Der Dunkle Feind Version: v1.0
Fritz. Schweinshunds. Heinis. So wurden sie von den Engländern auf der anderen Seite de...
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Der Dunkle Feind Version: v1.0
Fritz. Schweinshunds. Heinis. So wurden sie von den Engländern auf der anderen Seite des Felds genannt. Seit ungefähr einer Woche warfen sie die Zeitungsseiten, die sie als Klopapier benutzten, über die Ränder der Schützengräben – vorausgesetzt der Wind kam von hinten, nicht etwa von vorne. »For the Kaiser, Schweinshunds!«, gröl ten sie, wenn das braun verschmierte Papier an Sta cheldrahtrollen und aufgedunsenen Pferdekada vern vorbeiwehte und seinen Weg in die deutschen Schützengräben fand. »For the Kaiser!«
Georg Heymann hob den Kopf und beobachtete, wie eine Zeitungs seite über ihn hinwegwehte. Es war ein kühler, bewölkter Apriltag, und der Wind meinte es gut mit den Engländern. Er blies unaufhör lich von Westen. »Scheinen ja große Rationen zu kriegen, die Tommies«, sagte Paul Schwarz, der an der Lehmwand lehnte und rauchte. Ebenso wie Ge org hatte er ein falsches Alter angegeben, um in die Armee aufge nommen zu werden. »Irgendwo muss das ja alles herkommen.« »Frag mal nett. Vielleicht geben sie dir ja was ab.« »Haben sie doch schon.« Paul zeigte auf einen Papierfetzen, der über ihm im Stacheldraht hängen geblieben war. Georg lachte. Er und Paul sahen sich so ähnlich, dass man sie häu fig für Brüder hielt. Beide waren klein und dünn, hatten lange Na sen, blonde Haare und grüne Augen. Sie hatten die gleiche Ober schulklasse besucht, in der gleichen Fußballmannschaft gespielt und sich in der gleichen Kaserne freiwillig gemeldet. Georg erinnerte sich an den bärtigen Unteroffizier an seinem Schreibtisch, an das Bild des Kaisers an der Wand und an den Ge ruch von Leder und Kaffee. »Wie alt seid ihr Jungen denn?«, hatte der Unteroffizier gefragt. »Zwanzig … einundzwanzig. Wir sind gleich alt.« Paul hatte gestottert, so nervös war er. Georg war überzeugt gewesen, der Soldat würde sie auslachen. Aber er hatte nur zwei Formulare aus einer Schublade gezogen und gegrinst. »Einundzwanzig. Da habt ihr ja Glück.« In Wirklichkeit war Paul zwei Tage vor diesem verregneten Nach mittag im August des Jahres 1914 gerade siebzehn geworden, und Georg war knapp drei Monate jünger. Zwei Jahre waren seitdem vergangen … »Die Inselaffen haben doch Recht«, sagte eine dunkle Stimme hin ter ihm. »Mich kann der Kaiser auch am Arsch lecken.«
Georg drehte sich um, auch wenn es keinen Zweifel gab, wer für diese Worte verantwortlich war. Es gab nur einen Mann in der Kom panie, der laut aussprach, was alle anderen kaum zu denken wag ten. Sein Name war Hagen Zeupherios. Manche behaupteten, er sei der Sohn eines griechischen Zirkusartisten. Andere sagten, er habe den Namen nur erfunden, um seine wahre Herkunft zu verschlei ern. Hagen selbst schwieg, wenn man ihn danach fragte. Georg, der in seinem ganzen Leben noch keinen Griechen gesehen hatte, fand nicht, dass Hagen griechisch aussah. Er war zu groß, zu muskulös und zu dunkel. In seinen schwarzen Augen lag eine Härte, die nicht zu den antiken Helden zu passen schien, die Georg im Altgriechisch-Unterricht kennen gelernt hatte. Aber trotzdem war Hagen ein Held. Darüber waren sich alle einig, die ihn kämpfen gesehen hatten. Zweimal schon war er im Feld zum Gefreiten befördert worden, ebenso oft hatte man ihn wieder zum Gemeinen degradiert. Noch vor wenigen Tagen hatte Sergeant (Im ersten Weltkrieg war der Sergeant rangniedriger als der Feldwebel, stand aber über dem Unteroffizier) Huber prophezeit, er würde sei ne Laufbahn vor einem Erschießungskommando beenden. »Red leiser!«, sagte Gustav, ein hessischer Maurer, dessen Dialekt Georg kaum verstand. »Wenn der Huber dich hört, hast du ‘ne Kugel im Kopf.« Hagen hob die Schultern. »Ob eine englische oder eine deutsche … Was macht das schon für einen Unterschied?« Er trat an das Loch heran, das sie seit dem Morgengrauen gruben. »Wie tief müssen wir noch?« Paul schnippte Asche in den Dreck. »Keine Ahnung. Wird Huber uns schon sagen. Breit genug für seinen fetten Arsch ist das Loch in jedem Fall.« Gustav schaute sich hektisch um. »Nicht so laut, verdammt noch mal!«
In den ersten Monaten hatte die raue Ausdrucksweise in den Schützengräben Georg schockiert, mittlerweile fiel sie ihm kaum noch auf. Die Sprache passte sich dem Leben an. »Glaubt ihr, das haut hin?«, fragte er. Paul und Gustav sahen Hagen an, warteten auf seine Antwort. Ihm trauten sie mehr als jedem Offizier. Hagen blickte in das Loch, zog eine halb gerauchte Zigarette aus der Hemdtasche und zündete sie an. »Vielleicht«, sagte er dann zu Georgs Erleichterung. »Wenn wir tief genug graben und weit genug, und wenn der Tunnel nicht über uns einstürzt, könnte es klappen.« »Mir hat ein Pionier erzählt, dass sie allein an diesem Front abschnitt über hundert Tunnel graben.« Gustav klang beeindruckt. »Wenn sie die voll Dynamit packen, kann der Tommy einpacken.« »Du kannst gleich einpacken, wenn du nicht dein Schandmaul häl tst!« Sergeant Huber schob eine dreckige Decke zur Seite und trat aus einem der Verbindungsgänge, die zu den hinteren Schützengrä ben führten. Georg fragte sich, wie lange er bereits dort gestanden hatte. Er nahm Haltung an. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Paul seine Zigarette ausdrückte und stramm stand. Hagen rauchte ge lassen weiter. Gustav stand auf, nahm die Mütze ab und drehte sie zwischen sei nen breiten, schwieligen Fingern. »Entschuldigen Sie, Herr Sergeant, wir haben nur geredet.« »Das wird auf euren Grabsteinen stehen, wenn die Tommies euch den Kopf wegschießen.« Hubers bayerischer Dialekt ließ seine Worte stets härter klingen, als sie gemeint waren. Er war ein grob schlächtiger dicker Mann mit gerötetem Gesicht und kahlem Kopf. Wenn man dicht vor ihm stand, roch man den scharfen Kräu terschnaps, den er schon zum Frühstück trank. »Wo sind eure ver dammten Helme?«
