ERWIN BEKIER
Der Diamantenflieger
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
nach Tatsachen gestaltet
Scan by Pluto
1.-70. Tausend ...
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ERWIN BEKIER
Der Diamantenflieger
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
nach Tatsachen gestaltet
Scan by Pluto
1.-70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1969 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Karl Fischer Lektor: Rolf Dieter Burgdorff Vorauskorrektor: Michael Rehse Hersteller: Lydia Herkt Gcsamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Als Safjannikow und Kunyzin einander gegenüber standen, gab es in der Sowjetunion etwas mehr als zweihundert Millionen Menschen. Diese beiden je doch, der Expeditionsleiter und der Flieger, dachten in jenem Augenblick: Ein zweites Mal könnte es eine solche Begegnung nicht mehr geben. Kunyzin hatte bereits seine Erfahrungen mit Expeditions leitern und ähnlichen Leuten, die für ihn in Betracht kamen, gemacht, und Safjannikow wollte von Flie gern schon nichts mehr hören. Die Begegnung fand auf dem Irkutsker Flugplatz statt. In der Stadt hatte Kunyzin ehemalige Frontka meraden getroffen. Sie hörten sich seine Erlebnisse mit ehrlicher Anteilnahme an, wußten jedoch zu nächst auch keinen Rat, bis einer rief: „Willst du nicht eine Po zwei fliegen?" Die anderen räusperten sich verlegen. Die Ordensspange auf Kunyzins Uniformbluse hätte den Genossen von solch einer Frage zurückhalten müssen. Eine Po-2! Nur die äl teren unter ihnen waren irgendwann einmal in den ersten Monaten ihrer Ausbildung, und das Jahre vor dem Krieg, mit diesem Typ geflogen. Bevor Kunyzin kam, hatte sich das Gespräch gerade um den Überschallflug gedreht. Die Flieger brachen es ab, als Kunyzin sich zu ihnen setzte. „Wo finde ich diese Po zwei und den dafür verantwortlichen Mann?" erkundigte sich Kunyzin nach einigen er
klärenden Sätzen. „Auf dem Schrottplatz", sagte ein Spaßvogel, erntete aber einen Rippenstoß von sei nem Nebenmann; die Genossen hatten den Hoff nungsschimmer in den Augen Kunyzins bemerkt. „Geh nur hin, das ist der richtige Mann für dich." Kunyzin erkundigte sich in der Geologischen Ver waltung. „Safjannikow?" Eine Sekretärin musterte den Fragesteller. „Den werden Sie auf dem Flug platz finden. Nein, auf dem Schrottplatz", verbesserte sie sich, „er wird wohl noch Pilot werden, wenn's so weiter geht." Schon von weitem bemerkte Kunyzin die uralte, wohl hundertmal geflickte Po-2. Schwerfällig, zur Seite geneigt, stand das Flugzeug auf seinem Ab stellplatz. Im Pilotensitz machte sich ein Mann zu schaffen. Kunyzin beachtete ihn zunächst nicht. Er schritt um die leinwandbespannte Maschine, deren Prototyp als Schulflugzeug entwickelt worden war, herum und erinnerte sich: Als er noch zur Schule ging, hatten im Jahre 1934 sowjetische Flieger auch mit solchen Maschinen, die damals U-2 genannt wurden, die Mannschaft des im Nordpolarmeer ge sunkenen Schiffes „Tscheljuskin" vom Eis auf das Festland geflogen. Nach diesem Ereignis wollten alle Jungen und Mädchen in seiner Klasse Flieger werden. Die ganze Welt verfolgte die Rettungsaktion. Im einzigen Passagiersitz ihrer Maschinen brachten die Flieger drei und vier Seeleute unter, und in den zigarrenförmigen Fallschirmbehältern, die unter den Tragflächen hingen und von den Piloten deshalb scherzhaft „Zigarren" genannt wurden, fanden noch zwei der
Schiffbrüchigen Platz. Die Piloten hatten bei der Suche nach der Tscheljuskin-Expedition Gebirgszüge überqueren müssen, von denen es keine Karten gab ... Dann vergingen über zehn Jahre, bis Kunyzin wieder solch eine Maschine erblickte. Am frühen Morgen landete sie auf einem schmalen Landstreifen zwischen Uferfelsen und Meer. Die Bespannung der Tragflächen flatterte zerschossen und zerrissen, der Rumpf sah nicht viel besser aus. Die Marineflieger schauten. „Packt lieber zu", rief eine Frauenstimme, und ein Mädchen zog seine Gefährtin aus dem zweiten Sitz hinter dem Maschinengewehr hervor. „Die Faschisten haben uns mit drei ,Messerschmitt' gejagt." Später stellte sich heraus, daß es ein ganzes Frauen fliegerregiment gab. In der Nacht flogen die Fliegerinnen mit diesen Maschinen in großer Höhe die gegnerischen Stellungen an, schalteten den Motor ab und glitten dank der Leichtigkeit dieses Typs ein Dutzend Kilometer lautlos bis zum Ziel ihres Bombenabwurfs.
„Was schauen Sie so?" fragte der Mann im Pilo tensitz, „verstehen Sie etwas von der Fliegerei?" „Ja, etwas", antwortete Kunyzin. Safjannikow musterte die gedrungene Gestalt in der Lederjacke, von der sich die meisten der demo bilisierten Militärflieger nicht trennen mochten. „Und jetzt sind Sie auf der Suche nach einem Düsenjäger?" „Nein, warum? Ich suche eine interessante Arbeit." Mit einer Behendigkeit, die Kunyzin dem Manne nicht zugetraut hätte, war dieser aus dem Pilotensitz gesprungen. Kluge, forschende Augen sahen
Kunyzin an. „Ich brauche einen Piloten!" Eine etwas zaghafte Geste zu dem Flugzeug. „Für diese Maschine. Aber mit der kennen Sie sich wohl nicht aus?" Kunyzin ging um die Po-2 herum, er rüttelte und schüttelte an dem Leitwerk, kletterte in die Kabine, überprüfte die Steuerung, schaute auch auf das Instrumentenbrett und sprang wieder auf die Erde. „Ist doch noch ganz gut in Schuß, die Kiste. Was haben Sie denn damit vor?" Safjannikow schleppte den ehemaligen Offizier der Seefliegerkräfte Kunyzin im Triumph zur Geolo gischen Verwaltung. Auf dem Wege dorthin erklärte er alles Notwendige. „Ich stelle eine Expedition zusammen. Sie hat einen besonderen Auftrag. Sie soll etwas suchen, was man bisher nicht gefunden hat. Zum Hauptlager wird solch ein Trupp natürlich geflogen, auch die Ausrüstung und der Proviant. Aber dann..., wie war Ihr Vatersname? Aber dann, Innokenti Trofimowitsch, gibt es für die Suchtrupps kein Flugzeug mehr. Im Notfall natürlich, aber nicht für die Arbeit, da sind sie auf Rentiere angewiesen und auf Boote. Es geht ja auch nicht anders. Solche Trupps gibt es Tausende. Nur na, das werden Sie später erfahren, es ist eben doch eine besondere Expedition, deshalb ist es mir gelungen, die Po zwei zu organisieren, denn sie könnte die Verbindung von den einzelnen Abteilungen zum Hauptlager halten. Wie sagt Ihnen so eine Arbeit zu? Sind Sie Sibirier? Kennen Sie sich hier aus? Sind Ihre Papiere in Ordnung?" Safjannikow stockte, schaute einen Augenblick, und ehe Kunyzin etwas erwidern konnte, fuhr er fort:
„Immer die Bürokratie, was? Wenn Jermak so gefragt hätte, da wäre Irkutsk hundert Jahre später auf die Landkarte gekommen. Übrigens, mit Papie ren von der Po zwei kann ich auch nicht dienen." „Ich hab' schon Papiere", brummelte Kunyzin, „eher zuviel als zuwenig. Und mit Flugzeugen kenne ich mich aus. Wenn Sie eine technische Überprüfung beantragen, dann wird man allerdings vielleicht irgend so ein Furunkel entdecken und erklären, der Motor sei gerade gut genug als Ventilator in einer Schmiede." „Nein, da verlasse ich mich schon auf Sie. Sie ken nen sich mit Flugzeugen und ich mich mit Menschen aus. Wir werden über Furunkel nicht diskutieren." So begann im Frühjahr des Jahres 1947, zwei Jahre, nachdem der Marineflieger Kunyzin aus der Armee entlassen worden war, die Tätigkeit des Diamantenfliegers Kunyzin. Allerdings nannte man ihn damals noch nicht so. Er war einfach ein Mit glied der Tunguska-Expedition. Die Expedition hatte den Namen nach ihrem Forschungsgebiet. Was sie suchte, war nur den wenigen Geologen bekannt. Innokenti Kunyzin, der froh war, wieder fliegen zu können, überführte seine Po-2 zunächst nach Kirensk an der Lena. Hier lagerte das Expeditionsmaterial. Es war schon im Vorjahr zunächst auf der Taiga-Autostraße von Irkutsk die dreihundert Kilometer bis zum Flußhafen Katschug befördert worden. Von dort hatten Motorboote die Fracht noch einmal fünfhundert Kilometer bis Ust
Kut gebracht, und hier, wo die Lena schiffbar wurde, übernahmen schon die großen Flußfahrgastschiffe den Weitertransport bis zur zweihundert Kilometer entfernten Stadt Kirensk. Im Jahre 1947 wurde die Lena zeitig eisfrei. Mitte Mai traf eine Staffel Flugboote ein. Sie sollten Ex peditionsteilnehmer und Ausrüstung in das im Hohen Norden gelegene Ewenkendorf Jerbogatschen bringen. Zusammen mit den Flugbooten stieg auch Kunyzin auf. Natürlich blieb er hinter der Staffel zurück. Aber am verabredeten Zwischenlandeplatz warteten die Flugboote. Sie lagen im Fluß verankert. Kunyzin brachte seine Po 2 auf einer Sandbank herunter. Darauf lagen noch Eisschollen verstreut; aber unter den kritischen Blicken der anderen Flieger landete Kunyzin, als sei die Po-2 eine Libelle. Die Piloten der Flugboote zwinkerten Kunyzin fröhlich zu, und der Spaßvogel bekam dieses Mal keinen Rippenstoß, als er rief: „He, ,Taiga-Mücke'! Hast uns wohl nach dem Geruch aufgespürt?" Vor dem Start informierten sie Kunyzin noch einmal ausführlich über den Weg zum Hauptlager. Der Flieger erfuhr, daß sich seine Kameraden, und insbesondere jene Piloten, die ihn nicht kannten, Sorgen gemacht hatten. „Der schafft's nicht, das gibt Kleinholz", hatte schließlich jemand geäußert. „Danke, danke, Genossen." Kunyzin wehrte ver legen die vielen Hinweise ab. „Außerdem fliegt ihr ja doch gleich wieder vom Hauptlager zurück, und dort beginnt doch erst meine eigentliche Arbeit." „Das ist es eben", erwiderte der Staffelkapitän.
