Matthew Pearl
Der Dante Club Roman Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein
Für Lino, meinen ...
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Matthew Pearl
Der Dante Club Roman Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein
Für Lino, meinen Professor, und Ian, meinen Lehrer
Warnung an den Leser Ein Vorwort von C. Lewis Watkins, Baker‐Valerio‐Professor für Kultur und Literatur Italiens sowie Rhetorik Pittsfield Daily Reporter, »Community Network«, 15. September 1989 ZEHNJÄHRIGER AUS LEXINGTON MIT FLIEGENLARVEN INFIZIERT Suchtrupps entdeckten am Donnerstagnachmittag den zehnjäh‐ rigen Kenneth Stanton aus Lexington in einer entlegenen Regi‐ on der Catamount Mountains. Der Fünftklässler wurde im Berkshire Medical Center wegen schmerzhafter Schwellungen behandelt, die davon herrührten, dass zunächst nicht identifi‐ zierbare Insekten Eier in seinen Wunden abgelegt hatten. Nach Aussagen des Entomologen Dr. K. L. Landsman vom Harve‐Bay Institute Museum in Boston war die Schmeißfliege, von der vor Ort Exemplare sichergestellt wurden, in Massachu‐ setts bisher unbekannt. Noch interessanter ist nach Landsmans Worten, dass die Insekten und ihre Larven offenbar einer Spe‐ zies angehören, die unter Entomologen seit fast fünfzig Jahren als ausgestorben gilt. Cochliomyia hominivorax, die in der Neuen Welt heimische Schraubenwurmfliege, wurde 1859 von einem französischen Arzt auf einer südamerikanischen Insel entdeckt und klassifiziert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erreichte die Verbreitung dieser gefährlichen Art epidemische Ausmaße. Hunderttausende von Haustieren der westlichen Hemisphäre
fielen ihr zum Opfer, und angeblich waren auch einige Men‐ schen betroffen. In den 1950er Jahren wurde die Art durch ein von den Vereinigten Staaten initiiertes Programm ausgerottet: Mit Gammastrahlen behandelte sterile Männchen wurden in die Population eingeführt, was die Fortpflanzungsfähigkeit der weiblichen Fliegen blockierte. Kenneth Stantons schreckliches Erlebnis wird möglicherweise zu einer so genannten laborgestützten »Wiederbelebung« der Insekten für Forschungszwecke führen. »Die Ausrottung der Spezies war zwar aus gesundheitspolitischer Sicht gut und rich‐ tig«, sagt Landsman, »aber unter kontrollierten Bedingungen können wir mit Hilfe neuer technischer Untersuchungsverfah‐ ren nützliche Erkenntnisse gewinnen.« Auf die Frage, wie er diesen taxonomischen Glücksfall sehe, antwortete Stanton: »Mein Biologielehrer findet mich toll.« Sie werden sich im Hinblick auf den Titel dieses Buches viel‐ leicht fragen, in welchem Zusammenhang dieser Zeitungsar‐ tikel mit Dante stehen könnte, doch wie Sie bald sehen werden, besteht durchaus ein sehr realer ‐ und bestürzender ‐ Zusam‐ menhang. Als anerkannte Autorität für die Rezeption von Dan‐ tes Göttlicher Komödie in Amerika hat mich der Verlag Random House im Sommer vergangenen Jahres gebeten, gegen das üb‐ liche kärgliche Honorar ein paar einleitende Worte zu diesem Buch zu schreiben. Der Text Matthew Pearls befasst sich mit den allerersten An‐ fängen von Dantes Präsenz in unserer Kultur. Im Jahre 1867 vollendete der Dichter H. W. Longfellow die erste amerikani‐
sche Übersetzung von Dantes revolutionärem Werk über das Jenseits, der Göttlichen Komödie. Heute existieren von Dantes Dichtung mehr Übersetzungen ins Englische als in irgendeine andere Sprache, und die Vereinigten Staaten bringen mehr Dante‐Übersetzungen hervor als jedes andere Land. Die Dante Society of America in Cambridge, Massachusetts, kann sich rühmen, die älteste Gesellschaft der Welt zu sein, die sich der Dante‐Forschung und der Förderung Dantes widmet. Wie T. S. Eliot einmal sagte, teilen Dante und Shakespeare die moderne Welt unter sich auf, und Dantes Anteil wird von Jahr zu Jahr größer. Vor Longfellows Übersetzung war Dante hierzulande nahezu unbekannt. Wir sprachen die italienische Sprache nicht, und sie wurde auch kaum unterrichtet; nur wenige Amerikaner reisten damals ins Ausland, und umgekehrt lebte in den gesam‐ ten Vereinigten Staaten nur eine Hand voll Italiener. Kraft meines unbestechlichen kritischen Verstandes stellte ich fest, dass über diese Grundtatsachen hinaus die höchst erstaun‐ lichen Begebenheiten, von denen dieses Buch erzählt, eher dem Reich der Fabel als der Geschichte entstammen. Als ich jedoch zur Bestätigung dieser meiner Einschätzung die Datenbanken von Lexis‐Nexis durchsuchte, entdeckte ich den oben wiederge‐ gebenen beunruhigenden Artikel aus dem Pittsfield Daily Re‐ porter. Ich nahm sofort Kontakt mit Dr. Landsman auf und konnte mir so ein etwas genaueres Bild von dem Vorfall ma‐ chen, der jetzt fast vierzehn Jahre zurückliegt. Kenneth Stanton hatte bei einem Angelausflug seiner Familie in den Berkshires auf eigene Faust die Umgebung erkundet und war auf einem überwachsenen Weg auf eine merkwürdige Rei‐
he toter Tiere gestoßen: einen Waschbären, dessen Nabel dick mit Blut verkrustet war, einen Fuchs und schließlich, etwas weiter weg, einen Schwarzbären. Hinterher erzählte er seinen Eltern, er habe sich beim Anblick dieser Kadaver wie hypnoti‐ siert gefühlt. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte auf eine Ansammlung scharfkantiger Steine. Als er bewusstlos und mit gebrochenem Knöchel im Wald lag, machten sich die Schrau‐ benwurmfliegen über ihn her. Fünf Tage später ‐ Kenneth Stan‐ ton war inzwischen gerettet worden und erholte sich zu Hause im Bett ‐ starb der Zehnjährige, nachdem ganz plötzlich heftige Krämpfe eingesetzt hatten. Bei der Obduktion wurden zwölf Maden der Schraubenwurmfliege Cochliomyia hominivorax ge‐ funden, eine der gefährlichsten Insektenarten der Welt, die seit fünfzig Jahren als ausgestorben galt. Die wiederbelebte Fliegenart, die offenbar über eine fast bei‐ spiellose Fähigkeit verfügt, auch einen schroffen Klimawechsel zu überleben, ist seither, vermutlich durch Frachtlieferungen, in den Nahen Osten eingeschleppt worden und dezimiert gerade Viehherden im Irak. Auf der Grundlage von Forschungsergeb‐ nissen, die voriges Jahr in den Abstracts of Entomology veröf‐ fentlicht wurden, diskutiert man mittlerweile die Theorie, die abweichende Evolution dieser Fliegen habe möglicherweise um 1865 im Nordosten der Vereinigten Staaten ihren Ausgang ge‐ nommen. Auf die Frage, wie es zu dieser Abweichung kam, findet sich keine Antwort ‐ außer, wie ich inzwischen glaube und fürchte, im Text dieses Buches. Seit über fünf Wochen überprüfen nun acht meiner fünfzehn Lehrkräfte Pearls Manuskript aufs Ge‐
naueste. Sie haben die philologischen und historiographischen Details Zeile für Zeile analysiert und katalogisiert und auch ein paar belanglose Fehler gefunden, die allein auf das Konto des Autors gehen. Täglich finden wir weitere Beweise für die Reali‐ tät der Nöte und Freuden, die Longfellow und seinen Helfern im Jahr von Dantes sechshundertstem Geburtstag widerfuhren. Ich habe auf mein Honorar verzichtet, denn dies hier ist kein Vorwort mehr, sondern eine Warnung. Kenneth Stantons Tod hat das Tor zu Dantes Ankunft in unserer Welt, zu den Ge‐ heimnissen, die auch heute noch im Verborgenen lauern, sperr‐ angelweit geöffnet. Vor diesen Geheimnissen wollte ich Sie, lieber Leser, warnen. Wenn Sie weiterlesen, vergessen Sie bitte nicht: Auch Worte können bluten. Professor C. Lewis Watkins Cambridge, Massachusetts
Erster Teil
I John Kurtz, der beleibte Chef der Bostoner Polizei, machte sich so dünn wie möglich, um besser zwischen die beiden Haus‐ mädchen zu passen. Auf der einen Seite leierte die Irin, die den Leichnam gefunden hatte, heulend und schniefend Gebete her‐ unter, die ihm unbekannt (weil katholisch) und unverständlich (wegen des Geheules) waren und die Haare in seinem Gehör‐ gang prickeln ließen, auf der anderen Seite saß in stummer Verzweiflung ihre Nichte. Der Salon war reichlich mit Sesseln und Sofas ausgestattet, aber die beiden Frauen hatten sich zum Warten neben ihn gezwängt. Er musste aufpassen, dass er sei‐ nen Tee nicht verschüttete, so sehr zitterten die beiden. Kurtz hatte als Polizeichef schon öfter mit Mord zu tun ge‐ habt, wenn auch nicht so oft, dass es schon Routine geworden wäre ‐normalerweise ein‐ bis zweimal jährlich. Oft verging in Boston ein ganzes Jahr ohne ein nennenswertes Tötungsdelikt. Da die wenigen Opfer meist aus den untersten Schichten stammten, hatte es bis jetzt nicht zu Kurtzʹ Obliegenheiten ge‐ hört, die Hinterbliebenen zu trösten. Er hätte dabei auch keine gute Figur abgegeben, denn für Gefühlsaufwallungen hatte er kein rechtes Verständnis. Sein Stellvertreter Edward Savage, der in seiner freien Zeit Gedichte schrieb, hätte es sicher besser gekonnt. Das da ‐ anders wagte der Polizeichef diesen grässli‐ chen Vorfall, der das Leben einer ganzen Stadt verändern sollte, noch nicht zu benennen ‐ war nicht irgendein Mord. Es war der
Mord an einem Bostoner Patrizier, einem Angehörigen der klassenbewussten, in Harvard ausgebildeten unitaristischen, großbürgerlichen Elite Neuenglands. Überdies war das Opfer der höchste Richter des Staates Massachusetts. Und in seinem Fall war nicht einfach nur getötet worden, wie es gelegentlich durch einen Mord fast barmherzigerweise geschieht, nein, hier war es dem Mörder darum gegangen, jemanden ganz und gar zu vernichten. Die Frau, auf die sie im besten Salon von Wide Oaks warteten, hatte in Providence den ersten erreichbaren Zug genommen, nachdem das Telegramm eingetroffen war. Die Erste‐Klasse‐Waggons ratterten mit unerträglicher Gemäch‐ lichkeit dahin, aber die Reise kam ihr ohnehin ganz unwirklich vor, wie auch alles, was vorher gewesen war. Mrs. Healey hatte mit sich ‐ und mit Gott ‐ eine Art Wette abgeschlossen: Falls der Familiengeistliche noch nicht eingetroffen war, wenn sie zu Hause ankam, würde das bedeuten, dass das Telegramm auf einem Irrtum beruhte. Sie war nicht unbedingt vernünftig, die‐ se nur halb ausformulierte Wette mit dem Schicksal, aber Ed‐ nah Healey musste sich irgendetwas ausdenken, woran sie glauben konnte, etwas, was sie davor bewahrte, auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen. Den entsetzlichen Verlust vor Augen, starrte sie ins Leere. Als sie ihren Salon betrat, sah sie nur, dass der Geistliche nicht da war, und überließ sich einem unsinnigen Triumphgefühl. Kurtz, ein stattlicher Mann, dessen buschiger Schnauzer am unteren Ende senfgelb verfärbt war, merkte, dass nun auch er zitterte. Auf der Fahrt mit der Kutsche nach Wide Oaks hatte er sich zurechtgelegt, was er sagen würde. »Madam, es tut uns allen sehr Leid, dass wir Sie aus einem so tragischen
Grund zurückholen mussten. Offenkundig ist Oberrichter Hea‐ ley ...« Nein, erst noch ein paar einleitende Worte. »Wir dach‐ ten, es sei das Beste, Ihnen die unglückseligen Umstände hier in Ihrem eigenen Hause darzulegen, wo Sie am ehesten Trost fin‐ den werden.« Er hielt das für eine großzügige Geste. »Aber der, den Sie da gefunden haben, kann gar nicht Richter Healey sein«, sagte sie und befahl ihm, sich zu setzen. »Tut mir Leid, dass Sie sich umsonst herbemüht haben, aber es kann sich nur um einen schlichten Irrtum handeln. Der Oberrichter wollte ... er hält sich in Beverly auf, um ein paar Tage in aller Ruhe zu arbeiten. Ich war unterdessen mit unseren beiden Söhnen in Providence. Ich erwarte ihn nicht vor morgen zurück.« Kurtz war froh, dass es nicht seine eigenen Erkenntnisse wa‐ ren, die das widerlegten. »Ihre Hausangestellte«, sagte er und zeigte auf das größere der beiden Dienstmädchen, »hat seinen Leichnam gefunden, Madam. Draußen, nicht weit vom Fluss.« Nell Ranney, das Hausmädchen, war untröstlich, dass ausge‐ rechnet sie den toten Richter gefunden hatte. Sie bemerkte nicht, dass sich in ihrer Schürzentasche noch ein paar blutige Maden befanden. »Es ist allem Anschein nach schon vor einigen Tagen passiert. So Leid es mir tut, Ihr Gatte ist gar nicht aufs Land gefahren«, sagte Kurtz. Es war ihm peinlich, dass seine Worte so gefühllos klangen. Ednah Healey weinte zunächst nur leise vor sich hin, wie eine Frau um ein totes Haustier weinen mag ‐ nachdenklich und ge‐ fasst, ohne Groll. Die olivbraune Feder an ihrem Hut wippte in würdigem Widerstreben.
Nell sah Mrs. Healey flehentlich an, dann sagte sie sehr freundlich zu Polizeichef Kurtz: »Bitte kommen Sie doch später noch einmal. Ich bitte Sie.« John Kurtz war dankbar, Wide Oaks verlassen zu dürfen. Ge‐ ziemend feierlich ging er auf seinen neuen Kutscher zu, einen jungen, gut aussehenden Streifenpolizisten, der diensteifrig den Tritt der Kutsche herunterklappte. Es gab keinen Grund zur Eile angesichts dessen, was sich mit Sicherheit zu diesem Zeit‐ punkt auf der Hauptwache bereits zusammenbraute zwischen den aufgelösten Stadträten und Bürgermeister Lincoln, der ihm ohnehin schon die Hölle heiß machte, weil er angeblich nicht energisch genug gegen die Spielhöllen und Freudenhäuser »durchgriff«, um die Zeitungen zum Schweigen zu bringen. Er war noch nicht weit gekommen, als ein furchtbarer Schrei die Luft zerriss. Kurtz drehte sich um und sah entgeistert zu, wie Ednah Healey mit davonfliegendem Hut und wild flatterndem Haar auf die Vortreppe gelaufen kam und etwas von sich schleuderte, das wie ein weißer Strahl genau auf seinen Kopf zuschoss. Hinterher erinnerte er sich, dass er geblinzelt hatte ‐ mehr, so schien ihm, konnte er nicht tun, um die Katastrophe abzuwenden. Er schickte sich in seine Hilflosigkeit: Der Mord an Artemus Prescott Healey hatte ihn schon genug mitgenom‐ men. Es war nicht der Tod als solcher. Der Tod war im Boston des Jahres 1865 so alltäglich wie eh und je: Säuglingskrankhei‐ ten, Schwindsucht und namenlose, unbarmherzige Fieber‐ krankheiten, Feuersbrünste, Unruhen, junge Frauen, die in so großer Zahl im Kindbett starben, dass es schien, als sei ihnen von Anfang an kein Platz auf dieser Welt beschieden gewesen,
und ‐ noch bis vor sechs Monaten ‐ der Krieg, der viele Tausen‐ de junger Bostoner Männer für ihre Familien auf schwarz um‐ randete amtliche Mitteilungen reduziert hatte. Aber die bis ins Kleinste geplante sinnlose Vernichtung eines einzelnen Men‐ schen durch einen Unbekannten ... Kurtz wurde jäh am Jackenärmel gepackt und zu Boden geris‐ sen, in den weichen, sonnenwarmen Rasen. Die Vase, die Mrs. Healey nach ihm geworfen hatte, zerbrach am dicken Stamm einer der Eichen, nach denen das Anwesen wohl benannt wor‐ den war, in tausend blaue und elfenbeinfarbene Scherben. Viel‐ leicht, dachte Kurtz, hätte er doch seinen Stellvertreter schicken sollen. Nicholas Rey, der Streifenpolizist, ließ den Arm seines Vorgesetzten los und half ihm wieder auf die Beine. Die Pferde am Ende der Auffahrt schnaubten und bäumten sich auf. »Er hat immer seine Pflicht getan! Wie wir alle! Das haben wir nicht verdient, da können Sie sagen, was Sie wollen! Jetzt bin ich ganz allein!« Ednah Healey rang die erhobenen Hände, und dann sagte sie etwas, was Kurtz verblüffte. »Ich weiß, wer es war! Ich weiß, wer das getan hat! Ich weiß es!« Nell Ranney schlang ihre fülligen Arme um ihre tobende Her‐ rin, redete beschwichtigend auf sie ein, streichelte sie und wieg‐ te sie, so wie sie vor vielen Jahren die Healey‐Kinder gewiegt hatte. Ednah Healey kratzte sie, schlug und spuckte nach ihr und versuchte sich loszureißen, sodass der schmucke junge Po‐ lizist sich zum Eingreifen genötigt sah. Doch die Wut der Witwe verrauchte, und sie drückte ihr Ge‐ sicht in die bauschige schwarze Bluse des Hausmädchens, in ihren üppigen Busen.
Das alte Herrenhaus hatte nie so leer geklungen. Ednah Hea‐ ley war mit den beiden Söhnen nach Providence gefahren, zu einem ihrer häufigen Besuche bei ihrer Familie, den geschäfts‐ tüchtigen Sullivans. Ihr Mann war daheim geblieben, er musste an einem Fall arbeiten, bei dem es um Besitzstreitigkeiten zwi‐ schen den beiden größten Bostoner Banken ging. Der Richter verabschiedete sich wie immer liebevoll brummelnd von seiner Familie und gab der Dienerschaft leutselig frei, kaum dass Mrs. Healey außer Sichtweite war. Anders als seine Frau, die nie auf das Personal verzichtete, genoss er es ab und zu, für kurze Zeit ganz sein eigener Herr zu sein. Außerdem trank er hin und wieder gern ein Gläschen Sherry, und die Bediensteten berich‐ teten ihrer Herrin unfehlbar von jedem Verstoß gegen das Mä‐ ßigungsgebot, denn ihn mochten sie, aber vor ihr hatten sie ei‐ nen Heidenrespekt. Tags darauf wollte er zu einem Wochenende geruhsamen Ak‐ tenstudiums nach Beverly aufbrechen. Der nächste Gerichts‐ termin, der seine Anwesenheit erforderte, war erst am Mitt‐ woch, dann würde er mit dem Zug in die Stadt zurückkehren. Richter Healey bemerkte nie etwas davon, aber Nell Ranney, Hausmädchen der Healeys, seitdem sie vor zwanzig Jahren durch Hungersnot und Krankheit aus dem heimatlichen Irland vertrieben worden war, wusste, dass eine tadellos aufgeräumte häusliche Umgebung für einen so bedeutenden Mann wie den Oberrichter unerlässlich war. Also kam sie am Montag zur Ar‐ beit, und da entdeckte sie die ersten Spritzer einer eingetrock‐ neten roten Flüssigkeit in der Nähe des Vorratsschranks und einen weiteren Schmierer am Fuß der Treppe. Wahrscheinlich
war ein verletztes Tier irgendwie ins Haus und auf demselben Weg wieder ins Freie gelangt. Dann sah sie eine Fliege auf den Vorhängen im Salon. Sie scheuchte sie mit einem zischenden Zungenschnalzen zum Fenster hinaus und fuchtelte dazu mit ihrem Staubwedel. Doch als sie den langen Mahagoni‐Esstisch polierte, war die Fliege plötzlich wieder da. Wahrscheinlich hatten die neuen farbigen Küchenmägde irgendwo ein paar Krümel übersehen. Diese Konterbande ‐ was die freigelassenen Sklavinnen in ihren Au‐ gen nach wie vor waren und immer bleiben würden ‐ nahm es mit der Sauberkeit nicht sehr genau, sie tat nur so. Das Insekt, so schien es Nell, röchelte so laut wie eine Loko‐ motive. Sie erlegte die Fliege mit einer zusammengerollten North American Review. Der platt gequetschte Plagegeist war etwa doppelt so groß wie eine Stubenfliege und hatte drei gleichmäßige schwarze Querstreifen auf dem bläulich grünen Rumpf. Und diese Fratze!, dachte Nell Ranney. Den Kopf des Insekts hätte Richter Healey bestimmt unter bewunderndem Murmeln inspiziert, bevor er es in den Papierkorb geworfen hätte. Die hervorquellenden kugelrunden Augen von grell o‐ rangeroter Farbe waren fast so groß wie der halbe Rumpf. Ein seltsam schillerndes Orange, fast ein Rot, etwas zwischen den beiden Farben. Auch etwas Gelbes und Schwarzes. Kupfer: wie Feuerschlieren. Sie kam am nächsten Morgen wieder, um im ersten Stock sauber zu machen. Als sie durch die Haustür trat, schoss abermals eine Fliege pfeilschnell an ihrer Nasenspitze vorbei. Wutentbrannt schnappte sie sich wieder eines von den dicken Journalen des Richters und verfolgte die Fliege die brei‐
te Treppe hinauf. Normalerweise nahm sie die Dienstboten‐ treppe, auch wenn sie allein im Haus war, doch dies war ein Ausnahmefall. Sie zog die Schuhe aus und tappte leichtfüßig die mit dickem Teppich belegten Stufen hinauf, hinter der Flie‐ ge her, bis in Healeys Schlafzimmer. Die Feueraugen glotzten höhnisch, der Leib bäumte sich auf, und das Gesicht des Insekts sah einen Moment lang aus wie das eines Mannes. Diese Momente, als sie dem monotonen Sum‐ men lauschte, sollten für viele Jahre die letzten sein, in denen Nell Ranney so etwas wie inneren Frieden kannte. Sie stürmte los und schmetterte die Review gegen Fensterscheibe und Flie‐ ge. Aber sie war während ihrer Attacke über etwas gestolpert, und jetzt schaute sie auf das Hindernis hinab, das sich um ihren nackten Fuß krümmte. Sie hob das sperrige Ding auf. Es war eine komplette Zahnreihe, die in einen menschlichen Oberkie‐ fer gehörte. Sie legte es sofort wieder hin und sah es respektvoll an, als könnte es sie für ihr schlechtes Benehmen zurechtweisen. Es waren falsche Zähne, kunstvoll von einem prominenten New Yorker Zahnarzt gearbeitet, der damit Richter Healeys Wunsch nach einem gefälligeren Äußeren bei seinen Auftritten vor Ge‐ richt erfüllt hatte. Der Richter war sehr stolz auf sie und klärte jeden, der ihm zuhörte, über ihre Herkunft auf, nicht beden‐ kend, dass die Eitelkeit, die Anlass der Verschönerung gewesen war, eigentlich Stillschweigen geboten hätte. Die Zähne waren ein wenig zu neu und zu weiß, als erstrahlten sie im Schein der Sommersonne zwischen den Lippen ihres Trägers. Aus dem Augenwinkel gewahrte Nell einen dicken Blutklecks, der auf
dem Teppich geronnen und angetrocknet war. Und nicht weit davon lag ein Stapel sorgsam zusammengefalteter Männer‐ kleider. Diesen Anzug kannte Nell Ranney so gut wie ihre wei‐ ße Schürze, ihre schwarze Bluse und ihren bauschigen schwar‐ zen Rock. Oft genug hatte sie Taschen oder Ärmel mit Nadel und Faden ausbessern müssen; der Richter orderte erst dann einen neuen Anzug bei Mr. Randridge, dem unvergleichlichen Schneider in der School Street, wenn es gar nicht mehr anders ging. Das Hausmädchen stieg wieder die Treppe hinab, um sich die Schuhe anzuziehen, und bemerkte erst jetzt die Blutspritzer auf dem Geländer sowie, kaum erkennbar, in dem flauschigen roten Teppich, der die Stufen bedeckte. Draußen vor dem gro‐ ßen, ovalen Fenster des Salons, jenseits des makellosen Gartens, wo Wiesen, Wald und Felder zum Ufer des Charles River abfie‐ len, erblickte sie einen Schwarm Schmeißfliegen. Nell ging hin‐ aus, um sich die Sache anzusehen. Ein großer Haufen Unrat hatte die Schmeißfliegen angelockt. Als sie näher kam, tränten ihr die Augen von dem furchtbaren Gestank. Sie holte eine Schubkarre, und dabei fiel ihr das Kalb ein, das der Stallbursche mit Erlaubnis der Healeys auf dem Grundstück aufgezogen hatte. Aber das lag Jahre zurück. Stall‐ bursche und Kalb waren Wide Oaks entwachsen und hatten es seinem unabänderlichen Einerlei überlassen. Es waren Fliegen der neuen feueräugigen Spezies. Auch ein paar gelbe Hornissen waren dabei, die offenbar ein morbides Interesse an dem fauli‐ gen Haufen hatten. Viel zahlreicher als die geflügelten Kreatu‐ ren waren jedoch die wimmelnden Massen weißer Kügelchen ‐ Würmer mit gezacktem Rücken, die in dicker Schicht auf etwas
Undefinierbarem herumkrochen, nein, nicht nur krochen, son‐ dern sich wanden und zappelten, sich hineinwühlten, hinein‐ fraßen ineinander und in das ... Aber woraus bestand denn nun dieser abscheuliche, mit weißem Schleim überzogene Klum‐ pen? Das eine Ende sah aus wie der borstige Busch kastanien‐ brauner und elfenbeinfarbener Strähnen von ... In dem Haufen steckte ein kurzer Holzstab mit einer zerfetzten weißen Fahne, die matt in der unschlüssigen Brise flatterte. Nells Ahnung wurde zur Gewissheit, doch in ihrer Angst hoffte sie inständig, das Kalb des Stallburschen vorzufinden. Vergeblich weigerten sich ihre Augen, die Nacktheit und den breiten, etwas krum‐ men Rücken wahrzunehmen, der in die Spalte des riesigen schneeweißen Gesäßes überging, schier überquellend von den krabbelnden, bleichen, bohnenförmigen Maden oberhalb der zu kurz geratenen Beine, die in entgegengesetzten Richtungen ab‐ standen. Ein dichter Schwärm Fliegen, Hunderte von ihnen, kreiste wie zum Schutz über dem Haufen. Der Hinterkopf war vollständig eingehüllt in die weißlichen Würmer, die nicht nach Hunderten, sondern nach Tausenden zählen mussten. Nell trat das Wespennest beiseite und hievte den Richter in die Schub‐ karre. Halb karrte und halb schleifte sie den nackten Körper über die Wiese, durch den Garten, durch die Halle und in sein Arbeitszimmer. Sie legte den Leichnam auf einen Stapel ju‐ ristischer Papiere und zog Richter Healeys Kopf auf ihren Schoß. Zu Dutzenden regneten die Würmer aus der Nase, den Ohren, dem schlaffen Mund. Sie fing an, die schillernden Ma‐ den aus seinem Hinterkopf zu zupfen. Die wurmartigen Kügel‐ chen waren feucht und heiß. Auch ein paar der feueräugigen
Fliegen erwischte sie, die ihr ins Haus gefolgt waren, zermalm‐ te sie mit der flachen Hand, riss sie an den Flügeln entzwei und schleuderte sie eine nach der anderen in ohnmächtiger Wut von sich. Doch erst was sie dann hörte und sah, ließ sie einen gel‐ lenden Schrei ausstoßen, der laut genug war, um durch ganz Neuengland zu hallen. Zwei Pferdeknechte, die aus der benachbarten Stallung her‐ beigeeilt waren, fanden Nell, wie sie haltlos schluchzend auf allen vieren aus dem Arbeitszimmer gekrochen kam. »Was ist denn, Nellie, was ist denn? Um Gottes willen, bist du verletzt?« Als Nell Ranney Ednah Healey erzählte, dass Richter Healey gestöhnt hatte, bevor er in ihren Armen verschied, da war die Witwe hinausgelaufen und hatte die Vase nach dem Polizeichef geworfen. Dass ihr Gatte womöglich die ganzen vier Tage bei Bewusstsein gewesen war, dass er auch nur das Geringste ge‐ spürt hatte, das zu glauben konnte niemand von ihr verlangen. Mrs. Healeys Behauptung, sie wisse, wer ihren Mann getötet habe, erwies sich als nicht sehr präzise. »Boston hat ihn umge‐ bracht«, eröffnete sie etwas später dem Polizeichef. »Diese gan‐ ze entsetzliche Stadt. Sie hat ihn bei lebendigem Leib aufgefres‐ sen.« Sie bestand darauf, von Kurtz zu dem Leichnam geführt zu werden. Die Assistenten des Coroners hatten drei Stunden ge‐ braucht, um die etwa sechs Millimeter langen, spiraligen Ma‐ den aus dem Inneren der Leiche herauszupulen; die winzigen, hornigen Mäuler mussten mit Gewalt losgerissen werden. Die Löcher und Gänge, die sie im Fleisch hinterlassen hatten, durchzogen alle frei liegenden Flächen; die schreckliche
Schwellung am Hinterkopf schien noch immer von wimmeln‐ den Maden zu pulsieren, obwohl bereits alle entfernt waren. Die Nasenlöcher waren kaum noch getrennt, die Achselhöhlen weggefressen. Ohne die falschen Zähne wirkte das Gesicht schlaff und eingesunken wie ein kaputtes Akkordeon. Doch das Demütigendste, Erbarmungswürdigste war nicht die Zerstö‐ rung, ja nicht einmal die Tatsache, dass der Leichnam von Ma‐ den durchsetzt und mit Schichten von Fliegen und Wespen be‐ deckt gewesen war, sondern der simple Umstand seiner Nackt‐ heit. Manchmal, so heißt es, sieht ein Leichnam aus wie ein ge‐ gabelter Rettich, dem man einen phantastisch geschnitzten Kopf aufgesetzt hat. Richter Healeys Körper war einer, der nicht dazu bestimmt war, von irgendjemand anderem als seiner Ehefrau jemals nackt gesehen zu werden. In der schalen Eises‐ kälte des Sezierraums nahm Ednah Healey den Anblick in sich auf und wusste im selbem Moment, was es bedeutete, Witwe zu sein, und welch gottlosen Groll dieser Zustand weckte. Mit einer jähen Bewegung schnappte sie sich die rasiermesserschar‐ fe Schere des Coronors von einem Regalbrett. Der Vase einge‐ denk, wich Kurtz zurück und prallte gegen den verblüfften, fluchenden Coroner. Ednah bückte sich und schnitt zärtlich ein Büschel Haare aus dem wirren Schopf des Richters. Sie sank in die Knie, und ihre voluminösen Röcke breiteten sich in alle vier Ecken des engen Raumes aus. Eine kleine Frau, über einen kalten, blau angelau‐ fenen Körper geworfen, umklammerte mit der einen weiß be‐ handschuhten Hand die Schere und hielt in der anderen das geraubte Haarbüschel, das dicht und trocken war wie Rosshaar.
»Meine Güte, ich habe noch nie einen Mann gesehen, der so von Würmern ausgehöhlt war«, sagte Kurtz mit zittriger Stim‐ me in der Leichenhalle, nachdem zwei seiner Leute Ednah Hea‐ ley nach Hause begleitet hatten. Barnicoat, der Coroner, hatte einen unförmigen kleinen Kopf mit winzigen, grausamen Hummeraugen. Seine Nasenflügel waren durch Wattebäusche auf doppelten Umfang aufgebläht. »Maden«, sagte Barnicoat grinsend. Er hob eine der zuckenden weißen Bohnen auf, die auf den Boden gefallen waren. Sie wand sich auf seiner fleischigen Handfläche, bevor er sie in den Verbrennungsofen warf, wo sie zischend verschmorte und in Rauch aufging. »Normalerweise lässt man ja Leichen nicht auf einem Feld verwesen. Eigentlich geht das geflügelte Ungeziefer, das unser Richter Healey angelockt hat, nur auf Schaf‐ oder Ziegenkadaver, die im Freien liegen gelassen werden.« In Wahrheit war die schiere Zahl der Maden, die sich in den vier Tagen in Healeys Körper vermehrt hatten, unfassbar, aber Bar‐ nicoat verfügte nicht über ausreichendes Wissen, um sich dazu zu äußern. Coroner war ein politisches Amt, und es erforderte kein medizinisches oder naturwissenschaftliches Spezialwissen, sondern nur die Fähigkeit, mit Leichen umzugehen. »Die Hausangestellte, die den Körper ins Haus getragen hat«, erklärte Kurtz, »wollte die Wunde von den Maden reinigen, und sie meint, sie hätte ‐ obwohl ich mir wirklich nicht vorstel‐ len kann ...« Mit einem Hüsteln ermunterte Barnicoat Kurtz fortzufahren. »Sie hat Richter Healey stöhnen hören, bevor er gestorben ist«,
sagte Kurtz. »Behauptet sie jedenfalls, Mr. Barnicoat.« »Ausge‐ schlossen!« Barnicoat lachte herzlich. »Maden von Schmeißflie‐ gen ernähren sich nur von totem Gewebe.« Deshalb, so erklärte er, suchten sich die weiblichen Fliegen verdorbenes Fleisch, um ihre Eier darin abzulegen. Wenn sie trotzdem einmal auf die Wunde eines noch lebenden Wesens gerieten, das bewusstlos sei oder sich ihrer aus anderen Gründen nicht erwehren könne, würden die Maden nur die abgestorbenen Gewebeteile fressen ‐ was keinen großen Schaden anrichte. »Diese Kopfwunde hat sich allem Anschein nach gegenüber ihrem ursprünglichen Um‐ fang verdoppelt oder verdreifacht. Das heißt, das ganze Gewe‐ be war bereits abgestorben. Was beweist, dass der Oberrichter schon mausetot war, als die Insekten sich über ihn her‐ machten.« »Also der Schlag auf den Kopf«, fragte Kurtz, »der die ur‐ sprüngliche Wunde verursachte, der war demnach die Todes‐ ursache?« »Ja, höchstwahrscheinlich«, sagte Barnicoat. »Und er war so heftig, dass ihm das Gebiss aus dem Mund gefallen ist. Er hat im Garten hinter dem Haus gelegen, sagen Sie?« Kurtz nickte. Barnicoat äußerte die Vermutung, dass es kein vor‐ sätzlicher Mord gewesen sei. Bei Vorsatz hätte noch etwas da‐ bei sein müssen, was über einen bloßen Schlag hinaus den Er‐ folg garantiert hätte, etwa eine Pistole oder eine Axt. »Oder wenigstens ein Dolch. Nein, nein, das sieht mir mehr nach ei‐ nem gewöhnlichen Einbruch aus. Der Gauner zieht dem Ober‐ richter in dessen Schlafzimmer eins über und schafft den Be‐ wusstlosen aus dem Haus, um dann in aller Ruhe nach Wertsa‐ chen zu suchen. Wahrscheinlich hat er gar nicht gemerkt, dass
Healey so schwer verletzt war«, sagte er, und es klang, als hätte er fast so etwas wie Verständnis für den Dieb. Kurtz sah Barnicoat durchdringend an. »Aber es wurde über‐ haupt nichts gestohlen. Und nicht nur das. Der Oberrichter wurde ausgezogen, und seine Kleider wurden säuberlich zu‐ sammengefaltet, einschließlich der Unterhosen.« Er merkte, dass seine Stimme knarzte, als wäre jemand darauf getreten. »Seine Brieftasche und seine goldene Uhr samt Kette lagen ne‐ ben dem Kleiderstapel.« Barnicoat riss eines seiner Hummeraugen auf und fixierte Kurtz. »Er ist ausgezogen worden? Und nichts wurde entwen‐ det?« »Das war reiner Wahnsinn«, sagte Kurtz, und der Gedan‐ ke erschütterte ihn nun schon zum dritten oder vierten Mal. »Unfassbar!«, rief Barnicoat aus und blickte sich um, als suchte er nach weiteren Personen, denen er das sagen konnte. »Sie und Ihre Leute müssen die Sache absolut vertraulich behandeln. Anordnung des Bürgermeisters. Das wissen Sie doch, Mr. Bar‐ nicoat, nicht wahr? Kein Wort darf nach draußen gelangen!« »Aber natürlich.« Barnicoat lachte kurz auf, unbekümmert wie ein Kind. »Also, den alten Healey herumzuschleppen, so dick wie der war! Wenigstens können wir sicher sein, dass es nicht die trauernde Witwe war.« Kurtz appellierte auf jede erdenkliche Weise an Logik und Ge‐ fühl, als er in Wide Oaks erklärte, warum er Zeit für gründliche Ermittlungen brauche, bevor die Öffentlichkeit erfahren durfte, was passiert war. Aber Ednah Healey saß nur stumm im Bett und sah zu, wie ihre Zofe die Decke um sie herum glatt strich.
»Wissen Sie, wenn jetzt ein Riesenzirkus gemacht wird und die Presse uns in der Luft zerreißt, was sie ja liebend gern tut ‐ was können wir dann noch groß herausfinden?« Ihre Augen, sonst sehr lebhaft und urteilsfreudig, waren erschreckend starr. Selbst die Hausmädchen, die ihren unbarmherzig tadelnden Blick fürchteten, weinten über ihren Zustand ebenso sehr wie über den Verlust von Richter Healey. Kurtz war angesichts die‐ ser beklagenswerten Umstände fast schon bereit, klein bei‐ zugeben. Ihm fiel auf, dass Mrs. Healey die Augen fest schloss, als Nell Ranney mit Tee ins Zimmer kam. »Mr. Barnicoat, der Coroner, ist der Ansicht, die vermeintliche Wahrnehmung Ihres Hausmädchens, dass der Oberrichter noch lebte, als sie ihn fand, sei aus wissenschaftlicher Sicht unmöglich ‐ eine Halluzi‐ nation. Barnicoat kann aufgrund der Anzahl der Maden mit Bestimmtheit sagen, dass der Oberrichter bereits tot gewesen sein muss.« Ednah Healey schaute mit einem rätselhaft offenen Blick zu Kurtz auf. »Es stimmt schon, Mrs. Healey«, fuhr Kurtz im Brustton der Überzeugung fort, »die Maden dieser Fliegen können sich von Natur aus nur von totem Gewebe ernähren, verstehen Sie?« »Dann kann er also nicht gelitten haben, als er da draußen lag?«, fragte Mrs. Healey in flehentlichem Ton. Kurtz schüttelte entschieden den Kopf. Noch bevor er sich verabschiedete, rief Ednah Nell Ranney und verbot ihr, jemals den entsetzlichsten Teil ihres Berichts zu wiederholen. »Aber, Mrs. Healey, ich weiß ganz bestimmt ...« Nell verstummte und schüttelte den Kopf. »Nell Ranney! Sie werden tun, was man
Ihnen sagt!« Aus Dankbarkeit gegenüber dem Polizeichef er‐ klärte sich die Witwe dann bereit, geheim zu halten, unter wel‐ chen Umständen ihr Mann gestorben war. »Aber eins müssen Sie mir versprechen«, sagte sie und zog ihn matt am Ärmel. »Sie müssen mir schwören, dass Sie seinen Mörder finden werden.« Kurtz nickte. »Mrs. Healey, wir versuchen alles, wozu unsere Mittel und der augenblickliche Stand der ...« »Nein.« Ihre blei‐ che Hand klammerte sich an seinen Rock, als müsste sie unbe‐ irrbar da hängen bleiben, wenn er jetzt aus dem Raum ging. »Nein, nicht versuchen. Tun. Finden. Geloben Sie es.« Sie ließ ihm kaum eine Wahl. »Ich verspreche hoch und heilig, dass ich es tun werde, Mrs. Healey.« Er wollte eigentlich nichts mehr hinzufügen, aber der quälende Zweifel in seiner Brust musste einfach zu Wort kommen. »Irgendwie.« J. T. Fields, der Verleger der Dichter, saß eingezwängt auf dem Fenstersitz seines Büros am New Corner und sah die Gesänge durch, die Longfellow für den Abend ausgewählt hatte, als ein Bürodiener klopfte und einen Besucher ankündigte. Die schmächtige Gestalt von Augustus Manning in einem steifen Gehrock tauchte aus dem Flur auf. Er kam in das Büro ge‐ schlendert, als hätte er nicht die leiseste Ahnung, warum er sich auf einmal im ersten Stock der frisch renovierten Villa an der Tremont Street befand, in der jetzt der Verlag Ticknor, Fields & Co. residierte. »Großartig, Ihr neues Domizil, Mr. Fields ‐ groß‐ artig. Obwohl Sie ja für mich immer der Juniorpartner bleiben werden, der am Old Corner hinter dem grünen Vorhang seiner
Autorengemeinde predigt.« Fields, inzwischen Chef des Hauses und erfolgreichster Verle‐ ger Amerikas, ging lächelnd an seinen Schreibtisch und trat flink auf das dritte von vier Pedalen ‐ A, B, C und D ‐, die unter seinem Sessel aufgereiht waren. In einem Zimmer am anderen Ende des Flurs ertönte ein Glöckchen mit der Aufschrift C und alarmierte einen Laufburschen. Bei Glocke C musste der Verle‐ ger nach fünfundzwanzig Minuten gestört werden, bei B nach zehn Minuten, bei A nach fünf. Ticknor & Fields war der Ver‐ lag, in dem exklusiv die offiziellen Schriften der Harvard‐ Universität erschienen ‐Abhandlungen, Denkschriften und Tex‐ te zur Geschichte des Colleges. Deshalb erhielt Dr. Augustus Manning, der Schatzmeister der Institution, an diesem Tag ein höchst großzügiges C. Manning nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand über die kahle Furche zwischen den Wellen an‐ gegrauten Haars, die beiderseits seines Kopfes herabfielen. »Als Kämmerer der Harvard Corporation«, sagte er, »muss ich Sie auf ein potenzielles Problem hinweisen, dessen wir unlängst gewahr wurden, Mr. Fields. Es dürfte Ihnen bewusst sein, dass ein Verlagshaus, das für die Harvard‐Universität tätig ist, sich einer untadeligen Reputation erfreuen sollte.« »Dr. Manning, ich glaube sagen zu dürfen, dass es keinen zweiten Verlag mit so untadeliger Reputation gibt wie den uns‐ rigen.« Manning verschränkte seine krummen Finger zu einem Spitzdach und stieß ein langes, krächzendes Geräusch aus, das ein Seufzer oder auch ein Husten sein mochte. »Wir haben von einer neuen literarischen Übersetzung gehört, deren Veröffent‐ lichung Sie planen, Mr. Fields. Eine Arbeit von Mr. Longfellow.
Selbstverständlich haben wir Mr. Longfellows jahrelanges Wir‐ ken am College sehr zu schätzen gewusst, und seine Gedichte sind in der Tat erstklassig. Es ist uns jedoch einiges über dieses neue Projekt zu Ohren gekommen, über seinen Gegenstand, und wir hegen gewisse Befürchtungen, dass derlei Unfug ...« Fields warf ihm einen kalten Blick zu, woraufhin Mannings ver‐ schränkte Finger auseinander glitten. Der Verleger betätigte mit dem Absatz das vierte, dringlichste Pedal. »Aber mein lieber Dr. Manning, Sie wissen doch, wie sehr die gebildete Öffent‐ lichkeit die Lyrik meiner Autoren schätzt. Longfellow, Lowell, Holmes.« Die Erwähnung des Triumvirats stärkte seine Positi‐ on. »Mr. Fields, wir sprechen ja gerade im Namen der Öffent‐ lichkeit. Ihre Autoren hängen an Ihren Rockschößen. Beraten Sie sie angemessen. Verschweigen Sie ihnen dieses Gespräch, wenn Sie es für richtig halten. Auch ich werde nichts darüber verlauten lassen. Ich weiß, wie sehr Ihnen der Ruf Ihres Hauses am Herzen liegt, und ich bezweifle nicht, dass Sie die zu erwar‐ tenden Weiterungen einer solchen Veröffentlichung bedacht haben.« »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Dr. Manning.« Fields atmete in seinen breiten, spatenförmigen Bart und hatte Mühe, die Verbindlichkeit zu wahren, für die er berühmt war. »Ich habe die Weiterungen in der Tat gründlich bedacht und sehe ihnen getrost entgegen. Falls Sie nicht möchten, dass wir mit den laufenden Veröffentlichungen fortfahren, übereigne ich Ihnen gern die Druckstöcke, unverzüglich und ohne Berech‐ nung. Sie wissen hoffentlich, wie sehr Sie mich kränken wür‐ den, wenn Sie sich in der Öffentlichkeit in irgendeiner Weise abfällig über meine Autoren äußerten. Ah, Mr. Osgood.«
Fields Bürovorsteher J.R. Osgood kam hereingeschlurft, und Fields wies ihn an, Dr. Manning die Büroräume zu zeigen. »Das erübrigt sich.« Die Worte drangen durch Mannings steifen Pa‐ trizierbart, der so ehrwürdig war wie das Jahrhundert. Er erhob sich. »Ich nehme an, Sie sehen einer langen Reihe angenehmer Tage in Ihrem neuen Verlagsdomizil entgegen, Mr. Fields«, sag‐ te er mit einem kalten Blick auf die glänzend schwarze Nuss‐ baumvertäfelung. »Aber vergessen Sie nicht, es wird Zeiten ge‐ ben, in denen nicht einmal Sie in der Lage sein werden, Ihre Autoren vor ihrem eigenen Ehrgeiz zu schützen.« Er verbeugte sich übertrieben höflich und entschwand die Treppe hinunter. »Osgood«, sagte Fields und schloss die Tür. »Ich möchte, dass Sie in der New York Tribune eine Klatschnotiz über die Dante‐ Übersetzung unterbringen.« »Ach, ist denn Mr. Longfellow schon fertig?«, fragte Mr. Os‐ good freudig überrascht. Fields schürzte seine vollen, hochmütigen Lippen. »Wussten Sie, Mr. Osgood, dass Napoleon einmal einen Buchhändler er‐ schoss, weil er zu aufdringlich war?« Osgood überlegte. »Nein. Das war mir nicht bekannt, Mr. Fields.« »Es ist eine der schönen Seiten der Demokratie, dass sie uns gestattet, unsere Bücher so lauthals anzupreisen, wie es uns beliebt, ohne dass man uns einen Strick daraus drehen kann. Ich möchte, dass keine auch nur halbwegs respektable Familie mehr in Unwissenheit verharrt, wenn die Übersetzung zum Buchbinder geht.« Und niemand, der seine Stimme hörte, hätte den geringsten Zweifel daran gehegt, dass er dies auch errei‐
chen würde. »An Mr. Greeley, New York, zum sofortigen Ab‐ druck auf der Seite literarisches Bostons« Fields ließ seine Fin‐ ger in der Luft tanzen ‐ ein Pianist, der auf einem imaginären Klavier spielt. Da der Verleger beim Schreiben schnell einen Krampf im Handgelenk bekam, musste Osgood seine Äuße‐ rungen zu Papier bringen, einschließlich seiner poetischen Er‐ güsse. Fields hatte die Meldung schon fast druckfertig im Kopf. »>NEUES AUS DEN BOSTONER LITERARISCHEN KREISEN: Einem Gerücht zufolge bereitet man bei Ticknor, Fields & Co. die Drucklegung einer neuen Übersetzung vor, die beträchtli‐ ches Aufsehen erregen dürfte. Ihr Urheber ist dem Vernehmen nach ein Sohn unserer Stadt, dessen Lyrik seit vielen Jahren große Bewunderung diesseits und jenseits des Atlantiks hervor‐ ruft. Wie wir des Weiteren erfahren, hat dieser Gentleman die besten literarischen Köpfe Bostons .. .< Augenblick bitte, Os‐ good. Schreiben Sie lieber >Neuenglands<. Wir wollen doch nicht, dass der gute alte Greene verschnupft ist, nicht wahr?« »Natürlich nicht, Sir«, bekräftigte Osgood, ohne im Schreiben innezuhalten. »>... die besten literarischen Köpfe Neuenglands für die Über‐ arbeitung und Vollendung seiner neuen, überaus poetischen Übersetzung gewonnen. Noch kennt niemand Autor und Titel des Originals, doch soll es sich um ein Werk handeln, das hier‐ zulande bislang völlig unbekannt ist, unsere literarische Land‐ schaft aber nachhaltig verändern wird.< Et cetera. Greeley soll >Anonyme Quelle< darunter setzen. Haben Sie alles?« »Es geht morgen früh mit der ersten Post weg«, bestätigte Os‐
good. »Nein, kabeln Sie es nach New York.« »Soll es denn schon nächste Woche erscheinen?« Osgood meinte sich verhört zu haben. »Ja doch, ja!« Fields warf die Arme hoch. Der Verleger geriet nur selten aus der Fassung. »Und ich sage Ihnen, die Woche drauf schieben wir eine weitere Meldung nach!« An der Tür drehte sich Osgood zögernd noch einmal um. »In welchen Geschäften kam denn Dr. Manning heute, Mr. Fields, wenn ich fragen darf?« »Ach, nichts Besonderes.« Der Seufzer, unter dem Fieldsʹ Bart erzitterte, strafte ihn Lügen. Er kehrte zu dem hohen Manu‐ skriptstapel auf dem Fenstersitz zurück. Drunten lag der Bo‐ ston Common. Die Passanten trugen noch immer sommerliches Leinen, man sah sogar noch ein paar Strohhüte. Als Osgood sich endgültig zum Gehen wandte, entschloss sich Fields doch noch zu einer Erklärung. »Wenn wir Longfellows Dante tat‐ sächlich herausbringen, wird Augustus Manning dafür sorgen, dass Harvard alle Verlagsverträge mit Ticknor & Fields kün‐ digt.« »Du meine Güte, das sind ja Tausende von Dollar ‐ und Zehntausende im Laufe der nächsten Jahre!« Fields nickte geduldig. »Mhm. Osgood, wissen Sie, warum wir Whitman nicht verlegt haben, als er uns seine Grashalme brachte?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Weil Bill Ticknor nicht wollte, dass der Verlag wegen der anstößigen Passagen Schwierigkeiten bekommt.« »Wenn ich fragen darf: Haben Sie das bedauert, Mr. Fields?« Fields war von der Frage angetan. Er wechselte den Tonfall ‐
vom Arbeitgeber zum Mentor. »Nein, mein lieber Osgood. Whitman gehört den New Yorkern, ebenso wie Poe.« Den letz‐ teren Namen sprach er, aus Gründen, die noch immer nicht verwunden waren, ein wenig bitterer aus. »Und das bisschen, was sie haben, wollen wir ihnen lassen. Aber wenn es um echte Literatur geht, dürfen wir niemals kneifen, nicht in Boston. Wir werden es auch jetzt nicht tun.« Er meinte damit, jetzt, da Ticknor nicht mehr ist. Nicht, dass der selige William D. Ticknor kein Gespür für Literatur gehabt hätte. Man hätte sogar sagen können, dass den Ticknors die Literatur im Blut lag. Immerhin war ihr Cousin George Ticknor einst die höchste literarische Autorität Bostons und als erster Smith‐Professor in Harvard Vorgänger von Longfellow und Lowell gewesen. Aber William D. Ticknor war in Boston zu‐ nächst im Finanzwesen tätig gewesen und hatte sich dann mit dem Verstand des gewieften Bankiers dem Verlagsgeschäft ge‐ widmet, das damals kaum mehr als Buchhandel war. Fields war es gewesen, der geniale Begabungen anhand halb fertiger Manuskripte erkannte. Er hatte die Freundschaft mit den gro‐ ßen neuenglischen Autoren gesucht und gepflegt, als andere Verleger ihnen wegen fehlender Profite die Tür gewiesen oder sich zu viel um die kommerziellen Aspekte gekümmert hatten. Als junger Angestellter hatte Fields in dem Ruf gestanden, übernatürliche (oder, wie die anderen Angestellten es aus‐ drückten, »höchst kuriose«) Fähigkeiten zu besitzen; er konnte anhand von Aussehen und Betragen eines Kunden vorhersa‐ gen, welches Buch er verlangen würde. Anfangs behielt er das für sich, aber als seine Kollegen ihm auf die Schliche kamen,
wurden Wetten abgeschlossen, und diejenigen, die gegen Fields gewettet hatten, zogen regelmäßig den Kürzeren. Bald darauf führte Fields einen grundsätzlichen Wandel in der Branche herbei: Er überzeugte William D. Ticknor, dass es besser sei, Autoren zu belohnen, als sie zu betrügen, und er erkannte, dass man durch Öffentlichkeitsarbeit aus Dichtern Persönlichkeiten machen konnte. Als Mitinhaber des Verlags kaufte Fields The Atlantic Monthly und The North American Revue auf, um sie als Plattform für seine Autoren zu nutzen. Osgood würde nie ein Literaturkenner wie Fields werden und diskutierte deshalb lieber nicht über das Wesen der Literatur. »Was fällt Manning ein, uns mit einer solchen Maßnahme zu drohen? Das ist glatte Erpressung«, empörte er sich. Der Verle‐ ger musste lächeln. Wieder einmal wurde ihm klar, wie viel er Osgood noch beibringen musste. »Wir alle erpressen doch, wo wir nur können, Osgood, sonst würde ja überhaupt nichts vo‐ rankommen. Dantes Dichtung ist fremdartig und unbekannt. Die Corporation wacht über die Reputation von Harvard, in‐ dem sie jedes Wort kontrolliert, das durch die College‐Tore nach draußen gelangen darf. Alles Neue und Unbekannte äng‐ stigt diese Leute über die Maßen.« Fields nahm die Taschen‐ ausgabe von Dantes Divina Commedia zur Hand, die er in Rom gefunden hatte. »Zwischen diesen Buchdeckeln ist genug Aufrührerisches, um hier alles aus den Angeln zu heben. Die geistige Entwicklung in unserem Land stürmt mit der Geschwindigkeit eines Telegrafen voran, Osgood, und unsere großen Institutionen zuckeln in der Kutsche hinterher.« »Aber wie könnte in diesem Fall ihr guter Name Schaden neh‐
men? Sie haben Longfellows Übersetzung ja nicht abgesegnet.« Der Verleger gab sich ungehalten. »Nein, natürlich nicht. Aber sie hegen trotzdem die größten Befürchtungen, und das ist et‐ was, was sich praktisch nicht ausrotten lässt.« Fieldsʹ Verbindung mit Harvard beschränkte sich auf seine Tätigkeit als Verleger der Universität. Die anderen Gelehrten hatten engere Bindungen: Longfellow war ihr berühmtester Professor gewesen, bevor er sich vor etwa zehn Jahren hatte emeritieren lassen, um sich ganz seinem dichterischen Schaffen zu widmen; Oliver Wendell Holmes, James Russell Lowell und George Wa‐ shington Greene hatten in Harvard studiert, und Holmes und Lowell waren gefeierte Professoren; Holmes hatte den Park‐ man‐Lehrstuhl für Anatomie am Medical College inne, und Lowell war Leiter des Instituts für moderne Sprachen und Lite‐ ratur am Harvard College und in dieser Eigenschaft Longfel‐ lows Nachfolger. »Diese Übersetzung wird als Meisterwerk gelten, dem Herzen Bostons und der Seele Harvards entsprungen, mein lieber Os‐ good. Nicht einmal Augustus Manning ist so blind, das nicht zu erkennen.« Dr. Oliver Wendell Holmes, Medizinprofessor und Dichter, hastete auf dem Weg zum Büro seines Verlegers über die ge‐ mähten Pfade des Boston Common, als sei jemand hinter ihm her. (Was ihn freilich nicht hinderte, zweimal stehen zu bleiben, um Autogramme zu geben.) Wenn man nahe genug an Dr. Holmes vorbeiging oder einer der Flaneure war, die stets ihr
Autogrammbüchlein bereithielten, konnte man seine pulsie‐ rende Energie spüren. In der Tasche seiner Moireweste steckte das zusammengefaltete Stück Papier, das den kleinen Doktor zur Corner ‐ zum Sitz seines Verlegers ‐ trieb und ihm Angst einjagte. Er strahlte, als er Bewunderern begegnete, die ihre Lieblingsgedichte nannten. »Ach, das. Es heißt, Präsident Lin‐ coln habe dieses Gedicht auswendig rezitiert. Unter uns, ich weiß es sogar von ihm persönlich ...« Die Form von Holmesʹ jungenhaftem Gesicht mit dem kleinen Mund über dem schlaf‐ fen Kinn machte es ihm offenbar schwer, auch nur für kurze Zeit nichts zu sagen. Nach der Begegnung mit seinen Verehrern blieb er nur noch einmal zögernd stehen, vor der Buchhand‐ lung Dutton & Company, in deren Auslage er drei Romane und vier Gedichtbände von völlig neuen und aller Wahrscheinlich‐ keit nach jungen New Yorker Autoren zählte. Woche für Woche verkündeten die Feuilletons, dass soeben das herausragende Werk der Epoche erschienen sei. »Profunde Originalität« war so allgegenwärtig, dass man sie, hätte man es nicht besser ge‐ wusst, für gängigste Münze hätte halten können. Noch wenige Jahre vor dem Krieg hatte es den Anschein gehabt, als sei sein Autocrat of the Breakfast‐Table das einzige Buch auf der Welt. Mit dem in Fortsetzungen erschienenen Essay hatte Holmes alle Erwartungen übertroffen: Er hatte nicht weniger als eine neue Literatur erfunden, die der persönlichen Beobachtung. Holmes stürmte in den riesigen Ausstellungsraum von Ticknor & Fields. Wie die biblischen Juden, die sich im Neuen Tempel der Herrlichkeiten entsannen, an deren Stelle er getre‐ ten war, sträubte Holmes sich unwillkürlich gegen all die geöl‐
te, polierte Pracht und vergegenwärtigte sich den muffigen Old Corner Bookstore an der Ecke Washington und School Street, in dem der Verlag und seine Autoren jahrzehntelang auf engstem Raum gearbeitet und konferiert hatten. Fieldsʹ Autoren nannten das neue Palais an der Ecke Tremont Street und Hamilton Place »Corner« oder »New Corner« ‐ aus alter Gewohnheit, aber auch in wehmütiger Erinnerung an ihre Anfänge. »Guten Abend, Dr. Holmes. Sie möchten zu Mr. Fields?« Am Empfang begrüßte Miss Cecilia Emory, das sympathische Mädchen mit dem blau‐ en Häubchen, den Dichter mit einem herzerwärmenden Lä‐ cheln und hüllte ihn in ihre Parfümwolke. Fields hatte mehrere Sekretärinnen eingestellt, als das neue Verlagshaus vor einem Monat eröffnet worden war, obwohl ihn alle eindringlich davor gewarnt hatten, weil das Haus sonst nur von Männern bevöl‐ kert war. Die Idee stammte höchstwahrscheinlich von Fieldsʹ Ehefrau Annie, die ebenso schön wie mutwillig war (zwei Ei‐ genschaften, die oft Hand in Hand gehen). »Ja, meine Liebe.« Holmes verbeugte sich. »Ist er da?« »Ach, ist das nicht der gro‐ ße Autokrat des Frühstückstischs, der uns da beehrt?« Samuel Ticknor, einer der Angestellten, verabschiedete sich übertrieben ausführlich von Cecilia Emory, während er seine Handschuhe überstreifte. Als nicht eben normaler Verlagsange‐ stellter würde Ticknor in seinem Haus in einer der besten Ge‐ genden der Back Bay von Frau und Dienerschaft begrüßt wer‐ den. Holmes nahm seine Hand. »Großartiges Gebäude, das New Corner, nicht wahr, Mr. Ticknor?« Er lachte. »Kaum zu glauben, dass sich Mr. Fields hier drin noch nicht verlaufen hat.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden«, murmelte Ticknor, und obwohl er dabei leise kicherte, schien er es durchaus ernst zu meinen. J.R. Osgood kam, um Holmes nach oben zu geleiten. »Achten Sie nicht auf ihn, Dr. Holmes«, meinte er missbilligend und sah Ticknor nach, wie er auf die Tremont Street hinausschlenderte und dem Erdnussverkäufer an der Ecke eine Münze zuwarf wie einem Bettler. »Der junge Ticknor findet doch tatsächlich, ihm stehe aufgrund seines Namens der gleiche Ausblick auf den Common zu, den sein Vater hätte, wenn er noch lebte. Und er lässt es auch jeden wissen.« Holmes hatte keine Zeit für Klatsch, jedenfalls nicht an diesem Tag. Osgood stellte fest, dass Fields in einer Besprechung war, also musste Holmes in der Vorhölle des Autorenzimmers warten, einem nobel eingerichteten Raum, in dem sich die Schriftsteller des Hauses wohl fühlen sollten. An einem normalen Tag hätte Holmes hier gern einige Zeit verbracht und sich die literari‐ schen Andenken und Autographen an der Wand angesehen, in denen auch sein Name vorkam. Stattdessen fiel ihm der Scheck ein, und er zog ihn stirnrunzelnd aus der Tasche. Die von acht‐ loser Hand geschriebene Zahl erschien ihm als Symbol seines Versagens als Dichter. In den Tintenklecksen sah er sich selbst, gebeutelt von den Ereignissen des vergangenen Jahres, unfähig, sich zum Niveau vergangener Leistungen aufzuschwingen. Er saß schweigend da und rieb den Scheck grob zwischen Daumen und Zeigefinger wie Aladin seine alte Lampe. Er stellte sich all die furchtlosen jugendfrischen Autoren vor, die Fields hofierte,
überzeugte, formte. Zweimal verließ er das Autorenzimmer, beide Male fand er die Tür zu Fieldsʹ Büro geschlossen. Doch bevor er sich erneut abwandte, hörte er von drinnen die Stimme von James Russell Lowell, dem Dichter und Redakteur. Lowell sprach kraftvoll wie immer, ja nachgerade dramatisch, und anstatt anzuklopfen oder sich zu entfernen, versuchte Holmes dem Gespräch zu folgen, denn er war sich fast sicher, dass es um ihn ging. Holmes kniff die Augen zusammen, als könnte er ihren Anteil an Wahrnehmungsfähigkeit auf seine Ohren übertragen, und hörte gerade ein interessantes Wort, als er gegen ein Hindernis stieß und taumelte. Der junge Mann, der vor dem Lauscher jäh zum Stillstand ge‐ kommen war, wedelte in blödem Bedauern mit den Händen. »Ganz und gar meine Schuld, mein Lieber«, sagte der Dichter lachend. »Dr. Holmes. Und Sie ...« »Teal, Doktor, Sir«, stieß der zitternde Junge, ein Laufbursche, hervor, wurde gelb im Gesicht und verzog sich. »Wie ich sehe, haben Sie mit Daniel Teal Bekanntschaft gemacht.« Osgood tauchte im Flur auf. »Könnte nicht gerade ein Hotel führen, ist aber fleißig wie kaum ein Zweiter.« Beide mussten lachen: der Ärmste ‐ noch ganz neu im Verlag und rumpelt mit Oliver Wendell Holmes zusammen! Im wiedergewonnenen Bewusst‐ sein seiner Bedeutung musste Holmes lächeln. »Soll ich einmal nachsehen, ob Mr. Fields jetzt frei ist?«, fragte Osgood. Im selben Moment ging die Tür auf. James Russell Lowell stand auf der Schwelle, ebenso würdevoll wie ungepflegt, die
grauen Augen so durchdringend, dass sie von seinem wolligen Haar und dem Bart ablenkten, den er mit zwei Fingern glatt strich. Er war allein in Fieldsʹ Büro gewesen und hatte die Zei‐ tung gelesen. Holmes stellte sich vor, was Lowell sagen würde, wenn er ihm seine Ängste anvertrauen würde: Dies ist eine Zeit, in der wir alle Kräfte auf Longfellow, auf Dante konzentrieren müs‐ sen, Holmes, und nicht unseren kleinlichen Eitelkeiten frönen dürfen ... »Kommen Sie, kommen Sie, Wendell!« Lowell war bereits da‐ bei, ihm einen Drink zu machen. Holmes sagte: »Komisch, Lowell, ich dachte, ich hätte eben noch Stimmen hier drin gehört? Geister?« »Als Coleridge gefragt wurde, ob er an Geister glaube, ver‐ neinte er: Dazu habe er schon zu viele von ihnen gesehen.« Lowell lachte fröhlich und drückte seine Zigarre aus. »Ah, im Dante Club findet heute Abend eine Feier statt. Ich habe nur das hier laut gelesen, um festzustellen, wie es klingt, wissen Sie.« Lowell zeigte auf die Zeitung, die auf einem Beistelltisch lag. Fields, erklärte er, sei in die Erfrischungsstube hinunterge‐ gangen. »Sagen Sie, Lowell, wissen Sie, ob das Atlantic seine Honorarsätze geändert hat? Ich weiß nicht, ob Sie irgendwelche Gedichte für die letzte Nummer eingeschickt haben. Sie haben ja sicher mit der Review alle Hände voll zu tun.« Lowell hörte nicht zu. »Holmes, das müssen Sie sich ansehen! Fields hat sich selbst übertroffen. Hier bitte. Lesen Sie.« Er nick‐ te verschwörerisch und sah Holmes gespannt an. Die Zeitung war auf der Literaturseite aufgeschlagen und roch nach Lowells Zigarre. »Ich wollte Sie eigentlich fragen, mein lieber Lowell«, beharrte
Holmes, ohne einen Blick auf die Zeitung zu werfen, »ob in letzter Zeit ‐ oh, vielen Dank.« Er nahm den Brandy mit Wasser entgegen. Fields strahlte übers ganze Gesicht, als er zurückkam. Er war genauso unerklärlich aufgeräumt und selbstzufrieden wie Lowell. »Holmes! Ich hatte heute nicht mit dem Vergnügen ge‐ rechnet. Ich wollte Ihnen gerade einen Boten ins Medical Col‐ lege schicken ‐ damit Sie sich bei Mr. Clark melden. In einige der Honorarschecks für die letzte Nummer des Atlantic hat sich dummerweise ein Fehler eingeschlichen. Möglicherweise wer‐ den Sie nur fünfundsiebzig statt hundert Dollar für Ihr Gedicht bekommen.« Aufgrund der rapiden Geldentwertung wegen des Krieges bekamen renommierte Dichter 100 Dollar pro Ge‐ dicht, mit Ausnahme von Longfellow, der 150 Dollar bekam. Weniger bekannte Dichter mussten sich mit 25 bis 50 Dollar begnügen. »Wirklich?«, fragte Holmes. »Soll mir recht sein, je mehr, je lieber.« »Diese neuen Angestellten heutzutage, Sie machen sich keine Vorstellung.« Fields schüttelte den Kopf. »Ich stehe am Ruder eines riesigen Schiffes, das auf Grund laufen wird, wenn ich nicht ständig aufpasse.« Holmes lehnte sich zufrieden zurück und schaute nun endlich auf die New York Tribune, die er in der Hand hielt. Er ließ sich tief in die dicken ledernen Falten des Sessels sinken. James Rus‐ sell Lowell war aus Cambridge in den Verlag gekommen, um lange hinausgeschobene Pflichten bei der North American Re‐ view, einer von Fieldsʹ zwei erfolgreichsten Zeitschriften, zu erfüllen. Er überließ den größten Teil der Arbeit an der Review
einem Team von Redaktionsassistenten, deren Namen er stän‐ dig durcheinander brachte. Nur zum Redaktionsschluss musste er persönlich erscheinen. Fields wusste, dass Lowell die Vorab‐ notiz höher einschätzen würde als jeder andere, sogar höher als Longfellow selbst. »Vortrefflich! Sie haben immer noch etwas vom Juden in sich, mein lieber Fields!«, sagte Lowell und nahm Holmes die Zei‐ tung wieder aus der Hand. Seine Freunde achteten nicht weiter auf Lowells seltsame Bemerkung, sie kannten seine Theorie, dass jeder fähige Mann, er selbst eingeschlossen, irgendwie Ju‐ de oder zumindest jüdischer Abstammung sei. »Meine Buchhändler werden sich die Hände reiben«, prahlte Fields. »Wir werden uns allein in Boston eine goldene Nase ver‐ dienen!« »Mein lieber Fields«, sagte Lowell lachend und klopfte mit der flachen Hand auf die Zeitung, als berge sie einen geheimen Schatz. »Wären Sie Dantes Verleger gewesen, hätte man in Flo‐ renz bei seiner Rückkehr ihm zu Ehren ein Straßenfest gefei‐ ert!« Oliver Wendell Holmes lachte, aber es klang auch ein we‐ nig beschwörend, als er sagte: »Wäre Fields Dantes Verleger gewesen, hätte man ihn gar nicht erst in die Verbannung ge‐ schickt.« Als Holmes sich entschuldigte, da er noch Mr. Clark, den Buchhalter, aufsuchen wollte, bevor sie sich gemeinsam auf den Weg zu Longfellow machten, merkte Fields, dass Lowell bedrückt war. Es war dem Dichter nicht gegeben, eine Miss‐ stimmung, gleich welcher Art, vor anderen zu verbergen. »Finden Sie nicht auch, Holmes könnte etwas mehr Begeiste‐ rung zeigen?«, fragte Lowell. »Man hätte ja meinen können, er
lese einen Nachruf«, lästerte er. Er wusste, wie empfindlich Fields hinsichtlich der Aufnahme seiner Pressenotizen war. »Und zwar seinen eigenen.« Aber Fields tat das mit einem Lachen ab. »Ach nein, er macht sich nur Sorgen wegen seines Romans. Und ob die Kritik dies‐ mal gerecht mit ihm umgehen wird. Außerdem hat er natürlich ständig hunderterlei Sachen im Kopf. Sie kennen ihn doch, Lowell.« »Aber das ist es ja! Wenn Harvard uns weiter einzu‐ schüchtern versucht ‐«, begann Lowell, dann setzte er neu an: »Ich möchte nicht, dass irgendjemand auf den Gedanken kommt, wir würden nicht bis zum Ende hinter dieser Sache stehen, Fields. Fragen Sie sich nicht auch manchmal, ob es für Wendell nicht einfach nur ein Club wie jeder andere ist?« Lowell und Holmes kreuzten gern in geistreichem Wettstreit die Klingen. Fields bemühte sich nach Kräften, sie davon abzu‐ bringen. Meist wetteiferten die beiden ohnehin nur um Auf‐ merksamkeit und Anerkennung. Vor einiger Zeit hatte Mrs. Fields nach einem Bankett berichtet, sie habe mit angehört, wie Lowell Harriet Beecher Stowe darzulegen versuchte, warum Tom Jones der beste Roman sei, der jemals geschrieben wurde, während Holmes Mrs. Stowes Mann, dem Theologieprofessor, nachwies, dass einzig die Religion für alles Fluchen auf der Welt verantwortlich sei. Der Verleger fürchtete jedoch nicht nur, dass es wieder zu ernsten Spannungen zwischen seinen beiden besten Dichtern kommen könnte; er fürchtete, Lowell könnte hartnäckig zu beweisen versuchen, dass seine Bedenken gegen Holmes zutreffend waren. Das aber konnte sich Fields ebenso wenig leisten wie Holmesʹ Besorgnis.
Um zu zeigen, wie stolz er auf Holmes war, stellte sich Fields neben eine an der Wand hängende gerahmte Daguerreotypie des kleinen Doktors. Er legte die Hand auf Lowells kräftige Schulter und sprach mit großer Aufrichtigkeit. »Ohne ihn wäre unser Dante Club ein armseliges Häuflein, mein lieber Lowell. Sicher, es gibt so manches, was ihn aus der Bahn wirft, aber ge‐ rade das hält ihn geistig rege. Für Dr. Johnson wäre er >ideales Clubmaterial< gewesen. Aber er war doch die ganze Zeit für uns da, nicht wahr? Und für Longfellow.« Dr. Augustus Manning, Kämmerer der Harvard Corporation, blieb abends länger als das restliche Harvard‐Kollegium in der University Hall. Oft wanderte sein Blick vom Schreibtisch zum dunkelnden Fenster, in dem sich verschwommen das Licht sei‐ ner Lampe spiegelte, und er dachte an die Fährnisse, die jeden Tag aufs Neue das College in seinen Grundfesten zu erschüt‐ tern drohten. Erst diesen Nachmittag hatte er auf seinem zehnminütigen Verdauungsspaziergang die Namen mehrerer Missetäter notiert. Drei Studenten hatten vor der Grays Hall gestanden und sich unterhalten. Als sie ihn kommen sahen, war es schon zu spät; er bewegte sich lautlos wie ein Phantom, selbst wenn er über dürres Laub ging. Die Studenten würden einen Verweis bekommen, weil sie sich »versammelt«, also zu mehreren auf dem Yard herumgestanden hatten. Und am Morgen, während der obligatorischen College‐ Andacht um sechs Uhr, hatte Manning Tutor Bradley auf einen Studenten aufmerksam gemacht, der in einem unter seiner Bi‐ bel versteckten Buch las. Der Betreffende, Student im zweiten
Jahr, würde zunächst persönlich ermahnt werden, wegen Le‐ sens im Gottesdienst und auch wegen des agitatorischen Cha‐ rakters des Autors, eines französischen Philosophen mit unmo‐ ralischen politischen Ansichten. Bei der nächsten Sitzung des Kollegiums würde der Verweis unter dem Namen des jungen Mannes eingetragen werden, man würde ihm eine Strafe von einigen Dollar auferlegen und ihm Punkte von seinem Konto abziehen. Jetzt überlegte Manning, wie das Dante‐Problem am besten in den Griff zu bekommen sei. Er war ein loyaler Befür‐ worter der alten Sprachen und der Altertumswissenschaften und hatte angeblich einmal ein ganzes Jahr lang sämtliche ge‐ schäftlichen und privaten Angelegenheiten auf Lateinisch ab‐ gewickelt. Manche bezweifelten dies, unter Hinweis darauf, dass seine Frau des Lateinischen nicht mächtig sei, worauf an‐ dere entgegneten, dieser Umstand beweise ja gerade, dass die Anekdote auf Wahrheit beruhe. Die lebenden Sprachen waren für die Harvard‐Fellows kaum mehr als billige Nachahmungen, unwürdige Travestien. Zumal das Italienische war, wie das Spanische und das Deutsche, lebendiger Ausdruck der unge‐ hemmten politischen Leidenschaften, körperlichen Begierden und mangelnden moralischen Prinzipien im dekadenten Euro‐ pa. Dr. Manning gedachte nicht zu dulden, dass sich das fremd‐ ländische Gift unter dem Deckmantel der Literatur einschlich. Plötzlich hörte Manning ein ungewohntes Klicken aus seinem Vorzimmer. Jedes Geräusch wäre zu dieser späten Stunde un‐ gewohnt gewesen. Mannings Sekretär war bereits nach Hause gegangen. Manning ging zur Tür und wollte die Klinke herun‐ terdrücken. Sie ließ sich nicht bewegen. Er hob den Blick und
sah eine Metallspitze, die sich durchs Türblatt bohrte, dann noch eine, eine Handbreit weiter rechts. Er riss mit aller Kraft an der Tür, immer wieder, immer stärker, bis ihm der Arm wehtat. Widerstrebend ging die Tür auf. Auf der anderen Seite stand ein Student mit einem Brett und mehreren Schrauben auf einem Schemel und versuchte kichernd, Mannings Tür zu ver‐ barrikadieren. Die Hilfstruppen des Übeltäters flohen, als sie Mannings an‐ sichtig wurden. Manning zog den Studenten von seinem Schemel. »Tutor! Tu‐ tor!« »Ist doch nur ein Ulk. Glauben Sie mir. Lassen Sie mich ge‐ hen!« Der Sechzehnjährige wirkte auf einen Schlag fünf Jahre jünger und geriet unter Mannings Marmorblick in Panik. Er schlug mehrmals nach Manning und grub dann die Zähne in seine Hand, worauf diese den Griff lockerte. Aber ein herbei‐ eilender Tutor erwischte den Studenten unter der Tür und packte ihn am Kragen. Manning näherte sich ihm mit gemessenem Schritt und kal‐ tem Blick. Er fixierte den immer kleiner und schwächer wir‐ kenden Studenten so lange, bis es sogar dem Tutor unbehaglich wurde und er etwas zu laut fragte, was er tun solle. Manning schaute auf seine Hand hinab und sah, dass an zwei Stellen zwischen den Knochen hellrotes Blut aus den Bisswunden quoll. Mannings Worte schienen nicht aus seinem Mund zu kommen, sondern direkt aus seinem steifen Bart. »Bringen Sie ihn dazu, dass er die Namen seiner Komplizen nennt, Tutor Pearce. Und stellen Sie fest, wo er Schnaps getrunken hat. Dann
übergeben Sie ihn der Polizei.« Pearce zögerte. »Der Polizei, Sir?« Der Student protestierte: »Was ist denn das für eine Gemein‐ heit, in einer College‐Sache die Polizei zu rufen!« »Sofort, Tutor Pearce!« Augustus Manning schloss die Tür seines Büros. Er achtete nicht darauf, dass er vor Wut keuchte, während er wieder sei‐ nen Platz einnahm. Er saß aufrecht da, würdevoll. Er nahm die New York Tribune wieder zur Hand, um sich auf die Dinge zu besinnen, die dringend seiner Aufmerksamkeit bedurften. Während er J. T. Fieldsʹ Notiz auf der Seite »Literarisches Bo‐ ston« las und seine Hand an der Bissstelle schmerzhaft pochte, gingen dem Schatzmeister ungefähr die folgenden Gedanken durch den Kopf: Fields hält sich in seiner neuen Festung für unbesiegbar ... Dieselbe Arroganz, die Lowell stolz zur Schau trägt wie einen Mantel ... Longfellow ist nach wie vor unantast‐ bar. Mr. Greene, ein Fossil, seit langem geistig paralysiert ... Aber Dr. Holmes ... Der Autokrat provoziert Streitigkeiten nur aus Angst, nicht aus Prinzip ... Die Panik des kleinen Doktors, als er vor so vielen Jahren gesehen hatte, was mit Professor Webster geschah ‐ nicht einmal so sehr die Verurteilung wegen Mordes oder der Henker, sondern der Verlust seiner gesell‐ schaftlichen Stellung, die er durch den guten Namen, durch seine Bildung und seine Laufbahn als Harvard‐Mann erworben hatte ...Ja, Holmes: Dr. Holmes soll sich als unser stärkster Verbün‐ deter erweisen.
II Auf Befehl des Polizeichefs trieben Polizisten überall in Boston die ganze Nacht hindurch »Verdächtige« halbdutzendweise zusammen. Jeder Beamte beäugte bei der Registrierung auf der Hauptwache den Fang seiner Kollegen, für den Fall, dass seine eigene Ausbeute als minderwertig eingestuft wurde. Beamte in Zivil, die den Uniformierten aus dem Weg gingen, kamen aus den Katakomben ‐ dem unterirdischen Zellentrakt ‐ herauf und berieten sich in halblauten Kürzeln und angedeuteten Gesten. Das Kriminaldezernat in Boston war nach europäischem Vor‐ bild gegründet worden, mit dem Ziel, genaue Kenntnis vom Tun und Treiben der Kriminellen zu gewinnen, und aus diesem Grunde waren die meisten Kriminalbeamten selbst ehemalige Gesetzesbrecher. Allerdings waren sie kaum in subtilen Ver‐ hörmethoden geschult, weshalb sie auf ihre alten Tricks (vor‐ zugsweise Erpressung, Einschüchterung und fingierte Beweise) zurückgriffen, um einen Anteil an den Verhaftungen zu erzie‐ len, der ihre Gehälter rechtfertigte. Kurtz hatte dafür gesorgt, dass sowohl die Ermittler als auch die Zeitungsleute davon ausgingen, das Mordopfer sei ein gewisser John Smith. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, dass seine Beamten versucht hätten, aus dem Kummer der wohlhabenden Healeys Profit zu schla‐ gen, indem sie gemeinsame Sache mit den Presseleuten mach‐ ten. Manche der aufgegriffenen Subjekte sangen ordinäre Lieder oder hielten sich die Hände vors Gesicht. Andere überschütte‐
ten die Polizisten, die sie festgenommen hatten, mit Flüchen und Drohungen. Ein paar saßen zusammengedrängt auf den Holzbänken, die auf einer Seite des Raumes die Wand säumten. Gauner und Verbrecher jeder Art waren vertreten, von den Straßenräubern der kriminellen Elite ‐ bis hinunter zu den Ein‐ brechern, den gewöhnlichen Langfingern und den Eckenste‐ hern mit ihren flotten Mützen, die Passanten in dunkle Gäss‐ chen lockten, wo dann ihre Spießgesellen den Rest erledigten. Käsige irische Straßenjungen knieten auf der Zuschauergalerie und bewarfen die Menge zwischen den Geländerpfosten hin‐ durch mit Erdnüssen aus fettigen Papiertüten. »Hast du mitgekriegt, ob irgendwer damit geprahlt hat, dass er einen Mann abmurksen wird? Hör mir gefälligst zu!« »Wo hast du die goldene Uhrkette her, Freundchen? Und das sei‐ dene Taschentuch?« »Was hast du mit dem Schlagstock vorgehabt?« »Na, spuckʹs aus. Schon mal probiert, einen umzubringen, weil du wissen wolltest, wie das ist?« Beamte mit geröteten Gesichtern schrien diese Fragen. Dann fing Kurtz an, detailliert zu schildern, wie Healey zu Tode ge‐ kommen war, wobei er es sorgsam vermied, die Identität des Opfers preiszugeben, doch er wurde schon bald unterbrochen. »He, Chef.« Ein großer schwarzer Primitivling räusperte sich anzüglich und grinste unverschämt, die Glotzaugen auf eine Ecke des Raums gerichtet. »He, Chef. Was ist mit dem neuen schwarzen Schnüffler? Wo hat er denn seine Uniform? Stellt ihr neuerdings Nigger‐Detektive ein? Kann ich mir nich vorstellen. Oder darf ich mich auch bewerben?«
Gelächter erhob sich, und Nicholas Rey reckte den Kopf. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er an der Befragung nicht beteiligt war und dass er Zivilkleidung trug. »Entschuldige, Kamerad, aber das ist kein Schwarzer«, misch‐ te sich ein Mann ein, der proper gekleidet und dünn wie eine Bohnenstange war, und trat vor, um Rey mit Kennerblick zu taxieren. »Ich würde sagen, er ist ein Halbblut, noch dazu ein Prachtexemplar. Mutter Sklavin, Vater Plantagenarbeiter. Hab ich nicht Recht, mein Freund?« Rey trat näher an die Reihe. »Wie wärʹs, wenn Sie die Fragen des Polizeichefs beantworten würden, Sir? Wir wollen uns doch gegenseitig helfen, wo wir können.« »Schön gesagt, Lilienweiß.« Der Magere hielt nachdenklich einen Finger an seinen schütteren Schnauzer, dessen nach un‐ ten gebogenen Enden seinen Mund einklammerten und den Beginn eines Bartes anzudeuten schienen, dann aber knapp ü‐ ber dem Kinn aufhörten. Kurtz stieß mit seinem Gummiknüppel nach der Brillantnadel über Langdon Peaslees Brustbein. »Willst du mich ärgern, Peas‐ lee?« »Vorsicht, Mann.« Peaslee, der König der Bostoner Tresorkna‐ cker, staubte seine Weste ab. »Das gute Stück ist achthundert Dollar wert. Ehrlich erworben!« Alles lachte, sogar die Kriminalbeamten. Kurtz hatte keine Lust, sich über Langdon Peaslee aufzuregen, jedenfalls nicht an diesem Tag. »Ich hab was läuten hören, dass du dabei warst, wie letzten Sonntag in der Commercial Street gleich reihenwei‐ se Tresore aufgebrochen worden sind«, sagte Kurtz. »Ich behal‐
te dich hier, wegen Nichteinhaltung der Sonntagsruhe, dann kannst du unten in den Katakomben übernachten, zusammen mit dem anderen Diebsgesindel!« Willard Burndy, der ein paar Meter entfernt in der Reihe stand, lachte schallend. »Eins kann ich Ihnen zu diesem Punkt sagen, Verehrtester«, sagte Peaslee mit theatralisch gehobener Stimme, um im ganzen Raum gehört zu werden (einschließlich der schlagartig ver‐ stummten Galerie). »Unser Freund Mr. Burndy da drüben hat den Bruch in der Commercial Street bestimmt nicht durchgezo‐ gen. Oder haben die Panzerschränke einem Verein alter Fräu‐ leins gehört?« Burndy riss seine geröteten Augen weit auf, stieß Männer bei‐ seite, die ihm im Weg standen, wühlte sich zu Langdon Peaslee durch und löste damit fast eine Keilerei unter den ruppigeren Ganoven aus, während die zerlumpten Gassenjungen auf der Galerie johlten und Obszönitäten brüllten. Das Spektakel war genauso spannend wie die verbotenen Rattenkämpfe, die in den Kellern am Nordende der Stadt abgehalten wurden, und die kosteten fünfundzwanzig Cent pro Nase. Während Polizisten Burndy zur Raison brachten, wurde ein verwirrt wirkender Mann aus der Reihe gestoßen. Er taumelte bedenklich, und Nicholas Rey fing ihn auf, bevor er stürzte. Er war schlank, seine dunklen Augen waren schön, aber müde und blickten wehmütig. Der Unbekannte hatte ein lückenhaftes Gebiss mit fauligen Zähnen und stieß ein Zischen aus. Sein A‐ tem roch nach billigem Rum. Dass seine Kleider mit faulen Ei‐ ern verschmiert waren, hatte er entweder nicht bemerkt, oder
es war ihm egal. Kurtz schritt die neu aufgestellte Ganovenreihe ab und nahm seine Schilderung wieder auf. Er berichtete von dem Toten, der nackt auf einem Feld nicht weit vom Flussufer gefunden wor‐ den war, überwimmelt von Fliegen, Wespen und Maden, die sich in seine Haut fraßen und in seinem Blut schwammen. Einer der hier Anwesenden, so teilte Kurtz mit, habe den Mann mit einem Schlag auf den Kopf getötet, ihn dorthin getragen und den Unbilden der Natur überlassen. Und er erwähnte noch ei‐ nen weiteren merkwürdigen Umstand: Eine Fahne, weiß und zerschlissen, war über dem Leichnam aufgepflanzt worden. Rey stellte seinen verstörten Schützling wieder auf die Beine. Nase und Mund des Mannes waren gerötet und so stark ausge‐ bildet, dass sie den schütteren Bart in den Hintergrund dräng‐ ten. Er lahmte auf einem Bein, ein Andenken an einen lange zurückliegenden Unfall oder eine Prügelei. Seine übergroßen Hände gestikulierten wild. Der Mann zitterte immer mehr, während der Polizeichef ein Detail nach dem anderen schilder‐ te. Der stellvertretende Polizeichef Savage sagte: »Ach, der! Wer hat denn den angeschleppt? Wissen Sieʹs, Rey? Er wollte vorhin seinen Namen nicht sagen, als alle Neuen für das Verbrecher‐ album fotografiert wurden. Schweigsam wie eine ägyptische Sphinx!« Der Papierkragen der Sphinx verschwand fast völlig unter dem schlampigen schwarzen Halstuch, das locker nach einer Seite hing. Er starrte ins Leere, und seine Riesenhände be‐ schrieben konzentrische Kreise in der Luft. »Soll das eine Zeichnung werden?«, scherzte Savage.
Die Hände skizzierten tatsächlich etwas ‐ eine Art Karte, und die hätte der Polizei in den kommenden Wochen unschätzbare Dienste geleistet, wenn die Männer gewusst hätten, wonach sie suchen sollten. Dieser Fremde war seit langem innig vertraut mit dem Schauplatz von Healeys Ermordung, allerdings nicht mit den reich getäfelten Salons von Beacon Hill. Nein, der Plan, den der Mann skizzierte, zeigte überhaupt keinen irdischen Ort, sondern ein düsteres Vorzimmer zu einer anderen Welt. Denn dort ‐ das begriff der Mann jetzt, als das Bild von Artemus Healeys Tod langsam in sein Bewusstsein trat und mit jeder Einzelheit deutlicher wurde ‐, ja, dort war die Strafe vollstreckt worden. »Ich glaube, der ist taubstumm«, flüsterte Savage Rey zu, nachdem er sich durch Gesten nicht hatte verständlich ma‐ chen können. »Und außerdem voll bis obenhin, seiner Fahne nach zu urteilen. Ich besorge ihm ein Käsebrot. Behalten Sie diesen Burndy im Auge, Rey, ja?« Er wies mit dem Kinn auf den Ruhestörer, der sich jetzt mit den gefesselten Händen die geröteten Augen rieb, fasziniert von Kurtzʹ grotesken Beschrei‐ bungen. Savage löste den zitternden Mann sachte aus Reys Griff und ging mit ihm durch den Raum. Aber der Mann bebte am ganzen Leib und heulte, und auf einmal stieß er den stell‐ vertretenden Polizeichef scheinbar mühelos von sich, sodass dieser kopfüber auf eine Bank krachte. Mit einem Satz war der Mann hinter Rey, umklammerte mit dem linken Arm Reys Hals, hakte die Finger in Reys rechte Achselhöhle, schlug ihm mit der anderen Hand den Hut vom Kopf und schaute ihm in die Augen, wozu er Reys Kopf zu sich herumdrehte, sodass das Ohr des Polizisten im Dunst seiner
Lippen gefangen war. Das Flüstern des Mannes war so leise, so verzweifelt und heiser, so vertraulich, dass außer Rey niemand auch nur ein Wort verstand. Unter dem Gesindel brach ein fröhliches Chaos aus. Plötzlich ließ der Fremde Rey los und packte eine geriffelte Säule. Er schwang sich mit aller Kraft einmal im Kreis herum und kata‐ pultierte sich vorwärts. Rey war noch ganz benommen von den unverständlich gezischten Worten, einer sinnlosen Lautfolge, so eindringlich und verwirrend, dass er eine geheime Bedeutung dahinter vermuten musste. Dinansi. Rey versuchte sich zu erin‐ nern, das Flüstern noch einmal zu hören, und hatte zugleich Mühe (etterne etterno, etterne etterno), nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während er dem Flüchtenden nachsetzte. Aber der Fremde hatte sich mit solcher Wucht abgestoßen, dass er sich, auch wenn er es gewollt hätte, selbst nicht mehr hätte aufhalten können in diesem letzten Augenblick seines Lebens. Er krachte durch die dicke Scheibe eines Erkerfensters. Eine Glasscherbe von der Form eines Sensenblatts wirbelte in einem fast anmuti‐ gen Tanz durch die Luft, verfing sich in dem schwarzen Hals‐ tuch und durchschnitt glatt die Kehle des Mannes, sodass sein Kopf schlaff baumelte, als der Körper ins Freie gelangte. In‐ mitten des Scherbenregens stürzte er in den Hof hinab. Plötz‐ lich war alles still. Glassplitter, so fein wie Schneeflocken, knirschten unter Reys schweren Schuhen, als er ans Fenster trat und hinunterschaute. Der Körper lag ausgebreitet auf einer di‐ cken Schicht Herbstlaub, und die noch im Fensterrahmen ste‐ ckenden Scherben bildeten einen gezackten Rahmen, der den Körper und sein Laubbett in ein Kaleidoskop von Gelb,
Schwarz und grellem Rot zerschnitt. Die zerlumpten Gassen‐ jungen, die als Erste im Hof unten waren, hüpften johlend und mit dem Finger zeigend um den zerschmetterten Leichnam herum. Rey vermochte sich auf dem Weg nach unten nicht den schon verblassenden Worten zu entziehen, die der Mann ihm, aus welchem Grund auch immer, Sekunden vor seinem Todes‐ sturz anvertraut hatte. James Lowell Russell fühlte sich ganz wie Sir Launfal, der gral‐ suchende Held seines populärsten Gedichts, als er durch das eiserne Portal des Harvard Yard galoppierte. Und vielleicht hätte der Dichter ja in der Tat ein wenig den edlen Ritter auf seinem weißen Ross verkörpert, wäre da nicht sein absonderli‐ cher Bart gewesen: Er trug ihn eine Handbreit unter dem Kinn zum Rechteck gestutzt, den Schnurrbart hingegen ließ er wach‐ sen, sodass die Spitzen viel weiter herabhingen. Manche von denen, die ihm übel wollten, aber auch viele Freunde sagten hinter vorgehaltener Hand, dass dies wohl nicht die kleidsam‐ ste Wahl für sein ansonsten so kühnes Antlitz sei. Lowell war jedoch der Ansicht, einen Bart müsse man sich stehen lassen, sonst hätte der Herrgott ihn dem Manne nicht gegeben, äußerte sich aber nie darüber, ob dieser spezielle Stil theologisch gebo‐ ten sei. Seinem imaginären Rittertum hing er neuerdings mit noch größerer Leidenschaft an, da der Yard sich zu einer zu‐ nehmend feindseligen Zitadelle entwickelte. Einige Wochen zuvor hatte die Corporation Professor Lowell zu überreden versucht, einer vorgeschlagenen Reform zuzustimmen, die zwar viele der Hindernisse aus dem Weg geräumt hätte, mit
denen sich seine Fakultät konfrontiert sah (beispielsweise, dass die Studenten für neue Fremdsprachen nur halb so viele Punkte bekamen wie für alte), andererseits aber die fatale Folge gehabt hätte, dass er sich all seine Vorlesungen von der Corporation hätte genehmigen lassen müssen. Lowell hatte das Angebot entrüstet abgelehnt. Wenn die ihre Reform verwirklichen woll‐ ten, würden sie sie im Aufsichtsrat der Universität, dieser zwanzigköpfigen Hydra, durchbringen müssen. Eines Nachmittags dann gab ihm der Präsident einen Rat, der ihm die Augen öffnete: Die Forderung des Aufsichtsrats nach Genehmigung sämtlicher Vorlesungen war nur vorgeschoben gewesen. »Lowell, streichen Sie wenigstens Ihr Dante‐Seminar, dann wird Manning Ihnen bestimmt entgegenkommen.« Dabei hatte der Präsident Lowell vertraulich am Ellbogen gefasst. Lowell kniff die Augen zusammen. »Da liegt also der Hund begraben. Einzig und allein darum gehtʹs den Herrschaften!« Erbost dreh‐ te er sich um. »Durch solche Machenschaften kriegen die mich nicht klein! Sie haben schon Ticknor vertrieben. Und bei Gott, sie haben es sogar geschafft, dass Longfellow ihnen gram ist. Ich finde, jeder, der auch nur einen Funken Selbstachtung besitzt, sollte seine Stimme gegen sie erheben, ach, was sage ich, jeder, der noch nicht sein Diplom in der Kunst der Erpressung abge‐ legt hat.« »Ich fürchte, Sie halten mich für einen Banausen, Professor Lo‐ well, aber ich habe genauso wenig Einfluss auf die Corporation wie Sie. Meist ist es, als würde man gegen eine Wand reden. Leider bin ich nun mal nur der Präsident dieses Colleges.« Er
lachte in sich hinein. In der Tat, Thomas Hill war nur der Präsi‐ dent von Harvard, noch dazu ein neuer ‐ der dritte innerhalb von zehn Jahren, ein Umstand, der dazu geführt hatte, dass die Mitglieder der Corporation viel mächtiger waren als er. »Aber sie sind überzeugt, dass Dante nichts im Lehrplan Ihrer Fakul‐ tät zu suchen hat ‐ so viel steht fest. Man wird ein Exempel sta‐ tuieren, Lowell. Manning wird ein Exempel statuieren!«, sagte er warnend und packte Lowell erneut am Arm, als müsste er den Dichter im nächsten Moment vor einem Angriff retten. Lowell sagte, er werde es nicht dulden, dass die Fellows der Corporation ein Urteil über eine Literatur fällten, über die sie nichts wüssten. Und Hill versuchte nicht einmal, ihm da zu wi‐ dersprechen. Harvard‐Fellows verstanden aus Prinzip nichts von lebenden Sprachen. Als Lowell das nächste Mal mit Hill sprach, war der Präsident mit einem blauen Zettel bewaffnet, auf dem handschriftlich das Zitat eines kürzlich verstorbenen britischen Dichters von eini‐ gem Ansehen zum Thema Göttliche Komödie stand. »>Welch ein Hass auf die ganze Menschheit! Welche Freude, welches Ergötzen an ewigen, nie zu lindernden Qualen! Wir halten uns beim Lesen die Nase, die Ohren zu. Wann hätte man jemals von solch schrecklichen Dingen gelesen: nichts als Gestank und Dreck, Exkremente, Blut, verstümmelte Körper, qualvolle Schreie, rächende mythische Ungeheuer! Ich kann nicht umhin, dieses Machwerk für das unmoralischste und gottloseste Buch zu halten, das jemals geschrieben wurde.<« Hill lächelte voller Ge‐ nugtuung, als stammten die Worte von ihm selbst. Lowell lach‐ te. »Seit wann herrscht England über unsere Bücherregale? Wa‐
rum haben wir nicht einfach Lexington den Rotröcken überge‐ ben und General Washington die Mühen des Krieges erspart?« Lowell meinte etwas in Hills Augen zu sehen, ein Aufblitzen, das er von seinen Studenten kannte und das ihn glauben ließ, der Präsident könne ihn verstehen. »Erst wenn Amerika gelernt hat, die Literatur nicht nur als Zeitvertreib zu lieben, als bloßen Stoff zum Auswendiglernen in der Schule, sondern wegen ihrer humanisierenden, adelnden Kraft, mein lieber Präsident, wird es in dem hohen Sinne Erfolg haben, der allein aus einem Volk eine Nation macht. In dem Sinne, der es von einem toten Na‐ men zu einer lebenden Macht erhebt.« Hill hatte Mühe, sich nicht von seinem Ziel abbringen zu lassen. »Diese Idee einer Reise durch das Jenseits, einer Beschreibung der Höllenstrafen — das ist einfach zu harsch, Lowell. Und ein solches Werk trägt auch noch den unpassenden Titel >Komödie
nennt sein Werk eine commedia, werter Herr Präsident, weil es in ländlichem Italienisch statt in Latein geschrieben ist und weil es im Gegensatz zur tragedia glücklich endet ‐ der Dichter steigt in den Himmel auf. Anstatt zu versuchen, ein großes Gedicht aus Fremdem und Künstlichem anzufertigen, lässt er das Ge‐ dicht aus seiner Person heraus entstehen.« Lowell bemerkte zu seiner Freude, dass der Präsident außer sich war. »Um Himmels willen, Professor, finden Sie denn nicht, dass jemand abgrundtief böse sein muss, um all jene, die bestimmte Sünden auf sich laden, erbarmungslosen Folterqualen auszuset‐ zen? Stellen Sie sich vor, ein Mann, der heute im öffentlichen Leben steht, würde darüber schreiben, in welchem Teil der Höl‐ le seine Feinde einst schmoren werden!« »Werter Herr Präsident, ich stelle mir das vor, noch während wir darüber sprechen. Und täuschen Sie sich nicht. Dante schickt auch seine Freunde dort hinunter. Das können Sie Au‐ gustus Manning erzählen. Erbarmen ohne Strenge wäre feiger Egoismus, bloße Rührseligkeit.« Die Mitglieder der Harvard Corporation, der Präsident und sechs gottesfürchtige Geschäftsleute von außerhalb des Col‐ leges, hielten standhaft an den überkommenen Studienplänen fest ‐ Griechisch, Latein, Hebräisch, alte Geschichte, Mathema‐ tik und Naturwissenschaften ‐ und dementsprechend auch an dem daraus folgenden Beschluss, dass die minderwertigen neuen Sprachen und ihre Literaturen Beiwerk bleiben würden, Fächer, mit denen sich die Vorlesungsverzeichnisse aufblähen ließen. Longfellow hatte nach dem Weggang von Professor Ticknor einige Neuerungen eingeführt. Unter anderem hatte er
ein Dante‐Seminar durchgesetzt und einen italienischen Exilan‐ ten namens Pietro Bachi als Italienisch‐Dozenten engagiert. Sein Dante‐Seminar war stets das unbeliebteste ‐ zu wenige interes‐ sierten sich für das Thema und für die Sprache. Trotzdem er‐ freute ihn der Eifer der wenigen, die diesen Kurs absolvierten. Einer der Eifrigen war James Russell Lowell. Nachdem Lowell zehn Jahre lang Sträuße mit der Verwaltung ausgefochten hatte, stand nun ein Ereignis bevor, dem er entge‐ gengefiebert hatte und für das die Zeit reif war: die Entdeckung Dantes in Amerika. Aber nicht nur die Universität leistete eben‐ so rasch wie entschieden Widerstand, auch aus den eigenen Reihen erwuchs dem Dante Club ein Hindernis: in Gestalt von Holmes und seiner Unentschiedenheit. Lowell unternahm hin und wieder Spaziergänge in Cam‐ bridge mit Holmesʹ ältestem Sohn, Oliver Wendell Holmes ju‐ nior. Zweimal die Woche kam der Student aus dem Gebäude der Dane Law School, wenn Lowell gerade mit seiner Vorle‐ sung in der University Hall fertig war. Holmes konnte das Glück, einen Sohn zu haben, nicht schätzen, weil er es so weit gebracht hatte, dass sein Sohn ihn hasste. Wenn er dem Junior doch nur zugehört hätte, statt ihn immer nur zum Reden zu a‐ nimieren. Lowell hatte den jungen Mann einmal gefragt, ob Dr. Holmes zu Hause jemals vom Dante Club spreche. »Aber ge‐ wiss, Mr. Lowell«, sagte der gut aussehende und hoch gewach‐ sene Junior grinsend, »und vom Atlantic Club und vom Union Club und vom Saturday Club und vom Scientific Club und von der Historical Association der Medical Society ...« Phineas Jennison, einer der reichsten neuen Geschäftsleute
Bostons, hatte jüngst bei einem Abendessen im Saturday Club im Parker House neben Lowell gesessen, der von alldem recht bedrückt war. »Harvard setzt Ihnen wieder zu«, sagte Jennison. Lowell war verblüfft, dass man ihm seine Stimmung so ohne weiteres vom Gesicht ablesen konnte. »Kein Grund, so zu er‐ schrecken, lieber Freund«, sagte Jennison und lachte, dass das tiefe Grübchen in seinem Kinn wackelte. Jennisons nahe Ver‐ wandte sagten, sein flachsgoldenes Haar und sein königliches Grübchen hätten ihm schon als Knaben ein riesiges Vermögen verheißen, obwohl es genau genommen eher ein königsmörderi‐ sches Grübchen war, denn er hatte es angeblich von einem Ur‐ ahnen geerbt, der König Charles I. enthauptet hatte. »Ich habe neulich mit den Corporation‐Fellows gesprochen. Sie wissen ja, in Boston oder Cambridge geschieht nichts, was mir nicht zu Ohren kommt.« »Bauen Sie uns noch eine Bibliothek?«, fragte Lowell. »Die Fellows stecken sowieso gerade in einer hitzigen Debatte über Ihre Fakultät. Sie wirkten fest entschlossen. Ich will mich natürlich nicht in Ihre Angelegenheiten einmischen, nur ‐« »Unter uns gesagt, mein lieber Jennison, sie wollen mir das Dante‐Seminar abnehmen«, unterbrach ihn Lowell. »Ich fürchte bisweilen, sie sind bereits genauso unerschütterlich ge‐ gen Dante eingenommen wie ich für ihn. Sie haben mir sogar angeboten, die Einschreibungszahlen bei meinen Vorlesungen zu erhöhen, wenn ich mir von ihnen meine Themen vorschrei‐ ben lasse.« Jennison blickte besorgt. »Ich habe natürlich abgelehnt«, sagte Lowell. Jennison strahl‐ te. »Wirklich?« Sie wurden von mehreren Trinksprüchen unterbrochen, dar‐
unter, am meisten bejubelt, ein Stegreifgedicht, das die Zecher lauthals von Holmes gefordert hatten. Flink wie stets, schüttelte Holmes einen ebenso witzigen wie schlichten Zweizeiler aus dem Ärmel. Istʹs allzu glatt, so haftet schwerlich das Gedicht. Zum Rückenkratzen taugt die Billardkugel nicht. »Solche Reimereien würden jedem anderen Dichter Kopf und Kragen kosten«, sagte Lowell mit einem anerkennenden Grin‐ sen. Sein Blick verdunkelte sich immer mehr. »Manchmal glau‐ be ich, ich bin nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem Profes‐ soren gemacht werden, Jennison. Das hat seine Vorteile, aber auch einige Nachteile. Ich bin zu empfindlich und traue mir nicht genug zu ‐ körperlich, meine ich. Ich fürchte, das alles übersteigt meine Kräfte.« Er hielt inne. »Und wie sollte man auch nach so vielen Jahren auf dem Professorenstuhl noch emp‐ fänglich für die Welt sein? Was muss ein Handelsherr wie Sie von solch einer armseligen Existenz denken?« »Unsinn, mein lieber Lowell!« Jennison schien des Themas müde zu sein, doch gleich darauf erwachte sein Interesse von neuem. »Sie haben eine größere Verantwortung vor der Welt und sich selbst als jeder bloße Zuschauer! Was soll diese Ver‐ zagtheit! Ich würde Dante niemals verstehen, und wenn mein Seelenheil davon abhinge. Aber ein Genie von Ihren Gnaden, mein lieber Freund, übernimmt eine göttliche Verantwortung, für alle zu kämpfen, die aus der Welt verbannt sind.« Lowell murmelte etwas Unverständliches, aber zweifellos
Selbstkritisches. »Aber, mein lieber Lowell«, sagte Jennison. »Waren nicht Sie es, der den Saturday Club überzeugte, dass ein biederer Kauf‐ mann würdig ist, mit solch Unsterblichen wie Ihren Freunden an einem Tisch zu sitzen?« »Hätte man Sie denn noch zurückweisen können, nachdem Sie angeboten hatten, das Parker House zu kaufen?« Lowell lachte. »Sie hätten mich zurückweisen können, wenn ich nicht weiter darum gekämpft hätte, zu den großen Männern zu gehören. Um aus meinem Lieblingsgedicht zu zitieren: >Und was zu träumen, gar zu tun sie wagen.< Ach, ist das gut!« Lowell musste lachen bei der Vorstellung, dass sich jemand ausgerechnet von seiner Dichtung inspirieren ließ, doch eben dies war hier der Fall. Warum auch nicht? Der Prüfstein für Dichtung war seiner Meinung nach, dass sie in einem einzigen Vers eine philosophische Idee auszudrücken vermochte, die allen Menschen vage im Kopf herumging und sie damit erst fassbar, handlich und verwertbar machte. Jetzt, auf dem Weg zu einer weiteren Vorlesung, gähnte er schon bei dem Gedanken, einen Saal voller Studenten betreten zu müssen, die noch glaubten, alles über ein bestimmtes Thema lernen zu können. Er band sein Pferd an der alten Wasserpumpe vor Hollis Hall an. »Schlag ordentlich aus, wenn sie dir auf die Pelle rücken wollen, alter Junge«, sagte er und zündete sich eine Zigarre an. Pferde und Zigarren standen im Harvard Yard auf dem Index. Ein Mann lehnte müßig an einer Ulme. Er trug eine hellgelb ka‐
rierte Weste, und sein Gesicht war hager oder, besser gesagt, verlebt. Trotz seiner schiefen Haltung überragte er den Dichter. Er war zu alt für einen Studenten und zu schäbig für einen Do‐ zenten und sah Lowell mit dem vertrauten, unersättlichen Blick des bewundernden Literaturliebhabers an. Ruhm bedeutete Lowell nicht viel, aber es war ihm nicht un‐ angenehm, dass seine Freunde in seinen Schriften das eine oder andere fanden, was ihnen gefiel, und dass Mabel stolz sein würde, seine Tochter zu sein, wenn er einmal nicht mehr war. Im Übrigen hielt er sich selbst für teres atque rotundus: einen Mi‐ krokosmos für sich, Autor, Publikum, Kritik und Nachwelt in einem. Trotzdem schmeichelte ihm der Beifall von Männern und Frauen auf der Straße. Manchmal, wenn er durch Cam‐ bridge schlenderte, war sein Herz so voller Sehnsucht, dass schon ein gleichgültiger Blick, selbst von einem wildfremden Menschen, ihm die Tränen in die Augen trieb. Nicht minder schmerzlich war allerdings die Begegnung mit dem verschleier‐ ten, benommenen Blick des Erkennens. Dann fühlte er sich ganz und gar unsichtbar und von allem getrennt: Dichter Lowell, Geistererscheinung. Der Müßiggänger mit der gelben Weste tippte sich an die Krempe seines schwarzen Bowlers, als Lowell vorbeiging. Der Dichter neigte verwirrt den Kopf und spürte ein Prickeln auf seinen Wangen. Er hastete über den Campus, der Pflicht des Tages entgegen, und merkte nicht, wie seltsam eindringlich der Mann ihm nachschaute. Dr. Holmes betrat im Sturmschritt das steil ansteigende Audito‐ rium. Lautes Getrampel der Studenten, die schon Stift und
Block gezückt hatten und deshalb nicht die Hände benutzen konnten, begrüßte ihn. Es folgten Hurrarufe der Rowdys (Hol‐ mes nannte sie seine jungen Barbaren) auf den obersten Rän‐ gen, auch der Berg genannt (als handelte es sich um die Ver‐ sammlung der Französischen Revolution). Hier rekonstruierte Holmes in jedem Semester den menschlichen Körper von innen nach außen. Hier saßen viermal wöchentlich fünfzig Jünger und lauschten andächtig seinen Worten. Wenn er so vor seinen Studenten stand, kam es ihm vor, als sei er zwölf Fuß groß und nicht wie in Wahrheit fünfeinhalb (und auch das nur in beson‐ ders soliden Schuhen, gefertigt vom besten Schuhmachermei‐ ster Bostons). Oliver Wendell Holmes konnte es sich als einzi‐ ges Mitglied des Lehrkörpers leisten, eine Vorlesung um ein Uhr mittags zu halten, wenn Hunger und Erschöpfung sich mit der narkotisierenden Luft des zweigeschossigen Backsteinka‐ stens an der North Grove verbanden. Neidische Kollegen mein‐ ten, sein literarischer Ruhm nehme die Studenten derart für ihn ein. Tatsächlich kamen die meisten der jungen Männer, die sich anstelle von Jura und Theologie für die Medizin entschieden, vom Lande, und wenn sie jemals vor dem Studienbeginn mit echter Literatur in Berührung gekommen waren, dann höch‐ stens mit dem einen oder anderen Gedicht von Longfellow. Die Kunde von Holmesʹ literarischer Bedeutung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Jemand erstand ein Exemplar von The Auto‐ crat of the Breakfast Table und brachte es in Umlauf, indem er den einen oder anderen Kommilitonen ungläubig ansah und aus‐ rief: »Was, du hast den Autocrat nicht gelesen?« Trotzdem kannten die meisten Studenten seine Werke nur vom Hörensa‐
gen. »Heute«, sagte Holmes, »wollen wir mit einem Thema begin‐ nen, mit dem Sie alle, wie ich annehme, noch gar nicht vertraut sind, meine jungen Herren.« Er zog ein sauberes weißes Tuch fort, das einen weiblichen Leichnam verhüllte, und gebot mit erhobenen Händen dem Tumult Einhalt, der sich augenblick‐ lich erhob. »Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf! Respekt vor der Menschheit und vor Gottes heiligstem Werk, meine Herren!« Holmes verlor sich zu sehr im Meer der gespannten Gesichter, um den Eindringling inmitten seiner Studenten zu bemerken. »Ja, der weibliche Körper soll am Beginn der heuti‐ gen Vorlesung stehen«, fuhr Holmes fort. Ein schüchterner junger Mann in der ersten Reihe, Alvah Smith, eines der wenigen intelligenten Gesichter, an die der Professor naturgemäß seine Ausführungen richtete, wurde über und über rot, und seine Nachbarn neckten ihn deswegen. Hol‐ mes bemerkte es. »Bei dem Kommilitonen Smith sehen wir die inhibitorische Wirkung der vasomotorischen Nerven auf die Arteriolen, die sich plötzlich entspannen und die Oberflächen‐ kapillaren mit Blut füllen ‐ dieselbe erfreuliche Erscheinung, die manche von Ihnen vielleicht auf den Wangen der jungen Per‐ son beobachten werden, mit der Sie sich heute Abend treffen wollen.« Smith lachte mit den anderen mit. Aber Holmes hörte auch je‐ manden losprusten, dessen Stimme vom Alter brüchig klang. Er hob den Blick und erspähte den Reverend Dr. Putnam, einen der minderen Herrscher der Harvard Corporation. Die Fellows der Corporation bildeten zwar das höchste Aufsichtsgremium,
hätten sich aber nie dazu herabgelassen, einer Vorlesung an ihrer eigenen Universität beizuwohnen; von Cambridge ins medizinische Institut zu fahren, das wegen der Nähe zu den Kliniken am jenseitigen Flussufer in Boston lag, wäre den mei‐ sten Administratoren als Zumutung erschienen. »Doch nun«, sagte Holmes zerstreut und setzte seine Instru‐ mente an der Leiche an, »wollen wir uns in unser heutiges Thema vertiefen.« Als die Vorlesung zu Ende war und die Barbaren rempelnd hinausdrängten, führte Holmes den Reverend Dr. Putnam in sein Büro. »Sie, mein lieber Dr. Holmes, repräsentieren den Goldstan‐ dard amerikanischer Geisteswissenschaft. Kein anderer hat sich so entschlossen auf so vielen Gebieten an die Spitze vorgearbei‐ tet. Ihr Name ist zum Inbegriff für Gelehrsamkeit und Schrift‐ stellerkunst geworden. Erst gestern berichtete mir ein Gentle‐ man aus England, welche Hochachtung man im Mutterland für Sie hegt.« Holmes lächelte selbstvergessen. »Was hat er gesagt? Was hat er gesagt, Reverend Putnam? Sie wissen ja, mir kann es nicht dick genug aufgetragen sein.« Putnam runzelte die Stirn wegen der Unterbrechung. »Trotz alledem macht sich Augustus Manning zunehmend Sorgen wegen einiger Ihrer literarischen Aktivitäten, Dr. Holmes.« Holmes war überrascht. »Sie meinen, wegen Longfellows Dan‐ te‐Arbeit? Longfellow ist der Übersetzer. Ich bin nur einer sei‐ ner Gehilfen, sozusagen. Warten Sie doch erst einmal ab und lesen Sie das Werk; es wird Ihnen sicher gefallen.« »James Rus‐ sell Lowell. J. T. Fields. George Greene. Dr. Oliver Wendell
Holmes. Eine illustre Versammlung von >Gehilfen<, nicht wahr?« Holmes ärgerte sich. Er hatte den Club nicht für einen Gegen‐ stand des öffentlichen Interesses gehalten, und er sprach nicht gern mit Außenseitern darüber. Der Dante Club war eine der wenigen Aktivitäten, mit denen er nicht im Licht der Öffent‐ lichkeit stand. »Ach, werfen Sie einen Stein in Cambridge, und Sie treffen bestimmt eine Leuchte der Wissenschaft, mein lieber Putnam.« Putnam verschränkte die Arme und wartete. Holmes machte eine unbestimmte Handbewegung. »Um diese Dinge kümmert sich Mr. Fields.« »Ich bitte Sie, befreien Sie sich von dieser heik‐ len Verbindung«, sagte Putnam todernst. »Bringen Sie Ihre Freunde zur Vernunft. Professor Lowell beispielsweise hat sich nur ...« »Wenn Sie auf der Suche nach jemandem sind, auf den Lowell hört«, unterbrach ihn Holmes lachend, »dann sind Sie an den Falschen geraten.« »Holmes«, sagte Putnam freundlich, »ich bin in erster Linie gekommen, um Sie zu warnen, weil ich einen Freund in Ihnen sehe. Wenn Dr. Manning wüsste, dass ich so mit Ihnen spreche, würde er ...« Putnam brach ab und sprach salbungsvoll weiter. »Mein lieber Holmes, Ihr Ruf wäre für immer mit Dante ver‐ knüpft. Ich denke lieber nicht daran, was mit Ihrer Dichtung, Ihrem Namen geschieht, wenn Manning mit Ihnen fertig ist.« »Manning hat nicht das geringste Recht, mich persönlich anzu‐ greifen, selbst wenn er etwas gegen die Interessen unseres klei‐ nen Vereins einzuwenden hat.« »Wir sprechen hier von Augustus Manning«, erwiderte Put‐
nam, »vergessen Sie das nicht.« Als Holmes sich abwandte, sah er aus, als müsste er einen Globus hinunterschlucken. Putnam war guter Dinge, auch noch auf der holprigen Rückfahrt nach Cambridge. Dr. Manning würde mit seinem Bericht zufrieden sein. Artemus Prescott Healey, geb. 1804, gest. 1865, wurde in einer großen Familiengrabstätte beigesetzt, einer der ersten, die vor Jahren auf dem Haupthügel des Mount Auburn Cemetery er‐ worben worden waren. Noch immer verargten viele unter den Bostoner Patriziern Healey seine feigen Entscheidungen vor dem Krieg. Doch alle waren sich darin einig, dass nur die extremsten ehemaligen Ra‐ dikalen das Andenken des höchsten Richters ihres Staates in den Schmutz ziehen würden, indem sie den Beisetzungsfeier‐ lichkeiten fernblieben. Holmes beugte sich zu seiner Frau. »Nur vier Jahre Abstand, Melia.« Sie verlangte mit einem leisen Schnurrlaut nach näherer Erläu‐ terung. »Oberrichter Healey ist sechzig«, fuhr Holmes flüsternd fort. »Oder wäre es geworden. Nur vier Jahre älter als ich, Liebste, fast auf den Tag genau!« Eigentlich nur fast auf den Monat. Dennoch, Holmes war stets angetan, wenn jüngst Verstorbene ungefähr in seinem Alter wa‐ ren. Amelia Holmes bedeutete ihm mit einem Blick, während der Lobreden zu schweigen. Holmes kniff den Mund zusam‐ men und schaute geradeaus über das weite Friedhofsgelände.
Er konnte nicht von sich behaupten, ein intimer Freund des Verblichenen gewesen zu sein; das konnten nur wenige, auch unter den Patriziern. Oberrichter Healey hatte einen Sitz im Aufsichtsrat der Universität innegehabt, und so hatte Holmes gelegentlich mit dem Richter in dessen administrativer Funkti‐ on zu tun gehabt. Außerdem hatte er Healey durch seine Mit‐ gliedschaft in Phi Beta Kappa gekannt, denn Healey war eine Zeit lang Präsident dieser stolzen Verbindung gewesen. Hol‐ mes trug seinen ΦBK‐Ring an seiner Uhrkette, und damit be‐ schäftigten sich seine Finger, während Healeys Körper in sein neues Bett gelegt wurde. Wenigstens, dachte Holmes mit dem speziellen Mitgefühl des Arztes für die Sterbenden, hat der ar‐ me Healey nicht leiden müssen. Holmesʹ längster Kontakt mit dem Richter war vor Gericht ge‐ wesen, zu einer Zeit, in der Holmes zutiefst erschüttert war und sich am liebsten gänzlich in die Welt der Dichtung zurückgezo‐ gen hätte. Die Verteidigung im Webster‐Prozess, der wie alle Prozesse gegen Kapitalverbrecher von einem dreiköpfigen Richterkollegium unter Vorsitz des Oberrichters geführt wurde, hatte Holmes als Leumundszeugen für John W. Webster be‐ nannt. In dieser so viele Jahre zurückliegenden turbulenten Verhandlung hatte Wendell Holmes den umständlichen Rede‐ stil kennen gelernt, in dem Artemus Healey seine juristischen Ansichten vortrug. »Harvard‐Professoren begehen keinen Mord.« Diese Erklä‐ rung hatte der damalige Harvard‐Präsident, der kurz vor Hol‐ mes in den Zeugenstand trat, zu Websters Gunsten abgegeben. Der Mord an Dr. Parkman war im Laboratorium unter Holmesʹ
Hörsaal verübt worden, während Holmes gerade eine Vorle‐ sung hielt. Schlimm genug, dass Holmes sowohl mit dem Mör‐ der als auch mit dem Opfer befreundet gewesen war und nicht wusste, wen von beiden er mehr beweinen sollte. Wenigstens hatte das übliche schallende Gelächter von Holmesʹ Studenten die Geräusche übertönt, die Professor Webster machte, als er den Leichnam in Stücke hackte. »Ein frommer Mann, der mit all den Seinigen Gott fürchtete ...«, sagte der Prediger gerade. Seine Heilsversprechen stießen bei Holmes auf wenig Gegen‐ liebe. Überhaupt hatten nur wenige Schnörkel religiöser Zere‐ monien den Beifall von Holmes gefunden, dem Sohn eines jener unbeugsamen Geistlichen, die angesichts der unitaristischen Umwälzung standhaft bei ihrem Calvinismus blieben. Oliver Wendell Holmes und sein Bruder John waren mit jenem schrecklichen Unsinn aufgewachsen, der dem Doktor noch immer in den Ohren klang: »Mit Adams Sündenfall wurden wir alle zu Sündern.« Zum Glück fanden sie Rückhalt bei ihrer klugen Mutter, die hinter vorgehaltener Hand witzige Rand‐ bemerkungen machte, wenn der Reverend Holmes und seine klerikalen Gäste von Erbsünde und ewiger Verdammnis pre‐ digten. Sie tröstete sie mit dem Versprechen, dass sich mit der Zeit neue Ideen durchsetzen würden, vor allem Wendell, als er einmal völlig verstört war von einer Geschichte darüber, wie der Teufel Macht über die Seelen der Menschen ausübe. Und die neuen Ideen setzten sich in der Tat durch, in Boston und für Oliver Wendell Holmes. Nur Unitarier hatten den Mount Au‐ burn Cemetery anlegen können, einen Friedhof, der zugleich
Park war. Während Holmes sich die Zeit damit vertrieb, die zahlreichen anwesenden Honoratioren durchzumustern, drehten viele an‐ dere den Kopf in Holmesʹ Richtung, denn er gehörte zu einer Gruppe berühmter Männer, die unter verschiedenen Namen bekannt war ‐ die Neuengland‐Heiligen oder die Fireside Poets. Wie auch immer man sie nennen mochte, sie waren die führen‐ den Schriftsteller des Landes. Neben den Holmes stand James Russell Lowell, Professor und Chefredakteur, und zwirbelte selbstvergessen das Ende seines langen Schnauzbartes, bis seine Frau ihn am Ärmel zupfte; auf der anderen Seite stand J. T. Fields, der Verleger der größten neuenglischen Dichter. Kopf und Bart zeigten in einem Dreieck ernster Versunkenheit nach unten, ein imponierender Kontrast zu den engelsgleich rosigen Wangen seiner jungen Frau. Lowell und Fields hatten Oberrich‐ ter Healey auch nicht besser gekannt als Holmes, aber sie nah‐ men aus Respekt vor Healeys Amt und Familie (mit der die Lowells im Übrigen weitläufig verwandt waren) an der Beerdi‐ gung teil. Diejenigen unter den Trauergästen, die das literari‐ sche Dreigestirn im Auge hatten, hielten vergebens Ausschau nach dem Berühmtesten der Gruppe. Henry Wadsworth Long‐ fellow hatte sich zwar darauf eingerichtet, seine Freunde auf den Mount Auburn zu begleiten ‐ von seinem Haus aus nicht mehr als ein Spaziergang ‐, war dann aber doch wie üblich lie‐ ber am häuslichen Kamin geblieben. Es gab nur wenig, was Longfellow aus dem Haus zu locken vermochte. Nachdem er seinem Projekt so viele Jahre gewidmet hatte, arbeitete er im Hinblick auf die kurz bevorstehende Veröffentlichung mit
höchster Konzentration. Außerdem befürchtete Longfellow (nicht ohne Grund), dass, wäre er zur Beerdigung gegangen, sein Ruhm die Aufmerksamkeit der Trauernden von der Hea‐ ley‐Familie abgelenkt hätte. Wenn Longfellow durch die Stra‐ ßen von Cambridge ging, tuschelten die Passanten, warfen sich Kinder in seine Arme und wurden Hüte in so großer Zahl ge‐ lüftet, dass es schien, als hätte die ganze County Middlesex auf einmal eine Kirche betreten. Holmes wusste noch, wie er Jahre vor dem Krieg einmal mit Lowell in einer Droschke gesessen hatte. Sie kamen am Fenster von Craigie House vorbei, das Fanny und Henry Longfellow im trauten Heim umrahmte, am Klavier im Kreis ihrer fünf schönen Kinder. Damals hatte noch alle Welt Longfellows Gesicht sehen können. »Ich zittere, wenn ich Longfellows Haus sehe«, hatte Holmes gesagt. Lowell, der sich über die Mängel eines Thoreau‐Essays be‐ klagt hatte, den er gerade durchsah, distanzierte sich mit einem leisen Lachen von Holmesʹ Tonfall. »Ihr Glück ist so vollkommen«, war Holmes fortgefahren, »dass jede denkbare Veränderung nur eine Veränderung zum Schlechteren sein kann.« Als die Grabrede von Reverend Young zu Ende ging und in der Friedhofsstille verhaltenes Gemurmel anhob, wischte sich Holmes kleine gelbe Blätter von seinem Samtkragen und ließ den Blick über die wie in Stein gemeißelten Gesichter der Trau‐ ergäste schweifen. Dabei fiel ihm auf, dass Reverend Elisha Talbot, der prominenteste Geistliche von Cambridge, sich durchaus anmerken ließ, wie sehr es ihn irritierte, dass Youngs Rede zustimmende Aufnahme zuteil geworden war; zweifellos
vergegenwärtigte er sich, was er selbst gesagt hätte, wenn er Healeys Geistlicher gewesen wäre. Holmes bewunderte die Fassung von Healeys Witwe. In Tränen aufgelöste Witwen wa‐ ren immer am schnellsten wieder verheiratet. Dann fiel Holmesʹ Blick auf Mr. Kurtz, denn der Polizeichef hatte sich selbstbe‐ wusst zur Witwe Healey durchgedrängt und sie beiseite ge‐ nommen, offenbar in dem Versuch, sie zu etwas zu überreden ‐ allerdings war der Wortwechsel so kurz, dass er nur die Wie‐ derholung eines früheren Gesprächs sein konnte. Die Witwe nickte ergeben, wenn auch äußerst abweisend, wie Holmes fand. Am Schluss stieß der Polizeichef einen Seufzer der Er‐ leichterung aus, um den ihn Äolus beneidet hätte. Das Abendessen in der Charles Street 21 war an diesem Tag ruhiger als sonst, obwohl es nie wirklich ruhig war. Gäste wa‐ ren hinterher immer völlig konsterniert, wie schnell und vor allem wie unablässig die Holmes redeten, und fragten sich, ob die Mitglieder dieser Familie einander wohl jemals zuhörten. Einer Tradition folgend, die der Hausherr selbst begründet hat‐ te, erhielt allabendlich der Beredteste eine Extraportion Marme‐ lade als Belohnung. An diesem Abend schwatzte Holmesʹ Toch‐ ter, die »kleine« Amelia, mehr als sonst, erzählte von der neue‐ sten Verlobung, der von Miss B... mit Colonel F..., und davon, was ihr Nähzirkel als Hochzeitsgeschenk angefertigt hatte. »Va‐ ter«, sagte Oliver Wendell Holmes junior, seines Zeichens Held, mit einem leichten Grinsen, »ich fürchte, man wird dir heute Abend die Marmelade abjagen.« Der Junior war am Tisch der Holmes fehl am Platz: Er war, in einem Haushalt von lauter flinken, eher kleinen Menschen, einsachtzig groß, und er sprach
und bewegte sich gemessen und mit Bedacht. Holmes lächelte nachdenklich auf seinen Braten hinab. »Von dir haben wir heu‐ te Abend auch nicht viel gehört, Wendy.« Der Junior konnte es nicht ausstehen, wenn sein Vater ihn so nannte. »Ach, ich krieg die Marmelade sowieso nicht. Aber du auch nicht, Vater.« Er wandte sich seinem jüngeren Bruder Edward zu, der jetzt, da er im College wohnte, nur noch gelegentlich zu Hause war. »An‐ geblich wird zu Spenden aufgerufen, um einen Lehrstuhl an der juristischen Fakultät nach dem armen Healey zu benennen. Meinst du, das stimmt, Neddie? Obwohl er die ganzen Jahre hindurch Urteile entsprechend der Fugitive Slave Act gefällt hat? Anscheinend muss man sterben, damit Boston einem seine Vergangenheit nachsieht.« Auf seinem Abendspaziergang blieb Holmes stehen und gab ein paar Kindern, die Murmeln spielten, eine Hand voll Pennys, mit denen sie ein Wort auf dem Gehsteig auslegen sollten. Er entschied sich für knot (warum nicht?), und als sie schließlich die kupfernen Buchstaben richtig beisammen hatten, durften sie die Münzen behalten. Er war froh, dass der Sommer vorbei war und mit ihm auch die Gluthitze, die sein Asthma ver‐ schlimmerte. Holmes setzte sich unter die hohen Bäume hinter seinem Haus und dachte an die »besten literarischen Köpfe Neuenglands« in Fieldsʹ Vorankündigung in der New York Trib‐ une. Und an ihren Dante Club: Er war wichtig für Lowells Mis‐ sion, Dantes Dichtung in Amerika bekannt zu machen, und für Fieldsʹ Verlagsprogramm. Ja, es galt beides im Auge zu behal‐ ten, den akademischen und den geschäftlichen Aspekt. Aber für Holmes bestand die große Leistung des Clubs darin, dass er
die Interessen dieses Freundeskreises, den zu haben er sich glücklich schätzte, geeint und auf ein gemeinsames Ziel ausge‐ richtet hatte. Er liebte nichts so sehr wie das unbeschwerte Ge‐ plauder und die sprühenden Geistesblitze, die sich beim Ent‐ schlüsseln der Dichtung immer wieder einstellten. Der Dante Club hatte ‐ in den letzten Jahren, in denen sie alle zusehends gealtert waren — eine heilsame Wirkung entfaltet: Er einte Holmes und Lowell nach ihren Zerwürfnissen wegen des Krie‐ ges, er einte Fields mit seinen besten Autoren in diesem ersten Jahr ohne seinen Partner William Ticknor und bot so geschäftli‐ che Sicherheit, und er einte Longfellow mit der Außenwelt oder doch wenigstens mit einigen ihrer der Literatur zugeneigten Botschafter. Holmes war kein begnadeter Übersetzer. Er hatte die nötige Phantasie, aber ihm fehlte etwas, was Longfellow in hohem Ma‐ ße auszeichnete: die Fähigkeit, sich als Dichter ganz der Stimme eines anderen Dichters zu öffnen. Trotzdem, in einem Land, das nur wenig freien Gedankenaustausch mit anderen Ländern kannte, konnte Oliver Wendell Holmes sich durchaus schmei‐ cheln, sich mit Dante auszukennen, wenn auch mehr als Dante‐ Liebhaber denn als Dante‐Spezialist. Als Holmes am College studierte, war Professor George Ticknor, der aristokratische Literat, die ständige Opposition der Corporation gegen seinen Posten als erster Smith‐Professor allmählich leid gewesen. Wendell Holmes, der im Alter von zwölf Jahren Griechisch und Latein gemeistert hatte, langweilte sich indessen furchtbar in den obligatorischen Rezitationskursen, in denen man Verse aus Euripidesʹ Hekuba auswendig aufsagen musste.
