TOM PROX ABENTEUER AUS DEM WILDEN WESTEN
Heft 139
Der Fluch des Götzen erzählt von Frank Lee
UTA-VERLAG, SINZIG (RHE...
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TOM PROX ABENTEUER AUS DEM WILDEN WESTEN
Heft 139
Der Fluch des Götzen erzählt von Frank Lee
UTA-VERLAG, SINZIG (RHEIN), HAUS HUBERTUS
WISSENSWERTES Einen besonderen Anziehungspunkt im modernen amerikanischen Touristenverkehr bilden ihrer wildromantischen Schönheit wegen die Black Hills und Bad Lands, die sich zwischen dem Missouri und den Rocky Mountains von South Dakota bis zum nordöstlichen Wyoming erstrecken. Während man heute diese Gegenden auf gepflegten Straßen mit hochtourigen Reisewagen in wenigen Stunden durchqueren kann, gehörten sie noch vor gar nicht allzu langer Zeit zu einem wenig erschlossenen Gebiet, in dessen unübersichtlichen Weiten man sich buchstäblich verlaufen konnte. Allein die phantastische Felsenlandschaft der Bad Lands bedeckt eine Bodenfläche von rund 400 000 Hektar, und ein Fremder findet sich abseits der Straßen in dem Labyrinth von Tälern und Canons kaum zurecht. Der wichtigste Verkehrsknotenpunkt der Black Hills und Bad Lands ist Rapid-City. Seit dem Goldrausch von 1876 gewann die Stadt immer mehr an Bedeutung und entwickelte sich zum Hauptversorgungszentrum nicht nur für das Gebiet westlich des Missouri in South Dakota, sondern auch für das östliche Montana, Wyoming und das nordöstliche Nebraska. Südlich von Rapid City befindet sich auch auf dem Mount Rushmore das weltberühmte Nationaldenkmal, in dessen Granit die Köpfe der Präsidenten Washington, Jefferson, Lincoln und Theodore Roosevelt in einer Riesenvergrößerung gehauen sind. Außerdem ist in den Felsen noch eine in 500 Worten zusammengefaßte Geschichte der Vereinigten Staaten eingemeißelt. Die einzelnen Buchstaben der Inschrift sind drei Fuß hoch. Die folgende Geschichte spielt in einer Zeit, in der die Motorisierung noch in den Kinderschuhen steckte und in den abgelegenen, von den Bahnlinien nicht erfaßten ländlichen Gebieten noch die alten, vierbeinigen Freunde und Helfer des Menschen, nämlich Pferd und Maultier, die Hauptverkehrsmittel bildeten. ________________
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Um die Gegend östlich der Black Hills in South Dakota machten schon die ersten Siedler einen großen Bogen und nannten sie „Bad Lands“. Das heißt dem Sinne nach ungefähr so viel wie: ,Da liegt der Hund begraben.’ Landschaftlich allerdings bieten die zerklüfteten, phantastisch gestalteten Felsgebilde dem Auge unvergleichliche Reize und zaubern märchenhaft schöne Trugbilder von alten verwunschenen Schlössern, antiken Tempeln oder orientalischen Moscheen mit unzähligen, großen und kleinen Minaretts in die trostlose Steinwüste – sofern man für diese Dinge einen Blick und die dazugehörige romantische Veranlagung hat! Der längste der drei ungleichen Typen in Cowboykleidung, die in einem schattigen Felsrondell rasteten, schien sich durch keins von beiden auszuzeichnen. Während die beiden anderen sorglos dem majestätischen Flug eines Adlers folgten, stierte er minutenlang auf einen Punkt etwa zwanzig Schritt vor sich in das Geröll. Dann zog er den Colt. Zweimal krümmte er rasch hintereinander den Finger – zweimal zerriß die Detonation die monotone Stille der unberührten Natur. Ein graugrünlich schillernder Schlangenleib bäumte sich einigemal in wilden Zuckungen auf. Dann lag er still im Geröll und war von seinem Untergrund kaum noch zu unterscheiden. „So was gibt’s also auch hier“, sagte der kleine Untersetzte, während der Lange den Colt gelassen wieder wegsteckte. „Ein Glück, daß wir ’nen alten Schlangenbändiger bei uns haben!“ „Der Schlangenbändiger wäre ja nicht notwendig, wenn die Tierchen sich nicht von der saftigen Sitzfläche eines Ben Closter so angezogen fühlten“, erwiderte der Lange. „Die wittern ’nen fetten Geburtstagsbraten!“ „Sollen aber auch sehr auf Schweinsohren in Gelee erpicht sein. Und davon gibt’s beim Sergeant Patterson doppelte Portionen.“ 4
„Schaltet mal für ’n Momentchen das Grammophon ab“, mischte sich jetzt Tom Prox ein. „Mir war doch eben so … Still ihr beiden, sag’ ich!“ Die drei lauschten angestrengt. Snuffy Patterson schien das, was die Aufmerksamkeit seines Chefs erregt hatte, am deutlichsten zu hören. Er nickte zustimmend. „Schätze vier bis fünf Berittene. Müssen von dort drüben kommen.“ „Wahrscheinlich von deiner Knallerei angelockt.“ In Ben Closters Stimme klang leiser Vorwurf. „Wurde ja allmählich Zeit, daß uns auf dieser langweiligen Patrouille endlich mal wer begegnet“, verteidigte sich Snuffy Patterson entrüstet. „Willst wohl hier wochenlang ’ne ruhige Kugel schieben, wie? Ich für mein Teil brauch’ Abwechslung. Komme mir allmählich vor wie ’n pensionierter Heilsarmeegeneral auf Schmetterlingsjagd.“ Der Hufschlag wurde auf dem steinigen Boden immer deutlicher vernehmbar und kam direkt auf die Ranger zu. Die Reiter steckten offenbar in einem der zahlreichen, schluchtenartigen Erosionstäler und mußten jeden Augenblick im Blickfeld der drei auftauchen. Die beiden Sergeanten erhoben sich und wollten die Winchester von den Pferden schnallen. Doch Tom Prox winkte ab. Da bogen auch bereits die ersten Reiter etwa dreihundert Schritt weiter südlich auf den Trail und kamen in scharfem Galopp näher. Snuffy hatte ihre Zahl beinahe richtig geschätzt. Es waren sechs Mann. Und was für Männer es waren, das sah man schon von weitem. Die Sergeanten, die sich inzwischen wieder niedergelassen hatten, warfen ihrem Captain böse Blicke zu, die nichts anderes besagten als: ,Hättest du uns nur mal lieber die Schießprügel holen lassen!’ 5
Nun war’s zu spät. Denn die Pferde standen gut dreißig Schritte weg, und die Kavalkade brauste funkenstiebend heran wie ein Orkan. Snuffy Patterson und Ben Closter griffen zu den Sechsschüssigen. Doch wiederum winkte der Ghostcaptain ab. „Mir überlassen – keiner von euch zieht, solange bei mir nicht der erste Schuß raus ist!“ Die beiden schüttelten die Köpfe. Der hatte Nerven! Brutal rissen die sechs ihren Pferden ins Maul. Einige Tiere stiegen schnaufend hoch – Eisen klirrte hart auf Stein. Dann umringten die sechs verwegenen, schwerbewaffneten Burschen die drei Ghosts im Halbkreis. „Wer hat die Schüsse abgegeben?“ Der Mann, der die Frage in anmaßendem Tone förmlich hinausschrie, schien der Anführer zu sein. Er hatte einen wuchtigen Oberkörper und ein wildes, pockennarbiges Gesicht. Wenn es eine Seelenwanderung gibt, dann mußte der Mann in seinem früheren Leben ein Fleischerhund gewesen sein. Tom Prox ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er musterte einen nach dem anderen wie ein Militärarzt. Es waren alles die typischen Charakterköpfe, wie man sie meist auf Steckbriefen vorfindet. Einer der Männer war ein Indianer. In der Kleidung unterschied er sich nicht von den anderen. Außer dem Boß hatten alle eine Repetierbüchse quer über dem Sattel liegen. Keiner machte jedoch Miene, diese auf die Ranger zu richten. „Seit ihr schwerhörig?“ brüllte der Pockennarbige noch etwas lauter. „Wer geschossen hat, hab’ ich gefragt!“ Snuffy Patterson erhob sich in aller Gemütsruhe zu seiner vollen Größe. „Ich – wenn Ihr’s genau wissen wollt“, sagte er und tippte sich an die Brust. „Idiot! Viel zu schnell – war beinahe nur wie e i n Schuß zu hören.“ Der Pockennarbige zog den Colt. Ben und Snuffy kribbelte es in den Fingern – und es kostete 6
sie allerhand Überwindung, den Befehl ihres Chefs zu befolgen und nicht zu ihren Fünfundvierzigern zu greifen. Tom Prox hatte seine Rechte unauffällig ans Leder gebracht. Er wußte, es war ein Spiel mit dem Feuer – denn noch konnte er nicht absehen, wie sich die Dinge entwickeln würden. Doch sein Mißtrauen war unbegründet. Der Pockennarbige hatte den Lauf des Colts nach oben gerichtet. Zweimal drückte er im Abstand von etwa zwei Sekunden ab. Dann wanderte die Waffe ins Holfter zurück. „So wird’s gemacht, du Anfänger – merk dir das Tempo. Und merk dir noch eins – das gilt für euch beide auch: Bei uns wird nichts zweimal erklärt. Wer’s beim erstenmal nicht frißt, kriegt’s hiermit beigebracht. War immer noch die beste Medizin gegen Dämlichkeit! Und gegen Unpünktlichkeit! Eine geschlagene Viertelstunde warten wir schon auf euch.“ Mit einem raschen Griff hatte er eine Sechs-Fuß-Bullpeitsche vom Sattel gelöst und ließ sie drohend durch die Luft sausen. Snuffy Patterson und Ben Closter warfen sich verständnislose Blicke zu, während Tom Prox den unbeteiligten Zuschauer spielte, dem diese ganze komische Situation nichts anging. Noch bevor die verblüfften Sergeanten, die doch sonst nicht auf dem Mund gefallen waren, etwas sagen konnten, sprach der Pockennarbige schon weiter. „Wer von euch ist Ben?“ Der Dicke erhob sich und schielte fragend zu Tom hinüber. Außer den Sergeanten, die durch zahlreiche gemeinsame Erlebnisse ganz auf ihren Chef eingespielt waren, hätte wohl keiner das kaum merkliche Zwinkern in seinen Augen wahrgenommen, und wenn hundert Leute um die Ghosts herumgestanden hätten. Ben Closter wußte sofort, daß es nichts anderes bedeutete als: ,Weitermachen, auf alles eingehen und die Dinge auf sich zukommen lassen’. 7
„Der bin ich“, quetschte er zwischen den Zähnen hervor, ohne die Zigarette, die an seiner Unterlippe klebte, aus dem Mund zu nehmen. Der Wortführer musterte ihn geringschätzig. Dann wandte er sich halb an den Mann, der neben ihm stand. „Hatte mir unter Ben auch was anderes vorgestellt – nach dem, was Teddy über ihn erzählt hat. Na, schlecht gefuttert scheint er ja nicht zu haben. Das kennen wir; die Brüder sorgen immer zuerst für ihren Verdauungsapparat.“ Der Pockennarbige ritt zwei Schritte näher an Ben Closter heran. „Okay – du kommst mit. Ihr beiden“ – er sah zu Snuffy Patterson und Tom Prox – „meldet euch auf der Diana-Ranch bei dem Vormann. Sagt nur, Teddy schicke euch, Und jetzt ein bißchen Beeilung – ihr faules Pack! Los – du Suppenzwerg, schaff deinen Gaul ran!“ Blitzschnell sauste die schwere Bullpeitsche durch die Luft. Ben Closter spürte einen leichten Windhauch über dem Nasenrücken und ein schwaches Kitzeln an seinen Lippen. Die Zigarette in seinem Mundwinkel war verschwunden. Der Pockennarbige lachte höhnisch. „Damit ihr Hundesöhne gleich wißt, wie hier der Hase läuft. Genau wie da, wo ihr herkommt! Nur: Hier draußen bin ich der Boß – verstanden!“ In Ben Closters Innerem tobte es. Zwar weniger wegen der aus dem Munde geschlagenen Zigarette, denn das war immerhin ein Peitschenhieb von bewundernswerter Präzision gewesen. Es war wegen des ,Suppenzwergs’, was wahre Raubtiergelüste in ihm weckte, und hätte sich nicht Tom Prox jetzt langsam erhoben, es wäre fraglich gewesen, ob er sich länger hätte beherrschen können. Der Ghostchef pflanzte sich breitbeinig einige Schritte vor dem Pockennarbigen auf. „Scheint ’n kleines Mißverständnis vorzuliegen, Boß“, sagte er ruhig und faßte den Mann auf dem hochbeinigen Falben fest ins Auge. „Wir haben uns nicht als 8
Sklaven verdingt. Wir tun, was man von uns verlangt – okay! Doch wir lassen nicht auf diese Art mit uns umspringen. Habt Ihr das verstanden, Boß?“ Ein schallendes Gelächter, der anderen war die Antwort. Der Pockennarbige schüttelte sich, daß der ganze Pferdeleib mitwackelte. Nur der Indianer stierte teilnahmslos vor sich hin. „Du gefällst mir, du Oberkalfaktor“, japste der Pockennarbige. „Scheinst Courage zu haben. Wollen doch gleich mal sehen, wie lange die vorhält.“ Er wandte sich an den Indianer. „Ponny, schneid ihm doch mal eben ’n Centstückchen Fell aus seinem Skalp!“ Mit einem geschmeidigen Satz war der Indio aus dem Sattel. Wie eine Katze schlich er geduckt auf Tom Prox zu. In der Hand funkelte tückisch eine haarscharfe Klinge. Der Ghostchef wich einen Schritt nach rückwärts aus. Doch da flog ihm auch schon der Hut vom Kopf und legte seine Stirn frei. Die Bewegungen des Indianers waren schneller als das Auge blicken konnte. Noch nie hatte Tom Prox einem Gegner von so unglaublicher Flinkheit gegenübergestanden. Er sah das Messer nicht mehr, sah nicht die Hand, die ihm damit nach der Stirn fuhr. Er griff blindlings zu. Goddam – genau in die Schneide hinein! Da war aber die Rothaut schon wieder da und fuchtelte mit dem Messer in der Luft herum, daß es nur so blitzte. Wieder mußte der Ghostchef aufs Geratewohl zugreifen. Diesmal mit der Linken – doch die hatte mehr Glück. Das Handgelenk des Indios saß wie in einem Schraubstock, wurde nach unten gedrückt, knackte. Mit einem Wutschrei ging die Rothaut in die Knie, empfing einen Jagdhieb zwischen die Augen und schlug einen Salto nach rückwärts, bevor er regungslos liegen blieb. Tom Prox wandte sich zu Patterson um, als ob nichts 9
gewesen wäre. „Hol’ mir doch mal gerade eben das Pflaster – hab’ mich da wohl ’n bißchen geritzt.“ Den Männern auf den Pferden war die Spucke weggeblieben. Auch der Pockennarbige starrte mit weitaufgerissenen Augen auf den Mann mit der blutenden Hand. „Hm“, brummte er schließlich anerkennend, „wenn deine Kumpels auch so sind, hat Teddy mit euch gar keinen schlechten Griff gemacht. Bist der erste, mit dem Ponny nicht fertig geworden ist. Kannst’s bei uns zu was bringen, wenn du dich nicht nochmals schnappen läßt. Aber der Boß bin ich – und wer hier nicht pariert, den holt der Teufel. Klar?“ „Klar, Boß. Es war nur zur Einführung, damit Ihr wißt, wen Euch Teddy geschickt hat.“ „Maulhalten! Und nun los; wird Zeit, daß wir wegkommen! Time is money! Ihr beide macht euch also auf dem schnellsten Weg zu Innskeep; dort bekommt ihr weitere Anweisungen. Ben reitet mit uns!“ Während Snuffy seinem Chef ein dickes Pflaster auf die starkblutende Schnittwunde am Handballen klebte, kam der Indianer langsam wieder zu sich und rappelte sich auf. In dem Blick, den er auf Tom Prox warf, glomm abgrundtiefer Haß wie ein bengalisches Feuer. Ohne ein Wort schwang er sich aufs Pferd. Ben Closter kam mit seinem Schecken angetrabt und schnitt Snuffy eine Grimasse. Er war sich über seine Rolle zwar noch nicht ganz klar, aber irgendwie würde es schon hinhauen. Der Pockennarbige riß sein Pferd herum. „Vorwärts!“ brüllte er und stieß dem Tier die Sporen in die Seiten. Der Indianer bildete den Schluß. Als er den Mustang wandte, fiel sein Blick auf eine gewisse Stelle im Geröll. Ein nachdenklicher Zug huschte über sein verschlagenes Gesicht. Dann sah er auf den Ghostcaptain – und in seinen falschen 10
Augen stand ein Ausdruck hinterhältiger Schläue. Eine Viertelstunde später war er hinter den anderen hergaloppiert. Tom Prox war das vielsagende Mienenspiel in dem durchtriebenen rothäutigen Gesicht nicht entgangen. In diesem Augenblick wäre es ihm lieber gewesen, er hätte zufällig Ben geheißen oder wenigstens so getan und wäre an Stelle seines Sergeanten mit den finsteren Rustlertypen fortgeritten. „Reichlich dunkle Angelegenheit“, ließ sich Snuffy vernehmen. „Und was machen wir jetzt?“ „Ist doch klar. Wir melden uns auf der Diana-Ranch. Los, hinterher!“ „Was meinst du mit ,hinterher’?“ „Das wirst du gleich sehen – das heißt, wenn meine Rechnung stimmt. Komm!“ Die beiden gingen zu den Pferden. Nur etwa hundert Schritte ritten sie von ihrem Rastplatz aus in der Richtung, in der sich die anderen entfernt hatten. Hinter einem gewaltigen Felsvorsprung verbargen sie sich, ohne abzusitzen. Von hier aus konnten sie ihren Rastplatz ausgezeichnet beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. „Hm – von weitem gesehen ein ziemlich markanter Punkt, wo wir gelagert haben“, bemerkte der Lange. „Die mannshohen Felsblöcke links und rechts vor der Einbuchtung und die drei scharfen Zacken am oberen Rand – eigentlich gut zu finden, das Plätzchen, wenn man es einigermaßen richtig beschreibt.“ Snuffy hatte sich gerade die zweite Zigarette gekurbelt, als von Norden her Pferdegetrappel aufkam. Kurz darauf erschienen zwei Reiter in der Nähe des Rastplatzes, ritten zunächst in langsamem Schritt vorbei, machten halt und sahen sich nach allen Seiten um. Einer deutete auf die drei Felszacken. Sie kehrten um, ritten in die Einbuchtung und saßen ab. Eine Weile standen sie unschlüssig und schienen zu beraten. Dann zog einer den Colt. 11
„Los!“ zischte Tom Prox. „Caracho!“ Der Mann, der den Arm mit dem Colt in die Luft gestreckt hatte, ließ die Waffe sinken, als die beiden Ghosts herangesprengt kamen. Sie brachten ihre Pferde vor den beiden mit der gleichen Bravour zu stehen, wie ihnen das vorher der Pockennarbige mit seinen Leuten vorexerziert hatte. „Was hat euch Teddy denn gesagt, wann ihr hier sein solltet, he?“ bellte Tom Prox. „Scheint mir da ja ein ziemlich lahmes Gesindel geschickt zu haben!“ Die beiden Männer, die einen ziemlich heruntergekommenen und abgehetzten Eindruck machten, sahen sich bedeppert an. „Ist nicht unsere Schuld, Boß, wenn wir ’n bißchen spät dran sind“, sagte der mit dem Colt in der Hand. „Sind nicht früh genug weggekommen von Fairburn.“ „Interessiert mich nicht. Wer von euch ist Ben?“ Wieder sahen sich die Männer verlegen an. „Ben hat’s unterwegs erwischt …“ „Was? Erwischt? Was heißt hier erwischt? Zum Donnerwetter – vielleicht erfahre ich bald, was los ist!“ Tom Prox spielte die Rolle des fluchenden und tobenden Bandenhäuptlings meisterhaft. „Es war gut zwei Reitstunden von hier – einige Meilen südlich der Furt im kleinen Knie des Cheyenne. Der Trail führt dort durch eine ziemlich unübersichtliche Schlucht. Plötzlich bekamen wir von allen Seiten Feuer. Die Schützen lagen gut getarnt auf den Hängen. Gegenwehr war sinnlos. Wir mußten auf dem schnellsten Wege durch. Ben hatte das beste Pferd und war uns gut zwanzig Schritte voraus. Doch die Burschen mußten es nur auf ihn abgesehen haben. Der Gaul und Ben wurden fast gleichzeitig getroffen. Wir konnten gerade noch rechtzeitig die Tiere zur Seite reißen …“ „Und ihr feiges Pack habt ihn einfach liegenlassen?“ 12