„Diese Strecke kennen wir auch gerade so über den Daumen gepeilt. Du aber wirst über den Flußläufen der Unteren und Steinigen Tunguska fliegen. Dieses ganze Gebiet ist für den Flugverkehr gesperrt, denn es gibt noch keine genauen Karten. Die meteorologischen Verhältnisse kannst du dir von den Ewenken erklären lassen. Sie werden dich sowieso zum Halbgott erklären, weil bisher mit ihnen nur Verbindung durch Boote bestand." „Einer muß ja der Erste sein", erwiderte Kunyzin. „Im wahrsten Sinne des Wortes", fuhr der Staffel kapitän fort, „dir gehört der ganze Luftraum über dem Nationalen Kreis der Ewenken, der ist immer hin so groß wie Frankreich, und Zusammenstöße brauchst du nicht zu befürchten; in keiner Höhe." Aber auch im Hauptlager lagen noch die Flugboote, als Kunyzin mit seiner Po-2 über die Taiga herangebraust kam. Die Piloten riefen freudig: „Sieh mal an, der Kleine macht sich!" Sie beobachteten Kunyzin, wie er aus dem Flugzeug kletterte und wie er es tätschelte, als sei es ein Pferd. „Hast dich gut gehalten, Brummerchen, wir werden schon miteinander auskommen." Die Geologen und ihre Helfer hielten sich in re spektvollem Abstand, solange die Flieger da waren. Auch als die Staffel nicht mehr zu sehen war und die Leute, die den Flugbooten nachgeschaut hatten, auseinander gingen, spürte Kunyzin einen Abstand. Niemand fragte ihn: „Können wir irgendwie helfen, Innokenti Trofimowitsch?" Sie haben wahrschein lich Angst, daß ich ihnen mehr Arbeit mache, als daß ich nützlich sein kann, dachte Kunyzin. Und er
wußte nicht, ob sie damit recht hatten. Selbst Saf jannikow, der doch so froh gewesen war, endlich einen Piloten für die Tunguska-Expedition gefunden zu haben, mußten Zweifel gekommen sein. Kurz vor dem Abflug war er an die Po-2 herangetreten. „Wie steht's, Innokenti Trofimowitsch? Macht Ihnen solch ein Flug ins Blaue keine Sorgen?" „Warum? Meinen Sie, im Krieg hat es keine Flüge ins Blaue gegeben? Und die Taiga ist kein Meer." Safjannikow hüstelte. „Nicht ganz, aber beinahe ..." Er war um den Flieger besorgt, aber Kunyzin star tete durch und rief: „Was für ein Furunkel?" Safjannikow verstand. „Keine Feder und keinen Pelz!" rief er das alte russische Jägerwort durch den Lärm. „Keine Feder und keinen Pelz!" murmelte Kunyzin in Erinnerung an diese Szene und sagte zu einem der Geologen: „Vielleicht helfe ich erst bei der Einrichtung des Lagers, und dann bauen wir alle so etwas wie einen Flugplatz?" „Nein, zuerst sichern wir die Maschine, hier gibt es nämlich im Frühjahr Lüftchen, die könnten deinem Vogel nicht bekommen, dann geht's an den Lagerbau, und mit dem Flugplatz hat es noch Zeit, bis wir uns in die einzelnen Suchtrupps aufgeteilt haben", antwortete der Geologe. Am frühen Morgen waren zwei Männer mit einem Boot über die Tunguska gefahren; zur Jagd. Gegen Nachmittag traf das angekündigte „Lüftchen" ein. Der Sturm zerrte an den Zelten der Ewenken und des Expeditionslagers. Kunyzin war dabei, seinen
„Vogel" noch fester mit Stricken an Felsblöcken und Birken zu verankern, als er es sah: Vom jenseitigen Ufer stieß ein Boot ab. Der Ewenke, der Kunyzin zur Hand ging, schüttelte unwillig den Kopf. „Sie kommen nicht weit", sagte er zu dem Flieger. Es war kaum ausgesprochen, als das Boot umschlug. Kunyzin rannte zu den Zelten. Dort standen schon andere Expeditionsteilnehmer mit Ferngläsern vor den Augen. Der Strom treibt sie auf eine Sandbank in Ufernähe zu, ein Glück, daß sie noch nicht weiter in der Flußmitte waren." Mit bloßem Auge konnte Kunyzin gerade zwei Punkte erkennen. Sie beweg ten sich langsam über das Weiß der Sandbank und verschwanden dann in der Taiga. „Hast du gesehen, daß Matwej sich nicht aufrichten konnte?" „Ja, Petja hat ihn zum Schluß getragen. Er wird sich verletzt haben!" — „Und nun?" Einer der Geologen schien es für alle zu fragen. „Wir müssen mit einem größeren Boot hinüber." Die herbeigelaufenen Ewenken protestierten. Nur mit einem Floß wäre die Tunguska zu bezwingen, wenn der Wind aus dieser Richtung käme. „Ein Floß zu bauen dauert einen Tag! In der Nacht kommen wir auch mit dem Floß weiß der Teufel wohin!" Die Ewenken erklärten den Lauf des Flusses. Nach knapp dreistündiger Fahrt gäbe eine scharfe Flußbiegung und ein Katarakt - eine seichte Stromschnelle Gelegenheit, das Floß ans andere Ufer zu steuern. Sie zeigten mit den Händen, wieviel Stunden man am jenseitigen Ufer dann zurücklaufen müsse. „Zehn Stunden? Weshalb solange?" Das jenseitige
Ufer war felszerklüftet. „Wenn einer verletzt ist, wie lange werden wir mit einer Trage auf dem Rückweg unterwegs sein? Und dann mit dem Verunglückten auf dem Floß?" Die Ewenken antworteten, daß bei der zweiten Überfahrt der Strom das Floß noch einmal zwei Stunden treiben würde. Erst dann war wieder eine geeignete Stelle, um an das diesseitige Ufer zu gelangen. „Wir wer den dann aber schon mit unseren Rentieren zur Stelle sein", versprachen sie. Die Geologen berieten. Bei allerbesten Bedingungen konnte der Verunglückte in etwa drei Tagen wieder im Lager sein. „Es kann aber hinter dem Katarakt ein Eisloch sein, deshalb ist das Wasser doch bedeutend gestiegen", gab ein Ewenke zu bedenken. „Bei diesem Sturm hat sich das Eis in der Flußbiegung zu Barrieren getürmt", bekräftigte ein anderer diese Ansicht. Zum erstenmal spürte Kunyzin die Kraft und Tücke dieser Taiga-Wildnis. Nur achthundert Meter entfernt, hofften zwei Männer auf Hilfe. Und vielleicht dauerte es trotz aller Anstrengungen der Genossen über eine Woche, ehe man sie erreichen konnte. Achthundert Meter! Wenn nicht das Gebrüll des ständig steigenden Flußwassers wäre, könnte man hinüberrufen und erfahren, was passiert war. Eine Woche für eine Strecke von achthundert Metern. Zwanzig Flugsekunden für die Po-2. Die Geologen schlugen Holz für das Floß, die Ewenken zerrten die kräftigsten Rentiere aus dem Rudel, das in einer Mulde Schutz vor dem Sturm gesucht hatte. Kunyzin nahm den Windmesser. „Verankere nur
den Vogel noch fester! Wir können dir jetzt nicht helfen", schrie einer der Floßbauer, als er sah, wie Kunyzin den Arm in den Wind hielt. Der ihm zuge teilte Ewenke betrachtete neugierig das Instrument. „In einer Stunde summt es nicht so, da läßt der Sturm nach, aber nur für kurze Zeit, dann wird dein Ding da noch größere Musik machen." Kunyzin packte den Ewenken voller Erregung an der Schul ter. „Woher weißt du das?" - „Das ist immer so, wenn das Eis verschwindet, kämpfen kalte und warme Luft miteinander. Kämpfen lange - viele Tage und Nächte. Aber zum Abend müde werden, ein wenig ausruhen, dann noch wütender kämpfen die ganze Nacht und morgens wieder ausruhen, ein paar Minuten, immer wenn Sonne auf- und untergehen. Später, wenn Sonne immer da, gar kein Kampf mehr, dafür Mücken, viele Mücken!" Der Ewenke sah, dieser Mann kannte auch die selbstverständlichsten Dinge nicht. Die Axtschläge klangen immer eiliger, schon war ein Feuer entzündet. Gegen Morgen mußte das Floß fertig sein. Nur für einen Augenblick hörte das Ge räusch der Axtschläge auf, als auch am jenseitigen Ufer ein Feuerschein aufleuchtete. „Sie haben also wenigstens Streichhölzer gerettet", rief jemand freu dig. Alle waren erleichtert. Auch Kunyzin kannte seit seinem Aufenthalt in Kirensk diese kalten Früh lingsnächte. Am Tage war das Thermometer schon bis zwanzig Grad Wärme gestiegen, in der Nacht aber wieder bis auf fünfundzwanzig Grad Kälte ge fallen. Dann hatte der von der Lena aufsteigende Nebel oft die ganze Stadt verhüllt. Kunyzin
erschrak. Hier würde es nicht anders sein. Nein, es hatte keinen Sinn, um Erlaubnis für sein Vorhaben zu bitten. Aus den Bemerkungen der Geologen entnahm Kunyzin, daß die beiden Männer da drüben keine Geologen, sondern in Irkutsk angeworbene Helfer waren. Sie hatten sich ohne Erlaubnis zu dem ihrer Ansicht nach sicherlich kleinen Jagdausflug entfernt. Und es waren Sibirier. Immer noch hielt er den Windmesser in der ausgestreckten Hand. Der Ewenke sagte: „Hörst du? Es singt leiser!" Es stimmte. Eilig lockerte Kunyzin die Verstrebungen. Die Sonne berührte mit ihrer Scheibe die Spitzen der Bäume. Keine Wolke am Himmel. „Beeil dich", rief jemand von den Geologen herüber, „der Sturm läßt nur für Minuten nach, hol dir noch Zeltpflöcke." „Hol noch ein paar Leute", forderte Kunyzin von seinem Helfer. Es dauerte lange, viel zu lange, bis der Mann mit noch fünf Ewenken zurückkam. Der Sturm lief merklich nach; aber die Verstrebungen alle wieder zu lösen würde sicher mehr Zeit kosten, als die erwartete Sturmpause andauerte. „Festhalten!" schrie Kunyzin und zeigte, wie und wo sich die Männer auf die Maschine stützen sollten. Drei Mann an jeder Tragfläche. Der Sturm verebbte. Zum Glück mißverstanden die Geologen immer noch seine Geschäftigkeit. „Nagel ihn an! Sonst treibt er sich morgen am Nordpol rum!" Nur der Fluß brüllte jetzt, vernehmbarer als vorher. Fast völlige Windstille! Der Motor sprang an. Kalter Wind! Vom Propeller. Oder war die Pause schon vorüber? Keine Axtschläge. Oder übertönte sie das
Motorengeräusch? Mit schnellen Beilhieben trennte Kunyzin die Halteseile. Von den Geologen kamen ein paar Mann angelaufen, die anderen standen wie erstarrt. „Loslassen!" Die Ewenken gehorchten. Doch es war schon wieder windig. Kunyzin merkte es an dem holprigen, aber sehr kurzen Start. Eine Bö warf die Maschine hoch wie bei einem Katapultstart. Einige Dutzend Meter Rollstrecke! Dann der Fluß, die Sonne, nur noch eine halbe Scheibe. Das andere Ufer, das Lagerfeuer. Ein Mann steht davor und fuchtelt mit beiden Armen in der Luft. Aber ringsum nur Felsen und Bäume. Die Sandbank! Der letzte Sonnenstrahl trifft sie. So groß, wie es vorher schien, ist sie nicht. Ach ja, der Fluß ist gestiegen. Ein Windstoß. Wieso plötzlich aus dieser Richtung? Ach natürlich, der kalte und warme Wind kämpfen doch miteinander. Jetzt hat der kalte Wind wohl die Überhand. Aber das hilft, die Sandbank anzufliegen. Wo ist sie nur? Die Sonne... Die Räder streifen die Lärchenwipfel, die Maschine dreht sich, jetzt streifen die Räder das Wasser, den Sand - den Sand und wieder Wasser, aber die Po-2 gehorcht dem Steuer und dreht sich wieder zur Sandbank. Eine Gestalt wankt mit einer schweren Last vom Ufer auf das Flugzeug zu. Kunyzin kann nicht helfen. Die Wipfel der Bäume werden geschüttelt, die Po-2 zerteilt den Wind noch mit ihrem Propeller. Jetzt ist die Gestalt heran, sie schiebt ihre Last nach, aber Kunyzin greift zu und gleichzeitig begreift er - die Po-2 mußt mit Seitenwind starten, gegen das Steilufer! Wenn sie von einer Bö erfaßt
wird, muß er wenigstens über Land sein. Baumwipfel unter den Rädern. Zwei Männer brüllen - vor Freude oder Angst? Eine Kurve, über dem Fluß sackt die Maschine um zehn Meter ab. Nein, die sind nicht mehr gefährlich. Das Ufer, das Feuer - nein, vier Feuer! Kunyzin versteht. Er setzt die Maschine in das Rechteck hinein. Die Geologen haben die Landebahn erweitert. Die Maschine schlägt nach rechts aus. Der Sturm! Zwei Dutzend Fäuste packen zu. Sechs Hände helfen den beiden Passagieren. Sturmfetzen. Der Motor schweigt, aber der Mann, der neben dem Pilotensitz Kunyzins auftaucht, muß brüllen, um sich verständ lich zu machen: „Sie weisen die Leute an, wie die Maschine verankert wird. Dann melden Sie sich bei mir zum Rapport. Sie sind gedienter Soldat, hat mir Safjannikow gesagt!?" Die Schweißperlen auf Kunyzins Gesicht gefrieren. Der Wind ist eisig kalt. Man muß den Motor schüt zen, denkt der Flieger. Hier Muff die Maschine immer startbereit sein. Jemand klopft ihm auf die Schulter. Eine Hand streckt sich seinem Gesicht entgegen. „Da, trink!" Teufel, ist das heiß! Aber die Hände können das Glas nicht halten, sie sind er starrt. Kunyzin ist ohne Handschuhe geflogen. Das Gefäß zersplittert auf dem Erdboden. Er ist gefroren. Kunyzin haucht auf die Hände. Das Zifferblatt der großen Fliegeruhr leuchtet schon schwach. Er hebt die Hand zum Ohr. Die Uhr tickt. Sie ist nicht stehengeblieben. Vor fünf Minuten hat er hier an dieser Stelle geschrien: „Loslassen!" Er wird einen Anpfiff bekommen, wie er ihn nur selten