»In den Unterständen, Herr Sergeant«, antwortete Paul. »Die haben beim Graben gestört.« Huber hatte selbst die Anweisung gegeben, die Helme abzunehmen, aber Georg wagte es nicht, ihn daran zu erinnern. »Dann grabt auch!«, brüllte der Sergeant so plötzlich, dass er zu sammenzuckte. »Steht hier nicht rum wie die Kühe auf der Alm.« »Jawohl!« Gustav stieg bereits die Leiter hinab. Georg glaubte, dass er mehr Angst vor Huber hatte als vor dem Feind. Er reichte ihm Schaufel und Spitzhacke, dann kletterte er selbst nach unten. Paul warf die leeren Kartoffelsäcke, die sie zum Abtransport der Erde verwendeten, in das Loch. Sie hatten Stricke daran gebunden, mit denen man die vollen Säcke nach oben ziehen konnte. Es war eine harte, unangenehme Arbeit, aber selbst die war besser als das stumpfsinnige Warten auf den Kampf – oder den Tod. Georg spuckte in die Hände, nahm die Spitzhacke und begann das nasse Erdreich aufzulockern. Es roch schwer und modrig in dem Loch, und für einen Moment lief ihm ein Schauer über den Rücken, als ihm klar wurde, dass es so auch in seinem Grab riechen würde. Er verdrängte den Gedanken. Mit einem dumpfen Geräusch traf die Spitzhacke auf Widerstand. Georg drückte mit der flachen Seite dagegen und spürte, wie etwas nachgab und zurück geschoben wurde. Es war lang und leicht wie eine Wurzel, aber viel zu gerade und glatt. »Warum machst du nicht weiter?«, fragte Gustav hinter ihm. Er befürchtete wohl einen weiteren Wutausbruch des Sergeants. »Hier ist irgendwas.« Georg ging in die Hocke. Das Licht, das von oben ins Loch fiel, reichte aus, um den Boden zu erkennen. Etwas ragte zwischen Dreck und kleinen Steinen hervor, etwas Längliches, Dunkles. Er berührte es und spürte Holz unter seinen Fingern. »Es ist nur
ein Ast«, sagte er, während er ihn aus der Erde zog. »Was hast du erwartet? Einen Sack Gold?«, fragte Gustav. »Ich weiß nicht.« Er konnte wirklich nicht sagen, weshalb ihn der Fund so enttäuschte. Vielleicht hatte er gehofft, eine Art Talisman in diesem Loch zu finden, etwas von Menschen erschaffenes, das vom Krieg unberührt geblieben war. »Das ist kein Ast«, sagte Hagen über ihm. »Das ist ein Knochen. Sieht aus wie ein Oberschenkel.« Georg starrte das Ding in seiner Hand an. Es war so gleichmäßig geformt, dass er sich fragte, wieso er es je für einen Ast gehalten hatte. »Bist du sicher?«, fragte er trotzdem. Hagen nickte. »Wird wohl von irgendeinem armen Kerl stammen, den sie nach der Schlacht nicht gefunden haben«, sagte Paul. Georg sah ihn an. »Und wie soll ein einzelner Knochen von dem armen Kerl mehr als zwei Meter unter einen Schützengraben ge kommen sein?« Ein Achselzucken war die Antwort. »Hab ja nicht gesagt, dass es eine Schlacht in diesem Krieg war, oder? Vielleicht findest du den Rest ja auch noch.« Huber, der die Unterhaltung schweigend und mit vor dem Bauch verschränkten Armen verfolgt hatte, mischte sich ein. »Wenn er eine deutsche Uniform trägt, gräbst du ihn aus, wenn er keine trägt, lässt du ihn drin.« »Jawohl.« Georg wollte den Knochen zur Seite legen, stutzte dann jedoch, als er die Risse darin bemerkte. Sie waren zu fein, um von seiner Spitzhacke zu stammen, zu gerade, um zufällig zu sein. Sie bildeten ein Muster aus Strichen, Kreuzen und Punkten, so wie eine Runenschrift. »Wird jetzt mal gearbeitet da unten?«, brüllte Huber.
Georg öffnete den Mund, um ihm von den Rissen zu berichten, änderte jedoch seine Meinung und legte den Knochen vorsichtig beiseite. »Jawohl«, antwortete er und stieß die Spitzhacke wieder in die Erde. Seine Gedanken kreisten aber nur um die Frage, wer wohl die Runen in den alten Knochen geritzt hatte – und warum …
* Selbst Stunden später, als Georg auf seinem Posten neben dem Loch Wache schob, dachte er kaum an etwas anderes. Sie waren zu viert in diesem Abschnitt, er, Gustav, Josef, der Dort munder Bergmann und Friedhelm, ein Schreiner aus Bremen. Letz terer stotterte seit einem Chlorgasangriff vor einem Jahr so stark, dass man ihn kaum verstehen konnte. Die Ärzte hatten ihn einen Feigling genannt und aus dem Lazarett geworfen. Georg hoffte, dass ihm nie etwas Ähnliches zustoßen würde. Er blickte in das Loch hinein. Josef und Friedhelm hatten den Befehl erhalten, das Loch zu si chern und mit dem Bau eines Tunnels zu beginnen. Rund fünf Me ter hatten sie sich bereits vorgearbeitet, doch jetzt war die Arbeit ins Stocken geraten, denn Josef musste den Stollen abstützen, damit die schwere Erde ihn nicht zum Einsturz brachte. Abgesehen von den zwei Öllampen, die im Loch hingen, herrschte Dunkelheit im Schützengraben. Es war nass und kalt, aber niemand wagte es, ein Feuer anzuzünden und wer eine Zigarette rauchte, tat dies hinter vorgehaltener Hand und gebückter Haltung. Scharfschützen konnten überall lauern. Georg hatte Geschichten über Schützen gehört, die fünfzig Männer in einer einzigen Nacht getötet hatten. Trotz dieser Gefahr war er über jede Stunde froh, die er im Frontschützengraben verbringen
durfte. Er hasste die Enge und den Gestank in den Unterständen. Hier konnte er zwar auch beide Seitenwände berühren, wenn er die Arme ausstreckte, aber wenigstens streifte er bei dieser Bewe gung nicht auch noch zwei andere Männer. Wenn er den Kopf hob, blickte er fast zehn Meter weit den Graben entlang, bevor er den nächsten Soldaten sah. Diese zehn freien Meter reichten ihm aus, um sich frei zu fühlen. Man nannte es Klaustrophobie, das Gefühl in engen Räumen zu ersticken. Diese Klaustrophobie hatte ihn davon abgehalten, zur Ma rine zu gehen, denn der Gedanke an den Dienst in einem der neuen U-Boote hatte ihm die Kehle zugeschnürt. Wie hätte er auch vor hersehen können, dass der Krieg an Land wie das Leben in einem Massengrab sein würde; eingepfercht in unterirdischen Löchern, umgeben von Verwesung und Tod? Georg drehte den Knochen nachdenklich zwischen den Fingern. Die Runen – wenn es denn Runen waren – zogen sich wie eine Spi rale um den Knochen herum. Vermutlich hatte man sie mit einem Messer oder einem anderen spitzen Werkzeug eingeritzt. »Denkst du immer noch über diesen dämlichen Knochen nach?«, fragte Gustav. Entgegen der Vorschriften hatte er sein Gewehr an die Wand ge lehnt und drehte sich eine Zigarette. Um diese Uhrzeit musste man Hubers Überraschungsbesuche nicht mehr fürchten. Nach Einbruch der Dunkelheit lag er meistens betrunken in seinem Unterstand. »Lass den Jungen in Ruhe«, mischte sich Josef ein, bevor Georg antworten konnte. »Soll doch jeder denken, an was er will.« Der Bergmann sah aus dem Loch nach oben. »Ich brauche mehr Bretter.« »U-u-und Nä-nä-nä …« »Ach ja, und Nägel«, vollendete Josef für Friedhelm, der frustriert über sich selbst den Kopf schüttelte.