„Hätte keiner anders gemacht. Die Heckenschützen waren in der Überzahl und lagen gut versteckt auf der Lauer“, beteuerte der Wortführer, der inzwischen den Colt wieder weggesteckt hatte. „Keine faulen Ausreden. Über die Sache mit Ben sprechen wir noch. Wie lange habt ihr von Fairburn bis hierher gebraucht?“ „Gute fünf Stunden …“ „Und in welcher Zeit schafft ihr’s mit euren Gäulen bis zur Diana-Ranch?“ Die beiden sahen sich wieder an und überlegten. „Unsere Pferde sind nicht die schnellsten, Boß“, sagte jetzt der andere, der bisher noch nichts gesagt hatte. „Drei Stunden werden wir wohl brauchen. Wenn wir bessere Pferde hätten, könnten wir’s in zweieinhalb Stunden schaffen.“ „Ihr kennt den kürzesten Weg?“ Die Frage blieb unbeantwortet. Die Männer, die offenbar doch nicht so ganz auf den Kopf gefallen waren, warfen sich plötzlich verwunderte Blicke zu und sahen mit steigendem Mißtrauen auf die beiden Fremden. Der „Banditenboß“ Tom Prox war wie umgewandelt. Er lächelte beinahe mitleidig, und seine Stimme klang fast sanftmütig. „Tut mir leid, Leutchen – muß euch nur mal ’n bißchen festnehmen. Und nun schnell umdrehen und den Schnabel gehalten!“ Die Männer taten wie befohlen. Tom Prox flüsterte mit seinem Begleiter. „Müssen uns trennen. Geht nicht anders. Schaue hier zwar noch nicht ganz durch, aber ich glaube, wir sind auf dem besten Weg, in ein ziemlich übles Wespennest zu stechen.“ __________
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„Und ich sage Ihnen, Sheriff, die Sache geht nicht mit rechten Dingen zu – noch ein paar solcher Pannen, und mein ganzes Geschäft östlich des Cheyenne ist ruiniert!“ Der Mann, der das Sheriff Crosby von Fairburn ins Gesicht schrie, war Kenneth Rowley, einer der wohlhabendsten Versandkaufleute von Rapid City. Der noch jugendlich wirkende, stutzerhaft gekleidete Fünfziger war bekannt als leicht erregbarer, hochnäsiger Bursche, der sich einbildete, sämtliche Behörden seien allein für ihn da. Bei Sheriff Crosby war er aber an den Unrechten gekommen. Crosby war zwar ein guter und geachteter Sheriff, doch wenn man ihn reizte, ein unberechenbarer Hitzkopf. „Was geht mich Ihr Geschäft an, Mr. Rowley“, brüllte er noch lauter als der andere. „Ich habe hier für Ruhe und Ordnung zu sorgen und nicht für Ihre Transporte! Miß Huntley schmeißt ihren Laden ganz allein und hat noch nicht ein einziges Mal hier sinnlose Beschwerden vorgebracht. Können sich alle ein Beispiel an dem Girl nehmen. Wenn Sie sich eben so unzuverlässige Elemente anheuern, dann müssen Sie auch den Schaden tragen!“ „Das verbitte ich mir, Sheriff Crosby – die Firma Rowley & Son hat bisher nur die zuverlässigsten Leute beschäftigt, und gerade die haben versagt.“ „Hahaha – und haben Ihnen die Karren einfach stehenlassen. Ich denke, der Fall im Quinn-Tal, wo wir den Transport unversehrt vorfanden, ist Beweis genug, daß Ihre zuverlässigen Leute einfach getürmt sind. Die hatten halt keine Lust mehr – hatten die Schnauze wohl voll, wie man so sagt – weil sie wahrscheinlich so schlecht in Ihren Diensten bezahlt wurden. Auf den Wagen hat nicht eine einzige Kiste gefehlt – das haben Sie selbst zugegeben. Nur ein Idiot kann da an einen Überfall glauben!“ Die beiden Männer schrien sich gegenseitig immer lauter an. 14
Tom Prox brauchte nicht besonders die Ohren zu spitzen, um durch das geöffnete Fenster jedes Wort zu verstehen. Er war vor wenigen Minuten mit seinen beiden Gefangenen vor dem Office des Sheriffs angelangt und wartete nun, bis dieser allein war. Jetzt wurde im Hause eine Tür zugeschlagen. Gleich darauf trat der stürmische Besucher des Sheriffs mit hochrotem Kopf auf die Straße und schoß mit langen, raschen Schritten davon. „Vorwärts! Hier geht’s rein!“ kommandierte der Ranger und ließ die anderen vorangehen. Seine Rechte lag lässig auf dem Griff des Colts. „Goddam! Was gibt’s denn nun schon wieder!“ empfing ihn Sheriff Crosby, dessen Wut noch nicht ganz verraucht war. Der Ghostchef griff in die Tasche. „Captain Prox von der Special Police.“ Der Sheriff gab sich einen Ruck und schluckte etwas hinunter. „Ich bin Sheriff Crosby. – Entschuldigen Sie die unhöfliche Begrüßung, Captain, hatte eben ’n unerfreulichen Auftritt. Womit kann ich Ihnen dienen, Captain?“ „Nur ’ne Kleinigkeit, Sheriff: Wenn Sie ’n aus- und einbruchsicheres Quartier für meine beiden Freunde hier hätten, wäre mir damit sehr gedient. Dies hier ist Jenny Lingham und der andere nennt sich Louis Madden. Sind beide vor einigen Tagen mit einem Ben Walcott aus dem Staatsgefängnis in Pierre entlassen worden.“ „Ben Walcott?“ rief Crosby bestürzt dazwischen. „Da kann ich mir ja gratulieren, wenn der auch frei ist! Das war doch der berüchtigte Bandit, der vor Jahren monatelang mit Gun-Teddy auf demselben Steckbrief stand. Ein Bild hatten wir damals leider nicht von ihm. Teddy Flint ist auch im Lande. Der ist schon vor einigen Wochen entlassen worden und treibt sich nun ausgerechnet in meinem Revier herum. Kann ihm leider bis jetzt nichts nachweisen. Möglich, daß er sich noch nichts 15
wieder hat zuschulden kommen lassen. Hat sicher erst auf seine Kumpane gewartet, bevor er sein dunkles Geschäft neu eröffnete.“ „Mit Ben Walcott werdet Ihr keinen Ärger mehr haben, Sheriff – der ist vor ein paar Stunden jenseits des Cheyenne verschieden. Die erste Kugel muß gleich im Kopf gesessen haben. Ich habe seine sterblichen Reste von seinen neuen Kumpels etwas beiseite schaffen lassen, damit sie nicht jeder gleich entdeckt, sonst aber alles so gelassen wie es war. In seinen Taschen war nichts von Bedeutung. Die beiden können Euch genau die Stelle beschreiben, wo’s passiert ist. Worauf mir’s ankommt, ist, daß vorläufig nicht viel Aufhebens von der Sache gemacht wird. Am besten ist’s, wenn vorerst niemand etwas davon erfährt und Jonny Lingham und Louis Madden streng isoliert gehalten werden, damit auch wirklich nichts durchsickert.“ Der Sheriff war zwar etwas erstaunt über die eigenartigen Methoden, die der Chef der Ghost Squad ihm da empfahl. Doch als Tom Prox ihm die Zusammenhänge erklärte und seinen Plan entwickelt hatte, verstand er sofort, worauf dieser hinauswollte, und versprach, sein möglichstes zu tun. – Inzwischen hatte Snuffy Patterson die Diana-Ranch erreicht. Nach der Beschreibung, die sie aus den beiden entlassenen Zuchthäuslern herausverhört hatten, war das nicht besonders schwierig gewesen. Die Ranch lag nördlich des White River in der Nähe von Cottonwood. Auch sonst war das Verhör ganz aufschlußreich gewesen. So wußte Snuffy Patterson jetzt wenigstens, für wen man sie gehalten hatte, und daß der Pockennarbige sich Tim Savage nannte. Wenn man das wenigstens Ben Closter irgendwie noch hätte stecken können! Auf einer kleinen Anhöhe, von der aus er die weitauseinandergezogenen Gebäude der stattlichen Ranch 16
überblicken konnte, machte Patterson halt und überlegte, wie er sich am besten an den Vormann heranmachen könnte. Wahrscheinlich befand er sich um diese Zeit nicht auf den Weidegebieten, sonst hätte Tim Savage sie nicht hierhergeschickt. Dort links gingen eben zwei Cowboys auf die etwas abseits gelegene Fenz zu. Die würde er einfach fragen. Die beiden Männer blieben stehen, als sie den Langen auf sich zu galoppieren sahen. Es waren mürrisch und verschlossen blickende Cowpuncher, die den Gruß des Rangers kaum erwiderten. „Hallo, Gents – könnt ihr mir sagen, wo ich euren Vormann finde?“ Die beiden warfen sich eigenartige Blicke zu, bevor sie antworteten. „Muß irgendwo drüben beim Bunkhaus stecken“, brummte der eine nach einigem Zögern. „Geh ruhig rein – der Boß ist ganz allein.“ Irgend etwas an dem Sprecher gefiel Patterson nicht; er nahm sich vor, auf der Hut zu sein. Vor dem Bunkhaus sprang Snuffy aus dem Sattel. Er erblickte keinen Menschen. Nur einige Pferde und Maulesel standen in der Nähe herum. Er räusperte sich einige Male laut, doch niemand ließ sich sehen. Dann betrat er das Haus. Gleich linker Hand befand sich eine nur angelehnte Tür. Aus dem Raum dahinter kamen Stimmen. Man sprach ziemlich laut. Die Dielen knarrten, als Snuffy näher an den Spalt herantrat. Aber es bestand keine Gefahr, daß man ihn hörte. Jetzt konnte er auch in den Raum blicken. Drei Männer saßen um einen Tisch. Zwei, die ihm den Rücken wandten, hatten die Colts vor sich liegen und die Hände an den Kolben. Der dritte saß mit dem Gesicht zur Tür und schien sich nicht recht wohl in seiner Haut zu fühlen. Auf der flachen, gefurchten Stirn standen dicke Schweißperlen. Seine 17
ohnehin schon nicht sehr sympathisch wirkenden Züge wurden durch den Ausdruck einer panischen Angst noch mehr entstellt. „Wir geben dir eine letzte Chance, Ralph Innskeep“. sagte jetzt einer der Revolvermänner. „Es wird dein Schaden bestimmt nicht sein, wenn du bei uns mitmachst. Zum Schluß kommen sowieso noch alle zu uns gelaufen und werden um ’nen anständigen Job winseln.“ „Pah – verdammte Großsprecher seid ihr!“ zischte der Mann mit den Schweißperlen auf der Stirn. „Werdet’s ja sehen, wer stärker ist, Red Kerry oder James Kid Hall.“ „Gut – wie du willst! Wir geben dir drei Minuten Bedenkzeit. Das ist genauso viel, wie wir Teddy gegeben haben, damit er von nun an uns die Leute schickt. Teddy wollte nicht hören – noch nicht! Kannst mal rumfragen, was aus den neuangeworbenen Leutchen geworden ist. Einer – muß Ben Walcott gewesen sein – liegt …“ Weiter kam der Sprecher nicht. Gerne hätte Snuffy Patterson noch ein Weilchen der interessanten Unterhaltung gelauscht, doch was der Mann jetzt sagen wollte, durfte er ihn nicht aussprechen lassen. Das hätte gefährlich für Ben Closter werden können. Mit einem Fußtritt stieß er die Tür auf. „Ha – ihr wart also die Schufte, die uns in der Schlucht beaast haben?“ donnerte er in den engen Raum. „Die Flossen hoch, sonst gibt’s Zunder!“ Die beiden Revolvermänner waren so verdattert, daß sie eine Sekunde zu spät auf den Stühlen herumfuhren und die griffbereit vor ihnen liegenden Colts in Anschlag brachten. Der Ghostsergeant war bereits mit einem mächtigen Satz dicht hinter ihnen und drückte jedem unsanft den kalten Stahl eines Laufes ins Genick. Angesichts dieser eindeutigen Lage hoben sie folgsam die Arme. „Den feigen Überfall in der Schlucht werden wir euch noch heimzahlen, verlaßt euch drauf – wenn ihr Schlumpschützen 18
zum Glück auch keinen von uns getroffen habt!“ fuhr Patterson mit der gleichen Donnerstimme fort. „Was machen wir mit den Halunken, Vormann, wollen wir sie gleich aufknüpfen?“ Ralph Innskeep war zunächst genauso verdutzt wie die beiden anderen, faßte sich aber rasch genug, um zu erkennen, daß sich die kritische Lage nunmehr eindeutig zu seinen Gunsten gewandelt hatte. Er verzog das Gesicht zu einem befreiten, hämischen Grinsen und zeigte ein häßliches, gelbes Gebiß. „Getroffen haben sie keinen von unseren Leuten, sagst du? Gut, dann wollen wir sie heute noch einmal laufen lassen – aber gnade euch Gott, wenn ihr noch einmal in unsere Hände fallt!“ „So – und nun verschwindet von der Ranch, so schnell euch eure Gäule tragen, ehe ich mir’s anders überlege. Begleite die Gents hinaus, Langer – und sieh nach, ob sie keine Flinten an den Sätteln haben. Dann jage sie zum Teufel!“ Snuffy Patterson war gleich darauf wieder zurück. „Scheint mir ein sehr großzügiger Mensch zu sein, der Boß, Vormann. Übrigens: Ich bin Jonny Lingham. Teddy schickt mich, und Tim Savage sagte, ich soll mich bei Euch melden. Ihr seid doch Vormann Innskeep?“ „Der bin ich. Bist ja gerade zur rechten Zeit gekommen. Hast wohl schon mal Bekanntschaft mit Red Kerrys Bande gemacht, wie?“ fragte der Vormann lauernd. „Ja – die Burschen sprachen ja selbst davon. Haben uns in einer Schlucht unweit vom Cheyenne aufgelauert – Louis Madden, Ben Walcott und mir. Natürlich nichts getroffen.“ „Weiß Tim davon? Wo sind die anderen?“ „Tim hat nicht danach gefragt. Wir haben auch nichts davon gesagt, weil wir der Sache keine große Bedeutung beigemessen haben. Ben ist mit Tim abgezogen, und Louis hatte unterwegs Pech mit der alten Ziege gehabt, die sie ihm in Fairburn angedreht haben. Fing plötzlich an zu lahmen und war kaum 19
noch vorwärts zu kriegen. Da bin ich halt vorausgeritten, um Euch Bescheid zu sagen. Hoffe, daß er bald eintrifft. Ist natürlich schwer vorauszusagen, ob er’s überhaupt noch bis hierher schafft. Möglich, daß Madden zu Fuß latschen muß.“ „Goddam! Auch das noch! Ihr seht ja, ich brauche jeden Mann. Die Leute von Red Kerry werden jeden Tag frecher. Wenn Madden kommt, kriegt er natürlich sofort ’n anderen Gaul. Wie steht’s mit dir?“ „Ist in Ordnung – hatte Glück gehabt. Ist ’n Wallach – der nimmt’s mit jedem auf. Hab’ ihn auch gekauft, als gerade keiner im Laden war; da hat man mehr Auswahl für sein Geld. Louis wollte übrigens unbedingt bezahlen, um wenigstens wieder ehrlich anzufangen, meinte er.“ Der Vormann lachte. „Leute mit solchen Komplexen sehen wir hier nicht gern. Na – du scheinst ja wenigstens in Ordnung. Hast ’ne ganz gute Eröffnungsvorstellung gegeben. Offiziell seid ihr beiden hier als Weidereiter eingestellt – genau wie die anderen. Aufträge bekommt ihr nur von mir. Der Besitzer dieser Ranch ist Fred Jenkinson. Mit dem habt ihr nichts zu tun, der ist seit Jahren ans Bett gefesselt und wird von ’ner alten Schwester gepflegt. Im übrigen gibt es hier zwei Sorten Cowboys: Solche wie ihr und richtige. Den richtigen tut ihr nichts, dann tun sie euch auch nichts. Die von eurer Sorte erkennt ihr daran, daß sie zwei Schießprügel umhaben. So – und nun laß dich erst mal häuslich nieder – das Weitere wird sich finden.“ __________ „Toller Kerl, dieser Captain Prox!“ murmelte Sheriff Crosby vor sich hin, nachdem er die beiden entlassenen Strafgefangenen in sicheren Gewahrsam gebracht hatte. Gegen die Leute lag zwar nichts vor, was zu einem Haftbefehl 20
ausgereicht hätte, doch formell konnte man sie schon für einige Tage unter dem Verdacht, etwas mit der Ermordung Ben Walcotts zu tun zu haben, festhalten. Am meisten imponierte dem Sheriff, mit welchem Geschick Tom Prox die beiden ohne großes Aufsehen zu ihm geschafft hatte. „Hallo, Sheriff – how are you?“ „Ah, Miß Huntley! Danke, nicht ganz so gut wie Ihnen.“ Sheriff Crosby hatte gerade einige Eintragungen ins Gefangenenbuch gemacht und daher den Eintritt der jungen Inhaberin der Firma Huntley & Smith gar nicht bemerkt. Er erhob sich und streckte Miß Huntley freundlich die Hand entgegen. Suzanne Huntley war trotz ihrer Jugend – sie zählte knapp fünfundzwanzig Lenze – eine achtunggebietende Erscheinung, und selbst die rauhbeinigsten Gesellen hätten von ihr niemals als von einem Girl zu sprechen gewagt. Sie war auffallend groß, ihre Figur – der das gutsitzende, schlichte Reitkostüm vortrefflich stand, war schlank und sportlich betont, aber nicht ohne weibliche Reize. Der kurze Herrenschnitt des glatt zurückgekämmten, schwarzen Haares ließen ihre ebenmäßigen, nicht häßlichen Züge vielleicht strenger erscheinen als sie in Wirklichkeit waren. Am auffallendsten waren ihre dunklen, durchdringend blickenden Augen und der energische, ein wenig zu schmale Mund. Miß Huntley ließ sich unbefangen auf der Kante eines Tisches nieder und stellte die Beine auf einen Stuhl. „Was erzählt man sich so hier an Neuigkeiten, Sheriff?“ Miß Huntley sprach lebhaft und unbefangen und mit einer bemerkenswert tiefen, angenehmen Stimme. „War lange nicht mehr in Fairburn.“ „Ach nichts von Bedeutung, Miß Huntley. Der Pinsel von Rowley war wieder mal da und behauptete, es gäbe in dieser 21
Gegend Leute, die seine Transporte abfingen. Das haben andere auch schon behauptet, aber Sie wissen ja, die Rancher und Storekeeper in den entlegenen Nestern glauben das einfach nicht mehr und nehmen diese Ammenmärchen nicht als Entschuldigung für unpünktliche Lieferungen an. Schließlich tut Ihren Kolonnen ja auch keiner was.“ „Eben. Man muß nur in der Auswahl seiner Leute etwas vorsichtiger sein“, warf Miß Huntley lächelnd dazwischen und zündete sich eine Zigarette an. „Das habe ich Rowley auch gesagt. Nein, Miß Huntley – glauben Sie mir: Die nüchtern denkende Landkundschaft nimmt diesen Gents die faulen Ausreden nicht mehr ab. Die Leute sagen sich, entweder sind diese Pfeffersäcke aus Rapid City schon so reich geworden, daß sie auf unsere Aufträge ganz verzichten können und uns absichtlich aufsitzen lassen, oder bei uns ist ihnen das unzuverlässigste Personal gerade gut genug, mit dem dann dauernd diese Scherereien passieren.“ „Ist das alles an Neuigkeiten? Das heißt, so kann man’s eigentlich auch wieder nicht nennen – sind doch immer dieselben ollen Kamellen!“ Miß Huntley machte eine verächtliche Bewegung mit der Zigarette. „Das ist alles. Wollen Sie sich länger hier aufhalten? Ist wohl gerade die Hauptsaison für die größeren Lieferungen? Es geht auf den Herbst und Winter zu – da muß man sich eindecken.“ „Ja – da gibt’s einiges zu tun. Werde mich ein paar Tage hier aufhalten und will dann zur White River-Linie, damit dort die Sache an den Ausladebahnhöfen richtig klappt.“ Sheriff Crosby sah der gutgewachsenen Miß Huntley noch ein ganzes Stück nach, als sie wegritt. By Gosh! Hatte sich das Girl herausgemacht! __________
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Der Mann vor der Blockhütte, die an die steil wie der Turm eines Domes aufragende Felswand gebaut war, dachte während der letzten Stunde seiner Wache nur noch darüber nach, wie überflüssig hier doch eigentlich ein Sicherheitsposten war. Diesen Schlupfwinkel konnte allenfalls der Teufel aufstöbern, und auch der würde sich bei Nacht bestimmt in dem SteinLabyrinth nicht zurechtfinden. Am meisten wurmte ihn, daß man ihm so eine Art Strafwache aufgebrummt hatte. Er war nämlich einer von den beiden, die sich auf der Diana-Ranch von dem Neuen so kläglich hatten ins Bockshorn jagen lassen. Doch das Ende würde wahrscheinlich noch kommen, wenn der Chef erst selbst auftauchte. Ob er in dieser Nacht überhaupt noch kam? Gott sei Dank, da war die Ablösung! „Na, noch kein Zeichen von Red Kerry? Wollte ja wohl diese Nacht aufkreuzen?“ „Bis jetzt noch nichts gesehen. Müßte jeden Augenblick eintreffen – wenn er noch kommt. Es ist bereits eine Stunde nach Mitternacht. Das ist so ungefähr seine Zeit.“ „Ich glaube, da ist er schon. Ja – los, weck die andern. Red Kerry wird sonst ungeduldig, bis wir die Brüder alle aus den Decken gerollt haben. Die pennen richtig wie die Präriebüffel.“ Im Westen war in ziemlicher Entfernung eine Taschenlampe aufgeblitzt: zweimal kurz, einmal lang, und wieder zweimal kurz. Das war das verabredete Zeichen. In der Blockhütte wurde es lebendig. Eine trübe Petroleumlampe flammte auf, und sechs verwildert aussehende Desperados wälzten sich müde von ihren Pritschen. „Aufstehen, ihr Pennbrüder!“ brüllte der Mann, der vorher Wache geschoben hatte. „Red Kerry muß gleich hier sein.“ „Würde an deiner Stelle nicht so ’n großen Rand riskieren, Jimmy“, sagte einer, der offenbar der stellvertretende Boß war. „Weißt noch nicht, wie der Chef das, was ihr euch da bei Innskeep geleistet habt, aufnimmt.“ 23