einmal an der Front erhalten hat. Aber er wird weiter fliegen. Ganz bestimmt in der Taiga. Was suchen die Leute hier eigentlich? Der Rapport verlief glimpflicher, als Kunyzin er wartet hat. Von den vier leitenden Geologen waren zwei auch ehemalige Frontsoldaten: Oberfeldwebel Below und Oberleutnant Fainstein. Diese beiden waren noch aus der Studentenzeit mit dem Chef geologen Odinzow und dessen Gehilfen Sokolow befreundet. „Er hatte keinen Befehl zum Start, aber auch kein Verbot." Odinzow beugte sich dieser Argumentation. „Aber die beiden Sündenböcke sollen bei der ersten Gelegenheit wieder dorthin fahren, wo sie hergekommen sind, wir sind keine Sonntagsjäger." Sein Ärger steigerte sich noch, weil am jenseitigen Flußufer der Wald brannte. Das Lagerfeuer der beiden Geretteten mußte ihn ausgelöst haben. Die Ewenken trösteten: Einige Kilometer hinter dem Steilufer sei Sumpf. Das Feuer könne sich nicht ausdehnen, flußabwärts biete die Flußbiegung Einhalt, dort sei alles noch mit Eisbrocken überschüttet, und flußaufwärts hätte es im vergangenen Sommer gebrannt, da würde das Feuer keine Nahrung finden. Das Wetter änderte sich in den nächsten Tagen nicht. Der kalte und warme Wind kämpften weiter miteinander. In den letzten Maitagen stieg die Ta gestemperatur schon auf fünfundzwanzig Grad an. Die Geologen arbeiteten mit bloßem Oberkörper. Auch Kunyzin machte sich, nur mit der Turnhose bekleidet, am Flugzeug zu schaffen. In der Nacht aber krochen alle in die Pelzschlafsäcke. Der aufge
taute Boden und die Pfützen waren am Morgen steinhart gefroren. Neben allen Vorbereitungen für den eigentlichen Einsatz verblieb den leitenden Mit arbeitern so viel Zeit, den Flieger über die Aufgabe der Expedition ausführlich zu informieren. „Wir suchen Diamanten, Innokenti Trofimowitsch!" - „Hier in diesem Urwald? Wenn es welche gibt, warum hat man denn noch keine gefunden?" Die vier Männer, die den Flieger in ihr Zelt gebeten hatten, blickten einander an. Ihnen allen fiel ein Tag vor über zehn Jahren ein. Damals, im Jahre 1936, hockten sie, vier Studenten der Irkutsker Geo logischen Fakultät, in der Frühlingssonne auf einem Fensterbrett. Das heißt, einer von ihnen, Michail Odinzow, hatte schon sein Diplom in der Tasche. Und er eröffnete den anderen dreien, daß er gebeten habe, ihn einer Diamantenschürfpartie zuzuteilen. Ebenso erstaunt wie heute der Flieger Kunyzin hatte damals Wolodja Below gerufen: „Wird denn bei uns nach Diamanten geschürft? In allen Vorlesungen wurde darauf hingewiesen, daß es sie bei uns so gut wie gar nicht gibt. In hundert Jahren hat man nur sechzig Gramm gefunden, jämmerliche dreihundert Karat." Beinahe wörtlich, wie es vor elf Jahren in der Irkutsker Universität stattgefunden hatte, erlebte Kunyzin dieses Gespräch nun in einem Zelt an der Oberen Tunguska noch einmal mit. Odinzow beugte sich vor. „Das ist es ja gerade, daß es auch bei uns Diamanten gibt! Sie befinden sich sogar hier bei uns in Sibirien, irgendwo auf dem Plateau zwischen Jenissei und Lena. So behauptet
es jedenfalls der Leningrader Petrograph Soboljew. Er hat festgestellt, daß unser Sibirisches Plateau die größte Ähnlichkeit mit dem diamanthöffigen Gebirgsland in Südafrika hat. Hier wie dort gibt es Gesteinsmassen eruptiven Ursprungs, nur daß sie in Sibirien Trapp und in Südafrika Dolerit genannt werden." „Aber ...", warf Kunyzin ein. Odinzow winkte ab. „Warten Sie, meine drei Kollegen zweifelten damals auch. Doch als Soboljew seine Theorie verteidigte, fand der Geologe Alexander Burow an der Grenze des Jenisseigebietes und des Sibirischen Plateaus das Bruchstück eines großen Diamantkristalls!" Odinzow blickte ihn triumphierend an. „Was sagen Sie nun?" Ein jakutischer Glaser wird es verloren haben, dachte Kunyzin. Er fühlte sich unbehaglich. Er ver stand nichts von dem Beruf dieser vier Männer. Doch wenn es so war, wie Odinzow sagte, warum saßen sie dann nach elf Jahren immer noch ohne Diamanten hier? Er hütete sich jedoch, seine Gedanken auszusprechen. „Burow, der Praktiker, und Soboljew, der Theore tiker, trafen endlich zusammen", fuhr Odinzow fort. „Sie verglichen ihre Beobachtungen und Forschun gen, und es stand für sie außer Zweifel: Auf dem Sibirischen Plateau muß es Diamanten geben!" Viele Abende war Kunyzin Gast im Geologenzelt. Er stellte vorsichtig seine Fragen, die Geologen ant worteten beharrlich und zuweilen verbissen. Der Flieger spürte, sie hatten sich so wie mit ihm schon mit vielen Leuten auseinandergesetzt, und sicher
war es ihnen nicht leichtgefallen, diese Expedition durchzusetzen und sogar ein Flugzeug zu organisieren. Den Safjannikow in der Geologischen Verwaltung jedenfalls mußten sie überzeugt haben. Aber er, Kunyzin, war nicht überzeugt, und seine Zweifel quälten ihn. Wie sollte er mit all seiner Kraft arbeiten, wenn er nicht an die Sache glaubte? So etwas hatte es in seinem Leben noch nicht gegeben. Zuerst war ihm alles so einfach erschienen: Hauptsache fliegen. Aber es mußte doch einen Sinn haben. Oder sollte er ständig „Brandstifter" aus der Taiga holen? Unter Einsatz seines Lebens? Eines Tages, als er an der Maschine herumhantierte, sagte der Gehilfe des Chefgeologen, Sokolow, zu ihm: „Hört sich alles wie ein Märchen an, was, Innokenti Trofimowitsch?" Kunyzin wußte, daß Sokolow ihre abendlichen Gespräche über die Dia mantenvorkommen meinte. „Warum sind Sie dann jetzt erst zu Ihrer Expedition gekommen?" „Wissen Sie, Innokenti Trofimowitsch, als unser Flieger geht es Sie zwar direkt an, aber sicher lernt man so etwas auf der Pilotenschule nicht. Der Dia mant, verstehen Sie, ist heute und schon lange kein Schmuckstück mehr, jedenfalls nicht in erster Linie. Die moderne Industrie hat ihn entdeckt. Wo es etwas zu bohren, zu fräsen, zu glätten oder zu schleifen gibt, ist er allen Werkzeugen und anderen Materialien hundert- und tausendfach überlegen. Verstehen Sie, was das bedeutet? Amerika jedenfalls und Deutschland und andere Länder
kauften aus diesem Grunde fast die gesamte Weltproduktion auf; nebenbei gesagt, entfällt sie zu fünfundneunzig Prozent auf Südafrika. Unser Land aber wurde vom Bezug dieses so wichtigen Minerals mit Boykott belegt. Vor dem Krieg und auch jetzt nach dem Krieg." Wolodja Below trat hinzu. „Jetzt denken Sie sicherlich, warum haben wir denn nicht vorher ge sucht, vor dem Krieg? Doch, Genösse Kunyzin, ge sucht wurde schon. Aber vergeblich. Im Ural sind seit hundertfünfzig Jahren geringe Diamantenseifen bekannt. Aber ihre Ausbeute ist sehr teuer. Nur war neunzehnhundertachtunddreißig die Weltlage schon so, daß auch diese Seifen abgebaut wurden. Es ging darum, einen eigenen, vom Import unabhängigen Diamantenfonds zu bilden." Kunyzin war während des Krieges des öfteren von der Front ins Hinterland abkommandiert worden, um Flugzeuge zu überführen. Einmal hatte er an einem Bericht der Flugstaffel über Wünsche des fliegenden Personals an die Industrie mitgearbeitet. Er erinnerte sich an die Andeutungen seiner Frontkameraden. Bald würde es keine Jagdflugzeuge mehr mit Propellerantrieb geben. „Und trotzdem haben wir den Krieg ..." „Ja", sagte Sokolow, „es ist so, wie Sie es sagen: Trotzdem haben wir diese härteste aller Prüfungen bestanden. Der Mangel an Diamanten in unserem Land war natürlich auch ein Aktivposten in der Rechnung unserer Feinde. Inzwischen hat sich die Technik weiterentwickelt. In den USA würde die Produktion wichtigster Industriezweige um die
Das Einsatzgebiet der sowjetischen Diamantexpeditionen
Hälfte sinken, stünden keine Diamanten zur Ver fügung. Das ist eine Aussage ihrer Fachleute."
„Und wenn wir genügend Diamanten hätten, würde
unsere Produktion..."
„Es würde sich auswirken", sagte Sokolow.
Am Abend dieses Tages bat Kunyzin die Geologen
um ein Buch über die Anfangsgründe der Geologie.
„Wir haben keins", sagten sie bedauernd, verspra chen aber, aus Irkutsk für ihn Fachliteratur anzu fordern.
Im Juni war nur noch Odinzow, der Chefgeologe,
im Hauptlager. Below, Fainstein und Sokolow
hatten ihre Partien, aufgefüllt durch ewenkische Begleiter, in verschiedene Richtungen geführt. Zunächst bewegten sie sich die großen Flußläufe entlang, später würden sich die Partien, wenn es notwendig schien, noch teilen, und sie würden Nebenflüsse und Bäche aufwärtsziehen. So bestand am ehesten Aussicht, die sogenannten Seifen zu entdecken. Seit Jahrtausenden hatten die Flüsse Gebirge durchnagt und alles, was leicht war, ins Meer gespült. Alles was schwer war, wie Gold oder Diamanten, lagerte sich irgendwo ab; in Vertiefungen, auf Sandbänken oder Landzungen. Diese Ablagerungen von Mineralien nannten die Geologen Seifen. Von solchen Sekundär vorkommen war es dann möglich, die Spur aufzunehmen zu den Primärvorkommen, in diesem Fall die Diamantentrichter oder Diamantenpfeifen, durch die sich bei Eruptionen irgendwann einmal das wertvolle Mineral den Weg zur Erdoberfläche gebahnt hatte. Soviel Kenntnisse von der Arbeit der Expedition hatte sich Kunyzin schon angeeignet, als er begann, zwischen den Suchtrups und dem Hauptlager in dringenden Fällen hin- und herzufliegen. Im Sommer erschien Kunyzin die Taiga wie das Meer, das er doch so gut kannte. Er hatte inzwischen auch Bücher mit Schilderungen über die Taiga gelesen. Doch von fast allen Dingen, die in ihnen beschrieben waren, spürte Kunyzin nichts, wenn er mit seiner Po-2 über dem „Waldmeer" unterwegs war. Sicher lag es daran, daß keines dieser Bücher von einem Flieger geschrieben worden war. Die Autoren waren
Geologen, Jäger, Naturforscher und Leute, die die Taiga nur zu Fuß, mit Rentieren, Schlitten oder Booten durchquert hatten. Zuerst flog Kunyzin nur kurze Strecken. Die Suchgruppen hatten sich vor einer Woche vom Hauptlager entfernt. Zögernd verzichteten die Geo logen darauf, wie sonst üblich, ihre Gerätschaften mitzuschleppen. „Und wenn Sie uns nicht finden, Innokenti Trofimowitsch?" Kunyzin flog ihnen nach sieben Tagen hinterher - und fand sie nach einer Flugstunde am vereinbarten Platz. Das erstemal war er regelrecht über den Jubel erschrocken, mit dem er begrüßt wurde. Vielleicht war es auch das veränderte Aussehen der Geologen, das ihn so erschreckte? Ihre Gesichter waren gedunsen von Mückenstichen, jeder von ihnen hatte schon einige Kilo abgenommen. Die Männer schienen diese Veränderungen nicht wahrzunehmen, einmal wahrscheinlich, weil es sie ja alle betraf, und zum anderen, weil sie es so gewohnt waren. Und auch Kunyzin, frisch rasiert, mit Lederjacke, Stulpenhandschuhen und Chromlederschaftstiefeln, sah so aus, wie sie ihn kannten. Diese Stiefel allerdings trug Kunyzin nur beim ersten Flug. Nach fünf Minuten drang das Sumpfwasser durch die Sohlen. „Was habt ihr euch nur für einen Ruheplatz ausgesucht!" Wolodja Below entgegnete erstaunt: „Was glaubst du, wie froh wir über ihn sind? Seit fünf Tagen der erste trockene Platz, selbst in die Zelte läuft kaum Wasser." Verwöhnt durch den Flugwind, erschien Kunyzin die Hitze am Landeplatz doppelt
drückend. In Jerbogatschen lief er nicht in der Lederkombination herum, und auch die unmittelbare Nähe der immer noch Kühle ausströmenden Tunguska machte den Aufenthalt im Hauptlager erträglicher. Nicht umsonst sammelten sich an diesem Ort die nomadisierenden Ewenken zu ihrem großen alljährlichen Treff. Der leichte Wind dort schien auch nicht den Gefallen der Mücken zu finden, hier aber standen sie in dicken schwarzen Säulen, wie Eichenstämme. Doch plötzlich senkte sich solch eine Säule, und Kunyzin konnte keinen Schritt weitergehen, ihm schien, als wäre er in ein Sumpfloch geraten, und das Moor schlösse sich um und über ihn. Eine Hand riß ihn in den Qualm eines Lagerfeuers. Jetzt brannten ihm die Augen, und er glaubte zu ersticken. „Ja, in diesem Jahr scheint es schlimm zu werden mit den Biestern", sagte jemand neben ihm. „Jetzt hat man ja noch in den Nächten vor ihnen etwas Ruhe, aber in ein paar Tagen ist es auch damit vorbei. Hoffentlich gibt es genug Waldbrände, sonst werden wir uns im Juli den Weg durch die Mücken mit dem Beil schlagen müssen." Kunyzin hörte nur die Stimme: „Wie du auf der Sandbank gelandet bist, ehrlich gesagt, ich hätte es nicht geglaubt." „In zwei, drei Wochen kannst du aber nicht in deiner Wildtöter-Kleidung bei uns 'rumrennen, da werden wir Temperaturen haben, um die uns die Urlauber am Schwarzen Meer beneiden." „Nun erzähl schon, was gibt es Neues, warst du schon bei Sokolow und Fainstein?"
