Christian Schünemann
Der Frisör
Roman
Diogenes
Umschlagfoto von Jens Schünemann Alle Rechte vorbehalten
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Christian Schünemann
Der Frisör
Roman
Diogenes
Umschlagfoto von Jens Schünemann Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2004 Diogenes Verlag AG Zürich www.diogenes.ch ISBN 3 257 06457 8
Tomas Prinz, Starfriseur der Münchener Schickeria, gerät unversehens in einen Mordfall. Er war einer der Letzten, die Alexandra Kaspari lebend sahen, Redakteurin der Frauenzeitschrift „Vamp“. Nach dem Salonbesuch traf eine tödliche Waffe ihren neu gestylten Kopf. Tomas erfährt bei der Arbeit so manches ausgeplauderte Geheimnis seiner Kunden und wird nach und nach zum Amateurdetektiv. Immer tiefer dringt er in eine Welt ein, die unter der glänzenden Oberfläche aus Karrierestreben, Eifersucht und Korruption besteht. Ein gelungenes Debüt! Mit spitzer Feder wird die Bussi-Bussi-Gesellschaft aufgespießt, da sitzt jedes Wort. Elegant und unterhaltsam jongliert der Autor mit Klischees, beispielsweise dem vom schwulen Frisör, und beweist hintergründigen Humor. Hervorzuheben ist auch die gute Recherche. Ein großes Lesevergnügen und darum rundum empfohlen.
Nur mit Christa. Und Gisbert.
1
Ich sah es Beas Gesicht an. Der Anruf war so dringend, als ginge es um Leben und Tod. Ich hörte die Stimme aus dem Telefon, hoch und schrill. Bea hatte den Hörer am Ohr und den Finger im Kalender. »Das sieht ganz schlecht aus. Das ist unmöglich.« Bea bedauerte. »Färben ginge, aber der Chef ist zu. Vielleicht könnte jemand anderes als Tomas schneiden?« Bea warf mir einen kurzen Blick zu. Ich kenne das. Solche Telefonate gibt es im Salon täglich. Wer morgens in den Spiegel schaut und seine Haare nicht mehr sehen kann, will sofort, am besten eine Stunde später, einen Termin beim Frisör. Bea wechselte den Hörer vom rechten zum linken Ohr, blätterte im Kalender eine Seite um und machte ein letztes Angebot: »Nächste Woche Mittwoch.« Sie atmete tief durch. Ich massierte dem alten Hoffmann die Kopfhaut, während wir beide Bea zuhörten. Wir beobachteten sie im Spiegel. Hoffmanns Augen sind helle Pfützen hinter dicken Brillengläsern, blaß und ausdruckslos, wie in diesem Juli der milchigblaue Himmel über München. Seit Wochen machte die Hitze die Leute nervös und gereizt oder lethargisch und faul. Auch ich mußte mich zusammenreißen. Das Surren der Föne, der Geruch nach schwerem Parfüm, das ständige Klingeln der Telefone ging mir an die Nerven. Heute weiß ich: Das Unheil lag in der Luft. Bea hing noch immer am Telefon. Wenn sich jemand nicht abweisen läßt, bleiben wir höflich und zuvorkommend. Kunden werden nicht vergrault, auch wenn sie noch so
penetrant sind. Ich konzentrierte mich auf Hoffmanns Schädel, eine bucklige Landschaft, auf der nur noch wenige Haare wurzeln. Sie zu schneiden ist eine Sache von Minuten. Hoffmann tat mir leid, er hatte vieles verloren in der letzten Zeit, nicht nur die Haare. Ich bearbeitete die Kopfhaut, als ließe sich der Haarwuchs wieder beleben. Hoffmann wußte es besser. Er ist Realist. Ehemaliger Konservenfabrikant mit einem Faible für Hausmannskost. Im Alter kamen ihm die Geschmacksnerven und die Frau abhanden. Er kocht jetzt selbst, salzt so kräftig, daß die Schilddrüse Probleme macht. »Ich verstehe«, sagte Bea. Und: »Bitte warten Sie einen Moment.« Sie hielt mir den Hörer hin. Die Stimme am Telefon war nun ganz nah und schmeichelnd. Es war die Stimme von Alexandra Kaspari, einer Frau, für die ich immer eine Ausnahme mache. Bei mir wird jeder bedient, aber nur ausgewählte Kunden von mir persönlich und die wenigsten nach Feierabend. »Tommy, du mußt mich drannehmen, bitte!« »Was, heute noch?« »Ja, unbedingt. Ich sehe fürchterlich aus. Es ist ein Notfall.« Ich nahm den Füller. Es sind immer Notfälle. »Achtzehn Uhr«, sagte ich und trug den Termin ein. Zwei Stunden später kam sie. Zu früh. Die brünetten Haare, sonst kräftig, waren Strippen ohne Spannung und Leben, wie tot. Alexandra und ich küßten uns, in die Luft, rechts und links. Ich roch ihren Duft nach Holz und Karamel. Ermattet sank sie auf das Sofa, stellte die Handtasche aus geprägtem Leder neben sich und strich über den Rock mit dem karierten Muster, den in diesem Sommer alle trugen. Der Rock war eng und endete über dem Knie. Alexandra kickte ihre Pumps weg und betrachtete irritiert ihre nackten Fersen und die zwei Blasen, groß und entzündet, wie nasse Augen.
»Wenn du mich fragst«, sagte Bea halblaut zu mir, »kommt auf die etwas zu. Sie versucht sich zu schützen, sie fürchtet sich vor etwas. Eine tiefe Verletzung wahrscheinlich.« »Bea, nicht schon wieder!« Praktisch von allen Stammkunden speichert sie die Sternzeichen und Geburtsdaten im Kopf, jederzeit abrufbar für ihre gewagten Analysen. Sie ist meine Farbstylistin, trägt selbst in jeder Saison eine andere Haarfarbe, oft leuchtend roten Lippenstift und immer schwarze Klamotten. »Als Zwillingsfrau wird Alexandra getrieben«, sagte Bea, »da kann sie machen, was sie will. So, wie der Mond jetzt steht, die Ärmste.« Alexandra war weiß im Gesicht. Ich musterte sie. Weißblonde Haare zum weißen Gesicht mit dunklem Lippenstift. Das würde aus Alexandra einen Typ machen. Die Idee gefiel mir. Zerstreut hörte Alexandra mir zu, nickte und blätterte in Michelle, einem Frauenmagazin. »Denen fällt auch nichts mehr ein«, murmelte sie zufrieden. Alexandra hat eine beachtliche Karriere gemacht. Nach einem abgebrochenen Studium, dem Start als Praktikantin bei Vamp, leitete sie seit sechs Jahren dort das Ressort für Kosmetik und Schönheit, eine der wichtigsten Positionen in diesem Hochglanzmagazin. Monat für Monat sagte sie ihren Leserinnen, was dem Teint nützt und der Haut schadet, welche Mittel gegen Orangenhaut und Falten helfen, welche Tricks das Beste aus welchem Typ machen, und sei er noch so fade. Alexandra wußte immer genau, was sie wollte. Heute wollte sie aufgerichtet werden. Mir war nicht klar, warum. Ich fragte auch nicht. Ich wollte ihr nur den Gefallen tun. »Möchtest du einen Kräutertee, Alexandra? Wir haben indischen.« »Gern.«
Sie saß jetzt gewaschen und verstrubbelt vor dem Spiegel. Ich legte ihr das weiche Handtuch in den Nacken. Langsam kämmte ich durch das glatte, nasse Haar. In diesem Zustand ist die Kundin ein schutzloses Wesen, beinahe nackt. Es spielt keine Rolle, ob sie Schauspielerin ist oder Hausfrau, Firmenboß oder Angestellte. Ich gebe mit der Schere dem Kopf eine neue Form, dem Menschen ein neues Aussehen. Ich habe die Macht, ihn mehr zu verändern als irgend jemand sonst. Mein Handwerk, das weiß jeder, ist längst Kunst geworden. Alexandra schloß die Augen. Ihre Brüste unter dem Umhang hoben sich. »Alles in Ordnung?« fragte ich und zog mit dem Kamm eine Linie in der Scheitelgegend, kämmte glatt herunter und prüfte im Spiegel. Mit einem leichten Druck der Finger auf die Schläfe bedeutete ich Alexandra, den Kopf etwas nach links zu drehen. Alles in Ordnung? Um die Quelle zum Sprudeln zu bringen, reichen in der Regel drei Worte, und ich höre viele Geschichten, wie die von der Ehefrau, die seit fünf Jahren den Chef ihres Mannes mit der Peitsche verwöhnt und regelmäßig Gehaltserhöhungen herausschlägt, die sich ihr Mann nicht erklären kann. Ich sehe die Narben vom letzten Lifting meiner Lieblingskundin. Ich erfahre, bei wem der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Der Frisörsalon ist der Ort, an dem Menschen ihre Geheimnisse ausplaudern. Ob ich will oder nicht. »Alles in Ordnung?« fragte ich noch einmal. Für eine Sekunde trafen sich unsere Augen im Spiegel. Alexandra lächelte. Ich könnte ihr ovales Gesicht stärker betonen. Die dunklen Augen wirken dann größer und verleihen Alexandra vielleicht etwas Tiefgründigeres, Geheimnisvolleres. »Ich habe einen neuen Typen«, sagte sie. Ich kämmte.
»Der ist eigentlich gar nicht mein Fall. Zuviel Testosteron, viel zu egozentrischer Charme. Du kennst das ja.« Mit dem Aufbau der Stützhaare gebe ich der Frisur mehr Stand, mit der Stufung baut sich das Gewicht der Haare nach unten hin ab. »Der hat schon ewig gebaggert, ich kann dir sagen. Und vor ein paar Wochen« – Alexandra zuckte die Achseln – »habe ich einfach nachgegeben. Vielleicht war’s ein Fehler. Aber im Moment ist es ganz okay.« Ich kämmte vom Scheitel, faßte eine Strähne zwischen Zeigeund Mittelfinger, klemmte den Kamm mit dem Daumen fest und begann zu schneiden, erst mal locker durchstufen. »Weißt du«, fuhr Alexandra fort, »wir laufen uns eher selten über den Weg. Aber wenn, macht es irrsinnig Spaß, vor den anderen so zu tun, als sei er nur ein Kollege, dadurch herrscht eine ungeheure Spannung, weißt du, ich bin dann erotisch wie aufgeladen.« Ich ging jetzt direkt in die Haare hinein, wobei ich immer auf der hinteren Partie aufbaute. »Er ist zum Glück verheiratet, dadurch entsteht keine Verpflichtung. Der hat, glaube ich, zwei Kinder. Da darf kein Mensch etwas merken, auch in der Redaktion nicht.« »Um Gottes willen, bloß nicht«, sagte ich. »Nein, um Gottes willen«, wiederholte sie. »Dann wäre der Teufel los. Aber das wäre ja nicht das erste Mal. Erinnerst du dich?« Alexandra schwieg, als erinnere sie sich an die vielen zerbrochenen Beziehungen, bei denen der Teufel los gewesen war. Ich achtete darauf, die Spitzen auf verschiedene Längen zu zerschneiden, der Fall ist dann schöner. »Allerdings habe ich das Gefühl, Eva belauert mich.«
Eva Schwarz ist die Chefredakteurin, zwei Jahre jünger als Alexandra und sehr ehrgeizig. Natürlich lauerte sie. Sie lauern alle. Und sie sind alle meine Kundinnen. Alexandra wußte das. »Hat sie dir gegenüber mal irgendeine Andeutung gemacht?« Alexandra beugte sich vor und griff nach dem Glas Tee. Beim Trinken forderten ihre Augen eine Antwort. »Alexandra…«, sagte ich. »Schon gut, schon gut. War nur so ein Gedanke, ist mir auch scheißegal, Tommy.« Sie sagte, wie die meisten Medienleute, ›Tommy‹ zu mir. Auf dem silbernen Schild neben dem Eingang steht ›Tomas Prinz‹, Freunde nennen mich ›Tom‹. Alexandra stellte laut das Glas zurück. »Und Kai?« fragte ich, um das Thema zu wechseln. Kai ist Alexandras Sohn und sechzehn. Alexandra hatte Soziologie studiert, als sie mit Kai schwanger wurde, und davon geträumt, Gutes zu tun, einen Menschen zu lieben, ein Kind großzuziehen. Der Traum erwies sich als Alptraum. Alexandra sprach schon lange davon, sich endlich scheiden zu lassen. Ich kannte verschiedene Episoden aus ihrem Leben. »Kai? Der weiß nix davon.« »Ich meinte – wie geht’s Kai?« fragte ich. »Ach so. Dem geht’s gut.« Über der Theke ging das Licht aus. Die Angestellten waren jetzt alle fort, saßen wahrscheinlich im Biergarten oder badeten im Starnberger See. Nur das Klappern meiner Schere war zu hören. Ich spürte, wie Alexandra mich im Spiegel musterte. »Ich glaube, Kai kokst.« Ich kämmte jetzt weit über den Scheitel rüber, um die Länge im Deckhaar zu behalten. Kai kokst. Ich dachte an das Gedicht von Ottos Mops. »Gut, wir haben alle mal gekokst. Trotzdem macht der Junge mir Sorgen. Schleppt komische Freunde an, die dann bei uns