Draußen näherte sich der Hufschlag eines sich über den schwer gangbaren Felspfad vorsichtig herantastenden Pferdes. Wenige Augenblicke später war der Chef zur Stelle. In der geöffneten Tür blieb er stehen. „Nanu, hattet wohl alle schon Posten auf Matratzenhorchdienst bezogen, daß man euch nicht beim Pokern antrifft?“ Die Stimme klang klar und schneidend, vielleicht ein wenig höher, als man es bei einem rauhbeinigen Banditenboß sonst gewohnt war. Zu sehen war von dem Sprecher nicht viel, denn er hielt sich geschickt draußen und mied den Schein der Lampe. Trotzdem konnte man erkennen, daß die Augenpartie sich hinter einer roten Samtmaske verbarg. Diese hatte ihm den Namen Red Kerry eingetragen, was aber außer seinen hier versammelten Männern keiner wußte. „War ’n ziemlich anstrengender Tag, Chef“, sagte der stellvertretende Häuptling. „Außerdem ist der Whisky alle. Da ist es schon das beste, man haut sich aufs Ohr.“ „Beruhigt euch, es gibt bald neuen. Dann könnt ihr euch wieder vollaufen lassen. Sind die Aufträge ausgeführt? Hat Innskeep klein beigegeben – oder …? Los – erzählt!“ Der andere berichtete kurz von dem Überfall auf die drei Männer, die zu Tim Savage wollten, und dem Ausgang der Verhandlungen mit dem Vormann der Diana-Ranch. Hinter der roten Samtmaske funkelten böse ein paar stechende, dunkle Augen. Die Stimme des geheimnisvollen Red Kerry klang scharf: „Genug, das reicht! Noch so ’ne Schlappe, und ich jage euch alle zum Teufel. Würde mich selbst am nächsten Ast aufknüpfen, wenn mir das auf der Diana-Ranch passiert wäre.“ „Werden dem langen Lulatsch den Streich schon heimzahlen. Boß!“ „Ruhe – jetzt rede ich! Seid ihr euch auch sicher, daß ihr Ben 24
Walcott erledigt habt? Oder hat der euch auch nur zum Narren gehalten?“ „Ben Walcott ist tot – hab’ mich selbst davon überzeugt, Boß.“ „Na ja – laß mich gern überraschen. Neuer Befehl: Ab übermorgen sind einige Transporte aufzubringen. Und zwar an drei Tagen hintereinander: Der erste an Punkt elf, der zweite an Punkt vierundzwanzig, und der dritte an Punkt neunzehn. Die Ware wird ins Lager drei geschafft. Die Wagen werden verbrannt. Zwei Kisten Whisky und eine Kiste Tabak sind für euch bestimmt; Verpflegung wie üblich. Sonst aber wird nichts angerührt! Solange diese Aktion läuft, wird nichts gegen Kid James’ Leute unternommen. Geht ihnen am besten aus dem Weg!“ „Okay, Boß – wird erledigt. Ist unser Anteil von den letzten Ladungen schon abgerechnet?“ „Hier.“ Der Maskierte griff in die Tasche und schmiß ein dickes Bündel Banknoten in die Hütte. „Noch was? Merkt euch also die Reihenfolge: Punkt elf. vierundzwanzig, neunzehn!“ __________ Sergeant Ben Closter war mit seinem neuen Job als Küchenbulle ganz zufrieden. Mit dem Anführer der Bande, der, wie er erfahren hatte, Tim Savage hieß, war nicht gut Kirschen essen; man ging ihm am besten aus dem Wege. Die anderen hatten sich bei näherer Bekanntschaft als ganz umgänglich erwiesen; es war ihm nicht sehr schwergefallen, aus ihnen durch ein geschicktes Frage- und Antwortspiel herauszubringen, wessen Rolle er hier eigentlich zu spielen hatte. Er wußte bald, daß er jetzt Ben Walcott hieß, einige Jährchen im Staatsgefängnis in Pierre abgebrummt hatte und dort in der Küche beschäftigt war. Von einem ehemaligen Zellengenossen 25
namens Teddy Flint, der große Stücke auf ihn hielt, weil er mit unglaublicher Raffinesse trotz schärfster Kontrollen täglich eine anständige Ration Speck aus der Vorratskammer der Anstalt herausgeangelt und sie au seinem Zellengenossen geschmuggelt hatte, war er an die Bande vermittelt worden. Wen Tom Prox und Snuffy Patterson darstellten, hatte er leider noch nicht erfahren können, da die Leute die Namen der anderen selbst nicht kannten und sich auch nicht dafür zu interessieren schienen. Nur so viel hatte er erfahren, daß die auch mit ihn gesessen haben mußten. Ferner hatte er noch herausgehört, daß der Oberboß der Bande ein gewisser James Kid Hall oder, wie sie ihn meistens nannten, Kid James sein mußte. So weit war also Ben Closter ganz zufrieden mit der Entwicklung der Dinge. Nur der finstere Indianer gefiel ihm nicht. Dieser verschlossene Bursche warf ihm manchmal verdammt komische Blicke zu; am liebsten ging er diesem ebenso aus dem Wege wie dem pockennarbigen Tim Savage. In einer kleinen Küchenbaracke hatte der Sergeant es sich bequem gemacht. Dort schlief er auch. Sie stand etwas abseits von der Baracke, in der sich die anderen aufhielten und ihr Nachtlager hatten. Am Abend hatte Ben Closter sein Debüt als Banditenkoch gegeben. Die Vorratskammer der Bande, ein geräumiger Schuppen, war bis zur Decke mit den erlesensten Konserven angefüllt. Da war die Zusammenstellung der Speisekarte nicht besonders schwierig. Bens Menü hatte allen so gut geschmeckt, daß ihm selbst Tim Savage wohlwollend auf die Schulter klopfte und ihm eine halbe Flasche aus der Kiste, die er persönlich unter Verschluß hielt, genehmigte. Als Closter den letzten Schluck aus der Flasche nahm, war es bereits lange nach Mitternacht. Er lag noch wach auf seinem Strohsack und überdachte die Lage. Vor allem mußte er Tom 26
und Snuffy irgendwie Nachricht darüber zukommen lassen, wo er sich befand. Das war leichter gesagt als getan. An sich war dieser Schlupfwinkel nicht schwer zu finden, wenn man ihn einmal kannte. Er befand sich nur etwa eine Reitstunde von der Stelle, wo sie gerastet hatten, in einem gut versteckten kleinen Talkessel, der nur von einer Seite zugänglich war. Plötzlich schien Ben endlich die Erleuchtung zu kommen. Leise erhob er sich und kramte, ohne Licht zu machen, in dem kleinen Raum herum. Draußen lief die Wache umher; er durfte nicht unnötig ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken. Goddam, jetzt war ihm ein scharfer Strahl beim Auspressen der Zitrone ins Auge gespritzt – das brannte wie Feuer! Nun knisterte er mit einem dünnen, aber starken pergamentartigen Papier, Überreste von Verpackungsmaterial, das er bereits achtlos weggeworfen hatte. Gleich darauf lag er wieder auf seiner Pritsche auf dem Bauch und hatte die Decke über den Kopf gezogen, damit kein verräterischer Strahl seiner Taschenlampe durch das vorhanglose, kleine Fenster nach draußen fiel. Zum Teufel – was war denn das? Draußen wurde es ja plötzlich so lebendig. Eilige Schritte liefen an seiner Bude vorbei auf die Hauptbaracke zu. Vorsichtig schlich Ben Closter zum Fenster. Der Wachtposten war in der Baracke verschwunden, kam jedoch gleich wieder mit Tim Savage heraus. Die beiden entfernten sich nach dem Ausgang des Talkessels zu. Da war doch eben ein grünes Licht kurz aufgeleuchtet, und jetzt zeigte sich eine Weile rot, und dann wieder grün. Kein Zweifel, die beiden hatten eine Verabredung mit jemandem, der dort mit einer Taschenlampe Zeichen gab. Der Sache mußte auf den Grund gegangen werden. Lautlos huschte der Ranger durch die schmale, seitlich angebrachte Tür ins Freie und spähte in die Nacht, die bereits 27
durch den heraufdämmernden Morgen leicht aufgehellt war. Über die freie Fläche durfte er den beiden nicht folgen. Sie hatten sich zwar bis jetzt noch nicht einmal umgesehen, doch das konnte jeden Augenblick geschehen. Er mußte sich hart am Rande des Talkessels entlangschleichen. Das war ein erheblicher Umweg, dafür aber auch um so sicherer. Tim Savage und der Posten gingen nicht übermäßig schnell. Da Ben Closter sich in großen Sprüngen vorwärtsarbeitete, erreichte er fast zur gleichen Zeit wie diese den Talausgang. Die Hänge dort waren mit dichtem Gebüsch bewachsen, was ihm seine Arbeit gewaltig erleichterte. Jetzt hörte er Stimmen. Man sprach ziemlich laut. Doch er verstand nur einzelne Worte. Er mußte sich noch zwanzig, dreißig Schritte näher heranpirschen. Das nahm einige Zeit in Anspruch, so daß er den Anfang des Gespräches leider nicht mitbekam. „Also es bleibt dabei“, hörte er jetzt deutlich eine scharfe, nicht sehr tiefe Stimme in befehlen schein Ton sagen: „Morgen abend, das heißt genau genommen, heute abend, der erste Transport. Und vergeßt nicht die Reihenfolge: Der erste kommt zu Punkt elf, der zweite zu Punkt vierundzwanzig, der dritte zu Punkt neunzehn. Und vor allem: Saubere Arbeit, und es wird nichts entnommen! Die Ware läuft euch nicht weg.“ „Geht in Ordnung. Boß! Wenn sie nur die Red Kerry-Leute nicht mausen. Hab’ noch keine Kiste gesehen, die von selbst weggelaufen wäre.“ Das war die Stimme des Pockennarbigen. Der Sergeant hatte sich inzwischen so weit nach vorn an den Rand der Böschung gewagt, daß er die Männer erkennen konnte. Es waren Tim Savage, der Posten und ein Fremder, der ein Pferd am Zügel hielt. ‚Aha, wenn mich nicht alles täuscht, habe ich die Ehre mit Kid James’, dachte Ben. Der Beiname ,Kid’ paßt gut zu ihm. Soweit sich das unter den obwaltenden 28
Umständen und nach der Stimme beurteilen ließ, schien es sich um einen noch jungen, schlank gebauten Mann von mittlerer Statur zu handeln. Jetzt sprach der Fremde wieder. „Gibt’s sonst noch was Neues? Hat Teddy die Männer geschickt?“ „Ja – hat drei Männer geschickt. Zwei habe ich an Innskeep weitergeleitet, und den anderen haben wir hier als Küchenbullen vereinnahmt.“ „Hm – wie heißt der Mann?“ „Ben Walcott.“ Eine Weile herrschte eisiges Schweigen, und Ben Closter wurde es aus nicht erklärlichen Gründen plötzlich etwas mulmig zumute. Das kaum zu hörende, feine Rascheln hinter ihm verstärkte dieses Gefühl und hätte beinahe elektrisierend auf ihn gewirkt. „Okay“, sagte der Fremde schließlich zögernd und schwang sich elastisch auf das Pferd. „Okay“, wiederholte er noch einmal schon gedehnter, „dann bis heute abend!“ Ben Closter wollte sich rasch zurückziehen, um noch vor den beiden anderen wieder seine Bude zu erreichen. Nur einen halben Schritt brachte er, auf dem Bauche rückwärtskriechend, hinter sich. Da fiel ein geschmeidiger Körper wie ein blutdürstiger Vampir über ihn. Ein eiserner Zangengriff legte sich von hinten um seinen Hals, und für Sekunden wurde es dem Dicken schwarz vor den Augen. Doch dann handelten seine Glieder mechanisch wie die einer aufgezogenen Puppe und setzten die hundertfach auf der Polizeischule gedrillten JiuJitsu-Griffe an, die ein ausgewachsener Ranger auch im Zustand halber Bewußtlosigkeit noch beherrschen muß. Seine Hände umfaßten wie Schraubstöcke die kleinen Finger des Gegners und bogen sie mit einem Ruck nach rückwärts. Es knackte, und man hörte ein abgehacktes, schmerzvolles Stöhnen. Im gleichen Augenblick löste sich der tödliche 29
Würgegriff, und Ben Closter kehrten die Sinne zurück, wacher als zuvor! Mit einer Behendigkeit, die man seinem kurzen, gedrungenen Körper gar nicht zugetraut hätte, schnellte er auf die Seite und riß den anderen hart über die Hüfte, so daß er jetzt dessen Gesicht vor sich hatte. Goddam! Der Indianer! Mit den wutverzerrten Zügen einer bis aufs Blut gereizten Bestie starrte ihn die Rothaut an und versuchte, sich dem Griff des Rangers zu entwinden. Verbissen krallten sich die ungleichen Gegner in einem mörderischen Ringen ineinander und wälzten sich wie kämpfende Reptilien auf dem Boden. Den Vorteil, der in Ben Closters eisenharten Fäusten und bärenstarken kurzen Armen lag, glich der Indio durch seine unwahrscheinliche Wendigkeit und Flinkheit wieder aus. Goddam! Wenn die anderen nur nicht auf den Lärm aufmerksam wurden und der Rothaut zu Hilfe kamen! Doch der Ranger hatte Glück: das Geräusch der keuchenden, sich am Boden wälzenden Männer wurde von dem Hufschlag des gerade angaloppierenden Pferdes übertönt, und Tim Savage entfernte sich mit dem Posten bereits in Richtung auf das Barackenlager. Ben hatte den Indio jetzt am Kinn zu fassen bekommen und preßte ihm mit dem kurzen, aber breiten Handteller den Mund zu, als er Miene machte, durch einen Schrei sich den anderen bemerkbar zu machen. Für den Bruchteil einer Sekunde bekam seine Rechte jetzt Luft. Kolbenartig stieß sein Unterarm vor, und die zolldicken Fingerknöchel des Rangers trafen die Rothaut mit voller Wucht. Der unerwartete Schlag setzte dem erbitterten Ringen ein jähes Ende. So, der war erst mal für ’ne Weile manövrierunfähig. Ben Closter erhob sich vorsichtig und peilte die Lage. Gott sei Dank, die beiden anderen hatten schon fast die Baracken 30
erreicht. Sie schienen also nichts gemerkt zu haben. Der mutmaßliche Kid James war verschwunden, ganz in der Ferne hörte man noch ab und zu vereinzelten Hufschlag, wenn die Eisen gerade auf Stein trafen. War wieder mal ’ne ganz schöne verzwickte Lage. Der Ghost wischte sich über die Stirn. Nun hatte er den Indianer zwar in seiner Gewalt, konnte aber nichts mit ihm anfangen. Er durfte ihn doch nicht einfach verschwinden lassen! Sollte er der Rothaut wegen seine Zelte hier abbrechen? Der Halunke würde ihn natürlich verraten, wenn er ihn wieder zu den anderen ließ. Plötzlich schlug sich Ben Closter mehrere Male mit der Hand vor die Stirn, was bei ihm so viel bedeutete wie: ,Ich hab’s!’ Der Indio war ein schlanker, sehniger Bursche; er war zwar einen guten Kopf größer als der Sergeant, aber nicht viel mehr als Haut und Knochen. Für Ben jedenfalls kein Gewicht! Wie ein nasses Handtuch hing er bald über dessen breiter Schulter und gab nur schwache Lebenszeichen von sich. Seinen Schädel zierte eine dicke Beule. Der Kleine kletterte mit seiner Last gewandt auf die andere Seite der Böschung und kraxelte an der Außenseite des Talkessels entlang. Zwar ein beschwerlicher Weg, aber die einzige Möglichkeit, in die Nähe des Lagers zu kommen, ohne von dem Posten gesehen zu werden. Bald war die Stelle erreicht, wo auf der anderen Seite in dem Talkessel die Baracken standen. Der Vorratsschuppen befand sich der ihm zugewandten Seite am nächsten. Dann kam mit etwa zwanzig Schritt Abstand die kleine Küchenbaracke, an die sich nach weiteren fünfzig Schritten die Hauptbaracke anschloß. Ein Blick über den Kamm des Hanges belehrte Ben, daß der Posten sich auf der entgegengesetzten Seite vor der Hauptbaracke befand. Wenn er noch ein Stück außerhalb weiterlief, dann war er durch die Baracke gegen jede Sicht 31
gedeckt und konnte ungesehen von hinten an den Vorratsschuppen heran. Nur Lärm durfte er nicht verursachen. Es klappte ausgezeichnet. Ben Closter konnte sich, wenn es sein mußte, so lautlos anschleichen wie eine Katze. Nach wenigen Minuten war er an dem Vorratsschuppen, zu dem er einen Schlüssel in der Tasche hatte. Die Tür lag nach hinten, der Böschung zugewandt, also ebenfalls außerhalb des Blickfeldes des Postens. Geräuschlos öffnete er die Tür und zog sie gleich hinter sich wieder zu. Dann lud er den Indio ab und setzte ihn behutsam auf den Boden, mit dem Rücken an eine Kiste gelehnt. Allmählich schien der Mann wieder zu sich zu kommen, es war daher Eile geboten. Hier war ein Brecheisen, und dort die verschlossene Kiste mit dem Whisky. Sie war nicht allzu stabil. Nur krachen durfte es nicht, das Bersten von Holz macht meistens einen ziemlichen Lärm. Doch die Scharniere am Deckel ließen sich mit einiger Gewaltanwendung nahezu geräuschlos von der Stelle, wo sie an die Kiste genietet waren, lösen. Gleich darauf hatte Ben Closter eine geschmackvoll etikettierte Whisky-Bottle in der Hand. Ein Korkenzieher befand sich an seinem Messer. Mit der geöffneten Flasche kniete er neben dem Indio. „Nun mach schön den Schnabel auf –’s gibt Feuerwasser, mein roter Bruder. Köstliches Feuerwasser!“ Der Indio begann sich zu regen und schwache Abwehrbewegungen zu machen. Doch Ben Closter hatte ihn mit eisernem Griff um die Schulter gepackt und setzte ihm die Flasche an den Mund. Der erste Guß lief daneben, doch dann begann der Indio, nur halb bei Bewußtsein zu schlucken. Einmal gerieten ihm ein paar Tropfen in die falsche Kehle; er bekam einen Hustenanfall, den Ben Closter gerade noch rechtzeitig mit seinem großen Taschentuch ersticken konnte. Nachdem die halbe Flasche geleert war, machte er eine kurze 32
Pause. „Momentchen verschnaufen“, flüsterte er vor sich hin, „müssen die Medizin hübsch dosieren. So – jetzt geht’s weiter.“ Bald war auch die andere Hälfte der Flasche geleert. Ben warf einen letzten Blick auf sein Opfer und schlich sich hinaus. Draußen war es bereits merklich heller geworden; er gelangte aber dennoch mühelos zu seiner Baracke. Dort raschelte er sogleich wieder mit Papier und verschwand für einige Minuten unter der Decke auf seinem Lager. Als die Sonne aufging, stiegen bereits dicke Qualmwolken von der Küchenbaracke auf, und zwei Stunden später wunderten sich die Banditen nicht wenig, als ihnen frische, schön gleichmäßig braun gebackene Napfkuchen schon zum Frühstück serviert wurden. Das hatte es bisher noch nicht gegeben. Die Freude wurde auch kaum dadurch getrübt, daß gelegentlich einer von ihnen zu fluchen anfing, wenn er auf einem Stück Papier herumkaute. „Tut mir leid, Gents“, verteidigte sich Ben, „war im Mehl, konnte es nicht durchsieben, hatte nämlich kein Sieb. Muß mal einer von euch so’n Ding organisieren. Wer halt mal so’n Fetzchen Papier erwischt, spuckt’s einfach aus.“ „Klar“, brummte Tim Savage, der seltsamerweise nie einen Napfkuchen mit Inhalt erwischte, „ist doch nichts dabei an so einem Stückchen Papier! Wer deshalb keinen will, kann die Dinger ja stehen lassen. Wenn’s sein muß, verdrück’ ich sie ganz alleine.“ „He, Boß – wo ist eigentlich unser Indio? Habt Ihr den weggeschickt?“ rief auf einmal einer der Männer. „Ich habe ihn nicht fortgeschickt. Treibt sich vielleicht bei den Pferden herum. Sieh doch mal eben nach, Sam.“ Der Mann kam nach wenigen Minuten zurück. „Bei den Pferden ist er nicht, Boß. Sein Mustang ist auch noch da.“ „He, Ben – hast du Ponny gesehen?“ „Seit gestern nicht mehr, Boß.“ 33
