Ross Macdonald Der Fall Galton Roman
Anthony Galton ist vor zwanzig Jahren spurlos verschwunden. Nun soll Lew Archer ih...
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Ross Macdonald Der Fall Galton Roman
Anthony Galton ist vor zwanzig Jahren spurlos verschwunden. Nun soll Lew Archer ihn wiederfinden – im Auftrag der Mutter, einer steinreichen, alternden Frau. Die Indizien, die Archer findet, sind wenig schön – und sie sind gefährlich. Denn noch immer ist jemand bereit, ihretwegen zu töten.
Ross Macdonald Der Fall Galton Roman Titel der Originalausgabe: ›The Galton Case‹ Aus dem Amerikanischen von Egon Lothar Wensk Umschlagzeichnung: Tomi Ungerer © 1976 Diogenes Verlag AG Zürich ISBN 3-257-20325-X
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Ross Macdonald
Der Fall Galton Roman Aus dem Amerikanischen von Egon Lothar Wensk
Diogenes
1 Die Büroräume der Anwaltsfirma Wellesley und Sable lagen über der Sparkasse an der Hauptstraße von Santa Teresa. Ein privater Lift führte mich aus einer kleinen kahlen Vorhalle in die oberen Regionen, die eine Atmosphäre schlichter Eleganz ausstrahlten. Es kam mir vor, als habe ich mich nach Jahren harten Existenzkampfes endlich in die mir zustehenden Höhen emporgeschwungen. Ich war einer der Auserwählten des Schicksals. Gegenüber dem Fahrstuhl spielte ein weibliches Wesen mit sorgfältig gefärbtem roten Haar auf den Tasten ihrer elektrischen Schreibmaschine. Eine Schale mit Begonien stand vor ihr auf dem Schreibtisch. Gerahmte Drucke an den getäfelten Wänden nahmen die Farben auf und warfen sie diskret zurück. Ein Harvard-Sessel stand vornehm und wie zufällig in einer Ecke. Mein Selbstgefühl stieg um mehrere Grade, als ich mich darin niederließ und nach der neuesten Ausgabe des Wall Street Journal griff. Offensichtlich hatte ich hiermit das Richtige getan. Die Rothaarige unterbrach ihr Tippen und geruhte, von mir Notiz zu nehmen. »Sie wünschen?« »Ich bin mit Mr. Sable verabredet.« »Mr. Archer?« »Ja.« Sie wurde um einiges leutseliger. Also gehörte ich doch nicht zu den Auserwählten. »Ich bin Mrs. Haines. Mr. Sable konnte heute leider nicht ins Büro kommen und bat mich, Ihnen -3-
auszurichten, ob Sie vielleicht so gut sein möchten, ihn in seinem Haus aufzusuchen.« »Aber sicher.« Ich erhob mich aus dem Harvard-Sessel und fühlte mein Prestige dabei um mehrere Grade sinken. »Ich weiß, daß es lästig für Sie ist«, sagte sie mitfühlend. »Wissen Sie, wo er wohnt?« »Wenn er seinen Strandbungalow noch hat, dann ja.« »Nein, den hat er nach seiner Heirat aufgegeben. Jetzt hat er ein Haus auf dem Land gebaut.« »Ich wußte gar nicht, daß er verheiratet ist.« »Mr. Sable? Und ob! Schon bald zwei Jahre.« Bei ihrer katzenhaften Bemerkung fragte ich mich, ob sie selber wohl verheiratet sei. Sie machte mir eigentlich mehr den Eindruck, als sei sie verwitwet oder geschieden und auf der Suche nach einem Nachfolger für den Verflossenen. Vertraulich beugte sie sich zu mir: »Sie sind doch der Detektiv, nicht wahr?« Das konnte ich nur bestätigen. »Hat Sie Mr. Sable für sich persönlich engagiert? Ich frage nur, weil er mir nämlich nichts davon gesagt hat.« Der Grund dafür war offensichtlich. »Mir auch nicht«, sagte ich. »Können Sie mir sagen, wie ich zu ihm rauskomme?« »Das Haus liegt in Arroyo-Park. Am besten zeige ich es Ihnen auf dem Stadtplan.« Wir blickten in die Karte. »Kurz vor der Gabelung biegen Sie von der Hauptstraße ab«, erklärte sie, »und hier, an der ArroyoCountry-Schule geht es dann nach rechts. Wenn Sie ungefähr eine halbe Meile am See entlanggefahren sind, können Sie Sables Briefkasten sehen.« Zwanzig Minuten später hatte ich den Briefkasten gefunden. Er stand unter einer Eiche am Anfang eines Privatweges. Der Weg führte den bewaldeten Hügel hinauf und gab oben den -4-
Blick auf ein modernes Haus mit vielen Fenstern und einem überstehenden, grünen, flachen Dach frei. Noch ehe ich in die unmittelbare Nähe des Hauses gekommen war, öffnete sich die Haustür. Ein Mann mit strähnigem grauen Haar, das ihm tief in die Stirn wuchs, kam mir über den Rasen entgegen. Trotz seiner weißen Dienerjacke wirkte er in dieser exklusiven Umgebung irgendwie fehl am Platze. Mit seiner forschen Haltung und den gestrafften Schultern wirkte er mehr wie jemand, der gerade dabei ist, seinen wohlverdienten Spaziergang zu unternehmen. »Suchen Sie jemand, Mister?« »Mr. Sable hat nach mir geschickt.« »Und weshalb?« »Ach, hat er’s Ihnen nicht gesagt? Dann wird es Sie wohl nichts angehen«, antwortete ich. Der Mann trat näher auf mich zu und lächelte. Es war das typische Grinsen eines Schlägers. Die Narben in seinem Gesicht paßten gut dazu. Es gibt Gesichter, die einen auf Anhieb freundlich stimmen. Seins reizte zum Zuschlagen. Gordon Sables Stimme rief von der Tür herüber: »Schon gut, Peter. Ich erwarte ihn.« Er kam mir über den mit Platten belegten Weg entgegen und reichte mir die Hand. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Lew. Ganz schön lange her, was?« »Vier Jahre jetzt.« Sable schien überhaupt nicht gealtert. Der Gegensatz zwischen dem sonnengebräunten Gesicht und dem welligen weißen Haar förderte sogar noch die Illusion der Jugendlichkeit. Das Madrashemd über der enganliegenden englischen Flanellhose betonte seine schlanke, sportliche Taille. »Ich höre, Sie haben geheiratet«, sagte ich. »Ja, ich hab’s riskiert.« Sein glücklicher Ausdruck schien mir etwas gezwungen. Er wandte sich an den Diener, der dabeistand -5-
und zuhörte. »Sehen Sie lieber nach, ob Mrs. Sable etwas braucht. Und dann kommen Sie in mein Arbeitszimmer. Mr. Archer hat eine lange Fahrt hinter sich und möchte sicher etwas trinken.« »Sehr wohl, Sir.« Die unterwürfigen Worte standen im krassen Gegensatz zu dem dreisten Ton. Sable tat so, als ob er es nicht bemerkt hätte. Er ging vor mir her. Wir kamen über einen mit schwarzweißen Fliesen ausgelegten Gang in einen Hof, in dem eine Menge tropischer Pflanzen wuchsen, deren kräftige Farben von einem ovalen Wasserbecken in der Mitte gebrochen und reflektiert wurden. Schließlich erreichten wir unser Ziel, einen sonnigen, vom übrigen Teil des Hauses abgelegenen Raum, der durch Hunderte von Büchern an den Wänden noch zusätzlich isoliert war. Sable bot mir einen Ledersessel vor dem Schreibtisch an, aus dem man gleichzeitig auch einen Blick aus dem Fenster werfen konnte. Dann zog er die Vorhänge zurecht, um einen Teil des Lichtes abzublenden. »Peter wird jeden Augenblick kommen. Ich fürchte, ich muß mich für seine Manieren entschuldigen. Es ist heutzutage schwer, das richtige Personal zu finden.« »Ich habe die gleichen Schwierigkeiten. Die einen fragen gleich nach einer Altersversorgung, und die anderen wollen für fünfzig Dollar am Tag die Leute herumschikanieren. Ich kann weder das eine noch das andere bieten, darum tue ich den größten Teil meiner Arbeit immer noch selber.« »Das freut mich zu hören.« Sable setzte sich auf die Schreibtischkante und beugte sich vertraulich zu mir. »Die Angelegenheit, die ich mit Ihnen besprechen möchte, ist ziemlich delikat. Aus Gründen, die Sie gleich selber einsehen werden, ist es unumgänglich notwendig, daß nichts davon an die Öffentlichkeit gelangt. Alles, was Sie herausfinden, falls Sie überhaupt etwas herausfinden, wird mir berichtet. Und zwar -6-
mündlich. Ich wünsche nichts Schriftliches. Haben Sie das verstanden?« »Sie haben sich sehr klar ausgedrückt. Handelt es sich um eine persönliche Angelegenheit von Ihnen oder um einen Klienten?« »Um einen Klienten selbstverständlich. Hab ich das nicht am Telefon gesagt? Eine Dame hat mir einen ziemlich schwierigen Auftrag aufgehalst. Offen gesagt, sehe ich kaum eine Möglichkeit, ihre Hoffnung zu erfüllen.« »Was erhofft sie denn?« Sable hob seine Augen zu den hellen Deckenbalken. »Das Unmögliche, fürchte ich. Wenn ein Mensch seit zwanzig Jahren verschwunden ist, kann man sicher annehmen, daß er nicht mehr lebt. Oder zumindest, daß er nicht aufgefunden werden will.« »Es geht also um einen Vermißten.« »Eine ziemlich hoffnungslose Sache. Das habe ich meiner Klientin schon mehrmals auseinanderzusetzen versucht. Aber schließlich kann ich mich ja nicht weigern, ihre Wünsche zu erfüllen. Sie ist alt und krank und daran gewöhnt, ihren Kopf durchzusetzen.« »Und bestimmt auch sehr reich?« Sable runzelte die Stirn über meine Frivolität. Er war auf Grundstücksverwaltungen spezialisiert und bewegte sich in Kreisen, in denen man Geld hatte, aber nicht davon sprach. »Der verstorbene Mann der Dame hat sie in recht zufriedenstellenden Verhältnissen zurückgelassen.« Und um mich in meine Schranken zu verweisen, fügte er hinzu: »Ihre Arbeit wird auf jeden Fall gut honoriert werden, ganz unabhängig vom Resultat.« Der Diener war hinter mir ins Zimmer getreten, ich merkte es an der Veränderung der Beleuchtung. Er trug alte Segelschuhe und bewegte sich geräuschlos. -7-
»Sie haben sich Zeit gelassen«, sagte Sable. »Martinis mixen braucht seine Zeit.« »Ich habe keine Martinis bestellt.« »Madam aber.« »Vor dem Essen sollten Sie ihr keine Martinis zurechtmachen und eigentlich niemals welche.« »Dann müssen Sie ihr das sagen.« »Das werde ich tun. Und im Augenblick sage ich es Ihnen.« »Sehr wohl, Sir.« Man konnte sehen, wie Sable unter der Sonnenbräune das Blut ins Gesicht stieg. »Lassen Sie diese Redensarten.« Der Diener erwiderte nichts, aber seine grünen Augen blickten frech und rastlos umher. Beifallheischend sah er mich an. »Sie scheinen auch Ihre Probleme mit dem Personal zu haben.« Ich wollte Sable unterstützen. »Oh, Peter ist ganz in Ordnung, nicht wahr, Alter?« Wie um einer Antwort zuvorzukommen, sah er mich mit einem Grinsen an, unter dem er seine Verlegenheit verbergen wollte. »Was trinken Sie, Lew? Ich möchte einen Tonic haben.« »Das ist genau das Richtige.« Der Diener zog sich zurück. »Was ist mit dieser vermißten Person?« fragte ich. »Vielleicht ist vermißt nicht ganz das richtige Wort. Der Sohn meiner Klientin hat seine Eltern vorsätzlich verlassen. Und bis heute wurde nie ein Versuch unternommen, ihn aufzufinden oder ihn zurückzuholen.« »Und warum nicht?« »Ich vermute, sie waren genauso unzufrieden mit ihm wie er mit ihnen. Sie mißbilligten das Mädchen, das er heiratete. Mißbilligen ist dabei noch milde ausgedrückt. Außerdem gab es -8-
noch andere Gründe für Reibereien. Wie ernst die Gegensätze waren, erkennen Sie am besten aus der Tatsache, daß er auf sein großes Erbe verzichtete.« »Hat er auch einen Namen, oder müssen wir ihn Mr. X nennen?« Sable verzog schmerzlich das Gesicht. Es bereitete ihm körperliches Unbehagen, Informationen preiszugeben. »Der Name der Familie ist Galton, und der Name des Sohnes ist oder war Anthony Galton. Er verschwand im Jahre 1936. Er war damals zweiundzwanzig Jahre alt und kam gerade von der Universität.« »Das ist sehr lange her.« Es hätte genausogut im vorigen Jahrhundert sein können. »Ich sagte Ihnen ja, daß die Sache nahezu hoffnungslos ist. Trotzdem wünscht Mrs. Galton, daß nach ihrem Sohn gesucht wird. Sie kann jeden Tag sterben und möchte sich mit der Vergangenheit versöhnen.« »Und wer behauptet, daß sie jeden Tag sterben kann?« »Ihr Arzt, Doktor Howell.« Der Diener trat mit einem klirrenden Tablett in den Raum. Mit betonter Dienstbeflissenheit reichte er uns unsere Gintonics. Dabei bemerkte ich einen blautätowierten Anker auf seinem Handrücken und fragte mich, ob er wohl früher zur See gefahren sein mochte. Denn ein geschulter Diener war er ganz bestimmt nicht. Das Glas, das er mir anbot, zeigte noch alte Lippenstiftspuren am Rand. Als er wieder gegangen war, fragte ich weiter: »Hatte der junge Galton geheiratet, bevor er fortging?« »Ja. Seine Frau war übrigens der unmittelbare Anlaß für den Bruch mit seiner Familie. Sie erwartete ein Kind.« »Und alle drei sind seitdem verschwunden?« »Als ob die Erde sich geöffnet und sie verschlungen hätte«, sagte Sable dramatisch. -9-
»Bestanden irgendwelche Gründe zu der Annahme, daß etwas faul bei der Geschichte war?« »Ich glaube nicht, soweit ich orientiert bin. Damals stand ich noch nicht in Verbindung zu der Familie. Aber ich werde Mrs. Galton bitten, Ihnen selber über die Einzelheiten zu berichten. Ich kann nur nicht genau sagen, wieviel sie davon preisgeben will.« »Steckt denn noch mehr dahinter?« »Wahrscheinlich. Aber nun Prost«, sagte er freudlos und leerte sein Glas im Stehen. »Ehe ich Sie mit hinübernehme, brauche ich natürlich die Gewißheit, daß Sie uns so lange wie notwendig Ihre ganze Zeit widmen können.« »Ich habe jetzt keine weiteren Verpflichtungen. Was meint die alte Dame, wie weit soll ich denn mit meiner Mühe gehen?« »Sie sollen selbstverständlich Ihr Bestmögliches tun.« »Glauben Sie nicht, daß sie mit einer größeren Firma besser bedient wäre?« »Keineswegs. Ich kenne Sie und habe das unbedingte Vertrauen zu Ihnen, daß Sie die Angelegenheit mit dem notwendigen Maß von Takt und Gewandtheit behandeln werden. Die letzten Tage von Mrs. Galton dürfen auf keinen Fall noch durch einen Skandal getrübt werden. Meine allergrößte Sorge bei dieser ganzen Angelegenheit wird stets sein, den Namen der Familie zu schützen.« Sables Stimme bebte vor Mitgefühl, aber ich bezweifle, daß es aus irgendeiner tiefen Empfindung für die Familie Galton herrührte. Mit besorgtem Ausdruck blickte er an mir vorbei oder durch mich hindurch, als ob seine eigentlichen Befürchtungen irgendwo anders lägen. Beim Hinausgehen bekam ich einen Hinweis auf deren Ursache. Hinter einer Bananenstaude im Hof tauchte plötzlich eine hübsche blonde Frau auf, etwa halb so alt wie er. Sie trug -10-
Blue jeans und eine weiße Hemdbluse. Anscheinend hatte sie ihm aus diesem Hinterhalt aufgelauert. »Hallo, Gordon«, sagte sie mit brüchiger Stimme, »wie komisch, dich hier anzutreffen!« »Schließlich wohne ich ja hier, oder?« »Das habe ich auch einmal gedacht.« Vorsichtig, als ob er jeden Satz auf die Waagschale legte, sagte Sable: »Alice, jetzt ist nicht die Zeit, das alles wieder zu erörtern. Was glaubst du wohl, warum ich heute vormittag zu Hause geblieben bin?« »Als ob mir das etwas genützt hätte! Und wo willst du jetzt hin?« »Fort.« »Und wohin?« »Hör mal, du kannst mich hier nicht einfach ausfragen.« »O doch, das kann ich sehr gut.« In einer vorsätzlich abstoßenden Haltung hatte sie sich breit vor ihm aufgebaut, eine Hüfte vorgeschoben und die Brüste unter dem weißen Hemd gleichzeitig spitz und zart herausgedrückt. Betrunken schien sie nicht zu sein, aber in ihren Augen lag ein heißes, feuchtes Glitzern. Sie waren dunkel und tiefblau und hätten eigentlich schön sein sollen, aber die schwarzen Ringe und die dick aufgetragenen Lidschatten ließen sie wie zwei dunkle Höhlen erscheinen. »Wo wollen Sie meinen Mann hinschleppen?« wandte sie sich an mich. »Ihr Mann ist derjenige, der mich irgendwo hinschleppt. Eine geschäftliche Angelegenheit«, gab ich zur Antwort. »Was für eine geschäftliche Angelegenheit? In wessen Auftrag?« »Nichts was dich interessieren könnte, Liebling.« Sable legte seinen Arm um sie. »Komm, geh jetzt in dein Zimmer. Mr. Archer ist ein Privatdetektiv, der einen Fall für mich bearbeitet. -11-
Mit dir hat es nichts zu tun.« »Ich wette doch!« Sie riß sich von ihm los und wandte sich wieder zu mir. »Was wollen Sie von mir? Hier gibt es nichts herumzuschnüffeln. Ich sitze hier in diesem Mausoleum, und keine Menschenseele spricht mit mir. Ich wünschte, ich wäre wieder in Chicago. Dort habe ich wenigstens ein paar Freunde gehabt.« »Hier doch auch.« Geduldig wartete Sable, daß sich ihre Erregung legte. »Die Leute hier hassen mich alle. In meinem eigenen Haus kann ich mir nicht einmal etwas zu trinken bestellen.« »Nur nicht am Morgen, das ist der einzige Grund.« »Du liebst mich eben nicht mehr!« Ihr Zorn ging jetzt in Selbstmitleid über und trieb ihr die Tränen in die Augen. »Du machst dir nicht das geringste aus mir.« »Liebling, wie kannst du so was sagen! Aber ich kann nicht zulassen, daß du dich in der Gegend herumtreibst. Komm, mein Schatz, laß uns hineingehen.« Er legte wieder den Arm um sie, und diesmal wehrte sie sich nicht. Stützend geleitete er sie um das Bassin herum zu einer Tür, die auf den Hof führte. Als er die Tür hinter sich schloß, lehnte sie sich schwer an ihn. Ich suchte mir allein den Weg nach draußen.
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2 Sable ließ mich eine halbe Stunde warten. Von meinem Platz im Wagen aus konnte ich Santa Teresa im hellen Licht des Mittags wie eine Reliefkarte vor mir ausgebreitet liegen sehen. Es war eine alte, geruhsame Stadt, sofern es so etwas in Kalifornien überhaupt gibt. Die Häuser schienen mit den Bergen verwachsen, freundliche Zeugen einer sicheren Vergangenheit. Mit ihnen verglichen schien Sables Haus wie eine futuristische Angelegenheit, so neu, daß ihm beinahe die Daseinsberechtigung abgesprochen werden mußte. Als er endlich herauskam, trug er einen braunen Anzug mit einem dezenten roten Nadelstreifen. Außerdem hatte er eine lederne Aktentasche bei sich. Mit dem Wechsel des Anzugs hatte sich auch sein Verhalten geändert. Er wirkte geschäftsmäßig, knapp und reserviert. Ich hängte mich an seinen schwarzen Imperial und folgte ihm durch die Stadt hindurch bis zu einem älteren Wohnviertel. Hier standen alte, ehrwürdige Häuser, weit von der Straße weggerückt, hinter Ziegelmauern oder geschnittenen Hecken verborgen. In Arroyo-Park wurde der Kampf um die gesellschaftliche und wirtschaftliche Vorherrschaft ausgefochten; hier wetteiferten Manager und Geschäftsleute, Geist und Einkommen. In der Straße, wo Mrs. Galton wohnte, merkte man von diesem Kampf nichts mehr. Ihre Großväter oder Urgroßväter hatten ihn ein für allemal für sie gewonnen. Der Tod und das Finanzamt waren die einzigen Schatten, die diese Menschen belasteten. Sable gab mir ein Zeichen, nach links abzubiegen. Wir fuhren zwischen zwei steinernen Torpfeilern hindurch, in die der Name -13-
eingemeißelt war. Die zwei majestätischen Eisentore wirkten wie Fallgitter einer alten Burg. Ein Leibeigener, der gerade den Rasen mit einem Motormäher schnitt, strich sich das Haar aus der Stime, als wir vorüberfuhren. Der Rasen hatte genau das Grün der Seriennummern auf den Dollarscheinen und erstreckte sich über eine Länge von etwa zweihundert Metern. Und in der grünen Ferne tauchte die weiße Fassade eines Hauses in frühspanischem Stil auf. Die Auffahrt zog sich in einer Kurve um die Seite des Hauses unter einem Vorbau hindurch. Ich stellte meinen Wagen hinter einem Chevrolet-Coupé ab, an dem ein Arztschild angebracht war. Weiter hinten, im Schatten einer großen Eiche, konnte ich zwei kurzbehoste Mädchen Federball spielen sehen. Blitzschnell wurde der Ball hin- und zurückgeschlagen. Das dunkelhaarige Mädchen, das uns den Rücken zukehrte, verschlug ihn endlich, wobei ihr ein »Verdammt noch mal!« entrutschte. »Aber, aber«, machte Gordon Sable. Mit der Grazie einer Tänzerin wirbelte sie herum. Dabei konnte ich erkennen, daß sie kein junges Ding mehr war, sondern eine Frau mit der Figur eines Mädchens. Langsam stieg ihr die Röte in die Wangen. Um ihre Verlegenheit zu kaschieren, setzte sie ein übertriebenes Schmollmündchen auf, wodurch sie wiederum etwas jünger wirkte. »Ich bin einfach nicht in Form. Sheila hat mich noch nie geschlagen.« »Doch«, rief das Mädchen auf der anderen Seite des Netzes. »Letzte Woche sogar dreimal. Heute ist es das viertemal.« »Der Satz ist noch gar nicht zu Ende.« »Nein, aber ich werde dich trotzdem schlagen.« In Sheilas Stimme schwang eine Leidenschaft mit, die gar nicht zu ihrer Erscheinung zu passen schien. Sie war noch sehr jung, keinesfalls älter als achtzehn. Sie hatte eine Haut wie Milch und Honig und sanfte Rehaugen. GALTON
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Die ältere der beiden griff nun nach dem Federball und schlug ihn über das Netz; vertieft spielten sie weiter, als ob wer weiß was vom Ausgang des Spiels abhinge. Ein farbiges Hausmädchen mit weißem Häubchen führte uns in das Empfangszimmer. Schmiedeeiserne Lampen hingen wie riesige schwarze, vertrocknete Trauben von der hohen Decke. Alte schwarze Möbel standen wie in einem Museum unter alten dunklen Bildern an den Wänden aufgereiht. Die Fenster waren schmal und lagen tief in den dicken Mauern eingebettet, wie die Fenster eines mittelalterlichen Schlosses. »Ist Dr. Howell noch bei ihr?« fragte Sable das Hausmädchen. »Ja, Sir. Aber er müßte jeden Moment gehen. Er ist schon eine ziemliche Weile bei ihr oben.« »Sie hat doch keinen Anfall gehabt?« »Nein, Sir. Es ist nur der übliche Arztbesuch.« »Würden Sie ihm bitte ausrichten, daß ich ihn gern gesprochen hätte, ehe er wegfährt?« »Ja, Sir.« Sie verschwand. Ohne mich anzusehen, sagte Sable in unbewegtem Ton: »Ich brauche mich für das Benehmen meiner Frau wohl nicht zu entschuldigen. Sie wissen ja, wie Frauen sind.« »Natürlich.« Ich wollte keine Vertraulichkeiten von seiner Seite. Offensichtlich stand ihm auch keineswegs der Sinn danach. »In Südamerika gibt es Stämme, die ihre Frauen jeden Monat eine Woche lang einsperren. Sie stecken sie alleine in eine Hütte und lassen sie schmoren. Für diese Methode läßt sich eine ganze Menge sagen.« »Da mögen Sie recht haben.« »Sind Sie eigentlich verheiratet, Archer?« »Jetzt nicht mehr.« -15-
»Dann wissen Sie ja, wie es ist. Sie wollen, daß man sich die ganze Zeit mit ihnen beschäftigt. Segeln und Golfspielen habe ich schon aufgegeben. Ich habe beinahe aufgehört zu leben, aber sie ist immer noch nicht zufrieden. Was tut man nur mit so einer Frau?« Ich habe mir längst abgewöhnt, gute Ratschläge zu erteilen. Selbst wenn man darum gebeten wird, ärgern sich die Leute nur zum Schluß. »Da müssen Sie einen Klügeren fragen«, sagte ich nur. Dann schlenderte ich im Zimmer umher und betrachtete mir die Bilder. Hauptsächlich waren es irgendwelche Vorfahren: spanische Dons, Damen in Krinolinen mit weißen Alabasterbusen, ein Offizier aus dem Bürgerkrieg in blauer Uniform und mehrere Herren in der Kleidung des 19. Jahrhunderts mit Koteletten und sauertöpfischen Mienen. Am besten gefiel mir eine Gruppe von Industriemagnaten mit Zylindern, die zusahen, wie ein weiterer Industriemagnat mit einem Bulldoggengesicht einen goldenen Nagel in eine Eisenbahnschwelle hämmerte. Im Hintergrund des Bildes konnte man einen mürrisch dreinblickenden Büffel erkennen. Das Mädchen kehrte jetzt mit einem Herrn im Tweedanzug zurück. Sable stellte ihn als Dr. Howell vor. Er war ein schwerer Mann in den Fünfzigern, dessen Haltung von einer unbewußten Autorität zeugte. »Mr. Archer wird uns bei unseren Ermittlungen helfen«, sagte Sable. »Hat Ihnen Mrs. Galton von ihren Absichten berichtet?« »Das hat sie.« Der Arzt fuhr sich mit den Fingern durch die grauen Bürstenhaare. Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich. »Ich dachte, die ganze Geschichte mit Tony sei längst begraben und vergessen. Wer hat sie denn nur auf den Gedanken gebracht, die Sache wieder ans Tageslicht zu zerren?« »Niemand, soweit ich weiß. Es war ihr eigener Einfall. Wie geht es ihr denn heute, Doktor?« -16-
»Den Umständen entsprechend. Maria ist über siebzig. Sie hat ein schwaches Herz und dazu noch Asthma. Dabei muß man auf alles vorbereitet sein.« »Aber eine unmittelbare Gefahr besteht nicht?« »Das möchte ich nicht annehmen. Ich kann natürlich nicht voraussagen, was geschieht, wenn sie einer heftigen Gemütsbewegung ausgesetzt wird. Mit Asthma ist nicht zu spaßen.« »Psychosomatisch, meinen Sie?« »Sie können es auch somatopsychisch nennen, wie Sie wollen. Auf jeden Fall handelt es sich um eine Krankheit, die emotionell beeinflußt werden kann. Deshalb bin ich so dagegen, daß Maria von neuem über ihren mißratenen Sohn in Aufregung gerät. Was soll das Ganze eigentlich?« »Sie will ihr schlechtes Gewissen beruhigen, nehme ich an. Sie hat ihm Unrecht getan und möchte das wiedergutmachen.« »Aber ist er denn nicht tot? Ich dachte, er sei gesetzlich für tot erklärt worden.« »Das hätte man tun können. Vor einigen Jahren haben wir amtlich nach ihm suchen lassen. Damals war er schon vierzehn Jahre lang verschollen, das ist mehr als die doppelte Zeit, die für eine gesetzliche Todeserklärung erforderlich ist. Aber Mrs. Galton war dagegen, daß ich den Antrag stellte. Ich glaube, sie hat nie die Hoffnung aufgegeben, daß Anthony eines Tages zurückkommen und sein Erbe beanspruchen würde. In den letzten Wochen ist sie von dieser Vorstellung geradezu besessen.« »Ganz so drastisch würde ich es zwar nicht ausdrücken«, sagte der Arzt. »Aber ich glaube, jemand hat ihr einen Floh ins Ohr gesetzt. Ich frage mich nur, warum.« »Wer sollte das denn gewesen sein?« »Vielleicht Cassie Hildreth. Sie hat großen Einfluß auf Maria. -17-
Und da wir gerade von Hoffnungen sprechen – als junges Ding hat sie selber ein paar gehabt. Sie pflegte Tony nachzulaufen, als wäre er der Herrlichste von allen. Was er keineswegs war, wie Sie sich erinnern werden.« Howell lächelte etwas schief und melancholisch. »Davon habe ich nichts gewußt. Ich werde einmal mit Miss Hildreth reden.« »Mißverstehen Sie mich bitte nicht, es handelt sich hier um eine reine Vermutung meinerseits. Nur meine ich, daß man die Sache soweit wie möglich hinauszögern sollte.« »Das habe ich die ganze Zeit getan. Andererseits kann ich mich aber nicht offen weigern, ihr behilflich zu sein.« »Nein, aber es wäre am besten, wenn Sie sie weiter hinhalten könnten, ohne definitive Ergebnisse zu erzielen, bis sie ihr Interesse etwas anderem zuwendet.« Der Blick des Arztes bezog mich in das Komplott mit ein. »Wir haben uns doch verstanden?« »Ich habe Sie sehr gut verstanden«, sagte ich. »Ich soll also nur so tun, in Wirklichkeit aber keinerlei Nachforschungen anstellen. Ist das nicht eine ziemlich kostspielige Therapie?« »Sie kann es sich leisten, falls Ihnen das Sorge macht. Maria nimmt im Monat mehr Geld ein, als sie in einem Jahr ausgeben kann.« Einen Augenblick lang betrachtete er mich schweigend und rieb seine große Nase. »Ich wollte damit nicht gesagt haben, daß Sie Ihre Arbeit vernachlässigen sollten, für die Sie bezahlt werden. Aber falls Sie auf etwas stoßen sollten, was Mrs. Galton aufregen könnte…« Sable mischte sich schnell ein. »Das habe ich bereits mit Archer besprochen. Zuerst wird mir alles berichtet. Und Sie wissen ja, daß Sie sich auf meine Diskretion verlassen können.« »Ja, ich glaube, das kann ich wohl.« Sables Gesichtsausdruck veränderte sich kaum merklich. -18-
Seine Augenlider flatterten nur einmal kurz, als sei er von einem Schlag bedroht gewesen, dann blieben sie wieder schwer über den wachsamen Augen hängen. Für einen Mann seines Alters und seiner Position war er reichlich empfindlich. Ich wandte mich an den Doktor: »Kannten Sie Anthony Galton eigentlich?« »Flüchtig.« »Was für ein Mensch war er?« Howell senkte die Stimme. »Tony war ein ziemlich wilder und ungehobelter Typ. Rein äußerlich und gesellschaftlich meine ich. Er hatte auch nichts von den besonderen Charakteristika der Galtons geerbt. Alles Geschäftliche wurde von ihm mit einer maßlosen Verachtung abgetan. Tony hatte immer behauptet, er wollte Schriftsteller werden, ich habe aber nie eine Spur von Talent bei ihm entdecken können. Das einzige, was er wirklich gut konnte, war saufen und herumhuren. Ich glaube, er gehörte damals einer ziemlich üblen Bande aus San Francisco an. Persönlich war ich immer der Meinung, daß einer von denen ihn seines Geldes wegen umgebracht und in die Bay geworfen hat.« »Bestanden irgendwelche Gründe zu dieser Annahme?« »Selbstverständlich nichts Greifbares. Aber San Francisco war in den dreißiger Jahren ein gefährliches Pflaster für einen jungen Mann aus reicher Familie. Und er mußte schon ganz schön tief gegriffen haben, um an das Mädchen zu geraten, das er dann später geheiratet hat.« »Sie kannten sie auch, nicht wahr?« fragte Sable. »Seine Mutter schickte sie einmal zu mir, und da habe ich sie untersucht.« »Hat sie hier in der Stadt gelebt?« erkundigte ich mich. »Kurze Zeit. Tony heiratete sie und brachte sie sofort mit nach Hause. Ich glaube nicht, daß er sich in der Hoffnung -19-
gewiegt hat, seine Familie würde sie mit offenen Armen empfangen. Es ging ihm wohl mehr darum, seiner Familie einen Schlag ins Gesicht zu versetzen. Wenn das seine Absicht gewesen war, ist ihm das prächtig gelungen.« »Was war denn mit dem Mädchen los?« »Das Naheliegende, und zwar offenkundig. Sie war im siebten Monat schwanger.« »Und Sie sagten, daß sie gerade erst geheiratet hatten.« »Stimmt. Sie hat ihn eingefangen. Ich habe mich ein wenig mit ihr unterhalten, und ich möchte wetten, daß er sie direkt von der Straße aufgelesen hat. Trotz ihres dicken Bauches war sie ein hübsches kleines Ding. Sie mußte ein hartes Leben gehabt haben; Oberschenkel und Gesäß waren voller Narben. Sie weigerte sich, irgendwelche Erklärungen darüber abzugeben, es war aber sonnenklar, daß man sie geprügelt hatte, und zwar nicht nur einmal.« Die Erinnerung an diese grausamen Tatsachen ließ schwache rote Flecken auf den Backenknochen des Arztes auftreten. Das rehäugige Mädchen vom Federballplatz erschien hinter ihm in der Tür. Ihr Körper war wie eine reifende Frucht, nur teilweise von dem ärmellosen Pullover und den hochgerollten Shorts bedeckt. Sie strahlte gesunde Schönheit aus, trotzdem war der Mund ungeduldig verzogen. »Daddy? Wie lange dauert’s denn noch?« Bei ihrem Anblick vertiefte sich die Farbe auf Howells Backenknochen. »Roll die Hosenbeine sofort hinunter, Sheila.« »Das sind doch keine Hosen.« »Das ist mir gleichgültig, roll sie hinunter.« »Aber warum denn?« »Weil ich es möchte.« »Das brauchst du mir aber nicht so in aller Öffentlichkeit zu sagen. Wie lange soll ich denn noch warten?« -20-
»Du wolltest Tante Maria doch etwas vorlesen.« »Dazu habe ich keine Lust.« »Versprochen hast du es aber.« »Nein, du hast es für mich versprochen. Ich habe bis jetzt mit Cassie Federball gespielt, und das ist meine gute Tat für heute gewesen.« Sie ging fort, wobei sie absichtlich das Wiegen ihrer Hüften übertrieb. Wütend blickte Howell auf seine Armbanduhr, als ob sie die Quelle seines ganzen Ärgers sei. »Ich muß jetzt weiter. Ich habe noch andere Besuche zu machen.« »Können Sie mir seine Frau beschreiben oder mir wenigstens ihren Namen sagen?« fragte ich. »An ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Was ihr Aussehen angeht, nun, sie war klein, blauäugig, dunkelhaarig und ziemlich mager trotz ihres Zustandes. Mrs. Galton… nein, wenn ich es recht bedenke, würde ich sie nicht nach dem Mädchen fragen, wenn sie die Sache nicht selber anschneidet.« Der Arzt wandte sich zum Gehen, aber Sable hielt ihn zurück. »Wäre etwas dagegen einzuwenden, wenn Mr. Archer ihr ein paar Fragen stellt, ich meine, es wird doch nicht ihrem Herzen schaden oder einen Asthmaanfall verursachen?« »Das kann ich nicht garantieren. Wenn Maria ihren Anfall haben will, kann ich nichts dagegen unternehmen. Aber Scherz beiseite, wenn sich ihre Gedanken so sehr mit Tony beschäftigen, kann sie auch über ihn sprechen. Das ist sogar noch besser, als nur herumzusitzen und zu grübeln. Auf Wiedersehen, Mr. Archer, freut mich, Sie kennengelernt zu haben. Guten Tag, Sable.«
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3 Das Hausmädchen führte Sable und mich in einen Salon der ersten Etage, wo Mrs. Galton uns erwartete. Der Raum roch nach Arzneien und hatte die typische, gedämpfte Krankenhausatmosphäre. Die Fenster waren teilweise von schweren Vorhängen bedeckt. Mrs. Galton ruhte im Halbdunkel auf einer Chaiselongue, einen Morgenmantel über den Knien. Sie war völlig angekleidet; ihr runzeliger Hals war von etwas Weißem, Rüschigem verborgen. Ihren grauen Kopf hielt sie gerade. Ihre Stimme klang rauh, aber überraschend voll; ihre letzten verbleibenden Kräfte schienen sich darin gesammelt zu haben. »Sie haben mich warten lassen, Gordon. Es ist jetzt beinahe Zeit für mein Mittagessen, und ich hatte Sie noch vor Doktor Howells Besuch erwartet.« »Es tut mir schrecklich leid, Mrs. Galton, ich wurde zu Hause aufgehalten.« »Lassen Sie die albernen Entschuldigungen, ich kann das nicht leiden. Entschuldigungen sind nichts weiter als zusätzliche Geduldsproben.« Ihre funkelnden Augen forschten in seinen Zügen. »Hat diese Frau, die Sie sich da aufgegabelt haben, Ihnen wieder Ärger gemacht?« »Aber nein, nichts dergleichen.« »Gut so. Sie wissen ja, was ich von Scheidungen halte. Das heißt, Sie hätten lieber meinen Rat befolgen sollen, sie nicht zu heiraten. Ein Mann, der bis fünfzig noch nicht geheiratet hat, soll die Finger davon lassen. Mr. Galton war Ende vierzig, als wir heirateten. Die Folge davon war, daß ich beinahe seit zwanzig Jahren Witwe bin.« -22-
»Sie haben es schwer gehabt, ich weiß«, sagte Sable salbungsvoll. Als das Mädchen das Zimmer verlassen wollte, hielt Mrs. Galton sie zurück. »Einen Augenblick. Sag Miss Hildreth, sie soll mir mein Essen selber heraufbringen. Sie kann sich ja ein Sandwich mitbringen und bei mir essen, wenn sie will. Richte das Miss Hildreth aus.« »Ja, Mrs. Galton.« Die alte Dame deutete auf die beiden Stühle, die rechts und links neben ihr standen, und wandte mir ihren Blick zu. Er war hell und wachsam und irgendwie unmenschlich. Wie der Blick eines Vogels. Sie schien mich für ein ganz besonders seltsames Geschöpf zu halten. »Ist das der Mann, der meinen Sohn wiederfinden soll?« »Ja, das ist Mr. Archer.« »Ich werde es zumindest versuchen«, warf ich ein und dachte an den Rat des Arztes. »Ein positives Ergebnis kann ich nicht versprechen. Ihr Sohn ist vor sehr langer Zeit verschwunden.« »Das weiß ich besser als Sie, junger Mann. Am 11. Oktober 1936 habe ich Anthony zum letztenmal gesehen. Wir trennten uns voller Zorn und Haß. Und seitdem nagt die Erinnerung daran an meinem Herzen. So kann ich nicht sterben. Ich möchte Anthony noch einmal wiedersehen und mit ihm sprechen. Ich möchte ihm vergeben, und er soll auch mir verzeihen.« Erschütterung klang in ihrer Stimme mit. Ich zweifelte nicht, daß dieses Gefühl teilweise aufrichtig war. Trotzdem klang eine unechte Note darin mit. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß sie jahrelang mit ihren Gefühlen herumgespielt hatte, bis sie alle etwas fadenscheinig geworden waren. »Ihnen verzeihen?« wiederholte ich. »Dafür, daß ich ihn so schlecht behandelt habe. Er war jung und töricht und hatte ein paar katastrophale Fehler begangen. -23-
Trotzdem waren mein Mann und ich nicht dazu berechtigt, ihn aus dem Haus zu weisen. Das war wirklich abscheulich, und wenn es nicht zu spät ist, möchte ich es wiedergutmachen. Wenn er noch mit seiner kleinen Frau zusammenlebt, bin ich bereit, sie anzuerkennen. Ich bevollmächtige Sie hiermit, ihm das mitzuteilen. Ich will mein Enkelkind sehen, bevor ich sterbe.« Ich blickte zu Sable hinüber. Kaum merklich schüttelte er den Kopf. Aber wenn seine Klientin auch etwas wirr im Kopf zu sein schien, ihre Menschenkenntnis war nach wie vor ungetrübt. »Ich weiß, was Sie beide denken. Sie glauben, daß er tot ist. Aber wenn es so wäre, würde ich es hier fühlen.« Dabei berührte ihre Hand die glatte Seide über ihrer flachen Brust. »Er ist mein einziger Sohn. Irgendwo muß er leben. Nichts auf dieser Welt geht verloren.« Bis auf einige Millionen Menschen, dachte ich. »Ich werde mein Bestes tun, Mrs. Galton. In ein oder zwei Punkten könnte ich allerdings Ihre Hilfe brauchen. Bitte geben Sie mir doch eine Liste mit den Namen seiner Freunde.« »Ich habe seine Freunde niemals gekannt.« »Er muß doch ein paar Freunde im College gehabt haben. Hat er nicht in Stanford studiert?« »Ja, im Frühling zuvor war er aus Stanford gekommen. Er machte nicht einmal seine Abschlußprüfung. Aber keiner seiner Studienkameraden konnte sagen, was aus ihm geworden ist. Sein Vater hatte damals gründlich bei allen nachgeforscht.« »Wo hat Ihr Sohn denn damals gewohnt, nachdem er die Universität verlassen hatte?« »In den Slums von San Francisco, zusammen mit dieser Frau.« »Haben Sie die Adresse?« »Ich glaube wohl. Miss Hildreth soll nachher danach suchen.« -24-
»Damit hätten wir erst einmal einen Anhaltspunkt. Als er hier mit seiner Frau fortging, beabsichtigte er da, nach San Francisco zurückzugehen?« »Ich habe keine Ahnung. Ich habe sie nicht mehr gesehen, bevor sie gingen.« »Soviel ich weiß, kamen sie einmal zu Besuch zu Ihnen?« »Ja. Aber sie blieben nicht einmal über Nacht.« »Was mir am meisten helfen würde«, sagte ich vorsichtig, »wäre eine Schilderung der genauen Umstände ihres Besuches und ihrer Abreise. Alles, was Ihr Sohn über seine Pläne sagte, alles, was das Mädchen erwähnte, alles, an das Sie sich noch erinnern können. Erinnern Sie sich noch an ihren Namen?« »Er nannte sie Teddy. Ich habe keine Ahnung, ob das ihr richtiger Name war. Wir sprachen nicht sehr viel miteinander. Ich weiß wirklich nicht mehr, was damals gesagt wurde. Die ganze Atmosphäre war unerfreulich, und diese Person war so schrecklich, daß ich tagelang noch ganz krank davon war. Und es war leider so offensichtlich, daß sie nur auf sein Geld aus war.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Schließlich habe ich Augen, um zu sehen, und Ohren, um zu hören.« Ihre Stimme ließ die ersten Anzeichen aufsteigenden Ärgers erkennen. »Sie war angezogen und angemalt wie ein Straßenmädchen, und wenn sie erst den Mund aufmachte – da wußte man gleich, wo sie herkam. Sie machte grobe Witze über das Kind in ihrem Schoß und wie«, ihre Stimme war kaum mehr zu hören, »es hineingelangt war. Ihr fehlte jeder Respekt und jedes Gefühl für Anstand. Das Mädchen hat meinen Sohn auf dem Gewissen.« Alle guten Absichten auf Versöhnung waren vergessen. In der Wut kippte ihre Stimme beinahe über. Sie klang wie das Heulen des Windes in einer Ruine. Sable sah sie besorgt an, sagte aber kein Wort. -25-
»Wieso hat sie ihn auf dem Gewissen?« fragte ich. »Sie hat ihn moralisch total zerstört. Sie war sein böser Geist. Mein Sohn hätte nie das Geld genommen, wenn sie ihn nicht verhext hätte. Darauf könnte ich einen Eid leisten.« Sable beugte sich in seinem Sessel vor. »Von welchem Geld sprechen Sie denn?« »Von dem Geld, das Anthony seinem Vater gestohlen hat. Habe ich Ihnen nie davon erzählt, Gordon? Nein, ich glaube nicht; ich habe nie davon gesprochen, weil ich mich immer so geschämt habe.« Sie hob die Hände und ließ sie wieder in den Schoß zurückfallen. »Aber auch das vergebe ich ihm jetzt.« »Um wieviel Geld handelte es sich?« fragte ich. »Auf den Cent genau kann ich das nicht sagen. Jedenfalls waren es mehrere tausend Dollar. Seit dem großen Bankkrach pflegte mein Mann immer eine gewisse Menge Bargeld für die laufenden Ausgaben im Hause zu behalten.« »Und wo bewahrte er es auf?« »In seinem Privatsafe im Arbeitszimmer. Die Kombination stand auf einem Zettel, den er in die Innenseite seiner Schreibtischschublade geklebt hatte. Anthony muß sie dort entdeckt und so den Safe geöffnet haben. Er nahm alles mit, das gesamte Geld und sogar einen Teil meines Schmuckes, den ich dort aufbewahrte.« »Und Sie sind ganz sicher, daß er es genommen hat?« »Leider ja. Es verschwand zur gleichen Zeit wie er. Das ist wohl auch der Grund, weshalb er sich versteckte und nie wieder zu uns zurückkam.« Sable sah immer düsterer drein. Wahrscheinlich dachte er dasselbe wie ich, daß damals zur Zeit der größten Geldknappheit in den Slums von San Francisco mehrere tausend Dollar in bar einer Freikarte in den Tod gleichkamen. Aber das konnten wir nicht aussprechen. Mit ihrem Geld, -26-
ihrem Asthma und ihrem kranken Herzen lebte Mrs. Galton weit entfernt von der Wirklichkeit. Anscheinend mußte das so sein. »Haben Sie ein Bild Ihres Sohnes, das nicht allzu lange vor seinem Verschwinden aufgenommen wurde?« fragte ich. »Ich glaube wohl. Cassie wird danach suchen. Sie wird bald hier sein.« »Können Sie mir noch weitere Informationen geben? Wohin hat er sich gewandt, wen hat er aufgesucht?« »Nachdem er die Universität verlassen hatte, weiß ich nichts mehr von seinem Leben. Er hatte sich von allen anständigen Leuten abgesondert. Er hatte einen perversen Hang, sich gesellschaftlich zu deklassieren. Er muß eine Art nostalgie de la boue – einen Hang zur Gosse gehabt haben. Er versuchte das alles zu vertuschen, indem er törichtes Zeug daherredete. So wollte er den Kontakt zur Erde wiederherstellen, ein Dichter des Volkes und der Armen werden und dergleichen Unsinn mehr. Aber in Wirklichkeit fühlte er sich einfach wohl in dem ganzen Schmutz. Ich habe ihn erzogen und ihn gelehrt, seine Gedanken und Wünsche rein zu erhalten. Aber irgendwie mußte der Schmutz und das Laster faszinierend auf ihn gewirkt haben. Und schließlich erstickte er in dem ganzen Schlamm.« Sie atmete laut und zitterte. Mit wächsernen Fingern kratzte sie auf dem Morgenrock über ihren Knien. Begütigend neigte sich Sable zu ihr. »Sie dürfen sich nicht aufregen, Mrs. Galton. Das ist alles schon so lange vorbei.« »Nichts ist vorbei. Ich will Anthony zurückhaben. Ich habe niemanden mehr. Man hat ihn mir gestohlen.« »Wir werden das Menschenmögliche tun, ihn zurückzubringen.« »Ja, ich weiß, daß Sie das tun werden, Gordon.« Auf einmal war ihre Stimmung umgeschlagen. Ihr Kopf sank etwas vor, als wolle sie an Sables Schulter lehnen. Zeit und Verluste hatten ihr -27-
Haar gebleicht, ihr Runzeln in das Gesicht geschrieben und ihr Todesfurcht ins Herz gelegt; nun jammerte sie mit klagender Kleinmädchenstimme: »Ich bin eine dumme, alte Person. Sie waren immer so gut zu mir. Und wenn Anthony wiederkommt, wird er auch gut zu mir sein, glauben Sie nicht? Was ich auch gegen ihn gesagt habe, er war ein süßer Junge. Und er war immer so lieb zu seiner armen Mutter. Und so soll es wieder werden.« Hoffnung klang in diesem Bittgebet auf wenn sie die Worte oft genug wiederholte, müßten sie wahr werden. »Davon bin ich überzeugt, Mrs. Galton.« Sable stand auf und drückte ihr die Hand. Ich bin immer etwas mißtrauisch gegen Männer, die sich zu sehr um reiche alte Damen bemühen, selbst sogar um arme. Aber schließlich gehörte das mit zu seiner Aufgabe. »Ich bin hungrig«, sagte sie. »Ich will mein Essen. Was machen die denn da unten…« Sie richtete sich halb von ihrer Chaiselongue auf und drückte einen Klingelknopf auf dem Tisch neben ihr. Und sie ließ den Finger auf dem Knopf, bis das Essen kam. Das dauerte ganze fünf Minuten.
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4 Die Frau, die ich unten beim Federballspielen gesehen hatte, brachte ihr das Essen in einer zugedeckten Schüssel herauf. Sie hatte ihre Shorts gegen ein einfaches Leinenkleid vertauscht, das wohl ihre Figur, nicht aber ihre gutgeformten braunen Beine verbergen konnte. Wachsam blickten ihre blauen Augen uns an. »Du hast mich warten lassen, Cassie«, beklagte sich die alte Frau. »Was in aller Welt hast du bloß gemacht?« »Dein Essen zurechtgemacht. Und vorher habe ich mit Sheila Howell eine Partie Federball gespielt.« »Das hätte ich mir eigentlich denken können; ihr zwei amüsiert euch miteinander, und ich sitze hier oben und kann verhungern.« »Na, na, so schlimm ist das wohl nicht.« »Das kannst du gar nicht beurteilen, du bist schließlich nicht der Arzt. Frage doch August Howell, er wird dir schon sagen, wie wichtig es ist, daß ich mein Essen pünktlich bekomme.« »Tut mir leid, Tante Maria. Ich dachte, du wolltest bei deiner Besprechung nicht gestört werden.« Sie stand immer noch in der Tür und hielt das Tablett wie ein Schild vor sich. Sie war nicht mehr jung; aus der Nähe konnte man die Erfahrung in ihren blauen Augen lesen – sie mußte die Vierzig schon überschritten haben. Aber wie sie dastand, festgefroren in ihrer Hilflosigkeit, wirkte sie irgendwie jugendlich linkisch. »Steh da nicht so herum wie ein Holzklotz!« Endlich kam Bewegung in Cassie. Sie setzte das Tablett auf dem Tisch ab und nahm den Deckel von der Schüssel. Sie hatte -29-
eine gute Portion angerichtet, und Mrs. Galton begann sofort, Mengen von Salat in den Mund zu schaufeln. Ihre Hände und Kiefer bewegten sich dabei schnell und mechanisch. Sie bemerkte nicht, daß wir drei sie beobachteten. Sable und ich zogen uns in die Halle zurück und traten an den Treppenabsatz, von welchem sich die Treppe in hochherrschaftlichen Bogen zur unteren Etage hinunterzog. Er lehnte sich an das eiserne Geländer und zündete sich eine Zigarette an. »Nun, Lew, was halten Sie von der ganzen Sache?« Ehe ich antwortete, steckte ich mir selber auch eine Zigarette an. »Ich halte das Ganze für eine Vergeudung von Zeit und Geld.« »Das habe ich gleich gesagt.« »Und Sie wollen, daß ich die Sache trotzdem in Angriff nehme?« »Ich sehe keine Möglichkeit, mich da herauszuwinden, ohne Mrs. Galton auf die Füße zu treten. Sie ist gar nicht so leicht zu behandeln.« »Kann man sich wenigstens auf ihr Gedächtnis verlassen? Sie scheint ziemlich stark in der Vergangenheit zu leben. Manchmal wissen alte Leute nicht mehr so genau, was wirklich geschehen ist. Nehmen Sie die Geschichte von dem Geld, das er gestohlen haben soll. Glauben Sie daran?« »Ich habe sie nie bei einer Lüge ertappt, und ich bezweifle ehrlich, daß sie ganz so verwirrt ist, wie sie wirkt. Sie setzt sich gerne in Szene, es ist das einzige Vergnügen, das ihr geblieben ist.« »Wie alt ist sie eigentlich?« »Dreiundsiebzig, glaube ich.« »Das ist nicht sehr alt. Und ihr Sohn?« »Der muß etwa vierundvierzig sein, wenn er noch lebt.« -30-
»Das scheint ihr nicht bewußt zu sein. Sie spricht von ihm, als wäre er noch ein junger Mann. Wie lange sitzt sie denn schon in diesem Zimmer?« »Jedenfalls so lange, wie ich sie kenne. Also zehn Jahre. Wenn sie einen guten Tag hat, läßt sie sich manchmal von Miss Hildreth ausfahren. Das trägt allerdings nicht viel dazu bei, sie über die Entwicklung der Welt auf dem laufenden zu halten. Gewöhnlich macht sie nur eine kurze Fahrt bis zum Friedhof, zum Grabe ihres Mannes. Er starb damals, kurz nachdem Anthony das Haus verlassen hatte. Mrs. Galton behauptete sogar, das wäre die wahre Ursache seines Todes gewesen. Wenn man aber Miss Hildreth glauben will, ist er an einer Herzsache gestorben.« »Ist Miss Hildreth eine Verwandte?« »Eine Cousine zweiten oder dritten Grades. Cassie kennt die Familie ihr ganzes Leben lang und wohnte schon vor dem Kriege bei Mrs. Galton. Ich hoffe, daß sie uns ein paar konkrete Auskünfte geben kann.« »Die könnte ich wirklich brauchen.« Irgendwo schrillte ein Telefon, es klang wie das Zirpen einer Grille in der Wand. Cassie Hildreth öffnete Mrs. Galtons Tür und trat mit schnellen Schritten auf uns zu. »Sie werden am Telefon verlangt, Mr. Sable. Es ist Ihre Frau.« »Nanu, was will sie denn?« »Das hat sie nicht gesagt. Aber sie scheint ziemlich erregt zu sein.« »Das ist sie immer.« »Sie können den Apparat unter der Treppe nehmen, wenn Sie wollen.« »Ich weiß. Das werde ich tun.« Sable behandelte sie abweisend wie einen Dienstboten. »Dies ist übrigens Mr. Archer, er möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.« -31-
»Jetzt, sofort?« »Wenn Sie die Zeit erübrigen könnten«, sagte ich. »Mrs. Galton dachte, daß Sie mir vielleicht ein paar Fotografien und einige Auskünfte geben könnten.« »Bilder von Tony?« »Falls Sie welche haben.« »Ich habe sie für Mrs. Galton aufgehoben. Sie betrachtet sie gerne, wenn sie in Stimmung ist.« »Sie arbeiten für sie, nicht wahr?« »Wenn Sie das Arbeit nennen wollen? Ich bin ihre Gesellschafterin.« »Das nenne ich Arbeit.« Unsere Blicke begegneten sich. Ihre Augen waren von einem tiefen Meerblau. Unzufriedenheit flackerte in ihnen auf, aber sie sagte pflichtschuldigst: »Sie ist gar nicht so schlimm. Sie ist heute nicht in Form. Es belastet sie, in dieser Weise in der Vergangenheit zu wühlen.« »Warum tut sie es denn?« »Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie einen ernsthaften Anfall, wobei das Herz beinahe versagte. Man mußte sie sogar unter Sauerstoff setzen. Sie möchte vor ihrem Tode an Tony wieder alles gutmachen. Sie hat ihn ja wirklich sehr schlecht behandelt, wie Sie wohl wissen.« »In welcher Weise hat sie ihn schlecht behandelt?« »Nun, er durfte nie sein eigenes Leben leben, wie man so sagt. Sie wollte ihn immer für sich behalten, als sei er ihr persönliches Eigentum. Aber es ist besser, wenn ich nicht auf dieses Thema zu sprechen komme.« Cassie Hildreth biß sich auf die Lippen. Ich erinnerte mich jetzt wieder, was der Doktor über ihre Gefühle für Tony gesagt hatte. Der gesamte Haushalt schien sich um den vermißten Mann zu drehen, als ob er das Haus erst gestern verlassen hätte. -32-
Schnelle Schritte durchquerten die Eingangshalle unter der Treppe. Ich beugte mich über das Geländer und sah gerade noch, wie Sable die Haustür aufriß und sie gleich darauf hinter ihm zufiel. »Wo will er denn hin?« »Wahrscheinlich nach Hause. Seine Frau…« Sie zögerte und beendete dann vorsichtig den Satz: »… dramatisiert gerne. Wenn Sie die Bilder jetzt sehen möchten, ich habe sie in meinem Zimmer.« Ihr Zimmer lag neben dem von Mrs. Galton. Sie öffnete die Tür mit einem Sicherheitsschlüssel, und wir traten ein. Abgesehen von der Größe des Raumes und der hohen Decke hatte dieses Zimmer nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem von Mrs. Galton. Hier waren moderne Möbel, an den Wänden hingen Drucke von Paul Klee, und auf den Bücherregalen standen moderne Romane. Grob gewebte Leinenvorhänge bedeckten die häßlichen Fenster. Ein schmales Bett stand hinter einem Wandschirm aus Holzgeflecht in einer Ecke. Cassie Hildreth verschwand in einer Schrankkammer und kehrte mit einem Stoß Fotos in der Hand zurück. »Zuerst möchte ich die sehen, die ihm am ähnlichsten sind.« Sie suchte angespannt und reichte mir dann ein typisches Porträtbild eines Fotografen. Anthony Galton mußte ein hübscher Junge gewesen sein. Ich prägte mir die Gesichtszüge ein: Helle, weit auseinanderstehende Augen, über denen sich eine intelligente Stirn wölbte, eine kurze, gerade Nase, ein kleiner Mund mit vollen Lippen und ein rundes, mädchenhaftes Kinn. Was dem Gesicht fehlte war Charakter oder Persönlichkeit, eine innere Geschlossenheit, die die einzelnen Züge zusammenhielt. Das einzige Anzeichen dafür war ein etwas schiefes Lächeln. Es schien zu sagen: Zum Teufel mit dir, oder vielleicht auch: Zum Teufel mit mir. »Das Bild wurde zu seiner Abschlußprüfung gemacht«, sagte Cassie Hildreth leise. -33-
»Ich dachte, er hat die Prüfung gar nicht gemacht.« »Hat er auch nicht. Die Aufnahme wurde gemacht, ehe er sein Studium aufgab.« »Und warum das Ganze?« »Er wollte seinem Vater die Befriedigung nicht gönnen. Oder seiner Mutter. Sie hatten ihn gezwungen, Maschinenbau zu studieren, und das war das letzte, wofür Tony sich interessierte. Vier Jahre lang machte er mit, dann weigerte er sich, ins Examen zu gehen.« »Hätte er es denn nicht bestanden?« »Du lieber Himmel, doch. Tony war sehr klug. Einige seiner Professoren hielten ihn sogar für hochbegabt.« »Aber nicht für Maschinenbau?« »Wenn er etwas wollte, dann gab es nichts, was er nicht geschafft hätte. Aber sein wahres Interesse galt der Literatur. Er wollte Schriftsteller werden.« »Sie haben ihn wohl gut gekannt?« »O ja. Damals wohnte ich noch nicht bei den Galtons, aber ich kam oft zu Besuch her, wenn Tony während der Ferien nach Hause kam. Er hat mir viel erzählt; er war ein großartiger Unterhalter.« »Können Sie ihn mir wohl einmal beschreiben?« »Aber Sie haben doch eben sein Bild gesehen. Und hier sind noch mehr.« »Ich werde sie mir gleich ansehen. Jetzt möchte ich erst, daß Sie mir mehr über ihn erzählen.« »Wenn Sie es unbedingt wollen, will ich es versuchen.« Sie schloß die Augen. Ihr Gesicht glättete sich, als ob eine unsichtbare Hand die Jahre fortgewischt hätte. »Er war ein sehr gutaussehender Mann. Sein Körper war vollendet proportioniert, schlank und doch kräftig. Dichte blonde Locken. Er hatte… Wie soll ich sagen? Er hatte etwas Klassisches.« Sie öffnete wieder -34-
die Augen. »Haben Sie je den Hermes von Praxiteles gesehen?« Ich wurde etwas verlegen, nicht nur, weil ich den Hermes nicht kannte. Ihre Beschreibung von Tony wirkte wie ein leidenschaftliches Bekenntnis. Auf etwas Derartiges war ich nicht gefaßt gewesen. Verschüttete Träume und Gefühle schienen auf einmal zum Durchbruch gekommen zu sein. »Nein«, mußte ich zugeben. »Wie war die Farbe seiner Augen?« »Grau, ein schönes, sanftes Grau. Er hatte die Augen eines Dichters.« »Aha. Liebten Sie ihn?« Sie blickte mich erschrocken an. »Darauf erwarten Sie doch wohl keine Antwort von mir.« »Die haben Sie mir soeben gegeben. Sie sagten, daß er sich viel mit Ihnen unterhalten hat. Sprach er dabei jemals über seine Zukunftspläne?« »Nur im allgemeinen. Er wollte fortgehen und schreiben.« »Wohin wollte er gehen?« »Irgendwohin, wo es still und friedlich war, nehme ich an.« »Ins Ausland?« »Das glaube ich nicht. Tony mißbilligte den Hang zu Europa. Er pflegte immer zu sagen, daß er näher an den Ursprung Amerikas herankommen müsse. Und bedenken Sie bitte, es war während der Wirtschaftskrise. Er setzte sich nachdrücklich für die Rechte der Arbeiterklasse ein.« »Also ziemlich radikal?« »Man könnte es wohl so nennen. Dabei war er kein Kommunist, falls Sie das meinen. Er hatte nur das Gefühl, daß sein Geld zwischen ihm und dem wahren Leben stände. Tony haßte allen gesellschaftlichen Hochmut; aus diesem Grunde fühlte er sich auch auf der Universität so unglücklich. Er sagte häufig, daß er wie gewöhnliche Menschen leben möchte. Er wollte einer unter den vielen sein.« -35-
»Und es sieht so aus, als habe er damit Erfolg gehabt. Hat er je mit Ihnen über seine Frau gesprochen?« »Nie. Ich wußte gar nicht, daß er verheiratet war oder sich mit der Absicht trug, zu heiraten.« Auf einmal wirkte sie sehr verlegen, aber sie lächelte und schob mir die restlichen Bilder in die Hand, um meine Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Die meisten von ihnen waren einfache Momentaufnahmen: Tony zu Pferd, Tony in der Badehose auf einem Felsen sitzend, Tony mit stereotypem Siegerlächeln, einen Tennisschläger in der Hand. Durch die Bilder und durch alles, was man mir von ihm erzählt hatte, bekam ich allmählich den Eindruck eines jungen Mannes, der mehr oder weniger alles mit sich geschehen ließ, aber sein wahres Selbst sogar vor der Kamera verborgen hielt. Sein Wunsch war, sich selbst zu verlieren; allmählich begann sich in mir eine vage Vorstellung seines Charakters und seiner Geistesverfassung zu formen. »Was machte ihm denn besonderen Spaß?« »Schreiben. Lesen und Schreiben.« »Und außerdem? Tennis? Schwimmen?« »Eigentlich nicht. Tony machte sich überhaupt nichts aus Sport. Er lachte immer über mich, weil ich so begeistert davon war.« »Und was war mit Alkohol und Mädchen? Dr. Howell sagte mir, daß er ein ganz munterer Knabe gewesen sein soll.« »Dr. Howell hat ihn nie begriffen«, sagte sie. »Natürlich hatte Tony Beziehungen zu Frauen, und getrunken wird er sicher auch haben, aber da war bei ihm… na: System dahinter, ja?« »Hat er Ihnen das selber gesagt?« »Ja, und es ist auch wahr. Er setzte Rimbauds Theorie von der Vergewaltigung der Sinne in die Praxis um. Er dachte, erschütternde Erlebnisse würden aus ihm einen ebenso guten Dichter machen wie Rimbaud.« Sie fing meinen -36-
verständnislosen Blick auf und fügte hinzu: »Arthur Rimbaud war ein französischer Dichter. Er und Charles Baudelaire waren Tonys große Vorbilder.« »Aha.« Wir kamen vom Thema ab und gerieten auf Ebenen, wo ich mich nicht zu Hause fühlte. »Haben Sie jemals eine seiner Freundinnen kennengelernt?« »Aber nein!« Der Gedanke allein schien sie zu schockieren. »Die hat er niemals mit hierhergebracht.« »Aber seine Frau hat er doch mitgebracht.« »Ja, ich weiß. Ich war auf der Schule, als das passierte.« »Als was passierte?« »Der große Eklat«, antwortete sie. »Mr. Galton sagte damals, daß er nie wieder sein Haus betreten sollte. Es muß alles sehr viktorianisch und altväterlich zugegangen sein. Und Tony hat danach das Haus nie wieder betreten.« »Das war also im Oktober 1936. Haben Sie Tony danach noch einmal gesehen?« »Nein. Ich war auf einer Schule im Osten des Landes.« »Oder von ihm gehört?« Gerade wollte sie auch diese Frage verneinen, dann besann sie sich. »Ich bekam einen kurzen Brief von ihm, irgendwann im Laufe des Winters. Es muß noch vor Weihnachten gewesen sein, da er in die Schule geschickt worden war, und nach Weihnachten fuhr ich nicht wieder zurück. Ja, es muß Anfang Dezember gewesen sein.« »Was stand darin?« »Nicht sehr viel. Nur, daß es ihm gut gehe und daß ein Gedicht von ihm angenommen worden sei. Eine kleine Zeitschrift in San Francisco wollte es bringen. Er schickte es mir dann mit gesonderter Post. Falls es Sie interessiert, ich habe es aufbewahrt.« Sie hatte es in einem festen Briefumschlag im obersten Fach -37-
ihres Bücherschrankes verwahrt. Die Zeitschrift war ein kleines, dünnes Heft, schlecht gedruckt und auf dünnem Papier. Sie nannte sich Chisel. Sie schlug das Heft in der Mitte auf und reichte es mir herüber. Ich las : LUNA von John Brown Weiße Brust, weiß wie Schaum; Möwenrast. Ferner Traum. Grün ihr Blick, grün und tief wie die See, wenn sie schlief. Seemannsangst wühlt im Blut: Kräuselt sich, steigt die Flut? Wild ihr Herz wie das Meer. Stiehlt sich fort… Nimmermehr. »Hat Tony Galton das geschrieben? Es ist mit John Brown gezeichnet.« -38-
»Unter diesem Namen schrieb er. Seinen Familiennamen hätte er nie benutzt. Außerdem hatte John Brown für ihn eine besondere Bedeutung. Er vertrat die Theorie, daß das Land vor einem neuen Bürgerkrieg stände – aber diesmal einem Krieg zwischen Reich und Arm. Er betrachtete die Armen wie weiße Neger und wollte für sie das tun, was John Brown damals für die Sklaven getan hatte. Sie aus der Knechtschaft zum Licht führen, im geistigen Sinn natürlich. Tony war nicht für Gewalttätigkeiten.« »Ich verstehe«, sagte ich, obwohl das alles ziemlich seltsam in meinen Ohren klang. »Woher hat er Ihnen das Gedicht geschickt?« »Die Zeitschrift erschien in San Francisco, von dort schickte sie Tony auch.« »Und das war das einzige Mal, daß Sie von ihm hörten?« »Ja, das einzige Mal.« »Darf ich diese Bilder und die Zeitschrift behalten? Ich werde versuchen, sie Ihnen zurückzugeben.« »Wenn Ihnen damit geholfen wird, Tony zu finden, natürlich.« »Irgend jemand sagte mir, daß er in San Francisco gelebt hat. Haben Sie wohl seine letzte Adresse dort?« »Ich hatte sie, sie wird Ihnen aber nichts nützen.« »Und warum nicht?« »Weil ich selber ein Jahr nach seiner Trennung von zu Hause versuchte, ihn dort aufzufinden. Es war ein elendes altes Mietshaus, das zum Abbruch freigegeben war. Es wurde gerade niedergerissen.« »Haben Sie noch weitere Versuche gemacht, ihn zu finden?« »Ich hätte es gern gewollt, aber ich traute mich nicht. Ich war ja gerade erst siebzehn.« »Und warum gingen Sie nicht zur Schule zurück, Cassie?« -39-
»Ich hatte keine besondere Lust dazu. Es ging Mr. Galton damals nicht sehr gut, und Tante Maria bat mich, bei ihr zu bleiben. Und da sie mich auf die Schule geschickt hatte, konnte ich schließlich nicht gut nein sagen.« »Seitdem sind Sie immer hier gewesen?« »Ja.« Man fühlte den seelischen Druck hinter dieser Bestätigung. Wie auf ein Stichwort erhob Mrs. Galton ihre Stimme im Nebenzimmer: »Cassie, Cassie, bist du drüben? Was tust du denn da?« »Ich muß jetzt gehen«, sagte Cassie. Sie schloß die Tür wieder hinter ihrer Zufluchtsstätte ab und ging mit gesenktem Kopf davon. Wenn ich das über zwanzig Jahre durchmachen müßte, würde ich auf allen vieren kriechen.
