen langen, leisen Pfiff aus, und hinter ihm 601 teilte sich das Wasser. Zwei riesige grüne Lampen erhoben sich über den Versammelten. Ein gedämpftes, anerkennendes Gemurmel kam unter den Sefry auf, die ganz eindeutig alle miteinander von Sinnen waren. Stephen stolperte rückwärts und versuchte, Zemle mit seinem Körper abzuschirmen. »D-das Gift!«, stammelte er.
»Hat hier keine Wirkung«, versicherte ihm Adhrekh. »Die Sedos-Macht im Berg macht es harmlos. Und wir sind dagegen gefeit, wenn wir einmal draußen sind.« Stephen konnte den Blick nicht von dem Geschöpf losreißen, doch einen Moment später wurde ihm klar, dass sie noch immer darauf warteten, dass er etwas sagte. »Schön«, stellte er fest. »Hier ist der Woorm. Wo sind Eure Krieger? Wie viele habt Ihr?« »Es sind zwölf«, antwortete Fend. Stephen wandte sich nun doch von dem Ungeheuer ab, um zu sehen, ob der andere scherzte. »Zwölf? Aber es sind doch jetzt mehr als zwölf von Euch hier?« »Ja. Aber den meisten der Aitivar ist es verboten zu kämpfen. Zwölf werden reichen müssen. Und wir haben den Khriim auf unserer Seite, wie auch den Khruvkhuryu.« »Den was?«, fragte Stephen, doch es war zu spät. Sie hatten sich bereits in Bewegung gesetzt. Fend rief etwas, und der gewaltige Schädel senkte sich herab, damit er aufsteigen konnte. Adhrekh und elf Krieger machten sich im Laufschritt zum anderen Ende der Höhle auf. Plötzlich war Stephen abermals von Zweifeln erfüllt. Irgendjemand zupfte an seinem Ärmel. Es war ein Sefry, den er bisher nicht bemerkt hatte, ein so uralter Mann, dass Stephen sich einbildete, selbst im Fackelschein die Knochen durch seine Haut hindurch erkennen zu können. »Um Vergebung, Pathikh«, krächzte der Mann, »aber wollt Ihr zusehen? Es gibt einen höher gelegenen Aussichtspunkt.« 602 »Ja«, stimmte Stephen zu. »Ich glaube, das würde ich sehr gern tun.« Er folgte dem Sefry und wurde mit jedem Moment unruhiger. Er kam sich vor wie der Mann in der alten Mär vom verdammten Heiligen, der in einer Flasche gefangen war. Der Mann hatte einen Wunsch frei, dann würde der Heilige ihn töten. Es gab nur zwei Dinge, die er sich nicht wünschen konnte: verschont zu werden oder dass der Heilige starb. 47. Kapitel Die Schiffe Anne?« k Sie bemerkte, dass Austra sie sanft schüttelte. »Es ist alles in Ordnung«, beruhigte Anne ihre Freundin. »Was ist passiert? Du hast mit... ihm ... gesprochen, und dann bist du ganz still geworden, wie ein Statue.« »Gar nichts«, log sie. »Ich erzähle es dir später. Im Augenblick möchte ich, dass ihr alle hier bleibt und euch still verhaltet. Ich muss etwas anderes tun, und ich darf nicht gestört werden.« »Gut, Anne.« »Anne?«, flüsterte Alis schwach. »Ja, Lady Berrye?« »Traut ihm nicht.« »Oh, das tue ich nicht«, versicherte Anne. Dann ließ sie sich mit gekreuzten Beinen auf dem Boden nieder. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, sie sei im Konvent der heiligen Cer, im Schoß der Mefitis. Sie konzentrierte sich auf eine frei erfundene mittlere Entfernung und versuchte, sich dort ein 603 Licht vorzustellen, atmete langsamer, bis ihr Puls tief und gleichmäßig ging, bis sie das behäbige Pulsieren der Gezeiten unter Ynis und die noch tieferen, geheimen Regungen der Erde spüren konnte. Bis sie ruhig und still war. Als das Licht aufflackerte, war ihr einen Moment lang so, als dehne sie sich aus, als würden Stein und Wasser von Ynis und Neuland zu ihrem Fleisch und Blut. Der Bewahrte schmerzte wie eine Eiterbeule, genau wie das Wesen in Eslen-des-Schattens, doch das verging schlagartig, als die Dunkelheit zersplitterte und sie sich auf einer Waldlichtung wieder fand. Und obgleich die Sonne im Mittag stand, warf sie keinen Schatten, und sie wusste, dass sie diesmal endlich an den richtigen Ort gekommen war. »Glaubende!«, rief sie. Einen Moment lang dachte sie, sie würden nicht erscheinen, dann jedoch traten sie auf die Lichtung - vier Frauen, mit Kleidern und Masken wie für einen Kostümball angetan, so ähnlich und so verschieden wie Schwestern. Die Erste, rechts von Anne, trug ein tiefgrünes Gewand und eine höhnisch grinsende goldene Maske. Ihr Haar fiel in bernsteinfarbenen Flechten fast bis zu ihren Füßen herab. Neben ihr stand eine Brünette in beinerner Maske und rostrotem Kleid. Die dritte Glaubende war so bleich wie der Mond, mit silbernen Locken. Ihr Gewand und ihre Maske waren schwarz. Die letzte Frau trug ein weißes Kleid und eine weiße Maske, und ihr Haar war schwärzer als Kohle. »Ihr habt euch alle verändert«, stellte Anne fest. »So wie die Jahreszeiten, die Winde - und wie du, meine Liebe«, entgegnete die erste Glaubende. »Wo seid ihr gewesen?«, wollte Anne wissen. »Ich habe schon früher versucht, euch zu finden.« »Besuche dieser Art sind schwieriger geworden«, sagte die Glaubende mit der Knochenmaske. »Die Throne erscheinen.«
»Ja, die Throne«, erwiderte Anne. »Eine von euch hat mir gesagt, dass ihr nicht in die Zukunft sehen könnt. Ihr habt gesagt, ihr 604 wärt wie Wundärzte - dass ihr die Krankheit der Welt fühlen und spüren könntet, was notwendig sei, um sie zu heilen.« »Das stimmt«, antwortete die schwarz gekleidete Glaubende. »Wohlan«, fragte Anne, »was spürt ihr jetzt? Ich bitte um euren Rat.« »Dies sind gefährliche Zeiten, dir Ratschläge zu geben«, meinte die Frau in dem grünen Kleid und breitete die Arme aus. Ihre Ärmel glitten zurück, und Anne bemerkte etwas, das ihr bisher nie aufgefallen war, bei keiner ihrer früheren Begegnungen mit den Glaubenden. »Was ist das?«, fragte sie. Die Frau ließ die Hände sinken, doch Anne trat vor. »Es ist gut«, sagte die weiß gekleidete Schwester. »Irgendwann musste sie es erfahren.« Anne griff nach der Hand der Glaubenden und spürte ein eigenartiges Kribbeln bei der Berührung, als hielte sie etwas sehr Glitschiges fest. Doch der Arm hob sich fügsam, sodass sie das Zeichen sehen konnte, das dort eintätowiert war - eine schwarze Mondsichel. »Ich bin von einem Mann überfallen worden, der dieses Zeichen trug«, sagte sie. »Vielleicht ein Gefolgsmann von euch?« Die Glaubende wandte sich an ihre Schwester. »Erkläre du es ihr«, sagte sie. »Wenn du dir so sicher bist, dass sie es wissen sollte.« Ein schiefes Lächeln erschien unterhalb der schwarzen Maske. »Anne, ich glaube, dir ist nicht klar, wie wichtig es ist, dass du den Thron besteigst - den tatsächlich vorhandenen Thron von Crothenien, und den verwunschen Thron, der zum Vorschein kommt. Wir haben versucht, es dir zu erklären, aber du hast dich immer wieder in Gefahr gebracht, indem du selbstsüchtigen Bedürfnissen nachgegeben hast.« »Ich wollte meine Freunde vor dem sicheren Tod bewahren. Wie kann das selbstsüchtig sein?« »Das weißt du genau, und doch weigerst du dich, es zuzuge605 ben. Deine Freunde spielen keine Rolle, Anne. Das Schicksal der Welt hängt nicht von ihnen ab. Nach allem, was du erlebt hast, Anne, bist du noch immer verwöhnt - noch immer das Mädchen, das darum gekämpft hat, an einem Ort ihren Sattel zu behalten, wo sie keinerlei Verwendung dafür hatte, einfach nur, weil er ihr gehörte. Ein kleines Mädchen, das sein Spielzeug nicht mit anderen teilen und es erst recht nicht aufgeben will. In Dunmrogh hättest du beinahe alles zunichte gemacht. Auf Gedeih und Verderb haben wir beschlossen, dass du von deinen Gefährten getrennt werden solltest, damit du die Dinge klarer siehst. Ja, wir haben Freunde -« »Und zwar wirklich verdammt wunderbare Freunde«, fuhr Anne auf. »Einer von ihnen hat versucht, mich zu schänden.« »Das war keiner von unseren Leuten«, sagte die Glaubende mit dem honigfarbenen Haar. Auch ihre Stimme war honigsüß. »Jemand, den unsere Diener gedungen hatten, ohne genug über ihn zu wissen. Auf jeden Fall -« »Auf jeden Fall habt ihr mir bewiesen, dass ich euch nicht trauen kann. Das habe ich auch nie wirklich geglaubt, aber jetzt weiß ich es ganz sicher. Dafür habt ihr meinen Dank.« »Anne -« »Aber ich gebe euch noch eine Chance. Begreift ihr meine missliche Lage? Könnt ihr so viel sehen?« »Ja«, antwortete die bleiche Glaubende. »Wohlan denn, wenn ihr so großes Interesse daran habt, dass ich Königin werde - könnt ihr mir einen Ausweg aus dieser Lage zeigen, ohne dass ich den Bewahrten freilassen muss?« »Du kannst ihn nicht freilassen, Anne.« »Wirklich? Und warum im Namen aller Heiligen nicht?« »Das wäre sehr schlimm.« »Das ist keine Erklärung.« »Er ist ein Skaslos, Anne!« »Ja, und er hat mir versprochen, das Gesetz des Todes wiederherzustellen und zu sterben. Ist daran etwas verkehrt?« 606 »Ja.« »Und was?« Doch die Frauen antworteten nicht. »Nun gut«, sagte Anne. »Wenn ihr mir nicht helfen wollt, werde ich tun, was ich tun muss.« Die Glaubende mit dem goldenen Haar trat vor. »Warte - diese Frau, Alis. Ihr beide könnt entkommen.« »Tatsächlich? Wie?« »Sie hat den Pfad der Schreine der Sepura beschritten. Wenn du ihre Macht mit der deinen vergrößerst, könnt ihr ungesehen durch eure Feinde schlüpfen.«
»Das ist das Beste, was ihr tun könnt? Was ist mit meinen Freunden?« Die Frauen wechselten Blicke. »Richtig«, sagte Anne. »Sie spielen keine Rolle.« Sie wandte sich ab. »Lebt wohl«, murmelte sie. »Anne -« »Lebt wohl!« Damit zerbarst die Lichtung wie farbiges Glas, und die Finsternis kehrte zurück. Nun, sagte der Bewahrte. Ihr habt die Ware verglichen. Seid Ihr bereit, handelseinig zu werden? »Kannst du den Blendzauber aufheben, der auf den Gängen liegt? Der verhindert, dass Männer sie kennen?« »Wenn ich frei bin, ja. Aber erst, wenn ich frei bin.« »Schwöre es.« »Ich schwöre es.« »Schwöre, dass du, wenn du frei bist, tun wirst, was du versprochen hast: das Gesetz des Todes wiederherstellen und dann sterben.« »Ich schwöre es bei allem, was ich bin, bei allem, was ich jemals war.« »Dann beuge deinen Nacken zu meinen Füßen herunter.« Eine lange Pause entstand, dann schlug etwas Schweres neben 607 ihr auf dem Boden auf. Sie hob den rechten Fuß und stellte ihn auf etwas Großes, Kaltes, Raues. »Anne, was tut Ihr?«, fragte Alis in der Schwärze. Sie klang völlig außer sich. »Qexqaneh«, sagte Anne und hob die Stimme. »Ich gebe dir die Freiheit.« »Nein!«, schrie Alis gellend. Doch es war zu spät. Ihre berittenen Feinde waren alle tot, und jetzt eilten die verbliebenen Verteidiger herbei, um die Bresche zu halten, die Artwairs Ballisten gerissen hatten. Das Loch in der Mauer war fast nahe genug, dass Neil es hätte berühren können, als etwas von oben auf seine Schultern krachte, so heftig, dass er in die Knie ging. Dumpf schaute Neil zu dem Mann empor, der über ihm stand und sein Schwert zum tödlichen Streich hob. Neil zielte mit einem ungeschickten Hieb auf die Knie des Mannes. Seine Waffe war von dem Gemetzel zu stumpf geworden, um die Metallgelenke zu durchtrennen, doch die Knochen darunter brachen unter dem Aufprall, ungefähr im selben Augenblick, als der Schlag von oben hart von Neils Helm abglitt. Mit dröhnendem Schädel kam er grimmig auf die Beine, setzte dem Mann Schlachtenhund an die Kehle und lehnte sich auf den Knauf. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon kämpften, doch die Frühauslese war vorüber. Er und die acht seiner Männer, die noch auf den Beinen standen, sahen sich ungefähr zwanzig Kämpfern mit Schwert und Schild gegenüber, und außerdem konnten vielleicht fünf Männer auf der Mauer aus dem richtigen Winkel auf sie schießen. Verstärkungstruppen, die versuchten, sie über die Landbrücke zu erreichen, wurden noch immer von dem heftigen Beschuss durch die Wurfgeräte des Waerd zurückgedrängt. Er ließ sich zwischen die Leichen fallen, hob den Schild und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Die Verteidiger erwiesen 608 sich als schlau und besonnen; sie blieben in der Bresche, anstatt daraus hervorzustürmen. Neil sah sich nach seinen Männern um. Die meisten taten das Gleiche wie er und versuchten, sich trotz des Todes, der auf sie herabregnete, ein wenig auszuruhen. Neil hob die Hand, um seine Schulter zu betasten, fand einen Pfeil, der daraus hervorragte, und brach ihn ab. Das ließ einen scharfen, fast lustvollen Schmerz durch seinen von der Schlacht tauben Körper schießen. Er blickte zu dem jungen Ritter Sir Edhmon hinüber, der nur eine Königselle entfernt kauerte. Der Junge war von Kopf bis Fuß mit Blut bespritzt, doch er hatte noch immer zwei Arme und zwei Beine. Er sah nicht mehr verängstigt aus - eigentlich nur erschöpft. Doch als er Neil ansah, versuchte er zu grinsen. Dann veränderte sich seine Miene, und seine Augen richteten sich auf etwas anderes. Einen Moment lang befürchtete Neil, die Wunden des jungen Mannes hätten ihn übermannt, denn Sterbende wurden häufig des Tier de Sem ansichtig, wenn sie diese Welt verließen. Doch Edhmon schaute nicht über den Himmel der Sterblichen hinaus, er starrte über Neils Schulter hinweg, hinaus auf die offene See. Neil folgte seinem Blick, während ein frischer Pfeilregen niederging. Ein wunderbarer Anblick bot sich ihm. Segel, hunderte von Segeln. Und obgleich die Entfernung groß war, war sie doch nicht so groß, dass man das Schwanenbanner von Liery auf den vordersten Wellenrossen nicht flattern sehen konnte. Neil schloss die Augen und senkte den Kopf, während er zum heiligen Lier betete, dieser möge ihm die Kraft geben, die er brauchte. Dann hob er den Blick und fühlte, wie eine Art Donner seine Stimme erfüllte. »Wohlan, Freunde!«, rief er und schwor im Stillen, dass dies nicht seine Stimme war, sondern die seines Vaters, der den Clan in der Schlacht bei Hrungrete anfeuerte. »Dort sind 609 Sir Fail und die Flotte, die den Thronräuber gefügig machen werden, wenn wir tun, was uns aufgetragen wurde.
