Nr. 355
Der Flugmeister Das Psychoduell mit dem Tyrannen von Hans Kneifel
Pthor, dessen Horden Terra überfallen sollt...
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Nr. 355
Der Flugmeister Das Psychoduell mit dem Tyrannen von Hans Kneifel
Pthor, dessen Horden Terra überfallen sollten, hat sich längst wieder in die unbe kannten Dimensionen zurückgezogen, aus denen der Kontinent des Schreckens ur plötzlich materialisiert war. Atlan und Razamon, die die Bedrohung von Terra nahmen, gelang es allerdings nicht, Pthor vor dem Start zu verlassen. Der ungebetene Besucher ging wieder auf eine Reise, von der niemand ahnt, wo sie eines Tages enden soll. Doch nicht für lange! Denn der überraschende Zusammenstoß im Nichts führte da zu, daß der »Dimensionsfahrstuhl« Pthor sich nicht länger im Hyperraum halten konnte, sondern zur Rückkehr in das normale Raum-Zeit-Kontinuum gezwungen wurde. Und so geschieht es, daß Pthor auf dem Planeten der Brangeln niedergeht, nach dem der Kontinent eine Bahn der Vernichtung über die »Ebene der Krieger« gezo gen hat. Natürlich ist dieses Ereignis nicht unbemerkt geblieben. Sperco, der Tyrann der Galaxis Wolcion, schickt seine Diener aus, die die Fremden ausschalten sollen. Dar auf widmet sich Atlan sofort dem Gegner. Um ihn näher kennenzulernen und seine Möglichkeiten auszuloten, begibt sich der Arkonide zu den Spercoiden. Atlan gelangt als Gefangener an den Hof Spercos – bald aber wird er DER FLUG MEISTER …
Der Flugmeister
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Die Hautpersonen des Romans:
Sperco - Der Tyrann an den Grenzen seiner Macht.
Atlan - Spercos Flugmeister.
Körz - Atlans Freund und Bewacher.
Tancai - Etorcs Mutter.
Etorc - Ein Braisling, der das Fliegen lernt.
1. Tamcaythor T'haam, der Blumenheger, genoß von der ersten Sekunde an seinen Aufenthalt in der riesigen unterplanetari schen Halle. Sie war ein Drittel so groß wie die Grundfläche MOACs, und hier fühlte er sich seiner Heimat und dem Leben seiner Art so nahe wie nirgendwo sonst. Von meh reren Seiten neigten sich weiche Zweige, streichelten ihn und blickten ihn aus riesigen Blütenaugen an. An anderen Teilen waren jüngere und äl tere T'haams an der Arbeit. Die Pflanzen dachten und empfanden, aber sie waren nicht in der Lage, sich selbst zu pflegen. Die T'haams waren von Sperco zu dieser Arbeit verpflichtet worden: die richtige Arbeit für die besten Fachleute, die es gab. Dankbar und voller Freude genoß Tamca ythor die sanfte Berührung der Pflanzen. Er streckte einen Wurzelarm aus und schaltete das Licht ein. An der Decke dieses Höhlenteils erschienen große, runde Kreise von dunklem Gelb. Es waren spezielle So larlampen, die binnen weniger Minuten ihr gesamtes gleißendes Lichtspektrum entfalte ten. Taghelles Licht riß diesen annähernd rechteckigen Raum aus dem Halbdunkel. Tamcaythor schob die lichtschluckende Ringfolie über seine optischen Zellen und bewegte sich raschelnd weiter. Der Boden unter seinen Wurzelfüßen war so weich und feucht, daß der Wunsch in ihm übermächtig zu werden drohte, die weißen Fasern in dieses Gemisch aus Erde, faulen den Pflanzen und Kies zu versenken. Er ging weiter und musterte die links befindliche Pflanze sehr genau. Die Werkzeuge aus sei nen Arbeitsstäben traten in Tätigkeit. Hier
schnitt er ein faulendes Blatt ab, dort kappte er einen trockenen Ast, an anderer Stelle schälte er ein Stück Rinde ab. Als er den Stamm und die herunterhängenden Äste bis zu einer Höhe von knapp eineinhalb Metern gesäubert hatte, steckte er einen Stab in den Boden und begann, am Stamm hinaufzuklet tern. Er war ein langsamer, gründlicher Arbei ter. Das Leben und die Gesundheit der Pflanzen waren das Wichtigste. Der betäu bende und süße Geruch erfüllte den großen Raum und machte ihn glücklich. Der näch ste dickere Ast geriet unter seine Wurzeln. Das Werkzeug wurde wieder eingesetzt. Warum diese Pflanzen für MOAC und Sperco wichtig waren, wußte Tamcaythor nicht. Aber er liebte die Arbeit, weil eine solch große Menge beruhigender Impulse von den Pflanzen ausging. Am meisten mochte er den Geruch des Nektars, der an einigen Stellen anfiel und von ihm und sei nen Freunden gesammelt wurde. Er und mindestens drei Dutzend anderer Wesen seines Volkes pflegten die Pflanzen tief unterhalb der Bauten MOACs. Irgendwann würde auch Tamcaythor T'haam ab sterben und hier im weichen Erdreich begra ben werden, um neue Nahrung für die präch tigen Pflanzen abzugeben. Die Wärme und das sonnenähnliche Licht ließen die Pflanzen wieder aufleben. Sie be wegten sich, als striche ein warmer Wind über sie hinweg. Als Tamcaythor seine Sin nesorgane auf eine besonders hochgewach sene Pflanze richtete, sah er wieder diesen unerklärlichen Effekt. Die äußersten Spitzen wurden ab und zu unsichtbar und schienen zu verschwinden. Als ob viele der seltsamen Pflanzen in eine andere Dimension hineinwachsen wollten.
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Hans Kneifel
2. Atlan fühlte sich in eine ferne Zeit ver setzt, in die Zeit der wagemutigen Männer, die ihr Leben gebrechlichen Flugapparaten anvertraut hatten. Er lag bäuchlings auf einem Gerät, das drei verschieden hoch angebrachte und un terschiedlich breite Tragflächen hatte. Ein gekrümmtes Rohr ragte wie ein Libellen schwanz von seinem Rücken hoch und trug Einrichtungen, die wie Seiten- und Höhen steuer aussahen. Wie gewöhnlich bestanden die verschiedenen Teile aus dünner, teilwei se durchsichtiger Bespannung in vielen grel len Farben und aus Drähten und dünnen Rohrteilen. »Kumpel«, erklärte Körz und wußte nicht, ob er sich dem Schlitten nähern sollte, »du riskierst wirklich eine Menge.« Atlan, der an das Ding angeschnallt war, sagte lakonisch: »Sperco ist die Macht!« »Und die Spercotisierten sind seine Die ner!« war die Antwort. »Fertig?« Atlan biß die Zähne aufeinander und um klammerte die hornförmig gekrümmten He bel der Steuerung und der Auslösevorrich tung. »Fertig. Gib acht, Partner, ja?« »Wie immer. Wir haben schon sieben Ap parate verschrottet …« »Und werden auch den achten zerlegen.« Körz näherte sich mit einem Flammenstab der Zündschnur. Die Startrakete begann kni sternd zu brennen. Dann zündete die Pulver ladung. Zuerst schoß eine orangegelbe Stichflamme dicht neben dem Braisen vor bei waagrecht über den Belag der Rampe. Dann trieb eine weiße Wolke verbrannter Gase den kleinen Schlitten über die ausge richteten Schienen. Zwanzig Meter lang dauerte die Beschleunigung, die den ächzen den Segler nach vorn riß. Als der Schlitten an den Schlagpunkt krachte, wurden Atlan und der Segler nach vorn geschleudert und traten ihren Flug an. Atlan steuerte mit dem ersten Schwung schräg in die Höhe und in
eine leichte Kurve. Als einer der drei Flügel am Material der Hallenwand entlang schrammte, kippte er die Steuerung und lei tete die erste Abwärtskurve in die entgegen gesetzte Richtung ein. »Hervorragend!« schrie der Braise von oben. Atlan hörte die begeisterten Ausrufe durch das Sausen und Knattern des Appa rats. Er behielt dieselbe Schräglage bei und ging in die zweite Kurve der abwärts führen den Spirale. Plötzlich erschütterten starke Vibrationen den Flugapparat. »Verdammt! Schon wieder!« stieß Atlan hervor. Er wußte, daß ihm auch mit diesem Gerät keine einwandfreie Landung gelingen würde. Der Fahrtwind pfiff kreischend durch die Verspannung und die Stege. Der Rauch der Startrakete senkte sich durch die Halle und bildete entlang der Feldlinien merkwür dige Schleier und Fäden. Die Vibrationen des Flugkörpers nahmen zu. Atlan umklam merte mit aller Kraft die Steuerhebel und versuchte, den Apparat wieder in eine stabi le Fluglage zu bringen. In seinem Rücken fühlte er das Beben und Schwanken der kombinierten Seiten- und Höhensteuerung. Immer mehr ächzte und knirschte die Kon struktion. Klirrend rissen stählerne Saiten, und die beiden obersten Tragflächen wirbel ten im Luftstrom rückwärts hinweg. Atlan kippte den Segler nach vorn und wollte mehr Geschwindigkeit gewinnen. Aber aus dem kontrollierten Sturzflug wurde hundert Meter über dem Boden ein unkontrollierbarer Absturz. Wieder rissen sich einzelne Teile los und krachten in der Luft gegeneinander. »Das war's wohl«, murmelte der Arkonide resignierend. Kopfüber stürzte der Flugapparat ab. Er raste auf den tiefsten Punkt der schüsselför migen Fangfelder zu. Atlan erwartete den Aufprall. Er hoffte nur, daß sich ihm nicht die Splitter in den Körper bohren würden. »Achtung! Ich fange dich auf!« schrie Körz von oben und schaltete den Fangstrahl ein. Im selben Moment, als das helle, schil
Der Flugmeister lernde Feld sich dem halb zertrümmerten Flugapparat förmlich entgegenwarf, zuckte der Fangstrahl auf. Atlan hörte hinter sich das helle Krachen, mit dem der Rest der Konstruktion sich auflöste. Sein Körper wurde in der Luft weich angehalten, die meisten Trümmer stürzten weiter. Wie im mer bisher landete Körz seinen neuen Pseu dofreund weich auf dem Boden der Halle und fuhr, kaum daß er den Strahl abgeschal tet hatte, mit dem Lift wieder hinunter. Atlan stand auf und schüttelte breite Gur te, Fetzen von allerlei Schnüren und kleine Fetzen der Bespannung von seinem Ober körper. »Danke, Körz«, sagte er leise. »Wieder nichts.« »Denke dir«, erklärte der Braise. »Seit un endlich vielen Jahren versuchen die besten Konstrukteure des Imperiums, einen Appa rat zu bauen, der Sperco das Fliegen ermög licht. Keiner hat es fertiggebracht. Kein Ap parat hat funktioniert. Immer hat Sperco die Versager töten lassen. Und jetzt willst du versuchen, ihm das Fliegen zu zeigen, Botosc?« Atlan sah den Braisen voller Ernst an und antwortete: »Ich will ihm nicht das Fliegen zeigen, Körz. Ich kann es selbst nicht, jedenfalls nicht ohne viel Technik und so. Das Ge heimnis des Fliegens liegt an anderer Stelle, und das Geheimnis sieht auch ganz anders aus, als Sperco denkt. Ich habe nicht vor, mich in dieser Halle umzubringen.« »Und was hast du wirklich vor?« fragte aufmerksam der Braise. »Ich rechne damit, irgendwann in meine Heimat auf Loors zurückzukehren. Mit und ohne Sperco.« »Bis dahin hat es sicherlich noch viel Zeit.« »Das fürchte ich auch«, schloß der Arko nide. Atlan arbeitete wieder in der Werkstatt weiter und zerlegte ein weiteres Flugmodell. Die Energiezellen waren voll geladen. Das Seglermodell, das er mit den Antischwer
5 kraftprojektoren ausrüsten wollte, stand wie ein riesiger Vogel inmitten der Werkstatt. Die Reihen der flugunfähigen Geräte hatten sich bereits erheblich gelichtet. Roboter räumten jede Nacht den Hallenboden ab und vernichteten die Bruchstücke. Atlan begann in den Fächern und Regalen des Werkzeug magazins zu suchen und fand schließlich zwei versiegelte kleine Kanister. Er hoffte, daß ihn Sperco nicht unausgesetzt beobach tete.
* Mitten in der Nacht weckte ihn der Logik sektor. Atlan verbarg den weichen Pinsel und die beiden kleinen Dosen in seinem Gürtel. Das Licht des Vollmonds half bei seinem Plan. Leise stand er auf, ging ans Fenster und blickte hinaus. Von den wenigen Beleuch tungskörpern entlang der Wege und Treppen abgesehen, gab es keinen einzigen beleuch teten Raum mehr. So schnell und so leise wie möglich huschte Atlan aus seiner Zelle hinüber zu dem Wohnturm der Braisen. Überlege dir eine gute Ausrede! empfahl der Extrasinn. Atlan hatte an diesem Abend von Tancai erfahren, daß die heranwachsenden Braisen nur neun oder zehn Tage lang von ihrer Mutter ernährt wurden. Auch dieser Um stand paßte genau in seinen Plan. Er schob zentimeterweise die Tür der Braisenwoh nung auf und tastete sich ins Innere. Tancai und Körz schliefen in ihrem Zim mer. Klein-Etorc, der in den vergangenen vier Tagen kräftiger und größer geworden war, schlief ebenfalls, die Schwingen ausge breitet. Das Mondlicht genügte Atlan voll kommen. Er zog den Pinsel hervor, öffnete die Dose mit dem roten Farbstoff und fing hastig an, die Haut des Braisen zu bemalen. Kleine und große rote Flecken erschienen in unregelmäßigen Abständen. Unruhig beweg te sich Etorc im Schlaf und klapperte mit den Schnabellippen. Immer wieder zog sich Atlan zurück und hörte erschrocken auf.
6 Aber es gelang ihm, fast die Hälfte des ro ten, lackartigen Farbstoffes über den Körper des Braisen zu verteilen. Er schloß die Dose, öffnete die andere und arbeitete angestrengt mit der blauen Far be weiter. Jedes leise Geräusch erschreckte ihn. Er durfte nicht entdeckt werden! Seine Finger zitterten, aber er ließ den Pinsel nicht einmal fallen. Als seine Nervosität den Höhepunkt erreicht hatte und Etorc, den er vorsichtig auf den Bauch gelegt hatte, zu erwachen drohte, verließ Atlan mit drei schnellen Sprüngen die Wohnung. Draußen lehnte er sich keuchend und schweißüberströmt gegen die kühle Wand. Geschafft! Als er wieder in seiner eigenen Zelle war, hatte er sich soweit beruhigt, daß er die bei den Farbdosen und den Pinsel in der Erde vergraben konnte, die sich in einem Kasten voller blattloser Büsche befand. Jetzt konnte er nichts anderes tun als war ten, wie Tancai, Körz und die Spercoiden ärzte reagierten. Hoffentlich verlief alles so, wie er es sich ausgedacht hatte. Er schlief ein paar Stunden. Als er auf wachte, spürte er eine harte Klaue an der Schulter, die ihn wachgerüttelt hatte. Er richtete sich auf und blickte in das Flederm ausgesicht von Körz. Es war bereits hell ge worden. »Du bist aufgeregt«, stellte er fest und zwang sich dazu, sich normal zu verhalten. »Etorc ist erkrankt. Wir sind beide aufge regt«, sagte Körz mit zitternder Stimme. Atlan gähnte und blieb auf der Kante des Lagers sitzen. Vor ihm stand Körz und bebte an allen Gliedern. »Etorc erkrankt? Ist es dieser … Aus schlag, von dem ihr mir erzählt habt?« »Ja. Die Haut ist übersät von blauen und roten Flecken. Es kam über Nacht.« Atlan hatte sich die Antworten oft genug zurechtgelegt. »Du sagtest, heute würden die Ärzte kom men?« »Wir erwarten sie heute oder morgen«,
Hans Kneifel antwortete der Braise. »Was können wir tun?« Atlan hob die Schultern und meinte un schlüssig: »Sage den Ärzten, sie sollen mit dem Be schneiden der Flügel warten, bis die Krank heit vorbei ist.« »Du hast recht. Das werde ich tun. Und …« »… dann gibt es zwei Möglichkeiten«, sagte Atlan und legte seine Hand auf die Schulter des aufgeregten Braisen. »Entweder überlebt Etorc die Ansteckung oder nicht. Jedenfalls würde ihn die Operati on zweifellos töten. Wie lange dauert erfah rungsgemäß die Krankheit?« »Sechs, sieben Tage, sagte mir eine Brai senfrau.« »Dann müssen wir warten. Ich werde dir helfen, wenn ich kann. Aber zuerst solltest du den Ärzten sagen, daß sie ihren Besuch verschieben müssen.« »Du hast recht. Wir treffen uns in der Halle.« »Ich esse nur noch etwas, dann mache ich mich auf den Weg.« »Gut. Danke, Kumpel.« Aufgeregt rannte Körz davon. Atlan be gann sich zu schämen. Ausgerechnet ein Wesen, das sich nicht wehren konnte, hatte er zur zentralen Figur seines Planes machen müssen. Die traurige Wahrheit, daß der Zweck die Mittel heiligte, galt auch hier. Atlan beendete seine Vorbereitungen und ging dann in die Richtung seines Arbeits platzes. Als er fast den letzten kleinen In nenhof überquert hatte, blieb er stehen und wartete. In einem kleinen runden Türmchen hatte sich eine Tür geöffnet. Ein Lift offen sichtlich. Aus der Liftkabine kam eines jener Wurzelwesen, wie er es vor einigen Nächten vor seinem Fenster beobachtet hatte. Auch dieses Wesen trug zwei weiße Stäbe in den faserigen Fingern. Ohne Atlan zu beachten, drückte der Fremde mit einem Stab auf den Schalter. Der Lift schloß sich. Auf dem Kopfteil des Wesens sah Atlan in der Morgensonne deut
Der Flugmeister
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lich die Fetzen grüner Blätter. Blätter? In Spercos Reich? fragte der Lo giksektor. Der Fremde ging nur wenige Meter von Atlan entfernt in die Richtung, aus der Atlan gekommen war. Atlan sah abermals scharf hin. Es waren tatsächlich Teile von grünen Pflanzen! Die Schlußfolgerungen aus dieser Beobachtung waren aufsehenerregend für ihn. Angeblich gab es rund um MOAC und in der Stadt nicht ein einziges Blatt an einer einzigen Pflanze. Woher kamen dann die Blatteile? Atlan merkte sich den Standort des Lift schachts. Er wußte, daß er die Verbindung zwischen dem Bodenniveau MOACs und ir gendwelchen Räumen tief unter der Stadt entdeckt hatte. Er würde sich zu gegebener Zeit darum intensiv kümmern, sagte er sich und setzte seinen Weg zur Halle fort.
* Während er auf Körz wartete, beschäftigte sich Atlan weiter mit seinen schwebenden Sesseln und Sätteln. Das Exemplar, das er irgendwann selbst verwenden wollte, stellte ihn noch nicht ganz zufrieden. Schweigend und konzentriert arbeitete er weiter, bis schließlich Körz eintrat. Der Braise wirkte etwas erleichtert. »Nun?« fragte Atlan. »Die Spercoiden-Operateure sagten, sie würden nach Abklingen der Krankheit kom men. Oder ich sollte sie benachrichtigen, wenn Etorc sterben sollte.« Vermutlich würden also Tancai und Körz den Betrug mit den Farbtupfern selbst nicht erkennen können, sagte sich Atlan erleich tert. Seine Annahme, die Gleichgültigkeit der Spercoiden betreffend, war also richtig gewesen. Bis jetzt! »Ich bin sicher, daß Etorc überlebt«, ver suchte er Körz zu trösten. »Es ist ein starker Braise. Viele junge Wesen haben Kinder krankheiten und werden trotzdem groß und kräftig. So ist es auch in meinem Volk.«
»Du willst mich beruhigen«, meinte der Braise langsam. »Ich sage dir, was ich für die Wahrheit halte«, entgegnete Atlan. »Zusammen wer den wir es sicher schaffen, deinen Sohn am Leben zu erhalten und zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu machen.« »Auch Etorc wird spercotisiert und zu Spercos Diener gemacht werden.« »Du freust dich darüber?« »Es gibt keine andere Möglichkeit, auf dieser Welt zu leben, Partner.« Er hatte vermutlich recht, mußte sich At lan sagen. Das Überleben seiner Diener war durch Spercos Organisation gewährleistet, und er betrachtete immerhin seine Sklaven als wertvolle Arbeitseinheiten. Allerdings schien er sie ebenso kalt auszuwechseln, wenn sie versagten. Atlan holte tief Luft und murmelte: »Das Leben ist hart.« Der Umstand, daß Körz ohne Aufforde rung nach so kurzer Zeit die Begriffe Part ner und Kumpel benutzte, trug weiter dazu bei, daß der Arkonide dem System mentaler Versklavung mißtraute. Es war nicht lücken los und nicht stabil. Chancen, dieses System zu unterminieren und vielleicht nachhaltig zu schädigen, bestanden. »Wirst du heute wieder einen neuen Ver such wagen?« erkundigte sich Körz. Atlan hob beide Arme, die voller kleiner Schram men waren. »Heute nicht. Ich bin Flugmeister und versuche, einen funktionierenden Apparat zu konstruieren. Das kann ich nicht mit gebro chenen Armen und Beinen.« Körz stieß einen Laut aus, der das Lachen eines Braisen bedeuten konnte. »Wir werden weitersehen. Vielleicht wen det sich alles in die Richtung, von der wir träumen.« Seine Worte riefen in Atlan tiefe Nach denklichkeit hervor. Er drehte sich um und arbeitete weiter.