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5 Auf der Treppe begegnete ich der Tochter des Arztes. Sie lächelte mich zaghaft an. »Sind Sie der Detektiv?« »Das bin ich. Mein Name ist Archer.« »Ich heiße Sheila Howell. Glauben Sie, daß Sie ihn wiederfinden können?« »Ich werde es jedenfalls versuchen, Miss Howell.« »Das klingt nicht sehr hoffnungsvoll.« »Das sollte es auch nicht sein.« »Aber Sie werden Ihr Bestes versuchen, nicht wahr?« »Ist das denn so wichtig für Sie? Sie sind doch zu jung, um Anthony Galton gekannt zu haben.« »Für Tante Maria ist es aber wichtig.« Aus einer Gefühlsaufwallung fügte sie hinzu: »Sie braucht jemand, der sie wirklich liebt. Ich bemühe mich ja ehrlich, aber ich schaff es einfach nicht.« »Sind Sie denn mit ihr verwandt?« »Nicht richtig. Sie ist meine Patentante. Ich nenne sie nur Tante, weil ihr das Freude macht. Aber ich kann keine richtigen verwandtschaftlichen Gefühle für sie aufbringen.« »Sie wird es Ihnen auch nicht zu leicht machen.« »Nicht absichtlich; sie kann einfach keine Leute behandeln. Es ist zu lange alles nach ihrem Kopf gegangen.« Das Mädchen errötete und preßte die Lippen zusammen. »Ich wollte damit nichts Abfälliges sagen. Was müssen Sie nur von mir denken, daß ich so mit Ihnen rede! Ich wünsche ihr wirklich nur Gutes, trotz allem, was Dad von mir denkt. Und wenn ich ihr wirklich -41-
aus alten Romanen vorlesen soll, werde ich es auch tun.« »Das ist schön von Ihnen… Gibt es hier ein Telefon?« Sie zeigte mir den Apparat unter der Treppe. Es war noch ein uraltes Wandtelefon, und niemand hatte sich je die Mühe gemacht, es gegen einen modernen Apparat auszutauschen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis sich Sable meldete. Schließlich hörte ich, wie am anderen Ende der Leitung der Hörer aufgenommen wurde. Nach ein paar Sekunden vernahm ich seine Stimme. Ich erkannte sie kaum wieder. Sie klang irgendwie verwaschen, fast als habe er geweint. »Gordon Sable«, meldete er sich. »Hier Archer. Sie fuhren fort, ehe wir etwas Endgültiges vereinbaren konnten. In einem derartigen Fall brauchte ich etwas Vorschuß und Geld für Spesen. Mindestens dreihundert.« Es erfolgte ein Knacken und dann ein Surren in der Leitung. Irgend jemand drehte die Wählscheibe. Dann hörte ich eine weibliche Stimme: »Hallo, Amt! Geben Sie mir die Polizei.« »Geh aus der Leitung!« sagte Sable. »Ich rufe die Polizei.« Die Stimme seiner Frau klang schrill und hysterisch. »Ich habe sie schon benachrichtigt. Geh jetzt aus der Leitung, ich habe zu telefonieren.« Ein Hörer wurde wieder aufgelegt. Dann fragte ich: »Sind Sie noch da, Sable?« »Ja. Es hat hier einen Unfall gegeben, wie Sie sicher schon erraten haben.« Er schwieg wieder. Ich konnte seinen Atem hören. »Ist Mrs. Sable verletzt?« »Nein, sie hat aber einen schweren Schock erlitten. Mein Diener Peter wurde erstochen. Ich fürchte, er ist tot.« »Wer hat ihn erstochen?« -42-
»Das ist nicht klar. Aus meiner Frau ist eben nicht viel herauszubekommen. Anscheinend irgendein Landstreicher, der an die Tür kam. Als Peter die Tür öffnete, muß er ihn mit einem Messer angefallen haben.« »Soll ich zu Ihnen herüberkommen?« »Wenn Sie meinen, daß es Zweck hat? Für Peter kommt jede Hilfe zu spät.« »Ich bin in wenigen Minuten bei Ihnen.« Aber ich brauchte länger. Ich kannte mich im Vorort ArroyoPark nicht aus, so bog ich irgendwo falsch ab und verfuhr mich in dem Gewirr der Straßen. Sie sahen alle gleich aus, weiße, graue und ockerfarbige Flachdachhäuser, die über die terrassenförmig ansteigenden Hänge verstreut lagen. Eine Zeitlang fuhr ich im Kreis herum, bis ich schließlich auf einem falschen Hügel herauskam. Die Straße lief in einem Feld aus, auf dem nichts als ein Wasserturm zu sehen war. Ich wendete und hielt an, um mich zu orientieren. Auf einer anderen Anhöhe, eine Meile oder noch weiter rechts von mir, konnte ich ein hellgrünes Dach ausmachen, das wie das mit Arizona-Kies gedeckte Dach von Sables Haus aussah. Rechts von mir zog sich weit unten eine schmale Asphaltstraße wie ein dunkler Bach durch die Talsohle hin. Zwischen der Straße und einer kleinen Gruppe Krüppeleichen züngelten gelbe Flammen auf und verschwanden wieder. Schwarzer Rauch stieg darüber dünn in den stillen, blauen Himmel. Als ich etwas zur Seite rutschte, konnte ich das Widerspiegeln von Sonnenstrahlen auf Metall wahrnehmen. Es war ein Wagen, der im Graben lag und ausbrannte. Ich fuhr die Straße wieder hinunter und bog rechts in die Asphaltstraße ein. In der Ferne hörte ich die Sirene der Feuerwehr. Der Rauch von dem brennenden Wagen stieg höher und hing wie eine Wolke über den Bäumen. Während meine Blicke noch dem Rauch folgten, hätte ich beinahe einen Mann überfahren. -43-
Er kam mit gesenktem Kopf, wie in tiefen Gedanken versunken, auf mich zu. Es war ein kräftiger junger Mann, mit den Schultern eines Bullen. Ich hupte und trat dabei auf die Bremsen. Unbeirrt kam er näher. Sein einer Arm pendelte schlaff von seiner Schulter, von seinen Fingern tropfte es rot herunter. Den anderen Arm hatte er vorne in seine gutgeschnittene Flanelljacke geschoben. Er trat auf mich zu und lehnte sich gegen die Tür meines Wagens. »Können Sie mich ein Stück mitnehmen?« fragte er. Fettige schwarze Locken hingen ihm in die funkelnden schwarzen Augen. Der Blutfleck neben seinem Mund gab ihm ein beinahe obszönes Aussehen, er wirkte wie ein grell geschminktes Mädchen. »Hatten Sie einen Unfall mit Ihrem Wagen?« Er grunzte nur. »Kommen Sie auf die andere Seite, wenn Sie es schaffen.« »Kommt nicht in Frage. Hier steige ich ein.« Auf einmal erkannte ich das Funkeln seiner Augen, was Gewalttätigkeit oder Schlimmeres versprach. Ich griff nach dem Zündschlüssel, aber er kam mir zuvor. Durch das offene Fenster richtete er eine kurze, blaue Waffe auf mich. »Lassen Sie den Schlüssel stecken. Tür auf und raus mit Ihnen.« Der kleine Liebling redete und benahm sich wie ein Professioneller oder wenigstens wie ein begabter Amateur mit Zukunftsaussichten. Ich öffnete die Tür und stieg aus. Er winkte mich von dem Wagen fort. »Jetzt nehmen Sie mal ’n bißchen die Füße in die Hand.« Ich zögerte und erwog meine Chancen, mit ihm fertigzuwerden. Mit der Waffe deutete er auf die Stadt. »Hauen Sie ab, Mann. Sie wollen sich doch nicht mit mir anlegen?« -44-
Ich bewegte meine Füße. Plötzlich brüllte der Motor meines Wagens hinter mir auf. Ich sprang von der Straße. Aber der Lockenkopf bog nur in einen Seitenweg und fuhr in der anderen Richtung davon, weg von den Sirenen. Das Feuer war gelöscht, als ich hinkam. Die Feuerwehrleute rollten ihren Schlauch auf und verstauten ihn an der Seite ihres langen, roten Wagens. Ich lief bis zur Fahrerkabine und fragte den Mann hinterm Steuer: »Haben Sie ein Funksprechgerät?« »Wieso?« »Man hat mir eben meinen Wagen gestohlen. Ich glaube, zuerst hat er diesen hier in den Graben gefahren. Man sollte wohl die Verkehrspolizei benachrichtigen.« »Geben Sie mir die Einzelheiten, ich gebe sie durch.« Ich gab ihm meine Wagennummer und die Angaben über das Auto. Außerdem eine oberflächliche Beschreibung meines kleinen Lockenkopfes. Er gab alles über das Mikrophon weiter. Dann kletterte ich in den Straßengraben, um mir den Wagen zu betrachten, den ich gegen meinen eingehandelt hatte. Es war ein etwa fünf Jahre alter schwarzer Jaguar. Er war von der Straße abgekommen, hatte eine deutliche Bremsspur auf dem Sommerweg hinterlassen und sich dann die Motorhaube an einem Felsblock eingedrückt. Ein Vorderreifen war geplatzt, die Windschutzscheibe war zersplittert, und der Lack hatte durch die Hitze des Feuers Blasen geworfen. Beide Türen waren aufgesprungen. Ich notierte mir die Autonummer und bückte mich, um mir die Steuersäule anzusehen. Das Zulassungsschild fehlte darauf. Ich stieg ein und öffnete den Handschuhkasten. Er war leer. Oben auf der Straße hielt ein weiterer Wagen mit quietschenden Bremsen. Zwei Männer aus dem Büro des Sheriffs sprangen nach beiden Seiten heraus und stürzten in einer doppelten Staubwolke in den Graben. Beide hatten sie eine Waffe in der Hand, und der streng dienstliche Ausdruck auf ihren gebräunten Gesichtern warnte vor jederlei Unsinn. -45-
»Ist das Ihr Wagen?« schnauzte mich der eine an. »Nein.« Ich wollte ihm gerade berichten, was aus meinem geworden war, aber er wollte nichts davon hören. »Raus da! Halten Sie die Hände in Sicht. Schulterhoch!« Ich stieg aus und hatte das Gefühl, dies alles schon einmal erlebt zu haben. Der erste hielt mich jetzt mit der Waffe in Schach, während der andere mir die Taschen durchsuchte. Er war dabei sehr gründlich. Er untersuchte sogar die Staubflocken, die er darin fand. Ich konnte mir eine Bemerkung darüber nicht verkneifen. »Hier gibt es gar nichts zu lachen. Wie heißen Sie?« Die Feuerwehrleute begannen sich langsam um uns zu scharen. Ich war wütend und schwitzte. Also machte ich den Mund auf und gab es ihnen. »Ich bin Kapitän Nemo«, sagte ich. »Ich bin gerade von einem feindlichen U-Boot an Land gesetzt worden. Es wird Ihnen seltsam erscheinen, aber wir treiben unsere U-Boote mit Seegras an. Der Rumpf des Fahrzeugs ist ebenfalls aus hochkomprimiertem Seegras gemacht. Bringen Sie mich sofort zu dem Rat der Ältesten. Es ist keine Zeit zu verlieren.« »Der Kerl ist verrückt«, sagte der erste Beamte. »Ich hatte mir gleich gedacht, daß der Messerstecher verrückt ist. Du hast ja gehört, wie ich’s gesagt habe, Barney.« »Klar.« Barney untersuchte den Inhalt meiner Brieftasche. »Er hat einen Führerschein auf den Namen Archer, West Hollywood. Und er hat auch einen Ausweis als Privatdetektiv auf den gleichen Namen. Der wird sicher gefälscht sein.« »Er ist nicht gefälscht.« Mein Scherz vorhin war mißlungen und hatte mir nur Schwierigkeiten gemacht. »Mein Name ist Archer. Ich bin Privatdetektiv, und zur Zeit arbeite ich für den Rechtsanwalt Mr. Sable.« -46-
»Soso, Sable.« Die beiden Männer tauschten einen bedeutsamen Blick aus. »Gib ihm seine Brieftasche wieder, Barney.« Barney hielt sie mir hin. Ich griff danach. Handschellen schnappten fest um mein Gelenk ein. »Jetzt die andere Hand«, sagte er in besänftigendem Ton. Schließlich war ich ja verrückt. »Kommen Sie, geben Sie die Hand schon her.« Ich zögerte. Aber es hatte keinen Zweck, Widerstand zu leisten, vor allem würde ich mich dadurch ins Unrecht setzen. Im Gegenteil, ich wollte die beiden hineinreißen, sie sollten über ihre eigene Dummheit stolpern und tüchtig auf die Nase fallen. Kampflos hielt ich mein anderes Handgelenk hin. Als ich auf meine gefesselten Hände sah, bemerkte ich einen Blutfleck an einem meiner Finger. »Gehen wir«, sagte der erste Beamte. Er schob meine Brieftasche in eine Seitentasche meines Jacketts. Sie führten mich die Böschung hinauf und schoben mich auf den Rücksitz ihres Wagens. Der Fahrer des Feuerwehrwagens beugte sich aus seiner Kabine. »Paßt gut auf ihn auf, Leute. Das ist ein eiskalter Kunde. Mir hat er eine Geschichte erzählt, daß man ihm seinen Wagen gestohlen hätte. Ich bin prompt darauf reingefallen.« »Wir nicht«, sagte der erste Beamte wieder. »Wie man euch beigebracht hat, Feuer zu löschen, hat man uns geschult, solche Burschen zu durchschauen. Laßt niemand an den Jaguar ran. Am besten stellt ihr eine Wache daneben. Ich schicke einen Mann von uns, sobald ich einen entbehren kann.« »Was hat er denn getan?« »Einen Mann erstochen.« »Mein Gott, und ich hielt ihn für einen harmlosen Passanten.« Der erste Beamte kletterte neben mich auf den Rücksitz. »Ich muß sie warnen, daß alle Ihre Aussagen gegen Sie -47-
benützt werden können. Warum haben Sie das getan?« »Was getan?« »Peter Culligan erstochen.« »Ich habe ihn nicht erstochen.« »Sie haben Blut an der Hand. Woher kommt das?« »Wahrscheinlich vom Jaguar.« »Sie meinen von Ihrem Wagen?« »Es ist nicht mein Wagen.« »Ach nee? Ich habe aber einen Zeugen, der Sie vom Tatort wegfahren sah.« »Das war ich nicht. Das war der Mann, der mir eben meinen Wagen gestohlen hat.« »Erzählen Sie mir keine Märchen. Den Schmus können Sie einem Feuerwehrmann erzählen. Ich bin Polizist.« »War es ’ne Weibergeschichte?« fragte Barney über die Schulter. »Wenn eine Frau dahintersteckt, können wir das verstehen. Verbrechen aus Leidenschaft oder so was. Tja«, fügte er leichthin hinzu, »vielleicht wäre es dann nicht einmal Totschlag. In zwei, drei Jahren könnte er wieder draußen sein. Habe ich recht, Conger?« »Klar«, sagte Conger. »Am besten sagen Sie uns gleich die Wahrheit und bringen es hinter sich.« Das Spiel fing an, mich allmählich zu langweilen. »Es war keine Weibergeschichte. Es war Seegras. Ich habe schon immer viel für Seegras übrig gehabt. Ich streue es mir gerne über mein Essen.« »Und was hat das mit Culligan zu tun?« Vom Vordersitz her sagte Barney: »Ich habe den Eindruck, der ist komplett verrückt.« Conger beugte sich zu mir. »Stimmt das?« »Was?« -48-
»Sind Sie verrückt? Besoffen? Voll Rauschgift?« »Aber sicher. Ich kaue Seegras, damit lade ich meine Düsen auf. Wo ist der nächste Raketenstartplatz?« Conger sah mich mitleidsvoll an. Total verrückt. Aber langsam schlichen sich Zweifel bei ihm ein. Es dämmerte ihm, daß er von mir auf die Schippe genommen wurde. Sehr plötzlich färbte sich sein Gesicht unter der Sonnenbräune dunkelrot. Die rechte Hand auf seinem Knie ballte sich zur Faust. Ich konnte erkennen, wie sich die kräftigen Muskeln unter seinem Uniformhemd strafften. Ich zog das Kinn an und machte mich auf seinen Schlag gefaßt. Aber er schlug nicht zu. Das zeigte mir, daß er doch ein guter Polizist war. Ich begann sogar trotz der Handschellen eine gewisse Sympathie für ihn zu empfinden. Also versuchte ich es noch einmal: »Wie ich Ihnen vorhin erklärt habe, mein Name ist Archer. Ich habe eine Zulassung als Privatdetektiv und war früher Sergeant bei der Polizei von Long Beach. Im kalifornischen Strafrecht haben wir einen Paragraphen über widerrechtliche Festnahme. Halten Sie es nicht für besser, mir diese Armbänder wieder abzunehmen?« Barney meinte von seinem Platz am Steuer: »Ein Winkeladvokat, was?« Conger sagte gar nichts und verharrte eine lange Zeit in gequältem Schweigen. Das ungewohnte Nachdenken schien ihm Mühe zu bereiten, das spiegelte sich deutlich auf seinem groben Gesicht wider. Es beunruhigte ihn wie ein plötzlicher lauter Lärm in der Nacht. Der Wagen bog jetzt von der Hauptstraße ab und fuhr den Berg zu Sables hypermoderner Villa hinauf. Dort stand schon ein zweiter Dienstwagen des Sheriffs, aus dem Sable gerade ausstieg. Ihm folgte ein kräftiger Mann in Zivil. Sable sah blaß und angeschlagen aus. »Sie haben sich Zeit gelassen mit Ihrem Kommen.« Dann fiel sein Blick auf die -49-
Handschellen um meine Gelenke. »Um Gottes willen!« Sein Begleiter trat an ihm vorbei und riß die Wagentür auf. »Was ist denn hier los?« Congers Ratlosigkeit steigerte sich. »Nichts Besonderes, Sheriff. Wir nahmen einen Verdächtigen fest. Er behauptet zwar, er ist Privatdetektiv und arbeitet für Mr. Sable.« Der Sheriff wandte sich an Sable. »Ist das Ihr Mann?« »Selbstverständlich.« Conger entfernte bereits unauffällig die Handschellen, als ob ich so vielleicht vergessen würde, sie je um meine Handgelenke getragen zu haben. Barneys Nacken lief rot an. Er drehte sich nicht um, nicht einmal, als ich aus dem Wagen stieg. Der Sheriff reichte mir die Hand. Er hatte ein ruhiges, wettergegerbtes Gesicht mit lebhaften, hellen Augen. »Mein Name ist Trask. Ich will mich nicht entschuldigen. Wir alle machen Fehler. Manche nur mehr als andere, wie, Conger?« Conger antwortete nicht. »Nachdem wir jetzt alle unseren Spaß gehabt haben«, sagte ich, »könnten Sie vielleicht jetzt die Beschreibung meines Wagens und des Diebes über Sprechfunk durchgeben.« »Von was für einem Dieb reden Sie da?« fragte Trask. Ich berichtete und fügte hinzu: »Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben wollen, Sheriff, vielleicht wäre es ratsam, wenn Sie sich persönlich mit der Verkehrspolizei in Verbindung setzten. Unser Freund ist in Richtung San Francisco losgefahren, er könnte aber später einen Bogen gemacht haben.« »Ich werde es durchgeben.« Ehe Trask zu seinem Funksprechwagen ging, hielt ich ihn noch einen Augenblick zurück. »Noch etwas. Dieser Jaguar sollte von einem Experten überprüft werden. Vielleicht ist er auch gestohlen worden.« »Das wäre möglich. Hoffentlich stimmt das nicht.« -50-
6 Der Tote lag immer noch an der gleichen Stelle, wo er zusammengesunken war, auf dem blutbespritzten Gras, etwa fünf Schritte von der Haustür entfernt. Der untere Teil seiner weißen Jacke war rot befleckt. Er lag mit dem Gesicht nach oben; es war grau und ausdruckslos, wie die steinernen Gesichter auf Grabmälern. Ein Techniker des Sheriffbüros war dabei, mit einer Stativkamera Aufnahmen von ihm zu machen. Er war weißhaarig und hatte eine lange, neugierige Nase. Ich wartete, bis er seine Kamera herumrückte. »Haben Sie was dagegen, wenn ich ihn mir einmal ansehe?« »Solange Sie ihn nicht berühren, bitte. Ich bin gleich fertig hier.« Als er seine Arbeit beendet hatte, beugte ich mich über den Toten. Er hatte eine einzige tiefe Stichwunde im Leib. Die rechte Hand zeigte Schnittwunden in der Handfläche und innen an den gekrümmten Fingern. Die Mordwaffe, ein Messer mit einer etwa zwölf Zentimeter langen blutverschmierten Klinge, lag zwischen dem Körper und dem ausgestreckten rechten Arm des Toten im Gras. Ich griff nach seiner Hand – sie war noch warm und schlaff. Als ich sie herumdrehte, entdeckte ich, daß die Haut über seinen tätowierten Knöcheln abgeschrammt war. »Er hat sich verzweifelt gewehrt«, sagte ich. Der Kriminalbeamte hockte sich neben mich. »Ja. Vorsicht mit den Fingernägeln. Er hat irgend etwas darunter, vielleicht Hautfetzen. Haben Sie die Tätowierung gesehen?« -51-
»Die kann man wohl kaum übersehen.« »Ich meine die hier.« Er nahm die Hand und deutete auf vier Punkte, die in einem winzigen Rechteck zwischen Daumen und Zeigefinger angeordnet waren. »Ein Bandenmerkmal. Später hat er es durch eine gewöhnliche Tätowierung überdecken lassen. Das tun viele von ihnen. Bei den Leuten, die wir so aufgreifen, bekommt man das häufig zu sehen.« »Und wissen Sie auch, um was für eine Bande es sich handelt?« »Nein. Sie müssen aus Sacramento oder San Francisco kommen. Bei den nordkalifornischen kenne ich mich nicht aus. Ob Rechtsanwalt Sable wohl wußte, daß er ein altes Bandenmitglied bei sich im Haus aufgenommen hatte?« »Wir können ihn ja mal fragen.« Die Haustür stand offen. Ich trat ins Haus und fand Sable im vorderen Salon. Er deutete mit schlaffer Geste auf einen Sessel. »Setzen Sie sich, Archer. Es tut mir leid, was die da mit Ihnen angestellt haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was die sich bei der Geschichte gedacht haben.« »Amtlicher Übereifer. Reden wir nicht mehr davon. Zu Anfang sah alles ja ziemlich trübe aus, aber die Leute hier scheinen ihr Handwerk zu verstehen.« »Hoffentlich«, sagte er, aber es klang nicht sehr hoffnungsvoll. »Was wissen Sie eigentlich von Ihrem toten Diener?« »Nicht sehr viel, fürchte ich. Er arbeitete erst seit ein paar Monaten für mich. Ursprünglich hatte ich ihn für meine Jacht eingestellt. Er lebte an Bord, bis ich sie verkaufte. Dann kam er hierher. Er hatte kein Zuhause, und er verlangte nicht viel. Im Haus war Peter nicht sehr brauchbar, wie Sie selber wohl bemerkt haben. Aber für uns auf dem Land ist es schwer, Hilfe zu bekommen, und da er sehr willig war, behielt ich ihn eben.« -52-
»Woher kommt er denn, und was hat er früher getan?« »Sehr seßhaft kann er nicht gewesen sein. Er hatte schon in verschiedenen Berufen gearbeitet, als Schiffskoch, Hafenarbeiter und als Maler.« »Und wie sind Sie an ihn geraten? Durch eine Stellenvermittlung?« »Nein. Ich habe ihn am Hafen unten aufgelesen. Ich glaube, er hatte gerade von einem Fischerboot abgeheuert. Ich war dabei, Messing zu polieren und das Deck zu lackieren. Da bot er mir seine Hilfe für einen Dollar die Stunde an. Und nachdem er wirklich ordentliche Arbeit geleistet hatte, stellte ich ihn ein. Übrigens hat er immer anständig gearbeitet.« Zwischen Sables Augenbrauen trat eine schmerzliche Falte. Er mußte den Toten wohl ganz gerne gehabt haben. Ich zögerte, ehe ich meine nächste Frage stellte. »Ob Culligan wohl vorbestraft war?« Die Falte auf seiner Stirn vertiefte sich. »Du liebe Güte, nein! Ich habe ihm mein Boot und mein Haus anvertraut. Wie kommen Sie auf eine solche Frage?« »Aus zwei Gründen. Er hat eine Tätowierung an der Hand. Vier kleine schwarze Punkte am Rande eines blauen Ankers. Es ist bekannt, daß Gangster oder Rauschgiftsüchtige diese Zeichen tragen. Außerdem sieht mir das Ganze sehr nach einem Bandenmord aus. Der Mann, der mir den Wagen wegnahm, war mit Sicherheit der Mörder, und er zeigt alle Merkmale eines Professionellen.« Sable blickte auf den polierten Terrazzoboden zu seinen Füßen. »Sie glauben also, daß Peter mit Verbrechern in Verbindung stand?« »In Verbindung stand, ist milde ausgedrückt. Schließlich ist er tot.« »Das weiß ich«, sagte Sable mit etwas schriller Stimme. -53-
»Kam er Ihnen in letzter Zeit etwas nervös vor? Schien er sich vor etwas zu fürchten?« »Wenn es so war, habe ich nichts davon gemerkt. Er war nicht sehr mitteilsam, was seine Person anging.« »Pflegte er manchmal Besuch zu bekommen, bis auf diesen letzten, meine ich?« »Nie. Jedenfalls nicht soweit ich weiß. Er war ein Einzelgänger.« »Ob er seine Stellung hier bei Ihnen vielleicht als Versteck benutzt hat?« »Ich weiß nicht. Es ist schwer zu sagen.« Vor dem Hause wurde ein Motor angelassen. Sable stand auf, trat an die Fensterfront und schob die Gardinen beiseite. Ich blickte ihm über die Schulter. Ein schwarzer geschlossener Wagen fuhr vor dem Hause ab und den Hügel hinunter. »Wenn ich es recht überlege«, sagte Sable, »hat er sich zweifellos von der Öffentlichkeit ferngehalten. Er wollte mich nie chauffieren, da er, wie er sagte, kein Glück mit Autos hätte. Aber vielleicht wollte er auch nur vermeiden, in der Stadt gesehen zu werden. Er fuhr nie hinunter.« »Aber jetzt ist er auf dem Wege dorthin«, sagte ich. »Wie viele Leute wußten, daß er hier oben bei Ihnen war?« »Nur meine Frau und ich, und Sie, selbstverständlich. Im Augenblick wüßte ich niemand anderen.« »Hatten Sie Gäste aus der Stadt hier oben?« »Nicht während der letzten Monate. Mit Alice war es mal so, mal so. Das war mit ein Grund, warum ich Peter hier mit hernahm. Unsere Haushälterin hatte gekündigt, und ich wollte nicht, daß Alice den ganzen Tag so alleine sei.« »Wie geht es Ihrer Frau denn jetzt?« »Leider nicht besonders.« -54-
»Hat sie gesehen, wie es geschah?« »Ich glaube nicht. Aber sie hatte den Kampf gehört und sah den Wagen wegfahren. Darum rief sie mich gleich an. Als ich ankam, saß sie halb ohnmächtig auf der Türschwelle. Ich kann gar nicht sagen, was für Folgen das für ihren Gemütszustand haben kann.« »Ob ich wohl einmal mit ihr sprechen könnte?« »Bitte jetzt nicht. Ich habe schon mit Dr. Howell telefoniert und ihr auf seine Anordnung hin ein Beruhigungsmittel gegeben. Der Sheriff ist einverstanden, sie im Moment noch nicht zu vernehmen. Es gibt schließlich Grenzen für das, was ein Mensch ertragen kann.« Sables Worte schienen auch auf ihn selber zuzutreffen. Mit hängenden Schultern wandte er sich vom Fenster ab. In dem harten Sonnenlicht sah sein Gesicht bleich und gedunsen aus. In Mordfällen gibt es gewöhnlich mehr als nur ein Opfer. Sable mußte meine Gedanken erraten haben. »Die Geschichte hat mich ziemlich umgeworfen. Alice und ich können unmöglich etwas damit zu tun haben, und doch geht sie mir schrecklich nahe. Peter gehörte zum Haus. Ich glaube, er war uns treu ergeben, und nun mußte er vor unserer Haustür sterben. Man sollte es sich öfter vor Augen halten.« »Was?« »Timor mortis«, sagte er. »Todesangst.« »Sie sagten eben, Culligan gehörte zum Haus. Also wohnte er auch vermutlich bei Ihnen?« »Ja, selbstverständlich.« »Ich würde mich gerne in seinem Zimmer umsehen.« Er führte mich über den Hof, durch einen Abstellraum in ein rückwärtig gelegenes Schlafzimmer. Das Zimmer war nur mit einem Bett, einer Kommode, einem Stuhl und einer Leselampe ausgestattet. -55-
»Ich sehe nur schnell nach Alice«, sagte Sable und ließ mich alleine. Ich durchsuchte Peter Culligans dürftige Habseligkeiten. Im Wandschrank hing eine blaue Arbeitshose, einige Arbeitshemden, Stiefel und ein billiger blauer Anzug, der aus einem Warenhaus in San Francisco stammte. In der Brusttasche des Jacketts fand ich einen alten Fahrschein einer Hafenfähre. Auf der Kommode lagen ein schmutziger Kamm und ein Rasierapparat. Die Schubladen waren so gut wie leer; zwei weiße Hemden, eine speckige blaue Krawatte, ein Unterhemd, eine geblümte Unterhose, Socken, Taschentücher und eine Schachtel mit hundert Patronen für eine achtunddreißiger Pistole. Es waren keine hundert mehr darin, die Schachtel war nicht mehr ganz voll. Eine Waffe konnte ich aber nicht finden. Unter dem Bett stand Culligans Koffer. Es war ein abgewetztes altes Ding aus Leinwand, von ein paar Riemen zusammengehalten und sah aus, als sei es auf jeder Bushaltestelle zwischen Seattle und San Diego herumgepufft worden. Ich löste die Riemen. Das Schloß war kaputt und öffnete sich von selbst. Ein Geruch von Tabak, Seewasser und Schweiß stieg mir in die Nase, die typischen, undefinierbaren Gerüche männlicher Einsamkeit. Der Koffer enthielt ein graues Flanellhemd, einen groben blauen Rollkragenpullover und andere derbere Arbeitskleider. An einem Fischermesser mit breiter Klinge klebten noch Fischschuppen wie verblaßte Verzierungen auf dem Korkgriff. Eine zerknitterte alte Smokingjacke war anscheinend als Erinnerung an bessere Tage aufbewahrt worden. Ein 1944 in San Francisco ausgestellter Mitgliedsausweis wies darauf hin, daß Culligan ein zahlendes Mitglied der inzwischen aufgelösten Gewerkschaft der Schiffsköche gewesen war. Dann fand ich noch einen Brief, adressiert an Mr. Peter Culligan, Postlagernd, Reno, Nevada. Also hatte Culligan doch nicht sein ganzes Leben als Einzelgänger verbracht. Eine -56-
ungelenke Hand hatte Folgendes auf rosa Papier geschrieben: Lieber Pete, ich sollte Dich gar nicht so anreden, nach allem, was Du mir angetan hast. Aber das ist vorbei und vergessen, und so soll es auch bleiben. Ich hoffe, Du verstehst, was ich damit meine. Aber da Du nie in Deinem Leben eine Tatsache richtig begreifen konntest, ehe man sie Dir nicht um beide Ohren geschlagen hatte, will ich es noch einmal klipp und klar aussprechen. Nein, ich liebe Dich nicht mehr. Wenn ich an die Vergangenheit zurückdenke, begreife ich nicht, wie ich Dich überhaupt jemals habe lieben können. Ich war wohl mehr verschossen in Dich. Wenn ich an all das Schwere denke, was ich Dir zu verdanken habe, die Stellungen, die Du verloren hast, Deine Schlägereien, das Saufen und alles andere! Du hast mich niemals geliebt, also versuche nur nicht, mir etwas vorzumachen. Denke nicht, daß ich dem Geschehenen noch eine Träne nachweine. Es war meine eigene Dummheit, daß ich so lange bei Dir aushielt, denn oft genug bin ich ja gewarnt worden. Ich muß schon sagen, Du hast wirklich Nerven, an mich zu schreiben. Ich weiß nicht, wie Du an meine Adresse gekommen bist. Höchstwahrscheinlich durch einen Deiner miesen Freunde von der Polizei. Aber die jagen mir keine Angst ein. Ich bin glücklich verheiratet und habe einen wirklich guten Mann. Er weiß, daß ich schon einmal verheiratet war, aber von Dir weiß er nichts. Wenn Du noch einen Funken Anstand in Dir hast, laß mich zufrieden und schreibe auch nicht mehr. Mach mir keinen Ärger, ich warne Dich. Sonst könnte ich Dir vielleicht Ärger machen, und zwar doppelt und dreifach. Ich möchte Dich nur an L. Bay erinnern! Ich wünsche Dir viel Erfolg zu Deinem neuen Leben. (Hoffentlich verdienst Du wirklich soviel Geld, wie Du schreibst.) Marian -57-
Ich heiße jetzt Mrs. Ronald S. Matheson – vergiß das nicht! Ich soll zu Dir zurückkommen? Den Gedanken kannst Du aufgeben. Ronald ist ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Ich will Dir das nicht unter die Nase reiben, aber Du hast mich wirklich ganz schön durch die Mangel gedreht, wie Du selber wohl am besten weißt. Ich trage Dir nichts weiter nach, aber laß mich bitte jetzt in Ruhe. Der Brief trug keinen Absender, war aber in San Mateo, Kalifornien, abgestempelt. Das Datum konnte man nicht entziffern. Ich legte alles wieder zurück, machte den Koffer zu und schubste ihn unters Bett. Dann ging ich in den Hof zurück. Von irgendwoher hörte ich ein Stöhnen, es konnte eine Frau oder ein Tier sein. Sable schien schon auf mich gewartet zu haben. Als er die Schiebetür öffnete, wurde der Laut stärker und wieder gedämpfter, als er sie hinter sich schloß. Er kam auf mich zu; das Blattwerk spiegelte grüne Laubschatten auf seinem Gesicht wider. »Haben Sie irgend etwas Interessantes gefunden?« »Er hatte eine Schachtel mit Pistolenmunition in seiner Schublade. Die Waffe selber habe ich nicht gefunden.« »Ich wußte nicht, daß Peter eine Waffe besaß.« »Vielleicht hat er sie verkauft. Es wäre auch möglich, daß der Mörder sie ihm abgenommen hat.« »Sonst noch etwas?« »Einen Hinweis auf seine geschiedene Frau, falls Sie wollen, daß ich seinem Vorleben nachgehen soll.« »Das können wir der Polizei überlassen. Trask ist sehr tüchtig und zudem noch ein alter Freund von mir. Ich kann Sie jetzt nicht vom Fall Galton wegnehmen.« »Der Fall Galton ist aber nicht sehr dringend.« -58-
»Möglicherweise nicht. Trotzdem möchte ich, daß Sie ihn sich jetzt vornehmen. Konnte Cassie Hildreth Ihnen etwas Wissenswertes berichten?« »Nicht viel. Tja, hier gibt es für mich nicht mehr viel zu tun. Ich wollte eigentlich nach San Francisco fahren.« »Nehmen Sie das Flugzeug. Ich habe schon einen Scheck für zweihundert Dollar ausgeschrieben, die restlichen hundert gebe ich Ihnen in bar.« Er reichte mir den Scheck und das Geld. »Wenn Sie mehr brauchen, können Sie es mir getrost sagen.« »Das werde ich nicht, aber ich fürchte, es ist zum Fenster hinausgeworfenes Geld.« Sable zuckte die Achseln. Er hatte schlimmere Probleme. Das Stöhnen hinter der Glastür wurde lauter und steigerte sich zu einem schrillen Geschrei, das mir beinahe das Trommelfell zerriß.
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7 Nichts ist mir mehr zuwider als Zufälle. Darum versuchte ich an Bord des Flugzeugs eine Stunde lang dahinterzukommen, ob zwischen dem Verlust von Maria Galtons Sohn und Peter Culligans Leben ein Zusammenhang bestehen könnte. Erst nachdem ich die Sache als hoffnungslos aufgegeben hatte, kam mir ein blasser Schimmer. Ich hatte die kleine Zeitschrift Chisel, die Cassie Hildreth mir gegeben hatte, noch einmal zur Hand genommen und blätterte durch die abgegriffenen Seiten. Im Impressum wurde ein gewisser Chad Boiling als Herausgeber und Redakteur genannt. Das Heft enthielt auch ein Gedicht von ihm mit dem Titel ›Elegie auf den Tod von Bix Beiderbecke‹. Darin stand, ein untröstliches Horn würde Eurydike aus dem rauchgeschwängerten Keller des alten Pluto wieder ans Tageslicht locken. Das Gedicht gefiel mir bedeutend besser als das über Luna. Ich las auch Anthony Galtons Gedicht noch einmal. Ob er mit Luna seine Frau gemeint hatte? Und plötzlich fiel der Groschen. Südlich von San Francisco gab es eine Stadt, die Luna Bay hieß. Hier vom Flugzeug aus, ein paar tausend Fuß über der Halbinsel, hätte ich praktisch draufspucken können. Und Culligans frühere Frau hatte L. Bay in ihrem Brief an ihn erwähnt. Als das Flugzeug auf dem International Airport gelandet war, suchte ich sofort nach einer Telefonzelle. Die Frau hatte sich selber als Mrs. Ronald S. Matheson bezeichnet, und der Umschlag war in San Mateo abgestempelt worden. Nach so langer Zeit erwartete ich bestimmt auf den ersten -60-
Anhieb kein positives Ergebnis, aber da stand der Name im Telefonbuch: Ronald S. Matheson, 780 Sherwood Drive, Redwood City. Ich wählte die angegebene Nummer. Eine Kinderstimme meldete sich mit: »Hallo?« »Ist Mrs. Matheson zu sprechen?« »Einen Augenblick, bitte. Mummy! Telefon!« An Stelle der Kinderstimme meldete sich jetzt eine Frau. Ihre Stimme klang kühl, sicher und zurückhaltend. »Hier Marian Matheson. Wer spricht, bitte?« »Mein Name ist Archer. Sie werden mich nicht kennen.« »Nein, ich kann mich nicht erinnern.« »Sagt Ihnen der Name Culligan etwas?« Erst nach einer langen Pause antwortete sie: »Bitte wollen Sie den Namen noch einmal wiederholen – ich habe nicht…» »Culligan«, sagte ich. »Peter Culligan.« »Und was ist mit ihm?« »Sie kannten ihn doch?« »Vielleicht, vor langer Zeit einmal. Und wennschon.« »Wir wollen uns nichts vormachen, Mrs. Matheson. Ich habe ein paar Informationen über ihn, die Sie interessieren sollten.« »Tun sie nicht. Jedenfalls nicht, wenn Sie im Auftrag von Peter Culligan sprechen.« Ihre Stimme klang jetzt tiefer und schroffer. »Ich will nichts mehr von ihm wissen, und er soll mich in Frieden lassen. Das können Sie ihm von mir ausrichten.« »Das geht leider nicht mehr.« »Und warum nicht?« »Weil er nicht mehr am Leben ist.« »Er ist tot?« »Ja. Ermordet. Ich bin mit der Aufklärung des Falls -61-
beschäftigt.« Gerade in diesem Augenblick hatte ich mich dazu entschlossen. »Ich würde mich gerne mit Ihnen über die Umstände seines Todes unterhalten.« »Mit mir? Ja aber, wieso denn? Ich habe nichts damit zu tun, ich wußte ja nicht einmal, daß er tot war.« »Das ist mir bekannt. Das ist mit ein Grund, warum ich anrufe.« »Wer hat ihn denn ermordet?« »Das werde ich Ihnen gleich sagen, wenn wir uns treffen.« »Wer sagt Ihnen denn, daß ich Sie treffen werde?« Ich wartete. »Wo sind Sie jetzt?« fragte ihre Stimme. »Auf dem Flughafen von San Francisco.« »Nun ja, wenn es dann unbedingt sein muß, werde ich rauskommen. Ich möchte Sie nicht zu Hause empfangen. Mein Mann…« »Ich verstehe. Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie überhaupt kommen wollen. Ich werde im Erfrischungsraum auf Sie warten.« »Sind Sie in Uniform?« »Im Augenblick nicht.« Schon seit zehn Jahren nicht mehr, ich ließ sie aber im Glauben, ich sei von der Polizei. »Ich habe einen grauen Anzug an. Wir werden uns schon nicht verfehlen. Ich werde mir einen Platz am Fenster, nahe am Eingang suchen.« »In fünfzehn Minuten bin ich dort. Archer war der Name?« »Ja, Archer.« Sie brauchte fünfundzwanzig Minuten. Ich betrachtete unterdessen die großen anfliegenden Flugzeuge, die ihre Spätnachmittagsschatten über die Landebahnen zogen. Schließlich trat eine Frau in einem dunklen Tuchmantel in das -62-
Restaurant. Sie blieb bei der Tür stehen und blickte umher. Dann fiel ihr Auge auf mich. Sie kam auf meinen Tisch zu, die blanke Ledertasche so fest an sich gepreßt, als sei sie ein Wahrzeichen der Ehrbarkeit. Ich stand auf, sie zu begrüßen. »Mrs. Matheson?« Sie nickte und setzte sich schnell hin, als fürchte sie, aufzufallen. Sie war eine alltäglich aussehende Frau, ordentlich gekleidet und hatte die Vierzig bereits überschritten. Durch ihr sorgfältig gewelltes Haar zogen sich ein paar graue Fäden. In jüngeren Jahren mußte sie trotz einer gewissen Grobknochigkeit recht hübsch gewesen sein. Unter günstiger Beleuchtung und den entsprechenden Umständen konnte sie vielleicht auch jetzt noch gut aussehen. Das Schönste an ihrem Gesicht waren die schwarzen Augen, die jetzt aber hart und gespannt blickten. »Eigentlich wollte ich gar nicht kommen. Nun, hier bin ich trotzdem.« »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« »Nein, vielen Dank. Sie haben schlechte Nachrichten für mich. Machen Sie’s kurz. Ich werd’s mit Fassung tragen.« Ich berichtete ihr die Tatsachen, ohne etwas Wesentliches auszulassen. Beim Zuhören spielte sie mit ihrem Ehering und drehte ihn um und um. »Armer Kerl«, sagte sie schließlich, als ich geendet hatte. »Warum mußte das nur so kommen!« »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir vielleicht bei der Antwort helfen.« »Sie sagten, Sie sind nicht von der Polizei?« »Nein. Ich bin Privatdetektiv.« »Ich verstehe nicht, warum Sie zu mir kommen. Wir sind seit fünfzehn Jahren geschieden, und seit zehn Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen. Er wollte zu mir zurückkommen. -63-
Wahrscheinlich war er es inzwischen müde geworden, sich ganz alleine durchzuschlagen. Aber ich wollte nichts davon hören. Ich bin jetzt glücklich verheiratet, mit einem guten Mann…« »Wann haben Sie das letztemal von Culligan gehört?« »Etwa vor einem Jahr. Er schrieb mir aus Reno. Anscheinend hatte er einen Glückstreffer gemacht. Er schrieb, daß er mir jetzt alles geben könnte, was ich mir wünschte, ich solle nur zu ihm zurückkommen. Peter hatte immer den Kopf voller Hirngespinste. In der ersten Zeit unserer Ehe glaubte ich noch an seine Pläne. Aber sie zerschlugen sich alle, einer nach dem anderen. Es dauerte Jahre, bis ich ihm auf die Sprünge kam.« »Was hatte er denn für Pläne?« »Riesengroße, aus denen natürlich nie was wurde. Er wollte mal eine Kette von Restaurants eröffnen, in denen Gerichte aus aller Welt serviert werden sollten. Dazu wollte er die besten Küchenchefs engagieren, Franzosen, Chinesen, Armenier und so weiter. Damals arbeitete er selber als Koch für Schnellgerichte auf der unteren Market Street. Das nächste Mal hatte er sich ein todsicheres System ausgeklügelt, um beim Pferderennen zu gewinnen. Jeden Cent, den wir besaßen, trug er zum Rennen, um seine Theorie zu beweisen. Selbst unsere Möbel wurden versetzt. Ich mußte einen ganzen Winter schuften, um unsere Schulden abzubezahlen.« In ihrer Stimme klang der ganze aufgespeicherte Zorn mit, der nun endlich ein Ventil gefunden hatte. »Das war Peters Vorstellung von Flitterwochen: ich konnte arbeiten, während er das Geld bei Pferderennen verlor.« »Wieso sind Sie nur auf ihn reingefallen?« »Ich hatte wohl romantische Flausen im Kopf. Ich bildete mir ein, ich könnte ihm einen Halt geben und einen Mann aus ihm machen. Ich dachte, alles was er brauchte, sei die Liebe einer ordentlichen Frau. Die allerbeste war ich auch nicht, das behaupte ich gar nicht, aber doch noch besser als er.« »Wo lernten Sie sich kennen?« -64-
»Im San-Francisco-Hospital, wo ich damals arbeitete. Ich war Hilfsschwester, und Peter lag auf meiner Station mit einer gebrochenen Nase und ein paar angeknackten Rippen. Er war bei einem Bandenkampf zusammengeschlagen worden.« »Einem Bandenkampf?« »Mehr weiß ich nicht darüber. Peter sagte nur, er sei in eine Schlägerei am Hafen geraten. Das hätte mir schon zur Warnung dienen sollen, als er aber aus dem Krankenhaus entlassen wurde, trafen wir uns ab und zu. Er war jung und sah gut aus, und, wie ich schon sagte, ich dachte, er hätte das Zeug zu einem richtigen Mann in sich. Also heiratete ich ihn. Das war der größte Fehler meines Lebens, dabei habe ich mich schon paarmal ganz schön in die Nesseln gesetzt.« »Und wie lange ist das her?« »Das war 1936. Damit verrate ich mein Alter, wie? Aber damals war ich erst einundzwanzig.« Sie schwieg und sah zu mir auf. »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Nie im Leben habe ich einer Menschenseele was davon gesagt. Ich sollte besser den Mund halten.« »Ich hoffe, Sie können mir etwas sagen, was mir weiterhilft. War Ihr Ehemann ein hemmungsloser Spieler?« »Bitte nennen Sie ihn nicht so. Ich habe Pete Culligan zwar geheiratet, aber ein Ehemann war er für mich nie.« Sie hob den Kopf. »Jetzt habe ich einen wirklichen Ehemann. Übrigens erwartet er von mir, daß ich zu Hause bin und ihm sein Abendessen mache.« Sie machte Anstalten, aufzustehen. »Haben Sie nicht noch ein paar Minuten für mich, Mrs. Matheson? Ich habe Ihnen auch alles gesagt, was ich über Peter Culligan weiß…« Sie lachte kurz auf. »Wenn ich Ihnen alles sagen wollte, was ich über ihn weiß, könnte ich die ganze Nacht lang reden. Also gut, noch ein paar Minuten, wenn Sie mir versprechen, daß -65-
nichts davon an die Öffentlichkeit kommt. Mein Mann und ich, wir müssen auf unsere Stellung Rücksicht nehmen. Ich bin Mitglied des Frauenvereins.« »Nichts wird davon öffentlich bekannt werden. War Culligan ein Spieler?« »Soweit er sich das leisten konnte, aber er war immer nur ein kleiner Fisch.« »Jetzt noch einmal zu dem Glückstreffer, mit dem er in Reno angeblich zu Geld gekommen sein wollte. Schrieb er Ihnen, um was es sich dabei handelte?« »Kein Wort. Aber ich glaube nicht, daß er im Spiel gewonnen hat. Soviel Glück hatte er nie.« »Haben Sie seinen Brief noch?« »Was denken Sie denn? Selbstverständlich habe ich ihn am gleichen Tag verbrannt, an dem ich ihn bekam.« »Warum?« »Weil ich ihn nicht im Hause haben wollte. Er kam mir vor wie Schmutz, der mir ins Haus getragen wurde.« »War Culligan ein Gauner? Oder ein Betrüger?« »Das hängt davon ab, was Sie darunter verstehen.« Ihre Augen waren wachsam. »Tat er irgend etwas Gesetzwidriges?« »Ich nehme an, das tut jeder von Zeit zu Zeit mal.« »Wurde er jemals verhaftet?« »Ja. Meistens wegen Trunkenheit oder Ruhestörung. Aber nie etwas Ernsthaftes.« »Trug er eine Waffe bei sich?« »Damals nicht… Ich meine, als wir noch zusammenlebten. Das hätte ich nie zugelassen.« »Es war also einmal davon die Rede?« »Das habe ich nicht gesagt.« Sie begann auszuweichen. »Ich -66-
wollte sagen, ich hätte es nicht geduldet, auch wenn er es gewollt hätte.« »Hatte er denn eine Waffe?« »Das weiß ich nicht«, antwortete sie verschlossen und abweisend. Ich hatte ihr Vertrauen fast verloren. Sie sprach nicht mehr offen und bereitwillig. Darum konnte ich ihr auch jetzt ruhig die Frage vorlegen, auf die ich ohnehin keine Antwort erwartete. Aber vielleicht konnte ich etwas aus ihrer Reaktion erraten. »Sie erwähnten in Ihrem Brief an Culligan eine L. Bay. Was ist dort vorgefallen?« Ihre Lippen preßten sich zu einem blassen Strich zusammen. Die dunklen Augen schienen in ihre Höhlen zurückzusinken. »Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen.« Ihre Zungenspitze fuhr über die Oberlippe, dann versuchte sie es noch einmal: »Was soll ich in meinem Brief geschrieben haben? Etwas von einer Bay? Daran kann ich mich nicht erinnern.« »Aber ich, Mrs. Matheson.« Ich zitierte: »›Sonst könnte ich Dir vielleicht Ärger machen, und zwar doppelt und dreifach. Ich möchte Dich nur an L. Bay erinnern.‹« »Falls ich das geschrieben haben sollte, weiß ich jetzt nicht mehr, was ich damit gemeint habe.« »Etwa fünfundzwanzig oder dreißig Meilen von hier liegt ein Ort namens Luna Bay.« »Ach«, erwiderte sie nur dumpf. »Sie kennen den Ort. Was hat Peter Culligan dort gemacht?« »Ich kann mich nicht erinnern. Bestimmt eine seiner üblichen Gemeinheiten, mit denen er mir das Leben schwer machte.« Sie konnte nur schlecht lügen, wie die meisten anständigen Menschen. »Ist es denn so wichtig?« »Für Sie scheint es wichtig zu sein. Haben Sie und Pete in Luna Bay gelebt?« -67-
»Vielleicht könnte man es leben nennen. Ich hatte dort eine Stellung als Privatpflegerin.« »Wann?« »Vor langer Zeit. An das Jahr kann ich mich nicht mehr erinnern.« »Für wen arbeiteten Sie?« »Ach, irgendwelche Leute. An ihre Namen kann ich mich nicht mehr erinnern.« Sie beugte sich eindringlich zu mir vor, ihre Augen funkelten wie geschliffene schwarze Kiesel. »Haben Sie den Brief bei sich?« »Nein, ich ließ ihn da, wo ich ihn fand. In Culligans Koffer in dem Haus, in dem er arbeitete. Warum?« »Ich will ihn zurückhaben. Ich habe ihn geschrieben, und er gehört mir.« »Da müssen Sie sich wohl an die Polizei wenden. Wahrscheinlich hat die ihn jetzt.« »Wird die Polizei auch hierherkommen?« Sie blickte hinter sich und sah sich nach allen Seiten in dem dicht gefüllten Restaurant um, als ob sie befürchtete, einen Polizisten auf sich zukommen zu sehen. »Das hängt davon ab, wie bald sie den Mörder fassen. Vielleicht haben sie ihn bereits. Dann werden sie Nebensächlichkeiten nicht mehr weiter nachgehen. Haben Sie eine Vermutung, wer als Täter in Frage kommt?« »Wie sollte ich? Ich habe Pete seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Das sagte ich Ihnen doch schon.« »Was ist in Luna Bay passiert?« »Können Sie nicht eine andere Platte auflegen? Wenn dort irgend etwas passiert ist, woran ich mich nicht erinnere, ging es ausschließlich um mich und Pete. Mit anderen Leuten hatte es nichts zu tun, verstehen Sie?« Ich hatte sie unter Druck gesetzt, und sie reagierte darauf. Ihre -68-
Stimme klang verändert, und der Ausdruck ihres Gesichts hatte gewechselt. Ich hatte an tiefliegende Erlebnisse gerührt, und eine härtere Persönlichkeit trat zutage. Sie mußte es selber gespürt haben. Mit beiden Händen zog sie plötzlich ihre Handtasche an sich – eine schöne Tasche, aus echtem Eidechsenleder. Im Gegensatz dazu waren ihre Hände rauh, die Knöchel geschwollen und von Jahren der Arbeit gezeichnet. Sie sah zu mir auf, flackernde Angst in den Augen. Sie fürchtete sich vor mir, traute sich aber ebensowenig, mich zu verlassen. »Mrs. Matheson. Peter Culligan wurde heute ermordet…« »Erwarten Sie, daß ich darüber in Tränen ausbrechen soll?« »Ich erwarte von Ihnen, daß Sie mir jede Information geben, die dazu beitragen kann, seinen Tod aufzuklären.« »Das habe ich schon getan. Und jetzt lassen Sie mich endlich in Ruhe. Ich lasse mich nicht von Ihnen in einen Mord verwickeln, Mister. O nein! Nicht in einen Mord!« »Haben Sie je von einem Mann namens Anthony Galton gehört?« »Nein.« »Oder John Brown?« »Nein.« Ich konnte ihr genau ansehen, wie sie mit erbitterter Energie ihre Willenskraft zusammenraffte. Und schließlich gelang es ihr, aufzustehen und fortzugehen und mich und meine Fragen und ihre Angst zurückzulassen.
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8 Ich ging in die Telefonzelle zurück und suchte im Telefonbuch nach dem Namen Chad Boiling. Nach über zwanzig Jahren rechnete ich nicht damit, ihn zu finden, aber mein Glück verließ mich noch nicht. Boiling wohnte am Telegraph Hill und hatte Telefon. Ich wählte seine Nummer. Eine weibliche Stimme meldete sich: »Hier bei Boiling.« »Ist Mr. Boiling zu sprechen?« »Weshalb?« fragte sie schroff. »Es handelt sich um die Veröffentlichung eines Gedichtes in einer Zeitschrift. Mein Name ist Archer«, fügte ich hinzu und versuchte so wie ein wohlhabender Verleger zu klingen. »Ah so.« Ihr Ton klang milder. »Ich weiß nicht, wo Chad im Augenblick ist, und ich fürchte, daß er zum Abendessen nicht nach Hause kommt. Ich weiß aber, daß er später am Abend im ›Listening Ear‹ ist.« »Im ›Listening Ear‹?« »Das ist ein neuer Nachtclub. Chad hält heute abend dort eine Lesung. Wenn Sie sich für Dichtung interessieren, sollten Sie das auf keinen Fall versäumen.« »Um welche Zeit fängt es an?« »Ich glaube um zehn.« Ich mietete mir einen Wagen und fuhr damit über die Bayshore in die Stadt, wo ich ihn in dem Parkhaus unter dem Union Square abstellte. Über den beleuchteten Türmen der Hotels hatte sich das Zwielicht zur Dunkelheit verdichtet. Eine feuchte Kühle war vom Meer her aufgestiegen, ich konnte sie durch meine Kleidung spüren. Selbst die farbigen Lichter rund -70-
um den Platz wirkten verfroren. Ich kaufte mir eine halbe Flasche Whisky, um die Kälte zu vertreiben, und nahm mir ein Zimmer im ›Salisbury‹, einem kleinen Hotel in einer Seitenstraße, wo ich in San Francisco im allgemeinen wohne. Der Mann am Empfangspult war mir neu, aber diese Leute wechseln heutzutage ja ständig. Er war alt und hatte ein ausgemergeltes Gesicht. Zögernd reichte er mir den Schlüssel. »Kein Gepäck, Sir?« Ich deutete auf die Flasche in der Tüte. Er lächelte nicht. »Mein Wagen wurde mir gestohlen.« »Wie bedauerlich.« Die Augen hinter dem komischen kleinen Kneifer blickten scharf und unglaublich wachsam. »Ich muß Sie leider bitten, im voraus zu bezahlen.« »Schon recht.« Ich gab ihm die fünf Dollar und verlangte eine Quittung. Der Hausdiener, der mich in dem alten Gitterfahrstuhl heraufbrachte, hatte mich in dem gleichen Fahrstuhl schon seit fast zwanzig Jahren heraufbefördert. Wir drückten uns die Hand. Seine war von Arthritis verkrümmt. »Wie geht es Ihnen, Conie?« »Gut, Mr. Archer, gut. Ich nehme neue Tabletten, Phenylbuta sowieso. Sie wirken wunderbar.« Er trat aus dem Lift und führte mir zum Beweis vorsichtig ein paar Stepschritte vor. Vor sehr vielen Jahren war er mit einem Partner in einer Tanznummer im ›Orpheum‹ aufgetreten. Er tanzte vor mir durch den Gang bis zur Tür meines Zimmers. »Was führt Sie denn in die City?« fragte er, als wir im Zimmer waren. Für die Leute aus San Francisco gibt es nur eine City. »Ich brauche ein bißchen Unterhaltung.« »Haben Sie in Hollywood nicht genügend Unterhaltung?« -71-
»Ich suche etwas Anspruchsvolleres«, antwortete ich. »Haben Sie schon von einem neuen Nachtclub gehört, der sich ›The Listening Ear‹ nennt?« »Ja. Aber da wird es Ihnen nicht gefallen.« Er schüttelte seinen weißen Kopf. »Hoffentlich haben Sie deswegen nicht die weite Reise gemacht.« »Und warum sollte ich nicht?« »Das ist so eine Kulturhöhle, so eine Kneipe, wo Kerle mit Musikbegleitung Gedichte vorlesen. Das liegt doch nicht auf Ihrer Linie?« »Mein Geschmack ist etwas anspruchsvoller geworden.« Sein Grinsen zeigte alle ihm noch verbliebenen Zähne. »Nehmen Sie doch einen alten Mann nicht auf den Arm.« »Schon mal was von Chad Bolling gehört?« »Klar. Der versteht es, von sich reden zu machen.« Conie sah mich beunruhigt an. »Finden Sie wirklich was an diesem Quatsch mit den Gedichten, Mr. Archer, und noch Musik dazu?« »Ich habe schon immer nach höheren Dingen gestrebt.« Wie zum Beispiel nach einem guten französischen Essen, das ich bezahlen konnte. Ich nahm ein Taxi zum ›Ritz Poodle Dog‹ und bestellte mir ein gutes französisches Essen. Als ich fertig war, war es fast zehn. ›The Listening Ear‹ war von dunkelblauem Licht und blaßblauer Musik erfüllt. Eine Band aus Klavier, Baß, Trompete und Schlagzeug spielte etwas Avantgardistisches. Ich hatte meinen Rechenschieber nicht bei mir, die vier Musiker schienen sich aber zu verstehen. Von Zeit zu Zeit lächelten sie und nickten wie Raumfahrer, die sich in der Nacht begegnen. Der Mann am Klavier schien der Cheftechniker zu sein. Er lächelte distanzierter als die anderen, und wenn die Melodie endgültig umgebracht war, nahm er den Applaus mit überlegener Distanz -72-
entgegen. Dann beugte er sich wieder über seine Tasten wie ein besessener Forscher. Die schmalhüftige Kellnerin, die mir einen Whisky mit Wasser brachte, hätte man gegen jede aus einem anderen Nachtclub austauschen können. Selbst ihre Einzelteile schienen austauschbar zu sein. Das Publikum aber unterschied sich merklich von den Besuchern anderer Nachtlokale. Die meisten waren junge Leute mit ernsthaftem Gesichtsausdruck. Die Mehrzahl der Mädchen hatte kurzes, straffes Haar, das sie von Zeit zu Zeit mit den Fingern durchkämmten. Viele der jungen Männer hatten längeres Haar als die Mädchen, fuhren sich aber nicht so oft mit den Fingern hindurch. Statt dessen strichen sie sich ihre Barte. Einer weiteren Melodie gelang es nicht, die Operation zu überleben, und dann ging das Licht an. Ein gebrechlich aussehender Mann in mittlerem Alter und einem dunklen Anzug tauchte zwischen den blauen Vorhängen im Hintergrund des Raums auf. Der Pianist streckte ihm die Hand entgegen und half ihm auf das Podium. Das Publikum applaudierte. Der gebrechliche Mann erlaubte an Stelle einer Verbeugung seinem Kinn, sich auf die große, schwarze Schleife zu senken, die über seiner Hemdbrust blühte. Der Applaus steigerte sich zu einem Crescendo. »Und nun – Chad Bolling!« verkündete der Pianist. »Den Meister aller Künste, Sänger der zu singenden Lieder, Maler der zu malenden Bilder, Jazzkenner, Mann der Literatur, Mr. Chad Bolling.« Das Klatschen hielt eine Zeitlang an. Der Dichter hob wie zum Segen die Hand, und es wurde still. »Vielen Dank, meine Freunde«, sagte er. »Mit Hilfe meines genialen jungen Freundes Fingers Donahue möchte ich Ihnen heute abend, wenn meine Stimme es erlaubt, mein neuestes Gedicht vortragen.« Einer seiner Mundwinkel zuckte, als ob er -73-
sich selbst verspottete. »Gehackte Leber ist es gerade nicht.« Er schwieg. Die Instrumente hinter ihm setzten gedämpft ein. Bolling zog ein zusammengerolltes Manuskript aus seiner Brusttasche und entrollte es unter dem Licht. »›Tod ist tabu‹«, begann er und stimmte mit einer rauhen, tragenden Stimme, die mich an einen Rummelplatz erinnerte, seinen Vortrag an. Er sagte, daß er am Ende der Nacht in einer Sackgasse saß, wo Wein ausgeschenkt wurde und die Engel Glut aus Dosen tranken, und daß er ein Trommeln hörte. Dann erschien ein Mädchen am Eingang der Sackgasse und fragte ihn, was er im Tal des Todes suche. »›Tod ist die letzte Krücke‹, sagte sie«, sagte er. Sie bat ihn, mit ihr nach Hause ins Bett zu kommen. Er sagte, daß Sex die letzte Krücke sei, aber es erwies sich, daß er sich irrte. Anscheinend hörte er einen Gong. Sie floh wie ein Gespenst, und er war verloren am Ende des Endes der Nacht. Während der Schlagzeuger und der Bassist Stoßwellen zur Decke schickten, hob Bolling seine Stimme und fing ernstlich an. Wie er ihr auf und ab und hin und her und über- und unterirdisch folgte, Russian Hill und Nob Hill und Telegraph Hill hinauf und über die Bay Bridge hinüber und mit der Oakland-Fähre wieder zurück. So fand er die Sphinx auf der Market Street, die Drinks ausschenkte, und sie wurden betrunken und tanzten auf dem goldenen Asphalt des Entzückens. Schließlich fiel sie auf ihr Bett. »Ich bin zu den Sternen versetzt«, sagte sie. Er trank die Hölle aus Dosen von ihren Lippen, und so ging es eine ganze Weile weiter, während die Musik zitterte und klagte. Schließlich gelang es ihr, ihn zu überzeugen, daß Tod die letzte Krücke sei, was immer das bedeuten sollte. Sie wußte es, weil sie zufällig tot war. »Gute Nacht, Mister«, sagte sie, oder er sagte, daß sie es sagte. »Gute Nacht, Schwester«, sagte er. -74-
Das Publikum wartete, bis es sicher war, daß Bolling geendet hatte, brach dann in hemmungsloses Klatschen aus, das von Bravos und Oles begleitet wurde. Bolling stand mit vorgeschobenen Lippen da und nahm es auf wie ein kleiner Junge, der Brause durch einen Strohhalm saugt. Während die untere Hälfte seines Gesichts sich zu freuen schien, war der Ausdruck seiner Augen ratlos. Sein Mund verzog sich zu einem clownhaften Grinsen. »Vielen Dank, meine Katzen, ich bin froh, daß ihr mich versteht. Hört jetzt auch das.« Er las ein Gedicht über die sieben blinden Stolperer der Seele und eines über die bartlosen Wunderwesen in den Irrenanstalten, die die weisen Verkünder der neuen Wahrheit sein würden. An dieser Stelle stellte ich mein Hörgerät ab und wartete darauf, daß es zu Ende ging. Es dauerte lange Zeit. Nach der Lesung mußten Bücher mit Autogrammen versehen, Fragen beantwortet und Gläser ausgetrunken werden. Es war nahe an Mitternacht, als Bolling eine Tischrunde von Bewunderern verließ und sich zum Ausgang wandte. Ich stand auf, um ihm zu folgen. Ein großes Mädchen mit einem sehr hungrigen Gesicht schnitt mir den Weg ab. Sie hängte sich an Bollings Arm und begann, ihm ins Ohr zu sprechen, wobei sie sich herabneigte, weil sie größer als er war. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Kindchen. Ich bin verheiratet. Außerdem bin ich alt genug, Ihr Vater zu sein.« »Was bedeuten Jahre?« antwortete sie. »Die Weisheit einer Frau ist alterslos.« »Das beweisen Sie mal, Schätzchen.« Er schüttelte sie ab. Mit tragischer Gebärde packte sie vorne ihren sackartigen schwarzen Pullover und fragte: »Ich bin nicht hübsch, nicht wahr?« »Sie sind wunderschön, Schätzchen. Die griechische Marine könnte Sie brauchen, um Schiffe vom Stapel zu lassen. Warum -75-
wenden Sie sich nicht einmal an die?« Er streckte die Hand aus und strich ihr übers Haar. Dann ging er hinaus. Ich holte ihn auf der Straße ein, als er ein Taxi heranwinkte. »Mr. Bolling, haben Sie eine Minute Zeit?« »Das hängt davon ab, was Sie wollen.« »Ich möchte Sie zu einem Drink einladen und Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Einen Drink hatte ich schon, sogar schon mehrere. Es ist auch schon spät, und ich bin müde. Warum schreiben Sie mir nicht?« »Ich kann nicht schreiben.« Er wurde etwas zugänglicher. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie kein verkanntes literarisches Genie sind? Ich dachte, das wäre jeder.« »Ich bin Detektiv. Ich suche nach einem Mann. Sie könnten ihn vielleicht einmal gekannt haben.« Sein Taxi hatte auf der Straße gewendet und hielt am Gehsteig. Er winkte dem Fahrer zu warten. »Wie hieß er denn?« »John Brown.« »Aber sicher. Ich kannte ihn gut bei ›Harper’s Ferry‹. Ich bin älter, als ich aussehe.« Er setzte seine nichtssagende Clownerie automatisch fort, während er mich musterte. »1936 druckten Sie ein Gedicht von ihm in einer Zeitschrift ab, die Chisel hieß.« »Tut mir leid, daß Sie davon reden. Es war ein miserabler Titel für eine Zeitschrift. Kein Wunder, daß sie einging.« »Das Gedicht hatte die Überschrift ›Luna‹.« »Ich fürchte, an das Gedicht kann ich mich nicht erinnern. Seitdem sind viele Worte unter der Brücke hindurchgeflossen. -76-
Aber ich kannte einmal einen John Brown, in den dreißiger Jahren. Was ist denn aus John geworden?« »Das versuche ich gerade festzustellen.« »Also gut. Laden Sie mich zu einem Glas ein. Aber auf keinen Fall im ›Ear‹. Ich habe die Rasierten und die Nichtrasierten da satt.« Bolling schickte das Taxi fort. Wir gingen etwa sechzig Schritte bis zur nächsten Bar. Ein Paar abgetakelter Mädchen winkte uns mit den Augenlidern, als wir hereinkamen. Von einem dem Koma nahen Barmann abgesehen, befand sich außer ihnen niemand in dem Lokal. Der Barmann raffte sich lange genug aus seinem Zustand auf, um uns einzuschenken. Wir setzten uns in eine der Nischen, und ich zeigte Bolling die Bilder von Tony Galton. »Erkennen Sie ihn wieder?« »Ich glaube, ja. Wir korrespondierten eine Zeitlang, aber ich bin ihm nur ein- oder zweimal begegnet. Zweimal genau. Das erstemal besuchte er uns, als wir in Sausalito wohnten. Und dann erwiderte ich seinen Besuch eines Sonntags, als ich auf einer Fahrt an der Küste in Luna Bay vorbeikam.« »Er wohnte also in Luna Bay?« »Ein paar Meilen davon entfernt in unserer Richtung in einem alten Haus am Ozean. Ich hatte damals verdammte Schwierigkeiten, es zu finden, obwohl er mir den Weg genau beschrieben hatte. Jetzt fällt mir auch ein, daß er mich bat, niemand zu sagen, wo er wohnte. Ich war der einzige, der es wußte. Warum er bei mir eine Ausnahme machte, weiß ich nicht. Vielleicht weil er großen Wert darauf legte, daß ich ihn zu Hause besuchte und mir seinen Sohn ansah. Vielleicht betrachtete er mich so ein bißchen wie seinen geistigen Vater, obwohl ich nicht viel älter war als er.« »Er hatte also einen Sohn?« -77-
»Ja, sie hatten ein Baby. Es war gerade geboren worden und nicht viel größer als mein Daumen. Der kleine John war der Augapfel seines Vaters. Sie waren eine recht rührende kleine Familie.« Bollings Stimme klang freundlich. Ohne sein Publikum erschien er wie ein anderer Mensch. Wie andere, die öffentlich auftreten, hatte er ein Gesicht für die Öffentlichkeit und ein privates. Beide waren etwas verlogen, aber das private Gesicht paßte besser zu ihm. »Dann lernten Sie wohl auch seine Frau kennen?« »Gewiß. Als ich hinkam, saß sie auf der vorderen Veranda und nährte ihr Baby. Sie hatte schöne weiße Brüste, und es machte ihr gar nichts aus, sie zu zeigen. Es war ein hübsches Bild dort auf der Klippe über dem Meer. Ich versuchte ein Gedicht über sie zu machen, aber es gelang mir nicht. Ich habe sie nie richtig kennengelernt.« »Was für eine Frau war sie denn?« »Dem Aussehen nach sehr attraktiv, würde ich sagen. Aber sonst hatte sie nicht sehr viel zu bieten. Tatsächlich verschandelte sie die englische Sprache grausam. Ich vermute, daß gerade diese Unwissenheit für Brown eine gewisse Faszination gehabt haben muß. Ich habe andere junge Schriftsteller und Künstler gekannt, die auf Mädchen dieser Art geflogen sind. In meiner präfreudschen Periode ist mir das selbst passiert.« Mißmutig fügte er hinzu: »Das heißt, ehe ich analysiert wurde.« »Erinnern Sie sich an ihren Namen?« »An Mrs. Browns Namen?« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. In meinem verpfuschten Gedicht nannte ich sie Stella Maris, Meerstern. Aber das hilft Ihnen wohl nichts?« »Können Sie wohl noch sagen, wann Sie dort waren? Es müßte gegen Ende des Jahres 1936 gewesen sein.« -78-
»Ja, es war um Weihnachten herum, kurz vor Weihnachten. Ich hatte dem Kleinen ein Spielzeug mitgebracht.« Bolling zupfte nachdenklich an seinem Kinn. »Merkwürdig, daß ich nachher nie wieder etwas von ihm gehört habe.« »Sie haben also in der Zwischenzeit nie wieder versucht, ihn aufzutun?« »Nein, hab ich nicht. Vielleicht hatte er das Gefühl gehabt, daß ich ihn abwimmeln wollte. Möglicherweise stimmte das auch, ohne daß ich es beabsichtigt hätte. Es gab so viele junge Schriftsteller, man konnte sie nicht alle im Auge behalten. Es kamen seinerzeit eine Menge von ihnen zu mir, und ich habe auch manchen wirklich helfen können. Offen gesagt, habe ich seit damals kaum wieder an Brown gedacht. Wohnt er noch draußen an der Küste?« »Ich weiß nicht. Hat er Ihnen gesagt, was er in Luna Bay machte?« »Er versuchte einen Roman zu schreiben. Ich kann Ihnen nicht sagen, wovon sie eigentlich lebten – eine Stellung schien er nicht zu haben. Trotzdem konnte es ihnen nicht ganz schlecht gehen. Sie hatten eine Pflegerin im Haus, die Mutter und Kind versorgte.« »Eine Pflegerin?« »So eine Art Wochenbettpflege, eine von diesen jungen Frauen, die gleichzeitig den Haushalt mit übernehmen«, meinte er vage. »Können Sie sich genauer an sie erinnern?« »Nur noch, daß sie ziemlich bemerkenswerte Augen hatte. Wachsame, schwarze Augen, die mich ständig beobachteten. Von Literaten schien sie nicht allzuviel zu halten.« »Haben Sie überhaupt mit ihr gesprochen?« »Das kann schon sein, jedenfalls erinnere ich mich ziemlich deutlich an sie. Sie schien der einzige vernünftige Mensch im -79-
Haus zu sein. Brown und seine Frau lebten eher in einem Wolkenkuckucksheim.« »Wie meinen Sie das?« »Sie waren vollkommen weltfremd. Das soll keine Kritik sein. Es trifft für mich genauso zu.« Er grinste wie ein Clown. »Man wird kein Hamlet, ohne jemand auf die Füße zu treten. Aber sprechen wir nicht von mir.« »Um noch mal auf die Pflegerin zurückzukommen, können Sie sich noch an ihren Namen erinnern?« »Ausgeschlossen.« »Würden Sie den Namen wiedererkennen, wenn ich ihn Ihnen sage?« »Ich glaube kaum, aber Sie können es ja versuchen.« »Marian Culligan«, sagte ich. »C-u-l-l-i-g-a-n.« »Tut mir leid, der Name sagt mir nichts.« Bolling leerte sein Glas und sah sich in der Bar um, als ob er erwartete, daß etwas passieren würde. Dabei sah er eigentlich aus, als seien ihm die meisten menschenmöglichen Dinge bereits passiert. Wie bei einem Schauspieler spiegelten sich auf seinem Gesicht die verschiedensten Gefühle wider, aber zwischen den Masken meinte ich manchmal eine tiefe Verzweiflung aufleuchten zu sehen. »Wir könnten gerne noch ein Glas trinken«, sagte er. »Aber auf meine Rechnung diesmal. Ich bin bei Kasse. Ich habe gerade hundert Piepen im ›Listening Ear‹ gemacht.« Auch dieser sich selbst ironisierende Geschäftssinn wirkte verlogen. Während ich den Barmann auf Trab brachte, studierte Bolling die Fotografien, die ich auf dem Tisch liegengelassen hatte. »Doch, das ist fraglos John. Ein netter Junge, vielleicht auch tatsächlich begabt, doch, wie ich schon sagte, weltfremd. Woher hatte er denn das Geld zum Reiten und Tennisspielen?« »Von seiner Familie. Die ist schwer bei Kasse.« -80-
»Mein Gott, erzählen Sie mir jetzt nicht, daß er eine Riesenerbschaft gemacht hat. Suchen Sie etwa deshalb nach ihm?« »Genau das ist der Grund.« »Das ist denen aber reichlich spät eingefallen.« »Kann man wohl sagen. Können Sie mir wohl beschreiben, wie man zu dem Haus kommt, in dem die Browns damals wohnten?« »Ich fürchte, nein. Aber vielleicht kann ich es Ihnen zeigen.« »Wann?« »Morgen vormittag, wenn Sie wollen.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« »Nicht der Rede wert. Ich hatte John Brown gern. Außerdem bin ich seit Jahren nicht mehr in Luna Bay gewesen. Es muß Ewigkeiten her sein. Vielleicht finde ich ja dort meine verlorene Jugend wieder.« »Vielleicht.« Aber ich hielt es nicht für wahrscheinlich. Er übrigens auch nicht.