Georg reichte ihm ein paar Bretter von dem Stapel neben dem Loch und einen kleinen Karton mit Nägeln. Die meisten wurden nicht zum ersten Mal verwendet und waren entsprechend krumm. Rohstoffe waren seit der englischen Blockade kaum noch zu be schaffen. »Kommt ihr voran?«, fragte Gustav. Er steckte sich die fertig ge drehte Zigarette in den Mund und tastete in seinen Taschen nach Streichhölzern. Josef öffnete den Karton und kramte im schwachen Licht der Öl lampe nach einem verwendbaren Nagel. »Ja, zum Glück sind kaum Steine im Boden. Zehn, zwölf Tage Arbeit, dann sollten wir direkt unterm Arsch vom Tommy sein.« »Zehn Tage?« Georg dachte an die Arbeit im dunklen engen Tunnel und sein Mund wurde trocken. »Geht das nicht schneller?« »Ich wüsste nicht, wie. Der Tunnel ist so schmal, dass immer nur ein Mann darin arbeiten kann.« Gustav schnippte mit den Fingern und zeigte auf seine Zigarette. Georg nahm eine Streichholzschachtel aus seiner Brusttasche und reichte sie ihm. »Sind ein bisschen feucht geworden«, sagte er, während er über sein Problem nachdachte. »Sollten nicht besser Bergleute wie du die Arbeit machen?«, wandte er sich dann an Josef. »So einer wie ich weiß doch gar nicht, wohin er graben soll. Nachher sprengen wir unseren eigenen Graben.« Hinter ihm fluchte Gustav, als das erste Streichholz sofort wieder ausging. Er nahm ein zweites aus der Schachtel und schützte es mit seinem Körper vor dem Wind. »Sergeant Huber würde der Schlag treffen, wenn das einem von uns passiert«, sagte er. Die unangezündete Zigarette wippte zwi schen seinen Lippen auf und ab. Josef lachte. »Das wär’s ja fast wert. Aber keine Sorge, Junge, ich zeig euch schon, wo’s langgeht.«
Das vierte Streichholz fing endlich Feuer. Es flackerte und hüllte Gustavs pockennarbiges Gesicht in ein weiches gelbes Licht. Er hielt die Zigarette an die Flamme, zog und … Der Schuss zerriss die Stille. Gustav sackte zusammen. Georg warf sich auf den Boden. »Scharfschütze!« Der Ruf wurde überall im Graben aufgenommen. Übereifrige schossen auf Schatten im Niemandsland. Die Läufe der Maschinengewehre pendelten von einer Seite zur anderen, such ten nach einem Ziel. Mündungsfeuer erhellte die Umgebung für Se kundenbruchteile, riss behelmte Gestalten aus der Dunkelheit – und Gustavs verzerrtes, starres Gesicht. Unter seinem rechten Auge war ein Loch. Die Zigarette, die er sich angezündet hatte, lag auf seinem Mantel und brannte sich langsam in den Stoff. Aus den Augenwinkeln bemerkte Georg, wie das Licht in der Grube bei Josef und Friedhelm plötzlich erlosch. Ein Schrei mischte sich unter gebrüllte Kommandos und Flüche. Georg tastete nach seinem Gewehr. Da brach der Schrei ab. Eine Maschinengewehrsalve pfiff über Georgs Kopf hinweg. Er presste sich tiefer in den Dreck und dachte nicht mehr an den Schrei, nicht mehr an Gustav; nur noch an die Querschläger, die im Nie mandsland von einem ausgebrannten Panzer abprallten und wie wahnsinnige Mörder unkontrollierbar ihre Ziele suchten. Bitte nicht ich, bitte nicht ich, bitte nicht ich. Die ständige Wiederholung war wie ein Gebet. Georg war über zeugt, wenn er es nur oft genug aufsagte, würde ihm nichts passieren. Andere Männer küssten einen Rosenkranz oder um klammerten eine Hasenpfote in ihrer Tasche – Georg wiederholte Wörter. »Hört auf zu schießen, verdammt noch mal!«
Oberfeldwebel Meyerhofen hatte eine raue, dröhnende Stimme, die sich gegen den Lärm des Kampfes durchsetzte. »Aufhören!« Der Befehl wurde von anderen Stimmen aufgenommen und wei tergegeben. Das Maschinengewehr verstummte. Ein paar einzelne Schüsse fielen noch aus Karabinern und Pistolen, dann kehrte die Stille zu rück in den Graben. »Alle Mann Posten einnehmen, Tote und Verletzte nach hinten zum Lazarettbereich bringen«, befahl Meyerhofen. »Und bleibt in Deckung, verdammt noch mal.« Georg hob den Kopf. Der Oberfeldwebel war eine Silhouette am Ende des Verbindungsgangs, die bereits wieder mit den Schatten verschmolz. Die Frontgräben waren zu gefährlich für einen Mann seines Rangs. »Josef?«, fragte Georg in das dunkle Loch hinein. »Es hat Gustav erwischt. Wir müssen ihn nach hinten bringen.« Nichts regte sich unter ihm. »Josef? Friedhelm?« Einige Meter entfernt trugen zwei Soldaten einen wimmernden Kameraden den Graben entlang. Georg fühlte sich, als stünde eine Mauer zwischen ihnen und ihm. Sie kümmerte weder das Schweigen im Loch, noch der Tote, der reglos neben ihm lag. Georg griff nach der Ersatzlampe, die sie an die Spitze der Leiter gehangen hatten. Seine Streichholzschachtel lag unerreichbar ir gendwo unter Gustavs Leiche. Nach kurzem Zögern nahm Georg die glimmende Zigarette vom Mantel des Toten und hielt sie an den Docht. Das Licht der kleinen Flamme brach sich in Gustavs toten Augen. Georg sah weg und robbte mit der Lampe in der Hand zum Rand des Lochs. Die Leiter schälte sich aus der Dunkelheit, dann der Dreck und die Balken, mit denen sie das Erdreich abgestützt hatten.
»Josef? Friedhelm?« Georg schob sich über den Rand des Lochs hinweg. Er hörte, wie kleine Steine nach unten fielen. Der Lichtschein erreichte den Boden und den Eingang des schmalen Tunnels. Er zuckte zusammen. Jemand saß dort. »Josef?« Er hielt die Lampe tiefer ins Loch und erkannte die Gestalt an den schütteren braunen Haaren. »Friedhelm?« Er erhielt keine Antwort. »Friedhelm, wo ist Josef?« Der Angesprochene reagierte nicht. Sein ganzer Körper zitterte wie in einem gewaltigen, nicht enden wollenden Krampf. »Wo ist Josef?«
* »Wo ist der Kerl?«, wollte auch Oberfeldwebel Meyerhofen wenig später wissen, und warf einen misstrauischen Blick in den Tunneleingang, wohl um sicherzustellen, dass Josef nicht dort lag und heimlich feixte. »Verdammte Schweinerei! Ein Soldat kann doch nicht einfach so verschwinden!« Auf die Idee, in das Loch hineinzukriechen, um selbst nach dem Rechten zu sehen, kam er natürlich nicht. Dabei hätte er sich ja vielleicht seine Uniform schmutzig machen können. In seinen stahlblauen Augen flackerte aber auch ein ängstlicher Glanz, während er nervös vor dem Tunnel auf und ab stapfte, immer wieder stehen blieb und in die dunkle Öffnung blickte – nur um den kurzen Parademarsch danach noch verbissener fortzu setzen. »Antworten Sie schon, Mann!«, schnauzte er Georg an. »Irgendwo