*
8 Wieder betrat Atlan die Wohnung der Braisen. Tancai saß auf einem Schemel und spielte mit Klein-Etorc. Der junge Braise sah be mitleidenswert aus. Atlan unterdrückte ein amüsiertes Grinsen. Seine Malkünste und die dauerhafte Farbe hatten die Haut des heranwachsenden Brai sen auf bemerkenswerte Weise verunstaltet. Schwingen, Körper und Hals waren von leuchtenden blauen und feuerroten Flecken in allen Größen und in einem bizarren Mu ster bedeckt. Aber Etorc schien nichts zu merken. Er wirkte, fand Atlan, ebenso be merkenswert gesund. »Nun, mein kleiner Freund«, sagte er und streckte behutsam die Hand aus. »Du bist der Operation durch die Spercoiden zu nächst einmal entkommen. Warten wir ab, wie es mit uns weitergeht.« »Er wird sterben«, sagte Tancai und zog an einem Flügel. Atlan sah verblüfft, daß sich die Schwingen fast vollständig mit zun genförmigen Horngefiedern überzogen hat ten. Die meisten waren silbergrau oder hell grau. Aber ebenso viele schillerten in metal lisch glänzenden Farben. Es mochte sein, daß sich diese Färbung mit zunehmendem Alter änderte. Aber kein Braise auf Roppoc hatte je die Flügel eines flugfähigen Braisen gesehen. »Ich glaube nicht, daß er sterben wird«, sagte Atlan. »Warum sagst du dies mit solch großer Sicherheit?« fragte Körz barsch. »Vielleicht fällt mir ein, wie ich ihm und euch helfen kann«, antwortete Atlan leise. »Ich denke nach.« »He, Kumpel!« kreischte undeutlich der junge Braise. »Ganz der Vater«, murmelte Atlan und grinste breit. »Das scheint das erste Wort zu sein, das er gelernt hat.« Körz lachte, packte seinen Sohn und warf ihn spielerisch in die Höhe. Etwa ein Meter weit war Etorc von den ausgestreckten Hän den des Vaters entfernt, als er seine ver gleichsweise riesigen Schwingen einsetzte
Hans Kneifel und damit wie wild schlug. Es gab einen rie sigen Luftwirbel, und alle drei sahen sie, daß Etorc sich aus eigener Kraft in der Luft hielt und ganz langsam heruntersank. Überglücklich fing Körz ihn auf. »Das ist das wahre Geheimnis des Flie gens«, sagte Atlan. »Wir sollten es bewah ren.« »Aber sie werden kommen und ihm die Flügel abschneiden!« rief Tancai aus. Sie wirkte verzweifelt. »Vielleicht können wir auch das verhin dern!« meinte Atlan zuversichtlich. Es hing von den Reaktionen der beiden Braisen ab und davon, wie geschickt er selbst sich in den nächsten Tagen verhielt. »Ich kann es nicht glauben!« sagte Körz in einer Art finsterer Entschlossenheit. »Abwarten!« Nach einigen Minuten ließ Atlan die Brai sen allein und zog sich in sein Apartment zurück. Er erinnerte sich an den Zeitpunkt, an dem er jenes Wurzelwesen beobachtet hatte – in der Nacht, vermutlich vor Antritt der Arbeit in den Kavernen unter MOAC. Atlan hatte in der Werkstatt eine kleine, lei stungsstarke Lampe gefunden und mitge nommen. Er würde sie brauchen.
* Wieder wurde es dunkel. Atlan dachte daran, daß dieses Nebeneinander von unzäh ligen Sklaven verschiedener Sternenvölker ihm nutzte. Zwischen den einzelnen Grup pen fand so gut wie keine Kommunikation statt; keiner wußte, was der Nachbar tat, und ob auch er Spercos Befehlen gehorche. In seinem dunklen Apartment saß der Ar konide auf der Liege und wartete. Nach und nach erloschen alle Lichter rundum. Die un deutlichen Stimmen wurden seltener, hin und wieder vernahm er weit entfernte Laut sprecherdurchsagen. Immer wieder durchdachte er die Phasen seiner zukünftigen Handlungen und die Tei le des Planes. Schließlich wurde sein Warten belohnt. Er
Der Flugmeister hörte die charakteristischen, schleifenden und raschelnden Geräusche des Fremden. Ein schneller Blick aus dem Fenster: wie erwartet, bewegte sich der Fremde über die Treppenstufen abwärts. Atlan sprang auf, griff nach der kleinen Lampe und wartete, bis das Wurzelwesen um die nächste Ecke verschwunden war. Dann folgte er ihm, ängstlich bemüht, im mer im Schatten zu bleiben und keine Ge räusche zu verursachen. MOAC schien in allen Teilen in totenähn licher Ruhe zu schlafen. Nichts rührte sich. Der riesige Mond des Planeten Roppoc hob sich über den Horizont und überschüttete das flache Land mit seiner harten Lichtflut. Geheimnisvolle Linien und Schattierungen zwischen Licht und Finsternis bauten sich auf. Sie machten aus der steinernen, leblosen Landschaft MOACs eine zauberische Kom bination aus Schluchten, Grüften und Schluchten. Atlan huschte dicht neben dem steinernen Pfad hinter dem fremden Wesen her und sah immer wieder kurz das Aufblit zen der beiden weißen Stäbe und den bizar ren Schatten der wurzelartigen Körperstruk turen des Fremden. Er preßte sich gegen eine Wand, als er den Fremden vor dem Lift stehenbleiben sah. Warte! Fahre nicht mit ihm zusammen hinunter! sagte beschwörend der Logiksek tor. Die Tür schob sich auf. Undeutlich hob sich der Fremde gegen die schwache Be leuchtung im Innern der Liftkabine ab. Der Fremde verschwand. Atlan löste sich aus dem Schatten und drückte nach einer Weile den Rufschalter. Als der Lift wieder an der Oberfläche war, trat er schnell hinein und fuhr abwärts. Je tiefer er sank, desto mehr nahmen ver schiedene, ihm bekannt vorkommende Ein drücke zu. Gerüche und Empfindungen wa ren es hauptsächlich; seine exakte Erinne rung sagte ihm, was es zu bedeuten hatte. Feuchtigkeit und Wärme, Geruch nach wild wuchernden Pflanzen und Blüten, die
9 betäubende Aromen ausströmten. Und noch etwas. Eine mentale Kraft, die er ebenfalls kannte. Der Begriff Karoque-Tal tauchte auf, der Nektar, der unsichtbar machte und, wie Atlan noch immer glaubte, gegen die Einwirkungen der Spercoiden-Anzüge in be grenztem Maß schützte, drängte sich in sei ne Erinnerungen. »Aber … ich Narr! Ich hätte damit rech nen sollen!« stöhnte er, von der Einsicht übermannt. Der Lift hielt, die Türen öffneten sich. At lan war mit einem Sprung draußen und fand sich mitten in einer Art Dschungel wieder. Von der Decke strahlten sonnenähnliche Scheinwerfer. Rings um den röhrenförmigen Liftschacht wucherten in großen, kastenför migen Elementen voller Erdreich und fau lendem Abfall riesige Pflanzen. Es traf At lan wie ein Schlag. »Ich kenne euch!« murmelte er. »Ich ken ne euch sehr gut. Wir haben jede Menge ge meinsame Erlebnisse.« Er verschwand in einem schmalen Gang zwischen den hydroponischen Elementen. Hin und wieder sah er zwischen den großen Kästen die Anschlüsse für Wasserleitungen, die vermutlich auch Nährflüssigkeiten trans portierten. Die Halle oder das Gewölbe war riesengroß. Es gab Hunderte oder Tausende von Pflanzen dieser Art. Kleine, mittelgroße und riesige, die wie schlanke Bäume wirk ten. Diejenigen, die sehr hoch gewachsen waren, schienen an ihren Spitzen zu ver schwinden. Blätter und Blüten wurden parti ell unsichtbar. Das waren jene Pflanzen, von denen die moralisch positiven Bewußtseinsinhalte der Spercoiden aufgesaugt und gespeichert wur den. Atlan sah ein, daß in einigen Fällen sei ne Überlegungen einfach zu wenig tief ge wesen waren: wo es Spercoiden in jenen An zügen gab, mußte es wohl auch diese Art von Pflanzen geben! Hier waren sie! Atlan betrachtete die Stämme und die blü tenübersäten Zweige. Plötzlich fiel sein Blick in halber Höhe einer ausgewachsenen
10 Pflanze auf dieses fremde Wesen: Es kletter te langsam zwischen dem Stamm und einem dicken Ast hin und her, klammerte sich mit vielen Fasern an die Karoque-Pflanze und handhabte schnell und geschickt die zwei weißen Stäbe. Jetzt befanden sich an den Enden der Stäbe blitzende, sich selbst bewe gende Werkzeuge. Sie schnitten, kappten, sägten und trennten ab. »Auch diese Frage«, flüsterte Atlan im Selbstgespräch und sog tief den betäubenden Duft der Blüten ein, »ist hiermit geklärt. Die Wurzelwesen befinden sich in MOAC und auf Roppoc, weil sie diese wichtigen Pflan zen pflegen.« Wo es diese Pflanzen gibt, ist der bekann te Nektar nicht weit! sagte plötzlich der Lo giksektor. Der Einwurf eröffnete eine weite re Perspektive. Langsam ging Atlan durch die schmalen Gassen zwischen den einzelnen Teilen die ses riesigen, unterplanetarischen hydroponi schen Gartens. Es war schon mehr ein großer Park. Die Blütenpracht der Pflanzen verkümmerte hier, ohne daß sie Sperco oder ein anderer Bewohner der Stadt sah. Der Ar konide sah einen zweiten und später einen dritten Fremden. Sie alle führten dieselben Arbeiten aus. Er sah keine Gefäße, in denen Nektar ge sammelt wurde. Begreiflich, denn diese Ei genschaft der Pflanzen durfte auf MOAC nicht bekannt werden. Aber er spürte in im mer kürzer aufeinanderfolgenden Wellen die starke Ausstrahlung der Pflanzen. Nach allen seinen Erlebnissen schien er inzwischen zu diesen Gewächsen eine deut liche Affinität zu besitzen. Sein photographisches Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich. Er wußte mit unumstößli cher Sicherheit, daß er dieselbe Art von Empfindungen vor ganz kurzer Zeit gehabt hatte. Nämlich an dem Zeitpunkt, als er mit seinem Leben abgeschlossen hatte und in die Tiefe der Halle stürzte. War es denkbar, daß die Pflanzen mit ihrer geballt gerichteten Kraft ihn gerettet hatten? Ob es möglich war oder nicht – das Ereig-
Hans Kneifel nis hatte stattgefunden. Und ohne jeden Zweifel waren es dieselben emotionalen Schwingungen. Im Verlauf der nächsten Stunde entdeckte Atlan mindestens zwei Dutzend der Wurzel wesen, von denen die Pflanzen geradezu lie bevoll gepflegt wurden. Nirgendwo gab es aber Gefäße voller Nektar. Atlan wanderte hin und her. Er hob den Kopf und betrachte te immer wieder die Spitzen der hochwach senden Pflanzen. Sie veränderten sich fort laufend, verschwanden und tauchten wieder auf, als ob ein Luftzug sie in eine andere Di mension treiben und zurückschaukeln wür de. »Was nun, Arkonide?« fragte Atlan. Er zuckte mehrmals die Schultern und setzte sich, den nutzlosen Scheinwerfer un angeschaltet in der Hand, auf die Kante ei nes der vielen hydroponischen Tanks. »Zunächst einmal zurück ins Quartier.« Atlan ging langsam wieder zurück in die Richtung des röhrenförmigen Liftschachts und stieg in die Kabine. Als er wieder in sei nem Apartment war, versuchte er, mit sei nem neuen Wissen etwas anzufangen. Es fiel ihm nur eine einzige Möglichkeit ein, und diese war ziemlich kühn.
* Wieder wurde Atlan vor der Zeit geweckt. Diesmal stand Tancai in der offenen Tür und hob grüßend den Arm. Eine furchtbare Ahnung überfiel Atlan. Er sprang auf und fragte leise: »Was ist los? Etorc? Ist etwas gesche hen?« »Ich bin hier, um dir zu danken, Partner«, sagte Tancai. »Körz weiß nicht, daß ich hier bin.« Atlan schüttelte verwirrt den Kopf und fragte zurück: »Wofür danken, Tancai?« »Ich glaube, du willst Etorc retten. Er ist so jung, so hilflos.« »Ich werde es versuchen«, sagte Atlan schließlich nach einigem Nachdenken.
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»Aber dazu brauche ich deine ganze Unter stützung.« »Du hast sie.« »Wundere dich nicht, wenn merkwürdige Dinge passieren. Sprich nicht mit Körz. Ich werde versuchen, ihn zu retten. Es wird nicht einfach werden. Ihr müßt mitspielen!« »Mitspielen? Was bedeutet ›mitspielen‹?« »Wir werden Dinge tun müssen, die nicht wahr sind. Lügen und Spercos Dienern falsche Tatsachen vorspielen«, erläuterte At lan. »Ich werde dir sagen, was zu tun ist. Du mußt später mit Körz sprechen. Und jetzt – geh bitte!« »Ich danke dir, Partner«, sagte die Brai senfrau und sprang mit weiten Sätzen die Stufen hinunter.
3. Atlan spürte, wie der Flugapparat ver suchte, ihn in Stücke zu reißen. An seinem Rücken hoben und senkten sich zwölf Libel lenflügel, lange, ovale Dinge, die zu sechst in zwei Reihen angeordnet waren. Durch den Luftzug, der beim Segeln entstand, wur den die Libellenflügel bewegt, und durch die rasend schnelle Bewegung sollte sich das Fluggerät selbst in die Höhe bewegen wie ein Helikopter. Atlan segelte diesmal nicht mehr. Er stürzte nur noch ab, und dies in einem stei len Winkel. Die Flügel sollten sich fortlau fend von vorn nach hinten bewegen und Auftrieb erzeugen, aber vorläufig erzeugten sie nur starke Vibrationen und höllische Ge räusche. »Das nächste Meisterwerk der Aeronau tik«, stieß er hervor und versuchte, den ra senden Sturz auf die am weichsten federnden Teile der Abfangschirme zu steuern. »Diese verdammten Stümper!« Es war das dreizehnte Modell, das in we nigen Sekunden ebenfalls zerstört sein wür de. Auch die Steuerung gehorchte ihm nicht mehr. Der letzte Flügel links löste sich aus der Verankerung und wirbelte klappernd da von. Hilflos erwartete Atlan die völlige Zer
trümmerung des Apparats. »Achtung!« rief sich der Arkonide zu. Er versuchte, sich kurz vor dem Aufprall auf die Schirme herumzuwerfen. Es gelang ihm nur zum Teil. Krachend löste sich in seinem Rücken der Flugapparat auf. In ei nem Hagel von Splittern und Bruchstücken fiel Atlan in die Schirme. Kurz zuvor hatte Körz die Geschwindigkeit des fallenden Körpers noch mit Hilfe des Fangstrahls dra stisch verringert. Wieder sank das Konglomerat aus Bruch stücken mit Atlan in ihrer Mitte auf den Hal lenboden hinunter. »Das war wieder ein Beweis für die Un tüchtigkeit der Konstrukteure!« sagte Körz und packte Atlans Arm. »Schon mehr ein Beweis dafür, daß es nicht so geht, wie es sich einschließlich Spercos alle vorstellten!« erwiderte Atlan. »Ich habe es dir oft genug gesagt: Nur We sen wie dein Herr Sohn und andere dieser Art können fliegen. Aber mir glaubt ja niemand!« »Sie werden dir schon noch glauben, Kumpel!« antwortete Körz mit Nachdruck. »Was fangen wir jetzt an?« »Jetzt zertrümmern wir das nächste Mo dell!« versprach der Arkonide. Der Lift brachte sie hinauf. Das nächste Modell war schon bereitgestellt. Es sah ähnlich abenteu erlich aus. Inzwischen hatte es sich Atlan hier etwas gemütlich eingerichtet; es gab Nahrungsmittel, einige bequeme Sessel und etliche Decken, die Atlan gefunden hatte. Es wirkte wie eine winzige Oase der Freiheit inmitten der großangelegten Sklaverei. Wo blieb Spercos nächste Reaktion, sein nächster Versuch? Der Tyrann verhielt sich aus unbestimmbaren Gründen im Augen blick völlig passiv. Nun, er nahm an, daß Atlan keinen eigenen Willen mehr besaß. Atlan dachte an das Flugmodell, an dem er seit Tagen arbeitete. Er würde noch viele Gelegenheiten haben, seinen Plan weiter zu verfolgen. Die Wachsamkeit des bewaffneten Brai sen Körz hätte deutlich nachgelassen. Er
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Hans Kneifel
vertraute dem Fremden. Atlan konnte damit rechnen, daß er ab und zu allein sein würde. Dies ermöglichte ihm einige weitere Ausflü ge innerhalb und unterhalb MOACs. Auch an diesem Tag tat er weiter seine Arbeit. Er probierte noch drei weitere Flugappa rate aus. Keiner davon funktionierte wirklich richtig. Später konstruierte Atlan wieder an dem Modell herum, das er sich für den persönli chen Gebrauch reserviert hatte. Er verstärkte an gewissen Stellen die Konstruktion, ent fernte an anderen Stellen zu schweres Mate rial und ersetzte es durch leichtere Werkstof fe, testete die Projektoren und die Ansprech barkeit der Steuerung und war, als ihn Körz zurückbrachte, nicht unzufrieden.
* Heute war der siebzehnte Tag seiner Ge fangenschaft auf MOAC. Vor einem Tag hatte sich das Leben des jungen Braisen ent scheidend verändert. Er war nicht mehr auf die Drüsen seiner Mutter angewiesen, son dern vertrug jene Nahrungsmittel, die er wachsene Braisen aßen. Etorc war größer und stärker geworden. Er flog innerhalb des Raumes, und deutlich war zu erkennen, daß er wirklich hervorragend würde fliegen kön nen. Ein paar Tage, überlegte Atlan, und du bist der beste Flieger des Planeten! Die Spercoidenärzte hatten sich nicht wie der gemeldet, aber ihr Kommen stand un mittelbar bevor. Die »Krankheit« schien zu vergehen, be merkte er, denn die meisten Farbflecken wa ren von der wachsenden Haut abgestoßen worden. Etorc besaß bereits einen begrenz ten Wortschatz und wandte ihn auch an. Er war ein liebenswerter Heranwachsender. Die Eltern behandelten ihn mit einer Mischung aus unverhohlenem Stolz und der Gewiß heit, daß die Schwingen bald operiert wer den würden. Atlan wandte sich an Körz und fragte:
»Angenommen, Etorc wäre an der Krank heit gestorben. Was dann?« Körz blickte ihn entsetzt an und stieß her vor: »Wir hätten ihn begraben, draußen in der Ebene, bei den anderen. Und ich hätte an die Ärzte eine Meldung machen müssen.« »Ich verstehe«, murmelte Atlan und ver suchte, Tancai nicht anzusehen. Die Brai senfrau erhoffte sich von ihm eine Aktion, aber sie würde ihn beim geringsten Verdacht verraten. Sie konnte nicht anders. Atlan lächelte grimmig und sagte: »Meint ihr nicht auch, daß alle Braisen so aussehen und so fliegen sollten wie euer Etorc? Sperco beraubt euch nicht nur der persönlichen Freiheit, sondern auch der na türlichen Fähigkeiten!« Sie antworteten nicht. Der Gewissenskon flikt war zu groß. »Hi, Kumpel!« krähte Etorc und schwang sich vom Fenstersims in elegantem Gleitflug bis zu seinem Lager und wieder hinauf auf die Tischplatte. »Wart's ab, Kumpel«, murmelte der Arko nide und deutete zur Tür. »Ich gehe jetzt«, sagte er. »Du holst mich morgen wieder ab, wie an jedem Morgen?« Körz stieß einen zustimmenden Laut aus. Atlan wartete, bis es dunkel wurde. Nach dem das Wurzelwesen, pünktlich wie jede Nacht, vor seinem Fenster die Stufen ra schelnd hinuntergeglitten war, hängte sich der Arkonide die schwere Tasche über die Schultern. Er hatte sie in der Werkstatt zu sammengebastelt und mit Nahrungsmitteln und Getränkebehältern gefüllt. Nur eine Waffe hatte er trotz intensiver Suche nicht gefunden. Er glitt lautlos durch die Dunkelheit auf die Wohnung der beiden Braisen zu. Sein Plan für diese Nacht war einfach und sehr riskant. Er erkannte den schlafenden Etorc, der sich in seinem Bett zusammengerollt hatte wie eine Kugel. Vorsichtig hob Atlan den Braisen hoch und nahm ihn ebenso be hutsam unter den Arm. Der Kleine schlief tief und erwachte erst, als Atlan sich mit ihm
Der Flugmeister auf dem kleinen Platz vor dem Lift befand. Zwischen den Flughäuten blinzelte ein großes Auge den Arkoniden an. »He, Kumpel!« flüsterte Atlan. »Wir ge hen fliegen.« »Fliegen, Kumpel!« piepste Etorc. »Richtig. Still.« Die Platte schob sich zurück, Atlan trat in den Lift hinein. Ungeduldig wartete er, bis der Lift wieder hielt. Der vertraute Geruch der Hydroponikgärten schlug ihm zusam men mit dem grellen Licht entgegen. Schnell lief Atlan zwischen den Behältern entlang und setzte sich schließlich. Er hob Etorc an und legte den Braisen zwischen ei nige Wurzeln. »Kumpel! Aufwachen!« sagte er und streichelte ihn. Langsam entrollte sich das Wesen und schüttelte die Schwingen. »He?« »Jetzt wird es schwierig«, sagte Atlan und versuchte, dem Kleinen zu erklären, wie er sich zu verhalten habe. Würden die Wurzel wesen Etorc verraten, wenn sie ihn hier zwi schen ihren sorgsam gehegten Wunderpflan zen fliegen sahen? Aufmerksam starrten die großen Augen den Arkoniden an. Atlan sprach langsam und ließ Etorc wiederholen. Nach einer halben Stunde war er einigerma ßen sicher, daß ihn der junge Braise verstan den hatte. Die Nahrungsmittel deponierte Atlan auf der Oberfläche einer Kabine, in der die Wur zelwesen größere Werkzeuge und Kanister einer streng riechenden Flüssigkeit aufbe wahrten. Es schien eine Art Dünger zu sein, entschied Atlan. Etorc schien völlig wach zu sein. Er rann te leise piepsend einen Gang zwischen den Pflanzentrögen entlang, erspähte eine Lücke zwischen den Ästen und Zweigen und schwang sich mit drei Schlägen der kräfti gen Schwingen in die Luft. Hinter ihm be wegten sich die Blätter und Blüten im Luft zug. Die Spannweite der Flügel war nicht geringer als zweieinhalb Meter, und in weni gen Tagen würde sie noch größer sein. Atlan starrte begeistert dem fliegenden