„Verdammt noch mal – der Bursche muß doch irgendwo stecken. Los, alles absuchen.“ Es dauerte keine fünf Minuten, da hatte man den Indianer bereits in dem Vorratsschuppen aufgestöbert. Er lag neben der erbrochenen Whiskykiste mit dem Oberkörper halb an eine andere gelehnt und hielt die geleerte Flasche wie ein Baby im Arm. Aus seinem Mund kam ein unartikuliertes Lallen; man sah sofort, der Bursche war voll wie eine Strandhaubitze. Tim Savage raste und tobte und hätte Ponny am liebsten vertrimmt. Nur das beherzte Dazwischentreten Ben Closters bewahrte den Indio davor, daß er mit der Bullpeitsche traktiert wurde. „Hat doch jetzt keinen Zweck, Boß – der Halunke merkt in dem Zustand ja doch nichts davon. – Spart’s Euch auf, bis er wieder nüchtern ist.“ Das schien dem Pockennarbigen einzuleuchten, wenn er sich so vernünftige Überlegungen auch nicht gerne von einem anderen sagen ließ. Doch Ben Closter hatte wegen seiner beachtlichen Kochkünste seit dem Essen des gestrigen Abends und nach den guten Napfkuchen von heute morgen bei ihm einen gewaltigen Stein im Brett. Als die Banditen gegen zehn Uhr losritten, wurde der Indio Ben Closters Obhut anvertraut. „Du gießt ihm alle halbe Stunden einen Eimer Wasser über den Kopf, bis er nüchtern ist!“ brüllte Tim Savage. „Und dann läßt du ihn Holz hacken, bis wir wiederkommen. Wird so gegen Mitternacht werden. Und mach was Anständiges zu futtern.“ „Okay, Boß – hab ’ne bescheidene Bitte“, sagte Ben Closter ein wenig zaghaft. „Raus mit der Sprache! Was ist’s?“ „Kommt einer von euch zur Diana-Ranch und trifft mit meinen ehemaligen Leidensgefährten zusammen?“ „Sam und Jimmy reiten von hier direkt dorthin. Warum?“ 34
Ben Closter brachte ein kleines Päckchen zum Vorschein. „Hatte da noch ein paar Napfkuchen übrig – und die beiden essen die Dinger für ihr Leben gern.“ Über das brutale, verwilderte Gesicht des Banditenführers huschte ein menschlicher Zug. „Möchte wissen, warum sie dich Zuckerheini überhaupt so lange eingelocht hatten, Du hast ja ’n Herz wie Tante Clärchen. Na los, gib sie Sam! Schönen Gruß soll er wohl auch noch bestellen, wie?“ „Da legen meine Kumpane weniger Wert drauf, Boß“, erwiderte Ben Closter und lächelte wehmütig. __________ Auch Tom Prox und Snuffy Patterson ging es in ihren Rollen als Jonny Lingham und Louis Madden nicht schlecht. Snuffy hatte bereits die Frage aufgeworfen, ob man nicht lieber umsatteln und Bandit werden sollte. Die beiden Ranger hatten in einem kleinen Raum im Bunkhaus für sich allein geschlafen, nachdem Tom Prox noch spät in der Nacht eingetroffen war. Morgens hatten sie sich erst mal ein sehr ausgiebiges Frühstück einverleibt. Von den Leuten, die zu ihrer Sorte gehörten, nämlich von denen mit zwei Colts, hatten sie bisher erst einen zu Gesicht bekommen. Der war aber ständig um den Vormann herum. Die anderen Cowboys gingen ihre Wege und warfen ihnen höchstens mal schräge Blicke zu. Einen Auftrag hatte man den beiden bisher noch nicht gegeben, und so lungerten sie denn auf der Ranch herum und taten vorläufig gar nichts. „Habe das Gefühl, daß sich irgend was zusammenbraut“, meinte Snuffy, als sie sich mit den Armen faul über das Geländer einer Fenz flegelten und sich gelangweilt die Gegend beguckten. Tom Prox sagte nichts, und der Lange knurrte 35
wütend wie eine gereizte Bulldogge etwas in seinen Bart, das so ähnlich klang wie ,mundfauler Zeitgenosse’. Tom war manchmal nicht auszustehen. Man konnte dann anstellen, was man wollte, doch ein Gespräch mit ihm war nicht in Gang zu bringen. Schön, dann hielt Snuffy halt auch die Schnauze. Er sagte auch nichts, als er den einzelnen Reiter gewahrte, der sich von Westen her der Ranch näherte, obwohl Tom gerade in eine andere Richtung blickte und den Reiter bestimmt nicht gesehen hatte! So dachte Snuffy Patterson. Er brachte es sogar übers Herz, auch dann noch den Mund zu halten, als der ,Reiter’ so nahe heran war, daß man ihn als Reiterin erkennen konnte. „Glotz nicht so auffällig nach dem Mädchen hinüber“, ließ sich auf einmal Tom Prox vernehmen, „möchte mir das Girl nämlich lieber mal so ganz unauffällig ansehen.“ Goddam! So hatte er sie also doch gesehen, obwohl er den Kopf in eine ganz andere Richtung drehte. Man hatte den Eindruck, dieser Polizeihäuptling könne sogar um die Ecke sehen. Unmöglicher Mensch, dieser Tom Prox – manchmal! Das Girl war in den Hof geritten. Irgendwo tauchte Innskeep auf und lief eilenden Schrittes auf sie zu. „Komm!“ sagte Tom Prox nur und wandte sich um. Wie zufällig schlenderten sie hinten an den Stallungen vorbei, um das Bunkhaus herum, und gelangten auf den Hof. Sie waren etwa zwanzig Schritte entfernt, als der Vormann der hochgewachsenen, sehr selbstbewußt auftretenden Lady aus dem Sattel half. „Hallo, Miß Huntley – mal wieder ganz allein unterwegs?“ hörte man Innskeep flöten; es war deutlich herauszuhören, daß er sich Mühe gab, die höflichste Platte aufzulegen. „Wie Sie sehen“, erwiderte das Girl mit auffallend tiefer, beinahe männlich klingender Stimme. „Wollte mich nur mal ’n bißchen umhören, was man sich in dieser Gegend so erzählt. Sie wissen, wir haben wieder einige Transporte laufen.“ 36
In diesem Augenblick gewahrte der Vormann die beiden Neuen. „He, ihr Tagediebe, was lungert ihr denn hier herum – habt wohl nichts Besseres zu tun, als hier Maulaffen feilzuhalten?“ Jetzt sah sich auch Miß Huntley um; Tom Prox schien es, als hafte ihr Blick – ein sehr merkwürdiger Blick übrigens – etwas zu lange an den beiden Colts, die ihnen reichlich tief an den Hüften baumelten. Etwas zu spät stieß Tom den Langen in die Seite. Snuffys loses Mundwerk war bereits mit ihm durchgegangen. „Erraten“, rief er zurück und deutete auf den Vormann, „sollen wir Ihnen mal ’n Prachtexemplar von ’nem Maulaffen vorführen, Miß?“ Miß Huntley wandte sich empört ab. „Gehören diese unverschämten Burschen etwa auch zur Ranch, Mr. Innskeep?“ In ihrer Stimme schwang ein Ton höchster Entrüstung. „Erst seit kurzem, Miß Huntley. Die muß ich mir erst noch ein bißchen ziehen. Besonders das lange Laster. Entschuldigen Sie ’nen kleinen Augenblick, bitte …“ Der Vormann griff einen in der Nähe liegenden Holzknüppel auf und rannte wie ein Amokläufer auf Patterson zu. „Dir werd’ ich die Flötentöne beibringen!“ brüllte er und holte zum Schlage aus. Snuffy machte einen großen Schritt nach vorn, wiegte den Oberkörper zur Seite und stieß die flache Hand vorwärts – das alles geschah mit solcher Geschwindigkeit, daß der Schlag in die Luft ging und Innskeep, ehe er wußte, wie ihm geschah, über das vorgestellte Bein nach hinten schlug und genau auf der Stelle, wo der Rücken seinen anständigen Namen verliert, in einem großen Haufen Pferdemist landete. Das Gesicht des Vormannes wurde weiß wie eine gekalkte Wand. Seine Rechte fuhr zum Holfter. Da mischte sich Tom Prox ein. „Laßt das, Boß. Wollen’s nicht übertreiben. Mit dem 37
Burschen hier rechne ich ab! Aber nicht in Gegenwart einer Lady – hinter dem Stall. Komm, troll dich, du langes Kunstdüngerprodukt.“ Es kostete Innskeep allerhand Selbstüberwindung, den Colt steckenzulassen. Die Sicherheit des Neuen und dessen unmißverständlicher Griff ans Leder halfen ein wenig nach, ihn vor größeren Unbesonnenheiten zu bewahren. Miß Huntley blickte den beiden feindselig nach, als diese sich entfernten. Irgendwie schien ihr weiblicher Instinkt in diesen beiden Männern keine Freunde zu wittern. Als sie außer Sicht und Hörweite waren, empfing Snuffy noch einen zweiten Rippenstoß, nachdem der erste leider zu spät gekommen war. „Daß du auch nie deine lose Revolverschnauze halten kannst! Weißt doch, was wir hier darstellen – Innskeep ist gegenwärtig unser Boß!“ „Boß hin – Boß her! Kann einem doch mal was rausfahren. Und außerdem läßt sich ein Snuffy Patterson noch lange nicht von jedem Lackel Tagedieb titulieren. – Von keinem Lackel von Boß“, fügte er nach einer kurzen Kunstpause vieldeutig hinzu. Tom Prox murmelte nur noch „Hoffnungsloser Fall“, dann wandte er seine Aufmerksamkeit den beiden Reitern zu, die jetzt in scharfem Trab aus der gleichen Richtung wie vorher Miß Huntley auf die Ranch zu hielten. Diesmal warteten die beiden Ghosts nicht, bis die Reiter den Hof erreicht hatten, sondern gingen ihnen ein Stück entgegen. Als die Männer näher heran waren, zügelten sie ihre Pferde. Sie hatten die beiden, und diese sie sofort erkannt. Es waren zwei von den Banditen, die gestern Tim Savage begleitet hatten. „Hallo – hoffe, habt euch ebenso gut eingelebt wie euer Freund Ben“, rief einer der beiden ihnen freundlich zu und 38
kramte in seiner Satteltasche. „Hier – hab’ euch auch was Gutes mitgebracht von ihm – der Mann denkt wenigstens an seine Genossen aus mageren Zeiten.“ Snuffy fing das Päckchen auf und bremste gerade noch rechtzeitig seinen harten Zugriff ab, als er spürte, daß etwas Weiches in dem Papier eingewickelt war. „Wo ist Innskeep?“ Tom Prox deutete mit dem Daumen über seine Schulter nach dem Hof. „Dort. Hat aber gerade Damenbesuch.“ „Um so besser. So long, Gents!“ Als Tom den beiden nachblickte, sah er jedoch, daß sich der Damenbesuch gerade in der entgegengesetzten Richtung von der Ranch entfernte. „Goddam – was hat uns der Kleine denn da mitgeschickt?“ Snuffy Patterson wickelte neugierig das Päckchen auf. „Napfkuchen! Armer Sergeant Closter, bist wohl übergeschnappt!“ Auch der Ghostchef starrte verwundert auf die bereits zerdrückten Kuchen, konnte sich zunächst jedoch noch keinen Vers darauf machen. „Was sollen wir denn mit den Dingern? Werden ja wohl nicht vergiftet sein“, rätselte der Lange weiter. „Kaum anzunehmen, wenn sie von Ben sind. Das beste, wir essen sie – zu einem anderen Zweck wird sie der Kleine wohl kaum mitgeschickt haben.“ In Snuffy Pattersons riesigem Rachen verschwand gleich ein halber Kuchen, und auch Tom Prox biß herzhaft hinein. „Schmecken übrigens ausgezeichnet – wenn die Ben selbst gebacken hat, alle Achtung!“ sagte der Lange mit vollen Backen. Plötzlich fing er an zu würgen. „Pfui Teufel! Was ist denn das? Goddam – Papier!“ „Um Gottes willen, schluck’s nicht runter!“ zischte Tom, dem auf einmal eine Erleuchtung gekommen war. 39
Snuffy Patterson spuckte ein mehrfach zusammen-gefaltetes, pergamentartiges Stück Papier aus. Ein gleiches Stück trat aus dem von Tom Prox angebissenen zweiten Kuchen zutage, als man den Rest auseinanderbrach. Die Ranger falteten die beiden Papierstücke auseinander, doch sie schienen unbeschrieben. „Brauchen ein kleines Feuerchen – aber an einer Stelle, wo uns keiner sehen kann“, sagte der Ghostchef. „Schaff etwas trockenes Holz bei – nicht viel. Ein paar kleine Stücke genügen. Und Stroh.“ Eine gut versteckte Stelle war bald gefunden, und Snuffy Patterson kramte aus seinen Hosentaschen die rasch aufgelesenen Holzspäne und trockenes Stroh hervor und schichtete einen winzigen Scheiterhaufen auf. Behutsam hielt Tom Prox die Papierstücke über das brennende und glimmende Holz. „Donnerwetter, der Kleine hat Köpfchen“, murmelte der Lange, als auf dem Papier hellbraune Zeichen, wenn auch nur ganz blaß, sichtbar wurden. „Nimm dir ’n Beispiel. Du siehst, es geht auch ohne chemische Geheimtinte. Zitronensaft erfüllt zur Not denselben Zweck.“ Der eine Zettel enthielt eine Skizze, auf der gut zu erkennen war, wo sich Ben zur Zeit befand und wie man von der Stelle aus, wohin die Bande durch Snuffys Schüsse fälschlicherweise gelockt worden war, zu dem Barackenlager gelangte. Auf dem anderen Zettel waren dünn die Worte gekritzelt: „Bin hier Küchenbulle. Heiße Ben Walcott. Kid James belauscht. Überfall auf Transporte geplant. Einzelheiten nicht bekannt. Indio unschädlich gemacht.“ „Die scheinen wohl auf jeden Neuen erst mal die Rothaut zu hetzen. Falls Ben noch etwas von ihm übriggelassen hat und die sollten das auch mal bei mir versuchen, dann zieh’ ich dem Kannibalen das Mark aus sämtlichen Knochen“, sagte Snuffy geschwollen. 40
„Wird wohl nicht nötig sein. Ben leistet in dieser Beziehung ganze Arbeit! Der Indio war ’ne große Gefahr für uns.“ „Was heißt schon große Gefahr! Hättest ihn gleich mir überlassen sollen. Was konnte der uns schon anhaben?“ „Hm – allerhand. Deinem Scharfblick ist wohl entgangen, wie er plötzlich auf die von dir erlegte Schlange stierte. Ich wette deinen Kopf gegen Bens alte Hose, der Indio hat in diesem Augenblick ganz richtig kombiniert und durchschaut, daß die Schüsse auf die Schlange abgegeben worden waren und mit den von den Banditen erwarteten Signalschüssen gar nichts zu tun hatten.“ „Hm – wenn das so ist …“, erwiderte Patterson etwas kleinlaut und winkte mit seiner schaufelartigen Rechten den beiden Reitern zu, die soeben aus dem Hof geritten kamen und in nordöstlicher Richtung davongaloppierten. – Tim Savage war wie gewöhnlich in miesester Stimmung und fluchte unaufhörlich, daß Sam und Bob noch nicht von der Diana-Ranch zurück waren. Zehn Minuten wartete er schon mit den anderen an dem vereinbarten Treffpunkt. Zehn Minuten zu warten, war für Tim eine arge Zumutung. Und als aus den zehn Minuten gar eine volle Stunde wurde, tobte er wie ein Irrer und ritt mit drohend geschwungener Bullpeitsche den beiden entgegen, als diese endlich völlig abgehetzt herangaloppiert kamen. Erst als sie ihm gleich etwas von Kid James entgegenriefen, mäßigte er seinen Wutausbruch. „Was ist mit Kid James, zum Donnerwetter?“ brüllte er zurück, ließ jedoch die Bullpeitsche sinken. „Mußten noch mal zur Diana-Ranch zurückreiten, Boß – auf Befehl von Kid James!“ „Wo habt ihr ihn getroffen?“ „Ganz in der Nähe des Ranchhauses – knappe Stunde entfernt.“ „Und was war los auf der Diana-Ranch? Weshalb hat er euch zurückgeschickt?“ 41
„Um Innskeep Bescheid zu sagen. Die beiden Neuen – Jonny Lingham und Louis Madden heißen sie übrigens – sollen zu Punkt elf und die Wagen bewachen. Sei ’n Himmelfahrtskommando – wegen Red Kerry und seinen Leuten. Um die Neuen sei es aber nicht so schade.“ „Verdammt noch mal – immer wieder diese Red KerryBande! Möchte wissen, wann wir endlich mal mit diesem Gesindel aufräumen dürfen. Kid James ist doch sonst über alles informiert – der müßte doch ihren Schlupfwinkel kennen.“ __________ Rapid City war für die damaligen Verhältnisse eine moderne Stadt mit breiten Straßen und stattlichen öffentlichen Gebäuden. Seine Bürger galten als besonders solide, beinahe spießig, und die Leute behaupteten, das Gefängnis unterhalte man eigentlich nur für die Fremden. Zeitungsberichte wie ,Die dickste Kartoffel, die je in Conata gewachsen ist’ oder ,Die Zucht von Seeanemonen’ gehörten in Rapid City schon zu den Sensationsartikeln der lokalen Presse. Dabei stieg die Wohlhabenheit des Bürgertums von Jahr zu Jahr, denn die kleine Stadt versorgte praktisch ein ungeheures landwirtschaftliches Gebiet mit lebensnotwendigen Gütern in einem Umkreis bis zu zweihundert Meilen. Auf der Main Street herrschte an Werktagen ein beinahe großstädtischer Verkehr. Leute in Rancher- und Cowboykleidung sah man im Stadtzentrum immer seltener, dagegen fiel zum Beispiel das nach der neuesten New Yorker Mode gekleidete, tizianrote Girl, das soeben aus einem kleinen LunchRoom trat, unter den durchweg gut und städtisch gekleideten Passanten weniger auf. Man hätte sie für eine der zahlreichen, gutbezahlten Sekretärinnen der Handelshäuser halten können. Kein Mensch, der ihr begegnete, hätte geahnt, daß sich in ihrer 42
eleganten Handtasche aus sündhaft teurem Krokodilleder so eigenartige Dinge wie ein scharfgeladener Derringer, eine Polizeimarke und ein Ausweis der Ghost Squad, Special Police Washington, auf den Namen Ruby Long verbargen. Ruby Long, die zufällig einen Auftrag in Bismarck im Staate North Dakota erledigt hatte, war auf ein Telegramm des Ghostchefs hin in wenigen Stunden in Rapid City gewesen und hatte im Laufe des Vormittags schon einige ganz interessante Dinge in Erfahrung bringen können. Es gab in der Stadt fünf bis sechs große Handelshäuser, die die Landbezirke bis zum Missouri belieferten. Eines davon war die Firma Huntley & Smith. Ihr zweiter Teilhaber Smith war schon vor längerer Zeit ausgeschieden. Huntley war vor einigen Jahren verstorben und hatte das Geschäft seiner einzigen Tochter Suzanne hinterlassen. Das damals kaum über zwanzig Jahre alte Mädchen hatte zunächst mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen, da sie nicht über genügend Geschäftserfahrung verfügte, um sich der Konkurrenz gegenüber zu behaupten. Man erzählte sich, daß die Firma einmal kurz vor dem Bankrott gestanden haben soll. Dann aber hatte sie sich plötzlich wieder hochgerappelt und stand heute, was das Landgeschäft anging, besser da als manche andere. Denn die Firma Huntley & Smith hatte bisher noch stets ihre Kunden pünktlich beliefert, während die anderen Firmen immer nachlässiger wurden und behaupteten, ihre Wagentransporte seien zwischen Ausladebahnhof und Bestimmungsort spurlos verschwunden und vermutlich Räuberbanden in die Hände gefallen. Hieran glaubte jedoch die Kundschaft nicht so recht, zumal Suzanne Huntleys Transporte immer pünktlich ankamen und von niemandem belästigt wurden. Man hielt das entweder für Schlamperei der Lieferfirmen oder für mangelhafte Auswahl des Transportpersonals, denn in einzelnen Fällen war festgestellt worden, daß diese die Fahrzeuge einfach stehengelassen hatten und mit den Zugtieren verduftet 43
waren. Suzanne Huntley gewann daher mehr und mehr die Sympathie der kleinen Nester und Rancher und einen großen Teil der Kundschaft der Konkurrenz noch dazu. Ruby Long hatte sich vorgenommen, der geschäftstüchtigen Suzanne unter irgendeinem Vorwand ihre Aufwartung zu machen, um ein bißchen bei ihr herumzuspionieren. Schließlich hatte Tom Prox ihren Namen schon in dem Telegramm erwähnt, und wenn der Captain das tat, hatte das meistens besondere Gründe. Das recht ansehnliche Wohnhaus der Huntleys lag am Ende der St. Joe Street und war von einem gepflegten Garten umgeben. Der Eingang befand sich an der Seite, und die Agentin mußte an einigen, zu ebener Erde gelegenen Zimmern vorbei, deren Fenster geöffnet waren. Plötzlich verhielt sie den Schritt und spähte interessiert durch eines der Fenster. Der Raum, in den sie blickte, war eine Art Kontor mit Aktenregalen, Schreibtisch und einem großen Tresor. Dieser war geöffnet; ein altes, dürres Männchen mit schlohweißem Haar, das offenbar etwas suchte, stand davor und kehrte Ruby Long den Rücken zu. Der Mann schien – bei seinem Alter nicht verwunderlich – schwerhörig zu sein, denn er hatte die auf dem Kiesweg deutlich vernehmbaren Schritte der Agentin anscheinend nicht gehört. Ruby Long starrte sekundenlang fasziniert in das obere Fach des Tresors und schenkte dem Tun des Alten wenig Beachtung; sie hätte sich wahrscheinlich an dem gleißenden Gold so bald nicht satt gesehen, wenn sich dieser nicht gerade in diesem Augenblick umgedreht hätte. Wie ein ertappter Schuljunge fuhr er zusammen und drückte sofort die schwere Tresortür zu. Hurtig kam er zum Fenster gewatschelt. „Eh – suchen Sie jemand, Miß?“ fragte er mit leiser, dünner Stimme und drehte Ruby Long ein Ohr zu, wobei er mit der Hand einen Ohrmuschelverstärker bildete. 44