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9 Am Vormittag holte ich Bolling von seiner Wohnung am Telegraph Hill ab. Es war einer dieser strahlenden Tage, die einen für den vielen Nebel in San Francisco entschädigen. Ein Wind vom Meer hatte die Luft klargefegt und kräuselte die blaue Oberfläche der Bucht. Ein weißes Schiff nahm seinen Kurs zum Golden Gate hinaus und zog einen breiten weißen Gischtstreifen hinter sich her. Weiße Möwen hingen über ihm in der Luft. Bolling nahm alles nur mit verglasten Augen wahr. Er hatte einen Kater und sah grau und übernächtig aus. Er kroch auf den Rücksitz und schnarchte während der ganzen Fahrt. Unser Bestimmungsort lag an der Küstenstraße. Seine Häuser waren formlos entlang der Straße gebaut, und die gewaltige Szenerie, die hohen Berge im Hintergrund und der unendliche Ozean zu seinen Füßen, ließen alle Gebäude puppenhaft klein erscheinen. Ich hielt bei einer Tankstelle, wo die Straße aus den Bergen auf die Fernstraße 1 mündete und weckte Bolling auf. »Was los?« murmelte er schlaftrunken. »Was passiert?« »Noch nichts. Wie fahren wir von hier weiter?« Er stöhnte, richtete sich auf und sah sich um. Der Widerschein des spiegelnden Ozeans trieb ihm das Wasser in die Augen. Er beschattete sie mit der Hand. »Wo sind wir?« »In Luna Bay.« »Sieht alles ganz anders aus«, beklagte er sich. »Ich weiß nicht, ob ich das Haus wiederfinde. Jedenfalls biegen wir hier nach Norden ab. Fahren Sie aber langsam, damit ich versuchen kann, die Abzweigung zu finden.« -82-
Fast zwei Meilen nördlich von Luna Bay schnitt die Straße in den Fuß eines Vorgebirges ein. Von der anderen Seite des Vorgebirges führte eine neu aussehende Asphaltstraße zum Meer. An der Kreuzung stand eine große Tafel: »MARVISTASIEDLUNG. Drei Schlafzimmer und reichlich Wohnraum, Kachelbäder, Einbauküchen mit allem Zubehör. Besichtigen Sie unser Musterhaus.« Bolling klopfte mir auf die Schulter. »Das ist, glaube ich, die Stelle.« Ich stieß zurück und bog nach links ein. Die Straße verlief einige hundert Meter einen sanften Abhang hinauf. Wir kamen an einer nackten Lehmfläche von der Größe eines Fußballplatzes vorbei, auf dem Erdraupen arbeiteten. Ein Holzschild am Straßenrand erklärte ihre Tätigkeit: »HIER ENTSTEHT DAS MARVISTA-EINKAUFSZENTRUM.« Von der Höhe des Abhangs blickten wir auf die Dächer von hundert oder mehr Häusern hinunter. Sie waren über den Abhang auf nackten Erdterrassen verteilt, wo das Gras erst zu sprießen anfing. Während wir auf der gewundenen Straße zwischen ihnen dahinfuhren, bemerkte ich, daß die meisten Häuser bewohnt waren. An den Fenstern hingen Gardinen, Kinder spielten in den Gärten, Wäsche trocknete auf Leinen. Die Häuser waren in verschiedenen Farben gestrichen, was ihre Einförmigkeit nur zu betonen schien. Die Straße zog sich am Fuß des Abhangs entlang und verlief parallel mit dem Rand der Klippen. Ich hielt den Wagen an und wandte mich Bolling mit einem fragenden Blick zu. »Tut mir leid«, sagte er. »Es hat sich alles so verändert. Ich bin nicht sicher, ob das die richtige Stelle ist. Damals standen hier ein paar hölzerne Bungalows. In einem von ihnen wohnten die Browns, wenn ich mich recht erinnere.« Wir stiegen aus und gingen zum Rand der Klippe. Etwa sechzig Meter tiefer wogte die See wie geschmolzenes Metall -83-
und barst in regelmäßigen Abständen in weißen Explosionen an den Felsen. Eine Meile weiter südlich lag im Schutz des Vorgebirges eine von braunem Strand gesäumte Bucht mit stillem Wasser. Bolling deutete auf die Bucht. »Das muß die Stelle sein. Ich erinnere mich, daß Brown mir erzählt hat, diese Bucht wäre in den alten Tagen der Prohibition von Rumschmugglern als Hafen benutzt worden. Damals stand ein altes Hotel oben auf der Klippe. Von Browns vorderer Terrasse konnte man es sehen. Ihr Bungalow muß hier ganz in der Nähe gestanden haben.« »Wahrscheinlich wurde er abgerissen, als man die Straße anlegte. Er hätte mir auch gar nichts genützt, wenn man ihn noch sehen könnte. Ich hatte gehofft, einen Nachbarn zu finden, der sich noch an die Browns erinnert.« »Sie könnten sich doch bei den Geschäftsleuten in Luna Bay umhören.« »Das könnte ich.« »Na schön, jedenfalls war es hübsch, wieder mal aus der Stadt zu kommen.« Bolling wanderte am Rand der Klippen weiter. Plötzlich kreischte er: »Huiih!« Mit hoher Stimme wie der Schrei einer Möwe. Er begann mit den Armen zu wedeln. Ich lief hinter ihm her. »Was ist denn los?« »Huiih!« schrie er wieder und stieß ein kindisches Lachen aus. »Ich hab mir gerade eingebildet, ich wäre ein Vogel.« »Wie hat es Ihnen gefallen?« »Sehr gut.« Er wedelte wieder mit den Armen. »Ich kann fliegen! Meine Brust durchschneidet die stürmischen Winde des Himmels. Wie Ikarus steige ich zur Sonne. Das Wachs schmilzt. Ich stürze aus großer Höhe ins Meer. Zu Mutter Thalatta.« »Mutter was?« »Thalatta, das Meer, das Meer Homers. Wir könnten ein -84-
neues Athen bauen. Ich dachte immer, wir könnten es in San Francisco. Eine neue Stadt der Menschen auf den hohen Bergen bauen. Eine Stadt voller Vergeben. Ach ja.« Seine Stimmung schlug um. Ich zog ihn von der Klippe weg. Er war so unberechenbar, daß ich fürchtete, er könne versuchen, in den Raum zu fliegen. Und ich fing an, ihn gern zu haben. »Da wir von Müttern sprechen«, sagte ich. »Wenn John Browns Frau gerade ein Baby bekommen hatte, muß sie bei einem Arzt gewesen sein. Haben sie zufällig erwähnt, wo das Baby geboren wurde?« »Ja, zu Hause. Das nächste Krankenhaus ist in Redwood City, und Brown wollte seine Frau nicht dorthin bringen. Vermutlich hatten sie einen hiesigen Arzt.« »Hoffen wir, daß er noch da ist.« Ich fuhr durch die Siedlung zurück, bis ich eine Frau fand, die einen Kinderwagen schob. Wie ein Fohlen scheute sie zurück, als ich neben ihr anhielt. Tagsüber war die Straße Frauen und Kindern vorbehalten. Unbekannte Männer in Autos waren vermutlich Kidnapper. Ich stieg aus und näherte mich ihr, wobei ich so harmlos lächelte, wie ich nur konnte. »Ich suche nach einem Arzt.« »Oh, ist jemand krank?« »Die Frau meines Freundes erwartet ein Kind. Sie beabsichtigen, in die Marvista-Siedlung zu ziehen, wollen sich aber erst einmal darüber unterrichten, wie es hier mit Ärzten bestellt ist.« »Dr. Meyers ist sehr gut«, antwortete sie. »Ich gehe selbst zu ihm.« »In Luna Bay?« »Ganz richtig.« »Wie lange praktiziert er hier?« »Das kann ich nicht sagen. Wir sind gerade erst vor etwa -85-
einem Monat von Richmond hierhergezogen.« »Wie alt ist Dr. Meyers?« »Dreißig, vielleicht fünfunddreißig, ich weiß es nicht genau.« »Zu jung«, sagte ich. »Wenn Ihr Freund mehr Vertrauen zu einem älteren Arzt hat, ich glaube, es gibt einen in der Stadt. Aber seinen Namen weiß ich nicht. Persönlich ziehe ich einen jungen Arzt vor. Sie wissen alles über die neuesten Wundermedikamente und so weiter.« Wundermedikamente! Ich bedankte mich, fuhr nach Luna Bay zurück und suchte nach einem Drugstore. Der Besitzer informierte mich über die drei Ärzte am Ort. Ein Dr. George Dineen war der einzige, der in den dreißiger Jahren hier schon praktiziert hatte. Er war ein älterer Mann, der kurz davor stand, sich zur Ruhe zu setzen. Wahrscheinlich würde ich ihn in seinem Sprechzimmer treffen, wenn er nicht gerade einen Krankenbesuch machte. Er wohnte nur zwei Ecken weiter von dem Drugstore. Ich ließ Bolling kaffeetrinkend an der Theke zurück und ging zum Haus des Arztes. Seine Praxis nahm die Vorderzimmer eines weitläufigen Hauses mit grünen Schindelwänden ein, das in einer staubigen Seitenstraße stand. Eine Frau um die Sechzig öffnete mir die Tür. Sie hatte bläulichweißes Haar und einen Gesichtsausdruck, den man nicht mehr so häufig findet; den Ausdruck einer Frau, die vom Leben nicht enttäuscht worden war. »Ja, junger Mann?« »Ich möchte gern den Doktor sprechen.« »Sprechstunde ist am Nachmittag. Sie beginnt erst um halb zwei.« »Ich komme nicht als Patient zu ihm.« »Wenn Sie Arzneimittelvertreter sind, warten Sie besser bis nach dem Essen. Doktor Dineen läßt sich nicht gerne vormittags stören.« -86-
»Ich bin nur heute vormittag hier. Ich stelle Nachforschungen über den Verbleib eines Mannes an, der seit vielen Jahren als vermißt gilt. Möglicherweise könnte der Herr Doktor mir dabei helfen.« Sie hatte ein lebhaftes Gesicht, aus dem man trotz der Altersfalten ihre Gedanken klar ablesen konnte. Ihre Augen spiegelten Mitgefühl; sie stellte sich vor, wie schrecklich es sein müßte, einen geliebten Menschen zu verlieren. »Nun, das ist etwas anderes. Treten Sie ein, Mr. –« »Archer. Ich bin Privatdetektiv.« »Mein Mann ist im Garten. Ich werde ihn rufen.« Sie führte mich in das Sprechzimmer. Über einem alten Eichenschreibtisch hingen verschiedene Diplome an der Wand. Das älteste bestätigte, daß Dr. Dineen im Jahre 1914 an der Medizinischen Fakultät der Universität von Ohio promoviert hatte. Der Raum selbst wirkte wie ein Überbleibsel aus der Vorkriegszeit. Abgewetzte Ledermöbel hatten durch langjährigen Gebrauch bequeme Formen des menschlichen Körpers angenommen. Ein aufgebautes Schachbrett stand im schräg einfallenden Sonnenlicht, die Figuren wie kampfbereite Miniaturheere. Der Doktor trat ein und schüttelte mir die Hand. Er war ein großer, breitschultriger alter Mann. Zottige graue Brauen hingen wie Vogelnester an den Klippen seiner Stirn, die Augen darunter sahen mich ruhig abwartend an. Er ließ sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch nieder. Sein Kopf war fast kahl, nur einige Haarsträhnen lagen flach über seiner Schädeldecke. »Sie sagten zu meiner Frau etwas von einer vermißten Person. Etwa ein Patient von mir?« »Vielleicht. Sein Name war John Brown. Er wohnte 1936 mit seiner Familie einige Meilen weiter oben an der Küste, wo jetzt die Marvista-Siedlung liegt.« »Ich erinnere mich sehr gut an sie«, antwortete der Arzt. »Vor -87-
nicht allzu langer Zeit war ihr Sohn in diesem Zimmer und saß am gleichen Platz wie Sie jetzt.« »Ihr Sohn?« »John jr. Sie kennen ihn vielleicht. Auch er sucht nach seinem Vater.« »Nein, ich kenne ihn nicht. Ich würde ihn aber sehr gern kennenlernen.« »Das wird sich wohl arrangieren lassen.« Dr. Dineens tiefe Stimme brach grollend ab. Er musterte mich scharf, als ob er eine Diagnose stellen wollte. »Erst möchte ich allerdings die Gründe kennenlernen, weshalb Sie sich für die Familie interessieren.« »Ich wurde beauftragt, nach dem Vater, dem älteren John Brown, zu suchen.« »Hat Ihre Suche irgend etwas ergeben?« »Bisher nicht. Und Sie sagen, daß dieser Junge, der zu Ihnen kam, nach seinem Vater sucht?« »Ganz richtig.« »Was führte ihn zu Ihnen?« »Die begreiflichen Empfindungen eines Kindes. Wenn sein Vater lebt, möchte er bei ihm sein. Wenn sein Vater tot ist, will er Gewißheit darüber haben.« »Ich meine, was führte ihn insbesondere zu Ihnen und in Ihre Sprechstunde? Haben Sie ihn schon vorher gekannt?« »Ich brachte ihn zur Welt. In meinem Beruf bildet das die denkbar beste Einführung.« »Sind Sie sicher, daß es der gleiche Junge ist?« »Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln.« Der Doktor sah mich mit einigem Mißfallen an, als ob ich irgendeine Arbeit kritisiert hätte, die er mit seinen Händen vollbracht hatte. »Bevor wir weitergehen, Mr. Archer, würden -88-
Sie mich verpflichten, wenn Sie meine Frage etwas genauer beantworteten. Sie haben mir nicht gesagt, wer Sie beauftragt hat.« »Es tut mir leid, das kann ich nicht. Mir wurde strikt aufgetragen, die Identität meines Klienten vertraulich zu behandeln.« »Daran zweifle ich nicht. Ich habe Dinge dieser Art seit vierzig Jahren vertraulich behandelt.« »Und Sie wollen nicht sprechen, bevor ich es getan habe? Meinen Sie das?« Der Doktor hob seine Hand und wischte den Gedanken wie ein lästiges Insekt von seinem Gesicht fort. »Ich habe kein Geschäft vorgeschlagen. Ich will nur einfach wissen, mit wem ich es zu tun habe. Es kann dabei um ernste Dinge gehen.« »Genauso ist es.« »Ich finde, Sie sollten diese Äußerung etwas näher erklären.« »Das kann ich nicht.« Wir betrachteten einander in einem Schweigen, das sich immer länger hinzog. Sein Blick war fest, und in ihm funkelte die Feindschaft eines stolzen alten Mannes. Ich fürchtete, sein Vertrauen gerade in dem Augenblick zu verlieren, als der Fall vor der Lösung stand. Zwar zweifelte ich nicht an seiner Integrität, aber ich mußte auch an meine eigene denken. Ich hatte mich gegenüber Gordon Sable und Mrs. Galton verpflichtet, keinen Namen zu nennen. Dr. Dineen zog eine Pfeife und einen Tabaksbeutel aus Ölhaut hervor und begann ihren verkohlten Kopf zu stopfen. »Wir scheinen in eine Pattstellung gekommen zu sein. Spielen Sie Schach, Mr. Archer?« »Wahrscheinlich nicht so gut wie Sie. Ich habe es nie richtig studiert.« »Gerade das hatte ich aber vermutet.« Er hatte seine Pfeife -89-
fertig gestopft und entzündete sie mit einem Streichholz. Der blaue Rauch wirbelte durch den Streifen Sonnenlicht, der durchs Fenster fiel. »Wir vergeuden beide unsere Zeit. Ich schlage vor, daß Sie ziehen.« »Ich dachte, wir wären patt.« »Eine neue Partie also.« Zum erstenmal zeigte sich in seinen Augen ein aufflackerndes Interesse. »Erzählen Sie mir etwas über sich selbst. Warum verbringt ein Mann Ihrer Art sein Leben mit einer Arbeit, wie Sie sie tun? Verdienen Sie damit viel Geld?« »Genug, um davon zu leben. Ich tue sie aber nicht des Geldes wegen, ich tue sie, weil sie mir gefällt.« »Ist es nicht eine schmutzige Arbeit, Mr. Archer?« »Das hängt davon ab, wer sie tut, wie bei Ärzten und allen anderen. Ich versuche sie sauberzuhalten.« »Haben Sie dabei Erfolg?« »Nicht immer. Ich habe mich verschiedentlich in Menschen böse getäuscht. Manche von ihnen nehmen an, daß ein Privatdetektiv automatisch ein Betrüger ist und verhalten sich dementsprechend. So wie Sie jetzt.« Der alte Mann stieß ein Grunzen aus, das wie das Bellen eines Seehunds klang. »In einer Angelegenheit von dieser Bedeutung kann ich nicht blindlings handeln.« »Und ich auch nicht. Ich weiß nicht, wodurch sie für Sie so bedeutungsvoll ist…« »Das will ich Ihnen sagen«, unterbrach er mich. »Es geht um Menschenleben. Es geht um die Liebe eines Jungen zu seinen Eltern. Ich versuche diese Dinge mit der Sorgfalt zu behandeln, die sie verdienen.« »Das weiß ich zu schätzen. Sie scheinen ein besonderes Interesse für den jungen John Brown zu haben.« »Das habe ich. Der junge Mann hat schwere Zeiten hinter sich. Ich will nicht, daß man ihm unnötig Kummer bereitet.« -90-
»Es ist nicht meine Absicht, ihm Kummer zu bereiten. Wenn der Junge tatsächlich John Browns Sohn ist, täten Sie ihm einen Gefallen, wenn Sie mich mit ihm zusammenführen.« »Das werden Sie mir beweisen müssen. Ich will Ihnen offen sagen, daß ich in meinem Leben ein oder zwei Erfahrungen mit Privatdetektiven gemacht habe. In einem Fall handelte es sich um eine Erpressung einer meiner Patientinnen, ein junges Mädchen, das ein uneheliches Kind bekam. Ich will nicht sagen, daß Sie damit schon in einem schiefen Licht stehen, aber man wird nach so etwas vorsichtig.« »Also gut. Ich will meine Position in Form einer Hypothese darlegen. Nehmen wir an, ich sei beauftragt, den Erben mehrerer Millionen Dollar zu finden.« »Das habe ich schon einmal gehört. Sie müssen sich eine bessere Eröffnung einfallen lassen als die.« »Ich habe sie nicht erfunden. Zufällig ist es die Wahrheit.« »Beweisen Sie es.« »Das wird mir leichtfallen, wenn es soweit ist. Im Augenblick, möchte ich sagen, liegt die Last des Beweises bei diesem jungen Mann. Kann er seine Identität nachweisen?« »Diese Frage wurde nie aufgeworfen. Tatsächlich trägt er den Beweis für seine Identität in seinem Gesicht. Ich wußte, wessen Sohn er war, sobald er hier in das Zimmer trat. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater ist verblüffend.« »Wie lange ist es her, daß er auftauchte?« »Etwa einen Monat. Ich habe ihn inzwischen häufig gesehen.« »Als Patienten?« »Als Freund«, erwiderte Dineen. »Warum ist er überhaupt zu Ihnen gekommen?« »Mein Name steht auf seinem Geburtsschein. Und nun geben Sie mal Ruhe, und lassen Sie mir Zeit zum Nachdenken.« Der -91-
Doktor rauchte eine Zeitlang schweigend. »Wollen Sie allen Ernstes behaupten, daß dieser Junge ein Vermögen erben soll?« »Er wird es, wenn sein Vater tot ist. Seine Großmutter lebt noch, sie hat das Geld.« »Aber Sie wollen ihren Namen nicht preisgeben?« »Nicht ohne ihre ausdrückliche Genehmigung. Wahrscheinlich könnte ich sie anrufen. Ich würde es aber vorziehen, wenn ich vorher die Möglichkeit hätte, mit dem jungen Mann zu sprechen.« Der Doktor zögerte. Er hob seine rechte Hand, hielt sie in der Luft und schlug sie dann flach auf seinen Schreibtisch. »Ich werde es mit Ihnen riskieren, obwohl ich es später vielleicht bereuen werde.« »Ich will mein möglichstes tun, daß es nicht so weit kommt. Wo kann ich ihn finden?« »Darauf kommen wir noch.« »Was hatte er über seine Herkunft zu sagen?« »Ich fände es richtiger, wenn Sie sich das von ihm selber berichten ließen. Ich bin aber bereit, Ihnen alles zu sagen, was ich aus eigener Kenntnis über seine Eltern weiß. Und das ist vielleicht aufschlußreicher, als Sie meinen.« Er schwieg kurz. »Wie lautet Ihr Auftrag genau, den Ihnen Ihr anonymer Klient erteilt hat?« »John Brown, das heißt den Vater, zu finden«, antwortete ich. »Ich vermute, das ist nicht sein richtiger Name.« »Ganz richtig, ist er nicht.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Dineen. »Damals, als er hier wohnte, habe ich mir ein paar Gedanken über ihn gemacht. Ich kam sogar auf die Idee, daß seine Familie ihn vor die Tür gesetzt haben könnte. Wissen Sie, man kennt ja diese Tunichtgute, die von ihren Angehörigen mit Geld versorgt werden, bloß damit sie sich nicht mehr zu Hause sehen lassen. -92-
Ich erinnere mich, daß John Brown mich nach der Entbindung seiner Frau mit einer Hundertdollarnote bezahlte – das schien so gar nicht zu ihrem Lebensstandard zu passen. Aber es waren noch andere Dinge. Der Schmuck seiner Frau zum Beispiel. Brillanten und Rubine, alles in kunstvoller Goldfassung. Einmal kreuzte sie bei mir auf wie ein wandelnder Juwelierladen. Ich warnte sie noch, den Schmuck so zur Schau zu stellen. Sie wohnten auf dem Lande, in der Nähe von dem alten Gasthaus, und in jener Zeit war die Gegend hier ziemlich gefährlich. Die Menschen waren arm. Viele bezahlten damals meine Hilfe mit Fisch. Während der Wirtschaftskrise bekam ich so viel Fisch, daß ich seitdem keinen mehr gegessen habe. Macht nichts. Aber die öffentliche Schaustellung dieser Wertgegenstände konnte ein Anreiz zum Raub werden. Das sagte ich der jungen Frau, und sie trug ihn dann auch nicht mehr, wenigstens nicht, wenn ich sie sah.« »Haben Sie sie oft gesehen?« »Vier- oder fünfmal, möchte ich sagen. Ein- oder zweimal, ehe der Junge geboren wurde, und später dann noch verschiedentlich. Sie war eine durch und durch gesunde Person, keine Komplikationen. Das Wichtigste, was ich für sie tat, war, sie in Säuglingspflege zu unterrichten. Von zu Hause war sie auf ihre Mutterpflichten nicht vorbereitet worden.« »Hat sie mit Ihnen über ihre Herkunft gesprochen?« »Das brauchte sie nicht. Zunächst einmal trug sie deren Spuren auf ihrem Körper. Sie muß einmal mit einem Gürtel halb tot geprügelt worden sein.« »Doch nicht von ihrem Mann?« »Kaum. Es hatte andere Männer in ihrem Leben gegeben, wie man so sagt. Sie muß schon in jungen Jahren auf eigenen Füßen gestanden haben, eines der heimatlos herumstreunenden Geschöpfe der dreißiger Jahre. Von einer ganz anderen Sorte als ihr Mann.« -93-
»Wie alt war sie?« »Ich denke neunzehn oder zwanzig, vielleicht älter. Sie sah älter aus. Ihre Erfahrungen hatten sie hart gemacht, aber, wie ich schon sagte, sie auf ihre Mutterpflichten unvorbereitet gelassen. Selbst nachdem sie wieder auf war, brauchte sie jemand, der ihr bei der Pflege des Kindes half. Nach ihrem geistigen Entwicklungszustand war sie tatsächlich selbst noch ein Kind.« »Erinnern Sie sich an den Namen der Pflegerin?« »Lassen Sie mich nachdenken. Ich glaube, es war eine Mrs. Kerrigan.« »Oder Culligan?« »Culligan, so hieß sie. Sie war eine ordentliche junge Frau und ziemlich gut ausgebildet. Ich glaube, sie ging zur selben Zeit hier fort wie die Familie Brown.« »Die Familie Brown ging von hier fort?« »Sie verschwand, ohne auch nur jemand auf Wiedersehen oder danke schön zu sagen, oder so erschien es damals.« »Wann war das?« »Wenige Wochen nach der Geburt des Kindes. Kurz um Weihnachten herum. Ich glaube ein oder zwei Tage danach. Ich erinnere mich so deutlich daran, weil ich seither mit den Leuten vom Sheriff darüber gesprochen habe.« »Kürzlich erst?« »In den letzten fünf Monaten. Um mich kurz zu fassen, wurde damals, als das Gelände für die Marvista-Siedlung ausgehoben wurde, ein menschliches Skelett gefunden. Der hiesige Hilfssheriff bat mich, ihm mein Gutachten darüber abzugeben. Es handelte sich um die Knochen eines Mannes von mittlerer Größe, Alter zwischen zwanzig und fünfundzwanzig. Meiner Meinung nach könnte es sich tatsächlich um Browns Skelett handeln. Man hatte es direkt unter dem Haus gefunden, in dem er gewohnt hatte. Das Haus wurde abgerissen, um Platz für die -94-
neue Straße zu schaffen. Unglücklicherweise besteht keine Möglichkeit zu einer eindeutigen Identifizierung. Der Schädel fehlt, also kann man an Hand des Gebisses auch keine weiteren Schlüsse ziehen.« »Das legt aber die Möglichkeit eines Mordes nahe.« Dineen nickte ernst. »Sogar noch etwas mehr als nur die Möglichkeit. Einer der Halswirbel war von einem scharfen Instrument durchtrennt worden. Wenn wir es also tatsächlich hier mit den Überresten von John Brown zu tun haben, sieht es so aus, als habe man ihm mit einer Axt den Kopf abgeschlagen.«
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10 Ehe ich Dr. Dineen verließ, gab er mir auf einem Rezeptformular eine schriftliche Empfehlung an den Hilfssheriff mit, der die Örtliche Zweigstelle des Sheriffs leitete, und nannte mir die Adresse der Tankstelle, bei der der junge John Brown arbeitete. Eilig kehrte ich zu dem Drugstore zurück. Bolling saß immer noch an der Theke, ein gegrilltes Käsesandwich in der linken und einen Bleistift in der rechten Hand. Kauend kritzelte er in ein Notizbuch. »Tut mir leid, daß ich Sie warten ließ…« »Entschuldigen Sie, ich schreibe an einem Gedicht.« Er kritzelte weiter. Ungeduldig aß ich auch ein Sandwich und wartete, bis er fertig war; dann zerrte ich ihn zum Wagen hinaus. »Ich will Ihnen jemand zeigen, wen, erkläre ich später.« Ich ließ den Motor an und bog nach Süden auf die Hauptstraße ein. »Worüber ist das Gedicht denn?« »Über die Stadt der Menschen. Ich mache einen Durchbruch zum Positiven. Es ist gut geworden; das erste gute Gedicht, das ich seit Jahren geschrieben habe.« Er berichtete mir noch mehr darüber in einer Sprache, die ich nicht verstand. Am Südrand der Stadt fand ich die gesuchte Tankstelle. Drei Pumpen und ein Tankwart. Der Tankwart war ein junger Mann in einem weißen Drillichoverall. Er war damit beschäftigt, einem kleinen Lastwagen, der mit einem Haufen brauner Fischernetze beladen war, den Tank zu füllen. Ich hielt hinter ihm und beobachtete ihn. Es bestand gar kein Zweifel, er sah genau wie Anthony Galton aus. Er hatte die gleichen hellen, weitstehenden Augen, -96-
die gleiche gerade Nase und den gleichen vollen Mund. Nur sein Haar war anders. Es war dunkel und glatt. Bolling beugte sich auf seinem Platz vor. »Mein Gott, das ist doch Brown. Aber es kann nicht Brown sein. Brown ist beinahe so alt wie ich.« »Vergessen Sie nicht, daß er einen Sohn hat.« »Ist das sein Sohn?« »Ich glaube, ja. Erinnern Sie sich an die Haarfarbe des Babys?« »Die Haare, die es hatte, waren dunkel, wie das Haar seiner Mutter.« Bolling wollte aussteigen. »Einen Augenblick.« Ich hielt ihn zurück. »Sagen Sie ihm nicht, wer Sie sind.« »Ich will ihn nach seinem Vater fragen.« »Er weiß nicht, wo sein Vater ist. Außerdem steht seine Identität noch in Frage. Ich möchte hören, was er darüber zu sagen hat, ohne daß er dazu gedrängt wird.« Bolling warf mir einen enttäuschten Blick zu, blieb aber im Wagen sitzen. Der Fahrer des Lasters bezahlte sein Benzin und ratterte davon. Ich fuhr vor den Pumpen vor und stieg aus, um mir den jungen Mann genauer anzusehen. Er schien etwa ein- oder zweiundzwanzig Jahre alt zu sein und sah gut aus, wie sein vermutlicher Vater. Sein Lächeln war einnehmend. »Was darf es sein, Sir?« »Voll, bitte. Es werden allerdings kaum zehn Liter hineingehen. Ich habe hauptsächlich angehalten, weil ich das Öl kontrolliert haben wollte.« »Okay, Sir.« Er machte einen hilfsbereiten und höflichen Eindruck. Er -97-
füllte den Tank und wischte die Windschutzscheibe fleckenlos rein. Doch als er die Haube öffnete, um den Ölstand zu prüfen, konnte er den Meßstab nicht finden. Ich zeigte ihm, wo er war. »Arbeiten Sie schon lange hier?« Er wurde verlegen. »Seit zwei Wochen. Ich habe noch nicht alle neuen Wagen kennengelernt.« »Machen Sie sich nichts daraus.« Ich blickte über die Straße auf den windüberfegten Strand, wo sich die langen Wellen brachen. »Hübsche Gegend hier. Würde mich gern hier draußen niederlassen.« »Kommen Sie von San Francisco?« »Mein Freund da.« Ich deutete auf Bolling, der noch mürrisch im Wagen saß. »Ich bin gestern abend von Santa Teresa heraufgekommen.« Er reagierte nicht auf den Namen. »Wissen Sie, wem die Strandgrundstücke hinter der Straße gehören?« »Tut mir leid, keine Ahnung. Mein Chef wird es aber wahrscheinlich wissen.« »Wo ist er?« »Mr. Turnell ist zum Essen gegangen. Aber er müßte bald zurück sein, falls Sie mit ihm sprechen wollen.« »Wie bald?« Er blickte auf seine billige Armbanduhr. »In fünfzehn oder zwanzig Minuten. Seine Mittagspause geht von elf bis zwölf. Jetzt ist es zwanzig vor zwölf.« »Dann könnte ich ja auf ihn warten. Ich habe es nicht eilig.« Bolling litt inzwischen sichtlich unter seiner Ungeduld. Mit einer verschwörerischen Geste winkte er mich zum Wagen. »Ist er Browns Sohn?« fragte er mit einem Bühnenflüstern. »Könnte sein.« -98-
»Warum fragen Sie ihn nicht?« »Ich warte darauf, daß er es von sich aus sagt. Immer mit der Ruhe, Mr. Bolling.« »Darf ich mit ihm sprechen?« »Lieber nicht. Es ist eine kitzelige Geschichte.« »Ich sehe nicht ein, warum. Entweder, er ist es, oder er ist es nicht.« Der junge Mann kam mir nach. »Stimmt etwas nicht, Sir? Kann ich noch etwas für Sie tun?« »Nein, danke, alles in Ordnung. Sie haben mich sehr gut bedient.« »Vielen Dank.« Seine Zähne glänzten hell in seinem sonnengebräunten Gesicht. Das Lächeln war jedoch gezwungen. Er schien die Spannung zwischen mir und Bolling zu spüren. So freundlich wie ich konnte, fragte ich: »Sind Sie aus dieser Gegend?« »Wahrscheinlich könnte ich sagen, ich war es einmal. Ich wurde ein paar Meilen von hier entfernt geboren.« »Aber Sie sind doch kein Hiesiger?« »Das ist richtig. Woran erkennen Sie das?« »Am Akzent. Ich würde sagen, Sie sind im Mittelwesten aufgewachsen.« »Bin ich auch.« Mein Interesse schien ihn zu freuen. »Ich bin erst in diesem Jahr aus Michigan herausgekommen.« »Haben Sie eine höhere Schulbildung?« »College, meinen Sie? Ja, ich war auf dem College… Warum fragen Sie?« »Ich dachte nur, Sie könnten etwas Besseres mit sich anfangen, als eine Benzinpumpe zu bedienen.« »Das hoffe ich«, antwortete er mit einem sehnsüchtigen Ausdruck. »Ich betrachte diese Arbeit als vorübergehend.« -99-
»Was würden Sie denn gern tun?« Er zögerte und errötete unter seiner Sonnenbräune. »Ich interessiere mich für Schauspielerei. Ich weiß, daß das lächerlich klingt. Die Hälfte der Leute, die nach Kalifornien kommen, wollen wahrscheinlich Schauspieler werden.« »Sind Sie deshalb nach Kalifornien gekommen?« »Das ist einer der Gründe.« »Dann ist das hier also ein Zwischenaufenthalt für Sie auf dem Wege nach Hollywood?« »So könnte man es wohl nennen.« Sein Gesicht wurde verschlossen. Die vielen Fragen schienen ihn mißtrauisch zu machen. »Waren Sie je in Hollywood?« »Nein, dort war ich noch nicht.« »Haben Sie schon Erfahrung im Theaterspielen?« »Ja, als Student.« »Wo?« »Auf der Universität von Michigan.« Damit hatte ich, was ich wollte. Eine Möglichkeit, sein Herkommen zu überprüfen, wenn er die Wahrheit sagte; falls er log, eine Möglichkeit zu beweisen, daß er log. Universitäten besitzen vollständige Unterlagen über ihre Studenten. »Der Grund, weshalb ich Sie das frage, ist folgender«, erklärte ich. »Ich habe ein Büro am Sunset Boulevard in Hollywood. Ich interessiere mich für Talente, und Sie sind mir wegen Ihres Aussehens gleich aufgefallen.« Sein Gesicht erhellte sich beträchtlich. »Sind Sie ein Agent?« »Nein, aber ich kenne eine Menge Agenten.« Ich wollte grundsätzlich eine direkte Lüge vermeiden, darum zog ich Boiling in die Unterhaltung hinein. »Mein Freund hier ist ein bekannter Schriftsteller, Mr. Chad Boiling. Sie haben vielleicht -100-
schon von ihm gehört.« Boiling war verwirrt. Er war ein empfindsamer Mann, und mein hinterhältiges Vorgehen gegenüber dem Jungen beunruhigte ihn. Er beugte sich aus dem Wagen, um ihm die Hand zu reichen. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Sir. Mein Name ist übrigens John Brown. Sind Sie beim Film?« »Nein.« Boiling fühlte sich behindert durch die Fragen, die ihm auf der Zunge lagen, die er aber nicht aussprechen sollte. Der junge Mann sah von Boiling zu mir und fragte sich wohl, wodurch er seine Gelegenheit verpatzt habe. Boiling hatte Mitleid mit ihm. Er warf mir einen herausfordernden Blick zu. »Ihr Name ist John Brown, sagen Sie?« fragte er. »Ich kannte einmal einen John Brown in Luna Bay.« »So hieß mein Vater. Dann müssen Sie meinen Vater gekannt haben.« »Ich glaube, ja.« Boiling stieg aus. »Ich habe Sie einmal gesehen, als Sie ein ganz kleines Baby waren.« Ich beobachtete John Brown. Er errötete freudig. Seine grauen Augen leuchteten auf und wurden dann feucht vor Erregung. Ich mußte mir ins Gedächtnis zurückrufen, daß er von sich gesagt hatte, er sei Schauspieler. Er drückte Boilings Hand zum zweitenmal. »Man stelle sich vor, Sie kannten meinen Vater. Wie lange ist es her, seit Sie ihn gesehen haben?« »Zweiundzwanzig Jahre. Eine lange Zeit.« »Dann wissen Sie nicht, wo er jetzt ist?« »Ich fürchte, nicht, John. Er verschwand aus meinem Blickfeld, kurz nachdem Sie geboren wurden.« Das Gesicht des jungen Mannes erstarrte. »Und Mutter?« Seine Stimme versagte fast bei dem Wort. -101-
»Die gleiche Geschichte«, sagte ich. »Erinnern Sie sich an Ihre Eltern?« Er antwortete widerstrebend: »Ich erinnere mich an meine Mutter. Sie brachte mich in ein Kinderheim in Ohio, als ich vier Jahre alt war. Sie versprach, mich wieder zurückzuholen. Aber sie kam niemals wieder. Zwölf Jahre verbrachte ich in dieser Anstalt und wartete, daß sie käme.« Sein Gesicht verdüsterte sich bei der Erinnerung. »Dann erkannte ich, daß sie tot sein mußte, und ich lief von dort fort.« »Wo war das?« fragte ich. »Wie hieß die Stadt?« »Crystal Springs, ein kleiner Ort in der Nähe von Cleveland.« »Und Sie sagten, daß Sie von dort fortgelaufen sind?« »Ja, als ich sechzehn war. Ich ging nach Ann Arbor in Michigan, um eine Schulbildung zu bekommen. Ein Mann namens Lindsay nahm mich auf. Er adoptierte mich nicht, aber er ließ mich seinen Namen tragen. Ich besuchte die Schule als John Lindsay.« »Warum wechselten Sie den Namen?« »Ich wollte meinen eigenen nicht gebrauchen. Ich hatte gute Gründe dafür.« »Sind Sie sicher, daß es nicht umgekehrt ist? Sind Sie sicher, daß John Lindsay nicht doch Ihr richtiger Name ist, und Sie den Namen Brown erst später annahmen?« »Weshalb hätte ich das tun sollen?« »Vielleicht bezahlt Sie jemand dafür.« Sein Gesicht wurde dunkelrot. »Wer sind Sie?« »Ein Privatdetektiv.« »Wenn Sie Detektiv sind, was soll denn dann all dieses Geschwätz über Hollywood und den Sunset Boulevard?« »Ich habe mein Büro am Sunset Boulevard.« »Aber was Sie sagten, war vorsätzlich irreführend.« -102-
»Lassen Sie das meine Sorge sein. Ich brauchte einige Informationen und habe sie bekommen.« »Sie hätten mich offen heraus fragen können. Ich habe nichts zu verbergen.« »Das werden wir ja sehen.« Bolling trat zwischen uns und platzte in plötzlich aufwallendem Ärger heraus: »Lassen Sie den Jungen in Frieden. Er ist offensichtlich echt. Ihre Unterstellungen sind beleidigend.« Ich stritt mich nicht mit ihm. Tatsächlich war ich bereit zu glauben, daß er recht habe. Der junge Mann trat ein paar Schritte von uns zurück, als ob wir es auf sein Leben abgesehen hätten. Seine Augen hatten die Farbe von Schiefer angenommen, und um seine Nasenflügel standen weiße Flecke. »Was soll das alles bedeuten?« »Regen Sie sich nicht auf.« »Ich rege mich nicht auf.« Er zitterte am ganzen Körper. »Sie kommen her und stellen mir einen Haufen Fragen und sagen mir, daß Sie meinen Vater kennen. Selbstverständlich will ich wissen, was das zu bedeuten hat.« Bolling trat zu ihm und legte ihm impulsiv die Hand auf den Arm. »Es könnte eine Menge für Sie bedeuten, John. Ihr Vater gehörte einer wohlhabenden Familie an.« Der junge Mann schob ihn von sich. In gewisser Weise war er für sein Alter unreif. »Das ist mir gleichgültig. Ich will meinen Vater sehen.« »Warum ist das so wichtig?« fragte Bolling. »Ich hatte nie einen Vater.« Sein zuckendes Gesicht war nackt im vollen Tageslicht. Tränen rannen ihm über die Wangen. Ärgerlich schüttelte er sie ab. Ich glaubte ihm und war zu Zugeständnissen bereit. »Im Augenblick habe ich Sie genug gefragt, John. Haben Sie -103-
übrigens mit der hiesigen Polizei gesprochen?« »Ja, und ich weiß auch, worauf Sie hinauswollen. In der Zweigstelle des Sheriffs haben Sie eine Kiste mit Knochen. Manche behaupten, es seien die Knochen meines Vaters, aber ich glaube es nicht. Und Hilfssheriff Mungan glaubt es auch nicht.« »Wollen Sie jetzt mit mir dorthinkommen?« »Das kann ich nicht«, antwortete er. »Ich kann die Tankstelle nicht allein lassen. Mr. Turnell erwartet von mir, daß ich bei meiner Arbeit bleibe.« »Wann machen Sie Feierabend?« »An Wochentagen um halb acht.« »Wo kann ich Sie heute abend erreichen?« »Ich wohne in einer Pension etwa eine Meile von hier entfernt. Bei Mrs. Gorgello.« Er nannte mir die Adresse. »Wollen Sie ihm nicht sagen, wer sein Vater war?« fragte Bolling. »Das werde ich, wenn es einwandfrei bewiesen ist. Kommen Sie jetzt, Bolling.« Widerstrebend stieg er zu mir in den Wagen.
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11 Die Zweigstelle des Sheriffs war in einem verputzten Schuhkarton von Haus gegenüber von einem traurig aussehenden ländlichen Hotel untergebracht. Bolling wollte lieber draußen im Wagen bleiben. Skelette machten ihm Angst, behauptete er. Hilfssheriff Mungan war ein sehr großer Mann, einen halben Kopf größer als ich, mit einem Gesicht wie eine unfertige Plastik. Ich nannte ihm meinen Namen und Beruf und gab ihm Dr. Dineens Schreiben. Als er es gelesen hatte, streckte er seine Hand über die Barriere, die den kleinen Raum unterteilte, und zerquetschte mir fast die Finger. »Jeder Freund von Doc Dineen ist auch mein Freund. Kommen Sie nach hinten zu mir rum und lassen Sie hören, was Sie herführt.« Ich kam nach hinten zu ihm rum und setzte mich auf den Stuhl, den er mir neben seinen Schreibtisch hinzog. »Es handelt sich um die Knochen, die draußen auf dem Grundstück der Marvista-Siedlung gefunden wurden. Ich habe gehört, Sie hätten sie vorläufig identifiziert.« »So weit möchte ich mit meinen Behauptungen nicht gehen. Doc Dineen glaubt, sie stammten von einem Mann, den er kannte, einem gewissen John Brown. Diese Theorie ließe sich mit der Fundstelle des Skeletts vereinbaren, schon richtig. Aber positiv festlegen können wir uns nicht. Das Schwierige ist, daß bisher in unserer Gegend hier noch niemals eine Vermißtenanzeige erstattet wurde, und wir waren nicht in der Lage, irgendeinen Vorgang oder einen Anhaltspunkt ausfindig zu machen. Selbstverständlich arbeiten wir noch daran.« Mungans breites Gesicht war ernst. Er sprach wie ein geschulter Polizist, und seine Augen waren messerscharf. -105-
»Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen, das Problem zu klären«, sagte ich. »Jede Hilfe, die Sie mir bieten können, ist willkommen. Die Sache zieht sich jetzt schon seit fünf Monaten hin, fast schon sechs.« Er warf mir eine schnelle Fangfrage hin. »Vertreten Sie vielleicht seine Familie?« »Ich vertrete eine Familie. Sie hat mich gebeten, ihren Namen nicht zu nennen. Und es steht noch in Frage, ob sie die Familie des Toten ist. Hat man bei den Knochen noch irgend etwas anderes gefunden? Eine Uhr oder einen Ring? Schuhe? Kleidungsstücke?« »Nichts, nicht einmal einen Fetzen von Kleidung.« »Ich nehme an, daß sie in zweiundzwanzig Jahren völlig verrottet sein kann. Wie steht es mit Knöpfen?« »Keine Knöpfe. Unsere Theorie ist, er wurde so begraben, wie er geboren wurde.« »Aber ohne Kopf.« Mungan nickte ernst. »Doc Dineen hat Sie scheint’s unterrichtet, was? Über den Kopf habe ich selbst schon nachgedacht. Vor ein paar Wochen kam ein junger Bursche hierher und behauptete, er sei John Browns Sohn.« »Glauben Sie nicht, daß er es ist?« »Er benahm sich so. Es griff ihn ziemlich an, als ich ihm die Knochen zeigte. Unglücklicherweise wußte er nicht mehr über seinen Vater als ich. Und das ist nichts, absolut nichts. Wir wissen, daß John Brown 1936 etwa zwei Monate draußen an der alten Bluff Road wohnte, aber das ist auch wirklich alles. Dazu kommt, daß der Junge nicht glaubt, es sei das Skelett seines Vaters. Und er kann damit recht haben. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich schon sagte. Sehen Sie, diese Sache mit dem Kopf. Als das Skelett gefunden wurde, nahmen wir an, der Mann wäre getötet worden, indem ihm der Kopf abgehackt -106-
wurde.« Mungan machte zwischen Zunge und Gaumen ein schnalzendes Geräusch und durchschnitt die Luft mit der Kante seiner riesigen Hand. »Vielleicht wurde er das, oder vielleicht wurde der Kopf erst nach dem Tod abgehauen, um Mittel zur Identifizierung zu beseitigen. Sie wissen, wie sehr wir von Zähnen und Plomben abhängen. Und damals in den dreißiger Jahren, ehe wir unsere modernen Labortechniken entwickelt hatten, waren Zähne und Plomben die Hauptsache, an die wir uns halten konnten. Wenn meine Hypothese richtig ist, war der Mörder ein Professioneller. Und das paßt auch zu gewissen anderen Fakten. In den zwanziger und dreißiger Jahren war das Gebiet der Bluff Road ein Tummelplatz für Verbrecher. Das war sie sogar noch bis vor ganz kurzer Zeit. Aber damals war das ein wirklich heißes Pflaster. Ein großer Teil des Schnapses, der während der Prohibition in San Francisco konsumiert wurde, kam übers Meer und wurde in Luna Bay an Land gebracht. Sie brachten noch anderes als Schnaps. Rauschgift, zum Beispiel, und Weiber aus Mexiko und Kanada. Haben Sie je vom ›Red Horse Inn‹ gehört?« »Nein.« »Es stand an der Küste, etwa eine Meile südlich von der Stelle, wo wir das Skelett fanden. Vor zwei Jahren wurde das Haus abgerissen, nachdem wir den Daumen darauf gelegt hatten. Es war ein Haus mit einer Geschichte. Früher war es ein Ausflugshotel für die Leute aus der City und von der Halbinsel. In den zwanziger Jahren übernahmen es die Rumschmuggler und verwandten es zu dreierlei Zwecken: Schnapslager im Keller, Bars und Glücksspiele im Erdgeschoß und oben Weiber. Ich weiß deshalb so viel darüber, weil ich 1930 etwa dort meinen ersten Schnaps trank. Und meine erste Frau hatte.« »So alt sehen Sie noch gar nicht aus.« »Damals war ich sechzehn. Ich glaube, das ist einer der Gründe, weshalb ich zur Polizei ging. Ich wollte Schufte wie Lempi aus der Welt schaffen. Lempi war der Boss der Bande, -107-
die das Haus in den zwanziger Jahren in der Hand hatte. Ich kannte ihn persönlich, aber das Gesetz faßte ihn, ehe ich groß genug für ihn war. 1932 nahmen sie ihn sich wegen Steuerhinterziehung vor, und ein paar Jahre später starb er im Zuchthaus. Einige seiner Revolverhelden wurden gleichzeitig mit ihm eingesperrt. Ich kannte die Kerle, verstehen Sie, und jetzt kommt der Punkt, auf den ich hinaus will. Ich wußte, wozu sie fähig waren. Sie mordeten für Geld, und sie mordeten, weil es ihnen Spaß machte. Sie prahlten öffentlich damit, daß keiner ihnen etwas anhaben könne. Eine Anklage vor den Bundesbehörden war notwendig, um Lempi kaltzustellen. In der Zwischenzeit verloren eine ganze Anzahl Leute ihr Leben. Unser Knochenmann könnte einer von ihnen sein.« »Sie sagten aber, daß Lempi und seine Leute 1932 ausgeräuchert wurden. Unser Mann wurde 1936 getötet.« »Das wissen wir nicht. Wir kamen zu dieser Schlußfolgerung auf Grund dessen, was Doc Dineen sagte, aber wir haben keinen greifbaren Beweis dafür in der Hand. Der Doc gibt zu, daß man das Todesjahr selbst mit einer chemischen Bodenanalyse nicht genauer als mit einer Fehlerquelle von plus minus fünf Jahren bestimmen kann. Unser Knochenmann könnte also schon 1931 umgelegt worden sein. Ich sage, könnte.« »Oder auch erst 1941?« fragte ich. »Ganz richtig. Sie sehen, wie wenig wir in der Hand haben.« »Darf ich mir denn mal ansehen, was Sie haben?« »Warum nicht?« Mungan ging in ein Hinterzimmer und kam mit einer großen Metallkiste zurück. Er stellte sie auf seinen Schreibtisch, schloß sie auf und hob den Deckel. Ihr Inhalt war wie Kraut und Rüben durcheinandergeworfen. Nur die Wirbel waren auf einen Draht aufgezogen und lagen gewunden wie das Skelett einer Schlange auf dem Haufen. Mungan zeigte mir die Stelle, wo der Halswirbel durch ein schneidendes Instrument durchtrennt -108-
worden war. Die größeren Knochen waren mit Anhängern gekennzeichnet: Linker Femur, linke Fibula und so weiter. Mungan nahm einen der schweren, etwa einen Fuß langen Knochen heraus. Er war mit ›rechter Humerus‹ bezeichnet. »Das ist der Oberarmknochen«, sagte er in belehrendem Ton. »Kommen Sie mit zum Fenster hinüber. Ich will Ihnen etwas zeigen.« Er hob den Knochen ans Licht. Dicht an einem der knotigen Enden entdeckte ich eine dünne Linie, die von Kalkablagerungen ausgefüllt und umgeben war. »Ein Bruch?« fragte ich. »Das hoffe ich, und in mehr als nur einem Sinn. Es ist ein geheilter Bruch, das einzig Ungewöhnliche an dem ganzen Skelett. Dineen sagt, er sei wahrscheinlich von einer geübten Hand gerichtet worden, einem Arzt. Wenn wir den Arzt finden könnten, der den Bruch richtete, hätten wir Antwort auf einige unserer Fragen. Wenn Sie also einen Einfall haben…« Mungan ließ seine Stimme verklingen, aber seine Augen blieben fest auf mein Gesicht gerichtet. »Ich werde mal ein bißchen telefonieren.« »Sie können mein Telefon benutzen.« »Eine Telefonzelle wäre mir lieber.« »Wie Sie wollen. Im Hotel auf der anderen Straßenseite ist eine.« Ich fand die Telefonzelle im Hintergrund der winzigen Hotelhalle und meldete ein Gespräch nach Santa Teresa an. Sables Sekretärin verband mich mit ihm. »Hier Archer, das Ein-Mann-Stahlnetz«, meldete ich mich. »Ich bin in Luna Bay.« »Wo sind Sie?« »In Luna Bay, einer kleinen Stadt an der Küste südlich von San Francisco. Ich habe einiges für Sie. Die Knochen eines -109-
Toten und einen lebendigen jungen Mann. Ich will mit den Knochen anfangen.« »Sagten Sie Knochen?« »Ganz richtig, Knochen. Sie wurden zufällig vor etwa sechs Monaten ausgegraben und befinden sich hier in der Zweigstelle des Sheriffs. Sie sind noch nicht identifiziert, aber die Wahrscheinlichkeit, daß sie dem Mann gehören, den ich suche, ist groß. Und noch größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß er vor zweiundzwanzig Jahren ermordet wurde.« Die Leitung blieb stumm. »Haben Sie mich verstanden, Sable? Er wurde vermutlich ermordet.« »Ich habe verstanden. Aber Sie sagten doch, die Überreste seien noch nicht identifiziert.« »Dabei können Sie mir helfen, wenn Sie wollen. Notieren Sie sich das lieber. Der rechte Oberarmknochen war dicht am Ellbogen gebrochen. Offensichtlich wurde der Bruch von einem Arzt gerichtet. Ich möchte, daß Sie nachprüfen, ob sich Tony Galton einmal den rechten Arm gebrochen hat, und wenn ja, welcher Arzt ihn behandelte. Es kann Howell gewesen sein, dann wäre das leicht festzustellen. Ich rufe in einer Viertelstunde wieder an.« »Einen Augenblick. Sie sprachen von einem jungen Mann. Was hat er damit zu tun?« »Das bleibt noch abzuwarten. Er glaubt, daß er der Sohn des Toten ist.« »Tonys Sohn?« »Ja, aber er ist sich dessen nicht sicher. Er kam aus Michigan hierher in der Hoffnung, herauszufinden, wer sein Vater war.« »Glauben Sie, daß er Tonys Sohn ist?« »Darauf würde ich nicht gerade die Ersparnisse meines Lebens wetten, aber auch nicht auf das Gegenteil. Er hat eine -110-
starke Ähnlichkeit mit Tony. Auf der anderen Seite hat die Geschichte, die er mir erzählte, schwache Punkte.« »Was für eine Geschichte erzählt er denn?« »Für das Telefon ist sie ziemlich lang und kompliziert. Er wurde in einem Waisenhaus erzogen, sagte er, ging unter einem angenommenen Namen aufs College und kam vor einem Monat hierher, um herauszufinden, wer er wirklich ist. Ich will nicht sagen, daß es sich nicht so abspielte, wie er behauptet, aber es muß noch bewiesen werden.« »Was ist er denn für ein Mensch?« »Intelligent, kann sich gut ausdrücken und hat recht gute Manieren. Wenn er ein Schwindler ist, ist er für sein Alter raffiniert.« »Wie alt ist er denn?« »Zweiundzwanzig.« »Sie arbeiten sehr schnell«, sagte er. »Ich hatte Glück. Was gibt’s bei Ihnen? Hat Trask meinen Wagen finden können?« »Ja. Man hat ihn in San Luis Obispo gefunden.« »Ist er im Eimer?« »Er ist vollkommen in Ordnung, nur der Tank war leer. Ich habe ihn selbst gesehen. Trask hat ihn in der Dienstgarage untergestellt.« »Was ist mit dem Mann, der ihn gestohlen hat?« »Noch nichts Definitives bekannt. Wahrscheinlich stahl er in San Luis einen anderen Wagen. Gestern am späten Nachmittag ist einer verschwunden. Übrigens sagte mir Trask, daß der Jaguar, der Mordwagen, wie er ihn nennt, auch ein gestohlenes Auto ist.« »Wer ist der Besitzer?« »Ich habe keine Ahnung. Der Sheriff forscht der Motornummer nach.« -111-
Ich hängte ein und verbrachte den größten Teil der nächsten fünfzehn Minuten damit, über Marian Culligan Matheson und ihr ehrbares Leben in Redwood City, das ich noch einmal stören mußte, nachzudenken. Dann rief ich Sable wieder an. Die Leitung war besetzt. Zehn Minuten später versuchte ich es noch einmal und bekam ihn an den Apparat. »Ich habe mit Dr. Howell gesprochen«, sagte er. »Tony brach sich den rechten Arm, als er auf der Oberschule war. Howell hat den Bruch nicht selbst behandelt, kennt aber den Arzt, der es tat. Auf jeden Fall war es ein Bruch des Oberarmknochens.« »Versuchen Sie, ob die Röntgenaufnahme noch zu finden ist. Im allgemeinen bewahren sie Röntgenfilme nicht so lange auf, aber der Versuch kann sich lohnen. Es ist die einzige Methode für eine eindeutige Identifizierung, die ich mir denken kann.« »Was ist mit den Zähnen?« »Alles oberhalb des Halses fehlt.« Sable brauchte ein paar Sekunden, um das zu verdauen. Dann sagte er: »Guter Gott!« Und nach einer Pause: »Vielleicht sollte ich hier alles stehen und liegen lassen und zu Ihnen hinaufkommen. Was meinen Sie?« »Das wäre eine gute Idee. Es gäbe Ihnen die Möglichkeit, sich mit dem jungen Mann zu unterhalten.« »Ich glaube, das werde ich tun. Wo ist er jetzt?« »Bei der Arbeit. Er arbeitet bei einer Tankstelle in der Stadt. Wie lange werden Sie brauchen, um herzukommen?« »Ich werde zwischen acht und neun da sein.« »Treffen Sie mich um neun in der Zweigstelle des Sheriffs. Sind Sie damit einverstanden, wenn ich inzwischen den hiesigen Hilfssheriff ins Vertrauen ziehe? Er ist ein guter Mann.« »Mir wäre lieber, Sie täten es nicht.« »Sie können einen Mordfall vor der Öffentlichkeit nicht verheimlichen.« -112-
»Das ist mir bewußt«, erwiderte Sable scharf. »Wir wissen aber noch nicht sicher, ob Tony das Opfer war, oder?« Ehe ich darauf erwidern konnte, hängte Sable ein.