Wenn nicht, werden diese stolzen Schiffe zerschmettert werden und ihre Mannschaften zu den Draugs hinuntersinken, denn ich kenne Fail gut genug, um euch zu sagen, dass er versuchen wird durchzubrechen, ob Thornrath nun in der Hand des Blutigen Robert ist oder nicht. Wir haben es nicht mehr weit. Wir sind acht gegen zwanzig. Das sind kaum mehr als zwei gegen einen. Wir alle werden sterben, Freunde, heute oder an einem anderen Tag. Die einzige Frage ist -wird euer Schwert in der Scheide rosten, wenn ihr sterbt, oder werdet ihr es schwingen?« Damit erhob er sich und stieß den Raben-Schlachtruf der MeqVrens aus, und die anderen sieben sprangen mit ihm auf; manche brüllten, andere beteten zu den Heiligen der Schlacht. Sir Edhmon blieb stumm, doch auf seinem Gesicht lag eine grimmige Freude, in der Neil seine eigene erkannte. Sie rückten zusammen, Schulter an Schulter, und stürmten die Böschung hinauf. Diesmal gab es keinen heftigen Zusammenprall; die Schilde stießen gegeneinander, und die Verteidiger stemmten sich dagegen und schlugen über den Schildrand hinweg zu. Neil wartete den Hieb ab, und als dieser den Rand seines Schildes traf, hob er seinen Schwertarm und legte ihn über die Waffe. Edhmon sah es, drosch auf den Arm ein, den Neil auf diese Weise festgeklemmt hatte, und trennte ihn halb ab. »Haltet die Reihe geschlossen!«, schrie Neil. Der Krieger in ihm wollte über den Gefallenen hinwegstürmen, tiefer in die Verteidiger hinein, doch da diese in der Überzahl waren, wäre das töricht. Ihre Reihe war ihre einzige Verteidigung. Einer der riesigsten Männer, die Neil jemals gesehen hatte, drängte sich von hinten in die Schar der Feinde. Er überragte sie um anderthalb Haupteslängen, mit einer wilden gelben Mähne und Tätowierungen, die ihn als Weihander auswiesen. Mit beiden Händen schwang er ein Schwert, länger, als mancher Mann groß war. 610 Während Neil machtlos zusah, griff der Riese über seine eigenen Männer hinweg, packte Sir Call am Helmbusch und riss ihn durch den Schildwall, wo er von den Kameraden des Weihanders in Stücke gehauen wurde. Mit einem Aufbrüllen hilfloser Wut rammte Neil seinen Schild gegen den Mann vor ihm, drosch einmal, zweimal, dreimal auf seinen Kopf ein. Beim dritten Mal sackte der Schild herab, und Schlachtenhund krachte so hart in den Helm des anderen, dass diesem das Blut aus der Nase spritzte. Neil zeigte mit dem Schwert auf den Riesen und hob die Stimme über das Getöse. »'Weihander! Thein athei was goth at mein piken!«, brüllte er. Das Resultat war bemerkenswert. Das Gesicht des Hünen - bereits hochrot - wurde aschfahl. Er stürmte auf Neil los und sprengte dabei den Schildwall, den er eigentlich verteidigen sollte. »Was habt Ihr gesagt?«, schrie Sir Edhmon und keuchte heftig. »Das verrate ich Euch, wenn Ihr alt genug seid«, erwiderte Neil. »Aber die Heiligen mögen mir vergeben, dass ich eine Frau beleidige, der ich nie begegnet bin.« Ehe der Weihander ihn erreichen konnte, trat ein neuer Kämpfer vor und ließ seinen Schild ein wenig herabsinken, vielleicht ein Täuschungsmanöver. Neil riss seinen eigenen Schild hoch und rammte dann dessen spitzes unteres Ende auf den Fuß seines Widersachers, sodass dieser auf ein Knie sank. Neil ließ Schlachtenhunds Heft auf seinen Hinterkopf niederkrachen. Heulend warf der Krieger sich auf ihn, und sie rutschten beide die steinige Böschung hinunter, die durch den Einsturz der Waerd-Mauer entstanden war. Neil hieb abermals auf den Mann ein, konnte jedoch nicht weit genug ausholen, um einen tödlichen Schlag zu landen, und seine Arme und Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei gegossen. Also ließ er das Schwert fallen und tastete nach dem Dolch an seiner Seite. Er fand ihn, stellte jedoch fest, dass sein Gegner die gleiche Idee gehabt hatte, als er die Spitze eines Messers an seinem 6n Brustpanzer scharren fühlte. Fluchend riss er seine Waffe heraus, doch der Moment hatte genügt; sein Atem wurde kalt, als Stahl durch die Rüstungsfuge an seiner Seite schlüpfte und zwischen seine Rippen drang. Neil würgte seinen eigenen Schrei hinunter und stieß dem Mann seinen Dolch unter dem hinteren Helmrand in die Schädelbasis. Sein Feind gab ein Geräusch von sich, das wie ein kurzes Auflachen klang, dann rührte er sich nicht mehr. Ächzend stieß Neil den schlaffen Leichnam von sich fort und versuchte aufzustehen, doch es war ihm noch nicht gelungen, als der Riese ihn erreichte. Er bekam den Schild rechtzeitig hoch, um einen Hieb des gewaltigen Schwertes abzuwehren, das der Kerl schwang. Er traf ihn wie ein Donnerschlag, und irgendetwas in seinem Schild splitterte. Der Hüne holte zu einem weiteren Schlag aus, und Neil richtete sich auf und rammte ihm das, was von seinem Schild noch übrig war, unters Kinn, sodass der Weihander rückwärts stolperte und zu Boden ging. Unglücklicherweise stürzte auch Neil. Keuchend warf er den Schild weg und hob Schlachtenhund auf. Ein paar Königsellen entfernt erhob sich der Weihander, um sich ihm zu stellen. Neil schaute zur Bresche zurück und sah, dass Sir Edhmon und vier andere noch standen - die Verteidiger des Waerd schienen alle gefallen zu sein. Sir Edhmon schickte sich an, die Böschung hinunter auf den Weihander loszugehen. »Nein!«, schrie Neil. »Bleibt zusammen, sucht die Katapulte. Sie werden nur leicht bewacht sein. Bleibt
zusammen - sorgt dafür, dass ihr wenigstens eins davon erobert! Dann sucht weiter.« Der Weihander blickte zu Edhmon und den anderen hinüber, dann grinste er Neil wild an. »Wie heißt Ihr?«, fragte Neil den Hünen. Sein Gegner hielt inne. »Slautwulf Thvairheison.« »Slautwulf, ich bitte Euch zweimal um Entschuldigung. Einmal 612 für das, was ich über Eure Mutter gesagt habe, und das zweite Mal dafür, dass ich Euch töten werde.« »Das erste Mal reicht vollkommen«, erwiderte Slautwulf und griff nach seiner Waffe. »Törichter Kerl. Ihr könnt ja kaum noch Euer Schwert heben.« Neil presste die Linke auf das Loch in seiner Seite, doch er wusste, dass es sinnlos war - er konnte dem Blut nicht Einhalt gebieten. Dann griff Slautwulf an; sein riesiges Schwert fuhr im Bogen durch die Luft, um Neil in zwei Teile zu spalten. Neil hatte vor, dem Hieb um Haaresbreite auszuweichen und dann vorzuspringen, während sein Widersacher zu einem neuerlichen Schlag ansetzte, doch er stolperte beim Zurückweichen und wäre fast gestürzt. Der Schlag verfehlte ihn trotzdem um ein gutes Stück, und der Weihander ging abermals auf ihn los. Diesmal entging Neil dem Hieb knapp und griff dann an wie geplant. Slautwulf jedoch war darauf gefasst gewesen. Anstatt die Klinge erneut zu schwingen, ließ er das Heft auf Neils Helm niederkrachen. Neil gab in den Knien nach und sackte zusammen, rollte sich nach vorn ab und stieß Schlachtenhund mit aller Kraft nach oben. Er lag auf dem Rücken; Slautwulfs verblüfftes Gesicht blickte auf ihn herab. »Ich brauche es auch nur ein einziges Mal zu heben«, sagte Neil. »Ja«, brachte Slautwulf heraus und spuckte Blut, während das Schwert seinen Händen entglitt. Unter seinem Schlachtenkilt trug der Krieger keine Panzerung - oder auch nur Leibwäsche. Schlachtenhund war geradewegs durch Becken und Eingeweide in die Lunge gedrungen. Neil schaffte es, sich zur Seite zu rollen, bevor der Riese zu Boden stürzte. Einen Augenblick lang lagen sie da und starrten einander an. »Keine Sorge«, krächzte Neil. »Der heilige Vothen liebt Euch. Ich sehe schon seine valkirja kommen, um Euch zu holen.« Slautwulf versuchte zu nicken. »Dann sehen wir uns in Valrohsn wieder.« 613 »Noch nicht«, erwiderte Neil. Er presste die Faust in den Boden und machte Anstalten, sich hochzustemmen. Doch ein Pfeil schleuderte ihn abermals zu Boden und trieb ihm alle Luft aus der Lunge. Ich bleibe einfach einen Moment hier liegen, dachte er, und sammle Kraft. Er schloss die Augen und lauschte seinem eigenen, unregelmäßigen Atem. Die Schiffe, erinnerte er sich, und er wollte sie noch einmal sehen. Seine Augen fühlten sich an, als seien sie zugenäht worden, doch nach unvorstellbar erscheinenden Mühen gelang es ihm, sie zu öffnen, nur um sich noch immer Slautwulf gegenüberzusehen. Er holte tief und schmerzhaft Atem und schaffte es, den Kopf zu drehen, sodass er aufs Meer hinausschaute. Ein weiterer Pfeil prallte gegen seinen Brustharnisch. Richtig, dachte er. So etwas Dummes. Jetzt wissen sie, dass du noch am Leben bist. Doch er brauchte sich nicht mehr zu bewegen. Er konnte die Schiffe sehen, die Schiffe Liers. Hatte er sie gerettet? Wenn es Edhmon und den anderen gelungen war, auch nur ein Katapult niederzureißen, so konnte Artwair einen zweiten Angriff riskieren, und genug Männer konnten durchkommen, um den Waerd zu sichern. Aus der Deckung heraus, die die Höhe des Waerd bot, konnten sie das Tor von Thornrath binnen eines Tages erobern. Sie brauchten nicht einmal die ganze Seemauer zu besetzen, nur so viel, dass Schiffe durch einen der großen Torbögen einfahren konnten. Wenn... Vor seinen Augen verschwamm alles, bis die Segel und das Meer zu verschmelzen begannen. Er versuchte, den Schleier fortzublinzeln, doch dadurch wurde alles nur noch undeutlicher. Allmählich klärte sich sein Blick wieder, doch anstelle der See sah er jetzt ein Gesicht vor sich, mit hohen Wangenknochen, stark, blass wie Milch, mit Augen so blau, dass sie blind zu sein schienen. Zuerst dachte er, es sei die valkirja, die er für Slautwulf erlogen hatte. 614 Doch dann wusste er, wer es war, »Swanmay«, murmelte er. Brinna, schien sie zu sagen. Weißt du noch? Mein richtiger Name ist Brinna. Er dachte daran, wie er sie geküsst hatte. Ihm war klar, dass er an Fastia hätte denken sollen, doch als das Licht schwand, war es einzig und allein Brinnas Gesicht, das er in seinen Gedanken festhalten konnte. 48. Kapitel Frei Stephen schauderte, als er auf das Sims hinaustrat. Sein Blick schien fast eine Meile weit durch den leeren Raum zu stürzen, ehe er auf Bäume und Felsen traf. Es konnte nicht wirklich so tief hinuntergehen, denn er konnte die
