Wolfgang Hohlbeins Enwor
Der flüsternde See NEUE ABENTEUER 3 ROMAN VON DIETER WINKLER
Originalausgabe Februar 2005 © ...
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Wolfgang Hohlbeins Enwor
Der flüsternde See NEUE ABENTEUER 3 ROMAN VON DIETER WINKLER
Originalausgabe Februar 2005 © 2005 Piper Verlag GmbH, München Umschlagkonzept: Büro Hamburg Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Umschlagabbildung: Jon Sullivan Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-492-26533-2
Zu diesem Buch Auf dem Grund des flüsternden Sees im Norden Enwors liegt das älteste Heiligtum der Guhulan verborgen, jener mächtigen FeuerMagier, die auch Daart in ihren Bann zu ziehen trachten. Dunkle Wolken türmen sich über dem See; es sind die Vorboten des Todes, den die Göttin Nubina über Enwor bringt. Als ihr Gefangener sieht Daart keinen anderen Ausweg, als mitten im tobenden Eissturm zum versunkenen Feuertempel hinabzutauchen. Dem Tode nahe, findet er in der elfenhaften Najade einen Teil seiner Vergangenheit wieder und den Schlüssel, um den Kampf gegen seine mächtigen Feinde aufzunehmen…
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Für Friedel Wahren und Angela Kuepper, ohne deren engagierte Lektoratsarbeit die neuen Enwor-Abenteuer nicht denkbar gewesen wären
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Inmitten der Schlacht sah ich mich um und verharrte mitten im Schritt denn dort stand nicht der Feind den ich erwartet hatte sondern ein elfenhaftes Wesen das mich stumm ansah und mir war als müsste ich ihm folgen an einen Ort ohne Wiederkehr Das Zwölfte Buch
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Vorwort Ein kleiner gelber Zettel, aufgeklebt auf einer Manuskriptseite, änderte die ganze Enwor-Geschichte. Wann und wo spielt eigentlich die Enwor-Saga?, stand da. Und noch ein Satz: Dringender Klärungsbedarf!!! Das Manuskript war die Urfassung der ersten Enwor-Geschichte »Malicia«, die mein Freund und Kollege Dieter Winkler Anfang der achtziger Jahre verfasst hatte, und die Botschaft galt mir, dem späteren Autor von einem knappen Dutzend Enwor-Romanen. Die Frage war durchaus berechtigt, denn seinerzeit hatten wir uns noch nicht auf alle Eckpfosten geeinigt, an der jede gute Geschichte aufgehängt ist. Fest standen die Hauptpersonen, die Art der Welt, in der sämtliche Enwor-Storys spielen sollten, und jede Menge Details. Über das Wann und Wo hatten wir uns zwar schon in vielen durchwachten Nächten die Köpfe heiß geredet, waren aber noch zu keiner endgültigen Entscheidung gekommen. Das holten wir bei unserem nächsten Treffen nach. Einem geheimen Ritus folgend, bauten wir zunächst ein wunderschönes FantasySchachspiel auf, um es dann nach den ersten zwei oder drei Zügen nicht mehr zu beachten. Stattdessen hatten wir uns heftig in der Wolle wegen der Zeit, in der Enwor spielen sollte. Mein Vorschlag, das Ganze in eine sehr weit entfernte Zukunft zu legen, stieß bei Dieter zunächst auf wenig Gegenliebe. »Das wird doch dann mehr Science Fiction als Fantasy«, grummelte er. Ich redete mit Engelszungen auf ihn ein und verstieg mich mit der »weit entfernten Zukunft« in zunehmend entferntere Gefilde, steigerte mich schließlich von tausend auf zehntausend Jahre. »Warum dann nicht gleich hunderttausend Jahre?«, meinte Dieter plötzlich. »Damit ist Enwor so weit weg von unserem eigenen Erfahrungshorizont, dass wir erzählerisch alle Freiheiten haben.« Nachdem wir beide an dieser Idee Gefallen gefunden hatten, nutzten wir die Gunst der Stunde, um die erste grobe Enwor-Karte zu entwickeln. Die Ähnlichkeit mit einem bestimmten bereits heute existierenden Kontinent ist dabei mehr als rein zufällig, wobei wir
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natürlich Rücksicht darauf nahmen, dass sich in einhunderttausend Jahren Küsten- und Flussverläufe durchaus ändern können. In einem anderen Punkt waren wir uns sehr viel schneller einig: dass wir das Enwor-Epos chronologisch erzählen wollten. Und damit stoße ich direkt durch zu der Frage, wie die ersten zehn Enwor-Bände, die ich in den achtziger Jahren schrieb, der Band »Das Elfte Buch« aus dem Jahr 1999 und die neuen Enwor-Abenteuer von Dieter Winkler zusammenhängen. Es gibt einen roten Faden, der sich durch alle Enwor-Romane zieht: der weit zurückliegende Kampf der Alten und der Sternengeborenen und das schwere Erbe, das sie den Helden hinterließen, ob sie nun Skar oder Daart heißen. Erzählt werden die Geschichten allerdings aus einer unterschiedlichen Perspektive. Die frühen Enwor-Kurzgeschichten wie auch die ersten zehn Bände spielen in einem relativ begrenzten Zeitraum von wenigen Jahrzehnten, »Das Elfte Buch« setzt rund zweihundert Jahre später an, in einer Zeit, in der bereits tiefgreifende Veränderungen stattgefunden haben, und ist so etwas wie die zeitliche Drehscheibe zu der daran anschließenden Epoche, in der die neuen Abenteuer spielen. Enwor hat sich in diesen Jahrhunderten dramatisch verändert. Und doch sind es die alten Konflikte, die immer wieder hervorbrechen. So ist es denn auch kein Zufall, dass »Der flüsternde See« eine Geschichte erzählt, die mit meiner Trilogie »Stein der Macht« über die seit Urzeiten brennende Stadt Combat eng verknüpft ist - und doch einen ganz anderen Blickwinkel hat… Viel Spaß bei Enwor wünscht Wolfgang Hohlbein
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TEIL 1 Ein Krieger wird nicht für seine Sünden bestraft, sondern durch sie. Das Zwölfte Buch
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Daart rannte um sein Leben. Seine Füße hämmerten in unregelmäßigem Rhythmus über den steinigen, von Flugsand bedeckten Boden, und sein rasselnder Atem hallte von den Felsgrotten wider, die sich vor ihm auftaten. Der Marin, der hinter ihm her war, war einst so etwas wie ein Vater gewesen. Jetzt war er sein Todfeind. Er ließ ihn jagen wie ein räudiges Tier, das man zur Strecke zu bringen gedachte, bevor es Schaden anrichten konnte. Und das nicht zu Unrecht, denn Daart war willens, Schaden anzurichten. Er würde alles tun, um seinen Ziehvater und die ganze verdammte Brut, die dieser gegen die Satai und jeden aufrechten Mann und jede aufrechte Frau Enwors führte, in die Grenzen zu verweisen. Er konnte und wollte nicht zulassen, dass Zar’Toran das Feuer der Zerstörung wiedererweckte, das seit Menschengedenken auf dem Grund des Glutsees ruhte. Das war die eine Seite. Die andere war seine Sehnsucht nach Carnac, deren lange, im Wind wehende Haare er in den letzten Wochen so selten zu Gesicht bekommen hatte, und dann auch nur über die Schultern schwer bewaffneter Feuerkrieger hinweg. Er musste sie unbedingt aus den Händen seines Ziehvaters befreien, der sie beide bis aufs Blut quälte und demütigte, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Doch zuerst musste er hier irgendwo Unterschlupf finden, ein sicheres Versteck, in das er sich drücken konnte, wenn seine Verfolger mit erschöpften, von schaumigem Schweiß bedeckten Pferden den Pfad hinaufgaloppierten und ausschwärmten, um ihm den Weg zum See und zum Gebirge abzuschneiden. Er stolperte, fing sich wieder und wandte den Kopf, um zurückzu-
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blicken, dorthin, wo er seine Verfolger vermutete. Rechts hinter ihm erstreckte sich das Land flach und nahezu völlig eben bis zum Horizont, linker Hand jedoch erhoben sich gleichförmige, gelbbraune Sanddünen, die gute fünf oder auch sechs Mannlängen hoch sein mussten. Dahinter ragten die Kämme weiterer, höherer Dünen auf eine zu Sand erstarrte Brandung, die, vom Landesinneren kommend, gegen die Hügelkette vor dem Schattengebirge anrannte und sie vielleicht in gar nicht allzu ferner Zukunft verschlingen würde. Und irgendwo dort hinten, an der tiefsten Stelle zwischen den Dünen, glaubte er dunkle Schatten auszumachen, vier, fünf schwarze Punkte, die direkt auf ihn zuhielten, die Vorhut seiner Verfolgertruppe. Sie waren zu Pferd, und er war zu Fuß. Er musste sehen, dass er weiterkam. Wenn sie ihn erwischten, bevor er einen sicheren Unterschlupf fand, war er verloren. Als er sich wieder umdrehte, zerstoben seine Gedanken wie Wellen, die gegen ein Riff prallen. Die Umgebung hatte sich verändert. Der auffrischende Wind brachte nicht nur kalte Luft, sondern auch den verheißungsvollen Geruch frischer Erde, blühender Gewächse und üppigen Buschwerks mit sich. Bislang waren es nur vereinzelte Sträucher und krumme, trockene Bergkiefern, deren lange Schatten davon kündeten, dass der Abend nah war, doch es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Vegetation üppiger wurde. Daart ließ den Blick über das Gestein, das Moos und die spärliche Pflanzendecke vor sich wandern, und für einen flüchtigen Augenblick hatte er den Eindruck, als bewegte sich etwas hinter einem der Felsen, das dort überhaupt nichts zu suchen hatte. Als er die Augen zusammenkniff, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen, war es verschwunden. Er fing an, Gespenster zu sehen. Und er durfte sich nicht aufhalten lassen. Gleich würden die Männer den zusammengebrochenen Rappen finden, den Daart im letzten Ausläufer der Ebene von Gatan hatte zurücklassen müssen, ohne dem treuen Pferd wenigstens die Kehle durchschneiden und seinem Leiden so ein Ende bereiten zu können. Er ahnte, dass dieser Anblick den Männern, die von dem Gewaltritt quer durch Enwor erschöpft sein mussten, neue Kraft verleihen würde, ja, er glaubte geradezu vor
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sich zu sehen, wie sie sich mit grimmig entschlossenen Gesichtern herabbeugten, um die Spur aufzunehmen, die seine nackten Füße im Sand hinterlassen hatten. Ihn entkommen zu lassen war ein schrecklicher Fehler gewesen; einen zweiten konnten sich die Feuerkrieger nicht leisten, wollten sie sich nicht dem zügellosen Zorn Zar’Torans aussetzen. Sie würden alles tun, um zu verhindern, dass er in das unübersichtliche Schattengebirge entwich oder sich gar bis zum Glutsee durchkämpfte. Daart rannte wieder los. Der Boden unter ihm, der aus gesprungenen, wild zusammengewürfelten Steinplatten bestand, deren Oberfläche durch Wind und Wetter spröde und rissig geworden war, wich nun kantigem, härterem Gestein. Er musste höllisch aufpassen, um nicht fehlzutreten. Schweiß war in seine Augen getropft und ließ ihn blinzeln, und so sah er den scharfkantigen Stein erst, als er den Fuß mit voller Wucht darauf setzte. Der Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Er riss die Arme hoch und schlitterte ein Stück auf dem Geröll weiter, bis er endlich das Gleichgewicht wieder fand. Als er sich umdrehte, sah er, dass er eine blutige Spur auf dem Geröll hinterlassen hatte - eine Fährte, die jedes Tier und erst recht seine Verfolger mit Leichtigkeit würden aufnehmen können. Er verfluchte sich dafür, nicht besser aufgepasst zu haben. Mit fliegenden Fingern riss er einen Fetzen aus dem mürben Gewand, das er gegen seine Satai-Kleidung hatte tauschen müssen, lehnte sich gegen einen Felsvorsprung und umwickelte den stark blutenden, aber wohl nicht ernsthaft verletzten Fuß, so gut es in der Eile der Zeit möglich war. Er ahnte, dass es umsonst war. Die Hoffnung, auf steinigem Untergrund so wenig Spuren zu hinterlassen, dass ihm selbst Zar’Torans beste Späher nicht mehr ohne weiteres würden folgen können, zerstob wie ein Reisighaufen, in den der Wind fährt. Eine Blutspur, und war sie auch noch so winzig, war für das geübte Auge unübersehbar. Doch das war jetzt nicht zu ändern. Ohne einen weiteren Augenblick zu verlieren, stieß er sich von der Felswand ab und hetzte weiter. Seine Augen glitten über das Gewirr von Steinen, Felsen und Vorsprüngen, das sich vor ihm auftat, suchten in der zunehmend üp-
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piger werdenden Vegetation nach einem Hinweis auf das, was ihm Rettung bringen konnte: Wasser. Es gab hier keinen Fluss, den hätte er schon aus der Feme hören müssen, aber vielleicht eine der vielen Senken, wie sie unterhalb des Schattengebirges üblich waren, ein stehendes Gewässer, das von einem unterirdischen Zulauf gespeist wurde. In das erfrischende Wasser einzutauchen und zu einer schwer einsehbaren Stelle zu schwimmen, um erst ab dort die Flucht zu Fuß fortzusetzen, würde seine Verfolger zu einer zeitraubenden Suche zwingen, bevor sie seine Spur am Ufer wieder aufnehmen konnten. Im anderen Fall würden sie wohl kaum Mühe haben, ihn schon in Kürze einzufangen: tot oder lebendig, wie es ihnen ihr tobender Herr und Gebieter so laut hinterher geschrieen hatte, dass selbst Daart es noch hatte hören können, als er längst im gestreckten Galopp in Richtung Norden geprescht war. Nicht weit entfernt, schräg über ihm, war die Stelle, auf die er es abgesehen hatte. Das Gestein sah dort wie eingebrochen aus, wie ein Wulst, der stehen geblieben war, nachdem sich in seiner Mitte eine Senke gebildet hatte. Es war nicht der Regen, dem dieser Teil des Schattengebirges südlich der Cor-Seen seinen Wasserreichtum und seine mitunter blühende Vegetation verdankte, es war das verzweigte System unterirdischer Zuläufe und Seen. Land der sprudelnden Quellen nannten die Einheimischen diese Gegend in Anspielung auf das, was das Überleben hier überhaupt möglich machte. Und trotzdem war er die letzten zwei Tage durch Sand und Staub geritten. Als einzig wirklichen spürbaren Unterschied zu der Nonakesh-Wüste auf der anderen Seite des Gebirges hatte er die Temperatur empfunden: Es war zwar unangenehm warm, aber beileibe nicht so glühend heiß gewesen, wie er es angesichts der sich scheinbar ins Endlose erstreckenden Wüste erwartet hätte. Daart war sich dieses Widerspruchs durchaus bewusst. Und auch hier war nicht alles so, wie es sein sollte. Statt eines üppig wuchernden Bewuchses, der in tausend Farben schillerte und ihn mit exotischen Düften hätte verwirren müssen, sah er nichts als karges Buschwerk und Pflanzen, die ganz offensichtlich um ihr Leben kämpften und teilweise sogar regelrecht vertrocknet wirkten.
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Während er zu dem steinernen Wulst hochkletterte, der sich mehrere Mannlängen über ihm auftat, fanden seine Finger Halt in schmalen Gesteinsritzen und harten Wurzelresten, und überall dort, wo er Erde zwischen die Finger bekam, zerbröselte sie, so staubtrocken war sie. Es war alles anders, als er es aus seinen Kindheitstagen kannte, die er gar nicht weit von hier entfernt in Guan verbracht hatte. Aber es passte auf erschreckende Weise zu der Wüste, die er und Carnac gebunden und gefesselt passiert hatten, obwohl er von ihrer Existenz zuvor noch nie gehört hatte. Carnac… Die Erinnerung an sie schlug mit unvermittelter Wucht über ihm zusammen. Er verfluchte sich dafür, dass es ihm nicht gelungen war, auch sie zu befreien. Er hatte es vorgehabt, er hatte dem Augenblick geradezu entgegengefiebert, in dem es ihm möglich gewesen wäre, seiner Waffengefährtin und Geliebten nahe genug zu kommen, um mit ihr gemeinsam Fluchtpläne zu schmieden. Während der unerträglichen, nicht enden wollenden Stunden, in denen er in schmerzhaft verkrümmter Haltung auf seinem Pferd gehockt hatte, war er die verschiedenen Möglichkeiten durchgegangen, die ihm noch geblieben waren, um Carnac zu befreien und Zar’Toran von seinem größenwahnsinnigen Vorhaben abzubringen. Wie auch immer er es drehte oder wendete und ob dabei Carnac an seiner Seite war oder nicht: Er musste unbedingt vor dem Magier den Glutsee erreichen und auf dessen Grund hinabtauchen, um dort den sagenumwobenen Feuertempel zu suchen, den die Guhulan mithilfe von Nubinas geheimnisvollem Amulett wieder heben wollten. Er hatte keine klare Vorstellung von dem, was ihn unten im Schlick erwartete, und schon gar nicht, in welchem Zustand die Gebäude sein würden, die dort vor vielen tausend Jahren versunken waren; aber er brannte darauf, dem See dieses Geheimnis zu entreißen. In seiner Kindheit und Jugend war er viel in dem unterirdischen, größtenteils unter Wasser stehenden Labyrinth getaucht, das die Ausläufer des Schattengebirges nahe seinem Heimatdorf durchzogen hatte. Dabei hatte er länger unter Wasser bleiben können als jeder andere Junge und jedes andere Mädchen aus seinem Dorf, und nicht nur das: Es hatte das berauschende Gefühl genossen, durch eiskalte Strömungen
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und enge Tunnel zu tauchen und doch immer wieder rechtzeitig einen Ausweg zu finden, bevor ihm die Luft endgültig auszugehen drohte. Diese Fähigkeit würde ihm jetzt zugute kommen, um den versunkenen Feuertempel zu suchen und sich dort nach dem Hebemechanismus umzusehen. Sollte ihm das tatsächlich gelingen, dann würde er ihn zerstören, um ein für alle Mal Zar’Torans Traum ein Ende zu bereiten, an die alten, machtvollen Zeiten der Feuerkrieger anzuknüpfen. Dafür wünschte er sich nichts sehnlicher als Carnac an seiner Seite. Er brauchte sie nicht nur als Kampfgefährtin, er brauchte sie noch viel mehr, um sich sicher zu sein, dass all der Kampf einen Sinn hatte, dass es wirkliche, leibhaftige Menschen waren, für die er sich einsetzte. Und er brauchte sie, um seine weitere Vorgehensweise mit ihr abzustimmen und sich sicher sein zu können, dass sie ihm den Rücken freihielt, wenn er in die Tiefen des Glutsees hinabtauchte. All die Tage hatte er sich bemüht, in ihre Nähe zu kommen, um mit ihr gemeinsam Fluchtpläne zu schmieden. Aber sein Ziehvater hatte vorgesorgt. Er hatte sie beide so weit voneinander entfernt gehalten, wie es in dem Tross seiner fast achtzig Reiter nur möglich gewesen war… Die Wurzel, die Daart mit der rechten Hand umklammert hatte, um sich mit ihrer Hilfe über einen Vorsprung zu ziehen, gab nach, und er musste sich zur Seite werfen, um den Hang nicht wieder hinunterzupurzeln, den er so mühsam erklettert hatte. Eine kleine Weile lang blieb er mit klopfendem Herzen und eng an dass bröselige Erdreich gepresst liegen. Er bekam Carnac einfach nicht aus dem Kopf. Bei ihrer letzten Begegnung, kurz nachdem die Guhulan sie aufgespürt und überwältig hatten, war es ihr sichtlich schlecht gegangen. Ihr Gesicht war bleich gewesen, die Ränder unter ihren Augen so tief und schwarz, das sie fast wie aufgemalt gewirkt hatten. Ihre Kleidung war eingerissen gewesen, verschmutzt und blutverschmiert. Das Schlimmste aber war die absolute Hoffnungslosigkeit in ihrem Blick gewesen, als sie ihn angesehen hatte. Sie musste glauben, dass nun auch das Amulett mit Nubinas Antlitz in Zar’Torans Hände gefallen war und damit der
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Schlüssel, um den Feuertempel zu heben und die alte Schreckensherrschaft des Feuers über ganz Enwor auszudehnen. Sie konnte nicht ahnen, dass sich jemand ganz anderes das Amulett angeeignet hatte: Ask, die junge Satai-Sjen, die ihn gefesselt in Zar’Torans Hände hatte fallen lassen. Er verscheuchte die bitteren Gedanken und den Groll, den er auf Ask hegte, und kletterte weiter. Es dauerte nicht lange, dann konnte er sich zum Rand des steinernen, von Moosen und Flechten überzogenen Walls hochziehen, der, wie er hoffte, ein ruhig daliegendes Gewässer umfasste. Daart wurde bitter enttäuscht. Unter ihm befand sich eine Senke, die so breit war, dass er lange gebraucht hätte, um sie zu durchschwimmen, wäre Wasser in ihr gewesen - was aber nicht der Fall war. Das, was vom Grund der zigfach gesprungenen Lehmschicht aufstieg, stank im wahrsten Sinne des Wortes gen Himmel, und die wenigen Pfützen, die er von seinem Aussichtspunkt aus auf dem Grund der Senke ausmachen konnte, sahen braun, brackig und wenig einladend aus. Daart warf einen hastigen Blick über die Schulter. Aus den sich unruhig bewegenden Punkten, die seine Verfolger bislang für ihn gewesen waren, schälten sich nun die deutlich sichtbaren Umrisse mehrerer Reiter heraus. Die Zeit zerrann ihm unter den Fingern. Er schwang die Beine über den Rand des Walls, drehte sich um und kletterte auf der anderen Seite auf allen vieren herab. Es konnte noch nicht allzu lange her sein, dass sich das Wasser hier zurückgezogen hatte, denn die Erde war feucht, an einigen Stellen sogar morastig. Seine Spur würde so gut zu erkennen sein, dass selbst ein Dreijähriger sie ohne Mühe verfolgen könnte. In aller Hast kletterte er weiter, bis er den schlammigen Grund erreicht hatte, und stürmte dann los, auf eine Ansammlung kleinerer und größerer Felsbrocken auf der anderen Seite der Senke zu. Was er brauchte, war der Zulauf, der den ausgetrockneten See gespeist hatte. Dort einzutauchen wäre ein Ausweg ganz nach seinem Geschmack. Wasser war ein Element, das ihn schon immer magisch angezogen hatte, vielleicht, weil es die einzige Kraft war, die dem Feuer ge-
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wachsen war. Sein Herz hämmerte laut und heftig, und seine Bewegungen verloren ihre anfängliche Geschmeidigkeit, während er sich in dem stinkenden Morast Schritt für Schritt vorwärts kämpfte. Dann hatte er endlich die Felsgruppe erreicht und erkannte zu seiner Erleichterung eine ausgewaschene Rinne, die schnurgerade durch zersplitterte Steinplatten und größere und kleinere Felsbrocken verlief. Ohne zu zögern hetzte er sie entlang, auch diesmal nicht, ohne eine deutlich sichtbare Fährte zu hinterlassen, grauschwarze, schlammige Abdrücke, die kaum zu übersehen sein würden. Doch schon nach ein paar Schritten platschten seine nackten Füße durch eiskaltes Wasser. Er war eindeutig auf dem richtigen Weg. Zumindest glaubte er das, bis ihn ein Knick um einen größeren Felsen herumführte. Dort wurde der Boden mit einem Mal wieder trockener, und Daart fiel auf, dass er keineswegs mehr eine Rinne entlanglief; er musste wohl bereits an dem Wasserzulauf vorbeigekommen sein, ohne es zu merken. Offensichtlich hatte er etwas übersehen. Mit einem sichernden Blick nach oben überzeugte er sich davon, dass noch keiner seiner Verfolger zu sehen war - was aber nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte -, dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Boden zu. Die Platten, über die er gegangen war, waren von vielen Faserrissen durchzogen, und an einigen Ecken waren ganze Stücke abgesprungen; aber sie waren viel zu regelmäßig geformt, um natürlichen Ursprungs sein zu können. Irgendjemand hatte sie hier verlegt, und wie es aussah, mit allergrößter Sorgfalt, doch dann musste eine Katastrophe stattgefunden haben, die die einst ebene Fläche fast vollständig zerschmettert hatte. Schon ein kleines Stück weiter waren nur noch Abrieb und Felssplitter zu erkennen, und die Rinne darunter glich eher einer Geröllhalde, so vollständig zerstört war sie an dieser Stelle. Aber das war noch nicht alles. Als er genauer hinsah, erkannte er, dass an den Felsen rings um ihn herum Schmelzspuren zu erkennen waren, als hätte hier ein unglaubliches Feuer getobt, das selbst Gestein zum Schmelzen bringen konnte. All das gefiel ihm überhaupt nicht. Er kannte zwar zur Genüge die
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Gerüchte über die gewaltigen unterirdischen Anlagen der Alten, die sich im Schattengebirge befinden sollten, aber es war ihm neu, dass Wasserzuläufe einst künstlich angelegt worden waren. Doch vielleicht stimmte das ja auch gar nicht. Vielleicht hatte sich das Wasser im Lauf der Zeit einfach einen Zugang in die Überreste einer uralten Anlage gegraben, die hier einst gestanden hatte. Ein leises Geräusch schreckte ihn auf. Als er aufsah, glaubte er, eine Gestalt zu sehen, die sich blitzschnell hinter einen kärglich mit Unterwasserflechten bewachsenen Stein duckte. Der flüchtige Eindruck eines Paars neugieriger Augen und ungewöhnlicher Körperproportionen verwirrte ihn; sie konnten genauso gut zu einem Tier wie zu einem Menschen gehören, oder auch genauso wenig, denn er hätte nicht im Geringsten zu sagen vermocht, wie er das Gesehene hätte einordnen sollen. Wie von selbst fuhr seine Hand zum Gürtel, dorthin, wo normalerweise das Tschekal in der Schwertscheide steckte. Aber da war nichts. Er bückte sich, nahm zwei faustgroße Steine auf, ohne den Felsen aus den Augen zu lassen, hinter dem die Gestalt verschwunden war, und ging dann den Weg zurück, den er kurz zuvor in der anderen Richtung entlanggeeilt war. Er war darauf gefasst, dass die Gestalt plötzlich in seinem Rücken auftauchte, während er seine Aufmerksamkeit auf den Felsen konzentrierte, hinter den sie sich geduckt hatte, doch das geschah - vorerst - nicht. Der Stein in seiner rechten Hand war so scharfkantig, dass sich die Ecken in seine Handfläche bohrten, als er ihn umschloss - bereit, ihn jederzeit mit voller Wucht einem Angreifer entgegenzuschleudern. Aber noch bot sich ihm kein Ziel. Der Felsen, auf den er zuhielt, war kaum groß genug, um irgendjemand Sichtschutz zu gewähren, schon gar nicht einem Krieger, der mit gezogener Waffe darauf wartete, dass er näher kam, um dann vorzuspringen und mit einer entschlossenen Schwertattacke über ihn herzufallen. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass es ein paar der Feuerkrieger geschafft hatten, ihn unbemerkt zu umreiten, um ihn jetzt inmitten dieses unwegsamen Geländes abzufangen - vollkommen ausgeschlossen war es nicht. Doch nicht das war es, was ihn beunruhigte. Es war das Gefühl, dass
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er von jemandem - oder von etwas - beobachtet wurde, und das vielleicht schon seit längerer Zeit. Dann hatte er die am stärksten zerstörte Stelle erreicht, die steiler abfiel, als er zuvor bemerkt hatte, als er hier hoch- und nicht hinuntergegangen war. Das Geröll unter seinen Füßen kam ins Rutschen, und er musste sich ausbalancieren, um nicht zu straucheln. Als er wieder aufsah, bemerkte er aus den Augenwinkeln ein fernes Aufblitzen vom oberen Rand der Senke her. Instinktiv duckte er sich. Keinen Augenblick zu früh. Dicht über ihm sauste ein Pfeil vorbei und schrammte über den nächsten Felsen, bevor er klappernd zu Boden fiel. Die Verfolger waren heran. Er hetzte im Zickzackkurs los. Zwei, drei Pfeile zischten irgendwo weit entfernt von ihm durch die Luft, dann traf einer genau neben ihm auf dem Boden auf. Es wurde eng. Mit einem einzigen Satz überwand Daart die letzten drei Schritte bis zum Felsen. Er war darauf gefasst, dass ihn die Gestalt angreifen würde, die ihn bis hierher verfolgt hatte. Seine Hand vibrierte regelrecht in der Erwartung, die Steine schleudern zu müssen, die er die ganze Zeit über fest umklammert gehalten hatte. Doch er sah sich getäuscht. Hinter dem Felsen war niemand. Es war eine Mulde, die sich dort auftat, und in ihr stand brackiges Wasser. Er hatte den Wasserzugang gefunden. Und das keinen Augenblick zu früh, denn als er sich umwandte, bemerkte er mehrere schwarz gekleidete Gestalten, die den Hang herunterkletterten, während ihn mindestens zwei Bogenschützen von oben her weiter unter Beschuss nahmen. Daart zögerte keinen Augenblick länger. Er duckte sich hinter den Felsen. Ohne den Stein aus der Hand zu legen, tunkte er einen Arm in die Wasserlache ein. Er beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht beinahe die Wasseroberfläche berührte. Trotzdem spürte er keinen Widerstand. Er würde wohl in das Wasser eintauchen müssen, um herauszubekommen, ob er auf diesem Weg aus der Falle entweichen konnte, in die er sich selbst manövriert hatte. Als er sich wieder nach oben beugte, sah er die Gestalt erneut. Flüchtig gewann er den Eindruck eines schmalen, schönen Frauenge-
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sichts mit bronzefarbener Haut und Augen, die in allen Regenbogenfarben schillerten. Über den kurz geschnittenen Haaren erhob sich etwas, was dort nicht hingehörte. Es sah beinahe aus wie ein Paar Flügel. Um ein Haar hätte Daart aufgeschrien. Er kannte dieses Gesicht. Jahrelang hatte er von ihm geträumt, war immer wieder aufgeschreckt mitten in der Nacht, schweißüberströmt und mit klopfendem Herzen, und dann hatte er die dumpfen Trommeln gehört, mit deren Lauten Zar’Toran seine Feuerzeremonien einzuleiten pflegte. Das Gesicht hatte ihn stumm gemustert, und auch als Daart die Augen aufgerissen hatte, war es nur allmählich gewichen, so als wäre es nicht nur Bestandteil eines Albtraums gewesen, sondern so real wie das der alten Kulana, die fast jedes Mal an sein Nachtlager geeilt war, wenn er im Schlaf aufgeschreckt und wie ein Verrückter getobt hatte. Dies war sein Todesengel. Als Kind war er sich sicher gewesen, dass er augenblicklich sterben musste, wenn er dieses Gesicht einmal bei hellem Tageslicht sehen würde. Aber er starb nicht, er starrte nur wie gelähmt auf die Stelle, an der sich das Gesicht aus dem Wasser erhoben hatte, um dann wieder einzutauchen und schnell zu verschwinden. Ein Pfeil, der dicht über den Felsen und kaum mehr als eine Handbreit über seinem Kopf entfernt an ihm vorbeisauste, brachte ihn wieder zur Besinnung. Er musste von hier weg, und der einzige Ausweg lag direkt vor ihm. Ob ihm die grazile Frauengestalt feindselig oder freundlich gesonnen war, ob sie ihn ins Verderben führen oder ihm im Gegenteil einen Ausweg weisen wollte, würde er nur herausbekommen, wenn er ihr folgte. Dort, wo sie ins Wasser gesprungen war, kündeten gekräuselte Wellen von der Schnelligkeit und Anmut, mit der sie sich bewegt hatte, aber auch davon, dass das hier mehr war als nur eine Pfütze. Ohne zu zögern warf er die beiden Steine weg, die ihn beim Tauchen nur behindern würden, und streckte probehalber den Fuß ins Wasser. Es war noch kälter, als er erwartet hatte, und trotzdem spürte er eine unglaubliche Erregung bei der Vorstellung in sich aufsteigen,
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dort einzutauchen. Mit den Beinen voran glitt er ins Wasser. Die Kälte schlug mit unbarmherziger Wucht über ihm zusammen, aber das war ihm in diesem Augenblick egal. Alles, was zählte, war, dass er den Guhulan entkam - und damit Zar’Toran, mit dem er noch eine ganz besondere Rechnung offen hatte.
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Es war für Daart wie eine Heimkehr gewesen, nahezu pfeilschnell durch das kalte Wasser zu gleiten wie in den wenigen glücklichen Stunden seiner frühen Jahre, und dann war es schneller zu Ende gewesen, als er geglaubt hatte, und er war prustend aufgetaucht. Er hatte geglaubt, es sei das verblassende Tageslicht gewesen, das ihn angelockt hatte. Aber das stimmt nicht. Als er sich vor Kälte zitternd über eine schmale Brüstung schob und ein Stück weiterrobbte, dorthin, wo das eiskalte Wasser seinen Körper nicht mehr umspülen konnte, erkannte er, woher das Licht wirklich kam. Es stammte von einer Hand voll Fackeln, die in eisernen Halterungen in der Wand steckten und um die Wette rußten, als wären sie nicht in Pech getränkt worden, sondern in einer anderen, weitaus unangenehmeren Substanz - was im Übrigen auch zu dem Gestank passte, der hier unten herrschte. Es war eine Art Grotte, in der er sich befand, nicht allzu groß, aber lang gestreckt; ihr Ende verlor sich irgendwo im Halbdunkeln, dort, wo es keine Fackeln mehr gab und die Schatten der unregelmäßigen Wände, der Decke und des Bodens zu gestaltlosen Schemen verschwammen. Von der schlanken Frauengestalt, die ihn hierher gelockt hatte, war nichts zu sehen. Und doch waren da irgendwo vor ihm Geräusche - wispernde Stimmen des Luftzugs, der durch die Grotte strich und sich an Rissen und Vorsprüngen brach, plätscherndes Wasser, das den schmalen Weg umspielte, der sich irgendwo in der Dunkelheit verlor, ein polternder Stein, Schritte und ein Rascheln wie von grobem Stoff. Daarts Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Er spürte eine dumpfe, kribbelnde Erregung, ein Gefühl, das tief in seinem Körper begann und sich bis in seine Arme fortsetzte. Langsam richtete er sich auf, wobei Wasser aus seinem klatschnas-
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sen Gewand tropfte und er sich die Arme rieb, um die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben. Auch wenn er noch immer keine Menschenseele sehen konnte, spürte er doch, dass ihn neugierige Augenpaare anstarrten. Die Grotte hatte Nischen und Vorsprünge, und vielleicht gab es auch Gänge, die seitlich herausführten; genug Gelegenheiten für jemanden, der sich hier unten auskannte, sich zu verstecken und den vom Fackellicht beleuchteten Ankömmling in aller Ruhe zu inspizieren. Daart fühlte sich an die dunklen Gänge in Eternity erinnert, durch die er und Carnac im Fackellicht gestolpert waren, und mit einem Mal glaubte er wieder Skar vor sich zu sehen, so wie er plötzlich vor ihm gestanden hatte, in dieser unterirdischen, zeitlosen Welt, in der die Gesetze der Zeit aufgehoben zu sein schienen und es zu Begegnungen gekommen war, zu denen es nach gesundem Menschenverstand niemals hätte kommen dürfen. Er blinzelte, und die eben noch fast greifbare Erinnerung löste sich in nichts auf und ließ ihn allein in der Grotte zurück. Daart stand endgültig auf und ging zitternd vor Kälte, aber ohne Hast zu der nächsten Fackel. Seine Finger umschlossen den kühlen Griff, der aus Metall gefertigt war und überraschend fest in der Halterung steckte. Mit einem Ruck riss er sie heraus. Irgendetwas quietschte, vielleicht eine Ratte, die sich von dem Geräusch herausgefordert gefühlt hatte. Daart drehte sich mit unbewegtem Gesicht um, trat zur zweiten Fackel und riss auch sie mit einem einzigen kraftvollen Ruck aus der Halterung. Mit jeweils einer Fackel in jeder Hand ging er den schmalen Weg entlang, bis er die erste Abzweigung erreichte, und leuchtete hinein. Es war kein Gang, wie er erwartete hatte, sondern eine weitläufige Höhle, von der sicherlich weitere Abzweigungen tiefer in den Berg hineinführten. Daart wusste, dass sich unter den Bergen ein wahres Labyrinth erstreckte und es nicht wenige gab, die behaupteten, es wäre groß genug, dass man ein ganzes Menschenleben hier entlanglaufen könnte, ohne zweimal den gleichen Gang nehmen zu müssen. Er selbst hielt das für eine maßlose Übertreibung, aber darauf kam es nicht an. Der entscheidende Punkt war, dass es ihm hier unten möglich war, den Guhulan zu entkommen, selbst wenn sie den Weg
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durch den unterirdischen Zufluss fänden. Dass bedeutete allerdings nicht, dass er sich viel Zeit lassen konnte. Er musste sehen, dass er von hier wegkam, bevor seine Verfolger prustend aus dem Wasser auftauchten. Wieder hörte er etwas, aber diesmal ganz nah, und dann direkt neben ihm. Er riss die Fackel in seiner Rechten hoch, bereit, damit zuzuschlagen, drehte sich um - und leuchtete in das Gesicht eines vielleicht zwölfjährigen Kindes, das unter ihm und damit unter einem Nebel kleiner Wassertropfen wegtauchte und so schnell an ihm vorbeilief, dass er nicht einmal die Gelegenheit hatte, zuzupacken und es festzuhalten. »Verdammt noch mal!«, brüllte er ihm hinterher. »Was soll das? Bleib stehen!« Das Kind, in Fetzen gekleidet und mager, blieb tatsächlich stehen, aber so weit entfernt, dass er es nicht am Kragen hätte packen können, um es festzuhalten. Seine Augen blinzelten halb angstvoll, halb erwartungsvoll ins Fackellicht, und erst jetzt erkannte Daart, dass es ein Junge war. »Du solltest das nicht tun«, sagte er mit erstaunlich fester Stimme. Daart blinzelte. Er fühlte sich fast in die Zeit zurückversetzt, als er selbst noch so klein gewesen war und versucht hatte, sich mit einer ähnlichen Mischung aus Vorsicht und Unverschämtheit durchs Leben zu schlagen. »Was hätte ich nicht tun sollen?«, fragte er. Der Junge fuhr sich mit der Hand quer über die Wange, wodurch die Schmutzschicht auf seinem Gesicht durch einen hellen Streifen unterbrochen wurde. »Du trägst Feuer in die Höhlen. Und führst unsere Feinde hierher. Das ist nicht gut.« Daart lächelte leicht und ließ die Fackeln sinken. Ihr flackerndes Licht zauberte wirre Muster auf die rauen, unbeschlagenen Höhlenwände, und es sah beinahe so aus, als erwachte das Gestein selbst zum Leben. »Wie kommst du nur darauf, dass ich eure Feinde hierhin führen könnte?« Der Junge machte einen halben Schritt zurück. »Weil ich es eben weiß«, sagte er hastig. »Es sind doch Guhulan, vor denen du wegrennst, oder?«
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»Wer hat dir das gesagt?«, fragte Daart scharf. »Etwa eine… außergewöhnliche Frau, die kurz vor mir hier angekommen ist?« Der Junge schüttelte kaum merklich den Kopf. »Wohl kaum. Du bist der Erste, der seit langem diesen Weg hier genommen hat.« »Das kann nicht sein«, beharrte Daart. »Ich bin jemandem gefolgt. Einer… zierlichen jungen Frau. Kurze Haare, bronzefarbene Haut.« Der Junge starrte ihn ungläubig an. »Und was war mit ihren Augen?« »Nun…« Daart erinnerte sich flüchtig an Augen, die in allen Regenbogenfarben schillerten und deren Blick ihn merkwürdig berührt hatte. »Sie waren… außergewöhnlich. Wie übrigens auch die ganze Frau.« Er machte eine ungeduldige Geste mit einer der Fackeln; Funken stoben auf, segelten wie ein Heer kleiner Glühwürmchen zu Boden. »Aber warum willst du das überhaupt wissen?« »Weil ich dann ganz sicher weiß, dass du ein Aufschneider bist«, sagte der Junge trotzig. »Die Najade zeigt sich nicht so einfach. Und schon gar nicht einem Fremden, und nicht hier, so weit weg von den Seen.« »Die Najade?«, fragte Daart neugierig. »Ist das ihr Name?« Der Junge zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein. Aber was geht dich das überhaupt an? Du dringst hier einfach ein, reißt Fackeln von den Wänden und fuchtelst so wild damit herum, dass du fast alles in Brand steckst.« »Und du verstehst es geschickt, von meiner Frage abzulenken.« Ein kalter Schauder lief Daart über den Rücken, als er das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte und dabei nasser, kalter Stoff über seine Wirbelsäule strich. »Also: Wer hat dir von mir erzählt? Und von wem weißt du, dass mir die Guhulan auf den Fersen sind?« »Das sieht man dir doch an der Nasenspitze an«, sagte der Junge frech. Daart schwenkte eine der Fackeln ein Stück weit in Richtung des Jungen, woraufhin dieser einen weiteren Schritt zurückwich. Das Funkeln in seinen Augen verriet, welchen Respekt er vor dem Feuer hatte. »Ich würde dir raten, mir meine Frage zu beantworten, bevor ich ungemütlich werde.«
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»Ich wusste gleich, dass du ein Barbar bist.« Der Junge winkte hastig ab, als Daart einen Schritt auf ihn zumachte. »Aber es ist ja kein Geheimnis. Ich weiß es von meiner Creeperin. Woher sie es weiß: keine Ahnung. Sie hat mich jedenfalls gewarnt. Ich soll hier Ausschau halten, und wenn ich auch nur den Zipfel eines Feuergewandes sehe, sofort Alarm schlagen.« »Und wenn du mich siehst?« »Na ja, dann soll ich es natürlich auch melden«, sagte der Junge hastig. »Aber das hat nicht viel zu bedeuten.« Daart hielt die Fackel ein Stück höher, um die Höhle so weit wie möglich auszuleuchten. Er erkannte lediglich ein Gewirr von Felsvorsprüngen und natürlichen Nischen - graues Gestein in verschiedensten Schattierungen, das keine Bearbeitungsspuren aufwies. In den Schattenbergen gab es eine Vielzahl solcher Höhlen, und auch wenn sie sich in Form und Größe unterschieden, hatten sie doch eines gemeinsam: Sie eigneten sich hervorragend als Versteck. »Wenn du nicht willst«, sagte er zu dem Jungen, »dass die Guhulan hier aufkreuzen, dann zeige mir einen Weg nach draußen.« Der Junge nagte an der Unterlippe, dann nickte er. »Aber ich verstehe nicht, warum ich dir den Weg zeigen sollte. Du kennst ihn doch. Du bist selber durch den Wassertunnel getaucht.« Daart seufzte und ließ die Fackel ein weiteres Stück sinken. »Ja, da bin ich durch eiskaltes Wasser getaucht, und jetzt friere ich mir die Seele aus dem Leib. Und abgesehen davon kann ich nicht mehr zurück. Die Guhulan…« Ein Geräusch neben ihm warnte ihn, aber zu spät; es gelang ihm noch, die Fackel nach oben zu bringen, da schlug etwas mit voller Kraft auf sein Handgelenk ein. Seine Finger öffneten sich fast wie von selbst, und die Fackel in seiner Rechten fiel zu Boden. Funken stoben auf, und ein Heer winziger kleiner Feuerkobolde schien in seine nackten Waden zu beißen. Daart wirbelte ansatzlos herum, riss die Fackel in der linken Hand nach oben - und erstarrte dann mitten in der Bewegung. Es war eine Frau, die ihm seine Waffenhand geprellt hatte, mager und verhärmt wie der Junge und gekleidet in ein schäbiges, löchriges Gewand, das zahlreiche Flecken aufwies und an
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der rechten Seite von Blut besudelt war. Ihr durchaus anziehendes Gesicht war unter einer Schmutzschicht fast erstarrt, und auch ihre langen schwarzen Haare sahen so aus, als wären sie schon lange nicht mehr mit Wasser und Seife in Berührung gekommen. Doch in ihren Augen funkelte tödliche Entschlossenheit, und allein die Tatsache, dass sie es geschafft hatte, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen und ihm die Fackel aus der Hand zu prellen, warnte Daart davor, sie zu unterschätzen. Die Frau ließ den Stock, den sie in der Hand hielt, hastig sinken und wich so weit zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. »Lauf, Thross!«, zischte sie leise, aber auf eine Art, die zeigte, dass sie keinen Widerspruch duldete. Thross dachte nicht daran, ihr zu gehorchen. Daart hörte Schritte aus der Richtung des Jungen, aber sie entfernten sich nicht, sondern kamen auf ihn zu. Aus den Augenwinkeln sah er, wie er sich bückte und einen besonders schweren Stein aufnahm. Die Situation hatte etwas derart Lächerliches, dass Daart beinahe laut aufgelacht hätte. Ein Kind mit einem Stein und eine Frau mit einem Stock gegen einen Satai! Das war grotesk. »Ich will euch nichts tun.« Daart kämpfte gegen den Impuls an, die Fackel von der linken in die rechte Hand zu wechseln; die beiden hätten es sicherlich als Vorbereitung für eine Attacke gewertet. »Ich möchte nur mit euch reden.« »Lass Shaila in Ruhe«, sagte Thross wütend und hob den Stein, als wollte er ihn im nächsten Augenblick werfen. »Gern«, sagte Daart. Er versuchte, ein entspanntes Lächeln aufzusetzen, aber so ganz wollte es ihm nicht gelingen. »Ich lasse euch in Ruhe, dich und Shaila. Zeigt mir einfach den nächsten Ausgang. Dann verschwinde ich auf Nimmerwiedersehen.« »Wir werden dir den Ausgang nicht zeigen!«, schrie der Junge. »Du wirst nie wieder hier herauskommen!« Daart seufzte. »Ich fürchte, ihr beiden versteht das nicht ganz. Ich bin nicht freiwillig hier. Und ich habe keineswegs vor, zu bleiben und euch zur Last zu fallen…« Er brach ab, als er vor sich Schritte hörte. Es war weder ein Kind
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noch eine verängstigte Frau, die sich näherten; nach dem recht schweren, wenn auch federnden Klang der Schritte und dem leisen Schaben einer ledernen Schwertscheide auf Stoff zu urteilen, waren es die Schritte eines Kriegers, die da aus dem tiefschwarzen Hintergrund der Höhle auf ihn zuhielten. Der Mann zog ein Bein kaum merklich nach, was ihn aber wohl nicht weniger gefährlich machte, zumal die Selbstverständlichkeit, mit der er sich hier in der Dunkelheit zurechtfand, gute Ortskenntnisse voraussetzte; ein unschätzbarer Vorteil, wenn es inmitten stockfinsterer Höhlen zu einer Auseinandersetzung kommen sollte. Daart schwenkte die ihm verbliebene Fackel vor seinem Gesicht. »Geht zurück, beide«, befahl er. Thross starrte ihn trotzig an, doch dann senkte er den Blick, als wollte er es nicht auf eine Kraftprobe ankommen lassen. Zumindest glaubte das Daart, bis sich der Junge bückte und mit einer blitzschnellen Bewegung die Fackel packte, die Shaila Daart aus der Hand geprellt hatte. Im nächsten Augenblick wirbelte er auch schon herum und lief ein paar Schritte zurück, um dann stehen zu bleiben und halb ängstlich, halb herausfordernd in Daarts Richtung zu blicken. Daart runzelte ärgerlich die Stirn. Er hätte Thross zweifellos noch erwischen können, doch er bezweifelte, dass der Krieger, der weiterhin mit gleichmäßigen Schritten auf ihn zuhielt, das als freundliche Geste aufgefasst hätte. Er musste aufpassen, dass ihm die Situation nicht entglitt. Trotz der schroffen Art, auf die er in dieser unterirdischen Welt empfangen worden war, bestand immer noch die Möglichkeit, dass ihm die Menschen hier weiterhalfen, wenn er es einigermaßen geschickt anstellte. Schließlich waren sie nicht seine Feinde, und er hatte auch nicht vor, sie durch eine Unüberlegtheit zu solchen zu machen. Das alles konnte Thross natürlich nicht wissen, und als Daart nicht weiter auf die Provokation reagierte, wurde sein Gesichtsausdruck eindeutig frecher. »Du solltest aufpassen, mit wem du dich anlegst, Fremder«, sagte er in einem übertrieben drohenden Tonfall. Daart nickte. »Ich werde mir deinen Rat merken, Junge.« Er wandte
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sich an die Frau. »Und nun geh zu ihm. Oder willst du den ganzen Tag in der Nische verharren?« Shaila strich sich unschlüssig durchs Haar. Als er seine Aufforderung mit einer fast befehlenden Handbewegung unterstrich, stieß sie sich widerwillig von der Wand ab, war mit ein paar raschen Schritten bei Thross und zog den widerstrebenden Jungen noch ein kleines Stückchen weiter, bevor sie beide wieder stehen blieben. »Komm uns nur nicht zu nahe«, sagte der Junge und schwenkte drohend die Fackel. Wie zur Antwort blitzte und funkelte es hinter ihm auf, als zögen gerade Dutzende von Kriegern ihre Waffen, um sich im nächsten Moment auf Daart zu stürzen. »Lass die Fackel lieber sinken, Thross«, ertönte eine sonore Stimme aus der Tiefe der Höhle. »Die Kraft des Feuers hat schon viel zu viel Unheil über die Welt gebracht.« In Thross’ Gesicht zuckte es, doch dann folgte er gehorsam der Aufforderung, und auch Daart beeilte sich, seine Fackel sinken zu lassen, um seine Lage nicht durch eine Nachlässigkeit zu verschlimmern. Er hatte keine Ahnung, was hier vorging. Nach wie vor waren es nur die Schritte eines einzigen Mannes, die er hörte, und auch das Klirren von Waffen blieb aus. Was waren das für Reflexionen gewesen, die er gesehen hatte und die nun wieder verblassten, kaum dass der Junge die Fackel wieder vor sich hielt? Die Schritte verlangsamten sich, und dann blieb der Mann vollends stehen, aber genau am zuckenden Rand des Lichtscheins, den Thross’ Fackel in den Hintergrund der Höhle warf, sodass Daart kaum mehr als einen dunklen Schatten erahnen konnte. Seine Sinne waren bis zum Äußersten gespannt. Er glaubte erneut ein verräterisches Aufblitzen zu erkennen, mit dem blank poliertes Metall einen zuckenden Lichtschein reflektierte - auf schwer zu beschreibende Art anders als zuvor, dafür aber genau dort, wo der Krieger stand -, aber schon im nächsten Moment war er sich dessen nicht mehr sicher. Wenn der Mann eine Waffe in der Hand hielt, dann ganz bewusst so, dass ihre Klinge nicht das Fackellicht widerspiegelte. »Weshalb bist du hier bei uns eingedrungen?«, fragte der Krieger. Daart zögerte kurz, während er sich fragte, ob er diese Stimme
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nicht schon einmal irgendwo gehört hatte; sie kam ihm jedenfalls mehr als nur vage bekannt vor. Bevor er den Gedanken weiterverfolgen konnte, hörte er das Rascheln von Stoff und kurz darauf ein metallisches Schaben, so als zöge der Mann jetzt sein Schwert. »Ich bin ein Satai«, sagte er rasch. »Und ich…« »Ein Satai?«, unterbrach ihn der Mann. »Das ist seltsam. Ich habe noch nie einen Satai ohne traditionelle Kleidung und ohne Tschekal gesehen. Dein Aufzug dagegen - du entschuldigst meine harten Worte - ist nicht nur lächerlich, sondern auch so schäbig wie der eines Bettlers.« »Das liegt daran…« »Dass du so leichtsinnig und unvorsichtig warst, wie es keinem Satai ansteht?«, unterbrach ihn der Krieger erneut. »Nein. Ja.« Daart straffte sich. »Es kann sein, dass ihr hier in eurer Abgeschiedenheit nicht viel von der Katastrophe mitbekommen habt, die Enwor seit Monaten heimsucht.« »Eine Katastrophe für wen?«, fragte der Mann. »Für dick gefressene malabesische Händler? Oder für feiste Bonzen in Besh oder Ikne?« »Nein. Eine Katastrophe für uns alle«, sagte Daart ärgerlich und deutete mit einer so heftigen Bewegung seiner Fackel nach oben, dass die Funken nur so stoben und wie kleine Glühkäfer durch die Luft sirrten. »Viele Satai sind tot, erschlagen von unseren Todfeinden, gefallen in völlig sinnlosen Kämpfen. In den Städten herrscht Aufruhr, ganze Landstriche wurden geplündert und verbrannt, überall wird gekämpft.« Der Krieger schwieg eine Weile. Dann fragte er: »Und was geht uns das alles an?« »Im Augenblick vielleicht nichts«, entgegnete Daart, ohne den Ärger und die Verzweiflung ganz aus seiner Stimme verbannen zu können, die ihm seit Monaten wie unsichtbare Verfolger im Nacken saßen, »aber das könnte sich sehr bald ändern.« »Du willst uns drohen«, stellte der Mann gelassen fest. »Nein, das liegt nicht im Entferntesten in meiner Absicht.« Der Krieger bewegte sich ein bisschen, beinahe so, als nähme er eine
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Kampfposition ein, und Daart musste sich zusammenreißen, um nicht einen Schritt nach vorn zu machen und sein Gesicht auszuleuchten. »Nicht ich bin eine Bedrohung für euch, sondern die Männer, die mich verfolgen«, sagte er stattdessen. »Du hast die Guhulan hierher gelockt«, stellte der Krieger fest. »Und du erwartest jetzt von uns, dass wir das gutheißen?« »Ich habe sie nicht hierher gelockt«, stellte Daart richtig. »Das ganze Gebiet zwischen den Sümpfen von Cosh bis hinauf zu den CorSeen ist unter ihrer Kontrolle, und damit auch das westliche Schattengebirge und die Höhlen hier unten. Und das fester denn je.« »Das mögen die Guhulan glauben, aber es entspricht nicht den Tatsachen«, sagte der Krieger. In seiner Stimme schwang plötzlich eine Gereiztheit mit, die vorher nicht da gewesen war. »Die Guhulan suchen schon seit einer Ewigkeit nach einem Weg, hier einzudringen. Und du hast ihnen den Weg gewiesen.« »Das wollte ich nicht«, sagte Daart erschrocken. »Ganz im Gegenteil! Nichts liegt mir ferner, als ihnen einen Vorteil zu verschaffen.« »Umso schlimmer, dass du es dann getan hast.« Der Krieger machte eine rasche Handbewegung, die Daart beinahe zu sehen glaubte, obwohl sie nur als ein Sammelsurium winziger Geräusche zu hören war. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Deshalb wirst du jetzt deine Fackel dem Jungen geben und mit mir kommen.« »Halt, so warte«, sagte Daart. »Erst will ich wissen, wohin Ihr mich bringen wollt.« »Thross«, sagte der Mann streng. Der Junge nickte hastig, trat auf Daart zu und streckte auffordernd die freie Hand aus. Daart zögerte. Die Fackel abzugeben, bedeutete, die einzige Waffe aus der Hand zu geben, die er im Augenblick hatte, und die einzige Möglichkeit, sich selbstständig in diesem düsteren unterirdischen Labyrinth zu orientieren. »Was ist?«, fragte Thross ungeduldig. »Gibst du mir nun endlich die Fackel?« »Ich wüsste nicht, warum«, sagte Daart. »Und je länger ich darüber nachdenke, will mir auch kein Grund einfallen, warum ihr mich nicht selbst die Fackel tragen lasst.«
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»Wir können nicht erlauben, dass irgendjemand Feuer in unser Heim trägt«, sagte der Krieger schroff. »Also gibt dem Jungen die Fackel.« »Und wenn ich es nicht tue?«, fragte Daart ruhig. »Das wäre töricht«, gab der Krieger ebenso ruhig zurück. »So, wie es immer töricht ist, wenn man sich nicht auf die Gepflogenheiten der Menschen einstellt, deren Hilfe man benötigt.« »Ich brauche eure Hilfe nicht«, sagte Daart. »Ich will nichts weiter als wieder nach oben, in die Berge. Und das so schnell wie möglich.« »Du bittest uns um das größte Geschenk, das dir die Caverner machen könnten, und behauptest dann, du brauchtest ihre Hilfe nicht?« Ein Rascheln kündete davon, dass der Krieger die Position wechselte. Daart spannte sich. »Das klingt mir nicht nach der Klugheit, die man den Satai gemeinhin nachsagt.« »Verzeiht, aber es geht mir nicht um Klugheit«, erwiderte Daart in bewusst spöttischem Ton. »Es geht mir einzig und allein darum, die Guhulan aufzuhalten. Und wenn ich Euch richtig verstanden habe, sind sie ja auch nicht gerade Eure Freunde.« »Was uns nicht zwangsläufig zu Verbündeten macht. Aber genug davon.« Der Krieger trat einen Schritt zurück, sodass die Dunkelheit ihn wieder vollends verschluckte. »Gib dem Jungen die Fackel, und dann lass dich von ihm zur Handelshöhle führen.« Thross grinste triumphierend, wohl wissend, dass Daart gar nichts anders übrig blieb, als dieser Aufforderung zu folgen, und dummerweise hatte er damit Recht. Widerwillig drückte Daart ihm die Fackel in die Hand. Der Junge trat einen Schritt zurück, atmete tief durch und stürmte dann an Daart vorbei auf das unterirdische Gewässer zu, durch das dieser das Höhlensystem betreten hatte. Daart wollte herumfahren und ihm folgen, doch der Krieger donnerte so laut »Halt!«, dass sein Ruf in vielfältigem Echo von den Wänden widerhallte und Daart begriff, dass er sich entscheiden musste, ob er es auf einen Kampf ankommen lassen wollte oder nicht. Er entschied sich für Letzteres und drehte sich wieder um, wobei er bemüht war, eine möglichst entspannte Haltung einzunehmen und
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das Zittern seines durchgefrorenen Körpers zu ignorieren. »Folge dem Jungen erst, wenn er zurückkommt«, fuhr der Krieger in ruhigerem Tonfall fort. »Und lass alles andere einfach geschehen.« Ob das ein wohlwollender Rat war oder ein Befehl, konnte Daart nicht entscheiden. Aber darauf kam es wohl auch gar nicht an. Der Junge hatte inzwischen die Abzweigung erreicht, verschwand in dem Tunnel - und mit ihm die Fackeln und ihr flackerndes Licht. Daart begriff, dass man ihn hereingelegt hatte.
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Die Schritte des Jungen verklangen schneller, als es unter normalen Umständen möglich gewesen wäre; wahrscheinlich war er irgendwo in einen anderen Gang abgebogen und rannte jetzt so rasch ihn seine Füße trugen davon. Mit ihm war auch der Rest der Helligkeit verschwunden, die der Schein der Fackeln bis zuletzt in die Höhle geworfen hatte. Daart hätte sich immer noch umdrehen und ihm nachlaufen können, er hätte sich auch aus dem Gang zwei neue Fackeln besorgen können - aber er tat nichts von alledem. Der Grund dafür war, dass er aus der Richtung des Kriegers nichts weiter als ein leises Rascheln hörte, beinahe so, als hätte der Mann ganz gelassen die Arme vor der Brust verschränkt, dass er dem Beispiel des Jungen folgte. Es kam Daart beinahe so vor, als ob dem Krieger daran gelegen wäre zu erfahren, wie Daart auf diese Situation reagierte: wie ein Satai oder wie ein Großmaul. Streng genommen war Daart noch kein Satai, da er noch nicht die Weihen des Hohen Rates erhalten hatte - was im Augenblick wohl auch kaum möglich war, da der Rat der Dreizehn zerschlagen war und mit ihm die Bergfestung im Tormon-Gebirge, in der die Zeremonie abgehalten wurde -, aber das spielte für ihn nicht mehr die geringste Rolle. Der Ereignisse der letzten Monate hatten ihn nachhaltig verändert. Als er zusammen mit Carnac in den Süden aufgebrochen war, war es ihm in erster Linie darum gegangen, nach der harten Ausbildung endgültig im Kreise der Satai aufgenommen zu werden. Damals hatte er noch nicht begriffen, dass es nicht eine Zeremonie war, die aus einem Anwärter einen Meister machte. Es war
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die Art, jene Herausforderungen zu meistern, die sich einem stellten, ob im Kleinen oder im Großen. Während des langen Weges aus dem Süden bis hier hinauf an den nördlichen Rand des Schattengebirges hatte sich das Hufgetrappel der Guhulan-Pferde in seine Gedanken gehämmert, stärker noch als die Schläge und Demütigungen, die ihm Zar’Toran hatte zukommen lassen, und mit jedem Hufschlag war seine Überzeugung fester geworden, seinen Ziehvater aufzuhalten, koste es, was es wolle. »Der Junge kommt wohl nicht mehr wieder«, sagte der Krieger unvermittelt. »Ich kann es ihm nicht einmal verdenken. Es muss ihn sehr erschreckt haben, einen erwachsenen Mann mit zwei Fackeln in der Hand in die Höhle eindringen zu sehen.« »Was soll daran so erschreckend sein?«, fragte Daart. Statt einer Antwort hörte Daart ein Rascheln. Es kam aus der Ecke, in der Shaila wie zur Salzsäule erstarrt war, bevor sie sich jetzt zum ersten Mal seit Verschwinden des Jungen rührte. »Es ist erschreckend und empörend«, sagte der Krieger. Als Daart nicht antwortete, fuhr er fort: »Zumindest für uns, die wir gewöhnt sind, mit wenig Licht und Feuer auszukommen.« »Ich verstehe nicht ganz«, erwiderte Daart. »Das Erste, was ich hier gesehen habe, als ich aus dem Wasser auftauchte, waren in regelmäßigem Abstand platzierte Fackeln, die die ganze Umgebung in flackerndes Licht getaucht haben. Wie passt das zusammen?« Die Frau hatte sich zuerst nur zögerlich bewegt, doch jetzt wandte sie sich um, wie Daart zu hören glaubte, und ging mit festen Schritten los, als könnte sie sich problemlos in der Dunkelheit zurechtfinden. Daart war gar nicht wohl dabei. Die Vorstellung, hier allein zurückzubleiben und der Dunkelheit ausgeliefert zu sein, die sich wie ein großer, schwarzer Mantel auf ihn gelegt hatte, war nicht gerade verlockend. »Es ist klug, die zu blenden, die bei uns eindringen«, antwortete der Krieger. »Und abgesehen davon sollen die Fackeln durchaus an Ort und Stelle verbleiben. Nicht umsonst haben wir sie so fest in die Halterungen gesteckt, dass sie sich nur mit Gewalt entfernen lassen.« Die Frau hatte den Krieger fast erreicht, wenn Daart die leisen Ge-
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räusche ihrer Schritte richtig deutete. »Wir sollten unser Gespräch an einem anderen Ort fortsetzen«, sagte der Krieger. »Folge uns.« Ein leises Rascheln kündete davon, dass auch er sich umdrehte, und kurz darauf gingen sie beide, er und die Frau, in die Richtung, in der die Höhle schmaler und geradezu zerklüftet wurde und der Weg in Windungen tiefer in den Berg hineinführte. Daart begriff, dass es wohl ein Fehler gewesen war, sich nicht ganz genau jede Kleinigkeit in der Höhle einzuprägen, als sie noch von den beiden Fackeln ausgeleuchtet worden war. Er hatte sich auf den Jungen, die Frau und den Krieger konzentriert, dem Weg durch die Höhle aber keine große Beachtung geschenkt. Aber wie hätte er auch ahnen sollen, dass er jetzt hier wie ein Blinder auf jeden anderen Sinn angewiesen sein würde, nur nicht auf seine Augen? Er überlegte ernsthaft, ob er zum Ausstieg des Unterwassertunnels zurückkehren sollte, um sich eine neue Fackel zu besorgen. Doch es erschien ihm ratsamer, dem Krieger dorthin zu folgen, wo es andere Menschen gab, die ihm weiterhelfen konnten; und das würde sicherlich in der Handelshöhle der Fall sein, von der der Krieger gesprochen hatte. Die Caverner kannten sicherlich mehrere Ausgänge aus diesem Höhlensystem, und er brannte darauf, endlich hier herauszukommen und einen Plan zu ersinnen, wie er Carnac befreien und Zar’Toran in seine Schranken verweisen konnte. Daart staunte insgeheim, wie schnell sich seine Sinne auf die Dunkelheit eingestellt hatten. Es war nicht das erste Mal, dass er sich in einem Tunnelsystem ohne ausreichende Beleuchtung wiederfand und sich orientieren musste, ohne etwas zu sehen, und doch hatte die Schwärze um ihn herum eine ganz andere, fast stoffliche Qualität. Es gab nicht das kleinste Funkeln, das schwächste Schimmern, das ihm den Weg gewiesen hätte. Der einzige Orientierungspunkt waren die beiden Menschen vor ihm, und es waren nicht nur ihre Schritte, die von den Wänden, Nischen und Vorsprüngen widerhallten, sondern auch etwas anderes, das er anfangs gar nicht einzuordnen vermocht hätte.
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Leise Schnalzgeräusche. Als er sie zum ersten Mal gehört hatte, war er zusammengezuckt. Es klang fast wie das Schnalzen einiger Reptilienarten, die mit ihren langen Zungen die merkwürdigsten Geräusche von sich gaben, wenn sie urplötzlich aus ihrem Erstarrungszustand erwachten und in dunkle Felsspalten oder Höhleneingänge huschten, um einem echten oder eingebildeten Feind zu entgehen. Er selbst hatte als Kind wiederholt versucht, eine Echse zu fangen, in der Absicht, sie dann auf offenem Feuer zu braten und seine kärglichen Mahlzeiten damit aufzubessern, aber kein einziges Mal war es ihm gelungen. Dazu waren sie einfach zu flink. Wiederholt hatte er sich gefragt, wie sie es schafften, nicht nur blitzschnell in jedem Schlupfloch zu verschwinden, sondern sich in den ausgedehnten Höhlensystemen im wilden Zickzackkurs zu bewegen; schließlich galten sie als fast blind. Nachdem er nun mindestens ein halbes Dutzend Mal schmerzhaft gegen einen Vorsprung geprallt war und seine bereits vorhandene Sammlung aus blauen Flecken um ein paar neue Prachtstücke erweitert hatte, ahnte er, warum ihm die kleinen Viecher damals immer wieder entwischt waren. Es waren die Schnalzlaute. Nur im ersten Augenblick hatte er geglaubt, sie stammten auch hier von kleinen Reptilien, doch dann hatte er seinen Irrtum erkannt. Einer der beiden, vermutlich die Frau, schnalzte in einem regelmäßigem Rhythmus mit der Zunge, ein kurzes, recht hohes Geräusch, das ganz anders von den Wänden widerhallte als ihre Schritte, die lediglich einen dumpfen, schwammigen Widerhall hervorriefen. Die Schnalzlaute dagegen kehrten als kleine, präzise Echos zurück, jedes ein bisschen anders als das vorhergehende. Wenn ein Hindernis vor ihnen war, wurde der Laut fast sofort wieder zurückgeworfen, öffnete sich dagegen die Höhle, dann dauerte es hörbar länger, bis er wiederkehrte. Aber das war noch nicht alles. Auch die Tonhöhe und die Art, wie das Schnalzen verhallte oder auch nicht, gaben Auskunft darüber, von welcher Beschaffenheit die direkte Umgebung war. Daart vermutete, dass man sich mit einiger Übung genauso präzise anhand der verschiedenen Klänge orientieren konnte wie mit einer hell leuchtenden Fackel in der Hand. Allerdings musste man dazu
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diese ganz bestimmte Lautsprache verstehen. Und davon war er noch sehr weit entfernt, auch wenn es ihm nach den ersten ein- oder zweihundert Schritten zunehmend besser gelang, schmerzhafte Rempeleien zu vermeiden. Dann, als er schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, zeichnete sich vor ihm ein schwacher, zuerst kaum wahrnehmbarer Lichtschein ab. Daarts Herz begann laut und hart zu pochen. Wenn dort ein Ausgang war, dann konnte er hier verschwinden, ohne sich mit den Bewohnern dieses Höhlensystems herumschlagen zu müssen. Und dann, endlich, konnte er aktiv werden: sich irgendwo ein Pferd, Waffen und Kleidung besorgen und in Richtung Glutsee reiten, um Zar’Toran mit einem Tauchgang zu überrumpeln, wenn er am wenigsten damit rechnete… Seine Gedanken zerstoben, als sich die Höhle weitete und aus dem zuerst nur sehr schwachen Schimmer etwas ganz anderes wurde. Es war weder Tageslicht, das ihn jetzt blendete, nachdem er eine ganze Weile durch vollkommene Finsternis gestolpert war, noch das unruhige Licht rußender Fackeln. Vielmehr war es ein vielfältiges Glitzern und Funkeln, unruhig und stetig zugleich und so ganz anders als alles, was er bislang je als Beleuchtungsquelle kennen gelernt hatte. Und doch konnte er noch nicht erkennen, woher das Licht überhaupt kam, in dessen Glanz sich die Umrisse des Kriegers vor ihm nun herausschälten. Nicht, dass es ihm etwas genutzt hätte. Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet, sein Kopf von einer Kapuze bedeckt, und da er ihm den Rücken zugekehrt hatte, konnte Daart sein Gesicht nicht sehen. Er war mittelgroß, schlank und zog das rechte Bein etwas nach, was ihn aber nicht daran hinderte, sich gleichmäßig, fast katzenartig, zu bewegen. Der Umhang, den er um die Schultern trug, flatterte leicht und erinnerte Daart wiederum an jemanden, ohne dass er auch nur im Entferntesten hätte sagen können, an wen. Dann verschwanden er und die Frau hinter einem scharfen Knick. Noch bevor Daart sah, wohin sie verschwunden waren, hörte er es bereits. Es war eine große Höhle, in der vielfältige kleine Geräusche davon
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kündeten, dass sich hier mehrere Menschen aufhielten. Es waren Geräusche, die anders waren als die, die Daart von Menschenansammlungen kannte; sie waren verhaltener, gedämpfter und vielleicht auch bewusster, weil die Bewohner dieses Höhlensystems mehr als andere darauf angewiesen waren, sich anhand von Geräuschen zu orientieren. Und doch glaubte Daart ein entferntes Kichern zu hören und dann einen Laut, der eindeutig nach einem Trommeln von Fingern auf nacktem Stein klang, so als wollte jemand damit seiner Ungeduld Ausdruck verleihen. Noch zwei, drei Schritte, dann hatte auch er den Knick erreicht. Ein Schwall abgestandener Luft schlug ihm entgegen, ein Durcheinander von Gerüchen, die er nicht einordnen konnte oder wollte. Aus der Vielzahl von Geräuschen schälten sich nicht nur einzelne Stimmen heraus, sondern auch ein Hämmern, Scharren, Klöppeln und Pochen, als verrichteten zahlreiche Hände die unterschiedlichsten Tätigkeiten. Als er um die Ecke trat, hielt er überrascht inne. Vor ihm tat sich eine große Höhle auf, die so hoch und breit war, dass man eine ganze Burg in ihr hätte unterbringen können. Zu behaupten, dass es in der Höhle vor Leuten wimmele, wäre zwar arg übertrieben gewesen, und dennoch: Daart war überrascht, wie viele Menschen sich in dem weitläufigen unterirdischen Areal aufhielten. Auf dem Boden hockten Kinder unterschiedlichsten Alters, von denen etliche mit farbigen Steinen spielten, und an den Wänden lehnten oder kauerten Männer und Frauen, teils im Gespräch vertieft, teils mit handwerklichen Arbeiten wie dem Schnitzen von Pfeilen, dem Schleifen schartiger Messerklingen oder dem Fertigen von Waffengürteln beschäftigt. Im Hintergrund boten Händler ihre Waren an, die sie vor sich auf dem Boden ausgebreitet oder in Kisten gestapelt hatten. Daart ließ den Blick kurz über das Angebot schweifen, das auf diesem unterirdischen Marktplatz gehandelt wurde. Es waren Nahrungsmittel darunter, sogar Obst, und eine Unzahl verschiedener Werkzeuge und Gefäße, außerdem Waffen - und Bücher. Mindestens zwei Händler hatten neben allerlei anderem Plunder einige in Leder gebundene, teilweise sehr mitgenommen aussehende Bücher vor sich
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auf dem Boden ausgebreitet, daneben Pergamentrollen und andere Papiere, über deren Herkunft Daart nicht einmal zu spekulieren wagte. Aber das war beileibe nicht das einzig Merkwürdige in dieser Höhle. Ihre Wände waren zerklüftet und wiesen zahlreiche Nischen und Vorsprünge auf, wie auch überall sonst in diesem unterirdischen Labyrinth, und doch war es ganz anders hier. Ein vielfältiges Funkeln und Glitzern ging von ihnen aus, nicht einmal besonders hell, und doch ausreichend genug, um die Höhle in ein unruhiges Licht zu tauchen, in dessen Glanz Daart sie weit überblicken konnte. Aber die beiden Menschen, die er suchte - den schwarz gekleideten Krieger und die Frau, die ihn hierhin geführt hatten -, konnte er nirgends entdecken. Und das beunruhigte ihn. Er kam nicht dazu, sich darüber Gedanken zu machen, denn mittlerweile hatte man ihn bemerkt. Die Kinder hörten auf zu spielen, die Erwachsenen verdrehten die Köpfe. Innerhalb weniger Augenblicke erstarb auch das letzte Gespräch. Daart reagierte darauf, indem er erst einmal gar nichts mehr tat. Er blieb einfach stehen, wo er sich gerade befand, ließ die Arme neben seinem Körper baumeln und versuchte, so etwas wie ein entspanntes Lächeln auf seine Züge zu zwingen. Es misslang ihm gründlich. Die Männer und Frauen, die ihn unverhohlen musterten, runzelten die Stirn, verschränkten die Arme vor der Brust und blickten misstrauisch, fast feindselig. Dabei glich kaum ein Augenpaar dem anderen. Daart hatte erwartet, die Angehörigen eines einzigen Volkes vor sich zu sehen, eine in sich geschlossene Gruppe von Höhlenbewohnern, die sich hier schon vor Ewigkeiten an ihre dunkle Umgebung angepasst hatten. Aber das war wohl eine allzu leichtfertige Annahme gewesen. Er sah hoch gewachsene Gestalten, die ihn an die schmalgliedrigen Menschen aus dem fernen Endora erinnerten, gedrungene Männer und Frauen, die gut in boranische Bauerndörfer gepasst hätten, und breitschultrige Männer mit muskelbepackten Armen, wie sie in Ikne und anderen großen Städten als Söldner zu finden waren. Als er seinen Blick nach hinten schweifen ließ - bedächtig und fast
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übertrieben langsam, um nur niemanden zu provozieren -, wandte sich jemand ab, dessen Gesicht einem Albtraum entsprungen zu sein schien. Seine Stirn und seine Wangenknochen waren nach außen gewölbt, und ihre merkwürdige Form erinnerte an kunstvolle Verzierungen. Daart hätte vor Überraschung fast aufgeschrieen. Es war nicht das erste Mal, dass er ein solch auffälliges Gesicht sah. Der flüchtige Anblick erinnerte ihn an etwas, das er im fernen Nyingma erlebt hatte und das ihm, je länger es zurücklag, eher wie ein böser Traum vorkam denn wie eine reelle Begebenheit. Es hatte mit den Prophetinnen zu tun und mit Carnac, die ihm damals in anderer Gestalt erschienen war… Daart machte einen Schritt nach vorne, willens, das Geheimnis zu lüften, das diesen Mann umgab. Ein Raunen ging durch die Menge, ein Laut, der von einem zum anderen wanderte, wie Wind, der die Ähren eines Kornfelds in einer Wellenbewegung niederdrückt. Daart wäre dennoch am liebsten dem Mann mit den wuchernden Wangen- und Stirnknochen gefolgt, aber alles, was er wagte, war ein zweiter Schritt… und dann deutete ein vielleicht vierjähriges Kind mit dem Finger auf ihn und fragte laut: »Ist das ein Guhulan?« Im nächsten Augenblick brach die Hölle los. Die Händler waren die Ersten, die reagierten. Sie rafften ihre Waren mit unglaublicher Geschwindigkeit zusammen. Nur einen Herzschlag später zogen Männer, Frauen und sogar ältere Kinder Waffen unter ihren Umhängen hervor, in der Mehrzahl handliche, kleine Stichwaffen, einige mit Widerhaken versehen, alle aber scharf geschliffen und in gepflegtem Zustand, wie Daart sofort erkannte. Er wich zurück, zur Wand hin, um nicht aus dem Rücken heraus überrascht zu werden, und nah genug an dem Gang, aus dem er gekommen war, um rasch entweichen zu können, sollte dies nötig werden. Ein sirrendes Geräusch war in der Luft, das sich von Augenblick zu Augenblick steigerte und dessen Ursprung er nicht erkannte, das aber die Menschen hier unten zu noch größerer Eile anzutreiben schien, denn wohin er auch blickte, sah er geschäftiges Treiben. Die Händler packten sich, von Umstehenden in aller Hast unterstützt, ihre Waren
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auf den Rücken und gerieten unter dem teilweise nicht unerheblichen Gewicht ins Wanken, was sie aber nicht daran hinderte, mit ihrer Last so schnell wie möglich die Höhle zu verlassen. Männer in dunkler, fast uniformer Kleidung eilten zu den Eingängen und bauten sich mit gezogenen Schwertern vor ihnen auf, wie um den Abmarsch der anderen zu schützen, während eine Gruppe von Erwachsenen und Jugendlichen sich den kleineren Kindern zuwandte, um sie in Sicherheit zu bringen. Das vierjährige Kind, das Daart gefragt hatte, ob er ein Guhulan sei, schrie protestierend auf, als eine junge Frau es hochriss und wegtragen wollte. Es war fast ein Fremdlaut inmitten des Getrappels von Füßen, des Scharrens von Leder, dem Rascheln von Kleidung und dem Klirren der Waffen der einzige nennenswerte menschliche Laut, sah man einmal von einem gelegentlichen Keuchen und einem unterdrückten Schmerzlaut ab. Offensichtlich wusste jeder auch ohne Worte, was zu tun war. Daart selber auch. Er musste machen, dass er hier wegkam. Sieben, acht einheitlich gekleidete Männer hielten genau auf ihn zu, und das war sicherlich alles andere als ein Zufall. Zu allem Überfluss sah er auch noch im Hintergrund der Höhle die beiden einzigen Menschen auftauchen, die er hier mit Namen kannte und die kaum einen Grund hatten, ihm auch nur im Geringsten wohl gesonnen zu sein: Shaila und Thross. Die schäbig gekleidete Frau sah sich gehetzt um. Dann hatte sie ihn entdeckt, gab dem Jungen einen kleinen Schubser, deutete auf ihn, und schon rannten beide auf ihn zu. Ihre Füße flogen nur so über den Boden. Geschickt sprang Shaila über eine umgestürzte Kiste hinweg, offensichtlich bemüht, ihn noch vor den Kriegern zu erreichen, und obwohl Thross so schnell rannte, dass Daart bei einer anderen Gelegenheit gar nicht anders gekonnt hätte, als ein paar lobende Worte dafür zu finden, hatte Shaila schon einen deutlichen Vorsprung vor ihm herausgearbeitet. Daart fragte sich weder, wie die beiden wieder zusammengefunden hatten, noch was sie von ihm wollten oder warum sie sich so abhetzten. Er spürte die Erregung, die alle Menschen hier ergriffen hatte, und fühlte, wie die Vibration des sirrenden Geräusches, das von überall her zu kommen schien, auch auf ihn übergriff. Er stieß sich
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von der Wand ab. Noch war der Gang, durch den er gekommen war, nicht bewacht, aber er wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Es konnte beides sein, aber die Krieger waren schon fast herangekommen, und er musste eine Entscheidung treffen. »Daart!«, schrie Shaila. Daart zuckte so heftig zusammen wie vielleicht noch nie zuvor in seinem Leben. Er hätte alles erwartet, einen Pfeil, der auf ihn zusurrte, einen Schwerthieb, mit dem ihn der vorderste der Krieger attackierte, die ihn schon fast erreicht hatten, oder vielleicht auch den Angriff einer Riesenechse, die aus der glitzernden Wand brach und Feuer auf ihn spie. Aber dass jemand hier unten seinen Namen rief, das war vollkommen absurd. Er hatte weder Shaila noch dem Jungen verraten, wie er hieß, und erst recht kein vertrautes Gesicht gesehen. Der Schwerthieb, mit dem er gerechnet hatte, kam, als Shaila schon fast heran war. Und es war, um genau zu sein, nicht nur ein Hieb und nicht nur ein Schwert. Die beiden vordersten Krieger griffen ihn an, so synchron und eingespielt, als hätten sie ihr ganzes Leben diese Art des Angriffs geübt. Daart blieb nichts anderes übrig, als unter den auf ihn zuzischenden Klingen hinwegzutauchen. Während einer der Männer nachsetzte, trat Daart mit aller Kraft gegen sein Standbein. Der Mann gab nicht den mindesten Laut von sich, aber er knickte in den Knien ein. Daart war mit einem Satz neben ihm und damit weg von dem zweiten Angreifer. Er packte die Schwerthand des Kriegers und verdrehte sie rücksichtslos; die Klinge polterte auf den Boden, und der Mann stolperte haltlos weiter, in das Schwert seines Kameraden. Die Klinge ritzte ihm den Arm vom Ellbogen bis zur Schulter auf. Jetzt schrie er, markerschütternd und voller Qual, und doch reagierte er ganz anders, als Daart erwartet hatte. Er brach nicht zusammen, torkelte nicht haltlos weiter, sondern sprang zur Seite und machte somit den Weg für die Klinge seines Kameraden frei, die rot von seinem eigenen Blut war. Daart brachte sein Schwert hoch, keinen Herzschlag zu früh. Funken sprühend schlugen die Waffen aufeinander, und dann waren auch schon die anderen Krieger heran.
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»Nein!«, schrie Shaila. »Hört auf! Das ist ein Satai!« Daart versuchte von der Wand wegzukommen, an die ihn die geschickt kämpfenden Krieger nageln wollten, bis sie einen oder mehrere entscheidende Treffer landen konnten. Die Männer machten es ihm alles andere als leicht; jeden seiner Ausbruchsversuche quittierten sie mit umso erbitterteren Attacken. Ihre Schläge prasselten präzise und kraftvoll auf ihn nieder, und mehr als einmal zischte eine Klinge so nah an seinem Kopf vorbei, dass er ihren Luftzug spürte. »Hört auf zu kämpfen, ihr Idioten!« Shailas Stimme überschlug sich, aber es war sinnlos. Keiner der Männer achtete auf sie. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, und jede noch so kleine Unaufmerksamkeit konnte zum Verhängnis führen. Und plötzlich waren es nicht mehr sie allein, die kämpften. Eine Explosion zerriss die Welt um sie herum, ein Knall, der so laut war, dass er jeden bewussten Gedanken aus Daarts Kopf hinwegfegte, und Licht überflutete die Höhle, sodass er für einen winzigen Moment die Augen zusammenkneifen musste. Als er sie wieder aufriss, flackerten bunte Kreise vor seinen Augen, und wäre es seinen Angreifern nicht offensichtlich ebenso ergangen, dann hätten sie ihn zweifellos überwältigen können. Daart schlug mit aller Kraft zu. Der Mann, auf den er es abgesehen hatte, sah die Waffe offensichtlich zu spät vor sich aufblitzen; die Klinge donnerte gegen seine Schläfe und ließ ihn wie vom Blitz getroffen zusammenbrechen. Daart hatte nur mit der Breitseite zugeschlagen, denn schließlich hielt er diese Männer nicht für seine Feinde, schon gar nicht, nachdem Shaila versucht hatte, den Kampf zu unterbinden. Aber er hatte so viel Wucht in seinen Schlag gelegt, dass der Mann wahrscheinlich erst in ein paar Stunden und dann mit einem Riesenbrummschädel wieder erwachen würde. Er nutzte seinen Vorteil und sprang zur Seite davon, weg von den anderen Männern, die das Licht offensichtlich länger als ihn selbst orientierungslos hatte werden lassen. Im gleichen Moment fühlte er sich an der Schulter gepackt, und hätte er nicht gewusst, wer ihn da herumzuwirbeln versuchte, hätte er sein Schwert hochgerissen und zugeschlagen. So aber machte er die Bewegung mit…
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… und starrte in Shailas gleichermaßen weit aufgerissene wie geblendet wirkende Augen. »Weg hier«, brüllte sie gegen den Lärm und das Chaos an, das wie eine Flutwelle über die Höhle hinwegbrach. »Ich bringe dich in Sicherheit!« Angesichts des unbeschreiblichen Durcheinanders um sie herum wirkte ihr Vorhaben vollkommen grotesk. Es waren die Guhulan, die gekommen waren - die er hierher gelockt hatte -, und so, wie es aussah, machten sie ihrem Namen als Feuerkrieger alle Ehre. Aus dem Gang hinter ihm schlugen Feuerlohen, die bereits zahlreiche Menschen erfasst hatten; brennenden Fackeln gleich taumelten sie zurück, brachen zusammen und wälzten sich über den Boden, um die Flammen zu ersticken. Von der Decke regnete glühendes Gestein, und wo es auftraf, zischte und fauchte das Feuer, wand sich wie brennende Schlangen über den Boden, biss sich in die fest, die ihm nicht schnell genug auswichen. Daart schlug Shailas Hand, mit der sie seinen Arm umklammerte hatte, beiseite und machte eine schnelle Drehbewegung - keinen Augenblick zu früh. Es war keiner der Krieger, mit denen er eben noch gekämpft hatte; es war ein Guhulan in einem Kampfgewand, das an einen Flammenwirbel gemahnte und ihn fast wie das Gestalt gewordene Feuer aussehen ließ, welches er und seine Waffenbrüder in die Höhle trugen. Dem Mann gelang ein harter Treffer auf Daarts unglücklich hochgebrachtes Schwert, sodass es ihm fast aus der Hand geprellt wurde. Daart versetzte Shaila ohne hinzusehen einen Schubs, der sie weit davontaumeln ließ, und vollführte dann mit seinem Schwert eine schnelle Schlagfolge, die den Guhulan in die Defensive brachte. Dann waren auch schon die Krieger heran, die Daart eben noch so zugesetzt hatten. Sie würdigten ihn nicht einmal eines Blickes. Vielleicht hatte Shailas Appell sie endlich erreicht, aber vielleicht begriffen sie auch, dass er wohl kaum ein Verbündeter der Guhulan sein konnte, so entschlossen, wie er jetzt gegen einen der Feuerkrieger kämpfte. Als sich der Guhulan mehreren Gegnern gegenübersah, tat er etwas
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sehr Überraschendes: Er drehte sich um, bevor er in die Reichweite mehrerer Schwerter kam, und floh. Ein vielstimmiger triumphierender Aufschrei quittierte seine Feigheit, als wäre sie der Auftakt zum Rückzug der Feuerkrieger, aber Daart glaubte nicht daran. Zar’Toran führte ein hartes Regiment, und es war undenkbar, dass sich seine Krieger zurückzogen, solange sie nicht vernichtend geschlagen waren oder er den Befehl dazu erteilte. Es gab eine ganz andere Erklärung: Der Mann hatte ihn erkannt und gedachte Meldung darüber zu machen. Daart wollte dem Fliehenden nachsetzen, um ihm das Schwert in den Rücken zu rammen, bevor er ihn verraten und Verstärkung holen konnte. Doch bevor er dazu kam, jagte aus einer ganz anderen Richtung ein Schatten auf ihn zu, wie um ihn davon abzuhalten. Daarts Erregung explodierte in einer einzigen Bewegung. Er riss das Schwert herum, wollte den Angreifer mit einem harten Hieb empfangen… … und hätte vor Enttäuschung fast aufgeschrieen. Im letzten Moment konnte er das Schwert noch in eine andere Richtung lenken, und es war nur purem Glück zu verdanken, dass die Klinge haarscharf an der schmalen Gestalt vorbeischrammte, die auf ihn zugesprungen kam. Es war schon wieder Shaila! Und als wollte sie ihr Glück überstrapazieren, fiel sie ihm auch noch in den Schwertarm. »Verdammt, Daart, du musst hier weg!« Daart riss den Arm nach oben, und Shailas Füße verloren die Bodenhaftung, aber sie ließ ihn nicht los, sondern fing ganz im Gegenteil wild an zu strampeln. Dann tauchte auch noch Thross auf. Die Haare des Jungen waren versengt, und eine Rußspur lief quer über seine Wange bis zu seinem Hals hinab, aber er schien zumindest unverletzt zu sein. Daart beschloss, dass das auch so bleiben sollte. »Verschwindet, ihr beiden«, brüllte er und schüttelte Shaila an seinem Arm wild hin und her. »Hier findet ihr nur den Tod!« »Du verstehst nicht, Daart«, kreischte Shaila. »Wenn sie dich erwischen, ist alles verloren.« »Ach ja? Dann wäre es vielleicht besser gewesen, du hättest mich
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nicht daran gehindert den Guhulan zu erschlagen, der mich erkannt hat!« Ein Schatten huschte über Shailas Gesicht. Doch bevor sie antworten konnte, war Thross bei ihm und umklammerte mit seiner kleinen, schweißnassen, wie wild zitternden Hand sein Handgelenk. Daart, der den Jungen nicht mit der erbeuteten Waffe verletzen wollte, erstarrte, und als er begriff, was Thross vorhatte, war es schon zu spät. Irgendetwas löste sich aus der Decke über ihnen, geschmolzenes Gestein oder auch nur ein Steinbrocken, der größer und schwerer als alle anderen war, die bislang herabgestürzt waren, und als er krachend neben ihnen aufschlug, verschwand das Gesicht des Jungen unter einer Wolke von Staub und Rauch. Als sich Daarts Blick wieder klärte, hielt Thross immer noch sein Handgelenk umklammert, aber er stand jetzt genau vor seinem Schwert, so nah, dass die scharf geschliffene Klinge ihm fast die Kehle ritzte. »Stich schon zu«, sagte er. Sein Gesicht war verzerrt und voller Angst, als fürchtete er, Daart könne seiner Aufforderung sofort nachkommen. »Dann geht es schneller. Denn wenn du stirbst, werden wir alle sterben.« Daart zögerte. Zwei, drei hämmernde Herzschläge stand er einfach so da, unfähig, eine Entscheidung zu treffen, während immer mehr Guhulan in die Höhle strömten, Schwerter aufeinander krachten und feurige Glut über den Boden kroch und sich auf seine nackten Füße zuwand. Seine Gedanken überschlugen sich. Es gab keine Erklärung für das Verhalten des Jungen. Thross’ Gesicht war verzerrt, er war fast verrückt vor Angst, aber er ließ nicht locker, und alles, was Daart hätte tun können, um sich zu befreien, hätte bedeutet, dass er dem Jungen die Kehle aufgeritzt hätte. »Wir müssen die Guhulan aufhalten!«, schrie Shaila. »Und dafür brauchen wir dich. Aber nicht hier.« Daart hatte keine Ahnung, was sie damit meinte - außer, dass die beiden ihn offensichtlich und mit allen Mitteln daran hindern wollten, das zu tun, was er tun musste: seine Todfeinde zu bekämpfen, solange er noch die Gelegenheit dazu hatte. Das konnte und wollte er nicht zulassen. »Lass los, Junge«, brüllte Daart. »Ich will dir nicht wehtun!«
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Ein Funken schlug in das Gewand des Jungen und setzte es in Brand, doch er ließ immer noch nicht los; ganz im Gegenteil, es kam Daart sogar vor, als krallten sich seine dürren Finger nur noch fester um sein Handgelenk. »Bitte!«, kreischte er. Das gab den Ausschlag. In der verkrümmten Haltung, in der der magere Junge dastand, während sich die Funken durch die Stoff hindurch auf seine Haut fraßen, zeigte sich eine Qual, aber auch eine Beharrlichkeit, der Daart nichts anderes würde entgegensetzen können als nackte Gewalt. Thross hatte längst den Punkt überwunden, an dem er sich mit Worten erreichen ließe, und so verrückt sein Verhalten auch sein mochte, zeugte es doch von einer Kraft, die den Jungen einst zu einem gefürchteten Kämpfer machen würde - wenn er denn lange genug lebte, um erwachsen zu werden. Daart blieb nichts anderes übrig, als das Schwert sinken zu lassen, ganz langsam und vorsichtig, die einzige Bewegung, die er wagen konnte, ohne dass er Gefahr lief, Thross die Kehle aufzuschlitzen. Die Männer, gegen die er gekämpft hatte, waren inzwischen zurückgeschlagen worden, und es sah beinahe so aus, als wäre es das Feuer selbst, das sie zurücktrieb; flammenden Wirbeln gleich, aus denen spitze, Tod bringende Klingen hervorzuckten, jagten die Guhulan durch Rauch und sirrende Funken in ihren Kampfgewändern heran, ein Furcht erregender Anblick, der allein schon gereicht hätte, um weniger tapfere Männer in die Flucht zu schlagen. Daart blinzelte kurz, und aus dem Vorhang aus brodelnder Luft, der zwischen ihm in den Angreifern war, schälten sich statt Flammendämonen die Umrisse von mindestens fünf Guhulan heraus. Unter ihnen war natürlich auch der Mann, den Daart noch hätte töten können, wenn Shaila ihn nicht daran gehindert hätte; als er Daart entdeckte, verzog sich sein Gesicht zu einer triumphierenden Grimasse. Daart konnte keine Rücksicht mehr auf den Jungen nehmen und trat ihm in einer fast beiläufigen Bewegung in den Magen. Thross krümmte sich, während seine Finger von Daarts Hand glitten. Daart aber sprang nach vorn, den Feuerkriegern entgegen, und versetzte gleichzeitig dem Jungen einen Stoß, der diesen in die zweifelhafte
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Sicherheit eines Teils der Höhle schleuderte, in dem noch kein Feuer von der Decke regnete und sich Männer und Frauen verzweifelt vor den Angreifern in Sicherheit zu bringen versuchten, während giftige Rauchschwaden nach ihnen griffen. Er kam gerade noch rechtzeitig, um sich zwischen den ersten Guhulan und einen der Männer zu werfen, mit denen er eben noch erbittert gekämpft hatte. Sein Schwert parierte die Schläge des Guhulans und suchte dann wie ein eigenständiges Wesen nach einer Lücke in der Deckung des Feuerkriegers, nach einem winzigen Zeichen von Schwäche. Daart war gleichermaßen hochkonzentriert wie auch überhaupt nicht bei der Sache; es war, als hätte sich der Krieger in ihm abgespaltet, um eigenständig seine Todfeinde zu bekämpfen, während der Rest in ihm versuchte, einen Ausweg aus der Situation zu finden, in die er sich selbst gebracht hatte. Zar’Toran hatte seinen Männern hinterhergeschrieen, dass sie ihn tot oder lebendig zurückbringen sollten, und wie es aussah, waren sie bereit, seinen Befehl auf die einzige Art und Weise zu erfüllen, die ihnen jetzt, in diesem von ihnen angerichteten Durcheinander, noch übrig blieb. Sie würden ihn töten. Es sei denn, er fand einen Ausweg. Der Guhulan ließ ihm nicht viel Entscheidungsspielraum. Er kämpfte gut, ließ seine Waffe vor und zurück schnellen, kleine, feste, zuckende Bewegungen vollführen. Obwohl Daart jede der Finten voraussah, weil er selbst einst von den Guhulan im Schwertkampf ausgebildet und in fast all ihre Tricks eingeweiht worden war, hatte er Mühe, sie mit dem für seinen Geschmack deutlich zu kurzen Schwert zu parieren. Mit seinem Tschekal wäre die Sache anders ausgegangen, doch so, das begriff er nur zu schnell, würde er nicht lange standhalten können, wenn sich erst einmal die anderen Guhulan zu ihm durchgekämpft hatten. Und dann war es so weit. Der Mann, der neben ihm kämpfte, stieß plötzlich einen schrillen Schrei aus und brach blutüberströmt zusammen. Daart sah aus den Augenwinkeln, wie sich der Guhulan umwandte, seine blutgetränkte Klinge hochbrachte und auf ihn zustürzte… Und dann warf sich plötzlich Thross dazwischen. Der Junge hielt
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ein Messer in seinen kleinen Händen, das er von irgendwo aufgeklaubt hatte, und für einen winzigen, verrückten Moment sah es tatsächlich so aus, als gelänge ihm, es dem überraschten Feuerkrieger in die Seite zu rammen. Der Guhulan brachte sich mit einem Satz aus der Reichweite der kleinen Klinge und fuhr herum, um sein Schwert niedersausen zu lassen. »Nein!«, schrie Daart. Er sprang ab. Seine Bewegung war so schnell, dass der Guhulan, mit dem er kämpfte, den Vorteil seiner aufgegebenen Deckung nicht nutzen konnte, um ihm die Waffe in die Seite zu rammen. Und trotzdem war er zu langsam. Das Schwert zuckte auf den hilflosen Jungen hinab, der gar nicht begreifen konnte, was gerade geschah. Ein flammender Stein, kaum größer als eine Kinderfaust, sauste von der Decke herab, und als wäre er von einem wütenden Gott geschleudert worden, traf er Thross’ Schulter. Der Junge kippte zur Seite, während das Schwert auf ihn niedersauste, und sein Schrei vermischte sich mit dem hässlichen Geräusch, mit dem die wuchtig geschlagene Klinge des Guhulans auf dem Boden aufschlug. Dann war Daart auch schon heran. Er packte den Jungen, riss ihn mit sich und stürmte los. Aber die Klinge des Guhulans zuckte auf ihn zu und ritzte ihn an der Schulter, und sie wäre weiter eingedrungen, wenn nicht in diesem Moment der zweite Feuerkrieger herangekommen und im vollen Lauf gegen seinen Waffenbruder geprallt wäre. Daart kümmerte sich nicht darum. Den Jungen fest unter den Arm geklemmt, spurtete er los. Überall wurde gekämpft, schlugen und stachen die Verteidiger um sich, aber so erbittert sie sich auch gegen die Guhulan zur Wehr zu setzen versuchten, waren sie doch eindeutig auf dem Rückzug. Tote und Sterbende lagen auf dem Boden, und erschreckend wenige von ihnen trugen die Kampfgewänder mit den Flammenwirbeln der Feuerkrieger. Es war ein unbeschreiblicher Lärm, der in der Höhle widerhallte, das Herabpoltern losen Gesteins, das Zischen, Prasseln und Fauchen der Flammen, die rundum hervorschossen, die Schreie Verwundeter, das Klirren aufeinander prallender Schwerter. Inmitten des Rauchs
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und des Feuers drohte Daart vollkommen die Orientierung zu verlieren. Es widerstrebte ihm, dem Kampf auszuweichen, der hinter ihm mit unerbittlicher Wucht tobte, aber er wollte, er musste Thross in Sicherheit bringen; wenn auch vielleicht nur, weil er ihn an den kleinen Jungen erinnerte, der er selbst einst gewesen war und der inmitten des von den Guhulan beherrschten Dorfes verloren gewesen wäre, wenn ihm nicht immer wieder jemand gegen alle Vernunft geholfen hätte. Die Luft, vorher schon abgestanden und so schlecht, dass Daart allein aus diesem Grund am liebsten so schnell wie möglich von hier verschwunden wäre, war mittlerweile kaum noch zu atmen. Seine Lunge schmerzte bei jedem Zug, und in seiner Kehle schien pures Feuer zu lodern. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die ersten Menschen hier nicht unter den Klingen der Angreifer zu Boden gingen, sondern aus Luftmangel, bis sich der Rauch wie ein erstickendes Leichentuch über sie legte und sie jämmerlich erstickten. Shaila hatte Recht gehabt. Er musste hier raus, wenn auch vielleicht aus einem ganz anderen Grund als dem, den sie ihm genannt hatte. Der Junge hing leblos in seinen Armen, und wenn er ohnmächtig geworden war, würde es nicht mehr lange dauern, bis seine Lunge endgültig das Atmen aufgab. Daarts Augen tränten mittlerweile so stark, dass er seine Umgebung nur wie durch einen Schleier wahrnahm. Er wäre wahrscheinlich weiter ziellos durch die riesige Höhle gestolpert, darum bemüht, den Feuernestern auf dem Boden auszuweichen, wenn nicht Shaila wieder in seinem Gesichtsfeld aufgetaucht wäre. Sie torkelte auf ihn zu, griff in sein Gewand, und nur ganz am Rande nahm Daart wahr, dass Stoff riss. Shaila drehte sich wieder um und zog ihn mit sich, und Daart, mittlerweile kaum noch in der Lage, irgendetwas zu sehen, begriff, dass er sich ihr anvertrauen musste, wollte er überhaupt die Gelegenheit haben, hier noch rechtzeitig herauszukommen. Er stolperte, und seine Umgebung verschwamm vor seinen Augen, und da war plötzlich nicht mehr Shaila vor ihm, sondern der dunkle Schatten eines Ganges, und dann ergriffen ihn starke Arme und zogen ihn mit sich.