Für Kunyzin marschierten die Suchtrupps unendlich langsam. Nach zwei Wochen waren sie neunzig oder höchstens hundertzwanzig Flugminuten vom Hauptlager entfernt. Er deponierte Tonnen mit Ben zin an den von den Trupps verlassenen „trockenen" Lagern, deren Landeplätze ihm nun schon bekannt waren. Auf diese Weise gelang es ihm einmal, An fang Juli mit Zwischenlandungen alle drei Schürf gruppen an einem Tag zu besuchen. Für die Geo logen und auch für Odinzow im Hauptlager war es eine Sensation. Sie hörten einen Bericht aus dem Munde eines Menschen, der mit allen Angehörigen der Tunguska-Expedition in den letzten vierund zwanzig Stunden gesprochen hatte. Zu diesem Zeit punkt hatten alle Gruppen ihre Untersuchungsge biete erreicht. Jetzt schleppten sie auch ihr gesamtes geologisches Gerät mit. An einzelnen Stellen gingen sie sogar auseinander, um zu dritt, wenigstens aber immer zu zweit bestimmten Spuren nachzugehen. Das war das eiserne Gesetz der Taiga. Niemand durfte sich allein von seinen Gefährten mehr als auf Rufweite entfernen. Nach jedem Flug vervollständigte Kunyzin auf einer großen Karte die Beobachtungen und Aufzeichnungen, die er unterwegs machte. Er fertigte davon Kopien an und brachte sie zu den Schürftrupps. Die kartographisch geschulten Geologen veränderten und ergänzten noch die Kopien, und Kunyzin übertrug diese Verbesserungen wieder auf seine Hauptkarte. „Also, wenn wir in diesem Jahr keine Diamanten finden, Innokenti Trofimowitsch, dann werden
es zumindest Ihre Kollegen in den nächsten Jahren leichter haben." Kunyzin war jedoch schon so sehr vom Diamantenfieber erfaßt, daß er über diese lobende Bemerkung beinahe in Wut geriet. „Wieso sollen wir keine Diamanten finden? Wo doch alle Voraussetzungen dafür gegeben sind. Natürlich, Sibirien ist nicht Südafrika, da ist es sicherlich im Sommer nicht so heiß und auf keinen Fall sumpfig." Der Tag hatte vierundzwanzig Flugstunden. Die Sonne versank kaum für zwei Stunden unter dem Horizont, aber auch dann blieb es hell. Die Tempe raturen stiegen auf achtunddreißig Grad. In Jerbo gatschen ging Kunyzin, so oft es möglich war, in den Fluß baden, aber auf dem Weg dorthin brannten die erhitzten Steine des Ufergerölls sogar durch die Ledersohlen der Stiefel. Zu den Flügen zog Kunyzin fluchend die Gummistiefel an, um sich auf den „trockenen" Stellen der Landeplätze bewegen zu können. Dort, bei den Schürftrupps, hatte die Sonne den bis zu zweihundert Meter tiefen Frostboden der Taiga in ein Meter Tiefe aufgetaut. Von ihren Standlagern aus bewegten sich die Männer auf Pfaden. Diese ausgetretenen Pfade wurden zu kleinen Kanälen, in denen sich das Wasser sammelte. Doch war es bequemer, auf dem Eisgrund durch dieses Wasser zu gehen, als bei jedem Schritt den Gummistiefel mit beiden Händen zusammen mit dem Fuß aus dem Schlamm zu ziehen. Wo es möglich war, wateten die Geologen kleine Bäche entlang. Die Landeplätze auszusuchen wurde immer schwieriger, obwohl sich inzwischen alle
Teilnehmer der Expedition von der geradezu artistischen Geschicklichkeit Kunyzins überzeugt hatten. Manchmal nahm der Funker im Hauptlager solch einen Ruf auf „Lebensmittel gehen aus, warten auf Kunyzin, Landen unmöglich." Aber schon der Absender des Funkspruches deutete an, daß dieses „Unmöglich" eigentlich nicht Kunyzin betraf. Und die Leute im Hauptlager wußten, daß die Trupps um Lebensmittel baten, wenn die Töpfe nur mit Wasser über den Feuerstellen hingen und der Koch zum Himmel blickte, ob Kunyzin auch pünktlich sein würde, um das zu bringen, was eigentlich in die Töpfe zum Mittagessen hineingehörte. Pünktlich zur angegebenen Zeit sauste Kunyzins „Libelle" über den schütteren Lärchenwald. Der Pilot brauchte eine Landestrecke von hundert Metern . . . Das konnte auch eine Landzunge oder eine Sandbank sein. Nur drei oder vier Mal kam es vor, daß er von den selbsthergestellten kleinen Lasten-fallschirmen Gebrauch machte. Er wußte, daß die Männer da unten nicht nur auf seine Fracht, sondern auch auf ihn warteten. Sie waren nun schon dreihundert und vierhundert Kilometer vom Haupt lager in verschiedenen Richtungen entfernt, aber dazu hatten sie dort unten tausend oder tausend fünfhundert Kilometer zurückgelegt. Vom Flugzeug aus, und dazu noch aus der Höhe von dreihundert Metern, in der sich Kunyzins „Straße" befand, hätte die Taiga jeden Dichter begeistert. Die Sonne hatte sie in einen Blütenteppich verwandelt. Lärchen, Fichten und an
manchen Stellen Kiefern standen weiträumig auseinander. Mitunter lagen große Moosinseln dazwischen. Auf manchen Abschnitten seiner Flugroute erstreckte sich auch See an See; birkenumkränzt. Und selten spiegelte sich in ihnen außer dem Schatten des Flugzeugs auch noch eine kleine weiße Wolke. Wie eine ungeheure stahlblaue Kuppel wölbte sich der Himmel über diesem paradiesischen Bild. Manchmal blitzten die Wasserfälle der Flüsse herauf, sie täuschten Er frischung und Kühle vor, wie überhaupt das ganze Bild trügerisch war. Die Menschen dort unten in der Taiga erstickten fast im Dunst, der aus den Mooren aufstieg. Zwischen den lichten Wäldern war es nicht kühl, sondern feuchtwarm, und selbst vom Flugzeug aus war die Geißel der Taiga, die ungeheuren Mückenschwärme, gut zu erkennen. Doch von hier oben fügten auch sie sich harmlos und harmonisch in das Bild dort unten ein. Vor diesen Mücken flüchteten sogar die wilden Rentiere in die Seen. Dort standen sie unbeweglich, nur die Nasen und Ohren ragten aus dem Wasser. Auch in Jerbogatschen waren die Mücken jetzt zur Qual von Mensch und Tier geworden. Die zahmen Rehe der Ewenken magerten zusehends ab, obwohl sie sich in den Rauch der Lagerfeuer drängten, und nachts wachte Kunyzin im Zelt auf von dem kläglichen Winseln der Hunde . . . In der Luft aber stand, ja stand! das eintönige, un ablässige Gesumm der Mücken. Sie brachten sogar den „Herrn der Taiga", den Bären, dazu, sich heulend auf dem Boden zu wälzen und mit seinen
Pranken die Nase blutig zu schlagen, die nach solch einer Verzweiflungstat natürlich noch mehr Mücken anzog, wenn es überhaupt noch „ein Mehr" gab. Das Luftbild täuschte Kunyzin nicht mehr. Er suchte jede Gelegenheit, um zu fliegen. Die Männer dort unten empfanden nicht einmal die Lichte der Taiga. Da unten war nichts weiträumig. Kaum war Kunyzin gelandet, so wurde der Wald dicht, oder es gab nur Sumpf mit Hügeln, die emporgewölbte Kuppeln des Dauerfrostbodens waren, und Trampelkanäle voller Wasser, in denen die Gummistiefel auf Eis wegrutschten. Der Wald wuchs kaum zehn Meter hoch, und die Bäume waren nach den verschiedensten Seiten gebeugt, als habe eine riesige Hand einen Verhau geflochten. Die Wurzeln gingen nicht in den Frostboden, sondern krochen über die Erde und ähnelten Krampfadern. Zuerst war Kunyzin auf Schritt und Tritt darüber gestolpert. In einigen der Bezirke, in denen Schürfpartien arbeiteten, hatte vor Jahren ein Waldbrand gewütet. Noch immer ging von den verkohlten Stämmen der Brandgeruch aus, er hatte die Kleidung, die Lebens mittelvorräte, die Zelte, die Geräte und, wie es Kunyzin schien, sogar die Körper der Männer durchzogen. Sie waren schon die sechste Woche unterwegs, nicht zum erstenmal in ihrem Leben, nicht zum erstenmal in solch einem Abschnitt, aber zum erstenmal durch Kunyzin in ständiger Verbindung mit dem Hauptlager und den anderen Abteilungen. Das Neue für sie war, daß sie einander besuchten, ihre Proben und Sammlungen verglichen
und sie miteinander besprachen. Nach der Rückkehr von so einem Besuch empfanden sie die andere Abteilung nicht mehr unendlich weit entfernt, durch Morast, verbrannten Wald, reißende Flußläufe eben durch die Taiga getrennt, sondern irgendwo hier nebenan, so wie es auch auf der Karte aussah — neunzig oder höchstens hundertvierzig Minuten entfernt. Kunyzins Tätigkeit hatte in den Geist der Dia mantenschürfer eine Atmosphäre hineingetragen, von der er selbst kaum etwas ahnte, denn ihm schien jede Stunde ihrer Arbeit die höchste Auszeichnung wert; sie aber sprachen von der Kühnheit und Meisterschaft ihres Diamantenfliegers. Ende Juli glaubte Kunyzin, daß jede weitere Arbeit eingestellt würde. Er war in den Nachtstunden gestartet. Die Sonne schlich um diese Zeit neben dem Horizont her, als begleitete sie das Flugzeug. Am wechselnden Farbenspiel konnte Kunyzin ihren Weg verfolgen. Sie ging auf und hing wie ein trüber, roter Fleck über der Taiga. Kunyzin putzte seine Brille, nichts änderte sich. Erst als die Sonne höher stieg, zeichnete sich am Horizont deutlich ein langer Dunstschleier ab. Die Geologen erklärten ihm diese Erscheinung. „Die Taiga brennt!" Irgendwo, vielleicht tausend Kilometer entfernt, noch hinter der Lena, mußte ein Stück Wald brennen: von der Größe eines europäischen Staates. Odinzow ließ sich nach jedem Flug von Kunyzin dessen Beobachtungen melden. „Ja, die Mückenplage wird sich vielleicht bald verringern."
Das war jetzt auch für Kunyzin kein Trost mehr. Nur kein Abbruch der Schürfarbeiten ohne Erfolg. Wie sollten im nächsten Jahr noch größere Mittel bewilligt werden, wenn nicht wenigstens ein Beweisstück vorlag. Ein Dutzend Fachleute und dreimal soviel Helfer auf einem Gebiet von tausend mal tausend Kilometern! Da wurde jeder Vergleich mit der Stecknadel im Heuhaufen lächerlich. Odinzow saß im Zelt, verglich die Berichte der Schürftrupps, zeichnete Tabellen und erkundigte sich nach der Ausdehnung der Dunstwolke. „Wir suchen doch nicht systemlos, Innokenti Trofimowitsch", antwortete er auf die besorgten Fragen des Fliegers. „Wenn die Suche auf diesem ganzen Abschnitt kein Resultat bringt, ist es auch ein Erfolg. Dann gibt es hier keine Diamanten, und wir nehmen uns im nächsten Jahr einen anderen Abschnitt vor, aber schon mit größeren Chancen." Er tröstet sich selbst, dachte Kunyzin. Das zwölfte Jahr suchte dieser Mann nun schon in Sibirien nach dem begehrten Mineral. Was wird er in Irkutsk sagen, was wird er nach Moskau melden, wenn wir ohne Ergebnis zurückkehren? Sonst hatte Kunyzin nach dem Studium in seinen Geologiebüchern zuweilen Odinzow um Erläuterungen gebeten, jetzt hob er sich diese Fragen auf, bis er zu den Schürftrupps flog. Aber auch dort fragte man ihn: „Was sagt Odinzow, wie ist seine Stimmung?" Odinzow hätte gestaunt, was für ein optimistischer, von seiner Sache überzeugter Mensch er in Kunyzins Schilderungen war. Und doch traf Kuny zin mit seinen Worten den Kern. Odinzow war weit
davon entfernt zu verzagen. Immer öfter nahm er den zweiten Platz in der Po-2 ein. Kunyzin flog nach Odinzows Weisung die Flußtäler entlang. Der Chefgeologe machte seine Notizen und wies den Piloten auf Besonderheiten des Bodenreliefs hin. Kunyzin las seinem Passagier die Worte mehr von den Lippen ab, als daß er sie hörte. „Da, sehen Sie, wie sich die Tunguska ihren Weg durch den Trapp gebahnt hat? Diese Hochfläche gehört zu einem der ältesten Landmassive unserer Erde. Wir Geologen nennen sie Sibirisches Plateau, Sie kennen den geografischen Begriff Mittelsibirisches Bergland. Sie entstand, als der Planet noch eine einzige Wasserwüste war. Diese dünne Haut konnte damals noch nicht den gewaltigen Kräften des Erdinneren Widerstand leisten. Sie wurde immer wieder von Lavamassen durchbrochen. In solchen Abschnitten lagern die meisten Bodenschätze." Was Kunyzin nie aufgefallen war, jetzt, wo Odinzow ihn darauf hinwies, erblickte er ganz deutlich die Krater uralter Vulkane, die längst erloschen waren, bevor noch der Mensch auf der Erde heimisch wurde. Die Kräfte der Natur hatten diese Vulkanlandschaft geglättet, zu einem flachen Hochland gestaltet, das sich fünfhundert bis siebenhundert Meter über dem Meeresspiegel erstreckte. Und in wiederum jahrtausendelanger Arbeit hatte die Untere Tunguska sich hier einen Weg hineingenagt. Einzelne Terrassen prägten sich heraus. In vier bis acht Meter hohe Stufen geteilt, zählte Kunyzin ins gesamt acht Horizonte der verschiedenen Gesteins schichten, die manchmal eine Höhe oder Tiefe von