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12 Ich rief das Gerichtsgebäude in Santa Teresa an und bekam nach einigem Hin und Her Sheriff Trask selbst an den Apparat. Seine Stimme klang abgehetzt. »Was gibt es denn?« »Gordon Sable sagte mir gerade, Sie hätten festgestellt, woher der Mordwagen im Fall Culligan stammt.« »Das hat uns auch nicht viel geholfen. Er wurde vorgestern abend in San Francisco gestohlen. Der Dieb hat die Nummernschilder ausgetauscht.« »Wer ist der Eigentümer?« »Ein Mann in San Francisco. Ich beabsichtige, jemand hinzuschicken, um mit ihm zu sprechen. Soweit ich feststellen konnte, hat er den Diebstahl nicht gemeldet.« »Das klingt nicht besonders gut. Ich bin jetzt in der Nähe von San Francisco, in Luna Bay. Wollen Sie, daß ich mal zu ihm gehe?« »Ach, da wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich kann hier wirklich niemand entbehren. Der Mann heißt Roy Lemberg. Er wohnt in einem Hotel, das sich ›Sussex Arms‹ nennt.« Eine Stunde später fuhr ich in das Parkhaus unter dem Union Square. Bolling verabschiedete sich von mir am Eingang. »Viel Glück bei Ihrem Fall«, sagte er. »Viel Glück mit Ihrem Gedicht und vielen Dank.« Das ›Sussex Arms‹ lag wie das Hotel, in dem ich die Nacht verbracht hatte, in einer Seitenstraße. Es befand sich mehrere Blocks näher an der Market Street und war um einige Grade heruntergekommener. Der Empfangsportier hatte große, -114-
sorgenvolle Augen und sehr anpassungsfähige Manieren. Das Leben mußte ihn ganz schön in die Mangel genommen haben. Er sagte, Mr. Lemberg sei wahrscheinlich bei der Arbeit. »Wo arbeitet er?« »Angeblich ist er Autoverkäufer.« »Was heißt hier angeblich?« »Ich glaube, es geht ihm nicht sehr gut. Er arbeitet gegen Provision für einen Gebrauchtwagenhändler. Ich weiß das, weil er versuchte, mir einen Wagen zu verkaufen.« Er kicherte verächtlich, als ob er das Geheimnis eines fortschrittlicheren Transportmittels besäße. »Wohnt Lemberg schon lange hier?« »Na, es sind schon ein paar Wochen. Handelt es sich etwa um eine polizeiliche Nachforschung?« »Ich will ihn in einer persönlichen Angelegenheit sprechen.« »Vielleicht ist Mrs. Lemberg oben in ihrem Zimmer. Gewöhnlich ist sie da.« »Versuchen Sie es bitte. Mein Name ist Archer. Ich bin daran interessiert, ihren Wagen zu kaufen.« Er rief in ihrem Zimmer an und gab die Nachricht weiter. »Mrs. Lemberg sagt, Sie möchten heraufkommen. Es ist Zimmer 311. Sie können den Fahrstuhl nehmen.« Der Fahrstuhl transportierte mich in den dritten Stock. Am Ende des staubigen Ganges schimmerte eine Blondine in einem rosa Morgenmantel wie eine verheißungsvolle Geistererscheinung. Wenn man näherkam, ließ ihr Glanz nach. Ihr Haar dunkelte an den Wurzeln nach, und ihr Lächeln hatte etwas Verzweifeltes. Sie wartete, bis ich ihr fast auf die Füße trat, dann gähnte sie und reckte sich elastisch. Ihr Atem roch nach Wein und Schlaf. Aber ihre Figur war sehr gut, vollbusig und mit schlanker Taille. Ich fragte mich, ob sie sie zum Kauf anbot oder nur ihre Vorzüge zur Schau stellen wollte. -115-
»Sind Sie Mrs. Lemberg?« »Ja. Und was ist nun mit dem Jaguar los? Heute morgen rief jemand an und sagte mir, er wäre gestohlen worden. Und jetzt wollen Sie ihn kaufen?« »Was? Der Wagen ist gestohlen worden?« »Das war nur eine von Roys Spinnereien. Dauernd kommt er mit so was an. Wollen Sie den Wagen wirklich kaufen?« »Nur, wenn die Besitzverhältnisse eindeutig geklärt sind«, antwortete ich zurückhaltend. Meine Zurückhaltung weckte ihren Eifer, wie ich es beabsichtigt hatte. »Kommen Sie herein, wir wollen darüber sprechen. Der Jaguar läuft auf seinen Namen, aber den Preis bestimme ich.« Ich folgte ihr in das kleine Zimmer. Durch die zerschlissenen Stellen in der geschlossenen Sonnenblende spähte das Tageslicht neugierig ins Zimmer. Sie knipste eine Lampe an und deutete auf einen Sessel, über dessen Rücklehne ein Herrenhemd hing. Neben dem Sessel stand eine halb geleerte Zweiliterflasche mit Muskateller auf dem Boden. »Setzen Sie sich. Entschuldigen Sie die Unordnung. Ich habe beruflich so viel zu tun, daß ich keine Zeit zum Aufräumen finde.« »Was arbeiten Sie denn?« »Ich bin Modell. Aber setzen Sie sich doch. Das Hemd muß sowieso in die Wäsche.« Ich setzte mich und lehnte mich gegen das Hemd. Sie warf sich auf das Bett, und ihr Körper nahm automatisch eine herausfordernde Stellung ein. »Wollten Sie ihn bar bezahlen?« »Falls ich kaufe, ja.« »Wir könnten wirklich einen Batzen Bargeld gebrauchen. An welchen Preis dachten Sie denn? Ich warne Sie, wir werden ihn -116-
nicht zu billig abgeben. Meine einzige Erholung von der Arbeit ist, aufs Land hinauszufahren, die Bäume und all das.« Ihre eigenen Worte schienen sie zu verwundern. »Nicht etwa, daß er mich in dem Jaguar hinausfährt. Ich bekomme den Wagen kaum noch zu sehen. Dieser Bruder von ihm hat ihn sich vollkommen unter den Nagel gerissen. Roy ist so weich, mit ihm kann man alles machen, der läßt sich noch die Butter vom Brot nehmen. Wie neulich abend erst.« »Was passierte denn neulich abend?« »Die alte Leier. Tommy kam mit einem seiner üblichen großartigen Einfälle. Er sah wieder einmal eine günstige Gelegenheit zu einem seiner großen Geschäfte, bei denen nie etwas herauskommt. Alles, was er braucht, ist ein Wagen, verstehen Sie? Und er kann im Handumdrehen ein Vermögen machen. Darum lieh Roy ihm den Wagen. So mal eben! Tommy könnte ihm sogar seine Zahnplomben abschwatzen.« »Wann war denn das?« »Vorgestern abend, glaube ich. Ich komme mit den Tagen und Nächten durcheinander.« »Ich wußte gar nicht, daß Roy einen Bruder hat«, warf ich ihr als Köder hin. »Doch, er hat einen Bruder.« Ihr Ton war ausdruckslos. »Roy hat diesen Bruder am Hals, bis daß der Tod uns scheidet. Wenn dieser Lump nicht wäre, wären wir noch in Nevada und lebten wie Gott in Frankreich.« »Was meinen Sie damit?« »Ich rede zuviel.« Aber jahrelanges Pech hatte ihren Verstand getrübt und schlechter Wein ihre Zunge gelockert. »Die Bewährungsfürsorge hat gesagt, sie würden ihn vorzeitig entlassen, wenn sich jemand bereit erklären würde, die Verantwortung für ihn zu übernehmen. Darum zogen wir nach Kalifornien, um Tommy ein Heim zu bieten.« -117-
Ich dachte, soll das hier ein Heim sein? Sie bemerkte meinen Blick. »Wir haben nicht immer hier gewohnt. Wir machten eine Anzahlung auf ein wirklich hübsches kleines Haus in Daly City. Aber Roy fing wieder an zu trinken, und wir konnten es nicht halten.« Sie wälzte sich auf den Bauch und stützte ihr Kinn in die Hand. Ihre porzellanblauen Augen sahen in dem trüben Licht der Lampe gebrochen aus. »Ich will ihm daraus keinen Vorwurf machen«, fügte sie etwas nachsichtiger hinzu. »Dieser Bruder von ihm könnte einen Heiligen zum Trinken bringen. Roy hat nie im Leben jemand etwas zuleide getan. Außer mir. Und was kann man von einem Mann anderes erwarten.« Ihre Asphaltunschuld rührte mich. Die lange Kurve ihrer Hüften und Oberschenkel, die Rundung ihres vollen Busens wirkten wie die Verkleidung einer Halbwüchsigen, die sich vor dem Leben fürchtet. »Weshalb war Tommy eingesperrt?« »Er schlug einen Mann nieder und nahm ihm die Brieftasche ab. In der Brieftasche waren drei Dollar, und Tommy bekam dafür sechs Monate.« »Das bedeutet für fünfzig Cent einen Monat. Tommy muß geradezu ein Genie sein.« »Ja. Sie sollten ihn erst einmal darüber reden hören. Seine Strafzeit war noch nicht abgelaufen, aber vielleicht benimmt er sich anständig, wenn er sitzt und jemand auf ihn aufpaßt. Doch wenn er wieder draußen ist, packt es ihn.« Sie neigte den Kopf zur Seite, und ihr helles Haar fiel ihr über die Hand. »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Nach meinen Erfahrungen reden meistens die Männer. Wahrscheinlich haben Sie ein Gesicht, das einen zum Reden verleitet.« »Tun Sie sich nur keinen Zwang an.« »Vielen Dank für das Angebot. Aber Sie sind hier, um ein Auto zu kaufen. Fast hätte ich es vergessen. Ich sorge mich -118-
zuviel. Ich vergesse immer gleich alles.« Ihr Blick glitt von meinem Gesicht zu der Muskatellerflasche. »Ich habe auch ein paar Schlückchen getrunken, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen.« Sie zog sich eine Locke über ihre Augen und betrachtete mich durch die Haare hindurch. Ich fand ihr albernes Backfischgetue zum Kotzen. Ich fragte: »Wann kann ich mir den Jaguar ansehen?« »Jederzeit, denke ich. Aber vielleicht sprechen Sie besser mit Roy.« »Wo kann ich ihn finden?« »Fragen Sie mich das nicht. Um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, ich weiß nicht einmal, ob Tommy den Wagen schon zurückgebracht hat.« »Warum hat Roy denn gesagt, daß der Wagen gestohlen wurde?« »Weiß ich nicht. Ich schlief noch halb, als er ging. Ich habe ihn nicht gefragt.« Der Gedanke an Schlaf ließ sie gähnen. Sie ließ den Kopf sinken und lag regungslos da. Der Verkehr in der Straße brauste wie eine feindliche Armee vorbei. Dann kamen Schritte durch den Gang und hielten vor der Tür inne. Ein Mann fragte leise durch die geschlossene Tür: »Bist du beschäftigt, Fran?« Sie stützte sich auf die Arme wie ein Boxer, der benommen hört, wie er ausgezählt wird. »Bist du das, Schatz?« »Ja. Bist du beschäftigt?« »Nein, du störst gar nicht. Komm nur herein.« Der Mann stieß die Tür auf, sah mich und fuhr zurück wie einer, der eine intime Szene nicht stören will. »Entschuldigung.« Seine Augen waren flink und unsicher. Er war erst Anfang Dreißig, doch hatte er einen gewissen Ausdruck an sich, schwer zu definieren, aber deutlich wahrnehmbar wie ein Geruch, den Ausdruck eines Mannes, der seinen Halt verloren hat und -119-
abgleitet. Sein Anzug war gut gebügelt, aber schon zu lange nicht mehr gereinigt worden. Die Fälligkeit seines Gesichtes gab ihm eine teigige Trägheit, als ob es aufgehört hätte, auf etwas anderes als Krisen zu reagieren. Dieses Gesicht interessierte mich. Wenn ich nicht von dem Wahn verfolgt wurde, überall Familienähnlichkeiten zu entdecken, war er eine ältere und weichlichere Ausgabe des Burschen, der meinen Wagen gestohlen hatte. Die dunklen Locken dieses Mannes waren dünner und strähniger, und die Gewalttätigkeit des jüngeren war bei ihm Ängstlichkeit. Er sagte zu seiner Frau: »Ich dachte, du wärst nicht beschäftigt.« »Bin ich auch nicht. Ich ruhe mich nur aus.« Sie wälzte sich herum und setzte sich auf. »Der Herr hier will den Jaguar kaufen.« »Er ist nicht verkäuflich.« Lemberg schloß die Tür hinter sich. »Wer hat Ihnen gesagt, daß ich ihn verkaufen will?« »Man hört so manches.« »Was haben Sie sonst noch gehört?« Er war schnell von Begriff. Ich hielt es für unwahrscheinlich, ihn lange hinhalten zu können, darum zielte ich auf seine verwundbare Stelle. »Ihr Bruder steckt in der Klemme.« Sein Blick wanderte zu meinen Schultern, meinen Händen, meinem Mund und dann zu meinen Augen. Ich glaube, meine Worte reizten ihn so, daß er am liebsten auf mich losgeschlagen hätte, aber ich hätte ihn in der Luft zerreißen können. Und das mußte er erkannt haben. Trotzdem beging er in seiner Wut oder Hilflosigkeit eine Ungeschicklichkeit. »Hat Schwartz Sie geschickt, mir das zu sagen?« »Wer?« »Sie brauchen sich nicht dumm zu stellen. Otto Schwartz.« Er gurgelte die Worte geradezu. »Wenn er Sie geschickt hat, -120-
können Sie ihm von mir was ausrichten. Sagen Sie ihm, er könnte ins Wasser gehen und sich ersäufen. Dann wäre uns allen wohler.« Ich stand auf. Instinktiv hob Lemberg einen Arm, um sein Gesicht zu schützen. Diese Geste verriet mir vieles über ihn und sein Herkommen. »Ihr Bruder ist in einer sehr bösen Klemme und Sie auch. Er ist gestern nach Süden gefahren, um einen Mord zu begehen. Sie haben ihm den Wagen dazu gestellt.« »Ich wußte nicht, was…« Der Mund blieb ihm offenstehen, und er schloß ihn mit einem Schnappen. »Wer sind Sie?« »Ein Freund der Familie. Sagen Sie mir, wo Tommy ist.« »Ich weiß es doch nicht. Er ist nicht in seinem Zimmer. Er kam noch gar nicht zurück.« »Sind Sie von der Bewährungsfürsorge?« fragte die Frau. »Nein.« »Wer sind Sie?« wiederholte Lemberg. »Was wollen Sie?« »Ihren Bruder Tommy.« »Ich weiß nicht, wo Tommy ist. Ich schwöre es.« »Was hat Otto Schwartz mit Ihnen und Tommy zu tun?« »Ich weiß nicht.« »Sie haben seinen Namen genannt. Hat Schwartz Tommy beauftragt, Culligan zu ermorden?« »Wen?« fragte die Frau. »Wer ist ermordet worden?« »Peter Culligan. Kannten Sie ihn?« »Nein«, antwortete Lemberg an ihrer Stelle, »wir kannten ihn nicht.« Ich näherte mich ihm. »Sie lügen, Lemberg. Für Sie ist es besser, wenn Sie auspacken und mir alles sagen, was Sie darüber wissen. Tommy ist nicht der einzige, der in der Klemme steckt. Sie sind mitschuldig an jedem Verbrechen, das er begeht.« -121-
Er wich zurück, bis er mit seinen Beinen das Bett berührte. Er sah auf seine Frau hinunter, als ob sie die einzige Quelle für Trost für ihn wäre. Sie blickte mich an. »Was soll Tommy getan haben?« »Er hat einen Mord begangen.« »Um Gottes willen.« Sie ließ ihre Beine vom Bett gleiten, stand auf und sah ihren Mann an. »Und du hast ihm den Wagen geliehen?« »Was konnte ich denn tun? Er gehört ihm doch. Er läuft doch nur auf meinen Namen.« »Wegen der Bewährung?« fragte ich. Er gab mir keine Antwort. Die Frau schüttelte ihn am Arm. »Sag ihm, wo Tommy ist.« »Ich weiß nicht, wo er ist.« Lemberg wandte sich zu mir. »Das ist reine Wahrheit.« »Was ist mit Schwartz?« »Als wir in Reno wohnten, hat Tommy für ihn gearbeitet. Und sie haben schon mehrmals Nachricht geschickt, daß Tommy dort wieder anfangen könnte.« »Worin bestand denn seine Arbeit dort?« »Sie ließen ihn jede Schmutzarbeit tun, die sie sich nur ausdenken konnten.« »Inklusive Mord.« »Tommy hat nie einen Mord begangen.« »Bis zu diesem, meinen Sie.« »Das glaube ich erst, wenn ich es von ihm selber höre.« Die Frau stöhnte auf. »Du bist und bleibst ein Idiot. Hat er jemals etwas für dich getan, Roy?« »Er ist mein Bruder.« »Werden Sie von ihm hören?« fragte ich. -122-
»Das hoffe ich.« »Würden Sie mich dann benachrichtigen?« »Ganz bestimmt«, log er. Ich fuhr im Fahrstuhl hinunter und legte eine Zehndollarnote vor dem Empfangsportier auf das Pult. Träge zog er eine Augenbraue hoch. »Wofür ist das? Wollen Sie ein Zimmer haben?« »Nein, danke, heute nicht. Das ist Ihre Aufnahmebescheinigung in die Gesellschaft der jugendlichen Geheimpolizei. Morgen bekommen Sie Ihren vorläufigen Mitgliedsausweis.« »Wieder zehn?« »Sie sind schnell von Begriff.« »Und was muß ich dafür tun?« »Auf Lembergs Besucher achten, falls welche kommen, und auf jedes Telefongespräch, besonders Ferngespräche.« »Soll geschehen.« Seine Hand ließ den Schein mit einer flinken Bewegung verschwinden. »Was ist mit Besuchern, die zu ihr kommen?« »Hat sie viele?« »Sie kommen und gehen.« »Werden Sie von ihr dafür bezahlt, daß Sie sie kommen und gehen lassen?« »Das geht nur sie und mich etwas an. Sind Sie von der Polizei?« »Wofür halten Sie mich«, antwortete ich, als ob die Frage eine Beleidigung wäre. »Passen Sie nur so gut auf, wie Sie können. Falls etwas dabei herauskommt, gebe ich Ihnen vielleicht eine Prämie.« »Was soll dabei herauskommen?« »Das wird sich zeigen. Ich werde Sie auch in meinen Memoiren erwähnen.« -123-
»Ist das nicht zuviel der Ehre?« »Wie heißen Sie?« »Jerry Farnsworth.« »Haben Sie morgen Dienst?« »Um welche Zeit morgen?« »Jederzeit.« »Für eine Prämie könnte ich es.« »Ein Fünfer extra«, versprach ich und verließ das Hotel. An der gegenüberliegenden Ecke war eine Buchhandlung. Ich ging hinüber, kaufte mir eine Saturday Review und bohrte ein Loch in den Umschlag. Eine Stunde oder länger beobachtete ich die Tür des ›Sussex Arms Hotel‹ in der Hoffnung, daß die Lembergs meine literarische Tarnung nicht durchschauen würden. Aber die Lembergs kamen nicht heraus.
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13 Es war fünf vorbei, als ich in Redwood City ankam. Die Züge nach Süden fuhren alle paar Minuten im Pendelverkehr. Die Fahrgäste sahen alle mehr oder weniger gleich aus; Hut auf dem Kopf, Aktentasche in der Hand und Zeitung unterm Arm, marschierten sie erschöpft zu ihren parkenden Wagen. Von dem Verkehrspolizisten an der Bahnhofsecke ließ ich mir den Weg zum Sherwood Drive beschreiben. Es war ein Wohnviertel für jüngere leitende Angestellte, bedeutend besser als die Marvista-Siedlung. Die Häuser standen weiter auseinander und unterschieden sich in architektonischen Einzelheiten. In den Gärten blühten Blumen um die Wette. Vor dem Hause der Mathesons lag ein Fahrrad im Gras. Ein kleiner Junge öffnete mir auf mein Klopfen. Er hatte schwarze Augen wie seine Mutter und kurzes, braunes Haar, das ihm vor Anstrengung regelrecht vom Kopf abstand. »Ich mache gerade Liegestütze«, sagte er schwer atmend. »Wollen Sie zu meinem Daddy? Der ist nicht da, ich meine, er ist noch nicht aus der Stadt zurückgekommen.« »Ist deine Mutter zu Hause?« »Die ist zum Bahnhof, ihn abholen. In elf Minuten müßten sie zurück sein. So alt bin ich nämlich.« »Was, elf Minuten?« »Elf Jahre, natürlich. Letzte Woche hatte ich Geburtstag. Wollen Sie mal sehen, wie ich ein paar Liegestütze mache?« »Aber gern.« »Kommen Sie rein. Ich zeig’s Ihnen.« Ich folgte ihm in ein Wohnzimmer, das von einem großen -125-
Ziegelkamin mit erhöhter Feuerstelle beherrscht wurde. Alles in dem Zimmer war so neu und sauber, die Möbel ringsherum so sorgfältig zurechtgerückt, daß es fast abstoßend wirkte. Der Junge warf sich mitten auf den großen, grünen Teppich. »Passen Sie auf.« Er machte einige Liegestütze, bis seine Arme unter ihm nachgaben. Keuchend wie ein Hund an einem heißen Tag sprang er auf. »Jetzt, wo ich es raushabe, kann ich die ganze Nacht Liegestütze machen, wenn ich will.« »Du solltest dich nicht überanstrengen.« »Quatsch, ich bin stark. Mr. Steele sagt, ich bin stark für mein Alter. Das kommt von meiner Körperbeherrschung. Hier, fühlen Sie mal meine Muskeln.« Er zog den Ärmel seines Pullovers hoch, spannte seinen Bizeps und brachte einen eigroßen Klumpen zustande. Ich betastete ihn. »Der ist aber hart.« »Das kommt von den Liegestützen. Finden Sie mich groß für mein Alter oder nur durchschnittlich?« »Ziemlich groß, würde ich sagen.« »So groß, wie Sie mit elf waren?« »Ungefähr.« »Wie groß sind Sie jetzt?« »Etwas über einsachtzig.« »Und wieviel wiegen Sie?« »Ungefähr hundertsiebzig Pfund.« »Haben Sie mal Football gespielt?« »Ein bißchen, in der Oberschule.« »Glauben Sie, daß aus mir mal ein Football-Spieler wird?« fragte er hoffnungsvoll. »Warum denn nicht?« -126-
»Das hoffe ich auch. Ich will Football-Spieler werden.« Er schoß aus dem Zimmer und kam sofort mit einem Football zurück, den er mir von der Tür aus zuwarf. »Achtung, Tor!« schrie er. Ich fing den Ball und sagte: »Gehalten!« Das schien er sehr komisch zu finden. Er lachte und ließ sich auf den Boden fallen. Da er in der richtigen Stellung war, machte er gleich ein paar Liegestütze. »Hör auf, davon werde ich müde.« »Ich werde nie müde«, prahlte er erschöpft. »Wenn ich mit Liegestützen durch bin, renne ich einmal um den Block.« »Rede nicht davon. Wenn ich es nur höre, bin ich schon fertig.« Ein Wagen bog in die Auffahrt. Der Junge erhob sich atemlos vom Boden. »Das sind Mummy und Daddy. Ich sage Ihnen, daß Sie da sind, Mr. Steele.« »Mein Name ist Archer. Wer ist Mr. Steele?« »Mein Turnlehrer. Ich habe Sie mit ihm verwechselt, glaube ich.« Das schien ihm nichts auszumachen, aber mich störte es. Es war eine Vertrauenserklärung, und ich wußte nicht, was ich seiner Mutter antun mußte. Sie kam allein herein. Ihr Gesicht wurde hart und bleich, als sie mich erkannte. »Was wollen Sie? Was machen Sie mit dem Football meines Jungen?« »Ich halte ihn. Er hat ihn mir zugeworfen, und ich habe ihn aufgefangen.« »Wir haben’s gemacht wie im Endspiel«, sagte der Junge, aber seine Fröhlichkeit war verschwunden. -127-
»Lassen Sie meinen Jungen in Ruhe. Haben Sie mich verstanden?« Sie wandte sich an das Kind. »James, dein Vater ist in der Garage. Du kannst ihm helfen, die Lebensmittel hereinzutragen. Und nimm deinen Ball mit.« »Hier.« Ich warf ihm den Ball zu. Er trug ihn hinaus, als ob er aus Eisen wäre. Die Tür schloß sich hinter ihm. »Er ist ein netter Junge.« »Als ob Sie das interessierte! Warum kommen Sie her und belästigen mich? Ich habe heute morgen mit der Polizei gesprochen. Mit Ihnen brauche ich mich nicht zu unterhalten.« »Ich glaube aber, daß Sie es wollen.« »Ich kann nicht. Mein Mann… Er weiß nichts.« »Was weiß er nicht?« »Bitte.« Sie kam schnell auf mich zu, schwerfällig, fast als ob sie fiele, und umklammerte meinen Arm. »Ron kann jeden Augenblick kommen. Sie werden mich doch nicht zwingen, vor ihm zu sprechen?« »Schicken Sie ihn fort.« »Wie kann ich das? Er will sein Abendessen.« »Sagen Sie, Sie brauchten noch etwas aus dem Lebensmittelgeschäft.« »Aber wir waren doch gerade in dem Geschäft.« »Dann denken Sie sich etwas anderes aus.« Ihre Augen verengten sich zu zwei schwarzen, glitzernden Schlitzen. »Sie verdammter Kerl! Sie kommen hierher und zerstören mein Leben. Was habe ich denn getan, daß mir so etwas passieren muß?« »Das ist die Frage, die Sie zu beantworten haben, Mrs. Matheson.« »Wollen Sie nicht gehen und später wiederkommen?« -128-
»Später habe ich anderes zu tun. Sehen Sie zu, daß wir schnell damit fertig werden.« »Ich wünschte nur, ich könnte es.« Die hintere Tür wurde geöffnet. Sie fuhr von mir zurück. Ihr Gesicht glättete sich und wurde leer wie das einer Sterbenden. »Setzen Sie sich«, sagte sie. »Sie können sich ruhig setzen.« Ich nahm auf der Kante eines mit hartem, glänzendem, grünem Brokat bespannten Sofas Platz. Schritte durchquerten die Küche und Papier raschelte. Ein Mann erhob seine Stimme: »Marian, wo bist du?« »Ich bin hier vorn«, antwortete sie mühsam. Ihr Mann erschien unter der Tür. Matheson war mager und klein, trug einen grauen Anzug und sah etwa fünf Jahre jünger als seine Frau aus. Er starrte mich mit dem kriegerischen Ausdruck kleiner Männer durch seine Brille an. Er wandte sich an seine Frau. »Ich wußte nicht, daß du Besuch hast.« »Mr. Archer ist der Mann von Sally Archer, Ron. Ich habe doch mit dir über Sally Archer gesprochen.« Trotz seines verständnislosen Blicks fuhr sie schnell fort: »Ich habe ihr versprochen, ihr einen Kuchen für das Wohltätigkeitsfest zu schicken und habe vergessen, ihn zu backen. Was soll ich nur tun?« »Dann hast du eben keinen und mußt dich dafür entschuldigen.« »Das kann ich nicht. Sie hat sich auf mich verlassen. Ron, würdest du in die Stadt fahren und einen Kuchen holen, damit Mr. Archer ihn für Sally mitnehmen kann? Bitte.« »Jetzt noch?« fragte er ungehalten. »Er ist für heute abend. Sally wartet darauf.« »Dann laß sie eben warten.« -129-
»Aber das kann ich nicht. Du willst doch nicht, daß sich herumspricht, ich hätte meinen Beitrag nicht geleistet?« Resigniert hob er die Hände. »Wie groß soll er denn sein?« »Einer für zwei Dollar genügt, mit Schokoladenüberzug. Du kennst die Bäckerei im Einkaufszentrum.« »Aber das ist doch auf der anderen Seite des Ortes.« »Es muß ein guter Kuchen sein, Ron. Du wirst mich doch nicht vor meinen Freunden blamieren wollen?« In ihren Worten kamen ihre echten Empfindungen beinahe zum Ausdruck. Seine Blicke durchbohrten mich. Dann wandte er sich ihr wieder zu und betrachtete sie forschend. »Sag mal, Marian, stimmt etwas nicht? Fehlt dir etwas?« »Selbstverständlich fehlt mir nichts.« Sie zeigte ein Lächeln. »Und beeil dich und hole mir den Kuchen. Du kannst Jimmy mitnehmen. Und wenn ihr zurückkommt, habe ich das Abendessen fertig.« Matheson ging hinaus und schloß demonstrativ laut die Tür hinter sich. Ich hörte, wie er den Motor seines Wagens anließ, und setzte mich wieder. »Sie haben ihn gut erzogen.« »Bitte, lassen Sie meinen Mann aus dem Spiel. Er verdient nicht, daß er hineingezogen wird.« »Weiß er, daß die Polizei hier war?« »Nein. Aber die Nachbarn werden es ihm schon sagen. Und dann werde ich wieder lügen müssen. Wie ich dieses Lügen hasse!« »Hören Sie auf zu lügen.« »Damit er erfährt, daß ich in einen Mord verwickelt bin? Das wäre das letzte.« »Von welchem Mord reden Sie?« Sie öffnete den Mund. Ihre Hand flog hoch, um ihn zu -130-
bedecken. Sie zwang ihre Hand wieder an ihre Seite hinunter und stand sehr still da, wie eine Wache, die ihren Herd schützt. »Meinen Sie Culligan?« fragte ich. »Oder den Mord an John Brown?« Der Name traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Für eine Weile war sie zu betroffen, um sprechen zu können. Dann sammelte sie ihre Kräfte, richtete sich auf und antwortete: »Ich kenne keinen John Brown.« »Sie sagten gerade, Sie mögen nicht lügen, aber jetzt lügen Sie wieder. Sie arbeiteten für ihn im Winter 1936, versorgten seine Frau und sein Baby.« Sie schwieg. Ich nahm eines der Bilder von Anthony Galton aus der Tasche und hielt es ihr vors Gesicht. »Erkennen Sie ihn nicht?« Sie nickte resigniert. »Ich erkenne ihn. Es ist Mr. Brown.« »Und Sie haben für ihn gearbeitet, oder nicht?« »Na und? Für einen Menschen zu arbeiten, ist kein Verbrechen.« »Das Verbrechen, von dem wir sprechen, ist Mord. Wer hat ihn ermordet, Marian? War es Culligan?« »Wer behauptet, daß er überhaupt ermordet wurde? Er packte seine Sachen und zog fort. Die ganze Familie verschwand.« »Brown ist nicht sehr weit gekommen, nur zwei Fuß unter die Erde. Im vergangenen Frühjahr wurde er ausgegraben. Alles, außer dem Kopf. Sein Kopf fehlte. Wer hat ihm den Kopf abgehackt, Marian?« Grauen stieg wie Brodem in dem Zimmer auf, breitete sich bis in die entfernten Ecken aus, verdüsterte das Licht vom Fenster her. Das Grauen ergriff die Frau und umwölkte ihre Augen. Ihre Lippen bewegten sich, versuchten Worte zu finden, die es vertreiben sollten. »Ich schlage Ihnen ein Abkommen vor und werde es halten, -131-
wenn ich kann«, sagte ich. »Ich möchte Ihrem Jungen nichts zuleide tun, und ich habe nichts gegen Sie oder Ihren Mann. Ich habe aber den Verdacht, daß Sie Kronzeugin eines Mordes sind. Das Gesetz wird es vielleicht Mittäterschaft nennen…« »Nein!« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich hatte nichts damit zu tun.« »Vielleicht nicht. Ich habe kein Interesse, Ihnen irgend etwas anzuhängen. Wenn Sie mir die ganze Wahrheit sagen, wie Sie sie kennen, werde ich mir die größte Mühe geben, Sie herauszuhalten. Aber es muß die ganze Wahrheit sein, und ich muß sie jetzt sofort erfahren. Eine Menge hängt davon ab.« »Wie soll nach all den Jahren eine Menge davon abhängen?« »Warum mußte Culligan nach all diesen Jahren sterben? Ich glaube, daß zwischen diesen beiden Morden ein Zusammenhang besteht, und ich glaube auch, daß Sie mir sagen können, welcher.« Ihre tieferliegende härtere Natur trat an die Oberfläche. »Wofür halten Sie mich denn? Die Kristallkugel eines Wahrsagers?« »Hören Sie auf, sich herausreden zu wollen«, entgegnete ich scharf. »Wir haben nur ein paar Minuten Zeit. Wenn Sie mit mir allein nicht sprechen wollen, müssen Sie eben vor Ihrem Mann sprechen.« »Und was geschieht, wenn ich mich überhaupt weigere?« »Dann werden Sie einen weiteren Besuch von der Polizei bekommen. Damit wird es anfangen, und vor Gericht wird es enden. Und jeder westlich der Rocky Mountains hat dann die Möglichkeit, alles in der Zeitung zu lesen. Sprechen Sie jetzt!« »Ich muß einen Augenblick überlegen.« »Dazu hatten Sie Gelegenheit. Wer hat Brown ermordet?« »Ich wußte nicht, daß Brown ermordet wurde, jedenfalls nicht positiv. Nach diesem Abend wollte Culligan mich nicht in das -132-
Haus zurückgehen lassen. Er sagte, die Browns wären fort, mit Sack und Pack. Er versuchte sogar, mir Geld zu geben, was sie, wie er behauptete, für mich zurückgelassen hätten.« »Woher hatte er es denn?« Nach kurzem Schweigen platzte sie heraus: »Er hat es ihnen gestohlen.« »Hat er Brown ermordet?« »Nein, Culligan nicht. Dazu hatte er nicht den Schneid.« »Wer tat es dann?« »Da war noch ein anderer Mann. Der muß es gewesen sein.« »Wie hieß er?« »Ich weiß nicht.« »Wie sah er aus?« »Ich erinnere mich kaum an ihn. Ich sah ihn nur einmal, und das war abends.« Ihre Aussagen wurden vage, und das machte mich mißtrauisch. »Hat dieser Mann überhaupt existiert?« »Selbstverständlich existierte er.« »Beweisen Sie es.« »Er war vielfach vorbestraft«, erklärte sie. »Er ist aus San Quentin ausgebrochen. Er gehörte der gleichen Bande an wie Culligan.« »Welche Bande war das?« »Ich habe keine Ahnung. Sie lief auseinander, lange bevor ich Culligan heiratete. Über seine Zeit bei der Bande hat er nie gesprochen. Es interessierte mich auch nicht.« »Kommen wir zu diesem Mann zurück, der aus dem Zuchthaus ausbrach. Er muß einen Namen gehabt haben. Culligan muß ihn irgendwie angeredet haben.« »Ich erinnere mich nicht mehr, wie.« -133-
»Denken Sie etwas schärfer nach.« Sie blickte zum Fenster hinaus. In dem gedämpften Licht war ihr Gesicht angespannt. »Shoulders, ich glaube, es war Shoulders.« »Kein Familienname?« »Soviel ich mich erinnere, nicht. Ich glaube nicht, daß Culligan mir je seinen Familiennamen sagte.« »Wie sah er aus?« »Er war ein großer, dunkelhaariger Mann. Ich habe ihn nie richtig gesehen, jedenfalls nie bei gutem Licht.« »Wie kommen Sie darauf, daß er Brown ermordet haben soll?« Sie antwortete mit leiser Stimme, damit ihr Haus sie nicht hörte: »In dieser Nacht hörte ich sie streiten. Mitten in der Nacht. Sie saßen draußen in meinem Wagen und stritten sich um Geld. Der andere – Shoulders – sagte, er würde auch Pete umbringen, wenn er nicht einverstanden wäre. Ich hörte, wie er das sagte. Die Wände des Schuppens, in dem wir wohnten, waren papierdünn. Dieser Shoulders hatte eine schrille Stimme, und sie drang wie ein Messer durch die Wände. Er wollte das ganze Geld für sich und den größten Teil des Schmucks. Pete sagte, das wäre nicht fair. Er hätte die Sache ausbaldowert und hätte Anspruch auf seinen Anteil. Er brauchte auch Geld. Weiß Gott, das tat er wirklich. Er brauchte immer Geld. Er sagte, daß ein paar heiße Rubine ihm nichts nützten. Daraus erriet ich, was geschehen sein mußte. Die kleine Mrs. Brown besaß Schmuck mit großen roten Steinen, die ich immer für Glas gehalten hatte, aber es waren Rubine.« »Was ist aus den Rubinen geworden?« »Der andere Mann hat sie genommen. Er muß sie genommen haben. Culligan gab sich vermutlich mit einem Teil des Geldes zufrieden. Jedenfalls hatte er eine Zeitlang Geld in der Tasche.« -134-
»Haben Sie ihn nie gefragt, woher er es hatte?« »Nein, ich hatte Angst.« »Angst vor Culligan?« »Nicht so sehr vor ihm.« Sie versuchte weiter zu sprechen, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Sie zupfte an ihrem Hals, als ob sie damit die Worte lösen wollte. »Ich fürchtete mich vor der Wahrheit, fürchtete mich, daß er es mir sagen würde. Wahrscheinlich wollte ich nicht an das glauben, was geschehen war. Der Streit, den ich vor unserem Haus gehört hatte, ich versuchte mir immer einzureden, daß es nur ein Traum gewesen war. Ich liebte Culligan damals. Ich konnte den Gedanken an meine eigene Rolle dabei nicht ertragen.« »Meinen Sie die Tatsache, daß Sie Ihren Verdacht nicht der Polizei gemeldet haben?« »Das wäre schon schlimm genug gewesen, aber ich tat Schlimmeres. Ich war für die ganze Sache verantwortlich. Über zwanzig Jahre habe ich mit dieser Last auf meinem Gewissen gelebt. Es war alles meine Schuld, weil ich meinen dummen Mund nicht halten konnte.« Sie warf mir von unten einen Blick zu. Ihre Augen brannten vor Qual. »Vielleicht sollte ich ihn auch jetzt noch halten.« »Wieso waren Sie dafür verantwortlich?« Sie ließ ihren Kopf noch tiefer hängen. Ihre Augen wurden von ihren schwarzen Brauen verdeckt. »Ich erzählte Culligan von dem Geld«, sagte sie. »Mr. Brown bewahrte es in einer Stahlkassette in seinem Zimmer auf. Es müssen Tausende von Dollar gewesen sein. Ich sah es, als er mich bezahlte. Und ich mußte hingehen und es meinem – mußte es Culligan sagen. Statt dessen hätte ich mir besser selbst die Zunge abgeschnitten.« Sie hob den Kopf, langsam, als ob sie ein Gewicht balancierte. »Jetzt wissen Sie es also.« »Hat Brown Ihnen je gesagt, woher er das Geld hatte?« -135-
»Nicht richtig. Er machte Witze darüber, sagte, er hätte es gestohlen. Aber dazu war er nicht der Typ.« »Was war er denn für ein Typ?« »Mr. Brown war ein Gentleman. Wenigstens bis zu der Zeit, wo er diese Frau heiratete. Ich weiß nicht, was er an der fand; außer ihrem hübschen Gesicht hatte sie nichts zu bieten, sie war ausgesprochen dumm. Er dagegen war. richtig gebildet. Wie ein solcher Mensch derart den Kopf verlieren kann, verstehe ich nicht.« Sie hielt den Atem an. Die Ungeheuerlichkeit der Vorstellung traf sie wie ein Keulenschlag. »Mein Gott, sie haben ihm den Kopf abgeschlagen?« Die Frage galt nicht mir, sie fragte die dunklen, schemenhaften Erinnerungen, die ihre Vergangenheit auf einmal wieder ans Tageslicht gezerrt hatten. »Vor oder nach seinem Tode, das wissen wir nicht genau. Sie sagten, Sie haben das Haus danach nicht wieder betreten?« »Nein, nie wieder. Wir gingen nach San Francisco zurück.« »Wissen Sie, was aus der übrigen Familie geworden ist, der Frau und dem Kind?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich versuchte, nicht an sie zu denken. Was ist aus ihnen geworden?« »Ich weiß nicht genau, ich glaube, sie gingen in den Osten. Jedenfalls bestehen Anzeichen dafür, daß sie sicher entkamen.« »Dafür sei Gott gedankt.« Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Immer noch stand das Schuldbewußtsein in ihren Augen zu lesen. Sie starrten auf die Wände des Wohnzimmers, als seien sie aus Glas. »Wahrscheinlich werden Sie sich jetzt fragen, wie ich es fertiggebracht habe, meine Patientin so im Stich zu lassen. Sie müssen nicht glauben, daß mir das leichtgefallen ist. In dem darauffolgenden Winter war ich eine Zeitlang fast von Sinnen. Ich wachte mitten in der Nacht auf und lauschte auf Culligans Atem neben mir. Und -136-
dabei hoffte ich, sein Atmen würde auf einmal aufhören. Aber ich hielt es noch weitere fünf Jahre bei ihm aus. Dann ließ ich mich scheiden.« »Und jetzt hat er endlich zu atmen aufgehört.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Sie könnten einen Mörder bestochen haben, ihn umzubringen. Er drohte, Ihnen Schwierigkeiten zu machen. Sie haben viel zu verlieren.« Ich glaubte es nicht, wollte aber sehen, wie sie darauf reagierte. Voller Entsetzen verkrallten sich die Hände in ihren Brüsten. »Ich? Sie glauben, daß ich das tun konnte?« »Um sich Ihren Mann und Ihren Sohn zu erhalten? Warum nicht? Haben Sie es getan?« »Nein, um Gottes willen, nein!« »Das ist gut.« »Warum sagen Sie das?« Ihre Augen blickten stumpf von der Qual der Vergangenheit. »Weil ich möchte, daß Sie das behalten, was Sie haben.« »Sie brauchen mir keine Gefälligkeit zu erweisen!« »Ich werde es aber. Trotzdem. Ich werde Sie aus dem Fall Culligan heraushalten. Die Informationen, die Sie mir gegeben haben, werde ich nur privat verwenden. Es wäre für mich leichter, wenn ich das nicht täte…« »Sie wollen also für Ihre Mühe bezahlt werden? Ist es das?« »Ja, aber nicht mit Geld. Ich will Ihr Vertrauen und jede weitere Information, die Sie mir geben können.« »Aber ich weiß sonst nichts mehr. Das war alles.« »Was ist aus Shoulders geworden?« »Ich weiß es nicht. Er muß fortgegangen sein. Ich habe nie wieder von ihm gehört.« »Hat Culligan ihn niemals erwähnt?« -137-
»Nein, wirklich nicht.« »Und Sie haben die Frage nie aufgeworfen?« »Nein, dazu war ich zu feige.« Ein Wagen bog in die Auffahrt. Sie schrak zusammen und ging zum Fenster. Das Tageslicht war einem dämmerigen Grau gewichen. In dem Garten auf der anderen Straßenseite glühten rote Rosen wie Kohlen. Sie rieb sich mit den Knöcheln die Augen, als ob sie so alle ihre früheren Erlebnisse auslöschen könnte, um in einer unschuldigen Welt unschuldig leben zu können. Der kleine Junge kam durch die Tür hereingestürzt. Matheson folgte ihm auf den Fersen und hielt eine Kuchenschachtel in den Händen. »Also hier ist das verdammte Ding.« Er drückte mir die Schachtel in die Hände. »Damit ist für das Festessen in der Kirche gesorgt.« »Danke.« »Nicht der Rede wert«, antwortete er schroff und wandte sich seiner Frau zu. »Ist das Abendessen fertig? Ich bin am Verhungern.« Sie stand auf der anderen Seite des Zimmers, durch das Grauen von ihm abgeschnitten. »Ich habe kein Abendessen gemacht.« »Du hast kein Abendessen gemacht? Was soll das heißen? Du hast gesagt, es wäre fertig, wenn ich nach Hause komme.« Verborgene Kräfte zerrten an ihrem Gesicht, weiteten ihren Mund, schnitten tiefe Furchen zwischen ihre Augen. Plötzlich waren ihre Augen blind von Tränen. Die Tränen rannen durch die Falten ihres Gesichts. Schluchzend setzte sie sich auf die Kante der Feuerstelle, wie ein Zwerg, der am Straßenrand hockt. »Marian? Was ist denn? Was hast du denn, Kindchen?« »Ich bin keine gute Frau für dich.« -138-
Matheson ging durch das Zimmer zu ihr hinüber. Er setzte sich neben sie auf die Feuerstelle und legte seine Arme um sie. Sie verbarg ihr Gesicht an seinem Hals. Der Junge ging auf sie zu und wandte sich dann zu mir zurück. »Warum weint Mutter?« »Menschen weinen manchmal.« »Ich weine nicht«, erklärte er.
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14 Ich fuhr über den Bergrücken zurück, dem letzten, verblassenden Licht am Himmel entgegen. Auf der Straße, die sich nach Luna Bay hinunterwand, überholte ich einen alten Mann mit einem Jutesack auf dem Rücken. Er war einer dieser Landstreicher aus der alten Zeit, die wie Zugvögel der Sonne folgen. Aber die Vögel fliegen und die Menschen gehen zu Fuß. Die Vögel paaren sich und bauen Nester. Die alten Männer haben keine Nester. Sie verwandern ihr Leben am Rand der Straßen. Ich hielt an, fuhr ein Stück zurück und gab ihm den Kuchen. »Danke Ihnen vielmals.« Sein Mund war ein Riß in einem zottigen Pelz. Er steckte den Kuchen in seinen Sack. Es war ein billiges Geschenk, darum gab ich ihm noch einen Dollar dazu. »Wollen Sie mit bis zur Stadt fahren?« »Nein, danke Ihnen vielmals. Ich würde nur Ihren Wagen verstänkern.« Er wanderte davon, mit langen, langsamen, schwingenden, ziellosen Schritten, in einem Traum zeitloser Weite versunken. Als ich wieder an ihm vorbeikam, hob er nicht einmal seinen bärtigen Kopf. Er war wie ein Stück der Landschaft, das sich am Rand der Strahlen meiner Scheinwerfer bewegte. In einem schmuddeligen Lokal aß ich Fisch mit Kartoffelchips und ging anschließend zur Zweigstelle des Sheriffs. Nach der Uhr an der Wand über Mungans Schreibtisch war es acht. Er blickte von seinen Schreibarbeiten auf. »Wo sind Sie gewesen? Der junge Brown hat nach Ihnen gesucht.« -140-
»Ich möchte ihn sprechen. Wissen Sie, wo er hingegangen ist?« »Zu Doc Dineen hinüber. Sie sind ziemlich gut befreundet. Er hat mir erzählt, daß der Doc ihm Schach beibringt. Dieses Spiel war mir immer etwas zu hoch. Aber für eine Partie Poker bin ich jederzeit zu haben.« Ich ging um das Ende der Barriere herum und beantwortete in gewisser Weise seine Frage nach meinem Tun. »Ich habe etwas herumgehört. Dabei sind ein paar Dinge herausgekommen, die Sie interessieren sollten. Sie haben gesagt, daß Sie damals Anfang der dreißiger Jahre einige der Dunkelmänner in dieser Gegend kannten. Sagt Ihnen der Name Culligan irgend etwas?« »Ja. Happy Culligan nannten sie ihn. Er gehörte zu der RedHorse-Bande.« »Wer waren seine Freunde?« »Lassen Sie mich überlegen.« Mungan strich über sein kräftiges Kinn. »Da waren Rossi, Shoulders Nelson, Lefty Dearborn, alles Revolvermänner von Lempi. Culligan war mehr ein Organisator, aber er trieb sich gern mit den Revolvermännern herum.« »Wer war Shoulders Nelson?« »Er war ungefähr der brutalste in der Bande. Selbst seine Kumpels hatten Angst vor ihm.« Eine Spur der Bewunderung seiner Knabenjahre zeigte sich in Mungans Augen. »Ich sah eines Abends, wie er Culligan zu Brei schlug. Sie wollten beide das gleiche Mädchen.« »Was war das für ein Mädchen?« »Eine von denen oben im Red Horse. Ihren Namen kannte ich nicht. Ich hörte, Nelson hatte eine Zeitlang mit ihr zusammen gehaust.« »Wie sah Nelson aus?« -141-
»Er war ein großer Mann, fast so groß wie ich. Die Frauen flogen auf ihn. In ihren Augen muß er gut ausgesehen haben. Ich fand das allerdings nie. Er war ein hinterhältig aussehender Schurke mit einem langen, melancholischen Gesicht und niederträchtigen Augen. Er, Rossi und Dearborn wurden zur gleichen Zeit wie Lempi eingesperrt.« »In Alcatraz?« »Lempi kam dorthin, als die Regierung Alcatraz übernahm. Aber die anderen wurden wegen Straßenraub verurteilt. Alle drei kamen nach San Quentin.« »Was ist später aus ihnen geworden?« »Ich habe mich nicht weiter um sie gekümmert. Damals war ich noch nicht bei der Polizei. Aber warum wollen Sie das alles wissen?« »Kann sein, daß Shoulders Nelson der Mörder ist, den wir suchen«, antwortete ich. »Ob Ihre Dienststellen in Redwood City eine Akte über ihn hat?« »Das bezweifle ich. Hier hat man seit über zwanzig Jahren nichts mehr von ihm gehört. Und überhaupt wurde der Fall von den Staatsbehörden verfolgt.« »Dann müßte in Sacramento eine Akte vorhanden sein. Sie könnten über Redwood City fernschriftlich nachfragen lassen.« Mungan spreizte seine Hände auf der Schreibtischplatte und stand auf. Er schüttelte langsam seinen großen Kopf. »Wenn Sie dabei nur einer persönlichen Eingebung folgen, können Sie nicht verlangen, daß der Behördenapparat für eine so wacklige Sache in Bewegung gesetzt wird.« »Ich dachte, wir würden zusammenarbeiten?« »Ich habe Ihnen geholfen, aber Sie mir nicht. Bisher habe ich gesprochen. Sie haben nur zugehört. Und das geht schon eine ganze Weile so.« »Ich habe Ihnen gesagt, daß Nelson wahrscheinlich der -142-
Mörder ist. Das ist ein ganz schöner Brocken.« »An sich schon. Mir hilft es nur nicht im geringsten.« »Das könnte es, wenn Sie es versuchten. Lassen Sie in Sacramento rückfragen.« »Woher haben Sie Ihre Informationen?« »Das kann ich nicht sagen.« »Nicht ein Wort, wie?« »Ich fürchte nein.« Mungan blickte enttäuscht auf mich hinunter. Nicht überrascht, sondern nur enttäuscht. Zwischen uns hatte sich eine ehrliche Freundschaft angebahnt, die sich jetzt als wertlos erwies. »Hoffentlich wissen Sie, was Sie tun.« »Das hoffe ich. Überlegen Sie sich die Sache mit Nelson. Es lohnt sich, dem nachzugehen. Sie könnten dadurch Ihren Namen ganz hübsch bekannt machen.« »Ich gebe einen Dreck dafür, daß mein Name bekannt wird.« »Nun, wie Sie wollen.« »Und Sie können zum Teufel gehen.« Ich nahm ihm nicht übel, daß ihm der Kragen platzte. Es ist peinlich, einen großen Fall ein halbes Jahr in den Händen zu haben und dann zusehen zu müssen, wie ein zufällig auftauchender Fremder ihn einem fortnimmt. Aber ich konnte es mir nicht leisten, ihn zu verärgern. Ich wollte es nicht einmal. Ich ging vor die Barriere und setzte mich auf eine Holzbank an der Wand. Mungan nahm seinen Platz am Schreibtisch wieder ein und vermied es, mich anzusehen. Dort saß ich wie ein reumütiger Büßer, während der Minutenzeiger der Uhr mit kleinen, stetigen Bissen an der Ewigkeit nagte. Um acht Uhr fünfunddreißig stand Mungan auf und spielte eine umständliche Szene, als er mich angeblich entdeckte. -143-
»Sie sind noch da?« »Ich warte auf einen Freund, einen Rechtsanwalt aus dem Süden. Er hat gesagt, er wolle gegen neun Uhr hier sein.« »Wozu? Soll er Ihnen helfen, auf mir herumzuhacken?« »Ich weiß nicht, warum Sie beleidigt sind, Mungan. Es geht um einen großen Fall, einen größeren, als Sie übersehen. Um mit dem fertig zu werden, ist mehr als nur einer von uns erforderlich.« »Wodurch ist er denn so groß?« »Durch die beteiligten Leute, das Geld und die Namen. Auf der hiesigen Seite haben wir die Red-Horse-Bande oder was davon übrig ist. Auf der anderen Seite steht eine der reichsten und ältesten Familien in Kalifornien. Es ist ihr Rechtsanwalt, den ich erwarte, ein Mann namens Sable.« »Na und? Soll ich jetzt auf die Knie fallen? In meinen Augen sind alle Leute gleich, und ich behandle alle gleich.« »Mr. Sable könnte in der Lage sein, die Knochen zu identifizieren, die Sie da haben.« Mungan konnte sein Interesse nicht unterdrücken. »Ist er der Mann, mit dem Sie telefoniert haben?« »Ganz richtig.« »Arbeiten Sie an diesem Fall für ihn?« »Er hat mich engagiert. Und vielleicht bringt er medizinische Unterlagen mit, die uns helfen, das Skelett zu identifizieren.« Mungan wandte sich wieder seinen Schreibarbeiten zu. Nach ein paar Minuten sagte er beiläufig: »Wenn Sie für einen Rechtsanwalt arbeiten, sieht die Sache ganz anders aus. Das gibt Ihnen das gleiche Recht zur Aussageverweigerung, das ein Rechtsanwalt hat. Wahrscheinlich wußten Sie das nicht, aber ich habe die Gesetze gründlich studiert.« »Mir ist es völlig neu«, log ich. -144-
Großmütig sagte er: »Im allgemeinen kennt kein Mensch und nicht einmal Polizeibeamte alle Feinheiten des Gesetzes.« Sein Stolz und seine Redlichkeit waren befriedigt. Er rief das Gericht des Countys an und bat, ihm die Unterlagen über Nelson aus Sacramento zu beschaffen. Um fünf Minuten vor neun traf Gordon Sable ein. Er trug einen braunen Mantel und einen braunen Homburg und ein paar Autohandschuhe aus gelbem Schweinsleder. Die Lider seiner grauen Augen waren leicht entzündet. Seine Mundwinkel waren heruntergezogen, und an seinen Nasenflügeln hatten sich Erschöpfungsfalten gebildet. »Sie sind schnell gefahren«, sagte ich. »Schneller als mir lieb war. Ich kam erst kurz vor drei fort.« Er sah sich in dem kleinen Büro um, als ob er bezweifelte, daß sich die Fahrt gelohnt hätte. Mungan erhob sich erwartungsvoll. »Mr. Mungan, der hiesige Hilfssheriff, Mr. Sable.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hand und schätzten einander ab. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Mungan. »Mr. Archer sagte mir, daß Sie einige medizinische Unterlagen über diese – dieses Skelett besitzen, das wir im vergangenen Frühjahr gefunden haben.« »Das könnte sein.« Sable sah mich von der Seite an. »Wie weit sind Sie in Details gegangen?« »Nur das, und die Tatsache, daß die Familie bedeutend ist. Von jetzt an werden wir nicht in der Lage sein, ihren Namen zu verschweigen.« »Das ist mir bewußt«, schnappte er. »Aber wir wollen als erstes die Identität klären, wenn wir das können. Ehe ich abfuhr, sprach ich mit dem Arzt, der den gebrochenen Arm gerichtet hat. Er hatte eine Röntgenaufnahme gemacht, aber -145-
unglücklicherweise ist sie nicht mehr vorhanden. Jedoch besaß er noch seine schriftlichen Aufzeichnungen, und er gab mir eine genaue Beschreibung des Bruches.« Sable zog ein zusammengefaltetes Papier aus seiner Brusttasche. »Es war ein glatter Bruch des rechten Humerus, zwei Zoll oberhalb des Gelenks. Der Junge zog ihn sich bei einem Sturz vom Pferd zu.« »Das stimmt genau«, sagte Mungan. Sable wandte sich an ihn. »Können wir den betreffenden Knochen sehen?« Mungan ging in das Hinterzimmer. »Wo ist der junge Mann?« fragte Sable gedämpft. »Bei einem Freund, wo er Schach spielt. Ich bringe Sie hin, wenn wir hier fertig sind.« »Tony war Schachspieler. Glauben Sie wirklich, daß er Tonys Sohn ist?« »Ich weiß es nicht. Ich warte darauf, daß jemand anders mich zu einer endgültigen Ansicht bringt.« »Auf Grund der Knochen?« »Zum Teil. Ich habe inzwischen eine weitere Bestätigung gefunden. Brown wurde durch eines der Bilder von Tony Galton identifiziert.« »Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?« »Ich habe es früher noch nicht gewußt.« »Wer ist Ihr Zeuge?« »Eine Frau namens Matheson in Redwood City. Sie ist Culligans frühere Frau und Galtons frühere Pflegerin. Ich habe mich verpflichtet, ihren Namen vor der Polizei zu verschweigen.« »War das klug?« Sables Stimme war scharf und unfreundlich. »Ob klug oder nicht, es ist nun einmal so.« Wir standen dicht vor einem Streit. Mungan kam in den Raum -146-
zurück und schnitt uns das Wort ab. Die Knochen klapperten in der Kiste. Er hob sie auf die Barriere und öffnete den Deckel. Sable blickte auf die Überreste John Browns hinunter. Sein Gesicht war ernst. Mungan suchte den Armknochen heraus und legte ihn auf die Barriere. Er ging zu seinem Schreibtisch und holte ein stählernes Bandmaß. Der Bruch war genau zwei Zoll vom Gelenk entfernt. Sable atmete schnell. Er sprach mit unterdrückter Erregung. »Es sieht sehr danach aus, als ob wir Tony Galton gefunden hätten. Aber warum fehlt der Schädel? Was ist mit ihm geschehen?« Mungan berichtete, was er wußte. Auf dem Weg zu Dr. Dineens Haus erzählte ich Sable das übrige. »Ich muß Ihnen gratulieren, Archer. Sie kommen zweifellos zu Ergebnissen.« »Sie fielen mir in den Schoß. Gerade das machte mich aber mißtrauisch. Zu viele Zufälle trafen zusammen. Der Mord an Culligan, der Mord an Brown-Galton, das Auftauchen des jungen Brown-Galton, wenn er das ist. Ich kann das Gefühl nicht unterdrücken, daß diese ganze Geschichte von vornherein so geplant war. Vergessen Sie nicht, daß Gangster daran beteiligt sind. Diese Burschen planen manchmal auf lange Zeit im voraus und sind bereit, auf ihren Lohn zu warten.« »Ihren Lohn?« »Das Geld der Galtons. Ich glaube, der Mord an Culligan war ein Bandenmord. Ich glaube, es war kein Zufall, daß Culligan vor drei Monaten zu Ihnen kam, um für Sie zu arbeiten. Ihr Haus war für ihn das vollkommene Versteck und ein Platz, von dem aus er beobachten konnte, was sich bei der Familie Galton tat.« »Und welchen Zweck soll das gehabt haben?« »Soweit bin ich in meinen Überlegungen noch nicht -147-
gekommen«, sagte ich. »Aber ich bin verhältnismäßig sicher, daß Culligan nicht aus eigenem Antrieb zu Ihnen kam.« »Und wer soll ihn geschickt haben?« »Das ist die große Frage.« Nach einer Pause sagte ich: »Wie geht es übrigens Mrs. Sable?« »Nicht gut. Ich mußte sie in einem Pflegeheim unterbringen. Ich konnte sie nicht ganz allein zu Hause lassen.« »Ich nehme an, daß der Mord an Culligan ihr diesen schweren Schock versetzt hat.« »Die Ärzte scheinen anzunehmen, daß ihr Zusammenbruch dadurch ausgelöst wurde. Aber sie hat schon vorher unter emotionell bedingten Erregungszuständen gelitten.« »Welcher Art waren diese Erregungszustände?« »Darüber möchte ich lieber nicht sprechen«, antwortete er düster.