Gestalten des Praifec und seiner Männer ausmachen, die sich einer Art Sackgasse im Berg näherten. Trotzdem fasste er Zemles Hand fester. »Ich glaube, mir wird übel, wenn ich hier draußen bleibe«, sagte er. »Du hast Stein unter den Füßen«, erwiderte sie. »Denk einfach immer daran. Du fällst nicht hinunter.« »Wenn ein starker Wind aufkommt -« »Nicht sehr wahrscheinlich«, wandte sie ein. »Seht dort«, sagte Ione, der uralte Sefry, der sie zu diesem luftigen Horst geführt hatte. Er zeigte mit dem Finger und zuckte zusammen, als das Licht seine Hand berührte. Fend und seine Krieger würden sich deswegen keine Sorgen machen müssen - die sich westwärts neigende Sonne hatte das Tal unter ihnen bereits mit Schatten gefüllt. 615 Stephen beugte sich ein kleines bisschen weiter vor und sah, worauf der alte Mann zeigte - einen Teich aus tiefem blauem Wasser. Und wie auf ein Stichwort brach plötzlich der Woorm - der Khriim? - daraus hervor. »Ihr Heiligen«, betete Stephen, »lasst mich das Richtige getan haben.« Aspar erstarrte einen Augenblick, dann griff er nach dem Bündel auf seinem Rücken und verfluchte sein Pech. Natürlich bekam er das Biest ausgerechnet dann genau vor den Pfeil, wenn sein Bogen nicht gespannt war. Er zog den wasserdichten Beutel hervor und zerrte an den Schnüren, doch das Wachs machte es schwer, den Knoten zu lösen, besonders, wenn er sich alle paar Herzschläge dabei ertappte, wie er zu dem Woorm schaute. Die Bestie griff mit ihren kurzen Vorderbeinen nach den Bäumen und zog Körper und Schwanz aus dem Teich; sie ragte fast ebenso hoch auf wie Aspars Sitz. Eine vollkommene Zielscheibe ... Dann vernahm er das Surren eines Pfeils, und jäh war ihm klar, dass der Woorm nicht das einzige leichte Ziel abgab. Er hörte, wie das Geschoss an der Felswand hinter ihm abprallte, was bedeutete, dass es nur aus einer einzigen Richtung gekommen sein konnte, und zwar ... Von dort. Fend und sein Kumpan saßen im Sattel des Ungetüms, und der Kumpan zielte gerade abermals auf Aspar. Fluchend stemmte dieser sich hoch, just als der rot gefiederte Schaft seinen Stiefel traf. Er verspürte keinen Schmerz, doch der Aufprall und sein Zurückzucken ließen ihn über die Kante kippen. Er streckte die Arme aus, um sich festzuhalten ... ... und sah zu, wie sein Bogen, die Sehne und der schwarze Pfeil dem Waldboden entgegenfielen. »Sceat«, grollte er. Er brauchte genau einen Herzschlag, um zu entscheiden, was er 616 als Nächstes tun sollte. Dann machte er einen Satz auf den nächsten Baumwipfel zu, der sich ungefähr fünf Königsellen unter ihm befand. Die Gegenwart des Bewahrten schien sich überall um sie herum aufzurollen, dehnte sich mit jedem Augenblick gewaltiger aus, und ihre Knochen summten, als schnitte eine Säge durch sie hindurch. Frei. Das Wort traf sie, als hätte der Bewahrte es irgendwie in einen Bleibarren eingegossen und nach ihr geschleudert. Die Luft entfuhr mit einem einzigen, schmerzhaften Aufkeuchen ihrer Lunge, und ihr Herz fühlte sich an, als sei es vor Entsetzen flüssig geworden. Zuversicht, Befehlsgewalt, Gewissheit - all das wurde weggefegt, und sie war eine Maus auf freiem Feld und sah den Falken herabstoßen. Frei. Es lag keine Freude in dem Wort. Kein Hochgefühl, keine Erleichterung. Es war der böseste Laut, den Anne jemals vernommen hatte. Tränen brachen aus ihren Augen hervor, und sie zitterte unbeherrscht. Sie hatte sie alle dem Untergang geweiht, hatte alles zunichte gemacht... Freeiii. Etwas krachte wie ein Donnerschlag, so laut, dass ihr Aufschrei darin verloren ging. Und dann ... nichts. Er war fort. Es schien sehr lange zu dauern, bis sie sich und ihre Gefühle wieder in der Gewalt hatte. Sie hörte die anderen schluchzen und wusste, dass sie nicht allein war, doch das milderte die Demütigung nicht im Mindesten. Schließlich, nach einer Ewigkeit, besaß Austra die Geistesgegenwart, die Lampe wieder anzuzünden. Ihre Augen bestätigten ihnen, dass die Kammer leer war. Sie war viel größer, als Anne gedacht hatte. 617 »Was habt Ihr getan?«, fragte Alis schwach. »Geliebte Heilige, was habt Ihr getan?« »W-was ich für das Beste gehalten habe«, brachte Anne heraus. »Ich musste doch irgendetwas tun.« »Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte Cazio. Anne wollte anfangen, es ihm zu erklären, doch ihr Atem stockte, und plötzlich war ihr wieder zum Weinen zumute. »Wartet«, sagte sie. »Wartet einen Moment, dann versuche ich -« Irgendetwas hämmerte plötzlich gegen die andere Seite der Geheimtür. »Wir sind entdeckt!«, keuchte Austra. Cazio kam auf die Beine und zog blank. Er sah zittrig aus, doch er machte Anne trotzdem Mut. Sie raffte ihre
Entschlossenheit zusammen und nahm sich vor, stark zu sein. »Der Bewahrte hat versprochen, Roberts Männer zu töten«, erklärte sie. »Ich glaube, was das betrifft, hat er Euch angelogen«, sagte Alis. »Wir werden sehen«, erwiderte Anne. »Gebt mir eine Waffe«, verlangte Fürst Cheiso schwach, aber entschlossen. »Ich brauche eine Waffe.« Cazio fing Annes Blick auf, und sie nickte. Er reichte dem Safnier einen Dolch. Dann sah er die anderen drei Männer an und erinnerte sich undeutlich daran, dass es einst vier gewesen waren. Was war mit dem vierten geschehen? Doch nach dem, wie seine Seele soeben verbogen worden war, konnte ihn gar nichts mehr überraschen. »Wie heißt Ihr?«, fragte er die Männer. »Sir Ansgar«, antwortete einer von ihnen. »Dies sind meine Vasallen, Preston Viccars und Cuelm MeqVorst.« »Der Gang ist schmal«, sagte Cazio. »Wir wechseln uns ab. Ich zuerst, macht alles Weitere unter Euch aus.« »Ich habe Sir Leafton einen Eid geschworen, dass ich ihren 618 Feinden als Erster gegenübertrete«, wandte Ansgar ein. »Ich hoffe, Ihr werdet mir gestatten, diesen Eid zu erfüllen.« Cazio wollte schon widersprechen, doch Ansgar trug immerhin eine Rüstung. Wahrscheinlich war er für diese Situation besser geeignet - um nicht zu sagen, besser angezogen. »Ich lasse Euch den Vortritt«, sagte er. »Aber tötet bitte nicht alle. Lasst mir ein paar übrig.« Der Ritter nickte, und Cazio trat zurück; er hoffte, dass sein Kopf noch ein wenig klarer werden würde. Wenigstens waren ihre Feinde nicht ein paar Augenblicke früher durchgebrochen, als sie alle noch ganz schwach gewesen waren. Vielleicht waren Roberts Männer ja auch davon betroffen gewesen. Er musste Anne unbedingt fragen, was genau eigentlich passiert war, wenn das hier vorüber war. »Vielleicht kommen sie ja doch nicht hier herein -«, fing Austra an, doch plötzlich erschien ein flackernder Lichtstreifen in dem Stein, schnitt hindurch, und gleich darauf war nicht nur die verborgene Tür verschwunden, sondern auch ein großer Teil der Tunnelwand. »Ihr Heiligen«, hauchte Anne. »Er hat Sir Neils Todesklinge.« Und tatsächlich trat Robert Dare durch das Loch. Sir Ansgar wollte vortreten, hielt jedoch inne, als der Thronräuber die Hand hob. »Einen Moment«, sagte er. »Majestät?« Ansgar sah Anne an. »Tut, was er sagt«, wies Anne ihn an. »Was wollt Ihr, Robert?« Robert schüttelte den Kopf. »Erstaunlich. Er ist weg, nicht wahr? Du hast ihn freigelassen.« »So ist es.« »Warum? Was kann er dir versprochen haben - aber ich kann es mir wohl denken, wie? Er hat gesagt, er würde dir helfen, mich zu besiegen. Und doch stehe ich hier, unbezwungen.« »Wir haben ja noch gar nicht angefangen zu kämpfen«, bemerkte Cazio. 619 »Hat jemand Euch aufgefordert zu sprechen?«, fuhr Robert ihn an. »Ich habe keine Ahnung, wer Ihr seid, aber ich bin mir sicher, dass weder Ihre Majestät noch ich Euch gestattet haben, etwas zu sagen. Stecht mich nieder, wenn Ihr wollt, aber bitte besudelt meine Sprache nicht mit diesem lächerlichen Akzent.« »Cazio hat meine Erlaubnis zu sprechen«, fauchte Anne. »Und Ihr nicht, es sei denn, Ihr wollt um Vergebung für Euren Verrat bitten.« »Meinen Verrat? Teuerste Anne, Ihr habt soeben den letzten der Skasloi auf die Welt losgelassen. Wisst Ihr, wie lange er das geplant hatte? Er war es, der Eure Mutter angewiesen hat, wie sie mich verfluchen soll, der mich zu dem gemacht hat, was ich geworden bin, und der das Gesetz des Todes gebrochen hat. Ihr seid ihm in die Falle gegangen und habt unsere gesamte Rasse verraten. Euer Verrat stellt den meinen in den Schatten, wie die Sonne - äh - irgendeinen kleinen Stern überstrahlt.« »Ihr habt mir keine Wahl gelassen«, erwiderte Anne. »Oh, nun, wenn das so ist - nein, wartet, Ihr hattet mindestens zwei andere Möglichkeiten. Ihr hättet Nein sagen und Euch mir ergeben können. Oder Ihr hättet gegen mich kämpfen und sterben können.« »Oder wir könnten gegen Euch kämpfen und am Leben bleiben«, bemerkte Cazio. »Ihr werdet allmählich lästig«, sagte Robert und stach mit der leuchtenden Klinge nach dem Vitellianer. »Gebt auf, Anne, und Ihr alle werdet am Leben bleiben, das verspreche ich.« Cazio sollte nie erfahren, was Anne vielleicht dazu gesagt hätte, weil Cheiso plötzlich mit einem gequälten Aufheulen vorwärts stürzte und sich auf Robert warf. Der Thronräuber hob seine Hexenwaffe, jedoch nicht schnell genug. Cheiso rammte ihm seinen geliehenen Dolch in die Brust. Robert versetzte ihm umgehend mit dem Heft des Schwertes einen Schlag auf den Kopf, doch der momentane Waffenstillstand war zu Ende, und die Flut war da. 620 Roberts Männer drängten in die Kammer. Cazio sprang auf den Prinzen los, doch Ansgar war bereits da und schwang sein Schwert in einem Hieb, der Robert möglicherweise enthauptet hätte, wenn dieser sich nicht
geduckt und Ansgar seine Todesklinge dann in den Bauch gestoßen hätte. Das Schwert durchbohrte den Ritter wie Butter, und Robert riss die Klinge aufwärts und durch die Schulter des Getroffenen hinaus, sodass er dessen Oberkörper in zwei Hälften spaltete. »Jetzt Ihr«, sagte Robert und wandte sich Cazio zu. Doch dies war nicht das erste Mal, dass Cazio sich einem Mann gegenübersah, der nicht sterben konnte, oder, was das anging, einem Schwert, das er nicht parieren konnte. Als Robert zum Schlag ausholte, machte er einen langen Ausfall und blockte die Bewegung des Prinzen mit einem Treffer ins Handgelenk ab. Robert fauchte und schlug nach Acredos Klinge, doch Cazio löste sich und traf ihn abermals ins Handgelenk. Dann wich er dem nächsten, noch wilderen Hieb aus und zog einen Schnitt über Roberts Handrücken. »Ihr seid kein besonderer Fechter, wie?«, fragte er grinsend und wippte auf den Fußballen. »Nicht einmal mit einem solchen Schwert.« Daraufhin ging Robert auf ihn los, doch Cazio wich dem Hieb, der auf seine Klinge zielte, abermals aus und trat vor dem Angriff zur Seite wie vor einem anstürmenden Stier. Dabei ließ er seine Klinge hoch und gerade vorgestreckt stehen, um Robert hineinlaufen zu lassen. Der Thronräuber tat es; das Rapier traf ihn in die Stirn, sodass sein Kopf zurückruckte, er von den Füßen gerissen wurde und Cazio das große Vergnügen hatte, den Übeltäter flach auf dem Rücken landen zu sehen. »Zo dessrator, nip zo chiado«, belehrte er ihn. Allerdings musste er dies schnell sagen, denn Roberts Männer -und Frauen - schwärmten überall um ihn herum. Cazio stellte sich, so gut er konnte, vor Anne, kreuzte die Klinge mit zweien, dann mit dreien und schließlich, völlig aberwitzig, mit vier Geg621 nern. Er sah Preston und Cuelm fallen, und dann stand nur noch er zwischen den drei Frauen und der Mörderbande. Und noch schlimmer, im Hintergrund sah er Robert, der sich mit einem Tuch den durchbohrten Schädel abtupfte. »Tötet sie alle«, hörte er den Thronräuber rufen. »Ich habe jetzt endgültig keine Geduld mehr mit alldem hier.« Aspar schlang die Arme um den Stamm der Fichte und biss die Zähne zusammen, als sein Körper die obersten Äste abbrach. Harzgeruch wallte ihm in die Nase, als sich die Spitze des Baums unter seinem Gewicht erdwärts bog, und einen Moment lang kam er sich vor wie der Knabe, der seinerzeit zum Vergnügen Schösslinge mit seinem Körper bis zum Boden gebogen hatte. Dieser hier konnte sich jedoch nicht bis ganz zum Boden biegen, deshalb ließ er los, ehe er ihn wieder emporschleudern konnte. Dadurch fiel er noch einmal fünf Königsellen weit und landete in flachem Wasser, das noch immer vom Auftauchen des Woorms abfloss. Er hatte Glück - das Wasser verbarg keinen Felsen oder Baumstumpf -, aber trotzdem fühlte es sich an, als habe ihm eine flache Hand, so groß wie ein ganzer Körper, mit aller Kraft einen Schlag versetzt. Der Schmerz trieb ihn eher an, als dass er ihn gehemmt hätte, und es gelang ihm, platschend auf die Füße zu kommen und sich über seine Lage klar zu werden. Im Augenblick konnte Aspar den Woorm nicht sehen, doch er konnte hören, wie das Ungetüm durch den Wald brach. Er wirbelte herum und rannte zum Fuß der Klippe, in der verzweifelten Hoffnung, seinen Bogen zu finden - und den kostbaren Pfeil. Doch obgleich das Wasser ablief, hinterließ es ein Gewirr aus Stöcken, Blättern und Fichtennadeln. Es könnte einen Glockenschlag - oder zehn Glockenschläge - dauern, bis er seine Ausrüstung gefunden hatte. Noch immer konnte er den Woorm nicht sehen, doch er zog sei622 nen Dolch und fand - als er nach seiner Axt griff - das Hörn, das er in seinen Gürtel gesteckt hatte. Er zog es heraus und starrte es einen Augenblick an. Warum nicht? Viel hatte er im Moment nicht zu verlieren. Also hob er das Hörn an die Lippen, holte so tief Luft, wie es ihm nur möglich war, und blies einen schrillen, hohen Ton, der ihm von einem nicht allzu weit zurückliegenden Tag her noch gut in Erinnerung war. Selbst als ihm der Atem ausging, hing der Schall in der Luft und verging nur widerwillig. Doch er verklang schließlich doch, und der Woorm kam immer noch näher. Jetzt hatte Aspar die Klippe erreicht, und das Glück war ihm ein wenig hold - sein Bogen hing in den untersten Ästen einer Eberesche. Doch der Pfeil war nirgends zu entdecken, und der Woorm ... ... wandte sich plötzlich ab und verließ die Schlucht. Doch irgendetwas näherte sich immer noch, etwas Mannsgroßes, das sich für einen Menschen viel zu schnell bewegte. »Sceat«, stöhnte er. »Nicht noch einer von diesen verdammten -« Doch da hatte der Mönch ihn schon erreicht; sein Schwert war ein kaum sichtbares Schimmern im abendlichen Zwielicht. Stephen versteifte sich, als der hohe, klare Ton eines Horns in der Abendluft erklang. Zemle bemerkte es. »Was ist denn?« »Ich kenne dieses Hörn«, sagte er. »Das ist das Hörn des Dornenkönigs. Das Hörn, das ich geblasen habe, das ihn herbeigerufen hat.«