Als sie sich im Salon der Familie Holmes kennen lernten, mus‐ terte Professor Ticknor mit seinen schwarzen Augen den Stu‐ denten, der von einem Fuß auf den anderen trat. »Er kann keine Minute stillhalten«, seufzte Oliver Wendell Holmesʹ Vater, der Reverend Holmes. Ticknor regte an, ihn Italienisch lernen zu lassen, das würde ihn möglicherweise disziplinieren. Damals war die finanzielle Lage der Fakultät zu angespannt, als dass man die Sprache offiziell hätte anbieten können. Aber Holmes erhielt durch Ticknors Protektion schon bald kostenlosen Un‐ terricht in Wortschatz und Grammatik sowie eine Ausgabe von Dantes Divina Commedia, einem Gedicht, unterteilt in die drei »Cantiche« Inferno, Purgatorio und Paradiso. Holmes fürchtete jetzt, dass die Herren von Harvard von der hohen Warte ihrer Ignoranz herab auf irgendeine tiefe Einsicht, Dante betreffend, gestoßen waren. Als Medizinstudent hatte Oliver Wendell Holmes entdeckt, wie die Natur wirkte, wenn sie von Aberglauben und Angst befreit wurde. Er glaubte, dass so, wie die Astronomie die Astrologie verdrängt hatte, eines Tages auch eine »Theonomie« den Platz ihrer beschränkten Zwillingsschwester einnehmen würde. Mit diesem Glauben hatte Holmes eine erfolgreiche Laufbahn als Dichter und Pro‐ fessor absolviert. Dann kam ihm der Krieg in die Quere. Und Dante Alighieri. Es begann eines Abends im Winter 1861. Hol‐ mes saß in Elmwood, dem Herrenhaus Lowells, und war sicht‐ lich aufgeregt über die Nachricht, dass Wendell junior mit dem 25. Massachusetts‐Regiment ausgerückt war. Lowell war die richtige Medizin für seine Nervosität: forsch und erfüllt von der Gewissheit, dass die Welt zu jeder Zeit genauso war, wie er sie
beschrieb; notfalls auch sarkastisch, wenn die Sorgen des ande‐ ren allzu sehr im Vordergrund standen. Seit jenem Sommer hatte die Öffentlichkeit die beruhigende Gegenwart von Henry Wadsworth Longfellow sehr vermisst. Longfellow schickte seinen Freunden Billets, mit denen er alle Einladungen ablehnte, die ihn gezwungen hätten, Craigie House zu verlassen. Als Grund gab er immer Zeitmangel an. Er habe begonnen, Dante zu übersetzen, schrieb er, und gedenke nicht, damit aufzuhören: Ich habe mir diese Arbeit vorgenommen, weil mir nichts anderes mehr gelingen will. Da sie von dem zurückhaltenden Longfellow kamen, waren diese Mitteilungen laute Klagerufe. Er war nach außen hin ru‐ hig, doch innerlich verblutete er. Also belagerte Lowell Longfellow und drängte ihm seine Hilfe auf. Lowell beklagte schon seit langem, dass die in lebenden Sprachen kaum bewanderten Amerikaner nicht einmal zu den wenigen höchst unzulänglichen britischen Übersetzungen Zu‐ gang hatten. »Ich brauche den Namen eines Dichters, um unserer stumpfsinnigen Öffentlichkeit ein solches Buch zu verkaufen!« Das war Fieldsʹ stereotype Antwort auf Lowells apokalyptische Warnungen gewesen, dass man den Amerikanern die Augen für Dante öffnen müsse. Immer wenn Fields seinen Autoren ein riskantes Projekt ausreden wollte, verwies er auf die Dummheit der Leserschaft. Lowell hatte Longfellow im Lauf der Jahre immer wieder einmal bedrängt, das dreigeteilte Gedicht zu übersetzen, und sogar einmal damit gedroht, es selbst zu tun ‐ eine Aufgabe, der
er freilich nicht gewachsen war. Daher fühlte er sich jetzt zur Hilfe verpflichtet. Immerhin war Lowell einer der wenigen a‐ merikanischen Gelehrten, die etwas über Dante wussten, ja, bisweilen schien es sogar, als wüsste er alles. Lowell schilderte Holmes in den höchsten Tönen, wie bewun‐ dernswert Longfellow Dante wiedergebe. »Ich glaube fast, er wurde dafür geboren, Wendell.« Longfellow habe mit dem Pa‐ radiso begonnen und wolle sich danach dem Purgatorio und zu‐ letzt dem Inferno zuwenden. »Also von hinten nach vorn?«, fragte Holmes. Lowell nickte grinsend. »Ich könnte mir denken, er will sich erst den Himmel sichern, bevor er sich der Hölle anheim gibt.« »Ich schaffe es nie bis zu Luzifer«, sagte Holmes über seine Lektüre des Inferno. »Das Fegefeuer und das Paradies sind lauter Musik und Hoff‐ nung, und man hat das Gefühl, dass man zu Gott emporgeho‐ ben wird. Aber dieser mittelalterliche Albtraum mit seinen ent‐ setzlichen Gräueln und Schrecknissen!« »Dantes Hölle ist eben‐ so in unserer Welt angesiedelt wie in der Unterwelt, und wir sollten ihr nicht aus dem Weg gehen«, sagte Lowell, »sondern uns ihr stellen. Wir loten in diesem Leben oft genug die Tiefen der Hölle aus.« Dantes machtvolle Dichtung bewegte vor allem jene Gemüter, die sich nicht zum katholischen Glauben bekannten, denn Gläu‐ bige hatten unfehlbar einiges an Dantes Theologie auszusetzen. Aber für diejenigen, die ihm theologisch fern standen, war Dan‐ tes Glaube so vollkommen, so unerschütterlich, dass der Leser kraft der Dichtung nicht umhin konnte, sich das ganze Werk zu Herzen zu nehmen. Das war der Grund, warum Holmes den
Dante Club fürchtete: Er fürchtete, dass er eine neue Hölle her‐ beiführen würde, eine Hölle, die dank der schieren Genialität der Dichter nur umso mächtiger sein würde. Und, schlimmer noch, er fürchtete, dass er selbst, der sein Leben lang vor dem von seinem Vater gepredigten Teufel davongelaufen war, zu‐ mindest einen Teil der Schuld tragen würde. In Lowells Studierzimmer in Elmwood störte an jenem Abend im Jahre 1861 ein Bote die Dichter beim Tee. Holmes war über‐ zeugt, dass es ein Telegramm sein würde, das ihm von zu Hau‐ se nachgeschickt worden war, mit der Nachricht vom Tod des armen Wendell junior auf irgendeinem hart gefrorenen Schlachtfeld. Doch es war ein Dienstbote, entsandt von Henry Longfellow, dessen Anwesen nur einen Katzensprung entfernt war. Er überbrachte eine einfache Botschaft mit der Bitte um Lowells Hilfe bei einigen weiteren Gesängen, die er übersetzt hatte. Lowell überredete Holmes, ihn zu begleiten. »Ich habe so viele Eisen im Feuer, dass ich jede neue Versuchung scheue«, sagte Holmes, der es zunächst noch auf die leichte Schulter nahm. »Ich fürchte, ich könnte mich an eurer Dante‐Manie an‐ stecken.« Dann überredete Lowell auch Fields, sich mit Dante anzufreunden. Der Verleger war zwar kein Italianist, besaß a‐ ber recht ansehnliche Grundkenntnisse, die er sich auf seinen Geschäftsreisen angeeignet hatte (die Geschäftsreisen dienten im Wesentlichen seinem Vergnügen und dem seiner Frau An‐ nie, denn zwischen Rom und Boston fand nur sehr wenig Han‐ del mit Büchern statt). Und nun vertiefte er sich in Wörterbü‐ cher und Kommentare. Fields, so pflegte seine Frau zu sagen, interessierte sich dafür, was andere interessierte. Und der alte
George Washington Greene, der Longfellow vor dreißig Jahren bei einer gemeinsamen Italienreise seinen ersten Dante‐Band geschenkt hatte, gewöhnte sich an, vorbeizuschauen, wenn er von Rhode Island herüberkam, und erbot sich naiv, seinen Bei‐ trag zur Arbeit zu leisten. Fields, der feste Termine am nötig‐ sten brauchte, hatte die Mittwochabende für ihre Dante‐ Versammlungen im Arbeitszimmer von Craigie House vorge‐ schlagen, und Holmes, ein versierter Namenserfinder, hatte das Unternehmen Dante Club getauft, obgleich er selbst die Zu‐ sammenkünfte oft als Séancen bezeichnete: Wenn man die Au‐ gen offen halte, so behauptete er, könne man an Longfellows Kamin Dante von Angesicht zu Angesicht schauen. Holmesʹ neuer Roman würde seinem Namen wieder Geltung in der Öffentlichkeit verschaffen. Es würde die Amerikanische Geschichte sein, nach der Leser in jeder Buchhandlung und Bi‐ bliothek fragten ‐ die Geschichte, für die Hawthorne nicht lange genug gelebt hatte, die Geschichte, die viel versprechende Köp‐ fe wie Herman Melville verpfuschten, weil sie durch ihre Ei‐ gentümelei in Anonymität und Isolation gerieten. Dante hatte es gewagt, sich zum gottgleichen Heros zu stilisieren, indem er seinen fehlbaren Charakter dichterisch überhöhte. Doch dafür hatte der Florentiner sein Zuhause geopfert, sein Leben mit Frau und Kindern, seinen Platz in der korrupten Stadt, die er liebte. In Armut und Einsamkeit definierte er seine Nation. Holmes würde, wie immer, alles auf einmal bewerkstelligen. Und wenn er mit seinem Roman erst einmal die Nation in Bann geschlagen hatte, dann mochten Dr. Manning und die anderen Geier dieser Welt getrost versuchen, seinen Ruhm zu
zerpflücken! Auf dem Gipfel neu entfachter Verehrung würde Oliver Wendell Holmes im Alleingang Dante gegen jeden An‐ greifer verteidigen und Longfellows Triumph sichern. Sollte jedoch die Dante‐Übersetzung allzu vorschnell einen Kampf einläuten, der die Narben, die sein Name bereits trug, noch ver‐ tiefte, so würde seine Amerikanische Geschichte womöglich auf Nichtbeachtung ‐ oder Schlimmeres ‐ stoßen. Er sah so klar wie ein Gerichtsurteil vor sich, was zu tun war. Er musste die anderen gerade so weit zügeln, dass er seinen Roman vollenden konnte, bevor die Übersetzung fertig war. Hier ging es nicht nur um Dante, hier ging es um das literari‐ sche Schicksal von Oliver Wendell Holmes. Außerdem hatte Dante schon mehrere hundert Jahre lang seinem Erscheinen in der Neuen Welt entgegengebarmt. Was konnten da ein paar Monate mehr noch groß ausmachen? Auf der Polizeiwache am Court Square schaute Nicholas Rey von seinem Notizblock auf und blinzelte nach der langen Be‐ schäftigung mit einem Blatt Papier in die Gaslampe. Ein bulli‐ ger Mann in indigoblauer Uniform, der eine Pappschachtel auf dem Arm hielt wie ein kleines Kind, stand wartend vor seinem Schreibtisch. »Sie sind Streifenpolizist Rey, stimmtʹs? Sergeant Stone‐ weather. Ich wollte nicht stören.« Der Mann streckte ihm seine Pranke entgegen. »Ich kann mir denken, dass es Mut und Ner‐ ven braucht, der erste Neger‐Polizist zu sein, egal, was ein paar andere sagen. Was schreiben Sie denn da, Rey?« »Kann ich et‐ was für Sie tun, Sergeant?«, fragte Rey. »Vielleicht kann ich et‐
was für Sie tun. Sie waren es doch, der auf allen Wachen Er‐ kundigungen über diesen verteufelten Bettler eingeholt hat, der aus dem Fenster gesprungen ist, oder? Ich hatte den Mann zu der Vorführung aufs Revier gebracht.« Rey vergewisserte sich, dass die Tür von Kurtzʹ Büro noch geschlossen war. Sergeant Stoneweather nahm ein Stück Blaubeerkuchen aus seinem Päckchen und biss im Lauf der Unterredung ab und zu herzhaft hinein. »Wissen Sie noch, wo Sie ihn aufgegriffen haben?«, fragte Rey. »Klar ‐ ich hab wie befohlen die Augen offen gehalten nach je‐ dem, der sich nicht ausweisen konnte. In den Grogbuden, den Kneipen. Und in der Pferdebahnstation South Boston, da war ich zu der Zeit gerade, weil ich hab da nämlich ein paar Kun‐ den, die gern in fremde Taschen greifen. Ihr Bettler da, der hat auf einer Bank gelümmelt und fast geschlafen, aber auch gezit‐ tert, wie im Trillirium demens oder wie das heißt.« »Und, ha‐ ben Sie gewusst, wer er ist?« Stoneweather sprach mit vollem Mund. »Mit der Pferdebahn kommt da alles mögliche Gesindel an und fährt wieder ab. A‐ ber mir ist er nicht bekannt vorgekommen. Eigentlich wollte ich ihn gar nicht mitnehmen. Hat eher harmlos gewirkt.« Rey sah ihn verwundert an. »Und wieso haben Sie dann doch ...« »Da war der verdammte Kerl selber schuld!«, stieß Stoneweather hervor, und ein Stück Kruste verkrümelte sich in seinen Bart. »Wie der sieht, dass ich ein paar Ganoven zusammentreibe, da kommt er auf mich zugerannt und streckt mir die Handgelenke hin, als ob er will, dass ich ihm auf der Stelle Handschellen an‐ lege und ihn wegen Mord einbuchte! Also denk ich mir, dich
schickt mir der Himmel, dich nehm ich mit zu der Vorführung, denk ich. Aber alles, was passiert, ist Gottes Wille, daran glaub ich. Sie auch?« Rey hatte Mühe, sich den Fensterspringer anders als auf der Flucht vorzustellen. »Hat er auf der Fahrt irgendetwas zu Ihnen gesagt? Hat er was getan? Mit irgendwem geredet? Vielleicht eine Zeitung gelesen? Ein Buch?« Stoneweather zuckte die Achseln. »Nicht, dass ich wüsste.« Er suchte in seinen Jackentaschen nach einem Taschentuch, um sich die Finger abzuwischen, und Rey gab es einen Stich, als er den aus dem Ledergürtel hervorschauenden Revolver sah. Am selben Tag, an dem Rey von Gouverneur Andrew zum Polizi‐ sten ernannt wurde, hatte der Stadtrat einen Beschluss gefasst, der ihm Einschränkungen auferlegte. Rey durfte keine Uniform tragen und keine wirksamere Waffe als einen Schlagstock mit sich führen; auch sollte es ihm nicht erlaubt sein, einen Weißen festzunehmen, wenn nicht auch ein weißer Polizeibeamter zu‐ gegen war. In jenem ersten Monat setzte die Stadt Nicholas Rey im Revier des zweiten Bezirks ein. Der Hauptmann, der das Revier leitete, entschied, Rey könne nur als Streifenbeamter in Nigger Hill sinnvoll Dienst tun. Aber es gab dort so viele Schwarze, die ei‐ nen Mulatten als Polizisten ablehnten und ihm misstrauten, dass die anderen Streifenbeamten des Bezirks Unruhen be‐ fürchteten. Und auf dem Revier sah es auch nicht viel besser aus. Nur zwei oder drei seiner Kollegen sprachen überhaupt mit Rey, die anderen forderten Kurtz in einem von allen unter‐ schriebenen Brief auf, das Experiment mit dem farbigen Beam‐
ten zu beenden. »Wollen Sie wirklich wissen, was ihn dazu ge‐ trieben hat, Rey?«, fragte Stoneweather. »Manchmal kommt einer einfach nicht mehr damit klar, wie die Dinge liegen, mei‐ ner Erfahrung nach.« »Er ist hier vor unseren Augen gestorben, Sergeant Stoneweather«, sagte Rey, »aber mit den Gedanken war er woanders ‐ weit weg von uns, weit weg von jeder Si‐ cherheit.« Das überstieg Stoneweathers Begriffsvermögen. »Ich wollte, ich wüsste mehr über den armen Kerl, ehrlich.« An diesem Nachmittag fuhren Kurtz und sein Stellvertreter Savage nach Beacon Hill. Rey, der kutschierte, war noch schweigsamer als sonst. Als sie ausstiegen, sagte Kurtz: »Denken Sie etwa immer noch an diesen Vagabunden, Rey?« »Ich könnte herausfinden, wer er war«, sagte Rey. Kurtz runzelte die Stirn, aber seine Au‐ gen und seine Stimme wurden weicher. »Was wissen Sie denn bis jetzt von ihm?« »Sergeant Stoneweather hat ihn in einer Pferdebahnstation aufgegriffen. Könnte sein, dass er aus dem Viertel war.« »Eine Pferdebahnstation! Das hat doch nichts zu sagen.« Rey konnte nicht widersprechen. Der stellvertretende Polizeichef Savage, der zugehört hatte, meinte unverbindlich: »Wir haben auch sein Bild, er wurde unmittelbar vor der Vor‐ führung fotografiert.« »Hören Sie mir gut zu«, sagte Kurtz, »Sie alle beide: Die alte Healey zieht mir das Fell über die Ohren, wenn sie mit uns nicht zufrieden ist. Und sie wird nicht zufrieden sein, ehe wir sie nicht einen Tag lang Henker spielen lassen. Rey, ich will nicht, dass Sie sich nach dem Fensterspringer umhören, ver‐ standen? Wir haben schon genug Ärger, wir müssen nicht auch
noch jede Menge Staub aufwirbeln wegen des Mannes, der vor unseren Augen gestorben ist.« Die Fenster von Wide Oaks waren mit dicken schwarzen Tü‐ chern verhängt, die nur an den Seiten einen Schimmer Tages‐ licht hereinließen. Die Witwe Healey hob den Kopf von einem Berg Lotosblattkissen. »Sie haben den Mörder gefunden, Kurtz«, sagte sie. Es war eine Feststellung, keine Frage. »Meine Verehrteste.« Kurtz nahm den Hut ab und legte ihn auf einen Tisch am Fußende des Betts. »Wir setzen Leute auf jede Spur an. Die Ermittlungen sind noch im Anfangsstadium ...« Kurtz zählte die Verdächtigen auf: zwei Männer, die Healey Geld schuldeten, und ein Häftling, dessen Gefängnisstrafe der Oberrichter bestätigt hatte. Die Witwe hielt den Kopf ruhig, damit die Kompresse nicht herabfiel, die auf dem weißen Hügel ihrer Stirn balancierte. Seit der Beerdigung und den verschiedenen Gedenkgottesdiensten für den Oberrichter weigerte sich Ednah Healey, ihr Schlaf‐ zimmer zu verlassen, und empfing keine Besucher außer den engsten Angehörigen. Am Hals trug sie eine Kristallbrosche mit der Haarlocke des Verstorbenen. Sie hatte Nell Ranney gebeten, das Schmuckstück auf eine Kette zu fädeln. Ihre Söhne, die beide um die Schultern und im Nacken genau‐ so kräftig waren wie der Vater, aber längst nicht so massig wie er, saßen zusammengesunken in Sesseln und flankierten wie zwei granitene Bulldoggen die Tür. Roland Healey fiel Kurtz ins Wort: »Ich begreife nicht, warum Sie so langsam vorankommen.«
»Wir sollten wirklich eine Belohnung aussetzen!«, ergänzte der ältere Sohn Richard die Klage seine Bruders. »Wenn die Summe hoch genug wäre, könnten wir bestimmt jemanden einbuchten! Nackte Habgier ist doch das Einzige, was die Leute aus der Reserve lockt.« Savage hörte sich das mit professioneller Geduld an. »Lieber Mr. Healey, wenn wir die wahren Umstände bekannt geben, unter denen Ihr Herr Vater zu Tode gekommen ist, dann wer‐ den Sie mit falschen Aussagen von Menschen überschüttet, die nur darauf aus sind, ein paar Dollar zu ergattern. Nein, nein, Sie müssen die ganze Angelegenheit vor der Öffentlichkeit ge‐ heim halten und uns unsere Arbeit machen lassen.« Nach einer kurzen Pause schloss er: »Glauben Sie mir, Sie hät‐ ten keine Freude an dem, was die Offenbarung des Tatbestands nach sich ziehen würde.« Die Witwe mischte sich ein: »Der Mann, der sich da in den Tod gestürzt hat. Haben Sie schon irgendetwas über seine Iden‐ tität herausbekommen?« Kurtz hob die Hände. »Leider Gottes gehören sehr viele unse‐ rer braven Bürger zu ein und derselben Familie, wenn sie von der Polizei überprüft werden«, sagte er mit einem ironischen Lächeln. »Auf einmal heißen sie alle Smith oder Jones.« »Und der«, fragte Mrs. Healey, »aus welcher Familie war er?« »Er hat uns keinen Namen genannt, Madam«, sagte Kurtz und versteckte sein bedauerndes Lächeln unter seinem Schnurrbart. »Aber wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass er ir‐ gendwelche Kenntnisse über den Mord an Richter Healey be‐ saß. Er war nur einfach nicht ganz richtig im Kopf und außer‐
dem angesäuselt.« »Und möglicherweise taubstumm«, ergänzte Savage. »Aber was hat ihn zu dieser Verzweiflungstat getrieben?«, fragte Ri‐ chard Healey. Das war eine sehr gute Frage, doch das wollte Kurtz sich nicht anmerken lassen. »Sie glauben gar nicht, wie viele Männer sich in der Stadt herumtreiben, die sich von einem Dämon gejagt wähnen und uns ihren Verfolger in allen Einzelheiten beschrei‐ ben, bis hin zu den Hörnern.« Mrs. Healey beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Ist das Ihr Dienstmann, Kurtz?« Kurtz winkte Rey herein, der auf dem Flur stand. »Madam, darf ich Ihnen Streifenpolizist Nicholas Rey vorstellen? Sie hat‐ ten darum gebeten, dass wir ihn heute mitbringen, wegen des Mannes, der sich auf der Hauptwache aus dem Fenster gestürzt hat.« »Ein schwarzer Polizeibeamter?«, fragte sie mit sichtli‐ chem Unbehagen. »Genau genommen ist er Mulatte«, verkündete Savage stolz. »Der erste in unserer Stadt. Ja, es heißt sogar, der erste in ganz Neuengland.« Er hielt Rey ostentativ die Hand hin. Mrs. Healey gelang es, den Kopf so zu drehen und zu wenden, dass sie den Mulatten begutachten konnte. Offenbar war sie mit dem Ergeb‐ nis zufrieden. »Sie sind also der Beamte, unter dessen Obhut der Stadtstreicher stand, der sich dann aus dem Fenster ge‐ stürzt hat?« Rey nickte. »Dann sagen Sie mir bitte, Officer: Was, glauben Sie, hat ihn zu dieser Wahnsinnstat getrieben?« Kurtz hüstelte nervös in Reys Richtung. »Ich kann es wirklich nicht sagen«, erwiderte
Rey aufrichtig. »Ich habe keine Anzeichen bemerkt, dass er sich in irgendei‐ ner Weise körperlich bedroht fühlte.« »Hat er mit Ihnen gere‐ det?«, fragte Roland. »Das hat er, Mr. Healey. Zumindest hat er es versucht. Aber leider war sein Geflüster völlig unverständ‐ lich«, sagte Rey. »Ha! Sie sind nicht einmal in der Lage, die I‐ dentität eines Herumtreibers festzustellen, der sich vor Ihren Augen entleibt hat! Offenbar sind Sie der Meinung, meinem Mann sei nur recht geschehen!«, sagte sie, an den Polizeichef gewandt. »Ich?« Kurtz warf seinem Stellvertreter einen hilflo‐ sen Blick zu. »Madam!« »Ich bin eine kranke Frau, Gott ist mein Zeuge, aber ich lasse mich nicht täuschen! Sie halten uns für Narren und Schurken und wünschen uns alle zum Teufel!« »Madam!«, rief nun auch Savage. »Ich werde Ihnen nicht die Genugtuung verschaffen, mich in dieser Welt tot zu sehen, Kurtz! Sie und Ihre undankbaren Nig‐ ger‐Polizisten! Mein Mann hat immer seine Pflicht getan, und nichts davon erfüllt uns mit Scham!« Die Kompresse flog auf den Boden, und Ednah Healey fing an, sich rabiat am Hals zu kratzen. Wie die frischen Grinde und blutigen Striemen verrie‐ ten, litt sie erst seit kurzem unter diesem Zwang. Sie konnte gar nicht mehr aufhören, grub die Nägel tief ins Fleisch, kratzte an einem Nest unsichtbarer Insekten, die in den Winkeln ihres Verstandes lauerten. Ihre Söhne sprangen auf, konnten aber nur zur Tür zurück‐ weichen, wohin sich auch Kurtz und Savage instinktiv zurück‐ gezogen hatten, als könnte die Witwe jeden Augenblick in
Flammen aufgehen. Rey wartete noch einen Moment, dann trat er ruhig an das Bett. »Madam Healey.« Durch das Kratzen hatten sich die Bän‐ der ihres Nachthemds gelöst. Rey griff nach der Lampe und drehte die Flamme so klein, dass die Witwe als Silhouette zu sehen war. »Madam, Sie sollen wissen, dass Ihr Mann mir ein‐ mal geholfen hat.« Sie beruhigte sich. Kurtz und Savage tauschten unter der Tür fragende Blicke. Rey sprach so leise, dass sie am anderen Ende des Raums un‐ möglich jedes Wort verstehen konnten, und sie fürchteten zu sehr, die Frau könnte erneut in Raserei verfallen, als dass sie es gewagt hätten, wieder näher zu treten. Aber sie spürten selbst im Dunkeln, wie ruhig sie geworden war, wie still und gefasst, bis auf ihr schweres Atmen. »Bitte, erzählen Sie«, sagte sie. »Ich wurde als Kind nach Boston gebracht, von einer Frau aus Virginia, die eine Urlaubsreise hierher machte. Ein paar Sklave‐ reigegner nahmen mich ihr weg und führten mich dem Ober‐ richter vor. Der Oberrichter entschied, dass ein Sklave von Ge‐ setzes wegen die Freiheit erlangt, wenn er die Grenze zu einem freien Staat überschreitet. Er gab mich bei einem farbigen Schmied namens Rey und seiner Familie in Pflege.« »Bevor die‐ se unselige Fugitive Slave Act unser aller Verderben wurde.« Mrs. Healeys Augenlider klappten zu, sie seufzte tief, und ihr Mund kräuselte sich seltsam. »Ich weiß, was Freunde Ihrer Ras‐ se denken, wegen des jungen Sims. Der Oberrichter sah es nicht gerne, dass ich bei Verhandlungen zugegen war, aber ich ging trotzdem hin ‐ es wurde damals zu viel geredet. Sims war wie Sie ein gut aussehender Neger, aber schwarz wie die Nacht in
den Köpfen mancher Leute. Der Oberrichter hätte ihn niemals zurückgeschickt, wenn er anders gekonnt hätte. Er hatte keine Wahl, das verstehen Sie sicher. Aber Ihnen hat er eine Familie geschenkt. Eine Familie, die Sie glücklich gemacht hat?« Er nickte. »Warum kann man Fehler immer erst nachträglich wieder gutmachen? Könnten sie nicht manchmal auch durch etwas aufgehoben werden, was vorher war? Es ist so ermüdend.« Allmählich wurde sie wieder vernünftig. Sie wusste jetzt, was zu tun war, sobald die Polizisten gegangen wären. Aber sie musste Rey noch eine Frage stellen. »Sagen Sie bitte, hat er da‐ mals mit Ihnen gesprochen? Richter Healey hat stets ausneh‐ mend gern mit Kindern gesprochen.« Sie dachte daran, wie er mit seinen eigenen Kindern umgegangen war. »Er hat mich gefragt, ob ich hier bleiben will, Mrs. Healey, bevor er seine Anordnung niederschrieb. Er sagte, wir würden in Boston nie etwas zu befürchten haben, aber ich müsste mich selbst dafür entscheiden, ein Bostoner zu sein, ein Mann, der für sich selbst und zugleich für seine Stadt einsteht, sonst wür‐ de ich immer ein Außenseiter bleiben. Er erzählte mir, wenn ein Bostoner an die Himmelspforte kommt, erscheint ein Engel, um ihn zu warnen: >Es wird dir hier nicht gefallen, denn es ist nicht Boston<« Er hörte die geflüsterten Worte des Selbstmörders, während die Witwe Healey einschlief, und er hörte sie in seinem trostlosen, kalten Pensionszimmer. Er erwachte jeden Morgen mit den Worten auf der Zunge. Er schmeckte sie, roch den starken Ge‐
ruch, mit dem sie überzogen waren, spürte den verkrusteten Schnurrbart, unter dem sie hervorgekommen waren, doch wenn er versuchte, sie selbst auszusprechen, ob beim Fahren oder vor dem Spiegel, war es Kauderwelsch. Er setzte sich zu jeder Tages‐ und Nachtzeit mit der Schreibfeder hin, verbrauch‐ te ganze Tintenfässer, setzte die Worte aufs Papier, doch ge‐ schrieben wirkte der Unsinn noch schlimmer als gesprochen. Er sah den Flüsterer vor sich, die entsetzten grünen Augen, die ihn anstarrten, bevor der Körper sich durch die Fensterscheibe ka‐ tapultierte. Der Namenlose war von einem fernen Ort gekom‐ men, vom Himmel gefallen, so schien es Rey, ihm in die Arme, und er hatte ihn wieder fallen lassen. Immer von neuem schärf‐ te er sich ein, nicht mehr daran zu denken. Doch wie klar sah er den Sturz in den Hof, wo der Mann sich in Blut und Blätter verwandelte, immer und immer wieder, so glatt und gleichmä‐ ßig, wie Bilder durch eine Laterna magica liefen. Er musste den Sturz beenden, Kurtzʹ Anweisung zum Trotz. Er musste einen Sinn für die Worte finden, die in der toten Luft hängen geblie‐ ben waren. »Ich würde ihn mit keinem anderen gehen lassen«, sagte Ame‐ lia Holmes, die das Gesichtchen verzog und ihrem Mann den Mantelkragen über den Schal legte. »Mr. Fields, er dürfte heute Abend überhaupt nicht ausgehen. Ich mache mir die größten Sorgen. Hören Sie nur, wie er keucht ‐ das leidige Asthma. Al‐ so, Wendell, wann kommst du nach Hause?« J. T. Fieldsʹ komfortable Kutsche war vor der Charles Street 21 vorgefahren. Obwohl es nur zwei Straßen weiter war, ließ
Fields Holmes nie zu Fuß gehen. Der Doktor stand mühsam atmend vor der Haustür und schimpfte auf das kälter werden‐ de Wetter. »Ach, das weiß ich noch nicht«, sagte Holmes leicht ungehalten. »Ich gebe mich ganz in Mr. Fieldsʹ Hände.« Sie fragte streng: »Mr. Fields, wie früh bringen Sie ihn mir zu‐ rück?« Fields überlegte mit größtem Ernst. Die Seelenruhe einer Ehe‐ frau war ihm genauso wichtig wie die eines Autors, und Ame‐ lia Holmes sorgte sich in letzter Zeit sehr um ihren Mann. »Es wäre mir lieber, Wendell würde nichts mehr veröffentlichen, Mr. Fields«, hatte Amelia einige Wochen zuvor einmal gesagt, als sie bei den Fields frühstückten, in dem hübschen Zimmer, aus dem man über Büsche und Blumen auf den friedlichen Fluss schaute. »Er ärgert sich ja doch bloß wieder über die Re‐ zensionen, also wozu das Ganze?« Fields hatte etwas sagen wollen, um sie zu beruhigen, aber Holmes war schneller gewesen: Wenn er aufgeregt oder in Be‐ drängnis war, redete er schneller als jeder andere, zumal wenn es um ihn selbst ging. »Was willst du damit sagen, Amelia? Ich habe etwas Neues geschrieben, woran die Kritiker nichts aus‐ zusetzen haben werden. Es ist die Amerikanische Geschichte, um die mich Mr. Fields seit langem so dringend bittet. Du wirst sehen, es wird besser als alles, was ich bis jetzt geschrieben ha‐ be.« »Ach, das sagst du jedes Mal, Wendell.« Sie schüttelte trau‐ rig den Kopf. »Ich wollte, du würdest davon ablassen.« Fields wusste, dass Amelia die Enttäuschung ihres Mannes hatte er‐ tragen müssen, als die Fortsetzung des Autocrat ‐ The Professor at the Breakfast‐Table ‐ Fieldsʹ Versprechungen zum Trotz als zwei‐
ter Aufguss abgetan wurde. Und seine abgrundtiefe Nieder‐ geschlagenheit wegen der Verrisse und des nur bescheidenen Erfolgs von Elsie Venner, seinem ersten Roman, der unter gro‐ ßem Zeitdruck entstanden und kurz vor dem Krieg herausge‐ kommen war. Die neue Generation unkonventioneller Kritiker in New York legte sich gern mit dem Bostoner Establishment an, und Hol‐ mes verkörperte seine stolze Stadt mehr als jeder andere. Er war es schließlich gewesen, der Boston zur Nabe des Univer‐ sums erklärt und die Angehörigen seiner eigenen Klasse nach fernöstlichem Vorbild zu »Bostoner Brahmanen« befördert hat‐ te. Nun hatten die Rabauken, die sich Junges Amerika nannten und die unterirdischen Tavernen Manhattans bevölkerten, Fieldsʹ lange Zeit führende »Fireside Poets« als irrelevant für die nächste Epoche bezeichnet. Was denn, bitte schön, die put‐ zigen Reimereien und bukolischen Schauplätze Longfellows und seines Anhangs dazu beigetragen hätten, die Katastrophe eines Bürgerkriegs zu verhindern, begehrten sie zu wissen. Holmes für sein Teil hatte sich schon Jahre vor dem Ausbruch des Krieges für einen Kompromiss ausgesprochen und sogar zusammen mit Artemus Healey eine Resolution zur Unterstüt‐ zung der Fugitive Slave Act unterschrieben, derzufolge entlau‐ fene Sklaven zu ihren Herren zurückgeschickt werden sollten ‐ eine Regelung, mit der man den Konflikt zu vermeiden hoffte. »Aber verstehst du denn nicht, Amelia«, hatte Holmes seiner‐ seits insistiert. »Ich werde Geld damit verdienen, und das käme uns ja nicht eben ungelegen.« Dann hatte er zu Fields aufge‐ blickt. »Sollte mir etwas zustoßen, bevor ich das Buch vollendet
habe, würden Sie den Vorschuss doch nicht von meiner Witwe zurückfordern, oder?« Sie hatten alle gelacht. Als er jetzt neben seiner Kutsche stand, blickte Fields zum marmorierten Himmel auf, als könnte der ihm die Antwort eingeben, auf die Amelia wartete. »Gegen zwölf«, sagte er. »Was würden Sie zu zwölf Uhr sagen, meine liebe Mrs. Holmes?« Er sah sie mit seinen freundlichen braunen Augen an, obwohl er wusste, dass es eher zwei Uhr morgens werden würde. Der Dichter nahm den Arm des Verlegers. »Das ist ganz gut für einen Dante‐Abend. Melia, Mr. Fields passt schon auf mich auf. Es ist doch wohl eines der größten Komplimente, die je ein Mann einem anderen gemacht hat, dass ich mich heute Abend zu Longfellow begebe, bei al‐ lem, was ich in letzter Zeit so zu tun hatte, zusätzlich zu meinen Vorlesungen, dem Roman und den wunderbaren Diners. Ei‐ gentlich dürfte ich heute Abend keinen Schritt vor die Tür tun.« Fields hielt es für richtig, diese letzte Bemerkung zu überhö‐ ren, mochte sie auch noch so leicht dahingesagt sein. Eine bis 1865 in Cambridge schon recht verbreitete Legende be‐ sagte, dass Henry Wadsworth Longfellow es immer spürte, wenn jemand vor seinem sonnengelben Haus im Kolonialstil erschien, und rechtzeitig vor der Tür stand, um den Ankömm‐ ling zu begrüßen, mochte es sich nun um einen lange erwarte‐ ten Gast oder um einen Überraschungsbesuch handeln. Natür‐ lich halten Legenden nicht immer, was sie versprechen, und normalerweise kam jemand vom Hauspersonal an die schwere Tür von Craigie House, das nach seinem vormaligen Besitzer so benannt war. Außerdem hatte Longfellow in den letzten Jahren
Zeiten gehabt, in denen er am liebsten überhaupt niemanden empfangen hätte. Aber an diesem Abend stand Longfellow tat‐ sächlich schon auf der Schwelle, als Fieldsʹ Pferde ihre Last die Auffahrt heraufzogen. Holmes, der im Fenster der Kutsche lehnte, erspähte die aufrechte Gestalt schon von der Straße aus, bevor die weiß bestäubten Hecken sich teilten und verneigten. Der anheimelnde Anblick des Dichters, der da feierlich unter der Lampe stand, mit seinem löwenhaften Bart und seinem ta‐ dellos sitzenden Gehrock, entsprach ganz dem Bild, das sich der Öffentlichkeit eingeprägt hatte. Diese Vorstellung hatte sich nach dem unfasslichen Verlust von Fanny Longfellow verfe‐ stigt, als die Welt darauf erpicht schien, den Dichter (so als sei nicht seine Frau, sondern er selbst gestorben) als himmlisches Wesen im Gedächtnis zu behalten, das herabgestiegen war, um für die Menschheit Zeugnis abzulegen. Und seine Bewunderer bemühten sich, seine Person zum Inhalt einer unvergänglichen Allegorie des Genies und des Leidens zu machen. Die drei Longfellow‐Töchter, die im Schnee gespielt hatten, liefen ins Haus und streiften nur schnell in der Diele ihre Überschuhe ab, bevor sie die scharf abknickende Treppe hinaufrannten. Des Abends kommen meine drei Lieben Die breite Treppe herabgestie‐ gen. Die muntre Allegra, die ernste Alice Und Edith mit dem golde‐ nem Vlies. Holmes war gerade am Fuß der besagten breiten Treppe vor‐ beigegangen und stand jetzt mit Longfellow im Arbeitszimmer, wo die Lampe den Schreibtisch des Dichters beleuchtete. Die
Mädchen waren unterdessen verschwunden. Holmes lächelte vor sich hin und nahm die Pfote von Longfellows kleinem Kläf‐ fer, der die Zähne bleckte und seinen Schweinskörper schüttel‐ te. Dann begrüßte Holmes den altersschwachen, spitzbärtigen Gelehrten, der gebeugt in einem Sessel am Kamin saß und in einen übergroßen Folioband vertieft war. »Und wie gehtʹs dem lebendigsten George Washington in Longfellows Sammlung, mein lieber Greene?« »Besser, besser, danke der Nachfrage, Holmes. Bedauerlicher‐ weise ging es mir jedoch nicht gut genug, um an Richter Hea‐ leys Beerdigung teilzunehmen.« George Washington Greene wurde von den anderen stets als »alt« bezeichnet, war aber erst sechzig ‐ ganze vier Jahre älter als Holmes und zwei Jahre älter als Longfellow. Chronische Krankheiten hatten den unitaristischen Geistlichen und Histo‐ riker vorzeitig altern lassen. Trotzdem kam er jede Woche mit dem Zug aus East Greenwich, Rhode Island, voller Begeiste‐ rung für die Mittwochabende in Craigie House oder auch für Gastpredigten, die er hielt, wann immer man ihn darum bat. Und voller Stolz auf die Werke zur Geschichte des Unabhän‐ gigkeitskrieges, zu deren Abfassung ihn sein Name schicksal‐ haft verpflichtet hatte. »Longfellow, waren Sie auf der Beerdi‐ gung?« »Leider nicht, mein lieber Mr. Greene«, sagte Long‐ fellow. Das letzte Mal war Longfellow einige Zeit vor dem Be‐ gräbnis seiner Frau Fanny, an dem er wegen Bettlägerigkeit nicht teilnehmen konnte, auf dem Friedhof gewesen. »Aber ich nehme doch an, es waren viele da?« »Oh, ja, durchaus, Longfellow.« Holmes verschränkte nach‐
denklich die Hände über der Brust. »Eine schöne, würdige Fei‐ er.« »Vielleicht zu gut besucht«, sagte Lowell, der mit einer Hand voll Bücher aus der Bibliothek kam und sich nicht darum scherte, dass Holmes die Frage schon beantwortet hatte. »Der alte Healey hat gewusst, wo er hingehörte«, bemerkte Holmes leise. »Er wusste, dass sein Platz das Gericht war und nicht die barbarische Arena der Politik.« »Wendell, das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, widersprach Lowell hochfahrend. »Lowell!« Fields sah ihn strafend an. »Zu denken, dass wir Sklavenjäger geworden sind.« Lowell wich nur eine Sekunde lang vor Holmes zurück. Er war um sechs oder sieben Ecken mit den Healeys verwandt, die Lowells waren mindestens Cousins sechsten oder siebten Grades der besten Bostoner Patrizierfamilien, und das beflügelte noch sei‐ nen Widerspruchsgeist. »Hätten Sie jemals eine so feige Ent‐ scheidung gefällt wie Healey, Wendell? Wenn Sie die Wahl ge‐ habt hätten, hätten Sie den jungen Sims in Ketten auf seine Plantage zurückgeschickt? Raus damit, Holmes. Nun sagen Sie schon.« »Wir schulden der Familie des Verstorbenen Respekt«, sagte Holmes schlicht, hauptsächlich an den fast ertaubten Mr. Greene gerichtet, der höflich nickte. Longfellow entschuldigte sich, als von oben ein Glöckchen er‐ tönte. Mochten unter seinen Gästen Professoren oder Geistliche, Senatoren oder Könige sein, bei diesem Signal erhob sich Long‐ fellow unfehlbar und stieg die Treppe hinauf, um seinen Töch‐ tern Alice, Edith und Annie Allegra beim Abendgebet zuzu‐ hören.
Als er zurückkam, hatte Fields das Gespräch bereits geschickt in ruhigere Gewässer gelenkt, und der Dichter wurde von schallendem Gelächter über eine Anekdote empfangen, die Holmes und Lowell gemeinsam erzählt hatten. Der Gastgeber schaute auf seine Mahagoni‐Uhr von Aaron Willard, an der er sehr hing, nicht weil sie besonders schön war oder besonders genau ging, sondern weil sie gemütlicher tickte als andere Uh‐ ren. »Schulbeginn«, sagte er leise. Es wurde still. Longfellow schloss die grünen Fensterläden. Holmes drehte die Moderateurlampen herunter, während die anderen beim Anzünden der Kerzen halfen. Die einander über‐ schneidenden Halos der Kerzenflammen hielten Zwiesprache mit dem flackernden Kaminfeuer. Die fünf Gelehrten und Trap, Longfellows praller Scotch‐Terrier, begaben sich zu ihren ange‐ stammten Plätzen. Longfellow nahm einen Stoß Papier aus der Schublade und gab jedem der Gäste ein paar Seiten mit Dantes italienischem Originaltext sowie die Bürstenabzüge mit der entsprechenden zeilengenauen Übersetzung. In dem fein verwobenen Chiaro‐ scuro von Kaminfeuer, Lampe und Kerzenlicht löste sich die Druckerschwärze scheinbar von den Fahnen, als sei eine Seite von Dante plötzlich unter den Augen der Betrachter zum Leben erwacht. Dante hatte seine Verse in Terzinen angeordnet: Je‐ weils drei Zeilen bildeten eine poetische Einheit, ein Terzett, die erste und die dritte reimten sich, und die mittlere gab den Reim für die erste Zeile des folgenden Terzetts vor, sodass die Reime gewissermaßen vorwärts streben. Holmes genoss es immer, wie Longfellow ihre Dante‐Bespre‐
chungen mit den ersten Versen der Commedia eröffnete, vorge‐ tragen in seinem unprätentiös perfekten Italienisch. »>Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura, ché la di‐ ritta via era smarrita.< ‐ Grad in der Mitte unsrer Lebensreise be‐ fand ich mich in einem dunklen Walde, weil ich den rechten Weg verloren hatte.«
III Als erster Tagesordnungspunkt wurden bei jedem Treffen des Dante Club die Korrekturen von der Sitzung der vorangegan‐ genen Woche durchgesprochen. »Gute Arbeit, mein lieber Longfellow«, sagte Holmes. Er war immer zufrieden, wenn einer seiner Änderungsvorschläge an‐ genommen wurde, und diesmal hatten sogar zwei vom letzten Mittwoch Eingang in Longfellows endgültige Fassung gefun‐ den. Holmes wandte sich den Gesängen dieses Abends zu. Er hatte sich besonders sorgfältig vorbereitet, weil er diesmal die anderen überzeugen musste, dass es ihm darum ging, Dante zu schützen. »Im siebten Kreis«, sagte Longfellow, »erzählt uns Dante, wie er und Vergil in einen schwarzen Wald kommen.« In jedem Bereich der Hölle lässt Dante sich von seinem verehr‐ ten Führer, dem römischen Dichter Vergil, den Weg weisen. Er erfährt vom Schicksal der einzelnen Gruppen von Sündern und sucht jeweils einen oder zwei aus, die sich an die Welt der Le‐ benden wenden. »In den einsamen Wald, der dann und wann in den Albträu‐ men jedes Dante‐Lesers vorkommt«, sagte Lowell. »Dante schreibt so, wie Rembrandt malt, mit einem in Dunkel getauch‐ ten Pinsel und einem Glimmen des Höllenfeuers als Licht.« Lowell hatte wie gewohnt jede Silbe des Originals parat; er leb‐ te Dantes Dichtung mit Leib und Seele. Es war einer der selte‐ nen Fälle, in denen Holmes einen anderen um seine Begabung
beneidete. Longfellow las aus seiner Übersetzung vor. Seine Stimme klang tief und rein, ohne jede Rauheit, wie Wasser, das unter einer frischen Schneedecke fließt. George Washington Greene ließ sich davon einlullen. In seinem grünen Sessel in der Ecke nickte der Gelehrte ein, sanft betäubt vom Singsang des Dich‐ ters und der milden Wärme des Feuers im Kamin. Der kleine Terrier hatte sich unter Greenes Sessel auf sein strammes Bäuchlein gerollt und schlief ebenfalls, und Mensch und Hund schnarchten im Gleichklang, grummelnde Basstöne wie in einer Beethoven‐Sinfonie. Im vorliegenden Gesang befand Dante sich im Wald der Selbstmörder, in der die »Schatten« der Sünder sich in Bäume verwandelt haben, aus denen Blut anstelle von Saft träufelt. Dann folgen weitere Strafen: Bestialische Harpy‐ ien, Frauenköpfe auf Vogelleibern, die Krallen gekrümmt, die Bäuche vorgewölbt, brechen durchs Unterholz und schlagen ihre Fänge in jeden Baum, der ihnen im Weg steht, um sich da‐ von zu nähren. Doch nur durch die Risse und Klüfte in den Bäumen vermögen sie, obgleich unter großen Schmerzen, ihren Qualen Ausdruck zu verleihen und dem Dichter ihre Geschich‐ te zu erzählen. »Das Blut und die Worte müssen gemeinsam austreten.« Sagte Longfellow. Nach zwei Gesängen mit Bestrafungen, deren Zeuge Dante wird, wurden die Bücher mit Lesezeichen versehen und wegge‐ stellt, die Papiere geordnet und anerkennende Bemerkungen ausgetauscht. Longfellow sagte: »Die Schule ist aus, meine Her‐ ren. Es ist halb zehn, und wir haben uns eine kleine Erfrischung
verdient.« »Wissen Sie«, sagte Holmes, »seit einigen Tagen sehe ich unsere Dante‐Arbeit in einem neuen Licht.« Longfellows schwarzer Diener Peter klopfte und flüsterte Lowell zögernd etwas ins Ohr. »Jemand, der mich sprechen will?«, protestierte Lowell. »Wer sollte mich hier aufsuchen?« Als Peter betreten irgendetwas stotterte, polterte Lowell los, dass es im ganzen Haus zu hören war: »Wer in drei Teufels Namen wagt es, uns an unserem Clubabend zu stören?« Peter beugte sich zu Lowell. »Mister Lowell, er sagt, er ist von der Polizei.« In der Diele stampfte Nicholas Rey den Schnee von seinen Stiefeln, dann erstarrte er, als er Longfellows Sammlung von George‐Washington‐Figuren und ‐Gemälden sah. In den ersten Tagen des Unabhängigkeitskrieges hatte das Haus Washington als Hauptquartier gedient. Peter hatte zweifelnd den Kopf schräg gelegt, als Rey ihm sein Abzeichen gezeigt hatte. Rey wurde beschieden, Longfellow dürfe bei seinen Besprechungen am Mittwochabend nicht ge‐ stört werden und er, Polizist hin, Polizist her, müsse im Salon warten. Der Raum, in den er geführt wurde, war eine Art Ge‐ denkstätte, in hellen Farben gehalten, mit einer geblümten Ta‐ pete und schweren Vorhängen. Die milchweiße Marmorbüste einer Frau stand geschützt in einer Nische neben dem Kamin‐ sims, sanft fielen ihre steinernen Locken über die weich model‐ lierten Konturen des Gesichts. Rey stand auf, als zwei Männer hereinkamen. Der eine hatte einen wallenden Bart und strahlte eine Würde aus, die ihn hoch gewachsen erscheinen ließ, ob‐
wohl er von mittlerer Statur war. Sein Begleiter war ein unter‐ setzter, selbstbewusster Mann mit einem Schnauzbart, dessen lange Enden wichtigtuerisch hin und her schwangen. Das war James Russell Lowell, der zunächst verblüfft innehielt und dann auf Rey zuging. Er lachte überlegen, wie einer, der schon Bescheid weiß. »Longfellow, Sie werden es nicht glauben, aber ich habe alles über diesen Mann in der Freigelassenen‐Zeitung gelesen! Er war ein Held in einem Neger‐Regiment, dem Vierundfünfzig‐ sten, und Andrew hat ihn in der Woche von Präsident Lincolns Tod in den Polizeidienst aufgenommen. Welch eine Ehre, Sie bei uns zu haben, mein Freund!« »Das Fünfundfünfzigste Regiment, Professor Lowell, danke«, sagte Rey. »Professor Longfellow, ich entschuldige mich dafür, dass ich Sie Ihren Gästen abspenstig machen muss.« »Wir sind gerade mit dem ernsten Teil fertig geworden, Officer«, sagte Longfellow lächelnd, »und >Mister< genügt völlig.« Sein sil‐ bernes Haar und der buschige Bart verliehen ihm ein patriar‐ chalisches Aussehen, das einem Mann im hohen Alter eher an‐ gestanden hätte als einem Achtundfünfzigjährigen. Longfellow trug einen makellosen schwarzen Gehrock mit vergoldeten Knöpfen und eine anliegende sandfarbene Weste. »Ich habe den Professorentalar schon vor Jahren abgelegt. Nun trägt Pro‐ fessor Lowell ihn an meiner Stelle.« »Aber ich kann mich noch immer nicht an diesen vermaledei‐ ten Titel gewöhnen«, murmelte Lowell. Rey wandte sich ihm zu. »Eine junge Dame in Ihrem Haus hat mir freundlicherweise den Weg hierher beschrieben. Sie sagte,
an einem Mittwochabend würden Sie sich ganz sicher keinen Kanonenschuss weit von zu Hause aufhalten.« »Ach, das muss Mabel gewesen sein!«, lachte Lowell. »Sie hat Sie doch nicht etwa rausgeworfen?« Rey lächelte. »Sie ist eine überaus charmante junge Dame, Sir. Ich bin hier im Auftrag der University Hall, Professor.« Lowell war wie vor den Kopf geschlagen. »Was?«, sagte er leise. Und dann explodierte er, seine Wangen und Ohren glühten bur‐ gunderrot, und seine Stimme brannte ihm im Hals: »Die schik‐ ken einen Polizeibeamten! Mit welchem Recht? Sind das denn Männer, die ihre Meinung nicht sagen können, ohne an den Fäden irgendeiner Marionette der Stadtverwaltung zu ziehen? Erklären Sie sich, Sir!« Rey blieb so stumm wie die Marmorbüste von Longfellows Frau am Kamin. Longfellow legte dem Freund die Hand auf den Arm. »Offi‐ cer, Professor Lowell ist so freundlich, mich zusammen mit ei‐ nigen unserer Kollegen bei einer literarischen Unternehmung zu unterstützen, die zurzeit nicht die Billigung der Universi‐ tätsverwaltung findet. Aber ist dies der Grund, weshalb ...« »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Polizist und ließ seinen Blick auf dem Mann verweilen, der als Erster gesprochen hatte und dessen Gesichtsröte nun genauso jäh erlosch, wie sie ent‐ brannt war. »Ich habe mich an die University Hall gewandt, nicht umgekehrt. Sie müssen nämlich wissen, ich bin auf der Suche nach einem Fremdsprachenexperten, und ein paar Stu‐ denten dort haben mich an Sie verwiesen.« »In diesem Fall muss ich mich entschuldigen, Officer«, sagte Lowell. »Aber Sie
sind an den Richtigen geraten. Ich spreche sechs Sprachen wie ein Muttersprachler ‐ mit leichtem Cambridge‐Akzent.« Der Dichter lachte und legte das Blatt Papier, das Rey ihm ausge‐ händigt hatte, auf Longfellows mit Intarsien verzierten Ro‐ senholz‐Schreibtisch. Er fuhr mit dem Finger die schräg hinge‐ worfenen Buchstaben nach. Rey bemerkte, wie sich Lowells hohe Stirn in Falten legte. »Ein Fremder hat ein paar Worte zu mir gesagt. Was immer er mir mitteilen wollte, er sprach leise, und es ging alles ziemlich schnell. Ich kann mir nur denken, dass es Worte einer unbe‐ kannten Fremdsprache sind.« »Wann war das?«, erkundigte sich Lowell. »Vor ein paar Wochen. Es war eine absonderliche und überra‐ schende Begebenheit.« Rey senkte die Lider. Er erinnerte sich daran, wie die Hand des Fremden seinen Schädel umklammert hatte. Er hörte die Worte noch ganz deutlich, vermochte aber keines von ihnen zu wiederholen. »Ich fürchte, meine Transkription ist äußerst unzulänglich, Professor.« »Eine harte Nuss, in der Tat!«, sagte Lowell und reichte das Blatt an Longfellow weiter. »Tut mir Leid, aber ich werde aus diesen Hieroglyphen nicht schlau. Können Sie den Betreffenden nicht fragen, was er gemeint hat? Oder wenigstens herausbe‐ kommen, welcher Sprache er sich zu bedienen glaubt?« Rey zögerte. Longfellow sagte: »Officer, wir haben hier ein paar hungrige Gelehrte, deren Scharfsinn sich vielleicht mit Austern und Makkaroni beflügeln lässt. Wären Sie wohl so freundlich und würden uns das Blatt hier lassen?«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Longfellow«, sagte Rey. Er musterte die Dichter erneut und fuhr dann fort: »Ich muss Sie bitten, mit niemandem außerhalb Ihres Kreises über den Zweck meines heutigen Besuchs zu sprechen. Es handelt sich um eine heikle polizeiliche Angelegenheit.« Lowell zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Gewiss«, sagte Longfellow und neigte zustimmend den Kopf, als sei diese Art von Vertrauen in Crai‐ gie House selbstverständlich. »Aber halten Sie um Himmels willen heute Abend Ihren Cer‐ berus vom Tisch fern, lieber Longfellow!« Fields steckte sich eine Serviette in den Hemdkragen. Sie saßen im Speisezimmer zu Tisch, jeder auf seinem angestammten Platz. Trap protestier‐ te leise winselnd. »Aber er ist Dichtern durchaus zugetan, Fields«, sagte Long‐ fellow. »Von wegen! Sie hätten ihn letzte Woche sehen müssen, Mr. Greene, als Sie das Bett hüten mussten. Da schnappte sich das freundliche Tier ein Rebhuhn vom Esstisch, während wir im Arbeitszimmer über dem elften Gesang saßen!« »Das war eben seine Vorstellung einer Göttlichen Komödie«, sagte Longfellow lächelnd. »Eine absonderliche Begebenheit«, sagte Holmes vage interes‐ siert. »Hat sich der Polizist nicht so ausgedrückt?« Er hielt den Zettel in der Hand, inspizierte ihn im warmen Licht des Ker‐ zenleuchters und gab ihn dann weiter. Lowell nickte. »Was unser Officer Rey da gehört hat, kommt mir im höchsten Grade infantil vor.« »Ich weiß nicht, aber es könnte sich um stümperhaftes Italie‐
nisch handeln.« George Washington Greene zuckte entschuldi‐ gend die Achseln und reichte den Zettel mit einem asthmati‐ schen Seufzer an Fields weiter. Der Historiker widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Essen. Er wurde immer verlegen, wenn der Dante Club die Bü‐ cher beiseite legte und sich dem Geplauder bei Tisch widmete, denn dann musste er mit den strahlenden Gestirnen an Longfel‐ lows gesellschaftlichem Himmel mithalten. Greenes Leben war ein Flickwerk aus kleinen Hoffnungen und großen Fehlschlä‐ gen. Seine Vorlesungen waren nie so brillant gewesen, dass es für einen Lehrstuhl gereicht hätte, und auch als Geistlicher ü‐ berzeugte er nicht so, dass man ihm eine eigene Pfarrstelle an‐ vertraut hätte. (Seine Vorlesungen, so lästerten manche, erin‐ nerten zu sehr an Predigten, und seine Predigten seien zu histo‐ risch.) Longfellow behielt seinen alten Freund fürsorglich im Auge und ließ ihm besondere Leckerbissen vorlegen. »Dieser Rey«, sagte Lowell bewundernd. »Ein Bild von einem Manne, finden Sie nicht auch, Longfellow? Soldat in unserem größten Krieg und jetzt der erste farbige Angehörige der Poli‐ zei. Ein Jammer, dass wir Professoren immer nur an der Gang‐ way stehen und zusehen, wenn andere auf große Fahrt gehen.« »Aber dank unserer geistigen Arbeit werden wir viel länger le‐ ben«, sagte Holmes. »Jedenfalls stand das in der letzten Ausga‐ be des Atlantic in einem Artikel über die lebensverlängernde Wirkung der Gelehrsamkeit. Übrigens, Kompliment, mein lie‐ ber Fields: wieder eine vorzügliche Ausgabe!« »Ja, ich habe den Artikel auch gelesen«, sagte Lowell. »Her‐ vorragend. Ein junger Autor, den Sie fördern sollten, Fields.«
»Hm.« Fields sah ihn lächelnd an. »Mir scheint, ich sollte mich stets mit Ihnen beraten, ehe ich einen Schriftsteller die Feder aufs Papier setzen lasse. Unser Life of Parcival hat die Review ja ziemlich kurz abgefertigt. Ein Fremder könnte sich durchaus fragen, ob Sie auch nur die geringste Rücksicht auf mich neh‐ men!« »Fields, ich bin grundsätzlich nicht bereit, Quark mit Lob zu überschütten«, sagte Lowell. »Sie sollten es sich überlegen, ob Sie ein Buch herausbringen, das nicht nur für sich genom‐ men armselig ist, sondern auch einem besseren Werk über das Thema im Weg steht.« »Eine Frage an die versammelte Runde: Geht es an, dass Lowell in der North Atlantic Review, einer meiner Zeitschriften, einen Titel meines Verlags verreißt?« »Ich stelle eine Gegenfrage«, sagte Lowell, »nämlich die, ob ir‐ gendjemand hier das Buch gelesen hat und zu einem anderen Urteil gelangt ist.« »Das wiederum kann ich für die ganze Runde mit einem kla‐ ren Nein beantworten«, sagte Fields, »denn ich versichere Ih‐ nen, von dem Tag an, als Ihr Artikel erschien, werter Lowell, haben wir kein einziges Exemplar mehr von dem Titel ver‐ kauft!« Holmes schlug mit der Gabel an sein Glas. »Hiermit verurteile ich Lowell wegen Mordes, denn er ist schuld am Tod von Life.« Alles lachte. »Halten zu Ehren, es starb bei der Ge‐ burt, Richter Holmes«, entgegnete der Angeklagte, »und ich habe nur die Nägel in seinen Sarg geschlagen!« »Sagen Sie, meine Herren«, sagte Greene, möglichst beiläufig auf sein Lieblingsthema zurückkommend, »hat einer von Ihnen etwas Danteskes am diesjährigen Kalender bemerkt?« »Er
stimmt genau mit dem des Dante‐Jahrs 1300 überein«, sagte Longfellow nickend. »In beiden Jahren fiel der Karfreitag auf den fünfundzwanzigsten März.« »Halleluja!«, rief Lowell. »Vor genau fünfhundertfünfund‐ sechzig Jahren ist Dante in die città dolente hinabgestiegen, die Stadt der Schmerzen. Also haben wir wieder ein Dante‐Jahr. Wenn das kein gutes Omen für die Übersetzung ist!« Und mit jungenhaftem Lächeln fragte er: »Oder ein böses?« Doch dann erinnerte ihn seine eigene Bemerkung an die Hartnäckigkeit der Harvard Corporation, und das Lächeln verging ihm. Longfellow sagte: »Morgen werde ich, mit unseren letzten Ge‐ sängen des Inferno in der Hand, in die Hölle der Druckerlehr‐ linge hinabsteigen, und wir werden der Vollendung wieder ein winziges Stückchen näher sein. Ich habe versprochen, bis Jah‐ resende einen Privatdruck des Inferno an das Florentiner Kura‐ torium zu schicken, als bescheidenen Beitrag zur Feier von Dantes sechshundertstem Geburtstag.« »Liebe Freunde«, sagte Lowell stirnrunzelnd, »diese ver‐ dammten Narren in Harvard versuchen immer noch mit allen Mitteln, meinen Dante‐Kurs zu streichen.« »Und Augustus Manning hat mir Konsequenzen angedroht, für den Fall, dass die Übersetzung erscheint«, ergänzte Fields und trommelte frustriert mit den Fingern auf den Tisch. »War‐ um fahren die so schweres Geschütz auf?«, fragte Greene be‐ sorgt. »Auf die eine oder andere Art wollen sie sich Dante so weit wie möglich vom Leib halten«, erklärte Longfellow milde. »Sie fürchten seinen Einfluss. Sie fürchten sein Werk, weil es aus‐
ländisch ist ‐ und weil es katholisch ist, mein lieber Greene.« Gelassen versuchte Holmes sich in die andere Seite hineinzu‐ versetzen: »Man kann es ja fast verstehen, wenn man an be‐ stimmte Passagen bei Dante denkt. Wie viele Väter mussten letzten Juni ihre Söhne auf dem Friedhof besuchen, statt ihren Studienabschluss mit ihnen zu feiern! So mancher braucht wohl keine andere Hölle als die, durch die wir gerade gegangen sind.« Lowell schenkte sich das dritte oder vierte Glas Falerner ein. Fields versuchte ihn mit einem Blick zu besänftigen, aber Lowell sagte: »Wenn die erst mal anfangen, Bücher ins Feuer zu werfen, werden sie bald auch uns in ein Inferno stoßen, dem wir nicht so leicht entkommen werden, mein lieber Holmes!« »Oh, bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin keineswegs dafür, den amerikanischen Geist gegen die Fragen abzuschot‐ ten, die der Himmel auf ihn herabregnen lässt, mein lieber Lowell. Aber vielleicht ...« Er zögerte. Das war seine Chance. Er wandte sich an Longfellow. »Vielleicht sollten wir doch einen weniger ehrgeizigen Publikationsplan ins Auge fassen, lieber Longfellow ‐ vielleicht zunächst einen Privatdruck von einigen Dutzend Exemplaren, damit unsere Freunde und Fachkollegen das Werk kennen lernen und sich von seinen Vorzügen über‐ zeugen können, bevor wir es an die breite Leserschaft vertei‐ len.« Lowell wäre fast aufgesprungen. »Hat Dr. Manning mit Ihnen gesprochen? Hat Manning Sie so eingeschüchtert, dass Sie es wagen, einen solchen Vorschlag zu machen, Holmes?« »Lowell, bitte.« Fields lächelte beschwichtigend. »Manning würde sich deswegen nie an Holmes wenden.«
»Was?« Holmes gab sich begriffsstutzig. Lowell wartete noch immer auf eine Antwort. »Natürlich nicht, Lowell. Manning ist nur einer der Schimmelpilze, die auf jeder älteren Universität wachsen. Aber ich würde doch meinen, dass wir keinen unnö‐ tigen Konflikt heraufbeschwören sollten. Das würde nur von dem ablenken, was wir an Dante lieben. Alles würde sich um den Kampf drehen, nicht um die Dichtung. Zu viele Ärzte mei‐ nen, sie helfen ihren Patienten, wenn sie sie mit vielen Mitteln füttern. Wir sollten bei der Verabreichung unserer gut gemein‐ ten Kuren Umsicht und bei unseren literarischen Unterneh‐ mungen Vorsicht walten lassen.« »Je mehr Verbündete, desto besser«, sagte Fields, an alle gewandt. »Wir können Tyrannen nicht auf Zehenspitzen ausweichen«, sagte Lowell. »Aber wir wollen auch nicht als Häuflein der fünf Aufrechten gegen die ganze Welt antreten«, ergänzte Holmes. Er freute sich, dass Fields sich offenbar schon mit dem Gedanken an ei‐ nen Aufschub anzufreunden begann: Er würde seinen Roman beenden, bevor die Öffentlichkeit auch nur ein Wort von Dante zu hören bekam. »Lieber lasse ich mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen«, rief Lowell. »Ich würde mich sogar lieber eine Stunde lang al‐ lein mit der Harvard Corporation einschließen lassen, als den Erscheinungstermin der Übersetzung auch nur um eine Stunde hinauszuschieben.« »Natürlich werden wir unsere Zeitpläne nicht ändern«, sagte Fields. Damit nahm er Holmes den Wind aus den Segeln. »Aber Holmes hat Recht, dass wir nicht ganz allein dastehen sollten«,
fuhr er fort. »Natürlich sollten wir versuchen, Verbündete zu gewinnen. Ich könnte den alten Professor Ticknor bitten, allen Einfluss geltend zu machen, den er noch hat. Und vielleicht Mr. Emerson, der vor Jahren Dante studiert hat. Kurz nach dem Er‐ scheinen eines Buches weiß kein Mensch, ob davon fünftausend Exemplare abzusetzen sind oder nicht. Doch wenn fünftausend Exemplare verkauft sind, dann lassen sich mit Sicherheit auch fünfundzwanzigtausend absetzen.« »Könnten die versuchen, Ihnen Ihr Lehramt zu entziehen, Mr. Lowell?«, erkundigte sich Greene, noch immer mit der Harvard Corporation beschäftigt. »Dafür ist er viel zu berühmt als Dichter«, behauptete Fields. »Es kümmert mich einen feuchten Kehricht, was die mit mir machen, in jeder Hinsicht! Ich werde Dante nicht den Philistern ausliefern«, ereiferte sich Lowell. »Das will natürlich keiner von uns!«, sagte Holmes eilfertig. Zu seiner eigenen Überraschung war er keineswegs entmutigt, sondern fühlte sich sogar bestärkt: Er hatte nicht nur Recht, er würde es auch schaffen, seine Freunde vor Dante und Dante vor dem Übereifer seiner Freunde zu retten. Die Runde ließ sich von seiner Zuversicht anstecken. »Hört, hört« und »So ist es«, riefen die anderen, am lautesten Lowell. Greene, der bemerkte, dass er noch etwas Tomatenfarce auf der Gabel hatte, beugte sich hinab, um seinen Überfluss mit Trap zu teilen. Unter dem Tisch hindurch sah er, dass Long‐ fellow aufstand. Obwohl die fünf Freunde in der Abgeschiedenheit von Craigie House an Longfellows Esstisch unter sich waren, wurde es
mucksmäuschenstill, so selten kam es vor, dass Longfellow sich erhob, um einen Toast auszubringen. »Auf unser aller Wohl.« Mehr sagte er nicht. Aber die anderen jubelten, als sei es eine zweite Unabhängigkeitserklärung. Anschließend gab es Kirsch‐ Cobbler und Eiskrem sowie Kognak mit flambierten Zucker‐ würfeln, und Zigarren wurden ausgewickelt und an den Ker‐ zenflammen angezündet. Bevor der Abend endete, überredete Fields Longfellow, die Geschichte der Zigarren zu erzählen. Wollte man Longfellow dazu bewegen, in irgendeiner Weise über sich selbst zu spre‐ chen, musste man sein Interesse mit einem neutralen Thema tarnen. »Ich war geschäftlich im Corner Bookstore«, begann Longfellow, und Fields musste schon im Voraus lachen, »als Mr. Fields mich überredete, ihn in einen Tabakladen um die Ecke zu begleiten, wo er Geschenke einkaufen wollte. Der Ta‐ bakhändler legte ihm ein Kistchen mit Zigarren einer Marke vor, die ich, ich schwöre es, mein Lebtag nicht gesehen hatte. Und er sagte mit allem gebührenden Ernst: >Dies, Sir, sind die Lieblingszigarren von Longfellow. <« »Und was haben Sie ge‐ antwortet?«, fragte Greene im allgemeinen Gelächter. »Ich sah mir den Mann an, schaute auf die Zigarren hinab und sagte: >Tja, dann muss ich sie wohl mal probierend Und dann erstand ich eine Kiste und bat ihn, sie mir zustellen zu lassen.« »Und, wie finden Sie sie nun, mein lieber Longfellow?« Lowell verschluckte sich vor Lachen fast an seinem Dessert. Long‐ fellow blies genüsslich den Rauch aus. »Der Mann hatte Recht. Sie sind wirklich gut.«
»>Deshalb ist es gut, dass ich mich mit Vorsicht bewaffne, so‐ dass ich, wenn mir der liebste Ort genommen wird ...<«, stotter‐ te der Student und fuhr mit dem Finger unter den italienischen Zeilen hin und her. Etliche Jahre musste Lowells Arbeitszimmer in Elmwood jetzt schon als Übungsraum für seinen Dante‐Kurs herhalten. In sei‐ nem ersten Semester als Smith‐Professor hatte er einen Raum beantragt und eine trostlose Kammer im Untergeschoss der University Hall zugewiesen bekommen, mit langen Brettern anstelle von Tischen und einem Katheder für den Professor, das noch aus der Zeit der Puritaner stammen musste. Die Teilneh‐ merzahl sei so niedrig, wurde Lowell beschieden, dass der Kurs keinen Anspruch auf einen besseren Raum habe. Aber das schadete nichts. So hielt er eben Hof in Elmwood, was zudem den Vorteil hatte, dass er sich an seiner Pfeife und einem war‐ men Holzfeuer erfreuen konnte und nicht aus dem Haus zu gehen brauchte. Der Kurs traf sich zweimal die Woche an Tagen, die Lowell bestimmte, manchmal sogar am Sonntag, dem Tag, an dem Boccaccio Jahrhunderte vor ihm die ersten Dante‐Vorlesungen in Florenz gehalten hatte. Oft lauschte Mabel Lowell im Zim‐ mer nebenan, das nur durch zwei offene Bogen abgeteilt war, dem Unterricht ihres Vaters. »Denken Sie daran, Mead«, sagte Professor Lowell, als der Student frustriert abbrach, »in diesem fünften Kreis des Him‐ mels, dem Kreis der Märtyrer, hat Cacciaguida dem Dichter prophezeit, dass er aus Florenz verbannt wird, sobald er in die Welt der Lebenden zurückkehrt, unter Androhung des Feuer‐
todes für den Fall, dass er die Stadt jemals wieder betritt. Nun, Mead, berücksichtigen Sie das, wenn Sie die nächste Zeile über‐ setzen ‐ >io non perdessi li altri per i miei carmiʹ.« Lowells Italienisch war fließend und stets grammatikalisch korrekt. Mead, Harvard‐Student im vorletzten Jahr, fand jedoch insgeheim, dass man an Lowells überdeutlicher Aussprache jeder einzelnen Silbe, so als hinge keine mit der folgenden zu‐ sammen, eben doch den Amerikaner erkenne. »>Ich will nicht auch noch die anderen Orte durch meine Ge‐ dichte verlieren.<« »Halten Sie sich an den Text, Mead! Carmi sind Lieder, nicht einfach nur Gedichte. Auch die Melodie ist wichtig. Zur Zeit der Bänkelsänger bezahlte man und konnte dann wählen, ob man die Moritaten in Gesangsform oder als Predigt hören woll‐ te. Ein Lied, das zugleich Predigt, und eine Predigt, die zugleich Gesang ist ‐das ist Dantes Komödie. >... dass ich nicht durch mei‐ ne Lieder noch andere Orte verscherze.< Eine angemessene Ü‐ bersetzung, Mead.« Mit einer Geste, die aussah, als streckte er sich, tat Lowell seine Genugtuung kund. »Dante wiederholt sich«, sagte Pliny Mead trocken. Edward Sheldon, sein Nebenmann, verzog das Gesicht. »Wie Sie ja selbst sagen«, fuhr Mead fort, »hat >ein göttlicher Prophet< be‐ reits vorhergesehen, dass Dante Schutz und Zuflucht bei Can‐ grande finden wird. Welche >anderen< Orte braucht er also noch? Unsinn um der Dichtung willen.« »Wenn Dante von einer zukünftigen neuen Heimat kraft sei‐ nes Werkes spricht«, entgegnete Lowell, »wenn er von den an‐ deren Orten spricht, die er sucht, meint er nicht sein Leben im
Jahre 1302 ‐ dem Jahr seiner Verbannung ‐, sondern sein zweites Leben, denn durch seine Dichtung wird er jahrhundertelang lebendig bleiben.« Mead ließ nicht locker. »Aber der >liebste Ort< wird ihm doch gar nicht weggenommen; er entfernt sich selbst davon. Florenz hat ihm die Möglichkeit geboten, nach Hause zurückzukehren, zu Frau und Kindern, aber er hat abgelehnt!« Pliny Mead hatte seine Lehrer und seine Kommilitonen noch nie durch Genialität beeindruckt, aber an diesem Tag hatte er die Noten für seine Arbeiten aus dem letzten Semester bekom‐ men. Sie waren schlechter ausgefallen als erhofft, und deshalb grollte er Lowell. Mead erklärte sich sein schlechtes Abschnei‐ den ‐ er war 1867 vom zwölften auf den fünfzehnten Platz zu‐ rückgefallen ‐damit, dass er in Diskussionen über die französi‐ sche Literatur öfter einmal anderer Meinung gewesen war als Lowell und dass der Professor es nicht ertrug, von jemandem ins Unrecht gesetzt zu werden. Mead hätte seine Kurse in le‐ benden Sprachen am liebsten ganz abgebrochen, wäre da nicht die Vorschrift der Corporation gewesen, dass ein Student, der sich einmal für einen Sprachkurs eingeschrieben hatte, minde‐ stens drei weitere Semester dabeibleiben musste ‐ einer der Tricks, mit denen man die jungen Männer von vornherein da‐ von abhalten wollte, mit diesen Fächern auch nur zu liebäu‐ geln. Und so hatte Mead jetzt diesen grandiosen Schaumschlä‐ ger James Russell Lowell am Hals ‐ und Dante Alighieri. »Ein schönes Angebot haben sie ihm gemacht!«, lachte Lowell. »Straffreiheit und Wiedereinsetzung in all seine angestammten Rechte in Florenz, aber als Gegenleistung des Dichters Abbitte
und ein ordentlicher Batzen für den Stadtsäckel! Wir haben die Südstaaten‐Rebellen unter weniger demütigenden Bedingun‐ gen wieder in die Union aufgenommen. Schandbar wäre es für einen Mann, der laut nach Gerechtigkeit ruft, sich auf solch ei‐ nen faulen Kompromiss mit seinen Verfolgern einzulassen.« »Na ja, aber Dante ist trotzdem nach wie vor Florentiner, was immer wir sagen!«, beharrte Mead und versuchte, mit einem Verschwörerblick Sheldon auf seine Seite zu ziehen. »Verstehst du nicht, Sheldon? Dante schreibt ständig von Florenz und von den Florentinern, mit denen er im Jenseits spricht, und das alles schreibt er im Exil! Für mich ist sonnenklar, Freunde, dass er sich nur nach der Rückkehr sehnt. Dass er verarmt in der Ver‐ bannung stirbt, ist für mich seine endgültige schwere Niederla‐ ge.« Irritiert gewahrte Edward Sheldon, dass Mead grinste, weil er Lowell zum Schweigen gebracht hatte. Lowell war aufge‐ standen und hatte die Hände in die Taschen seiner ziemlich abgetragenen Hausjacke gesteckt. Aber Sheldon erkannte in Lowells Haltung, im Qualmen seiner Pfeife, eine höhere Gei‐ stesverfassung. Es war, als wandle er auf einer anderen Ebene der geistigen Wahrnehmung, hoch über dem Arbeitszimmer in Elmwood, während er in seinen schweren Schnürstiefeln auf und ab ging. Im Normalfall nahm Lowell keinen Studienanfän‐ ger in einen Literaturkurs für Fortgeschrittene auf, aber Shel‐ don hatte sich nicht abweisen lassen, und Lowell hatte ihn pro‐ beweise angenommen. Sheldon war ihm nach wie vor dankbar für diese Chance und hoffte auf eine Möglichkeit, Lowell und Dante gegen Mead zu verteidigen. Sheldon wollte schon etwas sagen, aber ein warnender Blick von Mead hielt ihn davon ab.
Lowell ließ sich seine Enttäuschung über Sheldon anmerken, wandte sich dann aber wieder Mead zu. »Wo bleibt denn der Jude in Ihnen, mein Lieber?« »Wie bitte?«, rief Mead. »Ach, lassen Sie nur. Ich sehe das nicht so, Mead. Dantes Thema ist der Mensch ‐ nicht ein Mensch.« Lowell sprach mit einer sanften Geduld, die er nur Studenten gegenüber aufbrach‐ te. »Die Italiener zupfen Dante ständig am Ärmel, damit er sagt, dass er ihre Politik und ihre Denkungsart gutheißt. Ihre Art, mein Gott! Das Werk auf Florenz oder Italien zu beschränken bedeutet, ihm das Wohlwollen der Menschheit zu entziehen. Wir lesen Das verlorene Paradies als Gedicht, Dantes Komödie da‐ gegen als Chronik unseres Innenlebens. Kennt ihr jungen Bur‐ schen Jesaja, Kapitel 38, Vers 10?« Sheldon überlegte angestrengt. Mead saß mit verstockter Mie‐ ne da und überlegte erst gar nicht, ob er die Stelle kannte. »>Ego dixi: In dimidio dierum meorum vadam ad portas ìnferi!<«, krähte Lowell und war mit drei Schritten am Bücherregal, wo er die zitierte Stelle sofort in einer lateinischen Bibel fand. »Sehen Sie?«, sagte er und legte sie aufgeschlagen auf den Läufer zu Füßen seiner Studenten, hocherfreut, dass er exakt aus dem Ge‐ dächtnis zitiert hatte. »Soll ich übersetzen?«, fragte Lowell. »>Ich sprach: In der Mit‐ te meiner Tage werde ich zu den Pforten der Hölle gehen.< Gibt es irgendetwas, woran die Autoren unserer alten Schriften nicht gedacht hätten? Irgendwann in der Mitte unseres Lebens treten wir, wir alle, einen Gang an, der uns in eine ganz persönliche Hölle führt. Wie lautet die erste Zeile von Dantes Gedicht?« »>Grad in der Mitte unsrer Lebensreise<«, zitierte Edward
Sheldon eifrig, der diesen einleitenden Paukenschlag des Infer‐ no immer und immer wieder auf seinem Zimmer in Stoughton Hall gelesen hatte, denn kein anderer Gedichtvers war ihm je so nachgegangen, nie hatte ihn der Ruf eines anderen so ermutigt. »>... befand ich mich in einem dunklen Walde.<« »Nel mezzo del cammin di nostra vita. Grad in der Mitte unsrer Lebensreise«, wiederholte Lowell mit einem so durchdringen‐ den Blick Richtung Kamin, dass Sheldon sich umblickte, weil er dachte, Mabel Lowell sei hinter ihm ins Zimmer gekommen, doch ihr Schatten verriet, dass sie noch immer nebenan saß. »Unsrer Lebensreise. Von der ersten Zeile an bezieht Dantes Gedicht uns in die Reise ein, wir gehen wie er auf Pilgerfahrt, und wir müssen uns genauso bedingungslos unserer Hölle stel‐ len, wie Dante sich seiner stellt. Sie sehen, der große, unver‐ gängliche Wert des Gedichts liegt darin, dass es die Autobio‐ graphie einer menschlichen Seele ist. Und das kann ebenso gut Ihre oder meine sein wie die Dantes.« Während Sheldon die nächsten fünfzehn Zeilen des italienischen Textes vorlas, dachte Lowell bei sich, wie schön es sei, etwas Handfestes zu lehren. Wie töricht war doch Sokratesʹ Vorschlag, die Dichter aus A‐ then zu verbannen! Mit Genugtuung würde er zusehen, wie Augustus Manning sich geschlagen geben musste, wenn Long‐ fellows Übersetzung sich als riesiger Erfolg erwies. Tags darauf verließ Lowell die University Hall, nachdem er eine Vorlesung über Goethe gehalten hatte. Er war bass er‐ staunt, als plötzlich ein kleiner Italiener in einem verschosse‐ nen, aber makellos gebügelten Jackett an ihm vorbeilief. »Ba‐ chi?«, sagte Lowell.
Pietro Bachi war vor Jahren von Longfellow als Dozent für Italienisch engagiert worden. Die Corporation hatte nie etwas davon gehalten, Ausländer einzustellen, ganz zu schweigen von italienischen Papisten; da half es auch nichts, dass Bachi vom Vatikan verbannt worden war. Bis Lowell die Institutslei‐ tung schließlich übernahm, hatte die Corporation höchst ein‐ leuchtende Gründe gefunden, sich Pietro Bachi vom Hals zu schaffen: sein aufbrausendes Temperament und seine Insol‐ venz. Am Tag seiner Entlassung hatte der Italiener Professor Lowell grollend geschworen: »Man wird mich hier nie mehr sehen, weder tot noch lebendig.« Lowell hatte das damals wört‐ lich genommen. »Mein lieber Professor.« Bachi streckte seinem einstigen Insti‐ tutsleiter die Hand hin, und der schüttelte sie herzlich. »Tja«, setzte Lowell an und überlegte, ob er Bachi fragen sollte, wie es ihn, offenkundig am Leben und wohlauf, in den Harvard Yard verschlagen habe. »Ich vertrete mir nur ein bisschen die Füße, Professor«, erklär‐ te Bachi. Doch da er angespannt an Lowell vorbeisah, beendete der Professor den Austausch von Höflichkeiten. Als er sich, zu‐ nehmend verwundert über Bachis Erscheinen, noch einmal kurz umdrehte, sah er Bachi auf eine Gestalt zugehen, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Es war der Mann mit dem schwar‐ zen Bowlerhut und der karierten Weste, der Bewunderer der Dichtkunst, der einige Wochen zuvor an der Ulme gelehnt hat‐ te. Was hatte der mit Bachi zu schaffen? Lowell blieb stehen, um zu sehen, ob Bachi den Unbekannten, der ganz offensicht‐ lich auf jemanden wartete, begrüßen würde. Aber dann kam
plötzlich ein ganzer Schwarm Studenten aus dem Gebäude ge‐ laufen, froh, den Griechisch‐Rezitationen entronnen zu sein, und Lowell verlor das seltsame Paar ‐wenn denn tatsächlich eine Verbindung zwischen den beiden bestand ‐ aus den Au‐ gen. Lowell vergaß die Episode gleich wieder und strebte zur Juri‐ stischen Fakultät. Dort stand Oliver Wendell Holmes junior in‐ mitten von Kommilitonen und erklärte ihnen, was sie bei einem bestimmten juristischen Problem falsch verstanden hatten. Aus der Ferne sah der junge Mann seinem Vater durchaus ähnlich, aber es war, als hätte jemand den kleinen Doktor genommen und ihn auf einem Gerüst auf die doppelte Länge gestreckt. Dr. Holmes ging am Fuß der Dienstbotentreppe auf und ab. Er blieb vor einem Wandspiegel stehen und kämmte seinen dich‐ ten braunen Schopf auf eine Seite. Holmes fand, dass der Spie‐ gel kein sehr schmeichelhaftes Abbild seiner Person bot. »Es dient zwar praktischen Zwecken, trägt aber kaum zu meiner Verschönerung bei«, sagte er gern. Als er Tritte von schweren Schuhen hörte, merkte er auf und zog sich rasch in ein Zimmer zurück. Dann ging er, in ein altes Buch blickend, betont lässig wieder zur Treppe. Oliver Wendell Holmes junior kam hereingepoltert und sprang mit Riesensätzen die Treppe hinauf. »Ach, Wendy«, rief Holmes lächelnd, »bist duʹs?« Sein Sohn hielt mitten auf der Treppe inne. »Hallo, Vater.« »Deine Mutter hat mich gerade gefragt, ob ich dich heute schon gesehen hätte, und da wurde mir bewusst, dass das nicht
der Fall war. Wo kommst du denn zu so später Stunde her, mein Junge?« »Ich war spazieren.« »Aha. Ganz allein?« Der junge Mann blieb stirnrunzelnd auf dem Treppenabsatz stehen. Er warf seinem Vater unter seinen dunklen Augenbrau‐ en hervor einen finsteren Blick zu. »Wenn duʹs genau wissen willst: Ich hab mich draußen mit James Lowell unterhalten.« Holmes spielte den Verwunderten. »Mit Lowell? Seid ihr in letzter Zeit öfter zusammen? Du und Mr. Lowell?« Eine breite Schulter zuckte leicht nach oben. »Und worüber redet ihr, du und unser gemeinsamer Freund, wenn ich fragen darf?«, fuhr Dr. Holmes mit einem liebenswürdigen Lächeln fort. »Über Politik, meinen Kriegsdienst, meine juristischen Vorle‐ sungen. Wir verstehen uns ganz gut, würde ich sagen.« »Mir scheint, du verbringst neuerdings zu viel Zeit mit derlei Zer‐ streuungen. Ich befehle dir, diese banalen Ausflüge mit Mr. Lowell ab sofort zu unterlassen!« Keine Antwort. »Das raubt dir die Zeit, die du für deine Studien brauchst. Und das können wir doch nicht einreißen lassen, nicht wahr?« Der Junior lachte. »Jeden Morgen höre ich von dir: >Was soll das Ganze, Wendy? Aus einem Juristen wird nie ein großer Mann, Wendy.<« Er sprach mit leiser, belegter Stimme. »Und jetzt soll ich auf einmal fleißiger studieren?« »Stimmt genau, Junior. Es kostet Schweiß, es kostet Nerven‐ fett, es kostet Phosphor, irgendetwas zu tun, was der Mühe wert ist. Ich werde bei unserer nächsten Dante‐Club‐Sitzung mal ein Wörtchen mit Mr. Lowell reden. Bestimmt ist er meiner Meinung. Er war selbst einmal Anwalt und weiß, was dazu nö‐ tig ist.«
Holmes strebte zur Diele, recht zufrieden mit dem Machtwort, das er gesprochen hatte. Der junge Holmes brummte etwas. Dr. Holmes drehte sich um. »Wolltest du noch etwas sagen, mein Junge?« »Ich mache mir nur so meine Gedanken«, sagte der Junior. »Ich möchte gern mehr über euren Dante Club wissen, Vater.« Wendell junior hatte sich nie für die literarische oder berufliche Tätigkeit seines Vaters interessiert. Er hatte weder seine Ge‐ dichte noch seinen ersten Roman gelesen und auch nicht seine öffentlichen Vorträge über medizinische Fortschritte oder die Geschichte der Dichtkunst besucht. Noch ausgeprägter war sein Desinteresse geworden, nachdem Holmes im Atlantic Monthly »Meine Suche nach dem Captain« veröffentlicht hatte. Darin schilderte er seine Reise durch die Südstaaten, nachdem er ein Telegramm erhalten hatte, das fälschlicherweise vom Tod sei‐ nes Sohnes auf dem Schlachtfeld berichtete. Der junge Holmes hatte seinerzeit die Korrekturfahnen über‐ flogen und dabei den pochenden Schmerz in seinen Wunden gespürt. Er begriff nicht, dass sein Vater glaubte, er könne den ganzen Krieg in ein paar tausend Worte verpacken, die über‐ wiegend Anekdoten von sterbenden Rebellen in Krankenhaus‐ betten und von kleinstädtischen Hotelangestellten erzählten, die ihn fragten, ob er nicht der Autokrat des Frühstückstischs sei. »Ich meine«, fuhr der junge Mann mit einem schiefen Grin‐ sen fort, »fühlst du dich wirklich als Mitglied?« »Ich muss schon sehr bitten, Wendy. Was soll denn das hei‐ ßen? Was weißt du darüber?« »Nur, dass Mr. Lowell sagt, deine Stimme sei vor allem bei
Tisch zu hören, weniger bei der Arbeit. Für Mr. Longfellow ist diese Arbeit sein Leben; für Lowell ist sie Berufung. Verstehst du, er handelt nach seiner Überzeugung und spricht nicht bloß von ihr, genau wie früher, als er noch Anwalt war und Sklaven verteidigte. Für dich ist das doch bloß eine weitere Gelegenheit, die Gläser klingen zu lassen.« »Hat Lowell gesagt ...«, setzte Holmes an. »Also pass mal auf, mein Sohn!« Aber der war inzwischen oben angekommen und ging in sein Zimmer. »Was weißt du denn schon über den Dante Club!«, rief sein Vater ihm nach. Er wanderte ratlos durchs Haus und zog sich dann in sein Ar‐ beitszimmer zurück. Seine Stimme hauptsächlich bei Tisch? Je öfter er sich diese Behauptung vorsagte, desto verletzender wurde sie: Lowell versuchte, seinen Platz zur Rechten Longfel‐ lows zu behaupten, indem er sich auf Holmesʹ Kosten als über‐ legener Geist aufspielte. Die Worte seines Sohnes, gesprochen von Lowells lautem Bariton, klangen ihm in den Ohren, als er die nächsten Wochen verbissen schrieb und mit einer Stetigkeit vorankam, die eigentlich gar nicht in seiner Natur lag. Wenn ihm irgendetwas Neues einfiel, war das für ihn ein sibyllini‐ scher Moment, aber beim Schreiben selbst hatte er für gewöhn‐ lich ein unangenehm dumpfes Gefühl hinter der Stirn, das nur gelegentlich nachließ, wenn sich eine Wortkaskade oder ein unerwartetes Bild einstellte, was dann einen heillosen Anfall von Begeisterung und Selbstbeglückwünschung auslöste, in dessen Verlauf er sich manchmal schier infantilen Exzessen des Ausdrucks und des Tuns hingab. Er konnte ohnehin nicht viele
Stunden hintereinander arbeiten, ohne sein körperliches Wohl‐ befinden ernstlich zu gefährden. Er bekam oft kalte Füße, einen heißen Kopf und Unruhe in den Muskeln und musste dann un‐ bedingt aufstehen. Abends beendete er jegliche anstrengende Arbeit vor elf und nahm eine leichte Lektüre zur Hand, um sei‐ nen Kopf frei zu machen. Ein Übermaß an Geistesarbeit verur‐ sachte ihm Unbehagen, so als hätte er zu viel gegessen. Er führ‐ te das zum Teil auf das erschöpfende, nervenaufreibende Klima zurück. Brown‐Séquard, ein Medizinerkollege aus Paris, hatte ihm gesagt, Tiere bluteten in Amerika nicht so stark wie in Eu‐ ropa. War das nicht eine beunruhigende Vorstellung? Trotz der Beschränkungen, die seine Konstitution ihm auferlegte, schrieb Holmes jetzt wie ein Besessener. »Ich glaube, ich sollte es übernehmen, mit Professor Ticknor da‐ rüber zu sprechen, ob er uns in unserer Dante‐Sache unterstüt‐ zen kann«, sagte Holmes zu Fields. Er hatte den Verleger in seinem Büro aufgesucht. »Nanu?« Fields las drei Sachen gleichzeitig: ein Manuskript, einen Vertrag und einen Brief. »Wo ist die Vereinbarung über die Tantiemen?« J.R. Osgood zog einen weiteren Stapel von Papieren hervor. »Sie sind überarbeitet, Fields, und Sie müssen auch noch an die nächste Nummer des Atlantic denken ‐ Sie sollten Ihrem über‐ anstrengten Gehirn ohnehin etwas Ruhe gönnen«, meinte Hol‐ mes. »Und ich habe schließlich bei Professor Ticknor studiert. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ich den größten Einfluss auf den alten Knaben habe, und das kann Longfellow nur zu‐
gute kommen.« Holmes konnte sich noch an die Zeit erinnern, als Boston in literarischen Kreisen Ticknorville genannt wurde: Wurde man nicht in Ticknors literarischen Salon eingeladen, war man ein Niemand. Der Raum hatte früher den Beinamen Ticknors Thronsaal gehabt, heute wurde er öfter Ticknors Eis‐ berg genannt. Der ehemalige Professor war bei vielen in Miss‐ kredit geraten, als dünkelhafter Müßiggänger und Gegner des Abolitionismus, aber seine Stellung als einer der Literaturpäp‐ ste der Stadt blieb unangetastet. Vielleicht war es möglich, sei‐ nen Einfluss zum Nutzen des Dante Club neu zu beleben. »Es gibt in der Tat zu viel, was an meinem Lebensnerv nagt, mein lieber Holmes«, seufzte Fields. »Schon der Anblick eines Manuskripts ist mir widerwärtig.« Er ließ seinen forschenden Blick auf Holmes ruhen und erklärte sich dann einverstanden. »Aber grüßen Sie Ticknor herzlich von mir, Wendell, ja?« Fields, das wusste Holmes, war erleichtert, dass er die Aufgabe, mit George Ticknor zu sprechen, nicht selbst hatte übernehmen müssen. Professor Ticknor ‐ er bestand immer noch auf dieser Anrede, obwohl er seit seiner Pensionierung vor dreißig Jahren nicht mehr lehrte ‐ hatte nie viel von seinem jüngeren Cousin William D. Ticknor gehalten, und diese Geringschätzung er‐ streckte sich auch auf Williams Partner J. T. Fields, wie er Hol‐ mes klar machte, nachdem der Doktor die Wendeltreppe in der Park Street Nr. 9 hinaufgeleitet worden war. »Dieses lärmende Gerangel um Profite, das Bücher nur unter dem Aspekt von Gewinn und Verlust sieht«, sagte Professor Ticknor und zog verächtlich die Mundwinkel herab. »Mein Cousin William litt an dieser Krankheit, Dr. Holmes, und hat
leider Gottes auch meine Neffen angesteckt. Diejenigen, die im Schweiße ihres Angesichts arbeiten, dürfen in der Literatur nicht das Sagen haben. Finden Sie nicht auch, Holmes?« »Aber Mr. Fields hat doch auch einen klaren Blick, oder? Er wusste, dass Ihre Geschichte sich gut verkaufen würde, Profes‐ sor. Und er ist überzeugt, dass Longfellows Dante sein Publi‐ kum finden wird.« Eigentlich hatte Ticknors History of the Span‐ ish Literature fast nur Leser unter den Mitarbeitern der Zeit‐ schriften gefunden, doch der Professor hielt das für einen aus‐ reichenden Beweis seines Erfolgs. Ticknor überging Holmesʹ Loyalitätsbekundung und zog vor‐ sichtig die Hände aus einer klobigen Maschine. Er hatte sich die Schreibmaschine ‐ eine Art Druckerpresse en miniature, wie er sagte ‐ bauen lassen, als das Zittern seiner Hände so schlimm wurde, dass er nicht mehr schreiben konnte. Er hatte gerade an einem Brief gearbeitet, als Holmes kam. Ticknor, in Hausschuhen und mit einem violetten Käppchen auf dem Kopf, taxierte mit kritischem Blick den Schnitt von Holmesʹ Kleidern und die Qualität seiner Krawatte und seines Einstecktuchs. »Nein, Doktor, Mr. Fields weiß zwar, was die Leute lesen, wird aber nie ganz verstehen, warum sie lesen. Er lässt sich von der Begeisterung guter Freunde mitreißen. Ein gefährlicher Charakterzug.« »Sie haben immer betont, wie wichtig es sei, in den gebildeten Schichten die Kenntnis fremder Kulturen zu verbreiten«, erin‐ nerte ihn Holmes. In dem durch zugezogene Vorhänge abge‐ dunkelten Zimmer wurde der alte Professor nur vom Holzfeuer
im Kamin schwach erhellt, eine Beleuchtung, die seine zahllo‐ sen Falten nicht so stark hervortreten ließ. Holmes tupfte sich die Stirn ab. Ticknors Eisberg war von dem stets geschürten Kamin stickig heiß. »Wir müssen uns bemühen, unsere Ausländer zu verstehen, Dr. Holmes, damit wir die Neuankömmlinge dazu bewegen können, sich unserem Nationalcharakter anzupassen und sich willig unseren Institutionen zu unterwerfen. Sonst bringen es diese Außenseiter noch so weit, dass wir uns ihnen anpassen müssen.« Holmes ließ sich nicht entmutigen. »Unter uns, Pro‐ fessor, wie beurteilen Sie die Aussichten, dass die Öffentlichkeit Mr. Longfellows Übersetzung annehmen wird?« Er wirkte so ernst und entschlossen, dass Ticknor längere Zeit schwieg und nachdachte. Mit zunehmendem Alter hatte er als Schutz gegen die Traurigkeit die Neigung entwickelt, alle Fragen nach seiner Gesundheit oder dem Zustand der Welt mit etwa einem Dut‐ zend festgelegter Formulierungen zu beantworten. »Es ist meine feste Überzeugung, dass Mr. Longfellow Bewun‐ dernswertes vollbringen wird. Ich habe ihn ja nicht von unge‐ fähr zu meinem Nachfolger in Harvard erkoren. Aber verges‐ sen Sie nicht, auch ich habe einst den Vorsatz gefasst, Dante hier einzuführen, doch dann hat die Corporation meine Stelle zur Farce gemacht ...« Seine kohlschwarzen Augen trübten sich. »Ich hätte nie gedacht, dass ich es noch erleben würde, dass ein Amerikaner Dante übersetzt, und mir ist nicht klar, wie er diese Aufgabe meistern wird. Ob eine breite Leserschaft sich darauf einlassen wird, ist eine Frage, die nur Volkes Stimme beantwor‐ ten kann, im Unterschied zu den gelehrten Dante‐Liebhabern.
Auf dieser Richterbank zu sitzen, wäre ich niemals kompetent genug«, sagte Ticknor. »Aber ich neige immer mehr zu der An‐ sicht, dass die Hoffnung, Dante könnte zur Lektüre für viele werden, töricht wäre. Verstehen Sie mich nicht falsch, Dr. Hol‐ mes. Wie Longfellow habe ich Dante viele Jahre meines Lebens gewidmet. Fragen Sie nicht, was Dante zum Menschen bringt, sondern was den Menschen zu Dante bringt ‐ dazu, sich in sei‐ ne Sphäre zu begeben, mag sie auch noch so streng und erbar‐ mungslos sein.«
IV Unter den Straßen, inmitten der Toten, hielt Reverend Elisha Talbot, Geistlicher der Zweiten Unitaristischen Kirche von Cambridge, eine Laterne hoch, während er sich zwischen den aufgestapelten Särgen und den Haufen zerfallener Gebeine hin‐ durch die Gänge entlangschlängelte. Eigentlich, dachte er, könnte er auf seine Petroleumlampe verzichten, so vertraut wa‐ ren ihm inzwischen die Windungen und die Dunkelheit dieser unterirdischen Gewölbe, und auch der Verwesungsgeruch vermochte seiner Nase nichts mehr anzuhaben. Eines Tages, so nahm er sich vor, würde er den Weg ohne Lampe bewältigen, nur geleitet von seinem Gottvertrauen. Einen Moment lang meinte er, ein Rascheln zu hören. Er fuhr herum, aber die Gräber und Schiefersäulen standen reglos wie immer. »Ist da jemand zum Leben erwacht?« Seine Stimme, berühmt für ihr melancholisches Timbre, wurde von der stickigen Luft verschluckt. Es war vielleicht eine unpassende Äußerung für einen Geistlichen, aber die Wahrheit war: Er hatte plötzlich Angst. Wie alle Männer, die fast immer allein sind, litt Talbot unter mannigfachen geheimen Ängsten. Der Tod hatte ihn von jeher über das normale Maß hinaus in Furcht versetzt; das war seine größte Schande. Vielleicht war dies einer der Gründe, weshalb er immer wieder einmal durch die unterirdischen Ge‐ wölbe seiner Kirche streifte: der Wunsch, diese unfromme
Angst vor der Sterblichkeit des Leibes zu überwinden. Und vielleicht auch eine Erklärung dafür, dass er den rationalisti‐ schen Vorschriften des Unitarismus gegenüber den calvinisti‐ schen Dämonen der älteren Generationen so eindeutig den Vorzug gab. Er pfiff nervös in seine Lampe und näherte sich schon dem Treppenschacht am jenseitigen Ende des Gewölbes, der ihm die Rückkehr zu den warmen Gaslampen und einen kürzeren Weg nach Hause als den über die Straßen versprach. »Wer da?«, fragte er und schwenkte seine Lampe. Diesmal war er sich sicher, dass sich irgendetwas bewegt hatte. Aber wieder blieb alles still. Das Geräusch war für Nagetiere zu laut, für Gassenjungen zu leise gewesen. Was in aller Welt?, dachte er. Reverend Talbot hielt die summende Petroleumlampe auf Augenhöhe. Er hatte gehört, dass Banden von Vandalen, durch Krieg und Stadtplanung heimatlos geworden, neuerdings in verlassenen Grabkammern Unterschlupf suchten. Talbot be‐ schloss, am nächsten Morgen einen Polizisten zu bestellen, der nach dem Rechten sehen sollte. Obwohl, was hatte es ihm ge‐ nutzt, als er tags zuvor den Raub von tausend Dollar aus dem Tresor in seiner Wohnung angezeigt hatte? Bestimmt hatte die Polizei von Cambridge nichts in der Sache unternommen. Nur gut, dass die Diebe von Cambridge genauso unfähig waren und den übrigen wertvollen Inhalt des Tresors nicht angerührt hat‐ ten. Reverend Talbot war ein rechtschaffener Mann und tat seinen Nächsten und seiner Gemeinde nur Gutes. Abgesehen davon, dass er manchmal vielleicht ein wenig übereifrig war. Drei Jah‐ re zuvor, kurz nachdem man ihm die Zweite Kirche anvertraut
hatte, hatte er sich bereit gefunden, Männer aus Deutschland und den Niederlanden anzuwerben. Mit dem Versprechen ei‐ nes Platzes in seiner Gemeinde und einer gut bezahlten Ar‐ beitsstelle hatte er sie nach Boston geholt. Wenn schon Katholi‐ ken aus Irland scharenweise ins Land strömten, warum nicht auch ein paar Protestanten hereinholen? Allerdings handelte es sich bei der versprochenen Arbeit um elende Schufterei beim Eisenbahnbau, und Dutzende seiner Schützlinge waren an Ent‐ kräftung oder Krankheiten zugrunde gegangen und hatten Frauen und Kinder in bitterer Armut zurückgelassen. Talbot hatte sich stillschweigend aus dem Projekt zurückgezogen und anschließend jede Spur seiner Beteiligung verwischt. Aber er hatte »Beraterhonorare« von den Eisenbahngesellschaften an‐ genommen. Um sein Gewissen zu beruhigen, wollte er das Geld irgendwann zurückgeben, aber das war dann nicht ge‐ schehen. Stattdessen hatte er versucht, die ganze Geschichte zu vergessen, und fortan bei jeder wichtigen Entscheidung darauf geachtet, die Verbohrtheit anderer an den Pranger zu stellen. Mit langsamen, vorsichtigen Schritten wich Reverend Talbot zurück, und plötzlich stieß er gegen etwas Hartes. Er erstarrte und dachte im ersten Moment, er habe seinen inneren Kompass verloren und sei gegen eine Wand gelaufen. Seit vielen Jahren war Elisha Talbot nicht mehr von einem anderen Menschen festgehalten oder auch nur berührt worden ‐ außer beim Hän‐ deschütteln. Nun aber konnte nicht einmal er bezweifeln, dass die Wärme der Arme, die sich um seine Brust schlossen und ihm die Laterne wegnahmen, von einem anderen Menschen ausging. In der Umklammerung war Leidenschaft, ja böse Ab‐
sicht zu spüren. Als Talbot wieder zu Bewusstsein kam, ge‐ wahrte er in einem kurzen Moment der Ewigkeit, dass eine an‐ dere, undurchdringliche Schwärze ihn umgab. Der stechende Geruch der Katakombe war noch immer in seiner Lunge, aber jetzt strich eine kalte, dichte Feuchtigkeit über seine Wangen, er schmeckte etwas Salziges und begriff, dass ihm sein eigener Körperschweiß in den Mund sickerte. Auch liefen ihm die Trä‐ nen aus den Augenwinkeln über die Stirn. Es war kalt, kalt wie in einem Eishaus. Sein Körper, sämtlicher Kleider beraubt, zit‐ terte. Dennoch fraß sich Hitze in sein taubes Fleisch und rief eine nie gekannte Empfindung hervor. War es ein unerträgli‐ cher Albtraum? Ja, natürlich! Es musste an dem unsäglichen Schund liegen, den er in letzter Zeit vor dem Einschlafen gele‐ sen hatte, Geschichten von Dämonen, Untieren und derglei‐ chen. Doch er erinnerte sich nicht, dass er aus dem Gewölbe gestiegen wäre, erinnerte sich nicht, sein bescheidenes, pfirsich‐ farbenes Holzhaus betreten und Wasser für seinen Waschtisch geholt zu haben. Er war gar nicht aus der Unterwelt aufge‐ taucht und über die Bürgersteige von Cambridge gegangen. Ihm fiel auf, dass sich sein Herz nach oben verlagert hatte. Es schlug über ihm, pochte verzweifelt und pumpte das Blut nach unten in den Kopf. Sein Atem ging schwach und stoßweise. Der Geistliche merkte, dass er wie wild mit den Füßen in der Luft strampelte, und die Hitze überzeugte ihn vollends, dass dies kein Traum war: Er war dem Tod nahe. Es war seltsam. Angst empfand er in diesem Augenblick am allerwenigsten. Vielleicht hatte er seinen ganzen Vorrat zu Lebzeiten aufge‐ braucht. Stattdessen erfüllte ihn tiefer, rasender Zorn darüber,
dass dies geschehen konnte ‐ dass es einem Kind Gottes be‐ schieden sein sollte zu sterben, während alle anderen unbehel‐ ligt weiterleben durften. Mit tränenerstickter Stimme wollte er beten: »Gott, vergib mir, wenn ich Unrecht getan habe.« Statt‐ dessen entrang sich seiner Kehle ein durchdringender Schrei, doch er verlor sich im Hämmern seines Herzens.
V Am Sonntag, dem zweiundzwanzigsten Oktober 1865, brachte die Abendausgabe des Boston Transcript auf der Titelseite ein Inserat, in dem eine Belohnung in Höhe von zehntausend Dol‐ lar ausgelobt wurde. Nie war die Öffentlichkeit so erstaunt ge‐ wesen, nie hatten so viele Kutschen an Zeitungskiosken gehal‐ ten, seit dem scheinbar ein Menschenleben zurückliegenden Tag, an dem Fort Sumter angegriffen worden war und alle Welt noch geglaubt hatte, die Rebellion der Südstaaten könne in ei‐ nem Feldzug von drei Monaten niedergeschlagen werden. Die Witwe Healey hatte Polizeichef Kurtz mit einem knappen Tele‐ gramm von ihrer Absicht unterrichtet. Für das Telegramm hatte sie sich ganz bewusst entschieden, denn sie vermutete, dass viele es vor dem Polizeichef lesen würden. Sie stehe im Begriff, teilte sie Kurtz mit, fünf Bostoner Zeitungen über die Umstände der Ermordung ihres Mannes aufzuklären und eine Belohnung für Hinweise auszusetzen, die zur Ergreifung seines Mörders führen würden. Sie wisse, dass wegen mehrerer Korruptionsfäl‐ le im Kriminalamt die Stadtväter den Polizisten per Erlass un‐ tersagt hätten, Geschenke anzunehmen, aber es spreche wohl nichts dagegen, dass sich Privatleute bereicherten. Sie könne sich denken, schrieb sie, dass Kurtz darüber nicht erbaut sein werde, aber schließlich habe er sein Versprechen nicht einge‐ löst. Die Abendausgabe des Transcript brachte als erstes Blatt die Meldung. Ednah Healey dachte sich unterdessen bereits
grausame Strafen für den Schurken aus. In ihrer Lieblingsphan‐ tasie wurde der Mörder auf den Galgenberg gebracht, doch statt ihn zu hängen, würde man ihn nackt ausziehen und an‐ zünden. Dann dürfte er (natürlich vergebens) versuchen, das Feuer zu löschen. Diese Gedanken erregten sie und ängstigten sie zugleich. Außerdem lenkten sie sie davon ab, sich mit ihrem Mann und dem zunehmenden Hass auf ihn zu beschäftigen, den sie empfand, weil er sie im Stich gelassen hatte. Man zog ihr Fäustlinge an, die man an den Handgelenken zu‐ band, um sie daran zu hindern, sich noch weiter die Haut zu zerkratzen. Die Manie war zum Dauerzustand geworden, und ihre Kleidung verbarg schon längst nicht mehr die Narben ihrer Selbstverstümmelung. In einem albtraumhaften Anfall war sie eines Abends aus ihrem Schlafzimmer gestürmt und hatte ver‐ zweifelt nach einem Versteck für das Medaillon gesucht, das die Locke vom Kopf ihres Mannes enthielt. Am nächsten Mor‐ gen hatten ihre Dienstboten und ihre Söhne das ganze Haus durchsucht, von den Hohlräumen unter den Fußbodendielen bis zu den Dachbalken hinauf, doch sie hatten nichts gefunden. Es war auch besser so. Mit diesem Andenken um den Hals hät‐ te die Witwe Healey womöglich nie mehr ein Auge zugetan. Glücklicherweise wusste sie nicht, dass der Oberrichter Healey während seines Martyriums an jenen ungewöhnlich warmen Spätherbsttagen immer wieder »Meine Herren Geschworenen ...« vor sich hingemurmelt hatte, immer und immer wieder, während hungrige Maden sich zu Hunderten durch die Wunde in den vibrierenden Schwamm seines Gehirns bohrten und je‐ des der geschlüpften Insekten wiederum Hunderte gefräßiger
Larven heckte. Als Erstes konnte Oberrichter Artemus Prescott Healey einen Arm nicht mehr bewegen. Dann bewegte er die Finger, wenn er glaubte, mit dem Bein auszuschlagen. Mit der Zeit gerieten ihm die Worte durcheinander. »Meine geschwore‐ nen Herren ...« Er hörte, dass es Unsinn war, aber er konnte nichts dagegen tun. Der Teil des Gehirns, der die Syntax steuer‐ te, wurde von Kreaturen angeknabbert, die nicht einmal Ge‐ schmack daran fanden, sich aber nun einmal davon ernähren mussten. Als er irgendwann im Lauf der vier Tage noch einmal einen klaren Moment hatte, gaukelte seine Seelenpein ihm vor, er sei tot gewesen, und er betete darum, wieder zu sterben. »Schmetterlinge und das letzte Bett ...« Er starrte die zerschlis‐ sene Fahne an, die über ihm flatterte, und grübelte mit dem winzigen Rest seines Verstandes, der ihm geblieben war. Am frühen Abend, nachdem Reverend Talbot gegangen war, hatte der Küster der Zweiten Unitaristischen Kirche von Cam‐ bridge die Ereignisse der Woche in die Kirchenchronik einge‐ tragen. Talbot hatte am Morgen eine aufrüttelnde Predigt gehalten. Danach war er noch eine Zeit lang in der Kirche ge‐ blieben und hatte sich an den lobenden Kommentaren der Dia‐ kone erfreut. Als Talbot den Küster Gregg daraufhin bat, die schwere steinerne Tür am Ende des Kirchenflügels aufzuschlie‐ ßen, in dem die Büros lagen, hatte der insgeheim den Kopf ge‐ schüttelt. Dem Küster war, als seien nur ein paar Minuten ver‐ strichen, als er einen lang gezogenen Schrei hörte. Das Ge‐ räusch schien von nirgendwoher zu kommen, und doch lag seine Quelle zweifellos irgendwo innerhalb der Kirche. Unwill‐ kürlich, den Kopf voller Gedanken an die längst Begrabenen,
legte der Küster das Ohr an die Schiefertür, die zu den unterir‐ dischen Grabgewölben führte, den düsteren Katakomben der Kirche. Der Schrei war längst verklungen, doch Gregg war sich nun seltsamerweise fast sicher, dass die Töne aus der hohlen Tiefe hinter der Tür aufgestiegen waren! Der Küster löste den rasselnden Schlüsselbund von seinem Gürtel und schloss die Tür auf, so wie er es kurz zuvor für Talbot getan hatte. Er holte tief Luft und stieg hinab. Gregg arbeitete seit zwölf Jahren hier. Reverend Talbot hatte er zum ersten Mal in einer Reihe öffentli‐ cher Diskussionen mit Bischof Fenwick über das bedrohliche Erstarken der katholischen Kirche in Boston gehört. Talbot hatte in diesen Debatten mit Nachdruck drei Hauptthe‐ sen vertreten: 1. Die abergläubischen Rituale und verschwenderischen Ka‐ thedralen des Katholizismus seien gotteslästerliche Götzen‐ verehrung. 2. Die Neigung der Iren, sich zuhauf in der Umgebung ihrer Kirchen und Klöster niederzulassen, werde zu Verschwörun‐ gen gegen Amerika führen und sei ein Beweis für ihren Wi‐ derstand gegen ihre Amerikanisierung. 3. Das Papistentum, die große Gefahr aus dem Ausland, die alle Aspekte der katholischen Bewegung durchdringe, bedrohe mit seinem Missionierungseifer und dem Bestreben, das ganze Land in die Gewalt zu bekommen, alle einheimischen Religio‐ nen. Natürlich billigte keiner der antikatholischen unitaristischen
Geistlichen das Vorgehen erzürnter Bostoner Arbeiter, die ein katholisches Kloster niederbrannten, nachdem Zeugen ausge‐ sagt hatten, protestantische Mädchen seien entführt worden und würden in Klöstern gefangen gehalten und zu Nonnen er‐ zogen. Die Randalierer hatten mit Kreide ZUM TEUFEL MIT DEM PAPST auf die Ruinen gekritzelt. Das war weniger Aus‐ druck einer feindlichen Einstellung gegenüber dem Vatikan als vielmehr eine Warnung an die Adresse der Iren, die ihnen im‐ mer öfter die Arbeit wegnahmen. Aufgrund seiner Debatten und seiner antikatholischen Predig‐ ten und Schriften hatten einige Reverend Talbot ermuntert, sich um die Nachfolge von Professor Norton an der Theologischen Fakultät von Harvard zu bemühen. Er hatte abgelehnt. Zu sehr genoss er das Gefühl, im sonntäglich ruhigen Cambridge sein überfülltes Gotteshaus zu betreten und in seinem schlichten College‐Talar von der Kanzel herab den feierlichen Akkorden der Orgel zu lauschen. Obwohl er stark schielte und in dem tiefen, melancholischen Tonfall sprach, den man anstimmt, wenn im Haus ein Toter aufgebahrt liegt, strahlte er auf der Kanzel Selbstbewusstsein aus. Und als Seelenhirte war er über jeden Tadel erhaben. Das war das Feld, auf dem seine Fähigkei‐ ten zur Geltung kamen. Seit seine Frau 1825 im Kindbett ge‐ storben war, hatte Talbot nie wieder Familie gehabt und sich auch keine mehr gewünscht. Er fand Erfüllung in seiner Ge‐ meinde. Der Schein der Petroleumlampe wurde immer schwächer, während den Küster nach und nach der Mut verließ. Mit jedem Ausatmen hüllte ein Dunstwölkchen sein Gesicht ein und kit‐
zelte ihn am Schnurrbart. Draußen war zwar noch Herbst, aber in den Gewölben unter der Zweiten Kirche herrschte tiefster Winter. »Ist da jemand? Es ist nicht gestattet ...« Die Stimme des Küsters schien nicht weit in die Schwärze des Gewölbes vorzu‐ dringen, und er machte den Mund rasch wieder zu. Längs der Wände bemerkte er verstreute kleine weiße Punkte. Als ihre Dichte zunahm, blieb er stehen, um sie zu inspizieren, doch ein lautes Knistern weiter vorne zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Und dann nahm er einen furchtbaren Gestank wahr, der viel widerwärtiger war als der Modergeruch der Gruft. Der Kü‐ ster hielt sich den Hut vor die Nase und ging weiter, zwischen den Särgen auf dem gestampften Lehmboden und den trauri‐ gen steinernen Bögen hindurch. Riesige Ratten huschten die Wände entlang. Ein flackerndes Glimmen, das nicht von seiner eigenen Lampe stammte, erhellte den vor ihm liegenden Weg, und das Knistern war in ein gleichmäßiges Zischen überge‐ gangen. »Ist da jemand?«, rief der Küster zaghaft und hielt sich an den schmutzigen Ziegelsteinen der Wand fest, als er um die Ecke bog. »Allmächtiger!«, rief er. Aus einem frisch gegrabenen Loch im Boden ragten die Füße eines Menschen hervor. Die Beine waren bis zur Wade sichtbar, der übrige Körper steckte in dem Loch. Die Sohlen beider Füße brannten. Die Gelenke zuckten so krampfhaft, dass es aussah, als vollführten die Füße vor Schmerz Tretbewegungen. Das Fleisch an den Füßen war teilweise verschmort, und die Flam‐ men umzüngelten bereits die Knöchel. Der Küster wich zurück und stieß an ein Häufchen Kleider,
das auf der Erde lag. Er packte das oberste Stück und schlug damit auf die brennenden Füße ein, bis das Feuer ausging. »Wer sind Sie?«, rief er, doch der Mann, für den Küster nur ein Paar Füße, war tot. Erst jetzt bemerkte Gregg, dass das Kleidungsstück, mit dem er das Feuer erstickt hatte, der Talar eines Geistlichen war. Er kämpfte sich durch Haufen menschlicher Gebeine, die an die Oberfläche gelangt waren, bis zu den ordentlich zusammenge‐ legten Kleidungsstücken, und inspizierte sie: Unterzeug, ein vertrauter Umhang, die weiße Halsbinde, der Schal und die blank gewichsten schwarzen Schuhe des geliebten Reverend Elisha Talbot. Oliver Wendell Holmes schloss die Tür seines Büros im ersten Stock des Medical College hinter sich und stieß auf dem Flur beinahe mit einem Streifenpolizisten zusammen. Die Vorberei‐ tungen für den nächsten Tag hatten länger gedauert als vorge‐ sehen; er hatte gehofft, früher fertig zu werden und noch etwas Zeit mit Wendell junior verbringen zu können, bevor dessen Freunde kamen. Der Polizist war auf der Suche nach einem Zu‐ ständigen: Der Polizeichef brauche den Sezierraum der Medizi‐ nischen Fakultät, und man habe nach Professor Haywood ge‐ schickt, damit er bei einer Leichenschau assistiere. Es habe nämlich einen beklagenswerten Mordfall gegeben. Der Coro‐ nor, Mr. Barnicoat, sei nicht aufzufinden. Nicholas Rey ver‐ schwieg, dass Barnicoat sich am Wochenende vorzugsweise in Kneipen aufhielt und bestimmt nicht in der Lage war, eine Lei‐ chenschau durchzuführen. Da die Räume des Dekans leer wa‐
ren, hielt Holmes sich als ehemaliger Dekan (ja, ja, fünf Jahre am Ruder des Schiffes haben mir gereicht, und wer möchte mit sechsundfünfzig noch so viel Verantwortung tragen?) für be‐ rechtigt, der Bitte des Polizisten zu entsprechen. Ein Polizeiwagen mit Polizeichef Kurtz und seinem Stellver‐ treter Savage fuhr vor, und eine zugedeckte Bahre wurde ei‐ lends in das Gebäude getragen, begleitet von Professor Hay‐ wood und einem Studenten, der ihm assistieren sollte. Hay‐ wood lehrte Praktische Chirurgie und interessierte sich seit ei‐ niger Zeit sehr für Obduktionen. Gegen Barnicoats Widerstand zog die Polizei den Professor gelegentlich hinzu, etwa wenn ein im Keller eingemauertes kleines Kind oder ein in einem Schrank hängender Mann gefunden wurde. Holmes nahm mit Interesse zur Kenntnis, dass Kurtz zwei Wachtmeister an der Tür aufstellte. Wer würde denn auf die Idee kommen, zu dieser Abendstunde ins Medical College ein‐ zudringen? Kurtz schlug die Decke nur bis zu den Knien des Leichnams zurück. Das reichte. Holmes musste einen Aufschrei unterdrücken, als er die nackten Füße des Mannes sah, sofern man überhaupt noch von Füßen sprechen konnte. Die Füße ‐ und nur sie ‐ waren mit einer nach Petroleum rie‐ chenden brennbaren Flüssigkeit überschüttet und angezündet worden. Furchtbar verbrannt, dachte Holmes entsetzt. Die bei‐ den Klumpen standen wie verrenkt von den Gelenken ab. Die Haut, kaum noch als solche zu erkennen, war aufgequollen und in der Hitze aufgeplatzt. Rosa Gewebe trat hervor. Professor Haywood beugte sich darüber, um besser sehen zu können. Holmes hatte schon Hunderte von Leichen geöffnet, aber er be‐
saß im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen nicht den für so grässliche Fälle erforderlichen eisernen Magen und musste vom Untersuchungstisch zurücktreten. In seiner Laufbahn als Professor hatte er nicht selten den Hörsaal verlassen müssen, wenn ein lebendes Kaninchen chloroformiert werden sollte, und seinen Assistenten beschworen, das Tier nicht quieken zu lassen. Ihm wurde schwindlig. Es kam ihm vor, als sei plötzlich kaum mehr Luft im Raum, und der stickige Rest roch penetrant nach Äther und Chloroform. Er wusste nicht, wie lange die Lei‐ chenschau dauern würde, aber er spürte, dass er nicht mehr lange dabeibleiben konnte, ohne in Ohnmacht zu fallen. Hay‐ wood deckte nun den ganzen Leichnam auf, einschließlich des hochroten, schmerzverzerrten Gesichts, und wischte dem Toten den Schmutz von Augen und Wangen. Widerstrebend ließ Holmes den Blick über den nackten Körper wandern. Nur schemenhaft nahm er das vertraute Gesicht wahr, wäh‐ rend Haywood über den Leichnam gebeugt stand und der Poli‐ zeichef Kurtz eine Frage nach der anderen stellte. Niemand hat‐ te Holmes gebeten, seine Meinung für sich zu behalten, und als Parkman‐Professor für Anatomie und Physiologie an der Har‐ vard‐Universität hätte er durchaus etwas zur Diskussion bei‐ tragen können. Aber er konzentrierte sich lediglich darauf, sein seidenes Halstuch zu lockern. Er blinzelte krampfhaft und konnte sich nicht entscheiden, ob es besser war, die Luft anzu‐ halten und damit den Sauerstoff zu nutzen, den er bereits ein‐ geatmet hatte, oder hastig ein‐ und auszuatmen, um die letzten Reste Luft zu horten, bevor die anderen sie verbrauchten, die offenbar nicht merkten, wie schal die Luft war, und bestimmt in
Kürze ohnmächtig zusammensinken würden. Einer der Anwesenden fragte Dr. Holmes, ob er sich nicht wohl fühle. Er hatte ein eindrucksvolles, freundliches Gesicht und leuchtende Augen und war dem Aussehen nach Mulatte. Seine Sprechweise kam Holmes irgendwie bekannt vor. Dann fiel es ihm trotz seiner Benommenheit wieder ein: Es war der Polizist, der während der Sitzung des Dante Club gekommen war, um mit Lowell zu sprechen. »Professor Holmes? Stimmen Sie der Einschätzung von Pro‐ fessor Haywood zu?«, fragte Kurtz, möglicherweise in dem höf‐ lichen Bemühen, ihn in das Verfahren einzubeziehen, denn Holmes war beileibe nicht nahe genug an den Leichnam heran‐ getreten, um einen auch nur halbwegs stichhaltigen Befund abgeben zu können. Holmes dachte scharf nach und meinte sich zu erinnern, dass Haywood zu Kurtz gesagt hatte, der Ver‐ storbene habe noch gelebt, als seine Füße in Brand gesteckt wurden, und sei offenbar nicht in der Lage gewesen, sich gegen seinen Peiniger zu wehren. Sein Gesichtsausdruck und das Feh‐ len anderer Verletzungen lasse den Schluss zu, dass er an ei‐ nem Herzschlag gestorben sei. »Aber ja doch, gewiss«, erwider‐ te Holmes. »Ja, natürlich.« Er wich zur Tür zurück, wie um sich vor einer tödlichen Gefahr in Sicherheit zu bringen. »Aber viel‐ leicht kommen Sie ein Weilchen ohne mich aus, meine Her‐ ren?« Der Polizeichef stellte weiter seine Fragen an Professor Hay‐ wood. Holmes gelangte zur Tür und in den Flur hinaus, war schon bald auf dem Hof und sog in raschen, gierigen Zügen die Luft ein.
Die Abenddämmerung umfing Boston, als der Doktor sich sei‐ nen Weg zwischen den Verkaufskarren hindurchbahnte, vorbei an Sesamkuchen, Krügen mit Ingwerbier und weiß bekittelten Austern‐ und Hummerverkäufern, die ihre Monstrositäten hochhielten. Er konnte sich sein Verhalten angesichts der Lei‐ che von Reverend Talbot noch immer nicht verzeihen. Es war ihm so peinlich, dass er es noch nicht wagte, sein Wissen um Talbots Tod anderen mitzuteilen, er war noch nicht zu Fields oder Lowell geeilt, um ihnen die sensationelle Nachricht zu überbringen. Wie konnte er, Dr. Oliver Wendell Holmes, Dok‐ tor und Professor der Medizin, angesehener Dozent und Er‐ neuerer der Heilkunde, beim Anblick einer Leiche so aus der Fassung geraten, als handelte es sich um einen Geist in einem sentimentalen Roman? Wendell junior hätte sich sehr über die alberne Ängstlichkeit seines Vaters gewundert. Der junge Hol‐ mes war sowieso überzeugt, dass er einen besseren Arzt abge‐ ben würde als sein Vater, und auch einen besseren Professor, Ehemann und Vater. Mit seinen noch nicht einmal fünfund‐ zwanzig Jahren hatte der Junior sich bereits auf dem Schlacht‐ feld bewährt, hatte zerfetzte Körper gesehen, von Kanonen zu Hunderten niedergemähte Kameraden, Gliedmaßen, die wie Blätter abfielen, und Amputationen, die mit Zimmermannssä‐ gen von Amateurchirurgen ausgeführt wurden, während die vor Schmerzen brüllenden Verwundeten von blutverschmier‐ ten Hilfsschwestern auf den Türen festgehalten wurden, die als Operationstische dienten. Als sein Cousin wissen wollte, war‐ um Wendell junior einen so dichten Schnurrbart habe, während
ihm selbst nur ein dünner Flaum wuchs, hatte Wendell erwi‐ dert: »Meiner ist mit Blut getränkt worden.« Holmes überlegte, was er alles über die Kunst des Brotbackens wusste und wie man auf einem Bostoner Markt die besten Brot‐ verkäufer an Kleidung, Benehmen oder Herkunft erkennen konnte. Zerstreut und geistesabwesend, doch mit dem sicheren Griff des Arztes, befühlte er die feilgebotenen Waren. Sein Ta‐ schentuch war ganz feucht von dem Schweiß, den er sich von der Stirn gewischt hatte. Am nächsten Lebensmittelstand sto‐ cherte eine grässliche alte Frau mit den Fingern im Pökelfleisch herum. Der Gedanke an seine Besorgung konnte ihn nicht dau‐ erhaft ablenken. Vor dem Stand einer imposanten Irin wurde dem Doktor klar, dass der Schock, den er im Medical College erlitten hatte, tiefer saß als angenommen. Er war nicht nur vom Abscheu vor dem verstümmelten Körper und dem Grauen vor dessen stummer Anklage ausgelöst worden. Und es lag auch nicht allein daran, dass Elisha Talbot, der zu Cambridge gehör‐ te wie die Washington‐Ulme, ermordet worden war, noch dazu auf so brutale Weise. Nein, irgendetwas an dem Mord kam ihm bekannt vor, erinnerte ihn an etwas. Holmes kaufte einen noch warmen Laib Brot und machte sich auf den Heimweg. Er überlegte, ob er Talbots Tod vielleicht in einem prophetischen Traum gesehen hatte. Aber er glaubte nicht an solche Schreckgespenster. Er musste irgendwo eine Beschreibung der grausigen Tat gelesen haben, deren Einzelhei‐ ten jählings auf ihn eingestürmt waren, als er Talbots Leichnam sah. Aber welcher Text konnte solche Gräuel enthalten? Gewiss keine medizinische Zeitschrift. Und in der Zeitung konnte es
auch nicht gestanden haben, denn der Mord war ja gerade erst passiert. Holmes blieb mitten auf der Straße stehen und stellte sich vor, wie der Prediger mit den lichterloh brennenden Füßen gestrampelt haben mochte, während das Feuer sich ... »>Dai calcagni a le punte<«, flüsterte Holmes vor sich hin: Von der Fer‐ se bis zu den Zehen ‐ so brennen die bestechlichen Kleriker, die Simonisten, bis in alle Ewigkeit in ihren Felsenlöchern. Ihm wurde flau. »Dante! Es ist Dante!« Amelia Holmes stellte die kalte Wildpastete in die Mitte ihrer fertig gedeckten Tafel. Sie gab der Küchenhilfe ein paar Anwei‐ sungen, strich sich das Kleid glatt und trat vor die Haustür, um nach ihrem Mann Ausschau zu halten. Vor fünf Minuten, da war sie sich sicher, hatte sie aus dem Fenster im ersten Stock Wendell in die Charles Street einbiegen sehen, mutmaßlich mit dem Brot, das er zum Abendessen mitbringen sollte, zu dem sie mehrere Gäste erwarteten, darunter auch Annie Fields. (Und wie konnte eine Gastgeberin sich jemals wieder im Salon von Annie Fields blicken lassen, wenn bei ihr selbst nicht alles tipp‐ topp war?) Aber die Charles Street war ausgestorben, bis auf die schwindenden Schatten ihrer Bäume. Vielleicht war es ein anderer kleiner Mann im Gehrock gewesen, den sie vom Fen‐ ster aus gesehen hatte. Henry Wadsworth Longfellow untersuchte das Blatt Papier, das Rey zurückgelassen hatte. Er analysierte den Buchstabensa‐ lat, schrieb den Text mehrmals auf ein anderes Blatt ab und stellte die Buchstaben der einzelnen Wörter auf verschiedene
Arten anagrammatisch um, nur um sich gegen jeden Gedanken an die Vergangenheit abzuschirmen. Seine Töchter waren bei der Familie seiner Schwester in Portland zu Besuch, und seine beiden Söhne waren getrennt im Ausland unterwegs, sodass einsame Tage vor ihm lagen, die er in der Vorstellung mehr genoss als in Wirklichkeit. Am Morgen dieses Tages, desselben, an dem Reverend Talbot ermordet wurde, hatte der Dichter vor Morgengrauen im Bett gesessen und sich nicht entsinnen können, ob er überhaupt ge‐ schlafen hatte. Das war nichts Ungewöhnliches. Longfellows Schlaflosigkeit beruhte nicht auf Angstträumen und war auch nicht durch ruheloses Herumwerfen im Bett gekennzeichnet. Er beschrieb den Dämmerzustand, in den er bei Nacht geriet, so‐ gar als ziemlich friedvoll, so etwas Ähnliches wie Schlaf. Er war dankbar dafür, dass er sich nach langem nächtlichem Wachen am Morgen trotzdem erfrischt fühlte, weil er immerhin lange geruht hatte. Manchmal aber glaubte er im schwachen Schein seiner Nachttischlampe ihr gütiges Gesicht zu sehen, das aus der Ecke auf ihn herabschaute, hier in dem Zimmer, in dem sie gestorben war. Dann fuhr er jedes Mal hoch. Die bittere Enttäu‐ schung, die dieser im Ansatz erstickten Freude folgte, war schlimmer als jeder Albtraum, an den er sich erinnern oder den er sich vorstellen konnte, denn welches Phantombild er in der Nacht auch gesehen haben mochte, am Morgen war er doch immer allein. Wenn er dann seinen Morgenrock anzog, kamen ihm die fließenden silbernen Strähnen seines Bartes schwerer vor als beim Zubettgehen am Abend zuvor. Als Longfellow über die Hintertreppe nach unten ging, trug er einen Gehrock
mit einer Rose im Knopfloch. Er ertrug es nicht, ungepflegt zu sein, nicht einmal zu Hause. Am Fuß der Treppe hing ein Druck von Giottos Porträt des jungen Dante, auf dem anstelle des einen Auges ein Loch war. Giotto hatte das Fresko im Bar‐ gello in Florenz gemalt, doch im Lauf der Jahrhunderte war es übertüncht worden und in Vergessenheit geraten. Nun existier‐ te nur noch eine lithographische Kopie des beschädigten Fres‐ kos. Dante hatte Giotto Modell gesessen, bevor ihn die Entbeh‐ rungen des Exils ereilten und er gegen sein Schicksal ankämp‐ fen musste; er war noch der stille Verehrer Beatrices, ein junger Mann von mittlerer Statur mit einem dunklen, melancholi‐ schen, nachdenklichen Antlitz: große Augen, eine vorstehende Unterlippe und Züge von beinahe femininer Feinheit. Der junge Dante, so will es die Legende, sprach nur selten, wenn er nicht gefragt wurde. Hing er einer besonders ange‐ nehmen Phantasie nach, achtete er auf nichts außerhalb seiner eigenen Gedankenwelt. Einmal fand er in einem Apothekerla‐ den in Siena ein seltenes Buch, setzte sich auf eine Bank vor dem Haus und las den ganzen Tag, ohne zu bemerken, dass direkt vor ihm ein Volksfest gefeiert wurde, ja, nahm nicht einmal die Musiker und Tänzerinnen wahr. Als Longfellow sich mit einer Schüssel Milch mit Haferflok‐ ken, die er an den meisten Tagen auch als Abendessen zu sich nahm, in sein Arbeitszimmer gesetzt hatte, ging ihm der Zettel des Streifenpolizisten im Kopf herum. Er probierte in Gedanken hundert verschiedene Möglichkeiten und ein Dutzend verschie‐ dene Sprachen durch, bevor er die Hieroglyphen, wie er sie ge‐ nannt hatte, in die Schublade zurücklegte. Derselben Schublade
entnahm er die Korrekturfahnen für den sechzehnten und sieb‐ zehnten Gesang des Inferno, in die er sorgsam die Anregungen aus der letzten Dante‐Séance eingetragen hatte. Eigene Gedich‐ te hatten schon längere Zeit nicht mehr auf seinem Schreibtisch gelegen. Fields hatte eine neue »Volksausgabe« von Longfel‐ lows berühmtesten Gedichten herausgebracht und ihn ge‐ drängt, die Tales of a Wayside Inn zu vollenden, in der Hoffnung, ihn damit zu neuen Gedichten anzuspornen. Aber Longfellow bezweifelte, dass er noch einmal irgend etwas Eigenes schrei‐ ben würde, und er versuchte es auch gar nicht erst. Der Dante‐ Übersetzung hatte er sich früher nur neben der Arbeit an seinen eigenen Gedichten gewidmet, seinen Minnehahas, Priscillas und Evangelines. So hatte er es fünfundzwanzig Jahre lang gehalten. In den letzten vier Jahren war Dante zu seinem Mor‐ gengebet und seinem Tagwerk geworden. Longfellow schenkte sich die zweite und letzte Tasse Kaffee ein und dachte daran, was Francis Child angeblich Freunden in England berichtet hatte: Longfellow und seine Anhänger seien derart von der toskanischen Krankheit befallen, dass sie die Stirn hätten, Milton im Vergleich zu Dante als zweitrangigen Dichter zu bezeichnen. Milton war für die englische und ameri‐ kanische Fachwelt der Goldstandard religiöser Dichtung. Aber Milton hatte von oben respektive unten über Hölle und Him‐ mel geschrieben, nicht von innen heraus. Er hatte seine Stand‐ orte mit Vorsicht gewählt. Fields, stets diplomatisch, solange niemand verletzt wurde, hatte gelacht, als Arthur Hugh Clough im Verlag von Childs Bemerkung berichtete, aber Longfellow war doch ein wenig gekränkt gewesen.