13 Braisen nach. Etorc bewegte sich mit der Eleganz einer Möwe zwischen den Stengeln und Stämmen. Noch sah der Arkonide eine Menge kleiner Ungeschicklichkeiten, und auch die ange wandte Kraft ließ noch zu wünschen übrig. Aber es war damit zu rechnen, daß Etorc durch dieses Training und die kräftige Nah rung von Tag zu Tag besser würde fliegen können. Bis hierher hat dein Plan gestimmt, sagte der Logiksektor zufrieden. »Er ist voller Unsicherheiten«, brummte der Arkonide. Er wartete noch ein wenig, bis Etorc müde wurde und sich schließlich auf der Kabine niederließ, noch einmal »Kumpel!« krächzte und einschlief. Dann kehrte der Arkonide in seine Zelle zurück. Der nächste Akt des Dramas ließ nur eini ge Stunden auf sich warten. Diesmal wurde Atlan von Körz und Tancai zusammen ge weckt. Beide befanden sich erwartungsge mäß in heller Aufregung. »Botosc! Er ist weg!« fauchte der Braise und schüttelte Atlan an beiden Schultern, um ihn aufzuwecken. »Wer ist weg?« fragte Atlan und tat, als sei er eben aus tiefstem Schlaf hochge schreckt, Tancai stand da und wimmerte lei se. »Etorc!« Atlan lachte leise und sagte in gutmüti gem Ton: »Er wird weggeflogen sein. Vermutlich sieht er sich die Umgebung von MOAC an, Körz.« Tancai rief jammernd: »Du hast versprochen, uns zu helfen, Fremder. Was hast du mit Etorc gemacht?« Atlan antwortete ernst und verschwöre risch: »Ihr müßt mir glauben! Etorc ist in Si cherheit! Ich habe ihn versteckt.« Außerdem war er ehrlich davon über zeugt, daß diese Pflanzen Etorc schützen würden. Wie das allerdings vor sich gehen sollte, wußte er auch nicht, aber diese positi
14 ve Ausstrahlung hatte auch im Fall Etorcs etwas zu bedeuten. Wenn sie ihn, Atlan ge rettet hatten, würden sie einen anderen »Fliegenden« vermutlich auch schützen. Er hob die Hände und wiederholte: »Niemand wird ihn finden. Hört auf zu jammern!« Tancai und Körz sahen sich schweigend an. Dann legte die Frau ihrem Gefährten die Hand auf die Schulter. Es war eine Geste der Hoffnung. »Was hast du vor?« fragte Körz unsicher. »Etorc ist heute nacht an der Infektion ge storben!« erklärte Atlan. »Ich meine, daß wir ein Bündel Kleider an seiner Stelle be graben werden. Und du, Körz, meldest den Tod deines Nachkommen an die Spercoi denärzte.« Das war der nächste wirklich schwache Punkt seines Planes. Atlan war ziemlich si cher, daß Tancai diese Komödie mitspielen würde. Aber wie verhielt sich Körz? Atlan holte tief Atem und versuchte, seinen Bewa cher zu überzeugen. Was war stärker? Der Vaterinstinkt oder die Gehorsamspflicht dem Tyrannen gegenüber? »Ich soll entgegen Spercos Anordnungen handeln?« »Ja. Du hilfst dir, Tancai, eurem Sohn und mir. Niemand wird dieses Begräbnis kon trollieren.« »Das kann ich nicht, Botosc!« Es war frühester Morgen. Die ersten Son nenstrahlen badeten Teile der Wohnanlage in grelles Licht. Noch waren die meisten Einwohner nicht erwacht, es gab keinen Lärm, und die Wahrscheinlichkeit, daß die erbitterte Unterhaltung mitgehört wurde, blieb gering. Atlan versuchte, mit schwerwiegenden Argumenten hauptsächlich Körz zu überzeu gen. Er hatte seit dem ersten Moment ver sucht, die beiden Eltern darauf vorzuberei ten, daß Etorc unbeschadet seine Flugfähig keit behalten sollte. Davon, daß er mit Farbe die Krankheit simuliert hatte, sagte er natür lich nichts. Schließlich hatte er den Vater in eine Lage versetzt, die Körz nur noch sagen
Hans Kneifel ließ: »Ich sehe ein, daß deine Vorschläge die beste Lösung sind. Tun wir also, als ob wir Etorc in der Ebene begraben.« »Ein Sieg der Vernunft!« rief Atlan. »Ich ahne, daß wir später für diesen Be trug schwer bestraft werden!« versicherte Körz und winkte. »Komm!« »Niemand wird bestraft, wenn das ge schieht, was ich glaube«, entgegnete der Fremde mehrdeutig. Bisher hatte sich Körz trotz der Spercoti sierung keineswegs wie ein willenloser Sklave verhalten. Die Spercotisierung schien schon vor langer Zeit vorgenommen worden zu sein, vermutlich damals, nachdem man seine Flügel amputiert hatte. Falls Körz ir gendwann zu der Ansicht kam, alle diese ge heimnisvollen Vorgänge an Sperco zu beichten, falls es einen dementsprechenden Auslösemechanismus gab, waren sie tat sächlich alle verloren. Aber Atlan blieb, in Maßen, optimistisch. »Was soll geschehen, Botosc?« »Größere Veränderungen«, murmelte At lan und folgte den Braisen zu ihrem Quar tier. Dort wickelten sie kissenartige Gegen stände, einige dünne Decken und einige Ge fäße zusammen und befestigten ein helles Tuch um das Bündel. Tancai knotete einige Schleifen in die Verschnürung ein, während Körz aus dem Magazin zwei Grabwerkzeu ge holte und eines davon Atlan übergab. »Je weniger Spercotisierte uns sehen, de sto besser wird es sein«, meinte der Braise. Sie verließen nacheinander die Wohnung und schlugen, langsam und traurig einher schreitend, einen anderen Weg ein. Atlan er kannte schließlich den Innenhof wieder, durch den er vor Tagen hierher gebracht worden war. Die schwer bewaffneten Spercoiden ver ließen ihre Posten an den Eingängen und hielten die Gruppe auf. »Was habt ihr da?« fragte einer der Wachtposten. Tancai hob das Bündel und antwortete in klagendem Tonfall. Atlan hatte nicht mit dieser Wache gerechnet und be
Der Flugmeister gann nervös zu werden. Bewegungslos standen die vier Spercoi den da und betrachteten die Braisen. Schließlich fragte einer: »Ihr habt den Tod gemeldet, Körz?« »Ich melde ihn, wenn alles vorbei ist. Ich bin der Bewacher des Flugmeisters. Wir sind bald wieder zurück.« »In Ordnung.« Sie gaben den Weg frei. Atlan atmete auf. Das Glück hatte ihn also noch nicht verlas sen. Die drei langsam und traurig dahinmar schierenden Personen verließen nach einigen Schritten die glatte Straße und die langen, schwarzen Schatten der blätterlosen Allee bäume. Das hohe Gras war naß, die Tautrop fen glänzten und leuchteten an den Spitzen der Gräser. Gravitätisch stelzten in kleinen Gruppen die flügellosen Vögel und suchten nach kriechenden Insekten. Zwischen den niedrigeren Gebäuden der kleinen Siedlung, deren Außenseite wie eine Mauer mit unzäh ligen Nischen und Vorsprüngen wirkte, und der offenen Fläche der Ebene standen drei große Bäume. Sie waren schwarz, und fast alle Zweige hingen wie dicke Schnüre herunter. Zwi schen den Stämmen, die ein ziemlich gleich mäßiges Dreieck bildeten, breitete sich nied riges Gestrüpp aus. Die Zone atmete trostlo se Verlassenheit aus. »Dorthin?« fragte Atlan und zeigte auf das dunkle Dreieck. »Wohin sonst? Dort wird alles Gestorbe ne in die Erde gebracht.« Sie bahnten sich einen Weg durch das feuchte Gras. Bald waren die Beine bis zu den Knien naß. Schweigend gingen sie wei ter und erreichten den Rand des Begräbnis felds. Atlan sah sofort, daß vor kurzer Zeit mehrere Gräber ausgehoben worden waren. »Gibt es bestimmte Vorschriften?« fragte Atlan. »Nein. Nur … wir sollten so schnell wie möglich alles hinter uns bringen.« Atlan nahm das dreieckige Werkzeug und stach ein kleines Quadrat Grasstücke aus, stapelte die würfelförmigen Brocken aufein
15 ander und sah zu, wie Körz eine kleine, aber tiefe Grube aushob. Es schien keine Begräb niszeremonien zu geben – vermutlich hatte Sperco diese Bräuche abgeschafft. Körz sagte nach einigen Minuten: »Ich bin fertig. Das Loch ist tief genug.« Atlan sagte leise: »Denkt daran, daß wir vielleicht beobach tet werden. Keine Experimente.« »Ich habe verstanden, Kumpel«, sagte Tancai. Es war deutlich zu sehen, daß beide Braisen unter einer nahezu beängstigenden Anspannung ihrer Nerven standen. Mit langsamen Bewegungen versenkten sie das Bündel und blieben eine kleine Wei le bewegungslos stehen. Dann schaufelten Atlan und Körz den Sand wieder ins Loch, und der Arkonide sah, daß der Sand kleine Knochen und die Splitter größerer Knochen enthielt. Als das Loch aufgefüllt war, schichtete der Arkonide die Grasstücke ne beneinander und trat sie langsam fest. Er sagte zurückhaltend: »Ich hoffe, daß eure Angst nachläßt. Nie mand wird sich jemals wieder um Etorc kümmern.« »Sie kümmern sich um ihn, wenn er wie der sichtbar wird«, schnarrte Körz. »Ich bin anderer Meinung«, erklärte Atlan und schulterte den Spaten. Auf ihren eigenen Spuren gingen sie zu rück. Die Spercoidenwachen ließen sie un gehindert wieder den Außenbezirk MOACs betreten, und kurz darauf, nach einem flüch tigen Essen, gingen Körz und Atlan zurück in die Halle der Versuche.
* Ein unhörbares Signal rief den persönli chen Diener herein. Er näherte sich in vorge schriebener Demutshaltung dem Arbeit stisch und sagte leise: »O Herr. Du hast gerufen?« Sperco bewegte sich unruhig in der Sitz schale. Er warf einen Blick auf die Informa tions-Bildschirme und sagte: »Ich bin unruhig und unguter Laune. Gibt
16 es Gründe für meine Unruhe?« Aus dem Helm des Spercoidenanzugs kam knarrend die Antwort: »Ich kenne keine Gründe dafür. Alles ist ruhig. Die Operationen«, der Diener deutete auf die Schirme, die von den Nachrichtenab teilungen der riesigen Raumforts und Nach richtensatelliten über Roppoc gespeist wur den, »gehen mit militärisch exakter Zuver lässigkeit weiter vor sich. Der Flugmeister arbeitet zuverlässig, wie es einem Spercoti sierten nicht anders möglich ist.« Sperco hatte immer wieder seine Bild schirme und Lautsprecher in die Halle der Versuche geschaltet. Er sah ein, daß alle sei ne Konstrukteure und sämtliche Konstruk tionen versagt hatten. Plötzliche Wut ließ ihn auffahren. Er rief schneidend: »Befindet sich noch einer der Versager in MOAC?« Vorsichtig wandte der Diener ein: »Welcher Versager? Versager welcher Art, meine ich.« Sperco schrie: »Versager der Flugtechnik. Irgendeiner, der mich in Todesgefahr gestürzt hat!« »Ein Spercoide ist in seiner Zelle. Er hat ein stählernes Insekt konstruiert. Es war eine der letzten Konstruktionen.« Sperco deutete mit seiner zitternden Klau enhand auf den großen Bildschirm und don nerte wütend: »Zieht ihn aus der Zelle. Vernichtet ihn!« »Du wünschest eine Übertragung hierher, o Herr?« »Selbstverständlich.« »Es wird geschehen, Herr. Sperco ist die Macht!« Sperco scheuchte den Diener mit einer är gerlichen Handbewegung aus dem Raum. Die Befehle wurden sehr schnell übermittelt. Das Bild auf dem riesigen Bildschirm wech selte und zeigte eine einfache Zelle, in der ein Spercoide von einem Kommando von der Pritsche gerissen und aus der Tür gezerrt wurde. Man brachte ihn auf einen runden, freien Platz, dessen Boden und Wände mit Metall ausgeschlagen waren. Kräftige
Hans Kneifel Scheinwerfer erhellten die Szene. Die Spercoiden handelten schnell und so effizient, wie Sperco es erwartete. Sie öffne ten mit sicheren Griffen den Anzug, noch ehe der Versager auch nur an Gegenwehr denken konnte. Dann sprangen sie zurück, denn der Anzug löste sich in lautlosen und kalten Flammen auf. Mit ihm starb augen blicklich der Spercoide. Sperco sah schwei gend auf den Bildschirm und erlebte mit, wie der Versager starb. Nachdem der Anzug sich aufgelöst hatte, erschien das Bild des persönlichen Dieners auf dem Schirm. »Darf ich noch etwas tun, das deine Billi gung hervorruft, Herr?« fragte er. »Nein!« brüllte Sperco. »Ich werde mich um alles andere selbst kümmern.« Er schaltete das Bild aus der Verbindung, machte es sich in der Sitzschale bequem und sah und hörte weiterhin die vielen wichtigen Informationen aus allen Teilen seines Impe riums. Trotzdem wich seine Unruhe nicht einen Moment.
* Atlan blieb stehen und schob vorsichtig einen langen Zweig zur Seite. Er hatte den deutlichen Eindruck, daß dieser Zweig mit den wohlriechenden Blüten ihn »mochte«, denn dieser Zweig gehörte einer KaroquePflanze weit unter MOAC. Atlan blinzelte in die gleißenden Lichtstrahlen und hoffte, daß sich hier unten nichts ins Negative geändert hatte. Er blickte nach links. Hier kletterte zwischen kleinerwüchsigen Pflanzen eines der bizarren Wurzelwesen über die Schichten des Nährbodens. Die Werkzeuge klapperten, der Pflanzenheger schien mit Begeisterung in seine Arbeit ver tieft zu sein. Atlan drehte den Kopf nach rechts und suchte Etorc. Der Braisen-Flieger hatte länger als vierundzwanzig Stunden Zeit gehabt – und jetzt würde es sich zeigen, ob ihn die Wurzelwesen gesehen und verra ten hatten.
Der Flugmeister Ihn jedenfalls beachteten die Wurzelwe sen nicht. Oder zumindest nicht so, daß er den Eindruck hatte, sie würden es tun. Die ses bleiche Wesen jedenfalls benahm sich so, als sei der Fremde nicht existent. Atlan überlegte sich, wieviel er riskieren konnte. Tu's, sagte der Logiksektor. Atlan schnippte mit den Fingern und rief unterdrückt: »He, Kumpel! Sturzflug!« Er blieb stehen und fühlte halb unbewußt die schmeichelnden und lockenden Strö mungen der Emotionen. Eine Stimmung er griff ihn abermals, die ihn friedlich stimmte und seine Probleme vorübergehend zur Seite schob. Zum erstenmal hatte er diese Wir kung in jenem Tal auf Karoque gespürt. Heute, unter ähnlichen Verhältnissen, spürte er sie ebenso, während er auf ein Zeichen des jungen Braisen wartete. Über ihm gab es ein Knistern und Ra scheln. Einige vielfarbige Blütenblätter und klei ne Teile von Blättern rieselten lautlos auf ihn herab. Atlan blickte schnell nach oben, blinzelte im Lichtschein und sah endlich Etorc. Er schien innerhalb von rund einem Tag und ei ner Nacht unendlich viel gelernt zu haben. Elegant und absolut souverän flog und se gelte er durch den künstlichen Dschungel der Pflanzen. Er wich einzelnen Blüten aus, umrundete Stengel und Ästchen, zog Kreise und Spiralen, ließ sich über einen Flügel fal len und tauchte herunter, vor Atlan wie ein Falke in der Luft verharrend. »Hier bin ich!« sagte Atlan leise und freu te sich, daß Etorc augenscheinlich ohne Pro bleme überlebt hatte. »He, Kumpel!« schrie Etorc begeistert. Atlan streckte den rechten Arm aus. In zwischen hatte Etorc ein Gewicht von mehr als dreißig terranischen Kilogramm erreicht; er war insgesamt etwa ein Drittel so groß wie seine Eltern. Etorc landete auf Atlans Arm, kreischte übermütig auf, und der Arko nide mußte zuerst seinen Arm mit der linken Hand abstützen und sich dann setzen, weil
17 der junge Braise ihm zu schwer wurde. »Wie geht es, Kumpel?« fragte Atlan. Er war davon überzeugt, daß Etorc ihn mochte und ihm vertraute. Er sah sich nicht ent täuscht. Langsam, nach Worten suchend, erklärte der Braise: »Gut, Kumpel. Nicht gesehen lange.« Atlan nickte, streichelte die härter wer denden Muskeln unter den scharfrandigen Pseudofedern und antwortete: »Bald sehen immer. Bald sehen Tancai und Körz. Sie dich … lieben.« »Ich lieben alle!« fistelte Etorc und leckte mit seiner langen Zunge Atlans Handrücken. »Wie schön.« »Hier gut fliegen. Hier alles da. Ich manchmal trinken … Saft aus Blüte.« Atlan zuckte zusammen und runzelte die Stirn. Daß Etorc nicht nur rasend schnell das Fliegen lernte und die Sprache nicht weniger leicht, war ganz in Ordnung und zeigte ihm, daß viele seiner Mutmaßungen und Überle gungen richtig gewesen waren. Daß er jetzt auch noch Nektar trank und vermutlich un sichtbar wurde, bedeutete eine abenteuerli che Variante der Pläne. Warum eigentlich? Unsichtbar sein be deutet Schutz vor Entdeckung, sagte der Lo giksektor. Atlan fragte: »Hunger? Durst?« Etorc schlug fröhlich mit den großen Schwingen und entfachte einen kleinen Sturm. »Nein. Alles da. Oben.« Mit den Klauen an einem Flügel deutete der Braise zum Dach des Würfels. »Verstehe. Fremde, sie stören?« fragte er und deutete auf ein Wurzelwesen, das in ih rer Nähe unbeirrbar arbeitete. »Nein stören. Nicht bemerken.« »Fabelhaft. Du mir helfen?« Etorc sah ihn voller Begeisterung an und pfiff: »Helfen. Gut!« Atlan griff zwischen die Säume seines dicken Hemdes und holte eine verschließba
18 re Dose hervor, die Fruchtsaft enthalten hat te. Er gab sie Etorc, der begierig danach griff und zu spielen begann. »Einfüllen Saft aus Blüten. Ganz voll, ja, Kumpel?« »Ganz voll. Morgen abholen, Kumpel!« »In Ordnung. Ich hole es morgen ab. Und bis dahin lernst du weiter fliegen.« »Lernen. Viel Spaß, Kumpel.« Atlan war nahe daran, ein hysterisches Kichern auszustoßen. Er machte sich ernst hafte Sorgen, betrog die versklavten Brai sen, inszenierte eine Scheinbeerdigung und mußte hier nachdrücklich erfahren, daß der angeblich tote Braise sein Leben in den voll sten Zügen genoß. Seine Unruhe nahm zu; so viel Euphorie und Leichtsinn konnten auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Halte an dich! empfahl der Extrasinn. Je frecher, desto erfolgreicher! »Schon möglich. Immerhin sind es meine ramponierten Nerven«, flüsterte der Arkoni de und setzte Etorc zwischen den Tankwän den ab. Er selbst hatte an diesem späten Abend noch etwas Besonderes vor und konnte nur hoffen, daß Sperco oder einer seiner Diener nicht ausgerechnet jetzt nach ihm suchte. »Morgen Gefäß voll, wie?« fragte er und deutete auf die dünnwandige Büchse. »Voll, Kumpel. Alles klar.« »Atlan als Fluglehrer und Fremdwesen-Erzie her. Wenn ich es Razamon oder Thalia er zähle, erklären sie mich für verrückt!« mur melte Atlan kopfschüttelnd. »Verrückt, Kumpel. Alles klar!« kreischte in unschuldiger Fröhlichkeit der junge Brai se, nahm einen Anlauf und startete mitsamt dem leeren Gefäß wie ein riesiger Vogel. Atlan blickte ihm nach, bis er zwischen den feuchten Zweigen und Blüten verschwunden war. Atlan ging etwa vierhundert Meter gera deaus und wich nur dann zur Seite aus, wenn sich ihm arbeitende Wurzelwesen in den Weg stellten. Er wollte versuchen, ande re Teile der Unterwelt von MOAC zu ent decken.
Hans Kneifel Vielleicht fand er etwas, das ihm helfen konnte. Der Duft und die entspannende Ausstrah lung der Blumen und Blüten begleiteten ihn bis an ein rostbedecktes, altes Tor. Atlan hob seinen Handscheinwerfer und leuchtete die wichtigsten Teile an. Er sah, daß die schweren Torangeln und die Hebel und Un tersetzungen der Verschlüsse dick eingefet tet waren. Fremdartige Schriftzeichen verro steten; er hätte sie ohnehin nicht entziffern können. Es schien sich jedoch um den Typ von Eintritt-verboten-Schildern zu handeln. Wenn diese Annahme zutreffend war, würde er jenseits dieser massiven Tür etwas finden, das keineswegs alltäglich war. Er korrigierte sich. Es war für ihn viel leicht nicht alltäglich, sicher aber für die komplizierte hierarchische Struktur der Rie senburg MOAC. Er zog unter Anspannung aller seiner Kräfte den obersten Hebel her unter. Das Tor war größer als sechs Quadrat meter, breiter allerdings als hoch. Der nächste Riegel! Er bewegte sich lang sam, aber ohne ernsthaften Widerstand. At lan legte das Ohr an den rostenden Stahl, aber er hörte und spürte nichts. Der letzte Riegel wurde zurückgezogen. Knirschend bewegten sich die komplizierten mechanischen Untersetzungen und zogen unterarmdicke Bolzen aus den ebenfalls dick eingefetteten Zuhaltungen. Mit einem fauchenden Geräusch öffnete sich die schwere Tür. Atlan stemmte sich dagegen und huschte durch den entstande nen Spalt. Er befand sich in einem milchigen Halbdunkel, lehnte sich wieder gegen die Platte und schob sie mit dem Rücken zu. Er schloß die Tür nur mit einem Hebel. Dann erst drehte er sich um und versuchte zu erkennen, wo er sich überhaupt befand. Du hattest es erwartet – in alptraumarti gen Gedanken! sagte resignierend der Lo giksektor. Atlan senkte den Kopf. So war es. »Ich hätte es mir denken müssen«, schalt er sich betroffen. Er ging einige Schritte vorwärts und be
Der Flugmeister trachtete das alptraumhafte Panorama, das sich ihm bot. Viele Bilder, die in seiner lan gen, tiefen und unbewußten Erinnerung schlummerten, schoben sich ineinander und verdichteten sich zu einem Eindruck, der viele Empfindungen gleichzeitig weckte. Abstoßend, faszinierend und phantastisch. Trostlos, apokalyptisch und riesig. Gleicher maßen Ausdruck eines pervertierten Ver standes, aber in seiner Art logisch und von glasklarer Transparenz. Bösartig, mitleider regend und doch so fremd, daß echte Emo tionen erst gar nicht durchschlugen. Dazu kam, daß die Betroffenen dieses schauerli chen Panoramas auf ihre Art wenig anzie hend waren. Trotzdem blieben sie die un schuldigen Opfer dessen, der dies alles zu verantworten hatte. »Verfluchter Sperco!« flüsterte Atlan und ging abermals ein Dutzend Schritte weiter. Er sah: Eine riesige Mulde, etwa zweitausend Meter im Durchmesser. Die Ränder waren hochgezogen und bestanden aus Mauern oder Übergängen in den Fels des Planeten, die wie glasiert oder geschmolzen wirkten. Von der Decke hingen an dicken, stangenar tigen Elementen vier verschiedene Licht quellen herunter. Jede von ihnen beleuchte te, mit fließenden Übergängen, rund neunzig Grad dieses annähernd kreisförmigen Tales. Ein weißes Mondlicht auf der einen Seite, im ersten Quadranten. Dann folgte eine Art, die Atlan nur als Morgenlicht identifizieren und deuten konnte. Das Licht eines frühen Morgens. Waag recht strahlend, sehr hell und trotzdem mild und wie gefiltert wirkend; der Eindruck war unverkennbar. Der folgende Quadrant stand unter der stechenden, bösartig heißen und senkrecht einfallenden Strahlung einer Mit tagssonne. Daran schloß sich ein abendli ches Licht an; milde, warm, versöhnlich und nächtliche Kühle versprechend. Atlan stand an einem der drei oder vier »höchsten Punkte«, nämlich am Anfang ei nes weit in das betreffende Gebiet hineinra genden Steges.