»Was bedeutet das?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Stephen geistesabwesend. Unter ihnen hatte der Khriim sonderbare Dinge getan. Anstatt geradewegs auf den Praifec und seine Männer zuzuhalten, war er zwischen den Bäumen hindurchgekrochen, auf die Felswand zu. 623 Gleich nachdem das Hörn ertönt war, hatte er jedoch wieder seinen alten Kurs eingeschlagen, auf die Streitmacht zu. Stephen verspürte ein Kribbeln, als sich acht Berittene zu einer Reihe formierten und auf das Ungeheuer einstürmten. Er fragte sich, ob sie wohl eine Chance hatten. Ein Ritter, ein Streitross, Rüstung und Panzerschabracke in vollem Galopp, all das gebündelt in der Stahlspitze einer Lanze - das war eine gewaltige Kraft. Jetzt konnte er auch die Sefry-Krieger ausmachen - zwölf kleine Gestalten, die sich im Laufschritt den Männern des Praifec näherten. Er sah ein grelles Glitzern und begriff, dass sie Todesklingen besaßen, wie der Ritter, gegen den er und seine Gefährten in Dunmrogh gekämpft hatten. Die Reiterei zerschellte an dem Khriim wie Wogen an einem Felsen, nur dass Wellen ins Meer zurückströmten. Die Reiter und ihre Rösser blieben liegen, wo sie zu Boden gestürzt waren. So viel dazu. Stephen fühlte, wie etwas über seine Haut strich, und sämtliche Haare auf seinen Armen stellten sich auf. Ihm war nicht kalt, doch er erschauerte. »Das Hörn ...«, murmelte er. »Was ist das?«, keuchte Zemle. Sie deutete nach vorn, und Stephen sah eine dunkle Wolke herannahen - oder so sah es auf den ersten Blick aus. Doch es war keine Wolke - vielmehr war es eine Masse kleiner Wesen, die dicht gedrängt dahinflogen. »Vögel«, sagte er. Es waren Vögel aller Art - Raben, Mauersegler, Schwäne, Falken, Brachvögel -, und sie alle schrien oder sangen, machten an Lärm, was ihnen gegeben war, und verursachten das eigentümlichste Getöse, das Stephen jemals gehört hatte. Als sie das Tal erreichten, stießen sie in einer engen Spirale in den Wald hinab, bildeten einen geflügelten Wirbelsturm. Auch der Wald selbst verhielt sich seltsam. Eine große Waldfläche war in Bewegung geraten; die Bäume bogen sich aufeinander 624 zu und verflochten ihre Äste miteinander. Stephen musste daran denken, wie der Dreodh-Gesang auf den Baum gewirkt hatte, auf den sie vor den Slinderlingen geflüchtet waren, doch wenn dies hier die gleiche Magie war, so war sie viel stärker. »Ihr Heiligen«, keuchte Zemle. »Ich glaube nicht, dass die Heiligen viel damit zu tun haben«, sagte Stephen halblaut, während er zusah, wie sich die Vögel in den zum Leben erwachten Wald hinabstürzten und verschwanden, als wären sie verschluckt worden. Jetzt bildete sich eine Form heraus - eine Form, die Stephen wiedererkannte, wenngleich größer, als er sie jemals zuvor gesehen hatte, vielleicht dreißig Königsellen hoch. Augenblicke später, während Geweihstangen aus seinem Kopf hervorsprossen, riss der Dornenkönig seine Wurzeln aus dem Erdreich und schickte sich an, entschlossen auf den Khriim zuzuschreiten. Aspar wartete bis zum allerletzten Moment und warf seine Axt. Der Mönch versuchte abzudrehen, doch das war das Problem dabei, wenn man sich sehr schnell bewegte: Das machte es einem schwerer, die Richtung zu ändern. Sein Versuch ließ lediglich den Hieb fehlgehen, der Aspar den Schädel hätte abtrennen sollen. Stattdessen pfiff die Klinge über den Kopf des Waldhüters hinweg, als der Angreifer an ihm vorbeischoss. Aspar drehte sich um und sah, dass der Bursche schon wieder zurückkam, doch er bemerkte zu seiner Freude, dass die Axt ihr Ziel nicht verfehlt und dem Mann den Arm aufgerissen hatte - den rechten. Das Schwert lag auf dem mit Wasser voll gesogenen Moos, und Blut quoll rhythmisch aus dem Oberarmmuskel des Mönchs. Er war ein wenig langsamer, aber nicht viel. Seine linke Faust fuhr in einem schemenhaften Bogen durch die Luft; Aspar war, als bewege er sich unter Wasser, als die Knöchel gegen sein Kinn prallten. Er roch Blut, und sein Kopf dröhnte wie eine Glocke, als er zurücktaumelte. 625 Der nächste Schlag grub sich in seine Seite und ließ Rippen brechen. Mit einem lauten Schrei schlang Aspar den linken Arm um den Mann und stach mit dem Dolch auf die Nierengegend des Mannes ein, doch die Klinge fand kein Ziel. Stattdessen drehte sich der Mann merkwürdig, und Aspar wurde irgendwie gegen einen Baum geschleudert. Vor seinen Augen blitzte es rot und schwarz auf, doch er wusste, dass er in Bewegung bleiben musste, also rollte er sich zur Seite und versuchte, auf die Beine zu kommen, während er Zahnsplitter ausspuckte. Er bekam einen Schössling zu fassen und zog sich daran hoch. Erst als er sein Gewicht auf das eine Bein verlagern wollte, bemerkte er, dass es gebrochen war. »Ach, Sceat«, sagte er.
Der Mönch holte sein Schwert und kam zurück, die Waffe in der linken Hand. »Mein Name ist Ashern«, sagte er. »Bruder Ashern. Ich möchte, dass Ihr wisst, dass dies hier nichts Persönliches ist. Ihr habt gut gekämpft.« Aspar riss den Dolch hoch und brüllte; er hoffte, so die näher kommenden Hufschläge zu übertönen, doch Ashern hörte sie im letzten Moment und fuhr herum. Aspar warf sich vorwärts, und alles wurde rot. Unhold bäumte sich aus vollem Galopp auf und drosch mit den Hufen nach dem Mönch. Bruder Asherns Hieb fetzte durch die untere Halspartie des riesigen Pferdes, und der Kirchenmann vollendete seine Drehung und parierte geschickt Aspars verzweifelten Dolchstoß. Dann traf Unholds noch immer abwärts zuckender Huf seinen Hinterkopf und zerschmetterte ihm den Schädel. Aspar fiel zu Boden, und Unhold brach direkt neben ihm zusammen. Blut spritzte in heftigen Stößen aus seinem Hals. Keuchend kroch Aspar zu ihm hinüber und dachte, er könnte die 626 Wunde des Braunen irgendwie schließen, doch als er sie sah, wusste er, dass es sinnlos war. Also legte er stattdessen einen Arm um den Kopf des Hengstes und streichelte seine Nase. Unhold schien eher verwirrt zu sein als irgendetwas anderes. »Alter Junge«, seufzte Aspar. »Du hast dich nie aus einer Rauferei heraushalten können, nicht wahr?« Roter Schaum quoll aus Unholds Nüstern, als versuche er, eine Antwort zu wiehern. »Danke, alter Freund«, sagte Aspar. »Ruh dich jetzt aus, ja? Ruh dich einfach aus.« Er streichelte Unhold weiter, bis dieser aufhörte zu atmen und seine schrecklichen Augen trübe wurden. Und dann noch ein Weilchen länger. Als Aspar den Kopf wieder hob, erblickte er - vier Königsellen entfernt - die Hülle des schwarzen Pfeils. Er nickte grimmig, spannte seinen Bogen und kroch los, bis er einen Ast von der richtigen Größe und Form fand, der als Krücke dienen konnte. Ein grässlicher Schmerz pochte inzwischen in seinem Bein, doch er ignorierte ihn, so gut er es vermochte. Er hob den Pfeil auf und machte sich daran, auf den Kampf lärm zuzuhumpeln. 49. Kapitel Ganz und gar Degen Cazio machte einen tiefen Ausfall und trieb Acredo einem der Schwertkämpfer ins Auge. Eine Klinge zuckte von rechts auf ihn zu, doch da sein Degen gerade mit Töten beschäftigt war, blieb ihm nur sein linker Arm, um sie abzuwehren. Er hatte Glück und bekam die flache Seite ab, doch es schmerzte gewaltig. 627 Er zog Acredos blutige Spitze aus der Wunde und parierte einen weiteren Hieb, wobei er ständig zurückwich und sich fragte, wie weit die Kammer wohl noch nach hinten reichen mochte. Roberts Männer machten sich den Raum zunutze und schwärmten aus, womit sie Cazio zu einem noch rascheren Rückzug zwangen, wollte er nicht eingekreist werden. Er schätzte, dass er noch einen, vielleicht auch zwei von ihnen niederstrecken würde, ehe eines ihrer Metzgerwerkzeuge genug von ihm abtrennte, um dem Kampf ein Ende zu machen. Was er danach tun würde, wusste er nicht genau. Nein. Er konnte nicht zulassen, dass sie Austra oder Anne in die Hände bekamen. So durfte er nicht denken. Er atmete langsamer und tiefer, zwang mit reiner Willenskraft die Muskeln, die er gerade nicht benutzte, sich zu entspannen. Z'Acatto hatte ein- oder zweimal von etwas gesprochen, das chiado sivo genannt wurde, oder »Ganz und gar Degen«, ein Zustand des Einsseins, den ein wahrer Dessrator erlangen und in dem er unglaubliche Dinge vollbringen konnte. Es hatte Momente gegeben, in denen Cazio das Gefühl gehabt hatte, diesen Zustand beinahe erreicht zu haben. Er musste Gewinnen und Verlieren fahren lassen, Leben und Tod und Furcht, und zu nichts als Bewegung werden. Parieren, angreifen, parieren, lösen, atmen, den Degen als einen Teil seines Arms fühlen, seines Rückgrats, seines Herzens, seines Verstandes ... Sie können mir nichts tun, dachte er. Es gibt nichts, was man verwunden könnte, nur einen Degen. Und für einen langen, wunderschönen Augenblick hatte er es. Vollkommenheit. Jede Bewegung korrekt, jeder Hieb der beste. Zwei weitere Männer gingen zu Boden, und dann noch zwei, und er wich nicht länger zurück. Er beherrschte den Rhythmus, die Schritte, den Kampfplatz selbst. Einen Augenblick lang. Doch als er diesen Augenblick als solchen erkannte, verlor er jene Losgelöstheit, die er benötigte, um 628 ihn zu verlängern, und sein Angriff geriet ins Stocken, als zwei neue Männer für jeden auftauchten, den er niedergestreckt hatte. Wieder wich er zurück, immer verzweifelter, während Roberts Truppen sich anschickten, ihn einzukreisen. Ihm ging auf, dass er die Frauen aus den Augen verloren hatte, und er hoffte inbrünstig, dass sein Augenblick des chiado sivo ihnen Zeit gegeben hatte zu entkommen. Sogar du wärst vielleicht stolz auf mich gewesen, z 'Acatto, dachte er, als sein Augenwinkel ihn vor einem neuen Kämpfer warnte, der ihn von der Seite her angriff. Nein, nicht ihn - der Roberts Männer von der Seite her angriff. Und auch nicht nur ein Mann, sondern eine ganze Horde.