abhängen. Braucht ständig Geld, als hätte ich einen Dukatenscheißer. Ich denke manchmal, ihm fehlt der Vater, ich meine, ein Vater, der Vorbild ist, dem er vertrauen kann. Nicht so einer wie Holger. Bei Holger, da würde er sich umgucken, bei dem hätte er nicht all die Freiheiten, die er bei mir hat.« Holger, Kais Vater, lebte seit neuestem in Berlin. Ich kannte ihn nur aus Alexandras Erzählungen und hatte ein eher unvorteilhaftes Bild von ihm. Nach der Beschaffenheit von Kais Haaren zu urteilen, mußten die seines Vaters viel dünner, feiner sein als Alexandras brünette, kräftige Haare. Kais Vater hatte es immer abgelehnt, zu mir zum Haareschneiden zu kommen. Wahrscheinlich war ich ihm zu vertraut mit Alexandra. Oder die Dienstleistung zu teuer. Es braucht auch nicht jeder zu mir zu kommen. »Übernächste Woche muß ich mit Kai in die Schweiz. Der Junge schießt jetzt in die Höhe, das geht ganz schön ins Geld.« Kai kam mit einem halben Bein auf die Welt und lebt mit einer Prothese. Die Prothese wird in der Schweiz hergestellt, mit Gelenken und Scharnieren ausgestattet, dem gesunden Bein nachempfunden. Kai spielt Fußball und joggt, wie ein gesunder Junge. Nur wenn er müde ist und nicht darauf achtet, zieht er das künstliche Bein etwas nach. Alexandra läßt die Prothese regelmäßig an Kais Körper anpassen, eine ziemlich kostspielige Sache. Sie wollte die perfekte Mutter sein. »Und vorher, nächstes Wochenende, muß ich noch mit einer Handvoll Leserinnen an den Starnberger See.« Ich schaute in den Spiegel. »Warum dahin?« »Die haben das Wohlfühl-Wochenende gewonnen, das wir mit Clairmont verlost haben. Ich sag dir, grauenhaft, wer uns liest, all die Krankenschwestern, Friseusen«, Alexandra stutzte. »Entschuldige, Tommy.« Ich grinste. »Von meinen Leuten hat niemand gewonnen.«
»Ja, schade.« Sie machte eine kleine Pause. »Dann mit Kai nach Zürich, dann die Präsentation in Atlanta, ich brauche dafür unbedingt noch ein paar neue Klamotten.« »Bea hat mir erzählt, auf der Maximilianstraße sei schon heruntergesetzt.« »Ach ja?« Alexandra interessierte dieser Tip nicht. Sie gibt das Geld mit vollen Händen aus, kauft viel von allem, ohne jemals nach dem Preis zu fragen. Als Ressortleiterin muß sie wohl einen Haufen verdienen. Auf der anderen Seite beschert der Job ihr nicht nur Geld und Reisen, sondern auch viele Verpflichtungen und damit hohe Ausgaben. »Danach mache ich Urlaub, Kuba, soviel steht fest. Mit ihm.« Alexandra wartete einen Moment, ob ich etwas sagen wollte. Ich prüfte im Spiegel die Symmetrie der Längen und bedeutete Alexandra, den Kopf nach vorne zu senken. »Und Kai fliegt zu seinem Vater nach Berlin«, sagte sie aus der Tiefe und schielte auf den Fußboden, wo ihre Strähnen lagen, wie abgeerntetes Heu. Ich bat sie, wieder hoch zu kommen, prüfte noch einmal den Sitz des Schnittes und fönte ihr das Kitzeln aus dem Gesicht. Perfekt. Alexandra musterte zufrieden ihr Spiegelbild. »Und jetzt noch die Farbe«, sagte sie. »Und jetzt noch die Farbe«, wiederholte ich, wie ein Onkel, der die Einlösung der Überraschung verspricht. Zwei Stunden später verließ sie den Laden. Ihr weißblonder Kopf leuchtete auf der Hans-Sachs-Straße. Hoffmann, der schräg gegenüber beim Kino, vor der offenen Tür zum Vorführraum, saß, starrte Alexandra angestrengt hinterher, wandte sich dann kurzsichtig zu mir über die Straße, wo er mich hinter der Schaufensterscheibe vermutete, und machte den Daumen hoch. Super! Danke, nett gemeint. Es war spät, ich schloß die Tür ab, löschte das Licht und ging durch den
Seitenausgang ins Treppenhaus, hinauf in die Wohnung. Alexandras dunkle Vergangenheit blieb auf dem Boden zurück. Die abgeschnittenen Reste würde die Putzfrau morgen früh zusammenfegen. Es sollte der letzte Termin von Alexandra Kaspari bei mir gewesen sein.
2
»Wer ist tot?« Mein Hemd auf dem Telefon hatte die Melodie gedämpft. Ich wühlte mich aus dem Laken und tappte mit dem Hörer an die offene Balkontür. Die Uhr am Kirchturm glänzte in der Morgensonne. Sie zeigte kurz nach sieben. Mein Rücken war naß. Die Nacht hatte keine Erfrischung gebracht. »Hör doch mal zu.« Claus-Peter am anderen Ende der Leitung war ungeduldig. »Sie soll ermordet worden sein. Eine Redakteurin, von Michelle.« Claus-Peter ist Journalist beim Münchner Morgen, ein Mord gehört für ihn zu den guten Geschichten. Jetzt sagte er: »Und halt dich fest: Die Kaspari soll in die Sache verwickelt sein.« Der Zeiger an der Kirchturmuhr rückte um eine Minute vor. Wovon redete Claus-Peter? »Die Tote soll angeblich blond sein. Du kennst doch die Frauen bei Michelle. Wer von denen ist blond?« Aus dem Hörer klang eine Popmelodie, ich hielt ihn etwas von meinem Ohr weg. »Ich kenne die nicht alle bei Michelle.« Ich gähnte. »Zoe haben wir letztens mit Strähnchen ein bißchen aufgehellt.« »Was ist mit dieser aufgetürmten Blonden?« »Eva Schwarz? Die ist bei Vamp. Außerdem war die mal blond. Bea hat sie rot gemacht.« »Schon lange?« »Mindestens seit einem halben Jahr. Nein, eher länger.« »Mist.« Auf dem Balkon war es auch nicht kühler als in der Wohnung. Etwas schien die heißen Sommertage am laufenden
Band zu produzieren, wie eine Maschine heißes Popcorn. Ich mußte die Sonne tagsüber aussperren. »Fällt dir sonst jemand ein?« Claus-Peter war hartnäckig. Ich überlegte. »Gunnar ist eine Blondine, der aus der Grafik. Der ist richtig blond.« »Sehr witzig.« Die Levkojen brauchten Wasser. Ihr Duft hatte in der Nacht das Zimmer erfüllt. Ich hatte von blühenden Wiesen geträumt, von alten Bäumen. Aljoscha hatte ich im Traum gesehen. Während Claus-Peter redete, dachte ich an das Maiwochenende mit ihm auf der russischen Datscha. Keine aufgeregten Journalisten, keine komplizierten Kunden, kein Fön, keine Hitze. »Okay, ich sehe, du weißt gar nichts«, sagte Claus-Peter. »Tut mir leid. Stimmt denn die Geschichte überhaupt?« Claus-Peter legte auf. Ich duschte lange. Das Wasser glättete die krausen Haare auf der Brust und an den Beinen. Ich dachte über diesen merkwürdigen Anruf nach. Woher hatte Claus-Peter die Information über die tote, blonde Redakteurin? Vor dem Spiegel seifte ich Hals und Wangen ein. Der Schaum macht die Stoppeln weich. Rasieren hat etwas Meditatives. Ich rasiere mich gern und täglich, auch wenn mein Bartwuchs nicht sehr üppig ist. Nur das Grübchen im Kinn ist problematisch. Mein Mund ist etwas zu groß. Aljoscha mag meine blauen Augen. Ich habe bisher noch kein graues Haar in meinem dunklen Schopf gefunden, trotz meiner zweiundvierzig Jahre. Wahrscheinlich war etwas dran an der Geschichte, Claus-Peter ist ein guter Reporter, aber manchmal geht er den Leuten zu schnell auf den Leim, hört auf dubiose Quellen, wie bei der Geschichte mit dem brünetten Fotomodell, von dem ClausPeter schrieb, es hätte sich mit den eigenen Haaren
stranguliert. Dann stellte sich heraus, daß es eine ganz gewöhnliche Wäscheleine gewesen war. Ich lief unruhig durch die Räume, verteilte beim Zähneputzen schaumige Zahnpastakleckse auf dem Parkett, schob mit der freien Hand die Zeitschriften zusammen, fegte die Krümel von der gestrigen Mahlzeit vom Tisch. Meine Schwester Regula findet die Wohnung ungemütlich. Keine Palme, keine Kerze, zu viele Stühle. Ich öffnete die Fensterflügel zur Hans-SachsStraße. Vom Erker aus sah ich meine Putzfrau Agnes, die ihr Fahrrad an den Laternenpfahl schloß. Sie verschwand im Salon, für den sie einen Schlüssel hat. Nachher würde sie in der Wohnung die Spur der Zahnpastakleckse suchen und wegwischen. Ich zog die Baumwollhose an, die ich gestern schon mal getragen hatte, knöpfte im Gehen das Hemd zu, das vor ein paar Tagen in der Post war, von meinem Schneider in London, streifte meine Sandalen über, die jetzt ihren dritten Sommer erlebten. Auf dem Balkon hatten sich einige der Levkojen wieder aufgerichtet. Ich zog die Wohnungstür hinter mir ins Schloß. Draußen wandte ich mich nach rechts, Richtung Westermühlstraße. Morgens ist es hier ruhig, und ich muß nicht ständig jemanden grüßen, wie den Frisör von der anderen Straßenseite oder die Buchladenbesitzerin. Auch Hoffmann schläft meistens noch um diese Zeit. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Keuchen. Ich drehte mich um. Es war Stephan. »Wo willst du hin?« rief er. Sein Gesicht war gerötet, die Haare klebten am Kopf wie gegelt. Ich hatte vergessen, daß wir zum Joggen verabredet waren. »Willst du dich umbringen?« fragte ich. »Heute ist hitzefrei.« Stephan trat auf der Stelle, atmete schwer. Wir sind Freunde seit unserer Schulzeit auf dem Schweizer Internat. »Ich bin auf dem Weg zu Kim ins ›Arosa‹«, sagte ich. »Frühstücken. Kommst du mit? Doch, komm einfach mit.«
Stephan schüttelte den Kopf, ich spürte, wie ein paar seiner Schweißtropfen auf meiner Wange landeten. Ich bewunderte ihn mal wieder für seine Beständigkeit, er hält an seinem Pensum fest, nimmt das Laufen ernst, wie die meisten Dinge in seinem Leben. Stephan ist Anwalt. Als Fünfzehnjährige verbanden uns zwei Dinge: keine Erfahrungen mit Mädchen und schlechte Noten im Sport. Jetzt sind wir beide über vierzig, leben in mehr oder weniger festen Beziehungen und haben eine Lebensversicherung. Irgendwann, als sich der Speck auf die Hüften zu setzen begann, die Kalorien von Schweinshaxe, Mohnkuchen und Weißbier die Figur langsam aufpolsterten, hatte ich Stephan den Vorschlag mit dem Laufen gemacht. Unsere Strecke geht entlang des Isarufers auf dem Stück zwischen Reichenbachbrücke und Wittelsbacher Brücke. Aber man muß aus einer Gewohnheit doch keinen Zwang machen. Stephan tat mir in der Hitze leid. »Sollen wir uns um eins im ›Dukatz‹ treffen, zum Mittagessen?« fragte ich und wischte mir übers Gesicht. »Einverstanden.« Er winkte und lief los. »Ich muß dir nämlich etwas erzählen«, rief ich ihm hinterher.