19 Die Wände des Talkessels waren so glatt, daß keines der hier gefangenen Wesen auch nur die geringste Chance hatte, jemals ent kommen zu können. Die Stege schwebten, nachdem sie die senkrechten Wände und Abgründe durchstoßen hatten, wie vorsprin gende Pfade im Leeren und näherten ihre Enden in keinem Fall irgendwelchen Felsen oder Pflanzen an. Der Arkonide sah, daß es auch vier ver schiedene Vegetationszonen gab. Es wech selten einander kleine, künstlich aussehende Bassins und sandige Flächen ab, es gab ebenso winzige Wälder aus verschieden hoch wachsenden Bäumen. Mit Blättern! unterbrach der Extrasinn aufgeregt. »Tatsächlich!« murmelte Atlan. Er stand noch immer unter dem Bann dessen, was er sah und noch viel mehr dessen, was er er kannte und analysierte. Die vier Vegetationszonen unter dem Ein fluß von vier verschiedenen Lichtquellen waren die Heimat von molchähnlichen We sen. Es gab sie in jeder Größe, folglich in je der denkbaren Altersstufe. Überall sah man sie in kleineren oder größeren Gruppen. Aber sie alle waren in ununterbrochener Be wegung. Auf den ersten Blick waren diese Ortsveränderungen nichts anderes als chaoti sches Durcheinander und quirlende Betrieb samkeit, auf den zweiten Blick zeichnete sich eine Art Kreislauf ab, der von Morgen über Mittag und Abend nach nachts erfolgte. Atlan begriff. Wenn sich der Planet nicht drehte und für einen richtigen Ablauf der Tageszeiten sorgte, dann taten dies die Be wohner dieses miniaturisierten Kosmos selbst. Sie wanderten durch die verschiedenen Teile des »Tages«. »Welches abartige, kranke Hirn hat diese Tragödie ersonnen?« fragte er sich laut. Es gab nur eine Antwort. Sperco, der Tyrann! Atlan bewegte sich vorsichtig auf dem et wa vier Meter breiten Steg vorwärts. Merk würdigerweise verspürte er keine Angst, ent
20 deckt zu werden. Er versuchte, den Sinn die ses riesigen Terrariums zu begreifen. Die Lebewesen hier vegetierten dahin. Sie hatten Wasser zum Trinken und zum Baden oder Schwimmen. Sie selbst waren viergliedrig und sehr entfernt humanoid, aber nur die erwachsenen Exemplare beweg ten sich auf den Hinterläufen. Es gab eine riesige Menge von Höhlen, die in die teil weise künstlich hergestellten, teilweise aus dem Material des Planeten und teilweise aus dem Bruchgestein oder Aushöhlung ge schaffenen kleinen Berge getrieben waren. Diese Höhlen dienten unzweifelhaft als Un terkünfte. Es gab auch Nahrung, denn an vielen Stellen in allen vier Tageszonen sah Atlan Einrichtungen, die wie große Brunnen aus sahen. Aber dort schien eine Nährflüssigkeit aus den Stutzen zu laufen. Die Molche, das waren die Insassen der Spercoiden-Anzüge. Hier wurden sie gezeugt und geboren, hier wuchsen sie auf und wurden vermutlich auch für den Dienst an Sperco vorbereitet. Sie kannten Licht und Schatten, Tag und Nacht, Bäume und Landschaft. Vermutlich waren sie bis zu einem bestimmten Punkt auch noch völlig normal und im Besitz aller ihrer Emotionen. Atlan sah aus dem Augenwinkel einen strahlenden, feuerroten Lichteindruck, er schrak und blieb unbeweglich stehen. Roboter! Ihm genau gegenüber, in der NachtMondlicht-Sektion dieses Überlebensbe reichs, bewegte sich der Steg. Er senkte sich langsam von der senkrechten Wand hinunter und bohrte seine Vorderkante in eine Gras fläche. Eine Gruppe von etwa drei Dutzend Robotern erschien in maschinenhaftem Gleichschritt. Sie ging den Steg hinunter und auf eine Gruppe von mindestens hundert Molchen zu, die sich beim ersten Aufblitzen des roten Signalfeuers dort versammelt hat ten. Hinter den Robotern schwebten Antigrav plattformen. Sie wirkten wie Kleiderständer.
Hans Kneifel Nur mit dem Unterschied, daß es keine Klei der waren, die dort auf Gestellen hingen, sondern die typischen Spercoidenanzüge. Atemlos und gebannt sah Atlan zu, was schräg unter ihm geschah. Die Roboter rissen die Anzüge von den Hängestangen. Die Anzüge klafften ausein ander wie Papierfiguren. Die Roboter des Tyrannen, deren Ausse hen er sattsam genug kennengelernt hatte, arbeiteten mit der Schnelligkeit, die Maschi nen eigen war. Sie schienen genau zu wissen, welchen Kriterien sie zu folgen hatten. Die Maschinen packten die größten Mol che. Sie preßten sie förmlich in die Anzüge und klappten die beiden Hälften der Anzüge mit fieberhafter Eile zu. Aber noch besaßen die Molche ihre nega tiven und positiven Wesensinhalte. Atlan stand schweigend da und sah in ohnmächtiger Wut zu. Kaum hatte sich einer der Anzüge geschlossen, begann der Einge schlossene von selbst den Steg hinaufzumar schieren. Der Extrasinn sagte: Das, was du siehst, geschieht vermutlich nur auf Roppoc so. Aber auf anderen Plane ten wird es nicht viel anders sein. Es unter scheidet sich nur in Nuancen! »Es ist nichts anderes als eine Zucht farm!« flüsterte Atlan bestürzt. Richtig beobachtet! Die Aktion, in aller Eile vorangetrieben, näherte sich ihrem Ende. Die Roboter füllten eben die letzten Spercoidenanzüge. Dann entfernten sich die Maschinen mit den leeren Plattformen. Der Steg hob sich leise sum mend wieder in eine Höhe, die keiner der bleichhäutigen Molche überwinden konnte. Die Spercotisierten! Atlan hatte jetzt endgültig gesehen, wer sich in den Anzügen befand. Er ging ohne das grausig-groteske Bild des künstlichen Talkessels aus den Augen zu lassen, rück wärts bis zum Tor. Jetzt wußte er auch, wo zu der schlauchartige Gang diente, der aus dem Felsen bis ins Zentrum des künstlichen
Der Flugmeister Dschungels führte. Verberge dich! Du bist nicht unsichtbar! sagte aufgeregt der Logiksektor. Atlan hatte gar keine andere Wahl: Er er innerte sich an die Gestelle, an die Fesse lung, an Laccied und an seine Eindrücke, die er gehabt hatte, als er selbst in der Lage ge wesen war wie diese Spercoiden. Der nächste Akt würde folgendermaßen aussehen: Die Roboter trieben die eben rekrutierten Molche in die Nähe der Pflanzen. Die Pflanzen: Sie waren deshalb so gut, positiv und machtvoll, weil sie sämtliche po sitiven Eigenschaften der Molche in sich aufsaugten und speicherten. Die Molche:Sie wurden innerhalb ganz kurzer Zeit zu lebenden Robotern. Jede posi tive Regung war ihnen unmöglich gemacht worden, weil sie sie nicht mehr kannten. Es war, als wolle man von einem Beinampu tierten verlangen, er solle einen Marathon lauf mitmachen. Oder von einem amputier ten Braisen, er solle fliegen. Die Spercotisierten: Sie waren tatsächlich lebende Roboter. Sture, empfindungslose Wesen, die jedem Befehl gehorchten. Sämt liche Beweggründe, die das mehr oder weni ger reibungslose Zusammenleben von Indi viduen erst ermöglichten, waren ihnen unbe kannt. Aber erst nach dem Kontakt mit den Speicherpflanzen! Ein echter Dualismus! Hier die Pflanzen. Sie waren geradezu un vorstellbar gut, edel, positiv. Aber sie konn ten nicht handeln. Wirklich nicht? Dort die Spercoiden. Sie waren nur so gut oder posi tiv, wie der Text des entsprechenden Befehls lautete. Irrsinn! dachte Atlan und verließ den rie sigen Höhlenraum. Als er sich wieder zwischen den Pflanzen befand, beruhigte er sich unter dem Einfluß der Pflanzen. Er hatte zugesehen, wie Sper coiden »hergestellt« wurden. Wenn diese armen, ahnungslosen Wesen, nichts anderes als Werkzeuge, auch noch durch Berührung spercotisiert wurden, hat
21 ten sie für den Rest ihrer Existenz keine Chance mehr. Sie blieben buchstäblich wil lenlose Instrumente Spercos. Sie kannten nichts mehr, was … Atlans Gedanken verlo ren sich, als er den letzten Riegel hinter sich zuschob und in die Richtung auf den finger ähnlichen Fortsatz lief, der ihm schon ein halbes Dutzend Male aufgefallen war. Die Pflanzen wucherten so dicht über die durch sichtigen Rundungen, daß sie fast unsichtbar geworden waren. Jeder Spercoide, der für einen wichtigen Posten – Raumschiffkommandant, Anführer von Kampfgruppen, Vertrauter von Sperco selbst – vorgesehen wurde, ging zu Sperco und wurde spercotisiert. Dieser Akt der Un terwerfung, der bei Atlan nicht gewirkt hat te, machte ihn nicht nur zum willenlosen Mitläufer, sondern gleichsam zur rechten Hand des Tyrannen. Eine volle Stunde lang hielt Atlan es noch hier unten aus. Er erlebte mit, wie von den Anzügen ein Strom von Emotionen auf die Pflanzen über ging und emotionale Wracks hinterließ. Er wußte, daß die Molche förmlich moralisch mumifiziert wurden. Irgendwann in dieser Nacht flüchtete er zurück in seine Zelle. Etorc, der junge Braise, schien von allem nichts zu merken. Vermutlich schlief er in einem Winkel des unterplanetarischen Dschungels. Atlan brauchte lange, bis er endlich ein schlafen konnte. Visionen folterten ihn.
4. Atlan versuchte, alle Eindrücke der ver gangenen Nacht zu verdrängen. Körz wußte nichts davon, aber die Sorge um seinen Sohn bedrückte ihn schwer. Die »Kumpel« befanden sich, wie um die se Zeit üblich, in der Halle der Versuche. Atlan deutete auf einen Raumanzug, dessen Aussehen ihm schon jetzt einen Schauder über den Rücken jagte. »Das wird mein nächster Versuch!« sagte er.
22 »Wie geht es Etorc?« fragte Körz flü sternd, als sie das Modell auf das Podest schoben. »Hervorragend. Er fliegt besser und bes ser. Sein Versteck wurde nicht entdeckt.« Besorgt flüsterte Körz zurück: »Hungert er? Sucht er uns? Was hast du mit ihm vor?« Das Fluggerät bestand aus sieben waag recht angeordneten Rädern, in die Propeller eingearbeitet waren. Die Achsen wurden von einer langen Kette angetrieben, die ih rerseits umgelenkt war und von einem Pe dalmechanismus in Bewegung gesetzt wer den mußte. »Er hungert nicht, und ich habe vor, ihn so lange zu verstecken, bis er voll ausgebil det ist.« »Wirklich?« »Du kannst dich auf mich verlassen«, ent gegnete Atlan. Der Flugapparat war in schillernden Far ben gehalten. Das Gestänge funkelte silbern. Die lange Kette war, ebenso wie jedes ein zelne Lager und die Zahnräder, von Atlan und Körz vor wenigen Minuten geölt und gefettet worden. Das Gerät stand auf zwei kleinen, dicken Rädern aus superleichtem Drahtgeflecht und wies hinter dem Seiten leitwerk zwei gebogene Handgriffe auf, die für eine Hilfskraft gedacht waren. Auch mit diesem Gerät war ein Flug unmöglich; das erkannte Atlan bereits jetzt. Bestenfalls konnte er einen mehr oder weniger kontrol lierten Absturz herbeiführen. Dieses Gerät sollte durch einen Propeller vorwärts getrie ben und von den anderen sechs sollte es, ei nem Helikopter nicht unähnlich, in der Luft gehalten werden. Es sah unvorstellbar präch tig aus. »Ich glaube, daß Sperco bald einer Flug vorführung beiwohnen will!« sagte Körz et was lauter. »Er ist herzlich eingeladen«, meinte Atlan und zog seinen Kopf zwischen den gefähr lich nahe stehenden Propellern hervor. »Roboter sollen einen Sessel und ein Po dest für die Zuschauer errichten. Unterhalb der Fesselfelder!« erklärte der Braise.
Hans Kneifel »Tancai sorgt sich und ist ganz verzweifelt.« »Ich werde mein Bestes geben. Vielleicht nehme ich einen der neu konstruierten Ap parate«, sagte der Arkonide und fügte flü sternd hinzu: »Ich werde Tancai, die mir sehr ans Herz gewachsen ist, heute abend trösten.« »Du bist wirklich ein guter Freund!« »Ich habe meine Pläne, Kumpel«, sagte Atlan.
* Sperco glaubte jetzt den Grund seiner Un ruhe zu kennen. Zur gewohnten Stunde hatte er die Bild schirme in die Halle der Versuche geschal tet. Er sah den Fremden und den Braisen Körz der Leibgarde, die sich mit dem Flug apparat beschäftigten. Sperco erinnerte sich nicht mehr daran, ob der Konstrukteur die ses farbenprächtigen Gerätes noch lebte oder nicht. Wahrscheinlich hatte er ihn hinrichten lassen. »Ich bin unruhig, weil ich mich noch im mer nicht an den Anblick dieses … Fliegen den gewöhnt habe!« stieß der Tyrann her vor. Mindestens zwölfmal hatte er zusehen können, wie Botosc sich mutig mit zerbre chenden Konstruktionen in die Tiefe ge stürzt hatte. Einmal hatte der Flug in vollen deter Harmonie fünf Sekunden lang gedau ert, andere dauerten länger, waren aber we niger vollkommen. Andere wieder sahen wie Selbstmordversuche aus. Aber allen Versuchen war ein Ende ge meinsam gewesen: Die Flugapparate er reichten den Boden in keinem Fall ohne schwerste Zerstörungen. »Alles Versager!« fauchte Sperco. Sperco wußte, daß seine Empfindungen zwiespältig waren. Er haßte alles, was flie gen konnte. Aber er wollte selbst um jeden Preis fliegen können. Er verbot jedem flie genden Wesen diese Ausübung seiner Kunst. Für sich selbst tat er alles, was nur ir gend möglich war. Er haßte und liebte das Fliegen zugleich.
Der Flugmeister Deswegen spürte er auch jetzt wieder Un ruhe und Spannung, als er dem Flugmeister bei den Vorbereitungen zusah. Er beugte sich vor und heftete seine Au gen auf den großen Bildschirm. Jede winzi ge Einzelheit wurde deutlich. Der Flugappa rat sah so aus, als könne niemand mit ihm richtig fliegen, auch jener fremdartige Boto sc nicht. Der Flugmeister nahm auf dem schmalen Sitz Platz und legte zwei breite Gurte um. Seine Füße lagen auf den Pedalen und steck ten in weichen Kappen. Mit den Händen umklammerte Botosc die Griffe der Steuerung. Jetzt probierte er sie aus; einige der räderförmigen Luftschrauben verlagerten ihre Achsen. Es sah alles sehr verwirrend aus. Körz stand hinter dem Flugapparat, der etwa zehn Meter vor der Kante des Podests abgestellt worden war. Jetzt trat der Flugmeister in die Pedale. Die Bewegungen waren noch langsam. Et was schneller drehten sich die sieben Luft schrauben. Dann wandte der Fremde mehr Kraft auf, die Propeller begannen sich ra send schnell zu drehen. Aber so sehr sich auch der Flugmeister bemühte, das Gerät flog nicht. Dann hob der Fremde die Hand. Ein Si gnal für den Braisen. Körz wuchtete das Heck des Flugapparats hoch und begann zu rennen. Er schob den Flugapparat auf die Kante des Abflugpodests zu. Noch drei Schritte, noch einen – mit ziemlich starkem Schwung stürzte sich der Apparat schräg nach vorn und trat seinen Flug an. Körz war mit einem Satz an dem Zielge rät, das Sperco selbst hatte installieren las sen. Der Fangstrahl zuckte auf, aber er traf den Flugapparat noch nicht. Keuchend und gierig, das Ende des Flug es zu sehen, vertiefte sich Sperco in die spannenden Bilder dieses Flugversuchs. Die Kombination zwischen einem Wesen, das ohne Flügel fliegen konnte, und diesem flugunfähigen Gerüst voller Luftschrauben müßte eigentlich erfolgreich sein. Was die