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Daart hatte nicht wirklich das Bewusstsein verloren, aber für eine nicht fassbare Zeitspanne nahm er alles nur undeutlich und wie aus weiter Ferne wahr. Zuerst hatte er sich wehren wollen, als man ihm den Jungen abnahm, doch dann, als er begriff, dass er nicht seinen Feinden in die Hände gefallen war, gab er seinen Widerstand auf. Es war Shaila, die sich des Jungen annahm - es war ihm ein Rätsel, wie sie die Kraft dazu aufbrachte - , und dann packten ihn kräftige Männerarme und schleiften ihn mit sich durch die Dunkelheit. Schon bald blieben die Kampfgeräusche, das Zischen und Prasseln hinter ihnen zurück, und mit jedem Schritt, den sie vorankamen, wurde die Qual geringer, die zuvor jeder einzelne Atemzug gewesen war. Es war sicherlich alles andere als frische Luft, die ihn umströmte, doch in diesem Moment kam sie ihm köstlicher vor als alles andere, was er je geatmet hatte. Schließlich hielten die Männer an. Um ihn war nichts weiter als Dunkelheit und Schweigen, bis plötzlich etwas vor ihm rasselte - und dann stahl sich ein schwacher Lichtschein in den Gang, der ihn überrascht blinzeln ließ. Die Männer stießen ihn vorwärts, durch einen schmalen Durchgang hindurch, und als sie wieder neben ihm waren und ihn unter die Arme packten, hatte sich seine Umgebung vollkommen verändert. Es war nicht länger ein stockfinsterer Tunnel, durch den er gestoßen wurde, sondern ein mit Metall ausgekleideter Gang in der Art, wie ihn die Alten in den Berg getrieben hatten. Ein schwaches, bläuliches Licht füllte seine ganze Umgebung aus, und erst in seinem Widerschein erkannte er, dass die beiden Männer, die ihn stützten, sich selbst kaum noch auf den Beinen halten konnten. Der Mann zu seiner Rechten, ein schmächtiger, aber muskelbepackter Krieger, war über und über mit kleineren und größeren Brandwunden übersät, und sein Gesichtsausdruck war so grimmig, dass Daart rasch den Blick von ihm wandte und den anderen Mann musterte, der kaum weniger mitgenommen als sein Waffenbruder wirkte und neben den Brandwunden auch noch eine frische Schnittwunde an der Schulter aufwies. Als dieser seinen Blick bemerkte, runzelte er
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die Stirn und starrte ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Abscheu an. »Danke«, krächzte Daart. »Ich glaube, ich kann jetzt… selbst wieder laufen.« Die beiden Männer würdigten ihn keiner Antwort. Dafür bekam Daart die Strafe für seine vorlauten Worte; seine malträtierte Kehle zog sich zusammen und dann schüttelte ihn ein so heftiger Hustenanfall, dass er den Kopf beugen musste, um wenigstens wieder einigermaßen zu sich zu kommen. »Wir sind da«, knurrte der muskelbepackte Krieger, und der andere fügte hinzu: »Und wir werden sehen, dass wir noch ein paar andere aus der Flammenhölle retten können, die du zu verantworten hast.« Ohne viel Federlesens lehnten ihn die beiden Männer an die überraschend kühle und glatte Wand, und es hätte nicht viel gefehlt, und Daart wäre mit dem Rücken an ihr herabgerutscht. Er musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um in einer gekrümmten Haltung an die Wand gelehnt zu verharren. Vor seinen Augen tanzten bunte Punkte, und als er den Kopf hob, um den beiden Männern nachzusehen, die jetzt ohne ein weiteres Wort gingen, wurde ihm schwindlig. »He!«, rief er ihnen nach. »Was soll ich hier? Kommt ihr wieder zurück?« Die beiden Krieger machten sich nicht einmal die Mühe zurückzusehen. Kurz darauf waren sie hinter einer Biegung im Gang verschwunden; eine Weile waren noch ihre Schritte zu hören, bis auch sie verstummten. »Vielen Dank fürs Herbringen«, murmelte Daart. »Ich finde mich dann schon allein zurecht.« Natürlich antwortete ihm niemand, und Daarts pochender Herzschlag, das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und seine rasselnden Atemzüge waren das Einzige, was an sein Ohr drang. Er verharrte noch eine Weile in gekrümmter Haltung, dann versuchte er sich aufzurichten; es ging mehr schlecht als recht. Ausgesetzt in einem Labyrinth, aus dem man nie wieder herausfand - vielleicht war das die Strafe, die man ihm zugedacht hatte.
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Aber immerhin war hier nicht die geringste Spur der Feuerkrieger zu sehen. Es hätte schlimmer kommen können, fand Daart. Schlimmer als was?, meldete sich die Stimme in ihm zu Wort, dieses Ding, von dem er nicht wusste, was es war, schlimmer, als Tod und Vernichtung in die Höhlen zu tragen? Schlimmer, als dafür verantwortlich zu sein, dass sich irgendwo hinter dir immer noch Menschen in Todesqual winden, nur weil du so leichtsinnig warst, ihre Todfeinde hierhin zu führen? Daart stöhnte auf und ballte die Fäuste so fest, dass sich die Fingernägel schmerzhaft in sein Fleisch bohrten. In seinem Innern brodelte der Nachhall des schrecklichen Feuersturms, den die Guhulan in der Höhle entzündet hatten; er wusste, dass das Grauen noch lange nicht zu Ende war, dass noch immer Menschen qualvoll erstickten oder verbluteten, weil die Schwerter der Guhulan oder herabstürzendes, feuriges Gestein tiefe Wunden in ihre Leiber gerissen hatten. Und das Allerschlimmste war, dass er vollkommen machtlos war, dass er jetzt nicht dort war, um den Menschen gegen die Guhulan beizustehen, die vielleicht immer noch unter ihnen wüteten. Die Frage ist, fuhr die Stimme erbarmungslos fort, was du jetzt gegen die Guhulan unternehmen willst. Hast du wirklich geglaubt, du allein könntest sie aufhalten? Bist du noch nie auf den Gedanken gekommen, dass du Verbündete brauchst, wenn du verhindern willst, dass Zar’Toran die Macht des Feuertempels im Glutsee wiedererweckt? »Doch, ich bin schon auf den Gedanken gekommen.« Daart taumelte ein paar Schritte weiter, in die Richtung, in der die beiden Männer verschwunden waren, knallte gegen die Wand und stützte sich schwer atmend ab. »Aber im Augenblick wäre ich schon froh, wenn ich wüsste, wie ich hier wieder rauskomme.« Die Stimme schwieg. Natürlich schwieg sie. Sie meldete sich nur zu Wort, wenn er nicht weiter wusste, und das, was sie in solchen Augenblicken von sich gab, war auch nur ein Haufen Unsinn. Er wusste selber, was er angerichtet hatte, und spätestens seit dem Gemetzel in der in Flammen aufgehenden Höhle war ihm klar, dass er sich maßlos überschätzt hatte in der Vorstellung, es allein mit
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Zar’Toran und den Guhulan aufnehmen zu können. Aber das änderte nichts daran, dass er baldmöglichst einen Weg nach draußen finden musste, um zum Glutsee zu kommen. Er hatte nicht einmal den Hauch einer Idee, wie er Zar’Toran davon abhalten sollte, den versunkenen Feuertempel aufzusuchen, doch wenn er weiter hier herumstand und sich Leid tat, würde er erst recht nichts ausrichten können. Er stieß sich wieder ab und ging mit unsicheren Schritten weiter. Dabei musste er sich dazu zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Gang, so gleichmäßig und endlos er ihm eben noch erschienen war, begann vor seinen Augen zu tanzen, und seiner Kehle entrang sich bei jedem Atemzug ein kratzender Laut. Das Schlimmste aber war der Durst. Jetzt, nachdem die erste Anspannung von ihm abgefallen war, merkte er, wie nah er daran gewesen war, von den giftigen Schwaden erstickt zu werden, die das Feuer ausgelöst hatte. Das war die vielleicht teuflischste Waffe der Guhulan; sie selbst waren zwar nicht vollkommen unempfindlich gegen die Schwaden und den Rauch, die das von ihnen erzeugte Feuer produzierte, aber sie hielten es viel länger darin aus als jeder andere. Im Augenblick spielte das jedoch keine Rolle. Er schleppte sich weiter voran, auf der Suche nach einem Ausgang oder einer Unregelmäßigkeit in der Gangstruktur. Tatsächlich bemerkte er nach einiger Zeit, dass die Wände alles andere als glatt und ebenmäßig waren. Er bemerkte eine Unzahl kleinerer und größerer Dellen und anderer Unregelmäßigkeiten, Spuren der Zeit, die sich in ein Material gegraben hatten, das einst für die Ewigkeit gemacht worden war. Und noch etwas fiel ihm auf: In bestimmten Abständen wiesen die Wände Fugen auf, kaum wahrnehmbare Ritzen. Als er ihre Form begriff, blieb er überrascht stehen. Seine Finger glitten über einen schmalen Spalt, der sich vom Boden aus nach oben zog, bis er ein Stück über seinem Kopf endete, dann abknickte und nach einem guten Schritt Entfernung wieder nach unten lief. Es sah aus, als wäre hier eine ganz spezielle Art Tür passgenau eingesetzt worden. Daart vergaß seine Erschöpfung. Er versuchte seine Fingerkuppen
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in den Spalt zu pressen, um das zur Seite oder nach hinten zu drücken, was er für eine Tür hielt, aber er war einfach zu schmal. Dann suchte er festen Stand und stemmte sich mit aller Kraft gegen diesen Teil der Wand. Seine Hände und Arme begannen zu zittern, aber die Wand gab nicht im Geringsten nach. »Verdammt«, murmelte Daart und trat einen Schritt zurück. In diesem Moment summte etwas; dann ging ein kaum wahrnehmbares Zittern durch diesen Teil der Wand, und der Ausschnitt zwischen den Ritzen glitt ein Stück zurück und zur Seite. Um ein Haar wäre er wieder getaumelt. Er hätte mit allem Möglichen hier gerechnet, mit einem anderen Gang, der endlos weiterführte, oder mit einer wild zerklüfteten Höhlenlandschaft, die sich irgendwo in dem unendlichen Labyrinth aus Gängen, Stollen und Tunneln verlor, welche sich unter dem Schattengebirge durch das Gestein bohrten. Aber das, was sich hinter dem Spalt in der Wand auftat, hatte nichts mit alledem zu tun. Es war eine weitläufige Kuppelhalle, von schwachem, bläulichem Licht durchtränkt, das von überall und nirgends zu kommen schien. In ihrer Mitte befand sich eine Art Podest, zu dem mehrere Metallleitern hochführten, und dort oben befand sich ein Sammelsurium blitzblanker Maschinen und Apparaturen, deren Funktion Daart wohl auch dann nicht einmal ansatzweise verstanden hätte, wenn er Zeit gehabt hätte, sie sich genauer anzusehen. Aber die hatte er nicht. Obwohl der Raum riesig war, herrschte in ihm drangvolle Enge, und es war der penetrante Geruch von Schweiß, Blut und Schlimmerem, der ihm wie der Pesthauch einer von Krankheit und Fäulnis heimgesuchten Festung entgegenschlug. Er starrte auf eine Unzahl halb nackter Leiber von Männern, Frauen und Kindern, ein schier unüberschaubares Gewimmel gequälter Menschen, die in einem gigantischen und doch viel zu engen Raum zusammengepfercht waren. Die Vielzahl der Eindrücke machte es ihm im ersten Moment fast unmöglich, sich zu orientieren. Menschen, wohin sein Blick schweifte, und nicht wenige drehten sich zu ihm um. Auf verschwitzten, von Erschöpfung gezeichneten, teilweise blutverschmierten Gesichtern zeichneten sich Gefühle ab, die er nicht
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zu deuten wusste. Nur in wenigen Augenpaaren glaubte er so etwas wie ein hasserfülltes Funkeln zu sehen, als er von ihnen wahrgenommen wurde. Aber vielleicht täuschte er sich auch, denn keiner der am Boden hockenden Menschen schenkte ihm mehr als flüchtige Aufmerksamkeit - vielleicht auch, weil sein Gewand zerrissen und rußgeschwärzt und er kaum weniger mitgenommen aussah als die meisten Caverner. Nach einem kurzen, ungewissen Zögern zwängte er sich durch den schmalen Spalt, und während hinter ihm die Tür wieder zuglitt, trat er mitten in eine klebrige, lauwarme Flüssigkeit. In einer Geste hilflosen Zorns presste er die Lippen zusammen und ballte die Faust; er wagte gar nicht daran zu denken, in was er da mit nackten Füßen getreten sein könnte. Bei den nächsten zwei, drei kleinen Schritten, die er vorwärts machte, gab es quatschende Geräusche unter seinen Fußsohlen, und als er schließlich wieder stehen blieb, hatte er förmlich das Gefühl, am Boden festzukleben. Voller Unruhe ließ er den Blick über die Menschenmenge schweifen; er wollte einen unauffälligen Platz finden, an dem er erst einmal wieder zu Atem kommen und dann über seine nächsten Schritte nachdenken konnte. Aber das schien gar nicht so einfach zu sein. Es gab keine größere, ja nicht einmal eine kleinere freie Fläche, und zudem würde es alles andere als einfach sein, sich durch die Menschen zu bewegen, die hier eng beieinander hockten. Er sah Kinder, die sich an ihre Mütter schmiegten, Männer und Frauen, die stumpfsinnig vor sich hin stierten, andere, die Verwundeten Verbände anlegten, und in der Ferne, ganz am Rande der Metalltreppen, eine größere Gruppe Krieger, die aufgeregt miteinander debattierten. Der Wirrwarr aus Stimmen, Schmerzlauten und Gestöhne schlug über Daart wie die Brandung eines aufgewühlten Meeres zusammen. Ihm war sofort klar, wohin er geraten war. Das war die letzte Zufluchtstätte des Volkes, das hier in den Höhlen lebte, eine Anlage der Alten, so rätselhaft wie alles, was sie hinterlassen hatten. Aber zumindest hatte er damit ein Geheimnis gelüftet: Der Gang, durch den er gekommen war, war nicht gerade gewesen, wie er ganz selbstverständlich angenommen hatte; er führte im Kreis um den gigantischen
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Kuppelbau herum. Er hätte endlos dort entlanggehen können, ohne je irgendwo anders hinzukommen als an die Stellen, die er schon passiert hatte, und letztlich war es wohl nur eine Mischung aus Glück und Hartnäckigkeit gewesen, dass er die Tür entdeckt hatte, bevor er sich irgendwann entkräftet auf den Boden gehockt hätte, nicht ahnend, dass Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen ganz in seiner Nähe verharrten. Daart drehte den rechten Fuß in dem Versuch, die klebrige Substanz abzustreifen, was ihm mehr schlecht als recht gelang. Gerade als er sich wieder in Bewegung setzen wollte, spürte er etwas neben sich, und als er herumfuhr, sah er sich plötzlich Shaila gegenüber. Sie bot einen furchtbaren Anblick. Ihr Haar war angesengt und ihr Gesicht und ihre Arme mit einer Vielzahl kleiner Brandblasen übersät; das ohnehin schon schäbige Gewand war so löchrig, dass er darunter nackte Haut aufblitzen sah. Sie fuhr sich mit einer erschöpften Bewegung über das Gesicht und brachte dann das Kunststück fertig, ein schwaches Lächeln auf ihre Züge zu zaubern. »Gut, dass du endlich da bist.« Daart blickte unsicher auf die Menschen herunter, in deren Mitte er und Shaila als Einzige standen. Er hatte erwartet, dass sein Blick aus Dutzenden von Augenpaaren erwidert würde, aber er hatte sich getäuscht. Wer es geschafft hatte, hier einen einigermaßen komfortablen Sitzplatz zu ergattern, der kümmerte sich höchstens noch um die Freunde und Verwandten um sich herum und verharrte ansonsten in einer Art Dämmerzustand. Die Caverner hatten sich offensichtlich hierhin zurückgezogen, um so lange abzuwarten, bis ihre Feinde das Höhlensystem verließen. Daart vermutete, dass sie diese ebenso einfache wie Erfolg versprechende Taktik schon öfter angewandt hatten. Und wie es aussah, bislang mit Erfolg, denn trotz der vielen Verletzten, die hier unter ungünstigen Bedingungen versorgt werden mussten, war es keineswegs dumpfe Verzweiflung, die in diesem Versteck für ein ganzes Volk vorherrschte, sondern allenfalls Apathie. »Merkwürdig«, sagte Daart und sah wieder auf. »Was ist merkwürdig?«, fragte Shaila. »Dass du es immer wieder schaffst, dich an mich anzuschleichen.«
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»Es ist meine Aufgabe, mich durch enge Schächte zu winden und mich lautlos anzuschleichen, wann immer das nötig ist«, sagte Shaila gereizt. »Ich bin eine Creeperin.« »Und wie kommt es, dass du immer wieder direkt neben mir auftauchst?«, fragte Daart ärgerlich. »Das gehört nun mal zu den Aufgaben von uns Creepern.« Shaila machte eine ungeduldige Handbewegung, als Daart eine weitere Frage stellen wollte. »Genau so, wie dich dorthin zu bringen, wo man dich erwartet.« Auf Daarts Zunge brannten Dutzende von Fragen, aber er verzichtete darauf, sie zu stellen; und dann packte ihn auch schon Shaila kurz entschlossen an der Hand und zerrte ihn mit sich, wobei sie mit erstaunlichem Geschick einen Zickzackkurs durch die am Boden hockenden Menschen wählte, ohne irgendjemand unangenehm nahe zu kommen. Daart hätte sich dagegen wehren können, aber das wäre genauso sinnlos gewesen wie alles andere, was er im Augenblick hätte tun können. Außerdem war mittlerweile seine Neugier geweckt. Shaila schien alles andere als am unteren Ende der Hierarchie dieser unterirdischen Welt zu stehen - wie er zuerst vermutet hatte. Ihre Zielstrebigkeit und Energie waren mehr als erstaunlich. Daarts Neugierde wuchs mit jedem Schritt, den sie sich durch die Menschenmenge bahnten, aber auch die Befürchtung, dass ihn irgendjemand erkannte und mit dem Überfall der Guhulan in Zusammenhang brachte. Doch auch hier sah kaum jemand zu ihnen auf, und wenn, dann blieb sein Blick nur ganz kurz auf Shaila liegen, bevor er sich wieder abwandte. Sie schien hier bestens bekannt zu sein. Daart wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Zu seiner Verblüffung steuerte Shaila geradewegs eine der Metalltreppen an. Aus der Gruppe von Kriegern, die dort ganz in der Nähe zusammengestanden hatte, lösten sich zwei Mann. Der Größere von ihnen blieb schon nach zwei Schritten stehen, legte dabei aber die Hand auf den Schwertknauf; an seiner Körperhaltung erkannte Daart, dass er bereit war, die Waffe zu ziehen. Der andere steuerte direkt auf Daart zu. Er war klein, fast schmächtig, und trug im Gegensatz zu allen anderen hier einen Helm, der sein
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Gesicht weitgehend verdeckte - und die schwarze lederne Kluft eines Satais. Daart blinzelte vor Überraschung. Das schwarze Leder war ramponiert und von Brandflecken übersät, und statt des üblichen Waffengürtels der Satai trug er eine fast lächerlich große Schärpe, an dem ein herkömmliches Schwert baumelte und kein Tschekal. Der Helm, den er trug, verdeckte Wangen und Kinnpartie, sodass nicht viel mehr als die hart funkelnden Augen und ein Teil der Nase sichtbar waren. Und doch… irgendetwas an dem Mann kam ihm bekannt vor. Er hatte jedoch keine Gelegenheit, länger darüber nachzudenken. Der Krieger schob Shaila beiseite, die zwischen ihn und Daart getreten war, als ob sie vermitteln wollte, und blieb dann direkt vor Daart stehen. »Was willst du hier?« Seine Stimme drang verfremdet, fast blechern unter dem Helm hervor, und doch war es Daart auch diesmal, als müsste er sie erkennen. Er hatte während seiner Ausbildung in der Satai-Festung im Tormon-Gebirge viele Satai kennen gelernt, aber trotzdem hätte er jetzt nicht zu sagen vermocht, ob er den Mann mit dem Helm dort schon einmal gesehen hatte. Allerdings besagte das nicht viel. Die Kleidung eines Satais machte noch keinen Satai. »Ich habe dich gefragt, was du hier machst«, herrschte ihn der Krieger an. Daart zuckte mit den Schultern. Doch bevor er antworten konnte, sagte Shaila rasch: »Ich soll ihn zum Ältesten bringen.« »Ja, natürlich…«, der Krieger drehte sich zu Shaila um, »… Creeperin. Du würdest alles tun, was der Älteste von dir verlangt, nicht wahr?« Shaila sah hilflos zwischen ihm und dem anderen Krieger hin und her, der wie erstarrt mit der Hand auf dem Schwertknauf dastand und Daart auch nicht für die Dauer eines Lidzuckens aus den Augen ließ. »Das Wort des Ältesten ist Gesetz«, sagte Shaila schließlich. »Wir alle haben es zu befolgen.« Der Krieger gab mit keiner einzigen Regung zu erkennen, was er von diesen Worten hielt. Stattdessen wandte er sich wieder Daart zu. »Du willst also mit dem Ältesten sprechen, ja?«
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Daart zögerte mit der Antwort. Er versuchte, in den Augen seines Gegenübers zu lesen, einen Hinweis darauf zu finden, ob er mit diesem Gespräch eine andere Absicht verfolgte, als ihn zu provozieren und zu einer Dummheit zu verleiten. Aber dort fand er nichts als wild flackernden Zorn. »Ich bin gern zu einem Gespräch bereit«, sagte er ruhig. »Aber ich bestehe nicht darauf. Alles, was ich wissen muss, kann ich bestimmt auch von Shaila erfahren.« »So, kannst du das?« Die Augen des Kriegers verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Und was willst du wissen?« »Nichts weiter, als wie ich wieder ans Tageslicht komme.« Shaila zuckte zusammen, und der Krieger trat einen Schritt zurück und legte die Hand auf seinen Schwertknauf. »Ja, das habe ich mir gedacht. Was bist du doch für ein Narr, Daart. Du musstest ja unbedingt fliehen, nicht wahr? Und als ob das allein schon nicht schlimm genug gewesen wäre, hast du auch noch den Guhulan den Weg zu uns gewiesen.« »Woher wisst Ihr…«, begann Daart. »Dass du geflohen bist?« Der Krieger lachte kalt und humorlos auf, ein Laut, der durch den Helm metallisch verzerrt wurde und so unwirklich klang, dass er Daart einen kalten Schauer über den Rücken jagte. »Es war ja wohl unübersehbar. Unser Posten hat dich entdeckt, noch bevor du dein Pferd zuschanden geritten hast, und wir haben sofort eine Creeperin losgeschickt, um dich abzufangen, solltest du die falsche Richtung einschlagen…« »Shaila…« »Shaila, ja«, sagte der Krieger wütend. »Sie und der Junge haben dich gesucht, und sie hätten dich gleich wieder ins Wasser tauchen sollen, als du dort aufgetaucht bist. Vielleicht hätte das die Guhulan davon abgehalten, in unsere Höhlen einzudringen und Tod und Unglück über unschuldige Menschen zu bringen.« Daart war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte mit Wut gerechnet, mit zornig vorgebrachten Anklagen; er hätte sich nicht gewundert, wenn ein Finger auf ihn gezeigt hätte, wenn Männer und Frauen aufgesprungen wären, um sich mit blanken Fäusten, Messern und Schwertern auf ihn zu stürzen, den sie für den Schuldigen an der
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Feuersbrunst und dem Massaker halten mussten, das die Guhulan angerichtet hatten… Aber dass ihn ein Krieger in der zerschlissenen Kleidung eines Satais mit Namen kannte und ihm klarmachte, dass er über jeden einzelnen seiner Schritte bereits bestens unterrichtet gewesen war, während er noch ziellos durch die Gegend gestolpert war, das kam für ihn vollkommen unerwartet. Tatsächlich?, fragte die Stimme in ihm. Hast du denn immer noch nicht begriffen, was hier gerade geschieht? »Es lag nicht in meiner Absicht, die Guhulan hierher zu führen«, sagte Daart heftig. »Die Guhulan sind meine Todfeinde. Ich werde sie bekämpfen, wo immer sie auftauchen.« »Und das gibt dir das Recht, uns in diese Auseinandersetzung mit hineinzuziehen?«, fragte der Krieger scharf. Daart biss die Zähne zusammen. Die Erinnerung an das, was in der Höhle passiert war, war so nah, dass er noch den Rauch zu spüren glaubte, der ihm Hals und Nase verklebt hatte, und die wabernde Hitze, die ihm entgegenschlagen war; und über allem war dieses fürchterliche singende Geräusch gewesen, das sich geradezu in seine Gehörgänge hineingebohrt hatte. Kurz darauf war alles in klirrenden, zischenden, berstenden Geräuschen untergegangen, nur unterbrochen durch die Schreie Getroffener, das Schluchzen und Stöhnen; und er war sich nur zu bewusst, dass unter den Opfern nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder gewesen waren… Daart musste sich räuspern, und das nicht nur, weil immer noch ein harter Hustenreiz in seiner Kehle war. »Wie geht es Thross?«, fragte er. Der Krieger reagierte ganz anders, als er erwartet hatte. »Ach, Daart, was soll das?«, fragte er fast sanft, und seine Stimme, eben noch metallisch hart, hatte plötzlich einen ganz anderen, vertrauten Klang. Und dann, plötzlich, wusste Daart wieder, wo er das letzte Mal diese Augen gesehen hatte, die ihn voll mühsam unterdrückter Wut gemustert hatten, bevor jetzt ein anderer, erstaunlich sanfter Ausdruck in sie trat. Es war erst wenige Wochen her, und da hatten sie auf ihn herabgestarrt, und eine Mischung aus Entschlossenheit
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und Bedauern hatte in ihnen gefunkelt, während sich Daart in seinen Fesseln aufgebäumt hatte in dem Versuch, sich zu befreien und das Amulett in Sicherheit zu bringen, das er in der rechten Faust umklammert hatte. »Ask?«, fragte er fassungslos. »Bist du das?« Der Krieger - die Kriegerin - nickte. »Allerdings. Erstaunlich, dass du mich nicht gleich erkannt hast. Hattest du mir nicht Rache geschworen, als wir uns das letzte Mal sahen?« Daart nickte benommen. Seine Gefühle liefen Amok. In den letzten Wochen hatte es keinen einzigen Tag gegeben, an dem er nicht an Ask gedacht hatte. Ihrem Verrat hatte er es zu verdanken, dass er gefangen genommen worden war, und mehr als das: Sie hatte ihm nicht nur das Amulett abgenommen, sie hatte ihn vorsätzlich in Zar’Torans Hände gespielt. Daart spürte, wie eine Ader an seinem Hals zu zucken begann. »Ausgerechnet du wagst es, mir gegenüberzutreten und mir Vorwürfe zu machen?«, polterte er. »Du hast mein Vertrauen missbraucht. Wie konntest du das nur tun? Du wusstest doch, was Zar’Toran mit mir vorhatte. Mich gefesselt zurücklassen, damit er mich finden kann…« Er brach ab, als er bemerkte, wie der Hüne hinter Ask den Schwertgriff so fest umklammerte, als wollte er die Waffe im nächsten Augenblick ziehen, und wie die anderen Krieger alarmiert zu ihnen herübersahen. Es war nicht der richtige Augenblick, um unkontrolliert herumzuschimpfen - ganz abgesehen davon, dass dafür nie der richtige Augenblick war, war er gerade im Begriff, sich selbst die letzte Chance zunichte zu machen, doch noch irgendwie unbeschadet - und vor allem auf schnellstem Weg - aus diesen Höhlen herauszukommen. Er schloss kurz die Augen. Flammenwirbel tanzten vor seinen Netzhäuten, blitzende Klingen, die aufeinander geschlagen wurden, und dann sah er wieder das triumphierende Gesicht Zar’Torans vor sich, als ihn dessen Männer in Ketten vor sich hergestoßen hatten, bis er vor dem Feuermagier auf die Knie gefallen war. Es war Ask gewesen, die ihn in einem Moment der Schwäche überwältigt hatte, es
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war ihre Absicht gewesen, ihn seinem Ziehvater auszuliefern, indem sie ihn nach der Auseinandersetzung um Nubinas Amulett gefesselt zurückgelassen hatte… Als er die Augen wieder aufriss, sah er nur den Krieger mit dem Helm und der mitgenommenen Satai-Kleidung vor sich, und er zwang sich, genau das zu denken: der Krieger, der für die Caverner sprach, und nicht Ask, die Satai-Sjen, die ihn verraten hatte. Doch Ask schien nicht bereit zu sein, ihn so einfach davonkommen zu lassen. Sie hatte beide Hände unter den Ansatz ihres Helmes geschoben und drückte ihn nun nach oben. Daart erwartete, ein schmales, fast jugendliches Gesicht zu sehen, in dem sich Angriffslust, vielleicht sogar so etwas wie Verachtung spiegelte, aber er hatte sich getäuscht. Sein Herz machte einen erschrockenen Satz, als er die Veränderungen bemerkte, die von ihr Besitz ergriffen hatten. Aus den dunklen Ringen unter ihren Augen waren schwarze Halbmonde geworden, ihre Wangen waren eingefallen, und das ehemals seidig glänzende Haar war stumpf und unansehnlich. Das Schlimmste aber war, dass sie um Jahre gealtert schien, dass sich die Spuren eines Alters in ihr Gesicht gegraben hatten, das sie noch gar nicht erreicht haben konnte. In ihren Zügen spiegelte sich eine Mischung aus Wut und Entsetzen, die Daart beinahe Angst machte. Es musste in den letzten Wochen etwas Unvorstellbares passiert sein, etwas, das schlimmer war als der brutale Überfall der Guhulan, tausendmal schlimmer. »Was ist geschehen?«, fragte Daart. »Warum siehst du so…« -alt aus, hätte er seinen Satz beinahe beendet, doch dann brach er ab, hilflos und noch immer so durcheinander, dass er seine aufgewühlten Gefühle nicht in den Griff bekam. In Asks Augen blitzte es kurz auf, und dann trat sie, nein, stolperte sie zurück, zwei, drei Schritte, bis sie direkt zwischen dem Hünen und Daart stand. »Du fragst tatsächlich, was passiert ist?« Bevor Daart antworten konnte, schüttelte sie den Kopf. Ihre Lippen wurden zu einem dünnen, blutleeren Strich, und sie rang ein paar Herzschläge lang nach Luft, während sich ihre Hände in den Helm krallten, als wollte sie
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ihn auseinander reißen. »Es ist genug, Daart«, brachte sie schließlich mühsam hervor, leise und doch so durchdringend, dass Daart wie unter einer Anklage zusammenzuckte. »Wir beide haben nichts mehr zu bereden. Nicht im Augenblick und vielleicht nie mehr.« Daart verstand nicht im Geringsten, was sie damit meinte. Aber er spürte die Wucht der Anklage hinter ihren Worten, und das machte aus seinem Entsetzen etwas anderes, Böseres. Die ganze Zeit über hatte ein Gedanke in ihm gelauert, den er nur mit Mühe hatte unterdrücken können, und jetzt riss er sich los von der unsichtbaren Kette, an die er ihn gelegt hatte. Es war nicht seine Schuld, dass all das hier passiert war. Nein, ganz im Gegenteil, wenn jemand schuld daran war, dass die Guhulan heute über die Caverner hergefallen waren, dann war es Ask! Wenn sie ihn nicht absichtlich in Zar’Torans Hände hätte fallen lassen, hätte er nicht fliehen müssen, und wenn er nicht geflohen wäre, wären die Guhulan niemals auf die Idee gekommen, durch den mit Wasser gefüllten Tunnel zu tauchen, um die Menschen anzugreifen, die schon vor langer Zeit in dem Gewirr von dunklen Gängen und Höhlen Zuflucht vor ihnen gesucht hatten. Er versuchte den Gedanken zu verscheuchen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Ask ist schuld - das war so einleuchtend wie nachvollziehbar, zumindest für ihn. Er blickte in ihr viel zu alt wirkendes, erschöpftes Gesicht, und gleichzeitig nahm er aus den Augenwinkeln wahr, dass die Krieger sich spannten, als warteten sie nur auf den Befehl einzugreifen. Er konnte gut verstehen, dass sie ihm nicht gerade freundlich gesonnen waren. Sie konnten ja nicht wissen, dass es Ask gewesen war, die alles zunichte gemacht hatte, was er und Carnac erreicht hatten. Seine Gedanken schlugen eine Richtung ein, die ihm selbst nicht gefiel. Er stand hier inmitten einer ausgedehnten Höhle, in die sich die Caverner zurückgezogen hatten, um ihr nacktes Überleben zu retten, und sah sich Ask und mindestens einem guten Dutzend Krieger gegenüber, die ihm alles andere als freundlich gesonnen waren. Er fürchtete, dass sie ihn als Gefangenen betrachteten, zumindest aber als jemanden, der nicht vertrauenswürdig genug war, um ihn mit
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seinem Wissen um diese letzte Zufluchtsstätte wieder an die Oberfläche zu lassen. Es war Shaila, die das nur wenige Herzschläge währende, aber dennoch bedrückende Schweigen unterbrach. »Komm jetzt«, sagte sie zu Daart und trat einen Schritt vor; und fast sah es so aus, als ob sie ihn wieder an der Hand fassen wollte. Doch dann besann sie sich, drehte sich auf dem Absatz um und hielt auf die Metalltreppe zu. Daart zögerte noch kurz, dann setzte er sich ebenfalls in Bewegung. »Ich komme mit«, sagte Ask, als er an ihr vorbeiging, und es klang fast wie eine Drohung.
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Zu Daarts Verblüffung ging oben auf der Plattform ein leichter Wind, der selbst dann noch spürbar war, als sie schon längst in das Gewirr der schmalen Gänge eingetaucht waren, die ins Innere der Anlage führten. Von außen hatte die Plattform kleiner gewirkt, als sie tatsächlich war, was vielleicht auch daran lag, dass die Maschinen und stählernen Konstruktionen, an denen sie vorbeikamen, ein gleichermaßen schützendes wie verwinkelt angelegtes Wirrwarr bildeten. Das Zweite, was Daart überraschte, während sie den rauen, von vielen kleinen Dellen und Rissen uneben gewordenen Boden entlangliefen, war die Tatsache, dass sie hier oben allein waren. Er hatte instinktiv damit gerechnet, viele weitere Flüchtlinge vorzufinden, die sich zwischen die Maschinen der Alten gekauert hatten, aber das war nicht der Fall. Nach der siebten oder achten Abzweigung verebbten sogar die Geräusche aus der Kuppelhalle, und außer ihren Schritten und dem Säuseln des Windes, das hier innen noch eine Spur heftiger war als im Außenbereich der Plattform, war kurz darauf überhaupt nichts mehr zu hören. Shaila hatte wie von selbst die Führung übernommen, während Daart in der Mitte ging und Ask den Abschluss bildete. Daart glaubte ihren misstrauischen Blick zu spüren, mit dem sie ihn im Auge behielt. Der Gedanke erfüllte ihn mit einem Zorn, der von Schritt zu Schritt schlimmer wurde, bis er sich kaum noch beherrschen konnte. Am liebsten wäre er zu ihr herumgefahren, um sie bei den Schultern
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zu packen und so lange zu schütteln, bis sie endlich Vernunft annahm. Es konnte nicht angehen, dass sie ihn wie einen Verbrecher behandelte, obwohl es sie gewesen war, die mit einem schmählichen Verrat jenen Stein ins Rollen gebracht hatte, der nach einer unglücklichen Kettenreaktion mit dem Angriff der Guhulan geendet hatte. Schließlich wurde Shaila langsamer. Als sie stehen blieb und sich umdrehte, wirkte sie zum ersten Mal, seit Daart sie gesehen hatte, gelöst, fast heiter. »Wir sind da«, sagte sie ruhig. Daart nickte und sah sich um. Links und rechts von ihnen ragten mannshohe Wände auf, in die irgendwelche Apparaturen eingelassen worden waren, deren Sinn er nicht einmal ansatzweise zu erraten vermochte. Ihm fiel auf, dass hier etwas ganz leise summte und sirrte, und als er nach vorn schaute, bemerkte er, dass eine dieser Apparaturen, die sich in Kopfhöhe befand, von innen heraus leuchtete. Daart starrte ungläubig auf einen Zeiger, der dort eingelassen war; er stand leicht zitternd über einer Skala, die mit Zeichen beschriftet war, welche er nicht entziffern konnte. »In der Anlage ist noch Leben«, stellte er fest, und in seiner Stimme schwang mehr Nervosität mit, als ihm recht war. »Ja«, sagte Shaila stolz. »Es ist noch gar nicht lange her, dass die Anlage wieder zum Leben erwacht ist. Seitdem geht hier übrigens auch erst der Wind, der aus Schlitzen dringt, die in den Säulen angebracht sind. Und das ist noch nicht alles. Es gibt eine neue Form von Licht hier…« »Schweig«, zischte Ask. »Es geht niemanden etwas an, was hier geschieht.« »Aber ich dachte…«, erwiderte Shaila verwirrt. Ein Geräusch vor ihnen schreckte Daart auf und ließ Shaila den Satz, unterbrechen, und sie beide blieben stehen, während Ask noch einen Schritt weiterging, bis sie direkt, ob Zufall oder nicht, neben Daart zum Stehen kam. Da war irgendetwas vor ihnen, dessen war sich Daart ganz sicher, und er hätte sich weitaus wohler gefühlt, wenn er nicht ausgerechnet Ask neben sich gewusst hätte, die eine Hand auf den Griff ihres Schwertes gelegt hatte, während er selbst waffenlos war.
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»Du dachtest, dass ich nur Menschen hierher bitte, denen ich absolut vertrauen kann?«, fragte jemand vor ihnen. Daart erkannte die Stimme sofort, auch wenn sie jetzt eine Spur ruhiger und gelassener klang als das letzte Mal, als er sie gehört hatte. Es war die des Kriegers, der schon einmal aus dem Dunklen heraus mit ihm gesprochen hatte, des Mannes, der ihn in die Handelshöhle geführt hatte, um dann so schnell zu verschwinden, als hätte er gewusst, dass ein Angriff bevorstand. Aber was machte er ausgerechnet hier? Bevor Daart eine entsprechende Frage stellen konnte, bemerkte er eine kleine Bewegung am Rande seines Sichtfelds, und dann sah er dort einen dunklen Schatten, halb verborgen durch eine Art Pult, auf dem sich eine Menge Schalter und Knöpfe befanden, und dazwischen Schirme, die wie blinde Fenster aussahen, die man durch Magie zum Leben erwecken konnte, um in eine fremde Welt zu blicken. Nur einige dieser Dinge kannte Daart mit Namen, während ihm die Funktion der einzelnen Teile und schon gar die ihrer Gesamtheit vollkommen unbekannt war. Aber das spielte im Augenblick auch keine Rolle. Aus der Richtung des Mannes, der ihn angesprochen hatte, war ein kaum vernehmbares Rascheln zu hören, dann wuchs sein Schatten in die Höhe. Wieder einmal blieb sein Gesicht im Dunkeln, was Daarts Unruhe noch steigerte. Er wollte endlich wissen, wer dieser Mann war, der ihn zusammen mit Shaila und dem Jungen am Unterwassertunnel abgefangen hatte, und welche Absichten er hegte. Ask hatte ihm erzählt, dass man ihn schon eine ganze Zeit lang beobachtet hatte. Was er ursprünglich für Zufall gehalten hatte - dass ihn eine junge Frau, ein Junge und ein Krieger empfangen hatten -, war wohl in Wirklichkeit beabsichtigt gewesen. Die Frage blieb, was sie von ihm wollten. »Es geht tatsächlich um Vertrauen«, sagte der Krieger. Er trat ein paar Schritte näher, und die Art, wie er ganz leicht das Bein nachzog, zerstreute in Daart das letzte bisschen Unsicherheit über seine Identität. »Wenn wir uns nicht gegenseitig vertrauen, werden wir nicht tun können, was getan werden muss.« Daart hätte beinahe laut aufgelacht. Vertrauen war ein Wort, das in
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Asks Gegenwart wie reiner Hohn klang. Er war bereits einmal so leichtsinnig gewesen, ihr zu vertrauen, und das nicht nur, weil sie eine Satai-Sjen gewesen war, die ihre Ausbildung in der Korona gerade begonnen hatte, sondern auch, weil da irgendetwas gewesen war, was ihn an sich selbst erinnert hatte - an die verwirrende Zeit, in der er sich endgültig von seinem Ziehvater gelöst hatte, um ein neues Leben bei den Satai anzufangen… Als er merkte, dass seine Gedanken ihn nirgendwo anders hinführten als in die Verbitterung, die für ihn untrennbar mit seiner Vergangenheit verbunden war, verscheuchte er sie. »Was genau meint Ihr, muss getan werden?«, fragte er stattdessen. »Um genau das zu klären, haben wir uns hier eingefunden«, sagte der Krieger. Er trat einen weiteren Schritt vor und schlug die Kapuze zurück, und jetzt, endlich, konnte Daart sein Gesicht sehen. Der Anblick irritierte ihn nicht nur, er überwältigte ihn geradezu. Es war ähnlich wie in dem Moment, als Ask ihren Helm gelüftet hatte. Auch diesmal wirkte das Gesicht, das er sah, älter, als er es erwartet hatte, doch nun waren es nicht wenige Jahre, in denen Anblick und Erwartung auseinander klafften, diesmal waren es Jahrzehnte. Er hatte geglaubt, dass der Mann allerhöchstens doppelt so alt wie er selbst sei, doch das stimmte nicht. Das von langen, schlohweißen Haaren eingerahmte Gesicht, das bislang unter der schwarzen Kapuze verborgen gewesen war, war alt - uralt. Ungezählte Jahre hatten es in ein Gewirr von Falten und Runzeln verwandelt, in dem nur noch die Augen zu leben schienen, dunkle, energisch strahlende Augen allerdings, in denen sich kein Zeichen von Schwäche oder Müdigkeit abzeichnete. »Es ist gut, dass du den Weg zu mir gefunden hast«, sagte der Älteste. Er wandte sich an Shaila und lächelte leicht. »Gut, dass du ihn zu mir gebracht hast, um genau zu sein.« Daart war noch immer viel zu überrascht, um irgendetwas sagen zu können. Das bläuliche Licht, das hier wie in der ganzen übrigen Kuppelhalle leuchtete, huschte wie etwas Lebendiges über das faltige Gesicht, als sich der Älteste umdrehte und zurückging zu dem Pult, an dem er zuvor gesessen hatte.
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»Du solltest ihm folgen«, sagte Shaila leise, fast ehrfürchtig, während sie selbst einen Schritt zurücktrat. Daart wandte überrascht den Kopf in ihre Richtung und starrte sie sprachlos an. Shailas Miene verriet, dass sie glaubte, ihre Aufgabe erfüllt zu haben, und jetzt nichts weiter tun wollte, als sich so schnell wie möglich wieder zu entfernen. Ganz im Gegensatz zu Ask, die steif dastand und nervös an Daart vorbei in das Halbdunkel hinter dem Pult starrte, an dessen Rand der Älteste Platz genommen hatte. Das Gesicht des Ältesten lag wieder im Dunkeln, aber Daart spürte dennoch, dass er ihn ansah. »Setz dich zu mir«, sagte er. »Es gibt da einiges, was wir zu besprechen haben.« Daart wollte der Aufforderung folgen, doch Ask griff ihn beim Arm. »Einen Moment«, sagte sie hastig. Daart wollte ihr keinen Moment geben. Er wollte mit diesem Mann reden, den sie den Ältesten nannte, und sei es nur, weil etwas in ihm auf diese Begegnung hier in der Anlage der Alten reagierte, ganz zaghaft und vorsichtig noch, aber mit einem ersten Verständnis dafür, dass Shaila diesem uralten Mann offensichtlich so viel Ehrfurcht entgegenbrachte. »Ich störe wirklich ungern…« Ask ließ Daarts Arm los, setzte den Helm mit einem Ruck auf und zog ihre Waffe so schnell, dass die Bewegung kaum zu sehen war. Bevor Daart reagieren konnte, machte sie einen Schritt nach vorn, in die Richtung, wo der Älteste saß; sein schlohweißes Haar war in dem spärlichen Licht das Einzige, was deutlich zu erkennen war. Daart wollte ihr nachsetzen, sie aufhalten für den Fall, dass sie sich mit der Waffe in der Hand auf den wehrlos Dasitzenden stürzen sollte. Er traute Ask mittlerweile alles zu, auch einen Meuchelmord, den sie dann praktischerweise ihm in die Schuhe schieben konnte - ihm, den man hier für einen Spitzel der Guhulan hielt. Wieder war Ask einen Deut schneller als er. Ihre Waffe zuckte vor, und hätte sie mit einem einzigen Schlag den Ältesten enthaupten wollen, er hätte sie kaum noch aufhalten können. Doch die Klinge blieb zitternd in der Luft stehen, wie ein Raubvogel, der seine Beute
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aus den Augen verloren hat und nun alles daran setzt, sie wieder zu finden. Hinter Daart raschelte es; es war Shaila, die sich unruhig bewegte, auch sie wohl auf der Suche nach dem, was Ask aufgeschreckt hatte, und bevor sich Daart noch entscheiden konnte, ob er sich in ihre Richtung drehen sollte, um mit ihr Blickkontakt aufzunehmen, fauchte Asks Klinge zur Seite, genauso sinnlos wie zuvor, um dann erneut wieder in der Luft zu verharren, zum Schlag bereit, aber ohne ein Ziel, in das sie hineinfahren konnte. Daart versuchte das Halbdunkel mit seinen Blicken zu durchdringen, die dunklen Schlagschatten der metallenen Apparaturen und die helleren Flecken, auf die genug Licht fiel, dass er ein paar Schritte weit sehen konnte. Die Schattenränder schienen zu zerfließen, zerfaserten in Ungewissheit, und irgendwo dort, an der Grenze zwischen völliger Schwärze und einem schwammigen Grau, war eine zittrige Bewegung, als versuchte etwas aus der Dunkelheit hervorzubrechen und die schützende Barriere des diffusen Lichtes zu überrennen. Daart versuchte sich einzureden, dass ihm seine überstrapazierten Augen nur einen Streich spielten, aber er wusste es besser. Da war etwas, ein namenloses Ding, das in der Dunkelheit lauerte, und es kam näher. Er beugte sich ein Stück vor. Und dann, für einen winzigen, nicht festhaltbaren Augenblick sah er es tatsächlich. Irgendetwas huschte durch die fast stofflich wirkende Dunkelheit in einen der Gänge, etwas unvorstellbar Fremdartiges und Böses, das Ask und ihn aus gierigen Augen anstarrte, und er war sich jetzt vollkommen sicher, dass es auf sie zukam, nicht auf direktem Kurs, aber mit schrecklicher Unaufhaltsamkeit. Ask sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und machte dann einen Seitwärtsschritt, genau auf den Ältesten zu. Für den Bruchteil eines Atemzuges schien die Finsternis ihre Gestalt zu verschlingen. Daart setzte ihr nach. Er hörte ein Scharren, ein Zischeln, und dann wirbelte Ask auch schon herum, elegant und scheinbar federleicht, aber ohne ihre Aufmerksamkeit von dem abzuwenden, das irgendwo auf der entgegengesetzten Seite lag. In dem schwachen, bläulichen Licht wirkte ihr Gesicht bleich wie das einer Toten.
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Daart zögerte, doch bevor er eine Entscheidung treffen konnte, zuckte der Kopf des uralten Mannes zu ihm herum. Schnelle kleine Schattentierchen huschten über sein Gesicht. Daart konnte den Ausdruck auf seinen Zügen nicht erkennen, aber während er genauer hinsah, schien es ihm beinahe so, als wäre da nicht nur schattenhafte Bewegung, sondern als wimmelte etwas durch und durch Körperliches über die zerklüftete Haut. Und dann glaubte er zu sehen, wie etwas Wurmähnliches, gleich einer winzigen Schlange, im Kragenansatz des Ältesten verschwand. Er blieb schlagartig stehen, gepackt von Abscheu, die ihn zu lähmen drohte… Ask fuhr zu ihm herum. Ihr Gesicht war schreckensbleich, ihre Augen waren weit aufgerissen, und das Schwert in ihrer rechten Hand vollführte eine komplizierte Kreisbewegung, erst auf ihn zu und dann wieder von ihm weg, während sie gleichzeitig mit der anderen Hand ihr Messer aus dem Gürtel riss. Daart wollte in der Erwartung eines Angriffs zurückspringen, doch seine Reaktion kam zu spät. Ask warf das Messer, aber nicht, ohne ihm einen Drall zu geben, sodass es mit dem Griff und nicht mit der Klinge voraus auf Daart zusauste. Er stand so nah, dass er fast nicht mehr rechtzeitig die Hand hochbrachte, und als der Messergriff gegen seine Knöchel prallte, musste er mit der anderen Hand zugreifen, um es aus der Luft zu fischen, bevor es zu Boden fallen konnte. »Vorsicht«, zischte sie, »ein Symbiont!« Dann hatte sie sich schon wieder umgewandt. Ihre Klinge sauste nach unten und schlug hart auf dem Boden auf. Daart hatte erneut den flüchtigen Eindruck von etwas Schmalem, Schlangenhaftem, das dort weghuschte, unglaublich schnell und fast kaum mit dem Auge wahrnehmbar, »Verflucht!«, schrie Ask. »Ich habe ihn nicht erwischt.« Mit zwei Schritten war sie an der nächsten Gabelung, verschwand in dem Gang dahinter, und dann verschluckte sie auch schon der schmale Grenzbereich zwischen der Welt des Lichts und der Dunkelheit. Daart starrte ihr hinterher, fassungslos und ohne den Ekel einordnen zu können, der ihn ergriffen hatte. Es war beinahe so, als hätte irgendetwas in ihm instinktiv auf die Anwesenheit jenes Wesens reagiert, das er nur ganz flüchtig gesehen hatte.
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»Lass sie«, sagte der Älteste hinter ihm. »Sie wird ihn sowie nicht erwischen. Er ist im Gerantstadium.« Daart verharrte unschlüssig. Er hörte Asks schnelle Schritte und dann einen harten Schlag, als Metall auf Metall krachte, gefolgt von einem kurzen Fluch. Wahrscheinlich hatte der Älteste Recht. Was auch immer da vor Ask floh: Es war klein, flink und hatte in dem Gewimmel von Gängen und dem Durcheinander von Anlagenteilen der Alten alle Vorteile auf seiner Seite. Er drehte sich wieder um. Der Älteste sah nicht in seine Richtung, sondern schien eher zu lauschen, als könnte er Asks Jagd so am besten verfolgen. Dann merkte er, dass Daart ihn anstarrte, und erwiderte schweigend seinen Blick. »Wir sollten besser verschwinden, bevor der Symbiont zurückkommt«, sagte er schließlich. »Und außerdem gibt es da noch etwas, das ich dir gern zeigen würde.« Daart zögerte. Er hatte keineswegs vergessen, was da in das Gewand des Ältesten hineingewuselt war, dieses ekelhafte, schlangenähnliche Etwas, bei dessen Anblick sich etwas in ihm gekrümmt hatte wie ein waidwund getretenes Tier. Wenn das ein Symbiont war wie der, hinter dem Ask herjagte - was gab ihm dann die Gewissheit, dass er nicht einen fürchterlichen Fehler beging, wenn er sich vertrauensvoll diesem Mann anschloss? Doch vor allem: Was wollte ihm der Älteste zeigen?
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»Dann also los«, sagte der Älteste ungeduldig, bevor Daart eine Frage stellen konnte. »Du bist doch so interessiert daran, wieder an die Oberfläche zu kommen. Ich bringe dich zu einem Ausgang.« Daart nickte, aber da war immer noch etwas, was ihn zögern ließ. Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, trat Shaila neben den Ältesten. Er hatte erwartet, dass sie die Führung übernehmen würde, aber stattdessen blieb sie schon nach ein paar Schritten stehen und drehte sich in die Richtung, in der Ask verschwunden war. Sie legte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Und dann tat sie etwas vollkommen Überraschendes: Sie ging in die Knie wie eine Dienerin, die ihrem Herrscher höchste Ehrerbietung erweisen wollte. Daart
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warf ihr einen irritierten Blick zu. Aber Shaila beugte ungerührt ihr Haupt weiter. Ihr Blick huschte flüchtig zwischen Daart und dem Ältesten hin und her, dann drehte sie den Kopf und beugte sich noch tiefer hinab, bis ihr Ohr den Boden berührte. In dieser Position verharrte sie eine Weile mit geschlossenen Augen, regungslos und wie erstarrt, und als sie sich wieder aufrichtete, schüttelte sie kaum merklich den Kopf. »Der Gerant ist allein«, sagte sie. »Und er entfernt sich. Der Ausgang ist frei.« Daart spürte bei diesen Worten ein Gefühl fast übertriebener Erleichterung. »Gut«, sagte der Älteste knapp. »Dann aber jetzt los. Und achtet auf jedes verdächtige Geräusch. Der Gerant darf auf keinen Fall in die Kuppelhalle!« Daart umklammerte unwillkürlich den Griff des Messers fester, das Ask ihm überlassen hatte, und folgte der Handbewegung des Ältesten, der nach vorn wies. »Wir müssen nach oben«, sagte der Älteste. »Es gibt nur einen Aufstieg, von dem außer mir nur noch eine Hand voll Eingeweihter weiß.« »Und hoffentlich kein Gerant«, murmelte Shaila, während sie sich aufrichtete und sich mit einer vollkommen übertriebenen Geste den Dreck aus den Kleidern zu klopfen versuchte. »Was ist ein Gerant?«, fragte Daart, als er zum Ältesten aufgeschlossen hatte. Der Älteste bedeutete Shaila mit einem Wink, dass sie die Nachhut übernehmen sollte, und ging dann los. »Ein Gerant ist ein Symbiont im Gerantstadium. Es ist das Stadium, in dem die Symbionten uns gefährlich werden können.« »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Daart. »Ist das, was ich… gesehen habe, als Ihr Euch vorhin vorbeugtet…« Der Älteste warf Daart einen kurzen Seitenblick zu und lächelte milde. »Was hast du denn geglaubt zu sehen?« »Ich bin mir nicht ganz sicher…« »Ja, das dachte ich mir.« Die Schritte des Ältesten waren federleicht und kaum wahrnehmbar, beinahe so, als schwebte er über den Boden, statt zu gehen. »Und es ist gut, dass du dir deiner Unsicher-
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heit bewusst bist. Nicht alles, was du zu sehen glaubst, ist wirklich. Das Auge sieht nur die äußere Form, nicht das, was dahinter ist. Das ist gefährlich. Denn oft hat das eine mit dem anderen wenig zu tun, manchmal sogar überhaupt nichts.« »Ich verstehe nicht, wie das mit diesen… Geranten zusammenhängt«, sagte Daart unbehaglich. »Oh, doch, das verstehst du sehr gut«, widersprach der Älteste. Sie kamen an eine Abzweigung, und er deutete nach rechts, in einen Bereich, in dem das bläuliche Licht blasser, fast kränklich wirkte. »Du hast in letzter Zeit genug Dinge erlebt, um zu wissen, wie sehr dich dein Auge täuschen kann.« Damit hatte er leider nur zu Recht. Während Daart ihm in den langen, düsteren Gang folgte, drifteten seine Gedanken ab zu dem, was er gemeinsam mit Carnac erlebt hatte, als sie in Nubinas Reich unterwegs gewesen waren. Er hatte geglaubt, Dinge zu sehen, die es wohl niemals gegeben hatte; er hatte sich von Trugbildern narren lassen, die ihm täuschend echt erschienen waren, und er hätte sich um ein Haar von einem Gemisch aus Hetzreden und Illusionen zu einem blutigen Gemetzel verleiten lassen und sich mit dem Schwert auf Carnac und seine anderen Weggefährten gestürzt. Noch jetzt erfasste ihn ein leichtes Schwindelgefühl, wenn er an Nubina zurückdachte und daran, was sie ihm gemeinsam mit seinem Ziehvater angetan hatte, und noch immer war er nicht in der Lage, all die Geschehnisse in ihrem geheimnisvollen Reich in letzter Konsequenz zu begreifen. Außer, dass ihn seine fünf Sinne anscheinend im Stich ließen, wenn er besonders auf sie angewiesen war. Möglich, dass die Bemerkung des Ältesten darauf abzielte, ihm klarzumachen, dass ihm Ähnliches auch hier passieren konnte. »Ihr scheint eine Menge über mich zu wissen«, sagte er. »Liegt das vielleicht an Eurer sehr engen… Beziehung zu den Symbionten?« Der Älteste antwortete erst einmal gar nicht, doch dann verzog sich sein Gesicht zu einem kleinen Lächeln, das Daart zuerst nur aus den Augenwinkeln gewahrte, bevor er den Kopf in seine Richtung drehte. »Ich sehe, du hast dazugelernt, seit wir uns das letzte Mal gesehen
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haben.« »Seit wir uns gesehen haben?« Daarts Gedanken überschlugen sich. »Wann soll das gewesen sein?« »Ich will dir diese Frage gern beantworten«, sagte der Älteste. »Und zwar mit einer Gegenfrage: Was führt dich zu mir?« Daart blieb überrascht stehen. »Ich verstehe nicht ganz.« »Was ist daran so schwer zu verstehen?« Der Älteste ergriff Daarts Arm, und Daart setzte sich wieder gehorsam in Bewegung. »Es wird doch wohl einen Grund geben, warum du dich von Shaila hast hierher führen lassen.« Daarts Ungeduld schlug in Ärger um. Es mochte die Eigenart alter Männer sein, keine direkten Antworten zu geben, aber darauf konnte und wollte er sich nicht einlassen. »Ich bin vor den Guhulan geflohen«, sagte er ungeduldig. »Und dann zufällig hier gelandet.« »Es gibt keine Zufälle«, sagte der Älteste. »Jedenfalls nicht die Art von Zufällen, von denen du gerade sprichst.« »Das sehe ich etwas anders.« Das Geräusch ihrer Schritte veränderte sich, ohne dass Daart hätte sagen können, woran das liegen mochte. Es wirkte irgendwie - hohler, so als wäre der Boden nicht mehr so massiv wie zuvor. »Es mag kein Zufall gewesen sein, dass ich überhaupt in die Hände der Guhulan gefallen bin. Vielleicht wisst Ihr es ja auch schon: Es war Ask, die mich ihnen ausgeliefert hat.« »Ask hat dich niemandem ausgeliefert«, sagte der Älteste. »Du selbst warst es, der das getan hat.« »Ach, ja?« Daart beschleunigte unwillkürlich seine Schritte. »Sie hat mich gefesselt in einem halb verschütteten Raum zurückgelassen, als sich die Guhulan schon fast zu mir durchgegraben hatten. Es hätte nicht mehr als ein paar schneller Schnitte mit genau diesem Messer bedurft, das ich jetzt in den Händen halte - und ich wäre frei gewesen und mit ihr gegangen.« »Frei wozu?«, fragte der Älteste, der ohne Mühe zu ihm aufgeschlossen hatte. »Um sie hierher zu begleiten?« »Nein«, sagte Daart. »Ich hätte mich nicht irgendwo in einer Höhle verkrochen in der Hoffnung, dass man mich dort nicht finden würde. Ich hätte gemeinsam mit Carnac alles darangesetzt, um Zar’Toran
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und Nubina aufzuhalten. Und vor allem hätte ich niemanden hintergangen, so wie Ask es gemacht hat. Ich weiß nicht, ob Euch das klar ist: Aber sie ist eine Diebin.« Der Älteste ging einfach schweigend weiter, und zuerst glaubte Daart schon, er werde aufbrausen. Doch dann wurde er etwas langsamer, und als ihm Daart einen Blick zuwarf, sah er, dass er fast versonnen lächelte. »Also ist es das, was du von ihr glaubst, und warum dein Blick voller Misstrauen ist, wenn du sie ansiehst. Und woran machst du das fest? Hat sie einem See Wasser gestohlen und einem Feuer Wärme entzogen?« »Sie hat etwas ganz anderes getan«, sagte Daart schroffer, als er eigentlich beabsichtigt hatte, »sie hat jemandem, der ihr vertraut hat, das Wichtigste gestohlen, was sich in seinem Besitz befand.« Der Älteste nickte. »Das habe ich mir gedacht. Du bist in deinem Stolz verletzt.« »Das ist nicht wahr. Es geht nicht um meinen Stolz.« Daart machte eine kleine Pause, vielleicht nur, um seine Stimme, die eine Spur zu empört geklungen hatte, wieder zu beruhigen. »Es geht um einen wichtigen Gegenstand. Den wichtigsten Gegenstand, den ich persönlich in den Händen gehalten habe.« »Das Amulett.« Der Älteste seufzte. »Es ist ein verfluchtes Ding. Ich weiß gar nicht, wie oft es schon überraschend den Besitzer gewechselt hat.« »Ihr wisst von dem Amulett?« Daart hatte Mühe, das Misstrauen aus seiner Stimme zu verbannen. »Woher?« Der Älteste machte eine unbestimmte Handbewegung. »Diese Frage kann ich dir beim besten Willen nicht beantworten. Aber ich gehe davon aus, dass du sowieso etwas anderes meintest. Du willst wissen, ob ich von dem unterrichtet bin, was du so dramatisch als Diebstahl bezeichnest.« »Allerdings«, meinte Daart. »Es würde mir helfen… das Ganze zu verstehen.« »Nett ausgedrückt für den Versuch, aus mir herauszubekommen, ob ich so etwas wie Asks Hehler bin«, sagte der Älteste amüsiert. »Und
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in der Tat: Ich muss dir diese Frage wohl mit einem Ja beantworten. Erstens, weil ich weiß, dass Ask dir das Amulett abgenommen hat. Und zweitens, weil ich durchaus bereit wäre, das Amulett abzugeben, wenn man mir genug dafür bietet.« »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz«, sagte Daart steif. »Was ist daran nicht zu verstehen?«, fragte der Älteste in verwundertem Tonfall. »Wenn du meinst, dass Ask eine Diebin ist, bin ich ein Hehler. Wenn du allerdings der Meinung wärst, dass sie einen guten Grund gehabt haben mag, dir das Amulett abzunehmen - vielleicht den, zu verhindern, dass es diesem aufgeblasenen Feuermagier zu einem unpassenden Zeitpunkt in die Finger fällt -, dann gäbe es auch keinen Grund, mir zu misstrauen.« Bevor Daart antworten konnte, blieb der Älteste stehen und drehte sich um. »Shaila, wie sieht es aus? Sind wir immer noch allein hier?« Shaila schloss zu ihnen auf. Ihr Gesicht wirkte in dem schwachen bläulichen Licht noch müder und abgespannter als zuvor, was sie aber nicht daran hinderte, ohne zu zögern noch einmal auf die Knie zu gehen und den Kopf auf den Boden zu legen. Als sie sich wieder aufrichtete, war ein neuer, wachsamer Ausdruck in ihr Gesicht getreten. »Ich glaube, wir sollten uns beeilen«, sagte sie. »Ja, das habe ich befürchtet.« Der Älteste deutete nach oben. »Da hinauf.« Daart spürte die Unruhe, die die beiden ergriffen hatte. Er hatte keine Ahnung, was dieser Gerant anstellen konnte, wenn er hier plötzlich auftauchte, aber wenn er ehrlich war, wollte er es auch gar nicht so genau wissen. »Zuerst ich und dann Daart«, sagte der Älteste. Shaila nickte flüchtig, drückte sich an Daart vorbei und blieb erst ein paar Schritte weiter stehen. Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben. Ihr zerschlissenes Gewand verrutschte und gab den Ansatz ihrer linken Brust frei. »Dort ist nichts.« »Sehr gut.« Der Älteste trat auf sie zu. Shaila zupfte hastig und vollkommen sinnlos an dem Fetzen herum, den sie trug, was es eher schlimmer als besser machte. Mittlerweile schimmerte mehr nackte Haut durch den mürben Stoff, als er verbarg, und Daart wurde sich
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bewusst, dass er ihr in dieser Beziehung kaum nachstand. Er wandte mit einem fast absurden Schuldgefühl den Blick ab, als Shaila die Hände vor dem Bauch verschränkte und der Stoff noch weiter verrutschte und ihre Brust nun fast vollständig freilegte. Der Älteste kümmerte sich nicht weiter darum. Er packte Shaila bei den Oberarmen und stieg mit dem rechten Fuß in ihre Hände, dann mit dem linken Fuß auf ihre Schultern, und schon einen Augenblick später stand er frei und ohne sich festzuhalten auf ihren Schultern. Shaila war zierlich und schlank, aber offensichtlich alles andere als schwach. Sie wirkte kein bisschen unsicher. Mit der rechten Hand krallte sie sich im Bein des Ältesten ein, dann hob sie die linke Hand. Daart glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er sah, wie der Älteste leicht schwankend in diese Hand trat und dieselbe Prozedur dann auch auf der anderen Seite wiederholte, bis Shaila im breitbeinigen Stand und mit in die Höhe gestreckten Händen dastand und der Älteste auf ihnen balancierte. »Noch ein kleines Stückchen vor«, kommandierte der Älteste. »Ja, jetzt ist es gut.« Die beiden sahen nicht so aus, als ob sie das zum ersten Mal machten, und trotzdem konnte Daart nicht anders, als sie dafür zu bewundern: Shaila für ihre Kraft und die erstaunliche Balancierfähigkeit und den Ältesten für eine fast schon artistische Geschicklichkeit, die weit über das hinausging, was ein durchschnittlicher junger Mann zustande brachte. »Jetzt«, sagte der Älteste. Shaila spannte sich, ging leicht in die Knie und federte ab, und der Älteste sprang nach oben. Mit ausgestreckten Händen hangelte er nach etwas, das außerhalb von Daarts Sichtfeld lag, dann packte er zu und zog sich hoch, und kurz darauf waren seine Beine verschwunden. Daart schüttelte fassungslos den Kopf. Ein solches Kunststück hätte er niemals von einem Mann erwartet, den man den Ältesten nannte. Shaila wandte sich zu ihm um. Sie massierte ihre Handgelenke und nickte ihm zu. »Und jetzt du.« »Wenn es sein muss«, sagte Daart unbehaglich. »Aber wo führt
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dieser Weg überhaupt hin?« »Zur Aussichtsplattform, zur Bibliothek, nach draußen.« Shaila zuckte mit den Achseln, starrte dann an sich hinab und zupfte hastig so viel Stoff wie möglich über ihre halb nackte Brust. »Such dir etwas aus.« »Und ein anderer Weg führt da nicht hoch?« »Keiner, der jetzt so ohne weiteres zu erreichen wäre.« Shaila nahm die Hand wieder herunter; der Stoff folgte ihrer Bewegung, und es hätte wohl nicht viel gefehlt, und das Gewand wäre bis zum Bauchnabel aufgegangen. »Und nun mach schon. Ich kann hier nicht ewig so herumstehen.« »Also gut.« Daart wandte hastig den Blick ab und nahm das Messer zwischen die Zähne. »Dann mach halt«, nuschelte er undeutlich. Shaila faltete wieder die Hände vor dem Bauch, und Daart stieg über die improvisierte Leiter auf ihre Schultern. »Und wie kommst du da rauf?«, fragte Daart, was sich mit der Messerklinge zwischen den Zähnen recht schwierig gestaltete. »Habt ihr oben ein Seil liegen?« »Ich warte auf Ask«, sagte Shaila knapp. Sie tat einen halben Schritt vorwärts, und Daart machte ein paar vorsichtige, ausgleichende Bewegungen, um das Gleichgewicht zu halten. Er hatte sich schon öfter ganz auf seinen Gleichgewichtssinn verlassen müssen, aber es war das erste Mal, dass er auf den Schultern einer zierlichen Frau stand, während er sich ausbalancierte. »Wo muss ich hin? Hier oben ist es stockfinster!« »Hier!« Der Älteste beugte sich zu ihm herab und streckte ihm die Hand entgegen. »Gib mir die Hand, ich ziehe dich nach oben.« Die langen weißen Haare des Ältesten waren das Einzige, was außer seiner Hand und einem Teil seines Armes sichtbar war. »Seid Ihr sicher?«, fragte Daart in das für ihn unsichtbare Gesicht hinein. »Nicht, dass ich Euch gleich wieder herunterreiße.« Der Älteste lachte leise auf. »Gib mal nicht so an, junger Mann. Ich bin vielleicht alt, aber weder senil noch klapperig. Ich weiß schon, was ich tue.« »Also gut.« Daart sah nach unten und begegnete Shailas Blick. Sie nickte knapp. »Ich stehe gut. Nun mach schon!«
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Daart zögerte nicht länger. Er ergriff die Hand des Ältesten, spürte, wie Shaila in den Knien federte, und sprang ab, kraftvoll und sicherlich ganz anders, als die beiden erwartet hatten. Noch im Sprung ließ er die Hand des Ältesten los; er hatte sie nur als Orientierung gebraucht und nicht, um sich von ihm hochziehen zu lassen. So zog er die Knie an den Leib und sauste schräg nach oben, knallte direkt neben dem Ältesten auf, federte aus der Hocke hoch und riss sich das Messer aus dem Mund. Noch während er sich in dem schummrigen Halbdunkel zu orientieren versuchte, hörte er unter sich einen wütenden Aufschrei. »Verdammt!« Shaila schien ganz außer sicher zu sein. »Wolltest du mich in den Boden rammen, oder was?« Daart blinzelte nervös, drehte sich um und sah nach unten. »Was ist denn los?« Shaila sah hoch und überschattete die Augen, aber sie konnte ihn wohl trotzdem nicht genau erkennen. »Du solltest mir nicht in die Schultern treten, du Narr. Es hätte vollkommen gereicht, wenn du dich ein bisschen abgefedert hättest.« »Entschuldige«, sagte Daart. »Ich werde es mir fürs nächste Mal merken.« »Es wird kein nächstes Mal mehr geben.« »Ich glaube, da kannst du sie beim Wort nehmen.« »Was?« Daart fuhr herum. Es war nicht der Älteste, der das gesagt hatte, sondern eine weitaus jüngere Stimme. Die Stimme eines Jungen, um genau zu sein. »Ich kenne Shaila gut genug, um zu wissen, dass sie das ernst meint«, sagte Thross und trat mit einem breiten Grinsen an dem Ältesten vorbei. »Wo kommst du denn her?« Daart starrte fassungslos auf den Jungen, dessen Haar versengt war und über dessen Wange eine üble Strieme lief, der aber ansonsten geradezu unverschämt fröhlich wirkte. »Du meinst, nachdem du mich mit aller Gewalt daran gehindert hast, es den Guhulan zu zeigen.« Thross’ Grinsen erlosch schlagartig, und in seinen Augen funkelte etwas, das Daart gar nicht gefiel.
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»Du hättest mich nicht mit Gewalt aus der Handelshöhle bringen dürfen. Mein Platz war an Shailas Seite. Und da ich sie auf diese Weise aus den Augen verloren habe, bin ich sofort hierhin gelaufen, denn ich war sicher, dass sie hier bald auftauchen würde.« »Das beantwortet aber immer noch nicht meine Frage, wie du hier hochgekommen bist«, sagte Daart scharf. Noch während er es aussprach, merkte er, dass er sich im Tonfall vergriffen hatte. Der Junge hatte wahrlich schon genug mitgemacht, da fehlte es noch, dass er grundlos von dem Mann angeblafft wurde, der beinahe seinen Tod zu verantworten gehabt hätte. »Der Junge ist ein Creeper-Anwärter«, sagte der Älteste, als Thross nur die Schultern zuckte und sich wegdrehte. »Er kommt überall hin - oder fast überall, wie das für Creeper nun einmal üblich ist.« »Ja…« Daart suchte nach einem Wort der Entschuldigung, aber es wollte ihm keines über die Lippen kommen. »Und was genau sind die Creeper?«, fragte er, vielleicht nur, um das unbehagliche Schweigen zu durchbrechen. Thross drehte sich wieder zu ihm um und sagte trotzig: »Die, die überall hinkommen! Und jetzt los! Den Rest des Weges führe ich euch.« Damit wandte er sich um und stapfte davon. »Ohne die Creeper wäre das Leben in den Höhlen für die Caverner kaum möglich«, sagte der Älteste leise, während er sich aufrichtete. »Sie finden immer einen Ausweg. Deswegen sind sie auch die geborenen Führer. Und nun sollten wir ihm in der Tat folgen.« Daart nickte knapp. »Sofern Ihr mir nicht ausweicht und meine Fragen beantwortet, gern.« »Dagegen ist nichts einzuwenden.« Der Älteste beschleunigte seine Schritte, um zu Thross aufzuschließen. Das unruhige Halbdunkel vor ihnen hatte den Jungen schon fast vollständig aufgesaugt. Obwohl er bloß ein paar Schritte Vorsprung hatte, war er nur noch als undeutliche Silhouette zu erkennen. Auch sonst hatte sich ihre Umgebung verändert. Es war ein breiter, leicht ansteigender Gang, den sie entlangliefen, und kein schmaler Korridor zwischen den Metallschränken der Alten. Und irgendwo weiter vor ihnen war ein heller Schimmer zu erkennen. Der Ausgang, von dem Shaila gesprochen hatte?