Er tauchte seinen Federkiel ein. Von seinen drei kunstvoll ver‐ zierten Tintenfässern war ihm dieses das liebste. Es hatte früher Samuel Taylor Coleridge und dann Lord Tennyson gehört, der es Longfellow mit guten Wünschen für die Dante‐Übersetzung als Geschenk geschickt hatte. Der menschenscheue Tennyson war einer der wenigen Engländer, die Dante wirklich verstan‐ den und ihn hoch schätzten, und er kannte seit langem mehr von der Göttlichen Komödie als nur ein paar Episoden aus dem Inferno. In Spanien hatte sich Dantes Ruhm früh verbreitet, wurde dann jedoch vom kirchlichen Dogma abgewürgt und durch die Herrschaft der Inquisition vollends unterdrückt. Vol‐ taire hatte in Frankreich eine feindselige Einstellung zu Dantes »Barbarei« begründet, die noch immer anhielt. Und selbst in Italien, wo man Dante besser kannte als in jedem anderen Land, hatten verschiedene Richtungen, die um die Vorherrschaft strit‐ ten, den Dichter für ihre Zwecke vereinnahmt. Longfellow dachte oft an die beiden Dinge, nach denen sich Dante am mei‐ sten gesehnt haben musste, als er, aus dem heimatlichen Flo‐ renz verbannt, die Göttliche Komödie schrieb: zum einen, die Heimkehr zu erwirken, was ihm nie gelingen sollte, zum ande‐ ren, seine Beatrice wiederzusehen, und auch das war ihm nicht beschieden. Dante irrte umher, während er sein Gedicht ver‐ fasste, und musste sich fast die Tinte borgen, mit der er schrieb. Immer wenn er sich den Toren einer fremden Stadt näherte, erinnerte ihn dies daran, dass er die Tore von Florenz nie wie‐ dersehen würde. Wenn er die Türme feudaler Burgen auf fer‐ nen Hügeln sah, wurde ihm klar, wie anmaßend die Starken sind und wie übel den Schwachen mitgespielt wird. Jeder Bach
und jeder Fluss erinnerte ihn an den Arno; jede Stimme, die er hörte, erinnerte ihn durch ihren fremdartigen Klang daran, dass er ein Verbannter war. Dantes Gedicht war nicht weniger als seine Suche nach einer Heimat. Longfellow teilte sich seine Zeit methodisch ein. Die frühen Stunden widmete er seiner schriftstellerischen Arbeit, den spä‐ teren Vormittag seinen persönlichen Angelegenheiten. Vor zwölf Uhr mittags durfte ihn niemand stören, außer natürlich seine Kinder. Der Dichter ging seine neue Post durch und war hocherfreut, einen Brief von Mary Frere zu finden, einer jungen Dame aus Auburn, New York, die er vor kurzem in der Sommerfrische in Nahant kennen gelernt hatte. An so manchem Abend hatten sie, nachdem die Mädchen eingeschlafen waren, Spaziergänge an der Felsenküste entlang gemacht und sich über neue Dichtung oder Musik unterhalten. Er schrieb ihr einen langen Brief und erzählte ihr, dass sich seine drei Töchter oft nach ihr erkundig‐ ten; außerdem hätten sie ihn gebeten festzustellen, wo Miss Frere den nächsten Sommerurlaub verbringen werde. Er ließ sich durch die ständige Versuchung, die das Fenster vor seinem Schreibtisch darstellte, von der Beschäftigung mit der Post ab‐ lenken. Im Herbst erwartete er stets eine Erneuerung seiner Schöpferkraft. Im kalten Kamin lag ein Haufen Herbstlaub, der Flammen imitierte. Der freundliche Tag war schneller vergan‐ gen, als er in den braunen vier Wänden seines Arbeitszimmers bemerkt hatte. Aus dem Fenster ging der Blick weit über die Wiesen, die sich bis an den glitzernden Charles River erstreck‐ ten und neuerdings zum Teil ihm gehörten. Es amüsierte ihn,
dass die Leute dachten, er habe die Grundstücke in der Hoff‐ nung auf steigende Immobilienpreise erworben, während es ihm nur darum gegangen war, sich die Aussicht aus seinem Fenster zu sichern. An den Bäumen hingen braune Früchte, und an den Büschen leuchteten rote Beeren. Die Stimme des Windes war rau und männlich ‐ nicht der Tonfall des Liebhabers, sondern der des Ehemanns. Longfellows Tagesablauf hatte jetzt genau den richtigen Rhythmus. Nach dem Abendessen schickte er seine Haushälte‐ rin heim und beschloss, die Zeitung zu lesen. Er zündete die Lampe im Arbeitszimmer an, legte die Zeitung aber schon nach wenigen Minuten wieder weg. Die Abendausgabe des Trans‐ cript brachte Ednah Healeys erstaunliche Erklärung. Im Begleit‐ artikel standen Einzelheiten über den Mord an Artemus Hea‐ ley, die bislang »von der Witwe auf Anraten des Polizeichefs und anderer maßgeblicher Persönlichkeiten« geheim gehalten worden waren. Longfellow konnte nicht weiterlesen, obwohl ihn bestimmte Details aus dem Artikel, wie er in den folgenden ereignisreichen Stunden merken sollte, tiefer beeindruckt hat‐ ten, als ihm lieb sein konnte; nicht das Leid des Richters machte es ihm fürs Erste unmöglich, sich mit der Geschichte zu befas‐ sen, sondern das Leid der Witwe. Juli 1861. Die Longfellows hätten eigentlich in Nahant sein sollen, wo eine kühle Brise wehte. Aber aus Gründen, an die sich niemand mehr erinnern konnte, waren sie der brütenden Hitze von Cambridge noch nicht entflohen. Ein grauenhafter Schrei drang aus der Bibliothek nebenan ins
Arbeitszimmer, dann schrien zwei kleine Mädchen in höchstem Entsetzen. Fanny Longfellow hatte mit Edith, damals acht, und Alice, elf, abgeschnittene Locken der beiden Mädchen zum An‐ denken in kleinen Tütchen versiegelt; die kleine Annie Allegra schlief in ihrem Zimmer im ersten Stock. Fanny hatte in der wohl vergeblichen Hoffnung auf etwas kühlere Luft ein Fenster geöffnet. Die wahrscheinlichste Vermutung, die in den folgen‐ den Tagen geäußert wurde ‐ denn niemand hatte genau beo‐ bachtet, was geschehen war ‐, besagte, es müsse ein Tropfen heißen Siegellacks auf ihr leichtes Sommerkleid gefallen sein und es in Brand gesteckt haben. Jedenfalls brannte sie im Nu lichterloh. Longfellow hatte an seinem Schreibtisch gestanden und Sand auf ein gerade niedergeschriebenes Gedicht gestreut, um die Tinte zu trocknen. Fanny kam schreiend aus dem Ne‐ benzimmer gelaufen. Die Flammen umflossen ihren Leib wie orientalische Seide. Longfellow hüllte sie in einen Läufer ein und legte sie auf den Boden. Nachdem er so das Feuer erstickt hatte, trug er den zitternden Körper nach oben ins Schlafzim‐ mer. Am Abend betäubten die Ärzte Fanny mit Äther. Am Morgen versicherte sie ihrem Mann tapfer flüsternd, dass sie kaum Schmerzen habe, trank einen Schluck Kaffee und fiel ins Koma. Die Totenwache in der Bibliothek von Craigie House fiel auf ihren achtzehnten Hochzeitstag. Fannys Kopf war als einzi‐ ger Körperteil unversehrt, und auf ihrem wunderschönen Haar ruhte ein Kranz aus Orangenblüten. Der Dichter musste wegen seiner eigenen Verbrennungen an diesem Tag das Bett hüten, aber er hörte, wie seine Freunde, Männer und Frauen, unten im Salon hemmungslos weinten, um seinetwillen ebenso wie um
Fanny, das wusste er. In seinem fiebrigen, doch wachen Zu‐ stand glaubte er, die einzelnen Personen an ihrem Weinen zu erkennen. Wegen der Verbrennungen im Gesicht würde er sich einen Vollbart wachsen lassen müssen, nicht nur, um die Nar‐ ben zu verstecken, sondern schon allein deshalb, weil er sich nicht mehr rasieren konnte. Die orangeroten Verfärbungen an den Innenflächen seiner schlaffen Hände würden noch schmerzlich lange sichtbar bleiben und ihn an sein Versagen erinnern, bevor sie verblassten. Anklagend hob der bettlägerige Longfellow die eingebunde‐ nen Hände. Fast eine Woche lang hörten die Kinder wirres Ge‐ stammel aus dem Schlafzimmer des Vaters, wann immer sie an der Tür vorbeigingen. Zum Glück war Annie noch zu klein, um etwas davon zu verstehen. »Warum konnte ich sie nicht retten? Warum konnte ich sie nicht retten?« Als Fannys Tod für ihn zur Gewissheit geworden war, als er seine Töchter wieder ansehen konnte, ohne zusammenzubre‐ chen, schloss Longfellow die Schublade auf, in der er vor langer Zeit Fragmente einer Dante‐Übersetzung verwahrt hatte. Das meiste von dem, was er in glücklicheren Zeiten als Material für seine Übungen an der Universität angefertigt hatte, taugte nur noch fürs Feuer. Es war nicht die Dichtung des Dante Alighieri, es war die Dichtung von Henry Longfellow ‐ seine Sprache, sein Stil, sein Rhythmus ‐, die Dichtung eines Menschen, der mit seinem Leben zufrieden ist. Als er wieder von vorn anfing, beginnend mit dem Paradies, war er nicht mehr auf der Suche nach einem passenden Stil für die Wiedergabe von Dantes Wor‐
ten. Er war auf der Suche nach Dante. Longfellow verschanzte sich hinter seinem Schreibtisch, behütet von seinen drei jungen Töchtern, der Gouvernante der Kinder, seinen geduldigen Söh‐ nen, die zu ruhelosen Männern herangewachsen waren, von seiner Hausangestellten ‐und von Dante. Er stellte fest, dass er unfähig war, eine eigene Gedichtzeile zu Papier zu bringen, aber gar nicht mehr aufhören konnte, an Dante zu arbeiten. Schon bald versammelte sich eine Gruppe von Gelehrten um seinen Tisch. Als Erster kam Lowell, dann Holmes, Fields und Greene. Longfellow sagte oft, sie hätten den Dante Club nur ge‐ gründet, um in den öden neuenglischen Wintern etwas Zer‐ streuung zu haben. Dabei wussten alle Eingeweihten, wie wich‐ tig ihm der Dichter war. Es war ihm nicht immer angenehm, wenn Fehler und Mängel seiner Übersetzung besprochen wur‐ den, doch mochte die Kritik auch schonungslos sein, beim an‐ schließenden Abendessen wurde es wieder gemütlich. Longfellow hatte gerade mit der Überarbeitung der letzten Gesänge des Inferno begonnen, als er plötzlich ein Poltern ver‐ nahm. Trap ließ ein lautes Kläffen ertönen. »Nanu, Trap. Was ist denn, mein Guter?« Aber Trap sah offenbar keinen Grund zu weiterer Beunruhi‐ gung, denn er gähnte nur und rollte sich wieder auf dem war‐ men Stroh seines Körbchens zusammen. Longfellow schaute im unbeleuchteten Esszimmer aus dem Fenster, konnte aber nichts erkennen. Doch dann tauchte jäh ein Augenpaar aus der Dun‐ kelheit auf, gefolgt von einem blendenden Lichtblitz. Long‐ fellow erschrak zutiefst, nicht so sehr wegen des Gesichts an sich, sondern deshalb, weil das Augenpaar, nachdem es ihn
kurz fixiert hatte, wie durch Zauberei wieder verschwand. Er prallte zurück und stieß so heftig gegen eine Vitrine, dass das ganze Appleton‐Service (wie das Haus selbst ein Hochzeitsge‐ schenk von Fannys Vater) zu Boden krachte. Es schepperte so schrecklich, dass Longfellow unwillkürlich einen lauten Schrei ausstieß. Trap war aufgesprungen und bellte, was seine kleine Lunge hergab. Longfellow flüchtete aus dem Esszimmer in die Küche und von dort ans Kaminfeuer in der Bibliothek, wo er die Fen‐ ster nach irgendwelchen weiteren Anzeichen absuchte. Er hoff‐ te, Jamey Lowell oder Wendell Holmes würde an der Haustür klingeln und sich für die späte Störung entschuldigen. Aber als er so mit zitternder Hand dastand, sah er draußen vor den Fen‐ stern nichts als Schwärze. Als Longfellows Schrei durch die Brattle Street hallte, lag James Russell Lowell bis zu den Ohren untergetaucht in der Bade‐ wanne. Er horchte auf das leise Gluckern des Wassers, schloss die Augen und fragte sich, wo sein Leben geblieben war. Das kleine, hohe Fenster stand offen, und die Nacht war kühl. Wenn Fanny hereinkam, würde sie ihn zweifellos auf der Stelle ins warme Bett beordern. Als Lowell berühmt wurde, waren die meisten gefeierten Dichter erheblich älter als er. Das galt auch für Longfellow und Holmes, die ihm beide um rund zehn Jahre voraus waren. Er hatte sich so an das Etikett »junger Dichter« gewöhnt, dass er sich jetzt, mit achtundvierzig, fragte, was er falsch gemacht hatte, weil ihn niemand mehr so nannte. Er paffte lustlos seine vierte Zigarre an diesem Tag und ließ
achtlos die Asche ins Wasser fallen. Noch vor einigen Jahren war ihm die Badewanne viel geräumiger vorgekommen. Er fragte sich, wo die Ersatz‐Rasierklingen geblieben waren, die er vor Jahren einmal auf dem Bord über der Wanne versteckt hat‐ te. Waren Fanny und Mab einfühlsamer, als er glauben wollte, und ahnte eine von den beiden, welch schwarze Gedanken ihn oft kitzelten, während er in der Wanne lag? Als junger Mann, bevor er seine erste Frau kennen lernte, hatte Lowell immer Strychnin in der Westentasche gehabt. Diesen leichten Hang zur Schwermut, behauptete er, habe er von seiner armen Mut‐ ter geerbt. Etwa um dieselbe Zeit hatte er sich einmal eine entsi‐ cherte Pistole an die Schläfe gehalten, aber doch nicht den Mut gehabt abzudrücken, was ihn noch immer tief beschämte. Er hatte sich nur geschmeichelt, zu einer so unwiderruflichen Tat fähig zu sein. Als seine erste Frau Maria nach neunjähriger Ehe starb, hatte er sich zum ersten Mal alt gefühlt, so als hätte er auf einmal ei‐ ne Vergangenheit, die mit seinem jetzigen Leben nichts zu tun hatte und aus der er jetzt verbannt war. Lowell konsultierte Dr. Holmes als Arzt wegen seiner dunklen Gemütsverfassung. Holmes empfahl ihm, jeden Abend pünktlich um halb elf ins Bett zu gehen und am Morgen kaltes Wasser anstelle von Kaf‐ fee zu trinken. Es war richtig gewesen, fand Lowell jetzt, dass Holmes das Stethoskop gegen das Professorenpult eingetauscht hatte: Er besaß nicht die Geduld, einen Patienten auf seinem Leidensweg bis zum Ende zu begleiten. Fanny Dunlap war nach Marias Tod die Gouvernante seiner Tochter Mabel gewesen, und vielleicht war es unvermeidlich,
dass sie nach einiger Zeit an Marias Stelle trat. Die Umstellung auf eine neue, weniger gebildete Ehefrau war Lowell leichter gefallen, als er gedacht hatte, und viele seiner Freunde verübel‐ ten ihm das. Aber er trug seinen Kummer nicht zu Markte. Er verabscheute Sentimentalität aus tiefster Seele. Hinzu kam, dass Maria für ihn nur noch ganz selten etwas Reales war. Sie war eine Vision, eine Idee, ein schwaches Glimmen am Himmel wie die ersten Sterne, die sich vor Sonnenuntergang am Firmament zeigen. »Meine Beatrice«, hatte Lowell in sein Tagebuch ge‐ schrieben. Aber selbst der Glaube an diese Sublimierung erfor‐ derte seine ganze seelische Kraft, und schon bald verblasste Maria in seiner Vorstellung zu einem bloßen Schemen. Außer Mabel hatte Maria noch drei Kinder geboren, von de‐ nen das gesündeste zwei Jahre am Leben blieb. Das letzte Kind, Walter, starb ein Jahr vor seiner Mutter. Fanny hatte kurz nach der Heirat eine Fehlgeburt und konnte von da an keine Kinder mehr bekommen. So hatte James Russell Lowell also nur ein lebendes Kind, eine Tochter, die seine unfruchtbare zweite Frau aufzog. Als sie noch klein war, dachte Lowell, er müsse nur hoffen, dass Mabel zu einem großen, kräftigen, frechen, Sand‐ kuchen backenden, auf Bäume kletternden Wildfang heran‐ wachsen würde. Er brachte ihr das Schwimmen und das Schlittschuhlaufen bei und lehrte sie, an einem Tag dreißig Ki‐ lometer zu wandern. Die Lowells hatten seit Menschengeden‐ ken immer Söhne gehabt. Jamey Lowell selbst hatte drei Neffen, die in der Nordstaatenarmee gedient hatten und gefallen wa‐ ren. Das war ihnen vorherbestimmt gewesen. Lowells Großva‐ ter war der Verfasser der Gesetze gegen die Sklaverei in Massa‐
chusetts gewesen. Aber J.R. Lowell hatte keine Söhne gezeugt, keine kleinen James Lowells, die der wichtigsten Sache ihrer Epoche hätten dienen können. Walt war ein paar Monate lang ein richtig strammer Junge gewesen; er wäre bestimmt genauso groß und tapfer geworden wie Oliver Wendell Holmes junior. In der Badewanne spielte Lowell mit den Enden seines Schnauzers, die sich in der Feuchtigkeit aufdrehten wie die Bartspitzen eines Sultans. Er dachte an die North American Re‐ view und daran, wie viel von seiner Zeit sie verschlang. Die Be‐ schaffung von Beiträgen und Rezensionen gehörte nicht zu sei‐ nen Stärken, und früher hatte er diese Aufgaben seinem gewis‐ senhafteren Redaktionskollegen Charles Eliot Norton überlas‐ sen, bis dieser mit seiner Frau, der die Ärzte einen Klimawech‐ sel verordnet hatten, eine Europareise angetreten hatte. Die Be‐ schäftigung mit Fragen des Stils, der Grammatik und der Inter‐ punktion in Artikeln anderer Autoren ‐ und der Druck seitens fähiger wie unfähiger Freunde, die alle ihre Texte veröffentli‐ chen wollten ‐ raubten Lowell die innere Ruhe, die er für seine eigene schriftstellerische Arbeit gebraucht hätte. Zudem wur‐ den seine poetischen Impulse durch seine Lehrtätigkeit unter‐ drückt. Mehr denn je hatte er das Gefühl, dass die Harvard Corporation ihm ständig über die Schulter sah und in seinem Gehirn hackte und siebte, grub, schaufelte und scharrte wie ein Trupp kalifornischer Einwanderer. Um seine Phantasie wieder zu finden, so glaubte er, hätte er nur einmal ein Jahr lang unter einem Baum liegen und nichts anderes tun müssen, als dem Spiel von Licht und Schatten im Gras zuzusehen. Als er das letzte Mal in Concord gewesen war, hatte er Hawthorne benei‐
det, denn der Turm, den der Schriftsteller sich auf seinem Haus gebaut hatte, war nur durch eine versteckte Falltür zu errei‐ chen, auf die er noch zusätzlich einen schweren Sessel stellte. Lowell hörte nicht die leichten Schritte, die die Treppe herauf‐ kamen, merkte nicht, dass die Tür zum Badezimmer weiter auf‐ ging. Fanny machte sie hinter sich zu. Lowell setzte sich schuldbewusst auf. »Man spürt hier drin kaum ein Lüftchen, Schatz.« Fannys weit auseinander stehende, beinahe orientalische Au‐ gen blickten ein wenig beunruhigt. »Jamey, der Sohn des Gärt‐ ners ist hier. Ich habe ihn gefragt, worum es geht, aber er will nur mit dir sprechen. Ich habe ihn ins Musikzimmer gesetzt. Der Ärmste ist ganz außer Atem.« Lowell hüllte sich in seinen Bademantel und eilte die Treppe hinunter. Der schlaksige junge Mann, dessen Pferdezähne unter der Oberlippe hervorschauten, saß am Klavier wie ein aufge‐ regter Pianist, der sich auf ein Konzert vorbereitet. »Bitte ent‐ schuldigen Sie die Störung, Sir ... Ich bin gerade die Brattle Street entlanggegangen und hab ein lautes Geräusch aus dem alten Craigie House gehört. Ich hab überlegt, ob ich bei Pro‐ fessor Longfellow klingeln und fragen soll, ob alles in Ordnung ist ‐ er soll ja so ein netter alter Herr sein ‐, aber ich bin ihm noch nie begegnet, und deshalb ...« Lowells Herz begann wie wild zu schlagen. Er packte den jungen Mann an den Schultern. »Was war das für ein Geräusch, Junge?« »Ein Rumms. Irgendwie ein lautes Krachen.« Der junge Mann versuchte vergebens, das Geräusch mit den Händen zu demonstrieren. »Der kleine Köter ‐ äh, Trap heißt er, glaub ich,
oder? hat wie verrückt gekläfft. Und dann war da ein lauter Schrei, glaub ich, Sir, so was hab ich noch nie gehört.« Lowell gebot dem Jungen zu warten, ging rasch ins Ankleidezimmer und schnappte sich seine Schuhe und die karierte Hose, gegen die Fanny unter normalen Umständen ästhetische Einwände erhoben hätte. »Jamey, du gehst mir jetzt nicht aus dem Haus«, erklärte Fan‐ ny Lowell. »In letzter Zeit sind mehrere Leute überfallen und erdrosselt worden!« »Es ist Longfellow«, sagte er. »Der Junge meint, es könnte ihm was passiert sein.« Sie verstummte. Lowell versprach Fanny, seine Jagdflinte mitzunehmen, holte sie und hängte sie sich über die Schulter. Dann ging er mit dem Sohn des Gärtners hinaus und die Brattle Street entlang. Long‐ fellow war noch immer ziemlich mitgenommen und erschrak beim Anblick von Lowells Waffe von neuem. Er entschuldigte sich für den Aufruhr und beschrieb den Anlass mit nüchternen Worten. Sicherlich habe ihm nur seine Phantasie einen Streich gespielt. »Karl«, sagte Lowell und packte den jungen Mann erneut an den mageren Schultern. »Du läufst auf dem schnellsten Weg zum Polizeirevier und sagst dem Streifenpolizisten, er soll her‐ kommen.« »Ach, das ist nicht nötig«, sagte Longfellow. »Es hat in letzter Zeit eine Serie von Überfällen gegeben, Longfellow. Die Polizei wird die ganze Gegend absuchen, um sicherzustellen, dass sich da niemand herumtreibt. Seien Sie nicht so egoistisch.« Lowell hatte erwartet, dass Longfellow mehr Widerstand lei‐
sten würde, aber das geschah nicht. Auf ein Nicken von Lowell hin lief Karl mit der Begeisterung eines Jungen für Notfälle los. Im Arbeitszimmer ließ sich Lowell neben Longfellow in einen Sessel fallen und zupfte seinen Morgenmantel über der Hose zurecht. Longfellow entschuldigte sich, dass er ihm wegen ei‐ ner solchen Lappalie Ungelegenheiten bereitet hatte, und drängte ihn, wieder nach Hause zu gehen. Andererseits ließ er es sich nicht nehmen, Tee aufzubrühen. James Russell Lowell spürte, dass Longfellows Angst alles andere als eine Lappalie war. »Fanny ist wahrscheinlich froh«, sagte er lachend. »Sie nennt meine Angewohnheit, bei offenem Fenster in der Wanne zu sit‐ zen, >Tod durch Baden<.« Auch nach so langer Zeit fühlte sich Lowell noch unbehaglich, wenn er vor Longfellow den Namen Fanny aussprach, und be‐ mühte sich unwillkürlich um einen anderen Tonfall. Longfel‐ lows Wunden waren noch frisch. Er sprach nie von seiner Fan‐ ny. Er konnte nicht über sie schreiben, nicht einmal ein Sonnett oder eine Elegie zu ihrem Andenken. In seinem Tagebuch fand sich keine einzige Erwähnung von Fanny Longfellows Tod. Als ersten Eintrag nach ihrem Tod hatte er eine Zeile aus einem Tennyson‐Gedicht abgeschrieben: »Schlaf süß, mein Herz, in Frieden.« Lowell meinte, den Grund zu kennen, weshalb Long‐ fellow in den Jahren seiner Zuflucht zu Dante so wenig eigene Gedichte geschrieben hatte. Hätte er eigene Texte geschrieben, wäre die Versuchung, ihren Namen zu schreiben, übermächtig geworden, und dann wäre Fanny nur noch ein Wort gewesen. »Vielleicht war es nur ein Tourist, der Washingtons Haus sehen
wollte«, sagte Longfellow mit einem leisen Lachen. »Habe ich Ihnen nicht erzählt, dass vor ein, zwei Wochen einer hier war, um >General Washingtons Hauptquartier zu besichtigen, wenn es gestattet ist Im Gehen ‐ wahrscheinlich hatte er da schon die nächste Besichtigung im Kopf ‐ hat er mich gefragt, ob nicht auch Shakespeare hier in der Nähe lebt.« Sie lachten beide. »Herr im Himmel! Was haben Sie geantwor‐ tet?« »Dass ich ihn noch nicht kennen gelernt habe, falls er wirklich hierher gezogen ist.« »Und Sie arbeiten noch so spät an Dante?« Die Korrekturfah‐ nen, die Longfellow aus der Schublade genommen hatte, lagen auf dem grünen Tisch. »Lieber Freund, Ihre Feder trocknet wohl nie. Sie überanstrengen sich.« »Es strengt mich nicht an. Sicher, manchmal schleppt es sich dahin wie Räder in tiefem Sand. Aber irgendetwas treibt mich voran, Lowell, und gönnt mir keine Ruhe.« Lowell überflog die Druckfahne. »Sechzehnter Gesang«, sagte Longfellow. »Er muss in die Druckerei, aber ich zögere, mich davon zu trennen. Als Dante den drei Florentinern begegnet, sagt er: >Sifossi stato dal foco co‐ perto ... <« »>Wär ich gefeit gewesen gegen Feuer<« ‐ Lowell las die Übersetzung des Freundes, während Longfellow das Origi‐ nal rezitierte‐, »>ich hätte mich hinabgestürzt zu ihnen, und sicher hättʹs mein Lehrer gern gesehen.< Ja, wir sollten nie ver‐ gessen, dass Dante kein bloßer Beobachter der Hölle ist; auch er ist ständig in physischer und metaphysischer Gefahr.« »Ich finde einfach nicht so ganz die richtige englische Entspre‐
chung. Manche würden wahrscheinlich sagen, die Stimme des ausländischen Autors sollte modifiziert werden, damit die Ver‐ se sich glätten. Ich dagegen möchte als Übersetzer wie ein Zeu‐ ge vor Gericht die rechte Hand heben und schwören, dass ich die Wahrheit sagen werde, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.« Trap bellte Longfellow an und kratzte an seinem Hosenbein. Longfellow lächelte. »Trap war schon so oft mit in der Drucke‐ rei, dass er meint, er hat die ganze Zeit Dante übersetzt.« Aber Trap bellte nicht wegen Longfellows Übersetzung. Er lief in die Diele hinaus. Jemand pochte laut an die Haustür. »Aha, die Po‐ lizei ist schon da«, sagte Lowell anerkennend. Longfellow öff‐ nete die Tür. »Na, das ist aber eine Überraschung«, sagte er mit so viel Liebenswürdigkeit, wie er in dem Moment aufbringen konnte. »Wieso denn das?« J. T. Fields stand auf der breiten Schwelle, zog die Augenbrauen schräg zusammen und nahm den Hut ab. »Ich habe mitten in unserer Whist‐Partie eine Nachricht be‐ kommen. Ausgerechnet in dem Moment hatte ich ein Blatt, mit dem ich bestimmt gegen Bartlett gewonnen hätte!« Er lächelte kurz und hängte seinen Hut auf. »Es hat geheißen, ich solle so‐ fort hierher kommen. Ist denn alles in Ordnung, mein lieber Longfellow?« »Ich habe Ihnen keine Botschaft geschickt, Fields«, sagte Long‐ fellow entschuldigend. »Und wo ist Holmes? War der nicht bei Ihnen?« »Nein. Wir haben eine halbe Stunde gewartet, aber er kam nicht.«
Ein Rascheln von trockenem Laub näherte sich. Im nächsten Moment tauchte die kleine Gestalt von Oliver Wendell Holmes auf. Im Sturmschritt kam er in seinen dicksohligen Stiefeln den mit Ziegeln gepflasterten Gartenweg herauf. Fields trat beiseite, und Holmes lief keuchend an ihm vorbei ins Haus. »Holmes?«, sagte Longfellow. Der Doktor war außer sich. Entsetzt bemerkte er, dass Long‐ fellow ein paar Druckfahnen der Dante‐Übersetzung in der Hand hielt. »Um Gottes willen, Longfellow«, rief er. »Stecken Sie die weg!«
VI Nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Tür fest verschlossen war, erklärte Holmes in hastigen Sätzen, wie es ihn auf dem Heimweg vom Markt plötzlich wie ein Blitz getroffen hatte und er auf dem schnellsten Weg zur Medizinischen Fakultät zu‐ rückgekehrt war. Dort habe er festgestellt, dass die Polizisten Gott sei Dank schon ins Revier zurückgefahren waren. Er habe einen Boten zur Whist‐Runde seines Bruders geschickt, mit dem Auftrag, Fields solle sich auf der Stelle nach Craigie House begeben. Der Arzt nahm Lowells Hand und schüttelte sie energisch, in nicht eingestandener Dankbarkeit dafür, dass Lowell bereits da war. »Ich wollte gerade nach Ihnen schicken, mein lieber Lo‐ well.« »Holmes, sagten Sie gerade etwas von Polizei?«, erkundigte sich Longfellow. »Longfellow, und auch die anderen, bitte ‐ kommen Sie ins Arbeitszimmer. Sie müssen mir versprechen, alles absolut ver‐ traulich zu behandeln, was ich Ihnen jetzt sagen werde.« Nie‐ mand erhob Einwände. Es war ungewöhnlich, den kleinen Doktor so ernst zu sehen; er spielte schon seit langem die Rolle des Hofnarren, sehr zum Vergnügen der Bostoner Gesellschaft und zum Kummer von Amelia Holmes. »Heute wurde ein Mord entdeckt«, verkündete er flüsternd, so als befürchtete er, sie würden belauscht, oder als wollte er sichergehen, dass nicht einmal die dicht an dicht im Regal stehenden Folianten seine
schreckliche Geschichte mithörten. Er wandte sich sogar vom Feuer ab, aus Angst, seine Worte könnten durch den Kamin nach draußen gelangen. »Ich war in der Medizinischen Fakul‐ tät«, begann er schließlich, »und erledigte liegen gebliebene Ar‐ beiten, als die Polizei kam und um einen Raum für eine Lei‐ chenschau bat. Der Leichnam, der dann gebracht wurde, war über und über mit Schmutz bedeckt, verstehen Sie?« Holmes hielt inne, nicht aus rhetorischen Gründen, sondern um Luft zu holen. In der Aufregung hatte er die Anzeichen ei‐ nes bevorstehenden Asthmaanfalls nicht bemerkt. »Was hat das alles mit uns zu tun, Holmes? Warum haben Sie mich von un‐ serer Whist‐Partie wegholen lassen?«, wollte Fields wissen. »Moment«, sagte Holmes mit einer abrupten Handbewegung. Er legte den Brotlaib weg und holte sein Taschentuch hervor. »Der Leichnam, der Tote, seine Füße ... Gott steh uns bei!« Longfellows blaue Augen leuchteten hell. Er hatte nicht viel ge‐ sagt, aber Holmesʹ Verhalten aufs Aufmerksamste beobachtet. »Etwas zu trinken, Holmes?«, fragte er freundlich. »Ja, bitte«, sagte Holmes und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Entschuldigen Sie. Ich bin in Windeseile hierher gelaufen, zu unruhig, um eine Droschke zu nehmen, zu ungeduldig und voller Angst, ich könnte in der Pferdebahn jemandem begeg‐ nen!« Longfellow ging gemessenen Schrittes in die Küche. Holmes wartete auf seinen Trunk, die beiden anderen Männer warteten darauf, dass Holmes seinen Bericht fortsetzte. Lowell schüttelte voller Sorge über die Erregung des Freundes den Kopf. Der Gastgeber kam zurück, in der Hand ein Glas Brandy mit viel
Eis, so wie Holmes ihn am liebsten trank. Holmes griff begierig danach. Es war Balsam für seine Kehle. »Zum Essen hat zwar eine Frau den Mann verführt, mein lie‐ ber Longfellow«, sagte Holmes, »aber man hört nie, dass Eva ihn zum Trinken animiert hätte. Darauf ist er von selbst ge‐ kommen.« »Wendell, bitte«, drängte Lowell. »Ja, also. Ich hab ihn gesehen. Verstehen Sie? Ich habe den Leichnam aus der Nähe gesehen, so nahe wie jetzt Jamey.« Holmes trat an Lowells Sessel heran. »Der Mann war lebendig begraben worden, kopfüber, mit den Füßen in der Luft. Und die Sohlen beider Füße, meine Herren, waren schrecklich ver‐ brannt. Sie waren derart verkohlt, dass ich nie ... Na ja, ich wer‐ de mich daran erinnern, bis mich selbst der grüne Rasen deckt.« »Mein lieber Holmes«, sagte Longfellow, aber Holmes ließ sich nicht aufhalten, nicht einmal von Longfellow. »Er hatte nichts an. Ich weiß nicht, ob die Polizei ihn ausgezogen hat ‐ nein, ich meine, sie haben gesagt, dass neben ihm ein Häufchen Kleider gefunden wurde. Ich habe sein Gesicht gesehen.« Holmes woll‐ te noch einen Schluck trinken, doch es war nur noch ein kleiner Rest im Glas. Er nahm einen Eiswürfel zwischen die Zähne. »Es war ein Geistlicher«, sagte Longfellow. Holmes wandte sich ihm in ungläubigem Staunen zu und zer‐ biss den Eiswürfel mit den Backenzähnen. »Ja. Stimmt genau.« »Woher wissen Sie das, Longfellow?«, fragte Fields, sichtlich ungehalten über eine Geschichte, die ihn, wie er immer noch glaubte, nichts anging. »Das kann doch noch nicht in der Zei‐ tung stehen, wenn Wendell eben erst Augenzeuge war ...« Aber dann wurde ihm klar, woher Longfellow es wusste. Und auch
Lowell begriff. Lowell schoss auf Holmes zu, als wollte er ihn ohrfeigen. »Woher wissen Sie, dass man den Leichnam kopf‐ über gefunden hat, Holmes? Von der Polizei?« »Nein, eigentlich nicht.« »Sie suchen doch nur nach einem Grund, der uns dazu zwin‐ gen könnte, die Arbeit an der Übersetzung einzustellen, damit die Universitätsverwaltung Ihnen keine Scherereien macht. Es sind alles nur Vermutungen.« »Niemand braucht mir zu sagen, was ich gesehen habe«, ent‐ gegnete Holmes beleidigt. »Keiner von Ihnen hat Medizin stu‐ diert. Ich dagegen habe mehr als mein halbes Leben damit zu‐ gebracht, mich in meinem Beruf zu vervollkommnen, in Europa und in Amerika. Angenommen, Sie oder Longfellow würden über Cervantes reden, dann würde ich als einer, der nichts da‐ von versteht... Naja, gut, ich kenne meinen Cervantes einiger‐ maßen, aber ich würde Ihnen zuhören, weil ich weiß, dass Sie sich eingehend mit ihm beschäftigt haben!« Fields sah, dass Holmes mit den Nerven am Ende war. »Wir haben schon verstanden, Wendell. Bitte.« Hätte Holmes nicht innegehalten, um wieder zu Atem zu kommen, wäre er in Ohnmacht gefallen. »Der Mann ist wirklich auf den Kopf gestellt worden, Lowell. An den Spuren habe ich gesehen, dass ihm Tränen und Schweiß die Stirn hinaufgelau‐ fen sind ‐ wohlgemerkt: hinauf. Das Blut war ihm in den Kopf gestiegen. Erst als ich den erstarrten Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht sah, habe ich Reverend Elisha Talbot erkannt.« Der Name überraschte sie alle. Der alte Tyrann von Cam‐ bridge, in ein Loch gesteckt, mit dem Kopf nach unten, blind
vor Schmutz, unfähig, sich zu bewegen, abgesehen vielleicht vom verzweifelten Zucken seiner brennenden Füße, genau wie Dantes Simonisten, jene Geistlichen, die mit den Ämtern der Kirche Handel trieben ... »Ich kann Ihnen noch mehr erzählen, wenn Sie wollen.« Hol‐ mes zerbiss einen Eiswürfel nach dem anderen. »Ein Polizist hat bei der Leichenschau berichtet, dass der Tote in dem Grab‐ gewölbe unter der Zweiten Unitaristischen Kirche gefunden wurde ‐ das ist Talbots Kirche! Der Leichnam war mit Schmutz und Erde bedeckt, aber nur von der Hüfte aufwärts. Von der Hüfte abwärts war er völlig sauber. Er wurde nackt begraben, mit dem Kopf nach unten, und seine Füße schauten oben heraus!« »Wann hat man ihn gefunden? Wer war dort?«, wollte Lowell wissen. »Allmächtiger«, rief Holmes. »Woher soll ich das wissen!« Longfellow sah zu, wie der dicke Zeiger seiner behäbig ticken‐ den Uhr auf die Elf rückte. »Die Witwe Healey hat in der A‐ bendzeitung eine Belohnung ausgesetzt. Richter Healey ist of‐ fenbar keines natürlichen Todes gestorben. Sie glaubt, dass es ebenfalls Mord war.« »Aber Talbot ist nicht einfach nur ein Mordfall, Longfellow! Muss ich erst aussprechen, was klar auf der Hand liegt? Es ist Dante! Irgendjemand hat Dante benutzt, um Talbot umzubrin‐ gen!« Holmesʹ Wangen hatten sich vor Erregung gerötet. »Haben Sie die Spätausgabe gelesen, mein lieber Holmes?«, fragte Longfellow geduldig. »Natürlich. Ich glaube schon.« Tatsächlich hatte er im Vor‐ raum der Medizinischen Fakultät nur einen flüchtigen Blick auf
die Zeitung geworfen, auf dem Weg in sein Zimmer, wo er die anatomischen Zeichnungen für die Montagsvorlesung vorberei‐ ten wollte. »Warum, was steht denn drin?« Longfellow holte die Zeitung. Fields nahm sie, zog seine Klappbrille aus der Westentasche und las vor: »>Neue Enthül‐ lungen im mysteriösen Fall von Oberrichter Artemus S. Hea‐ ley.< Typischer Druckfehler. Healeys zweiter Vorname war Prescott.« Longfellow sagte: »Fields, bitte überspringen Sie die erste Spalte. Lesen Sie vor, wie die Leiche gefunden wurde, auf einer Wiese hinter Healeys Haus, nicht weit vom Fluss.« »>Vol‐ ler Blut ‐ ohne Anzug, Hemd und Unterwäsche ‐ über und über bedeckt mit Schwärmen von ...<« »Lesen Sie nur weiter, Fields.« »Insekten?« Fliegen, Wespen, Maden ‐ das waren die in der Zeitung aufge‐ zählten Insekten. Und in der Nähe, im Garten von Wide Oaks, lag eine Fahne, auf die sich die Healeys keinen Reim machen konnten. Am liebsten hätte Lowell die Gedanken, die mit der Zeitung weitergereicht wurden, als falsch gebrandmarkt, doch stattdessen sackte er in seinem Sessel zusammen, und seine Un‐ terlippe zitterte wie immer, wenn er nicht wusste, was er sagen sollte. Die Männer wechselten fragende Blicke, in der Hoffnung, dass einer von ihnen klüger wäre als die anderen und alles mit einer gut gewählten Anspielung oder einem treffenden Bonmot als Zufall abtun könnte. Dass es einem von ihnen gelingen würde, die Schlussfolgerung, Reverend Talbot sei gleich den Simoni‐ sten verbrannt und Oberrichter Healey zu den lauen Seelen
geworfen worden, als Irrtum zu entlarven. Doch jedes weitere Detail bestätigte nur, was sie ohnehin nicht mehr leugnen konn‐ ten. »Es passt alles zusammen«, sagte Holmes. »Zumindest in Healeys Fall: Die Sünde der Lauheit, die Strafe. Er hatte sich nicht geweigert, die Fugitive Slave Act umzusetzen. Aber war‐ um Talbot? Ich habe nie auch nur munkeln gehört, dass er je‐ mals die Macht seiner Kanzel missbraucht hätte ‐ Phoebus, steh mir bei!« Holmes fuhr zusammen, als er die an der Wand leh‐ nende Flinte sah. »Longfellow, wozu um alles in der Welt ha‐ ben Sie die hervorgeholt?« Lowell fiel wieder ein, warum er überhaupt nach Craigie House gekommen war. »Das war so, Wendell: Longfellow dachte, er hätte durchs Fenster einen Einbrecher gesehen. Wir haben den Gärtnerssohn losgeschickt, die Polizei holen.« »Ein Einbrecher?«, fragte Holmes. »Ein Phantom«, sagte Longfellow kopfschüttelnd. Fields stampfte mit beiden Beinen zugleich auf dem Teppich auf, als er recht unelegant aufsprang. »Das kommt ja gerade recht!« Er wandte sich an Holmes: »Mein lie‐ ber Wendell, man wird Sie dafür als guten Bürger in Erinne‐ rung behalten. Wenn der Polizist kommt, werden wir ihm er‐ klären, dass wir Einzelheiten über diese Verbrechen kennen, und ihn bitten, den Polizeichef zu holen.« Fields hatte seine ganze Autorität aufgeboten, doch zum Schluss wurde er unsi‐ cher und sah Hilfe suchend zu Longfellow hinüber. Longfellow rührte sich nicht. Seine graublauen Augen starrten unverwandt auf die abgegriffenen Rücken seiner Bücher. Es war nicht zu erkennen, ob er überhaupt noch an dem Gespräch teilnahm. Wenn er diesen entrückten Blick hatte, still dasaß und seinen
gelockten Bart strählte, wenn seine unerschütterliche See‐ lenruhe sich in Kälte verwandelte, wenn sein jugendfrischer Teint eine dunklere Färbung annahm, wurde all seinen Freun‐ den unbehaglich zumute. »Ja«, sagte Lowell und tat so, als habe Fieldsʹ Äußerung so etwas wie allgemeine Erleichterung hervorgerufen. »Natürlich werden wir die Polizei von unseren Mutmaßungen unterrich‐ ten. Wir werden damit einen wichtigen Beitrag zur Auflösung dieses heillosen Wirrwarrs leisten.« »Nein!«, widersprach Holmes entsetzt. »Nein, wir dürfen nie‐ mandem etwas sagen, Longfellow«, sagte er beschwörend. »Wir müssen es für uns behalten! Wir alle hier müssen dafür sorgen, dass die Angelegenheit im Dunkel bleibt, komme, was da wolle!« »Also bitte, Wendell!« Lowell beugte sich zu dem kleinen Doktor hinab. »Es ist jetzt wirklich nicht die Zeit, die Hände in den Schoß zu legen! Zwei Menschen sind ermordet worden, zwei Männer aus unseren Kreisen!« »Gewiss, aber es steht uns nicht zu, uns in diese grauenhaften Vorgänge einzumischen«, beharrte Holmes. »Die Polizei ermit‐ telt ja, und sie wird zweifellos den Täter dingfest machen, auch ohne dass wir ihr ins Handwerk pfuschen!« »Es steht uns nicht zu?«, wiederholte Lowell spöttisch. »Die Frage stellt sich die Polizei bestimmt nicht, Wendell! Während wir hier sitzen, tap‐ pen die doch nach wie vor im Dunkeln.« »Und Sie meinen, mit unseren abenteuerlichen Hypothesen würden wir ihnen ein Licht aufstecken? Was verstehen wir denn schon von Mord?« »Warum haben Sie sich dann die Mühe gemacht, uns diese Neuigkeit so eilig zu überbringen, Wendell?« »Damit wir uns
rechtzeitig schützen können«, sagte Holmes. »Es könnte sein, dass wir in Gefahr sind!« »Jamey, Wendell, bitte ...« Fields trat zwischen die beiden. »Wenn Sie zur Polizei gehen wollen, mei‐ ne Herren, zählen Sie bitte nicht auf mich«, fügte Holmes mit zitternder Stimme hinzu und setzte sich. »Wenn Sie es tun, dann gegen meine grundsätzlichen Einwände und meinen aus‐ drücklichen Protest.« »Meine Herren«, sagte Lowell mit einer Handbewegung zu Holmes hin, »Sie sehen hier Dr. Holmes in seiner üblichen Stellung, wenn die Welt ihn braucht: auf seinem Hinterteil sitzend.« Holmes sah sich um, in der Hoffnung, je‐ mand würde sich für ihn einsetzen. Dann sank er noch tiefer in seinen Sessel, zog betreten die goldene Kette heraus, an der sein Phi‐Beta‐Kappa‐Schlüssel hing, und verglich seine Uhr mit Longfellows Mahagoni‐Uhr, mehr oder minder darauf gefasst, dass im nächsten Moment alle Uhren in Cambridge stehen blei‐ ben würden. Lowell war am überzeugendsten, wenn er, wie jetzt zu Longfellow, mit sanftem Nachdruck sprach. »Mein lieber Longfellow, wenn der Polizist kommt, sollten wir ein an den Polizeichef gerichtetes Schreiben parat haben, in dem wir darlegen, was wir heute Abend hier entdeckt haben. Dann können wir die Angelegenheit ad acta legen, so wie unser lieber Dr. Holmes es wünscht.« »Ich fange sofort an.« Fields griff nach Longfellows Schreibpa‐ pier‐Schublade. Holmes und Lowell begannen wieder zu strei‐ ten. Longfellow seufzte leise. Fields, die Hand schon in der Schublade, hielt inne. Holmes und Lowell verstummten. »Bitte keinen blinden Eifer«, schaltete Longfellow sich ein.
»Sagen Sie mir zuerst: Wer in Boston und Cambridge weiß von diesen Morden?« »Was für eine Frage!« Lowell war so in Angst, dass er nicht einmal davor zurückschreckte, unhöflich zu dem einzigen Mann zu sein, den er außer seinem verstorbenen Vater verehr‐ te. »Jeder in dieser gesegneten Stadt, Longfellow! Der eine steht auf der Titelseite jeder Zeitung« ‐ er griff nach dem Blatt mit der Schlagzeile über Healeys Tod ‐, »und der an Talbot wird folgen, ehe der Hahn kräht. Ein Richter und ein Prediger! Ge‐ nauso gut könnte man versuchen, der Öffentlichkeit Rindfleisch und Bier vorzuenthalten!« »Na schön. Und wer außer uns weiß in dieser Stadt etwas ü‐ ber Dante? Wer weiß, dass le piante erano a tutti accese intrambeì Wie viele bummeln über die Washington Street und die School Street, betrachten die Auslagen in den Schaufenstern oder blei‐ ben vor Jordan, Marsh stehen, um sich die neueste Hutmode anzusehen, und denken dabei, dass rigavan lor di sangue il volto, mischiato di lagrime, und stellen sich schaudernd diese fastidiosi vermi vor, dieses abscheuliche Gewürm? Sagen Sie mir, wer in unserer Stadt kennt die Werke Dantes, all seine Gesänge, all seine Terzette? Oder auch nur so viel davon, dass er auf die I‐ dee käme, Dantes Höllenstrafen als Vorbild für Mordtaten zu nehmen?« In Longfellows Arbeitszimmer, einem Hort lebhafter, gepfleg‐ ter Konversation, wurde es unheimlich still. Keiner der Anwe‐ senden dachte daran, die Frage zu beantworten, denn der Raum selbst war die Antwort: Henry Wadsworth Longfellow, Professor James Russell Lowell, Professor Dr. Oliver Wendell
Holmes, James Thomas Fields und eine kleine Auswahl von Freunden und Kollegen. »Gütiger Gott«, sagte schließlich Fields. »Es gibt bei uns nur eine Hand voll Leute, die in der Lage ist, Bücher in Italienisch zu lesen, zumal in Dantes Italienisch, und auch von denen, die einen italienischen Text vielleicht mit Hilfe von Grammatik‐ und Wörterbüchern mühselig entziffern könnten, haben die meisten noch nie ein Buch von Dante in der Hand gehabt!« Fields musste es wissen. Der Verleger ließ es sich angelegen sein, über die Lesegewohnheiten sämtlicher Literaten und Ge‐ lehrten Neuenglands und darüber hinaus aller ernst zu neh‐ menden Buchkäufer Bescheid zu wissen. »Und sie werden auch keins zu sehen bekommen«, fuhrt er fort, »bis endlich eine Ü‐ bersetzung der Göttlichen Komödie erscheint und bis in den hin‐ tersten Winkel Amerikas gelangt.« »Zum Beispiel die, an der wir arbeiten?« Longfellow hob die Druckfahnen für den Sechzehnten Gesang hoch. »Falls wir der Polizei mitteilen, wie präzise diese Morde Dantes Schilderun‐ gen folgen, wäre doch sofort klar, dass nur Leute mit entspre‐ chenden Kenntnissen in Frage kommen.« »Wir wären nicht nur die Ersten, die man verdächtigen wür‐ de«, sagte Longfellow, »wir wären auch die Hauptverdächti‐ gen.« »Aber, mein lieber Longfellow«, sagte Fields mit einem verzweifelt ernsten Lachen. »Wir sollten doch die Kirche im Dorf lassen. Sehen Sie sich um: Professoren, angesehene Bürger unserer Stadt, Dichter, Männer, die bei Senatoren und anderen Würdenträgern ein‐ und ausgehen, Büchermenschen ‐ wer würde es uns auch nur im Entferntesten zutrauen, in einen
Mord verwickelt zu sein? Ich darf doch ohne unziemliche Ü‐ berheblichkeit behaupten, dass wir in Boston Männer von ho‐ hem Ansehen sind, Stützen der Gesellschaft!« »Genau wie Professor Webster. Der Galgen lehrt uns, dass kein Gesetz es verbietet, einen Harvard‐Mann aufzuknüpfen«, erwiderte Longfellow. Holmes wurde noch bleicher. Zwar war er erleichtert, dass Longfellow sich auf seine Seite geschlagen hatte, doch die letzte Bemerkung versetzte ihm einen Stich. »Ich hatte damals meine Stelle an der Medizinischen Fakultät gerade erst ein paar Jahre«, sagte er und starrte mit glasigem Blick vor sich hin. »Anfangs war jeder Dozent und jede Hilfs‐ kraft verdächtig, sogar ein Dichter wie ich.« Das beabsichtigte Lachen blieb ihm im Halse stecken. »Ich stand auf der Liste der potenziellen Täter. Sie kamen zu mir nach Hause, um mich zu vernehmen. Wendell junior und die kleine Amelia waren noch Kinder, Neddie lag noch in den Windeln. Es war der größte Schreck meines Lebens.« Longfellow sagte gelassen: »Bitte, lie‐ be Freunde, eines scheint mir unstreitig zu sein: Selbst wenn die Polizei uns Vertrauen schenken, uns glauben würde, stünden wir doch unter Verdacht, bis der Mörder gefasst ist. Und auch wenn der Mörder gefasst ist, wäre Dante mit Blut besudelt, be‐ vor die Amerikaner zum ersten Mal seine Worte zu lesen be‐ kämen, und das zu einer Zeit, da unser Land nicht noch mehr Tod ertragen kann. Dr. Manning und die Corporation wollen Dante jetzt schon beerdigen, um ihre Lehrpläne nicht zu ge‐ fährden, und das wäre ein eiserner Sarg. Dante würde in Ame‐ rika für die nächsten tausend Jahre demselben Fluch anheim
fallen wie seinerzeit in Florenz. Holmes hat Recht: Wir sagen niemandem etwas.« Fields sah Longfellow fassungslos an. »Wir haben gelobt, Dante zu schützen, hier unter diesem Dach«, sagte Lowell leise beim Anblick der verhärteten Miene seines Verlegers. »Lassen Sie uns erst einmal versuchen, uns selbst zu schützen, und unsere Stadt, sonst wird am Ende keiner mehr zu Dante stehen!«, sagte Fields. »Schutz für uns selbst und Schutz für Dante, das ist jetzt ein und dasselbe, mein lieber Fields«, stellte Holmes sachlich fest. Sein anfängliches Gefühl, dass es Scherereien geben würde, war nicht grundlos gewesen, wie ihm jetzt schien. »Ein und dassel‐ be. Man würde nicht nur uns die Schuld geben, wenn alles be‐ kannt würde, sondern auch den Katholiken, den Einwanderern ...« Fields wusste, dass seine Dichter Recht hatten. »Der Himmel stehe uns bei. Wir wären ruiniert.« Er stieß die Luft aus. Er dachte nicht in juristischen Kategorien. In Boston konnten Ge‐ rüchte und Rufmord einen Ehrenmann noch wirkungsvoller erledigen als der Henker. So beliebt seine Autoren auch waren, in der Öffentlichkeit hielt sich hartnäckig ein Rest von Miss‐ gunst und Neid auf die berühmten Zeitgenossen. Wären sie auch nur im Geringsten mit solch einem skandalösen Mordfall in Verbindung gebracht worden, hätte sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet. Es erfüllte Fields immer wieder mit Abscheu, wenn er zusehen musste, wie Menschen von untade‐ ligem Ruf auf ein bloßes Gerücht hin durch den Schmutz gezo‐ gen wurden. »Möglicherweise sind sie ja schon nahe dran«,
sagte Longfellow. »Erinnern Sie sich an das hier?« Er holte ei‐ nen Zettel aus der Schublade. »Sollen wir nicht noch einmal einen Blick darauf werfen? Ich könnte mir vorstellen, dass sich das Rätsel jetzt lösen lässt.« Longfellow strich Reys Zettel glatt. Die Gelehrten beugten sich darüber und versuchten die kryptischen Zeichen zu entziffern. Das Kaminfeuer malte rote Streifen auf ihre angestrengten Ge‐ sichter. Aus dem Schatten von Longfellows löwenhaftem Bart starrte ihnen Reys Gekritzel entgegen: Dinansi amenon furkos kreatte se‐ none terne ejo etterno duro, lasch atoni. »Das ist der erste Teil eines Terzetts«, flüsterte Lowell. »Ja! Wie konnten wir nur so blind sein?« Fields schnappte sich den Zettel. Der Verleger wollte nicht zugeben, dass er es immer noch nicht erkannte; ihm schwirrte dermaßen der Kopf, dass er sein ganzes Italienisch vergessen hatte. Der Zettel zitterte in seiner Hand. Vorsichtig legte er ihn wieder auf den Tisch und zog die Hand zurück. »>Dinanzi a me non fuor cose create se non etterne, e io etterno du‐ ro<«, rezitierte Lowell. »Das ist aus der Inschrift über dem Höl‐ lentor, ein Teil davon! >Lasciate ogni speranza, voi chʹ entrate.<« Lowell schloss die Augen und übersetzte: Vor mir ist kein geschaffen Ding gewesen, Nur Ewiges, und ich muss ewig dauern, Lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten. Auch der Fensterspringer auf dem Polizeirevier hatte diese Worte vor sich gesehen. Er hatte die lauen Seelen gesehen. Sie schlugen hilflos in die Luft, und dann schlugen sie auf ihre ei‐
genen Körper ein. Mücken und Wespen umschwirrten ihre nackten weißen Leiber. Eklige Würmer krochen aus fauligen Lücken zwischen ihren Zähnen, sammelten sich zu ihren Fü‐ ßen, tranken ihr Blut, in das sich das Salz ihrer Tränen mischte. Die Seelen folgten einem Banner, das ihnen im Kreis vorausflat‐ terte als Symbol ihres sinnlosen Tuns. Der Fensterspringer musste gespürt haben, dass seine Haut von Fliegen wimmelte, die mit angenagtem Fleisch auf und ab schwirrten, und er musste fliehen ‐ oder es wenigstens versuchen. Longfellow suchte die Korrekturfahne seiner Übersetzung des Dritten Gesangs und legte sie zum Vergleich auf den Tisch. »Allmächtiger«, keuchte Holmes und hielt sich an Longfellows Ärmel fest. »Also, dieser farbige Polizist war bei der Leichen‐ schau von Reverend Talbot dabei. Und er ist nach Richter Hea‐ leys Tod mit diesem Zettel zu uns gekommen! Er muss bereits etwas wissen!« Longfellow schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie nicht, Lowell ist Smith‐Professor am College. Der Polizist wollte lediglich, dass wir den Text entziffern, aber wir waren allesamt mit Blindheit geschlagen. Studenten haben ihn am Abend unserer Dante‐Club‐Sitzung nach Elmwood geschickt, und Mabel hat ihn hierher geschickt. Wir haben keinen Grund zu der Annah‐ me, dass er irgendetwas vom dantesken Charakter dieser Verbrechen ahnt oder auch nur von unserem Übersetzungspro‐ jekt weiß.« »Wieso haben wir das nicht gleich erkannt?«, fragte Holmes. »Greene meinte ja immerhin, es könne sich um Italie‐ nisch handeln, aber wir haben das nicht beachtet.« »Gott sei Dank«, rief Fields aus, »sonst hätten wir auf der Stel‐
le die Polizei auf dem Hals gehabt!« Holmes fuhr in erneut aufsteigender Panik fort: »Aber wer könnte dem Polizisten die Inschrift über dem Tor rezitiert ha‐ ben? Das kann doch kein zufälliges zeitliches Zusammentreffen gewesen sein. Es muss irgendetwas mit den Morden zu tun ha‐ ben!« »Höchstwahrscheinlich.« Longfellow nickte ruhig. »Wer kann das gesagt haben?«, beharrte Holmes, während er das Stück Papier immer wieder in der Hand umdrehte. »Diese In‐ schrift, das Höllentor, das kommt im Dritten Gesang vor, in dem Dante und Vergil unter den lauen Seelen wandeln! Die Vorlage für den Mord an Oberrichter Healey!« Schritte näherten sich dem Haus, und Longfellow ließ den Gärtnerssohn ein, dessen Pferdezähne klapperten. Draußen stand Nicholas Rey. »Er wollte, dass ich ihn herbringe, Mr. Longfellow, Sir«, jam‐ merte Karl, als er sah, wie überrascht Longfellow war. Dann schaute er mit einem säuerlichen Grinsen zu Rey auf. Rey sagte: »Ich war wegen einer anderen Sache auf der Wache von Cam‐ bridge, als der junge kam und von dem Vorfall bei Ihnen be‐ richtete. Ein Beamter aus Ihrem Bezirk sieht sich draußen um.« Rey hörte förmlich die lastende Stille, die sich beim Klang sei‐ ner Stimme vom Arbeitszimmer her ausbreitete. »Würden Sie bitte eintreten, Officer?« Longfellow wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Er schilderte ihm den Anlass seines Er‐ schreckens. Nicholas Rey stand wieder inmitten der George‐Washington‐ Gruppe in der Diele. Die Hände in den Hosentaschen, befühlte er die Papierkügelchen, die man in der Krypta verstreut gefun‐
den hatte und die noch erdfeucht waren. Der fassungslose Kü‐ ster hatte sie den Polizisten gezeigt, nachdem Talbots Leichnam hinausgetragen worden war. Auf einigen der Zettel standen ein oder zwei Buchstaben, andere waren bis zur Unkenntlichkeit verschmiert. Rey betrat das Arbeitszimmer und musterte die drei Herren: den schnauzbärtigen Lowell mit dem Mantel über dem Mor‐ genrock und den karierten Hosen, die beiden anderen mit ge‐ lockertem Kragen und derangierten Halstüchern. Eine doppel‐ läufige Flinte lehnte an der Wand, auf dem Tisch lag ein fri‐ scher Laib Brot. Rey ließ seinen Blick auf dem erregten Mann mit den knabenhaften Zügen verweilen, dem Einzigen, der sein Gesicht nicht hinter einem Bart versteckte. »Dr. Holmes war uns heute Nachmittag bei der Untersuchung in der Medizini‐ schen Fakultät behilflich«, erklärte er Longfellow. »In dieser Angelegenheit bin ich übrigens jetzt nach Cambridge gekom‐ men. Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe, Doktor.« Der Doktor sprang auf und verbeugte sich wackelig aus der Hüfte. »Keine Ursache, Sir. Und sollten Sie jemals wieder Hilfe benötigen, bitte zögern Sie nicht, nach mir zu schicken«, stam‐ melte er devot und reichte Rey seine Karte. Vor lauter Aufre‐ gung hatte er vergessen, dass er nicht im Geringsten behilflich gewesen war, und ließ sogar die gebotene Vorsicht außer Acht: »Was wie ein sinnloses lateinisches Orakel anmutet, könnte vielleicht etwas zur Ergreifung des Mörders beitragen, der die Stadt unsicher macht.« Rey nickte anerkennend. Der Gärtnerssohn zog Longfellow beiseite. »Tut mir Leid, Mr. Longfellow«, sagte er, »ich hab nicht geglaubt, dass der bei der
Polizei ist. Er hat keine Uniform an und so, bloß einen norma‐ len Mantel. Aber der andere Polizist hat mir gesagt, der Stadtrat hat angeordnet, dass er in Zivil geht, damit niemand eine Wut kriegt, weil er ein Nigger‐Cop ist, und ihn verprügelt!« Long‐ fellow entließ Karl mit dem Versprechen, er dürfe sich in den nächsten Tagen ein paar Süßigkeiten bei ihm abholen. Im Ar‐ beitszimmer trat Holmes von einem Fuß auf den anderen, als stünde er auf glühenden Kohlen, und verstellte Rey die Sicht auf den Tisch. Dort lag die Zeitung mit der Schlagzeile über den Healey‐Mord, daneben Longfellows Übersetzung des Drit‐ ten Gesangs, der dem Mörder als Vorlage gedient hatte; dazwi‐ schen lag das Stück Papier mit Nicholas Reys Umschrift: »Di‐ nansi amenon furkos kreatte senone terne ejo etterno duro, lasch ato‐ ni.« Hinter Rey kam Longfellow ins Zimmer zurück. Rey spür‐ te, dass der Dichter hechelnd atmete. Und ihm fiel auf, dass Lowell und Fields verlegen auf den Tisch hinter Holmes schiel‐ ten. Blitzschnell, mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung, streckte Holmes den Arm aus und hatte im nächsten Moment den Zettel in der Hand. »Ach, übrigens, Officer«, sagte er. »Dürfen wir Ihnen Ihre Aufzeichnung zurückgeben?« Rey schöpfte Hoffnung. Leise sagte er: »Dann haben Sie also ...« »Ja, ja«, fiel ihm Holmes ins Wort. »Zumindest teilweise. Wir haben den Text nach Anklängen an die verschiedensten Sprachen ab‐ geklopft, doch die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass es sich um verballhorntes Latein handelt. Aber der Sinn bleibt im Dunkeln.« Rey schaute Longfellow an, der genauso überrascht schien wie er selbst. »Na, jedenfalls danke, dass Sie daran ge‐ dacht haben, Dr. Holmes«, sagte er. »Dann darf ich den Herren
jetzt eine gute Nacht wünschen.« Die Herren begaben sich in die Diele, während Rey über den Gartenweg entschwand. »Verballhorntes Latein?«, fragte Lowell. »Er durfte doch keinerlei Verdacht schöpfen, Lowell!«, rief Holmes. »Sie hätten ruhig etwas überzeugter dreinschauen können. Der Puppenspieler im Kasperletheater sollte immer darauf achten, dass das Publikum seine Beine nicht sieht!« Longfellow wollte noch etwas beisteuern, verzichtete dann aber doch darauf. Er ging ins Arbeitszimmer, schloss die Tür und ließ die Freunde draußen in der Diele stehen. »Longfellow? Lieber Longfellow!« Fields klopfte leise. Lowell nahm den Ver‐ leger am Arm und schüttelte den Kopf. Holmes merkte, dass er etwas in der Hand hielt. Er warf es weg. Reys Zettel. »Sehen Sie sich das an. Rey hat vergessen, ihn mitzunehmen.« Aber die beiden anderen sahen darin nicht mehr den Zettel. Für sie war es der kalte, gemeißelte Stein über dem offenen Tor zur Hölle, vor dem Dante einst zaudernd gestanden hatte, bis Vergil ihn mit sanfter Gewalt weitergeschoben hatte. Lowell hob das Stück Papier ärgerlich auf und warf Dantes entstellte Worte ins Feuer der Flurlampe.
VII Oliver Wendell Holmes kam zu spät zum nächsten Treffen des Dante Club, von dem er wusste, dass es sein letztes sein würde. Obwohl der Himmel wie eine schwarze Kapuze über die Stadt gestülpt war, hatte er es abgelehnt, mit Fields in der Kutsche mitzufahren. Der Dichter seufzte nur kurz, als er im strö‐ menden Regen vor Longfellows Haus auf nassen Laubschich‐ ten, den letzten Ablagerungen des Herbstes, ausrutschte und dabei seinen Schirm verbog. Die Welt war zu sehr aus dem Lot, als dass er sich über solch kleine Misshelligkeiten hätte echauf‐ fieren können. In Longfellows mildem Willkommensblick lag kein Trost, keine Seelenruhe, an der man sich hätte wärmen können, keine Antwort auf die Frage, die dem Doktor den Ma‐ gen zusammenkrampfte: Wie machen wir jetzt weiter? Er wür‐ de den anderen beim Abendessen eröffnen, dass er sich an der Dante‐Übersetzung nicht mehr beteiligen werde. Wenn er Glück hatte, war Lowell von den jüngsten Ereignissen so ver‐ wirrt, dass er ihn wegen seiner Fahnenflucht nicht einmal ta‐ deln würde. Holmes fürchtete, für einen Dilettanten gehalten zu werden. Aber er konnte nicht einfach Dante lesen, als sei nichts geschehen, solange der Geruch von Reverend Talbots verbranntem Fleisch in der Luft hing. Ihn quälte das vage Ge‐ fühl, dass sie irgendwie dafür verantwortlich waren, dass sie zu weit gegangen waren, dass sie durch ihre wöchentliche Dante‐ Lektüre kraft ihres blinden Vertrauens in die Dichtung Dantes
Höllenstrafen über Boston gebracht hatten. Ein anderer war jedoch eine halbe Stunde früher wie eine ganze Armee ins Haus marschiert: James Russell Lowell. Er war durchnässt, obwohl er es gar nicht weit hatte; Regenschirme verschmähte er als un‐ nützen Firlefanz. Die sanfte Wärme von Kännelkohle und Hik‐ koryscheiten strahlte aus dem breiten Kamin, und die Flammen ließen die Tröpfchen auf Lowells Bart glitzern wie von innen beleuchtet. Lowell hatte Fields vor einigen Tagen im Verlag beiseite ge‐ nommen und ihm anvertraut, dass er so nicht weiterleben kön‐ ne. Das Schweigen gegenüber der Polizei sei notwendig ‐ schön und gut. Sie müssten auf ihren guten Ruf achten ‐ schön und gut. Es gelte, Dante zu schützen ‐ schön und gut. Aber keines dieser Argumente schaffe die eine simple Tatsache aus der Welt: Es standen Menschenleben auf dem Spiel. Lowell hatte sich bemüht, ein Treffen aller vier Männer zu arrangieren, aber bis zu diesem Tag hatten sie sich der gegen‐ seitigen Annäherung widersetzt wie falsch gepolte Magnete. Nun, da sie im Kreis zusammensaßen, demselben Kreis wie seit zweieinhalb Jahren, gab es nur einen Grund, warum Lowell die anderen drei nicht einen nach dem anderen an den Schultern rüttelte. Und dieser Grund saß zusammengesunken in seinem grünen Lieblingssessel, auf dem Schoß mehrere schwere Dante‐ Folianten: Sie hatten abgemacht, George Washington Greene nichts von ihrer Entdeckung zu sagen. Da saß er also und wärmte sich die gespreizten knochigen Finger am Kaminfeuer. Die anderen wussten, dass Greene bei seiner angegriffenen Gesundheit die niederschmetternden Neu‐
igkeiten nicht aushalten würde. Und so erwies sich der alte Hi‐ storiker und pensionierte Prediger, der sich ahnungslos beklag‐ te, er habe nicht genug Zeit gehabt, sich vorzubereiten, weil Longfellow in letzter Minute die aufgegebenen Gesänge geän‐ dert hatte, an diesem Mittwochabend als das einzige unbe‐ schwerte Mitglied. Anfang der Woche hatte Longfellow seinen Gelehrten mitgeteilt, sie möchten sich den Sechsundzwanzig‐ sten Gesang ansehen, in dem Dante der flammenden Seele des Odysseus begegnet. Das war einer der Lieblingsgesänge der Gelehrten, es bestand also Hoffnung, dass sie aus der Beschäfti‐ gung damit neue Kraft schöpfen würden. »Ich danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind«, sagte Long‐ fellow. Holmes erinnerte sich an das Begräbnis, das rückblickend be‐ trachtet den Anlass für das Projekt Dante‐Übersetzung gegeben hatte. Als sich die Nachricht von Fannys Tod verbreitete, hatten einige der Bostoner Patrizier ‐ was sie jedoch nie zugegeben oder auch nur sich selbst eingestanden hätten ‐ eine gewisse Schadenfreude darüber empfunden, dass jemand, dessen Leben unter einem so unglaublich günstigen Stern stand, von solch einem Unglück heimgesucht worden war. Longfellow, so schien es, war ohne die geringste Mühe zu Ruhm und Reich‐ tum gelangt. Wenn Holmes jedoch nach Fannys Feuertod etwas weniger Ehrenwertes empfunden hatte als Bestürzung und Trauer, dann vielleicht so etwas wie Staunen oder Genugtuung darüber, dass er so kühn war, Henry Wadsworth Longfellow in der Zeit seiner Genesung beizustehen. Der Dante Club hatte einem Freund das Leben zurückgege‐
ben. Und jetzt ‐ jetzt waren unter dem Deckmantel Dantes zwei Morde begangen worden. Und womöglich würde noch ein drit‐ ter und ein vierter passieren, während sie mit ihren Druckfah‐ nen in der Hand am Kamin saßen. »Wie können wir uns der Tatsache verschließen, dass ...«, platzte James Russell Lowell heraus, besann sich dann aber mit einem bedauernden Seitenblick auf den ahnungslosen Greene, der gerade etwas auf dem Rand seiner Fahne notierte. Long‐ fellow las den Odysseus‐Gesang vor und besprach ihn, ohne auf die unglückliche Zwischenbemerkung einzugehen. Sein stets gegenwärtiges Lächeln war schwach und bemüht, als hät‐ te er es sich von einem früheren Treffen ausgeborgt. Odysseus büßt in der Hölle unter den Bösen Ratgebern in Gestalt einer körperlosen, hin und her züngelnden Flamme. Einige der Ver‐ dammten in der Hölle weigern sich, Dante ihre Geschichte zu erzählen, andere sind allzu mitteilsam. Odysseus ist über beide Spielarten der Eitelkeit erhaben. Er erzählt Dante, dass er nach dem Trojanischen Krieg nicht zu Gattin und Sohn nach Ithaka zurücksegelte. Vielmehr über‐ redete er die wenigen, die von seiner Mannschaft noch übrig waren, weiterzufahren, über die Grenze hinaus, die kein Sterb‐ licher überschreiten durfte, um dem Schicksal zu trotzen und ihr Wissen zu vermehren. Ein Wirbelsturm erhob sich, und das Meer verschlang sie. Greene war der Einzige, der zu dem Thema einiges zu sagen hatte. Er dachte an das Tennyson‐Gedicht, das auf dieser Epi‐ sode aus der Odyssee beruht. Mit einem traurigen Lächeln sag‐ te er: »Ich glaube, wir sollten überlegen, inwieweit Dante Lord
Tennyson zu seiner Deutung der Szene inspiriert hat.« »>Wie traurig ist es, endend stillzustehen<«, begann Greene das Ge‐ dicht aus dem Gedächtnis aufzusagen. »>Dumpf zu verwittern, unnütz einzurosten! Als wäre Atmen Leben! Hundert Leben reichten nicht aus, und wenig nur von einem ...<« ‐ er hielt inne, in den Augen ein seltsames Schimmern ‐ »>besitz ich noch.< Lassen Sie Tennyson Ihren Führer sein, liebe Freunde, denn in seinem Kummer versetzte er sich in Odysseus, lebte er seinen Wunsch nach, mit der letzten Reise des Lebens zu triumphie‐ ren.« Longfellow und Fields nahmen die Anregung begeistert auf, doch dann war vom alten Greene nur noch ein pfeifendes Schnarchen zu hören. Er hatte seine Schuldigkeit getan, nun war er erschöpft. Lowell krampfte die Hand um seine Druck‐ fahnen und kniff den Mund zusammen wie ein störrischer Schuljunge. Die höfliche Scharade ging ihm immer mehr auf die Nerven, sein Temperament drohte mit ihm durchzugehen. Da niemand sich äußern wollte, drängte Longfellow: »Lowell, möchten Sie nicht etwas zu dem Terzett sagen?« Über dem Spiegel im Arbeitszimmer stand eine weiße Marmorstatuette von Dante Alighieri. Die leeren Augen fixierten die An‐ wesenden gnadenlos. Lowell nuschelte: »Hat Dante nicht selbst einmal geschrieben, dass Dichtung unübersetzbar ist? Trotz‐ dem versammeln wir uns Woche für Woche und vergewaltigen unverdrossen seinen Text.« »Lowell, bitte!«, stöhnte Fields und warf Longfellow einen um Nachsicht bittenden Blick zu. »Wir tun, was unsere Pflicht ist«, flüsterte der Verleger laut genug, um Lowell zur Ordnung zu
rufen, aber nicht so laut, dass Greene davon aufwachte. Lowell beugte sich tatendurstig vor. »Wir müssen etwas un‐ ternehmen ... Wir müssen uns entscheiden ...« Holmes sah Lowell mit geweiteten Augen an und zeigte auf Greene, genau‐ er gesagt, auf Greenes struppigen Gehörgang. Der alte Mann konnte jeden Moment aufwachen. Dann zog er die Hand zu‐ rück und fuhr sich mit dem Finger über die Kehle, um anzu‐ deuten, dass jede Bemerkung zu diesem Thema zu unterlassen sei. »Was sollten wir Ihrer Meinung nach denn unternehmen?«, fragte Holmes. Er hatte gedacht, es würde lächerlich genug klingen, um weitere kritische Äußerungen im Keim zu erstik‐ ken. Aber die rhetorische Frage wölbte sich so gewaltig über dem Raum wie die Decke einer Kathedrale. »Es gibt rein gar nichts, was wir tun können, leider«, murmelte Holmes jetzt und zog an seinem Halstuch, als wollte er seine Frage zurückholen. Vergeblich. Holmes hatte etwas in Gang gesetzt. Dies war die Herausfor‐ derung, die nur darauf gewartet hatte, formuliert zu werden, die Herausforderung, der man nur bis zu dem Moment auswei‐ chen konnte, da sie ausgesprochen wurde und alle vier Männer sie mit derselben Luft einatmeten. Lowell lief rot an. Offenbar musste er unbedingt etwas loswer‐ den. Er sah den rhythmisch atmenden George Washington Greene an und hörte plötzlich sämtliche Geräusche dieses Tref‐ fens gleichzeitig: Longfellows gequälten Dank für ihr Kommen, Greenes krächzenden Tennyson‐Vortrag, Holmesʹ asthmati‐ sches Keuchen, die majestätischen Worte des Odysseus, die er
zuerst auf einem dem Untergang geweihten Schiff gesprochen und dann in der Hölle wiederholt hatte. All dies rumorte in seinem Kopf und ließ etwas Neues entstehen. Holmes sah zu, wie Lowell mit seinen kräftigen Fingern seine Stirn umspannte. Er wusste nicht, warum Lowell es als Erster zitierte. Er war überrascht. Vielleicht hatte er erwartet, dass Lowell laut schreien würde, um sie aus ihrer Lethargie zu rei‐ ßen; vielleicht hoffte er sogar darauf. Doch Lowell besaß das exquisite Feingefühl des großen Dichters in Zeiten der Krise. Er begann in nachdenklichem Flüsterton, und nach und nach wich die Angespanntheit aus seinen Zügen. »>Genossen, die ihr ge‐ dacht, gerungen und gelitten an meiner Seite .. .<« Es war ein Vers aus Tennysons Gedicht ‐ Odysseus ruft seine Gefährten auf, der Sterblichkeit zu trotzen. Lowell beugte sich vor und fuhr lächelnd, aber mit einem Ernst fort, der sich ebenso seiner eisenbeschlagenen Stimme wie den Worten des Gedichts verdankte. ... Ich und ihr seid alt; Doch auch das Alter hat Geschäft und Ehre! Der Tod schließt alles; aber vorher, Freunde, Kann etwas Edles, Großes noch getan sein ... Holmes war wie vom Donner gerührt. Nicht etwa wegen der Worte, denn er kannte das Gedicht seit langem auswendig. Vielmehr war er überwältigt davon, welch unmittelbare Bedeu‐ tung sie für ihn hatten. Er erschauerte. Das war keine Rezitati‐ on: Lowell sprach zu ihnen. Longfellow und Fields wirkten e‐ benfalls hingerissen und erschrocken, weil auch sie begriffen
hatten. Mit lächelnder Miene hatte Lowell sie gerade herausge‐ fordert, nach der Wahrheit über die beiden Morde zu suchen. Draußen heulte der Wind und peitschte den Regen an die Fens‐ ter, bald auf der einen Seite des Hauses, bald auf der anderen. Ein Blitz flammte auf, gefolgt vom uralten Ruf des Donners und dem Klirren der Fensterscheiben. Lowells Stimme ging in dem Getöse unter, und er brach ab. Dann sprach Longfellow. Nahtlos fuhr er fort in Tennysons Gedicht, mit derselben beschwörenden Flüsterstimme: Auf denn, noch ist es Zeit, Nach einer neuern Welt uns umzusehn! ... Und dann drehte er jäh den Kopf und sah mit fragendem Blick seinen Verleger an: Jetzt sind Sie an der Reihe, Fields. Fields senkte den Kopf, sodass sich sein Bart im aufgeknöpf‐ ten Gehrock verkroch und über das Kettchen seiner Weste strich. Holmes fürchtete, Lowell und Longfellow hätten sich vorschnell der unmöglichen Aufgabe verschrieben, aber noch gab es Hoffnung. Fields war der Schutzengel seiner Dichter und würde sie nicht geradewegs in ihr Verderben rennen lassen. Fields war im Privatleben bislang von Unglücksfällen verschont geblieben. Er hatte nie Kinder haben wollen und sich damit den Kummer erspart, zusehen zu müssen, wie die Kleinen ihren ersten oder zweiten Geburtstag nicht erlebten oder die Mutter im Kindbett starb. Frei von häuslichen Fesseln, widmete er sei‐ ne Beschützerkraft ganz seinen Autoren. Einmal hatte Fields einen ganzen Nachmittag lang mit Longfellow über ein Gedicht gestritten, das vom Untergang der Hesperus handelte. Long‐
fellow hatte deswegen eine geplante Ausflugsreise auf der Lu‐ xusyacht von Cornelius Vanderbilt verpasst, die ein paar Stun‐ den nach dem Auslaufen in Brand geraten und gesunken war. Nun hoffte Holmes inständig, Fields würde ihnen auch diesmal so lange gut zureden und auf die Nerven gehen, bis die Gefahr vorüber war. Der Verleger wusste, dass er Männer des Wortes, nicht Männer der Tat vor sich hatte (die überdies alle nicht mehr die Jüngsten waren). Dieser Wahnsinn war etwas, wor‐ über sie lasen, was sie in Verse brachten, zum Nutzen eines be‐ gierigen Publikums, Krieger, die sich in aussichtslose Schlach‐ ten stürzen, das A und O jeglicher Dichtung. Fields machte den Mund auf, doch dann zögerte er, wie in einem bösen Traum, wenn man sprechen will, aber kein Wort herausbringt. Er fühlte sich plötzlich wie seekrank. Holmes seufzte mitfühlend, um kundzutun, dass er Fieldsʹ Zurückhal‐ tung billigte. Doch dann blickte Fields mit gefurchter Stirn von Longfellow zu Lowell, sprang auf und setzte die Rezitation des Tennyson‐Gedichts fort. Sich ins Unvermeidliche schickend: ... Viel ist gewonnen! Viel bleibt übrig. Sind Wir auch die Kraft nicht mehr, die Erd und Himmel Vordem bewegte: ‐ was wir sind, das sind wir!. Sind wir stark genug, diesen Mord zu enträtseln?, fragte sich Holmes. Es hat zwei Morde gegeben, grauenhafte Verbrechen, aber dass weitere folgen werden, lässt sich nicht beweisen, dachte er mit der präzisen Logik des Wissenschaftlers. Ihre Einmischung konnte sich als unerwünscht oder, schlimmer
noch, als gefährlich erweisen. Halb tat es ihm Leid, dass er an der Leichenschau in der Medizinischen Fakultät teilgenommen hatte, halb bereute er, dass er den Freunden von seiner Entdek‐ kung berichtet hatte. Trotzdem konnte er nicht umhin, sich zu fragen: Was würde der Junior tun? Captain Holmes. Der Arzt kannte das Leben aus so vielerlei Blickwinkeln, dass er sich mühelos über, unter und neben eine bestimmte Situation den‐ ken konnte. Sein Sohn dagegen besaß die Gabe der Geradlinig‐ keit. Nur der Geradlinige konnte wahrhaft tapfer sein. Holmes schloss die Augen. Was würde der Junior tun? Er dachte daran, wie die Kompanie seines Sohnes in blau und golden leuchten‐ den Uniformen aus der Ausbildungsgarnison ausgerückt war. »Alles Gute. Ich wollte, ich wäre noch jung und könnte mit in den Kampf ziehen.« Und so weiter. Aber er hatte es sich mit‐ nichten gewünscht. Er hatte seinem Schöpfer gedankt, dass er nicht mehr jung war. Lowell beugte sich zu Holmes hinüber und wiederholte Fields Worte mit sanfter Geduld und einer Nachsicht, die bei ihm so selten war, dass die anderen erschra‐ ken. »Was wir sind, das sind wir.« Was wir sind, das sind wir: Wir sind, was wir sein wollten. Das beruhigte Holmes ein wenig. Die drei Freunde hatten sich geeinigt, während sie auf ihn warteten. Trotzdem hätte er noch gehen können. Er holte asthmatisch Luft, ein Atemzug, dem normalerweise ein ebenso ausgeprägtes erleichtertes Ausatmen folgte. Doch anstatt den Zyklus zu vollenden, traf er seine Wahl. Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder, eine Stimme, die feierlich genug war, um von der edlen Flamme zu kommen, die zu Dante sprach. Nur verschwommen ahnte er,
woher der Entschluss kam, den seine Worte, Tennysons Worte, Wirklichkeit werden ließen: »... Was wir sind, das sind wir! Ein einziger Wille heldenhafter Herzen, / Durch Zeit und Schicksal schwach gemacht, doch stark / Im Ringen, Suchen, Finden« — er hielt inne —, »Nimmerweichen.« »Im Ringen«, flüsterte Lowell nachdenklich, methodisch. Er musterte nacheinander die Gesichter der Freunde und ließ den Blick auf Holmes ruhen. »Suchen, Finden ...« Die Uhr schlug die volle Stunde, und Greene regte sich, aber es gab keinen Anlass für eine Fortsetzung des Gesprächs: Der Dante Club war wieder erstanden. »Oh, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, mein lieber Longfellow.« Greene schnarchte sich unter den behäbigen Schlägen der alten Uhr wach. »Habe ich etwas verpasst?«
Zweiter Teil
VIII In der Woche, in der Reverend Talbots Leichnam gefunden wurde, war in der Bostoner Unterwelt fast alles beim Alten. Un‐ verändert war das Straßendreieck, wo Slums, Kneipen, Bordelle und Stundenhotels all die Bewohner vertrieben hatten, die es sich leisten konnten wegzugehen, wo kalkweißer Dampf aus Rohren austrat, die sich durch Fensterscheiben und Eisengitter nach draußen bogen, wo die Bürgersteige mit Orangenschalen übersät waren und zu jeder Tages‐ oder Nachtzeit von lustigem Treiben widerhallten. Horden Farbiger fuhren mit der Pferde‐ bahn: junge Frauen, Wäscherinnen und Hausgehilfinnen, die ihr Haar mit bunten Tüchern hochgebunden trugen und deren baumelnder Schmuck keck klingelte. Hie und da sah man einen schwarzen Soldaten oder Matrosen in Uniform, ein Anblick, der den meisten noch immer einen Stich versetzte. Ungewohnt war auch ein Mulatte, der auffallend gemessen durch die Straßen schritt, ignoriert von den einen, ausgelacht von den anderen und angestarrt von den gewiefteren Schwarzen, die wussten, dass Rey bei der Polizei und deshalb anders war als sie. Schwarze hatten nichts mehr zu befürchten in Boston, sie durf‐ ten sogar gemeinsam mit den Weißen die Schulen besuchen und die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und bewahrten daher Ruhe. Rey löste jedoch Hassausbrüche aus, sobald er ei‐ nen Fehler machte oder in Ausübung seines Amtes gegen den Falschen vorging. Die Schwarzen hatten ihn deshalb aus ihrer
Welt ausgeschlossen, und weil ihre Gründe die richtigen waren, kam es nie vor, dass ihm jemand etwas erklärte oder sich bei ihm entschuldigte. Mehrere schwatzende junge Frauen mit Körben auf dem Kopf blieben stehen, um ihn aus dem Augen‐ winkel zu taxieren. Wenn er vorüberging, schien seine schöne bronzefarbene Haut das Licht der Straßenlaternen zu schlucken und es mitzunehmen. Auf der anderen Straßenseite lungerte ein vierschrötiger Mann herum, den Rey kannte; er war ein spanischer Jude, ein notorischer Dieb, der ab und zu auf der Hauptwache verhört wurde. Nicholas Rey stieg die enge Trep‐ pe seiner Pension hinauf. Sein Zimmer lag im ersten Stock gleich am Treppenabsatz, und obwohl die Lampe kaputt war, sah er, dass jemand vor der Tür stand, als wollte er ihm den Eintritt verwehren. In dieser Woche hatten sich die Ereignisse überschlagen. Als Rey mit Polizeichef Kurtz zum Fundort von Reverend Talbots Leiche gefahren war, hatte der Küster Kurtz und mehreren Ser‐ geants die Treppe gezeigt, die nach unten führte. Kurtz war stehen geblieben und hatte sich zu Rey umgedreht. »Sind Sie bereit?« Er hatte Rey bedeutet, mit hinunterzukommen. In dem Gewölbe starrte Rey eine ganze Weile wie gebannt auf den kopfüber in dem Loch steckenden Leichnam, bevor ihm die hervorstehenden Füße auffielen: gerötet, mit Blasen übersät, verformt. Der Küster hatte den Beamten erzählt, was er gesehen hatte. Die Zehen drohten von den rosafarbenen, ihrer Haut be‐ raubten, entstellten Extremitäten abzufallen. Dann würde kaum noch zu erkennen sein, an welcher Seite der Füße einmal die Zehen gesessen hatten und an welcher die Fersen. Dieses Detail
‐ die verbrannten Füße, so verräterisch für die Danteaner ein paar Straßen weiter ‐ galt den Polizisten als schierer Wahnsinn. »Es wurden also nur die Füße in Brand gesetzt?«, fragte Rey blinzelnd und berührte vorsichtig mit der Fingerspitze das ver‐ kohlte, bröckelnde Fleisch. Er zuckte zurück ob der schwelen‐ den Hitze, die das noch immer schmorende Fleisch ausstrahlte, und dachte im ersten Moment, er hätte sich den Finger ver‐ brannt. Er fragte sich, wie viel Hitze der menschliche Körper vertrug, ehe er vollends aus der Form ging. Nachdem zwei Ser‐ geants den Leichnam weggebracht hatten, fiel dem vom Wei‐ nen ganz benommenen Küster noch etwas ein. »Das Papier«, sagte er und packte Rey, der als Einziger der Polizisten noch unten geblieben war. »In den Gängen liegen überall Papierschnipsel. Die gehören nicht hierher. Und er hätte auch nicht hier sein sollen! Ich hätte ihn nicht gehen lassen dür‐ fen!« Er brach in Schluchzen aus. Rey hielt seine Lampe tiefer und sah sich die Papierschnipsel‐ spur an, die sich wie ein unausgesprochenes Reuebekenntnis durch das Gewölbe zog. In den Zeitungen wurde so oft über beide Morde berichtet, dass sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit verschmolzen und viele auf der Straße von den Healey‐Talbot‐Morden sprachen. Hatte sich dieses öffentliche Syndrom auch in Oliver Wendell Holmesʹ eigenartiger Bemerkung in Longfellows Haus am A‐ bend nach der Auffindung von Talbots Leiche widergespiegelt? Holmes hatte sich Rey nervös wie ein Medizinstudent als Ex‐ perte angedient. »Was wie ein sinnloses lateinisches Orakel anmutet, könnte vielleicht zur Ergreifung des Mörders beitra‐
gen, der die Stadt unsicher macht.« Bei den Worten »des Mör‐ ders« war Rey innerlich zusammengezuckt. Holmes nahm wie selbstverständlich an, dass die Morde von ein und demselben Täter verübt worden waren. Dabei gab es, abgesehen von der unglaublichen Grausamkeit, keinerlei Hinweis auf eine derarti‐ ge Verbindung. Gewiss, beide Leichname waren nackt gewe‐ sen, und bei beiden waren die Kleider ordentlich zusammenge‐ legt worden, aber das hatte noch nicht in der Zeitung gestan‐ den, als Rey mit Holmes gesprochen hatte. Vielleicht hatte sich der eingebildete kleine Doktor nur versprochen. Vielleicht. Die Zeitungen garnierten ihre groß aufgemachten Berichte über die Morde reichlich mit anderen Beispielen sinnloser Ge‐ walttätigkeit ‐ Erdrosselungen, Raubüberfälle, geknackte Treso‐ re, eine Prostituierte, die man wenige Schritte von einer Poli‐ zeiwache entfernt halb erwürgt aufgefunden hatte, ein Kind, das in einem Wohnheim in Fort Hill zu Brei geprügelt worden war. Und dann war da noch der seltsame Vorfall mit dem Ob‐ dachlosen, den man zur Befragung auf die Hauptwache ge‐ bracht hatte und der sich vor den Augen des Polizeichefs und seiner Beamten aus dem Fenster gestürzt hatte. Die Presse ze‐ terte: »Ist sich die Polizei ihrer Verantwortung für die Sicherheit der Bürger bewusst?« In dem dunklen Treppenhaus seiner Pension war Rey auf hal‐ ber Treppe stehen geblieben und hatte sich vergewissert, dass niemand hinter ihm war. Mit der Hand an seinem Schlagstock unter dem Mantel ging er weiter. »Nur ein armer Bettler, guter Herr.« Als Rey weit genug hinaufgestiegen war, um ein paar dünne Hosenbeine zu sehen, die aus eisenbeschlagenen Stiefeln
hervorwuchsen, erkannte er den Mann, der das gesagt hatte. Es war Langdon Peaslee, der Tresorknacker, und er polierte mit seinem weiten Hemdsärmel seine brillantbesetzte Brustnadel. »Holla, Schneewittchen«, sagte Peaslee grinsend und entblößte eine schöne Reihe von Zähnen, so spitz wie Stalagmiten. »Einen Handschlag in Ehren.« Er griff nach Reys Hand. »Hab Ihr edles Antlitz seit der Gegenüberstellung nicht mehr gesehen. Sagen Sie, ist das nicht Ihr Zimmer hier?« Er zeigte auf die Tür hinter sich. »Hallo, Mr. Peaslee. Wie ich höre, haben Sie vorletzte Nacht die Lexington‐Bank ausgeraubt.« Nicholas Rey erwähnte das, um zu zeigen, dass er nicht weniger auf dem Laufenden war als der Ganove. Peaslee hatte keinerlei Spuren hinterlassen, die vor Gericht Eindruck gemacht hätten. Er hatte nur Geld geraubt und Wert‐ sachen, deren Herkunft nicht feststellbar war und die er mühe‐ los weiterverkaufen konnte. »Aber, aber, wer war denn heute noch so blöd, ganz allein eine Bank auszuräumen?« »Sie, da bin ich sicher. Sind Sie gekommen, um sich zu stellen?«, fragte ihn Rey mit ernster Miene. Peaslee lachte höhnisch. »Nein, nein, mein Lieber. Aber ich finde wirklich, diese Einschränkungen, die man Ihnen auferlegt hat ‐wie war das noch? ‐, keine Uniform, darf allein keine Wei‐ ßen verhaften und so weiter, also die finde ich ungerecht, rich‐ tig ungerecht. Aber trösten Sie sich. Sie und der Polizeichef sind ja richtig gute Kumpels, da fällt es umso leichter, jemand seiner gerechten Strafe zuzuführen. Wie zum Beispiel die Mörder von Richter Healey und Reverend Talbot, Gott hab sie selig. Wie
man hört, sammeln die Diakone von Talbots Kirche gerade für eine Belohnung.« Rey gab sich unbeeindruckt und drehte sich zur Tür um. »Ich bin müde«, sagte er leise. »Wenn Sie nicht jemand Bestimmten haben, den man auf der Stelle seiner gerechten Strafe zuführen muss, dann entschuldigen Sie mich bitte.« Peaslee wickelte sich Reys Halstuch um die Hand und hielt ihn zurück. »Polizisten dürfen keine Belohnungen annehmen, aber ein einfacher Bürger wie ich sehr wohl. Und wenn jemand den Weg zur Tür eines verdienten Polizisten findet ...« Der Mu‐ latte zeigte keine Reaktion. Peaslee war verstimmt und schaltete seinen Charme ab. Er zog das Halstuch wie eine Schlinge zu. »Hören Sie mir gut zu. In unserer Stadt treibt sich ein Trottel rum, dem man ohne weiteres den Mord an Talbot anhängen kann, kapiert, Sie Musterknabe? Den stöber ich ohne weiteres auf. Helfen Sie mir dabei, und die Hälfte von dem Zaster gehört Ihnen. Dann können Sie Ihrer Wege gehen. Die Schleusen sind geöffnet: In Boston wird alles anders. Seit dem Krieg haben die hier alle Geld wie Heu. Keiner ist mehr seines Lebens sicher, keiner wird geschützt. Die Zeiten sind zu unsicher für einen Einzelgänger.« »Sie entschuldigen mich, Mr. Peaslee«, erwider‐ te Rey mit stoischem Gleichmut. Peaslee wartete einen Moment, dann brach er in enttäuschtes Lachen aus. Er schnippte Rey einen imaginären Fussel vom Är‐ mel seines Tweedmantels. »Wie Sie wollen, Schneewittchen. Ich hättʹs mir ja denken können, man braucht sich ja bloß den Frack ansehen, den Sie da tragen. Sie tun mir Leid, mein Freund, rich‐ tig Leid. Die Schwarzen hassen Sie, weil Sie weiß sind, und alle
andern hassen Sie, weil Sie schwarz sind. Wenn Sie mich fra‐ gen, ich beurteile einen Kerl danach, obʹs hier oben bei ihm stimmt.« Er tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. »Ich war mal in einer Kleinstadt in Louisiana, Schneewittchen, da hat man bei jedem zweiten Negerkind sofort das weiße Blut gese‐ hen. Die Straßen waren voller Mischlinge. Bestimmt haben Sie sich schon oft gewünscht, so wo zu leben, hab ich Recht?« Rey ignorierte ihn und zog seinen Schlüssel aus der Tasche. Peaslee sagte, das solle er ihn mal machen lassen, und stieß mit einem einzigen Spinnenfinger die Tür zu Reys Zimmer auf. Rey schaute auf, zum ersten Mal erschrocken. »Schlösser sind meine Spezialität, wie Sie wissen.« Peaslee schob prahlerisch seine Hutkrempe hoch. Dann tat er so, als wollte er sich stellen, und drehte die Handgelenke nach oben. »Jetzt können Sie mich wegen unerlaubtem Eindringen verhaften, Officer. Das heißt, eigentlich nicht, nein. Oder?« Und er grinste zum Abschied. In Reys Zimmer fehlte nichts. Der Trick war lediglich eine Machtdemonstration des großen Tresorknackers gewesen, für den Fall, dass Nicholas Rey je auf dumme Gedanken kommen sollte. Es war ungewohnt für Oliver Wendell Holmes, mit Longfellow draußen zu sein, zu sehen, wie er sich inmitten der vielen Men‐ schen und Geräusche und der herrlichen, schrecklichen Gerü‐ che der Straßen bewegte, als gehörte er derselben Welt an wie der Kutscher, der den Sprengwagen der Straßenreinigung lenk‐ te. Nicht dass der Dichter in den letzten Jahren nie das Haus verlassen hätte, aber seine Aktivitäten in der Stadt waren genau
festgelegt und von kurzer Dauer. Korrekturfahnen bei der Ri‐ verside Press abliefern, zu ungewöhnlichen Tageszeiten mit Fields im Revere oder im Parker House speisen. Holmes schäm‐ te sich, dass er als Erster auf etwas gestoßen war, was Longfel‐ lows friedlichen Schwebezustand stören würde. Eigentlich hät‐ te das Lowell passieren sollen. Der hätte sich nichts dabei ge‐ dacht, Longfellow in das zugemauerte, seelenverwirrende Ba‐ bylon der Welt hinauszustoßen. Holmes fragte sich, ob Long‐ fellow ihm diese Ungehörigkeit übel nahm ‐ ob er überhaupt imstande war, jemandem etwas übel zu nehmen, oder ob er wie gegen so viele unerfreuliche menschliche Eigenschaften auch gegen diese schlicht immun war. Holmes musste an Edgar Allan Poe denken, der einen Artikel mit der Überschrift »Longfellow und andere Plagiatoren« ge‐ schrieben hatte, in dem er Longfellow und alle anderen Bosto‐ ner Dichter des schamlosen Plagiats an fast allen anderen le‐ benden oder toten Dichtern, darunter auch Poe selbst, bezich‐ tigte. Der Artikel erschien ausgerechnet zu einer Zeit, als Long‐ fellow Poe immer wieder mit Darlehen unter die Arme griff. Fields erklärte daraufhin wutentbrannt, dass nie wieder etwas von Poe bei Ticknor & Fields erscheinen werde. Lowell be‐ stürmte die Zeitungen mit Leserbriefen, in denen er schlüssig nachwies, welche groben Fehler und Irrtümer der New Yorker Schreiberling begangen hatte. Bei Holmes wurde es dagegen zur fixen Idee, dass tatsächlich jedes Wort, das er schrieb, ei‐ gentlich von einem anderen, besseren Dichter stammte, und nicht selten hatte er Albträume, in denen er unwissentlich den besten Reim eines Gedichts aus dem Werk eines anderen ge‐
stohlen hatte und ihm daraufhin der Geist des toten Meisters erschien und Rechenschaft forderte. Jeder mit einem Blumen‐ strauß in der Hand, fuhren die beiden Männer in den Teil von Cambridge, der nicht mehr dörflich war, sondern eher städ‐ tisch. Sie gingen um Elisha Talbots Kirche herum, suchten bei jedem Schritt nach dem Schauplatz von Talbots schrecklichem Ende, bückten sich unter Bäumen und tasteten die Erde zwi‐ schen den Grabsteinen ab. Passanten baten um Autogramme auf Taschentüchern oder der Innenseite von Hüten ‐ viele von Holmes, alle von Longfellow. Die Nacht hätte willkommene Anonymität gewährleistet, aber Longfellow hatte entschieden, dass es besser sei, wenn sie sich als trauernde Hinterbliebene bei einem Friedhofsbesuch ausgaben, statt sich dem Verdacht auszusetzen, sie seien auf der Suche nach einer Leiche, die sie stehlen könnten. Holmes war erleichtert, dass Longfellow die führende Rolle spielte, seit sie vereinbart hatten ... Was hatten sie eigentlich vereinbart, mit den flammenden Worten des Odysseus auf der Zunge? Lowell hatte vorgeschlagen, sie sollten »ermitteln« (wie immer mit vorgerecktem Kinn). Holmes korrigierte, mit einem strengen Blick in Lowells Richtung: »Nachforschungen anstel‐ len.« Es gab außer ihnen natürlich noch einige andere Dante‐ Kenner, die man ins Kalkül ziehen musste. Mehrere hielten sich in Europa auf, vorübergehend oder auf Dauer, unter ihnen Longfellows Nachbar Charles Eliot Norton, auch er ein ehema‐ liger Student des Dichters, und William Dean Howells, ein jun‐ ger Adept von Fields, der zum Gesandten in Venedig ernannt
worden war. Dann waren da noch Professor Ticknor, einund‐ siebzig, der sich seit Jahrzehnten in seiner Bibliothek verschanz‐ te, Pietro Bachi, der sowohl unter Longfellow als auch unter Lowell Italienisch unterrichtet hatte, bevor die Universitätslei‐ tung ihn entließ, und alle ehemaligen Teilnehmer von Longfel‐ lows und Lowells Dante‐Seminaren (und noch ein paar aus Ticknors Zeit). Man würde Listen erstellen und private Zu‐ sammenkünfte abhalten müssen. Doch Holmes hoffte instän‐ dig, sie würden eine Erklärung finden, bevor sie sich vor Leu‐ ten lächerlich machten, die sie achteten und die ihnen, jeden‐ falls bis jetzt, ebenfalls Achtung entgegengebracht hatten. Sollte der Mord draußen auf dem Gelände der Zweiten Unita‐ ristischen Kirche von Cambridge begangen worden sein, so lie‐ ßen sich zumindest an diesem Tag keinerlei Anzeichen dafür entdecken. Andererseits, falls ihre Überlegungen zutrafen und das Loch, in dem Talbot zu Tode gefoltert worden war, sich im Kirchhof befand, hätten die Diakone es längst mit frischem Gras zugedeckt. Ein toter Prediger, der für jedermann sichtbar vor der Kirche in einem Erdloch steckt, wäre keine Empfehlung für die Glaubensgemeinschaft gewesen. »Sehen wir uns doch mal drinnen um«, schlug Longfellow vor, den es überhaupt nicht zu stören schien, dass sie noch kei‐ nen Schritt vorangekommen waren. Holmes blieb dicht hinter ihm. Im hinteren Teil, wo Sakristei, Büros und Umkleideräume la‐ gen, war eine große Schiefertür, die aber dem Grundriss der Kirche nach zu schließen in keinen anderen Raum führen konn‐ te. Longfellow zog seine Handschuhe aus und strich mit der
Hand über den Stein. Er fühlte sich sehr kalt an. »Ja!«, flüsterte Holmes. Es überlief ihn kalt. »Das Gewölbe, Longfellow! Das Gewölbe ...« Bis vor drei Jahren hatten in vielen Kirchen der Stadt noch un‐ terirdische Begräbnisse stattgefunden. Es gab prächtig ausge‐ stattete Grabkammern, die wohlhabenden Familien vorbehalten waren, und auch einfache, in denen jedes beliebige Gemeinde‐ mitglied seine letzte Ruhestätte finden konnte. Lange Zeit hin‐ durch hatte man diese Art der Bestattung für eine kluge, Platz sparende Lösung in übervölkerten Städten gehalten. Doch als dann Hunderte von Bostonern am Gelbfieber starben, machte das Gesundheitsamt die Nähe der verwesenden Leichen dafür verantwortlich, und von da an durften keine neuen unterirdi‐ schen Gewölbe mehr auf Kirchengrund angelegt werden. Fami‐ lien, die es sich leisten konnten, ließen ihre Verstorbenen nach Mount Ashburn oder in eine andere der neuen, bukolischen Ruhestätten überführen. Doch in den »öffentlichen«, ärmeren Teilen der Gewölbe fand man nach wie vor Reihen unbeschrif‐ teter Särge und verfallener Gräber. »Dante findet die Simonisten in der pietra livida, im fahlen Stein«, sagte Longfellow. Eine zittrige Stimme unterbrach ihn. »Kann ich Ihnen helfen, Gentlemen?« Der Küster, der den brennenden Talbot gefunden hatte, war ein großer, hagerer Mann in einer schwarzen Kutte, dessen weißes Haar borstig nach allen Seiten abstand. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, als hätte er ein Gespenst gesehen und den Schreck nicht verwunden. »Guten Morgen, Sir.« Holmes näherte sich, seinen Hut in den
Händen drehend. Holmes wünschte, Lowell wäre da gewesen, oder Fields, beides Männer, die eine selbstverständliche Autori‐ tät ausstrahlten. »Sir, mein Freund und ich wollten Sie bitten, uns Zugang zu Ihren unterirdischen Grabkammern zu gewäh‐ ren, falls es Ihnen nicht zu viele Umstände macht.« Der Küster schien nicht gesonnen, dem Wunsch nachzukommen. Holmes drehte sich um. Longfellow stand mit den Händen auf der Krü‐ cke seines Gehstocks da, ganz gelassen. »Also, wie gesagt, mein Bester, Sie müssen verstehen, es wäre uns außerordentlich wichtig ... Nun ja, ich bin Dr. Oliver Wendell Holmes. Ich habe einen Lehrstuhl für Anatomie und Physiologie an der Medizi‐ nischen Fakultät, das heißt, eigentlich ist es eher ein Sofa, wenn man die Breite der Thematik berücksichtigt. Wahrscheinlich haben Sie das eine oder andere meiner Gedichte ...« »Sir!« Der piepsige Unterton in der Stimme des Küsters verstärkte sich fast zu einem Schmerzenslaut. »Wissen Sie denn nicht, dass unser Pfarrer vor kurzem hier gefunden worden ist ...«, stam‐ melte er und wandte sich entsetzt ab. »Ich bin hier für die Be‐ wachung zuständig, und hier ist keine Menschenseele rein‐ o‐ der rausgekommen! Und wenn doch, beim Allmächtigen, dann war es ein körperloser Geist oder ein Dämon, aber kein Mensch!« Er hielt inne. »Die Füße«, sagte er mit glasigem Blick und schien unfähig weiterzusprechen. »Seine Füße, Sir«, sagte Holmes. Er wusste, was mit Talbots Füßen geschehen war, wollte es aber aus dem Mund des Au‐ genzeugen hören. »Was war mit seinen Füßen?« Die vier Mitglieder des Dante Club ‐ alle außer Mr. Greene ‐ hatten sämtliche erreichbaren Zeitungsartikel über Talbots Tod
ausgeschnitten. Während die wahren Umstände von Healeys Tod mehrere Wochen geheim gehalten worden waren, bevor die Zeitungen darüber berichteten, war Elisha Talbot der Presse zufolge auf jede erdenkliche Weise ins Jenseits befördert wor‐ den, und die Schilderungen verrieten eine Respektlosigkeit, die Dante, für den jede Strafe gottgewollt war, entsetzt hätte. Der Küster für sein Teil brauchte Dante nicht zu kennen. Er war Zeuge ‐ und Überbringer ‐ der Wahrheit. Daher wuchs ihm die Kraft und Schlichtheit eines alten Propheten zu. »Die Füße«, fuhr der Küster nach einer langen Pause fort, »standen in Flammen. Wie Feuerräder in den dunklen Gewöl‐ ben. Wenn ich bitten darf, Gentlemen.« Niedergeschlagen be‐ deutete er ihnen, sich zu entfernen. »Guter Mann«, sagte Longfellow sanft. »Reverend Talbots Hinscheiden ist gerade der Anlass unseres Hierseins.« Die Au‐ gen des Küsters kamen schlagartig zur Ruhe. Holmes hätte nicht zu sagen gewusst, ob er das silberbärtige Antlitz des be‐ liebten Dichters erkannt oder ob Longfellows sonorer Bass ihn besänftigt hatte. Sollte der Dante Club, dachte Holmes, in dieser Angelegenheit irgendwelche Fortschritte machen, so nur des‐ halb, weil Longfellow mit den Menschen durch seine bloße Ge‐ genwart ebenso leichtes Spiel hatte wie mit der Sprache, wenn er die Feder führte. Longfellow fuhr fort: »Obwohl wir uns nur durch unsere Wor‐ te ausweisen können, Sir, bitten wir Sie doch um Ihre Hilfe. Ich bitte Sie sehr, vertrauen Sie uns, ohne weitere Beweise zu ver‐ langen, denn es ist durchaus möglich, dass wir die Einzigen sind, die eine Erklärung für das Geschehene finden können.
Mehr dürfen wir leider nicht verraten.« Holmes fächelte die verpestete Luft weg, die ihm wie Pfeffer‐ staub in Augen und Nase brannte, während sie mit kleinen, vorsichtigen Schritten hintereinander durch das enge Gewölbe gingen. Longfellow atmete mehr oder minder frei. Sein Ge‐ ruchssinn war auf höchst vorteilhafte Weise eingeschränkt: Er erlaubte ihm, Frühlingsblumen und andere Düfte zu genießen, hielt aber alle widerwärtigen Gerüche von ihm fern. Küster Gregg erklärte, die öffentliche Begräbnisstätte erstrecke sich in beiden Richtungen mehrere Häuserblocks weit unter den Straßen. Longfellow beleuchtete die Schiefersäulen und senkte dann die Lampe, um die einfachen Steinsärge zu mustern. Der Küster setzte zu einer Bemerkung über Reverend Talbot an, zögerte dann aber. »Sie dürfen nicht schlecht von ihm denken, meine Herren, wenn ich Ihnen das sage, aber unser allseits beliebter Reverend ging hin und wieder durch diese Gänge, aus ‐ nun ja, nicht in kirchlichen Angelegenheiten, um die Wahrheit zu sa‐ gen.« »Warum kam er denn hier herunter?«, fragte Holmes. »Um seinen Heimweg abzukürzen. Was mich betrifft, ich habe das nie gutgeheißen. Als ob ichʹs geahnt hätte.« Einer der ver‐ streuten Papierschnipsel, mit den Buchstaben a und h darauf, das von Rey offenbar übersehen worden war, geriet unter Holmesʹ Schuh und wurde in die weiche Erde getreten. Long‐ fellow erkundigte sich, ob sonst noch jemand von der Straße aus Zugang zu dem Gewölbe gehabt haben könnte, an der Stel‐ le, an der Talbot es gewöhnlich verließ.
»Nein«, sagte der Küster mit Bestimmtheit. »Die Tür dort lässt sich nur von innen öffnen. Die Polizei hat sie trotzdem über‐ prüft, aber keinerlei Hinweise darauf gefunden, dass sich je‐ mand daran zu schaffen gemacht hätte. Und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass Reverend Talbot an dem Abend, als er das letzte Mal hier durchging, bis zum Ausgang gekommen ist.« Holmes zog Longfellow zurück, bis sie außer Hörweite des Küsters waren. Leise sagte er: »Finden Sie es nicht bemerkens‐ wert, dass Talbot das hier als Abkürzung benutzt hat? Wir müssen dem Küster noch ein paar Fragen stellen. Wir haben keine Hinweise auf irgendeine Verfehlung Talbots, aber das könnte einer sein!« Bislang deutete nichts darauf hin, dass Tal‐ bot noch etwas anderes gewesen sein könnte als der gute Hirte seiner Herde. Longfellow sagte: »Es ist doch wohl keine Sünde, durch ein Grabgewölbe zu gehen, so unratsam das auch sein mag, finden Sie nicht auch? Außerdem wissen wir, dass bei Si‐ monie immer Geld im Spiel ist ‐ entweder, man nimmt es, oder man verteilt es. Der Küster ist genauso vernarrt in Talbot wie die Gemeinde, und zu viele Fragen über die Gepflogenheiten eines Geistlichen würden nur dazu führen, dass er uns nicht einmal das Wenige sagt, was er weiß. Vergessen Sie nicht, dass Gregg wie ganz Boston glaubt, Talbots Tod sei ausschließlich die Folge der Sünde eines anderen, nicht die seiner eigenen Sünden.« »Aber wie hat sich unser Luzifer hier Zutritt verschafft? Wenn die Tür am anderen Ende sich nur von innen öffnen lässt ‐ und der Küster, wie er sagt, in der Kirche war und niemanden durch die Sakristei gehen sah ...«
»Vielleicht hat unser Schurke gewartet, bis Talbot die Treppe hinaufstieg und die Tür aufmachte, um hinauszugehen. Dann hat er ihn wieder hinuntergestoßen«, mutmaßte Longfellow. »Aber wie hätte er so schnell ein Loch in den Boden graben können, in das ein Mensch passt? Ich glaube eher, der Mörder hat Talbot aufgelauert ‐ erst das Loch gegraben, gewartet und ihn dann gepackt, in das Loch gesteckt, seine Füße mit Petro‐ leum übergossen ...« Vor ihnen blieb der Küster plötzlich stehen, erstarrt, aber am ganzen Leib zitternd. Er wollte etwas sagen, brachte aber nur ein trockenes, kummervolles Wimmern hervor. Er schaffte es gerade noch, mit einer Kinnbewegung auf eine dicke Steinplatte zu zeigen, die auf dem Boden lag, dann rannte er zurück in die Geborgenheit der Kirche. Sie hatten die Stelle erreicht. Man konnte es spüren und rie‐ chen. Mit äußerster Anstrengung schoben Longfellow und Holmes die Platte zur Seite. In der Erde war ein rundes Loch, groß genug für einen Mann mittlerer Statur. Der Gestank, der unter der Platte eingeschlossen gewesen war und nun entwich, erinnerte an verdorbenes Fleisch und gebratene Zwiebeln. Holmes hielt sich sein Halstuch vors Gesicht. Longfellow kniete nieder und schöpfte eine Hand voll Erde vom Rand des Loches. »Ja, Sie haben Recht, Holmes. Das Loch ist tief und sorgfältig ausgehoben. Es muss im Voraus gegraben worden sein. Der Mörder muss auf Talbot gewartet haben. Er verschafft sich Zugang, versteckt sich irgendwie vor unserem nervösen Freund, dem Küster, und schlägt Talbot nieder«, the‐ oretisierte Longfellow, »und vollendet seine grässliche Tat.«
»Stellen Sie sich vor, welche Folterqualen! Talbot muss mitbe‐ kommen haben, was mit ihm geschah, bevor sein Herz aussetz‐ te. Bei lebendigem Leibe zu brennen ...« Holmes erstickte fast an seiner Zunge. »Ich will damit nicht sagen, Longfellow ...« Er verwünschte sich selbst, weil er erst so viel geredet hatte und es nun nicht fertig brachte, seinen Fehler einfach zuzugeben. »Sie wissen schon, ich meinte nur ...« Longfellow schien ihn gar nicht zu hören. Er ließ die Erde durch seine Finger rieseln. Zögernd legte er den bunten Strauß neben das Loch. »>Drum bleibe dort, dich trifft mit Recht die Strafe<«, zitierte er einen Vers aus dem Neunzehnten Gesang, als läse er ihn aus der Luft ab. »Das ruft Dante dem Simonisten Nikolaus III. zu, mit dem er in der Hölle spricht, mein lieber Holmes.« Holmes wollte wieder hinaus. Seine Lunge rebellierte gegen die stickige Luft, und es tat ihm Leid, dass ihm der takt‐ lose Lapsus unterlaufen war. Longfellow aber richtete den Schein seiner Gaslampe auf das Loch, an dem nichts verändert worden war. Er war noch nicht fertig. »Wir müssen tiefer graben. Auf die Idee würde die Poli‐ zei nie kommen.« Holmes sah ihn ungläubig an. »Und ich auch nicht! Talbot wurde in das Loch gesteckt, nicht darunter, mein lieber Long‐ fellow!« Longfellow erwiderte: »Rufen Sie sich ins Gedächtnis, was Dante zu dem in seinem Felsenloch schmachtenden Niko‐ laus sagt.« Holmes sagte die Verse leise vor sich hin: »>Drum bleibe dort, dich trifft mit Recht die Strafe, / Und hüte wohl die bös erworbnen Gelder ...<« Er hielt inne. »Hüte wohl die bös erworbnen Gelder. Aber ist das nicht eines der gar nicht so sel‐
tenen Beispiele für Dantes Sarkasmus, dass er den armen Sün‐ der für seine Habgier zu Lebzeiten verhöhnt?« »In der Tat, so lese ich diesen Vers«, sagte Longfellow. »Aber vielleicht will Dante auch, dass wir diese Äußerung wörtlich verstehen. Es wäre doch denkbar, dass Dante gerade diesen Teil des contrapasso der Simonisten erwähnt, um darauf hinzuwei‐ sen, dass sie mit dem unrechtmäßig erworbenen Geld unter dem Kopf in den Löchern stecken. Durchaus möglich, dass Dante an das denkt, was Petrus in der Apostelgeschichte zu Simon sagt: >Dass du verdammet werdest mit deinem Gelde.< So verstanden wäre das Loch, in dem Dantes Sünder steckt, seine ewige Geldtruhe.« Holmes reagierte mit einer Abfolge gutturaler Laute auf diese Auslegung. »Wenn wir der Sache auf den Grund gehen«, sagte Longfel‐ low mit einem feinen Lächeln, »werden sich Ihre Zweifel viel‐ leicht als unbegründet erweisen.« Er ging in die Hocke und un‐ tersuchte das Loch mit seinem Gehstock, kam aber nicht bis auf den Grund. »Also ich passe da nicht rein.« Er sah den kleinen Doktor an, der mit seinem Asthma kämpfte. Holmes stand stocksteif da. »Aber, Longfellow ...« Er blickte in das Loch hinab. »Warum hat mich die Natur nicht vorher ge‐ fragt, als sie meine Körpermaße bestimmte?« Es war zwecklos, gegen Longfellow aufzubegehren. Man konnte überhaupt nicht richtig mit ihm streiten; er war unerschütterlich in seiner Ruhe. Wäre Lowell dabei gewesen, er hätte wie ein Kaninchen in dem Loch gewühlt. »Ich breche mir bestimmt einen Fingernagel ab.« Longfellow nickte verständnisvoll. Der Doktor kniff die Augen zusammen und ließ sich mit den Füßen voran in das Loch glei‐
ten. »Es ist zu eng. Ich kann mich nicht bücken. Um graben zu können, müsste ich wenigstens in die Knie gehen können, aber auch das ist unmöglich.« Longfellow half ihm aus dem Loch. Der Doktor ließ sich er‐ neut in das enge Loch hinab, diesmal mit dem Kopf voran, und Longfellow hielt ihn an den Fußgelenken fest. Der Dichter hatte den sicheren Griff eines Puppenspielers. »Sachte, Longfellow, sachte.« »Können Sie etwas sehen?«, fragte Longfellow. Holmes verstand ihn kaum. Er beharkte den Boden mit den Händen, die feuchte Erde drang unter seine Fingernägel, zugleich ekel‐ haft warm und kalt und hart wie Eis. Das Schlimmste war der Gestank. Holmes versuchte die Luft anzuhalten, aber Sauer‐ stoffmangel und Asthma zusammen bewirkten, dass sich sein Kopf so leicht wie ein Luftballon anfühlte. Jetzt war er in derselben Lage wie Reverend Talbot ‐ kopfüber. Doch statt des sengenden Feuers spürte er Longfellows festen Griff an seinen Füßen. Longfellow stellte eine besorgte Frage, aber der Doktor hörte nichts, so sehr machte ihm das flaue Gefühl zu schaffen. Er fragte sich, ob Longfellow ihn, falls er das Bewusstsein verlor, einfach loslassen würde und ob er dann mit dem Kopf voran bis zum Mittelpunkt der Erde hinabtaumeln würde. Plötzlich wurde ihm bewusst, in welche Gefahr sie sich dadurch ge‐ bracht hatten, dass sie versuchten, gegen ein Buch anzukämp‐ fen. Die Prozession müßiger Gedanken schien sich endlos fort‐ zusetzen, doch dann ertastete er auf einmal etwas Festes. Mit der Berührung eines materiellen Gegenstands wurde er schlagartig klar im Kopf. Es musste ein Kleidungsstück sein.