23 Maschine nicht schaffte, sollte der Flugmei ster hervorbringen! Es sah jedoch nicht nach einem Erfolg aus.
* Atlan wußte schon in dem Augenblick, als der Flugapparat über die Kante kippte, daß der Flug, der keiner sein würde, ein schreckliches Ende nehmen würde. Etwa zehn Meter weit trug der Schwung das summende, rasselnde, knarrende und klirrende Fluggerät. Die Tragflächen ent wickelten sogar geringfügige Segeleigen schaften. Mit aller Kraft trat der Arkonide in die Pedale und fühlte, wie die Propeller in ihren Lagern schlugen und hämmerten. Sechs Luftwirbel rissen an der Verspannung, aber sie konnten den Fall nicht aufhalten. »Körz!« schrie Atlan und sah aus dem Augenwinkel den weißen Fangstrahl durch die Halle zucken. Der Flugapparat fiel in einer zunächst noch flachen, dann immer steileren Kurve nach unten. Die Luftschrauben hielten den Fall nicht auf, aber sie dämpften ihn ein we nig ab. Atlan trat in die Pedale, so schnell er es noch konnte. Die Kette, einige fünf Meter lang, klirrte gegen die Zähne der Zahnräder. Schließlich sprang sie von den Zähnen der Hauptantriebskurbel, schmetterte gegen At lans Schienbein und verhakte sich zwischen den Führungsrollen, dem Gestänge und an deren Teilen. Die Propeller blieben alle ruckartig stehen. Der Fangstrahl des Braisen packte die Konstruktion, als sie zu kippen und zu tru deln begann und senkrecht mit zunehmender Geschwindigkeit abstürzte. Atlan versuchte, die Fußspitzen aus den Pedalsicherungen herauszuziehen und zog die Knie an. Wieder ein provozierter Mißerfolg! rief der Logiksektor. Der Fangstrahl zertrümmerte mit seinem zupackenden energetischen Griff fast das gesamte Oberteil des Apparats. Also sämtli che Schrauben und die vielen Ausleger, die
24 sich wie die Stacheln eines Igels nach oben und nach allen Seiten reckten. Ein ohrenbe täubendes Krachen ertönte, als der Sitz mit einigen Trümmern aus der Konstruktion nach unten fiel. Atlan schaffte es gerade noch, die Gurt schlösser zu öffnen. Dann tauchte er kopf über in das hellblaue Feld ein und spürte, wie es nachgab, durchsackte und ihn sanft auffing. Es federte wieder hoch. Der Sessel und ein schweres Stück Metall kamen mit unverminderter Geschwindigkeit aus großer Höhe heruntergestürzt. Als Atlan erleichtert die leichte, wiegende Aufwärtsbewegung des rettenden Feldes re gistrierte, trafen ihn das Metallstück und die Kante des Sitzes. Der Sitz schlug wie ein Hammer auf die Wirbelsäule, das andere Teil traf Atlans Schläfe und betäubte ihn. Langsam schwebte der bewegungslose Körper zu Boden und blieb liegen. Körz hatte alles gesehen. Er versuchte, ebenso schnell wie zweckmäßig und richtig zu handeln. Zunächst ließ er die Trümmer, die sich im Griff des Strahles befanden, an anderer Stelle krachend zu Boden fallen. Dann schaltete er einen Sektor des Feldes und landete Botosc so behutsam wie mög lich. Augenblicklich darauf befand er sich im Lift und fuhr nach unten, eilte auf seinen Kumpel zu und sah auf den ersten Blick, daß Botosc zumindest bewußtlos war. Sollte er die Spercoidenärzte rufen? Er schreckte aus zwei Gründen davor zu rück. Er hatte ihnen den Tod Etorcs berichtet und fürchtete unangenehme Fragen. Aber der eigentliche Beweggrund war, daß dieser Fremde so ganz verschieden von allen ande ren Bewohnern MOACs war. Würden die Ärzte wirklich helfen können? Körz kauerte sich neben dem ausgestreck ten Körper nieder und schob seine Arme darunter. Ganz vorsichtig drehte er Botosc auf den Rücken. Die Augen des Fremden waren geschlossen. »He, Kumpel«, flüsterte Körz eindring lich. »Wach auf! Wie kann ich dir helfen?« Er erinnerte sich an bestimmte Handlun-
Hans Kneifel gen, die die Ärzte vorgenommen hatten. So fort war er auf den Beinen und raste über den federnden Belag davon. Er hatte den Pulsschlag Botoscs gespürt. Also lebte der Flugmeister noch. Das Ziel des Braisen war eine kleine Kammer im unteren Bereich der Halle. Kurz bevor er sie erreichte, dröhnte Sper cos Stimme durch den riesigen Hohlraum. »Ist der Flugmeister tot?« Körz blieb wie angewurzelt stehen und rief: »Nein, Herr. Er ist bewußtlos. Ich versu che, ihn wieder zu wecken!« »Ich sehe jede Bewegung. Bringe ihn wieder auf die Beine. In zwei Tagen werde ich persönlich der nächsten Vorführung bei wohnen.« »Dein Befehl wird ausgeführt, Herr!« rief Körz. »Ich bin sicher.« Körz holte Tücher und Wasser und einige einfache Arzneimittel, die er kannte. Er rannte wieder zurück und wischte das Ge sicht, die Innenseite der Arme und die Brust des Fremden mit dem feuchten Tuch ab. Dann hielt er ihm eine stark riechende Flüs sigkeit an die Nase. Die Augenlider hoben und senkten sich zitternd. Körz nahm eine andere Flasche und öffnete mit sanfter Ge walt die Kiefer des Flugmeisters. Einen großen Schluck goß Körz zwischen die Lip pen, und diese Therapie schien zu helfen. Botosc öffnete die Augen, dann schluckte er keuchend und schließlich richtete er sich auf. Sofort stützte Körz den Oberkörper und fragte: »Was ist los, Kumpel?« Der schwere Körper bebte unter einem Hustenanfall. Immer wieder ächzte Botosc unter Schmerzen auf. Schließlich brachte er stückweise hervor: »Es tut verdammt weh. Der verfluchte Apparat … hat mich hier getroffen.« Langsam beruhigte er sich. Dann nahm er Körz das nasse Tuch aus den Klauen und wischte sich mehrmals Gesicht und Brust ab. Körz stand auf und hielt seinem Freund
Der Flugmeister die Klauenhand entgegen. »Kannst du aufstehen?« fragte er besorgt. »Ich werde es versuchen. Was war das für ein Teufelszeug?« meinte der Flugmeister und richtete sich mit Hilfe des Braisen müh sam auf. Als er stand und einige Schritte versuchte, knickte er ächzend zusammen und legte die Hand an eine Stelle des Rückens. »Hier! Da ist es besonders schlimm.« Unter dem weißen Haar des Fremden lief ein schmaler Blutfaden herunter, über die Schläfe und weiter über die Wange. Körz bückte sich und reichte Botosc die Flasche. »Es hilft?« fragte er neugierig. Die Er leichterung, daß Atlan nicht tot war, sprach aus jeder einzelnen Geste. »Es ist hochprozentiger Alkohol«, erklär te der Flugmeister leise und trank ein Drittel des Flascheninhalts in einem einzigen Zug aus. Vor ehrlicher Verwunderung traten die Augen des Braisen aus den Höhlen. Er zwin kerte verwirrt. »Und Alkohol hilft immer. Gegen einen schmerzenden Schädel ebenso wie gegen ei ne ausgerenkte Wirbelsäule!« sagte der Flugmeister. Körz verstand nicht sehr viel von dem, was er meinte. Aber er freute sich, daß der Fremde sich nicht brüllend am Bo den wälzte wie ein erkrankter Braise. »Deine Körperflüssigkeit rinnt an dir her ab«, meinte Körz und nahm dem Fremden das Tuch aus den Fingern. »Das kann passieren. Viel?« Der Braise tupfte das Blut von Atlans Ge sicht. Der Fremde zuckte zusammen. Dann versuchte er wieder, vorwärts zu gehen, hör te aber nach zwei Schritten wieder auf und krümmte sich nach vorn. »Ich will dir helfen. Brauchst du einen Spercoidenarzt?« erkundigte sich Körz leise. Botosc starrte ihn entgeistert an und erwi derte mit deutlichem Grimm: »Alles andere kann ich brauchen. Nur kei nes dieser gespenstischen Wesen in den An zügen. Ich werde mich selbst heilen können, denke ich.«
25 Körz fragte mehr erschrocken als verwun dert: »Du kannst dich selbst heilen? Das hast du nicht ernst gemeint!« Der Flugmeister erwiderte wegwerfend: »Vermutlich schon. Warten wir es ab. Je denfalls muß ich mich jetzt hinlegen. Sonst sehen wir uns morgen unter den drei Bäu men wieder, neben Etorc!« Er hoffte, daß der Zellschwingungsaktiva tor, der in seinem Körper verborgen war, wie bisher seinen Dienst tun würde. Die Kopfverletzung schmerzte stark, stellte aber kein größeres Problem dar. Sein Schädel dröhnte, und ausnahmsweise schwieg auch der Logiksektor. Aber diese stechenden Schmerzen, die bei jedem Schritt durch sei nen Körper fuhren … sie mußten erst ab klingen. Atlan legte das kalte Tuch wieder gegen die Stirn und fragte schließlich, ein wenig betrunken von dem großen Schluck Alkohol: »Muß ich den langen Weg bis zu meiner Zelle laufen? Das überlebt niemand. Nicht einmal ein Flugmeister.« »Nein«, sagte Körz. »Für solche Zwi schenfälle gibt es Roboter. Sie werden dich tragen. Lege dich hin, strecke dich aus. Ich besorge den Rest.« »Gut. Danke.« Atlan ließ sich von Körz helfen, setzte sich unter erheblichen Schmerzen und streckte sich dann aus. Als er die beste Lage herausgefunden hatte, ließen die Schmerzen zwischen Brust und Gürtelgegend nach. Der Arkonide spürte kalten Schweiß auf seiner Haut und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er sich wieder einigermaßen rich tig bewegen konnte. Wieder rannte Körz in beträchtlicher Eile davon. Als er die Halle verlassen hatte und Atlan die Augen schloß und fühlte, wie sich sein Körper in der unbequemen Haltung mehr und mehr verkrampfte, hörte er ein lautes Knacken. Er begriff, noch bevor das erste Wort ertönte. »Sperco spricht, Flugmeister. Ich bin miß
26 trauisch.« Die beste Gelegenheit, dachte Atlan, die Empfindlichkeit der technischen Ausrüstung kennenzulernen. Er sagte ziemlich leise: »Ich bin fast in zwei Teile zerbrochen, Herr. Alle deine Flugapparate verdienen nicht einmal dem Aussehen nach diese Be zeichnung. Sie sind alle zertrümmert, wie ich.« Spercos Stimme dröhnte widerhallend durch das Gebäude. »Du wirst übermorgen einen weiteren Versuch unternehmen. Ich sehe zu.« »Du siehst alles auf deinen Bildschirmen, Herr«, wagte Atlan einzuwerfen. »Wozu willst du dich am Versagen der Konstruktio nen weiden?« »Weil ich nicht so sehr den Konstruktio nen mißtraue, sondern dir, Diener.« »Mißtrauen ist stets angebracht, Herr«, sagte Atlan und wußte, daß selbst geflüsterte Worte von Spercos höchstempfindlichen Richtmikrophonen aufgefangen wurden. »Aber warum in meinem Fall?« »Weil du mir bewiesen hast, daß du ohne Geräte fliegen kannst.« Atlan schätzte, daß Sperco ihn provozie ren wollte. Er konnte nicht so wenig intelli gent sein, seine schon vor vielen Tagen ge machten Einwände nicht zu beachten. Er hatte ihm doch deutlich zu verstehen gege ben, daß seine angebliche Flugfähigkeit kei ne normale, jederzeit anwendbare Sache war. Also antwortete er langsam und nach denklich, jedes Wort sorgfältig abwägend: »Herr! Ich sagte dir die Wahrheit! Ich kann fliegen und kann es nicht. Ich konnte es, ohne zu wissen, wie ich es vermochte, als ich in unmittelbarer Lebensgefahr war. Jetzt aber weiß ich, daß mich federnde Si cherheitsfelder auffangen, und daß mein Sturz dank der verminderten Geschwindig keit nicht tödlich war.« »Das alles«, donnerte Sperco, »interessiert mich nicht. Du bist auf dem Weg aller Versager.« »Die Wahrheit«, beeilte sich Atlan zu er klären, »richtet sich nicht nach Interesse, o
Hans Kneifel Herr. Diese Weisheit ist nicht meine Weis heit. Trotzdem ist es so. Ich gehorche deinen Befehlen gern, aber ich kann keine Wunder wirken. Aber meine Fähigkeit wiederholte sich nicht. Ich bin sicher, daß ich wieder fliegen kann, wenn es um mein Leben geht.« Spercos Antwort hatte Atlan erwarten müssen. Sie war der reine Zynismus des Diktators. »Es wird in zwei Tagen um dein Leben gehen, Flugmeister. Bereite dich darauf vor. Beweise mir, wie man fliegen kann.« Atlan bewegte sich, der Schmerz lähmte ihn fast, aber er brachte noch eine Antwort fertig. »Dies werde ich dir, o Herr, auf Loors be weisen können. Komme mit mir dorthin, und alle Fragen werden beantwortet wer den.« Während Körz mit vier Robotern in die Halle stürmte, schloß Sperco: »Die wichtigsten Fragen werden in zwei Tagen beantwortet, Flugmeister!« Trotz der fremden Sprache klang dieser Satz eindeutig sarkastisch, fand Atlan. Sper co schaltete die Lautsprecher ab. Atlan hörte schwere Schritte und wandte den Kopf. Vier Roboter, die eine einfache Bahre trugen, hielten neben ihm an. Körz gab einen Be fehl, die Roboter hoben den Arkoniden vor sichtig hoch und legten ihn auf die federnde Platte. »Schmerzt es noch immer?« fragte Körz besorgt. »Nicht mehr so stark. Vielleicht kann ich mich morgen wieder bewegen«, sagte Atlan und dachte an Etorc und an die SpercoidenZuchtfarm. »Folgt mir!« sagte Körz zu den Robotern. Sie brachten Atlan auf den bekannten We gen zu seiner Wohnzelle. Er blieb mit ge schlossenen Augen liegen und überlegte. Falls seine Wirbelsäule wirklich verletzt ge wesen wäre, hätte er sich in der Halle nicht einmal aufrichten können. Sperco hatte rea giert! Mit einer ähnlichen Reaktion hatte At lan stets gerechnet, aber daß sie so bald ein trat, überraschte ihn etwas. Nun wurde er
Der Flugmeister
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gezwungen, zu handeln. Er ließ sich von den Robotern auf seine Pritsche legen und warte te, bis Körz die Maschinen weggeschickt hatte. »Übermorgen also findet das große Ereig nis statt«, sagte Atlan müde. »Sperco wird mit allen Leibwachen und Robotern kommen und zusehen, wie du fliegst«, erklärte der Braise. »Aber ohne Flugmaschine.« »Wir werden uns etwas einfallen lassen«, meinte der Arkonide. Wenn Sperco zu fas sen war, dann nur mit einem geschickten psychologischen Schlag. Genau darauf hatte Atlan hingearbeitet, seit er die ersten Mög lichkeiten dazu gesehen hatte. »Wer ist ›wir‹?« fragte der Braise. Er be zog es wohl auf sich. »Die Flugmaschinen und ich«, wich Atlan aus. »Würdest du mir später etwas zu essen bringen?« »Selbstverständlich. Bleibe liegen und er hole dich, Kumpel!« Körz hob grüßend die Klauenhand und verließ den Raum.
* Der schräge Balken des Mondlichts er reichte das Fußende der Liege. Vor rund zwei Stunden hatte der Arkonide das ra schelnde Geräusch gehört, mit dem sich das Wurzelwesen über die Treppe bewegte. Langsam und sehr vorsichtig stand Atlan auf, hielt sich fest und hütete sich, falsche Bewegungen zu machen. Es war ihm eini germaßen geglückt, die Verrenkung oder Verstauchung zu besiegen, wobei ihm der Zellschwingungsaktivator entscheidend ge holfen hatte. »Vielleicht hat Sperco sein ganzes Leben lang solche Schmerzen aushalten müssen«, murmelte Atlan. »Das würde vieles erklä ren.« Gebückt schlich Atlan aus seiner Zelle und humpelte vorsichtig bis zum Lift, der zu den Pflanzen hinunterfuhr. Nichts hatte sich hier verändert; das helle Licht, die Geschäf
tigkeit der Wurzelwesen, die wunderschö nen exotischen Blumen und sowohl der Ge ruch als auch die Strahlung. Atlan wünschte sich, daß die Pflanzen auch seine Schmerzen beseitigen würden, aber er spürte keine Lin derung. »Etorc!« rief er leise. Mit einem leisen Stöhnen setzte er sich und wartete auf den jungen Braisen. Sofort flog Etorc heran. Er faltete die Schwingen zusammen und sank vor Atlan aus den Zweigen herunter. »Fliegen gut, Kumpel?« fragte Atlan und lächelte mühsam. Der Braise war noch im mer voller Begeisterung und Vertrauen. »Ganz gut. Wie geht's?« »Wir ziehen um!« sagte der Arkonide. »In einen anderen Raum.« »Wann? Gleich?« »Nein. Morgen. Du hast gesammelt?« »Ja. Ganz viel!« Natürlich war Atlan nicht hundertprozen tig sicher, ob auch der Nektar dieser Pflan zen ihn unsichtbar machen würde wie derje nige von Karoque. Ein Versuch war unge fährlich. Wieder sah er voller Bewunderung, wie Etorc einen kurzen Anlauf nahm, die Flügel ausbreitete und mühelos startete. Er vollführte, sicher nur um Atlan seine Kunst zeigen zu wollen, einen schnellen Slalom zwischen Stämmen und Ästen und landete auf der Kabine. Sofort kam er auf ähnlich kunstvolle Weise wieder zurück und stellte den fast vollen Behälter auf Atlans Knie. »Danke«, sagte Atlan und roch an der gel ben Flüssigkeit. Sie war flüssig wie ver dünnter Honig, und der Nektar roch noch betäubender als die Blüten selbst. »Wann holen?« Atlans Finger beschrieben eine kreisende Bewegung. »Morgen. Gleiche Zeit. Ich hole dich ab.« »Ich viel freuen. Viel fliegen. Immer stär ker.« »Das habe ich gesehen, mein Kleiner. Sperco wird auf seine Weise hingerissen sein. Morgen, Kumpel!« »Morgen!«
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Hans Kneifel
Atlan stand auf, wartete auf den nächsten Schmerzanfall und war erstaunt, daß er aus blieb. Er nahm die Büchse und versuchte, gerade zu gehen. Er lachte kurz, weil auf ir gendeine Weise wirklich sein Wunsch in Er füllung gegangen war. Er machte sich aller dings keine Gedanken darüber, wie es pas siert war. Er ging langsam durch die kühle Dunkelheit.
* Wie konnte er testen, ob er unsichtbar wurde oder nicht? Diese Frage überfiel At lan, als er aufwachte. Ihm fiel nur Körz ein, denn alles andere würde gefährlich sein. Er nahm einen mittelgroßen Schluck etwa eine halbe Stunde vor dem Zeitpunkt, an dem ihn der Braise abholen würde. Wenn Körz ihn vorfand, wußte er, daß der Nektar nicht gewirkt hatte. Bewirkte der konzentrierte Pflanzensaft, daß andere We sen Atlan nicht wahrnehmen konnten, dann würde Körz annehmen, Atlan sei bereits in der Halle oder der Werkstatt. Atlan machte sich bereit und wartete. An sich selbst nahm er keinerlei Verände rungen wahr, abgesehen davon, daß sein Rücken kaum noch schmerzte. Er konnte sich fast ungehindert bewegen. Als er schließlich Schritte hörte, schlich er aus der Zelle und blieb in, wie er hoffte, unverdäch tiger Haltung neben dem Eingang stehen, so weit von der Tür entfernt, daß er mit Körz nicht zusammenstoßen konnte. Der Braise stieg die Treppen hinauf, bog ab und kam auf den kleinen Erker vor Atlans Zelle. Körz öffnete die Tür, ohne auch nur in Atlans Richtung geblickt zu haben. Der Ar konide begriff, daß der Nektar tatsächlich auch hier und jetzt wirkte. Er hielt sich zu rück, um nicht vor Vergnügen laut aufzula chen. »Botosc«, hörte Atlan den Braisen rufen. »Ich soll von Tancai …« Er brach ab und schien sich in der Zelle und den Nebenräu men umzusehen. Er kam wieder heraus und murmelte etwas Unverständliches.
Atlan stand grinsend da und sah zu, wie der ratlose Braise noch einmal in die Zelle zurückging, wieder herauskam und dann ge nau das tat, was Atlan sich ausgerechnet hat te. Er ging in die Richtung, die sie zusam men jeden Morgen einschlugen. Atlan folgte ihm so leise wie möglich. Einmal sah er neben sich seinen Schatten und fragte sich, wie es damit stand – würde der Nektar auch den Schatten verbergen? Das Problem löste sich, als Atlan zwanzig Meter hinter Körz in die Korridore und Ka vernen hineinging und der Schatten kaum mehr zu erkennen war. Körz vermutete ihn in der Werkstatt, ganz ohne Zweifel. Atlan erinnerte sich genau daran, daß die Wirkung des Nektars ziemlich schnell ab nahm. Er hielt die lebenswichtige Dose in der Hand und wollte sie in der Werkstatt verstecken. Da niemand mit einem solchen Trick auch nur im entferntesten rechnete, würde er sicher damit durchkommen. Körz ging in die Werkstatt, rief nach Botosc und fand ihn nicht, kam abermals dicht an Atlan vorbei und fuhr mit dem Lift zum Hallenbo den. Sofort huschte Atlan in die Werkstatt und stellte die Dose in einen Schrank. Er ver mied jeden Lärm und betrachtete seine letzte Fluchtchance, nämlich das fertig montierte Antigravgerät. Atlan blieb vor einer langen Werkbank stehen und sah nach draußen. Dort stand das andere Modell, das er verbessert hatte; ein übermechanisiertes Flugmodell mit bewegli chen Schwingen, in das er ebenfalls An tischwerkraftprojektoren eingebaut hatte. Damit würde selbst Sperco leicht fliegen können. Noch rund vierundzwanzig Stunden, dann war die Entscheidung da. Atlan wartete ungeduldig, ging langsam hin und her und hörte undeutlich, wie Körz in der Halle nach ihm rief. Es dauerte nicht lange, dann kam der Braise wieder herauf. Atlan beobachtete ganz genau seine Augen. Sie irrten zunächst hin und her, dann hefte
Der Flugmeister ten sie sich im richtigen Augenblick auf ihn. »Hier bist du. Ich habe dich in der Zelle abholen wollen, aber du warst nicht da.« »Ich bin früher gegangen«, erklärte Atlan und wußte jetzt, wie lange ihn dieser mittel große Schluck unsichtbar gemacht hatte. »Ich war im Nebenraum.« Er deutete nach hinten. »Alles klar«, erwiderte Körz, offensicht lich erleichtert. »Ich sehe, dir geht es wieder gut.« »Leidlich. Ich werde dieses Modell te sten.« »Dann mußt du gesund sein!« Atlan ließ sich Zeit, während ihm Körz half. Er schlüpfte in die röhrenförmigen Stücke der Haltesysteme, testete die Schalter und bewegte prüfend die Schwingen. Der fä cherförmige Schwanz spreizte sich und zog sich wieder zusammen. Atlan sah zu, wie Körz wieder die verschiedenen Auffangfel der einschaltete und justierte. Dann drehte sich der Braise halb herum und sagte: »Morgen werden die Felder nicht einge schaltet! Spercos Befehl.« »Ich dachte es mir.« »Aber heute wird dir nichts passieren. Ich halte den Fangstrahl eingeschaltet.« »Auch das dachte ich.« Atlan regulierte die Antigravprojektoren ein, ließ sich langsam nach vorn fallen und begann zu segeln. Die Schwingen und der Schwanz hatten jetzt nur noch Steuerfunk tionen, die Projektoren hielten Atlans Kör per leicht in der Luft. Atlan segelte vorsich tig in die erste Kurve, sank etwas, ließ sich wieder hochsteigen und wurde kühner und fühlte sich besser, je länger er flog. Mit Si cherheit beobachtete ihn Sperco. Der Tyrann sollte gereizt werden, sollte den nächsten Tag gleichzeitig herbeisehnen und verflu chen. Dann würde Atlans Plan aufgehen. Er flog mindestens zwanzig Minuten lang und vollführte schließlich ausgesprochen ar tistische Flugfiguren. Diese Kombination ar beitete hervorragend; modernste Technik und archaische Anwendung von biegsamen Rohren und dünner Verspannung wirkten
29 perfekt zusammen. Endlich landete Atlan und kam klar auf die Füße. Er schälte sich selbst aus den Haltegurten und sah Körz auf sich zulaufen. »Du fliegst herrlich, Kumpel.« »Nicht so gut wie dein Sohn«, flüsterte Atlan so leise dicht neben dem Vogelohr des Braisen, daß es Sperco garantiert nicht hören konnte. »Und?« Atlan machte das Zeichen, das sie auch während der Flugversuche verwendeten und das soviel wie in Ordnung bedeutete. »Wir schaffen den Apparat wieder nach oben. Vielleicht wünscht Sperco morgen auch damit eine Vorführung«, ordnete Atlan an. »Dazu gibt es Roboter.« »Ich rufe sie.« Der Rest des Tages und die Zeit bis zur entscheidenden Stunde vergingen ohne be sondere Vorkommnisse. Atlan bastelte in der Werkstatt, besuchte Tancai und Körz in deren Heim, holte spät nachts den jungen Braisen aus dem Versteck und brachte ihn in die Werkstatt. Er schärfte ihm ein, sich nicht aus diesem Schrank zu entfernen und ließ genügend Nahrungsmittel zurück. Dann sch lief Atlan einige Stunden und wurde von Körz wieder abgeholt. Sperco wartete bereits auf ihn.
5. An einer Wand der Halle, gegenüber dem Absprungpodest, hatten die Roboter eine Plattform aufgebaut, die verschiedene Ebe nen aufwies. Auf der höchsten, die nur ei nem riesigen Sessel Platz bot, war Sperco zu sehen, der in diesem dick gepolsterten Mö bel kauerte. Unter ihm standen drei Reihen bewaffneter Braisen der Leibwache, darun ter mindestens zweihundert Spercoiden in Anzügen. Eine Doppelreihe Roboter mit waffenstarrenden Armen umgaben das Vier eck. Sämtliche Scheinwerfer waren einge schaltet. Sperco glaubte, so viele Vorführungen ge sehen zu haben, daß er auf die persönliche
30 Konfrontation mit dem wahren Fliegen vor bereitet war. Atlan ging auf der obersten Rampe ent lang und blickte hinunter. Sperco wirkte winzig klein wie auch seine Umgebung. Atlans Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. »Du wirst uns jetzt zeigen, Flugmeister, wie das wahre Fliegen ist!« dröhnte Spercos Stimme auf. »Sofort, Herr«, sagte Atlan laut und ging weiter. »Ich werde nur noch die Kraft anru fen, die mir hilft.« »Ich werde ungeduldig«, schrie Sperco. Atlan ging weiter, sah den Schrecken in den Augen seines Leibwächters und bedeutete Körz, im Eingang der Werkstatt stehenzu bleiben. Atlan öffnete die Tür des Schrankes und sagte leise, als ihm Etorc aufgeregt ent gegensprang: »Etorc! Dort ist dein Vater. Du sollst jetzt fliegen und alles zeigen, was du kannst. Und dann, am Ende, landest du in dem großen schwarzen Sessel ganz unten auf dem Boden der Halle. Verstanden, Kumpel?« »Verstanden Kumpel.« Körz blieb wie angewurzelt stehen, als er sehen mußte, wie Etorc nach drei Sprüngen in der Luft war und dreimal im engen Kreis um Körz' Kopf flog, dann in die Halle hin ausschoß und elegant über den rechten Flü gel kippte. Atlan hob den Sessel mit den Flugaggregaten von den Böcken und trug ihn hinterher, stellte ihn auf der Rampe ab. Dann hörte er vom Boden der Halle eine Vielfalt verschiedener Geräusche: Summen, einzelne Schreie, Gespräche und Klappern. Er lief schnell zurück, holte die Dose mit dem Nektar und blieb dann, nachdem ihm auch Körz gefolgt war, an der Kante des Po dests stehen. »Ich will, daß der Flugmeister …«, schrie Sperco, aber beendete den Satz nicht mehr. Alle starrten Etorc an. Noch konnten sie nicht deutlich erkennen, was dort in zweihundert Metern Höhe wirk lich flog. Aber jeder sah, daß keine Maschi ne und auch nicht der Flugmeister flog, son-
Hans Kneifel dern ein anderes lebendes Wesen. Die brai sische Wache sah zuerst, was geschehen war. »Mein Sohn!« fauchte Körz hingerissen. Er sah dem immer kleiner werdenden jun gen Braisen fasziniert nach. Und Etorc zeig te, was er zwischen den Blütenzweigen ge lernt hatte – es war nichts anderes als die Kunst des Fluges, die jeder Braise einst be herrscht hatte. »So ist einst jeder geflogen. Jeder Braise! Bevor dieser Krüppel dort euch die Flügel abgeschnitten hat.« Atlan sagte es absichtlich laut. Ob Sperco die Worte hörte, war jetzt unwichtig. Atlan versuchte, die Reaktionen Spercos zu erken nen, aber es war eine zu große Entfernung. Etorc hatte etwa die Hälfte des Höhenunter schieds zurückgelegt und entfaltete alle sei ne fliegerischen Künste. Die Spercoiden standen dort unten und rührten sich nicht. Die Roboter blieben unbeweglich. Nur die Braisen waren unruhig geworden. Aber alle blickten in die Höhe und sahen diesem ein maligen Beispiel von Eleganz und fliegeri schem Können zu. Und schließlich, als Atlan den Flugappa rat neben sich stehen hatte und die Nektar büchse öffnete, machte Etorc eine Abwärts spirale, berührte mit seiner Brust fast den Boden und schoß dann dicht über dem Belag auf die Gruppe zu, schwang sich über die Köpfe der Wachen und bremste mit einem Kolibri-Manöver direkt vor Sperco ab. Mit einem weichen Schwung landete er direkt vor Sperco und stützte sich auf den breiten Sesselrand. Sperco, bemerkte Atlan zu seiner Freude, schien sich vor dem Brai sen zu Tode zu fürchten.