»Acht Uhr, die Nachrichten.« Der Radiosprecher redete von der Sommerreise des Kanzlers durch die östlichen Bundesländer, die Espressomaschine fauchte. Ich blätterte in der Abendzeitung und der Süddeutschen, die auf der Theke von Kims Bar auslagen. Nichts von einer Toten. »Sommerloch!« Kim goß sich ihren Espresso auf, drehte das Radio leiser und setzte sich auf den Barhocker. Sie beugte sich über ein Papier, einen quergestreiften Lieferschein. Vor dem Hintergrund ihres dunkelhäutigen Dekolletes sah die Espressotasse noch winziger aus. Außer mir war kein Gast im ›Arosa‹, auch draußen saß niemand auf den Stühlen, die
ordentlich in Reihe standen. Die Tür zum Trottoir war über die ganze Breite aufgeschoben, aber die Markise noch nicht ausgefahren. Das Radio dudelte. Ich frühstückte Butterbrezeln und schwarzen Kaffee. Es war friedlich. »Vorhin hat mich Claus-Peter mit einer seltsamen Geschichte aus dem Bett geholt«, sagte ich. Kim fuhr mit dem Finger über eine Zeile auf dem Lieferschein, als wäre es Blindenschrift. »Er hat von einem Mord erzählt, angeblich in der Redaktion von Michelle.« »Mord?« Jetzt hatte ich ihre Aufmerksamkeit. »Mord hatten wir noch nie.« »Aber in der Zeitung steht nichts darüber.« »Wenn Claus-Peter es sagt, wird es stimmen«, sagte sie. »Wer ist denn die Tote?« Ich zuckte die Achseln. »Ach so, du warst noch nicht im Salon, in deiner Gerüchteküche.« »Das hat mir gerade noch gefehlt. Aber du hast recht.« »Halt mich auf dem laufenden, ich will nicht erst aus der Zeitung erfahren, wer der Mörder ist.« »Ich bin doch kein Detektiv.« Meine Hose klebte unangenehm auf dem Kunststoffbezug des Barhockers, ich rutschte hin und her. Draußen auf der Hans-Sachs-Straße lärmte ein Müllauto. Ich hatte noch Zeit. »Ist bei dir auch Flaute?« fragte Kim. »Es paßt gut, daß ein paar meiner Leute im Urlaub sind.« Zwei Kerle im Unterhemd zogen eine Mülltonne und wuchteten gleichzeitig einen Plastiksack mit sperrigem Inhalt auf die Plattform. Die Kippvorrichtung des Lasters dröhnte, in den Dieselgeruch mischte sich etwas Süßliches. Kim drehte den Ventilator in ihre Richtung und sagte laut: »Ich würde es mir auch zweimal überlegen, ob ich mich bei der Hitze unter die Trockenhaube setze.«
»Wir haben keine Trockenhauben, Kim. Und machen auch keine Dauerwellen.« Ein Mann mit Einkaufskorb marschierte vorbei, Richtung Müllerstraße. Ich glaube, er ist Kolumnist bei einer Tageszeitung, der Süddeutschen oder so, gehört aber nicht zu meinen Kunden, daher vergesse ich immer wieder seinen Namen. Der Müllwagen zog weiter und nahm Gestank und Lärm mit. »Mach doch den Laden zu, und fahr weg«, sagte ich zu Kim und drehte den Fuß des Ventilators wieder in meine Richtung. »Hier verpaßt du nichts, das halbe Glockenbach-viertel ist verreist.« »Das geht nicht.« Kim schüttelte den Kopf. Ihr Haar liegt bewegungslos in immer gleichen, blondierten Wellen und bildet einen merkwürdigen Kontrast zu dem dunklen Teint und den samtbraunen Augen. »Ich mag der Neuen noch nicht das Geschäft anvertrauen. Das Mädel ist so ungeschickt! Sie ist nett und zuverlässig, aber du glaubst gar nicht, wie oft sie gegen meinen Hocker rempelt, der doch immer hier an derselben Stelle steht.« Ich fand, ein Barhocker gehörte nicht in den Durchgang, sagte aber nichts. Während Kim sich über die Mißgeschicke ihrer Aushilfe ausließ, fiel mein Blick auf das ›Vermischte‹: Der älteste Frisiersalon der Welt entdeckt, im Irak, zweites Jahrtausend vor Christus, schau an. Manches erhält sich Tausende von Jahren, trotz Kriegen und Verwüstungen. Ich tunkte die salzige Brezel in die schwarze Brühe. Der helle Teig sog sich voll, an der Kruste perlte der Kaffee ab. Vielleicht wäre das alte Persien ein schönes Thema für meine Londoner Frisurenschau im Herbst. Oder konnte man das jetzt nicht bringen? Ich nahm mir vor, Julia, meiner Choreographin, davon zu erzählen.
Kim betrachtete das letzte Stück meiner Brezel, als wäre es eine ernste Angelegenheit. »An deiner Stelle«, sagte sie, »würde ich mal eine Woche rausfahren, nach Italien, zum Beispiel.« Kim war aus Kamerun, träumte wie die Münchner von Italien. Früher hatte sie die Bar zusammen mit ihrem Mann geführt, einem drahtigen Kerl aus dem italienischsprachigen Teil der Schweiz. Kim hatte ihn vor die Tür gesetzt, angeblich wegen Mundgeruch. Aber der war mir nie an ihm aufgefallen. Jetzt führt sie das ›Arosa‹ allein. Viele Schweizer, die in München leben, kommen hierher. »Ich für meinen Teil würde nach Kuba fliegen, das steht fest«, sagte sie. »Kuba? Wie kommst du denn darauf?« Kim schnippte ein Salzkorn vom Tresen. »Weißt du«, sagte sie, und der Blick ihrer braunen Augen schweifte in die Ferne, »die Männer sind dort so ganz anders.« Sie langte plötzlich zum Radio und drehte auf volle Lautstärke. Es war derselbe Latino-Pop-Ohrwurm, den ich vor eineinhalb Stunden bei Claus-Peter durchs Telefon gehört hatte.
3
Im Salon hatten sich Agnes, Dennis und Kerstin um Bea versammelt. »Alexandra Kaspari ist tot, ermordet!« sagte Bea, als ich hereinkam. Anscheinend war meine Farbstylistin besser informiert als Claus-Peter, der Journalist. »Wer sagt das?« fragte ich. Die anderen verkrümelten sich. »Die PR-Frau von Pure Cosmetics. Hat vor zehn Minuten angerufen und wollte dich sprechen. Tom, ich bin völlig fertig.« Erst eine Tote in der Michelle-Redaktion, jetzt Alexandra? »Vielleicht ist es eine Verwechslung?« wehrte ich ab. »Alexandra war doch gestern abend noch hier.« »Hast du sie gefärbt?« fragte Bea. »Weißblond«, sagte ich, »hat zwar ewig gedauert, sah aber klasse aus.« »Du hast sie weißblond gefärbt? Dann stimmt es doch. Das Pure-Girl sagte…« »Wer?« »Die PR-Frau sagte, man erzählt sich, Alexandra sei angeblich weißblond gewesen.« Wieso sollte jemand Alexandra umbringen? Eine alleinerziehende Mutter und erfolgreiche Journalistin – die Vorstellung war lächerlich. »Ich rufe die Chefredakteurin an«, sagte ich. »Eva Schwarz weiß sicher, was an der Sache dran ist.« Beas roter Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. Es war ihr Kundenlächeln. Der 9-Uhr-Termin stand hinter mir, Vera Zernack. Sie mußte, wie immer, zuerst aufs Klo. Im Büro schlug ich die Nummer von Vamp nach.
»Vamp-Chefredaktion, Barbara Kramer-Pech, guten Morgen.« »Guten Morgen.« »Ach, Herr Prinz!« Die Stimme der Assistentin bekam sofort einen leidenden Ton. »Haben Sie schon gehört, was passiert ist?« Scheiße, dachte ich, Bea hat recht. »Dann stimmt es also.« »Es ist furchtbar, ganz furchtbar, was glauben Sie, was hier los ist. Die Ärmste, das arme Mädchen, unsere Volontärin hat sie heute am Morgen gefunden, die hat sie erst gar nicht erkannt, du lieber Himmel, wie schnell sich das herumspricht.« »Nicht erkannt?« Hieß das, daß sie übel zugerichtet, etwa verstümmelt war? »Ist sie…« Meine Stimme zitterte. »Was?« »Ist Alexandra, hat man sie…?« Barbara hielt anscheinend die Muschel von sich weg und sagte etwas zu jemandem im Raum. »Hallo?« rief ich. »Hallo?« »Die Polizei ist hier, die haben den Terminkalender von Frau Schwarz… beschlagnahmt nennt man das wohl, es ist grauenhaft, was glauben Sie, wie soll ich denn ohne den Kalender arbeiten. Und das Blut auf dem Teppich, ich frag Sie, wer soll denn das Zimmer je wieder betreten? Ich trau mich gar nicht vom Fleck, ich möchte auf keinen Fall sehen, wie sie sie abtransportieren. Das ist mir in all den Jahren noch nicht passiert, daß hier bei uns…« »Und der Mörder?« »Gute Frage!« »Können Sie mich zu Eva durchstellen?« »Frau Schwarz wird verhört!« Barbara Kramer-Pech machte eine Pause. »Erst haben sie mir den Kalender weggenommen, jetzt verhören sie die Chefredakteurin. Soll sie Sie zurückrufen?«
»Wenn sie Zeit hat, ja.« »Ich werd’s ausrichten, einen schönen Tag noch, Herr Prinz.« »Ihnen auch, soweit möglich.« Aber Barbara Kramer-Pech hatte schon aufgelegt. Ich ging zurück in den Salon. Plötzlich roch ich es: Holz mit Vanille, ein Hauch von Patschuli, eine Winzigkeit Schokolade, Alexandras Duft, die schwere Mischung bunter Drops, süß und klebrig. Er hing in dem Umhang, den sie getragen hatte. Das war vor etwas mehr als zwölf Stunden gewesen. Ich war vom Treppenhaus durch den Seiteneingang in den Salon gegangen. Der Innenarchitekt hatte die Kleiderstange für die Frisörumhänge in der Tür anbringen lassen, aus Platzgründen und um die Seitentür zu verbergen. Alexandra war tot, ermordet, aber hier hing ihr Geruch, als wäre sie lebendig. Die Nachricht von ihrem gewaltsamen Tod war in der Branche eine Sensation. In den nächsten eineinhalb Stunden nahmen wir telefonisch vier Anmeldungen zum Färben und Schneiden noch für denselben Tag an. Die Leute waren wie aufgestachelt. Eine Schmuckdesignerin wußte von Verwüstung und Vandalismus in der Vamp-Redaktion, ein Sportreporter wollte gehört haben, Alexandra sei vergewaltigt worden, er sagte »sexuell mißbraucht«. Immer neue Informationen kursierten, schossen aus zweifelhaften Quellen empor und brachten vermeintliche Tatsachen über die Ermordete an den Tag, die zu widerlegen nur den Spielverderber interessiert hätte. Alexandra habe geplant, ihren Job an den Nagel zu hängen. Alexandra habe die Kündigung ins Haus gestanden. Alexandra habe wegen hoher Schulden eine Gehaltspfändung zu erwarten gehabt. Mir waren diese Gerüchte völlig neu. Aber ich fing an, mich zu fragen, wie Alexandra mit ihrem Gehalt als Ressortleiterin eigentlich ihren kostspieligen Lebenswandel finanziert hatte.