Nein, ein Beutel. Ein Beutel aus Wachstuch. Holmes schauderte. Er wollte etwas sagen, aber der Gestank und der Dreck waren schreckliche Hindernisse. Einen Moment lang erstarrte er in Panik, dann kehrte die Vernunft zurück und er zappelte heftig mit den Beinen. Longfellow verstand das Si‐ gnal und zog den Freund aus dem Loch. Holmes schnappte nach Luft, hustete und spuckte, und Longfellow bemühte sich um ihn. Holmes richtete sich auf. »Um Himmels willen, sehen Sie nach, was das ist, Longfellow!« Holmes wickelte die Schnur von dem Fundstück ab und zog den schmutzverkrusteten Beu‐ tel auf. Unter Longfellows Augen schüttete Holmes Banknoten im Wert von rund tausend Dollar auf den Boden. Hüte wohl die bös erworbnen Gelder. Im noblen Wide Oaks, seit drei Generationen Familiensitz der Healeys, öffnete Nell Ranney zwei Besuchern und bat sie her‐ ein. Sie waren seltsam zurückhaltend und betrugen sich mit ge‐ schäftsmäßiger Gemessenheit, doch ihre Augen waren flink und beweglich. Noch auffälliger war ihre Kleidung; zwei Her‐ ren, die beide fremdartig, aber zugleich völlig verschieden ge‐ kleidet waren, bekam man selten zu sehen. James Russell Lowell, mit gestutztem Vollbart und hängen‐ dem Schnauzer, trug eine schäbige, zweireihige, lose Jacke, ei‐ nen ungebürsteten Zylinder, der zusammen mit dem Straßen‐ anzug zur Absurdität wurde, und in der mit einem Seemanns‐ knoten gebundenen Krawatte eine Nadel, die in Boston längst aus der Mode war. Der andere Mann, dessen buschiger rötli‐
cher Bart drahtig gelockt war, streifte seine Handschuhe ab, die eine knallige Farbe hatten, und verstaute sie in seinem tadellos geschnittenen Gehrock aus schottischem Tweed, unter dem ei‐ ne glitzernde Goldkette seinen grün betuchten Bauch umspann‐ te wie eine Christbaumgirlande. Nell ging nur zögernd aus dem Raum, obwohl Richard Sulli‐ van Healey, der älteste Sohn des Oberrichters, seine beiden lite‐ rarischen Gäste bereits begrüßte. »Bitte entschuldigen Sie das Betragen meines Hausmäd‐ chens«, sagte Healey, nachdem er Nell Ranney hinausgeschickt hatte. »Sie hat meinen Vater gefunden und ihn ins Haus ge‐ bracht, und seither, Gott seiʹs geklagt, mustert sie jeden miss‐ trauisch, als könnte er der Schuldige sein. Wir machen uns ernstlich Sorgen, dass sie inzwischen überall nur noch Unheil sieht, wie unsere Mutter.« »Wir hatten gehofft, Ihre Frau Mutter sprechen zu können, wenn Sie gestatten, Richard«, sagte Lowell mit ausgesuchter Höflichkeit zu seinem Vetter. »Mr. Fields würde gern mit ihr über ein Buch mit Beiträgen zum Gedenken des Oberrichters sprechen, das bei Ticknor & Fields erscheinen könnte.« Es war der Brauch, dass Verwandte oder entfernte Vettern der Familie eines kürzlich Verstorbenen einen Beileidsbesuch abstatteten, aber für den Verleger musste ein Vorwand gefunden werden. Richard Healey verzog seine vollen Lippen zu einem liebens‐ würdigen Lächeln. »Ich fürchte, sie wird Sie nicht empfangen können, Vetter Lowell. Sie hat einen ihrer schlechten Tage. Sie ist bettlägerig.« »Sie ist doch hoffentlich nicht ernstlich erkrankt?« Lowell
beugte sich mit morbider Neugier vor. Richard Healey blinzelte in einem fort und wand sich. »Nicht körperlich, meinen jedenfalls die Ärzte. Aber sie hat eine Manie entwickelt, die sich leider im Lauf der letzten Wochen noch ver‐ schlimmert hat, es könnte also durchaus auch etwas Somati‐ sches sein. Sie fühlt sich ständig körperlich belästigt. Verzeihen Sie mir, wenn ich es so platt ausspreche, meine Herren, aber sie verspürt ein Kribbeln auf der Haut, das sie dazu treibt, sich am ganzen Körper blutig zu kratzen, obwohl sämtliche Diagnosen dahin lauten, dass alles nur auf Einbildung beruht.« »Können wir irgendetwas tun, um ihr zu helfen, mein lieber Healey?«, fragte Fields. »Finden Sie den Mörder meines Vaters.« Healey lachte traurig in sich hinein. Mit einigem Unbehagen stellte er fest, dass die beiden Männer dies mit eisigem Blick quittierten. Lowell fragte, ob man ihm die Stelle zeigen könne, wo der Leichnam von Art‐ emus Healey gefunden worden war. Richard Healey schrak sichtlich vor diesem Ansinnen zurück, hielt es jedoch für die Laune eines exzentrischen Dichters und begleitete die Besucher ins Freie. Sie gingen durch die Hintertür hinaus, vorbei an Bee‐ ten und hinüber zu den Wiesen, die sich bis ans Flussufer er‐ streckten. Healey stellte fest, dass James Russell Lowell für ei‐ nen Dichter einen erstaunlich flotten, athletischen Gang hatte. Ein kräftiger Wind blies Lowell feine Sandkörnchen in Mund und Bart. Mit dem rauen Geschmack auf der Zunge, einem Kratzen im Hals und dem Bild von Healeys Tod vor Augen wurde Lowell jäh von einer Idee ergriffen. Die lauen Seelen in Dantes Drittem Gesang entscheiden sich
weder für das Gute noch für das Böse und stoßen deshalb im Himmel wie in der Hölle gleichermaßen auf Verachtung. Des‐ halb müssen sie in einem Vorraum ausharren, nicht einmal in der Hölle selbst, und dort schweben die feigen Schatten nackt hinter einem Banner her, weil sie sich im Leben nicht zu einer Handlungsweise entschließen konnten. Sie werden ständig von Mücken und Wespen gestochen, ihr Blut mischt sich mit dem Salz ihrer Tränen, und all dies leckt das eklige Gewürm zu ih‐ ren Füßen auf. Das faulige Fleisch lässt noch mehr Geschmeiß und Würmer entstehen. Fliegen, Wespen und Maden waren die drei Insektenarten gewesen, die sich auf Artemus Healeys Lei‐ che gefunden hatten. Nach Lowells Meinung sagte das etwas über den Mörder aus. »Unser Luzifer wusste, wie man diese Insekten transportiert«, hatte Lowell gesagt. Es war bei einer Zusammenkunft in Craigie House gewesen, am Morgen nach ihrer Ermittlung. Das kleine Arbeitszimmer hatte voller Zeitungen gelegen, und ihre Finger waren vom vie‐ len Blättern mit Druckerschwärze verschmiert gewesen. Fields sah die Notizen durch, die Longfellow in einem Heft zusam‐ mengestellt hatte, und wollte wissen, warum Luzifer, wie Lo‐ well ihren Widersacher benannt hatte, sich Healey für die lauen Seelen ausgesucht hatte. Lowell zupfte nachdenklich an einem Ende seines Schnauz‐ barts. Er war ganz Pädagoge. »Nun, Fields, der einzige Schatten in der Gruppe der Lauen, den Dante heraushebt, ist jener, der die große Verweigerung beging, sagte er. Das muss Pontius
Pilatus sein, denn er beging die größte Verweigerung ‐ den schrecklichsten Akt der Neutralität in der Geschichte des Chri‐ stentums ‐, als er die Kreuzigung des Heilands weder erlaubte noch ihr Einhalt gebot. Ganz ähnlich verhielt es sich mit Richter Healey. Er war gebeten worden, sich der Fugitive Slave Act entschieden zu widersetzen, doch er hatte nichts dergleichen getan. Er schickte den entflohenen Sklaven Thomas Sims, der fast noch ein Kind war, nach Savannah zurück. Dort wurde der Junge bis aufs Blut ausgepeitscht und dann mit den Wunden vor der Stadt an den Pranger gestellt. Und der alte Healey hatte unterdessen gegrollt, es sei nicht seine Aufgabe, das vom Kon‐ gress erlassene Gesetz zu brechen. Nein! Das sei in Gottes Na‐ men unser aller Aufgabe.« »Niemand kennt eine Lösung für das Rätsel dieses gran rifiuto, der großen Verweigerung. Dante gibt ihr keinen Namen«, fiel Longfellow ein und wedelte die Qualmwolke von Lowells Zigarre weg. »Dante kann dem Sünder keinen Namen geben«, warf Lowell leidenschaftlich ein. »Diese Schatten, die das Leben unbeachtet ließen, >die nie gelebt haben<, wie Vergil sagt, müssen im Tode unbeachtet bleiben, auf ewig gepeinigt von den unscheinbar‐ sten niederen Kreaturen. Das ist der contrapasso, die Vergeltung, die ihnen zuteil wird.« »Ein holländischer Gelehrter hat die Theorie aufgestellt, dass es sich bei dieser Figur nicht um Pontius Pilatus handelt, lieber Lowell, sondern um den jungen Mann in Matthäus 19,22, dem das ewige Leben angeboten wird, und er lehnt ab«, sagte Long‐ fellow. »Mr. Greene und ich neigen beide zu der Lesart, dass der große Verweigerer Papst Zölestin V. war. Er war auch einer
von denen, die sich nicht entscheiden konnten: Er dankte als Papst ab und machte damit seinem Nachfolger Bonifaz VIII. den Weg frei, dem korrupten Papst, der letztlich Dantes Ver‐ bannung besiegelte.« »Das heißt aber, Dantes Dichtung zu sehr auf Italien zu beschränken!«, protestierte Lowell. »Typisch für unseren lieben Greene. Nein, gemeint ist Pilatus. Ich sehe ihn förmlich vor mir, mit ähnlich düsterer Miene wie Dante.« Fields und Holmes hatten während dieses Wortwechsels ge‐ schwiegen. Nun sagte Fields freundlich, aber vorwurfsvoll, ihre Arbeit dürfe nicht in einen Clubabend ausarten. Sie müssten einen besseren Weg finden, die Hintergründe der Morde auf‐ zudecken, und dafür reiche es nicht, die Gesänge zu lesen, die den Morden als Vorlage gedient hätten, sondern sie müssten am Tatort, dort, wo Dantes Visionen Wirklichkeit wurden, einer gründlichen Analyse unterzogen werden. Als sie weiter über das Grundstück gingen, packte Lowell den Verleger am Arm. »>Come la rena quando turbo spira<«, flüsterte er. Fields verstand nicht. »Können Sie das wiederholen, Lo‐ well?« Lowell lief voraus und blieb stehen, wo in der dunklen Erde ein Kreis aus glattem, hellem Sand zu erkennen war. Er bückte sich. »Hier!«, sagte er triumphierend. Richard Healey, der ein paar Schritte zurück war, sagte: »Na‐ nu, stimmt.« Mit einiger Verzögerung begriff er, und in seiner Miene spiegelte sich seine Verblüffung. »Woher wussten Sie das, Vetter? Woher haben Sie gewusst, dass genau an dieser Stelle der Leichnam meines Vaters gefunden wurde?« »Ach«, log Lowell, »ich habe mir eine Frage gestellt. Ich hatte den Ein‐
druck, dass Sie plötzlich langsamer gingen, und habe mich ge‐ fragt: >War es hier?< Nicht wahr, er ist doch langsamer gegan‐ gen?«, wandte er sich Hilfe suchend an Fields. »Ja, ich glaube schon, Mr. Healey.« Fields war außer Atem, doch er nickte hef‐ tig. Richard Healey war nicht der Meinung. »Na gut, die Antwort lautet jedenfalls ja«, sagte er, ohne einen Hehl daraus zu ma‐ chen, dass er Lowells Intuition bewunderte und sie ein bisschen unheimlich fand. »Genau hier ist es passiert, Vetter. Ausge‐ rechnet an der kahlsten, hässlichsten Stelle unseres Gartens«, sagte er mit Bitternis. Es war der einzige Fleck auf der ganzen Wiese, auf dem überhaupt nichts wuchs. Lowell fuhr mit dem Finger durch den Sand. »Hier war es«, sagte er wie in Trance. Zum ersten Mal empfand Lowell echtes, tiefes Mitgefühl für Richter Healey. Hier hatte er nackt auf der Erde gelegen, schutzlos dem Ungeziefer ausgesetzt. Das Schlimmste daran schien, dass er auf eine Weise zu Tode ge‐ kommen war, die er nie begreifen würde, auch nicht im Jen‐ seits, so wenig wie seine Frau und seine Söhne. Richard Healey glaubte, Lowell sei den Tränen nahe. »Er hatte Sie ins Herz geschlossen, Vetter«, sagte er und kniete sich neben Lowell. »Wie bitte?«, fragte Lowell, und sein Mitgefühl verflog. Hea‐ ley fühlte sich durch diese Reaktion brüskiert. »Der Oberrichter. Sie waren einer seiner liebsten Verwandten. Oh, er hat Ihre Ge‐ dichte gelesen und sprach in den höchsten Tönen davon. Und immer wenn die neue Ausgabe der North American Review er‐ schien, stopfte er seine Pfeife und las das Heft in einem Zug
aus. Er sagte, seiner Meinung nach hätten Sie einen Sinn für die höhere Wahrheit.« »In der Tat?«, fragte Lowell einigermaßen verwundert. Er wich dem lächelnden Blick seines Verlegers aus und rang sich ein gemurmeltes Kompliment über den feinen literarischen Ge‐ schmack des Oberrichters ab. Als sie wieder im Haus waren, erschien ein Botenjunge mit einem Bündel Post. Richard Healey entschuldigte sich. Fields zog Lowell rasch beiseite. »Woher zum Teufel wussten Sie, wo Healey gelegen hat, Lowell? Darüber haben wir nie gespro‐ chen.« »Na ja, jeder anständige Dante‐Kenner würde die Nähe des Charles River zu schätzen wissen. Denken Sie daran, die lauen Seelen befinden sich nicht weit vom Acheron, dem ersten Fluss der Hölle.« »Ja. Aber so genau hat in keiner Zeitung gestanden, wo im Garten er gefunden wurde.« »Die Zeitungen taugen nicht mal zum Pfeifeanzünden.« Lo‐ well hielt Fields absichtlich hin, genoss seine Ungeduld. »Der Sand hat mich draufgebracht.« »Der Sand?« »Ja, ja. >Come la rena quando turbo spira.< Oder haben Sie Ihren Dante vergessen?«, tadelte er Fields. »Stellen Sie sich vor, wir treten in den Kreis der lauen Seelen ein. Was fällt uns an der Masse der Sünder auf?« Fields achtete als Leser auch auf alle konkreten Einzelheiten und erinnerte sich an Zitate nach der Seite, auf der sie standen, ans Papiergewicht, an die typographische Gestaltung, den Ge‐ ruch des Kalbsleders. Er spürte förmlich, wie seine Finger über
die vergoldeten Ecken seiner Dante‐Ausgabe glitten. »>Worte des Schmerzes<« ‐ Fields übersetzte aus dem Gedächtnis. »>Worte des Schmerzes und Geschrei des Zorns .. .<« Er blieb stecken. Was hätte er nicht dafür gegeben, jetzt zu wissen, wie es weiterging, zu wissen, was Lowell wusste, eine Einzelheit, die die Situation weniger unkontrollierbar machte. Er hatte eine italienische Taschenausgabe bei sich und blätterte darin. Lowell nahm ihm das Buch aus der Hand. »Weiter unten, Fields! facevano un tumulto, il quai sʹaggira sempre in quellʹ aura senza tempo tinta, come la rena quando turbo spira: Vollführten ein Getümmel, das ohnʹ Ende in diesen zeitlos trüben Lüften krei‐ set, wie Sand, gejagt in einem Wirbelsturm.<« »Also ...« Fields überlegte. Lowell schnaubte ungeduldig. »Die Wiesen hinter dem Haus sind überwiegend von hohem Gras bedeckt, und an einigen Stellen liegt die nackte, steinige Erde bloß. Uns blies aber ein feinkörniger Sand ins Gesicht, also bin ich ihm nachgegangen. Die Bestrafung der lauen Seelen in Dantes Hölle ist von einem Getümmel begleitet >wie Sand, gejagt in einem Wirbelsturm<. Die Sandmetapher ist nicht bloß so dahingesagt, Fields! Sie ist Sinnbild der unsteten Seelen dieser Sünder, die sich entschie‐ den haben, nichts zu tun, obwohl sie die Macht zum Handeln hatten, und deshalb verlieren sie in der Hölle diese Macht!« »Holʹs der Teufel, Jamey!«, sagte Fields ein wenig zu laut. Das Hausmädchen staubte mit einem Wedel eine Wand ab. Fields bemerkte es gar nicht. »Da soll doch einer! Sand wie ein Wirbel‐ sturm! Die drei Insektenarten, die Fahne, der nahe Fluss, das reicht doch schon. Aber der Sand? Wenn dieses Scheusal sogar
so eine winzige Metapher Dantes in seine Taten einbaut ...« Lowell nickte düster. »Er ist wirklich ein Dante‐Kenner«, sagte er nicht ohne Bewunderung. »Die Herren?« Nell Ranney stand wie aus dem Boden ge‐ wachsen neben ihnen, und sie fuhren beide zusammen. Lowell fragte sie erbost, ob sie etwa gelauscht habe. Sie schüttelte beleidigt den Kopf. »Nein, Sir, ich schwöre es. Aber ich frage mich, ob ...« Sie schaute nervös erst über die eine, dann über die andere Schulter. »Sie beide sind anders als die andern, die Mrs. Healey ihre Aufwartung machen. Wie Sie sich im Haus umsehen ... und im Garten ... Wollen Sie nicht noch einmal wiederkommen? Ich muss ...« Richard Healey kam zurück, und das Hausmädchen huschte mitten im Satz auf die andere Seite der imposanten Eingangs‐ halle hinüber, eine Meisterin in der Bedienstetenkunst des Ver‐ schwindens. Healey seufzte schwer. »Seit wir unsere Belohnung ausgesetzt haben, erliege ich jeden Morgen aufs Neue der törichten Hoff‐ nung, die Wahrheit würde doch noch ans Licht kommen.« Er trat an den Kamin und warf die Briefe hinein. »Ich weiß nicht, ob die Leute grausam sind oder verrückt.« »Verfügt denn die Polizei nicht über neue Erkenntnisse«, frag‐ te Lowell, »die Ihnen weiterhelfen könnten?« »Die altehrwürdige Bostoner Polizei. Ich kann Ihnen sagen, lieber Vetter! Sie haben sämtliche Verbrecher verhört, deren sie habhaft werden konnten. Und wissen Sie, was dabei herausge‐ kommen ist?« Richard wartete tatsächlich auf eine Antwort. Heiser vor
Spannung, verneinte Lowell. »Dann sage ich es Ihnen. Einer von ihnen ist aus dem Fenster gesprungen. Können Sie sich das vorstellen? Der farbige Beam‐ te, der ihn offenbar retten wollte, hat verlauten lassen, dass der Mann irgendwelche Worte gemurmelt hat, die er nicht ver‐ stand.« Lowell sprang vor und packte Healey, als wollte er noch mehr aus ihm herausschütteln. Fields zog ihn an seinem Rock. »Ein farbiger Beamter, sagen Sie, ein Mulatte?« »Die altehrwürdige Bostoner Polizei«, wiederholte Richard mit unterdrückter Bitterkeit. »Wir würden ja einen Privatdetek‐ tiv engagieren«, sagte er stirnrunzelnd, »aber die sind genauso teuflisch korrupt wie die Polizei.« Man hörte Stöhnen aus ei‐ nem Raum im ersten Stock, und Roland Healey kam die Treppe halb heruntergelaufen, ihre Mutter habe schon wieder einen Anfall. Richard drehte sich sofort um und strebte zur Treppe. Nell Ranney kam auf Lowell und Fields zu, aber Richard Healey sah es auf dem Weg nach oben. Er beugte sich über das breite Ge‐ länder und befahl ihr: »Nell, Sie machen mit Ihrer Arbeit im Keller weiter. Sofort!« Er wartete, bis sie verschwunden war, und stieg dann weiter die Treppe hinauf. »Nicholas Rey hat also Healeys Mord untersucht, nachdem er die geflüsterten Worte gehört hatte«, sagte Fields, als er und Lowell allein waren. »Und wir wissen ja inzwischen, was da geflüstert wurde ‐ wer immer der Mann war, der aus dem Fenster gesprungen ist.« Lo‐ well dachte einen Moment nach. »Wir müssen herausbekom‐
men, was das Hausmädchen derart in Schrecken versetzt hat.« »Vorsicht, Lowell. Sie kriegt die größten Schwierigkeiten, falls der junge Healey Sie zusammen sieht.« Fieldsʹ Besorgnis hielt Lowell zurück. »Er hat sowieso gesagt, sie sieht Gespenster.« Im selben Moment kam ein lautes Rumpeln aus der Küche. Lo‐ well überzeugte sich, dass sie noch immer allein waren, und steuerte dann auf die Küchentür zu. Er klopfte leise. Keine Re‐ aktion. Er stieß die Tür auf und hörte ein Geräusch neben dem Herd: die Vibrationen des Speisenaufzugs. Er war gerade aus dem Keller heraufgekommen. Er öffnete die holzgetäfelte Tür des Aufzugs, fand ihn aber leer, bis auf ein Blatt Papier. Er eilte an Fields vorbei. »Was ist los? Was haben Sie?«, fragte Fields. »Das ist kein Speisenaufzug. Ich muss das Arbeitszimmer fin‐ den. Bleiben Sie hier und passen Sie auf, dass der junge Healey nicht herunterkommt«, sagte Lowell. »Aber, Lowell!«, sagte Fields. »Was soll ich denn machen, wenn er kommt?« Wortlos reichte Lowell dem Verleger den Zettel aus dem Auf‐ zug. Der Dichter eilte den Flur entlang und schaute durch offen stehende Türen, bis er eine fand, vor die man ein Sofa gescho‐ ben hatte. Er schob es zur Seite und ging hinein. Der Raum war gesäubert worden, aber nur notdürftig, als sei es für Nell Ran‐ ney oder eines der jüngeren Dienstmädchen mitten in der Ar‐ beit unerträglich geworden, sich noch länger darin aufzuhalten. Möglicherweise nicht nur deshalb, weil Healey hier gestorben war, sondern wegen der Erinnerung an den Richter, die im Ge‐ ruch der alten Lederbände weiterlebte. Von oben hörte Lowell Ednah Healeys Stöhnen immer lauter
werden, und er versuchte, nicht daran zu denken, dass sie sich in einem Totenhaus befanden. Fields, der draußen blieb, las die Mitteilung von Nell Ranney: Sie sagen mir, ich soll es für mich behalten, aber ich kann nicht, und ich weiß nicht, wem ich es sagen soll. Als ich Richter Healey in sein Arbeitszimmer brachte, hat er in meinen Armen gestöhnt, bevor er gestorben ist. Kann denn niemand helfen?« »Gütiger Gott!« Fields knüllte den Zettel unwillkürlich zusammen. »Er hat noch ge‐ lebt!« Im Arbeitszimmer kniete Lowell nieder und hielt den Kopf dicht über den Boden. »Sie haben noch gelebt«, flüsterte er. »Der große Verweigerer! Deswegen sind Sie umgebracht wor‐ den! Was hat Luzifer zu Ihnen gesagt? Sie haben versucht, Nell Ranney noch etwas mitzuteilen, als sie Sie gefunden hat. Oder wollten Sie etwas fragen?« Auf dem Boden waren noch Blut‐ flecken. Und an den Rändern des Teppichs sah er noch etwas anderes: zerquetschte, wurmähnliche Maden, seltsame Insek‐ tenteile, wie er sie noch nie gesehen hatte, die Flügel und Rümpfe einiger der feueräugigen Insekten, die Nell Ranney über dem Leichnam von Richter Healey erschlagen hatte. Er kramte in Healeys Schreibtisch, fand eine kleine Lupe und be‐ trachtete durch sie die Insekten. Auch sie wiesen Spuren vom Blut des Oberrichters auf. Auf einmal krochen vier oder fünf rotäugige Insekten unter den Papierstapeln auf dem Schreibtisch hervor und kamen in direkter Linie auf Lowell zugeschossen. Er prallte erschrocken zurück, stolperte über einen schweren Sessel, stieß sich an einem gusseisernen Schirmständer das Bein
an und fiel hin. Rachsüchtig schlug er die Fliegen eine nach der anderen mit einem juristischen Wälzer tot. »Glaubt ja nicht, dass sich ein Lowell von euch einschüchtern lässt.« Dann spürte er ein leich‐ tes Kribbeln oberhalb des Fußgelenks. Eine der Fliegen war un‐ ter seinen Hosenaufschlag geschlüpft, und als er das Hosenbein hochzog, versuchte sie zu entkommen. Mit kindischer Genug‐ tuung trat er sie mit dem Stiefelabsatz in den Teppich. Dabei fiel ihm eine rote Abschürfung knapp über dem Fußgelenk auf, die von seinem Zusammenstoß mit dem Schirmständer her‐ rührte. »Der Teufel soll euch holen«, sagte er zu dem toten Flie‐ gengeschwader. Es überlief ihn kalt, als er sah, dass die Flie‐ genköpfe denen menschlicher Leichen ähnelten. Fields rief leise von draußen, er solle sich beeilen. Um Fassung ringend, ignorierte Lowell die Warnung, bis er von oben Schrit‐ te und Stimmen hörte. Er holte sein Taschentuch hervor, das seine Frau mit den In‐ itialen JRL bestickt hatte, und sammelte die Insekten, die er so‐ eben erschlagen hatte, sowie alle sonstigen Insektenteile auf, die er fand. Er verstaute seine Beute in der Rocktasche und lief aus dem Zimmer. Fields half ihm, das Sofa zurückzuschieben, da die Stimmen seiner geplagten Vettern immer näher kamen. Der Verleger platzte vor Wissbegierde. »Na? Was ist, Lowell? Ha‐ ben Sie was gefunden?« Lowell klopfte auf seine Rocktasche. »Beweise, mein lieber Fields.«
IX In der Woche nach Elisha Talbots Beerdigung hatte jeder Geist‐ liche in Neuengland einen bewegenden Nachruf auf den un‐ glücklichen Amtsbruder gehalten. Am folgenden Sonntag han‐ delten die meisten Predigten vom Gebot gegen das Töten. Da weder der Mord an Talbot noch der an Healey der Aufklärung einen Schritt näher gekommen schien, predigten die Geistlichen über jede Sünde, die seit der Vorkriegszeit begangen worden war, und verurteilten die lasche Arbeit der Polizei mit einem geradezu alttestamentarischen Furor, der Talbot, den alten Ty‐ rannen der Cambridger Kanzel, vor Stolz hätte platzen lassen. Zeitungsleute stellten die Frage, wie es denn sein könne, dass die Morde an zwei hoch geachteten Bürgern der Stadt unge‐ sühnt blieben. Wofür waren die Gelder ausgegeben worden, die der Stadtrat zur Steigerung der Effizienz der Polizei bewil‐ ligt hatte? Für die silbern glänzenden Nummern auf den Uni‐ formen der Polizeibeamten, mutmaßte eine Zeitung sarkastisch. Warum hatte die Stadt auf Antrag des Polizeichefs den Polizi‐ sten das Tragen von Schusswaffen gestattet, wenn sie keine Verbrecher fanden, gegen die sie sie einsetzen konnten? Nicholas Rey las interessiert diese und andere Artikel an sei‐ nem Schreibtisch auf der Hauptwache. Tatsache war, dass die Polizei durchaus Fortschritte machte. Feueralarmglocken wur‐ den so eingesetzt, dass die gesamte Polizei oder Teile davon in jeden Bezirk der Stadt gerufen werden konnten. Kurtz hatte
außerdem Wächter und Späher angewiesen, regelmäßig Berich‐ te bei der Hauptwache abzuliefern, und alle Polizisten mussten beim geringsten Anzeichen eines möglichen Problems dienstbe‐ reit sein. Kurtz fragte Nicholas Rey unter vier Augen nach sei‐ ner Meinung über die Morde. Rey überlegte. Er besaß die selte‐ ne Begabung, erst nachzudenken und dann zu sprechen, und deshalb sagte er nur das, was er auch meinte. »Wenn in der Armee ein Soldat bei dem Versuch zu desertie‐ ren ertappt wurde, musste die ganze Abteilung auf einem Feld antreten, auf dem ein Grab ausgehoben worden war. Daneben stand ein Sarg. Der Deserteur musste mit einem Kaplan an der Seite vor uns hergehen und sich auf die Sargkante setzen. Dann wurden ihm die Augen verbunden, und man fesselte ihn an Händen und Füßen. Ein Erschießungskommando aus seinen eigenen Kameraden nahm Aufstellung und wartete auf den Befehl. Achtung, legt an ... Bei Feuer fiel der Mann tot in den Sarg und wurde an Ort und Stelle begraben, und nichts erinner‐ te daran, dass er dort lag. Wir schulterten unsere Gewehre und marschierten zurück ins Lager.« »Sie meinen, die Morde an Healey und Talbot sollten zur Warnung dienen?«, fragte Kurtz skeptisch. »Man hätte den Deserteur genauso gut im Zelt des Brigadege‐ nerals oder im Wald erschießen oder ihn vors Kriegsgericht stellen können. Die öffentliche Erschießung sollte uns klar ma‐ chen, dass ein Deserteur von allen verlassen wird, so wie er un‐ sere Einheit verlassen hatte. Sklavenhalter haben dieselbe Me‐ thode angewandt, um an Sklaven, die einen Fluchtversuch un‐ ternommen hatten, ein Exempel zu statuieren. Die bloße Tatsa‐
che, dass Healey und Talbot ermordet wurden, ist möglicher‐ weise zweitrangig. In erster Linie haben wir es mit der Bestra‐ fung dieser Männer zu tun. Wir sollen es als Aufforderung ver‐ stehen, unsere Pflicht zu tun und Gehorsam zu üben.« Kurtz war fasziniert, aber nicht überzeugt. »Verstehe. Aber Strafe von wem? Und für welche Verfehlungen? Wenn tatsäch‐ lich jemand wollte, dass wir aus diesen Taten lernen, wäre es dann nicht sinnvoller, sie so zu begehen, dass wir die Absicht verstehen? Der nackte Leichnam unter einer Fahne. Die bren‐ nenden Füße. Das hat doch überhaupt keinen Sinn!« Es muss jemanden geben, der eben doch einen Sinn darin sieht, dachte Rey. Er und Kurtz waren nur vielleicht nicht diejenigen, mit denen dieser Jemand sprechen wollte. »Was wissen Sie über Oliver Wendell Holmes?«, fragte Rey den Polizeichef später, als er ihn die Treppe des State House hinunter zur wartenden Kutsche begleitete. »Holmes?« Kurtz zuckte gleichgültig die Achseln. »Dichter und Mediziner. Ein unbequemer Zeitgenosse. Er war mit dem alten Professor Webster befreundet, bevor Webster gehängt wurde. Er hat länger als die meisten anderen an Websters Un‐ schuld geglaubt. Und bei der Leichenschau an Talbot war er keine große Hilfe.« »Nein, das war er nicht«, sagte Rey und dachte daran, wie ner‐ vös Holmes beim Anblick von Talbots Füßen geworden war. »Ich glaube, es ging ihm nicht besonders, er leidet bestimmt an Asthma.« »Ja ‐ an seelischem Asthma«, sagte Kurtz. Nach der Entdeckung von Talbots Leichnam hatte Rey dem
Polizeichef die zwei Dutzend Papierstücke gezeigt, die er in der Nähe von Talbots senkrechtem Grab aufgelesen hatte. Es waren winzige Quadrate, keines größer als eine Reißzwecke und jedes mit mindestens einem gedruckten Buchstaben darauf. Bei man‐ chen war ganz schwach auch auf der Rückseite etwas Gedruck‐ tes zu erkennen. Einige waren wegen der Feuchtigkeit bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Kurtz fragte sich, warum Rey sich so für diese Schnipsel interessierte. Zum ersten Mal geriet sein Vertrauen in den farbigen Polizisten ernstlich ins Wanken. Rey legte die Schnipsel sorgsam auf einem Tisch aus. Er war sich sicher, dass sie etwas zu bedeuten hatten, so sicher, wie er die geflüsterten Worte des Fensterspringers gehört hatte. In zwölf Fällen konnte er die Buchstaben bestimmen: de, n, e, ch, i, p, t, r, t, te, i, n, h, o, e, a, c, n, k, b, s, nn und nochmals n. Auf einem Zet‐ tel stand ein Buchstabe, der wahrscheinlich ein e war, genauso gut aber auch ein s sein konnte. Wenn Rey gerade nicht den Polizeichef zu Unterredungen mit Bekannten oder Kollegen der Mordopfer oder zu Besprechun‐ gen mit Reviervorstehern fahren musste, nutzte er jede freie Minute dazu, die Papierschnipsel hervorzuholen und sie auf einem Tisch zu verteilen. Manchmal konnte er Wörter daraus bilden, und er schrieb die Wendungen, die so zustande kamen, in ein Notizbuch. Er kniff seine goldgepunkteten Augen zu und riss sie dann weit auf, in der unbewussten Erwartung, die Buchstaben würden von allein eine Reihenfolge einnehmen, die erklären würde, was geschehen war oder was getan werden musste, wie die Drehscheiben der Spiritisten, die angeblich die Worte der Toten buchstabierten, wenn sie von einem hinrei‐
chend begabten Medium betätigt wurden. Eines Nachmittags legte Rey die Worte des Fensterspringers, so wie er selbst sie transkribiert hatte, neben die Papierschnipsel: Vielleicht korre‐ spondierten die beiden Stimmen ja irgendwie. Für die einzel‐ nen Buchstaben hatte er eine Anordnung gefunden, die ihm am plausibelsten schien: Ich kann nicht sterben denn... Von da an wusste er nicht mehr weiter, aber war das nicht denkbar? Er probierte eine andere Möglichkeit aus: sei denn bei Nacht ohne... Aber wo passte das Schnipsel mit dem g hinein? Oder war es doch ein q? In der Hauptwache ging täglich eine Flut von Briefen ein, de‐ ren Schreiber so felsenfest von der Richtigkeit ihrer Theorien überzeugt waren, dass man hätte meinen können, alle Fragen seien geklärt, wenn die angebotenen Erklärungen auch nur im Geringsten glaubwürdig gewesen wären. Kurtz betraute Rey mit der Aufgabe, diese Post zu sichten, zum Teil auch mit der Absicht, ihn von seinen »Schnipseln« abzubringen. Fünf Leute wollten Oberrichter Healey eine Woche nach der Auffindung seiner Leiche in der Music Hall gesehen haben. Rey spürte den völlig ahnungslosen Doppelgänger anhand der Nummer seiner Abonnementkarte auf: Es war ein Kutschenmaler aus Roxbury, der über eine ähnlich wuchernde Lockenpracht verfügte wie der Richter. In einem anonymen Brief wurde der Polizei mitge‐ teilt, der Mörder von Reverend Talbot, ein entfernter Verwand‐ ter des Absenders, sei an Bord eines Dampfers nach Liverpool gegangen, in einem Überzieher, den er sich ohne Erlaubnis des Besitzers ausgeliehen habe. Auf dem Schiff sei ihm übel mitge‐ spielt worden, und man werde wohl nie wieder von ihm hören.
(Der Überzieher sei vermutlich nie seinem rechtmäßigen Eigen‐ tümer zurückgegeben worden.) Ein anderer schrieb, eine Frau habe in einer Schneiderei spontan gestanden, Richter Healey in blindwütiger Eifersucht ermordet zu haben, sie sei mit der Ei‐ senbahn nach New York geflohen und dort wahrscheinlich in einem der vier aufgeführten Hotels abgestiegen. Als Rey jedoch eine anonyme Zuschrift las, die nur aus zwei Sätzen bestand, hatte er plötzlich das Gefühl, auf einer heißen Spur zu sein: Es war feines Briefpapier, und die Mitteilung war in krakeliger Blockschrift abgefasst ‐ ein Versuch des Absenders, seine Handschrift zu tarnen: Graben Sie unter dem Loch, in dem Talbot steckte. Dort wurde etwas übersehen. Darunter stand: »Mit vorzüglicher Hochachtung, ein Bürger unserer Stadt.« »Es wurde etwas übersehen?«, wiederholte Kurtz spöttisch. »Hier will keiner etwas beweisen, hier erfindet keiner eine Ge‐ schichte«, sagte Rey mit ungewohntem Enthusiasmus. »Der Verfasser will einfach nur etwas mitteilen. Und vergessen Sie nicht: In den Zeitungen standen die verschiedensten Berichte darüber, was Talbot angeblich widerfahren ist. Das müssen wir uns jetzt zunutze machen. Dieser Mensch kennt die wahren Umstände, zumindest weiß er, dass Talbot in einem Loch zu Tode kam und dass er kopfüber drinsteckte. Sehen Sie hier.« Rey zeigte mit dem Finger darauf und las vor: »>Unter seinem Kopf.<« »Rey, ich weiß bald selber nicht mehr, wo mir der Kopf steht! Der Transcript hat im Rathaus jemanden gefunden, der bestätigt hat, dass Talbots Kleider ordentlich zusammengefaltet
waren. Genau wie die von Richter Healey. Sie bringen es mor‐ gen, und dann weiß die ganze Stadt, dass wir es mit einem Doppelmörder zu tun haben. Die Leute werden nicht mehr von irgendwelchen Verbrechern reden, sie werden einen Namen haben wollen.« Kurtz las den Brief noch einmal. »Warum steht dann nicht drin, was wir angeblich in dem Loch finden werden? Und warum kommt Ihr Bürger nicht einfach her und sagt mir direkt, was er weiß?« Rey ließ die Frage unbeantwortet. »Las‐ sen Sie mich doch noch mal in der Gruft nachsehen.« Kurtz schüttelte den Kopf. »Sie haben doch gehört, wie uns von jeder Kanzel herab die Hölle heiß gemacht wurde, Rey. Wir können es uns nicht erlauben, wegen imaginärer Andenken die Gruft der Second Church umzugraben!« »Wir haben das Loch doch extra nicht zugeschüttet, für den Fall, dass noch weitere Untersuchungen nötig werden«, wandte Rey ein. »Und wenn schon. Ich will nichts mehr davon hören, verstan‐ den?« Rey nickte, schien aber keineswegs bekehrt. Die hartnäckige Weigerung des Polizeichefs vermochte gegen Reys unerschüt‐ terliche Missbilligung nichts auszurichten. Am Spätnachmittag schnappte sich Kurtz seinen Mantel. Er baute sich vor Reys Schreibtisch auf und kommandierte: »Zweite Unitaristische Kir‐ che, Cambridge.« Ein neuer Küster, ein Kaufmannstyp mit rotem Backenbart, bat sie herein. Er erklärte, dass sein Vorgänger, Küster Gregg, seit der Entdeckung von Talbots Leichnam immer schwermüti‐ ger geworden und aus Gesundheitsgründen in den Ruhestand
getreten sei. Umständlich suchte er nach den Schlüsseln für die unterirdischen Gewölbe. »Hoffentlich ist an der Sache was dran«, warnte Kurtz seinen Untergebenen, als ihnen der Gestank aus den Katakomben ent‐ gegenschlug. Es war etwas dran. Nach kurzem Stochern mit einer langstieligen Schaufel fand Rey den Beutel mit dem Geld, den Longfellow und Holmes in das Loch zurückgelegt hatten. »Tausend. Genau eintausend.« Rey zählte das Geld im Schein einer Gaslampe ab. »Chef«, sagte er, denn ihm war etwas aufge‐ fallen. »Auf der Hauptwache von Cambridge ‐ an dem Abend, als wir Talbots Leiche gefunden haben. Wissen Sie noch, was man uns da gesagt hat? Der Reverend hatte gemeldet, dass am Tag vor dem Mord sein Safe aufgebrochen wurde.« »Wie viel war ihm geraubt worden?« Rey zeigte mit einer Kinnbewegung auf das Geld. »Eintausend.« Kurtz konnte es kaum fassen. »Tja, ich weiß nicht, ob uns das weiterbringt oder alles bloß noch komplizierter macht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Peaslee oder Burndy am einen Abend den Safe eines Geistlichen knak‐ ken und ihn am nächsten zu Tode foltern. Und wenn, würden sie dann das Geld zurücklassen, damit Talbot sich im Jenseits daran erfreuen kann?« In diesem Moment wäre Rey beinahe auf einen Blumenstrauß getreten. Er hob ihn auf und zeigte ihn Kurtz. »Aber nein, ich habe niemanden hinuntergelassen«, ver‐ sicherte ihnen der neue Küster, als sie wieder oben in der Sakri‐ stei waren. »Die Tür ist verschlossen seit ... seit dem Vorfall.« »Aber vielleicht Ihr Vorgänger? Können Sie uns sagen, wo wir Mr. Gregg finden?«, fragte Kurtz.
»Hier in der Kirche«, erwiderte der Küster. »Jeden Sonntag. Unfehlbar.« »Also, wenn er das nächste Mal hier ist, richten Sie ihm aus, er soll sofort zu uns kommen? Hier ist meine Karte. Wir müssen wissen, ob er jemanden hineingelassen hat.« Auf der Hauptwa‐ che gab es viel zu tun. Der Beamte, bei dem Reverend Talbot den Einbruch gemeldet hatte, musste befragt werden. Sie muss‐ ten die Geldscheine von den Banken prüfen lassen, um festzu‐ stellen, ob sie tatsächlich aus Talbots Safe stammen konnten. Sie würden die Gegend von Cambridge, in der Talbot gewohnt hatte, durchkämmen müssen, um vielleicht irgendetwas über den Tag des Einbruchs herauszubekommen. Und ein Hand‐ schriftenexperte musste die anonyme Mitteilung analysieren. Wahrscheinlich zum ersten Mal, seit er von Healeys Tod erfah‐ ren hatte, war Kurtz optimistisch. »Das macht den guten Polizi‐ sten aus, Rey ‐ der richtige Riecher. Manchmal ist es das Einzi‐ ge, wonach wir gehen können. Aber mit jeder Enttäuschung in Leben und Laufbahn wird er schwächer, Gott seiʹs geklagt. Ich hätte diese Zuschrift zusammen mit dem anderen Mist wegge‐ schmissen, aber Sie haben das nicht getan. Also, reden Sie. Was sollen wir machen, was wir noch nicht gemacht haben?« Rey lächelte dankbar. »Es muss doch was geben. Na, raus damit.« »Es wird Ihnen nicht gefallen«, erwiderte Rey. Kurtz zuckte die Achseln. »Wenn es nur nicht wieder um eins Ihrer verdammten Papierschnipsel geht.« Rey lehnte Gefälligkeiten im Allgemeinen ab, aber es gab et‐ was, was er sich sehr wünschte. Er trat an das Fenster, das die
Bäume vor der Hauptwache umrahmte, und schaute hinaus. »Da draußen lauert eine unsichtbare Gefahr, Chef, vor der sich einer, der auf die Wache gebracht wurde, so sehr fürchtete, dass ihm sogar sein Leben nichts mehr wert war. Ich würde gerne Nachforschungen anstellen, wer der Mann war, der in unserem Hof zu Tode gekommen ist.« Oliver Wendell Holmes war froh, dass er eine Aufgabe hatte, die ihm lag. Er war kein Entomologe, überhaupt kein Naturfor‐ scher, und interessierte sich für die Zoologie nur insoweit, als ihre Erkenntnisse Rückschlüsse auf die körperliche Beschaffen‐ heit des Menschen zuließen. Aber binnen zwei Tagen nach Lo‐ wells Entdeckung in Healeys Arbeitszimmer hatte Holmes alle Bücher über Insekten zusammengetragen, die er in den wissen‐ schaftlichen Bibliotheken Bostons finden konnte, und machte sich an intensive Untersuchungen. Lowell organisierte unterdessen eine Unterredung mit Nell Ranney im Haus ihrer Schwester am Stadtrand von Cambridge. Sie erzählte ihm, wie sie den Oberrichter gefunden hatte, dass er ihr offenbar noch etwas hatte sagen wollen, aber nur noch ein Gurgeln hervorbrachte, bevor er starb. Sie sei, als sie seine Stimme hörte, auf die Knie gefallen, wie von einer göttlichen Macht angerührt, und auf allen vieren davongekrochen. Hin‐ sichtlich der Entdeckung in Talbots Kirche hatte der Dante Club beschlossen, dass die Polizei das in dem Gewölbe vergrabene Geld selbst finden müsse. Holmes und Lowell waren beide da‐ gegen: Holmes aus Angst und Lowell aus Besitzdenken. Long‐ fellow beschwor seine Freunde, die Polizei nicht als Konkur‐
renz anzusehen, obwohl andererseits ihre Aktivitäten geheim bleiben müssten. Sie alle arbeiteten auf dasselbe Ziel hin: weite‐ re Morde zu verhindern. Der Unterschied sei nur, dass der Dante Club sich vorwiegend an die literarischen und die Polizei sich an die faktischen Beweise halte. Nachdem sie also den Beu‐ tel mit den tausend Dollar wieder vergraben hatten, hatte Long‐ fellow eine Mitteilung ans Büro des Polizeichefs verfasst: Gra‐ ben Sie tiefer ... Sie vertrauten darauf, dass jemand bei der Poli‐ zei den Wink verstehen und vielleicht etwas mehr über den Mord herausfinden würde. Als Holmes seine entomologischen Forschungen abgeschlos‐ sen hatte, trafen sich Longfellow, Fields und Lowell bei Hol‐ mes. Obwohl Holmes jeden Besucher in der Charles Street 21 durchs Fenster seines Arbeitszimmers sehen konnte, musste sein irisches Dienstmädchen die Besucher zunächst in das klei‐ ne Empfangszimmer bringen und dann zu ihm hinaufgehen und sie melden. Dann lief Holmes die Treppe hinunter. »Long‐ fellow? Fields? Lowell? Nur immer herauf, meine Herrn! Las‐ sen Sie mich Ihnen zeigen, woran ich gearbeitet habe.« Das no‐ ble Arbeitszimmer war ordentlicher als bei den meisten ande‐ ren Schriftstellern. Die Bücherregale reichten vom Boden bis zur Decke, und um auch an die oberen Bücher heranzukom‐ men, hatte sich der kleinwüchsige Hausherr eine Schiebeleiter anfertigen lassen. Er zeigte seinen Gästen seine neueste Errun‐ genschaft ‐ ein an den Schreibtisch angebautes Bücherbord für die Werke, die er ständig greifbar haben wollte. »Sehr prak‐ tisch, Holmes«, sagte Lowell, den Blick bereits auf die Mikro‐ skope gerichtet.
Holmes stellte gerade ein Präparat fertig. »Bis zum Beginn unserer Epoche hatte die Natur über alle ihre inneren Werkstät‐ ten KEIN ZUTRITT geschrieben. Wenn ein allzu Neugieriger versuchte, den Geheimnissen ihrer Drüsen, Gänge und Flüssig‐ keiten auf die Spur zu kommen, hat sie ihr Werk wie die anti‐ ken Götter in undurchdringlichen Nebel und Strahlenkränze gehüllt.« Er erklärte, dass es sich bei den Objekten um Maden bildende Schmeißfliegen handle, genau wie Barnicoat vermutet hatte. Diese Fliegen legten ihre Eier auf totem Gewebe ab. Aus den Eiern würden dann Maden, die sich von faulendem Fleisch er‐ nährten, bis sie selbst zu Fliegen würden und damit den Kreis schlössen. Fields, der auf einem von Holmesʹ Stühlen kippelte, sagte: »Aber Healey wollte noch etwas sagen, bevor er starb, wenn man dieser Nell glauben darf. Das heißt, er hat noch gelebt! Obwohl sein Leben sicher nur noch an einem seidenen Faden hing. Vier Tage nach dem Überfall ... Und mit dem ganzen Körper voller Maden.« Holmes hätte der Gedanke an solche Qualen zutiefst angeekelt, wenn die Behauptung nicht gar so abenteuerlich gewesen wäre. Er schüttelte den Kopf. »Zum Glück für Richter Healey und die ganze Menschheit ist so etwas unmöglich. Entweder waren nur ein paar Maden, vielleicht vier oder fünf, auf der Oberfläche der Kopfwunde, wo natürlich abgestorbenes Gewebe vorhanden war, oder er hat nicht mehr gelebt. Wenn die Maden derart massenhaft in seinem Körper herumwimmelten, wie berichtet wird, war mit Sicherheit das gesamte Gewebe abgestorben. Und das heißt, er war tot.«
»Vielleicht hat das Dienstmädchen eine lebhafte Phantasie«, gab Longfellow zu bedenken, weil Lowell so unglücklich drein‐ schaute. »Wenn Sie sie sehen könnten, Longfellow«, sagte Lowell. »Wenn Sie sehen könnten, wie ihre Augen blitzen, Holmes. Fields, Sie waren doch dabei!« Fields nickte, obwohl er sich nicht mehr so sicher war. »Sie hat etwas Schreckliches gesehen ‐ oder meinte es zu sehen.« Lowell verschränkte missbilligend die Arme. »Sie ist die Einzige, die dabei war, um Gottes willen. Ich glaube ihr. Wir müssen ihr glauben.« Holmes sprach ein Machtwort. Immerhin hatten seine Fest‐ stellungen etwas Ordnung, eine gewisse Logik in ihre Untersu‐ chungen gebracht. »Tut mir Leid, Lowell. Natürlich hat sie et‐ was Schreckliches gesehen: Healeys Leiche, in diesem Zustand. Aber das letzte Wort hat ‐ die Wissenschaft.« Danach fuhr Lowell mit der Pferdebahn nach Cambridge. Er schlenderte gerade unter einem Ahorn dahin, frustriert, weil er nichts dagegen tun konnte, dass die Geschichte des Hausmäd‐ chens als Unsinn abgetan wurde, als Phineas Jennison, der Bo‐ stoner Kaufhauskönig, in seinem feudalen Brougham vorbei‐ kutschierte. Lowell runzelte die Stirn. Er war einerseits nicht in geselliger Stimmung, andererseits wäre ihm die Zerstreuung sehr willkommen. »Hallo! Geben Sie mir Ihre Hand!« Jennison streckte seinen maßgeschneiderten Ärmel aus dem Fenster, während seine ele‐ ganten Pferde in eine gemächliche Gangart verfielen. »Mein
lieber Jennison«, sagte Lowell. »Oh, wie gut das tut! Die Hand eines alten Freundes«, sagte Jennison überschwänglich, doch ehrlich erfreut. Er hatte zwar nicht Lowells eisernen Griff, übertrieb aber das Händeschütteln nach Art der Bostoner Geschäftsleute ‐ es erinnerte an das Schütteln einer Flasche. Er stieg aus und klopfte an die grüne Tür des silberbeschlagenen Wagens, zum Zeichen, dass der Kutscher warten solle. Jennisons strahlend weißer Mantel war nur halb zugeknöpft, sodass man seinen dunkelroten Gehrock und die grüne Samt‐ weste sah. Er fasste Lowell unter. »Na, unterwegs nach Elm‐ wood?« »Schuldig, Euer Ehren.« »Sagen Sie, lässt die elendigliche Corporation Sie jetzt endlich in Ruhe mit Ihrem Dante‐Seminar?« »Ja, es sieht Gott sei Dank so aus, als würden sie sich ein biss‐ chen zurückhalten«, sagte Lowell seufzend. »Ich hoffe nur, sie verbuchen es nicht als Sieg, dass ich das Seminar ausfallen las‐ se.« Jennison blieb mitten auf der Straße stehen und erbleichte. Er sprach leise und fasste sich ans rundliche Kinn. »Lowell? Ist das noch der Jemmy Lowell, der wegen Unbotmäßigkeit nach Concord verbannt wurde, als er in Harvard studierte? Sollten Sie nicht Manning und der Corporation die Stirn bieten, den künftigen Genies Amerikas zuliebe? Sie müssen es tun, sonst werden die ...« »Es hat nichts mit diesen Dunkelmännern zu tun«, versicherte ihm Lowell. »Ich bin im Moment mit einer Angelegenheit be‐ schäftigt, die meine ganze Aufmerksamkeit beansprucht, und kann deshalb nicht auch noch mein Seminar abhalten. Ich gebe
zurzeit nur Vorlesungen.« »Eine Hauskatze nützt nichts, wenn man einen bengalischen Tiger braucht!« Jennison ballte die Faust. Er war ziemlich stolz auf das poetische Bild. »Das ist nichts für mich, Jennison. Ich weiß nicht, wie Sie mit den Leuten der Corporation zurechtkommen. Aber Sie haben es ja auf Schritt und Tritt mit Müßiggängern und Dummköpfen zu tun.« »Wie soll man denn sonst Geschäfte machen?« Jennison setzte sein strahlendes Lächeln auf. »Ich verrate Ihnen das Geheimnis, Lowell. Sie machen so lange Krach, bis Sie bekommen, was Sie haben wollen ‐ das ist das Rezept. Sie wissen, worauf es an‐ kommt, und alles andere kann der Teufel holen!«, fügte er mit Nachdruck hinzu. »Wenn ich Ihnen in Ihrem Kampf irgendwie beistehen kann, auf irgendeine Weise ...« Lowell war eine Sekunde lang versucht, Jennison einzuweihen und ihn um Hilfe zu bitten, obwohl ihm nicht klar war, warum. Der Dichter war in Geldangelegenheiten ein hoffnungsloser Stümper. Er stolperte von einer unklugen Investition in die nächste. Erfolgreiche Geschäftsleute schienen ihm daher mit übernatürlichen Fähigkeiten begabt zu sein. »Nein, nein, ich habe für meine Kämpfe schon mehr Helfer angeworben, als mein Gewissen zulassen dürfte, aber ich danke Ihnen trotz‐ dem.« Lowell klopfte dem Millionär auf die mit feinem engli‐ schem Tuch bedeckte Schulter. »Außerdem wird zumindest der junge Mead dankbar sein für den Urlaub von Dante.« »In jedem gerechten Kampf braucht man einen starken Verbündeten«, sagte Jennison enttäuscht. Dann schien es, als hätte er gern et‐
was ausgeplaudert, das er für sich behalten musste. »Ich habe Dr. Manning beobachtet. Er wird in seinem Feldzug nicht er‐ lahmen, also dürfen auch Sie nicht weichen. Glauben Sie nichts von dem, was die Ihnen sagen. Denken Sie an meine Worte.« Lowell hatte das Gefühl, dass eine dunkle Wolke der Ironie ü‐ ber ihm hing, seit er von dem Seminar gesprochen hatte, für dessen Bestand er schon seit so vielen Jahren focht. Dieselbe Verwirrung ergriff ihn an demselben Tag noch einmal, als er auf dem Weg zu Longfellow durch das weiße Holztor von Elmwood schritt. »Professor!« Lowell drehte sich um und sah einen jungen Mann im vorge‐ schriebenen schwarzen Gehrock der Harvard‐Studenten, der mit verkniffenem Mund und hochgereckten Fäusten angerannt kam. »Mr. Sheldon? Was machen Sie denn hier?« »Ich muss Sie sofort sprechen.« Der Student keuchte vor Anstrengung. Longfellow und Lowell hatten die vergangene Woche damit zugebracht, Listen all ihrer ehemaligen Dante‐Studenten zu‐ sammenzustellen. Auf die offiziellen Unterlagen der Universi‐ tät konnten sie nicht zurückgreifen, weil das Argwohn erregt hätte. Für Lowell war das eine besonders schwere Prüfung, weil er nur unvollständige Aufzeichnungen führte und sich jeweils nur an eine Hand voll Namen erinnerte. Selbst ein Stu‐ dent, den er Jahre zuvor unterrichtet hatte, konnte oft mit einer herzlichen Begrüßung rechnen, wenn er Lowell auf der Straße traf. »Mein lieber Junge!«, und dann: »Wie war noch Ihr Na‐ me?« Zum Glück konnten seine zwei derzeitigen Studenten, Edward Sheldon und Pliny Mead, sofort aus dem Kreis der
Verdächtigen ausgeschlossen werden, denn wie sich recht ge‐ nau rekonstruieren ließ, hatten sie zur Zeit von Reverend Tal‐ bots Ermordung in seinem Dante‐Seminar gesessen. »Professor Lowell. Diese Nachricht habe ich soeben in meinem Postfach gefunden!« Sheldon drückte ihm einen Zettel in die Hand. »Ist das ein Irrtum?« Lowell warf nur einen kurzen Blick darauf. »Nein. Ich muss mich um ein paar Dinge kümmern, die sehr viel Zeit erfordern. Es ist nur etwa für eine Woche, hoffe ich. Ich nehme doch an, Sie haben genug anderes zu tun, um einmal eine Zeit lang nicht an Dante zu denken.« Sheldon schüttelte bekümmert den Kopf. »Aber wissen Sie nicht mehr, was Sie uns immer gesagt haben? Dass ein neuer Kreis von Bewunderern entstehen muss, um seiner Wander‐ schaft ein Ende zu bereiten. Sie haben sich doch nicht etwa der Corporation gefügt? Oder in Ihren Dante‐Studien nachgelassen, Professor?« Lowell schauderte bei dieser Frage. »Ich kenne keinen den‐ kenden Menschen, der sich von Dante zurückziehen könnte, mein lieber Sheldon! Nur wenige Männer besitzen genug Kraft, um ein Leben und ein Werk von solcher Tiefe zu durchdringen. Ich schätze ihn jeden Tag mehr, als Mensch, als Dichter, als Lehrer. In unserer schwersten Stunde macht er uns Hoffnung auf eine neue Chance. Und solange ich nicht auf der ersten E‐ bene des Purgatoriums Dante selbst gegenübertrete, werde ich, darauf haben Sie mein Wort, keinen Zoll vor den elenden Ty‐ rannen der Corporation zurückweichen!« Sheldon musste schlucken. »Sie werden also nicht vergessen,
wie wichtig es mir ist, die ganze Commedia durchzuarbeiten?« Lowell legte den Arm um Sheldons Schultern und ging ein paar Schritte mit ihm. »Mein Junge, es gibt eine Geschichte von Boc‐ caccio, in der er von einer jungen Frau erzählt, die in Verona an dem Haus vorbeiging, in dem Dante während seines Exils wohnte. Sie sah ihn von der anderen Straßenseite aus und zeig‐ te ihn einer anderen Frau mit den Worten: >Das ist Alighieri, der Mann, der in die Hölle hinabsteigt, wann immer es ihm be‐ liebt, und Nachrichten von den Toten mitbringt.< Und die an‐ dere erwiderte: >Das glaube ich gern. Siehst du, was für einen krausen Bart er hat und was für ein dunkles Gesicht? Das kommt bestimmt von der Hitze und vom Rauch!<« Der Student lachte schallend. »Es heißt«, fuhr Lowell fort, »dass Dante über diesen Wort‐ wechsel lächeln musste. Wissen Sie, warum ich nicht glaube, dass die Geschichte wahr ist, mein Junge?« Sheldon überlegte mit derselben ernsten Miene, die er in den Dante‐Seminaren aufsetzte. »Vielleicht deshalb, Professor, weil diese Veroneserin ja nicht den Inhalt von Dantes Gedicht ken‐ nen konnte«, riet er. »Nur eine kleine Zahl von Auserwählten, darunter seine Gönner, dürften vor Dantes Tod Einblick in das Manuskript bekommen haben, und auch die haben sicher im‐ mer nur kleine Teile gesehen.« »Ich glaube keine Sekunde lang, dass Dante gelächelt hat«, antwortete Lowell genießerisch. Sheldon wollte etwas erwidern, aber Lowell lüftete seinen Hut und setzte seinen Weg in Richtung Craigie House fort. »Aber bitte vergessen Sie nicht, wie wichtig er mir ist!«, rief Sheldon
ihm nach. Holmes saß in Longfellows Bibliothek. In der Zeitung war ihm ein Stich nach einer Fotografie aufgefallen, der auf Veranlas‐ sung von Nicholas Rey abgedruckt worden war. Die Illustrati‐ on zeigte den Mann, der sich auf der Hauptwache aus dem Fenster gestürzt hatte. In der beigefügten Meldung wurde der Vorfall nicht erwähnt. Man sah nur das struppige, eingefallene Gesicht des Fensterspringers. Die Aufnahme war kurz vor der Gegenüberstellung gemacht worden, und jeder, der etwas über die Familie des Mannes wusste, wurde gebeten, sich im Büro des Polizeichefs zu melden. »Wann hofft man, die Familie eines Mannes und nicht den Mann selbst zu finden?«, fragte Holmes. Die Antwort gab er sich selbst: »Wenn er tot ist.« Lowell betrachtete das Bild. »Ich glaube nicht, dass ich jemals einen Mann gesehen habe, der trauriger aussah. Und die Ange‐ legenheit ist so wichtig, dass sich der Polizeichef höchstpersön‐ lich damit befasst. Wendell, Sie haben sicher Recht. Der junge Healey hat gesagt, die Polizei habe den Mann noch nicht identi‐ fiziert, der Rey etwas zugeflüstert hat, bevor er sich aus dem Fenster stürzte. Durchaus logisch, dass sie sich an die Presse gewandt haben.« Der Verleger der Zeitung schuldete Fields einen Gefallen. Also suchte er ihn in seinem Büro in der Stadt‐ mitte auf. Man sagte ihm, ein farbiger Polizist habe den Ab‐ druck des Bildes und den des Aufrufs veranlasst. »Nicholas Rey«, sagte Fields, als sie beim Abendessen in Longfellows Speisezimmer saßen. Er fand das seltsam. »Die
haben doch immer noch mit Healey und Talbot alle Hände voll zu tun. Ist es da nicht seltsam, dass ein Polizist sich um einen toten Herumtreiber kümmert? Vermuten die einen Zusammen‐ hang mit den beiden Morden? Ahnt dieser Polizist inzwischen, was der Mann ihm zugeflüstert hat?« »Das bezweifle ich«, sagte Lowell. »Aber falls doch, dann könnte er durchaus auch uns auf die Spur kommen.« Holmes war beunruhigt. »Dann müssen wir vor Rey herausfinden, wer dieser Mann war!« »Also, ein dreifach Hoch auf den jungen Richard Healey. Jetzt wissen wir, wieso dieser Rey mit den Hieroglyphen zu uns ge‐ kommen ist«, sagte Fields. »Wir können den Schluss ziehen, dass der Fensterspringer die Dante‐Motive erkannte, es mit der Angst bekam, Rey ein paar Verse aus dem Gesang, der die Vor‐ lage für den Mord lieferte, ins Ohr flüsterte und sich aus dem Fenster stürzte.« »Wovor könnte er denn so furchtbare Angst bekommen ha‐ ben?«, fragte Holmes. »Wir können davon ausgehen, dass er selbst nicht der Mörder gewesen ist, weil er ja schon zwei Wochen vor Reverend Tal‐ bots Ermordung tot war«, sagte Fields. Lowell zupfte nachdenklich an seinem Schnurrbart. »Ja, aber er könnte den Mörder gekannt und sich vor den Folgen ge‐ fürchtet haben. Und wenn dem so ist, dann hat er ihn wahr‐ scheinlich sehr gut gekannt.« »Er hat Angst bekommen, weil er zu viel wusste, genau wie wir. Aber wie finden wir vor der Polizei heraus, wer er war?« Longfellow hatte die ganze Zeit geschwiegen. Jetzt bemerkte er:
»Zwei Dinge haben wir der Polizei voraus, liebe Freunde. Wir wissen, dass der Mann in den schrecklichen Details des Mordes die Dante‐Szene wiedererkannte und dass ihm in seiner Not Dantes Verse wie von selbst über die Lippen kamen. Wir kön‐ nen also vermuten, dass er ein italienischer Bettler war. Und Katholik.« Ein Mann mit einem Dreitagebart, den Hut über Augen und Ohren gezogen, lag unbeweglich wie eine Heiligenfigur vor der Holy Cross Cathedral, einer der ältesten katholischen Kirchen Bostons. Er hatte es sich auf dem Bürgersteig bequem gemacht, soweit dies der menschliche Körperbau erlaubte, und aß aus einem irdenen Gefäß. Ein Passant stellte ihm eine Frage. Er rea‐ gierte nicht, drehte nicht einmal den Kopf. »Entschuldigung.« Nicholas Rey kniete sich neben ihn und zeigte ihm das Zeitungsbild von dem Fensterspringer. »Kennen Sie diesen Mann?« Jetzt verdrehte der Mann die Augen gerade so weit, dass er das Bild sah. Rey holte sein Abzeichen hervor. »Sir, ich heiße Nicholas Rey und bin Polizeibeamter. Ich muss unbedingt den Namen dieses Mannes wissen. Er ist verstorben. Sie können ihn also nicht in Schwierigkeiten bringen. Bitte sagen Sie mir: Kennen Sie ihn oder jemand anderen, der ihn kennen könnte?« Der Mann fuhr mit der Hand in seinen Topf, holte mit Daumen und Zeigefin‐ ger einen Bissen heraus und steckte ihn in den Mund. Dann schüttelte er ruhig den Kopf. Rey ging weiter, auf eine Reihe von Gemüse‐ und Fleischstän‐
den zu, vor denen reges Treiben herrschte. Zehn Minuten später entstiegen ganz in der Nähe zwei andere Männer der Pferdebahn und näherten sich dem Obdachlosen. Einer von ihnen hielt ihm dieselbe Zeitung mit demselben Bild hin. »Guter Mann, können Sie uns sagen, ob Sie diesen Mann kennen?«, fragte Holmes liebenswürdig. Die Duplizität der Ereignisse hätte den Mann fast aus seiner Lethargie aufgerüttelt. Aber nur fast. Lowell beugte sich vor. »Sir?« Holmes hielt ihm erneut die Zeitung unter die Nase. »Bitte, sa‐ gen Sie uns, ob Ihnen dieser Mann irgendwie bekannt vor‐ kommt, und schon sind Sie uns wieder los.« Nichts. Lowell schrie: »Brauchen Sie ein Hörrohr?« Auch damit rich‐ teten sie nichts aus. Der Mann holte ein Stück undefinierbares Essen aus seinem Topf und schlang es hinunter, ohne zu kauen. »Nicht zu glauben«, sagte Lowell zu Holmes. »Schon drei Ta‐ ge, und wir haben nichts erreicht. Der Fensterspringer hat nicht viele Freunde gehabt.« »Wir sind sowieso schon über die Grenze des guten Wohnbe‐ zirks hinausgelangt. Ich finde, wir sollten hier noch nicht auf‐ geben.« Holmes hatte im Auge des Obdachlosen etwas aufblitzen se‐ hen. Außerdem war ihm ein Medaillon aufgefallen, das der Mann um den Hals hängen hatte: San Paolino, der Schutzpa‐ tron von Lucca in der Toskana. Lowell folgte Holmesʹ Blick. »Woher stammen Sie, Signore?«, fragte Lowell auf Italienisch. Der also Befragte starrte unerschütterlich vor sich hin, aber sein Mund klappte auf. »Da Lucca, Signore.«
Lowell lobte die Schönheiten Italiens. Der Mann war offenbar nicht überrascht, seine Muttersprache zu hören. Wie alle stolzen Italiener hielt er es für selbstverständlich, dass so gut wie jeder‐ mann seiner Sprache mächtig war; die Übrigen waren keines Gesprächs würdig. Lowell wiederholte die Frage nach dem Mann in der Zeitung. Sie müssten seinen Namen in Erfahrung bringen, sagte er, damit sie seine Familie benachrichtigen und ein ordentliches Begräbnis ausrichten könnten. »Wir glauben, der Bedauernswerte war ebenfalls aus Lucca«, sagte er traurig auf Italienisch. »Er hat es verdient, auf einem katholischen Friedhof zur letzten Ruhe gebettet zu werden ‐ bei seinen eige‐ nen Leuten.« Der Luccaner überlegte eine ganze Weile und brachte dann umständlich seinen Ellbogen in eine andere Stel‐ lung, sodass er mit dem Finger auf die massive Tür der Kirche direkt hinter sich zeigen konnte. Der katholische Prälat, der sich ihre Fragen anhörte, war eine würdevolle, wenngleich etwas füllige Gestalt. »Lonza«, sagte er und ließ sich die Zeitung wiedergeben. »Ja, er war hier. Ich glaube, er hieß Lonza. Ja ‐ Grifone Lonza.« »Dann haben Sie ihn persönlich gekannt?«, fragte Lowell hoffnungsvoll. »Er hat die Kirche gekannt, Mr. Lowell«, erwiderte der Prälat huldvoll. »Wir verfügen über einen Einwanderer‐Hilfsfonds vom Vatikan. Wir vergeben Darlehen und bezahlen denen, die in die Heimat zurückkehren müssen, die Überfahrt. Natürlich können wir nur einigen wenigen helfen.« Er wollte noch mehr sagen, besann sich aber. »Warum suchen Sie denn nach ihm, meine Herren, wenn ich fragen darf? Warum wurde sein Bild in der Zeitung veröffentlicht?«
»Er ist leider verstorben, Herr Prälat. Wir glauben, dass die Polizei versucht, ihn zu identifizieren«, sagte Holmes. »Aha. Ich fürchte, die Mitglieder meiner Gemeinde oder die Menschen dieses Viertels werden keine große Bereitschaft zeigen, über was auch immer mit der Polizei zu sprechen. Wie Sie sich erin‐ nern werden, hat die Polizei nichts unternommen, um der Ge‐ rechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, als das Ursulinenkloster nie‐ dergebrannt worden war. Und immer wenn ein Verbrechen geschieht, drangsaliert man die Ärmsten der Armen, die iri‐ schen Katholiken«, sagte er mit dem gerechten Zorn des Geist‐ lichen. »Die Iren wurden in den Krieg geschickt und starben für die Neger, die ihnen jetzt die Arbeit wegnehmen, während die Reichen sich von der Dienstpflicht freikaufen konnten.« Holmes hätte gern gesagt: Mein guter Wendell hat das nicht gemacht. Tatsächlich hatte Holmes jedoch seinen Sohn gedrängt, eben‐ dies zu tun. »Wollte Mr. Lonza nach Italien zurückkehren?«, fragte Lowell. »Welchen Herzenswunsch jemand hegt, vermag ich nicht zu sa‐ gen. Der Mann kam wegen des Essens, das wir regelmäßig an Bedürftige ausgeben, und gelegentlich halfen wir mit einem be‐ scheidenen Geldbetrag aus, wenn ich mich recht erinnere. Wäre ich Italiener, würde ich vielleicht auch in meine Heimat zurück‐ kehren wollen. Die meisten unserer Gemeindemitglieder sind Iren. Leider fühlen sich die Italiener unter ihnen nicht beson‐ ders wohl gelitten. In ganz Boston und Umgebung gibt es schätzungsweise kaum dreihundert Italiener. Sie sind allesamt arm dran und unseres Mitgefühls und unserer Barmherzigkeit würdig. Aber je mehr Menschen aus anderen Ländern einwan‐
dern, umso weniger Arbeit gibt es für diejenigen, die bereits hier sind ‐ ein ständiger Anlass für Misshelligkeiten, wie Sie sich vorstellen können.« »Herr Prälat, wissen Sie, ob Mr. Lonza Familie hatte?«, fragte ihn Holmes. Der Prälat wiegte nachdenklich den Kopf. »Ah, da war einer, der ihn manchmal begleitete. Lonza hatte leider Gottes einen Hang zum Trinken, man musste ein Auge auf ihn haben. Wie hieß er noch? Es war ein typisch italienischer Name.« Der Prälat trat an seinen Schreibtisch. »Es müssten irgendwelche Unterla‐ gen über ihn da sein, denn auch er hat gelegentlich kleine Geldbeträge erhalten. Ah, hier ‐ er war Sprachlehrer. Er hat von uns im Lauf der letzten anderthalb Jahre an die fünfzig Dollar bekommen. Ich glaube, er gab an, früher einmal am Harvard College unterrichtet zu haben, was ich aber bezweifeln würde.« Er las den Namen ab: »Pietro Bachi.« Nicholas Rey befragte gerade ein paar zerlumpte Kinder, die an einer Pferdetränke spielten, als er zwei Herren mit Zylinder er‐ blickte, die in lebhaftem Gespräch aus der Holy Cross Cathe‐ dral kamen und um die Ecke verschwanden. Selbst aus der Ent‐ fernung wirkten sie deplatziert in diesem übervölkerten Viertel. Rey ging hinüber, betrat die Kirche und fragte nach dem Präla‐ ten. Als dieser hörte, dass Rey Polizeibeamter war und nach einem nicht identifizierten Mann suchte, sah er sich das Bild in der Zeitung genau an, blickte dann über den goldenen Rand seiner Brille und entschuldigte sich freundlich. »Ich habe diesen bedauernswerten Mann nie gesehen, Officer. Tut mir sehr
Leid.« Rey dachte an die beiden Herren mit Zylinder und fragte, ob sich in letzter Zeit schon jemand anderer nach dem Mann er‐ kundigt habe. Der Prälat legte die Bachi‐Akte in die Schublade zurück, lächelte treuherzig und verneinte. Dann fuhr Rey nach Cambridge. In der Hauptwache war ein Telegramm eingegangen: Angeblich hatte jemand mitten in der Nacht versucht, die sterblichen Überreste von Artemus Healey aus dem Sarg zu stehlen. »Ich hab sie gewarnt, was passieren würde, wenn es die Öf‐ fentlichkeit erfährt«, sagte Kurtz mit unschöner Häme über die Familie Healey. Auf dem Mount Auburn Cemetery hatte man den Leichnam jetzt in einen Stahlsarg gelegt und einen zusätzli‐ chen Nachtwächter eingestellt, der mit einer Flinte bewaffnet war. Auf einem Hügel nicht weit von Healeys Grabstein hatte man ein Standbild über Reverend Talbots Grab errichtet, das mit Spenden seiner Gemeinde bezahlt worden war. Das Bild‐ werk strahlte reinste Milde aus, wodurch die Züge des Geistli‐ chen unbestreitbar gewannen. In der einen Hand hielt der marmorne Prediger die Heilige Schrift, in der anderen eine Bril‐ le, als Erinnerung an eine seiner Schrullen beim Predigen: Er hatte die seltsame Angewohnheit gehabt, auf der Kanzel jedes Mal seine große Brille abzunehmen, wenn er Gottes Wort las, und sie wieder aufzusetzen, wenn er frei sprach, wodurch der Eindruck entstand, dass es besonderen Scharfblicks bedurfte, sich mit Gottes Geist auseinander zu setzen. Auf dem Weg zum Mount Auburn, wo Rey im Auftrag seines Vorgesetzten nach dem Rechten sehen wollte, wurde er von
einer kleinen Menschenansammlung aufgehalten. Man sagte ihm, ein alter Mann aus dem ersten Stock eines benachbarten Hauses sei seit über einer Woche abgängig, was jedoch zu‐ nächst keine Besorgnis erregt habe, da er öfter verreist sei. Seine Mitbewohner hätten sich jedoch über einen üblen Geruch be‐ klagt, der aus seinem Raum komme, und Abhilfe verlangt. Rey klopfte an, überlegte, ob er die Tür aufbrechen sollte, borgte sich dann aber eine Leiter und stellte sie an die Hauswand. Er stieg hinauf und schob das Fenster hoch. Der Gestank hätte ihn fast von der Leiter stürzen lassen. Als er in dem Zimmer stand, musste er sich an eine Wand lehnen. Er brauchte mehrere Sekunden, um einzusehen, dass hier nichts mehr zu machen war. Ein Mann hing an einem Strick, der an einem Deckenhaken befestigt war, seine Füße baumelten dicht über dem Boden. Seine Gesichtszüge waren bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und verwest, aber Rey erkannte ihn an seinen Kleidern wieder. Es war der ehemalige Küster der benachbarten Unitaristischen Kirche. Auf dem Stuhl lag eine Karte. Es war die Visitenkarte, die Kurtz für Gregg in der Kir‐ che zurückgelassen hatte. Auf die Rückseite hatte der Küster eine Mitteilung an die Polizei geschrieben: die Beteuerung, dass er jeden gesehen hätte, der in die Gruft hinabgestiegen wäre, um Reverend Talbot zu töten. Ein Dämon treibe in Boston sein Unwesen, und er habe die Furcht davor, dass er auch alle ande‐ ren holen würde, nicht mehr ertragen. Pietro Bachi, italienischer Gentleman und Absolvent der Uni‐ versität Padua, nahm widerwillig alle Gelegenheiten wahr, die
Boston einem Privatlehrer für Italienisch zu bieten hatte. Es wa‐ ren nicht viele, und diese wenigen waren alles andere als er‐ freulich. Nach seiner Entlassung in Harvard hatte er versucht, bei einer anderen Universität unterzukommen. »Eine einfache Dozentenstelle für Französisch oder Deutsch hätten wir viel‐ leicht«, lachte der Dekan eines neuen Colleges in Philadelphia, »aber Italienisch! Ich bitte Sie, wir wollen aus unseren Studen‐ ten schließlich keine Opernsänger machen.« Auch die anderen Colleges an der Atlantikküste hatten keine Ambitionen dieser Art. Außerdem waren die Universitätsverwaltungen (besten Dank, Mr. Bakey) viel zu sehr mit dem Unterricht in Griechisch und Latein beschäftigt, um auch noch daran zu denken, die Un‐ terweisung in einer überflüssigen, hässlichen, papistischen, vulgären lebenden Sprache anzubieten. Zum Glück entstand nach Kriegsende in Boston wenigstens ein bescheidener Bedarf. Einige Yankee‐Kaufleute waren darauf aus, sich so viele ausländische Häfen wie möglich zu erschlie‐ ßen, und dafür brauchten sie Leute, die der jeweiligen Landes‐ sprache mächtig waren. Außerdem waren viele neureiche Fa‐ milien, Kriegsgewinner und Kriegsgewinnler, vor allem von dem Wunsch beseelt, ihre Töchter zu kultivierten jungen Da‐ men erziehen zu lassen. Und manche von ihnen hielten es für vernünftig, ihnen neben Französisch auch Grundkenntnisse des Italienischen zu vermitteln, für den Fall, dass man sie nach Rom schicken wollte, wenn es für sie an der Zeit war, ihre Europa‐ reise anzutreten (was in Boston seit einiger Zeit in Mode war). So hielt Pietro Bachi, nachdem man ihn in Harvard sang‐ und klanglos vor die Tür gesetzt hatte, ständig Ausschau nach un‐
ternehmungslustigen Kaufleuten und verzärtelten höheren Töchtern. Bei den Letzteren herrschte reger Wechsel, denn die Gesangs‐, Zeichen‐ und Tanzlehrer waren viel zu attraktiv für sie, als dass Bachi einen dauerhaften Anspruch auf die kostbare Zeit der jungen Damen hätte erheben können. Dieses Leben fand Pietro Bachi unwürdig. Was ihn so quälte, waren weniger die Unterrichtsstunden selbst als vielmehr die Tatsache, dass er jedes Mal um sein Ho‐ norar bitten musste. Die americani von Boston hatten sich ein Karthago errichtet, ein Land mit viel Geld, aber ohne Kultur ‐ diese stand im Begriff, spurlos zu verschwinden. Was hatte Pia‐ ton über die Bürger von Agrigent gesagt? Diese Menschen bau‐ en, als wären sie unsterblich, und essen, als müssten sie am nächsten Tag sterben. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, im schönen Sizilien, hatte sich Pietro Batalo wie viele Italiener vor ihm in eine gefährliche Frau verliebt. Ihre Familie stand politisch auf Kriegsfuß mit der seinen, die vehement gegen die Vorherrschaft des Papstes in Italien eintrat. Als die Frau sich von Pietro schlecht behandelt fühlte, zögerte ihre Familie nicht, Pietros Exkommunikation und Verbannung zu erwirken. Nach allerlei kriegerischen A‐ benteuern und der politischen und religiösen Wirren müde, nahmen Pietro und sein Bruder, der Kaufmann von Beruf war, den Namen Bachi an und flohen über den Atlantik. Als Pietro im Jahre 1843 ankam, war Boston eine liebenswerte Stadt mit lauter freundlichen Gesichtern, der nicht anzumerken war, wie sehr sie sich bis 1865 zu ihrem Nachteil verändern würde. In‐ zwischen sahen sich die Nativisten in ihrer Angst vor zuneh‐
mender Überfremdung bestätigt und stellten Schilder mit Auf‐ schriften wie BEWERBUNG VON AUSLÄNDERN ZWECKLOS in die Fenster. Bachi war seinerzeit am Harvard College mit offenen Armen aufgenommen worden, und eine Zeit lang wohnte er wie der junge Professor Henry Longfellow in einem schönen Abschnitt der Brattle Street. Dann fand er in der Liebe zu einer jungen Irin Erfüllung, wie er sie sich nie hät‐ te träumen lassen. Sie wurde seine Frau. Aber sie wandte sich schon bald nach der Hochzeit anderen Leidenschaften zu. Als sie ihn verließ, so erzählten sich Bachis Studenten, blieb ihm nur ein Hemd im Schrank und ihr übergroßer Durst nach Al‐ kohol in der Kehle. Und hier begann der steile, unaufhaltsame Abstieg im Herzen von Pietro Bachi ... »Sie ist, ja, nun, wie soll ich sagen ...« Sein Gesprächspartner suchte nach einem taktvollen Wort, während er hinter Bachi herhastete: »... schwierig.« »Sie ist schwierig?« Bachi ging weiter die Treppe hinunter. »Ha! Sie glaubt mir nicht, dass ich Italiener bin«, sagte er. »Sie behauptet, ich sähe nicht aus wie ein Italiener!« Das junge Mäd‐ chen erschien am oberen Ende der Treppe und sah trotzig zu, wie ihr Vater hinter dem winzigen Lehrer herwatschelte. »Oh, bitte, das Kind meint es bestimmt nicht so«, beteuerte er. »Und ob ich es so meine!«, schrie das Mädchen vom Mezzanin herab und beugte sich so weit über das Nussbaumgeländer, dass es aussah, als würde sie jeden Moment auf Pietro Bachi hinunterstürzen. »Er sieht überhaupt nicht aus wie ein Italiener, Vater! Er ist viel zu winzig!« »Arabella!«, rief der Mann und drehte sich mit einem ernsten,
gelb gefleckten Lächeln ‐ als spülte er sich den Mund mit Gold aus ‐ zu dem von Kerzen erhellten Vestibül um. »Bitte warten Sie doch noch einen Moment, Sir! Nutzen wir die Gelegenheit, um über Ihr Honorar zu sprechen, ja, Signor Bachi?« Seine Au‐ genbraue hob sich zitternd wie die Sehne eines gespannten Bo‐ gens. Bachi wandte sich ihm kurz zu. Er hatte solche Mühe, Haltung zu bewahren, dass seine Hand die Ledertasche umklammerte und er rot anlief. In den letzten Jahren hatten sich die Fältchen in seinem Gesicht vervielfacht, und schon die kleinste Zurück‐ weisung ließ ihn am Sinn seines Daseins zweifeln. »Amari ca‐ ni!«, mehr sagte er nicht. Arabella schaute verwirrt von oben herab. Er hatte ihr noch nicht so viel beigebracht, dass sie dieses Wortspiel mit americani verstanden hätte, das so viel wie »bitte‐ re Hunde« bedeutet. In der Pferdebahn Richtung Innenstadt waren die Menschen zu dieser Tageszeit zusammengepfercht wie Rinder auf dem Weg zum Schlachthof. Die Pferdebahnen, die in Boston und den Vororten fuhren, waren rundum geschlossene Abteile mit Sitzen für etwa fünfzehn Fahrgäste. Ihre eisernen Räder liefen auf Schienen, und sie wurden von einem Pferdegespann gezo‐ gen. Diejenigen, die einen Sitzplatz ergattert hatten, sahen gleichgültig zu, wie drei Dutzend andere, darunter Bachi, sich möglichst dünn zu machen versuchten und sich gegenseitig stießen und anrempelten, während sie sich bemühten, eine der von der Decke hängenden Lederschlaufen zu erreichen. Bis der Schaffner sich durchgezwängt und bei allen abkassiert hatte, war der Bahnsteig schon wieder voller Leute, die auf die näch‐
ste Bahn warteten. Zwei Trunkenbolde in der Mitte des über‐ heizten, ungelüfteten Abteils stanken wie ein Müllhaufen und versuchten, zusammen ein Lied zu singen, dessen Text sie nicht kannten. In seiner Straße angekommen, stieg Bachi vom Bürgersteig ins Schattenreich des Kellergeschosses eines Mietshauses namens Half Moon Place hinab, voller Vorfreude auf die Einsamkeit, die ihn erwartete. Doch auf der untersten Stufe saßen zwei Männer, denen man ansah, dass sie sonst behaglicheren Sitzge‐ legenheiten den Vorzug gaben: James Russell Lowell und Dr. Oliver Wendell Holmes. »Einen Penny für Ihre Gedanken, Signore.« Lowell lächelte ge‐ winnend, während er Bachi die Hand reichte. »Ich will Sie nicht berauben, Professore«, sagte Bachi. Seine Hand hing schlaff wie ein nasser Lappen in der Lowells. »Na, haben Sie sich auf dem Weg nach Cambridge verirrt?« Er musterte Holmes misstrau‐ isch, aber er war nicht so überrascht von ihrem Besuch, wie er sich gab. »Mitnichten«, sagte Lowell und nahm den Hut ab, sodass sei‐ ne weiße Stirn zum Vorschein kam. »Sie kennen doch Dr. Hol‐ mes? Wir würden gerne kurz mit Ihnen sprechen, wenn Sie ge‐ statten.« Bachi runzelte die Stirn und stieß die Tür zu seiner Wohnung auf, wobei Töpfe klapperten, die innen an der Tür an hölzernen Zapfen hingen. Es war ein Kellerraum, der nur durch ein knapp über Straßenhöhe liegendes, halbhohes Fenster Licht bekam. Ein muffiger Geruch ging von den Kleidern aus, die in allen Ecken hingen und in der feuchten Luft nie richtig trockneten.
Während Lowell die Töpfe an der Tür umarrangierte, um sei‐ nen Hut aufhängen zu können, ließ Bachi unauffällig einen Sta‐ pel Papiere von seinem Schreibtisch in seine Aktentasche glei‐ ten. Holmes machte Bachi ein nicht allzu überzeugendes Kom‐ pliment über die schäbige Einrichtung. Bachi stellte einen Wasserkessel auf den Kaminrost. »Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?«, fragte er brüsk. »Wir sind gekommen, um Sie um Hilfe zu bitten, Signor Bachi«, sagte Lowell. Ein belustigtes Lächeln huschte über Bachis Gesicht, während er den Tee einschenkte, und seine Laune schien sich zu bessern. »Was nehmen Sie dazu?« Er zeigte auf seine Anrichte. Umge‐ ben von fünf oder sechs schmutzigen Gläsern, standen dort drei Karaffen. Sie trugen Etiketten mit der Aufschrift RUM, GIN und WHISKEY. »Nur Tee, danke«, sagte Holmes. Lowell nickte. »Ich bitte Sie!«, drängte Bachi und brachte Holmes eine der Karaffen. Um den Gastgeber bei Laune zu halten, wollte Holmes sich eine möglichst geringe Menge Whiskey in seinen Tee schütten, aber Bachi hob den Ellbogen des Doktors an. »Ich glaube, das raue neuenglische Klima wäre unser aller Tod, Doktor«, sagte er, »wenn wir nicht ab und zu einen Tropfen hätten, der uns von innen wärmt.« Bachi tat so, als überlegte er, ob er auch Tee trinken sollte, ent‐ schied sich dann aber für ein Glas Rum. Die Gäste nahmen sich jeder einen Stuhl und merkten beide gleichzeitig, dass sie schon einmal darauf gesessen hatten. »Die sind ja aus der University Hall!«, sagte Lowell. »Wenigstens so viel war mir das College
schuldig, finden Sie nicht auch?«, fragte Bachi mit gezwungener Fröhlichkeit. »Außerdem, wo sonst würde man derart unbe‐ queme Stühle finden, hm? Die Harvard‐Leute können sich so unitaristisch gebärden, wie sie wollen, sie werden doch immer vom Scheitel bis zur Sohle calvinistisch bleiben ‐ sie genießen ihre Leiden, und die anderer. Aber sagen Sie mir, wie haben Sie mich hier gefunden? Ich glaube, ich bin der einzige Nicht‐ Dubliner im Umkreis von mehreren Meilen.« Lowell entrollte ein Exemplar des Daily Courier und schlug es auf einer Seite mit vielen Inseraten auf. Eines war eingekreist. Italiener aus guter Familie, Absolvent der Universität Padua, bestens ausgewiesen durch vielfältige Leistungen sowie durch langjährige Erfahrung als Privatlehrer für Spanisch und Italie‐ nisch, unterrichtet Privatschüler sowie Klassen an Knaben‐ schulen, Mädchenlyzeen etc. Referenzen: John Andrew, Henry Wadsworth Longfellow und James Russell Lowell, Professor an der Harvard University. Adresse: 2 Half Moon Place, Broad Street. Bachi lachte vor sich hin. »Wir Italiener neigen eigentlich dazu, unser Licht unter den Scheffel zu stellen. Andererseits haben wir zu Hause ein Sprichwort: >Ein guter Wein braucht sich nicht zu verstecken.< In Amerika lautet die Parole: >In bocca chiusa non entran mosche<. In einen geschlossenen Mund fliegen keine Fliegen. Aber wie kann ich erwarten, dass Menschen zu mir kommen und kaufen, wenn sie gar nicht wissen, dass ich etwas anzubieten habe? Also mache ich den Mund auf und sto‐
ße ins Horn.« Holmes verzog das Gesicht beim ersten Schluck von dem starken Tee. »John Andrew ist eine Ihrer Referenzen, Signore?«, fragte er. »Sagen Sie mir, Dr. Holmes, welcher Schü‐ ler, der Italienischstunden nehmen will, wird sich beim Gou‐ verneur nach mir erkundigen? Ich glaube auch nicht, dass sich schon einmal jemand bei Professor Lowell erkundigt hat.« Lowell nickte. Er beugte sich näher zu den Stapeln von Dante‐ Texten und ‐Kommentaren, die wild durcheinander auf Bachis Schreibtisch lagen. Über dem Schreibtisch hing ein kleines Por‐ trät von Bachis getrennt lebender Frau. Der Maler hatte durch eine weiche Pinselführung die Härte ihrer Augen kaschiert. »Also, wie kann ich Ihnen helfen, der ich früher einmal Ihre Hilfe gebraucht habe, Professore!«, fragte Bachi. Lowell zog eine andere Zeitung aus seinem Rock, die mit dem Bild von Lonza. »Kennen Sie diesen Mann, Signor Bachi? Oder sollte ich besser sagen, kannten Sie ihn?« Als Bachi das abgezehrte Gesicht auf der Zeitungsseite sah, er‐ fasste ihn Trauer. Aber als er aufschaute, war er zornig. »Wie können Sie es wagen, mir zu unterstellen, ich hätte jemals einen so heruntergekommenen Tippelbruder gekannt?« »Der Prälat der Holy Cross Cathedral hat es jedenfalls gewagt«, sagte Lo‐ well. Bachi erschrak sichtlich und wandte sich Holmes zu, als fühlte er sich umzingelt. »Sie haben sich dort, wie es scheint, kleinere Geldbeträge ge‐ liehen, Signore«, sagte Lowell. Jetzt blieb Bachi nur noch die Aufrichtigkeit. Er grinste betre‐ ten und senkte beschämt den Blick. »So sind die amerikani‐
schen Priester ‐ ganz anders als unsere in Italien. Sie haben mehr Geld als der Papst. Wenn Sie an meiner Stelle wären, würde auch für Sie das Geld der Priester keinen üblen Geruch mehr haben.« Er trank seinen Rum aus, warf den Kopf in den Nacken und pfiff. Er schaute noch einmal auf die Zeitung. »Sie möchten also etwas über Grifone Lonza wissen.« Er hielt inne und wies dann mit dem Daumen auf den Stapel Dante‐Texte auf dem Schreibtisch. »Genau wie Sie, meine Her‐ ren, habe ich die angenehmste Gesellschaft stets eher unter den Toten als unter den Lebenden gefunden. Das hat einen großen Vorteil: Wenn der Autor geistlos oder unverständlich wird oder einem einfach nicht mehr gefällt, kann man kurzerhand zu ihm sagen: >Halt den Mund.<« Diese letzten Worte sprach er mit be‐ sonderem Nachdruck. Er stand auf und goss sich ein Glas Gin ein. Er nahm einen kräftigen Schluck, und seine nächsten Worte kamen fast gur‐ gelnd heraus. »Wir sind einsam hier in Amerika. Die meisten meiner Brüder, die gezwungen waren, hierher zu kommen, können kaum die Zeitung lesen, geschweige denn La Commedia di Dante, die jedes Menschen Seele im Innersten ergreift, in all ihrer Verzweiflung und Freude. Vor Jahren waren etliche von uns hier, Männer mit Bildung, Männer des Geistes: Antonio Gallenga, Grifone Lonza, Pietro dʹAlessandro.« Er lächelte sei‐ nen Besuchern erinnerungsselig zu, als hätten sie auch dazuge‐ hört. »Wir saßen in unseren Zimmern und lasen uns abwechselnd Dante vor, und so arbeiteten wir uns durch das ganze Gedicht, in dem alle Geheimnisse festgehalten sind. Lonza und ich wa‐
ren zum Schluss die Letzten, die nicht weggezogen oder ge‐ storben waren. Jetzt bin nur noch ich übrig.« »Nun machen Sie Boston nicht so schlecht«, sagte Holmes. »Wenige sind würdig, ihr ganzes Leben in Boston zu verbrin‐ gen«, sagte Bachi mit sardonischer Aufrichtigkeit. »Wussten Sie, Signor Bachi, dass Lonza auf der Polizeiwache zu Tode ge‐ kommen ist?«, fragte Holmes vorsichtig. Bachi nickte. »Ich habe andeutungsweise davon gehört.« Lowell betrachtete die Dante‐ Bücher auf dem Schreibtisch und sagte: »Signor Bachi, wie würden Sie reagieren, wenn ich Ihnen sagte, dass Lonza eine Zeile aus dem Dritten Gesang des Inferno zitiert hat, bevor er in den Tod sprang?« Bachi schien nicht im Geringsten überrascht. Er lachte unbe‐ kümmert. Die meisten politischen Exilanten aus Italien wurden in ihrer Rechtschaffenheit immer unerträglicher und münzten sogar ihre Sünden zu Anzeichen von Heiligkeit um; umgekehrt war der Papst in ihren Augen ein elender Hund. Aber Grifone Lonza war zu der Überzeugung gekommen, dass er irgendwie seinen Glauben verraten hatte, und musste deshalb einen Weg finden, seine Sünden vor Gott zu bereuen. Nachdem er sich in Boston niedergelassen hatte, hatte er geholfen, eine katholische Mission zu vergrößern, die mit dem Ursulinenkloster zusam‐ menhing, in der Gewissheit, dass seine Glaubenstreue dem Papst zu Ohren kommen und er sich damit die Heimkehr wür‐ de verdienen können. Dann hatte der Mob das Kloster nieder‐ gebrannt. »Lonza war nicht etwa nur empört, sondern ‐ typisch für ihn ‐ völlig am Boden zerstört und überzeugt, er habe irgendwann
im Leben etwas abgrundtief Schlechtes getan, weil Gott ihn jetzt so unbarmherzig strafte. Er sah keinen Sinn mehr in sei‐ nem Dasein in Amerika, im Exil. Er sprach so gut wie nie mehr Englisch. Ich glaube, irgendwo tief drinnen hatte er das Engli‐ sche verlernt. Er kannte nur noch seine italienische Mutterspra‐ che.« »Aber warum hat Signor Lonza einen Vers von Dante rezitiert, bevor er aus dem Fenster sprang?«, fragte Holmes. »Ich hatte zu Hause einen Freund, Dr. Holmes, einen umgänglichen Bur‐ schen, der ein Restaurant betrieb und alle Fragen nach seinem Angebot an Speisen mit Dante‐Zitaten beantwortete. Das war amüsant. Lonza ist einfach wahnsinnig geworden. Dante bot ihm die Möglichkeit, die Sünden abzubüßen, die er seiner Mei‐ nung nach begangen hatte. Am Schluss fühlte er sich schuldig an allem. In den letzten Jahren hat er keine Zeile mehr von Dan‐ te gelesen, das hatte er nicht nötig. Jede Zeile, jedes Wort war zu seinem eigenen Entsetzen für immer in sein Gedächtnis ein‐ gebrannt. Er hatte den Text nie bewusst auswendig gelernt, er wurde ihm eingegeben wie den Propheten die Warnungen Got‐ tes. Schon die kleinste Andeutung konnte dazu führen, dass er in Dantes Gedicht abglitt, und manchmal brauchte man Tage, um ihn da wieder herauszuholen, ihn so weit zu bringen, dass er wieder irgendetwas anderes sagte.« »Demnach hat sein Selbstmord Sie nicht überrascht«, bemerk‐ te Lowell. »Ich weiß nicht, ob es das war, Professore«, entgegnete Bachi scharf. »Aber es spielt keine Rolle, wie man es nennt. Sein gan‐ zes Leben war ein einziger Selbstmord. Er hat aus Angst seine
Seele aufgegeben, Stück für Stück, bis es im ganzen Universum keinen anderen Ort mehr für ihn gab als die Hölle. Er stand am Abgrund ewiger geistiger Folterqualen. Es überrascht mich nicht, dass er sich aus dem Fenster gestürzt hat.« Er machte ei‐ ne Pause. »Ging es ihm damit denn so viel anders als Ihrem Freund Longfellow?« Lowell sprang auf. Holmes versuchte ihn zu beruhigen. Bachi ließ sich nicht beirren: »Soviel ich weiß, ertränkt Professor Longfellow nun schon seit ‐ wie viel? ‐ seit drei oder vier Jahren sein Leid in Dante.« »Was wissen Sie schon von einem Mann wie Henry Longfel‐ low, Bachi?«, fragte Lowell. »Ihrem Schreibtisch nach zu schlie‐ ßen, beschäftigt Dante in letzter Zeit auch Sie, Signore. Was su‐ chen Sie eigentlich bei ihm? Dante suchte im Schreiben Frieden. Ich würde meinen, dass Sie auf der Suche nach etwas nicht ganz so Noblem sind!« Er blätterte achtlos in dem Buch. Bachi riss es ihm aus der Hand. »Finger weg von meinem Dante! Zugegeben, ich wohne in einem Mietshaus, aber meine Lektüre brauche ich niemandem gegenüber zu rechtfertigen, ob er nun reich ist oder arm, Profes‐ sore!« Lowell errötete vor Verlegenheit. »Ich will damit nicht ... Falls Sie knapp bei Kasse sind, Signor Bachi ...« Bachi lachte sarkastisch. »Ach, ihr amari cani! Glauben Sie, ich würde ein Almosen von Ihnen annehmen, einem Mann, der ta‐ tenlos zusah, wie Harvard mich den Wölfen vorwarf?« Lowell war entsetzt. »Ich muss schon bitten, Bachi! Ich habe mit all meiner Kraft für die Erhaltung Ihrer Stelle gekämpft!« »Sie ha‐ ben Harvard einen Brief geschrieben und verlangt, man solle
mir eine Abfindung zahlen. Aber wo waren Sie, als ich nicht wusste, wohin? Wo war der große Longfellow? Sie haben in Ih‐ rem ganzen Leben noch nie für etwas gekämpft. Sie schreiben Gedichte und Artikel über die Sklaverei und die Ermordung von Indianern, und dann lehnen Sie sich zurück und hoffen, dass sich etwas ändert. Sie kämpfen gegen Dinge, die niemals in Ihre Nähe kommen, Professore.« Er dehnte seinen Angriff aus, indem er sich Holmes zuwandte, so als verlangte es die Höf‐ lichkeit, auch ihn einzubeziehen. »Ihnen beiden ist alles in den Schoß gefallen, Sie wissen nicht, was es heißt, vor Hunger zu weinen. Aber ich habe nichts anderes erwartet, als ich in Ihr Land kam. Worüber beklage ich mich? Der größte Barde hatte keine andere Heimat als die Verbannung. Eines fernen Tages werde ich vielleicht wieder meine heimatlichen Gefilde betreten und unter echten Freunden sein, bevor ich dieser Welt ade sa‐ ge.« In dreißig Sekunden trank Bachi noch zwei volle Gläser Whiskey, dann ließ er sich stark zitternd auf seinen Schreib‐ tischstuhl sinken. »Die Intervention eines Ausländers, Karl von Valois, hat dazu geführt, dass Dante verbannt wurde. Er ist unser letzter Besitz, die letzte Asche der Seele Italiens. Ich werde nicht applaudie‐ ren, weil Sie und Ihr verehrter Mr. Longfellow Dante von sei‐ nem angestammten Platz reißen und einen Amerikaner aus ihm machen wollen! Aber merken Sie sich, er wird immer wieder zu uns zurückkehren. Dantes Überlebenswille ist zu machtvoll, als dass er sich irgendeinem Menschen beugen würde!« Holmes wollte Bachi nach seinem Sprachunterricht fragen. Lowell er‐ kundigte sich nach dem Mann mit dem Bowler‐Hut und der
karierten Weste, der sich auf dem Harvard Yard Bachi so vor‐ sichtig genähert hatte. Aber im Moment war aus Bachi nichts mehr herauszubekommen. Als sie aus der Kellerwohnung ins Freie hinaustraten, war es beißend kalt geworden. Sie duckten sich unter der ramponierten Außentreppe hindurch, die bei den Mietern Jakobsleiter hieß, weil sie zu den etwas besser ausge‐ statteten Wohnungen von Humphreyʹs Place hinaufführte. Ba‐ chi steckte sein rot angelaufenes Gesicht aus dem niedrigen Fenster, sodass es schien, als wüchse er aus der Erde. Er reckte den Hals und schrie ihnen lallend nach: »Sie wollen von Dante reden, Professori? Behalten Sie Ihren Dante‐Kurs im Auge!« Lo‐ well rief zurück, was Bachi damit meine. Aber Bachis Kopf zog sich wieder unter die Erde zurück, und das Fenster wurde von zwei zitternden Händen herunterge‐ knallt.
X Henry Oscar Houghton, ein hoch gewachsener, gottesfürchtiger Mann mit Stutzbart, saß an seinem mit Ordnern voll gestellten Schreibtisch und sah im schwachen Schein einer Moderateur‐ lampe seine Buchführung durch. Da er sich auch um das klein‐ ste Detail selbst kümmerte, war seine Firma, die Riverside Press am Cambridger Ufer des Charles River, zur Druckerei vieler renommierter Verlage geworden, darunter auch der angese‐ henste, Ticknor & Fields. Ein Laufbursche klopfte an die ange‐ lehnte Tür. Houghton reagierte nicht. Er schrieb erst noch eine Zahl in sein Kassenbuch und löschte sorgfältig die Tinte: Er machte seinen strebsamen Vorfahren alle Ehre. »Herein«, sagte er schließlich und schaute von seiner Arbeit auf. Der Junge überreichte ihm eine Karte aus dickem, fast kar‐ tonstarkem Papier. Er las die handschriftliche Mitteilung unter der Lampe und erstarrte. Sein Seelenfrieden war dahin. Eine Dienstkutsche fuhr vor und entließ Kurtz. Rey erwartete ihn auf der Vortreppe der Hauptwache. »Nun?«, fragte Kurtz. »Der Fensterspringer hieß mit Vornamen Grifone. Das weiß ich von einem anderen Obdachlosen, der ihn angeblich manchmal an der Eisenbahn gesehen hat«, erwiderte Rey. »Wieder ein Schritt weiter«, sagte Kurtz. »Übrigens, ich habe mir durch den Kopf gehen lassen, was Sie gesagt haben, Rey. Dass die Morde eine Art Bestrafung sein könnten.«
Rey erwartete eine wegwerfende Geste seines Vorgesetzten, aber Kurtz seufzte nur. »Ich habe an Oberrichter Healey ge‐ dacht.« Rey nickte. »Na ja, wir machen alle mal was, was wir hinterher bereuen, Rey. Unsere Leute haben während der Verhandlung gegen Sims den schwarzen Mob mit Schlagstöcken von der Treppe des Gerichtsgebäudes vertrieben. Wir haben Tom Sims wie ei‐ nen Hasen gejagt und ihn nach seiner Verurteilung zum Hafen gebracht, von wo aus er zu seinem Sklavenhalter zurückge‐ schickt wurde. Können Sie mir folgen? Das war einer unserer dunkelsten Momente. Und alles nur, weil Richter Healey sich nicht überwinden konnte, das Gesetz des Kongresses für nich‐ tig zu erklären.« »Ja, Chef.« Kurtz stimmten diese Gedanken traurig. »Suchen Sie die an‐ gesehensten Männer der Bostoner Gesellschaft, Rey, und Sie werden höchstwahrscheinlich feststellen, dass sie alle keine Heiligen waren. Sie haben gezaudert, ihr Gewicht in die falsche Waagschale geworfen, anstelle von Zivilcourage Vorsicht wal‐ ten lassen ‐ und Schlimmeres.« Kurtz öffnete die Tür zu seinem Büro und wollte weiterspre‐ chen, aber an seinem Schreibtisch standen drei Männer in schwarzen Paletots. »Was geht hier vor?«, rief Kurtz aus und sah sich nach seiner Sekretärin um. Die Männer traten zur Seite, und Kurtz sah, dass Frederick Walker Lincoln an seinem Schreibtisch saß. Kurtz nahm den Hut ab und deutete eine Verbeugung an.
»Euer Ehren.« Bürgermeister Lincoln strich hinter dem ausladenden Maha‐ goni‐Schreibtisch des Polizeichefs langsam über seine Zigarre. »Sie nehmen es uns hoffentlich nicht übel, dass wir uns in Ihren Räumen breit gemacht haben, um auf Sie zu warten.« Er musste husten. Neben ihm saß scheinheilig lächelnd Stadtrat Jonas Fitch. Mit einer Handbewegung entließ er zwei der Männer im Paletot, Beamte des Kriminaldezernats. Einer blieb. »Bitte war‐ ten Sie im Vorzimmer, Rey«, sagte Kurtz. Kurtz setzte sich vor‐ sichtig vor seinen Schreibtisch. Er wartete, bis die Tür geschlos‐ sen wurde. »Also, worum gehtʹs? Wozu haben Sie diese Halun‐ ken hier versammelt?« Der eine verbliebene Halunke, Detective Henshaw, trug es mit Fassung. Bürgermeister Lincoln sagte: »Es warten sicher andere Polizei‐ aufgaben auf Sie, Kurtz, die Sie in diesen unruhigen Zeiten ver‐ nachlässigt haben. Wir haben beschlossen, unsere Detectives mit der Aufklärung der beiden Morde zu betrauen.« Kurtz sprang auf. »Das lasse ich nicht zu!« »Seien Sie doch froh, dass Ihnen die Arbeit abgenommen wird, Kurtz. Die Detectives erledigen so etwas überaus flink und tatkräftig«, sagte Lincoln. »Vor allem, wenn entsprechende Belohnungen winken«, er‐ gänzte Stadtrat Fitch. Lincoln sah ihn stirnrunzelnd an. Kurtz blinzelte. »Belohnungen? Detectives dürfen keine Beloh‐ nungen annehmen, laut Ihrer eigenen Verordnung. Was für Be‐ lohnungen also, Herr Bürgermeister?« Der Bürgermeister drückte seine Zigarre aus und tat so, als
müsste er über Kurtzʹ Frage nachdenken. »Der Stadtrat von Bo‐ ston ist gerade dabei, eine vom Verordneten Fitch eingebrachte Resolution zu verabschieden, mit der die Vorschriften hinsicht‐ lich der Annahme von Belohnungen durch Angehörige des Kri‐ minaldezernats aufgehoben werden. Außerdem werden die Be‐ lohnungen leicht heraufgesetzt.« »Um wie viel?«, wollte Kurtz wissen. »Wissen Sie ...«, setzte der Bürgermeister an. »Wie viel?« Dem Polizeichef war so, als habe Stadtrat Fitch gelächelt, be‐ vor er antwortete. »Die Belohnung für die Ergreifung des Mör‐ ders wird jetzt auf fünfunddreißigtausend Dollar festgesetzt.« »Um Gottes willen!«, entfuhr es Kurtz. »Für eine solche Summe würde manch einer selbst einen Mord begehen! Vor allem, wenn er unserem vermaledeiten Kriminaldezernat angehört.« »Wir tun nur, was getan werden muss«, bemerkte Henshaw. »Da es ja sonst keiner tut.« Bürgermeister Lincoln atmete aus, und sein Gesicht schrumpf‐ te. Obwohl der Bürgermeister seinem Vetter zweiten Grades, dem verstorbenen Präsidenten Lincoln, eigentlich nicht ähnelte, wirkte er genauso hohlwangig und rastlos. »Ich möchte mich nach der nächsten Amtsperiode ins Privatleben zurückziehen«, sagte er leise. »Und ich möchte, dass meine Stadt mir ein eh‐ rendes Andenken bewahrt. Wir müssen diesen Mörder jetzt aufknüpfen, sonst bricht die Hölle los, begreifen Sie das nicht? Vier Jahre lang haben die Zeitungen dank Krieg und Attentat vom Geschmack des Blutes gelebt, und ich schwöre Ihnen, sie sind durstiger denn je. Healey war am College in meinem Jahr‐ gang. Ich glaube fast, man erwartet von mir, dass ich entweder
selbst hinausgehe und diesen Wahnsinnigen fange oder mich auf dem Boston Common hängen lasse! Ich bitte Sie, überlassen Sie das den Detectives und lassen Sie den Neger aus dem Spiel. Wir können uns nicht noch weitere Peinlichkeiten leisten.« »Pardon, Herr Bürgermeister.« Kurtz richtete sich auf. »Was hat Rey mit alldem zu tun?« »Denken Sie an den gefährlichen Tumult bei der Gegenüber‐ stellung nach dem Mord an Healey«, warf Fitch genüsslich ein. »Da gabʹs doch so einen Bettler, der sich vor Ihren Augen aus dem Fenster gestürzt hat. Oder irre ich mich?« »Damit hatte Rey nichts zu tun«, sagte Kurtz abweisend. Lincoln schüttelte verständnisvoll den Kopf. »Der Stadtrat hat eine Untersuchung darüber angeordnet, welche Rolle er dabei spielte. Uns liegen Aussagen mehrerer Polizeibeamter vor, die behaupten, die Anwesenheit Ihres Kutschers habe den Tumult überhaupt erst ausgelöst. Und wir haben erfahren, dass der Mulatte den Bettler in seiner Obhut hatte, als es passierte. Manche glauben sogar oder, na ja, halten es für möglich, dass er ihn aus dem Fenster gestoßen hat. Natürlich nicht mit Absicht ...« »Dreckige Lügen!« Kurtz lief rot an. »Er hat versucht, die Gemüter zu beruhigen, genau wie wir alle! Der Kerl war einfach ein Wahnsinniger! Die Detectives wollen nur erreichen, dass wir unsere Ermittlungen einstellen, damit sie die Belohnung kassieren können! Hens‐ haw, was wissen Sie darüber?« »Ich weiß nur, dass ein Neger Boston bestimmt nicht aus dieser Notlage befreien kann, Kurtz.« »Vielleicht zieht ja der Gouverneur den richtigen Schluss, wenn er hört, dass sein Lieblingsbeamter die ganze Polizei
durcheinander gebracht hat, und überlegt sich, ob die Einstel‐ lung dieses Mannes wirklich eine so weise Entscheidung war«, sagte Stadtrat Fitch. »Nicholas Rey ist einer der besten Polizisten, die ich kenne.« »Das bringt mich zum nächsten Punkt, den wir besprechen können, wo wir nun schon mal hier sind. Man hat uns auch be‐ richtet, dass Sie sich überall in der Stadt mit ihm sehen lassen.« Der Bürgermeister verschärfte sein Stirnrunzeln. »Auch am Schauplatz von Talbots Mord. Und nicht nur mit ihm als Kut‐ scher, sondern auch als gleichberechtigtem Kollegen.« »Ein wahres Wunder, dass der Mob dem Neger nicht schon längst mit Pflastersteinen zu Leibe rückt, sobald er sich auf die Straße wagt!«, sagte Fitch lachend. »Wir unterwerfen Nick Rey allen Einschränkungen, die ihm der Stadtrat auferlegt hat, und ... Ich wüsste nicht, was seine Stellung mit diesem Fall zu tun haben sollte.« »Wir haben zwei Gräueltaten aufzuklären«, sagte Lincoln und zeigte mit dem Finger auf Kurtz. »Und unsere Polizeitruppe geht vor die Hunde ‐ das ist der Zusammenhang. Ich werde nicht zulassen, dass Nicholas Rey noch länger auf irgendeine Weise mit diesem Fall betraut wird. Noch ein Fehler, und er muss mit seiner Entlassung rechnen. Heute waren mehrere Se‐ natoren bei mir. Sie haben einen Sonderausschuss eingesetzt, der im ganzen Staat die städtischen Polizeiapparate abschaffen und sie durch eine der Staatsregierung unterstehende Polizei‐ truppe ersetzen soll, wenn wir diesen Fall nicht bald zu einem guten Ende bringen. Sie sind fest entschlossen. Das darf nicht während meiner Amtszeit geschehen ‐ merken Sie sich das! Ich
lasse nicht zu, dass meine Stadtpolizei abgeschafft wird.« Jonas Fitch sah, dass Kurtz zu perplex war, um etwas sagen zu können. Er beugte sich vor und sah den Polizeichef durchdrin‐ gend an. »Wenn Sie unsere Verordnungen gegen Trunksucht und Unmoral durchgesetzt hätten, Kurtz, hätten sich die Diebe und Gauner vielleicht schon alle nach New York abgesetzt!« Am Morgen wimmelte es in den Büros von Ticknor & Fields von jüngeren Angestellten und anonymen Botenjungen, von denen manche wirklich noch jung, andere im Dienst ergraut waren. Als erstes Mitglied des Dante Club traf Holmes ein. Er ging ungeduldig auf und ab und beschloss dann, sich in J. T. Fieldsʹ Büro zu setzen. »Oh, tut mir Leid, Sir«, sagte er, als er feststellte, dass schon je‐ mand da war, und schloss die Tür. Das kantige Gesicht des Mannes war dem Fenster zugewandt. Holmes brauchte eine Sekunde, um ihn zu erkennen. »Aber ... mein lieber Emerson!« Holmes strahlte. Ralph Waldo Emerson, eine eindrucksvolle Gestalt in einem langen dunkelblauen Man‐ tel und mit schwarzem Schal, erwachte aus seiner Träumerei und begrüßte Holmes. Es kam nur selten vor, dass Emerson, der Dichter und Vortragsredner, sich nicht in Concord aufhielt, dem kleinen Dorf, das mit seinen zahlreichen literarischen Ta‐ lenten eine Zeit lang mit Boston gewetteifert hatte. Vor allem seitdem die Universität ihm verboten hatte, auf dem Campus zu sprechen, weil er die Unitaristische Kirche in einer Rede vor der Theologischen Fakultät für tot erklärt hatte. Emerson war der einzige amerikanische Schriftsteller, der es an Berühmtheit mit Longfellow aufnehmen konnte, und sogar Holmes, stets im
Mittelpunkt des literarischen Lebens, fühlte sich durch Emer‐ sons Gesellschaft geschmeichelt. »Ich bin gerade von meiner alljährlichen Vortragsreise zurückgekommen, die der Mäzenas der modernen Dichter arrangiert hat.« Emerson streckte die Hand über Fieldsʹ Schreibtisch aus, als wollte er ihn segnen, eine Geste, die er aus seiner Zeit als Geistlicher beibehalten hat‐ te. »Unser aller Hüter und Beschützer. Ich wollte ihm nur ein paar Unterlagen bringen.« »Es wurde aber auch Zeit, dass Sie wieder nach Boston kommen. Wir haben Sie im Saturday Club vermisst und waren schon drauf und dran, Sie per einstimmi‐ gen Beschluss zurückzubeordern.« »Zum Glück werde ich nie so beliebt sein«, sagte Emerson lächelnd. »Wissen Sie, wir neh‐ men uns ja nie die Zeit, den Göttern oder guten Freunden zu schreiben, immer nur Anwälten, die Schulden eintreiben wol‐ len, oder dem Dachdecker.« Dann erkundigte sich Emerson, wie es Holmes inzwischen ergangen sei. Holmes antwortete in Form von umständlichen Histörchen. »Außerdem denke ich daran, noch einen Roman zu schreiben.« Er drückte es als Mög‐ lichkeit aus, weil er sich durch die Kraft und Schnelligkeit von Emersons Meinungen, die oft die aller anderen falsch erschei‐ nen ließen, eingeschüchtert fühlte. »Ach, wenn Sie es doch tä‐ ten, lieber Holmes«, sagte Emerson aufrichtig. »Ihre Stimme wird immer gern gehört. Und erzählen Sie mir von Ihrem schneidigen jungen Hauptmann. Will er immer noch Jurist werden?« Holmes lachte nervös, als der Junior erwähnt wurde, so als sei das Thema naturgemäß komisch; was nicht stimmte, denn sein Sohn hatte überhaupt keinen Humor. »Ich habe mich ja eben‐
falls in der Juristerei versucht, fand die Materie aber so trocken wie Sägemehl. Mein Sohn hat auch gute Verse geschrieben ‐ nicht so gut wie meine, aber gute Verse. Nun, da er wieder zu Hause wohnt, benimmt er sich wie ein weißer Othello, sitzt am liebsten in unserer Bibliothek im Schaukelstuhl und beein‐ druckt junge Desdemonas mit Geschichten von seinen Ver‐ wundungen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er mich ver‐ achtet. Haben Sie jemals Ähnliches mit Ihrem Sohn erlebt, E‐ merson?« Emerson schwieg ein paar Sekunden lang. »Es gibt keinen Frieden zwischen Vätern und Söhnen, Holmes.« Emer‐ sons Mienenspiel zu beobachten, während er sprach, war, als beobachtete man einen erwachsenen Mann, der auf Schrittstei‐ nen einen Bach überquert, und das lenkte Holmes von seinen Ängsten ab. Er wollte das Gespräch in Gang halten, wusste a‐ ber, dass eine Begegnung mit Emerson jederzeit ein abruptes Ende finden konnte. »Mein lieber Waldo, darf ich Sie etwas fra‐ gen?« Holmes wollte wirklich seinen Rat, aber Emerson gab nie Ratschläge. »Was halten Sie davon, dass wir, ich meine Fields, Lowell und ich, Longfellow bei seiner Dante‐Übersetzung hel‐ fen?« Emerson zog eine ergraute Augenbraue hoch. »Hätten wir Sokrates hier, könnten wir mit ihm draußen auf der Straße reden. Aber unser lieber Longfellow, mit dem können wir nicht spazieren gehen und reden. Dort gibt es einen Palast und Die‐ ner, eine Reihe Flaschen mit verschiedenfarbigen Weinen, Weingläser und schöne Gewänder.« Emerson neigte versonnen den Kopf. »Ich denke manchmal an die Zeit, als ich bei Profes‐ sor Ticknor Dante studierte, wie Sie, aber ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass Dante eine Kuriosität ist ‐ ein Fos‐
sil, das ins Museum gehört, nicht ins eigene Haus.« »Aber Sie haben doch einmal zu mir gesagt, dass Dantes Ein‐ führung in Amerika eine der bedeutendsten Leistungen unseres Jahrhunderts wäre!«, insistierte Holmes. »Ja.« Emerson überlegte. Er betrachtete eine Frage gern von allen Seiten. »Und das stimmt auch. Trotzdem, Wendell, mir ist die Gesellschaft eines einzelnen treuen Menschen lieber als eine Gefolgschaft von Schnellrednern, die vor allem auf gegenseitige Bewunderung erpicht sind.« »Aber was wäre die Literatur ohne Gefolgschaft?«, wandte Holmes lächelnd ein. Er musste den Dante Club verteidigen. »Wer wüsste zu sagen, was wir Vereinigungen zur gegenseiti‐ gen Bewunderung wie der von Shakespeare und Ben Jonson oder Beaumont und Fletcher verdanken? Oder den Zusam‐ menkünften von Johnson, Goldsmith, Burke, Reynolds, Beau‐ clerc und Boswell, dem ergebensten aller Bewunderer?« Emer‐ son glättete die Papiere, die er Fields geben wollte, um an‐ zudeuten, dass sein Besuch beendet war. »Vergessen Sie nicht: Erst wenn der Genius früherer Zeiten in eine gegenwärtige Kraft verwandelt wird, werden wir dem ersten wahrhaft ame‐ rikanischen Dichter begegnen. Und irgendwo, auf der Straße eher als im Athenäum, werden wir auf den ersten echten Leser stoßen. Der Geist des Amerikaners steht im Verdacht, zaghaft, nachahmerisch und zahm zu sein: der anständige, träge, lie‐ benswürdige Gelehrte. Der Geist unseres Landes, den man lehrt, sich auf Niedriges zu richten, zehrt von sich selbst. Ohne Tat ist der Gelehrte noch kein Mann. Ideen müssen durch den Wettstreit guter Menschen wirken, sonst bleiben sie Träume.
Wenn ich Longfellow lese, fühle ich mich völlig unbeschwert ‐ geborgen. Das wird unserer Zukunft keinen Gewinn bringen.« Als Emerson gegangen war, hatte Holmes das Gefühl, mit ei‐ nem Sphinxrätsel betraut worden zu sein, dessen Lösung nur er liefern konnte. Dieses Gespräch wollte er ganz für sich behal‐ ten; er würde den anderen nichts davon erzählen. »Ist das denn möglich?«, fragte Fields seine Freunde, nachdem sie über Bachi gesprochen hatten. »War Lonza so überwältigt, dass er die Dichtung über das Leben stellte?« »Es wäre nicht das erste Mal, dass die Literatur Gewalt über einen geschwächten Geist ausübt. Denken wir nur an John Wil‐ kes Booth«, sagte Holmes. »Als er Lincoln erschoss, rief er auf Lateinisch aus: >So geschehe den Tyrannen.< Das sagt Brutus, als er Julius Cäsar ermordet. Lincoln war in Boothʹ Vorstellung der römische Kaiser. Booth war bekanntlich ein Verehrer Shakespeares. Genau wie unser Luzifer ein Verehrer und inti‐ mer Kenner Dantes ist. Das Lesen, das Verstehen, das Analysie‐ ren, das wir tagtäglich betreiben, hat bewirkt, was wir uns ins‐ geheim für uns selbst wünschen ‐ es ist diesem Mann in Fleisch und Blut übergegangen.« Longfellow zog die Augenbrauen hoch. »Allerdings war es bei Booth und Grifone Lonza unfreiwillig.« »Bachi verschweigt uns bestimmt, was genau er über Lonza weiß!«, sagte Lowell frustriert. »Sie haben ja gesehen, wie zu‐ rückhaltend er war. Was meinen Sie?« »Es war, wie wenn man einen Igel streichelt«, gab Holmes zu. »Wenn einer schon Boston verunglimpft und abfällig über den
Frog Pond oder das Parlamentsgebäude spricht, kann man si‐ cher sein, dass nicht mehr viel von ihm übrig ist. Der arme Ed‐ gar Poe ist im Krankenhaus gestorben, bald nachdem er ange‐ fangen hatte, solche Reden zu führen. Das ist ein untrügliches Zeichen: Wenn einer so weit heruntergekommen ist, sollte man ihm kein Geld mehr borgen ‐ ein solcher Mann pfeift auf dem letzten Loch.« »Dieser Poetaster«, murmelte Lowell, als der Name Poe fiel. »Ganz geheuer war mir Bachi nie«, sagte Longfellow. »Der Ärmste. Der Verlust seiner Stellung hat ihn noch unglücklicher gemacht, und zweifellos haben wir in seinen Augen dabei eine unfreundliche Rolle gespielt.« Lowell vermied Longfellows Blick. Er hatte bewusst keine Ein‐ zelheiten von Bachis Tirade gegen Longfellow erwähnt. »Ich halte wahre Dankbarkeit für ein seltener Ding auf Erden als gute Verse, Longfellow. Bachi hat das Feingefühl eines Rettichs. Ich könnte mir denken, dass Lonza auf der Polizeiwache des‐ halb so verängstigt war, weil er wusste, wer Healey umgebracht hat. Er wusste, dass Bachi der Täter war ‐ oder vielleicht hat er Bachi sogar geholfen, Healey umzubringen.« »Die Mitteilung, dass Longfellow an Dante arbeitet, hat ihn wie ein Blitz getroffen«, sagte Holmes, aber er war skeptisch. »Luzifer muss ein sehr kräftiger Mann sein, sonst hätte er Hea‐ ley nicht aus dem Schlafzimmer in den Garten schleppen kön‐ nen. Bachi kann ja bei seinem Alkoholkonsum kaum geradeaus stolpern. Außerdem haben wir keinerlei Verbindung zwischen Bachi und einem der Opfer gefunden.« »Das ist auch gar nicht nötig!«, sagte Lowell. »Erinnern Sie
sich: Dante schickt viele Menschen in die Hölle, denen er nie begegnet ist. Es gibt bei Ser Bachi zwei Momente, die gravie‐ render sind als eine persönliche Verbindung zu Healey oder Talbot. Erstens: hervorragende Dante‐Kenntnisse. Er ist der Einzige außerhalb unseres Clubs, vielleicht mit Ausnahme des alten Ticknor, dessen Wissensstand sich mit unserem messen kann.« »Zugegeben«, sagte Holmes. »Zweitens: Motive«, fuhr Lowell fort. »Er ist arm wie eine Kir‐ chenmaus. Er fühlt sich von unserer Stadt im Stich gelassen und sucht Trost im Suff. Mit gelegentlichen Privatstunden hält er sich mühsam über Wasser. Er ist uns gram, weil er glaubt, Longfellow und ich hätten die Hände in den Schoß gelegt, als er damals entlassen wurde. Und Bachi würde Dante lieber unter‐ gehen lassen als ihn von hinterhältigen Amerikanern gerettet sehen.« »Aber warum, lieber Lowell, hätte sich Bachi gerade Healey und Talbot aussuchen sollen?«, fragte Fields. »Er hätte jeden Beliebigen nehmen können, solange der nur die Sünden begangen hat, die es zu bestrafen galt und die auf Dante zurückgeführt werden können. Auf diese Weise könnte er Dante in Amerika diskreditieren, bevor seine Dichtung sich hier durchsetzt.« »Könnte Bachi unser Luzifer sein?«, fragte Fields. »Muss er unser Luzifer sein?« Lowell verzog das Gesicht und griff sich ans Fußgelenk. »Lowell, ist Ihnen nicht wohl?«, fragte Longfellow. »Doch, doch, keine Sorge, danke. Ich muss mir neulich in Wide Oaks an einem eisernen Ständer das Bein gestoßen haben. Ja, jetzt erinnere ich mich.«
Holmes beugte sich vor und bedeutete Lowell, das Hosenbein hochzuschlagen. »Ist es seither größer geworden, Lowell?« Die rote Abschürfung war von der Größe eines Pennys auf die einer Dollarmünze angewachsen. »Woher soll ich das wissen?« Er nahm eigene Verletzungen nicht ernst. »Sie sollten besser auf sich aufpassen«, schalt ihn Holmes. »Das sieht nicht aus wie eine heilende Wunde, ganz im Gegen‐ teil. Sie haben sich nur gestoßen, sagen Sie? Entzündet scheint es nicht zu sein. Ist es Ihnen sehr lästig, Lowell?« Plötzlich war sein Knöchel viel schlimmer geworden. »Hin und wieder.« Dann fiel ihm etwas ein. »Es ist möglich, dass bei den Healeys eine dieser Schmeißfliegen in mein Hosenbein ge‐ krochen ist. Könnte das die Ursache sein?« »Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Holmes. »Ich habe nie gehört, dass Schmeißfliegen stechen können. Vielleicht war es ein anderes Insekt?« »Nein, das wüsste ich. Ich habe das Biest platt geschlagen.« Lowell grinste. »Es war eins von denen, die ich Ihnen gebracht habe, Holmes.« Holmes überlegte. »Longfellow, ist Professor Agassiz schon aus Brasilien zurück?« »Ja, ich glaube, er ist gerade zurückgekommen.« »Ich schlage vor, wir schicken ihm die Insektenreste, die Sie mitgenommen haben, in sein Museum«, sagte Holmes zu Lowell. »Agassiz weiß alles über alle Tiere auf Erden.« Lowell hatte genug von dem Gerede über sein Befinden. »Ein‐ verstanden. Und jetzt schlage ich vor, dass wir Bachi ein paar
Tage verfolgen ‐ wenn er sich nicht schon zu Tode getrunken hat. Vielleicht bringt er uns ja auf eine interessante Spur. Zwei von uns sollten mit einer Kutsche vor seiner Wohnung warten, die anderen hier. Wenn niemand etwas dagegen hat, würde ich das Team leiten, das Bachi überwacht. Wer möchte mitkom‐ men?« Niemand bot sich an. Fields zog nonchalant seine Uhr‐ kette. »Also bitte!«, sagte Lowell. Er klopfte dem Verleger auf die Schulter. »Fields, Sie könnten doch mitkommen.« »Tut mir Leid, Lowell. Ich musste Oscar Houghton ein Nachmittagsessen mit Longfellow und mir versprechen, für heute. Er hat gestern Abend eine Mitteilung von Augustus Manning bekommen ‐ er soll Longfellows Übersetzung nicht drucken, sonst bekommt er keine Aufträge mehr von der Universität. Wir müssen schleu‐ nigst etwas tun, sonst springt uns Houghton ab.« »Und ich muss im Odeon einen Vortrag über die neuesten Ent‐ wicklungen in Homöopathie und Allopathie halten. Eine Absa‐ ge würde die Veranstalter teuer zu stehen kommen«, sagte Holmes großspurig. »Natürlich sind Sie alle herzlich eingela‐ den.« »Aber vielleicht stehen wir ja vor dem entscheidenden Schritt«, wandte Lowell ein. »Lowell«, sagte Fields. »Wenn wir zulassen, dass Dr. Manning Dante zuvorkommt, während wir uns mit dieser Angelegenheit befassen, dann war unsere ganze Übersetzungsarbeit für die Katz. Ich brauche nur eine Stunde, um Houghton zu besänfti‐ gen, dann können wir Ihren Vorschlag verwirklichen.« Kräftige Steakgerüche und gedämpfte Mittagessensgeräusche drangen zu Longfellow hinaus, der vor der griechischen Fassa‐
de des Revere House stand. Das Essen mit Oscar Houghton würde ihm immerhin eine Stunde Dispens von dem Gerede über Mord und Insekten verschaffen. Fields, der am Kutsch‐ bock seines Wagens lehnte, wies den Fahrer an, nach Hause zurückzukehren ‐Annie Fields musste in ihren Ladyʹs Club in Cambridge. Fields war der Einzige in Longfellows Kreis, der eine eigene Kutsche besaß ‐ nicht nur, weil der Verleger der Wohlhabendste war, sondern auch, weil er Wert auf den Luxus legte, sich nicht mit übel gelaunten Kutschern und ausgemer‐ gelten Pferden herumärgern zu müssen. Longfellow bemerkte eine schwarz verschleierte Dame, die den Bowdoin Square überquerte. Sie hielt ein Buch in der Hand und ging gesenkten Blickes und langsamen Schrittes. Er dachte an die Tage zurück, als er auf der Beacon Street immer Fanny Appleton begegnete, die ihm jedes Mal höflich zunickte, aber nie stehen blieb, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Er hatte sie in Europa kennen gelernt, als er sich intensiv mit Fremdsprachen beschäftigte, um sich auf seine Tätigkeit als Professor vorzubereiten. Und sie war zu ihm, dem Kollegen ihres Bruders, durchaus liebenswürdig gewesen. Aber daheim in Boston war es dann, als hätte ihr Vergil denselben Rat zuge‐ flüstert, den er dem Pilger in der Runde der lauen Seelen gab: »Sprich nicht, schau nur und geh vorüber.« Da ihm das Ge‐ spräch mit der schönen jungen Frau versagt war, schuf Longfel‐ low nach ihrem Bild die Gestalt einer schönen Maid in seinem Gedicht Hyperion. Aber Monate vergingen, ohne dass die junge Frau auf die Ge‐ ste des Mannes, den sie Professor nannte, reagierte, obwohl sie
das Gedicht bestimmt gelesen und sich darin erkannt hatte. Als er ihr dann endlich wieder begegnete, machte sie ihm klar, dass sie keineswegs erbaut davon war, sich im Buch des Professors eingesperrt zu finden, wo jedermann sie begaffen könne. Er dachte nicht daran, sich zu entschuldigen, öffnete ihr aber im Lauf der nächsten Monate sein Herz, wie er es noch nie getan hatte, nicht einmal für Mary Potter, seine junge Frau, die, nur wenige Jahre nachdem er sie geheiratet hatte, bei einer Fehlge‐ burt gestorben war. Miss Appleton und Professor Longfellow sahen sich nun regelmäßig. Im Mai 1843 machte er ihr einen schriftlichen Heiratsantrag. Sie willigte noch am selben Tag ein. Auf ewig gepriesen sei dieser Tag, der Beginn meiner Vita Nuova. Er sagte sich die Worte immer wieder vor, bis sie Gestalt annah‐ men, Gewicht bekamen, umarmt und beschützt werden konn‐ ten wie Kinder. »Wo Houghton nur bleibt?«, fragte Fields, während seine Kut‐ sche davonfuhr. »Hoffentlich hat er unsere Verabredung nicht vergessen.« »Vielleicht ist er in der Druckerei aufgehalten worden ... Ma‐ dam!« Longfellow zog den Hut vor einer korpulenten Frau, die auf dem Bürgersteig an ihnen vorbeiging und als Erwiderung verschämt lächelte. Immer wenn Longfellow eine Frau grüßte, und sei es auch nur ganz kurz, war es, als reichte er ihr ein Bu‐ kett. »Wer war das?« Fields zog die Augenbrauen zusammen. »Das«, sagte Longfellow, »ist die Dame, die uns vor zwei Jahren im Winter in Copeland beim Abendessen bedient hat.« »Aha. Na gut. Wie auch immer, wenn er noch in der Druckerei ist,
dann hoffentlich deshalb, weil er an den Platten für das Inferno arbeitet, die wir nach Florenz schicken müssen.« »Fields!«, sag‐ te Longfellow mit zusammengekniffenen Lippen. »Tut mir Leid, Longfellow«, sagte Fields. »Wenn ich sie das nächste Mal sehe, ziehe ich auch den Hut.« Longfellow schüttelte den Kopf. »Nein. Da drüben!« Fields folgte Longfellows Blick und sah einen seltsam gebückten Mann mit einer glänzenden Wachstuchtasche, der auf der an‐ deren Straßenseite ein bisschen zu flott den Bürgersteig ent‐ langging. »Das ist Bachi.« »Und der war mal Sprachlehrer in Harvard?«, fragte der Verle‐ ger. »Der hat ja eine Nase wie das Abendrot im Herbst.« Sie sa‐ hen zu, wie der Italiener in Trab fiel und eiligst in einem Eckla‐ den mit einem niedrigen Schindeldach verschwand, in dessen Schaufenster ein Schild mit der Aufschrift WADE AND SON & CO. stand. »Kennen Sie den Laden?«, fragte Longfellow. Fields verneinte. »Er hatʹs offenbar sehr eilig, nicht wahr?« »Mr. Houghton kann auch ein paar Minuten warten«, sagte Longfellow. »Kommen Sie, vielleicht kriegen wir noch etwas aus ihm raus, wenn wir ihn überraschen.« Sie wollten gerade die Straße überqueren, als sie George Wa‐ shington Greene mit mehreren Päckchen beladen vorsichtig aus Metcalfs Apotheke treten sahen; der Vielgeplagte gönnte sich hin und wieder neue Medikamente, wie andere sich ein Eis gönnen mochten. Longfellows Freunde beklagten oft, dass Met‐ calfs Arzneien gegen Neuralgie, Dyspepsie und Ähnliches, die er mit einem Etikett verkaufte, auf dem ein weiser alter Mann
mit einer übertrieben großen Nase zu sehen war, die Ursache von Greenes häufigen Rip‐van‐Winkle‐Anfällen während ihrer Besprechungen waren. »Mein Gott, das ist ja Greene«, sagte Longfellow zu seinem Verleger. »Wir müssen unter allen Umständen verhindern, dass er mit Bachi redet.« »Warum?«, fragte Fields. Aber Greene war schon so nahe herangekommen, dass sie nicht weitersprechen konnten. »Mein lieber Fields! Und Long‐ fellow! Was führt Sie beide hierher?« »Lieber Freund«, sagte Longfellow, ohne die von einer Marki‐ se überwölbte Ladentür von Wade and Son aus den Augen zu lassen, »wir sind gerade gekommen und wollen im Revere House speisen. Sollten Sie um diese Zeit nicht in East Green‐ wich sein?« Greene nickte seufzend. »Shelly will mich unter ihrer Obhut behalten, bis ich wieder bei besserer Gesundheit bin. Aber ich mag nicht den ganzen Tag im Bett bleiben, ob‐ wohl ihr Arzt darauf besteht! Der Schmerz hat noch niemanden umgebracht, aber er ist ein äußerst lästiger Bettgenosse.« Er be‐ schrieb ausführlich seine neuesten Symptome. Longfellow und Fields schauten auf die andere Straßenseite hinüber, während Greene weiterschwatzte. »Aber ich will Sie nicht mit meinen Wehwehchen langweilen. Es wäre alles leichter zu ertragen, wenn wieder mal eine Dante‐Sitzung stattfände. Sie haben mich schon seit Wochen nicht mehr gerufen! Das Projekt ist doch hoffentlich nicht eingestellt. Bitte, lieber Longfellow, sagen Sie, dass das nicht der Fall ist.« »Wir machen lediglich eine kleine Pause«, beruhigte ihn Longfellow und spähte zu Wade and Son hinüber, wo man Bachi durchs Schaufenster sehen konnte. Er
gestikulierte energisch. »Aber es geht bestimmt bald weiter«, ergänzte Fields. Eine Kutsche hielt an der Ecke gegenüber und versperrte ihnen die Sicht auf den Laden und auf Bachi. »Tut mir Leid, Mr. Greene, aber wir müssen jetzt weiter«, sagte Fields und packte Longfellow am Ellbogen. »Aber, meine Herren, Sie sind ja ganz durcheinander! Zum Revere House gehtʹs in die andere Richtung«, sagte Greene la‐ chend. »Ja, natürlich ...« Fields suchte nach einer passenden Er‐ klärung. »Greene«, fiel ihm Longfellow ins Wort. »Wir müssen vorher noch kurz woanders vorbeischauen. Würden Sie bitte schon vorausgehen und nachher mit uns und Mr. Houghton speisen?« »Ich fürchte, meine Tochter wird sehr ungemütlich, wenn ich nicht rechtzeitig daheim bin«, meinte Greene besorgt. »Ah, schauen Sie, wer da kommt!« Greene trat zurück und stolperte von dem schmalen Bürgersteig. »Mr. Houghton!« »Bit‐ te untertänigst um Entschuldigung, meine Herren.« Ein un‐ ansehnlicher Mann im schwarzen Gewand eines Leichenbestat‐ ters tauchte vor ihnen auf und streckte zur Begrüßung die Hand aus, die am Ende eines überlangen Armes saß. George Washington Greene ergriff sie als Erster. »Ich wollte gerade ins Revere House«, sagte Houghton, »als ich aus dem Augenwinkel Sie drei hier stehen sah. Hoffentlich mussten Sie nicht zu lange warten. Lieber Mr. Greene, machen Sie uns die Freude und gesellen Sie sich zu uns? Wie geht es Ih‐ nen?« »Ich bin ziemlich ausgehungert«, erwiderte Greene pathetisch, »waren doch die Zusammenkünfte unseres Dante‐Zirkels an den Mittwochabenden meine einzige geistige Nahrung.« Long‐
fellow und Fields wechselten sich im Viertelminutentakt bei der Überwachung ab. Der Eingang von Wade and Son war nach wie vor durch die Kutsche verdeckt, deren Fahrer geduldig da‐ saß, als würde er dafür bezahlt, den Herren Longfellow und Fields den Blick zu verstellen. »Wieso >waren«, fragte Houghton überrascht. »Fields, hat das etwas mit Dr. Manning zu tun? Aber was wird dann aus dem Sonderdruck des ersten Bandes für die Jubiläumsfeier in Florenz? Wenn der Erscheinungstermin verschoben wird, muss ich das unbedingt erfahren! Sie dürfen mich nicht im Unklaren lassen!« »Natürlich nicht, lieber Houghton«, sagte Fields. »Wir haben nur die Zügel ein wenig schleifen lassen.« »Und was soll ein Mann, der sich an die Freuden dieses allwö‐ chentlichen Aufenthalts im Paradies gewöhnt hat, nun mit sich anfangen?«, klagte Greene theatralisch. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Houghton. »Allerdings mache ich mir Sorgen. Bei den inflationären Preisen ein solches Buch auf den ... Wird denn Ihr Dante die Hindernisse überwinden können, die Manning und Harvard ihm in den Weg legen wol‐ len?« Greene hob die zitternden Hände. »Wenn es möglich wä‐ re, Dante mit einem einzigen Wort angemessen zu beschreiben, Mr. Houghton, dann wäre dieses Wort Macht. Die Landkarte seiner Welt wird für immer ihren Platz neben unserer Vorstel‐ lung von der realen Welt einnehmen. Sogar die Geräusche, die er beschreibt, bleiben uns im Ohr als Abstufungen von Schrill‐ heit, Lautheit oder Lieblichkeit, die sich sofort wieder einstel‐ len, wenn wir dem Rauschen des Meeres oder dem Heulen des
Windes oder dem Gesang der Vögel lauschen.« Bachi kam aus dem Geschäft und las offenbar in großer Aufre‐ gung etwas, was er aus seiner Tasche genommen hatte. Greene unterbrach sich. »Fields? Was ist denn los? Mir scheint, Sie war‐ ten darauf, dass auf der anderen Straßenseite etwas passiert.« Longfellow bedeutete Fields mit einer Handbewegung, sich um Greene zu kümmern. So wie es Partnern in einer Krise ge‐ lingt, sich mit kleinen Gesten auch über komplizierte Zusam‐ menhänge zu verständigen, inszenierte Fields sofort eine Ab‐ lenkung für ihren alten Freund und legte ihm locker den Arm um die Schultern. »Wissen Sie, Greene, im Verlagswesen haben sich seit Kriegsende interessante neue Entwicklungen ergeben ...« Longfellow nahm Houghton beiseite und sagte leise zu ihm: »Tut mir Leid, aber wir werden unser Essen irgendwann nach‐ holen müssen. In zehn Minuten müsste dort drüben eine Droschke nach Back Bay abfahren. Ich möchte Sie bitten, Mr. Greene dort hinzubringen. Setzen Sie ihn hinein und bleiben Sie stehen, bis der Wagen abfährt.« Mit einem leichten Hochziehen der Augenbrauen, das die Dringlichkeit seiner Bitte betonen sollte, fügte er hinzu: »Er darf auf keinen Fall wieder ausstei‐ gen.« Houghton nickte militärisch knapp und verlangte keine nähere Erklärung. Hatte Henry Longfellow schon einmal ihn oder einen seiner Bekannten um einen persönlichen Gefallen gebeten? Der Inhaber der Riverside Press hakte Mr. Greene un‐ ter. »Mr. Greene, darf ich Sie zum Droschkenplatz begleiten? In ein paar Minuten müsste eine abfahren, und Sie sollten nicht so lange hier in der Novemberkälte stehen.«
Longfellow und Fields verabschiedeten sich eilig und mussten warten, bis zwei große Pferdebahnen mit schrillenden Warn‐ glocken vorbeiratterten. Die beiden Dichter überquerten die Straße und stellten fest, dass Bachi nicht mehr an der Ecke stand. Sie gingen in beiden Richtungen bis zur nächsten Quer‐ straße, aber er war verschwunden. »Wo zum Teufel ...?«, fragte Fields. Longfellow sah ihn als Erster: Bachi saß gemütlich auf dem Rücksitz der Kutsche, die ihnen so lange den Blick auf den La‐ den verwehrt hatte. Die Pferde trabten los. »Und natürlich weit und breit keine freie Droschke!«, sagte Longfellow. »Vielleicht können wir ihn noch einholen«, sagte Fields. »Der Standplatz des Droschkenkutschers Pike ist nur zwei Straßen weiter. Der Halsabschneider verlangt einen Vierteldollar für einen Platz in seinem Gefährt, oder sogar einen halben, wenn er seinen habgierigen Tag hat. Keiner hier kann ihn leiden, außer Holmes, und er kann keinen außer dem Doktor leiden.« Fields und Longfellow beeilten sich und fanden Pike, aller‐ dings nicht an seinem Standplatz, sondern vor der Charles Street 21. Sie baten ihn, sie zu fahren. Fields hielt ihm eine Hand voll Hartgeld hin. »Ich kann Ihnen leider nicht zu Diensten sein, meine Herren, und wenn Sie mir noch so viel bieten«, sagte Pike barsch. »Ich warte auf Dr. Holmes.« »Hören Sie mir genau zu, Pike«, sagte Fields mit übertriebener Autorität. »Wir sind sehr gute Bekannte von Dr. Holmes. Er würde Ihnen selbst befehlen, uns zu befördern.« »Sie sind
Freunde des Doktors?«, fragte Pike. »Ja!«, rief Fields erleichtert. »Dann können Sie ihm doch nicht seine Droschke wegschnap‐ pen. Er hat mich bestellt«, wiederholte Pike ungerührt, lehnte sich zurück und kaute weiter auf seinem Zahnstocher herum. »Nanu!« Oliver Wendell Holmes kam strahlend aus dem Haus. Er trug einen dunklen Kammgarnanzug mit einer weißen Rose im Knopfloch. »Fields! Longfellow! Sie sind also doch gekom‐ men, um sich etwas über Allopathie anzuhören!« Pikes Pferde trabten flott die Charles Street entlang und in das Gewirr kleiner Sträßchen in der Stadtmitte, streiften Laternen‐ pfähle und überholten Fuhrwerke. Pikes Droschke war ein klappriges Gefährt, in dem vier Fahrgäste sitzen konnten, ohne mit den Knien zusammenzustoßen. Dr. Holmes hatte den Kut‐ scher für Viertel vor eins bestellt und das Odeon als Fahrtziel genannt, doch jetzt hatte es sich geändert, aus der Sicht des Kutschers gegen den Willen des Doktors, und die Anzahl seiner Passagiere hatte sich verdreifacht. Pike hatte gute Lust, trotz‐ dem auf dem kürzesten Weg zum Odeon zu fahren. »Und mein Vortrag?«, fragte Holmes den Verleger. »Der Saal ist ausver‐ kauft!« »Pike bringt Sie im Handumdrehen hin, sobald wir Bachi ge‐ funden und ihm die eine oder andere Frage gestellt haben«, sagte Fields. »Und ich sorge dafür, dass Ihre Verspätung in kei‐ ner Zeitung erwähnt wird. Wenn ich meinen eigenen Kutscher nicht losgeschickt hätte, um meine Tochter abzuholen, wären wir nicht in dieser misslichen Lage!« »Aber was glauben Sie denn erreichen zu können, wenn Sie
ihn tatsächlich noch finden?«, erkundigte sich Holmes. Longfel‐ low erklärte es ihm. »Bachi ist heute eindeutig verängstigt. Wenn wir ihn außerhalb seiner Wohnung ‐ und fern der Fla‐ sche ‐ befragen, wird er sich vielleicht weniger sträuben. Wäre Greene nicht unversehens aufgetaucht, hätten wir Ser Bachi wahrscheinlich ohne weiteres erwischt. Mir wäre es am lieb‐ sten, wir würden Greene einfach alles erzählen, aber die Wahr‐ heit wäre zu viel für ihn in seinem geschwächten Zustand. Es gibt ja kein Malheur, das ihm nicht schon zugestoßen ist, und er glaubt, die ganze Welt ist gegen ihn. Fehlt nur noch, dass er eines Tages vom Blitz getroffen wird.« »Da ist sie!«, rief Fields. Er zeigte auf eine Droschke etwa fünfzig Meter vor ihnen. »Longfellow, das ist sie doch, oder?« Longfellow steckte den Kopf aus dem Fenster, spürte den Fahrtwind in seinem Bart, und nickte. »Kutscher, weiter gera‐ deaus, schnell!« Pike ließ die Zügel schnalzen und preschte die Straße entlang, mit weitaus mehr als der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, die das Bostoner Sicherheitskomitee kürzlich als »gemäßigten Trab« definiert hatte. »Wir kommen ziemlich weit nach Osten ab!«, rief Pike durch das Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpfla‐ ster. »Ziemlich weitab vom Odeon, Dr. Holmes!« »Warum sollte Greene Bachi nicht sehen?«, fragte Fields Long‐ fellow. »Ich hätte nicht gedacht, dass die beiden sich überhaupt kennen.« »Das ist lange her«, sagte Longfellow nickend. »Mr. Greene hat Bachi in Rom kennen gelernt, als er gesundheitlich noch einigermaßen auf dem Posten war. Ich hatte die Befürchtung,
Greene könnte zu viel über unser Dante‐Projekt reden, wenn wir Bachi in seinem Beisein angesprochen hätten, und das hätte Bachi noch einsilbiger werden lassen, weil es ihm noch deutli‐ cher seine trostlose Lage vor Augen geführt hätte.« Pike verlor die andere Droschke mehrmals aus den Augen, aber durch geschicktes Abbiegen und gelegentliche Galoppein‐ lagen holte er auf. Der andere Kutscher schien es auch eilig zu haben, merkte aber offenbar nicht, dass er verfolgt wurde. In den schmalen Gassen des Hafenviertels entwischte Pike das Objekt erneut. Dann tauchte die Droschke wieder auf, Pike fluchte gotteslästerlich, entschuldigte sich dafür und hielt so abrupt an, dass Holmes auf Longfellows Schoß landete. »Da, da ist sie!«, rief Pike, als Bachis Droschke auf sie zufuhr, vom Hafen weg. Aber sie war leer. »Anscheinend wollte er zum Hafen!«, sagte Fields. Pike fuhr noch ein Stück und ließ dann seine Passagiere aussteigen. Die drei drängten sich durch die Menge der rufenden und winkenden Menschen, die mehreren im Nebel entschwindenden Schiffen nachschauten. »Um diese Tageszeit fahren die meisten Schiffe nach Long Wharf«, sagte Longfellow. Früher war er oft an die Kais gegan‐ gen, um die großen Dampfer zu sehen, die aus Deutschland oder Spanien kamen, und die Menschen in ihren Mutterspra‐ chen reden zu hören. Nirgendwo sonst in Boston gab es ein sol‐ ches Gewirr verschiedenster Sprachen und Hautfarben wie an den Kais. Fields hatte Mühe, mit den beiden anderen Schritt zu halten. »Wendell?« »Hier entlang, Fields!«, rief Holmes aus einer Menschentraube heraus.