* Sperco wußte zuerst nicht, was sich von dort oben stürzend näherte. Dann begriff er während langer Sekunden, daß es ein junger Braise war. Und je näher das Fledermauswe sen mit den schillernden Flügeln kam, je
Der Flugmeister länger es seine vollkommenen Flugkünste demonstrierte, desto mehr wanderte Spercos Erinnerung zurück. Dort war er! Dort nahte sich in Racheab sicht sein Bruder. Der Bruder, den er selbst getötet hatte. Mörder! »Nein!« krächzte Sperco. »Du bist nicht Öpner. Ich habe dich nicht getötet! Nein. Öpner, neeiiinn!« Er rutschte in der schwarzen Sitzschale hin und her und versuchte, seinen Vorstel lungen zu entkommen. Aber unerbittlich nä herte sich der fliegende Rächer und zielte mit den Krallen auf ihn. Die unendliche Leichtigkeit und Sicherheit, mit der sein Bruder stets geflogen war, ließ ihn verzwei feln. Trotzdem konnte er seinen Blick nicht davon losreißen. Niemals war er jemals so geflogen! Niemals war er geflogen! Er war und blieb der Krüppel. »Öpner! Verschwinde! Es gibt dich nicht! Du bist es nicht!« schrie Sperco. Seine Schreie hallten durch das Bauwerk. Er war hilflos. Immer deutlicher sah er Öpner her ankommen und niederschweben. Der Mord an seinem Bruder tauchte wieder und immer wieder in seinen gepeinigten Vorstellungen auf. Er konnte die Gedanken nicht verdrän gen. Der volle Blick Öpners traf ihn, als der Braise dicht über ihm hinwegflog und dann eine Spirale einleitete. »Geh weg, Öpner!« winselte er in läh mender Angst. Ohne daß er es merkte, waren gleich ihm sowohl die Spercoiden als auch die Braisen von einer unerklärlichen Spannung ergrif fen. Archaische, längst vergessen geglaubte Regungen und Empfindungen brachen wie eine lautlose Sturmflut über die Squooner nachfahren und die amputierten Braisen al ler Generationen herein. Sie erinnerten sich nicht bewußt, aber sie empfanden etwas, das sie förmlich lähmte. Der Braise huschte dicht über den Boden, überwand die lebende Mauer vor Sperco und hing plötzlich mit langsam schlagenden Schwingen genau über Sperco. Der Tyrann
31 winselte und fauchte vor Haß, Furcht und Verzweiflung abermals: »Geh weg, Öpner. Nein, berühre mich nicht …« Der Braise lachte ihn förmlich an. Für Sperco hatte dieses Lachen eine furchtbare Bedeutung. Er erschrak zu Tode, als sich Öpner dicht vor ihn an den Sessel setzte und damit begann, die Hände des Tyrannen fas sen zu wollen. Wie ein Insekt krümmte sich Sperco und schien über den oberen Rand des Sessels klettern zu wollen. Nur weg von die sem … Noch immer verharrten alle Spercoiden und Braisen wie versteinert. Alle, die diese Flugvorführung gesehen hatten. Da die Aufnahmegeräte hierher ge schaltet und viele Bildschirme in allen Tei len des Riesenschlosses MOAC von Sperco aktiviert worden waren, sahen es wohl die meisten Braisen und nahezu alle Spercoiden MOACs.
* Als Etorc seine letzte Spirale flog, trank Atlan einen tiefen Schluck Nektar, schloß die Büchse und schob sie in den Gürtel. Dann trat er neben den bewegungslosen Braisen Körz und zog dessen Waffe aus der Schutztasche. Körz bemerkte es nicht. Atlan trat drei Schritte zurück, setzte sich in den Flugapparat und schloß den Halte gurt. Fast lautlos, nur leise summend, erhob sich das Gerät. Atlan steuerte es in flachem Winkel auf das zerbrochene Fenster und hielt kurz an, ehe er die Halle verließ. Noch immer befand sich alles in totaler Erstarrung. Atlan lachte leise. Er wußte nicht, aus welchem Grund sich Sperco derartig ge fürchtet hatte, aber was er erwartet hatte, war eingetreten. Totale Verwirrung, Erstar rung, vermutlich beginnende Revolte. Als er durch die gezackte Öffnung hin durchsteuerte, merkte er noch etwas. Das Gefühl, das von den Pflanzen ausging, wur
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Hans Kneifel
de stärker. Es war geradezu leidenschaftlich und drängend. Dieselben Gefühle, wie er sie kannte und auch richtig wiedererkannte, nahmen zu und steigerten sich in nie geahn tem Maß. Es war wie eine einzige, langan haltende Entladung der gespeicherten positi ven Kräfte aller Spercoiden. Wie eine Flut wälzte sich diese Positiv-Kraft durch ganz MOAC. Es war eine lautlose Musik, rausch hafte, unhörbare Takte, Empfindungen der Wahrheit und Echtheit, ein verwirrendes Spektrum aller denkbarer positiven Emotio nen, das auch der Arkonide voll empfing. Er steuerte in mehreren Schleifen über die Säulen und Kuppeln der Stadt hinunter zum Lift. Atlan schwebte hinein und verließ den Lift ebenfalls schwebend, als er in der Hy droponikhalle war. Hier war er mitten in dem Inferno. Aber es war ein gutartiges, überwältigendes Inferno. Die Pflanzen bebten und zitter ten wie im Fieber, wie unter Sturmstößen, die gleichzeitig aus allen Richtungen herein brachen. Der Nektargeruch war stechend, und unentwegt regnete es Blütenblätter. Zunächst war er hier sicher. Atlan schaltete ein paar Sonnenlampen ein und verbarg sich schließlich in der Ast gabel eines der stärksten Gewächse. Er begann zu ahnen, daß weit über ihm jetzt entscheidende Dinge vorfielen.
* Die Pflanzen, seit undenklichen Zeiten von der tyrannischen Zuchtweise Spercos ausgenutzt und manipuliert, schienen sich mit dem Fremden und dessen Absichten ver ständigt zu haben. Aber das erschien jedem, der in MOAC noch klar denken konnte, mehr als unwahrscheinlich. Eine geheime Absprache zwischen Pflanzen und Flugmei ster hätte vorausgesetzt, daß beide miteinan der hätten »sprechen« können. Das war un möglich, niemand vermochte es. Aber alle emotionalen Kräfte, die von den Pflanzen im Lauf der Generationen angesammelt worden
waren, tobten sich in MOAC aus. Die Fol gen waren in diesen Augenblicken noch nicht abzusehen.
* Der Druck der Angst wich von Sperco. Verwirrt blickte er um sich. Weder die Braisenwache noch die Spercoiden oder die Roboter bewegten sich. Der junge Braise – es war nicht Öpner! – hockte noch immer vor ihm und lachte ihn ausgesprochen her ausfordernd an. Mühsam und unter Anspan nung aller seiner Kräfte beruhigte sich Sper co. Die Erinnerung an den Haß gegen den Bruder und den Mord verblaßte langsam. Sperco streckte die zitternden Hände aus und berührte den Kopf des Braisen. Auf alle Fälle würde jetzt dieser spercotisierte Sklave keine Eigenmächtigkeiten mehr versuchen. »Wer bist du?« fragte Sperco lauernd. »Etorc. Kind von Körz und Tancai. Gut geflogen, Kumpel, wie?« Sperco nahm seine Hände zurück. In ohn mächtiger Wut brüllte er: »Braisen! Nehmt Körz und Tancai sofort gefangen. Jagt die sem Botosc nach! Werft auch den jungen Braisen ins Gefängnis!« Niemand rührte sich. Die Braisen blickten ihren Artgenossen hingerissen an und waren in ihren Erinnerungen versunken. Sie befan den sich in einer Art Trance. Jedenfalls tat keiner von ihnen etwas. Sie waren unfähig, zu gehorchen. Sie hatten den Befehl gehört, aber nicht verstanden. Das Wunder des Flie gens hatte sie starr werden lassen. Sperco begriff nicht, was über sie gekommen war, aber er begriff, daß die Braisen für absehba re Zeit ausgeschaltet waren. »Spercoiden!« schrie der Tyrann wieder. Der Braise vor ihm entfaltete seine Flü gel, machte einen weiten Satz und schwang sich in die Luft. Etorc flog zu Körz hinauf, zu seinem Vater, der ebenfalls starr und ge lähmt dastand und ihm entgegensah. »Spercoiden! Nehmt die Braisen gefan gen! Alle! Werft sie in die Zellen!« donnerte die Stimme des Tyrannen durch ganz
Der Flugmeister MOAC. Aber auch die Spercoiden – jeder von ih nen war von ihm persönlich spercotisiert worden – bewegten sich nicht. Sperco selbst spürte, daß sich einiges verändert hatte. Eine ungesunde Stimmung herrschte hier. Ihm kam es wie eine Lähmung vor, die von einer unsichtbaren Quelle ausgestrahlt wurde. Die Wesen in ihren dunklen, schweren Anzügen waren in eine zwiespältige Emp findungswelt geschleudert worden. Einerseits bestand ihre Loyalität zu Sper co unverändert weiter. Sie konnten sich dem Einfluß der Spercotisierung nicht entziehen. Jeder von ihnen hatte die Berührung des Ty rannen gespürt, die sie zu bedingungslos ge horchenden Dienern machte, die für ihn ar beiteten und starben. Aber der Schwall von Emotionen, der über die bleichen Wesen in den Anzügen hereinbrach, löste Reaktionen aus. Die Squooner-Nachkommen wußten nicht, was mit ihnen geschah. Sie merkten, daß ihnen Emotionen und Gefühle zurückgegeben wurden, die sie verloren hatten. Bisher waren sie Wesen, die wie Roboter handelten. Jetzt veränderten sie sich auf einen Punkt zu, der sie zu echten Lebewesen machte. Sie bestanden nicht mehr länger nur aus negati ven, sondern zunehmend auch aus positiven Komponenten geistig-seelischer Art. Die Gefühle kehrten zurück, die Wünsche wur den stärker. Ein Chaos des Verstandes lähm te einen jeden Spercoiden innerhalb MOACs. Diese Wesen wurden in eine nicht vor stellbare schizophrene Situation gestürzt. Sie schwankten zwischen Loyalität und Gehor samspflicht auf der einen und dem Hang zur persönlichen Freiheit auf der anderen Seite. Das Dilemma war nicht zu lösen und machte die Spercoiden handlungsunfähig. Zunächst erschrak Sperco darüber, daß die Braisen ihm nicht sofort gehorchten. Jetzt saß der Schrecken tiefer. Auch die Spercoiden waren nicht in der Lage, sich zu bewegen. Der Tyrann sprang aus der Sitz
33 schale und drängte sich zwischen Braisen und Spercoiden hinunter zu seinen Robo tern. »Roboter! Vortreten!« schrie er aufgeregt. Die erwartete Krise war da. Aber er würde auch sie meistern. Die Roboter gehorchten! Sie bildeten eine neue Formation um den Tyrannen. Sperco fuchtelte mit den Händen und Armen vor ihnen herum und brüllte sei ne Befehle. »Alle Roboter sollen sofort die Braisen einfangen und einsperren. Ein Kommando der bestausgerüsteten Roboter macht Jagd auf Botosc, den Flugmeister.« Sofort marschierte eine Abteilung der Maschinen auf den nächstgelegenen Aus gang zu. Der Tyrann überlegte kurz, dann donnerte seine Stimme abermals auf. »Ich muß sofort zurück in den Thronsaal. Bringt mich dorthin.« Sofort packten vier Roboter, nachdem sie sich rücksichtslos durch die Reihen der betäubt dastehenden Spercoiden und Braisen einen Weg gebahnt hatten, den schalenförmigen Sessel. Sperco ließ sich hineinheben und deutete auf die Gestalten, die auf dem Postament standen. »Fangt gleich damit an. Packt sie!« Diesmal brauchte sich Sperco nicht zu fragen, ob seine Befehle beachtet wurden. Er sah die Roboter bereits im Einsatz, als er die Halle der Versuche verließ. Was war eigent lich geschehen? Auf dem Weg zum Thronsaal, also zu sei nem eigenen Schaltzentrum, versuchte Sper co, sich über den Grund und das Ausmaß der Krise klar zu werden. Mit Sicherheit war der Flug des jungen Braisen der Auslöser gewesen. Man konnte ihm jetzt nicht einmal die Flügel abschneiden, denn alle Spercoi denärzte waren wie versteinert. Aber dann? Wer hatte diesen gigantischen Einfluß auf Braisen und Spercoiden zugleich ausgedehnt? Sperco erinnerte sich jetzt, selbst verwirrende Strömungen gespürt zu haben. Erinnerungen an eine Zeit, in der er Liebe und Geborgenheit gespürt hatte, Stür me von Mitleid und Selbstmitleid, der Wunsch, einmal in seinem Leben zu fliegen
34 – das alles hatte ihn heimgesucht, nachdem Etorc vor ihm gelandet war. Sperco ließ den Sessel hinter dem Tisch abstellen, scheuchte die Roboter in den Hin tergrund der dunklen Halle zurück und akti vierte seine Kommandogeräte. »Hier spricht Sperco!« rief er, seine Erre gung mühsam zügelnd. »Sperco ist der Herr, die Spercotisierten sind seine Diener. Ich spreche zu allen We sen, die mir in MOAC und außerhalb die nen. Ein bösartiger Feind hat aus dem Hin terhalt zugeschlagen. Es gelang ihm, die Spercotisierten in den Lebensanzügen und die braisischen Wachen vorübergehend aus zuschalten.« Noch konnte er sich nicht um andere Tei le seines Imperiums kümmern. Er mußte erst wieder den empfindlichen Organismus MOACs unter volle Kontrolle bekommen. »Diese Störung wird binnen kurzer Zeit wieder beseitigt werden. Für die nächsten Stunden herrscht in MOAC Ausnahmezu stand! Alle anderen Wesen werden sich den Anordnungen der Roboter unterwerfen. Fangt den Flugmeister und bringt ihn zu mir. Verhindert, daß gegen meine Anordnungen verstoßen wird.« Er schaltete den Kommunikator ab und berührte eine Serie verschiedener Kontakte. Die Angst, daß die Krise größer sein würde als seine Möglichkeiten, ihr zu begegnen, saß in ihm wie ein Gespenst. Er rief die Zentrale der über Roppoc schwebenden Nachrichtenstation. »Sperco verlangt die neuesten Informatio nen.« Der Sprecher starrte durch die dunkle Sichtscheibe des Anzugs und erwiderte: »Herr, aus vielen Orten der Galaxis Wol cion treffen Nachrichten ein, die beunruhi gend sein könnten.« Das konnte nur eines bedeuten. »Beunruhigend? Sprich!« fuhr Sperco ihn an. Noch während Sperco ihn anblickte und auf eine Antwort wartete, mußte er erken nen, daß auch dieser Spercoide nicht in der
Hans Kneifel Lage war, weiterzusprechen. Diese eigenar tige Lähmung hatte auch ihn ergriffen – dort, weit entfernt von MOAC, im Welt raum! Sperco spürte, wie er ebenso starr wurde wie seine Diener. Zum erstenmal in seinem langen Leben voller Erfolge stand Sperco plötzlich vor ei ner Aufgabe, die er nicht mehr lösen konnte.
6. Gab es telepathische Beziehungen zwi schen den exotischen Pflanzen, die überall in Spercos Imperium gezüchtet wurden und die positiven Bewußtseinsinhalte der Squoo ner-Nachkommen aufgesogen und gespei chert hatten? Niemand wußte es. Es gab auch keine Zeit, darüber nachzudenken oder gar zu for schen. Der Effekt jedenfalls sprach für diese These. Gleichzeitig mit dem Zeitpunkt, an dem auf Roppoc die Pflanzen unterhalb der Rie senburg MOAC ihre positiven Energien schlagartig verströmten und damit alle Sper coiden überfluteten, reagierten die Pflanzen überall in Spercos Imperium. Jeder Spercoiden-Stützpunkt besaß ent weder hydroponische Gärten oder besondere Pflanzungen, in denen jene Pflanzen gehegt wurden. Und jeder der vielen zehntausend Stützpunkte, Raumhäfen, Militärbasen oder Großwerkstätten, Werften und Verwaltungs zentren brauchte ununterbrochen Spercoi den, die von den Pflanzen behandelt wurden. In jedem Fall waren Lähmung, Überra schung und Entsetzen vollständig. Braisen, die natürlich an anderen Stellen des Imperiums keine wirkliche Flugdemon stration miterlebt hatten, blieben handlungs fähig. Sämtliche Spercoiden blockierten durch ihre Lähmung wichtigste Arbeiten. Der Pro zeß, durch den sie Liebesfähigkeit zurückbe kamen, Gutmütigkeit, Mitleid und Freude an einer Art Leben, das sie nicht kannten, dau erte nicht lange, war aber intensiv und aus
Der Flugmeister schließlich. Die Folgen waren ungeheuerlich. Absolute und völlig kritiklose, bedin gungslose Gehorsamspflicht, jederzeit ver langt und jederzeit ausgeführt, war die si chere Grundlage von Spercos Imperium ge wesen. Gehorsam sicherte auch das Vorge hen der Invasionsflotten. Schlagartig dachte kein Spercoide mehr daran, bedingungslos zu gehorchen. Es gab keinen Sinn mehr, für Sperco zu arbeiten, zu kämpfen und zu sterben. Einige der persönlich von Sperco mit der Geste der Freundschaft berührten Spercoi den in hohen Funktionsstellen, an allen Or ten des Imperiums gleichzeitig, öffneten ihre Anzüge. Alle verbrannten, bei den meisten lösten sich auch die Anzüge in kaltem Feuer auf. Diejenigen, die ihnen dabei zusahen und ähnliche Empfindungen gehabt hatten, sahen die Sinnlosigkeit ein. Sie besaßen jetzt die Fähigkeit wieder, sinnvolle von sinnlosen Aktionen klar unterscheiden zu können. Die Schiffe der Flotten änderten ihre Kur se. Versklavte Völker und Planeten erhielten ihre Freiheit wieder, weil niemand für die Einhaltung der Gesetze des Tyrannen sorgen wollte. Die militärische und die administrative Macht Spercos wurde binnen weniger Stun den derartig ausgehöhlt, daß ihr vollkomme ner Zusammenbruch nur noch eine Frage von Tagen oder Wochen sein würde. Die meisten Spercoiden fanden sich mit ihrem Schicksal ab. Sie öffneten die Anzüge nicht. Sie wuß ten, daß sie mutierte Nachkommen der Squooner waren und bleiben würden. Ihr Leben hing von den Anzügen ab. Sie wür den bis zum Ende ihres Lebens diese Anzü ge tragen müssen. Aber ihre Enkel würden frei sein, und sie würden vollständige Wesen bleiben, denen niemand mehr die größten Teile ihrer Seele stahl. Langsam breitete sich das Chaos über Spercos Reich aus.
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* Bewegungslos kauerte Sperco in seiner Sitzschale. Die Erfrischungen, die ihm Roboter ge bracht hatten, rührte er nicht an. Sperco be gann einzusehen, daß seine Macht Millime ter um Millimeter abgetragen wurde. Der Gehorsam … nur noch die Roboter gehorch ten ihm. Und sie waren bei weitem nicht für die Aufgaben zu gebrauchen, die er den Spercoiden anvertraut hatte. »Die Garnison auf Chioxe Vier verbrü dert sich mit den Eingeborenen …« »Schwere Schlachtschiffe im Raum zu sammengestoßen, viele Tote und Ausfälle.« »Die wilden Eingeborenenhorden von Utsbelk II greifen die Basis an.« »Stützpunkt Wolcion Minor mußte aufge geben werden. Die Fadenwesen des Plane ten haben ihn fast ohne Gegenwehr gestürmt …« Unaufhörlich verlas der Braise, unter stützt von ein paar Fremdweltlern und den Robotern, die Schreckensmeldungen. Alle Teile des Imperiums standen in Flammen. »Herr! Was sollen wir tun? Wir haben nur noch ein einziges Schiff, mit dem wir uns zurückziehen können!« »Die Roboter sind nicht in der Lage, das Schiff zu steuern …« Ganz langsam schälte sich ein einigermaßen sicheres Bild aus dem Wirrwarr der Panikmeldungen heraus. Die Spercoiden, falls sie nicht den Freitod vorgezogen hatten, gehorchten nur manch mal. Sie führten nur Arbeiten aus, von deren Sinn sie überzeugt waren. Viele andere Indi viduen, die sich von Sperco nicht versklavt gefühlt hatten, arbeiteten, und versuchten, den Zusammenbruch aufzuhalten, indem sie das Chaos steuerten. Die meisten Braisen waren ihm weiterhin treu ergeben. Sie schienen wenigstens die hauptsächlichsten Nachrichtenwege zu kon trollieren. »Roboter verteidigen das Fort Siebzehn auf Aleety. Die Eingeborenen greifen mit
36 bloßen Händen an …« »Das Schiff BARMHERZIGKEIT meldete soeben Totalschaden. Die Gefangenen ha ben die Energieerzeuger in die Luft ge sprengt …« »Flottenverband Eins kehrt in die Basis zurück. Die Kommandanten haben sich selbst umgebracht …« »Sämtliche noch funktionierenden Kom mandostellen erbitten dringend Anweisun gen und Befehle. Hilf uns, o Herr …!« In Spercos Phantasie zeichneten sich die vielen Stellen, an denen sein Reich zerfiel, deutlich ab. Schnelle Entscheidungen wur den überall verlangt. Niemand wagte, seine Gebote außer Kraft zu setzen – sie waren al le weitestgehend unselbständig. Sperco suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Seine Gedanken rasten förmlich. Schließlich sagte er: »Sperco an alle, die ihm treu ergeben sind: Unser Imperium ist in Gefahr, auseinan derzufallen. Ich befehle euch allen, sich zu rückzuziehen. Nur sichere Plätze sollen auf gesucht werden. Die Kolonisationsflotten sollen in ihre Stützpunkte zurückkehren. Führungspersönlichkeiten dürfen sich auf keinen Fall in Kämpfe verwickeln lassen und ihr Leben aufs Spiel setzen. Wir werden später, wenn sich das Chaos gelegt hat, das Imperium wieder konsolidie ren. Dann wird eine neue Zeit heraufkommen. Im gegenwärtigen Moment brauche ich je doch alle Energie hier in MOAC. Sicherheit geht vor Expansion. Bewahrt nach Möglichkeit das Erreichte, aber opfert euch nicht. Wir kommen wieder!« Er schaltete den Bildschirm ab. Dunkel hüllte auch diesen Teil der Halle ein. Sperco sank zurück und schloß die Augen. Warum geschah das alles? Welche Macht war imstande, ihn derart schonungslos zu besiegen? Woher kamen die unverständli chen Reaktionen der Wesen, die ihm treu er geben waren? Er wußte es nicht. Noch ein mal flackerte die Wut in ihm hoch, und er
Hans Kneifel rief seine Roboter herbei. »Ist dieser Flugmeister schon gefunden worden?« »Nein, Herr. Aber die Suche läuft unver ändert weiter.« »Haben die Spercoiden ihre Lähmung schon hinter sich?« »Jawohl.« »Wie äußerte es sich?« »Viele von ihnen öffneten die Anzüge. Sie lösten sich auf. Auch viele Anzüge ver brannten.« »Die Braisen?« »Sie kommen allmählich zu sich und ver halten sich wieder völlig normal. Jedenfalls gehorchen sie.« »Man soll den Fremden sofort hierher bringen, wenn er gefangen wurde.« »Herr, es soll geschehen.« Sperco schrie in unbeherrschtem Haß: »Es wird geschehen! Und zwar bald!« »Jawohl, Herr.« Dann übermannte die Erschöpfung den Tyrannen, und er schlief für kurze Zeit ein. Sein Traum war erfüllt von gräßlichen Vi sionen des Untergangs.