Also doch schwerhörig, dachte Ruby, und dazu noch einer von der Sorte, die unverständlich leise sprechen. „Wollte zu Miß Huntley“, erwiderte die Agentin freundlich und neigte ihren Oberkörper über die Fensterbrüstung weit in das Zimmer hinein. Der Alte hatte verstanden, trat aber trotzdem noch einige Schritte näher, so daß die beiden ihre Kopie jetzt ganz dicht beieinander hatten. „Miß Huntley ist verreist – wird auch noch einige Tage fortbleiben. Kann ich etwas ausrichten?“ „Das überlege ich gerade. Sie sind wohl Ihr Stellvertreter?“ „Ja – eigentlich Privatsekretär. Das war ich schon bei ihrem Großvater!“ Der Alte blickte über den Rand seines Zwickers wohlgefällig auf die junge Agentin; er schien zu den älteren Leuten zu gehören, die für ihr Leben gern jüngeren aus der Vergangenheit erzählen. Das mußte sie ausnützen. „Sagen Sie, ich sah da im Tresor – ganz zufällig nur – eine kunstvoll gearbeitete, kleine, goldene Statue – ist die verkäuflich? Ich sammle nämlich derartige Dinge.“ Ruby Long war sich selbst nicht recht darüber im klaren, warum sie den Alten gerade nach der Statue fragte. War es weiblicher Instinkt – oder war es der außergewöhnliche Eindruck, den die goldene, unheimliche, dämonische Fratze bei ihr hinterlassen hatte? Sie hätte sich selbst darüber keine Rechenschaft ablegen können. Der Alte machte ein bestürztes Gesicht. „Um Gottes willen – den indianischen Götzen meinen Sie? Der würde Ihnen nur Unglück bringen!“ Jetzt war die Neugierde der Agentin vollends geweckt; sie war fest entschlossen, dem Alten das Geheimnis des goldenen Götzen zu entlocken. „Wieso?“ fragte sie mit unbekümmertem Lächeln. „Wie kann denn ein toter Gegenstand Unglück bringen?“ 45
„Oh, sagen Sie das nicht. Außerdem würde ihn Miß Huntley nie verkaufen. Obwohl mir manchmal wohler gewesen wäre, sie hätte ihn weggegeben.“ „Das verstehe ich nicht. Nun machen Sie mich aber richtig neugierig. Was kann denn schon an so einem Goldklumpen dransein – abgesehen von seinem Liebhaberwert?“ „Wenn Sie mir versprechen“ – der Alte sprach noch leiser – „wenn Sie mir versprechen, Miß Huntley nichts davon zu sagen – wissen Sie, sie hat nämlich nicht gerne, daß man darüber spricht –, dann will ich Ihnen die Geschichte des Götzen erzählen.“ „Aber natürlich sage ich nichts – auf mich können Sie sich verlassen.“ Der Alte rückte noch ein Stück näher heran und sprach so leise, daß die Agentin wie ein Foxterrier die Ohren spitzen mußte, um seine Worte überhaupt noch verstehen zu können. „Er stammt aus einem alten Inkaschatz, der goldene Götze. Ein Ring gehört auch noch dazu, auf ihm ist das gleiche Götzenbild eingeschnitzt – eine sehr kunstvolle Arbeit übrigens. Der Götze soll vor vielen hundert Jahren einem mächtigen Inkakönig gehört haben. Er vererbte sich von Generation zu Generation. Wer den Ring am Finger trug, war in jeder Schlacht unverwundbar, wenn die Statue zu Hause von den Frauen zu bestimmten Zeiten angebetet wurde. Überhaupt brachte der Götze der Familie, die ihn besaß, nur Glück – Männern wie Frauen. Ursprünglich – verstehen Sie?“ „Verstehe“, sagte Ruby Long, die atemlos der spannenden Erzählung des Alten lauschte, obwohl sie bis jetzt noch gar nichts verstand. „Und dann kam das große Unheil über den Stamm – durch die Treulosigkeit eines Weibes. Während einer der zahlreichen Fehden mit einem Nachbarstamm verliebte sie sich in einen gefangenen Häuptlingssohn, den man als wertvolle Geisel 46
geschont hatte. Sie befreite ihn und brannte mit ihm durch. Dabei nahm sie den Hausgötzen mit. Ihr Liebhaber wußte inzwischen über Stärke und Bewaffnung des feindlichen Lagers genau Bescheid, kehrte mit einer großen Anzahl Krieger zurück und machte alles nieder. Er tötete auch den Träger des Ringes im Kampf und nahm den Ring an sich. Der war jedoch von dem sterbenden Häuptling mit einem entsetzlichen Fluch belastet, den nach indianischer Auffassung der Götze diesem in den Mund gelegt hatte: Der goldene Götze sollte fortan nur noch Männern dienen und männlichen Besitzern Glück und Wohlstand, Frauen aber Tod und Verderben bringen. Schon an der treulosen Häuptlingsfrau bewahrheitete sich der furchtbare Fluch: Sie soll von einem Bären zerrissen worden seih und so ein entsetzliches Ende gefunden haben.“ „Und Sie meinen, dieser Fluch hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten?“ warf Ruby Long gespannt ein. „Ja – der goldene Götze wurde von Suzannes Großvater erworben. Niemand weiß recht, wie. Er brachte ihm und Suzannes Vater Glück und Erfolg. Beide achteten jedoch streng darauf, daß keine weibliche Hand den Götzen berührte. Als Suzannes Vater starb, wurde er so plötzlich vom Tode überrascht, daß er keine Verfügung mehr über das Totem treffen konnte. Er hätte es mit Bestimmtheit nicht ihr überlassen. Seine Tochter mißachtete den Fluch des Götzen und steckte den Ring sogleich an den Finger, als sie das Geschäft übernahm. Und Sie können es glauben oder nicht, daß es was mit dem Fluch zu tun hatte: Das Geschäft kam in kurzer Zeit an den Rand des Ruins.“ „Es hat sich aber doch wieder erholt“, wagte die Agentin schüchtern zu bemerken. „Ja, das hat es. Aber erst, nachdem Miß Huntley den Ring wieder abgenommen hatte.“ „Ach! Und wo ist der Ring jetzt?“ 47
„Niemand weiß es. Sie spricht nicht darüber. Jedenfalls trug sie eines Tages den Ring nicht mehr. Sie wollte auch nicht, daß man ihn noch jemals erwähnte, und wurde einmal ganz böse, als ich davon anfing. Ich nehme an, sie hat ihn in den Cheyenne oder in den White River geworfen. Die Statue aber steht seither unberührt hier im Tresor. Miß Huntley nimmt sie nie mehr in die Hand. Und seit dieser Zeit geht es mit dem Geschäft immer weiter aufwärts – es steht heute besser als zur Zeit des alten Huntley. Sie können es mir glauben, ich weiß Bescheid. Ich bin ein alter Mann, ich weiß Bescheid.“ Der Alte nickte wie zur Bekräftigung seiner eigenen Worte mehrmals mit dem Kopf. „Nun“, schloß er, „wollen Sie jetzt immer noch den goldenen Götzen erwerben?“ „Nein, nein, lieber nicht“, heuchelte Ruby Long mit besorgter Miene, „nach dem, was Sie mir erzählt haben, bestimmt nicht mehr! Manchmal ist doch etwas dran an diesen Geschichten.“ __________ Punkt elf war ein ideales Versteck für Fahrzeuge. Man hätte hier einen ganzen Güterzug verschwinden lassen können. Durch eine langgestreckte, mit kantigen Gesteinssplittern Übersäte Mulde gelangte man in einen Canon, der zwischen hohen, wie Hausmauern senkrecht abfallenden glatten Felswänden eingebettet lag. Der Canon mündete in ein breites Sohlental, das nach etwa vier- bis fünfhundert Schritten sanft anstieg und sich dann ohne Übergang in unpassierbaren Geröllhalden verlor. Ringsum war das Tal durch hohe, vielgestaltige Felsendome eingekesselt und zu Pferde oder mit Fahrzeugen nur durch den einen Canon erreichbar. „Haben uns ganz schön aufs Abstellgleis geschoben“, murrte Snuffy Patterson, „ob die vielleicht anfangen, Lunte zu riechen?“ 48
„Unwahrscheinlich. War nur dein loses Mundwerk dran schuld. Ist vermutlich so ’ne Art Strafversetzung.“ „So? Immer ich, natürlich! Einer muß es ja gewesen sein. Hast wohl nicht gesehen, wie die beiden Reiter zurückkamen? Die haben bestimmt den Einsatzbefehl für uns nachgeliefert. Wette meine alte Hose gegen deinen alten Hut, daß Innskeep das nicht von sich aus gemacht hat. Das kam von oben!“ „Deshalb kann deine Schnauze doch den Ausschlag gegeben haben. Haben ja schließlich noch andere Leute zugehört, nicht wahr?“ „Wer denn sonst noch?“ „Na, zum Beispiel …“ Tom Prox hielt plötzlich inne und lauschte angestrengt in die Nacht. „Hörst du was?“ „Ja – schätze, sie kommen. Klingt wie das Knirschen von Rädern auf Steinen. Du hast dich immer noch nicht entschieden, was wir nun machen. Bin dafür, wir nehmen die ganze Bande fest. Wenn sie jetzt mit den Überfallenen Fahrzeugen ankommen, haben wir doch alle Beweise in der Hand.“ „Du vergißt, daß auch noch die Red Kerry-Leute existieren. Wir müssen die ganze Gegend säubern, damit die Leute Ruhe haben. Wir haben ja Zeit. Uns läuft keiner weg.“ „Wollen’s hoffen.“ Snuffy staunte immer wieder über die Ruhe, mit der der Ghostchef an die Dinge heranging. Er, Snuffy Patterson, war stets für rasches Zuschlagen. Na ja, jeder nach seinem Geschmack! Jetzt hörte man das Knirschen der Räder am Ausgang des Canons schon deutlich, und die beiden Ranger, die sich auf einem Stein niedergelassen hatten, erhoben sich und starrten in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Zuerst hoben sich die schwarzen Umrisse eines einzelnen Reiters aus dem Dunkel. Es folgten zwei weitere, 49
hintereinander kamen drei von Maultieren gezogene Planwagen und noch einige Berittene. Während die Wagen fast bis ans Ende des Sohlentales fuhren, kam der Reiter an der Spitze, gefolgt von einem zweiten, auf die beiden Ghosts zugesprengt. „Das sind die beiden Neuen, Boß – Jonny Lingham und Louis Madden“, rief eine rauhe Stimme, die die beiden sofort als diejenigen von Tim Savage erkannten. „Aha – wahrscheinlich der Oberboß höchst persönlich – James Kid Hall“, flüsterte Snuffy Patterson kaum hörbar und neigte sich zu dem Ohr des Ghostchefs hinab. Die beiden Reiter hatten jetzt dicht vor ihnen haltgemacht. Während man Tim Savage trotz der Nacht gut erkennen konnte, war von dem Gesicht des anderen nicht viel zu sehen. Er trug einen besonders breitkrempigen Stetson, der tief in die Stirn gezogen war und fast wie das herunterklappbare Visier eines Ritterhelmes die ganze obere Gesichtspartie verdeckte. Seine Kleidung war dunkel, die Gestalt schlank und jungenhaft. Die ganze Erscheinung wirkte mehr wie diejenige eines frühreifen Jünglings und stach auffaltend von dem vierschrötigen, derbknochigen Tim Savage ab. Die nicht unangenehme, ein wenig versteht klingende Stimme verstärkte diesen Eindruck, als er jetzt die Ranger ansprach: „Ihr beiden übernehmt die erste Wache. Die Fahrzeuge werden nicht angerührt. Ihr habt nur dafür zu sorgen, daß sie keiner wegholt. Der Canon ist gut zu verteidigen, von dort drüben habt ihr ausgezeichnetes Schußfeld. Von den anderen Seiten droht keine Gefahr. Morgen nacht werdet ihr abgelöst. Die Parole lautet: Manitu. Auf jeden, der die Parole nicht weiß, wird sofort das Feuer eröffnet. Nehmt euch besonders vor den Red Kerry-Leuten in acht. Denn die gehörten früher zu uns und kennen unsere Schliche. Außerdem haben sie den Finger verdammt schnell am Drücker.“ 50
„Habt ihr gehört?“ schnauzte Tim Savage. „Dann schreibt’s euch hinter eure ungewaschenen Ohren. Das ist sozusagen eure Bewährungsprobe. Müßt erst mal beweisen, ob ihr zu was nütze seid.“ Während der Vormann sprach, zündete sich Kid James eine Zigarette an. Dabei fielen ihm zwei Streichhölzer aus der Hand, denn er trug dicke Lederhandschuhe und behielt sie auch beim Rauchen an. Die Banditen arbeiteten mit einer vermutlich lange geübten Routine, und binnen weniger Minuten waren die Ghosts wieder in dem Sohlental allein. Die Wagen waren am Rande des Tales zwischen einzelne Felszacken geschoben, die Maultiere hatten die Banditen mitgenommen. „Denke, wir sehen uns erst mal die Wagen an“, schlug Snuffy Patterson vor und wollte sich zu dem Versteck in Bewegung setzen. Doch Tom Prox blieb stehen und sagte nichts. Er machte einige Schritte nach der Stelle hin, wo kurz vorher das Pferd von Kid James gestanden hatte, bückte sich und suchte mit der Taschenlampe den Boden ab. Dann hob er etwas auf und betrachtete es interessiert. Es war ein kurzes Wachszündholz. Snuffy Patterson, der hinzugetreten war, schüttelte verwundert den Kopf und zuckte verständnislos mit den Achseln. __________ Der Mann, der soeben als einer der ersten Gäste den Saloon von Fairburn betreten wollte, hatte ein richtiges Galgenvogelgesicht. Seine Wangen waren eingefallen und aschfahl von der vielen gesiebten Luft, die er schon geatmet hatte. Auch sein scheuer, wachsamer Blick verriet den ehemaligen Sträfling, der ständig irgendwelche verbotenen Heimlichkeiten zu verbergen hat und sich umsieht, um nicht von den Wärtern ertappt zu werden. In 51
der Freiheit hatte dieser Blick den Vorteil, daß ihm nichts, aber auch nicht das geringste entging. So war ihm soeben gleich das hübsche, flotte Girl aufgefallen, das da die Straße entlangschlenderte, und er zog den Fuß, der bereits über die Schwelle des Saloons getreten war, rasch wieder zurück. „Na, Teddy – trinken wir einen!“ sagte ein anderer, der sich gerade an ihm vorbeidrängelte, und klopfte ihm auf die Schulter. „Später“, murmelte der Angesprochene nur und wandte sich ab. Teddy Flint war Herr seiner Zeit – jedenfalls im Augenblick wieder. Die Freiheit mußte genossen werden, solange der kleine Vorrat reichte. Warum sollte man da zur Abwechslung nicht einmal einem netten Girl nachsteigen? Die Kleine mußte hier fremd sein, sonst müßte er sie kennen. Teddy kannte alle Leute in Fairburn. Vielleicht konnte man sich ihrer ein wenig annehmen. Geld hatte er auch in der Tasche. Denn er verdiente zur Zeit ganz gut mit so einer Art ,Arbeitsvermittlung’. Er kannte weit und breit sämtliche lichtscheuen Elemente, die für entsprechende Bezahlung für alles zu haben waren; er hatte auch gute Beziehungen zu Leuten, die solche Arbeitskräfte suchten. Er brauchte nur den Vermittler zu spielen und bekam dafür zwar keine Riesensummen, aber immerhin genug, um ohne Arbeit anständig essen und vor allem seinen ewigen Durst entsprechend löschen zu können. Das kesse Girl schien übrigens eine ganz Raffinierte zu sein. Es war gar nicht so leicht, ihr unauffällig zu folgen. Zunächst hatte Teddy Flint, der auf Grund seiner reichen Lebenserfahrungen bei allem sehr vorsichtig zu Werke ging, noch nicht die Absicht, sich ihr bemerkbar zu machen. Er wollte erst einmal sehen, wohin sie sich wandte. Anbändeln konnte er dann mit ihr immer noch. Donnerwetter! Das sah’ ja ganz so aus … Hm – sehr seltsam! 52
Teddy entfuhr ein leiser, erstaunter Fluch, denn das Girl steuerte direkt auf das Office des Sheriffs zu. Das mußte man doch mal feststellen, was dieser reizende Käfer beim Sheriff zu suchen hatte. Für Teddy Flint war das kein großes Problem. Er hatte sich im Laufe seiner langjährigen Bekanntschaft mit den Strafverfolgungsorganen erstklassige Kenntnisse aller Einrichtungen erworben, in die man aus irgendeinem Grund eingesperrt werden konnte. So war ihm auch der ganze Grundriß und Aufriß des Sheriffshauses wohl vertraut. Er wußte genau, wie man ungesehen von hinten an das Haus, von dort in einen Keller und über eine nie benutzte Hintertreppe durch ein schmales Fenster in ein kleines Gelaß gelangen konnte, das sich unmittelbar neben dem Office befand und zur Aufbewahrung alter verstaubter Akten und sonstigen Krimskrames diente. Er wußte auch, daß das Gelaß stets verschlossen und das Schloß so verrostet war, daß man längst wieder über alle Berge sein konnte, bevor die Tür aufsprang. Von diesem kleinen Raum aus konnte man jedes Wort verstehen, das in dem Office gesprochen wurde, wenn man das Ohr an die Tür legte. Teddy Flint preßte das Ohr ganz fest an das rauhe, trockene Holz, so fest, daß es ihn schon schmerzte. Denn was er da zu hören bekam, das war hochinteressant und ließ ihn fast das Atmen vergessen. – Ruby Long wurde von Sheriff Crosby zunächst recht kühl empfangen. Denn Crosby war ein alter, eingefleischter Junggeselle und hegte gegen alle netten Girls, die er zum erstenmal sah, den Verdacht, daß sie einen Anschlag auf sein Junggesellentum planten. Als Ruby Long sich jedoch auswies und er sah, mit wem er es in Wirklichkeit zu tun hatte, war er wie umgewandelt. „Kompliment“, sagte er mit einer beinahe großstädtischen Gewandtheit, die man einem Landsheriff gar nicht zugetraut 53
hätte, „hätte mir eine Agentin der Ghost Squad ganz anders vorgestellt.“ „So? Wie denn zum Beispiel?“ lachte die Agentin. Der Sheriff wurde verlegen. „Nun – so’n bißchen als – hm – als Mannweib.“ Ruby Long lachte noch heller auf. „Aber das bin ich doch auch. Und Sergeant Patterson ist fest davon überzeugt. Sollten mich nur mal auf ’nem Gaul sitzen und mit ’nem Colt hantieren sehen!“ Nach diesen einleitenden Worten wurde der Sheriff sachlich und weihte die Agentin in alles ausführlich ein. Denn er sah keinen Grund, warum er der engsten Mitarbeiterin des Ghostchefs gegenüber mit irgend etwas hinterm Berg halten sollte. So erfuhr denn Ruby Long auch, welche Rolle die drei Ghosts zur Zeit spielten und daß Jonny Lingham und Louis Madden in Wirklichkeit hinter Schloß und Riegel saßen, während man Ben Walcott in aller Stille mit einigen verschwiegenen Leuten an Ort und Stelle unter die Erde gebracht hatte. Der gesprächige Crosby berichtete das alles sehr ausführlich und mit klarer, deutlicher Stimme. Er konnte natürlich nicht wissen, daß in seinem Office in diesem Augenblick die Wände im wahrsten Sinne des Wortes Ohren hatten. „Wissen Sie, Sheriff, wie ich Captain Prox am schnellsten erreichen kann?“ fragte Ruby Long, nachdem Crosby seinen Bericht beendet hatte. „Keine Ahnung, Miß Long! Ich nehme jedoch an, daß er sich im Laufe des Tages hier zeigen wird. Haben Sie denn etwas sehr Dringendes für ihn?“ „Hm – ob es sehr dringend ist, wird nur der Captain selbst beurteilen können. Ich habe in Rapid City einige interessante Dinge erfahren, die ich ihm gerne mitteilen wollte.“ „Dann wird es das beste sein, wenn Sie hier auf ihn warten. 54