Bea redete mit der Kundin, Vera Zernack. »Sagen Sie mal, riecht denn das nicht unangenehm? Wir hatten letztens eine Kundin, die hatte solche Blasen an den Füßen, ich dachte nur, lieber Himmel, wie werden diese Wunden jemals zuheilen! Und ich selbst? Mit meinen Landshuter Füßen in den Pariser Schuhen! Sie, das mit dem Urin muß ich mir merken.« »Wichtig ist, daß er frisch aus dem Organismus kommt, dann auf die Wunde auftragen, auf das Hühnerauge, das Ekzem, was auch immer, da wirkt Urin Wunder.« Vera Zernack saß frisierbereit auf dem Stuhl. Bea legte ihr das Handtuch in den Nacken. »Tom, wer tut so etwas?« fragte sie halblaut. Ihre Augen waren traurig. Was sollte ich sagen. Ich ahnte, daß uns Alexandras Tod nicht loslassen würde. »Frau Zernack«, sagte ich, »alles wieder auf eine Länge und den Pony zur Abwechslung gerade?« Frau Zernack war unschlüssig. Ich dachte daran, wie oft ich Alexandra radikal verändert hatte, wieviel Spaß ihr die Verwandlung gemacht hatte. Die meisten Menschen glauben, daß schon zwei Zentimeter ihr Leben verändern. Nachdem ich mit Schneiden fertig war, übernahm Bea. Sie verpackte die Haare von Vera Zernack in Alufolie und verwandelte sie in ein Wesen, von dem ich als Kind gedacht hätte, es käme vom Mars. Das Marsmännchen las Zeitschrift, der Enlightener drang in die Haare ein, und Bea nutzte die Zeit für eine Pause, verschwand in der Küche. Ich ging ihr nach, schloß die Tür zum Flur. Bea war aus ihren Pumps geschlüpft und rieb sich die Füße. »Was denkst du?« fragte ich. Aber wir dachten beide an das gleiche. »Alexandra wollte unbedingt den Termin für eben den Abend«, sagte Bea langsam. »Sie war fast hysterisch, erinnerst
du dich? Das kam mir komisch vor. Ich hatte ein blödes Gefühl.« »Du übertreibst«, antwortete ich. »Es war ein ganz normales Telefongespräch, wie ich es schon hunderttausendmal geführt habe.« »Du übertreibst, ein ganz normales Telefongespräch«, äffte sie mich nach. »Und ein ganz normaler Mord?« Was sollte das? Mit Mord kannte ich mich nicht aus. Ich sagte: »Alexandra hat in den Spiegel geguckt, die Krise bekommen und angerufen. Mit Recht, ihre Haare sahen schlimm aus.« »Nicht nur die Haare! Alexandra war weiß wie eine Wand, die Füße waren total zerschunden, hast du die Blasen nicht gesehen? Die waren ja so!« Bea formte mit den Fingern den Umfang einer Untertasse. »Als ob sie um ihr Leben gerannt ist!« »Sie war etwas fahrig.« Bea fixierte mich. »Warum war sie fahrig? Warum war sie so extrem durch den Wind?« »Nachdem Kerstin ihr einen Tee gebracht hatte, wirkte sie schon entspannter. Das war jedenfalls mein Eindruck.« Bea nickte. »So sind Zwillinge. Schnell zu beruhigen und schnell aufzuregen. Und weiter?« »Wir haben diese unausgesprochene Vereinbarung, ich mache mit ihren Haaren, was ich will, sie vertraut mir. So war es auch dieses Mal. Sie hat es genossen.« »Ich meine, worüber hat sie gesprochen? Was hat sie erzählt?« Dennis steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Bea, kannst du bitte kommen?« »Hätte ich ihr die Farbe gemacht« – Bea schlug mit der flachen Hand auf den Tisch –, »dann wüßte ich jetzt, was Sache ist!«
Im Taxi zum Treffen mit Stephan gingen mir Beas Worte nicht aus dem Kopf: Hätte sie mit Alexandra gesprochen, dann wüßte sie jetzt, was los war. Hatte ich etwas überhört? Aber wenn Alexandra auch nur mit einem Nebensatz angedeutet hätte, jemand trachte ihr möglicherweise nach dem Leben, das wäre mir doch aufgefallen. Überhaupt, wer könnte einen Grund haben, Alexandra Kaspari umzubringen? Ich gab dem Fahrer ein gutes Trinkgeld, wie immer. »Wie geht’s?« Stephan beugte sich zu mir herunter, sein Nacken war feucht. Er stellte seinen Aktenkoffer auf den Boden und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Während er verschnaufte, blickte er sich neugierig im Café um, musterte die Menschen, die sich in der Mittagspause auf die schattigen Inseln unter den Sonnenschirmen geflüchtet hatten. Alle Tische waren besetzt. Ich freute mich, Stephan zu sehen. Er trug, wie konnte er bloß, ein kurzärmeliges Hemd mit Krawatte. »Was trinkst du?« fragte Stephan. »Weißweinschorle.« »Möchtest du etwas essen?« »Ich hatte eben eine tarte. Die kann ich dir empfehlen.« Stephan griff nach der Karte. Er hätte mit dem Bestellen auf mich gewartet. Stephan war schon vor Jahren nach München gekommen, zum Jurastudium; ich hatte die Schule kurz vor dem Abitur geschmissen, um nach London zu gehen. Nur dort konnte man damals ein guter Frisör werden. Wir verloren uns nie aus den Augen, wußten, was uns umtrieb, wenigstens im groben. Als ich vor acht Jahren meinen eigenen Salon in München eröffnete, hatte Stephan sich längst in einer Sozietät etabliert und lebte mit Sabine zusammen, einer Psychologin. Was mich am meisten für sie einnimmt, ist ihr langes, seidiges Haar, perfekt geeignet für Shag-Frisuren. Stephan und Sabine sind
eher häuslich, meiden Gesellschaften und finden Smalltalk anstrengend. Wenn sie auf dem Balkon, umzingelt von Grünpflanzen, schweigend Akten studieren, nimmt Sabine die Haare einfach mit einer Klemme zusammen. Stephan klappte die Karte zu und bestellte Schinkensandwich und Apfelsaftschorle. Er schüttelte seine silberne Armbanduhr am Gelenk, rieb sich die Hände, als ob ihn fröre. Unter seinem Haaransatz standen helle Tropfen. »Tut mir leid«, sagte ich, »daß ich dich heute morgen versetzt habe. Aber mir war wirklich nicht nach Laufen. Außerdem war da dieses Telefonat, furchtbar.« Stephan winkte ab. »Tomas, ich brauche deinen Rat.« »Ja?« »Ich habe einen neuen Klienten, der kam vor zwei Tagen – hatte zwar keinen Termin vereinbart, aber ich habe ihn trotzdem drangenommen, hat gerade so gepaßt. Das war nämlich so: Ein Gerichtstermin ist geplatzt, weil die Gegenseite…« Stephan bemerkte meinen Blick. »…Jedenfalls steht der vor mir, groß, kräftig, so ein Kerl« – Stephan breitete beide Arme aus –, »…würde dir gefallen.« »Und?« »Der Mann behauptet, seine Frau würde ihn verprügeln.« »Armer Kerl.« »Du glaubst es also?« »Es gab vor kurzem in Vamp einen Report über gewalttätige Frauen, die dunkle Seite, das Gewaltpotential, das unter der Oberfläche brodelt, oder so ähnlich.« »Ich rede nicht von deinen Magazinen«, sagte Stephan, »ich rede vom richtigen Leben. Eine Frau, die ihren Kerl verdrischt, weil er den Müll nicht runterbringt, weil er später als gewöhnlich von seiner Arbeit kommt, was weiß ich.« »Vielleicht gefällt es ihm.« »Ich glaube kaum.«
Die Kellnerin servierte Brot und Saft, Stephan bedankte sich. Ich bestellte eine neue Weißweinschorle, mit Zitrone und viel Eis. Am Nachbartisch saß eine Frau, aschblond. Irgendwo hatte ich sie schon einmal gesehen. Ihre Haarspitzen sahen ungesund aus, eine Kundin war sie sicher nicht. Sie hatte mein Kopfnicken ignoriert oder nicht gesehen, war in eine Zeitschrift vertieft und rauchte eine dünne Zigarette. Alexandra Kaspari hatte auch dünne Zigaretten geraucht. »Würdest du das wollen?« Stephan sprach mit vollem Mund. »Was?« fragte ich zerstreut. »Ach so, du meinst, geschlagen werden? Ich glaube nicht. Nicht, wenn es lustlos ist. Und selbst?« fragte ich. »Ich würde Sabine etwas husten.« »Gelesen hat sie den Report übrigens. Mit großem Interesse.« »Wo? Bei dir?« Stephan machte mit dem Kinn eine Bewegung in meine Richtung. »Wo sonst?« »Stimmt, so etwas liest man ja nur beim Frisör. Warum liest du das Zeug eigentlich? Interessiert dich das?« »Viele Leute lesen diese Blätter, Männer übrigens auch.« Stephans Welt ist manchmal sehr einfach. Er kennt juristische Fachzeitschriften und deutsche Tageszeitungen, von den Gazetten hat er so wenig Ahnung wie von Literatur. »Für mich sind diese Magazine wichtig«, erklärte ich geduldig. »Im vorletzten Monat zum Beispiel hat Vamp auf den News-Seiten über meine Pflegeserie berichtet. Das ist Gold wert, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich merke es sofort am Umsatz.« »Was kostet dich so ein Bericht?« »Das ist eine redaktionelle Geschichte, keine Anzeige, das kostet nichts. Außer einer Einladung, ein paar Proben. Im Grunde der gute Kontakt zu den Redakteurinnen.« »Sonst nichts?«
Stephan nervte mich. »Bekommen Journalistinnen bei dir Rabatt?« »Nein. Redakteure im übrigen auch nicht.« »Warum berichten sie dann über deinen Plunder?« »Weil das Produkt gut ist. Weil sie finden, daß das Produkt es wert ist, darüber zu schreiben.« Stephan wischte sich den Mund und danach das ganze Gesicht ab und knüllte die Serviette auf den Teller. »Sei mir nicht böse. Ich muß los.« Er wühlte in seiner Gesäßtasche nach dem Portemonnaie. »Ich lade dich ein.« »Danke, Tomas.« Bestimmt würde er jetzt noch etwas Verbindliches sagen. »Sag mal, wie geht es eigentlich deinem neuen Freund, diesem…« Stephan war in Not und suchte nach dem Namen. In seinem Gedankenregister war mein russischer Freund noch nicht abgelegt. »Aljoscha.« »Genau.« »Wenn ich das wüßte.« Ich hatte keine Lust zu antworten. »Joggen wir morgen früh?« »Wir telefonieren.« Stephan tätschelte mir den Nacken und ging Richtung Odeonsplatz in seine Kanzlei, die gleich um die Ecke ist, wahrscheinlich zu einem Termin mit dem geprügelten Mann. Ich saugte die Zitronenscheibe aus. Gewalttätige Frauen gibt’s vermutlich häufiger, als man denkt. Alexandra war eine dominante Persönlichkeit, warf auch mit Tellern, wenn sie mit Holger Zoff hatte. In ihrer Beziehung war sie anscheinend nicht so einfach und fügsam wie bei mir auf dem Frisörstuhl. Wo steckte eigentlich die Bedienung? Die Frau vom Nachbartisch war fort. Nur noch die Zeitschrift lag da, es war die neue Vamp, schon die August-Ausgabe.
Wenn die Presse jetzt über den Mord herfiel, würde der Tod von Alexandra Kaspari dem Verlag am Ende noch ein Auflagenplus bescheren. In Gedanken ging ich den Klatsch vom Vormittag durch. Niemand hatte über Alexandras neuen Liebhaber gesprochen. War ich der einzige, der wußte, daß sie eine Affäre mit einem Kollegen hatte? Einem, der auch bei Vamp arbeitete? Ich fingerte den letzten Eiswürfel aus dem Glas und ließ ihn in mein Hemd gleiten, wo er in wenigen Sekunden auf der Haut zerschmolz.
4
Das erste, was ich am nächsten Tag von der fremden Frau sah, waren die Slipper, die im Takt mit der russischen Rockmusik wippten – eine CD, die mir Aljoscha aus Moskau mitgebracht hatte. Mehr konnte ich nicht erkennen, ohne mich zu verrenken. Ich war gerade dabei, Theadora die Spitzen zu schneiden. Theadora war mit fast vierzig Jahren schwanger geworden und erwartete in wenigen Wochen Zwillinge. Hormonbehandlung und künstliche Befruchtung lösen einen wahren Zwillingsboom bei meinen Kundinnen um die Vierzig aus. Seit der Schwangerschaft war Theadora von Highheels auf absatzlose Schuhe umgestiegen und hatte sich mit den flachen Dingern eine Sehnenzerrung zugezogen. Sie ging am Stock, war aber immer noch einen halben Kopf größer als ihr asiatischer Ehemann. Die fremde Frau verlangte nach mir. Ihre braunen Haare waren mit blonden Strähnchen einfallslos aufgehellt, vermutlich stammte die Farbe aus derselben Drogerie wie ihre Sonnenbrille. Mir war auf den ersten Blick klar gewesen, daß diese Frau nicht wegen ihrer Haare hierhergekommen war. »Annette Glaser, Kriminalhauptkommissar.« Sie nahm die Sonnenbrille ab und kniff die Augen zusammen, die von kleinen Lachfältchen umringt waren. Ihr Händedruck war fest. Sprach sie von sich und ihrem Rang absichtlich in der männlichen Form? »Ich möchte mit Ihnen über Alexandra Kaspari sprechen. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit?« Die Polizei schon zwei Tage nach dem Mord bei mir? »Ich habe gerade eine Kundin. Aber in einer knappen halben Stunde?«
»Gut.« »Möchten Sie so lange Platz nehmen?« Frau Glaser schaute sich um. Ich habe die Räume vor kurzem renovieren lassen. Alles ist hell, fast minimalistisch. Der lange Spiegel, vor dem die Kunden sitzen, wird indirekt beleuchtet. Das schmeichelt dem Teint. Auf dem Regal vorne, bei der Eingangstür, reihen sich die Produkte aus meiner Tomas-PrinzPflegeserie und die Trophäen, Kugeln und Pyramiden aus Kristall, die ich regelmäßig beim Schaufrisieren in London gewinne. Eine der Pyramiden, fiel mir ein, hatte ich an die Vamp-Redaktion ausgeliehen, wo man sie fotografieren und zusammen mit meinen Trend-Tips für den Frisuren-Herbst zeigen will. Vor der geschwungenen Empfangstheke ist der weiß gestrichene Holzfußboden leider schon etwas abgetreten. Ich mag die Phantasiegemälde, die ein Künstler einfach auf den weißen Putz gemalt hat, intensives Blau und Orange. »Am besten warten Sie hinten, dort steht ein Sofa. Kommen Sie«, sagte ich zu der Kriminalhauptkommissarin und ging ihr den Gang entlang voraus, vorbei an den vier Waschbecken mit Liegesesseln. Eine Frau mit dunklem Teint, eine Neukundin, lag bewegungslos mit geschlossenen Augen da, wie auf einem Nachtflug der Business Class; ihre Haare, die hüftlang sein mußten, füllten das Waschbecken wie eine Riesenportion schwarzgrüner Seetang. Dennis spülte mit Hingabe. Er nickte abwesend, als wir passierten. Am Ende des Flurs geht der helle Fußboden in dunkles Parkett über. Hier ist Beas Reich. Sie tunkte gerade den Pinsel in eines von drei Töpfchen auf ihrem Wägelchen und bestrich konzentriert die Haarsträhne einer Kundin mit der zähflüssigen Masse. Ein leichter Ammoniakgeruch lag in der Luft, wie von dem Glasreiniger, mit dem ich als Kind zu Hause Figuren auf den riesigen Spiegel im Treppenhaus sprühen durfte, wenn die Haushälterin es erlaubte. Ich mochte den sauertrockenen
Geruch und die Flasche mit dem Etikett, auf dem ein Mann mit einem großen Bizeps prangte. Das ist lange her. Der Kommissarin war stumm. So einen Salon kannte sie wohl nicht. Im Hof mit seinem kleinen Garten flüsterte eine Kundin mit Alufolie im Haar in ihr Telefon. »Bea«, sagte ich, »das ist Frau Glaser, Kriminalkommissarin. Beate Simm, meine Farbstylistin.« Bea streifte die Handschuhe aus durchsichtiger Folie ab, die sie beim Färben trägt. »Sagen Sie bitte Bea, auf Beate hör ich gar nicht mehr.« Als ob sie auf die Polizei gewartet hätte, sagte sie: »Sie kommen wegen Alexandra? Ihr Tod hat uns alle sehr erschüttert.« Bea war mit Absätzen etwas größer als die Kommissarin und mit ihren dreiundvierzig ein paar Jahre jünger. Während Beas langer schwarzer Rock ihre runden Hüften betonte, trug Annette Glaser eine weite Hemdbluse lose über den Jeans. »Was ist denn das?« Die Kommissarin zeigte auf den schwarz lackierten Tresen, an dem die Haarfarben gemischt werden. Viele Leute halten die Ecke für eine Kaffeebar. »Ich lasse einen Kaffee bringen und bin in zwanzig Minuten bei Ihnen.« Ich verschwieg, wie immer, daß man bei uns nur einen mittelmäßigen Filterkaffee bekommt, die Kunden verlangen sonst ständig Nachschub. Natürlich sage ich nie, was ich manchmal denke: Wir sind ein Frisörsalon, keine Kaffeebar. Bea plazierte die Kommissarin auf dem Diwan zwischen den Hochglanz-Magazinen. Zwanzig Minuten später war ich mit Theadora fertig, hatte selbst die fünfundsiebzig Euro fürs Schneiden kassiert, ihren nächsten Termin aufgenommen. Sie humpelte hinaus, begleitet von meinen guten Wünschen für die gezerrten Sehnen und die Zwillinge. Der Taxifahrer stieg aus und half Theadora und ihrem riesigen Bauch in den Wagen. Ich ging nach hinten.