7. Atlan wartete eine halbe Stunde. Dann wurde ihm die Zeit zu lang. Er hatte eine Entwicklung in Gang gesetzt und wußte nicht, wie es inzwischen weiterging. Hier, in den riesigen hydroponischen Gärten, hatte sich etwas geändert. Der Aufruhr unter den Pflanzen hatte nachgelassen. Die wunderschönen Blüten und die grünen Blätter bewegten sich nur noch langsam. Völlig ungerührt von allem arbeiteten die Wurzelwesen weiter; sie schienen sich auch jetzt um nichts anderes zu kümmern als um die Pflanzen und deren Wohlergehen. Bisher hatte ihn niemand belästigt. Wie ging es Körz und Etorc? Atlan war einiger maßen sicher, daß er miterlebt hatte, wie die Pflanzen ihre positive Energie abgegeben hatten; dies schien der emotionelle Sturm
Der Flugmeister gewesen zu sein, der durch MOAC fegte. Er hielt es nicht mehr länger aus und schaltete den Flugapparat wieder ein. Vorsichtig, um die Pflanzen nicht zu be schädigen, schwebte er wieder zum Lift. Noch immer trug er den Nektar bei sich; vielleicht konnte er ihm im entscheidenden Augenblick wieder helfen. Inzwischen war er mit Sicherheit schon wieder sichtbar. Der Lift brachte ihn an die Oberfläche. Atlan steuerte das Gerät in einer steilen Kur ve aufwärts und senkte es wieder auf einem Turmbau mittlerer Größe. Es war Nacht geworden. Es schien eine Nacht voller krasser Ge gensätze zu sein. Der Himmel war klar und voller Sterne. Der Mond schob sich gerade über den Horizont; er bildete eine breite Si chel. In den Grasflächen rund um MOAC vollführten die Insekten ein wildes Konzert zirpender Laute. Am fernen Raumhafen, der sich schon fast hinter der Krümmung des Horizonts zu verbergen schien, zuckten laut lose Blitze, Scheinwerfer vermutlich, schräg und senkrecht in die Höhe. MOAC selbst war voller Bewegung. Atlan blieb noch eine Weile regungslos hier oben sitzen und betrachtete das hekti sche Treiben unter sich. Zwei Roboter rannten in höchster Eile über einen Hof. Sie hielten ihre Waffen schußbereit; das Mondlicht und das Licht der Scheinwerfer glänzten auf den Läufen. Ein Spercoide taumelte eine Treppe hin unter, griff sich mit beiden Händen an den Helm und öffnete ihn. Atlan entfuhr ein lei ser Aufschrei. Sofort stand der Anzug in grellen Flammen. Der Anzug mit dem Sper coiden, der in diesen Sekunden starb, über schlug sich und polterte die Stufen abwärts. Ungerührt schleifte ein Wurzelwesen vorbei. Ein anderer Hof: Vier Roboter stießen etwa ein Dutzend Braisen vor sich her und trieben sie auf den Gefängnisbereich zu. Eine Gruppe Spercoi den sprach aufgeregt miteinander, dann wandten sie sich in eine Richtung, die sie aus der Stadt bringen würde. Irgendwo hin
37 ter Atlan ertönte eine dumpfe Explosion. Kurzer Feuerschein erhellte die Nacht. Roboter nehmen Braisen gefangen! sagte der Logiksektor alarmiert. War Sperco verrückt geworden? Er ließ ausgerechnet seine Leibgardisten einker kern? Der Vorgang wiederholte sich noch zweimal. Atlan wußte nicht, was er davon zu halten hatte. Beachte die Spercoiden! empfahl der Ex trasinn. Die bleichen Molchnachkommen in den schweren Anzügen verhielten sich völlig un typisch. Zwischen ihnen schienen sich Sze nen der Verbrüderung abzuspielen. Einmal sah Atlan zu seiner Verblüffung, wie drei Spercoiden zwei der Roboter unter Feuer nahmen und vernichteten. Also doch! Sein Versuch mit dem Flug des Braisen hatte irgendeine Form von Rebellion ausge löst. Noch waren nicht alle einzelnen Fragen geklärt. Aber alle Wesen, die er bisher beob achten konnte, verhielten sich völlig unty pisch. Atlan kontrollierte seine Umgebung und legte die Hände auf die Steuermechanis men. Summend erhob sich das Gerät, um rundete den Turm und sank tiefer. Atlan steuerte in schnellem Flug entlang der dunklen Wände die nächste freie Zone an. Dort standen zwei Spercoiden; er wußte, daß er sie von allen Wesen am besten verste hen konnte. Er hielt das Gerät vor ihnen in der Luft an, richtete die Waffe von Körz auf die Wesen und fragte: »Ihr rebelliert gegen Sperco?« Knarrend erklärte der rechts stehende Spercoide: »Das ist der Flugmeister, den die Roboter suchen. Sperco haßt ihn, weil er fliegen kann. Nein. Keine Rebellion.« »Ich sah Spercoiden, die ihre Anzüge selbst öffneten und starben! Was ist los?« Die Antwort beseitigte seine restlichen Zweifel. »Wir haben alle von den Blumen unsere Seelen zurückbekommen. Wir wissen nicht,
38 was wir tun sollen.« »Ich verstehe«, murmelte Atlan. »Was werdet ihr vermutlich tun?« Der links stehende Spercoide zögerte mit der Antwort. »Wir besitzen eine neue Art von Freiheit. Wir kommen mit dieser Freiheit nicht zu recht. Wahrscheinlich werden wir uns wei terhin indifferent verhalten.« Atlan sah sich wachsam um. Er durfte den Robotern nicht begegnen. Dann meinte er nachdenklich: »Ob sich dieser Effekt nur auf MOAC be schränkt?« »Sperco rief uns auf, ihm weiter zu die nen. Überall in seinem Imperium haben uns die Pflanzen die geistige Freiheit wiederge geben.« »Das ist mehr, als ich mir vorzustellen wagte«, bemerkte Atlan. »Danke für die Auskünfte. Ist die WAHRHAFTIGKEIT schon gestartet?« »Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich nicht, Fremder. Wir wünschen dir viel Glück – die Roboter sind grausam und rücksichts los.« Noch vor Stunden wäre eine solche Ant wort völlig undenkbar gewesen. Atlan lä chelte grimmig und hob grüßend die Hand. Dann ließ er den Apparat steil hochsteigen, orientierte sich und jagte in die Richtung des Gefängnisses. Sein Flug führte über einen Teil der grasbewachsenen Ebene. Er konnte sehen, daß nicht nur Spercoiden sich in klei nen Gruppen oder einzeln aus MOAC ent fernten, sondern auch andere Wesen. »Ich denke, auf alle Fälle bricht eine neue Zeit an!« sagte er sich und versuchte, unbe merkt zwischen den Türmen, Verbindungs stollen und Terrassen der äußeren Burg hin durchzukommen. Plötzlich riß er den Vor wärtshebel zurück und hielt das Gerät mitten in der Luft wieder an. Unter ihm lag der Innenhof, den er beson ders gut kannte. Auf den Steinplatten wim melte es von Robotern und Braisen. Die Ma schinen trieben die noch immer willenlos reagierenden Braisen in das Gefängnis hin-
Hans Kneifel ein. Es war ziemlich klein, und schon jetzt mußte dort eine qualvolle Enge herrschen. Atlan steuerte den leichten Sitz in den Schutz einer massiven Terrassenbrüstung und spähte hinunter. Die Maschinen beweg ten sich mit einer geradezu herausfordernden Schnelligkeit. Jede von ihnen schien ge nau zu wissen, was zu tun war. »Die Konsequenzen sind für mich und Sperco noch keineswegs klar«, sagte sich der Arkonide. »Aber es wird niemals wieder so sein wie vorher. Das ist sicher.« Die Spercoiden würden ihm nicht bewußt helfen. Aber sie würden ihn auch nicht ohne Grund verraten. Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sich niemand auf sie verlassen konnte. Die Flucht aus MOAC war einer der Beweise. Du bist wieder einmal allein auf dich ge stellt, erinnerte ihn der Logiksektor. »Wie wahr!« sagte er und fügte einen Fluch hinzu. Vorsichtig stieg er aus der Deckung auf, umrundete zwei Mauern und einen Turm mit schrägem Dach und konnte jetzt nahezu den gesamten Platz überblicken. Zwei Roboter standen auf beiden Seiten des Gefängnisein gangs und bewegten sich ruhig hin und her. Sie suchten die Umgebung nach Eindring lingen ab. Aber sie konzentrierten sich auf den Boden und die Treppen, denn es schien undenkbar zu sein, daß sich etwas aus der Luft näherte – dafür schienen sie nicht pro grammiert zu sein. Atlan zog die Waffe des Braisen, blockierte die Steuerung des Fluggeräts und feuerte zwei präzise gezielte Schüsse ab. Sofort beschrieb das Gerät eine seitliche Ausweichbewegung. Die Strahlenflut erfaß te die Maschinen und sprengte sie in einer scharfen Doppelexplosion auseinander. At lan stürzte sich verwegen schräg auf den Eingang zu und löste den Gurt. Er hatte jeden Handgriff der Braisen be obachtet, als er hier der Gefangene gewesen war. Er drückte jeden wichtigen Schalter. Ne ben ihm rauchten die Reste der Roboter. Die
Der Flugmeister schweren Gitter schoben sich wieder zur Seite und versanken im Boden. Licht flammte im Innern des Gefängnisses auf. Auch die Projektoren und die Strahlenbar rieren schalteten sich ab. Atlan zerstörte mit einigen kurzen Feuerstößen die Schaltanlage und stürmte in den Gefängnisbau hinein. »Körz!« schrie er laut. »Tancai! Etorc! He, Kumpel!« In jeder Zelle drängten sich die Braisen. Sie waren, so weit Atlan dies feststellen konnte, entwaffnet worden. Schließlich, als er im ersten Stock in die letzte Abteilung hineinrannte, kreischte der junge Braise ir gendwo im Hintergrund einer Zelle auf. »Hier, Kumpel!« Atlan änderte seine Richtung und öffnete auch diese letzte Zellentür. Die Braisen drängten sofort heraus. Atlan, der sie alle um einen Kopf überragte, brüllte: »Geht alle zurück in eure Wohnungen. Versteckt euch, bis alles vorbei ist. Ihr habt die Freiheit wieder – eure Kinder werden fliegen wie Etorc!« Die Braisen waren ebenso verwirrt wie al le anderen Wesen. Sie wußten nicht, was vorgefallen war. Die Verhaftungen durch die Roboter hatten sie schockiert; dieser Schock war in gewisser Weise heilsam. Jedenfalls verhielten sie sich so, wie es Atlan sich vor gestellt hatte. Sie verließen in einem breiten Strom das Gefängnis. »Körz! Etorc! Hierher!« schrie Atlan und drückte sich an die Wand. »Es muß schnell gehen.« Braisen drängten schweigend an ihm vor bei. Schließlich erkannte er Körz, der seinen Sohn auf den Schultern schleppte. Etorc schien alles für einen großartigen Spaß zu halten und benahm sich dementsprechend. Atlan hielt Körz fest und sagte beschwö rend: »Wo ist Tancai?« »Irgendwo in einer Zelle. Was ist eigent lich passiert?« »Alle Zellen sind geöffnet. Ich werde dir sagen, was in MOAC und in allen Teilen von Spercos Imperium geschehen ist.«
39 Sie eilten nebeneinander durch die fast leeren Gänge und Korridore auf den Innen hof hinaus. Atlan berichtete, was er wußte. Er merkte natürlich, daß wenigstens Körz ebenfalls im Bann dieses kaum lösbaren Zwiespalts stand. Gehorsam des Spercoti sierten und der Drang nach Freiheit stritten miteinander. Neben dem Flugapparat blieben sie ste hen. »Was soll ich tun, Kumpel? Ich bin ratlos. Alle Braisen sind ratlos.« Atlan schwang sich in den Apparat und gurtete sich an. »Versteckt euch. Bald ist alles vorbei. Und sage den anderen Braisen, daß niemand mehr den jungen Fliegern die Flügel stutzen wird. Es sind nur noch die Roboter, die Sperco gehorchen. Und … die Roboter ja gen und verfolgen mich.« Er legte seine Hand auf die Schulter des Leibgardisten und sagte so eindringlich wie möglich: »Grüße Tancai. Verstreut euch, flüchtet in die Ebene. In ein paar Tagen herrscht hier das Gesetz der Freiheit. Ich muß ebenfalls flüchten.« Etorc leckte mit seiner hornigen Zunge quer über Atlans Gesicht und plapperte piep send: »Viel Fliegen, Kumpel. Du auch Flieger.« Atlan lachte und erwiderte, während er den Sitz senkrecht hochschweben ließ: »Ich auch Flieger. Hoffentlich fliege ich bald zurück nach Loors. Ade, mein Klei ner!« Er unterdrückte mit Gewalt die starken Gefühle der Sympathie für den jungen Brai sen, wendete in etwa fünfzig Meter Höhe sein Fluggerät und entschied sich für seine nächste Aktion. Was er tun konnte, um den versklavten Wesen ihre Freiheit innerhalb eines engen Rahmens wiederzugeben, würde er tun. Au ßerdem erhöhten seine Handlungen das Cha os und zerstreuten die Gruppen der Roboter, dienten also seinem eigenen Schutz. Er raste im Zickzack, noch immer unbemerkt, zwi
40 schen den Türmen dahin und bremste wieder vor dem Lift in die Unterwelt des Riesen schlosses. Die Lifttüren waren noch immer offen; ein Zeichen, daß man ihn hier wohl nicht vermutete. Er schwebte hinein, schloß die Tür und zog wieder die Waffe, als der Ku bus hinuntersank. Wieder empfingen ihn die Farbenpracht und die wehenden Wohlgerüche der Pflan zen. Er steuerte vorsichtig über ihren Köp fen und Blüten, zwischen Ranken und ta stenden Zweigen auf das massive Tor zu, das er entdeckt hatte. Fraglich, ob deine Vorstellungen richtig sind, mahnte der Logiksektor. »Auf alle Fälle rufen sie noch mehr Panik hervor! Und den bleichhäutigen Molchen kann die Panik nur dienen!« sagte er laut, sprang aus dem Sitz und öffnete die Riegel und Zuhaltungen. Mit kurzen Schüssen zer störte er die beweglichen Teile. Dieses Tor würde sich nur noch unter erheblichen Schwierigkeiten schließen lassen. Vor ihm befand sich der künstliche Tal kessel mit den vier Lebenszonen. Das Bild, das er in seiner Erinnerung hatte, schien sich nicht im geringsten verändert zu haben. Aber auch der Molchkolonie hatte sich eine sichtbare Unruhe übertragen. Atlan schweb te weiter und sah, daß der schmale Steg nur durch eine schlanke, glattwandige Säule ge halten wurde. Er bog in eine enge Kurve ein, ließ sich absinken und schoß auf die Säule. Die ersten Energiestrahlen wurden abge lenkt und zeigten keine Wirkung. Aber schon der vierte Treffer bohrte sich in das Material und sprengte große Fetzen daraus nach allen Seiten. Verwirrt rannten die molchähnlichen Wesen davon und verbar gen sich in Höhlen und Erdlöchern. Wieder ertönte ein Schuß. Echos donnerten durch die Halle. Der letzte Treffer ließ die Säule endlich auseinanderbrechen. Das Gewicht, das auf ihr ruhte, warf die Trümmer nach rechts und links. Dann begann sich der Steg, der jetzt frei schwebte, nach vorn zu biegen. Felstrümmer
Hans Kneifel brachen aus der Umgebung des offenen Por tals und rollten in den Talkessel hinunter. Das Material der zungenartigen Plattform bekam breite Risse. Mit peitschendem Knal len barsten Konstruktionsteile. Staubfontä nen schossen hoch. Immer mehr bog sich der Steg durch, er zitterte und schwankte, während seine vorderste Kante sich dem fel sigen Boden der »Abend«-Zone näherte. Schließlich, als Atlan bereits zur gegen überliegenden Seite hinüberschwebte, krach te der Steg in fünf Teilen hinter einem Fel sen herunter. Jetzt war die Verbindung zwischen den hydroponischen Gärten und der Heimat der Squooner-Nachkommen hergestellt. Irgendwann würden sie ihre Angst überwunden ha ben und diesen Weg beschreiten. Atlan erreichte jetzt einen kippbaren Steg, über den er die Spercoiden mit den Anzügen beobachtet hatte. Sorgfältig orientierte er sich und verstand schließlich, wie der Kipp mechanismus funktionierte. »Wie auch immer«, murmelte er wütend und begann zu feuern, »Sperco wird viel Ar beit haben, das Chaos zu beseitigen.« Die peitschenden und röhrenden Ge räusche der Schüsse hallten durch den Tal kessel. Funkengarben und flammende Bah nen kennzeichneten die Treffer. Stahlträger und hydraulische Elemente wurden systema tisch zerschnitten, kippten auseinander und schmolzen in der wilden Glut. Mit einem lauten Ächzen und Knirschen brach der Steg auf voller Länge herunter und schlug die Felsen, auf denen er sonst weich aufsetzte, in Stücke. Atlan hob die heißge schossene Waffe hoch und steuerte durch die Rauchwolken und die Schleier des hoch gewirbelten weißen Staubes auf die Schottür zu. Was dahinter lag, konnte er nicht einmal vermuten. Denke an den Nektar! sagte der Logiksek tor wachsam. Atlan zog die Büchse hervor und trank einen möglichst großen Schluck. Dann stieg er von dem Sitz und versuchte das Schott zu öffnen. Die Handgriffe waren, wie fast über
Der Flugmeister all, für die klobigen Finger von Spercoiden anzügen gemacht. Er drehte an einem großen Rad, kippte lange Hebel nach unten und zog an schweren Zuhaltungen. Schließ lich fand er nichts mehr, das er hätte bewe gen können, und riß an einem senkrechten Griff. Lautlos schwang das Portal auf. Dahinter erstreckten sich Räume, die in völligem Dunkel lagen. Der Lichtschein der sonnen ähnlichen Lampen reichte nur einige Schrit te weit. Atlan mußte mit einer Strahlensper re rechnen. Er hatte kein Werkzeug, um das Vorhandensein zu testen. Er zuckte die Schultern und schwebte hin unter in den Talkessel. Dort riß er einen lan gen Ast von einem der kümmerlichen Sträu cher und hielt wieder dicht vor dem Durch laß an. Langsam bewegte er den Ast von oben nach unten, aber es gab keine Entla dung, keinen Blitz, keine aufzuckenden Strahlen. »Immerhin sollte ich unsichtbar sein. Ob das auch die Roboter wissen?« fragte er sich. Vorsichtig schwebte er in den Raum hin ein. Er drehte den Apparat herum und suchte Schalter, die er betätigen konnte. Als er schließlich schwere Hebel nach unten ge kippt hatte, flammten hinter und über ihm Lichter und Scheinwerfer auf. Atlan sah sich um und entdeckte, daß er sich in einer ande ren Höhle befand, die ebenfalls aus dem Fels herausgearbeitet worden war. Sie wirkte un vorstellbar trostlos und war völlig leer. Im Hintergrund gab es nichts als schwere, matt glänzende Metalltüren. »Uninteressant!« brummte Atlan, schwenkte den Sitz herum und schwebte wieder in die Richtung, aus der er gekom men war. Im selben Augenblick öffneten sich hinter ihm mit donnerndem Getöse viele der eben bemerkten Schotte. Atlan sah Scheinwerfer, glänzende Metallteile und dazwischen die Gestalten von verschiedenen Wesen, die zweifellos alle hinter ihm her waren. Wirkte seine Nektar-Tarnung noch?
41 Er hatte nicht die geringste Lust, ein Risi ko einzugehen und die Tarnung zu testen. Er schob den Geschwindigkeitshebel nach vorn und raste aus der Felsenhalle heraus, tauchte über dem Zuchtgebiet auf und sah, während er auf das offene Schott zusteuerte, daß sich die Bleichhäutigen beruhigt hatten, und daß einige von ihnen bereits versuchten, aus dem Kessel zu entkommen. Sie hatten sich am Fuß der beiden Rampen versammelt. Wie ein Geschoß schwebte Atlan in die Öffnung hinein, verlangsamte seinen Flug und schlängelte sich zwischen den Pflanzen hindurch zum Lift. Er bremste und sah, daß jemand den Lift nach oben geholt hatte. Sein Finger drückte den Rufknopf, dann sagte sich der Arkonide, daß der Lift eben sogut leer herunterkommen konnte wie auch mit Robotern gefüllt. Sofort drehte er ab und verbarg sich hinter einem dichten Wall von Pflanzen. Zwischen den Zweigen konnte er den Lift genau beobachten. Aus der Öffnung im hinteren Teil des Hy droponikgartens kam charakteristischer Lärm. Die Verfolger waren zwar zahlrei cher, aber sie konnten nicht fliegen. Das war Atlans einziger Vorteil. Atlan wußte nicht, wohin er flüchten sollte – er hatte vorläufig nur das Ziel, die nächsten Stunden lebend zu überstehen. Er spähte, sich mit einer Hand an einem schwankenden Ast festhaltend, auf den Lift schacht. Das Zeichen leuchtete, die Tür glitt auf. Rund zehn Roboter bewegten sich aus der Kabine hervor und schwärmten sofort in alle Richtungen auseinander. Atlan versuchte, die Chancen abzuschät zen. Die Maschinen drangen rücksichtslos zwischen den Pflanzen vor, rissen Zweige ab und stießen die Wurzelwesen zur Seite. Ganz sicher war, daß sie den Flugmeister suchten. Atlan wartete voller Ungeduld, bis die Roboter weiter vom offenen Lift entfernt waren als er selbst, dann handelte er blitz schnell. Er schob den Hebel bis zum Anschlag durch.