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15 Dr. Dineen kam in einer altmodischen roten Samtjacke, die mich an den Plüsch alter Eisenbahnwaggons erinnerte, an die Tür. Sein faltiges Gesicht zeigte den Ausdruck konzentrierten Nachdenkens. Er sah mich ungeduldig an. »Was gibt es?« »Ich glaube, wir haben Ihr Skelett identifiziert.« »Wirklich? Wie?« »Durch den geheilten Bruch des Armknochens. Dr. Dineen, dies ist Mr. Sable. Mr. Sable ist ein Rechtsanwalt, der die Familie des Toten vertritt.« »Wer war seine Familie?« »Sein richtiger Name war Anthony Galton«, antwortete Sable. »Seine Mutter ist Mrs. Henry Galton aus Santa Teresa.« »Was Sie nicht sagen? Ich habe ihren Namen oft in den Gesellschaftsberichten gelesen. In früheren Zeiten war sie ziemlich bekannt.« »Das möchte ich annehmen«, sagte Sable. »Jetzt ist sie eine alte Frau.« »Wir werden alle älter, oder nicht? Aber treten Sie ein, meine Herren.« Er trat zur Seite, um uns einzulassen. Im Gang wandte ich mich an ihn. »Ist John Brown bei Ihnen?« »Ja, er ist bei mir. Ich glaube, er hat früher am Abend versucht, Sie zu finden. Im Augenblick sitzt er in meinem Sprechzimmer und studiert das Schachbrett. Es wird ihm nicht viel helfen. Ich beabsichtige, ihn nach sechs weiteren Zügen zu schlagen.« -149-
»Können Sie ein paar Minuten erübrigen, Doktor, mit uns allein?« »Wenn es wichtig ist, ja. Und das ist es ja wohl.« Er führte uns in ein mit schönen alten Mahagonimöbeln eingerichtetes Eßzimmer. Von einem angelaufenen Kristallüster fiel das Licht auf das dunkle Holz und ein Teeservice aus Sterlingsilber, das in geometrischer Ordnung auf dem hohen Büfett stand. Das Zimmer weckte in mir das Gefühl, das ich am Morgen bereits empfunden hatte, daß das Haus des Doktors eine Enklave aus der soliden Vergangenheit war. Er setzte sich an das Kopfende des Tischs und wies uns Plätze zu seinen beiden Seiten an. Sable beugte sich über die Tischdecke. Die Ereignisse des heutigen und des gestrigen Tages zeichneten sich in seinem Profil scharf ab. »Würden Sie mir Ihre Ansicht über die moralischen Qualitäten des jungen Mannes sagen?« »Ich empfange ihn als Gast in meinem Haus. Das sollte Ihre Frage beantworten.« »Betrachten Sie ihn als einen Freund?« »Ja, das tue ich. Ich habe nicht die Gepflogenheit, gleichgültige Fremde einzuladen. In meinem Alter kann man es sich nicht erlauben, seine Zeit auf zweitklassige Leute zu verschwenden.« »Wollen Sie damit ausdrücken, daß er ein erstklassiger Mensch ist?« »So sollte es scheinen.« Das Lächeln des Doktors kam langsam und war von einem Stirnrunzeln fast nicht zu unterscheiden. »Mindestens hat er die Voraussetzungen. Von einem zweiundzwanzigjährigen jungen Mann verlangt man nicht viel mehr.« »Wie lange kennen Sie ihn schon?« -150-
»Sein ganzes Leben lang, wenn Sie unsere erste Bekanntschaft mitrechnen. Mr. Archer hat Ihnen vielleicht gesagt, daß ich ihn zur Welt brachte.« »Sind Sie überzeugt, daß es der gleiche Junge ist, den Sie zur Welt brachten?« »Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln.« »Würden Sie es beschwören, Doktor?« »Wenn nötig, ja.« »Es könnte nötig werden. Die Frage seiner Identität ist von höchster Bedeutung. Es geht dabei um sehr viel Geld.« Der alte Mann lächelte, oder runzelte er die Stirn? »Entschuldigen Sie, wenn ich nicht übermäßig beeindruckt bin. Geld ist schließlich nur Geld. Ich glaube nicht, daß John besonders geldgierig ist. Tatsächlich glaube ich, diese Entwicklung wird ein ziemlicher Schlag für ihn sein. Er kam hierher in der Hoffnung, seinen Vater vorzufinden, lebendig.« »Wenn er Anspruch auf ein Vermögen hat«, sagte Sable, »sollte das ein gewisser Trost für ihn sein. Wissen Sie, ob seine Eltern legal verheiratet waren?« »Zufällig kann ich diese Frage positiv beantworten. John hat einige Nachforschungen angestellt. Erst letzte Woche entdeckte er, daß im September 1936 ein John Brown und eine Theodora Gavin in Benicia standesamtlich getraut wurden. Das scheint ihn legitim zu machen, wenn auch mit einer knappen Frist.« Sable saß eine Minute schweigend da. Er betrachtete Dineen wie ein öffentlicher Ankläger, der versucht, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu bewerten. »Nun«, sagte der alte Mann, »sind Sie zufrieden? Ich möchte nicht ungastlich erscheinen, aber ich bin Frühaufsteher, und jetzt ist meine Schlafenszeit.« »Da sind noch ein oder zwei Punkte, wenn Sie mir die Zeit gönnen wollen, Doktor. Ich frage mich zum Beispiel, wie es -151-
dazu kommt, daß Sie an den Angelegenheiten des jungen Mannes solches Interesse nehmen.« »Weil ich es für richtig halte«, antwortete Dineen schroff. »Warum?« Der Doktor sah Sable mit einer leichten Abneigung an. »Meine Motive gehen Sie nichts an, Herr Rechtsanwalt. Der junge Mann klopfte vor einem Monat an meine Tür und suchte nach Spuren seiner Familie. Selbstverständlich tat ich alles, um ihm zu helfen. Er hat einen moralischen Anspruch auf den Schutz und die Unterstützung seiner Familie.« »Wenn er beweisen kann, daß er ihr angehört.« »Das scheint außer Frage zu stehen. Ich glaube, Sie sind in unberechtigter Weise voreingenommen gegen ihn, und ich sehe keinen Grund, weshalb Sie diese Haltung beibehalten sollten. Ganz gewiß besteht kein Anlaß, ihn für einen Betrüger zu halten. Er hat seinen Geburtsschein, durch den die Tatsache seiner Geburt bewiesen ist. Mein Name als der des behandelnden Arztes steht darauf. Deshalb ist er überhaupt nur zu mir gekommen.« »Geburtsscheine sind leicht zu beschaffen«, sagte ich. »Man schreibt einen Brief, bezahlt die Gebühren und kann sich alles andere aussuchen.« »Vermutlich kann man das, wenn man ein Betrüger und ein Schurke ist. Ich verwahre mich gegen die Unterstellung, daß dieser junge Mann einer sein soll.« »Bitte, verstehen Sie mich.« Sable mäßigte seinen Ton. »Als Mrs. Galtons Rechtsanwalt ist es meine Pflicht, gegenüber diesen Ansprüchen skeptisch zu sein.« »John hat keine Ansprüche gestellt.« »Vielleicht noch nicht. Aber er wird noch. Und es geht dabei um sehr wichtige Interessen, sowohl menschliche als auch finanzielle. Mrs. Galtons Gesundheitszustand ist nicht der beste. -152-
Ich beabsichtige nicht, sie vor eine Situation zu stellen, die zu einer Katastrophe führen kann.« »Ich glaube nicht, daß das hier der Fall sein wird. Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, und Sie haben sie gehört. Aber keine menschliche Situation läßt sich vollständig voraussehen, oder?« Der alte Mann beugte sich vor, um aufzustehen. Sein kahler Schädel schimmerte im Licht des Lüsters wie polierter Stein. »Sie werden mit John sprechen wollen, nehme ich an. Ich werde ihm sagen, daß Sie hier sind.« Er verließ das Zimmer und kam mit dem jungen Mann zurück. John trug eine Flanellhose und einen grauen Pullover über einem Hemd mit offenem Kragen. Er sah aus wie der kürzlich vom College abgegangene Student, der er angeblich war. Aber die Situation bereitete ihm Unbehagen. Seine Augen wanderten von meinem Gesicht zu Sables. Dineen stand in einer beinahe schützenden Haltung neben ihm. »Dies ist Mr. Sable«, sagte der Arzt in neutralem Ton. »Mr. Sable ist ein Rechtsanwalt aus Santa Teresa und interessiert sich sehr für Sie.« Sable trat vor und drückte dem jungen Mann kurz die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Ganz meinerseits.« Johns graue Augen waren ebenso wachsam wie Sables. »Wenn ich richtig unterrichtet bin, wissen Sie, wer mein Vater ist.« »War, John«, sagte ich. »Wir haben die Knochen in der Zweigstelle des Sheriffs eindeutig identifiziert. Sie stammen von einem Mann namens Anthony Galton. Es gibt Hinweise dafür, daß er Ihr Vater war.« »Aber mein Vater hieß John Brown.« »Diesen Namen benutzte er. Zuerst anscheinend als schriftstellerisches Pseudonym.« Ich sah auf den Rechtsanwalt neben mir. »Wir können doch wohl als bewiesen ansehen, daß -153-
Galton und Brown der gleiche Mann waren und daß er 1936 ermordet wurde?« »Es hat den Anschein«, sagte Sable und legte seine Hand auf meinen Arm, um mich zurückzuhalten. »Ich wünsche, daß Sie mir das überlassen. Es geht hierbei um Rechtsfragen.« Er wandte sich dem jungen Mann zu, der aussah, als ob er die Tatsache des Todes seines Vaters noch nicht erfaßt hätte. Der Doktor legte ihm seinen Arm um die Schulter. »Das tut mir sehr leid, John. Ich weiß, wie tief diese Nachricht Sie treffen muß.« »Es ist merkwürdig, denn es scheint mich fast gar nicht zu berühren. Ich habe meinen Vater nie gekannt. Es sind einfach Worte über einen Fremden.« »Ich möchte mich privat mit Ihnen unterhalten«, sagte Sable. »Wo können wir das?« »In meinem Zimmer, nehme ich an. Worüber wollen Sie mit mir sprechen?« »Über Sie.« Er wohnte in einer Pension für Arbeiter am anderen Ende der Stadt. Es war ein windschiefes Fachwerkhaus, das zwischen anderen stand, die gleich ihm bessere Tage gesehen hatten. Die Wirtin fing uns an der Haustür ab. Sie war eine Portugiesin mit großen Brüsten und Ringen in den Ohren, und ihr Atem roch nach Gewürzen. Etwas im Gesichtsausdruck des jungen Mannes ließ sie fragen: »Was gibt’s denn, Johnny? Stimmt was nicht?« »Es ist alles in Ordnung, Mrs. Gorgello«, sagte er mit gezwungener Leichtigkeit. »Diese Männer sind Freunde von mir. Darf ich sie mit in mein Zimmer hinaufnehmen?« »Es ist dein Zimmer, du bezahlst Miete. Ich habe es heute für dich saubergemacht. Richtig gründlich. Kommen Sie nur rein, meine Herren«, erlaubte sie königlich. Nicht ganz so königlich stieß sie Johnny in die Seite, als er an -154-
ihr vorbei durch die Tür ging. »Mach kein so langes Gesicht, Johnny, du siehst aus wie beim Jüngsten Gericht.« Sein Zimmer war eine kleine, nackte Kammer hinten im ersten Stock. Ich nahm an, daß es in den Tagen, als das Haus eine Privatwohnung gewesen war, als Mädchenzimmer gedient hatte. Kahle Stellen und Flecken, zwischen den verblichenen Rosen der Tapete, wiesen auf eine lange Geschichte des Niederganges hin. Das Zimmer war mit einer eisernen Bettstelle, die von einer Armeedecke bedeckt war, einer fleckigen Tannenholzkommode mit einem blinden Spiegel darüber, einem windschiefen Kleiderschrank und einem Küchenstuhl neben einem Tisch möbliert. Trotz der Bücher auf dem Tisch erinnerte mich das Zimmer an den toten Culligan. Vielleicht war es der Geruch, der sich aus verborgenem Schmutz und Feuchtigkeit und alten, scharfen, männlichen Ausdünstungen zusammensetzte. Meine Gedanken wanderten zu Mrs. Galtons grandiosem Besitz. Aus diesem Zimmer in ihr herrschaftliches Haus zu kommen bedeutete einen großen Sprung. Ich fragte mich, ob der junge Mann ihn schaffen würde. Er stand neben dem einzigen Fenster und sah uns mit einer gewissen Herausforderung an. Das war sein Zimmer, schien seine Haltung zu besagen, ob es uns paßte oder nicht. Er ergriff den Küchenstuhl und drehte ihn vor dem Tisch um. »Setzen Sie sich, wenn Sie wollen. Einer von Ihnen kann auf dem Bett sitzen.« »Ich stehe ganz gern«, sagte Sable. »Ich hatte eine lange Fahrt hier herauf, und ich werde noch heute nacht zurückfahren müssen.« Der junge Mann antwortete steif: »Es tut mir leid, daß ich Ihnen all diese Umstände mache.« »Unsinn. Es ist meine Aufgabe, und es war nicht persönlich gemeint. Ich habe gehört, daß Sie Ihren Geburtsschein bei sich -155-
haben. Darf ich ihn mal ansehen?« »Gewiß.« Er zog die oberste Schublade der Kommode auf und nahm ein zusammengefaltetes Dokument heraus. Sable setzte seine Hornbrille auf, um es zu studieren. Ich las über seine Schulter mit. Das Dokument bestätigte, daß John Brown jr. an der Bluff Road im County San Mateo am 2. Dezember 1936 geboren worden war; Vater John Brown; Mutter Theodora Gavin Brown, behandelnder Arzt Dr. George T. Dineen. Sable blickte auf und nahm dabei seine Brille ab. »Es ist Ihnen doch bewußt, daß dieses Dokument an sich nichts bedeutet. Jeder kann die Ausstellung eines Geburtsscheines beantragen, jedes beliebigen Geburtsscheines.« »Der hier ist zufällig meiner, Sir.« »Er wurde erst im vergangenen März ausgestellt. Wo waren Sie im März?« »Noch in Ann Arbor. Ich lebte dort über fünf Jahre.« »Und sind Sie die ganze Zeit auf die Universität gegangen?« fragte ich. »Zum größten Teil. Anderthalb Jahre besuchte ich die Oberschule, dann wechselte ich auf die Universität über. In diesem Frühjahr machte ich mein Abschlußexamen.« Er schwieg und nahm seine volle Unterlippe zwischen die Zähne. »Vermutlich werden Sie das alles nachprüfen, darum ist es wohl besser, wenn ich Ihnen erkläre, daß ich nicht unter meinem eigenen Namen zur Schule ging und studierte.« »Warum? Kannten Sie Ihren eigenen Namen nicht?« »Doch, selbstverständlich. Ich habe ihn immer gewußt. Wenn Sie die näheren Umstände kennenlernen wollen, bin ich bereit, sie zu schildern.« »Ich glaube, das wäre sehr wünschenswert«, sagte Sable. Der junge Mann nahm eines der Bücher vom Tisch. Sein Titel -156-
lautete Dramen der Moderne. Er schlug es auf und zeigte uns den Namen ›John Lindsay‹, der mit Tinte auf das Vorsatzblatt geschrieben war. »Das war der Name, den ich benutzte. John Lindsay. Der Vorname war selbstverständlich mein eigener, der Familienname gehörte Mr. Lindsay, dem Mann, der mich in sein Haus aufnahm.« »Wohnte er in Ann Arbor?« fragte Sable. »Ja, in der Hill Street Nr. 1028.« Der Ton des jungen Mannes war leicht grimmig. »Ich wohnte einige Jahre dort bei ihm. Sein voller Name lautete Gabriel R. Lindsay. Er war Lehrer und Schulrat an der Oberschule.« »Ist es nicht recht merkwürdig, daß Sie seinen Namen benutzten?« »Unter den gegebenen Umständen finde ich das nicht. Die Umstände waren seltsam – das ist milde ausgedrückt –, und Mr. Lindsay war der einzige, der wirkliches Interesse für meinen Fall zeigte.« »Für Ihren Fall.« Der junge Mann lächelte düster. »Man kann es schon einen Fall nennen. Dank Mr. Lindsay bin ich in fünf Jahren sehr viel weitergekommen. Mein Zustand war nicht sehr erfreulich, als ich an dieser Oberschule auftauchte. In mehr als einer Weise nicht erfreulich. Ich war zwei Tage unterwegs gewesen, hatte weder Geld noch etwas Anständiges anzuziehen. Selbstverständlich wollten sie mich nicht aufnehmen. Ich hatte keine Schulzeugnisse vorzuweisen und wollte ihnen meinen Namen nicht sagen.« »Warum nicht?« »Ich hatte eine tödliche Angst, daß sie mich nach Ohio zurückschaffen und in eine Erziehungsanstalt stecken würden. Das haben sie mit einigen der Jungen gemacht, die von dem -157-
Waisenhaus fortliefen. Außerdem konnte der Leiter des Waisenhauses mich nicht leiden.« »Der Leiter des Waisenhauses?« »Ja. Sein Name ist Merriweather.« »Und wie hieß das Waisenhaus?« »Crystal Springs. Es liegt bei Cleveland. Sie nannten es nicht ein Waisenhaus, sondern ein Heim. Dadurch wurde es aber noch lange kein Heim.« »Sie sagten doch, daß Ihre Mutter Sie dorthin brachte«, sagte ich. »Ja, als ich vier Jahre alt war.« »Erinnern Sie sich an Ihre Mutter?« »Selbstverständlich, besonders an ihr Gesicht. Sie war sehr blaß und dünn und hatte blaue Augen. Ich glaube, daß sie krank gewesen sein muß. Sie hatte einen bösen Husten. Ihre Stimme war heiser, sehr tief und leise. Ich erinnere mich der letzten Worte, die sie zu mir sagte: ›Dein Vater hieß auch John Brown, und du bist in Kalifornien geboren.‹ Ich wußte nicht, was oder wo Kalifornien war, aber ich klammerte mich an die Worte. Verstehen Sie jetzt, warum ich schließlich hierherkommen mußte?« In seiner Stimme schienen die Erlebnisse seiner Kindheit mitzuschwingen. Sable blieb von solchen Gefühlen unbeeindruckt. »Wo sagte sie das zu Ihnen?« »In dem Büro des Anstaltsleiters, als sie mich dort hinbrachte. Sie versprach, mich wieder abzuholen, aber sie ist nie wiedergekommen. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.« »Sie erinnern sich aber ihrer Worte, die sie sagte, als Sie vier Jahre alt waren?« »Ja, ich war weit für mein Alter«, antwortete er trocken. »Ich bin intelligent und schäme mich dessen nicht. Es hat mir viel geholfen, als ich versuchte, in die Oberschule in Ann Arbor -158-
aufgenommen zu werden.« »Weshalb haben Sie sich Ann Arbor ausgesucht?« »Ich hatte gehört, daß die Schule dort gut sei. Die Lehrer in dem Heim waren ein paar unwissende Rohlinge. Mehr als alles andere wünschte ich mir eine Schulbildung. Mr. Lindsay unterwarf mich einem Intelligenztest und kam zu der Überzeugung, daß ich eine Schulbildung verdiene, selbst wenn ich keine Zeugnisse vorweisen konnte. Er mußte einen ziemlichen Kampf durchfechten, um meine Aufnahme durchzusetzen. Und dann mußte er sich mit dem Fürsorgeamt herumschlagen. Sie wollten mich in einer Erziehungsanstalt unterbringen oder Pflegeeltern für mich finden. Mr. Lindsay überzeugte sie, daß sein Haus dafür genügte, selbst wen« er keine Frau hatte. Er war verwitwet.« »Das klingt, als ob er ein guter Mann wäre«, sagte ich. »Er war der Beste, den es gab, und ich muß es wissen. Ich habe fast vier Jahre bei ihm gelebt. Ich habe die Heizung versorgt, im Sommer den Rasen gemäht und sonst im Haus gearbeitet, um mir mein Essen und meine Wohnung zu verdienen. Aber Essen und Wohnung waren das Geringste, das er mir gab. Ich war ein kleiner Landstreicher, als er mich aufnahm. Er hat einen anständigen Menschen aus mir gemacht.« Er schwieg und seine Augen blickten an uns vorbei, tausend Meilen weit. Dann richtete er sie auf mich. »Ich hatte kein Recht, heute zu Ihnen zu sagen, daß ich nie einen Vater gehabt hätte. Gabe Lindsay war mir ein Vater.« »Ich würde ihn gern kennenlernen«, sagte ich. »Damit Sie alles nachkontrollieren können?« »Nicht unbedingt. Fassen Sie das nicht alles so schroff auf, John. Wie Mr. Sable schon sagte, richtet es sich nicht gegen Sie persönlich. Es ist unsere Aufgabe, die Tatsachen herauszufinden.« -159-
»Um sie von Mr. Lindsay zu erfahren, ist es zu spät. Mr. Lindsay starb im Winter des vergangenen Jahres. Er war bis zu seinem Ende gut zu mir und noch darüber hinaus. Er hinterließ mir genug Geld, daß ich meine Studien abschließen konnte.« »Wieviel hinterließ er Ihnen?« fragte Sable. »Zweitausend Dollar. Ich habe noch etwas davon übrig.« »Woran starb er?« »An Lungenentzündung. Er starb im Universitätskrankenhaus in Ann Arbor. Ich war bei ihm, als er starb. Sie können das nachprüfen. Nächste Frage.« Seine Ironie wirkte unreif. Er war verletzt, und es gelang ihm nicht, das zu verbergen. Ich dachte, wenn seine Gefühle gespielt waren, brauchte er das Geld der Galtons nicht. Er konnte sich sein Vermögen als Schauspieler verdienen. »Was veranlaßte Sie, hierher nach Luna Bay zu kommen?« fragte Sable. »Das kann nicht reiner Zufall gewesen sein.« »Wer hat gesagt, daß es das war?« Unter dem Druck des Kreuzverhörs verlor der Junge langsam seine Haltung. »Ich hatte ein Recht, hierherzukommen. Ich wurde hier geboren, oder etwa nicht?« »Wurden Sie das wirklich?« »Sie haben gerade meinen Geburtsschein gesehen.« »Woher haben Sie den bekommen?« »Ich schrieb nach Sacramento. Ist dagegen vielleicht etwas einzuwenden? Ich gab mein Geburtsdatum an, und daraufhin konnte man mir sagen, wo ich geboren wurde.« »Woher kam denn Ihr plötzliches Interesse dafür, wo Sie geboren wurden?«. »Es kam nicht plötzlich. Fragen Sie jedes Waisenkind, wie wichtig ihm sein Geburtsort ist. Das einzig Plötzliche daran war mein kluger Einfall, nach Sacramento zu schreiben. Vorher war ich noch nicht darauf gekommen.« -160-
»Woher kannten Sie Ihr Geburtsdatum?« »Meine Mutter muß es dem Waisenhaus angegeben haben. Am 2. Dezember gaben sie mir immer ein Geburtstagsgeschenk.« Er lächelte grimmig. »Unterwäsche für den Winter.« Gegen seinen Willen lächelte Sable auch. Er wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, als ob er die Spannung in dem Zimmer verscheuchen wollte. »Sind Sie zufrieden, Archer?« »Für den Augenblick ja. Wir haben alle einen anstrengenden Tag hinter uns. Warum bleiben Sie nicht über Nacht hier?« »Das kann ich nicht. Ich habe morgen vormittag um zehn einen wichtigen Termin. Vorher muß ich mich noch mit dem Richter privat beraten.« Er wandte sich plötzlich an den jungen Mann. »Können Sie Auto fahren?« »Ich habe keinen eigenen Wagen, aber ich kann fahren.« »Was würden Sie dazu sagen, mich nach Santa Teresa zu fahren, jetzt sofort.« »Um dort zu bleiben?« »Ja, wenn alles klappt. Ich glaube, das wird es. Ihre Großmutter wird ungeduldig darauf warten, Sie zu sehen.« »Aber Mr. Turnell rechnet damit, daß ich bei ihm an der Tankstelle arbeite.« »Er kann sich einen anderen Helfer suchen«, sagte ich. »Es ist besser, wenn Sie fahren, John. Ihnen stehen große Veränderungen bevor, und das ist der Anfang.« »Ich lasse Ihnen zehn Minuten, um zu packen«, sagte Sable. Der junge Mann schien eine Minute lang völlig benommen. Er betrachtete die Wände der elenden kleinen Kammer, als ob er sich von dieser Umgebung nicht losreißen könnte. Vielleicht fürchtete er sich vor dem großen Sprung. »Los, los«, drängte Sable, »beeilen Sie sich.« -161-
John schüttelte seine Apathie ab und zog einen alten Lederkoffer aus dem Schrank. Wir standen dabei und sahen ihm zu, wie er seinen dürftigen Besitz einpackte: einen Anzug, einige Hemden und Socken, Rasierzeug, ein Dutzend Bücher, seine kostbare Geburtsurkunde. Ich fragte mich, ob wir ihm einen Gefallen taten. Im Haushalt der Galtons konnte man das Geld aus einem unerschöpflichen Reservoir wie Wasser aus der Leitung zapfen. Aber Geld bekam man nie umsonst. Wie für jede andere Ware mußte man dafür bezahlen.
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16 In meinem Zimmer in einem Motel saß ich noch lange auf und machte mir Notizen über John Browns Geschichte. Auf Anhieb war es keine sehr wahrscheinliche Geschichte. Seine offenkundige Ehrlichkeit machte sie glaubwürdig; das und die Tatsache, daß sie leicht überprüft werden konnte. Im Verlauf des Gesprächs hatte es einen Punkt gegeben, da hatte ich mit mir selber gewettet, daß John Brown die Wahrheit sagte. Beziehungsweise John Galton. Am Morgen schickte ich meine Notizen mit der Post an mein Büro in Hollywood. Dann suchte ich die Zweigstelle des Sheriffs auf. An Mungans Schreibtisch saß ein junger Polizist mit einem Bürstenhaarschnitt. »Sie wünschen?« »Ist Hilfssheriff Mungan irgendwo zu finden?« »Tut mir leid, er hat dienstfrei. Wenn Sie Mr. Archer sind, für Sie hat er eine Nachricht hinterlassen.« Er zog einen langen Umschlag aus der Schublade und reichte ihn mir über die Barriere. Er enthielt die auf gelbliches Notizpapier hastig geschriebene Mitteilung: Redwood City gab telefonisch über Fred Nelson folgendes durch: Seit den zwanziger Jahren in San Francisco polizeibekannt, vorsätzlicher Raubüberfall, keine Verurteilung erfolgt. Mitglied der Lempi-Bande seit 1928. 1930 unter Mordverdacht verhaftet. Durch habeas corpus freigekommen. 1932 wegen schweren Diebstahls verurteilt, Strafverbüßung in San Quentin. 1933 Ausbruchversuch. -163-
Strafverlängerung. Dezember 1935 ausgebrochen, nicht wieder festgenommen. Mungan Ich ging über die Straße zu dem Hotel und rief Roy Lembergs Hotel, das ›Sussex Arms‹ an. Der Empfangsportier meldete sich. »›Sussex Arms‹, Farnsworth am Apparat.« »Hier ist Archer. Ist Lemberg da?« »Wer ist dort bitte?« »Archer. Ich habe Ihnen gestern zehn Dollar gegeben. Ist Lemberg da?« »Mr. und Mrs. Lemberg sind beide ausgezogen.« »Wann?« »Gestern nachmittag, gleich nachdem Sie fort waren.« »Warum sah ich sie nicht fortgehen?« »Vielleicht gingen sie durch den Hinterausgang. Sie haben nicht einmal eine Nachsendeadresse hinterlassen. Aber Lemberg führte ein Ferngespräch, ehe sie das Haus verließen, ein Gespräch nach Reno.« »Wen rief er in Reno an?« »Einen Autohändler namens Generous Joe. Lemberg hat, glaube ich, einmal für ihn gearbeitet.« »Und das ist alles?« »Das ist alles«, bestätigte Farnsworth. »Hoffentlich ist es das, was Sie wissen wollten.« Ich fuhr quer über Land zum International Airport, gab meinen gemieteten Wagen ab und erwischte ein Flugzeug nach Reno. Gegen Mittag parkte ich einen weiteren gemieteten Wagen vor dem Verkaufsgelände von Generous Joe. Ein riesiges Schild zeigte einen lächelnden Weihnachtsmanntyp, der Silberdollars um sich verstreute. Auf -164-
dem Verkaufsgelände stand in einer Ecke ein Kiosk und eine Reihe Wagen neuester Modelle, die einen halben Morgen mit alten Karren verdeckte. Ein großer rostiger Metallschuppen mit einem Schild ›Lackiererei‹ an der Wand stand hinten auf dem Gelände. Ein eifriger junger Mann mit einem Schlips aus Rohleder kam aus dem Kiosk gestürzt, fast noch ehe ich meinen Wagen zum Halten gebracht hatte. Er beklopfte und streichelte die Kotflügel. »Hübsch, sehr hübsch. Wunderbarer Zustand, innen und außen tadellos gepflegt. Ganz nach Ihren Wünschen können Sie ihn tauschen und noch einen Betrag in bar ausgezahlt bekommen.« »Dann käme ich ins Gefängnis. Den Wagen habe ich gerade gemietet.« Er schluckte, schlug einen geistigen Salto mortale und landete auf den Füßen. »Wozu Miete bezahlen? Bei unseren Bedingungen können Sie für weniger Geld Ihren eigenen Wagen haben.« »Sie sind doch nicht etwa Generous Joe persönlich?« »Mr. Culotti ist hinten. Wollen Sie mit ihm sprechen?« Ich sagte, das wolle ich. Er deutete in Richtung des Schuppens und schrie: »He, Mr. Culotti, ein Kunde!« Ein grauhaariger Mann kam heraus. Sein cremefarbiger Anzug war eine billige Verkleidung. Sein Gesicht war dunkel und knotig wie eine Büste von Epstein – die beiden Hälften paßten nicht zueinander. Als ich näher kam, bemerkte ich, daß eines seiner braunen Augen aus Glas war. Er sah ständig überrascht aus. »Mr. Culotti?« fragte ich. »Das bin ich.« Er lächelte ein Verkäuferlächeln. »Was kann ich für Sie tun?« Ein leichter romanischer Akzent klang in seiner Sprache mit. -165-
»Ein Mann namens Lemberg hat Sie gestern angerufen.« »Das stimmt. Er hat mal für mich gearbeitet, wollte seine alte Stellung zurück. Nichts zu machen.« Mit einer Geste seiner gespreizten Hände fegte er Lemberg in den Mülleimer. »Ist er wieder in Reno? Ich versuche ihn zu finden.« Culotti zupfte an seiner Nase, dann lächelte er breit und legte väterlich einen Arm um meine Schultern. »Kommen Sie herein, wir wollen uns unterhalten.« Er drängte mich auf die Tür zu. Aus dem Schuppen drang ein zischendes Geräusch und der süße, betäubende Geruch von Spritzlack. Culotti öffnete die Tür und trat zurück. Ein Mann mit einer Schutzbrille und einer Spritzpistole in der Hand drehte sich von seiner Arbeit an einem blauen Wagen um. Ich versuchte ihn zu erkennen, als mich Culottis Schulter mit der Wucht eines Lastwagens in den Rücken traf. Ich taumelte auf den Mann mit der Schutzbrille zu. Die Spritzpistole in seiner Hand zischte. Eine blaue Wolke brannte mir in die Augen. In der brennenden blauen Dunkelheit erinnerte ich mich, daß der Empfangsportier Farnsworth nicht mehr Geld von mir verlangt hatte. Dann spürte ich die gedämpfte Explosion eines Totschlägers auf meinem Hinterkopf. Ich schlitterte über blaue Abhänge des Schmerzes in ein Loch, das sich unter mir auftat. Später hörte ich eine Unterhaltung. »Wasch ihm lieber die Augen aus«, sagte der erste Totengräber. »Wir wollen nicht, daß er blind wird.« »Laß ihn blind werden«, sagte der zweite Totengräber. »Das wird ihm eine Lehre sein. Ich bekam auch mal was ins Auge.« »Und war es dir eine Lehre, Einäugiger? Dann tu, was ich dir sage.« Ich hörte Culotti wie einen Bullen schnaufen. Er spuckte, gab -166-
aber keine Antwort. Meine Hände waren mir auf dem Rücken gefesselt. Mit dem Gesicht lag ich auf Beton. Ich versuchte zu blinzeln. Meine Lider waren verklebt. Die Angst vor Blindheit ist die schlimmste Angst, die es gibt. Sie kroch über mein Gesicht und drang in meinen Mund ein. Ich wollte sie anflehen, meine Augen zu retten. Ein hartnäckiger heller Fleck hinter meinen Augen scheuchte mich zurück und zwang mich zu schweigen. Eine Flüssigkeit plätscherte in eine Dose. »Nicht mit Benzin, Fettwanst.« »Nenn mich nicht so.« »Warum nicht? Du bist ein einäugiger Fettwanst, ein aufgeschwemmtes ehemaliges Muskelpaket.« Die Stimme war hell und ausdruckslos, ohne Gefühl, fast ohne Bedeutung. »Hast du kein Olivenöl?« »Zu Hause reichlich.« »Dann hole es. Ich paß hier so lange auf.« Mein Bewußtsein mußte geschwunden sein. Öl lief mir wie Tränen übers Gesicht. Ich dachte an einen Freund namens Angelo, der sein eigenes Öl aus den Oliven machte, die auf seinem Berg im Valley wuchsen. Die Mafia hatte seinen Vater getötet. Ein Gesicht tauchte verschwommen vor mir auf. Culottis Gesicht, das mit offenstehendem Mund über mir hing. Ich drehte mich von der Seite auf den Rücken und stieß mit beiden Füßen nach ihm. Ein Absatz traf ihn unter das Kinn, und er stürzte. Etwas polterte und rollte über den Boden. Dann stand er einäugig und aus dem Mund blutend über mir. Er trat meinen Kopf in unterirdische Dunkelheit zurück. Es wurde ein schlimmer Nachmittag. Ganz plötzlich war es ein schlimmer Abend. Jemand hatte mich durch sein Schnarchen geweckt. Eine Weile lauschte ich auf das Schnarchen. Wenn ich -167-
meinen Atem anhielt, hörte es auf und fing wieder an, wenn ich ausatmete. Eine ganze Weile begriff ich nicht, was das bedeutete. Es gab für mich nicht zu viele andere interessante Dinge zu tun oder darüber nachzudenken. Der starrende Fleck befand sich wieder im Mittelpunkt meiner Gedanken. Er bewegte sich, und meine Hände bewegten sich mit ihm. Sie betasteten mein Gesicht. Es langweilte mich. Ruinen langweilen mich immer. Ich lag in einem Zimmer. Das Zimmer hatte Wände. In einer der Wände war ein Fenster. Schneebedeckte Berge erhoben sich vor einem gelben Himmel, der erst grün, dann blau wurde. Zwielicht hing wie blauer Rauch in dem Raum. Ich setzte mich auf. Federn knarrten unter mir. Ein Mann, den ich nicht bemerkt hatte, löste sich von der Wand, an der er gelehnt hatte. Ich setzte meine Füße auf den Boden und wandte mich ihm zu, langsam und vorsichtig, um nicht mein Gleichgewicht zu verlieren. Er war ein kräftiger junger Mann, mit glänzenden schwarzen Locken, die ihm in die Stirn fielen. Seinen einen Arm trug er in einer Schlinge. Der andere Arm endete in einer Waffe. Seine glühenden Augen und das kalte Auge der Waffe richteten sich in einem Strahlenbündel auf mein Brustbein. »Hallo, Tommy«, versuchte ich zu sagen. Was herauskam war: Huddo, Tauwi. Mein Mund war voller Blutklumpen. Ich versuchte sie auszuspucken. Das löste eine Kettenreaktion aus, die mich würgend und krächzend auf das Bett zurückwarf. Tommy Lemberg stand dabei und beobachtete mich. Als ich mich beruhigt hatte, sagte er: »Mr. Schwartz wartet darauf, sich mit Ihnen zu unterhalten. Wollen Sie sich vorher etwas säubern?« »Wo kann ich das tun?« fragte ich in meinem unnachahmlichen Idiom. »Unten im Gang ist ein Badezimmer. Glauben Sie, daß Sie gehen können?« -168-
»Ich kann gehen.« Aber ich mußte mich an der Wand stützen, um das Badezimmer zu erreichen. Tommy Lemberg stand dabei und beobachtete, wie ich mein Gesicht wusch und gurgelte. Ich versuchte zu vermeiden, in den Spiegel über dem Waschbecken zu sehen. Als ich mein Gesicht abtrocknete, blickte ich schließlich doch hinein. Einer meiner Vorderzähne war gebrochen. Meine Nase glich einer zermanschten Kartoffel. Das alles machte mich wütend. Ich ging auf Tommy los. Er trat unter die Türöffnung zurück. Ich verlor den Halt, fiel auf die Knie und spürte den Lauf seiner Waffe in meinem Nacken. Schmerz durchlief mich so stark und lähmend, daß ich Angst bekam. Ich rappelte mich auf und zog mich an dem Waschbecken hoch. Tommy grinste aufgeregt. »Tun Sie so was nicht. Ich will Ihnen nicht weh tun.« »Culligan wollten Sie auch nicht weh tun, wetten?« Ich konnte jetzt besser sprechen, aber meine Augen funktionierten noch nicht richtig. »Culligan? Wer ist das? Hab nie von einem Culligan gehört.« »Und Sie waren auch nie in Santa Teresa?« »Wo ist das?« Er führte mich zum Ende des Ganges und eine Treppe hinunter in einen großen, düsteren Raum. Wie auf Bildern standen in den Fenstern die Berge jetzt schwarz vor dem dunkel gewordenen Himmel. Ich erkannte die Berge westlich von Reno. Tommy schaltete Lichter ein und löschte die Berge aus. Er bewegte sich in dem Raum, als ob er hier zu Hause wäre. Vermutlich war es das Wohnzimmer im Haus von Otto Schwartz, aber es glich eher einer Hotelhalle oder dem Aufenthaltsraum eines Erholungsheims. Die Möbel standen in unpersönlichen Gruppen umher und waren mit Kunststoff -169-
überzogen, damit sie nicht beschädigt werden konnten. Eine antike Bar mit einer Wand von Flaschen nahm eine ganze Seite ein. Eine Musiktruhe, ein elektrisches Klavier, ein Roulettetisch und mehrere Spielautomaten standen vor der Längswand. »Sie können sich ruhig setzen.« Tommy deutete mit seiner Waffe auf einen Sessel. Ich setzte mich und schloß die Augen, die immer noch nicht richtig funktionierten. Alles sah so aus, als ob es doppelte Umrisse hätte. Ich fürchtete eine Gehirnerschütterung. Ich fürchtete sehr vieles. Tommy stellte das elektrische Klavier an. Es begann diese Melodie über eine kleine spanische Stadt zu klimpern. Tommy machte ein paar Tanzschritte dazu, sah mich dabei an und hielt die Waffe in seiner Hand. Er schien nicht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte. Ich konzentrierte mich auf den Wunsch, daß er die Waffe einstecken und mir damit eine Angriffschance geben würde. Doch das würde er bestimmt nicht tun. Es gefiel ihm, die Waffe in der Hand zu halten. Er probierte verschiedene Griffe aus und posierte damit vor dem spiegelnden Fenster. In Gedanken entwarf ich einen Brief an meinen Abgeordneten im Kongreß, in dem ich mich für ein Gesetz einsetzte, das die Herstellung von Waffen außer für militärische Zwecke verbot. In diesem Augenblick betrat Mr. J. Edgar Hoover, der Begründer des FBI, den Raum. Er mußte wohl Gedanken lesen können, denn er sagte, daß er meinen Plan billige und ihn dem Präsidenten vorlegen wolle. Ich faßte mich an die Stirn, sie war heiß und trocken wie ein Heizkissen. Mr. Hoover löste sich auf. Das elektrische Klavier hämmerte immer noch die gleiche Melodie – man konnte dabei wahnsinnig werden. Als nächster trat ein Mann ein, dessen grüne Gletscheraugen eine Eiseskälte ausstrahlten. Seine Nase erinnerte an den gebogenen Schnabel eines gefährlichen Raubvogels, und beim -170-
Lächeln verzogen sich seine Lippen zu einem dünnen, waagerechten Strich. Er mußte nahe an die Sechzig sein, aber der schlanke, durchtrainierte Körper und die gesunde Sonnenbräune ließen ihn jünger erscheinen. Er trug einen Mantel und einen hellen Filzhut. Der Mann, der einen Schritt hinter ihm folgte und ihn um einen halben Kopf überragte, war ähnlich gekleidet. Mit seinen ausdruckslosen Augen, dem zerschlagenen Gesicht und der schon pathologischen Nervenlosigkeit wirkte er wie die Verkörperung eines Wildwestbösewichts aus der guten, alten Kintoppzeit. Als sein Boss vor mir stehenblieb, hielt er in hündischer Wachsamkeit neben ihm an. Wie ein Lehrling trat Tommy an die Seite. »Sie sind in einem bösen Zustand.« Auch die Stimme von Schwartz war eiskalt und sehr leise, eine Stimme, die erwartete, daß man auf sie hörte. »Ich bin Otto Schwartz, falls Sie es nicht wissen sollten. Ich habe keine Zeit auf einen kleinen Privatdetektiv zu verschwenden. Ich habe andere Dinge im Kopf.« »Was haben Sie denn für Dinge im Kopf? Mord vielleicht?« Er richtete sich auf. Doch statt mich zu schlagen, nahm er seinen Hut ab und warf ihn Tommy zu. Sein Kopf war völlig kahl. Er schob die Hände in seine Manteltaschen, wippte auf seinen Fersen vor und zurück und blickte an seiner gebogenen Nase entlang auf mich herunter. »Ich bin bereit, Ihnen abzunehmen, daß Sie hier in eine Sache geraten sind, von der Sie keine Ahnung haben. Was kann ich aber tun, wenn Sie so weitermachen? Sie reden hier von Mord und anderem verrückten Zeug.« Bedächtig schüttelte er den Kopf. »Der Tahoe-See ist tief, besonders ohne Tauchgerät und mit Zement an den Beinen.« »Und der elektrische Stuhl ist heiß, besonders ohne Kissen und mit Elektroden auf dem kahlen Kopf.« -171-
Der große Mann machte einen Schritt auf mich zu, beobachtete Schwartz mit hündischen Augen und schob seine breiten Schultern vor. Schwartz überraschte mich durch ein dünnes Lachen. »Sie sind ein mutiger junger Mann, Sie gefallen mir. Ich wünsche Ihnen nichts Böses. Was schlagen Sie vor? Ein bißchen Geld, und damit ist es erledigt?« »Oder ein bißchen Mord. Morden Sie nur tüchtig weiter, dann sind Sie eines Tages ein großer Mann.« »Ich bin jetzt schon ein großer Mann, täuschen Sie sich nur nicht.« Er schob die Lippen vor, und sein Mund sah plötzlich wie eine rissige alte Wunde aus. »Ich lasse mich nicht beleidigen, und ebensowenig lasse ich mich bestehlen.« »Hat Culligan Sie bestohlen? Haben Sie deswegen befohlen, daß er ermordet werden sollte?« Schwartz sah eine Weile auf mich herunter. Seine Augen waren dunkel in der Mitte. Ich dachte an die Tiefe des TahoeSees und den armen Archer, ertrunken, mit Zement an den Beinen. Selbstmitleid stieg in mir hoch, und ich versuchte dagegen anzukämpfen. »Darf ich etwas sagen, Mr. Schwartz?« fragte Tommy Lemberg. »Ich habe den Kerl nicht umgelegt. Die Polizei irrt sich da. Er muß in sein Messer gefallen sein und sich selber erstochen haben.« »Ja, du Dummkopf!« Schwartz richtete seine unterdrückte Wut auf Tommy. »Erzähle das den Polizisten, aber laß mich dabei bitte heraus.« »Sie würden mir nicht glauben«, winselte Tommy im gekränkten Ton der Mißverstandenen. »Sie würden es mir anhängen, nur weil ich mich gegen ihn gewehrt habe. Er hat mich angeschossen. Er hat die Waffe gegen mich…« »Sei still, sei still.« Schwartz spreizte eine Hand auf seinem -172-
Kopf und raufte sich eingebildete Haare aus. »Warum gibt es denn auf der Welt keine Intelligenz mehr. Nur noch Dummköpfe.« »Die Intelligenten würden Ihre Geschäfte nicht mit einer Feuerzange anfassen.« »Jetzt habe ich genug von Ihnen.« Er winkte mit dem Kopf dem großen Mann zu, der anfing, seinen Mantel auszuziehen. »Soll ich ihn mir vornehmen, Mr. Schwartz?« Es war die helle und ausdruckslose Stimme, die mit Culotti gestritten hatte. Ich stützte mich aus dem Sessel hoch. Weil Schwartz am nächsten stand, schlug ich ihn in die Magengrube. Er klappte zusammen wie ein Taschenmesser und fiel stöhnend zu Boden. Es brauchte nicht viel, um mich glücklich zu machen, und sein Stöhnen gab mir ein Glücksgefühl, das für die ersten drei oder vier Minuten der Abreibung vorhielt. Dann fing das Gesicht des großen Mannes an, zu roten Flecken zu werden. Als das Licht in dem Raum völlig erlosch, leuchtete der helle, starrende Fleck in meinem Kopf noch für eine Weile. Schwartz’ Stimme machte weiter kleine witzige Bemerkungen. »Versprechen Sie einfach, alles zu vergessen, dann ist es erledigt.« »Sie brauchen mir nur Ihr Wort zu geben. Ich bin ein Mann von Wort wie Sie auch.« »Zurück nach Los Angeles, mehr brauchen Sie nicht. Niemand fragt weiter, niemand geschieht etwas.« Der helle Fleck stach wie eine Nadel in meinem Gehirn. Er wollte mich nicht aus dem Zimmer lassen. Ich verfluchte ihn, aber ich konnte ihm nicht entgehen. Er schrieb kleine leuchtende Bemerkungen in die rote, hämmernde Dunkelheit: Da hast du es! Jetzt halte aus! -173-
Auf einmal war da ein Licht, das sich wie das Licht eines Schiffes mir entzog. Ich schwamm hinterher, aber es hob sich empor, hing still wie ein Stern am dunklen Himmel. Ich ließ den dröhnenden Raum fahren und schwang mich daraus empor und über die schwarzen Berge.
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17 Früh am nächsten Morgen kam ich in der Unfallstation des Krankenhauses von Reno wieder zu mir. Nachdem ich gelernt hatte, mit einer verpflasterten Nase und einem mit Draht geflickten Kiefer zu sprechen, fragten mich zwei Kriminalbeamte, wer mir meine Brieftasche abgenommen habe. Ich machte mir nicht die Mühe, ihnen die Vermutung auszureden, daß ich das Opfer eines Raubüberfalls sei. Jedes Wort über Schwartz wäre vergeudet gewesen. Außerdem brauchte ich Schwartz für mich. Der Gedanke an ihn brachte mich über die ersten schlimmen Tage hinweg, wenn ich manchmal daran zweifelte, ob ich je wieder auf die Beine kommen würde. Einstweilen waren die Konturen noch zu verschwommen. Ich bekam die verschwommenen Krankenschwestern und die ernsten, jungen, verschwommenen Ärzte gründlich satt, die wissen wollten, ob mir der Kopf noch weh täte, und auch sonst noch allerhand dummes Zeug fragten. Am vierten Tag konnte ich allerdings wieder gut genug sehen, um einige der gestrigen Zeitungen zu lesen, die freiwillige Helferinnen für die Patienten in den Krankensaal brachten. Am Himmel flogen harte Brocken und auf Erden herrschten Meinungsverschiedenheiten. Ein Sonderbericht auf den hinteren Seiten schilderte, wie ein so richtig aus dem Leben gegriffenes wahres Märchen sein glückliches Ende gefunden hatte, indem der lang vermißte John Galton an den Busen seiner Großmutter, der Eisenbahn- und Ölwitwe, zurückgeführt worden war. Auf dem dazugehörigen Foto zeigte sich John in einem neu aussehenden Sportjackett und mit einem Grinsen, das besagte: was kostet die Welt? -175-
Das spornte mich an. Gegen Ende der ersten Woche fing ich an aufzustehen. Eines Morgens nach meinem Milchsüppchen schlich ich mich ins Schwesternzimmer und meldete ein RGespräch nach Santa Teresa an. Ich hatte gerade Zeit, Gordon Sable zu sagen, wo ich war, ehe mich die Oberschwester erwischte und in den Krankensaal zurückschaffte. Sable traf ein, während ich mein Säuglingsmittagsmahl einnahm. Er winkte mit einem Scheckbuch. Ehe ich’s mich versah, befand ich mich in einem Privatzimmer mit einer Flasche Bourbon, die Sable mir mitgebracht hatte. Wir blieben lange beieinander sitzen. Ich trank Highballs durch ein Glasröhrchen und sprach durch meine übriggebliebenen Zähne wie ein Gangster in einem frühen Tonfilm. »Auf den Zahn müssen Sie sich eine Krone setzen lassen«, tröstete mich Sable. »Und die Nase kann man korrigieren lassen. Haben Sie eine Krankenversicherung?« »Nein.« »Ich fürchte, daß ich für Mrs. Galton keine bindende Verpflichtung übernehmen kann.« Darauf betrachtete er mich noch einmal und wurde etwas mildtätiger. »Nun, vielleicht kann ich es doch. Ich glaube, daß ich sie überreden kann, die Kosten zu übernehmen, obwohl Sie Ihre Anweisungen überschritten haben.« »Das wäre hochanständig von Ihnen.« Meine Worte klangen nicht ironisch. Ich hatte eine böse Woche hinter mir. »Ist es ihr wirklich so verdammt gleichgültig, wer ihren Sohn ermordet hat? Und was ist mit Culligan?« »Keine Sorge, die Polizei arbeitet an beiden Fällen.« »Es ist nur ein Fall, und die Bullen sitzen untätig auf ihren dicken Hintern. Dafür hat Schwartz gesorgt.« Sable schüttelte den Kopf. »Sie sind gründlich auf dem Holzweg, Lew.« -176-
»Den Teufel bin ich. Tommy Lemberg ist einer seiner Knaben. Haben sie Tommy verhaftet?« »Er ist spurlos verschwunden. Machen Sie sich nichts daraus. Ich erkenne Ihren guten Willen an, aber schließlich können Sie nicht die Verantwortung für jedes Verbrechen in der Welt übernehmen, jedenfalls nicht in Ihrem gegenwärtigen Zustand.« »In einer Woche bin ich wieder auf den Beinen. Früher schon.« Der Whisky in der Flasche fiel wie ein Barometer. Ich war von einem stürmischen Optimismus erfüllt. »Lassen Sie mir danach noch eine Woche Zeit, und ich kläre Ihnen den Fall vollständig auf.« »Das hoffe ich, Lew. Aber übernehmen Sie sich nicht. Sie sind verletzt worden, und deshalb ist Ihre übertriebene Reaktion natürlich verständlich.« Er saß unmittelbar unter der Lampe, doch sein Gesicht begann zu verschwimmen. Ich beugte mich aus dem Bett und packte seine Schulter. »Hören Sie zu, Sable, beweisen kann ich es nicht, aber ich bin überzeugt, daß dieser junge Galton ein Hochstapler ist. Wir haben es hier mit einem großangelegten Betrug zu tun, hinter dem eine ganze Organisation steht.« »Ich glaube, Sie irren sich. Ich habe mich viele Stunden mit seiner Geschichte befaßt. Es ist alles belegt. Und Mrs. Galton ist zum erstenmal seit vielen Jahren glücklich und zufrieden.« »Aber ich bin es nicht.« Er stand auf und schob mich sanft in mein Kissen zurück. Ich war noch so schwach wie eine halbverhungerte Katze. »Für heute abend haben Sie genug geredet. Ruhen Sie sich aus, und machen Sie sich keine Gedanken. Wie wär’s damit? Mrs. Galton wird sich um alles andere kümmern, und wenn sie nicht will, werde ich dafür sorgen, daß sie es tut. Sie haben sich ihre Dankbarkeit verdient. Es tut uns allen leid, daß Ihnen das passiert ist.« Er schüttelte mir die Hand und wandte sich zur Tür. -177-
»Fliegen Sie heute abend zurück?« fragte ich. »Ich muß. Meine Frau ist in schlechter Verfassung. Und jetzt erholen Sie sich zunächst einmal. Sie werden von mir hören. Übrigens werde ich für Sie bei der Krankenhausverwaltung Geld deponieren.«
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18 Drei Tage später floh ich aus dem Krankenhaus und schleppte mich an Bord eines Flugzeugs nach San Francisco. Am International Airport nahm ich ein Taxi zum ›Sussex Arms Hotel‹. Farnsworth, der Portier, saß hinten in dem düsteren kleinen Foyer hinter seinem Pult und sah aus, als ob er sich zwei Wochen lang nicht von der Stelle gerührt hätte. Er las in einer Kraftsportzeitschrift und blickte nicht auf, bis ich so nahe bei ihm war, daß ich das Gelbe in seinen Augen sehen konnte. Selbst dann erkannte er mich nicht gleich. Die Bandagen auf meinem Gesicht waren eine wirksame Maskierung. »Wünschen Sie ein Zimmer, Sir?« »Nein, ich wollte Sie sprechen.« »Mich?« Seine Augenbrauen zuckten hoch und zogen sich dann in angestrengtem Nachdenken zusammen. »Ich schulde Ihnen noch etwas.« Die Farbe wich aus seinem Gesicht. »Nein, nein, das tun Sie nicht. Es ist alles in Ordnung.« »Den anderen Zehner und die Prämie. Das macht fünfzehn Dollar, die ich Ihnen schulde. Die Verzögerung tut mir leid, aber ich wurde aufgehalten.« »Das ist sehr bedauerlich.« Er reckte seinen Hals und blickte hinter sich. Dort war nichts zu sehen, außer dem Klappenschrank des Telefons, der wie eine Wand voll leerer Augen zurückstarrte. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Farnsworth, es war doch nicht Ihre Schuld, oder?« -179-
»Nein.« Er schluckte mehrmals. »Es war nicht meine Schuld.« Ich stand vor ihm und lächelte mit dem sichtbaren Teil meines Gesichts auf ihn hinab. »Was ist denn passiert?« fragte er nach einer Weile. »Das ist eine lange traurige Geschichte, die Sie kaum interessieren wird.« Ich zog aus meiner Hüfttasche ein neues knirschendes Portemonnaie und legte einen Fünfer und einen Zehner auf das Pult zwischen uns. Er saß da und blickte auf das Geld. »Nehmen Sie es«, forderte ich ihn auf. Er rührte sich nicht. »Na los schon, seien Sie nicht schüchtern. Das Geld gehört Ihnen.« »Also dann, vielen Dank.« Langsam und zögernd griff er nach den Scheinen. Mit der linken Hand packte ich sein Handgelenk und hielt ihn fest. Er zerrte krampfhaft, griff unter das Pult und hob mit seiner linken Hand eine Waffe hoch. »Lassen Sie mich los.« »Kommt nicht in Frage.« »Ich schieße!« Aber die Waffe in seiner Hand zitterte. Ich griff nach seinem linken Handgelenk und drehte es, bis die Waffe zwischen uns auf das Pult fiel. Es war ein Revolver Kaliber 32, eine kleine vernickelte Selbstmordwaffe. Ich ließ Farnsworth los, nahm den Revolver und richtete ihn auf den Knoten seiner Krawatte. Ohne sich zu bewegen, schien er vor mir zurückzuweichen. Seine Augen rückten näher aneinander. »Bitte. Ich konnte nichts dagegen machen.« »Wogegen konnten Sie nichts machen?« »Ich hatte Anweisung, Ihnen diese Adresse in Reno zu nennen.« -180-
»Wer gab Ihnen diese Anweisung?« »Roy Lemberg. Es war nicht meine Schuld.« »Lemberg kann niemand Anweisungen geben. Er ist der Typ, der welche bekommt.« »Das stimmt, ich wollte sagen, er gab sie an mich weiter.« »Und von wem bekam er sie?« »Von einem Spieler in Nevada. Er heißt Schwartz.« Farnsworth befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. »Ich vermittle ein bißchen bei Rennwetten. Wenn ich nicht tue, was mir die Großen sagen, verliere ich mein Geschäft. Seien Sie barmherzig mit mir, Mister.« »Wenn Sie ehrlich zu mir sind. Arbeitet Lemberg für Schwartz?« »Sein Bruder, er selbst nicht.« »Wo sind die Lembergs jetzt?« »Von dem Bruder weiß ich nichts. Roy verschwand zusammen mit seiner Frau, wie ich Ihnen schon gesagt habe. Nehmen Sie die Waffe weg, Mister, ich habe einen nervösen Magen.« »Wenn Sie nicht reden, bekommen Sie ein durchbrochenes Magengeschwür. Wo sind die Lembergs hin?« »Nach Los Angeles, glaube ich.« »Wo in Los Angeles?« »Weiß ich nicht.« Er spreizte seine Hände. Sie zitterten wie Espenlaub. »Wirklich nicht.« »Hören Sie, Farnsworth«, sagte ich in einem neuen drohenden Ton zwischen den Zähnen. »Ich lasse Ihnen fünf Sekunden Zeit, es sich zu überlegen.« Er sah sich wieder nach dem Klappenschrank um, als ob er ein Hinrichtungsinstrument wäre, und schluckte hörbar. »Also gut, ich will’s Ihnen sagen. Sie sind in einem billigen Motel -181-
nahe beim Flugplatz Moffett, dem ›Triton Motor Court‹. Wenigstens haben sie gesagt, daß sie dorthin wollten. Nehmen Sie doch jetzt die Waffe weg, Mister.« Ehe er seine Furcht ganz überwinden konnte, fragte ich: »Kennen Sie einen Mann namens Peter Culligan?« »Ja. Vor über einem Jahr wohnte er eine Zeitlang hier.« »Wovon hat er gelebt?« »Er wettete bei Pferderennen.« »Konnte er davon leben?« »Ich glaube, er fuhr manchmal auch ein Taxi. Nehmen Sie doch die Waffe weg. Ich hab Ihnen gesagt, was Sie wissen wollen.« »Wo ist Culligan von hier hingegangen?« »Ich hab gehört, er hätte eine Stellung in Reno bekommen.« »Bei Schwartz?« »Kann sein. Mir hat er einmal gesagt, er wäre mal Leibwächter gewesen.« Ich schob die Waffe in meine Tasche. »He«, protestierte er, »das ist mein Revolver. Ich hab ihn mir selbst gekauft.« »Für Sie ist es besser, wenn Sie ihn loshaben.« Als ich von der Tür zurückblickte, sah ich, daß Farnsworth zum Telefon am Klappenschrank ging. Er hielt mitten in der Bewegung inne. Ich ging durch das Foyer zu ihm zurück. »Wenn sich herausstellt, daß Sie gelogen haben, oder wenn Sie den Lembergs einen Tip geben, komme ich noch mal zu Ihnen. Haben Sie verstanden?« Seine ungesunden, wabbeligen Wangen zitterten vor moralischer Entrüstung. »Ja, selbstverständlich, natürlich.« Dieses Mal sah ich mich nicht um. Ich ging zum Union Square, wo ich für den Nachmittag einen Flug nach Los Angeles -182-
buchte. Dann mietete ich mir einen Wagen und fuhr an der Küste entlang zum Flugplatz Moffett. Die Hangars des Flugplatzes ragten im Nebel wie graue Walfische auf. Der ›Triton Motor Court‹ bestand aus einer Reihe kümmerlicher Hütten am Rand des Flugplatzes. Die Hütten waren von einem verblaßten Lachsrosa. Seine einzig sichtbare Attraktion war ein Schild mit der Aufschrift: Doppelzimmer drei Dollar. In der Luft schwärmten Düsenjäger wie Fliegen. Ich parkte auf dem Schlackenweg neben einem Hühnerstall von Büro. Die Frau, die das Motel betrieb, trug eine falsche Perlenschnur, die vom vielen Tragen schmutzig geworden war. Sie behauptete, Mr. und Mrs. Lemberg seien bei ihr nicht angemeldet. »Sie können sich unter ihrem Mädchennamen eingetragen haben«, meinte ich und beschrieb ihr das Paar. »Vielleicht ist es die Frau in Nummer sieben. Die will aber nicht gestört werden, jedenfalls nicht bei Tag.« »Ich will sie nicht stören. Ich habe keine Absichten auf sie.« »Wer hat das behauptet«, antwortete sie empört. »Was glauben Sie überhaupt, wo Sie hier sind?« Die Frage war schwer zu beantworten. »Unter welchem Namen hat sie sich denn hier eingetragen?« »Sind Sie von der Polizei? Mit der Polizei will ich keinen Ärger haben.« »Ich hatte einen Autounfall. Sie kann mir vielleicht helfen, den schuldigen Fahrer zu finden.« »Das ist was anderes.« Wahrscheinlich glaubte die Frau mir nicht, hielt es aber für richtig, so zu tun. »Sie haben sich unter dem Namen Hamburg eingetragen. Als Mr. und Mrs. Rex Hamburg.« »Ist ihr Mann bei ihr?« -183-
»Die vergangene Woche war er nicht hier. Vielleicht ist das ganz gut«, fügte sie rätselhaft hinzu. Ich klopfte an die verwitterte Tür unter der rostigen eisernen Sieben. Hinter der Tür näherten sich schlurfende Schritte. Fran Lemberg blinzelte in das Licht. Ihre Augen waren verquollen, die Wurzeln ihrer Haare waren dunkler geworden, ihr Morgenmantel nahm langsam eine schmierige Patina an. Als sie mich erkannte, hörte sie auf zu blinzeln. »Gehen Sie fort!« »Ich komme für ein paar Minuten hinein. Sie wollen doch keinen Ärger?« Sie sah an mir vorbei, und ich folgte ihrem Blick. Die Frau mit den schmutzigen Perlen beobachtete uns durch das Fenster des Büros. »Also gut, kommen Sie herein.« Sie ließ mich vorbei und schlug die Tür gegen das Tageslicht zu. Der Raum roch nach Wein und kaltem Zigarettenrauch, alten Apfelsinenschalen und dem Schlaf einer Frau und einem Parfüm, das ich nicht erkannte, ›Erbsünde‹ vielleicht. Als meine Augen sich an das Düster gewöhnt hatten, bemerkte ich die Unordnung auf dem Fußboden und auf den Möbeln: Kleidungsstücke und zusammengeknüllte Strümpfe, Schuhe und leere Flaschen, Asche und Papier und die unappetitlichen Überreste einer Mahlzeit aus Bouletten und Pommes frites. Sie setzte sich in einer abwehrenden Haltung auf die Kante des ungemachten Bettes. Ich schaffte mir Platz auf dem Sessel. »Was ist denn mit Ihnen passiert?« fragte sie. »Ich hatte einen Zusammenstoß mit ein paar von Tommys Spielkameraden. Ihr Mann hat mich in die Falle geschickt.« »Das soll Roy getan haben?« »Machen Sie mir nichts vor. Sie waren doch selbst dabei. Ich hatte ihn für einen anständigen Kerl gehalten, der seinem Bruder -184-
helfen will, aber er ist auch nur der Laufbursche einer Verbrecherbande.« »Nein, das ist er nicht.« »Hat er das Ihnen etwa gesagt?« »Ich habe fast zehn Jahre mit ihm zusammengelebt und sollte es wissen. Einmal hat er für einen betrügerischen Autohändler in Nevada gearbeitet. Als Roy dahinterkam, daß der Mann ein Betrüger war, gab er die Stellung auf. So ein Mensch ist Roy.« »Wenn Sie Generous Joe meinen, qualifiziert Roy sich dadurch kaum als Pfadfinder.« »Ich habe nicht gesagt, daß er das ist. Er ist einfach ein Mann, der sich durchs Leben schlägt.« »Und es gibt welche, die es dabei den anderen schwerer machen.« »Sie können es Roy nicht verdenken, daß er sich selbst zu schützen versucht. Er wird als Mitwisser bei einem Mord gesucht. Das ist ungerecht. Sie können ihm nicht etwas anhängen, was Tommy getan hat.« »Sie sind ein loyales Eheweib«, sagte ich, »aber kommen Sie damit weiter?« »Wer sagt denn, daß ich weiter will?« »Es gibt angenehmere Aufenthaltsorte als den hier.« »Wem sagen Sie das! Ich kenne selbst ein paar.« »Wie lange ist Roy fort?« »Fast zwei Wochen, glaube ich. Ich kümmere mich nicht um die Zeit, sie vergeht dann schneller.« »Wie alt sind Sie, Fran?« »Das geht Sie nichts an.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Hundertachtundzwanzig Jahre.« »Kommt Roy zurück?« »Er hat es versprochen, aber er hält immer zu seinem Bruder, -185-
wenn etwas schiefgeht.« Mitleid mit sich selbst trat in ihre Augen, verschwand aber schnell wieder. »Wahrscheinlich darf ich ihm keinen Vorwurf machen. Diesmal ist es gründlich schiefgegangen.« »Tommy ist jetzt in Nevada«, sagte ich und versuchte, sie an einer Stelle zu treffen, die sie zum Reden bringen konnte. »Was, Tommy soll in Nevada sein?« »Ich habe ihn dort gesehen. Schwartz kümmerte sich um ihn und Roy wahrscheinlich auch.« »Das glaube ich Ihnen nicht. Roy hat gesagt, sie wollten aus dem Land und über die Grenze.« »Aus dem Staat vielleicht. Sollte er nicht das gesagt haben, daß sie aus dem Staat wollten?« »Aus dem Land«, wiederholte sie hartnäckig. »Deshalb konnten sie mich nicht mitnehmen.« »Sie haben Ihnen etwas vorgemacht. Sie wollten einfach nicht, daß ihnen eine Frau im Wege ist. Und Sie sitzen deshalb hier in diesem heruntergekommenen Loch und können sich für ein paar Bouletten verkaufen, während die Kerle in Saus und Braus in Nevada leben.« »Sie lügen«, schrie sie, »sie sind in Kanada.« »Lassen Sie sich doch nichts vormachen.« »Roy läßt mich nachkommen, sobald er es schaffen kann.« »Dann haben Sie also von ihm gehört?« »Ja, ich habe von ihm gehört.« Ihr schlaffer Mund spannte sich, zu spät jedoch, um die Worte zurückzuhalten. »Also gut, Sie haben es aus mir herausgelockt, das ist aber alles, was Sie aus mir herausbekommen.« Sie legte die Arme über ihren halbnackten Brüsten zusammen und sah mich trotzig an. »Warum verschwinden Sie jetzt nicht? Mir können Sie nichts anhängen, jetzt nicht und später auch nicht.« »Ich gehe, sobald Sie mir Roys Brief gezeigt haben.« -186-
»Ich habe keinen Brief von ihm. Ich habe eine mündliche Nachricht bekommen.« »Wer überbrachte sie?« »Ein Mann.« »Was für ein Mann?« »Irgend jemand. Roy sagte ihm, er solle mich aufsuchen.« »Wahrscheinlich hat er ihn aus Nevada geschickt.« »Nein, das hat er nicht getan. Der Mann fuhr einen Lastzug aus Detroit. Er hat mit Roy in Detroit gesprochen.« »Sind Roy und Tommy dort über die Grenze gegangen?« »Ich nehme es an.« »Wo wollen sie hin?« »Weiß ich nicht, und wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen nicht sagen.« Ich setzte mich neben sie auf das Bett. »Jetzt hören Sie mir mal zu, Fran. Sie wollen doch Ihren Mann wieder haben, oder nicht?« »Nicht in einem Sträflingsanzug und nicht auf einer Bahre.« »Dazu braucht es nicht zu kommen. Tommy ist der Mann, hinter dem wir her sind. Wenn Roy ihn uns ausliefert, wird er sich viel Ärger ersparen. Können Sie Roy eine Nachricht von hier übermitteln?« »Wenn er mich anruft, vielleicht. Ich kann nur hier warten.« »Sie müssen doch irgendeine Ahnung haben, wohin sie gegangen sind.« »Ja, sie sagten etwas von einer Stadt in Ontario in der Nähe von Windsor. Tommy kannte sie.« »Wie heißt der Ort?« »Das haben sie mir nicht gesagt.« »War Tommy schon mal in Kanada?« -187-
»Nein, aber Pete Culligan war…« Sie legte die Hand über ihren Mund und sah mich entsetzt an. Angst und Verzweiflung machten ihre Augen hart, aber nicht für lange. Ihre Empfindungen waren zu verschwommen, als daß sie ihnen klar Ausdruck geben konnte. »Tommy kannte Culligan also?« fragte ich. Sie nickte. »Hatte er einen persönlichen Grund, Culligan umzubringen?« »Nicht daß ich wüßte. Er und Pete waren dick befreundet.« »Wann haben Sie die beiden zusammen gesehen?« »Vergangenen Winter in San Francisco. Tommy wollte sich der Bewährungsaufsicht entziehen, aber Roy redete es ihm aus, doch dann erzählte Pete ihm von diesem Ort in Kanada. Irgendwie ist es eine Ironie des Schicksals, daß Tommy sich jetzt da versteckt, weil er Pete umgebracht hat.« »Hat Tommy Ihnen zugegeben, daß er Culligan getötet hat?« »Nein, wenn man ihn hörte, war er so unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Roy glaubte ihm sogar.« »Aber Sie tun es nicht?« »Ich habe Tommy nie ein Wort geglaubt, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Aber lassen wir das.« »Wo ist dieses Versteck in Kanada?« »Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme hatte einen hysterischen Klang angenommen. »Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe und gehen jetzt endlich?« »Werden Sie mich benachrichtigen, wenn Sie von den beiden hören?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« »Wie steht es mit Ihrem Geld?« »Ich habe jede Menge«, antwortete sie. »Was glauben Sie denn? Ich bleibe in diesem Loch hier hocken, nur weil mir die -188-
behagliche Atmosphäre so gut gefällt.« Bevor ich ging, ließ ich ihr zehn Dollar in den Schoß fallen. Ehe mein Flugzeug nach Los Angeles startete, fand ich noch Zeit, Sheriff Trask anzurufen. Ich unterrichtete ihn über das Vorgefallene und wies nachdrücklich auf die Verbindung hin, die wahrscheinlich zwischen Culligan und Schwartz bestand. Bei Licht besehen wollte ich Schwartz doch nicht ganz für mich allein haben.