Holmes kam dazu, wie Longfellow einem schwarzen Stauer, der Fässer verlud, Bachi beschrieb. Fields fragte Erwachsene und Kinder in der anderen Richtung, gab aber schon bald auf und blieb am Rand eines Piers stehen. »Sie da!« Ein untersetzter Kaiarbeiter packte Fields grob am Arm und stieß ihn weg. »Machen Sie Platz für die Leute, die an Bord gehen wollen, wenn Sie kein Ticket haben.« »Guter Mann«, sagte Fields. »Ich brauche Ihre Hilfe. Ich suche einen kleinen Mann mit blutunterlaufenen Augen in einem blauen Gehrock ‐ haben Sie ihn gesehen?« Der Arbeiter ignorierte ihn, er hatte alle Hände voll damit zu tun, die Schlange stehenden Passagiere nach Klassen und Kabi‐ nen zu sortieren. Er nahm die (für seinen Quadratschädel zu kleine) Mütze ab und fuhr sich energisch mit den Fingern durchs Haar. Fields schloss wie in Trance die Augen und horchte auf die seltsamen, gereizten Kommandos des Mannes. »Hawthorne«, stieß er hervor. Der Kaiarbeiter stutzte und wandte sich Fields zu. »Was?« »Hawthorne«, lächelte Fields. Er wusste, dass er Recht hatte. »Sie sind ein Bewunderer von Hawthornes Romanen.« »Also, da soll doch ...« Der Mann fluchte leise vor sich hin. »Woher wissen Sie das? Na los, raus mit der Sprache!« Die Passagiere blieben stehen und hörten zu. »Das spielt keine Rolle.« Fields war euphorisch, weil er noch immer jene Fähigkeit besaß, mit der er als junger Buchhändler seine Umgebung so beeindruckt hatte. »Schreiben Sie Ihre Adresse auf diesen Zettel, und ich schicke Ihnen die neue, in Blau und Gold gehaltene Ausgabe
aller großen Werke Hawthornes.« Er hielt ihm den Zettel hin, zog ihn aber wieder zurück. »Wenn Sie mir jetzt helfen.« Der Mann, dem Fieldsʹ Hellseherei unheimlich war, tat wie ge‐ heißen. Fields stellte sich auf die Zehenspitzen und erspähte Longfel‐ low und Holmes, die auf ihn zukamen. Er rief ihnen zu: »Bachi ist da entlang! Sehen Sie auf diesem Pier nach!« Holmes und Longfellow hielten einen Hafenmeister an. Sie be‐ schrieben ihm Bachi. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« »Wir sind gute Freunde von ihm«, sagte Holmes. »Bitte sagen Sie uns, wo er hingegangen ist.« Inzwischen hatte Fields sie er‐ reicht. »Na ja, ich hab ihn gesehen«, antwortete der Mann auf‐ reizend langsam. »Ich glaube, er ist da an Bord gerannt, hatte anscheinend vor irgendwas Angst«, sagte er und zeigte auf ein kleines Boot ein Stück weiter draußen, das höchstens fünf Pas‐ sagieren Platz bot. »Gut, diese Nussschale wird ja nicht gleich den Atlantik über‐ queren. Wohin fährt die denn?«, erkundigte sich Fields. »Die? Das ist bloß ein Zubringerboot. Die Anonimo ist zu groß, die kann nicht am Kai andocken. Sie liegt ein Stück weiter unten vor Anker. Verstehen Sie?« Die Umrisse des Schiffes waren im Nebel gerade noch auszu‐ machen, sie verschwanden und tauchten wieder auf, aber es war der größte Ozeanriese, den Fields je gesehen hatte. »Ihr Freund hatte es allem Anschein nach wirklich sehr eilig. Das Boot da, in dem er sitzt, bringt die letzten Nachzügler rüber. Dann läuft die Anonimo aus.«
»Und wohin?«, fragte Fields verzagt. »Na, über den Atlantik, Sir.« Der Hafenmeister warf einen Blick auf seine Tafel. »Erster Anlaufhafen Marseille und dann ... ah, hier haben wirʹs ja, dann weiter nach Italien!« Holmes kam noch rechtzeitig im Odeon an, um einen rundum zufrieden stellenden Vortrag zu halten. Sein Publikum hielt ihn wegen seiner Verspätung für eine umso wichtigere Persönlich‐ keit. Longfellow und Fields saßen aufmerksam in der zweiten Reihe neben Holmesʹ jüngerem Sohn, Neddie, den beiden Ame‐ lias und Holmesʹ Bruder John. Im zweiten Vortrag der von Fields organisierten, ausverkauften Reihe analysierte Holmes medizinische Methoden im Hinblick auf den Krieg. Genesung sei ein Prozess, klärte Holmes seine Zuhörer auf, der weitge‐ hend psychischen Faktoren unterliege. Er berichtete, es sei schon oft festgestellt worden, dass gleichartige Kriegsverletzun‐ gen bei Soldaten der siegreichen Seite oft vollständig ausheil‐ ten, während sie bei den Verlierern öfter zum Tode führten. »Hier gelangen wir in den Bereich zwischen Wissenschaft und Dichtung, mit dem sich so genannte sensible Menschen nur sehr ungern befassen.« Holmes schaute zu der Reihe von Angehörigen und Freunden hinüber und registrierte den leeren Platz, den man für Wendell junior frei gelassen hatte. »Mein ältester Sohn hat im Krieg mehrere solcher Verwun‐ dungen erlitten und wurde von Uncle Sam mit ein paar neuen Knopflöchern in seinem angeborenen Wams heimgeschickt.« Gelächter. »Und es wurden in diesem Krieg auch etliche Her‐
zen durchbohrt, an denen man kein Einschussloch findet.« Nach dem Vortrag und den obligaten Lobreden für Dr. Holmes begleiteten Longfellow und Holmes Fields in den Verlag, wo sie im Autorenzimmer auf Lowell warteten. Hier vereinbarten sie für den darauf folgenden Mittwoch wieder eine Zusam‐ menkunft ihres Übersetzerclubs. Die Sitzung sollte einem zweifachen Zweck dienen. Zum ei‐ nen sollte sie Greenes Sorgen zerstreuen, im Hinblick auf den Fortgang der Übersetzung und das seltsame Betragen, dessen Zeuge er und Houghton geworden waren. Zum anderen, und dies war der wichtigere Punkt, würde man an Longfellows Übersetzung weiterarbeiten können. Longfel‐ low wollte sein Versprechen halten, das Inferno so rechtzeitig fertig zu stellen, dass man ein Exemplar zur letzten der Festver‐ anstaltungen schicken konnte, die anlässlich von Dantes sechs‐ hundertstem Geburtstag stattfinden sollten. Longfellow war es schwer gefallen zuzugeben, dass er wahr‐ scheinlich nicht vor Jahresende fertig werden würde, wenn ihre Ermittlungen nicht wundersame Fortschritte machten. Immer‐ hin hatte er begonnen, nachts an der Übersetzung zu arbeiten, allein, und insgeheim Dante um die Weisheit angefleht, die er brauchte, um die rätselhaften Morde an Healey und Talbot auf‐ zuklären. »Ist Mr. Lowell bei Ihnen?«, fragte eine leise Stimme, begleitet von einem Klopfen an der Tür des Autorenzimmers. Die Dich‐ ter waren müde. »Leider nicht«, rief Fields mit unverhohlenem Unmut über die Störung durch den unsichtbaren Fragesteller. »Hervorragend!«
Der Kaufhauskönig von Boston, Phineas Jennison, wie immer makellos in weißem Anzug und Hut, kam herein und knallte die Tür hinter sich zu. »Einer Ihrer Angestellten hat mir gesagt, dass ich Sie hier finden würde, Mr. Fields. Ich möchte mal ein offenes Wort über Mr. Lowell sagen, und es ist mir natürlich lieber, wenn der alte Junge dabei nicht zugegen ist.« Er warf seinen Zylinder auf Fieldsʹ eisernen Hutständer, und sein glän‐ zendes Haar fiel auf der linken Seite in elegantem Bogen herab, wie der Handlauf eines Geländers. »Mr. Lowell ist in Schwie‐ rigkeiten.« Der Besucher erschrak, als er die beiden Dichter ge‐ wahrte. Er deutete fast so etwas wie einen Kniefall an, als er Holmes und Longfellow die Hand schüttelte, die er so ehrerbie‐ tig ergriff wie Weinflaschen seltenster und empfindlichster Jahrgänge. Jennison genoss es, seinen ungeheuren Reichtum mit anderen zu teilen, indem er sich als Mäzen der Künste betätigte und sei‐ nen literarischen Geschmack verfeinerte. Er hatte nie seine Ehr‐ erbietung vor den Genies verloren, die er nur dank seinem Wohlstand persönlich kannte. Er nahm unaufgefordert Platz. »Mr. Fields, Mr. Longfellow, Dr. Holmes«, begann er feierlich. »Sie sind alle drei enge Freunde von Lowell, enger, als ich es für mich beanspruchen kann. Denn nur ein Genie kann ein anderes wahrhaft erkennen.« Holmes fiel ihm ins Wort. »Mr. Jennison, ist Jamey etwas zu‐ gestoßen?« »Ich weiß Bescheid, Doktor.« Jennison seufzte, wegen der er‐ forderlichen ausführlichen Erklärung. »Ich weiß von dieser scheußlichen Dante‐Geschichte, und ich bin hier, um Ihnen bei
ihrer Bereinigung zu helfen.« »Dante‐Geschichte?«, fragte Fields mit belegter Stimme. Jenni‐ son nickte ernst. »Die leidige Corporation und ihre Versuche, Lowells Dante‐ Seminar abzuschaffen. Und das Erscheinen Ihrer Übersetzung zu verhindern, meine Herren! Lowell hat mir alles darüber er‐ zählt, aber er ist zu stolz, in dieser Sache um Hilfe zu bitten.« Die Herren seufzten einträchtig. »Wie Sie wissen, hat Lowell seinen Kurs vorübergehend aus‐ gesetzt«, sagte Jennison, entmutigt durch ihre scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber ihren ureigensten Interessen. »Das darf und kann nicht sein. Es gehört sich nicht für ein Genie von James Russell Lowells Graden und darf nicht ohne Gegenwehr hingenommen werden. Ich fürchte, Lowell bricht uns über kurz oder lang zusammen, wenn er sich auch nur im Geringsten auf Kompromisse und Zugeständnisse einlässt. Und wie man hört, reibt sich Manning drüben im College schon die Hände.« »Was sollen wir tun, mein lieber Mr. Jennison?«, fragte Fields mit ge‐ spielter Bescheidenheit. »Ihn drängen, all seinen Mut zusammenzunehmen.« Zur Ver‐ deutlichung schlug sich Jennison mit der Faust in die Handflä‐ che. »Ihn vor der Feigheit erretten, sonst verliert unsere Stadt eines ihrer tapfersten Herzen. Aber ich habe noch eine andere Idee. Gründen Sie eine Gesellschaft zum Studium von Dante ‐ ich selbst wäre bereit, Italienisch zu lernen, um Sie darin zu un‐ terstützen!« Jennisons breites Lächeln brach durch, und auch seine lederne Geldkatze kam zum Vorschein, der er ein Bündel großer Scheine entnahm. »Eine Dante‐Gesellschaft irgendeiner
Art, deren erklärtes Ziel es wäre, die Literatur zu fördern, die Ihnen allen so sehr am Herzen liegt. Was sagen Sie dazu? Nie‐ mand braucht von meiner Beteiligung zu wissen, und Sie könn‐ ten der Corporation damit ein Schnippchen schlagen.« Bevor jemand etwas erwidern konnte, flog die Tür auf, und Lowell stand vor ihnen. Seine Miene war düster. »Lowell, mein Lieber, stimmt irgendetwas nicht?«, fragte Fields. Lowell wollte etwas sagen, doch dann sah er Jennison. »Phinny? Was machen Sie denn hier?« Jennison sah nervös zu Fields hin. »Mr. Jennison und ich mussten etwas Geschäftliches regeln«, sagte Fields, drückte dem Kaufmann die Geldkatze in die Hand und schob ihn zur Tür hinaus. »Aber er wollte sowieso gerade gehen.« »Ich hoffe, es ist alles in Ordnung, Lowell«, sagte Jennison. »Ich werde Sie bald einmal aufsuchen, mein Freund.« Auf dem Flur kam ihnen Teal entgegen, der Laufbursche, und Fields bat ihn, Mr. Jennison nach unten zu begleiten. Dann ging er ins Au‐ torenzimmer zurück und schloss die Tür ab. Lowell trat zur Anrichte und goss sich etwas zu trinken ein. »Sie werden es nicht glauben, meine Freunde, so ein Pech. Ich habe mir vor dem Half Moon Place auf der Suche nach Bachi fast die Augen ausgeschaut, aber alles umsonst! Er war nirgends zu sehen, und niemand konnte mir sagen, wo er zu finden sei. Ich glaube, die Dubliner dort würden mit einem Italiener nicht einmal dann reden, wenn ihr Leben davon abhinge. Genauso gut hätte ich mir wie Sie alle einen schönen Nachmittag machen können.« Fields, Holmes und Longfellow schwiegen. »Was ist denn los?«, fragte Lowell. Longfellow lud sie alle zum Abendessen in
Craigie House ein, und unterwegs erzählte er Lowell, was sie mit Bachi erlebt hatten. Fields berichtete, dass er noch einmal zu dem Hafenmeister zurückgegangen war und ihn mit Hilfe eines Goldstücks überredet hatte nachzusehen, welche Passage Bachi gebucht habe. Es habe sich herausgestellt, dass Bachi ein verbilligtes Rückreise‐Ticket gekauft hatte, mit dem er nicht vor Januar 1867 in die Vereinigten Staaten zurückkehren konnte. Als sie sich in Longfellows Salon versammelt hatten, ließ sich Lowell in einen Sessel fallen. Er war wie vor den Kopf geschla‐ gen. »Er hat gemerkt, dass wir ihm auf die Spur gekommen sind. Na ja, natürlich, wir hatten ihm ja gesagt, dass wir über Lonza Bescheid wussten! Unser Luzifer ist uns durch die Lap‐ pen gegangen!« »Dann haben wir doch Grund zum Feiern«, sagte Holmes la‐ chend. »Ist Ihnen nicht klar, was das bedeutet, wenn Sie tat‐ sächlich Recht hatten? Na? Sie betrachten alles, was ein Hoff‐ nungsschimmer sein könnte, durchs falsche Ende Ihres Opern‐ glases.« Fields mischte sich ein. »Jamey, wenn Bachi der Mör‐ der war ...« Holmes vollendete den Gedankengang: »Dann kann uns nichts mehr passieren. Und auch die Stadt ist in Si‐ cherheit. Und Dante! Wenn wir ihn durch unser Wissen ver‐ trieben haben, dann haben wir ihn geschlagen, Lowell!« Fields erhob sich strahlend. »Also, Gentlemen, ich werde ein Dante‐Bankett geben, das den Saturday Club in den Schatten stellen wird. Möge der Hammelbraten so delikat sein wie Long‐ fellows Verse! Und möge der Moët so prickeln wie Holmesʹ Witz und das Tranchiermesser so scharf sein wie Lowells Sati‐ ren!« Ein dreifaches Hoch auf Fields ertönte.
Das alles beruhigte Lowell ein wenig, ebenso die Nachricht von der Wiederaufnahme der Übersetzungsabende ‐ das war die Rückkehr zu normalen Zeiten, zur reinen Freude an ihrer Gelehrsamkeit. Longfellow ahnte offenbar, was Lowell umtrieb. »Zu Wa‐ shingtons Zeiten«, sagte er, »wurden Orgelpfeifen zu Kugeln umgeschmolzen, mein lieber Lowell. Die hatten damals keine andere Wahl. Aber nun, Lowell, Holmes, würden Sie mich bitte in den Weinkeller begleiten, während Fields einmal nachsieht, wie die Arbeit in der Küche vorankommt?« Er nahm eine Kerze vom Tisch. »Ah, das wahre Fundament eines jeden Hauses!« Lowell sprang aus seinem Sessel auf. »Haben Sie denn einen guten Jahrgang, Longfellow?« »Sie kennen ja meine Faustregel, Mr. Lowell: Lädst einen einzgen Freund du ein, kredenz ihm deinen besten Wein. Sind es ihrer zweie, kommt der nächstbeste an die Reihe.« Alle lachten wie von einer Last befreit. »Aber es gilt immerhin, vier durstige Kehlen zu laben!«, wandte Holmes ein. »Dann machen Sie sich mal keine allzu großen Hoffnungen, lieber Doktor«, riet Longfellow. Holmes und Lowell folgten ihm im Silberschein der Kerze in den Keller. Lowell lenkte sich mit Gelächter und Konversation von den Stichen in seinem Bein ab. Der pochende Schmerz saß im Knöchel und strahlte immer weiter nach oben aus.
Phineas Jennison schritt in weißem Rock, gelber Weste und weißem Zylinder die Stufen seiner Villa in Back Bay hinab. Pfei‐ fend marschierte er los. Er wirbelte seinen goldbeschlagenen Spazierstock herum und lachte herzlich, als sei ihm eben ein guter Witz eingefallen. Phineas Jennison lachte oft in sich hin‐ ein, wenn er allabendlich durch Boston flanierte, die Stadt, die er erobert hatte. Aber es galt noch eine andere Welt zu gewin‐ nen, eine, in der Geld nicht viel vermochte, in der Ansehen sich nach Herkunft bemaß, und auch diese Eroberung würde ihm gelingen, trotz der jüngst aufgetauchten Hindernisse. Von der anderen Straßenseite aus wurde er beobachtet. Jeder einzelne seiner Schritte wurde registriert, von dem Moment an, da er das Haus verlassen hatte. Der nächste Schatten, der seiner gerech‐ ten Strafe zugeführt werden musste. Seht ihn euch an, wie er spaziert und pfeift und lacht, als hätte er nie ein Wässerchen getrübt. Schritt für Schritt. Die Schande einer Stadt, die ihre See‐ le verloren hat. Der Mann, der den einen geopfert hat, der sie alle wieder hätte vereinigen können. Der Beobachter rief seinen Namen. Jennison blieb stehen und rieb sich das Kinn mit dem berühm‐ ten Grübchen. Er blinzelte in die Dunkelheit. »Ruft mich da je‐ mand?« Keine Antwort. Jennison überquerte die Straße und sah jemanden an der Kir‐ che stehen, den er von irgendwoher zu kennen glaubte. »Ah, Sie sind es. Ich erinnere mich an Sie. Was wollen Sie?« Der Kaufhauskönig spürte, wie er gepackt wurde, und dann bohrte sich etwas in seinen Rücken. »Nehmen Sie mein Geld, Sir, Sie können alles haben! Bitte!
Nehmen Sie es und suchen Sie das Weite! Wie viel wollen Sie? Was sagen Sie?« »Durch mich geht man zu dem verlornen Vol‐ ke.« Mit allem hätte J. T. Fields gerechnet, als er am nächsten Mor‐ gen mit seiner Kutsche losfuhr, nur nicht damit, eine Leiche zu finden. »Genau an der Ecke«, sagte Fields zu seinem Kutscher. Fields und Lowell stiegen aus und gingen über den Bürgersteig zu Wade and Son. »Hier ging Bachi gestern hinein, bevor er zum Hafen fuhr.« Fields zeigte es Lowell. Sie hatten den Laden in keinem Adressbuch gefunden. »Der Teufel soll mich holen, wenn Bachi hier gestern nicht ir‐ gendwelchen dunklen Geschäften nachgegangen ist«, sagte Lo‐ well. Sie klopften an, aber niemand öffnete. Nach einer Weile ging plötzlich die Tür auf, und ein Mann in einer langen blauen Jak‐ ke mit blanken Knöpfen drängte sich an ihnen vorbei. Er trug eine Kiste auf den Armen, die bis obenhin voll war mit den ver‐ schiedensten Gegenständen. »Verzeihung«, sagte Fields. In diesem Moment kamen zwei Polizisten herbei, schoben die Türen von Wade and Son weiter auf und drängten Lowell und Fields hinein. Drinnen saß ein hohlwangiger älterer Mann zusammengesunken am Laden‐ tisch, in der Hand noch eine Schreibfeder, als sei er gerade mit‐ ten im Satz gewesen. Die Wände und Regale waren kahl. Lo‐ well trat näher. Ein Telegrafendraht war noch um den Hals des Toten geschlungen. Der Dichter konnte es nicht fassen, wie le‐
bendig der Mann wirkte. Fields trat rasch an seine Seite und nahm seinen Arm. »Er ist tot, Lowell.« »So tot wie eine der Leichen in Holmesʹ Anatomievorlesun‐ gen«, pflichtete Lowell ihm bei. »Einen so banalen Mord kann unser Dante‐Kenner nicht verübt haben.« »Lowell, kommen Sie, wir müssen gehen!« Fields geriet in Pa‐ nik ob der wachsenden Zahl von Polizisten, die den Raum un‐ tersuchten, ohne von den beiden Fremden Notiz zu nehmen. »Fields, neben ihm steht ein Koffer. Er wollte fliehen, genau wie Bachi.« Er blickte noch einmal auf die Feder in der Hand des Toten. »Er wollte seine Angelegenheiten regeln, nehme ich an.« »Lowell, bitte!«, drängte Fields. »Na gut, Fields.« Aber Lowell machte doch noch einmal kehrt, blieb vor dem Postkörbchen auf dem Schreibtisch stehen und steckte rasch den obersten Umschlag in die Tasche. »Jetzt kommen Sie endlich.« Lowell wandte sich zur Tür. Fields ging voraus, blieb aber stehen, als er merkte, dass Lowell ihm nicht folgte. Der war mit schmerzverzerrtem Gesicht mitten im Raum stehen geblieben. »Was haben Sie denn, Lowell?« »Ach, der verwünschte Knö‐ chel.« Als Fields sich wieder zur Tür umdrehte, stand ein Polizist vor ihm, der ihn neugierig ansah. »Wir wollten uns nur nach einem Freund erkundigen, den wir gestern in diesen Laden ge‐ hen sahen.« Der Beamte hörte sich ihre Geschichte an und schrieb etwas in sein Notizbuch. »Wie hat Ihr Freund noch ge‐ heißen, Sir? Dieser Italiener.«
»Bachi. B‐a‐c‐h‐i.« Als Lowell und Fields endlich gehen durften, erschienen De‐ tective Henshaw und zwei weitere Männer vom Kriminalde‐ zernat zusammen mit dem Coroner, Mr. Barnicoat, und schick‐ ten die meisten Polizisten hinaus. »Begrabt ihn mit dem ande‐ ren Geschmeiß auf dem Armenfriedhof«, sagte Henshaw, als er den Toten sah. »Ichabod Ross. Reine Zeitvergeudung. Ich könn‐ te noch beim Frühstück sitzen.« Fields zögerte, bis Henshaw ihm einen warnenden Blick zuwarf. Die Abendzeitung brachte nur eine kurze Notiz: Der Ladenbe‐ sitzer Ichabod Ross sei Opfer eines Raubmordes geworden. Auf dem von Lowell entwendeten Umschlag stand VANES CHRONOMETER. Das war eine Pfandleihe in einer eher anrü‐ chigen Straße von East Boston. Als Lowell und Fields am nächsten Morgen den fensterlosen Laden betraten, empfing sie ein Dreizentnermann mit einem Gesicht, so rot wie eine überreife Tomate, und einem grünli‐ chen Kinnbart. Ein riesiger Schlüsselbund, den er an einem Strick um den Hals trug, klirrte bei jeder Bewegung. »Mr. Va‐ ne?« »Genau der«, erwiderte er, doch dann gefror sein Lächeln, als er sah, wie seine Besucher gekleidet waren. »Ich hab den New Yorker Detectives schon gesagt, dass ich die Blüten nicht weitergegeben hab.« »Wir sind nicht von der Polizei«, sagte Lowell. »Aber wir ha‐ ben etwas, das vermutlich Ihnen gehört.« Er legte den Um‐ schlag auf den Tisch. »Das ist von Ichabod Ross.« Der Mann strahlte. »Meine Fresse! Hab ich mir doch gedacht, dass der Alte nicht abkratzt, ohne vorher mit mir abzurech‐
nen!« »Mr. Vane, es tut uns Leid, dass Sie Ihren Freund verlo‐ ren haben. Können Sie sich vorstellen, warum Mr. Ross das zu‐ gestoßen sein könnte?«, fragte Fields. »Ah! Sie sind auf Sensationen aus. Also gut, Sie haben Ihre Säue nicht auf den falschen Markt getrieben. Was können Sie zahlen?« »Wir haben Ihnen gerade Ihr Geld von Mr. Ross gebracht«, erinnerte ihn Fields. »Das mir rechtmäßig zusteht! Oder wollen Sie das bestreiten?« »Muss man denn immer für alles Geld verlangen?«, blaffte Lo‐ well. »Lowell, bitte«, sagte Fields leise. Vanes Lächeln gefror erneut, und er starrte Lowell an. Seine Augen wurden immer größer. »Lowell? Der Dichter Lowell!« »Nun, ja ...«, gab Lowell zu, ein wenig aus der Fassung ge‐ bracht. »>O köstlicher Junimond, erfüllt von Sommers Gesang.<«, sagte der Mann und brach in Gelächter aus. Dann fuhr er fort: O köstlicher Junimond, Erfüllt von Sommers Gesang. Sanft neigt der Himmel das Ohr, Zu prüfen der Erde Klang. Wohin wir schauen, wann immer wir lauschen: Es glitzert das Leben, wir hören es rauschen. »Das Wort in der dritten Zeile ist sacht«, stellte Lowell etwas in‐ digniert richtig. »Also >sacht< neigt der Himmel das Ohr ...« »Da soll mir einer sagen, es gibt keinen großen amerikanischen Dichter! Ach, dabei fällt mir ein, ich hab ja auch Ihr Haus!« Va‐ ne holte unter dem Tresen ein in Leder gebundenes Exemplar
von Homes and Haunts of our Poets hervor und blätterte, bis er das Kapitel über Elmwood fand. »Und Ihr Autogramm hab ich in meinem Katalog. Neben denen von Longfellow, Emerson und Whittier. Sie verkauf ich am teuersten. Dieser Schlingel Holmes ist auch ziemlich weit oben, und er könnte noch höher steigen, wenn er seinen Namen nicht einfach auf alles setzen würde.« Der Mann, dessen Gesichtsröte sich vor Aufregung noch vertiefte, schloss mit einem seiner baumelnden Schlüssel eine Schublade auf und fischte einen Papierstreifen heraus, auf dem der Namenszug James Russell Lowell stand. »Aber das ist ja gar nicht meine Unterschrift!«, rief Lowell. »Das ist ein ab‐ scheuliches Gekritzel! Geben Sie auf der Stelle alle gefälschten Autogramme von mir heraus, die Sie besitzen, Sir, oder Sie hö‐ ren noch heute von meinem Anwalt, Mr. Hillard!« »Lowell!« Fields zog ihn vom Tresen weg. »Wie soll ich noch ruhig schlafen können, wenn ein solcher Zeitgenosse genug Illustrationen besitzt, um einen Grundriss von meinem Haus zu zeichnen!«, rief Lowell. »Aber wir brau‐ chen diesen Mann!« »Ja, ja.« Lowell strich seinen Gehrock glatt. »In der Kirche mit den Heiligen, in der Schenke mit den Sündern.« »Bitte, Mr. Va‐ ne.« Fields wandte sich wieder dem Geschäftsinhaber zu und öffnete seine Brieftasche. »Wir möchten nur etwas mehr über Mr. Ross wissen, dann lassen wir Sie gleich in Ruhe. Wie viel würden Sie dafür verlangen, uns an Ihrem Wissen teilhaben zu lassen?« »Keinen roten Heller nehme ich dafür!« Vane lachte herzlich, und seine Augen zogen sich scheinbar tief in den Kopf zurück.
»Muss man denn immer für alles Geld verlangen?« Vane schlug als angemessene Gegenleistung vierzig echte Autogramme von Lowell vor. Fields sah seinen Freund mit hochgezogenen Au‐ genbrauen an, und Lowell fügte sich grollend. Während er sei‐ nen Namen vierzigmal zweispaltig auf ein Blatt Papier schrieb ‐ »Ein hervorragendes Sammlerstück«, lobte Vane Lowells Schriftzug ‐, erzählte Vane, Ross sei ein ehemaliger Zeitungs‐ drucker gewesen, der sich irgendwann auf die Herstellung von Falschgeld verlegt habe. Ross habe den Fehler begangen, die Blüten an einen Ring von Glücksspielern weiterzugeben. Diese hätten das Falschgeld in Spielhöllen eingesetzt und sogar Pfandleiher gegen ihren Willen als Hehler für Waren benutzt, die sie mit diesem Geld bezahlt hätten (die Worte gegen ihren Willen sprach Vane mit einem genießerischen Zungenschnalzen aus, bei dem er sich fast die Nase ableckte). Es sei nur eine Fra‐ ge der Zeit gewesen, bis diese Machenschaften aufflogen und Ross überführt wurde. Im Verlag berichteten Fields und Lowell Longfellow und Holmes, was sie in Erfahrung gebracht hatten. »Ich glaube, wir können uns alle denken, was Bachi in seiner Tasche hatte, als er Rossʹ Laden verließ«, sagte Fields. »Einen Beutel Falschgeld, gewissermaßen als Notgroschen. Aber wie ist er bloß dazu gekommen, sich auf Geldfälschung einzulas‐ sen?« »Wenn man kein Geld verdienen kann, muss man es wahr‐ scheinlich selber drucken«, sagte Holmes. »Wie immer Signor Bachi da hineingeraten ist«, sagte Longfel‐ low, »er hat es offenbar gerade noch rechtzeitig geschafft, wie‐ der herauszukommen.«
Am Mittwochabend begrüßte Longfellow seine Gäste wie ge‐ wohnt auf der Schwelle von Craigie House. Als sie eintraten, wurde ihnen ein zweites Willkommen in Gestalt eines kurzen Kläffens von Trap zuteil. George Washington Greene gestand, welch erstaunliche Wende zum Guten seine Gesundheit ge‐ nommen habe, seit er von der Zusammenkunft erfahren habe, und wie fest er darauf vertraue, dass man nun wieder zum ge‐ wohnten Rhythmus finden werde. Er hatte sich wie immer gründlich verrechnet. Longfellow eröffnete die Sitzung, und die Gelehrten nahmen ihre Plätze ein. Der Gastgeber verteilte einen Gesang Dantes im Original sowie die entsprechenden Korrekturfahnen der Über‐ setzung. Trap verfolgte die Vorgänge mit gespanntem Interes‐ se. Zufrieden mit der gewohnten Sitzordnung und der ruhigen Stimme seines Herrn, ließ er sich in der Höhle unter Greenes ausladendem Sessel nieder. Trap wusste, dass der alte Mann eine besondere Zuneigung für ihn hegte, die sich oft in Extra‐ happen vom Abendbrottisch äußerte, und außerdem stand Greenes mit Velours bezogener Sessel dem Kaminfeuer am nächsten. »Ein Teufel ist dort hinten, der uns alle grausam schlägt.« Nachdem er die Hauptwache verlassen hatte, musste Nicholas Rey in der Pferdebahn gegen den Schlaf ankämpfen. Erst jetzt machte sich bemerkbar, wie wenig er in letzter Zeit geschlafen hatte, obwohl er auf Anordnung von Bürgermeister Lincoln praktisch an seinen Schreibtisch gefesselt und zur Untätigkeit verdammt war. Kurtz hatte sich einen neuen Kutscher gesucht,
einen jungen Polizisten aus Watertown. In einem kurzen Traum, der sich dem Geholper der Bahn anpasste, näherte sich ihm ein Mann in Tiergestalt und flüsterte: »Ich kann nicht sterben denn, doch selbst im Traum wusste Rey, dass denn nicht zu dem Rätsel gehörte, das er im Zusammenhang mit Elisha Talbots Hinscheiden lösen musste. Ich kann nicht sterben ohne. Er wurde von zwei Männern geweckt, die sich an den Lederschlaufen festhielten und über die Vorteile des Wahlrechts für Frauen diskutierten, und im Halbschlaf kam ihm plötzlich die Er‐ kenntnis: Die tierähnliche Gestalt in seinem Traum hatte das Gesicht des Fensterspringers, wenn auch drei‐ oder vierfach vergrößert. Schon bimmelte die Glocke, und der Schaffner rief: »Mount Auburn! Mount Auburn!« Mabel Lowell, die gerade achtzehn geworden war, hatte gewar‐ tet, bis ihr Vater zu seinem Dante Club fuhr, und trat nun an seinen französischen Mahagoni‐Schreibtisch, in dem er, wie er ihr gesagt hatte, seine Papiervorräte verwahrte. Er selbst schrieb am liebsten in seinem Sessel in der Ecke auf einen alten Block. Sie vermisste die gute Laune ihres Vaters. Mabel Lowell interessierte sich nicht dafür, Harvard‐Studenten nachzulaufen oder mit der kleinen Amelia Holmes in deren Nähkränzchen zu sitzen und darüber zu reden, wen sie aufnehmen oder abwei‐ sen sollten, so als wartete die gesamte zivilisierte Welt nur dar‐ auf, Mitglied des Nähclubs zu werden. Mabel wollte lesen und die Welt bereisen, um das Leben kennen zu lernen, von dem sie in den Büchern ihres Vaters und anderer visionärer Schriftstel‐ ler gelesen hatte. Vaters Papiere befanden sich in der gewohn‐
ten Unordnung, die zwar das Risiko einer nachträglichen Ent‐ deckung verringerte, andererseits aber besondere Vorsicht er‐ forderte, weil ein so hoher Stapel unversehens umkippen konn‐ te. Sie fand abgenutzte Federkiele und viele angefangene Ge‐ dichte, die zu ihrer Enttäuschung mit einem wackligen Feder‐ strich endeten, wo sie gern weitergelesen hätte. Ihr Vater hatte sie oft davor gewarnt, selbst Gedichte zu schreiben, weil die meisten sich als schlecht erwiesen und die guten so wenig zu vollenden waren wie ein schöner Mensch. Sie entdeckte eine merkwürdige Skizze ‐ in Bleistift auf liniertem Papier. Sie war mit der peniblen Sorgfalt angefertigt worden, mit der man, so stellte sie sich vor, etwa eine Karte zeichnen würde, wenn man sich im Wald verirrt hat, oder Hieroglyphen nachzeichnet ‐ nüchterne Linien, die dem Wunsch entspringen mochten, etwas zu entziffern, hinter eine geheime Bedeutung zu kommen. Als sie ein Kind war, hatte ihr Vater, wenn er auf Reisen war, seine Briefe nach Hause stets mit ungelenk gekritzelten Figuren von den Vortragsveranstaltern oder ausländischen Würdenträgern verziert, mit denen er diniert hatte. Als ihr jetzt einfiel, wie sie über diese humorvollen Zeichnungen gelacht hatte, dachte sie im ersten Moment, es handle sich um die Beine eines Mannes mit überdimensionalen Schlittschuhen an den Füßen und einer Art Brett an der Stelle, wo eigentlich die Taille hätte anfangen müssen. Unzufrieden mit dieser Deutung, drehte Mabel das Stück Papier. Nun erkannte sie, dass die gezackten Linien an den Füßen vielleicht doch keine Schlittschuhe, sondern Flam‐ men darstellen sollten.
Longfellow las aus seiner Übersetzung des Achtundzwanzig‐ sten Gesangs ab der Stelle vor, wo sie bei ihrer letzten Sitzung aufgehört hatten. Er war froh, dass er nun bald die endgültigen Fahnen dieses Gesangs in Houghtons Druckerei würde bringen können. Von den physischen Einzelheiten her war es der unan‐ genehmste Teil des ganzen Inferno. Vergil hat Dante in den neunten Graben des achten Höllenkreises geführt. Hier halten sich die Zwietrachtstifter auf, also diejenigen, die zu Lebzeiten Völker, Religionen und Familien gespalten haben und sich jetzt selbst körperlich gespalten ‐ verstümmelt, zerrissen ‐ in der Hölle wiederfinden. »>Ein Fass<«, las Longfellow aus seiner Version vor, »>das Spund und Dauben hat verloren, ist nicht so aufgerissen wie dort einer, der war zerschlitzt vom Kinn bis an die Lenden.<« Er holte tief Luft und fuhr dann fort: Zwischen den Beinen hing das Eingeweide, Das Herz lag offen, nebst dem traurigen Sacke, Der das, was man verzehrt, in Kot verwandelt. Bislang hatte Dante sich in Zurückhaltung geübt. Dieser Ge‐ sang bewies seinen wahren Glauben an Gott. Nur wer uner‐ schütterlich ist in seinem Glauben an die unsterbliche Seele, vermag sich solch entsetzliche Foltern für den sterblichen Leib auszumalen. »Die übelste dieser Passagen«, sagte Fields, »wür‐ de sogar einem betrunkenen Pferdehändler Schande machen.« Ein andrer, dem die Gurgel aufgerissen Und dem die Nase bis zur Wurzel fehlte Und dem nur noch ein einzges Ohr geblieben, Stand da, indem er voll Verwundrung schaute, Den andern gleich; er öffnete als
Erster Die Kehle, die von außen ganz verblutet. Und das waren Männer, die Dante gekannt hatte! Der Schatten, dem Nase und Ohr abgeschnitten worden waren, Pier da Medi‐ cina aus Bologna, hatte Dante persönlich zwar nichts getan, wohl aber Zwietracht unter den Bürgern von Dantes Florenz gesät. Dante hatte sehr oft an Florenz denken müssen, als er seine Reise ins Jenseits schrieb. Es war ihm ein Bedürfnis, dass seine Helden im Purgatorio geläutert und im Paradiso belohnt wurden, und er sehnte sich danach, in den Kreisen der Hölle seinen Feinden zu begegnen. Der Dichter stellte sich die Hölle nicht als bloße Möglichkeit vor, er sah sie als Realität. Dante fand sogar einen Verwandten, einen Angehörigen der Familie Alighieri, unter denen, die zerrissen wurden. Dieser zeigte auf ihn und forderte Rache für seinen Tod. In Craigie House kam die kleine Annie Allegra aus dem Flur in die Küche getappt und rieb sich die verschlafenen Augen. Peter schaufelte gerade Kohle in den Küchenherd. »Miss Annie, hat Sie Mr. Longfellow nicht schon ins Bett gebracht?« Sie hatte Mühe, die Augen offen zu halten. »Ich möchte einen Becher Milch, Peter.« »Ich bring Ihnen gleich einen, Miss Annie«, sagte eine der Kö‐ chinnen in einer Art Singsang und sah nach dem Brot im Back‐ ofen. »Für Sie mach ich das gerne.« An der Haustür klopfte es leise. Aufgeregt verlangte Annie, an die Tür gehen zu dürfen. Sie übernahm immer gern Aufgaben, die eigentlich den Dienstboten oblagen, vor allem die Begrü‐
ßung von Besuchern. Das kleine Mädchen lief in die Diele und zog die schwere Haustür auf. »Pssst«, machte sie, noch bevor sie das schöne Gesicht des Be‐ suchers sah. Er beugte sich zu ihr hinab. »Heute ist doch Mitt‐ woch«, erklärte sie zutraulich und legte die Hände aneinander. »Wenn Sie mit Papa sprechen wollen, müssen Sie warten, bis er mit Mr. Lowell und den anderen fertig ist. Das ist Vorschrift, wissen Sie. Wenn Sie möchten, können Sie hier in dem Salon warten«, fügte sie hinzu und zeigte auf das Zimmer. »Bitte auf‐ richtig um Entschuldigung für die Störung, Miss Longfellow«, sagte Nicholas Rey. Annie Allegra nickte graziös und tappte schlaftrunken wieder die Treppe hinauf. Sie hatte vergessen, warum sie herunterge‐ kommen war. Nicholas Rey stand in der Diele von Craigie House inmitten der Washington‐Konterfeis. Er holte die Papierschnipsel aus der Tasche. Er würde die Herren noch einmal um ihre Hilfe bitten und sie ihnen diesmal zeigen. Vielleicht entdeckten sie einen Zusammenhang, den er nicht sah. Er hatte am Hafen mehrere Ausländer gefunden, die den Fensterspringer auf dem Bild in der Zeitung wiedererkannten. Das hatte ihn in der Ü‐ berzeugung bestärkt, dass es sich bei ihm um einen Ausländer gehandelt hatte. Er ging auf den Salon zu, blieb aber vor der Tür stehen. Verblüfft drehte er sich um. Was hatte er da eben gehört? Er trat etwas näher an die Tür des Arbeitszimmers. »Che le ferrite son richiuse prima chʹaltri dinanzi li rivada ...« Rey schauderte. Ganz leise ging er noch drei Schritte weiter. »Di‐ nanzi li rivada.« Er nahm einen Zettel aus seiner Westentasche
und fand tatsächlich das Wort: Dinansi. Das Wort hatte ihn ver‐ folgt, seit dieser Obdachlose durch das Fenster gekracht war, es hatte in seinen Träumen nachgehallt und sich dem Rhythmus seines Herzens angepasst. Er lehnte sich an die Arbeitszimmer‐ tür und drückte das Ohr an das kühle, weiß lackierte Holz. »Hier hält Bertran de Born, der das Band zwischen Vater und Sohn durchtrennte, indem er einen Krieg vom Zaun brach, sei‐ nen abgetrennten Kopf in der Hand wie eine Laterne, und die‐ ser Kopf spricht mit dem florentinischen Pilger.« Die ruhige Stimme von Longfellow. »Wie Irvings kopfloser Reiter.« Der unverkennbare Bariton von Lowell. Rey drehte den Zettel um und schrieb mit, was er hörte. Weil ich so nah verwandte Menschen trennte, Muss ich mein Hirn nun abgetrennt auch tragen Von seinem Ursprung, der in diesem Rumpfe, Also vollzieht an mir sich die Vergeltung, Ein Schnarchen ließ sich vernehmen. Rey fühlte sich plötzlich ertappt und atmete leiser. Er hörte etwas, was sich wie das Kratzen mehrerer Federn auf Papier anhörte. »Dantes perfekte‐ ste Strafe«, sagte Lowell. »Da könnte Dante selbst zustimmen«, erwiderte ein anderer. Rey war so durcheinander, dass er nicht länger versuchte, die verschiedenen Sprecher auseinander zu halten, und aus dem Dialog wurde ein Chor. »... Es ist das einzige Mal, dass Dante so eindeutig auf contra‐ passo zu sprechen kommt ‐ ein Wort, für das wir keine genaue Übersetzung haben, keine präzise Definition, weil das Wort seine Definition in sich trägt ... Nun, lieber Longfellow, ich
würde meinen, dass >Vergeltung< dem recht nahe kommt, was Dante meint: contra, gegen, und passo vom lateinischen pati, lei‐ den ‐also Leid mit gleichem Leid vergelten ... Jeder Sünder muss dadurch bestraft werden, dass er im Jenseits dasselbe Leid erduldet, das er im Leben anderen angetan hat ... so wie die Zwietrachtstifter selbst gespalten werden ...« Rey wich zur Haustür zurück. »Die Schule ist aus, Gentlemen.« Bücher wur‐ den zugeklappt, Papier raschelte. »Jetzt haben wir uns das A‐ bendessen redlich verdient ...« »Was für ein riesiger Fasan!« James Russell Lowell steckte den Finger in ein seltsames Skelett mit abgeflachtem, übergroßem Kopf. »Es gibt kein Tier, dessen Innereien er nicht schon einmal aus‐ einander genommen und wieder zusammengesetzt hätte«, be‐ merkte Holmes lachend und, wie Lowell fand, ein wenig abfäl‐ lig. Es war der Morgen nach ihrer Dante‐Sitzung, und Lowell und Holmes befanden sich im Laboratorium von Professor Louis Agassiz im Harvard‐Museum für Vergleichende Zoolo‐ gie. Agassiz hatte sie begrüßt und sich Lowells Wunde angese‐ hen und war dann noch einmal in sein Büro gegangen, um et‐ was zu erledigen. »Immerhin scheint er an den Insektenleichen interessiert zu sein«, sagte Lowell mit gespielter Unbefangen‐ heit. Er war sich jetzt sicher, dass das Insekt aus Healeys Ar‐ beitszimmer ihn tatsächlich gestochen hatte, und war sehr be‐ sorgt, was Agassiz über die schrecklichen Folgen sagen würde: »Tja, es ist aussichtslos, lieber Lowell. Welch ein Jammer.« Lo‐ well misstraute Holmesʹ Behauptung, Insekten dieser Art könn‐ ten nicht stechen. Welches Insekt, das auf sich hält, sticht nicht?
Lowell wartete auf die Prognose. Sie würde einem Todesurteil gleichkommen. Wahrscheinlich würde es ihn erleichtern, es ausgesprochen zu hören. Er hatte Holmes nicht gesagt, wie sehr die Wunde sich in den letzten Tagen vergrößert hatte, wie oft der Schmerz in seinem Bein pochte und dass er Stunde um Stunde verfolgen konnte, wie der Schmerz sich all seiner Ner‐ ven bemächtigte. Er wollte sich vor Holmes keine Blöße geben. »Ah, gefällt es Ihnen, Lowell?« Louis Agassiz kam herein, die toten Insekten in den fleischigen Händen, die immer nach Tran, Fisch oder Alkohol rochen. Lowell hatte vergessen, dass er ne‐ ben dem Skelett stand, das wie ein überdimensionales Huhn aussah. Agassiz sagte nicht ohne Stolz: »Der Konsul von Mauri‐ tius hat mir zwei Dodo‐Skelette gebracht, während ich auf Rei‐ sen war! Ist das nicht wunderbar?« »Meinen Sie, er hat geschmeckt, Agassiz?«, fragte Holmes. »O ja. Wie schade, dass wir den Dodo nicht im Saturday Club ver‐ speisen können! Ein gutes Essen war schon immer mit der größte Segen der Menschheit. Wie schade. Also gut, können wir anfangen?« Lowell und Holmes folgten ihm zum Tisch und setzten sich. Agassiz nahm die Insekten vorsichtig aus den Reagenzgläsern, wo sie in Alkohol lagen. »Als Erstes: Wo haben Sie diese klei‐ nen Biester gefunden, Dr. Holmes?« »Eigentlich hat Lowell sie gefunden«, erwiderte Holmes. »Bei Beacon Hill.« »Beacon Hill«, wiederholte Agassiz. Allerdings klang der Name wegen seines starken schweizerdeutschen Akzents ganz anders. »Sagen Sie mir, Dr. Holmes, was halten Sie von ihnen?«
Holmes konnte es nicht leiden, wenn jemand nur Fragen stellte, um falsche Antworten zu provozieren. »Das schlägt nicht in mein Fach, aber es sind doch Schmeißfliegen, oder, Agassiz?« »Aha. Und welche Gattung?«, fragte Agassiz weiter. »Cochlio‐ myia«, sagte Holmes. »Und welche Art?« »Macellaria.« »Ha, ha«, machte Agassiz. »So sieht es aus, wenn man sich an das hält, was in den Büchern steht, nicht wahr, mein lieber Holmes?« »Also nicht?«, fragte Lowell. Alles Blut schien aus seinem Gesicht gewichen. Falls Holmes nicht Recht hatte, dann waren die Fliegen vielleicht doch nicht harmlos. »Die beiden Fliegen sind den Körpermerkmalen nach fast i‐ dentisch«, sagte Agassiz. »Fast.« Er trat an ein Bücherregal. Mit seinen breiten Gesichtszügen und seiner massigen Gestalt hätte man ihn eher für einen erfolgreichen Politiker als für einen Bio‐ logen und Botaniker gehalten. Das neue Museum für Verglei‐ chende Zoologie war der Höhepunkt seiner Laufbahn. Jetzt endlich würde er die nötigen Mittel bekommen, um seine Klas‐ sifikation der Myriaden namenloser Tier‐ und Pflanzenarten zu vollenden. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Es gibt in Nord‐ amerika rund zweitausendfünfhundert Fliegenarten, deren Klassifikation feststeht. Aber meiner Schätzung nach leben über zehntausend Arten auf diesem Kontinent.« Er breitete mehrere Zeichnungen aus. Es waren grobe Skizzen, groteske Darstel‐ lungen menschlicher Gesichter, die anstelle einer Nase nur ein dunkel schraffiertes Loch hatten. Agassiz erklärte: »Vor ein paar Jahren wurde ein Arzt in der Kaiserlich Französischen Ma‐ rine, Dr. Coquerel, auf die Teufelsinseln in Französisch‐ Guayana, im Norden Südamerikas, beordert. Fünf Kolonisten
lagen dort schwer krank mit unerklärlichen Symptomen im Krankenhaus. Einer der Männer starb kurz nach Coquerels An‐ kunft. Als er die Nebenhöhlen des Toten mit Wasser ausspülte, wurden Hunderte von Schmeißfliegenlarven ausgeschwemmt.« Holmes war baff. »Die Maden waren im Inneren des Mannes ‐ eines lebenden Menschen!« »Unterbrechen Sie nicht, Holmes!«, rief Lowell. Agassiz beantwortete Holmesʹ Frage mit Schwei‐ gen. »Aber Cochliomyia macellarla kann nur totes Gewebe ver‐ dauen«, wandte Holmes ein. »Es gibt keine parasitär lebenden Maden.« »Denken Sie an die achttausend unerforschten Fliegen, von denen ich gerade gesprochen habe, Holmes!«, wies Agassiz ihn zurecht. »Es handelte sich nicht um Cochliomyia macellarla. Es war eine ganz andere Spezies, meine Freunde. Eine, die wir noch nie beobachtet hatten ‐ und die es besser nicht geben soll‐ te. Ein weibliches Exemplar dieser Spezies hatte Eier in den Na‐ senlöchern des Patienten abgelegt, dort waren die Eier ausge‐ brütet worden, und die Larven hatten sich zu Maden entwik‐ kelt, die sich regelrecht in seinen Kopf hineingefressen hatten. Später starben noch zwei der vier Männer, ebenfalls aufgrund dieses Befalls. Die beiden anderen rettete der Arzt nur, indem er ihnen die Maden aus der Nase schnitt. Macellana‐Maden ernähren sich nur von totem Gewebe ‐ sie bevorzugen Kadaver. Aber die Larven dieser Spezies, Holmes, ernähren sich aus‐ schließlich von lebendigem Gewebe.« Agassiz wartete, bis sich eine Reaktion auf den Gesichtern der beiden zeigte. Dann fuhr er fort. Das Fliegenweibchen paart sich nur ein einziges Mal, kann
aber alle drei Tage eine riesige Anzahl von Eiern legen, also zehn‐ bis elfmal im Laufe ihres einen Monat währenden Le‐ bens. Ein einziges Weibchen bringt es also bei einer Ablage auf bis zu vierhundert Eier. Es sucht sich dafür warme Wunden bei Tieren oder Menschen. Die aus den Eiern schlüpfenden Maden kriechen in die Wunde und fressen sich von dort aus in den Körper hinein. Je stärker das Fleisch von Maden befallen ist, umso mehr ausgewachsene Fliegen werden angezogen. Die Maden ernähren sich von dem lebendigen Gewebe, bis sie her‐ ausfallen und sich nach ein paar Tagen in Fliegen verwandeln. Mein Freund Coquerel hat dieser Spezies den Namen Cochlio‐ myia hominivorax gegeben.« »Homini ... vorax«, wiederholte Lo‐ well. Er sah Holmes an und übersetzte mit heiserer Stimme: »Menschenfressend.« »Exakt«, erwiderte Agassiz mit der gezü‐ gelten Begeisterung eines Wissenschaftlers, der eine schreckli‐ che Entdeckung zu verkünden hat. »Coquerel hat es den na‐ turwissenschaftlichen Zeitschriften gemeldet, doch nur wenige glaubten ihm.« »Zum Beispiel Sie?«, fragte Holmes. »Aber gewiss doch«, sagte Agassiz streng. »Seit Coquerel mir diese Zeichnungen geschickt hat, durchforsche ich medizinge‐ schichtliche Werke und andere Schriften der letzten dreißig Jah‐ re nach ähnlichen Erfahrungen von Menschen, denen diese De‐ tails nicht bekannt waren. Isidore Sainte‐Hilaire berichtet von dem Fall einer Larve, die in der Haut eines Säuglings gefunden wurde. Laut Cobbold fand Dr. Livingston mehrere Diptera‐ Larven in der Schulter eines verletzten Negers. Auf meinen Rei‐ sen in Brasilien habe ich herausgefunden, dass diese Fliegen Warega genannt werden und als Plage für Mensch und Tier ge‐
fürchtet sind. Und im mexikanischen Krieg hat man beobachtet, dass die so genannten >Fleischfliegen< ihre Eier in die Wunden der über Nacht auf dem Schlachtfeld liegen gebliebenen Solda‐ ten legten. Manchmal richteten die Maden keinen Schaden an, sondern fraßen nur abgestorbenes Gewebe. Das waren die ge‐ meinen Schmeißfliegen der Art macellaria, mit denen Sie ver‐ traut sind, Dr. Holmes. Doch zu anderen Zeiten waren die Kör‐ per der Verwundeten mit Schwellungen übersät, und jede Hilfe kam zu spät. Sie wurden von innen her ausgehöhlt. Verstehen Sie? Das waren die hominivorax. Diese Fliegen gehen auf hilflose Lebewesen, Menschen wie Tiere. Nur so können sie überdau‐ ern. Damit sie leben können, müssen sie Lebendiges verzehren. Die Forschung auf diesem Gebiet steckt noch in den Anfängen, meine Freunde, und sie ist ungemein spannend. Ich selbst habe meine ersten Exemplare der hominivorax auf meiner letzten Rei‐ se durch Brasilien gesammelt. Oberflächlich betrachtet sind die beiden Schmeißfliegenarten einander ziemlich ähnlich. Man muss sich ihre Tiefenfärbung ansehen, man muss sie mit hoch empfindlichen Geräten vermessen. Das ist der Grund, weshalb ich Ihre Exemplare gestern erkannt habe.« Agassiz zog sich einen weiteren Hocker heran. »Also, Lowell, dann sehen wir uns jetzt mal Ihr Bein an, einverstanden?« Lo‐ well wollte etwas sagen, aber sein Mund zitterte zu stark. »Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen, Lowell!« Agassiz musste lachen. »Also, Sie haben das kleine Insekt an Ihrem Bein ge‐ spürt und es weggewischt?« »Und totgeschlagen!«, erinnerte ihn Lowell. Agassiz nahm ein Skalpell aus einer Schublade. »Gut. Dr. Holmes, ich möchte, dass Sie dieses Skalpell mitten in
die Wunde stecken und es dann wieder herausziehen.« »Ist das Ihr Ernst, Agassiz?«, fragte Lowell nervös. Holmes schluckte und kniete nieder. Er setzte das Skalpell an Lowells Knöchel an, dann blickte er seinem Freund ins Gesicht. Lowell starrte mit offenem Mund geradeaus. »Sie werden das gar nicht spüren, Jamey«, versprach Holmes leise, ein Trost, den nur sie beide hören sollten. Agassiz war zwar nur eine Handbreit entfernt, tat aber so, als habe er nichts gehört. Lowell nickte und klammerte sich an die Sitzfläche seines Ho‐ ckers. Holmes führte gemäß Agassizʹ Anweisung die Skalpell‐ spitze mitten in die Schwellung an Lowells Knöchel. Als er das Skalpell herauszog, hing eine harte weiße Made von kaum vier Millimeter Länge daran. Sie zappelte. Sie lebte. »Da, da ist sie! Die wunderschöne hominivorax!« Agassiz lachte triumphierend. Er untersuchte Lowells Wunde nach weiteren Maden und machte ihm dann einen Verband. Die Made legte er sich liebe‐ voll auf die Handfläche. »Wissen Sie, Lowell, die arme kleine Fliege, die Sie gesehen haben, hatte nur ein paar Sekunden Zeit, bevor Sie sie umgebracht haben, konnte also nur ein einziges Ei legen. Ihre Wunde ist nicht tief und wird vollständig ausheilen. Und dann sind Sie wieder wie neu. Aber vergessen Sie nicht, dass die Schwellung an Ihrem Knöchel immer größer wurde, obwohl nur eine einzige Made darin herumkroch, und wie schmerzhaft es war, als die Made an Ihrem Gewebe nagte. Stel‐ len Sie sich vor, es wären Hunderte gewesen ‐ die von Minute zu Minute in Ihnen wachsen, während sie Ihr Gewebe auffres‐ sen.« Lowell strahlte übers ganze Gesicht. »Haben Sie das ge‐ hört, Holmes? Ich werde wieder gesund!« Er lachte und um‐
armte erst Agassiz und dann Holmes. Dann wurde ihm klar, was das alles bedeutete ‐ für Artemus Healey, für den Dante Club. Auch Agassiz wurde ernst, während er sich die Hände abtrocknete. »Da ist noch etwas, meine Freunde. Das Seltsamste eigentlich. Diese kleinen Tierchen ‐ sie gehören nicht hierher, sie kommen in Neuengland nicht vor, auch nicht in der weite‐ ren Nachbarschaft. Allerdings sind sie in dieser Hemisphäre beheimatet, so viel scheint festzustehen. Aber nur in Gegenden mit feuchtheißem Klima. Ich habe gerade ganze Schwärme von ihnen in Brasilien gesehen, aber in Boston noch keine Einzige. Sie sind noch nirgends beschrieben worden, weder unter ihrem richtigen noch irgendeinem anderen Namen. Wie sie hierher gelangt sind, darüber kann ich nicht einmal Vermutungen an‐ stellen. Vielleicht zufällig mit einer Ladung Rinder oder ...« A‐ gassiz betrachtete die Situation plötzlich mit distanziertem Humor. »Wie auch immer. Wir können uns glücklich schätzen, dass diese Biester nicht in einem nördlichen Klima wie dem unsrigen gedeihen, nicht bei dem hiesigen Wetter und in einer solchen Umgebung. Sie sind keine guten Nachbarn, diese Ware‐ gas. Zum Glück sind die wenigen, die hierher gelangt sind, in‐ zwischen bestimmt schon wegen der Kälte ausgestorben.« Wie immer, wenn Angst in Erleichterung umschlug, hatte Lo‐ well die Gewissheit seines eigenen Untergangs völlig verges‐ sen, und aus Seelenpein war Freude darüber geworden, dass er am Leben bleiben würde. Aber als er und Holmes schweigend das Museum verließen, konnte er nur an eines denken. Holmes sprach als Erster. »Ich war völlig vernagelt, als ich Barnicoats Schlussfolgerung in den Zeitungen glaubte. Healey ist nicht an
dem Schlag auf den Kopf gestorben! Die Insekten waren nicht bloß ein danteskes tableau vivant, ein dekoratives Spektakel. Weil wir das annahmen, blieb uns der Zusammenhang mit Dantes Höllenstrafen verborgen. Sie wurden ausgesetzt, um zu peinigen«, sprudelte er hervor. »Die Insekten waren kein schmückendes Beiwerk, sie waren die Tatwaffe!« »Unser Luzifer möchte nicht einfach nur, dass seine Opfer sterben, sondern dass sie Qualen leiden wie die Schatten im Inferno. Ein Zustand zwischen Leben und Tod, der beides ein‐ schließt und keins von beidem ist.« Lowell nahm Holmesʹ Arm. »Dass man Zeuge seiner eigenen Qualen wird. Wendell, ich habe gespürt, wie diese Kreatur sich in mich hineinfraß. Mich in sich hineinfraß. Selbst wenn sie sich vielleicht auch nur eine winzige Menge Körpergewebe einverleibt hat, war mir, als würde sie durch mein Blut direkt in meine Seele vordringen. Das Hausmädchen hat die Wahrheit gesagt.« »Bei Gott, das hat sie«, sagte Holmes, von Grauen gepackt. »Und das heißt, dass Healey ...« Keiner von beiden brachte es fertig, von den Qualen zu sprechen, die Healey erduldet haben musste. Der Oberrichter hatte an einem Samstagmorgen in sein Landhaus aufbrechen wollen und war erst am Dienstag gefun‐ den worden. Vier Tage hatte er noch gelebt, während Myriaden von hominivorax sein Inneres auffraßen ... sein Gehirn ... Zenti‐ meter für Zentimeter, Stunde um Stunde. Holmes schaute in das Glas mit den Insekten, das Agassiz ih‐ nen wieder mitgegeben hatte. »Lowell, ich muss Ihnen etwas sagen. Aber ich will keinen Streit mit Ihnen.« »Pietro Bachi.« Holmes nickte andeutungsweise.
»Das passt doch alles nicht mit dem zusammen, was wir über ihn wissen, oder?«, fragte Lowell. »Das wirft alle unsere Theo‐ rien über den Haufen!« »Überlegen wir mal: Bachi war verbittert, Bachi war aufbrau‐ send, Bachi war ein Säufer. Aber methodische, unfassbare Grausamkeit: Würden Sie ihm das zutrauen? Ehrlich? Bachi hätte vielleicht versucht, etwas zu inszenieren, um zu zeigen, wie falsch es war, ihn nach Amerika zu bringen. Aber Dantes Höllenstrafen so unbarmherzig rekonstruieren?« Holmes we‐ delte wild mit den Armen. »Was machen Sie denn?«, fragte Lowell. Sie hatten es nicht mehr allzu weit bis zu Longfellows Haus, wo sie bereits erwar‐ tet wurden. »Ich winke einer freien Droschke. Ich möchte mir einige der Insekten noch einmal unter dem Mikroskop ansehen. Ich woll‐ te, Agassiz hätte die Made nicht getötet ‐ die Natur gibt ihre Ge‐ heimnisse bereitwilliger preis, wenn man sie nicht abtötet. Ich halte seine Schlussfolgerung für falsch, dass diese Insekten bei uns bereits ausgestorben sind. Diese Biester könnten uns noch mehr über den Mord verraten. Agassiz glaubt nicht an die Darwinʹsche Lehre, und das verstellt ihm den Blick.« »Wendell, es ist immerhin sein Beruf.« Holmes ließ sich von Lowells Skepsis nicht beirren. »Auch große Wissenschaftler stehen der Wissenschaft manchmal im Weg, Lowell. Revolutionen werden nicht von Männern mit Bril‐ len gemacht, und die ersten zaghaften Töne der Wahrheit ver‐ nehmen nicht diejenigen, die ein Hörrohr brauchen. Erst letzten Monat habe ich in einem Buch über die Sandwich Islands von
einem alten Fidschi‐Insulaner gelesen, den man ins Ausland gebracht hatte. Er betete darum, wieder heimkehren zu dürfen, damit sein Sohn ihm in aller Ruhe den Schädel einschlagen könne, wie es dort der Brauch ist. Hat nicht Dantes Sohn Pietro nach dem Tod seines Vaters allen erzählt, dass der Dichter ei‐ gentlich gar nicht hatte behaupten wollen, er sei tatsächlich in der Hölle und im Himmel gewesen? Auch unsere Söhne schla‐ gen in der Regel ihren Vätern den Schädel ein.« Und manchen Vätern passiert das eher als anderen, sagte sich Lowell und dachte dabei an Oliver Wendell Holmes junior. Er sah zu, wie Holmes in die Droschke stieg. Dann ging Lowell mit raschen Schritten Richtung Craigie House. Er wünschte, er hätte sein Pferd dabeigehabt. Beim Überqueren einer Straße stutzte er plötzlich und blieb wie angewurzelt stehen. Der gro‐ ße Mann mit dem hageren Gesicht, dem Bowler‐Hut und der karierten Weste ‐ derselbe, der auf dem Harvard Yard an einem Baum gelehnt und ihn aufmerksam angesehen, derselbe, der sich auf dem Campus mit Bachi besprochen hatte ‐, dieser Mann stand jetzt auf dem belebten Marktplatz. Das allein hätte vielleicht nicht ausgereicht, um nach Agassizʹ Auskünften Lo‐ wells Interesse zu erregen, aber der Mann sprach mit keinem anderen als Edward Sheldon, Lowells Studenten. Genauer ge‐ sagt, unterhielt sich Sheldon nicht bloß mit dem Mann, sondern er herrschte ihn an wie einen widerspenstigen Bediensteten, der seine Pflichten vernachlässigt hat. Im nächsten Moment ging Sheldon aufgebracht davon, wobei er seinen schwarzen Umhang enger um sich zog. Lowell konnte sich nicht gleich entscheiden, welchem von beiden er folgen
sollte. Sheldon? Mit ihm konnte er jederzeit am College spre‐ chen. Er kam zu dem Schluss, dass er dem Unbekannten auf den Fersen bleiben müsse, der sich durch das Gewühl der Pas‐ santen und der zahlreichen Droschken schlängelte. Lowell lief zwischen mehreren Marktständen hindurch. Ein Händler hielt ihm einen Hummer unter die Nase. Lowell schob ihn beiseite. Ein Mädchen, das irgendwelche Zettel verteilte, steckte einen in Lowells Rocktasche. »Flugblatt, Sir?« »Nicht jetzt!«, rief Lowell. Im nächsten Moment erspähte er das Phan‐ tom auf der anderen Straßenseite. Der Mann hatte sich in eine überfüllte Pferdebahn gezwängt und wartete auf das Wech‐ selgeld vom Schaffner. Lowell rannte los, um auf die hintere Plattform aufzusprin‐ gen, als der Schaffner die Glocke läutete und das Gefährt sich auf die Brücke zu in Bewegung setzte. Lowell lief die Schienen entlang und hatte keine Mühe, das schwankende Fahrzeug ein‐ zuholen. Er hatte gerade das Geländer der hinteren Plattform gepackt, als der Schaffner sich umdrehte. »Immer wieder diese alten Spielchen?« Der Schaffner hob einen Spazierstock und schlug damit nach Lowells behandschuhter Hand. »Du kommst mir hier nicht mehr rein, das sag ich dir!« Unter den Schlägen des Schaffners musste Lowell loslassen und abspringen. Er lief hinter der Bahn her und schrie durch das Hufgetrappel und das Gebimmel der Glocke den zornentbrannten Schaffner an. Doch dann dämmerte ihm, dass das Gebimmel von hinten kam: Eine zweite Pferdebahn näherte sich. Er drehte sich um, und der Ab‐ stand zur vorderen Bahn vergrößerte sich. Um nicht unter die Hufe des nachfolgenden Gespanns zu geraten, blieb ihm nichts
anderes übrig, als sich mit einem Satz seitwärts zu retten. »Oh, liebster Papa!« Annie Allegra kam ins Zimmer getänzelt. »Wir haben die neueste Nummer von Das Geheimnis fast fertig, Papa! Möchtest du sie nicht vorher durchsehen?« Longfellow nahm die handgeschriebene Zeitschrift, die in bestimmten Ab‐ ständen von seinen drei Töchtern »veröffentlicht« wurde. »Ah, das scheint mir eine eurer bisher besten Nummern zu sein. Sehr hübsch, Pansy. Ich lese sie nachher ganz durch. Ist das die Seite, die du dir ausgedacht hast?« »Ja!«, erwiderte Annie Allegra. »Die Spalte hier, und die auch. Und das Rätsel. Kannst du dir denken, was das ist?« »Der See in Amerika, der so groß ist wie drei Staaten.« Longfellow lä‐ chelte und überflog den Rest der Seite. Ein Bilderrätsel und ein groß aufgemachter Artikel mit der Überschrift »Gestern ‐ ein aufregender Tag (vom Frühstück bis zum Abend)«, von A. A. Longfellow. »Sehr schön, Liebes.« Longfellow blieb an einem Punkt der Liste hängen. »Pansy, hier steht, dass du gestern Abend kurz vor dem Schlafengehen einen Besucher ins Haus gelassen hast.« »Ja, sicher. Ich war doch noch mal heruntergekommen. Hat er gesagt, dass ich ihn höflich empfangen habe, Papa?« »Wann war das, Pansy?« »Als ihr eure Besprechung hattet, natürlich. Du sagst doch im‐ mer, ihr wollt dabei nicht gestört werden.« »Annie Allegra!«, rief Edith vom oberen Treppenabsatz. »Alice möchte das In‐ haltsverzeichnis noch einmal ändern. Bring sofort dein Exem‐ plar herauf!«
»Sie spielt immer den Chefredakteur«, maulte Annie Allegra und verlangte ihre Zeitschrift zurück. Longfellow folgte ihr in die Diele und rief ihr nach, bevor sie das »Redaktionsbüro« er‐ reichte ‐ das Zimmer eines ihrer älteren Brüder: »Pansy, Liebste, wer war denn der Besucher gestern Abend?« »Wie bitte? Ach, den hab ich noch nie zuvor gesehen.« »Weißt du vielleicht noch, wie er ausgesehen hat? Das wäre doch auch was für eure Zeitschrift. Vielleicht könntest du ihn selbst danach fragen, wie er den Empfang gefunden hat.« »Das wäre schön! Es war ein großer Neger, sehr gut aussehend, mit einem Umhang. Ich hab ihm gesagt, er soll auf dich warten, Papa ‐ ehrlich. Hat er sich nicht daran gehalten? Na ja, wahrscheinlich war es ihm einfach zu dumm, hier rumzustehen, und er ist wieder gegangen. Weißt du, wie er heißt, Papa?« Longfellow nickte. »Sagʹs mir, bitte, Papa. Dann kann ich ihn fragen, wie du vor‐ geschlagen hast.« »Das war der Streifenpolizist Nicholas Rey.« Die Haustür flog auf, und Lowell kam herein. »Longfellow, ich muss Ihnen so viel erzählen ...« Er hielt inne, als er das blasse Gesicht seines Nachbarn sah. »Longfellow, was ist passiert?« Am selben Tag war Nicholas Rey in ein karg eingerichtetes Zimmer geführt worden. Aus dem Fenster sah er die Gruppen windzerzauster Ulmen, die den Hof beschatteten. Nach einer Weile füllte sich der Flur mit lauter in Ehren ergrauten Män‐ nern, alle in Zylindern und knielangen schwarzen Fräcken, die in ihrer Gleichförmigkeit fast wie Mönchskutten wirkten. Rey trat unaufgefordert in den Corporation Room, aus dem die
Männer kamen. Als er sich dem Präsidenten, Reverend Thomas Hill, vorstellte, war dieser noch im Gespräch mit einem der Mit‐ glieder der Universitätsleitung. Der Mann erschrak sichtlich, als Rey das Wort Polizei aussprach. »Geht es um einen unserer Studenten, Sir?« Dr. Manning brach seine Unterredung mit Hill ab. Er drehte sich zu dem farbigen Polizeibeamten um. »Eigentlich hätte ich ein paar Fragen an den Herrn Präsiden‐ ten. Es geht um Professor James Russell Lowell.« Mannings gelbe Augen weiteten sich, und er bestand darauf, noch zu bleiben. Er schloss die zweiflügelige Tür und setzte sich neben Präsident Hill an den runden Mahagoni‐Tisch, dem Polizei‐ beamten gegenüber. Rey merkte sofort, dass Hill sich das herri‐ sche Auftreten des anderen widerstrebend gefallen ließ. »Wenn ich fragen darf, wie viel wissen Sie über das Projekt, an dem Mr. Lowell arbeitet, Präsident Hill?«, begann Rey. »Mr. Lowell? Er ist natürlich einer der besten Dichter und Satiriker in ganz Neuengland«, erwiderte Hill mit einem erleichterten Lachen. »The Biglow Papers, The Vision of Sir Launfal, A Fable for the Critics ‐ mein Lieblingsbuch, muss ich gestehen. Daneben ist er noch bei der North American Review tätig. Also, ich kann nur sagen, unser Troubadour arbeitet stets an mehreren Projekten gleich‐ zeitig.« Nicholas Rey zog einen Notizzettel aus der Westentasche und rollte ihn zwischen den Fingern. »Ich meinte ein ganz bestimm‐ tes Werk, an dessen Übersetzung aus einer fremden Sprache er, glaube ich, seit geraumer Zeit beteiligt ist.« Manning legte seine krummen Finger aneinander und starrte in die Luft, um dann den Blick auf den Zettel in der Hand des Polizisten zu richten.
»Guter Mann«, sagte Manning, »gibt es denn irgendwelche Probleme?« Ihm war anzusehen, dass er sich eine bejahende Antwort wünschte. Dinanzi. Rey musterte Mannings Gesicht und sah, dass die weichen Mundwinkel des alten Gelehrten erwartungsvoll zit‐ terten. Manning fuhr sich mit der Hand über die polierte Fur‐ che seiner Kopfhaut. Dinanzi a me. »Ich meine damit ...«, setzte Manning wieder an. Er versuchte es mit einer anderen Taktik, ließ sich seine Spannung nicht mehr anmerken. »Hat es irgendwelche Misshelligkeiten gege‐ ben? Irgendwelche Beschwerden?« Präsident Hill kniff sich ins Doppelkinn. Er hätte es lieber gesehen, wenn Manning mit den anderen Mitgliedern der Corporation gegangen wäre. »Viel‐ leicht sollten wir nach Professor Lowell schicken, um die Ange‐ legenheit mit ihm selbst zu besprechen.« Dinanzi a me non fuor cose create Se non etterne, e io etterno duro. Was bedeutete das? Wenn Longfellow und seine Dichterfreun‐ de die Worte verstanden, warum gaben sie sich dann solche Mühe, es vor ihm geheim zu halten? »Unsinn, Hill«, sagte Manning scharf. »Man kann Professor Lowell nicht wegen solcher Lappalien behelligen. Ich muss darauf bestehen, dass Sie es uns sofort sagen, wenn es irgend‐ welche Unannehmlichkeiten gegeben hat, und wir werden uns rasch und mit der gebotenen Diskretion darum kümmern. Ver‐ standen?« Er beugte sich jovial vor. »Wir wissen, dass Professor Lowell zusammen mit mehreren Fachkollegen begonnen hat,
eine gewisse Literatur in unsere Stadt zu bringen, die hier nicht hergehört. Die Lehren dieser Literatur werden den inneren Frieden von Millionen frommer Menschen gefährden. Als Mit‐ glied der Corporation habe ich die Pflicht, den guten Ruf der Universität vor dergleichen Makeln zu bewahren. Das Motto der Universität lautet >Christo et ecclesiae<, Sir, und wir sind gehalten, dem Geist dieses Ideals gerecht zu werden.« »Früher lautete das Motto allerdings >veritas<«, wandte Präsi‐ dent Hill leise ein. »Wahrheit.« Manning warf ihm einen stra‐ fenden Blick zu. Rey zögerte noch einen Moment und steckte dann den Zettel wieder ein. »Ich habe ein gewisses Interesse an der Dichtung, die Mr. Lowell übersetzt. Er meinte, Sie, meine Herren, könnten mir einen Rat geben, wo ich sie studieren kann.« Dr. Mannings Wangen röteten sich. »Wollen Sie damit sagen, es geht Ihnen bei diesem Besuch um rein literarische Dinge?«, fragte er angewidert. Als Rey nicht antwortete, versi‐ cherte ihm Manning, Lowell habe sich über ihn ‐ und das Col‐ lege ‐ lustig machen wollen. Falls Rey die Dichtung des Teufels studieren wolle, könne er dies zu Füßen des Teufels tun. Rey ging über den Harvard Yard. Ein kalter Wind heulte um die alten Backsteinbauten. Er fühlte sich benommen und wusste nicht mehr so recht, was er hier gesucht hatte.
XI Oliver Wendell Holmes beleuchtete seine Insektenpräparate mit einer Kerze, die er neben dem Mikroskop aufstellte. Er beugte sich vor und betrachtete eine Schmeißfliege. Das Insekt hüpfte und zappelte, als sei es wütend auf seinen Beobachter. Aber es war nicht das Insekt. Der Objektträger selbst zitterte. Draußen näherte sich lautes Hufgetrappel und verstummte dann jählings. Holmes eilte ans Fenster und zog den Vorhang auf. Amelia kam aus der Diele herein. Holmes befahl ihr mit beängstigendem Ernst, sich nicht von der Stelle zu rühren, aber sie folgte ihm zur Haustür. Die Gestalt eines Polizisten zeichnete sich gegen den Himmel ab. Er musste seine ganze Kraft aufbieten, um die ungestümen Apfel‐ schimmelstuten zu bändigen, die vor die Kutsche gespannt wa‐ ren. »Dr. Holmes?«, rief er vom Kutschbock herab. »Sie sollen sofort mit mir kommen.« Amelia trat vor. »Wendell? Was ist los?« Holmes keuchte bereits. »Amelia, schick eine Nachricht nach Craigie House. Schreib ihnen, es hat sich etwas ereignet, wir treffen uns in einer Stunde im Verlag. Tut mir Leid, aber es geht wohl nicht anders.« Bevor sie protestieren konnte, kletterte Holmes in die Polizei‐ kutsche. Die Pferde galoppierten sofort los und wirbelten Wol‐ ken von Staub und dürrem Laub auf. Oliver Wendell Holmes junior spähte im Wohnzimmer im zweiten Stock durch die Gardinen und fragte sich, was sein Vater schon wieder Ver‐
rücktes vorhatte. Die Luft wurde eisig und grau. Die Wolken rissen auf. Eine zweite Kutsche kam in schneller Fahrt heran und hielt dort, wo eben noch die andere gestanden hatte. Es war Fieldsʹ Brougham. James Russell Lowell stieß die Tür auf und bat Mrs. Holmes atemlos, sofort ihren Mann zu holen. Sie beugte sich gerade so weit vor, dass sie die Profile von Henry Longfellow und J. T. Fields ausmachen konnte. »Ich weiß wirklich nicht, wo er hin ist, Mr. Lowell. Jedenfalls hat ihn die Polizei abgeholt. Er konn‐ te mir nur noch sagen, ich solle eine Nachricht nach Craigie House schicken, Sie sollen sich mit ihm im Verlag treffen. James Lowell, können Sie mir verraten, was hier vorgeht?« Lowell schaute ratlos an der Kutsche vorbei. An der Straßenecke ver‐ teilten zwei Jungen Flugblätter. »Vermisst! Vermisst! Hier bitte, Sir. Madam.« Lowell griff in die Tasche seines Sakkos. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Seine Hand brachte ein zerknülltes Flugblatt zum Vorschein, das er auf dem Markt in Cambridge eingesteckt hat‐ te, nachdem er das Phantom mit Edward Sheldon beobachtet hatte. Er glättete es an seinem Ärmel. »O mein Gott.« Sein Mund zitterte. »Wir haben seit dem Mord an Reverend Talbot in der ganzen Stadt Streifenpolizisten und Wächter postiert! Aber niemand hat auch nur das Geringste beobachtet!«, rief Sergeant Stone‐ weather vom Kutschbock, während das Gespann mit tanzen‐ den Muskeln dahinstürmte. Ab und zu hielt er seine Ratsche in die Höhe und ließ sie kreisen. Holmes versuchte bei dem lauten Hufgetrappel und dem
Knirschen des Kieses unter den Rädern einen klaren Gedanken zu fassen. Das einzig Verständliche, was der Kutscher ihm ge‐ sagt hatte, oder zumindest das Einzige, was er in der Aufre‐ gung verstanden hatte, war, dass Nicholas Rey ihn losgeschickt habe, um Holmes abzuholen. Am Hafen hielt die Kutsche un‐ versehens an. Von hier wurde Holmes in einer Polizeibarkasse zu einer der verschlafenen Hafeninseln gebracht, auf der ein granitenes, fensterloses, unbewohntes Kastell stand, in dem jetzt die Ratten regierten. Über leeren Wällen und umgestürz‐ ten Kanonen flatterte schlaff die Nationalflagge. Es war Fort Warren. Der Arzt ging hinter dem Polizisten her, vorbei an ei‐ ner Reihe kreidebleicher Beamter, durch ein Labyrinth von Räumen, hinab in einen kalten, pechschwarzen, gemauerten Tunnel, der in eine als Vorratsraum angelegte Höhle mündete. Der kleine Doktor stolperte und wäre beinahe gestürzt. Seine Gedanken machten einen Sprung in die Vergangenheit. Als Stu‐ dent an der École de Médecine in Paris hatte der junge Holmes die combats des animaux gesehen, ein barbarisches Schauspiel, bei dem Bulldoggen erst miteinander kämpften und dann auf einen angebundenen Wolf, Bären, Keiler, Stier oder Esel losge‐ lassen wurden. Holmes wusste, dass er nicht einmal in seinen stürmischen Ju‐ gendjahren das Eisen des Calvinismus ganz aus seiner Seele hatte verbannen können, mochte er auch noch so viele Gedichte schreiben. Immer war er in Versuchung zu glauben, die Welt sei nur eine Sündenfalle für den verführbaren Menschen. Doch Sünde war seiner Ansicht nach lediglich das Unvermögen eines unvollkommenen Geschöpfs, sich an ein vollkommenes Gesetz
zu halten. Für seine Vorväter war diese Sünde das große Myste‐ rium des Lebens gewesen; für Holmes war es das Leid. Er hätte nie geahnt, dass ihm so viel davon begegnen würde. Die dunk‐ len Erinnerungen, das unmenschliche Anfeuerungsgebrüll und das Gelächter suchten ihn jetzt heim, während er den Blick nach vorn richtete. In der Mitte des Raumes, an einem Deckenhaken, der für Salz‐ säcke oder ähnlich verpackte Vorräte gedacht war, hing ein Ge‐ sicht und starrte ihn an. Oder besser gesagt, was ihn da anstarr‐ te, war einmal ein Gesicht gewesen. Die Nase war glatt abge‐ schnitten, von der Wurzel bis zur schnurrbärtigen Oberlippe, sodass die Haut sich an den Rändern aufgerollt hatte. Ein Ohr des Mannes hing wie ein welkes Blatt an der Seite herab, so tief, dass es fast die starr hochgezogene Schulter berührte. Beide Wangen waren so aufgeschnitten, dass der Unterkiefer klaffte, als könnten dem Mund jeden Moment Worte entweichen. Stattdessen quoll Blut heraus. Eine gerade Linie aus Blut zog sich von dem tief eingekerbten Kinn bis zum Geschlechtsorgan des Mannes, und dieses Organ, der einzig verbliebene Hinweis auf das Geschlecht dieser Monstrosität, war auf entsetzliche Weise in zwei Teile zerschlitzt, eine selbst für einen Arzt unvor‐ stellbare Sektion; Muskeln, Nerven und Blutgefäße entfalteten sich in unwandelbarer anatomischer Harmonie und verwirren‐ der Unordnung. Die Arme hingen an den Seiten herab und en‐ deten in dunklen, mit blutdurchtränkten Binden umwickelten Klumpen. Hände waren keine mehr da. Es dauerte einen Moment, bis Holmes wusste, dass er das verwüstete Gesicht schon einmal gesehen hatte, und noch ei‐
nen, bis er das so fürchterlich zugerichtete Opfer an dem aus‐ geprägten Grübchen im Kinn wiedererkannte. O nein. Die Spanne zwischen den beiden Augenblicken der Erkenntnis war niederschmetternd. Holmes machte einen Schritt rückwärts und glitt auf dem Er‐ brochenen aus, das der erste hier Eingetroffene hinterlassen hatte, ein Obdachloser, der einen Unterschlupf suchte. Holmes ließ sich auf einen Stuhl sinken, der eigens für einen Zuschauer hingestellt zu sein schien. Krampfhaftes Keuchen schüttelte ihn. Jemand sagte seinen Namen. Nicholas Rey stand ganz in der Nähe. Selbst die Luft in dem Raum schien zu zittern. Holmes kam mühsam hoch und schüttelte benommen den Kopf. Ein Kriminalbeamter in Zivil, breitschultrig und mit einem kräf‐ tigen Bart, marschierte zu Rey hinüber und schrie ihn an, er ge‐ höre nicht hierher. Polizeichef Kurtz griff ein und zog den Kri‐ minalbeamten weg. In seinem Asthmaanfall war der Doktor mit gesenktem Kopf dem verstümmelten Opfer näher gekommen, als ihm lieb sein konnte, und ehe er auch nur daran dachte, sich wieder zurück‐ zuziehen, spürte er, dass etwas Nasses seinen Arm streifte. Es fühlte sich an wie eine Hand, aber in Wirklichkeit war es ein blutiger, mit Binden umwickelter Stumpf. Doch Holmes hatte sich nicht von der Stelle gerührt, dessen war er sich ganz sicher. Er war zu entsetzt, um sich zu bewegen. Er kam sich vor wie in einem dieser Albträume, in denen man nur beten kann, es mö‐ ge bloß ein Traum sein. »Gott steh uns bei, er lebt!«, schrie der Kriminalbeamte, und seine Stimme erstickte in der aufsteigen‐ den Flut aus seinem Magen. Er stürzte davon. Auch Kurtz ver‐
schwand schreiend. Holmes fuhr herum und sah direkt in die hervortretenden, blicklos starrenden Augen des verstümmelten nackten Körpers von Phineas Jennison, sah, wie die geschunde‐ nen Gliedmaßen zuckten und zappelten. Es war nur ein winzi‐ ger Bruchteil einer Hundertstelsekunde, dann kam der Körper wieder zur Ruhe, doch Holmes zweifelte nicht daran, dass er es wirklich gesehen hatte. Er stand reglos da, sein kleiner Mund war trocken und zuckte, seine Augen blinzelten unter hervor‐ schießenden Tränen, und er rang verzweifelt die Hände. Oliver Wendell Holmes wusste, dass Phineas Jennisons Zuckungen nicht die willkürlichen Bewegungen eines Lebenden gewesen waren, die willkürlichen Handlungen eines fühlenden Men‐ schen. Es waren die verspäteten Krämpfe eines grauenvollen Todes. Aber das machte es nicht besser. Die Berührung mit dem Tod hatte in Holmes eine solche Eiseskälte hinterlassen, dass er kaum wahrnahm, wie er über das Hafenwasser zurückfuhr und in der Polizeikutsche, der so genannten Black Maria, zusammen mit Jennisons Leiche ins Medizinische Institut gelangte. Dort teilte man ihm mit, dass Barnicoat, der Leichenbeschauer, eine Lungenentzündung erlitten habe und das Bett hüten müsse und Professor Haywood zurzeit nicht aufzufinden sei. Holmes nickte, als hörte er zu. Haywoods Assistent erbot sich, ihm bei der Obduktion zur Hand zu gehen. Holmes bekam von diesen aufgeregten Gesprächen so gut wie nichts mit, er spürte kaum etwas, als er in einer Kammer in einer der oberen Etagen des Medizinischen Instituts in den bereits so unsäglich verstümmel‐ ten Leichnam schnitt. »Also vollzieht an mir sich der contrapas‐ so.« Holmes riss den Kopf hoch, als hätte soeben ein Kind um
Hilfe gerufen. Reynolds, der Assistent, blickte sich um, ebenso Rey und Kurtz und die beiden anderen Beamten, die unbe‐ merkt hinter Holmes den Raum betreten hatten. Holmes schau‐ te wieder auf Phineas Jennison und dessen schlaff herabhän‐ genden Kiefer. »Dr. Holmes?«, fragte der Assistent. »Alles in Ordnung?« Es war nur Einbildung gewesen, die Stimme, die er gehört hatte, das Flüstern. Aber Holmesʹ Hand zitterte so, dass er nicht einmal mehr einen Truthahn hätte tranchieren können. Er überließ die restliche Arbeit Haywoods Assistenten und ent‐ schuldigte sich. Er wanderte in eine Seitengasse der Grove Street und kam ganz allmählich wieder zu Atem. Er hörte, dass sich ihm jemand näherte. Es war Rey, er war dem Doktor in die Gasse hinein gefolgt. »Bitte, ich kann jetzt nicht sprechen«, sag‐ te Holmes mit gesenktem Blick. »Wer hat Phineas Jennison abgeschlachtet?« »Woher soll ich das wissen?«, rief Holmes. Er taumelte, wie betrunken von den schrecklichen Bildern in seinem Kopf. »Übersetzen Sie mir das, Dr. Holmes.« Rey bog Holmes Finger auf und legte ihm einen Notizzettel in die Hand. »Bitte, Officer. Wir haben schon ...« Holmesʹ Hände zitterten dermaßen, dass er den Zettel kaum halten konnte. »>Weil ich so nah verwandte Menschen trenn‐ te<«, zitierte Rey, was er am Abend zuvor an der Tür erlauscht hatte, »>muss ich mein Hirn nun abgetrennt auch tragen. Also vollzieht an mir sich der contrapasso.< Das haben wir doch ge‐ rade gesehen, nicht wahr? Wie übersetzt man contrapasso, Dr. Holmes? Mit >Gegen‐leid« »Es gibt keine genaue ... Woher wissen Sie ...« Holmes nahm sein seidenes Tuch ab und versuchte, durch die Halsbinde zu
atmen. »Ich weiß überhaupt nichts.« Rey fuhr fort: »Sie haben in einem Gedicht von diesem Mord gelesen. Sie haben ihn gesehen, bevor er passierte, und haben nichts unternommen, um ihn zu verhindern.« »Nein! Wir haben getan, was wir konnten. Wir haben es versucht. Bitte, Officer, ich kann nicht ...« »Kennen Sie diesen Mann?« Rey zog den Zeitungsausschnitt mit dem Bild von Grifone Lonza hervor und reichte ihn dem Doktor. »Er hat sich auf der Hauptwache aus dem Fenster ge‐ stürzt.« »Bitte!« Holmes war dem Ersticken nahe. »Schluss jetzt. Gehen Sie!« »Heda!« Drei Medizinstudenten des rustikalen Typs, die Holmes als seine jungen Barbaren bezeichnete, kamen, billige Zigarren rauchend, die Gasse entlang. »Du, Nigger, lass Profes‐ sor Holmes in Ruhe!« Holmes wollte ihnen etwas zurufen, aber er brachte keinen Ton heraus. Schon stand der flinkste der Barbaren vor Rey und versuchte einen Schwinger zu landen. Rey packte ihn am anderen Arm und warf ihn so sanft wie möglich zu Boden. Die beiden ande‐ ren stürzten sich gerade auf Rey, als Holmes seine Stimme wie‐ derfand. »Nein! Nein, Jungs! Gebt Ruhe! Fort mit euch, auf der Stelle! Das ist ein Freund!« Sie zogen kleinlaut ab. Holmes half Rey auf. Er musste Abbitte leisten. Er nahm die Zeitung und schaute das Bild an. »Grifone Lonza.« Ein Glitzern in Reys Au‐ gen verriet, dass er beeindruckt und erleichtert war. »Überset‐ zen Sie mir jetzt, was auf dem Zettel steht, Dr. Holmes, bitte. Lonza hat das gesagt, bevor er sich in den Tod gestürzt hat. Sa‐
gen Sie mir, was es bedeutet.« »Das ist Italienisch. Toskanischer Dialekt. Wohlgemerkt, es fehlen ein paar Wörter, aber für je‐ manden, der die Sprache nicht beherrscht, ist es eine erstaun‐ lich gute Umschrift. Richtig lautet es: Dinanzi a me non fuor cose create se non etterne, e io etterno duro: Vor mir ist kein geschaffen Ding gewesen, nur ewiges, und ich muss ewig dauern. Lasciate ogni speranza, voi chʹintrate: Lasst jede Hoffnung, wenn ihr ein‐ getreten.« »Lasst jede Hoffnung. Er wollte mich warnen«, sagte Rey. »Nein ... das glaube ich nicht. Er sah es wahrscheinlich vor sich, als Inschrift über dem Tor zur Hölle.« »Sie hätten der Polizei sagen müssen, dass Sie etwas wissen!«, rief Rey. »Damit hätten wir alles nur noch schlimmer gemacht!«, schrie Holmes. »Sie verstehen nicht ‐ Sie können es nicht verstehen. Wir sind die Einzigen, die ihn finden können! Wir dachten schon, wir hätten ihn ‐ wir dachten, er sei geflohen. Alles, was die Polizei weiß, ist kalter Kaffee! Ohne uns wird das nie auf‐ hören!« Holmes schmeckte Schnee. Er tupfte sich den heißen Schweiß von Stirn und Nacken. Dann bat er Rey, mit ihm ins Institut zurückzugehen. Er müsse ihm etwas erzählen, was er ihm wahrscheinlich nicht glauben werde. Oliver Wendell Holmes und Nicholas Rey saßen in Holmesʹ leerem Hörsaal. »Man schrieb das Jahr 1300. Grad in der Mitte seiner Lebens‐ reise erwachte ein Dichter namens Dante in einem dunklen Wald und merkte, dass sein Leben eine falsche Wendung ge‐ nommen hatte. James Russell Lowell sagt gern, wir alle beträten
den dunklen Wald zweimal ‐ irgendwann um die Lebensmitte und dann wieder, wenn wir auf unser Leben zurückschauen ...« Die schwere, getäfelte Tür des Autorenzimmers öffnete sich einen Spaltbreit, und die drei Männer sprangen auf. Ein schwarzer Stiefel schob sich vorsichtig durch den Spalt. Holmes wagte nicht mehr sich vorzustellen, was er hinter den ver‐ schlossenen Türen antreffen könnte. Aschfahl und hohlwangig setzte er sich neben Longfellow auf das Sofa, Lowell und Fields gegenüber, und hoffte, es würde reichen, jede Begrüßung nur mit einem Nicken zu beantworten. »Ich war kurz zu Hause, bevor ich hierher kam. Amelia wollte mich nicht weglassen, so wie ich aussehe.« Holmes lachte ner‐ vös, und in seinem Augenwinkel glitzerte es. »Wussten Sie, meine Herren, dass die Muskeln, mit denen wir lachen und weinen, dicht nebeneinander liegen? Meine jungen Barbaren sind davon immer ganz angetan.« Sie warteten darauf, dass er anfangen würde. Lowell reichte ihm das zerknüllte Flugblatt, auf dem stand, dass Phineas Jen‐ nison vermisst werde. Für Hinweise auf seinen Verbleib war eine Belohnung von vielen tausend Dollar ausgesetzt. »Also wissen Sie es schon«, sagte Holmes. »Jennison ist tot.« Stockend und stammelnd berichtete er von dem Moment an, als die Poli‐ zeikutsche plötzlich vor seinem Haus vorgefahren war. Lowell goss sich sein drittes Glas Portwein ein und sagte: »Fort War‐ ren.« »Eine geniale Idee unseres Luzifer«, sagte Longfellow. »Vor allem weil uns der Gesang mit den Zwietrachtstiftern noch so
frisch im Gedächtnis ist. Nicht zu fassen, dass wir ihn erst ges‐ tern übersetzt haben. Der neunte Graben des achten Höllenkrei‐ ses ist ein weites, steiniges Feld, das Dante eine Festung nennt.« Lowell sagte: »Wieder einmal erweist sich, dass wir es mit ei‐ nem scharfen Verstand zu tun haben, der sich hervorragend darauf versteht, atmosphärische Details aus Dantes Werk um‐ zusetzen. Die Genauigkeit von Dantes Dichtung kommt unse‐ rem Luzifer gerade recht. Bei Milton ist die Hölle eine Wildnis, bei Dante dagegen ist sie säuberlich in klar umrissene Kreise eingeteilt. Und so real wie unsere Welt.« »Jedenfalls jetzt«, sagte Holmes mit bebender Stimme. Fields war nicht nach einer literarischen Diskussion zumute. »Wen‐ dell, Sie sagen, die Polizei hatte über die ganze Stadt Wachtpo‐ sten verteilt, als der Mord geschah. Wie ist es dann möglich, dass Luzifer nicht beobachtet wurde?« »Man brauchte schon die Riesenhände des Briareos und die hundert Augen des Ar‐ gos, um ihn zu fassen oder zu sehen«, sagte Longfellow leise. Holmes setzte seinen Bericht fort. »Jennison wurde von einem Trunkenbold gefunden, der manchmal in dem Fort nächtigt, seit es nicht mehr benutzt wird. Der Mann war am Montag dort, und da war alles normal. Dann kam er am Mittwoch wie‐ der ‐ und stieß auf die grausige Szenerie. Erst am nächsten Tag fasste er sich ein Herz und ging zur Polizei ‐ also heute. Jenni‐ son wurde am Dienstagnachmittag zum letzten Mal lebend ge‐ sehen, sein Bett war am Mittwochmorgen unberührt. Die Poli‐ zei hat jeden befragt, den sie finden konnte. Eine Prostituierte war am Hafen und sagt, sie hätte dort am Dienstagabend je‐ manden aus dem Nebel kommen sehen. Sie wollte ihm folgen,
wohl um ihm ihre Dienste anzubieten, hat ihn aber bei der Kir‐ che aus den Augen verloren und weiß auch nicht, in welche Richtung er gegangen ist.« »Jennison wurde also am Dienstagabend umgebracht, der Leichnam wurde aber erst am Donnerstag von der Polizei ge‐ funden«, sagte Fields. »Holmes, Sie sagten doch, Jennison war noch am ... Ist das möglich, so lange Zeit ...?« »Dass er ... am Dienstag verstümmelt wurde und noch am Le‐ ben war, als ich heute Vormittag hinkam? Dass der Körper sol‐ che Zuckungen vollführte, dass ich es nie mehr vergessen wer‐ de, selbst wenn ich die Lethe bis zum letzten Tropfen austrän‐ ke?«, fragte Holmes voller Verzweiflung. »Der arme Jennison ist so zugerichtet worden, dass er auf keinen Fall überleben konnte ‐ so viel steht fest ‐, aber er wurde gerade so weit zer‐ schnitten und verbunden, dass das Blut, und damit das Leben, nur langsam aus ihm wich. Es war zu erkennen, dass keine le‐ benswichtigen Organe verletzt wurden. Das Massaker wurde handwerklich sauber ausgeführt, von jemandem, der sich mit inneren Verletzungen auskennt, vielleicht einem Arzt«, sagte er mit belegter Stimme. »Und zwar mit einem großen, scharfen Messer. An Jennison hat unser Luzifer sein Meisterstück im Zu‐ fügen von Leid vollbracht, seinen perfektesten contrapasso. Die Bewegungen, deren Zeuge ich wurde, waren keine Lebenszei‐ chen, mein lieber Fields, sondern einfach die letzten unwillkür‐ lichen Zuckungen absterbender Nerven. Es war ein so grotesker Moment, wie nur ein Dante ihn hätte ersinnen können. Der Tod wäre ein Geschenk gewesen.« »Aber in einem solchen Zustand noch zwei Tage weiterzule‐
ben«, wandte Fields ein. »Ich will damit sagen ... medizinisch gesehen ... ist das unmöglich!« »>Weiterleben< heißt hier, nicht ganz tot sein und nicht etwa noch halb lebendig ‐ gefangen im Grenzbereich zwischen den Lebendigen und den Toten. Und wenn ich tausend Zungen hät‐ te, würde ich mir nicht anmaßen, diese Pein schildern zu wol‐ len!« »Aber warum wurde Phineas als Zwietrachtstifter be‐ straft?«, fragte Lowell, sichtlich bemüht, möglichst distanziert und wissenschaftlich zu klingen. »Was für Menschen finden bei Dante ihre Strafe in diesem Höllenkreis? Mohammed, Bertran de Born ‐ der verschlagene Ratgeber, der König und Prinz, Va‐ ter und Sohn, trennt, wie es einst mit Absalom und David ge‐ schah ‐, also diejenigen, die Zerwürfnisse innerhalb von Re‐ ligionsgemeinschaften und Familien auslösten. Warum Phineas Jennison?« »Trotz all unserer Bemühungen haben wir diese Frage auch für Elisha Talbot noch nicht beantwortet, mein lieber Lowell«, sagte Longfellow. »Seine Tausend‐Dollar‐Simonie — wozu? Zwei contrappassi, für zwei unsichtbare Sünden. Dante ist in der glücklichen Lage, die Sünder selbst fragen zu können, weswe‐ gen sie in die Hölle gekommen sind.« »Sie standen doch Jennison ziemlich nahe«, sagte Fields zu Lowell. »Haben Sie auch keine Ahnung, was es gewesen sein könnte?« »Wir waren Freunde, ich habe mich nicht um seine Missetaten gekümmert! Er hatte ein geneigtes Ohr für meine Klagen über Verluste mit Aktien, über meine Vorträge, über Dr. Manning und die vermaledeite Corporation. Er war eine Dampfmaschine auf zwei Beinen, und ich gebe zu, dass ihm
manchmal der Hut allzu kess auf dem Kopf saß ‐ er hatte eine glückliche Hand für spektakuläre Unternehmungen, die meiner Vermutung nach nicht immer ganz hasenrein waren. Eisenbah‐ nen, Fabriken, Stahlwerke ‐ von solchen Sachen verstehe ich einfach nichts, wissen Sie, Fields.« Er ließ den Kopf sinken. Holmes seufzte tief. »Dieser Rey ist ein äußerst aufgeweckter Mensch. Er hat sofort begriffen, dass zwischen Jennisons Tod und dem, was er bei unserer letzten Dante‐Club‐Sitzung er‐ lauschte, ein Zusammenhang besteht. Er hat die Logik des con‐ trapasso, der Zwietrachtstifter, in Jennisons Martyrium wieder‐ erkannt, und als ich ihm ein bisschen mehr erklärte, sah er auch Dante in den Morden an Healey und Talbot.« »Genau wie Gri‐ fone Lonza, bevor er sich aus dem Fenster stürzte«, sagte Lo‐ well. »Der Ärmste hat in allem Dante gesehen. In diesem Fall hatte er Recht. Auch ich habe oft an Dantes Verwandlung ge‐ dacht. Der Geist des Dichters, von seinen Feinden auf Erden heimatlos gemacht, fühlte sich zunehmend heimisch in der an‐ deren Welt. Ist es nicht verständlich, dass er, von allem ge‐ trennt, was er in diesem Leben liebte, nur noch über das näch‐ ste nachgrübelte? Wir preisen ihn überschwänglich für seine Dichtkunst, aber er hatte keine andere Wahl, als dieses Gedicht zu schreiben ‐ und es mit seinem Herzblut zu schreiben. Kein Wunder, dass er so bald starb, nachdem er es vollendet hatte.« »Was wird Rey unternehmen, nun, da er weiß, dass wir in die Geschichte verwickelt sind?«, fragte Longfellow. Holmes zuckte die Achseln. »Wir haben Informationen zurückgehalten. Wir haben die Untersuchung von zwei der grässlichsten Morde be‐ hindert, die Boston je gesehen hat, und jetzt sind es drei!
Durchaus möglich, dass Rey in diesem Moment bereits uns und Dante ans Messer liefert! Warum sollte er Loyalität gegenüber einem Werk der Dichtkunst empfinden? Eine Frage, die wir uns ebenfalls stellen könnten.« Holmes erhob sich mühsam, zog seine Hosen hoch und ging nervös auf und ab. Fields schaute auf und merkte, dass Holmes Hut und Mantel nahm. »Ich wollte Ihnen mitteilen, was ich erfahren habe«, sagte Holmes mit leiser, tonloser Stimme. »Aber ich kann nicht mehr.« »Sie müssen sich jetzt ausruhen«, begann Fields. Hol‐ mes schüttelte den Kopf. »Nein, mein lieber Fields, daraus wird nichts, nicht heute Nacht.« »Was?«, rief Lowell. »Holmes«, sagte Longfellow. »Ich weiß, es sieht hoffnungslos aus, aber wir können jetzt nicht die Flinte ins Korn werfen.« »Überhaupt, Sie können jetzt nicht einfach aufgeben!«, rief Lo‐ well. Als er seine sonore Stimme hörte, fühlte er sich wieder obenauf. »Dafür haben wir uns schon zu weit vorgewagt.« »Wir haben uns von Anfang an zu weit vorgewagt, statt zu bleiben, wo wir hingehören ‐ja, ja, Jamey, so Leid es mir tut«, sagte Holmes ruhig. »Ich weiß nicht, wie Rey sich entscheiden wird, aber ich werde auf jede von ihm gewünschte Weise mit ihm zu‐ sammenarbeiten und erwarte dasselbe von Ihnen. Ich hoffe nur, man wird uns nicht wegen Behinderung der Justiz oder, schlimmer noch, wegen Beihilfe anklagen. Denn die haben wir ja eigentlich geleistet, oder nicht? Jeder von uns hat dazu beige‐ tragen, dass die Mordserie weitergehen konnte.« »Aber gerade deshalb hätten Sie uns nicht an Rey verraten dürfen!« Lowell sprang auf.
»Was hätten Sie an meiner Stelle getan, Professor?«, fragte Holmes. »Sich einfach davonzustehlen ist jedenfalls keine Lösung, Wendell! Das Kind liegt im Brunnen. Sie haben geschworen, Dante zu schützen, wie wir alle hier unter Longfellows Dach, komme, was da wolle!« Aber Holmes setzte sich den Hut auf und knöpfte seinen Mantel zu. »Qui a bu, boira«, sagte Lowell. »Wer ein Mal ein Trinker war, wird wieder trinken.« »Sie haben es nicht gesehen!« All seine aufgestauten Gefühle brachen hervor, als Holmes sich jetzt Lowell zuwandte. »War‐ um war ich es, der zwei furchtbar verstümmelte Leichen sehen musste, und nicht Sie, die wackeren Gelehrten? Ich war es, der sich in Talbots Todesschacht hinabließ, mit dem Gestank von Rauch und Tod in der Nase! Ich habe das alles durchmachen müssen, während Sie gemütlich am Kamin sitzen und alles ana‐ lysieren und es durch Ihre Alphabete filtern!« »Gemütlich am Kamin? Ich bin von einem menschenfressen‐ den Insekt angefallen worden und nur um Haaresbreite dem Tod entronnen, haben Sie das schon vergessen?«, rief Lowell. Holmes lachte spöttisch. »Ich würde zehn Schmeißfliegen dem vorziehen, was ich gesehen habe!« »Holmes«, sagte Longfellow begütigend. »Denken Sie daran: Vergil sagt dem Pilger, dass die Furcht das Haupthindernis auf seiner Wanderung ist.« »Dafür gebe ich keinen roten Heller! Jetzt nicht mehr, Longfel‐ low! Ich räume meinen Platz! Wir sind nicht die Ersten, die ver‐ suchen, Dantes Dichtung zu befreien, und vielleicht ziehen wir am Ende den Kürzeren! Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen,
dass Voltaire Recht hatte ‐ Dante war nur ein Verrückter, und sein Werk ist nichts weiter als eine Monstrosität. Dante hat sein Leben in Florenz verloren, also hat er sich gerächt und ein lite‐ rarisches Werk geschaffen, in dem er sich selbst in Gott verwan‐ delte. Und wir haben es auf die Stadt losgelassen, die wir an‐ geblich lieben. Das werden wir büßen!« »Jetzt reichtʹs aber, Wendell, genug!«, schrie Lowell ihn an und stellte sich vor Longfellow, als könnte er ihn dadurch vor Holmesʹ Worten bewahren. »Sein eigener Sohn glaubte, dass Dante sich die Reise durch die Hölle nur eingebildet habe, und hat sein Leben lang versucht, seinen Vater zu widerlegen!«, fuhr Holmes fort. »Warum sollen wir unsere Sicherheit aufs Spiel setzen, um ihn zu retten? Die Commedia ist kein Liebes‐ brief. Dante hat sich gar nichts aus Beatrice gemacht, aus Flo‐ renz! Er hat einer durch sein Exil bedingten fixen Idee gefrönt und sich vorgestellt, wie seine Feinde sich winden und um Er‐ lösung flehen! Hat er jemals seine Frau erwähnt, auch nur ein einziges Mal? So hat er sich für seine Enttäuschungen schadlos gehalten! Ich will uns nur davor bewahren, alles zu verlieren, was uns lieb und teuer ist! Das war von Anfang an mein einzi‐ ger Wunsch!« »Das ist ja ein schöner Streich, den Sie uns da spielen, ich muss schon sagen!«, rief Lowell. »Wir hätten wohl von Anfang an lieber Wendell junior in unseren Club aufnehmen sollen als Sie. Dann hätten wir wenigstens eine Chance!« Er wollte noch mehr sagen, aber Longfellow hielt ihn zurück, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte, so sanft, als trüge er einen eisernen Handschuh.
»Ohne Sie wären wir nicht so weit gekommen, lieber Freund«, sagte Longfellow leise zu Holmes. »Bitte gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus, und grüßen Sie Ihre Frau Gemahlin von uns.« Holmes verließ das Autorenzimmer. Als Longfellow seinen Griff lockerte, ging Lowell dem Doktor nach. Holmes entfernte sich eilig den Gang hinunter und schaute über die Schulter zu‐ rück zu Lowell, dessen kalter Blick ihn verfolgte. Am Ende, wo der Gang rechtwinklig abbog, stieß Holmes gegen einen Karren voller Papiere, den Teal, der Laufbursche, der für den Abend‐ dienst in Fieldsʹ Büro eingeteilt war, vor sich herschob. Holmes fiel der Länge nach hin, der Karren kippte um, und Holmes wurde unter einem Berg von Papier begraben. Teal schob mit dem Fuß die Papierstapel weg und versuchte mit dem Aus‐ druck aufrichtigen Bedauerns, Oliver Wendell Holmes auf die Beine zu helfen. Auch Lowell wollte Holmes zu Hilfe eilen, be‐ sann sich aber und blieb stehen, beschämt wegen dieses An‐ flugs von Schwäche. »Na, sind Sie zufrieden, Holmes? Longfel‐ low braucht uns! Jetzt haben Sie ihn endgültig verraten. Sie ha‐ ben den Dante Club verraten!« Teal sah Lowell erschrocken an, als dieser den Vorwurf wie‐ derholte. Es gelang ihm schließlich, Holmes aufzurichten. »Bitte tausendmal um Verzeihung«, flüsterte er Holmes ins Ohr. Ob‐ wohl es ganz und gar seine Schuld war, brachte Holmes kaum ein Wort der Entschuldigung heraus. Es war nicht mehr nur das Asthma, das ihn keuchen und nach Luft schnappen ließ, son‐ dern ein krampfartiger, beklemmender Anfall. Während er sonst das Gefühl hatte, nicht genug Luft zu bekommen, war
jetzt jeder Atemzug das pure Gift. Lowell stürmte ins Autorenzimmer zurück und schlug die Tür hinter sich zu. Sofort bemerkte er Longfellows seltsamen Ge‐ sichtsausdruck. Beim ersten Anzeichen eines aufziehenden Ge‐ witters pflegte Longfellow alle Fensterläden zu schließen, denn solchen Aufruhr, so erklärte er, könne er nicht ertragen. Jetzt hatte er denselben Ausdruck innerer Distanz. Offenbar hatte er gerade etwas zu Fields gesagt, denn der Verleger stand erwar‐ tungsvoll vor ihm. »Also bitte«, sagte Lowell flehentlich. »Können Sie sich erklä‐ ren, Longfellow, wie Holmes uns das antun konnte? Und aus‐ gerechnet jetzt!« Fields schüttelte den Kopf. »Longfellow glaubt, etwas durch‐ schaut zu haben, Lowell«, sagte er, die Miene des Dichters deu‐ tend. »Erinnern Sie sich, wie er gestern Abend den Gesang mit den Zwietrachtstiftern in Angriff genommen hat?« »Ja. Was ist damit, Longfellow?«, fragte Lowell. Longfellow ging nicht dar‐ auf ein, sondern nahm seinen Mantel und schaute aus dem Fenster. »Fields, meinen Sie, Mr. Houghton ist um diese Zeit noch in der Druckerei?« »Houghton ist immer in seiner Druckerei, wenn er nicht gera‐ de in der Kirche ist. Was kann er denn für uns tun, Longfel‐ low?« »Wir müssen sofort zu ihm«, sagte Longfellow nur. »Ist Ihnen etwas eingefallen, was uns weiterhelfen könnte, Long‐ fellow?« Lowell schöpfte neue Hoffnung. Er glaubte, Longfel‐ low denke über seine Frage nach, aber der Dichter sprach auf der ganzen Fahrt über den Fluss nach Cambridge kein Wort.