etwa hundert Metern hatten. Ursprünglich war also der Fluß viel breiter gewesen, von Stufe zu Stufe hatte sich sein Bett verringert. Jetzt verstand Kuny zin auch, wieso die Geologen die Bäche entlangwanderten, die den großen Flüssen zuströmten. Diese kleinen Rinnsale bildeten ihrerseits wieder einen Querschnitt durch die Terrassen. Er erinnerte sich, was in einem seiner Geologiebücher stand. ,Die mittelsibirische Hochebene umfaßt eine Fläche von dreieinhalb Millionen Quadratkilometern, sie wird im Westen vom Jenissei, im Osten von der Lena begrenzt, im Süden vom Sajan-Gebirge, im Norden fällt sie ab zum Eismeer.' Etwa ein Viertel dieses Gebietes würde oberflächlich erkundet sein, wenn die Expedition in zwei Monaten ihre Zelte abbrechen mußte. Wie konnte Odinzow nach dieser Arbeit nur so gewiß behaupten, hier gäbe es keine Diamanten? Kunyzin kniff die Augen zusammen, ob da unten nicht doch so ein Wunderstein heraufglitzern würde. Der Chefgeologe mußte die Gedanken seines Piloten trotz der schützenden Brille erraten haben, „Eines Tages werden wir die Diamanten mit Spezialgeräten vom Flugzeug aus suchen. Dann werden Ihnen Ihre Kenntnisse zugute kommen!" Eines Tages ... Eines Tages brannte die Taiga auch im Abschnitt der Expedition an vielen Stellen. Die Luft wurde so stickig, daß Kunyzin nicht mehr, wie gewohnt, in nur dreihundert Meter Höhe fliegen konnte. Auch die Orientierung fiel ihm schwerer. „Das wird ein Jahr wie neunzehnhundertfünfundzwanzig oder
neunzehnhundertachtundzwanzig", sagten die Geologen, und sie erzählten dem Piloten, was sie selbst nur auf der Universität gelernt hatten, dessen sich
Der Waldbrand vom Jahre 1915: Die fettumrandete Linie zeigt das Gebiet, in dem die Wälder brannten; die gestrichelte Linie umfaßt die Aus breitung der Rauchwolken
aber alle älteren Ewenken und Tungusen voller Schrecken erinnerten: Der große Brand im Jahre 1915. Damals erstreckte sich die Zone der brennen den Wälder von Tobolsk am Irtysch, dem Nebenfluß des Ob, bis Kirensk an der Lena. Das waren zweitausend Kilometer in der Breite. Der
Jenissei lag in der Mitte dieses ungeheuren Flammenmeeres. An seinen Ufern glühten die Wälder vom Oberlauf bei Minussinsk bis dreitausend Kilometer abwärts, wo bei Dudinka, schon in der Tundra, auch die kleinen Krüppelbirken lohten. Damals waren nur dreißig Prozent der üblichen Niederschläge gefallen. Die Taiga brannte von Mai bis Oktober von Winter zu Winter. Im fernen Westen des zaristischen Rußlands tobte der erste Weltkrieg. Niemand erfuhr, wieviel Stämme der Nomadenvölker Männer, Frauen und Kinder - damals in Sibirien umkamen. An der südwestlichen Grenze des Brandbezirks wurden die Steppendörfer von Waldtieren überrannt, die die Menschen dort nie gesehen hatten. Der Rauchvorhang erstreckte sich von der chinesischen Grenze bis zum Eismeer und von Jakutsk bis nach Archangelsk über eine Fläche von sechs Millionen Quadratkilometern - fast die Größe Australiens. Auf der Lena und dem Jenissei ruhte jeder Schiffsverkehr. Die Männer des Schürftrupps erzählten von 1915 und trösteten sich damit über den heißen Sommer von 1947. Noch brannte es nicht in unmittelbarer Nähe. Nur dreihundert oder vierhundert Kilometer entfernt, und der Brand würde allem Anschein nach weder die Untere noch die Steinige Tunguska über springen. So sagten die Ewenken und Tungusen. Die Wettermeldungen, die über Funk das Hauptlager erreichten, bestätigten diese Ansicht. „Aber viel Beeren wird es geben", sagte ein Ewenke voraus. Der Alte erinnerte sich des Jahres
1916. „Soviel Beeren gab es damals ..." Er machte eine Pause und setzte traurig hinzu: „Aber keine Tiere und Menschen, die sie essen konnten. Und doch waren wir gewarnt, denn es geschah genau sieben Jahre später, nachdem das große Feuer vom Himmel gekommen war." Er meinte den Niedergang des geheimnisvollen Tungusischen Riesenmeteors. „Wenn aber der diesjährige Brand sich wieder zu einem derartigen Riesenfeuer ausdehnt?" fragte Kunyzin besorgt. „Kaum, dazu sind die Brände zu spät ausgebrochen. Außerdem kämpfen deine Kollegen schon dagegen an; die Irkutsker fliegende Feuerwehr. Und schließlich kann es einen solchen Brand schon deshalb nicht wieder geben, weil sich der Wald bis heute nicht davon erholt hat. Hier brauchen die Bäume dreihundert bis vierhundert Jahre, bis sie voll ausgewachsen sind." Jetzt ver stand Kunyzin, was ihn schon ständig verwundert hatte: Der Wald, über den er flog, war höchstens dreißig Jahre alt! Ende August wurde in Irkutsk trotzdem ernsthaft erwogen, die Expedition zurückzuholen. Nur Kuny zin war es zu verdanken, daß drei Ewenken aus einem Seitental gerettet werden konnten, in dem der Rauch besonders dicht entlang zog. Als Kunyzin den Lagerplatz der drei fand, mußte er sie alle auf einmal mitnehmen. Er flog zu ihnen wie durch einen riesigen Kamin. „Unser Schornsteinfeger", sagten lachend die Geologen, als Kunyzin die Ewenken in das Lager einer Schürfpartie gebracht hatte, und er erzählte, wie er mit dem Propeller den
Rauch im Tal zerteilte, seine Po-2 wieder wendete und so lange hin und her flog, bis die Ewenken sich bemerkbar machen konnten. „Es war die allerhöchste Zeit", bestätigten die ewenkischen Jäger. Ihre Stammesgenossen hatten sich im letzten Moment an die Geologen der nächsten Schürfpartie gewandt. Dort hatte sich Kunyzin aufgehalten. Über Mücken klagte niemand mehr. Doch alle waren in Sorge, die Geologische Verwaltung in Irkutsk würde ihre Ankündigung über den Abbruch der Erkundungen wahr machen. „Sag Odinzow, wir haben noch zwanzig Tage zu tun!" Man konnte jetzt nicht die Arbeit abbrechen! Das bedeutete doch, im nächsten Jahr wieder hier anzufangen. Die Karte mußte das Zeichen tragen: Nichts..., oder sie mußte endlich die lang ersehnte Eintragung bekommen. Dazwischen gab es keine Lösung. Die Hitze wurde unerträglich, sie stieg auf neununddreißig Grad, der Sumpfboden bekam eine Kruste, doch sie trug nicht das Gewicht der Menschen. Sie brachen durch und kamen noch langsamer voran. Bei einem Rückflug zum Hauptlager befand sich Kunyzin plötzlich zwischen zwei Wolkendecken. Ein ungewohnter Windstoß traf die Po-2, noch einer und - es regnete. Es regnete. Kunyzin funkte die Nachricht noch während des Fluges ins Hauptlager und zu allen Schürftrupps. „Es regnet, es regnet!!" In Jerbogatschen räumten die Ewenken die am Fluß stehenden Zelte. Der Strom trug einen ununter brochenen Kranz entwurzelter Bäume auf seinen Fluten. Das sonst so kristallklare Wasser war lehmig und stieg zusehends. „Wir müssen auch Ihre
Maschine höher bringen", befahl Odinzow und erklärte, „der Frostboden nimmt keinen Regen auf, alles Wasser fließt in die Bäche und dann in die Flüsse. Es war richtig, daß Sie gleich gefunkt haben. Unsere Leute müssen überall ihre Zelte abbrechen und dann in die Boote." Kunyzin aber hatte geglaubt, eine Freudenbotschaft übermittelt zu haben. Bei Jerbogatschen stieg die Flut in einer Nacht und einem Tag um zwei Meter. Es war zu hören, wie er sich weit unterhalb des Lagers durch die Stromschnelle zwängte. Zum erstenmal konnte Kunyzin bei keiner der Schürfpartien landen, überall warf er Notproviant ab. Die Temperatur fiel in wenigen Tagen fast auf den Nullpunkt. Es nieselte ununterbrochen, die Erde dampfte, und der Nebel verhüllte die Taiga gründlicher als vorher die Rauchschwaden. Die Schürftrupps meldeten weiter ihre Tagesergebnisse. Jetzt legten die Gruppen ihren Weg im Boot zurück, doch meist nur einige hundert Meter am Tag. Kunyzin baute gemeinsam mit einigen Ewenken jeden Tag an seiner Startbahn. „Zwei Boote weggerissen", meldete Sokolow. Kunyzin konnte nicht sofort abfliegen. Die Zeit des vierundzwanzigstündigen Flugtages war vorüber, und einen Nachtflug ließ Odinzow nicht zu. „Aber ich werde sie doch nach dem Lagerfeuer finden", erklärte Kunyzin. „Und die Boote?" Odinzow überzeugte den Flieger, kein unnötiges Risiko einzugehen. Am Morgen verzögerte sich der Start nochmals. Der Boden war gefroren; Ende August! Die Räder der Po-2 mußten aus ihrer eisigen Verankerung ge
schlagen werden. Über dem Lager Sokolows war der Himmel klarblau wie noch nie in diesem Sommer. Die Boote lagen zehn Kilometer vom Lager entfernt in einer überschwemmten Senke. Es glitzerte herauf - das Wasser war gefroren. Kunyzin kreiste über der Stelle, bis auf dem Fluß das dritte Boot herangekommen war und die Männer mit den Rudern einen Weg durch das dünne Eis schlugen. Als der Nebel wieder den Blick auf die Taiga frei gegeben hatte, blendete sie das Auge in roten und gelben Farben, nur die grauen Stämme der Bäume hatten ihren Farbton behalten. Die Geologen bewir teten Kunyzin mit Pilzgerichten, Beeren und fri schem Wildbret, ihr Arbeitstempo litt nicht unter diesem „Luxus". Überall näherten sich die Männer dem gesteckten Endziel. Doch - ohne Resultat. Odinzow verglich die Meldungen und setzte sich noch einmal als Passagier in die Po-2. Er nahm Abschied von der Arbeitssaison des Jahres 1947 und von dem Bezirk, der so groß war wie einige große europäische Länder, von dem dank Kunyzin eine erste Flugkarte existierte und von dem Odinzow in Kürze melden würde: keine Diamanten. Sicher erfüllte sich Odinzow einen lang gehegten Wunsch, als er den Kurs in das Gebiet festlegte, wo vor fast vier Jahrzehnten der große tungusische Riesenmeteorit niedergegangen war. Kunyzin freute sich über diese Anweisung; denn zu oft hatte es ihn gelockt, dorthin zu fliegen. Es wäre jedoch ein zu großer Umweg für seine bisherigen Routen gewesen, und solche „privaten Wünsche" zu äußern hielt er nicht für angebracht. Nun würde er doch die
Auswirkungen jenes Naturereignisses sehen, das sich unauslöschlich in den Erinnerungen jener Ewenken eingeprägt hatte, die es miterlebt hatten. „Warum sieht man keine Trichter?" fragte Kunyzin, als er langsam seine Kreise über dem toten Wald zog. Soweit das Auge reichte, lagen die Stämme kreuz und quer am Boden. Sie hatten das Sumpfwasser aufgesogen, waren im Winter steinhart gefroren, tauten wieder auf, gefroren erneut, erhielten sich so über Jahrzehnte. Als weit ringsum alles in Flammen stand, wurde dieser bis dahin von den Jägern der Nomadenstämme abergläubisch gemiedene Bezirk zur riesigen Oase zur Rettung für Mensch und Tier. Nur an seinem Rand waren die wie von einer gewaltigen Faust niedergeschlagenen Stämme schwarz versengt. Wie eine unendlich große Zielscheibe wirkte dadurch das Niedergangsgebiet des Riesenmeteoriten. Odinzow zuckte nur mit den Schultern. Es gab so viele Theorien über dieses Ereignis. Aber von den Legenden der Ewenken und Tungusen über ein Zeichen der Götter bis zu den Hypothesen über ein explodiertes Raumschiff aus fernen Welten hatte sich hier nicht einmal das Sprichwort bestätigt, daß die Wahrheit irgendwo in der Mitte lag. Auch der Niedergang eines Meteoriten war nicht bewiesen. Unzweifelhaft blieben nur die Berichte der einheimischen Jäger, aufgezeichnet von vielen Geologen, die von dem grellen Aufleuchten am Himmel erzählten, das der Explosion einer Atombombe gleichgekommen sein mußte. Doch nirgends wurde auch nur ein Stückchen Meteoriten
gestein gefunden. Dabei mußte dieser Meteorit Tausende Tonnen gewogen und auch nach seinem Eindringen und Verglühen in der Atmosphäre un zählige Beweise seiner Existenz bis zur Erde her untergebracht haben. So war es aber eben nicht. Die Lage des niedergeschmetterten Waldes entsprach weder den Folgen einer Atomexplosion noch der einer Druck- oder Explosionswelle eines aufgelösten Riesenmeteoriten. Odinzow notierte alle Einzelheiten, die ihm auffielen, in seinem Büchlein, in dem er sonst die Berichte der Schürfpartien eintrug. Kunyzin deutete das Schweigen des Chefgeologen auf seine Weise. Er blickte auf den niedergedrückten Wald. Sogar aus dieser Höhe von über fünfhundert Metern und bei diesem klaren Wetter waren die Spuren der Naturkatastrophe scheinbar endlos. Was für eine gewaltige Kraft! Kunyzin schaute auf den emsig schreibenden Odinzow und dachte: Sie können einen Meteoriten von einigen tausend Tonnen Gewicht nicht finden und suchen ein kleines Stück chen Mineral, das unter dem Daumennagel Platz findet. Genauso hatten es ihm die Geologen oft ge nug gesagt: „Und wenn wir nur ein Splitterchen finden, ein Zehntel Karat, wir würden den Beweis für die Theorie mitbringen." Aber nicht einmal diesen fünfzigsten Bruchteil eines Gramms hatte ihnen die anstrengende Arbeit dieses Sommers ein gebracht. Und der Meteorit, der diese Spuren da un ten hinterlassen haben sollte, war auch weg. Spurlos verschwunden! Wenn man dem Odinzow zusah, mochte man glauben, daß dieser hoffte, doch noch