muss Ihr Kamerad doch geblieben sein.« Georg wusste beim besten Willen nicht mehr, was er noch darauf sagen sollte, denn er hatte die Frage schon mehrmals erschöpfend beantwortet. Darum beließ er es bei einem Zucken der Schultern. »Handelt es sich vielleicht um Fahnenflucht?«, hakte Meyerhofen nach. »Nein, ganz bestimmt nicht!«, antwortete Georg schnell. »Ich schwöre Ihnen, Herr Oberfeldwebel, der Tunnel ist eine Sackgasse. Ich habe drinnen nachgesehen, da führt nicht einmal ein Mauseloch hinaus.« Meyerhofen belegte ihn mit einem durchdringenden Blick, dessen Strenge durch das nervöse Pochen seiner Schläfenader weiter ver stärkt wurde. Und doch, irgendwie nistete auch ein Funken tief empfundener Angst in seinen Augen. Georg hatte das schon oft bei feindlichen Sturmangriffen gesehen, wenn die Engländer brüllend auf sie zuliefen, als ob sie nichts und niemand schrecken könnte. Dabei fürchteten sie insgeheim doch um ihr kleines, erbärmliches Leben, so wie jeder Deutsche auch. Wovor sich Meyerhofen fürchtete, wusste Georg zwar nicht, aber dass er sich fürchtete, wurde unübersehbar, da sein Blick an Kraft verlor und er ihn schließlich senkte. Seine straff durchgedrückte Gestalt erschlaffte. Plötzlich wirkte er erschöpft und resigniert. Bein ahe menschlich. »Was ist mit diesem Stottermaxe? Der muss doch alles gesehen haben.« Die Frage galt Huber, der seit Beginn des Verhörs ums Gleichge wicht kämpfte. Der Alkohol, den er täglich in großen Maßen genoss, um all den Wahnsinn zu überstehen, forderte seinen Tribut. Derart plötzlich angesprochen, wusste er zuerst gar nicht, was er sagen sollte. Ein Zeichen höchster Anstrengung trat auf sein gerötetes Gesicht, während er um eine verständliche Antwort rang. »Im Lazarett ist man ratlos«, brachte er schließlich schleppend her
vor. »Aus dem Soldaten Dettmer ist beim besten Willen nichts her auszubekommen. Er ist völlig wahnsinnig vor Angst. Sie mussten ihn festbinden wie die anderen.« »Welche anderen?«, platzte es aus Georg heraus, denn außer ihm und Friedhelm gab es schließlich keine Zeugen. Ein scharfer Blick des Oberfeldwebels ließ ihn seine Neugierde umgehend bereuen. Viel schlimmer als ihn traf es jedoch Huber, dessen Gesicht daraufhin feuerrot anlief, als ob er gerade seine Frau daheim in Bayern mit einem Preußen nackt im Bett erwischt hätte. Schwitzend sah der Sergeant auf seine schlammverkrusteten Stiefel hinab, die dringend geputzt gehörten – zumindest in ihrer alten Welt, in der Soldaten in Paradeuniformen durch die Stadt mar schierten, statt in Stacheldrahtverhauen zu verrecken. »Die Unterminierung gestaltet sich schwieriger als gedacht«, ließ sich Meyerhofen doch noch zu einer Antwort herab. »Es gab einige … Unfälle, die sich niemand in der Heeresleitung erklären kann.« Seine Worte klangen merkwürdig leer, als ob er völlig geis tesabwesend wäre. Anders ließ sich wohl auch nicht erklären, dass er gerade die Unfehlbarkeit der deutschen Führung angezweifelt hatte. Dazu noch in Gegenwart eines gemeinen Soldaten. Der Moment der Lethargie hielt jedoch nicht lange an. Schon zwei Se kunden später schlug er beide Hände klatschend ineinander und seine Augen füllten sich mit energischem Glanz. »Aber nicht hier bei mir!«, forderte er schnarrend. »Nicht in meinem Frontabschnitt! Sergeant Huber, Sie sorgen dafür, dass dieser vermisste Soldat gefunden wird. Tot oder lebendig. Verstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich Meyerhofen um und eilte durch den Graben davon. Sein Abgang verlief so schnell, dass er wie eine Flucht wirkte. Die Flucht vor einer unangenehmen Wahrheit, die er einfach nicht akzeptieren wollte …
* »Und Huber? Was hat der daraufhin gesagt?«, wollte einer der Zu hörer aus dem Unterstand wissen, als Georg von dem Gespräch er zählte. Im Halbdunkel des Unterstandes war nicht genau zu erkennen, wer die Frage gestellt hatte, aber eigentlich war das auch egal. Sie konnte sowieso von jedem stammen, der sich hier unten drängte – zwischen roh gezimmerten Dreifachbetten, einem Tisch und mehre ren Stühlen. Josefs geheimnisvolles Verschwinden beschäftigte alle Kameraden ihrer Einheit. Und angesichts des sonst so stumpfen Frontalltags trieb die Fantasie vieler Männer wilde Blüten. Von geheimen Waffen der Engländer war die Rede, mit denen sie sich durch die Erde bohrten und deutsche Soldaten entführten. Das klang zwar so abstrus, wie die Memoiren des Münchhausen, war aber letztlich immer noch glaubhafter, als die Theorie von dem Mauseloch, durch das Josef desertiert sei – wie einige ernsthaft annahmen … »Huber hat die Zähne kaum noch auseinander bekommen«, setzte Georg inzwischen seinen Bericht fort. »Er hat zwar einiges ge murmelt, aber ich bin nicht recht schlau daraus geworden. Auf je den Fall scheinen entlang der Front mehrere Kameraden bei Tunnelbauarbeiten verschwunden zu sein.« Allgemeines Erstaunen wurde laut. Verdammt, gab es da etwas, dass ihnen verheimlicht wurde? Steckten am Ende doch die Engländer dahinter? Trieben sie wo möglich eigene Röhren ins blutgetränkte Erdreich, um die deut schen Minenschächte zu unterlaufen? War Josef in eine von ihnen eingebrochen? Aber das konnte auch nicht sein. Georg war an dem paralysierten Friedhelm vorbeigekrochen und hatte den ganzen Stollen im Licht
seiner tranigen Funzel abgetastet. Ein Loch oder eine Grube wäre ihm da nicht verborgen geblieben. »Es gibt nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden«, sag te Hagen in die Stille hinein. Hagen, der Draufgänger, der seinen Mut erneut dokumentierte, indem er fortfuhr: »Wir müssen uns vor Ort noch einmal sorgfältig umsehen. Und zwar mit einer vernünf tigen Petroleumlampe, die alles richtig ausleuchtet.« Er deutete auf eine der drei Laternen, die den Unterstand in ein schmutzig gelbes Licht tauchten, das nicht einmal ausreichte, um die äußeren Bettreihen zu erhellen. Zwei von ihnen hingen an dicken Nägeln, die einfach schräg ins Holz eines senkrecht aufragenden Stützbalken geschlagen worden waren. Die Dritte schaukelte über dem mit Spielkarten bedeckten Tisch, an einem richtigen, gebo genen Haken, wie sie mittlerweile zur Mangelware gehörten. Purer Luxus also, der mit Klauen und Zähnen verteidigt werden musste. Nichts, das man einfach aus der Hand gab. Wenn Hagen gehofft hatte, dass sein Vorschlag auf breite Zustim mung stieße, so sah er sich getäuscht. Stattdessen setzte erschro ckenes Gemurmel ein. Mochten die anwesenden Soldaten auch Tag für Tag dem Tod ins Auge blicken, so wollten sie doch weiterleben. Auf ihren ausgemergelten Gesichtern zeichnete sich Unbehagen ab. Niemand war scharf darauf, freiwillig den Ort aufzusuchen, den viele von ihnen für verflucht hielten. Um sich ihre Angst nicht einzugestehen, schützten viele Pflichtbe wusstsein vor. »Das ist Aufgabe der Vorgesetzten«, warf einer aus dem Dunkel der Kojen ein. »Wenn unsere Hilfe nötig ist, werden sie uns schon einen Einsatz befehlen.« Zustimmung breitete sich aus, doch auch der Dümmste von ihnen konnte die Erleichterung heraushören, die in diesem Geschnatter mitschwang. »Alles Quatsch«, wischte Hagen die Bedenken deshalb zur Seite.