In dem riesigen Gebäude der Riverside Press verlangte Longfel‐ low von H. O. Houghton Einsicht in die vollständigen Druck‐ unterlagen der Übersetzung von Dantes Inferno. Trotz des noch unbekannten Themas wartete die literarische Welt gespannt auf Longfellows Übersetzung, die das jahrelange Schweigen des be‐ liebtesten Dichters in der Geschichte des Landes beenden wür‐ de. Unter dem Klang von Fieldsʹ Pauken und Trompeten würde die Erstauflage von fünftausend Exemplaren innerhalb von vier Wochen ausverkauft sein. Im Hinblick darauf hatte Oscar Houghton von jeder Fahne, die Longfellow ihm brachte, sofort Druckplatten herstellen lassen und alles fein säuberlich mit ge‐ nauen Zeitangaben protokolliert. Die drei Gelehrten belegten das Büro des Druckereibesitzers mit Beschlag. »Ich muss passen«, sagte Lowell. Er konnte sich nicht einmal länger auf die Einzelheiten seiner eigenen Buchprojekte kon‐ zentrieren, geschweige denn auf die anderer. Fields zeigte ihm den Ablaufplan. »Longfellow liefert die kor‐ rigierten Fahnen jeweils eine Woche nach der entsprechenden Sitzung des Dante Club ab. Wir können also bei jedem von Houghtons Eingangsvermerken annehmen, dass sich der Dante Club am Mittwoch davor getroffen hat.« Die Übersetzung des Dritten Gesangs, dem von den lauen See‐ len, war drei oder vier Tage nach dem Mord an Richter Healey besprochen worden. Der Mord an Reverend Talbot war drei Tage vor dem Mittwoch geschehen, der für die Besprechung des Siebzehnten, Achtzehnten und Neunzehnten Gesangs vor‐ gesehen war ‐ von denen der Letztere von der Bestrafung der
Simonisten handelte. »Und dann haben wir von dem Mord erfahren!«, stellte Lo‐ well fest. »Ja, und deshalb habe ich die Besprechung des Odysseus‐ Gesangs verschoben, damit wir uns alle erst einmal etwas erho‐ len konnten, und habe zwischendurch allein an den Gesängen gearbeitet. Nun, der letzte Mord, der an Phineas Jennison, ist allem Anschein nach am Dienstag dieser Woche passiert ‐ einen Tag bevor wir die Verse besprochen haben, die Anlass der Gräueltat waren.« Lowell wurde erst kreidebleich und dann rot. »Ah, jetzt verstehe ich, Longfellow!«, rief Fields. »Jedes der Verbrechen passiert unmittelbar bevor wir die Übersetzung des Gesangs besprechen, auf dem der Mord beruht«, sagte Longfel‐ low. »Wieso ist uns das nicht schon früher aufgefallen?«, rief Fields. »Irgendjemand hat sein Spiel mit uns getrieben!«, polter‐ te Lowell. Dann senkte er die Stimme und flüsterte: »Jemand hat uns die ganze Zeit beobachtet, Longfellow! Es muss jemand sein, der unseren Dante Club kennt! Wer immer es ist, er hat seine Morde zeitlich auf unsere Übersetzung abgestimmt!« »Moment mal. Das könnte auch ein schrecklicher Zufall sein.« Fields sah noch einmal auf den Plan. »Sehen Sie hier. Wir haben fast zwei Dutzend Gesänge des Inferno übersetzt, aber es hat nur drei Morde gegeben.« »Drei tödliche Zufälle«, sagte Long‐ fellow. »Von Zufall kann keine Rede sein«, beharrte Lowell. »Unser Luzifer hat einen Wettlauf mit uns veranstaltet, nach dem Mot‐ to, was kommt zuerst ‐ Dante in Tinte oder Dante in Blut über‐
setzt! Wir haben jedes Mal um zwei bis drei Längen verloren!« Fields widersprach: »Aber wer könnte unsere Planung kennen, noch dazu so lange im Voraus, dass ihm genug Zeit bliebe, so ausgefallene Verbrechen vorzubereiten? Wir haben keine fe‐ sten, schriftlich niedergelegten Termine. Manchmal lassen wir eine Woche aus. Manchmal überspringt Longfellow einen oder zwei Gesänge, wenn er findet, dass wir nicht gut genug vorbe‐ reitet sind, und das bringt den ganzen Ablauf durcheinander.« »Meine Fanny wüsste zum Beispiel nicht, an welchem Gesang wir gerade sitzen, und es würde sie auch gar nicht interessie‐ ren«, stimmte Lowell ein. »Wer also könnte derart genau Bescheid wissen, Longfel‐ low?«, fragte Fields. »Wenn das alles zutrifft«, unterbrach Lowell, »dann haben wir eindeutig einen Anteil daran, dass die Morde überhaupt begon‐ nen haben!« Alle schwiegen. Fields warf Longfellow einen fürsorglichen Blick zu. »Unsinn!«, sagte er. »Unsinn, Lowell!« Ein anderes Argument fiel ihm nicht ein. »Ich behaupte ja nicht, dass ich diese seltsame Übereinstim‐ mung durchschaue«, sagte Longfellow und stand von Hough‐ tons Schreibtisch auf. »Aber wir dürfen die möglichen Implika‐ tionen nicht einfach ignorieren. Welche Schritte Rey jetzt auch immer unternimmt, wir können nicht mehr davon ausgehen, dass unsere Rolle in der Geschichte lediglich unsere eigene An‐ gelegenheit ist. Dreißig Jahre sind vergangen seit den glückli‐ cheren Zeiten, als ich mich zum ersten Mal an den Schreibtisch gesetzt habe, um die Commedia zu übersetzen. Ich habe mich
dieser Aufgabe mit so großer Verehrung genähert, dass manchmal beinahe Widerstand daraus wurde. Aber es gilt, sich zu sputen und dieses Werk zu vollenden, sonst droht noch grö‐ ßerer Verlust.« Nachdem Fields in seiner Kutsche nach Boston aufgebrochen war, gingen Lowell und Longfellow durch das Schneegestöber nach Hause. Die Kunde von Jennisons Ermordung hatte die Stadt gelähmt. Die Stille in der von Ulmen gesäumten Straße in Cambridge war ohrenbetäubend. Aus den Schornsteinen auf‐ steigende weiße Rauchkränze verschwanden wie Gespenster. Hinter geschlossenen Fenstern sah man Kleidungsstücke, Hemden und Blusen hängen, denn es war zu kalt, um sie im Freien zu trocknen. Die Riegelschnüre waren alle nach innen gezogen. Die Haustüren waren zum Teil mit neuen eisernen Schlössern und Ketten versehen und auf Anraten der Polizei fest verschlossen. In den weichen Schneewehen spielten keine Kinder. Nach dem dritten Mord konnte sich niemand mehr der Theorie verschließen, dass es in allen Fällen ein und derselbe Täter gewesen war. Der Schrecken, der mit dem Tod von Art‐ emus Healey begonnen hatte, war jetzt über Beacon Hill, durch die Charles Street und Back Bay und über die Brücke bis nach Cambridge vorgedrungen. Auf einmal schien es gar nicht so weit hergeholt, an eine Heimsuchung, eine Apokalypse zu glauben. Longfellow blieb an der letzten Ecke vor Craigie House ste‐ hen. »Könnte es sein, dass wir verantwortlich sind?« »Auf gar keinen Fall!« »Sie müssen ehrlich mit mir sein. Glauben Sie ...« Longfellows
Worte gingen halb im gellenden Schrei eines kleinen Mädchens unter, der durch die Brattle Street hallte. Longfellow bekam weiche Knie, denn er meinte gehört zu haben, dass der Schrei aus seinem Haus gekommen war. Er wusste, dass er jetzt, so schnell er konnte, die verschneite Brattle Street entlanglaufen musste, aber einen Moment lang lähmten ihn seine Gedanken wie einen, der aus einem furchtbaren Albtraum erwacht und in seinem friedlichen Zimmer nach Anzeichen eines blutigen Verbrechens sucht. Erinnerungen brachen über ihn herein. Wa‐ rum konnte ich dich nicht retten? »Soll ich mein Gewehr holen?«, fragte Lowell in höchster Panik. Longfellow rannte los. Die beiden Männer erreichten das Haus etwa gleichzeitig, eine bemerkenswerte Leistung für Longfellow, der im Gegensatz zu seinem Nachbarn nicht an körperliche Anstrengungen gewöhnt war. Sie stürmten hinein. Im Salon fanden sie Charley Longfel‐ low, der niedergekniet war und versuchte, die aufgeregte kleine Annie Allegra zu beruhigen, die jauchzend ihre Freude über die Geschenke ihres Bruders ausdrückte. Trap kläffte begeistert, wedelte mit seinem dicklichen Schwanz und bleckte die Zähne zu einem fast menschlich anmutenden Lächeln. Alice Mary kam in die Diele und begrüßte die beiden Männer. »Ach, Papa«, rief sie. »Charley ist gerade zu Thanksgiving nach Hause gekommen! Und er hat uns französische Jacken mitgebracht!« Sie stolzierte in ihrer rot und schwarz gestreiften Jacke vor Longfellow und Lowell auf und ab. »Wunderbar siehst du aus!«, sagte Charley anerkennend. Er umarmte seinen Vater. »Aber, Papa, du bist ja kreidebleich! Fühlst du dich nicht wohl? Ich wollte dich doch nur überra‐
schen. Vielleicht bist du schon zu alt für so etwas.« Er lachte. Die Farbe war in Longfellows Gesicht zurückgekehrt, als er Lowell beiseite nahm. »Mein Charley ist heimgekommen«, sag‐ te er vertraulich, als ob Lowell es noch nicht wüsste. Später am Abend, als die Kinder schon schliefen und Lowell sich verab‐ schiedet hatte, lehnte Longfellow sich an sein Stehpult und strich mit der Hand über die glatte Holzplatte, auf der er den größten Teil seiner Übersetzung geschrieben hatte. Nach seiner ersten Dante‐Lektüre hatte er sich eingestehen müssen, dass er kein Vertrauen zu dem großen Dichter hatte. Wie sollte das, was so wunderbar begonnen hatte, enden? Aber Dante hatte sich so wacker geschlagen, dass Longfellow aus dem Staunen nicht mehr herauskam, nicht nur über seine große Kraft, son‐ dern auch über seine Ausdauer. Der Stil steigerte sich mit dem Thema und schwoll an wie eine steigende Flut, und mit der Zeit riss diese Woge den mit Zweifeln und Ängsten beladenen Leser empor. Meistens hatte es den Anschein gehabt, dass Longfellow dem Florentiner gerecht wurde, aber manchmal gab Dante ihm Rätsel auf, und der Sinn des Textes entzog sich allen Worten, aller Sprache. Dann kam sich Longfellow vor wie ein Bildhauer, der, außerstande, die lebendige Schönheit des menschlichen Auges in Marmor wiederzugeben, seine Zuflucht zu einem Kunstgriff nehmen muss, das Auge vertieft und die Stirn er‐ habener herausmeißelt, als sie es beim lebenden Modell ist. A‐ ber Dante widerstand jedem mechanischen Eingriff, verwei‐ gerte sich, forderte Geduld. Immer wenn Übersetzer und Dich‐ ter an solch eine Engstelle kamen, hielt Longfellow inne und dachte: Hier hat Dante die Feder weggelegt ‐ alles, was folgen
sollte, war noch eine große Leere. Wie sollte sie ausgefüllt wer‐ den? Welche neuen Gestalten sollten eingeführt, welche neuen Namen geschrieben werden? Dann nahm der Dichter die Feder wieder zur Hand und schrieb mit dem Ausdruck der Freude oder des Unmuts im Gesicht weiter an seinem Buch ‐ und Longfellow folgte ihm unverzagt. Ein leises Kratzgeräusch wie von Fingernägeln an einer Schie‐ fertafel drang an die dreieckigen Ohren von Trap, der zusam‐ mengerollt vor Longfellows Füßen lag. Es klang wie Eis, das im Wind am Fenster scharrt. Um zwei Uhr morgens übersetzte Longfellow noch immer. Obwohl der Ofen glühte und das Kaminfeuer loderte, kletterte das Quecksilber nicht höher als bis zur sechzehnten Stufe seiner kleinen Treppe, um dann entmutigt wieder zu fallen. Er stellte eine Kerze an ein Fenster und schaute durch ein anderes zu den hübsch mit Schnee gefiederten Bäumen hinaus. Kein Lüftchen regte sich, und bei der Beleuchtung sahen sie aus wie große, luftige Christbäume. Als er die Läden schloss, fielen ihm ein paar seltsame Kratzer in einer der Scheiben auf. Er stieß die Lä‐ den wieder auf. Das Geräusch war doch nicht durch kratzendes Eis entstanden: Ein spitzer Gegenstand hatte Linien in das Glas geritzt. Im ersten Moment waren die eingekratzten Worte unle‐ serlich: ENOIZUDART AIM AL. Longfellow entzifferte sie so‐ gleich, zog aber trotzdem Mantel, Hut und Schal an und ging hinaus, wo er die Drohung klar und deutlich lesen konnte, während er mit dem Finger über die eingeritzten Worte strich. LA MIA TRADUZIONE: »Meine Übersetzung.«
XII Polizeichef Kurtz sollte in ein paar Stunden mit dem Zug auf Reisen gehen, um vor Stadträten und Bildungsvereinen in Neu‐ england eine Reihe von Vorträgen über neue Methoden der Po‐ lizeiarbeit zu halten. Zu Rey sagte er: »Um den Ruf unserer Stadt zu retten, wie die Stadtverordneten behaupten. Lügner.« »Warum dann?« »Um mich von den Detectives fern zu halten. Laut Beschluss bin ich bei uns der einzige Polizeibeamte, der dem Kriminalde‐ zernat Weisungen erteilen darf. Jetzt haben diese Halunken er‐ reicht, was sie wollten: Die Untersuchung ist ganz allein ihre Angelegenheit. Es wird niemand hier sein, der sie aufhalten kann.« »Aber die suchen doch an der falschen Stelle, denen geht es doch nur darum, eine Verhaftung vorweisen zu kön‐ nen.« Kurtz schaute zu ihm auf. »Und Sie, Rey, Sie müssen meinem Befehl gehorchen und hier bleiben. Das wissen Sie. Bis der Fall restlos aufgeklärt ist. Das kann noch Monate dauern.« Rey blinzelte. »Aber ich hab Ihnen so viel zu sagen, Chef ...« »Es ist Ihnen doch klar, dass Sie Detective Henshaw an allem teil‐ haben lassen müssen, was Sie wissen oder zu wissen glauben.« »Chef ...« »Alles, Rey! Soll ich Sie zu Henshaw bringen?« Rey zögerte, dann schüttelte er den Kopf. Kurtz legte Rey die Hand auf den Arm. »Manchmal ist es der einzige Trost, zu wissen, dass man nichts mehr tun kann, Rey.«
Als Rey an dem Abend nach Hause ging, tauchte plötzlich eine verhüllte Frauengestalt neben ihm auf. Sie atmete rasch, und die Atemwölkchen drangen durch ihren dunklen Schleier. Ma‐ bel Lowell schlug die Kapuze zurück, lüftete ihren Schleier und sah Rey durchdringend an. »Officer, erinnern Sie sich an mich? Wir haben uns gesehen, als Sie meinen Vater, Professor Lowell, aufgesucht haben. Ich habe etwas, was Sie sich einmal ansehen sollten.« Sie zog ein dickes Päckchen unter ihrem Umhang hervor. »Wie haben Sie mich gefunden, Miss Lowell?« »Mabel. Halten Sie es für so schwierig, den einzigen farbigen Polizeibeamten von Boston ausfindig zu machen?« Sie lächelte ihn keck an. Rey blieb stehen und nahm das Päckchen entgegen. Er zog ein paar Seiten heraus. »Ich glaube, das kann ich nicht annehmen. Es gehört doch Ihrem Vater?« »Ja«, sagte sie. Es waren die Fahnenabzüge von Longfellows Dante‐Übersetzung, mit zahlreichen Randbemerkungen von Lowell. »Ich glaube, Vater hat bestimmte Aspekte von Dantes Dichtung in diesen seltsamen Morden entdeckt. Ich weiß nicht so gut über die Details Bescheid wie Sie und könnte nie mit ihm darüber sprechen, ohne mich schrecklich aufzuregen, also bitte verraten Sie mich nicht. Es war ganz schön mühselig, in Vaters Arbeitszimmer herumzuschnüffeln, ohne erwischt zu werden.« »Ich bitte Sie, Miss Lowell«, seufzte Rey. »Mabel. Bitte, Officer. Vater erzählt seiner Frau fast nichts, und mir noch weniger. Ich weiß nur eines: Seine Dante‐Bücher liegen nur noch herum. Seit Wochen spricht er mit seinen Freunden über nichts anderes mehr ‐ und mit einer Angst und
Besorgnis, wie sie der Mitglieder eines Übersetzerclubs unwür‐ dig ist. Eines Tages habe ich eine Skizze von einem Mann mit brennenden Füßen gefunden, zusammen mit ein paar Zei‐ tungsausschnitten über Reverend Talbot: Auch seine Füße, so wird behauptet, waren verkohlt, als er gefunden wurde. Und wenn ich mich recht erinnere, habe ich erst vor ein paar Mona‐ ten gehört, wie mein Vater den Gesang von den korrupten Kle‐ rikern mit seinen Studenten Mead und Sheldon durchgenom‐ men hat.« Rey führte sie in den Hof eines Gebäudes, und dort fanden sie eine leere Bank. »Mabel, Sie dürfen niemandem sa‐ gen, dass Sie das wissen«, ermahnte sie der Polizist. »Das wür‐ de nur noch mehr Verwirrung stiften und Ihren Vater und seine Freunde ‐und ich fürchte, auch Sie ‐ in Gefahr bringen. Es gibt Leute, die ein Interesse daran haben, sich diese Informationen zunutze zu machen.« »Sie haben das schon gewusst, nicht wahr? Dann müssen Sie doch auch einen Plan haben, wie Sie diesem Wahnsinn Einhalt gebieten können.« »Wenn ich ehrlich sein soll, ich weiß es nicht.« »Sie können doch nicht einfach zusehen, wenn Vater ... Bitte.« Sie gab ihm noch einmal das Päckchen mit den Korrekturfahnen. Ihre Au‐ gen füllten sich mit Tränen. »Nehmen Sie. Lesen Sie es, bevor er es vermisst. Ihr Besuch bei uns hatte sicher etwas mit der Ge‐ schichte zu tun, und ich weiß, dass Sie helfen können.« Rey un‐ tersuchte das Päckchen. Er hatte seit der Vorkriegszeit kein Buch mehr gelesen. Dabei hatte er damals mit geradezu be‐ ängstigender Gier ein Buch nach dem anderen verschlungen, vor allem nachdem seine Adoptiveltern und deren Töchter ge‐
storben waren: Geschichtsbücher, Biographien und sogar Ro‐ mane. Jetzt wäre es ihm überheblich und nachgerade unan‐ ständig vorgekommen, ein Buch zu lesen. Er las nur noch Zei‐ tungen und amtliche Verlautbarungen, die keine Macht über seine Gedanken ausüben konnten. »Vater ist manchmal ziemlich brüsk ‐ ich weiß, welchen Ein‐ druck Fremde von ihm haben können. Aber er hat in seinem Leben viel durchgemacht, innerlich und äußerlich. Er lebt in ständiger Angst, das Schreiben zu verlernen. Aber ich habe nie den Dichter in ihm gesehen, immer nur meinen Vater.« »Sie brauchen sich keine Sorgen um ihn zu machen.« »Also werden Sie ihm helfen?«, fragte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Kann ich irgendetwas dazu beitragen? Damit ihm nichts geschieht?« Rey schwieg. Passanten warfen den beiden neugierige Blicke zu, und er schaute weg. Mabel lächelte traurig und rutschte ans andere Ende der Bank. »Ich verstehe. Sie sind genau wie mein Vater. Man darf mich nicht mit wichtigen Dingen betrauen, nehme ich an. Aus ir‐ gendeinem Grund dachte ich, Sie wären anders.« Einen Mo‐ ment lang empfand Rey zu viel Sympathie, um zu antworten. »Miss Lowell, das ist eine Sache, in die man sich besser nicht einmischen sollte, wenn man die Wahl hat.« »Aber ich habe keine Wahl«, sagte sie, zog ihren Schleier vors Gesicht und lief zur Haltestelle der Pferdebahn. Professor George Ticknor, ein alter, hinfälliger Mann, wies sei‐ ne Frau an, den Besucher heraufzuschicken. Ein seltsames Lä‐
cheln erschien auf seinem breiten, markanten Gesicht. Sein e‐ hemals schwarzes Haar war bis in den Nacken und zu den Ko‐ teletten hinab ergraut und unter seinem Scheitelkäppchen be‐ denklich ausgedünnt. Hawthorne hatte Ticknors Nase einmal als das Gegenteil einer Adlernase bezeichnet, ein Mittelding zwischen Stups‐ und Himmelfahrtsnase. Longfellow betrat schüchtern die Bibliothek, in der Hand ein Gastgeschenk. Es war ein goldgesäumtes Säckchen. »Bitte be‐ halten Sie doch Platz, Professor Ticknor«, sagte er besorgt. Ticknor bot ihm Zigarren an, die, nach den rissigen Umhüllun‐ gen zu schließen, schon seit vielen Jahren den seltenen Gästen angeboten wurden, die durchweg dankend ablehnten. »Mein lieber Mr. Longfellow, was haben Sie mir denn da mitge‐ bracht?« Longfellow legte das Säckchen auf Ticknors Schreib‐ tisch. »Etwas, was Sie meiner Meinung nach mehr als jeder an‐ dere werden sehen wollen.« Ticknor sah ihn erwartungsvoll an. Seine schwarzen Augen waren unergründlich. »Ich habe es heute Morgen aus Italien bekommen. Lesen Sie den beigelegten Brief.« Er gab ihn Ticknor. Absender war George Marsh vom Florentiner Kuratorium. Er versicherte Longfellow, es gebe keinerlei Grund zu der Sorge, seine Über‐ setzung des Inferno könnte vom Kuratorium abgelehnt werden. Ticknor las vor: »>Der Herzog von Caetani und das Komitee werden mit Dankbarkeit die erste amerikanische Nachschöp‐ fung des großen Gedichts als Beitrag zu den Jubiläumsfeiern entgegennehmen und sie zugleich als Huldigung der Neuen Welt an einen der größten Kulturschätze der Heimat ihres Ent‐
deckers Columbus betrachten.<« »Warum sind Sie trotzdem besorgt?«, fragte Ticknor. Longfel‐ low lächelte. »Ich nehme an, Mr. Marsh will mir auf diese de‐ zente Art nahe legen, mich zu sputen.« Ticknor las weiter: »>Bitte nehmen Sie als Zeichen der Aner‐ kennung unseres Komitees für Ihren hochwillkommenen Bei‐ trag eines der sieben Säckchen mit Dante Alighieris Asche ent‐ gegen, die kürzlich seinem Grab in Ravenna entnommen wur‐ de.<« Ticknors Wangen röteten sich leicht vor Freude, und sein Blick wanderte zu dem Säckchen. Seine Wangen hatten schon lange nicht mehr jene kräftige Röte, die früher zusammen mit seinem dunklen Haar manchen zu der Annahme verleitet hatte, er sei Spanier. Er schnürte das Säckchen auf und betrachtete den Inhalt, bei dem es sich auch um gewöhnlichen Kohlenstaub hätte handeln können. Ticknor ließ etwas davon durch seine Finger rinnen, wie der müde Pilger das heilige Wasser, an das er endlich gelangt ist. »Wie viele Jahre habe ich auf der weiten Welt nach anderen Dante‐Gelehrten Ausschau gehalten ‐ und mit wie wenig Er‐ folg!«, sagte er. Er schluckte schwer und überlegte. Wie viele Jahre? »Ich habe versucht, meiner Familie zu schildern, warum Dante einen anderen Menschen aus mir gemacht hat. Ist Ihnen aufgefallen, Longfellow, dass es letztes Jahr keine Gesellschaft, keinen Club gab, der nicht eine Feier zur dreihundertsten Wie‐ derkehr von Shakespeares Geburtstag abgehalten hätte? Doch wie viele, von Italien einmal abgesehen, halten Dantes Geburts‐ tag für beachtenswert? Shakespeare bringt uns dazu, uns selbst zu erkennen. Dante, der alle anderen seziert, leitet uns an, unser
Gegenüber kennen zu lernen. Aber sagen Sie mir, Longfellow, wie ist es Ihnen mit Ihrer Übersetzung ergangen?« Longfellow holte tief Luft. Dann erzählte er von den Morden, von Richter Healey, der als laue Seele bestraft worden war, von Elisha Talbot, den die Strafe für die Simonisten ereilt hatte, und von Phineas Jennison, der wie ein Zwietrachtstifter hatte büßen müssen. Er erklärte, warum der Dante Club Luzifers Weg durch die Stadt verfolgt hatte und seine Mitglieder zu der Er‐ kenntnis gelangt waren, dass sie ihm durch das gemeinsame Übersetzen den Weg geebnet hatten. »Sie können uns helfen«, sagte Longfellow. »Heute beginnt eine neue Phase in unserem Kampf.« »Helfen.« Ticknor kostete das Wort wie jungen Wein und ver‐ zog dann angewidert das Gesicht. »Helfen wobei, Longfellow?« Longfellow lehnte sich überrascht zurück. »Der Versuch, so etwas aufzuhalten, ist töricht«, sagte Ticknor ablehnend. »Haben Sie gewusst, Longfellow, dass ich angefan‐ gen habe, meine Bücher wegzugeben?« Er zeigte mit seinem Ebenholzstock auf die Bücherregale an den Wänden. »Ich habe bereits dreitausend Bände der Public Library geschenkt, Stück für Stück.« »Eine noble Geste, Professor«, sagte Longfellow an‐ erkennend. »Stück für Stück, bis, so steht zu fürchten, nichts mehr von mir übrig ist.« Er verzog wehmütig lächelnd den Mund. »Meine allererste Erinnerung ist der Tod von Washing‐ ton. Als mein Vater an dem Tag nach Hause kam, brachte er kein Wort heraus, so erschüttert war er; es machte mir schreck‐ liche Angst, dass es ihm so schlecht ging, und ich flehte Mutter an, einen Arzt zu holen. Ein paar Wochen lang trugen alle, so‐
gar die kleinen Kinder, Trauerflor am Ärmel. Haben Sie sich jemals gefragt, warum man ein Mörder ist, wenn man einen einzigen Menschen umbringt, aber ein Held, wenn man wie Washington Tausende auf dem Gewissen hat? Ich habe früher einmal gedacht, ich könnte die Zukunft unserer literarischen Arenen durch Studium und Lehre sichern, wie es der Tradition entspricht. Dante hoffte, seine Dichtung möge nach seinem Tod eine neue Heimat finden, und so habe ich mich vierzig Jahre lang für ihn abgemüht. Das von Mr. Emerson prophezeite Schicksal der Literatur hat sich durch die von Ihnen geschilder‐ ten Ereignisse vollzogen ‐ Literatur kann Leben einhauchen und Tod bringen, kann bestrafen und lossprechen.« »Ich weiß, Sie können nicht gutheißen, was geschehen ist, Professor Ticknor«, sagte Longfellow nachdenklich. »Dante herab‐ gewürdigt zum Instrument für Mord und persönliche Rache.« Ticknors Hände zitterten. »Hier wird nun endlich ein alter Text in eine gegenwärtige Kraft verwandelt, Longfellow, eine Urteilskraft, vor unseren Augen! Nein, wenn das, was Sie be‐ schrieben haben, zutrifft, wenn die Welt erfährt, was in Boston geschehen ist ‐ und sei es erst in zehn Jahrhunderten ‐, wird Dante nicht entwürdigt, nicht beschädigt, nicht zunichte ge‐ macht. Er wird verehrt werden als der erste wahre Dichter, der die erhabene Kraft dieser Literatur in Amerika freigesetzt hat!« »Dante hat geschrieben, um uns der Zeit zu entheben, da der Tod unbegreiflich war. Er schrieb, um uns den Glauben an das Leben zurückzugeben, Professor, in einer Zeit, da er uns ab‐ handen gekommen ist, um uns vor Augen zu führen, dass un‐ ser Leben und unsere Gebete Gott wichtig sind.«
Ticknor seufzte entsagungsvoll und schob das goldverzierte Säckchen von sich. »Vergessen Sie Ihr Geschenk nicht, Mr. Longfellow.« Longfellow lächelte. »Sie haben als Erster daran geglaubt, dass es möglich ist.« Er legte das Säckchen mit der Asche in Ticknors alte Hände, und dieser hielt es gierig fest. »Ich bin zu alt, um noch irgendjemandem zu helfen, Longfel‐ low«, entschuldigte sich Ticknor. »Aber darf ich Ihnen einen Rat geben? Sie sind nicht Luzifer auf der Spur‐ der kann die von Ihnen geschilderten Verbrechen nicht begangen haben. Lu‐ zifer erweist sich als die Dummheit in Person, als Dante ihn schließlich stumm und schluchzend im eiskalten Cocytus fin‐ det. Sehen Sie, hierin triumphiert Dante über Milton ‐ wir wün‐ schen uns einen klugen, überlegenen Luzifer, den wir besiegen könnten, aber Dante macht es uns nicht so leicht. Nein, Sie sind hinter Dante her ‐ er entscheidet, wer bestraft werden soll und wohin er gehen, welche Qualen er erleiden muss. Es ist der Dichter, der diese Urteile fällt, doch indem er sich zum Wande‐ rer macht, will er uns vergessen machen: Wir glauben, auch er ist ein unschuldiger Zeuge von Gottes Werk.« James Russell Lowell sah unterdessen in Cambridge Gespen‐ ster. Als er im hereinflutenden Winterlicht in seinem Sessel saß, sah er so deutlich das Gesicht seiner ersten Frau Maria vor sich, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. »Es wird schon werden«, sagte er immer wieder. »Es wird schon werden.« Sie hatte Wal‐ ter auf dem Schoß und sagte zu Lowell: »Schau nur, was für ein prachtvoller Knabe aus ihm geworden ist.«
Fanny Lowell erzählte ihm später, er habe wie in Trance dage‐ sessen, und bestand darauf, dass er zu Bett ging. Sie wollte ei‐ nen Arzt rufen, oder Dr. Holmes, falls ihm das lieber sei. Aber Lowell beachtete sie nicht, er fühlte sich so glücklich. Er verließ Elmwood durch die Hintertür. Seine arme Mutter hatte ihm in der Pflegeanstalt immer versichert, dass sie sich während ihrer Anfälle durchaus wohl fühle. Dante hatte gesagt, kein Schmerz sei größer, als sich im Elend der Zeiten des Glücks zu erinnern, aber damit hatte er falsch gelegen ‐ völlig falsch, dachte Lowell. Am glücklichsten sind wir in den Zeiten der Trauer und der Wehmut. Freude und Trauer sind Schwestern und, wie Holmes sagte, einander auch sehr ähnlich, sonst würden uns nicht beide gleichermaßen zu Tränen rühren. Er sah seinen armen kleinen Sohn Walter, Marias früh verstorbenes letztes Kind, seinen rechtmäßigen Erben, deutlich vor sich, während er durch die Straßen ging und an etwas anderes zu denken versuchte, an irgendetwas anderes, nur nicht an die liebe Maria. Aber Walters geisterhafte Gegenwart war weniger ein Bild als ein schatten‐ haftes Gefühl, das in ihm war, so wie eine Schwangere das he‐ ranwachsende Leben in ihrem Leib spürt. Er meinte auch Pietro Bachi zu sehen, der an ihm vorüberging, mit einem spöttischen Grinsen, als wollte er sagen: »Ich werde immer da sein und Sie an Ihr Scheitern erinnern.« Sie haben nie für etwas gekämpft, Lo‐ well. »Sie sind gar nicht hier!«, murmelte Lowell, und ein Ge‐ danke fuhr ihm durch den Kopf: Wäre er nicht von Anfang an so von Bachis Schuld überzeugt gewesen und hätte er etwas von Holmesʹ Skepsis besessen, dann hätten sie den Mörder möglicherweise gefunden und Phineas Jennison wäre noch am
Leben. Plötzlich sah er vor sich einen schneeweißen Gehrock, einen weißen Zylinder und einen goldbeschlagenen Spazier‐ stock. Phineas Jennison! Lowell rieb sich die Augen. Aufgrund seines Gemütszustands, der ihm durchaus bewusst war, wollte er seinen Augen nicht trauen, aber er sah wirklich und wahrhaftig, wie Jennison Pas‐ santen mit der Schulter streifte, während andere ihm mit be‐ fremdetem Blick auswichen. Er war wirklich da. In Fleisch und Blut. Er war am Leben. Jennison!, wollte Lowell rufen, aber seine Kehle war zuge‐ schnürt. Er wollte losrennen, aber er war wie gelähmt. »O Jen‐ nison!« Als seine Stimme wiederkehrte, schössen ihm die Trä‐ nen in die Augen. »Phinny, Phinny, ich bin hier, ich bin hier! Jemmy Lowell, sehen Sie? Ich habe Sie noch nicht verloren!« Er drängelte sich rücksichtslos zwischen den Passanten durch und riss Jennison an der Schulter herum. Der Schock war grausam. Es war Phineas Jennisons maßgeschneiderter Rock, es war sein Zylinder, und es war sein Spazierstock, aber er blickte in ein altes Gesicht, das mit Dreck verschmiert, unrasiert und missge‐ staltet war. Der Alte zitterte unter Lowells Griff. »Jennison«, sagte Lowell. »Bitte, zeigen Sie mich nicht an, Sir. Mir war kalt ...« Der Mann erklärte: Er sei der Obdachlose, der den gefolterten Jennison ge‐ funden habe. Er habe die schönen Kleider ordentlich zusam‐ mengefaltet auf dem Boden des Lagerraums gefunden, in dem der tote Jennison gehangen habe. Der Harvard Yard war schneebedeckt. Vergeblich suchte Lo‐
well den Campus nach Edward Sheldon ab. Er hatte ihm am Donnerstagabend einen Brief geschickt, nachdem er ihn mit dem Phantom gesehen hatte, und ihn aufgefordert, sofort in Elmwood zu erscheinen. Aber Sheldon hatte nicht reagiert. Von Kommilitonen Sheldons erfuhr er, dass er schon ein paar Tage lang nicht mehr gesehen worden war. Vorbeikommende Stu‐ denten erinnerten ihn an seine Vorlesung ‐ er war schon spät dran. »Bin ich der richtige Mann, begabte junge Menschen zu leiten und zu unterweisen? Keineswegs!«, hörte sich Lowell nach dem ersten Drittel seiner Vorlesung über Don Quixote sa‐ gen. »Professor zu sein«, philosophierte er weiter, »ist nicht gut für mich. Mein Pulver wird dadurch feucht, gewissermaßen. So kommt es, dass mein Verstand, wenn er überhaupt zündet, träge an der widerstrebenden Lunte entlangzüngelt, anstatt den Sprung zum ersten Funken zu tun.« Zwei besorgte Studenten wollten ihn unter den Armen fassen, als es den Anschein hatte, dass er jeden Moment umsinken würde. Er wankte zum Fenster und streckte den Kopf hinaus, die Augen geschlossen. Doch statt die erhoffte kühle Luft zu spüren, traf ihn unversehens ein Hitzestoß, als wollte die Hölle ihn an Nase und Wangen kitzeln. Er rieb die Enden seines Schnauzbarts, und auch sie fühlten sich feucht und warm an. Er öffnete die Augen und sah unten im Hof ein flammendes Drei‐ eck. Hals über Kopf verließ er den Hörsaal und lief die Stein‐ treppe hinab. Im Harvard Yard prasselte ein gefräßiges Feuer. Würdige Männer standen im Halbkreis darum herum und starrten fasziniert in die Flammen. Sie speisten das Feuer mit
Büchern, die sie von einem großen Stapel nahmen. Es waren die Unitaristischen und Kongregationalistischen Geistlichen der Stadt, Fellows der Harvard Corporation und Mitglieder des Aufsichtsrats der Universität. Einer nahm eine Abhandlung und warf sie unter allgemeinen Hurra‐Rufen wie einen Ball in die Flammen. Lowell lief hin, kniete nieder und zog das Buch heraus. Da der Einband schon zu sehr verkohlt war, als dass man ihn hätte lesen können, schlug er die versengte Titelseite auf: Zur Verteidigung von Charles Darwin und seiner Evolutionsleh‐ re. Professor Louis Agassiz stand ihm gegenüber auf der ande‐ ren Seite des Scheiterhaufens, das Gesicht durch Qualm und Hitze verzerrt. Der Wissenschaftler winkte ihm mit beiden Händen freundlich zu. »Wie gehtʹs Ihrem Bein, Mr. Lowell? Das hier ‐das ist unvermeidlich, Mr. Lowell, obgleich es schade ist um das gute Papier.« Durch ein beschlagenes Fenster der grotesk gotischen, granite‐ nen Gore Hall, der College‐Bibliothek, schaute Augustus Man‐ ning, der Schatzmeister der Corporation, auf die Szene hinab. Lowell lief zu dem wuchtigen Eingangstor und durch die Halle, dankbar, dass sich sein Zustand mit jedem Schritt wieder festig‐ te. In der Gore Hall waren Kerzen und Gaslampen wegen der Brandgefahr verboten, daher waren die Bibliotheksnischen und die Bücher in Dämmer gehüllt. »Manning!«, rief Lowell und zog sich damit einen Tadel des Bibliothekars zu. Manning hielt sich auf der Galerie oberhalb des Lesesaals auf und sammelte Bücher ein. »Sie haben doch jetzt Vorlesung, Pro‐
fessor Lowell. Die Studenten sich selbst zu überlassen gilt an dieser Universität als Pflichtverletzung.« Lowell musste sich mit dem Taschentuch den Schweiß abwi‐ schen, bevor er die Galerie erklomm. »Sie wagen es, an einer Stätte der Gelehrsamkeit Bücher zu verbrennen!« Die Kupfer‐ rohre der modernen Heizungsanlage der Gore Hall waren nicht ganz dicht, sodass ständig Dampfschwaden durch die Biblio‐ thek zogen, die auf den Fenstern, den Büchern und den Studen‐ ten zu Wassertröpfchen kondensierten. »Die religiöse Welt schuldet uns und vor allem Ihrem Freund Professor Agassiz Dank dafür, dass wir so beherzt gegen die monströse Irrlehre vorgehen, wir stammten von den Affen ab, Professor. Ihr Vater wäre sicher mit uns einer Meinung gewe‐ sen.« »Agassiz ist zu intelligent«, sagte Lowell, als er oben am Trep‐ penabsatz angekommen war. »Er wird sich noch von Ihnen los‐ sagen, verlassen Sie sich drauf! Nichts, was das Denken aus‐ schließt, wird je vor dem Denken sicher sein!« Manning lächel‐ te, doch sein Lächeln schien sich nach innen zu wenden. »Ach, wissen Sie, ich habe über die Corporation hunderttausend Dol‐ lar für Agassizʹ Museum flüssig gemacht. Ich bin ganz sicher, dass Agassiz immer genau dort stehen wird, wo ich ihn haben will.« »Warum, Dr. Manning? Warum hassen Sie die Ideen ande‐ rer?« Manning sah Lowell von der Seite an. Als er ihm antwor‐ tete, verlor er die Kontrolle über seine Stimme. »Wir waren ein nobles Land, mit einfacher Moral und einfacher Justiz, das letz‐ te verwaiste Kind der großen römischen Republik. Und jetzt
erstickt unsere Welt im Würgegriff von Infiltratoren und neu‐ modischen Ansichten über Moral, die mit jedem Ausländer und jeder neuen Idee eingeschleppt werden und gegen alle Grund‐ sätze verstoßen, auf denen Amerika aufgebaut wurde. Sie sehen es doch selbst, Professor. Meinen Sie, wir hätten vor zwanzig Jahren Krieg gegen uns selbst geführt? Wir sind vergiftet wor‐ den. Der Krieg, unser Krieg, ist noch lange nicht vorbei. Er fängt erst an. Wir haben Dämonen in die Luft, die wir atmen, entweichen lassen. Revolutionen, Morde, Diebstähle beginnen in unserer Seele und verbreiten sich durch die Straßen, dringen in unsere Häuser ein.« So emotional hatte Lowell Manning noch nie erlebt. »Oberrichter Healey hat im selben Jahr seinen Abschluss gemacht wie ich, Lowell ‐ er war einer unserer be‐ sten Aufsichtsräte ‐, und jetzt ist er tot, umgebracht von einer Bestie, deren einziges Wissen das Wissen um den Tod ist! Die Gemüter Bostons stehen unter beständigem Beschuss. Harvard ist das letzte Bollwerk zum Schutz unserer Überlegenheit. Und die Universität untersteht nun einmal mir!« Manning wuchs über sich hinaus: »Sie, Professor, können sich den Luxus der Rebellion nur leisten, weil Sie keine Verantwortung zu tragen haben. Sie sind ein Dichter.« Lowell merkte, dass er zum ersten Mal seit Jennisons Tod aufrecht stand. Das gab ihm Kraft. »Wir haben vor hundert Jahren eine ganze Menschenrasse in Ketten gelegt, und da fing der Krieg an. Amerika wird wachsen, und wenn Sie heute noch so viele Geister in Ketten legen, Manning. Sie haben Houghton mit Konsequenzen für den Fall gedroht, dass er Longfellows Dante‐Übersetzung druckt.« Manning trat wieder ans Fenster und ergötzte sich am Anblick
des Feuers. »Und so wird es kommen, Professor Lowell. Italien ist eine Welt schlimmster Leidenschaften und lockerster Sitten. Ich würde es begrüßen, wenn Sie der Gore Hall einige Exem‐ plare zum Geschenk machten, wie es irgendein törichter Wis‐ senschaftler auch bei diesen Darwin‐Büchern für richtig gehal‐ ten hat. Das Machwerk wird in dem Feuer da enden ‐ eine War‐ nung an alle, die versuchen, unsere Institution in einen Hort für ihre abscheulichen Gewaltlehren zu verwandeln.« »Das werde ich niemals zulassen«, erwiderte Lowell. »Dante ist der erste christliche Dichter, der Erste, dessen ganzes Denken von einer rein christlichen Theologie durchdrungen ist. Und das Werk steht uns sogar noch näher. Es ist die wahre Geschichte eines Mitmenschen, einer in Versuchung geführten, geläuterten und letztlich obsiegenden Seele; es lehrt die wohltuenden Wir‐ kungen des Leidens. Dante ist das erste Schiff, das sich jemals auf das weite Meer des menschlichen Bewusstseins hinausge‐ wagt hat, um eine neue Welt der Poesie zu entdecken. Zwanzig Jahre lebte er mit seinem Leid und gestattete sich nicht zu ster‐ ben, ehe er sein Werk vollendet hatte. Und das wird auch Long‐ fellow nicht tun. So wenig wie ich.« Lowell wandte sich ab und begann die Treppe hinabzustei‐ gen. »Bravo, Professor!« Manning sah ihm mit kaltem Blick nach. »Aber vielleicht teilt ja nicht jedermann Ihre Ansichten. Ich habe einen merkwürdigen Besuch von einem Polizisten be‐ kommen, einem gewissen Rey. Er hat sich nach Ihnen und Ihrer Arbeit an Dante erkundigt. Wollte nicht erklären, warum, und hat sich ziemlich plötzlich verabschiedet. Können Sie mir sagen, warum Ihre Arbeit die Polizei veranlasst, sich an unsere alt‐
ehrwürdige >Stätte der Gelehrsamkeit< zu begeben?« Lowell blieb mitten auf der Treppe stehen. Manning faltete die Hände über der Brust. »Der eine oder an‐ dere vernünftige Mensch aus Ihrem Kreis wird sich erheben und Sie verraten, Lowell ‐ verlassen Sie sich darauf. Kein Verein von Aufständischen hält lange zusammen. Wenn Mr. Hough‐ ton nicht bereit ist, Ihnen Einhalt zu gebieten, wird es ein ande‐ rer tun. Beispielsweise Dr. Holmes.« Lowell horchte auf. »Ich habe ihm vor vielen Monaten nahe gelegt, sich von dem Übersetzungsprojekt zu distanzieren, sonst würde sein Ruf er‐ heblich Schaden nehmen. Wie, glauben Sie, hat er sich entschie‐ den?« Lowell zuckte die Achseln. »Er hat mich bei mir zu Hause aufgesucht und mir anvertraut, dass er meine Einschätzung teilt.« »Sie lügen, Manning!« »Demnach stünde also Dr. Holmes nach wie vor voll hinter dem Projekt?«, fragte er, als wüsste er viel mehr, als Lowell sich vorstellen konnte. Lowell biss sich auf seine zitternde Lippe. Manning schüttelte den Kopf und lächelte. »Das armselige Männchen wartet wie einstens Benedict Arnold auf weitere An‐ weisungen, Professor Lowell.« »Glauben Sie mir, wenn ich ein Mal eines Mannes Freund bin, bin ich es immer ‐ und es ist auch nicht allzu schwer, mich dazu zu bringen. Und obwohl es jedem frei steht, sich als mein Feind zu fühlen, kann er mich nur so lange zu seinem Feind machen, wie ich es wünsche. Guten Tag.« Lowell verstand sich darauf, ein Gespräch so zu beenden, dass der andere unzufrieden zu‐
rückblieb. Manning folgte Lowell in den Lesesaal hinunter und hielt ihn am Arm fest. »Ich begreife nicht, wie Sie Ihren guten Namen, alles, wofür Sie Ihr Leben lang gearbeitet haben, für so etwas aufs Spiel setzen können, Professor.« Lowell machte sich los. »Aber ist es nicht Ihr sehnlichster Wunsch, das ebenfalls zu tun, Manning?« Er kam noch rechtzeitig in den Hörsaal zurück, um seine Stu‐ denten zu entlassen. Wenn der Mörder auf irgendeine Weise den Fortgang ihrer Ü‐ bersetzung verfolgt hatte und ihnen bis zur Vollendung eine Nasenlänge voraus bleiben wollte, dann hatte der Dante Club kaum eine andere Wahl, als die letzten dreizehn Gesänge des Inferno so schnell wie möglich fertig zu stellen. Die Freunde kamen überein, sich in zwei Gruppen aufzuteilen: eine Ermitt‐ ler‐ und eine Übersetzergruppe. Lowell und Fields sollten sich um die Auswertung der ge‐ wonnenen Erkenntnisse bemühen, Longfellow und George Wa‐ shington Greene mit Hochdruck an der Übersetzung weiterar‐ beiten. Fields hatte Greene zu dessen großer Freude mitgeteilt, dass im Hinblick auf die bevorstehende Vollendung ein stren‐ ger Zeitplan für die Übersetzung aufgestellt worden sei: Es ge‐ be neun noch nicht besprochene Gesänge, einen teilweise über‐ setzten und zwei, mit denen Longfellow selbst noch nicht ganz zufrieden sei. Longfellows Diener Peter werde die bearbeiteten Korrekturfahnen jeweils sofort in die Druckerei bringen und dabei Trap mitnehmen, der etwas Ertüchtigung dringend nötig habe. »Das leuchtet mir nicht ein.«
»Dann schlagen Sie doch etwas anderes vor, Lowell«, sagte Fields. Er saß in dem großen Sessel in der Bibliothek, der ein‐ mal Longfellows Großvater gehört hatte, einem berühmten Ge‐ neral des Unabhängigkeitskrieges. Er beobachtete Lowell auf‐ merksam. »Setzen Sie sich. Sie sind ja ganz rot im Gesicht. Ha‐ ben Sie geschlafen?« Lowell ging nicht darauf ein. »Wodurch könnte sich Jennison denn als Zwietrachtstifter erwiesen haben? Vor allem in diesem Bereich der Hölle ist jeder der Schatten, mit denen Dante spricht, typisch für die betreffende Sünde.« »Solange wir nicht wissen, warum Luzifer Jennison ausge‐ wählt hat, können wir nur versuchen, möglichst viele Schlüsse aus dem zu ziehen, was wir an Einzelheiten über den Mord kennen«, sagte Fields. »Auf jeden Fall zeigt es, wie stark Luzifer sein muss. Jennison war Bergsteiger im Adirondack Club, er war Sportsmann und Jäger, und trotzdem hatte unser Luzifer anscheinend keinerlei Mühe, ihn zu überwältigen.« »Er hat ihn zweifellos mit einer Waffe bedroht«, sagte Fields. »Auch der stärkste Mann der Welt muss klein beigeben, wenn sein Gegner eine Feuerwaffe hat, Lowell. Außerdem wissen wir, dass unser Mörder es versteht, sich unsichtbar zu machen. Seit der Nacht, in der Talbot starb, tun überall in der Stadt Strei‐ fenpolizisten Dienst, zu jeder Tages‐ und Nachtzeit. Fest steht auch, dass sich Luzifer genau an die Einzelheiten von Dantes Gesang hält.« »Während Longfellow nebenan einen weiteren Vers über‐ setzt«, sagte Lowell benommen, »kann jeden Augenblick der
nächste Mord geschehen, und wir werden nichts dagegen tun können.« »Drei Morde und kein einziger Zeuge. Zeitlich präzi‐ se abgestimmt auf unsere Übersetzungen. Was sollen wir tun, durch die Straßen wandern und warten? Ein weniger aufge‐ klärter Mensch würde meinen, wir hätten es mit einem verita‐ blen Dämon zu tun.« »Wir müssen unser Augenmerk stärker auf die Beziehungen des Mörders zu unserem Club richten«, sagte Lowell. »Konzen‐ trieren wir uns darauf, all jene aufzuspüren, die irgendwie über den Zeitplan unserer Übersetzung Bescheid wissen könnten.« Lowell blätterte das Notizbuch durch, in dem die Einzelheiten ihrer Nachforschungen festgehalten waren, und strich dabei geistesabwesend über eines der Sammlerstücke in der Biblio‐ thek, eine Kanonenkugel, die von den Briten gegen General Washingtons Truppen in Boston abgefeuert worden war. Es klopfte an der Haustür, aber sie achteten nicht darauf. »Ich ha‐ be Houghton schriftlich gebeten, einmal nachzusehen, ob nicht vielleicht Druckfahnen der Übersetzung aus der Druckerei ver‐ schwunden sind«, sagte Fields. »Wir wissen, dass alle drei Morde ihre Vorbilder in den Gesängen haben, die zum jeweili‐ gen Zeitpunkt noch nicht fertig übersetzt und durchgesprochen waren. Longfellow muss weiter die Fahnen in der Druckerei abliefern, als wäre alles in Ordnung. Ach, übrigens, haben Sie etwas von dem jungen Sheldon gehört?« Lowell zog die Stirn in Falten. »Er hat noch nicht geantwortet, und er hat sich auch nicht auf dem Campus blicken lassen. Er ist der Einzige, der uns etwas über das Phantom sagen könnte, da er neulich mit ihm geredet hat.«
Fields stand auf und beugte sich zu Lowell hinab. »Sind Sie ganz sicher, dass Sie gestern dieses >Phantom< gesehen haben, Jamey?« Lowell war überrascht. »Was soll diese Frage, Fields? Ich habe es Ihnen doch schon gesagt ‐ ich habe den Mann zum ersten Mal gesehen, als er im Harvard Yard an einem Baum lehnte und mich beobachtete, und dann wieder, als er auf Bachi wartete. Und gestern im erregten Wortwechsel mit Sheldon.« Fields verkrampfte sich innerlich. »Das kommt alles nur davon, dass wir solche Ängste ausstehen müssen, mein lieber Lowell. Ich schlafe in letzter Zeit sehr unruhig und wache jede Nacht mehrmals auf.« Lowell warf empört das Notizbuch auf den Boden. »Soll das heißen, ich habe mir das nur eingebildet?« »Sie haben mir selbst erzählt, Sie hätten heute Jennison zu se‐ hen geglaubt, und Bachi und Ihre erste Frau und Ihren toten Sohn«, schrie Fields. »Was denn noch alles?« Lowells Oberlippe zitterte. »Ich bitte Sie, Fields. Das ist die letzte Drehung der Daumenschraube ...« »Bitte beruhigen Sie sich, Lowell. Ich wollte Sie nicht anschrei‐ en. Es tut mir Leid.« »Sie sollten doch besser wissen als wir, was jetzt zu tun ist, Fields. Wir sind schließlich nur Dichter! Aber Sie müssten doch erklären können, wie es möglich ist, dass jemand so genau über den Fortgang der Übersetzung Bescheid weiß.« »Was wollen Sie denn nun damit andeuten, Lowell?« »Ganz einfach: Wer au‐ ßer uns ist so genau unterrichtet über die Aktivitäten des Dante Club? Die Schriftsetzer, die Drucker, die Buchbinder ‐ und alle haben Geschäftsbeziehungen zu Ticknor & Fields.«
»Das ist ja die Höhe!« Fields war außer sich. »Wollen Sie jetzt alles auf mich schieben?« Die Verbindungstür zum Arbeitszimmer ging auf. »Meine Herrn, tut mir Leid, aber ich muss Sie unterbrechen«, sagte Longfellow und betrat zusammen mit Rey das Zimmer. Lowell und Fields erschraken. Lowell betete eine ganze Litanei von Gründen herunter, warum Rey sie nicht verhaften konnte. Longfellow lächelte nur. »Professor Lowell«, sagte Rey. »Bitte, ich bin hier, weil ich Sie alle um Erlaubnis bitten möchte, Ihnen jetzt zu helfen.« Lowell und Fields vergaßen ihren Streit augenblicklich und begrüßten Rey überschwänglich. »Bitte verstehen Sie, mir geht es einzig und allein darum, wei‐ tere Morde zu verhindern«, stellte Rey klar. »Und um sonst gar nichts.« »Unser einziges Ziel ist das nicht«, sagte Lowell nach einer langen Pause. »Aber wir werden ohne Hilfe nicht mit der Sache fertig, so wenig wie Sie. Dieser Schurke hinterlässt auf allem, was er anrührt, das Zeichen Dantes, und es ist absolut lebensge‐ fährlich für Sie, einen Schritt in diese Richtung zu machen, ohne einen Übersetzer an Ihrer Seite zu haben.« Longfellow überließ sie ihrem Gespräch und ging ins Arbeits‐ zimmer zurück. Er und Greene saßen an diesem Tag schon über dem dritten Gesang. Sie hatten um sechs Uhr morgens angefan‐ gen und über Mittag durchgearbeitet. Longfellow hatte Holmes ausrichten lassen, dass seine Hilfe erwünscht sei, aber noch keine Antwort aus der Charles Street 21 bekommen. Longfel‐ low hatte Fields gefragt, ob man Lowell nicht zureden sollte,
sich mit Holmes auszusöhnen, aber Fields riet dazu, den beiden noch etwas Zeit zu geben. Longfellow nahm sich wieder seine Notizen zum Fünften Ge‐ sang des Inferno vor, dessen Fertigstellung er seit Monaten hi‐ nausgeschoben hatte. Das war der Kreis der Wollüstigen. Der Höllensturm jagt die Sünder sinnlos umher, so wie sie sich im Leben sinnlos von ihren Lüsten haben umherjagen lassen. Der Pilger bittet, mit Francesca sprechen zu dürfen, einer schönen jungen Frau, die von ihrem Mann erschlagen wurde, nachdem dieser sie in leidenschaftlicher Umarmung mit seinem Bruder Paolo ertappt hatte. Mit dem stummen Geist ihres Geliebten neben sich schwebt sie an Dantes Seite. »Als Francesca Dante unter Tränen ihre Geschichte erzählt, will sie nicht zugeben, dass sie und Paolo einfach ihrer Leiden‐ schaft erlagen«, bemerkte Greene. »Ganz recht«, sagte Longfellow. »Sie berichtet, sie hätten von Ginevras und Lancelots Kuss gelesen, als ihre Blicke sich über dem Buch trafen, und sie sagt sittsam: >An jenem Tage lasen wir nicht weiter.< Paolo nimmt sie in die Arme und küsst sie, doch Francesca gibt nicht ihm die Schuld, sondern dem Buch, das sie zueinander geführt hat. >Der Verführer war das Buch und derʹs geschrieben<.« Greene schloss die Augen, aber nicht, weil er, wie so oft wäh‐ rend ihrer Besprechungen, schläfrig wurde. Er glaubte, ein Ü‐ bersetzer müsse sich ganz in den Autor hineindenken, und das tat er jetzt. »Und so verbüßen die beiden die perfekte Strafe ‐ sie sind für immer zusammen, dürfen sich aber nie mehr küssen oder den Überschwang des Liebeswerbens empfinden, sondern
müssen Seite an Seite Qualen erdulden.« Longfellow drehte sich um und sah die goldenen Locken und das ernste Gesicht von Edith, die ins Arbeitszimmer hinein‐ schaute. Unter dem Blick ihres Vaters zog sich das Mädchen in den Flur zurück. Longfellow schlug Greene vor, eine Pause einzulegen. Die Männer in der Bibliothek hatten ihre Diskussion ebenfalls be‐ endet, damit Rey Longfellows Aufzeichnungen über ihre Er‐ mittlungen durchsehen konnte. Greene vertrat sich im Garten die Füße. Longfellow stellte ein paar Bücher an ihren Platz, und seine Gedanken wanderten zurück in die Zeit, als dieses Haus noch nicht ihm gehört hatte. In seinem Arbeitszimmer hatte General Nathanael Greene, der Großvater ihres Greene, mit General George Washington Kriegsrat gehalten, als die Nach‐ richt vom Eintreffen der Briten kam und alle Generäle in den Raum gestürmt kamen und ihre Perücken suchten. Ebenfalls in diesem Zimmer war, einem von Greenes historischen Werken zufolge, Benedict Arnold niedergekniet und hatte seinen Treue‐ schwur geleistet. Longfellow schob diese Gedanken beiseite und ging in den Salon, wo er seine Tochter Edith in einem Louis‐XVI.‐Sessel vorfand. Sie hatte den Sessel dicht vor die Marmorbüste ihrer Mutter gezogen. Fannys edles Antlitz war immer da, wenn das Mädchen es brauchte. Longfellow spürte jedes Mal, wenn er ein Bild seiner Frau betrachtete, die freudige Erregung, die schon in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft über ihn gekommen war. Fanny war nie aus dem Zimmer ge‐ gangen, ohne ihm das Gefühl zu geben, dass sie einen Teil des Lichts mitnahm.
Edith hielt den Nacken gebeugt, um ihr Gesicht zu verbergen. Longfellow lächelte liebevoll. »Na, wie gehtʹs denn meinem kleinen Liebling?« »Tut mir Leid, dass ich euch belauscht habe, Papa. Ich wollte dich etwas fragen und habe zufällig gehört, was ihr gesagt habt. In diesem Gedicht«, sagte sie scheu, aber nicht ohne Neugier, »ist von so traurigen Dingen die Rede.« »Ja, manchmal verlangt das die Muse. Der Dichter hat die Pflicht, von unseren schwersten Zeiten genauso ehrlich zu be‐ richten wie von den glücklichen, Edith, denn manchmal findet man nur durch die tiefste Dunkelheit zum Licht. Nichts anderes tut Dante.« »Dieser Mann und die Frau in dem Gedicht, warum müssen sie so hart dafür bestraft werden, dass sie einander lieben?« Ei‐ ne Träne trübte ihre himmelblauen Augen. Longfellow setzte sich in den Sessel, nahm sie auf den Schoß und umfing sie mit den Armen. »Der Dichter dieses Werkes hieß eigentlich Durante, hat seinen Namen aber in einer spiele‐ rischen Laune in Dante geändert. Er hat vor ungefähr sechs‐ hundert Jahren gelebt. Er wusste selbst sehr gut, was Liebe ist ‐ deshalb schreibt er so. Du kennst doch das Marmorfigürchen über dem Spiegel im Arbeitszimmer?« Edith nickte. »Nun, das ist Signor Dante.« »Dieser Mann? Er sieht aus, als müsste er die Last der ganzen Welt tragen.« »Ja.« Longfellow lächelte. »Und er liebte von ganzem Herzen ein Mädchen, das er vor langer Zeit kennen gelernt hatte, als sie, na ja, nicht viel jünger war als du, mein Schatz ‐ Beatrice
Portinari. Sie war neun, als er sie zum ersten Mal sah, bei einem Fest in Florenz.« »Beatrice«, sagte Edith. Sie stellte sich vor, wie man den Na‐ men schreiben müsste, und dachte an die Puppen, für die sie noch keinen Namen gefunden hatte. »Bice — so haben ihre Freundinnen sie genannt. Aber Dante nie. Er hat sie immer nur bei ihrem vollen Namen genannt ‐ Beatrice. Wenn sie in der Nähe war, ergriff solche Schüchtern‐ heit sein Herz, dass er den Blick nicht heben und ihren Gruß nicht erwidern konnte. Dann wieder nahm er allen Mut zu‐ sammen und wollte sie ansprechen, aber sie ging einfach an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. In Florenz flüsterte man hin‐ ter vorgehaltener Hand: >Das ist keine Sterbliche. Sie ist eine von Gottes Auserwählten.<« »Das haben sie von ihr gesagt?« Longfellow musste lachen. »Jedenfalls hat Dante das gehört, denn er war sehr verliebt, und wenn man verliebt ist, hört man die anderen den preisen, den man selbst preist.« »Hat Dante um ihre Hand angehalten?«, fragte Edith hoffnungsvoll. »Nein. Sie hat nur einmal das Wort an ihn gerichtet, ihm gu‐ ten Tag gesagt. Beatrice hat einen anderen Florentiner geheira‐ tet. Dann erkrankte sie an einem Fieber und starb. Dante hat ebenfalls geheiratet und eine Familie gegründet. Aber er hat seine erste Liebe nie vergessen. Er hat sogar seine Tochter Bea‐ trice genannt.« »Hat ihm das seine Frau nicht übel genommen?«, erkundigte sich Edith stirnrunzelnd. Longfellow nahm eine von Fannys weichen Bürsten und strich
damit über ihr Haar. »Wir wissen nicht viel von Donna Gem‐ ma. Aber wir wissen, dass Dante, als er in der Lebensmitte eine schwere Zeit durchmachte, eine Vision von Beatrice hatte. Aus dem Himmel schickte sie ihm einen Begleiter, der ihm half, ein Reich der Dunkelheit zu durchqueren, um wieder zu ihr zu ge‐ langen. Als Dante bei dem Gedanken an dieses Martyrium ver‐ zagt, erinnert ihn sein Führer: »>Kommst du erst vor das Strah‐ lenantlitz jener, die mit dem schönen Auge alles sieht, wird sie dir deines Lebens Reise sagen.< Verstehst du, Liebes?« »Aber warum hat er Beatrice so sehr geliebt, wenn er nie mit ihr ge‐ sprochen hat?« Longfellow bürstete weiter ihr Haar. Die Frage überraschte ihn. »Er hat einmal gesagt, Liebes, dass sie Gefühle in ihm weckte, für die er keine Worte fand. Was hätte einen Dichter wie Dante mehr fesseln können als ein Gefühl, das sich seinen Versen entzog?« Edith überließ ihren Vater seinen Gedanken. Longfellow lauschte ihren Schritten nach, die sich die Treppe hinauf entfernten, und blieb im Schatten der Marmorbüste sit‐ zen, die überglänzt war von der Traurigkeit seiner Tochter. »Ah, hier sind Sie.« Greene war im Salon erschienen. »Ich habe mir etwas die Füße vertreten. Jetzt bin ich bereit, zu unseren Gesängen zurückzukehren! Wohin sind denn Lowell und Fields verschwunden?« »Die gehen spazieren, nehme ich an.« Lowell hatte sich bei Fields für sein Aufbrausen entschuldigt, und sie hatten beschlossen, ein bisschen frische Luft zu schnap‐ pen. Longfellow wurde bewusst, wie lange er im Salon gesessen
hatte. Seine Gelenke knackten hörbar, als er aus dem Sessel auf‐ stand. »Genau genommen«, sagte er mit einem Blick auf die Uhr, die er aus der Westentasche zog, »sind sie schon eine gan‐ ze Weile weg.« Fields hatte auf ihrem Weg durch die Brattle Street Mühe, mit Lowell Schritt zu halten. »Ich finde, wir sollten umkehren, Lo‐ well.« Fields war froh, als Lowell abrupt stehen blieb. Aber der Dich‐ ter schaute mit beängstigender Intensität geradeaus. Unverse‐ hens zog er Fields hinter den Stamm einer Ulme und forderte ihn leise auf, einmal nach vorn zu schauen. Fields tat es und sah gerade noch eine hohe Gestalt mit Bowler‐Hut und karierter Weste um eine Ecke biegen. »Lowell, beruhigen Sie sich! Wer war das?« »Nur der Mann, der mich im Harvard Yard beobachtet hat! Und sich dann mit Bachi getroffen hat! Und dann den erregten Wortwechsel mit Sheldon hatte!« »Ihr Phantom?« Lowell nickte triumphierend. Sie gingen dem Mann unauffällig nach. Lowell achtete darauf, dass sie genügend Abstand hielten. »Du meine Güte!«, sagte Fields. »Er geht auf Ihr Haus zu!« Der Fremde blieb am weißen Gartenzaun von Elmwood stehen. »Lowell, wir müssen mit ihm reden.« »Vielleicht will er ja genau das! Nein, nein, ich habe eine viel bessere Idee, wie wir diesem Schuft das Handwerk legen kön‐ nen«, sagte Lowell. Er führte Fields um Remise und Schuppen herum und durch den Hintereingang ins Haus. Dann wies er sein Hausmädchen an, den Besucher zu empfangen, der jeden
Moment klingeln werde. Sie solle ihn in ein bestimmtes Zim‐ mer im zweiten Stock bringen und die Tür schließen. Er holte seine Jagdflinte aus der Bibliothek und stieg mit Fields die enge Dienstbotentreppe hinauf. »Jamey! Was um Himmels willen haben Sie vor?« »Ich werde dafür sorgen, dass das Phantom nicht wieder entkommt ‐ je‐ denfalls nicht, bevor wir erfahren haben, was wir wissen wol‐ len«, sagte Lowell. »Sind Sie noch bei Sinnen? Wir lassen lieber Rey holen.« Lo‐ wells hellbraune Augen färbten sich grau. »Jennison war mein Freund. Er hat unter diesem Dach mit uns gespeist, hier in mei‐ nem Esszimmer. Er hat meine Servietten an den Mund geführt und aus meinen Weingläsern getrunken. Und jetzt ist er in Stü‐ cke geschnitten! Ich bin nicht gesonnen, mich weiter um die Wahrheit herumzudrücken, Fields!« Das Zimmer am oberen Ende der Treppe, Lowells ehemaliges Kinderzimmer, stand leer und wurde nicht geheizt. Aus dem Dachfenster hatte man einen weiten Blick und sah sogar einen Teil von Boston. Als er jetzt hinausschaute, sah er die vertraute lang gezogene Biegung des Charles River und die weiten Felder zwischen Elmwood und Cambridge. Die flachen Sümpfe am anderen Ufer lagen still unter ihrer glitzernden Schneedecke. »Lowell, Sie werden noch jemanden umbringen mit dem Ding da! Als Ihr Verleger befehle ich Ihnen, auf der Stelle die Flinte wegzulegen!« Lowell hielt Fields den Mund zu und bedeutete ihm, die ge‐ schlossene Tür im Auge zu behalten. Mehrere Minuten verstri‐ chen, dann hörten die beiden Gelehrten, die hinter dem Sofa
kauerten, die Schritte des Hausmädchens, das den Gast die Vordertreppe hinaufgeleitete. Seiner Anweisung gemäß führte sie den Fremden in das Zimmer und machte sofort die Tür von außen zu. »Hallo?«, sagte der Mann in dem leeren, eiskalten Zimmer. »Was ist denn das für ein Salon? Was soll das?« Lowell stand langsam auf und richtete seine Flinte auf die ka‐ rierte Weste des Mannes. Der Fremde erschrak. Er zog einen Revolver aus seinem Geh‐ rock und richtete ihn auf den Lauf von Lowells Flinte. Der Dichter ließ sich nicht beirren. Die rechte Hand des Fremden zitterte stark, der lederne Wulst seines behandschuhten Fingers rieb am Abzug des Revolvers. Lowell hob die Flinte über seinen Schnauzbart, der in dem schwachen Licht kohlschwarz wirkte, kniff ein Auge zu und vi‐ sierte mit dem anderen am Lauf der Flinte entlang. Mit zusam‐ mengebissenen Zähnen sagte er: »Na los, aber egal, was Sie ma‐ chen, Sie werden verlieren. Entweder schicken Sie uns in den Himmel« — er spannte den Hahn —, »oder wir schicken Sie in die Hölle.«
XIII Der Fremde behielt seinen Revolver noch einen Moment lang in der Hand und warf ihn dann auf den Teppich. »Nee, das ist die Sache nicht wert.« »Bitte heben Sie die Pistole auf, Mr. Fields«, sagte Lowell zu seinem Verleger, als gehörte das zu dessen täglichen Pflichten. »Also, Sie Halunke, jetzt sagen Sie uns auf der Stelle, wer Sie sind und was Sie hier gewollt haben. Sagen Sie uns, was Sie mit Pietro Bachi zu tun haben und warum Mr. Sheldon Ihnen neu‐ lich auf der Straße Anweisungen gegeben hat. Und vor allem sagen Sie mir, warum Sie in meinem Haus sind!« Fields hob den Revolver vom Boden auf. »Nehmen Sie die Flinte weg, Professor, sonst sag ich gar nichts«, brummelte der Mann. »Tun Sie es«, flüsterte Fields. Lowell senkte das Gewehr. »Also schön, aber ich rate Ihnen, uns die Wahrheit zu sagen.« Er holte einen Stuhl für seine Gei‐ sel, die mehrmals die ganze Szene als »Zirkus« bezeichnete. »Es war ja keine Zeit, uns bekannt zu machen, bevor Sie mir die Flinte an den Kopf gehalten haben«, sagte der Eindringling. »Ich bin Simon Camp, Detektiv bei der Agentur Pinkerton. Dr. Augustus Manning vom Harvard College hat mich engagiert.« »Dr. Manning!«, rief Lowell. »Und zu welchem Zweck?« »Ich sollte mir mal die Kurse über diesen Dante ansehen, um festzu‐ stellen, ob sich nachweisen lässt, dass er einen >verderblichen Einfluss< auf die Studenten ausübt. Ich bin beauftragt, ent‐
sprechende Nachforschungen anzustellen und über meine Er‐ kenntnisse zu berichten.« »Und was für Erkenntnisse haben Sie gewonnen?« »Ich bearbeite für die Detektei Pinkerton den ganzen Raum Boston. Dieser kleine Fall steht nicht gerade ganz oben auf mei‐ ner Liste, Professor, aber ich habe meine Arbeit getan. Zum Bei‐ spiel habe ich einen der früheren Lehrer, einen Mr. Bachi, gebe‐ ten, sich mit mir auf dem Campus zu treffen«, sagte Camp. »Ich habe mit mehreren Studenten gesprochen, zwei aus diesem Jahrgang und einige aus früheren Jahren. Dieser arrogante jun‐ ge Schnösel, Mr. Sheldon, hat mir keineswegs Anweisungen erteilt, Professor. Er hat mir gesagt, an wen ich mich mit meinen Fragen wenden soll, und seine Ausdrucksweise war ein biss‐ chen zu forsch, als dass ich sie vor so feinen Samtkragenröcken wiederholen möchte.« »Und was haben die anderen gesagt?«, wollte Lowell wissen. Camp schnaubte verächtlich. »Meine Arbeit ist vertraulich, Pro‐ fessor. Aber ich war trotzdem der Meinung, dass es an der Zeit ist, persönlich mit Ihnen zu sprechen und Sie nach Ihrer An‐ sicht über diesen Dante zu fragen. Das ist der Grund, warum ich in Ihr Haus gekommen bin. Auf einen so herzlichen Emp‐ fang war ich allerdings nicht vorbereitet!« Fields blinzelte verwirrt. »Hat Manning Sie ausdrücklich be‐ auftragt, mit Lowell zu sprechen?« »Ich bin nicht sein Diener, Sir«, erwiderte Camp hochmütig. »Das ist mein Fall. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen.« »Jedenfalls kann Manning sich auf etwas gefasst machen!« Lo‐ well sprang auf und beugte sich über Simon Camp. »Sie sind
gekommen, um zu hören, was ich sage, stimmtʹs, Sir? Und ich sage: Sie hören sofort mit dieser Hexenjagd auf, verstanden!« »Da geb ich keinen Pfifferling drauf, Professor!«, sagte Camp ihm ins Gesicht. »Ich habe einen Auftrag, und ich lasse mich nicht davon abbringen, von niemandem ‐ weder von diesem Harvard‐Großkotz noch von einem alten Sturkopf wie Ihnen! Sie können mich niederschießen, wenn Sie wollen, aber was ich anfange, bringe ich auch zu Ende!« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ich bin kein Amateur.« Fields glaubte plötzlich zu wissen, weshalb der Mann in Wirk‐ lichkeit gekommen war. »Vielleicht können wir uns ja irgend‐ wie einigen«, sagte er und entnahm seiner Börse ein paar Goldstücke. »Wie wäre es, wenn Sie die Arbeit an diesem Fall auf unbegrenzte Zeit zurückstellten, Mr. Camp?« Er ließ mehrere Münzen in Camps offene Hand fallen. Der De‐ tektiv wartete geduldig, und Fields gab ihm noch zwei, womit er ein gezwungenes Lächeln erntete. »Und mein Revolver?« Fields gab ihm auch den Revolver. »Na, wer sagtʹs denn, Gentlemen. Hin und wieder lässt sich ein Fall doch zur allseitigen Zufriedenheit lösen.« Camp ver‐ beugte sich, ging die Treppe hinunter und verließ das Haus. »Einen solchen Menschen bezahlen zu müssen!«, sagte Lowell. »Woher wussten Sie denn, dass er das Geld nehmen würde, Fields?« »Bill Ticknor hat immer gesagt, dass die Leute gern Gold in der Hand spüren«, sagte Fields. Das Gesicht an das Dachfenster gedrückt, beobachtete Lowell, wie Simon Camp zum Gartentor ging und dabei fröhlich die
Goldstücke klimpern ließ. In dieser Nacht saß Lowell, von Erschöpfung überwältigt, still wie eine Statue in seinem Musikzimmer. Vor dem Eintreten hatte er gezögert, als würde er im Sessel vor dem Kamin den wahren Besitzer des Raums vorfinden. Mabel schaute aus dem Nebenzimmer herein. »Vater? Es gibt etwas, worüber ich gern mit dir reden würde.« Bess, der Neu‐ fundländer‐Welpe, kam angaloppiert und leckte Lowell die Hand. Lowell lächelte, aber es machte ihn über die Maßen trau‐ rig, weil er an die phlegmatischen Begrüßungen von Argus denken musste, seinem alten Neufundländer, Bessʹ Vorgänger, der auf einer benachbarten Farm eine tödliche Dosis Gift ge‐ fressen hatte. Mabel zog Bess weg. »Vater«, sagte sie, »wir haben in letzter Zeit so wenig Zeit füreinander gehabt. Ich weiß ...« Sie verzich‐ tete darauf, den Gedanken zu Ende zu führen. »Wie bitte?«, fragte Lowell. »Was weißt du, Mab?« »Ich weiß, dass dich et‐ was beunruhigt, dir keinen Frieden lässt.« Er nahm liebevoll ihre Hand. »Ich bin müde, meine liebe Hopkins.« So hatte er sie schon immer genannt. »Ich gehe zu Bett, und morgen werde ich mich besser fühlen. Du bist ein braves Mädchen, meine Liebe. Und jetzt sag deinem Erzeuger gute Nacht.« Sie gehorchte und gab ihm mechanisch einen Kuss auf die Wange. Oben im Schlafzimmer vergrub Lowell das Gesicht in seinem Lotosblatt‐Kopfkissen und vermied es, seine Frau anzuschauen. Aber schon bald legte er den Kopf in Fanny Lowells Schoß und weinte ununterbrochen, fast eine halbe Stunde. Alle Gefühle,
die er je empfunden hatte, durchströmten ihn; vor seinem inne‐ ren Auge sah er den niedergeschmetterten Holmes im Verlag auf dem Boden liegen, und der zermetzelte Phineas Jennison flehte ihn an, ihn zu retten, ihn von Dante zu erlösen. Fanny kannte ihren Mann und wusste, dass es falsch gewesen wäre, ihn nach dem Anlass seines Kummers zu fragen. Sie kraulte ihm nur das warme, rotbraune Haar und wartete, bis er sich in den Schlaf geschluchzt hatte. »Lowell. Lowell. Bitte, Lowell. Wachen Sie auf! Wachen Sie auf!« Lowell schlug die Augen auf. Grelles Sonnenlicht blendete ihn. »Was ist denn los? Fields?« Fields saß auf der Bettkante, eine zusammengefaltete Zeitung an die Brust gedrückt. »Alles in Ordnung, Fields?« »Nichts ist in Ordnung. Es ist Mittag, Jamey. Fanny sagt, Sie haben den ganzen Vormittag geschlafen wie ein Toter. Fühlen Sie sich nicht wohl?« »Es ist etwas passiert, nicht wahr?«, fragte Lowell mit einem Blick auf die Zeitung. Fields nickte mutlos. »Ich dachte immer, ich wüsste in jeder Situation einen Ausweg. Aber jetzt weiß ich keinen Rat mehr. Ich fühle mich alt und verbraucht. Schauen Sie mich an, Lowell. Ich bin so furchtbar dick geworden, dass meine ältesten Gläu‐ biger mich nicht wiedererkennen würden.« »Fields, bitte ...« »Sie müssen stärker sein als ich, Lowell. Longfellow zuliebe müssen wir ...« »Noch ein Mord?« Fields gab ihm die Zeitung. »Noch nicht. Luzifer ist verhaftet worden.«
Die Zelle auf der Hauptwache maß einen mal gut zwei Meter. Die innere Tür war aus Eisen. Außen befand sich noch eine zweite Tür aus massiver Eiche. Wenn diese geschlossen war, wurde die Zelle zu einem Verlies, in das kein Lichtstrahl drang. Nach einigen Tagen ertrug ein Häftling die Dunkelheit nicht mehr und war dann zu allem bereit, was man von ihm verlang‐ te. Willard Burndy, Bostons zweitbester Tresorknacker nach Langdon W. Peaslee, hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Eichentür drehte, und wurde vom Schein einer Gaslampe geblendet. »Und wenn ihr mich zehn Jahre und einen Tag hier einsperrt, ich gesteh keinen Mord, den ich nicht begangen hab!« »Halt die Klappe, Burndy«, schnauzte der Wärter. »Ich schwöre es, bei meiner Ehre ...« »Bei deiner was?« Der Wärter lachte. »Bei meiner Ehre als Gentleman!« Willard Burndy wurde gefesselt durch den Gang geführt. Die Männer in den anderen Zellen kannten Burndy dem Namen, wenn auch nicht dem Aussehen nach. Er war Südstaatler und nach New York übersiedelt, um sich im Norden am Krieg zu bereichern, und später nach Boston weitergezogen. Mit der Zeit hatte er sich in Unterweltkreisen den Ruf erworben, dass er sich besonders gut darauf verstand, sich an die Witwen reicher Pa‐ trizier heranzumachen, obwohl ihm das selbst gar nicht be‐ wusst war. Es war ihm durchaus nicht recht, als Witwenbetrü‐ ger zu gelten. Er hatte sich nie für einen Fiesling gehalten. Im‐ mer wenn für gestohlene Juwelen oder andere Erbstücke eine Belohnung ausgesetzt wurde, hatte er sich kooperativ gezeigt, einem fairen Detective einen Teil des Diebesguts übergeben
und dafür etwas von der Belohnung eingestrichen. Ein Wärter bugsierte Burndy unsanft in einen Raum und drückte ihn auf einen Stuhl. Er war ein rotgesichtiger Mann mit zerzaustem Haar und so vielen kreuz und quer verlaufenden Falten im Ge‐ sicht, dass er einer Karikatur von Thomas Nast ähnelte. »Und, was für ein Spiel spielen Sie hier?«, fragte Burndy den Mann, der ihm gegenübersaß. »Ich würd Ihnen ja die Hand geben, a‐ ber Sie sehen ja ... Moment, ich hab was über Sie gelesen. Der erste schwarze Polizist. Ein Kriegsheld. Sie waren dabei, als dieser Streuner aus dem Fenster gesprungen ist!« Burndy lachte in der Erinnerung an den zerschmetterten Fensterspringer. »Der Bezirksanwalt will Sie hängen sehen«, sagte Rey leise, und Burndy verging das Lachen. »Die Würfel sind gefallen. Wenn Sie wissen, warum Sie hier sind, dann sagen Sieʹs mir.« »Mein Fach ist Tresorknacken. Ich bin der Beste in Boston, würd ich sagen, auf jeden Fall besser als dieser Pfuscher Langdon Peas‐ lee! Aber ich hab keinen Richter um die Ecke gebracht und auch keinem Pfaffen ein Haar gekrümmt! Ich lass gerade Squire Ho‐ we aus New York kommen, und Sie werden sehen, dass Sie vor Gericht den Kürzeren ziehen!« »Warum sind Sie hier, Burn‐ dy?«, fragte Rey. »Diese falschen Hunde, die Detectives, die fingieren auf Schritt und Tritt Beweise!« Rey wusste, dass das nicht unwahrscheinlich war. »Zwei Zeu‐ gen haben Sie an dem Abend beobachtet, als bei Talbot einge‐ brochen wurde, einen Tag vor seiner Ermordung. Sie haben Sie ins Haus des Reverend gehen sehen. Das stimmt doch, oder? Das ist der Grund, warum Detective Henshaw sich für Sie ent‐ schieden hat. Sie haben genug Sünde im Leib, um die Schuld
auf sich zu nehmen.« Burndy wollte protestieren, aber er zögerte. »Warum sollte ich einem Neger vertrauen?« »Ich möchte, dass Sie sich etwas ansehen«, sagte Rey, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Es könnte Ihnen helfen, wenn Sie verstehen, worum es geht.« Er schob einen verschlossenen Um‐ schlag über den Tisch. Trotz seiner Fesseln gelang es Burndy, den Umschlag mit den Zähnen aufzureißen und den feinen Briefbogen zu entfalten. Er überflog ihn, zerfetzte ihn dann wutentbrannt und fing an, wild um sich zu treten und seinen Kopf immer wieder gegen Wand und Tisch zu schlagen. Oliver Wendell Holmes sah zu, wie das Zeitungspapier sich an den Ecken aufbog, bevor es vom Feuer verzehrt wurde. ...ichter am Obersten Gerichtshof von Massachusetts gefunden, nackt und von Insekten ... Der Doktor übergab einen weiteren Artikel den dankbar auf‐ züngelnden Flammen. Er dachte an Lowells Ausbruch ‐ es stimmte nicht ganz, was dieser über sein blindes Vertrauen in Professor Webster vor fünfzehn Jahren gesagt hatte. Sicher, Boston hatte mit der Zeit den Glauben an den Professor der Medizin verloren, und Hol‐ mes hatte für seine abweichende Meinung gute Gründe gehabt. Er hatte Webster am Tag nach George Parkmans Verschwinden getroffen und mit ihm über den rätselhaften Vorfall gespro‐ chen. Webster war wie immer liebenswürdig gewesen und hat‐ te nicht im Mindesten schuldbewusst gewirkt. Und Websters
spätere Schilderung von seiner letzten Begegnung mit Parkman war in keinem Punkt von den erwiesenen Tatsachen abgewi‐ chen: Parkman sei zu ihm gekommen, um das Geld zurückzu‐ fordern, das er Webster geliehen hatte, Webster habe bezahlt, Parkman habe den Schuldschein zerrissen und sei gegangen. Holmes hatte sich an den Kosten für Websters Verteidigung beteiligt und das Geld in aufmunternde Briefe an Mrs. Webster gelegt. In seiner Zeugenaussage hatte er Webster als Mann von untadeligem Charakter geschildert und es als unvorstellbar be‐ zeichnet, dass er in ein solches Verbrechen verwickelt sein könnte. Außerdem erklärte er den Geschworenen, dass es keine Methode gebe, die menschlichen Überreste in Websters Zimmer zweifelsfrei als die von Dr. Parkman zu bestimmen ‐ obwohl dies andererseits auch nicht ganz auszuschließen sei. Nicht dass es Holmes an Mitgefühl für die Parkmans hätte fehlen lassen. Immerhin war George der bedeutendste Förderer der Medizinischen Fakultät gewesen, hatte deren Einrichtungen an der North Grove Street finanziert und sogar die Parkman‐ Professur für Anatomie und Physiologie gestiftet, also ebenden Lehrstuhl, den Holmes zu der Zeit innehatte. Aber es sei ja auch durchaus denkbar, dass Parkman in geistiger Verwirrung ir‐ gendwo umherirrte, also noch am Leben war. Es gehe nicht an, einen der Ihren aufgrund abenteuerlicher Indizien zum Tod durch den Strang zu verurteilen. Auch müsse man in Erwä‐ gung ziehen, dass vielleicht der Pförtner, den Webster beim Glücksspiel ertappt hatte, aus Angst, seine Anstellung zu ver‐ lieren, menschliche Knochen aus dem reichen Fundus der Me‐ dizinischen Fakultät entwendet und sie so in Websters Räumen
verteilt habe, dass es aussah, als hätte der Professor sie ver‐ steckt. Wie Holmes war auch Webster in gutbürgerlichen Verhältnis‐ sen aufgewachsen, bevor er ans Harvard College ging. Die bei‐ den Mediziner hatten sich nie sehr nahe gestanden. Doch von dem Tag an, als Webster verhaftet worden war und aus Ver‐ zweiflung über die Entehrung seiner Familie versucht hatte, seinem Leben mit Gift ein Ende zu setzen, fühlte sich Holmes ihm enger verbunden als irgendjemandem sonst. Hätte nicht auch er selbst auf solche Weise unschuldig unter Verdacht gera‐ ten können? Mit ihrer geringen Körpergröße, ihren Koteletten und ihrem glatt rasierten Gesicht waren sich die beiden Profes‐ soren äußerlich nicht unähnlich. Holmes war voller Zuversicht gewesen, dass er etwas zur Entlastung seines Kollegen würde beitragen können. Doch dann hatten sie alle vor dem Galgen gestanden. Dieser Tag war ihnen in den Monaten der Zeugen‐ aussagen und Plädoyers so fern, so undenkbar, so abwendbar erschienen. Die feinen Leute von Boston waren zum größten Teil zu Hause geblieben, aus Scham über die Verfehlung von einem aus ihrer Mitte. Hingegen machten Schauerleute, Fabrik‐ arbeiter und Wäscherinnen kein Hehl aus ihrer Schadenfreude über das moralische Debakel und die Demütigung der Patri‐ zier. Ein stark transpirierender J. T. Fields drängte sich durch die Reihen der Gaffer zu Holmes durch. »Meine Kutsche wartet, Wendell«, sagte Fields. »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.« »Fields, sehen Sie denn nicht, was hier geschehen ist?« »Aber,
Wendell«, sagte Fields und legte seinem Autor beide Hände auf die Schultern. »Die Beweise!« Die Polizei versuchte die Richtstätte abzusperren, aber die Sei‐ le reichten nicht. Auf jedem Dach, in jedem Fenster der Gebäu‐ de rings um das Gefängnis in der Leverett Street standen Schaulustige. Holmes verspürte den überwältigenden Drang, mehr zu tun, als nur zuzuschauen. Er würde sich an den Mob wenden. Jawohl, er würde ein improvisiertes Gedicht rezitieren und die Torheit der Stadt anprangern. Schließlich war er der gefeierte Bostoner Meister der Trinksprüche. In seinem Kopf begannen sich Verse zum Lob von Dr. Websters Tugenden zu formen. Zugleich stellte er sich auf die Zehen, um als Erster zu sehen, wie der Bote mit dem Begnadigungsschreiben eintraf oder George Parkman, das vermeintliche Mordopfer, anspaziert kam. »Wenn Webster sterben muss«, sagte Holmes zu seinem Ver‐ leger, »soll er wenigstens nicht ohne Lobspruch sterben.« Er drängte sich zum Gerüst durch. Aber als er den Henkersstrick erblickte, blieb er jählings stehen, und ein Keuchen schüttelte ihn. Es war das erste Mal, dass er wieder in die Nähe der furchtbaren Schlinge geriet, seit er als Junge mit seinem jünge‐ ren Bruder John gerade in dem Moment zum Galgenberg ge‐ schlichen war, als ein frisch Gehenkter unter furchtbaren Zuk‐ kungen sein Leben aushauchte. Dieser Anblick, so glaubte Holmes, hatte ihn zum Arzt und Dichter gemacht. Schweigen senkte sich über den Platz. Holmes suchte den Blick von Webster, der mit unsicheren Schritten die Stufen er‐ klomm, vor dem Gefängniswärter her, der ihn fest an den Ar‐
men gepackt hielt. Als Holmes einen Schritt zurücktrat, stand plötzlich eine von Websters Töchtern vor ihm. Sie hielt einen Brief an die Brust gedrückt. »Oh, Marianne«, sagte Holmes und schloss den kleinen Engel in die Arme. »Vom Gouverneur?« Marianne Webster hielt ihm mit ausgestrecktem Arm den Brief hin. »Vater wollte, dass Sie das lesen, bevor er stirbt, Dr. Holmes.« Holmes drehte sich wieder zum Galgen um. Dem Delinquen‐ ten wurde gerade eine schwarze Kapuze über den Kopf ge‐ stülpt. Holmes öffnete den Umschlag. Mein lieber Wendell, wie kann ich mich unterfangen, Ihnen mit blo‐ ßen Worten meinen Dank auszudrücken für alles, was Sie für mich getan haben? Sie haben ohne den Schatten eines Zweifels an mich geglaubt, und dieser Gedanke wird mir stets Kraft geben. Sie allein haben zu mir gehalten, als die Polizei mich aus der Mitte meiner Lie‐ ben gerissen hatte, als einer nach dem anderen von mir abfiel. Stellen Sie sich vor, wie das ist, wenn Menschen Ihrer eigenen Ge‐ sellschaftsschicht, dieselben, mit denen Sie bei Tisch, gesessen, in der Kirche gebetet haben, Sie voller Abscheu ansehen. Wenn sogar die Augen meiner eigenen lieben Töchter unwillentlich verraten, dass sie der Ehre ihres armen Vaters nicht mehr sicher sind. Doch trotz alledem muss ich Ihnen sagen, mein lieber Holmes, dass ich es getan habe. Ich habe Parkman getötet, seinen Leichnam zerstük‐ kelt und ihn im Ofen meines Labors eingeäschert. Sie müssen wissen, ich war ein Einzelkind, sehr verwöhnt, und habe nie gelernt, die Kon‐ trolle über meine Leidenschaften zu erlangen, die ich schon in jungen
fahren hätte erwerben müssen. Die Folge ist ‐ dies alles! Das gegen mich ergangene Urteil ist gerecht, so wie es auch gerecht ist, dass ich jetzt dem Richterspruch gemäß am Galgen ende. Alle sind im Recht, und ich bin im Unrecht. Ich habe heute Morgen vollständige, wahre Berichte von dem Mord an verschiedene Zeitungen gesandt, und auch an den wackeren Pförtner, den ich so schändlich beschuldigt habe. Wenn ich durch die Hingabe meines Lebens den Schaden, den ich der Rechtsordnung zugefügt habe, auch nur teilweise wieder gutmachen könnte, wäre mir das ein Trost. Zerreißen Sie dies, ohne noch einen weiteren Blick darauf zu werfen. Sie sind gekommen, um zu sehen, wie meine Zeit in Frieden endet. Verweilen Sie nicht bei dem, was ich mit zitternder Hand geschrieben habe, denn ich habe mit einer Lüge gelebt. Während der Brief aus Holmesʹ Händen zu Boden sank, fiel die metallene Klappe, auf der der Mann mit der schwarzen Kapuze stand, und krachte gegen die Balken des Gerüsts. Was Holmes in diesem Augenblick so verstörte, war nicht, dass er nicht mehr an Websters Unschuld glauben konnte, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass unter ähnlich verzweifelten Umständen jeder von ihnen hätte schuldig werden können. Als Arzt hatte Holmes schon immer gewusst, wie unvollkommen die Men‐ schen waren. Und konnte es nicht auch ein Verbrechen geben, das keine Sünde war? Amelia kam herein und strich sich das Kleid glatt. »Oliver Wendell Holmes!«, rief sie. »Ich möchte wissen, was in letzter Zeit in dich gefahren ist.« »Weißt du, was man mir als Kind alles eingeredet hat?«, fragte
Holmes und warf einen Satz Korrekturfahnen ins Feuer, die er von einer Sitzung des Dante Club aufgehoben hatte. In einem Karton bewahrte er alle Dokumente auf, die mit dem Club zu‐ sammenhingen: Longfellows Fahnen, seine eigenen An‐ merkungen, Longfellows Hinweise auf geplante Mittwoch‐ abend‐Sitzungen. Er hatte daran gedacht, eines Tages vielleicht ein Buch über die gemeinsame Übersetzerarbeit zu schreiben. Einmal hatte er es Fields gegenüber erwähnt, und dieser hatte sich sofort Gedanken gemacht, wer eine lobende Kritik zu die‐ sem Buch schreiben könnte. Einmal Verleger, immer Verleger. Holmes warf einen zweiten Stoß Papier ins Feuer. »Unsere vom Land stammenden Dienstboten haben mir erzählt, dass in unse‐ rem Schuppen Dämonen und Teufel hausen. Ein anderer hat mir gesagt, wenn ich meinen Namen mit meinem Blut schriebe, würde Satans Gehilfe oder sogar der Gottseibeiuns höchstper‐ sönlich die Unterschrift an sich bringen und ich wäre von da an sein Knecht.« Holmes kicherte freudlos. »Auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt, einen Mann durch vernünftige Aufklä‐ rung von seinem Aberglauben abzubringen, er wird doch im‐ mer denken wie die Französin über Gespenster: Je nʹy crois pas, mais je les crains. ‐ Ich glaube nicht an sie, aber ich fürchte mich vor ihnen.« »Du hast einmal gesagt, die Glaubensvorstellungen eines Mannes seien so unauslöschlich wie die Tätowierungen eines Südseeinsulaners.« »Ach ja?«, fragte Holmes. »Eine prägnante Wendung. Also hab ich sie wohl wirklich benutzt. Eine Frau könnte sich so et‐ was jedenfalls nicht ausdenken.«
»Wendell!« Amelia stampfte mit dem Fuß auf. »Wenn du mir nur verraten wolltest, was dich so aus dem Takt gebracht hat. Bitte sagʹs mir, Wendell.« Holmes wurde nervös. Er antwortete nicht. »Hast du nicht irgendwelche neuen Verse geschrieben? Ich möchte so gern wieder abends etwas von dir lesen können, weißt du.« »In unserer Bibliothek stehen so viele Bücher«, erwiderte Holmes, »Milton und Donne und Keats in all ihrem Reichtum. Warum also auf etwas Neues von mir warten, liebste Amelia?« Sie beugte sich vor und lächelte. »Ich mag meine Dichter nun mal lieber lebendig als tot, Wendell.« Sie nahm seine Hände. »Willst du mir jetzt erzählen, was dich bedrückt? Bitte.« »Um Verzeihung, wenn ich störe, Madam.« Das rothaarige Dienst‐ mädchen der Holmes kam zur Tür herein. Sie meldete einen Besucher. Holmes nickte zögernd. Das Dienstmädchen ver‐ schwand und führte den Besucher herein. »Er war den ganzen Tag in seiner alten Studierstube. Jetzt ge‐ hört er Ihnen, Sir.« Amelia warf die Arme hoch und zog die Tür hinter sich zu. »Professor Lowell.« »Dr. Holmes.« James Russell Lowell nahm den Hut ab. »Ich kann nicht lange bleiben. Ich wollte Ihnen nur danken für all die Hilfe, die Sie uns gewährt haben. Und ich bitte um Ent‐ schuldigung, Holmes, dass ich Sie angeschrien habe. Und dass ich Ihnen nicht aufgeholfen habe, als Sie am Boden lagen. Und für meine Äußerungen ...« »Keine Ursache, keine Ursache.« Der Doktor warf einen weite‐
ren Stapel ins Feuer. Lowell sah zu, wie die Dante‐Fahnen tan‐ zend gegen die Flammen kämpften und Funken sprühten, wäh‐ rend die Verse eingeäschert wurden. Holmes erwartete, dass Lowell das Spektakel mit einem Auf‐ schrei kommentieren würde, aber er tat nichts dergleichen. »Ei‐ nes weiß ich bestimmt, Wendell«, sagte Lowell und wies mit einem Senken des Kopfes auf den Scheiterhaufen, »nämlich dass ich das bisschen Gelehrsamkeit, das ich besitze, der Be‐ schäftigung mit der Komödie verdanke. Dante war der erste Dichter, der es unternommen hat, ein Gedicht zur Gänze aus dem Stoff zu arbeiten, aus dem er selber war, der Erste, der auf den Gedanken kam, dass nicht nur die Geschichte irgendeines heroischen Menschen epische Qualitäten haben kann, sondern auch die jedes beliebigen Menschen, und dass der Weg in den Himmel nicht außerhalb der Welt verläuft, sondern durch sie hindurch. Wendell, es gibt etwas, was ich schon immer sagen wollte, seit wir Longfellow helfen.« Holmes zog die Augenbrauen hoch. »Als ich Sie vor vielen Jahren kennen lernte, war es mein er‐ ster Gedanke, dass Sie mich stark an Dante erinnerten.« »Ich?«, fragte Holmes mit falscher Bescheidenheit. »Ich und Dante?« Aber er sah, dass es Lowell ernst war. »Ja, Wendell. Dante war bewandert in allen Wissenschaften seiner Zeit, ein Meister der Astronomie, der Philosophie, der Juristerei, der Theologie und der Poesie. Manche sagen sogar, er habe auch eine medizini‐ sche Ausbildung gehabt und sich deshalb so gut vorstellen können, wie der menschliche Körper leidet. Und er hat wie Sie alles, was er machte, gut gemacht. Zu gut, wie manche sagen.«
»Ich habe immer gedacht, dass ich in der geistigen Lebenslot‐ terie einen Gewinn gezogen habe, wenigstens einen von fünf Dollar.« Holmes wandte sich vom Kamin ab und legte die übri‐ gen Fahnen ins Bücherregal zurück. »Ich bin vielleicht faul, Ja‐ mey, oder gleichgültig oder ängstlich, aber auf keinen Fall bin ich einer dieser Männer ... Nur glaube ich im Augenblick nicht daran, dass wir irgendetwas verhindern können.« »Das Knallen des Korkens hat anfangs viel Macht über die Imagination«, sag‐ te Lowell und lachte nachdenklich. »Ich glaube, wenigstens für ein paar Stunden habe ich in all der Wirrnis vergessen, dass ich Professor bin, und mich wie ein reales Wesen gefühlt. Ich ge‐ stehe, dass >Tue recht, scheue niemand, und wärʹs der Him‐ mel< eine bewundernswerte Devise ist, bis einen der Himmel beim Wort nimmt. Ich weiß, was Zweifeln bedeutet, liebster Freund. Aber wenn Sie Dante aufgeben, müssen wir anderen es auch tun.« »Wenn Sie wüssten, wie mir der Anblick von Phineas Jennison ins Gedächtnis eingebrannt ist ... zerschnitten und bluttriefend ... Wenn wir hier scheitern, könnte die Folge ...« »Das zweit‐ größte denkbare Unglück sein, Wendell. Das größte wäre es, Angst davor zu haben«, sagte Lowell und strebte gelassen zur Tür. »Nun, ich wollte vor allem meine Entschuldigung vorbrin‐ gen, Fields hat darauf bestanden. Es ist mein größtes Glück, dass ich bei allen Unzulänglichkeiten meines Charakters noch immer einen guten Freund zu verlieren habe.« Er griff nach der Türklinke und wandte sich dann noch einmal um. »Und ich mag Ihre Gedichte. Das wissen Sie, mein lieber Holmes.« »Ja? Ich danke Ihnen, aber vielleicht sind meine Gedichte doch ein
bisschen zu sprunghaft. Ich glaube, es liegt in meiner Natur, nach allen Früchten der Gelehrsamkeit zu greifen, auf der Son‐ nenseite kräftig hineinzubeißen ‐ und dann die Schweine rein‐ zulassen. Ich bin ein Pendel mit einem sehr kleinen Ausschlag.« Holmesʹ Blick traf auf die großen, offenen Augen des Freundes. »Wie ist es Ihnen die letzten Tage ergangen, Lowell?« Lowell zuckte mit den Achseln. Holmes wollte es dabei nicht bewenden lassen. »Ich verkneife es mir, Ihnen >nur Mut< zuzurufen, denn Männer des Geistes lassen sich nicht von den Zufälligkeiten eines Tages oder eines Jahres unterkriegen.« »Wir alle kreisen um Gott, in geringerer oder weiterer Entfer‐ nung. Wendell, ich glaube, manchmal ist die eine Hälfte von uns im Licht, manchmal die andere. Manche Menschen sind offenbar immer im Schatten. Sie, Wendell, sind einer der weni‐ gen, denen ich mein Herz öffnen kann ... Tja.« Der Dichter räusperte sich unwirsch und senkte die Stimme. »Ich muss zu einer wichtigen Konferenz auf Schloss Craigie.« »Ja? Und die Verhaftung von Willard Burndy?«, fragte Hol‐ mes mit gespieltem Interesse, bevor Lowell zur Tür hinaus war. »Rey ist in diesem Moment dabei, der Sache auf den Grund zu gehen. Glauben Sie, es ist nichts dran?« »Alles aus der Luft gegriffen, keine Frage!«, erklärte Holmes. »Aber die Zeitungen schreiben, dass der Staatsanwalt versu‐ chen wird, ihn an den Galgen zu bringen.« Lowell stopfte seine ungebärdigen Locken in seinen Zylinder. »Dann müssen wir noch einen Sünder retten.« Holmes saß noch lange, nachdem Lowells Schritte auf der Treppe verhallt waren,
vor seinem Dante‐Karton. Er warf weiter Fahnenabzüge ins Feuer, fest entschlossen, die schmerzliche Aufgabe hinter sich zu bringen, hielt aber immer wieder inne, um die eine oder an‐ dere Passage zu lesen. Anfangs las er wie bei einer Fahnenkorrektur ‐ aufmerksam zwar, aber ohne innere Anteilnahme. Dann las er immer schnel‐ ler und gieriger und nahm die Worte noch in sich auf, während sich das Papier schon zu schwärzen begann. Er kam sich vor wie ein Entdecker und musste daran denken, wie Professor Ticknor zum ersten Mal mit prophetischem Ernst von der Wir‐ kung gesprochen hatte, die Dante dereinst in Amerika erzielen würde. Dante und Vergil begegnen den Teufeln von Malebran‐ che. Dante erinnert sich: »So furchtsam sah ich einstens die Sol‐ daten, die nach dem Pakte aus Caprona kamen und die sich zwischen so viel Feinden sahen.« Dante erinnerte sich an die Schlacht von Caprona gegen die Pisaner, in der er gekämpft hatte. Holmes dachte, dass Lowell bei seiner Aufzählung von Dantes Fähigkeiten etwas vergessen hatte: Dante war auch Soldat gewesen. Und er hat wie Sie alles gut gemacht. Und auch im Gegensatz zu mir, dachte Holmes. Er fragte sich, ob es Dante zu einem besseren Dichter gemacht hat‐ te, dass er neben sich seine Freunde für Florenz fallen sah, für irgendein bedeutungsloses guelfisches Banner. Wendell junior war in seinem ersten Harvard‐Jahr Klassenpoet gewesen ‐ nur deshalb, sagten viele, weil er den Namen seines berühmten Va‐ ters trug ‐, aber Holmes bezweifelte, dass sein Sohn auch nach dem Krieg noch Sinn für Dichtung hatte. Auf dem Schlachtfeld hatte der Junior Dinge gesehen, die ihm die Dichtkunst ‐ und
den Dichter ‐ein für alle Mal ausgetrieben hatten. Eine Stunde lang blätterte Holmes so die Fahnen durch. Er hätte liebend gern den Zweiten Gesang des Inferno gelesen, in dem Vergil Dante zuredet, seine Wanderung zu beginnen, Dan‐ te jedoch wieder um seine Sicherheit fürchtet. Ein äußerst muti‐ ges Unterfangen: sich den Todesqualen anderer aussetzen und sich genau vorstellen, wie jeder von ihnen sich fühlt. Aber Holmes hatte die Fahnen dieses Gesangs bereits verbrannt. Er nahm seine italienische Ausgabe der Commedia zur Hand und las: »Lo giorno se nʹandava ...«‐ »Der Tag verschwand ...« Dante zögert seine Überlegungen hinaus, während er sich bereit‐ macht, zum ersten Mal in die infernalischen Bereiche hinabzu‐ steigen: »... e io sol uno« ‐ »und ich allein nur ...« ‐wie einsam er sich fühlte! Er muss es dreimal sagen! io, sol, uno ... »mʹapparec‐ chiava a sostener la guerra, sì del cammino e sì de la pietate.« Holmes konnte sich nicht erinnern, wie Longfellow diesen Vers über‐ setzt hatte, also lehnte er sich an den Kaminsims und übersetzte ihn selbst, wobei er die nachdenklichen Kommentare von Lo‐ well, Greene, Fields und Longfellow im Knistern des Feuers hörte. »Und ich allein, nur ich« ‐ er stellte fest, dass er die Über‐ setzung sprechen musste ‐ »bereitete mich auf den Kampf vor ...« Nein, guerra. »... auf den Krieg vor ... der Wanderung und des Mitleids.« Plötzlich durchfuhr es ihn, und er lief in den zweiten Stock hi‐ nauf. »Ich allein, nur ich«, wiederholte er, während er die Trep‐ pe hinaufstieg. Wendell junior diskutierte bei Gin Toddies und Zigarren mit
William James, John Gray und Minny Temple über den Nutzen der Metaphysik. Der junge Holmes lauschte gerade einem von Jamesʹ weitschweifigen Monologen, als er, zunächst ganz leise, die Schritte seines Vaters auf der Treppe vernahm. Er zuckte innerlich zusammen. Vater war in letzter Zeit offensichtlich mit etwas anderem als seiner eigenen Person beschäftigt ‐ mögli‐ cherweise etwas Ernstem. James Lowell hatte sich in der Juristi‐ schen Fakultät kaum blicken lassen, vermutlich deshalb, weil er ebenfalls mit der Angelegenheit befasst war, die den Vater so umtrieb. Zunächst hatte Wendell junior gedacht, sein Vater ha‐ be Lowell befohlen, sich von ihm fern zu halten; andererseits wusste er, dass Lowell sich von seinem Vater nichts sagen ließ. Außerdem wäre sein Vater kaum Manns genug gewesen, Lo‐ well Befehle zu erteilen. Es war ein Fehler gewesen, dem Vater von seinen Gesprächen mit Lowell zu erzählen. Natürlich hatte er ihm verschwiegen, dass Lowell oft ganz plötzlich in Lobreden über den älteren Holmes ausbrach. »Er hat dem Atlantic nicht nur den Namen gegeben«, hatte Lowell gesagt, als er von der Zeit sprach, als Holmes den Zeitschriftentitel Atlantic Monthly ersonnen hatte, »er hat die Zeitschrift mit seinem Autocrat überhaupt erst be‐ kannt gemacht.« Das Talent seines Vaters zur Erfindung neuer Namen war allgemein bekannt ‐ auf oberflächliche Kategorisie‐ rungen verstand er sich nun einmal. Wie oft hatte der Junior sich in Anwesenheit von Gästen die Geschichte anhören müs‐ sen, wie sein Vater für den Zahnarzt, der das Verfahren entwik‐ kelt hatte, die Bezeichnung Anästhesie erdacht hatte? Trotzdem ‐ oder gerade deshalb ‐ fragte sich der Junior, warum seinem Va‐
ter für ihn nichts Besseres eingefallen war als »Wendell junior«. Holmes klopfte pro forma an und stürmte sofort mit funkeln‐ den Augen ins Zimmer. »Vater.« Wendell junior schaute entgeistert auf. »Wir sind ei‐ gentlich beschäftigt.« Mit unbewegter Miene hörte er zu, wie die anderen seinen Vater mit übertriebener Hochachtung begrüßten. Holmes rief: »Wendy, du musst mir auf der Stelle was sagen! Weißt du ir‐ gendetwas über Maden?« Er sprach so schnell, dass es fast wie das Summen einer Biene klang. Der Junior zog an seiner Zigarre. Er überlegte kurz und lachte dann laut auf. Die anderen fielen ein. »Sagtest du Maden, Va‐ ter?« »Und wenn es doch unser Luzifer ist, der in dieser Zelle sitzt und sich nur dumm stellt?«, fragte Fields besorgt. »Er hat das Italienische nicht verstanden ‐ ich habʹs ihm an den Augen an‐ gesehen«, beteuerte Nicholas Rey. »Und das hat ihn wütend gemacht.« Sie hatten sich im Arbeitszimmer von Craigie House versammelt. Greene, der Longfellow den ganzen Nachmittag beim Übersetzen assistiert hatte, war bei Einbruch der Dämme‐ rung zu seiner Tochter nach Boston gefahren. Der kurze Text auf dem Zettel, den Rey an Willard Burndy weitergeleitet hatte‐ »a te convien tenere altro viaggio se vuoʹ campar dʹesto loco selvag‐ gio« ‐, ließ sich mit »du musst einen anderen Weg gehen, wenn du dieser Wildnis entfliehen willst« übersetzen. Das sind Ver‐ gils Worte an Dante, der sich verirrt hat und in der dunklen Wildnis von Tieren bedroht wird. »Die Mitteilung war nur eine
letzte Vorsichtsmaßnahme. Seine Biographie passt in keinem einzigen Punkt zu unserem Profil des Mörders«, sagte Lowell und ließ die Asche seiner Zigarre aus dem Fenster fallen. »Burndy hat keine Schulbildung. Und im Verhör haben wir keinerlei Verbindungen zu einem der Opfer gefunden.« »In den Zeitungen war von einer erdrückenden Beweislast die Rede«, sagte Fields. Rey nickte. »Es gibt Zeugen, die gesehen haben wollen, wie Burndy vor Reverend Talbots Haus herumlungerte, an dem Abend, bevor er ermordet wurde, dem Abend also, als aus Tal‐ bots Tresor die tausend Dollar geraubt wurden. Diese Zeugen wurden von guten Leuten vernommen. Mit mir wollte Burndy überhaupt nicht reden. Aber so arbeiten die Detectives nun mal: Sie suchen sich irgendwelche Indizien, um eine falsche Anklage darauf aufzubauen. Ich habe keinen Zweifel, dass Langdon Peaslee sie an der Nase herumführt. So schafft er sich seinen größten Konkurrenten vom Hals, und die Detectives geben ihm obendrein einen großen Teil der Belohnung ab. Er hat schon versucht, einen solchen Handel mit mir abzuschlie‐ ßen, als die Belohnungen ausgesetzt wurden.« »Und wenn wir doch etwas übersehen?«, lamentierte Fields. »Trauen Sie diesem Burndy solche Verbrechen zu?«, fragte ihn Longfellow. Fields verzog den Mund und schüttelte den Kopf. »Wahr‐ scheinlich hätte ich nur gern ein paar Antworten, damit wir zu unserem normalen Leben zurückkehren können.« Ein Besucher läutete. Longfellows Dienstmädchen meldete einen Mr. Edward Shel‐
don aus Cambridge, der Mr. Lowell sprechen wolle. Lowell eilte aus dem Zimmer und führte Sheldon in Longfellows Bi‐ bliothek. Sheldon hatte sich den Hut tief in die Stirn gezogen. »Ent‐ schuldigen Sie die Störung, Herr Professor, aber Ihre Nachricht schien mir dringlich, und in Elmwood hat man mir gesagt, dass ich Sie hier finden würde. Sagen Sie, wird denn der Dante‐Kurs jetzt weitergehen?« »Ich habe Ihnen die Mitteilung vor fast einer Woche ge‐ schickt!«, rief Lowell. »Na ja, wissen Sie ... Ich habe sie erst heute bekommen.« Er blickte zu Boden. »Sehr glaubwürdig. Und normalerweise nimmt man im Haus eines Gentleman den Hut ab, Sheldon!« Lowell schlug ihm den Hut vom Kopf. Jetzt sah man, dass er ein blaues Auge und eine geschwollene Wange hatte. Lowell tat es sofort Leid. »Meine Güte, Sheldon. Was ist Ihnen denn passiert?« »Allerhand, Sir. Ich wollte gerade erzählen, dass mein Vater mich zur Erholung zu nahen Verwandten in Salem geschickt hat. Vielleicht auch zur Strafe ‐ Zeit, über meine Missetaten nachzudenken«, sagte Sheldon verschämt lächelnd. »Das war der Grund, warum mich Ihre Nachricht nicht erreicht hat.« Er trat ins Licht, um seinen Hut aufzuheben, und bemerkte Lo‐ wells entsetzten Gesichtsausdruck. »Ach, die Schwellung ist schon stark zurückgegangen. Es tut schon fast nicht mehr weh.« Lowell setzte sich. »Erzählen Sie, wie das passiert ist, Sheldon.« Sheldon senkte den Blick. »Ich konnte nichts dafür! Sie kennen
sicher diesen unsäglichen Simon Camp, der überall herum‐ schnüffelt. Er hat mich auf der Straße angehalten. Er sei von der Leitung der Harvard‐Universität mit Ermittlungen betraut wor‐ den, ob Ihr Dante‐Kurs sich möglicherweise nachteilig auf den Charakter der Studenten auswirkt. Ich hätte ihm dafür fast eins auf die Nase gegeben.« »Also war das Camp?«, fragte Lowell mit dem Zorn eines für‐ sorglichen Vaters. »Nein, nein, der hat sich aus dem Staub gemacht. Aber am nächsten Morgen habe ich Pliny Mead getroffen. Diesen Verrä‐ ter!« »Wieso denn das?« »Er hat mir genüsslich erzählt, dass er sich mit Camp zusam‐ mengesetzt und ihm von den >Schrecknissen< von Dantes Spin‐ tisierereien erzählt hat. Ich mache mir solche Sorgen, Professor Lowell, dass auch nur die leiseste Andeutung eines Skandals Ihrem Kurs den Garaus machen könnte. Es liegt auf der Hand, dass die Corporation in ihrem Widerstand nicht nachgelassen hat. Ich habe Mead gesagt, er soll Camp aufsuchen und seine indiskutablen Äußerungen zurücknehmen, aber er hat sich ge‐ weigert und mich aufs Ordinärste beschimpft, und, na ja, er hat auch Sie beschimpft, Professor Lowell, und da ist mir endgültig der Kragen geplatzt! Und da haben wir uns gleich auf dem al‐ ten Friedhof eine Prügelei geliefert.« Lowell lächelte stolz. »Sie haben sich mit ihm geschlagen, Mr. Sheldon?« »Ja, ich habe angefangen«, sagte Sheldon. Er runzelte die Stirn und betastete sein Kinn. »Aber er hatʹs beendet.« Nachdem er Sheldon hinausbegleitet und ihm mehrfach versichert hatte,
dass der Dante‐Kurs schon bald weitergehen würde, kehrte Lowell ins Arbeitszimmer zurück, doch gleich darauf klopfte es erneut an der Haustür. »Was soll denn das, Sheldon, ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir in einigen Tagen wieder anfangen!« Erbost riss er die Tür auf. Dr. Holmes stand vor lauter Aufregung auf den Zehenspitzen. »Holmes?« Lowells Lachen war ein so hemmungsloses Auf‐ jauchzen, dass Longfellow aus dem Arbeitszimmer gelaufen kam. »Sie sind in den Club zurückgekehrt, Wendell! Wir haben Sie ja so vermisst!« Und den anderen im Arbeitszimmer rief er zu: »Holmes ist wieder da!« »Nicht nur das, meine Freunde«, sagte Holmes und trat ein. »Ich glaube auch, ich weiß, wo wir unseren Mörder finden.«
XIV Dank ihrer rechteckigen Form hatte Longfellows Bibliothek ei‐ ne ideale Offiziersmesse für den Stab von General Washington abgegeben, und in späteren Jahren hatte Mrs. Craigie hier ihre Bankette veranstaltet. Jetzt saßen Longfellow, Lowell, Fields und Rey um den polierten Tisch, während Holmes berichtete. »Meine Gedanken überstürzen sich, ich kann sie nicht in eine geordnete Reihenfolge bringen. Aber hören Sie sich bitte meine Gründe an, bevor Sie zustimmen oder voreilig widersprechen.« Letzteres war hauptsächlich an Lowell gerichtet, und alle außer Lowell wussten das. »Ich glaube nämlich, dass Dante uns im‐ mer die Wahrheit sagt. Er schildert, was ihn bewegt, als er sich zitternd und unsicher für seine ersten Schritte in die Hölle rü‐ stet. >E io sol<, und so weiter. Mein lieber Longfellow, wie ha‐ ben Sie übersetzt?« »>Mich vorbereiten zu dem schweren Kriege der Wanderung und auch zugleich des Mitleids; ihn wird Gedächtnis, das nicht irret, schildern.<« »Ja!«, sagte Holmes stolz und dachte dabei an seine eigene, ähnliche Übersetzung. Es war nicht der Zeitpunkt, hier Ab‐ schweifungen zu machen, aber er fragte sich, was Longfellow von seiner Version halten würde. »Für den Dichter ist es ein Krieg ‐ una guerra ‐ an zwei Fronten. Zum einen die körperli‐ chen Entbehrungen beim Abstieg durch die Hölle, zum anderen die Notwendigkeit, sein Gedächtnis zu bemühen, um Erfah‐
rung in Dichtung zu verwandeln. Die Bilder von Dantes Welt laufen ohne Unterlass vor meinem inneren Auge ab.« Nicholas Rey hörte gespannt zu und öffnete sein Notizbuch. »Dante hatte am eigenen Leib erfahren, was kriegerische Aus‐ einandersetzungen sind, mein lieber Rey«, sagte Lowell. »Mit fünfundzwanzig, im gleichen Alter wie viele unserer Jungs in Blau, hat er bei Campaldino auf der Seite der Guelfen ge‐ kämpft, und im selben Jahr bei Caprona. Dante kommt im In‐ ferno immer wieder auf diese Erlebnisse zurück, um die schrecklichen Höllenqualen zu schildern. Am Schluss wurde Dante nicht von den gegnerischen Ghibellinen, sondern infolge eines Zwists unter den Guelfen in die Verbannung geschickt.« »Die Folgen der Florentiner Bürgerkriege haben ihn zu seiner Vision und zur Suche nach Erlösung inspiriert«, sagte Holmes. »Denken Sie auch daran, wie Luzifer Gott den Kampf ansagt und der einst strahlendste Engel zum Quell alles Bösen wird, angefangen mit Adams Sündenfall. Luzifers Sturz aus der Höhe reißt ein Loch in die Erde, den Hohlraum, den Dante als Hölle entdeckt. Der Krieg hat also Satan erschaffen, der Krieg hat die Hölle erschaffen: guerra. Dante wählt seine Worte immer mit Be‐ dacht. Meiner Meinung nach laufen die Ereignisse, deren Zeu‐ gen wir geworden sind, zwangsläufig auf eine Hypothese hin‐ aus: Unser Mörder ist ein Kriegsveteran.« »Ein Soldat! Der Oberrichter unseres höchsten Gerichts, ein prominenter Unitaristischer Prediger, ein reicher Kaufmann«, sagte Lowell. »Die Rache eines unterlegenen Südstaaten‐ Soldaten an Symbolen unseres Yankee‐Systems! Natürlich! Was sind wir doch für Dummköpfe!«
»Dante ist nicht von vornherein einer bestimmten politischen Richtung verpflichtet«, sagte Longfellow. »Den stärksten Groll hegte er vielleicht gegen jene, die seine Ansichten teilten, aber ihrer Pflicht nicht nachkamen, die Verräter ‐ genau wie es bei einem ehemaligen Unionssoldaten der Fall sein mag. Und alle drei Morde haben ja gezeigt, wie gut sich Luzifer in Boston aus‐ kennt.« »Ja«, sagte Holmes ungeduldig. »Eben deshalb denke ich nicht einfach an einen Soldaten, sondern an einen Veteranen der Uni‐ onsarmee. Denken Sie an unsere Soldaten, die auf der Straße und auf dem Markt nach wie vor Uniform tragen. Ich frage mich immer, wenn ich eines dieser Prachtexemplare sehe: Er ist wieder zu Hause, und trotzdem trägt er weiter den Rock des Soldaten. In welchen Krieg will er denn jetzt ziehen?« »Aber passt das zu dem, was wir über die Morde wissen, Wendell?«, fragte Fields. »Sogar sehr gut, meine ich. Fangen wir mit dem Mord an Jen‐ nison an. Ich glaube, ich weiß jetzt auch, welche Waffe benutzt wurde.« Rey nickte. »Ein Säbel.« »Genau!«, sagte Holmes. »Die Wunden waren typisch für eine solche Klinge. Und wer kann mit einem Säbel umgehen? Ein Soldat. Und Fort Warren, der Ort, der für den Mord gewählt wurde ‐ein Soldat, der dort ausgebildet wurde oder stationiert war, muss das Gelände kennen! Mehr noch: Die tödlichen Ho‐ minivorax‐Maden, die sich an Richter Healey gemästet haben, stammen nicht aus Massachusetts, sondern aus einer heißen, sumpfigen Gegend, wenn wir Professor Agassiz glauben kön‐
nen. Vielleicht hat ein Soldat sie als Andenken aus den Sümp‐ fen des Südens mitgebracht. Wendell junior hat mir erzählt, dass Fliegen und Maden auf den Schlachtfeldern bei Tag und Nacht über die Verwundeten hergefallen sind.« »Manchmal haben die Maden den Verwundeten nichts ge‐ tan«, sagte Rey. »Dann wieder haben sie einen Mann buchstäb‐ lich aufgefressen, und die Ärzte waren machtlos.« »Das waren die hominivorax, was die Ärzte allerdings nicht wissen konnten. Jemand, der wusste, was sie bei Verwundeten anrichten, hat sie aus dem Süden mitgebracht und auf Healey angesetzt«, fuhr Holmes fort. »Wir haben immer wieder über Luzifers große Kraft gestaunt ‐ er hat den nicht gerade schlan‐ ken Richter Healey bis ans Flussufer geschleppt. Aber wie viele Kameraden hat ein Soldat mühelos auf den Armen vom Schlachtfeld getragen! Auch bei Talbot und Jennison hat Luzi‐ fer seine Kraft unter Beweis gestellt.« »Vielleicht haben Sie unser Sesam‐öffne‐dich gefunden, Hol‐ mes!« Holmes fuhr fort. »Die Morde tragen alle die Handschrift von einem, der mit Kampf und Tod Bekanntschaft geschlossen hat, mit den Qualen der Verwundeten auf dem Schlachtfeld.« »Aber warum sollte ein junger Mann aus dem Norden sich ge‐ gen seine eigenen Leute wenden? Warum gegen Boston?«, frag‐ te Fields, der das Gefühl hatte, dass einer den Zweifler spielen musste. »Wir sind die Sieger. Und wir haben für die gerechte Sache gekämpft.« »Was die Verwirrung der Gefühle angeht, hat es einen solchen Krieg seit dem Unabhängigkeitskrieg nicht mehr gegeben«, sag‐ te Nicholas Rey.
Longfellow ergänzte: »Er war nicht wie die Kämpfe unseres Landes gegen die Indianer oder die Mexikaner, bei denen es sich eigentlich um Eroberungsfeldzüge gehandelt hat. Soldaten, die sich darüber Gedanken machten, warum und wofür sie kämpften, wurden auf die Ehre der Union, die Sklavenbefrei‐ ung, die Wiederherstellung der Weltordnung verwiesen. Aber was haben die Soldaten bei ihrer Heimkehr vorgefunden? Kriegsgewinnler, die durch den Verkauf alter Gewehre und Uniformen reich geworden sind und jetzt in Broughams durch die Stadt kutschieren und es sich in ihren von Eichen umstan‐ denen Häusern auf Beacon Hill wohl sein lassen.« »Dante«, sagte Lowell, »der aus seiner Heimat verbannt wur‐ de, bevölkerte die Hölle mit Menschen aus seiner eigenen Stadt und sogar mit Mitgliedern seiner eigenen Familie. Vielen unse‐ rer Soldaten bleibt kaum etwas außer unseren bewegenden pa‐ triotischen Gedichten und ihren blutbefleckten Uniformen. Sie sind aus ihrem früheren Leben verbannt ‐ und wie Dante ganz auf sich allein gestellt. Wir sollten auch nicht vergessen, wie bald nach dem Ende des Krieges die Morde begonnen haben. Nur ein paar Monate! Doch, doch, meine Herren, es scheint al‐ les zusammenzupassen. Der Krieg hatte einen abstrakten mo‐ ralischen Begriff zum Gegenstand ‐ die Freiheit ‐, doch die Sol‐ daten kämpften an konkreten Fronten, auf konkreten Schlacht‐ feldern, eingeteilt in Regimenter, Bataillone, Kompanien. Die Bewegungen in Dantes Dichtung haben etwas Schnelles, Ent‐ schiedenes, beinahe Militärisches.« Er umarmte Holmes. »Diese Erkenntnis, mein lieber Wendell, ist ein Geschenk des Himmels.«
»Deswegen verlange ich auch nichts dafür, Mr. Lowell«, sagte Holmes lächelnd. Das Gefühl, etwas erreicht zu haben, breitete sich im Raum aus, und alle warteten auf Longfellows Nicken. Das kam dann auch, begleitet von einem stillen Lächeln. »Ein dreifach Hoch auf Holmes!«, rief Lowell. »Warum nicht dreimal drei?«, fragte Holmes verschmitzt und warf sich in Positur. »Das halte ich aus!« Augustus Manning stand am Schreibtisch seines Sekretärs und trommelte mit den Fingern auf den Rand der Platte. »Hat dieser Simon Camp noch immer nicht auf meine Mitteilung reagiert, dass ich ihn sprechen möchte?« Mannings Sekretär schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Und im Marlboro Hotel hat man mir gesagt, dass er nicht mehr dort lo‐ giert. Eine Nachsendeadresse hat er nicht hinterlassen.« Man‐ ning war fuchsteufelswild. Er hatte dem Pinkerton‐Detektiv von Anfang an nicht ganz getraut, ihn aber auch nicht für einen ausgemachten Gauner gehalten. »Finden Sie es nicht absonder‐ lich, dass erst ein Polizeibeamter erscheint und sich nach Lo‐ wells Kurs erkundigt und dass dann dieser Pinkerton‐Mensch, den ich dafür bezahlt habe, mehr über Dante in Erfahrung zu bringen, einfach nicht auf meine Mitteilungen reagiert?« Der Sekretär war unschlüssig, doch da es eindeutig von ihm er‐ wartet wurde, bejahte er eifrig. Manning wandte sich um und trat an das Fenster, das die Harvard Hall umrahmte. »Ich wette, Lowell hat von Anfang an etwas im Schilde geführt. Wie war das noch, Mr. Cripps? Wer
ist alles in Lowells Dante‐Kurs eingeschrieben? Edward Shel‐ don und ... wie hieß er noch, Pliny Mead?« Der Sekretär sah nach. »Exakt, Edward Sheldon und Pliny Mead.« »Pliny Mead. Ein mustergültiger Student«, sagte Manning und strich seinen steifen Bart. »Nun ja, Sir, das war er. In letzter Zeit hat er nachgelassen.« Manning drehte sich interessiert zu ihm um. »Ja, er ist um zwanzig Punkte zurückgefallen«, erklärte der Sekretär, suchte nach einer Liste und zeigte stolz auf die Zahlen. »Es kam ganz plötzlich, Dr. Manning! Was hauptsächlich auf die Noten zu‐ rückzuführen ist, die er zuletzt bei Professor Lowell bekommen hat.« Manning nahm seinem Sekretär die Unterlagen aus der Hand und las sie. »Was für eine Schande für unseren Mr. Mead«, sag‐ te Manning und lächelte in sich hinein. »Was für eine furchtba‐ re Schande.« Spätabends in Boston suchte J. T. Fields die Kanzlei von John Codman Ropes auf, einem buckligen Anwalt, der sich auf den Sezessionskrieg spezialisiert hatte, nachdem sein Bruder im Kampf gefallen war. Es hieß, er wisse besser über die Schlach‐ ten Bescheid als die Generäle, die sie geschlagen hatten. Mit Expertenmiene beantwortete er alle Fragen, die Fields ihm stell‐ te. Er nannte ihm zahlreiche Veteranenheime ‐ eingerichtet von Kirchen oder weltlichen Wohlfahrtsvereinen in leer stehenden Gebäuden oder aufgelassenen Lagerhäusern ‐, in denen ausge‐ diente Soldaten, die arm waren und Mühe hatten, ins zivile Le‐
ben zurückzufinden, Kleidung, Nahrung und Unterkunft er‐ hielten. Wenn man einen Soldaten in Not suchte, sei es am be‐ sten, in einem dieser Heime anzufangen. »Man brauchte natür‐ lich eine Namensliste, denn Sie müssen wissen, Mr. Fields, dass diese armen Seelen nur aufzufinden sind, wenn sie das auch wollen«, sagte Ropes am Ende der Unterredung. Fields ging rasch die Tremont Street entlang zum Verlag. Seit Wochen widmete er nur noch einen Bruchteil seiner Zeit der Führung seiner Geschäfte, und er machte sich Sorgen, sein Schiff könnte auf Grund laufen, wenn er nicht bald wieder ans Ruder ging. »Mr. Fields.« »Wer ist da?« Fields blieb stehen und ging ein paar Schritte zurück zu einer Seitengasse. »Meinen Sie mich, Sir?« In dem dämmrigen Licht konnte er den Mann nicht erkennen. Langsam ging er auf ihn zu. »Ja, Mr. Fields.« Der hoch gewachsene Mann trat aus dem Schatten und nahm den Hut ab. Simon Camp von der Detektei Pinkerton grinste Fields an. »Diesmal haben Sie wohl nicht Ih‐ ren Freund dabei, den Professor, der so gern mit der Flinte her‐ umfuchtelt?« »Camp! Was unterstehen Sie sich! Ich habe Sie bereits mehr als großzügig bezahlt. Also fort mit Ihnen!« »So, Sie haben mich bezahlt? Um die Wahrheit zu sagen, ich habe diesen Fall als lästiges Übel angesehen, als Haar in der Suppe, als Quatsch. Aber Sie und Ihr Freund haben mich ins Grübeln gebracht. Was kann feine Pinkel wie Sie derart aufre‐ gen, dass Sie mir Gold dafür geben, dass ich Professor Lowells kleinen Literaturkurs nicht unter die Lupe nehme? Und was
bringt Professor Lowell dazu, mich zu verhören, als ob ich Lin‐ coln erschossen hätte?« »Einer wie Sie wird nie begreifen, was literarischen Menschen wichtig ist«, sagte Fields nervös. »Schon möglich, aber einiges hab ich trotzdem kapiert. Mir ist etwas über diesen Dr. Manning eingefallen. Er hat erwähnt, dass ein Polizist bei ihm gewesen ist und ihn nach Professor Lowells Dante‐Kurs befragt hat. Der alte Mann war völlig auf‐ gelöst. Dann hab ich zwei und zwei zusammengezählt: Womit war die Bostoner Polizei in letzter Zeit beschäftigt? Da ist mir nur die Lappalie mit den drei Morden eingefallen.« Fields unterdrückte seine aufsteigende Panik. »Tut mir Leid, aber ich habe eine dringende Verabredung, Mr. Camp.« Camp lächelte nachsichtig. »Dann hab ich an den jungen Pliny Mead gedacht, der mir gar nicht genug erzählen konnte über die un‐ zivilisierten Grausamkeiten in dem Dante‐Gedicht. Allmählich hat sich das Bild für mich abgerundet. Ich habe diesen Mr. Mead noch einmal aufgesucht und ihm ein paar präzise Fragen gestellt, Mr. Fields.« Er beugte sich genüsslich vor. »Ich kenne Ihr Geheimnis.« »Dummes Zeug«, rief Fields. »Ich hab nicht die geringste Ah‐ nung, wovon Sie reden, Camp.« »Ich bin hinter das Geheimnis Ihres Dante Club gekommen, Fields! Sie kennen die Wahrheit über diese Morde, und deshalb haben Sie mir Geld gegeben, damit ich verschwinde.« »Das ist eine bösartige Verleumdung!« Fields wandte sich ab. »Dann gehe ich eben zur Polizei«, sagte Camp ungerührt. »Und anschließend zu den Zeitungsfritzen. Und unterwegs schaue ich bei Dr. Manning vorbei ‐ der hat
sowieso Sehnsucht nach mir. Dann werden wir ja sehen, ob die Leute was mit diesem >dummen Zeug< anfangen können.« Fields drehte sich wieder um und sah Camp drohend an. »Wenn Sie wirklich so viel wissen, wie Sie behaupten, wieso rechnen Sie dann nicht mit der Möglichkeit, dass wir die Mör‐ der sind und auch Sie umbringen werden, Camp?« Camp lächelte überlegen. »Geschenkt, Fields. Sie sind Bücher‐ menschen, und das werden Sie bleiben, solange die Welt nicht auf den Kopf gestellt wird.« Fields schluckte. Er sah in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass es keine Zeugen gab. »Was verlangen Sie, Camp?« »Drei‐ tausend Dollar, für den Anfang ‐ in genau vierzehn Tagen«, sagte Camp. »Niemals!« »Die offiziellen Belohnungen für Hinweise auf die Täter sind viel höher, Mr. Fields. Vielleicht hat Burndy ja gar nichts mit der Sache zu tun. Ich weiß nicht, wer diese Männer getötet hat, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber Sie werden ganz schön dumm dastehen, wenn eine Jury erfährt, dass Sie mir Schweigegeld gegeben haben, als ich kam, um Sie nach Dante zu fragen ‐ noch dazu, nachdem Sie mich ins Haus gelockt und mit einem Gewehr bedroht hatten.« Fields begriff plötzlich, dass Camp sich für seine Feigheit vor Lowells Gewehr schadlos halten wollte. »Sie sind ein widerli‐ ches kleines Insekt«, entfuhr es ihm. Camp schien das nichts auszumachen. »Aber ein vertrauens‐ würdiges, solange Sie sich an die Abmachungen halten. Auch Insekten müssen ihre Rechnungen bezahlen, Mr. Fields.« Fields erklärte sich bereit, sich in zwei Wochen am selben Ort mit
Camp zu treffen. Später berichtete er seinen Freunden von der unerfreulichen Begegnung. Nach dem ersten Schock kamen die Clubmitglieder zu dem Schluss, dass sie gegen Camp machtlos waren. »Was sollʹs«, sagte Holmes. »Sie haben ihm zehn Goldmünzen gege‐ ben, und das war falsch. Er wird immer wieder kommen und die Hand aufhalten.« »Fields hat ihm überhaupt erst Appetit gemacht«, sagte Lo‐ well. Sie konnten nicht damit rechnen, dass ihr Geheimnis un‐ entdeckt bleiben würde, ganz gleich, wie viel Geld sie aufwand‐ ten. Außerdem lehnte Longfellow es strikt ab, Bestechungsgel‐ der zu zahlen, um Dante oder sie selbst zu schützen. Dante hät‐ te sich vom Exil freikaufen können und hatte es abgelehnt, in einem Brief, der noch nach Jahrhunderten durch seine wilde Entschlossenheit beeindruckte. Sie versprachen sich gegensei‐ tig, Camp zu vergessen. Sie mussten unbedingt die militärische Hypothese weiterverfolgen. Noch am selben Abend sahen sie die Unterlagen des Armee‐Pensionsamts durch, die Rey sich ausgeliehen hatte, und besuchten mehrere Soldatenheime. Fields kam erst kurz vor ein Uhr nachts nach Hause, sehr zur Empörung seiner Frau Annie. Beim Eintreten bemerkte er, dass die Blumen, die er seiner Frau täglich schicken ließ, demonstra‐ tiv auf dem Tisch in der Diele lagen und nicht in Vasen gestellt worden waren. Er nahm den frischesten Strauß und ging zu Annie in den Salon. Sie saß auf dem blauen Samtsofa und schrieb in ihr Tagebuch mit dem Titel Journal literarischer Erei‐ gnisse und Begegnungen mit interessanten Menschen. »Also mal ehrlich, noch seltener können wir uns doch kaum
sehen?« Sie schaute nicht auf, verzog nur gekränkt ihren schö‐ nen Mund. Ihr bernsteinfarbenes Haar fiel ihr über die Ohren. »Es wird besser werden, das verspreche ich dir. Im Sommer ar‐ beite ich nur noch ganz wenig ‐ Osgood ist fast so weit, dass ich ihn zu meinem Partner machen kann. Das wird ein Freuden‐ tag!« Sie wandte sich von ihm ab und richtete den Blick auf den grauen Teppich. »Ich kenne deine Verpflichtungen. Aber ich vergeude meine Zeit mit häuslichen Arbeiten und werde nicht einmal damit belohnt, dass du Zeit für mich hast. Ich komme kaum zum Lesen oder Studieren, oder nur, wenn ich schon zu müde bin. Catherine ist wieder krank, deshalb muss die Wä‐ scherin oben mit den beiden Dienstmädchen in einem Bett schlafen ...« »Aber jetzt bin ich ja da, Liebes«, sagte er. »Nein, bist du nicht.« Sie nahm dem Dienstmädchen seinen Mantel und seinen Hut aus der Hand und gab sie ihm wieder. »Was ist denn?« Er sah sie bestürzt an. Sie zog ihren Schlafrock enger um sich und ging zur Treppe. »Ein Laufbursche aus dem Verlag war vor ein paar Stunden da: Du wirst dringend im Verlag gebraucht.« »Zu dieser späten Stunde?« »Er sagte, du musst unbedingt kommen, sonst ist die Polizei eher da.« Fields eilte in sein Büro in der Tremont Street und fand im Hinterzimmer J.R. Osgood. Cecilia Emory, die Empfangsdame, saß schluchzend in einem Sessel. Dan Teal, der Laufbursche, der Nachtdienst hatte, hielt sich ein Taschentuch an die blut‐ verkrustete Lippe.
»Was ist denn los? Ist Miss Emory etwas zugestoßen?«, fragte Fields. Osgood zog Fields von dem hysterischen Mädchen weg. »Es ist wegen Samuel Ticknor.« Osgood machte eine Pause, um sei‐ ne Worte zu wählen. »Ticknor hat nach Büroschluss Miss Emo‐ ry hinter der Empfangstheke geküsst. Sie wehrte sich und schrie ihn an, von ihr abzulassen, und Mr. Teal griff ein. Teal musste Mr. Ticknor mit Gewalt zur Raison bringen.« Fields zog sich einen Sessel heran und befragte Cecilia Emory mit freundlicher Stimme. »Sie können mir alles sagen, meine Liebe«, versprach er. Miss Emory gab sich Mühe, nicht mehr zu weinen. »Es tut mir so Leid, Mr. Fields. Ich brauche diese Arbeit, und er hat gesagt, wenn ich nicht tue, was er von mir verlangt ... Na ja, immerhin ist er der Sohn von William Ticknor, und es heißt, Sie werden ihn wegen seines Namens schon bald zum Juniorpartner ma‐ chen ...« »Sie ... haben ihn weggestoßen?«, fragte Fields vorsich‐ tig. Sie nickte. »Aber er ist sehr stark. Mr. Teal ... Ich danke Gott, dass Mr. Teal da war.« »Wie lange geht das schon so mit Mr. Ticknor, Miss Emory?«, fragte Fields. »Drei Monate«, gestand Cecilia weinend. Also fast seit dem Tag, an dem sie die Stelle angetreten hatte. »Aber Gott ist mein Zeuge, dass ich es nie gewollt habe, Mr. Fields! Das müssen Sie mir glauben!« Fields tätschelte ihr die Hand und sprach väterlich zu ihr. »Meine liebe Miss Emory, bitte hören Sie mir zu. Weil Sie Waise
sind, werde ich die Sache vergessen, und Sie behalten Ihre Stel‐ le.« Sie nickte dankbar. Fields stand auf. »Wo ist er?«, fragte er Osgood. Er war wü‐ tend. »Wir haben darauf bestanden, dass er im Zimmer neben‐ an auf Sie wartet, Mr. Fields. Ich muss Ihnen aber sagen, dass er ihre Version bestreitet.« »Wenn ich auch nur die geringste Menschenkenntnis besitze, dann trifft dieses Mädchen keine Schuld, Osgood.« Fields wandte sich an den Bürodiener. »Mr. Teal, hat sich alles so ab‐ gespielt, wie Miss Emory sagt?« Teal antwortete gedehnt, sein Unterkiefer bewegte sich wie gewohnt auf und ab. »Ich wollte gerade gehen, Sir. Ich sah, wie Miss Emory sich wehrte und Mr. Ticknor bat, sie in Ruhe zu lassen. Also habe ich so lange auf ihn eingeschlagen, bis er von ihr abließ.« »Braver Junge«, sagte Fields. »Das werde ich Ihnen nicht vergessen.« Teal wusste nicht, was er sagen sollte. »Sir, ich muss am Mor‐ gen an meine andere Arbeitsstelle. Tagsüber bin ich Hausmei‐ ster am College.« »Ach ja?«, sagte Fields. »Die Arbeit hier bedeutet mir alles«, fuhr Teal eilig fort. »Wenn Sie mich irgendwann brauchen, Sir, bitte sagen Sie es.« »Bevor Sie gehen, schreiben Sie bitte alles auf, was Sie hier gese‐ hen und getan haben, Mr. Teal. Falls wir die Polizei hinzuzie‐ hen müssen, brauchen wir eine schriftliche Unterlage.« Fields bedeutete Osgood, Teal Papier und Federhalter zu geben. »Und wenn Miss Emory sich beruhigt hat, soll auch sie ihre Version aufschreiben«, wies Fields Osgood an. Teal setzte mühsam die
ersten Buchstaben aufs Papier. Fields wurde klar, dass er fast ein Analphabet war. »Mr. Teal«, sagte er, »diktieren Sie doch einfach Mr. Osgood, dann bekommt es einen offizielleren Cha‐ rakter.« Teal willigte dankbar ein und gab das Blatt Papier zu‐ rück. Fields brauchte fast fünf Stunden, um Samuel Ticknor die Wahrheit zu entlocken. Teal hatte Ticknor übel zugerichtet und ihm offenbar das Nasenbein gebrochen. Ticknors Antworten waren teils eitel, teils oberflächlich. Schließlich gab er zu, mit Cecilia Emory Ehebruch begangen zu haben, und gestand auch, dass er sich noch mit einer anderen Angestellten des Verlags eingelassen hatte. »Sie werden das Haus Ticknor & Fields umgehend verlassen und sich hier nie wieder blicken lassen!«, sagte Fields. »Moment mal, mein Vater hat den Verlag aufgebaut! Er hat Sie in sein Haus aufgenommen, als Sie noch ein armer Schlucker waren! Es ist mein Name, der auf unseren Buchrücken steht, vor dem Ihrigen, Mr. Fields!« »Sie haben zwei Frauen ins Unglück gestürzt, Samuel!«, sagte Fields. »Ganz zu schweigen von Ihrer Frau und Ihrer armen Mutter. Ihr Vater würde sich noch mehr darüber grämen als ich!« Samuel Ticknor war den Tränen nahe. Im Hinausgehen rief er noch: »Sie hören noch von mir, Mr. Fields, das schwöre ich! Hätten Sie mich doch nur an der Hand genommen und in Ihren gesellschaftlichen Zirkel eingeführt ...« Er hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: »In Gesellschaft habe ich im‐ mer als interessanter junger Mann gegolten!« Eine Woche verging ohne irgendwelche Fortschritte ‐ eine Wo‐
che, in der sich keine Soldaten finden ließen, die Dante‐Kenner waren. Oscar Houghton teilte Fields mit, dass keine Druckfah‐ nen fehlten. Die Hoffnungen sanken. Nicholas Rey hatte den Eindruck, dass er auf der Hauptwache genauer beobachtet wurde als vorher, versuchte es aber trotzdem noch einmal mit Willard Burndy. Die Verhöre hatten den Tresorknacker sicht‐ lich mitgenommen. Wenn er sich nicht bewegte oder sprach, wirkte er völlig apathisch. »Sie schaffen es nicht ohne Hilfe«, sagte Rey. »Ich weiß, dass Sie unschuldig sind, aber ich weiß auch, dass Sie an dem Tag, als sein Tresor ausgeraubt wurde, vor Talbots Haus waren. Entweder Sie sagen mir, warum, oder Sie kommen an den Gal‐ gen.« Burndy musterte Rey, dann nickte er verdrossen. »Ich hab Talbots Safe geknackt. Das heißt, eigentlich nicht. Sie werden mir nicht glauben. Ich glaubʹs ja selber fast nicht. Es war näm‐ lich so: Irgendein Schwachkopf hat gesagt, er gibt mir zwei‐ hundert, wenn ich ihm beibringe, wie man einen bestimmten Safe knackt. Ich hab mir gedacht, das ist leicht verdientes Geld nebenbei, und mir kann keiner was anhängen! Auf Ehre und Gewissen, ich hab nicht gewusst, dass das Haus einem Kir‐ chenmann gehört! Ich hab ihn nicht abgemurkst! Sonst hätt ich ihm das Geld ja nicht wiedergegeben!« »Warum sind Sie zu Talbots Haus gegangen?« »Um es auszu‐ kundschaften. Dieser Schwachkopf hat scheinbar gewusst, dass Talbot nicht zu Hause war, also hab ich mal reingeschaut, um mir einen Überblick zu verschaffen. Dann bin ich rein, bloß um mir die Marke von dem Safe anzusehn.« Mit einem dümmli‐ chen Grinsen warb Burndy um Verständnis. »Da ist doch nichts
dabei, oder? Es war ein einfaches Modell, und ich hab nur fünf Minuten gebraucht, um ihm zu sagen, wie er ihn knacken kann. Ich habʹs ihm in einer Kneipe auf eine Serviette gemalt. Ich hät‐ te wissen müssen, dass der Kerl nicht ganz richtig im Kopf war. Er hat gesagt, er will nur genau tausend Dollar rausnehmen ‐ keinen roten Heller mehr. Können Sie sich das vorstellen? Hö‐ ren Sie, Sie dürfen denen nicht sagen, dass ich den Prediger be‐ raubt hab, sonst hängen die mich garantiert auf! Der Kerl, der mich bezahlt hat, der ist der Verrückte ‐ der hat Talbot und Hea‐ ley und Phineas Jennison umgebracht!« »Dann sagen Sie mir, wer Sie bezahlt hat«, sagte Rey ruhig, »sonst hängen Sie, Mr. Burndy.« »Es war Nacht, und ich hatte ein bisschen gebechert, wissen Sie, in der Stackpole Tavern. Kommt mir jetzt alles so vor, als hätt ichʹs geträumt und es war erst hinterher wahr geworden. Ich hab sein Gesicht nicht ge‐ sehn, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern.« »Haben Sie nichts gesehen, oder können Sie sich nicht erin‐ nern, Mr. Burndy?« Burndy kaute auf seiner Lippe. Widerstrebend sagte er: »Eins weiß ich noch. Er war einer von euch.« Rey wartete. »Ein Schwarzer?« Burndys gerötete Augen flammten auf, er schien kurz vor ei‐ nem Anfall. »Nein! Ein Veteran!« Er versuchte sich zu beruhi‐ gen. »Ein Soldat. Der hat da in voller Uniform gesessen, als ob er in Gettysburg war und die Fahne schwenkt!« Die Soldatenheime in Boston waren mehr oder weniger private, von der Öffentlichkeit kaum beachtete Einrichtungen, von de‐
ren Existenz man allenfalls durch einen ihrer Insassen erfuhr. Sechs Monate nach Kriegsende waren die Stadtväter immer weniger bereit, solche Heime zu finanzieren. Die besseren, zu‐ meist solche unter kirchlicher Regie, kümmerten sich auch um das seelische Wohl ihrer Schützlinge und boten neben Kost und Unterkunft auch Predigten und lehrreiche Vorträge an. Holmes und Lowell übernahmen den südlichen Teil der Stadt. Sie hatten Pike, den Droschkenkutscher, engagiert. Wenn er vor einem der Soldatenheime warten musste, biss Pike hin und wie‐ der von einer Karotte ab, hielt sie seinen alten Mähren hin, biss dann wieder selbst ab und zählte, wie viele Happen für Pferd und Mensch eine durchschnittliche Karotte hergab. Für so viel Langeweile wurde er eigentlich viel zu schlecht entlohnt. Au‐ ßerdem fragte Pike, warum sie denn von einem Heim zum an‐ deren führen, und die ausweichenden Antworten bereiteten ihm Unbehagen, denn er besaß die Gewitztheit, die man sich erwirbt, wenn man mit Pferden lebt. Also mieteten Holmes und Lowell eine Einspänner‐Droschke, deren Kutscher und Zugtier jedes Mal ein Nickerchen machten, wenn sie irgendwo länger standen. Das letzte Heim, das sie besuchten, schien eines der besser ge‐ führten zu sein. Es war in einer leer stehenden Unitaristischen Kirche untergebracht, die den langwierigen Kämpfen mit den Kongregationalisten zum Opfer gefallen war. In diesem Heim bekamen Veteranen an mindestens vier Abenden in der Woche eine warme Mahlzeit. Das Abendessen war bald nach Lowells und Holmesʹ Ankunft beendet, und die Soldaten begaben sich in die eigentliche Kirche.
»Es wird voll«, bemerkte Lowell mit einem Blick in den Raum, dessen Bänke sich zusehends mit blauen Uniformen füllten. »Setzen wir uns hinein, dann brauchen wir wenigstens nicht zu stehen.« »Also ehrlich, Jamey, ich weiß nicht, wozu das noch nütze sein soll. Vielleicht sollten wir uns doch das nächste auf unserer Li‐ ste ansehen.« »Das war das nächste. Nach Ropesʹ Liste ist das andere nur mittwochs und sonntags geöffnet.« Holmes sah zu, wie ein Soldat, der statt des einen Beins nur noch einen Stumpf hatte, in einem Rollstuhl über den Hof ge‐ schoben wurde, von einem Kameraden, der fast noch ein Halbwüchsiger war, aber einen eingefallenen Mund hatte, weil er durch den Skorbut die Zähne verloren hatte. Das waren die Seiten des Krieges, über die man aus den Rapports der Offiziere oder den Briefen der Kriegsberichterstatter nichts erfuhr. »Was für einen Sinn hat es, ein völlig erschöpftes Pferd noch anzu‐ spornen, mein lieber Lowell? Wir sind nicht Gideon, der zu‐ sieht, wie seine Soldaten aus der Quelle trinken. Durch bloßes Zuschauen werden wir nicht klüger. Wir finden nicht Hamlet und Faust, Recht und Unrecht, die Tapferkeit von Männern, indem wir den Albumingehalt bestimmen oder Fasern unter dem Mikroskop untersuchen. Ich fürchte, wir werden uns eine neue Taktik zurechtlegen müssen.« »Erst Pike, jetzt Sie«, sagte Lowell kopfschüttelnd. »Im Augen‐ blick müssen wir uns nur entscheiden, ob wir hier bleiben oder uns in ein anderes Heim fahren lassen.« »Ihr beiden seid das erste Mal hier«, unterbrach sie ein einäugiger Soldat mit hage‐
rem, pockennarbigem Gesicht und einer schwarzen Tonpfeife im Mund. Da sie nicht darauf gefasst waren, angesprochen zu werden, brachten sie beide kein Wort heraus, und jeder wartete, dass der andere antworten würde. Der Mann trug eine Uni‐ form, die anscheinend seit der Vorkriegszeit nicht mehr gewa‐ schen worden war. Der Soldat ging weiter in die Kirche hinein und schaute nur kurz noch einmal zurück, um ein wenig gekränkt zu sagen: »Nichts für ungut. Ich hab nur gedacht, ihr seid vielleicht we‐ gen dem Dante hier.« Im ersten Moment reagierte weder Lowell noch Holmes. Sie dachten beide, sie hätten sich verhört. »Moment, mein Freund!«, rief Lowell. Die beiden Dichter liefen in die Kirche, in der es sehr dämmrig war. Unter den vielen Uniformträgern konnten sie keinen ent‐ decken, der nach einem Dante‐Kenner aussah. »Hinsetzen!«, rief jemand aufgebracht durch die trichterförmig aneinander gelegten Hände. Holmes und Lowell tasteten nach einem Sitzplatz, postierten sich beiderseits des Mittelgangs und begannen die Gesichter zu mustern. Holmes behielt den Ausgang im Auge, für den Fall, dass der Soldat zu entkommen versuchte. Lowell sah von ei‐ nem finsteren Gesicht zum anderen, und schließlich blieb sein Blick auf der pockennarbigen Haut und dem einen Auge des Mannes haften, der sie angesprochen hatte. »Ich hab ihn«, flüsterte Lowell. »Ich habʹs geschafft, Wendell! Ich hab ihn gefunden! Ich hab unseren Luzifer gefunden!« Holmes drehte sich um und keuchte vor Aufregung. »Welcher
ist es denn, Jamey?« Mehrere Soldaten zischten laut, um die beiden zum Schwei‐ gen zu bringen. »Da!«, flüsterte Lowell. »Eins, zwei ... in der vierten Reihe von vorn!« »Wo?« »Da!« »Ich danke euch, meine Freunde, dass ihr mich erneut eingeladen habt«, ertönte eine zittrige Stimme vom Podium her. »Und jetzt gehen Dantes Höllenstrafen weiter mit ...« Lowell und Holmes richteten wie auf Kommando den Blick in den vorderen Teil der stickigen, dunklen Kirche. Dort stand kein anderer als ihr Freund, der alte George Washington Gree‐ ne. Er hustete schwächlich, richtete sich auf und umfasste mit beiden Händen das Rednerpult. Sein Publikum schwieg wie gebannt und wartete begierig darauf, erneut durch die Pforten der Hölle zu schreiten.
Dritter Teil
XV O ihr Pilger: Kommt nun in den letzten Kreis des finsteren Ker‐ kers, den Dante auf seiner Wanderung in die Tiefe erkunden muss, auf seiner schicksalhaften Reise zur Erlösung der Menschheit von allem Leid!« George Washington Greene hob die Arme weit über das kleine Pult, das ihm bis zur Brust reich‐ te. »Denn Dante hat nicht weniger im Sinn als dies: Sein persön‐ liches Schicksal muss hinter dem Gedicht zurückstehen. Er wird die Menschheit durch seine Reise emporheben, und wir wollen ihn dabei begleiten, Arm in Arm mit ihm, von den feu‐ rigen Toren zu den himmlischen Sphären, um dieses unser neunzehntes Jahrhundert von der Sünde zu reinigen! Oh, welch gewaltige Aufgabe lag vor ihm, als er, das bittere Salz des Exils auf den Lippen, in diesem Unglücksturm in Ve‐ rona saß. Er fragt sich: Wie soll ich mit meinen armseligen Wor‐ ten den tiefsten Abgrund des Universums schildern? Er fragt sich: Wie soll ich meinen wundersamen Gesang singen? Doch Dante weiß, dass er keine andere Wahl hat: um seine Stadt, sein Volk zu erlösen, um die Zukunft zu erlösen ‐ und uns, die wir hier in dieser wieder erweckten Kirche sitzen, um den Geist seiner majestätischen Stimme neu zu beleben in einer neuen Welt, und ebenfalls der Erlösung bedürfen! Er weiß, dass es in jeder Generation die wenigen vom Glück Begünstigten geben wird, die wahrhaft sehen und verstehen. Seine Feder ist aus Feuer, sein Herzblut ist seine Tinte. O Dante, Bote des Lichts!