ein paar Brocken in dem Labyrinth da unten zu ent decken. Kunyzin gab ein Zeichen, er mußte an einer der Stellen zwischenlanden, wo er Brennstoff gela gert hatte. Lange genug waren sie schließlich auch über dieser Einöde gekreist. Odinzow nickte, und Kunyzin steuerte die Po-2 bis zur Faktorei Wana wara. Von dort sollte Kunyzin Kurs zur Tschona nehmen, wo der Trupp unter Leitung Fainsteins ge arbeitet hatte. Jetzt befand er sich, wie alle Schürf partien, auf dem Rückweg zum Hauptlager. „Wir werden ihnen etwas Gepäck abnehmen", sagte Odinzow. Das war eine richtige Maßnahme, denn der Umweg betrug kaum zehn Flugminuten. Der Chefgeologe ließ sich Zeit in der Faktorei. Kunyzin berechnete den Rückflug einschließlich der Zwi schenlandung bei Fainstein. Es blieb nicht mehr all zuviel Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit. Kuny zin ließ den Motor laufen und saß schon am Pilotensitz, als Odinzow endlich angehastet kam. Der Chefgeologe blickte auf seine Uhr, auf die Sonne, schaute den Piloten entschuldigend an und schwang sich von der Seite, von der er gekommen war, in seinen Sitz. Von der rechten Seite! Von der „Unglücksseite"! Blitzartig fielen Kunyzin die wenigen Fälle ein, wo sich während seiner Frontzeit Anfänger genauso verhalten hatten. Nein, zum Teufel noch einmal, er glaubte natürlich nicht an solche „Prophezeihungen", aber gleichzeitig drängten sich seinem Gedächtnis doch alle jene Zufälle auf, die man einfach deshalb nicht vergaß, weil eben irgend jemand vorher von der rechten Seite eingestiegen war. Dabei hatte er unwillkürlich
Odinzow noch ein Zeichen gegeben, er hatte es schon geahnt und mit der Hand einen Halbkreis angedeutet, doch es war schon zu spät. „Sind Sie abergläubisch?" schrie Odinzow. Kunyzin winkte ab. Was sollte man da sagen? Sollte er dem Chefgeologen die Geschichte von dem Kommandeur der Seefliegerstaffel erzählen, dem die linke Tragfläche weggeschossen wurde, gerade an jenem Tag, als sein Bordmechaniker nicht mehr aus der Maschine herauskam, weil der Kom mandeur unerwartet startete, um einem Bombenan griff auf den Flugplatz zu entgehen? Und der Me chaniker hatte nicht geahnt, daß er fliegen würde, als er von der rechten Seite in die Maschine klet terte. Nach diesem Vorfall bestieg dieser Bordme chaniker, auch wenn er nur Reparaturen ausführte, alle Flugzeuge nur noch von der linken Seite. Odin zow aber erwartete keine Antwort auf seine Frage. Auch die Geologen hatten so ihre Schwächen, über die sie lachten, und doch gab es so manche Mär, wie große Fundstätten entdeckt worden waren. Beide Männer wurden aus ihren Gedanken her ausgerissen, als plötzlich das Propellergeräusch mit einem Schlag verstummte und irgendein Gegenstand über die Po-2 hinwegsauste. Kunyzin schaltete den Motor aus, und Odinzow hob erstaunt den Kopf. „Was ist los?" Überdeutlich hörte der Geologe in der unerwarteten Stille die Stimme des Piloten: „Nichts Besonderes, wir haben nur den Propeller verloren, und die Flugvorschriften gestatten nicht, ohne ihn zu fliegen." Kein Fluß, keine Sandbank und höchstens fünf Minuten
Gleitflug . . . Kunyzin duzte zum erstenmal den Expeditionsleiter: „Halte dich fest!" Der lichte Wald schien plötzlich wie eine Ansammlung von Landsknechten, die ihre Hellebarden gegen den „komischen Vogel" streckten. Unmittelbar vor den Baumwipfeln riß Kunyzin die Maschine noch einmal hoch. Sie verfing sich mit dem Leitwerk in den Ästen, riß ein paar kleinere Bäume um und kippte dann nach vorn ab - zwischen einen gewaltigen Ameisenhaufen und einen kleinen Sumpf. Auch Odinzow duzte jetzt seinen Piloten. „Hast du das etwa gesehen?" Er wird mich auf der Erde Diamanten suchen schicken, wenn ich ja sage, dachte Kunyzin. Aus der Maschine zu kommen machte wenig Mühe. Odinzow rutschte durch ein Loch zu seinen Füßen, Kunyzin benutzte einen „Seitenausgang". Nach altem russischem Fliegerbrauch sagte Kunyzin: „Von jetzt ab sind wir Zwillinge, Mischa, wir werden den heutigen Tag als unseren Geburtstag feiern. Aber, daß du mir nicht noch einmal von rechts einsteigst!" Erst ein paar Schritte von der Po 2 entfernt, begriff Odinzow, daß er im wahrsten Sinne des Wortes seinen zweiten Lebensbeginn feiern konnte. Verwundert tastete er seinen Körper ab. Schrammen und Beulen, kein Bruch, keine Ver renkung. Kunyzin untersuchte das Flugzeug, machte Aufnahmen von der Bruchstelle und. murmelte die für Odinzow unverständlichen Worte: „Sonst glaubt Safjannikow womöglich noch an ein Furunkel." Der Propeller war wegen eines Materialfehlers ab
gerissen. Kunyzin hätte den Propeller abziehen müssen, um diesen Fehler zu entdecken. Nach der Karte war es näher zum Hauptlager als zu Fainsteins Schürfpartie. Außerdem bewegte sich der Schürftrupp ebenfalls auf das Hauptlager zu. Odinzow maß die Entfernung aus und antwortete auf Kunyzins Frage: „Bis zur nächsten Ewenken siedlung hundert Kilometer - das sind fünf Tage. Vor einer Woche hätten wir mit einem Monat rech nen müssen." Kunyzin informierte mit einem Funk spruch alle Trupps und das Hauptlager von dem Absturz. Fünf Tage - das war für die anderen Männer ein Spaziergang bei diesem Wetter. Sie würden sich um Kunyzin in Begleitung des erfahrenen Odinzow keine Gedanken machen. Der Chefgeologe sah, daß der Flieger anders über diesen Spaziergang dachte. Er schleppte Notproviant, Waffen und Munition, Kleidung und Werkzeug aus der Po-2, als gelte es, eine neue Expedition auszurüsten. „Laß gut sein, Innokenti", sagte Odinzow, „überlaß mir die Sachen. Nimm du deine Bücher mit. Dein theoretisches Studium der Geologie hast du abgeschlossen, jetzt beginnt das Praktikum." Einen besseren Lehrmeister hätte sich Kunyzin nicht wünschen können. Und kein besseres Wetter. Keine Mücken und am Tage bei klarem Himmel eine erfrischende Luft, gesättigt von Pilzgeruch. Odinzow marschierte wie ein Geologe auf Schürf partie. Er nahm Proben und ließ sich von Kunyzin Fragen beantworten. Der Chefgeologe war mit sei nem Schüler zufrieden. „Im nächsten Jahr wird
unser Revier ein Viereck von tausendfünfhundert Kilometern mal tausendfünfhundert Kilometern sein, da kannst du dich ausfliegen. Das ist die menschenleerste Gegend, die es außer der Eismeerküste bei uns gibt. Wir werden wieder alles neu vermessen." Auch die vierbeinigen Bewohner der Taiga nutzten die schöne Zeit. Die Elche ließen sich kaum stören beim Pilze äsen, ihre Körper waren rund, und die Felle glänzten. Das Abendlager schlugen die beiden Männer an einem See oder einem Flußufer auf. Die Flußufer waren noch grün, und an diese Futterplätze hoppelten im Schein der Abendsonne Scharen von Hasen. In der Dämmerung war das Ufer übersät von den hellen Pünktchen ihrer Schwänze. An den Seen sammelten sich die Wildgänse. Sie fielen in großen Scharen ein, um am nächsten Morgen in Keilform nach Süden zu fliegen. In der sternklaren Nacht dröhnten die Lock- und Warnrufe der Elchbullen; die Zeit der Brunst hatte begonnen. Am dritten Tag ihres Marsches beobachtete Kunyzin, daß die Gänse nicht mehr zum Abend in die Seen einfielen. Sie flogen weiter, in das glühende Abendrot hinein. In der Nacht erwachte er vor Kälte. Das Thermometer zeigte im Schein der Taschenlampe zwanzig Grad unter Null. In der folgenden Nacht fiel die Tempe ratur um weitere zehn Grad. Kunyzin konnte nicht einschlafen, ihm fiel manche wärmende Hülle ein, die im Flugzeug zurückgeblieben war. Vor gerade sechs Wochen hatte er die hellen Nachtstunden be nutzt, um zu den Schürfpartien zu fliegen. Damals ruhten die Geologen wegen der Hitze am Tage, erst
gegen Abend marschierten sie weiter. Odinzow schlief. Er wußte, daß auch am Tage der Sumpf boden nun seine harte Schicht behalten würde. Mit jeder Nacht wuchs deren Dicke, blieb dem Sumpf weniger Raum zwischen ewigem Frost und dieser nachdrängenden Schicht. Noch bevor Mitte September der erste lockere Schnee fiel, würde der Winter wieder in sein vorübergehend geräumtes Reich einziehen. Dann erlosch fast jedes Leben in der Taiga. Die meisten Tiere hatten schon ihre Höhlen gegraben, auch die Bären schienen ebenso wie die Gänse den Wetterumschwung zu fühlen. Während ihres Marsches hatten die beiden die Spur von Meister Petz nur zweimal gekreuzt. Kunyzin überlegte: Was konnte er nur mit dem Flugzeug machen? Am nächsten Morgen waren alle bunten Farb tupfen aus dem Wald verschwunden. Die Taiga war so stahlgrau wie der Himmel über ihr. Sie wirkte kahl und tot. Die Tagestemperatur stieg nicht über den Nullpunkt. Von Stunde zu Stunde wurde der Schein der Sonne hinter dem dicken Wolkenvorhang schwächer. Gegen Abend trafen Kunyzin und Odinzow eine Gruppe Ewenken mit Rentieren. Die Jäger trugen Pelze. In der Taiga hatte der Winter begonnen, er dauerte acht Monate. Diese Gruppe war den beiden aus dem Hauptlager entgegengeschickt worden, nachdem man dort Kunyzins Funkspruch über das Unglück empfangen hatte. Auch Pelzkleidung für Odinzow und Kunyzin brachten diese Männer mit. „Schnell, schnell", riefen die Ewenken, „in Jerbogatschen sind die
fliegenden Boote gelandet." Aber Odinzow blieb ruhig. Er billigte die Fürsorge der Genossen, doch nach seiner Erfahrung ließ die reißende Tunguska genügend Zeit, die Expedition zu evakuieren. Die Tunguska fror wie alle sibirischen Flüsse zuerst auf dem Grund, dann stieg dieses Grundeis an die Oberfläche. Es dauerte meist noch einmal vier bis fünf Tage, bis sich daraus in der schnellen Strömung eine feste Eisdecke bildete. So lautete seine erste Frage: „Gibt es schon Grundeis?" Die Ewenken verneinten. Kein Teilnehmer der Tunguska-Expedition, am we nigsten Kunyzin, hätte geglaubt, daß ausgerechnet er, der Flieger, und nicht irgendein Geologe der erste sein würde, der zurückkehrte in die Taiga, um die Expedition des Jahres 1948 vorzubereiten. In Moskau mußten Menschen entscheiden, die Odinzows Optimismus teilten. Nach Irkutsk kam die Weisung, den Umfang der Schürfarbeiten auszudehnen. Also war Odinzows Vorschlag angenommen worden. Die Geologen werteten noch in den Laboratorien ihre Proben aus, als Safjannikow und Odinzow den Flieger schon zu ihren Besprechungen hinzuzogen. Es ging um die Vorbereitung der Amaka-Expedition, so genannt nach dem ewenkischen Wort Amaka-Bär. Noch vor einem Jahr hätten die beiden erfahrenen Geologen gezögert. Jetzt, da sie Kunyzin kannten, stimmten sie zu, mit der Einrichtung der Versorgungs stützpunkte bereits im Januar zu beginnen. „So wird es eine echte neunzehnhundertachtundvierziger Expedition, und zum Jahresende werden wir
Diamanten gefunden haben", erklärte Safjannikow. „Das wünscht man auch in Moskau", bestätigte Odinzow. Mitten im strengsten jakutischen Winter landete eine Maschine auf Schneekufen unweit der verun glückten Po-2. Kunyzin wollte kein anderes Flug zeug. Er hatte sich davon überzeugt, daß keine Ma schine für seine Aufgabe geeigneter war als diese Po-2. Mit einem neuen Motor, einem neuen Propeller und mit Schneekufen ausgerüstet, startete Kunyzin seine alte, völlig neue Po-2. Was die Ewenken und Tungusen noch nie erlebt hatten: In den Faktoreien landeten die Mitarbeiter der Expedition. Sie kauften Rentiere auf, verpflichteten Führer und veranlaßten, daß Stützpunkte auf den künftigen Wegen der Schürfpartien eingerichtet wurden. Ende Februar war nur noch eine Route nicht vor bereitet. Sie führte durch das Gebiet am Wiljui. Von den Forschungen an diesem 2435 Kilometer langen Nebenfluß der Lena versprach sich Odinzow beson ders viel. Aber gerade im Februar wütete am Wiljui der jakutische Winter. Es herrschten Fröste um sechzig Grad, und was für solche Kälte in dieser Gegend völlig ungewöhnlich war - kein Tag verging ohne Schneesturm. Kunyzin wartete nervös in seinem „Bärenlager", wie er die Unterkunft in einer Faktorei nannte. Er durfte nicht starten ohne Erlaubnis aus Irkutsk und Irkutsk erlaubte nicht. „Einen Fluß - fast so lang wie die Donau - wollen sie wieder auf den Knien entlang kriechen, und ich soll ihnen dann die
Streichhölzer nachbringen. Das könnte alles schon an Ort und Stelle sein." Der verantwortliche Wirtschaftsleiter für diese Strecke hatte zufällig denselben Familiennamen, und die beiden Kunyzins wollten den Genossen in Irkutsk beweisen, daß sie es schon schaffen würden. Pjotr Kunyzin war ein erfahrener Wirtschaftsleiter. Odinzow kannte ihn aus langjähriger gemeinsamer Arbeit, doch er fühlte, Kunyzin, Pjotr, hatte sich von Kunyzin, Innokenti, anstecken lassen. Erst als sich die Stürme legten, kam die Starterlaubnis. Die beiden Kunyzins flogen am selben Tage ab. An einem Tag, wie er für diese Jahreszeit in Jakutien sonst charakteristisch ist: Klarblauer Himmel, völlige Windstille, so daß die kleinen Siedlungen am Rauch ihrer Schornsteine zu erkennen sind, der sich unbeweglich über den Anwesen lagert. In knapp einer Woche landeten die Kunyzins bei einem Dutzend dieser jakutischen Siedlungen. Sie mieteten Rentiere und legten Proviantlager an. Jetzt waren alle Routen vorbereitet. die Schürftrupps konnten früher als sonst und mit großen Arbeitserleichterungen ihre Tätigkeit auf nehmen. Von Wiljuisk meldete eine Funkstation, Kunyzin habe den Rückflug zum Hauptstützpunkt angetreten. Es herrschte herrlichstes Flugwetter. Die Route, die Kunyzin zu fliegen hatte, war ihm schon vertraut. Er freute sich über die abgeschlossene Arbeit. Wenn die Männer hier eintrafen, würden sie staunen über ihren Diamantenflieger. Schließlich war er schon mit den Routen der künftigen