»Wenn es nach unseren Herren Offizieren geht, hat die Angelegen heit doch überhaupt nicht stattgefunden. Die verfahren doch alle nach dem Motto, dass es nicht gibt, was nicht sein darf.« Er lachte bitter, als ob er aus Erfahrung sprechen würde. Georg fragte sich, ob es eine Erfahrung wie diese war, die ihn sei ne Rangabzeichen gekostet hatte. »Was ist?« Hagen sah herausfordernd in die Runde. »Kommt keiner mit, um nachzusehen, was wirklich geschehen ist?« Einige Männer erwiderten trotzig seinen forschenden Blick, andere wichen ihm aus und sahen betreten zu Boden. Keiner sagte ein Wort. Schweigen füllte den Unterstand aus. Georg öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder. Hagen nickte, als ob er nichts anderes erwartet hätte. Dann trat er an den Stützbalken und hängte die Petroleumlampe vom Haken. Niemand hinderte ihn daran, obwohl es entschieden dunkler wurde, als er sie mit nach draußen nahm. Er blieb im Eingang stehen und drehte den Docht herunter, damit ihn der Schein, wenn er gebückt durch den Graben lief, nicht an die gegnerische Stellung verriet. »Warte!«, sagte Georg. »Du willst doch wohl nicht alleine gehen.« Hagen verharrte im Ausgang, die Hand bereits an der vorgehäng ten Decke, die ihn von der kühlen Nachtluft abschnitt. Ein tri umphierendes Lächeln umspielte seine Lippen. Sicher hatte er fest damit gerechnet, dass sich ihm noch einige Freiwillige anschließen würden. »Ich komme auch mit«, sagte Paul wie damals in der Schule, kurz bevor sie den Weg zum Rekrutierungsbüro angetreten hatten. Zwei Jahre Krieg, und er hatte immer noch nichts dazu gelernt. Eigentlich traurig, fand Georg. Er stand auf und packte sein Gewehr. Einmal noch blickte er zu rück in den Unterstand, doch die anderen zogen es vor, sich ins
Halbdunkel zurückzuziehen. Trotz der Enge der Unterkunft ent stand eine sichtbare Schneise zwischen ihnen und Hagens freiwil ligen Stoßtrupp, der sich bewaffnet zum Abmarsch formierte. Die beklemmende Stimmung raubte allen den Atem. Nicht ein Wort der Aufmunterung oder des Abschieds wurde laut, als die drei nach draußen traten. Dicht aneinander gedrängt, hasteten Hagen, Paul und Georg durch die engen Gräben. Fahles Mondlicht übergoss sie mit einem ungesund wirkenden Schein, der nur unmerklich durch die schwach schimmernde Laterne in Hagens Hand aufgehellt wurde. Obwohl sie nur wenige Meter weit sehen konnten, kam keiner von ihnen ins Stolpern. Die drei kannten in diesem Abschnitt jeden Fuß breit Boden, sie hätten sich auch blind oder bei Nebel zurecht ge funden. Wie dunkle, undurchdringliche Schemen huschten sie den ver schalten Graben entlang. Ihre Kameraden, die in regelmäßigen Ab ständen auf Wachposten lagen, drehten sich höchstens einmal müde um und sahen auf sie herab. Niemand fragte nach ihrem Auftrag, denn durch alle Gräben an allen Fronten hasteten ständig Soldaten, als ob es gerade darum ginge, sich ins letzte Gefecht zu stürzen. Als sie sich dem bewussten Tunnel näherten, wurden sie jedoch auf einen Schlag langsamer. Hagen war der Erste, der es sah, dann keuchten auch die anderen erstaunt auf. Denn vor der Öffnung, die wie ein gefräßiges Maul zwischen der intakten Holzverschalung gähnte, stand ein Soldat, das Gewehr lässig über den Rücken ge hängt, eine kalte Zigarette zwischen den Lippen. »Ist das etwa Josef?« Georg sprach nur aus, was in diesem Moment alle dachten. Trotzdem kam er sich Sekunden später, als der Soldat ein Zünd holz anriss, wie ein Trottel vor. Der flackernde Schein enthüllte ein junges, unverbrauchtes Gesicht, das ihnen entfernt bekannt vorkam. Es gehörte einem Neuzugang der letzten Tage, dem die ungeliebte
Schicht zwischen zwei und vier Uhr aufgedrückt worden war. Um sich einen stählernen Gruß aus britischen Reihen zu ersparen, war der Junge – er mochte wirklich erst siebzehn sein – zum Rau chen aus der Schützenmulde gestiegen. Seine Hände zitterten, wäh rend er das Zündholz an den Tabak hielt und eifrig inhalierte. Ob er vor Kälte oder Angst schlotterte, ließ sich auf die Entfernung nicht erkennen. Ehrlich gesagt war es ihnen auch herzlich egal. Der Kerl stand einfach mitten im Wege, das zählte. »Den stauchen wir ordentlich zusammen«, schlug Hagen vor. »Der wird sich schön die Hose nassmachen, wenn ihm drei Altge diente die Wachvorschriften vorbeten.« Diebische Freude breitete sich in ihnen aus, denn es kam selten genug vor, dass sie einmal die Gelegenheit bekamen, selbst nach un ten zu treten. Auch diesmal sollte es nicht dazu kommen … Noch während sie grinsend auf den Frischling zugingen, schoss ir gendetwas Dunkles aus dem Stollen hervor, packte ihn an den Fuß gelenken und riss sie nach hinten. Völlig überrascht kippte ihr Kamerad nach vorne und schlug lang hin. Sein Gesicht klatschte tief in den schlammigen Untergrund. Prus tend versuchte er, die Atemwege frei zu schnauben – ein nutzloses Unterfangen. Was auch immer es war, das ihn zu Fall gebracht hatte, es zerrte ihn bereits zu sich ins Loch. Der Überfallene versuchte noch, sich im Morast festzukrallen, doch gegen die auf ihn wirkenden Kräfte vermochte er nicht zu be stehen. Alles, was ihm noch gelang, war, das schlammverschmierte Gesicht zur Seite zu drehen und die Arme auszustrecken. Georg hörte sein Keuchen, sah seine weit aufgerissenen weißen
Augen, dann verschwand der Soldat auch schon im Loch. Nur sein Helm blieb am Rand liegen …
* Wie erstarrt blieben sie stehen. Georg starrte auf die Stelle, wo sich eben noch der Soldat be funden hatte. Der Morast war aufgewühlt, das Gewehr lehnte an der Wand. Er hatte den Tod schon oft gesehen, aber noch nie auf diese Weise. »Wir müssen ihm helfen«, beschloss Hagen ruhig. Seine Worte brachen den Bann, unter dem Georg gestanden hatte. Gemeinsam liefen sie auf das Loch zu, Hagen mit der Laterne in der Hand, Georg mit dem Gewehr an der Hüfte. Paul folgte ihnen, allerdings langsamer und zögernd. Das Licht der Petroleumlampe riss das Loch aus der Dunkelheit. Es war niemand zu sehen, weder der Soldat, noch die Gestalt, die ihn nach unten gezogen hatte. Georg bemerkte jedoch Risse in der Wand, die am Abend noch nicht da gewesen waren. Sie waren so breit wie sein Arm und ragten dreißig, vierzig Zentimeter tief in das Erdreich hinein. Sie sahen aus, als stammten sie von den Stoßzähnen eines Elefanten. »Wo, zum Teufel, ist er hin?«, fragte Hagen. Er stand auf der dritten Stufe der Leiter und leuchtete in den Tunnel hinein. Paul richtete sein Gewehr auf das Loch, sah sich immer wieder nervös um. »Wie kann das sein? Man kommt doch nur über die Lei ter aus dem Loch, nicht durch irgendeinen Maulwurfgang, oder was die uns erzählen wollen. Und selbst wenn es so einen Gang gäbe, würden einen, wenn man oben anlangt, entweder die Engländer oder die eigenen Leute umlegen.« »Vielleicht kommt man nie wieder nach oben«, murmelte Georg.
»Vielleicht bleibt man für immer unten.« Er dachte an den großen dunklen Schemen, der nach dem Soldaten gegriffen hatte. »Was hat ihn ins Loch gerissen?«, fragte er. »Konntet ihr mehr sehen als einen Schatten?« Paul hob die Schultern. »Ich weiß nicht … Im ersten Moment dachte ich, es sei ein großer Hund oder ein springender Tiger, ir gendein Tier.« Hagen, der mittlerweile am Boden des Lochs stand, sah auf. »Blödsinn! Das war ein großer, dunkelhäutiger Mann, bestimmt einer von diesen Indern, die von den Engländern eingesetzt werden. Würde mich nicht wundern …« Er wühlte den Dreck mit seiner Stiefelspitze auf. »Ich würde allerdings zu gerne wissen, wohin dieser Inder verschwunden ist.« Paul wandte sich an Georg. »Und was hast du gesehen?« »Kein Tier, aber auch keinen Inder.« Er schwieg, versuchte in Worte zu fassen, was er in seiner Erinnerung sah. »Da war nur ein Schatten, ein großes … Nichts, so als blicke man in einen Weltraum ohne Sterne. Und dieses Nichts schien nicht nach dem Jungen zu greifen, sondern ihn zu verschlingen – ohne Klauen, ohne ein Maul. Es zog ihn einfach in sich hinein.« Seine Kameraden starrten ihn an. Irgendwo weit entfernt krachte ein Schuss. Ein zweiter antwortete, dann wurde es wieder ruhig. Hagen spuckte aus. »Nee, ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Inder war.« Hinter Georg raschelte etwas. Er drehte sich um – und nahm reflexartig Haltung an, als er Sergeant Huber erkannte. »Herr Sergeant«, sagte er. »Rühren.« Huber winkte mit der typischen Nachlässigkeit eines Betrunkenen ab. Seine Aussprache war etwas verwaschen, aber er hatte sich noch gut genug unter Kontrolle, um nicht zu lallen. »Was macht ihr hier, Soldaten?«