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»Was ist mit dem Amulett, das mir Ask entwendet hat?«, fragte Daart. »Keine Sorge«, sagte der Älteste. »Das Amulett ist in Sicherheit, und ich kann dir versichern, dass wir es nur einsetzen werden, um Zar’Toran zu schaden, und gewiss nicht, um ihn zu unterstützen.« »Das will ich auch hoffen.« »Alles Weitere können wir bereden, wenn wir bei der Aussichtsplattform waren, die Thross dir zeigen will«, sagte der Älteste knapp. »Wir sind gleich da.« Daart wollte ihm widersprechen, doch dann hörte er ein fernes Gemurmel vor sich. Zuerst konnte er es nicht zuordnen, doch dann kam es ihm so vor, als stammte es von unzähligen, nicht einzeln unterscheidbaren Stimmen. »Wir sind gleich am obersten Punkt der Kuppel«, sagte der Älteste. »Von hier aus kann man hinabsehen, ohne selbst gesehen zu werden.« »Auf was hinabsehen?«, fragte Daart unbehaglich. »Auf die Menschen, die sich hier versammelt haben, um einer Konfrontation mit den Guhulan auszuweichen«, sagte der Älteste scharf. Den Rest des Weges schwiegen sie unbehaglich. Daart lag die Frage nach einem Ausgang aus dem Höhlensystem auf der Zunge, aber er sprach sie nicht aus. Er wäre sowieso nur wieder mit einer ausweichenden Antwort abgespeist worden. Besser, er hielt selbst die Augen offen und ergriff die nächstbeste Gelegenheit, um die unterirdische Welt gegen die von Licht und Sonne einzutauschen - auch wenn draußen mittlerweile wahrscheinlich schon längst die Nacht hereingebrochen war. Schließlich verlangsamte Thross seine Schritte. Der kleine Flecken Helligkeit vor ihnen war beständig größer geworden und füllte mittlerweile den ganzen Bereich aus, auf den sie zugingen. Und das war beileibe noch nicht alles. Vor Daarts Augen schälte sich eine Glaswand heraus, die sich in ganzer Breite vor ihnen wölbte, mehr als zwei Mannlängen hoch. Das Stimmengemurmel, das von irgendwo dahinter erklang, brandete heran wie das Plätschern von Wellen, auf und ab schwellend und durchsetzt von einer Vielzahl winziger ande-
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rer Geräusche, die alle zusammen ein undefinierbares Gemisch ergaben. Daarts Unbehagen wuchs im gleichen Maße, wie die Gewissheit zunahm, dass ihm das, was er dort zu sehen bekäme, überhaupt nicht gefallen würde. »Wir sind gleich da.« Thross drehte sich zu ihm um. Eine Art Besitzerstolz funkelte in seinen Augen. »Außer uns Creepern kennt fast niemand diesen Ort. Er ist einfach… phantastisch.« Daart umklammerte den Dolch in seiner Hand unwillkürlich fester. Er fürchtete, dass sich ihre Einschätzung, was phantastisch war und was nicht, deutlich unterschied. Trotzdem - oder gerade deswegen legte er die letzten Schritte, die ihn noch von der Glaswand trennten, in einer gespannten Erwartungshaltung zurück. »Von hier oben kann man einfach alles sehen«, sagte Thross neben ihm, als er bei ihm angekommen war. Daart nickte benommen. Der Junge hatte durchaus nicht übertrieben. Sie befanden sich oberhalb der Kuppelhalle, die Daart erst vor kurzem betreten hatte, und starrten hinunter auf die Menschen, die sich dort zusammengedrängt hatten und mehr oder weniger geduldig auf das zu warten schienen, was ihnen noch widerfahren mochte. Daart blickte auf eine Vielzahl von Einzelschicksalen hinab, auf Männer, Frauen und Kinder, die es sich so weit wie möglich auf dem überfüllten Boden bequem gemacht hatten. Er konnte jedes einzelne Gesicht betrachten, ohne dass auch nur eines sich in seine Richtung wand. Was er in ihnen las, war eine Mischung aus Resignation, Geduld und dem Willen, der Situation das Beste abzutrotzen. Daart war verblüfft; vorhin, als er durch die Menschenmenge gegangen war, war ihm das gar nicht aufgefallen, da hatten die Versammelten wie ein Haufen Geschlagener auf ihn gewirkt, schwach, geschlagen, hoffnungslos. Doch jetzt war der Eindruck ein ganz anderer. »Sie können uns nicht sehen«, sagte der Älteste, der sich ein Stück weiter als Daart vorgebeugt und die Hände auf das Geländer gelegt hatte, das die gebogene Fensterfront einrahmte. »Ich weiß zwar nicht, wie das möglich ist: Aber die Alten haben es so eingerichtet, dass man zwar von hier aus runtergucken kann, aber von unten nicht nach oben.«
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Daart nickte. »Beeindruckend. Aber…« Er konnte seine Gefühle nicht in Worte fassen. Der Älteste schien jedoch zu spüren, was in ihm vorging, denn er fragte: »Glaubst du wirklich, dass wir es nicht mit der Hand voll Guhulan hätten aufnehmen können, die bei uns eingedrungen sind?« »Eine Hand voll?« Daart schüttelte den Kopf. »Ich schätze, dass es mindestens fünfzig waren.« »Wir können ein paar hundert bestausgebildeter Krieger aufbieten«, erwiderte der Älteste unbeeindruckt. »Und glaube mir: Auch jeder andere gesunde Mann und jede gesunde Frau wissen sich durchaus ihrer Haut zu erwehren. Nein, das, was du gesehen hast, war ein geordneter Rückzug.« »Ein geordneter Rückzug?« Daart war völlig fassungslos. »Die Guhulan haben unter den Cavernern wie die Barbaren gewütet, und nichts und niemand hat sie aufhalten können.« »Ein kleines Schauspiel, das offensichtlich gut inszeniert war«, sagte der Älteste. In seiner Stimme klang plötzlich Bitterkeit mit. »Nur schade, dass dabei echtes Blut geflossen ist und drei Menschen den Tod fanden.« »Nur drei Menschen?« »Nur, Daart?« Der Älteste schüttelte den Kopf. »Jeder einzelne Tote ist einer zu viel.« »Das habe ich damit auch nicht gemeint«, sagte Daart rasch. »Ich meinte nur, dass mich die geringe Anzahl eurer Opfer überrascht.« »Die sich durchaus noch erhöhen kann.« Der Älteste stieß sich von der Brüstung ab und drehte sich zu Daart um. »Soviel ich weiß, haben wir auch einige Schwerverletzte zu beklagen.« »Aber wozu das alles?«, fragte Daart. »Wenn ihr den Guhulan erfolgreich Widerstand leisten könnt - warum habt ihr es nicht getan?« »Wozu? Damit es noch mehr Tote gäbe bei dem Versuch, sie aus dem Höhlensystem zu vertreiben? Und damit Zar’Toran in wenigen Tagen mit einem riesigen, um Nubinas Silberkrieger erweiterten Heer wiederkäme, um alles, was er hier vorfände, in Brand zu setzen? Nein, Daart«, der Älteste schüttelte den Kopf. »Manchmal ist es besser, den Gegner im Glauben zu lassen, man wäre schwach und
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keiner Anstrengung wert.« »Es kommt mir irgendwie…« »Feige vor? Unehrenhaft?« Der Älteste schüttelte wieder den Kopf, drehte sich dann mit einer so kraftvollen Bewegung herum, dass sein weißes Haar wehte, und deutete nach unten. »Keine Sorge. Dass da unten ist kein wehrloser, feiger Haufen, der sich beim ersten Anzeichen von Gefahr unter die Erde verkriecht. Aber genau das ist es, was unsere Feinde von uns glauben sollen. Damit unser Zorn dann mit umso verheerenderer Macht über sie kommt!« Der Älteste hatte die Faust geballt und die Stimme erhoben, als spräche er nicht nur zu Daart, sondern zu all den Menschen dort unten. Aber niemand sah auf, niemand nahm auch nur Notiz von den dreien, die über ihren Köpfen auf einer Aussichtsplattform standen, welche die Alten hier vor unzähligen Jahren errichtet hatten. »Und nun komm«, sagte der Älteste. »Ich habe dir noch einiges zu sagen. Zum Beispiel, wie wir in einer gemeinsamen Anstrengung den eisernen Griff sprengen können, in den Zar’Toran und Nubina Enwor genommen haben.«
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Diesmal war es der Älteste, der voraneilte, und das so schnell, dass Daart und Thross Mühe hatten, zu der dunklen Gestalt mit den wehenden weißen Haaren aufzuschließen, wenn sie nicht rennen wollten. Es war ein schmaler, leicht abschüssiger Gang, auf den sie zuhielten, nur unzureichend beleuchtet durch ein bläuliches Glosen, das gerade ausreichte, um die nächste Umgebung erkennbar werden zu lassen. Daart verspürte ein leichtes Schwindelgefühl, als er kurz hinter Thross in abgestandene, stickige Luft eintauchte, in der sich eine Vielzahl für ihn ungewohnter Gerüche zu einem unerträglichen und kaum identifizierbaren Gemisch verbanden. Die Strapazen der letzten Tage und Wochen drohten ihren Tribut zu fordern, und sie nahmen keine Rücksicht darauf, dass es der denkbar ungünstigste Augenblick war, um ihnen nachzugeben. Schließlich wurde der Gang wieder eben und öffnete sich in ein düsteres, großes Oval, in dem nicht viel mehr zu erkennen war als
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verschwommene Schatten an den Wänden und der Umriss eines gewaltigen Tisches, der einladend inmitten des Raumes stand. Daart drehte sich um und starrte zurück in den hellen Schimmer, der von der Aussichtsplattform zu ihnen herüberschien. Auf dem Gangboden, genau in seiner Richtung, zeichnete sich ein bizarres Muster blutroter Sprenkel ab, und er wurde sich bewusst, dass er nicht nur längst den behelfsmäßigen Verband verloren hatte, sondern auch die Wunde an seiner Fußsohle wieder aufgeplatzt war. Der Älteste, der ebenfalls stehen geblieben war und in seine Richtung gestarrt hatte, sagte knapp: »Blut zieht die Geranten an.« Dann drehte er sich um und ging auf den Tisch zu, um hinter ihm Platz zu nehmen. »Umso weniger Zeit bleibt uns. Wenn der Gerant die Spur aufgenommen hat, die du so einladend hinterlassen hast, wird es nicht mehr lange dauern, bis er hier auftaucht.« »Und uns alle umbringt.« Thross warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück und begab sich dann mit einer erschrockenen Geste in den Schatten der Wand. »Geranten saugen das Gehirn aus. Es ist furchtbar. Als mein Halbbruder von einem Geranten angegriffen wurde, stand ich nur ein paar Schritte daneben. Es ging alles wahnsinnig schnell. Plötzlich spritzten Gehirnflüssigkeit und Blut herum, und wenn ich selbst nicht…« »Thross, es reicht«, sagte Älteste scharf. Der Schatten des Jungen schien gänzlich mit den dunklen Umrissen zu verschmelzen, als er sich noch enger an die Wand drückte, aber er gab keinen einzigen Laut mehr von sich. Als sich Daart wieder zu dem Weißhaarigen umwandte, machte dieser eine einladende Handbewegung, die Daart mehr erriet als sah. Zögernd trat er näher. Das Schwindelgefühl, das ihm auf dem Weg hier herunter zu schaffen gemacht hatte, verstärkte sich noch, als er auf dem schmalen Metallstuhl Platz nahm, auf den der Älteste gedeutet hatte. Er legte den Dolch vor sich auf den Tisch, schloss die Augen und atmete zwei-, dreimal tief durch. Als er sie wieder öffnete, gewahrte er gerade noch wehende weiße Haare und eine schnelle, fließende Bewegung, mit der sich der Älteste nach unten bückte und etwas hervorholte. Im allerersten Moment glaubte Daart, dass es eine Waffe sei, doch dann
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erkannte er seinen Irrtum. Es war ein Buch, das er mit beiden Händen hochhob und vorsichtig vor sich auf dem Tisch ablegte, ein dicker, in Leder gebundener Foliant. »Kommen wir zum eigentlichen Grund, warum ich dich hierher geführt habe«, sagte er. »Zu dem Wissen, das ich in diesem Buch zusammengetragen habe.« Daart zupfte den zerschlissenen Fetzen zurecht, der noch vor wenigen Tagen ein fast sauberes und vor allem unversehrtes Gewand gewesen war, und fuhr mit dem Zeigefinger über den frischen Kratzer an seiner Schulter, den er sich in der Handelshöhle zugezogen hatte. Dann schüttelte er den Kopf. »Ein Buch? Was soll das. Bücher haben noch nie einen Kampf entschieden.« »Oh, doch, das haben sie«, widersprach der Älteste. »Und zwar mehr als einmal. Dabei haben sich vor allem die Bücher als wichtig erwiesen, in denen die Geschichte Enwors festgehalten ist.« Als Daart nichts darauf erwiderte, fuhr er fort: »Viele Bücher und Schriftstücke sind verbrannt und verloren gegangen. Doch mit vereinten Kräften haben wir in den letzten Jahren glücklicherweise etliche Abschriften auftreiben können - und sogar einige Originale.« Daart erinnerte sich an die Händler, die Bücher und Pergamente vor sich auf dem Boden ausgebreitet und sie in aller Hast zusammengerafft hatten, als die Guhulan in die Handelshöhle eingedrungen waren. »Bücher«, sagte er störrisch, »werden mir wohl kaum sagen können, was ich zu tun habe. Und in ihnen werde ich schon gar nicht die richtige Anweisung finden, wie ich Zar’Toran am besten bekämpfen kann.« »Doch, das wirst du, wenn du zwischen den Zeilen zu lesen verstehst. Und genau dabei will ich dir helfen.« Der Älteste schob das Buch ein Stück zur Seite und atmete tief aus. »Ich habe früher genauso gedacht wie du. Bücher waren für mich vollkommen bedeutungslos. Doch dann kam der Tag, an dem ich erfahren musste, dass ich meinen Kampf ohne das nötige Hintergrundwissen nicht länger würde fortsetzen können.« Er beugte sich vor, und erst jetzt, als er die Hand ausstreckte, merk-
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te Daart, dass der Tisch bei weitem nicht so leer war, wie er gedacht hatte. Es waren bizarre Formen, die er mehr erahnte als sah, Dinge, die unordentlich gestapelt und durcheinander geworfen wirkten, vielleicht Bücher und Schriftstücke, wie er sie in der Handelshöhle gesehen hatte, vielleicht aber auch etwas ganz anderes. Die Hand des Ältesten kroch auf etwas zu, das eine Waffe hätte sein können, doch dann erkannte Daart, dass er sich getäuscht hatte - es war eine Kerze, die er aufnahm. Thross eilte herbei; etwas flammte in seiner Hand auf, ein gelblich flackerndes Licht, das Daart im ersten Moment so sehr blendete, dass er die Augen zusammenkneifen musste. Der Junge hielt das kleine Hölzchen, das er auf geheimnisvolle Weise entzündet hatte, an den Docht der Kerze, bis auch dieser entflammte. Während er sich wieder in den Schatten zurückzog, hielt der Älteste die Kerze schräg, sodass Wachs auf den Tisch tropfte. Als genug zusammengekommen war, drückte er sie mit einem kräftigen Ruck in das Wachs. Es dauerte nicht lange, bis die Kerze genug Halt hatte, dass er sie loslassen konnte. Das stark flackernde Licht zauberte unruhig huschende Schatten, sodass es aussah, als erwachten die geheimnisvollen Apparaturen der Alten nach Jahrhunderten wieder zum Leben. Daart musste ein paar Mal blinzeln, bis sich seine Augen auf die Helligkeit eingestellt hatten und er Spuk und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Erst dann erkannte er, dass der Tisch tatsächlich mit Büchern bedeckt war. Einige von ihnen waren aufgeschlagen, andere übereinander gestapelt, und mit einem Mal wurde ihm bewusst, was er die ganze Zeit über gerochen hatte: altes Leder, Papier und Leim, durchzogen von einem leichten Modergestank, der darauf hinwies, dass sich mehrere der Bücher in einem nicht mehr ganz einwandfreien Zustand befanden. »Wir haben gelernt, in der Dunkelheit zu leben«, sagte der Älteste. »Aber wir können nicht im Finstern lesen. Dafür müssen wir auf die Kraft des Feuers zurückgreifen, sosehr das auch einige missbilligen mögen.« Daart achtete nicht auf seine Worte, er nutzte die Gelegenheit, sich genauer umzusehen. Sie befanden sich offensichtlich genau im Zentrum der Anlage, die die Alten hier vor unendlicher langer Zeit errich-
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tet hatten. Es war ein kreisrunder, auf allen Seiten von Metallwänden eingegrenzter Raum, aus dem nur vier Gänge herausführten, in jede Himmelsrichtung einer, sofern diese Anlage nach Himmelrichtungen ausgerichtet war und nicht nach ganz anderen Kriterien. Der Tisch, an dem sie saßen, war der größte, aber nicht der einzige seiner Art; es gab mehrere, die in regelmäßigen Abständen verteilt waren, so weit Daart das in dem unruhigen Flackerlicht erkennen konnte. Auf den meisten Tischen wie auch auf dem Boden zwischen ihnen waren Bücher unterschiedlichster Einbände und Formate gestapelt, viel mehr, als Daart bislang in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Einige der Bücher waren voller Staub, ihre Einbände brüchig und das mitunter nackt unter zerstörten Umschlägen hervorquellende Papier vergilbt und eingerissen. Andere dagegen waren sauber und ordentlich aufgestellt worden und sahen so frisch aus, als wären sie erst vor kurzem gebunden worden. Es war eine Bibliothek, in die er geraten war - nicht zu vergleichen mit dem kleinen Raum in der Korona, in der die Satai eifersüchtig einen Schatz von vielleicht vierzig bis fünfzig Büchern gehortet hatten, auf die nur der Hohe Rat Zugriff gehabt hatte. Dies war die vielleicht größte Bibliothek, die es auf ganz Enwor gab, und wahrscheinlich hätten nicht einmal mehrere Menschenleben ausgereicht, um all die Werke hier durchzulesen. »Bücher sind nicht alles«, sagte der Älteste, dem Daarts Blick nicht verborgen geblieben war, »aber sie können unseren Horizont immens erweitern. Und du darfst mir glauben, dass du das im Augenblick bitter nötig hast.« Daart deutete mit dem Finger in die Runde. »Ihr meint tatsächlich, dass ich hier die Antworten auf die Frage finden werde, wie wir die Guhulan besiegen können?« »Die Guhulan und auch die Silberkrieger Nubinas, die den weiten Weg aus Nyingma bis hierher gefunden haben«, bestätigte der Älteste. »Die Vorstellung mag für dich vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig sein: Aber gerade in schweren Zeiten ist es ratsam, sich zurückzuziehen und ganz in Ruhe die Entstehung des Chaos zu ergründen. Und dabei können Bücher helfen. Vor allem, wenn sich in ihnen
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die Hintergründe für das finden, was gerade im Hier und Jetzt geschieht.« Alles versinkt im Chaos, hatte Carnac gesagt, in einem anderen Zusammenhang und am anderen, südlichen Ende Enwors. Und doch kamen ihm ihre Worte nun wieder in den Sinn. Er hatte gehofft, dass Carnac Antworten wüsste, oder irgendjemand anderer in seinem Umfeld, aber er war lediglich auf Verwirrung und Verzweiflung gestoßen. Wenn er Zar’Toran wirklich aufhalten wollte, war es vielleicht tatsächlich an der Zeit, sich mit den Hintergründen des Bündnisses zu beschäftigen, das er mit Nubina, der Herrscherin von Nyingma, geschmiedet hatte. Daart deutete auf den Folianten, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Ihr erwartet doch nicht etwa, dass ich jetzt dieses dicke Buch lesen werde.« Der Älteste lächelte leicht. »Nein. Zum Studium dieser Bücher braucht man Zeit. Zeit, die wir nicht haben, die ich mir - wie manche andere - aber bereits genommen habe.« »Dann wollt Ihr mir also berichten, was Ihr aus diesen Büchern erfahren habt.« »So ungefähr.« Der Älteste beugte sich zur Seite; sein weißes Haar fiel halb über sein Gesicht und das schwarze Gewand. Daart erwartete, das leicht dumpfe Geräusch zu hören, mit dem sich die Finger des Ältesten um den Einband eines weiteren Buches schlossen, doch stattdessen hörte er etwas ganz leise klirren, Fingernägel auf Glas. Der Älteste richtete sich wieder auf, hob etwas hoch und stellte es vorsichtig auf den Tisch, um bloß keinen Tropfen des kostbaren Inhalts zu verschwenden. Es war nur eine kleine Bewegung, aber sie zeugte einmal mehr von einer Geschmeidigkeit und Köperbeherrschung, die im krassen Gegensatz zu diesem uralten Gesicht stand; etwas, über das Daart sicherlich intensiv nachgedacht hätte, wenn er jetzt nicht voller Gier auf die randvoll gefüllte Wasserkaraffe gestarrte hätte, die ihm der Älteste an dem Buch vorbei zuschob. »Du wirst durstig sein, nach allem, was dir widerfahren ist«, sagte er. Daart war nicht einmal mehr überrascht, als Thross lautlos herantrat, zwei Becher auf den Tisch stellte und sie mit dem Wasser aus
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der Karaffe füllte. Es war ein unglaublicher Anblick, kristallklares Wasser von einem Behälter in den anderen laufen zu sehen und das Plätschern zu hören, mit dem sich die Becher füllten. Daart wurde sich schlagartig bewusst, dass seine Lippen rissig und spröde waren und sich seine Kehle so rau und verbrannt anfühlte wie der Boden in der Handelshöhle, nachdem ihn das Feuer der Guhulan verheert hatte. Er musste sich zusammenreißen, um den vor ihm stehenden Becher nicht hochzureißen und mit einem Schluck zu leeren. »Ihr seid hier gut ausgestattet«, sagte er rau. »Nicht gut genug«, widersprach der Älteste. »Unsere Wasservorräte sind beschränkt. Es gibt zwar eine Wasserquelle ganz in der Nähe der Kuppelhalle, aber sie reicht bei weitem nicht aus, um all die vielen Menschen zu versorgen, die hier Zuflucht gesucht haben. Aber das soll dich nicht daran hindern zu trinken.« Daart zögerte dennoch. Er wartete darauf, dass der Älteste seinen Becher in die Hand nahm, aber dieser tat ihm nicht den Gefallen. »All das, was du hier siehst, ist das Werk der Alten«, sagte der Älteste. »Sie haben Anlagen wie diese in die Berge gebaut, nachdem sich abzeichnete, dass sie im Kampf gegen die Sternengeborenen unterliegen würden. Doch das geschah erst in der späten Epoche. Und es ist wichtig für dich wie für mich zu wissen, wie es dazu kam.« »Wichtig wofür?«, fragte Daart. Der Älteste machte eine ungeduldige Handbewegung. »Später. Die Alten waren Wesen von unvorstellbarer Macht, aber sie waren auch Menschen wie du und ich, mit ganz ähnlichen Schwächen und Stärken, wie sie unserer Rasse zu Eigen sind. Sie haben etwas schier Unglaubliches geschaffen, das sie Technik und Wissenschaft nannten und was uns selbst wie Zauberei anmutet. Unter dem Ansturm der Sternengeborenen entwickelten sie ihre Fähigkeiten zu einer Meisterschaft, mit deren Hilfe sie selbst die scheinbar fest gefügten Grenzen von Zeit und Raum zu überwinden vermochten. Damit gelang es ihnen tatsächlich, die Sternengeborenen vernichtend zu schlagen. Doch dann begingen sie einen schrecklichen Fehler: Sie hielten sich für unbesiegbar und ließen in ihren Anstrengungen nach. Sie waren
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überzeugt, ihre Technik könne es mit jeder neuen Waffe der Sternengeborenen aufnehmen.« »Und das war nicht richtig?«, vermutete Daart. »Ganz und gar nicht.« Der Älteste griff nach dem Wasserglas und zog es ein winziges Stück zu sich heran. »Die Sternengeborenen waren anders als wir, vollkommen anders. Sie dachten anders, und sie handelten anders. Ihr Volk war eher wie ein Insektenstaat organisiert, in dem das einzelne Individuum überhaupt nichts zählt. So etwas wie Überheblichkeit oder Hoffnungslosigkeit war ihnen fremd.« Sein Kopf ruckte herum, als ob er etwas gehört hätte, und Daart bemerkte, dass er gedankenverloren in die Richtung starrte, in der Ask verschwunden war. »Ich habe die Zusammenhänge früher nur unvollständig begriffen. Vieles von dem, was ich für die Wahrheit hielt, sieht für mich nun ganz anders aus.« Er wandte sich wieder an Daart. »Es sind nicht die Bücher allein, die mir eine andere Sicht vermittelt haben. Es ist vieles geschehen in all den Jahren, seit ich den Kampf gegen das aufgenommen habe, was uns die Alten und die Sternengeborenen hinterlassen haben.« »Die Alten und die Sternengeborenen?« »Ja.« Der Älteste entspannte sich ein wenig und lehnte sich ein Stück weit zurück. »Unsere Welt ist auf dem Fundament errichtet, das sie mit ihrem Vernichtungskampf geschaffen haben. Es ist ein rissiges Fundament, in dem sich viele unschöne Überraschungen finden. Wenn wir auf ein altes Geheimnis stoßen, wissen wir nie, ob es uns die Alten vererbet haben - oder die Sternengeborenen. Aber daraufkommt es mittlerweile auch nicht mehr an.« »Auf was dann?«, fragte Daart »Darauf, unser Erbe mit Bedacht zu verwalten…« Der Älteste brach ab, beugte sich wieder ein Stück vor und hustete trocken. Seine Finger suchten den Becher mit Wasser und umklammerten ihn beinahe gierig; dann setzte er ihn an die Lippen und trank mit großen Schlucken. Als er ihn wieder absetzte, war der Becher leer. »Die Sternengeborenen haben am Ende keine Waffen geschaffen, sondern Leben«, sagte er. Leben. Daart bekam Gelegenheit, über die letzten Worte des Ältes-
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ten nachzudenken, denn wieder trat Thross heran und füllte den Becher nach. Leben erschufen die Götter, und sonst niemand. Die Götter, die von den Sternen kamen… Konnte es sein, dass die Ältesten gegen ihre eigenen Götter gekämpft hatten? Der Älteste nickte Thross dankbar zu. Seine Hand wollte nach dem frisch gefüllten Becher langen, doch dann verharrte er mitten in der Bewegung und lehnte sich kurz darauf wieder ein Stück zurück. Daart selbst konnte sich nun nicht mehr länger beherrschen. Er griff nach seinem Becher. Er fühlte sich angenehm kühl an, so als wäre das Wasser, mit dem er gefüllt war, erst vor kurzem aus einer kalten Quelle geschöpft worden. Obwohl der Schmerz in seiner Kehle geradezu zu explodieren schien, genoss er den Moment ganz bewusst, in dem er den Becher anhob und zum Mund führte. Er setzte ihn vorsichtig an, um nur keinen Tropfen zu verschütten, und nahm einen kleinen Schluck. Das Wasser war tatsächlich angenehm kalt, doch als es in seine Kehle rann, verursachte es einen heftigen Schmerz. Er musste mehrmals schlucken, bis das Brennen etwas nachließ, und obwohl alles in ihm danach schrie, so viel Wasser wie möglich zu trinken, leerte er den Becher nur bis zur Hälfte und stellte ihn wieder ab. »Sie haben alle erdenklichen Formen von Leben geschaffen«, fuhr der Älteste fort. »Doch in jedem Fall diente es nur einem Zweck: zu töten und zu vernichten.« »Und das alles steht in dem Buch, das Ihr vor Euch liegen habt?«, fragte Daart. Der Älteste schüttelte den Kopf. »Nein. Es steht nicht in diesem Buch, es steht auch in keinem anderen. Das Wissen um das, was vor unendlicher Zeit geschehen ist, ist in vielen Büchern verteilt, und der Rest«, er tippte sich mit dem Zeigerringer gegen die Stirn, »ist hier drin.« Daart nickte und starrte gierig auf die Wasserkaraffe und dann auf seinen Becher, wohl wissend, dass er gut beraten war, jetzt langsam zu trinken, um seinen ausgedörrten Körper nicht zu überfordern. »Die Sternengeborenen haben also Leben geschaffen«, sagte er. »Was für Leben?«
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Der Älteste zuckte mit den Achseln. »Alle möglichen Formen. Entsetzliche Dinge, die jegliche Grenzen unserer Vorstellungskraft sprengen, riesig und unendlich stark, oder auch klein, verschlagen und hinterlistig. Gemein ist ihnen die immense Kraft und Schnelligkeit - und ein Überlebensinstinkt, der dazu führt, dass aus scheinbar fest gefügten Lebensformen wieder neues Leben entsteht, wann immer es nötig sein sollte.« Daarts Finger umklammerten wie von selbst den Becher. Ein Luftzug ließ das Licht der Kerze flackern und zauberte schemenhafte, rötlich gelbe Wirbel auf den Becher. Auch das war Leben, wenn auch eine ganze andere Art als die, von der der Älteste gesprochen hatte. »Sie sind noch unter uns, nicht wahr?«, fragte er. »Die Kreaturen der Sternengeborenen?« »Sie sind nicht nur unter uns…«, antwortete der Älteste nachdenklich. Als er schließlich Daarts Blick suchte, lag ein leichtes, fast versonnen wirkendes Lächeln auf seinen Zügen. »Die Sternengeborenen habe ihre ganz eigene Art der Unendlichkeit geschaffen. Leben, sich immer wieder anpassendes Leben, das überall existieren kann, unter jeder Bedingung, im Zentrum des Feuers wie im Herzen der Kälte. Leben, das sich hineinwindet in das, was es vorfindet, das niemals aufgibt, gar nicht aufgeben kann, weil ein ungebrochener Überlebensinstinkt es vorantreibt.« »Dann«, sagte Daart, »wundert es mich, dass es uns noch gibt.« »Ja, nicht wahr.« Der Älteste griff nach der Umschlagseite des dicken Lederfolianten und schlug das Buch auf. »Eigentlich hätten uns die auf Tod programmierten Sternenbestien längst auslöschen müssen. Das habe ich erst verhältnismäßig spät begriffen, zu einer Zeit, als die mir vorbestimmte Lebensspanne längst überschritten war. Dabei hatte ich schon viel früher einen Hinweis darauf erhalten. In Eternity, der unterirdischen Stadt der Alten…« Daart starrte ihn überrascht an. »Ihr wart in Eternity? Der Stadt, aus der es kein Entkommen gibt?« »Nun, gäbe es kein Entkommen aus ihr, dann säßest du mir jetzt nicht gegenüber«, sagte der Älteste ungerührt. »Schließlich warst du mit Carnac auch dort unten. Und sicherlich habt ihr beiden die be-
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sondere Ausstrahlung gespürt, die dort herrschte, genau wie an einem anderen Ort, an dem ihr beide gemeinsam wart: in den dunklen Gängen und Gewölben unterhalb des Palastes von Nubina.« Vor Daarts innerem Auge entstand das Bild einer Höhle, durch die er und die anderen auf der Flucht von Nubinas Soldaten gehetzt waren; er erinnerte sich mit Grausen an den flüchtigen Eindruck vielfältiger Wirklichkeiten, die vor seinen Augen durcheinander gepurzelt waren, als er dem begegnet war, was Carnac und die anderen Gezeitenwurm genannt hatten. »Ihr wisst erstaunlich gut Bescheid«, sagte er unbehaglich. »Und Eure Kenntnisse könnt Ihr in diesem Fall aus keinem Eurer Bücher haben.« »Nein, wohl kaum. Aber es gibt da etwas anderes, auf das ich durch das Studium all dieser Bücher gestoßen bin, die du hier siehst.« Der Älteste machte eine Pause, streckte die Hand zu seinem Becher aus und ließ sie dann wieder sinken. »Du solltest noch etwas trinken«, bemerkte er dann. »Du musst ja vollkommen ausgetrocknet sein.« Daart ließ sich das nicht zweimal sagen. Diesmal kippte er den Rest Wasser in aller Eile herunter, und nachdem ihm der Älteste auffordernd zugenickt hatte, goss er sich den Becher noch einmal voll und leerte auch diesen in kleinen, gierigen Zügen. Das Wasser schien seinen Durst eher noch anzufachen, statt ihn zu besänftigen, eine Wirkung, die er nicht zum ersten Mal erlebte. »Es gibt einen guten Grund, warum die Sternenbestien uns nicht ausgelöscht haben«, fuhr der Älteste schließlich fort. »Denn ganz zum Schluss haben die Alten eine Möglichkeit entdeckt, ihnen Widerstand zu leisten. Und das keinen Augenblick zu früh. Ganze Landstriche hatten sie schon an die Sternengeborenen verloren, und es muss zu schrecklichen Katastrophen auf der Oberfläche gekommen sein. Ihre unermesslich großen, reichen Städte fielen nach und nach den Angreifern in die Hände. Und dann gingen sie in den Untergrund. Sie gruben sich in die Erde ein, dort, wo sie besonders geschützt waren, unter unzähligen Tonnen von Gestein, so wie hier im Schattengebirge. Dort experimentierten sie mit der Zeit selbst, und dort schufen sie das, was sie selbst die Zeitenwächter nannten.« Daart kniff die Augen zusammen. »Ich verstehe nicht. Was sollen
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Zeitenwächter sein?« Der Älteste seufzte. »Ich wünschte, ich könnte dir das in wenigen Worten erklären - zumindest das, was ich mittlerweile selbst erfahren habe. Aber dazu reicht, du verzeihst mir diese kleine Wortspielerei, unsere Zeit leider nicht.« Daart machte eine rasche Handbewegung. In ihm brodelte etwas ganz anderes als die Frage, wie sich die Alten gegen die Sternengeborenen gewehrt hatten. Er musste plötzlich an Carnac denken, die Frau, die ihm mehr bedeutete als alle anderen Menschen. Er erinnerte sich an das kleine Muttermal, das sie auf ihrer Schulter trug, und an den Geruch ihrer Haare, die er beiseite geschoben hatte, um ihre Schulter zu küssen. In ihm war etwas, das ganz intensiv darauf reagierte, mit einer Mischung aus Wolllust und Sehnsucht, und als seine Gedanken weiter glitten, so wie seine Hände damals weiter geglitten waren, am Rand des Wasserfalls in Eternity, da spürte er anstelle wachsender Erregung etwas ganz anderes in sich: den unbezwingbaren Wunsch, zu ihr zurückzukehren und sie aus den Klauen des Ungeheuers zu befreien, das ihr sämtliche Würde zu nehmen versuchte… »Nun gut«, sagte er knapp. »Und zu was reicht unsere Zeit?« Der Älteste brachte ihn mit einer raschen Geste zum Verstummen, und dann hörte es auch Daart: sich rasch nähernde Schritte, die direkt auf sie zuhielten. Daart packte das Messer und wollte aufspringen, doch der Älteste legte ihm die Hand auf den Arm. »Nein«, sagte er. »Das ist Ask. Ich kenne ihren Schritt.« Daart drehte sich um und kniff die Augen zusammen. Tatsächlich, es war Ask, die in aller Eile auf sie zuhielt. Sie hatte den Helm abgenommen und sich unter den Arm geklemmt. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Ärger, und als sie Daart entdeckte, verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. »Ich habe ihn nicht erwischt«, stieß sie hervor, bevor sie sich Daart zuwandte. »Warst du das mit der Blutspur?« Daart nickte knapp. »Allerdings. Und ich weiß bereits, dass Blut die Geranten anzieht.« »Dann hättest du besser aufpassen müssen«, erwiderte Ask mür-
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risch und fuhr sich mit einer ärgerlichen Geste durch die Haare. »Ich hasse diesen Helm. Darunter kriege ich kaum Luft.« »Und trotzdem solltest du ihn wieder aufsetzen«, sagte der Älteste. »Der Gerant wird früher oder später die Blutspur finden und sie aufnehmen.« »Ja, verdammt, ich weiß.« Ask nestelte unruhig an ihrem Helm herum. »Und das ist nicht das Einzige, was mir Sorgen macht. Die Guhulan sind bereits dabei, sich aus den Höhlen zurückzuziehen, und so wie es aussieht, werden sie heute noch diese Gegend verlassen. Sie scheinen es gar nicht erwarten zu können, zum Glutsee zu kommen - ob mit oder ohne Daart.« »Das sind schlechte Nachrichten«, meinte der Älteste. »Dann bleibt uns tatsächlich nicht mehr viel Zeit.« »Zeit wozu?«, fragte Daart stirnrunzelnd. »Und warum ist es schlecht, dass sich die Guhulan zurückziehen? Ich finde doch eher, dass das eine gute Nachricht ist!« Ask ging auf Daart zu, ohne ihn auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Sie langte an ihm vorbei, goss Wasser aus der Karaffe in seinen Becher und nahm ihn dann, um ihn in einem Zug zu leeren. Als sie ihn wieder absetzte, wischte sie sich kurz über die Lippen und nickte Daart zu. »Ja, es ist gut, dass sich die Guhulan zurückziehen. Für die Menschen hier, die endlich wieder herauskönnen, um in Ruhe ihre Toten zu bestatten und ihre Verletzten zu versorgen. Und doch ist es für uns alle eine unsagbar schlechte Nachricht. Weil dadurch gefährdet wird, was ich erreichen wollte, als ich dich den Guhulan in die Hände spielte.« »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Daart scharf. »Was war an deinem Verrat gut? Doch nicht etwa, dass mich die Guhulan in ihre Gewalt bekamen, bevor ich das Amulett in Sicherheit bringen konnte?« »Ich habe das Amulett in Sicherheit gebracht«, sagte Ask ärgerlich. »Und ich habe dafür gesorgt, dass wir noch eine Möglichkeit haben, um Nubina und Zar’Toran die Stirn zu bieten. Aber du: Du hast durch deine leichtsinnige Flucht nicht nur Tod und Verheerung über die Caverner gebracht, du hast damit auch alles gefährdet, was wir so mühsam arrangiert hatten!«
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»Was für uns ein Vorteil sein wird«, sagte der Älteste rasch, bevor Daart die erregten Worte ausstieß, die ihm schon auf der Zunge lagen. »Allein deswegen, weil ich Daart jetzt in aller Ruhe in unseren Plan einweihen kann. Und so lange wirst du dich noch gedulden müssen, Ask.« Ask ballte die Faust, und es sah beinahe so aus, als wollte sie auch dem Ältesten wütende Worte entgegenschleudern, doch dann nickte sie knapp und atmete zischend aus. »Ja. Aber ich bitte Euch: Beeilt Euch. Ich fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, bis der Gerant Daarts Blutspur entdeckt hat.« »Und uns angreifen wird, ich weiß.« Der Älteste blickte Ask einen Herzschlag lang nachdenklich an, bevor er sich wieder an Daart wandte. »So wie die Sternenkreaturen die Alten angegriffen, sie förmlich überrannt haben. Vielleicht hatten sie nie wirklich eine Chance gegen die Sternengeborenen, doch sie weigerten sich, das anzuerkennen. Es ist die Not, Daart, die uns Menschen am stärksten macht, die uns über uns hinauswachsen lässt. Und so war es auch im Fall der Alten.« Ask lachte kurz und bitter auf, was Daart bewog, sie erstaunt zu mustern. Das unruhige Flackern in ihren Augen gefiel ihm ganz und gar nicht. »Was ist daran so komisch?«, fragte er. Ask warf einen kurzen Seitenblick auf den Ältesten. »Eigentlich gar nichts. Außer, dass die Alten ihren eigenen Weg zur Unsterblichkeit gesucht haben. Einen ganz anderen Weg als den der Sternengeborenen mit ihrem sich immer wieder selbst erschaffenden Leben.« Sie zögerte kurz. »Und wir haben jetzt mit den Auswirkungen zu leben.« Der Älteste runzelte die Stirn, und als sich Daart zu ihm umdrehte, hatte er für einen Moment das Gefühl, in das erstarrte Gesicht eines Toten zu blicken, in dem nur noch die Augen lebten; Augen, in denen sich plötzlich Qual anstelle von Güte und Verständnis widerspiegelte. Er verspürte einen eisigen Schauer puren Entsetzens. Doch dann, bevor er den Gedanken auch nur fassen konnte, der ihm bei diesem Anblick durch den Kopf schoss, stieß der Älteste die Luft aus, die er eine Weile angehalten hatte, und lachte heiser auf. »Ja«, sagte er leise, »das ist wohl wahr.« Er griff nach dem Buch vor sich
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und zog es an sich heran, schien etwas sagen zu wollen und brach dann wieder ab. »Wir werden damit leben müssen«, murmelte er. Daarts Blick wanderte von einem zum anderen. »Womit?« Die Qual im Blick des Ältesten flammte noch einmal auf, dann ballte er die Faust und schlug so heftig auf den Tisch, dass das Licht der Kerze wild hin und her tanzte. »Wir werden nicht aufgeben, Daart, niemals!«, sagte er heftig. »Und ich werde dir einen Weg weisen, wie du es mit Zar’Toran und Nubina aufnehmen kannst. Wie du das, was sie gerade im Begriff sind zu erschaffen, vernichten kannst, wie du den Weg dazu ebnen kannst, dass das ein Ende hat, was sie an Leid und Schmerz über Enwor gebracht haben.« Daart wollte etwas sagen, aber er kam nicht dazu. Der Älteste schlug mit einer energischen Handbewegung das Buch auf. Es war ein großer schwerer Band, abgegriffen und teilweise fleckig, mit vielen Illustrationen und Text, durch den sich der Älteste in aller Eile hindurchblätterte. »Alles, was wir im Augenblick wissen müssen, steht im Zwölften Buch. Hier sind die Dinge zusammengefasst, die uns bei unserem Kampf unterstützen werden.« »Das Zwölfte Buch wovon?« Der Älteste sah kurz auf. »Das der Geschichte Enwors. Es ist das Vermächtnis unserer direkten Vorfahren - jener Männer und Frauen, die rechtzeitig die Bedrohung begriffen haben, welche nun mit aller Gewalt nach uns greift. Und die Mittel und Wege gesucht haben, um ihr zu begegnen…« Er hielt inne, als er offensichtlich die Stelle gefunden hatte, die er gesucht hatte. Mit einer schwungvollen Handbewegung drehte er das Buch um, sodass Daart nun einen freien Blick auf die Zeichnungen hatte, die die Doppelseite beherrschten. »Das ist der Glutsee.« Der Älteste fuhr mit den Fingern die Uferlinie entlang, an der mit Kreuzen und Namen einzelne Siedlungen vermerkt waren. »Er ist eigentlich schon fast ein Binnenmeer. Und hier, in der Mitte des südlichsten Teils, stand einst der Feuertempel, bevor er abgelassen wurde.« »Abgelassen?« »Ja. Es heißt, dass er auf einer Insel gestanden habe, die einst bei einem fürchterlichen Unwetter überspült wurde und unterging. Doch
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das ist nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit war es wohl ein Sicherheitsmechanismus, der bei diesem Unwetter ansprach und dafür sorgte, dass der Feuertempel auf den Grund des Sees abgesenkt wurde.« Daart musste ihn wohl verständnislos angestarrt haben, denn der Älteste fuhr ungeduldig fort: »Die Alten haben zum Schluss keine Oberflächenbauten mehr errichtet. Aber mit Hilfe ihrer besonderen Kenntnisse waren sie in der Lage, einen ganzen Gebäudekomplex vom Grund eines Sees nach oben zu fahren - und ihn bei Bedarf wieder abzusenken.« »Der Feuertempel…« »… ist wohl nur eine Umschreibung für ein Bauwerk der Alten.« »Und das Amulett…« »… ist so etwas wie der Schlüssel, um den Mechanismus in Gang zu setzen, der es wieder nach oben fahren kann«, fuhr der Älteste fort. »Ganz so, wie es Nubina und Zar’Toran wollen. Und wir übrigens auch.« Daart starrte ihn an. »Ich verstehe nicht ganz…« »Das wirst doch schon noch.« Der Älteste griff nach der Buchseite, als wollte er sie umschlagen, beließ es dann aber dabei, die Hand so auf die Seite zu legen, dass die Zeichnung halb verdeckt wurde. »Es hat lange gedauert, bis ich mir aus all den Büchern und dem, was ich aus anderen Quellen zusammentrug, ein einheitliches Bild machen konnte. Es hat etwas damit zu tun, was am Ende der fürchterlichen Auseinandersetzung zwischen den Alten und den Sternengeborenen geschah. Und damit, dass die Alten in ihrer Verzweifelung verschiedene Wege suchten, um doch noch das Ruder herumzuwerfen.« »Was ihnen aber nicht gelang.« »So würde ich das nicht ausdrücken«, entgegnete der Älteste heftig. »Ganz im Gegenteil. Aber um das zu verstehen, musst du wissen, dass es zwei Gruppen gab. Die eine Gruppe setzte auf die Weiterentwicklung von Waffen, die als solche schrecklich genug waren. Sie konnten mit einem Fingerschnippen ganze Landstriche verwüsten. Das Furchtbare daran war, dass sie damit jede Form von Leben zu zerstören drohten - und nicht nur das ihrer Feinde.« »Mit einem Fingerschnippen ganze Landstriche verwüsten?«, fragte
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Daart. »Wie soll das gehen?« »Dieses Geheimnis haben die Alten mit in das Grab genommen, das sie sich mit ihren Waffen selbst geschaufelt haben«, sagte der Älteste. »Aber ihre Hinterlassenschaft lebt heute noch weiter, in Feuer und Schwert.« Daart stutzte. »Feuer und Schwert…« »… sind die Waffen der Guhulan, vollkommen richtig«, beendete der Älteste seinen Satz. »Mit der gleichen vernichtenden Wut, mit der die Guhulan heute unsere Höhlen gestürmt haben, haben ihre Vorfahren gegen die Sternengeborenen gekämpft. Das Arge daran war nur, dass ihre Waffen tausendmal furchtbarer waren als das, was den Guhulan zur Verfügung steht.« Der Älteste machte eine ungeduldige Handbewegung, als Daart etwas fragen wollte. »Irgendwann haben sie das Feuer, das sie in die Welt brachten, selbst nicht mehr unter Kontrolle bekommen. So zumindest überliefern es die alten Schriften. Demnach haben sich die meisten der Feuerkrieger in die Tiefe des Meeres zurückgezogen, während nur einige wenige dem Schutz der Binnenmeere vertrauten, die wir heute Cor-Seen nennen.« »Der versunkene Feuertempel der Guhulan…« »… ist identisch mit der Anlage der Alten im Glutsee, dort, wo einst eine der letzten Zufluchtstätten der Männer und Frauen war, die das Feuer über die Welt brachten.« Der Älteste winkte abermals ab, als Daart etwas sagen wollte, und jetzt wirkte seine Bewegung noch ungeduldiger als zuvor. »Was ich dir jetzt sage, solltest du dir in deinen Schädel einbrennen. Es ist von höchster Bedeutung, dass du dir alles genau einprägst. Denn nur dann hast du auch eine Gelegenheit, Zar’Toran vernichtend zu schlagen, wenn es darauf ankommt. Und das willst du doch, oder?« »Natürlich.« »Es ist wichtig, dass du das nie vergisst.« Der Älteste schlug die Seite so schnell um, dass die Kerze fast ausgeblasen wurde. »Zar’Toran wird dich zwingen, in seinem Auftrag zum Feuertempel hinabzutauchen. Und er wird dich zwingen, dort genau das zu tun, was er von dir verlangt.« »Und wenn ich mich nicht darauf einlasse?« Daart lehnte sich ein
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Stück zurück. »Schließlich bin ich ein freier Mann. Ich muss mich von ihm zu nichts mehr zwingen lassen.« »Falsch«, sagte der Älteste in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. »Du wirst dich zwingen lassen. Natürlich nicht, ohne Widerstand zu leisten. Aber letztlich wirst du nachgeben. Denn nur so hast du die Gelegenheit, das zu tun, was getan werden muss.« Er deutete auf eine grobe Zeichnung, die einen Raum voller Pulte zeigte, der ganz ähnlich aussah wie die Anlage, in der er Daart empfangen hatte. In die Wände waren die gleichen blinden Fenster eingelassen - Gucklöcher in eine vergangene Welt, durch die wohl nie wieder jemand sehen würde. »Zar’Toran wird dir auftragen, Nubinas Amulett hier«, er deutete auf eine Mulde in dem größten der Pulte, »einzulassen. Er wird erwarten, dass sich dann der Feuertempel aus den Fluten heben wird.« »Aber das wird er nicht tun?«, vermutete Daart. »Wieder falsch.« Der Älteste lächelte, aber diesmal nicht fein und versonnen, sondern auf eine Art, die fast schon etwas Triumphierendes hatte. »Wenn die alte Anlage noch funktioniert, wird sich der Feuertempel mit Getöse aus den Fluten erheben. Zar’Toran wird annehmen, dass du dabei umkommst. Um das zu verhindern, wird dir jemand beistehen, den wir dir zur Hilfe schicken werden.« Der Älteste blickte auf und sah Daart scharf in die Augen. »Und solltest du aus irgendeinem Grund auf dich allein gestellt sein, dann tauche so schnell wie möglich und so weit wie möglich von dem Strudel weg, der sich bilden wird, denn wenn du in ihn hineingerätst, bist du verloren.« »Und was soll das Ganze?«, fragte Daart. »Es hat doch nicht viel Sinn, genau das zu tun, was Zar’Toran von mir will.« »Doch, es hat Sinn.« Der Älteste schlug die nächste Seite auf. »Und zwar deshalb, weil du noch mehr machen wirst, als nur Zar’Toran zu Diensten zu sein. Während der Tempel aufsteigt, wirst du hierhin schwimmen.« Der Älteste deutete auf eine Zeichnung, die einen großen, bizarr geformten Felsen zeigte. Daart kniff die Augen zusammen. Irgendetwas an dieser Form kam ihm bekannt vor, ohne dass er hätte sagen können, woher. Es war ein eigentümliches, nicht einmal
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unangenehmes Gefühl, das bei dem Anblick in ihm aufstieg, beinahe so, als wäre es mit einer Erinnerung an etwas verknüpft, das ihm einmal eine ganze Menge bedeutet hatte. Diese Gefühle zerstoben, als der Älteste fortfuhr: »In diesem Felsen findet sich ein gut versteckter kleiner Tempel. Er ist in nichts mit dem Feuertempel zu vergleichen, bis auf eine Kleinigkeit: Auch er verfügt über etwas, was die Alten eine ›Steuereinrichtung‹ nannten.« Daart sah ihn verwirrt an. »Ich verstehe nicht ganz. Wenn man damit tatsächlich den Feuertempel steuern kann…« »Man kann ihn von dort absenken, nicht mehr und nicht weniger«, sagte der Älteste rasch. »Wenn meine Informationen richtig sind, wird es zu einer Katastrophe kommen, wenn man diesen Mechanismus auslöst. Eine Katastrophe, die Zar’Toran und Nubina den vernichtenden Schlag versetzen könnte, sie zumindest aber um Jahre zurückwerfen wird.« Daart griff nach dem Becher, den Ask leer getrunken hatte, und nahm ihn in die Hand, ohne ihn wirklich zu sehen. Er hatte plötzlich das unbändige Bedürfnis, den Becher so weit wie möglich von sich zu schleudern, ihn klirrend und berstend in tausend Stücke zerplatzen zu sehen. Die Guhulan hatten ihn bis hierher gejagt und ein Gemetzel unter den Cavernern angerichtet, und nun tat der Älteste so, als hätte er die ganze Zeit über wie die Spinne im Netz gehockt und darauf gewartet, dass er, Daart, hier auftauchte und er ihm dieses ominöse Zwölfte Buch unter die Nase reiben konnte. Aber das war nicht alles. Er spürte nach wie vor die Anwesenheit von etwas Fremdem, Bösem, und er fragte sich, was es war, das Ask Symbiont genannt hatte, und was da unter das Gewand des Ältesten gehuscht war. »Ich sollte Daart jetzt vielleicht besser zurückbringen«, sagte Ask nervös. Schatten huschten über ihr Gesicht wie kleine, rauchige Tiere, als sie sich umdrehte und in die Richtung starrte, aus der der Gerant kommen würde, wenn er Daarts Blutspur folgte. »Nein«, widersprach der Älteste rasch. »Ich kann ihn nicht zu den Guhulan zurückschicken, ohne dass er die Hintergründe kennt.« »Zu den Guhulan zurückschicken?«, fragte Daart alarmiert. »Ja, verdammt«, Ask wirbelte zu ihm herum, »du bist ein ausge-
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machter Narr, Daart! Glaubst du vielleicht, ich habe dich nur zum Spaß Zar’Toran in die Hände gespielt? Es ist wichtig, dass du zusammen mit den Guhulan den Glutsee erreichst. Die Guhulan sollen glauben, dass sie dich und Carnac unter Kontrolle haben. Ihr beide seid unsere Speerspitze, die wir ihnen tief in den Leib stoßen und umdrehen werden, während sie in dem Irrglauben verharren, in aller Ruhe das alte Feuer der Zerstörung aktivieren zu können!« Daart blinzelte verblüfft. »Es ist doch Unsinn, was du da sagst. Von außen hätten wir viel mehr Möglichkeiten einzugreifen. Und abgesehen davon: Wenn du tatsächlich schon damals diesen Plan gehabt hättest, als du mich den Guhulan ausgeliefert hast, warum hast du ihn mir nicht einfach erklärt?« Ask gab einen verächtlichen Laut von sich. »Und du hättest mir dann geglaubt, ja? Ganz abgesehen davon hätte ich gar keine Zeit gehabt, dir alle Einzelheiten zu erklären.« »Von denen ich ja wohl nie erfahren hätte, wenn ich nicht geflohen und zu euch gestoßen wäre«, sagte Daart bissig. »Schließlich hättest du dich ja wohl kaum ins Lager der Guhulan schleichen können, um mich über alle Einzelheiten dieses Planes in Kenntnis zu setzen, oder?« »Was auch überhaupt nicht nötig gewesen wäre«, polterte Ask. »Schließlich war Carnac an deiner Seite. Sie hätte dir schon zur gegebenen Zeit alles erklärt.« Daart starrte sie sprachlos an. Carnac war seine Waffengefährtin und nicht die von irgendjemand anderem, und wenn es Geheimnisse gab, dann sollten sie nur zwischen ihnen beiden existieren - und nicht zwischen Carnac und Ask. »Ich verstehe nicht ganz, was das heißen soll…« »Das heißt, dass wir damit zur zweiten Gruppe der Alten kommen, den Zeitenwandlern«, sagte der Älteste, der ihrem Schlagabtausch stirnrunzelnd gefolgt war. »Es handelte sich um eine Gruppe, die einen ganz anderen Ansatz verfolgte als die Feuerkrieger. Sie wussten, dass dem Leben, welches die Sternengeborenen geschaffen hatten, nicht mit plumper Gewalt beizukommen war. Das, was sie tun wollten, ist schwer mit ein paar Worten zu beschreiben, eines ihrer
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Ergebnisse dagegen umso einfacher: Sie haben den Schlüssel zur Unsterblichkeit gefunden.«
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Daart - der anfangs nicht den Blick von Ask gewandt hatte, um in ihrem erschöpften und viel zu schnell gealterten Gesicht eine Regung zu entdecken, die ihm im Verständnis dessen half, was sie gerade offenbart hatte - fuhr zum Ältesten herum. »Unsterblichkeit?«, fragte er. »Meint Ihr damit, dass sie den körperlichen Verfall aufhalten konnten?« Der Älteste lächelte milde. »Ja und nein. Es ist schon ein bisschen komplizierter. Ich habe bei weitem nicht alles verstanden, was ich in den alten Büchern darüber gefunden habe. Und vor allen Dingen würde es mir nicht wirklich weiterhelfen. Die Alten stießen einen Prozess an, der sich nicht mehr aufhalten lässt. Letztlich sorgten sie dafür, dass nach ihrem Untergang ein Gleichgewicht zwischen Kräften herrschte, die für sich genommen Enwor in den Strudel endgültiger Vernichtung ziehen könnten. Die Dämonen der Sternengeborenen gegen die Zeit selbst, die sich von der Kette losgerissen hat.« »Wenn die Alten aber unersterblich waren«, warf Daart ein, »wieso sind sie dann untergegangen?« »Weil auch Unsterblichkeit nicht davor schützt, einen gewaltsamen Tod zu erleiden«, sagte der Älteste. »Das klingt… verrückt«, meinte Daart. Der Älteste nickte zustimmend. »Mag sein. Aber es ist das, was den Feuermagier Zar’Toran und die Göttin Nubina untrennbar zusammenschmiedet. Sie beide treibt das unbändige Verlangen nach Unsterblichkeit voran. Um die zu erlangen, müssen sie die Rätsel der Zeit lösen, so wie es ihnen die Alten vorgaben. Doch das allein genügt nicht, wie das Schicksal der Alten beweist. Wahre Unsterblichkeit kann nur der erlangen, der auch unbeschränkte Macht in den Händen hält. Denn nur so kann er sich vor einem gewaltsamen Tod schützen.« Daart starrte den Ältesten einen Moment lang sprachlos an. »Unsterblichkeit? Ist das nicht ein bisschen hoch gegriffen?«
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»Es ist hoch gegriffen«, sagte der Älteste leise. »Sogar sehr hoch. Und es hat wie alles im Leben seinen Preis. In diesem Fall vielleicht sogar einen, der viel zu hoch ist, als dass ihn irgendjemand bezahlen sollte.« »Ich verstehe nicht ganz…« »Natürlich nicht.« Der Älteste fuhr sich durch die langen weißen Haare, und sein Blick verlor sich wie in weiter Ferne. Obwohl es wahrscheinlich nur wenige Augenblicke dauerte, bis er sich wieder Daart zuwandte, schien es eine Ewigkeit zu währen. »Aber das spielt jetzt auch keine Rolle«, sagte er schließlich. »Für dich zählt nur, dass du weißt, warum die Aralu ihre Herrscherin als Göttin verehren. Sie erscheint ihnen seit Ewigkeiten in unveränderter Gestalt, den Söhnen so wie schon deren Vätern und Großvätern, strahlend schön und ohne ein äußerlich sichtbares Anzeichen ihres hohen Alters. Dabei wurde sie vor einer Zeitspanne geboren, die länger zurückliegt, als die Erinnerung jedes anderen heute lebenden Menschen reicht.« Daart schloss die Augen und atmete tief aus. Er erinnerte sich an seine erste Begegnung mit Nubina. Sie hatte eine Aura der Macht verströmt, wie er es noch nie zuvor bei einer Frau erlebt hatte. Ihr schmales, ebenmäßig geschnittenes Gesicht war von einer kühlen, herben Schönheit, mit hohen Wangenknochen und schmalen, leicht schräg gestellten Augen, die ihn hochmütig gemustert hatten. Von Anfang an hatte er gewusst, dass sie ein Geheimnis umgab, doch dann, im Kampf gegen sie und die Männer, die sie befehligte, hatte er es falsch gedeutet. Es war eine besonders abgefeimte Form der Magie gewesen, die sie gegen ihn eingesetzt und mit der sie ihn verwirrt hatte; er aber hatte geglaubt, dass es ihr einzig und allein um eines gegangen war: um nackte Macht. »Nubina ist den ersten Schritt zur Unsterblichkeit gegangen«, sagte der Älteste mitten in seine Erinnerungen hinein, »aber auch nur den ersten. Sie weiß sehr genau, dass sie noch lange nicht gewonnen hat. Das macht sie besonders gefährlich.« »Aber was will sie von Zar’Toran?«, fragte Daart. »In Nyingma kam es mir so vor, als könnte sie ihm befehlen, was immer sie wollte. Doch mittlerweile…«
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»Bist du dir da nicht mehr so sicher«, sagte der Älteste, »und das zu Recht. Je weiter Nubina mit ihrem Heer nach Norden vorstößt, umso vorsichtiger muss sie sein. Denn hier herrschen die Guhulan. Es mag zwar sein, dass auch die Guhulan in ihr eine Göttin sehen, aber andererseits hat Zar’Toran genug Zeit gehabt, seine Macht auszubauen. Mehr Zeit, als sie jeder andere Mann in seiner Position gehabt hätte.« Mehr Zeit, als sie jeder andere Mann in seiner Position gehabt hätte. Er hätte blind sein müssen, um nicht zu sehen, dass sich der Feuermagier in all den Jahren, die er ihn jetzt kannte, äußerlich so gut wie nicht verändert hatte. Vor allem wirkte er nicht so alt, wie er mittlerweile hätte sein müssen. Der Älteste kniff die Augen zusammen und musterte Daart aufmerksam. »Du hast es doch die ganzen Jahre über schon gewusst, Daart«, sagte er leise. »So wie auch die anderen Menschen in Zar’Torans Umgebung. Es war ein Geheimnis, das keines war.« »Zar’Toran ist… unsterblich?«, fragte Daart zögerlich. Der Älteste schüttelte den Kopf. »Nein. Genau wie Nubina ist er den letzten Schritt noch nicht gegangen. Und den können sie auch nur gemeinsam gehen. Sie brauchen die Macht des untergegangenen Feuertempels, um dort einzudringen, wo sie das letzte Geheimnis vermuten.« »Und wo soll das sein…« Ask sprang vor und stieß Daart so kräftig in den Rücken, dass er von seinem Stuhl gefallen wäre, hätte er den Schwung nicht genutzt, um sich nach vorn zu werfen und federnd auf die Füße zu kommen. Ohne hinzusehen, riss er den Dolch an sich und war mit einem Satz bei dem Ältesten. Er packte ihn bei den Schultern und schob ihn mitsamt dem Stuhl ein Stück zurück. Dann wirbelte er herum. Ask war inzwischen zurückgewichen, ganz nah bei ihm. Jetzt sprang sie in einer verzweifelten Bewegung zur Seite, riss das Schwert hoch, so nah an Daarts Wange, dass er den Luftzug spürte, und ließ die Waffe dann nach vorne sausen, dorthin, wo Daart nur etwas schattenhaft Zuckendes wahrnehmen konnte, kaum mehr als einen Schemen, der durch die Luft jagte. Asks Schwert verfehlte ihn. Sie zog die andere Hand nach oben, in
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der sie den Helm hielt, und Daart glaubte schon, sie wolle ihn dem glitschigen, auf sie zuspringenden Wesen entgegenschleudern, doch dann riss sie ihn noch ein Stück höher. Etwas klatschte auf den Helm. Gierige Fühler zuckten um das Metall herum, irgendetwas traf Asks Gesicht. Sie schrie vor Schmerz auf, und das Schwert rutschte ihr aus den Händen. Daart war bei ihr, noch bevor ihre Waffe polternd auf dem Boden aufschlug. Die Klinge seines Dolches zuckte vor, gerade in dem Moment, in dem das längliche, mit tentakelgleichen Fühlern ausgestattete Ding über das glatte Metall des Helms schlitterte und auf Ask zusprang. Er erwischte es mitten im Flug. Es überschlug sich und wäre dennoch in Asks Gesicht gelandet, wenn sie nicht im allerletzten Moment in den Knien eingeknickt und unter ihm weggetaucht wäre. Das Ding stieß einen schrillen, kreischenden Laut aus, sauste über Asks Kopf hinweg und schlug auf dem Tisch auf. Die Karaffe zerbarst mit einem lauten Knall in tausend Scherben, und das Ding schlitterte in einem Schwall von Wasser und Glasscherben weiter. Daart sah aus den Augenwinkeln, wie es sich noch in der Bewegung umdrehte, sich spannte, wie es sich bereit machte zum nächsten Angriff, zum nächsten Sprung… Er wollte kehrtmachen und stieß mit Ask zusammen, die sich gerade wieder aufrichtete. Als er wieder einen freien Blick auf den Tisch hatte, sprang das Ding soeben wieder ab… und ein silbriger Schatten zuckte mit verheerender Wucht auf es nieder. Daart sah, wie der Gerant mitten im Flug getroffen und buchstäblich in zwei Hälften gespalten wurde. Das Ding kreischte auf, und der vordere Teil flog weiter auf Ask zu, bis ihn ein zweiter vernichtender Hieb jener Klinge traf, die den Geranten bereits gespalten hatte. Die drei Teile flogen in verschiedenen Richtungen davon, und Daart musste rasch ausweichen, um nicht getroffen zu werden. Doch auch nachdem sie neben ihm auf den Boden geklatscht waren, war es noch nicht vorbei. Unter ihm wuselte es, und dann zuckte der übrig gebliebene Vorderteil der Kreatur auf Daarts nackte Füße zu. Zwei, drei Mal noch zuckte die Klinge auf sie nieder, bevor sich Daart mit
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ein paar hastigen Rückwärtsschritten in Sicherheit bringen konnte. »Ist es vorbei?«, fragte Ask schwer atmend. Sie hielt sich den Arm, als ob sie getroffen worden wäre, und blickte aus zusammengekniffenen Augen auf die zuckenden Überreste des Geranten zu ihren Füßen hinab. Der Älteste, die Waffe in seinen Händen immer noch zum Schlag erhoben, sah wachsam auf den Boden, dann stupste er mit dem Fuß den kleinsten der Gerantenteile an. Er zuckte, wie getrieben von einem bösartigen Reflex, aber schwach und nicht zielgerichtet, und der Älteste nickte. »Sieht ganz danach aus. Es kommt mir vor, als ob die Symbionten immer zäher würden. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte dich erwischt, Ask.« Er drehte sich zu ihr um. »Du hättest den Helm nicht absetzen sollen. Du weißt doch, dass sie immer ins Gesicht springen.« »Ja, das weiß ich«, sagte Ask müde. »Aber es ist doch auch so noch einmal gut gegangen.« Der Älteste starrte auf den Tisch, der noch immer von der heftig flackernden Kerze beleuchtet wurde. Die Überreste der Karaffe lagen in einer Wasserlache, doch das Buch, dem wohl sein Blick gegolten hatte, war bis auf ein paar Spritzer unversehrt. »Also gut.« Er legte seine Waffe so ab, dass er sie jederzeit schnell wieder hochreißen konnte, und setzte sich dann wieder auf den Stuhl. Seine Bewegungen waren sparsam und wohl überlegt wie die eines wirklich alten Mannes, aber sie hatten nicht das Geringste von der Schwerfälligkeit oder Unsicherheit an sich, mit der sich alte Menschen für gewöhnlich bewegten. Das war das eine, was Daart auffiel. Das andere war die Waffe. Es war kein gewöhnliches Schwert sondern, und diese Erkenntnis traf ihn mit aller Wucht, das Tschekal eines Satais, gefertigt aus unzerstörbarem Sternenstahl. Die Widerschein der flackernden Kerze schien über die Klinge zu huschen und sie in ein lebendiges Wesen zu verwandeln, aber er wusste, dass er sich in diesem Punkt genauso täuschte wie in dem ersten Eindruck, den ihm diese Waffe vermittelt hatte. Es mochte sich tatsächlich um ein Tschekal handeln, doch es glich keinem der vom Hohen Rat verliehenen Waffen, die er bislang
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gesehen hatte. Die dünnen, silbernen Linien der Gravur auf der Klinge waren ebenso ungewöhnlich wie der verschlungene fünfzackige Stern auf dem Griff… Daart schüttelte verwirrt den Kopf. Er wusste, dass die Satai früher einen fünfzackigen Stern als Erkennungszeichen getragen hatten; er war fast schmerzhaft daran erinnert worden, als er in Eternity gegen jede Logik auf Skar und Del gestoßen war, die Begegnung zwischen zwei Zeitlinien, wie ihm Carnac versucht hatte zu erklären, ohne dass er es bis heute verstanden hätte. Und das war es nicht allein. Je länger er die Waffe anstarrte, umso mehr wurde ihm die Ähnlichkeit mit jener Waffe bewusst, die Skar in Eternity mit sich geführt hatte. Wenn es nicht dasselbe Tschekal war, dann sah es zumindest so ähnlich aus wie sein Zwilling. »Wer seid Ihr?«, fragte er mit belegter Stimme, während er sich zum Ältesten umdrehte und seine Gedanken Amok liefen. Dem Ältesten war sein Blick nicht verborgen geblieben, aber er reagierte ganz anders darauf, als Daart vermutet hatte. »Ich sehe, du hast erkannt, dass diese Waffe aus einer längst vergangenen Epoche stammt.« Er griff nach dem schweren, in Leder gebundenen Buch und wischte ein paar Wasserspritzer von seinem Einband. »Und ich verstehe, dass du den Schluss daraus ziehst, dass ich selbst ein Satai bin. Und jetzt stellst du dir eine Menge Fragen.« »Das stimmt.« Daart warf einen kurzen Blick zu Ask und Thross hinüber, die dabei waren, die zuckenden Überreste des Geranten beiseite zu schieben, Ask mit ihrem Schwert und Thross mit einem Stock. »Die Frage zum Beispiel, wer Ihr seid.« »Ein alter Mann, der dich auf deinem Weg unterstützen wird«, sagte der Älteste freundlich. »Nicht mehr und nicht weniger.« Daart trat ganz nahe an den Ältesten heran und beugte sich zu ihm hinab. »Und welchen Namen tragt Ihr?« »Gar keinen mehr«, sagte der Älteste unbeeindruckt. »In meinem Alter haben Namen ihre Bedeutung verloren. Ich interessiere mich für ganz andere Dinge. Zum Beispiel dafür, wie ich dich unterstützen kann, wenn du wieder zu den Guhulan - und zu Carnac - zurückgekehrt bist.«
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Bevor Daart irgendetwas erwidern konnte, griff der Älteste in den Ausschnitt eines Gewandes. Als seine Hand wieder hervorkam, zuckte etwas Kleines, Schmales, Ekelhaftes darin, unverkennbar ein Verwandter der Kreatur, der er gerade mit mehreren entschlossenen Schwerthieben den Garaus gemacht hatte. Daart prallte zurück. Die Hand mit dem Dolch kam hoch, aber er beendete die bereits begonnene Angriffbewegung nicht. Irgendetwas im Gesichtsausdruck des Ältesten warnte ihn. »Das ist ein Symbiont im Frühstadium«, sagte der Älteste. »Für seinen Träger ist er vollkommen ungefährlich. Ich bin bereit, ihn dir zu überlassen.« »Mir zu überlassen?« Daart schüttelte entsetzt den Kopf. Der Symbiont wand sich in der Hand des Ältesten, aber er machte keine Anstalten, ihn oder jemand anderen anzugreifen. Trotzdem konnte Daart seinen Anblick kaum ertragen. Es wuselte und wimmelte in der Hand des Ältesten, und ihm schien es, als verstünde es der Symbiont, sich auf unvorstellbare Weise seinen Blicken zu entziehen. »Ich wäre in diesem ganz besonderen Fall sogar bereit, dir mein Tschekal für den Kampf zu überlassen, der dir bevorsteht«, fuhr der Älteste ungerührt fort. »Nur fürchte ich, dass Zar’Toran dir die Waffe sofort abnehmen würde. Du wirst verstehen, dass ich das nicht zulassen kann.« »Einmal vorausgesetzt, ich kehre wirklich freiwillig zu Zar’Toran zurück«, sagte Daart angeekelt. »Aber warum sollte ich das tun?« »Weil es notwendig ist.« Der Älteste schlug mit der freien Hand so kräftig auf das Buch, dass es einen lauten Knall gab. »Eine starke Kraft von außen zu zerschlagen bedarf einer gewaltigen Anstrengung vereinter Kräfte. Und ich fürchte, in diesem Fall würde es uns niemals gelingen. Nubinas Heer ist bereits auf dem Weg zum Glutsee. Und es gibt zur Zeit nichts und niemanden, der Tausende bestausgebildeter Silberkrieger aufhalten kann - ganz zu schweigen von den kampferprobten Guhulan, die Zar’Toran aufbieten kann.« »Wenn Ikne und die anderen großen Städte…« »Nicht gerade in dem Chaos untergingen, an dessen Entstehung die beiden so ungleichen Verbündeten nicht ganz unschuldig sind - dann
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sähe es vielleicht anders aus.« Der Älteste fuhr sich mit einer ärgerlich wirkenden Geste durchs Haar. »Es ist kein Zufall, dass das Wetter verrückt spielt. Nubina und Zar’Toran haben an Kräften gerührt, denen sie selbst nicht mehr Einhalt gebieten können. Die Folge sind Missernten, Hungersnöte, Naturkatastrophen. Wenn wir ihnen nicht bald Einhalt gebieten, wird es keinen Weg zurück mehr geben.« Daart dachte schaudernd an das zurück, was er bei seiner Reise quer durch Enwor erlebt hatte. Die Worte des Ältesten mochten harmlos klingen, aber die Wirklichkeit war es ganz und gar nicht. In Sora und später auch am Rand der Sümpfe von Cosh hatte er Kinder gesehen, die bis auf die Knochen abgemagert waren, und Männer, die für einen harten Brotkanten mit der Waffe aufeinander losgegangen waren. Die üppig wuchernden Landstriche, durch die sie geritten waren, hatten sich immer wieder mit Gegenden abgewechselt, die völlig ausgetrocknet und verdorrt gewirkt hatten, und mehr als einmal hatte er ausgemergelte Gestalten gesehen, die mit ihrem spärlichen Hab und Gut einen Weg eingeschlagen hatten, der sie überall hingeführt hatte, nur nicht besseren Zeiten entgegen. »Ich kann nicht ganz glauben, dass Zar’Toran das Wetter beeinflussen kann«, sagte er dennoch. »Das kann er auch nicht«, räumte der Älteste ein. »Es ist viel schlimmer: Er und Nubina haben mit Kräften gespielt, die sich mittlerweile von der Kette losgerissen haben.« »Dann kann man das Ganze also gar nicht mehr aufhalten?«, entfuhr es Daart. »Doch, wahrscheinlich schon.« Der Älteste machte eine ungeduldige Handbewegung. »Es war wohl Zar’Torans und Nubinas Plan, Enwor ins Chaos zu stürzen. Dabei haben sie sich einer Hinterlassenschaft der Alten bedient. Im Grunde ist es ganz einfach: Die beiden müssen ausgeschaltet werden, und dann muss das zerstört werden, was das Wetter beeinflusst und all die anderen Dinge verursacht, die Enwor an den Rand des Abgrunds treiben.« Daart dachte über die Worte des Ältesten nach, bevor er fragte: »Wie kann das sein? Wie ist es möglich, Regen zu machen oder eine
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Dürre zu verursachen?« »All diese Fragen kann ich dir nicht beantworten«, sagte der Älteste. »Außer, dass der Prozess umgekehrt werden muss. Und das ist, wie ich gerade schon sagte, nur möglich, wenn wir Nubina und Zar’Toran Einhalt gebieten - ein für allemal.« »Also brauchen wir ein Heer…« Daart brach ab, als der Älteste den Kopf schüttelte. »Wir müssen leider davon ausgehen, dass zur Zeit niemand eine Streitmacht aufbieten kann, die in der Lage ist, den Feuer- und Silberkriegern erfolgreich die Stirn zu bieten.« Der Älteste schlug das Buch auf und blätterte darin herum. »Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen die vereinten Kräfte unserer Gegner schwächen. Und genau das wirst du zusammen mit Carnac übernehmen.« Daart konnte den Blick nicht von dem Symbionten wenden, der sich nach wie vor unruhig in der Hand des Ältesten bewegte. Er wusste nicht, was er mehr verabscheute: diese widerliche Kreatur oder die Vorstellung, dass sich Nubinas Silberkrieger in dieses Land ergossen, um sich mit Zar’Torans Streitmacht zu vereinen. »Ich hoffe nur, Ihr überschätzt uns nicht«, sagte er schließlich. Der Älteste sah kurz zu ihm auf. In seinen Augen war etwas, das Daart überhaupt nicht verstehen konnte: die leise Andeutung eines Lächelns. »Man hat dir bislang die Satai-Würde versagt, Daart. Aber das zu Unrecht. Du hast die Ausbildung absolviert, die der Hohe Rat heutzutage dafür nötig hält, und kämpfst nun schon seit vielen Monaten einen erbitterten Kampf gegen diejenigen, die ganz Enwor mit Gewalt und Blut überziehen wollen. Du bist ein Satai. Und ein Satai erreicht immer mehr als jeder andere Mensch. Das darfst du nie vergessen.« Daart fühlte sich durch die Worte merkwürdig berührt. Sie stimmten genau mit dem überein, was er selbst empfand. Die Korona und der Hohe Rat mochten zerschlagen sein, aber die Satai waren es nicht, mochten sie zurzeit auch in alle Winde zerstreut sein. Und er selbst war kein bisschen weniger Satai als die anderen, auch wenn ihm die letzte Würde - die traditionelle Ernennung zum Satai - bislang versagt geblieben war.
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»Ein Satai braucht eine Waffe«, fuhr der Älteste fort. Er drehte das Buch um und schob es zu Daart herüber. »Und wenn es kein Tschekal sein kann, dann muss es eben etwas anderes sein. Etwas, das so fürchterlich ist, dass seine Feinde ihm nichts entgegenzusetzen haben.« »Und das wäre…?«, fragte Daart mit einem ungutem Gefühl. »Ein Symbiont.« Der Älteste deutete auf die Zeichnung einer Kreatur in dem Buch vor sich, deren Umrisse in dem flackernden Licht zu gespenstischem Eigenleben zu erwachen schienen. Sie hatte nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Ding, das in der Hand des Ältesten herumwuselte, und doch war die Verwandtschaft zwischen dem lebenden Etwas und der gemalten Kreatur unverkennbar. Das Bild füllte die ganze Buchseite aus, und daneben standen sauber aufgemalte Erklärungen in einer Schrift, die Tekanda so nahe kam, dass Daart einzelne Worte zu erkennen glaubte. »Dieser Teil des Buches ist nur eine Abschrift«, sagte der Älteste. »Es ist eine Sammlung von Weisheiten und Wissen, das andere vor uns zusammengetragen haben - in jener Epoche, in der mit Mama eine Frau an der Spitze der Satai stand. Die Satai haben damals angefangen, sich mit Dingen zu beschäftigen, die tief im Innern der Erde verborgen lagen. Und so kam es zu ersten Kontakten zwischen den Hüterinnen der Zeit, die das Erbe der Alten verwaltet haben, und einigen wenigen Satai.« »Die Hüterinnen der Zeit«, murmelte Daart. »Ich nehme an, Ihr meint die Prophetinnen.« Er starrte weiterhin auf das Bild. In seiner Hässlichkeit und Fremdartigkeit löste es ein heftiges Schwindelgefühl in ihm aus. Irgendetwas an der Kreatur stimmte nicht. Es waren nicht die Proportionen allein oder die wie verkrümmt wirkenden Fühler und Gliedmaßen. Es war vor allem das Gefühl, dass es sich bewegte, dass es sich jederzeit aus der Buchseite winden und emporspringen konnte. »Es kommt darauf an, alle Kräfte Enwors zu vereinen«, sagte der Älteste. »Dir kommt dabei eine besondere Schlüsselrolle zu. Du bist bei den Guhulan aufgewachsen, von Zar’Toran höchstpersönlich in viele Künste eingewiesen. Carnac dagegen ist bei den Prophetinnen
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groß geworden, unter einem anderen Namen und mit einer anderen Bestimmung. Doch dann habt ihr beide zusammengefunden. Und jetzt gebe dich dir das dazu, was euren Bund auf ewig besiegeln wird: den Symbionten.« Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte und jeden Moment etwas Schreckliches passieren würde, verdichtete sich in Daart. Er spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Sicherlich, er wusste um Carnacs geheimnisvolle Abstammung, so wie sie auch um die seine, aber das war es nicht. Der Älteste sprach ganz selbstverständlich davon, als wäre es kein Geheimnis, sondern eine Tatsache, die er aus einem seiner Bücher hatte. Aus Büchern, in denen Symbionten abgebildet waren, die so verdreht und ekelhaft aussahen, als wären sie dem Hirn eines Verrückten entsprungen. Die aber ganz offensichtlich und unleugbar reale Vorbilder gehabt hatten. »Ich habe jemanden gesehen…«, sagte Daart mühsam und um seine Selbstbeherrschung kämpfend, »in der Handelshöhle, kurz bevor das Feuer ausgebrochen ist. Einen Mann, dessen Gesicht genauso aussah wie das einer Prophetin.« »Ja, es gibt auch Männer unter ihnen«, meinte der Älteste. »Aber ich bin überrascht, dass du jetzt darauf zu sprechen kommst. Überrascht und auch ein wenig besorgt, weil ich den Eindruck habe, dass du dich nicht vollständig auf das konzentrierst, was vor dir liegt.« Daart begriff langsam, was der Älteste meinte, mit jedem einzelnen Wort, das er in dem Buch entziffern konnte, welches aufgeschlagen vor ihm lag. Es war die Rede davon, dass sich der Symbiont mit seinem Wirt zu einer unschlagbaren Waffe vereinen konnte - zumindest glaubte er sich dies aus den wenigen Worten zusammenzureimen, die er verstand. Dann schlug der Älteste die Seite um… Daart erstarrte. Er hätte nicht zu sagen vermocht, was ihm beim Anblick der Doppelseite durch den Kopf schoss. Es waren mehrere Zeichnungen zu sehen, keine aufwändig gemalten Bilder, aber nicht weniger schrecklich. Daart las die Worte einführen und im Rachen halten, und er sah, wie der Mann auf den Zeichnungen den Kopf
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nach hinten legte und den dünnen, zappelnden Symbionten zum Mund führte, als wollte er ihn verschlucken. Auf dem nächsten Bild war zu sehen, wie der Symbiont im Mund des Mannes verschwand, und auf dem letzten, wie der Mann stocksteif dastand. Die Kerze flackerte stärker, und die Zeichnungen verschwammen vor Daarts Augen, bis das Licht wieder aufflackerte. »Das ist der Weg, wie der Symbiont versteckt werden kann«, sagte der Älteste. »Zar’Toran wird ihn nicht finden.« »Ich soll ihn schlucken?«, ächzte Daart. Der Älteste brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. »Nicht ganz. Du wirst ihn einführen, wie ein Schwertschlucker eine Klinge. Aber der Symbiont ist anders als lebloser Stahl, er wird sich an dich anpassen, er wird sich klein machen. Du kannst sogar Nahrung zu dir nehmen, wenn du sie nur gut genug kaust.« Daart schüttelte den Kopf. »Nein«, stieß er hervor. »Das könnt Ihr nicht mit mir machen. Ich will mit diesem… diesem Ding nichts zu tun haben.« »Es ist kein Ding«, sagte der Älteste beinahe sanft. »Es ist Leben. Vielleicht geht sein Ursprung auf etwas zurück, was die Sternengeborenen geschaffen haben. Vielleicht ist es auch etwas ganz anderes. In jedem Fall wird es dir nichts tun. Aber wenn du es ausspuckst, wird es unter deine Feinde fahren wie der leibhaftige Tod.« »Das ist verrückt!« »Mag sein«, bestätigte der Älteste. »Aber es gibt Situationen, in denen man etwas Verrücktes tun muss, um sein Ziel zu erreichen. Und du bist in einer solchen Situation.« »Ihr könnt mich nicht dazu zwingen«, sagte Daart und machte gleichzeitig einen Schritt zurück. »Ich nicht«, bestätigte der Älteste. »Aber der Symbiont. Und keine Sorge: Es dauert von jetzt an gerechnet ungefähr sieben Tage, bis er das Gerantstadium erreicht. Sofern er nicht vorher erweckt wird, versteht sich.« Daart öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch im nächsten Moment wünschte er sich auch schon, er hätte es nicht getan. Der
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Symbiont war so schnell, dass er die Bewegung eher erahnte, statt sie zu sehen. Plötzlich war er nicht mehr in der Hand des Ältesten, und dann sauste er auch schon auf Daart zu, der spürte, wie etwas in seinen Mund hineinschoss. Instinktiv verhielt er sich so, wie es auf der Zeichnung zu sehen war, instinktiv riss der Kopf nach oben - und der Symbiont flutschte in seine Kehle…
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TEIL 2 Sei bereit, überall hinzugehen, wenn es nur vorwärts ist. Das Zwölfte Buch
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Auch nach zwei Tagen hatte sich Daart immer noch nicht an das Gefühl gewöhnt, dass etwas grauenhaft Fremdes in seiner Kehle war. Jedes Schlucken bereitete ihm Unbehagen, und jede ruckhafte Bewegung löste ein Kratzen und Kitzeln in seinem Hals aus, auf das er instinktiv mit einem Würgereiz reagierte. Nur mit Mühe gelang es ihm, den Reiz zu unterdrücken und sich auf etwas anderes zu konzentrieren, das ihn von der Vorstellung ablenkte, dass die Kreatur in seinem Inneren sich immer tiefer in ihn hineinfraß. »Sieben lange Tage ist der Symbiont für dich vollkommen harmlos«, hatte ihm Ask noch einmal eingebläut, »aber du darfst ihn trotzdem nicht reizen. Wenn er spürt, dass du ihn loswerden willst, kann es gefährlich werden.« Ja, er wollte dieses verdammte Ding loswerden, nichts lieber als das. Und er hatte viel zu viel Zeit, um in sich hineinzuspüren, in den Bereich seiner Kehle, in dem sich das kleine windende Etwas eingenistet hatte; er hatte Zeit genug, sich die Frage zu stellen, wann der Symbiont auf seine Ablehnung reagieren und darauf mit der Panikreaktion antworten würde, vor der ihn Ask gewarnt hatte, bevor sie sich am Höhlenausgang verabschiedet hatte. Er musste verrückt sein, sich auf all das eingelassen zu haben. Natürlich war er nicht geradewegs in das Guhulan-Lager marschiert, aber das, was er getan hatte, kam aufs Gleiche hinaus: Er hatte sich von ihnen schnappen lassen, als er praktisch vor ihren Augen eine Felswand hochgeklettert war. Zar’Toran war dennoch nicht erfreut gewesen, als er ihn wiedergesehen hatte. Seine Augen hatten vor Hass gesprüht, und seine Wut war so groß gewesen, dass Daart
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im ersten Moment befürchtet hatte, er werde ihn auf der Stelle eigenhändig umbringen. »Tu das nie wieder!«, hatte er gebrüllt. »Versuche nie wieder, mich zu hintergehen!« Dieser Rat kam etwas zu spät, fand Daart - und nicht nur er allein; der Symbiont in seiner Kehle hatte sich unruhig gewunden, während Zar’Toran ihn angebrüllt hatte, und Daart hatte all seine Willenskraft aufbringen müssen, um seine Gefühle einigermaßen im Zaum zu halten. »Der Symbiont weiß, wann er zuschlagen muss«, hatte ihm Ask gesagt. »Er weiß es von dir. Darum sei vorsichtig, dass du ihn nicht vorzeitig weckst. Sonst war alles vergebens.« Das war es sowieso. Daart hing in krummer Haltung auf dem alten Klepper, den ihm Zar’Toran zugewiesen hatte, und fror erbärmlich in den dünnen, zerrissenen Fetzen, die er weiterhin tragen musste. Es waren keine Stricke mehr, die ihn hielten, es waren Eisenketten, und die lagen so eng an seinem Körper, dass sie nicht nur seine Bewegungsfreiheit einschränkten, sondern seine Haut an den Auflagestellen blutig scheuerten. Er hatte geahnt, dass es schlimm werden würde, aber er hatte sich die Qual nicht vorstellen können, die er jetzt empfand. Es war nicht nur dieses Ding in seiner Kehle, das ständig kratzte und rumorte, es war nicht nur die Gewissheit, dass ihm Zar’Toran auf keinen Fall mehr die Gelegenheit geben würde, ihm irgendwie in die Quere zu kommen - es war auch die Tatsache, dass Carnac nur wenige Pferdelängen vor ihm ritt, mittlerweile genauso fest mit Eisenketten zusammengezurrt und auf eine ebenso vollkommen unzulängliche Wasserration gesetzt wie er selbst. Er sah ihre schwarzen Haare flattern, sah, wie der Wind mit ungehinderter Wucht an ihrem dünnen Gewand und ihrem Körper zerrte und wie sie vor Schmerzen zusammenzuckte, wenn der alte ausgemergelte Rappe, den man ihr zugewiesen hatte, einmal mehr stolperte zum Zeichen eines Zusammenbruchs, der gewiss nicht mehr lange auf sich warten ließ. Eine Veränderung in der Marschordnung durchbrach Daarts benommenen, selbstquälerischen Zustand. Das ausgedehnte Tal, das sie gerade durchkreuzt hatten, wich einer kargen Hügellandschaft mit schroffem, hartem Felsgestein, durch das eine nur kärgliche Schneise
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führte. Das Hufgetrappel der erschöpften Pferde klang gleichzeitig härter und unsicherer, und der Tross der nebeneinander herreitenden Krieger löste sich auf, da der steinige Pfad stellenweise kaum breiter als die Schultern eines ausgewachsenen Mannes war. Die beiden Feuerkrieger, die ihn bislang eingerahmt hatten, ließen sich zurückfallen. Das Pferd, mit dem er durch die schweren Eisenketten fest verzurrt war, hatte zunehmend Mühe, auf dem felsigen Untergrund sicheren Tritt zu finden. Durch seine starre Haltung behindert, konnte er es kaum unterstützen. Das Gelände wurde zunehmend schwieriger, und der Pfad schlängelte sich jetzt an einem fast senkrecht abfallenden Hang zu seiner Linken hinauf. Mit wachsender Unruhe fragte sich Daart, wie lange ihn der alte Klepper noch zu tragen vermochte, bevor er den Halt verlor und die Böschung hinabstürzte. Doch dann, von einem Moment auf den anderen, öffnete sich der Pfad wieder, und er bemerkte ein spärlich bewachsenes Plateau, das sich wie ein übergroßer Daumenabdruck vor ihnen auftat. Aus zusammengekniffenen Augen blinzelte er in das Licht der untergehenden Sonne hinein, das die steil abfallende Böschung neben ihm in ein diffuses rötliches Licht tauchte und auf fast unnatürlich wirkende Weise vom graubraunen Gestein reflektiert wurde. Es nutzte nicht viel. Da er seine Augen nicht beschatten konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich aus dem blendenden Sonnenlicht wegzudrehen. Hinter ihm ließen die beiden Guhulan ihre Tiere schneller gehen, als wollten sie nicht bei ihm stehen bleiben, sondern sich vor ihn setzen. Aber nicht das zog Daarts Aufmerksamkeit auf sich. In die Geräusche um ihn herum, das mittlerweile unregelmäßige Huftrappeln, das leise Schaben von Leder über Pferdeleiber, das Klirren von Waffen und Ausrüstungsgegenständen mischte sich etwas anderes: ein fernes Donnern, als käme etwas Gewaltiges auf sie zu. Sein Pferd hielt auf die Mitte des Plateaus zu und wurde zunehmend langsamer. Der Braune war wohl genauso verwirrt wie er selbst über das donnernde Geräusch, und darüber hinaus schien er etwas zu wittern. Er fing nervös zu tänzeln an. Als ein Felsvorsprung das blendende Licht verdeckte und das Pferd abrupt anhielt, nur we-
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nige Schritte vom Rand des Plateaus entfernt, begriff Daart die Nervosität des Tieres. Unter ihnen tat sich eine Ebene auf, und in der Ferne, kaum noch mit dem Auge wahrnehmbar, schimmerte es hinter ein paar grünen Farbtupfern auf die ganze Breite rötlich blau hindurch, unruhig bewegt vom Wind und doch wie hingegossen in einer Gewaltigkeit, wie sie Daart bislang erst einmal gewährt hatte, an der Küste des Westmeeres, auf der in stoischem Gleichklang Welle auf Welle geschlagen war. Obwohl er hier noch nie gewesen war, wusste er sofort, dass vor ihnen der Glutsee lag, jenes Ziel, das Zar’Toran angesteuert hatte und damit letztlich auch sein eigenes; der Ort, an dem sich ihrer beider Schicksal entscheiden würde, so oder so. Aber trotz des beeindruckenden Anblicks war es nicht der See, der seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war die steppenähnliche Landschaft unter ihnen, die sich von den Ausläufern des Schattengebirges bis hin zum Glutsee erstreckte, oder vielmehr das, was dort unten im Licht der untergehenden Sonne blutrot schimmerte. So weit sein Auge reichte, waren Reiter unterwegs, einer wie der andere in schwarzer Kleidung, aber mit spiegelnden Silbermasken im Gesicht und funkelnden Waffen an den Seiten; ein wogendes Glitzermeer aus Menschen- und Pferdeleibern. Das Getrappel von vielen tausend Hufen hallte von den Felswänden wider und verdichtete sich zu einem einzigen Dröhnen. Daart konnte sich nicht erinnern, schon jemals zuvor Zeuge eines solches Schauspiels gewesen zu sein. Es war das mit Abstand gewaltigste Heer, das er je zu Gesicht bekommen hatte, eine sich scheinbar ins Unendliche erstreckende Woge disziplinierter, bestens gerüsteter Krieger. Er hatte gewusst, dass Nubina über eine gewaltige Streitmacht gebot, aber niemals hätte er geglaubt, dass es so viele waren, und schon gar nicht, dass sie mit einem solchen Heer den Weg aus dem fernen Nyingma hinauf in den Norden Enwors finden würden. Während Daart in das Glitzern und Wogen hinabstarrte, überschlugen sich seine Gedanken. Es erschien ihm vollkommen sinnlos, eine solch gewaltige Streitmacht in Richtung der Cor-Seen zu führen. Die reichen Städte und Landstriche lagen in anderen Himmelsrichtungen
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und nicht im Norden. Östlich von hier knickte das Schartengebirge ab, um sich noch ein ganzes Stück weiter am Rand der Cor-Seen entlangzuziehen; westlich von ihnen lag Gatan, im festen Griff der Guhulan. Gegen wen zog Nubina? Etwa gegen Zar’Torans Feuerkrieger? Das ergab keinen Sinn, schon gar nicht nach dem, was er vom Ältesten gehört hatte. Das angestrengte Schnauben zur Eile angetriebener Pferde hinter ihm, das harte Traben einer mehrere Personen umfassenden Gruppe, die geradewegs auf ihn zuzusprengen schien, schreckte Daart auf. Er drehte sich so weit um, wie es ihm im engen Griff der Eisenketten nur möglich war, verrenkte sich fast den Hals dabei… und dann sah er sie. Eine Gruppe aus drei Reitern passierte die zwei Guhulan in seinem Rücken, die gleich ihm auf das außergewöhnliche Schauspiel zu ihren Füßen gestarrt hatten, jetzt aber erschrocken und auch ein wenig schuldbewusst zusammenzuckten. Daart konnte sie nur zu gut verstehen. Es war Zar’Toran auf seinem nachtschwarzen Hengst, eskortiert von zwei außergewöhnlich großen und kräftigen Männern auf ebenfalls schwarzen Pferden und mit eisernen Mienen, die direkt auf ihn zuhielten. Die mattschwarzen Brustharnische mit den aufgemalten, täuschend echt wirkenden Flammenwirbeln wiesen die beiden als Mitglieder von Zar’Torans gefürchteter Leibgarde aus. Allein schon der Anblick der schwer bewaffneten und bewusst grimmig blickenden Leibgardisten hätte genügt, um Daart Herzschlag zu beschleunigen, für den Rest sorgte Zar’Toran selbst. Die Augen des Feuermagiers wurden schwarz vor Wut, als er Daart entdeckte. Unvermittelt sprengte er auf ihn zu, als wollte er ihn über den Haufen reiten, und brachte seinen schwarzen Hengst mit einem harten Ruck erst knapp vor ihm zum Stehen. »Was machst du hier?«, herrschte er ihn an. »Wer hat dir erlaubt, hier eine Rast einzulegen…« Er brach ab, als sein Blick auf die Ebene fiel. Mit unbewegtem Gesicht sah er auf das riesige Heer hinab, das direkt nach Norden, auf den Glutsee zusteuerte. Daart versuchte in seinem hageren Gesicht zu lesen, er versuchte zu erraten, was in dem Feuermagier vor sich ging. Doch es wollte ihm nicht gelingen. Zar’Torans Augen konnten
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feurige Blitze schleudern, sein Gesicht sich vor Wut und Hass verzerren, aber genauso konnte es zu einer unbewegten Maske erstarren, in der keine Gefühlsregung erkennbar war. Schließlich, als Daart schon glaubte, der Zar’Toran werde sich überhaupt nicht mehr zu dem beeindruckenden Heereszug äußern, huschte die Andeutung eines Lächelns über seine Züge. »Gut«, sagte er - nur dieses eine Wort und nicht mehr. Dann wandte er sich wieder Daart zu. »Ich sehe, es geht dir viel zu gut. Du hast Zeit, hier herumzustehen und dich an den frisch polierten Waffen und Silbermasken zu erfreuen. Ich denke, das sollten wir ändern.« Er gab einem seiner Leibgardisten einen Wink. »Medon!« Der Angesprochene nickte knapp und gab seinem Pferd mit einem Schenkeldruck ein Kommando, das Daart nicht ganz verstand - vielleicht auch gar nicht verstehen konnte, weil er selbstverständlich davon ausgegangen war, dass der Feuerkrieger auf ihn zuhalten würde, um ihn zu bestrafen. Aber das war ganz und gar nicht der Fall. Medon lenkte sein Pferd ein Stück zurück und dann herum, und als er sein Schwert zog, wirkte die Bewegung geradezu beiläufig und keineswegs bedrohlich. Die beiden Guhulan, die Daart hatten im Auge behalten sollten, fuhren trotzdem zusammen, und bei einem von ihnen, einem sehnigen Mann mittleren Alters, begann in unguter Vorahnung das rechte Augenlied zu zuckten. Seine Hand wanderte wie von selbst zu seinem Schwertgurt, aber er vollendete seine Bewegung nicht; er hätte sie auch gar nicht vollenden können, denn das Schwert von Zar’Torans Leibgardisten fuhr so schnell auf ihn nieder, dass nicht mehr als ein silbern glänzender Schatten zu sehen war. Daart hätte erwartet, dass Medon dem Feuerkrieger einen Schlag mit der Breitseite seiner Klinge verpasste, als Zeichen dafür, dass er seiner Pflicht nicht so nachgekommen war, wie Zar’Toran das von ihm erwartet hatte, aber er sah sich getäuscht. Die Klinge fuhr in den Hals des Guhulans und auf der anderen Seite wieder heraus, und nur einen Lidschlag später flog der Kopf des tödlich Getroffenen von dessen Schultern, über den anderen Feuerkrieger hinweg und knallte hart gegen den nächsten Felsvorsprung.
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Der kopflose Torso saß noch einen Moment lang aufrecht im Sattel, dann sprudelte ein Schwall hellroten Blutes aus den Adern des Mannes, und er rutschte aus den Steigbügeln und in einer grotesk langsamen Bewegung vom Pferd herunter. Seine linke Hand kam hoch, als er sich einmal halb um die eigene Achse drehte und hart zu Boden stürzte. Das Pferd machte einen erschrockenen Satz nach vorn und blieb dann stehen. Für einen Herzschlag schienen sämtliche Geräusche zu verebben; selbst das Rauschen des Windes und das ferne Dröhnen der unzähligen Pferdehufe weit unter ihnen wichen zurück, so als flöhen sie vor diesem Ort, an dem ein schreckliches Verbrechen begangen worden war. Die Hand des zweiten Leibgardisten fuhr in das Zaumzeug von Daarts Pferd. Er zerrte daran, als wollte er das Tier mit schierer Körperkraft in die Kehre zwingen, und Daart beeilte sich, um die Bewegung mit einem kräftigen Schenkeldruck zu unterstützen. Er wusste nicht, was der Mann mit ihm vorhatte, aber er war auf alles gefasst, auch auf eine Wiederholung des tödlichen Angriffs. Sein Herz klopfte laut und heftig, und er spürte, wie sich das Ding in seiner Kehle zu regen begann, diesmal durchaus mit seinem Einverständnis. Er hatte gesehen, wie schnell und fürchterlich der Gerant zugeschlagen hatte, der Ask beinahe überrumpelt hatte, und er hätte nicht das Geringste dagegen gehabt, wenn sich der Symbiont jetzt auf ein ganz ähnliche Weise ein Opfer gesucht hätte… Aber nicht den Leibgardisten, dessen Gesicht vollkommen ungerührt blieb, einer Statue ähnlicher als einem Menschen; dieser Mann war ihm vollkommen gleichgültig. Es war Zar’Toran, den er treffen musste, den er treffen wollte. Doch als ahnte der Feuermagier, was in Daart vorging, blieb er dort, wo er war - zwei Pferdelängen von ihm selbst entfernt. Daart warf einen kurzen Seitenblick in sein höhnisch verzogenes Gesicht, dann starrte er auf den Torso, aus dessen Hals nach wie vor ein Schwall hellroten Blutes pulste, und anschließend zu dem zweiten Guhulan, der ihn hatte bewachen sollen und seinen Pflichten wohl nicht so nachgekommen war, wie es ihm aufgetragen worden war. Schweiß bedeckte die Stirn des Mannes, und seine Hände hatten sich in den Stoff seines Feuergewandes gekrallt, als
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müsste er sich irgendwo festhalten. In seinem unruhig flackernden Blick war dennoch etwas, was Daart nicht verstehen konnte: Ergebenheit. »Nubinas Präzision ist erstaunlich«, sagte Zar’Toran mitten in Daarts aufwühlte Gedanken hinein. »Sie hat es tatsächlich geschafft, auf den Tag pünktlich zu sein.« Er lachte rau auf. »Wahrscheinlich hat sie dabei eine riesige Schneise der Zerstörung quer durch Enwor gezogen. Aber daraufkommt es nicht an. Entscheidend ist, dass sie jetzt hier ist - und sich niemand ihr oder ihren Kriegern ernsthaft in den Weg stellen wollte.« Medon, der das bluttriefende Schwert immer noch in den Händen hielt, entspannte sich etwas, und dem Guhulan, den er bislang mit der Waffe in Schach gehalten hatte, entgleisten für einen Moment die Gesichtszüge. Es war Angst, nackte Angst, die Daart aufblitzen sah, und kurz darauf so etwas wie verzweifelte Hoffnung. Die wohl auch berechtigt war, denn kaum hatte Zar’Toran zu Ende gesprochen, da beugte sich Medon im Sattel vor und wischte sein Schwert an der Hose des Toten sauber, bevor er es mit einer wuchtigen Bewegung in die Schwertscheide an seinem Gürtel rammte. Die Szene hatte etwas so Selbstverständliches, dass Daart beinahe laut aufgestöhnt hätte. Es war ihm nicht neu, dass Zar’Toran ein Menschenleben nichts wert war, aber die Beiläufigkeit, mit der er einen seiner Männer für eine kleine Nachlässigkeit hatte köpfen lassen, hatte etwas fast schon Abartiges an sich. »Wir haben es jetzt nicht mehr weit, Daart«, fuhr Zar’Toran fort. »Bald werden wir den Glutsee erreicht haben.« »Und wozu…« Daart musste noch einmal neu ansetzen, um trotz des hässlichen Kratzens in seinem Hals halbwegs verständliche Worte formen zu können und den Kopf so zu halten, dass der Symbiont ihn nicht erstickte, während er sprach - ein ekelhaftes Gefühl, das ihn unter anderen Bedingungen wahrscheinlich in Panik versetzt hätte, ihm aber jetzt nur eines war: lästig. »Und wozu dieses Heer? Was ist das… für ein Gegner, mit dem sich Nubina hier messen will? Will sie etwa gegen dich und die Guhulan antreten?« »Du bist noch dümmer, als ich es in Erinnerung hatte«, sagte
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Zar’Toran hochmütig. »Oder sollte dir tatsächlich entgangen sein, dass Nubina und ich Verbündete sind?« »Dass sah mir in Nyingma aber ganz anders aus«, stichelte Daart weiter. »Da schienst du mir nur einer ihrer vielen Lakaien und Stiefellecker zu sein.« Schon als er das ausgesprochen hatte, wusste er, dass er zu weit gegangen war. Zar’Toran verlor selten die Beherrschung, aber wenn, dann meistens, wenn man seine Autorität in Frage zu stellen versuchte. Was Daart in seinen frühen Jahren des Öfteren getan hatte. Zar’Toran war ihm schon immer verhasst gewesen, und das nicht erst, seit er seinen besten Freund Pe’te bei einem Feuerzeremoniell geopfert hatte… Jetzt, als Zar’Toran sein Gesicht zu einer höhnischen Grimasse verzog, erinnerte das Daart fatal an eine Zeit, in der er ein kleiner, trotziger Junge und Zar’Toran der mächtige Feuermagier gewesen war. Aber er war kein Junge mehr. Er lebte auch nicht mehr in einem kleinen Dorf unter der Knute der Guhulan, er war Satai, ob nun geweiht oder nicht. Und das würde Zar’Toran bei passender Gelegenheit schon noch zu spüren zu bekommen. »Ich werde dir die Gelegenheit geben, dir selbst ein Bild davon zu machen, wie es um meine Beziehung zu Nubina bestellt ist«, sagte Zar’Toran kalt. »Doch so, wie du aussiehst, kannst du ihr nicht unter die Augen treten.« Er gab dem übrig gebliebenen Guhulan einen Wink, der immer noch wie erstarrt auf seinem Pferd saß und mit verkrampften Händen und schweißnassem Gesicht auf die Leiche seines Waffengefährten starrte. »Wie ist dein Name?«, herrschte ihn Zar’Toran an. »U… U… Ucar«, stammelte der Mann. Zar’Toran nickte knapp. »Sorge dafür, dass mir dieser Mann in sauberen Kleidern zur Verfügung steht, wenn ich ihn holen lasse. Und denke daran: Ich kenne deinen Namen!« »Ja, natürlich«, beeilte sich Ucar zu sagen. Zar’Toran beachtete ihn gar nicht weiter. Er lenkte sein Pferd herum und sprengte davon, dorthin, wo der vor ihnen reitende Tross
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schon längst hinter einer Biegung verschwunden war. Kaum war das Hufgetrappel von Zar’Torans Pferd verklungen, stürzte Ucar auch schon auf Daart zu. »Schnell«, keuchte er. »Bevor er wiederkommt.« Daart wollte den Kopf drehen und war dabei wohl etwas zu ungestüm; in seinem Genick knirschte etwas, als er das eiserne Halsband zu überdehnen versuchte. »Ich habe Zeit«, quetschte er mühsam hervor. Der Symbiont in seinem Hals schien das ganz anders zu sehen, denn er machte Anstalten, in Daarts Mundhöhle zu wechseln, auf seine ganz eigene, schleimige und gleichzeitig kratzende Weise. Daart drehte den Kopf wieder zurück und versuchte den Brechreiz zu unterdrücken, der ihn mit aller Gewalt überkommen wollte. Da war Ucar auch schon heran. »Schnell!«, stieß er noch einmal hervor. »Du musst die Ketten ablegen.« »Würde… ich… ja… gern.« Daart gab ein würgendes Geräusch von sich, und Ucar, der gerade nach ihm greifen wollte, machte einen erschrockenen Schritt zurück. »Hast du was?«, fragte er. Ja, hätte Daart am liebsten geantwortet, einen Symbionten im Hals, der dich am liebsten gleich anspränge! Stattdessen drehte er den Kopf so weit wie möglich in die andere Richtung, und das keinen Augenblick zu früh, denn jetzt hatte sich der Symbiont in seine Mundhöhle vorgearbeitet und zuckte und zappelte zwischen seinen Zähnen herum. Während Daart versuchte, so ruhig und gleichmäßig wie möglich zu atmen, und sich darauf konzentrierte, nur nicht auf die widerlich zappelnde Kreatur zwischen seinen Zähnen zu beißen, sprang der Feuerkrieger wieder vor und griff mit beiden Händen so fest in die Eisenketten, als wollte er sie mit schierer Muskelkraft sprengen. »Die Schlösser«, brachte Daart mühsam hervor. Er versuchte die Zunge so weit zu verbiegen, dass er den Symbionten damit vorsichtig ein Stück nach hinten schieben konnte. Seine Gedanken überschlugen sich. Es war ihm klar, dass der Symbiont zwischen panikerfüllter Angriffslust und dem Wunsch, in seinen Hals zurückzukriechen, hin und her gerissen wurde, und er wusste nicht, welche von beiden Va-
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rianten ihm lieber sein sollte. Doch eines war ihm klar: Der Symbiont war eine tödliche Waffe, und diese wollte er gegen niemand anderen als Zar’Toran selbst einsetzen. Der Symbiont dachte überhaupt nicht daran, sich zu entscheiden. Er war unruhig, mindestens im gleichen Maße wie Daart selbst. »Drei Schlösser«, sagte Ucar nervös, während er weiter wie wild an der Eisenkette zerrte. »Ich sehe drei Schlösser. Oder sind es mehr?« Daart nickte und hielt seine linke Hand nach oben, wobei er lediglich den kleinen Finger abknickte, um zu zeigen, dass es vier Schlösser waren. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, dass sich der Feuerkrieger zu den beiden Leibgardisten umdrehte. Einer von ihnen - ausgerechnet Medon, der Mann, der bewiesen hatte, was er mit einem einzigen Schlag seines Schwertes auszurichten vermochte - griff in seine Tasche, um etwas metallisch Glänzendes hervorzuziehen und es Ucar zuzuwerfen. Hätte sich Ucar nicht schon halb umgedreht, hätte er mit Sicherheit den Schlüssel aus der Luft gefischt, doch so traf er ihn zwar mit der Hand, lenkte ihn dadurch aber so ungeschickt ab, dass er direkt auf Daarts Gesicht zuflog. Fest verzurrt wie er war, konnte Daart nicht mehr ausweichen. Der Schlüssel knallte gegen sein Kinn und seine Unterlippe, und der Symbiont vollführte einen Hüpfer, der ihn gegen die obere Gaumenplatte der Mundhöhle klatschen ließ. Etwas Scharfes, Beißendes bohrte sich von innen in Daarts Wange; es war ein Gefühl, als würden Tausende winziger Nadeln in ihn hineingestoßen und dann hin und her gerissen. Daart zuckte vor Schmerz zusammen, aber auch das nur so weit, wie es ihm die Ketten gestatteten, doch sein Pferd machte einen erschrockenen Satz zur Seite. »Verdammt!«, brüllte Ucar, setzte dem Pferd nach und wollte zugleich den im hohen Bogen davonfliegenden Schlüssel packen, bevor er über den Rand der Ebene hinabsauste. In diesem Moment sah er Daarts Gesicht - und zuckte so heftig zusammen, dass seine Hand erneut haarscharf an dem Schlüssel vorbeilangte. Daart riss den Kopf nach oben, so weit es ging, und der Symbiont nutzte die Einladung, um wieder in seinen Hals zurückzuflutschen.
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Als Daart erneut den Kopf senkte, sah er Ucar bäuchlings vor seinem Pferd liegen, mit dem Kopfüber den Abgrund baumeln und nach etwas hangeln, von dem Daart hoffte, dass es der Schlüssel sei. Seine Mundhöhle fühlte sich an, als hätte jemand mit Gewalt frisch gepflückte Brennnesseln hineingestopft, und seine Lippen schwollen bereits an. Immerhin beruhigte sich der Symbiont auf seinem angestammten Platz allmählich wieder. Und dann kam Ucar wieder hoch, drehte sich um - mit dem Schlüssel in der Hand. In seinen Augen glitzerte etwas, das Daart gar nicht gefiel. »Was… was hast du da…« - im Mund, hätte er seinen Satz bestimmt beenden wollen, aber das konnte Daart nicht zulassen. »Mach schon«, sagte er mit einer Stimme, die so heiser und undeutlich klang wie die eines Stadtsoldaten, der sich fast bis zur Besinnungslosigkeit mit billigem Fusel hatte volllaufen lassen. »Aber… in deinem Mund…« »Ich habe gerade beinahe wieder mein Frühstück rausgewürgt«, sagte Daart. »Wenn es das ist, was du meinst.« »Und was hattest du zum Frühstück?«, fragte der Mann verwirrt. »Eine Eidechse?« Daart schüttelte nur stumm den Kopf. Die korrekte Antwort wäre gewesen, dass er schon seit drei Tagen überhaupt nichts zu essen bekommen hatte, und eigentlich hätte das der Feuerkrieger auch wissen müssen. Aber in seiner Aufregung zog er nicht die richtigen Schlüsse aus Daarts Antwort, sondern trat näher und machte sich an dem ersten Schloss zu schaffen, das auf Höhe von Daarts Knie mehrere Ketten zusammenhielt. »Mit der Kleidung«, murmelte er währenddessen. »Da gibt es noch ein Problem.« »Wieso?«, fragte Daart. Er hörte, wie das erste Schloss knackte, und spürte schon, wie die Ketten an seiner linken Seite ein Stück herunterrutschten. »Ich habe keine Ersatzkleidung bei mir.« Er warf einen scheuen Blick zu den beiden Leibgardisten hin, die die Szene aus drei Pferdelängen Entfernung mit unbewegten Mienen verfolgten. Offensicht-
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lich traute er sich nicht, ihnen eine entsprechende Frage zu stellen. »Also«, sagte er, während er auf die andere Seite ging und sich das nächste Schloss vornahm, »die Hose ist kein Problem. Sie hat nur einen kleinen Blutfleck.« Daart zuckte unwillkürlich zusammen. Er sah zu dem Leichnam herüber. Offensichtlich hatte Ucar gerade vorgeschlagen, dass er die Kleider des Toten anziehen sollte. Das war eine makabere Vorstellung, wenngleich es von der Gestalt her durchaus möglich war, dass ihm die Hose des Toten passte - die Hose, an der Medon sein blutiges Schwert abgewischt hatte. »Aber was ziehen wir dir oben herum an?«, sinnierte Ucar. Er schloss auch noch das dritte Schloss auf, und es rasselte, als sich zwei Eisenketten lösten und auf den Boden polterten. Daart sagte auch jetzt nichts, ließ aber seinen Blick bezeichnend über Ucars Oberkörper wandern. »Nein«, stieß Ucar heftig hervor. »Mein Gewand? Unmöglich!«
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Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis Zar’Toran zurückkam. Der Anblick, der sich Daart bot, als er von wildem Hufgetrappel aufgeschreckt wurde und aus zusammengekniffenen Augen den Hang hinauf in Richtung der schräg stehenden Sonne blickte, jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Es war nicht das erste Mal, dass er den Magier mit übergeworfenem Feuermantel sah, aber diesmal übertraf die Wirkung alles bislang Dagewesene. Wie ein in Flammen stehender Feuerdämon jagte der Magier aus dem Licht der untergehenden Sonne auf ihn zu, eine scheinbar lichterloh brennende Gestalt vor dem Hintergrund eines feuerroten Himmels. Daart musste ein paar Mal blinzeln, bis sich die Umrisse des nachtschwarzen Hengstes und seines Reiters in dem rot wehenden Feuermantel deutlicher herausschälten, und doch schien es ihm so, als wäre der Magier kaum mehr Mensch, sondern etwas anderes, Älteres; ein grausamer Feuergott, der aus dem Himmel herabgestiegen war, um die Menschen mit Feuersbrünsten und Flammenmeeren heimzusuchen. Zar’Toran zügelte sein Pferd erst im letzten Moment; das schöne
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Tier gehorchte dem Kommando auf seine ganz eigene Weise und tänzelte leicht schräg auf Daart zu. Der Magier warf einen flüchtigen Blick auf Ucar, der mit halb nacktem Oberkörper dastand und mit grimmiger Miene auf Daart schaute, als bedürfe es allein seiner Wachsamkeit, dass sein von den Ketten befreiter Gefangener nicht floh. Dabei, schoss es Daart durch den Kopf, als er Zar’Torans Blick voller Unbehagen begegnete, ging er wohl von der vollkommen falschen Voraussetzung aus, dass Daart überhaupt fliehen wollte. Im Augenblick wäre ihm das nicht einmal in den Sinn gekommen. Zar’Torans Aufforderung, ihn zu Nubina zu begleiten, hatte seine Neugier geweckt. Er musste unbedingt herausbekommen, was die Herrscherin von Nyingma von ihm wollte. Sie war eine Frau von erstaunlicher Ausstrahlung und Schönheit, aber alles andere als sanft oder edelmütig, ganz ihm Gegenteil: Sie war verderbt und voller Heimtücke. Daart verscheuchte den beunruhigenden Gedanken, als Zar’Toran sein Pferd endgültig vor ihm zum Stehen brachte. Sein hageres Gesicht mit den großen, fast hypnotisch wirkenden Augen zeigte keine Regung, als er ihn wie einen zum Verkauf ausstaffierten Sklaven musterte, und Daart glaubte schon allein aus der entspannten Art, wie er im Sattel hockte, so etwas wie Genugtuung herauszulesen. »Ich sehe, du bist bereit«, sagte Zar’Toran nach einer ganzen Weile. »Aber was ich vermisse, ist eine Waffe. Warum trägst du keinen Schwertgurt?« Die Frage überraschte Daart so sehr, dass er kein Wort hervorbrachte. Ucar bückte sich sofort nach dem Waffengurt des Toten, den er neben sich gelegt hatte, nachdem er zuvor den Leichnam um Stiefel und Beinkleider beraubt hatte, verharrte aber mitten in der Bewegung, als Zar’Toran den Kopf schüttelte. »Das Schwert eines gemeinen Guhulans ist eines Satais nicht würdig. Das stimmt doch, Daart, oder?« »Möglich«, knurrte Daart. Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, aber sein Mund und sein Hals fühlten sich so wund an, dass er fürchtete, Zar’Toran könne aufmerksam werden, wenn er seine undeutliche Aussprache bemerkte.
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»Nun, sei es, wie es ist.« Zar’Toran lächelte leicht, fast versonnen. Er griff nach hinten, dorthin, wo er sein Ersatzschwert verstaut hatte - was Daart zumindest vermutet hatte -, und löste mit einer schnellen Handbewegung den Schwertgurt. Sein schwarzer Hengst trippelte unruhig einen Schritt zurück. Daart blinzelte ungläubig, als er die Schwertscheide sah und den Griff, der daraus hervorragte. Es war vollkommen unmöglich, und doch… »Du wirst verstehen, dass ich dir diese Waffe nicht übergeben kann, wenn du mir nicht versprichst, sie niemals gegen mich, einen Guhulan oder einen unserer Verbündeten zu ziehen«, sagte Zar’Toran. »Ganz abgesehen davon, dass Carnac einen solchen Verrat meines Vertrauens kaum länger als wenige Augenblicke überleben würde.« Daart war im ersten Moment einfach nur sprachlos. Dass Zar’Toran ihn von den Ketten hatte befreien und kleiden lassen, war schon weit mehr, als er je erwartet hätte, aber das Angebot, ihm eine Waffe auszuhändigen, und dann auch noch ein Tschekal - das war einfach unfassbar. »Wie kommst du… an diese Waffe?«, brachte Daart mühsam hervor. Zar’Toran reagierte keineswegs mit Misstrauen auf seine undeutliche, raue Aussprache - vielleicht erwartete er sie sogar, genauso wie das unruhige Funkeln in seinem Blick -, sondern schüttelte nur leicht den Kopf, als hätte er eine ganz dumme Frage gestellt. »Du weißt doch, dass ich beste Beziehungen zu allen Kreisen habe. Lange Jahre habe ich mit den Satai unter meinem Zweitnamen Cor Har’Kanarro beste Geschäfte gemacht.« »Du willst doch nicht im Ernst behaupten, dass dir der Hohe Rat im Austausch zur Essenz des Lebens ein Tschekal überreicht habe?« Zar’Toran zuckte mit den Schultern, und durch seinen Feuermantel ging eine unruhige Bewegung, die ganz anders war, als sie hätte sein dürfen - nämlich erfüllt von einem scheinbaren Eigenleben. Nicht zum ersten Mal fragte sich Daart, ob der Mantel nicht mehr war als totes Material, das auf raffinierte Weise verarbeitet worden war. »Ich glaube, du hast meine Beziehung zum Hohen Rat nicht ganz verstanden. Die Satai waren auf die Essenz des Lebens angewiesen, wollten
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sie ihre Aufgabe tatsächlich ernst nehmen und Skar all die Zeit über am Leben erhalten. Sie waren von mir abhängig.« »Satai und Guhulan sind Todfeinde«, beharrte Daart. »Und du willst mir weismachen, dass dir der Hohe Rat Vertrauen geschenkt hat?« »Der Rat der Dreizehn war zu dämlich, um zu begreifen, dass Zar’Toran und Cor Har’Kanarro ein und dieselbe Person waren«, sagte Zar’Toran selbstgefällig. »Ganz abgesehen davon, dass es keinen Rat der Dreizehn mehr gibt. Oder hast du schon vergessen, dass es in euren Reihen einen Verräter gibt, der ein Blutbad unter seinesgleichen angerichtet hat?« Daart ballte in einer Geste hilflosen Zorns die Fäuste. »Das glaube ich nicht.« In Zar’Torans Augen blitzte es amüsiert auf. »Du glaubst nicht, dass die Satai zerschlagen und in alle Winde zerstreut sind - diejenigen, die das Gemetzel überlebt haben, wohlgemerkt? Du glaubst nicht, dass die Korona von einer Feuersbrunst heimgesucht wurde, die auch all die alten Überlieferungen und Schriften vernichtet hat, auf denen die Satai jahrtausendelang ihr selbstgefälliges Leben gegründet haben?« Wenn Daart jetzt schon das Tschekal in den Händen gehalten hätte, er hätte nicht einen Augenblick gezögert, Zar’Toran die Klinge durch sein unverschämt grinsendes Gesicht zu ziehen. Natürlich glaubte er, dass es in der Korona zu einer Katastrophe gekommen war, aber mehr auch nicht. Die Satai waren nicht so einfach zu schlagen, sie hatten schon ganz andere Katastrophen überlebt und es immer wieder geschafft, sich aus eigener Kraft zu erneuern. Das änderte allerdings keinen Deut an seiner Empörung. »Unter den Satai gibt es keine Verräter«, sagte er scharf. »Es steckt wohl jemand ganz anderer hinter dem Brand.« Zar’Toran zog eine Augenbraue nach oben. »Jemand anderer? Ich fürchte, ich muss dich da enttäuschen. Die Satai suchen fieberhaft nach Skarissa Rabork, dem Mitglied des Hohen Rates, der sich zum absoluten Herrscher über die Satai aufschwingen wollte, so wie es vor ihm nur Mama gelungen ist.«
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»Die Epoche von Mama ist längst vergessen«, sagte Daart verächtlich. »Es war eine Zeit der Schwäche, die die Satai erfasste, solange Skar als tot galt. Doch jetzt ist alles anders.« »Weil… was?«, fragte Zar’Toran leise. »Weil…« Daart brach ab. Der Symbiont in seinem Hals hatte sich die ganze Zeit über still verhalten, so als lauschte er auf den Gesprächsverlauf, doch jetzt wand er sich wieder unruhig. »Weil Skar weiterhin seine schützende Hand über Enwor hält?« Zar’Toran schüttelte den Kopf. »Da muss ich dich enttäuschen. Die Satai haben mit aller Gewalt versucht, Skars Leben zu verlängern. Aber du vergisst, wer ihnen all die Jahre die Essenz des Lebens geliefert hat.« Daart starrte ihn fassungslos an. Der Gedanke war so nahe liegend, dass er sich fragte warum er nicht schon viel früher daraufgekommen war. »Du hast Skar vergiftet?« Zar’Toran schüttelte den Kopf. »So würde ich es nicht nennen…« Er tat so, als suchte er nach Worten, aber Daart kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das eine reine Finte war. »Es ist wohl eher so, dass ich auf ihn Einfluss genommen habe. Nur ganz behutsam, keine Sorge. Aber ich denke, ich habe damit genug getan, um das Problem Skar für alle Zeiten zu beseitigen. Und den Weg für das zu ebnen, was getan werden muss.« Daart erstarrte zu vollkommener Regungslosigkeit. Er dachte an seine Begegnung mit dem Ältesten zurück, an dieses ganz andere Tschekal, das er vor sich auf dem Tisch liegen gehabt hatte, und an die vielen Fragen, die sich für ihn damit verknüpft hatten. Er hatte geglaubt zu wissen, wer der Älteste war, aber er konnte sich dessen nicht sicher sein. Er konnte sich in überhaupt nichts mehr sicher sein. »Es war Skarissa Rabork, der in den letzten Jahren Kontakt zu mir hielt«, sagte Zar’Toran mitten in seine aufgewühlten Gedanken hinein. »Zeit genug für mich, ihn in meinem Sinn zu beeinflussen. Und eines darfst du nicht vergessen: Auch ein aufrechter Mann ist nicht ohne Eitelkeiten.« Bald darauf ritten sie los, weiter in Richtung Norden und aus den
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Bergen hinaus, die hier in flache, abgerundete und nur spärlich bewachsene Hügel ausliefen. Daart hatte seinen alten Klepper gegen das weitaus kräftigere Tier des toten Guhulan eintauschen können, dessen sterbliche Überreste Zar’Toran von Ucar in aller Eile in eine Erdspalte hatte werfen lassen. Auch nachdem die Schatten immer länger geworden waren, behielten sie ihr scharfes Tempo bei, das Pferden wie Reitern das Letzte abverlangte. Zar’Toran hatte gesagt, dass er heute noch Nubina sehen werde, und er schien sein Vorhaben wahr machen zu wollen. Es war ein merkwürdiges Gefühl für Daart, ungebunden neben Zar’Toran auf einem relativ ausgeruhten Tier zu reiten und ein Tschekal an seiner Seite zu wissen. Zar’Toran hatte ihm sein Ehrenwort als Satai abgenommen, dass er die Waffe weder gegen den Magier selbst noch gegen einen seiner Männer oder einen seiner Verbündeten ziehen sollte, und trotzdem blieb es für Daart ein Rätsel, warum er ihm die Waffe überhaupt ausgehändigt hatte. Der Feuermagier war bester Laune. Er verriet nicht, wohin sie unterwegs waren, aber nachdem sie ein Stück weit nach Nordosten abgebogen waren, begriff Daart, dass er Nubinas Heereszug umgehen wollte. Aus der Ferne war noch eine Weile das dumpfe Grollen unzähliger Pferdehufe zu hören, doch schon bevor die Sonne unterging, klang es nach und nach aus und riss dann gänzlich ab. Danach war nichts weiter zu hören als ihr eigenes Hufgetrappel - und die vielen winzigen Laute eines Reitertrosses, der eilig, aber Kräfte sparend über harten Boden ritt. Die Geräuschkulisse war Daart mittlerweile mehr als vertraut, und doch fehlte eines: das Klirren schwerer Eisenketten, mit denen er und Carnac in den letzten beiden Tagen gebunden worden waren. Solange es noch halbwegs hell gewesen war, hatte er versucht, eine Spur von ihr zu entdecken. Es war ihm nicht gelungen. Nirgends hatte er schwarzes Haar flattern sehen oder ihre schlanke, in einem zerschlissenen Gewand steckende Gestalt entdeckt; auch ihr Pferd schien spurlos verschwunden zu sein. So weit zu dem, was er am liebsten getan hätte: zu Carnac vorzusprengen und sie mithilfe des Tschekals herauszuhauen, um dann mit ihr in der Dunkelheit zu verschwinden, bevor die Guhulan überhaupt
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begriffen, was geschehen war. Es mochte ein kindischer Gedanke sein, gegen den vieles sprach - wobei das Versprechen, das er Zar’Toran gegeben hatte, kaum ins Gewicht fiel -, aber es war eindeutig eine verlockende Vorstellung, Nach einer Weile wandelte sich der Boden. Schon eine ganze Zeit lang ritten sie über eine Ebene, doch jetzt wurde der Untergrund weicher und feuchter. Die Pferde flogen nur so dahin; sie witterten die Nähe von Wasser. Bei Daart aber machte sich die Erschöpfung bemerkbar, die nach den Strapazen der letzten Tage und vor allem der letzten beiden Nächte, in denen er kaum hatte schlafen können, ihren Tribut einforderte. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Dazwischen narrten ihn seine Erinnerungen, er sah Carnac, wie sie sich lachend am Wasserfall zu ihm umdrehte, und den Schalk, der in ihren Augen blitzte, bevor sie ihn mit einer Hand voll Wasser bespritzte. Er sah sich selbst, wie er ihr Haar zurückstrich und sich vorbeugte, um sie zu küssen, wie er sie packte, sie hoch- und an sich riss, wie sie sich beide mit hastigen Bewegungen aus ihrer Lederkleidung schälten und sich, eng umschlungen, nackt über den Boden wälzten… Aber es war nicht nur Carnac, die er immer wieder vor sich sah, wenn er döste. Es war auch der Blick von der Aussichtsplattform auf die Caverner, die sich in der Kuppelhalle unter ihm gedrängt hatten, die von Feuer und Waffengewalt gezeichneten Leiber, manche halb nackt, andere in Decken oder Umhänge gehüllt, manche verbittert, andere geduldig wirkend, und dazwischen die Krieger, die die Demütigung hatten hinnehmen müssen, sich aus taktischen Überlegungen heraus zurückzuziehen, statt die Guhulan mit ihren Schwertern aus den Höhlen vertreiben zu dürfen. Es waren keine einzelnen Gesichter, die Daart vor sich sah, es war die Vielzahl der Eindrücke eines gequälten Volkes von Ausgestoßenen und Flüchtlingen, das selbst im Schoß der Erde, in den es sich zurückgezogen hatte, keine Ruhe vor seinen Verfolgern fand. Dann verloren sich auch diese Bilder, und vor Daarts Augen blitzte das Gesicht des Ältesten auf. Er sah das aufrichtige Lächeln in seinen Augen, hörte die leise Besorgnis in seiner Stimme, als er ihm Zu-
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sammenhänge zu erklären versuchte, die Daart trotz all seiner Bemühungen nicht wirklich verstand. Er sah ihn so deutlich vor sich, als säße er ihm noch jetzt gegenüber, und während sich sein Verstand immer mehr umnebelte, wünschte er sich, in der Anlage der Alten Skar gegenüber gesessen zu haben. Doch so verlockend die Vorstellung war, so absurd war sie auch. Skar wurde irgendwo unterhalb der Korona versteckt gehalten, und soweit Daart wusste, war er keinesfalls in der Lage, einfach auf und davon zu spazieren. Aber wer war der Älteste dann? Als sein Kopf auf die Brust sackte und etwas unruhig in seinem Hals rumorte, begriff er, dass er tatsächlich über dieser Frage eingeschlafen war. Die Szenerie vor ihm hatte sich verändert. Zuerst glaubte er, die ganze Nacht verschlafen zu haben - was durchaus nicht unmöglich war, denn das gut trainierte Tier, das er ritt, würde seine Position im Tross nicht aufgeben, und er selbst würde auch kaum aus dem Sattel rutschen, solange sie nicht über unebenes Gelände ritten -, aber dann begriff er seinen Irrtum. Vor ihnen zeichnete sich ein rötlich gelber Schein ab, als ginge tatsächlich die Sonne auf; doch dann hätten sie die Richtung ändern und nach Osten reiten müssen. Das war unmöglich, denn im Osten erhob sich das Schattengebirge wie eine gigantische Schutzmauer zwischen den Cor-Seen und der Nonakesh-Wüste. Es war etwas anderes, das da seinen hellen Schein in die Ebene hinauswarf. Ein Feuer? Aber was sollte hier brennen? »Wir sind bald da«, sagte Zar’Toran, der die ganze Zeit neben ihm geritten war. In seiner Stimme war etwas, das Daart aufschreckte. Bevor er ein Wort herausbringen konnte, fuhr der Feuermagier auch schon fort: »Ich wünsche, dass du dich so verhältst, wie es deiner Herkunft zusteht.« »Meiner Herkunft.« Daart war plötzlich hellwach, und doch dauerte es einen Moment, bevor er sich so weit in seinem Sattel aufgerichtet hatte, dass er den Magier mit einem misstrauischen Blick messen konnte. »Was meinst du damit?« »Du bist bei den Guhulan aufgewachsen und bei den Satai ausgebildet worden«, sagte Zar’Toran. »Das allein ist schon ein einmali-
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ges, ein unerhörtes Privileg.« Obwohl Daart ganz genau wusste, dass Zar’Toran nichts anderes wollte, als dass er diese Frage stellte, hörte er sich sagen: »Und welches ist das andere?« Zar’Toran seufzte. »Es zeugt nicht gerade für viel Verständnis für unsere Kultur, dass du mir diese Frage stellst. Aber ich will dir deine Jugend und deine Verwirrung zugute halten.« Er beugte sich ein Stück weit zu Daart hinüber und zischte: »Warum glaubst du eigentlich, dass ich mich so oft in dieses öde Nest Guan verirrt hätte, in dem du aufgewachsen bist?« »Ich wüsste nicht, dass…« »Du wüsstest nicht was?«, fragte Zar’Toran hämisch. »Ich habe viel Zeit geopfert, um dich und - wie hieß dein Freund noch mal? Pe’te? - aufzuziehen. Ich habe euch die alte Kulana an die Seite gestellt, damit ihr in diesem Drecksloch überhaupt überleben konntet. Und all diese Mühe willst du nie erkannt haben?« Daart war mit einem Schlag hellwach. Seine Hände umklammerten mit aller Gewalt die Zügel seines Pferdes, und er musste an sich halten, um nicht das Schwert zu ziehen und Zar’Torans Unverschämtheit mit der Waffe in der Hand zu sühnen. »Du hast Pe’te umbringen lassen.« Er hätte gebrüllt, wenn er es gekonnt hätte, aber der sich windende Symbiont in seiner Kehle ließ die Worte hässlich knarren. »Und du hast das Gleiche auch bei mir versucht.« »Falsch«, sagte Zar’Toran scharf. »Ich habe euch getestet. Ich musste doch schließlich wissen, wer von euch beiden der Stärkere war.« »Der Stärkere? Wozu? Hast du Nachwuchs für deine Leibgarde gesucht?« »Wohl kaum. Ich bin euch ein Vater gewesen. Und jeder Vater will nur das Beste für sein Kind.« Zar’Toran lachte auf, als er Daarts entsetzten Blick bemerkte. »Es ist eine harte Welt, in die du hineingeboren wurdest, Daart. Eine Welt, in der der Unvorsichtige und Kränkliche nicht alt wird. Eine Welt, in der an jeder Ecke eine neue Gefahr lauert. Es ist die Begegnung mit dem Tod, die uns stark macht, der Kampf gegen einen fast übermächtigen Gegner. Genau das habe ich
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euch geboten. Und du warst nun einmal stärker und flinker als Pe’te, vielleicht nicht viel, aber das hat dir den entscheidenden Vorsprung verschafft.« »Du hast uns in einen Wettkampf auf Leben und Tod verstrickt?«, fragte Daart fassungslos. Er sah beinahe plastisch vor sich, wie Pe’te auf ihn zulief, ein kleiner Junge, aus zahllosen Wunden blutend, mit Haaren, die bereits versengt waren, einem Gesicht voller Brandblasen… Er würde nie den schrecklichen Augenblick vergessen, in dem ihn der Speer in den Rücken getroffen und zu Boden geschleudert hatte. »Du hast tatsächlich abgewartet, wer von uns beiden das Feuerritual überlebt, bei dem du uns über Flammen gehetzt hast, bis uns nur noch die Flucht blieb - für Pe’te die Flucht in den Tod?« »Wenn du es so sehen willst«, sagte Zar’Toran unbeeindruckt. Sein Mantel raschelte, als er seine Sitzposition veränderte, um nach vorn starren zu können, zu dem rötlichen Schimmer am Horizont, dem sie bereits ein ganzes Stück näher gekommen waren. »Allerdings täuschst du dich in einem Punkt. Es wart nicht nur ihr beide, derer ich mich angenommen habe. Es gibt eine ganze Menge abgelegener Dörfer am Rand der Sümpfe von Cosh, die bereit sind, verwahrloste und verdreckte Kinder mit der passenden Abstammung bei sich aufzunehmen.« Daart presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten, und als spürte der Symbiont seine Anspannung, erstarrte er mitten in seinem Rumoren. »Das Feuerritual ist eine Prüfung«, fuhr Zar’Toran ungerührt fort. »Nicht alle überleben sie.« Daart brauchte einen Moment, bis er wieder sprechen konnte. »Wie viele?«, fragte er dann. »Wie viele haben sie überlebt?« »Ich sagte doch, es waren nicht viele.« Zar’Toran veränderte abermals seine Position, und sein Mantel flatterte ein winziges Stück hoch, wiederum beinahe so, als hätte er ein Eigenleben. »Im Grunde genommen waren es ganz wenige. Um genau zu sein: In all den Jahren waren es nur zwei, die das Ritual überlebt haben.« Daart schwieg. Alles, was er darauf hätte sagen können, hätte es nur noch schlimmer gemacht.