Die Neuankömmlinge trugen keine Rüstungen, sondern kämpften mit langen Messern und schössen kurze, kräftige Bögen ab. Cazios Widersacher lagen binnen einiger weniger Herzschläge alle am Boden, sodass er keuchend dastand, noch immer kampfbereit, und sich fragte, ob er wohl der Nächste sein würde. Nur weil diese Kämpfer Roberts Feinde waren, hieß das nicht, dass sie Annes Freunde waren. Doch die, die ihm am nächsten standen, lächelten ihn lediglich an, nickten ihm zu und fuhren mit ihrem Gemetzel fort. Er schätzte, dass es mindestens fünfzig waren. Außerdem ging ihm mit einiger Verspätung auf, dass es keine Menschen waren, sondern Sefry. Anscheinend hatten die Leute vom Hof der Gobelins endlich doch für eine Seite Partei ergriffen. Aspar blieb stehen und starrte; er fragte sich, wie lange es her war, dass irgendjemand Zeuge eines Anblicks geworden war, der dem, welcher sich ihm bot, auch nur entfernt nahe kam. Er hatte gedacht, er wäre völlig gefühllos, doch jetzt wurde ihm klar, dass er weniger gefühllos war als vielmehr verrückt. Er konnte sie sehen, weil sie den Wald im Umkreis von einer halben Meile in jeder Richtung dem Erdboden gleichgemacht hat629 ten. Der Dornenkönig war eine gewaltige Masse, deren Form in etwa der eines Menschen glich - wenn auch mit dem Geweih eines Hirsches -, alles in allem jedoch war seine Erscheinung weniger menschenähnlich als früher. Dieses Wesen kämpfte gegen den Woorm, der ihn umschlang wie eine Schwarznatter eine Maus. Der König hatte seinerseits den Hals des Ungeheuers mit seinen gewaltigen Händen gepackt. Noch während Aspar zusah, schoss eine grüne Dampfwolke aus dem Rachen der riesigen Schlangenkreatur - und nicht nur Dampf, sondern eine zähe Flüssigkeit, die über den Gebieter des Waldes spritzte und zu rauchen begann, die große Löcher in ihn hineinbrannte. Das, woraus der König gemacht war, verschob sich, um diese Löcher zu füllen. Aspar konnte Fend nirgends entdecken - der Sattel war leer, und ein rascher Blick auf den Wald ringsum zeigte ihm nichts, obgleich ein Stück weiter eine Schlacht zwischen den Männern des Praifec und irgendeiner anderen Streitmacht tobte. Viel konnte er davon nicht erkennen. Ein fiebriger Schmerzschwall, der von seinem Bein ausging, erinnerte Aspar daran, dass er jeden Augenblick das Bewusstsein verlieren konnte. Wenn er hier etwas zu erledigen hatte, dann sollte er es lieber jetzt gleich tun. Und er hatte ganz bestimmt etwas zu erledigen. Er würde nicht länger darüber nachdenken - hier gab es kein Rätsel. Er wusste, auf welcher Seite er stand. Also öffnete er vorsichtig die Hülle und holte den schwarzen Pfeil hervor. Seine Spitze glitzerte wie das Herz eines Blitzes. Der Praifec hatte gesagt, der Pfeil könne siebenmal verwendet werden. Er war bereits fünfmal benutzt worden, als Aspar ihn bekommen hatte. Er selbst hatte ihn einmal abgeschossen, um einen Uttin zu töten und Winna das Leben zu retten. Blieb also noch ein Mal übrig. Er legte den Schaft an die Sehne und zielte, fühlte den Wind, beobachtete den wabernden Dampf, der die Kämpfenden um630 schwebte, und zwang seine zitternden Muskeln zur Ruhe, damit sein Verstand ihnen sagen konnte, was zu tun war. Ein tiefer Atemzug, zwei, drei - und dann fühlte er den Schuss und ließ die Sehne los. Er sah zu, wie der blitzende Lichtfunken winzig klein wurde und an der Schädelbasis des Woorms verschwand. Aspar ertappte sich dabei, dass er den Atem anhielt. Er brauchte nicht lange zu warten. Der Woorm stieß einen grauenhaften Schrei aus, der die Steine bersten ließ, und sein Leib verdrehte sich, als er sich zurückbog und Gift spie. Der Dornenkönig packte den Schwanz des Ungetüms und wand ihn von sich los, dann schleuderte er ihn in den Wald. Ein Teil seines Arms löste sich dabei und folgte dem Ungeheuer, und er taumelte, als große Stücke seines Körpers von ihm abfielen. Mit jeder Hand packte er einen Baum, um sich zu stützen, doch er schmolz weiter dahin. »Grim«, brummte Aspar, und er schloss die Augen. Er ließ sich neben die Fichte sinken, an die er sich gelehnt hatte, und sah zu, wie die gewaltigen Leibeswindungen des Woorms hinter den Bäumen auftauchten und wieder versanken. Mit jedem Herzschlag wurde der Lärm seines Tobens leiser. Den Dornenkönig konnte er überhaupt nicht mehr sehen. Erschöpfung flutete über ihn hinweg, und Erleichterung. Wenigstens das war geschafft. Er wusste, dass er versuchen sollte, den gebrochenen Knochen in seinem Bein zu richten, doch zuerst musste er sich ausruhen. Langsam zog er seine Wasserflasche hervor und trank ein wenig. Sein Proviant war noch an Unholds Sattel befestigt, doch er hatte ohnehin keinen besonderen Appetit. Trotzdem, wahrscheinlich musste er etwas essen ... Sein Kopf fuhr in die Höhe, und ihm wurde klar, dass er eingenickt war. Der Dornenkönig beobachtete ihn. Er war jetzt nur noch ungefähr doppelt so groß wie ein ausge631
wachsener Mann, und sein Gesicht war beinahe menschlich, wenn auch mit hellbraunem Fell bedeckt. Seine laubgrünen Augen waren hellwach, und Aspar glaubte, ein schwaches Lächeln auf den Lippen des Waldherrschers zu sehen. »Ich habe wohl das Richtige getan, wie?«, fragte Aspar. Er hatte den Dornenkönig noch nie sprechen hören, und auch jetzt geschah das nicht. Doch er trat näher, und plötzlich war Aspar, als würde er von Leben überschwemmt. Er roch Eiche, Apfelblüten, das Salz des Meeres, den Moschus eines brünstigen Elchs. Er fühlte sich größer, als sei das Land seine Haut und die Bäume die Haare darauf, und das erfüllte ihn mit einer Freude, die er niemals wirklich gekannt hatte, außer vielleicht damals, als er jung gewesen und nackt durch den Wald gerannt und auf Bäume geklettert war, einzig und allein aus schierer Freude daran. »Ich wusste nicht -«, begann er. Und mit der jähen Abruptheit, mit der ein Knochen bricht, fand alles ein Ende. Die Seligkeit verließ ihn, so wie Blut aus einer durchtrennten Ader strömt, als die Augen des Dornenkönigs riesengroß wurden und sich sein Mund zu einem lautlosen Schrei öffnete. Dort, auf seiner Brust, glitzerte etwas wie das Herz eines Blitzes ... Der Blick des Königs begegnete dem seinen und hielt ihn fest, und Aspar fühlte, wie etwas durch seinen Körper hindurchkribbelte. Dann zerfiel die Gestalt, die vor ihm stand, sank zu einem Haufen aus Blättern und toten Vögeln zusammen. Aspars Brust arbeitete heftig, als er versuchte, Atem zu holen, doch der Herbstgeruch würgte ihn, und er schlug die Hände über die Ohren, versuchte, sie vor dem tiefen Klageton zu verschließen, der durch Erde und Bäume hindurchschauderte, als die Wildnis der Welt mit einer einzigen Stimme erfasste, dass ihr Gebieter nicht mehr war. Wie vor ihm aufzuckende Blitze sah er Wälder zu Staub zerfallen, sah riesige, verfaulende Grasebenen, unendliche Gebeinhalden, die unter einer dämonischen Sonne bleichten. 632 »Nein«, keuchte er und konnte endlich Atem holen. »Oh, ich glaube doch«, erwiderte eine vertraute Stimme. Ein paar Königsellen hinter der Stelle, wo der Dornenkönig gewesen war, stand Fend, mit einem Bogen in der Hand und einem bösartigen Grinsen auf den Lippen. Er war in eine sonderbare Rüstung gekleidet, hatte jedoch den Helm abgenommen. Sein Mund war mit dunklem Blut verschmiert, und in seinen Augen loderte ein Licht, das selbst für ihn wahnsinnig war. Aspar tastete nach seinem Dolch - er hatte seine Axt nicht mehr, und auch keine Pfeile mehr. »Nun«, sagte Fend, »das war's. Du hast meinen Woorm getötet, aber das ist gar nicht so schlimm. Weißt du, was passiert, wenn man das frische Blut eines Woorms trinkt?« »Warum erzählst du es mir nicht, du Stück Sceat?« »Komm schon, Aspar«, mahnte Fend. »Sei doch nicht so wütend. Ich bin dir ja dankbar. Weißt du, ich sollte das Blut trinken. Das Problem war nur, daran zu kommen, nachdem das Vieh seinen Zweck erfüllt hatte. Und dieses Problem hast du recht sauber gelöst. Und noch besser, du hast mir genau zu dem verholfen, was ich gebraucht habe, um Seine Majestät Reisigbart zu töten.« »Nein«, sagte Aspar. »Der Pfeil konnte doch nur siebenmal benutzt werden ...« Fend wedelte tadelnd mit dem Finger. »Also wirklich. Es passt gar nicht zu dir, an Phay-Märchen zu glauben, Aspar. Wer hat dir gesagt, dass das Ding nur siebenmal benutzt werden kann? Unser alter Freund, der Praifec? Sag mir - wenn jemand eine so mächtige Waffe zu erschaffen vermag, warum sollte er ihre Verwendung einschränken?« Er ging zu dem Haufen Humus hinüber, der alles war, was von dem Dornenkönig übrig geblieben war, und zog den Pfeil daraus hervor. »Nein«, sagte er. »Der wird noch eine ganze Weile nützlich sein, denke ich. Du hast doch bestimmt noch die Hülle - ah, da ist sie ja.« 633 »Ja - komm und hol sie dir.« »Du hast Ashern getötet, nicht wahr? Diese Mamres-Mönche verlassen sich immer ein bisschen zu sehr auf ihre Schnelligkeit und ihre Stärke. Dabei vergessen sie, dass Geschicklichkeit - oder in deinem Fall simple Dickköpfigkeit - eine ganze Menge bewirken kann.« Fend legte den Pfeil an die Bogensehne. »Alles in allem glaube ich nicht, dass das hier besonders wehtun wird«, erklärte er. »Soll mir recht sein. Du hast mir mein Auge genommen, aber diese Schuld betrachte ich jetzt als abgegolten. Es tut mir Leid, dass du nicht im Kampf sterben kannst, aber es würde zu lange dauern, bis du wieder gesund bist, und du wärst weiterhin ein Ärgernis. Aber ich kann dich aufstehen lassen, wenn du möchtest, damit du wenigstens im Stehen sterben kannst.« Aspar starrte ihn einen Moment lang an, dann klemmte er seine behelfsmäßige Krücke unter den Arm und stemmte sich unter Schmerzen hoch. »Sag mir nur eins«, knurrte er. »Bevor du mich umbringst. Wieso Qerla?«
Fend grinste. »Wirklich? Nicht: >Warum hast du den Dornenkönig getötet ?<, oder auch nur: >Worum geht es hier eigentlich ?< Du machst dir immer noch Gedanken wegen dieser Sache mit Qerla? Aber das ist doch schon so lange her.« »Das ist alles. Das ist alles, was ich wissen will.« »Weißt du, ich wollte sie nicht töten«, sagte Fend. »Sie war einmal eine Freundin von mir. Aber ich dachte - wir dachten -, sie würde es dir verraten.« »Mir was verraten?« »Das große Sefry-Geheimnis, du Dummkopf.« »Sceat, wovon redest du überhaupt?« Fend lachte. »Du hast all die Jahre bei uns gelebt und es nie erraten? Das ist wohl nur gerecht - sogar manche von den Sefry wissen es nicht.« 634 »Wissen was nicht?« »Was wir sind«, antwortete Fend. »Wir sind Skasloi, Aspar. Wir sind das, was von den Skasloi übrig ist.« »Aber -« »Nein, tut mir Leid. Ich habe deine Frage beantwortet. Mehr kriegst du nicht.« Er hob den Bogen, und Aspar spannte sich für einen letzten Versuch. Der Dolch war eigentlich nicht als Wurfmesser geeignet, aber... Hörte er Huf schlage? Ein plötzliches Bild von Unhold tauchte vor seinem inneren Auge auf, zurückgekehrt von den Toten, und er hätte beinahe gelacht. Fends Augen wurden schmal, dann riss er sie erschrocken auf, als ein Pfeil gegen seinen Brustharnisch prallte, dicht gefolgt von einem zweiten ins Kniegelenk. Aspar drehte sich um und sah, dass tatsächlich ein Pferd von hinten auf ihn zustürmte, doch es war nicht Unhold - es war ein Apfelschimmel, den er noch nie gesehen hatte. Die Reiterin erkannte er an ihrer hellen Haut, den schwarzen Haarfransen über der Stirn und den violetten Mandelaugen. Sie hielt einen Bogen in der Hand und schoss abermals - diesmal zielte sie auf Fends Kopf -, doch er drehte sich weg, und der Pfeil verfehlte ihn. Das Pferd kam stampfend zum Stehen, und sie sprang aus dem Sattel und schlang sich den Bogen über die Schulter. »Komm«, schrie sie. »Steig auf!« »Fend -« »Nein, schau«, wehrte sie ab. »Da sind noch mehr. Hinauf mit dir.« Sie musste das gebrochene Bein für ihn über den Sattel schwingen - der Schmerz war so heftig, dass er beinahe ohnmächtig geworden wäre, doch er sah, was sie gemeint hatte. Mehrere gepanzerte Gestalten kamen seinem alten Feind zu Hilfe. Fend selbst erhob sich und legte den tödlichen Pfeil an die Bogensehne. Leshya warf das Pferd herum, und dann waren sie auf der 635 Flucht. Aspar hatte nach ihrem Bogen greifen und ein letztes Mal auf Fend schießen wollen, doch ein harter Stoß ließ Schmerz durch ihn hindurchkrachen wie einen schweren Hammer, und er sank von der Welt fort. Anne blinzelte verblüfft, als die Sefry vor ihr niederknieten. »Ich dachte, Mutter Uun hätte gesagt, dass die Sefry nicht kämpfen würden«, meinte Austra. Anne nickte und drückte die Hand ihrer Freundin. »Wer ist Euer Anführer?«, fragte sie. Ein schwarzäugiger Mann mit gelbem Haar und silbriger Rüstung neigte den Kopf. »Ich bin der Hauptmann dieser Truppe, Euer Majestät.« »Wie ist Euer Name, Sir?« »Cauth Versial, Hoheit.« »Erhebt Euch, Cauth Versial«, sagte Anne. Er tat wie geheißen. »Hat Mutter Uun Euch geschickt?«, fragte sie schließlich. »Sie hat uns erzählt, was der Bewahrte Euch versprochen hat.« »Aber das war doch erst gerade eben«, wandte Anne ein. »Woher konnte sie das wissen? Wie konntet Ihr so schnell hier sein?« »Wir haben gewartet, Majestät. Mutter Uun hat diese Möglichkeit vorausgesehen.« »Das begreife ich nicht«, erwiderte Anne. »Mutter Uun hat gesagt, sie sei eine seiner Wächterinnen - sie helfe dabei, ihn in seinem Kerker festzuhalten. Wieso sollte er zu ihr gehen?« »Dies sind sehr alte Dinge, Majestät«, erklärte Cauth. »Und ich verstehe sie nicht ganz. Nur dass es Teil unseres geos war, dass er, wenn er freigelassen würde, uns einen Befehl geben könnte.« »Und er hat Euch befohlen, mir das Leben zu retten.« »Euch zu schützen und Euch zu dienen, Majestät.« »Dann ist Euer Dienst nicht zu Ende?« »Nein, Majestät, er ist nicht zu Ende. Nicht, bis Ihr uns entlasst oder wir sterben.« 636 »Wie viele seid Ihr?«