Georg zögerte und fragte sich, ob sie Huber von dem zweiten Verschwundenen berichten sollten. Im schlimmsten Fall ordnete er ein zweites Verhör an. Dann würden sie in dieser Nacht gar keinen Schlaf mehr bekommen. Hagen kam ihm mit der Antwort zuvor. »Wir haben das Mause loch gesucht, um zu desertieren so wie Josef«, sagte er. Er war halb aus dem Loch herausgeklettert und stützte sich auf die oberste Lei tersprosse. Huber lachte dröhnend und unerwartet. »Das verdammte Mause loch suchen wir alle.« Er zog einen Metallflachmann aus der Hosentasche und schraubte ihn auf. »Aber Josef hat es nicht ge funden, das würde ich auf die Bibel schwören.« »Wirklich?« Georg bemerkte Hagens warnenden Blick und sagte nicht mehr. Huber schien in redseliger Stimmung zu sein, das muss te man ausnutzen. Der Sergeant setzte den Flachmann an, trank und schüttelte sich. »Die Feinde kommen von überall her«, fuhr er fort. »Von vorne, von oben, jetzt sogar von unten. Ein Mann muss verdammt aufpassen, wenn er das überleben will. Und verdammt mutig sein muss er auch.« Er zeigte auf Hagen, der überrascht die Augenbrauen hob. »So wie du. Bist zwar ein Arschloch, aber verdammt mutig und passt gut auf.« Georg bemerkte, wie sich Paul ein Grinsen verbiss. Er selbst kämpfte gegen den Drang zu lachen. »Leute wie dich brauchen wir hier«, sagte Huber. »Leute wie euch drei. Deshalb werden ihr und ich gemeinsam etwas gegen diese Gefahr unternehmen.« Pauls Grinsen verschwand. Auch Georg gefiel die Richtung nicht, in die sich der Monolog des Sergeants entwickelte. »Im Morgengrauen werden wir uns hier treffen, nur wir vier. Bringt Waffen und Munition mit. Dann sehen wir weiter.« Huber blickte in den Himmel. Er schwankte. Als er wieder zu Ge
org und den anderen blickte, hatte sein Tonfall sich völlig verändert. »Und jetzt zurück in euren Unterstand«, brüllte er, »aber ein biss chen plötzlich!« »Jawohl, Herr Sergeant!« Georg salutierte, schlang sein Gewehr über die Schulter und lief in den Verbindungsgang. Paul und Hagen schlossen auf. »Das gefällt mir nicht«, murmelte Hagen hinter ihm immer wieder. »Das gefällt mir überhaupt nicht …«
* Keine zehn Minuten schienen vergangen zu sein, als jemand Georg an der Schulter packte und wach rüttelte. »Es ist so weit«, sagte Hagen, der mit einer Zigarette im Mund winkel neben seiner Koje hockte. Der Rauch drang in Georgs vom Schlaf verquollene Augen und ließ ihn blinzeln. Übermüdet, aber mit einem nervösen Brennen im Magen stand er auf und nahm seine Waffen. Er hatte sich nicht ausgezogen, war wie die anderen auch in voller Montur unter die Decke gekrochen. Nur in die Stiefel musste er seine Füße noch zwängen. Graues, schattenloses Licht drang durch die Decke am Eingang. Zwei Soldaten saßen schweigend am Tisch und aßen Dörrfleisch. Ein anderer zog gerade seine Stiefel aus und legte sich hin. Es gab keine Tageszeit, zu der alle Kojen unbesetzt waren. Irgendjemand schlief immer in dem kleinen Unterstand. Georg schob die Decke zur Seite und trat in die kühle, feuchte Morgenluft. Hagen drückte seine Zigarette vorsichtig auf einem Bal ken aus und steckte die Kippe in seine Brusttasche. »Macht euch keine Sorgen, Jungs«, sagte er. »Wir stehen das schon durch.« Paul nickte. »Wahrscheinlich liegt der fette Huber noch in seiner
Koje und schnarcht. So besoffen, wie der gestern Nacht war, hat er bestimmt längst vergessen, dass er uns am Loch sehen wollte.« Georg hoffte, dass er Recht hatte. Er traute Hubers Führungsquali täten nicht. Jeder in seiner Kompanie wusste, dass der Sergeant auf eine Beförderung hoffte. Er neigte dazu, sich freiwillig zu melden, und setzte seine Leute unnötigen Risiken aus, um von seinen Vorgesetzten wahrgenommen zu werden. Georg nahm Huber nicht übel, dass er aus dem Dreck der Front schützengräben heraus wollte. Er nahm ihm nur übel, dass er das Leben seiner Männer dafür riskierte. »Grüß Gott, Soldaten!« Georg zuckte zusammen, als er Hubers Stimme hörte und den Sergeant neben dem Loch stehen sah. »Guten Morgen, Herr Sergeant«, antworteten er und die anderen beinahe gleichzeitig. Hagen fügte einen leisen Fluch hinzu. Huber trug seinen Karabiner über der Schulter, sein Bajonett und zwei Revolver im Gürtel. Georg zählte vier Munitionstaschen an sei nen Hüften. Er selbst war höchstens halb so gut bewaffnet. »Kommt auch noch ein Panzer?«, fragte Hagen. »Der passt doch nicht durch das Loch, Schütze!«, gab Huber verärgert zurück, ohne die Ironie zu bemerken. »Denk nach, bevor du redest.« »Ja, Herr Sergeant.« Hagen salutierte. Auf eine Geste von Huber hin bildeten Georg und die anderen einen Halbkreis um ihn. Der Geruch nach Kräuterschnaps war immer noch so durchdringend wie ein paar Stunden zuvor. Georg fragte sich, ob er überhaupt geschlafen hatte. »Männer«, hörte er den Sergeanten sagen. »Wir stehen vor einer großen Aufgabe. Oberfeldwebel Meyerhofen braucht unsere Hilfe, um den Feind in der Tiefe zu schlagen. Wenn wir ihm dieses Tier oder diesen Inder – oder was da unten auch warten mag – bringen, wird unsere Belohnung großzügig ausfallen. Heute könnt ihr alle
Gefreiter werden, sogar du, Hagen, kriegst noch mal eine Chance. Wie hört sich das an?« Nicht so gut, wie sich Feldwebel für dich anhört, dachte Georg, ohne etwas zu sagen. Huber musterte sie alle aus blutunterlaufenen Augen. Ihm schien aufzufallen, dass seine Versprechen reaktionslos verpufften. »Abgesehen davon würdet ihr natürlich Orden bekommen und wenn ich ein gutes Wort beim Oberfeldwebel einsetze«, setzte er hinzu, »sogar Heimaturlaub.« Das war die Trumpfkarte, und Huber wusste es. Jeder Mann in diesem Graben träumte von nichts anderem als der Rückkehr in die Heimat. Dafür erduldeten sie die Enge und die Schikanen. Dafür tö teten sie sogar. »Heimaturlaub?« Pauls Stimme spiegelte Georgs eigene Sehnsucht wider. Huber nickte. »Schon nächsten Monat.« Hagen seufzte und griff nach der Spitzhacke, die neben dem Loch in der Erde steckte. »Worauf warten wir dann noch? Lasst uns diesen Inder finden.«
* Georg hatte sich nicht getäuscht, es gab tatsächlich keinen Ausgang aus dem Loch, zumindest keinen offensichtlichen. Doch schon der erste Spitzhackenschlag traf auf Widerstand. »Da ist etwas«, sagte Hagen. Er legte die Spitzhacke auf den Boden und ging in die Hocke. Mit den Händen wischte er Erde und Kieselsteine beiseite. Huber, der hinter Georg am Tunneleingang stand, zog seinen Revolver. Paul wartete oben am Loch, um im Notfall Verstärkung rufen zu können.