Annette Glaser lehnte am Spiegel bei Bea, die Farbe anrührte. »Alexandra war so eine Sucherin«, erklärte Bea, »aber dabei auch skeptisch. Sie, Frau Glaser, als Waage streben viel mehr nach Harmonie, und ich könnte mir vorstellen, daß das für Sie auch ein Antrieb ist. Meinen Sie nicht?« Bevor die Kommissarin antworten konnte, signalisierte ich ihr, daß ich jetzt Zeit habe. Sie hatte weder die Zeitschriften noch den Kaffee angerührt. »Gehen wir in mein Büro, dort ist es am kühlsten.« Im Flur blieb sie vor einem Perückenkopf stehen, dessen Hals auf einer Eisenstange montiert ist. Er glotzte Frau Glaser ausdruckslos an. Meine Assistenten nutzen Lücken im Terminkalender, um ihre Fertigkeiten zu üben und zu verbessern. Ich schätze das und erwarte dieses Maß an Ehrgeiz. Einer meiner fähigsten Leute ist Dennis. Vor zwei Jahren habe ich ihn zu meinem Topstylisten gemacht. Kunden, die zu ihm gehen, bezahlen mehr. Aber auch Kerstin machte Fortschritte. Die Wasserwellen, ein Trend für den Herbst, waren gut gelegt. Wir gingen über den Hof zur Treppe hinunter ins Souterrain, wo mein Büro liegt. »Da oben wohne ich.« Ich zeigte zum Balkon im zweiten Stock hinauf. Die Levkojen hatten sich erholt, hingen mit schweren Blüten über dem Geländer. Eine Etage darüber saß Hoffmann zwischen seinen Glyzinien und Rosenstrünken. Ich winkte. Die Kommissarin holte ein Mobiltelefon hervor. »Ich gehe mal voran«, sagte ich. »Hier unten befinden sich außer dem Büro auch die Schulungsräume.« »Torsten? Ich bin immer noch beim Frisör. Nein, bei dem von der Kaspari. Ja. In einer knappen Stunde. Also dann.« Die Kommissarin drückte energisch den Knopf. »Entschuldigen Sie bitte. Schulungsräume, sagten Sie?«
»Ja. Hier entlang. Ungefähr sechsmal im Jahr veranstalten wir Schulungen, zeigen neue Frisurentrends und führen Haarschneidetechniken vor. Bitte nehmen Sie Platz.« Im Besprechungszimmer, in dem zwölf Stühle um einen langgestreckten Tisch stehen, rückte ich der Kommissarin einen Freischwinger zurecht, von dem aus sie den besten Blick auf die begrünte Terrasse hatte. Weil die so tief liegt, gelangen nur jetzt, im Hochsommer, die Sonnenstrahlen bis hierher. »Kerstin bringt uns gleich eine Erfrischung.« Annette Glaser winkte ab und kniff die Augen zusammen. Die Etiketten auf den Flaschen meiner Pflegeserie sind aus der Entfernung schwer zu entziffern. Vier neue Nachrichten blinkten auf dem Anrufbeantworter, im Faxgerät lag die Speisekarte mit dem Tagesgericht vom ›Orangha‹ in der Klenzestraße und die Einladung zur Vernissage heute abend. Eine Pressefotografin machte in Kunst. Wahrscheinlich würden viele Journalisten dasein und die Gelegenheit nutzen, das grausige Ereignis zu diskutieren. »Sind Sie gebürtiger Münchner?« Ich nahm an der Stirnseite Platz, mit dem Rücken zur Terrasse. »Nein. Ich komme aus Zürich.« »Interessant. Hört man gar nicht. Ihren Dialekt, meine ich.« Die Kommissarin hängte den Riemen ihrer aus gebeulten Handtasche an die Lehne. »Haben Sie dort auch als Frisör gearbeitet?« »Ich habe die Schweiz vor mehr als zwanzig Jahren verlassen. Ein Jahr vor dem Abitur, um genau zu sein. Und den ›Dialekt‹ hab ich mir gründlich abgewöhnt. Meine Eltern wollten, daß ich die Kleiderfabrik übernehme, die seit dem Tod meines Vaters meine Mutter führt. Abendkleider, Einzelstücke, sehr aufwendig. Doch ich wollte unbedingt Frisör werden. Schon immer. Aber was hat das mit Alexandra Kaspari zu tun?«
»Erzählen Sie einfach weiter.« »Ich ging nach der Lehre nach London zu Vidal Sassoon, stellte mich dort auf die Matte und rührte mich nicht weg, bis ich denen zeigen durfte, daß ich Talent habe. Eine Stunde später hatte ich den Job. Es war toll.« »Vidal Sassoon, hab ich schon mal gehört. Und wann sind Sie nach München gekommen?« »Fast zehn Jahre war ich für Sassoon in Europa unterwegs, als Chef-Stylist, der den Frisören unsere Haarschneidetechniken beibrachte. In London hatte ich einfach nur ein Zimmer, man nennt das bedsitter, wußten Sie das? Dann habe ich mich hier in München niedergelassen. Das war vor acht Jahren. Meine Schwester lebt auch hier, mit Mann und Kindern. Interessiert Sie das wirklich?« »Ich bin neugierig, das gehört zu meinem Beruf.« »Das geht mir bei meinen Kunden genauso.« »Und wer nimmt an Ihren Schulungen teil, Frisöre aus München?« »Aus Hamburg, Berlin, weniger aus München.« »Aber Ihre Kunden kommen hauptsächlich aus München?« »Viele ja. Manche reisen aber auch aus anderen Städten an. Das weiteste ist, glaube ich, Moskau.« »Frau Simm, ich meine Bea, sagte, zu Ihren Kunden gehören viele Journalisten.« »Auch. Alexandra Kaspari war nur eine von ihnen.« Annette Glaser beugte sich vor und legte einen Block vor sich hin. »Seit wann kannten Sie sie?« Ich überlegte. »Seit sie bei Vamp das Ressort für Kosmetik und Schönheit leitete. Das müßten etwa sechs Jahre sein.« »Kannten Sie sie gut?« »Schwer zu sagen. Doch, ich glaube schon.« »Sie waren befreundet?«
»Das ist wieder zuviel gesagt. Ich bin in erster Linie ihr Frisör. Ich meine: Ich war es. Ihr Tod ist irgendwie noch sehr abstrakt.« »Hat sie Ihnen vertraut?« »Sie wußte, ich bin diskret.« »Sind Sie das?« »Wenn ich es nicht wäre, hätte ich sicher sehr bald keine Kunden mehr.« Annette Glaser nickte. »Frau Kaspari war am Mittwoch noch bei Ihnen?« »Woher wissen Sie das?« »Ein Eintrag in ihrem Terminkalender.« »Der Termin kam kurzfristig zustande, sie rief an, und ich gab ihr den Termin für denselben Abend, achtzehn Uhr.« Die Tür ging auf, Dennis kam herein, murmelte etwas und stellte ein Tablett mit einer Kanne Kräutertee, einer Karaffe Wasser und einer Schale Eiswürfel und Zitrone auf dem Tisch ab. »Das bedeutet, Sie waren eine der letzten Personen, wenn nicht die letzte Person, die Alexandra noch lebend gesehen hat«, sagte die Kommissarin. Das war mir überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen. War ich jetzt ein besonders wichtiger Zeuge? Oder selbst verdächtig? War dies vielleicht ein Verhör? Brauchte ich einen Anwalt? Wie im Tatort? »Ist Ihnen etwas an ihr aufgefallen?« fragte die Kommissarin. »Sie war müde und abgespannt. Sie hatte ziemlich viel um die Ohren mit ihrem Job und ihrem Privatleben.« »Hat sie Andeutungen gemacht, daß sie bedroht wird?« »Nein, im Gegenteil. Sie hatte vor, in Urlaub zu fahren. Kai sollte in der Zeit zum Vater.« »Mit wem wollte sie wegfahren?«
»Keine Ahnung. Jemand Neues.« Ich goß beide Gläser halb voll mit Tee und schob der Kommissarin Eiswürfel und Zitrone zu. »Mögen Sie?« »Danke, gern. Hatte Frau Kaspari viele Männerbekanntschaften?« »Sie hat mir bestimmt nicht von allen erzählt. Aber sagen Sie mal, wie ist Alexandra ums Leben gekommen?« »Man hat ihr den Schädel eingeschlagen. Mit einem spitzen Gegenstand.« Ich versuchte mir vorzustellen, wie jemand einen Schädel zerschmettert, denselben Schädel, den ich kurze Zeit vorher massiert und frisiert hatte. Welcher Haß und was für eine Kraft mochten dahinterstecken? »Herr Prinz, Ihre Diskretion in Ehren, aber was wissen Sie über das Privatleben von Alexandra Kaspari?« »Sie hat einen Sohn, Kai. Der war ihr sehr wichtig. Bei unserem letzten Gespräch…« Ich konnte nicht mehr weiterreden. Mir wurde plötzlich übel. Ich mußte aufstehen, an die frische Luft. Auf der Terrasse lehnte ich mich an die Wand und atmete tief durch. Alexandra. Hoffentlich hatte sie nicht gelitten. »Herr Prinz?« Ich achtete nicht auf die Kommissarin. »Ist alles in Ordnung?« »Ja.« Ich ging wieder hinein, setzte mich an den Tisch und stützte meinen Kopf auf beide Hände. »Noch einmal von vorne: Was wissen Sie über Frau Kasparis Privatleben?« »Alexandra hatte zu ihrem Mann, zu Kais Vater, keinen guten Draht. Eigentlich sogar einen extrem schlechten. Sie hatten sich völlig auseinandergelebt, und Alexandra hielt ihn für einen schlechten Vater.« »Warum?«
»Auf der einen Seite fand sie, sei er zu streng, auf der anderen Seite hielt sie ihn für unzuverlässig. Außerdem klagte sie über seinen Geiz. Er bezahlte anscheinend immer nur das Nötigste. Haben Sie mit ihm schon gesprochen?« »Noch nicht, er trifft wohl erst heute oder morgen aus Berlin ein.« »Und mit Kai?« »Ja.« »Haben Sie bemerkt, daß er eine Prothese trägt?« Annette Glaser war überrascht. »Alexandra sorgte dafür, daß Kai die besten Prothesen bekam, die es gibt. Das war sehr teuer. Holger, der Vater, hat sich an den Kosten anscheinend nie beteiligt.« »Trotzdem sollte der Junge in den Ferien zu seinem Vater.« »Vorher wollte Alexandra mit Kai noch nach Zürich, weil er jetzt, im Wachstum, wieder ein neues Bein braucht.« Annette Glaser überlegte. »Hat Alexandra Kaspari etwas von einer Auseinandersetzung erzählt, gab es einen Anlaß für Streitigkeiten?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Für mich sind alle Informationen wichtig.« »Der Umgang mit Kai war wohl schwieriger geworden. Der Junge steckt in der Pubertät. Alexandra beklagte sich darüber, daß er ständig Geld braucht, keinen guten Umgang pflegt, das Übliche. Sie hatte ihn in Verdacht, daß er kokst. Aber fand es auch wieder nicht so wichtig.« »Verstehe.« Annette Glaser machte sich eine Notiz. »Haben Sie schon eine Ahnung, wer es getan haben könnte?« fragte ich. »Und wann?« »Das ist noch unklar. Auf jeden Fall in den späten Abendstunden. Es muß jemand gewesen sein, der die Redaktion kennt, der wußte, wo sie arbeitet.« Die
Kommissarin sah mich an. »Sind Sie jemals in der Redaktion gewesen?« »Nein.« »Wir gehen davon aus, daß es jemand aus dem nächsten Umfeld war. Jemand, der Frau Kaspari sehr nahestand.« »Warum?« »Weil der Täter so etwas wie… sagen wir, Sorge um sein Opfer hatte. Der Täter hat nach der Tat anscheinend Mitleid bekommen.« »Wieso das? Inwiefern?« »Als man sie fand, lag sie am Boden, wie aufgebahrt. Der Mörder hat ihren Kopf auf ein Kissen gebettet.« Nachdem Annette Glaser sich verabschiedet hatte und in einem graublauen Audi davongefahren war, lieferte Bea eine kurze Analyse der Kommissarin. Es war Mittag, die Sonne hatte ihren Höchststand erreicht. Wir saßen allein im schattigen Hof. Die Glaserin, sagte Bea, sei als Waage-Mensch mit Aszendent Jungfrau gut im Analysieren, aber, nach Beas Geschmack, für eine Polizistin zu gefühlvoll, zu weich, zu passiv. Und zu unaufmerksam. Das sei typisch für den Einfluß der Venus, unter dem Waage-Menschen naturgemäß leiden. »Hörst du mir zu?« fragte Bea. Ich hatte mich auf der Bank ausgestreckt, die Arme unterm Kopf verschränkt, und starrte in den leeren, blauen Himmel, der wie eine Bluebox wirkte. Ich sah Alexandras Kopf auf dem Kissen, sah in meiner Phantasie ein blutgetränktes Kissen. Hatte der Mörder Alexandra die Lider zugedrückt? ›Wir gehen davon aus, daß der Mörder aus ihrem nächsten Umfeld kommt‹, hatte die Kommissarin gesagt. Bea fragte: »Glaubst du, daß ein Sohn, drogenabhängig und in Geldnot, imstande ist, seine eigene Mutter zu töten, wenn er im Rausch ist?« »Keine Ahnung«, sagte ich.