Schürftrupps vertraut, und auf seiner Karte hatte er die voraussichtlichen Landeplätze markiert. Das war ein völlig anderer Anfang als im vergangenen Jahr. Es war auch wichtig und nützlich, daß er und sein Namensvetter bei diesen Flügen die Mitarbeiter der staatlichen Handelsniederlassungen kennen gelernt hatten und auch die Tungusen und Ewenken, auf deren Hilfe die Geologen so sehr angewiesen waren. Nach der Rettung der drei Ewenken im vergangenen Jahr hatte sich Kunyzins Fliegerruhm weit über den Bezirk seiner Tätigkeit verbreitet. Zu seinem Erstaunen wurde er in diesem für ihn neuen Gebiet von den Rentierzüchtern und Jägern wie ein guter alter Bekannter begrüßt. Dieses Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung verbesserte sich noch mehr, weil die beiden Kunyzins sich angewöhnt hatten, Briefe und Pakete für die abgelegenen Siedlungen mitzunehmen. Dann wurde diese Gefälligkeit zur Selbst verständlichkeit. Pjotr Kunyzin scherzte darüber: „Eine Luftpostbeförderung wie im Kommunismus." Denn selbstverständlich hatten sie weder Briefmarken noch einen Poststempel mit. Doch beide Kunyzins wußten, daß ihr Entgegenkommen tausendmal vergolten würde. Die Po-2 lag auf direktem Südkurs. Es war um die Mittagszeit, und die Sonne schien mit einer Kraft, als wolle sie in den fünf Stunden, da sie über dem Horizont stand, den beiden Fliegern Wärme für den ganzen Tag spenden. Pjotr Kunyzin hatte es sich auf den Pelzsachen bequem gemacht. Halb im Liegen überrechnete er in seinem Notizbuch die veraus
gabten Finanzmittel. Die Rechnung schien aufzu gehen, er blinzelte ab und zu voller Zufriedenheit. Völlig unerwartet brach ein Sturm los. Obwohl Kunyzin auf Höhe ging, und der Höhenmesser tau sendfünfhundert Meter anzeigte, geriet die Po-2 in den Wirbel der Luftströmungen. Kunyzin riß die Maschine höher und höher, und, was er sonst in Sibirien vermieden hatte, er drang in die Wolken hinein, weil er hoffte, die Wolkendecke zu durch stoßen und freien Himmel über sich zu bekommen. Doch es fiel ihm schwer, die leichte Po-2 dabei auf Kurs zu halten. Die Maschine wurde hin und her geschleudert. Schließlich nahm ihm Schneetreiben jegliche Sicht. Trotzdem gelang es ihm, noch höher zu kommen und - in noch dichtere Wolken. Der Aufprall des Windes ließ die Tragflächen knarren, als wollten sie jeden Augenblick auseinanderbre chen. Nur der Höhenmesser zeigte noch, wie die Po-2 einmal unvermittelt nach oben geschleudert wurde und dann mit Schlagseite über eine der Trag flächen wieder nach unten abkippte. In der See fliegerstaffel war Kunyzin einer der besten Blind flieger gewesen, und an der Front wurde selten nach dem Wetter gefragt. Er war also an einiges gewöhnt, und er hatte es bisher immer geschafft, die ihm anvertrauten Maschinen zuverlässig in der Hand zuhaben. Vielleicht hätte er auch mit einem größeren Flugzeug dieses Wetter gemeistert, doch die Po-2 wurde wie ein Ball in der Luft hin und her geschleudert. Unter größter Anstrengung gelang es Kunyzin, das Flugzeug langsam herabzudrücken und in ständigem Abfangen die Eigenschaften der
leichten Maschine maximal auszunutzen. Doch dem Schneewirbel konnte er nicht entgehen. Für einen Augenblick sah er einen schmalen Fluß. Kurz entschlossen setzte Kunyzin zur Landung an. Die Eisfläche sah glatt aus. Erst als die Maschine aufsetzte, merkten beide Männer, daß der Schnee ihnen einen Streich gespielt hatte. Der Fluß mußte vor Schollen starren. Wahrscheinlich waren sie während der starken Fröste hochgeschoben worden. Die Kufen zersplitterten im ersten Anprall, das Flugzeug flog seitlich gegen ein bizarres Eisstück und riß der Länge nach auf. Proviant, Werkzeug und Flugzeugteile flogen durch die Luft. Pjotr Kunyzin wurde ebenfalls herausgeschleudert, aber mitsamt seinen Pelzballen, die die Wucht des Aufpralls milderten. Der Sturm ließ zuerst nicht zu, daß sich die Männer um die Maschine kümmern konnten. Die beiden Kunyzins bauten innerhalb des Wracks eine Pelzhütte. Nach drei Stunden hatte der Schneesturm eine Düne über die Unterkunft geweht. So plötzlich wie der Sturm die Männer überrascht hatte, so unerwartet kam auch der Wetterumschlag. Sie arbeiteten sich durch den festgedrückten Schnee in eine sonderbare Stille. Die Sterne flimmerten, und zum erstenmal erlebte Innokenti Kunyzin das „Sternenflüstern". Beim Ausatmen gefror die warme Atemluft sofort, sie verwandelte sich in kleine Eiskristalle, die einander rieben und jenes charakteristische Geräusch verursachten, das nur bei einer Temperatur von unter sechsundfünfzig Grad Kälte entsteht. Pjotr Kunyzin zog den Flieger in die wärmende
„Schneehöhle" zurück. Er hatte schon bei früheren Expeditionen im Winter eine ähnliche Arbeit - wie diesmal mit dem Flieger - erledigen müssen, und er kannte sich durch seine Rentierund Hundeschlittenfahrten mit diesen Kältegraden aus. Am nächsten Tag schien die Sonne, und die völlig bewegungslose Luft täuschte darüber hinweg, daß die Temperatur auch bei dem strahlendblauen Him mel kaum gestiegen war. Trotzdem begann Inno kenti Kunyzin zusammen mit seinem Gefährten die Maschine freizuschaufeln und den Schaden zu über prüfen. Das Resultat war so hoffnungslos, daß er es seinem Genossen schonungslos mitteilte: „Es steht nicht besonders um uns, Pjotr", meinte er, „wir wer den nicht mehr fliegen können, und das Funkgerät ist auch zum Teufel." Die nächsten Stunden ließen erkennen, daß ihre Lage noch schlimmer war: Der Wind hatte alle Karten verweht. Natürlich war es sinnlos, sie zu suchen. Aber Innokenti Kunyzin machte seinem Namensvetter gegenüber kein Hehl daraus, daß er nur vom Flugzeug aus der von den Geologen und auch von den Ewenken und Tungusen bewunderte Fährtensucher sei. Hier unten in der winterlichen Taiga fürchtete er um seinen sonst so glänzenden Orientierungssinn. Nach eingehender Beratung beschlossen die beiden, zurück zum nächsten Rayonzentrum zu laufen. Die Skier waren zum Glück heil. Und auch die eiserne Ration hatte durch den Aufprall nicht gelitten. Ihnen standen zehn Kilo Butterschmalz und zwei Pakete Zwieback zur Verfügung. Ihrer Meinung nach kam der Fluß, auf dem sie gelandet waren, aus
der Richtung des Rayonzentrums. Pjotr Kunyzin war zuversichtlich. „Wenn mich dieser Fluß nicht täuscht, dann ist das Rayonzentrum gar nicht so sehr weit entfernt. Du mußt im Sturm tüchtig vom Kurs abgekommen sein. Kannst du gut Ski laufen?" Als Innokenti bejahte, sagte Pjotr: „Dann sind es vielleicht zwei Stunden Marsch. Ich glaube, wir müssen uns vom Fluß aus scharf nach rechts wenden." Im Morgengrauen nahmen die beiden Kunyzins Lebensmittel und alles, was sie sonst für notwendig hielten, mit. Nach fünf Stunden schnellen Marsch tempos war immer noch keine Siedlung zu erblicken. Innokenti sah am Gesicht seines Gefährten, daß dieser sich quälte. Pjotr hielt es schließlich nicht aus. „Vielleicht habe ich mich geirrt und den Fluß mit einem ganz anderen verwechselt", sagte er. Nachdem sie eine Weile weitermarschiert waren, ergänzte er seine Befürchtungen: „Wenn es so ist, dann laufen wir vielleicht gerade in die entgegengesetzte Richtung, von der Ansiedlung weg, in die tiefste Taiga hinein?" Innokenti bemühte sich, diese Zweifel zu zerstreuen, aber für ihn war die Taiga überall gleich. Unter großen Mühen, oft bis zu den Knien und über den Gürtel im aufgewehten Schnee versinkend, arbeiteten sie sich trotzdem in der alten Richtung weiter vorwärts. Auch das war ein Gesetz der Taiga, bei Unschlüssigkeit nicht die einmal eingeschlagene Richtung zu wechseln. Sonst würden sie schließlich im großen Kreis nur wieder
den Ausgangspunkt erreichen. Das scharfe Marschtempo hatte sie jedoch zuviel Kraft gekostet. Sie legten eine erste Rast ein, erholten sich etwas und marschierten weiter. Von neuem überfiel sie die Müdigkeit; der Abstand zwischen den Ruhepausen wurde immer kürzer. Die Männer sprachen nicht mehr miteinander. Ihre Gedanken waren nicht danach, sie dem anderen mitzuteilen. Später begannen sie, einander Hoffnung zu machen; es war, als ob beide wußten, daß sie sich verirrt hatten. Sie konnten nicht mehr feststellen, was für eine Strecke sie schon zurückgelegt hatten. Zuerst hatte sie nur ein Wille beherrscht: Marschieren! Die Siedlung erreichen! Dann hatten sie jede Vorstellung von Raum und Zeit verloren. Es be herrschte sie nur noch der Gedanke: Weiterlaufen! Jetzt, wo ihre Kräfte völlig erschöpft waren, ver suchten sie sich zu erinnern, wieviel Tage ihr Marsch schon dauerte. Die eiserne Ration half ihnen dabei. Sie hatten gegessen, bis sie satt waren, und jetzt lag vor ihnen ein kleiner Rest von Zwieback und Butter. Also waren seit dem Absturz etwa zwei Wochen vergangen. Innokenti sagte nicht, was er dachte. Waren sie wirklich immer geradeaus marschiert, so mußte die Strecke, die sie zurückgelegt hatten, ziemlich groß sein. Das bedeutete: Wenn man sie suchte, und man suchte sie bestimmt, dann würden auch Flugzeuge kaum in diese Richtung fliegen. Wie sollten die Geologen annehmen, daß die Verunglückten den Weg in die wildeste, unbewohnteste Taiga gewählt hatten. Trotzdem schleppten sie sich noch eine Weile
weiter, bis sie zu einem kleinen Fluß gelangten. Beide waren völlig erschöpft. Innokenti sah Pjotr Kunyzin an, diesen kleinen, kräftigen, untersetzten, stämmigen Mann, der die Tungusen so oft bei ihren Ringkämpfen besiegt hatte. Er war abgemagert, un ter seinen Augen lagen tiefe Schatten, und als er die kärgliche Zwiebackration nehmen wollte, die sie erst jetzt einteilten, fiel ihm das Messer aus der Hand. Er ließ sich in den Schnee fallen und schluchzte. Innokenti rüttelte ihn an den Schultern, aber Pjotr wehrte ab. Der Flieger ließ nicht nach: „Steh auf, Petja, steh auf, noch ist nicht alles verloren." Es gelang ihm, seinen Gefährten aufzurichten. Er stützte ihn, und so wankten sie weiter, bis sie müde wurden, sich eingruben und einschliefen. Wenn sie aufwachten, aßen sie jeder einen halben, dünn mit Butter bestrichenen Zwieback und marschierten weiter. Ohne Gefühl für Tag- und Nachtzeit. Mitte März erreichten Innokenti und Pjotr Kunyzin das Ufer eines größeren Flusses. Sie waren so entkräftet, daß es keinen Sinn hatte, die letzten Körperreserven für einen weiteren Marsch ins Nichts zu verbrauchen. Sie beschlossen, sich am Ufer eine Hütte zu bauen und, wenn für sie bis dahin keine Hilfe kam, den Eisgang abzuwarten, um dann mit einem Flog flußabwärts zu treiben. Pjotr wußte, wie man einen Tschum, ein kegelförmiges Stangenzelt, errichtet. Nun waren sie dankbar, daß am Tage des Unglücks und beim Abmarsch solch eine große Kälte geherrscht hatte - sie hatten sich mit genügend Pelzsachen geschleppt. Pjotr baute
aus Zweigen eine Lagerstätte, und er, der zuerst aufgeben wollte, war es nun, der den Flieger darauf bettete. Nun hatten sie wieder eine Zeitrechnung: Die letzten Portionen der eisernen Ration. Sie reichten zehn Tage - ihrer Meinung nach mußte es Ende März sein. Oder täuschten sie sich? Oder täuschte sie die Natur? Sie wußten nicht, daß in diesem Jahr, 1948, Jakutien einen außergewöhnlich frühen Lenz erlebte. Wie es sonst in anderen Jahren erst Wochen später üblich war, schmolz bereits jetzt der Schnee unter den Strahlen der immer höher stehenden Sonne. Tauwetter setzte ein, unter den Schneehaufen schössen feine Rinnsale hervor, und der warme Wind aus dem Süden hatte in diesem Jahr keinen kräftigen Gegner. Eines Tages traten am Südhang des Flusses vor einem kleinen Hügel drei äsende Elche aus dem Wald. Es war zu sehen, daß sie in dieser Gegend nie von Menschen gejagt wurden. Innokenti schlich sich mit seiner Pistole an die Tiere heran. Er wußte, daß Elche ausgezeichnet hören und sehen, und auch einen gut entwickelten Geruchssinn haben. Wie oft war er in Jerbogatschen vergeblich an diese Tiere herangeschlichen. Die Elche taten sich weiter gütlich an herabhängenden Espenzweigen. Erst als im Schuß das nächststehende der Tiere zusammenbrach, flüchteten die beiden anderen. Zu Kunyzins Schreck sprang auch das dritte wieder auf und rannte seinen Gefährten hinterher. Völlig außer sich vor Ver zweiflung folgte Kunyzin mit letzter Kraft den Spu ren der Tiere. Schon hatte er sich und Pjotr dem Hungertod entronnen geglaubt, und jetzt...