»Was ist los?«, fragte er nach unten. Georg hockte sich ebenfalls hin. Er beobachtete, wie Hagen mit wenigen Bewegungen dunkles Holz freilegte. Es war von Runen bedeckt, die wie die Zeichen auf dem Knochen aussahen. Zwei der Runen waren durch Spitzhackenschläge zerstört worden. Der eine Schlag stammte von Hagen, der andere, der die Runen als Erstes getroffen hatte, vermutlich von Josef. »Das ist eine Falltür«, erkannte Georg. Hagen legte eine Hand um den Holzgriff, der aus der Tür nach oben ragte. »Sie öffnet sich nach oben.« »Mach sie auf«, sagte Huber. Er hatte beide Hände um den Griff des Revolvers gelegt. Hagen zögerte. Etwas zutiefst Verstörendes ging von dieser Tür aus. Wer hatte sie gebaut und wie viel Zeit war wohl seitdem vergangen, wenn sich mehr als zwei Meter Erde über ihr ange sammelt hatten? »Mach sie auf!«, wiederholte Huber. »Das ist ein Befehl.« Georg fühlte sich unwohl, denn in dem engen Tunnel behinderte ihn ein Gewehr nur. Dennoch wagte er nicht, es wegzulegen. Hagen nickte ihm zu und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Schweiß stand auf seiner Stirn. »Jawohl, Herr Sergeant«, antwortete er leise und zog an dem Griff. Die Luke klappte auf. Dreck rieselte in das Halbdunkel, das darunter lag. Irgendwo musste es eine Lichtquelle geben, denn Hagens Gesicht wirkte in dem seltsamen Licht plötzlich bläulich. »Was sehen Sie, Soldat?«, verlangte Huber zu wissen. »Eine Steintreppe, leuchtende Felswände, keine Inder.« Hagen nahm sein Gewehr von der Schulter und pflanzte das Bajonett auf. »Ich gehe rein.« Georg setzte sein eigenes Bajonett auf den Lauf und ging näher an
die Falltür heran. Er hörte das Knirschen der Leiter, als Paul hinter ihnen ins Loch kletterte. Die Oberfläche und die Schützengräben er schienen ihm so weit entfernt wie der Mond. Die Steintreppe, die unter der Klappe verborgen gewesen war, war alt und ausgetreten. Man hatte sie aus dem gleichen leuch tenden Fels geschlagen, aus dem die Wände bestanden. Vorsichtig setzte Georg einen Fuß darauf. Aus den Augenwinkeln bemerkte er die langen Kratzer an der hochgeklappten Unterseite der Falltür. Hatte ein hier lebendig Begrabener versucht, sich aus seinem Grab zu kratzen? »Ich wette, diese Treppe führt direkt zu den Engländern«, flüsterte Huber. Georg bezweifelte, dass das stimmte. Die Steinstufen endeten in einem kurzen Gang, der in einer Kreu zung mündete. Hier wurde das Licht schwächer. Man konnte nur wenige Meter weit sehen. »Rechts, links oder voraus, Herr Sergeant?«, fragte Hagen. »Natürlich voraus wie jeder gute deutsche Soldat, Schütze.« »Jawohl!« Georg hörte den Spott in der Stimme seines Kameraden. »Wir müssen die Wände markieren, sonst verlaufen wir uns«, sag te Paul und zog sein Messer. Der Stein war so weich, dass er pro blemlos einen Pfeil einritzen konnte, der zurück zur Treppe zeigte. »Das sollten wir an jeder Kreuzung machen.« »Gute Idee.« Hagen schlug ihm auf die Schulter. »Du wirst wirklich noch mal Gefreiter.« Sie gingen weiter. Der Stein schluckte den Schall und ließ ihre Schritte dumpf und leise klingen. In unregelmäßigen Abständen passierten sie Mulden in den Wänden und Gänge, die zu schmal für Huber waren und durch die selbst Georg seitwärts hätte gehen müssen. Georg beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, sondern ging wie
in Trance durch die Gänge. Von den anderen schien niemand zu be greifen, wie ungeheuerlich ihre Entdeckung war. Dieses Labyrinth hatten weder Engländer noch Inder erbaut. Als man diese Steine aus dem Fels schlug, hatte die Welt noch keines dieser Völker gekannt. Er fragte sich, ob sie vielleicht auf ein Relikt aus einer uralten fremden Zeit gestoßen waren, vielleicht etwas, das älter als die Menschheit selbst war … Aber wenn dem so war, wer außer Menschen hatte dann das La byrinth erbaut? »Sackgasse«, sagte Hagen, der vor ihm um eine Kurve gebogen war. »Der Gang wird zu schmal, wir müssen zurück.« Huber fluchte. »Was haben diese verdammten Inder hier unten vor? Bauen die eine ganze Stadt?« Sie drehten sich um und gingen zur letzten Kreuzung zurück. Paul wollte geradeaus über sie gehen, aber Georg stoppte ihn. »Wir kamen von rechts.« »Das dachte ich auch«, sagte Hagen, »aber der Pfeil zeigt voraus.« »Seid ihr blind?«, fragte Huber und tippte mit dem Finger auf den Fels neben ihm. »Wir müssen nach links.« Georg machte einen Schritt auf ihn zu. Unmittelbar neben dem lin ken Gang befand sich ein eingeritzter Pfeil im Fels – ebenso wie neben dem rechten, dem mittleren und dem Gang, aus dem sie ge kommen waren. Sein Mund wurde trocken. »Jemand ist hier.« Etwas ist hier! Huber fuhr so schnell herum, dass er das Gleichgewicht verlor und sich an einer Wand abstützen musste. Der Revolver in seiner Hand zitterte. Hagen strich mit der Fingerspitze über die Pfeile. »Er spielt mit uns. Er weiß genau, wo wir sind.« Paul warf einen Blick zur Decke. Es gab Spalten darin, die beinahe so breit wie die schmälsten Gänge waren. Georg fragte sich, ob et
was hindurchkroch und sie beobachtete. »Weiß jemand noch den Weg zurück?«, fragte Hagen. »Ja.« Paul nickte. »Wir sind nur zweimal abgebogen.« »Gut. Dann weist du jetzt die Richtung. Wir bleiben dicht zu sammen.« »Seit wann geben Sie die Befehle, Gemeiner?« Huber streckte das Doppelkinn vor. Sein Blick flackerte wütend, vielleicht auch ängst lich. Hagen wollte antworten, aber Georg legte ihm rasch die Hand auf den Arm. »Verzeihung, Herr Sergeant«, sagte er. »Er wollte ihnen nicht vorgreifen.« »Hat er auf einmal keinen Mund mehr?« Huber redete laut, brüllte fast. »Er kriegt doch sonst das Maul nicht …« Das Ding war plötzlich da. Einen Moment noch war es nur ein Schatten an der Decke, dann schlug es herab wie eine schwarze Peitsche und legte sich um Hu bers Hals. Er begann zu schreien, dann zu keuchen, als er mit einem Ruck vom Boden hoch gerissen wurde. Sein Revolver fiel zu Boden. Hagen erreichte ihn mit einem Schritt, zielte und schoss. Die erste Kugel verschwand in der Schwärze, dann die zweite, die dritte. Ge org stieß mit seinem Bajonett nach dem Schatten und spürte Widerstand, als würde er es in Fleisch stoßen. Doch das Ding hielt Huber weiter fest, zog ihn auf einen Spalt in der Decke zu, der viel zu schmal für einen Menschen war. Hubers Keuchen wurde zum Kreischen. Stück für Stück verschwand der Sergeant in dem Spalt. Sein Körper wurde in den Fels gepresst. Knochen brachen knirschend, Blut lief aus seiner Nase und aus seinem Mund, und seine Uniform färbte sich dunkel. Hagen schoss. Die letzten drei Kugeln des Revolvers bohrten sich
in Hubers Kopf. Das Kreischen verstummte. Sein Körper verschwand mit einem letzten reißenden Geräusch im Spalt. Es wurde still. Die Schüsse und die Schreie hallten in Georgs Kopf nach. Er hielt sein nutzloses Gewehr mit weißen Knöcheln umklammert, brachte es nicht über sich loszulassen. »Ich habe es getroffen«, sagte Paul neben ihm. Seine Stimme über schlug sich fast. »Ich habe es fünf Mal getroffen!« Hagen lud den Revolver nach. Seine Finger zitterten. »Ich weiß. Ich habe es auch getroffen.« »Wir müssen hier raus.« Georg sah die anderen an. »Es wird uns alle umbringen, wenn wir nicht verschwinden.« »Du hast Recht.« Paul ging auf einen der Gänge zu. »Nicht einmal Huber hatte es verdient, so zu sterben.« Hagen wirkte unsicher, so als wolle er tiefer in das Labyrinth eindringen. Doch dann steckte er den Revolver in den Gürtel und nickte. »Gehen wir.«
* Sie gingen nicht, sie rannten. Ihre Sohlen hämmerten gegen den Felsboden, und sie zogen die Köpfe ein, als könnten sie sich so dem Griff der Schwärze entkom men. Paul bildete die Spitze, weil er behauptete, sich an den Weg zu erinnern, Hagen und Georg folgten ihm. Der Rückweg war endlos, die Gänge schienen sich vor ihren Augen in die Länge zu ziehen wie in einem Albtraum. Georgs Blick war so weit in die Ferne gerichtet, dass er gegen Paul prallte, als der abrupt zum Stehen kam. »Was …?«, setzte er an, doch dann sah er, was los war.