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19 Am Morgen schloß ich nach einem Besuch bei meinem Zahnarzt mein Büro am Sunset Boulevard auf. Der Briefkasten war mit Umschlägen vollgestopft, vorwiegend Rechnungen und Reklame. Es waren aber auch zwei Briefe dabei, die in den letzten Tagen in Santa Teresa aufgegeben worden waren. Der erste, den ich öffnete, enthielt einen Scheck über tausend Dollar und einen auf einem Geschäftsbogen seiner Firma getippten Brief von Gordon Sable. So traurig die Tatsache von Anthony Galtons Tod sei, so seien seine Klientin und er doch beide der Meinung, daß der Ausgang im großen und ganzen besser gewesen wäre, als zu erhoffen war. Er hoffe und vertraue, daß ich wieder in Form sei und keinen ernstlichen Schaden erlitten habe, und ob ich ihm bitte meine Arzt- und Krankenhausrechnungen zuschicken wolle, sobald ich sie erhielt. Der andere Brief war sorgfältig mit der Hand geschrieben und stammte von John Galton. Lieber Mr. Archer, nur ein paar Zeilen, um Ihnen für die Mühe zu danken, die Sie sich meinetwegen gemacht haben. Für uns alle hier ist der Tod meines Vaters ein schmerzlicher Schlag. Die ganze Situation hat etwas Tragisches, und es wird eine Zeitlang dauern, bis ich sie vollauf verkraftet haben werde. Gleichzeitig bietet sich mir damit auch eine Möglichkeit. Ich hoffe, mich meines Herkommens als würdig erweisen zu können. Mr. Sable erzählte mir, wie sie »unter die Räuber« gefallen sind. Ich hoffe, daß Sie alles gut überstanden haben, und meine -190-
Großmutter schließt sich meinen Wünschen an. Ich freue mich, daß ich Großmutter überreden konnte, Ihnen einen zusätzlichen Scheck als Beweis unserer Dankbarkeit zu übersenden. Besuchen Sie uns doch, wenn Ihr Weg Sie in unsere Gegend führt, meine Großmutter und ich würden uns sehr darüber freuen. Ich persönlich würde mich sehr gerne einmal mit Ihnen unterhalten. Ihr sehr ergebener John Galton Zunächst empfand ich diesen Brief als Ausdruck einer echten, von keinen materiellen Hintergedanken getrübten Dankbarkeit. Dann aber ging mir auf, daß er das Verdienst für den Scheck, den Sable mir geschickt hatte, für sich in Anspruch nahm, und der alte Verdacht, den ich seit meinem letzten Gespräch mit Sable latent in mir getragen hatte, wurde wieder neu angefacht. Was John auch sein mochte, er war ein heller Junge und ein fixer Arbeiter. Ich fragte mich, was er wohl von mir wissen wollte. Nachdem ich meine übrige Post durchgesehen hatte, rief ich den Telefonauftragsdienst an. Das Mädchen in der Zentrale war höchst überrascht, daß ich noch unter den Lebenden weilte, und sagte, daß ein Dr. Howell mich zu erreichen versucht hätte. Ich rief die Nummer in Santa Teresa an, die er hinterlassen hatte. Eine Mädchenstimme meldete sich: »Hier bei Dr. Howell.« »Hier Lew Archer. Spreche ich mit Miss Howell?« Die provisorische Krone, die man mir heute morgen aufgesetzt hatte, drückte gegen meine Oberlippe und ließ mich lispeln. »Ja, Mr. Archer.« »Ihr Vater hat versucht, mich zu erreichen.« »Oh, er will gerade ins Krankenhaus fahren. Ich will versuchen, ob ich ihn noch erwischen kann.« -191-
Nach einer Pause meldete sich Howells deutliche Stimme am Apparat. »Ich bin froh, daß ich von Ihnen höre, Archer. Vielleicht erinnern Sie sich, daß wir uns kurz in Mrs. Galtons Haus begegnet sind. Ich möchte Sie gern zum Lunch einladen.« »Lunch ist ausgezeichnet. Wann und wo soll es denn sein?« »Die Zeit liegt bei Ihnen, je früher je lieber. Der bequemste Treffpunkt wäre für mich der ›Santa Teresa Country Club‹.« »Das ist zum Lunch ein weiter Weg für mich.« »Ich dachte dabei nicht nur an das Essen.« Er senkte die Stimme, als ob er den Verdacht hätte, daß er belauscht würde. »Ich möchte Sie engagieren, falls Sie frei sind.« »Und wofür?« »Darüber möchte ich lieber mit Ihnen persönlich sprechen. Können Sie es heute ermöglichen?« »Ja. Ich bin um ein Uhr im ›Country Club‹.« »Die Strecke können Sie doch nicht in drei Stunden fahren.« »Nein, ich nehme das Mittagsflugzeug.« »Ah so, sehr gut.« Ich hörte das Knacken, als er einhängte und dann ein zweites Knacken. Jemand hatte an einem Nebenapparat mitgehört. Wer das war, stellte ich fest, als ich in Santa Teresa aus dem Flugzeug stieg. Ein junges Mädchen mit Rehaugen und honigfarbenem Haar wartete auf mich hinter der Barriere. »Wir kennen uns, glaube ich. In bin Sheila Howell. Ich wollte Sie abholen.« »Das ist aber nett von Ihnen.« »Wie man’s nimmt. Ich habe einen Hintergedanken dabei.« Sie lächelte bezaubernd. Ich folgte ihr durch die von der Sonne erhellte Halle des Flughafengebäudes zu ihrem Wagen. Es war ein Kabriolett mit heruntergeschlagenem Verdeck. Sheila wandte sich zu mir, sobald sie hinter dem Steuer saß. -192-
»Am besten bin ich ganz offen mit Ihnen. Ich habe Ihr Telefongespräch mit Vater mitgehört und wollte vor ihm mit Ihnen über John reden. Wissen Sie, Dad ist wirklich rührend, aber er ist seit zehn Jahren verwitwet und dadurch weltfremd geworden. Er versteht die moderne Welt nicht ganz.« »Aber Sie dafür um so besser?« Ihre Wangen nahmen die Farbe eines sonnengereiften Pfirsichs an. »Jedenfalls besser als Dad. Ich habe auf dem College Soziologie studiert. Heutzutage kann man seiner Umwelt nicht mehr einfach vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hat. Dinge dieser Art sind einfach unmöglich.« Sie nickte nachdrücklich mit ihrem kleinen Kopf. »Soziologie im ersten Semester?« Die Farbe auf ihren Wangen vertiefte sich, aber ihre Augen blickten aufrichtig und klar wie der Himmel. »Woher wissen Sie das? Jedenfalls habe ich mein erstes Studienjahr abgeschlossen.« Sie glaubte wohl damit auch die Bescheinigung erworben zu haben, in die Welt der Erwachsenen aufgenommen zu sein. »Ich bin Gedankenleser. Sie interessieren sich für John Galton?« Ihr klarer Blick wankte nicht. »Ich liebe John, und ich glaube, daß er mich auch liebt.« »Haben Sie mir das sagen wollen?« »Nein.« Plötzlich war sie verwirrt. »Das wollte ich nicht sagen. Aber es ist wahr.« Ihre Augen verdunkelten sich. »Und das, was Dad glaubt, ist nicht wahr. Er ist einfach ein typischer patriarchalischer Charakter und voller Vorurteile gegen den Mann, den ich gerade mag. Er glaubt von John die gräßlichsten Dinge oder tut wenigstens so.« »Was für Dinge sind das, Sheila?« »Ich kann sie nicht einmal wiederholen, so schlimm sind sie. Jedenfalls werden Sie es von ihm erfahren. Ich weiß, weshalb -193-
Dad Sie sprechen will, verstehen Sie? Gestern abend hat er die Katze aus dem Sack gelassen.« »Was soll ich denn für ihn tun?« »Bitte«, sagte sie, »sprechen Sie nicht zu mir, als ob ich noch ein Kind wäre. Ich kenne diesen Ton so gut und habe ihn so satt. Dad spricht dauernd in diesem Ton mit mir. Er erkennt nicht, daß ich praktisch erwachsen bin. An meinem nächsten Geburtstag werde ich neunzehn.« »Allerhand«, sagte ich leise. »Also gut, seien Sie weiter herablassend zu mir. Vielleicht bin ich noch nicht erwachsen, aber ich bin reif genug, um gute Menschen von schlechten zu unterscheiden.« »In der Beurteilung von Menschen irren wir uns alle, so alt wir auch werden.« »Aber ich kann mich nicht in John täuschen. Er ist der anständigste Junge, den ich je kennengelernt habe.« »Ich mag ihn auch gern«, sagte ich. »Darüber bin ich sehr froh.« Ihre Hand berührte meinen Arm, leicht wie ein Vogel, der sich niederläßt, um gleich wieder davonzufliegen. »John hat Sie gern, sonst würde ich Sie nicht in unser Vertrauen ziehen.« »Sie beabsichtigen doch nicht etwa zu heiraten?« »Jetzt noch nicht«, antwortete sie, als ob das eine sehr konservative Einstellung wäre. »John will erst noch sehr vieles tun, und selbstverständlich kann ich nicht gegen die Wünsche meines Vaters handeln.« »Was will John denn alles tun?« Ihre Antwort war vage. »Er will etwas aus sich machen. Er ist sehr ehrgeizig. Und selbstverständlich ist die große Aufgabe seines Lebens, herauszufinden, wer seinen Vater getötet hat. Das nimmt seine Gedanken ganz in Anspruch.« »Hat er dazu schon etwas unternommen?« -194-
»Noch nicht, aber ich weiß, daß er Pläne hat. Er sagt mir nicht alles, was er denkt. Wahrscheinlich würde ich es sowieso nicht verstehen. Er ist viel klüger als ich.« »Es freut mich, daß Sie das erkennen. Es wäre gut, das nicht zu vergessen.« »Wie meinen Sie das?« fragte sie leise und betroffen. Aber sie wußte, was ich meinte. »Es stimmt nicht, was Vater sagt, daß John ein Betrüger ist. Das kann nicht wahr sein.« »Was macht Sie so sicher?« »Ich fühle es hier drin.« Ihre Hand berührte ganz leicht ihre Brust. »Er könnte mich nicht anlügen. Und Cassie sagt, er ist das Ebenbild seines Vaters. Das sagt auch Tante Maria.« »Spricht John jemals über seine Vergangenheit mit Ihnen?« Sie betrachtete mich mit wachsendem Mißtrauen. »Jetzt reden Sie wieder genau wie Vater. Sie dürfen mich nicht über John ausfragen. Es wäre nicht fair gegenüber John.« »Sie sollten auch an sich denken«, sagte ich. »Ich weiß, daß es nicht wahrscheinlich erscheint, aber wenn er ein Betrüger ist, könnten Sie sich selbst viel Schmerz und Kummer bereiten.« »Mir ist es egal, wenn er einer wäre«, schrie sie und brach in Tränen aus. Ein junger Mann in einem Overall der Fluggesellschaft kam aus dem Flughafengebäude und sah mich finster an. Ich hatte ein hübsches Mädchen zum Weinen gebracht, und dagegen sollte es ein Gesetz geben. Ich stellte eine sehr amtliche Miene zur Schau. Darauf verschwand er wieder. Mein Flugzeug stieg mit einem tosenden Dröhnen auf. Das Dröhnen verringerte sich am nördlichen Himmel zum Summen einer Zikade. Sheilas Tränen versiegten wie ein Sommerschauer. Sie ließ den Motor an und fuhr mich in die Stadt, sehr sicher und gewandt, wie ein Chauffeur, der zufällig taubstumm war. John war ein sehr fixer Arbeiter. -195-
20 Ehe Sheila mich in der Haupthalle des Clubhauses verließ, entschuldigte sie sich für ihren Gefühlsausbruch, wie sie es nannte, und murmelte undeutlich etwas davon, Daddy nichts zu sagen. Ich antwortete, sie brauche sich nicht zu entschuldigen, und ich würde nicht darüber reden. Von den Fenstern der Halle überblickte man den Golfplatz. Die Spieler waren wie bunte Tupfen über das Grün der Spielfelder verstreut. Ich beobachtete sie, bis Howell um fünf nach eins hereinkam. Er schüttelte mir lebhaft die Hand. »Freut mich, Sie zu sehen, Archer. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, wenn wir gleich essen. Kurz nach zwei habe ich eine Ausschußsitzung.« Er führte mich in einen riesigen Speisesaal. Die meisten Tische waren durch Seile abgesperrt und leer. Wir nahmen einen am Fenster, durch das man auf ein von einer Mauer umgebenes Schwimmbecken sah, in dem junge Leute tobten und planschten. Der Kellner behandelte Howell mit einem Respekt, als ob er zum Clubvorstand gehöre. Da ich nichts über Howell wußte, stellte ich ihm die erste Frage, die mir in den Sinn kam. »Was für eine Ausschußsitzung haben Sie denn?« »Sind nicht alle Ausschüsse gleich? Sie verbringen Stunden damit, gemeinsam zu einer Entscheidung zu kommen, die jedes Mitglied für sich in der Hälfte der Zeit finden könnte. Ich denke an die Gründung eines Ausschusses für die Abschaffung von Ausschüssen.« Er lächelte kurz. »In diesem Fall ist es ein Ausschuß der Gesellschaft zur Bekämpfung von Herzkrankheiten. Wir planen eine öffentliche Sammlung, und -196-
ich bin Vorsitzender des Ausschusses. Möchten Sie etwas trinken? Ich werde einen Gibson nehmen.« »Das soll mir recht sein.« Er bestellte zwei Gibsons bei dem wartenden Keller. »Als Mediziner halte ich es für meine Pflicht, die kleinen Laster zu pflegen. Wahrscheinlich ist es gesünder, zuviel zu essen, als zuviel zu trinken. Was möchten Sie essen?« Ich studierte die Speisekarte. »Wenn Sie noch Schwierigkeiten mit dem Kauen haben«, schlug er fachmännisch vor, »wie wäre es dann mit Hummer? Gordon Sable erzählte mir von Ihrem kleinen Unfall. Was macht der Kiefer?« »Danke, er heilt.« »Was ist eigentlich genau passiert, falls Sie mir die Frage erlauben?« »Das ist eine lange Geschichte, die etwa folgenden Kern hat. Anthony Galton wurde wegen seines Geldes von einem Verbrecher namens Nelson ermordet, der gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Ihre ursprüngliche Vermutung kam der Wahrheit sehr nahe. Aber hinter dem Fall steckt mehr. Ich glaube, daß zwischen den Morden an Tony Galton und Pete Culligan ein Zusammenhang besteht.« Howell beugte sich über den Tisch. Sein kurzes, graues Haar war gesträubt. »Was für ein Zusammenhang?« »Dieses Problem versuchte ich zu lösen, als mir der Kiefer gebrochen wurde. Lassen Sie mich eine Frage stellen, Doktor, Welchen Eindruck haben Sie von John Galton?« »Ich wollte die gleiche Frage an Sie richten. Da Sie sie zuerst stellten, will ich sie zuerst beantworten. Der Junge erweckt den Anschein der Offenheit und Glaubwürdigkeit. Zweifellos ist er intelligent und vermutlich einnehmend, wenn man etwas für offenkundigen Charme übrig hat. Seine Großmutter – Mrs. -197-
Galton scheint von seinem Charme bezaubert zu sein.« »Dann stellt sie seine Identität nicht in Frage?« »Nicht im geringsten, hat es von Anfang an nicht getan. Für Maria ist der Junge praktisch die Reinkarnation ihres Sohnes Tony. Ihre Gesellschafterin, Miss Hildreth, empfindet weitgehend das gleiche. Für meine Person muß ich selbst zugeben, daß die Ähnlichkeit verblüffend ist. Doch solche Dinge können arrangiert werden, wenn viel Geld mit im Spiel ist. Ich nehme an, es gibt keinen lebenden Menschen, der nicht irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger hat.« »Wollen Sie damit andeuten, daß er ausgesucht und für die Rolle gedrillt wurde?« »Haben Sie noch nie an diese Möglichkeit gedacht?« »Doch, das habe ich. Ich finde, man sollte ihr nachgehen.« »Ich freue mich, das von Ihnen zu hören. Ich will offen zu Ihnen sein. Mir kam die Vermutung, daß Sie an der Konspiration beteiligt sind, als der Junge hier auftauchte. Aber Gordon Sable hat sich vorbehaltlos für Sie verbürgt, und ich habe andere Nachforschungen angestellt.« Seine Augen blickten forschend in meine. »Darüber hinaus trägt Ihr Gesicht alle Anzeichen der Ehrlichkeit.« »Das ist die schwerste Methode, um seine Ehrlichkeit zu beweisen.« Howell lächelte flüchtig und blickte auf das Schwimmbecken hinaus. Seine Tochter Sheila war im Badeanzug am Rand des Beckens erschienen. Sie war ein schönes Geschöpf, aber die Tatsache schien ihr keine Freude zu machen. Mit abweisendem, verschlossenem Ausdruck saß sie für sich allein, und die von ihr bisher nur geahnte Welt der Erwachsenen griff schon mit den ersten Schmerzen nach ihr. Howells Blick blieb kurz auf ihr haften, und ein seltsam starrer Ausdruck beherrschte sein Gesicht. -198-
Der Kellner brachte unsere Gibsons, und wir bestellten das Essen. Als der Kellner außer Hörweite war, sagte Howell: »Die Geschichte, die der junge Mann erzählt, beunruhigt mich. Soviel ich weiß, haben Sie sie als erster gehört. Was halten Sie davon?« »Sable und ich haben ihn uns gründlich vorgenommen. Er hat es mit Anstand überstanden, und seine Geschichte hatte Hand und Fuß. Ich habe mir in der gleichen Nacht Notizen gemacht. Nachdem ich heute morgen mit Ihnen sprach, bin ich diese Notizen noch einmal durchgegangen und konnte nirgends einen Widerspruch finden.« »Diese Geschichte kann sorgfältig vorbereitet sein. Vergessen Sie nicht, daß es um einen hohen Einsatz geht. Es wird Sie interessieren, daß Maria beabsichtigt, ihr Testament zu seinen Gunsten zu ändern.« »Jetzt schon?« »Ja, jetzt schon. Vielleicht hat sie es bereits getan. Gordon wollte sich nicht dafür hergeben, darum beauftragte sie einen anderen Rechtsanwalt, ein neues Testament aufzusetzen. Maria ist wie aus dem Häuschen. Sie hat ihre großzügigen Gefühle so lange unterdrückt, daß sie jetzt von ihnen berauscht ist.« »Aber sie ist nicht unzurechnungsfähig?« »In keiner Weise«, antwortete er hastig. »Ich wollte den Fall nicht übertreiben, und ich gestehe ihr völlig das Recht zu, mit ihrem Geld zu tun, was sie will. Andererseits können wir nicht zulassen, daß sie betrogen wird – durch einen vorgeschobenen Strohmann.« »Um wieviel Geld geht es denn?« Er hob den Blick über meinen Kopf, als ob er in der Ferne einen Berg Gold sähe. »Ich kann es nicht einmal schätzen. Ungefähr soviel wie die Staatsschulden eines mittelgroßen europäischen Landes. Ich weiß, daß Henry ihr Ölanteile hinterlassen hat, die ein wöchentliches Einkommen von Tausenden einbringen. Und sie besitzt Hunderttausende in Wertpapieren.« -199-
»An wen geht das, wenn der Junge es nicht bekommt?« Howell lächelte gezwungen. »Das ist etwas, das ich nicht wissen darf. Zufällig weiß ich es, aber zweifellos darf ich es nicht sagen.« »Sie waren offen zu mir«, sagte ich, »ich will zu Ihnen auch offen sein. Ich frage mich, ob es für Sie von Interesse ist, was mit dem Vermögen geschieht.« Er kratzte sich heftig am Kinn, zeigte aber sonst kein Anzeichen des Unwillens. »Ja, das habe ich in verschiedener Hinsicht. Mrs. Galton setzte mich in ihrem ursprünglichen Testament als Testamentsvollstrecker ein. Ich versichere Ihnen, daß persönliche Überlegungen mein Urteil nicht beeinflussen. Ich glaube, meine Motive gut genug zu kennen, um das sagen zu können.« Wohl dem, der das von sich sagen kann, dachte ich. Ich fragte: »Was beunruhigt Sie denn eigentlich noch, außer der Größe des Vermögens, um das es geht?« »Die Geschichte des jungen Mannes. So wie er sie erzählt, beginnt sie doch wirklich erst, als er schon sechzehn war. Darüber hinaus gibt es keine Möglichkeit, seinem Herkommen nachzugehen, welches immer es auch sei. Ich habe es versucht und stieß gegen eine Mauer.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen. Nach dem, was John erzählte, war er in einem Waisenhaus, bis er dort mit sechzehn Jahren davonlief. Es war das Crystal Springs Home in Ohio.« »Ich habe mich mit einem Mann in Cleveland in Verbindung gesetzt, den ich kenne, ein Mann, mit dem ich zusammen studierte. Das Crystal Springs Home ist vor drei Jahren bis auf die Grundmauern abgebrannt.« »Das macht John noch nicht zum Lügner. Er sagt, daß er dort vor fünfeinhalb Jahren fortgelaufen ist.« -200-
»Nein, es macht ihn nicht zum Lügner, doch wenn er lügt, haben wir keine Möglichkeit mehr, es ihm zu beweisen. Die Aufzeichnungen des Heims wurden bei dem Brand vollständig vernichtet. Das Personal ist in alle Winde zerstreut.« »Der Heimleiter sollte aufzufinden sein. Wie hieß er noch? Merriweather?« »Merriweather starb bei dem Brand an einem Herzanfall. Das alles deutet auf die Möglichkeit hin – ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit –, daß John sich selbst nachträglich eine Geschichte ausgedacht hat oder daß er sie gestellt bekam. Er oder seine Hinterleute sahen sich für ihn nach einer unwiderlegbaren Lebensgeschichte um, einer, die sich nicht überprüfen ließ. Crystal Springs bot sie, ein großes Heim, das nicht mehr existierte, von dem keine Aufzeichnungen erhalten geblieben waren. Wer weiß, ob John Brown je einen Tag dort zubrachte.« »Sie haben über die Sache wohl sehr viel nachgedacht.« »Jawohl, und ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt. Da ist zum Beispiel die Frage seiner Aussprache. Er stellt sich als Amerikaner hin, der in den Vereinigten Staaten geboren wurde und aufgewachsen ist.« »Sie wollen doch nicht behaupten, er sei Ausländer?« »Doch, das will ich. Nationale Unterschiede in der Aussprache haben mich immer interessiert, und zufällig habe ich einige Zeit in Mittelkanada gelebt. Haben Sie je darauf geachtet, wie Kanadier manche Worte aussprechen?« »Nein, mir ist auch nichts Besonderes aufgefallen.« »Nun, es gibt da bestimmte Eigenarten der Aussprache, und die hat John Brown auch.« »Sind Sie sicher?« »Selbstverständlich bin ich sicher.« »Ich meine damit Ihre Theorie.« -201-
»Es ist keine Theorie, es sind Tatsachen. Ich habe mit Spezialisten auf diesem Gebiet darüber gesprochen.« »In den letzten beiden Wochen?« »In den letzten zwei Tagen«, antwortete er. »Ich hatte nicht beabsichtigt, diese Frage anzuschneiden, aber meine Tochter Sheila – nun, sie interessiert sich für den Jungen. Wenn er ein Verbrecher ist, wie ich vermute…« Howell brach ab, er schien an seinen Worten fast zu ersticken. Wir blickten beide zu dem Schwimmbecken hinaus. Sheila war noch allein. Sie saß am Rand und ließ ihre Füße ins Wasser hängen. Sie sah sich zweimal nach dem Eingang um, während ich sie beobachtete. Ihr Hals und Körper schienen erwartungsvoll gespannt. Der Kellner brachte unser Essen, und ein paar Minuten lang aßen wir schweigend. Unsere Seite des Speisesaals füllte sich langsam mit Leuten in Sportkleidung. Dr. Howell sah sich von Zeit zu Zeit ungehalten um, als ob er die Golfspieler wissen lassen wollte, daß er ihnen diese Störung unserer Ruhe verüble. »Was beabsichtigen Sie zu tun, Doktor?« »Ich wollte Ihnen vorschlagen, in meinem Auftrag zu arbeiten. Soviel ich weiß, hat Gordon auf Ihre weitere Hilfe verzichtet.« »Das nehme ich an. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?« »Selbstverständlich. Er ist ebenso stark interessiert wie ich, daß weitere Nachforschungen erfolgen. Unglücklicherweise will Maria nichts davon hören, und als ihr Rechtsanwalt kann er nicht auf eigene Faust handeln. Aber ich kann es.« »Haben Sie mit Mrs. Galton darüber gesprochen?« »Ich habe es versucht.« Howell verzog das Gesicht. »Sie wollte nicht ein Wort gegen ihren kostbaren jungen Mann hören. Es ist enttäuschend, um es milde auszudrücken, aber andererseits kann ich verstehen, weshalb sie ihm glauben muß. -202-
Die Tatsache, daß ihr Sohn Anthony tot ist, war ein schwerer Schlag für sie. Sie mußte sich an irgend etwas halten, und da war Anthonys angeblicher Sohn, bereit und willig einzuspringen. Vielleicht ist es so geplant worden, jedenfalls klammert sie sich an den Jungen, als ob ihr Leben von ihm abhinge.« »Welche Folgen werden sich ergeben, wenn wir beweisen, daß er ein Betrüger ist?« »Selbstverständlich werden wir ihn ins Gefängnis schaffen lassen, wo er hingehört.« »Ich meine die Folgen für Mrs. Galtons Gesundheit. Sie selbst sagten mir, daß jeder große Schock sie töten könne.« »Das ist wahr, das habe ich gesagt.« »Macht Ihnen das jetzt keine Sorgen mehr?« Sein Gesicht errötete langsam und wurde fleckig. »Selbstverständlich mache ich mir Sorgen. Doch es gibt im Leben Fragen der Ethik, die den Vorrang haben. Wir können nicht untätig einer verbrecherischen Konspiration zusehen, nur weil das Opfer krank ist. Je länger wir es laufen lassen, um so schlimmer wird es am Ende für Maria sein.« »Wahrscheinlich haben Sie recht. Auf jeden Fall sind Sie für ihre Gesundheit verantwortlich. Ich bin bereit, die Nachforschungen zu übernehmen. Wann soll ich anfangen?« »Sofort.« »Wahrscheinlich muß ich als erstes nach Michigan fahren. Das kostet Geld.« »Das ist mir klar. Wieviel?« »Fünfhundert.« Howell zuckte nicht mit der Wimper. Er zog ein Scheckbuch und eine Füllfeder. Während er den Scheck ausschrieb, sagte er: »Es wäre vielleicht ganz ratsam, wenn Sie als erstes mit dem jungen Mann sprechen, das heißt, falls Sie das können, ohne Verdacht zu erregen.« -203-
»Das kann ich, glaube ich. Ich erhielt heute morgen eine Einladung von ihm. »Was? Eine Einladung?« »Eine schriftliche Einladung, das Haus der Galtons aufzusuchen.« »Er verfügt sehr frei über den Besitz von Mrs. Galton. Haben Sie das Dokument zufällig bei sich?« Ich reichte ihm den Brief. Er studierte ihn mit Anzeichen steigender Erregung. »Mein Gott, ich habe recht.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Der schmutzige kleine Gauner ist Kanadier. Sehen Sie her.« Er legte den Brief zwischen uns auf den Tisch und deutete mit dem Zeigefinger auf ein Wort. »Er schreibt hier das Wort ›labor‹ (Mühe) l, a, b, o, u, r. Das ist die englische Schreibweise, die in Kanada noch geläufig ist. Er ist nicht einmal Amerikaner. Er ist ein Betrüger.« »Um das zu beweisen, ist mehr erforderlich.« »Das ist mir bewußt. Machen Sie sich an die Arbeit, Mann.« »Haben Sie etwas dagegen, daß ich zuerst fertig esse?« Howell hörte mich nicht. Halb von seinem Platz erhoben, sah er wieder zum Fenster hinaus. Ein dunkelhaariger junger Mann in einem sandfarbenen Sporthemd sprach mit Sheila Howell neben dem Schwimmbecken. Er drehte etwas den Kopf. Ich erkannte John Galton. Er legte ihr vertraulich die Hand auf die Schulter. Sheila lächelte strahlend zu ihm auf. Howells leichter Stuhl kippte nach hinten über. Er war aus dem Saal, bevor ich ihn aufhalten konnte. Von der Eingangstür des Clubhauses sah ich ihn mit großen Schritten über den Rasen auf den Durchlaß in der Mauer um das Schwimmbecken zueilen. John und Sheila erschienen Hand in Hand. Sie waren so miteinander beschäftigt, daß sie Howell erst bemerkten, als er -204-
nahe bei ihnen war. Er schob sich zwischen sie und schüttelte den jungen Mann am Arm. Seine Stimme gellte schrill durch die friedliche Stille. »Verschwinden Sie hier. Haben Sie mich verstanden? Sie sind kein Mitglied des Clubs.« John riß sich von ihm los und wandte sich mit weißem, starrem Gesicht ihm zu. »Sheila hat mich eingeladen.« »Und ich lade Sie wieder aus.« Howells Nacken lief dunkelrot an. Sheila berührte seinen Arm. »Bitte, Daddy, mach keine Szene. Dadurch wird nichts gewonnen.« Durch Sheila ermutigt, sagte John: »Meiner Großmutter wird das nicht gefallen, Doktor.« »Die Wahrheit wird ihr auch nicht gefallen, wenn sie sie kennenlernt.« Aber Johns Drohung hatte Howell den Wind aus den Segeln genommen. Er war nicht mehr so laut wie vorher. »Bitte«, wiederholte Sheila, »John hat niemand etwas getan.« »Verstehst du denn nicht, Sheila, daß ich dich nur beschützen will?« »Wovor?« »Vor einer Enttäuschung.« »Das ist töricht, Dad. Wenn man dich sprechen hört, könnte man denken, John wäre ein Verbrecher.« Der Kopf des jungen Mannes zuckte plötzlich, als ob das Wort einen Nerv in seinem Nacken getroffen hätte. »Streite nicht mit ihm, Sheila. Ich hätte nicht hierherkommen sollen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging mit gesenktem Kopf zum Parkplatz. Sheila ging in der entgegengesetzten Richtung fort. In das Frottee ihres Bademantels gehüllt, hatte ihr Körper eine Schwere und etwas Geheimnisvolles, was ich bisher nicht bemerkt hatte. Ihr Vater sah ihr nach, bis sie hinter der Umfriedung des Schwimmbeckens verschwand. Mühsam und -205-
endgültig schien sie sich seiner Obhut zu entziehen. Ich ging in den Speisesaal zurück und wartete dort auf Howell. Als er zurückkam, war sein Gesicht bleich und schlaff, als ob er einen ernsthaften Blutverlust erlitten hätte. Seine Tochter war jetzt im Wasser und schwamm mit langsamen kräftigen Stößen der Länge nach durch das Becken hin und zurück. Ihre Füße wühlten einen stetigen weißen Strudel hinter ihr auf. Sie schwamm immer noch, als wir fortgingen. Howell fuhr mich zum Gerichtsgebäude. Finster sah er zu den vergitterten Fenstern des Country-Gefängnisses hinauf. »Bringen Sie ihn hinter Gitter. Mehr verlange ich nicht.«
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21 Sheriff Trask saß in seinem Büro. Die Wände waren mit Ehrenurkunden ziviler und militärischer Vereine, Gestellungsbefehlen der Armee, der Marine und der Luftwaffe und einer Anzahl Bilder, die den Sheriff selbst mit dem Gouverneur und anderen Honoratioren zeigten, bedeckt. Trasks wirkliches Gesicht war weniger freundlich als das auf den Fotografien. »Gibt’s Schwierigkeiten?« fragte ich. »Setzen Sie sich. Sie sind in Schwierigkeiten. Sie lösen einen Sturm aus, und dann verschwinden Sie von der Bildfläche. Der Ärger mit euch Privatdetektiven ist eure Verantwortungslosigkeit.« »Das ist ein hartes Wort, Sheriff.« Nachdenklich und behutsam betastete ich meinen gebrochenen Kiefer. »Ja, ich weiß, daß Sie was abgekriegt haben, und es tut mir leid. Aber was kann ich dagegen tun? Otto Schwartz befindet sich außerhalb meiner Jurisdiktion.« »Mordfälle kennen keine Staatsgrenzen, oder haben Sie das noch nicht gehört?« »Doch, und ich habe auch gehört, daß man keinen Auslieferungsantrag stellen kann, wenn man kein Belastungsmaterial hat. Und ohne den geringsten Beweis kann ich nicht mal zu Schwartz gehen, um ihn zu vernehmen. Und wollen Sie wissen, warum ich keine Beweise habe?« »Lassen Sie mich raten. Das ist auch meine Schuld.« »So komisch ist das nicht, Archer. Ich habe mich darauf verlassen, daß Sie etwas diskreter vorgehen würden. Warum -207-
mußten Sie zu Roy Lemberg gehen und Ihre Klappe aufreißen? Meinen Zeugen kopfscheu machen und aus der Gegend verscheuchen?« »Ich war übereifrig und habe einen Fehler gemacht. Es war nicht der einzige.« »Was soll das denn bedeuten?« »Sie sagten mir, Lemberg hätte einen gestohlenen Wagen benutzt.« »Das bedeuten vertauschte Nummernschilder im allgemeinen.« Trask dachte einen Augenblick darüber nach, wobei er die Unterlippe vorstülpte. »Also gut, wir haben auch Fehler gemacht. Ich machte einen mittelgroßen Patzer, und Sie leisteten sich ein dickes Ding. Dafür bekamen Sie Prügel. Wir wollen nicht herumsitzen und darüber weinen. Aber was unternehmen wir jetzt?« »Es ist Ihr Fall, Sheriff. Ich bin nur Ihr geduldiger Helfer.« Er beugte sich zu mir, breitschultrig und ernsthaft. »Wollen Sie wirklich helfen, oder nur mit Hintergedanken?« »Ich will wirklich helfen.« »Wir werden sehen. Arbeiten Sie immer noch für Sable, das heißt für Mrs. Galton?« »Im Augenblick nicht.« »Wer finanziert Sie jetzt, Dr. Howell?« »Neuigkeiten sprechen sich schnell herum.« »Unsinn, ich wußte das vor Ihnen. Howell kam zu mir und bat mich, mich in Los Angeles über Sie zu informieren. Sie scheinen da im Süden ein paar gute Freunde zu haben. Falls Sie je alte Damen ausgenommen haben, wurden Sie nie, dabei erwischt.« »Junge liegen mehr auf meiner Linie.« Mit einer ungeduldigen Geste wischte Trask die Frivolität -208-
beiseite. »Ich vermute, Sie wurden beauftragt, das Vorleben des jungen Mannes zu erforschen. Howell verlangte das von mir. Selbstverständlich sagte ich ihm, ich könne nichts unternehmen, ohne einen Hinweis, daß ein Verstoß gegen ein Gesetz vorliegt. Haben Sie einen Hinweis dafür?« »Noch nicht.« »Ich auch nicht. Ich habe mit dem jungen Mann gesprochen, und er ist so glatt wie Seide. Er erhebt nicht einmal eindeutige Ansprüche. Er sagt lediglich, die Leute sagen ihm, er sei der Sohn seines Vaters, und wahrscheinlich stimme das auch.« »Glauben Sie, daß er darauf gedrillt wurde, Sheriff?« »Ich weiß nicht. Vielleicht spielt er sein eigenes Spiel. Als er zu mir kam, hatte es dem Anschein nach nichts damit zu tun, seine Identität zu bezeugen. Er wollte Informationen über den Mord an seinem Vater, falls dieser John Brown sein Vater war.« »Ist das nicht nachgewiesen worden?« »So zuverlässig, wie es je möglich sein wird. Meiner Meinung nach kann man noch daran zweifeln. Doch was ich sagen wollte, er kam hierher, um mir zu sagen, was ich zu tun hätte. Er wünschte größere Aktivität bei der Aufklärung dieses alten Mordes. Ich sagte ihm, das liege bei den Leuten in San Mateo. Und was tat er darauf? Er fuhr hinauf, um dem Sheriff von San Mateo die Hölle heiß zu machen.« »Es ist kaum möglich, daß er das ernst meinte.« »Entweder das, oder er ist ein raffinierter Psychologe. Dieses Verhalten läßt sich mit Schuldbewußtsein nicht vereinbaren.« »Das Syndikat beschäftigt gute Anwälte.« Trask dachte darüber nach. Seine Augen verschwanden unter seinen schweren zusammengezogenen Brauen. »Sie halten es also für eine Arbeit des Syndikats, wie? Eine große Konspiration?« »Mit einem hohen Preis, der in die Millionen geht. Howell -209-
sagte mir, Mrs. Galton ändere ihr Testament und hinterlasse alles dem Jungen. Ich finde, ihr Haus sollte bewacht werden.« »Glauben Sie ehrlich, sie würden versuchen, sie umzubringen?« »Sie bringen Menschen wegen Kleinigkeiten um. Was sollten sie dann nicht tun, um das Galton-Vermögen in die Hand zu bekommen?« »Lassen Sie Ihre Phantasie nicht mit sich durchgehen. Das wird nicht passieren, nicht im Santa Teresa County.« »Es ist aber passiert, fing vor zwei Wochen an, als es Culligan erwischte. Die Tat hatte alle Merkmale eines Bandenmords, und sie ereignete sich in Ihrem Gebiet.« »Sie brauchen es mir nicht unter die Nase zu halten. Der Fall ist noch nicht abgeschlossen.« »Es ist alles der gleiche Fall«, sagte ich. »Der Mord an Brown und der Mord an Culligan und das Auftauchen des falschen Galton, wenn es der falsche ist, hängen alle zusammen.« »Das ist leicht gesagt. Wie sollen wir es beweisen?« »Durch den jungen Mann. Heute nacht fliege ich nach Michigan. Howell glaubt, daß sein Akzent aus Mittelkanada stammt. Das bringt ihn mit den Lembergs in Verbindung. Anscheinend überschreiten sie die Grenze nach Kanada von Detroit aus und wollen zu einem Ort, den Culligan ihnen nannte. Wenn man Culligans Spur so weit zurückverfolgen könnte…« »Daran arbeiten wir.« Trask lächelte ziemlich abweisend, fand ich. »Ihr Hinweis auf Reno war gut, Archer. Gestern abend habe ich mit einem Freund dort telefoniert, dem Captain der Kriminalpolizei. Kurz vor dem Essen rief er mich zurück. Vor etwa einem Jahr hat Culligan für Schwartz gearbeitet.« »Und was hat er gemacht?« »Zuschlepper für ein Spielkasino. Etwas anderes interessantes. Culligan wurde vor fünf oder sechs Jahren in -210-
Detroit verhaftet. Er wurde im Fahndungsblatt des FBI geführt.« »Um was ging es dabei?« »Einen alten Diebstahl. Anscheinend hatte er das Land verlassen, um sich der Strafe zu entziehen, und wurde geschnappt, sobald er sich auf amerikanischem Boden zeigte. Die nächsten zwei Jahre saß er in einem Gefängnis in SüdMichigan.« »An welchem Tag wurde er in Detroit verhaftet?« »Genau erinnere ich mich nicht. Es war vor etwa fünfeinhalb Jahren. Wenn es wichtig ist, kann ich nachsehen.« »Es ist wichtig.« »Weshalb?« »John Galton tauchte vor fünfeinhalb Jahren in Ann Arbor auf. Ann Arbor ist praktisch eine Vorstadt von Detroit. Ich frage mich, ob er mit Culligan zusammen über die kanadische Grenze kam.« Trask stieß einen leichten Pfiff aus und schaltete seine Sprechanlage ein. »Conger, bringen Sie mir die Culligan-Akten. Ja, ich bin in meinem Büro.« Congers hartes, braunes Gesicht war mir noch in Erinnerung. Er erkannte mich nicht gleich, zeigte sich dann aber doppelt herzlich. »Lange nicht gesehen.« »Wie geht das Geschäft mit den Handschellen?« fragte ich sanft. »Danke für die Nachfrage.« Trask raschelte mit den Papieren, die Conger gebracht hatte, und runzelte ungeduldig die Stirn. Als er aufblickte, funkelten seine Augen. »Etwas über fünfeinhalb Jahre ist es her. Culligan wurde am 7. Januar in Detroit aufgegriffen. Stimmt das mit Ihrem Datum überein?« -211-
»Ich habe es noch nicht nachgeprüft, aber das soll geschehen.« Ich stand auf, um zu gehen. Trasks Händedruck zum Abschied war herzlich. »Wenn Sie auf irgend etwas stoßen, rufen Sie mich mit R-Gespräch an, jederzeit bei Tag oder Nacht. Und kommen Sie mit Ihrer Nase nicht wieder in einen Fleischwolf.« »Ich will mir Mühe geben.« »Übrigens steht Ihr Wagen in unserer Garage. Wenn Sie wollen, kann ich ihn freigeben.« »Heben Sie ihn für mich auf. Und achten Sie gut auf die alte Dame.« Der Sheriff gab Conger die entsprechenden Befehle, noch ehe ich die Tür erreichte.
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22 Kurz vor Geschäftsschluß um drei Uhr löste ich Howells Scheck auf seiner Bank ein. Der Kassierer erklärte mir den Weg zum Reisebüro, wo ich mir einen Flugplatz von Los Angeles nach Detroit reservieren ließ. Das Anschlußflugzeug von Santa Teresa flog erst in knapp drei Stunden ab. Die wenigen Blocks zu Sables Büro ging ich zu Fuß. Der Privatfahrstuhl brachte mich in den eichengetäfelten Vorraum. Mrs. Haines sah von ihrer Arbeit auf und hob die Hand, um ihr gefärbtes rotes Haar zu glätten. Mit mütterlicher Besorgnis sagte sie: »Du liebe Güte, Mr. Archer, Sie wurden aber schwer verletzt! Mrs. Sable sagte mir, daß Sie etwas abbekommen hätten, aber ich hatte keine Ahnung, daß… »Reden wir nicht davon. Ich bekomme sonst nur noch Mitleid mit mir selbst.« »Warum soll man kein Mitleid mit sich selbst haben? Ich habe es dauernd. Es ist die einzige Rückenstütze, die ich habe.« »Sie sind auch eine Frau.« Sie senkte ihren schimmernden Kopf, als ob ich ihr ein Kompliment gemacht hätte. »Worin besteht der Unterschied?« »Soll ich Ihnen den genau erklären?« Sie kicherte fast geschmeichelt und versuchte zu erröten, aber ihr erfahrenes Gesicht widersetzte sich diesem Versuch. »Ein andermal vielleicht. Was kann ich jetzt für Sie tun?« »Ist Mr. Sable da?« »Tut mir leid, er ist noch nicht vom Essen zurück.« »Es ist halb vier.« -213-
»Ich weiß. Ich rechne nicht damit, daß er heute noch einmal kommt. Es wird ihm leid tun, daß er Sie verpaßt hat. Seit der Affäre in seinem Haus ist der arme Mann mit seinem Tagesplan völlig durcheinandergeraten.« »Meinen Sie den Mord?« »Ja, aber auch die andere Geschichte. Seiner Frau geht es nicht gut.« »Davon habe ich gehört. Gordon sagte mir, sie hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt.« »Oh, hat er Ihnen das gesagt? Er spricht sonst mit niemand darüber. In dem Punkt ist er schrecklich empfindlich.« Mit einer vertraulichen Geste hob sie ihre Hand mit den rotlackierten Fingernägeln zum Mund. »Es muß ganz unter uns bleiben, aber es ist nicht das erste Mal, daß er Sorgen ihretwegen hat.« »Wann war denn das andere Mal?« »Die anderen Male sollten Sie sagen. Eines Abends im März, als wir über der Steuererklärung saßen, kam sie hierher und beschuldigte mich, ich versuche ihr ihren Mann abspenstig zu machen. Ich hätte darauf das eine oder andere erwidern können, aber natürlich konnte ich vor Mr. Sable kein Wort sagen. Ich versichere Ihnen, er ist ein wahrer Heiliger, trotz allem, was diese Frau ihm angetan hat. Immer sorgt er sich weiter um sie.« »Was hat sie ihm denn getan?« Farbe trat auf ihre Backenknochen. Sie war vor Bosheit leicht berauscht. »Eine Unmenge. Im vergangenen Sommer verschwand sie und trieb sich im Land herum und streute sein gutes Geld mit offenen Händen um sich. Sie gab es sogar für andere Männer aus. Können Sie sich das vorstellen? Schließlich entdeckte er sie in Reno, wo sie mit einem anderen Mann zusammenlebte.« »In Reno sagen Sie?« »Ja, in Reno«, bestätigte sie knapp. »Wahrscheinlich wollte -214-
sie sich von ihm scheiden lassen, gab die Absicht aber wieder auf. Wenn Sie mich fragen, sie hätte ihm damit einen Gefallen getan. Aber der arme Mann überredete sie, zu ihm zurückzukommen. Er scheint ihr völlig verfallen zu sein.« Ihre Stimme klang untröstlich. Nach kurzem Nachdenken fragte sie: »Ich sollte Ihnen das wohl alles nicht sagen, oder?« »Ich wußte, daß er Schwierigkeiten mit ihr gehabt hat. Gordon selbst sagte mir, daß er sie in ein Pflegeheim bringen mußte.« »Das stimmt. Wahrscheinlich ist er jetzt dort bei ihr. Im allgemeinen geht er hin, um mit ihr zu essen. Und meistens bleibt er für den Rest des Tages dort. Vergeudete Liebesmühe nenne ich das. Wenn Sie mich fragen, diese Ehe ist zum Scheitern verurteilt. Ich habe ein Horoskop über sie gestellt und habe niemals einen derartigen Antagonismus in den Sternen gesehen.« Nicht nur in den Sternen. »In welchem Pflegeheim ist sie untergebracht, Mrs. Haines?« »In Doktor Trenchards Sanatorium in der Light Street. Aber ich würde dort nicht hineingehen, falls Sie daran denken. Mr. Sable wünscht nicht gestört zu werden, wenn er Mrs. Sable besucht.« »Ich werde es trotzdem riskieren. Und ich werde nichts davon sagen, daß ich hier gewesen bin. Einverstanden?« »Wenn Sie meinen«, sagte sie zweifelnd. »Es ist drüben im Westen, LightStreet235.« Mit einem Taxi fuhr ich quer durch die Stadt. Der Fahrer musterte mich neugierig, als ich ausstieg. Vielleicht versuchte er herauszubekommen, ob ich ein Patient oder nur ein Besucher wäre. »Soll ich auf Sie warten?« »Ja, tun Sie das. Wenn ich nicht herauskomme, wissen Sie ja, was es bedeutet.« -215-
Ich wartete nicht, bis er meine Bemerkung begriffen hatte. Das ›Heim‹ war ein langes, verputztes Gebäude, das weit von der Straße zurückstand. Nichts deutete auf seine Besonderheit hin, außer einem hohen Drahtzaun, der den Patio nach der Seite hin abschloß. Hinter dem Zaun saßen ein Mann und eine Frau in einer blauen Hollywoodschaukel. Sie wandten mir den Rücken zu, aber ich erkannte Sables weißen Kopf. Der blonde Kopf der Frau ruhte an seiner Schulter. Ich unterdrückte den Impuls, sie anzurufen, sondern stieg zu der langen Veranda hinauf, die von dem Patio aus nicht zu sehen war, und drückte auf den Klingelknopf neben dem Vordereingang. Die Tür wurde aufgeschlossen und von einer Schwester in Weiß ohne Haube geöffnet. Sie war überraschend jung und hübsch. »Sie wünschen, Sir?« »Ich möchte Mr. Sable sprechen.« »Und wen darf ich melden?« »Lew Archer.« Sie ließ mich in einem Wohnraum oder Aufenthaltsraum warten, dessen Möbel mit hellem Chintz überzogen waren. Zwei alte Damen mit Schals sahen sich ein Baseballspiel im Fernsehen an. Ein junger Mann mit einem Bart hockte in einer Ecke auf seinen Fersen und beobachtete die gegenüberliegende Ecke an der Decke. Seine Lippen bewegten sich. Eines der von Vorhängen halb verdeckten Fenster führte auf den in der Sonne liegenden Patio hinaus. Ich sah die junge Schwester zu der blauen Schaukel hinübergehen. Wie aus dem Schlaf geschreckt hob Sable ihr sein Gesicht entgegen. Er löste sich von seiner Frau. Ihr Körper blieb in seiner verkrampften Haltung zurück. Im blauen Schatten des Sonnendachs der Schaukel hatte ihr Gesicht die weitäugige Leere einer Puppe. -216-
Sable schleppte seinen Schatten über die Kunststeinplatten im Rasen. Er sah klein und seltsam geschrumpft unter dem hohen, blauen Himmel aus. Dieser Eindruck blieb bestehen, als er in den Wohnraum trat. Er war um Jahre gealtert. Er müßte sich die Haare schneiden lassen, und sein Schlips war verschoben. Er blickte mich aus geröteten Augen an. Seine Stimme klang gereizt. »Was führt Sie denn hierher?« »Ich wollte Sie sehen. Ich bin nicht lange hier in der Stadt.« »Nun, jetzt sehen Sie mich.« Er hob seine herunterhängenden Arme etwas und ließ sie wieder fallen. Die alten Damen, die ihn mit Lächeln und Kopfnicken begrüßt hatten, reagierten auf seine Bitterkeit wie erschreckte Kinder. Die eine zog ihren Schal fest um ihren Hals und schlich aus dem Raum. Die andere streckte Sable ihre Hand entgegen, als ob sie ihn trösten wollte. Sie blieb in dieser Haltung erstarrt sitzen, während sie weiter dem Baseballspiel folgte. Der bärtige Mann beobachtete die Ecke an der Decke. »Wie geht es Mrs. Sable?« »Nicht gut.« Er runzelte die Stirn und zog mich in den Gang hinaus. »Es ist soweit, daß Sie in Melancholie zu verfallen droht. Doktor Trenchard sagte mir, daß sie schon früher ähnliche Leiden hatte, bevor ich sie heiratete. Der Schock, den sie vor zwei Wochen erlitt, hat das alte Leiden wieder ausgelöst. Mein Gott, ist das erst zwei Wochen her?« Ich riskierte die Frage: »Aus was für Verhältnissen stammt sie denn?« »Alice war Modell in Chicago und war schon einmal verheiratet. Sie hat ein Kind verloren, und ihr erster Mann hat sie schlecht behandelt. Ich habe versucht, es an ihr gutzumachen. Mit verdammt geringem Erfolg.« Sein Ton war fast verzweifelt. »Ich nehme an, daß sie behandelt wird?« »Selbstverständlich. Doktor Trenchard ist einer der besten Psychiater an der Küste. Wenn es mit ihr schlimmer wird, will -217-
er es mit Schockbehandlung versuchen.« Er lehnte sich an die Wand und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Seine geröteten Augen schienen zu brennen. »Sie sollten nach Hause gehen und zu schlafen versuchen.« »Ich habe in letzter Zeit nicht viel geschlafen. Das ist so leicht gesagt, schlafen gehen. Aber man kann sich nicht zum Schlafen zwingen. Außerdem braucht Alice mich hier. Sie ist viel ruhiger, wenn ich bei ihr bin.« Er schüttelte sich und richtete sich auf. »Aber Sie sind nicht hergekommen, um über meine Sorgen mit mir zu sprechen.« »Richtig, deswegen kam ich nicht. Ich kam, um mich für den Scheck zu bedanken und Ihnen ein paar Fragen zu stellen.« »Das Geld haben Sie verdient. Die Fragen werde ich beantworten, wenn ich es kann.« »Doktor Howell hat mich beauftragt, John Galtons Vorleben nachzuforschen. Da Sie den Fall an mich herangetragen haben, hätte ich gern Ihre Zustimmung.« »Selbstverständlich haben Sie die, soweit ich betroffen bin. Für Mrs. Galton kann ich nicht sprechen.« »Das ist mir klar. Howell sagte mir, daß sie sich von dem jungen Mann um den Finger wickeln läßt. Howell selbst ist überzeugt, daß er ein Betrüger ist.« »Er hat mit mir darüber gesprochen. Zwischen John und Howells Tochter scheint sich eine Art Romanze anzuspinnen.« »Kann Howell noch einen anderen besonderen Grund haben?« »Um was zu tun?« »Nun, in Johns Vorleben herumzustöbern oder Mrs. Galton daran zu hindern, ihr Testament zu ändern.« In Sables Blick glomm etwas von seiner alten Schärfe auf. »Das ist gar keine dumme Frage. Durch das gegenwärtige Testament genießt Howell in verschiedener Weise Vorteile. Er -218-
ist der Testamentsvollstrecker und wird einen ansehnlichen Geldbetrag erben. Ich darf Ihnen wirklich nicht sagen, wieviel. Auch für seine Tochter Sheila ist eine erhebliche Summe eingesetzt, eine sehr erhebliche sogar. Und nachdem verschiedene andere Legate erfüllt sind, geht der Rest des Vermögens an mehrere Wohlfahrtseinrichtungen. Eine davon ist der Verband zur Bekämpfung von Herzkrankheiten. Henry Galton starb an einem Herzleiden. Howell ist Vorstandsmitglied dieses Verbandes. Aus all diesen Gründen muß er an dem Testament außerordentlich interessiert sein.« »Und das macht ihn wiederum hochinteressant. Ist das Testament schon geändert worden?« »Das kann ich nicht sagen. Ich erklärte Mrs. Galton, unter den herrschenden Umständen könnte ich für sie mit gutem Gewissen kein neues Testament aufsetzen. Sie sagte, sie würde es einem anderen übertragen. Ob sie das getan hat oder nicht, kann ich nicht sagen.« »Dann sind Sie auch nicht von dem jungen Mann überzeugt?« »Ich war es. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Offen gesagt, habe ich über die Angelegenheit nicht viel nachgedacht.« Er richtete sich ungeduldig auf und machte einen Schritt in die falsche Richtung, wobei er mit der Schulter hart gegen die Wand stieß. »Wenn Sie erlauben, werde ich jetzt zu meiner Frau zurückgehen.« Die junge Schwester ließ mich aus dem Sanatorium. Ich sah durch den Drahtzaun in den Patio zurück. Mrs. Sable saß noch in der gleichen Stellung auf der Schaukel. Ihr Mann setzte sich neben sie in den blauen Schatten. Er hob ihren schlaffen Kopf und lehnte ihn gegen seine Schulter. Wie ein sehr altes Paar, das wartet, bis die Nachmittagsschatten länger werden und in die Nacht übergehen, saßen sie neben einander.
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23 Der Taxifahrer hielt auf der Straßenseite gegenüber dem Tor zum Besitz der Galtons an. Er ließ seinen Arm über die Rückenlehne hängen und warf mir einen fragenden Blick zu. »Ich will Sie nicht beleidigen, Mister, aber wollen Sie zum Vordereingang oder zum Lieferanteneingang?« »Zum Vordereingang.« »Na schön. Ich wollte nur keinen Fehler machen.« Er ließ mich unter dem überdachten Vorbau aussteigen. Ich bezahlte und sagte ihm, er brauche nicht zu warten. Das farbige Hausmädchen führte mich in den Empfangsraum und ließ mich dort zwischen den Vorfahren zurück. Ich trat zu einem der hohen, schmalen Fenster. Es führte auf den vorderen Rasen hinaus, der heiter und gelassen in der späten Nachmittagssonne lag. Dabei empfand ich etwas von dem friedlichen Schutz, das von Mauern umgebene Besitztümer wie dieses einmal geboten hatten. In der modernen Welt glichen die Mauern mehr Gefängnismauern oder den Drahtzäunen um den Garten eines Pflegeheims. Wenn ich es genau überlegte, bevorzugte ich den Lieferanteneingang. Die Leute in der Küche hatten im allgemeinen mehr Spaß vom Leben. Schnelle Schritte kamen die Treppe hinunter, und Cassie Hildreth trat in den Raum. Sie trug einen Rock mit einem Pullover, der ihre Figur hervorhob. Auch auf andere, weniger greifbare Weise sah sie weiblicher aus. Etwas war geschehen, das ihren Stil verändert hatte. Sie reichte mir die Hand. »Es freut mich, Sie zu sehen, Mr. Archer. Setzen Sie sich doch. Mrs. Galton wird gleich -220-
herunterkommen.« »Ohne jede Hilfe?« »Ja. Ist es nicht bemerkenswert? Sie ist so aktiv, wie sie schon lange nicht mehr war. John fährt sie fast jeden Tag aus.« »Wie nett von ihm.« »Es scheint ihm tatsächlich Spaß zu machen. Sie haben sich vom ersten Augenblick an prächtig verstanden.« »Eigentlich bin ich gekommen, um ihn zu sprechen. Ist er da?« »Ich habe ihn seit dem Mittagessen nicht gesehen. Wahrscheinlich ist er mit seinem Wagen unterwegs.« »Mit seinem Wagen?« »Tante Maria hat ihm einen schicken, kleinen Thunderbird gekauft. John ist ganz selig damit. Er ist wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. Mir hat er gesagt, er hätte noch nie einen eigenen Wagen besessen.« »Vermutlich hat er hier eine Menge Dinge, die er früher noch nie gehabt hat.« »Ja, ich freue mich so für ihn.« »Sie sind eine großmütige Frau.« »Eigentlich nicht. Ich habe für vieles dankbar zu sein. Nachdem John jetzt nach Hause gekommen ist, würde ich mein Leben gegen kein anderes mehr tauschen. Es mag seltsam klingen, aber das Leben ist plötzlich wieder so, wie es in den alten Tagen gewesen war, wie vor dem Krieg, ehe Tony starb. Alles scheint wieder seine Harmonie gefunden zu haben.« Sie schien ihre alte Leidenschaft von Tony auf John Galton übertragen zu haben. Ein Traum war zum Leben erwacht. Ich wollte sie warnen, sich nicht zu sehr darauf zu verlassen. Alles konnte wieder in ein Chaos stürzen. Mrs. Galton mühte sich auf der Treppe. Cassie ging ihr zur -221-
Tür entgegen. Die alte Dame trug ein schwarzes Schneiderkostüm mit etwas Weißem um den Hals. Ihr Haar war in harte graue Locken gelegt. Sie streckte ihre knochige Hand aus. »Ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Ich wollte Ihnen gerne persönlich danken. Sie haben mein Haus glücklich gemacht.« »Ihr Scheck war ein sehr hübscher Ausdruck Ihres Dankes«, sagte ich. »Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert.« Vielleicht spürte sie, daß das nicht die taktvollste Weise war, es auszudrücken, denn sie fügte hinzu: »Wollen Sie nicht zum Tee bleiben? Mein Enkel wird Sie gern sehen wollen. Ich erwarte ihn zum Tee zurück. Er sollte inzwischen da sein.« Der streitsüchtige Ton klang immer noch in ihrer Stimme mit. Ich fragte mich, inwieweit sie wohl tatsächlich glücklich sein mochte oder ob sie es sich nur einredete, wieviel von ihrem Glück echt war und wieviel reiner Wille, zu glauben, daß einer armen, alten, reichen Dame nun endlich etwas Gutes widerfahren sei. Sie ließ sich in einen Sessel sinken und übertrieb dabei die Schwierigkeit, die ihr die Bewegung machte. Cassies Ausdruck wurde ängstlich. »Ich glaube, er ist im ›Country Club‹, Tante Maria.« »Mit Sheila?« »Ich glaube ja«, antwortete Cassie. »Sieht er sie immer noch so oft?« »Fast jeden Tag.« »Dem müssen wir ein Ende machen. Er ist noch viel zu jung, um sich für irgendein bestimmtes Mädchen zu interessieren. Sheila ist selbstverständlich ein liebes, reizendes Kind, aber wir können nicht zulassen, daß sie John völlig für sich beansprucht. Ich habe andere Pläne für ihn.« »Was für Pläne, wenn ich fragen darf?« warf ich ein. -222-
»Ich denke daran, John im Herbst nach Europa zu schicken. Er muß seinen Horizont erweitern, und er interessiert sich sehr für das moderne Drama. Wenn dieses Interesse bestehen bleibt und sich vertieft, lasse ich ihm hier in Santa Teresa ein Theater bauen. John hat großes Talent, müssen Sie wissen. Die Vorzüge der Galtons treten in jeder Generation in anderer Form zutage.« Wie um diese Behauptung zu belegen, raste ein roter Thunderbird die lange Anfahrt herauf. Eine Tür schlug zu. John kam herein. Sein Gesicht war gerötet und mürrisch. Er blieb unter der Tür stehen, schob die Fäuste tief in seine Jackentasche und reckte den Kopf mißtrauisch vor. »Ah«, sagte er, »da haben wir ja alle Unglücksraben beieinander.« »Das ist nicht sehr komisch, John«, sagte Cassie in warnendem Ton. »Ich finde es aber komisch. Sehr, sehr komisch.« Er kam leicht schwankend auf uns zu, übertrieb dabei das Rollen seiner Schultern. Ich ging ihm entgegen. »Hallo, John.« »Lassen Sie mich in Ruhe. Ich weiß, warum Sie hier sind.« »Da bin ich aber gespannt.« »Sie sollen es gern erfahren.« Er schlug mit der Faust wild in meine Richtung und kam taumelnd aus dem Gleichgewicht. Ich sprang an ihn heran, drehte ihn mit dem Rücken mir zu, packte mit beiden Händen den Kragen seiner Jacke und zog sie ihm halb über die Arme hinunter. Er stieß Worte gegen mich aus, die wie die Ausdünstungen einer Destille rochen. Aber ich konnte die tödliche Kraft fühlen, die in ihm vibrierte. »Fassen Sie sich und geben Sie Ruhe«, sagte ich. »Ich werde Ihnen den Schädel einschlagen.« -223-
»Dazu müssen Sie erst etwas Solideres zu sich nehmen als Whisky.« Mrs. Galton zog hörbar den Atem ein. »Hat er getrunken?« John antwortete selbst mit dem Trotz eines kleinen Jungen: »Ja, ich habe getrunken. Und ich habe nachgedacht. Denken und trinken. Es wird behauptet, das sei eine miserable Kombination.« »Was ist denn?« fragte sie. »Was ist geschehen?« »Eine Menge ist geschehen. Sag diesem Mann, er soll mich loslassen.« »Lassen Sie ihn los«, sagte Mrs. Galton befehlend. »Glauben Sie, er ist schon soweit?« »Verdammt, lassen Sie mich jetzt los.« Er zerrte und wand sich wild und befreite sich aus den Ärmeln seiner Jacke. Dann fuhr er mit erhobenen Fäusten zu mir herum. »Kommen Sie, wehren Sie sich. Ich habe keine Angst vor Ihnen.« »Aber nicht jetzt und nicht hier.« Ich warf ihm die Jacke zu. Er fing sie auf und blickte dümmlich auf sie hinab. Cassie trat zwischen uns. Sie nahm die Jacke und half ihm beim Anziehen. Fast demütig fügte er sich ihr. »Du brauchst jetzt einen starken, schwarzen Kaffee. Ich bring ihn dir gleich.« »Ich will keinen Kaffee. Ich bin nicht betrunken.« »Aber du hast getrunken.« Mrs. Galtons Stimme war fast um eine Oktave gestiegen und behauptete diese Höhe mit einer zänkischen Beharrlichkeit. »Dein Vater hat auch in jungen Jahren getrunken. Ich will das alles nicht noch einmal erleben. Bitte, versprich mir das.« Die alte Dame hängte sich an Johns Arm, Unverständliches, -224-
Ängstliches vor sich hinmurmelnd, während Cassie sie zu beruhigen suchte. John drehte sich um und heftete seinen Blick auf mich. »Schaffe diesen Mann hier hinaus. Er spioniert für Doktor Howell.« Mrs. Galton wandte sich mir zu; die Knochen ihres Gesichtes zeichneten sich unter ihrer faltigen Haut ab. »Ich bin überzeugt, daß sich mein Enkel irrt. Doktor Howell würde niemals etwas Derartiges hinter meinem Rücken tun.« »Sei dessen nicht so sicher«, widersprach John. »Er will nicht, daß ich mich mit Sheila treffe, und er würde alles tun, um uns auseinanderzubringen.« »Mr. Archer, ich frage Sie, hat Doktor Howell Sie engagiert?« »Ich muß Sie bitten, sich deswegen an Doktor Howell zu wenden.« »Dann ist es also wahr?« »Darauf kann ich Ihnen nicht antworten, Mrs. Galton.« »Dann muß ich Sie leider bitten, mein Haus zu verlassen. Sie haben sich Einlaß unter falschen Vorspiegelungen besorgt. Falls ich Sie noch einmal hier antreffen sollte, werde ich Anzeige erstatten.« »Nein, tue das nicht«, sagte John. »Wir werden allein damit fertig, Grandma.« Er schien schnell nüchtern zu werden. »Du solltest dich nicht um nichts und wieder nichts aufregen«, warf Cassie ein. »Du weißt, daß Doktor Howell…« »Nenne seinen Namen nie wieder in meiner Gegenwart. Von einem alten und vertrauenswürdigen Freund betrogen zu werden… Nun, das kennt man, wenn man Geld hat. Sie glauben, sie hätten ein Recht darauf, nur weil es da ist. Ich sehe jetzt, was August Howell beabsichtigte, als er und sein Flittchen von Tochter sich in mein Leben drängten. Nun, er bekommt nicht einen Cent von meinem Geld. Dafür habe ich gesorgt.« -225-
»Bitte beruhige dich doch, Tante Maria.« Cassie versuchte, sie zu ihrem Sessel zurückzuführen. Doch Mrs. Galton wollte nicht nachgeben. Mit heiserer Stimme rief sie mir zu: »Sie können zu August Howell gehen und ihm sagen, daß er sich übernommen hat. Er bekommt keinen Cent von meinem Geld. Nicht einen Cent! Alles geht an mein eigen Fleisch und Blut. Und sagen Sie ihm, er soll seiner Tochter verbieten, sich meinem Enkel an den Hals zu werfen. Ich habe andere Pläne mit ihm.« Ihr Atem ging rasselnd und stöhnend. Sie schloß die Augen. Ihr Gesicht glich einer Totenmaske. Sie schwankte und wäre beinahe gefallen. John legte den Arm um ihre Schultern und hielt sie fest. »Verschwinden Sie«, sagte er zu mir. »Meine Großmutter ist eine kranke Frau. Sehen Sie nicht, was Sie ihr antun?« »Das tut ihr ein anderer an.« »Es ist besser, wenn Sie gehen«, sagte Cassie. »Mrs. Galtons Herz ist sehr schlecht.« Automatisch schob Mrs. Galton ihre Hand zum Herzen. Ihr Kopf sank schlaff an Johns Schulter. Er streichelte ihr das graue Haar. Es war eine sehr rührende Szene. Während ich hinausging, fragte ich mich, wie viele Szenen dieser Art das Herz der alten Dame noch überstehen würden. Diese Frage beschäftigte mich noch während des ganzen Fluges nach Chicago.