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»Ich hoffe, du wirst dich meiner würdig erweisen, mir und der Mühe, die ich mir mit dir gegeben habe«, sagte Zar’Toran nach einer Weile. »Es ist mir wichtig, dass du mich nicht im Stich lässt.« Daarts rechte Hand schloss und öffnete sich mehrmals hintereinander, und er starrte weiter starr auf die beständig zunehmende Helligkeit vor ihnen. Er kannte Zar’Torans stichelnde Art zur Genüge. Aus leidvoller Erfahrung wusste er, dass er ihm nur gewachsen war, solange er sich nicht von seinen Gefühlen zu einer Dummheit hinreißen ließ. Aber das war leichter gesagt als getan. Es hätte ihm großes Vergnügen bereitet, sich umzudrehen und ihm den Symbionten mitten ins Gesicht zu spucken. Nach dem, was er mit dem Geranten erlebt hatte, bezweifelte er, dass Zar’Toran schnell genug würde reagieren können, um es mit der Kreatur aufzunehmen. Aber er beließ es bei der Vorstellung. Es stand zu viel auf dem Spiel, um den wild lodernden Hassgefühlen freien Lauf zu lassen, die ihn bei der Erinnerung an Pe’te und die anderen Opfer Zar’Torans überkamen. Die Zeit der Abrechnung würde noch kommen, das schwor er sich. Noch war es nicht so weit; zuvor wollte und musste er Nubina sehen und begreifen, was sie vorhatte und ob sie dem gefährlich werden konnte, was ihm der Älteste aufgetragen hatte zu tun. »Was ist mit dem anderen?«, fragte er schließlich. »Welchem anderen?«, fragte Zar’Toran gelangweilt. »Dem anderen, der das Feuerritual überlebt hat.« Zar’Toran zuckte mit den Achseln. »Es gibt keinen anderen.« »Aber du hast doch gerade gesagt, dass…« »Ich weiß, was ich gesagt habe«, unterbrach ihn Zar’Toran ungehalten. »Aber wer sagt dir, dass es ein Mann ist?« Daart runzelte die Stirn. »Ich habe gedacht…« »Ja, ich weiß, was du gedacht hast«, unterbrach ihn Zar’Toran erneut. »Ich weiß fast immer, was du denkst, Daart. Du hast deine Gedanken nicht unter Kontrolle. Der Hass steht dir ins Gesicht geschrieben. Am liebsten würdest du das Tschekal ziehen und auf mich losgehen, nicht wahr?« »So dumm bin ich nicht.«
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»Dumm? Vielleicht ist das deine letzte Gelegenheit!« Zar’Toran lachte gehässig auf. »Stört dich meine Leibgarde? Soll ich sie unter einem Vorwand fortschicken? Würdest du dich dann stark genug fühlen, um es mit mir aufzunehmen?« Daart biss sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmecken konnte. Er hatte in der Tat nicht übel Lust, das zu tun, was ihm Zar’Toran nahe legte. Und er hatte weitaus bessere Chancen, damit durchzukommen, als der Magier wissen konnte. Der Symbiont würde ihm den zusätzlichen Vorteil verschaffen, den er brauchte, um die Guhulan ein bisschen durcheinander zu wirbeln, und vielleicht gelang es ihm ja tatsächlich bei der Gelegenheit, Zar’Torans Grinsen in eine schreckverzerrte Maske zu verwandeln, bevor er ihn tötete. »Ich weiß, dass du mir dein Ehrenwort gegeben hast, das Tschekal nicht gegen mich zu ziehen«, sagte Zar’Toran. »Aber was zählt schon ein Satai-Ehrenwort für dich? Bist du nicht viel mehr Guhulan als Satai?« »Ja, es stimmt«, sagte Daart mühsam beherrscht. »Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, das von den Guhulan geknechtet wurde. Aber das heißt nicht, dass ich selbst ein Guhulan bin. Ich bin es nie gewesen und werde es nie sein!« »Wahr gesprochen«, meinte Zar’Toran. »Du bist ein Bastard, und das in jeder Beziehung: von der Abstammung, von der Erziehung und vor allem von der Art her, wie du denkst und fühlst. Aber du wirst dich heute und in den nächsten Tagen zusammenreißen, Daart. Ich habe deine kleine Carnac an einen sicheren Ort bringen lassen. Wenn du nicht folgsam bist, werde ich sie eines grausamen Todes sterben lassen.« Daart drehte jetzt doch den Kopf in Zar’Torans Richtung. »Was, verdammt noch mal, willst du von mir?« Zar’Toran sah nicht ihn an, sondern blickte angestrengt nach vorn. »Siehst du das? Die Feuer und die Lichter vor uns? Wer werden dort Nubina treffen. Und ich möchte, dass du dich als dieser Begegnung würdig erweist.« Mit einem leichten Schenkeldruck gab er seinem Hengst zu verstehen, dass er angaloppieren sollte. Daart sah ihm nach, wie er durch
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die Reihen der Guhulan ritt, bis er ihn weit vorne im Tross nur noch als roten Schatten gewahrte. Das Gespräch mit Zar’Toran hatte ihn mehr aufgewühlt, als er wahrhaben wollte. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - all das schien in diesem Moment ganz nahe beieinander liegen. Es hatte keinen Sinn, die harten Jahre wieder auferstehen zu lassen, die er in Guan unter der Knute der Guhulan verbracht hatte. Aber Zar’Torans Worte ließen sie in einem vollkommen neuen, anderen Licht erscheinen. Daart hatte sich noch nie zuvor in seinem Leben wie ein Auserwählter gefühlt, ganz im Gegenteil, aber vielleicht war das ein Fehler gewesen. Es machte aus der Willkür, mit der er sich in seinen jungen Jahren von seinem Ziehvater behandelt gefühlt hatte, etwas ganz anderes, Monströseres. Vieles, das er erlebt hatte, war wohl weniger zufällig gewesen, als er bislang geglaubt hatte. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln. Weiter vorn, in dem unruhig flackernden Lichtschein, der mittlerweile so hell war, dass er die Augen zusammenkneifen musste, wenn er in sein Zentrum blickte, schälten sich die ersten Umrisse heraus. Die Reiter vor ihm wurden zu nachtschwarzen Schatten, zwischen denen Helligkeit hervorschimmerte, und als er sich umdrehte, schien hinter ihm überhaupt nichts zu sein als vollkommene Dunkelheit. Aber er wusste, dass er sich in diesem Punkt täuschte. Mindestens acht Mann aus Zar’Torans Leibgarde waren hinter ihm, und daneben ritten weitere Guhulan. Er war nicht mehr gebunden, aber alles andere als frei. Und irgendetwas war da vor ihm, was ihm gar nicht gefiel. Etwas, das dem ureigensten Element der Guhulan zu neuer Macht verhelfen sollte: dem Feuer.
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Es dauerte nicht mehr lange, bis sich aus den schattenhaften Umrissen vor ihnen die greifbaren, aber ineinander verwinkelten Linien von Häusern und Gebäuden aller Art abzeichneten. Es musste ein reges nächtliches Treiben dort herrschen, denn eine Vielzahl von Geräuschen drang zu ihnen herüber, ein Poltern, Krachen, Hämmern und Sägen, als wären dort Dutzende, wenn nicht Hunderte von
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Handwerkern damit beschäftigt, in aller Eile die letzten Vorbereitungen für das zu treffen, was auch immer hier stattfinden sollte. Der Wind trug den Geruch von Staub, frisch geschnittenem Holz und Farbe mit sich, aber über allem lag die beißende, rauchgeschwängerte Ausdünstung der vielen Feuer, die die Nacht fast taghell erleuchteten und deren Flammen Funken sprühend in den Himmel stiegen. Es war kein einfaches Lager, auf das sie zuritten, es war wohl eher eine Stadt; aber eine äußerst merkwürdige, denn es ging ein Gleißen und Funkeln von ihr aus, das Daart zwang, die Augen zu schmalen Schlitzen zu verengen, wenn er in ihre Richtung starrte. Er wusste von kleinen und größeren Fischerdörfern, die an den Ufern der CorSeen zumeist als verschachtelte Pfahlbauten errichtet worden waren, aber von keiner größeren Ansiedlung oder gar einer regelrechten Stadt; schon gar nicht von einer, die funkelte und strahlte wie eine schmuckbehangene Tempeldirne. Seine Neugier wandelte sich in Beklemmung, je näher sie dem Gleißen kamen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Zar’Toran ritt nicht auf die Stadt zu, als wollte er sie einnehmen, sondern eher, als gehörte sie ihm. Das aber widersprach allem, was er über die Guhulan wusste. Ihre einzigen prachtvollen Bauwerke waren die Feuertempel, ansonsten legten sie eher Wert darauf, in Bewegung zu bleiben und nirgends größere Ansiedlungen zu gründen. Der Tross hielt nicht geradewegs auf das Zentrum der Stadt zu, sondern schwenkte kurz vorher ab. Das Geräusch der Pferdehufe veränderte sich, als der Untergrund wieder fester wurde, und dann begriff Daart, dass sie einen aufgeschütteten Weg erreicht hatten, der direkt auf das Haupttor zuführte. Das war wiederum etwas, das ihn überraschte. Er hätte allenfalls mit einem schlammigen Pfad gerechnet, doch nicht mit einer befestigten Straße, und er war auch davon ausgegangen, dass die Ansiedlung von einer einfachen Holzpalisade oder allenfalls einem Erdwall geschützt wurde. Aber das stimmte nicht. Vor den mächtigen, mindestens drei Mannlängen hohen Mauern brannten eine Vielzahl offener, teilweise wild lodernder Feuer, deren Anblick allein schon ausgereicht hätte, um ihn Unbehagen empfinden zu lassen. Aber was ihn weit mehr ent-
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setzte, war die Tatsache, dass die Mauern selbst zu brennen schienen, dass aus ihnen Flammen herausschlugen, wie um nach jedem zu greifen, der ihnen zu nahe kam. Mit klopfendem Herzen versuchte Daart über sie hinwegzuspähen, um zu erkennen, ob das Feuer bereits auf die Gebäude dahinter übergegriffen hatte. Ein Flackern schoss aus dem Innern der Stadt empor, aber es schien örtlich begrenzt zu sein, und soweit Daart erkennen konnte, hatte es noch nicht auf die Türme und Dachsparren übergegriffen. Er konnte die Umrisse der Gebäude hinter den Mauern nur verschwommen und schemenhaft erkennen, und doch wurde ihm bewusst, dass sie größer waren als alles, was er hier erwartet hätte. Je näher sie dem Tor kamen, umso wärmer wurde es. Daart hätte sich darüber freuen müssen, denn die Kälte der Nacht hatte sich mittlerweile in seinem Körper eingenistet und ihn steif und ungelenk werden lassen, doch das tat es nicht. Das alles hier ging ihm mehr als nur eine Spur zu weit. Nubinas riesiges Heer, das irgendwo hinter ihnen lagerte, diese Stadt, die alles übertraf, was er Zar’Toran jemals zugetraut hatte, und die Worte des Ältesten, die ihn davor gewarnt hatten, dass sowohl der Feuermagier als auch die Herrscherin über Nyingma hier die Entscheidung suchen würden, um den nächsten Schritt in Richtung Unsterblichkeit zu beschreiten - all das verdichtete sich zu dem äußerst unguten Gefühl, dass er seine Gegner maßlos unter- und sich selbst überschätzt hatte. Wer war er schon, dass er mit einem Symbionten in der Kehle und einem Tschekal an seiner Seite glauben konnte, einen solchen Plan aus den Angeln zu heben? Sie passierten die ersten zeremoniellen Feuer, und jetzt, endlich, begriff Daart seinen Irrtum. Die Mauern brannten nicht, es hatte nur aus der Ferne so ausgesehen. Für gewöhnlich bestanden Stadtmauern aus dem festesten Gestein, das man in der näheren oder weiteren Umgebung fand, und das mochte auch hier so sein; doch im Gegensatz zu jedem anderen Ort auf Enwor waren sie mit einer stark reflektierenden Metallschicht überzogen, in der sich das Feuer widerspiegelte - was fälschlicherweise so aussah, als bräche es aus dem Innern der Mauern hervor. Zweifellos war dieser Effekt gewollt, und zweifellos passte er eben-
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so gut zu Zar’Toran, dem Feuermagier, wie auch zu Nubina, die ihre enge Beziehung zum Feuer bereits in ihrem Tempel auf dem Grund eines erloschenen Vulkans bewiesen hatte. Selbst der Umstand, dass Daart sich klein und unbedeutend vorkam, als er auf das Stadttor zuritt, war zweifellos gewollt, wenn auch die Wirkung wohl kaum ihm persönlich galt, sondern allen Menschen, die diese Stadt der brennenden Mauern zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Als sie durch die lang gestreckte, im trüben Zwielicht liegende Toranlage ritten, hallte das Hufgetrappel merkwürdig hohl und laut von dem Kopfsteinpflaster wider, mit dem hier der gesamte Boden ausgelegt war. Der Gang, durch den sie ritten, war breit genug, um drei Männern mühelos nebeneinander Platz zu bieten, sodass Daart das zweifelhafte Vergnügen hatte, von den beiden Leibgardisten eingerahmt zu werden, die ihm seit der Ermordung von Ucars Gefährten nicht mehr von der Seite gewichen waren. Medon rückte unangenehm näher, und Daarts Tschekal klirrte in der umfangreichen Waffensammlung, die der Leibgardist an seinem Pferd befestigt hatte. Medons Kopf fuhr zu ihm herum, und zum ersten Mal gewahrte Daart in seinen Augen ein Gefühl - ein tückisches Funkeln, das ihm fast wie eine Kampfansage erschien. Das hatte ihm noch gefehlt. Wahrscheinlich brannte Medon nur darauf, es dem Satai zu zeigen, den er zu bewachen hatte, und wahrscheinlich hatte er die Ermordung von Ucars Waffengefährten umso mehr genossen, als er sie wie ein Schauspiel vor den Augen eben dieses Satais hatte zelebrieren können. Daart lenkte sein Pferd so gut es ging ein Stück von Medon weg, was nicht sehr weit war, denn er hatte nicht vor, deswegen mit dem Leibgardisten auf der anderen Seite zusammenzurasseln. Doch auch dieser nutzte die Gelegenheit, um in das Spiel mit einzusteigen, dessen Regeln offensichtlich Medon vorgegeben hatte. Sein kräftiges Pferd donnerte in die Flanke von Daarts Reittier und quetschte damit sein linkes Bein zwischen beiden Pferden fest. »Der Schweinehund will uns provozieren, Karsin«, sagte Medon. »Lassen wir uns das gefallen?« »Wohl kaum«, meinte Karsin. Er versuchte, sein Pferd noch enger
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an Daart heranzulenken. Aber Daart dachte gar nicht daran, ihm den Gefallen zu tun, sich in die Zange nehmen zu lassen. Er drückte dem Braunen die Absätze der Guhulan-Stiefel so fest es ging in die Flanken und riss gleichzeitig mit aller Kraft an den Zügeln; ein Kommando, das jedes von den Feuerkriegern eingerittene Tier verstehen musste. Der Braune reagierte genau so, wie Daart es erwartet hatte: Er warf den Kopf hoch, wieherte schrill und riss sich dann mit einem gewaltigen Satz los. »Jetzt will er auch noch fliehen!«, brüllte ihm Medon hinterher, als sich der Braune nicht nur mit einem Satz befreite, sondern auch zwischen die Reiter vor ihnen fuhr - doch da war Daart schon nicht mehr im Sattel. Er hatte rechtzeitig nach oben geblickt und den Rand eines Fallgitters anvisiert. Jetzt sprang er ab und packte mit beiden Händen zu. Medon und Karsin ritten unter ihm hinweg. Sie hätten ihre Schwerter ziehen und ihn attackieren können, bevor die nächsten Reiter heran waren, und Daart erkannte an Medons funkelndem Blick, dass er seiner Wut am liebsten freien Lauf gelassen hätte. Daart zog die Beine so weit wie möglich an den Leib, um gegen einen schnellen Schwertstreich gewappnet zu sein, doch das erwies sich als überflüssig. »Das zahle ich dir heim«, zischte Medon und drohte mit der geballten Faust, dann war die Gelegenheit für einen Angriff auch schon verstrichen - und die nächsten Reiter unter Daart. Auch sie waren Leibgardisten, und sie fackelten nicht lange. Zwei Mann stiegen in ihren Sätteln hoch und wollten nach Daarts Beinen greifen, um ihn zu sich herunterzuziehen. Daart machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Er nahm Schwung und sprang dann ab, aber nicht nach vorne, womit die beiden Männer offensichtlich gerechnet hatten, sondern mit einer kompletten Drehung durch die Luft nach hinten. Über ihm war nur noch glatter Stein und keine Möglichkeit, sich festzuhalten, aber darauf kam es ihm auch nicht an. Er hatte ein ganz anderes Ziel entdeckt. Während die Leibgardisten mitten in der Bewegung herumfuhren und bei dem Versuch, ihn im letzten Moment doch noch zu packen, beinahe aus den Sätteln fielen,
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stürzte Daart wie ein Raubvogel über den nächsten Reiter weg, sein Ziel fest im Blick - und krachte dann mit voller Wucht in den Mann hinein, den er angepeilt hatte. Ucar schrie auf und riss die Hände nach oben, aber seine Abwehrbewegung kam zu spät. Daart rammte ihm die Schulter gegen das Kinn, und Ucar wurde nach hinten geschleudert. Daart packte mit beiden Händen zu, bevor der Guhulan vom Sattel fallen konnte, und riss ihn an sich heran, und einen Moment lang saßen sie sich beide gegenüber. Ucars Augen waren weit aufgerissen, sein Blick aber vollkommen verständnislos. Wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal etwas von Daarts waghalsigem Manöver mitbekommen und verstand jetzt nicht, wie es der Satai geschafft haben konnte, mitten in dem Torgewölbe etliche Pferdelängen zu überspringen, bis er bei ihm gelandet war. »Ich suche eine Mitreitgelegenheit«, sagte Daart. »Ich hoffe doch, ich bin da bei dir richtig.« Ucar brachte kein Wort heraus, und Daart fuhr fort: »Willst du vorn oder hinten sitzen?« Als Ucar immer noch nicht antwortete, packte ihn Daart kurz entschlossen, schob ihn so weit zur Seite, bis der Guhulan fast vom Pferd fiel, und quetschte sich an ihm vorbei, um sich in seinem Rücken umzudrehen und hinter ihm Platz zu nehmen. Erst jetzt gewann Ucar die Fassung wieder. »Was soll das?«, japste er. »Ich hatte Streit mit Medon«, sagte Daart. »Und ich wollte nicht herausfinden, ob er auch mir den Kopf abschlagen würde.« »Oh«, machte Ucar nur. Die beiden Guhulan, die neben ihnen ritten, hatte ihre Waffen gezogen und starrten ihn kampfeslustig an. Als sie jedoch den Namen Medon hörten, stahl sich so etwas wie Verständnis auf ihre Gesichter, und dann steckte erst der eine und dann der andere sein Schwert wieder weg. Daart begriff, dass der Leibgardist offensichtlich alles andere als beliebt war. Vielleicht konnte er daraus später einen Nutzen ziehen. Im Augenblick war das jedoch unmöglich. Sie waren unter drei schweren, mit spitzen Widerhaken versehenen Fallgittern hindurchgeritten und hatten nun schon fast das Ende des massiv gemauerten
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Torgewölbes erreicht. In der Decke waren Löcher, sicherlich dazu gedacht, um Angreifer mit siedendem Öl zu übergießen; jetzt stachen sauber abgezirkelte Lichtkegel hindurch, Reflexionen des allgegenwärtigen Feuers, das den Himmel taghell erleuchtete. In dem Schein wirkten die Reiter wie zerrissene Fabelwesen, mal scharf beleuchtet, dann wieder im Zwielicht, und immer in unruhiger, unwirklicher Bewegung. Was allerdings viel schwerer wog, war das Hufgetrappel von mindestens zwanzig weiteren Guhulan-Pferden, das hinter ihnen zu hören war. Daart saß fest - und das im Sinne des Wortes, denn Ucars Ersatzwaffen quetschten sein Gesäß unangenehm ein -, und er fragte sich im Stillen, ob es wirklich so klug gewesen war, was er getan hatte. Die Antwort auf die Frage war breitschultrig, einen halben Kopf größer als er und blickte ihm am hell erleuchteten Ausgang des Torgewölbes so grimmig entgegen, dass sich Daarts Hand verstohlen zum Knauf seines Schwertes streckte. Medon hatte sich auf seinem halb gewendeten Pferd auf einer Seite aufgebaut und Karsin auf der anderen. Beide hatten ihre Schwerter gezogen, und sie sahen nicht so aus, als ob sie ihn einfach davonkommen lassen wollten. »Oh«, machte Ucar zum zweiten Mal. Es klang alles andere als begeistert. »Ja, oh«, murmelte Daart besorgt. Er suchte fieberhaft nach einer Idee, wie er an den beiden Leibgardisten vorbeikommen konnte, ohne dass sie auf ihn losgingen. »Ich kann nichts dafür!«, schrie Ucar, noch bevor sie das Gewölbe endgültig verlassen hatten. »Er hat mich dazu gezwungen!« Daart konnte die Panik in seiner Stimme nur zu gut verstehen. Schließlich musste er damit rechnen, dass ihm der Leibgardist mit einer beiläufigen Bewegung den Kopf abschlug. »Aus dem Weg«, zischte Medon. Ucar begriff einen winzigen Augenblick schneller als Daart, was er damit meinte, und tauchte nach links ab. Er ließ sich nicht einfach fallen, er stieß sich geradezu vom Pferderücken ab, und Daart hätte schon mit aller Gewalt zupacken müssen, um ihn davon abzuhalten. Aber das hätte keinen Sinn gemacht. Schließlich wollte er Ucar nicht
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als lebenden Schutzschild missbrauchen. »Zieh dein Schwert«, brüllte Medon. Eine dicke Ader pochte auf seiner Stirn. Daart konnte gar nicht anders, als ihm den Gefallen zu tun. Das Tschekal schien fast wie von selbst in seine Hand zu springen. Die Waffe war nicht optimal ausbalanciert, aber sie lag ihm dennoch ganz vertraut zwischen den Fingern. »Ich werde dich töten«, brüllte Medon weiter, »hier und jetzt…« Er wollte sein Schwert heben und zuschlagen, eine blitzschnelle und trotzdem vorhersehbare Aktion, die Daart mühelos mit einer entsprechenden Abwehrbewegung hätte parieren können… Aber er kam nicht mehr dazu. »Medon!« Es war ein Kommandoton, der Daart durch und durch ging, vielleicht, weil er seit Kindheitsbeinen darauf trainiert war, dieser Stimme zu gehorchen. Medon schien es ganz ähnlich zu ergehen. Er erstarrte mitten in der Bewegung. »Nicht«, fuhr die Stimme fort, und dann sah Daart Zar’Toran heranreiten, nicht einmal schnell, doch so aufgebracht, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. »Müsst ihr euch wie kleine Kinder prügeln?« Sein Blick riss sich von Medon los, während er das Pferd zügelte, und als er sich Daart zuwandte, funkelte in seinen Augen das verzehrende Feuer, das es fast unmöglich machte, seinem Blick länger als wenige Herzschläge standzuhalten. »Ich dachte, ich hätte dein Wort, Daart?« Daart starrte auf das Schwert in seinen Händen, sah dann wieder auf und nickte. »Natürlich. Ich hätte es nur zur Selbstverteidigung benutzt.« »Medon«, zischte Zar’Toran. Er fuhr zu dem Leibgardisten herum. Das gefährliche Funkeln in Medons Augen hatte etwas anderem Platz gemacht, einem fast ergebenen Ausdruck. »Er… Er wollte fliehen.« Es war noch kein Stammeln, aber kurz davor, und als Medon das selbst merkte, riss er sich offensichtlich zusammen und fuhr laut und deutlich fort. »Der Gefangene wollte fliehen. Wir mussten ihn aufhalten.« Zar’Toran sagte gar nichts darauf. Er starrte Medon nur noch eine
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Weile schweigend an, dann winkte er Daart zu. »Begleite mich.« Damit wendete er auch schon sein Pferd und ritt voran, in die hell erleuchtete Stadt hinein. Daart steckte sein Tschekal weg und schloss sich ihm an. Er hatte das ungute Gefühl, dass er noch nicht einmal im Entferntesten die Dimensionen begriffen hatte, in denen sein Gegner dachte.
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Es war eine breite Prachtstraße, die sie entlangritten, nebeneinander und ohne ein Wort zu wechseln. Medon und die anderen Leibgardisten folgten ihnen in gebührendem Abstand, aber Daart war sicher, dass sie jede seiner Bewegung aufmerksam verfolgten. Er dagegen verschwendete keinen weiteren Gedanken an sie. Zu behaupten, dass er beeindruckt war, wäre maßlos untertrieben gewesen. Es waren große, prächtige Bauten, die die Straße säumten, ineinander verzahnt, verwachsen in einer Architektur, die gleichzeitig abstoßend wie merkwürdig vertraut wirkte. Alles hier war makellos weiß und hell, mit großen, streng geriffelten Säulen, die endlos weit in den Himmel strebten und das hell lodernde Flackern der Flammen widerspiegelten, die aus metallenen, in regelmäßigen Abständen angebrachten Feuerschalen aufstiegen. Der Boden, über den sie ritten, war mit spiegelndem Material verkleidet, und als Daart hinabsah, hatte er das Gefühl, Feuerreiter zu erblicken, so geschickt verbanden sich die Spiegelbilder ihrer Umrisse und das Funkenmeer, das aus den Feuerschalen emporstieg. Das Erstaunlichste aber tat sich vor ihnen auf, im Zentrum der Stadt. Es war ein Kuppelbau ungeheuren Ausmaßes, niedriger als die Säulen und doch gewaltiger, ein gigantischer, funkelnder Edelstein, der sich über den Horizont spannte, aus unzähligen, gegenläufig geschliffenen Einzelstücken zusammengefügt, ein Spiegelmeer, auf dem die Reflexionen der Flammen wie geschäftige kleine Kristallkäfer hin und her eilten. Es war niemand zu sehen, und je näher sie dem Kuppelbau kamen, umso mehr klangen auch die Vielzahl der Geräusche aus, die von der Anwesenheit anderer Menschen kündeten. Daart vergaß, in welcher
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Begleitung er sich befand und was ihn hierher geführt hatte. Es hatte etwas Unwirkliches, hier entlangzureiten, auf dem Spiegelboden, der ein so ganz anderes Bild von ihm wiedergab, als er von sich selbst hatte. Er hätte endlos so weiter reiten können, ein ganzes Leben lang, um alles zu vergessen, was hinter ihm lag, und sich ganz dem hinzugeben, was ihn hier umfing. »Da vorn ist es«, sagte Zar’Toran und deutete auf ein Gebäude zu ihrer Rechten, das sich in nichts von der Vielzahl anderer unterschied. »Dort werden wir halten.« Daart runzelte die Stirn. Er hatte gewusst, dass es nicht lange dauern würde, bis er wieder in die Wirklichkeit zurückfinden musste. Doch er fand, Zar’Toran hätte ihm noch ein wenig Zeit gewähren können. Als der Feuermagier nach rechts steuerte, lenkte auch er gehorsam sein Pferd in diese Richtung. Er war nicht begierig darauf zu erfahren, was ihn hier erwartete. Es waren zu viele Eindrücke in den letzten Tagen gewesen und zu viele Fragen, die aufgetaucht waren, wann immer er geglaubt hatte, eine Antwort gefunden zu haben. »Du wirst dich etwas frisch machen«, sagte Zar’Toran in so beiläufigem Ton, dass Daart der Sinn seiner Worte fast entgangen wäre. »Was?«, fragte er verwirrt. »Du siehst mitgenommen aus. So solltest du Nubina nicht unter die Augen treten.« Daart ersparte sich eine Antwort. Im Augenblick blieb ihm sowieso nichts anderes übrig, als sich der Führung Zar’Torans unterzuordnen. Der Magier schwang sich aus dem Sattel, kaum dass sie die Treppe erreicht hatten, die zum Eingang des Palasts hinaufführte. Mit wehendem Feuermantel schritt er voran, während Bedienstete herbeisprangen, die sich um sein Reittier kümmerten. Es waren keine Guhulan, wie Daart erwartet hatte, sondern kleinere, schlankere Männer mit braunen Gesichtern und dunklen Augen, die ihn neugierig musterten, wenn sie glaubten, dass er es nicht bemerkte. Sie trugen die aufwändig bestickten Gewänder von Domestiken und keine Waffen, und Daart erinnerte sich daran, schon einmal Männer wie sie zu Gesicht bekommen zu haben. Aber das war nicht hier gewesen,
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sondern am anderen, südlichsten Ende von Enwor, am Aralu-See, in einer Gegend, in der die Vegetation üppig und verschwenderisch blühte, die Sonne stechend heiß vom Himmel schien und sich die Uferbepflanzung von Hitzegeflimmer durchtränkt bis weit in den See hineinschob. Daart verscheuchte die Erinnerung. Die Männer, die die Pferde in Empfang genommen hatten und nun wegführten, gehörten ganz offensichtlich nicht zu den Aralu, aus denen Nubina ihre Krieger rekrutierte. Sie gehörten zu einer anderen Kaste in der Hierarchie von Nyingma und waren offensichtlich für das persönliche Wohl ihrer Herrscherin und ihres Hofstaates verantwortlich. Wenn Nubina sie auf die weite Reise in den Norden Enwors mitgenommen hatte, dann wohl kaum, um sich hier nur kurz aufzuhalten. Es sah eher so aus, als ob sie sich - zumindest für eine Zeit lang - hier häuslich niederlassen wollte. Die schmalen braunen Männer verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren, und Daart beeilte sich, Zar’Toran zu folgen. Die Halle, die er betrat, war menschenleer, von dem Feuermagier selbst war keine Spur zu sehen. Daart ging noch ein paar Schritte weiter und sah sich dann suchend um. Er stand auf einem Boden aus hellen, fein polierten Marmorsteinen, starrte auf Wände, die golddurchwirkt und alabasterweiß waren, auf Säulen, die den großen Raum aufteilten, ohne ihm etwas von seiner Erhabenheit zu nehmen - und zuckte zusammen, als er laut hallende Schritte hinter sich hörte. Er drehte sich um in der Erwartung, dass Medon und die anderen Leibgardisten eintraten, aber er sah sich getäuscht. Es waren eine schlanke, grazil wirkende Frau, die mit kleinen Trippelschritten auf ihn zugeeilt kam, und ein großer, dicker Mann, der offensichtlich alle Mühe hatte, mit ihr mitzuhalten. »Herzlich«, sagte der dicke Mann schwer atmend und breitete die Arme aus, »herzlich willkommen in dieser zugigen, eiskalten Behausung. Es tut mir Leid, dass wir nicht richtig einheizen konnten - aber ich fürchte, es herrscht ein gewisser Mangel an Feuerholz angesichts der ganzen Freudenfeuer, die die Stadt in ihr Lichtermeer tauchen, und außerdem…«
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Die Frau hatte Daart jetzt erreicht, verbeugte sich knapp und machte eine einladende Handbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen war, während der Dicke auf einen Schlag verstummte. »Folgt uns, bitte«, sagte sie mit leiser, angenehmer Stimme. »Uns bleibt nicht viel Zeit. Die Herrin verlangt Euch zu sehen.« Daart starrte verwirrt zwischen den beiden hin und her. Sie waren in goldbestickte, weit geschnittene Gewänder gekleidet, die in der Mitte mit einer Schärpe zusammengehalten wurden - was bei der Frau äußerst attraktiv, bei dem Dicken dagegen nur lächerlich aussah. Ihm wurde zunehmend unbehaglicher zumute. Am liebsten hätte er den Dicken bei den geschmacklosen Aufschlägen seines Gewandes gepackt und ihn durch die Gegend geschleudert, um ihn gegen die Wand klatschen zu lassen - nicht, weil ihm dieser Mann auch nur das Geringste getan hätte, sondern ganz einfach, weil ihm das alles hier unerträglich war. Er war darauf gefasst gewesen, bis auf den letzten Blutstropfen kämpfen zu müssen, und nicht darauf, sich inmitten einer unglaublich prächtigen Stadt wieder zu finden, die es seines Wissens eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Hier, an der Stelle, wo er stand, war bis vor kurzem wahrscheinlich nichts weiter als Steppe oder Sumpf gewesen. Und jetzt musste er sich mit ein paar Hofschranzen herumärgern, die nichts Besseres zu tun hatten, als ihn mit einer Mischung aus Empörung und Ergebenheit anzustarren, der er nichts entgegenzusetzen hatte. »Wohin bringt Ihr mich?«, fragte er. »Zu Nubina, Herr«, sagte die Frau, und der Dicke klatschte in die Hände und rief: »Aber rasch! Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, Euch umzukleiden.« »Warum sollte ich mich umkleiden?«, fragte Daart, während er sich trotz seiner Abneigung gegen den Dicken in Bewegung setzte. »Stimmt etwas nicht mit mir?« Der Dicke wartete, bis Daart heran war, dann ergriff er seinen Arm und schüttelte tadelnd den Kopf. »Ganz abgesehen davon, dass Eure Hose blutbefleckt ist…« »Weil einer von Zar’Torans Schlächtern einem seiner eigenen Männer den Kopf abgeschlagen hat«, warf Daart ein.
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»… seht Ihr vollkommen indiskutabel aus«, fuhr der Dicke ungerührt fort. »Aber sorgt Euch nicht: Wir werden schon ein passendes Kleidungsstück finden.« Daart seufzte. »Das hatte ich befürchtet.« Die Frau huschte an ihm vorbei und riss die Tür auf, um den Dicken und Daart passieren zu lassen. »Ihr gestattet doch, dass ich Euch meine Vorschläge unterbreite?«, fragte der Dicke. »Nein«, sagte Daart. »Ich will keine Vorschläge. Ich will zu Nubina.« »Gemach, gemach, alles zu seiner Zeit, und auf keinen Fall unvorbereitet«, plapperte der Dicke. Daart antwortete auf seine ganz eigene Art: Er schob die Hand des Mannes von seinem Arm und versetzte ihm einen kleinen Schubser, der ihn in Richtung des Treppenabsatzes taumeln ließ, auf den sie zusteuerten. Daarts schlimmste Befürchtungen über den weiteren Verlauf der zum Tag gemachten Nacht sollten sich nicht erfüllen - sie wurden von der Wirklichkeit sogar noch übertroffen. Als er endlich angekleidet war, pochte in seinem Kopf ein wilder Schmerz, und das, was als Zorn in ihm zu brodeln begonnen hatte, als er den Fettwanst in der Empfangshalle auf sich hatte zusteuern sehen, drohte mittlerweile überzukochen. Er trug jetzt eine schwarze lederne Hose in der Art, wie sie seit vielen Jahren auch die Satai trugen, darüber jedoch ein aufwändiges Feuergewand, nicht zu vergleichen mit den bis auf die Flammenwirbel recht einfach gehaltenen Kleidungsstücken der Guhulan, sondern weitaus prächtiger, mit Borten und Bordüren besetzt. Als der Dicke eine Schärpe in die Hand nahm, um ihn mit einem abschätzenden Blick zu messen, reichte es Daart. Er funkelte ihn so wütend an, dass dieser einen erschrockenen Schritt zurück machte und den Vorschlag zum Tragen dieses vollkommen überflüssigen Kleidungsstücks, den er wohl schon auf den Lippen gehabt hatte, regelrecht herunterschluckte. Daart trug also keine Schärpe, sondern das Tschekal an seiner Seite, als er von der zierlichen Frau ein Stockwerk höher geführt wurde. Schon von fern hörte er angeregtes Stimmengemurmel, das Klirren
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von Gläsern und das Klappern von Besteck, und dann etwas, das er hier am allerwenigsten vermutet hätte: befreites Gelächter. Der Dicke, der hinter ihm her watschelte, beeilte sich, zu ihm aufzuschließen, und zupfte ihn dann am Ärmel. »Nubina«, begann er, »legt äußerst viel Wert auf gute Umgangsformen.« »Das muss mir entgangen sein«, murmelte Daart. »In Nyingma kam es mir eher so vor, als scherte sie sich nicht im Geringsten darum, wie sich ihre Opfer benehmen. Ganz im Gegenteil. Sie steckte sie in ein stinkendes Loch tief unter der Erde, und dabei schien es ihr eher Vergnügen zu bereiten, sie dort langsam zugrunde gehen zu lassen, statt sie zu einem Festmahl zu bitten.« Der Dicke griff so fest in Daarts Gewand, als wollte er ihn zu sich herüberziehen. »Ihr klingt verbittert, und Ihr werdet Eure Gründe dafür haben. Aber vergesst nicht: Nubina ist über jeden Maßstab erhaben. Sie ist eine Göttin…« »Hör auf, dauernd an mir herumzuzupfen«, unterbrach ihn Daart grob. »Ich bin zwar kein Gott, aber ziemlich flink mit meinem Schwert.« Der Dicke wurde kalkweiß und machte einen Hüpfer zur Seite. »Verzeiht, wenn ich Euch zu nahe getreten bin«, sagte er hastig. »Es lag durchaus nicht in meiner Absicht…« Die Frau vor ihnen fuhr herum und legte ängstlich den Zeigefinger auf die Lippen. »Ruhig, Joramun. Wir sind gleich da. Willst du die Herrin mit deinem losen Gerede verärgern?« Der Dicke senkte betreten den Kopf und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich dachte nur…« Er brach ab, als sich die junge Frau wieder umdrehte und einen letzten, entschlossenen Schritt auf die eisenbeschlagene Flügeltür vor ihnen machte. »Nein, warte, es ist meine Aufgabe, die Tür zu öffnen«, sagte er fast entsetzt, während er neben sie trat und die Hand auf die Klinke legte. Er kam nicht dazu, sie herunterzudrücken. Einer der beiden Flügel flog ihm geradezu entgegen, sodass das schwere Edelholz gegen seine Stirn knallte und ihn zurückschleuderte. Joramun stieß einen erstickten Laut aus und presste die Hand gegen die stark blutende Na-
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se. Sein verzerrter Gesichtsausdruck wandelte sich in schieres Entsetzen, als er erkannte, wer da aus der Tür trat. Es war Medon. Der Leibgardist runzelte in der ersten Überraschung verärgert die Stirn, aber als er Daart erkannte, blitzten seine Augen regelrecht auf. »Der Satai«, stieß er hervor. »Wie kommt es nur, dass überall Blut fließt, wo du auftauchst?« Er machte einen Schritt nach vorn. Daart spannte sich in Erwartung eines Angriffs, der wohl kommen musste. Medon hatte bereits beim Durchreiten des Torgewölbes so offensichtlich Streit gesucht, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis sie beide wieder aneinander rasselten. Daart würde sein Schwert nicht als Erster ziehen, aber er brannte geradezu darauf, dem Großmaul eine Lektion zu erteilen. »Tu das nie wieder«, sagte Medon. Sein Blick riss sich erst im allerletzten Moment von Daart los und biss sich in Joramun fest, und bevor der Dicke überhaupt begriff, was der Leibgardist vorhatte, holte Medon auch schon aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Joramuns Kopf zuckte zur Seite, und er stieß ein jämmerliches Wimmern aus, das sofort verstummte, als Medon einen weiteren Schritt auf ihn zumachte. »Du solltest etwas vorsichtiger beim Türenöffnen sein, Fettwanst«, sagte er verächtlich. »Man kann sich dabei allzu leicht eine blutige Nase holen.« Ohne Daart anzusehen, drehte er sich um und riss auch noch die andere Flügeltür auf. Dann zog er den widerstrebenden Dicken mit einer raschen Bewegung heran und an sich vorbei, bis er ihm schließlich einen Schubs versetzte, der ihn in den dahinter liegenden Raum taumeln ließ. Joramun wäre fast gestürzt, fing sich dann aber erstaunlich schnell. Mit einer geradezu verzweifelt wirkenden Geste riss er sich die lächerliche Schärpe vor das Gesicht und wischte sich einmal quer darüber, und als er sie wieder sinken ließ, sah Daart, dass sie voller Blut war. »Ich habe die Ehre«, rief er mit zittriger Stimme, »einen ganz besonderen Gast anzukündigen…« Mittlerweile hatten sich ihm alle Gesichter zugewandt, die Daart durch den Ausschnitt im Blickfeld hatte, und mehr als eines von ihnen verzog sich zu einer ablehnenden oder misstrauischen Miene. Ein älterer Mann, dessen weißes Haar Daart an den Ältesten erinner-
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te, lachte spöttisch auf, brach dann aber fast erschrocken ab, als niemand anderer in das Gelächter einfiel. Joramun blieb noch einen Moment zitternd und bebend stehen, dann verbeugte er sich übertrieben tief und trat immer noch in gebückter Haltung zur Seite, um Daart zuzuwinken. »Um Himmels willen«, stieß er kaum verständlich hervor. »Ich bitte Euch! Tretet ein!« Daart warf einen letzten, stirnrunzelnden Blick auf Medon, der selbstzufrieden die Arme vor der Brust verschränkt hatte, und folgte der Aufforderung. Joramun wich noch ein paar weitere Schritte zur Seite, als er durch die Tür trat und dort erst einmal stehen blieb. Daart hatte mit einem Festsaal gerechnet, aber nicht mit dem, was sich jetzt vor ihm auftat. Es war ein ausladender Raum, in dem das Festbankett aufgebaut war, eine riesige Tafel, an der mindestens fünfzig, wenn nicht sechzig prächtig gekleidete Männer und einige wenige Frauen saßen, die allesamt verstummt waren, nachdem er eingetreten war. Es waren harte, überwiegend ältere Gesichter, in die er blickte, gezeichnet von Kriegen und Strapazen, und nicht wenige von ihnen wiesen längst vernarbte Wunden auf. Bei einem der Männer fehlte der ganze Unterkiefer und wurde durch ein Drahtgeflecht ersetzt, und seine Blicke, kalt wie Stahl, bohrten sich unangenehm in Daarts Augen. Die Blicke der anderen waren kaum angenehmer und standen im scharfen Kontrast dazu, dass keiner von ihnen eine Waffe bei sich führte, obwohl sich die eine oder andere Hand unwillkürlich in Richtung eines imaginären Waffengurtes schob. Die Frauen waren in prachtvolle Gewänder gekleidet, und die Männer trugen, was die Kleiderkammern Nubinas oder die der Guhulan für besondere Anlässe zur Verfügung stellten. Daart gewahrte Flammenwirbel auf dunklem Untergrund, die von glitzernden Edelsteinen gebildet wurden, und phantasievoll gestickte oder auf kostbaren Stoff aufgemalte Darstellungen von Palästen und Landschaften, die von der Farbenpracht Nyingmas geprägt waren. Am hinteren Ende des Saales, auf einer Empore, stand ein weiterer, noch prachtvollerer Tisch, doch Daart konnte allenfalls erraten, wer dort saß, so sehr blendete ihn das Licht. Es waren nicht allein die
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zwischen den übervollen Fleisch- und Beilagenplatten aufgestellten Kerzenleuchter, die ihn zwangen, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzukneifen, es war auch das Licht, das durch die großen, nach außen gewölbten Fenster drang. Er musste sich kräftig verschätzt haben, was die Tageszeit anging; es war kein zu spät gewordener Abend mehr, es war bereits früher Morgen, und der Himmel leuchtete so blutrot, dass es aussah, als brenne er. Aber das war bei weitem nicht alles, was Daart in den Bann schlug. Die Feuer, die von der Prachtstraße nach oben stiegen, ließen die Stadt zu funkelndem Leben erwachen; in ihrem Schein, der sich mit dem frühmorgendlichen Sonnenrot vermischte, glitzerte und funkelte die gigantische Kuppel im Zentrum der Stadt wie ein Meer aus Edelsteinen, auf die Licht fällt - unzählige, fein polierte Facetten, in deren blendendem Glanz die unmittelbare Umgebung erstrahlte. Die Anordnung des Festsaals im Verhältnis zur Kuppel war kein Zufall, wie Daart begriff, als er ein paar Schritte in den Raum hinein machte; sie war exakt berechnet und wohl auch genau auf diesen Tag oder zumindest auf diese Jahreszeit ausgerichtet, in der der Sonnenstand ein Wunder vollbrachte, wie es wohl sonst nirgendwo auf der Welt seinesgleichen hatte, nicht einmal in dem sagenumwobenen Reich Nubinas am Rand des Tropenmeeres. Daart wurde sich bewusst, dass ihn die zahlreichen Augenpaare teils neugierig, teils misstrauisch, zum Teil aber auch ganz offen verärgert musterten. Er kümmerte sich nicht darum. Viele der von harten Kämpfen und Entbehrungen geprägten, ausnahmslos nicht mehr jungen Gesichter wiesen den leicht exotischen Einschlag auf, der für die Aralu typisch war; andere waren, nicht nur an ihrer Kleidung erkenntlich, ganz offensichtlich Guhulan. Ihnen allen gemein war der Ausdruck, den man bei Menschen findet, die ihr Leben blutigem Kriegshandwerk verschrieben haben. Von purer Lebensfreude oder gar unbeschwerter Fröhlichkeit war hier nicht viel zu spüren. Es herrschte ganz im Gegensatz eine merkwürdig bedrückende, fast unheildrohende Stimmung im Saal, die gleich einer düsteren Vorahnung auf jedem Einzelnen hier zu lasten schien. Daart suchte unter den Guhulan nach bekannten Gesichtern, aber er entdeckte kein ein-
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ziges, sie waren ihm allesamt fremd. Zar’Toran oder gar Nubina waren nicht unter ihnen. Aber das hatte er auch nicht erwartet. Es gab nur einen Platz, der ihnen würdig genug war: die Empore - das Zentrum des rötlichen, funkelnden Lichtes, das durch die großen Fenster brach. Daart schritt an der Festtafel vorbei, ohne mehr als einen flüchtigen Blick auf sie zu werfen. In seinen Eingeweiden wühlte der Hunger, aber er hätte in diesem Augenblick keinen Bissen herunterbekommen. Etwas Ungeheuerliches ging hier vor, etwas, das seine Vorstellungskraft um Längen schlug. Wenn er eine Antwort auf die vielen Fragen finden wollte, die sich in seinem Kopf drehten, dann nur von denjenigen, die all das hier zu verantworten hatten. Als er die Tafel zur Hälfte abgeschritten hatte, hörte er schwere, eilige Schritte hinter sich, und dann spürte er auch schon einen Luftzug im Nacken. »Sei dir gewiss, dass ich dich im Auge behalten werde«, flüsterte ihm Medon zu. »Du wirst nichts tun können, ohne dass ich nicht schon vorher weiß, was du planst.« Daart ignorierte ihn. Und dann, als hätte er eine unsichtbare Grenze überschritten, schälten sich plötzlich die Umrisse mehrerer Personen auf der Empore über ihm heraus. Als Ersten erkannte er Zar’Toran, der sich rittlings auf einen Stuhl gehockt hatte und ihm nun mit einem spöttischen Lächeln entgegensah. Auf der anderen Seite des Tisches, an dem er Platz genommen hatte, aber ein Stück weiter hinten und deswegen schwerer zu erkennen, saß Nubina. Daart hatte erwartet, dass sie auf einem Thron residierte, und war nun fast enttäuscht, sie auf einem gewöhnlichen Stuhl sitzen zu sehen, aber dieses Gefühl hielt nur einen Lidschlag lang an. Sie war nicht nur so beeindruckend, wie er sie in Erinnerung hatte, sondern viel mehr als das: atemberaubend. Das eng anliegende Kleid, das sie trug, schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper. An Armen und Beinen schimmerte nackte Haut durch ein filigranes Gespinst feinsten Stoffes hindurch, und ihr schwarzes Haar floss lang und wallend über ihre Schultern und Brüste. Nubina war groß, größer als Zar’Toran und die meisten Männer im Raum, Medon vielleicht einmal ausgenommen, aber selbst das war es nicht, was ihrer Er-
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scheinung die Ausstrahlung einer wahren Herrscherin gab. Es war ihr Gesichtsausdruck - und der Blick ihrer leicht schräg gestellten Augen, mit dem sie Daart jetzt ruhig und gelassen musterte. Daart spürte, wie er schweißnasse Hände bekam. Es war warm in dem Festsaal und die Luft alles andere als frisch, aber das war es nicht. Es war das Gefühl, mitten in die Inszenierung einer absoluten Herrscherin zu platzen, die nichts weiter wollte, als ihre Macht zu demonstrieren, und nichts dagegen tun zu können, dass er ihrem Zauber erlag. Wer war er, sie bekämpfen zu wollen? Wie kam er dazu, auch nur im Entferntesten zu glauben, es je mit ihr aufnehmen zu können? »Sei mir willkommen, Daart«, sagte Nubina. »Es freut mich, dass du endlich zu deiner wahren Bestimmung gefunden hast.« Wahre Bestimmung? Daart hätte beinahe laut aufgelacht. Stattdessen brachte er kein einziges Wort heraus. »Sei dir gewiss: Wer sich in meine Dienste stellt, wird reich belohnt werden.« Ein zustimmendes Gemurmel ging durch den Saal, während über Zar’Torans Züge der Schatten eines Ärgers huschte, den Daart nur zu gut nachempfinden konnte. »Unsere Dienste«, korrigierte er mit seiner sonoren Stimme in die Menge hinein, »die Dienste derer, die dich zu Macht und Wohlstand führen werden.« Nubina nickte leicht, doch in ihren Augen blitzte es kurz auf. Daart war sich mit einem Male gar nicht mehr so sicher, ob der Feuermagier in diesem Bündnis wirklich so gleichberechtigt war, wie er glaubte. Er fragte sich, was passieren würde, wenn Nubina Zar’Toran nicht mehr brauchte. »Tritt näher, Daart«, fuhr Nubina fort. »Wir gewähren dir das Privileg, an unserem Tisch Platz zu nehmen und von hier aus dem Beginn der Erweckung beizuwohnen.« Daart zögerte. Er wollte nicht dorthin, wo Zar’Toran und Nubina saßen, er wollte keine privilegierte Stellung haben, deren Sinn und Hintergrund er nicht verstand, er wollte überhaupt nicht in diesem Saal sein und dem beiwohnen, was Nubina Erweckung nannte. Alles, was er sah und hörte, war darauf angelegt, ihn zu beeindrucken, ihn
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und die anderen Gäste, die sich hier versammelt hatten. Es war seltsam, aber während er zu Nubina emporsah, der strahlenden Erscheinung, für die das Wort Göttin in jeder Beziehung gerechtfertigt zu sein schien, musste er an Carnac denken. Er musste daran denken, wie sie sich in der Zeit ihres Kennenlernens wieder und wieder heimlich am Wasserfall unterhalb der Korona getroffen hatten, und daran, wie sie sich an einem ganz anderen Wasserfall in der unterirdischen Stadt Eternity geliebt hatten. Es war eigenartig: Er bekam Carnac nicht aus dem Kopf, hatte den Geruch ihres Haares in der Nase und den Geschmack ihrer Haut auf den Lippen, aber er sah ihr Gesicht nicht vor sich. Es war verschwunden, wie ausgelöscht, und alles, was er sah, war Nubina, die ihn mit einem hochmütigen und langsam ungeduldig werdenden Blick musterte. »Setz dich zu uns, Daart«, sagte sie noch einmal, ruhig aber mit so viel Kälte in der Stimme, dass Daart unwillkürlich aus seinen Gedanken aufschreckte. Er setzte sich wieder in Bewegung, langsam und widerstrebend, und als er die fünf Marmorstufen hochstieg, die zu der Empore führten, hatte er das Gefühl, etwas Unwiederbringliches zu tun. Nubina hatte es schon einmal geschafft, seine Gedanken und Gefühle einzufangen und ein Stück weit zu kontrollieren, und er würde auf der Hut sein müssen, wenn er verhindern wollte, dass ihr das wieder gelang. Der Tisch, an dem Zar’Toran und Nubina wie ein Herrscherpaar saßen, war nicht besonders groß. Am gegenüberliegenden Kopfende war ein freies Gedeck einladend hergerichtet, mit mehreren Gläsern, die sich in Größe und Form unterschieden, und unnötig viel Besteck, sauber aufgereiht auf beiden Seiten eines mit einem goldenen Wappen geschmückten Tellers, der größer war als zwei nebeneinander gelegte Handflächen eines Quorrl. Daart hatte so etwas noch nie gesehen. In den letzten Wochen hatte er mit den Händen gegessen, und davor, als er noch in Freiheit gewesen war, höchstens sein Messer benutzt, um eine Frucht zu zerteilen oder die Fische, Vögel und das Kleinwild zu zerlegen, von denen er und Carnac sich auf ihrer langen Reise von der Korona in den Süden und dann wieder zurück in nördlicher Richtung ernährt hatten. Messer und Gabel waren ein Luxus,
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das aber, was hier vor ihm lag, war reinste Verschwendung. »Bitte«, sagte Nubina und machte eine einladende Handbewegung. »Setz dich zu uns.« Daart gehorchte. Kaum hatte er den Stuhl erreicht, dem man ihm zugewiesen hatte, und auf ihm Platz genommen, als Zar’Toran auch schon in die Hände klatschte und mehrere Bedienstete herbeieilten. Einer von ihnen trug eine Karaffe mit Wein, ein anderer eine Platte mit Fleisch und ein weiterer ein silbernes Gefäß, in dem sich, so weit Daart erkennen konnte, verschiedene Beilagen befanden. Unverzüglich machten sie sich daran, die Teller der beiden Herrscher zu füllen, in einer strengen, fast zeremoniell wirkenden Reihenfolge und nicht, ohne sich zwischendurch immer wieder zu verbeugen und leise, fast demütig wirkende Worte zu murmeln. Daart betrachtete ihr Treiben eine Weile stirnrunzelnd, dann blickte er zu der großen Tafel, wo wieder hemmungslos gespeist und getrunken wurde, Das farbenprächtige Licht, das durch die großen Fensterflügel fiel, tauchte den Raum in seinen vielfältigen Widerschein, verzauberte die Gesichter und spiegelte sich in jeder reflektierenden Fläche - ein Strahlen und Gleißen, das keinen wirklichen Ursprung und schon gar kein Ende zu haben schien. Daarts Blick wanderte zur fensterlosen Wand hin, wo sich Medon und die anderen Leibgardisten mit verschränkten Armen und breitem Stand abwechselnd mit einer ebenso großen Anzahl schwarz gekleideter Krieger mit Silbermasken aufgebaut hatten. Während die Leibgardisten in ihren mattschwarzen Brustharnischen mit den aufgemalten, täuschend echt wirkenden Flammenwirbeln wie eine personifizierte Feuersbrunst aussahen, wirkten die Silberkrieger zwischen ihnen wie leblose Statuen. Aber Daart wusste, wie sehr der Eindruck täuschte. Er hatte Silberne wie sie kämpfen sehen und wusste, dass sie bestens ausgebildet, schnell und diszipliniert waren. Die Tafel, an der die Befehlshaber und Kriegsherren der Guhulan wie auch der Aralu saßen, bog sich fast durch unter dem Gewicht der Speisen, die man aufgetragen hatte; auch hier wieselten Bedienstete hin und her, um Becher nachzufüllen oder halb volle Teller abzuräumen. Daart ließ den Blick nur kurz über die Gesichter der Feiern-
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den schweifen. Sein erster Eindruck bestätigte sich. Sie langten zwar beim Essen und Trinken kräftig zu, aber es war keine befreite, fröhliche Stimmung, die sich unter ihnen breit gemacht hatte, sondern eher so etwas wie nervöse Anspannung. Nicht einer von ihnen erwiderte seinen Blick oder schaute auch nur verstohlen zur Empore hoch; es hatte beinahe den Anschein, als scheuten sich diese hochrangigen und kampferprobten Männer und Frauen, in Zar’Torans und Nubinas Richtung zu sehen. Wessen Gelächter Daart vorhin auch immer gehört hatte: Er bezweifelte, dass es von einem der Gäste stammte. Aber vielleicht hatte ja Nubina gelacht. Vielleicht hatte sie über die Vorstellung gelacht, dass er nun gleich erscheinen würde und sich von dem feurigen Schauspiel vor den Fenstern ihres Festsaals und von ihrer eigenen, blendenden Erscheinung fesseln ließ. Nachdem Nubinas und Zar’Torans Teller mit einer Auswahl köstlich duftender, dampfender Speisen gefüllt waren, wollten sich die Bediensteten ihm zuwenden. Daart winkte ab. Er hatte nicht vergessen, was in Nyingma passiert war. Jeder Schluck, den er hier trank, jeder Bissen, den er aß, konnte mit einer Substanz versetzt sein, die seine Sinne verwirrte und es Nubina leicht machte, ihn ganz nach ihrem Belieben zu manipulieren. »Aber bitte«, sagte der Mann fast verzweifelt, der eine saftige Bratenscheibe aufgespießt hatte und sie nun unglücklich über Daarts Teller schweben ließ. »Nur ein kleines Stück.« Daart sah wütend auf. Der Mann hätte ein Bruder des Knechtes sein können, der unten sein Pferd in Empfang genommen hatte, und in seinem Gesicht stand so aufrichtige Verzweiflung geschrieben, dass Daart schließlich widerstrebend nickte. Der Mann legte die Bratenscheibe so vorsichtig auf seinem Teller ab, als könnte er durch eine zu heftige Berührung in tausend Stücke springen, und schon war der nächste Bedienstete heran, der eine Scheibe fast weißen Fleisches hinzufügte, worauf jemand folgte, der eine würzig duftende Soße darüber goss, dann ein anderer, der eine Auswahl dampfenden Gemüses folgen ließ… Daarts Magen zog sich beim Anblick all dieser Köstlichkeiten schmerzhaft zusammen. Er musste wegsehen, was aber nicht viel
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nutzte, da ihm der Geruch der bestens aufeinander abgestimmten Speisen verführerisch in die Nase stieg. Am liebsten hätte er mit beiden Händen zugelangt, um sich als Allererstes die größte Fleischscheibe in den Mund zu stopfen, doch ganz abgesehen davon, dass hier andere Tischmanieren gefragt waren: Er hatte nicht die geringste Lust, sich zu einem wehrlosen Spielball der Hexenkünste Nubinas zu machen, nur weil er einen Augenblick schwach geworden war. »Noch ein wenig Brot zum Abschluss«, hauchte ihm eine Stimme ins Ohr. Daart wandte den Kopf. Fast wäre er vor lauter Überraschung zusammengezuckt. Es war ein Junge, der in seinem Rücken stand, keiner der braunhäutigen schmalen Gestalten, sondern jemand, den er nur zu gut kannte: Thross. Er war wie die anderen gekleidet, und im Gegensatz zu Daart hatte er sich vollkommen in der Gewalt, und in seinem Gesicht zuckte kein einziger Muskel. »Von dem Brot kannst du bedenkenlos essen«, flüsterte er ihm kaum hörbar ins Ohr. »Ich habe es selbst aus der Küche geholt. Genauso wie das Wasser, das man dir eingeschenkt hat. Aber meide alle anderen Speisen und Getränke.« Damit legte er ihm zwei große Scheiben dunklen Brotes auf die einzige noch freie Stelle seines Tellers und wich rückwärts gehend zurück, genauso elegant und unaufdringlich wie die anderen Bediensteten, und bevor Daart reagieren konnte, war er auch schon wieder verschwunden.
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Daart wäre am liebsten aufgesprungen und Thross hinterhergelaufen. Creeper kommen überall hin, hatte ihm der Junge gesagt, und trotzdem konnte Daart kaum glauben, dass er es bis hierhin geschafft hatte, in passender Verkleidung bis hin an den Tisch, an dem er gemeinsam mit Nubina und Zar’Toran saß. Die Haare des Jungen waren kürzer geschoren, als er es in Erinnerung gehabt hatte, was durchaus sinnvoll war; als Daart ihn zum letzten Mal gesehen hatte, waren sie vom Höllenfeuer der Guhulan versengt. Und trotzdem: Irgendetwas war merkwürdig an dieser Begegnung.
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Als er sich wieder umdrehte, begegnete Daart Nubinas Blick. In ihren Augen glomm etwas, das ihm gar nicht gefiel, vielleicht das erste Anzeichen von Misstrauen. Doch als Daart mit einem Seufzer auf den riesigen, voll gefüllten Teller auf dem Tisch vor sich blickte, lächelte sie leicht. »Greif nur tüchtig zu«, sagte sie. »Du musst ja vollkommen ausgehungert sein.« Daart nickte. Er griff sich das nächstbeste Messer, besann sich dann gerade noch rechtzeitig und nahm mit der anderen Hand eine Gabel, um sie schwungvoll in das große Bratenstück zu stechen. Die braune Soße spritzte so hoch wie Dreck aus einem Schlammloch, durch das ein schwer beladener Leiterwagen donnerte, und einen Moment später war alles um Daart herum mit feinen braunen Sprenkeln übersät. Nubina nahm eine kostbare Serviette auf und tupfte sich einen braunen Spritzer über ihrer rechten Augenbraue weg. Sie lächelte nicht mehr. Daart murmelte eine Entschuldigung und legte das ungewöhnliche Besteck wieder aus den Händen. Er versuchte, möglichst zerknirscht zu wirken, als er mit der Hand nach dem Brot griff, das ihm Thross auf den Teller gelegt hat. »Ich fürchte, meine Essmanieren haben in den letzten Wochen gelitten«, sagte er mit einem Kopfnicken in Zar’Torans Richtung. »Es war eine anstrengende Reise. Vor allem das letzte Stück des Weges. Ist eigentlich Euer Heer schon eingetroffen?« Nubina zog eine Augenbraue nach oben. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.« »Nun«, Daart biss in das Brot und kaute ganz langsam. Der Symbiont in seiner Kehle rührte sich, und Daart verzog das Gesicht bei dem Gedanken, was gleich passieren würde. Es war tatsächlich möglich, mit dem Symbionten in der Kehle zu essen, aber nur ganz langsam und in wirklich kleinen Bissen. Wenn sich der Symbiont jedoch an einem Teil der Nahrung gütlich tat, wurde das Herunterschlucken zur reinsten Qual. »Nun… was?«, fragte Nubina ungeduldig. Daart fuhr sich mit der Hand über den Mund, um den Ekel nicht
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allzu deutlich zu zeigen, der ihn erfasst hatte, und nickte langsam. »Zar’Toran war so freundlich, mir das eine oder andere zu erklären. Aber ich muss sagen, er hat untertrieben. Die Stadt ist noch größer und schöner, als er sie mir geschildert hat.« Nubina fuhr zu Zar’Toran herum. Der Feuermagier setzte hastig das Weinglas ab, das er gerade an die Lippen hatte führen wollen. »Er war schon früher so«, sagte er zu Nubina. »Wenn er nicht weiterweiß, redet er Unsinn.« Nubina sagte kein Wort, aber der Blick, mit dem sie Zar’Toran maß, nötigte ihn dazu, noch hinzuzufügen: »Ich habe ihn wirklich noch nicht eingeweiht. Schließlich wollten wir das heute gemeinsam tun.« »Ah, ja, ich erinnere mich, dass du es erwähntest. Und natürlich auch, dass du mich batest, nicht vorzeitig auszuplaudern, dass du mich schon eingeweiht hast.« Daart schmatzte genüsslich und lehnte sich so weit wie möglich auf seinem Stuhl zurück. »Entschuldige meine kleine Ungeschicklichkeit. Aber alles in allem glaube ich tatsächlich, dass wir noch einmal über alles reden müssen, was du mir so ganz nebenbei angetragen hast.« Er warf einen Blick in die Runde, als müsste er sich davon überzeugen, dass kein anderer zuhörte. Dabei war es natürlich Thross, nach dem er Ausschau hielt. Aber er konnte ihn im Gewimmel der Bediensteten nicht entdecken. Mit einer etwas zu kraftvollen Bewegung riss er ein weiteres Stück Brot ab - und starrte auf einen kleinen Zettel, der halb unter der Brotkruste verborgen war und doch so verräterisch aufblitzte, dass er schnell die Faust um ihn schloss. »Du scheint dich ja schon eingehend mit Daart unterhalten zu haben.« Nubina griff nach einer Stange Salzgebäck, packte sie mit beiden Händen und brach sie mit einem Ruck entzwei. Daart zuckte unwillkürlich zusammen und sah hoch. Der harte Zug um Nubinas Augen zeugte davon, dass sie nicht allerbester Laune war, aber immerhin sah sie nicht ihn an, sondern Zar’Toran. »Ich dachte, wir hätten etwas anderes ausgemacht.« Daart drehte die Faust so weit, bis er das entziffern konnte, was auf den Zettel gekritzelt war. Es waren nur zwei Worte und der Beginn
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eines weiteres Satzes: Trau niemandem. Und vor allem nicht… Na prima, dachte Daart, jetzt müsste ich nur noch wissen, vor wem genau mich Thross warnen wollte. Mit einer hastigen Bewegung führte er den Zettel zum Mund und schluckte ihn mitsamt einiger Brotkrumen nach unten. Erst dann sah er wieder auf. »Ich hoffe doch, dass du unsere Abmachung nicht mit Füßen treten willst«, sagte Nubina gerade, und ihre Stimme klang dabei so kalt, dass jeder durchschnittliche Mann wohl allein durch ihren Tonfall eingeschüchtert gewesen wäre. Zar’Toran dagegen drehte das Weinglas nachdenklich in seinen Fingern. Als er wieder zu Nubina hochsah, umspielte ein wölfisches Lächeln seine Lippen. »Das ist richtig. Und es ist wichtig, dass wir uns an unsere Abmachungen halten. So wie ich das übrigens auch in diesem Fall getan habe.« Er wandte sich mit einem Ruck zu Daart um. »Wir haben tatsächlich ein Angebot für dich.« Daart nickte, griff nach einem Glas, um den Zettel herunterzuspülen, der irgendwo neben dem Symbionten in seiner Kehle hängen geblieben war, und setzte es wieder ab, als er bemerkte, dass es Wein enthielt. Thross hatte ihm gesagt, dass er nur Wasser trinken sollte. Er würde sich daran halten. »Ich habe dich sorgfältig ausgewählt«, sagte Zar’Toran, »und keine Mühen gescheut, um dir die passende Ausbildung zukommen zu lassen.« »Ja.« Daart räusperte sich krampfhaft. »Natürlich.« Er schluckte ein paar Mal, und endlich glitt der Zettel weiter seine Kehle hinab. »Ich bin durch Schlamm gewatet«, fuhr er fort, nachdem er sich kräftig geräuspert hatte, »müsste schon als Achtjähriger nur mit einem Stock und ein paar Steinen bewaffnet auf die Jagd gehen und habe nur mit viel Mühe eines deiner Feuerrituale überlebt.« Zar’Toran nickte ernsthaft. »Das alles ist richtig. Nur dein Tonfall gefällt mir nicht. Er zeigt mir, dass du nicht verstanden hast, warum ich dich auf Dornen statt auf Federn gebettet habe.« Er beugte sich ein Stück vor. »Oder glaubst du wirklich, du würdest noch leben, wenn ich dich zu einem Weichling erzogen hätte, der erwartet, dass man ihm jeden Tag eine warme Mahlzeit vorsetzt und ihm alle
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Schwierigkeiten aus dem Weg räumt?« Daart brach ein weiteres Stück Brot ab und blinzelte auf seinen Teller, in der Hoffnung, hier den Rest der Botschaft versteckt zu finden, die ihm Thross hatte zukommen lassen wollen. Zu seiner Enttäuschung sah er dort kein Papier mehr liegen. Ungeduldig, aber, wie er hoffte, nicht zu auffällig, pflückte er den Rest der Brotscheibe auseinander, ohne auch nur die geringste Spur eines Papierschnipsels zu entdecken. Währenddessen begann sein Magen fast schmerzhaft zu kneifen, und er wurde sich erneut des Hungers bewusst, der schon seit Tagen in seinen Eingeweiden wühlte. Kurz entschlossen stopfte er sich das größte Brotstück in den Mund und fing an zu kauen. »Dass du nicht antwortest, werte ich als Hinweis, dass du verstanden hast«, sagte Zar’Toran. »Ja.« Daart würgte den letzten Rest des Bissens an dem Symbionten vorbei, und dann spürte er es: etwas Hartes, Raues auf der anderen Seite der Beißwerkzeuge der Kreatur, über deren Art der Nahrungsaufnahme er lieber nicht zu intensiv nachdachte. Es bedurfte nicht viel Phantasie, um darauf zu kommen, dass es sich dabei um nichts anderes als den restlichen Fetzen Papier handelte, auf dem stand, wem er nicht trauen sollte. Zar’Toran kniff die Augen zusammen und musterte ihn misstrauisch. »Hast du Schluckbeschwerden?« »Nein. Ja.« Daart würgte fast, als sich der Symbiont träge, aber schmerzhaft bewegte. »Ich… ich habe nur schon eine ganze Weile… nichts mehr gegessen.« Zar’Toran winkte ungeduldig ab. »Lassen wir das. Ich will wissen, ob du verstanden hast, warum ich dich mit Härte und Strenge zu dem Krieger erziehen musste, zu dem du mittlerweile herangereift bist.« »Natürlich habe ich dich verstanden. Du hast mich und andere getestet. Wie viele waren es außer Pe’te? Zehn? Zwanzig? Dreißig?« Daart schüttelte den Kopf, als Zar’Toran etwas sagen wollte. »Ich will es gar nicht wissen. Tatsache ist jedenfalls, dass kaum einer die Erziehung überlebt hat, die du uns hast angedeihen lassen.« »Eine Auswahl wie in der Natur«, erwiderte Zar’Toran. »Die mächtigsten Alligatoren, die stärksten Drachen - sie alle sind nichts weiter
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als die Überlebenden in einem Auswahlprozess, den die meisten ihrer Geschwister schon die ersten Stunden nicht bewältigt haben.« »Das ist etwas anderes«, beharrte Daart. »Es mag etwas anderes sein«, fuhr ihm Nubina ins Wort. »Aber wir sind hier nicht zusammengekommen, um alte Familiengeschichten auszutauschen. Wir haben ein verlockendes Angebot für dich, Daart.« Sie lehnte sich zurück, und ein fast verträumtes Lächeln huschte über ihre Züge. »Wir werden dich an der Macht über Purgatory beteiligen, wenn du uns hilfst, den Feuertempel aus den Tiefen des Glutsees zu bergen.« Daart verschluckte sich jetzt doch. Seine Hand suchte nach einem anderen Glas als dem, das er gerade aufgenommen hatte, und ohne Nubina aus den Augen zu lassen, nahm er einen kräftigen Schluck. Es war Wein. Er begriff es in dem Moment, als er den fruchtig herben Geschmack auf seiner Zunge spürte, aber da war es schon zu spät. Mit einem harten Ruck setzte er das Glas wieder ab. »Was ist Purgatory?« »Es ist die Stadt, die wir hier geschaffen haben«, sagte Nubina. »Es ist das kostbarste Juwel unter den Metropolen Enwors. Die strahlendste und mächtigste Trutzburg, die die Sonne je beschienen hat.« »Und es war mein Glas, aus dem du getrunken hast«, bemerkte Zar’Toran in nörgeligem Tonfall. »Oh«, machte Daart erleichtert, denn er bezweifelte, dass Zar’Torans Glas mit einer sinnverwirrenden Substanz versetzt war. Jedenfalls nicht, wenn seine Guhulan aufmerksam genug waren, um Nubinas kleinen Eigenmächtigkeiten rechtzeitig zu begegnen. »Noch weiß kaum jemand von Purgatory«, fuhr Nubina fort. »Doch das wird sich bald ändern. Wir werden den entwürdigenden Zustand beenden, in dem Enwor seit Jahrtausenden verharrt. Wir werden den Zerfall aufhalten, der von all den kleinen und unwichtigen Reichen Besitz ergriffen hat wie Motten von einem alten Kleiderhaufen. Wir werden Enwor in neuem Glanz erstrahlen lassen. Und das Zentrum all dessen wird Purgatory sein.« Nubina hatte so eindringlich und voller Überzeugungskraft gesprochen, dass Daart sich eines Schauderns nicht erwehren konnte. Er
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zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sie an das glaubte, was sie sagte. Und das machte sie nicht ungefährlicher, ganz im Gegenteil. Er hatte Nubinas Skrupellosigkeit und Machtgier schon zur Genüge kennen gelernt. »Es liegt ganz an dir«, fuhr Nubina fort, »du kannst mit uns oder auch gegen uns sein. Aber wie auch immer du dich entscheidest: Denke daran, dass die Welt, in der du künftig lebst, von uns beherrscht sein wird.« Sie sagte uns, aber sie meinte nur sich selbst. Daart fragte sich, wie Zar’Toran nur so blind sein konnte. »Ich weiß immer noch nicht, was Ihr von mir wollt«, sagte er vorsichtig. Nubinas Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. »Das habe ich auch nicht erwartet.« Sie drehte sich ein kleines Stück zur Seite und winkte jemandem zu, und als Daart ihrem Blick folgte, sah er, dass Medon kurz und knapp nickte, sich von seinem Platz an der Wand löste und eilig davonging. Das wunderte ihn. Der Leibgardist gehörte zu Zar’Torans Männern, und er hätte nicht erwartet, dass Medon von jemand anderem als dem Feuermagier Befehle entgegennimmt. »Du hast uns schon viel Ärger bereitet, Daart«, sagte Nubina. »Läge es nur an mir, dann würde ich nicht einen Augenblick zögern, dir Bleikugeln an die Füße zu binden und dich an der tiefsten Stelle des Glutsees versenken zu lassen. Aber du hast einen mächtigen Fürsprecher.« Sie machte eine rasche Handbewegung zu Zar’Toran hin. »Und dieser will dir noch eine Gelegenheit geben.« Zar’Toran blickte versonnen in das rötlich schimmernde Licht, das durch das Fenster fiel und die Luft selbst zu durchtränken schien. Daart hatte keinen Blick dafür. Er versuchte in Zar’Torans Gesicht zu lesen, doch diesmal gelang es ihm nicht; der Feuermagier behielt seinen Ausdruck und seine Haltung bei, als hätte er Nubinas Worte gar nicht gehört. Daart wandte sich wieder Nubina zu. »Eine Gelegenheit wozu?«, fragte er bitter. »Noch mehr Menschen zu töten? Noch mehr Leid über das Land zu bringen, als Ihr es sowieso schon getan habt?« In Nubinas Gesicht zuckte kein Muskel, aber ihre rechte Hand umklammerte den Griff des Messers, das sie gerade hatte aufnehmen
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wollen, so fest, dass ihre Knöchel weiß und spitz hervortraten. »Du glaubst, du hättest einen Trumpf gegen uns in der Hand«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Aber da muss ich dich enttäuschen. Er befindet sich in unserem Besitz.« Daart blinzelte verständnislos. »Ich verstehe nicht ganz…« »Du warst mir schon immer zu Diensten«, sagte Nubina, und jetzt schwang ein leiser Triumph in ihrer Stimme mit, »aber es scheint dir nicht immer bewusst gewesen zu sein.« »Wenn Ihr dieses lächerliche Schauspiel in Nyingma meint…« »In Nyingma hast du genau das getan, was ich wollte«, unterbrach ihn Nubina. »Das habe ich nicht«, begehrte Daart auf. »Ihr habt versucht, mich gegen meine Gefährten aufzuwiegeln. Aber das ist Euch letztlich nicht gelungen.« »Letztlich bist du zusammen mit Carnac nach Eternity geritten, genau so, wie ich es wollte. Und letztlich hast du etwas geschafft, was zuvor niemandem gelungen ist: in die unterirdische Stadt der Alten einzudringen und dort das Amulett zu holen, als wärst du nichts weiter als ein verlängerter Arm meiner selbst.« »Ich bin von niemandem der verlängerte Arm«, sagte Daart mühsam beherrscht. Zorn brodelte in ihm hoch, ein elementarer, zügelloser Zorn, dem er am liebsten freien Lauf gelassen hätte. Bei ihrer einzigen und ihm heute noch unwirklich anmutenden Begegnung hatte Skar ihn beauftragt, das Amulett zu suchen und in Sicherheit zu bringen, aber er hatte ihn im selben Atemzug auch vor Nubina gewarnt, vor der Herrscherin der Aralu und der Göttin der Guhulan, von der höchst realen Frau, die zwei Welten vereinte, den Norden und den Süden, das Feuer der Guhulan und das der Aralu. Daart erinnerte sich nicht mehr an den genauen Wortlaut seiner Warnung, die er in Eternity ausgesprochen hatte, der Stadt, in der die Zeit selbst Kopf stand, doch ihr Sinn hatte sich tief in seine Seele eingenistet, dort, wo schon zuvor Misstrauen und Ablehnung gegen Nubina geherrscht hatten. »Ich sehe, du erinnerst dich«, sagte Nubina. »Das ist gut so. Es wird dir dabei helfen, die richtige Entscheidung zu treffen.«
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»Eine Entscheidung wozu?«, fragte Daart. »Das Amulett ist nicht mehr in meinem Besitz. Aber auch ganz offensichtlich nicht in Eurem.« Er machte eine kleine Pause, bevor er weiterfuhr: »Ich könnte Euch das Amulett also gar nicht geben, selbst wenn ich es wollte.« »Das wird auch nicht nötig sein«, sagte Nubina, und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Züge. »Du bist viel zu sehr auf das Amulett fixiert, Daart. Bist du mit Blindheit geschlagen, dass du nicht siehst, welches Wunder wir hier in Purgatory vollbracht haben? Begreifst du denn nicht, welche Macht mir gegeben ist, das alles hier zu schaffen, während das übrige Enwor im Staub liegt und sich windet wie ein törichter alter Mann, der nicht einsehen will, dass seine Zeit längst abgelaufen ist?« Das Schlimme an ihren Worten war nicht der höhnische Ton, in dem sie sie aussprach, sondern dass sie vollkommen Recht hatte. Enwor ging im Chaos unter, und nichts und niemand schien in der Lage zu sein, dem erfolgreich gegenzusteuern, weder die Herrscher der großen Städte wie Ikne und Endora noch die Satai oder die Prophetinnen. Purgatory war ein Wunder, und wer die Kraft hatte, innerhalb kürzester Zeit eine solche Stadt in einem entlegenen Winkel Enwors aus dem Boden zu stampfen, der verfügte über Möglichkeiten, über die sich Daart nicht einmal im Entferntesten eine Vorstellung machen konnte. Seine Kopfschmerzen meldeten sich zurück, diesmal aber so scharf und stechend, dass die Umgebung vor seinen Augen verschwamm. Er war sich der Ungeheuerlichkeit der Situation, in der er sich befand, mehr als deutlich bewusst. An einem Tisch mit Zar’Toran und Nubina, in ein Gespräch mit einer Frau verstrickt, die ihre Anhänger für eine leibhaftige Göttin hielten - das allein hätte schon genügt, um ihn in höchste Anspannung zu versetzen. Der strahlende, schimmernde Kuppelbau, auf den er blickte, das feurige Lohen in dieser unglaublichen Stadt zu seinen Füßen, das sich mit dem Morgenrot zu etwas völlig Neuem, bislang nie da Gewesenen verband - das war mehr, als er zu fassen in der Lage war. Er starrte hinaus, in das unfassbare Glosen, und spürte, wie es irgendetwas in ihm auslöste, etwas, das mächtig und fremd war, das auf das zu antworten schien,
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was sich vor ihm abspielte. »Ich möchte, dass du etwas für mich tust.« Nubina legte das Messer mit einem Ruck beiseite und beugte sich zu ihm vor, und das Feuer, das in ihren Augen funkelte, schien sich mit dem feurigen Glanz der Stadt zu verbinden, in dem sich Daart zu verlieren drohte. »Du wirst hinabtauchen in den Feuertempel, genau zu der Stelle, die Zar’Toran dir noch beschreiben wird. Du wirst das Amulett in den Platz einfügen, wo es vor einer Ewigkeit entfernt wurde. Und du wirst dann genau das tun, was dir Zar’Toran aufgetragen hat, jeden einzelnen Schritt.« Daart drehte den Kopf in ihre Richtung. Mit jedem Herzschlag hämmerte ein scharfer, fast unerträglicher Schmerz durch seinen Kopf. »Und was passiert dann?« »Ich denke, das weißt du so gut wie ich.« Nubina lehnte sich wieder zurück. »Aber ich sage es dir gern.« Sie hob die Hände ein Stück, und das Funkeln in ihren Augen verstärkte sich noch. »Der Tempel hebt sich aus den Fluten des Glutsees, wo er vor unendlicher Zeit versunken ist. Er erhebt sich in der alten Pracht und im Angesicht Purgatorys. Er ist das Zentrum der Welt und der Macht des Feuers, das einst von den Sternen fiel und von unseren Vorfahren gebändigt wurde. Wir müssen nichts weiter tun, als uns zu nehmen, was uns ohnehin gehört. Und das Feuer wird über unsere Feinde kommen und ihre Städte ausradieren.« Das Schreckliche daran war, dass Daart ihr glaubte. Es passte nicht nur zu dem, was er in Nyingma mit eigenen Augen gesehen, sondern es passte vor allem auch zu den Worten des Ältesten, die dieser über die Waffen der Alten verloren hatte. Sie konnten mit einem Fingerschnippen ganze Landstriche verwüsten… Es gab keine fürchterlichere Vorstellung als die, dass Nubina und Zar’Toran über solche Gewalten gebieten könnten. Und sie waren tatsächlich der Meinung, dass er bereit sein würde, ihnen bei der Beschaffung solch schrecklicher Waffen zu helfen, die sie mit Hilfe des uralten Feuertempels kontrollieren wollten? Das war lächerlich. »Aber warum das Ganze?«, fragte er. »Welchen Sinn hat es, das Feuer gegen die Städte Enwors zu führen, wenn es doch jetzt schon
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niemanden mehr gibt, der es mit Euch aufnehmen kann?« Nubina griff wieder nach dem Messer und spießte eine kleine Garnele auf, um sie dann auf der Messerspitze zu drehen und ganz genau zu betrachten. »Feinde«, sagte sie, »müssen vernichtet werden. Untergebene beherrscht.« Sie schob sich die Garnele in den Mund und kaute genussvoll. »Wir werden ein Zeichen setzen.« Zar’Toran stellte sein Glas mit einem solch harten Ruck ab, dass Wein überschwappte, und wandte sich zu Daart um. »Wir werden zeigen, was mit denjenigen passiert, die sich uns zu widersetzen wagen. Es wird ein neues, gewaltiges Reich auf der Asche derer entstehen, die die Hand gegen uns erhoben haben. Wir werden alles Kranke und Schwächliche ausmerzen, Stadt für Stadt in die Knie und Königreich auf Königreich unter unsere Knute zwingen. Von jetzt an gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: entweder sich uns anzuschließen oder einen grauenvollen Tod zu sterben.« Daart hätte nichts lieber getan, als laut und spöttisch aufzulachen, aber diese Reaktion blieb ihm im Halse stecken. Noch vor kurzem hätte er Zar’Torans Bemerkung keine allzu große Bedeutung beigemessen, doch hier, im Angesicht eines von Nubina und Zar’Toran selbst geschaffenen Weltwunders, konnte er nicht anders, als jedes ihrer Worte und jegliche Drohung ernst zu nehmen. Ganz abgesehen davon, dass der Prozess schon längst begonnen hatte, der Enwor in den Untergang trieb. Daart spürte, wie sich seine Kopfschmerzen ins fast Unendliche steigerte, als er versuchte, die Dinge, die er gerade erfahren hatte, in Einklang mit dem zu bringen, was ihm der Älteste berichtet hatte. »Was nutzt es, Menschen knechten zu wollen, die gerade Hungers sterben?«, fragte er. »Was nutzt es, eine Welt mit Feuer zu bedrohen, die im Ghaos versinkt?« Nubina lachte humorlos auf. »So, tut sie das?« Sie nahm ein Stück Brot zur Hand. »Nehmen wir einmal an, das sei Enwor: Dann, würde ich sagen, sieht es im Augenblick so aus…« Sie zerrieb das Stück Brot zwischen Daumen und Zeigefinger. »Eine ziemlich gespenstische Sache, nicht wahr? Wir führen keinen Krieg, wir bedrohen kei-
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ne Stadt und kein Land - und trotzdem bekommt ganz Enwor schon jetzt unseren Zorn zu spüren.« Daart blinzelte nervös, was Nubina als Aufforderung verstand, weiter zu sprechen. »Jetzt willst du bestimmt wissen, wie wir das machen. Aber das werde ich dir nicht auf die Nase binden. Nur eines kann ich dir sagen«, sie machte eine schnelle Handbewegung, und plötzlich, wie durch Zauberei, hielt sie wieder ein Stück Brot in der zuvor leeren Hand - ein unversehrtes. Daart hatte nicht gesehen, wie sie das gemacht hatte, aber darauf kam es auch nicht an. Es war wahrscheinlich nur ein billiger Taschenspielertrick. Entscheidend war, was sie ihm damit sagen wollte. »Es steht jederzeit in meiner Macht, Enwor im Chaos zu zerreiben oder Enwor zu stabilisieren«, sagte Nubina selbstgefällig. »Und nun sieh, was ich mit einem Flecken Enwor machen kann, der mir nicht gehorcht.« Sie hielt das Stück Brot an eine Kerze. Es zischte kurz auf, und dann zog Nubina das Brot auch schon wieder zurück. »Die Flamme hat die Aufständischen verzehrt. Eine Stelle Enwors ist verbrannt, doch der Rest ist stabiler als je zuvor.« So einfach die Demonstration auch war, so beeindruckend war sie auch. Daart rieb sich über die Stirn, als könnte er so das Pochen in seinem Kopf besänftigen. Es funktionierte nicht. »Was ich mit einer Stadt oder einem Land tun kann, kann ich auch mit einzelnen Menschen tun«, sagte Nubina. »Nehmen wir also einmal an, das Stück Brot sei nicht mehr Enwor - sondern es sei deine Gefährtin. Wie du weißt, befindet sie sich in meiner Gewalt.« Wieder hielt Nubina das Brot in die Kerze, diesmal jedoch länger und genau über die Mitte der Flamme. Das Brot wurde schwarz, und die Flamme fraß sich aus der Mitte heraus durch. Daart spürte, wie sich auf seiner Stirn Schweißperlen bildeten. »Hört auf«, sagte er. »Ich habe auch so verstanden, was Ihr mir sagen wollt.« Nubina hielt das mittlerweile lichterloh brennende Stück Brot noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Hitze schien ihr nichts auszumachen, ganz im Gegenteil. Sie lächelte vergnügt und ließ den Brotrest erst fallen, als er fast vollständig verbrannt war. Dabei schien es sie nicht zu kümmern, dass sich ein paar Funken
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durch die Tischdecke hindurchfraßen. »Das Prinzip ist immer dasselbe«, sagte sie. »Den Rest macht die präzise Vorbereitung aus. Und allein dadurch sind wir unschlagbar.« »Das ist… ekelhaft«, sagte Daart angewidert. »Wie könnt Ihr nur glauben, dass ich Euch dabei unterstütze?« Nubinas Augen verengten sich zu Schlitzen. »Es ist mir ein Leichtes, deine Gefährtin zu holen und sie über eine etwas größere Flamme als dieses Kerzenlicht halten zu lassen. Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, bis sich das Feuer durch ihren Bauch frisst. Wann, glaubst du, wird sie anfangen zu wimmern? Erst, wenn ihr schon fast die Sinne schwinden, oder etwa schon, wenn ihr der Geruch ihres eigenen verbrannten Fleisches in die Nase steigt?« Daart musste gegen den Impuls ankämpfen, aufzuspringen, sein Schwert zu ziehen und es Nubina mitten durch das überhebliche Lächeln zu schlagen. »Ich bin Satai«, sagte er verächtlich. »Wie könnt Ihr da glauben, mich mit einer solch plumpen Drohung einschüchtern zu können?« »Du bist Satai?« Nubina zog eine Augenbraue nach oben. »Ich halte diese Aussage, ehrlich gesagt, für vermessen. Immerhin trägst du das Gewand eines Guhulans.« »Ich trage das, was man mir gegeben hat«, sagte Daart. »Die Hose eines Satais und das Gewand eines Guhulans.« In Nubinas Stimme klang mehr als nur verhaltener Spott mit. »Und was ist mit deiner Seele? Welche Sprache spricht diese?« Daart hatte nicht die geringste Ahnung, worauf sie hinauswollte. »Wenn du tief in dich hineinhörst, wirst du feststellen, dass du weder das eine noch das andere bist. Du wirst feststellen, dass in dir eine ganz andere Leidenschaft brennt als die, die dich von den Guhulan zu den Satai geführt hat.« »Ich verstehe nicht, was das jetzt soll«, sagte Daart ärgerlich. »Für einen Satai zählt nicht die Herkunft. Es zählt nur das, woran wir glauben: unsere Regeln und unser Ehrenkodex.« »Deine Regeln und dein Ehrenkodex sind die einer untergehenden Welt, Daart«, polterte Zar’Toran. »Du wirst sie über Bord werfen müssen, wenn du nicht alles verlieren willst, was dir wichtig ist.«
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Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Auch ohne Feuermantel wirkte er imposant, wie er so vor Daart stand und aus seinen fast schwarzen Augen auf ihn hinabblickte, in denen Zorn funkelte, die Art triumphierenden Zorns, die Daart am meisten an ihm verabscheute und die er in jungen Jahren mehr gefürchtet hatte als alles andere. Daarts Herzschlag beschleunigte sich, als er Zar’Toran so vor sich stehen sah. Mit einem Ruck stand er ebenfalls auf. »Lass mir meine Regeln und meinen Ehrenkodex«, sagte er mühsam beherrscht. »Wenn sie tatsächlich zu einer untergehenden Welt gehören sollten, dann werde ich mit ihnen untergehen. Aber daran glaube ich nicht.« »Du wirst noch daran glauben. Ich werde dich zwingen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.« Zar’Toran wandte sich um und deutete hinaus auf den Ausschnitt Purgatorys, den sie von hier aus im Blickfeld hatten. »Das hier ist die neue Welt. Hier werden die Gesetze gemacht und die Regeln aufgestellt, nach denen sich künftig jeder richten muss, egal wie sehr das auch seinen Stolz kränken mag. Wir werden Enwor in alter Größe erstrahlen lassen.« Daart verbiss sich jede Antwort. Der Symbiont schien seine Erregung zu spüren, denn er wand sich unruhig, aber Daart bemerkte es kaum. Er schloss sich Zar’Toran an, als dieser ihm auffordernd zuwinkte und die kleine Treppe in den Festsaal hinunterging. Während er sich bemühte, zu ihm aufzuschließen, wurde aus seinen Kopfschmerzen etwas anderes, Schlimmeres: eine Art böser Vorahnung, wie er sie erst einmal gehabt hat, am Vorabend von Pe’tes Tod, als sie auf dem Weg zu dem Feuertempel nahe ihrem Heimatdorf unterwegs gewesen waren. Damals wie heute spürte er die besondere Ausstrahlung Zar’Torans, die Aura von Macht und Skrupellosigkeit, die diesen Mann wie ein schützender Panzer umgab. Nur am Rande bekam er mit, wie sich Gesichter neugierig oder sogar ein bisschen ängstlich in ihre Richtung drehten, wie hinter ihrem Rücken getuschelt wurde, verhalten und so leise, dass er nicht mehr als unzusammenhängende Worte mitbekam. Es war Unruhe, die den Saal erfasst hatte, die Unsicherheit vor dem, was Zar’Toran mit ihm, dem Fremden, vorhatte - und vielleicht auch die Unsicherheit über das,
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was dieser gerade erst beginnende Tag für jeden Einzelnen der hochrangigen Aralu und Guhulan noch bringen würde. Zar’Toran steuerte nicht die Tür an, durch die Daart den Saal betreten hatte, sondern einen kleinen, unauffälligen Seitenausgang. Daart erinnerte sich daran, dass Medon kurz zuvor an dieser Stelle den Raum verlassen hatte. Sein ungutes Gefühl verstärkte sich. Bislang hatte sich Zar’Toran schnell und kraftvoll bewegt, doch nun wurde er langsamer, und bevor er den Vorhang beiseite schob, drehte er sich zu Daart um und nickte ihm kurz zu. »Denke immer daran, dass ich dich sorgfältig ausgewählt und unterrichtet habe«, sagte er leise. »Ich werde nicht zulassen, dass du meine Investition in dich leichtfertig aufs Spiel setzt.«
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Zar’Toran hatte ihn durch ein Gewimmel von Gängen geführt, bis sie schließlich eine schwere, von zwei Leibgardisten bewachte Eisentür erreicht hatten. Nachdem einer der Männer diese Tür geöffnet hatte, packte Zar’Toran Daart an der Schulter und schob ihn an sich vorbei. »Stolpere nicht«, zischte er ihm ins Ohr, als Daart genau auf seiner Höhe war. Es war eine Brüstung, auf die er ihn hinausschob; ein tiefes Loch tat sich unter ihm auf, kreisrund und mehr als zehn Pferdelängen breit. Daarts Herz krampfte sich zusammen, als er sah, was sich unter ihm befand. Zuerst glaubte er, in das Netz einer riesigen schwarzen Spinne zu blicken, die im Zentrum kräftig gewobener Fäden hing, begierig darauf, sich auf das Opfer zu stürzen, das so leichtsinnig war, in ihr Netz zu fallen. Daart drohte vornüber zu kippen und musste mit beiden Händen um sein Gleichgewicht kämpfen. Die Brüstung, auf die ihn Zar’Toran hinausgeschoben hatte, war schmal und ohne Geländer, und von unten her schlug ihm ein so heftiger Windzug entgegen, als tobte in der Tiefe ein entfesselter Sturm, dessen Ausläufer bis hier nach oben reichten. »Was soll das?«, brüllte er Zar’Toran zu, als dieser neben ihn trat. Zar’Toran machte sich nicht die Mühe, sich irgendwo festzuhalten, ganz im Gegenteil. Er beugte sich so weit vor, dass Daart schon
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Angst hatte, er werde nach vorn stürzen und ihn ihm letzten Moment packen, um ihn mit sich in die Tiefe zu reißen. »Ich wünschte mir, ich hätte schon früher über solche Möglichkeiten verfügt.« Er drehte sich mit wehenden Haaren zu Daart um. »Vieles wäre einfacher gewesen. Ich hätte sicherlich mehr als nur zwei viel versprechende Kandidaten gefunden.« »Was?« Daart tat es Zar’Toran nach und beugte sich ebenfalls ein Stück vor. Der scharfe Luftzug, der ihm jetzt ungeschützt entgegenblies, sprang ihn mit der Gewalt eines angreifenden Raubtieres an, und für einen Moment kämpfte er um sein Gleichgewicht, bevor er einen einigermaßen stabilen Stand fand. Zuerst konnte er fast gar nichts erkennen. Unter ihm brannte kein Feuer, wie sonst fast überall in der Stadt; dort herrschte tiefe, dunkle Schwärze, und auch das Morgenrot konnte hier seinen Zauber nicht entfalten, da es von den kreisrunden Mauern abgeschirmt wurde, die sich bis weit hinauf erstreckten. Daart war es unmöglich abzuschätzen, wie tief der Schlund reichte, der sich unter ihm auftat. Aber das war auch nicht das, was ihn im Augenblick interessierte. Es war die Gestalt inmitten des Spinnennetzes. »Hätte es Purgatory schon vor Jahren gegeben und hätte ich die Ausbildung auf einer anderen Ebene betreiben können, so hätten weniger Zöglinge von mir sterben müssen«, antwortete Zar’Toran auf die Frage Daarts, die er selbst schon längst vergessen hatte. »Und ich hätte jetzt eine größere Auswahl gehabt. So aber läuft letztlich immer alles auf dich hinaus.« Er seufzte. »Ich werde es wohl akzeptieren müssen, dass ich mit dir Vorlieb nehmen muss.« Daart hätte eine ganze Menge zu dem zu sagen gehabt, was Zar’Toran in seiner Überheblichkeit von sich gab. Aber er verschwendete nicht einen Augenblick an das Geschwätz des Magiers. Denn jetzt, nachdem sich seine Augen einigermaßen auf die Dunkelheit eingestellt hatten, erkannte er etwas im Innern des Schlundes, was ihm schier den Atem raubte. Es war eine schwarze, zierliche Gestalt inmitten des im kalten Luftzug tanzenden Netzes, unzweifelhaft eine Frau, gekleidet in ein eng
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anliegendes und trotzdem im Wind flatterndes Gewand. Sie hatte Carnacs Figur, und sie war auch genauso groß, und obwohl er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, weil es ihm abgewandt war und er kaum mehr als ihren Rücken, die Beine und die langen schwarzen Haare sehen konnte, die im Wind flatterten, war er sicher, dass es die Frau war, mit der er seit mehr als zwei Jahren fast jeden Tag verbracht hatte, die Frau, die ihm näher stand als jeder andere und für die er Gefühle entwickelt hatte, welche ihm manche schlaflose Nacht bereitet hatten. Es sah beinahe so aus, als wäre sie bewusstlos, zumindest rührte sie sich nicht, doch dann bemerkte Daart, dass sie gefesselt war - mit Stricken, die ebenso schwarz waren wie ihre Kleidung und deshalb von hier oben aus fast nicht zu entdecken waren. Daart hielt nach jeder kleinsten Regung Ausschau, nach einem Hinweis, der ihn sicher sein lassen konnte, dass sie nicht tot oder bewusstlos war. Aber vergebens. Sie hing leblos in diesem riesigen Netz, das unruhig in der Luftströmung hin und her schwang, ein Spielball der Gewalten, denen es vielleicht nicht mehr lange standhalten würde. Der scharfe Wind trieb ihm eine Träne in die Augen, und fröstelnd zog er sich so weit zurück, wie es auf der schmalen Brüstung möglich war. »Was ist mit ihr?«, fragte er heiser. »Ja, richtig, das Amulett«, sagte Zar’Toran gegen das Toben des Sturms an. »Gut, dass du danach fragst.« Daart riss den Blick von Carnac los und starrte Zar’Toran wütend an. »Was mit ihr ist, habe ich gefragt!« »Du hast freundlicherweise das Amulett aus Eternity für uns geholt«, sagte Zar’Toran. »Doch dann warst du wohl der Meinung, mich gemeinsam mit Carnac austricksen zu können.« Er schüttelte in einer Geste gespielter Empörung den Kopf. »Wie konntest du nur!« »Ich kann noch viel mehr.« Daart deutete nach unten. »Hol sie hoch. Aber sofort.« »Oder… was?« Zar’Toran schüttelte abermals den Kopf. »Du verstehst nicht. Das Amulett ist für unsere Pläne wirklich wichtig.« »Selbst wenn ich es wollte«, sagte Daart heftig, »ich könnte es dir nicht geben. Ich habe es längst nicht mehr.«
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»Das weiß ich doch, mein lieber Daart«, sagte Zar’Toran in einem übertrieben liebenswürdigen Tonfall. »Und du brauchst dir darum wirklich keine Sorgen zu machen. Das Amulett wird schon sehr bald in unserer Hand sein.« Daart starrte ihn verständnislos an. »Was soll das heißen? Ich dachte, ihr hättet Carnac hier in diese demütigende Position gebracht, um mir das Amulett abzupressen?« »Siehst du, Daart, genau das ist dein Fehler«, sagte Zar’Toran. »Du glaubst Dinge zu wissen, die aber auch nicht im Geringsten zutreffen. Und dafür begreifst du ganz einfach nicht, welche Gelegenheit ich dir biete.« »Wie wollt ihr an das Amulett kommen?« »Jetzt, wo es nicht mehr in Eternity ist, ist das eine Kleinigkeit, um die du dir wirklich nicht den Kopfzerbrechen solltest«, sagte Zar’Toran. »Ich habe alles in die Wege geleitet, damit es uns rechtzeitig zur Verfügung steht.« Daart presste die Lippen aufeinander. Natürlich wollte er hinabtauchen, ganz, so wie es Zar’Toran von ihm verlangte, und er wollte, er musste das Amulett einsetzen, um den Tempel aus den Fluten steigen zu lassen. Dass er danach alles daran setzen würde, um den Sabotageplan des Ältesten in die Tat umzusetzen, konnte Zar’Toran nicht ahnen. Was er aber selbst nicht wusste, war, wie es der Älteste anstellen wollte, dass Zar’Toran das Amulett rechtzeitig in die Hände bekam, ohne dabei Verdacht zu schöpfen. Dies war der Schwachpunkt des ganzen verrückten Vorhabens, das der weißhaarige alte Büchernarr ihm angetragen hatte, ohne auch nur mit einem Wort Purgatory zu erwähnen und die vielen Wunder, die Nubina und Zar’Toran hier inmitten der Einöde geschaffen hatten. Was nun, wenn der Älteste gar nichts von dieser Stadt hier wusste? Was, wenn er sich viel zu sehr mit seinen Büchern beschäftigt hatte statt mit dem, was hier tatsächlich geschah? Seine Gedanken kreisten um diesen Punkt und drohten in den hämmernden Kopfschmerzen unterzugehen, die immer schlimmer wurden, statt nachzulassen. »Was willst du überhaupt von mir?«, fragte er heftig. »Warum verfolgst du mich seit frühester Kindheit?«
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»Ja, das ist eigenartig, nicht wahr?« Zar’Toran lachte kurz und humorlos auf. »Du bist ein unverbesserlicher Sturkopf und Querulant, und ich scheine nichts Besseres zu tun zu haben, als mich mit dir abzugeben. Aber glaube mir, das hat seinen guten Grund.« »Dann sag ihn mir endlich, verdammt noch mal!« Daart brüllte fast. »Ich bin es endgültig Leid, mit irgendwelchen blöden Sprüchen hingehalten zu werden!« »Als gut.« Zar’Toran zog den Kragen seines Gewandes so hoch wie möglich und nickte bekräftigend. »Irgendwann musst du es ja einmal erfahren.« »Was muss ich irgendwann erfahren?«, polterte Daart. Er war am Rand seiner Geduld. Alles in ihm zog ihn dorthin, wo Carnac gefangen in dem unruhig im Wind tanzenden Netz hing, aber er wusste keine Möglichkeit, zu ihr hinabzusteigen. Die Wände des Schachtes waren glatt und ohne Vorsprünge. Der verrückte Plan des Ältesten war ihm in diesem Moment vollkommen egal. Alles, was zählte, war, Carnac aus diesem Netz zu befreien, in dem sie wahrscheinlich schon seit Stunden hing, vielleicht bewusstlos, zumindest aber in einem erbarmungswürdigen Zustand, aus dem er sie so schnell wie möglich befreien musste. »Es ist deine Abstammung, Daart«, sagte Zar’Toran. »Du und all die anderen Kinder, um die ich mich gekümmert habe, stammen von einem ganz bestimmten, uralten Geschlecht ab.« Daart war so verdattert, dass er fast vergaß, wo er war. Sein rechter Fuß schwebte plötzlich über dem Abgrund, und er musste sein Gewicht schnell auf die andere Seite verlagern, um nicht abzustürzen. »Wovon redest du überhaupt? Ich bin Satai. Und es ist vollkommen unwichtig, von wem ich abstamme.« »Nein, das ist es nicht«, erwiderte Zar’Toran. »Ganz im Gegenteil. Es ist allein deine Abstammung, die dich zu etwas Besonderem macht.« »Ich habe nicht vorgehabt, irgendetwas Besonderes zu sein.« »Natürlich hast du das«, widersprach Zar’Toran. »Ist ein Satai etwa nichts Besonderes?« »Doch, natürlich. Aber darauf kommt es nicht an.«
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»Es kommt immer und ganz genau darauf an, ob man etwas Besonderes ist oder nicht«, sagte Zar’Toran. »Als ich anfing, war ich ein Feuermagier unter vielen. Das hätte ich auch bis zu meinem Lebensende bleiben können. Aber ich wollte mehr. Und ich bin mehr geworden. Viel mehr.« Daart spähte wieder hinab zu Carnac. Er brauchte ein Seil, das er irgendwo festbinden konnte, um sich dann zu ihr hinabzulassen aber er bezweifelte, dass Zar’Toran einer solchen Rettungsaktion tatenlos zusehen würde. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen. »Deine Vorfahren waren Elitekämpfer«, fuhr Zar’Toran fort. »Eine ganz andere Art von Kämpfer als die Satai, auf die du so viel hältst. Sie waren darauf trainiert, die größten Strapazen zu ertragen. Hitze, Durst, Kälte - all das ließ sie eher noch stärker als schwächer werden.« »Elitekämpfer?« Daart sah so hastig auf, dass ihm fast schwindelig wurde. »Was soll der Blödsinn? Ich weiß, woher ich stamme. Meine Eltern waren einfache Fischer. Sie starben kurz nach meiner Geburt, beide. Und ich kam zu einer entfernten Verwandten nach Guan.« »Und du bist dir wirklich sicher, dass deine Eltern einfache Fischer waren?« Daart starrte Zar’Toran schweigend an. Seine Eltern? Er hatte sich in vielen schlaflosen Nächten vorzustellen versucht, wie sie ausgesehen hatten und wie sie gelebt haben mochten. Eine ganze Weile hatte er einen irrationalen Zorn auf sie verspürt, weil sie so früh gestorben waren und ihn im Stich gelassen hatten. Dann, fast unmerklich, waren alle Wunschvorstellungen und inneren Vorwürfe in ihm verblasst und hatten etwas anderem Platz gemacht, einem fast wütenden Aufbegehren gegen sein Schicksal und gegen Zar’Toran, der in sein Leben eingebrochen war und sich angemaßt hatte, bei seinen wenigen Aufenthalten in Guan seinen Vater ersetzen zu wollen. »Ich bin mir nicht sicher, wer meine Eltern waren«, sagte Daart. »Wie könnte ich das auch? Ich kann mich nicht einmal an das Dorf erinnern, in dem ich geboren wurde.« »Das macht nichts«, sagte Zar’Toran leichthin. »Du wirst morgen
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Gelegenheit haben, es aufzusuchen. Wenn du willst, zeige ich dir sogar die Hütte, in der du geboren wurdest.« »Das Dorf ist hier? Es ist am Glutsee?« Daart schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube dir nicht. Man hat mir gesagt, dass sie an den Ausläufern der Sümpfe von Cosh gelebt haben, an einem kleinen, bedeutungslosen See.« »Wer hat dir das gesagt?« Daart starrte Zar’Toran fassungslos an. »Ich verstehe. So weit ich mich erinnern kann, warst du es, der mir von meinen Eltern erzählt hat - und niemand anderer.« Ein verrückter Gedanke schoss ihm durch den Kopf, und er fragte scharf: »Gibt es vielleicht noch andere Kleinigkeiten, die du mir verschwiegen hast?« »Ich verschweige dir doch nichts«, behauptete Zar’Toran. Daart deutete wütend nach unten. »Was soll dieses Gespräch hier, an diesem Ort, an dem du Carnac auf so makabere Weise gefangen hältst?« »Ich halte sie nicht gefangen. Ich sagte dir doch: Das war Nubinas kleiner Einfall.« Daart wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Ich habe nie in Frage gestellt, dass meine Eltern nicht mehr leben. Aber vielleicht war das ein Fehler.« »Keine Sorge«, sagte Zar’Toran spöttisch, und obwohl der Sturm ihm die Worte fast aus dem Mund riss, glaubte Daart, jedes einzelne Wort überdeutlich zu verstehen. »Deine Eltern sind tot. Und ich werde dir gern morgen alles Weitere erzählen, wenn wir ihr Heimatdorf erreicht haben.« »Und warum nicht hier und jetzt?« »Weil es dich auf eine vollkommen falsche Fährte locken würde. Du irrst, wenn du meinst, das Schicksal deiner Eltern sei der Schlüssel zu deinem eigenen Schicksal. Es ist etwas ganz anderes. Es ist die Summe der Eigenschaften, die dich ausmachen, die dich zu einem ganz besonderen Kämpfer machen. Eigenschaften, die dich so wertvoll machen für das, was wir zu vollenden haben.« »Wie kannst du immer noch der Meinung sein, dass ich dich freiwillig unterstützen könnte?«
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»Wer spricht denn von freiwillig?« Zar’Toran deutete nach unten, und in seiner Haltung veränderte sich etwas, sie wurde drohender. »Siehst du die Frau dort? Die schwarze, fest gebundene, wie leblos wirkende Gestalt? Deine Garnac?« »Natürlich.« Daarts Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Ihr Schicksal hängt an einem seidenen Faden«, fuhr Zar’Toran fort. »Und das nicht nur im übertragenen Sinne. Bei der geringsten zusätzlichen Belastung wird das Netz zerreißen und sie selbst hinabstürzen. Willst du das?« »Was soll das?«, fragte Daart scharf. »Wenn du mir drohen willst, kommst du zu spät. Ich bin kein kleines Kind mehr, das du einschüchtern kannst. Von mir aus töte mich oder Carnac, oder wen auch immer. Es spielt keine Rolle, Zar’Toran. Es spielt deswegen keine Rolle, weil ich mich nicht erpressen lassen werde, heute nicht, niemals.« Zar’Torans Miene verfinsterte sich. »Du musst mich für einen Dummkopf halten, wenn du glaubst, ich wüsste das nicht. Aber da ist auch etwas anderes in dir. Etwas, das meine Worte versteht, etwas, das weiß, dass Nubina und ich Recht haben. Es gibt keinen Weg zurück, den gibt es niemals. Wir können den Weg, der sich vor uns auftut, nur vorwärts gehen.« »Du glaubst tatsächlich, mich auf diese Weise überzeugen zu können, dass du den richtigen Weg eingeschlagen hast?« Daart deutete nach unten, zu seiner Carnac; einer verloren wirkenden Gestalt inmitten des Schlunds, der nur darauf zu lauern schien, sie zu verschlingen. Der von unten herantobende Wind zerrte an ihm, und er musste um einen festen Stand kämpfen, aber dennoch konnte er die Augen nicht von Carnac wenden, von ihrem schwarzen Haar, das von den Böen gepeitscht wurde. Nach wie vor sah er ihr Gesicht nicht, und doch glaubte er, ihre Qual und ihr Entsetzen zu spüren, und obwohl - oder vielleicht gerade weil - er sie nicht erreichen konnte, fühlte er sich ihr so nah wie selten zuvor. »Hol sie herauf. Sofort. Dann können wir weiterreden.« Zar’Toran starrte ihn eine Weile schweigend an. In seinem Gesicht spiegelte sich etwas wider, das Daart nicht zu deuten wusste. Der
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Wind schien eine endlose Zeit an seiner Kleidung zu zerren, bis er schließlich nickte. »Also gut. Ich werde sie heraufholen.« Daarts rechtes Augenlid begann zu zucken, ganz langsam und fast unmerklich, aber auch ohne dass er ihm Einhalt gebieten konnte. »Was?« »Ich glaube, du hast mich schon ganz richtig verstanden.« Zar’Toran atmete tief aus, ein Laut, der leiser war als der pfeifende und lärmende Wind und trotzdem erstaunlich gut zu hören. »Ich werde sie nach oben holen, wenn du willst. Aber überlege es dir gut. Es lässt sich nicht wieder rückgängig machen.« »Ich verstehe nicht ganz.« Daarts Herzschlag beschleunigte sich, und er spürte ein ungutes Kribbeln im Bauch. Irgendetwas ging hier vor, was er nicht verstand. »Was hast du vor?« »Das zu tun, worum du mich gebeten hast.« Zar’Torans Gesicht verriet noch immer keine Regung. Daart wurde immer mulmiger zumute. »Aber ich warne dich nochmals: Es wird sich nicht mehr rückgängig machen lassen.« Daart musste sich beherrschen, um nicht vorzuspringen, Zar’Toran zu packen und ihn ein bisschen durchzuschütteln. »Was hast du vor?«, fragte er nochmals, fast schreiend, und doch hatte er das Gefühl, als erreichte seine Frage Zar’Toran gar nicht. »Du bist dir also sicher?«, fragte Zar’Toran. »Ich soll sie heraufholen? Und du wirst dafür für mich in den Feuertempel hinabtauchen und Nubinas Amulett an der Stelle platzieren, die ich dir beschreiben werde?« Das Pochen in Daarts Brust verstärkte sich. »Ich denke ja gar nicht daran. Warum sollte ich das tun?« »Eine wirklich gute, vielleicht die einzige Frage«, sagte Zar’Toran ruhig. »Es gibt nicht viele Menschen auf Enwor, die dort hinab tauchen könnten. Du bist hier im Augenblick der Einzige, der die geheimen Kräfte des Amuletts beschwören kann, das Flüstern, das ihm innewohnt und das sich zu einer unbändigen Kraft steigern wird, wenn du es erweckst.« »Umso besser. Dann brauchst du mich ja gar nicht.« »Nein. Das tue ich nicht.« Zar’Toran wandte sich von ihm ab und
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deutete nach Norden, in die Richtung, in der der Glutsee lag. »Dort liegt der Feuertempel. In drei Tagen ist Vollmond. Es wäre der richtige Zeitpunkt, um die alte Macht des Tempels wiedererstehen zu lassen. Der richtige Zeitpunkt, um das zu vollenden, was wir vor vielen Jahren begonnen haben.« Er drehte sich erneut zu Daart um. »Und genau dafür brauche ich dich. Wenn du mir nicht zu Diensten bist, werde ich eine andere Lösung finden. Nicht, weil du der Einzige bist, der das vollenden könnte, was wir begonnen haben. Sondern weil es darum geht, so schnell wie möglich ein großes Unheil von ganz Enwor abzuwenden. Deswegen haben wir bereits die Zeremonie der Erweckung eingeleitet, und deswegen musst du uns helfen, in drei Tagen das zu vollenden, was getan werden muss, um all die unschuldigen Menschen zu retten, die sonst einen sinnlosen Tod sterben werden.« »Erzähl mir nicht von irgendwelchem Unheil«, sagte Daart scharf. »Hol endlich Carnac dort raus!« Zar’Toran starrte ihn eine ganze Zeit lang schweigend an, und das, was sich in seinen dunklen Augen spiegelte, erinnerte Daart auf fatale Weise an den Blick des Ältesten, mit dem er ihn bei ihrem Abschied gemustert hatte. »Ganz wie du willst. Aber beschwere dich nicht über das, was danach geschehen wird.« Zar’Toran riss beide Hände nach oben, als wollte er eine Beschwörung einleiten. Aber es war wohl nicht mehr als ein Zeichen für seine Männer. Nachdem er die Hände wieder gesenkt hatte, öffneten sich vier Türen in der steinernen Umrandung, die den Schlund einfasste, und Leibgardisten traten aus bislang verborgenen Gängen hervor, in jedem Ausgang einer. In den beiden von einem leisen Lichtschein erhellten Öffnungen, die ihn und Zar’Toran einrahmten, waren es Männer, die ihm gänzlich unbekannt waren, aber auf der gegenüberliegenden Seite erkannte er im schwachen Zwielicht ausgerechnet Medon und seinen Waffengefährten Karsin. Daart hätte erwartet, dass zumindest Medon zu ihnen hinübersehen würde, aber er hatte sich getäuscht. Weder er noch einer der anderen Männer warf auch nur einen flüchtigen Blick in ihre Richtung. Als hätten sie dieses Manöver tausendmal eingeübt, gingen sie gleichzeitig in die Hocke.