»Hundertfünfzig, Majestät.« »Hundert... und Ihr wisst, wie man von hier aus ins Schloss gelangt?« »Ja, Majestät«, antwortete er und deutete mit der Hand. Sie drehte sich um und sah, dass sie fast bis gegen ein schweres Metalltor zurückgewichen war. »Er hat Recht«, sagte Alis. »Prinz Robert hat vielleicht jeden anderen Gang zuschütten lassen, aber er hätte sich nie den Zugang zu dem Bewahrten versperrt. Aber man braucht einen Schlüssel.« In dem Augenblick, als sie das sagte, öffnete sich die Tür lautlos, und sie erblickten einen uralten Sefry, so dünn und gebrechlich, dass Anne fast fürchtete, er wäre eine andere Art wandelnder Toter. Seine Augen starrten blicklos ins Leere. »Majestät«, sagte der Greis. »Ihr seid endlich erschienen. Willkommen.« Alis gab ein stammelndes Geräusch von sich. »Euch wurde die Zunge herausgeschnitten«, stieß sie hervor. »Und die Trommelfelle gesprengt.« Der alte Sefry lächelte. »Ich bin genesen.« »Es scheint Euch nicht sehr zu bekümmern, dass der Euch Anvertraute entflohen ist«, bemerkte Anne. »Es war vom Schicksal bestimmt«, erwiderte der Bewahrer. »Ich habe sein Entweichen gefühlt und bin hergekommen.« »Eure Befehle, Majestät«, sagte Cauth. Anne holte tief Luft. »Glaubt Ihr, Ihr habt genug Männer, um das Schloss von innen her einzunehmen?« »Wenn wir die Überraschung nutzen können, dürfte das möglich sein.« »Wohlan. Cazio, Ihr bleibt bei mir. Austra, nimm dir zehn von diesen Sefry als Leibwache. Der Bewahrte hat gesagt, er habe den Blendzauber von den Geheimgängen aufgehoben - finden wir es heraus. Such Sir Leafton. Er soll die tiefer gelegenen Gänge tro637 ckenlegen und Läufer losschicken, damit sie Entsatztruppen vom Heer herbeiholen. Ihr anderen kommt mit mir. Nein - wartet. Mein Oheim Robert war bei diesen Männern. Sucht ihn zuerst, und bringt ihn zu mir.« Doch Robert war nirgends zu finden, was auch nicht weiter bemerkenswert war. 50. Kapitel Murieles Wache Ohne Alis hatte Muriele das Gefühl, für die Welt außerhalb ihres Kerkers blind zu sein. Natürlich hatte sie ihre beiden Fenster, und gelegentlich ließ eine der Wachen eine Bemerkung fallen, wenn sie sie außer Hörweite glaubten, doch sie traute dem, was da gesagt wurde, nur selten, da alles, was sie »zufällig« erlauschte, zu einem von Roberts Spielen gehören könnte. Doch irgendetwas geschah dort draußen, dessen war sie sich sicher. Von ihrem nach Süden gelegenen Fenster konnte sie ein gutes Stück der Stadt sehen, und seit Tagen ging bei der Festungsmauer, im Sefry-Viertel oder ganz in dessen Nähe, irgendetwas vor. Feuer brannten, und sie hatte kurze Blicke auf gepanzerte Soldaten und Belagerungsgerät auf den Straßen erhaschen können, die dorthin führten. War ein Aufstand ausgebrochen? Oder war Robert noch verrückter geworden und hatte aus irgendeinem Grund beschlossen, die Sefry niederzumetzeln? Es gab noch eine dritte Möglichkeit, allerdings eine, an die sie kaum zu denken wagte. Angeblich besaß der Crepling-Gang einen Ausgang im Hof der Gobelins. War Sir Fail zurückgekehrt? 638 Doch nein, er würde sich nicht an die Geheimgänge erinnern können. Es sei denn, Alis ... Aber Alis war tot. Oder nicht? An dieser Frage hing Murieles verwegenste Hoffnung. Eingesperrt in einem Turm jedoch, wie sie war, hatte sie reichlich Zeit, sich selbst die abwegigsten Möglichkeiten auszumalen. Die letzten Worte des Mädchens waren auf Lierisch hervorgestoßen worden, Murieles Muttersprache. Ich schlafe. Ich schlafe. Ich werde Euch finden. Alis war in einem Konvent geschult worden und wohl bewandert, was die Eigenschaften von tausend Giften betraf. Konnte es irgendwie nur den Anschein gehabt haben, als wäre sie tot? Nein. Das war eine unsinnige Hoffnung. Also beschwor sie andere Szenarios herauf. Vielleicht war Praifec Hespero zu dem Schluss gekommen, dass die Sefry Ketzer waren, die es aufzuhängen galt, und die Sefry fügten sich nicht widerstandslos. Das wäre auf jeden Fall eine vernünftige Erklärung. Möglicherweise war bei Roberts Bündnis mit Hansa irgendetwas schief gegangen, und es war den Hansern irgendwie gelungen, in Eslen Fuß zu fassen. Doch nein, das war unwahrscheinlich. Man hatte bei ihr für ein Hochzeitskleid Maß genommen, und die anderen Vorbereitungen für ihre Vermählung schienen reibungslos vonstatten zu gehen. Ihr nach Osten gelegenes Fenster - wenngleich man daraus einen wunderbaren Blick auf die Stelle hatte, wo sich der Magierund der Taufluss vereinigten - verriet ihr so gut wie nichts. Sie wünschte sich sehnlichst, nach Westen schauen zu können, nach Thornrath hinüber, oder nach Norden, zum Königspoel. Wenn irgendwo eine Schlacht geschlagen wurde, dann dort. Also beschäftigte sie sich, so gut sie konnte, und wartete darauf, dass etwas geschah, weil ihr alles aus den
Händen genommen war. Sie stellte fest, dass ihr das auf eine gewisse Art zusagte. Das Einzige, was ihr wirklich Kummer bereitete, war, dass sie nicht wusste, was aus Anne geworden war. Errens Schatten hatte ihr 639 versichert, dass ihre Jüngste noch am Leben war, doch das war jetzt schon Monate her. Hatte Neil MeqVren sie gefunden? Selbst wenn dem so war, er würde, er konnte sie nicht hierher bringen. Also war es das Beste, so zu tun, als sei Anne in Sicherheit, behütet und unerkannt in irgendeinem fremden Land. An dem Tag, der nach ihrer Rechnung der fünfzehnte des Etramen sein musste, erwachte Muriele von Waffengeklirr. Manchmal trug der Wind den Klang von Stahl von der Stadt herüber, und das Gebrüll vieler Männer. Dies jedoch schien näher zu sein, vielleicht sogar im Bergfried selbst. Sie ging zum Fenster und verdrehte sich den Hals, um hinunterzuschauen, doch der Wolfspelzturm erhob sich von der Südmauer des Bergfrieds, und sie konnte nur sehr wenig vom Innenhof sehen. Allerdings konnte sie mit dem Kopf im Freien besser hören, und sie war sich sicherer denn je, dass dort unten gekämpft wurde. Eine Bewegung näher am Horizont ließ sie aufblicken. Jenseits der Stadtmauern konnte sie ein wenig von Eslendes-Schattens sehen, der Totenstadt, wo ihre Vorfahren schliefen, und dahinter den schlammigen, flachen Südkanal des Magierflusses. Zuerst fragte sie sich, ob sich ein Schwärm Schwäne auf den Marschen niedergelassen hatte, doch dann stellte sich ihr Blick auf die Entfernung ein, und sie sah, dass es Boote waren hauptsächlich Langboote und Kanalkähne. Doch sie konnte keine Flaggen oder sonstigen Anzeichen sehen, an denen sie ihre Herkunft hätte erkennen können. Als der Wachsoldat ihr Essen brachte, sah er verängstigt aus. »Was ist los?«, fragte sie. »Was geht dort draußen vor?« »Es ist nichts, Königinmutter«, beteuerte er. »Es ist eine ganze Weile her, dass Ihr mich so genannt habt«, bemerkte sie. »Auy.« Der Mann wollte noch etwas hinzufügen, schüttelte jedoch den Kopf und schloss die Tür. 640 Kurz darauf öffnete sie sich erneut. Es war derselbe Soldat. »Esst das nicht«, sagte er mit sehr leiser Stimme. »Seine Majestät hat gesagt, wenn es jemals ... esst das einfach nicht, Euer Hoheit, bitte.« Wieder schloss und verriegelte er die Tür. Sie schob das Essen zur Seite. Die Zeit verging, und der Tumult legte sich, dann erhob er sich etwas weiter unten abermals, im äußeren Bergfried. Sie konnte einen sehr schmalen Streifen des Honot-Hofs vor dem großen Tor ausmachen, und sie sah dort die Sonne auf Rüstungen blinken, und dunkle Schwaden von Pfeilen. Kampf- und Schmerzensschreie erfüllten gelegentlich die Luft, und sie betete zu den Heiligen, dass niemand umkam, den sie liebte. Es war fast dunkel, als sie im Turm selbst Stahl klirren hörte. Gefasst setzte sie sich in ihren Sessel und wartete, ohne eine Ahnung zu haben, was sie erwarten sollte. Dies war wenigstens etwas, dachte sie, etwas, das Robert nicht geplant hatte. Selbst wenn all dies bedeutete, dass mordende Weihander-Horden in Eslen eingefallen waren - das war immer noch besser als das, was ihr Schwager sich als Nächstes ausdenken mochte. Sie zuckte zusammen, als die Gefechte ihre Tür erreichten und ein jämmerliches Aufheulen durch die schweren Balken und Mauern drang. Dann hörte sie das vertraute Kratzen des Schlüssels im Schloss. Die Tür schwang weit auf, und der blutige Körper des Wachsoldaten, der sie davor gewarnt hatte, ihr Mahl zu essen, fiel auf die Schwelle. Er blinzelte sie an und versuchte zu sprechen, doch aus seinem Mund strömte Blut. Gleich hinter ihm kam ein Mann, den sie nicht kannte. Er war von eindeutig südländischem Äußeren, was durch die Waffe, die er in der Hand hielt, noch betont wurde, ein Rapier, wie sie es bei Vitellianern gesehen hatte. Sein dunkler Blick huschte rasch durch die karge Kammer und richtete sich dann wieder auf sie. »Ihr seid allein?«, fragte er. 641 »Ja. Wer seid Ihr?« Ehe er antworten konnte, erschien ein zweites Gesicht hinter ihm. In den ersten paar Herzschlägen sah Muriele nur die königliche Haltung und den strengen Blick. Die leibhaftige heilige Fendve, die Schlachtenzauberin. Erst als die Frau den Helm abnahm, erkannte Muriele ihre Tochter. Ihre Haut war dunkel und wettergegerbt, und das Haar reichte ihr nur bis zum Hals. Sie trug Männerkleidung und sogar einen kleinen Brustharnisch, und auf einer Wange prangte eine dunkelblaue Schwellung. Sie sah wunderbar und schrecklich aus, und Muriele konnte sich nur fragen, was ihre Tochter verschlungen und ihre Gestalt angenommen hatte. »Lasst uns einen Moment allein, Cazio«, sagte Anne leise zu dem Mann. Der Degenkämpfer nickte und verschwand durch die Tür. Als er fort war, wurden Annes Züge weicher; sie stürzte auf Muriele zu, als diese sich erhob. »Mutter«, konnte sie noch hervorwürgen, dann löste sie sich in Tränen auf, als sie die Arme umeinander schlangen. Muriele fühlte sich seltsam, beinahe zu betäubt, um zu reagieren. »Es tut mir Leid«, keuchte Anne. »Das, was ich zu dir gesagt habe. Ich hatte Angst, das würden die letzten Worte sein ...« Sie brach in noch heftigeres Schluchzen aus, und Monate der Einsamkeit kristallisierten sich
schlagartig in Muriele heraus. Endlose Tage unterdrückter Hoffnung stürzten in sich zusammen. »Anne«, seufzte sie. »Du bist es. Du bist es.« Und dann weinte sie mit ihrer Tochter, und es gab zu viel zu sagen und nicht genug. Doch sie würden Zeit haben, nicht wahr? Allen Widrigkeiten zum Trotz hatten sie Zeit. Leoff wischte sich Tränen aus den Augen und versuchte, sich zu fassen; es war fast Mittag. So viel hing von solchen Kleinigkeiten ab. Kannte Roberts 642 Scharfrichter auch nur das mindeste Erbarmen? Wahrscheinlich nicht, und wenn dem so war, war sein nächtliches Werk umsonst gewesen. Selbst wenn Ambrias Mörder ihm ein wenig Gnade gewährte, musste so viel anderes genau stimmen - er musste Mery ungesehen das Wachs in die Ohren stopfen, und sie durfte nicht protestieren oder fragen, warum er das getan hatte. Er musste dicht neben Areana stehen können, damit er ihr im entscheidenden Moment die Ohren zuhalten konnte. Selbst wenn ihm all das gelang, war er sich nicht sicher, ob es ausreichen würde. Einige Klänge würden in ihre Köpfe dringen, ganz gleich, wie gut er vorbereitet war. Es könnten zu viele sein. Plötzlich ging ihm der Gedanke durch den Sinn, dass er, wenn er eine Nadel fand, vielleicht in der Lage sein würde, Areana rechtzeitig die Trommelfelle zu durchstechen. Doch daran war nicht mehr zu denken, denn er hörte Schritte im Gang. Gleich darauf öffnete sich seine Tür, und auch der dürftige Plan, den er geschmiedet hatte, fiel in sich zusammen. Denn dort stand Robert Dare. Der Prinz lächelte, kam ins Zimmer geschlendert und schaute sich mit einer Art spöttischem Interesse um. Einen einzigen, wunderschönen Augenblick lang dachte Leoff, der Thronräuber hätte dem Scharfrichter Einhalt geboten, doch dann wurden Mery und Areana von dem Mörder, vier Wachen und Lord Respell hereingeführt. »Nun«, sagte Robert und blätterte die Seiten auf Leoffs Pult durch. »Ihr scheint fleißig gewesen zu sein.« »Ja, Euer Majestät.« Robert sah überrascht aus. »Ach, jetzt also >Majestät<, wie? Wie kommt denn das?« Er blickte zu Mery und Areana hinüber. »Ach ja, richtig«, sagte er und tippte sich mit dem Zeigefinger an den Kopf. »Bitte, Euer Majestät.« »Ach, verdammt, du törichter Köter«, fuhr Robert ihn an. »Ich 643 bin nicht in der Stimmung, Nachsicht zu üben. Noose ist mein Mann. Wie fände er es wohl, wenn ich ihm erst erlauben würde, Entscheidungen zu treffen, und es ihm dann wieder verbiete, he? Also, so schafft man sich doch keine Gefolgschaftstreue, oder?« »Nehmt doch mich stattdessen«, bat Leoff. »Nein«, sagte Robert. »Ihr habt einen Auftrag für mich zu erledigen, schon vergessen? Es sei denn, Ihr seid fertig.« »Ich habe viel geschafft, aber ich bin noch nicht fertig«, antwortete Leoff. »Und ich brauche immer noch Helfer.« »Ihr werdet Euch mit der halben Besetzung begnügen müssen«, erklärte Robert. »Aber bevor Ihr Eure kleine Entscheidung trefft, warum spielt Ihr mir nicht ein kleines Stück von dem hier vor? Ich habe gehört, ihr drei macht sehr hübsche Musik zusammen. Würdet Ihr das nicht gern ein letztes Mal tun?« Leoff blinzelte. »Selbstverständlich, Sire. Und vielleicht, wenn es Euch zusagt -« »Wenn es mir zusagt, werde ich keine weiteren Maßnahmen ergreifen, um Euch zu züchtigen«, fuhr Robert ihn an. Leoff nickte und versuchte, sein Gesicht zu einer Maske erstarren zu lassen. »Sehr wohl«, sagte er. »Mery, Areana, bitte kommt her.« Sie kamen zu ihm. Mery schien verwirrt, aber nicht besonders ängstlich zu sein. Areana war kalkweiß und zitterte. »Leoff...«, flüsterte sie. Leoff zog das Stück zu sich heran. »Lasst mich schnell ein paar Notizen hinzufügen«, sagte er. »Ich glaube, Eure Majestät werden dies hier am meisten genießen, wenn Ihr mir nur ein paar Augenblicke Zeit lasst, um -« »Ja, ja, gewiss«, seufzte Robert. Er ging zum Fenster hinüber und blickte mit gefurchter Stirn hinaus. »Sie werden bald hier sein«, bemerkte Lord Respell unruhig. »Schweigt«, befahl Robert. »Sonst lasse ich Noose Euch die Zunge herausschneiden.« Leoff fragte sich, worum es bei diesem Gespräch ging, doch er 644 hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Stattdessen raste sein Verstand wie wild durch die finsteren Akkorde. »Mery«, flüsterte er. »Das hier musst du mit viel Ausdruck spielen. Es wird dir nicht gefallen, aber du musst. Verstehst du?« »Ja, Leoff«, antwortete sie steif.