Captain Prox wird bestimmt über kurz oder lang bei mir auftauchen.“ Ruby Long brauchte nicht sehr lange zu warten. Denn Tom Prox näherte sich bereits um die gleiche Stunde von Osten her dem Cheyenne River und befand sich auf dem Wege nach Fairburn. Etwa fünf Meilen vor dem Town begegnete ihm ein einzelner Reiter, der es sehr eilig zu haben schien und sein Pferd schonungslos in mörderischem Galopp über die holprigen, steinigen Trail hetzte. Tom Prox fluchte ärgerlich hinter dem Pferdeschinder her und hätte ihm am liebsten eine Lektion erteilt. Doch hierzu hatte er keinen dienstlichen Anlaß, obwohl sich ein Mann, der es so eilig hatte, damit immer irgendwie verdächtig machte. – Ben Closter tat der Indio allmählich leid. Nun war er schon den zweiten Tag mit ihm allein und verarzte ihn in regelmäßigen Zeitabständen mit Whisky. Denn er durfte ihn unter keinen Umständen nüchtern werden lassen. Nachdem die Bande gestern weggeritten war, hatte er sich erst einmal einen genügenden Whiskyvorrat verschafft. Das ließ sich einfach bewerkstelligen, indem er aus der Kiste einige Flaschen entnahm, sie umfüllte und nachher mit Wasser gefüllt ganz unten in die Kiste zurückpackte. Tim Savage würde wahrscheinlich nicht mehr dazu kommen, sich bis zu den unteren Flaschen durchzusaufen, um den Schwindel zu merken. Der Indianer bekam regelmäßig alle Stunden sein halbes Wasserglas voll Whisky und dazu ein wenig Büchsenfleisch. Je näher die Zeit rückte, in der die Bande wieder eintreffen mußte, um so größer wurde die Ration, mit dem Erfolg, daß bei dieser Behandlung Bens Patient genau noch so benebelt war wie am Morgen. Mit verglasten Augen wälzte der sich immer noch lallend auf seinem Lager, als Tim Savage nach ihm sah; er hätte ihm vor 55
Wut am liebsten ins Gesicht gespuckt. Doch Ben Closter besänftigte ihn. „Ist ’ne schwere Alkoholvergiftung, Boß – dauert mindestens seine drei, vier Tage, dann ist er wieder okay“, sagte er und machte dazu ein Gesicht wie der Chefarzt einer Trinkerheilanstalt. Vorsichtshalber hatte der Sergeant den Indio in seine Baracke geschafft, damit er ihn auch des Nachts unter Aufsicht hatte und die Behandlung fortsetzen konnte. Dann war Tim Savage mit seinen Leuten wieder aufgebrochen. Bens Hauptsorge war, den Indio in seinem Zustand zu erhalten, und was er heute abend auf den Tisch bringen sollte. Er hatte inzwischen erfahren, daß Tom Prox und Snuffy Patterson die Napfkuchen erhalten hatten, und wußte nun auch, daß sie bei Punkt elf Wache schoben. Sam hatte ihm das erzählt. Für alles Weitere war nun der Captain verantwortlich. Er selbst konnte vorläufig nichts anderes tun als abzuwarten. Am Nachmittag kramte Ben Closter gerade in dem Vorratsschuppen herum, um das Menü für die Bande zusammenzustellen, als er den Hufschlag eines herangaloppierenden Pferdes vernahm. Sofort trat er ins Freie und hielt nach dem sich rasch nähernden Reiter Ausschau. Binnen einer halben Minute war der Mann heran, ein hohlwangiger, wenig vertrauenerweckender Typ, den er noch nicht bei den anderen gesehen hatte. Ben Closter nahm vorsichtshalber die Hände ans Leder. Der Mann war völlig außer Atem und sprach abgehackt und aufgeregt. „He – wo ist Tim Savage – muß sofort mit ihm sprechen – oder mit Kid James – ist egal! Wichtige Nachricht – sehr wichtige Nachricht …“ „Tut mir leid – da habt Ihr Pech“, erwiderte Ben Closter und musterte den anderen aufmerksam, „die Gents sind heute morgen weg und kommen nicht vor Mitternacht zurück. Kann Euch nicht sagen, wo sie stecken …“ 56
„Goddam – habt Ihr wenigstens ’ne Ahnung, in welcher Richtung sie sind?“ „Nicht die geringste.“ Der andere betrachtete Ben Closter plötzlich mit einem eigenartigen Interesse. „Wer seid Ihr denn überhaupt?“ fragte er schließlich ohne besondere Betonung und steckte sich eine Zigarette an. Der Sergeant zögerte einen Moment. „Ich bin Ben Walcott“, sagte er dann, hatte jedoch irgendwie ein ungutes Gefühl dabei und war froh, seine Fäuste auf den Kolben der Sechsschüssigen liegen zu haben. Das Gesicht des anderen blieb unbewegt. „Hab’ schon von Euch gehört. Seid wohl noch nicht lange bei Tim Savage? Ist auch egal, jedenfalls muß ich Tim oder Kid James finden. Habt Ihr nicht wenigstens was zu trinken für mich, bevor ich weiterreite? Verdammt heiß heute.“ Er sprang aus dem Sattel und trat einen Schritt näher an Ben heran. „Könnt etwas kalten Tee haben – dort geh’s rein.“ Ben Closter blieb immer noch mißtrauisch und ließ den Mann vorgehen. Wachsam verfolgten seine Augen jede Bewegung des anderen, als man in den Vorraum der Küchenbaracke trat, sehr wachsam sogar, doch offenbar nicht wachsam genug, denn um den Bruchteil einer Sekunde später saß er in der Patsche. „Hands up, Sergeant Closter!“ brüllte der Mann, der blitzschnell herumgeschnellt war, und bohrte dem Ranger die Mündung des Colts genau in den Nabel. Ben hatte die Fäuste immer noch an den Colts. Doch wenn man das Blei schon so halbwegs im Bauch fühlt, zieht man nicht mehr gern, weil man in neunhundertundneunzig von tausend Fällen damit zu spät kommt. In den verwüsteten Zügen des anderen stand eisiger Hohn; seine Stimme vibrierte in öligem Triumph. „Nette Überraschung, Bruder – nicht wahr? Bißchen Pech gehabt, he? Bin 57
nämlich zufällig Teddy Flint und weiß, daß Sie meinen Freund Ben Walcott längst verscharrt haben. Teddy Flint weiß alles – auch über die beiden anderen Schnüffler, einen gewissen Captain Tom Prox und dessen Sergeant Patterson. Hatte zwar noch nicht die Ehre, habe aber viel von den beiden gehört. Meine Freunde, die heute noch sitzen und das dieser verdammten Ghost Squad zu verdanken haben, werden mir ’n Verdienstkreuz umhängen, wenn ich nun endlich mit euch Spürhunden aufräume. Verstehst jetzt wohl auch, warum ich so schnell Tim Savage oder Kid James erreichen muß, wie?“ In diesem Augenblick drang aus der Küchenbaracke ein lautes, gräßliches Jaulen, wie es der Indio von Zeit zu Zeit von sich gab. Unwillkürlich schreckte Teddy Flint zusammen und zuckte zurück, als ob er sich gegen eine von hinten drohende Gefahr sichern müsse. Diese kurze Ablenkung reichte Ben Closter. Wie ein Vorschlaghammer sauste seine schwere Faust herab und traf Teddy am Handgelenk. Krachend schlug der Colt zu Boden, ohne daß sich aus der Waffe ein Schuß löste. Die fast gleichzeitig erfolgte Detonation rührte vielmehr aus der zweiten Waffe her, die Teddy schnell gezogen hatte. Der Schuß ging in die Luft, denn Ben Closter hatte mit der Linken im selben Moment das Handgelenk des Gegners erfaßt und drückte den Arm nach oben. In dem kurzen Ringen, das sich entspann, mußte Teddy mit schmerzverzerrtem Gesicht auch den zweiten Colt fallenlassen. Wo Ben zufaßte, da legte es sich wie eine riesige eiserne Klaue um die Glieder des Gegners. Teddy Flint hatte nicht umsonst in jahrelanger Zelleneinsamkeit mit den Schicksalsgefährten alle möglichen Tricks ausgetauscht und geübt. Auch er wußte sich mit den raffiniertesten Jiu-Jitsu-Griffen geschickt zu verteidigen. Minutenlang rangen die Männer verbissen miteinander, Da gelang es Teddy Flint, sich für einen Moment aus den Fangarmen des kleinen untersetzten Rangers freizumachen und 58
diesen einen Schritt zurückzustoßen. Mit einem flinken Satz nach rückwärts war er im Freien und schlug krachend die Tür der Baracke zu. „Hell and damnation!“ fluchte Ben Closter, dem die Tür beinahe die Nase plattgedrückt hätte. Wenn nur nicht draußen der verfluchte Querbalken gewesen wäre, mit dem man die Tür absperren konnte. Ein Glück, daß wenigstens die beiden Colts noch auf dem Boden lagen. So war der Halunke jetzt unbewaffnet. Ein Gewehr hatte er nicht am Sattel gesehen. Bis Ben Closter durch das Fenster nach draußen geklettert war, jagte Teddy Flint bereits in sicherer Entfernung davon. Ein verdammt schnelles Pferd hatte der Bursche! Aussichtslos, ihm in diesem unübersichtlichen Felsenlabyrinth nachzusetzen. Es gab zu viele Richtungen, nach denen er entfliehen konnte. Bis er sein eigenes Pferd gesattelt hatte, war der Verbrecher längst über alle Berge. Goddam – jetzt war guter Rat teuer! Teddy Flint wußte alles – woher, blieb schleierhaft und war übrigens auch nebensächlich. Wenn er die anderen traf, stand es um Tom und Snuffy schlecht. Denn die beiden waren völlig ahnungslos. Sie mußten gewarnt werden – aber wie? Ben Closter wußte nur, daß sie sich an einer Stelle befanden, die die Banditen mit Punkt elf bezeichneten. Doch er hatte nicht die geringste Ahnung, wo dieser Punkt elf liegen könnte. Minutenlang zermarterte sich der Sergeant das Hirn und suchte verzweifelt nach einer Lösung. Plötzlich machte er wieder die bewußten Schläge mit der flachen Hand vor seinen Schädel, die andeuteten, daß ihm eine Stallaterne aufgegangen war. Einer würde bestimmt wissen, wo Punkt elf lag. Der mußte ihn einfach hinlotsen. In großer Hast setzte Ben Closter einen großen Topf mit Wasser aufs Feuer. Bis es kochte, füllte er in dem nahen 59
Felsenquell alle verfügbaren Gefäße mit frischem, kühlen Quellwasser und stellte sie bereit. Dann goß er mit dem kochenden Wasser einen Kaffee auf, der so steif war, daß fast der Löffel drin stecken blieb. Und nun konnte die Pferdekur beginnen. Zuerst band er dem Indio vorsichtshalber die Hände kunstgerecht auf den Rücken, dann setzte er ihn aufrecht auf den Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Die Rothaut schnaubte und röchelte wie ein Ertrinkender, als ihm der erste Eimer Wasser ins Gesicht klatschte. Nach der dritten kalten Dusche gab’s zur Stärkung eine Tasse von dem steifen, pechschwarzen Kaffee. Danach begann die Kaltwasserbehandlung von neuem, und dann gab’s wieder Kaffee. „Gott sei Dank, daß es ein Indio ist“, murmelte Ben Closter, der bereits schwitzte. „Diese Rothäute sind doch zäh wie Leder. Uns verweichlichten Bleichgesichtern wäre bei so ’ner Pferdekur schon längst die Puste ausgegangen.“ Nach einer guten halben Stunde hatte Ben Closter den Indianer so weit ausgenüchtert, daß dieser, wenn auch noch schwankend, mit etwas Unterstützung auf den Beinen stehen und verstehen konnte, was man ihm sagte, wenn man ihn nur laut genug anbrüllte. Nach einer weiteren halben Stunde sah man bereits das seltsame Paar sich in einiger Entfernung von dem Lager hoch zu Roß fortbewegen. Der Indio war auf seinem Pferd vorsichtshalber festgebunden. Ben Closter hielt die Zügel beider Pferde und ritt dicht neben dem anderen. Von Zeit zu Zeit hörte man ihn den Indianer anbrüllen: „Zu Punkt elf, verstehst du? Befehl von Tim: Zu Punkt elf!“ „Zu Punkt elf – hupp – Punkt – hupp – elf“, lallte der Indianer und sah mit glasigen Augen in die Gegend. Von Zeit zu Zeit drehte er den Kopf nach einem, der zahlreichen überall 60
abzweigenden Seitentäler oder zu einem Canon und lallte erneut: „Zu Punkt – hupp – Punkt elf –.“ „Brav so“, lobte der Ghostsergeant und schlug mit befriedigtem Kopfnicken jeweils die angedeutete Richtung ein. __________ In der Nähe des Trails der von der Bahnstation Conata in südlicher Richtung zu den Orten Allen, Martin und Vetal nördlich des Little White River führte, lauerten Kid James, Tim Savage und die anderen Banditen in sicherem Versteck auf den gemeldeten Wagentransport. In Conata waren die aus Rapid City mit der Bahn kommenden Güter auf Planwagen umgeladen worden, die sie zu den abgeschiedenen, mit modernen Transportmitteln wegen der Straßenverhältnisse kaum erreichbaren Ortschaften bringen sollten. „Schätze, in einer Stunde müssen sie hier sein“, sagte Tim Savage nach einem Blick auf den klobigen, alten Taschenchronometer. „He, Boß, da vorne kommt ein ziemlich abgehetzt aussehender Reiter“, rief ein Mann, der von einem Felsen aus den ganzen Trail überblicken konnte. „Und wenn mich nicht alles täuscht, ist das Teddy.“ „Goddamn – wenn uns Teddy hier draußen sucht, dann stimmt irgendwo etwas nicht!“ meinte Tim Savage erschrocken. „Ja – es ist Teddy“, rief der Mann auf dem Felsen. „Mach dich bemerkbar und weise ihn ein!“ Kurz darauf ließ, sich Teddy Flint erschöpft und keuchend aus dem Sattel fallen. „Hat verdammt schwergefallen, euch zu finden. Hat einer einen Schluck Wasser?“ „Hier – was gibt’s? Nun los, red schon – warum stellst du uns hier draußen nach?“ fragte Tim Savage voller Ungeduld. „Was es gibt? Verrat auf der ganzen Linie!“ Teddy Flint 61
nahm einen zweiten Schluck aus der Feldflasche, ehe er weitersprach. Als das Wort ,Verrat’ fiel, legte sich die behandschuhte Rechte von Kid James wie zufällig auf den Colt, und in sein tief beschattetes, bartloses Gesicht, das auch bei Tag kaum richtig zu erkennen war, trat ein gespannter, lauernder Ausdruck. Erst als Teddy Flint weitersprach, entfernte sich die Hand ebenso unauffällig wieder von dem Colt, und der lauernde Zug wich einem Ausdruck peinlicher Bestürzung. „Habt euch da drei prächtige Läuse in den Pelz gesetzt: Ben Walcott ist nicht Ben Walcott, und Jonny Lingham und Louis Madden sind nicht Jonny Lingham und Louis Madden! Die Gents heißen in Wirklichkeit Ben Closter, Tom Prox und Snuffy Patterson. Ein Captain und zwei Sergeanten von der Special Police, dazu noch von der berüchtigten Ghost Squad. Eine Miß Long ist auch noch mit von der Partie. Die scheint ein wenig in Rapid City herumspioniert zu haben und hat offenbar ihrem Chef eine Menge interessante Dinge zu berichten.“ „Verflucht noch mal! Das hat uns ja gerade noch gefehlt!“ polterte Tim Savage los, während Kid James aschfahl geworden war. „Am besten, jetzt gleich kurzen Prozeß gemacht! Noch haben sie keine Ahnung, daß wir etwas davon wissen.“ „Denkste! Zum mindesten einer – muß gestehen, durch meine eigene Dummheit – weiß es jetzt ganz genau, nämlich Ben Closter.“ Teddy Flint gab einen ausführlichen Bericht von dem, was er bei dem Sheriff erlauscht und mit Ben Closter erlebt hatte. Als er fertig war, schien sich Kid James wieder gefaßt zu haben, denn er sprach klar und- bestimmt, ohne jede Erregung. „Es wird zunächst nichts unternommen. Unser Programm geht weiter. Kennt Ben Closter die Lage von Punkt elf?“ „Nein – dafür verbürge ich mich“, erwiderte Tim Savage. „Gut. Also ist es ihm nicht möglich, die beiden anderen zu 62
verständigen. Wir lassen sie also ruhig dort. Ich werde mich heute nacht ihrer annehmen. Dem anderen gegenüber tut ihr zunächst so, als wüßtet ihr von nichts, wenn ihr zurückkommt. Teddy braucht euch ja nicht angetroffen zu haben.“ „Falls der Cop nicht schon getürmt ist“, warf Tim Savage grimmig dazwischen. „Natürlich, falls er nicht getürmt ist“, wiederholte Kid James. „Alles andere überlaßt mir. Werde euch diese Aktion allein durchführen lassen und gleich losreiten, um meine Vorkehrungen zu treffen.“ Tim Savage murrte und schüttelte verwundert den Kopf. Das geheimnisvolle, beinahe resignierte Lächeln, das in diesem Augenblick um die zusammengekniffenen Lippen des Bosses spielte, sah er nicht. – Goddamn! Das war vielleicht ein langweilige Angelegenheit! Nun hockte er, Sergeant der Special Police Snuffy Patterson, schon den ganzen Tag tatenlos in diesem gottverlassenen Sohlental herum und paßte auf, daß keiner diese Krämerkutschen mauste. Der Captain hatte sich natürlich wieder den abwechslungsreicheren Teil dieses Unternehmens vorbehalten und war schon bei Tagesanbruch nach Fairburn geritten. Der Ghostsergeant war mittlerweile in den langen, trostlosen Stunden dieser abgeschiedenen Einsamkeit der Bad Lands so weit gekommen, daß er nichts sehnlicher wünschte, als einen kleinen Überfall seitens dieser mysteriösen Red Kerry-Bande. Er hatte es sich zwischen massiven Felsquadern, hinter denen er im Ernstfalle wie hinter einem Festungswall Stellung beziehen konnte, notdürftig bequem gemacht. Die Winchester lag griffbereit neben ihm, und einen Haufen Munition hatte er auch bei der Hand. Etwaige Angreifer würden sich ohne Zweifel ziemlich blutige Köpfe holen. Doch es kamen keine Angreifer – auch jetzt nicht, als er von 63
dem Canon her Pferdegetrampel hörte und mit einem Sprung seine Verteidigungsposition einnahm. Der Lauf der Winchester zeigte auf den Ausgang des Canons. Doch nur für zwei, drei Minuten – dann wurde sie zur Seite gelegt. Snuffy Patterson traute zuerst seinen Augen nicht; er kniff sich mehrere Male in die Hakennase, um sich zu überzeugen, daß er nicht eingeschlafen war und das dort nur ein Traumbild war. Nein, er träumte nicht. Das war tatsächlich Ben Closter und – zum Teufel! – der zweite war kein anderer ais der Indianer. Hm – aber einen merkwürdigen Eindruck machte die Rothaut. Snuffy ging den beiden einige Schritte entgegen. „Ei, ei – wer kommt denn da?“ rief er dem Kleinen entgegen. „Hast denen wohl die Suppe versalzen, und da haben sie dich zum Teufel gejagt? Und das ist wohl dein neuer Freund? Habt wohl unterwegs einen gezwitschert, und der Kerl konnte nicht so ’n Stiefel voll vertragen wie du? Der ist ja blau wie ’n ganzer Veilchenstrauß.“ „Die Suppe ist ganz schön versalzen, da hast du recht – aber ein gewisser Sergeant Patterson muß sie mitauslöffeln“, sagte Ben Closter grimmig. Der Lange stutze. Der Kleine war ja gar nicht so humorvoll wie sonst. Irgend was stimmte da nicht. Rasch faßte er mit an, dem gefesselten Indianer vom Gaul zu helfen und wartete gespannt darauf, daß Ben Closter die Neuigkeiten auspackte. „Donnerwetter– da hast du ja wirklich mal ’nen lichten Moment gehabt, daß du daran gedacht hast, uns zu warnen“, bemerkte er, nachdem Ben von Teddy Flint berichtet hatte. „Hätte ganz schön ins Auge gehen können. Bist doch ’n Prachtstück. Und was wird nun?“ Darauf antwortete wenig später Tom Prox, der bald nach Ben Closters Ankunft zurückgekehrt war und sich von diesem das Ganze noch mal hatte berichten lassen. 64
„Was nun wird? Jetzt wird erst mal abwechselnd ein paar Stunden geschlafen, damit wir heute nacht auf dem Damm sind. Fürs nächste genügt’s, wenn einer wach bleibt.“ Mehr war aus dem Captain nicht herauszubringen. Er gähnte und hatte offenbar keine Lust mehr, noch etwas zu sagen. Ben Closter ärgerte sich nicht wenig, daß seine Geschichte mit Teddy Flint den Ghostchef nicht im geringsten beeindruckt hatte. – Der Mann mit der roten Samtmaske schien es heute besonders eilig zu haben. In wildem Galopp strebte er auf seiner hochbeinigen Stute dem Lager seiner Männer zu. Red Kerry hatte allen Grund zur Eile. Es begann bereits zu dunkeln, und seine Leute mußten um diese Zeit aufbrechen, um den kleinen Fischzug bei Punkt elf durchzuführen. Wenn er sie vorher noch in ihrem Schlupfwinkel erreichen wollte, war jede Minute kostbar. Red Kerry traf im Lager ein, als die Banditen sich gerade auf die Sättel schwingen wollten. „Dort kommt der Boß“, rief einer. „Hoffentlich sollen wir die Beute nicht Kid James überlassen.“ Diese Sorge war unbegründet. Der Maskierte brachte im Gegenteil ganz neue Befehle, die die Bande in laute Bravorufe ausbrechen ließen. „Die Dinge haben sich zugespitzt“, sagte er noch ein wenig atemlos. „Heute nacht wird abgerechnet mit Kid James. Haben das Versteck seiner Bande ausfindig gemacht!“ „Gottverdammich – wie habt Ihr das angestellt, Boß?“ wurde er begeistert unterbrochen. „Nebensächlich. Hauptsache ist, daß alles klappt. Und es muß klappen! Zu Punkt elf gehen nur zwei Mann. Sind auch nur zwei Mann dort. Können die beiden machen, die noch ein Hühnchen mit den Neuen von der Diana-Ranch zu rupfen haben. Unsere Leute tun so, als seien sie von Kid James 65