»Es ist eine Tragödie«, sagte Bea. »Und die Glaserin tappt völlig im dunkeln. Wir müssen herausfinden, wer ein Motiv hat. Das sieht doch nach Leidenschaft aus. In dem Milieu. Wenn du mich fragst, in diesen Frauenredaktionen ist schwer was los. Aber vielleicht ging es doch um Kohle?« »Alexandra war ständig pleite.« Bea überlegte. »Was ist mit Eifersucht?« »Auf Alexandra waren viele Menschen eifersüchtig.« »Zum Beispiel Holger, ihr Ex.« »Warum denn der?« »Weil sie viel erfolgreicher war als er.« »Könnte sein.« Warum erinnerte ich mich an Alexandras Geburtstagsparty, im Juni vergangenen Jahres? Ich hatte an der Wand gelehnt, gleich bei der Tür zum Flur, und mit einem Ehepaar über englischen Fußball geplaudert. Alexandra streifte meinen Arm, und für einen Moment sahen wir uns in die Augen. Sie schien verstört. Der Mann fragte mich: »Und was machen Sie beruflich?« In der Wohnung lag der süße Geruch von Hasch. Alexandra ging unauffällig aus dem Zimmer. Ich sagte: »Ich schneide.« Er wechselte einen kurzen Blick mit seiner Frau. »Sie schneiden?« »Ich bin Frisör.« Würde nun eine Debatte über gespaltene Spitzen und unvorteilhafte Längen beginnen, der Mann das Weite suchen und die Frau schließlich nach einem Termin fragen? Nein. Das Gespräch war zu Ende. Ein Frisör auf einer privaten Party ist eine Irritation. Es passiert selten, daß ich von einem Kunden nach Hause eingeladen werde. Ich hörte auf dem Flur laute Stimmen. Die Tür war nur angelehnt. Alexandra zischte, eine fremde Männerstimme
spuckte einzelne Silben und unterdrückte andere in großer Wut. Ich sah, wie Alexandras Sohn Kai mit zwei Frauen aus der Redaktion tanzte und wild mit Armen und Beinen schlenkerte. Im Flur konnte ich einen Hinterkopf erkennen, mit kurzen weißgrauen Stoppeln. Das mußte Holger sein, Alexandras Ehemann. Die Wohnungstür fiel laut ins Schloß. Als Alexandra ins Zimmer kam, hüpfte sie von Gast zu Gast und steckte jedem eine Erdbeere in den Mund. Sie rief: »Ich will Prinz!« Ich winkte. »Ich will Prinz!« Sie rief es immer lauter, bis aus den Lautsprechern »Sexy Motherfucker« dröhnte. Beim Tanzen wirbelte ich Alexandra herum, sie war fast nicht zu halten. Bis zum Morgen wurde immer wieder »Sexy Motherfucker« von Prince gespielt. »Übrigens«, sagte Bea und riß mich aus meinen Erinnerungen, »die Vamp-Chefin, Eva Schwarz, hat zurückgerufen und gefragt, ob sie dich heute abend bei der Vernissage von dieser Fotografin trifft. Ich habe ihr gesagt, daß du hingehst.«
5
Ich bummelte die Hans-Sachs-Straße entlang, ohne festes Ziel. Es war Nachmittag. Ich wollte laufen, nachdenken, sortieren, Schritt für Schritt. Ein Blumenverkäufer sprengte den Bürgersteig vor den Eimern mit dekorativen Sträußen. Ich streckte meine nackten Füße in den Ledersandalen vor, und der Mann übergoß meine Füße großzügig. Es roch nach Sommer und feuchtem Staub. Ein Mord! Das konnte doch nicht wahr sein. Das passiert sonst nur auf Zeitungsseiten. Und jetzt so nah bei mir. Würde Holger die Wohnung auflösen? Wer rückt in der Redaktion auf Alexandras Posten? Und wer hatte überhaupt ein Motiv? In der Maximilianstraße trank ich in der ›Kulisse‹ einen Cappuccino und zog die Neue Zürcher Zeitung heraus. Ich hatte keine Lust, im Wirtschaftsteil die Aktienkurse zu studieren, aber eine Überschrift fiel mir auf: »Korruption in Deutschland weitet sich aus.« Eine Studie besagte, daß in Deutschland seltener als in Italien und Rußland bestochen wird, aber fast so oft wie im afrikanischen Botswana. Ich überlegte. Ich hatte Alexandra Produkte aus meiner Pflegeserie gegeben, also geschenkt, zuletzt das Haargel »Straight Down«. Alexandra hatte das Gel probiert, sich überzeugt, daß es die Haare glatt macht, und über den Effekt auf ihren Beauty-Seiten berichtet. Ist das Bestechung? Die Kosmetikindustrie überschüttet die Redaktionen mit erlesener Seife, teuren Cremes, mit Puder, Make-ups und Parfüm. Die Redaktionsassistentinnen räumen zum Jahresende die Regale in den Büros leer und verkaufen die Tuben, Döschen und Fläschchen für ein paar Euro an die anderen Redakteurinnen,
sie nennen das »Beauty-Basar«. Der Erlös wird für irgendeinen guten Zweck gespendet, »eine schöne Sache«, fand Alexandra. Ich bezahlte den Cappuccino und dachte an den Kaffee in Moskau, der immer diesen scharfen Beigeschmack hat. Als ich das letzte Mal dort war, hatte Aljoscha mir von der Korruption in Rußland erzählt. Von einer Hotline, die eingerichtet wurde, damit die Bürger die Möglichkeit haben, schnell und einfach Fälle von Korruption anzuzeigen. Eine Telefonleitung, freigeschaltet zum Denunzieren. Ich finde das gefährlich, Aljoscha dagegen glaubt, es sei ein notwendiger Schritt, um in Rußland für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Wir hatten gestritten. In den Auslagen eines Geschäfts in der Brienner Straße sah ich ein schwarzes Hemd mit meinem Cutaway-Kragen, wie ihn mein Schneider in London macht. Ich kaufte es und ließ mir außerdem einen schwarzen Pullover aus Seide und Cashmere für Aljoscha einpacken. Er könnte ihn gut in seinem Job tragen. Aber er würde mich bestimmt wieder wegen meines Hangs zum Luxus beschimpfen. Prompt hatte ich ein schlechtes Gewissen und nahm mir fest vor, für Greenpeace zu spenden. Oder für die Aidshilfe. Ich vermißte Aljoscha und hätte ihm gerne von der toten Alexandra erzählt. Als ich Aljoscha zum ersten Mal sah, ahnte ich nicht, daß er in meinem Leben so wichtig werden würde. Auch nicht, daß ich gleich die Nacht mit ihm verbringen würde, hinter einem Paravent im Kensington and Chelsea Hospital. Es war eine kalte Dezembernacht in London, ein Orkan zog herauf und versetzte die Stadt in den Ausnahmezustand, aber das hatten wir nicht mitbekommen. Aljoscha schürte Holzkohle in einer Schale, die in der Mitte des Zimmers aufgebaut war. Es war die Wohnung von Jeremy, genauer gesagt ein Zimmer von acht Quadratmetern, in South Kensington, mitten in London. Die Feuerstelle hatte Jeremy für
dieses Essen aufgebaut. Er kocht sonst auf sechs Flammen, ohne Rezept und immer unter einem Motto. So gab es bei »Black Beauty« Pferdefleisch flambiert, bei »Secret Service« Teigtaschen und Paniertes. Mit dem offenen Feuer standen die Zeichen heute auf »nature boys«. Ich bewundere Jeremys Künste, kann selbst nur auf Anweisung schälen und schnibbeln und nach dem Essen anbieten, das Spülen zu übernehmen. Ich war aufgedreht, hatte mit Julia die Choreographie für meine Show durchgesprochen, eine Retrospektive meiner Frisuren aus fünfzehn Jahren, und mich auf den Abend gefreut, bevor ich wieder nach München abreisen würde. Jeremy machte uns miteinander bekannt: »Aljoscha ist Russe, Tomas ist Schweizer.« Aljoscha trug die Haare nachlässig zur Seite gekämmt, sie reichten ihm bis zum Kinn, das kräftig ist und ein Kontrast zu dem blassen Gesicht voller Sommersprossen. Ich schätzte ihn nicht älter als dreißig. Seine Hände waren rußig. Während Jeremy das Lammfleisch mit Knoblauchzehen spickte und Julia den Braten mit einer dunklen Tunke bestrich, erzählte mir Aljoscha, daß er als Teenager mit seinen Eltern von Moskau nach Reykjavik, Island, übergesiedelt war und jetzt wieder in Moskau lebt. Wir tranken Beaujolais. Er arbeitet bei der Galeristin Katharina Nikolskaya. Moderne Kunst sei gefragt bei russischen Sammlern. Mir fielen seine schönen Zähne auf. »Was tust du in London?« fragte Aljoscha. Er sprach Englisch ohne Akzent. Ich erzählte von der Show, die Julia und ich konzipiert hatten, von den Unterschieden zwischen Ethno-Bollywood, Punk-Beckham und Vintage Glamour. Redete ich zu viel? Blaue Schwaden stiegen zur Decke, Fleisch brutzelte, unsere Gesichter glühten, wie die runden heißen Kohlestücke in der Schale, um die wir im Kreis saßen.