42 Der Sitz machte förmlich einen Satz nach vorn, durchbrach die mehrfachen Vorhänge aus Pflanzen und Blüten und bremste wieder stark ab. Atlan drehte, als er sich in der Ka bine befand, den Flugapparat wieder herum. Während er mit der einen Hand den Schalter betätigte, zielte er mit der Rechten. Die Roboter drehten sich ebenso schnell um wie er selbst und feuerten augenblicklich. Die Tür schob sich zu. Rund um die Tür schlug das Feuer aus den Roboterwaffen ein. Atlan schoß zurück und traf zwei Roboter, die inmitten der Pflanzen in grellem Feuer auseinanderbar sten. Dann hatte sich der offene Spalt zwi schen Rahmen und Lifttür geschlossen. At lan war jetzt sicher, daß man entweder ihn gesehen hatte oder den »leeren« Flugappa rat. Die Wirkung war dieselbe. Sie erwarten dich oben! wisperte der Lo giksektor. »Ich bin fast sicher«, knurrte Atlan und trank noch einen Schluck Nektar. Er ließ die Dose achtlos fallen und bereitete sich auf den Zusammenstoß vor. Der Lift hielt. Atlan holte tief Atem und spannte den Finger um den Auslöser. Die Lifttür öffnete sich, Licht fiel nach draußen, und augen blicklich feuerte Atlan auf den ersten Robo ter. Gleichzeitig dirigierte er sein Fluggerät vorwärts und versuchte, so lange wie mög lich in der schützenden Sicherheit der auf gleitenden Platte zu bleiben. Die Roboter feuerten zurück, er ließ die zweite Maschine detonieren und jagte dann durch die Flam men und die Rauchwolken der beiden glü henden Reste aus dem Lift hinaus und schräg hinauf in das Dunkel der Nacht. Der Andruck der Beschleunigung preßte ihn hart gegen die Rückenlehne. Er drehte sich halb herum und versuchte, die anderen Maschi nen unter Feuer zu nehmen, aber nicht jeder Schuß traf. Atlan war ihnen jetzt entkommen. Sie würden aber nicht aufhören, nach ihm zu su chen. Er steuerte das Gerät erst einmal aus der Stadt hinaus. Die Entfernung bis zur
Hans Kneifel Ebene war nicht besonders groß. Was sollte er jetzt anfangen? Es lief auf dasselbe hin aus, ob er immer wieder den Maschinen ent kam, oder ob er sich jetzt gleich stellte – sein einzig sicherer Fluchtweg war das star tende Raumschiff. Es würde nur auf Spercos Befehl abheben. Langsam schwebte er in geringer Höhe über die Ebene. Die Sterne funkelten über seinem Kopf. MOAC lag hinter ihm, und die Riesenburg hatte sich abermals verändert. Überall schalteten sich Scheinwerfer und Beleuchtungskörper ein. Deutlicher zeichne ten sich die vielfältigen Formen der Gebäu de gegen den Nachthimmel ab. Die Stadt war nun auch oberhalb des Planetenbodens voller Bewegungen und Geräusche. Viele davon galten ihm allein. Sollte er zu Sperco vordringen und den Tyrannen in eine Zwangssituation bringen? Sinnlos. Der Weg dorthin würde von Sicher heitsvorkehrungen aller Art förmlich ge spickt sein. Unschlüssig lenkte Atlan den Apparat wieder in die Richtung der Stadt und versuchte, im Schatten zu bleiben. Als er den ersten der höheren Türme er reichte, umrundete er ihn halb und blickte auf das Gewimmel unter ihm. Er sah keine Braisen, aber viele Spercoiden, die nach wie vor ausgesprochen passiv wirkten. Zwischen den Robotern gab es wahre Unmengen von verschiedenen anderen Wesen; er hatte nie mals gedacht, daß es so viele und so ver schiedenartige gewesen wären. Aber sie leb ten zweifellos in MOAC. Vorsichtig schwebte er seitlich des Turms hervor. Noch während er versuchte, die nächsten Schritte zu planen, überzogen sich sämtliche Außenwände aller Gebäude mit einem grün lichen Schein. Es wirkte, als würde jede ein zelne Kontur von einer Art schimmerndem Nebel nachmodelliert. Die gesamte Umge bung wurde dadurch viel heller, und er be fand sich mitten in dieser Helligkeit. »Verdammt! Ein neuer Trick dieses Sper co!« stieß er hervor und beschleunigte wie der. Aber noch während er im schnellen
Der Flugmeister Steigflug aus dem schimmernden Nebel hin auszufliegen versuchte, vergrößerten sich die strahlenden Felder. Was sie bedeuteten, wußte er nicht. Er zwang den dahinrasenden Sitz in eine enge Linkskurve und wußte, daß nur die Flucht in die Ebene hinaus ihn retten konnte. Genau über ihm detonierte mit einem ge waltigen Donnerschlag eine riesige Feuerku gel und überschüttete ihn mit grellem Licht. Der Explosionsdruck schlug wie ein Ham mer zu und schleuderte Atlan schräg nach unten. Er versuchte, einen Zickzackkurs ein zuschlagen. Die nächste Feuerkugel blühte vor ihm auf, blendete ihn und ließ den Ap parat fast auf der Stelle anhalten. Jetzt weißt du es! kommentierte der Extra sinn. Er war in eine kombinierte Ortungs- und Abwehranlage geraten. Sperco hatte beim Bau der Stadt vorgesorgt und die Möglich keit, von etwas Fliegendem angegriffen zu werden, einkalkuliert. Entweder er selbst oder eine seiner Kreaturen hatte die Anlage jetzt aktiviert. Atlan kam nicht mehr dazu, weitere Überlegungen anzustellen. Er ver suchte, aus dieser Falle zu entkommen. Zuerst ließ er den Apparat hochsteigen. Eine Feuerkugel direkt über ihm stoppte diesen Versuch. Eine zweite hinter ihm schleuderte ihn wieder vorwärts. Er wich aus und fühlte, wie er durch kühle und ko chendheiße Luftschichten hindurchraste. Die Automatik hatte ihr Ziel gefunden, Ununterbrochen detonierten die Feuerku geln. Sie waren hervorragend gezielt. Sie zwangen ihn im Lauf von zehn Minuten, einen Kurs einzuschlagen, den nicht mehr er bestimmen konnte. Rechts und links von ihm, über und unter ihm und in seinem Rücken erschütterten diese gewaltigen Don nerschläge die Nacht. Die zeitlichen Abstän de zwischen den einzelnen Feuerkugeln be trugen jetzt weniger als eine Sekunde. Atlan konnte nur noch schneller werden und schräg abwärts steuern. Dort, gerade voraus, lag ein hell erleuchteter Innenhof. Er mußte ziemlich im Zentrum der Anlage sein.
43 Bist du noch unsichtbar? Dann versuche, den Apparat schnellstmöglich zu verlassen! »Verstanden«, murmelte er fatalistisch und bewegte sich durch das künstliche Ge witter vorwärts. Jetzt befand er sich im Zen trum des Chaos. Er schob den Geschwindig keitshebel vorwärts und entkam für wenige Sekunden dem Inferno aus Donner und Feu erkugeln. Auf dem Platz erkannte er viele teilnahmslos herumstehende Spercoiden – und eine Menge Roboter. Das Ende seines Fluchtversuchs kam in rasender Eile näher. Einige Salven zwangen ihn, den Kurs ex akt beizubehalten. Er erreichte, knapp über dem Rand eines Daches dahintaumelnd, et wa die Mitte des Innenhofs und bremste stark ab, öffnete den Gurt und ließ sich seit lich aus dem Sitz kippen, ehe sein Fluggerät auf dem Steinboden aufprallte. Atlan rollte sich seitlich ab und sprang auf die Beine. Er hielt die Waffe in der Hand und sah sich um. Einige der Spercoiden schienen den Apparat mit mäßigem Interesse anzusehen, ehe sich die Glutstrahlen aus nicht weniger als zehn Roboterwaffen vereinigten und das Gerät trafen. Es glühte an einigen Stellen auf, und schließlich detonierte die Energie zelle mit einer ohrenbetäubenden Explosion. Atlan glaubte ziemlich sicher zu sein, daß ihn der Nektar-Effekt noch schützte. Er rannte in weiten Sprüngen auf eine Treppe zu, die von Spercoiden und Robotern besetzt war. Er kam zehn Stufen weit. Dann schien ihn entweder einer der Robo ter zu sehen oder zu spüren. Atlan erahnte es mehr, als er es wahrnahm, aber eine Abtei lung der Roboter setzte die Lähmstrahler ein. Ein schmetternder Schlag, das war alles, was Atlan noch hörte. Dann traf ihn eine un sichtbare Faust im Rücken und rief augen blickliche Lähmung hervor. Atlan brach mit ten auf der Treppe zusammen, direkt vor den wuchtigen Anzugstiefeln eines Spercoiden. Wohltuendes Dunkel senkte sich über ihn.
8.
44 Der Schmerz weckte ihn auf. Jede einzelne Zelle seines Körpers schien lodernd zu brennen oder in Säure getaucht zu sein. Er vermochte sich nicht zu bewegen, während immer neue Schmerzwellen durch die Haut, die Muskeln und die Organe tobten. Also lebte er noch. Mit Mühe öffnete er die Au gen und sah – nichts. Er rührte sich nicht und spürte jetzt be reits die wärmenden Strahlungen, die von der Mitte seiner Brust-Knochenplatte aus gingen. Der Zellschwingungsaktivator hatte seine Arbeit aufgenommen. Dann unterschieden seine brennenden Au gen weitere Einzelheiten. Er lag auf dem Rücken und blickte senkrecht nach oben. Tropfsteinähnliche Strukturen hoben sich aus dem schwarzen Untergrund hervor und schienen direkt auf ihn herunterfallen zu wollen. Wo war er? Schlagartig setzte die Erinnerung ein. Spercos Höhle. Sein Thronsaal. Das Kommunikationszentrum des Planeten Rop poc. Sein Gehör funktionierte offensichtlich auch wieder. Durch ein Rauschen hindurch hörte er metallisch klingende Geräusche, lei ses Murmeln, ferne Lautsprecherstimmen und die Geräusche von Schritten. Steh auf, wenn du kannst, meldete sich der verdammte Extrasinn wieder. Atlan versuchte sich zu bewegen. Beim ersten und zweiten Versuch glitten seine Hände in dem dicken, zottigen Belag ab, dann gelang es ihm, den Oberkörper hoch zustellen und sich halb umzudrehen. Er war nicht überrascht; er lag einige Meter vor dem gigantischen Tisch des Saales. Gerade noch konnte er die dämonisch glühenden Augen des Tyrannen über der Platte erken nen. Atlan zog die Knie an, stützte sich mit langsam neu erwachender Kraft und ver suchte, die tobenden Schmerzen zu ignorie ren. Schließlich kam er mit zitternden Knien hoch, wankte hin und her wie ein besin nungslos Betrunkener und fiel schwer gegen die Vorderkante des Tisches.
Hans Kneifel »Hier bin ich«, sagte er undeutlich mit schwerer Zunge. »Du hast mich wieder ein fangen können Sperco.« Er war sicher, daß Sperco keine Sekunde lang zögern würde. Rechts und links der rie sigen Sitzschale standen drei Roboter und richteten die Projektoren auf den Gefange nen. »Du bist einer der bemerkenswertesten Gefangenen, die ich je in MOAC hatte«, er widerte der Tyrann. Atlan war noch halb be sinnungslos und konnte nicht sagen, mit welchem Tonfall der Krüppel sprach. »Das spielt nach meinem Tod keine we sentliche Rolle mehr«, brachte er hervor. »Offensichtlich herrscht hier … einige Ver wirrung.« Sperco funkelte ihn an. Atlans Sinne be gannen sich zu klären. Er hielt sich krampf haft an der Kante fest und wartete auf sein Todesurteil. »Richtig. Es herrscht Verwirrung. Wie kommst du darauf, daß ich dich töten lassen will?« Stockend erwiderte Atlan: »Die Wahrscheinlichkeit liegt näher als alles andere.« Was Sperco jetzt auf seinen Informations bildschirmen sah, konnte Atlan nicht einmal erraten. Sicher aber hatte es etwas mit dem Zustand des Imperiums zu tun. »Ich dachte zunächst daran, dich auslö schen zu lassen«, sagte Sperco. »Aber ich zögere noch.« »Warum?« Es war wie immer. Der Tyrann ließ sein Opfer im ungewissen und versuchte, die Qualen noch auszudehnen. »Mein Imperium«, bekannte Sperco frei mütig, »macht im Augenblick eine Phase der Konsolidierung durch. Es schrumpft sich gesund und wird nach meiner Rückkehr kleiner, aber leichter zu beherrschen sein.« Atlan glaubte, völlig falsch verstanden zu haben, aber als Sperco weitersprach, mußte er feststellen, daß er sich doch nicht verhört hatte. Seine Verwunderung wuchs, die Ge wißheit, kurz vor der Hinrichtung zu stehen,
Der Flugmeister wurde geringer. »Ich bin im Begriff, viel von dem zu ver lieren, was ich erreicht habe. Deine Flüge und der Umstand, daß du auch den jungen Braisen dazu gebracht hast, vor mir zu flie gen, haben mich in meiner Absicht bestärkt. Du sagst, das Geheimnis des Fliegens ist auf Loors zu erfahren?« Atlan senkte den Kopf, um seine völlige Überraschung nicht zu verraten. »Ja. Das sagte ich. Es ist die Wahrheit. Ich habe es immer wieder gesagt. Dort wer den wir vielleicht erfahren, wie dieses Ge heimnis zu lösen ist. Ich bin sicher, daß man dir, Herr, dieses Geheimnis gern verrät.« »Dann will ich dieses Geheimnis kennen lernen.« Der Tyrann mußte tatsächlich wahnsinnig geworden sein. Wenn zutraf, was ihm, At lan, die Spercoiden mit gänzlich veränderter Stimme und völlig neuen Empfindungen verraten hatten, stürzte das Imperium Sper cos in Trümmer. Und dieser irrsinnige Herr scher flog mitten im Inferno nach Loors, um das Geheimnis des Fliegens kennenzulernen. »Ich werde dir dabei helfen, so gut ich es vermag«, beeilte sich Atlan zu bestätigen. »Meine Roboter werden dafür sorgen, daß dir kein weiterer Trick einfällt. He, ihr vier! Nehmt ihn in die Mitte. Wenn er zu fliehen versucht, tötet ihr ihn auf der Stelle.« Je zwei Roboter umrundeten den Tisch und richteten ihre Waffen auf den Arkoni den. Atlan hob die Schultern; er hatte dies mal alles andere als eine Flucht im Sinn. Nach Loors! Endlich! »Ich fliehe nicht!« versicherte er. »Bringt ihn in die WAHRHAFTIGKEIT. Ich komme nach«, sagte Sperco. Die Roboter umgaben Atlan im Viereck. Zwei von ihnen griffen unter seine Schultern und zogen ihn nachdrücklich in die Richtung des riesigen Doppeltors. Atlan ließ sich willig mitschleppen. Den Weg kannte er bereits, aber trotzdem wurde er immer wieder von dem, was er entlang dieses Weges sehen mußte, verblüfft und er schreckt. Auf den Monitoren gab es Bilder
45 von explodierenden Raumstationen. Es schien in MOAC keinen einzigen Brai sen zu geben. Jedenfalls sah Atlan keines der Fledermauswesen. Er sah dafür flüchtende Schiffe und Szenen der Panik. Zeigten sie das Innere der Raumstationen über Roppoc? Überall standen Spercoiden ratlos herum, bildeten Gruppen und sprachen miteinander, aber waren vollkommen untätig. Sie sahen nicht einmal den vier Robotern und dem Flugmeister nach. Einmal erblickte Atlan eines der Wurzel wesen. Es verharrte in einem Winkel des Korridors und schien auch nicht zu wissen, was zu tun war. Andere Wesen, kugelig, in sektenartig, wie pflanzlich-pelzige Kombi nationen aussehend, befanden sich jenseits der Scheiben an den Pulten und arbeiteten. Als Atlan mit den schweigenden Robotern etwa zwei Drittel des Weges zurückgelegt hatte, hörte auch er die Stimme des Tyran nen. »Hier spricht Sperco. Ich befehle allen Spercoiden, die wieder handlungsfähig sind, sowie allen anderen Wesen aus MOAC, die etwas von der Raumfahrt und der Steuerung eines Raumschiffes verstehen, sofort an Bord der WAHRHAFTIGKEIT zu kommen. Es ist eilig und dringend. Jeder Raumfahrer findet sich so schnell wie möglich dort ein. Die Roboter werden Transportmittel be reitstellen. Ich wiederhole: Sperco befiehlt jedem raumfahrenden Wesen in MOAC, so fort zum Raumhafen aufzubrechen und seine Dienste und Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen.« Gemischte Mannschaft freiwilliger Auto didakten! sagte der Logiksektor wegwer fend. Um unter den gegebenen Umständen nach Loors zurückzukommen, würde Atlan die WAHRHAFTIGKEIT selbst zu steuern ver sucht haben. Er kam wieder auf dem leeren Gefängnis hof aus dem Labyrinth von MOAC heraus. Drei der bekannten Bodenfahrzeuge warte ten dort mit laufenden Motoren und aufge blendeten Scheinwerfern. Atlan wurde von
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Hans Kneifel
Robotern in das erste Fahrzeug gedrängt. Er saß hinten zwischen zwei Maschinen, und vor ihm saßen zwei andere. Alle richteten die Waffen genau auf ihn. Der Wagen fuhr an und verließ schnell den Innenhof. Atlan lehnte sich zurück, schloß die Augen und fühlte, wie langsam der Schmerz aus seinem Körper wich.
* Gegen Morgen kam einer der Braisen, der neben Körz und Tancai wohnte, in das Zim mer der Leibwächterfamilie. »Körz!« sagte er aufgeregt krächzend, »ihr habt Erfahrung darin. Wir wissen es. Eben ist unser Ei aufgebrochen. Kommt und helft uns!« »Gern«, antwortete Körz. »Und euer Jun ges … hat es ausgebildete Schwingen?« »Ja. So wie dein Etorc!« Sie verließen hastig den Raum und rann ten treppauf und treppab. Noch zwei andere Nachbarn kamen aufgeregt aus den Woh nungen, als sie merkten, was hier vorging. Schließlich, als die Sonne aufgegangen war, stellte sich heraus, daß in dieser Nacht allein sieben junge Braisen aus den Eiern ge schlüpft waren. Tancai bewunderte eines nach dem ande ren und sagte schließlich: »Wenn der Flugmeister recht hat, wird niemand kommen und ihnen die Flügel am putieren. Seht, wie sie ihre kleinen Schwin gen auseinanderspreizen. Als wüßten sie …« »Kumpel gut, wie?« schrie Etorc, der über ihrer Schulter lag und neugierig auf die zap pelnden Braisenküken starrte. »Sie alle flie gen!« Sie glaubten alle daran, daß kein Spercoi denarzt jemals kommen würde, um die Brai sen zu verstümmeln. Und die Wahrschein lichkeit, daß Etorc der letzte Braise war, der von dem Tyrannen spercotisiert wurde, war auch nicht gering. Die Nachrichten besag ten, daß Sperco und der Flugmeister das Ge heimnis des Fliegens erforschen wollten. Körz zumindest wußte ziemlich genau, was
er davon zu halten hatte – und er war im merhin spercotisiert worden! Die Braisen würden lange brauchen, bis sie sich ihrer Kinder sicher waren. Aber auch den ganzen Tag lang blieben sie unbe lästigt. Niemand kam, niemand rief sie, nicht einmal die Roboter wußten, was ge schehen sollte. Sie hatten keine Befehle. Und bisher war auch nicht an die Oberflä che durchgedrungen, welche Zustände dort unten herrschten, wo sich die Molche zwi schen die Pflanzen der Hydroponikgärten wagten und seltsame Gefühle spürten, merk würdige Empfindungen hatten und nie ge kannte Träume träumten. Als am späten Morgen Tamcaythor T'haam von seiner Ar beit zurückkam, schwieg er wie stets und kümmerte sich nicht um die Braisen und de ren Freude.
* Atlan und seine vier Bewacher standen in der Zentrale der WAHRHAFTIGKEIT. Vor den Pulten kauerten, standen oder hockten die Angehörigen von nicht weniger als elf verschiedenen Völkern der Galaxis Wolci on. »Ich befehle den Start!« donnerte Spercos Stimme durch alle Räume des Schiffes. Viele einfache Schaltungen würden sie ohne Schwierigkeiten ausführen, dachte Atlan. Aber die Steuerung des Raumflugs selbst? »Versucht, Loors zu finden. Unterlagen sind an Bord, Sternkarten und so fort«, brüllte Sperco. Er schien völlig zu verges sen, daß sich nur noch wenige wirkliche Spercoiden-Raumfahrer an Bord befanden. Schleusen und Luken schlossen sich. Immer mehr rote Lichter erloschen auf den Pulten. »Und nun zu dir, Flugmeister!« sagte der Tyrann eine Spur leiser. »Wenn du mir auf Loors nicht das Geheimnis der Flugfähigkeit zeigen kannst, werde ich dich ohne Rück sichtnahme töten.« Atlan sagte sich, daß Sperco tatsächlich mehr und mehr den Verstand verlor. Nie mand hätte sich mit dieser Mannschaft in
Der Flugmeister
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den Raum gewagt. Die Maschinen liefen an. Kommandos waren zu hören. Atlan war jetzt fast sicher, daß die Katastrophe schon wäh rend des Starts erfolgen würde. »Schneller! Ich habe keine Zeit! Bringt das Schiff in den Weltraum!« tobte der Ty rann. Mehrere Minuten vergingen. Atlan beob achtete zitternd vor Spannung, wie die WAHRHAFTIGKEIT unter Schwierigkei ten startete, gefährlich zu schwanken be gann, mit donnernden Maschinen immer hö her kletterte und tatsächlich ihre Fluglage stabilisierte. Hilfsgeräte wurden mehr und mehr zugeschaltet und versahen ihren Dienst mit robotischer Zuverlässigkeit. Auf den Bildschirmen schrumpfte die ferne Silhouet te von MOAC zur Bedeutungslosigkeit. »Schneller!« schrie Sperco. »Jagt Loors entgegen!« Etwa zwanzig Minuten später – aus den
Maschinen wurde das Äußerste herausgeholt – sagte eines der Wesen, die an den Naviga torenpulten saßen: »Herr! Wir finden das Leuchtfeuer von Loors nicht. Entweder wurde es aus den In formationen gestrichen, oder …?« Sperco erwiderte brüllend vor Wut und Ungeduld: »Gleichgültig! Macht schneller. Ich be fehle euch, Loors sofort zu finden.« Atlan zwang sich dazu, weder an den Flug selbst noch an das Ende des Fluges zu den ken. Der Flug würde seine Nerven bis zum Äußersten strapazieren, aber das Ende wür de das schaffen, was Sperco androhte: den Tod. Noch aber gab es eine Gnadenfrist.
E N D E
ENDE