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Ungeachtet des scharfen Windes, der ihnen von unten entgegenschlug, machten sie sich an irgendetwas zu ihren Füßen zu schaffen, das Daart nicht genau erkennen konnte. »Wenn alles gut geht, werden sie sie jetzt nach oben ziehen«, sagte Zar’Toran so leise, dass Daart ihn kaum verstand. »Hattest du nicht gesagt, dass das Netz keine zusätzliche Belastung verträgt und jederzeit reißen kann?«, fragte Daart beunruhigt. »Ja.« Zar’Toran zuckte mit den Schultern. »Aber es wird schon alles gut gehen. Medon und die anderen wissen, was zu tun ist.« Daart hatte nicht nur in dieser Beziehung seine Zweifel. Mit klopfendem Herzen sah er zu, wie sich Medon noch ein Stück weiter vorbeugte. Der Wind riss an seinem Oberkörper, und irgendetwas löste sich von seiner Kleidung und schoss, sich mehrfach überschlagend, davon. Medon klammerte sich mit der linken Hand an einem Vorsprung fest und blickte nach unten, bevor er die rechte Hand ausstreckte und sich an etwas zu schaffen machte, das hier, aus der Ferne und im düsteren Zwielicht des abgeschotteten Innenhofes, wie der Mechanismus aussah, an dem die ganze Konstruktion hing, in der Carnac gefangen war. Eine Windbö erfasste ihn und riss ihn ein Stück weiter nach vorn. Medon stieß einen Laut aus, der selbst drüben noch zu hören war, keinen Schrei, sondern einen trotzigen Wutlaut, und Daart glaubte zu sehen, wie sich seine mächtigen Muskeln spannten. In einer Geste hilflosen Zorns ballte er die Faust. Dieser verdammte Narr! Wenn er in das Netz stürzte, würde es unweigerlich in tausend Stücke bersten und Carnac mit sich in die Tiefe reißen. »Keine Sorge, Medon weiß schon, was er tut«, sagte Zar’Toran, dem Daarts Unruhe nicht - natürlich nicht! - verborgen geblieben war. »Er muss erst einmal den Hauptverschluss lösen. Dann kann er sie gemeinsam mit den anderen hochziehen.« »Und wozu das alles?« Daart wollte den Blick von Medon lösen, um Zar’Toran anzusehen, aber er brachte es nicht fertig. »Bei allen Göttern, Zar’Toran: Es hätte doch wirklich einfachere Methoden gegeben, mich und Carnac zusammenzubringen.«
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»Ja und nein«, sagte Zar’Toran. »Aber beruhige dich erst einmal. All das hat seinen guten Grund. Du wirst es schon noch verstehen.« »Ja, natürlich.« Daart wäre am liebsten sofort losgestürzt, um am Rand der Balustrade auf die andere Seite zu laufen, aber er wusste, dass er zu langsam sein würde, um Medon rechtzeitig zu erreichen und ihm bei Carnacs Befreiung zu helfen. Allein der Gedanke war schon verrückt. Er und Medon helfen? Sobald Carnac hier oben bei ihnen war, würde er nichts lieber tun, als Zar’Torans Lieblingsleibgardisten eigenhändig in den Schlund zu stürzen. »Dieses Manöver hier war Nubinas Einfall, nicht wahr?«, fragte er bitter. »Du hättest dir eher etwas mit Feuer einfallen lassen. Aber Nubina hat eine Vorliebe für Abgründe jeder Art.« »Natürlich war es Nubinas Einfall«, bestätigte Zar’Toran ungerührt. »Aber auch das wirst du noch verstehen - und zu würdigen wissen. Allerdings…« Er brach ab, als Medons rechter Fuß abrutschte und er kopfüber nach unten kippte. Seine linke Hand, die den Mechanismus umklammert hielt, ließ nicht los, aber sein Arm wurde so weit durchgebogen, dass Daart Knochen brechen zu hören glaubte. Verdammt! Daarts Blick huschte zu dem Mann, der ihm am nächsten war. Auch dieser hing in einer nicht gerade glücklich wirkenden Haltung über dem Rand, aber er schien festen Halt zu haben, was auch daran liegen mochte, dass er sich mit der linken Hand an etwas festhielt, was Daarts Blick verborgen blieb. Wenn er jetzt loslief, Anlauf nahm, über den Mann mit einem Sprung hinwegsetzte… »Allerdings scheint es doch weniger einfach zu sein, als ich geglaubt habe«, fuhr Zar’Toran in eindeutig besorgtem Ton fort. Daart riss den Blick von dem Leibgardisten los und starrte einen Herzschlag lang nach unten. Das Netz tanzte im Sturm, dessen Fauchen in der kurzen Zeit, in der sie hier standen, sich mindestens verdoppelt hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Dort, wo Carnacs rechtes Bein endete, wies das Netz erste Löcher auf, und Daart glaubte zu erkennen, dass das filigrane Gebilde als solches ein Stück abgesackt war. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die ganze zerbrechliche Konstruktion riss und mitsamt Carnac hinab in die unendlich scheinende Tiefe des Schlundes stürzte. Daarts Blick huschte zu Medon
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hinüber. Auch wenn er diesen Mann als seinen Todfeind betrachtete, hätte er in diesem Moment nichts lieber getan, als ihm beizustehen. Und das war wahrscheinlich auch nötig. Obwohl Medon zweifelsohne einer der stärksten Männer war, denen er je begegnet war, konnte seine Kraft unmöglich ausreichen, um sich aus der verdrehten, halb hängenden Position zu befreien, in die er sich mittlerweile gebracht hatte. Daart war sicher, dass er jeden Augenblick den Halt verlieren und hinabstürzen würde. »Jetzt müsste etwas passieren«, murmelte Zar’Toran. Er hatte kaum den Satz beendet, als ein Schatten hinter Medon auftauchte - ein weiterer Leibgardist, der aus dem nur unzureichend beleuchteten Gang trat. Ohne auch nur einen Moment durch unnötiges Zaudern zu verschwenden, beugte sich der Mann hinab, packte Medon beim Gürtel und zog ihn, Stück für Stück und mit sichtbarer Kraftanstrengung, an sich heran. »Na also«, sagte Zar’Toran zufrieden. »Das sieht doch ausgesprochen gut aus.« Da war Daart vollkommen anderer Meinung. Medon schaffte es zwar, sich mit Hilfe des anderen Kriegers aus seiner verdrehten Position zu befreien und wieder aufzurichten, aber damit war Carnac überhaupt noch nicht geholfen. Sie hing weiter unbeweglich und mit dem Gesicht nach unten in dem sich im Sturm bäumenden Spinnennetz. Wenn es den Leibgardisten nicht bald gelang, sie nach oben zu ziehen, war sie unweigerlich verloren. »Er hat es geschafft.« Zar’Toran versetzte Daart einen leichten Stoß in die Seite und deutete nach vorn. »Siehst du, was er da in den Händen hält?« »Was denn, verdammt?« Daart kniff die Augen zusammen, aber er konnte nicht erkennen, was Zar’Toran meinte. »Er hat das Seil aufgenommen.« Der Wind riss Zar’Toran fast die Worte aus dem Mund, aber es war auch nicht weiter wichtig, was er sagte, denn jetzt sah Daart selbst, was passierte. Medon und der zweite Leibgardist hielten in der Tat ein schwarzes Seil umklammert, das Daart erst als solches erkannte, als es sich gegen den Hintergrund des erleuchteten Gangs abhob. Auch die ande-
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ren Leibgardisten hatten sich mittlerweile wieder aufgerichtet. »Medon musste erst den Hauptverschluss lösen«, murmelte Zar’Toran. »Ich denke, wir sollten über diese Art der Konstruktion noch einmal nachdenken. Sie scheint mir verbesserungswürdig zu sein.« Daart enthielt sich jeden Kommentars. Sein Blick wanderte von einem der Männer zum anderen, während sie so gleichmäßig wie möglich die Seile hochzogen, an denen das Netz befestigt war. Dann aber riss ein Teil der Konstruktion, und Carnac sackte mit dem Netz herab…
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Daart hatte die Hände hinter dem Nacken verschränkt und starrte an die Decke des weitläufigen Raumes, in den man ihn geführt hatte. Er hatte Mühe, das zu verarbeiten, was Zar’Toran ihm gerade offenbart hatte. Nicht nur Mühe: sondern er glaubte es schlicht und einfach nicht. »Es ist die unglaublichste Geschichte, die ich je gehört habe«, sagte er schließlich und blickte zu Zar’Toran, der sich in Ermangelung einer anderen Sitzgelegenheit wie er selbst auf eine Truhe gesetzt hatte. Es war eine bestens ausgestattete Waffenkammer, in der sie hockten. An den Wänden hingen Schilde, Bogen und andere Kriegsutensilien; davor waren Uniformen gestapelt und eine ganze Sammlung verschiedenster Hieb- und Stichwaffen, die ausgereicht hätten, mehrere Hundertschaften auszurüsten. Medon stand mit verschränkten Armen vor der Tür und gab sich Mühe, mit einer Mischung aus Verachtung und Gleichgültigkeit an Daart vorbeizusehen, was ihn aber nicht daran hinderte, ihm gelegentlich einen Blick zuzuwerfen, wenn er der Meinung war, weder Zar’Toran noch Daart würden es bemerken. »Es ist keine Geschichte«, sagte Zar’Toran eindringlich. »Es ist die Wahrheit. Nubina und ich wollen die Herrschaft über Enwor erlangen, das ist richtig. Du magst dazu stehen, wie du willst. Aber du kannst nicht wollen, dass Enwor untergeht, nur weil du mich ablehnst.« Ablehnen war vielleicht nicht das richtige Wort. Daart spürte einen
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unbändigen Hass auf Zar’Toran. Aber da war auch noch etwas anderes. Zweifel… Es würde nie einen Grund geben, sich Zar’Toran anzuschließen oder irgendetwas zu tun, was seine oder die Machtposition der Guhulan stärken würde. Aber es gab vielleicht einen Grund, sich in aller Ruhe anzuhören, was der Feuermagier von ihm wollte. »Ich bin gespannt auf das, was Carnac zu berichten hat«, sagte er schließlich. Als wäre dies das fehlende Stichwort gewesen, schwang die schwere Tür auf. Medon machte einen Schritt zur Seite, um den beiden Frauen Platz zu machen, die nebeneinander den Raum betraten. Eine davon war Carnac. Sie hatte eine Decke um den Leib geschlungen und zitterte trotzdem am ganzen Leib. Die Haare hingen ihr wirr und wild verklebt ins Gesicht, und ihr Blick irrte unruhig durch den Raum, bis sie schließlich Daart entdeckte. Kurz blitzte es in ihren Augen auf, als sich ihre Blicke begegneten, und die Andeutung eines kleinen, kaum sichtbaren Lächelns stahl sich auf ihre Züge, um gleich darauf wieder zu erlöschen. Das war schlimmer als alles andere, schlimmer noch als die unsicheren Schritte und die zögerlichen Bewegungen, welche die Bedienstete an ihrer Seite ausgleichen musste, die sie weiter in den Raum führte. Daart musste sich beherrschen, um nicht aufzuspringen und zu ihr zu eilen. Er wollte Zar’Toran nicht die Gefühle offenbaren, die ihn angesichts von Carnacs erbärmlichem Zustand zu übermannen drohten, er wollte ihm nicht auch noch freiwillig einen weiteren Hinweis darauf geben, wie viel ihm an ihr lag. Zar’Toran machte eine einladende Bewegung. »Setz dich ruhig neben Daart. Ich denke, ihr habt euch eine ganze Menge zu erzählen.« Carnac nickte flüchtig, während Daarts Herz laut und heftig zu klopfen begann. Fast gegen seinen Willen erhob er sich jedoch, wenn auch nicht hastig, sondern langsam, fast zögernd. Er wartete, bis die Frauen heran waren, dann schob er die Dienerin mit sanfter Gewalt und einem dankbaren Nicken beiseite, ergriff Carnac am Arm, so weit es die Decke ermöglichte, und zog sie vorsichtig mit sich. Carnac war so schwach, dass sie fast gestolpert wäre, und er hatte Mühe, sie so abzusetzen, dass sie sich nicht in der Decke verfing.
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»Also dann.« Zar’Toran stand auf. »Ich glaube, ich lasse euch jetzt besser in Ruhe. Ihr habt euch mit Sicherheit eine ganze Menge zu erzählen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um, gab Medon einen Wink, und damit verschwanden sie auch schon in Begleitung der Dienerin aus der Waffenkammer und ließen ihn allein mit Carnac zurück. Ein paar Augenblicke herrschte nichts als angespanntes Schweigen. Daart lauschte vergebens auf verräterische Geräusche vor der Tür, die Medon mit einem lauten Knall hinter sich zugezogen hatte. Sicherlich hatte sich der Leibgardist auf dem Gang aufgebaut, und Daart vermutete, dass ihm andere Männer der Leibgarde Gesellschaft bei der Aufgabe leisteten, ihn und Carnac zu überwachen. Aber sie würden sich kaum die Blöße geben, es so auffällig zu tun, dass sie es von hier aus bemerken konnten. »Schön, dich endlich wieder zu sehen«, sagte Carnac. Daart nickte flüchtig. Aus irgendeinem Grund war es ihm fast unangenehm, so nah bei Carnac zu sitzen. Er konnte sich nicht einmal richtig umdrehen, um sie anzusehen, wollte er sie nicht von der recht schmalen Truhe schubsen. Er streckte die Hand, um sie zu berühren, und ließ sie dann wieder sinken. »Wie geht es dir?« Carnac nickte fast unmerklich. »Es ist mir schon einmal schlechter gegangen. Ich erinnere mich nur nicht daran, wann das gewesen sein könnte.« Sie versuchte zu lachen, aber es wurde nur ein Krächzen daraus. Daart hielt es jetzt vor lauter Unruhe nicht mehr aus. Er sprang auf und ging ein paar Schritte in den Raum hinein, bis er schließlich an der Wand stehen blieb, an einem so großen Schild, dass selbst Medon Mühe haben würde, ihn zu bewegen, geschweige denn, im Kampf mitzuführen. Der Schild war aufwändig gearbeitet, mit einer goldverzierten Umrandung und einer in blauschwarz-rot gehaltenen Schlachtszene, die zeigte, wie ein Reiter mit verheerender Wucht inmitten seiner Feinde wütete. Daart streckte die Hand aus und ließ sie über das kühle Metall gleiten. Der Schild wies keinen einzigen
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Kratzer auf. Sicherlich war er noch nie in einem Kampf mitgeführt und wahrscheinlich auch gar nicht dafür gearbeitet worden. »Wie lange hast du in diesem verfluchten Netz gehangen?«, fragte er, ohne sich umzudrehen. Eine ganze Zeit lang antworte Carnac nicht. Dann sagte sie leise: »Viel zu lange.« Daart nickte. Er strich über das aufgemalte Pferd, über die dicken Farbschichten, deren Unregelmäßigkeiten jene Kampfszene fast plastisch machten, die einst diesem Gemälde zugrunde gelegen hatte. »Zar’Toran hat mir erzählt, was du dort gesehen hast«, sagte er leise. »Ich konnte es nicht glauben.« »Ich auch nicht.« Carnacs Stimme klang ganz kläglich. Dann hörte Daart, wie Stoff raschelte, und als er sich jetzt umdrehte, sah er, wie sich Carnac erhob und mit unsicheren Schritten auf ihn zukam. Die Decke war ein Stück heruntergerutscht, gab einen Teil nackte Schulter frei, und Daart musste an Shaila denken, an ihr zerrissenes und zerfetztes Gewand und das zwiespältige Gefühl, das ihn überkommen hatte, als sie mit halb nackter Brust vor ihm gestanden hatte. Etwas an Shaila hatte ihn angezogen, ohne dass er genau hätte sagen können, was es gewesen war, und dass er ausgerechnet jetzt daran denken musste, lag wohl an dem schlechten Gewissen, das ihn bei Carnacs Anblick überkam. Sie sah so kläglich aus, dass er zu ihr eilte. Doch als er die Hand ausstreckte, um sie zu stützen, presste sie die Lippen aufeinander und schüttelte trotzig den Kopf. »Ich brauche keine Hilfe«, sagte sie, während sie an Daart vorbeiging, vor dem Schild stehen blieb und ihn mit schief gelegtem Kopf betrachtete. »Was ist so besonders an diesem Schild?« »Er sieht nicht so aus, als ob er von den Guhulan stammte«, antwortete Daart überrascht. Zögernd wandte er sich um, trat an Carnac heran und legte ihr einen Arm um die Schultern. Er spürte, wie sie sich verspannte, aber zumindest streifte sie seine Hand nicht ab. »Nein, sicherlich nicht«, bestätigte Carnac. »Ich frage mich nur, von wem dann. Der Mann, für den er gefertigt wurde, muss ein wahrer Riese sein.«
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Daart schwieg. Er war mit den Gedanken ganz woanders. Auf der einen Seite tat es unendlich gut, einfach hier zu stehen und Carnac im Arm zu halten, auf der anderen Seite war eine Unruhe in ihm, die es ihm fast unmöglich machte stillzuhalten. »Zar’Toran hat mir gesagt…« »Zar’Toran, ja.« Carnac streifte nun doch seine Hand ab, und dann zog sie fröstelnd die Decke ein Stück höher. »Ich wusste ja schon immer, dass du ein besonderes Verhältnis zu Zar’Toran hast. Aber dass du so von ihm sprichst, wie du früher höchstens von Skar gesprochen hast - das geht ein bisschen weit, finde ich.« Daart erstarrte vor lauter Empörung. »Was meinst du denn damit?« »Sieh dich doch nur an.« Carnac zog die Decke noch ein Stück höher, sodass ihr Kinn tief in den dunklen, unregelmäßig gewebten Stoff eintauchte. »Du bist gekleidet wie ein Guhulan. Und du trägst ein Tschekal an deiner Seite. Was hast du dafür tun müssen, dass dich Zar’Toran mit einer solchen Waffe belohnt?« »Tun müssen?« Daart schüttelte den Kopf. »Überhaupt nichts. Er hat sie mir förmlich aufgedrängt.« »Ja, das kann ich mir vorstellen.« Carnac hielt sich die Hand vor das halb verdeckte Gesicht und hustete krampfhaft. »Hat dir Zar’Toran auch noch andere Vergünstigungen aufgedrängt?« »Was meinst du damit?«, fragte Daart schärfer, als er beabsichtigt hatte. »Das kann ich dir sagen.« Carnac wandte sich ab und ging ein paar Schritte weiter, bis sie vor einer Hellebarde stehen blieb, die ebenfalls ungewöhnlich groß und wie für einen Riesen gemacht zu sein schien. »Hat er dir vielleicht angeboten, dich an der Herrschaft über Enwor zu beteiligen, die er in seinem Größenwahn schon gewonnen zu haben glaubt?« Daart schluckte hart und heftig. Der Symbiont wand sich in seiner Kehle, und was Daart an seinen kleinen Bewegungen anfangs fürchterlich vorgekommen war, erschien ihm jetzt so vertraut, dass er es nur noch ganz am Rande wahrnahm. »Du musst verrückt sein, so etwas zu fragen.« »Verrückt, ja.« Carnac fuhr mit dem Finger über die Schneide der
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Hellebarde. »Ich bin tatsächlich fast verrückt geworden, als ich über diesem schrecklichen Loch hing und damit rechnen musste, dass jeden Augenblick das Netz reißen und ich in den Strudel hinabstürzen würde.« Daart hätte entsetzt sein müssen über ihre Worte, aber die Wahrheit war, dass er dankbar für den Themenwechsel war. »Was meinst du damit?« »Ich meine damit, dass es kein Zufall ist, dass Zar’Toran mich auf grausige Art fast hat umbringen lassen, während du mit ihm fürstlich gespeist hast.« »Fürstlich gespeist« war nun alles andere als die treffende Bezeichnung für das, was er erlebt hatte. Wenn er es recht bedachte, waren es zwei Bissen Brot gewesen, die er sich mit dem Symbionten geteilt hatte, und ein bisschen Papier mit einer Warnung, deren Inhalt er wohl nie erfahren würde, es sei denn, er bekam Thross noch einmal zu Gesicht und konnte ihn direkt fragen. Und trotzdem hatte Carnac im Prinzip natürlich Recht. Im Verhältnis zu ihr war es ihm geradezu blendend ergangen. »Ich habe nicht nur mit Zar’Toran gespeist, wie du es nennst«, sagte er, »sondern auch mit Nubina. Und ich habe dabei einiges erfahren, was für unseren Kampf gegen sie wichtig sein könnte.« »Was zum Beispiel?« »Nun…« Daart fuhr sich durch die Haare. »Ich weiß nicht, wie viel du von dieser Stadt gesehen hast.« »Das kann ich dir sagen«, sagte Carnac heftig. »Ich habe die brennenden Mauern gesehen und die Schatten riesiger Gebäude, die sich dahinter auftaten. Dann haben sie mir eine Augenbinde aufgesetzt und sie mir erst wieder abgenommen, als sie mich zwangen, das zerfetzte Gewand gegen ein neues auszutauschen, bevor sie mich mit dem Netz kopfüber in den Schlund hinabgelassen haben. Einer von ihnen hat gesagt, dass das sein müsste, damit ich dir später ganz genau erzählen könnte, wie gemütlich es da unten ist.« »Wer von ihnen?«, fragte Daart aufgebracht. »War es etwa Medon?« »Medon?« Carnac schüttelte den Kopf. »Ich kenne keinen Mann
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dieses Namens.« »Der Leibgardist, der hier zusammen mit Zar’Toran und mir war.« »Ja, kann sein.« Carnac schwankt leicht und raffte die Decke dann zusammen, um zur Truhe zurückzugehen. Ihre Bewegungen wirkten gequält und kraftlos. »Einer der Vertrauten Zar’Torans. Kennst du ihn von früher?« »Nein. Wie kommst du darauf?« »Weil ich den Eindruck habe, als ob du von früher her mit Etlichem vertraut wärst, was die Guhulan und ihre Verbündeten angeht.« Carnac hatte jetzt die Truhe erreicht. Sie stützte sich mit einer Hand ab, bevor sie sich umständlich hinsetzte. Es drehte Daart fast den Magen um, als er sah, wie kraftlos ihre Bewegungen wirkten, und er schwor sich, dies Zar’Toran - oder vor allem Nubina - heimzuzahlen. »Es hat dir bestimmt gut getan, deine alten Freunde wieder zu treffen, nicht wahr?« Daart blinzelte verwirrt. »Wovon redest du, verdammt noch mal?« »Ich denke, das weißt du ganz genau.« Carnac starrte vor sich auf den Boden und strich sich dann eine Strähne ihres verklebten schwarzen Haares aus der Stirn. »Als ich da über dem Schlund hing und in den Schrecken starrte, der ganz Enwor zu verschlingen droht, hatte ich genug Gelegenheit nachzudenken. Nein, falsch, eigentlich hatte ich gar keine Zeit nachzudenken. Es waren eher Empfindungen, die mich überrannt haben, Empfindungen, mit denen ich nicht im Geringsten klargekommen bin, zumindest die ganze erste Zeit nicht, wie lange auch immer sie gedauert haben mag.« »Ich verstehe kein Wort«, bekannte Daart, obwohl das nicht stimmte. Es passte auf schreckliche Weise mit dem zusammen, was ihm Zar’Toran erzählt hatte, nachdem er ihn in die Waffenkammer geführt hatte. »Ich habe viel begriffen, während ich kopfüber dort in das Nichts, in das Chaos starrte«, fuhr Carnac leise und mit fast emotionsloser Stimme fort. »Es ist nicht so, dass ich nicht darauf vorbereitet war. Die Prophetinnen wissen viel von dem, was passieren wird; sie wissen es nicht so sehr auf einer verstandesmäßigen, sondern eher auf einer gefühlsmäßigen Ebene. Etwas droht Enwor zu verschlingen,
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vielleicht schon immer, vielleicht auch erst seit der Zeit, als die Alten und die Sternengeborenen die schrecklichsten ihrer Waffen in den Kampf führten.« »Ja«, sagte Daart. »Ich habe… davon gehört.« »Von wem?« Carnac sah auf, aber sie sah nicht Daart an, wie er zuerst vermutet hatte, sondern an ihm vorbei auf das mächtige Schild mit der Schlachtszene. »Von Zar’Toran?« Daart hätte gern den Kopf geschüttelt, aber das gelang ihm nicht. Es hätte auch nichts genutzt. Carnac wusste sowieso, mit wem er in den letzten Stunden geredet hatte und von wem sein Wissen über den Schlund stammte. »Es ist doch seltsam, nicht wahr?« Carnacs Blick verfinsterte sich, und ihre Augen wurden abgrundtief schwarz, etwas, an das sich Daart wohl nie gewöhnen würde. »Es gibt wohl kaum einen Menschen, den du mehr hassen solltest als Zar’Toran. Und doch will es mir manchmal erscheinen, als ob du dich fast krankhaft zu ihm und seiner Art zu denken hingezogen fühlst. Erkläre mir das.« »Ich wüsste nicht, was es da zu erklären gibt.« Daart bückte sich, griff nach einem Schwert, einer kleinen, aber perfekt ausbalancierten Waffe und starrte sie an, als könnte ihm die spiegelnde Klinge die Antwort auf seine Fragen geben. »Es ist wichtig zu wissen, wie ein Gegner denkt. Denn sonst«, er ließ die Klinge durch die Luft zischen, »kann man ihn schwerlich vernichtend schlagen.« »Es ist denn das, was du wirklich willst?«, fragte Carnac. »Ist es tatsächlich dein Herzenswunsch, Zar’Toran zu schlagen? Oder strebt nicht etwas in dir danach, einen Teil seiner Macht und seines Ruhmes für dich selbst zu beanspruchen?« »Ich weiß nicht, worauf du mit all dem hinauswillst«, sagte Daart ärgerlich. »Du kennst mich und meine Ziele weit besser als jeder andere Mensch.« »Falsch, Daart.« In Carnacs Stimme war plötzlich eine Schärfe, die ihm mehr als unangemessen vorkam. »Ich habe gedacht, dich besser als jeder andere zu kennen. Aber es ist etwas Seltsames passiert, als ich dort über dem Schlund hing und in das entfesselte Chaos unter mir starrte. Plötzlich fiel alles von mir ab, was ich mir einzureden
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versucht hatte, es purzelte aus mir selbst heraus, Gedanke und Gefühle, hinab in den unendlichen Schlund, in das, was Enwor zu verschlingen droht. Ich weiß jetzt, dass vieles von dem, was ich für wahr gehalten habe, reines Wunschdenken gewesen ist.« In Daarts Magen war plötzlich ein eiskalter Klotz. »Ich weiß, dass es schlimm gewesen sein muss. Aber deswegen kannst du doch nicht…« »Schlimm!« Carnac lachte humorlos auf, ein schrecklicher Laut, der ansatzlos in einen harten, fast krampfhaften Husten überging. »Es war nicht schlimm«, fuhr Carnac fort, kaum dass der Husten abgeklungen war. »Es war weit mehr als das. Es war etwas, auf das man sich nicht vorbereiten kann, bei dem es nichts nutzt, vorher zu wissen, dass es so etwas gibt.« »Ich weiß«, sagte Daart rasch. »In Nyingma…« »… hast du etwas Ähnliches erlebt, das ist mir nicht verborgen geblieben.« Carnac schüttelte den Kopf. »Ähnlich bedeutet nicht gleich. Das, was du in Nyingma gesehen hast, im Herzen von Nubinas Reich, mag eine Vorstufe zu dem gewesen sein, was diese Narren hier glauben, mit ihrer prächtigen Stadt anfangen zu können. Nicht mehr und nicht weniger.« Carnac stand wieder auf, offensichtlich von einer ganz ähnlichen Unruhe getrieben, wie sie auch Daart erfasst hatte. »Du weißt, dass ich bei den Prophetinnen aufgewachsen bin. Und du weißt auch, dass sie mich in einen Großteil ihres geheimen Wissens eingeweiht haben. Aber was nützt Wissen? Überhaupt nichts.« Ihre Hand kam unter dem schweren Umhang hervor, zu dem sie die Decke umfunktioniert hatte, und als sie sie ballte, wirkte es auf eine schreckliche Art hilflos. »Ich habe nicht nur gesehen, was uns allen droht, ich bin auch in es eingetaucht…« »In was?« Daart drehte sich zu ihr um und machte einen Schritt auf sie zu, bevor er wieder stehen blieb, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. »Sag mir, in was du eingetaucht bist.« »Wie könnte ich es mit Worten beschreiben?« Carnac ließ die Faust sinken, und so, wie sie jetzt dastand, wirkte sie so verloren wie ein kleines Kind, das gerade Vater und Mutter verloren hat und nun nicht weiß, wo es hin soll. »Es ist eine Erfahrung, die ich gemacht habe,
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die ich aber mit niemandem teilen kann, weil wir Menschen keine Worte für das haben, was ich erblickt habe.« Daart legte das kleine Schwert, mit dem er die ganze Zeit über unruhig gespielt hatte, so ungestüm ab, dass Metall auf Metall klirrte und ein paar Waffen ins Rutschen kamen und ein Stück weit auf dem Boden weiterschlitterten. Er verstand Carnac weit besser, als ihm lieb war. Nubina hatte ihn in ihrem eigenen Reich auf eine fürchterliche Reise durch etwas geschickt, das dem Schlund ganz ähnlich gewesen sein musste, in den Carnac geblickt und der sie fast um den Verstand gebracht hatte. Er erinnerte sich an das Gefühl, ins Nichts zu fallen, an Farbwirbel, eine Vielzahl widersprüchlicher, verrückter Eindrücke, nicht zuordenbar, nicht wirklich fassbar, ein Kaleidoskop wirbelnder Bewegungen und der gleichzeitigen Gewissheit, dass es das Nichts war, in das er stürzte, die Auflösung von allein zuvor Festgefügten, von dem Leben in der Art, wie er es kannte. Er spürte, wie sich sein Atem beschleunigte bei der Erinnerung und wie sein Verstand sich weigerte, nach den wenigen Fetzen zu greifen, die ihm noch irgendwie, schattenhaft und weit entfernt von einer wirklichen Erfahrung, zugänglich waren. »Es war schlimmer als alles, was wir in Nyingma erlebt haben«, sagte Carnac. »Es ist wie ein… Strudel. Er erfasst alles, was in seine Nähe kommt. Nichts bleibt von ihm verschont. Er löst alles auf, was in ihn fällt.« Daart ging in die Hocke, um die Waffen zu ordnen, die er durcheinander gebracht hatte; eine ebenso sinnlose wie überflüssige Geste, die einzig dazu diente, Carnac nicht ins Gesicht sehen zu müssen. »Ja«, sagte er schließlich leise. »Ich weiß.« Zar’Toran hatte es ihm erzählt, auf dem Weg zu diesem Raum hier, in einer Art, wie man einen Verbündeten und nicht einen Feind über eine gemeinsame Gefahr aufklärt. Es war Daart kaum gelungen, sich seinen Worten und Erklärungen zu entziehen. Zu sehr erinnerten sie ihn an die Dinge, die schon seit einer Ewigkeit ganz tief in ihm vergraben waren, ein uraltes Wissen über eine Gefahr, das bis zum Eintauchen in das Nichts in Nyingma verschüttet gewesen war und jetzt bruchstücksweise wieder nach oben gespült wurde. Er empfand eine tiefe Be-
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klemmung bei der Erinnerung daran und eine Mischung aus Angst und Entsetzen, wenn er sah, was die kurze Begegnung mit dem Schlund aus Carnac gemacht hatte. Bis zu diesem Tag hatte sie nie wirklich schwach oder verletzlich gewirkt, aber jetzt hatte ihre Fassade Risse bekommen, und er spürte, dass nicht viel fehlte, und sie hätte ihm eine Szene gemacht. »Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst.« Daart nahm ein Wurfmesser in die Hand und wog es, als wollte er testen, wie gut es sich im Ernstfall bewähren würde. »In letzter Zeit haben sich die Gerüchte gemehrt, dass ganze Landstriche ausgelöscht worden seien, ohne dass irgendjemand weiß, wie das geschehen sein kann. Es gab weder verheerende Stürme noch Unwetter, die der Zerstörung vorangingen. Es war einfach so, dass der Kontakt zu einsamen Dörfern und einzeln gelegenen Höfen abriss, und wenn jemand dorthin ritt, um nach dem Rechten zu schauen, blieb auch er verschwunden.« »Ob ich das weiß?« Carnac schrie fast. »Was soll diese Frage? Natürlich weiß ich das. Alle Prophetinnen wissen, dass etwas Unvorstellbares, etwas Schreckliches auf Enwor geschieht. Und ich habe dir doch selbst davon erzählt…« »Aber es ist das erste Mal, dass du es selbst gesehen hast, nicht wahr?« Daart hielt es jetzt doch nicht mehr aus, kam aus der Hocke hoch und drehte sich zu ihr um. »Du hast etwas gesehen, das du bislang nur vom Hörensagen kanntest.« Carnac nickte heftig. »Allerdings. Ich habe es gesehen. Und nicht nur das. Ich habe es gespürt, die Gier, die von dort unten ausging, den unbezwingbaren Wunsch zu verschlingen und zu zerstören.« Daart starrte gedankenverloren auf das Wurfmesser in seiner Hand, ohne es richtig wahrzunehmen. »Und was… was für Schlüsse ziehst du daraus?« »Sag mir lieber, welche Schlüsse du daraus ziehst, nachdem du mit Zar’Toran gesprochen hast!«, fuhr ihn Carnac an. Daart presste gequält die Lippen aufeinander. Er verstand nicht, warum ihr Gespräch so schrecklich schief lief. Seit Wochen hatte er dem Augenblick ihres ersten ungestörten Treffens entgegengefiebert, und nun entwickelte es sich zu einem Albtraum.
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»Zar’Toran hat dir alles erklärt, nicht wahr?«, fragte Carnac höhnisch. »Er hat dir klargemacht, dass dieser Schlund nur einer von vielen ist und du ihnen helfen musst, den Feuertempel zu heben weil sich angeblich nur mit seiner Hilfe diese Gefahr in den Griff kriegen lässt, der ganz Enwor anheim zu fallen droht, und weil ansonsten jeder, Menschen, Eltra, Quorrl und alle anderen lebenden und denkenden Wesen, einen qualvollen Tod sterben muss.« Daart hätte am liebsten das Messer an der Klinge gepackt und es kraftvoll gegen die Tür geschleudert, damit es dort zitternd im Holz stecken blieb. Stattdessen umklammerte er den Griff so fest, als wollte er sich daran festhalten. Carnac hatte mit jedem ausgesprochenen und unausgesprochenen Wort Recht, und es wäre vollkommen sinnlos gewesen, dies abzustreiten. Ganz abgesehen davon hatte er auch gar nicht vor, irgendetwas zu leugnen. Schließlich hatte er weder etwas verbrochen, noch hatte Zar’Torans Appell seine Einstellung zu dem Feuermagier verändert. Von dieser Warte aus betrachtet, war es nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Es war weitaus schlimmer. In Daart stieg eine kalte, grausame Angst empor. Es war Angst vor den Dingen, die er in den letzten Tagen erfahren hatte, davor, eine falsche Entscheidung zu treffen. »Dir scheint es ja regelrecht die Sprache verschlagen zu haben«, sagte Carnac müde. »Ja. Nein.« Daart schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich finde das alles nur… wahnsinnig kompliziert.« Carnac sah zu ihm hoch und sah ihn lange und schweigend an, und irgendetwas im Ausdruck ihrer tiefschwarzen Augen veränderte sich. Wo kurz zuvor noch Wut geblitzt hatte, glaubte Daart jetzt eher so etwas wie Traurigkeit zu erkennen. »Was genau findest du wahnsinnig kompliziert?« Daart zuckte mit den Schultern. Bevor er sich eine Antwort zurechtlegen konnte, fuhr Carnac fort: »Es ist doch eigentlich ganz einfach. Zar’Toran hat dich aufgefordert, zum Feuertempel zu tauchen und den Mechanismus auszulösen, der ihn heben wird. Dort unten bist du ganz auf dich allein gestellt. Wenn du überhaupt tauchst, dann wird es deine Entscheidung sein, was du zu tun hast.«
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»Zar’Toran will mich überwachen lassen«, wandte Daart ein. »So, hat er das gesagt?« Carnac atmete tief aus und schloss einen Moment lang die Augen. »Was bleibt ihm sonst auch übrig. Er weiß doch, dass er dir nicht trauen kann.« Sie öffnete wieder die Augen, beugte sich ein Stück vor und starrte Daart forschend an. »Das ist doch so, oder?« Daart machte eine leichte Kopfbewegung zur Tür hin, aber Carnac tat so, als verstünde sie nicht, dass er sie auf jene aufmerksam machen wollte, die sie belauschten. Ganz im Gegenteil, sie runzelte ärgerlich die Stirn und ließ ihn nicht aus den Augen. Daart steckte das Messer weg, zog das Guhulan-Gewand darüber und ging auf sie zu. Als er sie erreicht hatte, beugte er sich zu ihr herab, um ihr eine Warnung ins Ohr zu flüstern. Carnac duckte sich unter ihm weg, brachte beide Hände hoch, wodurch die Decke nach unten wegrutschte, und wehrte ihn ab. »Daart, bitte, nicht.« Ihr Tonfall klang so genervt und ablehnend, dass Daart unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Fassungslos starrte er Carnac an, deren Oberkörper jetzt halb entblößt war. Er hatte erwartet, dass sie darunter immer noch das Gewand trug, das Zar’Toran ihr aufgezwungen hatte, als sie über dem Netz gehangen hatte, aber er sah sich getäuscht. Es war eine Art Spinnennetz, das sich von ihren Schultern über ihren Oberkörper hinab spannte, so fein und raffiniert gesponnen, dass man zwar die Andeutung nackter Haut durchschimmern sah, aber auch nicht mehr. Carnac folgte Daarts Blick, und ihr Mund verzog sich zu einem abfälligen Ausdruck. »Man hat mich gezwungen, erneut meine Kleidung zu wechseln. Und du könntest mir wenigstens helfen, die Decke wieder höher zu ziehen.« »Natürlich.« Daart trat heran, um ihrer Aufforderung Folge zu leisten. Als er die Decke packte, legte Carnac zu seiner Überraschung ihre Hand auf die seine und brachte ihren Mund ganz nah an ihr Ohr. »Wir werden belauscht.« Daart nickte flüchtig. Natürlich. Das wusste er nicht nur selbst, drauf hatte er sie ja gerade selbst aufmerksam zu machen versucht. »Wenn alles gut geht, können wir gleich ungestört miteinander reden.«
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Sie schob ihn ein Stück weit von sich. »Du wirst verstehen, dass ich nicht in diesem Spinnenkleid herumlaufen mag«, sagte sie gleichermaßen laut wie mürrisch. »Ich verstehe nicht, warum ich so etwas überhaupt anziehen muss.« »Das war sicherlich wieder eine von Nubinas umwerfenden Ideen.« Daart warf einen Blick zur Tür hinüber. Carnacs geflüsterte Eröffnung hatte ihn mehr als nur ein bisschen überrascht. Er konnte kaum glauben, dass sie ihm nur die Mürrische vorgespielt hatte, dafür kannte er sie viel zu gut. In ihr brodelte ein Zorn, in dessen Mittelpunkt vielleicht nicht er stand, der nichtsdestotrotz aber auch ihm galt. Doch was hatte sie damit gemeint, dass sie gleich ungestört miteinander würden reden können?
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Sie brauchten die Maskerade nicht mehr lange aufrechtzuerhalten. Vor der Tür war plötzlich lautes, hektisches Getrampel zu hören, dann schrie jemand etwas, dessen Wortlaut Daart nicht mitbekam, und kurz darauf war ein lautes, krachendes Geräusch zu hören, das klang, als stürzte ein Teil der Wand ein. Daart erstarrte mitten in der Bewegung, legte die Hand auf den Schwertgriff und blickte zur Tür. Er erwartete, dass sie jeden Moment aufbrechen würde und eine Schar schwer bewaffneter Krieger auf sie zustürmte. Zwar hatte er keine Ahnung, was dort draußen vor sich ging, aber es klang anders, als würden die Leibgardisten von feindlichen Kriegern angegriffen. Auch wenn es vollkommen verrückt war: Es hörte sich für ihn beinahe so an, als bearbeitete eine Horde vor Wut kochender Riesen mit bloßen Händen die Wände, um damit das ganze verwinkelte Gebäude zum Einsturz zu bringen. Daart wollte auf die Tür zustürmen, doch da war Carnac schon heran. Sie packte ihn mit einer überraschend kraftvollen Bewegung am Arm und schob ihn vorwärts, nach rechts, in Richtung einer Nische, in der eine Unzahl unterschiedlichster Lanzen sauber aufgestellt und mit einer Metallschlinge zusammengebunden waren. »Also«, zischte sie, bevor er eine Frage stellen konnte. Ihr Atem ging laut und hektisch, aber sie wirkte mit einem Mal wesentlich lebendiger als vor
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wenigen Augenblicken. »Was ist los?« »Das wüsste ich selbst gern…« Carnac versetzte ihm einen harten Knuff in die Seite. »Lass die Spielerei. Wir haben nicht viel Zeit. Und die müssen wir nutzen, wenn nicht alles umsonst sein soll.« Daart wich ein Stück zur Seite und deutete in Richtung des Gangs, von dem unvermindert lautes Getrampel und aufgeregte Schreie zu hören waren - und ein fürchterliches Gerumpel, als tobte der Riese, für den der gigantische Schild und die riesige Hellebarde gemacht waren, mit mindestens einem Dutzend seiner Brüder auf dem Gang herum und triebe Medon und die anderen vor sich her. »Was hast du mit dem Chaos dort draußen zu schaffen?« Carnacs Augen weiteten sich, und es sah so aus, als ob sie ihn am liebsten angeschrien hätte, aber dann stieß sie nur zischend die Luft aus. »Also gut. Du wirst eh keine Ruhe geben, bevor du es nicht weißt.« »Und?« »Wir haben hier einen Verbündeten.« Carnac warf einen unruhigen Blick zur Tür hin. »Du weißt ja, dass ich nicht weit entfernt von hier bei den Prophetinnen aufgewachsen bin. Das erweist sich jetzt als Vorteil. Denn so…« »Wer ist dein Verbündeter?«, unterbrach sie Daart mit einem nervösen Blick zur Tür hin. »Nur ein kleiner Junge«, stieß Carnac hervor. »Da, wo ich herkomme, gibt es so genannte Creeper. Und dieser Junge wurde von seiner Creeperin hierher geschickt…« Daart starrte sie erst ungläubig an, dann nickte er hastig. »Shaila«, sagte er heiser und gepackt von einer wachsenden Erregung, die ihn Carnacs Hand ergreifen ließ. »Ich weiß.« Carnacs Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und um ihren Mund erschien plötzlich ein harter Zug, während sie Daarts Hand abstreifte. »Woher kennst du ihren Namen?« »Auch ich komme herum, weißt du?« Daart fuhr sich durch die Haare, und plötzlich verspürte er den unwiderstehlichen Drang, an die gelöste Stimmung anzuknüpfen, die ihn und Carnac bei den sel-
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tenen Gelegenheiten überkommen hatte, in denen sie hatten herumalbern können; vielleicht oder auch gerade deswegen, weil er die Spannung zwischen ihnen und die Ungewissheit über das, was gerade draußen auf dem Gang passierte, nicht länger ertrug. Er grinste nervös. »Diese Shaila ist ausgesprochen hübsch. Alles, was sie brauchte, wäre ein frisches Bad, und dann…« »Und dann was?«, fragte Carnac kalt, als Daart den Satz nicht beendete. Daart begriff schlagartig, was er da gesagt hatte. Selbst in einer anderen Situation wäre seine Bemerkung alles andere als klug gewesen, aber hier und jetzt war sie so ungefähr das Dümmste, was er hätte von sich geben können. »Es sollte nichts weiter als ein kleiner Scherz sein«, sagte er hastig. »Vergiss es.« »Ich bestimme immer noch selbst, was ich vergessen will und was nicht.« Carnac winkte ab, als Daart eine weitere Erklärung hinterher schieben wollte, mit der er wahrscheinlich alles nur noch schlimmer gemacht hätte. »Was ich wissen will, ist, woher du von Thross und Shaila weißt.« »Ganz einfach: Ich bin ihnen begegnet, als ich ihnen in das Höhlensystem unter dem Schattengebirge gefolgt bin.« Carnac schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das bist du nicht.« Ein lautes Rumsen erfolgte vom Gang, und dann schien der Boden unter ihnen zu beben. Nur ein kleiner Junge? Was, bei allen Göttern, stellte Thross dort an? »Wie kommst du darauf, dass ich nicht in dem Höhlensystem war?« »Weil ich ganz genau weiß, dass es dort, wo wir entlang geritten sind, keinen einzigen Zugang gibt«, sagte Carnac scharf. »Unfug. Ich bin durch einen ehemaligen Zufluss getaucht.« »Was für ein Zufluss?« Daart berichtete ihr in wenigen hervorsprudelnden Worten, wie er durch Schlamm gewatet war, die seltsame Frauengestalt gesehen hatte und ihr hinterher getaucht war, bis er schließlich in dem Höhlensystem angekommen und Shaila und Thross begegnet war. Auch den Überfall der Guhulan auf die Handelshöhle ließ er nicht aus.
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Carnacs Gesichtsausdruck verfinsterte sich dennoch zunehmend, und sie winkte ab, bevor er noch mehr berichten konnte - von seiner Begegnung mit Ask und dem Ältesten und davon, dass ihn Shaila durch die Kuppel geführt hatte, in die sich die Caverner zurückgezogen hatten. »Wenn das stimmt, was du sagst, hast du unseren Erzfeinden einen direkten Weg mitten ins Herz der sprudelnden Quellen hinein gewiesen.« Carnacs Stimme kippte weg, und sie schwankte leicht, sodass Daart zugreifen und sie stützen wollte, was sie aber mit einer raschen Handbewegung abwehrte. »Das Geheimnis der Zugänge wurde über Jahrtausende gewahrt. Was hast du nur getan?« »Ich habe nichts weiter getan, als vor den Guhulan zu fliehen«, sagte Daart ungeduldig. »Nichts weiter, als alles zu unternehmen, um Zar’Toran zu bekämpfen.« »Und um welchen Preis?«, fragte Carnac bitter. »Im Land der sprudelnden Quellen, in den Gängen und Höhlen unterhalb des Schattengebirges nahe an den Cor-Seen - dort haben sich alle zusammengefunden, die Zar’Toran und seine Brut bekämpfen wollen, Männer und Frauen aus aller Herren Länder. Und nicht nur das. Weiter unten in den Höhlen haben die Prophetinnen ihr Refugium gefunden. Zar’Toran kennt jetzt dank deiner Hilfe einen Zugang zu ihnen. Wie konntest du das nur tun?« Eine eisige Hand schien nach Daarts Herzen zu greifen und es zusammenzudrücken. »Ich hatte nicht vor, die Guhulan zu den Höhlen zu führen. Und ich hätte mir auch lieber einen Arm abhacken lassen, statt es zu tun, wenn ich nur gewusst hätte, dass ich damit gleichzeitig die Caverner und die Prophetinnen ihren Todfeinden ausliefern könnte. Aber wie hätte ich davon wissen sollen? Du hast mir jedenfalls nie etwas davon verraten!« »Weil es ein streng gehütetes Geheimnis ist«, sagte Carnac. »So streng gehütet, dass kein Uneingeweihter auch nur ahnte, wo er nach uns hätte suchen müssen.« »Gerade deshalb hättest du es mir sagen müssen«, beharrte Daart. »Wir haben uns geschworen, keine Geheimnisse voreinander zu haben.«
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»Das war lächerlich und dumm«, erwiderte Carnac bitter. »Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen. Schließlich bin ich durch einen Eid an die Prophetinnen gebunden, und an das Geheimnis, das alle teilen, die sich in den Schoß der Erde zurückgezogen haben, um von dort aus ihre Feinde zu bekämpfen.« »Ich denke, die Prophetinnen mischen sich nicht in alltägliche Belange.« »Nicht in alltägliche Belange und nicht in Kriege zwischen Stadtstaaten und Königreichen«, entgegnete Carnac heftig. »Aber sehr wohl in das, was hier und jetzt geschieht…« »Und was ist mit dieser Frauengestalt, die mich in die Höhlen geführt hat?«, fragte Daart. »Zu wem gehört sie? Auch zu euch Prophetinnen? Oder zu jemand ganz anderem?« Carnac spannte sich an, und für einen Moment hatte sie Ähnlichkeit mit einer Raubkatze, die sich auf einen Angriff vorbereitet. »Ich bin über dieses lächerliche Detail hinweggegangen«, sagte sie scharf. »Du musst dir diese Begegnung eingebildet haben.« »Ja, das hat mir schon jemand gesagt. Übrigens derselbe Junge, von dem du gesprochen hast, nämlich Thross. Und abgesehen davon finde ich, dass wir hier unsere Zeit nicht länger mit Reden verschwenden sollten. Lass uns endlich nachsehen, was dort draußen passiert!« »Gleich, sobald ich weiß, was ich wissen muss.« Carnac machte eine ärgerliche Handbewegung. »Es kann nämlich nicht sein, dass du einer Najade begegnet bist. Und schon gar nicht, dass sie dich in das Höhlensystem geleitet hat…« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich abermals, es war, als wiche ihr jede Farbe aus dem Gesicht. »Es sei denn…« Sie schüttelte den Kopf. »Aber das ist unmöglich.« »Verdammt, Carnac, jetzt sag, was unmöglich ist!« Daart packte sie bei den Schultern und zog sie ein Stück an sich heran. »Und was ist überhaupt eine Najade?« »Es kann doch nicht sein…« In Carnacs Augen glomm eine Mischung aus Erschrecken und abgrundtiefem Entsetzen, die Daart nicht im Geringsten begriff. »Keine Najade würde je etwas Unrechtes tun. Keine von ihnen würde sich jemals mit denen verbünden, die Schmerz und Leid über die Menschen bringen!«
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»Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass diese Najade im Auftrag der Guhulan handelte«, sagte Daart. »Ich habe sie nur ganz kurz gesehen. Und es schien mir beinahe so, als hätte sie auf mich gewartet und wäre kurz vor mir in das Wasser eingetaucht, um mir einen Fluchtweg zu zeigen.« »Aber es kann nicht sein, verstehst du das denn nicht?« Carnac wirkte ganz verzweifelt. »Die Najaden tun nichts ohne Grund, aber sie sind alles andere als dumm. Eine Najade würde niemandem einen Fluchtweg zeigen, wenn sie damit ein ganzes Volk in Gefahr brächte. Aber wenn sie dich tatsächlich in die Höhlen gelockt hätte, dann müsste sie gewusst haben, dass die Guhulan dir - und damit ihr - folgen würden.« »Warte. Du meinst…« »Dass dann die Najade die Feuerkrieger ganz bewusst zu dem Angriff verleitet hätte, von dem du mir erzählt hast.« »Und selbst wenn das so wäre…« »Es würde alles verändern.« Carnac sah aus, als hätte sie einen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht erhalten. »Die Najaden sind flüchtige Wesen und noch scheuer und seltener als die Eltra, die Sumpfmänner. Es gibt wohl kaum einen lebenden Menschen, der sich rühmen könnte, je eine Najade gesehen zu haben…« Die Tür sprang mit einem Ruck auf und donnerte so heftig gegen die Wand, dass sie schon im nächsten Augenblick wieder zurückfederte und halb zuglitt, bevor das schwere Türblatt zitternd und bebend zur Ruhe kam. Eine Wolke aus Staub, Dreck und Geröll stob in den Raum und nahm Daart die Sicht auf das, was dort im Eingang vor sich ging. Aber es musste etwas Gewaltiges sein, denn es waren stampfende Geräusche zu hören, so etwas wie ein Schaben, und dann bebte und zitterte die Wand in ihren Grundfesten. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte, während draußen Schlag auf Schlag folgte, ein gleichmäßig hämmerndes Geräusch, gefolgt von Entsetzenslauten aus mehreren Kehlen und einem hässlichen Klatschen, als flöge etwas durch Luft und schlüge hart auf dem Boden auf. Es konnte kein Kampf im eigentlichen Sinne sein, der dort draußen tobte, und wenn, dann tatsächlich nur der eines muskelbepackten Riesen, der die
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Leibgardisten durch die Luft schleuderte, bevor sie ihm mit ihren Waffen gefährlich werden konnten. Daart packte Carnac bei der Hand und zerrte sie mit sich, weg von der Nische, weiter in den Hintergrund der verwinkelten Waffenkammer. Die Decke, die Carnac so fest um ihren Leib geschlungen hatte, verrutschte, sie trat auf einen Zipfel und stolperte. Gewöhnlich hätte sie sich sofort wieder gefangen, aber so geschwächt, wie sie war, gelang es ihr diesmal nicht. Daart packte sie und riss sie so weit nach oben, dass die Decke nach unten glitt. Carnac strampelte und schlug ihm mit der Faust in den Bauch, nicht allzu fest, aber als deutliches Zeichen dafür, dass er sie wieder absetzen sollte. Er kam der Aufforderung nur zögernd nach. »Was ist da draußen los?«, schrie er, wobei er einen Blick über die Schulter zurückwarf, ohne allerdings viel mehr als vorher erkennen zu können. »Thross wirbelt die Guhulan ein bisschen durcheinander, das ist alles.« Carnac packte Daart am Arm und riss ihn zu sich herum. Sie war ihm so nahe, dass er ihren Atem spüren konnte. »Wir sollten die Zeit nutzen, um über alles zu sprechen. Wer weiß, wann wir wieder die Gelegenheit dazu bekommen.« Daart starrte sie nur fassungslos an. Er wusste gar nicht, auf welche ihrer unglaublichen Bemerkungen er zuerst reagieren sollte. »Thross wirbelt die Guhulan durcheinander? Kannst du mir mal sagen, wie er das macht? Kann er sich vielleicht durch einen Zauberspruch in einen unbesiegbaren Riesen verwandeln?« Carnac nickte, und ein flüchtiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Du hast die Wahrheit fast getroffen. Aber nun rede schon. Was ist zwischen dir und Zar’Toran? Ich merke dir doch an, dass Zweifel in dir sind, dass du nicht weißt, wie du handeln sollst.« »Da hast du allerdings Recht.« Daarts Blick wanderte unruhig zwischen Carnac und der Tür hin und her. »Aber du wolltest mir noch etwas über die Najade erzählen.« Ein Schatten huschte über Carnacs Gesicht. »Ja. Nein.« Sie hustete krampfhaft und griff sich mit der Hand nach dem Hals. »Lassen wir… im Augenblick die Najade. Was es mit ihr auf sich hat, wird sich noch klären.«
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Daart konnte ihre Worte in dem Stampfen, Schreien und Bersten kaum verstehen, das noch immer durch die halb offene Tür drang. »Was sonst willst du mit mir klären?«, fragte er hastig. »Das Allerwichtigste: den Grund, warum du hier bist.« Carnac ließ die Hand wieder sinken und wandte den Kopf in Richtung Tür. Wie Daart lauschte sie darauf, wann wohl das, was dort draußen tobte, durch die Wand brechen würde. »Und was du in den nächsten Tagen tun wirst.« Sie drehte sich wieder zu Daart um und sah ihm fest in die Augen. »Und was Zar’Toran getan hat - und noch tun wird, um dich auf seine Seite zu ziehen.« »Ich weiß nicht, was du damit meinst.« »O doch, das weißt du ganz genau.« In Carnacs tiefschwarzen Augen war etwas, das Daart maßlos erschreckt hätte, wenn er diesen Anblick nicht immer wieder erlebt hätte; etwas, das kaum menschlich wirkte, sondern älter und fremder war als jeder Ausdruck, den er je in einem anderen Augenpaar wahrgenommen hatte. »Wir beide wissen, dass gewaltige Kräfte an Enwor zerren und es schwierig ist zu entscheiden, wo die Ursache für das Chaos liegt, das den ganzen Kontinent erfasst hat; und noch schwieriger ist die Frage, wie es zu bekämpfen ist. Es geschehen merkwürdige Begebenheiten. Menschen verändern sich und tun Dinge, von denen sie sich noch vor kurzem nie hätten vorstellen können, sie zu tun. Und diese Veränderung scheint sich nicht nur auf Menschen zu beziehen - wenn das stimmt, was du von der Najade erzählt hast.« »Und jetzt…« »Will ich von dir wissen, wo du stehst«, unterbrach ihn Carnac sachlich. »Und was dir Zar’Toran versucht hat einzuflüstern in der Zeit, in der du ihm und Nubinas Einfluss ausgeliefert warst.« »Ja, das kann ich verstehen.« Daart blinzelte, warf einen flüchtigen Blick zur Tür - das Krachen und Bersten schien sich eher zu entfernen, als näher zu kommen, aber er war sich dessen nicht wirklich sicher - und biss sich dann auf die Unterlippe, bis er den Schmerz spüren konnte. Diesmal funktionierte der Trick nicht, brachte ihn nicht zur Besinnung, verschaffte ihm nicht mehr Klarheit. »Zar’Toran behauptet, dass nur er und Nubina das Chaos aufhalten
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können, das Enwor zu verschlingen droht«, sagte er, ohne Carnac anzusehen, »und er gibt sich Mühe, alles zu tun, damit ich das auch glaube.« »Das kann ich mir vorstellen.« Carnac packte Daarts Kopf und drehte ihn zu sich herum, sodass er gezwungen war, wieder in ihre fremden, schwarzen Augen zu starren. »Das Chaos ist eine Waffe der Alten, die sich von der Kette gerissen hat«, sagte sie eindringlich. »Und zwar nur deshalb, weil Nubina und Zar’Toran sie entfesselt haben.« »Aber was ist, wenn Zar’Toran tatsächlich Recht hat und nur er sie mit Hilfe des Feuertempels aus dem Glutsee wieder bändigen kann?« »Also daher weht der Wind.« Carnac ließ Daarts Kopf wieder los und versetzte ihm einen kleinen Schubser. »Du glaubst diesem Scharlatan, ja? Du meinst, du müsstest ihm helfen, den Tempel zu heben, damit er Enwor retten kann!« Daart starrte sie eine ganze Zeit lang schweigend an. Nur aus den Augenwinkeln heraus nahm er wahr, wie sich der Staub langsam legte, der durch den Türspalt zu ihnen hereindrang. »Wenn es nicht so ist, dann sage es mir«, verlangte er schließlich. »Sage mir, dass ich falsch liege. Sage mir, dass es nicht mehr solcher Abgründe auf Enwor gibt wie den, über dem du gerade gehangen hast, nicht mehr und größere Flecken, die sich bereits in etwas verwandelt haben, in dem kein Leben mehr möglich ist, und sage mir, dass es sich nicht wie ein Flächenbrand über Enwor ausbreitet, dass es nicht der Anfang vom endgültigen Untergang ist.« »Und wenn ich es dir nun nicht sagen kann?«, fragte Carnac. »Was ist dann?« »Was meinst du damit?«, fragte Daart, jedes einzelne Wort betonend. Carnacs Hand, mit der sie an der Decke herumzerrte wie an einem Gegner, den sie mit einer schwungvollen Bewegung zu Boden werfen wollte, zitterte leicht. »Zar’Toran und Nubina dürfen nicht die Herrschaft über Enwor gewinnen, niemals.« »Das ist keine Antwort auf meine Frage!« »Welche willst du dann hören?« Carnacs Stimme war kein bisschen
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lauter geworden, aber es war so viel Nachdruck in ihr, dass Daart die halb offen stehende Tür vergaß und die immer hektischer werdenden Laute, die dahinter hervordrangen, das Brüllen von Befehlen, das Klirren von Waffen und das Trampeln schneller Schritte, das dem Donnern folgte. »Du willst Gewissheit? Du willst wissen, ob es ein Fehler sein kann, Zar’Torans Wunsch abzuschlagen und das Heben des Feuertempels aus der Tiefe des Glutsees zu sabotieren?« Carnac schüttelte den Kopf. »Die kann ich dir nicht geben. Aber ich kann dir sagen, dass es uns weitaus leichter fallen wird, die entfesselte Zerstörungskraft der Chaoswaffe zu bändigen, wenn wir offen und frei alle Kräfte dafür sammeln können, wenn das Land nicht länger unter der Knute der Guhulan und der Silberkrieger zu verkommen droht.« »Das ist mir nicht genau genug.« Daart warf jetzt doch einen raschen Seitenblick zur Tür hinüber. Noch immer war dort niemand zu sehen, doch das beruhigte ihn nicht. Er wusste, dass es kaum mehr als eine Atempause war, die ihnen vergönnt war, dass jeden Moment Krieger hineinstürmten konnten - oder das Monstrum, das dort draußen tobte und das er noch immer nicht mit Thross, dem kleinen Jungen, in Verbindung bringen konnte, den er bei den Cavernern kennen gelernt hatte. »Würde es nicht viel mehr Sinn ergeben, den Feuertempel zu heben, Zar’Toran das Chaos bändigen zu lassen und ihn erst dann mit aller Kraft zu bekämpfen?« »Um keinen Preis der Welt«, widersprach Carnac heftig. »Schon jetzt setzen er und Nubina die Chaoswaffe skrupellos ein…« »Aber doch nicht gezielt…« »Nicht gezielt, weil sie sie noch nicht unter ihre Kontrolle gebracht haben. Aber mithilfe dessen, was sie im Feuertempel vorfinden, könnte es ihnen gelingen…« »Was genau ist denn der Feuertempel?«, fragte Daart, während sein Blick an Carnac hinabwanderte, an dem spinnennetzgleichen Gewand, das sie auf raffinierte Weise einwob, ohne ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken. Es reichte nur bis zu den Oberschenkeln und ließ ihre schlanken Beine frei, ein mehr als ungewöhnlicher Anblick, der durchaus erregend auf ihn gewirkt hätte, wäre er in einer anderen Situation gewesen.
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»Wie soll ich denn das wissen?« Carnac winkte ab, als Daart dazwischenfahren wollte. »Es ist eine Anlage der Alten, etwas, mit dem man unvergleichlich viel mehr Feuerkraft steuern kann, als wenn man tausend Feuerdrachen synchron Flammen speien ließe. Es ist die fürchterlichste der noch existierenden Einrichtungen der Alten, von der wir Prophetinnen wissen, und doch gleichzeitig Bestandteil eines ganzen Netzes ähnlicher Anlagen, die zum Teil in Nyingma stehen und bereits seit Ewigkeiten von Nubina kontrolliert werden. Und es ist eine unglaubliche Ballung der Macht, gegen die niemand mehr ankommen wird, wenn sie erst von Nubina kontrolliert wird.« »Ja.« Daart nickte. Ganz Ähnliches hatte ihm der Älteste erzählt. Doch das hieß nicht, dass es richtig war. Wenn es ohne Zar’Torans Feuertempel nicht gelang, das zu bändigen, was Carnac Chaoswaffe genannt hatte, dann nutzte es nichts, zuvor die Guhulan und die Silberkrieger besiegt zu haben. »Mach keinen Fehler, wenn du auf den Grund des Glutsees hinabtauchst«, sagte Carnac eindringlich. »Nein, das werde ich nicht«, sagte Daart, obwohl er sich dessen alles andere als sicher war. Er griff Carnac erneut bei der Hand und zog sie mit sich. »Komm. Sehen wir uns an, welchen Tanz Thross mit den Guhulan veranstaltet - und ob wir das für unsere Zwecke nutzen können.«
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Daart riss die halb offene Tür mit einem Ruck auf und sprang auf den Gang hinaus. Das Tschekal in seiner Hand vollführte eine halbkreisförmige Bewegung, als er herumwirbelte, aber es fand kein Ziel. Eben hatte hier noch jemand geschrieen, eben noch waren Schritte über den harten Steinboden gepoltert, aber jetzt war keine Menschenseele zu sehen. Dafür war der Boden voller Gesteinsbrocken, die Wand gegenüber wies mehrere klaffende Risse auf, überall waren Dreck- und Mörtelspritzer, und zum Teil lagen glimmende Fackeln herum, die mitsamt ihren Halterungen herausgerissen worden waren. Es sah schlimmer aus, als wenn eine Horde pöbelnder Quorrl mit aller Gewalt versucht hätte, den Gang mit einem Ramm-
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bock zum Einsturz zu bringen. Was, bei allen Göttern, hatte Thross hier angerichtet? Und vor allem - wie hatte er das vollbracht? »Niemand zu sehen«, stellte Carnac fest, als sie neben ihn trat, das Schwert, das sie mitgenommen hatte, so locker in der Hand haltend, als wäre es ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie es benutzen müsste. Daart warf ihr einen kurzen Blick zu. »Du hast auch nicht damit gerechnet, oder?« Carnac schüttelte den Kopf. Sie sah schrecklich erschöpft aus, aber im Augenblick umspielte ein leises Lächeln ihre Züge, ein Anblick, von dem sich Daart kaum losreißen konnte. Es waren eine Menge unterschiedlicher und vielleicht sogar widersprüchlicher Gefühle, die er für Carnac empfand, aber in diesem winzigen Moment überwog eindeutig etwas, das sich nur mit Liebe umschreiben ließ. Wenn der Kampf, auf den er sich eingelassen hatte, überhaupt einen Sinn haben sollte, dann für Carnac. Er hatte keine Ahnung, was sie machen würden, sollte es ihnen tatsächlich gelingen, sowohl Nubina und Zar’Toran unschädlich zu machen als auch das zu bändigen, was mit dem Begriff Chaoswaffe vielleicht nur sehr unzutreffend beschrieben war. Aber er wusste, dass er die Zeit danach mit Carnac verbringen wollte und mit keinem anderen Menschen. Carnacs Lächeln erstarb. So etwas wie Unsicherheit huschte über ihre Züge, und Daart wurde sich bewusst, dass sie genau wusste, was er gerade gedacht hatte. Es schien ihr Angst zu machen. »Wir könnten versuchen, aus der Stadt herauszukommen«, sagte sie mit rauer Stimme. Sie räusperte sich ein paar Mal, bevor sie fortfuhr: »Es ist vielleicht unsere letzte Gelegenheit.« »Eine letzte Gelegenheit wozu?« Daart konnte den Blick nicht von ihr wenden, obwohl er wusste, dass es ratsamer gewesen wäre, den Gang im Auge zu behalten. »Uns irgendwo zu verkriechen und die Augen vor dem Chaos und der Gewalt zu verschließen, die von Enwor Besitz ergreifen?« Er schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass es nicht geht.« »Ja, das weiß ich«, sagte Carnac so leise, dass er sie kaum verstand.
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»Aber ich weiß nicht mehr, was richtig und was verkehrt ist. Und ich weiß nicht, ob es richtig ist, dass du dich auf das einlässt, was dir bevorsteht.« Daart überlief bei ihren Worten ein kalter Schauder. Als Carnac die Waffenhand nach hinten streckte und auf ihn zutrat, wollte er ausweichen. Er tat es nicht. Sie beugte sich vor, ging auf die Zehenspitzen, und plötzlich und ehe er sich über die Bedeutung seines Handelns im Klaren war, steckte er das Tschekal weg, ergriff sie bei den Schultern und zog sie zu sich heran, um sie zu küssen. Sie wehrte sich, aber nur einen Herzschlag lang. Dann wurden ihre Lippen weich, und ihre Arme schlangen sich so heftig um seine Schultern, dass sie ihm fast die Luft abschnürte. Er spürte die Wärme ihres Körpers durch sein Guhulan-Gewand hindurch, und ein angesichts ihrer Lage aberwitziges, bohrendes Gefühl der Lust stieg in ihm auf, das sich entladen wollte, das danach drängte, sie herunterzuziehen, auf den kalten Steinfußboden, um sie hier und jetzt zu nehmen… Sie wehrte ihn ab, als seine Hand über ihre Brust glitt, über das Spinnenmaterial, das sich angenehm und rau anfühlte. »Nicht hier«, hauchte sie. Er spürte, dass es ihm gelingen würde, ihren Widerstand zu brechen, wenn er es wirklich darauf anlegte, und er war nahe daran, der Verlockung zu erliegen. Bislang hatte er erst zweimal mit Carnac geschlafen, und jedes Mal war es wunderschön gewesen, wilder und ganz anders als mit den willigen Mädchen, die sich ihm zuvor allein deswegen angeboten hatten, weil er zu der Hand voll Satai-Sjen gehört hatte, die in der Korona ausgebildet wurden. Er erinnerte sich an das Gefühl, sich ganz in ihr zu verlieren, ihren Körper zu erkunden, der ihm gleichermaßen vertraut wie fremd erschienen war… Er erinnerte sich nicht nur daran - es war Gegenwart, als er ihre Lippen schmeckte, seine Hand über ihre Brustwarze gleiten ließ und spürte, wie sie sich versteifte, und als er hörte, wie ihr Atem schneller wurde… Als er die Hand zurückzog, federte Carnac nach, schlang die Arme noch fester um ihn, und er spürte ihre Fingernägel durch den Stoff hindurch, die sie in ihn krallte, als wollte sie ihn nicht gehen lassen. Dann, von einem Moment auf den anderen, löste sie die Umklammerung und stieß ihn von sich. »Nein«, keuchte sie. »Nicht.«
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»Natürlich nicht.« Daart versuchte, seine Stimme unbeteiligt klingen zu lassen, aber das misslang ihm. »Ja.« Er räusperte sich, griff nach dem Tschekal, als wollte er es ziehen, und ließ es dann doch stecken. »Und was nun? Es kommt mir etwas lächerlich vor, mich freiwillig bei Medon zu melden. Vielleicht sollten wir wenigstens so tun, als ob wir einen Fluchtversuch unternehmen würden.« »Also gut, komm«, sagte Carnac zu seiner Überraschung, packte ihn bei der Hand und lief so schnell los, dass er im ersten Moment Mühe hatte, ihr zu folgen. Dann wurden ihre Schritte wieder unsicherer, und nun war er es, der sie mitzog, und nicht umgekehrt. Der Gang war breit und hoch und wies doch überall Anzeichen brutaler Zerstörungen auf. Nach ein paar Schritten kamen sie an einem Mauerstück vorbei, das aus der Decke herausgesprengt worden war, und dann wurde es dunkler, da viele der Fackeln, die in regelmäßigen Abständen in der Wand steckten, herausgerissen und zertrampelt worden waren. Daart fragte sich, was hier passiert war. Er konnte sich beim besten Fall nicht vorstellen, dass Thross etwas damit zu tun hatte. »Da vorn ist eine Abzweigung.« Carnac deutete auf ein helles Rechteck, das sich vor ihnen abzeichnete. »Dort müssen wir uns entscheiden, wohin wir uns wenden.« Daart spähte nach vorn, ohne allerdings irgendetwas erkennen zu können, was ihm weitergeholfen hätte. »Allerdings«, sagte er. »Und ganz abgesehen davon könntest du mir mal langsam erklären, was hier eigentlich passiert ist…« Er brach ab, als er in irgendetwas trat, das ein ekelhaft quatschendes Geräusch von sich gab. Abrupt blieb er stehen, ließ Carnacs Hand los und blickte an sich herab. Er stand in etwas, das wie ein überdimensionaler Kuhfladen aussah und auch so stank. Sein rechter Stiefel steckte fast bis zum Schaft darin, und seine Hose war bis weit über das Knie besprenkelt. »Sag mir, dass es nicht das ist, wonach es aussieht.« »Doch«, sagte Carnac fröhlich. »Es ist genau das, wonach es aussieht. Drachenkot.« »Drachenkot?« Daart sah sie fassungslos aus. »Das meinst du doch
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jetzt nicht im Ernst, oder?« »Und ob ich das im Ernst meine.« Carnac deutete an die Decke und die Wände. »Er muss ganz schön Mühe gehabt haben, sich hier durchzudrängen, der kleine Staubdrache.« »Der kleine Staubdrache.« Daart schüttelte ungläubig den Kopf. »Du weißt ja überhaupt nicht, wovon du sprichst. Ein Staubdrache ist das größte und fürchterlichste Ungeheuer, das es auf ganz Enwor gibt. Er reißt mit einem einzigen beiläufigen Schritt eine ganze Stadtmauer ein, wenn es sein muss, und wenn er durch einen Palast marschiert, bleibt hinter ihm nur ein Trümmerhaufen zurück.« »Kann ja alles sein.« Carnacs Grinsen wurde eher breiter als schmaler. »Aber ich habe gesagt, dass es ein kleiner Staubdrache war. Ein Prorr, um genau zu sein.« »Von einem Prorr habe ich noch nie etwas gehört.« Daart hob vorsichtig den Fuß. Der Drachenkot stank nicht nur fürchterlich, er war auch zäh und keineswegs bereit, an Ort und Stelle zurückzubleiben, während Daart einen Schritt nach vorn machte. »Was soll das sein? Eine Art Haustier, das Thross auf Schritt und Tritt begleitet?« »O nein, ein Prorr ist alles andere als ein Haustier«, sagte Carnac. »Thross wird einige Mühe gehabt haben, ihn zu finden. Es gibt nur noch sehr wenige Exemplare dieser Drachengattung, und sie leben tief unter der Erde.« Daart nickte säuerlich, während er versuchte, mit dem linken Stiefel vom rechten so viel Drachenkot wie möglich abzuschaben. Es war ein äußerst mühsames Unterfangen. »Es hat sich gelohnt, wie ich sehe. Der Drache hat aus dem Gang fast Kleinholz gemacht.« »Ich denke, er wird hier nur einmal vor- und zurückgelaufen sein. Das dürfte schon ausgereicht haben, um die Guhulan ein bisschen aufzuschrecken.« »Ja, das klingt genau nach dem passenden Spielzeug eines Zwölfjährigen, der nichts Besseres zu tun hat, als sich mit den gefährlichsten Kriegern ganz Enwors anzulegen.« Daart sah sich nach irgendetwas um, mit dem er den Stiefel säubern konnte. Er entdeckte ein längliches Trümmerstück, das genau die richtige Größe hatte, bückte sich und nahm es auf. »Ich frage mich trotzdem, wie es Thross ge-
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schafft hat, sich mit dem kleinen Bruder eines Staubdrachen anzufreunden.« »Anzufreunden ist vielleicht nicht das richtige Wort.« Carnac fuhr sich müde über das Gesicht und blinzelte auf Daart hinab, der mit angewidertem Gesicht an seinem Stiefel herumschabte. »Die Frage war, wie er ihn gefunden und hierher gebracht hat.« »Ja, und: Wie hat er das?« Carnac zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Creeper kommen überallhin, weißt du.« »Ja, das habe ich schon mal irgendwo gehört«, murrte Daart. »Und so hat es Thross geschafft, in etwas noch weitaus Gefährlicheres vorzudringen als in eine Drachenhöhle.« »Und das wäre?« Daart starrte angeekelt auf das verschmierte Trümmerstück in seinen Händen hinab und schleuderte es so weit wie möglich in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Es schlug mit einem fast metallisch klingenden Geräusch auf. »Er hat es geschafft, sich dort einzuschleichen, wo nur Frauen Zutritt haben: in ein Frauengemach«, fuhr Carnac fort. »Um genau zu sein: in das Gemach, in dem ich gerade zurechtgemacht wurde. Er hatte sich als Mädchen verkleidet…« »Erspare mir die Einzelheiten.« Daart griff nach einer erloschenen Fackel und rieb verzweifelt an seinem Stiefel herum. Der Drachenkot war erstaunlich zäh, und was noch schlimmer war, er verfestigte sich rasch. Mittlerweile waren schon ein paar grünlich braune Sprenkel auf seine Hand geraten. Das Ganze entwickelte sich langsam zu einem Albtraum. Statt mit seinem Tschekal gegen einen wütenden Drachen anzutreten, kämpfte er gegen Drachenkot! Er würde Thross ein paar ernsthafte Worte sagen müssen, wenn er ihn wieder sah. »Thross hat nicht nur den Drachen gefunden, sondern, was viel wichtiger war, auch einen Zugang, wie er ihn in die Stadt bringen konnte.« »Ja, klar, selbstverständlich. Das dürfte ja auch kaum ein Kinderspiel gewesen sein angesichts der Wachen, die überall patrouillieren.« Daart zog die Fackel kraftvoll an seinem Stiefel nach oben, und etwas spritzte hoch und traf ihn direkt unter der Nase. Es stank so
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fürchterlich, dass das Wenige, was er im Magen hatte, sofort nach oben drängte und er heftig würgen musste. Der Symbiont zappelte in seiner Kehle und flutschte dann in seine Mundhöhle. Daart sprang mit einem Satz auf, fuhr sich mit dem Ärmel mehrfach quer über das Gesicht und hüpfte ein paar Schritte von Carnac weg, darum bemüht, nicht erneut in Drachenkot zu treten. »Scheiße!«, brüllte er. »Ja«, sagte Carnac ungerührt. »Drachenscheiße!« »Ich glaube es nicht«, würgte Daart unter vorgehaltener Hand hervor. »Ich glaube nicht, dass Thross diesen… diesen ganzen Aufwand nur betrieben hat, damit wir ein paar ungestörte… Augenblicke haben.« »Ein paar Augenblicke, die du damit vergeudest, dich in Drachenkot zu suhlen?« Carnac schüttelte den Kopf. »Sicherlich nicht. Es ging um etwas weitaus Wichtigeres. Das hier, das Toben des Prorrs durch den Gang, war nur so etwas wie ein Testlauf…« Daart wandte sich von ihr ab, damit sie nicht mitbekam, wie er langsam grün im Gesicht wurde und wie der Symbiont herumzappelte. Es fehlte noch, dass er ausgerechnet in diesem Moment aus seiner Mundhöhle drang und sich auf das nächstbeste Opfer stürzte, das greifbar war: auf Carnac. Daart hatte gesehen, wie gefährlich und flink der Symbiont war, der ihn, Ask und den Ältesten angegriffen hatte, und er wusste, dass Carnac in ihrem angeschlagenen Zustand nicht die geringste Chance hätte, wenn er sie angriff. Aber das war noch nicht alles. In der Ferne des Ganges, ein Stück hinter der Stelle, an der sie ihn durch die aufgesprengte Tür betreten hatten, war das unruhig flackernde Licht mehrer Fackeln zu sehen. Schon schälten sich die Umrisse mehrerer Leibgardisten heraus, die im Laufschritt auf sie zuhielten. »Ach du Scheiße«, murmelte er. »Was ist?«, fragte Carnac. »Ist da noch mehr Drachenscheiße?« »So etwas Ähnliches«, murmelte Daart. »Medon in Begleitung weiterer schwer bewaffneter Leibgardisten. Und wenn ich seinen Gesichtsausdruck von hier aus richtig einschätze, ist er nicht gerade bester Laune.« Der Symbiont aber macht einen wahren Hüpfer in seinem Mund, als hätte er den Namen Medon verstanden und freute sich nun darauf,
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ihm ins Gesicht zu springen, sobald er in der dafür passenden Entfernung war.