Aljoscha betonte »Tomas« auf der zweiten Silbe, dem »a«; wenn er lachte, warf er den Kopf nach hinten. Draußen wehte der Wind den Schnee gegen das geschlossene Fenster, aber wir hörten den Sturm nicht, der die Dächer abdeckte und die Laternen umknickte. Wir aßen im Rhythmus der Musik, ohne zu spüren, daß eine warme Masse sich ausbreitete und das Zimmer ausfüllte wie ein schwerer Teig. Wenn das Feuer auszugehen drohte, pusteten wir hinein. Ich war erregt und fühlte mich zugleich matt. Als ich aufstand, wollte Aljoscha mir hochhelfen, als sei ich gebrechlich, tatsächlich waren meine Beine schwer und unbeweglich. Ich sah, daß Aljoscha taumelte, daß er kleiner war als ich, der Pullover hochgerutscht und dunkle Haare ein Muster auf seinen hellen Bauch zeichneten. Dann wurde alles dunkel um mich herum. Ein Deckenlicht flackerte nervös, mein Kopf schmerzte. »Tomas?« hörte ich. Aljoscha lag im Bett neben mir, stützte im Liegen seinen Kopf auf und betrachtete mich wie einen seltenen Gegenstand. Ich hatte eine Maske über Mund und Nase, ein Gerät pumpte in gleichmäßigem Rhythmus Sauerstoff in die Lungen. Aljoscha verstand mein Nuscheln nicht und guckte fragend, ich nahm das Gerät ab und wiederholte: »Was ist passiert?« »Die Ambulanz hat uns ins Krankenhaus gebracht.« Vier Menschen auf acht Quadratmetern, dazu das offene Feuer, viel Wein, zu wenig Sauerstoff. Der Kreislauf war bei Aljoscha und mir gleichzeitig kollabiert. »Sind wir betrunken?« »Höchstens vom Sauerstoff.« In jener Nacht vor eineinhalb Jahren wurden in London viele Menschen verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Der Sturm rüttelte an den Fenstern, immer wieder ging das Licht aus. Die Ärzte schienen uns vergessen zu haben. Aljoscha rutschte zu
mir unter die Decke, als wären wir Kinder, die sich im Dunkeln fürchten. Die Sommersprossen auf seiner weißen Haut waren wie Mohn, ganz schwarz, seine Lippen rissig. Damals dachte ich, diese Nacht ist eine Anekdote, die ich erzähle, wenn ich wieder in München bin. Ich war inzwischen von der Brienner Straße bis zur Arcisstraße gegangen und hatte auf dem Alten Friedhof die verwitterten Grabsteine betrachtet. Zu Alexandra würde so ein dramatischer Engel passen. Wann ist eigentlich die Beerdigung? Und wie ist das? Gibt es nicht bei Mord eine Obduktion? Jetzt wird Alexandra auch noch zerschnitten. Ein Kunde, Gerichtsmediziner, hatte mir einmal erzählt, daß die entnommenen Organe zum Schluß einfach wieder in die Körperhöhle zurückgekippt werden, wie Wäschestücke in einen Bottich. Ich versuchte, diese Gedanken zu verscheuchen. In der Georgenstraße blieb ich vor Alexandras Haus stehen und spähte durch die Scheibe in den Hausflur. »Suchen Sie etwas?« Eine Frau klapperte mit einem Schlüsselbund. »Ja, das heißt…« »Zu wem wollen Sie?« Neben dem Klingelschild von Alexandra stand der Name »C. Koch«. Das war Claudia Koch, Alexandras Nachbarin, Freundin, Kollegin, die vor zwei Jahren zu Vamp kam und gleich Kundin bei mir wurde. Ihr erster Termin wurde mit dem Zusatz »ENK« versehen – ein empfohlener Neukunde. Bea färbt sie, Dennis oder Kerstin schneiden sie, aber ich kannte sie praktisch nicht. Sie müßte alles über Alexandra wissen. Ich nahm mir vor, im Terminkalender zu schauen, wann Claudia Koch den nächsten Termin vereinbart hatte. »Ich möchte zu Alexandra Kaspari.« »Da sind Sie nicht der erste.« Die Frau öffnete die schwere Tür in den Hausflur, der mit einem dunkelroten Kokosläufer
ausgelegt war. An den Seiten prangten Kristallspiegel in barocken Goldeinfassungen, von der Decke hing ein Kronleuchter aus glänzendem Messing. »Hat noch jemand nach ihr gefragt?« »In der Tat. Aber wenn Frau Kaspari nicht aufmacht, wird sie wohl ihre Gründe haben.« Die Frau ging an mir vorbei ins Haus. Bevor die Tür vor meiner Nase ins Schloß fiel, stellte ich rasch den Fuß hinein und fragte aufs Geratewohl: »Ist sie denn zu Hause?« Die Frau drehte sich um und wies mit dem Kinn an mir vorbei auf die Straße, als würde Alexandra dort stehen. Verwirrt drehte ich mich um. Da war niemand. »Ihr Wagen steht jedenfalls da.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stieg die Frau die Treppe hinauf. Ich trat zurück auf den Gehweg. Im Fenster von Alexandras Porsche Cabriolet hing ein Zettel: »ZU VERKAUFEN«, darunter die Fakten: Baujahr 2002, Kilometerstand 12 000, 228 PS, TÜV neu. Ich verstehe nichts von Autos, habe keinen Führerschein und benutze meistens das Taxi oder das Flugzeug. Alexandra dagegen hatte sich regelmäßig in schön geformte Bleche verliebt, wie in gutgebaute Männer, hatte bei einer ersten Probefahrt die Höchstgeschwindigkeit getestet und die Kiste später, im Alltag, wie ein fahrendes Wohnzimmer benutzt. Aber dieser Porsche war aufgeräumt, nichts erinnerte mehr an Alexandra. Wer wollte dieses Auto zu Geld machen? Eine dunkelgrüne Limousine mit Berliner Kennzeichen rollte vorbei. Ich duckte mich wie ein Autodieb. Der Wagen wurde eingeparkt, die Position penibel korrigiert, Fenster und Schiebedach per Knopfdruck geschlossen. Nach ein paar Sekunden stieg der Mann aus. Er hatte einen silberfarbenen Bürstenhaarschnitt, ging auf flachen Gesundheitssandalen zum Haus, steckte den Schlüssel ins Schloß und verschwand. Durch
die Scheibe sah ich, wie sein Schatten die Treppe hinaufstieg. Es waren dieselben Stufen, die damals, in Alexandras Geburtstagsnacht, ein Verehrer mit gelben, weißen und roten Blütenblättern bestreut hatte. Das geparkte Auto mußte Holger Kaspari gehören, Alexandras Mann, Kais Vater, von dem die Kommissarin gesagt hatte, er käme heute oder morgen nach München. Ich schaute durch die Scheibe. Auf dem Armaturenbrett lag ein Parkschein aus München, datiert vom 21. Juli, 17.15 Uhr. Alexandra ist einen Tag später ermordet worden.
6
Außer mir trug niemand Weiß. Die meisten Besucher der Vernissage waren schwarz gekleidet, mit honigfarbenen Sonnenbrillen. Viele kamen allein. Ein gedämpftes Summen erfüllte den Saal. Es waren vor allem Journalisten und Fotografen, die einander suchten, sich fanden und die Köpfe zusammensteckten, um das eine Thema zu besprechen: Alexandras Tod. Mir schien, einige Leute sahen mitgenommen aus, aber die helle Beleuchtung war auch ungünstig. »Die Ärmste, die arme Alex!« Ich spürte den Hauch eines warmen Atems. »Ist es nicht furchtbar?« Jemand berührte mich am Arm. Die Temperatur im Saal schien von Minute zu Minute zu steigen, immer mehr Menschen drängten herein und schleppten die Hitze von der Straße mit, die sie wie eine schwere Last ablegten. Alexandras Tod war ein Ereignis, das die Veranstaltung beflügelte. Alexandra war die Hauptperson. Schließlich war sie keines gewöhnlichen Todes gestorben. Über den hätte man kein Wort verloren. Ein Mord dagegen ist aufregend. Auch auf mich färbte ein wenig von Alexandras Ruhm ab. »Stimmt es, daß Sie kurz vorher noch mit Alexandra gesprochen haben?« fragte eine mir unbekannte Frau, die ihren Lippenstift breit aufgetragen hatte. Bevor ich etwas erwidern konnte, wandte sie sich ab. Die Künstlerin hatte struppige Haare und stand an den Rand gedrängt, betrachtete glücklich und aufgeregt die vielen Besucher. Außer einem Mann, der schweißüberströmt war und auf sie einredete, wurde sie von sonst niemandem beachtet. Mir gefielen die Fotografien, blasse Menschen vor blassen Hintergründen, und ich überlegte, ob ich mich der Künstlerin
vorstellen sollte. Oder war es besser, sich unter die Menschen zu mischen, die Gespräche zu belauschen? Ich beobachtete die Leute. War der Mörder hier? Der Mörder, stellte ich mir vor, würde herausfinden wollen, was die Menschen wußten, wie sie über die Tat dachten. Ich war mir plötzlich sicher, daß er anwesend sein mußte. In Krimis ist das oft so. Könnte es der Mann am offenen Fenster sein, der mit der Adlernase und dem dichten Haarschopf? Ein attraktiver Kerl, aber bestimmt nicht schwul. Er schaute die Frau an seiner Seite mit diesem Blick an, der sagt: Du bist die Frau, die ich umlegen will, auf der Stelle. Es schien ihr zu gefallen. Dankbar griff ich nach einem Glas Weißwein, das mir die Kellnerin in langer Schürze auf einem Tablett anbot, trank es aus und fächerte mir mit der Einladungskarte Luft zu. Das Getränk war lauwarm gewesen, es gab nichts zu essen. Ich beschloß, mich zu der Adlernase und seiner Begleiterin durchzuschlängeln und herauszufinden, wer sie waren. Claus-Peter schnitt mir den Weg ab. »Tut mir leid, daß ich dich heute morgen mit dieser Schreckensnachricht aus dem Bett geholt habe.« Er klopfte mir auf die Schulter, ich balancierte das Weinglas. »Das war ziemlich ätzend. Ich meine, das war ein ganz schöner Schock.« Claus-Peter stellte sich wie selbstverständlich neben mich und musterte die Vorübergehenden. Seine Haut war feucht, die Poren geweitet, wie bei einem saugfähigen Küchentuch. Gerne hätte ich ihn abgeschüttelt. »Eine ziemlich große Geschichte, das mit der Kaspari«, sagte er. »Kommt mir persönlich wie gerufen, jetzt im Sommerloch.« Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. War er wirklich schon so abgebrüht? Von weitem sah ich meinen Nachbarn, Hoffmann, durch den Raum schlendern und die Porträts
betrachten. Er geht auf alle möglichen Vernissagen, kommt auf diese Weise unter Menschen. Ich winkte ihm. Jemand anderes winkte zurück. »Ich habe mit der Kommissarin gesprochen«, sagte ClausPeter, »die lassen nichts raus. Und du?« Ich konnte erkennen, daß sich die Person, die mir eben gewinkt hatte, zielstrebig in meine Richtung schob. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte den roten Schopf von Eva Schwarz, der Vamp-Chefredakteurin. Sie umarmte einen Mann, dessen Haare glatt zurückgekämmt und in einzelnen Strähnen locker in die Stirn fielen. Ich schätzte ihn auf mein Alter, so um die Vierzig, aber Alkohol und Nikotin hatten ihm zugesetzt. Er trug ein Hemd in Blaßrosa. Eva hakte sich bei ihm ein und lachte ihn an. »Wer ist der Typ dort in Rosa?« fragte ich Claus-Peter. »Der Womanizer? Fabrice Duras, Geschäftsführer von diesem Kosmetikkonzern, Clairmont.« Claus-Peter grinste. »Klar, daß der um die Schwarz herumschwänzelt. Er will mit seinem Zeug, diesen Lippenstiften, Make-ups, Parfüms, ins Heft. Guck mal, der strengt sich richtig an.« »Ich finde, sie macht sich eher an ihn heran!« »Bist du eifersüchtig, Tomas?« Jemand umschlang mich von hinten. Ich erkannte die schlanken, aber kräftigen Künstlerhände vor meinem Bauch. »Endlich!« Ich war froh, Bea zu sehen. »Die Fotografin braucht einen Frisör«, sagte sie. Ich zog sie auf die Seite. »Bea, ich habe eine Spur. Holger ist schon seit mindestens zwei Tagen in der Stadt!« »Holger?« Sie nahm mir mein wieder aufgefülltes Glas aus der Hand und trank. Zu ihrem langen, schwarzen Rock trug sie eine kunstvoll verknöpfte Bluse, die so rot war wie ihr Lippenstift.
»Natürlich unser Holger, der Mann von Alexandra, Kais Vater, wer sonst.« Ich war ungeduldig. »Von dem die Kommissarin sagte, er käme erst dieser Tage nach München?« »Er ist schon lange hier. Er war schon hier, als Alexandra ermordet wurde.« Claus-Peter war verschwunden. Bea sagte: »Dann hat Holger Kaspari also gelogen. Wie hast du das herausbekommen?« »Ein Parkschein in seinem Auto hat ihn verraten. Sag mal, Bea«, ich drehte der Menge den Rücken zu, »kennst du den Kerl mit der prominenten Nase, dort, am Fenster? Der Typ beobachtet mich.« »Vergiß es. Der ist nichts für dich…« »…Weiß ich doch…« »…Aber ein toller Typ.« Bea stellte das Glas auf ein vorübereilendes Tablett und sagte halblaut: »Achtung, der Skorpion!« Eva umarmte zuerst mich, dann Bea. Ich war wieder einmal überrascht, wie gut sie aussah. Sie ist zwei Jahre jünger als Alexandra und mit ihrem Chefposten bei Vamp wahrscheinlich am Ziel ihrer Wünsche. Eva mit ihrer teuren, aber zusammenhanglosen Kleidung, mit ihren konservativen, aber toleranten Ansichten. Eva und die Zeitschrift Vamp, das ist eine Liebesbeziehung. Ihr Haarschnitt, fiel mir plötzlich auf, paßte nicht recht. Dennis hatte ihr zuletzt einen knabenhaften Schnitt verpaßt, den sie jetzt, anders als vorgesehen, mit einem Seitenscheitel trug. Obwohl die Frisur tadellos saß, wurde mir klar, daß längeres Haar eher ihren Typ traf. Ich fühlte mich elend und wollte nach Hause. »Tommy, du siehst hinreißend aus, wie machst du das?« sagte Eva und legte für eine Sekunde einen Finger auf mein Grübchen im Kinn. Wir sparten uns die Floskeln zu
Alexandras Tod. Sie wandte sich an Bea: »Was für eine raffinierte Bluse!« Bea berichtete ungefragt, daß sie die Bluse im Wechsel mit einer Freundin auf Sylt trage, ein Arrangement, das wegen der Entfernung nicht ohne Komplikationen verlaufe – dann verstummte Bea. Ich fragte Eva: »Was wird jetzt?« Sie hob die Schultern. »Es ist alles ganz schrecklich. Ich muß die Redaktion beruhigen, und ich leite das Ressort jetzt auch noch, bis wir es neu besetzen. Aber das ist meine geringste Sorge.« Sie trat einen Schritt näher. »Ich mache mir Sorgen um Alexandras Sohn. Wer kümmert sich um den Jungen?« »Der Vater vermutlich.« Eva ging nicht darauf ein. »Ich hoffe, Claudia Koch wird ein Auge auf ihn haben, schließlich war sie die beste Freundin von Alexandra und wohnt im selben Haus. Claudia hat dafür die volle Unterstützung der Redaktion. Das sind wir Alexandra schuldig.« Frauen wie Eva gibt es in der Branche wenig. Sie ist tatkräftig und solidarisch – Eigenschaften, die sie auch von ihren Mitarbeiterinnen erwartet. Mir gefällt das. »Kennst du Barbara Kramer-Pech?« fragte Eva. »Meine Assistentin. – Barbara, das ist Tomas Prinz, unser aller Frisör.« Ich schüttelte ihre Hand, sie war kalt. »Wir kennen uns vom Telefon.« Ich schätzte die Frau auf Mitte Dreißig. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem Knoten geschlungen, was ihr rundes, weiches Gesicht betonte. Ich wollte etwas zu ihr sagen, aber der schweißüberströmte Herr am anderen Ende des Saals bat um Aufmerksamkeit. Die Künstlerin an seiner Seite lächelte erwartungsfroh. Widerwillig verstummte das Gemurmel. Während der Mann programmgemäß die einleitenden Worte sprach, sahen sich die Gäste verstohlen um. Ich hörte nicht zu. Vor vierundzwanzig Stunden war Alexandra noch bei mir im
Salon gewesen, höchst lebendig. Jetzt akzeptierten die Menschen ihren Tod bereits als Tatsache. Eva übernahm ihren Job, Holger verkaufte ihr Auto, und die Kommissarin hatte keine Spur. »Wir sind alle wie im Schock«, hörte ich Bea leise zu zwei Frauen sagen, die wie Schwestern nebeneinander standen und ihre Handtaschen am Henkel baumeln ließen. Die eine hatte einen soliden rotbraunen Pagenkopf, die andere war raffiniert goldbraun gefärbt. Bea schien sie zu kennen, vielleicht waren es unsere Kundinnen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich zu unserer Gruppe gesellten, ließ darauf schließen, daß sie ebenfalls zur Vamp-Redaktion gehörten. Bea flüsterte ihnen zu: »Ist es nicht, als ob Alexandra gleich hier auftauchen müßte? Ist es nicht so?« Die Goldbraune verzog den Mund, wie man es tut, wenn man lächeln will, Bea ging ihr anscheinend auf die Nerven. Der Mann auf dem Podium redete von Transzendenz und Wirklichkeit. Bea war hartnäckig: »Alexandra war so lebenslustig!« »Lebenslustig? So kann man es auch nennen«, entfuhr es dem rotbraunen Pagenkopf, eine Spur zu laut. »Ich würde sie eher selbstsüchtig nennen.« Die Goldbraune lachte leise. Die Lippen von Barbara Kramer-Pech waren nur noch ein Strich. »Ihr kennt sie besser, ihr habt schließlich mit Alexandra zusammengearbeitet.« Bea gab sich verständnisvoll. »Allerdings!« Einige Menschen blickten sich irritiert um, der rotbraune Pagenkopf senkte die Stimme. »Und der Umgang mit ihr war nicht immer leicht, das kann ich dir flüstern.« »Alexandra verstand zu leben«, sagte die Goldbraune versöhnlich. »Bei ihrer Geburtstagsparty vergangenen Monat, in diesem Palazzo in Venedig, wäre ich auch gern dabeigewesen.« »Wer wäre das nicht!« antwortete der Pagenkopf.