Glücklich sind die Stimmen der Berge und der Bäume, die auf ewig deine Gesänge wiederholen werden!« Greene holte tief Luft, bevor er anhob, von Dantes Abstieg in die unterste Höllentiefe zu berichten, zu dem zugefrorenen See Cocytus, dessen Eisfläche glatt ist wie Glas und dicker als die des Charles River mitten im Winter. »Dante hört aus dieser ei‐ sigen Tundra eine Stimme erschallen: >Acht auf deine Schrit‐ te!<, ruft die Stimme. >Geh so, dass du nicht trittst mit deinen Füßen die Köpfe deiner armen, müden Brüder!< Woher kamen diese anklagenden Worte, die dem wohlgeson‐ nenen Dante in den Ohren gellten? Als er hinabschaut, sieht der Dichter aus dem Eis ragende Köpfe, eine Versammlung toter Schatten ‐ tausend blau gefrorene Köpfe, Sünder der niedersten Art, die den Menschen bekannt ist. Für welche Sünde müssen diese in dem eisigen See eingefrorenen Toten büßen? Für Verrat natürlich! Und welches ist ihre Strafe, ihr contrapasso für die Kälte in ihrem Herzen? Vom Hals abwärts im Eis zu stecken, sodass ihre Augen auf ewig die elende Strafe sehen müssen, die ihnen für ihre Missetaten auferlegt wurde.« Holmes und Lowell waren fassungslos, das Herz klopfte ih‐ nen bis zum Hals. Lowells Bart hing tief herab, während Gree‐ ne, vor Vitalität funkelnd, beschrieb, wie Dante den Kopf des renitenten Sünders packt, der ihn und seinen Führer getadelt hat, ihn nach seinem Namen fragt und ihm büschelweise Haare ausreißt. Du magst mich noch so rupfen, ich sag und zeige nicht, wer ich gewesen! Einer der anderen Sünder ruft seinen Leidensge‐ nossen unbedacht beim Namen, damit er mit dem schreckli‐ chen Geschrei aufhört, und Dante ist zufrieden, weil er jetzt den
Namen des Sünders für die Nachwelt festhalten kann. Greene versprach, in seiner nächsten Predigt zu dem bestialischen Lu‐ zifer zu kommen, dem schlimmsten aller Verräter und aller Sünder, dem dreiköpfigen Tier, das zugleich Strafender und Bestrafter ist. Die Kraft, die den alten Geistlichen während sei‐ ner Predigt durchströmt hatte, schwand rasch und ließ nur röt‐ liche Flecken auf seinen Wangen zurück. Lowell drängte sich durch das Gewimmel in der dämmrigen Kirche, und Holmes folgte ihm. »Ah, liebe Freunde!«, rief Greene aus, als er ihrer ansichtig wurde. Sie zogen Greene in einen kleinen Raum am hinteren Ende der Kirche. Holmes schloss die Tür. Greene setzte sich auf ein Brett neben einen Heizofen und drehte die Handflächen nach oben. »Es ist eine Last«, bemerkte er. »Bei diesem furcht‐ baren Wetter und meinem wieder ausgebrochenen Husten kann ich mich nicht beklagen, wenn ...« »Sagen Sie uns alles, Greene, sofort!«, herrschte Lowell ihn an. »Aber, Mr. Lowell, ich habe nicht die leiseste Ahnung, worauf Sie hinauswollen«, sagte Greene verdutzt und schaute Holmes an. »Mein lieber Greene, Lowell meint ...« Aber auch Holmes vermochte nicht ruhig zu bleiben. »Was in Dreiteufelsnamen machen Sie hier, Greene?« Greene machte ein gekränktes Gesicht. »Aber Sie wissen doch, mein lieber Holmes, dass ich in mehreren Kirchen der Stadt und in East Greenwich Gastpredigten halte, wann immer man mich einlädt und ich mich dazu imstande fühle. Das Kranken‐ bett ist auch im günstigsten Fall ein langweiliger Aufenthalts‐ ort, und bei mir sind im letzten Jahr noch Ängste und Schmer‐
zen hinzugekommen, sodass ich noch bereitwilliger zugreife denn je, wenn sich eine Gelegenheit bietet.« Lowell fiel ihm ins Wort. »Sicher, wir wissen von Ihren Gast‐ predigten. Aber hier haben Sie Dante gepredigt!« »Ach, das! Das ist eigentlich ein recht harmloser Zeitvertreib. Das Predigen vor diesen unglücklichen Soldaten ist eine so reizvolle Heraus‐ forderung, etwas ganz anderes als alles, was ich bisher gemacht habe. In Gesprächen mit diesen Männern in den ersten Wochen nach Kriegsende und besonders nach Lincolns Ermordung stellte ich fest, dass viele sich die größten Sorgen darüber ma‐ chen, wie es mit ihnen weitergehen soll. Eines Nachmittags, irgendwann im Spätsommer, nahm ich, angeregt durch Long‐ fellows engagierte Arbeit an seiner Übersetzung, einige dantes‐ ke Schilderungen in meine Predigt auf, mit durchaus er‐ mutigendem Erfolg. Und so begann ich mit allgemeinen Dar‐ stellungen von Dantes spiritueller Geschichte und seiner Wan‐ derung. Zuzeiten ‐ vergeben Sie mir, Sie sehen, wie ich mich schäme, es einzugestehen ‐ gefiel mir die Vorstellung, ich könn‐ te selbst Dante lehren und diese tapferen jungen Männer seien meine Schüler.« »Und Longfellow hat nichts davon gewusst?«, fragte Holmes. »Ich hätte mich gern mit ihm über mein bescheidenes Experi‐ ment ausgetauscht, aber, nun ja ...« Greene war bleich gewor‐ den und hielt den Blick auf das flammende Guckloch des Heiz‐ ofens gerichtet. »Vermutlich habe ich mich ein wenig geniert, mich neben einem Mann wie Longfellow als Dante‐Lehrer aus‐ zugeben. Aber ich bitte Sie, sagen Sie ihm nichts davon. Es wäre ihm unangenehm ...«
»Die Predigt eben, Greene«, unterbrach ihn Lowell, »handelte ausschließlich von Dantes Begegnung mit den Verrätern.« »Ja, ja!«, sagte Greene und lebte in der Erinnerung auf. »Ist es nicht wunderbar, Lowell? Ich habe schon bald entdeckt, dass ich mit der Darstellung von einem oder zwei Gesängen der Commedia die Aufmerksamkeit der Soldaten viel stärker fesseln konnte als mit einer Predigt aus meinen eigenen schwachen Gedanken, und wenn ich es tat, fühlte ich mich gestärkt für unsere Dante‐ Sitzungen in der Woche darauf.« Greene lachte nervös, mit dem Stolz eines Kindes auf eine Leistung, die seine Eltern ihm nicht zugetraut hätten. »Als wir im Dante Club mit dem Inferno be‐ gannen, kam ich auf das System, das ich bis heute beibehalten habe: Ich predige jeweils über einen der Gesänge, die wir beim nächsten Treffen unseres Clubs übersetzen werden. So fühle ich mich heute gewappnet für die Bearbeitung des Gesangs, den Longfellow für morgen angesetzt hat! Normalerweise halte ich meine Predigten am Donnerstagnachmittag, kurz bevor ich mit dem Zug nach Rhode Island zurückfahre.« »Jeden Donners‐ tag?«, fragte Holmes. »Ja, außer wenn ich das Bett hüten musste. Und in den Wo‐ chen, in denen unsere Dante‐Sitzungen ausgefallen sind, hatte ich natürlich nicht den Mut, über Dante zu sprechen«, sagte Greene. »Und letzte Woche, o Wunder! Da hat Longfellow so schnell übersetzt, dass ich in Boston blieb und fast die ganze Woche lang jeden Abend eine Dante‐Predigt hielt!« Longfellow packte Greene am Revers. »Mr. Greene! Sie müs‐ sen sich unbedingt an alles erinnern, was hier vorgefallen ist, an jede kleinste Einzelheit! Sind Ihnen Soldaten aufgefallen, die
besonders darum bemüht schienen, den Inhalt Ihrer Dante‐ Predigten zu verstehen?« Greene erhob sich mühsam und schaute sich verwirrt um, als hätte er vergessen, was sie hier machten. »Lassen Sie mich über‐ legen. Es waren jedes Mal etwa zwanzig bis dreißig da, aber nicht immer dieselben. Ich hatte leider noch nie ein gutes Ge‐ dächtnis für Gesichter. Ja, ein paar haben hin und wieder Be‐ wunderung geäußert. Sie müssen mir glauben ‐ wenn ich Ihnen helfen kann ...« »Greene, wenn Sie nicht auf der Stelle ...«, fuhr Lowell ihn an. »Lowell, bitte«, sagte Holmes. Lowell atmete schwer und bedeutete Holmes weiterzuma‐ chen. »Mein lieber Mr. Greene«, begann Holmes, »Sie können uns helfen ‐ und zwar sehr. Denken Sie scharf nach, uns zulie‐ be, Longfellow zuliebe. Lassen Sie all die Soldaten Revue pas‐ sieren, mit denen Sie gesprochen haben, seit das hier angefan‐ gen hat.« »Ah, Moment.« Greenes halbmondförmige Augen weiteten sich. »Moment. Ja, einer hat mich einmal um eine be‐ sondere Auskunft gebeten, ein Soldat, der Dante für sich lesen wollte.« »Ja! Was haben Sie ihm gesagt?«, fragte Holmes strah‐ lend. »Ich habe den jungen Mann gefragt, ob er mit Fremdspra‐ chen vertraut sei. Er meinte, er sei seit seiner frühen Jugend ei‐ ne ausgesprochene Leseratte, beherrsche aber nur die englische Sprache. Ich erwähnte, dass ich an der Fertigstellung der ersten amerikanischen Übersetzung durch Longfellow mitarbeite und dass wir dafür einen kleinen Club im Hause des Dichters ha‐ ben. Er schien mir recht interessiert. Also riet ich ihm, Anfang nächsten Jahres in seiner Buchhandlung nach Neuerscheinun‐
gen aus dem Hause Ticknor & Fields zu fragen.« Dies alles brachte Greene mit dem Eifer einer von Fields lancierten Vor‐ ankündigungen in den Klatschspalten vor. Holmes warf Lowell einen hoffnungsvollen Blick zu. »Seinen Namen«, sagte er langsam, »hat Ihnen dieser Soldat nicht zufäl‐ lig genannt?« Greene schüttelte den Kopf. »Erinnern Sie sich, wie er ausgesehen hat, lieber Greene?« »Nein, nein, tut mir furchtbar Leid.« »Es ist wichtiger, als Sie sich vorstellen können«, beharrte Lo‐ well. »Ich erinnere mich nur ganz verschwommen an die Unterre‐ dung«, sagte Greene und schloss die Augen. »Ich glaube, er war ziemlich groß und hatte einen heufarbenen Schnurrbart. Viel‐ leicht hat er gehinkt, aber hier sind ja so viele invalid. Es ist mehrere Monate her, und ich hab mir sein Aussehen damals nicht eigens eingeprägt. Wie gesagt, ich kann mir Gesichter nicht merken ‐ deshalb habe ich auch nie Romane geschrieben, meine Freunde. In Romanen geht es immer um Gesichter.« Greene lachte, offenbar fand er seine letzte Bemerkung geist‐ reich. Aber die Mienen seiner Freunde wurden immer ver‐ schlossener. »Meine Herren, bitte sagen Sie mir, habe ich etwa zur Entstehung eines Problems beigetragen?« Während sie sich zwischen den Gruppen der Veteranen zum Ausgang durchschlängelten, wurden sie von den wachsamen Augen des Mannes verfolgt, den der Dante Club Luzifer nann‐ te. George Washington Greene wurde im Autorenzimmer des Ver‐
lags in einen geräumigen Sessel gesetzt. Nicholas Rey gesellte sich zu ihnen. Die Fragen entlockten Greene so viel wie möglich über seine Dante‐Predigten und die Veteranen, die sich jede Woche begierig versammelten, um ihn zu hören. Dann trug Lowell übergangslos eine Chronik der Dante‐Morde vor, zu der Greene kaum etwas einfiel. Während Lowell eine Einzelheit nach der anderen aufzählte, spürte Greene, wie ihm seine geheime Verbundenheit mit Dan‐ te nach und nach entwunden wurde. Das einfache Pult im Sol‐ datenheim, seine faszinierte Zuhörerschaft; der Ehrenplatz, den die Göttliche Komödie in seiner Bibliothek in Rhode Island ein‐ nahm; die Mittwochabende an Longfellows Kamin ‐ all diese Dinge waren ihm immer als beständige und vollkommene Zei‐ chen seiner Hingabe an den großen Dichter erschienen. Doch wie bei allem, was in seinem Leben irgendwann einmal zufrie‐ den stellend gewesen war, hatte auch hier viel mehr hineinge‐ spielt, als er sich vorzustellen vermochte. Es gab einfach zu viel, was sich seinem Wissen entzog und seiner Billigung nicht be‐ durfte. »Mein lieber Greene«, sagte Longfellow sanft, »Sie dür‐ fen mit niemandem außer den hier Anwesenden über Dante sprechen, solange diese Angelegenheit nicht aufgeklärt ist.« Greene brachte die Andeutung eines Nickens zustande. Er sah aus wie jemand, der sich nutzlos und abgeschoben vorkommt, sein Gesicht glich einem Zifferblatt, dem die Zeiger abgerissen wurden. »Und unser Dante‐Club‐Treffen, das für morgen ange‐ setzt war?«, fragte er mit schwacher Stimme. Longfellow schüt‐ telte bedauernd den Kopf. Fields klingelte nach einem Laufburschen, der Greene zum
Haus seiner Tochter begleiten sollte. Longfellow wollte ihm in den Mantel helfen. »Das dürfen Sie nie tun, lieber Freund«, sagte Greene. »Ein junger Mann braucht es nicht, und ein alter will es nicht.« Er blieb am Arm des Laufburschen stehen, als er in die Diele hi‐ naustrat, und sprach, ohne sich zu den Männern im Zimmer umzudrehen. »Sie hätten mir sagen können, was passiert ist. Jeder von Ihnen hätte es mir sagen können. Ich war vielleicht nicht der Kräftigste ... Aber ich hätte Ihnen helfen können.« Sie warteten, bis Greenes Schritte verklungen waren. »Hätten wir es ihm doch gesagt«, sagte Longfellow. »Wie dumm von mir, von einem Wettrennen gegen die Übersetzung auszugehen!« »Aber keineswegs, Longfellow!«, widersprach Fields. »Beden‐ ken Sie, was wir jetzt wissen: Greene hat seine Predigten immer am Donnerstagnachmittag gehalten und ist hinterher sofort nach Rhode Island zurückgefahren. Er suchte sich einen Gesang aus, auf den er sich vorbereiten wollte, jeweils einen der zwei oder drei, die Sie auf die Tagesordnung unseres nächsten Tref‐ fens gesetzt hatten. Dieser vermaledeite Luzifer hat von den Strafen gehört, mit denen wir uns jeweils befassen wollten ‐ sechs Tage bevor unsere Gruppe zusammentrat! Damit blieb ihm reichlich Zeit, seine Version des Contrapasso‐Mordes zu inszenieren, einen oder zwei Tage bevor wir die betreffende Passage zu Papier brachten. Aus unserer begrenzten Perspekti‐ ve wirkte das Ganze wie ein Wettrennen, so als wollte uns je‐ mand mit den Einzelheiten unserer eigenen Übersetzung ver‐ spotten.« »Und wie erklärt sich die Warnung, die in Mr. Long‐ fellows Fensterscheibe geritzt wurde?«, fragte Rey.
»La Mia Traduzione.« Fields warf die Hände hoch. »Wir sind zu dem voreiligen Schluss gekommen, es sei das Werk des Mör‐ ders. Aber Mannings verfluchte Schergen im College wären sich bestimmt nicht zu schade, zu versuchen, uns durch Ein‐ schüchterung von der Übersetzung abzubringen.« Holmes wandte sich an Rey. »Weiß Willard Burndy irgendet‐ was, was uns weiterbringen könnte?« »Burndy sagt, ein Soldat habe ihm Geld gegeben, damit er ihm verrät, wie er den Safe von Reverend Talbot knacken kann. In der Annahme, es sei leicht verdientes Geld fast ohne Risiko, ist Burndy bei Talbot eingestiegen und hat sich im Haus umgese‐ hen. Dabei haben ihn mehrere Personen beobachtet. Nach dem Mord an Talbot haben die Detectives die Augenzeugen ausfin‐ dig gemacht, und unterstützt von Langdon Peaslee, Burndys Rivalen, haben sie ihre Anschuldigung gegen Burndy erhoben. Burndy ist ein Säufer und erinnert sich kaum noch an den Mann, er weiß nur noch, dass er Uniform trug. Ich würde ihm nicht einmal das abnehmen, wenn Sie nicht inzwischen heraus‐ gefunden hätten, woher der Mörder seine Kenntnisse hatte.« »Zum Teufel mit Burndy! Zum Teufel mit allen«, rief Lowell aus. »Verstehen Sie nicht, meine Herren? Wir sind Luzifer so dicht auf den Leib gerückt, dass wir ihm zwangsläufig auf seine Achillesferse treten müssen. Überlegen Sie: Die unregelmäßigen Abstände zwischen den Morden sind jetzt völlig logisch. Luzi‐ fer ist doch kein Dante‐Kenner, er hat nur Predigten über Dante gehört. Er konnte nur dann einen Mord begehen, wenn er ge‐ hört hatte, wie Greene von einer Höllenstrafe predigte. In der einen Woche hatte sich Greene den Elften Gesang als Text aus‐
gesucht ‐ Vergil und Dante sitzen auf einer Mauer, um sich an den Gestank der Hölle zu gewöhnen, und besprechen den Auf‐ bau der Hölle mit der Sachlichkeit von Ingenieuren ‐, einen Ge‐ sang, in dem keine Strafe, kein Mord vorkommt. In der darauf folgenden Woche wurde Greene krank, er kam nicht zu unse‐ rem Treffen und hielt keine Predigt ‐ wieder kein Mord.« »Ja, und Greene war auch vorher einmal krank, als wir schon beim Inferno waren.« Longfellow blätterte in seinen Notizen. »Und auch später noch einmal. Und in diesen Wochen gab es ebenfalls keinen Mord.« Lowell fuhr fort: »Desgleichen, als wir eine Pause einlegten, nachdem wir aufgrund von Holmesʹ Bericht über Talbots Lei‐ che beschlossen hatten, unsere Ermittlungen aufzunehmen. Bis wir dann mit den Zwietrachtstiftern weitermachten ‐ und damit Greene wieder auf die Kanzel schickten und Phinny Jennison in den Tod!« »Jetzt wird auch sonnenklar, warum der Mörder das Geld un‐ ter den Kopf des Simonisten gelegt hat«, sagte Longfellow. »Das war von Anfang an Mr. Greenes bevorzugte Auslegung. Ich hätte bei den Einzelheiten der Morde auf seine Dante‐ Interpretationen achten müssen.« »Machen Sie sich keine Vorwürfe, Longfellow«, sagte Holmes. »Die Einzelheiten der Morde waren nur für einen Dante‐ Kenner durchschaubar. Wer hätte geahnt, dass letzten Endes Greene dahinter steckte?« »Trotzdem, so logisch meine Überlegungen auch waren«, er‐ widerte Longfellow, »wir haben einen schweren Fehler ge‐ macht. Da wir in letzter Zeit häufiger als sonst getagt haben, hat
unser Widersacher durch Greene innerhalb einer Woche so viel erfahren wie sonst im Lauf eines Monats.« »Ich bin dafür, dass Greene seine Predigten vor den Soldaten fortsetzt«, beharrte Lowell. »Aber diesmal lassen wir ihn über etwas anderes als Dante predigen. Wir beobachten seine Zuhö‐ rer und warten ab, ob jemand unruhig wird, und dann schlagen wir zu.« »Das wäre zu gefährlich für Greene!«, wandte Fields ein. »Sol‐ chen Spielchen ist er nicht gewachsen. Außerdem wird das Heim demnächst geschlossen, und die Soldaten sind inzwi‐ schen wahrscheinlich schon über die ganze Stadt verstreut. Wir haben keine Zeit mehr für solche Pläne. Luzifer kann jeden Moment wieder zuschlagen, gegen jeden, von dem er in seinem Wahn annimmt, er habe ihm Unrecht getan!« »Aber er muss doch einen Grund haben, solche Sachen zu glauben, Fields«, erwiderte Holmes. »Wahnsinn ist oft die Lo‐ gik eines präzisen Verstandes, der überanstrengt ist.« »Wir wis‐ sen jetzt, dass der Mörder nach einer Predigt zwei Tage oder länger brauchte, um den Mord vorzubereiten«, sagte Rey. »Wä‐ re es möglich, potenzielle Opfer auszumachen, nun, da Sie wis‐ sen, mit welchen Dante‐Texten Mr. Greene die Soldaten be‐ kannt gemacht hat?« »Ich fürchte, nein«, sagte Lowell. »Zum einen haben wir kei‐ nen Anhaltspunkt dafür, wie Luzifer auf die ungewohnte Fülle von Predigten reagieren wird. Der Gesang von den Verrätern, den wir eben gehört haben, müsste ihn besonders beeindruk‐ ken. Aber woher sollen wir wissen, welche >Verräter< ihm im Kopf herumspuken?«
»Wenn sich Greene nur besser an den Mann erinnern würde, der ihn nach Möglichkeiten der Dante‐Lektüre gefragt hat«, sagte Holmes. »Er hat Uniform getragen, hatte einen heufarbe‐ nen Schnurrbart und hat gehinkt. Andererseits wissen wir, dass der Mörder sehr stark und sehr flink war, denn nach den Mor‐ den hat ihn niemand gesehen. Wäre das mit einer solchen Be‐ hinderung nicht eher unwahrscheinlich?« Lowell stand auf und ging übertrieben hinkend auf Holmes zu. »Würden Sie nicht vielleicht auch so gehen, Wendell, wenn Sie Ihre großen Körperkräfte vor der Welt verbergen möchten?« »Möglich, aber wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass sich der Mörder überhaupt verbirgt, nur Beweise für unsere Unfä‐ higkeit, ihn zu sehen. Wenn man sich vorstellt, dass Greene un‐ serem Luzifer schon öfter in die Augen geblickt hat!« »Oder einem Gentleman, der von Dantes Kraft beseelt ist«, meinte Longfellow. »Es war in der Tat erstaunlich, wie erpicht die Soldaten darauf waren, noch mehr von Dante zu hören«, räumte Lowell ein. »Dantes Leser werden zu Studierenden und seine Studierenden zu Eiferern. Was als Vorliebe begonnen hat, wird zur Religion. Der heimatlose Verbannte findet eine Heimat in tausend dank‐ baren Herzen.« Ein vorsichtiges Klopfen war zu hören, gefolgt von einer lei‐ sen Stimme. Fields schüttelte ärgerlich den Kopf. »Osgood, können Sie aus‐ nahmsweise mal allein zurechtkommen?« Ein zusammengefaltetes Stück Papier wurde unter der Tür durchgeschoben. »Nur eine Nachricht, mit Verlaub, Mr.
Fields.« Fields zögerte und entfaltete dann das Blatt. »Das ist Houghtons Siegel. >Im Zusammenhang mit Ihrer Anfrage von neulich wird es Sie sicherlich interessieren, dass offenbar doch Druckfahnen von Mr. Longfellows Dante‐Übersetzung abhan‐ den gekommen sind. Gezeichnet H. O. H.<« Rey wollte wissen, was das zu bedeuten hatte. Fields erläuterte: »Als wir noch irr‐ tümlich annahmen, dass es dem Mörder gewissermaßen um einen Wettlauf mit unserer Übersetzungsarbeit ging, bat ich meinen Drucker, Mr. Houghton, festzustellen, ob irgendein Unbefugter Zugang zu Mr. Longfellows Korrekturfahnen hatte und dadurch voraussehen konnte, wie unsere Arbeit fortschrei‐ ten würde.« »Gütiger Gott, Fields!« Lowell riss ihm das Blatt aus der Hand. »Und das jetzt, da wir zu der Überzeugung gekommen sind, dass Greenes Predigten alles erklären. Das stellt ja nun wieder alles auf den Kopf.« Als Lowell, Fields und Longfellow in der Druckerei ankamen, war Henry Oscar Houghton damit beschäftigt, einen Brief an einen pflichtvergessenen Druckplattenhersteller abzufassen. Ein Bürodiener meldete sie an. »Sie hatten mir doch versichert, dass in Ihrer Ablage keine Druckfahnen fehlen, Houghton!«, herrschte Fields den Drucke‐ reibesitzer an, noch bevor er den Hut abgenommen hatte. Houghton schickte den Bürodiener weg. »Stimmt genau, Mr. Fields. Und die Ablage ist in der Tat komplett«, erklärte er. »A‐ ber Sie müssen wissen, ich hebe einen zweiten Satz von allen wichtigen Platten und Fahnen in einem Tresorraum im Keller
auf, als Vorsichtsmaßnahme für den Fall eines Brandes ‐ seit damals die Sudbury Street bis auf die Grundmauern nieder‐ brannte. Ich dachte immer, dass niemand von meinen Leuten sich dort hinunter verirrt. Dafür gibt es nicht den geringsten Grund ‐ mit gestohlenen Fahnenabzügen lässt sich kein Ge‐ schäft machen, und meine Druckerlehrlinge spielen viel lieber Billard, als ein Buch zu lesen.« »Houghton«, sagte Fields. »Bitte zeigen sie uns, wo Sie diese anderen Druckfahnen aufbewah‐ ren.« Houghton führte Fields, Lowell und Longfellow über eine schmale Treppe in den Keller. Am Ende eines langen Ganges befand sich eine Tresortür. Houghton drehte an einem Zahlen‐ kombinationsschloss, und sie gelangten in einen großen Tresor‐ raum, den er einer geschlossenen Bankfiliale abgekauft hatte. »Erst nachdem ich Ihnen bestätigt hatte, dass die Fahnen in der Ablage komplett waren, kam ich auf den Gedanken, auch hier nachzusehen. Und siehe da! Mehrere Fahnen von den ersten Gesängen des Inferno sind verschwunden.« »Wann kann das passiert sein?«, wollte Fields wissen. Hough‐ ton zuckte die Achseln. »Ich bin nicht sehr oft hier unten. Die Fahnen könnten schon vor Monaten verschwunden sein.« Longfellow fand die Kiste, auf der sein Name stand, und Lo‐ well half ihm, die Fahnen der Göttlichen Komödie zu sortieren. Es fehlten mehrere Gesänge des Inferno. »Die sind anscheinend völlig planlos vorgegangen«, flüsterte Lowell. »Teile des Dritten Gesangs sind verschwunden, aber das ist die einzige unter den entwendeten Passagen, nach der auch ein Mord begangen wurde.« Der Drucker räusperte sich.
»Wenn Sie möchten, kann ich alle antreten lassen, die die Kombination der Tresortür kennen. Ich werde der Sache auf den Grund gehen.« Die Druckerlehrlinge arbeiteten an den Druckerpressen, leg‐ ten nicht mehr gebrauchten Satz ab und reinigten alles von ausgelaufener Druckerschwärze, als sie Houghtons Glocke hör‐ ten. Sie strömten in die Kantine der Druckerei. Houghton klatschte mehrmals in die Hände, und das Stimmengewirr verstummte. »Jungs. Ich bin auf ein kleines Problem gestoßen. Ihr erkennt bestimmt einen unserer Gäste, Mr. Longfellow aus Cambridge. Seine Bücher bilden einen wichtigen Teil unserer literarischen Druckwerke.« Einer der jungen Männer, ein rothaariger ländlicher Typ, des‐ sen blasses Gesicht mit Druckerschwärze verschmiert war, wurde unruhig und warf Longfellow nervöse Blicke zu. Long‐ fellow bemerkte es und machte Lowell und Fields ein Zeichen. Lowell näherte sich ihm unauffällig. »Es hat den Anschein, dass aus meinem Tresorraum Druck‐ fahnen verschwunden sind ‐ oder sagen wir mal, sie sind ver‐ legt worden.« Houghton wollte weiterreden, als ihm ebenfalls der unruhige Lehrling mit dem blassen Gesicht auffiel. Lowell legte dem jungen Mann leicht die Hand auf die Schulter. Dar‐ aufhin stieß der Lehrling einen Kollegen zu Boden und rannte weg. Lowell lief ihm nach, hörte aber nur noch schnelle Schritte auf der Hintertreppe. Der Dichter lief ins Hauptbüro und die steile Seitentreppe hinab. Er rannte auf die Straße hinaus und schnitt dem Flüchti‐ gen am Flussufer den Weg ab. Er packte ihn, aber der Lehrling
riss sich los, rutschte die hart gefrorene Uferböschung hinunter und fiel in den Charles River, an dem ein paar Jungen mit Spee‐ ren Aale fingen. Er brach im Eis ein. Lowell nahm einem der Jungen den Speer ab und fischte den von der Kälte geschockten Drucker an seiner durchnässten Schürze heraus. »Warum hast du die Fahnen gestohlen, du Teufelsbraten?«, rief Lowell. »Was reden Sie denn da? Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte der junge Mann zähneklappernd. »Los, heraus mit der Sprache«, sagte Lowell. Seine Hände zit‐ terten fast so stark wie die des Übeltäters. »Du kannst mich mal!« Lowell stieg die Röte ins Gesicht. Er packte den Kerl an den Haaren und tauchte ihn unter. Inzwischen hatten sich Hough‐ ton, Longfellow und Fields ‐ und ein halbes Dutzend schreien‐ der Drucker im Alter zwischen zwölf und einundzwanzig ‐ durch die Eingangstür der Druckerei gedrängt. Longfellow hielt Lowell zurück. »Ich hab die verdammten Fahnen verkauft, damit Sieʹs wis‐ sen!«, schrie der durchnässte Lehrling, nach Luft schnappend. Lowell zog ihn hoch und hielt ihn am Arm fest. Der Drucker blinzelte, weil ihm das Eiswasser in den Augen brannte. »Tut mir Leid, Mr. Houghton. Ich hab gedacht, die wird niemand vermissen! Ich hab ja gewusst, dass es bloß Reserveexemplare sind!« Houghton war puterrot. »Los, ab ins Haus. Alle wieder rein!«, herrschte er die anderen Drucker an, die sich murrend fügten. Fields nahm sich den Dieb vor. »Sag jetzt die Wahrheit,
Junge, in deinem eigenen Interesse. Wem hast du die Fahnen verkauft?« »Irgendeinem Schwachkopf. Zufrieden? Der hat mich angesprochen, wie ich einmal nach Feierabend heimge‐ gangen bin, und hat gesagt, ich soll ihm zwanzig oder dreißig Seiten von der neuen Übersetzung von Mr. Longfellow bringen, irgendwelche, was ich grad finde, und nur so viele, dass es nicht auffällt. Damit kann ich mir was nebenbei verdienen, hat er gesagt.« »Wer es war, wollen wir wissen«, sagte Lowell. »Ein richtig feiner Pinkel ‐ Zylinderhut, dunkler Gehrock und Um‐ hang, Bart. Ich hab ja gesagt, und er hat mir Geld gegeben. Ich hab den Kerl nie wiedergesehen.« »Und wann hast du ihm die Fahnen übergeben?«, fragte Longfellow. »Die waren nicht für ihn. Er hat gesagt, ich soll sie bei einer bestimmten Adresse abliefern. Ich glaub nicht, dass es seine eigene war ‐ na ja, das hab ich mir so gedacht, nach der Art, wie er geredet hat. Die Hausnummer weiß ich nicht mehr, aber es ist nicht weit von hier. Er hat gesagt, ich krieg die Fahnen zu‐ rück, damit mir Mr. Houghton nicht die Hölle heiß macht, aber er hat sich nicht mehr gemeldet.« »Er hat Houghton beim Namen gekannt?«, fragte Fields. »Jetzt pass mal auf«, sagte Lowell. »Wir müssen genau wissen, wo du die Fahnen hingebracht hast.« »Hab ich doch schon gesagt«, erwiderte der bibbernde Druk‐ kerlehrling. »Ich weiß die Hausnummer nicht mehr.« »Stell dich nicht dümmer, als du bist«, sagte Lowell. »Tu ich gar nicht. Ich findʹs auch bestimmt wieder, wenn ich hingeh, ehrlich.« Lowell lächelte. »Das ist gut, denn du bringst uns jetzt auf der
Stelle hin.« »Nee, ich verpfeif keinen! Außer, ich behalte meine Arbeit!« Houghton stieg die Uferböschung hinab. »Niemals, Colby! Soll ich dich vielleicht für den Diebstahl auch noch belohnen?« »Und du wirst schwerlich eine neue Stelle finden, wenn du im Gefängnis sitzt«, fügte Lowell hinzu. »Du führst uns zu dem Haus, wo du die Fahnen abgeliefert hast, Colby, oder die Poli‐ zei bringt dich hin.« »Also gut, dann kommen Sie in ein paar Stunden wieder, wenn ich Feierabend hab«, lenkte der Drucker ein. Lowell ließ ihn los, und Colby rannte hinein, um sich am Ofen der Riversi‐ de Press aufzuwärmen. Unterdessen waren Nicholas Rey und Holmes noch einmal in das Soldatenheim gegangen, in dem Greene zuvor gepredigt hatte, aber sie fanden keinen, auf den Greenes Beschreibung des Dante‐Liebhabers gepasst hätte. Niemand machte Anstal‐ ten, die Tische für das Abendessen zu decken. Ein mürrischer Ire in einem schweren blauen Mantel vernagelte die Fenster mit Brettern. »Das Heim hat fast das ganze Geld für die Ofenhei‐ zung ausgegeben. Und wie man hört, bewilligt die Stadt keine Mittel mehr für die Veteranen. Also wird das Heim zugesperrt, jedenfalls erst mal über die Wintermonate. Aber unter uns ge‐ sagt, ich glaub nicht, dass die wieder aufmachen. Diese Heime und die verkrüppelten Insassen erinnern zu sehr an das Un‐ recht, das wir begangen haben.« Rey und Holmes suchten den Heimleiter auf. Der ehemalige Diakon bestätigte, was der Handwerker gesagt hatte: Das Wet‐
ter war schuld ‐ man konnte es sich einfach nicht mehr leisten, den Komplex zu heizen. Er sagte ihnen, dass es keine Liste der Soldaten gebe, die in dem Heim lebten. Es sei eine Einrichtung der öffentlichen Fürsorge, die allen Bedürftigen offen stehe, ganz gleich, in welchen Einheiten sie gedient hätten oder aus welchem Ort sie stammten. Und es würden auch nicht nur die Ärmsten der Armen aufgenommen, obwohl dies eigentlich der Sinn jeder öffentlichen Fürsorge sei. Einige der Männer hätten auch einfach nur das Bedürfnis, unter Menschen zu sein, von denen sie sich verstanden fühlten. Der Diakon kannte einige der Soldaten mit Namen, und von manchen wusste er auch die Regimentsnummer. »Möglicherweise kennen Sie den Mann, den wir suchen. Es handelt sich um eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit.« Rey wiederholte die Beschreibung, die George Washington Greene ihnen gegeben hatte. Der Heimleiter schüttelte den Kopf. »Wenn Sie möchten, schreibe ich Ihnen gerne die Namen der Herren auf, die ich kenne. Die Soldaten verhalten sich manchmal so, als bildeten sie einen eigenen Staat. Sie kennen sich untereinander besser, als wir sie jemals kennen lernen könnten.« Holmes wartete ungeduldig, während der Diakon mit uner‐ träglicher Langsamkeit abwechselnd schrieb und an seinem Federkiel knabberte. Lowell lenkte Fieldsʹ Kutsche durch das Tor der Riverside Press. Der rothaarige Drucker saß auf seiner alten Apfelschim‐ melstute. Er beklagte sich fluchend, dass sie sein Pferd der Ge‐
fahr aussetzten, die Druse zu bekommen, und galoppierte durch kleine Gässchen und über dunkle, hart gefrorene Wei‐ den. Die Route verlief so kreuz und quer, dass sogar Lowell, der Cambridge von Kindheit auf kannte, die Orientierung ver‐ lor. Der Druckerlehrling zügelte sein Pferd am Gartentor eines be‐ scheidenen Hauses im Kolonialstil, an dem er zunächst vorbei‐ geritten war. »Das Haus da ‐ hier hab ich die Fahnen abgeliefert. Hab sie einfach wie verlangt unter der Hintertür durchgeschoben.« »Und wessen Haus ist das?«, fragte Lowell. »Das müssen die Herren schon selber rausfinden!«, knurrte Colby und gab seinem Pferd die Sporen. Mit einer Laterne führte Fields Lowell und Longfellow hinter das Haus. »Es brennt kein Licht«, sagte Lowell und kratzte die Eisblu‐ men von einer Fensterscheibe. »Dann gehen wir zur Vordertür, notieren uns die Adresse und kommen morgen mit Rey noch mal her«, flüsterte Fields. »Col‐ by, der Schurke, will uns vielleicht an der Nase herumführen. Er ist ein Dieb, Lowell! Womöglich sitzen da drin Freunde von ihm, die darauf warten, uns auszurauben.« Lowell betätigte mehrmals den messingnen Türklopfer. »Bei dem Glück, das wir in letzter Zeit haben, ist das Haus wahrscheinlich bis morgen früh verschwunden.« »Fields hat Recht, wir müssen vorsichtig sein«, flüsterte Long‐ fellow dringlich. Als sich nichts rührte, rief Lowell laut »Hallo!« und donnerte
mit der Faust gegen die Tür. »Niemand da.« Er trat gegen die Tür, die zu seiner Verblüffung aufging. »Sesam, öffne dich! Se‐ hen Sie! Die Sterne stehen ausnahmsweise einmal günstig für uns.« »Jamey, wir können doch nicht einfach eindringen! Was ist, wenn dies das Haus von Luzifer ist? Am Ende kommen noch wir ins Gefängnis!«, sagte Fields. »Dann machen wir wenigstens seine Bekanntschaft«, sagte Lo‐ well und nahm Fields die Laterne ab. Longfellow blieb draußen und gab Acht, dass sich niemand an der Kutsche zu schaffen machte. Fields folgte Lowell in das dunkle, kalte Haus. Er fuhr bei jedem Knacken oder Knarren zusammen. Der Wind, der durch die offene Hintertür kam, ließ die Vorhänge gespenstisch tanzen. Einige der Räume waren sparsam möbliert, andere völlig leer geräumt. In dem Haus herrschte die kompakte Dunkelheit, die sich bei längerem Leer‐ stehen ansammelt. Lowell betrat einen schön eingerichteten ovalen Raum mit gewölbter Decke, dann hörte er plötzlich, wie Fields zu spucken anfing und sich hektisch Gesicht und Bart wischte. Er schwenkte die Laterne herum. »Spinnweben.« Er stellte die Laterne auf den Tisch in der Mitte der Bibliothek. »Hier hat schon länger niemand mehr gewohnt.« »Oder der Mensch, der hier wohnt, hat nichts gegen die Ge‐ sellschaft von Insekten einzuwenden.« »Suchen wir nach irgendwelchen Hinweisen darauf, warum dieser Schurke Geld dafür bekommen hat, Longfellows Druck‐ fahnen hierher zu bringen.« Fields wollte etwas erwidern, aber im nächsten Moment schallte ein Ruf durch das Haus, und schwere Schritte näherten
sich. Lowell und Fields sahen sich entsetzt an und wandten sich zur Flucht. »Einbrecher!« Die Seitentür der Bibliothek flog auf, und ein un‐ tersetzter Mann in einem wollenen Morgenmantel stürmte auf sie los. »Einbrecher! Weisen Sie sich aus, oder ich schreie die ganze Nachbarschaft zusammen!« Der Mann richtete den Schein seiner Laterne auf sie, dann hielt er verblüfft inne, als er ihre Kleider und ihre Gesichter sah. »Mr. Lowell? Sie hier? Und Mr. Fields?« »Randridge?«, rief Fields. »Randridge, der Schneider?« »Ja, sicher«, erwiderte Randridge kleinlaut und scharrte mit den Füßen, die in Haus‐ pantoffeln steckten. Longfellow kam in die Bibliothek gelaufen. »Mr. Longfellow?« Randridge zog sich die Schlafmütze vom Kopf. »Sie wohnen hier, Randridge?«, fragte Lowell. »Wozu haben Sie die Druckfahnen gebraucht?« Randridge sah ihn verständnislos an. »Ich? Ich wohne zwei Häuser weiter, Mr. Lowell. Aber ich hab Geräusche gehört und dachte mir, ich sehe mal nach. Ich fürchtete, es sei eingebrochen worden. Die haben noch nicht alles in Kisten verpackt und fort‐ geschafft. Bis zur Bibliothek sind sie noch nicht gekommen, wie Sie sehen.« »Wer hat noch nicht alles fortgeschafft?«, fragte Lo‐ well. »Nun, seine Verwandten natürlich. Wer sonst?« Fields nahm die Laterne und beleuchtete die Bücherregale. Was auf den ersten Blick auffiel, waren die vielen Bibeln, mindestens dreißig bis vierzig an der Zahl. Er nahm die größte heraus. »Sie sind aus Maryland gekommen, um das Haus auszuräu‐ men«, sagte Randridge. »Seine armen Neffen waren begreifli‐
cherweise entsetzt. Na, jedenfalls, wie gesagt, als ich Geräusche hörte, dachte ich, irgendwelche Strolche seien eingebrochen und wollten sich mit dem einen oder anderen Andenken da‐ vonmachen ‐Sie wissen schon, nur so zum Spaß. Seit hier im‐ mer mehr Iren wohnen ... Nun ja, es sind schon Sachen wegge‐ kommen.« Lowell wusste genau, wo Randridge in Cambridge wohnte, und versuchte sich zu erinnern, wer in seiner Nachbar‐ schaft wohnte. Dann betrachtete er, so gut es bei der schwachen Beleuchtung ging, die dunklen Porträts an den Wänden, in der Hoffnung, ein bekanntes Gesicht darunter zu finden. »Heutzutage gibt es einfach keine Ruhe mehr«, klagte der Schneider. »Nicht einmal für die Toten.« »Die Toten?«, fragte Lowell. »Die Toten«, flüsterte Fields und gab Lowell die geöffnete Bi‐ bel. Auf der Innenseite des Deckels war ein vollständiger Fami‐ lienstammbaum, säuberlich in Tinte geschrieben, von der Hand des verstorbenen Hausbesitzers: Reverend Elisha Talbot.
XVI University Hall, 8. Oktober 1865 Lieber Reverend Talbot, ich möchte noch einmal betonen, dass die Wahl von Sprache und Torrn der Reihe ganz in Ihren bewährten Händen bleibt. Mr. ... hat uns versichert, dass er es sich als große Ehre anrechnet, sie in vier Teilen in seiner literarischen Zeitschrift zu ver‐ öffentlichen, einer der letzten und wichtigsten Publikationen für die gebildeten Schichten, die noch mit Mr. Fieldʹs Atlantic Monthly konkurrieren. Ich würde Sie nur bitten, einige Grundregeln zur Errei‐ chung der bescheidenen Ziele zu beachten, die im vorliegenden Tali von unserer Corporation angestrebt werden. Der erste Artikel sollte von Ihrem kundigen Standpunkt aus die Dichtung von Dante Alig‐ hieri auf religiöser und moralischer Grundlage bloßstellen. Im zweiten Beitrag sollten Sie in dem Ihnen eigenen untadeligen Stil darlegen, weshalb literarische Scharlatanerie nach Art eines Dante (und ähnli‐ cher ausländischer Unsinn, wie er sich zunehmend bei uns breit macht) keinen Platz in den Bücherschränken aufrechter amerikani‐ scher Bürger hat und weshalb Verlagshäuser von »internationalem Renommee« (wie es Mr. F. so gern für T, T. & Co. in Anspruch nimmt) zur Rechenschaft zu ziehen und überdies den strengsten Re‐ geln gesellschaftlicher Verantwortlichkeit zu unterwerfen sind. Die letzten beiden Teile Ihrer Reihe, lieber Reverend, sollten Henry Wadsworth Longfellows Dante‐Übersetzung analysieren und diesen bislang »nationalen« Dichter für den Versuch tadeln, eine unmorali‐ sche und areligiöse Literatur in amerikanische Bibliotheken einzu‐
schmuggeln. Zur Erzielung der größtmöglichen Wirkung sollten die ersten beiden Artikel dem Erscheinen von Longfellows Übersetzung um einige Monate vorausgehen. So könnten wir die öffentliche Mei‐ nung von vornherein auf unsere Seite bringen. Der dritte und vierte sollten gleichzeitig mit der Übersetzung erscheinen, deren Absatz sich dadurch in der gewünschten Weise verringern ließe. Ich brauche wohl nicht eigens darauf hinzuweisen, dass wir bei Ihren Artikeln über die genannten Themen höchsten moralischen Eifer als selbstverständlich voraussetzen. Gewiss erübrigt es sich, Sie an Ihre Erfahrungen als junger Gelehrter an unserer Institution zu erinnern, die Ihnen zwei‐ fellos ebenso fest im Gedächtnis haften wie uns. Gleichwohl kann es nicht schaden, darauf hinzuweisen, wie minderwertig sich die durch Dante verkörperte barbarische Spielart ausländischer Poesie im Ver‐ gleich zur Literatur der klassischen Antike ausnimmt, die nun schon seit rund zweihundert Jahren am Harvard College gepflegt wird. Die Ihrer Feder entströmende Rechtschaffenheit, lieber Reverend Talbot, wird hinreichend Anlass bieten, Dantes unerwünschten Dampfer nach Italien und zum dort wartenden Papst zurückzuschicken, ein Sieg im Namen von Christo et ecclesiae. Ich verbleibe als Ihr ergebener Als die drei Gelehrten nach Craigie House zurückkehrten, hiel‐ ten sie vier solcher Briefe an Elisha Talbot in Händen, verziert mit dem Wappen der Harvard University, sowie ein Bündel Dante‐Druckfahnen ‐ eben jene, die aus dem Tresorraum der Riverside Press entwendet worden waren. »Talbot war der ideale Lohnschreiber für sie«, sagte Fields. »Ein von allen guten Christen geachteter Geistlicher, ein aus‐
gewiesener Kritiker des Katholizismus und jemand, der nicht dem Harvard‐Lehrkörper angehörte; er hätte also das College über den grünen Klee loben und mit dem Anschein der Objek‐ tivität eine spitze Feder gegen uns führen können.« »Und man braucht wohl kein Hellseher zu sein, um zu wissen, welche Summe Talbot für seine Bemühungen bekommen hat«, sagte Holmes. »Tausend Dollar«, sagte Rey. Longfellow nickte und zeigte ihnen den Brief an Talbot, in dem eine Zahlung in dieser Höhe avisiert wurde. »Wir haben sie in der Hand gehalten. Tausend Dollar für >Unkosten< im Zusammenhang mit der Abfassung von vier Artikeln, ein‐ schließlich Recherchen. Dieses Geld, das können wir jetzt mit Bestimmtheit sagen, hat Talbot das Leben gekostet.« »Demnach kannte der Mörder den genauen Betrag, den er aus Talbots Safe entwenden wollte«, sagte Rey. »Er kannte die Ein‐ zelheiten der Abmachung.« »>Und hüte wohl die bös erworbnen Gelder<«, rezitierte Lo‐ well und fuhr dann fort: »Tausend Dollar waren das auf Dante ausgesetzte Kopfgeld.« Im ersten seiner vier Briefe forderte Manning Talbot auf, in die Universität zu kommen, um über einen Vorschlag der Corpora‐ tion zu sprechen. Der zweite enthielt einen Abriss des ge‐ wünschten Inhalts der vier Artikel und die Zahlungsanweisung über den vollen Betrag, dessen Höhe bei einer persönlichen Be‐ gegnung ausgehandelt worden war. Zwischen dem zweiten und dem dritten Brief hatte sich Talbot offenbar darüber be‐ klagt, dass in keiner Bostoner Buchhandlung eine englische Ü‐
bersetzung der Göttlichen Komödie zu bekommen war. Anschei‐ nend hatte er versucht, sich als Vorlage für seine Kritik die bri‐ tische Übersetzung des verstorbenen Reverend H. F. Cary zu beschaffen. In seinem dritten Brief, der eigentlich nur eine kur‐ ze Mitteilung war, stellte ihm Manning deshalb in Aussicht, ihm ein Vorausexemplar von Longfellows Übersetzung zu be‐ sorgen. Als er diesen Vorschlag machte, musste Augustus Manning bereits gewusst haben, dass der Dante Club nach der Kampagne, die er gegen ihn führte, niemals irgendwelche Druckfahnen aushändigen würde. Also machte der Schatzmei‐ ster oder einer seiner Helfershelfer einen dubiosen Druckerlehr‐ ling ausfindig und bestach ihn, damit er Probeseiten von Long‐ fellows Arbeit entwendete. Der Verstand sagte ihnen, wo sie Antworten auf die neuen Fragen zu Mannings Plan bekommen würden: in der Universi‐ ty Hall. Aber tagsüber konnte Lowell keinen Einblick in die Ak‐ ten der Harvard Corporation nehmen ‐ die Gefahr, entdeckt zu werden, wäre zu groß gewesen ‐, und nachts konnte er sich ü‐ berhaupt keinen Zugang zu den Räumen verschaffen. Wegen einer Serie von Studentenulks und Einbruchsversuchen war das Archiv durch ein kompliziertes System von Zahlenschlössern gesichert worden. Es schien unmöglich, in die Festung einzudringen, bis Fields jemand einfiel, der das für sie übernehmen konnte: »Teal!« »Wer?«, fragte Holmes. »Der Laufbursche, der im Verlag Nachtdienst hat. Bei der hässlichen Episode mit Sam Ticknor hat er die arme Miss Emo‐ ry gerettet. An dem Abend hat er erwähnt, dass er tagsüber im
College arbeitet.« Lowell wollte wissen, ob Teal denn zur Mitarbeit bereit sein würde. »Er ist ein loyaler Angestellter von Ticknor & Fields«, erwider‐ te Fields. Als der loyale Angestellte um elf Uhr abends aus dem Ver‐ lagsgebäude kam, sah er zu seiner großen Überraschung J. T. Fields vor dem Eingang stehen. Minuten später saß er in der Kutsche des Verlegers und wurde einem weiteren Insassen vorgestellt ‐ Professor James Russell Lowell! Wie oft hatte er sich im Geiste in Gesellschaft solch erlauchter Herren gesehen. Er schien nicht recht zu wissen, wie er auf diese seltene Gunst reagieren sollte. Aufmerksam hörte er sich an, was die beiden Männer von ihm wollten. In Cambridge führte er sie durch den Harvard Yard, vorbei am vorwurfsvollen Summen der Gaslaternen. Mehrmals ver‐ langsamte er seine Schritte und blickte sich nach den beiden Männern um, als fürchtete er, seine literarische Eskorte könnte sich in Luft auflösen. »Nur zu, Mann, gehen Sie weiter. Wir sind dicht hinter Ih‐ nen«, beruhigte ihn Lowell. Lowell zwirbelte die Enden seines Schnurrbarts. Seine Auf‐ regung galt weniger der Gefahr, mitten in der Nacht von einem Repräsentanten der Universität auf dem Campus ertappt zu werden, als vielmehr der Frage, was sie in den Akten der Cor‐ poration entdecken würden. Als Professor würde er bestimmt einen plausiblen Vorwand finden, falls einer der auf dem Cam‐ pus wohnenden Dozenten ihn überraschte ‐ beispielsweise,
dass er das Konzept für eine Vorlesung vergessen habe. Fieldsʹ Anwesenheit wäre zwar nicht so leicht zu erklären, aber er konnte nicht auf ihn verzichten, denn Fields sorgte dafür, dass der nervöse Bürodiener, der kaum älter als zwanzig schien, es nicht mit der Angst bekam. Dan Teal hatte glatt rasierte, jun‐ genhafte Wangen, große Augen und einen schönen, beinahe femininen Mund, der unablässig Kaubewegungen ausführte. »Seien Sie unbesorgt, mein lieber Mr. Teal«, sagte Fields und nahm ihn am Arm, als sie die imposante Treppe hinaufstiegen, die zu den Versammlungsräumen und Hörsälen der University Hall führte. »Wir müssen uns nur ein paar Unterlagen ansehen und gehen dann gleich wieder, ohne irgendetwas verändert zu haben. Sie stehen im Dienst einer guten Sache.« »Sonst würde ich das auch nicht machen«, sagte Teal aufrichtig. »Braver Jun‐ ge.« Fields lächelte. Mit dem Schlüsselbund, den man ihm anvertraut hatte, öffne‐ te Teal mehrere Schlösser. Am Ziel angekommen, zündeten Lowell und Fields mitgebrachte Kerzen an, holten die Bücher der Corporation aus dem Schrank und legten sie auf den langen Tisch. »Moment«, sagte Lowell, als Fields Anstalten machte, Teal wegzuschicken. »Sehen Sie sich an, wie viele Bände wir durchsehen müssen, Fields. Drei würden das in kürzerer Zeit bewältigen als zwei.« Teal schien bei aller Aufgeregtheit auch von dem Abenteuer fasziniert. »Ich bin Ihnen gern behilflich, Mr. Fields«, erbot er sich. Er schaute verwirrt auf den Bücherstapel. »Sie müssten mir allerdings sagen, wonach Sie suchen.« Fields setzte zu einer Erklärung an, doch dann kam ihm in
Erinnerung an Teals ungelenke Schreibversuche der Verdacht, dass es um seine Lesekünste nicht viel besser bestellt sein wür‐ de. »Sie haben schon sehr viel getan und sollten besser schlafen gehen«, sagte er. »Aber ich sage Ihnen Bescheid, falls wir noch einmal Ihre Hilfe benötigen. Unser Dank ist Ihnen gewiss, Mr. Teal. Sie werden Ihr Vertrauen nicht bereuen.« In dem flackernden Licht sahen Fields und Lowell die Proto‐ kolle der alle zwei Wochen stattfindenden Sitzungen der Cor‐ poration Seite für Seite durch. Hie und da fanden sie, einge‐ streut in die Berichte über alltägliche Verwaltungsangelegen‐ heiten, einen Angriff auf Lowells Dante‐Seminar. »Dieser Si‐ mon Camp wird nirgends erwähnt. Manning muss ihn auf ei‐ gene Faust engagiert haben«, sagte Lowell. Es gab eben Dinge, die sogar der Harvard Corporation zu zwielichtig waren. Endlich fand Fields, wonach sie gesucht hatten: Im Oktober hatten vier der sechs Mitglieder der Corporation enthusiastisch dem Vorschlag zugestimmt, Reverend Elisha Talbot mit der Abfassung von Kritiken zu Longfellows Dante‐Übersetzung zu beauftragen. Die Festsetzung einer »angemessenen Vergütung für Zeit‐ und Arbeitsaufwand« wurde dem Finanzausschuss — mithin Augustus Manning ‐ überlassen. Fields nahm sich nun auch die Akten des Harvard‐ Aufsichtsrats vor, dessen einundzwanzig Mitglieder jährlich vom Staatsparlament gewählt wurden. Er und Lowell stießen auf zahlreiche Erwähnungen von Oberrichter Healey, der bis zu seinem Tod ein loyales Mitglied des Ausschusses gewesen war. Von Zeit zu Zeit wählte der Aufsichtsrat so genannte Anwälte, die besonders wichtige oder kontroverse Fragen gründlich zu
prüfen hatten. Ein Aufsichtsrat, dem diese Ehre widerfuhr, leg‐ te nach einiger Zeit dem Rat eine Art »Anklage« vor, in der er mit aller ihm zur Gebote stehenden Überzeugungskraft für eine »Verurteilung« plädierte, während sein Gegenspieler all die Ar‐ gumente vorbrachte, die für die Unschuld des Betreffenden sprachen. Der jeweilige Anwalt sollte keineswegs seine eigene Meinung vertreten. Vielmehr wurde von ihm erwartet, dass er dem Aufsichtsrat eine gut durchdachte, unparteiische Beurtei‐ lung ohne Rücksicht auf seine persönlichen Ansichten vorlegte. In der Kampagne der Corporation gegen die verschiedenen auf Dante bezogenen Aktivitäten prominenter, mit der Univer‐ sität verbundener Persönlichkeiten ‐ also James Russell Lowells Dante‐Seminar und Henry Wadsworth Longfellows Überset‐ zungsarbeit im Rahmen eines angeblich von ihm gegründeten »Dante Club« ‐ beschloss der Aufsichtsrat, dass für beide Seiten ein unvoreingenommener »Anwalt« zu bestimmen sei. Als Pro‐ Anwalt wurde Oberrichter Artemus Prescott Healey gewählt, der als guter Rechercheur und begabter Analytiker galt. Healey habe nie literarische Ambitionen erkennen lassen und könne daher die Angelegenheit sine ira et studio untersuchen. Es war mehrere Jahre her, dass der Rat Healey gebeten hatte, als »An‐ walt« tätig zu werden. Healey hatte jedoch Bedenken, in einer außergerichtlichen Angelegenheit Stellung zu beziehen, und lehnte ab. Verärgert über diese Ablehnung, ließ der Auf‐ sichtsrat die Sache zunächst auf sich beruhen und fällte an die‐ sem Tag keine Entscheidung mehr über Dante Alighieri. Der Bericht über Healeys Weigerung nahm nur zwei Zeilen in den Akten der Corporation in Anspruch. Lowell erfasste als Erster
die Bedeutung dieses Vorgangs und sagte leise: »Longfellow hatte Recht: Healey war nicht Pontius Pilatus.« Fields spähte über seine Goldrandbrille. »Der Laue, den Dante den Großen Verweigerer nennt«, erklär‐ te Lowell. »Der einzige Schatten, den Dante sich bei der Durch‐ querung der Vorhölle aussucht, um mit ihm zu sprechen. Ich habe ihn als Pontius Pilatus gedeutet, der im Fall von Jesus sei‐ ne Hände in Unschuld wusch ‐ genau wie Healey im Fall von Thomas Sims und anderen entflohenen Sklaven, über die er vor Gericht zu befinden hatte. Aber Longfellow ‐ und mit ihm sogar Greene! ‐ hat immer geglaubt, dass der Große Verweigerer Zö‐ lestin war, der nicht eine Person, sondern eine Position abge‐ lehnt hat. Zölestin hat als Papst abgedankt, als die katholische Kirche ihn am meisten gebraucht hätte. Damit hat er den Weg für Bonifaz frei gemacht und war letztlich auch verantwortlich für Dantes Verbannung. Healey hat eine wichtige Position ab‐ gelehnt, als er sich weigerte, für Dante zu plädieren. Und jetzt ist Dante abermals im Exil.« »Tut mir Leid, Lowell, aber ich würde nicht die Abdankung eines Papstes mit der Weigerung vergleichen, in einem Aus‐ schuss ein Plädoyer für Dante zu halten.« »Verstehen Sie denn nicht, Fields? Wir müssen das nicht für plausibel halten. Aber es entspricht der Denkweise unseres Mörders.« Draußen vor der University Hall knirschte das Eis. Das Ge‐ räusch kam näher. Lowell lief ans Fenster. »Verflucht, es ist einer dieser Tuto‐ ren!« »Sind Sie sicher?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich kann nicht erkennen, wer es ist ... Es sind zwei ...« »Haben sie unser Licht gesehen, Jamey?« »Ich weiß nicht ... Ich weiß nicht ... Nichts wie weg!« Horatio Jennisons hohe, melodische Stimme übertönte die Klänge seines Klaviers. »Fürstenzorn macht dir nicht Not, Fürchte nicht Tyrannenstreich; Sorge nicht um Kleid und Brot, Eichʹ und Binsʹ ist dir nun gleich.« Es war eine seiner gelungeneren Darbietungen von Shake‐ speares Lied, doch dann klingelte es an der Tür, eine höchst unerwünschte Unterbrechung, denn seine vier geladenen Gäste saßen bereits alle im Salon und genossen seinen Vortrag wie in einer Art Trance. Horatio Jennison hatte zwei Tage zuvor James Russell Lowell brieflich gefragt, ob er sich bereit finden könne, eine Gedenkausgabe von Phineas Jennisons Tagebüchern und Briefen herauszugeben ‐ Horatio war zum literarischen Nach‐ lassverwalter bestellt worden und wollte niemand anderen als den Besten: Lowell sei ja der Begründer des Atlantic Monthly und jetzt Chefredakteur der North American Review, und im Üb‐ rigen sei er ein enger Freund seines Onkels gewesen. Aber Ho‐ ratio hatte nicht damit gerechnet, dass Lowell unangemeldet erscheinen würde, noch dazu zu so später Stunde. Horatio Jennison wusste sofort, dass der Vorschlag auf Lo‐ wells Interesse gestoßen sein musste, denn der Dichter bat dringend, ja forderte geradezu, man möge ihm auf der Stelle
die letzten Bände des Tagebuchs aushändigen, er hatte sogar James T. Fields mitgebracht, um den Ernst seiner Absichten zu unterstreichen. »Mr. Lowell? Mr. Fields?« Horatio Jennison machte Anstalten, den beiden Männern nachzulaufen, als diese die Tagebücher wortlos entgegennahmen und stracks zur Tür hinaus zu ihrer wartenden Kutsche gingen. »Ich nehme doch an, dass die Tantiemenfrage noch geregelt wird!« In diesen Stunden verlor die Zeit ihre Bedeutung. Zurück im Craigie House, kämpften sich die Gelehrten durch das fast un‐ leserliche Gekritzel in Phineas Jennisons letzten Tagebüchern. Nach den neuen Erkenntnissen über Healey und Talbot stand es für die beiden Dante‐Kenner fest, dass die von Luzifer be‐ straften »Sünden« Jennisons irgendetwas mit Dante zu tun ha‐ ben würden. Aber Lowell konnte nicht glauben, dass der Mann, der seit vielen Jahren sein Freund gewesen war, sich so etwas hatte zuschulden kommen lassen, bis endlich kein Zweifel mehr möglich war. Seit Jahren hatte Phineas Jennison seinem Tagebuch immer wieder seinen glühenden Wunsch anvertraut, sich einen Sitz im Aufsichtsrat der Harvard Corporation zu sichern. Dort, so rech‐ nete er sich aus, würde ihm endlich die Achtung zuteil werden, die man ihm bislang verweigerte, weil er nicht in Harvard stu‐ diert hatte und nicht aus einer Bostoner Familie stammte. Als Mitglied des Aufsichtsrats würde er endlich in eine Welt aufge‐ nommen sein, die ihm bislang verschlossen geblieben war. Und welche überirdischen Wunder hatte er sich davon versprochen, über die klügsten Köpfe Bostons zu herrschen, so wie er den
Handel der Stadt beherrschte! Die eine oder andere Freundschaft würde natürlich darunter leiden ‐ oder müsste geopfert werden. In den letzten Monaten hatte Jennison bei seinen zahlreichen Besuchen in der Universität ‐ denn er war ein bedeutender Mä‐ zen des Colleges und hatte dort oft geschäftlich zu tun ‐ insge‐ heim die Fellows immer wieder beschworen, die Beschäftigung mit ausländischem Schund zu unterbinden, wie ihn Professor Lowell in seinen Seminaren lehrte und wie er schon bald von Longfellow massenhaft in Umlauf gebracht werden würde. Jennison versprach den einflussreichsten Aufsichtsräten die volle finanzielle Unterstützung einer Kampagne zur Umgestal‐ tung der Fakultät für Lebende Sprachen. Zur gleichen Zeit, so erinnerte sich Lowell voller Bitterkeit, hatte ihn Jennison ge‐ drängt, sich gegen die zunehmenden Bestrebungen der Corpo‐ ration, ihn kaltzustellen, energisch zur Wehr zu setzen. Aus Jennisons Tagebüchern ging auch hervor, dass er seit ü‐ ber einem Jahr sogar mit der Idee gespielt hatte, dafür zu sor‐ gen, dass ein Sitz in einem der Führungsgremien der Universi‐ tät frei wurde. Eine von ihm angezettelte Kontroverse sollte zu Vakanzen führen, die dann besetzt werden mussten. Er war außer sich vor Wut, als nach Richter Healeys Tod ein Ge‐ schäftsmann, der ihm nicht annähernd das Wasser reichen konnte, zu Healeys Nachfolger gewählt wurde ‐ nur weil er Spross einer Bostoner Patrizierfamilie war. Phineas Jennison wusste, wer vor allem dafür gesorgt hatte, dass sich der Auf‐ sichtsrat an sein ungeschriebenes Gesetz hielt ‐ Dr. Augustus Manning. Zu welchem Zeitpunkt Jennison von Mannings Ent‐
schluss erfahren hatte, alle Verbindungen der Universität zu den Dante‐Projekten abzubrechen, ließ sich nicht klären, aber es war für ihn die Gelegenheit, sich endlich einen Sitz in der Uni‐ versity Hall zu sichern. »Dabei hat es nie eine Unstimmigkeit zwischen uns gegeben«, sagte Lowell traurig. »Jennison hat Sie gegen die Corporation und die Corporation gegen Sie aufgehetzt. In der Auseinandersetzung würde sich Manning aufreiben. Wie immer die Sache ausging, auf jeden Fall würden Vakanzen entstehen, und Jennison würde als Held dastehen, weil er dem College seine Unterstützung gewährt hatte. Das war von Anfang an sein Ziel«, sagte Longfellow, der Lowell überzeugen wollte, dass er nichts getan hatte, was Jen‐ nisons Verrat an ihrer Freundschaft gerechtfertigt hätte. »Mir will das alles nicht in den Kopf, Longfellow«, sagte Lo‐ well. »Er hat darauf hingearbeitet, Sie und das College zu ent‐ zweien, Lowell, und deshalb wurde er selbst zweigeteilt«, sagte Holmes. »Das war sein contrapasso.« Holmes hatte sich des Problems mit den Buchstaben auf den Papierschnipseln angenommen, die bei Talbots Leiche gefun‐ den worden waren, und er und Rey hatten stundenlang zu‐ sammengesessen und verschiedene Kombinationen durchpro‐ biert. Auch jetzt war Holmes dabei, Wörter oder Wortteile aus Reys Buchstaben zu legen. Zweifellos waren auch beim Leich‐ nam von Oberrichter Healey solche Buchstaben hinterlassen worden, doch der Wind musste sie in den Tagen zwischen dem Mord und der Entdeckung fortgeweht haben. Diese fehlenden Buchstaben hätten die Botschaft des Mörders zweifellos ver‐
vollständigt. So aber besaßen sie nur Bruchstücke des Mosaiks. Ich kann nicht sterben ohne ... Longfellow schlug eine neue Seite in der Chronik ihrer Ermitt‐ lungen auf. Er tauchte seine Feder in die Tinte, saß dann aber so lange mit nachdenklichem Blick unbeweglich da, dass die Spit‐ ze eintrocknete. Er sträubte sich, die notwendige Schlussfolge‐ rung aus alldem niederzuschreiben: Luzifer hatte seine Morde um ihretwillen begangen ‐ um des Dante Club willen. Das Tor zum Bostoner State House befand sich hoch auf Beacon Hill. Noch höher war die Kupferkuppel des Gebäudes, die mit ihrem kurzen, spitzen Turm wie ein Leuchtturm über dem Bo‐ ston Common aufragte. Hohe Ulmen, kahl und vom Dezember‐ frost weißlich verfärbt, bewachten das zentrale Regierungsge‐ bäude des Staates. Gouverneur John Andrew, dessen schwarze Locken sich unter einem schwarzen Zylinder hervorkräuselten, stand mit all der Würde, die seine birnenförmige Gestalt erlaubte, auf den Mar‐ morfliesen und begrüßte alle seine Gäste, Politiker, Honoratio‐ ren und uniformierte Soldaten, mit demselben zerstreuten Poli‐ tikerlächeln. Nur die kleine Brille mit der massivgoldenen Fas‐ sung verriet, dass er etwas für materiellen Luxus übrig hatte. »Gouverneur.« Bürgermeister Lincoln verbeugte sich leicht, während er seine Gattin die Stufen zum Eingang hinaufgelei‐ tete. »Scheint der bisher beste Soldatenempfang zu werden.« »Danke, Bürgermeister Lincoln. Mrs. Lincoln, willkommen ‐ bitte.« Der Gouverneur bat sie herein. »Eine erlauchtere Gesell‐ schaft als je zuvor.«
»Es heißt, dass sogar Longfellow auf der Gästeliste steht«, sag‐ te Bürgermeister Lincoln und klopfte Gouverneur Andrew an‐ erkennend auf die Schulter. »Etwas sehr Schönes, was Sie da für die Männer tun, Gouver‐ neur, und wir ‐ die Stadt, meine ich ‐ applaudieren Ihnen.« Mrs. Lincoln raffte mit einem leisen Rascheln ihr Kleid und tat einen königlichen Schritt in das Foyer hinein. Drinnen gestattete ein tief gehängter Spiegel ihr und den anderen Damen den Blick auf die unteren Regionen ihrer Roben, für den Fall, dass auf dem Weg zum Empfang irgendetwas in Unordnung geraten war: Ein Ehemann ist bei solch einem Unterfangen mehr als überflüssig. Im großen Empfangssaal standen neben etwa drei‐ ßig anderen Gästen bereits siebzig bis achtzig Soldaten aus fünf verschiedenen Kompanien, prächtig anzusehen in ihren Aus‐ gehuniformen und Umhängen. Von den meisten Regimentern, die hier geehrt wurden, hatten nur wenige Männer den Krieg überlebt. Seine Berater hatten Gouverneur Andrew zwar emp‐ fohlen, nur die herausragendsten Repräsentanten der Soldaten‐ zunft zu solchen Empfängen zu bitten ‐ manche Soldaten, so bemerkten sie, seien nach dem Krieg ein wenig wunderlich ge‐ worden ‐, doch Andrew hatte gemeint, die Soldaten sollten für ihren Dienst am Vaterland und nicht nach ihrer Gesellschafts‐ schicht ausgewählt und bewirtet werden. Gouverneur Andrew marschierte zackig durch den langen Saal, getragen von einer Woge des Selbstbewusstseins inmitten der vielen Gesichter und wohlklingenden Namen, mit denen er in den Kriegsjahren hatte Bekanntschaft schließen können. Mehrmals hatte in jenen schweren Zeiten der Saturday Club
eine Droschke zum State House geschickt und Andrew mit Gewalt zu einem feuchtfröhlichen Abend in den überheizten Räumen von Parkerʹs entführen lassen. Die Zeit war in zwei Epochen eingeteilt worden: die Vorkriegs‐ und die Nachkriegs‐ zeit. In Boston, dachte Andrew, während er sich ungezwungen inmitten der weißen Halsbinden und Zylinderhüte, des Lamet‐ tas und der Litzen der Offiziere, der Gespräche und Kompli‐ mente alter Freunde bewegte. Wir in Boston, wir haben über‐ lebt. Mr. George Washington Greene postierte sich gegenüber einer schimmernden Marmorskulptur: Die drei Grazien lehnten sich zart aneinander, die Gesichter kühl und engelsgleich, die Au‐ gen ruhig und gleichgültig. »Wie ist es möglich, dass ein Veteran aus dem Soldatenheim, der Greenes Predigten hörte, außerdem noch in allen Einzelhei‐ ten über unsere Differenzen mit Harvard Bescheid wusste?« Diese Frage war im Arbeitszimmer von Craigie House gestellt worden. Man wusste jedoch, dass auch die richtige Antwort auf diese Frage noch nicht bedeutete, dass man den Mörder aufspü‐ ren würde. Einer der jungen Männer, die Greenes Predigten so gespannt verfolgten, hätte einen Vater oder einen Onkel in der Harvard Corporation oder im Aufsichtsrat haben können, der beim Abendessen arglos aus der Schule plauderte, nicht ah‐ nend, wie solche Geschichten auf das verstörte Gemüt seines Tischnachbarn wirkten. Die Gelehrten würden genau feststellen müssen, wer bei den Sitzungen des Aufsichtsrats anwesend gewesen war, in denen
es um die Rollen von Healey, Talbot und Jennison in der Aus‐ einandersetzung des Colleges mit Dante ging; diese Liste muss‐ te dann mit den Namen und Daten möglichst vieler Veteranen aus dem Soldatenheim verglichen werden. Um aber noch ein‐ mal ins Archiv der Corporation einzudringen, brauchte man abermals die Hilfe von Mr. Teal. Fields würde den Plan mit sei‐ nem Laufburschen besprechen, sobald die Nachtschicht im Ver‐ lag eintraf. Fields wies unterdessen Osgood an, eine Liste aller Angestellten von Ticknor & Fields zusammenzustellen, die im Krieg gewesen waren, wofür er hauptsächlich das Verzeichnis der Regimenter von Massachusetts im Sezessionskrieg heranziehen sollte. Am selben Abend würden Nicholas Rey und andere am Empfang des Gouverneurs zu Ehren verdienter Bostoner Solda‐ ten teilnehmen. Die Herren Longfellow, Lowell und Holmes verteilten sich in dem überfüllten Empfangssaal. Sie behielten Mr. Greene im Auge und befragten unter irgendeinem harmlosen Vorwand viele der Veteranen nach dem Soldaten, den Greene beschrie‐ ben hatte. »Man könnte meinen, man befinde sich im Hinterzimmer ei‐ ner Taverne und nicht im State House!«, klagte Lowell und we‐ delte eine Wolke Zigarrenrauch fort. »Mr. Lowell, Sie haben doch geprahlt, dass Sie zehn Zigarren pro Tag rauchen, das sei Ihre Muse«, frotzelte Holmes. »Wir können eben den Geruch unserer eigenen Laster an anderen nicht ertragen, Holmes. Ah, holen wir uns doch was zu trin‐ ken«, schlug er vor. Holmes vergrub die Hände in den Taschen seiner Moiréweste,
und die Worte flossen durch ihn hindurch wie durch ein Sieb. »Jeder Soldat, mit dem ich gesprochen habe, behauptet entwe‐ der, dass er nie einen gekannt hat, der auch nur im Entfernte‐ sten Greenes Beschreibung entspräche, oder dass er genau so einen Mann gerade erst neulich gesehen hat, aber seinen Na‐ men nicht kennt und auch nicht weiß, wo er zu finden ist. Viel‐ leicht hat Rey mehr Glück.« »Dante, mein lieber Wendell, war ein Mann von großer per‐ sönlicher Würde, und ein Geheimnis seiner Würde war, dass er es nie eilig hatte. Sie werden ihn nie in unziemlicher Hast ertap‐ pen ‐ eine Regel, die auch wir beherzigen sollten.« Holmes lach‐ te skeptisch. »Und Sie halten sich daran?« Lowell trank nach‐ denklich einen Schluck von seinem Rotwein und fragte dann: »Sagen Sie, Holmes, haben Sie jemals eine Beatrice gehabt?« »Wie bitte?« »Eine Frau, die Ihre Phantasie bis zum Äußersten beflügelte?« »Na, meine Amelia!« Lowell lachte schallend. »Ach, Holmes! Haben Sie denn nie über die Stränge geschlagen? Ihre Frau kann nicht Ihre Beatrice sein. Das können Sie mir glauben, denn wie Petrarca, Dante und Byron war ich schon unsterblich verliebt, bevor ich zehn war. Nur mein Herz weiß, welche Qualen ich erduldet habe.« »Wenn Fanny Sie jetzt hören könnte, Lowell!« »Pah! Dante hatte seine Gemma, die zwar die Mutter seiner Kinder war, aber nicht seine Muse! Wissen Sie, wie die beiden sich kennen gelernt haben? Longfellow glaubt es nicht, aber Gemma Donati ist die Dame, die in Dantes Vita Nuova den Dichter über den Verlust Beatrices hinwegtröstet. Sehen Sie die junge Frau dort?«
Die Frau, die Lowell meinte, war eine schlanke junge Maid mit rabenschwarzem Haar, das unter den strahlenden Kron‐ leuchtern glänzte. »Ich weiß es noch wie heute ‐ 1839, in Allstonʹs Gallery. Sie war das schönste Wesen, das mir je unter die Augen gekommen ist, nicht unähnlich der Schönheit, die dort in der Ecke die Freunde ihres Mannes bezaubert. Ihre Gesichtszüge waren un‐ verkennbar jüdisch. Sie hatte einen dunklen Teint, aber eines jener klaren Gesichter, über die auch die leiseste Regung zieht wie ein Wolkenschatten über die grüne Flur. Von meinem Standort aus verschwammen die Umrisse ihrer Augen voll‐ ständig mit den Schatten unter ihren Brauen und der Dunkel‐ heit ihres Teints, sodass man nur eine geheimnisvolle, undefi‐ nierbare Pracht ahnte. Und erst die Augen selbst! Sie ließen mich geradezu erzittern! Dieser eine, einmalige Anblick ihrer serafischen Anmut hat mich zu mehr Poesie beflügelt ...« »War sie intelligent?« »Himmel noch mal, woher soll ich das wissen? Sie blinzelte mir zu, und ich brachte kein Wort heraus. Es gibt nur eine Art, sich vor kokettierenden Frauen zu schützen, Wendell ‐ mög‐ lichst schnell das Weite suchen. Trotzdem, fünfundzwanzig Jahre sind seither vergangen, und ich vermag sie noch immer nicht aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Glauben Sie mir, jeder von uns hat seine Beatrice, ob sie nun in unserer Nähe weilt oder nur in unserer Vorstellung lebt.« Lowell zündete sich die vierte Zigarre des Tages an, als Rey zu ihnen trat. »Officer Rey, der Wind hat sich zu unseren Gun‐ sten gedreht, das sieht man Ihnen an. Wir können uns glücklich
schätzen, Sie auf unserer Seite zu haben.« »Bedanken Sie sich bei Ihrer Tochter«, sagte Rey. »Mabel?«, fragte Lowell verblüfft. »Sie hat mich aufgesucht, um mich zu überreden, Ihnen zu helfen, meine Herren.« »Mabel hat sich heimlich mit Ihnen getroffen? Holmes, haben Sie davon gewusst?« Holmes schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung. Trotz‐ dem, wir müssen Sie hochleben lassen!« »Wenn Sie ihr deswegen die Leviten lesen, Professor Lowell«, warnte ihn Rey, »dann lasse ich Sie verhaften.« Lowell lachte herzlich. »Eine wirksame Drohung, Rey! Aber lassen Sie uns das Eisen schmieden, solange es heiß ist.« Rey nickte vertrau‐ lich und ging weiter. »Können Sie sich das vorstellen, Wendell? Dass Mabel hinter meinem Rücken so etwas macht, weil sie denkt, sie kann etwas ändern!« »Sie ist eine Lowell, lieber Freund.« »Mr. Greene hält sich tapfer«, berichtete Longfellow, als er sich zu Lowell und Holmes gesellte. »Aber ich fürchte, dass ...« Er brach ab. »Ah, da kommen Mrs. Lincoln und Gouverneur Andrew.« Lowell verdrehte die Augen. Ihr gesellschaftliches Ansehen war dem, was sie an diesem Abend vorhatten, nicht gerade för‐ derlich. Durch das unablässige Händeschütteln und die lebhaf‐ te Konversation mit Professoren, Ministern und anderen Politi‐ kern wurden sie immer wieder abgelenkt. »Mr. Longfellow.« Longfellow drehte sich um, und vor ihm standen drei Damen der besseren Gesellschaft von Beacon Hill. »Guten Abend, die
Damen«, sagte Longfellow. »Ich habe gerade neulich von Ihnen gesprochen, Sir, in den Ferien in Buffalo«, sagte die schwarz‐ haarige Schönheit. »Ach ja?«, sagte Longfellow. »In der Tat, mit Miss Mary Frere. Sie spricht mit so viel Zunei‐ gung von Ihnen, sie sagt, Sie seien ein ganz besonderer Mensch. Letzten Sommer hat sie wohl eine sehr schöne Zeit mit Ihnen und Ihren Töchtern verbracht. Und jetzt treffe ich Sie hier. Wie wunderbar!« »Oh! Nun ja, das ist sehr freundlich von ihr«, sagte Longfel‐ low lächelnd, doch dann wandte er plötzlich den Blick ab. »A‐ ber wohin ist denn Professor Lowell auf einmal verschwunden? Haben Sie ihn schon kennen gelernt?« Nicht weit von ihnen erzählte Lowell zum hundertsten Mal einem kleinen Kreis eine seiner ältesten Anekdoten. »Und dann polterte Tennyson vom Ende der Tafel her: >Jawohl, zur Hölle mit ihnen. Ich würde am liebsten ein Messer nehmen und ihnen den Bauch aufschlitzen.< Als echter Dichter hat King Alfred keinen beschönigenden Ausdruck für diesen Teil des Körpers verwendet!« Lowells Zuhörer lachten und machten Scherze. »Es gibt kaum zwei Männer«, sagte Longfellow, wieder zu den drei Damen gewandt, die mit roten Ohren und offenen Mündern dastan‐ den, »die einander so ähnlich sehen wie Lord Tennyson und Professor Lovering von unserer Universität.« Die Schönheit mit dem rabenschwarzen Haar strahlte Longfellow an, dankbar, dass er so elegant von Lowells Entgleisung abgelenkt hatte. »Sollte uns das nicht zu denken geben?«, fragte sie.
Als Oliver Wendell Holmes junior von seinem Vater die Mittei‐ lung erhielt, dass auch er an dem Soldatenbankett im State House teilnehmen werde, seufzte er, las sie noch einmal und fluchte dann. Was ihn so aufbrachte, war weniger die Anwe‐ senheit seines Vaters als vielmehr die Aussicht darauf, ständig auf ihn angesprochen zu werden. Wie geht es denn Ihrem lieben Herrn Vater? Dichtet er immer noch zum Zeitvertreib neben seiner Tätigkeit als Professor? Vertreibt er sich neben der Arbeit an seinen Gedichten immer noch die Zeit mit Vorlesungen an der Universität? Stimmt es, dass der kleine Doktor soundso viel Worte pro Minute sprechen kann, Captain Holmes? Er wollte nicht, dass man ihm mit Fragen auf die Nerven ging, die dem Lieblingsthema von Dr. Holmes galten: Dr. Holmes. Holmes junior hatte sich mit Regimentskameraden unterhalten und wurde nun mehreren schottischen Herren vorgestellt, die als Delegation an der Ver‐ anstaltung teilnahmen. Als diese seinen vollen Namen hörten, kam der übliche Schwall von Fragen nach seiner Herkunft. »Sind Sie der Sohn von Oliver Wendell Holmes?«, fragte ein eben erst Hinzugetretener, ein Schotte, etwa im gleichen Alter wie Holmes junior, der sich als eine Art Mythologe vorgestellt hatte. »Ja.« »Also, ich mag seine Bücher nicht.« Sprachʹs und entfernte sich lächelnd. In der Stille, die den jungen Holmes inmitten des allgemeinen Stimmengewirrs auf einmal umgab, stieg Ärger über die Allge‐ genwart seines Vaters in ihm auf, und er verwünschte ihn aber‐ mals. Musste sein Vater so emsig an der Verbreitung seines
Ruhms arbeiten, dass jeder Hergelaufene ihn ungestraft vor den Kopf stoßen konnte? Er wandte sich um und sah seinen Vater zusammen mit dem Gouverneur am Rand eines Kreises von Leuten stehen, in dessen Mitte James Lowell gestikulierte. Sein Vater stellte sich auf die Zehenspitzen, und sein Mund öffnete sich langsam; er wartete auf eine Gelegenheit, sich einzumi‐ schen. Wendell junior versuchte, an der Gruppe vorbei auf die andere Seite des Saales zu gelangen. »Wendy?« Der Junior tat so, als habe er nichts gehört, aber die Stimme ertönte erneut, und Holmes drängte sich zu ihm durch. »Hallo, Vater.« »Wendy, möchtest du nicht Lowell und Gouverneur Andrew begrüßen? Ich bin doch so stolz auf dich in deiner schmucken Uniform! Moment mal.« Der Junior sah, dass der Blick seines Vaters abschweifte. »Das muss die schottische Abordnung sein, von der Andrew gespro‐ chen hat ‐ da drüben, Wendy. Ich würde gern den jungen My‐ thologen, Mr. Lang, kennen lernen und mit ihm über meine Ideen zu Orpheus sprechen ‐ wie er durch sein Geklampfe Eu‐ ridike aus der Unterwelt zurückholt. Hast du darüber schon etwas gelesen, Wendy?« Holmes fasste seinen Sohn am Arm und zog ihn mit auf die andere Seite des Saales. »Nein.« Wendell junior riss sich los. Sein Vater sah ihn ge‐ kränkt an. »Ich bin nur da, um mein Regiment zu vertreten, Vater. Ich treffe mich noch mit Minny, bei James. Bitte ent‐ schuldige mich bei deinen Freunden.« »Hast du uns gesehen, Wendy? Wir sind eine fröhliche Bru‐
derschaft, Wendy, und im Lauf der Jahre immer enger zusam‐ mengewachsen. Mein Sohn, genieße die Fahrt auf dem Schiff der Jugend, denn es verliert sich nur allzu rasch auf hoher See!« »Ach, übrigens«, sagte Wendell junior mit einem Blick an sei‐ nem Vater vorbei auf den grinsenden Mythologen. »Dieser Lang hat sich abfällig über Boston geäußert.« Holmes wurde ernst. »Ach ja? Dann ist er es nicht wert, dass wir uns mit ihm abgeben, mein Junge.« »Wie du meinst, Vater. Sag, arbeitest du immer noch an dei‐ nem neuen Roman?« Holmesʹ Lächeln kehrte zurück, denn die Frage ließ auf ein ge‐ wisses Interesse seines Sohnes schließen. »Allerdings! In letzter Zeit haben mich andere Unternehmungen in Anspruch genom‐ men, aber Fields hat mir versprochen, dass das Buch mir ein hübsches Sümmchen einbringen wird. Wenn nicht, muss ich mich in den Atlantik stürzen.« »Du wirst nur die Kritiker provozieren, sich von neuem auf dich zu stürzen«, sagte der junge Mann, zögerte aber, den Ge‐ danken fortzuspinnen. Plötzlich wünschte er aus tiefster Seele, er hätte den Mut und die Geistesgegenwart besessen, den My‐ thologen auf der Stelle mit dem Degen zu durchbohren. Er nahm sich vor, Langs Werke zu lesen, und freute sich schon darauf, sich an dem Unsinn zu ergötzen. »Vielleicht komme ich ja diesmal dazu, deinen Roman zu lesen, Vater.« »Damit würdest du mir eine große Freude machen, mein Sohn«, sagte Holmes leise, aber Wendell junior hatte sich schon zum Gehen gewandt.
Rey hatte einen der Soldaten gefunden, die der Diakon in dem Soldatenheim erwähnt hatte, einen einarmigen Veteranen, der gerade mit seiner Frau getanzt hatte. »Als die euch rekrutiert haben«, sagte der Soldat zu Rey, »ha‐ ben mir viele von meinen Jungs gesagt: >Ich zieh in keinen Nigger‐Krieg.< Aber da sind sie bei mir an den Falschen gera‐ ten!« »Bitte, Lieutenant«, sagte Rey. »Der Mann, den ich Ihnen beschrieben habe ‐ halten Sie es für möglich, dass Sie ihn ir‐ gendwann einmal im Soldatenheim gesehen haben?« »Ja, si‐ cher. Heufarbener Schnurrbart. Immer in Uniform. Blight ‐so heißt er. Da bin ich mir eigentlich absolut sicher. Captain Dex‐ ter Blight. Intelligent, hat ständig gelesen. Ein guter Offizier, würde ich sagen.« »Hat er sich besonders für Mr. Greenes Predigten interes‐ siert?« »Ja, sicher, die haben ihm gefallen, dem alten Rabauken! Diese Predigten, das war frischer Wind, wissen Sie. Viel kühner als alles, was ich je gehört habe. Ja, doch, der Captain hat sich mehr dafür interessiert als sonst einer!« Rey konnte sich nur mit Mühe zurückhalten. »Wissen Sie, wo ich Captain Blight finden kann?« Der Soldat schlug mit seinem Armstumpf auf die verbliebene Hand und dachte nach. Dann legte er den gesunden Arm um seine Frau. »Wissen Sie was, Officer, meine Hübsche hier bringt Ihnen Glück.« »Na, na«, protestierte sie. »Ich glaube, ich kann Ihnen tatsächlich sagen, wo Sie ihn fin‐ den«, sagte der Veteran. »Nämlich da drüben.« Captain Dexter Blight vom 19th Massachusetts hatte einen heufarbenen Schnurrbart, wie Greene ihn beschrieben hatte. Reys kurzer
Blick auf ihn war diskret, aber aufmerksam. Er war überrascht, mit welcher Neugier er jedes Detail am Äußeren des Mannes registrierte. »Nicholas Rey? Sie sind es doch, nicht wahr?« Gouverneur Andrew sah in Reys angespanntes Gesicht und reichte ihm fei‐ erlich die Hand. »Ich wusste gar nicht, dass Sie auch erwartet wurden!« »Ich hatte auch nicht kommen wollen, Gouverneur. Aber jetzt müssen Sie mich leider entschuldigen.« Damit verschwand Rey in einer großen Gruppe Soldaten, und der Gouverneur, der ihn der Bostoner Polizei zugeteilt hatte, wusste nicht, wie ihm geschah. Seine plötzliche Gegenwart auf dem Empfang nahm die Mit‐ glieder des Dante Club gänzlich gefangen, als sie ihn einer nach dem anderen bemerkten. War es möglich, dass dieser anschei‐ nend normale Sterbliche Phineas Jennison überwältigt und ihn so übel zugerichtet hatte? Seine Gesichtszüge waren markant und düster. Ob er es wirklich war? Der Gelehrte, der Dantes Worte in die Tat umgesetzt hatte, der ihnen ein ums andere Mal zuvorgekommen war? Holmes entschuldigte sich bei einer Gruppe von Bewunderern und eilte zu Lowell hinüber. »Der Mann da ...«, flüsterte Hol‐ mes. »Ich weiß«, flüsterte Lowell zurück. »Rey hat ihn auch gese‐ hen.« »Sollen wir Greene bitten, dass er ihn anspricht?«, fragte Holmes. »Es ist etwas an diesem Mann. Er kommt mir nicht vor wie ...«
»Schauen Sie!«, unterbrach ihn Lowell. In diesem Augenblick bemerkte Captain Blight, dass George Washington Greene allein war. Die Nüstern des Soldaten bläh‐ ten sich. Greene war ganz in die Betrachtung der Gemälde und Skulpturen versunken. Blight nahm Greene ins Visier und machte dann ein paar Schritte auf ihn zu. Rey kam unauffällig etwas näher, doch als er sich umdrehte, um nach Blight zu schauen, stellte er fest, dass Greene sich mit einem anderen Mann unterhielt. Blight war nicht zu Greene ge‐ gangen, sondern durch die Tür verschwunden. »Verflixt«, rief Lowell. »Er geht!« Die Luft war zu ruhig für Wolken oder Schneefall. Am klaren Himmel prangte ein so präzise halbierter Mond, dass es schien, als sei er mit einer frisch geschärften Klinge abgeschnitten wor‐ den. Rey erblickte einen uniformierten Soldaten auf dem Common. Der Mann humpelte an einem elfenbeinernen Stock. »Captain!«, rief Rey. Dexter Blight fuhr herum und blickte dem Rufer unbewegt und mit zusammengekniffenen Augen entgegen. »Captain Blight.« »Wer in aller Welt sind Sie?« Seine Stimme klang tief und ab‐ weisend. »Nicholas Rey. Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte Rey und zeigte seine Dienstmarke. »Nur einen Moment.« Blight stieß seinen Stock auf das vereiste Pflaster und entfernte sich rascher, als Rey es für möglich gehalten hätte. »Ich habe nichts zu sa‐ gen.«
Rey holte ihn ein und packte ihn am Arm. »Wenn Sie versuchen, mich zu verhaften, reiße ich Ihnen die Eingeweide heraus und werfe sie in den Frog Pond!«, schrie Blight. Rey dachte, es müsse sich um einen schrecklichen Irrtum han‐ deln. Solche Unbeherrschtheit, solch ein ungezügelter Wutaus‐ bruch zeugte eher von Angst als von Unerschrockenheit ‐ es konnte sich nicht um den Mann handeln, den sie suchten. Er schaute zum State House zurück, wo die Mitglieder des Dante Club mit hoffnungsvollen Mienen die Freitreppe herabkamen. Und dann sah Rey auch die Gesichter jener anderen in Boston vor sich, die ihn auf diese Fährte gesetzt hatten. Polizeichef Kurtz ‐ mit jedem Todesfall verkürzte sich seine Zeit als Hüter einer Stadt, die zu ungehemmt wuchs, als dass sich alle, die sie als ihre Heimat ansahen, noch in ihr wohl gefühlt hätten. Ednah Healey ‐ deren Gesichtsausdruck im schwindenden Tageslicht ihres Schlafzimmers verblasste, die sich an eine Hand voll ihres eigenen Fleisches klammerte und auf ihre Genesung wartete. Küster Gregg und Grifone Lonza: zwei weitere Opfer, nicht unmittelbar des Mörders, aber der unüberwindlichen Angst, die zu den Morden geführt hatte. Rey hielt den sich sträubenden Blight fest, und sein Blick traf sich mit dem von Holmes, der offenbar seine Zweifel teilte. Rey betete zu Gott, dass es noch nicht zu spät sein möge. Na endlich. Augustus Manning seufzte, als er seinen Gast he‐ reinbat. »Gehen wir in die Bibliothek?« Pliny Mead suchte sich den bequemsten Platz aus, in der Mitte
von Mannings Moleskin‐Sofa. »Tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe. Ihr Sekretär hat mich wissen lassen, dass es um Professor Lowell geht. Also um unser Dante‐Seminar?« Manning fuhr sich mit der Hand über die kahle Furche zwi‐ schen seinen beiden weißen Haarschöpfen. »So ist es, Mr. Mead. Haben Sie mit Mr. Camp über das Seminar gesprochen?« »Und ob«, sagte Mead. »Stundenlang. Er wollte so ziemlich al‐ les wissen, was ich ihm über Dante sagen konnte. Angeblich handelte er in Ihrem Auftrag.« »Das ist richtig. Doch seither will er anscheinend nicht mehr mit mir reden. Ich frage mich, warum.« Mead zog die Nase kraus. »Woher soll ich wissen, worum es hier geht, Sir?« »Das brauchen Sie natürlich nicht, mein Sohn. Aber ich dachte mir, dass Sie mir vielleicht doch helfen könnten. Wenn wir un‐ sere Kenntnisse austauschen, kommen wir vielleicht dahinter, was die Änderung seines Verhaltens bewirkt hat.« Mead sah ihn starr an, enttäuscht darüber, dass er von der Unterredung weder Nutzen noch Freude erwarten konnte. Auf dem Kamin‐ sims stand ein Kästchen mit Pfeifen. Bei dem Gedanken, am Kamin eines Harvard‐Fellows Pfeife zu rauchen, hob sich seine Laune. »Die sehen aber eins A aus, Dr. Manning.« Manning nickte wohlgefällig und stopfte seinem Gast eine der Pfeifen. »Hier können wir im Gegensatz zum Campus ungeniert rau‐ chen. Und ebenso ungeniert sprechen. Es sind in letzter Zeit noch andere seltsame Dinge vorgefallen, Mr. Mead, in die ich gern etwas Licht bringen möchte. Ein Polizist war hier und hat
mich über Ihren Dante‐Kurs ausgefragt, und plötzlich brach er ab, als hätte er mir etwas sagen wollen und es sich im letzten Moment anders überlegt.« Mead schloss die Augen und paffte vor sich hin. Augustus Mannings Geduld hatte ihre Grenzen. »Ist Ihnen eigentlich be‐ wusst, Mr. Mead, welch jähe Wende zum Schlechteren Ihre Lei‐ stungen in letzter Zeit genommen haben?« Mead schreckte hoch wie ein Schulkind, das gezüchtigt werden soll. »Sir, Dr. Manning, glauben Sie mir, das liegt nur an ...« Manning fiel ihm ins Wort. »Ich weiß, mein Lieber. Ich weiß, was da vor sich geht. Professor Lowells letztes Semester, da liegt der Hase im Pfeffer. Ihre Brüder waren allesamt Musterstudenten im ersten Jahr, nicht wahr?« Beschämt und verärgert blickte der Student zu Boden. »Mög‐ licherweise können wir ja Ihre Rangziffer ein wenig korrigieren, um Ihrer Familienehre besser gerecht zu werden.« Meads sma‐ ragdgrüne Augen leuchteten auf. »Im Ernst, Sir?« »Vielleicht zünde ich mir jetzt auch eine Pfeife an«, sagte Manning grin‐ send und erhob sich, um unter seinen schönen Pfeifen eine aus‐ zuwählen. Pliny Mead überlegte fieberhaft, was Manning im Sinn haben mochte, dass er ihm einen solchen Vorschlag machte. Er ging seine Unterredung mit Simon Camp noch einmal genau durch. Der Pinkerton‐Detektiv hatte versucht, Nachteiliges über Dante zu sammeln, und wollte Dr. Manning und die Corporation da‐ von unterrichten, um sie in ihrer Ablehnung einer Umgestal‐ tung und Öffnung des Lehrplans zu unterstützen. Beim zwei‐ ten Treffen hatte Camp sich besonders interessiert gezeigt. Aber
er konnte sich nicht vorstellen, was Camp noch im Sinn gehabt haben mochte. Und es war auch nicht ersichtlich, warum die Bostoner Polizei sich nach Dante erkundigte. Mead dachte an die letzten Vorkommnisse in der Stadt, an die Welle von Ge‐ walttätigkeiten und Angst, die Boston erfasst hatte. Camp hatte sich offenbar besonders für die Bestrafung der Simonisten in‐ teressiert, die Mead als eines von mehreren Beispielen aufzähl‐ te. Mead dachte an die Gerüchte, die sich um den Tod von Elis‐ ha Talbot rankten; immer wieder war die Rede von den ver‐ kohlten Füßen des Geistlichen gewesen, obgleich die Einzelhei‐ ten voneinander abwichen. Die Füße des Geistlichen. Und dann war da der bedauernswerte Richter Healey, den man in seinem Garten gefunden hatte, nackt und von ... Und dann noch Jennison! War es möglich? Und wenn Lowell es wusste, würde das nicht erklären, warum ihr Dante‐Kurs so plötzlich und ohne plausiblen Grund ausgefallen war? Hatte womöglich er, Mead, Simon Camp unwissentlich auf die richti‐ ge Spur gebracht? Hatte Lowell vor dem College, vor der Stadt verheimlicht, was er wusste? Das konnte seinen Ruin bedeuten! Mead sprang auf. »Dr. Manning, Dr. Manning!« Manning zün‐ dete gerade ein Streichholz an, machte es aber gleich wieder aus und sprach plötzlich nur noch im Flüsterton. »War da nicht etwas an der Tür?« Mead lauschte, schüttelte den Kopf. »Mrs. Manning, Sir?« Manning hakte einen langen, krummen Finger in seine Unter‐ lippe. Lautlos ging er hinaus. Er kam gleich wieder zurück. »Hab ich mir wohl nur eingebil‐ det«, sagte er und sah Mead in die Augen. »Ich wollte nur si‐
chergehen, dass wir wirklich ungestört sind. Ich weiß, dass Sie mir gleich etwas sehr Wichtiges mitteilen werden, Mr. Mead.« »Schon möglich, Mr. Manning.« Mead hatte sich inzwischen seine Taktik zurechtgelegt. Dante ist ein abscheulicher Mörder, Dr. Manning. Ja, Sie haben Recht, ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzu‐ teilen. »Reden wir doch erst über meine Rangziffer«, sagte Mead. »Dann können wir zu Dante übergehen. In der Tat, Dr. Manning, ich bin überzeugt, dass ich sehr interessante Neuig‐ keiten für Sie habe.« Manning strahlte. »Wie wärʹs mit einem Gläschen?« »Sherry für mich, bitte.« Manning brachte das Gewünschte, und Mead kippte es auf einen Sitz hinunter. »Wie wärʹs mit noch einem? Wir machen uns einen feuchtfröhlichen Abend.« Augustus Manning han‐ tierte an der Anrichte. In Meads eigenem Interesse hoffte er, dass er etwas wirklich Wichtiges zu sagen hatte. Ein lautes, dumpfes Geräusch hinter seinem Rücken sagte ihm, dass der junge Mann etwas kaputtgemacht hatte. Irritiert wandte er den Kopf. Pliny Mead lag bewusstlos auf dem Sofa, seine Arme hingen schlaff herab. Manning fuhr herum, und die Karaffe entglitt ihm. Er sah in das Gesicht eines uniformierten Soldaten, eines Mannes, dem er fast täglich auf den Korridoren der University Hall begegnete. Der Soldat hatte einen starren Blick und machte Kaubewegun‐ gen; wenn er den Mund öffnete, sah man, dass er kleine weiße Punkte auf der Zunge hatte. Er spuckte aus, und eines der wei‐ ßen Punkte landete auf dem Teppich. Unwillkürlich sah Man‐ ning hin: Es war ein feuchtes Stückchen Papier, auf dem er die
Buchstaben L und I zu erkennen glaubte. Manning lief in die Ecke des Raums, in der eine Jagdflinte de‐ korativ an der Wand hing. Er stieg auf einen Stuhl, um sie her‐ unterzuholen, doch dann stotterte er nur noch: »Nein, nein.« Dan Teal hatte ihm die Flinte aus den zitternden Händen geris‐ sen und brachte ihn mit einem einzigen Kolbenschlag ins Ge‐ sicht zum Schweigen. Teal stand da und sah zu, wie der Verrä‐ ter, kalt bis ins Innerste seines Herzens, um sich schlug und auf dem Boden zusammenbrach.
XVII Holmes rannte die hohe Treppe zum Autorenzimmer hinauf. »Ist Rey schon zurück?«, fragte er keuchend. Lowells zusam‐ mengezogene Augenbrauen verhießen nichts Gutes. »Na ja, vielleicht hat er ja von Blight ...«, setzte Holmes an. »Vielleicht weiß Blight ja wirklich etwas, und Rey bringt uns gute Nach‐ richten. Wie stehtʹs denn um Ihren zweiten Besuch im Archiv der University Hall?« »Ich fürchte, der wird nicht mehr stattfinden«, sagte Fields seufzend. »Warum nicht?«, wollte Holmes wissen. Fields schwieg. »Mr. Teal ist heute Abend nicht gekommen«, erklärte Longfel‐ low. »Vielleicht ist er krank geworden«, fügte er rasch hinzu. »Unwahrscheinlich«, sagte Fields deprimiert. »Die Unterlagen zeigen, dass der junge Teal in vier Monaten nicht eine Schicht verpasst hat. Ich habe den armen Jungen in Schwierigkeiten ge‐ bracht, Holmes. Und das, obwohl er mir immer wieder Beweise seiner Loyalität gegeben hat.« »Wie töricht ...«, begann Holmes. »Ach, wirklich? Ich hätte ihn da nicht hineinziehen dürfen! Womöglich ist Manning dahinter gekommen, dass Teal uns geholfen hat, ins Archiv einzudringen, und hat ihn verhaften lassen. Oder dieser vermaledeite Samuel Ticknor hat sich an Teal gerächt, weil der seinem schändlichen Treiben mit Miss Emory ein Ende gesetzt hat. Unterdessen haben wir mit allen meinen Männern gesprochen, die im Krieg gewesen sind. Kei‐
ner von ihnen will jemals in einem Soldatenheim gewesen sein, und keiner konnte uns irgendetwas Brauchbares sagen.« Lowell schlurfte mit langen Schritten auf und ab, wandte ab und zu den Kopf zu dem kalten Fenster und starrte in die dämmrige, verschneite Stadt hinaus. »Rey meint, Captain Blight war lediglich einer der Soldaten, denen Greenes Predigten ge‐ fielen. Blight wird Rey nichts über andere verraten, auch nicht, wenn er sich beruhigt hat ‐ vielleicht weiß er auch gar nichts über die anderen Soldaten im Heim! Und ohne Teal kommen wir nicht ins Archiv der Corporation. Sollten wir nicht endlich aufhören, aus trockenen Brunnen zu pumpen?« Es klopfte, und Osgood kam herein. Er berichtete, zwei weite‐ re Angestellte, die Kriegsdienst geleistet hätten, warteten in der Kantine auf Fields. Der Bürochef hatte ihm die Namen aller Ve‐ teranen genannt, die bei Ticknor & Fields beschäftigt waren. Es waren zwölf: Heath, Miller, Wilson, Collins, Holden, Sylvester, Rapp, Van Doren, Drayton, Flagg, King und Kellar. Samuel Ticknor war zwar eingezogen worden, hatte aber nach zwei Wochen in Uniform die vorgeschriebenen dreihundert Dollar für einen Ersatzmann bezahlt. Hätte man sich denken können, dachte Lowell. »Fields«, sagte er, »geben Sie mir Teals Adresse, und ich sehe selbst einmal nach. Wir können sowieso nichts tun, bevor Rey wieder da ist. Holmes, begleiten Sie mich?« Fields wies Osgood an, in seinem Büro zu bleiben, für den Fall, dass er gebraucht würde. Osgood ließ sich mit einem mat‐ ten Seufzer in einen Sessel fallen. Um sich die Zeit zu vertrei‐ ben, nahm er ein Buch von Harriet Beecher Stowe aus dem Re‐
gal, und als er es aufschlug, stellte er fest, dass aus dem Vor‐ satzblatt, auf dem Stowe das Exemplar Fields gewidmet hatte, Fetzchen von der Größe einer Schneeflocke herausgerissen wa‐ ren. Osgood blätterte das Exemplar durch und fand, dass das‐ selbe Sakrileg auch auf anderen Seiten begangen worden war. »Höchst merkwürdig!« Unten in den Stallungen stellten Lowell und Holmes zu ihrem Entsetzen fest, dass sich Fieldsʹ Stute in Krämpfen auf dem Bo‐ den wand und nicht mehr auf die Beine kam. Das zweite Pferd sah traurig zu und keilte nach jedem aus, der sich zu nähern wagte. Diese Pferdekrankheit, die Druse, hatte die öffentlichen Verkehrsmittel in der ganzen Stadt lahm gelegt, sodass den bei‐ den Dichtern nichts anderes übrig blieb, als zu Fuß zu gehen. Die sorgfältig geschriebene Adresse auf Dan Teals Anstellungs‐ vertrag war die eines bescheidenen Hauses im südlichen Teil der Stadt. »Mrs. Teal?« Lowell zog den Hut vor der verhärmten Frau, die an die Haustür kam. »Ich bin Mr. Lowell. Und dies hier ist Dr. Holmes.« »Mrs. Galvin«, sagte sie und legte die Hand auf die Brust. Lo‐ well verglich noch einmal die Hausnummern. »Wohnt hier ein Mann namens Teal?« Sie sah die beiden Männer mit traurigen Augen an. »Ich bin Harriet Galvin.« Sie sprach langsam und deutlich, wie zu Kin‐ dern oder Schwachköpfen. »Ich wohne hier mit meinem Mann, und wir vermieten nicht. Von einem Mr. Teal habe ich nie ge‐ hört, Sir.« »Sind Sie erst vor kurzem hier eingezogen?«, fragte Holmes. »Vor fünf Jahren.«
»Noch mehr alte Brunnen«, murmelte Lowell. »Madam«, sag‐ te Holmes, »dürften wir kurz hereinkommen, um uns zu orien‐ tieren?« Sie ließ sie hinein, und Lowell fiel sofort ein Ferrotypie‐Porträt an der Wand auf. »Dürfte ich Sie um ein Glas Wasser bitten, meine Liebe?«, fragte Lowell. Als sie gegangen war, trat er rasch an das Porträt des Solda‐ ten, der in eine zu große Uniform eingekleidet worden war. »Donnerschlag! Das ist er. Wendell! So wahr ich hier stehe, das ist Dan Teal!« Er war es. »War der im Krieg?«, fragte Holmes. »Er stand auf keiner der Listen, die Osgood für Fields zusammengestellt hat.« »Und hier steht auch, warum: >Second Lieutenant Benjamin Galvin<«, las Holmes. »Teal ist ein angenommener Name. Rasch, bevor sie wiederkommt.« Holmes schlich sich in das nächstliegende Zimmer, das mit allerlei Kriegssouvenirs voll gestellt war. Alles war sorgfältig aufgebaut und arrangiert, aber ein Gegenstand erregte sofort seine Aufmerksamkeit: ein an der Wand hängender Säbel. Holmes spürte, wie es ihn kalt überlief, und er rief Lowell. Der Dichter erschien und fing bei dem An‐ blick am ganzen Leib zu zittern an. Holmes verscheuchte eine herumfliegende Gnitze, doch sie war sofort wieder da. »Na warte«, sagte Lowell und erschlug die Gnitze an der Wand. Vorsichtig nahm Holmes die Waffe herunter. »Das ist genau die Art Klinge ... Das war der Stolz unserer Offiziere, Erinnerungen an zivilisiertere Formen der Kriegführung. Wen‐
dell junior hat auch so einen und hütet ihn wie seinen Augap‐ fel. Mit dieser Waffe könnte Jennison verstümmelt worden sein.« »Nein, sie sieht makellos aus«, widersprach Lowell, nachdem er sich dem Säbel vorsichtig genähert hatte. Holmes ließ einen Finger über den Stahl gleiten. »Das lässt sich mit bloßem Auge nicht feststellen. So viel Blut lässt sich schon nach ein paar Tagen nicht mehr ohne weiteres spurlos abwaschen.« Dann blieb sein Blick auf dem Blutfleck haften, den die erschlagene Gnitze an der Wand hinterlassen hatte. Als Mrs. Galvin mit zwei Gläsern Wasser wiederkam, sah sie Dr. Holmes mit dem Säbel hantieren und verlangte, er solle ihn so‐ fort wieder zurückhängen. Holmes achtete nicht auf sie, son‐ dern marschierte einfach zur Haustür hinaus. Sie lamentierte, sie könnten nicht einfach in ihr Haus kommen und ihr Eigen‐ tum mitnehmen, und drohte, die Polizei zu rufen. Lowell trat zwischen die beiden und versuchte sie zu beschwichtigen. Holmes, der ihren Protest nur mit halbem Ohr vernahm, baute sich auf dem Gehweg auf und hob den schweren Säbel in die Höhe. Eine winzige Gnitze flog auf die Klinge wie ein Eisen‐ feilspan auf einen Magneten. Im Nu tauchte noch eine auf, und dann zwei weitere, dann drei auf einmal. Nach ein paar Sekun‐ den wimmelte und summte ein ganzer Schwarm der kleinen Insekten über der Klinge. Lowell verschlug es die Sprache. »Lassen Sie sofort die ande‐ ren kommen!«, rief Holmes. Mit ihrer barschen Forderung, ihren Mann zu sehen, hatten Lowell und Holmes Mrs. Galvin eingeschüchtert. Sie ver‐ stummte und sah mit offenem Mund zu, wie die beiden Män‐
ner abwechselnd gestikulierten und Erklärungen vorbrachten, bis ein Klopfen an der Tür sie unterbrach. J. T. Fields trat ein, aber Harriet Galvin heftete den Blick auf die schlanke, löwen‐ hafte Gestalt hinter ihm. Umrahmt vom silbernen Weiß des Himmels, wirkte dieser Mann wie das Sinnbild unerschütterli‐ cher Seelenruhe. Sie hob die zitternde Hand, als wollte sie sei‐ nen Bart berühren, und als der Dichter hinter Fields das Haus betrat, streiften ihre Finger tatsächlich seine Locken. Er wich einen Schritt zurück. Sie drängte ihn freundlich, doch herein‐ zukommen. Lowell und Holmes sahen einander an. »Vielleicht hat sie uns noch nicht erkannt«, flüsterte Holmes. Lowell nickte. Sie gab sich alle Mühe, ihre Verwunderung zu erklären: Sie lese jeden Abend vor dem Schlafengehen Longfellows Gedichte. Als ihr Mann nach der Heimkehr aus dem Krieg bettlägerig war, habe sie ihm Evangeline vorgelesen. Und der sanft plätschernde Rhythmus, die Geschichte treuer, doch unerfüllter Liebe hätte ihn noch im Schlaf beruhigt ‐ das sei auch jetzt noch manchmal der Fall, fügte sie traurig hinzu. Sie kenne A Psalm of Life Wort für Wort auswendig und habe auch ihrem Mann beigebracht, es zu lesen. Immer wenn er aus dem Haus gehe, vermochten nur diese Verse ihre Angst zu besänftigen. Aber vor allem wieder‐ holte sie unermüdlich die eine Frage: »Warum, Mr. Longfellow ...«, um schließlich in lautes Schluchzen auszubrechen. »Mrs. Galvin«, sagte Longfellow sanft, »wir brauchen dringend Hilfe, die nur Sie uns geben können. Wir müssen unbedingt Ihren Mann sprechen.« »Diese Männer wollen ihm Böses«, sagte sie, auf Lowell und
Holmes gemünzt. »Ich verstehe nicht. Warum wollen Sie ... Mr. Longfellow, woher kennen Sie Benjamin überhaupt?« »Leider haben wir nicht die Zeit, Ihnen das zu erklären«, erwiderte Longfellow. Zum ersten Mal wandte sie den Blick von Longfellow ab. »Nun, ich weiß nicht, wo er ist, und ich schäme mich dafür. Er kommt kaum noch nach Hause, und wenn doch, dann spricht er fast kein Wort. Manchmal bleibt er tagelang weg.« »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«, fragte Fields. »Er war heute kurz da, ein paar Stunden vor Ihnen.« Fields zog seine Uhr aus der Westentasche. »Und wohin woll‐ te er?« »Früher hat er sich um mich gekümmert. Jetzt ist es, als wäre ich Luft für ihn.« »Mrs. Galvin, es handelt sich um eine äußerst ...«, setzte Fields an. Erneutes Klopfen. Mrs. Galvin betupfte sich mit ihrem Ta‐ schentuch die Augen und strich ihr Kleid glatt. »Bestimmt wie‐ der ein Gläubiger, der mich drangsalieren will.« Während sie zur Haustür ging, steckten die Männer die Köpfe zusammen und flüsterten aufgeregt miteinander. Lowell sagte: »Er ist seit ein paar Stunden weg, sagt sie. Und er ist nicht im Verlag, das wissen wir. Und wir wissen alle, was er tun wird, wenn wir ihn nicht bald finden!« »Aber er kann überall in der Stadt sein, Jamey!«, erwiderte Holmes. »Und wir müssen in den Verlag zurück, um auf Rey zu warten. Was können wir auf eigene Faust schon groß unter‐
nehmen?« »Irgendetwas! Longfellow?«, fragte Lowell. »Wir haben nicht einmal mehr ein Pferd«, klagte Fields. Lowell hörte ein Ge‐ räusch aus der Diele. Longfellow sah ihn aufmerksam an. »Lo‐ well?« »Lowell, hören Sie überhaupt zu?«, fragte Fields. Man hörte einen Wortschwall an der Haustür. »Diese Stimme«, sagte Lo‐ well bestürzt. »Diese Stimme! Hören Sie doch!« »Teal?«, fragte Fields. »Vielleicht warnt sie ihn, dass er sich in Sicherheit bringen soll. Lowell! Wenn er jetzt entkommt, krie‐ gen wir ihn nie mehr!« Lowell setzte sich in Bewegung. Er stürmte durch die Diele zur Haustür. Ein Mann starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. Mit einem Schrei stürzte sich der Dichter auf ihn.
XVIII Lowell packte den Mann mit beiden Armen und zerrte ihn ins Haus. »Ich hab ihn!«, rief er. »Ich hab ihn!« »Was soll das denn?«, schrie Pietro Bachi. »Bachi! Was machen Sie denn hier?«, fragte Longfellow. »Wie haben Sie mich aufgespürt? Sa‐ gen Sie Ihrem Wachhund, er soll mich loslassen, Signor Long‐ fellow, sonst kann er was erleben!«, knurrte Bachi und stieß seinem kräftigen Widersacher vergeblich die Ellbogen in die Seiten. »Lowell«, sagte Longfellow, »wir wollen ungestört mit Signor Bachi reden.« Sie schoben ihn in ein anderes Zimmer, und dort verlangte Lowell von Bachi zu wissen, was er hier zu suchen habe. »Es hat nichts mit Ihnen zu tun«, sagte Bachi. »Ich gehe jetzt wieder hinaus, ich will mit der Frau sprechen.« »Bitte, Signor Bachi«, sagte Longfellow kopfschüttelnd. »Dr. Holmes und Mr. Fields stellen ihr gerade ein paar Fragen.« »Was für einen Plan haben Sie mit Teal ausgeheckt?«, begehrte Lowell zu wissen. »Wo ist er? Versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen. Sie tauchen immer wieder auf, wie ein falscher Fuffziger, im‐ mer dann, wenn es irgendwo Ärger gibt.« Bachi verzog das Ge‐ sicht. »Teal, wer soll das sein? Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, der mich so behandelt.« »Wenn der nicht sofort aus‐ packt, bring ich ihn auf dem direktesten Weg zur Polizei und erzähle denen alles!«, drohte Lowell. »Hab ich nicht gesagt,
dass er uns die ganze Zeit hinters Licht geführt hat, Longfel‐ low?« »Ha, dann holen Sie doch die Polizei«, höhnte Bachi. »Die können mir dann gleich helfen, meine Außenstände einzutrei‐ ben! Sie wollen wissen, was ich hier suche? Ich will mein Geld von dem Weibsstück da drinnen.« Sein dicker Adamsapfel hüpfte vor Empörung auf und ab. »Dieses Sprachlehrerdasein hängt mir zum Halse raus.« »Sie haben der Frau Unterricht gegeben? In Italienisch?«, frag‐ te Lowell. »Nein, ihrem Mann«, erwiderte Bachi. »Nur drei Mal, vor ein paar Wochen ‐ umsonst, scheint er sich jedenfalls einzubilden.« »Aber Sie sind doch nach Italien heimgereist«, sagte Lowell. Bachi lachte wehmütig. »Wäre es nur so gewesen, Signore! Ich habe nur meinen Bruder Giuseppe verabschiedet. Leider gibt es, nun, sagen wir, missgünstige Menschen, die mir die Heim‐ kehr unmöglich machen, zumindest noch für viele Monate.« »Sie haben Ihren Bruder zum Schiff gebracht? Welche Imperti‐ nenz!«, rief Lowell aus. »Sie haben in größter Hast ein Boot be‐ stiegen und sich zu dem Dampfer hinausfahren lassen! Und Sie hatten eine Tasche voll Falschgeld bei sich ‐ wir haben Sie gese‐ hen!« »Ich bitte Sie«, sagte Bachi gekränkt. »Woher wollen Sie wis‐ sen, wo ich an dem Tag gewesen bin?« »Antworten Sie!« Bachi zeigte anklagend auf Lowell, doch dann merkte er am Zittern seines ausgestreckten Fingers, dass er ziemlich betrun‐ ken war.
Ihm wurde übel, er meinte sich jeden Moment übergeben zu müssen, kämpfte den aufsteigenden Mageninhalt jedoch nie‐ der, hielt sich die Hand vor den Mund und rülpste. Als er wie‐ der sprechen konnte, roch er schrecklich aus dem Mund, war aber nicht mehr so aufsässig. »Ja, ich bin zu dem Dampfer hi‐ nausgefahren. Aber nicht mit irgendwelchem Geld, weder fal‐ schem noch echtem. Gott gebe, ich hätte wirklich einen Sack voll Geld, Professore. Ich war an dem Tag dort, um meinem Bruder Giuseppe Bachi meine Übersetzung zu bringen, der sie nach Italien mitnehmen wollte.« »Ihr Manuskript?«, fragte Longfellow. »Eine Übersetzung ins Englische. Von Dantes In‐ ferno, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich hörte von Ihrem Vorhaben, Longfellow, und von Ihrem erlauchten Dante Club. Dass ich nicht lache! In diesem Yankee‐Athen wollen Sie und Ihre Kollegen eine eigene Nationalliteratur erschaffen! Sie for‐ dern Ihre Landsleute auf, sich gegen die britische Vorherrschaft in den Bibliotheken zu wehren. Aber ist Ihnen jemals der Ge‐ danke gekommen, dass ich, Pietro Bachi, etwas zu Ihrer Arbeit beitragen könnte? Dass ich als Sohn Italiens, als einer, der aus der Geschichte dieses Landes hervorgegangen ist, aus seinen Widersprüchen, seiner Auflehnung gegen das Joch der Kirche, eine unnachahmliche Liebe zu der Freiheit hegen könnte, die Dante vorschwebte?« Er hielt inne. »Nein, natürlich nicht. Sie haben mich nie zu sich nach Hause eingeladen. Lag es an dem bösartigen Gerede über meine angebliche Trunksucht? Oder an meiner unehrenhaften Entlassung am College? Welche Freiheit finden wir hier in Amerika? Ihr schickt uns, ohne mit der Wim‐ per zu zucken, in eure Fabriken, eure Kriege. Ihr seht zu, wie
unsere Kultur mit Füßen getreten, unsere Sprachen unterdrückt werden. Wir kleiden uns wie ihr. Und dann raubt ihr uns mit lächelnder Miene unsere Literatur. Piraten seid ihr. Abscheuli‐ che literarische Piraten, jeder Einzelne von euch!« »Wir haben mehr von Dantes Herz gesehen, als Sie sich vor‐ stellen können«, erwiderte Lowell. »Ihre Landsleute waren es, die ihn in die Verbannung geschickt haben, wenn ich Sie daran erinnern darf.« Longfellow bedeutete Lowell, sich zu mäßigen. Dann sagte er: »Signor Bachi, wir haben Sie unten am Hafen beobachtet. Bitte erklären Sie uns: Warum haben Sie Ihre Übersetzung nach Ita‐ lien geschickt?« »Ich hatte gehört, dass Florenz bei der abschließenden Dante‐ Feier des Jahres Ihre Version des Inferno ehren will, dass Sie aber noch nicht fertig seien und Ihre Übersetzung womöglich nicht mehr rechtzeitig würden abschicken können. Ich hatte seit vielen Jahren immer wieder einmal Dante übersetzt, zeitweise mit Unterstützung von alten Freunden wie Signor Lonza, als es ihm noch besser ging. Wir dachten wohl, wenn wir beweisen könnten, dass Dante in der englischen Sprache genauso leben‐ dig sein kann wie in der italienischen, dann würde es auch uns besser gehen in Amerika. Eine Veröffentlichung hatte ich nie erwogen. Als aber der arme Lonza, umgeben von lauter Frem‐ den, starb, stand für mich unverrückbar fest, dass unsere Arbeit leben muss. Unter der Bedingung, dass ich selbst eine Möglich‐ keit fand, meine Übersetzung drucken zu lassen, erklärte sich mein Bruder bereit, sie zu einem Buchbinder in Rom zu brin‐ gen, sie dann persönlich den Kuratoren zu übergeben und dort
unser Anliegen vorzutragen. Ich fand hier in Boston eine kleine, etwas dubiose Druckerei, die sich bereit erklärte, meine Über‐ setzung ‐gegen geringes Entgelt ‐ noch vor Giuseppes Abreise zu drucken. Ich konnte ja nicht ahnen, dass dieser Idiot von einem Drucker erst in allerletzter Minute fertig wurde und wahrscheinlich nie fertig geworden wäre, wenn er nicht sogar meine paar Kröten dringend gebraucht hätte. Der Schurke steckte in Schwierigkeiten, weil er Falschgeld für Spielhöllen gedruckt hatte, und das war meines Wissens der Grund, wes‐ halb er Hals über Kopf seinen Laden zusperren und sich aus dem Staub machen musste. Als ich endlich am Hafen war, musste ich einen zwielichtigen Charon am Kai bitten, mich in seinem kleinen Boot zur Anonimo hinauszurudern. Nachdem ich die Übersetzung auf dem Dampfer meinem Bruder übergeben hatte, kehrte ich sofort wieder ans Ufer zurück. Die ganze Angelegenheit führte zu nichts, wie Sie sicher erfreut sind, zu hören. Die Kuratoren wa‐ ren >zurzeit nicht an weiteren Beiträgen zu unserer Gedenkfei‐ er< interessiert.« Bachi grinste hilflos ob seiner Niederlage. »Deshalb haben Ihnen die Kuratoren Dantes Asche geschickt!«, sagte Lowell zu Longfellow. »Um Ihnen zu bestätigen, dass Ih‐ re Übersetzung als amerikanischer Beitrag zu den Festivitäten fest eingeplant ist!« Longfellow überlegte einen Augenblick und sagte: »Die Schwierigkeiten von Dantes Text sind so groß, dass zwei oder drei voneinander unabhängige Interpretationen dem interes‐ sierten Leser durchaus willkommen sein dürften, mein lieber Signore.«
Bachis Miene entspannte sich. »Bitte verstehen Sie mich recht. Ich war Ihnen immer dankbar für das Vertrauen, das Sie mir er‐ wiesen, indem Sie mich an der Universität anstellten, und ich bestreite nicht im Geringsten den Wert Ihrer Dichtung. Wenn ich aus meiner Situation heraus etwas Ehrenrühriges getan ha‐ be —« Er brach ab. Nach einer Weile sprach er weiter. »Das Exil lässt einem nur die spärlichste Hoffnung. Vielleicht habe ich gehofft ‐vielleicht, sage ich‐, Dante könnte durch meine Über‐ setzung in einer Neuen Welt zum Leben erweckt werden. Dann hätte man mich in Italien mit ganz anderen Augen angesehen!« »Also Sie waren das«, warf Lowell ein, »Sie haben diese Dro‐ hung in Longfellows Fensterscheibe geritzt, um uns in Angst zu versetzen und zu erreichen, dass Longfellow die Arbeit an sei‐ ner Übersetzung einstellt!« Bachi zuckte zusammen und tat so, als verstünde er nicht. Er zog ein schwarzes Fläschchen aus dem Mantel und setzte es an den Mund, als sei seine Kehle ein Trichter in eine andere, ferne Welt. Als er fertig war, zitterte er. »Halten Sie mich nicht für einen Säufer, Professori. Ich trinke nie mehr, als gut für mich ist, jedenfalls nicht in guter Gesellschaft. Das Elend ist: Was soll ein Mann ganz allein in den trüben Stunden eines neuenglischen Winters anfangen?« Seine Stirn umwölkte sich. »Also, ist das hiermit erledigt, oder wollen Sie mich noch weiter mit meinen Enttäuschungen quälen?« »Signore«, sagte Longfellow, »wir müssen wissen, was Sie Mr. Galvin beigebracht haben. Spricht und liest er jetzt Italienisch?« Bachi legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Gott behüte! Der Mann könnte nicht mal Englisch lesen, wenn Noah Web‐
ster ihm zur Seite stünde! Er hat immer dieses blaue amerikani‐ sche Soldatenzeug mit den Goldknöpfen getragen. Er wollte Dante, Dante, Dante. Er kam gar nicht auf die Idee, dass er vor‐ her Italienisch lernen müsste. Che stranezza!« »Haben Sie ihm Ihre Übersetzung zu lesen gegeben?«, wollte Longfellow wissen. Bachi schüttelte den Kopf. »Ich wollte diese Unternehmung absolut geheim halten. Wir wissen doch sicher alle, wie Mr. Fields reagiert, wenn jemand seinen Autoren Konkurrenz zu machen versucht. Aber wie auch immer, ich habe mich bemüht, Signor Galvins merkwürdigen Wünschen zu entsprechen. Ich schlug vor, in den ersten Italienischstunden gemeinsam die Commedia zu lesen, Zeile für Zeile. Aber genauso gut hätte ich einer unverständigen Kreatur vorlesen können. Dann verlangte er, ich solle eine Predigt über Dantes Hölle halten, aber ich wei‐ gerte mich aus prinzipiellen Gründen ‐ wenn er mich als Privat‐ lehrer wolle, müsse er Italienisch lernen.« »Sie haben ihm klipp und klar gesagt, Sie würden den Unter‐ richt nicht fortsetzen?«, fragte Lowell. »Es wäre mir ein Labsal gewesen, Professore. Aber eines Tages kam er nicht mehr. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen ‐ und mein Honorar habe ich bis heute nicht bekommen.« »Si‐ gnore«, sagte Longfellow. »Das ist jetzt sehr wichtig: Hat Mr. Galvin jemals von Menschen in unserer Stadt, in unserer Zeit gesprochen, die in irgendeiner Weise mit dem College verbun‐ den sind und daran interessiert sein könnten, Dante zu diskre‐ ditieren?« Bachi schüttelte den Kopf. »Er hat fast überhaupt nicht ge‐
sprochen, Signor Longfellow, er war stumm wie ein Ochse. Zielt Ihre Frage auf die Kampagne des Colleges gegen Ihre Ar‐ beit?« Lowell wurde hellhörig. »Was wissen Sie denn darüber?« »Ich habe Sie doch gewarnt, als Sie bei mir waren, Signore«, sagte Bachi. »Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten auf Ihren Dante‐ Kurs aufpassen, nicht wahr? Erinnern Sie sich noch, wie Sie mich ein paar Wochen davor auf dem College Yard gesehen ha‐ ben? Ich hatte eine Aufforderung bekommen, mich mit einem Herrn zu einem vertraulichen Gespräch zu treffen ‐ und ich war so töricht zu glauben, man wolle mir meine alte Stelle am Col‐ lege wieder anbieten! In Wirklichkeit hatte der Mensch, der mich da hinbestellt hatte, den Auftrag, den schädlichen Einfluss von Dante auf die Studenten nachzuweisen, und ich sollte ihm dabei helfen.« »Simon Camp«, sagte Lowell durch die zusammengebissenen Zähne. »Ich hatte gute Lust, dem Kerl eine zu verpassen«, sagte Bachi. »Wenn Sieʹs nur getan hätten, Signor Bachi«, sagte Lowell, und beide mussten lächeln. »Es ist durchaus möglich, dass dieser Mann noch Dantes Ruin bewirkt. Was haben Sie ihm geant‐ wortet?« »Was hätte ich schon sagen sollen? >Gehn Sie zum Teufel<, was anderes ist mir nicht eingefallen. Schauen Sie mich an: Nach so vielen Jahren am College bin ich kaum in der Lage, mir mein täglich Brot zu verdienen, aber mit so einem Kerl arbeitet die Universitätsverwaltung zusammen. Wer hat den eigentlich engagiert?« Lowell grinste. »Wer schon. Natürlich Dr. Mann ...« Er brach
ab, wirbelte herum und warf Longfellow einen viel sagenden Blick zu. Caroline Manning kehrte Scherben zusammen. »Jane ‐ einen Lappen!« Sie musste noch ein zweites Mal nach dem Hausmäd‐ chen rufen. Ärgerlich besah sie die trocknende Sherrypfütze auf dem Teppich in der Bibliothek ihres Mannes. Als Mrs. Manning aus dem Zimmer ging, klingelte es an der Haustür. Sie zog den Vorhang zwei Fingerbreit zurück und sah Henry Wadsworth Longfellow. Was der wohl um diese späte Stunde noch wollte? Sie hatte dem armen Mann in den letzten Jahren kaum ins Ge‐ sicht sehen können, wenn sie ihm, was selten genug vorkam, in Cambridge begegnete. Es war ihr unbegreiflich, wie jemand einen solchen Schicksalsschlag überleben konnte. Er war offen‐ bar unerschütterlich. Und jetzt stand sie mit der Kehrschaufel in der Hand da wie ein Dienstmädchen. Mrs. Manning bedauerte: Dr. Manning sei nicht zu Hause. Sie erklärte, er habe vor ein, zwei Stunden Besuch bekommen und sich mit ihm zurückgezogen. Anschließend sei er wohl mit sei‐ nem Gast spazieren gegangen, obwohl ihr das bei dem scheuß‐ lichen Wetter seltsam vorgekommen sei. Außerdem hätten sie in der Bibliothek Scherben hinterlassen. »Aber Sie wissen ja, wie Männer manchmal trinken«, fügte sie hinzu. »Könnte es sein, dass sie die Kutsche genommen haben?«, fragte Longfellow. Mrs. Manning sagte, dagegen spreche diese grassierende Pferdekrankheit: Dr. Manning habe strikt untersagt, die Pferde auch nur für kurze Zeit aus dem Stall zu holen. Aber sie war
bereit, mit Longfellow in der Remise nachzusehen. »Um Him‐ mels willen«, sagte sie, als sie feststellten, dass Dr. Mannings Pferde und die Kutsche verschwunden waren. »Da muss etwas passiert sein, Mr. Longfellow, meinen Sie nicht auch? Um Himmels willen«, wiederholte sie. Longfellow sagte nichts. »Ist ihm etwas zugestoßen? Bitte, Sie müssen es mir sagen!« Longfellow sprach langsam. »Sie müssen im Haus bleiben und warten. Er kommt bestimmt wohlbehalten zurück, Mrs. Man‐ ning, das verspreche ich Ihnen.« Der Wind hatte aufgefrischt und schmerzte im Gesicht. »Dr. Manning«, sagte Fields zwanzig Minuten später niederge‐ schlagen in Longfellows Arbeitszimmer. Nach dem Besuch bei Mrs. Galvin hatten sie Nicholas Rey getroffen, der sich eine Po‐ lizeikutsche und ein gesundes Pferd besorgt hatte und nach Craigie House gefahren war. »Er war von Anfang an unser schlimmster Widersacher. Warum hat Teal ihn nicht schon längst umgebracht?« Holmes stand an Longfellows Schreibtisch gelehnt. »Gerade weil er der Schlimmste ist, lieber Fields. Je tiefer und enger die Hölle wird, desto schamloser, schuldiger werden die Sünder ‐ und desto weniger bereuen sie ihre Taten. Bis hinab zu Luzifer, der alles Böse in der Welt verursacht hat. Healey, der als Erster bestraft wurde, wäre sich vermutlich seiner Verweigerung gar nicht bewusst gewesen ‐ das liegt in der Natur seiner >Sünde<, die nur in lauwarmem Handeln bestand.« Rey stand aufrecht in der Zimmermitte. »Meine Herren, Sie müssen sich die Predigten ansehen, die Mr. Greene letzte Wo‐
che gehalten hat, damit wir feststellen können, wohin Teal Dr. Manning gebracht hat.« »Greene hat seine Predigtreihe mit den Heuchlern begonnen«, erklärte Lowell. »Dann ging er über zu den Fälschern, ein‐ schließlich der Falschmünzer. Und in der Predigt, deren Zeuge ich und Fields wurden, behandelte er die Verräter.« Holmes sagte: »Manning war kein Heuchler ‐ er hat kein Hehl aus seinem Hass auf Dante gemacht. Und Verräter an der eige‐ nen Familie zählen nicht.« »Dann bleiben uns noch die Fälscher und die Verräter an der eigenen Nation«, sagte Longfellow. »Manning ist eigentlich nie mit echter Arglist vorgegangen«, sagte Lowell. »Sicher, er hat seine Aktivitäten vor uns verheim‐ licht, aber das war nicht seine vorherrschende Angriffsmetho‐ de. Viele der Schatten in Dantes Hölle haben Berge von Sünden auf sich geladen, aber ihr Schicksal in der Hölle hängt von der Sünde ab, die ihre Handlungen erklärt. Die Fälscher müssen eine Form mit einer anderen vertauschen, um ihren contrapasso zu gewärtigen ‐ wie Sinon, der Grieche, der die Trojaner durch List dazu brachte, das hölzerne Pferd in ihre Stadt zu ziehen.« »Die Verräter an einer Nation untergraben das Gute im Volk«, sagte Longfellow. »Wir finden sie im neunten Kreis ‐ dem un‐ tersten.« »Wo sie gegen unser Dante‐Projekt kämpfen, in diesem Fall«, sagte Fields. Holmes überlegte. »Das ist es, nicht wahr? Wir haben erfah‐ ren, dass Teal immer seine Uniform trägt, wenn er in Sachen Dante tätig wird, ob er nun Dante studiert oder seine Morde
vorbereitet. Das verrät uns einiges darüber, wie es in seinem Kopf aussieht: In seiner krankhaften Phantasie setzt er den Kampf für die Union mit dem Kampf für Dante gleich.« Longfellow sagte: »Und Teal hatte dank seiner Arbeit in der University Hall die Möglichkeit, Mannings Intrigen zu verfol‐ gen. Für ihn gehört Manning zu den schlimmsten Verrätern an der Sache, zu deren Verteidiger er sich aufgeworfen hat. Teal hat sich Manning bis zum Schluss aufgehoben.« »Und nach welcher Art Strafe müssten wir in diesem Fall suchen?«, erkun‐ digte sich Rey. Sie warteten alle auf Longfellows Antwort. »Die Verräter wer‐ den vollständig in Eis gepackt, vom Hals abwärts, in einem See, >der hatte vom Frost die Form des Glases, nicht des Wassers<.« Holmes stöhnte auf. »In den letzten vierzehn Tagen ist jede Pfütze in Neuengland zugefroren. Manning könnte überall sein, und wir haben nur ein einziges müdes Pferd, mit dem wir auf die Suche gehen können.« Rey schüttelte den Kopf. »Sie, meine Herren, bleiben hier in Cambridge und suchen nach Teal und Manning. Ich fahre nach Boston und versuche Hilfe zu holen.« »Was sollen wir tun, wenn wir Teal sehen?«, fragte Holmes. »Nehmen Sie die hier.« Rey gab ihnen seine Polizeirassel. Die vier Gelehrten gingen auf Patrouille: an den verlassenen Ufern des Charles River und des Beaver Creek, bei Elmwood, und am Fresh Pond. Während sie beim schwachen Schein der Gaslater‐ nen in die Nacht hinausspähten, waren sie so wach und auf‐ merksam, dass sie kaum merkten, wie gleichgültig die Nacht verging, ohne ihnen auch nur den kleinsten Fortschritt zu ge‐
währen. Sie hatten sich in mehrere Jacken und Mäntel gehüllt und spürten gar nicht, wie sich der Raureif auf ihren Bärten, Augenbrauen und Koteletten festsetzte. Wie seltsam still die Welt war ohne das gelegentliche Klappern von Pferdehufen ‐ eine Stille, die sich über den ganzen Norden zu erstrecken schien, nur unterbrochen vom Schnaufen ferner Lokomotiven, die unermüdlich Güter von einem Bahnhof zum nächsten trans‐ portierten. Jeder von ihnen stellte sich in allen Einzelheiten vor, wie Rey in diesem Augenblick Dan Teal durch Boston verfolgte, ihn im Namen des Commonwealth festnahm und ihm Fesseln anlegte, wie Teal Ausflüchte vorbrachte, tobte, sich rechtfertigte, um sich dann doch der Gerechtigkeit zu beugen und nie wieder von seinen Taten zu sprechen. Sie begegneten einander mehr‐ mals, Longfellow und Holmes und Lowell und Fields, und munterten sich gegenseitig auf, während sie die zugefrorenen Gewässer abschritten. Sie fingen an zu reden ‐ Holmes natür‐ lich als Erster. Aber auch die anderen beruhigten einander, in‐ dem sie sich leise unterhielten. Sie sprachen über die Gedenk‐ verse, die sie schreiben würden, über neue Bücher, über die politischen Geschehnisse, um die sie sich in letzter Zeit kaum hatten kümmern können. Holmes erzählte wieder einmal die Geschichte aus den Anfängen seiner Arztpraxis, als er ein Schild aufgehängt hatte ‐ AUCH LEICHTES FIEBER WILLKOMMEN ‐, bevor ihm die Fensterscheibe von Betrunke‐ nen eingeworfen wurde. »Ich rede zu viel, nicht wahr?«, tadelte Holmes sich selbst. »Longfellow, ich wünschte, Sie würden mehr von sich selbst erzählen.«
»Ja«, erwiderte Longfellow bedächtig, »das tue ich wohl nie.« »Ja, eben! Aber einmal haben Sie sich mir anvertraut.« Holmes überlegte, ob er weitersprechen sollte. »Als Sie Fanny kennen gelernt hatten.« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Sie wechselten mehrmals den Partner, wie beim Tanzen. Und sie wechselten den Gesprächsstoff. Manchmal gingen alle vier zusammen, und dann schien es, als müsste die gefrorene Erde unter ihren Füßen einbrechen. Und stets gingen sie Arm in Arm, um einander zu stützen. Zum Glück war es wenigstens eine klare Nacht. Die Sterne standen in vollkommener Ordnung am Himmel. Man hörte, wie sich Hufgetrappel näherte. Nicholas Rey war in den Dampf des erhitzten Tieres eingehüllt. Jeder der vier nahm den Aus‐ druck unbändigen Erfolgswillens auf den markanten Zügen des jungen Mannes wahr, als er sich ihnen näherte, aber seine Miene war düster. Von Teal und Augustus Manning keine Spur, berichtete er. Er hatte ein halbes Dutzend weitere Strei‐ fenpolizisten rekrutiert, die den Charles River in seiner ganzen Länge absuchten, aber sie hatten nur vier Pferde aus der Qua‐ rantäne holen können. Bevor er wieder davonritt, mahnte Rey die Fireside Poets zur Vorsicht und versprach, seine Suche bis zum Morgen fortzusetzen. Wer von ihnen machte um halb vier Uhr morgens den Vorschlag, eine Ruhepause in Lowells Haus einzulegen? Sie verteilten sich: Zwei gingen ins Musikzimmer, zwei ins angrenzende Arbeitszimmer ‐ die beiden Räume spie‐ gelten einander in ihrem Grundriss, und ihre Kamine standen Rücken an Rücken. Fanny Lowell, vom Gebell des jungen
Hundes alarmiert, kam herunter und machte ihnen Tee, aber Lowell klärte sie nicht auf, sondern murmelte nur etwas von dieser verflixten Druse. Sie habe sich große Sorgen um ihn ge‐ macht, sagte sie. Erst dadurch wurde ihnen wirklich bewusst, wie spät es schon war, und Lowell schickte William, den Tage‐ löhner, mit einer Nachricht in die anderen Häuser. Sie einigten sich auf eine halbstündige Ruhepause ‐ nicht länger ‐ und schlummerten vor den Kaminen ein. In der Stunde, da die Welt den Atem anhält, wärmte das Feuer eine Seite von Holmesʹ Gesicht. Er war so übermüdet, dass er es kaum wahrnahm, als er sich wieder aufrappelte, um draußen an einem niedrigen Zaun entlangzugehen. Das Eis auf dem Bo‐ den hatte infolge eines plötzlichen Temperaturanstiegs rasch zu tauen begonnen, und Schneematsch verstopfte die Wasserläufe. Unter seinen Füßen stieg der Boden steil an. Er schaute auf den Cambridge Common hinaus, wo er die Kanonen aus dem Un‐ abhängigkeitskrieg sah, die Wolken von Rauch ausstießen, und die riesige Washington‐Ulme mit ihren nach allen Seiten ausge‐ streckten, tausendfach verzweigten Fingerspitzen. Holmes blickte zurück und sah Longfellow langsam auf sich zukom‐ men. Er bedeutete ihm, sich zu beeilen. Es war ihm nicht wohl, wenn Longfellow längere Zeit allein ging. Aber ein Rumpeln zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Zwei hell gefleckte Pferde mit Albinohufen galoppierten auf ihn zu, je eines vor einen klapprigen Wagen gespannt. Holmes krümmte sich zusammen und brach in die Knie; er umklam‐ merte seine Fußgelenke und schaute gerade noch rechtzeitig auf, um Fanny Longfellow ‐ feurige Blüten flogen aus ihrem
wehenden Haar ‐ am Zügel des einen Pferdes zu sehen, wäh‐ rend sein Sohn mit sicherer Hand den anderen Wagen lenkte, als hätte er von frühester Jugend an nichts anderes getan. Als die beiden Gestalten rechts und links von ihm vorbeiflogen, verlor er das Gleichgewicht und glitt in die Dunkelheit zurück. Holmes stemmte sich aus dem Sessel hoch und stand auf, die Knie nur eine Handbreit vom Rost des prasselnden Holzfeuers. Er schaute auf. Die Glastropfen des Kronleuchters klirrten. »Wie spät ist es?«, fragte er, als ihm klar wurde, dass er ge‐ träumt hatte. Lowells Uhr wusste die Antwort: Viertel vor sechs. Mit weit aufgerissenen Kinderaugen bewegte er sich in seinem Sessel. Er fragte, was los sei. »Lowell, Lowell«, sagte Holmes und zog alle Vorhänge auf. »Zwei Pferde.« »Was?« »Ich glaube, ich hab draußen zwei Pferde gehört. Nein, ich bin mir sogar ziemlich sicher. Sie sind vor ein paar Sekunden an unseren Fenstern vorbeigestürmt, ganz dicht, sehr schnell. Es waren definitiv zwei. Nicholas Rey hat zurzeit aber nur eines. Longfellow hat gesagt, Teal hätte Manning zwei Pferde gestoh‐ len.« »Wir sind eingeschlafen«, erwiderte Lowell erschrocken, blin‐ zelte sich wach und schaute in die anbrechende Morgendäm‐ merung hinaus. Lowell weckte Longfellow und Fields, schnappte sich sein Fernglas und schulterte seine Flinte. Als sie schon an der Haus‐ tür waren, sah Lowell seine Tochter im Morgenmantel in die Diele kommen. Er hielt inne, erwartete einen Tadel, aber sie stand nur mit in die Ferne gerichtetem Blick da. Lowell ging
zurück und nahm sie fest in die Arme. Als er sich »danke« sa‐ gen hörte, hatte sie bereits dasselbe Wort ausgesprochen. »Du musst vorsichtig sein, Vater. Mutter und mir zuliebe.« Der Wechsel aus dem warmen Haus in die kalte Luft draußen löste bei Holmes einen Asthmaanfall aus. Lowell lief voraus, den frischen Hufspuren nach, während die anderen drei sich zwi‐ schen den kahlen Ulmen hindurchschlängelten, die ihre nack‐ ten Äste zum Himmel reckten. »Longfellow, lieber Longfel‐ low«, sagte Holmes. »Ja, Holmes?«, erwiderte der Dichter freundlich. Holmes sah immer noch Teile seines Traums vor sich, und er wagte nicht, den Freund anzusehen. Er fürchtete, es würde aus ihm hervorbrechen: Ich habe vorhin Fanny gesehen, sie wollte uns holen kommen! »Wir haben die Polizeirassel im Haus vergessen, oder?« Fields legte dem Doktor beruhigend die Hand auf die schmale Schulter. »Eine Unze Schneid ist jetzt mehr wert als das Löse‐ geld für einen König, Wendell.« Lowell suchte mit seinem Fernglas den Teich ab. Vor Angst zitterten ihm die Lippen. Im ersten Moment glaubte er, ein paar Jungen beim Eisfischen zu sehen. Doch als er die Schärfe an sei‐ nem Glas einstellte, sah er das bleiche Gesicht seines Studenten Pliny Mead ‐ nur das Gesicht. Meads Kopf ragte aus einem ins Eis gehackten Loch hervor. Der Rest seines Körpers steckte in dem eisigen Wasser. Seine Zähne klapperten heftig. Seine nackten Arme lagen nach vorn ausgestreckt auf dem Eis und waren mit einem Strick zusam‐ mengebunden, der von seinen Handgelenken bis zu Mannings Kutsche reichte, die am Ufer angebunden war. Ohne diese Fes‐
sel wäre der junge Mann vollends im Wasser versunken. Hin‐ ten in der Kutsche griff Dan Teal, der seine Uniform anhatte, mit beiden Armen unter eine nackte Gestalt, hob sie hoch und betrat mit seiner Last die trügerische Eisdecke. Er trug den schlaffen weißen Körper von Augustus Manning, dessen Kopf unnatürlich auf seine schmächtige Brust herabhing. Er war an den Beinen gefesselt, und sein Körper zitterte, während Teal sich immer weiter auf das glatte Eis hinauswagte. Mannings Nase war ein dunkler Rubin: Ein dicker Klumpen von geronnenem braunem Blut hatte sich darunter gebildet. Teal ließ Manning mit den Füßen voran in ein zweites Loch in der Eisdecke gleiten, etwa einen halben Meter neben dem von Mead. Der Schock durch das Eintauchen in das eisige Wasser riss Manning aus der Bewusstlosigkeit; er schlug wild um sich. Als Nächstes band Teal Pliny Meads Arme los, sodass die bei‐ den Männer sich nur dadurch vor dem Versinken retten konn‐ ten, dass jeder instinktiv nach den ausgestreckten Händen des anderen griff. Teal kehrte ans Ufer zurück und beobachtete von dort aus seine beiden Opfer. Dann ertönte ein Schuss. Die Ku‐ gel riss ein Stück Rinde von einem Baum hinter dem Mörder ab. Lowell stürmte los, die Flinte im Anschlag. »Teal!«, schrie er. Longfellow, Holmes und Fields liefen hinter ihm her. Fields rief: »Teal, es ist aus!« Lowell traute seinen Augen nicht. Teal blieb ganz ruhig ste‐ hen. »Schießen Sie, Lowell, schießen Sie!«, schrie Fields. Auch auf der Jagd zögerte Lowell stets, bevor er abdrückte. Die Strah‐ len der aufgehenden Sonne blendeten ihn. Als sich seine Augen angepasst hatten, war Teal in den Wald verschwunden. Lowell
feuerte ins Dickicht. Pliny Mead zitterte am ganzen Leib und wurde völlig schlaff. Sein Kopf fiel auf das Eis, und sein Körper versank langsam in dem todbringenden Wasser. Manning umklammerte die glit‐ schigen Arme des Studenten, dann seine Handgelenke, seine Finger, aber die Kräfte verließen ihn. Mead versank im Wasser. Holmes lief los und schlitterte über das Eis. Er griff mit beiden Armen in das Loch, bekam Mead an den Haaren zu fassen und zog aus Leibeskräften, bis er ihn unter den Armen packen und ihn schließlich herausziehen konnte. Fields und Longfellow hievten unterdessen Manning an den Armen aus dem Wasser, legten ihn auf das Eis und banden seine Füße los. Holmes hörte eine Peitsche knallen und sah Lowell auf dem Bock der verlas‐ senen Kutsche, drauf und dran, die Pferde in den Wald zu trei‐ ben. Holmes sprang auf und rannte hinüber. »Jamey, nein!«, rief er. »Wir müssen die beiden ins Warme bringen, sonst ster‐ ben sie!« »Aber Teal darf nicht entkommen, Holmes!« Lowell hielt die Pferde an und sah auf die Mitleid erregende Gestalt von Augu‐ stus Manning hinab, der auf dem zugefrorenen Teich zappelte und zuckte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Obwohl es Dr. Manning war, der da dem Tode nah vor ihm lag, empfand Lo‐ well nur Mitleid. Das Eis bog sich unter dem Gewicht der Dan‐ te‐Club‐Mitglieder und der potenziellen Mordopfer, und Was‐ ser sprudelte durch neu entstandene Löcher herauf. Lowell sprang von der Kutsche, als Longfellow an einer Stelle, wo das Eis dünn war, mit einem seiner Überschuhe einbrach, und ret‐ tete ihn.