»Areana, du singst diese Oberstimme. Sing den Text von Sa Luth afErpoel.« Er senkte die Stimme noch mehr. »Hier - das ist sehr wichtig.« Er schrieb ein paar Noten in die letzten drei Takte. »Die müsst ihr beide ganz leise vor euch hin summen. Ontro vobo, ja?« Areanas Augen weiteten sich, und er sah, wie sie heftig schluckte, doch sie nickte. »Also gut«, sagte er. »Wollen wir? Mery, du fängst an.« »Ja, nur zu«, sagte Robert. Er wandte sich nicht vom Fenster ab. Mery legte die Finger auf die Tastatur, streckte sie, um den schwierigen Akkord greifen zu können, und drückte auf die Tasten. Die Töne bebten in der Luft, ein wenig bedrohlich, vor allem jedoch faszinierend - die zu Klang gewordene Erregung, etwas ein wenig Verderbtes zu tun. Merys Hände wurden sicherer, und Areana fiel ein; sie sang Worte, die absolut nichts mit der Musik zu tun hatten, die jedoch mit einer so unverhohlenen Sinnlichkeit ertönten, dass sie in Leoff ein jähes, schimpfliches Begehren weckten, sodass er sich, als er seine eigene Stimme der ihren hinzufügte, hilflos dabei ertappte, wie er sich vorstellte, was er ihr antun, wie er ihrem geschmeidigen Körper Lust und Schmerz bereiten würde. Das Lied war ein Todesbann, doch es musste langsam aufgebaut werden. Die letzten Akkorde zu spielen würde nichts ausrichten, wenn der Zuhörer nicht an den Rand des Abgrunds geführt worden war. Bis jetzt war die Tonart eine Abwandlung der sechsten gewesen, aber nun führte Mery sie mit einem wilden Notenlauf in die siebte, und aus Lust wurde kaum merklich Wahnsinn. Er hörte Robert laut auflachen, und ein Blick in die Runde, auf offene Münder und 645 verkniffenes Grinsen, verriet Leoff, dass sie alle mit ihm verrückt waren. Selbst Areanas Augen funkelten wie im Fieber, und Mery schnappte nach Luft, als sich alles zu einem unbeholfenen Whervel beschleunigte und dann sanfter wurde, in die Tonart hinüberglitt, für die Leoff keinen Namen hatte, sich in breiten Akkorden ausdehnte. Die Welt schien unter seinen Füßen nachzugeben, doch Areanas Stimme war schwarze Freude. Furcht war vergangen, und alles, was blieb, war die Sehnsucht nach der unendlichen Umarmung der Nacht, nach der Berührung des Verfalls, jenes geduldigsten, unausweichlichsten und meisterhaftesten Liebhabers. Er fühlte, wie seine Gebeine danach strebten, sein Fleisch abzuwerfen und dann selbst zu verrotten wie dünnes Papier. Das Ende nahte, doch er wollte die zusätzlichen Noten nicht länger singen. Warum sollte er? Was konnte besser sein als dies? Ein Ende des Schmerzes und des Kampfes ... ewige Ruhe ... Wie aus weiter Ferne fühlte er, wie eine Hand die seine packte, und Areana beugte sich zu ihm; sie sang nicht mehr. Doch sie summte ihm ins Ohr. Er tat einen schmerzhaften, grauenvollen Atemzug und begriff, dass er nicht weitergeatmet hatte. Mit einem heftigen Kopfschütteln griff er den hastig niedergeschriebenen Kontrapunkt auf, obgleich er durch sein Hirn zu fahren schien wie eine Axt. Er krümmte sich vornüber, noch immer summend, und versuchte sich die Ohren zuzuhalten, doch seine Hände waren wie Steine, fielen zu Boden, und schwarze Flecken schienen sein Gesichtsfeld auszufüllen. Sein Herz schlug seltsam, hielt lange inne und hämmerte dann, als wolle es bersten. Er merkte, dass sein Gesicht gegen Stein gepresst war. Areana war neben ihm zusammengebrochen, und er griff in fieberhafter Panik nach ihr, fürchtete schon, sie sei tot - doch nein, sie atmete. »Mery ...« Die Kleine war an der Hammarharfe zusammengesunken, die 646 Augen offen und blicklos, Speichel auf ihrem Kinn. Ihre Finger lagen noch immer auf der Tastatur und zuckten wild, drückten jedoch keine Tasten mehr, um Klänge zu erzeugen. Alle anderen im Raum lagen regungslos am Boden. Mit Ausnahme von Robert, der noch immer dastand, aus dem Fenster starrte und sich über den Bart strich. Leoff zwang seine Beine, ihm zu Diensten zu sein; er kroch zu Mery hinüber und zerrte sie von dem Schemel in seine Arme. Areana versuchte sich aufzusetzen, und Leoff zog auch sie an sich, sodass sie alle drei zitternd dahockten. Mery hatte angefangen, einen Laut wie einen Schluckauf von sich zu geben, und Leoff versuchte, ihr mit seiner klobigen Hand das Haar zu streicheln. »Es tut mir Leid«, murmelte er. »Es tut mir Leid, Mery« »Nun denn«, sagte Robert und drehte sich endlich um. »Sehr hübsch, genau wie Ihr es versprochen hattet.« Er ging zu dem Mann hinüber, den er Noose genannt hatte und der mit dem Gesicht nach unten in einer Lache seines eigenen Erbrochenen lag. Robert versetzte ihm einen heftigen Tritt in die Rippen. Dann kniete er nieder, berührte den Hals des Meuchelmörders mit der Hand und wandte sich dann Lord Respell zu, der in sitzender Stellung gegen die Wand gekippt war. Respells Augen waren offen, erstarrt in einem Ausdruck der Verwirrung. Robert zog ein Messer und durchtrennte dem Mann die Halsschlagader. Ein wenig Blut sickerte hervor, doch es war klar, dass dort kein Herz mehr pumpte. »Sehr gut«, brummte Robert. »Alle richtig tot. Sehr gut.« Er ging zur Hammarharfe hinüber, ergriff die Notenblätter und schickte sich an, sie zusammenzurollen. »Das war genau das, was ich wollte«, erklärte er. »Meine Hochachtung, das habt Ihr gut gemacht.«
»Ihr habt es gewusst?« »Ich dachte mir, das alte Buch könnte sich als nützlich erweisen«, verriet Robert mit einer grässlichen, aufgesetzten Leutselig647 keit. »Nicht für mich, aber ich hatte die Idee, dass Ihr seine Geheimnisse vielleicht ans Licht bringen könntet, wenn man Euch nur einen hinlänglichen Anreiz dafür gibt.« »Ihr seid grauenhaft«, brachte Areana mühsam heraus. »Grauenhaft?« Robert rümpfte die Nase. »Fällt Euch nichts Besseres ein?« Er schob das Manuscrift in eine Dokumentenhülle aus geöltem Leder. Leoff glaubte, einen schwachen Tumult von der Tür her zu vernehmen. Stöhnend raffte er sich auf und hob Mery hoch. »Lauf«, keuchte er. »Also wirklich«, begann Robert, doch Leoff war damit beschäftigt, gegen den Schwindel anzukämpfen, sich auf den Beinen zu halten. Areana war direkt hinter ihm. Sie stürzten zur Tür hinaus und taumelten auf die Treppe zu. »Das macht mich wirklich böse«, rief Robert hinter ihnen. Leoff stolperte auf der Treppe, doch Areana hielt ihn aufrecht. Seine Lunge schmerzte, er musste anhalten, doch er konnte nicht anhalten, würde nicht... Wieso war Robert nicht gestorben? Hatte er sich die Ohren verstopft? Leoff hatte nichts dergleichen bemerkt. Er beobachtete seine Füße, als gehörten sie nicht zu ihm, denn sie fühlten sich nicht an wie ein Teil seines Körpers. Er wusste, dass sie sich zu langsam bewegten, wie in einer Schwarzen Mary. Er dachte an Roberts Dolch, nass vom Blut, konnte sich nicht umschauen, aus Angst, zu sehen, wie die Waffe durch Areanas wunderschöne, weiche Kehle fuhr ... Dann sahen sie sich plötzlich gepanzerten Männern gegenüber. »Nein!«, schrie Areana und taumelte vorwärts, doch die Männer fingen sie - und dann Leoff und Mery - mit starken Armen auf. In diesem Moment bemerkte Leoff die Frau, die bei den Soldaten war - dieselbe Frau, die gekommen war, um ihn aus seiner Zelle zu befreien. 648 »Ihr seid in Sicherheit«, sagte sie. »Ist Robert noch dort oben?« »Ja«, keuchte er. »Mit wie vielen Männern?« »Nur er.« Sie nickte und wandte sich dann an einen der Soldaten: »Bringt sie nach Eslen zurück. Sorgt dafür, dass sie es bequem haben und dass der Wundarzt sich sofort ihrer annimmt. Ihre Majestät wird nur das Beste für sie wollen.« Wie betäubt, unfähig, sich noch länger zu sträuben, selbst wenn er es gewollt hätte, ließ Leoff zu, dass man ihn nach draußen trug, wo viele weitere Männer und etliche Wagen warteten. Auf dem Karren erlaubte er seinen Muskeln, sich zu lockern, und lehnte sich in der warmen Sonne zurück. Mery hatte angefangen zu weinen; er hoffte, dass dies ein gutes Zeichen war. »Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben«, sagte Areana zu ihm. »Ich habe nicht vergessen, was du gesagt hast.« »Du hast uns gerettet«, erwiderte Leoff. »Du hast mich gerettet.« Sie lehnten sich aneinander, Mery zwischen sich. Die Sonne fühlte sich auf Leoffs Haut warm und echt an, etwas, das nichts mit dem Grauen zu tun hatte. Außer... »Ich habe Robert etwas Furchtbares gegeben«, murmelte er. »Eine schreckliche Waffe.« »Ihr bringt das schon wieder in Ordnung«, flüsterte Mery Ihre Stimme klang erschöpft, aber fest. »Mery? Geht es dir gut?« »Ihr bringt das schon wieder in Ordnung«, wiederholte sie. Dann schlief sie ein. Es war töricht, dieses Vertrauen einer Sechsjährigen, doch Leoff fühlte sich dadurch besser. Und lange bevor sie Eslen erreichten, war er Merys Beispiel gefolgt und eingeschlafen. Epilog Beste Werke Neil erwachte von Geklapper und geschäftigem Treiben. Er befand sich in einem luftigen Gemach, lag auf feinem Leinen und fühlte sich entsetzlich. Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass er von Verwundeten umgeben war. Er versuchte, sich aufzusetzen, und besann sich dann rasch eines Besseren. Stattdessen lag er einfach da und versuchte, seine Erinnerungen wieder zusammenzusetzen. Die Schlacht um den Waerd - daran erinnerte er sich ziemlich gut, doch alles danach war bruchstückhaft. Er glaubte, irgendwann auf einem Boot gewesen zu sein und eine vertraute Stimme gehört zu haben. Dann erinnerte er sich noch an einen Baum ohne Blätter, voller schwarzer Raben, doch vielleicht war das nur ein Traum gewesen. Und dann - ganz gewiss war das ein Traum - an einen sehr langen Lauf einen dunklen Gang hinunter, in dem sich Menschen drängten; manche von ihnen kannte er, manche nicht. Von denen, die er kannte, waren einige tot,
andere lebten noch. Er merkte, dass er die Augen wieder geschlossen hatte, und öffnete sie von neuem, um eine junge Frau mit einem Klosterschleier zu erblicken, die ihm Wasser anbot. Das Sonnenlicht, das durchs Fenster strömte, erinnerte ihn an Blütenstaub, an früher, als er noch sehr jung gewesen war, als er im Klee gelegen und den Bienen bei der Arbeit zugeschaut hatte, bevor er jemals einen Schild gehoben oder einen Mann hatte sterben sehen. »Was ist passiert?«, fragte er die Frau. »Wie meint Ihr das?«, wollte sie wissen. 650 »Sind wir hier in Eslen?« »Ja«, erwiderte sie. »Ihr befindet Euch im Haus der Heilergilde. Ihr habt großes Glück gehabt. Der heilige Dun hatte Euch bereits in seiner Obhut, aber er hat Euch zu uns zurückkehren lassen.« Sie strahlte ihn an, dann hob sie einen Finger. »Einen Moment. Man hat mir aufgetragen, Bescheid zu sagen, wenn Ihr aufwacht.« Bevor er noch eine Frage stellen konnte, eilte sie davon. Doch nur Augenblicke später fiel ein Schatten über ihn und zog seinen Blick aufwärts. »Euer Majestät«, murmelte er und versuchte abermals, sich aufzurichten. »Nicht«, sagte sie. »Rührt Euch nicht. Ich habe darauf gewartet, dass Ihr aufwacht, und ich würde Euch nur höchst ungern mit meiner bloßen Gegenwart umbringen. Oh, und Ihr solltet Euch wohl lieber angewöhnen, mich Königinmutter zu nennen.« »Wie Ihr wünscht, Königinmutter«, erwiderte er. »Ihr seht wohl aus.« »Ihr habt schon besser ausgesehen«, räumte Muriele ein. »Aber man hat mir gesagt, eigentlich hättet Ihr tot sein müssen. Wenn die Kirche noch Einfluss in dieser Stadt hätte, würde man Euch vielleicht wegen Hexerei den Prozess machen.« Neil blinzelte. Natürlich hatte sie das scherzhaft gemeint, doch ihm fiel jäh die Vision von Brinnas Gesicht ein. Brinna, die ihm damals das Leben gerettet und auf irgendeine Weise einen Teil ihres eigenen dazu benutzt hatte. Konnte sie das irgendwie noch einmal getan haben, aus der Ferne? Verdankte er ihr abermals sein Leben? »Sir Neil?«, fragte Muriele. Er schüttelte den Kopf. »Nichts«, murmelte er. »Ein verrückter Gedanke.« Seine Augen fühlten sich müde an, doch er hielt sie mit Gewalt offen. »Ihr habt keine Vorstellung davon, wie ich glücklich ich bin, dass Ihr am Leben seid«, versicherte er ihr. 651 »Ich bin selbst höchst erfreut darüber«, entgegnete die Königinmutter. »Und außerordentlich erfreut über Euch, mein Freund. Ihr habt mir meine Tochter zurückgebracht. Und Ihr habt sie als Königin zurückgebracht. Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll.« »Kein Dank-« »Natürlich«, fiel Muriele ihm ins Wort. »Aber irgendetwas müsst Ihr mich für Euch tun lassen.« »Ihr könnt mir erzählen, was passiert ist«, sagte er. »Nach dem Waerd erinnere ich mich nicht mehr an viel.« Sie lächelte. »Ich habe selbst das meiste verpasst, aber ich war wach und konnte Fragen stellen. Nachdem Ihr gefallen wart, hat Artwair den Waerd ohne allzu viele weitere Verluste eingenommen, und danach ist es ihm innerhalb einiger weniger Glockenschläge gelungen, das Tor von Thornrath aufzubrechen. Sir Fail hat seine Flotte hineingebracht, und der Wind stand günstig für sie. Während all das vonstatten ging, ist allerdings meine leichtsinnige Tochter durch die Verliese in den Bergfried eingedrungen, mit kaum mehr als einer Hand voll Sefry. Aber Robert hatte nicht allzu viele Truppen im Schloss - entweder waren sie dabei, sich zu sammeln, um Artwair und Fail am Königspoel abzuwehren, oder sie waren mit dem Aufstand im Hof der Gobelins beschäftigt. Also haben Anne und ihre Sefry den Bergfried ohne große Schwierigkeiten eingenommen. Der Kampf um den äußeren Teil des Palastes war blutiger, aber zu diesem Zeitpunkt hatte Anne Verstärkung von Artwair bekommen -« »Wartet«, bat Neil. »Es tut mir Leid, Hoheit, aber ich glaube, ich habe einen Teil Eurer Geschichte nicht mitbekommen. Anne ist mit Roberts Erlaubnis in den Palast gegangen, aber das war eine Falle. "Wo hatte sie die Sefry-Truppen her? Oder Verstärkung?« »Das ist eine sehr viel längere Geschichte, und sie muss unter vier Augen erzählt werden«, erwiderte Muriele. »Nur so viel sei gesagt: Als die Männer auf den äußeren Festungsmauern begriffen, dass sie von zwei Seiten angegriffen wurden - und dass der 652 Monarch, für den sie kämpften, allem Anschein nach verschwunden war -, hat das Ganze ohne das grauenvolle Blutbad geendet, das es hätte werden können.« »Das ist eine Gnade«, sagte Neil und dachte an die Leichenhaufen, die ihn vor Thornrath umgeben hatten. Er wusste natürlich, was sie meinte ... »Also ist Anne Königin?«, fragte er. »Regentin. Sie muss noch vom Comven bestätigt werden, aber das scheint eine ziemlich sichere Sache zu sein, da Roberts Spießgesellen Fersengeld gegeben haben oder im Kerker sitzen und auf ihren Prozess warten.«