Es war aussichtslos, aber Innokenti rannte weiter. Die Natur kam ihm zu Hilfe. Er wußte nicht, daß auch die Tungusen, allerdings zu dritt und zu viert, die Besonderheiten des Klimas um diese Zeit zur Elchjagd ausnutzten. Die Tiere waren erschreckt von dem schmalen Wechsel, den sie sonst nicht verließen, seitwärts ausgebrochen. Der von der Frühlingssonne erwärmte Schnee hatte aber eine dünne Eiskruste. Die Elche brachen bei jedem Sprung ein, sie zerschnitten sich die Läufe und blieben schließlich hechelnd stecken. Auch Innokenti Kunyzin brach durch den Schnee und schoß wieder mehrere Male auf den nächsten Elch. Es war der kleinste, er blieb liegen, die beiden anderen sprangen noch einmal in großen Sätzen in den schützenden Wald davon. Das Fleisch des jungen Elches reichte einen Monat lang. Von Anfang an hatten sie die Portionen denkbar klein gehalten. Die beiden Männer kamen langsam wieder zu Kräften. Sie begannen aus trockenen Tannenstämmen ein Floß zu bauen. Die Arbeit war mühselig, sie wußten, daß es ihnen nicht gelingen würde, das Floß zum Wasser zu bringen; deshalb schleppten sie jeden Stamm auf das Eis. Als das Floß fertig war, feierten sie dieses Ereignis mit der letzten Portion des Elchfleisches. Der plötzliche Fortfall der gewohnten, wenn auch gerin gen Mahlzeiten, traf diesmal besonders Pjotr Kuny zin. Vielleicht hatte ihn auch die Arbeit am Floß aufrechterhalten. Jetzt wurde er mit jedem Tag hin fälliger und verließ kaum noch das Zelt. Innokenti dagegen entfernte sich jeden Tag bis auf Sichtweite
vom Lager zur Jagd. Doch die Elche schienen von dieser Gegend für immer vergrämt. Aber eines Ta ges hatte die Frühlingssonne die Eichhörnchen her vorgelockt. Sie sprangen von Ast zu Ast, von Baum zu Baum oder drehten sich in schnellen Spiralen die Stämme hinauf und herunter. Ein Kunstschütze hätte seine Not gehabt, sie zu treffen - mit einem Gewehr. Innokenti Kunyzin aber hielt in seiner zit ternden Hand eine kleine Pistole. Er überwand sich und schoß nicht. Die Tierchen mußten zutraulicher werden. So ging er Tag für Tag in dasselbe Wald stück. So hob er oft ein dutzendmal den Arm und ließ ihn wieder sinken. Er durfte kein Risiko ein gehen. Er hatte noch zwei Patronen. Zweimal hörte Pjotr Kunyzin in seinen Fieber wirren einen Schuß. In seinem Unterbewußtsein re gistrierte er danach die wohltuende Wirkung einer warmen, kräftigen Suppe. Jedes Tierchen reichte für drei Tage. Nach sechs Tagen zerteilte Innokenti das Fell der Eichhörnchen. Er kochte daraus einen Ab sud. Nach noch einmal drei Tagen sammelte er die weggeworfenen Knöchelchen auf und zerkleinerte sie. Der Schnee war so weit geschmolzen, daß es ihm möglich wurde, vorjährige Moosbeeren zu suchen. Er kochte sie zusammen mit den zerstampften Knöchelchen und mit Baumrinde. Seine Kiefer waren geschwollen; er wußte, was das bedeutete. Der Körper hatte wohl ein Minimum an Nahrung erhalten, aber kaum Vitamine. Die Tage wurden länger. Innokenti erinnerte sich seines Absturzes mit dem Chefgeologen im vergangenen Herbst. Damals waren die Wildgänse gegen Süden
geflogen, jetzt zogen sie mit lauten Schreien nach Norden. Die ganze Natur erwachte vom Winterschlaf. Überall kehrte das Leben in den nördlichen Urwald zurück. Nur um das kleine schneeverwehte Zelt machte es einen Umweg. Nein, vielleicht hätte Innokenti Kunyzin sich aufgegeben, doch er kämpfte nicht nur für sich, sondern auch für das Leben seines Kameraden. Pjotr kam nur noch zur Besinnung, wenn ihm Innokenti etwas Nahrung einflößte. Innokenti stolperte das Flußufer entlang. Damals im Herbst hatten die Hasen an solchen Stellen das letzte Grün gefunden. Wenn es irgend etwas Eßbares gab, müßte es auch hier im Frühjahr zuerst auftauchen. Ein Sonnenstrahl wurde von einem Eiskristall reflektiert. Oder? Kunyzin ließ sich auf die Erde fallen, er kroch an das Flußufer heran. Es war kein Eiskristall, sondern es waren ein paar vom Frost zusammengekittete Steinchen. Eines davon hatte den Sonnenstrahl reflektiert, jetzt glänzte es wieder auf in allen Farben des Regenbogens. „Ein Diamant!" flüsterte Innokenti. Er löste das Steinchen aus dem Schmutz, er hielt es auf der fla chen Handfläche. Wieder reflektierte es die Sonnen strahlen, und Innokenti Kunyzin fühlte, daß alles, was er erlebt hatte, diesen Augenblick wert war. Odinzow hatte recht behalten, er, Innokenti Kunyzin hat den ersten Diamanten gefunden. Nun stimmte es mit seinem Namen: Diamantenflieger. Nein, kein Flieger mehr. Ein jäher Schreck durchfuhr ihn. Jetzt durfte er nicht sterben, jetzt nicht. Nun ging es nicht mehr um sein Leben und
auch nicht um das Leben seines Gefährten. Aber Pjotr mußte von dem Fund wissen. Vielleicht überlebte einer. Vielleicht beide? Aber Pjotr mußte davon wissen, unbedingt. Innokenti stolperte, stürzte, raffte sich wieder auf und schleppte sich zum Zelt. „Petja, Petja, sieh nur, was ich gefunden habe! Ich habe einen Diamanten gefunden!" Pjotr richtete sich mühsam auf, schaute mit ver ständnislosen Augen auf die immer wieder ver schwimmende Gestalt und sank wieder zurück. Innokenti ging nicht mehr auf Nahrungssuche. Es war sinnlos. Aber etwas anderes mußte er tun. Er suchte in den Taschen seiner Kombination und fand ein Stück Papier. Er entsann sich, was er in den Geologiebüchern gelesen hatte, er erinnerte sich der Aufzeichnungen der Geologen und begann genau den Fundort zu beschreiben. Er zeichnete die Flußbiegung ein und nach dem Stand der Sonne die Himmelsrichtung. Dann wickelte er den kleinen Kristall sorgsam ein, feuchtete den Kopierstift an, schrieb auf den Lappen „Vorsichtig auswickeln!" und barg den kostbaren Fund auf seiner Brust. Die Sonne, die den Diamantensplitter hatte auf blitzen lassen, ließ in den nächsten Tagen die Wei denkätzchen aufbrechen. Innokenti sammelte die klebrigen, aufgequollenen Triebe und kochte sie ab. Was er für eine Notlösung gehalten hatte, wirkte Wunder. Zuerst merkte er es an seinem Kameraden. Als er ihm zum drittenmal den grünlichen Saft ein flößte, öffnete Pjotr die Augen und schaute verwun dert um sich. „Was hast du da, Innokenti? Ist man
uns zu Hilfe gekommen?" „Trink nur, Petja, trink", flüsterte Innokenti, und Tränen rollten ihm aus den Augen vor Freude, daß sein Kamerad wieder mit ihm sprach. Er kroch sofort wieder zurück zu den Weiden sträuchern und sammelte, was er erreichen konnte. Aber auf dem Rückweg verlor er das Bewußtsein. Er kam wieder zu sich, doch sein Herz schlug wie rasend, und vor seinen Augen drehte sich alles: Die Weiden an den Ufern, der Fluß, der Wald und das Zelt. Es gelang ihm, bis zu Pjotr zu kriechen, der verlangend die Hände ausstreckte. Mit jedem Tag wurde die Suppe, die Innokenti aus den Weidenkätzchen kochte, stärkender. Die Schwellungen des Zahnfleisches gingen zurück. Aber der Flieger mußte sich immer weiter von der Hütte entfernen, die Weiden am Ufer waren von ihm abgegrast. Pjotr Kunyzin erholte sich, doch Innokenti verbrauchte seine Kräfte durch die Nahrungssuche, die ihn nun schon fast einen Kilometer vom Lagerplatz wegführte. Eines Tages wartete Pjotr Kunyzin vergeblich auf Innokenti. Aus übriggebliebenen Weidenkätzchen kochte er sich zuerst mühselig selbst eine Suppe. Dann stand er schwankend auf, brach wieder zusammen und kroch weiter, der deutlich sichtbaren Spur seines Gefährten nach. Dem Stand der Sonne nach war es schon Mai. Pjotr Kunyzin hatte seinen Freund auf das Floß ge schleppt. Innokenti lag da, zugedeckt mit allem, was Pjotr Kunyzin vom Zelt abgebaut hatte. Nun war es umgekehrt wie wochenlang vorher. Pjotr saß
neben seinem Freund und flößte ihm die Suppe ein. „Schöne Geschichten machst du, mein Lieber, aber jetzt wird unser Dampfer bald abfahren. Das Eis ist in Bewegung gekommen, und dann schwimmen wir los, diesmal aber bestimmt in die richtige Richtung." Innokenti hörte zwar, aber er verstand nicht. Mitte Mai barst das Eis. Es riß sich zunächst vom Ufer los und stieg um gut einen Meter, rührte sich aber noch nicht. Erst als der Eisgang im Hauptbett des Flusses begonnen hatte, würden sich auch hier die Schollen in Bewegung setzen. Das Floß wurde gehoben und geschoben. Innokenti öffnete die Augen. Für einen Augenblick kam er wieder zu Be wußtsein und klarem Verstand. Er flüsterte: „Petja, binde mich fest, ich darf nicht herunterfallen." „Aber, wo denkst du hin, du wirst nicht herunter fallen, ich binde dich ganz fest, ich achte doch auf dich." Pjotr versagte die Stimme, und er hörte kaum, was Innokenti flüsterte: „Ich darf nicht herunterfallen, ich ... habe doch . . . auf meiner Brust... einen Diamanten, einen Diamanten, Pjotr..." Es waren seine letzten Worte. Pjotr weinte. Nun, wo noch ein Hoffnungsschimmer war, hatte der Wahn sinn seinen Gefährten erfaßt. Er glaubte, Diamanten entdeckt zu haben. Das Eis bäumte sich auf, die Schollen wuchteten übereinander, mit Gebrüll und Gedröhn kam der Fluß in Bewegung. Pjotr lag angebunden neben sei nem Freund. „Innokenti, es geht los." Der Flieger regte sich nicht. „Innokenti!" Pjotr rüttelte seinen Gefährten.
Im Gesicht Innokenti Kunyzins zuckte es. Er öff nete die Augen und sah in den Himmel, den blauen Frühjahrshimmel Jakutiens, den er so gut kannte. Leichte weiße Wolken zogen dahin und lösten sich auf... In Nichts. Nichts verschwindet, dachte Kuny zin. Alles verwandelt sich nur. Auf seinen weißen blutlosen Lippen stand eine Spur von Lächeln, das nicht mehr verschwand. Das Floß trieb durch die von der Frühlingssonne zum Leben erweckte Taiga. Es schoß in der Strö mung rasch dahin. Im Walde rauschten die Bäume, die Vögel sangen, und Pjotr Kunyzin sah, wie die niedrigen Ufer mit Tannen und Lärchenwald von Felsen abgelöst wurden. Er spürte das Tosen einer Stromschnelle. Dann verlor auch er das Bewußtsein. Eine Woche nach Beginn des Eisgangs trieben ja kutische Jäger einige Rentiere, die Innokenti und Pjotr Kunyzin für einen Schürftrupp gekauft hatten, an ihren Bestimmungsort. Am Wiljui fingen sie ein Floß ab, auf dem zwei Männer festgebunden waren. Einer war tot, sie begruben ihn im Dorf Wiljutschan am Flußufer. Der zweite war bewußtlos. Dorfbewohner brachten den Mann in das nächste Krankenhaus. Die Jäger trieben ihre Rentiere weiter und übergaben sie einem Schürftrupp der AmakaExpedition, jener Expedition, für die Innokenti Kunyzin vor drei Monaten zu seinem letzten Flug aufgestiegen war. Wieder begann die Diamantensuche. Die Geologen ahnten nicht, daß nur einige Dutzend Kilometer von ihnen entfernt der Mann umgekommen war, den
man so lange Vergeblich gesucht hatte, jener Mann, den sie Diamantenflieger getauft hatten. Sie wußten nicht, daß er diesen Namen zu Recht trug. Sie beschlossen, ihm ein Denkmal zu setzen, wenn der erste Diamant gefunden würde. Daran glaubten sie. Ohne diesen Glauben war ihre Arbeit nicht möglich.