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TEIL 3 Erst nach der Schlacht erfährt der Krieger, ob es die richtige Seite war, für die er sein Herzblut gab. Das Zwölfte Buch
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Daart starrte missmutig auf das Stück Fleisch, das vor ihm auf dem umgedrehten Schild lag. Sie hatten einen ganzen Tagesritt gebraucht, um hierher zu kommen, an diesen schilfbewachsenen Teil des Glutsees, einen Tag, den er trotz der immer schlimmer werdenden Kälte dösend in einem Zwischenzustand zwischen Wachen und Schlaf verbracht hatte. Immer, wenn er fröstelnd aufgeschreckt war, hatte sein Blick den Carnacs gesucht, aber meist hatte sie in eine andere Richtung gesehen. Das war beileibe kein Wunder. Zwischen ihnen war Medon geritten, ein verärgerter, grimmiger Medon, der keine Gelegenheit ausgelassen hatte, einen von beiden zu schikanieren. Einer seiner Männer hatte den Fehler begangen, das Wort Drache in seiner Gegenwart in den Mund zu nehmen, und war schon einen Herzschlag später mit einem kräftigen Tritt von seinem Pferd gefegt worden; dabei hatte er wohl von Glück sagen können, dass Medon anschließend sein Pferd um ihn herumgelenkt hatte, statt ihn einfach niederzureiten. Jetzt saß Medon Daart gegenüber und schlang ein Stück Fleisch in sich hinein, das ausgereicht hätte, eine ganze Familie eine Woche lang zu ernähren. An seinem grimmigen Gesichtsausdruck änderte das nichts. Er starrte vor sich in das Funken sprühende Feuer, in dem noch ein paar andere, auf Lanzen aufspießte Fleischstücke brieten wahrscheinlich sein Nachschlag -, und stierte zwischendurch immer wieder in Daarts oder Carnacs Richtung. An ein Gespräch war unter diesen Bedingungen nicht zu denken, ganz abgesehen davon, dass zwischen ihnen beiden zwei weitere Leibgardisten hockten, die ihre
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Mahlzeit bereits beendet hatten und sich bemühten, wachsam zu wirken und dabei nicht aus Versehen in Medons Richtung zu blicken. Daart hatte mittlerweile begriffen, dass Medon nicht nur der Hauptmann von Zar’Torans Leibgarde war, sondern auch ihr absoluter Herrscher, und dass das Regiment, das er führte, auf einer Mischung von Willkür und Brutalität beruhte. Seine Männer gehorchten schnell, zuverlässig und ohne Fragen zu stellen; ansonsten sahen sie zu, dass sie ihm nur nicht zu nahe kamen. »Iss«, knurrte Medon in Daarts Richtung. Er stocherte zwischen den Zähnen, pulte eine Fleischfaser hervor, die sich dort verfangen hatte, und starrte sie einen Moment lang gedankenverloren an, bevor er sie sich wieder in den Mund stopfte. »Du hast morgen einen anstrengenden Tag vor dir.« Daart nickte nur knapp. Er hatte überhaupt keinen Hunger. Vielleicht hatte er in den letzten Tagen einfach zu wenig gegessen, um jetzt noch Bedarf nach Nahrung zu verspüren, vielleicht waren es auch zu viele Dinge, die ihm durch den Kopf gingen, um ihn an etwas so Profanes wie Essen denken zu lassen. »Ich habe gesagt, du sollst essen!«, herrschte ihn Medon an. »Bilde dir nur nicht ein, dass du den Tauchgang abbrechen kannst, weil du zu schwach bist. Runter mit dem Fleisch! Oder ich stopfe es dir eigenhändig in den Mund!« Die Vorstellung, dass der Symbiont sicherlich alles andere als ruhig auf eine solch grobe Behandlung reagieren würde, rang Daart ein schwaches Lächeln ab. Medon fand das offensichtlich gar nicht lustig. »Was bildest du dir ein, mich so frech anzugrinsen?« Daart spürte, wie sich der Mann neben ihm anspannte, aber er selbst war weit davon entfernt, auf Medons drohenden Tonfall zu reagieren. Er war müde und erschöpft, fühlte sich aber auch so entspannt wie seit Tagen nicht mehr. Das Gespräch mit Carnac hatte ihn mit neuer Hoffnung erfüllt, und die Erinnerung an die leidenschaftliche Umarmung und den Kuss, der sie beide für einen verrückten, zeitlosen Moment hatte verschmelzen lassen, hütete er wie einen Schatz. Morgen war morgen; dann würde er sich den Fragen stellen müssen, an die er
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heute nicht denken wollte. »Aslam, hilf ihm beim Essen«, befahl Medon, und in seinem Tonfall war etwas, das weit über eine normale Drohung hinausging. Der Mann neben Daart beugte sich hastig vor und fischte das Stück Fleisch aus dem umgedrehten Schild. Daart seufzte und griff danach. »Schon gut«, sagte er. »Ich werde es essen…« »Das und mindestens noch eines der anderen Stücke, die gerade braten«, drohte Medon. Aslam hielt das Fleischstück so fest, dass sich Daart schon fragte, ob er es ihm mit Gewalt abnehmen müsse. Einen Augenblick zerrten sie beide an dem Fleisch, doch dann nickte Medon kaum merklich, und Aslam ließ es los. Daart starrte ohne große Begeisterung auf das Fleischstück, das aussah, als entstammte es der Hüfte eines nach langem Siechtum eingegangenen, altersschwachen Ochsen. Zudem war es zu stark durchgebraten, und als er hineinbiss, erwies es sich als faserig und durchzogen von einem bitteren Beigeschmack. Aber vielleicht lag es auch bloß an ihm und dem Ding in seiner Kehle, dass er mit allem, was mit Essen zu tun hatte, auf Kriegsfuß stand. Er kaute jedenfalls auf dem Fleischstück länger herum, als er das auf einer Schuhsohle aus strapazierfähigem Echsenleder je getan hätte. Und wenn er ehrlich war: Es schmeckte ihm noch viel weniger. Als er den Bissen schließlich herunterschlang, lag das mehr an dem misstrauischen Blick, mit dem Medon ihn maß, als daran, dass ihn bohrender Hunger dazu nötigte. Das Fleischstück auszuspucken hätte nicht nur Medons Wut angestachelt, sondern ihn auch misstrauisch machen können. Es war nicht nötig, dass er vorzeitig auf den Symbionten aufmerksam wurde. Es reichte vollkommen, wenn er ihn erst in dem Moment bemerkte, in dem er ihm ins Gesicht sprang… »Ich habe versprochen, dich zum Dorf deiner Eltern zu führen«, sagte eine Stimme hinter ihm. Daart hatte die Schritte, mit denen sich Zar’Toran genähert hatte, durchaus gehört, aber er hatte ihnen keine Bedeutung beigemessen, hatte sie einem seiner Krieger zugerechnet. Das erwies sich jetzt als
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Fehler. Zar’Toran ging neben ihm in die Hocke und klopfte ihm auf die Schulter. Daart verschluckte sich nicht nur fast, sondern tatsächlich - und nicht nur das Stück Fleisch, sondern auch noch den halben Symbionten. Die Kreatur gab ein schrilles Geräusch von sich, krallte sich in Daarts Kehle und versuchte sich wieder nach oben zu ziehen. Daart sprang auf, würgte, beugte den Kopfüber das Feuer, versengte sich die Haare. Der Symbiont geriet vollständig in Panik und Daart mit ihm. Es war ein Gefühl, als würde seine Kehle von innen aufgeschlitzt. Daart hatte den Symbionten noch nie schreien hören, und das allein war fast schrecklicher als alles andere. Er griff sich an den Hals und taumelte zwei Schritte zur Seite, trat einem Leibgardisten auf die Hand, ohne es mehr als nur ganz am Rande wahrzunehmen, und dann aus dem Kreis der am Feuer Lagernden hinaus. »Medon«, hörte er hinter sich Zar’Toran sagen, »was hast du ihm zu essen gegeben?« Daart bekam die Antwort nicht mit. Plötzlich war Carnac neben ihm. Sie klopfte ihm so hart auf den Rücken, als wollte sie ihm das Rückgrat brechen, aber immerhin half es. Der Symbiont rutschte wieder hoch, sauste in seine Mundhöhle. Carnac packte seinen Kopf bei den Haaren, riss ihn zu sich herum und schlug ein zweites Mal zu. Daart presste in einem Reflex die Zähne aufeinander, gerade noch rechtzeitig. Der Symbiont knallte von innen dagegen wie gegen ein Tor, das sich plötzlich und unerwartet vor ihm geschlossen hatte. Carnac, die sich vorgebeugt hatte und mit ihrem Kopf gerade auf seiner Höhe war, zuckte erschrocken zusammen und sprang einen halben Schritt zurück. Offensichtlich hatte sie noch gesehen, was da in seinem Mund herumtobte. Es schien ihr alles andere als zu gefallen. Doch immerhin war sie kaltblütig genug, um sich gleich wieder zu ihm herabzubeugen; eine Bewegung, die so schnell war, dass wohl weder Zar’Toran noch einer der anderen ihr Erschrecken bemerkt hatten. »Sag mir nicht, dass es ist, wonach es aussieht«, zischte sie ihm ins Ohr. Daart hätte gern geantwortet, doch der immer noch tobende Symbiont hinderte ihn daran. Alles, was er hervorbrachte, war ein erneutes
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Würgen. Carnac nickte hastig, so als sähe sie ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet, holte aus - und schlug ihm mit dem Handrücken kräftig auf den Mund, ein-, zwei-, dreimal, so schnell hintereinander, dass Daart gar nicht darauf hätte reagieren können, selbst wenn er es gewollt hätte. Der Symbiont machte einen regelrechten Hüpfer in seinem Mund und flutschte dann in seine Kehle zurück. Carnac war so dicht neben ihm, dass er ihren Atem in seinem Ohr spüren konnte. »Sag jetzt bloß nichts und rühr dich nicht vom Fleck«, hauchte sie. »Sonst wird er wieder wild.« Daart nickte kaum merklich. Er wusste nicht, was Carnac veranlasste hatte, ihn zu schlagen und ihm anschließend diesen Rat zu geben, aber es schien zu funktionieren. Der Symbiont krümmte sich geradezu in seiner Kehle, beinahe so, als suchte er dort Schutz. Es war alles andere als ein angenehmes Gefühl, doch weitaus besser als das, was er in den Augenblicken zuvor erlebt hatte. »Ich will euch ja ungern bei eurem merkwürdigen Paarungsritual stören«, sagte Zar’Toran, während er näher schlenderte. »Aber ich wollte euch noch zu einem kleinen Ausflug einladen, wenn ihr wollt.« Daart drehte sich zu ihm, die passende Antwort schon auf den Lippen, doch dann erinnerte er sich an Carnacs Rat und beließ es bei einem fragenden Blick. »Deine Eltern«, fuhr Zar’Toran fort, »ich hoffe, du erinnerst dich?« »Ja«, krächzte Daart, doch der Symbiont bewegte sich so unruhig, dass er nur diesen heiseren Laut herausbrachte und nicht die bösen Worte, mit denen er die Bemerkung des Feuermagiers am liebsten bedacht hätte. »Wir können sie besuchen«, sagte Zar’Toran im Plauderton. »Aber nur, wenn es dir nicht zu viel Mühe macht, Daart. Du siehst irgendwie ganz blass aus.« »Ganz, wie Ihr es wünscht«, sagte Carnac in formellem und doch so spöttisch klingendem Ton, dass Zar’Toran verärgert die Augenbrauen hochzog. »Wann brechen wir auf?« »Wir.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich dich wirklich mitnehmen will, Prophetin.«
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»Ich bin keine Prophetin«, entgegnete Carnac ruhig, »sondern Satai. Ich würde mich freuen, wenn ihr es Euch einmal merken könntet, Feuermagier.« Zar’Toran wischte ihren Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. »Es spielt keine Rolle, wem du dich zugehörig fühlst. Die Tage der Satai sind gezählt, so oder so. Schon bald werden sie überhaupt keine Rolle mehr spielen.« Daart wandte sich ab, so als schenkte er dem Wortwechsel keine Aufmerksamkeit mehr. In Wirklichkeit war er immer noch vollends damit beschäftigt, gegen den Würgereiz, zu kämpfen. Er versuchte, an etwas anderes zu denken als an die Kreatur, die in seiner wunden Kehle hockte. Ihm war klar, dass es eben ganz knapp gewesen war und dass der Symbiont Carnac beinahe mitten ins Gesicht gesprungen wäre… Es war ein Fehler gewesen, sich darauf einzulassen, den Symbionten hier einzuschmuggeln, ein Fehler, auf den Ältesten gehört zu haben, und es war die Frage, was noch alles falsch an dem war, was dieser ihm gesagt oder eben nicht gesagt hatte. Es wird Zeit, dass du deine eigene Entscheidung triffst, meldete sich die Stimme zu Wort, die all die letzten Tage geschwiegen hatte, und du solltest aufpassen, dich nicht zu etwas hinreißen zu lassen, was du später bereuen würdest. Daart ballte die Fäuste und drehte sich zu Zar’Toran und Carnac um. Er hasste es, wenn die Stimme in dieser Art mit ihm sprach; noch viel schlimmer war es, dass er ihr nicht antworten konnte. Zar’Toran würde wahrscheinlich kaum Verständnis dafür haben, wenn er plötzlich Sätze vor sich hinmurmelte wie: »Könntest du dich vielleicht etwas präziser ausdrücken?« Er hatte es gelernt, die Stimme zu akzeptieren, die irgendwo in seinem Kopf war, ohne zu ihm selbst zu gehören, und er war sich auch durchaus bewusst, dass nicht alles sinnlos war, was sie von sich gab - aber das änderte nichts daran, dass er sich am liebsten sofort von allem Fremden befreit hätte, von der Stimme genauso wie von dem Symbionten, diesem Geschenk des Ältesten, das ihm solche Unannehmlichkeiten bereitete. »Jetzt aber los!« Zar’Toran winkte ihm zu, und der rote Feuermantel flatterte auf, als wollte er sich mit ihm in die Lüfte erheben. »Wir
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sollten sehen, dass wir zum Dorf deiner Eltern kommen, bevor es dunkel wird. Oder bist du etwa gar nicht neugierig darauf, sie wieder zu sehen?« Daarts Herz hämmerte laut und heftig, als sie den schmalen, gewundenen Pfad emporstiegen, der vom Ufer aus durch ein Gewirr von Felsbrocken führte. Sie waren dem Pfahldorf, das halb auf den Felsen, halb im Wasser errichtet worden war, mittlerweile so nahe gekommen, dass er bereits die ersten Einzelheiten ausmachen konnte. Im letzten rötlichen Schein der Sonne, die über dem nahen Gebirge unterging, sah er es vor sich wie auf einem Gemälde, auf dem ein geschickter Maler die Umrisse der einzelnen Fischerhütten deutlich ausgeführt und alles andere, die Pfahlkonstruktion wie auch die Bodenplanken, nur mit knappen Strichen angedeutet hatte. Mit jedem hastigen Schritt, den er voranstürmte, dicht gefolgt von Medon und weiteren Leibgardisten, schälten sich mehr Einzelheiten heraus. Es war ein erstaunlich großes, verwinkelt angelegtes Dorf mit einer unübersichtlichen Anzahl einzelner Hütten, die über dem Wasser errichtet worden waren, und einem großen Platz in der Mitte, in dem Stöcke und Pfähle in den Himmel ragten, an denen noch die Überreste von Fischernetzen hingen. Daart erwartete, jeden Augenblick jemanden aus einer der Hütten treten zu sehen, der neugierig oder auch ängstlich den Ankömmlingen entgegenblickte. Aber natürlich geschah das nicht. Der Widerschein der Abendsonne schien sich geradezu in die maroden Holzkonstruktionen hineinzufressen, die sich vor ihm auftaten. Der vordere Teil des Pfahldorfes hing merkwürdig schräg über dem Wasser, und jetzt erkannte Daart auch, woran das lag: Mehrere der großen Pfähle waren eingeknickt, und am gegenüberliegenden Ende fehlte einer von ihnen sogar ganz, sodass die von ihnen gehaltene Bohlenkonstruktion ein kräftiges Stück abgesackt war. Und das waren nicht die einzigen Anzeichen von Zerstörung, die Daart hier gewahrte. Einige der Hütten wiesen Löcher in den Wänden auf, und bei mindestens dreien von ihnen war das Dach eingefallen. Es sah nicht danach aus, als ob das Dorf von einer Katastrophe heimgesucht worden
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wäre, sondern als ob sich die Zeit selbst schadlos an ihm gehalten hätte. Wenn hier noch jemand wohnte, dann sicherlich keiner von den ursprünglichen Dorfbewohnern. Auch wenn ihm sein Verstand das sagte, sprach Daarts Gefühl eine ganz andere Sprache. Zar’Toran hatte sich auf dem Weg hierher nicht dazu geäußert, wie er seine Bemerkung über Daarts Eltern gemeint hatte. Bislang war Daart davon ausgegangen, dass beide schon seit vielen Jahren tot waren. Eigentlich hätte ihn der heruntergekommene Zustand des Fischerdorfes davon überzeugen müssen, dass es sich genau so verhielt, aber merkwürdigerweise war das genaue Gegenteil der Fall. Mit jedem Schritt, den er den Pfad hinaufstieg und dem Geräusch des Windes und der Wellen lauschte, die sich auf ihre jeweils eigene Weise an den Felsen und den in den Schlick getriebenen Pfählen brachen, spürte er eine ihm bislang unbekannte, kribbelnde Erregung in sich aufsteigen. Er hatte schon vor vielen Jahren damit aufgehört, über das Schicksal seiner Eltern zu spekulieren, doch jetzt war es ihm, als hätte Zar’Toran mit seinen leichtfertigen Bemerkungen das Ihr zu etwas aufgestoßen, was zwar all die langen Jahre tief in ihm vergraben gewesen war, aber nie aufgehört hatte zu existieren. Dann hatte er das Ende des Pfades erreicht und sprang mit einem Satz auf die Holzbohlen, auf deren Grund das Pfahldorf errichtet worden war. Etwas knirschte unter seinen Füßen, und er begriff, dass er wohl zu ungestüm gewesen war. Nur wenige Schritte von ihm entfernt, direkt vor der einfachen Fischerhütte, die dem Aufgang am nächsten war, gähnte ein tiefes Loch im Boden, und auch der Teil, auf den er sich mit einer schnellen Bewegung gerettet hatte, wirkte morsch und alles andere als vertrauenswürdig. Der Nächste, der mit einem kraftvollen Schritt auf die hölzerne Plattform trat, war Medon. Daart hätte ihm gegönnt, dass er noch in derselben Bewegung durch berstendes Holz nach unten abgesaust wäre, aber es blieb bei der reinen Wunschvorstellung. Der Leibgardist trat überlegt und ohne große Hast auf, so als wüsste er bereits aus Erfahrung, wie trügerisch der Boden hier war. Auch die zwei Männer, die hinter ihm die Plattform betraten, gaben sich alle Mühe,
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das morsche Holz nicht zu sehr zu belasten. Als Nächstes war Zar’Toran an der Reihe, dicht gefolgt von Carnac. Daart würdigte den Feuermagier keines Blickes. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Carnac, deren Bewegungen wieder geschmeidiger und sicherer geworden waren, ohne allerdings so katzenartig elegant zu sein, wie er es an ihr liebte. Bevor sie auf die Plattform trat, schloss sie kurz die Augen und atmete tief ein. Erst als sie sie wieder öffnete, schien sie sich bewusst zu werden, dass Daart sie musterte. Sie runzelte die Stirn, und der Missmut in ihrem Gesicht verstärkte sich noch, als Daart auf sie zutrat und die Hand ausstreckte, um ihr auf die Plattform zu helfen. Mit fest zusammengekniffenen Lippen trat sie auf die gegenüberliegende Seite. Etwas knirschte unter ihren Füßen, und mit einer gedankenschnellen Bewegung hüpfte sie über eine weitere Fehlstelle, bevor sie sich umdrehte und zu ihm zurücksah. Daart wollte auf sie zugehen, doch dann fiel sein Blick auf etwas, was ihn ablenkte. Es war ein in das Weidengeflecht der nächsten Hütte eingeritztes Muster, ein senkrechter Strich, von dem im oberen Drittel zwei weitere, schräg angebrachte kleinere Striche abgingen. Irgendetwas an diesem Symbol berührte ihn tief, so als hätte er es schon einmal gesehen, auch wenn er sich beim besten Willen nicht daran erinnern konnte, wann das gewesen sein könnte. Dafür wusste er plötzlich wieder, was es darstellte: einen Vogel, und zwar nicht irgendeinen Vogel, sondern einen ganz besonderen… Gerade als er nach der Erinnerung greifen wollte, entglitt sie ihm wieder. Er ging neben dem gähnenden Loch in dem Holzboden in die Hocke, streckte den Finger vor und fuhr über das Weidengeflecht, in den das Vogelsymbol eingeritzt war. Es war merkwürdig, seine Finger schienen sich weit besser an das Symbol zu erinnern als sein Kopf. Er schloss die Augen, überwältigt von den Empfindungen, die ihn durchströmten. Ja, er hatte das schon einmal gespürt, in der kältesten Stunde der Nacht, als er seinen Atem als grauen Dampf vor seinem Gesicht hatte aufsteigen sehen. Jetzt, an der gleichen Stelle stehend wie vor vielen Jahren, überwältigte ihn die Erinnerung an jenen Moment, als er mit dem
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Finger über das Muster im Weidengeflecht gefahren war… Die Luft war feucht und kalt, und sein Gewand löchrig und schäbig. Er rieb sich mit den Händen über die nackten Oberarme, aber es half nichts. Seine Haut brannte, aber die Kälte wurde eher noch schlimmer, ließ ihn am ganzen Leib zittern. Er sollte in die Hütte zurückgehen und sich unter das warme Fell verkriechen, das ihn in frostigen Nächten schützte, und einfach so lange dort bleiben, bis die Sonne genügend Kraft gewonnen hatte, um die Nachtkälte zu vertreiben. Aber er konnte es nicht. Wieder und immer wieder ließ er die Finger über das Wellenmuster des Weidengeflechts gleiten, und er erinnerte sich an das andere Wellenmuster, das des Sees, auf das er endlos starren konnte, wie gefangen von der Vorstellung, dort eintauchen zu müssen. Immer wieder hatte er davon geträumt, dass er ein Vogel sei, der über dem See kreiste und sich in langsamen, gleitenden Runden hinabließ, während unter ihm der Wind das Wasser peitschte und es schäumen und gischten ließ. Die Träume, immer wieder diese gleichen Träume vom Flug über den flüsternden See. Er hätte aufschreien können, wenn er daran dachte und ihn die quälende Unruhe wieder packte, erst die ungute Vorahnung, später die Gewissheit, dass gleich etwas Schreckliches passieren würde. Und dann war der Traum plötzlich wieder in seinen Gedanken, als wäre er hier, an Ort und Stelle, in ihm gefangen. Er glitt durch den vom Wind aufgepeitschten Himmel, befreit von der Schwerkraft und doch voller Bangigkeit. Er versuchte zurückzufliegen, aber es gelang ihm nicht. Da war etwas Fremdes, Böses in ihm, das Gewalt über seinen Körper erlangte, Stück für Stück. Es fing an bei seinen Händen, die kribbelten und sich dann, Finger für Finger, seiner Kontrolle entzogen, glitt dann über seine Arme nach oben und breitete sich über seine Brust bis in seine Beine aus. Es war ihm, als entglitte er sich selbst, unwiderruflich, bis er selbst keinen Einfluss mehr auf seinen Körper hatte. Sosehr er sich auch anstrengte, seine Flugbahn zu verändern, es gelang ihm nicht einmal ansatzweise. Es schien, als wäre er zwei Personen in einer, und als risse der andere, der fremde Teil in diesem Moment die Herrschaft über seinen Körper an sich. Und das war noch nicht alles - nichts weiter als der Auftakt zu etwas
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weitaus Schrecklicherem. Etwas Unvorstellbares drang in seine Gefühle ein, versuchte sie zu überschwemmen. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, doch kein einziger Laut drang über seine Lippen. Hilfe!, dachte er, warum hilft mir denn keiner? Irgendetwas weit außerhalb von ihm schien auf seinen stummen Schrei zu reagieren. Und dann jagte es auf ihn zu. Ein dunkler Schatten senkte sich auf ihn herab, folgte jeder Flugbewegung, die sein Körper ohne sein bewusstes zutun vollzog. Bevor er überhaupt begriff, wie ihm geschah, stieß das fremdartige Wesen auf ihn nieder. Der fremde Teil in ihm versuchte, unter der Bewegung hinwegzutauchen. Zu spät oder doch rechtzeitig, das wusste er nicht… Die Bilder verwirbelten wie die Wasseroberfläche unter ihm. Doch dann glitt es an ihm vorbei, und er sah, dass das Wesen halb eine wunderschöne Frau, halb ein schrecklicher Vogel war, mit ledrigen Schwingen, die weit ausgebreitet waren, während es auf die Wasseroberfläche zuschoss… Daart zuckte zusammen, von der Erinnerung wie von einem Blitz getroffen. Sein Todesengel. Er hatte ganz vergessen, dass er ihm nicht erst in Guan erschienen war, sondern schon viel früher, in einem längst vergessenen Leben. Das Vogelsymbol und sein Todesengel waren untrennbar miteinander verbunden. Und das war noch nicht alles. Jetzt, wo er einen Zipfel einer uralten Erinnerung hatte greifen können, drängte sich ihm auch ein anderer Erinnerungsfetzen auf, nicht an den Traum von dem Flug über den See, der ihn immer wieder gequält hatte, sondern an etwas, das tatsächlich geschehen war, an eine Fahrt in dem kleinen Ruderboot, mit dem sein Vater oft auf den See hinausfuhr… Er hatte sich gefreut auf diesen Tag, unbändig gefreut. Der Tag der Sommersonnenwende stand bevor, und damit ein großes Fest, etwas, das selten geworden war, weil sich die Trauer über die vielen Toten der letzten Wochen wie bleierne Schwere über das Dorf gelegt hatte. Doch daran wollte er jetzt nicht denken. Er sprang in dem Boot hin und her, bis ihn sein Vater, der ihn erst eine Weile lächelnd hatte gewähren lassen, zur Ruhe ermahnte, eine Aufforderung, der er sofort nachkam. Sein Vater erlaubte ihm vielleicht mehr als andere
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Väter, aber er war auch von unnachgiebiger Härte, wenn es darauf ankam. Stattdessen lehnte er sich über den Rand des Bootes und starrte auf das Wasser hinab, das gegen die Bootswand schlug, in viele tausend Tröpfchen zerfaserte und in hellblauer oder weißer Fracht wieder auf die aufgewühlte Wasseroberfläche zurückfiel. Sein Vater ermahnte ihn, sich nicht zu weit über den Bootsrand zu lehnen. Er nickte hastig und wollte sich aufrichten. Und dann ging es so schnell, dass er nichts mehr dagegen machen konnte. Plötzlich hob eine Welle das Boot an und drückte es zur Seite, und er spürte, wie ihm etwas in den Rücken schlug. Einen Augenblick später verlor er auch schon das Gleichgewicht und tauchte ins Wasser ein. Das warme, fast heiße Wasser war wie ein Schock für ihn. Es war ein Gefühl, als tauchte er in flüssiges Feuer ein. Seine Schwimmbewegungen kamen zu spät und zu zögerlich, wie ein Stein sackte er hinab. Der Schrei, den er ausstoßen wollte, erstarb auf seinen Lippen, als ekelhaft warme Flüssigkeit in seinen Mund drang. Es war keine Angst in ihm, nicht einmal Entsetzen, nur Erstaunen darüber, was gerade mit ihm geschah. Das Wasser war nicht so trüb, wie es von oben ausgesehen hatte. Flirrende Sonnenstrahlen brachen durch die unruhig aufgewühlte Wasseroberfläche, wiesen ihm den Weg zum Boot seines Vaters. Er wollte dorthin zurück. Seine Hände wirbelten durch das Wasser, seine Füße strampelten wie wild, aber er stieg nicht auf, er sackte weiter herunter… »Wie lange willst du hier noch hocken?«, fragte eine sonore Stimme hinter ihm. Daart kam hoch und fuhr zu dem Feuermagier herum, alles in einer einzigen, flüssigen Bewegung. »Was ist jetzt mit meinen Eltern?«, herrschte er Zar’Toran an, während der Symbiont sich fast schmerzhaft in seine Kehle krallte. Der Feuermagier verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Ich dachte schon, du interessierst dich nur für alte Fischerhütten. Aber bitteschön«, er deutete mit einer einladenden Handbewegung auf den inneren Zirkel des Dorfes, »du hast die freie Wahl. Irgendwo hier müssen sie ja sein.«
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Daarts Unruhe drohte geradezu zu explodieren. Er trat auf Zar’Toran zu und streckte den Arm aus, als wollte er ihn schlagen und von der Plattform stoßen. Die Bewegung zielte darauf ab, den Feuermagier zu provozieren und zu einer Unbedachtsamkeit zu verleiten, aber statt wütend oder auch nur ungehalten darauf zu reagieren, verzog dieser lediglich sein Gesicht zu einer hochmütigen Miene, als spürte er ganz genau, was in Daart vorging, und trat dann einen Schritt zur Seite. »Lass dich nur nicht abhalten«, sagte er leise, als Daart an ihm vorbeiging. »Ich kann verstehen, wenn du jetzt lieber allein sein willst.« Daart schenkte sich eine Antwort. Er fühlte sich wie betäubt. Während er ohne nachzudenken einen schmalen, im Halbdunkeln liegenden Weg zwischen mehreren Hütten einschlug, bekam er die Erinnerung nicht aus dem Kopf, die ihn gefangen genommen hatte, als er mit dem Finger über das Muster des eingeritzten Vogels in dem Weidengeflecht gefahren war. Irgendetwas war passiert, damals, als er ins Wasser gefallen war. Etwas, was mit den Träumen über den Todesengel zu tun hatte, die ihn die ersten Jahre in Guan gequält hatten - den Todesengel, den Carnac wie auch Thross eine Najade genannt hatten. Daart wagte nicht, den Gedanken weiterzuverfolgen. Es schien ihm verrückt, hier in diesem verrotteten Pfahldorf herumzulaufen und Erinnerungen nachzuhängen, von deren Existenz er bis zum heutigen Tag nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Er konnte sich kaum vorstellen, dass er hier tatsächlich seine ersten Lebensjahre verbracht haben sollte, und doch… all das hier kam ihm mehr als nur vage vertraut vor. Es war nicht so, dass er einzelne Hütten wiedererkannt hätte oder sogar dieses ganze Dorf hier, es war eher so, dass irgendetwas ganz tief in seinem Innern mit einer Art panischen Gewissheit darauf reagierte, etwas wiedergefunden zu haben, was er all die Jahre insgeheim vermisst hatte. War das hier wirklich seine Heimat? Wie zur Antwort auf seine Frage schrie irgendwo ein Raubvogel, der seine einsamen Runden über dem See zog. Es war ein Laut, der seltsam verloren klang und zu dem miserablen Zustand des halb verfallenen Dorfes passte wie Waffengeklirr und Pferdewiehern zu einer Burg. Plötzlich drang der
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Geruch von Wind und Wasser durch seine Betäubung und dann das Getrampel der Leibgardisten, die ihm Zar’Toran wohl hinterher geschickt hatte. Ein Teil von ihm hatte sie die ganze Zeit über gehört und darauf geachtet, ob sie aufholten oder nicht, während ein anderer Teil, der ihn im Augenblick beherrschte, sie vollkommen ausgeblendet hatte. »Daart«, hörte er eine Stimme hinter sich, und er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sich Garnac eilig an den Leibgardisten vorbeizudrängeln versuchte. Er achtete nicht darauf. Hier, weit entfernt vom Rand der Plattform, war der Boden fest, aber rutschig, und er musste aufpassen, dass er in seinen Stiefeln nicht ausglitt. Schließlich hatte er, kurz vor dem Platz in der Dorfmitte und direkt am Rand der Plattform, ein Karree erreicht, das aus vier Gebäuden gebildet wurde, die sich von den armseligen Fischerhütten nicht nur durch ihre Größe, sondern auch durch ihre Bauweise unterschieden. Es waren Blockhütten, aus kräftigen, ineinander verzahnten Baumstämmen errichtet und nicht aus dem lehmbeschmierten Weidengeflecht, wie die kleineren und einfacheren Hütten, die er bislang passiert hatte. Obwohl auch sie ein kleines Stück abgerutscht waren, als morsch gewordene Pfähle unter ihnen eingeknickt waren und der ganze Holzboden, auf dem sie standen, ein Stück weit nachgegeben hatte, wirkten sie wie Bollwerke gegen die Zeit und strahlten eine Beständigkeit aus, die sich vom übrigen Dorf abhob. Er hielt an und starrte wie benommen auf das Blockhaus, das sich vor ihm auftat. Er hätte später nicht zu sagen vermocht, wie lange er so dastand. Den ganzen Tag über war es bewölkt und kalt gewesen, und jetzt, wo sich die Nacht über den See herabsenkte, legte sich die Luft wie ein dünner, eisiger Film auf seine Haut, und Kälte und Feuchtigkeit krochen langsam, aber auch beharrlich durch seine Kleidung hindurch. Im letzten rötlichen Licht, das durch die Ritzen der löchrigen Hütte an seiner Seite brach, konnte er seinen Atem als grauen Dampf vor seinem Gesicht aufsteigen sehen. Und dahinter eine halb offen stehende Tür. Etwas an dem Raum, der durch das Türblatt verborgen wurde, zog ihn unwiderstehlich an. Und trotzdem zögerte er, auch
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nur einen Schritt weiter vorwärts zu machen. Vielleicht war es nur die Gewissheit, dass Medon und seine Begleiter direkt hinter ihm stehen geblieben waren, und neben ihnen Carnac, die ihn sicherlich mit einer Mischung aus Sorge und Unbehagen musterte, vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes. Schließlich, als er hinter sich das ungeduldige Scharren von Stiefeln und das Schaben von Leder hörte, trat er entschlossen zwei Schritte vor, schob die Tür zurück und knallte mit der Stirn gegen ein Hindernis, das vermutlich ein niedriger Türsturz aus Holz war, sich in diesem Moment aber wie massiver Stein anfühlte. Er bückte sich, verspätet und mit einem Kopf, der sich anfühlte, als hätte jemand mit einem Schmiedehammer daraufgeschlagen, und trat dann endgültig in die Hütte. Er hatte einen kleinen und finsteren Raum erwartet, der von einem kümmerlichen Leben kündete, doch zumindest was die Enge und die Dunkelheit anging, befand er sich im Irrtum. Vor ihm erstreckte sich ein erstaunlich großer Raum, der im hinteren Bereich durch einige hüfthohe Wände unterteilt war. Auf der zum See gerichteten Seite befanden sich zwei Fensteröffnungen, wesentlich größer als die kleinen Gucklöcher in den Fischerhütten, die er auf dem Weg hierher passiert hatte. In einer von ihnen hingen noch die Reste einer halb durchsichtigen, halb spiegelnden Verkleidung, die so dünn wie Pergament war, und die andere war durch einen hölzernen Fensterladen verdeckt, der schief in den Angeln hing. Es war rötliches Licht, das von der Bergseite her in den Raum fiel und die umgestürzten Stühle und den zerschmetterten Tisch, über die Daarts Blick glitt, wie in Blut getaucht wirken ließ. Daart zog fröstelnd die Schultern zusammen. Der eisige Biss des Windes war hier drinnen kaum noch zu spüren, aber dafür schien es ihm, als stiege aus seinem Innern Kälte empor. Die ganze Holzkonstruktion unter ihnen ächzte und knarrte wie bei einem Schiff, das sich durch einen Sturm quält, und das dumpfe Klatschen der Wellen gegen die vorgelagerten Felsen und die morschen Pfähle, auf denen das Dorf ruhte, erzeugte ein unwirklich verzerrtes Echo, das die bizarre Atmosphäre noch verstärkte. Er ging in die Hocke, und jetzt erst war es ihm, als ob er den Raum aus der richtigen Perspektive
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heraus betrachtete. Er blickte hoch und ließ seinen Blick über die Bretter schweifen, die an den Wänden angebracht waren. Die Alltagsgegenstände, die sich auf ihnen stapelten - staubbedeckte Teller aus Holz, rostige Vorratsdosen aus Metall, Haken, Fleischspieße, Keramikbecher, Messer und Fischschuppenschaber - waren allesamt ein kleines Stück zur Seite gerutscht, als die Hütte in Schieflage geraten war, wirkten ansonsten aber unberührt. Das passte nicht zu den umgestürzten Stühlen und dem zertrümmerten Tisch, dessen Platte nicht geborsten, aber eingerissen und dessen Beine weggebrochen waren, als wäre jemand mit vollem Gewicht darauf gestürzt. Wenn hier, im vorderen Teil der Hütte, ein Kampf stattgefunden hatte, dann war er sicherlich schnell entschieden gewesen. Er zwang sich, den Gedanken zurückzustellen. Seine Finger glitten über eine Schale aus gebranntem Ton, die vor ihm auf dem Boden lag, und fuhren die Umrisse nach, und wieder empfand er das Gefühl, etwas Vertrautes zu tun, genauso wie bei der Fischerhütte, als er die Umrisse des eingeritzten Vogels auf dem Weidengeflecht nachgefahren war. Es war nicht viel, was hier außer den Tischtrümmern und den beiden Stühlen auf dem staubbedeckten Boden lag, ein paar Gefäße unterschiedlicher Form und Größe, einige Klammern, die wahrscheinlich einst Netze zusammengehalten hatten, und etwas, das wie ein Stampfer aussah, mit dem man Getreide zermahlte, bevor man daraus unter Zugabe anderer Zutaten Brotteig knetete. Doch dann, als er sich den aus einem einzigen Baumabschnitt gefertigten Tisch genauer ansah und den Staub vor ihm mit dem Finger ein bisschen zur Seite wischte, entdeckte er noch etwas: eine rot-graue Schleifspur auf dem Holzboden, die von hier in Richtung Tür führte. Es musste irgendetwas passiert sein, das über die Bewohner dieses Blockhauses wie ein Sturm hereingebrochen war. Die Frage war, was das gewesen sein konnte. Daart hatte nicht die geringste Ahnung. Die widersprüchlichen Gefühle, die ihn eben noch gequält hatten, traten in den Hintergrund und machten einer fast unnatürlichen Ruhe Platz. Er hörte, wie jemand hinter ihm in den Raum trat, und er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es Zar’Toran war. »Gespenstisch, nicht wahr?«, fragte der Magier. »Es sieht noch fast
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alles so aus wie damals.« Daart wollte es nicht, aber er konnte gar nicht anders, als sich umzudrehen und Zar’Toran fragend anzustarren. »Wie damals? Als was war?« Zar’Toran zuckte mit den Achseln. »Ich denke, das muss ich dir nicht erzählen. Du weißt doch selbst ganz genau, wo du dich hier befindest. Oder sollte ich mich so in dir getäuscht haben?« »Ich weiß nicht.« Daart drehte sich wieder um. »Wenn du meinst, dass ich mich an das erinnere, was hier vor Jahren passiert ist, muss ich dich enttäuschen.« Er trat ans Fenster und starrte hinaus. Der kalte, frische Wind, der ihm um die Nase blies, brachte ihn halbwegs wieder zu sich. Es war etwas in ihm, das sich erinnern wollte, aber genauso auch etwas, das alles daransetzte, um das zu unterdrücken, was an Altem, Vertrautem in ihm hochstieg. Es war merkwürdig. Er stand in diesem Haus, in dem er möglicherweise früher gelebt hatte, und er sollte sich eigentlich fragen, wo seine Eltern geblieben waren, welches Schicksal sie erfahren hatten. Aber das tat er nicht. Alles, was er vor sich sah, war das gleißende Licht, durch das er immer tiefer hinabgetaucht war, als er aus dem Boot seines Vaters gefallen war. Es war nicht der Hauch einer bewussten Erinnerung an diese Blockhütte hier, nur die an das Boot seines Vaters und an die zunehmende Panik, die er empfunden hatte, als er immer tiefer getaucht war. »Morgen wirst du auf den Grund des Sees tauchen«, sagte Zar’Toran. »Vielleicht wäre es vorher ratsam für dich, ein paar Dinge zu klären.« Ja, dachte Daart, zum Beispiel die Frage, warum er damals nicht ertrunken war. Irgendetwas war geschehen, als er tiefer und immer tiefer hinabgetaucht war. Etwas in ihm hatte die Kontrolle übernommen, etwas, von dem er zuvor nicht einmal gewusst hatte, dass es in ihm gewesen war. Seine Arme und Beine schienen plötzlich ganz von allein zu wissen, was sie zu tun hatten. Sie machten Bewegungen, die entfernt an die kleinen Seeschildkröten erinnerten, die er manchmal beobachtet hatte, wenn sie an Land krochen, wenn er die Pferde getränkt hatte. Ein Strom feiner Luftbläschen stieg von irgendwo unter
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ihm auf, kribbelte auf seinem Gesicht und seinen Händen. Aber er sah nicht nach unten, er sah nach oben, in das Gleißen hinein. Ein dunkler, lang gestreckter Schatten schob sich in sein Blickfeld, und er begriff, dass dies das Boot seines Vaters sein musste. Er strengte sich an. Seine Hände und Füße bewegten sich schneller und schneller, und langsam glitt er nach oben. Der Druck auf seiner Brust, den er zuerst kaum wahrgenommen hatte, steigerte sich stetig, und seine Lunge schrie nach Luft. Er war zu langsam, viel zu langsam, aber er ließ nicht nach, er wusste, dass er sterben würde, wenn er aufhörte, sich zu wehren. Doch dann schob sich der dunkle Schatten über ihm aus seinem Blickfeld. Sein Vater verschwand und ließ ihn allein zurück. Er hätte aufgeschrien, wenn er es gekonnt hätte, aufgeschrien über den Verrat seines Vaters. Wie konnte er das nur tun? Wie konnte er ihn hier zurücklassen? Seine Bewegungen wurden hilfloser und weniger zielgerichtet, und Panik stieg in ihm auf. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so verlassen gefühlt. Die Ruder des Bootes, mit dem sie auf den Glutsee hinaus gerudert waren, platschten ins Wasser, wieder und immer wieder, und sie drückten das Boot unaufhaltsam weg von ihm. Sein Vater ruderte so schnell, als ob er von der Stelle fliehen wollte, an der er in den See gefallen war. Daarts Augen füllten sich mit Tränen, die sich mit dem Wasser vermengten. Er wünschte, sein Vater wäre tot! »Was siehst du, wenn du auf den See hinausstarrst?«, fragte Zar’Toran. »Siehst du dort eine Gelegenheit - oder Verderben?« Das war eine gute Frage. Daart hatte in seiner Erinnerung Verderben gesehen, etwas, das mit diesem See zu tun hatte und mit einem Geheimnis, das ihn selbst umgab. Aber den See als solchen - den hatte er nicht einmal wahrgenommen, während er über die Holzbohlen auf ihn hinausgeschaut hatte. Jetzt, als Zar’Toran ihn darauf aufmerksam machte, wohin er überhaupt blickte, sah er das endlose Wogen, das scheinbar ansatzlos begann, das Kräuseln der blutrot schimmernden Wellen, das Gischten, mit dem die Wassermassen gegen die Riffe und die Holzstützen des Pfahldorfes anrannten, und
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die Vögel, die sich, von der kräftigen Windströmung getragen, in lang gestreckten Spiralen immer höher schraubten oder sich auf der Suche nach einem unvorsichtigen Fisch hinabgleiten ließen. Es war ein Anblick, wie er sich einem wahrscheinlich schon vor Tausenden von Jahren von dieser Stelle aus geboten hatte… Es konnten nur wenige Momente gewesen sein, in denen Daart diesen Anblick in sich aufgenommen hatte, und doch kamen sie ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Eis war ein seltsamer Frieden in ihm, als er sich endlich zu Zar’Toran umdrehte. Der Gesichtsausdruck des Feuermagiers gefiel ihm überhaupt nicht. Es war wieder etwas Lauerndes darin, wie so oft, wenn Zar’Toran darauf wartete, dass jemand die Spur aufnahm, die er gelegt hatte. Daart ermahnte sich zur Vorsicht. Er durfte nicht leichtsinnig werden, nur weil ihn alte Erinnerungen zu übermannen drohten. Und er durfte nicht vergessen, wo er war. Sein Vater… Er konnte sich überhaupt nicht an sein Gesicht erinnern, er sah nur den Schatten vor sich, den er geworfen hatte, als er sich im Wasser umgedreht hatte, um zurückzuschauen. War es das letzte Mal gewesen, dass er seinen Vater gesehen hatte? Oder bildete er sich all das nur ein? »Jetzt komm«, sagte Zar’Toran, »ich zeige dir deine Eltern. Und dann wirst du auch verstehen, warum du gar nicht anders kannst, als auf den Grund des Sees hinabzutauchen.«
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Das flackernde Licht der Kerze, die Zar’Toran entzündet hatte, warf unruhige Schatten auf die Holzstämme, aus denen die Hütte errichtet worden war, und es sah aus, als huschten dort tausende kleiner Fabeltierchen um die Wette. Daart lehnte an der Wand und starrte auf das zerwühlte, im Lauf der Zeit von Staub und Dreck fast grau gewordene Strohlager hinab, das seine Eltern geteilt hatten, wenn es stimmte, was Zar’Toran ihm gesagt hatte und was ihm sein eigenes Herz verriet, und weiter zu der Stelle, an der sie selbst lagen, tot und erschlagen vor einer Ewigkeit; ein Anblick, den wahrzunehmen er sich weigerte, den er ausgrenzte aus seinen Gedanken, als könnte er so nachträglich das Drama verhindern, das sich hier vor vielen Jahren
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abgespielt haben musste. Er hätte Trauer empfinden müssen und Schmerz, er hätte unruhig auf und ab gehen müssen oder sogar die Hütte verlassen, um sich draußen den frischen Wind ums Gesicht wehen zu lassen. Aber er tat nichts von alledem. Zuerst hatte er nichts weiter empfunden als eine eisige Kälte, die alle anderen Gefühle auszulöschen schien. Und Zorn. Einen kalten, gerade erst erwachenden Zorn, der tief aus dem Grund seiner Seele emporwuchs und alles andere verschlang. Jemand würde bezahlen für das, was hier geschehen war. »Die Menschen, die hier lebten, gehörten zu uns«, sagte Zar’Toran eindringlich und nicht zum ersten Mal. »Es ist wichtig, dass du das verstehst.« Daart riss den Blick von den Toten los und sah zu Zar’Toran hinüber. Der Magier hatte die Arme vor der Brust verschränkt und stand breitbeinig und wie selbstvergessen in seinem unruhig schwingenden Feuermantel da, ein Anblick, der kaum etwas Menschliches hatte, sondern eher dem eines Rachegottes glich. »Meine Eltern waren keine Guhulan«, widersprach Daart tonlos. Zar’Toran sah auf, sein Gesicht eine Maske, die keinerlei Gefühl zeigte. »Nein«, bestätigte er, »das waren sie wohl nicht. Zumindest nicht im engeren Sinne. Aber im weiteren Sinne gehörten sie als Hüter des Feuertempels zu uns. Das Leben, das sie als einfache Fischer fristeten, war nichts weiter als Fassade. Sie haben die alten Waffenkünste gepflegt und ihr geheimes Wissen über den Glutsee und das, was in der Tiefe verborgen ist, von Generation zu Generation weitergegeben.« Daart warf einen Blick zurück zur Tür. Carnac stand dort irgendwo, am Rand des Lichtscheins, den die fast vollständig heruntergebrannte Kerze warf. Schon seit geraumer Zeit hatte er keinen Ton mehr von ihr gehört. Er fragte sich, warum Zar’Toran sie überhaupt mitgenommen hatte. Sie gehörte nicht hierher. Niemand gehörte hierher außer ihm selbst und vielleicht Zar’Toran, auch nicht die Leibgardisten, die außerhalb der Hütte Posten bezogen hatten. Aber darum konnte er sich nicht kümmern. Er musste das Chaos in seinem Verstand in den Griff bekommen, trotz der hämmernden Kopfschmerzen, die ihn mittlerweile schlimmer marterten als je zuvor und
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die mit jeder Erklärung, die Zar’Toran nachschob, noch stärker wurden. »Du erzählst mir Dinge über meine Eltern, die ich nicht nachprüfen kann«, sagte er schließlich. Er blickte erneut zu Zar’Toran und starrte dann aus zusammengekniffenen Augen zu der Stelle an der Wand hinter der Lagerstatt; sein Magen drehte sich um, als er auf die zwei Toten blickte, die in einer gewaltigen Lache geronnenen, durch die Zeit fast dunkelbraun gewordenen Blutes lagen. Knochen, ein paar wenige Haarbüschel und pergamenttrockene Hautfetzen, die an ansonsten kahlen Schädeln hafteten, modrig und stockig gewordene Überreste einst wohl fester, aber einfacher Gewänder - das war alles, was von den Menschen übrig geblieben war, die sich hier sicher gefühlt hatten, bis man sie bestialisch ermordet hatte. Der Schädel des Mannes war eingeschlagen, die Rippen zerschmettert, der rechte Unterarm fehlte. Der kleinere Körper der Frau wies dagegen kaum Verletzungen auf - sah man einmal davon ab, dass das Rückgrat von einem wuchtigen Schlag fast vollständig durchtrennt war. Alles andere war Daart erst nach und nach zu Bewusstsein gekommen. Die dicke, unberührte Staubschicht um die Leichname, die bewies, dass sie tatsächlich hier schon seit einer halben Ewigkeit lagen. Die rostige Klinge eines abgebrochenen Schwertes, die auf Schulterhöhe in einem Spalt zwischen zwei Balken steckte, die tiefen Kerben in anderen Balken, die von der Wucht der Schwertschläge kündeten, die hier geführt und anfangs wohl ihr Ziel verfehlt hatten. Die leere lederne Schwertscheide an der Wand, die so angebracht war, dass man die Waffe im Notfall blitzschnell ziehen konnte. Er brauchte gar nicht die Augen zu schließen, um das schreckliche Schauspiel vor sich zu sehen, das hier stattgefunden hatte. Es mussten mehrere Männer gewesen sein, die unerwartet eingedrungen waren, keine Guhulan, die dort, wo sie angriffen, eine Flammenhölle zurückließen, sondern Meuchelmörder, die nur ein Ziel hatten: zu töten. Seine Eltern hatten offensichtlich geschlafen, ohne sich zuvor eine Waffe neben ihre gemeinsame Schlafstatt gelegt zu haben; Opfer des Irrglaubens, in dem schwer einnehmbaren Pfahldorf in vollkommener Sicherheit zu sein. Von einem verräteri-
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schen Geräusch - dem Knacken von Holz unter den Füßen eines Mannes, dem Zischen, mit dem ein Schwert aus einer Lederscheide fährt, oder einem leisen Räuspern waren sie aus tiefstem Schlaf aufgeschreckt, spät, viel zu spät, um noch fliehen zu können. Ein Schwert sauste auf Daarts Vater hinab, erwischte ihn am Arm, schnitt eine blutige Spur in seinen Körper. Er rollte sich zur Seite, riss seine Frau dabei mit und war mit einem Satz auf den Füßen. Den nächsten Schwerthieben konnte er durch schnelles Wegtauchen entgehen, dann packte er das Handgelenk eines der Angreifer, entwand ihm die Waffe, und bevor dieser wusste, wie ihm geschah, bohrte er ihm die Klinge bis an das Heft in den Leib und stieß ihn mit aller Kraft von sich. Der Mann stolperte zurück, knallte gegen den Tisch und brach über und mit ihm zusammen, doch da waren die anderen schon heran. Sein Vater wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung, tauchte unter den Hieben hinweg und ließ seine Klinge Funken sprühend auf die Schwerter der Angreifer krachen. Seine Mutter nutzte die kurze Atempause, stürmte nach hinten, riss mit fliegenden Fingern das Schwert aus der an der Wand befestigten Lederscheide. Als sie mit der Waffe in der Hand herumfuhr, um ihrem Mann beizustehen, taumelte dieser schon zurück. Es war hoffnungslos. Von überall her aus dem Dorf drangen jetzt das Klirren von Waffen und die Schreie der Getroffenen, Hilfe war von dort nicht zu erwarten. Daarts Vater versuchte einen Ausfallschritt, um die tödliche Umklammerung zu sprengen. Ein Schwerthieb unterlief seine Deckung und krachte mit entsetzlicher Wucht in seinen Brustkorb. Er taumelte zurück und wäre niedergefällt worden, wenn jetzt nicht seine Mutter heran gewesen wäre, um in die Bresche zu springen. Wieder klirrten Waffen aufeinander. Daarts Vater, schon fast zu Boden gegangen, rappelte sich noch einmal auf. Einer der Angreifer fuhr zu ihm herum. Er riss seine Waffe hoch, wollte ihn mit einem einzigen Schlag endgültig niederstechen. Doch der Mann, alles andere als ein einfacher Fischer, war schneller. Er hechtete zur Seite, stieß einen dumpfen, gequälten Laut aus, blieb aber auf den Beinen. Er wusste, dass er den Angreifer aus-
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schalten musste, um seiner Frau beizustehen. Er wirbelte herum und legte alle Kraft in den Schlag, mit dem er seinen Gegner zu enthaupten versuchte. Dieser duckte sich im letzten Moment. Die Klinge zischte haarscharf über seinen Kopf hinweg und fuhr in die Lücke zwischen zwei Balken, wo sie brach, als der Angreifer dem Vater das Standbein wegtrat und dieser zusammensackte. Die Klinge brach. Daarts Vater brachte noch einmal die Waffe hoch, aber es war nur mehr das Heft mit einem kurzen Stück Klinge, und die Bewegung kam zu spät und war zu kraftlos. Sein Gegner schlug zu, durchtrennte mit einem wuchtigen, schrecklichen Schlag seinen Arm. Der Schwertarm von Daarts Vater, sauber am Ellbogengelenk abgetrennt, sauste in einer grotesken Kreisbewegung davon, schlug hart auf dem Boden auf, schlitterte weiter, bis er gegen die Wand krachte. Daarts Mutter schrie auf, wollte entsetzt zu ihrem Mann herumfahren, da traf sie ein wuchtiger Schlag in den Rücken, der ihr die Wirbelsäule brach. Daarts Vater stand einen Herzschlag lang schwankend da. Aus seinem Armstumpf pulste helles Blut, sein Blick begann sich zu trüben. Sein Gegner stand vor ihm, mit schlagbereit erhobenem Schwert, aber wie gelähmt, unfähig, in diesem Moment zuzuschlagen. Der Schwerverwundete drehte sich schwankend um, dorthin, wo seine Frau röchelnd und im Todeskampf am Boden lag. Er streckte die verbliebene Hand nach ihr aus. Der Mann, der ihm den Unterarm abgeschlagen hatte, holte aus und ließ das Schwert mit unbarmherziger Wucht auf seinen Kopf niedersausen. Daarts Vater schrie auf, taumelte einen Schritt weiter vor und brach tödlich getroffen zusammen. Er fiel genau auf seine Frau, und in einer vollkommen sinnlosen, verzweifelt beschützenden Geste legte er den verbliebenen Arm um sie, als könnte er das aus ihr entfliehende Leben doch noch festhalten. Ein paar Augenblicke später drehten sich die Meuchelmörder auch schon um, und ohne den Sterbenden noch einen Blick zuzuwerfen, packten sie den gefallenen Kameraden bei den Beinen, schleiften ihn hinaus und verließen fast fluchtartig die Hütte… Daart blinzelte, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Es
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war nichts als Zorn in ihm, der mit jedem Atemzug, mit jedem Herzschlag anschwoll wie ein Bach, der von der Schneeschmelze in ein reißendes Gewässer verwandelt wird. Er hatte es gespürt, als er die seltsam schief stehende Hütte betreten hatte, er hatte gewusst, dass er seine Eltern hier finden würde, und auch, dass sie tot waren. Aber er hatte den Gedanken nicht an sich heranlassen wollen. Genauso wenig wie jetzt die Gewissheit, dass es sich bei den beiden Föten tatsächlich um die beiden Menschen handelte, die ihn in den ersten Lebensjahren aufgezogen, die ihm ein Heim und Schutz geboten hatten, »Die Hüter des Feuertempels haben nicht nur all die Jahrtausende ihr Wissen bewahrt, sondern auch peinlich genau darauf geachtet, dass niemand hinter ihr Geheimnis kommt«, sagte Zar’Toran mitten in seine aufgewühlten Gedanken hinein. »Wenn es niemanden gegeben hätte, der sie verraten hätte, dann wäre es nicht zu diesem verheerenden Überfall vor fast zwanzig Jahren gekommen, bei dem sie allesamt grausam erschlagen wurden.« Daart hob geistesabwesend die Hände vor den Mund und blies hinein, um die Kälte aus seinen Fingern zu vertreiben. Zar’Torans Worte hatten ihn erreicht, aber wie durch einen Nebel und ohne dass er daraus irgendeine Schlussfolgerung hätte ziehen können. Er konnte nur daran denken, dass er seinem Vater den Tod wünschte, als er versucht hatte, aus den Tiefen des Glutsees emporzutauchen. »Auch du hättest nicht überlebt, wenn du nicht in diesem Moment in deinem ureigensten Element, dem Wasser, gewesen wärst«, sagte Zar’Toran. »Dein Vater ist an diesem Morgen mit dir auf den See gefahren, um dir auf die Art das Schwimmen beizubringen, wie sie hier seit alters her an dem Tag der Sommersonnenwende üblich war. Er hat dich über Bord geschubst, als du nicht damit gerechnet hast, und darauf gewartet, dass du von selbst zu schwimmen anfängst und wieder hochkommst.« Daart sah überrascht auf. Das, was Zar’Toran erzählte, deckte sich erstaunlich genau mit seiner Erinnerung, auch wenn es einen gravierenden Unterschied gab: Er war der Meinung gewesen, dass er selbst an dem Unglück schuld gewesen war, das mit seinem Sturz ins Wasser begonnen hatte. »Aber wieso ist er dann weggerudert?«, fragte er
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unwillkürlich. Zar’Toran zog eine Augenbraue hoch. »Du erinnerst dich.« Er lächelte kaum merklich, und diesmal war nichts Wölfisches in seinen Zügen, sondern eine Aufrichtigkeit, wie Daart sie das letzte Mal vor vielen Jahren an ihm beobachtet hatte. Zar’Toran überraschte ihn immer wieder. Es hatte Zeiten in Guan gegeben, da hatte er sich tatsächlich gefreut, wenn der Feuermagier auf seinem stolzen Hengst den verschlammten Weg zu der Hütte hochgeritten war, in der er zusammen mit Pe’te und der alten Kulana gelebt hatte. Doch dann war der Tag des Feuerrituals gekommen, dieser schreckliche, alles verändernde Tag, vor dem Kulana ihn immer wieder gewarnt hatte, und wie sich herausgestellt hatte, vollkommen zu Recht. Am Abend dieses Tages war Pe’te tot gewesen, durchbohrt von einem GuhulanSpeer. Daart hatte einen brennenden Hass auf Zar’Toran entwickelt, der ihm umso mehr zu schaffen gemacht hatte, als ihn unsinnige Schuldgefühle gequält hatten, das Gefühl, dass nicht Pe’te, sondern er selbst bei dem Ritual hätte sterben müssen. Es war natürlich Unsinn gewesen, aber nichtsdestotrotz der Anlass, sich endgültig von den Guhulan abzuwenden, für die er schon zuvor nicht viel Sympathie empfunden hatte, und einen Schritt zu wagen, der für jemanden, der unter dem Einfluss der Guhulan aufgewachsen war, schier undenkbar war: sich den Satai anzuschließen. »Mich interessiert natürlich brennend, ob du dich auch noch an den Überfall auf das Dorf erinnerst«, sagte Zar’Toran. »Natürlich nicht«, sagte Daart schroff. »Ich erinnere mich an überhaupt nichts, was mit dem Überfall zu tun hat. Ich kann lediglich aus den Spuren den Ablauf des Gemetzels herauslesen, dem meine Eltern hier zum Opfer gefallen sind.« Er wandte sich ab, gepackt von einer fast beißenden Unruhe, und ging erneut auf das Fenster zu, um sich auf dem runden, nur grob behaltenen Holz darunter abzustützen und in die fast tiefschwarze Nacht hinauszublicken, in der der dunkle Himmel mit dem scheinbar endlos weit reichenden Wasser des Sees verschmolz. Irgendwo dort draußen glaubte er einen dunklen Schatten zu gewahren, etwas Düsteres, Dräuendes, das sich zusammenballte, vielleicht die Vorboten eines Sturms oder auch nur der ge-
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drungene Umriss eines Schiffes, das auf die Küste zuhielt. »Du versuchst mir irgendetwas einzureden. Mir einen Grund zu liefern, dass ich morgen dort hinabtauche. Dabei weiß ich überhaupt nicht, was ich hier soll.« Er lachte rau auf, kaum noch behindert durch den Symbionten, an den er sich mittlerweile gewöhnt hatte wie ein Kriegsinvalide an den mit Draht zusammengebundenen Rest eines zerschmetterten Unterkiefers. »Wer sagt mir, dass du diese ganze Kampfszene hier nicht nur arrangiert hast, um mir dann einzureden, die zwei Leichname seien die meiner Eltern?« »Ich kann dir verraten, wer dir das sagt.« Es raschelte leise hinter ihm, so als ordnete Zar’Toran seinen Mantel - oder als erwachte der Mantel selbst zu eigenständigem Leben, etwas, das Daart nicht im Mindesten überrascht hätte. »Du bist es selbst, der dir alle Informationen geben kann, die du brauchst. Alles, was du wissen musst, ist seit deiner frühesten Kindheit tief in dir vergraben. Du brauchst dich nur deinen ureigensten Erinnerungen zu öffnen, die schon seit vielen Jahren darauf warten, von dir Besitz zu ergreifen - und dich für deine wahre Bestimmung zu öffnen.« Wahre Bestimmung… Daart hätte eine Menge dazu sagen können. Und dennoch: Er machte es sich zu einfach, wenn er alles beiseite schob, was Zar’Toran sagte. Etwas ganz Neues und doch Uraltes brach in ihm auf, etwas, das mit der Sehnsucht nach all dem zu tun hatte, was mit seinen ersten Lebensjahren verwoben war. Es war ihm natürlich klar, dass Zar’Toran die Wahrheit so eingefärbt hatte, dass sie ihm in den Kram passte. Doch das war es nicht. Tief in seinem Innern spürte Daart immer noch den Nachhall des Sogs, der ihn auf direktem Weg in diese Hütte geführt hatte und damit zu ihren beiden Bewohnern, die in einem schrecklichen Kampf zerschmettert worden waren. Seine hämmernden Kopfschmerzen machten es ihm unmöglich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, zwei-, dreimal hintereinander, aber es wurde nicht besser. Seine Eltern… die Erinnerung an sie war nicht verschwommen, sie war so gut wie nicht vorhanden, und doch spürte er, dass sie nur darauf wartete, wieder an die Oberfläche geholt zu werden. In
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der halb durchsichtigen, halb spiegelnden Verkleidung, die vor dem Fensterrahmen im Wind flatterte, sah er plötzlich sein Spiegelbild, alles andere als klar, eigentlich kaum mehr als einen verschwommenen Schemen mit einem Kopf, der zu groß, und einem Hals, der lächerlich klein wirkte. Er hatte sich nie gefragt, ob er seinem Vater ähnlich sah, vielleicht sogar wie aus dem Gesicht geschnitten war, doch in diesem Augenblick tat er es. »Auch wenn es anders gekommen wäre«, sagte Zar’Toran hart, während er neben Daart trat und gleich ihm auf den See hinausstarrte, »wenn es nicht den Überfall gegeben hätte, bei dem die Bewohner dieses Dorfes erbarmungslos erschlagen worden wären, würden wir jetzt hier stehen. Nur würden wir dann darüber reden, wie wir den Tauchgang morgen am besten vorbereiten könnten, und dein Vater würde dir Ratschläge geben, wie du am leichtesten in den Feuertempel einsteigen und wie du dich dort unten orientieren kannst, um das Amulett an die richtige Stelle zu platzieren. Er selbst war zwei- oder dreimal dort, um nach dem Rechten zu sehen, und jedes Mal, wenn wir darüber sprachen, wie es dort unten aussieht, fragte er nach, wann es denn endlich so weit sei, dass wir den Tempel wieder heben und seine alte Pracht erstrahlen lassen könnten. Es wäre für ihn ein großer Tag gewesen, seinen Sohn mit dem Amulett dort hinabtauchen zu sehen, um das zu vollenden, was vor euch beiden viele andere begonnen haben.« »Ein großer Tag für dich und die Guhulan, das mag sein, und vielleicht auch für die Aralu und Nubina«, sagte Daart bitter. »Aber doch nicht für meinen Vater! Was hatte er mit dem Feuertempel zu schaffen?« »Das habe ich dir doch schon erklärt«, sagte Zar’Toran ruhig. »Deine Eltern gehörten zu den Hütern des Tempels, genauso wie ihre Eltern und deren Eltern, vielleicht sogar in gerader Linie bis hin zu den Zeiten, als die Alten und die Sternengeborenen erbittert um die Vorherrschaft kämpften. Und auch du gehörst zu ihnen. Du bist kein Guhulan, kein Feuerkrieger, der die Macht der Alten einsetzt, du bist aber auch schon gar nicht ein Satai, auch wenn du dich in den letzten zwei Jahren so gefühlt haben magst.«
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Daart wollte davon nichts hören. In ihm brannte eine ganz andere Frage. »Wer«, fragte er, während er den Kopf zu Zar’Toran umwandte, »hat meine Eltern umgebracht?« Zar’Toran presste die Lippen aufeinander, und für einen Moment sah es so aus, als wollte er nicht antworten. Doch dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Du solltest lieber fragen, wer euch verraten hat.« »Verraten?«, fragte Daart scharf. »Wie meinst du das?« »Nun, das Geheimnis des Glutsees ist jahrtausendelang gewahrt worden.« Zar’Torans Stimme bekam einen unangenehmen metallischen Unterton, als er weitersprach. »Und das, obwohl es verschiedene Gruppen gab, die von ihm wussten. Eine dieser Gruppen war zur Neutralität verpflichtet. Aber sie hielt sich nicht daran. Sie hatte nicht Besseres zu tun, als einem Haufen Halsabschneider oder Ausgestoßener davon zu berichten, die sich, getrieben von Neid und Hass, schließlich gegen uns wandten. Sie hätten niemals die Kraft gehabt, gegen die Guhulan anzutreten, aber den als Fischern getarnten Hütern des Feuertempels waren sie zahlenmäßig nicht nur weit überlegen, sie hatten auch in Erfahrung gebracht, wie sie sie überraschen konnten. Und das haben sie ausgenutzt, um dieses Dorf zu überfallen und alle niederzumetzeln, deren sie habhaft werden konnten, Männer, Frauen, Kinder.« Daart sagte nichts darauf. Er hatte schon viel zu oft gesehen, was Schwerter anzurichten vermochten. Auf dem Weg von Nyingma in den Norden Enwors hatten sie ein Dorf passiert, das ein paar Tage zuvor überfallen worden war, und er glaubte, jetzt noch den Geruch der verwesenden Leichen in seiner Nase zu haben, die erschlagen am Wegesrand lagen. »Du willst gar nicht wissen, wer deine Eltern ans Messer geliefert hat?«, fragte Zar’Toran lauernd. Natürlich wollte er das. Er kannte die Antwort des Feuermagiers nicht, aber er ahnte, dass er etwas zu hören bekommen würde, was ihm überhaupt nicht passte. »Hör doch auf mit diesem Spiel«, sagte Carnac plötzlich. Daart drehte sich überrascht zu ihr um. Obwohl sie ein paar Schritte
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vorgetreten war, blieb sie ein dunkler Schemen. Das Licht der flackernden Kerze reichte gerade aus, um ihre Gesichtszüge erahnen zu lassen, und doch glaubte er, etwas Fremdes in ihnen zu lesen, eine Mischung aus Trotz und Härte, die er so an ihr noch nie gesehen hatte. »Es ist kein Spiel«, sagte Zar’Toran leise. »Das war es nie.« »Nein, natürlich nicht.« Nicht nur in Carnacs Gesicht war Härte; sie spiegelte sich auch in ihrer Stimme wider. »Und das weißt du sehr genau. Die große Prophetin hat ihre guten Gründe gehabt, das zu tun, was getan werden musste.« »Ich kenne die Hintergründe für Fatamas infamen Verrat weit besser als du«, polterte Zar’Toran. »Es waren nichts weiter als die ungleichen Geschwister Egoismus und Verblendung, die sie zu ihrer Tat getrieben haben. Sie hat geglaubt, eingreifen zu müssen? Lächerlich. Es stand ihr nicht an, sich in die Dinge einzumischen, die von selbst ihren Lauf genommen hatten.« »Wartet…«, sagte Daart. Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte. Der Symbiont, eben noch in unruhiger Bewegung, schien zu erstarren, sich klein zu machen, wegtauchen zu wollen vor der Wut, die seinen Träger erfasst hatte, statt sie als Signal für einen Angriff zu werten. »Was soll das heißen?« Daart machte einen Schritt auf Carnac zu, und sie wich um die gleiche Entfernung zurück. Über ihr Gesicht glitt ein Lichtstreifen, der es in zwei Hälften teilte, und für einen Moment glaubte Daart wieder Irana vor sich zu sehen, die Frau, in die sich Carnac auf rätselhafte Weise verwandelt hatte, während sie in Nyingma waren. »Soll das etwa bedeuten, dass es die Prophetinnen waren, die meine Eltern und alle Menschen hier verrieten? Waren es die Prophetinnen, die meinen Tod wollten, waren sie es, die dafür sorgten, dass meine Eltern niedergemetzelt wurden und jämmerlich verbluteten? Haben sie die Schlächter hierher geschickt, die ihnen selbst noch die Würde einer ehrenvollen Bestattung raubten?« Carnacs Augen waren unnatürlich weit geöffnet, aber diesmal fehlte die bedrohliche Schwärze in ihnen, die er sonst in ihnen fand, wenn sie sich in die Enge getrieben oder unter Druck gesetzt fühlte.
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»Nein, natürlich nicht.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Nicht so, wie du denkst. Die große Prophetin Fatama…« »Hat sich nicht selbst die Hände schmutzig gemacht, das kann ich mir vorstellen. Bei allen Göttern!« Daart ballte die Faust, fuhr herum, als ob er Zar’Toran schlagen wollte, wich dann aber zur Seite und ließ sie mit aller Wucht auf den Balken unterhalb des Fensters krachen. Ein scharfer Schmerz jagte durch sein Handgelenk. Staub und Dreck stoben auf, und der Balken selbst sackte ein Stück durch, als wäre er vom Hammer eines Titanen getroffen worden. Daart hatte keinen Blick dafür und auch nicht für den gefaserten Riss, der durch ihn lief. Seine Augen brannten. Am liebsten hätte er die ganze Hütte zerschlagen, Stück für Stück und mit bloßen Fäusten. Die Meuchelmörder, von den Prophetinnen geschickt! Das überstieg sein Vorstellungsvermögen. Carnac hatte so getan, als ob die Prophetinnen edel und zurückhaltend seien. In Wirklichkeit entschieden sie genauso leichtfertig über Menschenschicksale wie der Befehlshaber einer zerlumpten Truppe von Halsabschneidern. »Ist dir eigentlich schon einmal irgendwie der Gedanke gekommen, dass Fatama nichts weiter als eine feige Verräterin ist?« Er drehte sich nicht um, er klammerte sich an dem eingesackten, gesprungenen Balken mit beiden Händen fest, als hinge sein Leben davon ab, und starrte hinaus, ohne irgendetwas wahrzunehmen. »Wie kannst du dich nur mit jemandem einlassen, der eine Bande Meuchelmörder losschickt, um unschuldige Menschen umzubringen?« »Ich habe mich nicht mit jemandem eingelassen«, sagte Carnac leise. »Ich bin bei den Prophetinnen aufgewachsen, so wie du bei den Guhulan.« Daart glaubte nicht richtig gehört zu haben. Das Blut rauschte in seinen Ohren wie ein ferner Sturm, der heran jagt, um alles mit sich zu reißen und auszulöschen. »Das kann man nicht vergleichen«, sagte er mit vor Wut zitternder Stimme. »Ach ja, und warum nicht?« Carnac wich einen halben Schritt zurück, so als hätte sie Angst, er werde sich vom Fenster lösen, um sie anzugreifen. »Kann man denn irgendetwas für den Ort, an dem man geboren wurde«, fuhr sie mit leiser, erstickter Stimme fort, »und für
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die Menschen, mit denen man aufgewachsen ist?« »Das meine ich nicht, und das weißt du auch ganz genau.« Carnac hatte seine Stimmung durchaus richtig gedeutet; Daart musste sich zusammenreißen, um nicht herumzufahren. Er wusste nicht, was er getan hätte, hätte er jetzt Carnac vor sich stehen sehen. Zwei lange Jahre war sie seine Satai-Sjen gewesen, zwei lange Jahre hatte er Zeit gehabt, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass sie anders war als alle anderen Satai-Schüler, und das nicht nur, weil sie im Gegensatz zu ihnen eine Frau war. Er hatte geglaubt, dass ihr ganz besonderes Verhältnis zueinander darauf beruhte, dass ihrer beider Herkunft mit einem Geheimnis verwoben war. Aber er hatte sich getäuscht. Es war genau das, was sie in Wahrheit trennte, und diese Wahrheit trat jetzt zutage, genau in diesem Moment, in dem Daart zu sich selbst, zu seiner eigenen Abstammung gefunden hatte und damit zu dem grässlichen Geheimnis, das sich um den Tod seiner Eltern rankte. »Du hast gewusst, was hier passiert war, und hast es mir nicht gesagt«, fuhr er so hart fort, dass er selbst erschrak. »Ganz im Gegenteil. Es ist noch gar nicht so lange her, dass du mir von der großen Prophetin vorgeschwärmt hast und von dem Bündnis, das sie mit Skarissa Rabork geschmiedet hat.« »Vielleicht…« Carnac schluckte, und dann glaubte er aus den Augenwinkeln zu sehen, wie sie sich straffte. »Ich will dir nicht ausweichen - aber ich halte das hier nicht für den richtigen Ort, um darüber zu sprechen.« »Du meinst, weil ich ansonsten durch Daarts leichtfertiges Geplapper etwas Neues erfahren würde«, unterbrach sie Zar’Toran. »Aber ich fürchte, da muss ich dich enttäuschen. Ich bin über alles im Bilde, was dich und Daart angeht. Es könnte sogar sein, dass ich mehr von euch weiß als ihr selbst.« Er lachte hart und humorlos auf, ein Laut, der auf unangenehme Weise das Plätschern der Wellen an den vorgelagerten Felsen übertönte. Trotz des eiskalten Windes, der mit seinen gierigen Fingern nach ihm griff, hatte Daart plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Bitterböse Gedanken purzelten in ihm durcheinander. Carnac hatte ihm etwas vorgespielt, von Anfang an. Sie hatte niemals
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auf seiner Seite gestanden. »Es ist wirklich nicht so, wie du denkst«, sagte Carnac verzweifelt. »Daart, bitte, du musst mir glauben: Fatama hat immer zum Wohle Enwors gehandelt!« »Zum Wohle Enwors«, sagte Zar’Toran scharf. »Dass ich nicht lache. Sie hat sich mit Skarissa Rabork verbündet, um eine neue Vorherrschaft zu schaffen…« »Nein«, unterbrach ihn Carnac scharf. »Dieser Bund galt nur dem Ziel, dem Chaos Einhalt zu gebieten, das du gemeinsam mit Nubina auf schäbigste und leichtfertigste Weise entfesselt hast. Die Prophetinnen mischen sich grundsätzlich nicht in die Geschicke Enwors ein, solange nicht das Schicksal von uns allen auf dem Spiel steht.« »Ach ja? Und warum hat dann Fatama die Prophetinnen hintergangen, um sich heimlich und ohne irgendeinen offiziellen Kanal mit jemandem aus dem Hohen Rat der Satai zu verbünden?« Zar’Toran schüttelte ärgerlich den Kopf. »Sie ist eine Abtrünnige eures eigenen Glaubens, verrät ihre eigenen Grundsätze.« »Nein, das tut sie nicht…« Daarts Gefühl, nicht mehr richtig Luft zu bekommen, steigerte sich, und mit ihm die Kopfschmerzen, die in seinem Kopf dröhnten, als schlüge jemand im Rhythmus seines Herzschlags auf die immer gleiche Stelle an seinem Hinterkopf ein. Er wollte diesem schrecklichen Gespräch nicht folgen, diesem Tauziehen mit Argumenten, die vollkommen bedeutungslos waren, dieser Austauschbarkeit inhaltsloser Phrasen, die nur das Grauen verdecken sollten, das in ihrem Namen stattfand. Er beugte sich so weit aus dem Fenster vor, wie es ging. Die Kälte, die ihn mit unbarmherziger Wucht ansprang, kam ihm wie ein Freund vor, und selbst die Kopfschmerzen ließen für einen Moment nach. Der Schatten, den er vorhin wahrgenommen hatte, hatte sich mittlerweile verdichtet, und Daart wurde bewusst, dass es tatsächlich ein Schiff war, ein lang gestrecktes dunkles Ungetüm, von dem das gleichmäßige Schlagen einer Trommel wie der Herzschlag eines gewaltigen Ungeheuers zu ihnen herüberdrang. Das Boot hatte bislang wohl auf fast geradem Kurs auf das Fischerdorf zugehalten, doch
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jetzt drehte es ab und glitt erstaunlich schnell durch die Nacht auf die nächste Bucht zu, die Daart von hier aus nicht einsehen konnte. In jeder anderen Situation hätte er sich Tausende von Fragen zu dem Schiff und seiner Besatzung gestellt, doch jetzt kümmerte er sich nicht weiter darum. Er hörte hinter sich, wie Carnac und Zar’Toran unbarmherzig weiter stritten, als wären sie zwei Winkeladvokaten, die vor einem Königsthron um das Schicksal ihrer Klienten stritten. Seine Eltern waren verraten worden, das allein zählte. Sie und alle anderen Dorfbewohner, die am Tag der Sonnenwende hier geschlafen hatten. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das allein mit ihm zu tun hatte. Er hatte immer noch nicht begriffen, was an diesem Tag eigentlich mit ihm los gewesen war, warum hier, in dieser Hütte, in der er offensichtlich gelebt hatte, nicht auch der von einem Schwerthieb niedergestreckte Leichnam eines kleinen Kindes lag. Daart versuchte, die Erinnerung zurückzuzwingen, sich daran zu erinnern, wie er durch das Wasser getaucht war… … nachdem sein Vater verschwunden war und nichts mehr zu hören war von dem dumpfen Schlag, mit dem die Ruder gleichermaßen kraftvoll und schnell ins Wasser gezogen wurden. Seine Hände und Füße bewegten sich immer noch wie von selbst, und es war mittlerweile viel mehr als ein Strampeln, mit dem er sich weiter vorwärtsbewegte. Etwas in ihm hatte die Kontrolle übernommen, das die ganze Zeit über tief in ihm verborgen gewesen war und nun erwachte, um ihn in Sicherheit zu bringen. Aber es gab nichts, wohin er hätte schwimmen können. Keine Insel, kein Ufer, nichts, das ihm vertraut war, nichts, wo er an Land hätte gehen können. In ihm war ein tiefer Schrei, Entsetzen, gemischt mit Empörung, etwas, das ihn fast zerriss. Er hatte sich noch nie so einsam und verlassen gefühlt. Dann, endlich, brach er mit dem Kopf durch das Wasser. Er kam prustend hoch, schlug um sich, sackte wieder ein Stück zurück, erneut unter Wasser, fing sich wieder und drückte sich mit kraftvollen Schwimmbewegungen nach oben. Er hatte Angst. In seinem Körper war ein Zittern, obwohl das Wasser erstickend warm war. Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Da war nirgends ein Boot zu ent-
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decken, und auch kein rettender Uferstreifen. Nichts als Wasser und die Wellen, die ihn hin und her warfen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Irgendwann würden ihn seine Kräfte verlassen, und er würde untergehen. Wie hatte sein Vater das nur tun können? »Warum sagst du es ihm nicht einfach?« Zar’Torans Stimme donnerte so laut, dass sie durch Daarts Erinnerung fuhr wie ein Blitz durch eine tiefschwarze Nacht, und obwohl er das Gefühl festzuhalten versuchte, wie er als kleiner Junge einsam auf dem See getrieben war, entglitt es ihm. »Fürchtest du die Wahrheit, Prophetin? Glaubst du etwa, Daart könnte dich hassen, wenn er erführe, was damals wirklich passiert ist?« »Ich verstehe überhaupt nicht…« Daart drehte sich zu den beiden um. »Schluss damit.« Seine Stimme war leise, aber es schwang etwas darin mit, was Zar’Toran zu einem Stirnrunzeln veranlasste und Carnac abrupt verstummen ließ. »Ich weiß nicht, was ihr jetzt noch von mir wollt. Ja, ich habe verstanden, dass die Prophetinnen meine Eltern und alle anderen hier verraten haben. Ich weiß noch nicht, was ich mit diesem Wissen anfangen werde.« Carnac hob die Hand, als wollte sie etwas sagen, senkte dann aber fast erschrocken den Blick und blieb wie erstarrt stehen, bleich und immer noch wie zweigeteilt durch das unzureichende Licht der Kerze. »Mit den Prophetinnen werde ich mich noch befassen, irgendwann demnächst. Doch zuerst muss ich wissen, wer die Meuchelmörder waren, die hier eingedrungen sind und meine Eltern niedergemetzelt haben.« Zar’Toran machte eine einladende Handbewegung in Carnacs Richtung. »Sag du es ihm.« »Es hat nichts mit dir oder mir zu tun.« Carnac stockte, und dann trat sie vor, so weit, dass ihr Gesicht als bleicher, blasser Schemen im Kerzenlicht auftauchte. Es lag eine Qual in ihrem Blick, die Daart in jeder anderen Situation tief berührt hätte. Jetzt ließ sie ihn kalt. »Es hat auch Satai gegeben, die Unrechtes getan haben.« Daart ballte unwillkürlich die Faust. Als er sie wieder öffnete, war ihm mit einem Mal schwindelig… … Es war die Anstrengung, und die Gewissheit, dass er nicht mehr
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lange würde durchhalten können, so sehr er auch versuchte, beim Strampeln im Wasser Kraft zu sparen. Sein Vater hatte ihn tatsächlich im Stich gelassen, er würde nicht mehr wiederkommen. Daart hätte aufschreien können vor Wut und Empörung, wenn er noch die Kraft dazu gefunden hätte. Die Sonne ging langsam unter und tauchte den See in rotes Licht. Es sah beinahe so aus, als begänne der See von innen heraus zu brennen, und es fühlte sich auch so an. Der Wind blies ihm kalte Luft um die Nase, aber das Wasser, durch das er mit mühsamen, verkrampften Bewegungen eher trieb als schwamm, schien von Augenblick zu Augenblick wärmer zu werden. Es war der heiße Atem des großen Drachen, der den See aufwärmte, so hatte es ihm sein Vater immer wieder erzählt, ein Drache, der Feuer bis zum Himmel spucken konnte und dessen ungezähmte Kraft sie alle ins Verderben reißen würde, wenn sie ihn durch die Feuerzeremonien in ihrem Tempel nicht immer wieder beschwichtigten. Vielleicht war das der Grund, warum ihn sein Vater hier herausgebracht hatte. Vielleicht sollte er dem großen Drachen zum Fraß vorgesetzt werden, und vielleicht würde sich gleich das Wasser teilen und der riesige, abscheuliche Kopf des Drachen hervorbrechen, um sich gierig über ihn zu beugen… Er glaubte schon, seinen widerlich stinkenden Atem zu riechen und seine flammenden Augen zu sehen, wenn er das riesige Maul aufriss… Seine Gedanken verwirrten sich immer mehr, während seine Arme und Beine zunehmend zu schmerzen anfingen. Mehr als einmal tauchte er mit dem Kopf ins Wasser ein, und die Wärme drang in seine Nase, und dann schoss ein ganzer Schwall ekelhaft warmer Brühe in seinen Mund, und als er sie schluckte, hatte er das Gefühl, als brennte sie sich durch seinen ganzen Körper bis in seinen Magen durch. Die Wärme war schlimmer als alles andere, sie machte seine Glieder müde und bleiern, sie fraß sich in seinen Körper und raubte ihm die Kraft. Die Wut auf seinen Vater verebbte und machte der verzweifelten Hoffnung Platz, dass er das Boot wenden und zu ihm zurückkommen könnte. Er wünschte sich nichts sehnlicher und verzweifelter, dass es dazu kommen würde, und gleichzeitig fürchtete er
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nichts mehr, als dass das Wasser unter ihm zu rumoren anfangen und der Drache nach oben schießen würde, um ihn mit sich in die Tiefe zu reißen… Als er das nächste Mal von einer Welle mit dem Kopf unter die Oberfläche gedrückt wurde, sah er tatsächlich etwas durchs Wasser auf ihn zuschießen. Er strampelte wie wild, sackte ein Stück tiefer, erlangte dann die Kontrolle über seine Bewegungen wieder und kam prustend und wild um sich schlagend hoch. Das, was auf ihn zugeschossen war, umkreiste ihn, ließ das Wasser um ihn herum sprudeln und zischen, und tausend feine Bläschen stiegen auf. Er war bunt schillernd, der Drachenschwanz, der zuckte, um sich um ihn zu legen und ihn nach unten zu reißen, direkt in das Maul der fürchterlichen Kreatur hinein. Sein Herz pochte wie wild, und Schwärze wollte nach ihm greifen, der Vorbote der Bewusstlosigkeit, die ihn schon die ganze Zeit über zu packen versucht hatte. Er sackte erneut tiefer. Seine Hände griffen hilflos nach oben, als wäre dort etwas, woran er sich festhalten konnte. Er fand keinen Halt, natürlich nicht, er sackte schnell hinab, um sich herum nichts als zischendes, gurgelndes Wasser, und dann sah er plötzlich eine geflügelte Gestalt auf sich zuschießen, keinen Drachen, sondern etwas ganz anderes… »Es kann nicht sein«, sagte Daart. Das Bild aus seiner tief verschütteten Erinnerung zerriss, und er wurde sich wieder bewusst, dass er in der Hütte seiner Eltern stand und das Gefühl hatte, seinen Vater zum zweiten Mal verloren zu haben, nachdem er ihn auf dem See im Stich gelassen hatte. »Doch.« In Carnacs Stimme war Qual, und ihre ganze angespannte, leicht gekrümmte Körperhaltung drückte Schuldbewusstsein aus. »Es ist leider so.« Daart fühlte sich zweigeteilt, wie zerrissen. Er wusste ganz genau, worauf sich Carnacs Bemerkung bezog, aber da war auch noch das Bild der Gestalt vor seinen Augen, die damals im Wasser auf ihn zugehalten hatte. Sein Todesengel. Immer und immer wieder hatte er ihn vor sich gesehen, wenn er nachts schreiend aufgewacht war, nachdem ihn Zar’Toran nach Guan gebracht hatte. Er hatte nicht von seinem Vater oder seiner Mutter geträumt und schon gar nicht von
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diesem Dorf hier, es war immer dasselbe Gesicht gewesen, die schillernden Augen, der schmale Frauenkopf mit den kurzen Haaren, der undeutbare Ausdruck, der irgendwo zwischen Drohung und Erlösung lag. Und dann die Flügel, die den Kopf umrahmten. Immer wieder hatte er sich vorgestellt, dass diese geflügelte Frau des Nachts in sein Zimmer geflogen kam, um an sein Bett zu treten, ihm die Hand auf Mund und Nase zu legen und ihn zu ersticken. Dabei war dieser Albdruck nichts weiter als die Verzerrung einer Erinnerung gewesen. Es war kein fliegender Todesengel gewesen, sondern einer, der unter Wasser heimisch gewesen war, der ihn an die Hand genommen hatte, um ihn tiefer in sein nasses Reich zu ziehen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass er nicht atmen konnte, dass er keine Luft bekam und sich schon sehr bald im Todeskampf winden würde. Immer weiter hatte ihn dieses geflügelte Wesen mit sich in die Tiefe gerissen, und das Gefühl zu ersticken war übermächtig geworden und hatte ihn weiter verfolgt, in seine Träume hinein. »Was ist leider so?«, fragte Daart. »Fatama…« Carnac brach ab und biss sich auf die Lippe. »Die große Prophetin.« Daart spürte, wie ihm die Erinnerung an die zierliche geflügelte Frau, an die Najade, endgültig entglitt. Dafür brach etwas anderes in ihm hoch, ein brodelnder Zorn, der jeden bewussten Gedanken mit sich zu ziehen drohte. Er trat einen Schritt vor und trat gegen etwas, das klirrend davonschoss; nur einen Herzschlag später bückte er sich auch schon und hob auf, was gegen die Zwischenwand gedonnert war. Es war das Heft des zerbrochenen Schwertes, dessen Klinge in der Wand steckte. Die Waffe eines der Männer, der seine Eltern überfallen hatte und die sein Vater an sich hatte bringen können, um sich zu verteidigen. Langsam und umständlich, als wäre er ein alter Mann, stand Daart wieder auf. Er packte den Schwertgriff fester, doch er konnte sich nicht daran erinnern, schon jemals eine solche Waffe in den Händen gehalten zu haben; der Griff war schmal und mit festem Draht umwickelt, an dem noch Reste einer zerrissenen Stoffumhüllung hingen. »Wem gehörte diese Waffe?« Carnac blinzelte nervös. »Ich habe keine Ahnung. Beim besten
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Willen nicht.« »Wem gehörte diese Waffe?«, wiederholte Daart. Carnac fuhr sich mit der Hand hastig durch die langen schwarzen Haare, eine sehr weibliche, beinahe erotisch wirkende Geste. Normalerweise. Doch nicht jetzt. Daarts Herzschlag beschleunigte sich, weil er ein Gefühl für sie zu entwickeln begann, das an Hass grenzte, und nicht, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte. »Fatama wird meine Eltern nicht eigenhändig erschlagen haben«, sagte er grob. »Also gehört ihr diese Waffe auch nicht. Wem dann?« »Das… das weiß ich nicht«, stotterte Carnac. »Das glaube ich dir nicht.« »Es ist… die Prophetin…« Daart stieß einen zischenden Laut aus. »Immer wieder kommst du auf die Prophetin zu sprechen. Hat sie etwa noch mehr mit dem Massaker hier zu tun, als ich wusste?« »Nein«, sagte Carnac rasch. »Sondern weitaus weniger, als du anscheinend glaubst. Die große Prophetin hat deine Eltern nicht verraten.« »Nicht auf direktem Weg, meint sie damit«, sagte Zar’Toran gehässig. »Sie hat nur ihren Feinden verraten, wo sie sie finden würden.« »Auch das ist nicht richtig.« Carnac hob wieder die Hand, als ob sie sich erneut durch die Haare fahren wollte, hielt dann aber inne und ließ sie langsam wieder sinken. »Es ging seinerzeit um eine wichtige Entscheidung. Darum, die Guhulan und ihre Verbündeten daran zu hindern, die alte Kraft des Feuers wieder zu erwecken, und schlimmer noch, in ihrem Größenwahn und ihrer Machtgier die Kräfte des Chaos zu entfesseln.« »Das alles kümmert mich nicht im Geringsten.« Daarts Hand umklammerte den Schwertgriff so fest, dass die Drähte in seine Haut schnitten. »Ich habe genug davon. Ich will nur wissen, wer meine Eltern umgebracht hat. Und wer daran schuld war, dass die Mörder die Gelegenheit dazu bekamen.« »Fatama hat nichts weiter getan, als die Prophetinnen aus ihrer Isolation zu führen. Sie konnte doch nicht ahnen…« »Sie ist eine Prophetin, schon vergessen?« Daart hob das zerstörte
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Schwert. Es war seltsam, aber in diesem Augenblick, in dem er es auf eine Weise in der Hand hielt, als wollte er damit zuschlagen, fühlte er sich seinem Vater ganz nah. Es fühlte sich an, als strömte etwas über den Griff der Waffe in ihn über, von dem er bislang nicht einmal gewusst hatte, dass es existierte. Eine Finte seiner Erinnerung? »Sie hätte wissen müssen, was passieren würde.« »Nein«, widersprach Carnac. »So funktioniert es nicht. Wir… die Prophetinnen können lediglich die Hauptströmungen des Schicksals erfassen. Sie wissen niemals genau, was passiert. Aber dafür wissen sie mit unerschütterlicher Gewissheit, wer oder was das labile Gleichgewicht auf Enwor in Gefahr bringt.« »Ich sagte doch schon, dass mich das nicht mehr kümmert.« Daart machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Schwert. Wäre es nicht zerbrochen, wäre seine Klinge unweigerlich über Carnacs Gesicht gefahren. »Fatama hat uns verraten - mich, meine Eltern, alle, die hier lebten. An wen?« »Sie hat nichts weiter versucht…« »An wen?« Als Carnac nicht gleich antwortete, sagte Daart scharf: »Du versuchst mich auf eine falsche Spur zu locken. Warum schützt du die Meuchelmörder? Warum bringst du immer wieder von selbst die Sprache auf die Prophetin, obwohl ich von dir nichts weiter als die Auskunft verlange, wer meine Eltern ermordet hat?« Carnac sah ihn trotzig an und schüttelte dann den Kopf. »Du würdest es nicht verstehen.« »Du unterschätzt Daart, meine Liebe«, sagte Zar’Toran. »Er wird es verstehen.« Carnac starrte an Daart vorbei auf Zar’Toran, die Lippen fest zusammengepresst. »Also gut.« Zar’Toran seufzte. »Eigentlich wollte ich dir selbst die Gelegenheit bieten, reinen Tisch zu machen. Aber ich sehe ein, dass das keinen Sinn hat.« Er packte Daart am Arm, um ihn an sich heranzuziehen. Daart folgte dieser Bewegung nur sehr widerwillig. Es war Carnacs Gesicht, in dem er lesen wollte, wenn er die Wahrheit erfuhr. Er wollte sehen, was es ihr bedeutete. »Also?«, fragte er Zar’Toran. »Wer war es nun?« »Es waren Rebellen, die sich in den Höhlen unterhalb des Schattengebirges verkrochen haben«, sagte Zar’Toran. »Ihre Angehörigen
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sind Aussätzige und Gesetzesbrecher, die von überall her zusammenfinden, um Unruhe zu stiften und mordend durch die Gegend zu ziehen. Sie selbst nennen sich Caverner.«
3
Als sich das erste, noch zögerlich klingende Gezwitscher der Vögel in das Geräusch der Brandung mischte und sich ein feiner rötlicher Streifen auf der gegenüberliegenden Seite des Sees abzeichnete, begriff Daart, dass er die ganze Nacht am Ufer gesessen hatte. Er hatte die Stiefel ausgezogen und neben sich gestellt und doch nur ganz kurz die Füße ins Wasser gehalten, um sie von den Wellen umspülen zu lassen. Das Wasser war so unangenehm warm, wie er es in der Erinnerung hatte, etwas, das er im Moment überhaupt nicht gebrauchen konnte. Er war selbst erhitzt genug, immer noch. Die Schmerzen in seinem Kopf hatten sich verlagert. War es erst ein Ziehen und dann ein fast unerträgliches Pochen gewesen, so hatte er jetzt das Gefühl, als würde sein ganzer Schädel von einem glühenden Eisenring zusammengepresst, der zunehmend fester gezogen wurde. Die Caverner. Carnac hatte dem nicht widersprochen. Er konnte es immer noch nicht fassen. Die Menschen, die sich aus taktischen Überlegungen von einer Horde Guhulan aus ihren Höhlen hatten treiben lassen, die so duldsam wirkten, dass er sich gefragt hatte, wie sie diese Demütigung nur so stoisch hatten hinnehmen können - sie sollten vor fast zwanzig Jahren das Fischerdorf seiner Eltern überfallen haben? Er hatte es erst kaum glauben können. Und doch passte es zusammen. Der Älteste hatte ihm selbst erzählt, dass er seine Truppen für schnelle Schläge bereithielt, für schmerzhafte Nadelstiche in die Flanke seiner Gegner. Wenn er tatsächlich damals schon versucht hatte zu verhindern, dass der Feuertempel jemals wieder aus den Tiefen des Sees aufstieg, dann war ihm vielleicht auch jenes Mittel recht gewesen, Menschen meuchlings ermorden zu lassen, die sich als Hüter des Tempels verstanden hatten. Es stellte alles auf den Kopf. Zuvor waren die Rollen klar verteilt gewesen. Zar’Toran stand auf der Seite seiner Gegner, der Älteste auf der Seite seiner Verbündeten. Doch in Wirklichkeit war es wohl
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so, dass er für beide Seiten nur ein Spielball war, jemand, den alle nach Belieben herumschubsten und für ihre Zwecke einspannen wollten. Er konnte auf keinen Fall das tun, was ihm der Älteste aufgetragen hatte zu tun. Ganz im Gegenteil. Er konnte keinen Tag länger hier bleiben. Er musste zurück zu den Cavernern, um in Erfahrung zu bringen, was wirklich geschehen war. Und dann würde er die Konsequenzen ziehen, mit dem Schwert in der Hand. All die, die bei dem Überfall auf das Dorf beteiligt gewesen waren, würden diesen Tag noch bitterlich verfluchen. Und erst recht diejenigen, die dazu den Befehl erteilt hatten. Und wenn sich herausstellte, dass der Älteste selbst… Daart packte einen der losen Steine, die um ihn herumlagen, holte aus und schleuderte ihn so weit er konnte. Der Stein schoss in das noch ganz zarte Morgenrot empor, und als er in einiger Entfernung herabfiel, sah es aus, als stieße dort über dem Wasser ein Raubvogel hinab, um sich in einer schnellen Bewegung einen Fisch aus dem Wasser zu schnappen. Er hatte dem Ältesten vertraut. Genauso wie Carnac. Aber in beiden Fällen hatte er wohl falsch gelegen. Sein naives Vertrauen war gänzlich zerstört. So wie der Stein, der nun ins Wasser tauchte, um hinabzusinken und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, würde auch sein Vertrauen wohl nie mehr zurückkehren. Das Bittere daran war, dass ihm Zar’Toran jetzt schon beinahe wie ein Ehrenmann vorkam. Er empfand immer noch keine Sympathien für den Feuermagier, aber der brennende Hass, der ihn zuvor erfüllt hatte, war erloschen und hatte etwas anderem Platz gemacht. Von allen Menschen, die er kannte, war ihm Zar’Toran der Vertrauteste. Zumindest wusste er, woran er bei ihm war. Und in einem Punkt hatte der Feuermagier zweifellos Recht: Ohne seine harte Ausbildung hätte er es als Kämpfer niemals so weit gebracht. Er erschrak, als er begriff, was er da dachte. Aber es gelang ihm nicht, seine Bestürzung darüber festzuhalten oder auch nur diesen oder einen anderen Gedanken länger als ein paar Augenblicke weiterzuverfolgen. Es war ein Zittern in seinem Körper, der Drang, aufzuspringen und irgendetwas zu tun, etwas zu zerstören, oder genauer:
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jemanden bei der Kehle zu packen und so lange zuzudrücken, bis er sein Leben aushauchte. Oder jemanden mit dem Tschekal, das ihm Zar’Toran anvertraut hatte, niederzumetzeln, nicht nur jemanden, sondern alle, die an dem blutigen Überfall beteiligt waren, der hier vor vielen Jahren stattgefunden hatte. Wenn er Pech hatte, lebte kein Einziger mehr von ihnen. Krieger starben selten friedlich im Bett, und das Gleiche galt für Meuchelmörder. Aber es gab einen Mann, der mit Sicherheit damals schon gelebt hatte und der mit derselben Sicherheit auch damals schon in einer verantwortlichen Position gewesen war: der Älteste. Wenn er herausbekommen wollte, was hier wirklich geschehen war und wer im Einzelnen an diesem Überfall beteiligt gewesen war, dann musste er sich an ihn halten… Ein Geräusch, das sich von dem Wellenrauschen und dem Knarren und Ächzen des Pfahldorfes über ihm abhob, schreckte Daart aus seinen trüben Gedanken auf. Er fuhr herum und blinzelte überrascht, als ihm die Veränderung bewusst wurde, die unmerklich von seiner Umgebung Besitz ergriffen hatte. Aus dem Boden sprossen dünne, glitzernde Büschel, die er in der Dunkelheit für einfache Uferpflanzen gehalten hatte. Doch jetzt, nachdem sich das erste, zaghafte Sonnenlicht auf ihnen brach und sie in hellen Grüntönen zu schimmern begannen, wurde ihm bewusst, dass das nicht stimmte. Wenn dies Pflanzen waren, dann waren es die eigentümlichsten, die er je zu Gesicht bekommen hatte. In Farbe und Form erinnerten sie an Wasserfarne, doch sie waren fast durchsichtig, so als bestünden sie aus Glas oder einer wasserklaren Art von Kristall. Daart drehte den Kopf weiter in die Richtung, aus der er platschende Geräusche gehört hatte. Eine Gestalt näherte sich ihm von unten her. Sie sprang zwischen den halb eingeknickten Pfählen hindurch, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie dabei hüfthoch durchs Wasser platschte - etwas, das Daart zuerst mehr hörte als sah, denn unter dem Pfahldorf herrschte noch stockfinstere Nacht. Zuerst glaubte Daart, dass es Carnac sei, die noch einmal mit ihm zu reden und Fatamas Verrat zu rechtfertigen versuchte, und ein Gefühl der Empörung stieg in ihm hoch. Konnte sie ihm nicht wenigstens hier
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und jetzt seinen Frieden lassen? Gleichzeitig verspürte er so etwas wie Erleichterung darüber, dass sie doch noch den Weg zu ihm gefunden hatte. Er hoffte inständig, dass sie ihm unter vier Augen eine Erklärung bieten würde, die er annehmen könnte. Aber es war nicht Carnac. Es war die katzenhafte Leichtigkeit, mit der sich die Gestalt durch die Dunkelheit bewegt hatte, die ihn getäuscht hatte. Doch es war jemand, der sich ganz ähnlich bewegte, jemand, der in dem gleichen Höhlensystem wie sie aufgewachsen war, der sich in der Dunkelheit fast genauso gut zu orientieren vermochte wie im hellen Tageslicht. Jemand, der überallhin kam. Thross. »Hallo!«, rief der Junge unbekümmert, als er bis auf ein paar Schritte heran war und in das schwache Licht der aufgehenden Sonne trat. Die Farben des Sonnenaufgangs glitten über sein unauffälliges Gewand, wie um ihn abzutasten; ein verwirrendes Farbenspiel, das den Jungen blinzeln ließ, als das Licht direkt in seine Augen stach. Achtlos trat er auf eines der Gewächse zu seinen Füßen, das wie ein erstarrtes Spinnenweben aus dem Boden wuchs. Der Stiel splitterte, die Blätter platzten wie brüchiges Glas und zerfielen zu pulverigem, glitzerndem Staub. »Wusste ich doch, dass ich dich hier treffe.« Daart schwieg. Er wandte den Blick wieder ab, starrte auf den See hinaus, auf die Stelle, an der der Stein eingetaucht war, beinahe so, als erwartete er ihn dort wieder auftauchen zu sehen. »Du siehst aus, als wäre dir ein Drache auf den Fuß getreten«, stellte Thross fest, während er sich ungefragt neben ihn auf einen Stein setzte. »Was ist passiert?« Daart wusste nicht, was er dem Jungen antworten sollte. Wenn er ein paar Jahre älter gewesen wäre, wäre er versucht gewesen, ihn zu packen und seinen Kopf unter Wasser zu drücken, so lange, bis die ersten Luftblasen aufstiegen, um ihn dann wieder nach oben zu reißen, auf die Steine zu werfen und zu fragen, was er über den Überfall hier wusste. Thross, der Caverner. Der Junge, der bei feigen Meuchelmördern aufgewachsen war, selbst zu ihnen gehörte und vielleicht irgendwann, in gar nicht allzu ferner Zukunft, sich selbst einer solch fürchterlichen Gräueltat schuldig machen würde, wie sie hier
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stattgefunden hatte. »Ich muss mit dir reden«, sagte Thross nach einer Weile. »Und wir haben nicht mehr viel Zeit. Gleich wird Zar’Toran kommen, um dich aufs Boot zu bringen. Ihr werdet bald losfahren.« »Jetzt schon?« Einen Herzschlag lang war Daart fassungslos. Er hatte ganz vergessen, warum sie überhaupt zum Glutsee gekommen waren. »Nubina ist auch schon im Anmarsch«, plapperte Thross weiter. »Ihr Heer ist gestern Abend in Purgatory eingetroffen. Es ist gigantisch. Die ganze Stadt wimmelt plötzlich vor Menschen. Ich frage mich, wie sie die alle ernähren wollen.« Daart schloss die Augen. Der Tauchgang. Der Älteste. Zar’Toran. Er wollte von all dem einfach nichts mehr wissen. Aber es gab etwas, das er in Erfahrung bringen musste. »Du weißt, was hier passiert ist«, sagte er tonlos. »Ja, das weiß ich«, bestätigte Thross. »Bei uns daheim redet man ja schon über gar nichts anderes mehr.« Daart erstarrte. Seine Unruhe war wie weggeblasen und machte etwas anderem Platz, einer eisigen Kälte, die ihn von innen heraus ausfüllte. »Wie bitte?« »Ja… nun.« Thross schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, und rückte ein Stück ab. »Es ist doch auch wichtig, oder?« Daart riss die Augen auf. Die Sonne war mittlerweile schon ein Stück höher gestiegen, und für einen kurzen Augenblick stach sie ihm fast schmerzhaft in die Augen, dann hatte er sich an das Licht gewöhnt. »Man spricht über nichts anderes.« Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. »Man rühmt sich der Bluttat.« Er drehte sich zu Thross um und schrie: »Oder wie soll ich das verstehen?« Thross zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden. »Von… von welcher Bluttat redest du?« Daart starrte ihn nur an, schweigend, aber mit einer solch kalten Wut, dass Thross erschrocken von ihm abrückte. Er sah aus, als wäre er am liebsten aufgesprungen und davongelaufen, aber das traute er sich dann offensichtlich doch nicht.