»Dann ist also alles gut«, sagte Neil. »Recht gut, ja«, erwiderte sie. »Zumindest bis Robert mit den Armeen Hansas und der Kirche zurückkehrt.« »Haltet Ihr das für wahrscheinlich?«, fragte Neil. »Für sehr wahrscheinlich, in der Tat. Aber das ist, wie es so schön heißt, etwas, worüber man sich später den Kopf zerbrechen kann. Werdet bald gesund, Sir Neil - wir brauchen Euch noch.« Aspar biss mit aller Kraft auf den Espenzweig, den Leshya ihm in den Mund geschoben hatte, als sie den gebrochenen Knochen seines Beins einrichtete. Der heftige Schmerz ließ regelrecht Flecken vor seinen Augen tanzen, als hätte er versucht, direkt in die Sonne zu schauen. »Das Schlimmste ist vorbei«, versprach sie, während sie sich daranmachte, das Bein zu schienen. Unter ihrem breitkrempigen Hut sah sie verhärmt und bleich aus, selbst für eine Sefry »Du hättest noch mindestens einen Monat in Dunmrogh bleiben sollen«, sagte er. »Deine Wunden -« »Mir geht es gut«, wehrte sie ab. »Und wenn ich noch länger geblieben wäre, wärst du jetzt tot.« »Ja«, brummte Aspar. »Wo wir gerade dabei sind -« »Du brauchst mir nicht zu danken.« »Das habe ich nicht gemeint.« 653 »Ich weiß«, erwiderte sie und begutachtete ihr Werk. Dann sah sie ihn an. »Ich bin von Dunmrogh aufgebrochen, sobald ich konnte«, erklärte sie. »Wieso?« Sie schien einen Moment lang zu überlegen. »Ich dachte, du würdest meine Hilfe brauchen.« »Tatsächlich.« »Ja.« »Das ist alles? Nur das? Du warst voller Löcher, Leshya, tiefer Löcher - und das dauert seine Zeit. Wenn du nun gestorben wärst?« »Dann wäre ich tot«, erwiderte sie fröhlich. »Aber ich habe gelegentlich sonderbare Gefühle. Ich höre so manches im Wind, und manchmal sehe ich Dinge, die noch gar nicht passiert sind. Und ich habe dich gesehen, wie du dem Khriim gegenüberstandest, und ich dachte, du brauchst vielleicht meine Hilfe.« »Dem was?« »Dem Sedhmhar. Dem riesigen Geschöpf, das du getötet hast.« Er runzelte die Stirn. »Du hast mich gesehen?« »Durch eine Träne. Oben in der Felswand, wie du versucht hast, deinen Bogen zu spannen.« Zweifelnd schüttelte er den Kopf. »Du hättest meiner Spur niemals so schnell hierher folgen können, es sei denn, du wärst einen Tag nach mir aufgebrochen, und ich weiß, dass du nicht so bald auf den Beinen gewesen sein kannst. Du warst fast tot.« »Ich bin deiner Spur nicht gefolgt«, entgegnete sie. »Ich habe den Ort wieder erkannt und bin auf direktem Weg hergeritten.« »Du hast den Ort wieder erkannt«, wiederholte er im Brustton des Unglaubens. »Den Berg, Aspar. Da ist eine Halafolk-Rewn drin - die erste, die älteste aller Rewns. Ich bin dort geboren worden. Also, ja, ich habe ihn wieder erkannt. Nachdem ich erst einmal hier war, war es gar nicht so schwer, dich zu finden, nicht bei der Art und Weise, wie du alle Welt auf dich aufmerksam gemacht hast.« 654 Er verdaute diese Worte einen Moment lang. »Und du bist nur gekommen, um mir zu helfen?« »Ja. Aber jetzt sollten wir verschwinden, und zwar schnell.« »Warum? Sie gehören doch zu deinem Volk?« Sie lachte leise. »Oh nein. Jetzt nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Sie werden uns umbringen, wenn sie uns erwischen - uns beide, das verspreche ich dir.« »Fend -« »Ist keiner von meinem Volk, das schwöre ich.« »Das weiß ich. Ich weiß, woher Fend stammt. Aber er hat mir etwas gesagt, gerade als er mich umbringen wollte.« »Und zwar?« »Dass die Sefry Skasloi sind.« Sie griff nach ihrem Messer und erstarrte mitten in der Bewegung. Dann lachte sie abermals, hob das Messer auf und schob es in die Scheide. »Ich dachte mir schon, dass du vielleicht Bescheid weißt, wo du doch bei uns aufgewachsen bist«, sagte sie. »Nein«, sagte Aspar. »Daran hätte ich mich erinnert.« »Das sollte man meinen.« »Aber wie?« »Also, 50 alt bin ich nun auch wieder nicht, mein Freund. Ich war nicht dabei. Es heißt, wir hätten irgendwie unsere Gestalt verändert, um mehr wie ihr zu sein. Um uns anzupassen.« »Aber die Skasloi sind doch alle getötet worden.« »Die großen. Die Fürsten. Und die meisten anderen. Aber ein paar haben sich verändert, haben sich als Sklaven
ausgegeben und so überlebt.« Sie fing seinen Blick auf und hielt ihn mit dem ihren fest. »Wir sind nicht sie, Aspar. Die Skasloi, die deine Vorfahren versklavt haben, sind tot.« »Tatsächlich? Und keinem von euch ist jemals der Gedanke gekommen, dass ihr es vielleicht gern hättet, wenn alles wieder so wäre wie früher?« 655 »Ich nehme an, ein paar denken wohl so«, erwiderte sie. »Fend zum Beispiel? Deine Leute da hinten in dem Berg?« »Es ist kompliziert«, wich sie aus. »Sefry sind auch nicht einfacher als Menschen, und sie sind sich nicht sehr viel einiger.« »Lenk nicht ab«, knurrte er. »Das tue ich doch gar nicht«, entgegnete sie. »Aber wir sollten uns wirklich auf den Weg machen. Wir müssen noch ein ganzes Stück von hier fort, bevor ich anfangen kann, mich sicher zu fühlen.« »Aber du erzählst es mir unterwegs?« Sie nickte. »Wir haben reichlich Zeit. Das wird ein langer Ritt.« »Na gut.« Er griff nach seiner Krücke, und sie bückte sich, um ihm zu helfen, doch er wehrte sie mit erhobener Hand ab. »Es geht schon«, sagte er. Und nach einigen Grimassen ging es tatsächlich, obgleich er ihre Hilfe brauchte, um aufzusteigen. Er kam sich albern vor, wie er so hinter ihr saß, die Arme um ihre Taille gelegt. Wie ein Kind. »Wir brauchen mehr Pferde«, stellte er fest. »Dazu habe ich mir schon etwas ausgedacht«, erwiderte sie. Sie trieb den Apfelschimmel vorwärts. »Er ist zu dir gekommen«, sagte sie leise. »Der Dornenkönig.« »Ja.« »Und was dann? Was hat er getan?« Aspar blieb einen Moment lang stumm. »Du hast es nicht gesehen?« »Nein. Ich habe durch eine Lücke zwischen den Bäumen beobachtet, wie er auf dich zugegangen ist, aber ich bin schnell geritten. Als ich dich wieder entdeckt habe, war er fort, und Fend war da.« »Er ist tot, Leshya.« Ihr Rückgrat versteifte sich. »Ich dachte, ich hätte etwas gefühlt ...«, murmelte sie. »Ich hatte gehofft...« »Fend hat ihn mit demselben Pfeil erschossen, den ich benutzt habe, um den Woorm zu töten.« 656 »Oh, nein.« »Was hat das zu bedeuten?« »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete sie. »Aber das ist nicht gut. Das ist überhaupt nicht gut.« Er blickte sich nach den Bäumen um, die sie umgaben, und dachte an die Visionen der Verheerung, die der Todesschrei des Dornenkönigs gewesen waren. »Vielleicht erzählst du mir lieber auch, was du darüber weißt«, brummte er. Mit einem knappen Nicken stimmte sie zu. Ihre Schultern bebten, und Aspar fragte sich, ob sie weinte. Stephen blickte auf und lächelte, als Zemle das Scriftorium betrat. »Du konntest es nicht abwarten, wie?«, fragte sie. »Wir sind doch erst seit zwei Tagen hier.« »Aber schau dir das doch einmal an«, erwiderte Stephen. »Das ist doch umwerfend.« Er weinte fast, als er das sagte. Der Saal um sie herum war unglaublich riesig und randvoll mit tausenden von Scrifti. »Weißt du, was ich entdeckt habe?«, fragte er. Ihm war klar, dass er ins Schwärmen geraten war, doch er war nicht in der Lage, sich deswegen albern vorzukommen. »Das Original der Amena Tirson. Pheons Abhandlung über Unterschriften, von der seit vierhundert Jahren kein Exemplar mehr gesehen worden ist.« »Und Virgenya Dares Tagebuch?« »Nein, das habe ich noch nicht gefunden«, antwortete er. »Aber irgendwann finde ich es schon, keine Angst. Hier gibt es so viel -« »Hier gibt es noch mehr«, unterbrach ihn Zemle. »Während du bei deinen Büchern gehockt hast, bin ich auf Kundschaft gegangen. Da draußen ist eine ganze Stadt, Stephen, und ich glaube nicht, dass das alles die Aitivar gebaut haben. Manche Teile sehen älter aus, so alt, dass diese steinernen Tropfer und Fänger daran gewachsen sind, von denen du gesprochen hast.« 657 »Das werde ich mir alles anschauen«, versprach Stephen. »Du zeigst es mir.« »Und dann ist da noch dieser Pfad der Schreine, von dem sie ständig reden.« »Ja, der«, sagte Stephen nachdenklich. »Sie scheinen viel zu viel Wert darauf zu legen, dass ich ihn beschreite. Ich möchte erst ein bisschen darüber nachforschen, bevor ich das tue. Der Pfad der Schreine, auf dem Virgenya Dare gewandelt ist? Wir werden sehen.« »Du traust ihnen nicht?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Stephen. »Ich wollte, ich würde wirklich begreifen, was gestern dort auf dem Berg passiert ist.« »Ich dachte, du hast gesagt, Hespero hätte den Dornenkönig herbeigerufen.« »Das hat er wohl auch getan«, erklärte Stephen. »Ich habe ihm das Hörn gegeben, schon vor Monaten. Und der Dornenkönig hat ja auch kurzen Prozess mit dem Khriim gemacht, was wohl auch der Grund war, weshalb der Praifec ihn gerufen hat. Trotzdem kommt es mir ein bisschen merkwürdig vor. Ich habe gedacht, Hespero wollte, dass der Dornenkönig vernichtet wird. Er hat uns ausgesandt, um genau das zu tun.« »Vielleicht hat er gehofft, sie würden sich gegenseitig umbringen«, überlegte sie. »Und vielleicht haben sie das ja auch getan. Jedenfalls ist der Dornenkönig sehr schnell in sich zusammengefallen, nachdem der Khriim tot war.« »Vielleicht«, räumte Stephen ein. »Ein Glück, dass Fend und seine Krieger Hesperos Truppen aufreiben konnten.« »Ich wäre glücklicher, wenn sie ihn dabei gefangen genommen hätten«, sagte Stephen. »Er kann jederzeit wiederkommen.« »Wenn er das wagt, bist du bestimmt bereit für ihn.« Stephen nickte und kratzte sich am Kopf. »Das sagen sie jedenfalls.« Dann verstummte er. »Ist irgendetwas?«, erkundigte sie sich. 658 »Weißt du noch, was du über die Bräuche aus dem Buch der Rückkehr gesagt hast? Du hast den Woorm Khirme genannt - fast der gleiche Ausdruck wie das Wort der Aitivar für ihn, Khriim.« »Gewiss.« »Aber du hast auch einen anderen Feind erwähnt, den Khraukare - den Blutritter. Du hast gesagt, er wäre mein Widersacher.« »So erzählt es die Legende«, bestätigte Zemle. »Nun ja, an dem Tag, als wir hergekommen sind, haben die Aitivar gesagt, sie hätten den Khriim und den Khruvkhuryu gefunden. Sie haben Fend gemeint. Aber Khruvkhuryu und Khraukare sind ebenfalls verwandte Begriffe. Beide bedeuten >Blutritter<. Aber Fend behauptet, er wäre mein Verbündeter.« Sie sah beklommen aus, zuckte jedoch mit den Schultern. »Du bist doch derjenige, der darauf hingewiesen hat, wie unzuverlässig Legenden sein können«, sagte sie. »Vielleicht haben wir das einfach falsch verstanden.« »Aber da ist noch mehr«, fuhr Stephen fort. »Als ich Fends Rüstung gesehen habe, hat sie mich an eine Abbildung erinnert, die ich einmal in einem Buch gefunden habe - und an den Text darunter. Da stand: >Er trinkt das Blut der Schlange und lässt die Flut des Jammers ansteigen, der Diener der Alten Nacht, der Woorm-BlutKrieger.<« »Das verstehe ich nicht.« »Ich glaube, Fend wollte, dass der Khriim umkommt, damit er von seinem Blut trinken und der Blutritter werden konnte.« »Aber woher hätte er denn wissen können, dass der Praifec den Dornenkönig rufen würde?« »Er hat doch zugegeben, dass Hespero früher sein Verbündeter war. Vielleicht ist er immer noch mit ihm im Bunde. Vielleicht war das alles nur eine Art Mummenschanz - meinetwegen. Alles, was ich weiß, ist, dass irgendetwas immer noch nicht ganz stimmt.« Zemle ergriff seinen Arm. »Ich habe dir die Laune verdorben«, sagte sie. »Du warst so glücklich, als ich hereingekommen bin.« Er lächelte und fasste sie um die Taille. »Ich bin immer noch 659 glücklich«, beteuerte er. »Schau - was immer Fend im Schilde führt, er gibt vor, mein Verbündeter zu sein. Und im Augenblick ist das mehr oder weniger dasselbe, als wäre er es tatsächlich. Ich habe hier alles, was ich brauche, um dahinterzukommen, was hier wirklich vorgeht, und das werde ich auch. Du hattest Recht, Zemle. Es wird Zeit, dass ich die Dinge selbst in die Hand nehme.« Er zog sie an sich. »Genauer gesagt, es wird Zeit, dass ich dich in die Hand nehme ...« »Ihr seid wahrhaftig kühner geworden, Sir«, murmelte sie. »Ich befinde mich in einer Bibliothek«, lachte Stephen. »Da verrichte ich immer meine besten Werke.«