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24 Ich verbrachte zwei Tage damit, kreuz und quer in Ann Arbor herumzulaufen, wo ich mich als Personalberater einer großen Firma mit überseeischen Verbindungen ausgab. Johns Darstellung seiner Jahre auf der Oberschule und dem College stimmte in allen Einzelheiten. Ich fügte jedoch ein interessantes Detail hinzu. Er war in die Oberschule unter dem Namen John Lindsay vor fünfeinhalb Jahren eingetreten, am 9. Januar. Peter Culligan war im gleichen Jahr in Detroit, vierzig Meilen entfernt, verhaftet worden, am 7. Januar. Anscheinend hatte der Junge nur zwei Tage gebraucht, um in Gabriel Lindsay einen neuen Beschützer zu finden. Ich sprach mit Freunden Lindsays, meist Oberschullehrern. Sie erinnerten sich an John als einen angenehmen Jungen, obwohl er, wie einer von ihnen sagte, »immer ein hartgesottener kleiner Bursche« war. Sie verstanden jedoch, daß Lindsay ihn von der Straße aufgenommen hatte. Gabriel Lindsay war immer bereit gewesen, jungen Menschen zu helfen, die sich in Schwierigkeiten befanden. Er war ein älterer Mann, der seinen Sohn im Krieg verloren hatte, kurz darauf auch noch seine Frau. Er selbst war im Februar des vergangenen Jahres im Universitätskrankenhaus an Lungenentzündung gestorben. Sein Arzt erinnerte sich, daß John ständig an seinem Krankenbett gewacht hatte. Eine Kopie seines Testaments befand sich in den Akten im Gericht des Washtenaw County. Er hatte zweitausend Dollar seinem »quasi Pflegesohn, bekannt als John Lindsay, zur Förderung seiner Ausbildung« hinterlassen. Weitere bestimmte Legate enthielt Lindsays Testament nicht. -227-
Vermutlich bedeutete das, daß er nicht mehr Geld besessen hatte. John hatte seine Studien auf der Universität im Juni mit Rhetorik als Hauptfach mit Auszeichnung abgeschlossen. Sein Berater bei der Fakultät sagte, er sei ein Student gewesen, der keine offenkundigen Probleme hatte. Vielleicht war er nicht gerade besonders beliebt gewesen, und enge Freunde schien er nie gehabt zu haben. Andererseits habe er sich aktiv bei der Theatergruppe der Universität betätigt und in seinem letzten Studienjahr als Schauspieler anerkennenswerte Erfolge gehabt. Zur Zeit seiner Prüfung hatte er in einer Pension in der Catharine Street gewohnt, drüben hinter der Volksschule. Der Name der Wirtin sei Mrs. Haskell. Vielleicht könne sie mir helfen. Mrs. Haskell wohnte im Erdgeschoß eines alten dreistöckigen, stuckverzierten Hauses. Die Häufchen Post auf dem Tisch hinter der Tür verrieten mir, daß sie ihr übriges Haus an Untermieter vergab. Sie führte mich über das polierte Parkett eines Gangs in ein halbverdunkeltes Wohnzimmer. In der Julihitze in Michigan war es eine kühle Oase. Irgendwo über unseren Köpfen klapperte eine Schreibmaschine durch die Stille. Der Anklang eines südlichen Akzents zirpte wie eine Mandoline in ihrer Stimme. »Nun, setzen Sie sich und erzählen Sie mir, wie es John geht. Und wie kommt er in seiner Stellung vorwärts?« Mrs. Haskell faltete aufgeregt die Hände über ihrem von geblümtem Stoff bedeckten Busen. Die Löckchen über ihrer Stirn zitterten wie stumme Glöckchen. »Er hat bei uns noch nicht angefangen, Mrs. Haskell. Der Zweck meiner Nachfrage ist, ihn für einen Vertrauensposten zu qualifizieren.« »Soll das heißen, daß aus der anderen Geschichte nichts geworden ist?« »Welche andere Geschichte soll das sein?« -228-
»Die Schauspielerei. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber John Lindsay ist ein sehr begabter Schauspieler, einer der begabtesten Jungen, die ich je in meinem Haus hatte. Ich habe nie eine Vorstellung mit ihm versäumt. Vergangenen Winter spielte er in Hobson’s Choice. Er war ausgezeichnet.« »Das glaube ich gern. Und Sie sagen, er hatte Angebote als Schauspieler?« »Ich weiß nicht, ob es mehrere Angebote waren, aber ein sehr gutes hatte er. Irgendein großer Produzent wollte ihm einen persönlichen Vertrag geben und ihn weiter ausbilden lassen. Das letzte, was mir John sagte, war, daß er das Angebot angenommen habe. Aber vermutlich hat er es sich überlegt, wenn er in Ihre Firma eintreten will. Die Sicherheit vermutlich.« »Sein Theaterspielen interessiert mich«, sagte ich. »Wir haben es gern, wenn unsere Angestellten umfassend gebildete Leute sind. Erinnern Sie sich an den Namen des Produzenten?« »Ich glaube, ich habe ihn nie gehört.« »Von wo kam er?« »Ich weiß es nicht. John war in seinen Privatangelegenheiten immer sehr zurückhaltend. Er hinterließ nicht einmal eine Adresse, an die seine Post nachgeschickt werden sollte, als er im Juni fortging. Alles, was ich wirklich darüber weiß, hat mir Miss Reichler erzählt, nachdem er fort war.« »Wer ist Miss Reichler?« »Seine Freundin. Ich meine nicht, daß sie seine richtige Freundin war. Vielleicht glaubte sie das, aber er nicht. Ich habe ihn davor gewarnt, sich mit reichen jungen Mädchen wie sie einzulassen und mit ihnen in ihren Cadillacs und Kabrioletts herumzufahren. Meine Jungen kommen und gehen, aber ich versuche sie davor zu bewahren, daß sie sich übernehmen. Miss Reichler ist mehrere Jahre älter als John.« Ihre Lippen formten seinen Namen mit einer mütterlichen Besitzgier. Das Mandolinenzirpen in ihrer Stimme wurde deutlicher. -229-
»Das klingt ganz nach der Art junger Leute, wie wir sie suchen. Gesellschaftlich gewandt und anziehend für die Damen.« »Oh, das war er immer. Ich will nicht sagen, daß er hinter Mädchen her war. Er beachtete sie nicht besonders, solange sie sich ihm nicht aufdrängten. Ada Reichler ist ihm praktisch nachgelaufen. Jeden zweiten oder dritten Tag fuhr sie in ihrem Cadillac vor. Ihr Vater ist ein großer Mann in Detroit. Autozubehör.« »Sehr gut«, sagte ich, »Geschäftliche Verbindungen auf hoher Ebene.« Mrs. Haskell schnüffelte. »Messen Sie dem nicht zuviel Gewicht zu. Miss Reichler war tief beleidigt und gekränkt, als John fortging, ohne sich auch nur zu verabschieden. Er hat sie regelrecht sitzenlassen. Ich versuchte ihr zu erklären, daß ein junger Mann, der gerade seinen Weg ins Leben beginnt, keinen überflüssigen Ballast auf sich nehmen kann. Danach wurde sie aus irgendeinem unerklärlichen Grund wütend auf mich. Sie sprang auf und rannte zu ihrem Wagen und raste davon.« »Wie lange kannten sie sich?« »Solange er bei mir wohnte. Mindestens ein Jahr. Wahrscheinlich hatte sie ihre guten Eigenschaften, sonst hätte er es nicht so lange mit ihr ausgehalten. Sie ist auch recht hübsch, wenn man an dem schlanken Typ Geschmack findet.« »Haben Sie ihre Adresse? Ich möchte mich gern mit ihr unterhalten.« »Sie könnte Ihnen einen Haufen Lügen aufbinden. Sie wissen ja, der Hölle Zorn verblaßt vor einem wütenden Weib.« »Das werde ich schon merken und entsprechend berücksichtigen.« »Tun Sie das unbedingt. John ist ein netter, anständiger junger Mann, und Ihre Firma hat Glück, wenn er sich für sie -230-
entscheidet. Ihr Vater heißt Ben, glaube ich, Ben Reichler. Sie wohnen drüben in dem Viertel am Fluß.« Ich fuhr über gewundene Straßen durch ein halb bewaldetes Gebiet. Schließlich fand ich den Briefkasten der Reichlers. Ihre Auffahrt führte zwischen Reihen von Ahornbäumen hindurch zu einem niedrigen Ziegelhaus mit einem tiefgezogenen Dach. Aus der Ferne wirkte es klein, aber wenn man dicht davor stand, massiv. Ich begann zu verstehen, wie John den Sprung aus Mrs. Gorgellos Pension in das Galtonhaus geschafft hatte. Er war dafür geschult worden. Ein Mann in einem Overall mit einer Pflanzenspritze in den Händen stieg über Granitstufen aus einem tiefergelegenen Gartenteil herauf. »Es ist niemand zu Hause«, sagte er. »Im Juli sind sie nie da.« »Wo kann ich sie finden?« »Wenn es geschäftlich ist, Mr. Reichler ist an drei oder vier Tagen in der Woche in seinem Büro im Reichler-Building.« »Ich möchte Miss Ada Reichler sprechen.« »Soviel ich weiß, ist sie mit ihrer Mutter in Kingsville in Kanada. Sie haben dort ein Haus. Sind Sie ein Freund von Miss Ada?« »Der Freund eines Freundes«, sagte ich. Es war am frühen Abend, als ich in Kingsville eintraf. Die Hitze hatte noch nicht nachgelassen, und mein Hemd klebte mir am Rücken. Der See lag wie ein blauer Dunst unterhalb der Stadt, und in ihm hingen weiße Segel aufrecht an ihren Spitzen. Das Sommerhaus der Reichlers lag am Seeufer. Grüne Terrassen senkten sich vom Haus zu einer eigenen Anlegebrücke und einem Bootsschuppen hinunter. Das Haus selbst war ein großer, alter Holzbau, dessen braune Schindelwände von Efeu überzogen waren. Die Reichlers waren zu Hause. Das Mädchen, das mir die Tür öffnete, trug eine -231-
frisch gestärkte Schürze und ein Häubchen. Sie sagte mir, Mrs. Reichler ruhe sich aus, und Miss Ada sei mit einem der Boote auf dem Wasser. Sie erwarte sie jederzeit zurück. Ob ich warten wolle? Ich wartete auf der Anlegebrücke, die mit Schildern ›Zutritt verboten‹ bepflastert war. Eine schwache Brise begann sich zu regen, und die Segelboote wandten sich dem Ufer zu. Sanfte, kleine, zum Ufer laufende Wellen plätscherten gegen die Pfähle. Ein Motorboot schoß wie ein Vogel, der seine Flügel aus weißem Wasser schwingt, vorbei. Seine Heckwelle erschütterte die Landebrücke. Das Boot wendete und kam mit nachlassendem Tempo näher. Am Steuer saß ein Mädchen mit dunklem Haar und dunkler Brille. Sie deutete mit dem Finger auf ihre gebräunte Brust und legte fragend den Kopf zur Seite. »Suchen Sie mich?« Ich nickte, und sie steuerte das Boot heran. Ich fing die Leine auf, die sie mir zuwarf und half ihr auf die Landungsbrücke. Ihr Körper war schlank und biegsam in einem schwarzen Sonnenanzug. Als sie die Brille abnahm, zeigte sich ein schmales, lebhaftes Gesicht. »Wer sind Sie?« Ich hatte bereits beschlossen, meine Rolle aufzugeben. »Mein Name ist Archer. Ich bin Privatdetektiv und komme aus Kalifornien.« »Und sind Sie so weit gereist, um mich zu sprechen?« »Ja.« »Warum um alles in der Welt?« »Weil Sie John Lindsay kennen.« Ihr Gesicht ging auf, war für alles bereit, etwas Wunderbares oder Schreckliches. »Hat John Sie hergeschickt?« »Nicht eigentlich.« -232-
»Steckt er irgendwie in Schwierigkeiten?« Ich antwortete nicht. Sie zerrte an meinem Arm wie ein Kind, das Beachtung sucht. »Sagen Sie mir, hat John Schwierigkeiten? Haben Sie keine Angst, ich werde es ertragen.« »Ich weiß nicht, ob er in Schwierigkeiten steckt, Miss Reichler. Aber wie kommen Sie sofort zu der Schlußfolgerung, daß er in Schwierigkeiten stecken könnte?« »Ich fragte nur. Ich hatte es nicht so gemeint.« Ihre Sprechweise war abgehackt. »Sie sagten, Sie sind Detektiv. Läßt das nicht auf Schwierigkeiten schließen?« »Nehmen wir an, er wäre in Schwierigkeiten. Was wäre dann?« »Ich würde ihm selbstverständlich helfen wollen. Warum unterhalten wir uns in Rätseln?« Mir gefiel ihre zupackende klare Art, und ich nahm auch an, daß sie aufrichtig war. »Ich habe für Rätsel nicht mehr übrig als Sie. Ich schlage Ihnen ein Abkommen vor, Miss Reichler. Ich erzähle Ihnen meinen Teil der Geschichte, wenn Sie mir dann Ihren erzählen.« »Was heißt das? Sollen wir uns gegenseitig Geständnisse machen?« »Ich meine es ernst, und ich bin bereit, als erster zu sprechen. Wenn Sie sich für Johns Situation interessieren…« »Situation ist ein hübsches neutrales Wort.« »Deshalb habe ich es gebraucht. Ist das abgemacht?« »Also gut.« Sie gab mir ihre Hand darauf, wie ein Mann es getan hätte. »Ich warne Sie jedoch schon vorher, daß ich nichts gegen ihn sagen werde. Ich weiß nichts, was gegen ihn spricht, außer wie er mich behandelt hat. Nun ja, das habe ich herausgefordert.« Sie hob ihre hohen dünnen Schultern und schüttelte die Vergangenheit ab. »Wir können uns im Garten unterhalten, wenn Sie wollen.« -233-
Wir stiegen die Terrassen zu dem von einer Mauer umgebenen Blumengarten im Schatten des Hauses hinauf. Er war von der Farbenpracht und dem Duft der Blumen erfüllt. Sie bot mir einen Platz in einem Liegestuhl sich gegenüber an. Ich berichtete ihr, wo John war und was er tat. Ihre Augen waren sanft und dunkel, von einem inneren Zittern erleuchtet. Ihr Ausdruck folgte allen Phasen meines Berichts. Als ich geendet hatte, sagte sie: »Es klingt wie nach einem Märchen von Grimm. Der Ziegenhirt erweist sich als ein verkleideter Prinz. Oder wie Ödipus. John hatte eine eigene Ödipus-Theorie; daß Ödipus seinen Vater getötet habe, weil er ihn aus dem Reich verbannte. Ich hielt sie für sehr klug.« Ihre Stimme war spröde. Sie suchte Zeit zu gewinnen. »John ist ein kluger Junge«, sagte ich, »und Sie sind ein kluges Mädchen, und Sie kannten ihn gut. Glauben Sie, daß er der Mann ist, für den er sich ausgibt?« »Glauben Sie es?« Als ich nicht antwortete, sagte sie: »Er hat in Kalifornien also schon ein Mädchen.« Ihre Hände lagen offen auf ihren schlanken Schenkeln. Sie klemmte sie zwischen ihre Knie. »Ich handle im Auftrag ihres Vaters. Er hält John für einen Betrüger.« »Und tun Sie das auch?« »Es widerstrebt mir, aber ich fürchte, ich muß es. Einige Punkte weisen darauf hin, daß seine ganze Geschichte auf die Umstände zugeschnitten wurde und erfunden ist.« »Um das Vermögen zu erben?« »Das ist wohl die generelle Absicht. Ich habe mit seiner Wirtin in Ann Arbor gesprochen, mit Mrs. Haskell.« »Ich kenne sie«, sagte das Mädchen kurz. »Wissen Sie etwas von dem Angebot, das John von einem Produzenten bekam?« -234-
»Ja, er erwähnte es mir gegenüber. Es war einer dieser persönlichen Verträge, die Filmproduzenten aussichtsreichen jungen Schauspielern geben. Dieser Mann sah ihn in Hobson’s Choice.« »Wann war das?« »Im vergangenen Februar.« »Sind Sie dem Mann begegnet?« »Nein. John sagte, er sei sofort an die Westküste zurückgeflogen. Danach wollte er nicht mehr darüber sprechen.« »Nannte er irgendeinen Namen, bevor er nicht mehr darüber sprach?« »Ich erinnere mich nicht. Glauben Sie, daß John in dieser Sache gelogen hat, daß ihm gar kein Vertrag als Schauspieler angeboten worden war?« »Das kann sein. Es kann aber auch sein, daß John getäuscht wurde. Die Konspiratoren traten als Filmproduzenten oder Agenten an ihn heran und sagten ihm erst später, was wirklich von ihm erwartet wurde.« »Warum sollte John sich auf ihre Pläne eingelassen haben? Er ist kein Verbrecher.« »Das Galton-Vermögen ist Millionen wert. Er hat zu erwarten, daß er eines Tages das Ganze erbt. Selbst ein kleiner Teil würde ihn schon zum reichen Mann machen.« »Aber er machte sich nie etwas aus Geld, wenigstens nicht aus dem Geld, das man erbt. Er hätte mich heiraten können. Ich war dazu bereit. Das Geld meines Vaters war einer der Gründe, daß er es nicht tat. Wenigstens hat er das gesagt. Der wirkliche Grund ist vermutlich, daß er mich nicht liebte. Liebt er sie?« »Die Tochter meines Auftraggebers? Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Vielleicht liebt er niemand.« »Sie sind sehr ehrlich, Mr. Archer. Ich habe Ihnen meine schwache Stelle gezeigt, aber Sie haben sie nicht benutzt, um -235-
dort einen Keil anzusetzen. Sie hätten sagen können, daß er verrückt nach ihr wäre, um auf diese Weise das Feuer meiner Eifersucht anzufachen.« Aber sie verzog das Gesicht bei ihrer Selbstverspottung. »Mit ehrlichen Menschen versuche ich ehrlich zu sein.« Sie warf mir einen funkelnden Blick zu. »Damit wollen Sie mich in die Enge treiben.« »Ja.« Sie drehte den Kopf und blickte über den See, als ob sie bis nach Kalifornien sehen könnte. Die letzten Segel näherten sich dem Ufer, zogen sich vor der Dunkelheit zurück, die sich wie Ruß auf den Horizont senkte. Während das Licht des Himmels verblaßte, schien es sich um so stärker auf dem Wasser zu sammeln. »Was wird mit ihm geschehen, wenn sich herausstellt, daß er ein Betrüger ist?« »Er kommt ins Gefängnis.« »Für wie lange?« »Das ist schwer zu sagen. Für ihn wird es leichter sein, wenn er es bald hinter sich bringt. Er hat noch keine großen Ansprüche gestellt oder größere Geldbeträge angenommen.« »Meinen Sie wirklich, wirklich und ehrlich, daß ich ihm einen Gefallen tue, wenn ich seine Darstellung widerlege?« »Das ist meine aufrichtige Meinung. Wenn alles ein Haufen Lügen ist, werden wir früher oder später dahinterkommen. Je früher, desto besser für ihn.« Sie zögerte. Ihr Profil war scharf. Eine Sehne in ihrem Hals hob sich unter der Haut ab. »Sie sagten, er behauptet, daß er in einem Waisenhaus in Ohio aufgewachsen ist?« »In Crystal Springs in Ohio. Hat er mit Ihnen nie darüber gesprochen?« »Es gibt Anzeichen, daß er hier in Kanada aufgewachsen ist«, sagte ich. -236-
»Was sind das für Anzeichen?« »Seine Aussprache und seine Schreibweise.« Sie stand plötzlich auf, ging bis zum Ende des Gartens, bückte sich, um ein Löwenmaul zu pflücken und schleuderte die Blume mit einer heftigen Bewegung von sich. Dann kam sie zu mir zurück und blieb mit halb abgewendetem Gesicht vor mir stehen. Mit rauher, trockener Stimme sagte sie: »Verraten Sie ihm nur nicht, daß Sie es von mir erfahren haben. Ich könnte es nicht ertragen, daß er mich haßt, selbst wenn ich ihn niemals wiedersehe. Der arme, verdammte, dumme Kerl wurde hier in Ontario geboren und ist hier auch aufgewachsen. Sein richtiger Name ist Theodore Fredericks, und seine Mutter unterhält eine Pension in Pitt, nicht mehr als sechzig Meilen von hier entfernt.« Ich stand auf und zwang sie, mich anzusehen. »Woher wissen Sie das, Miss Reichler?« »Ich habe mit Mrs. Fredericks gesprochen. Es war keine sehr erfreuliche Begegnung. Sie hat keinem von uns geholfen. Ich hätte nie dorthin fahren sollen.« »Brachte er Sie hin, um seine Mutter kennenzulernen?« »Keineswegs. Ich fuhr vor ein paar Wochen allein hin, nachdem John Ann Arbor verlassen hatte. Als ich nichts von ihm hörte, kam mir der Gedanke, er sei vielleicht nach Hause zurück nach Pitt gegangen.« »Woher haben Sie erfahren, daß er in Pitt zu Hause ist? Hat er es Ihnen gesagt?« »Ja. Aber ich glaube nicht, daß er es beabsichtigte. Es geschah auf eine momentane Eingebung hin, als er hier bei uns ein Wochenende verbrachte. Es war das einzige Mal, daß er uns hier in Kingsville besuchte, und es war ein böser Tag für mich, der schlimmste. Ich denke nur ungern daran.« -237-
»Warum?« »Wenn Sie es unbedingt wissen müssen, er gab mir einen Korb. Am Sonntagmorgen machten wir eine Spazierfahrt. Ich fuhr selbstverständlich. Er hat nie das Steuer meines Wagens angefaßt. So war er nun einmal. So stolz. Und ich war ihm gegenüber gar nicht stolz. Ich ließ mich von den Blumen und den Schmetterlingen hinreißen, oder was es sonst war, und bat ihn, mich zu heiraten. Er sagte schlicht und einfach nein. Er muß gesehen haben, wie sehr er mich damit verletzte, denn er bat mich, ihn nach Pitt zu fahren. Wir waren nicht sehr weit von dort entfernt, und er wollte mir etwas zeigen. Als wir hinkamen, ließ er mich durch eine Straße fahren, die am Rand des Negerviertels den Fluß entlangführte. Es war eine schreckliche Gegend. Schmutzige Kinder aller Farben spielten im Dreck, und verschlampte Frauen schrien auf sie ein. Wir hielten gegenüber von einem alten roten Ziegelhaus, wo mehrere Männer in Unterhemden auf den Vorderstufen saßen und einen Weinkrug herumgehen ließen. John bat mich, es mir genau anzusehen, weil, wie er sagte, er hier hingehöre. Er sei in diesem Viertel, in diesem roten Haus da drüben, aufgewachsen. Eine Frau kam auf die Veranda, um die Männer zum Essen zu rufen. Sie hatte eine schrille, durchdringende Stimme und war ein abscheuliches, häßliches, fettes Weib. John behauptete, sie sei seine Mutter. Ich glaubte ihm nicht. Ich dachte, er wollte mich zum besten halten, mich irgendeinem dummen Test unterwerfen. In gewisser Weise war es ein Test, aber nicht so, wie ich es mir vorstellte. Ich glaube, er wollte anerkannt werden. Er wollte, daß ich ihn so hinnahm, wie er wirklich war. Aber als ich das endlich verstand, war es zu spät. Er hatte sich tief in sein Schneckenhaus zurückgezogen.« Mit den Spitzen ihrer langen Finger strich sie sich über ihren klagenden Mund. -238-
»Wann war das alles?« »Im vergangenen Frühling. Es muß Anfang Mai gewesen sein, denn es lag noch etwas Schnee.« »Haben Sie John danach noch gesehen?« »Einige Male, aber es half nichts. Ich glaube, er bedauerte, daß er mir soviel von sich gesagt hatte. Ich weiß, daß er es tatsächlich tat. Dieser Sonntag in Pitt war das Ende jeder wirklichen Beziehung zwischen uns. Es gab so vieles, worüber wir nicht sprechen konnten, daß wir schließlich überhaupt nicht mehr miteinander sprechen konnten. Als ich ihn zum letztenmal sah, war es demütigend. Für ihn und auch für mich. Er bat mich, nicht von dem zu sprechen, was er mir über seine Herkunft verraten hatte, falls jemand einmal die Frage anschnitt.« »Wer sollte seiner Meinung nach darauf zu sprechen kommen? Die Polizei vielleicht?« »Die Einwanderungsbehörden. Anscheinend war mit seiner Einreise in die Vereinigten Staaten nicht alles in Ordnung. Das paßte zu dem, was seine Mutter mir später erzählte. Er war mit einem ihrer Mieter fortgelaufen, als er sechzehn Jahre alt war, und anscheinend in die Vereinigten Staaten hinübergegangen.« »Hat sie Ihnen den Namen des Mieters genannt?« »Nein. Es überraschte mich, daß Mrs. Fredericks mir überhaupt soviel sagte. Sie wissen, wie argwöhnisch die Angehörigen der unteren Schichten sind. Aber ich gab ihr Geld, und das brachte sie zum Sprechen.« Ihr Ton war verächtlich, und sie mußte es selbst bemerkt haben. »Ich weiß, ich bin genau das, was John immer von mir sagte, ein reicher Snob. Nun, ich habe meine Nackenschläge bekommen. Ich trieb mich da in den Slums von Pitt an einem heißen Sommertag herum wie eine läufige Hündin. Ich hätte ebensogut zu Hause bleiben können. Seine Mutter hatte ihn seit über fünf Jahren nicht mehr gesehen und rechnete auch nicht damit, ihn je wiederzusehen, wie sie sagte. Ich erkannte, daß ich ihn endgültig verloren hatte.« -239-
»Er war leicht zu verlieren«, sagte ich, »und der Verlust ist nicht groß.« Sie sah mich wie einen Feind an. »Sie kennen ihn nicht. John ist im Innersten ein anständiger Mensch, anständig und tief. Ich war der Teil, der bei unserer Beziehung versagte. Wenn ich fähig gewesen wäre, ihn an diesem Sonntag zu verstehen, das Richtige zu sagen und ihn zu halten, hätte er vielleicht nicht dieses trügerische Leben angefangen. Ich bin die von uns beiden, die nichts taugt.« Sie verzerrte ihr Gesicht wie ein Affe und zerwühlte ihr Haar, um sich häßlich zu machen. »Ich bin nichts als eine Hexe.« »Halten Sie den Mund.« Sie sah mich ungläubig an, eine Hand flach gegen ihre Schläfe gepreßt. »Was glauben Sie, mit wem Sie reden?« »Mit Ada Reichler. Sie sind fünfmal soviel wert wie er.« »Das bin ich nicht. Ich tauge nichts. Ich habe ihn verraten. Niemand kann mich lieben, niemand.« »Ich sagte Ihnen, Sie sollen den Mund halten.« Nie zuvor in meinem Leben war ich so wütend gewesen. »Wagen Sie nicht, so mit mir zu sprechen! Wagen Sie das ja nicht!« Ihre Augen waren hell und schwer wie Quecksilber. Sie lief blindlings zur anderen Seite des Gartens, warf sich am Rand des Rasens auf die Knie und verbarg ihr Gesicht zwischen Blumen. Ihr Rücken war lang und schön. Ich wartete, bis sie sich beruhigt hatte, dann hob ich sie auf die Füße. Sie drehte sich mir zu. Das letzte Licht verblaßte auf den Blumen und dem See. Die Nacht kam warm und feucht, das Gras war naß.
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25 Abgesehen von den gelegentlichen Straßenlampen und dem schwächeren Licht, das von dem sternenklaren Himmel fiel, lag die Stadt Pitt im Dunkel. Während ich durch die Straße fuhr, die Ada Reichler mir beschrieben hatte, sah ich den Fluß zwischen den Häusern dahinfließen. Als ich aus dem Wagen stieg, konnte ich ihn auch riechen. Der Chorgesang der Frösche klang von fern durch die Sommernacht. Im ersten Stock des alten roten Hauses zeichnete ein verschwommenes Licht ein Fenster ab. Die Dielen der Veranda stöhnten unter meinem Gewicht. Ich klopfte an die rissige Tür. Ein Schild, das Zimmer zu vermieten anbot, klebte hinter dem Fenster in der Tür. Über mir ging ein Licht an. Wie Schnee wirbelten Motten darum herum. Ein alter Mann spähte heraus, hob mir aus einer ständig gebückten Haltung seinen schmalen, grauen Kopf schräg entgegen. »Wünschen Sie etwas?« Seine Stimme war ein heiseres Flüstern. »Ich möchte mit Mrs. Fredericks, der Hauswirtin, sprechen.« »Ich bin Mr. Fredericks. Wenn Sie ein Zimmer wollen, kann ich Ihnen das genausogut vermieten wie sie.« »Vermieten Sie auch bei Nacht?« »Gewiß, ich habe ein hübsches Vorderzimmer, das Sie haben können. Es kostet Sie… lassen Sie mich überlegen…« Er strich sich über die Stoppeln um sein Kinn und verursachte ein kratzendes Geräusch. Seine trüben Augen sahen mich mit stupider Schläue prüfend an. »Zwei Dollar?« -241-
»Ich möchte das Zimmer erst sehen.« »Wie Sie wollen. Versuchen Sie keinen Lärm zu machen, bitte. Die Alte – Mrs. Fredericks ist schon im Bett.« Er mußte selbst gerade im Begriff gewesen sein, schlafen zu gehen. Sein Hemd stand offen, so daß ich seine Rippen zählen konnte, und sein breit gestreifter Hosenträger hing herunter. Ich folgte ihm die Treppe hinauf. Er bewegte sich mit umständlicher, geheimnisvoller Vorsicht und drehte sich oben um, um einen Schweigen gebietenden Finger auf seine Lippen zu legen. Das Licht aus dem Gang unten warf seinen gebeugten Geierschatten an die Wand. Hinten im Haus erhob eine Frau ihre Stimme. »Was schleichst du denn noch herum?« »Wollte die Mieter nicht stören«, antwortete er mit seinem vernehmbaren Flüstern. »Die Mieter sind noch nicht im Haus, das weißt du. Ist jemand bei dir?« »Woher denn? Höchstens mein Schatten.« Er lächelte mich mit gelben Zähnen an, als ob er erwartete, daß ich über seinen Witz lache. »Dann komm ins Bett«, rief sie. »Ja, gleich.« Auf Zehenspitzen schlich er durch den Gang, winkte mich durch eine offene Tür und schloß sie leise hinter mir. Für einen Augenblick waren wir wie Verschwörer allein im Dunkeln. Ich konnte sein erregtes Atmen hören. Dann streckte er die Hand aus, um ein Licht einzuschalten. Die Lampe pendelte an ihrer Schnur, warf verschlungene Schatten an die hohe Decke und beleuchtete abwechselnd die Seiten des Zimmers und seinen Inhalt. Dazu gehörten eine Kommode, ein Waschtisch mit Krug und Schale und ein Bett, das den Abdruck vieler Körper angenommen hatte. Die -242-
Einrichtung erinnerte mich an das Zimmer, das John Brown in Luna Bay bewohnt hatte. John Brown? John Niemand! Ich sah dem alten Mann ins Gesicht. Es war schwer, sich vorzustellen, daß eine Laune seiner Gene den Jungen gezeugt haben sollte. Wenn Fredericks jemals gut ausgesehen hatte, war das von der Zeit fortgeschwemmt worden. Er hatte ein fleckiges, pelziges, ledernes Gesicht, das sich über hagere Knochen spannte und von den Nagelköpfen seiner schwarzen Augen an Ort und Stelle gehalten wurde. »Gefällt Ihnen das Zimmer?« fragte er unsicher. Ich sah die geblümte Tapete an den Wänden an. Verblaßte Winden schlangen sich an einem braunen Spalier zu der stockfleckigen Decke. Ich glaubte nicht, daß ich in einem Zimmer schlafen könnte, in dem die ganze Nacht Winden an den Wänden hinauf krochen. »Wenn Sie sich wegen Wanzen Sorgen machen«, sagte er, »wir haben das Haus im letzten Frühjahr ausräuchern lassen.« »Oh, gut.« »Ich will frische Luft hereinlassen.« Er öffnete das Fenster und glitt wieder an meine Seite. »Bezahlen Sie mir bar im voraus, und ich kann es Ihnen für anderthalb Dollar lassen.« Ich hatte nicht die Absicht, über Nacht zu bleiben, entschloß mich aber, ihm das Geld zu geben. Ich zog meine Brieftasche und gab ihm zwei Ein-Dollar-Noten. Seine Hand zitterte, als er sie entgegennahm. »Ich habe kein Wechselgeld.« »Behalten Sie es, Mr. Fredericks, Sie haben einen Sohn.« Er sah mich lange mit einem vorsichtigen Blick an. »Und wenn schon?« »Einen Jungen namens Theodore.« »Er ist kein Junge mehr. Er ist inzwischen erwachsen.« -243-
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?« »Weiß nicht. Vor vier, fünf Jahren, vielleicht ist es noch länger her. Als er sechzehn war, lief er von zu Hause fort. Es ist hart, wenn man so was von seinem eigenen Sohn sagen muß, aber so sind wir den Lump billig losgeworden.« »Warum sagen Sie das?« »Weil es wahr ist. Kennen Sie Theo?« »Flüchtig.« »Steckt er wieder im Dreck? Sind Sie deswegen hier?« Bevor ich antworten konnte, wurde die Tür des Zimmers aufgestoßen. Eine kleine, dicke Frau in einem Flanellnachthemd stürmte an mir vorbei und ging auf Frederick los. »Was machst du denn hier? Vermietest du etwa hinter meinem Rücken ein Zimmer?« »I woher denn.« Aber er hielt das Geld noch in der Hand. Er versuchte es hastig zusammenzuknüllen und in seiner Faust zu verstecken. Sie griff danach. »Gib mir mein Geld, auf der Stelle!« Er drückte die Faust mit seinem Schatz gegen seine ausgemergelte Brust. »Es gehört mir so gut wie dir.« »O nein. Ich arbeite mir die Finger wund, um uns über Wasser zu halten. Und was tust du? Versäufst das Geld so schnell, wie ich es verdienen kann.« »Ich habe seit einer Woche nichts mehr getrunken.« »Du lügst.« Sie stampfte mit ihrem nackten Fuß auf. Ihr Körper unter dem Nachthemd erzitterte, und ihre grauen Zöpfe pendelten wie Seile auf ihrem Rücken. »Gestern abend hast du mit den anderen in dem Schlafzimmer unten Wein getrunken.« »Der hat nichts gekostet«, erwiderte er tugendhaft. »Wie kommst du überhaupt dazu, vor einem Fremden so mit mir zu sprechen?« -244-
Das erstemal wandte sie sich mir zu. »Entschuldigen Sie, Mister, es ist nicht Ihre Schuld, aber er kann nicht mit Geld umgehen.« Überflüssigerweise fügte sie hinzu: »Er trinkt nämlich.« Fredericks versuchte zur Tür zu gelangen, während sie ihn nicht im Auge behielt, aber sie hielt ihn fest. Er wehrte sich hilflos gegen ihre Umklammerung. Ihre Oberarme waren so dick wie Schinken. Sie öffnete ihm gewaltsam die Faust und schob die zerknüllten Geldscheine zwischen ihre Brüste. Er sah dem Geld nach, als ob mit ihm seine Hoffnung auf die ewige Seligkeit verschwände. »Gib mir wenigstens fünfzig Cent. Fünfzig Cent wirst du entbehren können«, bettelte er. »Nicht einen roten Cent kriegst du«, antwortete sie. »Wenn du glaubst, ich lasse zu, daß du wieder das Delirium bekommst, bist du schief gewickelt.« »Ich will doch nur ein einziges Glas.« »Das kenne ich. Und dann noch eins und noch eins, bis dir wieder die weißen Mäuse unter die Kleider kriechen und ich dich wieder gesund pflegen muß.« »Es gibt nicht nur Mäuse, sondern auch Ratten, und die schlimmsten Ratten sind Weiber, die ihrem rechtmäßigen Ehemann nicht ein paar Groschen gönnen, damit er seine Leibschmerzen loskriegen kann.« »Nimmst du das zurück?« Mit erhobenen Armen ging sie auf ihn los. Er floh vor ihr in den Gang. »Schon gut, ich nehm’s zurück, aber ich werde schon was zu trinken bekommen, mach dir keine Sorgen. Ich habe Freunde hier in der Stadt, die wissen, was ich wert bin.« »Und ob sie es wissen! Sie lassen dich mit stinkigem Fusel vollaufen, und dann kommen sie zu mir und verlangen Geld. -245-
Wage nicht, heute nacht einen Fuß aus dem Haus zu setzen.« »Ich lasse mir von dir nichts befehlen. Du kannst mich nicht wie einen Lausejungen behandeln. Ich kann doch nichts dafür, daß ich mit dem Loch im Leib nicht arbeiten kann. Es ist nicht meine Schuld, daß ich nicht ohne einen Drink schlafen kann, um meine Schmerzen zu lindern.« »Verschwinde«, sagte sie schroff. »Geh ins Bett.« Er schlich davon, schleifte seinen Hosenträger hinter sich her. Die fette Frau wandte sich mir zu. »Ich muß mich für meinen Mann entschuldigen. Seit seinem Unfall ist er nicht mehr der alte.« »Was ist ihm passiert?« »Er wurde schwer verletzt.« Ihre Antwort erschien mir absichtlich vage. Unter den Fettfalten zeigte ihr Gesicht Spuren der eigensinnigen Intelligenz ihres Sohnes. Sie wechselte das Thema. »Sie haben mit amerikanischem Geld bezahlt. Kommen Sie aus den Staaten?« »Ich bin gerade aus Detroit hier angekommen.« »Wohnen Sie in Detroit? Ich bin nie da gewesen, aber es soll eine interessante Stadt sein.« »Das ist schon möglich. Ich bin nur auf dem Weg von Kalifornien hierher durchgefahren.« »Was bringt Sie denn von so weit weg hierher?« »Vor einigen Wochen wurde ein Mann namens Peter Culligan dort ermordet. Er wurde erstochen.« »Was? Er wurde erstochen?« Ich nickte. Ihr Kopf bewegte sich ein wenig im gleichen Takt mit meinem. Ohne ihren Blick von meinem Gesicht zu nehmen, ging sie an mir vorbei und setzte sich auf die Bettkante. »Sie kennen ihn doch, Mrs. Fredericks, oder nicht?« »Vor Jahren wohnte er eine Zeitlang bei mir. Er hatte gerade -246-
dieses Zimmer hier.« »Was tat er in Kanada?« »Fragen Sie mich nicht. Ich frage meine Mieter auch nicht, woher sie ihr Geld haben. Meistens saß er in diesem Zimmer und studierte seine Rennzeitungen.« Sie blickte mich forschend unter zusammengezogenen Augenbrauen an. »Sie sind doch nicht etwa Polizist?« »Ich arbeite mit der Polizei zusammen. Wissen Sie bestimmt nicht, warum Culligan hierhergekommen war?« »Ich nehme an, für ihn war eine Stadt so gut wie jede andere. Er war ein Einzelgänger und Herumtreiber. Ich bekomme eine ganze Menge von dieser Sorte zu sehen. Wahrscheinlich ist er in seinem Leben weit in der Welt herumgekommen.« Sie sah zu den Schatten an der Decke auf. Die Lampe hing jetzt ruhig, und die Schatten bildeten konzentrische Ringe wie Wellen, die über einen Teich laufen. »Sagen Sie mal, Mister, wer hat ihn erstochen?« »Ein junger Strolch.« »Mein Sohn? Hat mein Sohn es getan? Sind Sie deshalb zu mir gekommen?« »Ich glaube, Ihr Sohn ist darin verwickelt.« »Ich wußte es.« Ihre Wangen bebten. »Er ging mit einem Messer auf seinen Vater los, noch bevor er aus der Schule kam. Er hätte ihn beinahe umgebracht. Jetzt ist er wirklich zum Mörder geworden.« Sie preßte ihre geballten Hände tief in ihren Busen, der wie aufgehender Teig um ihre Fäuste quoll. »Ich habe noch nicht genug Kummer und Leid in meinem Leben gehabt. Ich mußte auch einen Mörder zur Welt bringen.« »Das dürfen Sie nicht sagen, Mrs. Fredericks. Er hat betrogen, aber ich bezweifle, daß er einen Mord begangen hat.« Doch während ich die Worte aussprach, fragte ich mich, ob -247-
der junge Mann an diesem Tag nicht doch in Culligans Nähe gekommen war und ob er ein Alibi für die Tatzeit hatte. »Haben Sie ein Bild von Ihrem Sohn?« »Ich habe eins von ihm, als er in die Oberschule ging. Er lief von zu Hause fort, ehe er die Schule abgeschlossen hatte.« »Darf ich mir das Bild ansehen, Mrs. Fredericks? Es scheint mir fast möglich, daß wir von zwei verschiedenen Personen sprechen.« Doch diese Hoffnung wurde schnell enttäuscht. Der Junge auf dem Schnappschuß, den sie mir zeigte, war der gleiche, nur sechs Jahre jünger. Er stand an einem Flußufer, den Rücken zum Wasser, und lächelte mit verlegenem Charme in die Kamera. Ich gab Mrs. Fredericks das Bild zurück. Sie hielt es ins Licht und studierte es, als ob sie durch dieses eine Bild die Vergangenheit heraufbeschwören könnte. »Theo war ein gut aussehender Junge«, sagte sie traurig. »Er machte sich gut in der Schule und war ordentlich, bis er auf diese großen Gedanken kam.« »Was für große Gedanken hatte er denn?« »Verrückte Einfälle wie, der Sohn eines englischen Lords zu sein und daß Zigeuner ihn raubten, als er noch ein Baby war. Schon als kleines Kerlchen nannte er sich immer Percival Fitzroy wie in einem Buch. So war er immer gewesen. Er hielt sich für was Besseres als seine Eltern. Ich machte mir immer Sorgen, wohin all diese Wahnvorstellungen ihn noch bringen sollten.« »Er träumt immer noch«, sagte ich. »Gegenwärtig gibt er sich gerade als Enkel einer reichen Frau in Südkalifornien aus. Wissen Sie etwas davon?« »Ich höre nie was von ihm. Woher sollte ich es also wissen?« »Anscheinend hat Culligan ihn darauf gebracht. Ich habe gehört, daß er mit Culligan von hier fortgelaufen ist.« -248-
»Ja. Der dreckige Schuft hat ihn überredet und ihn gegen seinen eigenen Vater aufgehetzt.« »Und Sie sagen, er wäre mit einem Messer auf seinen Vater losgegangen?« »Das war am gleichen Tag.« Ihre Augen weiteten sich und wurden glasig. »Er fiel ihn mit einem Metzgermesser an und brachte ihm eine schreckliche Wunde bei. Fredericks lag wochenlang im Bett. Er hat sich nie wieder gänzlich davon erholt. Und ich auch nicht, wenn ich daran denke, daß mein Sohn so etwas getan hat.« »Wie kam es denn dazu, Mrs. Fredericks?« »Durch seine Wildheit und seinen Eigensinn«, antwortete sie. »Er wollte von zu Hause fort und seine eigenen Wege gehen. Dieser Culligan ermutigte ihn. Er behauptete, Theos Wohl im Auge zu haben, und ich weiß, was Sie denken. Daß Theo recht hatte, von zu Hause fortzulaufen, bei dem Strolch von Vater und der Sorte Mieter, die ich aufnehme. Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Sehen Sie sich an, was jetzt aus Theo geworden ist.« »Ich weiß es, Mrs. Fredericks.« »Ich wußte, daß es ein schlechtes Ende nehmen würde«, sagte sie. »Er zeigte keine natürlichen Gefühle. Nicht einmal hat er nach Hause geschrieben, seit er fortging. Was hat er all die Jahre gemacht?« »Ein College besucht.« »Ein College besucht? Er ist aufs College gegangen?« »Ihr Sohn ist ein ehrgeiziger Junge.« »Oh, er hatte immer seinen Ehrgeiz, wenn Sie es so nennen wollen. Und hat er das auf dem College gelernt, wie man die Leute betrügt?« »Nein, das lernte er woanders.« Vielleicht in diesem Zimmer, dachte ich, wo Culligan seine -249-
Phantasiegebilde spann und auf die zufällige Ähnlichkeit mit einem Toten seinen langfristigen Plan aufbaute. Das Zimmer hatte die Atmosphäre Culligans. Die Frau richtete sich betroffen auf, als ob ich eine versteckte Beschuldigung erhoben hätte. »Ich will nicht behaupten, daß wir ihm gute Eltern waren. Er wollte mehr, als wir ihm geben konnten. Irgendwie war er immer von einem Wunschtraum besessen.« Ihre Gesichtszüge bewegten sich träge, versuchten den Ausdruck der Wahrhaftigkeit anzunehmen und Empfindung zu zeigen. Sie stützte sich auf ihre Arme zurück und ließ ihren Blick auf den aufgequollenen Formen ihres Körpers ruhen, den großen, schlaffen Brüsten, dem vortretenden Leib, aus dem heraus ihr Sohn sich ans Licht der Welt gekämpft hatte. Über ihrem gesenkten Kopf zogen Insekten exzentrische Kreisbahnen um die herabhängende Birne und setzten sich der Gefahr des Verbrennens aus. Es gelang ihr, einen Hoffnungsschimmer zu entdecken. »Wenigstens hat er noch keinen ermordet, nicht wahr?« »Nein.« »Wer hat Culligan denn erstochen? Sie sagten, es ist ein junger Strolch gewesen.« »Sein Name ist Tommy Lemberg. Tommy und sein Bruder Roy verstecken sich vermutlich hier in Ontario.« »Meinen Sie nicht Hamburg?« »Es kann sein, daß sie sich so nennen. Kennen Sie Roy und Tommy?« »Hoffentlich sind sie es. Seit vierzehn Tagen haben sie das Zimmer unten gemietet. Mir sagten sie, sie heißen Hamburg. Woher sollte ich wissen, daß sie sich versteckt halten?«
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26 Auf der dunklen Terrasse wartete ich auf die Lembergs. Nach Mitternacht kamen sie mit unsicheren Schritten die Straße herunter. Mein geparkter Wagen weckte ihre Aufmerksamkeit, und sie überquerten die Straße, um ihn sich genauer anzusehen. Ich schritt die Verandastufen hinunter und folgte ihnen. Sie drehten sich so dicht beieinander um, daß sie einem einzigen formlosen Körper mit zwei weißen, erschreckten Gesichtern glichen. Tommy ging sofort auf mich los, eine breite, schwankende Gestalt. Den einen Arm trug er immer noch in einer Schlinge unter der Jacke. Roy hob mit einer fast hoffnungslosen Gefaßtheit den Kopf. »Laß, Junge.« »Einen Dreck werde ich. Dem verdanken wir doch den ganzen Ärger.« Herausfordernd näherte er sich mir und spuckte vor mir auf die Straße. »Reg dich nicht auf, Tommy.« Roy kam hinter ihm her. »Unterhalte dich doch erst mal mit ihm.« »Und ob ich mich mit ihm unterhalten werde.« Zu mir sagte er: »Haben Sie von Mr. Schwanz noch nicht genug bekommen? Sind Sie mir deswegen so weit nachgefahren?« Ohne weiter zu überlegen, ging ich in Position und schlug ihm meine Faust mit aller Kraft gegen die Kinnspitze. Er stürzte zu Boden und blieb liegen. Sein Bruder kniete neben ihm nieder, wobei er leise, erschrockene Laute von sich gab, aus denen schließlich Worte wurden. »Sie haben kein Recht, ihn zu schlagen. Er wollte mit Ihnen sprechen.« -251-
»Das habe ich gehört.« »Er hat getrunken und er hat Angst. Er wollte nur den starken Mann spielen.« »Sparen Sie sich den sentimentalen Quatsch. Zu einem Messerstecher paßt das nicht.« »Tommy ist nie ein Messerstecher gewesen.« »Sieh mal einer an. Das wurde ihm wohl nur angehängt? Von Culligan etwa, der sich fallen ließ und sich dabei selbst erstochen hat, wie? Tommy war dabei nichts als ein unschuldiger Zuschauer.« »Ich behaupte nicht, daß er unschuldig ist. Schwartz hat ihn dahin geschickt, um ein bißchen Druck darunterzusetzen. Keiner rechnete damit, daß er Culligan in die Hände laufen würde, und schon gar nicht, daß Culligan mit einem Messer auf ihn losgehen und schießen würde. Tommy wurde angeschossen, als er Culligan die Waffe entwand. Dann schlug er Culligan nieder. Mehr hat Tommy mit der ganzen Sache nicht zu tun.« »Und in diesem Augenblick kamen dann die Indianer von den Bergen herunter, was?« »Ich dachte, daß Sie sich für die Wahrheit interessieren«, sagte Roy mit zitternder Stimme. »Aber Sie denken genauso wie die anderen. Wenn einer mal gestolpert ist, hat er keine Menschenrechte mehr.« »Natürlich, jetzt bin ich ungerecht gegen eine Verbrecherbande.« Selbst in meinen Ohren klang diese Bemerkung ziemlich dürftig. Roy antwortete nur mit einem angewiderten Grunzen. Wie zur Antwort stöhnte Tommy auf. Seine Augen waren noch verdreht und zeigten zwischen halbgeschlossenen Lidern nur das von Äderchen durchzogene Weiße. Roy schob seinen Arm seinem Bruder unter den Kopf und stützte ihn. Als ich auf das verschwommene Gesicht hinunterblickte, das -252-
in der Bewußtlosigkeit einen unschuldigen Ausdruck hatte, packten mich plötzlich Zweifel. Mir wurde bewußt, daß meine Erbitterung nicht allein Tommy Lemberg galt. Mein Schlag, der ihn niederwarf, hatte auch dem anderen Burschen gegolten, war die Reaktion gegen eine Bande hinterlistiger kleiner Gauner, die einen Mann nicht an die Welt glauben lassen wollte. Ich kratzte einen Rest an Gefühlen zusammen, Glaube oder vielleicht Einfalt, und riskierte ihn. »Lemberg, glauben Sie die Geschichte, die Ihr Bruder Ihnen erzählt hat?« »Ja.« »Sind Sie bereit, es auf eine Probe ankommen zu lassen?« »Ich verstehe Sie nicht.« Aber er hob mir sein bleiches Gesicht ängstlich entgegen. »Wenn Sie damit meinen, daß er nach Kalifornien zurück soll, nein. Da stecken sie ihn in die Gaskammer.« »Wenn seine Geschichte wahr ist, nicht. Es würde viel helfen, ihre Wahrheit zu beweisen, wenn er freiwillig mit mir zurückkäme.« »Das kann er nicht. Er hat im Gefängnis gesessen. Er ist vorbestraft.« »Diese Vorstrafe liegt Ihnen wohl sehr schwer im Magen? Offenbar mehr als anderen Leuten, wie?« »Ich verstehe Sie nicht.« »Lassen Sie doch endlich diese Schau der brüderlichen Liebe. Warum kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Aussicht für die Zukunft haben? Ihre Frau zum Beispiel könnte das brauchen. Sie ist in einer bösen Verfassung, Lemberg.« Er gab mir keine Antwort. Wie einen kostbaren Besitz drückte er den Kopf seines Bruders an seine Schulter. Im Sternenlicht erschienen sie wie Zwillinge, der eine das Spiegelbild des anderen. Roy blickte Tommy ratlos an, als ob er zwischen dem -253-
wirklichen Menschen und dem Spiegelbild nicht unterscheiden könnte, oder wer der Besitzende und wer der Besessene war. Hinter mir erklangen Schritte. Es war Mrs. Fredericks. Sie trug einen Bademantel und brachte eine Schüssel Wasser. »Hier«, sagte sie nur. Sie reichte mir die Schüssel und ging ins Haus zurück. Sie wollte in eine Schlägerei auf der Straße nicht hineingezogen werden. In ihrem eigenen Haus hatte sie Ärger genug. Ich spritzte Tommy Wasser ins Gesicht. Er knurrte und setzte sich auf. »Wer hat mich geschlagen?« Dann sah er mich, und es fiel ihm wieder ein. »Sie haben mich heimtückisch niedergeschlagen, einen Krüppel heimtückisch niedergeschlagen.« Er versuchte aufzustehen, doch Roy hielt ihn mit beiden Händen an den Schultern zurück. »Daran hast du selbst schuld, das weißt du genau. Ich habe mit Mr. Archer gesprochen. Er will sich anhören, was du zu sagen hast.« »Ich bin bereit, mir die Wahrheit anzuhören, alles andere ist Zeitvergeudung.« Mit der Hilfe seines Bruders erhob sich Tommy vom Boden. »Rede schon«, drängte Roy ihn. »Erzähle es ihm und spare dir alle Kindereien.« »Die ganze Wahrheit, vergessen Sie das nicht«, warnte ich. »Einschließlich dessen, welche Rolle Schwartz dabei spielt.« »Ja, ja.« Tommy war noch benommen. »Schwartz hat mich überhaupt erst dazu angestiftet. Er schickte einen seiner Leute zu mir und versprach mir hundert Dollar, wenn ich eine bestimmte Person ein bißchen unter Druck setzte.« »Sie meinen, ein bißchen umbrachten.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nichts dergleichen, nur einen kleinen Denkzettel.« -254-
»Was hatte Schwartz denn gegen Culligan?« »Um Culligan ging es gar nicht. Er sollte da gar nicht sein, verstehen Sie? Er kam nur aus Versehen in die Geschichte hinein.« »Was habe ich Ihnen gesagt?« warf Roy dazwischen. »Seien Sie still. Lassen Sie Tommy reden.« »Ja, so war es«, sagte Tommy. »Ich sollte diesem Biest einen kleinen Denkzettel verpassen. Weh tun sollte ich ihr nicht. Das war nicht beabsichtigt, sondern nur ein bißchen Gottesfurcht einjagen, damit sie das ausspuckte, was sie Schwartz schuldig war. Wie eine Inkassogesellschaft, verstehen Sie. Ganz legitim.« »Welcher Person denn?« »Alice Sable. Sie haben mich geschickt, weil ich weiß, wie sie aussieht. Vergangenen Sommer trieb sie sich in Reno mit Culligan rum, aber keiner wußte, daß Culligan bei ihr im Haus war. Mir haben sie gesagt, daß sie den ganzen Tag allein im Haus ist. Als Culligan bis an die Zähne bewaffnet herausmarschiert kam, wäre ich beinahe umgefallen vor Überraschung. Ich ging auf ihn los, sehr schnell, ich kann sehr schnell reagieren, und redete die ganze Zeit auf ihn ein. Ich bekam auch die Waffe zu fassen, aber sie ging los, und ich wurde in den Arm getroffen. Dabei ließ er die Waffe fallen. Ich bückte mich danach, und inzwischen hatte er sein Messer gezogen. Was konnte ich denn tun? Er wollte mich niederstechen. Ich schlug ihn mit der Waffe über den Schädel und machte ihn stumm. Dann bin ich verschwunden.« »Haben Sie Alice Sable gesehen?« »Ja, sie kam herausgerannt und schrie auf mich ein. Ich startete den Wagen und konnte sie wegen des Dröhnens des Motors nicht verstehen. Ich wartete auch nicht und drehte mich auch nicht um. Zum Teufel, ich wollte dieses Biest überhaupt nicht anfassen.« -255-
»Haben Sie Culligans Messer genommen und damit auf ihn eingestoßen, ehe Sie fortfuhren?« »Nein, Sir, weshalb sollte ich das tun? Mann, ich war selbst verletzt, ich wollte nur weg.« »Was tat Culligan, als Sie abfuhren?« »Er lag auf dem Boden.« Er sah seinen Bruder an. »Er lag einfach da.« »Wer hat Ihnen eingeredet, das zu sagen?« »Niemand.« »Das ist wahr«, sagte Roy. »Genauso hat er es mir erzählt. Sie müssen ihm glauben.« »Was ich glaube, darauf kommt es nicht an. Der Mann, den er überzeugen muß, ist Sheriff Trask vom Santa Teresa County. Und dorthin fliegen ständig Flugzeuge.« »O nein!« Tommys Blick irrte verzweifelt von mir zu Roy. »Wenn ich zurückfahre, hängen sie mir alles an.« »Früher oder später müssen Sie zurück. Sie können jetzt friedlich und freiwillig mit mir zurückkommen oder ein Auslieferungsverfahren erzwingen, und dann werden Sie an Händen und Füßen gefesselt zurückgeschafft. Wollen Sie es sich leicht oder schwer machen?« Zum erstenmal in seinem jungen Leben entschloß sich Tommy Lemberg, den leichten Weg zu wählen.
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27 Ich rief Sheriff Trask an. Er willigte ein, telegrafisch den Transport der Brüder Lemberg zu autorisieren. Ich holte die Anweisung in Willow Run ab, und wir drei bestiegen früh am Morgen ein Flugzeug. Trask hatte einen Dienstwagen geschickt, um uns vom Flugzeug abzuholen, als wir in Santa Teresa landeten. Noch vor Mittag befanden wir uns im Vernehmungsraum des Gerichtsgebäudes von Santa Teresa. Roy und Tommy gaben ihre Aussagen zu Protokoll, die von einem Gerichtsstenografen und auf Tonband aufgenommen wurden. Tommy schien durch den großen Raum mit seinen vergitterten Fenstern, die ruhige Kraft des Sheriffs und die Macht des Gesetzes, die sowohl von dem Mann wie von dem Raum ausgingen, beeindruckt zu werden. In dem Teil seiner Aussagen, den ich gehört hatte, war kein Widerspruch zu finden. Trask winkte mich hinaus, ehe Tommy fertig war. Ich folgte ihm durch den Gang zu seinem Büro. Er zog seine Jacke aus und öffnete seinen Hemdkragen. Große Schweißflecken befanden sich unter seinen Achselhöhlen. Er füllte einen Pappbecher mit Eiswasser aus einem Kühlbehälter, leerte ihn und zerknüllte ihn in der Faust. »Wenn wir ihm das abkaufen«, sagte er schließlich, »müssen wir ganz von vorn anfangen. Sie kaufen es ihm doch ab, Archer, oder nicht?« »Ich habe mich dazu entschlossen. Selbstverständlich meine ich, daß seine Geschichte überprüft werden muß, aber das kann warten. Haben Sie Theo Fredericks über den Mord an Culligan vernommen?« -257-
»Nein.« »Hat Fredericks überhaupt was gesagt?« »Zu mir nicht.« »Aber Sie haben sich ihn doch gestern abend vorgeknöpft?« Trasks Gesicht wurde rot und nahm einen harten Ausdruck an. Zuerst glaubte ich, er stehe vor einem Herzanfall, dann erkannte ich, daß er nur schrecklich verlegen war. Er drehte mir den Rücken zu, ging zur Wand hinüber und betrachtete eine Fotografie, auf der ihm der Gouverneur die Hand schüttelte. »Jemand gab ihm einen Tip«, sagte er. »Er hatte sich aus dem Staub gemacht, fünf Minuten bevor ich hinkam.« Er wandte sich mir zu. »Das schlimmste daran ist, daß er Sheila Howell mitgenommen hat.« »Gewaltsam?« »Machen Sie Witze? Wahrscheinlich war sie es gewesen, die ihm den Tip gegeben hat. Ich beging den Fehler, Dr. Howell anzurufen, ehe ich mir die kleine Ratte vornahm. Jedenfalls ist sie freiwillig mit ihm gegangen, hat mitten in der Nacht das Haus ihres Vaters verlassen und ist mit ihm fortgefahren. Seitdem habe ich Howell ständig am Hals.« »Howell liebt seine Tochter sehr.« »Ja, ich weiß, was er empfindet. Ich habe selbst eine Tochter. Eine Zeitlang fürchtete ich, daß er mit einer Flinte hinter ihr herjagen würde. Das meine ich wörtlich. Howell ist Taubenschütze und einer der Besten im County. Aber ich konnte ihn beruhigen. Jetzt ist er in der Nachrichtenzentrale und wartet auf Neuigkeiten von ihnen.« »Sind sie mit dem Wagen gefahren?« »Mit dem Wagen, den Mrs. Galton ihm gekauft hat.« »Ein roter Thunderbird müßte leicht zu entdecken sein.« »Das sollte man annehmen. Aber sie sind seit über acht Stunden spurlos verschwunden. Inzwischen könnten sie in -258-
Mexiko sein. Oder sie könnten sich in einem Motel in Los Angeles unter einem seiner vielen Namen versteckt halten.« Bei dieser Vorstellung runzelte Trask die Stirn. »Warum fallen so viele anständige Mädchen auf diese gefährlichen Burschen rein?« Die Frage verlangte keine Antwort, und das war ganz gut so. Ich hätte keine gewußt. Trask ließ sich schwerfällig hinter seinem Schreibtisch nieder. »Wie gefährlich ist er denn eigentlich? Als wir gestern nacht telefonierten, sprachen Sie von einer Messerstecherei, die er hatte, bevor er Kanada verließ.« »Er stach seinen Vater nieder. Dem Anschein nach wollte er ihn umbringen. Aber der Alte ist auch kein Heiliger. Tatsächlich ist die Pension der Fredericks eine richtige Räuberhöhle. Peter Culligan wohnte dort zur Zeit der Messerstecherei. Der Junge ist mit ihm zusammen fortgelaufen.« Trask griff nach einem Bleistift und brach ihn gedankenverloren in zwei Teile. Er ließ die Stücke auf seine Schreibunterlage fallen. »Wie sollen wir erfahren, ob dieser junge Fredericks nicht Culligan ermordete? Er hat ein Motiv. Culligan war in der Lage, ihn bloßzustellen und zu sagen, wer er wirklich war. Und da er schon einmal in eine Messerstecherei verwickelt war, stimmt der Modus operandi auch.« »Wir denken das gleiche, Sheriff. Es besteht sogar eine große Wahrscheinlichkeit, daß Culligan sein Partner bei der Konspiration war. Das würde ihm ein schwerwiegendes Motiv geben, Culligan zum Schweigen zu bringen. Bisher haben wir angenommen, Fredericks sei an dem Tag in Luna Bay gewesen. Aber ist sein Alibi schon einmal überprüft worden?« »Dazu ist jetzt der richtige Moment gekommen.« Trask griff nach dem Telefon und verlangte eine Verbindung mit dem Sheriff des San Mateo County in Redwood City. -259-
»Ich kann mir noch eine andere Möglichkeit vorstellen«, sagte ich. »Alice Sable hatte sich im vergangenen Jahr in Reno mit Culligan eingelassen und hatte seitdem vielleicht ständig ein Verhältnis mit ihm. Erinnern Sie sich, wie sie auf seinen Tod reagierte? Wir haben es für einen Nervenschock gehalten, es kann aber auch etwas Schlimmeres gewesen sein.« »Sie wollen doch nicht behaupten, sie hätte ihn ermordet?« »Doch, als Hypothese.« Trask schüttelte unwillig den Kopf. »Selbst wenn man es als Hypothese ansieht, erscheint das bei einer Dame wie sie wenig glaubwürdig.« »Was für eine Art Dame ist sie denn? Kennen Sie sie?« »Ich bin ihr mal begegnet. Das ist ungefähr alles. Aber, zum Teufel, Gordon Sable ist einer der angesehensten Anwälte unserer Stadt.« Der Politiker, der in jedem gewählten Beamten ruht, stieg an die Oberfläche und beeinträchtigte Trasks harte, klare Einstellung. »Dadurch ist seine Frau noch nicht über jeden Verdacht erhaben«, sagte ich. »Haben Sie sie verhört?« »Nein.« Trask erklärte umständlich, als ob er das Gefühl hätte, einen Schritt versäumt zu haben: »Ich war nicht in der Lage, an sie heranzukommen. Säble widersetzte sich ihrer Vernehmung, und der Psychiater unterstützte ihn dabei. Sie sagten, Mrs. Sable dürften keine Fragen gestellt werden, die sie erregen könnten. Seit dem Mord lebt sie am Rand einer Geisteskrankheit, und jeder zusätzliche Druck könne ihren Zustand verschlimmern.« »Howell hat sie doch persönlich behandelt, oder nicht?« »Doch, und tatsächlich habe ich versucht, über Howell an sie heranzukommen. Er war ganz entschieden dagegen, und solange es so aussah, als ob der Fall eindeutig wäre, habe ich nicht darauf bestanden.« -260-
»Howell sollte sich das inzwischen überlegt haben. Sagten Sie nicht, er sei hier im Gerichtsgebäude?« »Ja, er ist unten in der Nachrichtenzentrale. Aber einen Augenblick, Archer.« Trask stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. »Hier geht es um eine heikle Geschichte, und Sie sollten den Aussagen der Brüder Lemberg nicht zuviel Gewicht beimessen. Sie sind keine unparteiischen Zeugen.« »Sie kennen die Vorgänge aber auch nicht gut genug, um die Geschichte zu erfinden.« »Dafür aber Schwartz und seine Anwälte.« »Kommen wir jetzt wieder auf Schwartz zurück?« »Damit haben Sie doch als erster angefangen. Sie waren davon überzeugt, daß der Mord an Culligan ein Bandenmord war.« »Ich habe mich geirrt.« »Vielleicht. Wir wollen darüber die Tatsachen entscheiden lassen, wenn wir sie alle kennen. Doch wenn Sie sich einmal geirrt haben, können Sie sich auch wieder irren.« Trask stieß mich in freundschaftlicher Art gegen den Magen. »Wie steht’s damit, Archer?« Sein Telefon schnarrte, und er nahm den Hörer ab. Ich konnte die Worte nicht verstehen, die krächzend durch die Leitung kamen, sah aber ihre Wirkung auf Trask. Sein Körper reckte sich und sein Gesicht schien größer zu werden. »Ich werde mein Flugzeug nehmen«, sagte er schließlich, »und müßte in zwei Stunden dort sein!« Er ließ den Hörer zurückfallen und griff nach seiner Jacke, die über der Rückenlehne seines Sessels hing. »Sie haben den roten Thunderbird gefunden«, sagte er. »Fredericks hat ihn in San Mateo stehenlassen. Sie wollten gerade über den Fernschreiber Nachricht geben, als mein Anruf kam.« »Wo in San Mateo?« -261-
»Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof. Fredericks und das Mädchen fuhren wahrscheinlich mit dem Zug nach San Francisco.« »Fliegen Sie hinauf?« »Ja. Den ganzen Vormittag stand ein freiwilliger Pilot für mich bereit. Fliegen Sie mit, wenn Sie wollen. Er hat eine viersitzige Maschine.« »Danke, ich bin für eine ganze Weile genug geflogen. Sie haben sie nicht aufgefordert, Fredericks Alibi zu überprüfen.« »Das habe ich vergessen«, antwortete Trask leichthin. »Ich werde mir Fredericks deswegen selbst vornehmen.« Er schien froh zu sein, daß er Alice Sable mir überlassen konnte.
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28 Die Nachrichtenzentrale des Gerichtsgebäudes war ein fensterloser Raum im Kellergeschoß, in dem mehrere Kurzwellengeräte knatternd und heulend ihre Berichte durchgaben. Howell saß mit gesenktem Kopf vor einem stummen Fernschreiber. Als ich ihn ansprach, richtete er sich abrupt auf. Sein Gesicht erschien in dem grellweißen Licht von der Decke grau. »Da sind Sie ja. Während Sie sich auf meine Kosten in der Welt herumgetrieben haben, ist sie mit ihm fortgelaufen. Wissen Sie, was das bedeutet?« Er verlor die Kontrolle über seine Stimme. Die beiden Beamten an den Funkgeräten sahen erst ihn, dann einander an. Der eine sagte: »Wenn Sie beide sich privat unterhalten wollen, sind Sie hier nicht am richtigen Platz.« »Kommen Sie hinaus«, sagte ich zu Howell. »Hier können Sie doch nichts ausrichten. Man wird sie bald aufgreifen, keine Sorge.« Benommen schweigend blieb er sitzen. Ich wollte ihn von dem Fernschreiber fortbekommen, bevor die Nachricht aus San Mateo darauf eintraf. Das würde ihn in das Gebiet von Luna Bay jagen, und ich brauchte ihn hier. »Doktor, befindet sich Alice Sable immer noch in Ihrer Behandlung?« Er blickte fragend zu mir auf. »Ja.« »Ist sie noch in dem Pflegeheim?« »Ja. Ich wollte heute versuchen, sie herauszuholen.« Er strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Ich fürchte, ich vernachlässige meine Patienten.« -263-
»Fahren Sie jetzt mit mir dorthin.« »Weshalb um alles in der Welt?« »Mrs. Sable könnte uns helfen, den Fall endgültig aufzuklären und Ihre Tochter wiederzufinden.« Er stand auf, blieb aber unentschlossen neben dem Fernschreiber stehen. Sheilas Flucht aus seinem Haus hatte ihm seine Kraft genommen. Ich faßte ihn am Ellbogen und führte ihn in den Gang hinaus. Da er einmal in Bewegung geraten war, ging er vor mir die eiserne Treppe hinauf und in das heiße, weiße Mittagslicht hinaus. Sein Chevrolet stand auf dem Parkplatz vor dem Gebäude. Als er den Motor anließ, wandte er sich zu mir. »Wie kann Mrs. Sable uns helfen, Sheila zu finden?« »Ich bin nicht sicher, daß sie es kann, aber sie hatte ein Verhältnis mit Culligan, der vermutlich der Partner von diesem Burschen Fredericks bei der Konspiration war. Sie weiß vielleicht mehr über Theo Fredericks als jeder andere.« »Zu mir hat sie nie ein Wort über ihn gesagt.« »Hat sie überhaupt mit Ihnen über den Fall gesprochen?« Nach kurzem Zögern antwortete er: »Da ich in der Psychiatrie keine praktischen Erfahrungen habe, habe ich sie nicht ermutigt, über das Thema zu sprechen. Allerdings ist die Sache zur Sprache gekommen. Das war unvermeidlich, da darin der Kern ihres psychischen Zustands zu suchen ist.« »Können Sie das etwas genauer erläutern?« »Lieber nicht. Sie kennen die ethischen Grundsätze meines Berufs. Die Beziehungen zwischen Arzt und Patienten sind sakrosankt.« »Das ist das menschliche Leben auch. Vergessen Sie nicht, daß ein Mann ermordet wurde. Es ist bewiesen, daß Mrs. Sable Culligan kannte, bevor er nach Santa Teresa kam. Sie war auch Zeugin seines Todes. Alles, was sie darüber sagen kann, ist von -264-
größter Bedeutung.« »Nicht, wenn ihre Erinnerungen an die Vorgänge auf Wahnvorstellungen beruhen.« »Hat sie die denn?« »Ganz offensichtlich. Ihre Darstellung stimmt mit den tatsächlichen Ereignissen, wie wir sie kennen, nicht überein. Ich habe mit Trask darüber gesprochen, und es besteht nicht der geringste Zweifel, daß ein Bandit namens Lemberg Culligan erstochen hat.« »Daran bestehen erhebliche Zweifel«, antwortete ich. »Der Sheriff hat gerade eine Aussage von Lemberg zu Protokoll genommen. Ein Spieler aus Reno schickte Lemberg zu Alice Sable, um Geld von ihr einzutreiben und ihr vielleicht einen Denkzettel zu versetzen. Culligan kam dazwischen. Lemberg schlug ihn nieder, wurde dabei allerdings angeschossen, ließ Culligan aber bewußtlos auf dem Boden zurück. Er behauptet, daß jemand anders ihn erstochen hat, nachdem er schon fort war.« Howells Gesicht zeigte eine seltsame Veränderung. Seine Augen wurden härter und heller. Er blickte weder mich noch etwas Sichtbares an. Die Fältchen um seine Augen und seine Mundwinkel verzogen sich und wurden tiefer, als ob er gegen seinen Willen gezwungen wäre, etwas Schreckliches anzusehen. »Aber Trask sagte, Lemberg sei unbestreitbar schuldig.« »Trask hat sich geirrt – wie wir alle.« »Wollen Sie tatsächlich behaupten, Alice Sable hätte die ganze Zeit über die Wahrheit gesagt?« »Ich weiß nicht, was sie gesagt hat, Doktor. Wissen Sie es?« »Aber Trenchard und die anderen Psychiater waren überzeugt, daß ihre Selbstbeschuldigungen Phantasiegespinste sind. Sie hatten auch mich überzeugt.« »Wessen beschuldigt sie sich denn? Hat sie die Schuld an Culligans Tod auf sich genommen?« -265-
Howell saß schweigend über das Steuer gebeugt. Ein paar Minuten lang war er angeschlagen und zu Geständnissen bereit gewesen. Jetzt faßte er sich wieder und verschloß sich vor mir. »Sie haben nicht das Recht, mich über die Privatangelegenheiten meiner Patienten ins Kreuzverhör zu nehmen.« »Ich fürchte, daß ich das muß, Doktor. Wenn Alice Sable Culligan ermordet hat, haben Sie keine Möglichkeit, sie zu decken. Es überrascht mich, daß das Ihre Absicht zu sein scheint. Sie verstoßen damit nicht nur gegen die Gesetze, sondern auch gegen die ethischen Grundsätze, denen Sie so große Bedeutung beizumessen scheinen.« »Über meine ethischen Grundsätze zu urteilen steht nur mir zu«, sagte er in gezwungenem Ton. Ich spürte, wie er mit einem unausgesprochenen Problem rang. Sein Blick war nach innen gerichtet, Schweißperlen traten auf seine Stirn. Ich begriff etwas davon, was er für seine Patienten empfand. Sogar seine Tochter hatte er vergessen. »Hat Sie Ihnen den Mord eingestanden, Doktor?« Er blickte mich an und erkannte mich langsam wieder. »Was haben Sie gesagt?« »Hat Mrs. Sable den Mord an Culligan gestanden?« »Ich muß Sie bitten, mich nicht weiter zu fragen.« Abrupt löste er die Handbremse. Während der ganzen Fahrt zu dem Pflegeheim schwieg ich und hoffte, meine Geduld würde dazu führen, daß ich mich mit Alice Sable selbst unterhalten könne. Eine grauhaarige Schwester schloß die Eingangstür auf und lächelte Howell auffällig gespannt an. »Guten Morgen, Doktor. Sie haben sich heute etwas verspätet.« »Ich muß meine reguläre Visite heute absagen. Ich möchte nur Mrs. Sable sehen.« »Tut mir leid, Doktor, sie ist schon fort.« -266-
»Fort? Wohin, um Gottes willen?« »Mr. Sable hat sie heute morgen mit nach Hause genommen. Wußten Sie das nicht? Er sagte hier, Sie seien einverstanden.« »Das bin ich keineswegs. Man entläßt keine psychiatrischen Fälle ohne die besondere Anweisung des Arztes. Haben Sie das noch nicht gelernt, Schwester?« Ehe sie antworten konnte, machte Howell auf dem Absatz kehrt und eilte zum Wagen zurück. Ich mußte laufen, um mit ihm Schritt zu halten. »Der Mann ist ein Narr«, überschrie er das Dröhnen des Motors. »Man darf nicht zulassen, daß er die Sicherheit seiner Frau derartig aufs Spiel setzt. Sie ist gefährlich, für sich und ihre Umgebung.« Während der Fahrt fragte ich: »Ist sie auch Culligan gefährlich geworden, Doktor?« Seine Antwort war ein Seufzer, der aus tiefstem Herzen zu kommen schien. Die Ausläufer von Santa Teresa wichen offenem Gelände. Vor uns erhoben sich die Berge von ArroyoPark. Die Augen auf die grünen Hügel gerichtet, sagte Howell: »Dieses arme Wurm hat mir gestanden, daß sie ihn umgebracht hat. Und ich habe ihr einfach nicht geglaubt. Irgendwie klang ihre Darstellung unwahr. Ich war überzeugt, sie hatte die Geschichte nur erfunden, um die wirklichen Vorgänge zu vertuschen.« »Und aus diesem Grunde haben Sie Trask nicht mit ihr reden lassen?« »Ja. Unsere gegenwärtigen Gesetze zwingen den Arzt einfach, seine Patienten zu schützen, besonders wenn es sich um Fälle von ähnlich gearteten Psychosen handelt. Wir können nicht bei jeder krankhaften Selbstbezichtigung oder Anschuldigung, die wir zu hören kriegen, zur Polizei rennen. Doch in diesem Fall«, fügte er widerstrebend hinzu, »scheine ich mich geirrt zu haben.« -267-
»Aber ganz sicher sind Sie nicht?« »Jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich denken soll.« »Was hat sie Ihnen genau gesagt?« »Sie hörte, wie sich draußen zwei Männer schlugen und gegenseitig beschimpften. Dann ging ein Schuß los. Sie war verständlicherweise zu Tode erschrocken, zwang sich aber, zur Tür zu gehen. Culligan lag auf dem Rasen. Der andere Mann fuhr gerade in dem Jaguar fort. Sobald er außer Sicht war, lief sie zu Culligan. Sie sagte, ihre Absicht sei gewesen, ihm zu helfen, doch dann sah sie sein Messer im Gras liegen. Sie hob es auf und… stach zu.« Wir hatten den Fuß von Sables Hügel erreicht. Howell steuerte den Wagen durch die sich bergauf windenden Kurven. Die Reifen erbebten und quietschten wie verlorene Seelen in der ewigen Verdammnis.