Der Boden vor ihnen waberte schwarz. Das Ding darin, wenn es denn etwas darin gab, richtete sich langsam auf, bis es den ganzen Gang ausfüllte. Und dann bewegte es sich auf Paul zu. »Zurück!«, brüllte Hagen. Die Schwärze schluckte die Kugeln, die er abschoss, ohne lang samer zu werden. Georg drehte sich gleichzeitig mit Paul um und lief tiefer in den Gang hinein. Das Ding hinter ihnen holte nicht auf, folgte ihnen nur in gleich bleibendem Abstand. Es wusste wohl, dass ihm seine Beute nicht mehr entkommen konnte. »Wir sind verloren«, keuchte Paul neben Georg. »Wir werden in diesem verdammten Tunnel umkommen.« »Nein, das werdet ihr nicht!« Hagen blieb kurz stehen, feuerte ein paar Mal in die Schwärze und warf sein Gewehr dann weg. »Es muss einen anderen Weg nach draußen geben.« Georg wagte es nicht zurückzusehen. Er hatte sein Gewehr ebenso weggeworfen wie seinen Helm und die Munitionstasche. Vielleicht konnte Schnelligkeit sie doch irgendwie retten. Das Ding trieb sie durch die Gänge. Georgs Muskeln verkrampften, es stach in seinen Seiten und häm merte in seinen Schläfen. Nur die Todesangst trieb ihn noch an. Plötzlich schrie Paul auf. Georgs Kopf ruckte herum, und er sah, wie sein Freund stürzte und auf dem Boden aufschlug. Er wollte zurücklaufen, doch im glei chen Moment wurde die Schwärze schneller, schoss wie ein ge waltiger Sturm auf ihn zu. Georg zögerte, machte dann doch einen Schritt zurück, packte Paul am Kragen und zerrte ihn mit sich. »Achtung!«, rief eine unbekannte Stimme. Etwas flog an Georg vorbei in die Schwärze hinein. Ein dumpfer Knall folgte, und für ein paar Herzschläge wurde das Ding lang
samer. Georg fuhr herum. Vor ihm auf der Kreuzung hockte eine Gruppe von Soldaten, neben denen zwei Kisten mit Dynamitstangen standen. In ihren Mundwinkeln klemmten Zigarren, mit denen sie die Zündschnüre entflammten. Zwei standen auf und holten mit zischenden, Funken sprühenden Stangen aus. »Achtung!«, brüllte der eine. »Watch out!«, der andere. Georg erkannte ihre Sprache, ebenso wie ihre Uniformen. Es waren zwei Privates, ein Corporal und ein Lieutenant. Engländer! Hagen zog ihn aus der Schusslinie und auf die Feinde zu. Paul hinkte stark und hielt sich an Georg fest. Sie brachen fast zu sammen, so erschöpft waren sie, als sie die Kreuzung erreichten und schwer atmend stehen blieben. Der englische Lieutenant sagte etwas zu seinen Untergebenen, dann schob der Corporal eine der beiden Dynamitkisten zu den drei Deutschen. Der englische Unteroffizier zögerte einen Moment, dann warf er ihnen auch noch eine Zigarre zu. Der Lieutenant zeigte auf die Kiste und machte eine werfende Bewegung. Hagen zündete die Zigarre an, dann die Zündschnur einer Dyna mitstange und warf sie in das Ding hinein. Es zitterte kurz, kam dann aber weiter auf sie zu. »Das bringt doch nichts!«, wimmerte Paul. In seinen Augen standen Tränen. »Wir werden hier sterben!« »Halt die Schnauze und wirf!«, antwortete Hagen. Einer der Privates, ein junger Mann mit hellblondem Haar, stand auf und holte weit aus. Bevor er jedoch werfen konnte, schoss ein schwarzer Tentakel aus dem mindestens zehn Meter entfernten Ding heraus, packte ihn und
riss ihn auf sich zu. Der Private schrie und verschwand im Inneren. »Nigel!«, brüllte der Lieutenant. Die Explosion war ein dumpfer Schlag. Das Ding schien sich auf zublähen, und für einen Augenblick konnte Georg den Gang da hinter sehen. Dann kehrte die Schwärze zurück. »Verdammt!«, sagte Hagen. »Das ist es also.« Die Engländer zogen sich an die hintere Wand der Kreuzung zu rück. Dort gab es nur zwei schmale Spalten, keinen weiteren Gang. Es war das Ende des Wegs, aber Georg und die anderen folgten ih nen, weil sie nichts anderes tun konnten. »Das ist was?«, fragte Georg, als sie die Kiste absetzten. Hagen nahm eine Hand voll Dynamitstangen und steckte sie in seinen Gürtel. Er steckte zwei in seine Brusttasche und ein paar in seine Hosentasche. Der englische Corporal runzelte die Stirn und stieß seinen Vorgesetzten an. »Was ich tun muss«, sagte Hagen. »Kein Mann in meiner Familie ist je älter als fünfunddreißig Jahre geworden, keiner. Keiner hatte ein gutes Leben, aber alle haben im Tod Bedeutendes geleistet.« Die Engländer warfen einige Dynamitstangen. Georg musste sich anstrengen, um Hagen zu verstehen. Dabei hielt er den Blick auf das Ding gerichtet, das keine acht Meter weit entfernt war. Paul hockte neben ihm am Boden und betete. »… dachte, dieser Krieg wäre etwas Bedeutendes, deshalb bin ich hierher gekommen«, fuhr Hagen über den Lärm hinweg fort, wäh rend er zwei Dynamitstangen unter seinen Helm stopfte. »Aber da oben zu sterben ist sinnlos.« Er nahm die Zigarre aus dem Mund und blies die Asche weg, bis die Spitze rot glühte. »Hier unten ist das eine andere Sache.« Er trat einen Schritt vor. Georg beugte sich vor, um ihn festzuhalten, aber seine Hand glitt von der Uniform ab.
»Du musst das nicht tun!«, rief er. Hagen hob die Schultern. »Ich bin fünfunddreißig«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Er hielt die Zigarre an die Dynamitstange in seiner Hand. Die Zündschnur begann, Funken zu sprühen. Die Engländer hielten inne, beobachteten, wie er auf die Schwärze zuging und die Arme ausbreitete. Hagen sagte etwas in einer Sprache, die griechisch hätte sein können oder irgendeine andere Sprache, die Georg noch nie gehört hatte. Dann wälzte sich die schwarze Wolke heran und verschlang ihn. Die Explosion folgte einen Herzschlag später. Sie warf Georg von den Füßen, ließ Steine und Dreck zu Boden prasseln und sprengte gewaltige Risse in den Fels. Erdreich rieselte hindurch, Staub wallte auf. Das Ding blähte sich auf, wurde durchscheinend wie ein Schleier und fiel dann in sich zusammen. Einen Moment lang hing es als schwarze Kugel in der Luft, bevor es mit einem letzten Knall verschwand. Georg konnte nicht sagen, wie lange er, Paul und die Engländer reglos am Boden saßen und in den Gang starrten. Irgendwann standen sie auf und traten aufeinander zu. Sprachlos und hilflos standen sie einander gegenüber. Georg suchte nach englischen Worten, aber die einzigen, die ihm einfielen, waren die Beleidigungen, die sie über den Rand der Schützengräben riefen. Also schwieg er. Der Lieutenant, der ihm gegenüberstand und mit seinem schma len Bart wie ein englischer Lord wirkte, nickte ihm schließlich zu, nahm Haltung an und salutierte. Die anderen Engländer folgten der Geste. Georg antwortete ebenso wie Paul mit seinem eigenen Salut. Er
hielt ihn, bis der Lieutenant den Arm senkte, einen Flachmann aus der Tasche nahm und ihn aufschraubte. Einer nach dem anderen tranken die Engländer daraus. Anschließend reichte ein Private Georg den Metallbehälter. »Morgen schießen wir wieder aufeinander«, sagte Paul leise neben ihm. Georg nickte. »Morgen, nicht heute …«
Epilog Georg nannte es stets das Ding, auch nach dem Krieg, als er in Flandern nach seinem Ursprung suchte. Er hörte und las viele Geschichten über den Menschenfresser im Boden, über das Labyrinth und über das Böse, das man darin gesperrt hatte. Ein Dämon sollte es gewesen sein, den ein Schamane durch eine List besiegt und in seinem Reich eingesperrt hatte. Ande re behaupteten, es sei ein Schamane gewesen, den ein Dämon her einlegte und durch seine eigenen Runen bannte. Die Wahrheit erfuhr er nie, ebenso wie er die Tür im Boden nie mals wiederfand. Beides bedauerte er eigentlich nicht, nur manch mal in seinen Träumen öffnete er die Tür und blickte in das kalte blaue Licht. Dann roch er den Geruch des Schießpulvers, schmeckte scharfen Whisky auf seiner Zunge und hörte Hagens letzte, unverständliche Worte. Doch in all diesen Träumen ging er nicht hinunter, sondern warte te, bis der Traum ihn in sein Leben zurückschickte. Und seine Gedanken die Tür schlossen … ENDE