geschickt. Sie geben die Parole, gehen bis auf sichere Schußweite heran, und drücken einfach ab. Das ist alles. Alle anderen begeben sich sofort zu dem roten Punkt, der hier auf dieser kleinen Karte eingezeichnet ist. Es ist eine Schlucht ganz in der Nähe von Tim Savages Lager. In dieser Schlucht stoße ich kurz nach Mitternacht zu euch und leite die Aktion. Die Sache wird ganz reibungslos vor sich gehen. Wir warten, bis die Bande schläft, dann fallen wir über sie her wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Alles klar?“ „Alles klar, Boß! Wird ’n richtiges Freudenfest“, brüllten die anderen im Chor. „Dann um Mitternacht in der Schlucht. Boys. – So long!“ „Moment mal, Boß“, rief einer der beiden, die zu Punkt elf sollten, dem bereits antrabenden Maskierten nach. „Kennt Ihr die Parole? Die müssen wir wissen.“ „Parole Manitu“, lautete die Antwort des Davongaloppierenden mit der roten Samtmaske. __________ Über den Bad Lands lagen schwer und drohend die geheimnisvollen Schatten einer dunklen Nacht. Der Canon, der bei Punkt elf in das Sohlental mündete, starrte den drei Rangern wie der gefräßig geöffnete schwarze Rachen eines vorsintflutlichen Sauriers unheilverkündend entgegen. „Keine sehr gemütliche Gegend bei Nacht“, bemerkte Ben Closter, „jedenfalls nicht für zartbesaitete Gemüter. Ob nun diese Nacht die Kid James oder Red Kerry-Leute aufkreuzen, um uns hier ganz kurz in die ewigen Jagdgründe zu befördern?“ Tom Prox bequemte sich jetzt, seinen Sergeanten einige Aufklärungen zu geben. „Vielleicht kommt diese Nacht gar keiner. Richtet euch jedenfalls darauf ein, daß wir morgen nacht auch noch hier auf der Lauer liegen.“ 66
„Viel Vergnügen! Und vielleicht auch noch übermorgen, wie?“ knurrte Snuffy Patterson. „Unwahrscheinlich, wenn meine Rechnung stimmt. Tim Savage wird innerhalb der nächsten drei Stunden ausgehoben, wenn er, wie ich annehme, in sein Nest zurückkehrt. Sheriff Crosby steht bereits gut versteckt mit einer starken Posse bereit. Bens Lageplan, den ein gewisser Sergeant Patterson beinahe mit dem Napfkuchen verschlungen hätte, hat ihm den Weg gewiesen.“ „Alles ganz gut und schön“, warf Patterson ein, „aber wie kriegen wir die Red Kerry-Bande?“ „Die werden wohl nicht lange zögern, hier abzukassieren. Dann haben wir sie.“ „Hm – und du meinst, das Versteck hier kennen sie?“ „Sicher. Gehörten ja früher zu der gleichen Bande.“ „Bin noch nicht so ganz überzeugt, aber wenn der Captain meinen, wird’s schon klappen.“ „Abwarten!“ Mit diesen Worten war für Tom Prox die Unterhaltung vorläufig beendet. Die drei Ranger warteten. Eine Viertelstunde verging, eine halbe. Dann hörte man schwach den Schritt herannahender Pferde. Es kam aus dem Canon. Snuffy Patterson blickte fragend auf Tom Prox. „Brauchen scheint’s doch nicht bis übermorgen zu warten. Auch nicht bis morgen, wie der Captain meinte“, sagte er ironisch. Ben Closter mischte sich ein. „Können auch Leute von Tim Savage sein. Durchaus möglich, daß Teddy Flint sie aufgestöbert hat. Die kommen dann, um euch beide zu kassieren. Wissen ja schließlich nicht, daß ich hierhergefunden habe, und halten euch für völlig ahnungslos.“ „Ben hat recht“, erwiderte Tom Prox. „Wenn es Tim Savages Leute sind, dann glauben sie, sie könnten sich uns ganz unbefangen nähern, da sie ja die Parole wissen. Wenn Ben uns 67
nicht Bescheid gesagt hätte, würden wir ja auch darauf hereinfallen. So werden wir mal den Spieß ein bißchen umdrehen. Kommt mit!“ Tom Prox ging voraus und steuerte mit großen Schritten auf den Ausgang des Canons zu. Das Pferdegetrampel war inzwischen näher gekommen. Snuffy Patterson und Ben Closter ließen, sich in etwa fünfzig Schritt Entfernung gegenüber dem Canon auf einem Stein nieder, während Tom Prox sich weiter vorwärts unsichtbar machte. Als die beiden Reiter in das Tal gelangten, zügelten sie ihre Pferde, schienen die dunklen Umrisse der Sergeanten bemerkt zu haben. „Wir sind’s“, schrie einer der beiden, so laut er konnte. „Könnt die Schießprügel steckenlassen. Parole Manitu!“ „Okay, kommt näher, Gents!“ rief Snuffy Patterson gelangweilt und erhob sich. Auch Ben Closter stand auf. Die beiden sprangen von den Pferden und gingen zu Fuß weiter. Völlig unbefangen kamen sie auf die beiden Ghosts zu. Als sie noch etwa zehn Schritte entfernt waren, flogen ihre Hände ganz unvermittelt zu den Holftern. Leider hatten die beiden Desperados jedoch nicht darauf geachtet, was hinter ihrem Rücken vorging, da sie einen dritten Mann überhaupt nicht hier vermuteten. Fast im gleichen Augenblick, als ihre Hände die Kolben der Sechsschüssigen berührten, war hinter ihnen ein Schatten aufgetaucht, der kurz zweimal hintereinander eine rasche, schwungvolle Bewegung machte. Sie gaben keinen Laut von sich, bekamen weiche Knie und legten sich in die Horizontale. Snuffy Patterson und Ben Closter stürzten vor und brachten vorsichtshalber gleich die Waffen der Banditen an sich. Handschellen und einige solide Stricke hielten sie schon bereit und machten sich auch sofort ans Werk. Plötzlich entfuhr dem Langem ein Ausruf des Erstaunens. 68
„Gottverdammten! Das sind doch die Burschen, die mir bei Innskeep schon mal über den Weg gelaufen sind. Das sind ja Leute von Red Kerrys Bande!“ Tom Prox, der sich gerade um die Pferde der beiden kümmern wollte, fuhr herum. „Was sagst du? Das sind Red Kerry-Leute? Bist du dir dessen ganz sicher?“ „Absolut. Diese Steckbriefgesichter vergißt man nicht so leicht.“ Einige Sekunden stand der Ghostchef regungslos da und schwieg. „Wir müssen sofort los“, sagte er dann hastig. „Schafft die beiden zwischen die Wagen zu dem Indianer. Ich mache inzwischen die Pferde fertig. Einer von euch muß hier bei den Gefangenen bleiben – am besten Snuffy. Ben reitet mit mir.“ __________ Tim Savage war nicht zu beruhigen. Er fluchte noch, als er nur noch wenige Minuten von seinem Schlupfwinkel entfernt war. Auch die Gegenwart von Kid James, der heute von Punkt vierundzwanzig mitgekommen war, hielt ihn nicht davon zurück. „Dürften heute nicht mal ’n gedeckten Tisch vorfinden“, sagte er jetzt. „Gekocht hat der verdammte Schnüffler aus Washington übrigens nicht schlecht. Vielleicht hätte man den Burschen schulen können.“ „Kaum“, meinte Kid James nur und ließ den anderen weiterreden. „Gut, dann bin ich dafür, daß wir ihn gleich erledigen, sobald wir ihn gefaßt haben. Ist natürlich kaum anzunehmen, daß er hier auf uns wartet, nachdem Teddy Flint sich so dämlich angestellt hat.“ „Er wird nur warten, wenn er darauf spekuliert, daß Teddy uns nicht erreicht hat. Sonst ist er bestimmt fort.“ 69
„Und hetzt uns, der Teufel weiß wen, auf den Hals. Denn der Halunke kennt ja nun genau unser Versteck. Werden am besten den Laden hier noch in dieser Nacht räumen.“ „Darüber entscheide ich!“ sagte Kid James mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. „Es bleibt dabei, was ich gesagt habe: Ist der Spürhund noch da, wird so getan, als wüßtet ihr von nichts und hättet Teddy inzwischen nicht zu Gesicht bekommen. Ist er weg, wird erst auf meinen Befehl hin abgerückt. Ich bin in spätestens zwei Stunden im Lager. Vor morgen früh ist auf keinen Fall mit dem Eintreffen einer Posse zu rechnen. Das klappt bei Sheriff Crosby nicht so rasch. Und der Cop kann erst am Abend Fairburn erreicht haben, auch wenn er gleich nach Teddys Verschwinden aufgebrochen sein sollte. Nur nicht die Nerven verlieren!“ Tim Savage fügte sich, wenn auch mit Widerwillen. Irgend etwas ging von dem schlanken, jünglinghaften Banditenboß aus, das ihm auch bei so rauhbeinigen Gesellen wie diesem unweigerlich Respekt verschaffte, obwohl man genau genommen recht wenig von ihm wußte. Einer der Hauptgründe dieser unerklärlichen Macht, die Kid James über die wilden Gesellen ausübte, war’ vermutlich seine geistige Überlegenheit. Bis jetzt hatte er in allem immer recht behalten; außerdem war er es, der stets die genauesten Informationen über die Transporte besaß. Ohne ihn hätte das ganze unsaubere Geschäft nur halb so gut floriert. Kid James war sozusagen der Kopf und die Seele des ganzen Unternehmens, dessen war sich auch Tim Savage bewußt. Als die Bande das Lager fast erreicht hatte, setzte sich der Boß unauffällig, wie es seine Art war, von den anderen ab. Kurz danach hatte ihn das Dunkel der Nacht verschluckt. – Etwa zehn Minuten später sah man einen einzelnen Reiter sich über ein weites Plateau bewegen, das infolge seiner Höhe aus den tiefen Nachtschatten der Felsmassive etwas 70
herausgehoben war. Der Reiter schien sich in dieser Landschaft ausgezeichnet auszukennen. Ohne jemals auch nur einen Augenblick zu zögern, fand er, nachdem er unzählige Male die Richtung gewechselt hatte, den Weg zu einer Schlucht, in dem eine kleine Gruppe berittener Männer ihn erwartete. Der Reiter trug eine rote Samtmaske und wurde von den Männern, die ihn erwarteten, Red Kerry genannt. – Sheriff Crosby sah auf die Uhr. Es war bereits eine Stunde nach Mitternacht, und bisher war ihm noch nichts gemeldet worden, daß die Banditen in ihre Unterkunft zurückgekehrt waren. Der Sheriff hatte seine Leute gut verteilt. Fünfzehn Mann war die Posse stark. Er selbst befand sich mit fünf Mann außerhalb des Talkessels an der Steile, die den Baracken am nächsten lag. Ein Mann lag oben auf der Böschung und hatte den Anmarschweg der Bande genau im Blickfeld. Die restlichen Männer waren einzeln rings um das ganze Gelände verteilt und sollten, wenn es losging, sofort konzentrisch auf das Lager vorrücken, so daß sich der Ring um das Banditennest immer dichter schloß. Alle Leute waren mit Taschenlampen ausgerüstet, und man hatte für alle in Frage kommenden Befehle kurze Blinkzeichen vereinbart. Es war also an alles gedacht; normalerweise konnte das Unternehmen nicht schiefgehen. Nach Möglichkeit sollte nicht ein einziger Schuß fallen. Die Banditen sollten in einem raschen Handstreich überrumpelt werden. Soeben glomm von der Böschung her zweimal kurz hintereinander ein Lichtschein auf. „Aha, sie kommen“, flüsterte der Sheriff. „Schätze, in einer halben Stunde können wir losschlagen.“ Die halbe Stunde verging. Sie kam den Beteiligten wie eine Ewigkeit vor. Jeder sah in gespannter Erwartung dem Augenblick entgegen, da der Sheriff das Zeichen zum Angriff geben würde. 71
Sheriff Crosby schickte einen Mann zu dem Beobachtungsposten, um sich über die Lage zu unterrichten. Der kam nach wenigen Minuten schon wieder zurück. „Sieht ungünstig aus für ’ne Überrumpelung“, meldete er. „In den Baracken ist es noch recht lebendig; außerdem haben sie zwei Mann Wache ausgestellt Scheinen dem Frieden nicht so recht zu trauen.“ „Zum Teufel, sieht ja fast so aus, als seien die Burschen gewarnt worden“, fluchte der Sheriff, der von dem Dazwischentreten Teddy Flints noch nichts wußte. „Eine Viertelstunde warte ich noch; wenn es dann nicht auf unblutige Art geht, schlagen wir trotzdem los – so oder so! Wer sich nicht ergibt, wird niedergemacht.“ Wieder krochen die Minuten dahin wie altersschwache Schildkröten; dann war es so weit. Der Sheriff gab sich einen Ruck. „Los!“ zischte er. „Wir besetzen zunächst die Böschung.“ „Moment, Sheriff – kam mir eben so vor, als hätte ich Hufschlag gehört“, sagte einer der Männer. „Wo? Werden unsere eigenen Gäule gewesen sein.“ „Aus der Richtung kam es. Doch es klang nicht wie das Getrampel von stehenden Pferden. Jemand kam geritten. Und ziemlich rasch sogar. Sehe vielleicht besser erst mal nach, bevor wir starten.“ Der Sheriff murrte unwillig. Es paßte ihm offenbar nicht, noch mehr Zeit zu verlieren. „Nun gut – aber beeilt euch! Ich warte noch genau fünf Minuten.“ Der Mann kam bereits nach drei Minuten zurück, gefolgt von zwei anderen. „Ah – Captain Prox“, sagte der Sheriff erstaunt. „Denke, Ihr wollt bei Punkt elf der Red Kerry-Bande auflauern?“ „Ist auch geschehen“, erwiderte der Ghostchef im Flüsterton. „Haben bereits zwei Mann gefaßt. Und wenn mich nicht alles 72
täuscht, kriegen wir den Rest heute nacht hier am Wickel. Dies ist Sergeant Closter.“ Der Sheriff machte sich mit Ben bekannt und wollte Fragen stellen. Doch Tom Prox winkte ab. „Haben keine Zeit zu verlieren. Müssen rasch handeln. Wie ist die Lage?“ Sheriff Crosby unterrichtete den Ghostchef kurz. „Hm“ – meinte dieser, „möchte ’ne Schießerei unbedingt vermeiden.“ Da mischte sich Ben Closter ein. „Kein Problem. Ich kenne den Fuchsbau. Wir beide gehen vor und erledigen erst die Wachen. Der Sheriff kommt mit den anderen Männern nach, dann entwickeln sich die Dinge schon von selbst.“ Tom Prox war einverstanden. „Geben Sie aber noch nicht das Zeichen, Sheriff, daß der Ring geschlossen wird. Das kommt später. Den ersten Akt erledigen wir und Ihre Gruppe hier allein.“ Nahezu lautlos krochen die beiden Ranger die Böschung hinauf. Die anderen folgten in einigen Schritten Abstand. Ben kroch voraus und strebte der Stelle zu, an der er schon einmal mit dem bewußten Indianer übergesetzt war. Doch heute war die Situation bedeutend ungünstiger, denn es waren zwei Posten aufgestellt, einer vor den Baracken und einer nach hinten hinaus, genau dem steil abfallenden Hang der Böschung zugewandt. Ben Closter griff einen faustdicken Stein und schleuderte ihn auf das Dach seiner ehemaligen Küchenbaracke. Das gab ein Geräusch, als ob jemand in der Baracke rumorte. Der Posten in der Nähe der Böschung machte einige Schritte auf das Geräusch zu. Vorsichtig schlich er näher, den Colt in der Faust. In seinem Rücken kroch ein kurzer, stämmiger Körper lautlos den Hang hinab. Jetzt war der Posten ganz dicht an der Baracke heran und untersuchte die Tür. In diesem 73
Augenblick tauchte der untersetzte Körper unmittelbar hinter ihm auf. Es gab einen dumpfen, trockenen Schlag, dann sackte der Mann mit dem Colt zusammen. Inzwischen war Tom Prox ebenso lautlos wie Ben Closter etwas weiter unterhalb den Hang hinabgekrochen. Beinahe gleichzeitig huschten die Schatten der Ghosts von entgegengesetzten Seiten um die Hauptbaracke herum. Der Posten vor der Baracke fühlte sich plötzlich angerufen. Eine ihm wohlvertraute Gestalt löste sich aus dem Dunkel. Diese kurze, breitschultrige Figur war selbst bei Nacht nicht zu verkennen. „Hallo“, rief die Gestalt leise, „laß die Schießprügel stecken, ich bin’s, Ben Walcott“ Der Mann folgte diesem Rat nicht. In jeder Faust einen Fünfundvierziger, ging er auf den Sergeanten zu. Daß jeder Sergeant auch einen Vorgesetzten hat, der in diesem Falle ihm sogar dicht auf den Fersen war, wurde dem Mann erst viel später bewußt, als er wieder zu sich kam. Das brauchte einige Zeit, denn der Schlag, den ihm Tom Prox verpaßt hatte, war nicht von schlechten Eltern gewesen. Das folgende lief ab wie ein Uhrwerk. Der Sheriff war mit seinen Männern inzwischen ebenfalls herangekommen. Im Nu war die Baracke umzingelt. Sie hatte zwei Eingänge. Die Türen wurden fast auf eine Zehntelsekunde genau gleichzeitig aufgestoßen. Tim Savage, der mit drei Männern um den Tisch saß und gerade Betrachtungen über die Zukunftsaussichten der Bande angestellt hatte, fuhr hoch wie von der Tarantel gestochen. Auch die drei anderen reagierten blitzschnell. Doch noch schneller waren die Angreifer. Ben Closter hatte sich Tim Savage persönlich aufs Korn genommen. In den letzten Minuten war ihm nur noch das Wort ,Suppenzwerg’ durch den Kopf gegangen. Ben war eine Seele 74
von Mensch und hätte seine letzte Unterhose verschenkt. Doch wenn ihn einer ,Suppenzwerg’ nannte, das vergaß Ben Closter nicht. Niemals! Hinter seiner Faust saß die Wucht eines Dampfhammers, als sie auf Tim Savages Kinnspitze landete. Doch der Mann mußte einen Schädel wie ein Büffel haben, denn er schwankte nur, blieb aber auf den Beinen und schleuderte einen mächtigen Schwinger nach Bens Schädel, Der Schlag ging ins Leere, und ein kurzes, rasantes Trommelfeuer linker und rechter Haken auf die Gegend unterhalb der Rippen zwang den Banditenführer endgültig in die Knie. Als die Handschellen um seine Gelenke schnappten, ließ Ben Closter ein befriedigtes Grunzen hören. Den ,Suppenzwerg’ hatte er dem Halunken ganz schön heimgezahlt. Tim Savages Kumpanen war es inzwischen nicht viel besser gegangen. Auch ihre Handgelenke zierten die silbernen Armreifen, die bei Leuten ihres Schlages deshalb so unbeliebt sind, weil sie durch ein kurzes Mittelstück miteinander verbunden sind und die Bewegungsfreiheit arg beeinträchtigen. Die außerdem noch mit soliden Hanfstricken gut verschnürten Banditen wurden wie die Mumien nebeneinander auf den Boden gelegt. Auch die draußen von den Rangern Abgefertigten wurden nicht vergessen. Dann gab Tom Prox einige knappe Anweisungen, und in dem Banditennest begann ein geheimnisvolles Treiben. Die Petroleumlampe in der Hauptbaracke verlosch, und man sah vereinzelt dunkle Schatten in den verschiedensten Richtungen durch die Nacht streichen. Ab und zu leuchtete kurz ein heller Punkt auf, doch nur so schwach, daß man eher ein Glühwürmchen als eine Taschenlampe dahinter vermutet hätte, mit der man sich gegenseitig Signale gab. Dann wurde es still in dem Talkessel. Keine Bewegung, kein 75
Laut deutete darauf hin, daß eine stattliche Anzahl bis aus die Zähne bewaffneter, entschlossener Männer in dieser abgeschiedenen Einöde inmitten der Bad Lands steckte. Eine volle Stunde verstrich, ohne daß sich etwas ereignete. Sheriff Crosby, der sich in der Nähe von Tom Prox aufhielt, wagte eine Bemerkung. „Hm – glauben Sie immer noch, daß die Red Kerry-Bande hier auftaucht? Hab’ die Hoffnung längst aufgegeben.“ „Abwarten“, kam es leise zurück. Ziemlich wortkarger Beamter, dachte der Sheriff nur und sagte nichts mehr. Doch es dauerte diesmal keine Stunde, bis er den Mund wieder auftat. Noch keine fünf Minuten waren seit der kurzen Unterhaltung vergangen, da neigte er sieh zu Tom Prox und flüsterte ihm aufgeregt zu: „Dort drüben, Captain – sehen Sie es? Sie haben recht behalten. Sie kommen!“ Tom Prox nickte. Die nur schwach zu erkennenden dunklen Gestalten am anderen Rande des Talkessels waren ihm nicht entgangen. Es waren sechs Mann. Sie schlichen im Gänsemarsch mit zwei, drei Schritten Abstand geduckt hintereinander und bewegten sich, jede Deckungsmöglichkeit ausnutzend, auf die Baracken zu, Bald waren sie noch wenige Schritte von diesen entfernt. Sie schienen ihrer Sache ziemlich sicher zu sein und konnten nicht ahnen, daß von allen Seiten wachsame Augenpaare die nächtliche Finsternis durchdrangen und gespannt jede ihrer Bewegungen verfolgten. Jetzt hatten sie die Hauptbaracke erreicht und formierten sich zu einer Kette, die sich langsam und immer dichter um die Baracke legte. Irgendwo leuchtete dreimal kurz hintereinander ein Lichtpunkt auf, und sofort wiederholte sich das gleiche Zeichen an einer anderen, entfernteren Stelle. Und dann schien für die heimtückischen Angreifer plötzlich die Hölle ihre Tore geöffnet 76