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29 Sable mußte den Wagen gehört und hinter der Tür auf Howells Klopfen gewartet haben. Er öffnete uns sofort. Seine blutunterlaufenen Augen begannen in dem grellen Sonnenlicht zu tränen, und er nieste. »Wo ist Ihre Frau?« fragte Howell schroff. »In ihrem Zimmer, wo sie hingehört. In dem Pflegeheim war so viel Lärm und Unruhe, daß…« »Ich wünsche sie zu sehen.« »Tut mir leid, Doktor. Ich bin dahintergekommen, daß Sie sie über die scheußliche Geschichte, die hier passiert ist, ausgefragt haben. Für Alice war das sehr schädlich. Sie haben mir selbst gesagt, sie dürfe nicht gezwungen werden, darüber zu sprechen.« »Sie hat aus eigenem Antrieb davon angefangen. Ich verlange Ihre Genehmigung, sie zu sehen.« »Sie verlangen, Doktor? Wie kommen Sie dazu? Wahrscheinlich sollte ich Ihnen klarmachen, daß ich von jetzt an auf Ihre weiteren Dienste verzichte. Ich beabsichtige, andere Ärzte hinzuzuziehen und einen Ort zu finden, wo Alice sich in Frieden erholen kann.« Dieser Satz löste ein verhaltenes Echo bei mir aus, das von Howells Stimme unterbrochen wurde. »Ärzte werden nicht nach Gutdünken eingestellt und wieder entlassen, Sable.« »Ihre Gesetze sind überholt. Vielleicht sollten Sie sich einen Anwalt nehmen. Ganz gewiß werden Sie einen brauchen, falls Sie versuchen sollten, gewaltsam in mein Haus einzudringen.« Sables Stimme klang beherrscht, aber seltsam tonlos. -269-
»Ich habe meine Pflicht gegenüber meinen Patienten. Sie hatten kein Recht, sie einer sachgemäßen Pflege zu entziehen.« »Ihren Verhörmethoden dritten Grades, meinen Sie wohl. Darf ich Sie daran erinnern, falls das notwendig ist, daß alles, was Alice Ihnen sagte, der Geheimhaltung unterliegt? Ich habe Sie und die anderen Ärzte in meiner Eigenschaft als ihr Rechtsanwalt beauftragt, um Ihre Hilfe bei der Ermittlung gewisser Tatsachen zu haben. Ist das klar? Wenn Sie diese Tatsachen oder angebliche Tatsachen irgend jemand weitergeben, sei es amtlich oder privat, werde ich Sie wegen Bruch der ärztlichen Schweigepflicht verklagen.« »Sie reden Unsinn«, sagte ich. »Sie werden niemand verklagen.« »So, wirklich nicht? Sie befinden sich etwa in der gleichen Lage wie Doktor Howell. Ich habe Sie mit gewissen Ermittlungen beauftragt und befohlen, mir die Ergebnisse mündlich mitzuteilen. Jede weitere Mitteilung ist ein Vertragsbruch. Sie können es ja versuchen. Aber dann werde ich bei Gott dafür sorgen, daß Sie Ihre Lizenz verlieren.« Ich wußte nicht, ob er juristisch recht hatte. Es war mir gleichgültig. Als er Anstalten machte, die Tür zu schließen, stellte ich meinen Fuß dagegen. »Wir kommen ins Haus, Sable.« »Das glaube ich nicht«, sagte er mit seiner neuen merkwürdigen Stimme. Er griff hinter die Tür und trat mit einem Gewehr in den Händen zurück. Es war eine lange, schwere Waffe, eine Jagdbüchse mit einem Zielfernrohr. Er legte sie sofort an. Ich sah unmittelbar in die Mündung, auf die sauberen, schimmernden Spiralen der Züge. Sable krümmte seinen Finger um den Abzug und drückte den polierten Kolben gegen seine Wange. Auf seinem Gesicht lag eine feine Glasur wie auf Porzellan. Er würde schießen, daran gab es gar keinen Zweifel. -270-
»Legen Sie die Waffe weg«, sagte Howell. Er trat vor mich unter die Tür, und nun stand er in der Schußlinie. »Setzen Sie die Waffe ab, Gordon, Sie sind ja ganz durcheinander. Sie sind erregt. Sie machen sich schreckliche Sorgen um Alice. Aber wir sind Ihre Freunde. Wir sind auch Alices Freunde. Wir wollen Ihnen beiden helfen.« »Ich habe keine Freunde«, antwortete Sable. »Ich weiß nicht, warum Sie gekommen sind und warum Sie mit Alice sprechen wollen. Aber ich werde es nicht zulassen.« »Seien Sie nicht töricht, Gordon. Sie selbst können nicht für eine kranke Frau sorgen. Ich weiß, daß Ihre persönliche Sicherheit Ihnen gleichgültig ist, aber Sie müssen an Alices Sicherheit denken. Sie muß beaufsichtigt werden, Gordon. Legen Sie also das Gewehr weg und lassen Sie mich zu ihr.« »Zurück, oder ich schieße.« Sables Stimme klang hoch und scharf und gellend. Seine Frau mußte ihn gehört haben. Tief aus dem Inneren des Hauses rief sie wie als Antwort: »Nein!« Sable blinzelte in das Licht. Er sah aus wie ein Schlafwandler, der am Rand eines Abgrundes aufwacht. Hinter ihm konnten wir Alice weinen hören, dazwischen dröhnende Schläge und dann das Splittern von Glas. Abgelenkt, drehte sich Sable dem Geräusch halb zu. Dabei schwang das Gewehr zur Seite. Ich sprang an Howell vorbei, packte mit einer Hand den Gewehrlauf, mit der anderen den Knoten von Sables Krawatte, riß ihm das Gewehr weg und stieß ihn gleichzeitig zurück. Sable schlug polternd gegen die Wand und wäre beinahe gefallen. Er atmete schwer. Das Haar hing ihm in die Augen. Er hatte eine seltsame Ähnlichkeit mit einem alten Weib, das durch die Strähnen einer zottigen weißen Perücke blinzelt. -271-
Ich öffnete das Gewehrschloß. Während ich die Waffe entlud, klatschten laufende Schritte über das Pflaster des Innenhofes. Alice Sable erschien am Ende des Ganges. Ihr helles Haar war zerzaust, und das Nachthemd um ihren schlanken Körper war verschoben. Blut lief von einem Schnitt an ihrem Bein über ihren nackten Fuß. »Ich habe mich an der Scheibe geschnitten«, sagte sie mit kläglicher Stimme. »Tut weh.« »Mußtest du denn die Scheibe zerbrechen?« Sable wandte sich unvermittelt mit einer drohenden Bewegung ihr zu. Dann erinnerte er sich an uns und mäßigte seinen Ton. »Geh in dein Zimmer zurück, Liebling. Du kannst dich vor Besuchern nicht halb angezogen zeigen.« »Dr. Howell ist kein Besucher. Sie sind doch gekommen, um meine Wunde zu verbinden, nicht wahr?« Unsicher kam sie auf den Doktor zu. Er ging ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. »Selbstverständlich. Kommen Sie mit mir in Ihr Zimmer, und ich werde sie gleich verbinden.« »Aber ich will dahin nicht zurück. Ich hasse das Zimmer. Es macht mich traurig. Peter hat mich da immer besucht.« »Sei still«, befahl Sable. Sie trat hinter den Arzt und machte sich klein, als ob sie damit zeigen wollte, daß man sie so wenig wie ein Kind verantwortlich machen könne. Hinter dem Schutz von Howells Schulter hervor blickte sie bedrückt auf ihren Mann. »Sei still, das ist alles, was du zu mir sagst. Sei still, schweige darüber. Aber was nützt es, Gordon? Jeder weiß über mich und Peter Bescheid. Dr. Howell weiß es. Ich habe ihm alles gestanden.« Sie hob die Hand zu ihrer Brust und fingerte an den gestickten Rosenknospen ihres Nachthemdes. Ihr trüber Blick wanderte zu mir. »Dieser Mann da weiß auch über mich Bescheid. Ich sehe es seinem Gesicht an.« -272-
»Haben Sie ihn getötet, Mrs. Sable?« »Antworte nicht«, befahl Sable. »Aber ich will es gestehen. Es wird mich erleichtern, oder nicht?« Ihr Lächeln war hell und gequält. Es verblaßte, ließ seine Linien auf ihrem Gesicht zurück und ihre Zähne entblößt. »Ich habe ihn getötet. Der Mann in dem schwarzen Wagen schlug ihn nieder, und ich ging hinaus und erstach ihn.« Sie riß ihre Hand von ihrer Brust los und umklammerte ein eingebildetes Messer. Ihr Mann beobachtete sie wie ein Pokerspieler. »Warum haben Sie es getan?« fragte ich. »Ich weiß nicht. Vielleicht hatte ich ihn einfach satt. Jetzt ist es soweit, daß ich dafür bestraft werde. Ich habe getötet und den Tod verdient.« Die tragischen Worte klangen irgendwie unwirklich. Sie wirkte wie eine lebensgroße Marionette, die von Schnüren gelenkt wird und eine Stimme benutzt, die ihr nicht gehört. Nur ihre Augen gehörten ihr selbst, und in ihnen lag eine hartnäckige und benommene Unschuld. »Ich verdiene zu sterben«, wiederholte sie. »Stimmt das nicht, Gordon?« Er wurde dunkelrot. »Laß mich damit zufrieden.« »Aber du hast gesagt…« »Ich habe nichts dergleichen gesagt.« »Jetzt lügst du, Gordon«, sagte sie spottend. Vielleicht lag in ihrer Stimme ein Unterton von Bosheit. »Du hast mir gesagt, daß ich nach all meinen Verbrechen den Tod verdiene. Und du hast recht. Ich habe beim Spiel dein gutes Geld verloren und mich mit einem anderen Mann herumgetrieben, und zu alldem bin ich jetzt auch noch eine Mörderin.« Sable wandte sich hilfesuchend an Howell. »Können wir dem nicht ein Ende machen? Meine Frau ist krank und verletzt. Es ist -273-
unglaublich von Ihnen, sie in dieser Weise verhören zu lassen. Dabei ist der Mann nicht einmal Polizeibeamter.« »Die Verantwortung für das, was ich tue, trage ich«, sagte ich. »Mrs. Sable, erinnern Sie sich daran, daß Sie Peter Culligan erstochen haben?« Sie hob die Hand zur Stirn, schob ihr Haar zurück, als ob es ihren Gedanken im Wege wäre. »Ich kann mich nicht genau erinnern, aber ich muß es getan haben.« »Warum sagen Sie, daß Sie es getan haben müssen, wenn Sie sich nicht daran erinnern?« »Gordon hat mich gesehen.« Ich blickte zu Sable hinüber, der meinem Blick auswich. Er lehnte gegen die Wand, als ob er versuchen wollte, in ihr zu versinken. »Gordon war nicht hier«, sagte ich. »Er war in Mrs. Galtons Haus, als Sie telefonierten.« »Aber er kam, er kam sofort hierher. Peter lag lange auf dem Rasen. Er gab merkwürdige Laute von sich, es klang wie Schnarchen. Ich knöpfte am Hals sein Hemd auf, damit er besser atmen konnte.« »Sie erinnern sich an all das, aber Sie erinnern sich nicht daran, wie Sie ihn erstochen haben?« »Die Erinnerung daran muß ich vielleicht verloren haben. Ich habe immer alles vergessen. Fragen Sie nur Gordon.« »Jetzt frage ich Sie, Mrs. Sable.« »Lassen Sie mich nachdenken. Ich erinnere mich, daß ich meine Hand unter sein Hemd schob, um zu fühlen, ob sein Herz richtig schlug. Ich konnte es pochen und zucken spüren. Es war wie ein kleines Tier, das zu entkommen versuchte. Das Haar auf seiner Brust war kratzig wie Draht.« Sable räusperte sich verhalten. »Was taten Sie dann?« fragte ich. -274-
»Ich? Nichts. Ich saß nur da und betrachtete ihn und sein armes, altes, zerschlagenes Gesicht. Ich legte meine Arme um ihn und versuchte ihn aufzuwecken. Aber er schnarchte nur weiter. Er schnarchte immer noch, als Gordon herkam. Gordon wurde wütend, weil er mich so mit ihm erwischte. Ich lief vor ihm weg ins Haus, beobachtete ihn aber durchs Fenster.« Plötzlich wurde ihr Gesicht durchscheinend. »Ich habe ihn nicht getötet. Ich war das nicht, da draußen. Es war Gordon. Und ich habe ihn durch das Fenster beobachtet. Er nahm Peters Messer und stieß es ihm in den Leib.« Sie schloß ihre Hand und ahmte den Stoß mit dem Messer nach, schlug sich gegen ihren eigenen weichen Leib. »Das Blut schoß heraus und lief rot über das Gras. Alles war rot und grün.« Sable schob seinen Kopf vor. Sein übriger Körper, selbst seine Arme und Hände blieben wie festgeklebt an der Wand. »Sie dürfen ihr nicht glauben. Sie hat wieder Halluzinationen.« Seine Frau schien ihn nicht zu hören. Vielleicht war sie auf eine andere Frequenz eingestellt, die ihr die Erlösung brachte. Tränen schossen ihr aus den Augen. »Ich habe ihn nicht getötet.« »Beruhigen Sie sich.« Howell drückte ihr Gesicht gegen seine Schulter. »Und das ist die reine Wahrheit, nicht wahr?« fragte ich. »Es muß die Wahrheit sein. Ich bin ganz sicher. Ihre Selbstbeschuldigungen waren doch nur Phantasiegebilde. Diese Darstellung entspricht den Vorgängen viel eher. Ich glaube, sie ist ihrer Gesundung einen großen Schritt nähergekommen.« »Sie ist verrückter, als sie jemals war«, fuhr Sable dazwischen. »Wenn Sie glauben, Sie könnten das gegen mich benutzen, sind Sie selber genauso verrückt. Vergessen Sie nicht, daß ich Rechtsanwalt bin.« »So, sind Sie das? Rechtsanwalt?« Howell wandte Sable den Rücken zu. »Kommen Sie, Alice, wir wollen Ihre Wunde -275-
verbinden, und dann ziehen Sie sich an. Wir machen zusammen eine kleine Spazierfahrt zurück in dieses nette Haus zu den anderen Damen.« »Es ist aber kein nettes Haus«, antwortete sie. Howell lächelte auf sie hinunter. »So ist es richtig. Sagen Sie nur, was Sie wirklich meinen und wirklich wissen, und wir werden Sie dort schnell herausbekommen. Aber eine kleine Weile wird es noch dauern, nicht wahr?« »Ja, eine kleine Weile noch.« Howell stützte sie mit einem Arm und streckte die andere Hand Sable hin. »Den Schlüssel zum Zimmer Ihrer Frau. Sie werden ihn nicht mehr brauchen.« Sable zog einen flachen Messingschlüssel aus der Tasche, den Howell wortlos entgegennahm. Der Doktor führte Alice Sable durch den Gang zu dem Innenhof.
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30 Gordon Sable sah ihnen mit einem Ausdruck nach, der an Erleichterung grenzte. Die zuversichtliche Erwartung in seinen Augen war verschwunden. Er war am Ende. »Ich hätte es nicht getan, wenn ich gewußt hätte, was ich jetzt weiß«, sagte er. »Es gibt Faktoren, die man nicht voraussehen kann. Zum Beispiel den Faktor der menschlichen Unzulänglichkeit. Man glaubt, man könne mit allem fertig werden, und zwar für alle Zeiten. Doch wenn man unter Druck steht, verbrauchen sich die Kräfte. Ein paar Tage oder ein paar Wochen weiter, und alles sieht anders aus. Nichts mehr scheint einen Kampf wert zu sein. Alles zerrinnt einem zwischen den Fingern.« Mit seinen Lippen machte er ein leises schmatzendes Geräusch. »Alles ist zerronnen und unwichtig geworden. Soweit ist es gekommen.« »Warum haben Sie ihn getötet?« »Sie haben sie doch gehört. Als ich hierher zurückkam, weinte und klagte sie über ihn, versuchte ihn mit Küssen zu wecken. Mir wurde todübel dabei.« »Jetzt sagen Sie mir nicht, es sei ein Verbrechen aus plötzlich ausbrechender Leidenschaft gewesen. Sie müssen schon seit langem über sie Bescheid gewußt haben.« »Das bestreite ich nicht.« Sable wechselte seine Stellung, als ob er sich darauf vorbereitete, seine Geschichte zu verändern. »Culligan griff sie im vergangenen Sommer in Reno auf. Sie war dort hingefahren, um sich von mir scheiden zu lassen, aber sie versackte beim Glücksspiel, und Culligan trieb sie immer wieder dazu an. Sie hatte sehr viel verloren, alles greifbare Geld, das ich besaß. Zweifellos bekam er seine Provision von dem, -277-
was sie verlor. Als das Geld alle und ihr Kredit erschöpft war, ließ er sie eine Weile bei sich wohnen. Ich mußte hinfahren und sie bitten, mit mir nach Hause zu kommen. Sie wollte es nicht. Ich mußte ihn bezahlen, damit er sie fortschickte.« Ich zweifelte nicht daran, daß er jetzt die Wahrheit sagte. Niemand konnte eine Geschichte erfinden, die so gegen ihn selbst sprach. Und es war Sable, der seinen eigenen Worten nicht zu glauben schien. Ohne Gewicht fielen sie aus seinem Mund, wie der auswendig gelernte Bericht von einem Unfall, der anderen Menschen in einem fremden Land widerfahren war und den er nicht verstand. »Danach war ich nie wieder ganz ich selbst. Keiner von uns beiden war es. Wir lebten in diesem Haus, das ich für sie gebaut hatte, als ob immer eine Glaswand zwischen uns wäre. Wir konnten einander sehen, aber wir konnten nicht wirklich miteinander sprechen. Wir mußten unsere Gefühle wie Clowns oder Affen in getrennten Käfigen spielen. Alices Gesten wurden immer seltsamer, und meine zweifellos auch. Was wir uns vorspielten, wurde immer häßlicher. Sie warf sich auf den Boden und schlug sich selbst mit den Fäusten, bis ihr Gesicht zerschunden und verquollen war. Und ich stand dabei und lachte sie aus und beschimpfte sie. Solche Dinge taten wir einander an. Ich glaube, in gewisser Weise waren wir beide froh, als Culligan im Verlauf des Winters hier auftauchte. Anthony Galtons Knochen waren gefunden worden, und Culligan hatte es in den Zeitungen gelesen. Er wußte, von wem sie stammten und kam mit dieser Information zu mir.« »Weshalb suchte er Sie sich dafür aus?« »Das ist eine kluge Frage. Diese kluge Frage habe ich mir selbst oft gestellt. Alice hatte ihm selbstverständlich erzählt, daß ich Mrs. Galtons Rechtsanwalt bin. Vielleicht war das der Grund seines Interesses für sie. Er wußte, daß ihre Spielverluste mich finanziell ruiniert hatten, und bei seinem Plan brauchte er fachmännische Hilfe. Er war nicht klug genug, ihn allein -278-
durchzuführen. Er war gerade klug genug zu erkennen, daß ich unendlich viel klüger war als er.« Und er wußte noch anderes von Sable, dachte ich, daß er ein ungeliebter und liebebedürftiger Mann war, der gebogen und schließlich auch gebrochen werden konnte. »Wie kam Schwartz in die Geschichte hinein?« »Otto Schwartz? Er hatte nichts damit zu tun.« Sable schien der Gedanke zu beleidigen. »Die einzige Verbindung zu ihm bestand in der Tatsache, daß Alice ihm sechzigtausend Dollar schuldete. Schwartz hatte auf Zahlung gedrängt, und schließlich kam es so weit, daß er uns beiden drohte, uns verprügeln zu lassen. Irgendwie mußte ich das Geld aufbringen. Ich war verzweifelt, ich wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte.« »Sparen Sie sich die Dramatik, Sable. Sie haben sich auf diese Konspiration nicht auf eine momentane Eingebung hin eingelassen. Sie haben seit Monaten daran gearbeitet.« »Das bestreite ich nicht. Es war viel Arbeit damit verbunden. Zunächst sah Culligans Einfall nicht sehr vielversprechend aus. Er hatte ihn mit sich herumgetragen, seit er vor fünf oder sechs Jahren in Kanada auf diesen Theodore Fredericks gestoßen war. Er hatte Anthony Galton in Luna Bay gekannt und war von der Ähnlichkeit des Jungen mit ihm überrascht. Er brachte Fredericks sogar in die Vereinigten Staaten in der Hoffnung, irgendwie Geld dabei herauszuschlagen. Aber dann kam er mit dem Gesetz in Konflikt und verlor den Jungen aus den Augen. Er glaubte, er könnte ihn wiederfinden, wenn ich ihm das nötige Geld beschaffte. Wie Sie wissen, fand Culligan ihn als Student in Ann Arbor. Im Februar fuhr ich selbst in den Osten und sah ihn in einer Studentenaufführung. Er war ein recht guter Schauspieler und hatte etwas überzeugend Aufrichtiges an sich. Als ich mit ihm sprach, kam ich zu der Überzeugung, falls überhaupt jemand die Geschichte durchführen könnte, dann wäre er es. Ich stellte mich ihm als ein Produzent aus -279-
Hollywood vor, der sich für sein Talent interessiere. Sobald er diesen Köder geschluckt und erst einmal Geld von mir angenommen hatte, war es nicht mehr schwer, ihn zu dem anderen zu überreden. Selbstverständlich habe ich seine Geschichte für ihn ausgedacht. Das erforderte erhebliche Mühe. Das schwierigste Problem war, wie man Nachforschungen nach seiner tatsächlich kanadischen Abstammung in eine Sackgasse lenken konnte. Das Waisenhaus in Crystal Springs war mein Einfall. Doch war mir bewußt, daß der Erfolg seiner Rolle in erster Linie von ihm abhing. Wenn sie ihm gelang, hatte er das Recht auf den Löwenanteil. Ich war in meinen Forderungen sehr bescheiden. Er räumte mir lediglich eine Option ein, zu einem Nennwert eine gewisse Menge an Ölaktien zu kaufen.« Ich beobachtete Sable und versuchte zu verstehen, wie ein Mann mit so viel Voraussicht in diese Sackgasse geraten konnte. Irgend etwas hatte ihm die Möglichkeit abgeschnitten, seinen Verstand sinnvoll zu gebrauchen. Vielleicht war es ein primitiver Stolz, den er selbst noch in dieser Stunde bei seinem raffinierten Plan empfand. »Man redet immer über das Verbrechen des Jahrhundert«, sagte er. »Das wäre das größte von allen gewesen. Ein Unternehmen, bei dem es um viele Millionen Dollar ging, ohne daß wirklich jemand ein Schaden zugefügt worden wäre. Der Junge brauchte sich einfach nur entdecken und die Tatsachen für sich selbst sprechen zu lassen.« »Die Tatsachen?« fragte ich scharf. »Die scheinbaren Tatsachen, wenn Sie wollen. Ich bin kein Philosoph. Wir Rechtsanwälte haben mit letzten Wahrheiten nichts zu tun. Wer kennt sie schon? Wir haben es mit dem äußeren Anschein zu tun. In diesem Fall brauchten Tatsachen kaum manipuliert zu werden, waren keine Dokumente zu fälschen. Es stimmt. Ein oder zwei kleine Lügen mußte der Junge über seine Kindheit und seine Eltern verbreiten. Aber was spielten ein paar kleine Lügen schon für eine Rolle? Sie -280-
machten Mrs. Galton genauso glücklich, als ob er wirklich ihr Enkel wäre. Und wenn sie ihm ihr Vermögen hinterlassen wollte, dann war das ihre Sache…« »Hat sie ein neues Testament aufgesetzt?« »Ich glaube ja. Ich hatte nichts damit zu tun. Ich habe ihr geraten, einen anderen Anwalt zu nehmen.« »Bedeutete das nicht ein gewisses Risiko?« »Wenn Sie Maria Galton so kannten wie ich, nein. Sie reagiert immer genauso entgegengesetzt, daß man sich darauf verlassen kann. Ich bekam sie dazu, ein neues Testament aufzusetzen, indem ich sie drängte, es nicht zu tun. Ich weckte ihr Interesse, nach Tony suchen zu lassen, indem ich ihr sagte, es sei hoffnungslos. Ich überredete sie, Sie zu engagieren, indem ich mich der Idee, einen Detektiv zu beauftragen, widersetzte.« »Und warum kamen Sie auf mich?« »Schwartz bedrängte mich, und ich mußte den Ball ins Rollen bringen. Ich durfte nicht riskieren, den Jungen selbst zu finden. Ich mußte es jemand anderem überlassen, einem Mann, dem ich trauen konnte. Ich dachte auch, wenn wir Sie täuschen konnten, könnten wir jeden täuschen. Und das ist uns nicht gelungen, weil ich glaubte, Sie seien etwas – nun, sagen wir einmal, anpassungsfähiger.« »Wollen wir nicht lieber sagen, betrügerischer?« Bei diesem Wort zuckte Sable zusammen. Wörter bedeuteten ihm mehr als die Tatsachen, die sie bezeichneten. Am Ende des Ganges öffnete sich eine Tür, und Alice Sable und Dr. Howell kamen auf uns zu. Sie hing am Arm des Arztes, angezogen und frisch gekämmt und mit leerem Gesicht unter ihrem Make-up. In seiner freien Hand trug er einen weißen Lederkoffer. »Sable hat ein volles Geständnis abgelegt«, sagte ich zu Howell. »Würden Sie bitte den Sheriff anrufen?« -281-
»Das habe ich schon getan. Seine Leute müßten bald hier sein. Ich bringe Mrs. Sable dorthin zurück, wo sie die richtige Pflege findet.« Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Ich hoffe, das ist ein Wendepunkt für sie.« »Das hoffe ich auch«, sagte Sable. »Ich hoffe es aufrichtig.« Howell gab keine Antwort. Sable versuchte es noch einmal. »Leb wohl, Alice. Ich wünsche dir wirklich alles Gute, das weißt du.« Sie hob den Kopf, sah ihn aber nicht an. Auf Dr. Howell gestützt, ging sie hinaus. Ihr gebürstetes Haar schimmerte wie Gold im Sonnenlicht. Wie falsches Gold. Ich empfand eine plötzliche Sympathie für Sable. Er war nicht in der Lage gewesen, die Last zu tragen, die sie bedeutet hatte. In die weite Kluft zwischen seiner Schwäche und ihren Bedürfnissen hatte Culligan einen Keil getrieben, und der ganze künstliche Bau war zusammengebrochen. Sable war ein empfindsamer Mann, und er mußte mir den Wechsel meiner Stimmung angemerkt haben. »Sie überraschen mich, Lew. Ich hatte nicht erwartet, daß Sie etwas so ernst nehmen, obwohl Sie in dem Ruf stehen, ein geschorenes Schaf vor dem Wind zu schützen.« »Culligan zu erstechen war nicht gerade die Handlung eines geschorenen Schafs.« »Ich mußte ihn töten. Das scheinen Sie nicht zu verstehen.« »Ihrer Frau wegen etwa?« »Meine Frau war nur der Anfang. Er setzte mich immer stärker unter Druck. Er begnügte sich nicht, meine Frau und mein Haus mit mir zu teilen, er war unersättlich, verlangte immer mehr. Schließlich erkannte ich, daß er alles für sich haben wollte, alles und jedes.« Seine Stimme zitterte vor Empörung. »Nach allem, was ich beigetragen und gewagt hatte, beabsichtigte er, mich auszuschließen.« -282-
»Wie hätte er das gekonnt?« »Durch den Jungen. Er hatte etwas gegen Theo Fredericks in der Hand. Ich weiß nicht, was es war, ich habe es nie aus einem der beiden herausgebracht. Aber Culligan sagte, daß es genüge, meinen ganzen Plan zu ruinieren. Selbstverständlich war es auch sein Plan, aber er war verantwortungslos genug, alles aufs Spiel zu setzen, wenn es nicht nach seinem Kopf ginge.« »Und deshalb haben Sie ihn getötet.« »Die Möglichkeit bot sich von allein. Und ich nahm sie wahr. Es geschah nicht vorbedacht.« »Nach dem, was Sie Ihrer Frau antaten, wird Ihnen das keine Jury abnehmen. Es sieht so vorbedacht wie sonstwas aus. Sie warteten auf Ihre Chance, einen wehrlosen Mann umzubringen und die Schuld dann einer kranken Frau zuzuschieben.« »Das hat sie herausgefordert«, erwiderte er kalt. »Sie wollte glauben, daß sie ihn getötet hat. Sie war schon halb überzeugt, noch ehe ich mit ihr sprach. Sie fühlte sich schuldbeladen wegen ihrer Affäre mit ihm. Ich tat nur, was jeder andere unter diesen Umständen getan hätte. Sie hatte gesehen, wie ich ihn erstach. Ich mußte etwas tun, um sie von dieser Erinnerung zu befreien.« »Und was haben Sie getan bei Ihren langen Besuchen bei ihr? Sie haben ihr ihre Schuld ins Bewußtsein eingehämmert.« Er schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. »Sie hat mich doch in meine miserable Lage gebracht. Sie brachte ihn in unser Leben. Sie verdiente, dafür zu leiden. Warum sollte ich denn nur allein leiden?« »Das brauchen Sie nicht. Es sind noch mehr da. Sagen Sie mir, wo ich den jungen Fredericks zu fassen bekomme.« Er sah mich aus den Augenwinkeln an. »Dafür verlange ich ein quid pro quo.« Die juristische Phrase schien ihn zu ermutigen. Er fuhr in beschleunigtem Tempo fort, bis er fast schnatterte. »Tatsächlich sollte er die Schuld für den größten -283-
Teil dieser entsetzlichen Geschichte auf sich nehmen. Wenn es dazu beiträgt, den Fall aufzuklären, bin ich bereit, Kronzeuge der Anklage zu werden. Alice kann nicht gezwungen werden, gegen mich auszusagen. Sie wissen nicht einmal, ob sie die Wahrheit gesagt hat. Wie wollen Sie beurteilen, ob ihre Darstellung stimmt? Es kann doch sein, daß ich sie einfach decken will?« Seine Stimme hob sich in einer wahnwitzigen Hoffnung. »Woher wissen Sie, daß Sie überhaupt noch leben, Sable? Ich will Ihren Partner haben. Heute morgen war er in San Mateo. Wohin hat er sich von dort gewandt?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Ich weiß nicht, weshalb ich Ihnen helfen soll, wenn Sie mir nicht helfen wollen.« Ich hielt noch das entladene Gewehr in den Händen. Ich drehte es um und hob es wie eine Keule. Ich war wütend genug, zuzuschlagen, wenn ich mußte. »Deshalb.« Er riß den Kopf so scharf zurück, daß er ihn gegen die Wand schlug. »Sie können mich nicht mit Drohungen zur Aussage zwingen. Das ist gesetzwidrig.« »Hören Sie auf zu quatschen, Sable. War Fredericks gestern nacht hier?« »Ja. Er wollte, daß ich ihm einen Scheck einlöse. Ich gab ihm alles Bargeld, das ich im Haus hatte. Es waren über zweihundert Dollar.« »Wofür wollte er es?« »Das sagte er nicht. Tatsächlich sprach er etwas verworren. Er sprach, als ob die Belastung zuviel für ihn geworden wäre.« »Was hat er denn gesagt?« »Wörtlich kann ich es nicht wiederholen. Ich war selbst sehr erregt. Er stellte mir eine Menge Fragen, die ich nicht -284-
beantworten konnte. Nach Anthony Galton, und was aus ihm geworden sei. Seine Rolle muß ihm zu Kopf gestiegen sein. Er schien die Überzeugung gewonnen zu haben, daß er tatsächlich Galtons Sohn wäre.« »War Sheila Howell bei ihm?« »Ja, sie war anwesend, und ich verstehe schon, was Sie meinen. Vielleicht hat er nur gefragt, um sie zu täuschen. Wenn er Theater gespielt hat, war sie bestimmt davon beeindruckt. Doch wie gesagt, es schien so, als ob er selbst daran glaubte. Er wurde sehr aufgeregt und drohte mir mit Gewalt, wenn ich ihm nicht sagte, wer Galton ermordet hat. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Schließlich fiel mir der Name dieser Frau in Redwood City ein, der früheren Pflegerin der Galtons.« »Mrs. Matheson?« »Ja. Ich mußte ihm etwas sagen, um ihn irgendwie loszubekommen.« Ein Streifenwagen kam mit heulender Sirene den Hügel herauf und hielt vor dem Haus. Conger und ein anderer Beamter stiegen aus. Es würde Sable schwerfallen, die beiden loszubekommen.
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31 Sie setzten mich am Flugplatz ab, und ich bestieg die Maschine. Es war derselbe zweimotorige Eimer und der gleiche Flug, der mich vor drei Wochen nach Norden gebracht hatte. Sogar die Stewardess war dieselbe. Irgendwie sah sie jünger und unschuldiger aus. Für sie war die Zeit stehengeblieben, während sie mich verfrüht in die besten Jahre gehetzt hatte. Sie tröstete mich mit Kaugummi und Kaffee aus Pappbechern. Und dann kam auch wieder die gesegnete Bucht mit den Sandbänken und dem Watt. Das Haus der Mathesons wirkte verschlossen und abweisend, mit zugezogenen Vorhängen, als ob eine Krankheit darin herrschte. Ich bat meinen Taxifahrer zu warten und klopfte an die Eingangstür. Marian Matheson öffnete mir selbst. Sie hatte nach demselben Zeitplan gelebt wie ich und war schnell gealtert. In ihrem Haar war mehr Grau, ihr Gesicht knochiger. Aber die Veränderung hatte sie weicher gemacht. Selbst ihre Stimme klang sanfter. »Ich habe Sie in gewisser Weise erwartet. Heute morgen hatte ich schon einmal Besuch.« »John Galton?« »Ja, John Galton, den ich als Säugling in Luna Bay gepflegt hatte. Es war recht aufregend, ihn nach all diesen Jahren wiederzusehen. Und auch sein Mädchen. Er hatte sein Mädchen mitgebracht.« Sie zögerte, dann öffnete sie die Tür weiter. »Kommen Sie herein, wenn Sie wollen.« Sie führte mich in das verdunkelte Wohnzimmer und ließ mich in einem Sessel Platz nehmen. -286-
»Weshalb ist er zu Ihnen gekommen, Mrs. Matheson?« »Aus dem gleichen Grund wie Sie. Er wollte Informationen.« »Worüber?« »Über jene Nacht. Ich fand, er hatte das Recht, die Wahrheit zu erfahren, darum erzählte ich ihm alles, was ich Ihnen erzählt habe, über Culligan und Shoulders.« Ihre Stimme klang vage. Vielleicht wollte sie auch die Erinnerung vage halten. »Wie reagierte er darauf?« »Es interessierte ihn alles sehr. Das ist nur natürlich. Und als ich ihm von den Rubinen erzählte, hörte er besonders gespannt zu.« »Erklärte er Ihnen, warum er sich für die Rubine interessierte?« »Er erklärte mir überhaupt nichts. Er stand auf und verließ mich schnell, und sie rasten in seinem kleinen roten Wagen davon. Sie ließen sich nicht einmal Zeit, den Kaffee zu trinken, den ich für sie aufbrühte.« »Waren sie freundlich?« »Meinen Sie zu mir? Sehr. Das Mädchen war einfach herzlich zu mir. Sie vertraute mir an, daß sie heiraten wollten, sobald ihr junger Freund die Dunkelheit über seiner Vergangenheit aufgeklärt hatte.« »Was meinte sie mit Dunkelheit?« »Ich weiß es nicht. Aber dieses Wort gebrauchte sie.« Doch dabei blinzelte sie in das Sonnenlicht, das gedämpft durch die Vorhänge drang, wie jemand, der versteht, was Dunkelheit bedeutet. »Er schien über den Tod seines Vaters sehr betroffen zu sein.« »Sagte er, was er als nächstes tun oder wohin er fahren wollte?« »Nein. Er fragte mich nur, wie man zum Flugplatz käme, ob dort Busse hinführen. Irgendwie fand ich es komisch, daß er -287-
mich nach Bussen fragte, weil er doch einen ganz neuen Sportwagen vor dem Haus stehen hatte.« »Er flieht vor der Polizei, Mrs. Matheson. Er wußte, daß sein Wagen sofort entdeckt würde, wenn er ihn vor dem Flugplatz parkte.« »Wer will denn, daß er festgenommen wird?« »Ich unter anderem. Er ist weder Galtons noch Browns Sohn, er ist ein Betrüger.« »Wie soll das möglich sein? Er ist doch das Spiegelbild seines Vaters.« »Aussehen kann täuschen, und Sie sind nicht die erste, die durch sein Aussehen irregeführt wurde. Sein wirklicher Name ist Theo Fredericks, und er ist ein kleiner Gauner aus Kanada, der wegen eines Gewaltverbrechens gesucht wird.« Sie hob die Hand zum Mund. »Haben Sie aus Kanada gesagt?« »Ja. Seine Eltern unterhalten eine Pension in Pitt in Ontario.« »Aber da wollen sie ja hin, nach Ontario. Als ich draußen in der Küche war, hörte ich, wie er zu ihr sagte, daß es keine direkte Flugverbindung nach Ontario gibt. Das war unmittelbar, bevor sie mich verließen.« »Um welche Zeit waren sie hier?« »Ganz früh am Morgen, kurz nach acht. Sie warteten vor dem Haus, als ich vom Bahnhof zurückkam, wo ich Ron hingebracht hatte.« Ich sah auf meine Uhr. Es war fast fünf. Sie hatten beinahe neun Stunden Vorsprung. Wenn sie gleich Anschluß bekommen hatten, konnten sie inzwischen in Kanada sein. Und wenn ich gleich Anschluß bekam, konnte ich in acht oder neun Stunden auch dort sein. Mrs. Matheson folgte mir zur Tür. »Wird diese Geschichte denn ewig weitergehen?« -288-
»Wir nähern uns dem Ende«, sagte ich. »Es tut mir leid, daß ich Sie schließlich doch nicht daraus heraushalten konnte.« »Es macht nichts. Ich habe mich mit Ron darüber ausgesprochen. Was auch geschehen wird – wenn ich vor Gericht aussagen muß oder wo sonst –, wir werden zusammen damit fertig werden. Ich habe einen sehr guten Mann.« »Und er hat eine gute Frau.« »Nein.« Sie schüttelte das Kompliment mit einer Handbewegung ab. »Aber ich liebe ihn und den Jungen, und das ist schon etwas. Ich bin froh, daß zwischen mir und Ron alles aufgeklärt wurde. Mir ist eine große Last von der Seele genommen.« Sie lächelte ernst. »Ich hoffe, daß für das junge Mädchen alles gutgeht. Es fällt mir schwer zu glauben, daß ihr junger Mann ein Verbrecher ist, aber ich weiß, was das Leben alles mit sich bringen kann.« Sie blickte zur Sonne hinauf. Auf dem Weg zum International Airport kam mein Taxi an dem Gerichtsgebäude von Redwood City vorbei. Ich überlegte, ob ich es halten lassen und mich mit Trask in Verbindung setzen sollte, verwarf den Gedanken aber. Das war mein Fall, und ich wollte ihn zum Abschluß bringen. Vielleicht hatte ich einen Schimmer der Wahrheit erkannt.
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32 Ich kam mit meinem gemieteten Wagen um drei Uhr, der dunkelsten Stunde der Nacht, in Pitt an. Aber in dem roten Haus am Flußufer brannte Licht. Mrs. Fredericks kam in einem rostigen Schwarz vollständig angezogen an die Tür. Als sie mich sah, wurde ihr schweres Gesicht abweisend. »Was wollen Sie denn schon wieder hier? Was haben Sie hier zu suchen? Ich wußte nicht, daß die beiden Hamburgs von der Polizei verfolgt wurden.« »Sie sind nicht die einzigen. Ist Ihr Sohn bei Ihnen gewesen?« »Theo?« Ihre Augen und ihr Mund bemühten sich um eine glaubwürdige Antwort. »Er ist mir seit Jahren nicht mehr unter die Augen getreten.« Aus dem Schatten hinter ihr erklang ein heiseres Flüstern. »Glauben Sie ihr nicht, Mister.« Ihr Mann kam näher, wobei er sich mit einer Hand an der Wand stützte. Seine Stimme klang sehr betrunken, und so sah er auch aus. »Sie lügt. Für den würde sie ihre Seele verkaufen.« »Halt deinen dummen Mund, Alter.« Ärger ließ ihre schwarzen Augen groß werden und aufglühen. Dasselbe hatte ich bei ihrem Sohn beobachtet. Sie drehte sich nach Fredericks um, und er wich vor ihr zurück. Sein Gesicht sah porös und feucht wie eine schwammige Substanz aus. Seine Kleidung war von Staub bedeckt. »Haben Sie ihn gesehen, Mr. Fredericks?« »Nein, zu seinem Glück war ich nicht da, sonst hätte ich ihm was beigebracht.« Sein scharfes, kantiges Profil hackte durch die Luft. »Aber sie hat ihn gesehen.« -290-
»Wo ist er, Mrs. Fredericks?« Ihr Mann antwortete an ihrer Stelle. »Sie hat mir gesagt, daß sie ins Hotel gegangen sind, beide, er und das Mädchen.« Irgendein Ungewisses Gefühl, Schuld oder Verärgerung, veranlaßte die Frau zu sagen: »Sie hätten nicht ins Hotel zu gehen brauchen. Ich habe ihnen mein Haus angeboten. Wahrscheinlich war es für das feine junge Fräulein nicht gut genug.« »Ging es dem Mädchen gut?« »Offenbar. Aber Theo machte mir Sorge. Weshalb ist er nach all den Jahren hierhergekommen? Ich kann es einfach nicht verstehen.« »Er hatte immer verrückte Vorstellungen«, sagte Fredericks. »Aber er ist gerissen wie ein Fuchs. Passen Sie genau auf, wenn Sie ihn festnehmen. Er hat ein glattes Mundwerk und ist so heimtückisch wie eine Schlange.« »Wo ist dieses Hotel?« »In der Stadt. Das ›Pitt-Hotel‹. Sie können es nicht verfehlen. Aber lassen Sie uns aus der Geschichte draußen, verstanden? Er wird versuchen, uns Schwierigkeiten zu machen. Aber ich bin ein respektabler Mann…« »Halt doch deinen Mund jetzt«, schrie seine Frau dazwischen. »Ich möchte ihn wiedersehen, auch wenn du es nicht willst.« Ich ließ sie streitend zurück, was nachts ihre übliche Beschäftigung zu sein schien. Das Hotel war ein dreigeschossiger roter Ziegelbau mit einem erleuchteten Eckfenster im ersten Stock. Ein weiteres Licht brannte in der Halle. Ich schlug auf die Handglocke auf dem Empfangspult. Ein kleiner Mann mittleren Alters mit einem grünen Augenschirm kam gähnend aus einem dunklen Raum, der hinter dem Empfangspult lag. »Sie sind aber schon früh auf«, sagte er. »Ich bin noch spät auf. Können Sie mir ein Zimmer geben?« -291-
»Und ob. Ich habe mehr leere Zimmer als Finger an den Händen. Mit oder ohne Bad?« »Mit.« »Das macht drei Dollar.« Er öffnete ein schweres Gästebuch mit Lederecken und schob es über das Pult. »Tragen Sie sich auf dieser Linie ein.« Ich trug mich ein. Die Eintragung über meiner lautete: Mr. und Mrs. John Galton, Detroit, Michigan. »Ich sehe, daß noch andere Amerikaner bei Ihnen wohnen.« »Ja, ein nettes junges Paar. Kam spät gestern abend. Ich glaube, es sind Hochzeitsreisende. Wahrscheinlich auf dem Wege nach Niagara Falls. Jedenfalls habe ich ihm das Brautzimmer gegeben.« »Ist das das Eckzimmer im ersten Stock?« Er warf mir einen scharfen, mißtrauischen Blick zu. »Sie werden sie doch nicht stören wollen, Mister?« »Nein. Ich dachte nur, ich könnte sie morgen früh begrüßen.« »Tun Sie es lieber morgen spät.« Er nahm einen Schlüssel von einem Haken und legte ihn auf das Pult. »Ich gebe Ihnen zweizehn. Das liegt am anderen Ende. Ich zeige Ihnen den Weg, wenn Sie wollen.« »Danke, ich finde es schon allein.« Ich stieg die Treppe hinauf, die im Hintergrund der Halle nach oben führte. Die Beine waren mir schwer. In dem Zimmer nahm ich meine Pistole Kaliber 32 aus meiner Reisetasche und lud sie durch. Der Teppich in dem schwach beleuchteten Gang war abgetreten, aber dick genug, um meine Schritte zu dämpfen. In dem Eckzimmer brannte noch Licht, das durch die offene Klappe über der Tür schien. Auch das schwere Atmen eines Schläfers war zu hören, ein langes Seufzen, das abbrach und sich dann wiederholte. Ich griff nach der Klinke. Die Tür war verschlossen. -292-
Sheila Howells Stimme war deutlich zu verstehen, als sie fragte: »Wer ist da?« Ich wartete. Dann sprach sie wieder: »John, wach auf.« »Was ist denn?« Seine Stimme klang näher als ihre. »Jemand will ins Zimmer.« Ich hörte das Knirschen von Bettfedern, die Schritte seiner nackten Füße. Das Schloß wurde geöffnet, die Messingklinke heruntergedrückt. Er riß die Tür auf, trat mit geballter rechter Faust vor, erkannte mich und wollte zuschlagen, sah dann meine Waffe und erstarrte. Er war bis zum Gürtel nackt. Seine Muskeln hoben sich unter der blassen Haut ab. »Immer mit der Ruhe, mein Junge. Nehmen Sie Ihre Hände hoch.« »Ist dieser Unsinn notwendig? Stecken Sie die Waffe ein.« »Hier befehle ich. Legen Sie Ihre Hände zusammen, drehen Sie sich um und gehen Sie langsam in das Zimmer.« Er gehorchte widerwillig, wie ein Stein, der sich in Bewegung setzt. Als er sich umdrehte, sah ich die weißen Narben auf seinem Rücken. Hunderte, wie verblaßte, keilförmige Schnitte. Sheila stand neben dem zerwühlten Bett. Sie hatte ein Herrenhemd an, das ihr viel zu groß war. Das Hemd und der um ihren Mund verschmierte Lippenstift gaben ihr ein verwahrlostes Aussehen. »Wann habt ihr zwei denn Zeit gefunden zu heiraten?« »Wir sind nicht verheiratet. Noch nicht.« Wie Feuer stieg ihr die Röte vom Hals bis zu den Backenknochen. »Aber was Sie denken, ist falsch. John schläft in meinem Zimmer, weil ich es wollte. Ich hatte Angst. Und er schlief am Fußende des Bettes, da unten.« Er machte eine abwehrende Geste mit seinen erhobenen Händen. »Sage ihm nichts. Er steht auf der Seite deines Vaters. -293-
Alles, was wir sagen, wird er verdrehen und gegen uns verwenden.« »Ich bin nicht derjenige, der die Dinge verdreht, Theo.« Er drehte sich mir so plötzlich zu, daß ich beinahe auf ihn geschossen hätte. »Nennen Sie mich nicht bei diesem Namen.« »Er gehört Ihnen doch, oder nicht?« »Mein Name ist John Galton.« »Lassen Sie das. Ihr Partner Sable hat mir gestern nachmittag ein volles Geständnis abgelegt.« »Sable ist nicht mein Partner, er war es nie.« »Sable hat mir eine andere Geschichte erzählt. Und er erzählte sie sehr gut. Geben Sie die Hoffnung auf, daß er Sie decken wird. In dem Prozeß wegen Ihrer betrügerischen Machenschaften wird er Hauptbelastungszeuge der Anklage werden, um sich bei seinem Mordprozeß zu helfen.« »Wollen Sie mir einreden, daß Sable Culligan ermordet hat?« »Das dürfte Ihnen nicht neu sein. Sie wußten es, und Sie schwiegen darüber, während wir Wochen auf einer kalten Fährte vergeudeten.« Das Mädchen trat zwischen uns. »Bitte, Sie verstehen die Situation nicht. John hatte Sable in Verdacht, das ist wahr, er war aber nicht in der Lage, mit seiner Vermutung zur Polizei zu gehen. Er stand selbst unter Verdacht. Wollen Sie diese schreckliche Waffe nicht einstecken, Mr. Archer, und John eine Chance geben, alles zu erklären?« Ihr blinder Glaube an ihn machte mich wütend. »Sein Name ist nicht John. Er heißt Theo Fredericks und stammt hier aus Pitt und ist vor einigen Jahren aus der Stadt geflohen, nachdem er seinen Vater niedergestochen hat.« »Dieser Fredericks ist nicht sein Vater.« -294-
»Seine Mutter behauptet, daß er es ist.« »Sie hat gelogen«, sagte der junge Mann. »Alle lügen, außer Ihnen, was? Sable sagt, daß Sie ein Betrüger sind, und er muß es wissen.« »Ich ließ es ihn glauben. Tatsache ist, daß ich nicht wußte, wer ich war, als Sable zum erstenmal an mich herantrat. Ich ließ mich auf das Geschäft ein, das er mir anbot, zum Teil, weil ich hoffte, herauszufinden, wer ich bin.« »Und Geld hatte nichts damit zu tun?« »Bei dem Erbe eines Menschen geht es um mehr als Geld. Vor allem wollte ich meiner Identität gewiß werden.« »Und das sind Sie jetzt?« »Jetzt bin ich es. Ich bin Anthony Galtons Sohn.« »Und wann ist diese glückliche Offenbarung über Sie gekommen?« »Auf diese Frage wollen Sie keine ernsthafte Antwort, aber ich werde sie Ihnen trotzdem geben. Ich überzeugte mich nach und nach davon. Ich glaube, es fing an, als Gabe Lindsay etwas in mir sah, von dem ich nicht wußte, daß ich es in mir hatte. Und dann erkannte mich Dr. Dineen als Sohn meines Vaters. Auch als meine Großmutter mich anerkannte, glaubte ich, es müsse wahr sein. Ich wußte nicht, daß es wahr ist, bis in den letzten Tagen.« »Was geschah in den letzten Tagen?« »Sheila glaubte mir. Ich erzählte ihr alles, mein ganzes Leben, und sie glaubte mir.« Er sah sie mit einem beinahe scheuen Blick an. Sie griff nach seiner Hand. Ich begann mich wie ein Eindringling in ihrem Zimmer zu fühlen. Vielleicht spürte er diesen Wechsel in meiner inneren Einstellung, denn er fing an, mit tiefer, ruhiger Stimme über sich selbst zu sprechen. »Tatsächlich liegt es schon viel weiter zurück. Schon als -295-
kleines Kind vermutete ich die Wahrheit über mich selbst oder wenigstens einen Teil davon. Nelson Fredericks hat mich niemals so behandelt, als ob ich zu ihm gehörte. Er hat mich immer mit einer Gürtelschnalle geschlagen, er gab mir nie ein freundliches Wort. Ich wußte, daß er unmöglich mein Vater sein konnte.« »Viele Jungen haben dasselbe Gefühl gegenüber ihrem wirklichen Vater.« Sheila trat näher zu ihm und drückte mit einer zarten, schützenden Bewegung unbewußt seine Hand gegen ihre Brust. »Bitte, erzähle ihm deine Geschichte, John. Ich weiß, daß sie unglaubwürdig klingt, aber sie ist nur so unglaubwürdig wie das Leben selbst. John erzählt Ihnen die wirkliche Wahrheit, soweit er sie kennt.« »Nehmen wir das einmal an. Aber wie weit kennt er sie? Manche sehr ernsthaften Leute haben phantastische Vorstellungen darüber, wer sie sind und was ihnen zusteht.« Ich erwartete, daß er wieder auffahren würde, aber er überraschte mich, indem er sagte: »Ich weiß. Davor hatte ich ja auch Angst, daß ich mir mit Gewalt etwas einredete. Als ich ein Junge war, habe ich mir immer Dinge eingeredet. Ich bildete mir ein, ich wäre ein Prinz im Armenhaus und so weiter. Meine Mutter ermutigte mich dabei. Sie kleidete mich in Samtanzüge und sagte mir, ich sei etwas Besseres als die anderen Kinder. Selbst schon vorher, lange vorher, hatte sie mir oft eine Geschichte erzählt. Damals war sie eine junge Frau. Ich erinnere mich, daß ihr Gesicht dünn und ihr Haar grau geworden war. Ich war nur ein kleines Kerlchen und glaubte immer, es wäre ein Märchen. Jetzt habe ich erkannt, daß es eine Geschichte über mich war. Sie wollte, daß ich über mich Bescheid wisse, fürchtete sich aber, mir offen die Wahrheit zu sagen. Sie sagte, ich sei ein Königssohn und daß wir in einem Palast in der Sonne gelebt hätten. Aber der junge König starb, und der schwarze Mann raubte uns und verschleppte uns in Eishöhlen, wo es nicht -296-
schön war. Sie machte eine Art Vers daraus. Und sie zeigte mir einen goldenen Ring mit einem kleinen roten Stein, den ihr der König zur Erinnerung geschenkt hatte.« Er sah mich in einer seltsamen Weise fragend an. Unsere Augen begegneten sich zum erstenmal in einem festen Blick. Das war, glaube ich, der Moment, als wir uns zu verstehen begannen. »Ein Rubin?« fragte ich. »Es muß ein Rubin gewesen sein. Ich sprach gestern in Redwood City mit einer Mrs. Matheson. Sie kennen sie doch und haben ihre Darstellung gehört. Sie erklärte einige Dinge, die mir rätselhaft gewesen waren, und bestätigte, was ich schon seit langem von Culligan wußte. Er sagte, mein Stiefvater sei ein ehemaliger Sträfling, und sein wirklicher Name sei Fred Nelson. Er hatte meine Mutter aus einem Haus geholt, das Red Horse Inn hieß, und sie zu seiner Geliebten gemacht. Sie heiratete meinen Vater, nachdem Nelson ins Gefängnis kam. Aber Nelson brach aus, fand sie und ermordete meinen Vater.« Seine Stimme war fast unhörbar geworden. »Wann hat Culligan Ihnen das erzählt?« »An dem Tag, als ich mit ihm fortging. Er hatte mit Fredericks gerade einen Streit wegen der Miete gehabt. Ich hörte es von der Kellertreppe aus. Sie stritten sich immer. Fredericks war zwar älter als Culligan, aber er schlug ihn furchtbar zusammen, schlimmer als üblich, und ließ ihn bewußtlos auf dem Küchenfußboden liegen. Ich goß Culligan Wasser ins Gesicht und brachte ihn wieder zum Bewußtsein. Damals erzählte er mir, daß Fredericks meinen Vater ermordet hatte. Ich nahm ein Messer aus der Schublade und versteckte es oben in meinem Zimmer. Als Fredericks versuchte, mich einzuschließen, stach ich ihn damit in den Bauch. Ich dachte, ich hätte ihn getötet. Als ich die Zeitungen las und feststellte, daß er nicht tot war, befand ich mich bereits über der Grenze. Ich war -297-
unter Säcken versteckt in einem Lastwagenanhänger durch den Tunnel nach Detroit gefahren. Die Grenzpolizei entdeckte mich nicht, sie erwischte aber Culligan. Erst im vergangenen Winter habe ich ihn wiedergesehen. Da behauptete er, daß er mich damals angelogen hätte. Er sagte, Fredericks hätte nichts mit dem Tode meines Vaters zu tun gehabt und daß er ihn einfach nur beschuldigt hätte, um sich durch mich an Fredericks zu rächen. Sie verstehen jetzt vielleicht, weshalb ich mich entschloß, mich auf Culligan und seinen Plan einzulassen. Ich wußte nicht, welche seiner Behauptungen wahr war oder ob die Wahrheit noch ganz anders aussah. Ich hatte sogar den Verdacht, Culligan könnte meinen Vater ermordet haben. Aus welchem Grund konnte er sonst etwas von dem Mord wissen?« »Er war darin verwickelt«, sagte ich. »Deshalb änderte er seine Geschichte, als er Sie wieder benutzen wollte. Das war auch der Grund, weshalb er anderen – auch Sable – gegenüber nicht zugeben konnte, daß er wußte, wer Sie sind.« »Wie war er darin verwickelt?« Wie war er es nicht gewesen, dachte ich. Sein Leben lief durch den ganzen Fall wie ein schmutziger roter Faden. Er hatte Anthony Galton für die Axt und Anthony Galtons Mörder für das Messer bestimmt. Er hatte einer halb wahnsinnigen Frau geholfen, ihr Geld zu verlieren, und dann ihrem Mann einen halb wahnsinnigen Traum von Reichtum eingeredet. Das führte zu der Ironie des Schicksals, an dem seine Halbwahrheiten mit der wirklichen Wahrheit zusammenstießen und Gordon Sable ihn tötete, um eine Lüge aufrechtzuerhalten. »Ich verstehe es nicht«, sagte John. »Was hatte Culligan mit dem Tod meines Vaters zu tun?« »Anscheinend hat er das Verbrechen arrangiert. Haben Sie mit Ihrer Mutter über die Umstände des Mordes gesprochen? Wahrscheinlich war sie dabei zugegen.« »Sie war mehr als das.« Die Worte erstickten ihn fast. -298-
Sheila wandte sich ihm ängstlich zu. »John«, rief sie erschrocken, »Johnny?« Er antwortete ihr nicht. Sein Blick war dunkel und nach innen gerichtet. »Noch gestern abend hat sie mich angelogen, versucht, mir einzureden, ich sei Fredericks Sohn und hätte nie einen anderen Vater gehabt. Sie hat mir mein halbes Leben bereits gestohlen. Genügt ihr das nicht?« »Haben Sie Fredericks nicht gesehen?« »Fredericks war fortgegangen. Sie wollte mir nicht sagen, wohin. Aber ich werde ihn finden.« »Er kann nicht weit sein. Vor einer Stunde war er zu Hause.« »Verdammt noch mal, warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt!« »Ich habe es gerade getan. Jetzt frage ich mich, ob es nicht ein Fehler war.« John verstand mich. Wir brachen auf, und er sagte nichts mehr, bis wir nur wenige Blocks vom Haus seiner Mutter entfernt waren. Dann drehte er sich auf seinem Sitz um und sagte zu Sheila: »Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Es hat genug Tod und Gewalttaten gegeben. Ich will nicht noch mehr.« Die Dächer der Straße am Flußufer reckten ihre dunklen Winkel gegen einen bleichenden Himmel hinauf. Ich beobachtete den jungen Mann, als er aus dem Wagen stieg. Sein Gesicht war gespannt und gespenstisch blaß. Sheila hielt ihn am Arm und besänftigte seine abrupten Bewegungen. Ich klopfte an die Eingangstür. Nach einer langen Wartezeit wurde die Tür von innen aufgeschlossen. Mrs. Fredericks sah zu uns hinaus. »Ja, was gibt es jetzt?« John schob sich an mir vorbei und blieb auf der Schwelle vor ihr stehen. »Wo ist er?« »Er ist fortgegangen.« -299-
»Du lügst. Dein ganzes Leben lang hast du mich angelogen.« Seine Stimme versagte und nahm dann einen anderen höheren Ton an. »Du weißt, daß er meinen Vater ermordet hat. Wahrscheinlich hast du ihm geholfen. Ich weiß, daß du ihm geholfen hast, es zu vertuschen. Du hast mit ihm das Land verlassen und deinen Namen geändert, als er es tat.« »Das streite ich alles gar nicht ab«, antwortete sie ungerührt. Sein ganzer Körper bebte, als ob ihm übel wäre. Er beschimpfte sie mit einem häßlichen Ausdruck. Trotz seines Versprechens stand er kurz davor, gewalttätig zu werden. Ich legte schwer meine Hand auf seine Schulter. »Seien Sie nicht zu hart gegen Ihre Mutter. Selbst das Gesetz erkennt einer Frau die Berechtigung zu einem Wohnungswechsel zu, wenn sie von ihrem Mann dazu gezwungen oder bedroht wird.« »Aber darum geht es hier nicht. Sie versucht immer noch, ihn zu schützen.« »Wirklich?« erwiderte die Frau. »Wovor soll ich ihn schützen?« »Vor der Bestrafung für einen Mord.« Sie schüttelte feierlich den Kopf. »Dazu ist es zu spät, mein Junge, Fredericks hat seine Strafe bekommen. Er sagte, ihm sei der Totengräber lieber, als wieder hinter Gefängnismauern zurückzugehen. Fredericks hat sich erhängt, und ich habe ihn nicht daran gehindert.« Wir fanden ihn in einem Hinterzimmer im ersten Stock. Er hockte in halb sitzender Stellung auf einem Messingbett. Ein Stück kräftige elektrische Schnur war am Kopfende des Bettes festgebunden und mehrmals um seinen Hals geschlungen. Das andere Ende der Schnur hielt er mit seiner rechten Hand umklammert. Ohne jeden Zweifel war er sein eigener Henker gewesen. »Bringen Sie Sheila hier hinaus«, sagte ich zu John. -300-
Sie stand dicht neben ihm. »Mir fehlt nichts, ich habe keine Angst.« Mrs. Fredericks trat unter die Tür, mühsam und keuchend. Mit erhobenem Kopf sah sie ihren Sohn an. »Das ist das Ende. Ich sagte ihm, es wäre er oder du und für wen ich mich entschieden hätte. Ich konnte nicht weiter für ihn lügen und dich an seiner Stelle verhaften lassen.« Er wandte sich ihr zu, sein Ausdruck war nach wie vor anklagend. »Und warum hast du so lange gelogen? Du bist bei ihm geblieben, nachdem er meinen Vater ermordet hat.« »Du hast kein Recht, mich deshalb zu verurteilen. Ich habe ihn geheiratet, um dein Leben zu retten. Ich sah, wie er mit einer Axt deinem Vater den Kopf abschlug, ihn mit Steinen füllte und ins Meer warf. Er drohte mir, wenn ich es je einem Menschen sagte, würde er auch dich umbringen. Du warst nur ein winziges Baby, aber das hätte ihn nicht davon abgehalten. Er hielt die blutige Axt über deiner Wiege und zwang mich zu schwören, ihn zu heiraten und für immer zu schweigen. Das habe ich bis jetzt getan.« »Mußtest du dein übriges Leben mit ihm verbringen?« »Mir blieb keine andere Wahl«, antwortete sie. »Sechzehn Jahre lang habe ich zwischen ihm und dir gestanden. Dann bist du fortgelaufen und hast mich mit ihm allein gelassen. Außer ihm war mir niemand mehr im Leben geblieben. Verstehst du, was es heißt, wenn man überhaupt niemanden hat, mein Sohn?« Er versuchte zu sprechen, Worte zu finden, aber das Gorgonenhaupt der Vergangenheit ließ ihn erstarren. »Alles, was ich je vom Leben erwartete«, sagte sie, »war ein Mann und eine Familie und ein Heim, das ich mein eigen nennen konnte.« Sheila machte eine impulsive Bewegung auf sie zu. »Sie haben uns.« -301-
»Ach nein, Sie werden mich nicht in Ihrem Leben haben wollen. Wir können ruhig ehrlich darin sein. Je weniger Sie von mir sehen, um so lieber wird es Ihnen sein. Zuviel Wasser ist unter den Brücken hindurchgeflossen. Ich mache meinem Sohn keinen Vorwurf daraus, daß er mich haßt.« »Ich hasse dich nicht«, sagte John. »Du tust mir leid, Mutter, und es tut mir leid, was ich gesagt habe.« »Dir und wem sonst tut es leid«, erwiderte sie rauh. »Dir und wem sonst?« Er legte seinen Arm um sie, linkisch und verlegen, und versuchte sie zu trösten. Aber sie war über jeden Trost hinaus, vielleicht auch über jedes Leid. Was auch immer sie empfand, wurde von gefühllosen Fleischschichten überdeckt. Die starre schwarze Seide, die sie trug, wölbte sich wie ein Panzer über ihrer Brust. »Kümmere dich nicht um mich, sorge nur gut für dein Mädchen.« Irgendwo draußen erhob ein Vogel seine Stimme zu ein paar Tönen und verfiel dann in verlegenes Schweigen. Ich trat ans Fenster. Der Fluß war weiß. Die Bäume und Häuser an seinen Ufern nahmen Farbe und Formen an. In einem der Häuser ging ein Licht an. Wie auf dieses menschliche Signal hin erhob der Vogel wieder seine Stimme. »Hör mal«, sagte Sheila. John wandte den Kopf, um zu lauschen. Selbst der Tote schien zu lauschen.
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