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»Von welcher Bluttat ich rede?« Daart schüttelte fassungslos den Kopf. »Reicht es nicht, dass die Caverner hier vor Jahren über das Dorf hergefallen sind und alle niedergemetzelt haben, die sie vorgefunden haben, Männer, Frauen und Kinder?« Thross starrte ihn an, als zweifelte er an seinem Verstand. »Davon… weiß ich nichts«, sagte er unbehaglich, aber so, wie er es aussprach, klang es eher wie: »Das glaube ich nicht.« Daart ballte die Faust, riss sie hoch. Der Junge zuckte nicht mit der Wimper, sondern starrte ihn nur fassungslos an. Daart wollte ihn schlagen, wollte seine Faust mit aller Kraft in die für das Alter schon viel zu harten Gesichtszüge donnern, wollte vernichten, wollte auslöschen. Vielleicht hätte er sich sogar dazu hinreißen lassen, wenn der Junge irgendetwas anderes getan hätte, als ihn aus angstrunden Augen anzublicken, wenn er aufgesprungen wäre, um zu fliehen, oder wenn er ihm irgendwelche sinnlosen Worte an den Kopf geworfen hätte. Der fürchterliche, scheinbar eine Ewigkeit währende Moment verging. Daart ließ die Faust wieder sinken und atmete hörbar aus. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Er hatte noch nie ein Kind geschlagen, natürlich nicht, und er würde es auch jetzt nicht tun. Aber diesmal war er ganz nah daran gewesen. »Ich weiß nicht, was hier passiert ist. Aber es tut mir Leid.« Thross’ Stimme klang fest, doch in seinen Augen schimmerten Tränen. »Worüber wir reden, ist der Feuertempel. Und wie wir verhindern können, dass Nubina und Zar’Toran seine Macht missbrauchen. Und das ist noch nicht alles. Ich soll dir vom Ältesten ausrichten, dass sich unsere Truppen unter Asks Befehl von der anderen Seite dem Fischerdorf nähern werden, um im richtigen Moment einzugreifen und dich zu schützen, sobald der Feuertempel aus den Fluten aufsteigt.« Es war keine Falschheit in seinem Blick, und nichts deutete darauf hin, dass er log. Daart begriff, dass er beinahe einen Riesenfehler gemacht hätte. Eine tiefe Scham erfüllte ihn. »Es wird höchste Zeit, dass wir etwas tun«, fuhr Thross hastig fort. »Du hattest uns kaum verlassen, da sind schlimme Nachrichten aus
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vielen Gegenden Enwors bei uns eingetroffen. Die Boten berichten von einer Kältewelle, die über das ganze Land hinwegfegt, mit Schnee, Eis und Sturm, und die sich ausgerechnet jetzt, zum Tag der Sommersonnenwende hin, zuspitzt, als wären wir mitten im härtesten Winter. Ganze Ernten sind schon vernichtet worden, und es steht uns eine Hungersnot bevor, wie Enwor sie noch nicht gesehen hat. Nubina und Zar’Toran wissen überhaupt nicht, was sie da getan haben. Die Prophetinnen…« »Die Prophetinnen gehen über Leichen«, unterbrach ihn Daart schroff, und all die Scham über den Fehler, den er beinahe begangen hätte, verkehrte sich ins Gegenteil. »Sie haben meine Eltern umbringen lassen. Und wofür? Dass du mir jetzt gegenübersitzt und mir frech ins Gesicht sagst, dass all ihre verderbten Anstrengungen nur das Gegenteil bewirkt haben?« Thross starrte ihn entsetzt an. »Du hast meinen Zettel nicht gelesen.« »Doch, das habe ich«, schnaubte Daart. »Eine wirklich gute Idee, ihn im Brot zu verstecken. Aber hättest du dir dabei nicht ein bisschen Mühe geben können? Vielleicht so viel, dass ich auch hätte lesen können, vor wem du mich warnst?« »Ich habe mir Mühe gegeben«, sagte Thross trotzig. »Weißt du überhaupt, wie schwer es war, sich unter Nubinas Bedienstete zu mischen?« »Ich denke, Creeper kommen überall hin.« »Ja, schon. Aber das bedeutet nicht, dass sie auch unentdeckt bleiben.« Thross zog den Kragen seines Gewandes ein Stück höher. Er fröstelte sichtlich, und Daart begriff auf einmal, wie empfindlich kalt es hier wirklich war. Wenn der Glutsee seinem Namen nicht alle Ehre machen und von irgendeiner unbekannten Wärmequelle gespeist werden würde, so schwämmen jetzt wahrscheinlich Eisstücke vor ihm im Wasser. »Ganze Ernten sind vernichtet worden, sagtest du?« Thross nickte. »Ja. In Malab hat es einen Wirbelsturm gegeben, der ganze Dörfer zerstört hat, ganz zu schweigen von dem, was dort auf den Feldern angebaut wurde. Aber das Schlimmste ist die Kälte. Das
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Wetter spielt verrückt. In Boran liegt hüfthoher Schnee. Aber selbst dort, wo kein Schnee und kein Eis liegen, sind die Ernten durch die Kälte bedroht.« Die Folge aus diesen Worten erreichte Daart mit einiger Verspätung. Eine Hungersnot. Es bedurfte keiner Flammen speienden Waffe, um Menschen gefügig zu machen, die gerade Hungers starben. Er selbst hatte in seiner Jugend oft genug Hunger gelitten, um zu wissen, wie das war. Der Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, die Gedanken kreisten nur noch um etwas Essbares, jede Bewegung kostete Mühe, und zum Schluss fingen sogar die Hände an zu zittern. Es war entwürdigend und furchtbar, nicht zu vergleichen mit dem Zustand, in dem er sich jetzt befand, nachdem er tagelang nicht vernünftig gegessen hatte. Daran konnte man sich, wenn man bei guter Gesundheit war, gewöhnen. An echten Hunger nicht. Niemals. »Wir müssen alles tun, damit es aufhört«, sagte Thross. »Die Prophetinnen haben gesagt, dass es in vielen Gegenden noch die Möglichkeit einer Späternte gibt, wenn wir den Teufelskreis durchbrechen können.« »Verdammt noch mal!« Daart packte den Jungen am Kragen seines Gewandes und zog ihn zu sich heran. »Erwähne die Prophetinnen nicht mehr in meiner Gegenwart. Ich will kein Wort mehr über sie hören.« »Natürlich«, stammelte Thross. Daart stieß ihn weg, nicht einmal grob, aber der Junge nutzte den Schwung der Bewegung, um aufzuspringen. »Du hast meine Botschaft nicht gelesen!«, schrie er. »Sonst würdest du nicht so mit mir umspringen.« »Deine Botschaft.« Daart versuchte sich wieder zu beruhigen. Sein Atem ging hart und laut. Er begriff, dass er dabei war durchzudrehen. Es war ein Zustand, vor dem ihn Skarissa Rabork während ihrer Ausbildung wiederholt gewarnt hatte. Eine Reaktion auf eine gefühlsmäßig belastende Situation, in der man nicht wusste, was man tun sollte, was falsch und was richtig war. Bei der man den Überblick verlor. So, wie er jetzt dabei war, den Überblick zu verlieren, weil er nicht wusste, wer die Mörder seiner Eltern waren. »Ich habe dich gewarnt«, sagte Thross. »In einem unbeobachteten
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Moment habe ich einfach die Brotkruste mit einem scharfen Messer angeritzt und den Zettel dort reingeschoben.« »Ja. Aber vor wem wolltest du mich warnen?« »Nichts.« Der Junge wich ein paar hastige Schritte zurück. Er zertrat eine weitere Kristallpflanze, stolperte über einen Stein, ruderte mit den Armen. In seinen Augen flackerte aufkeimende Panik. Daart wäre in diesem Augenblick am liebsten aufgesprungen und hätte ihn gepackt, um ihn durchzuschütteln, bis ihm wieder die Frage einfiel, vor wem er ihn hatte warnen wollen. »Es war Carnac, stimmt’s?«, fragte er so ruhig, wie er nur konnte. »Du wolltest mich vor Carnac warnen.« »Nein«, sagte Thross. »Du kannst Carnac vertrauen.« »Natürlich. Schließlich ist sie eine Prophetin. Verdammt noch mal!« Daart platschte vor sich mit der flachen Hand ins Wasser, auf die Steine, die dort unten lagen. Er hätte einen Schmerz in seiner Handfläche fühlen müssen, aber da war nichts. Es schien so, als flöhen sämtliche Körperempfindungen vor ihm, die Kopfschmerzen genauso wie das raue Kratzen in seinem Hals. Etwas anderes machte sich dafür in ihm breit, etwas Unbekanntes, etwas, das er schon oben in der Hütte seiner Eltern gespürt hatte, in den vier Wänden, in denen er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte: eine Kälte, die von innen kam und ihn ganz ausfüllen wollte. »Sag mir endlich, vor wem du mich warnen wolltest.« »Ich fürchte, diese Warnung käme nun zu spät.« Thross hob die rechte Hand, wie in einer abwehrenden Bewegung, ließ sie dann aber schnell wieder sinken, als ihn Daarts Blick traf. »Außerdem wird Zar’Toran gleich kommen. Ich muss los.« »Nein«, sagte Daart. Nur dieses eine Wort, und das nicht einmal besonders laut. Aber für Thross schien es schlimmer zu sein, als wenn er geschrieen hätte. Er blieb wie angewurzelt stehen. Sein Gesicht wurde aschfahl. »Nun gut.« Thross schluckte. »Ich wollte dich nicht vor Carnac oder sonst irgendjemand warnen.« »Mach es nicht so spannend. Sag mir endlich, wessen Name auf dem Zettel stand.«
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»Kein Name«, antwortete Thross. »Ich hatte geschrieben: Trau niemandem. Und vor allem nicht dir selbst.« Daart brauchte nicht mehr lange zu warten, bis Zar’Toran kam. Thross war plötzlich wieder verschwunden, schnell und leichtfüßig und mit einer Erleichterung, die Daart jetzt noch zu spüren glaubte. Daart hätte sich fragen können, warum er überhaupt gekommen war. Er tat es nicht. Jetzt, wo seine Kopfschmerzen so weit nachgelassen hatten, dass von ihnen nichts weiter als ein erträglicher Druck auf seine Schläfen geblieben war, tat er etwas ganz anderes. Er stand auf und blickte in das Morgenrot hinaus, das mittlerweile den ganzen See überspannte und auch die Ausläufer des Schattengebirges berührte, die den See an seiner Südseite umrahmten. In ihrem weißen, von frischem Schnee zeugenden Glanz spiegelte sich zaghaft der erste Glanz des noch taufrischen Morgens und zauberte ein verwirrendes Spiel von Licht und Schatten auf die Hänge. Daart versuchte, die beruhigende Kraft der Sonnenstrahlen und die kalte, klare Luft ganz in sich aufzunehmen und gleichmäßig ein- und auszuatmen. Seine Gedanken waren nach wie vor aufgewühlt und seine Gefühle liefen Amok, aber er schenkte ihnen so wenig Beachtung wie möglich. Er ließ alles entgleiten, was ihn belastete. Zumindest versuchte er es. Aber er bekam das Bild seiner erschlagenen Eltern einfach nicht aus dem Kopf, die entwürdigende Haltung, in der sie nun schon seit viel zu vielen Jahren in der Hütte lagen, so wie sie von ihren Mördern hingestreckt worden waren, ohne Bestattung und ohne die Aussicht, dass ihre Seelen endlich Frieden fänden. Es war eine Schande! Die ganze Nacht hatte ihn dieser Anblick gequält, und immer wieder hatte er sich gefragt, wie er es ihnen wenigstens ermöglichen konnte, zur letzten Ruhe zu finden, welche Art von Ritus und Bestattung ihnen gerecht werden würde… Es dauerte diesmal länger als vorher, bis die Bilder, die ihn quälten, endlich verblassten. Er nahm es hin, weil alles andere, jeglicher Widerstand gegen die Trauer und die Empörung, es nur noch schlimmer gemacht hätte. So gut es ging, konzentrierte er sich weiter auf seinen Atem und das grandiose Schauspiel, das ihm der Sonnenaufgang bot.
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Seine verkrampften Muskeln lockerten sich nach und nach, und erst jetzt, als die Entspannung ihn wie ein wohlig wärmender Mantel umhüllte, begriff er überhaupt, wie angespannt er gewesen war. »Sehr gut«, sagte eine Stimme hinter ihm. Daart wusste, dass Zar’Toran dort stand, er hatte ihn kommen gehört, ihn und zwei Begleiter, von denen er an den wuchtigen und trotzdem geschmeidigen Bewegungen einen erkannt hatte: Medon. Aber er hatte sich dadurch nicht stören lassen. Er wollte sich nicht schon wieder seinen eigenen Rhythmus von dem Feuermagier nehmen lassen, und erst recht nicht von seinen groben Leibgardisten. »Es freut mich, dass du dich auf deine Art bereits auf den Tauchgang vorbereitest«, fuhr Zar’Toran fort. »Ich bin gekommen, um mit dir über die Einzelheiten zu sprechen.« »Ich bin nicht daran interessiert.« »Doch, das bist du.« Zar’Toran trat neben ihn, mit dem Pergament in der Hand, das leise im Wind raschelte. »Das, was wir heute Feuertempel nennen, ist eine gigantische Anlage, ein wahres Wunderwerk, das uns die Alten hinterlassen haben, damit wir es zum Besten von Enwor verwenden - aber leider auch eines, in dem man sich nur allzu leicht verlaufen kann. Du musst ins Zentrum dieser Anlage gelangen. Solange du den Pfeilen folgst, die überall auf dem Boden angebracht sind und genau in seine Richtung weisen, kannst du es gar nicht verfehlen. Dann wirst du früher oder später genau hier herauskommen.« Er hielt das Pergament mit beiden Händen so weit auseinander, dass es sich straffte und Daart gar nicht anders konnte, als einen Blick darauf zu werfen. Er war nicht einmal sonderlich überrascht, dass es der Zeichnung ähnelte, die ihm der Älteste gezeigt hatte. An den Wänden waren Pulte eingezeichnet, die langgestreckter und gewaltiger wirkten, als Daart es in Erinnerung hatte, und eines von ihnen war mit einem Kreuz markiert, das war der einzige Unterschied. »Sobald wir auf dem Schiff sind, werde ich dir die Einzelheiten erklären«, fuhr Zar’Toran fort. »Was du dir aber jetzt schon einprägen solltest, ist die Stelle, an der du das Amulett einfügen musst. Ich habe sie mit einem Kreuz markiert.« Daart riss den Blick von dem Papier los und starrte wieder in den
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Sonnenaufgang, der in diesem Moment so etwas wie ein Fixpunkt für ihn war, etwas, an dem er sich festhalten konnte. Er trat zwei Schritte weiter vor, ins Wasser hinein. Thross hatte ihn gewarnt, vor sich selbst. Ein Gedanke, der so nahe liegend war, dass er sich wunderte, nicht schon zuvor daraufgekommen zu sein. Im magischen Reich Nubinas hatte er sich selbst schon einmal fast verloren, weil er auf Trugbilder hereingefallen war, die ihm die Herrscherin Nyingmas geschickt hatte. Er bog den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Es waren nicht nur die Schritte Zar’Torans und die seiner zwei Begleiter gewesen, die er gehört hatte. Über ihm hatte es die ganze Nacht geknackt und gewispert, Geräusche, mit denen die schwere Holzkonstruktion, auf der das Dorf ruhte, auf Temperaturveränderungen, Wind und Wasser reagierte. Aber in den letzten Augenblicken war noch etwas anderes hinzugekommen. Schritte, die kaum hörbar waren und in denen doch etwas Charakteristisches gewesen war, das ihn jetzt sicher machte zu wissen, wer dort oben stand. Doch er war noch nicht weit genug hervorgetreten, um mehr als den Rand der hölzernen Plattform zu sehen. Ohne zu zögern wandte er sich wieder ab und ging weiter ins Wasser hinein. Seine Stiefel wurden schwer, als sie sich mit Feuchtigkeit vollsaugten, und die Wellen umspülten hart und gischtend seine Oberschenkel und dann seinen Bauch. Er ging noch ein paar Schritte weiter, bis die Brandung gegen seine Brust hämmerte. Das Gefühl von Kälte in seinem Innern blieb, aber das warme Wasser entfaltete seine beruhigende Wirkung auf ihn. Er gab sich ganz der Wärme hin. Als er diesmal den Kopf drehte, um nach oben zu blicken, hatte er die richtige Entfernung. Er sah sie genau dort stehen, wo er sie vermutet hatte, Nubina, die Herrscherin über Nyingma und Göttin der Aralu wie der Guhulan. Im ersten Moment, als er sie über sich stehen und hochmütig auf ihn herabblicken sah, erschrak er zutiefst. Es hatte den Anschein, als wäre sie von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt. Doch dann wurde er sich bewusst, dass die hell schimmernden Rottöne, die ihm ins Auge stachen, nichts weiter als einmal mehr die Muster eines figurbetonenden Kleides waren. Es passte ebenso sehr zu dem Morgenrot, wie es auf ein Schlachtfeld gepasst hätte, und
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Daart kam es jetzt wie das Symbol für die Vereinigung zweier Gegensätze vor, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Dass die Herstellung des eng anliegenden Gewandes aus behandeltem Leder oder einem ähnlichen Material wahrscheinlich viele Wochen gedauert und Unsummen gekostet hatte, spielte dabei überhaupt keine Rolle. Als er Nubina dort oben in dem provozierenden Gewand stehen sah, wurde Daart etwas ganz anderes bewusst, nämlich der Grund für all die erbitterten Kämpfe, in die er ohne es zu wollen verstrickt worden war. Es ging nicht um ihn oder irgendjemand anderen, nicht einmal darum, Stadtstaaten oder Königreiche zu erobern, sondern einzig und allein um eines: um Unsterblichkeit. Was machte es schon aus, wenn die Hälfte der Bevölkerung Enwors an Hunger starb, wenn unzählige Menschen ihr Hab und Gut verloren, wenn Leid und Tod im Land Einzug hielten, solange Nubina und Zar’Toran ihrem Ziel, der Unsterblichkeit, auch nur einen Schritt näher kommen konnten? Er konnte der Versuchung nicht widerstehen: Er hob die Hand und winkte ihr zu. Nubina winkte nicht zurück. Aber das hatte er auch nicht erwartet. Mit kalten Augen strahlte sie auf ihn herab. In ihrem Gesicht zuckte kein Muskel. Es würde ihn nicht einmal wundern, wenn sie genau wusste, was er jetzt dachte. Und schon gar nicht, dass sie anfing, sich zu ärgern, weil er ihr zum zweiten Mal zu entgleiten drohte. Thross hatte Recht gehabt. Er musste auf sich selbst aufpassen. Egal, was die Prophetinnen getan hatten, sie waren nicht seine wirklichen Gegner. Seine wirkliche Feindin stand dort oben.
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Das schwere Boot, das Daart bei seinem nächtlichen Anlegemanöver beobachtet hatte, hob und senkte sich in unablässigem Auf und Ab, als sie mit ihm jetzt weit auf den See hinausfuhren. Das Wetter war umgeschlagen, kaum dass die Sonne als gelber Ball am Horizont gestanden hatte. Jetzt tobte ein eiskalter Sturm über dem See, der mit ungestümer Wut an dem Boot rüttelte und Brecher aufgewühlten Wassers in gischtenden Schwaden über die Bordwand
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wirbelte. Daart klammerte sich mit beiden Händen an der metallenen Reling fest. Er spürte, wie die Kälte über das Metall in seine Fingerspitzen kroch, langsam in seinen Armen emporstieg und ihn klamm und lähmend ausfüllte. Der kalte Wind war hier unangenehmer als am Heck des Bootes, nicht schlimmer, aber direkter und aufdringlicher, als hätte er ihm aufgelauert, um hier, wo er allein und nicht in der Gesellschaft anderer war, mit ganzer Kraft über ihn herzufallen. Er hatte nichts dagegen, ganz im Gegenteil, er genoss es geradezu. Wenigstens für einen Moment vertrieb die Kälte die quälenden Gedanken aus seinem Kopf und schuf eine wohltuende Leere. Das Schlagen der Trommel im Schiffsrumpf riss für einen Moment ab, als ein starker Brecher das Boot traf und es erschütterte, als hätte ein Riese mit seinem Hammer dagegen geschlagen. Dann fand es wieder in seinen monotonen Rhythmus zurück, und mit ihm die Männer, die die Ruder in stumpfsinniger Monotonie ins Wasser tauchten, um das Boot inmitten des Sturms auf Kurs zu halten. Daart hatte von solchen Booten gehört und wusste, dass sie Galeeren hießen, aber er hatte noch nie eines von ihnen gesehen, geschweige denn jemals zuvor betreten. Er starrte hinaus in das Toben, in die scheinbare Unendlichkeit, zu der die aufgewühlte Wasseroberfläche vor seinen Augen geworden war. Es war kaum vorstellbar, dass es nur ein See war, auf dem sie unterwegs waren, und nicht eines der großen Meere, die Enwor zu beiden Seiten einrahmten. Und noch verrückter war es, dass die Luft nach frischem Schnee schmeckte, der in den Bergen in der Nähe niedergegangen sein musste, aber auch nach Metall, nassem Holz und dem Schweiß der Männer, die sich unter ihm mit aller Kraft ins Zeug legen mussten, wenn sie nicht vor der Naturgewalt kapitulieren wollten. »Ich hätte mir denken können, dass du hier bist«, sagte Zar’Toran. Der Feuermagier machte sich nicht die Mühe, sich an der Reling entlangzuhangeln, während er auf ihn zuhielt. Die Bewegungen, mit denen er das unruhige Schwanken des Bootes ausglich, waren von einer geradezu traumwandlerischen Sicherheit, wie man sie ansonsten nur bei Leuten beobachten konnte, die schon ein halbes Leben zur See gefahren waren. »Es ist der stürmischste Platz, den es an
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Bord eines Schiffes gibt. Und derjenige, der dem Magen am meisten abverlangt.« »Damit habe ich kein Problem«, sagte Daart mürrisch. »Ich habe in den letzten Tagen nicht genug gegessen, um damit die Fische füttern zu können.« Zar’Toran lachte, und es klang so heiter und unbeschwert, dass Daart jetzt doch aufblickte. »Umso besser. Ich hoffe, du bist trotzdem gut bei Kräften. Und jetzt komm. Nubina will dich sprechen.« »Und was bist du?«, gab Daart gereizt zurück. »Ihr Laufbursche, der mir ihre Einladung überbringen soll?« Zar’Toran machte eine wegwerfende Handbewegung, die ihn in Kombination mit dem sich zur Seite neigenden Boot aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Rasch griff er zu und klammerte sich an der Reling fest. »Pass lieber auf, dass du nicht über Bord gehst, statt freche Reden zu schwingen«, sagte er hastig. »Wir haben die Stelle noch nicht erreicht, an der du tauchen sollst.« Daart hätte am liebsten der Aufforderung widersprochen, aber dann drehte er sich um und stapfte hinter Zar’Toran her, ohne aber im Gegensatz zu ihm auch nur einen Augenblick die Reling loszulassen. Wie immer, wenn er auf dem Weg zu Nubina war, fühlte er eine merkwürdige Mischung aus Faszination und Abscheu in sich aufsteigen. Es war ihm unangenehm. Fast trotzig ließ er den Blick über den offenen Bauch des Bootes gleiten und über die Zweierreihen der Ruderer, die sich trotz der Kälte mit nackten, schweißnassen Oberkörpern in die Riemen legten. Im Gegensatz zu dem kleinen, in ein schwarzes Gewand gekleideten Trommler, der mit für ihn viel zu großen Schlägeln auf die Trommel eindrosch, waren es überwiegend große und starke Männer. Kaum einer von ihnen war älter als Daart, aber offensichtlich waren sie allesamt sehr erfahren in dem, was sie taten. Das Knarren, Quietschen und Stöhnen, mit dem sie das Boot in dem von dem Trommler vorgegebenen Rhythmus antrieben, bildete einen bizarren Kontrapunkt zum Heulen des Sturmes. Hinter ihnen, an der breitesten Stelle des Bootes, tat sich die merkwürdigste Kajüte auf, die Daart je gesehen hatte. Sie war an drei Seiten geschlossen und besaß nur vorne einen Ausschnitt. Daart kam es
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so vor, als blickte er durch ein großes Fenster in die wolkenstürmende Residenz Nubinas in ihrer Heimat Nyingma. Die Herrin und Göttin der Aralu saß auf einem am Boden festgeschraubten Thron, der aus unzähligen hauchdünnen, in sich gewundenen und in verspielten Mustern ausufernden Wölbungen gebildet wurde, ein in Gold gegossenes, filigranes Flechtwerk, das gleichermaßen zerbrechlich wie fast überirdisch beständig wirkte. Links und rechts von ihr waren Silberkrieger im breiten Stand und mit verschränkten Armen postiert. Die silbernen Masken, in denen nur Schlitze für die Augen freigelassen waren, ließen Daart einmal mehr daran denken, es mit lebenden Statuen zu tun zu haben statt mit atmenden Menschen. Daran änderte nichts, dass sich diese Statuen im Rhythmus des Schiffes bewegten, ganz im Gegenteil; mit ihren perfekten Ausgleichbewegungen sorgten sie dafür, dass ihnen jeder Rest von Menschlichkeit abhanden kam. Sie wirkten wie Wesen aus einer anderen Welt, mechanische Meisterwerke, die all das tun konnten, was notwendig war, um das Kriegshandwerk auszuüben. Nubina blickte aus halb geschlossenen Augen auf die schweißnassen Rücken der Ruderer vor sich. Als sie Daart und Zar’Toran gewahrte, sah sie auf. Obwohl sie noch ein gutes Stück von ihr entfernt waren, spürte Daart ihren Blick fast körperlich, so als tastete sie ihn ab. Es war ein nicht einmal unangenehmes Gefühl, aber vielleicht war es gerade das, was Daart hasste. Nubina gab sich den Nimbus von Überlegenheit und Göttlichkeit, und so sehr es Daart auch versuchte, war es ihm bislang noch nicht gelungen, sich dieser Ausstrahlung zu entziehen. Er schob sich an Zar’Toran vorbei und sprang von dem Laufsteg auf die schmale Treppe hinab, die über einen Absatz hinweg in Nubinas Gemach führte. Seine Befangenheit mit Forschheit wettmachen zu wollen war vielleicht nicht die allerbeste Idee, aber die Unruhe, die mit aller Gewalt wieder in ihm aufbrach, ließ ihm keine Wahl. Die zum Bootsinneren halb offene Kajütenwand war mit aufwändigen, fast verspielt wirkenden Malereien versehen, aber er hatte keinen Blick dafür. Er stürmte so schnell auf Nubina zu, dass er die Schwelle übersah, die die Kajüte vom übrigen Boot trennte, und über
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sie stolperte. Er wäre lang hingeschlagen, wenn ihn Zar’Toran nicht im letzten Moment von hinten gepackt und an sich herangerissen hätte. Nubina lächelte leicht. »Es freut mich, wenn man meinen Befehlen so stürmisch nachkommt.« Als sie sich ein Stück aufrichtete, stieß sie mit ihrem Stiefel gegen eines der beiden Kohlebecken, die zu ihren Füßen aufgebaut waren. Es schepperte, und Tausende feiner Funken stoben empor, rot glühenden Kobolden gleich, die auf ihrer nächsten Umgebung niedergingen, um sich dort festzufressen. Daart zog die Hand zurück, die dem Kohlebecken am nächsten gewesen war, und wischte sich hastig an der Kleidung den Funkenregen ab. »Ich hoffe, du bist gut für den Tauchvorgang vorbereitet?«, fuhr Nubina ungerührt fort. »Wenn Ihr meint, es sei eine gute Vorbereitung gewesen, dass ich heute Nacht meine Eltern erschlagen und in ihrem getrockneten Blut habe liegen sehen - dann werdet Ihr wohl Recht haben«, sagte Daart schroff. Ein Schatten huschte über Nubinas Gesicht. »Zar’Toran?« »Ich hielt es für wichtig, mit Daart ins Reine zu kommen, bevor er zum Feuertempel hinabtaucht«, sagte der Feuermagier. »Deshalb habe ich ihn zum Fischerdorf geführt. Und in die Hütte, in der seine Eltern von den Cavernern niedergemetzelt wurden.« In Nubinas Augen blitzte es kurz und heftig auf, doch dann nickte sie leicht. »Ja, vielleicht ist es das Beste so.« »Nein, das ist es nicht.« In Daart brodelte etwas anderes, etwas, das ihn die ganze durchwachte Nacht beschäftigt hatte, vielleicht mehr noch als die Frage, was er mit den Meuchelmördern machen würde, wenn er sie in seine Hände bekäme. »Die sterblichen Überreste meiner Eltern liegen seit vielen Jahren hingestreckt in ihrem Heim. Ich verlange, dass sie mit allen Würden bestattet werden. Und zwar, noch bevor ich in den Feuertempel hinabtauche.« Nubina nickte knapp. »Ich denke, das wird sich einrichten lassen. Zumindest, wenn ich die Vorbereitungen richtig deute, die Zar’Toran bereits hat treffen lassen.« »Welche Vorbereitungen?«, fragte Daart überrascht.
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»Noch in der Nacht, während du am Strand gesessen hast, habe ich Anweisung gegeben, alle Vorbereitungen für eine Bestattung zu treffen«, antwortete Zar’Toran an Nubinas Stelle. »Und das aus gutem Grund. Denn kein Tag ist so gut dafür geeignet wie der heutige, der Tag der Sonnenwende.« Daart war über die Eröffnung so sprachlos, dass er im ersten Moment kein Wort herausbrachte. Zar’Toran machte sich Gedanken um die Bestattung seiner Eltern? Das klang absurd. »Sonst noch etwas?« Daart war zumindest bei Nubina auf Widerstand eingestellt gewesen, auf harte Worte und Drohungen. Es irritierte ihn, dass sie über seine Forderung so kurz und knapp hinweggegangen war. »Also nichts«, stellte sie fest. »Dann soll deinem verständlichen Wunsch Folge geleistet werden. Oder spricht irgendetwas dagegen, Zar’Toran?« »Nicht im Geringsten«, versicherte der Feuermagier rasch. »Es ist alles für die Zeremonie vorbereitet worden. Daarts Eltern werden genauso bestattet werden, wie es für Hüter des Feuertempels üblich ist. Und zwar in seinem Beisein, ganz so, wie es der Ritus vorschreibt.« Daart beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Es ging ihm zu schnell und zu leicht. Eine heftige Auseinandersetzung, eine schroffe Zurechtweisung - all das hätte er verstanden. Aber nicht, dass Zar’Toran und Nubina so rasch einlenkten, als hätten sie erwartet, was er fordern würde. »Voraussetzung ist natürlich, dass du uns dein Wort gibst, das zu tun, was wir von dir verlangen«, sagte Nubina. »Du wirst zum Feuertempel hinabtauchen, sein Zentrum aufsuchen und dort genau das tun, was dir Zar’Toran erklärt hat.« Als Daart nicht sofort antwortete, fügte sie hinzu: »Das wäre im Übrigen auch ganz im Sinne deiner Eltern. Sie beide waren mit Leib und Seele Hüter des Feuertempels. Ihr ganzes Leben lang haben sie nur darauf gewartet, das zu tun, wozu du jetzt die Ehre hast, auserwählt zu sein: hinabzutauchen und dafür zu sorgen, dass sich der Feuertempel endlich wieder vom Grund des Sees erhebt und seine Pracht von neuem Glanz erstrahlen kann.«
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Daart zögerte. Er hatte sich nicht einmal ansatzweise entschieden, was er mit all seinem Wissen, mit all den Halbwahrheiten und Lügen, die man ihm aufgetischt hatte, anfangen würde. Irgendetwas zog ihn dort hinab, zu diesem verfluchten Feuertempel, etwas, das er nicht erklären konnte und das ihn stärker berührte als all die blutigen Kämpfe der letzten Zeit, die in seiner Erinnerung durcheinander wirbelten, ohne dass er ihnen irgendeinen Sinn abringen konnte. Hüter des Feuertempels. Vielleicht steckte in dieser Bezeichnung der Schlüssel zu dem, was er tief in seinem Innersten empfand. Nubina konnte nicht wissen, dass er bereits einmal zu dem Feuertempel hinabgetaucht war, geleitet von einem der geheininisvollsten Wesen Enwors überhaupt, von einer Najade. Das änderte aber nichts daran, dass sie und Zar’Toran in anderer Hinsicht Recht hatten: Es war schlichtweg ein Fehler gewesen zu glauben, dass er seine Vergangenheit hinter sich lassen könnte, nur weil er den Satai beigetreten war. Er war sicher gewesen, sich von seiner Vergangenheit als Guhulan-Schüler lösen zu müssen, und hatte gar nicht verstanden, dass dies gar nicht das Erbe war, welches ihn verpflichtete. Es war das Erbe der Hüter des Feuertempels. Das Erbe seiner Eltern. Und wenn er hinabtauchte… … immer tiefer und weiter in den Strudel, in den ihn das geflügelte Mädchen mit sich zog, fühlte er plötzlich, wie seine Stimmung umschlug. Er war nicht länger Sklave des Wassers, voller Panik, dass er in ihm ertrinken müsste, er war viel mehr sein Beherrscher, gekommen, um bis auf seinen Grund hinabzutauchen und die Wunder zu begutachten, die ihn dort erwarteten. Das geflügelte Wesen drehte sich in dem sonnendurchfluteten Wasser zu ihm um und winkte ihm zu. Er erwiderte sein Lachen. Es war eine unbändige Lebensfreude in ihm, die Gewissheit, dass er gleich dort sein würde, wo sein Platz war… »Alles, was dir noch fehlt, um deinen Auftrag zu erfüllen, ist das Amulett«, drang Nubinas Stimme in seine Gedanken. Er nickte verwirrt. Natürlich wusste er, dass er nach den Strapazen der letzten, fast vollständig durchwachten Tage vollkommen übermüdet war und dass ihn in diesem Moment Tagträume narren konn-
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ten. Aber die Erinnerung an den Tauchgang, der vor einer Ewigkeit stattgefunden hatte, war so plastisch gewesen, als hätte er erst gestern stattgefunden. Bis in jede Faser seines Körpers spürte er, wie er der Najade hinterher gejagt war. Der Drang, der ihn seinerzeit zum Grund des Sees geführt hatte, die fast euphorische Stimmung, die ihn die Sorge um Atemluft zuerst hatte vergessen lassen, die Angst vor dem Ertrinken, die dann in ihm hochgestiegen und schließlich zu Panik geworden war - das alles war noch immer in ihm. Ja, er würde zum Tempel hinabtauchen. Er musste wissen, was sein Vater dort gesucht und was er selbst dort gefunden hatte vor vielen Jahren. Und er war überzeugt davon, dass er dort unten auch wissen würde, was zu tun war, und all die Unsicherheit abstreifen würde, die ihn jetzt noch gefangen hielt. Nubina gab dem Mann neben sich einen Wink. Der Silberkrieger bückte sich und griff nach hinten, um etwas aufzunehmen. »Nicht weit von hier beginnt das ehemalige Quorrl-Reservat«, sagte Nubina. »Es war der Bereich, den die Reptilienkrieger aus gutem Grund jahrtausendelang nicht verlassen durften, wollten sie nicht riskieren, dass erbarmungslos Jagd auf sie gemacht wurde. Und auch die Sümpfe von Cosh sind nicht weit entfernt, wo sich die Eltra, die Sumpfmänner, verkrochen haben, weil ihre Fremdheit und die Fähigkeit, ihre Gestalt fast nach Belieben zu ändern, sie aus jeder menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen hat.« Nubina lehnte sich wieder zurück, und ein feines, gedankenverloren wirkendes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »All diese Geschöpfe sind kranke Missgeburten, Ergebnisse des fürchterlichen Konflikts zwischen den Alten und den Göttern, die von den Sternen kamen. Am Ende zählt nur der Mensch, wenn auch«, ihr Lächeln verstärkte sich, »vielleicht eine ganz besondere Art von Mensch, eine, die der Schöpfung selbst einen göttlichen Funken abgerungen hat.« Sie brach ab, und ihr Blick, der sich in weiter Ferne verloren hatte, wurde wieder klarer. »Hier, am Glutsee, gibt es nur Menschen, ausschließlich«, fuhr sie schroff fort. »Verstehst du das, Daart?« Daart nickte wider Willen. Er hätte sich eigentlich schon vorher fragen müssen, warum Nubina auf ihre fürchterlichste Leibwache
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verzichtet hatte, die riesigen Quorrl-Abkömmlinge, die sie in ihre Dienste gepresst hatte. »Am Anfang und am Ende ist nur der Mensch«, sagte Nubina. »Die Fremden von den Sternen haben geglaubt, uns auf ihre kranke Art besiegen zu können. Aber sie haben sich getäuscht. Die Alten mögen untergegangen sein, aber noch in ihrem Untergang haben sie dafür Sorge getragen, dass die Menschheit in all ihrer Vielfalt weiterlebt. Oder besser gesagt: in noch größerer Vielfalt als je zuvor.« Nubina machte eine Geste auf den Boden zu ihren Füßen. »Dort unten, fast direkt unter uns, liegt der Feuertempel. Er ist durch eine Magie der Alten geschützt, durch eine Art Schutzfeld, das es nur Menschen und Tieren erlaubt, sich in seiner Nähe aufzuhalten. Kein Quorrl, kein Eltra könnte es hier auf Dauer aushalten.« Daart brauchte einen Moment, um die Bedeutung ihrer Worte zu verstehen. »Wenn das wirklich so ist«, sagte er schließlich, »warum haben die Alten diesen magischen Schutz nicht über ganz Enwor ausgedehnt?« »Sie haben es versucht und sind daran gescheitert«, sagte Nubina verächtlich. »An ihresgleichen. Denn es gab eine zweite Gruppe, die dagegen war, was die Vorfahren der Feuerkrieger hier trieben. Sie verkrochen sich lieber in dunkle Höhlen und warteten wie zitternde Feiglinge, dass sich das Blatt doch noch einmal zu ihren Gunsten wenden würde.« Daart hatte die gleiche Geschichte schon einmal gehört, wenn auch unter genau entgegengesetzten Vorzeichen, und zwar vom Ältesten. Das machte es ihm nicht gerade einfacher, eine Entscheidung zu treffen. »Das Amulett«, befahl Nubina barsch. Der Silberkrieger, der etwas hinter ihrem Thron hervorgeholt hatte, trat einen Schritt vor und hielt Nubina etwas in der vorgestreckten Hand entgegen. Es war ein Helm, ein altes, verbeultes Ding, das so aussah, als hätte es seinem Träger schon mehr als einmal das Leben gerettet. Dabei war mehr als fraglich, ob er das auch bis auf den heutigen Tag geschafft hatte. Der Helm war blutverschmiert. Mitten in ihm lag etwas, das er nicht erkennen konnte, weil es in ein Tuch ein-
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gewickelt war. Aber nicht das war es, was Daart beinahe aufstöhnen ließ. Es war die Tatsache, dass er den Helm erkannte. Er hatte ihn erst vor ein paar Tagen gesehen. Und da hatte ihn Ask noch auf dem Kopf getragen. Dieselbe Ask, die nach Thross’ Worten irgendwo in Ufernähe mit dem Heer der Caverner wartete, um ihm in einem Kampf beizustehen, von dem er noch gar nicht wusste, ob er ihn wirklich schlagen wollte. »Deine Eltern werden so beigesetzt, wie das für die Hüter des Feuertempels üblich war«, sagte Nubina mitten in seine entsetzten Gedanken hinein. »Sie brachen einst in einer feierlichen Zeremonie mit all den Booten auf, die ihnen zur Verfügung standen, und übergaben genau hier über dem Feuertempel ihre Toten dem See.« Sie gab ein erneutes Zeichen, und hinter ihr war plötzlich eine unruhige und doch zielgerichtet wirkende Bewegung. Aus den im Halbdunkeln liegenden Tiefen des Hecks drangen Geräusche, die Daart dort nicht vermutet hätte, ein Klingeln und Schellen, wie er es nur von ganz anderen Gelegenheiten kannte. Ihm wurde mulmig zumute. Zwei Silbermasken traten vor. Sie bewegten sich mit kleinen, fast abgezirkelt wirkenden Bewegungen. Der eine von ihnen trug tatsächlich eine Schelle, die er rhythmisch, aber mit seltsam unbewegtem Ausdruck schlug, und der andere die dazu passende Klingel. Schellen- und Klingelträger hatten, ergänzt durch Trommler, in Guan die Begräbniszüge angeführt, und dass das hier ein solcher war, wurde Daart spätestens klar, als er zwei weitere Gestalten aus dem Schatten treten sah. Zwischen sich trugen sie einen in Tücher gehüllten, wohl auf einem Brett liegenden Körper. Daart hatte keine Ahnung, ob das sein Vater oder seine Mutter war. Aber darauf kam es auch nicht an. Dicht hinter den beiden ersten Trägern tauchten zwei weitere auf, die ebenfalls einen mit Tüchern verhüllten Leichnam trugen. Nubina richtete sich auf, langsam und gemächlich, wie eine Katze, die sich rekelt. Daart nahm auf einmal jede Kleinigkeit viel deutlicher wahr als sonst, nicht nur die Geräusche der Ruderer und ihres Trommlers, die aus dem Bauch des Schiffes drangen, sondern auch die Bewegungen der Silbermasken, die die
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einfachen Instrumente mit erstaunlicher Präzision, aber ohne Inbrunst zum Klingen brachten, während der Sturm das Boot durchschüttelte und ächzen und beben ließ, wenngleich er hier im Heck seine Kraft nicht mit voller Wucht entfalten konnte. Und da war noch etwas anderes: der Geruch von geweihten Ölen, der ihm beinahe penetrant in die Nase stieg. »Du solltest dich zwischen deine Eltern stellen, wie das für einen Sohn üblich ist, der Abschied nehmen will«, sagte Nubina mit tiefer, fast hypnotisch klingender Stimme. Daart nickte. Natürlich. Die quälende Ungewissheit darüber, wie er seinen Eltern die letzte Ehre erweisen konnte, musste ein Ende haben. Bei den Guhulan waren Feuerbestattungen üblich, bei vielen anderen Völkern war es gang und gäbe, die Toten in geweihter Erde zu begraben. Bei den Hütern des Feuertempels, der auf dem Grund eines Sees lag, schien es da nur nahe liegend, dass sie in eben diesem See versenkt wurden. Trotzdem war ihm dieser Gedanke alles andere als angenehm. Er hätte eine andere Bestattungsmethode vorgezogen. Aber darauf kam es jetzt nicht an. Die Träger mit den beiden Toten hatten rechts und links von Nubina Aufstellung genommen. Daart trat zwischen sie. Er spürte in diesem Augenblick überhaupt nichts, keine Trauer, keine Verwunderung über den ungewöhnlichen Ablauf der Zeremonie, von der er nicht wusste, ob sie der Würde seiner Eltern wirklich gerecht wurde. »Bis wir mit dem Begräbnis beginnen, übergebe ich dir das, was du brauchst, um auf dem Grund des Sees zu überstehen«, sagte Nubina in beinahe feierlichem Ton. Sie streifte Daart das Amulett über den Kopf, das sie zuvor dem Helm entnommen und an einer Kette befestigt hatte; dabei kam sie ihm so nahe, dass er den ungewöhnlichen und aufregenden Duft riechen konnte, den sie verströmte. »Das Amulett wird dich begleiten bei der schweren Aufgabe, die du zu erfüllen hast. Ich werde dich begleiten.« »Wie… wie meint Ihr das?« »Das wirst du noch verstehen«, sagte Nubina ungewohnt sanft. Sie hob die Hände, ließ sie über den Toten schweben. »Wir haben uns hier versammelt, um Abschied von zwei Hütern des Feuers zu neh-
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men, von einem tapferen Mann und einer tapferen Frau, die ihr Leben gaben, um den Feuertempel zu schützen. Wir geben sie dorthin zurück, wo das Leben seinen Ursprung nahm. Wir übergeben sie dem Feuer und dem Wasser.« Sie hob die Arme und klatschte in die Hände. Bevor Daart überhaupt begriff, wie ihm geschah, krachte es unter ihm, und dann riss der Boden auf. Es war eine Falltür, auf der er stand, und sie klappte so schnell und vollständig unter ihm weg, dass er nicht die geringste Gelegenheit hatte, sich noch irgendwo festzuhalten. Das Letzte, was er sah, waren der Oberkörper, die langen Beine und die Stiefel Nubinas, an denen er vorbeisauste, dann tauchte er schon ins Wasser ein. Die beiden Leichname folgten nur einen Herzschlag später.
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Daart kämpfte einen Moment verzweifelt um Luft, und dann bekam er einen Schlag gegen den Kopf, der ihm fast das Bewusstsein raubte. Halb benommen sah er nach dem ersten Ruder, das ihn gestreift hatte, ein weiteres auf sich zusausen. Er tat das Einzige, was ihm übrig blieb, er strampelte wild mit Armen und Beinen, um nach unten wegzutauchen. Der dunkle Schatten des Bootes schob sich über sein Sichtfeld, ein schwarz-graues Ungetüm, das so gewaltig wirkte, als hätte es keinen Anfang und kein Ende. Daart tauchte tiefer. Über ihm wirbelte Wasser auf, gischtend und perlend, ungestüme, strudelnde Bewegung, die vom Gleichklang der eintauchenden Ruder verursacht wurde, während er sich von der Mitte des Bootes zu seinem Rand bewegte. Daart hätte aufgeschrieen, wenn er es gekonnt hätte. Er hätte es wissen müssen. Nubina hatte ihr Wort gehalten und für die Bestattung seiner Eltern gesorgt, und auch wenn sie die Zeremonie sicherlich abgekürzt hatte, so hatte sie wahrscheinlich keinen wesentlichen Schritt ausgelassen. Aber ihn gleichzeitig mit seinen toten Eltern in den Glutsee zu stürzen war eine unglaubliche Geschmacklosigkeit. Allein die Vorstellung, dass ihre sterblichen Überreste neben ihm auf den Grund des Sees sanken, war unfassbar. Daart war versucht, wieder nach oben zu tauchen, nach einem Halt in dem Schiffsrumpf zu
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suchen, dort, wo ihn keine Ruder gefährden konnten, und sich dann an einem Tau oder einem Vorsprung im Heckaufbau nach oben zu ziehen. Aber der dunkle Schatten über ihm bewegte sich schneller, als er erwartet hatte. Nubina musste den Trommler angewiesen haben, die Schlagzahl mindestens zu verdoppeln. Die Ruder tauchten in einem geradezu aberwitzigen Rhythmus ins Wasser ein. Bevor Daart das Boot auch nur angepeilt und die ersten Stöße in seine Richtung gemacht hatte, hatte es sich bereits ein gewaltiges Stück aus seinem Sichtfeld geschoben. Er hätte das Boot wahrscheinlich trotz allem noch erreichen können. Aber er war nicht sicher, ob er das wirklich wollte. Das Wasser, in das er eingetaucht war, war für seinen Geschmack viel zu warm, und die Umstände waren eindeutig grausig. Und trotzdem geschah etwas ganz Merkwürdiges mit ihm: Er begann sich heimisch zu fühlen, viel mehr und vor allem viel intensiver als in dem Pfahldorf. Es war ein Gefühl, als käme er nach einer Ewigkeit nach Hause zurück, etwas, das er immer wieder empfunden hatte, wenn er im Wasser gewesen war, nur diesmal wesentlich stärker als je zuvor. Es hatte nichts mit seinem Verstand zu tun und mit all den verwirrenden Dingen, die in letzter Zeit auf ihn eingeprasselt waren; es war vielmehr ein tiefempfundenes, aus seinem Innern kommendes Gefühl. Das Wasser, der Feuertempel… das war alles, was in diesem Augenblick noch zählte. Er wollte dort runter, er musste wissen, was am Grund des Sees die ganzen Jahre auf ihn gewartet hatte. Doch dafür musste er seine Lunge zuerst noch einmal voll mit Luft füllen. Durch die Stiefel und die mittlerweile klatschnasse Kleidung behindert, musste er alle Kraft aufwenden, um sich durch das wild strudelnde Wasser nach oben zu kämpfen. Dann, endlich, hatte er es geschafft und brach durch die Wasseroberfläche. Die Kälte traf ihn fast wie ein Hammerschlag. Der Sturm peitschte die Wellen mit unbarmherziger Gewalt über ihn hinweg, sodass er zuerst nur Wasser schluckte. Dann drückte er sich so weit wie möglich über die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Die kalte Atemluft schmerzte in seiner Lunge, aber sie riss ihn auch in die Wirklichkeit zurück. Die Galeere war schon so weit entfernt,
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dass er sie selbst mit aller Anstrengung wohl kaum noch erreicht hätte. Vor vielen, vielen Jahren, und ebenfalls an einem Tag der Sommersonnenwende, hatte er hier schon einmal einem Boot hinterhergeschaut, das schnell aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Das Boot war wesentlich kleiner gewesen, und in ihm war niemand anderer als sein Vater gewesen, der ihn hier wegen irgendeines verrückten Rituals ausgesetzt hatte. Jetzt sanken dessen sterbliche Überreste und die seiner Mutter dem Grund des Sees entgegen. Daart hieb mit voller Kraft ins Wasser, als wäre es ein Feind, den es zu vernichten galt. Der scharfe Wind biss ihm in die Augen, aber als sie sich mit Tränen füllten, war er sich nicht sicher, ob das wirklich nur eine Reaktion auf den Sturm war, der ihm mit unbarmherziger Wucht ins Gesicht schlug. Er verfluchte Nubina, er verfluchte Zar’Toran, und erst recht verfluchte er Fatama, die große Prophetin. Sie alle waren schuld am Tod seiner Eltern, jeder auf seine eigene, perfide Weise. Und er würde dafür sorgen, dass jeder Einzelne von ihnen dafür zahlte. Er tauchte wieder ins Wasser ein. Irgendwo unter ihm war der Feuertempel, dessen war sich Daart sicher. Aber er wusste weder, in welcher Richtung er tauchen musste, noch wie er ihn finden sollte. Das hinderte ihn nicht daran, sich schlangengleich in das Wasser hineinzuwinden, in einer Technik, die kaum etwas mit normalen Schwimmbewegungen zu tun hatte. Er gab sich ganz dem Sog der Tiefe hin, ließ alle störenden Gedanken entgleiten. Ein Mensch konnte nur eine sehr begrenzte Zeit unter Wasser leben - unwichtig; er konnte nicht beliebig tief tauchen - bedeutungslos. Das Tschekal an seiner Seite, das seine Bewegungen eigentlich hätte behindern müssen, tat das ganze Gegenteil ; es funktionierte wie die Schwanzflosse eines Fisches, stabilisierte seine Tauchbewegung. Seine Umgebung wurde zunehmend dunkler, trüber, und dann, als hätte er eine unsichtbare Barriere passiert, floh die Wärme vor ihm, und das Wasser wurde kälter. Er konnte nicht genau erkennen, wohin er tauchte, außer, dass er nach wie vor den Grund des Sees ansteuer-
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te. Über ihm war ein verwaschener heller Fleck, den er mehr spürte, als dass er ihn sah. Es dauerte nicht lange, bis er begriff, dass der See tiefer war, als er angenommen hatte, viel zu tief, rechtzeitig seinen Grund zu erreichen und damit den Feuertempel, in dem er wieder würde atmen können, wie ihm Zar’Toran wiederholt versichert hatte. Er hätte irgendetwas Schweres mitnehmen müssen, um seinen Abstieg zu beschleunigen, und nicht dieses lächerliche Amulett, das um seinen Hals trieb. Und doch war er schon einmal dort unten gewesen, das spürte er jetzt, da er dem Feuertempel ganz nah war, immer deutlicher. Wie hatte er bloß als Kind den Weg zum Grund geschafft? Welches Geheimnis umgab die Begegnung mit der Najade? Und während er noch darüber nachgrübelte, hatte er das Gefühl, geradewegs in seine Vergangenheit hineinzurutschen… Das elfenhafte, geflügelte Wesen packte seine Hand noch fester und zog ihn mit sich. Daart bekam plötzlich wieder Angst, so schnell schossen sie jetzt herab. Seine Lunge schmerzte, als würde sie von einer unbarmherzigen Kraft zusammengezogen. Dann war vor ihnen plötzlich Schwärze, dräuende Finsternis, die ihn einhüllte wie ein schwerer, erstickender Mantel. Sie verließen endgültig den Bereich aus Wärme und Licht und tauchten in einen schwarzen, kalten Strudel ein, der seine gierigen Fühler nach ihnen ausstreckte, um sie mit sich in die Tiefe zu reißen. Halb gefangen in seiner Erinnerung und halb in dem, was gerade um ihn herum passierte, verlor Daart für ein paar Herzschläge vollkommen die Orientierung. Es war ein kalter Strudel, auf den er instinktiv zugesteuert war, vielleicht weil ihn vor einer halben Ewigkeit die Najade hierher geführt hatte, dieses zarte Wesen aus Licht und Schatten, das ihm zuerst wie etwas Göttliches erschienen war, um sich dann später in seinen ganz persönlichen Todesdämon zu verwandeln. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was den Wechsel verursacht hatte. Aber er spürte die Todesfurcht, die ihn in unzähligen Nächten hatte hochschrecken lassen, wenn ihm die Najade in seinen Träumen erschienen war. Er spürte sie genau in dem Moment, in dem er in das kalte, wirbelnde Wasser eintauchte und den Sog wahrnahm, mit dem der Strudel an ihm zerrte. Das war nicht die kla-
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re Kälte, die er liebte, die Frische, die ihn mit neuer Energie versorgte. Das war etwas Bedrohliches, Düsteres. Der Strudel packte ihn und riss ihn mit sich herab. Er konnte ihm keine Bewegung mehr entgegensetzen, er überschlug sich, mehrfach, und alles, was ihm zu tun übrig blieb, war, die Arme vor der Brust zu verschränken, um eine möglichst kleine Angriffsfläche zu bieten. Er fühlte sich, als wäre er dem Angriff eines lebendigen Wesens ausgesetzt, das mit einer Vielzahl winziger Fäuste auf ihn einschlug. Bald verlor er vollkommen die Orientierung, wusste nicht, wo oben und unten war, und wusste doch, dass er unbarmherzig weiter in die Tiefe gerissen wurde. Selbst wenn er es gewollt hätte, sich aus der Umklammerung des wirbelnden Wassers zu befreien, er hätte es nicht mehr gekonnt. Er jagte weiter nach unten, auf den Grund des Sees zu, auf den dunkelsten Punkt seiner für viele Jahre vergessenen Vergangenheit… Das zarte, mädchenhafte Wesen drückte mit unbarmherziger Gewalt zu, und trotzdem drohte seine Hand aus der ihren zu rutschen. Daart hätte aufgeschrien, wenn er gekonnt hätte. Alles, was von seinen Lippen aufstieg, waren ein paar Luftperlen, die sogleich verwirbelten, und alles, was er spürte, war der harte, kalte Griff des Strudels, der ihn durchschüttelte, und der des Todesengels, der ihn unbarmherzig weiter in die Tiefe riss. Vor seinen Augen begannen bunte Punkte zu tanzen, und seine Gedanken verwirrten sich zunehmend. Das Mädchen, das ihn mit nach unten zog, erschien ihm wie ein geflügelter Dämon, der gekommen war, um ihn ins Verderben zu reißen, und dann doch wieder wie eine reine Lichtgestalt, wie seine Retterin, die alles daran setzte, um ihn dem Toben des Strudels zu entreißen. Daarts Sinne trübten sich immer mehr. Er versuchte, einen Ausweg aus dem Tod bringenden Strudel zu finden, das letzte Quäntchen Kraft in sich aufzubieten, das ihm helfen würde, sich aus dem harten Griff des eiskalten Wassers zu befreien und zur Oberfläche durchzustoßen. Es war Wahnsinn gewesen, sich auf den Tauchgang einzulassen, ein Wahnsinn, den er jetzt mit dem Leben bezahlen würde, wenn er nicht endlich aus diesem verfluchten Strudel herauskam. Rote und
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grüne Ringe tanzten vor seinen Augen, und das Bedürfnis zu atmen wurde fast übermächtig. Aber er weigerte sich, dem nachzugeben. Es hätte seinen sicheren Tod bedeutet, und noch war er nicht bereit zu sterben, noch lange nicht. Der Strudel veränderte sich, zerfranste an seinen Rändern und lief dann wieder zusammen, unruhig hin und her wirbelnd wie eine Windhose, die über ein Feld tobte. Daarts Umgebung begann in hellen, leuchtenden Farben zu schillern, oder zumindest glaubte er, dass sie schillerte. Vielleicht waren es ja auch nichts weiter als Lichtreflexe auf seinen Netzhäuten, das erste sichere Anzeichen, dass er zu halluzinieren begann und gleich das Bewusstsein verlieren würde. Er wurde herumgeworfen, riss die Hände in einer abwehrenden Bewegung hoch, als ein dunkler Schatten auf ihn zujagte - und dann spuckte ihn der Strudel aus wie ein Raubtier einen Bissen, den es nicht verdauen konnte. Daart prallte mit dem Rücken gegen einen harten Gegenstand, wurde erneut herumgeworfen und bekam dann mit beiden Händen etwas zu fassen. Mit aller Kraft klammerte er sich fest. Das Wasser sprudelte um ihn herum, aber immerhin war er nicht mehr im Strudel gefangen, der weiter gezogen zu sein schien, nachdem er ihn hier ausgespieen hatte, um irgendwo anders im See sein Unwesen zu treiben. Es war eine von Algenbefall schmierig und rutschig gewordene Metallstange, die Daart umklammert hielt. Sie war alles andere als starr, sondern von einer unruhig wippenden Bewegung erfasst, die er kaum auszugleichen vermochte. Unaufhaltsam rutschte er an der glitschigen Stange herunter. Aber Daart kümmerte sich nicht darum. Er wusste, wo er war, und dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Die Erinnerung an seinen ersten Tauchgang hier hinab an der Hand der Najade war verschwommen und wirr, nichts weiter als plötzlich auftauchende Bilder, von denen er nicht wusste, ob sie aus der Vergangenheit oder der Gegenwart stammten oder ob ihm sein Verstand am Rande der Bewusstlosigkeit einen Streich spielte. Daart starrte hinab. Er hatte den Eindruck, als läge der Feuertempel hinter einer Wolke brodelnder, körperloser Finsternis; ein schattiges, zerfasertes, riesiges Etwas, das sich dem direkten Blick entzog und in
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beständiger Bewegung war. Daart hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, ob er hier wirklich hinwollte. Ein Ruck ging durch seinen Körper, als er auf der Platte aufkam, auf der die Metallstange befestigt war. Der trügerische Halt entglitt ihm, er rutschte weg - und knallte mit dem Kopf gegen einen harten Gegenstand. Das Erste, was er tat, war gierig und auf schmerzhafte Weise Luft einzusaugen, und das Erste, was er wahrnahm, war, dass seine Umgebung nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun hatte, was er hier erwartet hatte. Irgendwo tropfte Wasser, ein monotones, penetrantes Geräusch, das bei jedem Aufschlag eine Schmerzwelle durch seinen Schädel jagte. Er fühlte sich zerschlagen und ausgelaugt. Die Luft, die er mit gierigen Zügen einatmete, war modrig und abgestanden, aber das Schlimmste war der ätzende Geruch, der nahezu alles andere verdeckte. Daart hatte keine Ahnung, wie er überhaupt in den schummrigen Raum gekommen war. Auf dem Boden befanden sich ein paar Pfützen abgestandenen, grünlich schimmernden Wassers, doch sonst deutete nichts daraufhin, dass er sich irgendwo auf dem Grund des Glutsees befand anstatt an Land. Auch der Raum selbst entsprach nicht im Geringsten seiner Vorstellung eines Tempels; er hatte weder etwas mit den prächtigen, scheinbar von Flammen umspielten und von Lichtreflexen dominierten Bauwerken zu tun, in denen die Guhulan ihre Feuerrituale vollzogen, noch mit dem, was ihm Zar’Toran auf dem Boot mit wenigen Worten über die riesige, aber angeblich noch vollkommen intakte Anlage hier unten berichtet hatte. Er war recht groß, aber verwinkelt und voller Gerümpel, das aussah, als hätten ein paar Schiffbrüchige hier ihr letztes Hab und Gut gesammelt. Algenbedeckte Kisten, schäbige Fischernetze und Reusen, abgesplitterte Ruder und sogar ein paar Schiffsplanken lagen herum, die aussahen, als moderten sie seit dem Anbeginn der Zeit hier vor sich hin. Es war ein unwirtlicher Raum, was noch durch das kalte schmutzige Grau verstärkt wurde, in dem Boden, Wände und sogar die Decke gestrichen waren. Daart kam mit unsicheren Bewegungen hoch, taumelte ein paar Schritte zur nächsten Wand und lehnte sich mit dem Rücken dage-
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gen. Erst dann stützte er beide Hände in die Hüften, beugte sich vor und atmete mehrmals tief durch. Vor seinen Augen flimmerten noch immer die bunten Kreise, und die verbrauchte, giftig schmeckende Luft hinterließ zudem ein merkwürdiges Kribbeln auf seiner Zunge. Als hätte er dies als Aufforderung verstanden, wurde der Symbiont unruhig und fing an, in seiner Kehle zu rumoren. »Ganz ruhig, mein Freund«, murmelte Daart. »Es ist niemand hier, den du angreifen könntest.« »Mit wem sprichst du?«, fragte eine Stimme von der anderen Seite des Raumes aus. Daart sah auf, noch nicht einmal besonders hastig und weit weniger überrascht, als er vielleicht hätte sein sollen. »Creeper…« »… kommen überall hin«, beendete Thross seinen Satz. Die Haare hingen dem Jungen wirr und verklebt im Gesicht, und sein klitschnasses Gewand hinterließ eine tropfnasse Spur, als er auf Daart zukam. »Aber diesmal war es gar nicht so einfach. Und ich muss mich dafür entschuldigen.« »Entschuldigen - wofür?« Daart fuhr sich müde durch die nassen Haare. »Dafür, dass du zu den Cavernern gehörst? Zu den Meuchelmördern, die meine Eltern umgebracht haben?« »Nein, dafür sicherlich nicht«, widersprach Thross. »Aber für etwas ganz anderes, was mit deinen Eltern in Zusammenhang steht.« Daart erstarrte mitten in der Bewegung. »Was soll das heißen?«, fragte er kalt. Der Junge zuckte zusammen. »Ich erkläre es dir«, sagte er hastig. »Aber nicht hier. Das ist ein… gefährlicher Ort. Und außerdem muss ich dir unbedingt etwas zeigen.« »Nein.« Daart ließ die Hand sinken, und es war sicherlich kein Zufall, dass er sie auf dem Schwertgriff ruhen ließ. »Du wirst mir hier und jetzt sagen, was los ist.« »Ja. Gleich.« Der Junge verschluckte sich fast vor Aufregung. »Aber erst müssen wir hier weg.« Daart starrte ihn schweigend an. Thross’ rechtes Auge begann zu zucken, und er nestelte unruhig an seinem Gewand. Daart gemahnte sich zur Zurückhaltung. So, wie er hier an der Wand lehnte, mit der
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Hand auf dem Schwertgriff, nach Atem ringend und sicherlich mit wirrem Blick, bot er gewiss alles andere als einen vertrauenswürdigen Anblick. Nur weil sich Thross meistens wie ein Erwachsener verhielt, bedeutete das nicht, dass er kein Kind mehr war. Um die Situation zu entspannen, löste Daart die Hand vom Griff des Tschekals und lachte rau auf; ein Laut, der einem durchschnittlichen Jungen wahrscheinlich mehr Angst als alles andere gemacht hätte, Thross aber zumindest nicht abzuschrecken schien, denn er machte keinen Schritt rückwärts oder lief sogar davon, wie Daart schon befürchtet hatte. »Ich frage mich sowieso, warum sich Zar’Toran nicht gleich an dich gewandt hat. Was soll dieser ganze Blödsinn davon, dass ich der Einzige bin, der hier in diesen angeblichen Tempel hinabtauchen kann?« »Hat er das gesagt?« Über Thross’ Gesicht huschte ein scheues Lächeln, und als er zu Daart hochblickte, wirkte er mehr neugierig als verängstigt. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen.« »Und warum nicht?« Als Thross nicht antwortete, winkte Daart müde ab. »Lassen wir das für den Moment.« Er wollte nach dem Amulett greifen, das er nach wie vor um den Hals trug, aber Thross winkte erschrocken ab. »Nicht. Du aktivierst es sonst nur vorzeitig.« »Aktivieren?« Daart schüttelte den Kopf, eine Geste, die er sogleich bereute, da ein scharf stechender Schmerz durch seinen Kopf fuhr. »Du sprichst in Rätseln, Junge.« »Das wollte ich nicht.« Thross drehte sich um, als hätte er etwas gehört; dann wandte er sich wieder zu Daart um, und sein Gesicht war noch bleicher als zuvor. »Aber ich dachte, du wüsstest Bescheid. Nubina hat es dir doch schließlich selbst gesagt.« »Was hat sie mir gesagt?« Langsam wurde Daart ungeduldig. »Sie hat gesagt, dass sie die ganze Zeit bei dir sein würde, hier im Feuertempel - habe ich Recht?« Thross drehte sich um und ging los, und Daart blieb nichts anderes übrig, als sich von der Wand abzustoßen und ihm zu folgen. Die ersten Schritte waren noch mehr als wackelig, doch dann fasste er im wahrsten Sinn des Wortes wieder Tritt. »Kann sein«, knurrte Daart. »Aber woher weißt du davon?« Thross warf einen kurzen Blick zurück. »Ich war doch direkt
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daneben.« »Hattest du dich als Silberkrieger verkleidet, oder was?«, fragte Daart, während er durch eine große Pfütze stieg, dass es nur so spritzte, um Thross so schnell wie möglich einzuholen. »Das ginge wohl schlecht«, antwortete Thross ruhig. »In ein paar Jahren wird es mir möglich sein, in die Rolle fast jeden erwachsenen Mannes zu schlüpfen. Aber im Augenblick muss ich mich noch damit begnügen, den Küchenjungen oder etwas Ähnliches zu spielen.« Daart rann ein kalter Schauer über den Rücken. Er musste gestehen, dass er den Jungen vollkommen falsch eingeschätzt hatte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er ihn für einen verschüchterten Höhlenbewohner gehalten, der nichts weiter konnte, als durch enge Gänge zu krauchen und trotzig freche Bemerkungen von sich zu geben. Mittlerweile hatte er einen ganz anderen Eindruck. Obwohl Thross noch weit davon entfernt war, ein Mann zu sein, hielt Daart ihn für weitaus gefährlicher als die meisten Krieger, die er kannte. An dem Jungen war irgendetwas Besonderes, etwas, das sich mit Worten kaum fassen ließ. »Besser, du rührst Nubinas Amulett überhaupt nicht an.« Thross bog an der nächsten Ecke ab, folgte einem auf dem Boden aufgemalten Pfeil, der wohl einst leuchtend rot gewesen war, ihnen jetzt aber abgeblättert und kaum noch erkenntlich den Weg wies. »Zumindest so lange nicht, bis ich dir gezeigt habe, was ich dir zeigen wollte.« »Also gut.« Daart trat ein paar morsche Bretter beiseite, um den Weg abzukürzen; sie krachten neben ihm auf den Boden, ein Geräusch, das unangenehm laut im Raum widerhallte. »Aber erst einmal erklärst du mir das mit dem Amulett.« Thross zuckte zusammen, sah sich kurz zu ihm um, sagte aber kein Wort. Dann wandte er sich wieder ab und hielt mit schnellen Schritten genau auf den Ausgang zu, der sich vor ihnen auftat, nur halb verdeckt durch eine große, metallene Tür mit einem Sehschlitz in der Mitte, der von dickem, trübe und kratzig gewordenem Glas ausgefüllt wurde. Daart hatte schon einmal etwas ganz Ähnliches gesehen, in der unterirdischen Stadt der Alten, in Eternity. Auch dort hatte es eine Metallwand gegeben, ein Schott, das dafür gedacht war, ein-
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strömenden Wassermassen Einhalt zu gebieten. »Du bist direkt vor einer Nebenschleuse zu Boden gegangen«, sagte Thross. »Deswegen musste ich dich dort reinholen.« Daart warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als er ihn erreichte. »Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen? Wie willst du mich denn dort reingezogen haben?« »Ich habe dich nicht reingezogen«, sagte Thross und deutete auf den Durchgang, der sich vor ihnen auftat - kein prächtiger, goldgeschmückter Gang mit aufwändigen Malereien an den Wänden, wie sie Daart von den übrigen Feuertempeln der Guhulan kannte, sondern ein grau gestrichener Korridor, der wie alles hier in düsterem Zwielicht lag. »Es gibt hier einen Mechanismus, der eigentlich ganz eigenständig funktioniert. Wenn er funktioniert. Aber das scheint im Augenblick nicht mehr ganz gewährleistet zu sein…« Daart winkte ab. »Schon gut. Ich will davon gar nichts wissen.« Alles, was mit dem zu tun hatte, was die Alten Technik genannt hatten, machte ihn nervös. »Das Amulett hat eine ganz besondere Geschichte«, fuhr Thross fort. »Es ist genauso alt wie der Feuertempel selbst, wenn nicht sogar älter.« »Aber es zeigt Nubinas Antlitz«, sagte Daart. »Das passt doch nicht ganz zusammen, oder?« Thross kletterte über ein zerfetztes Rohr, das mitten im Weg lag, und warf Daart einen schrägen Blick zu. »Es passt durchaus zusammen. Aber ich muss dich warnen. Es geschehen merkwürdige Dinge hier unten. Die Anlage ist nicht mehr im allerbesten Zustand.« »Und was bedeutet das?« Thross deutete nach oben. Die Decke über ihnen wies Löcher auf, Brandlöcher, um genau zu sein, und sie wirkten wie herausgestanzt. Durch sie hindurch konnte man zu einer Art Zwischenboden emporblicken, auf der ein Wirrwarr herrschte, wie es Daart noch nie gesehen hatte. Er hatte beinahe das Gefühl, in das Innere eines riesigen Ungeheuers zu blicken, in dem die Gedärme aufgrund einer fürchterlichen Verletzung offen lagen. »Ich bin mir alles andere als sicher, ob sich dieser Tempel jemals
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aus den Fluten des Glutsees erheben wird«, sagte Thross. »Hier hat wohl vor langer Zeit ein Kampf stattgefunden«, stellte Daart fest, als er den Blick wieder nach vorn gerichtet hatte und nun auch hier die Zeichen der Zerstörung sah, Risse und Löcher in den Wänden und im Fußboden, schwarze Brandspuren, teilweise wie sauber ausgestanzt, teilweise mit gezackten Schmauch- und Brandspuren. »Ein Kampf?«Thross schüttelte den Kopf. »Ich vermute, dass der Feuertempel schon immer heiß umkämpft war. Es dürften mehrere regelrechte Schlachten um ihn geschlagen worden sein.« »An denen Nubina von Anfang an beteiligt war?«, fragte Daart zweifelnd. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Auch, wenn ich ihr eine gewisse… Langlebigkeit nicht absprechen will: Aber so alt kann sie doch gar nicht sein.« »Es sei denn, sie gehört zu den Alten«, stellte Thross fest. Bevor Daart auf diese ungeheuerliche Bemerkung reagieren konnte, fuhr Thross auch schon fort. »Was natürlich vollkommen ausgeschlossen ist. Nein, es gibt eine ganz andere Erklärung dafür, dass das uralte Amulett das Antlitz Nubinas zeigt.« »Und die wäre?«, fragte Daart gereizt. Thross hüpfte über ein Loch im Boden hinweg, in dem eine dunkle, rotbraune Flüssigkeit waberte, über deren Zusammensetzung Daart lieber nicht nachdenken wollte - und schon gar nicht darüber, warum die Flüssigkeit in unruhiger, leicht blubbernder Bewegung war. »Das Amulett ist gar kein Amulett.« Daart war so überrascht, dass er stehen blieb. Das rettete ihm das Leben.
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Ein greller Blitz zuckte direkt vor Daarts Nase aus einem Loch in der Wand und fuhr in die blubbernde Pfütze im Boden. Dreck und Flüssigkeit spritzten auf und besudelten Daart. »Lauf!«, schrie Thross, während er selbst seinem eigenen Vorschlag folgte und loshetzte. Daart ließ sich das nicht zweimal sagen. Er spurtete los. Hinter sei-
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nem Rücken brach plötzlich ein regelrechtes Gewitter feuriger Blitze los, die überall hinfuhren, in die Decke, in die Wände und in den Boden, ein ohrenbetäubendes Bersten, Krachen und Brodeln, das klang, als hätte ein tobender Feuerdrache seiner Wut freien Lauf gelassen. Daart hatte nicht die geringste Ahnung, was das war, aber er spürte die wabernde Hitze, die sich in seinem Rücken in einer Geschwindigkeit ausbreitete, als wäre dort gerade ein Schmelzofen explodiert. Thross hatte eine Kreuzung erreicht, sprang nach rechts und war von einem Augenblick auf den anderen verschwunden. Daart setzte ihm nach - gerade noch rechtzeitig, denn hinter ihm polterte ein Teil der Decke herab und zerbarst genau an der Stelle, an der er gerade noch gewesen war. Staub und Dreck wirbelten auf und nahmen ihm den Atem. Dann hatte er die Abzweigung erreicht. Der Gang, in den Thross geflüchtet war, war deutlich schmaler als der erste. Auch hier waren die Spuren der Zerstörung unübersehbar. Daart musste über einen Schutthügel springen, der von einem Teil der Decke stammte, die an dieser Stelle heruntergekommen war. Die wabernde Hitze, die sich von hinten in den Gang schob, drohte ihm den Atem zu nehmen, und seine Lunge, alles andere als erholt, reagierte mit scharfen, stechenden Schmerzen auf den ätzenden Gestank, der den Strahlenblitzen gefolgt war. Er beschleunigte seine Schritte, so gut es ging. Zwar waren hinter ihm noch immer keine Rufe oder das harte Trampeln von Stiefeln zu hören, doch er wusste, dass ihm etwas folgte. Thross war stehen geblieben und warf einen verzweifelten Blick zu ihm zurück. »Schnell! Ich weiß nicht, ob wir hier durchkommen.« Die beiden Bemerkungen passten eigentlich nicht zusammen, aber Daart begriff trotzdem ihren Sinn. Thross versuchte sich durch den Spalt zu zwängen, den die mehr als halbwegs in den Gang gedrückte Wand gebildet hatte; ein massiver, vielfach verworfener Vorsprung aus Stein, Metall und anderen, Daart unbekannten Materialien. Thross stellte sich auf die Zehenspitzen, und Daart wurde Zeuge eines unglaublichen Schauspiels. Es sah aus, als gäbe der Junge seine menschliche Form auf. Er streckte sich nach oben, schien zu wachsen und gleichzeitig dünner zu werden. Sein zur Seite gelegter Kopf
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und die Schultern bildeten eine einzige, schlanke Linie, und doch waren sie nun der bei weitem breiteste Teil von ihm. Seine Taille schien praktisch gar nicht mehr zu existieren, nahm kaum mehr Umfang ein als sein Rückgrat; was dabei mit seinen Organen geschah, wagte sich Daart gar nicht vorzustellen. Seine Arme und Beine, obwohl durchaus muskulös, wirkten mit einem Mal fast unnatürlich dünn und zudem noch so biegsam, dass sie sich an jede Unregelmäßigkeit anpassen und durch jeden Spalt hindurchquetschen konnten. Daart ahnte nun, warum ihn Shaila und Thross in schmutzigen und halb zerrissenen Gewändern in Empfang genommen hatten, als er das tief unter der Erde liegende Herrschaftsgebiet der Caverner betreten hatte. Wahrscheinlich hatten sie sich zuvor durch Gänge gewunden, die ansonsten allenfalls den Ratten als bequeme Schlupflöcher gedient hatten. Bevor Daart diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, hatte sich Thross auch schon schlangengleich durch den Spalt gewunden. »Beeil dich«, rief er ihm von der anderen Seite aus zu. »Sie sind gleich hier.« Daart nickte, obwohl Thross das nicht sehen konnte. Das Zischen hinter ihm schien näher zu kommen, und wenn die Blitze erst einmal hier durch diesen Gang tobten, hatte er kaum noch eine Möglichkeit, vor ihnen zu fliehen. Obwohl er schlank und beweglich war, konnte er sich nicht im Geringsten vorstellen, Thross auf dem Weg zu folgen, den dieser gewählt hatte; schließlich war er kein Schlangenmensch. Aber er hatte auch schon einen anderen Ausweg im Visier: den Spalt zwischen dem Trümmerhaufen und der Decke, durch den er sich mit etwas Glück hindurchwinden konnte. Daart zögerte nicht länger. Er griff mit beiden Händen in die Schutthalde und zog sich an geschmolzenen und verborgenen Wandteilen hoch. Das Zischen und Donnern hinter ihm verstummte schlagartig; nur die leisen Geräusche, mit denen etwas nachrutschte oder vor sich hin prasselte, waren noch zu hören. Es war, als hielte etwas tief im Innern der Anlage den Atem an, bevor es den Befehl zu einem erneuten Angriff erteilte. »Schnell!«, schrie Thross. »Sie haben dich geortet!« Einmal mehr wusste Daart nicht, was diese Worte bedeuteten. Aber
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er verstand ihren Sinn. Seine rechte Hand umklammerte ein vorstehendes Metallstück, dann zog er sich mit einer einzigen kraftvollen Bewegung nach oben. Hinter ihm zischte etwas. Es klang wie die boshaften Angriffsgeräusche eines bis aufs Blut gereizten Reptils, das sich für den nächsten Angriff spannte. Daart hatte eigentlich das Bein über den Rand schieben wollen, um sich dann auf der anderen Seite wieder herabzulassen. Stattdessen sprang er jetzt mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung nach vorn und sauste kopfüber auf Thross zu, der sich zu ihm umgedreht hatte und ihm helfend die Hände entgegenstreckte. Das konnte nicht gut gehen, und es ging auch nicht gut; Daart krachte mit vollem Schwung in ihn hinein, sodass sie beide, eng aneinander geklammert, zu Boden purzelten. Hinter ihnen, auf der anderen Seite des Schutthügels, brach die Hölle los. Das Zischen wurde lauter, und dann krachte und donnerte es, als wäre jetzt nicht nur ein Teil, sondern die ganze Decke heruntergekommen. Der Boden erzitterte unter mehreren harten Schlägen, und das schummrige Licht, das es ihnen bislang immerhin einigermaßen leicht gemacht hatte, sich zu orientieren, flackerte mehrfach auf, bevor es nur mehr mit halber Leuchtstärke glomm - ein erster Vorbote, dass hier wohl bald alles zusammenbrechen würde und sie sich dann durch stockfinstere Gänge vorwärtstasten müssten. »Verdammt.« Daart war mit einem Satz wieder auf den Beinen und klopfte sich in einer ebenso sinnlosen wie unpassenden Geste den Staub von den Kleidern. »Was ist das? Wer ist da hinter uns her?« »Keine Ahnung.« Thross war schon wieder herumgewirbelt und wollte losspurten. Doch Daart hatte ihn am Arm gepackt und zog ihn an sich heran. »Wer da hinter uns her ist, will ich wissen!« »Ich weiß es wirklich nicht«, keuchte Thross. »Irgendetwas hat sich hier selbstständig gemacht. Ein Teil der alten Anlage. Ein Sicherheitssystem. Etwas, das tausendmal tödlicher als eine mit Speeren bestückte Fallgrube ist.« Daart ließ Thross los und versetzte dem Jungen einen Schlag auf den Rücken, der ihn vorwärtstaumeln ließ. »Dann los. Wo müssen wir hin?«
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»Vorne links. Dann ist es nicht mehr weit, und wir sind gleich in Sicherheit.« Daart zögerte keinen Augenblick länger. An der Seite seines jungendlichen Begleiters jagte er den Gang entlang. Hinter ihnen tobte noch immer der entfesselte Teil der Anlage. Das Krachen, Zischen und Donnern begleitete sie auf dem ganzen Weg, selbst noch, als sie die Abzweigung erreicht hatten, von der Thross gesprochen hatte. »Da vorne!«, keuchte der Junge und deutete auf den Durchgang, der sich vor ihnen öffnete. Daart beschleunigte nochmals seine Schritte. Das Krachen und Bersten näherte sich mit erschreckender Geschwindigkeit, und den letzten Abschnitt hatten sie fast in vollständiger Dunkelheit zurücklegen müssen, weil hier die Beleuchtung ausgefallen war. Vor ihnen schnitt ein helles Rechteck in die Schwärze des Ganges hinein, das aus dem erleuchteten Raum dahinter fiel. Daart rannte mit halb geschlossenen Augen in die blendende Helligkeit hinein. Er sah einen Schemen auf sich zukommen, eine dunkle Gestalt, die die Hände ausstreckte, ihn an der Schulter packte und mitriss. Daart ließ es geschehen, taumelte an der Gestalt vorbei und stemmte die Hände in die Hüften. Sein Atem ging laut und rasselnd, und seine Lunge brannte, als wäre er durch flüssiges Feuer gelaufen; eine Spätfolge des Tauchgangs, den er wohl weit weniger gut verkraftet hatte, als er zuerst gedacht hatte. Als er sich, immer noch keuchend, umdrehte, sah er, wie die schwere Metalltür hinter ihnen krachend ins Schloss fiel. Thross drehte an dem Rad, das sich auf dieser Seite der Tür befand. »Das war knapp«, sagte er fahrig, als er sich zu Daart umdrehte. Daart hatte überhaupt keine Augen für ihn. Er starrte nur auf die schlanke Gestalt, die neben der Tür stand und seinen Blick mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Trotz erwiderte. »Carnac«, ächzte er. Carnac nickte flüchtig. »Allerdings. Du siehst aus, als hättest du jemand ganz anderen erwartet.« »Jemand erwartet?« Daart schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe überhaupt niemanden erwartet. Wo kommst du denn bloß her?«
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»Das ist das, wofür ich mich entschuldigen muss«, sagte Thross hastig. Er wechselte einen raschen Blick mit Carnac. »Es ist nämlich… weil…« Daart atmete tief aus. Noch immer schenkte er Thross keine Aufmerksamkeit. Er sah bloß Carnac an. Auch sie war triefend nass, auch sie musste den langen Weg getaucht sein. Ganz abgesehen davon, dass er es nicht verstand, und ganz abgesehen davon, dass sich sein Zorn auf die Prophetinnen bei weitem noch nicht gelegt hatte, empfand er nur eines, als er sie so verloren und unsicher vor ihm stehen sah: Erleichterung. Er ging auf sie zu und nahm sie in die Arme. Sie sträubte sich, aber nur ganz kurz, dann wurde sie nachgiebig und schmiegte sich so fest an ihn, wie sie es vielleicht noch nie zuvor getan hatte. Für die kurze Dauer von zwei, drei hämmernden Herzschlägen standen sie so da, dann löste Daart vorsichtig den Griff und trat einen Schritt zurück. »Schön, dass du da bist«, sagte er. Carnac lächelte leicht und strich sich durchs nasse Haar, eine Geste, die Daart an ihre wenigen glücklichen Stunden im Schatten des gischtenden Wasserfalls erinnerte. Es war lange her, viel zu lange, dass sie sich ganz einander hingegeben hatten. Er sah ihren weichen, mit Wasserperlen überzogenen Körper vor sich, streichelte sie mit den Augen. Es war fast, als spürte er ihre samtige Haut, die sich an der seinen rieb, und ihre Hände, die tastend seinen Körper erkundeten, während sie eng aneinander geklammert über das harte, feuchte Gestein rollten. Wirklichkeit und Phantasie verschmolzen zu einem Trugbild, aus dem er sich gar nicht mehr losreißen wollte, verstärkt noch durch den Geruch von Wasser und der Ausdünstung ihres Körpers. Eine wohlige Gänsehaut kribbelte über seinen Körper. Er musste sich zusammenreißen, um sich nicht allzu sehr in der Erinnerung zu verlieren. »Also?«, fragte er mit rauer Stimme, »wie kommt es, dass du hier unten bist? Mir war gar nicht bewusst, dass du so gut tauchen kannst.« »Kann ich auch nicht«, gab Carnac zu. »Ohne Thross’ Hilfe hätte ich es nie geschafft.« Daart wandte sich jetzt doch an Thross. »Also, was ist?«, fragte er
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ein wenig schroff. »Wie kommt es, dass sich die halbe Welt hier auf dem Grund des Glutsees trifft?« »Vielleicht gibt es auch noch andere Menschen, die gut tauchen können.« Thross schüttelte schnell den Kopf, als Daart etwas sagen wollte. »Kein, nein, ich wollte keine freche Bemerkung machen, diesmal wirklich nicht. Aber… es fällt mir schwer, darüber zu sprechen…« »Was wir aber tun müssen, da uns nicht mehr viel Zeit bleibt, bis Nubina ungeduldig wird«, sagte Carnac rasch. Sie ergriff Daarts Hand und zog ihn mit sich, eine an sich harmlose Geste, die in dieser Situation dennoch etwas Verschworenes an sich hatte, wie eine Anspielung auf das, was sie zu einer anderen Zeit im Schutz eines Wasserfalls erlebt hatten. »Komm, ich zeige dir etwas, was dir klarer machen wird, auf wessen Seite Thross und ich wirklich stehen.« Der Zauber, der Daart gerade noch gefangen hatte und ihn Carnacs Nähe viel intensiver hatte spüren lassen, als es der Situation angemessen war, verflüchtigte sich wie Nebel in der Gluthitze eines neuen Tages. »Du meinst die Caverner und die Prophetinnen.« »Ja, das auch.« Carnac steuerte auf die andere Seite des Raumes zu. Hier, das erkannte Daart mit einem flüchtigen Blick, sah alles ordentlich, frisch und sauber aus. Kein Anzeichen von Zerstörung und Verwahrlosung, aber auch kein Anzeichen davon, dass er sich in einem Tempel aufhielt. An den Wänden befanden sich Apparaturen der Alten, denen nicht unähnlich, die Daart während seines Gesprächs mit dem Ältesten etwas genauer in Augenschein hatte nehmen können. Und der Pfeil auf dem Boden, dem Carnac jetzt folgte, war von einem so knalligen Rot, als wäre er erst vor ein paar Tagen aufgemalt worden. »Es mag in deinen Ohren vielleicht verrückt klingen«, begann Carnac so leise, dass er sie kaum verstehen konnte, »aber es gab keinen Überfall auf das Fischerdorf.« »Was?« Daart blieb stehen, und Carnac hatte keine andere Möglichkeit, als ebenfalls innezuhalten, wollte sie ihn nicht loslassen. »Ich habe gehofft, dass du eine vernünftige Erklärung hättest. Aber indem du einfach leugnest, was wir beide gestern gesehen haben,
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machst du das alles nur noch schlimmer.« Carnac biss sich auf die Lippen und schüttelte leicht den Kopf. »Komm weiter«, sagte sie schließlich. »Wenn ich dir das zeige, was hier unten gerade passiert, wirst du mir glauben müssen.« »Da bin ich aber gespannt«, sagte Daart, während er wieder losging, zuerst zögerlich, dann jedoch mit so festen Schritten, dass er jetzt eher Carnac mitzog statt umgekehrt. »Doch wenn du den Überfall auf meine Eltern leugnen willst, bist du bei mir an der falschen Adresse.« »Weil du das gesehen hast, was Nubina dich sehen lassen wollte?«, fragte Carnac. »Hast du schon vergessen, dass sie eine Meisterin der Täuschung ist?« »Nubina war gestern gar nicht dabei«, sagte Daart schroff. Wie zur Antwort auf Carnacs Frage griff er sich an die Brust, dorthin, wo Nubinas Amulett auf seinem Guhulan-Gewand auflag. Er wollte danach greifen, wollte das Amulett nach oben ziehen und es betrachten, aber eine merkwürdige Scheu hielt ihn davon ab. Er wollte Nubina jetzt nicht sehen, und selbst wenn es sich dabei nur um ihr Antlitz auf einem Relikt aus einer längst vergangenen Epoche handelte. »Natürlich war sie nicht dabei, das hätte ja auch dein Misstrauen geschürt.« »Das Dorf war genau in dem Zustand, in dem es hätte sein müssen, wenn wenige Jahre nach meiner Geburt dort ein Überfall stattgefunden hätte«, beharrte Daart. »Ja«, gab Carnac zu. »Und praktischerweise brauchten Zar’Toran und Nubina es gar nicht erst entsprechend zu präparieren. Denn es ist tatsächlich seit ungefähr dieser Zeit unbewohnt, und vor ein paar Jahren wurde es geplündert und teilweise verwüstet.« »Na, also«, sagte Daart. »Du verwickelst dich in Widersprüche, merkst du das eigentlich gar nicht?« »Ich merke nur, dass du in der falschen Richtung unterwegs bist«, sagte Carnac ärgerlich. »Und das in jeder Beziehung. Wir müssen rechts lang«, sie deutete mit der freien Hand auf einen schmalen Durchgang, der Daart in seinem Zorn bislang gar nicht aufgefallen war, »sonst kommen wir wieder dorthin zurück, wo wir hergekom-
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men sind.« »Von mir aus«, brummte Daart, »und wenn du schon alles andere abstreitest: Dann erkläre mir doch mal bitte die unversehrte Staubschicht in der Hütte, die ganz deutlich beweist, dass dort schon seit vielen, vielen Jahren niemand mehr war!« Carnac presste Daarts Hand fast schmerzhaft zusammen. »Manchmal bist du aber so ein Idiot, Daart. Hast du vergessen, was Nubina dir in der Vergangenheit schon alles vorgespielt hat?« »Nein«, sagte Daart. »Aber was hat das damit zu tun?« »Alles.« Carnac riss Daart in die Windung des Ganges hinein, der sich jetzt vollständig von all dem abhob, was er bislang hier unten gesehen hatte. Die Wände waren mit Holz vertäfelt, auf dem Boden lag ein dicker Teppich, und die Decke war in einer hellen, freundlichen Farbe gestrichen. »Der Trick an der Sache war, dass nicht Nubina, sondern Zar’Toran mit dir da war, und das in einer stürmischen Nacht, in der du total übermüdet warst.« »Woran sich bis jetzt nicht viel geändert hat«, erinnerte sie Daart. »Mag sein«, sagte Carnac leichthin. »Jedenfalls war es eine wichtige Voraussetzung dafür, dir weiszumachen, dass es deine Eltern wären, die dort erschlagen in ihrem eigenen Blut in der Hütte lagen.« Daart riss seine Hand aus Carnacs Umklammerung. »Ich finde es unglaublich, wie du versuchst, das Andenken meiner Eltern zu besudeln.« »Das tue ich doch gar nicht«, sagte Carnac erstaunlich sanft. »Und das würde ich auch nie tun. Aber es waren nicht die sterblichen Überreste deiner Eltern, die du dort gesehen hast.« »Woher willst du das wissen?« »Ich weiß es, weil ich die Wahrheit kenne…« »Die dir deine Prophetinnen ins Ohr geflüstert haben«, sagte Daart scharf. »Ich verstehe.« »Rein gar nichts verstehst du.« Carnac hielt inne und drehte sich zu Daart um. Ihre Augen blitzten. »Merkst du eigentlich gar nicht, dass Zar’Toran dich Stück für Stück in sein Lager zieht? Wenn es so weitergeht, wirst du eines nicht mehr allzu fernen Tages Seite in Seite mit ihm an der Spitze der Guhulan in Purgatory einreiten, in dem
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Triumph vereint, eure gemeinsamen Feinde zerschmettert zu haben: die Prophetinnen und die Caverner.« »Wenn das so wäre, gäbe es ja wohl auch genug Grund dafür.« Daart verfluchte sich für die Worte, die aus ihm herausdrängten, aber er schaffte es nicht, sie zurückzuhalten. »Vielleicht ist tatsächlich Zar’Toran der Einzige, dem ich wirklich trauen kann. Und das vielleicht deswegen, weil er aus seiner finsteren Seite keinen Hehl macht. Aber er hat auch gute Seiten, Carnac. Und vielleicht ist er tatsächlich der Einzige, der weiß, wie sich das Chaos in den Griff kriegen lässt, die verheerende Wetterkatastrophe, der schon jetzt Abertausende von Menschen zum Opfer gefallen sind…« »Ein Chaos, das er und Nubina gemeinsam gerufen haben.« Carnac machte eine abfällige Geste. »Mach dich nicht lächerlich. Sie haben dir etwas vorgespielt, und du bist darauf hereingefallen.« Das wäre immerhin möglich, meldete sich seine innere Stimme zu Wort. Es könnte tatsächlich sein, dass Nubina und Zar’Toran dich hereingelegt haben. Es wäre ja nicht das erste Mal. Daart riss die Hände nach oben, und um ein Haar hätte er sie sich gegen die Schläfen gepresst. Er wollte nichts davon hören. Weder von Carnac noch von der Stimme, die ihn seit Jahren verfolgte, ohne dass er ihren Ursprung oder ihre Herkunft je hatte ausfindig machen können. »Wenn du so viel Vertrauen in Zar’Toran hast«, forderte Carnac, »dann beantworte mir doch einfach eine Frage: Wie viel Vertrauen setzt Zar’Toran in dich?« »Was?« »Du hast mich schon ganz genau verstanden.« Carnac beugte sich vor, packte Daart bei den Aufschlägen des Guhulan-Gewandes und zischte: »Vertrauen beruht nun einmal auf Gegenseitigkeit. Und deswegen frage ich dich: Wie viel Vertrauen setzt Zar’Toran in dich?« Als Daart nicht gleich antwortete, fügte sie hinzu: »Kannst du diese Frage nicht beantworten, oder willst du es nicht?« Daart war nur einen winzigen Augenblick unschlüssig, dann legte er mit einer entschlossenen Geste die Hand auf den Schwertgriff. »Du willst es also wirklich wissen, ja?«
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Carnac nickte, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ja.« Das Tschekal sprang wie von selbst in Daarts Hand und zischte haarscharf an Carnacs Wange vorbei. »Das ist mein Beweis. Zar’Toran hat mir dieses Tschekal vermacht. Wie hätte er es tun sollen, wenn er nicht Vertrauen zu mir gehabt hätte?« Carnac nickte, ohne mit der Wimper zu zucken oder auch nur einen Schritt zurückzuweichen. »Das ist ein schlagender Beweis. Oder sollte ich besser sagen: Das wäre ein schlagender Beweis?« »Spare dir deinen Spott«, sagte Daart schroff. »Ich selbst habe es nicht darauf angelegt zu beweisen, dass es zwischen mir und Zar’Toran ein zumindest schmales Band des Vertrauens gibt. Du selbst hast es herausgefordert. Und was hast du nun damit bewiesen?« »Das werde ich dir gleich zeigen«, sagte Carnac. »Auch ich habe eine Waffe hier herunter mitnehmen können. Thross hat mir bei ihrer Beschaffung geholfen.« Carnac griff unter ihr Gewand und brachte ein Kurzschwert hervor, eine Waffe, wie sie die Caverner trugen. »Greife mich an.« »Was?« »Ich sagte, dass du mich angreifen sollst.« Carnac veränderte ihre Stellung, ging in einen gleichermaßen elastischen wie festen Stand, den Daart nur zu gut von ihren unzähligen Übungskämpfen her kannte. »Oder hast du inzwischen verlernt, wie man mit einem Tschekal umgeht?« »Mit einer aus Sternenstahl geschmiedeten Waffe gegen ein gewöhnliches Eisenschwert?« Daart schüttelte den Kopf. »Das kann nicht dein Ernst sein. Ganz abgesehen davon, dass ich keine Lust habe, mich hier zu schlagen.« Carnac fuchtelte Daart mit dem Schwert vor der Nase herum. »Du willst also kneifen?« Daart schüttelte den Kopf. »Keinesfalls.« Kribbelnde Lebendigkeit strömte über seinen Arm in seinen Körper, als er ebenfalls in Position ging. Er machte eine schnelle Finte, eine Drehbewegung mit der Waffe, die von der eigentlichen Stoßrichtung ablenken sollte. Carnac kannte diese Bewegung und reagierte entsprechend. Die beiden
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Klingen schlugen Funken sprühend aufeinander. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit voller Wucht ihre Schwerter aufeinander krachen ließen, aber diesmal war es anders. Daart hätte nicht sagen können, was es war, außer, dass Carnac verbissener, bösartiger in den Kampf einstieg als sonst, beinahe so, als hätte sie vor, ihn ernsthaft zu treffen. Sie wich zurück, täuschte an, ließ die Klinge wieder vorsausen, das alles in einer einzigen, fließenden Bewegung. Daart musste mit aller Wucht zuschlagen, um sie abzuwehren, und prellte dabei fast ihre Waffe aus der Hand. Aber Carnac ließ nicht locker, schlug wieder und wieder so ungestüm zu, dass Daart nichts anderes übrig blieb, als mit ebenso kraftvollen Schlägen zu antworten. Der kurze Schlagabtausch strengte ihn mehr an, als er es erwartet hatte; und vor allen Dingen war er weit härter, als es unter Freunden gut tat. »Verdammt«, keuchte er, »was soll das?« »Das werde ich dir schon noch zeigen!« Carnac wehrte seinen nächsten Angriff mit geradezu spielerischer Leichtigkeit ab, duckte sich unter seinem nachgesetzten Schlag hinweg und sprang zur Seite, ein schnelles, katzenhaftes Manöver, das ihr einen Vorteil verschaffte, den Daart ihr nicht lassen wollte. Er sprang mit einem Satz vor, weg von ihr und aus der Reichweite ihres Schwertes, und als er wieder herumwirbelte, legte er alle Kraft in den Schlag, um ihr das lächerliche kurze Schwert nun endgültig aus der Hand zu prellen. Sternenstahl krachte auf Eisen, und Carnac schrie auf, ob aus Schmerz oder Überraschung. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, und als sie wieder nach vorn kam, war das Schwert immer noch in ihrer Hand. Es hätte nicht sein dürfen. Der Sternenstahl hätte ihr die Waffe aus der Hand schleudern oder die Klinge zerschmettern müssen. Aber weder das eine noch das andere war der Fall. Daart spürte Entsetzen in sich aufsteigen. Der Kampf entwickelte sich vollkommen anders, als er erwartet hatte… Da war Carnac auch schon wieder heran. Erneut setzte Daart auf die außergewöhnlichen Eigenschaften des Sternenstahls. Wenn das Manöver schon beim ersten Mal nicht richtig geklappt hatte, würde
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er es eben jetzt erzwingen. Er ließ die Waffe eine Drehbewegung beschreiben, die das Tschekal zu einem wirbelnden Scheinen machte. Carnac tat etwas vollkommen Verrücktes, schlug mitten in den Wirbel hinein. Ein schmerzhafter Ruck jagte durch Daarts Handgelenk, als die Waffen krachend aufeinander prallten, und dann ritzte etwas seine Wange. Carnac sprang zurück, schob die Waffe mit einer wuchtigen Bewegung in die Schwertscheide zurück und zog ihr Gewand darüber. »Das dürfte reichen«, sagte sie knapp. »Das finde ich allerdings auch.« Thross schüttelte empört den Kopf. »Seid ihr eigentlich verrückt geworden? Spart eure Kraft doch für eure Feinde, statt euch gegenseitig um die Ecke zu bringen.« Daart fuhr sich mit der freien Hand über die Wange. Als er sie zurücknahm, klebte Blut auf seinen Fingern. Das hätte nicht passieren dürfen. »Habe ich dir zu viel versprochen?«, fragte Carnac. Daart schüttelte den Kopf. »Nein, allerdings nicht. Aus welchem Material ist das Schwert gefertigt?« »Nicht aus Sternenstahl, wenn du das meinst, und auch sonst aus keinem außergewöhnlichen Material.« Carnac deutete auf Daarts eigene Waffe. »Sieh dir mal lieber an, aus welchem Material deine Waffe gefertigt ist.« Daart kniff die Augen zusammen. Er ahnte, worauf Carnac hinauswollte, noch bevor er die Waffe hochnahm und einen Blick auf die Klinge warf. Sie hatte den charakteristischen Glanz, der all das auszeichnete, was aus Sternenstahl gefertigt war. Aber das war auch die einzige Gemeinsamkeit. Sternenstahl wurde an einem verborgenen Ort in einem streng geheim gehaltenen Prozess geschmiedet, in den weder der Hohe Rat noch sonst eine außen stehende Gruppierung Einblick hatte, und das aus gutem Grund. Daart kannte keine einzige Möglichkeit, Sternenstahl zu zerkratzen oder gar zu deformieren, weder durch große Hitze noch durch äußere Gewaltanwendung. Die Klinge aber, auf die er jetzt starrte, wies Scharten und Kerben auf, die vor dem kurzen, aber erbitterten Kampf mit Carnac noch nicht da gewesen waren.