zu haben und einen Teufel nach dem anderen auszuspeien. Doch die Männer, die sich jetzt von allen Seiten wie ein Unwetter über die Desperados stürzten, waren keine Abgesandten der Hölle, sondern mutige, entschlossene Kämpfer für Recht und Gesetz. Nur vereinzelt fielen Schüsse in dem sich sofort entspinnenden wilden Handgemenge, denn die Überraschung schlug so hundertprozentig ein, daß fast keiner der Banditen rechtzeitig die Hand ans Leder hatte bringen können. „Goddamn!“ schrie Ben Closter plötzlich und raste auf die Böschung zu. „Nimm du die andere Seite!“ Doch Tom Prox hatte den Fliehenden zuerst gesichtet und setzte ihm bereits in panthergleichen Sprüngen nach. Dieser hatte schon die Böschung erreicht und hangelte, sich mit Händen und Füßen in den harten, steinigen Boden krallend, mit unglaublicher Behendigkeit in schräger Richtung hoch. Jetzt war auch der Ghostchef an der Böschung heran, und der erbarmungslose Wettlauf um Leben und Tod konnte beginnen. Schritt für Schritt verringerte sich der Abstand zwischen dem Ranger und seinem Opfer, während Ben Closter von der anderen Seite her dem Flüchtigen den Weg zu verlegen suchte. Da blitzte es plötzlich dreimal über dem Captain auf. Hell und damnation! Die surrenden Bleihummeln waren dicht über seinen Kopf hinweggegangen, gerade noch rechtzeitig hatte er sich hinter einem Stein in Deckung bringen können. Und wieder bellte der Colt auf. Diesmal schoß der Bandit nach der anderen Richtung, wo Ben Closter sein mußte. Wie irrsinnig feuerte er die Colts auf die Ranger ab, die ihn mit den Schußwaffen vom Hang aus nicht bestreichen konnten, da er in einer grabenartigen Vertiefung lag. Der Sheriff, der aus etwa hundert Schritt Entfernung das Schauspiel verfolgt hatte, riß die Winchester hoch. Nur undeutlich war die in Deckung liegende Gestalt des Flüchtigen 77
zu erkennen. Doch Sheriff Crosbys Augen sahen bei Nacht so scharf wie die einer Katze. Einmal, zweimal, dreimal krümmte er den Finger. Als das Echo der Repetierbüchse an den Felswänden des Talkessels zum dritten Male verhallt war, waren die Colts des fliehenden Banditen zum Schweigen gebracht. Statt dessen drang von der Böschung ein qualvolles, leises Stöhnen. Während neben der Baracke seine inzwischen überwältigten Kumpane fachmännisch verschnürt wurden, schleppte man den Schwerverwundeten in die Baracke. Mit einem Ausruf des Erstaunens betrachtete der Sheriff in dem fahlen Schein der Petroleumlampe das blasse Gesicht, dessen obere Partie von einer roten Samtmaske verdeckt war. Behutsam wurde der Verwundete auf eine Pritsche gebettet. Tom Prox trat hinzu und griff mit den Fingerspitzen nach der Maske. Als er sie in der Hand hielt, öffneten sich ein paar auffallend dunkle Augen in dem wächsernen Gesicht und warfen ihm einen Blick zu, aus dem tödlicher Haß sprach. „Großer Gott – das ist ja – das ist ja – Suzanne Huntley“, stammelte der Sheriff entsetzt. „Ja“, bestätigte Tom Prox mit stoischer Ruhe, „und Kid James und Red Kerry – alles in einer Person.“ Während er sprach, beugte er sich plötzlich über die blasse, schmale Hand des tödlich verwundeten Mädchens. In dem hellen gleißenden Gold des Ringes, den die Verwundete dort am vierten Finger trug, blickte ihm eine diabolische Götzenfratze mit hämischem Grinsen entgegen, und der Ghostchef schüttelte, den Umstehenden erkennbar, sehr nachdenklich den Kopf. – Suzanne Huntley starb noch in der gleichen Nacht an den Verletzungen. Auf eindringliches Zureden des Sheriffs erleichterte sie in der halben Stunde, die ihr das Schicksal noch ließ, ihr Gewissen und legte ein umfassendes Geständnis ab. 78
Suzanne Huntly hatte nach dem Tode ihres Vaters geglaubt, nicht nur das ererbte Geschäft allein weiterführen, sondern auch den Fluch, der auf dem indianischen Götzen lastete, brechen zu können. Als das Geschäft vor dem Bankerott stand, kamen ihr gewisse abergläubische Zweifel, ob nicht vielleicht doch etwas an dem Fluch dran sei. Jedenfalls beschloß sie, dem Götzen ein Schnippchen zu schlagen und verwandelte sich in einen Mann: James Kid Hall. Immer, wenn sie als James Kid Hall auftrat, trug sie den Ring. Als Suzanne Huntley legte sie ihn ab. In ihrer Rolle als James Kid Hall brachte sie auch das Geschäft wieder hoch, allerdings nicht mit sehr redlichen Mitteln. Sie sammelte eine Handvoll Banditen um sich und überfiel die Transporte der Konkurrenz. Anfangs bezahlte sie ihre Helfershelfer aus eigener Tasche und verbot strengstens, die Wagen zu plündern. Sie sollten gelegentlich wieder aufgefunden werden, damit das Ganze so aussah, als seien sie von ungetreuen Angestellten der Lieferfirmen einfach im Stich gelassen worden. Das zahlenmäßig meist nur geringe Begleitpersonal der Wagen wurde eingeschüchtert und Vormann Innskeep übergeben. Den Leuten wurde erzählt, daß man ihnen doch keinen Glauben schenken würde und sie froh sein könnten, auf der Diana-Ranch, wo es ihnen im übrigen nicht schlecht ging, als Arbeitskräfte unterzukommen. Einige Revolvermänner Innskeeps wachten außerdem noch darüber, daß keiner auf abwegige Gedanken kam. Da die Lieferungen der Firma Huntley immer pünktlich eintrafen, gewann Suzanne Huntley mehr und mehr die Kundschaft der Konkurrenz. Gleichzeitig wurden aber die Forderungen ihrer Banditen immer unverschämter. Und bald drangen diese darauf, daß ihnen die abgefangenen Wagen auch zur Ausplünderung überlassen wurden. Irgendwie schien daher auch auf ihrem Doppelleben als Mann der Fluch des Goldenen Götzen zu lasten. 79
Sie nahm nunmehr auch noch eine dritte Gestalt an, nämlich die von Red Kerry, und kam sich dabei besonders schlau vor. Denn als Red Kerry trug sie den Ring nicht und bekämpfte sich selbst in ihrer Rolle als Kid James. Bringt der Ring ,Kid James’ Unglück, sagte sie sich, so ist das Unglück des einen der Vorteil des anderen. So würde sie also als ,Red Kerry’ den Goldenen Götzen doch betrügen können, wenn er ,Kid James’ im Kampf mit seinem erbitterten Rivalen Unheil brachte. Durch das Dazwischentreten der Ranger glaubte sie nun in der letzten Nacht den Augenblick für gekommen, wo ,Kid James’ und seine Bande an dem Fluch des Götzen zugrunde gehen müßten, damit Red Kerry weiterlebte. Erst als sie erkannte, daß Red Kerry das Spiel verloren hatte, steckte sie rasch während ihrer Flucht auf die Böschung den Ring wieder an den Finger. Es war ein letzter, erfolgloser Versuch, dem Fluch des Goldenen Götzen zu trotzen. Nachdem Suzanne Huntley ihr Leben ausgehaucht hatte, wandte sich der Sheriff kopfschüttelnd an Tom Prox. „Tollste Geschichte, die ich je gehört habe. Wie sind Sie bloß dahintergekommen?“ Der Ghostchef lächelte bescheiden. „Dahintergekommen ist eigentlich ein bißchen zuviel gesagt. Hab’ das alles mehr geahnt, nachdem ich durch meine Agentin die Geschichte von dem Goldenen Götzen erfahren hatte. Und dann waren da noch so ein paar Kleinigkeiten, die mir aufgefallen sind. Zum Beispiel, daß Kid James ängstlich seine Handschuhe anbehielt, auch wenn er sich eine Zigarette ansteckte und die kleinen Zündhölzchen mit den dicken Handschuhen kaum fassen konnte. Muß aber zugeben, daß ich zunächst nur Suzanne Huntley und Kid James für ein- und dieselbe Person gehalten habe. Erst als ich heute nacht feststellte, daß die Red KerryLeute auch die Parole der Kid James-Bande wußten, da ging mir plötzlich ein Licht auf.“ 80
„Sie sehen, Sheriff, auch ein Captain hat manchmal lichte Momente“, warf Ben Closter ein, worauf Tom Prox ihm einen leichten Rippenstoß versetzte und nichts mehr sagte. – – Ende –
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Leseproben aus:
UV-Tatsachen Heft 1
Vampir der S-Bahn Ein Kriminalbericht von A. F. Linden __________
Der letzte Zug • • • Man schreibt den 4. November 1940. Berlin, die einst in ein sprühendes Lichtermeer getauchte Millionenstadt, liegt im Dunkeln. Zwar kennt man an der Spree Fliegerangriffe bisher nur vom Hörensagen, aber die Verdunkelungsvorschriften gelten auch für die Reichshauptstadt. Auf dem im Berliner Osten gelegenen S-Bahnhof Friedrichshagen schimmern an diesem Spätabend trübselig ein paar stark abgedunkelte Lampen in die grauschwarze Finsternis ringsum. Seit Stunden lagern triste Novembernebel über der Riesenstadt. Es herrscht eine Atmosphäre wie in einer Waschküche Ein paar späte Fahrgäste, die auf den letzten Stadtbahnzug zur City warten, frösteln. Denn die Feuchtigkeit des Nebels geht auch ihnen durch und durch. Auf einmal wird ein Geräusch hörbar, das rasch näher kommt. Es ist ein Rattern und ein Rollen, immer deutlicher 82
wird es, ist jetzt ganz nahe – und da läuft der Zug auch schon in den Bahnhof ein. Ein Quietschen und Knirschen der Räder, die Wagenkette steht. Fast außer Atem kommt ein junges Mädchen die Treppe emporgerannt, die auf den Bahnsteig führt. Ohne langes Wählen hastet es in das erstbeste Abteil, dessen Tür gerade offen steht. Martina Lübke, so heißt das junge Ding, sinkt erschöpft und atemlos aufs Polster des Zweiter-KlasseAbteils. Sie befindet sich allein in dem Kupee. Gerade rückt der Zug an, als die junge Kontoristin erschreckt und impulsiv aufblickt: Noch jemand kommt in das Abteil gestürzt … Doch dann legt sich ihr Schreck. Der Nachzügler, ein Mann in Eisenbahneruniform, läßt sich ihr gegenüber nieder und starrt dann gleichgültig durchs Fenster in die in Nebelgrau getauchte Nacht, die bald an der Wagenwand vorüberfliegt. Auch einer, der beinah den letzten Zug versäumt hätte – genau wie ich’, denkt Martina Lübke. Sie ist froh, bald zu Hause zu sein. Diesen Abend war es spät geworden im Büro. Sie fühlt sich regelrecht „erledigt“, dazu der Dauerlauf zum Bahnhof, die Sorge um den letzten Zug …
Ein unheimlicher Reisender Martina Lübke wendet ihren Blick ganz absichtslos dem Mann ihr gegenüber zu, dem in der Eisenbahneruniform – und erstarrt jäh … Der Mann mustert sie seltsam, scharf und stechend. In seinen Augen scheint etwas Lauerndes, Gieriges, etwas Unheimliches zu liegen. Irgend etwas an diesem Menschen kommt ihr nicht geheuer vor; das fühlt sie instinktiv. Doch da wendet der andere seinen Blick in schlecht verborgener Hast wieder dem Fenster zu, um in die Undurchdringlichkeit der Dunkelheit zu lugen, die doch gar nichts Sehenswertes bietet. Martina versucht, ihre Angst niederzukämpfen. „Unsinn!“ 83
versucht sie sich einzureden. „Meine Nerven sind überreizt. Ich habe mich bestimmt getäuscht. Kein Wunder bei der tristen Wagenbeleuchtung, bei der man sowieso nicht richtig sehen kann!“ Doch dann tauchen neue Zweifel in ihr auf. Hat der andere sie wirklich so durchbohrend angeschaut? Mumpitz, suggeriert sie sich. Der Mann da trägt ja eine Eisenbahneruniform. Und da soll der …? Die Uniform des Mannes wirkt vertrauenerweckend auf Martina, ihre Angst verflüchtigt sich. Oder soll sie nicht doch besser das Abteil wechseln, eines aufsuchen, in dem mehr Menschen sitzen? – Dazu ist es jetzt zu spät, denn in diesem Augenblick verläßt der Zug den Bahnhof Hirschgarten. Auf der nächsten Station will sie das Abteil wechseln. Auf jeden Fall will sie das tun. Die nächste Haltestelle wird in drei bis vier Minuten kommen.
Etwas Grausiges geschieht Während Martina den Gedanken weiterspinnt, springt der Fremde plötzlich mit einem wahren Panthersatz auf, stürzt sich auf sie – und ehe sie begreift, was eigentlich mit ihr geschieht, spürt sie einen wuchtigen Schlag, den ihr der andere mit irgendeinem Gegenstand über den Kopf versetzt. Halb betäubt, halb wahnsinnig vor Schmerz, versucht sie sich zur Wehr zu setzen. Vergebens, schon spürt sie einen festen Klammergriff um ihre Handgelenke. Und nun schreit Martina Lübke, sie schreit aus Leibeskräften nach Hilfe … Sie schreit um ihr Leben … Ihre Verzweiflungsschreie aber gehen unter im Gepolter des durch die Nacht ratternden Zuges. All das geschieht in Sekundenschnelle. Martina fühlt ein Würgen an ihrer Kehle. Sie bäumt und 84
windet sich verzweifelt unter diesem brutalen Griff, der sie zu erdrosseln droht. Letzte Energien, letzte Kraftreserven aufbietend, versucht sie die Tür zu erreichen, über der sie die Notbremse weiß – doch dann fühlt sie neue Schläge auf ihr Haupt prasseln, nur leicht gemildert in der Wirkung durch den Filzhut, den sie trägt. Ein neues erbittertes Ringen hebt an. Martina will und will vorwärts – mit einem letzten Ruck gelingt ihr das – – doch dann sieht sie plötzlich die Wagentür geöffnet, sie spürt den scharfen Luftzug, der durch die dunkle Öffnung eindringt, und dann – ihr schwinden die Sinne – wird sie mit einem kräftigen Stoß auf den Bahnkörper geschleudert …
Schreie in der Nacht Der Zug braust weiter, der nächsten Haltestelle zu. Niemand der wenigen Fahrgäste ahnt, welches grauenvolle Drama sich Augenblicke vorher in ihm abgespielt hat. Zur selben Zeit, gerade ist der Berliner Zug abgefahren, stehen noch ein paar Menschen auf dem Bahnhof Hirschgarten. Sie warten auf den Gegenzug. der planmäßig in einigen Minuten kommen soll. Mehr aus Langeweile horchen sie hinaus in die nebelige Novembernacht, ob sein nahendes Geräusch nicht bald vernehmbar wird. Denn bei dem dichten Wolkenschleier kann man keine hundert Meter weit etwas erkennen. Da – – – Mit einem Male sieht man sich bestürzt an: Ist das nicht der gellende Hilferuf eines Menschen, der Verzweiflungsschrei einer Frau gewesen? – Keine Täuschung, jeder hat ihn wahrgenommen! Da – wieder dieser Schrei, wenn auch diesmal etwas schwächer. Er scheint vom Bahndamm her zu kommen, aus der Richtung, in die Augenblicke vorher der Berliner Zug verschwunden ist. 85
Zwei, drei Leute stürmen zum Stationsvorstand, berichten in fliegender Hast ihre Wahrnehmung. Es muß jemand aus dem vorhin abgefahrenen Zug gestürzt sein, vermutet man. Es kann nicht weit sein bis zur Unfallstelle, sonst hätte man die Schreie kaum gehört. Es können schätzungsweise 150 oder 200 Meter sein, aus der die Hilferufe kamen. Blitzschnell erfaßt der Fahrdienstleiter die Situation, und geistesgegenwärtig tut er nun das Klügste, was er tun kann: Er blockiert die Strecke, stoppt den Gegenzug. Dann ergreift er seine Dienstlaterne und macht sich mit ein paar Männern auf die Suche.
Ein gräßliches Bild Man stolpert über den Schotter der Gleise. Nur Meter um Meter kommt man vorwärts, denn der Nebel raubt fast jede Sicht. Man mag ein paar Minuten durch die feuchtkühle Dunkelheit getappt sein, als ein schwaches Stöhnen hörbar wird. Die Suchkolonne beschleunigt ihre Schritte – und steht plötzlich vor einem schauerlichen Bild, das da vor ihren entsetzten Augen gespenstisch im Nebel auftaucht: Auf den Schienen liegt eine Frauengestalt. Gesicht und Hals mit Blut bedeckt, das aus einer Kopfwunde zu kommen scheint. Unfall? Überfall? – Zu langem Überlegen ist nicht die Zeit. Zwei Männer heben die Bewußtlose behutsam auf und tragen sie zum nahen Bahnhof. Ein Arzt ist bald zur Stelle. Nach einer ersten flüchtigen Untersuchung ordnet er die Überführung der Verletzten ins Krankenhaus Köpenick an. „Das Weitere ist Sache der Kriminalpolizei“, fügt er hinzu. „Es handelt sich um einen Raub- oder gar um einen Mordversuch. Man sieht das an der Art der Kopfverletzungen. Die Frau ist mit einem harten Gegenstand über den Kopf geschlagen worden!“ 86
Die Kripo wird verständigt, ebenfalls die zuständige Bahnaufsicht. Diese veranlaßt sofort, daß der fragliche Zug noch unterwegs genau durchsucht wird. Der Ruf durchläuft alle Stationen an der Strecke, die der Zug passieren muß. So erreicht er auch den Bahnhof Friedrich-Straße. Als er dort eintrifft, steigen Bahnpolizisten ein, die sich unauffällig an die Arbeit machen. Um die Fahrgäste nicht zu beunruhigen, gibt man vor, nach einem verlorenen Wertgegenstand zu suchen. Das erregt kein Aufsehen. Im Bahnhof Grunewald, dem Endhaltepunkt, wird der Zug dann abgestellt und zur Verfügung der Kripo gehalten.
Der Fund im Sitzpolster Die Suche hat Erfolg. Im Polster eines Zweiter-Klasse-Abteils wird ein dickes Bleikabel gefunden, das dort jemand versteckt zu haben scheint. Für die Kriminalpolizei bildet dieser Fund einen wichtigen Anhaltspunkt: doch damit ist die mysteriöse Sache keineswegs geklärt. Noch kennt man nicht die Begleitumstände, unter denen der Überfall verübt wurde. Die Überfallene ist noch bewußtlos. Niemand der den Fall bearbeitenden Beamten ahnt in dieser Nacht, daß man erst am Anfang der Aufdeckung einer geheimnisvollen Mordserie steht, wie sie in dieser Art kaum jemals auf der weiten Welt geschehen ist, und daß es noch manche harte Nuß zu knacken geben, noch viele Opfer kosten wird, bis man den unheimlichen Mörder, den Vampir der SBahn, endlich fassen wird. Wie dies geschieht, ist nachmals als ein wahres Kabinettstück in die Geschichte der Berliner Kriminalpolizei eingegangen.
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Ein Kriminalrat stutzt Im Alex, dem vom Volksmund so benannten Berliner Polizeipräsidium am Alexanderplatz, stutzt Kriminalrat Lösser unwillkürlich, als er am darauffolgenden Morgen den Bericht über den gestrigen Überfall in der S-Bahn vorgelegt bekommt. „Merkwürdig“, wendet sich Lösser mit einem Ruck zu dem neben ihm stehenden Kriminalsekretär Hollesch, „da ist doch kürzlich ein ähnlicher Fall passiert. Vor ein paar Wochen. Auch auf der Stadtbahn, und – wenn ich nicht irre – auf der gleichen Strecke!“ „Sie meinen die noch unaufgeklärte Sache Kamphaus, Herr Kriminalrat?“ Hollesch entsinnt sich sofort der Angelegenheit. „Jawohl, die meine ich. Bringen Sie doch mal die Akten.“ Hollesch geht an den Aktenschrank.
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