Holmes streifte seine Handschuhe ab, nahm den Hut ab, zog Mantel und Gehrock aus und deckte Pliny Mead mit den Sa‐ chen zu. »Wir müssen sie in alles einwickeln, was wir haben! Auch die Köpfe!« Er riss sich sein Tuch herunter und wickelte es dem Studenten um den Hals. Dann zog er Schuhe und Sok‐ ken aus und streifte sie Mead über die Füße. Die anderen taten es ihm gleich. Manning wollte etwas sagen, brachte aber nur ein unverständ‐ liches Gemurmel zustande. Er versuchte den Kopf vom Eis hochzuheben, war aber völlig verwirrt, als Lowell ihm seinen Hut aufsetzte. Holmes rief: »Sie müssen unbedingt wach bleiben! Wenn sie einschlafen, sind sie verloren!« Mühselig trugen sie die durchfrorenen Männer in die Kutsche. Lowell, nur noch in Hemd und Hose, stieg wieder auf den Kutschbock. Unter Holmesʹ Anleitung rieben Longfellow und Fields den Opfern Hals und Schultern und legten ihre Beine hoch, um den Kreislauf anzuregen. »Schneller, Lowell, schnel‐ ler!«, rief Holmes. »Wir fahren schon so schnell, wie es geht, Wendell!« Holmes hatte sofort gesehen, dass Mead am meisten abbekommen hatte. Er war nicht nur völlig unterkühlt, sondern wies auch eine klaffende Platzwunde am Hinterkopf auf. Ver‐ zweifelt versuchte er den Blutkreislauf des jungen Mannes in Gang zu bringen, dessen Körper so kalt war, dass es wehtat, ihn zu berühren. »Der Junge war schon nicht mehr zu retten, bevor wir am Fresh Pond ankamen. Mehr konnte man nicht tun. Das müssen Sie
glauben, mein lieber Holmes.« Holmes spielte mit Longfellows Tennyson‐Tintenfass und ach‐ tete nicht auf Fields. Seine Fingerkuppen schwärzten sich mit Tintenflecken. »Und Augustus Manning verdankt Ihnen sein Leben«, sagte Lowell und zündete sich eine Zigarre an. »Und mir meinen Hut«, fügte er hinzu. »Im Ernst, Wendell, ohne Sie wäre der Mann jetzt mausetot. Verstehen Sie nicht? Wir haben Luzifer einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir haben einen Mann aus den Fängen des Teufels befreit. Wir haben diesmal gewonnen, weil Sie sich voll eingesetzt haben, mein lie‐ ber Wendell.« Die drei Longfellow‐Töchter, zum Spielen im Freien angezogen, klopften an die Tür des Arbeitszimmers. Alice kam als Erste herein. »Papa, Trudy und alle anderen Mädchen sind beim Schlittenfahren auf dem Hügel. Dürfen wir auch hin?« Longfellow sah seine Freunde an. Fields zuckte die Achseln. »Da sind also auch andere Kinder?«, fragte Longfellow. »Aus ganz Cambridge«, sagte Edith. »Na schön«, sagte Longfellow, doch dann sah er die Mädchen an, als seien ihm doch Bedenken gekommen. »Annie Allegra, vielleicht bleibst du besser hier bei Mrs. Davie.« »Ach bitte, Pa‐ pa! Ich muss doch meine neuen Schuhe ausführen!« »Meine liebe Pansy«, sagte er lächelnd. »Nur dieses eine Mal, verspro‐ chen!« Die beiden anderen sprangen hinaus, und die Jüngste ging ins Haus zurück und machte sich auf die Suche nach ihrer Gouvernante. Nicholas Rey erschien in voller Militäruniform, mit blauem Rock und blauem Cape. Er berichtete, dass man Teal noch nicht
gefunden habe. Sergeant Stoneweather habe jedoch mit einer ganzen Kompanie die Suche nach Benjamin Galvin aufgenom‐ men. »Die Gesundheitsbehörde hat verkündet, dass die Druse unter Kontrolle ist, und entlässt mehrere Dutzend Pferde aus der Quarantäne.« »Exzellent! Dann besorgen wir uns ein Gespann und gehen auch auf die Suche«, sagte Lowell. »Professor, meine Herren«, sagte Rey und setzte sich. »Sie ha‐ ben die Identität des Mörders entdeckt. Sie haben ein Men‐ schenleben gerettet ‐ und womöglich noch weitere.« »Aller‐ dings sind diese Menschen überhaupt erst durch uns in Gefahr geraten«, sagte Longfellow seufzend. »Nein, Mr. Longfellow. Was dieser Galvin in Dante gefunden hat, hätte er auch irgendwo anders gefunden. Sie haben keines dieser Schrecknisse zu verantworten. Aber Ihre Leistungen sind unbestreitbar. Trotzdem, Sie können von Glück sagen, das alles unversehrt überstanden zu haben. Schon in Ihrem eigenen In‐ teresse müssen Sie alles Weitere der Polizei überlassen.« Hol‐ mes fragte Rey, warum er seine Militäruniform trage. »Gouver‐ neur Andrew veranstaltet heute Abend einen weiteren seiner Veteranenempfänge. Galvin identifiziert sich offenbar nach wie vor mit seinem Dienst bei der Armee. Es könnte sein, dass er dort auftaucht.« »Aber wir wissen doch nicht, wie er darauf reagiert, dass wir ihn an seinem letzten Mord gehindert haben«, wandte Fields ein. »Wie, wenn er nun noch einmal versucht, einen Verräter zu bestrafen? Wenn er sich noch einmal an Manning vergreift?« »Wir lassen die Häuser sämtlicher Mitglieder der Harvard Cor‐
poration und aller Aufsichtsräte, einschließlich Dr. Manning, von Polizisten bewachen. Außerdem suchen wir in allen Hotels nach Simon Camp, für den Fall, dass Galvin auch ihn als Verrä‐ ter an Dante ansieht. Und wir haben mehrere Leute in Galvins Nachbarschaft postiert und beobachten sein Haus rund um die Uhr.« Lowell trat ans Fenster und schaute in Longfellows Vorgarten hinab. Er sah einen Mann in einem dicken blauen Mantel am Gartentor vorbeigehen und dann aus der anderen Richtung wieder zurückkommen. »Sie haben auch hier einen Mann?«, fragte er. Rey nickte. »Vor jedem Ihrer Häuser. Der Wahl seiner Opfer nach zu urteilen, hält sich Galvin für Ihren Wächter. Es ist des‐ halb denkbar, dass er sich mit Ihnen beraten will, was er nach dieser plötzlichen Wende tun soll. In diesem Fall würden wir ihn sofort festnehmen.« Lowell warf seine Zigarre ins Kaminfeuer. Dieser Luxus ekelte ihn plötzlich an. »Officer, ich finde, Sie haben uns da eine kläg‐ liche Rolle zugedacht. Wir können doch nicht den ganzen Tag hier herumsitzen und die Hände in den Schoß legen.« »Das verlangt ja niemand von Ihnen, Professor Lowell«, erwi‐ derte Rey. »Gehen Sie nach Hause zu Ihren Angehörigen. Die Pflicht, diese Stadt zu schützen, obliegt mir, meine Herren. Da‐ gegen wird Ihre Anwesenheit anderswo schmerzlich vermisst. Ab sofort müssen Sie wieder Ihr normales Leben führen, Pro‐ fessor.« Lowell war sprachlos. »Aber ...« Longfellow lächelte. »Das Glück des Lebens beruht zum gro‐
ßen Teil nicht darauf, dass man Schlachten schlägt, sondern dass man ihnen aus dem Weg geht. Ein Rückzug zur rechten Zeit ist auch ein Sieg.« Rey sagte: »Lassen Sie uns alle heute Abend wieder hier zu‐ sammenkommen. Mit ein wenig Glück habe ich dann gute Nachrichten zu überbringen. Einverstanden?« Mit Äußerungen des Bedauerns und der Erleichterung willig‐ ten die Gelehrten ein. Rey rekrutierte an dem Nachmittag noch weitere Polizisten; viele von ihnen waren Rey bisher klugerweise aus dem Weg ge‐ gangen, aber zumindest von fern hatte er sie gekannt. Er merk‐ te es sofort, wenn ihn einer einfach als Menschen ansah und nicht als Schwarzen oder Mulatten oder Nigger. Er brauchte den Leuten nur in die Augen zu sehen. Er postierte einen Polizisten im Vorgarten von Dr. Mannings Haus. Als er dem Mann unter einem Ahorn noch letzte Anwei‐ sungen gab, kam Augustus Manning aus der Seitentür geschos‐ sen. »Ergeben Sie sich!«, schrie Manning und hielt sein Gewehr hoch. Rey drehte sich um. »Wir sind von der Polizei ‐ Polizei, Dr. Manning.« Manning schauderte, als sei er noch immer im Eis eingeschlos‐ sen. »Ich habe aus dem Fenster Ihre Uniform gesehen, Officer. Ich dachte, irgendein Verrückter ...« »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte Rey. »Sie ... Sie werden mich be‐ schützen?«, fragte Manning.
»Solange es nötig ist«, bestätigte Rey. »Der Beamte wird Ihr Haus bewachen. Er ist gut bewaffnet.« Der andere Polizist knöpfte seinen Mantel auf und zeigte sei‐ nen Revolver. Manning nickte schwach und streckte zögernd den Arm aus. Rey begleitete ihn ins Haus. Hinterher fuhr Rey in seiner Kutsche zur Cambridge Bridge. Nach einer Weile versperrte eine haltende Kutsche den Weg. Zwei Männer beugten sich über eines der Räder. Rey hielt am Straßenrand und stieg herunter, um Pannenhilfe zu leisten. Als er bei den Männern ankam, richteten sie sich zu ihrer vollen Größe auf. Rey hörte hinter sich ein Geräusch, drehte sich um und sah, dass eine weitere Kutsche hinter seiner eigenen hielt. Zwei Männer in langen Mänteln stiegen aus. Die vier Männer bauten sich um ihn herum auf und blieben fast zwei Minuten so stehen, ohne etwas zu sagen. »Detectives. Kann ich Ihnen irgendwie helfen, meine Her‐ ren?«, fragte Rey. »Wir dachten uns, wir könnten einmal auf der Hauptwache ein paar Takte mit Ihnen reden, Rey«, sagte einer von ihnen. »Tut mir Leid, ich habe jetzt keine Zeit«, sagte Rey. »Man hat uns berichtet, dass Sie in einer Angelegenheit tätig sind, die nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich fällt, Sir«, sagte ein ande‐ rer und trat vor. »Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht, Detective Hens‐ haw«, sagte Rey. Der Detective rieb zwei Finger aneinander. Ein anderer näher‐ te sich Rey mit drohender Miene.
»Ich bin Polizeibeamter«, sagte Rey zu ihm. »Wenn Sie mich schlagen, schlagen Sie das Commonwealth.« Der Detective ver‐ setzte Rey einen Schlag in die Magengrube und gleich darauf einen Kinnhaken. Rey knickte ein. Blut lief ihm aus dem Mund, während sie ihn zu ihrer Kutsche schleppten. Holmes saß in seinem großen lederbezogenen Schaukelstuhl und wartete darauf, zur verabredeten Zusammenkunft bei Longfellow aufzubrechen. Durch einen halb geöffneten Fenster‐ laden fiel schwaches Licht auf den Tisch. Wendell junior lief in den ersten Stock hinauf. »Wendy, mein Junge«, rief ihm Holmes nach. »Wo willst du hin?« Der Junior kam ein paar Stufen herunter. »Wie gehtʹs dir, Va‐ ter? Ich hab dich nicht gesehen.« »Kannst du dich einen Mo‐ ment zu mir setzen?« Wendell junior setzte sich auf die Lehne eines grünen Schaukelstuhls. Holmes erkundigte sich nach seinem Jurastudium. Sein Sohn antwortete ihm ausweichend und wartete auf die üblichen Sprüche über die Juristerei, doch die blieben aus. Holmes hatte sich ja nie für die Materie erwärmen können, obwohl er es nach dem College einmal probiert hatte. Die zweite Ausgabe war wohl besser als die erste. Die Uhr zählte gelassen die Sekunden ihres Schweigens. »Hast du denn nie Angst gehabt, Wendy?«, fragte Holmes in die Stille hinein. »Im Krieg, meine ich.« Der Junior sah seinen Vater unter seinen buschigen Augen‐ brauen hervor an und grinste freundlich. »Es wäre pure Tor‐
heit, Vater, jedes Mal Trübsal zu blasen, wenn man in die Schlacht muss und sterben könnte. Im Krieg gibt es keine Poe‐ sie.« Holmes entließ seinen Sohn. Der Junior nickte und ging nach oben. Holmes musste los. Er beschloss, die Muskete seines Großva‐ ters mitzunehmen, die zum letzten Mal im Unabhängigkeits‐ krieg eingesetzt worden war. Es war die einzige Waffe, die Holmes im Haus duldete. Er bewahrte sie als ein Stück Ge‐ schichte im Keller auf. Die Pferdebahnen hatten den Betrieb immer noch nicht wieder aufgenommen. Die Metropolitan Railroad hatte versucht, Och‐ sen als Zugtiere zu verwenden, aber ihre Hufe waren zu emp‐ findlich für das harte Pflaster. Also ging Holmes zu Fuß durch die krummen Straßen von Beacon Hill und verpasste nur um ein paar Sekunden Fieldsʹ Kutsche ‐ der Verleger war bei ihm vorbeigefahren, um ihn zu fragen, ob er ihn mitnehmen solle. Der Doktor überquerte den zugefrorenen Charles River auf der West Bridge. Es war so kalt, dass die Menschen sich die Hände auf die Ohren drückten, die Schultern hochzogen und rannten. Holmesʹ Asthma ließ ihm den Weg doppelt so lang erscheinen. Er kam am First Meeting House vorbei, der alten Cambridger Kirche von Reverend Abiel Holmes. Er schlüpfte in das leere Gotteshaus und setzte sich. Die Bänke hatten die gewöhnliche Form und ein Bord, auf das die Gemeindemitglieder ihre Ge‐ sangbücher legen konnten. Inzwischen gab es eine prachtvolle Orgel, was zu Reverend Holmesʹ Zeiten undenkbar gewesen wäre. Holmesʹ Vater hatte die Kirche verloren, als sich seine Ge‐
meinde spaltete, weil ein Teil der Mitglieder Unitaristische Priester als gelegentliche Gastprediger haben wollte. Der Reve‐ rend hatte das abgelehnt und war mit seinen wenigen verblie‐ benen Schäfchen in ein neues Gotteshaus umgezogen. Die Uni‐ taristischen Kirchen waren damals in Mode, denn die »neue Religion« versprach Schonung vor der Erbsünde und der menschlichen Hilflosigkeit, die Reverend Holmes und seine fanatischeren Geistesbrüder vertraten. In einer dieser Kirchen hatte auch Dr. Holmes die Glaubensvorstellungen seines Vaters hinter sich gelassen und eine andere Art von Geborgenheit ge‐ funden, in einer vernünftigen Religion, ohne Furcht vor Gott. Geborgenheit gab es auch unter den Fußbodenbrettern, dachte Holmes, als die Abolitionisten dazustießen ‐ zumindest hatte er das gehört: Unter vielen Unitaristischen Kirchen wurden Tun‐ nel gegraben, in denen entlaufene Sklaven versteckt wurden, als das Gericht von Oberrichter Healey die Fugitive Slave Act aufrechterhielt und damit entlaufene Neger zwang, in den Un‐ tergrund zu gehen. Wie wohl der Reverend Abiel Holmes dar‐ über gedacht hätte ... Holmes ging jeden Sommer einmal in die alte Kirche seines Vaters, zur Harvard‐Abschlussfeier, die dort stattfand. In dem Jahr, als Wendell junior seinen Abschluss machte und zum Klassendichter ernannt worden war, hatte Mrs. Holmes ihren Mann ermahnt, seinen Sohn nicht etwa noch zusätzlich unter Druck zu setzen, indem er ihm Ratschläge zu seinem Gedicht erteilte oder es kritisierte. Als Wendell junior seinen Platz einnahm, saß Dr. Holmes bereits in der Kirche, in dem Gotteshaus, das man seinem Vater weggenommen hatte. Auf seinem Gesicht lag ein unsicheres Lächeln. Aller Augen
ruhten auf ihm, alle wollten wissen, wie er auf das Gedicht sei‐ nes Sohnes reagieren würde, das dieser während seiner Ausbil‐ dung für den Krieg geschrieben hatte, in den seine Kompanie schon bald ziehen sollte. Cedat ar‐mis toga, dachte Holmes ‐ mö‐ ge das Gewand des Gelehrten den Waffen weichen. Oliver Wendell Holmes keuchte vor Nervosität und wäre am liebsten in den sagenhaften Gängen versunken, die sich angeblich unter den Kirchen hinzogen. Wofür waren diese Kaninchenlöcher jetzt nütze, da man den Abtrünnigen in den Südstaaten mit Ba‐ jonett und Enfield zeigen würde, wohin sie sich ihre Sklaverei‐ gesetze stecken konnten? Plötzlich war Holmes hellwach. Na‐ türlich, die Tunnel! Durch sie hatte sich Luzifer jedes Mal vor der Entdeckung gerettet, selbst wenn die Polizei in voller Stärke ausgeschwärmt war! Das war die Erklärung dafür, dass die Prostituierte Teal in der Nähe einer Kirche hatte im Nebel ver‐ schwinden sehen! Deshalb hatte der nervöse Küster von Talbots Kirche den Mörder nicht hereinkommen und nicht hinausge‐ hen sehen! Ein Chor von Hallelujas erhellte Holmesʹ Seele. Lu‐ zifer geht nicht zu Fuß und fährt nicht mit der Kutsche. Er wühlt sich durch die Erde! Lowell begab sich eilig zu der Zusammenkunft in Craigie Hou‐ se und traf als Erster dort ein. Es fiel ihm nicht auf, dass die Po‐ lizeiposten vor Elmwood und Craigie House sich nirgends blik‐ ken ließen. Longfellow hatte gerade Annie Allegra eine Ge‐ schichte vorgelesen und schickte sie ins Kinderzimmer hinauf. Bald darauf traf Fields ein. Aber dann vergingen zwanzig Minuten, ohne dass Holmes
oder Rey erschienen wären oder eine Nachricht geschickt hät‐ ten. »Wir hätten nicht von Reys Seite weichen sollen«, murmel‐ te Lowell in seinen Schnurrbart. »Ich verstehe nicht, warum Wendell nicht längst da ist«, sagte Fields besorgt. »Ich bin bei ihm vorbeigefahren, und Mrs. Hol‐ mes sagte mir, er sei schon weg.« »Es ist ja noch nicht lange«, sagte Longfellow, ließ aber die Augen nicht von der Uhr. Lowell vergrub das Gesicht in den Händen. Als er wieder auf‐ schaute, waren zehn Minuten vergangen. Er senkte erneut den Kopf, doch plötzlich kam ihm ein grauenvoller Gedanke. Er sprang auf und trat ans Fenster. »Wir müssen auf der Stelle Wendell suchen!« »Was ist denn?«, fragte Fields, als er das Entsetzen auf Lowells Gesicht sah. »Wendell ist der Nächste«, sagte Lowell. »Ich habe ihn im Ver‐ lag einen Verräter genannt!« Fields lächelte mild. »Das ist längst vergessen, mein lieber Lo‐ well.« Lowell musste sich am Rock des Verlegers festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Verstehen Sie denn nicht? Ich habe mich im Verlag mit Wendell gestritten, an dem Tag, als Jennison gefunden wurde, an dem Abend, als Holmes seine Mitarbeit aufgekündigt hat. Teal, oder besser gesagt, Gal‐ vin lief gerade über den Flur. Er muss uns die ganze Zeit be‐ lauscht haben, genau wie er es bei den Sitzungen des Harvard‐ Aufsichtsrats getan hat. Ich bin Holmes aus dem Autorenzim‐ mer auf den Flur nachgelaufen und habe ihm etwas nachgeru‐
fen ‐ wissen Sie nicht mehr, was ich sagte? Hören Sie nicht noch meine Worte? Ich habe Holmes vorgeworfen, dass er den Dante Club verraten hat. Einen Verräter habe ich ihn genannt!« »Fassen Sie sich, bitte«, sagte Fields. »Greene hat Teal gepredigt, und Teal hat gemordet«, rief Lo‐ well. »Ich habe Wendell als Verräter verurteilt: Teal war auf‐ merksamer Zuhörer bei meiner kleinen Predigt! Oh, mein lieber Freund, ich habe ihn ins Verderben gestürzt. Ich habe Wendell ermordet!« Er lief hinaus und nahm seinen Mantel. »Er wird bestimmt jeden Augenblick da sein«, sagte Longfellow. »Bitte, Lowell, lassen Sie uns wenigstens abwarten, bis Rey kommt.« »Nein, ich muss sofort Wendell finden!« »Aber wo wollen Sie ihn denn suchen?«, sagte Longfellow. »Auf keinen Fall dürfen Sie allein losgehen. Wir kommen mit.« »Ich gehe mit Lowell«, sagte Fields, nahm die Polizeirassel, die Rey ihnen dagelassen hatte, und schüttelte sie, um zu zeigen, dass sie funktionierte. »Ich bin sicher, dass alles in bester Ord‐ nung ist. Longfellow, warten Sie hier auf Wendell? Wir sagen dem Wachmann draußen, er soll auf der Stelle Rey herbeischaf‐ fen.« Longfellow nickte. »Jetzt kommen Sie schon, Fields!«, schrie Lowell, den Tränen nahe. Fields versuchte mit Lowell Schritt zu halten, der schon durch den Vorgarten auf die Brattle Street hinauslief. Kein Mensch war zu sehen.
»Wo zum Teufel steckt denn dieser Polizist?«, fragte Fields. »Weit und breit niemand zu sehen ...« Es raschelte in den Bäumen hinter Longfellows hohem Zaun. Lowell legte den Finger an den Mund und schlich sich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Eine Katze sprang ihnen vor die Füße und lief davon in die Dunkelheit. Lowell seufzte erleichtert auf, doch im selben Moment sprang ein Mann über den Zaun und versetzte Lowell einen heftigen Schlag auf den Kopf. Lowell fiel in sich zusammen wie ein Se‐ gel, dessen Mast entzweigebrochen ist. Er lag auf dem Boden, und sein Gesicht war so unvorstellbar reglos, dass Fields es fast nicht wiedererkannte. Der Verleger prallte zurück, dann schaute er auf und begegne‐ te dem Blick von Dan Teal. Sie bewegten sich wie in einem ku‐ riosen, graziösen Tanz, Fields rückwärts und Teal vorwärts. »Mr. Teal, bitte.« Fields bekam weiche Knie. Teal starrte ihn ausdruckslos an. Der Verleger stolperte über einen herabgefallenen Zweig, dann drehte er sich um und setzte sich schwerfällig in Trab. Schnaufend lief er die Brattle Street hinunter, wollte rufen, schreien, brachte aber nur ein heiseres Krächzen hervor, das in dem eiskalten Wind unterging. Er warf einen Blick zurück und zog die Rassel hervor. Von seinem Verfolger war nichts mehr zu sehen. Als Fields sich erneut umschaute, spürte er, wie er am Arm gepackt und durch die Luft gewirbelt wurde. Er fiel schwer auf das Pflaster, und die Polizeirassel flog ins Gebüsch, mit einem leisen Klingeln wie das Zwitschern eines kleinen Vo‐ gels. Mit größter Anstrengung drehte Fields seinen schmerzen‐
den Hals in Richtung Craigie House. Warmes Lampenlicht er‐ hellte Longfellows Arbeitszimmerfenster, und auf einmal glaubte Fields zu wissen, was sein Angreifer im Schilde führte. »Bitte tun Sie Longfellow nichts, Teal«, stammelte Fields. »Er hat heute Massachusetts verlassen. Sie werden sehen. Es ist die Wahrheit, bei meiner Ehre.« »Habe ich nicht immer meine Pflicht getan?« Der Soldat hob seinen Knüppel hoch über den Kopf und schlug zu. Der Nachfolger von Reverend Elisha Talbot hatte gerade eine Besprechung mit seinen Diakonen an der Zweiten Unitaristi‐ schen Kirche von Cambridge beendet, als Holmes, ausgerüstet mit seiner Muskete und einer Petroleumlampe, die er unter‐ wegs in einer Pfandleihe erstanden hatte, die Kirche betrat und sich in das unterirdische Gewölbe schlich. Holmes hatte über‐ legt, ob er die anderen von seiner Theorie unterrichten sollte, dann aber doch beschlossen, erst einmal selbst eine Bestätigung dafür zu suchen. Wenn Talbots Katakombe tatsächlich mit ei‐ nem verlassenen Tunnel für entflohene Sklaven verbunden war, konnte dieser die Polizei direkt zu dem Mörder führen. Im Übrigen hatte er, Holmes, durch seine Intuition den Dante Club zu seinen Nachforschungen veranlasst. Warum also sollte nicht auch er es sein, der den entscheidenden Hinweis auf ihren er‐ folgreichen Abschluss lieferte? Holmes stieg in das Gewölbe hinab und tastete die Wände nach Anzeichen für den Durchgang zu einem anderen unterir‐ dischen Raum ab. Er fand diesen Durchgang nicht mit den Händen, wohl aber mit der Schuhspitze, die an einer Stelle
plötzlich nicht mehr gegen die Mauer, sondern ins Leere stieß. Er bückte sich und stellte fest, dass es sich um einen engen, niedrigen Gang handelte. Er kroch auf allen vieren hinein, und nach ein paar Metern wurde der Tunnel so hoch, dass er be‐ quem aufrecht gehen konnte. Wie würden die anderen über seine Entdeckung staunen! Er hätte schon vor Stunden in Crai‐ gie House eintreffen sollen. Bestimmt vermissten sie ihn bereits. Er beschloss, auf der Stelle umzukehren, musste aber eine Weile innehalten, weil sein Asthma ihm zu schaffen machte. Zur Be‐ ruhigung legte er die Hand auf den Kolben seiner Muskete. Er wollte gerade den Rückweg antreten, als eine Stimme ihn zu‐ sammenfahren ließ. »Dr. Holmes«, sagte Teal.
XIX Benjamin Galvin meldete sich beim ersten Aufruf in Massa‐ chusetts. Mit seinen vierundzwanzig Jahren fühlte er sich schon seit längerem als Soldat, hatte er doch in den Jahren vor Kriegs‐ beginn geholfen, entflohene Sklaven durch ein Netz von Schlupfwinkeln, Freistätten und Tunneln in Boston zu führen. Zusammen mit anderen Freiwilligen musste er außerdem Red‐ ner, die in der Faneuil Hall und anderen Vortragssälen gegen die Sklaverei auftraten, vor dem Steine werfenden Mob schüt‐ zen. Galvin war weniger politisch interessiert als andere junge Männer. Es überstieg seine Fähigkeiten, in den Zeitungen Arti‐ kel darüber zu lesen, ob dieser oder jener politische Abenteurer abgewählt werden solle, und es scherte ihn nicht, ob dieses o‐ der jenes Parlament, die eine oder andere gesellschaftliche Gruppe für die Sezession oder die Versöhnung von Norden und Süden eintrat. Wohl aber verstand er die Wahlkampfred‐ ner, die erklärten, dass eine versklavte Rasse befreit und die Schuldigen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden müssten. Und Benjamin Galvin wusste auch, dass er womöglich nicht mehr zu seiner Frau heimkehren würde: Wenn er nicht mit der Nationalflagge in der Faust zurückkam, so versprachen die Ausbilder, dann in dieselbe eingehüllt. Galvin war vor dem Krieg nie fotografiert worden, und das Bild, das bei seinem Ein‐ tritt in die Armee gemacht wurde, enttäuschte ihn. Mütze und Hose saßen nicht richtig, und seine Augen blickten scheinbar
ängstlich, obwohl er gar keine Angst hatte. Die Erde war heiß und dürr, als die Kompanie C des 10. Regi‐ ments von Boston nach Springfield ins Camp Brightwood ver‐ legt wurde. Der Staub legte sich so dick auf die blauen Unifor‐ men der Soldaten, dass sie fast das gleiche stumpfe Grau hatten wie die des Feindes. Der Colonel fragte Galvin, ob er Adjutant der Kompanie werden und die Gefallenenlisten führen wolle. Galvin erklärte ihm, dass er zwar die Buchstaben des Alphabets kenne, aber nicht richtig schreiben und lesen könne. Er hatte mehrmals versucht, es zu lernen, aber die Buchstaben und Zei‐ chen hatten sich in seinem Kopf immer wieder verdreht, hatten auf dem Papier die falsche Richtung eingeschlagen und waren miteinander zusammengestoßen. Der Colonel war überrascht. Analphabeten waren zwar unter den Rekruten keineswegs sel‐ ten, aber Galvin hatte er nicht darunter vermutet. Er war ihm immer als ein so nachdenklicher Mensch erschienen und hatte über alles mit so großen, ruhigen Augen und ernster Miene ge‐ sprochen, dass ihn manche seiner Kameraden Opossum nann‐ ten. Im Feldlager in Virginia kam es zum ersten beunruhigen‐ den Vorfall, als einer der Soldaten eines Tages im Wald gefun‐ den wurde. Er war in den Kopf geschossen und mit dem Bajo‐ nett durchbohrt worden, und auf seinem Mund und dem gan‐ zen Kopf wimmelten Maden herum wie Bienen auf ihrem Stock. Es hieß, die Rebellen hätten einen ihrer Schwarzen her‐ übergeschickt, der nur mal so zum Spaß einen Yankee umbrin‐ gen sollte. Captain Kingsley, ein Freund des toten Soldaten, ließ Galvin und die anderen schwören, dass sie kein Mitleid zeigen würden, wenn der Tag käme, es den Sezessionisten heimzuzah‐
len. Zunächst schien es allerdings, als würden sie nie die Gele‐ genheit dazu bekommen. Galvin hatte zwar die meiste Zeit sei‐ nes Lebens im Freien gearbeitet, aber noch nie Bekanntschaft mit dem Getier gemacht, das hier überall herumkroch. Der Ad‐ jutant der Kompanie, der jeden Morgen eine Stunde vor dem Wecken aufstand, um sein dichtes Haar zu kämmen und die Verwundeten und Toten in seine Listen einzutragen, ließ nicht zu, dass irgendjemand eines dieser Krabbelwesen totschlug; er liebte sie wie Kinder, obwohl Galvin einmal mit eigenen Augen gesehen hatte, wie vier Männer aus einer anderen Kompanie an den weißen Würmern starben, die sich in ihren Wunden einge‐ nistet hatten. Das passierte, als die Kompanie C ins nächste La‐ ger marschierte, das, so ging das Gerücht, näher an der Front war. Galvin hätte sich nie vorgestellt, dass der Tod so leicht Men‐ schen in seiner Nähe dahinraffen könnte. Bei Far Oaks gab es nur ein einziges Mal einen lauten Knall und viel Rauch, und danach lagen sechs Mann tot vor ihm, und ihre Augen blickten immer noch so neugierig, als seien sie gespannt, wie es den an‐ deren ergehen würde. Galvin staunte nicht allein über die Zahl der Toten an diesem Tag, sondern auch darüber, wie viele über‐ lebt hatten, denn es schien ihm nicht möglich oder auch nur richtig, dass ein Mann so etwas überstand. Die unzähligen toten Soldaten und toten Pferde wurden wie Brennholz zusammen‐ getragen und verbrannt. Jedes Mal, wenn Galvin von da an die Augen schloss und schlafen wollte, hörte er Schreie und Explo‐ sionen in seinem Kopf und roch den Geruch von brennendem Fleisch. Als er eines Abends völlig ausgehungert in sein Zelt
zurückkam, stellte er fest, dass etwas von seinem Zwieback in seinem Sack fehlte. Einer seiner Zeltkameraden wollte gesehen haben, dass der Kaplan ihn genommen hatte. Solche Nieder‐ tracht hielt Galvin nicht für möglich, denn sie hatten alle den gleichen nagenden Hunger, den gleichen knurrenden Magen. Trotzdem konnte er niemandem böse sein. Wenn die Kompanie in strömendem Regen oder sengender Hitze marschierte, schmolzen die Rationen unweigerlich auf ein paar von Unge‐ ziefer befallene Kekse zusammen. Das Schlimmste aber war, dass man sich am Abend nicht hinlegen konnte, ohne sich vor‐ her seiner Kleider zu entledigen und die Läuse und Zecken herauszuklauben. Der Adjutant, der sich offenbar auskannte, sagte, die Insekten kämen über sie, wenn sie stillstünden, des‐ halb müssten sie ständig in Bewegung bleiben. Winzige zappelnde Lebewesen bevölkerten auch das Trink‐ wasser, was davon kam, dass die Soldaten manchmal tote Pfer‐ de und verdorbenes Fleisch in die Flüsse kippten. Alle Krank‐ heiten, von der Malaria bis zum Typhus, wurden als Lagerfie‐ ber bezeichnet, der Arzt konnte die Kranken nicht von den Si‐ mulanten unterscheiden und nahm deshalb vorsichtshalber an, dass alle der letzteren Gruppe angehörten. Galvin musste sich an einem einzigen Tag achtmal übergeben. Am Schluss kam nur noch Blut. Während er darauf wartete, dass der Arzt sich um ihn kümmerte und ihn auf Chinin und Opium setzte, am‐ putierten die Chirurgen alle paar Minuten einen Arm oder ein Bein. Im Lager gab es immer Krankheiten, aber wenigstens auch Bücher. Der Assistenzarzt sammelte alle Bücher ein, die den
Soldaten von zu Hause geschickt wurden, bewahrte sie in sei‐ nem Zelt auf und fungierte als Bibliothekar. In einigen der Bü‐ cher waren Illustrationen, die Galvin gern betrachtete, dann wieder las der Adjutant oder einer von Galvins Zeltkameraden eine Geschichte oder ein Gedicht vor. Galvin fand in der Biblio‐ thek des Assistenzarztes ein leuchtend blau und golden einge‐ bundenes Exemplar der Gedichte Longfellows. Galvin konnte den Namen auf dem Einband nur mit Mühe lesen, kannte aber das Porträt des Dichters auf dem Frontispiz aus einem der Bü‐ cher seiner Frau. Harriet Galvin sagte immer, in jedem von Longfellows Büchern fänden die handelnden Personen einen Weg aus der Hoffnungslosigkeit zum Licht und zum Glück; Evangeline und ihr Beau beispielsweise werden in der Fremde getrennt und finden doch wieder zusammen, als er am Fieber stirbt und sie als Krankenschwester arbeitet. Galvin stellte sich vor, es seien er und Harriet, und das gab ihm Kraft, als rings um ihn die Kameraden fielen. Als Benjamin Galvin von der Farm seiner Tante nach Boston gekommen war, um den Aboli‐ tionisten zu helfen, nachdem er einen wandernden Vortrags‐ redner gehört hatte, wurde er von zwei brüllenden Iren nieder‐ geschlagen, die die Versammlung zu sprengen versuchten. Ei‐ ner der Veranstalter nahm Galvin zu sich nach Hause mit, und Harriet, seine Tochter, verliebte sich in den armen Jungen. Sie hatte noch nie jemanden kennen gelernt, nicht einmal unter den Freunden ihres Vaters, der ein so sicheres Urteil über Gut und Böse hatte und sich darin nicht von politischen Strömungen oder Rücksichten beirren ließ. »Manchmal glaube ich, du liebst deine Mission mehr, als du einen anderen Menschen lieben
könntest«, sagte sie in ihrer Verlobungszeit, aber er war zu be‐ scheiden und aufrichtig, um in dem, was er tat, eine »Mission« zu sehen. Sie war untröstlich, als er ihr erzählte, dass seine El‐ tern früh an Typhus gestorben waren. Sie besorgte ihm eine Schiefertafel und brachte ihm die Buchstaben des Alphabets bei; er konnte schon seinen Namen schreiben. Sie heirateten an dem Tag, an dem er sich entschloss, sich freiwillig als Soldat zu melden. Harriet versprach, ihn nach seiner Heimkehr so lange weiter zu unterrichten, bis er ein ganzes Buch allein lesen kön‐ nen würde. Deswegen, sagte sie, müsse er unbedingt lebend zurückkommen. Im Feld verkroch sich Galvin auf der harten Pritsche unter seiner Decke und dachte an ihre feste, melodi‐ sche Stimme. In der Schlacht lachten oder schrien manche Männer unbeherrscht, während sie einen Schuss nach dem an‐ deren abfeuerten, die Gesichter schwarz von Pulver, weil sie die Patronen mit den Zähnen aufrissen. Andere luden und feu‐ erten, ohne zu zielen, und Galvin hielt sie schlechthin für wahnsinnig. Der Donner der Kanonen war so gewaltig, dass die Erde bebte und die Kaninchen aus ihren Löchern geflitzt kamen und vor Angst zitternd über die Gefallenen davonhoppelten, die überall auf der von Blut dampfenden Erde lagen. Die Überlebenden hatten oft nicht mehr die Kraft, ordentliche Gräber für ihre Kameraden auszuheben, sodass Knie, Arme und Köpfe aus dem Boden ragten, so weit das Auge reichte. Beim ersten Regen wurden die Leichen dann herausgespült. Galvin sah zu, wie seine Zeltkameraden Briefe nach Hause schrieben, in denen sie von den Schlachten erzählten, und frag‐ te sich, wie sie es fertig brachten, in Worte zu fassen, was sie
gesehen, gehört und empfunden hatten, denn es war jenseits aller Worte. Ein Soldat berichtete, dass nach ihrem letzten Ge‐ fecht, dem fast ein Drittel der Kompanie zum Opfer gefallen war, kein Ersatz kommen würde. Den Befehl hatte ein General gegeben, der General Burnside in Verlegenheit bringen wollte, um seine Absetzung zu betreiben. Der General wurde später befördert. Der Feldzug werde kaum weniger entsetzlich und blutig sein als Napoleons Russlandfeldzug, prophezeite ihm der belesene Assistenzarzt. Galvin wollte sich nicht wie andere Analphabeten seine Briefe schreiben lassen. Wenn er daher tote Feinde fand, die Briefe bei sich hatten, schickte er diese an Harriet nach Boston, damit sie aus erster Hand Nachricht vom Krieg bekam. An den unteren Rand malte er seinen Namen, damit sie wusste, woher der Brief kam, und immer legte er eine Blüte oder ein für die Gegend ty‐ pisches Blatt hinein. Er wollte nicht einmal die Männer behelli‐ gen, die gern schrieben. Sie waren alle immer so müde. Vor ei‐ ner Schlacht sah Galvin es oft am erschlafften Mienenspiel mancher Kameraden. Man hätte meinen können, sie schliefen noch ‐meist erlebten sie den nächsten Morgen nicht mehr. »Von mir aus kann die Union zum Teufel gehen, Hauptsache, ich komm bald nach Hause«, hörte Galvin einen der Offiziere sa‐ gen. Galvin störte sich nicht an den immer kleiner werdenden Rationen, die so viele seiner Kameraden in Rage brachten; er roch und schmeckte die meiste Zeit nichts, ja, er hörte nicht einmal mehr seine eigene Stimme. Da das Essen ihm keinen Genuss mehr bereitete, fing er an, Kieselsteine zu lutschen und sogar aus Büchern der schrumpfenden Reisebibliothek des As‐
sistenzarztes und aus Rebellenbriefen herausgerissene Papier‐ schnipsel zu kauen, damit ihm der Mund nicht eintrocknete. Die Schnipsel wurden immer kleiner, weil er mit seinen Vorrä‐ ten haushalten musste. Einer der Männer, der zu fußlahm geworden war, wurde im Lager zurückgelassen. Zwei Tage später fanden sie ihn. Er war erschlagen und beraubt worden. Galvin bekam Morphium und Rizinusöl, und der Arzt verabreichte ihm Pülverchen, die ihn müde und benommen machten. Er hatte nur noch eine einzige Unterhose; eigentlich hätte eine nur 30 Cent kosten dürfen, aber der Marketender verlangte zwei Dollar fünfzig. Billiger werde sie nicht mehr, meinte er, vielleicht aber teurer, wenn Galvin zu lange warte. Galvin hätte gute Lust gehabt, ihm den Schädel einzuschlagen. Er bat den Adjutanten, Harriet einen Brief zu schreiben: Sie solle ihm zwei seiner dicken wollenen Unterho‐ sen schicken. Es war der einzige Brief, den er sich während des ganzen Krieges schreiben ließ. Im Winter brauchte man Spitz‐ hacken, um am Boden festgefrorene Leichen loszubekommen. Als es wieder heiß wurde, fand die Kompanie C ein Stoppelfeld mit lauter schwarzen Gefallenen. Galvin wunderte sich über so viele Schwarze in blauen Uniformen, doch dann begriff er: Die Leichen hatten den ganzen Tag in der Augustsonne gelegen. Sie waren schwarz gebrannt und wimmelten von Insekten. Die Männer waren in allen möglichen Stellungen vom Tod ereilt worden, und manche der toten Pferde waren scheinbar fügsam in die Knie gegangen, als warteten sie darauf, von einem Kind gesattelt zu werden. Bald darauf hörte Galvin, dass einige Ge‐
neräle entflohene Sklaven ihren Besitzern zurückgaben und mit den Sklavenhaltern wie beim Kartenspielen plauderten. Wie war das möglich? Der Krieg war sinnlos, wenn er nicht dazu diente, das Los der Sklaven zu verbessern. Einmal sah Galvin am Weg‐ rand einen Neger, der zur Strafe für einen Fluchtversuch mit den Ohren an einen Baum genagelt worden war. Vorher hatte sein Besitzer ihn gezwungen, sich nackt auszuziehen, damit die gefräßigen Fliegen und Moskitos leichteres Spiel mit ihm hät‐ ten. Galvin verstand nicht, warum die Unionssoldaten protestier‐ ten, als Massachusetts ein Negerregiment zusammenstellte. Ein Regiment aus Illinois, auf das sie stießen, drohte mit Massende‐ sertion für den Fall, dass Lincoln auch nur noch einen einzigen Sklaven befreite. »Die Neger haben uns geholfen, für uns spio‐ niert. Sie brauchen auch unsere Hilfe«, sagte Galvin. »Von mir aus soll die Union lieber untergehn, als dass sie den Niggern in die Hände fällt!«, schrie ein Leutnant Galvin ins Ge‐ sicht. Mehr als einmal hatte Galvin gesehen, wie ein Soldat sich eine Negerin schnappte und sie unter allgemeinem Beifall und Ge‐ johle in den Wald schleifte. Zu essen gab es auf beiden Seiten der Front nichts mehr. Eines Morgens wurden drei Rebellensoldaten erwischt, als sie im Wald nicht weit von ihrem Lager auf Mundraub ausgingen. Sie waren halb verhungert. Bei ihnen war ein Deserteur aus Gal‐ vins Einheit. Captain Kingsley befahl Galvin, den Deserteur zu erschießen. Galvin dachte, er würde Blut spucken, wenn er et‐ was zu sagen versuchte. »Ohne die vorgeschriebenen Förm‐
lichkeiten, Captain?«, fragte er schließlich. »Wir ziehen in die Schlacht, Gefreiter Galvin. Es ist keine Zeit für einen Prozess und keine Zeit, ihn zu hängen, also erschie‐ ßen Sie ihn hier und jetzt. Fertig ... leg an ... Feuer!« Galvin hatte einmal gesehen, wie ein Soldat bestraft wurde, der einen sol‐ chen Befehl verweigert hatte. Man hatte dem Mann die Hände über den Knien festgebunden und ihm ein Bajonett zwischen Arme und Beine und ein zweites in den Mund gesteckt. Der Deserteur, ausgehungert und verzweifelt, wie er war, schien nicht viel dagegen zu haben. »Erschieß mich doch!« »Erschie‐ ßen Sie ihn auf der Stelle!«, befahl der Captain. »Oder wollen Sie zusammen mit denen da bestraft werden?« Galvin erschoss den Mann. Die anderen stachen noch ungefähr ein Dutzend Mal mit ihren Bajonetten in den Leichnam. Mit einem eisigen Glitzern in den Augen befahl der Captain Galvin, die drei Ge‐ fangenen auf der Stelle zu erschießen. Als Galvin zögerte, pack‐ te ihn Captain Kingsley am Arm und zog ihn beiseite. »Sie schauen immer bloß zu, was, Opossum? Sie schauen immer überall zu, als wüssten Sie alles besser als wir. Sie tun jetzt so‐ fort, was ich Ihnen sage, verdammt noch mal!«, befahl er mit gefletschten Zähnen. Die drei Rebellen wurden in einer Reihe aufgestellt. Auf Kom‐ mando schoss Galvin sie der Reihe nach mit seinem Enfield‐ Gewehr in den Kopf. Er empfand so wenig dabei, wie er rie‐ chen, schmecken oder hören konnte. In derselben Woche sah er, wie vier Unionssoldaten, darunter zwei aus seiner eigenen Kompanie, zwei junge Mädchen belästigten, die sie aus dem nächsten Ort mitgeschleift hatten. Galvin berichtete es seinem
Vorgesetzten, die vier wurden an ein Kanonenrad gebunden und ausgepeitscht. Da Galvin sie denunziert hatte, musste er die Peitsche führen. Im nächsten Gefecht hatte Galvin kein Gefühl mehr dafür, ob er für oder gegen die eine oder die andere Seite kämpfte. Er kämpfte einfach. Die ganze Welt kämpfte und wütete gegen sich selbst, und der Lärm hörte nie auf. Er konnte ohnehin kaum die Rebellen von den Yankees unterscheiden. Er hatte sich tags zuvor an einer giftigen Pflanze geritzt, und bis zum Abend waren seine Augen praktisch zugeschwollen. Die Män‐ ner lachten darüber, denn während den anderen die Augen ausgeschossen und die Schädel gespalten wurden, hatte Benja‐ min Galvin wie ein Berserker gekämpft und bis jetzt noch kaum einen Kratzer abbekommen. Einer, der später in eine Heilan‐ stalt kam, zielte an diesem Tag mit seinem Gewehr auf Galvins Brust und warnte ihn, wenn er nicht aufhörte, auf dem ver‐ dammten Papier herumzukauen, würde er ihn auf der Stelle abknallen. Nach seiner ersten Verwundung ‐ er hatte eine Kugel in die Brust bekommen ‐ tat er bis zu seiner vollständigen Genesung als Wachtposten Dienst im Fort Warren im Hafen von Boston, wo die Kriegsgefangenen inhaftiert waren. Dort konnten sich Gefangene, die Geld hatten, bessere Zellen und besseres Essen verschaffen, gleichgültig, wie viele Männer sie ungerechtfertigt umgebracht hatten. Harriet flehte Benjamin an, nicht zurück an die Front zu ge‐ hen, aber sie wusste, dass er gebraucht wurde. Als er wieder zu seiner Kompanie C in Virginia stieß, waren durch Tod und De‐
sertion im Regiment so viele Stellen unbesetzt, dass er zum Se‐ cond Lieutenant befördert wurde. Von jüngeren Rekruten erfuhr er, dass wohlhabende junge Männer sich mit dreihundert Dollar von der Dienstpflicht frei‐ kaufen konnten. Galvin platzte schier vor Wut. Er fühlte sich schwach und schlief jede Nacht nur ein paar Minuten. Aber er musste in Bewegung bleiben. Im nächsten Gefecht blieb er zwi‐ schen den Gefallenen liegen, schlief ein und dachte dabei an die reichen Jungs zu Hause. Als die Rebellen in dieser Nacht die Gefallenen durchsuchten und ihn fanden, nahmen sie ihn mit und brachten ihn ins Libby‐Gefängnis in Richmond. Einfache Soldaten ließen sie laufen, weil sie nicht wichtig waren, aber Galvin war Lieutenant und wurde vier Monate lang in Libby festgehalten. Aus dieser Zeit der Gefangenschaft hatte er nur verschwommene Erinnerungen an Bilder und ein paar Geräu‐ sche. Es war, als würde er noch immer schlafen und träumen. Als er wieder in Boston war, wurde er zusammen mit dem Rest seines Regiments in einer großen Zeremonie auf der Vor‐ treppe des State House entlassen. Ihre zerschlissene Regiments‐ fahne wurde zusammengefaltet und dem Gouverneur als Ge‐ schenk überreicht. Nur zweihundert der ursprünglich tausend Mann lebten noch. Galvin verstand nicht, wieso der Krieg als beendet galt. Sie hatten ihre Ziele nicht annähernd erreicht. Die Sklaven würden freigelassen werden, aber der Feind hatte sich nicht geändert ‐ und war nicht bestraft worden. Galvin war kein politischer Mensch, aber er wusste, dass die Schwarzen im Süden nicht zur Ruhe kommen würden, mit oder ohne Sklave‐ rei, und er wusste auch, was diejenigen, die nicht im Krieg ge‐
wesen waren, nicht wussten: dass der Feind jederzeit überall um sie herum war und keineswegs kapituliert hatte. Und nie, keinen Augenblick lang, waren nur die Südstaatler der Feind gewesen. Galvin stellte fest, dass er jetzt eine andere Sprache sprach, die für Zivilisten unverständlich war. Sie hörten ihn nicht einmal. Nur Kriegskameraden, die den Kanonendonner gehört hatten, besaßen diese Fähigkeit. Galvin fing an, mit Gruppen von ihnen in Boston herumzuziehen. Sie alle waren erschöpft und abgezehrt, wie die Versprengten, die sie in den Wäldern gesehen hatten. Aber diese Veteranen, von denen viele ihre Arbeit und ihre Familie verloren hatten und meinten, es wäre besser gewesen, sie wären auf dem Schlachtfeld geblieben ‐ dann bekämen ihre Frauen jetzt wenigstens eine Rente ‐, wa‐ ren auf Geld und hübsche Mädchen aus, betranken sich und randalierten. Sie dachten nicht mehr daran, nach dem Feind Ausschau zu halten, und waren blind wie alle anderen. Wenn Galvin durch die Straßen ging, hatte er oft das Gefühl, dass ihm jemand dicht auf den Fersen war. Manchmal blieb er abrupt stehen und schaute sich mit einem verängstigten Aus‐ druck in seinen großen Augen um, aber der Feind war jedes Mal schon um eine Ecke verschwunden oder in der Menge un‐ tergetaucht. Fast jede Nacht schlief er mit einer Axt unterm Kopfkissen. Einmal wachte er während eines Gewitters auf und bedrohte Harriet mit einem Gewehr. Er beschuldigte sie, eine Spionin der Rebellen zu sein. Noch in derselben Nacht ging er im strömenden Regen in voller Uniform in den Garten hinaus und patrouillierte stundenlang auf und ab. An anderen Tagen sperrte er Harriet in einem Zimmer ein und bewachte sie, weil
angeblich jemand hinter ihr her war. Sie musste in einer Wä‐ scherei arbeiten, damit sie ihre Schulden bezahlen konnten, und drängte ihn, einen Arzt aufzusuchen. Der Arzt sagte, er habe ein »Soldatenherz« ‐ von den Kriegserlebnissen verursachtes Herzflattern. Harriet überredete ihn, in eines der Soldatenheime zu gehen, wo man, wie sie von anderen Soldatenfrauen wusste, aus der Bahn geworfenen Soldaten half. Als Benjamin Galvin dort zum ersten Mal George Washington Greene predigen hör‐ te, sah er seit langer Zeit wieder so etwas wie einen Hoffnungs‐ schimmer. Greene erzählte von einem Mann aus einem fernen Land, ei‐ nem Mann, der Verstand hatte. Er hieß Dante Alighieri. Auch er war ein ehemaliger Soldat, und er wurde das Opfer der Aus‐ einandersetzungen zweier verfeindeter Parteien in seiner besu‐ delten Heimatstadt. Er bekam den Befehl, eine Wanderung durch das Jenseits anzutreten, um die Menschheit auf den rech‐ ten Weg zu bringen. Welch unglaubliche Überantwortung des Lebens an den Tod wurde hier dargestellt! Kein Blutvergießen in der Hölle war zufallsbedingt, jeder Sünder verbüßte die Stra‐ fe, die ihm kraft göttlicher Liebe auferlegt worden war. Welche Vollkommenheit sprach aus jedem contrapasso, wie der Reve‐ rend Greene die Höllenstrafen nannte, abgestimmt auf jede Sünde jedes Mannes und jeder Frau auf Erden bis zum Tag des Jüngsten Gerichts! Galvin konnte sich vorstellen, wie zornig Dante wurde, weil die Männer seiner Stadt, Freund und Feind gleichermaßen, nur Sinn für das Materielle und Körperliche hatten, für Lust und Geld, und nicht an das Urteil dachten, das schon bald über sie gefällt werden sollte. Atemlos verfolgte
Galvin die wöchentlichen Predigten von Reverend Greene, und er konnte nicht genug davon bekommen: Sie gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er fühlte sich jedes Mal einen halben Me‐ ter größer, wenn er aus der Kirche kam. Auch den anderen Sol‐ daten gefielen die Predigten offenbar, obwohl er spürte, dass sie sie nicht auf die gleiche Weise verstanden wie er. Als er ei‐ nes Nachmittags nach der Predigt noch in der Kirche blieb, hör‐ te er zufällig ein Gespräch zwischen Reverend Greene und ei‐ nem der Soldaten mit. »Mr. Greene, darf ich Ihnen sagen, wie sehr mir Ihre Predigt heute gefallen hat«, sagte Captain Dexter Blight, der einen heu‐ farbenen Schnurrbart hatte und stark hinkte. »Ich hätte da eine Frage, Sir: Wo kann ich denn noch mehr über Dantes Wande‐ rungen lesen? Ich liege nachts oft lange wach, und ich habe viel Zeit.« Der alte Geistliche fragte den Soldaten, ob er Italienisch könne. »Macht nichts«, sagte er, als der Soldat verneinte, »bald werden Sie alles über Dantes Wanderung auch auf Englisch lesen kön‐ nen, sehr bald sogar, mein lieber Junge! Mr. Longfellow aus Cambridge vollendet nämlich gerade eine Übersetzung ‐ nein, eine Übertragung ‐ ins Englische. Dazu trifft er sich jede Woche mit einer Art Beraterkabinett, einem Dante Club, den er ge‐ gründet hat und dem anzugehören ich mir als Ehre anrechne. Fragen Sie Ihren Buchhändler nächstes Jahr nach dem Buch, guter Mann, es erscheint im renommierten Verlag Ticknor & Fields!« Longfellow. Es erschien ihm gut und recht, dass Longfellow sich mit Dante beschäftigte. Er kannte seine Gedichte, seine
Frau hatte sie ihm alle vorgelesen. Galvin fragte auf der Straße nach »Ticknor & Fields«, und man zeigte ihm ein riesiges Her‐ renhaus an der Ecke Tremont Street und Hamilton Place. Der Ausstellungsraum war fünfundzwanzig Meter lang und zehn Meter breit, mit schimmernder Holztäfelung, ziselierten Säulen und strahlenden Kronleuchtern. In einem kunstvollen Bogen‐ gang am Ende des Raumes waren einige der schönsten Ausga‐ ben von Ticknor & Fields ausgestellt, Bücher mit goldgeprägten blauen und schokoladenbraunen Rücken, und in einer Nische konnte man die neuesten Ausgaben der Zeitschriften des Ver‐ lags bewundern. Galvin betrat den Ausstellungsraum mit der vagen Hoffnung, Dante persönlich würde hier auf ihn warten. Ehrerbietig nahm er den Hut ab. Das neue Verlagshaus war erst einige Tage zuvor bezogen worden. »Sie kommen auf unser Inserat?« Keine Antwort. »Bestens, bestens. Bitte füllen Sie das aus. In der ganzen Branche können Sie für keinen Besseren arbeiten als J. T. Fields. Der Mann ist ein Genie, ein Schutzengel aller Autoren, jawohl.« Der Mann stellte sich als Spencer Clark vor, Schatzmeister des Verlags. Galvin nahm das Formular und den Federhalter, machte ein ratloses Gesicht und schob das Stück Papier, auf dem er ständig he‐ rumkaute, aus einer Backe in die andere. »Sie müssen uns schon Ihren Namen sagen, mein Sohn«, sagte Clark. »Nun machen Sie schon. Schreiben Sie Ihren Namen da rein, sonst muss ich Sie wieder wegschicken.« Clark zeigte auf eine Linie auf dem Formular, und Galvin nahm den Federhalter und schrieb: »D‐A‐N‐T‐E‐A‐L.« Er zögerte. Hieß es »Aligieri«
oder »Alegieri«? Er saß da und grübelte, bis die Feder einge‐ trocknet war. Clark, der von jemandem gestört worden war, räusperte sich laut und nahm Galvin das Formular weg. »Nur nicht so schüchtern, was haben wir denn da?« Clark kniff die Augen zusammen. »Dan Teal. Braver Junge.« Er seufz‐ te. Es war klar, dass der junge Mann mit einer solchen Schrift nicht zu Büroarbeiten taugte, aber der Verlag brauchte nach dem Umzug in das viel größere Haus jeden, den er finden konnte. »Also, Daniel, jetzt sagen Sie uns noch, wo Sie wohnen, und Sie können ab heute als Laufbursche bei uns arbeiten, vier Abende pro Woche. Mr. Osgood ist der Bürochef, er wird Sie einweisen. Gratuliere, Teal. Soeben hat Ihr neues Leben bei Ticknor & Fields angefangen!« »Dan Teal, Dan Teal«, sagte sich der neue Angestellte immer wieder vor. Fasziniert hörte er, dass im Autorenzimmer über Dante ge‐ sprochen wurde, als er am Abend mit seinem Rollwagen vor‐ beikam, auf dem die Unterlagen waren, die er für den nächsten Tag in die verschiedenen Zimmer verteilen musste. Die Ge‐ sprächsfetzen, die er mitbekam, klangen ganz anders als die Predigten von Reverend Greene, in denen von Dantes wunder‐ samer Wanderung die Rede war. Er erfuhr nicht viel Neues ü‐ ber Dante, und an den meisten Abenden versammelten sich Mr. Longfellow, Mr. Fields und ihre Dante‐Truppe gar nicht. Doch immerhin, in diesem Haus gab es Leute, die sich irgendwie um Dantes Überleben kümmerten und davon sprachen, wie sie ihn beschützen könnten. Ihm wurde ganz komisch, und er musste hinauslaufen und
sich auf der Straße übergeben. Dante musste beschützt werden! An den folgenden Abenden belauschte er des Öfteren die Ge‐ spräche von Mr. Fields, Longfellow, Lowell und Dr. Holmes und reimte sich zusammen, dass das Harvard College Dante feindlich gesinnt war. In der Stadt hatte er gehört, dass auch die Universität Arbeitskräfte suchte, da viele ihrer früheren Ange‐ stellten im Krieg geblieben oder invalide waren. Er bekam eine Anstellung für tagsüber. Nach der ersten Woche gelang es ihm, sich als Hausmeister in die University Hall versetzen zu lassen, denn dort, so erfuhr er von seinen Arbeitskollegen, wurden die wichtigen Entscheidungen getroffen. Im Soldatenheim ging Reverend Greene von allgemeinen Dar‐ stellungen zu detaillierten Schilderungen von Dantes Pilger‐ fahrt über. Die Hölle war in Kreise unterteilt, von denen jeder weiter in die Tiefe führte, näher zur Strafe des großen Luzifer, des Herrn über alles Böse. In der Vorhölle führte Greene Teal durchs Land der lauen Seelen, in dem der Große Verweigerer, der schlimmste Sünder dort, zu finden war. Der Name des Verweigerers, irgendein Papst, sagte Teal nichts, aber dass er ein bedeutendes Amt abgelehnt hatte, das Gerechtigkeit für Millionen hätte bedeuten können, machte Teal zornig. Durch die Wände der University Hall hatte er gehört, dass Oberrichter Healey eine noch wichtigere Position abgelehnt hatte ‐ eine Po‐ sition, in der er Dante hätte verteidigen müssen. Teal wusste, dass der Büchernarr der Kompanie C auf den Märschen durch die Sumpfgebiete Tausende von Insekten ge‐ sammelt und sie in eigens angefertigten Kisten, in der sie die lange Reise nach Boston überleben konnten, nach Hause ge‐
schickt hatte. Ihm kaufte Teal eine Schachtel tödlicher Schmeiß‐ fliegen und Maden sowie einen Schwärm Wespen ab. Er folgte Richter Healey vom Gerichtsgebäude nach Wide Oaks und be‐ obachtete dort, wie sich der Richter von seiner Familie verab‐ schiedete. Am nächsten Morgen verschaffte er sich durch die Hintertür Zugang zum Haus und schlug Healey mit dem Griff einer Pistole nieder. Er zog dem Richter die Kleider aus und faltete sie sorgfältig zusammen, denn Männerkleider hatten am Körper eines solchen Feiglings nichts verloren. Dann trug er Healey hinters Haus und setzte die Maden und Insekten auf die Kopfwunde, die er dem Richter beigebracht hatte. Außerdem steckte er eine weiße Fahne in den Sandboden, denn unter solch einem Zeichen fand Dante auch die lauen Seelen. Er spürte so‐ fort, dass er jetzt mit Dante verbunden war, dass er den langen, gefährlichen Weg der Erlösung inmitten der vielen Verlorenen betreten hatte. Er war hin‐ und hergerissen, als Greene krank‐ heitshalber eine seiner wöchentlichen Predigten ausfallen ließ. Aber dann kam Greene wieder und predigte über die Simoni‐ sten. Teal war bereits sehr besorgt und in Panik wegen der Abmachung zwischen der Harvard Corporation und Reverend Talbot ‐ er hatte mehrere Besprechungen darüber in der Uni‐ versity Hall belauscht. Wie konnte ein Prediger Geld dafür nehmen, Dante in der Öffentlichkeit bloßzustellen, die Würde seines Amtes für elende tausend Dollar verschachern? Aber Teal konnte nichts unternehmen, solange er die korrekte Strafe nicht kannte. In einer Spelunke hatte Teal einmal einen Tresor‐ knacker namens Willard Burndy kennen gelernt. Es fiel ihm nicht schwer, Burndy eines Abends in einer dieser Kneipen
aufzustöbern, und obwohl er über Burndys Trunkenheit em‐ pört war, versprach er ihm Geld für die Auskunft, wie man aus Reverend Elisha Talbots Tresor tausend Dollar stehlen könne. Burndy redete endlos darüber, dass Langdon Peaslee sowieso alle seine Straßen übernehme. Was konnte es da groß schaden, wenn ein Dritter einen einzelnen Safe knackte? Durch Tunnel, die für entflohene Sklaven gegraben worden waren, schlich sich Teal in die Zweite Unitaristische Kirche und beobachtete dort, dass Reverend Talbot jeden Nachmittag in das unterirdische Gewölbe hinabstieg. Er zählte Talbots Schrit‐ te, um festzustellen, wie lange er für die Treppe brauchte. Er schätzte Talbots Körpergröße und brachte einen entsprechen‐ den Kreidestrich an der Wand an, nachdem der Geistliche das Gewölbe wieder verlassen hatte. Dann hob er ein Loch aus, ge‐ rade so tief, dass Talbots Füße herausschauen würden, wenn er ihn kopfüber hineinsteckte, und vergrub Talbots schmutziges Geld am Boden des Lochs. Am Sonntagnachmittag lauerte er dem Geistlichen auf, entriss ihm seine Laterne und übergoss seine Füße mit Petroleum. Nach der Bestrafung von Reverend Talbot war sich Teal sicher, dass der Dante Club auf seine Ar‐ beit stolz sein würde. Er musste in Erfahrung bringen, wann die wöchentlichen Sitzungen in Longfellows Haus abgehalten wurden, von denen Reverend Greene gesprochen hatte. Sicher‐ lich sonntags, dachte er. Er fragte sich in Cambridge zu dem großen gelben Haus im Kolonialstil durch. Aber als er durch ein Seitenfenster in Longfellows Haus spähte, wies nichts auf ein Treffen hin. Allerdings erhob sich drinnen lauter Tumult, unmittelbar nachdem er sein Gesicht an die Scheibe gepresst
hatte. Teal wollte den Dante Club, falls er denn wirklich tagte, nicht stören, wollte Dantes Hüter nicht bei ihrer Arbeit unter‐ brechen. Untröstlich war er, als Greene erneut eine Predigt im Solda‐ tenheim ausfallen ließ, diesmal sogar, ohne vorher abzusagen. Teal erkundigte sich in der Stadtbibliothek, wo er Italienisch‐ stunden nehmen könne, denn Greene hatte dem anderen Solda‐ ten ja zunächst vorgeschlagen, Dante im italienischen Original zu lesen. Die Bibliothekarin hatte ein Inserat aufgehoben, in dem sich ein Pietro Bachi als Privatlehrer für Italienisch anbot, und Teal suchte ihn auf und bat ihn, ihm Unterricht zu geben. Der Lehrer brachte Teal einen Stapel Lehrbücher und Übungs‐ aufgaben, von denen er die meisten selbst geschrieben hatte ‐ mit Dante hatte das nichts zu tun. Einmal bot Bachi seinem Schüler eine venezianische Ausgabe der Divina Commedia an. Teal nahm das in hartes Leder gebun‐ dene Buch entgegen, interessierte sich aber nicht dafür, mochte Bachi seine Schönheit noch so sehr preisen. Auch das war nicht Dante. Zum Glück erschien Greene bald darauf wieder am Rednerpult des Soldatenheims. Diesmal ging es um Dantes er‐ staunlichen Eintritt in den Höllenkreis der Zwietrachtstifter. Das Schicksal hatte wie Donnerhall zu Dan Teal gesprochen. Auch er war Zeuge dieser unverzeihlichen Sünde gewesen. Der Schuldige war Phineas Jennison. Teal hatte im Verlag gehört, wie er davon sprach, dass Dante beschützt werden müsse ‐ und den Dante Club drängte, sich gegen die Universität zur Wehr zu setzen ‐, aber er hatte auch gehört, wie Jennison in den Räumen der Harvard Corporation Dante verdammte und die
Mitglieder aufforderte, Longfellow, Lowell und Fields in den Arm zu fallen. Teal hatte Jennison mit dem Säbel bedroht und ihn so durch die Sklaventunnel zum Bostoner Hafen getrieben. Jennison hatte ihn angefleht und ihm Geld angeboten. Teal ver‐ sprach ihm Gerechtigkeit und verstümmelte ihn anschließend mit dem Säbel. Er sah sein Tun nicht als Töten an, denn zur Be‐ strafung gehörte eine lange Leidenszeit. Das fand er besonders tröstlich an Dante. Keine der von ihm geschilderten Strafen war neu. Teal hatte sie alle auf die eine oder andere Art schon in Boston oder auf den Schlachtfeldern erlebt. Teal wusste, dass der Dante Club von der Vernichtung seiner Feinde begeistert war, denn auf einmal hielt Reverend Greene eine Predigt nach der anderen: Dante kam an einen zugefrore‐ nen See, wo Verräter im Eis steckten ‐ die schlimmste Sorte Sünder, die Dante in der Hölle fand. Und Verräter waren auch Augustus Manning und Pliny Mead, und deshalb steckte er beide in Eislöcher. In seiner Ausgehuniform stand er im Licht der Morgensonne am Ufer und weidete sich an dem Anblick. Die Uniform hatte er auch getragen, als er zusah, wie Artemus Healey, die laue Seele, sich nackt unter einer Decke aus Insek‐ ten wand und wie Elisha Talbot, der Simonist, mit seinen bren‐ nenden Füßen zappelte. Und auch als er zusah, wie Phineas Jennisons aufgeschlitzter Körper zuckte und zitterte. Dann kamen Lowell und Fields, Holmes und Longfellow ‐ aber nicht, um ihn zu belohnen! Lowell hatte seine Flinte auf ihn abgefeuert, und Fields hatte Lowell zum Schießen aufge‐ fordert. Das schmerzte ihn zutiefst. Teal hatte angenommen, Longfellow, den seine Frau verehrte, und die anderen Protekto‐
ren, die sich im Verlag versammelten, hätten sich Dantes Zielen verschrieben. Jetzt begriff er, dass sie keine Ahnung hatten, was die wahre Aufgabe eines Dante Club war. So vieles war zu vollenden, so viele Kreise mussten geöffnet werden, um in Bo‐ ston dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Er dachte an den Vorfall im Verlag, als Dr. Holmes mit ihm zusammenge‐ stoßen war ‐ Lowell war ihm aus dem Autorenzimmer nachge‐ laufen und hatte geschrien: »Sie haben den Dante Club verra‐ ten, Sie haben den Dante Club verraten.« »Drehen Sie sich jetzt um, Dr. Holmes«, sagte Teal in dem Tunnel. »Ich wollte Sie sowieso aufsuchen.« Holmes drehte sich um, sodass er dem uniformierten Soldaten den Rücken zukehrte. Die Laterne des Doktors erleuchtete schwach den felsigen Abgrund, der vor ihnen lag. »Ich nehme an, dass Sie jetzt mich gefunden haben, ist Schicksal«, fügte Teal hinzu und befahl dem Doktor, sich in Bewegung zu setzen. »Um Himmels willen«, keuchte Holmes. »Wohin wollen Sie?« »Zu Longfellow.«
XX Holmes gehorchte. Er hatte den Mann zwar nur kurz gesehen, ihn aber sofort als Teal erkannt, ihren Luzifer. Er schaute zu‐ rück und sah, dass er einen Stiernacken wie ein Preisboxer hat‐ te, aber seine grünen Augen und sein fast femininer Mund wirkten eher kindlich, und er bewegte sich ‐ wahrscheinlich die Folge langer Gewaltmärsche ‐ so federnd und aufrecht wie ein Halbwüchsiger. Teal, fast noch ein Junge, war ihr Feind, ihr Ge‐ genspieler. Dan Teal. Dan Teal! Wie konnte einem Wortmetz wie Oliver Wendell Holmes dieser Geniestreich entgehen? DANTEAL ... DANTE AL ...! Und wie hohl klang in der Erinne‐ rung Lowells dröhnende Stimme, als Holmes im Verlag auf dem Flur mit dem Mörder zusammengestoßen war: »Holmes, Sie haben den Dante Club verraten!« Teal hatte das gehört, und er musste auch die Konferenzen in der University Hall be‐ lauscht haben. Falls er, Holmes, jetzt an der Reihe war, würde er auf keinen Fall Longfellow und die anderen mit hineinziehen. Er blieb ste‐ hen, als der Tunnel nach unten abknickte. »Ich gehe keinen Schritt weiter!«, erklärte er mit übertrieben fester Stimme. »Ich tue alles, was Sie von mir verlangen, aber ich werde Longfellow da nicht hineinziehen.« Teal reagierte mit verständnisvollem Schweigen. »Zwei von Ihnen müssen be‐ straft werden. Und Sie müssen das Longfellow klar machen, Dr. Holmes.«
Holmes begriff, dass Teal ihn nicht als Verräter bestrafen woll‐ te. Teal war zu dem Schluss gekommen, dass der Dante Club nicht auf seiner Seite stand, dass seine Mitglieder die Sache Dantes aufgegeben hatten. Wenn Holmes ein Verräter am Dan‐ te Club war, wie Teal zufällig von Lowell gehört hatte, dann war Holmes ein Freund des wahren Dante Club, so wie Teal ihn in seiner Vorstellung erfunden hatte, eine stille Gemein‐ schaft, die sich der Verwirklichung von Dantes Strafen in Bo‐ ston verschrieben hatte. Holmes zog sein Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn ab. Im selben Moment packte Teal ihn am Ellbogen. Zu seiner eigenen Überraschung, denn er hatte nichts dergleichen ge‐ plant, schleuderte Holmes Teals Hand mit solcher Heftigkeit weg, dass Teal rückwärts an die felsige Tunnelwand taumelte. Dann rannte der kleine Doktor los, die Laterne mit beiden Händen umklammernd. Schwer atmend lief er durch die dunklen, gewundenen Tun‐ nel. Ab und zu sah er sich um und vernahm allerlei Geräusche, aber er konnte nicht unterscheiden, was davon in seinem Kopf und seiner keuchenden Brust war und was von außen kam. Sein Asthma war eine am Fuß seines Geistes festgemachte Ket‐ te, die ihn zurückhalten wollte. Als er auf eine Höhle stieß, warf er sich hinein. Hier fand er einen pelzgefütterten Armee‐Schlaf‐ sack und ein paar Brocken von etwas Hartem. Er nahm einen zwischen die Zähne und biss darauf. Hartes Brot, die Sorte, von der die Soldaten sich im Krieg hatten ernähren müssen: Es war Teals Unterschlupf. Er fand auch eine aus Stöcken errichtete
Feuerstelle sowie Teller, eine Pfanne, einen Zinnbecher und einen Kaffeetopf. Holmes wollte gerade weiterlaufen, als ihn ein Rascheln zusammenfahren ließ. Er hob die Laterne hoch, um tiefer in die Höhle hineinzuspähen. Lowell und Fields sa‐ ßen gefesselt und geknebelt auf dem Boden. Lowell saß mit auf die Brust gesunkenem Kopf völlig bewegungslos da. Holmes zog den Freunden die Knebel heraus und versuchte vergeblich, sie von ihren Handfesseln zu befreien. »Sind Sie verletzt?«, fragte er. »Lowell?« Er rüttelte ihn an der Schulter. »Er hat uns bewusstlos geschlagen und hierher geschleppt«, erwiderte Fields. »Lowell hat geflucht und geschrien, als Teal uns hier gefesselt hat ‐ ich habe ihm gesagt, er soll den Mund halten, aber da hat Teal ihn wieder niedergeschlagen. Er ist doch nur bewusstlos, oder?«, fragte er besorgt. »Was wollte Teal von Ihnen?«, fragte Holmes. »Nichts! Ich weiß nicht, war‐ um wir noch am Leben sind und was er vorhat!« »Dieses Ungeheuer will Longfellow etwas antun!« »Er kommt!«, flüsterte Fields. »Machen Sie schnell, Holmes!« Hol‐ mes zitterte und schwitzte. Die Knoten waren sehr fest, au‐ ßerdem konnte er kaum etwas sehen. »Nein, gehen Sie. Sie müssen weg!«, drängte Fields. »Nur noch eine Sekunde ...« Sei‐ ne Finger rutschten von Fieldsʹ Handgelenk ab. »Sie haben keine Zeit mehr, Wendell«, sagte Fields. »Er wird gleich hier sein. Sie können uns nicht losmachen, und wir könn‐ ten in diesem Zustand sowieso nicht zu Longfellow. Gehen Sie zu ihm! Lassen Sie uns ‐ Sie müssen Longfellow retten!« »Ich schaffe das nicht allein! Wo ist Rey?«, rief Holmes. Fields schüt‐ telte den Kopf. »Er ist nicht gekommen, und die Polizisten vor
den Häusern sind auch verschwunden! Man hat sie abgezogen! Longfellow ist allein! Gehen Sie!« Holmes lief aus der Kammer hinaus und weiter durch die Tunnel, schneller, als er jemals gelaufen war, bis er einen fernen Lichtschimmer erblickte. Fieldsʹ Befehl hämmerte in seinem Kopf: GEHEN SIE, GEHEN SIE, GEHEN SIE. Ein Detective stieg gemächlich die Treppe ins Untergeschoss der Hauptwache hinab. Stöhnen und lautes Fluchen waren zu vernehmen. Nicholas Rey sprang vom harten Boden der Zelle auf. »Das können Sie nicht machen! Um Himmels willen, Unschuldige sind in Gefahr!« Der Detective zuckte die Achseln. »Du glaubst den Unsinn, den du dir ausdenkst, tatsächlich, was, Nigger?« »Behalten Sie mich meinetwegen hier. Aber ich flehe Sie an, schicken Sie die Polizisten zurück, die die Häuser bewachen sollten. Da draußen läuft einer herum, der wieder töten wird. Sie wissen, dass Burndy Healey und die anderen nicht umgebracht hat! Der Mörder ist noch da draußen, und er wartet nur darauf, wieder zuzuschlagen. Sie können ihn nicht daran hindern.« Der Detective sah Rey interessiert an, als wollte er sich von ihm überzeugen lassen. Er legte einen Finger an die Schläfe und dachte nach. »Ich weiß, dass Willard Burndy ein Dieb und ein Lügner ist, das weiß ich.« »Bitte hören Sie auf mich.« Der Detective packte zwei Käfigstangen und sah Rey finster an. »Peaslee hat uns gewarnt. Er meinte, dass wir Sie im Auge behalten müssen, dass Sie sich nicht damit begnügen, sich um
Ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, dass Sie ständig irgendwem in die Quere kommen. Ich kann mir schon vorstel‐ len, dass es Ihnen keinen Spaß macht, eingesperrt zu sein und nichts zu haben, keinen, dem Sie helfen können.« Der Detective holte seinen Schlüsselbund hervor und schwenkte ihn lächelnd. »Aber der heutige Tag wird Ihnen eine Lehre sein, nicht wahr?« Henry Wadsworth Longfellow stand leise seufzend am Schreib‐ pult in seinem Arbeitszimmer. Annie Allegra hatte alle möglichen Spiele vorgeschlagen, die sie spielen könnten, aber für ihn gab es nur eines: an seinem Pult zu stehen und einen Dante‐Gesang nach dem anderen zu übersetzen, alle Lasten abzuwerfen und in diese Kathedrale ein‐ zutreten. Dort, wo das Lärmen der Welt zu einem undefinier‐ baren leisen Rauschen abebbte und die Worte das ewige Leben erlangten. Hier, unter den hohen Deckengewölben, sah der Ü‐ bersetzer seinen Dichter im Dämmer wandeln und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. Leise und feierlich schreitet der Dichter dahin. Er ist in ein langes, wallendes Gewand gekleidet, auf dem Kopf trägt er ein Käppchen, an den Füßen Sandalen. Über die Versammlungen der Toten, die von Grab zu Grab flie‐ genden Echos und die Klagen aus der Tiefe hinweg vernahm Longfellow die Stimme jener einen, die den Dichter vorantrieb. Sie stand vor ihnen, in der unnahbaren, zwingenden Ferne, ein Bild, eine Projektion mit einem schneeweißen Schleier, in feu‐ erroten Gewändern, und Longfellow spürte, wie das Eis um das Herz des Dichters schmolz gleich Schnee in der Frühlings‐ sonne: Der Dichter strebte nach der vollkommenen Gnade des
vollkommenen Friedens. Annie Allegra suchte überall im Arbeitszimmer nach einer Pappschachtel, um den Geburtstag einer ihrer Puppen ange‐ messen feiern zu können. Dabei stieß sie auf einen frisch geöff‐ neten Brief von Mary Frere aus Auburn, New York, und fragte, von wem er sei. »Ach, von Miss Frere«, sagte sie. »Das ist aber nett! Wird sie auch dieses Jahr wieder in der Sommerfrische in unserer Nach‐ barschaft in Nahant wohnen? Es ist immer so schön, wenn sie in der Nähe ist, Vater.« »Das glaube ich kaum.« Longfellow versuchte zu lächeln. An‐ nie war enttäuscht. »Vielleicht ist die Schachtel im Wohn‐ zimmerschrank«, sagte sie abrupt und ging aus dem Zimmer, um sich von ihrer Gouvernante helfen zu lassen. Von der Haus‐ tür ertönte ein so dringliches Klopfen, dass Longfellow erstarr‐ te. Das Klopfen wurde noch lauter, fordernder. »Holmes.« Longfellow atmete auf. Die gelangweilte Annie Allegra ließ ihre Gouvernante stehen und rief, dass sie öffnen wolle. Sie rannte zur Tür und riss sie auf. Eiseskälte schlug ihr entgegen. Annie wollte etwas sagen, aber Longfellow spürte sogar an seinem Platz im Arbeitszimmer, dass sie erschrocken war. Er hörte eine murmelnde Stimme, die keinem Freund gehörte. Er trat in die Diele hinaus und sah dort einen Soldaten in voller Uniform. »Schicken Sie sie weg, Mr. Longfellow«, befahl Teal leise. Longfellow zog Annie weg und beugte sich zu ihr hinab. »Pan‐ sy, wie wärʹs, willst du nicht den Aufsatz für The Secret fertig
schreiben, über den wir gesprochen haben?« »Bitte? Den Auf‐ satz? Das Interview?« »Ja, du könntest ihn doch jetzt fertig schreiben, Pansy, wäh‐ rend ich mich mit diesem Herrn unterhalte.« Mit aufgerissenen Augen wollte er ihr klar machen: »Geh!« Sie sah ihn an, mit den gleichen Augen wie ihre Mutter. Sie nickte langsam und lief dann rasch nach hinten. »Sie werden gebraucht, Mr. Longfellow. Und zwar jetzt gleich.« Teal kaute wie wild, spuckte geräuschvoll zwei Papier‐ schnipsel auf den Läufer und kaute weiter. Offenbar hatte er einen unerschöpflichen Vorrat an Papierschnipseln im Mund. Longfellow sah ihn unsicher an und spürte sofort die Gewalt‐ tätigkeit, die von ihm ausging. »Mr. Lowell und Mr. Fields«, sagte Teal, »haben Sie verraten, sie haben Dante verraten. Sie waren dabei. Sie waren dabei, als Manning sterben sollte, und Sie haben nichts unternommen, um mir zu helfen. Also müssen Sie die beiden bestrafen.« Teal gab Longfellow einen Armeerevolver, und das kalte Me‐ tall brannte in der weichen Hand des Dichters, dessen Handflä‐ chen noch immer Spuren einer Jahre zurückliegenden Verlet‐ zung trugen. Longfellow hatte keine Waffe mehr angerührt, seit er als Kind einmal weinend nach Hause gekommen war, nach‐ dem sein Bruder ihm beigebracht hatte, wie man ein Rotkehl‐ chen erschießt. Fanny hatte Waffen und den Krieg gehasst, und Longfellow dankte Gott, dass sie wenigstens nicht miterlebt hatte, wie ihr Sohn Charley freiwillig in den Krieg gezogen und mit einem Durchschuss im Schulterblatt heimgekehrt war. Männer sehen
an einem Soldaten immer nur die bunte Uniform, pflegte sie zu sagen, und vergessen die mörderischen Waffen. »Tja, jetzt werden Sie endlich lernen, stillzusitzen und sich so zu verhalten, wie man es von Ihnen erwartet.« Die Augen des Detective funkelten belustigt. »Warum sind Sie dann immer noch hier?« Rey stand jetzt mit dem Rücken zu den Gitterstangen. Dem Detective war die Frage peinlich. »Um mich zu überzeu‐ gen, dass Sie Ihre Lektion ordentlich lernen, sonst schlage ich Ihnen die Zähne ein.« Rey drehte sich langsam um. »Sagen Sie mir noch mal, worin diese Lektion besteht?« Der Detective lief rot an und kam mit verzerrter Miene dicht an das Gitter. »Darin, dass Sie endlich lernen, stillzusitzen und das Leben denen zu überlassen, die was davon verstehen!« Reys hielt seine goldgefleckten Augen gesenkt. Ohne durch ir‐ gendeine andere Bewegung seine Absichten zu verraten, ließ er plötzlich den Arm vorschnellen, packte den Detective am Hals und riss seinen Kopf gegen die Eisenstangen. Mit der anderen Hand entwand er dem Mann den Schlüsselbund. Dann ließ er ihn los, und der Detective fasste sich an den Hals und schnapp‐ te nach Luft. Rey schloss die Zellentür auf, durchsuchte den De‐ tective und nahm ihm seinen Revolver ab. Die Häftlinge in den anderen Zellen johlten begeistert. Rey rannte die Treppe hinauf. »Rey, Sie hier?«, fragte Sergeant Stoneweather. »Was ist denn los? Ich war auf Posten, so wie Sieʹs angeordnet hatten, aber dann kamen die Detectives und sagten mir, Sie hätten angeord‐
net, dass wir alle unseren Posten verlassen müssten. Wo waren Sie denn?« »Die haben mich in die Katakomben gesperrt, Stoneweather! Ich muss sofort nach Cambridge.« Auf der anderen Seite des Flurs sah er ein kleines Mädchen mit einer Frau. Er lief hin und öffnete das Eisentor, das den Eingang vom Polizeirevier trenn‐ te. »Bitte«, wiederholte Annie Allegra Longfellow, während ihre Gouvernante dem verwirrten Polizisten etwas zu erklären versuchte. »Bitte.« »Miss Longfellow«, sagte Rey und ging vor ihr in die Hocke, »was ist passiert?« »Vater braucht Ihre Hilfe, Officer Rey!«, rief sie. Ein Trupp Detectives kam auf den Flur gestürmt. »Da!«, schrie einer. Er packte Rey am Arm und schleuderte ihn gegen die Wand. »Was fällt Ihnen ein, Sie Dreckskerl«, sagte Stoneweather und ließ seinen Schlagstock auf den Rücken des Detective niedersausen. Stoneweather rief etwas, und mehrere Polizisten kamen ange‐ laufen, aber drei Detectives überwältigten Nicholas Rey, hielten ihn an den Armen fest und schleppten ihn fort. »Nein, Vater braucht Sie, Officer Rey!«, schrie Annie. »Rey!«, rief Stone‐ weather, aber ein Stuhl flog ihm an den Kopf, und ein Faust‐ schlag traf ihn in die Seite. Polizeichef John Kurtz kam zur Tür herein, Zornesröte im sonst eher gelblichen Gesicht. Ein Dienstmann trug seine Kof‐ fer. »Das war die schlimmste Eisenbahnfahrt ...«, setzte er an. »Was in Dreiteufelsnamen ...«, brüllte er, als er das Gewimmel von Polizisten und Detectives sah. »Stoneweather?« »Die haben Rey in die Katakomben eingesperrt, Chef!«, sagte Stoneweather.
Blut lief ihm aus der Nase. Rey rief: »Chef, ich muss sofort nach Cambridge!« »Rey«, sagte Kurtz, »Sie sollten doch ...« »Sofort, Chef! Ich muss hin!« »Lassen Sie ihn los!«, blaffte Kurtz die Detectives an. »Sofort in mein Büro! Jeder einzelne von euch Schurken!« Oliver Wendell Holmes schaute sich immer wieder nach Teal um, aber er sah niemanden. Teal war ihm nicht gefolgt. »Long‐ fellow ... Longfellow«, sagte er unablässig vor sich hin, wäh‐ rend er durch Cambridge lief. Dann war plötzlich Teal vor ihm und führte Longfellow über den Bürgersteig. Der Dichter ging vorsichtig auf der dünn ge‐ wordenen Schneedecke. Holmes erschrak dermaßen, dass nur eins ihn davor bewahren konnte, auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen. Er musste unver‐ züglich handeln. Also schrie er aus Leibeskräften: »Teal!« Es war ein Schrei, der Tote hätte aufwecken können. Teal drehte sich um. Holmes zog die Muskete aus seinem Mantel und zielte mit zit‐ ternden Händen. Teal nahm keinerlei Notiz von der Waffe. Sein Mund zuckte, und er spuckte ein durchweichtes Papierschnip‐ sel in den Schnee zu seinen Füßen: F. »Mr. Longfellow, Dr. Holmes wird Ihr Erster sein«, sagte er. »Er soll der Erste sein, den Sie für das bestrafen, was Sie getan haben. Mit ihm werden Sie ein Exempel statuieren.« Teal hob Longfellows Hand mit dem Armeerevolver und rich‐ tete sie auf Holmes. Holmes trat näher, die Muskete im Anschlag. »Keine Bewe‐
gung, Teal! Ich tuʹs! Ich schieße Sie nieder! Lassen Sie Longfel‐ low frei und nehmen Sie mich!« »Das ist eine Bestrafung, Dr. Holmes. Sie alle, die Sie sich von Gottes Gerechtigkeit abgewendet haben, bekommen jetzt Ihre Strafe. Mr. Longfellow, auf mein Kommando. Fertig ... leg an ...« Holmes hob die Muskete auf die Höhe von Teals Kopf. Der Mann zeigte nicht das kleinste bisschen Angst. Einmal Soldat, immer Soldat: Es war nichts übrig von dem Menschen, der er vielleicht einmal gewesen war. Er hatte keine Wahl ‐ er war völ‐ lig beherrscht von dem Eifer, Gutes zu tun, der immer wieder einmal Teile der Menschheit erfasst und sich im Allgemeinen sehr schnell verflüchtigt. Holmes schauderte. Er war sich nicht sicher, ob er selbst über genügend Reserven desselben Eifers verfügte, um Dan Teal vor dem Schicksal zu bewahren, in dem er sich verfangen hatte. »Feuer, Mr. Longfellow«, kommandierte Teal. »Schießen Sie!« Seine Finger schlossen sich um die Hand des Dichters. Holmes schluckte schwer und richtete seine Muskete auf Longfellow. Longfellow schüttelte den Kopf. Teal wich verdutzt einen Schritt zurück und zog seinen Gefangenen mit. Holmes nickte energisch. »Ich schieße ihn nieder, Teal«, sagte er. »Nein!« Teal schaute zwischen den beiden Männern hin und her. »Doch, Teal! Dann kann er seine Strafe nicht bekommen. Er wird tot sein!«, schrie Holmes und zielte auf Longfellows Kopf. »Nein, das dürfen Sie nicht! Er muss die anderen mitnehmen!« Holmes hielt die Muskete ganz ruhig auf Longfellow gerichtet,
der entsetzt die Augen geschlossen hatte. Teal schüttelte heftig den Kopf, und einen Moment lang schien es, als wollte er los‐ schreien. Dann drehte er sich um, als stünde jemand hinter ihm, wandte sich nach links und nach rechts, und schließlich rannte er los, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Er war noch nicht allzu weit gelaufen, als ein Schuss knallte, dann noch ein zwei‐ ter, gefolgt von einem ersterbenden Schrei. Longfellow und Holmes sahen unwillkürlich auf die Waffen in ihren Händen. Sie gingen in die Richtung, in die Teal gelau‐ fen war. Teal lag im Schnee, und aus zwei Löchern in seiner Uniformjacke sickerte warmes rotes Blut in das unberührte Weiß. Holmes kniete nieder und tastete den Körper mit geüb‐ ten Händen nach Lebenszeichen ab. Longfellow kam langsam näher. »Holmes?« Holmesʹ Hände bewegten sich nicht mehr. Neben Teals Leiche stand ein verstörter Augustus Manning. Er bebte am ganzen Leib, seine Zähne klapperten, seine Hände zitterten. Manning ließ sein Gewehr in den Schnee fallen und wies zu seinem Haus zurück. Er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Es dauerte ei‐ nige Minuten, bevor er etwas Zusammenhängendes hervor‐ brachte. »Der Polizist, der mein Haus bewachen sollte, war vor ein paar Stunden plötzlich nicht mehr da! Dann hörte ich einen lauten Wortwechsel und sah ihn durchs Fenster«, sagte er. »Ich sah ihn, seine Uniform ... und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Er war es, der mich ausgezogen hat, Mr. Long‐ fellow, und, und ... er hat mich gefesselt ... mich ohne Kleider in dieses ...« Longfellow reichte ihm tröstend die Hand, und Manning fing
an zu schluchzen, während seine Frau aus dem Haus gelaufen kam. Eine Polizeikutsche hielt hinter dem kleinen Kreis, den sie um die Leiche gebildet hatten. Nicholas Rey kam mit gezücktem Revolver angelaufen. Eine zweite Kutsche brachte Sergeant Stoneweather und zwei weitere Polizisten. Longfellow nahm Rey beim Arm und sah ihn fragend an. »Es geht ihr gut«, sagte Rey, bevor der Dichter fragen konnte. »Ein Beamter passt auf sie und die Gouvernante auf.« Longfellow nickte dankbar. Holmes hielt sich am Zaun von Mannings Vorgarten fest und versuchte wieder zu Atem zu kommen. »Holmes, welch ein Wunder!«, sagte Longfellow. »Wollen Sie nicht hineingehen und sich ausruhen? Wir haben es geschafft! Aber wie ...« »Mein lieber Longfellow, ich glaube, das Tageslicht wird alles aufklären, was das Lampenlicht im Ungewissen gelassen hat«, sagte Holmes. Er führte die Polizisten zur Kirche und in die un‐ terirdischen Gänge, um Lowell und Fields zu befreien.
XXI Halt, Moment mal«, sagte der spanische Jude zu seinem Ge‐ genüber. »Heißt das denn nicht, Langdon, dass Sie der Letzte der Bostoner Fünf sein werden?« »Burndy hat nicht zu den ursprünglichen fünf gehört«, erwi‐ derte Langdon Peaslee großspurig. »Zu den fünf gehörten au‐ ßer mir ‐ der Herr sei ihren Seelen gnädig, wenn sie einmal zur Hölle fahren, und auch meiner, wennʹs bei mir so weit ist ‐ Randall, der in den Katakomben einsitzt, Dodge, der sich nach einem Nervenzusammenbruch im Westen zur Ruhe gesetzt hat, Turner, den seine Lady nach zweieinviertel Jahren ans Messer geliefert hat ‐ wenn das kein Grund ist, sich nie an einen Rock zu hängen! ‐, und der gute Simonds, der irgendwo am Hafen untergekrochen ist und derart säuft, dass er nicht mal mehr ein Sparschwein knacken könnte.« »Es ist ein Jammer«, stöhnte einer der vier Männer, die Peaslee zuhörten. »Was sagst du da?« Peaslee zog missbilligend eine Augen‐ braue hoch. »Ein Jammer, dass er jetzt hängen wird!«, sagte der schielende Dieb. »Nicht, dass ich ihn persönlich kennen würde, nein. Aber ich hab gehört, er ist so ziemlich der beste Tresorknacker, den es in Boston je gegeben hat! Der kriegt einen Safe mit einer Hühnerfeder auf!« Die anderen drei schwiegen, und hätten sie gestanden, hätten sie wahrscheinlich nervös mit den Füßen gescharrt, weil sich da
einer traute, auf diese Weise mit Langdon W. Peaslee zu reden. So aber nahmen sie nur einen Schluck aus ihrem Glas oder zo‐ gen zerstreut an den billigen Zigarren, die Peaslee verteilt hatte. Die Tür der Kneipe flog auf. Eine Fliege kam hereinge‐ schwirrt, flog zielstrebig in eine der schwarz verräucherten Ni‐ schen und umsummte Peaslees Tisch. Ein paar von den Brü‐ dern und Schwestern der Fliege hatten den Winter überlebt, und eine noch kleinere Anzahl hielt sich nach wie vor in den Wäldern von Massachusetts und würde das auch weiter tun, obwohl Professor Louis Agassiz, wenn er davon gewusst hätte, es als unerhörte Anmaßung bezeichnet hätte. Mit einem schnel‐ len Blick registrierte Peaslee die seltsam leuchtenden roten Au‐ gen und den großen bläulichen Körper des Insekts. Er ver‐ scheuchte es mit einer Handbewegung, und am anderen Ende der Bar gingen ein paar Gäste auf Fliegenjagd. Langdon Peaslee griff nach seinem starken Punsch, dem Hausgetränk der Stackpole Tavern. Peaslee brauchte sich nicht einmal auf seinem Hartholzstuhl aufzurichten, um das Glas mit der linken Hand zu erreichen, obwohl er den Stuhl ein ganzes Stück vom Tisch abgerückt hatte, damit er dem Halbkreis sei‐ ner zwielichtigen Apostel besser predigen konnte. Dank seiner Spinnenarme erreichte er so manches im Leben, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Verlass dich drauf, mein Lieber, dass dein Mr. Burndy« ‐ Peaslee zischte den Namen durch die großen Lücken zwischen seinen Pferdezähnen ‐ »nur der lauteste Tresorknacker war, den die Stadt je gesehen hat.« Erleichtert, weil die Situation entschärft war, lachten seine
Zuhörer lauter als nötig und hoben die Gläser, und Peaslee grinste noch breiter. Dem Juden blieb jedoch das Lachen im Halse stecken, und er spähte angestrengt über den Rand seines Glases. »Was ist, Jud?« Peaslee drehte den Kopf herum und sah, dass ein Mann dicht hinter ihm stand. Wortlos standen die kleinen Gauner und Taschendiebe auf und verzogen sich in die Ecken der Kneipe, und die schalen Rauchschwaden, die sie hin‐ terließen, verdichteten noch die ohnehin stickige Luft in dem fensterlosen Raum. Nur der Schielende blieb sitzen. »Zieh Leine«, zischte Peaslee, und der Mann trollte sich zu den anderen. »Wen haben wir denn da?«, sagte Peaslee und musterte den Mann vom Scheitel bis zur Sohle. Er schnalzte mit den Fingern nach der freizügig gekleideten Barfrau. »Was darfʹs sein?«, frag‐ te der Tresorknacker mit breitem Grinsen. Nicholas Rey entließ die Bedienung mit einer freundlichen Handbewegung und setzte sich Peaslee gegenüber. »Ach, kommen Sie, Officer, dann rauchen Sie wenigstens eine.« Rey lehnte die angebotene Zigarre ab. »Was soll die Trauermiene?« Peaslee erneuerte sein Grinsen. »Schauen Sie, die Jungs wollten sich gerade in den Hintergrund zurückziehen und ein bisschen pokern. Das machen wir jeden zweiten Abend, wissen Sie. Die hätten bestimmt nichts dage‐ gen, wenn Sie uns Gesellschaft leisten. Außer natürlich, Sie ha‐ ben nicht genug Kohle für den ersten Einsatz.« »Ich danke Ih‐ nen, Mr. Peaslee, aber lieber nicht«, sagte Rey. »Na ja.« Peaslee legte einen Finger an die Lippen, dann beugte er sich vor, als wollte er eine vertrauliche Mitteilung machen. »Glauben Sie ja
nicht«, begann er, »wir hätten Sie nicht beschattet. Wir wissen, dass Sie hinter einem Kerl her sind, der dieses Harvard‐ Elchgesicht Manning umbringen wollte, jemand, der anschei‐ nend Ihrer Meinung nach auch was mit den anderen Burndy‐ Morden zu tun hatte.« »Stimmt«, sagte Rey. »Ihr Glück, dass es nicht rausgekommen ist«, sagte Peaslee. »Sie wissen natürlich, dass die dicksten Belohnungen ausge‐ setzt sind, seit Lincoln umgelegt wurde, und mich wird für meinen Kram keiner einlochen. Wenn Burndy dran glauben muss, kassier ich, wie gesagt, eine saftige Prämie, Rey, alter Junge. Wir halten immer noch die Augen offen.« »Sie haben Burndy zu Unrecht beschuldigt, aber mir brauchen Sie nicht nachzuspionieren, Mr. Peaslee. Wenn ich genug Be‐ weise hätte, um Burndy freizukriegen, hätte ich sie längst vor‐ gelegt, ohne Rücksicht auf die Folgen. Und Sie müssten auf den Rest Ihrer Belohnung verzichten.« Peaslee hob bei der Erwähnung des Namens Burndy nach‐ denklich das Glas. »Die Staatsanwälte haben sich eine hübsche Geschichte ausgedacht: dass Burndy Richter Healey gehasst hat, weil der so viele Sklaven vor dem Fugitive Slave Act freige‐ lassen hat, und dass er Talbot und Jennison umgebracht hat, weil sie ihn um Geld betrogen haben. Er bekommt sein Water‐ loo, o ja. Und möge er tanzen, wenn er hängt.« Er trank einen tüchtigen Schluck, dann wurde er ernst. »Es heißt, dass der Gouverneur nach Ihrem Streit auf der Hauptwache nichts mehr vom Kriminaldezernat wissen will und dass die Stadtväter den alten Kurtz auswechseln und Sie degradieren wollen. Ich an Ihrer Stelle würde es nicht drauf ankommen lassen, sondern
abhauen, solange es noch geht. Sie haben sich in letzter Zeit viele Feinde gemacht, Schneeweißchen.« »Ich habe auch ein paar Freunde gewonnen, Mr. Peaslee«, sagte Rey nach einer Pause. »Wie gesagt, um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Aber es gibt jemand anderen. Und deshalb bin ich hier.« Peaslees borstige Augenbrauen schoben seinen hellbraunen Hut hoch. Rey drehte sich auf seinem Stuhl und sah zu einem baumlan‐ gen Mann hin, der auf einem Barhocker an der Theke saß. »Die‐ ser Mann ist in ganz Boston herumgelaufen und hat überall Fragen gestellt. Anscheinend denkt er, es gibt noch eine andere Erklärung für die Morde als die von Ihrer Seite vorgebrachte. Willard Burndy hatte nichts damit zu tun, sagt er. Seine Fragen könnten Sie den Rest Ihres Anteils an der Belohnung kosten, Mr. Peaslee ‐bis zum letzten Cent.« »Blödes Spiel. Was schlagen Sie vor?«, fragte Peaslee. Rey ü‐ berlegte. »Ich an Ihrer Stelle würde ihn überreden, für eine Wei‐ le aus Boston zu verschwinden.« An der Theke der Stackpole Bar las Simon Camp, der Pinker‐ ton‐Detektiv für den Großraum Boston, die nicht unterzeichne‐ te Mitteilung, die ihm Nicholas Rey geschickt hatte: Er solle sich um diese Zeit für ein wichtiges Gespräch bereithalten. Mit wachsendem Ärger sah er den Gaunern zu, die mit billigen Nutten tanzten. Nach zehn Minuten legte er ein paar Münzen auf den Tresen und stand auf, um seinen Mantel zu holen. »Na, wohin denn so eilig, mein Sohn?«, fragte der spanische
Jude beim Händeschütteln. »Was?«, fragte Camp und entzog dem Juden seine Hand. »Was seid ihr denn für Witzbolde? Macht, dass ihr wegkommt, bevor ich mich vergesse.« »Verehrter Herr.« Langdon Peaslee grinste breit, schritt durch seine Kumpane wie Moses durchs Rote Meer und baute sich vor dem Pinkerton‐Detektiv auf. »Ich schlage vor, Sie gehen ins Hinterzimmer und pokern ein bisschen mit uns. Wir wollen doch nicht, dass sich ein Fremder in unserer Stadt einsam fühlt.« Tage später ging J. T. Fields zu der von Simon Camp bestimm‐ ten Stunde in einer Bostoner Gasse auf und ab. Er zählte die Münzen in seinem Wildlederbeutel ‐ das Schweigegeld für Camp. Er schaute gerade wieder auf seine Taschenuhr, als er jemanden kommen hörte. Der Verleger hielt unwillkürlich den Atem an, entschlossen, standhaft zu bleiben. Er drückte den Beutel mit dem Geld an seine Brust und drehte sich um. »Lo‐ well?« Fields atmete aus. James Russell Lowell trug einen schwarzen Kopfverband. »Fields, ich ... Warum sind Sie ...« »Ja, also, ich wollte gerade ...«, stammelte Fields. »Wir haben doch beschlossen, Camp nicht zu bezahlen«, sagte Lowell, als er Fieldsʹ Geldbeutel sah. »Und warum sind Sie hier?« »Jedenfalls nicht, um bei Nacht und Nebel heimlich das Schweigegeld zu bezahlen!«, erwiderte Lowell. »Sie wissen doch, dass ich nie und nimmer über solche Summen verfügen kann. Ich weiß nicht recht. Wahrscheinlich nur, um ihm mal
richtig Bescheid zu stoßen. Wir können doch nicht einfach zu‐ lassen, dass dieser Teufel Dante in den Schmutz zieht ...« »Ja«, sagte Fields. »Aber vielleicht sollten wir Longfellow nichts da‐ von erzählen.« Lowell nickte. »Nein, das tun wir besser nicht.« Zwanzig Mi‐ nuten vergingen. Sie sahen den Laternenanzündern mit ihren langen Stangen zu. »Was macht Ihr Kopf, Lowell?« »Er fühlt sich an, als sei er in zwei Hälften zerbrochen und dilettantisch wieder zusammengesetzt worden«, sagte Lowell und lachte. »Aber Holmes meint, die Schmerzen werden in ein, zwei Wochen verschwinden.« »Na, das klingt doch schon viel besser. Haben Sie das von Sam Ticknor gehört?« »Nein, was denn?« »Er macht mit einem seiner nichtsnutzigen Brüder einen Ver‐ lag auf ‐ in New York! Er hat mir geschrieben, dass er mich vom Broadway aus ruinieren wird. Wie hätte Bill Ticknor wohl da‐ rüber gedacht, dass sein Sohn den Verlag zugrunde richten will, der seinen Namen trägt?« »Sollen die Lumpen es doch versuchen! Wissen Sie, was? Ich schreibe Ihnen mein bestes Gedicht dieses Jahres ‐ eigens aus diesem Anlass, mein lieber Fields.« Sie warteten noch eine Weile, dann sagte Lowell: »Ich würde ein Paar Handschuhe darauf wetten, dass Camp zur Vernunft gekommen ist und auf sein Spielchen verzichtet. Ich glaube, dieser herrliche Mond und die stillen Sterne reichen aus, die Sünde in die Hölle zurückzutreiben.« Fields wog den Geldbeutel in der Hand und lachte. »Wie wärʹs, wollen wir nicht einen Teil davon auf den Kopf hauen
und uns ein spätes Abendessen im Parkerʹs gönnen?« »Wenn Sie bezahlen, bin ich dabei!« Lowell ging voraus, und Fields rief ihm nach, er solle auf ihn warten. Lowell ging unbeirrt weiter. »Bleiben Sie stehen. Das Schicksal der Wohlbeleibten! Nie warten meine Autoren auf mich«, grummelte Fields. »Etwas mehr Respekt vor meinem Fett, wenn ich bitten darf.« »Sie wol‐ len abnehmen, Fields?«, rief Lowell zurück. »Geben Sie Ihren Autoren zehn Prozent mehr, und Sie sind in kürzester Zeit Ihre überflüssigen Pfunde los!« In den folgenden Monaten erschien in einer neuen Serie von Groschenheften, die J. T. Fields wegen ihres verderblichen Ein‐ flusses auf die Öffentlichkeit verabscheute, die Geschichte des kleinen Pinkerton‐Detektivs Simon Camp. Der hatte kurze Zeit nach dem Gespräch mit Langdon W. Peaslee Boston Hals über Kopf verlassen und war danach von der Staatsanwaltschaft be‐ schuldigt worden, mehrere leitende Regierungsbeamte mit Kriegsgeheimnissen erpresst zu haben. In den drei Jahren vor seiner Verhaftung hatte Camp Zehntausende von Dollar ergau‐ nert, indem er Personen erpresste, die in seine Fälle verwickelt waren. Allan Pinkerton erstattete allen Klienten, für die Camp gearbeitet hatte, die Honorare zurück, die sie ihm bezahlt hat‐ ten. Einer allerdings, ein Dr. Augustus Manning von der Har‐ vard University, war verschwunden und konnte auch von der führenden Detektei des Landes nicht ausfindig gemacht wer‐ den. Augustus Manning hatte seine Stellung bei der Harvard Corporation gekündigt und war mit seiner Familie von Boston weggezogen. Seine Frau sagte, er habe seit Monaten kaum
mehr als ein paar Worte gesprochen; manche sagten, er sei nach England übersiedelt, andere hörten, er lebe jetzt auf einer Insel in einem fernen Ozean. Die anschließende Umorganisation der Verwaltung der Harvard‐Universität führte zur überraschen‐ den Wahl des neuen Aufsichtsratsmitglieds Ralph Waldo E‐ merson. Der Vorschlag dazu war vom Verleger des Philoso‐ phen, J. T. Fields, gekommen und von Präsident Hill unter‐ stützt worden. So endete die zwanzigjährige Verbannung E‐ mersons aus Harvard, und die Dichter in Cambridge und Bo‐ ston waren dankbar, weil sie nun einen der Ihren im Aufsichts‐ rat der Universität hatten. Noch im Jahre 1865 erschien als Pri‐ vatdruck Henry Wadsworth Longfellows Übersetzung des In‐ ferno, die von den Florentiner Kuratoren als Beitrag zur Feier von Dantes sechshundertstem Geburtstag dankbar entgegen‐ genommen wurde. Das steigerte die Erwartungen an Longfel‐ lows Übersetzung, die in den literarischen Kreisen von Berlin, London und Paris bereits als »exzellent« gepriesen wurde. Longfellow schenkte jedem Mitglied seines Dante Club und anderen Freunden je ein Vorausexemplar. Obwohl er nicht viel Aufhebens davon machte, wussten Eingeweihte, dass er ein weiteres Exemplar als Verlobungsgeschenk nach London schickte, wohin Mary Frere, eine junge Dame aus Auburn, New York, gezogen war, um in der Nähe ihres Verlobten zu sein. Longfellow war viel zu sehr mit seinen Töchtern und einem neuen, langen Gedicht beschäftigt, um sich ein besseres Ge‐ schenk für sie auszudenken. Ihre Abwesenheit von Nahant wird eine Lücke hinterlassen, ähnlich der, die durch den Abbruch eines Hauses in einer Straße entsteht.
Longfellow merkte selbst, wie sehr Dantes Sprache auf seine eigene Diktion abgefärbt hatte. Charles Eliot Norton und William Dean Howells waren recht‐ zeitig aus Europa zurückgekehrt, um Longfellow bei den An‐ merkungen zu seiner vollständigen Übersetzung der Göttlichen Komödie zu unterstützen. Noch umgeben vom Nimbus ihrer Abenteuer in der Fremde, versprachen Howells und Norton ihren Freunden Berichte über Ruskin, Carlyle, Tennyson und Browning: Manche Geschichten ließen sich persönlich besser erzählen als in Briefen. Lowell unterbrach diese Gedanken mit einem herzlichen Lachen. »Aber interessiert Sie das denn nicht, James?«, fragte Charles Eliot Norton. »Ach, lieber Norton«, sagte Holmes, Lowells Fröhlichkeit in‐ terpretierend, »wir sind es doch, die, ohne einen Ozean zu ü‐ berqueren, eine Reise gemacht haben, die kein Sterblicher in einem Brief schildern könnte.« Dann schwor Lowell Norton und Howells auf ewige Verschwiegenheit ein. Als der Dante Club nach getaner Arbeit seine Zusammenkünf‐ te einstellte, fürchtete Holmes, dass sich bei Longfellow ein ge‐ wisses Unbehagen breit machen könnte. Deshalb schlug Hol‐ mes Nortons Anwesen Shady Hill als Ort für regelmäßige Zu‐ sammenkünfte am Samstagabend vor. Dort würden sie über Nortons in Arbeit befindliche Übersetzung von Dantes La Vita Nuova diskutieren, der Geschichte von Dantes Liebe zu Beatri‐ ce. An manchen Abenden gesellte sich zu ihrem kleinen Kreis Edward Sheldon, der mit der Zusammenstellung einer Kon‐ kordanz von Dantes Gedichten und kleineren Werken begon‐ nen hatte und darauf hoffte, demnächst ein oder zwei Jahre in
Italien studieren zu können. Lowell hatte kurz zuvor auch sei‐ ner Tochter Mabel erlaubt, sechs Monate lang Italien zu berei‐ sen. Die Fields, die nach Neujahr per Schiff aufbrechen würden, nachdem Fields die Leitung des Verlags in die Hände von J.R. Osgood gelegt hatte, wollten sie begleiten. Unterdessen bereitete Fields ein Bankett im berühmten Bosto‐ ner Union Club vor, noch bevor Houghton mit dem Druck von Lowells Übersetzung der Divina Commedia begann, die dann als dreibändige Ausgabe erschien und zum literarischen Ereignis der Saison wurde. Am Tag des Banketts verbrachte Oliver Wendell Holmes den Nachmittag in Craigie House. Auch George Washington Gree‐ ne war aus Rhode Island gekommen. »Ja, ja, auf die einzelnen Leser kommt es an«, sagte Holmes zu Greene über den großen Erfolg seines letzten Romans. »Sie sind der Maßstab für den Wert von Literatur. Literatur ist nicht das Überleben der Stärksten, sondern das Überleben der Überleben‐ den. Was sind schon Kritiker? Sie geben sich die größte Mühe, mich herabzusetzen, mich als unbedeutend abzutun ‐ und wenn ich das nicht aushalte, geschieht es mir recht.« »Sie reden neuerdings wie Mr. Lowell«, sagte Greene lachend. »Da haben Sie wohl Recht.« Mit zittrigem Finger lockerte Greene seine Halsbinde. »Ich brauche nur ein bisschen Luft«, sagte er und wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. »Wenn ich Sie gesund machen könnte, Mr. Greene, würde ich eigens dafür meinen Arztberuf wieder aufnehmen.« Holmes ging nachsehen, ob Longfellow abfahrbereit war. »Nein, nein,
besser nicht«, sagte Greene. »Lassen Sie uns draußen warten, bis er fertig ist.« Vor dem Haus bemerkte Holmes: »Eigentlich müsste ich ja ge‐ nug haben, Mr. Greene, aber auch wenn Sie mir nicht glauben: Ich habe angefangen, die Göttliche Komödie noch einmal zu le‐ sen. Was ich gern wüsste: Haben Sie, bei allem, was wir durch‐ machen mussten, nie den Wert unserer Arbeit in Zweifel gezo‐ gen? Haben Sie nie gedacht, dass uns unterwegs etwas verloren gegangen ist?« Greenes Halbmondaugen schlossen sich. »Sie, Dr. Holmes, und die beiden anderen Herren haben Dantes Geschichte stets für die wunderbarste Erfindung der Literatur gehalten. Ich ha‐ be dagegen immer geglaubt, dass Dante seine Wanderungen tatsächlich unternommen hat. Ich habe geglaubt, dass Gott ihm ‐ und der Dichtung ‐ das gewährt hat.« »Und jetzt?«, fragte Holmes. »Glauben Sie jetzt immer noch, dass alles wahr gewesen ist?« »Oh, mehr denn je.« Er lächelte und schaute zum Fenster von Longfellows Arbeitszimmer. »Mehr denn je.« Nachdem er die Lampen in Craigie House heruntergedreht hatte, ging Longfel‐ low die Treppe hinauf, vorbei an Giottos Porträt von Dante, dem sein eines nutzloses Auge nichts auszumachen schien. Longfellow dachte, dass dieses Auge vielleicht die Zukunft sei, aber im Jenseits das schöne Geheimnis Beatrices bleiben würde, die seinem Leben die Richtung gegeben hatte. Longfellow hörte die Abendgebete seiner Töchter und sah dann zu, wie Alice Mary ihre beiden jüngeren Schwestern, Edith und die kleine Annie Allegra, zudeckte. »Wann kommst du denn wieder, Pa‐
pa?« »Recht spät, Edith. Ihr werdet alle schon schlafen.« »Wird man dich bitten, eine Ansprache zu halten? Wer wird außer dir noch alles dort sein?«, wollte Annie Allegra wissen. »Bitte sagʹs uns.« Longfellow strich sich den Bart. »Wen habe ich euch denn schon genannt, mein Schatz?« »Längst nicht alle, Papa!« Sie zog ihr Notizbuch unter der Bettdecke hervor. »Mr. Lowell, Mr. Fields, Dr. Holmes, Mr. Norton, Mr. Howells ...« Annie Allegra schrieb ein Buch, dem sie den Titel Erinnerungen eines kleinen Mädchens an Große Men‐ schen gegeben hatte und das sie bei Ticknor & Fields heraus‐ bringen wollte. Ein Bericht über das Dante‐Bankett sollte am Anfang stehen. »Ach ja«, unterbrach Longfellow sie, »du kannst noch Mr. Greene hinzusetzen, und deinen Freund Mr. Sheldon, und na‐ türlich Mr. Edwin Whipple, Fieldsʹ Zeitschriftenkritiker.« Annie Allegra schrieb alle Namen auf, die sie buchstabieren konnte. »Ich hab euch lieb, meine kleinen Mädchen«, sagte Longfellow und küsste sie nacheinander sanft auf die Stirn. »Ich hab euch lieb, weil ihr meine Töchter seid. Und Mamas Töchter, und weil sie euch lieb gehabt hat. Und euch immer noch lieb hat.« So ließ er seine Töchter unter ihren hellen Bettdecken zurück, sicher und geborgen in der Stille der Nacht. Er schaute aus dem Fen‐ ster zur Remise hinüber, wo die neue Kutsche der Fields war‐ tete ‐ er hatte alle naselang eine neue ‐ und das alte Pferd, ein von Fields kürzlich adoptierter Veteran der Nordstaaten‐ Kavallerie, Wasser trank, das sich in einer Mulde gesammelt
hatte. Es regnete jetzt, ein Nachtregen: ein sanfter, christlicher Regen. Es musste für J. T. Fields sehr unbequem gewesen sein, von Boston nach Cambridge zu fahren, nur um wieder nach Boston zurückzufahren, aber er hatte darauf bestanden. Holmes und Greene hatten zwischen sich Platz für Longfellow gelassen, ihnen gegenüber saßen Fields und Lowell. Beim Einsteigen hoffte Longfellow, man würde ihn nicht darum bitten, vor allen Gästen des Banketts eine Rede zu halten, und wenn doch, dann würde er einfach nur seinen Freunden für ihren Beistand dan‐ ken.
Danksagung Dieses Buchprojekt entstand aus akademischer Forschung unter der glücklichen Leitung von Lino Pertile, Nick Lolordo und des Departments für Englische und Amerikanische Literatur an der Harvard University. Tom Teicholz brachte mich als Erster auf die Idee, diesen einzigartigen Augenblick in der Geschichte der Literatur in einem Werk der erzählenden Literatur näher zu beleuchten. Dass sich das Manuskript zu einem Buch entwickelte, ist vor allem zwei begabten und ideenreichen Profis zu verdanken: meiner Agentin Suzanne Gluck, deren Engagement, Phantasie und Freundschaft schon bald genauso wichtig für das Buch wurden wie die Personen der Handlung, und meinem Lektor Jon Karp, der sich uneingeschränkt der Aufgabe widmete, die Entstehung und Gestaltung des Romans mit Geduld, Großzü‐ gigkeit und Achtung zu lenken und zu leiten. Zwischen Beginn und Vollendung leisteten viele einen Bei‐ trag, denen ich zu Dank verpflichtet bin. Für ihre Zuversicht und ihren Einfallsreichtum als Leser und Ratgeber: Julia Green, die mir bei jeder neuen Idee und jedem Hindernis unverbrüch‐ lich zur Seite stand; Scott Weinger; meinen Eltern Susan und Warren Pearl und meinem Bruder Ian dafür, dass sie die Zeit und die Kraft fanden, mir in jeder Hinsicht zu helfen. Mein Dank gilt auch den Lesern Toby Ast, Peter Hawkins, Richard Hurowitz, Gene Koo, Julie Park, Cynthia Posillico, Lino und Tom sowie den Beratern Lincoln Caplan, Leslie Falk, Micah Green, David Korzenik und Keith Poliakoff. Dank auch an Ann
Godoff für ihre unerschütterliche Unterstützung. Außerdem danke ich folgenden Verlagsmitarbeitern: Bei Random House: Janet Cooke, Todd Doughty, Janelle Duryea, Jake Greenberg, Ivan Held, Carole Lowenstein, Maria Massey, Libby McGuire, Tom Perry, Allison Sastzman, Carol Schneider, Evan Stone und Veronica Windholz. Bei der Modern Library: David Ebershoff. Bei ICM: Richard Abate, Ron Bernstein, Margaret Haiton, Karen Kenyon, Betsy Robbins und Caroline Sparrow. Bei William Morris: Karen Gerwin und Emily Nurkin. Courtney Hodell schließlich gebührt Dank dafür, dass sie das Projekt mit ihrer Begeisterungsfähigkeit und ihren Ideen voranbrachte. Bei meinen Recherchen unterstützten mich die Bibliotheken von Harvard und Yale, Joan Nordeil, J. Chesley Mathews, Jim Shea sowie Nell und Angelica Rudenstine, die es mir gestatte‐ ten, unter Leitung von Kim Tseko ihr Haus (das ehemalige Elmwood) zu besichtigen. Für ihre wertvolle Hilfe auf dem Ge‐ biet der forensischen Entomologie danke ich Rob Hall, Neal Haskeil, Boris Kondratieff, Daniel Maiello, Morten Starkeby, Jeffrey Wells, Ralph Williams und nicht zuletzt Mark Benecke. Mein besonderer Dank geht an die Hüter der Geschichte im Longfellow House, wo wir die Räume betreten, die einst den Dante Club beherbergten, und an die Dante Society of America, die unmittelbar aus dem Dante Club hervorging und dessen Geist und Vermächtnis fortführt.
Historische Anmerkung Im Jahre 1865 gründete Henry Wadsworth Longfellow, der er‐ ste amerikanische Dichter, der es zu internationaler Anerken‐ nung brachte, in seinem Haus in Cambridge, Massachusetts, einen Club von Dante‐Übersetzern. Die Dichter James Russell Lowell und Dr. Oliver Wendell Holmes, der Historiker George Washington Greene und der Verleger James T. Fields unter‐ stützten Longfellow bei der ersten vollständigen amerikani‐ schen Übersetzung von Dantes Göttlicher Komödie. Die Gelehr‐ ten widerstanden dabei sowohl dem literarischen Traditiona‐ lismus, der den Vorrang des Lateinischen und Griechischen an den Universitäten des Landes verteidigte, als auch dem kultu‐ rellen Nativismus, der die amerikanische Literatur auf einhei‐ mische Werke beschränken wollte, einer Bewegung, die der Longfellows Kreis nahe stehende Ralph Waldo Emerson be‐ gründet hatte, ohne dass er jedoch immer an ihrer Spitze ge‐ standen hätte. Longfellows ursprünglicher »Dante Club« war die Keimzelle der später gegründeten Dante Society of Ameri‐ ca, deren erste drei Präsidenten Longfellow, Lowell und Charles Eliot Norton wurden. Während auch schon vor dieser Bewegung einzelne amerika‐ nische Intellektuelle mit Dante vertraut waren, überwiegend dank britischer Übersetzungen der Göttlichen Komödie, blieb der amerikanischen Öffentlichkeit Dantes Dichtung im Großen und Ganzen verschlossen. Dass offenbar erst 1867 eine in den Verei‐ nigten Staaten gedruckte italienische Ausgabe der Divina Com‐ media erschien, also im selben Jahr, in dem Longfellows Über‐
setzung herauskam, spricht für die Zunahme des Interesses an Dante. Der Dante Club enthält, zum Teil in adaptierter Form, Zitate aus den Gedichten, Essays, Romanen, Tagebüchern und Briefen der Mitglieder des Dante Club und ihnen nahe stehen‐ der Personen. Darüber hinaus war ich bemüht, durch Besuche von Gedenkstätten sowie anhand verschiedener Stadtgeschich‐ ten, Landkarten, Memoiren und Dokumente ein getreues Bild von Boston, Cambridge und der Harvard University im Jahre 1865 erstehen zu lassen. Zeitgenössische Berichte, vor allem die literarischen Erinnerungen von Annie Fields und William Dean Howells, boten unschätzbare Einblicke in das tägliche Leben der Dichter und klingen in der Erzählstruktur des Romans an, in dem selbst Randfiguren, wo immer möglich, historischen Persönlichkeiten nachgebildet sind, die an den berichteten Er‐ eignissen hätten beteiligt sein können. Die Figur des von der Harvard University entlassenen Italienischlehrers Pietro Bachi ist aus zwei historischen Gestalten zusammengefügt, Pietro Ba‐ chi selbst und Antonio Gallenga, der ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Italienischlehrer in Boston war. Zwei Mitglieder des Dante Club, Howells und Norton, haben durch ihre Berichte viel zu meinem Bild von der Gruppe beige‐ tragen, treten jedoch im Roman nur kurz in Erscheinung. Die von Dante‐Szenen angeregten Morde haben kein histori‐ sches Vorbild, doch Polizisten‐Biographien und städtische Ar‐ chive belegen, dass in Neuengland nach dem Sezessionskrieg die Zahl der Mordtaten steil anstieg und auch Korruption und Komplizenschaft zwischen Kriminalbeamten und Berufsver‐ brechern zunahmen. Nicholas Rey ist zwar eine fiktive Figur,
verdeutlicht aber die prekäre Situation der ersten afroamerika‐ nischen Polizisten im 19. Jahrhundert, von denen viele als Sol‐ daten am Sezessionskrieg teilgenommen hatten und aus ge‐ mischtrassigen Familien stammten; eine Schilderung ihrer Le‐ bensumstände findet sich in W. Marvin Dulaneys Black Police in America. Die Kriegserlebnisse Benjamin Galvins beruhen auf den Chroniken des 10. und des 13. Massachusetts‐Regiments, auf persönlichen Schilderungen anderer Soldaten sowie auf Berichten von Kriegsreportern. Bei meiner Erforschung von Galvins psychischer Verfassung habe ich mich an die kürzlich erschienene Studie Shook over Hell von Eric Dean angelehnt, in der posttraumatische, stressbedingte Persönlichkeitsstörungen bei Veteranen des Sezessionskrieges eindringlich beschrieben werden. Die Handlung, in die meine Figuren verstrickt sind, ist frei erfunden, doch es sei mir gestattet, eine nicht belegte An‐ ekdote aus einer frühen Biographie des Dichters James Russell Lowell hier wiederzugeben: An einem bestimmten Mittwoch‐ abend, so erzählt man sich, weigerte sich die beunruhigte Fan‐ ny Lowell, ihren Mann die Straße hinunter zur Sitzung des Dante Club bei Longfellow gehen zu lassen, es sei denn, er nehme seine Jagdflinte mit. Als Grund ihrer Sorge gab sie an, dass in letzter Zeit mehrere Verbrechen in Cambridge begangen worden seien.