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Und das bedeutete, dass sie nicht aus Sternenstahl war. »Zar’Toran hat behauptet, es sei ein Tschekal«, sagte er beinahe trotzig. »Ja, das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Carnac grimmig. »Und davon hat er sich einen doppelten Vorteil versprochen.« »Ja.« Daart begriff schlagartig die Heimtücke des Feuermagiers, und eine Woge des Zorns brodelte in ihm hoch. »Er wollte mein Vertrauen gewinnen. Und dafür sorgen, dass ich ihm oder seinen Leibgardisten nicht wirklich gefährlich werden kann. Wenn ich mit diesem Spielzeug gegen Medon angegangen wäre…« »Hätte er es mit zwei, drei wuchtigen Hieben zerschlagen«, beendete Carnac seinen Satz. Daart starrte sie eine ganze Zeit lang schweigend an. Er spürte, wie eine Spur warmen, klebrigen Blutes seine Wange herunterrann und in den Spalt zwischen Gewand und Hals tropfte. »Ich freue mich schon auf meine nächste Begegnung mit Zar’Toran«, sagte er böse. »Ich schätze, ich werde ihm bei dieser Gelegenheit ein paar unangenehme Fragen zu dieser billigen Tschekal-Kopie stellen.« »Das würde ich an deiner Stelle lassen«, sagte Carnac. »Oder willst du ihn vorzeitig warnen, dass du ihm auf die Schliche gekommen bist?« Daart starrte sie einen Herzschlag lang schweigend an und schüttelte dann entschieden den Kopf. »Nein, das wäre wohl nicht klug. Aber dann wirst du mir ein paar Fragen beantworten müssen. Zum Beispiel die, was wirklich mit meinen Eltern passiert ist.« »Natürlich«, sagte Carnac rasch. »Aber ich fürchte, es wird dir nicht gefallen.« »Was wird mir nicht gefallen?« »Ich weiß nicht, wie ich es dir erzählen soll.« Daart lachte rau auf. »Nur keine Hemmungen. Glaubst du im Ernst, es könnte mich noch irgendetwas schockieren?« Carnac schüttelte den Kopf. »Wohl kaum.« Sie nickte hastig, wie um sich selbst Mut zu machen. »Also gut. Deine Mutter ist schon bei deiner Geburt gestorben.« Daart wischte sich über die blutverschmierte Wange und merkte es
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erst, als er seine klebrig roten Finger starrte. »Das kann ich mir kaum vorstellen.« Wirre Bilder schossen ihm durch den Kopf, Erinnerungen an das, was er in der vergangenen Nacht vor seinem inneren Auge gesehen hatte. Die Spuren in der Hütte, die beiden Toten, all das hatte viel zu gut zusammengepasst, um es jetzt mit einer anders lautenden Bemerkung wieder aus der Welt zu schaffen. »Kannst du dich noch an deine Mutter erinnern? An irgendetwas, und sei es eine noch so belanglose Kleinigkeit?« Daart zögerte. Die Erinnerungen an seinen Vater waren alles andere als klar, und sie bezogen sich auch ausschließlich auf ein einziges Ereignis, aber sie ließen sich nicht mehr wegwischen oder als pure Einbildung abtun. Er suchte nach ähnlichen Bildern, die seine Mutter betrafen, nach irgendeinem Fetzen, der ihn in die Zeit zurückführte, in der er noch in dem Pfahldorf gewohnt hatte. Schon früher, viele Jahre lang, hatte er nach solchen Erinnerungen gesucht, sie aber niemals, nicht einmal ansatzweise finden können; und jetzt erging es ihm nicht besser. »Du kannst dich nicht daran erinnern, weil du sie nie bewusst kennen gelernt hast«, fuhr Carnac leise und sanfter fort. »Aber das, was ich gestern gesehen habe…« »Das, was dir Zar’Toran präsentiert hat«, stellte Carnac richtig. »Ein weiterer böser Winkelzug in dem Plan, dich gefügig zu machen.« »Aber warum, Carnac?« Daart schob die Tschekal-Kopie so wuchtig in die Lederscheide zurück, dass der Sehwertgurt schmerzhaft in seinen Körper einschnitt. »Was ist an mir so besonders, dass sich Zar’Toran und Nubina solche Mühe mit mir geben?« »Du hast gedacht, es sei wegen des Tauchgangs«, vermutete Carnac. »Das zumindest hat mir Zar’Toran weiszumachen versucht. Aber es kann nicht stimmen. Sonst hättet ihr beide es nicht auch geschafft, hier hinabzutauchen.« Carnac nickte flüchtig. »Das kann dir Thross erklären. Aber jetzt los. Da ist noch etwas anderes, was ich dir zeigen muss.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte sie los, auf den hellen
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Fleck zu, der den Ausgang markierte. Thross wollte ihr folgen, aber Daart dachte gar nicht daran, ihn so schnell entwischen zu lassen. Er packte ihn am Arm und riss ihn zu sich heran. »Was musst du mir erklären? Und was ist mit meinen Eltern los?« »Die Bestattung war gar keine Bestattung«, sagte Thross rasch und ohne ihn anzusehen. »Es waren nicht Leichname, die Nubina in den See versenken wollte…« »Was war es dann?«, fragte Daart mühsam beherrscht. »Das tut jetzt überhaupt nichts zur Sache. Wichtig ist nur, dass es nicht deine Eltern waren, die auf den Bahren lagen. Weil… weil…« »Weil was?« »Weil ich Carnac auf die eine Bahre gelegt und mit dem Tuch abgedeckt habe und mich auf die andere«, sagte Thross hastig. »Aber keine Sorge, ich hatte Carnac vorher ein Mittel verabreicht, das ihre Körperfunktionen verlangsamt, damit sie den Tauchgang unbeschadet übersteht. Und wie du siehst, ist das ja auch geglückt.«
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Das, was Carnac ihm hatte zeigen wollen, befand sich in einer ganz anderen Art von Raum, in einem Kuppelbau, der wie eine riesige funkelnde Blase vom Grund des Sees aufstieg und sich in seiner Krümmung scheinbar endlos weit spannte, unüberschaubar und gewaltig, ein Wunderwerk, das allein von den gewaltigen Ausmaßen her die funkelnde und gleißende Kuppel in Purgatory in den Schatten stellte - wie auch alles andere, was Daart je in dieser Art gesehen hatte. Das Licht, das von oben und von den Seiten aus einer Vielzahl von Quellen erstrahlte, hatte ihn zuerst geblendet, sodass er kaum mehr erkannt hatte als den breiten Gang, den sie entlanggelaufen waren, und natürlich die Brüstung, die es auch hier gab, genau so, wie es sie in der viel kleineren Kuppel gegeben hatte, in der er Ask wieder getroffen und den Ältesten kennen gelernt hatte. Es war ein Feuertempel, ohne Zweifel, auch wenn er von ganz anderer Art war, als Daart es sich je hatte vorstellen können. Es waren nicht nur das Licht und das Gleißen, die einen hätten schwindlig machen und vor Ehrfurcht erstarren lassen können, es war auch nicht einmal die
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schiere, beinahe erdrückende Größe, sondern es war die Ausstrahlung von etwas Gewaltigem, etwas gleichermaßen Vertrautem wie Fremdem… das Gefühl, den alten Göttern näher zu sein als an jedem anderen Ort Enwors. Die Zahl der Wunder, die es hier zu entdecken gab, war unüberschaubar. Wie gigantische Gewächse drehten sich aus dem Untergrund metallisch glänzende Spiralen empor, gebogene Rampen, die, aus dem Nichts kommend, wieder im Nichts zu verschwinden schienen. Durch die Kuppel schwebten bunt schillernde Blasen, manche mannsgroß, manche noch viel größer; wenn sie irgendwo dagegenstießen, drehten sie scheinbar träge ab, um in einer anderen Richtung zu entschweben. Dort, wo an Land der Horizont war, befand sich hier eine gewaltige, halb durchsichtige Wand, durch die man hinaus in den See hätte blicken können, wäre sie nicht zu weit entfernt gewesen. Alles, was sich davor befand, ein Gewimmel sich überschneidender gekrümmter Metallwege und Knotenpunkte, eine scheinbar willkürliche Anordnung von Plattformen und Vorsprüngen, konnte er nur als grobe Umrisse und grundsätzliche Strukturen wahrnehmen, so weit waren sie entfernt. Anfangs hatte sich Daart ganz diesem Bild hingegeben. Doch jetzt hatte er nicht mehr als einen flüchtigen Blick dafür übrig. In atemlosem Entsetzen starrte er auf eine breite, nicht gekrümmte, sondern schnurgerade verlaufende Rampe, die in größerer Entfernung aus dem Nichts zu kommen schien, aus einer schattenhaften, wie von dichtem Nebel gebildeten Region weit über ihren Köpfen brach und sich wie ein gigantisches, schlangengleiches Ungeheuer wand, das sich in einem taunassen Spinnennetz verfangen hatte. Es war ein verwirrendes Geflecht blitzender Kabel, die der Rampe Halt und Form gaben und ihren kurvenreichen Weg bis tief hinab in einen unüberschaubaren Bereich der Anlage begleiteten. Daart konnte es erst näher in Augenschein nehmen, als er sich so weit über den Rand der Brüstung lehnte, dass er das Gefühl hatte, jeden Moment über die Metallstange, die die äußere Begrenzung bildete, auf den spiralförmigen Aufgang zu stürzen, der sich auch hier emporwand. Ganz weit unter sich gewahrte er einen breiten Gang und ein verwirrendes Ge-
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wusel kleinerer und größerer Abzweigungen, die an jedem Spiralaufgang Knotenpunkte bildeten und ansonsten überall und nirgends hinzuführen schienen. Er hatte geglaubt, dass ihn nichts mehr überraschen könnte, aber das stimmte nicht. Der Anblick von purem, gleißendem Silber auf dem gewundenen Abgang, der sich von schwarzen Uniformen abhob, war beinahe mehr, als er ertragen konnte. Es waren Hunderte, wenn nicht Tausende von Silberkriegern, die über die breite Rampe nach unten marschierten, um sich dann in den anschließenden Gängen in die verschiedensten Richtungen zu verteilen, ein unermesslicher Strom, der keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Er war Zeuge, wie sich ein gigantisches Heer von Nubinas Silberkriegern in die riesige Kuppel der Alten ergoss, und hörte nicht mehr als den leisen Widerhall ihrer gleichmäßigen Schritte, der ihn entfernt an das Schlagen der Wellen an die Uferböschung unterhalb des Pfahldorfs erinnerte. »Pass auf, dass dir nicht die Augen aus dem Kopf fallen«, sagte Carnac leise. Daart zuckte zurück, drehte sich zu ihr um und starrte sie an. Es war kein Spott in ihrer Stimme gewesen, und auch in ihren Gesichtszügen spiegelte sich jetzt keine Häme, sondern etwas ganz anderes: Entsetzen. Sie musste gewusst oder zumindest geahnt haben, was hier gerade geschah, und doch schien ihr der Anblick genauso wie ihm selbst zuzusetzen. »Woher kommen diese Krieger?«, fragte er mit rauer, vorwurfsvoller Stimme. »Sind sie alle getaucht?« Carnac schüttelte den Kopf, als ob das eine ernsthafte Frage gewesen wäre. »Niemand muss tauchen, um hier herunterzukommen«, sagte sie leise und fast ehrfurchtsvoll, »jedenfalls nicht mehr, seitdem Zar’Toran den alten Zugang hat erschließen lassen.« »Ich verstehe kein Wort.« Daart griff sich in einer unbewussten Bewegung an die Schläfe und drückte fest gegen sie, als könnte er so den pochenden Kopfschmerz, besänftigen, der jetzt wieder mit unbändiger Wut über ihn hergefallen war. »Ihr habt mich durch halb Enwor gehetzt und euch mit Erklärungen überboten, nur um jetzt
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alles wieder auf den Kopf zu stellen? Was soll das?« »Nun schütte mal nicht das Kind mit dem Bade aus«, meinte Carnac missmutig. »Ich bin doch nicht verantwortlich für das, was dir dieser verlogene Feuermagier und andere Heuchler aufzuschwatzen versucht haben.« »Nein, das bist du wohl nicht.« Daart zwang sich weiter dazu, Carnac anzusehen und nicht zu dieser unglaublichen Rampe zurückzublicken, über die sich eine Reihe Silberkrieger nach der anderen in die Anlage der Alten schob. »Aber immerhin seid ihr schon zu zweit. Oder wollt ihr beiden etwa behaupten, ihr hättet nicht gewusst, warum Nubina ihr Heer bis in diesen entlegenen Teil Enwors geführt hat?« »Es gab Gerüchte«, sagte Thross. Er löste sich von der Brüstung, an der er wie Daart gelehnt hatte, und wandte sich nun zu ihm um. Sein Gesicht wirkte unnatürlich bleich, und in seinen Augen war ein Flackern, das Daart gar nicht gefiel. »Der Älteste hatte Späher hierher geschickt. Aber die wenigsten kamen zurück.« »Und trotzdem muss er von Purgatory gewusst haben«, sagte Daart scharf. »Eine solche Stadt lässt sich nicht über Nacht erbauen. Die ganze Region muss Bescheid gewusst haben, und sei es nur, weil Baumaterial und andere Güter durch sie hindurchgeführt oder von ihr bezogen worden sind.« Der Junge zuckte zusammen. »Ja. Kann sein. Ich verstehe nichts von solchen Dingen. Meine Heimat sind dunkle Höhlen und enge Gänge.« »Lass doch den Jungen in Ruhe«, sagte Carnac ärgerlich. »Er hat in den letzten Tagen Unmenschliches geleistet, um dich zu unterstützen.« »Zu unterstützen? Wobei denn? Etwa hier hinabzutauchen, weil außer mir kein Mensch diese Anlage betreten kann?« »Wer sagt dir denn, dass du ein Mensch bist?« Daart starrte Carnac eine Zeit lang schweigend an. »Es ist mir zu blöd, darauf zu antworten«, meinte er schließlich. »Was soll ich denn sonst sein?« »Nubinas Amulett«, sagte Carnac. »Ich bin noch nicht dazu ge-
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kommen, dir zu erzählen, was es wirklich damit auf sich hat, nicht wahr?« »Nein, aber…« »Kein Aber.« Carnac packte Daarts Schulter und zog ihn an sich heran, beinahe so, als wollte sie ihn leidenschaftlich umarmen oder sogar küssen. Aber natürlich hatte sie etwas ganz anderes vor. Sie packte das Amulett und riss mit aller Kraft an ihm. Das Lederband, an dem es befestigt war, schnitt schmerzhaft in Daarts Nacken ein, doch es riss nicht. »Dann eben nicht!« Carnac zog das Amulett jetzt nach oben und über Daarts Kopf, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass sich das Lederband in seinem rechten Ohr verfing und es fast abriss. Daart packte ihr Handgelenk und verdrehte es, gerade als sie das Amulett endgültig abgestreift hatte. »Lass los«, zischte Carnac. »Ich will dir etwas zeigen.« »Übertreib es nicht«, sagte Daart, ohne seinen Griff auch nur eine Spur zu lockern. »Ich hätte dich vorhin mit purer Gewalt besiegen können, wenn mir danach gewesen wäre, ob es nun ein Tschekal oder nur eine billige Imitation war, die ich in den Händen hielt.« »Das interessiert mich nicht«, sagte Carnac fast verächtlich. »Ich will, dass du dir das hier ansiehst.« Daart starrte sie noch einen Moment lang wütend an, zuckte dann mit den Schultern und ließ los. »Also gut. Aber mach schnell. Ich fühle mich hier nicht sicher.« »Zu Recht.« Carnac packte das Amulett an der Unterseite und hielt es ihm vors Gesicht. Daart wich instinktiv einen Schritt zurück. Er hatte gewusst, was ihn erwartete, er hatte das Gleiche bereits in Eternity erlebt, als ihnen das Amulett zum ersten Mal in die Hände gefallen war. Und doch überkam ihn auch jetzt wieder diese Mischung aus Faszination und Entsetzen, genau wie schon damals. Das Bildnis in der Mitte des Amuletts begann sich zu entfalten, wuchs, wie von einem geheimnisvollen Zauber getrieben, über die Ränder der Reliquie hinaus, bis Carnacs Hand dahinter verschwand und es frei im Raum zu schweben schien. Obwohl Daart wusste, dass es sich nur um eine optische Täuschung handeln konnte, hielt er die Luft an, unfähig, seinen Blick von dem Schauspiel zu wenden, das sich ihm
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bot. Zuerst konnte er kaum mehr erkennen als die unscharfen Konturen eines Frauengesichts, doch dann schälten sich klar erkennbare Gesichtszüge heraus, eine Schönheit mit hoch liegenden Wangenknochen und schmalen, leicht schräg gestellten Augen, denen etwas Eiskaltes, fast schon Grausames anhaftete. Als sich ihr Antlitz auf volle Größe entfaltet hatte, kam es Daart beinahe so vor, als verzögen sich ihre Mundwinkel spöttisch und als blitzte in ihren Augen Erkennen auf. »Dieses Ding hier ist alles andere als ein Amulett«, sagte Carnac. »Es ist der Schlüssel zu dieser Anlage hier.« »Tu mir einen Gefallen und halte es irgendwo anders hin«, sagte Daart nervös. »Es ist beeindruckend, nicht wahr?«, bestätigte Carnac. »Aber es ist kein Schmuckstück, in das ein unbekannter Künstler Nubinas Gesichtszüge eingraviert hat, es ist keine Reliquie, der ein unheimlicher Zauber innewohnt. Es ist nichts weiter als ein Steuerungsmechanismus.« »Das verstehe ich nicht, und ich weiß auch gar nicht, ob ich es verstehen will.« Daart hob den Arm, wie um Carnacs Hand herunterzudrücken, doch dann ließ er sie wieder sinken. Er hatte keine Lust, dem Amulett näher zu kommen, als es unbedingt nötig war. Carnac ließ es ein kleines Stück sinken, und jetzt war es Daart, als ob Nubinas Ebenbild die Augen weiter öffnete und zu ihm nach oben schaute. »Es ist ein Relikt aus der Zeit, in der die Alten einen verzweifelten Kampf gegen die Götter führten, die von den Sternen kamen. Ihre fürchterlichen Waffen setzten ganze Landstriche und den Himmel selbst in Brand. Die Alten wehrten sich mit erbitterter Kraft, schufen mit Combat die letzte Bastion, um die ein offener Kampf tobte, und gleichzeitig im Geheimen diese Anlage auf dem Grund des Glutsees, der damals noch der flüsternde See hieß.« »Ich habe von Combat gehört. Es ranken sich die verrücktesten Geschichten um diese Stadt.« »Zu Recht«, sagte Carnac. »Die alten Lieder berichten von der Gewalt des Höllenfeuers, mit dem die Götter Combat geschlagen haben, von schwarz geschmolzenem Glas, zu dem das Land erstarrte, und
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davon, dass die Stadt immer noch brennen würde, auf immer und ewig, ein Mahnmal dafür, dass sich Feuer nicht mit Feuer bekämpfen lässt.« »Es sind doch nur Legenden.« »Nein«, widersprach Carnac, und plötzlich war eine Härte in ihrer Stimme, die ihn erschreckte, »es sind keine Legenden. Die Wahrheit ist sogar noch viel schlimmer. Nicht nur Combat selbst, sondern ganz Tuan wurde mit einem Schlag vernichtet. Es heißt, dass die Sonne selbst brüllend vom Himmel stürzte, das Land in Brand setzte und alles tötete, was sich dort befand. Tuan ist wie unter der Wucht ungeheurer Hammerschläge geborsten, und selbst heute vermag in der unwirtlichen Hölle, zu der das Land geworden ist, auf Dauer nichts zu leben. Es ist ein Albtraum, der dort wahr geworden ist. Die Alten, die die Kraft des Feuers entfesselt hatten, fielen ihm letztlich selbst zum Opfer. Und hätten sie nicht zuvor diese geheime Anlage hier auf dem Grund des Sees erbaut, wären sie selbst und mit ihnen alle ihre verzweifelten Pläne und Hoffnungen auf einen Schlag ausgelöscht worden.« »Die Feuerkrieger…« »Ja, die Feuerkrieger«, unterbrach ihn Carnac. »Die Feuerkrieger unter den Alten waren die Vorfahren der Guhulan, und vielleicht wäre es besser gewesen, sie alle wären mit Combat und Tuan untergegangen. Diese Anlage hier war ursprünglich als Basis für einen Gegenschlag erbaut worden, doch so wurde sie zum letzten Zufluchtsort für eine verzweifelte Gruppe von Menschen, die insgeheim wussten, dass sie den Krieg nicht mehr gewinnen konnten. Das Leben selbst drohte zu erlöschen. In dieser verzweifelten Situation versündigten sich die Alten an der Schöpfung, und vielleicht war es ausgerechnet das, was ihnen den Todesstoß versetzte.« Nubinas Ebenbild schien zu blinzeln, als Carnac das Wort Todesstoß aussprach, und Daart überlief ein kalter Schauder. »Die Feuerkrieger hatten Gefangene von den Sternen gemacht, Wesen, die uns so fremd sind, dass nichts und niemand sie begreifen konnte. Und trotzdem versuchten sie sich an der Unmöglichkeit, Angehörige ihres eigenen Volkes mit den Gefangenen von den Sternen zu verschmelzen. Die
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ersten Kinder, die sie auf eine geheimnisvolle Weise irgendwo hier zu unseren Füßen zur Welt brachten, starben schon nach ein paar Monaten, doch sie machten Fortschritte, und die nächsten lebten schon ein paar Jahre.« »Und was hat das alles mit mir zu tun?«, fragte Daart benommen. »Zum Ende hin muss sich die Entwicklung überschlagen haben«, fuhr Carnac fort. »Die Alten rüttelten an allen Grundfesten der Schöpfung, an der Zeit selbst, die sie für ihre Zwecke zu nutzen versuchten, wie auch durch die Verschmelzung zweier Rassen, die sich viel zu fremd waren, um irgendeine Gemeinsamkeit entwickeln oder gar in Frieden nebeneinander leben zu können. In ihrer Verzweiflung gelang es diesen Menschen mit der Macht von Göttern tatsächlich, die Sternengeborenen in Bedrängnis zu bringen. Doch der Zorn derer, die von den Sternen herabstiegen, war fürchterlich. Sie entfesselten erneut das Höllenfeuer, das zuvor schon Tuan verwüstet hatte. Berge barsten unter der Gewalt ihrer Angriffe, und das Wasser des Sees verkochte. Diese riesige Anlage hier wurde unter einer Lawine geschmolzenen Gesteins, Dreck und Lava verschüttet, doch sie selbst überstand das Wüten der unglaublichen Gewalten.« »Der Glutsee«, sagte Daart. »Daher hat der See also seinen Namen.« »Und genau wie Combat ist auch hier das Höllenfeuer noch nicht gänzlich erloschen, selbst nach all der Zeit nicht, und auch nicht, nachdem sich der See durch die wasserreichen Zuflüsse wieder gefüllt hatte«, bestätigte Carnac. »Und das ist vielleicht das Schlimmste von allem. Die Sternengeborenen haben einen Fluch über die Alten und ihre Nachfahren gesprochen, bis in die tausendste Generation hinein, so berichten es die alten Überlieferungen.« »Das ist doch lächerlich.« »Nein, das ist es nicht.« Carnacs Stimme hatte etwas Schneidendes, das keinen Widerstand duldete. »Diesen Fluch gibt es tatsächlich. Und du bist eines seiner Opfer. Er hat dir deine Eltern genommen, deine Mutter bei der Geburt und deinen Vater nur wenige Jahre später.« »Das ist entweder eine Übertreibung oder eine plumpe Lüge«, sagte
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Daart scharf. »Es ist weder das eine noch das andere«, antwortete Carnac kaum weniger barsch. »Es ist die reine Wahrheit. Die Gegend um den See ist vergiftet, vielleicht nicht so schlimm wie in Tuan, aber schlimm genug. Es gibt Fische im See und Menschen, die an seinem Ufer wohnen, und doch existiert hier etwas, das das Leben selbst vernichtet. Kinder werden verkrüppelt oder tot geboren, und auch die wenigen, die die ersten Lebensjahre überstehen, werden meist nicht alt.« »Ich glaube dir kein Wort«, sagte Daart. Doch das stimmte nicht. In ihm regte sich etwas weitaus stärker, als er es wahrhaben wollte, eine Resonanz auf das, was Carnac behauptet hatte, ja, mehr noch, fast so etwas wie die Gewissheit, dass hier etwas Grauenvolles geschehen war, das mit seinen Eltern und ihm selbst zu tun hatte, wenn auch auf eine vollkommen unerklärliche Weise. »Es muss dir doch aufgefallen sein«, fuhr Carnac unbarmherzig fort, »dass in Ufernähe kaum noch normale Pflanzen wachsen. Es sind Kristallgewächse, die dort auf kranke Art aus dem Schlick sprießen und in tausend Stücke zerspringen, wenn man sie berührt.« Daart nickte widerwillig. »Ja. Ich habe sie gesehen. Thross hat ein oder zwei von ihnen zertreten. Aber ich weiß nicht, was das mit all dem hier zu tun hat.« »Ach, wirklich nicht?« Carnac hatte ihre Stimme nicht erhoben, aber es war ein Unterton darin, der Daart überhaupt nicht gefiel. »Es ist dir also gar nicht in den Sinn gekommen, dass hier etwas nicht stimmen könnte und dass es seinen Grund hat, warum ausgerechnet in den kühlen Ausläufern des Schattengebirges ein See voll unnatürlich warmen, fast heißen Wassers existiert?« »Natürlich wundere ich mich darüber. Aber…« »Nichts aber«, unterbrach ihn Carnac schroff. »Du wunderst dich zu Recht. Der Glutsee ist ein Relikt aus der Zeit des großen Krieges. Aber es ist nicht das Einzige. Es gibt noch ein anderes, eines, das dich persönlich noch viel mehr betrifft.« »Das kann ich mir kaum vorstellen«, begehrte Daart auf. »Was kann mich mehr als das Schicksal meiner Eltern betreffen, das ja nach deinen eigenen Worten mit dem des Glutsees aufs Engste ver-
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bunden war?« »Vielleicht dein eigenes Schicksal?« Carnac machte eine abwehrende Handbewegung, als Daart etwas dazu sagen wollte. »Hör mich erst einmal an, bevor du urteilst. Hier, in dieser Anlage, die die Guhulan Feuertempel nennen, wurden die letzten Kinder versteckt, die dem Versuch entstammten, die Götter von den Sternen mit Sterblichen zu mischen. Und selbst nachdem der See Feuer gefangen hatte, ging das Leben hier unten weiter. Nach ein paar hundert Jahren kamen die ersten wieder nach oben. Die Hüter des Feuertempels.« »Die Hüter des Feuertempels sind Nachkommen von Mischlingen?« Daart versuchte sich das vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Der Älteste hatte ihm erzählt, dass die Sternengeborenen selbst Leben erschaffen hatten, eine bösartige Form, die nur dem Zweck diente, zu töten und zu vernichten, und zu der wohl auch der Symbiont gehörte, der in seiner Kehle hauste. Aber wozu, um alles in der Welt, hatten die Alten sich mit denen vermischen müssen, die von den Sternen kamen? Was für eine fürchterliche Form von Leben war aus diesen Verbindungen entstanden? »Ich weiß nicht, was du mir damit sagen willst.« Daarts Stimme klang belegt. »Und ich weiß erst recht nicht, wozu es gut sein sollte, wenn Menschen sich mit ihren eigenen Göttern zu paaren versuchen.« »Es war keine Paarung im eigentlichen Sinne«, korrigierte ihn Carnac. »Das wäre auch gar nicht möglich gewesen. Es muss etwas anderes gewesen sein, ein Prozess, den wir heute nicht einmal mehr ansatzweise verstehen können. Und er diente nur einem Zweck: eine Brücke zu schlagen zwischen zwei Völkern, die dabei waren, sich gegenseitig zu vernichten.« »Aber es ist nicht gelungen«, stellte Daart fest. »Diese fürchterliche Idee war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.« Carnac zuckte mit den Achseln. »Das glaube ich nicht einmal. Vielleicht würden wir hier jetzt nicht mehr stehen, wenn die Alten diesen Schritt nicht gewagt hätten. Vielleicht wäre die Menschheit endgültig ausgelöscht worden, wenn es unter ihnen nicht einige wenige gegeben hätte, die die Sternengeborenen nicht wenigstens ein Stück weit begriffen hätten.«
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»Aber was ist mit den Hütern des Feuertempels?«, fragte Daart und meinte damit doch eigentlich: Was ist mit mir? »Stammen sie alle von diesen Mischlingen ab?« »Kaum«, sagte Carnac. »Oder besser gesagt: Nur einige von ihnen. Andere… Hybride, wie die Alten die Mischlinge nannten, vergaßen ihr Erbe und ihre Herkunft und zogen in ferne Gegenden, bis hinab nach Nyingma.« Daart stand wie erstarrt da, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er ahnte, was jetzt kommen würde. Aber er wollte es nicht hören. »Ihre Nachkommen lebten weiter unter den Menschen«, fuhr sie fort. »Unerkannt, ohne selbst zu wissen, welches Erbe sie in sich trugen. Das Erbe der Sternengeborenen. Das der Götter, die von den Sternen hinabstiegen, um sich eine fürchterliche Schlacht mit den Alten zu liefern.« »Und Nubina gehört zu ihnen«, sagte Daart tonlos. »Es sieht ganz danach aus«, bestätigte Carnac. »Manche Hybride haben kaum noch etwas von denen, die von den Sternen kamen. In anderen lodert das alte Feuer, als wollte es sie verschlingen - sie selbst und alle, die ihnen zu nahe kommen.« »Und was ist mit mir?«, fragte Daart. Carnac starrte ihn schweigend an, und in ihren Augen spiegelten sich die unterschiedlichsten Gefühle. Mitleid war darunter und Trauer, und plötzlich wollte Daart die Antwort gar nicht mehr wissen. »Ich glaube, dass weißt du selbst ganz genau«, sagte Carnac. »Nein, das weiß ich nicht«, widersprach Daart heftig. Carnac ließ das Amulett weiter sinken. »Jetzt, wo das Amulett erst einmal aktiviert ist, wissen sie, wo wir sind. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« »Aber warum hast du es dann aktiviert?«, fragte Thross, der dem Gespräch mit wachsender Unruhe gefolgt war, sich jetzt aber nicht mehr länger zurückhalten konnte und offensichtlich kurz davor stand, vor lauter Nervosität von einem Bein aufs andere zu hüpfen. »Das ist doch Wahnsinn! Wir sind noch nicht im Zentrum. Wenn sie uns hier finden, gemeinsam mit Daart…«
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»Ist alles verloren, ich weiß«, sagte Carnac. »Aber keine Sorge. Das Zentrum ist ganz in der Nähe. Wir werden dort sein, bevor uns auch nur irgendjemand zu nahe kommt.« »Dieses verfluchte Zentrum, mit dem mir Zar’Toran in den Ohren gelegen hat?«, fragte Daart scharf. »Willst du mich jetzt etwa dahin bringen, damit ich das tue, was Zar’Toran von mir fordert?« »Ja und nein.« Carnac warf einen hastigen Blick über Daarts Schulter hinweg in Richtung der Rampe und der dort entlangmarschierenden Silberkrieger. Das, was sie dort sah, ließ sie unruhig blinzeln und schnell fortfahren: »Es geht nicht darum, was Zar’Toran will, sondern wie wir ihn, Nubina und vor allem ihre Silberkrieger aufhalten können.« »Dann lass uns endlich gehen«, flehte Thross. »Wir hätten uns gleich zum Zentrum begeben sollen statt zu diesem Wahnsinn hier, in diese riesige Kuppel, in der Blasen durch die Luft fliegen und riesige Metallspiralen aus dem Boden aufsteigen, und von der feindliche Krieger Besitz ergreifen, als gehörte ihnen das ganze Wunderwerk!« »Auf keinen Fall«, sagte Carnac scharf. »Wir mussten uns erst davon überzeugen, ob es Nubina tatsächlich gelungen ist, ihre Truppen in den Feuertempel einmarschieren zu lassen. Und das Schauspiel, das sich uns dort bietet, übertrifft meine schlimmsten Erwartungen. Wir müssen Ask und die anderen warnen. Denn was, glaubst du, könnten sie gegen die Silberkrieger ausrichten?« »Ich weiß nicht.« Thross’ Stimme klang mit einem Mal kläglich. »Es kann doch nicht alles verloren sein.« »Nein, das ist es auch nicht«, sagte Carnac. »Nicht, wenn wir jetzt die Nerven behalten und das Richtige tun.« Sie wandte sich wieder an Daart. »Und das bedeutet als Erstes, dass du dich zusammenreißen musst, verdammt noch mal. Komm jetzt mit zum Zentrum, bevor es zu spät ist, und lass uns einen Weg finden, die Pläne dieser Nubina mit einem Schlag zu zerschmettern!« Daart war versucht, Carnacs Aufforderung zu folgen, aber er konnte es nicht. In ihm tobte ein erbitterter Kampf. Er hatte es nicht wahrhaben wollen, all die langen Jahre nicht, in denen ihm bewusst gewe-
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sen war, dass er anders war als alle anderen. Er war zerrissen zwischen zwei Seiten. Und jetzt wusste er auch, warum es sich so verhielt: Er war nicht nur Mensch, ein Teil in ihm war etwas anderes, etwas so Fremdes, dass er selbst es nicht im Geringsten verstand. Ohne Carnac eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich von ihr ab und umklammerte mit beiden Händen die Brüstung. Er hatte das Gefühl, sich an irgendetwas festhalten zu müssen, um nicht vollständig den Halt in sich selbst zu verlieren. Das silberne Gleißen in weiter Ferne, mit dem sich das unruhig flackernde Licht auf den Silbermasken von Nubinas Kriegern spiegelte, berührte ihn tiefer und ganz anders, als er es sich eingestehen wollte. Er hätte erschrocken sein müssen über die schiere Masse der Krieger, die Nubina hier einschleuste, und sei es nur deswegen, weil er wusste, dass Carnac Recht hatte und es die Caverner niemals mit diesem gigantischen Heer aufnehmen konnten, sollte diese gigantische Anlage wirklich aus den Fluten auftauchen. Aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er spürte fast so etwas wie Stolz in sich, so als wäre es nicht allein Nubinas Heer, das sich irgendwo dort unter ihnen sammelte, sondern als wäre er selbst der Feldherr der Silberkrieger. »Wir müssen weg«, drängte Carnac erneut. Sie packte seinen Arm und zog ihn an sich heran. »Das Zentrum ist ganz in der Nähe. Wir müssen unbedingt dorthin, wenn wir noch etwas retten wollen. Ich habe einen Plan. Ich weiß, wie wir die Silberkrieger besiegen können, ohne einen einzigen Caverner in Gefahr zu bringen!« Daart hatte das Gefühl, aus einem langen, tiefen Schlaf zu erwachen, als er sich vom Anblick der Silberkrieger losriss und Carnac vor sich stehen sah, abgezehrt und gehetzt wirkend, das ganze Gegenteil von Nubina, die ihm immer strahlend und überlegen erschienen war. So war es also, wenn man sich auf die Seite der Verlierer schlug. Bilder und Gefühle stiegen in Daart auf, deren Quelle er nicht kannte. Vielleicht lag es daran, dass er sich über die Brüstung gebeugt und hinabgeblickt hatte, dass er sich plötzlich wieder an den Atem raubenden, beängstigenden Traum aus seiner Kindheit erinnerte, an das Gefühl, über den See zu fliegen und Stück für Stück die Kontrolle über den Körper zu verlieren. Es war das Vogelsymbol,
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das ihn damals fasziniert hatte. Vielleicht war es für ihn aber auch nur das Symbol des Fliegens gewesen - des Fluges zurück zu den Sternen, zu denen es ihn zog, weil ein Teil in ihm von dort stammte. »Was ist?«, fragte Carnac. »Du starrst mich an, als ob du mich zum ersten Mal sähest.« »Vielleicht tue ich das auch«, entfuhr es Daart. Nubina und er gehörten derselben Rasse an. Carnac nicht. Wer war sie schon? »Du wirst unsere letzte Gelegenheit verspielen, Nubina aufzuhalten, wenn du hier weiter herumstehst«, fuhr ihn Carnac an. Ihre Augen waren schwarz und ohne Abgrund, Augen, in denen man sich verlieren konnte, die einem Angst machen, einen aber auch anziehen konnten. Doch diesmal blieb der geheimnisvolle Zauber ohne Wirkung auf ihn. »Hast du denn nicht gehört, was ich gesagt habe? Dass wir die Silberkrieger immer noch besiegen können?« »Doch«, sagte Daart, und diesmal verlor sich sein Blick in weiter Ferne, in dem Gang, der sich hinter ihnen auftat und irgendwo hinführte, vielleicht zu dem Zentrum, von dem Carnac wie auch Zar’Toran so selbstverständlich gesprochen hatten. »Aber ich habe auch etwas ganz anderes gehört, nämlich das, was du vorher gesagt hast. Und wenn das stimmt, bin ich ein Abkömmling der Feuerkrieger, aus denen die Guhulan und die Hüter des Feuertempels hervorgingen.« Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Genauso wie Nubina.« »Ja und nein«, sagte Carnac ungeduldig. Sie wollte ihn an der Hand fassen, um ihn mit sich zu ziehen, aber als er sich versteifte, brach sie die Bewegung ab. »Was ist los?« »Diese Frage wollte ich dir gerade stellen«, sagte Daart schroff. »Erst finde ich meine Eltern in einem alten, verlassenen Dorf erschlagen vor, dann behauptest du, es seien gar nicht meine Eltern gewesen, und jetzt willst du mir plötzlich weismachen, ich sei gar kein Mensch?« »Natürlich bist du ein Mensch«, sagte Carnac. Sie hob erneut die Hand, doch als sie den harten Ausdruck in seinen Augen bemerkte, senkte sie sie wieder. »Und außerdem geht es im Augenblick um etwas ganz anderes. Wir müssen Nubina aufhalten. Dann können wir
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über alles reden.« Daart ignorierte ihre letzte Bemerkung. »Zumindest zum Teil bin ich ein Ungeheuer, das ist es doch, was du denkst, oder?« »Kein Ungeheuer. Verdammt, Daart…« Carnac drehte das Amulett herum und betrachtete es, bevor sie es hochnahm und in der Hand wog. Es sah fast so aus, als überlegte sie ernsthaft, es über die Brüstung zu werfen. »Es ist nur so, dass etwas… in dir ist. Ein kleiner Teil, und nicht der, der deine Persönlichkeit ausmacht. Aber ein Teil, der uns jetzt weiterhelfen könnte. Mit dessen Hilfe wir endlich Nubina und Zar’Toran in ihre Schranken verweisen könnten.« Die eisige Kälte, die schon früher von Daart Besitz ergriffen hatte, füllte ihn erneut aus, doch diesmal auf ganz andere Art, vollständiger und ohne das geringste Gefühl von Bedauern auszulösen. Er hatte es immer schon gewusst, ganz tief in seinem Innersten. Er war überall ein Außenseiter gewesen, sowohl unter den Dorfbewohnern in Guan als auch bei den Guhulan und später bei den Satai. Da war etwas in ihm, das ihn zu Dingen getrieben hatte, die er selbst nicht verstanden hatte. Es war vielleicht nicht einmal böse, aber fremd, so fürchterlich fremd, dass der menschliche Teil in ihm es vielleicht nie begreifen würde, jetzt, in diesem Moment, in dem er Carnac vor sich stehen sah, immer noch klitschnass, erschöpft und voller Sorge und Unruhe, begriff er zum ersten Mal in seinem Leben mit unerschütterlicher Gewissheit, dass es keine Brücke zwischen ihm und jemandem gab, der rein menschlicher Abstammung war. Und auch keine Brücke zwischen ihm und Carnac. »Nubina ist ein Hybrid wie ich selbst - das ist es doch, was du gemeint hast, oder?«, fragte Daart kalt. »Und dass ich damit keinen Deut besser bin als sie.« Jetzt ergriff Carnac doch seine Hand. Er ließ es geschehen, obwohl ihm die Berührung auf einmal so wenig vertraut erschien, dass es fast wehtat. »Du bist tausendmal besser als sie. Nubina ist ein Ungeheuer. Und das bist du nicht.« »Kein Ungeheuer?« Daart hätte beinahe aufgelacht. »Was bin ich denn dann?«
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»Du willst wissen, was ich in dir sehe?« »Nein. Ich will nicht wissen, was du in mir siehst.« Daart streifte Carnacs Hand ab und trat einen Schritt zurück, es kam ihm fast wie eine Flucht vor. »Ich habe es immer schon gespürt. Es ist etwas Vertrautes in der Art, wie Nubina redet, wie sie sich bewegt, wie sie mit den Menschen in ihrer Nähe umgeht…« »Das kann ja alles sein«, unterbrach ihn Carnac ungeduldig. »Aber die Unterschiede zwischen euch beiden überwiegen bei weitem. In ihr dürfte mehr von den Sternengeborenen sein als in jedem anderen Lebewesen auf Enwor, ja selbst als in denen, die die Sternengeborenen selbst in unserer Welt hinterließen, als sie auf ihre kranke Art hier Leben schufen. Doch all das spielt keine Rolle. Du bist einer der letzten lebenden Abkömmlinge der Hüter des Feuers, der von den Hybriden abstammt. Und das macht den alles entscheidenden Unterschied. Denn nur einer von euch kann diese Anlage hier steuern.« »Du meinst, ein Ungeheuer wie ich, das gleichzeitig ein Hüter des Feuertempels wie ein Hybrid ist«, sagte Daart bitter. »Und noch dazu eines, das im Gegensatz zu den anderen nicht an den Spätfolgen des Donnerschlags verreckt ist, mit dem die Sternengeborenen diese Zufluchtsstätte der Alten haben auslöschen wollen. Wie viele von uns gibt es eigentlich? Nur mich - oder noch ein paar andere?« Carnacs Blick flackerte, als könnte sie ihre Ungeduld kaum noch beherrschen. »Ich weiß es nicht genau. Das Leben am See ist so gut wie erloschen. Vielleicht bist du tatsächlich der Einzige«, sie zögerte, als hätte sie Scheu, das Wort Hybrid in Zusammenhang mit Daart auszusprechen, »der Einzige unter den Hütern des Feuertempels, der das alte Erbe der Sternengeborenen noch in sich trägt. Vielleicht gibt es aber auch noch eine Hand voll weiterer.« »Ein paar nützliche Trottel, die ihr einfangen könnt, um sie für eure Zwecke zu missbrauchen?« Daart schüttelte den Kopf. »Nein, Carnac. Ich will nichts mehr damit zu tun haben. Zar’Toran hat alles daran gesetzt, um mich für seine Ziele einzuspannen. Jetzt tust du das Gleiche. Es ist billig.« Carnac starrte ihn fassungslos an. »Du kannst mich doch nicht mit Zar’Toran vergleichen! Und weißt du denn nicht, dass…«
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»Vorsicht!«, zischte Thross. Er hatte sich weit über das Geländer gebeugt, doch jetzt schnellte er regelrecht zurück. »Unter uns sind Guhulan.« Carnac trat rasch neben ihn und starrte hinab. »Guhulan und keine Silberkrieger? Bist du dir da sicher?« »Na klar, ich bin doch nicht blöd. Dieser ekelhafte, riesenhafte Leibgardist führt sie an.« Daart hatte Thross’ Ausruf weitaus weniger Beachtung geschenkt, als er das in jeder anderen Situation für möglich gehalten hätte. Doch jetzt zuckte er zusammen. »Medon?«, zischte er, als er zu Carnac herumfuhr. Carnac nickte hastig. »Er und vier oder fünf andere. Sie sind jetzt auf dem Aufgang zur Brüstung verschwunden. Sie müssten gleich hier sein. Wir müssen machen, dass wir wegkommen!« Daart schüttelte entschieden den Kopf. Er spürte, wie das Blut in seinen Adern rauschte und seine Fingerspitzen erwartungsvoll zu kribbeln begannen, wie so oft vor einem Kampf. »Bist du sicher, dass sie allein sind?« Thross hatte sich erneut so weit über das Geländer gebeugt, dass Carnac ihn jetzt am Kragen packen und zurückreißen musste, damit er nicht über die Brüstung fiel. Der Junge strampelte wild mit Armen und Beinen, aber er nickte auch so heftig, dass seine Botschaft schon klar und verständlich war, bevor er hervorpresste: »Sicher bin ich mir sicher.« Carnac stellte ihn auf dem Boden ab, und Thross atmete tief durch und machte Anstalten loszulaufen, in Richtung des Gangs, der zum Zentrum führte. »Nicht so hastig, Junge«, sagte Daart. Er nickte Carnac zu. »Traust du dir das zu? Nehmen wir es mit Zar’Torans Idiotentruppe auf?« Carnac starrte ihn erst verständnislos an, doch dann grinste sie breit. »Na klar.« »Aber vergiss nicht«, sagte Daart, »Medon gehört mir!«
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Es dauerte nicht lange, bis die trampelnden Schritte der Leib-
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gardisten zu hören waren und kurz darauf auch schon Medon um die Ecke bog, gefolgt von Karsin, dem anderen Idioten, mit dem Daart bei seinem Ritt nach Purgatory zusammengeprallt war. Medon blieb wie vom Donner gerührt stehen, als er Daart und Carnac mit gezückten Schwertern mitten auf der Empore stehen sah. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. In seinem hünenhaften Körper war keine Bewegung, und doch drückte die leicht vorgebeugte, angespannte Haltung, in der er dastand, eine fast animalische Angriffslust aus, den Wunsch zu töten und zu vernichten. Die Hand seines Begleiters zuckte zum Griff seiner Waffe, und schon einen Lidschlag später blitzte seine Klinge auf. Medon dagegen rührte sich immer noch nicht. Erst als er den Blick zu Thross wandern ließ, der sich auf Daarts Geheiß ein gutes Stück zurückgezogen hatte, kam Leben in ihn. »Sieh an«, sagte er mit einem hässlichen Grinsen, während sich seine mächtigen Oberarmmuskeln spannten, »das ist ja eine Überraschung. Hast du dir Frauen und Kinder zur Unterstützung geholt, weil du dich nicht traust, es allein mit mir aufzunehmen?« Hinter ihm und Karsin tauchten drei weitere Leibgardisten auf, grimmig blickende Gestalten, wie Medon und Karsin in mattschwarze, mit wirbelnden Flammenmustern verzierte Brustharnische gekleidet. Sie nahmen schweigend Aufstellung und zogen ihre Waffen, ein Anblick, der nicht nur bedrohlich wirken sollte, sondern es auch war, zumal Medon die Daumen lässig in seinen Waffengurt einhakte, als hätte er nicht das Geringste zu befürchten. »Was soll das, Daart?«, donnerte er. »Ich denke, du hast eine Abmachung mit Zar’Toran.« »Eine etwas einseitige Abmachung.« Daart deutete mit dem Kopf auf die Rampe. »Oder wie erklärst du mir den kleinen Aufmarsch der Silbergesichter? Zar’Toran hat mir davon jedenfalls nichts gesagt.« »Nubina hat ihren eigenen Kopf, das solltest du eigentlich wissen«, sagte Medon in einem Tonfall, der einem das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen können. »Und jetzt wäre es mir lieb, wenn wir mit den Kindereien aufhören könnten. Steck die Waffe ein und lass uns tun, was getan werden muss.« »Was muss denn getan werden?«, fragte Daart. »Soll ich etwa die-
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sen Feuertempel für euch vom Grund des Sees hochfahren?« »So war es abgemacht«, sagte Medon. »Und ich bestehe darauf, dass du dich an die Abmachung hältst.« »Wie gesagt eine etwas einseitige Abmachung, findest du nicht? Was habe ich davon, wenn ich es tue?« Medon runzelte die Stirn. »Was soll das? Ich bin nicht dein Verhandlungspartner. Das ist Zar’Toran.« »Dann solltest du ihn holen.« Daarts Stimme wurde hart. »Ich bin jedenfalls davon ausgegangen, dass ich hier allein sein würde. Und nun muss ich feststellen, dass Nubina ihr gesamtes Heer in dieser Anlage aufmarschieren lässt, die mir Zar’Toran fälschlicherweise als Feuertempel beschrieben hat. Ganz abgesehen davon, dass du dich hier herumtreibst.« »Ich bin hier, weil mich Zar’Toran beauftragt hat, nach dem Rechten zu sehen.« Medons Stimme klang immer noch eiskalt, aber er krampfte mittlerweile die Hände um seinen Waffengurt, als wollte er ihn erwürgen. Daart fand langsam Gefallen an dieser Situation. »Schön«, sagte er gedehnt. »Und nachdem du nun nach dem Rechten gesehen hast, kannst du ja wieder gehen.« In Medons Augen flackerte pure Mordlust auf. »Wo kommen Carnac und dieser Junge her?«, fragte er scharf. »Warum hast du sie hier eingeschmuggelt - und wie?« »Ja, dass möchtest du wohl gern wissen, was?« »Es geht nicht darum, was ich weiß oder nicht weiß«, erwiderte Medon, »sondern dass du endlich das zu Ende bringst, was du mit dem Tauchgang in den Tempel begonnen hast.« »Und warum diese ganze Komödie, du aufgeblasener Fettwanst?«, fragte Daart. »Warum zwingt ihr mir einen Tauchgang auf, wenn ich doch ganz bequem von Purgatory in diesen Feuertempel hätte gelangen können?« Die Krieger hinter Medon spannten sich. Es waren nur kleine Bewegungen, die verrieten, dass sie sich für einen Angriff vorbereiteten, ein Anspannen der Schultermuskulatur, eine leichte Verlagerung des Körpergewichts, ein festerer Griff um ihre Waffen. Diese Männer waren gut ausgebildet und kampferprobt, daran konnte kein
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Zweifel bestehen. Das galt auch für Medon. Seine Gesichtzüge waren eingefroren, seine Hände bewegten sich nicht mehr. Er wirkte auf eine sonderbare Weise angespannt, fast wie ein Raubtier, das sich für den tödlichen Sprung spannte. Dieser Mann war alles andere als dumm. Er hatte begriffen, dass ihn Daart provozieren wollte, aber er ließ sich nicht zu einer Unbeherrschtheit hinreißen. Er wusste, dass er zwei Satai gegenüberstand, den am besten ausgebildeten Kriegern ganz Enwors, und vermutlich wusste er auch sehr genau über Daarts Vergangenheit Bescheid und darüber, dass dieser zuerst die Kampfkünste der Guhulan erlernt hatte, bevor er die Satai-Ausbildung begonnen hatte. »Du willst deinen Kontrakt mit Zar’Toran brechen?« Seine Stimme klang gedämpft, fast unbeteiligt. »Du willst dir wirklich seinen und Nubinas Zorn zuziehen?« »Zar’Toran hat den Kontrakt gebrochen«, berichtigte ihn Daart. »Er hat mich belogen, indem er mir weismachte, dass ich unter Lebensgefahr in einen menschenleeren Tempel tauchen müsste.« »Er hat nichts weiter von dir verlangt, als dass du den traditionellen Weg beschreitest, wie es sich für die Hüter des Feuertempels gehört«, sagte Medon fast gleichmütig. »Du solltest hier die Aufgabe erfüllen, wie es dir als Hüter des Feuertempels oblag. Nicht mehr und nicht weniger. Oder willst du etwa das Erbe deiner Väter in den Dreck ziehen?« Daart sprang nach vorn. Es waren nur zwei Schritte, die ihn von Medon trennten, und drei bis zu den am äußersten linken Rand stehenden Leibgardisten. Medon schien seinen Angriff erwartet zu haben. Mit einer geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit zog er sein Schwert und trat Daart entgegen. Er musste auf alles gefasst sein, auf jeden Trick, den ein Schwertkämpfer vollführen konnte. Aber nicht auf das, was Daart vorgehabt hatte. Daart hatte es gar nicht auf Medon abgesehen. Er wich zur Seite, als dieser nach ihm schlug, und dann war er schon bei dem Mann, den er sich als Opfer auserkoren hatte. Der Leibgardist hatte sich vollkommen sicher gefühlt und reagierte jetzt den Hauch eines Lidschlags zu spät. Daart unterwanderte seine Waffe, die er zur De-
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ckung hochgerissen hatte, und seine Klinge fuhr tief in den Oberschenkel des Mannes. Der stieß einen Schrei aus und taumelte zurück. Aber auch diesmal tat Daart nicht das, was in einer solchen Situation üblich gewesen wäre. Er riss die schartige TschekalImitation hoch, packte den Griff mit beiden Händen und schleuderte die für einen Zweikampf mit Medon nutzlose Waffe mit aller Kraft davon, in Richtung des nächsten Leibgardisten. Der Mann hatte nicht den Hauch einer Chance. Daarts Waffe traf ihn wie ein Speer im Hals, direkt unterhalb des Kehlkopfes, und drang im Genick wieder heraus. Sofort setzte Daart ihm nach, und noch bevor der Mann zusammenbrach, war Daart bei ihm und entriss ihm die Waffe. Da war Medon auch schon heran. Daart duckte sich unter dem wuchtigen Schlag hinweg, mit dem sein Gegner einen Überraschungstreffer hatte landen wollen, und griff seinerseits an. Ihrer beider Waffen prallten aufeinander, und einen Moment später hatten sie sich in einen erbitterten Kampf verstrickt. Aus den Augenwinkeln erkannte Daart, dass Carnac dem schwer verletzten Leibgardisten nachgesetzt war und ihn mit zwei, drei wuchtigen Schlägen niedergestreckt hatte, bevor die beiden anderen Krieger auf sie einstürmten und versuchten, sie an der Brüstung festzunageln. Er hätte ihr gern beigestanden, aber Medon deckte ihn mit einem Hagel schneller, kraftvoller Schläge ein, die ihn nicht zur Besinnung kommen ließen. Der Leibgardist kämpfte gut, das musste ihm Daart lassen, und er war eindeutig der Stärkere von ihnen beiden. »Warum«, schrie Medon, während er versuchte, Daart mit wuchtigen Schlägen das Schwert aus der Hand zu prellen, »warum stellst du dich gegen uns?« »Weil Zar’Toran mich immer und immer wieder hintergangen hat«, keuchte Daart. Er duckte sich unter den heranprasselnden Schlägen hinweg, suchte vergebens nach einer Lücke in der Deckung seines Gegners. »Wir wissen längst, dass die Caverner sich am Seeufer gesammelt haben«, stieß Medon hervor. »Wer von uns beiden hintergeht also wen?« Daart antwortete nicht. Der Anteil in ihm, der mit Verlangen auf
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diesen Kampf reagierte, trieb ihn vorwärts, ließ ihn die fremde und doch in seiner Hand so vertraut liegende Guhulan-Waffe auf eine Art einsetzen, wie er es zuvor noch nie getan hatte. Sie wurde zu einem wirbelnden Schemen, einer Schlange ähnlicher als einem Schwert. Medon stieß ein überraschtes Keuchen aus, als er es plötzlich war, der sich nur noch mit Mühe der Angriffe seines Gegners erwehren konnte. Daarts Schwert schoss vor, schien sich durchzubiegen, vollführte ein aberwitziges Manöver erst von unten nach oben und dann wieder von oben nach unten. Die Klinge ritzte Medons Unterarm, fuhr noch in der Drehung herum, sauste auf seinen anderen Arm zu und hinterließ auch hier eine gleichermaßen tiefe wie blutige Schramme. Medon stieß einen wilden Schrei aus und stürmte auf Daart zu. Sein Schwert sauste mit unbarmherziger Wucht auf Daart zu. Der Hieb, den Daart im letzten Moment abwehrte, war so heftig, dass er ihm fast die Waffe aus der Hand prellte und ihn hinabstieß auf den Boden, als wäre er vom Hammerschlag eines Gottes getroffen worden. Daart gab der Bewegung nach, nahm ihr den ärgsten Schwung, um nicht schwer auf dem Boden aufzuschlagen - und stieß, noch im Fallen, sein Schwert in einer schwungvollen Drehbewegung vor. Die Klinge fuhr direkt über Medons Knie in seinen Oberschenkel und riss ihn auf. Medon stieß einen Schrei auf und prallte zurück, gegen die Brüstung. Daart sprang auf, wollte ihm nachsetzen… »Nein!« Es war ein Entsetzensschrei Carnacs. Daart wirbelte herum, ohne Medon auch nur für ein Lidzucken aus den Augen zu lassen. »Tu es nicht! Er hat Thross!« Carnac stand vor einem Leibgardisten, den sie wohl gerade gefällt hatte; der Mann blutete aus einer hässlichen Brustwunde und wand sich vor ihren Füßen, ob vor Schmerzen oder von dem Verlangen getrieben, sich wieder aufzurappeln und den Kampf erneut aufzunehmen, konnte Daart nicht erkennen. Aber auch Carnac hatte etwas abbekommen, sie presste sich die Schwerthand gegen den linken Oberarm, Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Doch nicht das war es, was sie entsetzt hatte aufschreien lassen. Es war die feste Umklammerung, in der der letzte unversehrte Leibgardist Thross
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hielt und ihm die Waffe gegen die Kehle drückte, ein ganzes Stück außerhalb ihrer und Daarts Reichweite. Der Junge hatte die Augen weit aufgerissen und strampelte hilflos mit den Beinen, ohne aber mit den Füßen den Boden zu erreichen. Von der Klinge des Leibgardisten tropfte Blut herab, hellrot und schäumend, und es dauerte einen Moment, bis Daart begriff, dass es wohl Carnacs Blut war und nicht das des Jungen. Das änderte nichts an der Situation. Thross warf den Kopf zur Seite, und erst jetzt erkannte Daart die Gesichtszüge des Leibgardisten, der den Jungen im festen Griff hatte; es war Karsin. Sein Blick flackerte, als er die Klinge näher an den Hals des Jungen ansetzte und ihn fester an sich drückte. Er hatte noch nicht die Beherrschung verloren, aber er war nahe daran. Daart konnte ihn nur zu gut verstehen. Sie waren zu fünft gewesen, jetzt lagen drei seiner Kameraden sterbend oder schwer verletzt am Boden, und Medon, der unbesiegbar erscheinende Hüne und Hauptmann der Leibgarde, lehnte mit grauem, schweißbedecktem Gesicht an der Brüstung und umklammerte sein Schwert wie einen Stock, auf den er sich stützen wollte, und nicht wie eine Waffe, die er Daart im nächsten Moment in den Leib zu rammen gedachte. »Werft die Waffen weg, alle beide«, zischte Karsin. Daart wechselte einen schnellen Blick mit Carnac. Es gefiel ihm nicht, was er sah. Carnac hatte noch nicht die ungesunde graue Farbe angenommen wie Medon, doch auch auf ihrer Stirn perlte Schweiß. Der Kampf war kurz, aber heftig gewesen, und es war wohl mehr Glück als Verstand, dass jetzt nicht zumindest einer von ihnen beiden am Boden lag. Carnac nickte ihm kurz zu. Es konnte alles Mögliche heißen. Aber Daart wusste, was sie ihm damit bedeuten wollte: Regle du die Sache. Und sieh zu, dass dem Jungen nichts passiert. »Also gut.« Er ließ das Schwert so weit sinken, bis seine Spitze auf den Boden zeigte. »Wir gewähren euch freien Rückzug, wenn du den Jungen loslässt, Karsin.« Der Mann zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass Daart sich an ihn erin-
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nerte. »Du hörst wohl schlecht«, donnerte Medon. »Ihr beide werdet jetzt eure Waffen sinken lassen, oder Karsin wird den Jungen ein bisschen aufschlitzen.« »Und warum sollte ich so etwas Dummes tun?« Daart drehte sich wieder zu Medon um. Der Leibgardist gab sich alle Mühe, den Überlegenen zu spielen, und richtete sich sogar zu seiner vollen und durchaus beeindruckenden Größe auf, als ihn Daarts Blick traf; aber der beständige rote Strom, der aus seinem Bein pulste, sprach eine andere Sprache. »Was glaubst du, liegt mir an dem Jungen? Wenn Karsin ihn aufschlitzen will, ist das seine Sache. Ich werde ihn nicht daran hindern.« Im selben Moment, als er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass er überzogen hatte. Er sah es an Medons Blick. Es war etwas Tückisches darin, aber auch eine Entschlossenheit, die angesichts der Situation, in der sich die beiden überlebenden Leibgardisten befanden, etwas geradezu Absurdes hatte. »Also gut«, sagte Medon, mehr nicht. Karsin hob das Schwert. Bevor Daart reagieren konnte, hieb er es in den Arm des Jungen, nicht einmal besonders fest, und im ersten Augenblick glaubte Daart schon, es sei bloß eine Finte gewesen. Doch dann schoss Blut aus der klaffenden Wunde hervor, und Thross stieß einen gellenden Schrei aus. Karsin drückte dem Jungen sofort wieder die Klinge an den Hals, und Thross’ Schrei verwandelte sich in ein schreckliches Wimmern. »Beim nächsten Mal schlägt er ihm den Arm ganz ab«, sagte Medon rau. »Und wenn ihm einer von euch beiden zu nahe kommt, schlitzt er ihm gleich die Kehle auf.« Einen Moment lang herrschte eine schreckliche, fast unnatürliche Stille, die nur von dem Geräusch tropfenden Blutes und dem Röcheln der Sterbenden durchbrochen wurde. Medon lachte auf, als er das Entsetzen bemerkte, das in Daart Einzug hielt wie Feuchtigkeit an einem trüben Herbsttag. »Das Schicksaal meint es doch eigentlich gut mit mir«, sagte er hämisch. »Ich hatte immer gehofft, eines Tages mit dir abrechnen zu können. Ich hätte es mir nicht träumen lassen,
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dass es schon heute sein würde.« Daart öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Er kam nicht mehr dazu. Der Älteste hatte ihn zur Vorsicht gemahnt. Er hatte gesagt, dass der Symbiont nach sieben Tagen zum unberechenbaren Geranten werden würde, und er hatte ihn davor gewarnt, dass der Symbiont von selbst einen Angriff starten würde, wenn er spürte, dass sein Träger seine Gefühle nicht mehr im Griff hatte. Aber er hatte nichts davon gesagt, dass beides gleichzeitig passieren könnte. Es war nur purem Glück zu verdanken, dass Daart bereits den Mund geöffnet hatte, als etwas Schreckliches in seiner Kehle passierte. Es hatte nichts mit den unruhigen Bewegungen des Symbionten zu tun, wie er sie bereits kannte. Diesmal war es ganz anders. Er hatte das Gefühl, dass etwas in seinem Mund explodierte; dann zuckte und peitschte etwas in seiner Mundhöhle und riss von innen seine Wange auf. Bevor er überhaupt reagieren konnte, sauste dieses Etwas aus seinem Mund hervor und klatschte in Medons Gesicht. Der Leibgardist reagierte mit einer für die Umstände verblüffenden Kaltblütigkeit. Er griff sich ins Gesicht, zerrte an der Kreatur herum, die ihn angesprungen hatte, beugte gleichzeitig den Kopf nach hinten und ließ sich ein Stück über die Brüstung kippen. In seinen Schrei mischte sich ein furchtbares, wütendes Zischeln, dann ließ der Gerant von Medon ab und schoss wieder auf Daart zu, so als zöge es ihn zu seinem Wirt zurück, der ihn tagelang genährt und getragen hatte. Mit einer blitzschnellen Bewegung tauchte Daart knapp unter ihm hinweg. Er hörte ein Zischen direkt an seinem Ohr, spürte einen Luftzug an seiner Wange und die Berührung von etwas ekelhaft Glitschigem. Dann schlug der Gerant auch schon auf dem Boden auf, neben einem der schwer verletzten Leibgardisten. Daart wirbelte herum. Er sah aus den Augenwinkeln gerade noch Medons Beine über den Rand der Brüstung wegkippen, hörte ihn irgendwo unter sich hart aufschlagen - und hatte dann im nächsten Moment schon den Geranten und den verletzten Leibgardisten im Blick. Die Kreatur hatte keine Zeit verloren. Warum auch immer sie von Medon abgelassen hatte, ihr nächstes Opfer hatte sie sofort im Griff, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Daart gewahrte winzige Ten-
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takel und Saugnäpfe, ein Gewirr und Gewusel von Gliedmaßen und Beißwerkzeugen, etwas, das er mit den Augen gar nicht erfassen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Es war entsetzlich, was der Gerant mit seinem Opfer anstellte. Winzige Hautfetzen und Knochensplitter flogen davon, als er sich in den Kopf des Leibgardisten hineinbohrte und eingrub und ihn auseinander riss; und dann spritzte das Gehirn hervor, eine grauweiße, gallertartige Masse. Sprenkel der weichen, noch lebenswarmen Substanz spritzten, zusammen mit Blut, Knochen- und Hautfetzen, wie eine Fontäne empor und klatschten überall hin, auch in Daarts Gesicht. »Was ist das?«, kreischte Karsin. Es wäre besser gewesen, er hätte diesen Schrei nicht ausgestoßen, besser für ihn und für Thross. Der Gerant hatte seine schreckliche Mahlzeit beendet, schneller, als Daart wirklich begriff, was er da tat, und er war immer noch hungrig. Die Bewegung, mit der er Karsin anpeilte, war kaum wahrnehmbar, so schnell war sie. Dann schoss die Kreatur auch schon wieder los, auf Karsin und Thross zu. Karsin reagierte ganz instinktiv und vollkommen falsch. Er ließ Thross los und riss das Schwert nach oben. Das rettete Thross womöglich das Leben, zumindest vorerst. Statt sich in den Jungen zu krallen, der sich einfach nach unten durchrutschen ließ, bot sich dem Symbionten nun ein neues, noch lohnenderes Opfer. Sein triumphierendes Kreischen und Karsins gellender Schrei verbanden sich zu einem grausigen, schrillen Laut, wie ihn Daart in all seiner Abscheulichkeit noch nie gehört hatte. Dann wiederholte sich das schreckliche Ritual. Daart hatte freien Blick auf die unglaubliche Szene, die sich vor ihm abspielte. Es war nicht so, dass der Gerant sich einfach nur in den Schädel seines Opfers bohrte, wie er es zuerst geglaubt hatte. Die Kreatur verfügte über die unterschiedlichsten Extremitäten und eine unglaubliche Vielzahl von Möglichkeiten, sie einzusetzen. Winzige Klauen rissen die Gesichtshaut in Fetzen, dünne Widerhaken bohrten sich in Wangen-, Kiefer- und Schädelknochen, rissen an ihnen, zerfetzten sie, und röhrenförmige, saugende Tentakel glitten in jeden erdenklichen Zwischenraum und jede Spalte und saugten aus, was immer sie fanden.
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Daart hätte sich vermutlich erbrochen, wäre ihm die Zeit dazu geblieben. Karsins Gesicht blähte sich scheinbar auf, und das Allerschrecklichste in diesem Moment war, dass in seinen Augen noch Leben war und ein solches Entsetzen, dass ihn Daart mit einem Schwertstreich vom Leben erlöst hätte, wenn er es gekonnt hätte. Dann explodierte sein Schädel. Daart stürmte vor. Carnac schrie auf. Die Welt schien in winzige, zuckende Blitze zu zerfallen. Er hatte Thross erreicht, als sich der Symbiont voll gesogen hatte. Sein Schwert zuckte vor, mitten in das, was von Karsins Gesicht noch übrig geblieben war, eine Fratze ohne Inhalt, ein Knochengerüst, ein Gematsche von Haut und Blut und Resten grauweißer Gehirnmasse, und inmitten all dessen der Symbiont, der herumzuckte zu seinem Gefährten, zu dem Träger, in dessen Kehle er für fast eine Woche gelebt hatte. Daart wusste nicht, ob die Kreatur über Augen im eigentlichen Sinne verfügte oder über irgendwelche anderen Sinnesorgane. Aber er glaubte Erkennen zu spüren. Und ein winziges, kaum wahrnehmbares Zögern. Der Symbiont und sein Schwert schossen gleichzeitig mit vernichtender Wucht aufeinander zu. Die Klinge drang mitten durch den Geranten hindurch. Die Kreatur schrie auf, schriller und schlimmer als je zuvor. Irgendetwas klatschte Daart ins Gesicht und auf die Lippen. Eine rote Lohe aus reinem Schmerz explodierte vor seinen Augen, sodass er für einen Moment fast blind war. Er torkelte vorwärts, in den Toten hinein, der eben noch Thross bedroht hatte. Haltlos stürzte er weiter, mit Karsin in einem grotesken Todestanz vereint. Krachend und eng umschlungen schlugen sie auf dem Boden auf. Der Symbiont zappelte, er wehrte sich, er war nicht tot, nicht endgültig geschlagen und doch schwer getroffen. Daart spürte es, ohne ihn zu sehen; er fühlte sich der Kreatur in diesem Moment näher als allem anderen auf der Welt, verbunden durch die knappe Woche ihrer gemeinsamen Existenz. Er fühlte ihren Schmerz, aber auch ihre Wut; das nichtmenschliche Ding in ihm, das Erbe der Sternengeborenen, spürte den unbändigen Zorn und reagierte darauf. Er rollte zur Seite und schleuderte den Leichnam so weit weg wie möglich. Halb
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blind durch die Spritzer, die gegen seine Stirn geklatscht waren und nun über seine Augen liefen, tastete er sich zu Thross vor. Als seine Hände ihn fanden, packten sie fest und unbarmherzig zu. Er sprang auf, presste den Jungen an sich, fuhr herum. »Raus hier!«, schrie er Carnac zu, und dann hetzte er auch schon los. Und er spürte, wie sich der Symbiont für ein letztes Mal spannte, all seine grauenhafte Energie zusammennahm, um zu springen, hinter seinem Wirt her, um seine Klauen und Widerhaken in ihn zu schlagen und ihn auszusaugen…
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Erst als Daart die schwere Tür hinter sich zuknallte, fühlte er sich wieder sicher. Oder, besser gesagt, ahnte er, was ein Sicherheitsgefühl sein könnte. »Was war das?«, kreischte Thross zum wiederholten Mal. »Was war das?« Daart setzte ihn ohne viel Zartgefühl ab; Thross ging drei Schritte weiter, drehte sich einmal um sich selbst und taumelte dann zu Boden. Offensichtlich stand er unter Schock, und Daart konnte ihm das beim besten Willen nicht verdenken. Er selbst spürte ein Zittern und Beben in sich, das auch nicht nachließ, nachdem er den Symbionten, oder was von ihm übrig geblieben war, durch die schwere Metalltür ausgesperrt wusste. Er hatte Thross den ganzen Weg bis zu diesem Zentrum getragen. Was seinen körperlichen Zustand anging, war das vollkommen übertrieben gewesen. Thross hatte bis auf den Kratzer am Arm nichts weiter abgekriegt als einen Hauptteil der Ferkelei, des ekelhaft grünen Suds, der auf ihn herabgeplatscht war, als Daart den Geranten mit seinem Schwert durchbohrt hatte - und natürlich zuvor das, was an Knochen-, Haut- und Gehirnfetzen durch die Luft geflogen war, als sich der Symbiont an Karsin gütlich getan hatte. Er sah aus, als wäre er quer durch eine Jauchegruppe geschleift worden, und er stank auch so. In diesen beiden Punkten erging es Daart keinen Deut besser. Was aber ihren seelischen Zustand anging, so gab es einen wesentlichen Unterschied: Thross war durch den Schock halb weggetreten und handlungsunfähig, Daart dagegen fühlte eine brennende Entschlossenheit in sich, wie er sie noch nie zuvor empfunden
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hatte. »Das war knapp«, keuchte Carnac, als sie sich gegen die Wand lehnte. Sie hielt immer noch ihren linken Arm umklammert, und ihre Hand war rot vom Blut. Aber immerhin hatte der pulsierende Strom frischen Blutes nachgelassen. Daart beugte sich herab und warf einen kurzen Blick auf Thross’ Arm. Der Schnitt, den ihm Karsin verpasst hatte, war weitaus oberflächlicher, als er zuerst geglaubt hatte. Daart dankte Karsin im Stillen dafür, dass er es bei kaum mehr als einer Drohgebärde belassen hatte. »Los, Daart.« Carnacs Blick flackerte, und ihr Gesicht war schmerzverzerrt, aber sie wirkte vollkommen klar. »Das Amulett. Du weißt, was du zu tun hast.« Daart wischte sich angeekelt die Spritzer von den Lippen und fuhr sich dann mit dem Handrücken über Wangen und Stirn, wieder und immer wieder, aber er bekam das Zeug einfach nicht vollständig herunter. »Ich will nichts mehr von dem Amulett hören. Das ist doch alles vollkommen aus dem Ruder gelaufen! Wir sollten sehen, dass wir hier irgendwie rauskommen. Und dann werde ich mir Zar’Toran vorknöpfen.« »Ganz deiner Meinung«, sagte Carnac. Sie griff in das Lederhalsband, das sie über den Kopf gestreift hatte, als Medon und die anderen aufgetaucht waren. Es hatte wie eine verlorene, verzweifelte Geste gewirkt, wenn an dem Band nicht das Amulett befestigt gewesen wäre. »Aktiviere die Anlage.« Daart vermied es, das Amulett anzusehen, das sie ihm entgegenstreckte. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das werde ich nicht. Ich will mit all dem nichts mehr zu tun haben.« »Tu es, bevor irgendjemand mit einem Rammbock auftaucht und die Tür einschlägt«, herrschte sie ihn an. »Oder glaubst du tatsächlich, man wird uns hier lange allein lassen?« Daart antwortete nicht. Er wandte sich ab, um sich umzusehen in diesem Raum, den sie Zentrum nannten und von dem in den letzten Tagen so viel die Rede gewesen war. Er war durchtränkt von einem grünlichen Licht, in dem ihre Umgebung seltsam verzerrt und verschwommen wirkte. Der Raum war in Form eines lang gestreckten,
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nicht ganz vollkommenen Kreises angelegt; nur ein Stück weit entfernt von ihnen führte eine glänzende Metalltreppe auf eine schmale Galerie hinauf, die fast um den ganzen Raum herumlief, bevor sie auf der anderen Seite und in gleicher Entfernung von der Tür wieder endete. Einen Moment zweifelte Daart daran, dass sie sich tatsächlich im Zentrum der Anlage befanden, die er bislang nur von zwei ganz unterschiedlichen Skizzen her kannte. Doch dann fiel sein Blick auf die gegenüberliegende, gekrümmte Wand mit den großen Pulten, in denen es rot, grün und silbern glomm. Das war genau die Anordnung, wie sie ihm Zar’Toran beschrieben hatte. Und in der Mitte glaubte er tatsächlich das große Pult mit der merkwürdigen Ausbuchtung zu erkennen, das Zar’Toran mit einem Kreuz markiert hatte. »Nun nimm schon und tu, was getan werden muss«, sagte Carnac müde. »Du sagtest, du hättest einen Plan?« »Ja, so etwas Ähnliches.« Garnac stieß sich von der Wand ab, packte Daart bei den Schultern und zog ihn ein kleines Stück zu sich herab. »Wir müssen erst einmal aus diesem Wahnsinn hier raus. Und Nubina eine Lektion erteilen, die sie nicht so leicht wieder vergessen wird.« Sie klatschte Daart das Amulett in die Hand. »Du bist der Einzige, der diese Anlage aktivieren kann. Übrigens siehst du schrecklich aus. Du hast ein Loch in der Wange. Und du stinkst, als hättest du drei Wochen lang in einem Schweinekoben gehaust.« Daart nickte geistesabwesend. Er hatte den brennenden Schmerz in seiner Wange bislang nur am Rande wahrgenommen. Jetzt fragte er sich, mit welcher seiner Extremitäten der Gerant das Loch geschlagen hatte. Mit einem seiner Widerhaken? Und was hatte er mit dem winzigen Stück Fleisch gemacht, das er auf diese Weise herausgeholt hatte? Daart schüttelte den Kopf, als er begriff, welche Richtung seine Gedanken nahmen. »Die Silberkrieger«, sagte er, »ändern alles. Weißt du, was passiert, wenn sich der Feuertempel aus den Fluten hebt und die Caverner ihn besetzen wollen?« Carnac schüttelte den Kopf. »Ich glaube eben gerade nicht, dass das passiert.« »Was meinst du damit?«
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Carnac zuckte kraftlos mit den Schultern. Sie ließ Daart wieder los, lehnte sich erneut an die Wand und atmete tief durch. »Nubina und Zar’Toran setzen alles auf eine Karte. Der Konflikt zwischen den Cavernern und den Guhulan geht schon auf die Zeit der Alten zurück, auf die zwei Gruppen der Alten, die sich nicht darüber einigen konnten, wie sie die Sternengeborenen besiegen wollten. Die Feuerkrieger waren immer und zu jeder Epoche die Stärkeren, und jetzt wollen sie zum alles entscheidenden Schlag ausholen. Dabei geht es den beiden Obertrotteln um nichts anderes als um ihre eigene Unsterblichkeit, und dafür sind sie bereit, Not und Elend über Enwor zu bringen.« Daart winkte ab. »Hör auf damit. Ich will nichts mehr davon hören.« Carnac fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen und setzte neu an. »Gut, ich will dir sagen, wie ich die Sache sehe. Aber ich bitte dich: Reg dich nicht auf.« »Was soll denn das nun wieder heißen?« Daart wischte sich den Handrücken, mit dem er sich durch das Gesicht gefahren war, so gut es ging an seiner Kleidung ab. »Gibt es immer noch etwas, was du mir verschwiegen hast?« »Nein. Ja. Ich weiß es nicht.« Carnac zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich nur nicht getraut, es bislang anzusprechen. Ich weiß ja, dass du im Augenblick nicht besonders gut auf die Prophetinnen zu sprechen bist.« »Die Prophetinnen?« Daart starrte missmutig auf seinen Handrücken, auf dem es immer noch grünlich schimmerte. »Ich denke, sie haben nichts mit dem Tod meiner Eltern zu tun.« »Das haben sie auch nicht«, versicherte ihm Carnac. »Und sie haben mir auch nicht Medon auf den Hals gehetzt.« Daart sah auf und starrte Carnac an. Sie hatte ihm gesagt, dass er furchtbar aussehe. Das Gleiche galt auch für sie. Ihr Gesicht wirkte unnatürlich schmal; es war nicht bleich, sondern fahl, und in ihren Augen flackerte das erste Anzeichen des Zusammenbruchs, der bald kommen musste. »Ich kann dir ganz klipp und klar eines sagen: Wer mit Menschen so umspringt wie Zar’Toran und Nubina, mit dem will ich
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nicht das Geringste zu tun haben. Weißt du, was Medon mit einem Guhulan gemacht hat, der seiner Aufgabe, mich zu bewachen, nicht mit unnachgiebiger Härte nachgekommen ist?« Carnac schüttelte rasch den Kopf. »Er hat ihn enthauptet. Einfach so. Als wäre es nichts weiter als eine Ohrfeige, mit der man ein vorlautes Kind bestraft.« Daart starrte zu Thross hin, dessen Gesicht mit der gleichen schrecklichen grünen Substanz besudelt war wie sein eigenes, ohne dass er bislang allerdings Anstalten gemacht hatte, sich zu säubern. »Ich weiß nicht, ob es wirklich klug von dem Ältesten war, mir den Symbionten mit auf den Weg zu geben. Aber ich fürchte, ohne seine Hilfe wären wir mit Medon nicht so leicht fertig geworden. Oder zumindest nicht, ohne Thross’ Tod in Kauf nehmen zu müssen.« »Ja, das mag sein«, sagte Carnac leise. »Es ist nicht die Frage, auf welcher Seite ich stehe«, fuhr Daart fort. »Mit Zar’Toran und Nubina würde ich nie gemeinsame Sache machen, und wenn sie mir die Unsterblichkeit anböten. Also: Welche Botschaft haben dir die Prophetinnen mit auf den Weg gegeben?« »Es ist keine Botschaft an sich.« Carnac fuhr sich durchs Haar, und eine klebrige, rote Flüssigkeit blieb in ihren schwarzen Haaren hängen. Sie merkte es nicht einmal. »Ist nur so etwas… wie eine Vision.« »In Ordnung«, sagte Daart mühsam beherrscht. »Also: Was für eine Art Vision ist es?« »Die, dass du viel mehr mit der Anlage verschmelzen wirst, wenn du sie erst aktiviert hast, als sich das Zar’Toran auch nur ansatzweise vorzustellen vermag«, sagte Carnac. Es war ein Unbehagen in ihrer Stimme, das Daart hellhörig machte. »Du musst mir einfach vertrauen. Aktiviere die Anlage mit dem Amulett oder um was auch immer es sich handeln mag. Die Alten haben dafür gesorgt, dass dann alles andere wie von selbst ablaufen wird. Bitte, Daart, vertraue mir.« Daart starrte in Carnacs schwarze Augen. Es war nichts Fremdes oder gar Unheimliches in ihnen, es waren nichts weiter als ganz gewöhnliche menschliche Augen, zumindest in diesem Moment, und es spiegelte sich auch keine Falschheit darin. »Also gut.« Er warf einen
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letzten Blick auf Thross. Der Junge hatte die Beine an den Leib gezogen und umklammerte sie mit den Armen. Besprenkelt mit dem Sud des Geranten, sah er aus, als hätte er den Verstand verloren. Vielleicht hatte er das auch. Und mit Sicherheit hatte er allen Grund dazu. »Ich werde tun, was du von mir verlangst«, murmelte Daart schließlich. »Ich hoffe nur, dass das kein Fehler ist.« Es dauerte nicht lange, bis Daart die Stelle gefunden hatte, in der er das Amulett versenken konnte. Die Ausbuchtung im Pult vor ihm verströmte ein kaltes blaues Licht, das ihn im ersten Moment geblendet hatte. Jetzt, als er das Amulett in der Hand hielt und über der passgenauen Ausbuchtung schweben ließ, kam es ihm fast freundlich vor, so wie der letzte Gruß einer alten, längst untergegangenen Welt. Ein merkwürdiges Kribbeln ging von ihm aus, als er es näher und näher an die Ausbuchtung führte. Er zögerte. Nubina und Zar’Toran hatten keine Anstrengung gescheut, um es in die Hände zu bekommen und ihn zu dem zu zwingen, was er jetzt im Begriff war zu tun. Er ahnte, dass etwas Unwiderrufliches geschehen würde, wenn er diesen Schritt vollzog. Aber das änderte nichts daran, dass er jetzt hier stand… und die Erinnerung ihn wie ein Blitz traf. Es war nicht das erste Mal, dass er genau an dieser Stelle stand… Er entsann sich plötzlich, dass er schon einmal in diesem Raum gewesen war, und zwar als ihn die Najade mit in die Tiefen des Sees gerissen hatte und er voll panischer Gewissheit geglaubt hatte, dass er ertrinken werde. Doch das war nicht geschehen. Auf einmal war da ein Licht gewesen, und die Najade hatte ihn an die Hand genommen, und sie waren durch endlose Gänge gestolpert, bis sie hierher, genau in diesen Raum gelangt waren… und dann sah er sich plötzlich wieder hier stehen, wie er damals hier gestanden hatte… … als das elfenhafte Wesen seine Hand losgelassen hatte, um nach vorn zu deuten. »Dort ist die Stelle, die du gesucht hast. Die Stelle, die alle Hüter des Feuertempels gesucht haben. Auch dein Vater war schon hier. Und auch ihm habe ich die Stelle gezeigt, damit er weiß, was er zu tun hat, sollte er einst mit dem Amulett hierher zurück-
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kommen.« Daart stand wie erstarrt da. Der Erinnerungsfaden riss genauso schnell, wie er gekommen war. Er versuchte die Erinnerung zurückzuzwingen, aber es gelang ihm nicht. Die Najade war mit ihm hier unten gewesen? Aber warum? Was hatte sie ihm zeigen wollen? Seine Hand bewegte sich, als gehörte sie gar nicht ihm selbst. Er hatte geglaubt, dass er das Amulett einfach hinabsenken musste, bis es von selbst in der Öffnung verschwand, die dafür vorgesehen war. Aber das stimmte nicht. Durch seine Finger hindurch schien ihn das Antlitz Nubinas höhnisch anzusehen, und in ihren Augen blitzte pure Boshaftigkeit. Es hätte ihn nervös machen sollen, aber das tat es nicht. Ganz im Gegenteil verblasste plötzlich all das, was ihn eben noch wie ein Nachhall der jüngsten entsetzlichen Erlebnisse beunruhigt hatte. Er starrte Nubinas Antlitz zum ersten Mal an, ohne Unruhe zu verspüren. Sie war zweifellos eine mehr als außergewöhnliche Frau. Aber hier und jetzt, wo er bereits einmal mit der Najade gewesen war, hatte sie den Zauber verloren, mit dem sie ihn bislang immer wieder in den Bann gezogen hatte. Seine Hand bewegte sich über die Öffnung hinweg. Noch nicht. Bevor er das Amulett versenkte, das er und Carnac aus Eternity geholt hatten, musste er noch etwas anderes tun. »Nur wer das Erbe beider Welten in sich trägt, kann das Amulett einsetzen«, sagte die Najade. »Und das auch nur dann, wenn er das Geheimnis kennt. Nur wer seinen Geist in Reinheit zu versenken vermag und die richtige Reihenfolge des Rituals beachtet, wird Erfolg haben. Alle anderen werden verderben.« Daart schloss die Augen und ballte die linke Faust so heftig, dass die Fingerknöchel knackten. Die Najade hatte in Rätseln gesprochen. Und doch war da irgendetwas in ihm, das jetzt, nach all den Jahren, auf diese Worte reagierte. Es war ein tiefes, aufwühlendes Gefühl, oder vielleicht auch nicht einmal das, kein Gefühl, sondern etwas, das sich mit dem Wort Verlangen am besten beschreiben ließ. Es war das Verlangen, das zu tun, was seine Aufgabe war, so wie es die Aufgabe seines Vaters und all seiner Vorfahren gewesen war. Er war das letzte Glied in einer langen Kette, und nur wenn er jetzt voll-
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brachte, für das sie alle erwählt worden waren, würde er sich seiner Eltern als würdig erweisen. Er spürte, wie etwas Fremdes, Uraltes nach seiner Seele griff. In jeder anderen Situation hätte er sich dagegen gewehrt, doch jetzt ließ er zu, dass er immer weiter abdriftete. Er öffnete sich, spürte das gierige Zerren und Ziehen, nicht weniger intensiv als das des Symbionten und vielleicht sogar genauso schrecklich, aber auf einer ganz anderen, viel tieferen Ebene. Seine Gedanken führten einen wilden Tanz auf, wie um ihm zu entgleiten, sich zu verwirren. »Deine Verwirrung ist Bestandteil deines Selbst und deiner Stärke.« Die Najade ergriff wieder seine Hand und drückte sie. »Durch die Verwirrung kannst du von einer Seite zur anderen wechseln und letztlich beide verstehen. Doch sie ist auch ein Fluch. Du wirst immer wieder zweifeln, ob es wirklich die richtige Seite ist, auf der du kämpfst. Und dabei brauchst du doch nur tief in dich hineinzuhören. Denn dort findest du die Wahrheit. Immer. Und überall.« Sein Blick verschleierte sich. Für einen Moment glaubte er Nebel zu sehen, schwarzen, hin und her tanzenden Nebel voller Blut und Gewalt, dann gewahrte er ein Paar dunkler Augen, und kurz darauf schälte sich ein Gesicht heraus. Es war Carnacs Gesicht. Sie schien seinen Blick ernsthaft, aber auch mit Gelassenheit zu erwidern. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, er wollte sie in die Arme nehmen, sie hochreißen, ihren Duft aufnehmen, ihr Haar streicheln, ihre Haut mit seinen Lippen liebkosen… Die Wahrheit. Carnac war die Wahrheit. Geheimnisse umgaben sie. Vieles hatte sie ihm verschwiegen, aber niemals hatte sie ihn angelogen. Im Grunde ihres Herzens war sie immer aufrichtig gewesen. Ganz im Gegensatz zu Nubina. Nubina war Falschheit. Was sie tat, tat sie aus Berechnung oder aus dem Drang, zu verletzen und zu töten. Es mochte sein, dass ein Teil von ihr mit einem Teil von ihm verwandt war und es ein Band gab, das sie beide zusammenschmiedete. Aber wenn das so war, dann musste er sich davon lösen. Ein gemeinsames Erbe allein war keine Basis, auf die er aufbauen konnte. »Und wenn du die Wahrheit gefunden hast, musst du schnell han-
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deln«, flüsterte ihm die Najade ins Ohr. »Zögere keinen Augenblick, tue das, was getan werden muss.« Daart tat es. Mit einer schnellen, fast wütenden Bewegung schlug er das Amulett in die Öffnung auf dem Pult. Funken sprühten hervor, etwas sirrte, und dann wurde ihm das Amulett förmlich entrissen, entschwand in der Öffnung des Pultes, flutschte hindurch in etwas, das tief darunter lag. Es ging schnell, so unglaublich grausam schnell; ein Lidzucken, die Zeit, die ein Pfeil benötigt, um von der Sehne zu schnellen und sein Ziel zu finden. Dann schlugen Funken sprühende Flammen aus dem Pult, und Daart wurde zurückgeschleudert. Der Teil seines Bewusstseins, der nur aus Instinkten und Reflexen bestand, jahrelang mit unendlicher Geduld trainiert und herangezüchtet, löschte alles andere aus. Er duckte sich, ließ die Walze aus Feuer und purer Energie über sich hinwegtoben. Sie zischte mit verheerender Gewalt über seinen Kopf, schlug nach oben, Richtung Decke, verpuffte harmlos und ohne Rauch oder auch nur Hitze zu hinterlassen. Doch damit war es noch lange nicht vorbei. Durch die Wand vor ihm lief ein Riss, dann klappte ein schmaler Streifen von oben nach unten weg, und die Wand glitt zurück. Der Boden unter ihm begann zu zittern und zu beben, und von irgendwoher war ein tiefes, fast bösartiges Grollen zu hören. Es klang gewaltiger und schlimmer als alles, was Daart je zuvor vernommen hatte. Er kam schwankend wieder hoch, hielt sich am Pult fest und starrte voll ungläubigem Schrecken auf das, was sich vor ihm abspielte. Die Wand hatte sich auf voller Breite vor ihm zurückgezogen, beinahe so, als flöhe sie vor ihm. Dahinter war ein gebogenes, gewaltiges Fenster von Ausmaßen, die jede Vorstellungskraft sprengten. Durch die Scheibe hindurch hatte er einen noch besseren, detaillierteren Blick, als er ihn bereits von der Brüstung aus gehabt hatte. Doch er wünschte sich, es wäre nicht der Fall gewesen. Durch die Blasen, die zuvor friedlich durch die Kuppel geschwebt waren, funkelten bunte Entladungen. Ihre Flugbahnen veränderten sich, nicht langsam und bedächtig, sondern so schnell, als führe ein Sturm durch die Kuppel. Aus dem ruhigen Gleiten wurde ein hekti-
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sches Auf und Ab, ein Durcheinanderwirbeln, chaotische, unkontrollierte Bewegungen, denen Daart kaum zu folgen vermochte. Dann, von einem Moment auf den anderen, wurden die Blasen wie auf ein geheimes Kommando hin nach oben gerissen. Zwei Blasen schlugen ineinander, drückten sich an der Seite des Aufpralls platt, verloren vollständig Form und Farbe und taumelten umher wie zwei Betrunkene, die sich verzweifelt aneinander festklammerten. Ein krachendes und berstendes Geräusch war zu hören, und gleichzeitig züngelte es in den beiden Kugeln wild durcheinander, als gezackte, grellweiße Energiebahnen hin und her schossen. In die Reihen der Silberkrieger, die nach wie vor in die Kuppel strömten, kam unruhige Bewegung. Daart glaubte zu sehen, wie sich einige von ihnen aus der festen Formation lösten und zu rennen anfingen, während ein Gleißen und Blitzen davon kündete, dass sie ihre Waffen hervorrissen. Von hier oben konnte Daart nicht sehen, was sie so sehr in Aufregung versetzte, aber er bezweifelte, dass es nur die Unruhe war, die in die Blasen gefahren war. Zumindest glaubte er das, bis er nach oben schaute, dorthin, wohin die meisten Kugeln mittlerweile getrieben waren. Was wie eine unkontrollierte, chaotische Bewegung gewirkt hatte, war in Wirklichkeit äußerst zielgerichtet gewesen. Die Blasen hielten auf die Rampe zu, genau auf die verschwommene, neblig wirkende Grenze, an der Daarts Sichtfeld endete. Doch selbst das war es noch nicht, was die Silberkrieger in so offensichtliche Panik versetzte. Es war das Gewitter aus grellweißen Blitzen, das in genau dem Augenblick einsetzte, als er dort hinschaute. In Daarts Kopf explodierte ein scharfer Schmerz, als er nach oben sah. Blitz auf Blitz in seinem Kopf wurde zu Blitz auf Blitz an der Rampe, grellweiße Energieexplosionen, die zwischen den Blasen und der Rampe hin und her schossen, ein bösartiges Züngeln und Lodern purer Energie, das keinen Anfang und kein Ende zu haben schien, sondern zu einem einzigen, unglaublichen Gewitter verschmolz. Daart schrie auf, während das Gewitter in ihm und an der stählernen Zunge tobte, über die die Silberkrieger hinabgestiegen waren an jenen Ort, der ihnen nun Tod und Verderben brachte. Seine Hände
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krampften sich um das Pult, und aus seinem Mund tropfte heller, flockiger Schaum. Auf eine fürchterliche, grausame Art war er mit der Katastrophe verbunden, die dort über ihm stattfand; die Katastrophe war gleichzeitig in seinem Kopf und an der Rampe. Durch das Geflecht der Kabel, die die Rampe hielten, ging ein scharfer Ruck, dann sackte die ganze Konstruktion ein Stück ab, fing sich wieder und legte sich auf die Seite. Ein tausendstimmiger Schrei des Entsetzens wehte durch das Grollen und Donnern zu ihm herauf. Aus dem geordneten Truppenaufmarsch wurde eine blinde, kopflose Flucht, als sich die Silberkrieger aus ihrer Formation rissen und hinabstürmten. Die Rampe bockte wie ein durchgehendes Pferd, und Männer in schwarzen Uniformen und mit silbernen Masken vor den Gesichtern gerieten ins Stolpern, breiteten die Arme aus, versuchten sich irgendwo festzuhalten, und dann wurden die Ersten von der bockenden Rampe geworfen, als wollte ein wütender Riese sie herabschütteln wie ein paar übermütige Kinder Ameisen von einem Ast. Scharfe Schmerzblitze jagten durch Daarts Kopf, während er auf die unglaubliche Szene starrte. Er presste den Kiefer so fest zusammen, dass seine Zähne knirschten, aber er merkte es nicht einmal. Seine Hände und Arme fingen an zu zittern wie im Krampf, im selben Rhythmus, in dem die Rampe hin und her zuckte. Er wusste nicht, was Ursache und Wirkung war, er wusste nur, dass er gleichzeitig wollte, was dort draußen geschah, wie er es auch verabscheute und sich nichts sehnlicher wünschte, als dass es aufhörte, einfach aufhörte. Aber es hörte nicht auf. Es wurde sogar noch schlimmer. Die Rampe war längst kein großes Metallband mehr, das vom Ufer des Glutsees hinab zum Feuertempel führte und eine sichere Möglichkeit bot, trockenes Fußes hierher zu kommen, sie war eine sich im Todeskampf windende Schlange. Die Kabel, die die Rampe gehalten hatten, rissen mit scharfen, peitschenden Geräuschen, eines nach dem anderen, dann hob sich die ganze Konstruktion, als bäumte sie sich im Todeskampf auf, und bevor Daart überhaupt begriff, was geschah, sauste sie auch schon herab. Es war ein Krachen, Toben und Bersten, wie er es noch nie gehört, noch nie gesehen hatte. Der Boden unter
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ihm bäumte sich auf, als große Stücke der Rampe irgendwo weit unter ihm aufschlugen und ein Gewirr gerissener Kabel und kleinerer Trümmerstücke ihnen folgte. Daart wurde von den Füßen gerissen, taumelte zurück, nahm die Arme zurück… Ein Teil der Rampe schoss von unten nach oben, von unglaublichen Gewalten abkatapultiert. Schwarz gekleidete Krieger flogen durch die Luft, überschlugen sich vielfach, schrien in Todesfurcht. Das Prasseln von Trümmern, das scharfe schneidende Geräusch, mit dem die letzten Kabel rissen, die Schreie der Todgeweihten, all das verband sich zu einer Sinfonie des Schreckens. Vor Daarts Augen flackerten bunte Punkte. Irgendwie schaffte er es, wieder zum Pult zu kommen und sich erneut festzuklammern. Aber es war sinnlos. Ihm blieb nichts anderes, als auf den Todeskampf von Nubinas gigantischem Heer zu starren. Dort, wo eben noch die Rampe gewesen war, gähnte plötzlich eine Lücke, nur unvollständig geschlossen durch die trudelnden Blasen, aus denen immer noch ein Blitzgewitter greller Energiebahnen schlug. Dann kam das Wasser. Es kündigte sich durch ein Rauschen und Donnern ganz anderer Qualität an. Daart starrte aus aufgerissenen Augen hinab auf das Trümmerfeld, wo Tote, schwer Verletzte und Sterbende inmitten teilweise grotesk verformter Trümmer und glänzender Kabelreste lagen. Es ging so schnell, so unglaublich und unbarmherzig schnell. Von allen Seiten schoss das Wasser heran. Gischtend, zischend, sprudelnd, eine gewaltige Flutwelle, getrieben von einer unsichtbaren Strömung, aufgepeitscht wie von einem heftigen Sturm. Die Silberkrieger, die sich hatten aufrappeln können, wurden von der Flut einfach weggerissen und versanken sprudelnd und gurgelnd in den Fluten. »Du musst dir vorstellen können, was passiert«, hatte die Najade gesagt. »Nur dann kann es auch passieren.« Er wusste nicht, ob er sich die unglaubliche Szene vorgestellt hatte, die sich jetzt dort vor seinen Augen abspielte. Aber er hatte sich etwas ganz Ähnliches gewünscht. Und doch war da etwas in ihm, was ihm fast den Atem verschlug, als er sah, wie schnell und mit welch fürchterlicher Konsequenz Nubinas Heer ausgelöscht wurde.
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Es dauerte lange, bis Daart wieder einigermaßen zu sich fand. Angeekelt wischte er sich den Schaum vom Mund. »Wenn du die alte Macht in dir gefunden hast, dann gehe behutsam mit ihr um«, hörte er die Najade wieder und wieder sagen. »Sonst wird sie sich als Fluch erweisen für alle Menschen, die dir nahe kommen. Für deine Feinde wie für deine Freunde.« Ja, dachte Daart bitter, während er sich zu Carnac umdrehte. Es hatte schon begonnen. Er war alles andere als behutsam mit der alten Macht umgegangen. Tausende von Silberkriegern waren durch seine Hand elendiglich umgekommen. Und wenn er nicht aufpasste, würde er zu der Liste all der Opfer hier noch zwei weitere Namen hinzufügen. Die von Thross und Carnac. Zu seiner Verblüffung stand Carnac nur zwei Schritte hinter ihm. Ihre Blicke begegneten sich für einen kurzen und doch endlosen Moment. Es lag Vertrautheit darin, aber auch die Angst vor dem Fremden, das sie trennte. »Ich kann mir vorstellen, wie es dir geht«, sagte Carnac leise. »Aber glaube mir: Du bist nicht allein. Wir werden gemeinsam das tun, was wir tun müssen, um Nubina zu besiegen.« Daart nickte langsam. Er war sich nicht sicher, ob es wirklich die größte Herausforderung für ihn sein würde, Nubina und Zar’Toran endgültig in ihre Schranken zu verweisen. Oder vielmehr, mit seinem Erbe umzugehen, mit der alten Macht, die, einmal in ihm aufgebrochen, sich nie wieder würde vollständig unterdrücken lassen. Aber eines wusste er mit Sicherheit: Hier, in der Tiefe des Glutsees, hatte er sich wieder gefunden. Es spielte keine Rolle mehr, ob ihn Nubina mit Versprechungen einfangen oder mit Gewalt gefügig machen wollte. Er würde ihr widerstehen, ihr und ihren perfiden Plänen. Und dann würde er sehen, ob es ihm nicht selbst möglich wäre, nach dem zu greifen, wonach Nubina und Zar’Toran schon so lange strebten: nach Unsterblichkeit. Ja, dachte er, ich werde das Erbe meiner Vorfahren annehmen. Aber auf eine andere Art und Weise, als sie sich das auch nur ansatzweise haben vorstellen können. Ich werde Nubina und Zar’Toran mit ihren eigenen Waffen schlagen und mir
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dann das nehmen, was mich selbst aus der Masse der Sterblichen heraushebt. Es war ihm, als hätte tief in ihm nur etwas darauf gewartet und als lachte es jetzt dunkel und grollend, wie im bösen Triumph, da er zu dem zurückgefunden hatte, was ihn von allen anderen Menschen unterschied: zum Erbe der Sternengeborenen.
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