»Die Feier war bestimmt sehr schön«, sagte Bea. Unsere Blicke trafen sich für einen Moment. »Ich frage mich nur«, bemerkte die Rotbraune, »wie sie sich das Ganze hat leisten können: die Villa, die Gäste, feines Büffet, Champagner für alle.« Wir nippten am lauwarmen Wein. »Man soll den Toten nichts Schlechtes nachsagen«, sagte die Goldbraune. »Ich wünschte, ich könnte etwas Gutes über sie sagen!« Glas zersprang klirrend auf dem Marmorfußboden. Barbara Kramer-Pech hatte ihren Sektkelch fallen lassen. »Es reicht!« schrie sie. Der Mann auf dem Podium unterbrach seine Rede und blickte irritiert und schwitzend ins Publikum. Köpfe drehten sich zu uns um. »Ich kann das Gerede nicht mehr hören!« Barbara schaute von einem zum anderen, ihr Teint war ganz dunkel geworden. »Gibt es hier irgend jemanden, dem Alexandra wirklich etwas bedeutet? Der hier nicht herumheuchelt oder auf ihre Kosten lästert?« Das Publikum raunte und wartete gespannt, was passieren würde. Die Rot- und die Goldbraune hielten den Mund. Eva faßte den Arm ihrer Assistentin, aber die schüttelte sie ab. »Wenn Alexandra sich wenigstens verteidigen könnte!« rief sie und rannte zum Ausgang. Das Publikum machte Platz – neugierig, aber auch respektvoll, manche peinlich berührt. Der Mann am Mikrophon räusperte sich, bevor er ansetzte, endlich die Schlußsätze zu sprechen. Eva sagte leise zu mir: »Hättest du in den nächsten Tagen mal Zeit, in die Redaktion zu kommen? Ich würde gern etwas mit dir besprechen.« »Natürlich, ich rufe dich an.«
Sie nickte und ging in Richtung Ausgang. Ich sah gerade noch, wie auch der Mann mit der Adlernase seine Begleiterin eilig zur Tür schob.
Zu Hause warf ich den Ausstellungskatalog und die Taxiquittung auf den Tisch. Das Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte nervös: vier Nachrichten. Ich schaltete auf Lautsprecher und wartete auf Aljoschas Stimme. Statt dessen hallte Mamas Stimme durch den Raum, geschäftsmäßig, als ob sie mit einem Lieferanten sprechen würde. Sie bat um Rückruf. Ich fluchte laut, riß die Fenster auf und streifte Hemd und Hose ab, als wäre ich am Strand. Es war unerträglich warm in der Wohnung. Nachricht Nummer zwei. Aufgelegt. Neben dem Telefon lag die Post. Ich ging zum Pinkeln ins Bad, ließ die Tür offen. Aus dem Lautsprecher des Anrufbeantworters tönte ein Geräusch, es klang wie ein Räuspern. Dann: »Herr Prinz, ich muß…« Knacken. Aufgelegt. Als hätte die Anruferin – es war wohl die Stimme einer Frau – etwas sagen wollen und es sich plötzlich anders überlegt. Oder war sie gestört worden? Ich zog die Klospülung, lief zurück zum Apparat und schaltete auf Wiederholung. Das Räuspern. Oder war es ein anderes Geräusch? »Herr Prinz, ich muß…« Ende. Kannte ich die Stimme? Anruf Nummer vier. Stille, die mir lang vorkam, aufgelegt. Hatte da jemand geatmet? Ratlos hockte ich vor dem Kasten. Gewöhnlich kenne ich die Menschen, die darauf sprechen. Wenn ich nach Hause komme, will ich zuerst wissen, wie viele Nachrichten auf dem Band sind, als wäre es ein Indikator dafür, wie beliebt und wichtig ich bin. Aber Anrufbeantworter können auch frustrieren. Wenn der Geliebte sich nicht meldet,
wenn überhaupt niemand sich rührt oder, was das Schlimmste ist, wenn der Anrufer, wie jetzt, einfach auflegt. Aus der Küche holte ich eine Karaffe Wasser, Pernod und Eiswürfel, der Terrazzo unter den bloßen Füßen war angenehm kühl. Ich griff zum Telefon und wählte Moskau, dreizehn Ziffern auswendig, um Aljoscha endlich von den Ereignissen der vergangenen beiden Tage zu erzählen. Ich hörte das Knacken in der Leitung, die Verbindung baute sich auf, dann das Tuten, tausend Kilometer entfernt. Der Telefonapparat dort steht auf einem kleinen Tischchen, gleich neben dem Diwan. Als ich Aljoscha das erste Mal in Moskau besucht hatte, fühlte ich mich fremd, wie sonst nur auf Hochzeiten. Vom Zentrum, Roter Platz, fuhren wir fast eine Stunde mit der Metro, Aljoscha wollte nicht, daß wir ein Taxi nahmen. Mit Tempo raste die Bahn durch den Untergrund. Ich war gestreßt von den näselnden, stereotypen Lautsprecheransagen, die ich nicht verstand, vom Lärm der Türen, die beim Schließen mit Wucht aufeinanderprallen, war deprimiert von den Menschen, die mit verschlossenen Mienen und riesigen Taschen die stickigen Wagen füllen. Als wir wieder ans Tageslicht kamen, wurden mir zum ersten Mal die Ausmaße der 9-MillionenStadt bewußt. Es war friedlich. Alte Leute verkauften am Ausgang der Metro Blumen und Zigaretten, Händler boten Blusen und Melonen an. Aljoscha achtete nicht auf sie, wir folgten dem Strom der Menschen und bogen auf einen Trampelpfad ein, der über eine braune Rasenfläche voller Mückenschwärme führte. Wir wanderten in eine Hochhaussiedlung hinein. Ich hielt Aljoscha am Ärmel fest. »Laß uns umkehren. Ich mag diese Gegend nicht«, sagte ich. »Es ist nicht dieser Korpus, sondern der nächste. Du kannst das Haus noch gar nicht erkennen.« »Laß uns zurück in die Stadt fahren«, sagte ich. »Dieses Viertel – es gruselt mich.«
»Ich bin hier aufgewachsen.« »Aber doch nur bis zu deinem zwölften Lebensjahr.« Aljoscha antwortete nicht. Er ging voraus und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Wir gingen durch eine Eisentür in eine niedrige Eingangshalle, wo verlassen eine demolierte Bude stand, in der zu früheren Zeiten wahrscheinlich ein Portier gesessen hatte, stiegen in einen klapprigen Fahrstuhl, der sich in dem Moment, in dem Aljoscha den Knopf drückte, in Bewegung setzte. Die Knöpfe waren abgenutzt, Zahlen nicht zu erkennen. In der Wohnung lag eine alte Frau auf dem Sofa, ein Radio auf dem Ohr, aus dem leise klassische Musik rieselte. Aljoscha schrie: »Babuschka! Das ist Tomas! Aus Deutschland! Ich habe dir von ihm erzählt!« Die Großmutter hob den Kopf und sah mich an. Ich hatte keine Ahnung gehabt, daß Aljoscha mit seiner Großmutter zusammenwohnt. Ich gab ihr die Hand. Blumen hatte ich keine mitgebracht. Während Aljoscha Tee bereitete, sah ich von hoch oben durch das Fliegengitter in die Hochhauslandschaft. Moskau ist von Sumpf umgeben. Zwischen den Hochhäusern standen flache Blechbehälter ohne Ordnung, als hätte jemand Fischdosen ausgestreut. In eine dieser Dosen parkte jemand millimetergenau sein Auto, stieg aus, zog das Garagendach wie eine Haube über den Lada. Aljoscha rührte Marmelade in den Tee, der dunkel wurde wie Moorwasser. Die Großmutter erhob sich vom Diwan, schlurfte auf mich zu, zeigte zur Decke. Mücken saßen dort, und Farbe blätterte ab. Die Großmutter fragte plötzlich auf deutsch: »Die Diele?« Aljoscha strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und blickte seine Großmutter interessiert an. Er wußte, wie er mir
später erzählte, daß sie im Krieg Deutsch gelernt hatte, hatte sie aber noch nie in der fremden Sprache sprechen hören. Die alte Frau zeigte auf den Fußboden. »Die Decke?« »Nein, umgekehrt!« Ich verstand jetzt. Sie kam näher, mit dem Ohr ganz dicht an meinen Mund. Ich zeigte nach oben und schrie: »Die Decke«, nach unten: »Die Diele.« Die Großmutter nickte, sank schwer auf den Diwan zurück und bettete sich wieder auf ihr Radio. Aljoscha erzählte mir später, daß sie ihr bestes Kleid angezogen hatte. Ich lauschte dem Freizeichen. Jetzt heb schon ab. Wo steckte der Kerl bloß? Es war Freitag nacht. Aljoschas Großmutter war schwerhörig, ob sie abhob, Glückssache. Wenn sie ein undeutliches »Hallo« sagte, sprach ich Deutsch, sie wußte dann Bescheid. Ich legte auf und wählte die Nummer der Galerie Katharina Nikolskaya, wo Aljoscha arbeitete und wenigstens ein Anrufbeantworter geschaltet ist. Ich wartete den Piepton ab und sagte auf russisch: »Hier ist der Frisör.« Frisör heißt auf russisch »Parik-macher« – Perückenmacher –, das Wort gefällt mir. Zu schönen Formulierungen reichen meine Kenntnisse nicht, obwohl einmal in der Woche eine russische Ärztin kommt, um mir das System der sechs Fälle, zwei Verbalaspekte und der hunderttausend Präfixe nahezubringen – geduldig und ohne sich von meinen Ablenkungsmanövern aus der Ruhe bringen zu lassen. Lustlos blätterte ich im Katalog mit den Fotos der Künstlerin. Aljoscha könnte die Qualität beurteilen. In der Ausstellung hatten die Arbeiten besser gewirkt. Ich dachte an Barbara Kramer-Pech, ihr Auftritt hatte mich beeindruckt. Meine Güte, aber das Gerede der Kolleginnen war schwer zu verdauen! Und Eva? Was wollte sie so dringend mit mir besprechen? Wußte sie etwas? Ich sehnte Aljoscha herbei und wollte ihm endlich von dem Mord erzählen, der mich mehr beschäftigte, als ich bisher
wahrhaben wollte. Er würde geduldig zuhören und dann wahrscheinlich mit seiner sanften Stimme fragen: Tomas, was geht dich das eigentlich an? Das Telefon klingelte. Ich nahm sofort ab. »Na endlich, mein Schatz.« »Hallo, Mama!« Ich versuchte erst gar nicht, meine Enttäuschung zu verbergen. »Ich wünschte, du hättest ein Mobiltelefon. Wir haben alle eines. Deine Schwester auch. Sogar die Bergs.« Ich fragte mich, warum Mamas Angestellte, das Ehepaar Berg, ein Mobiltelefon brauchten, als Mutter ungefragt antwortete: »Damit ich sie erreiche, wenn sie unten im Garten sind.« »Kerstin hat ihres verloren und fühlt sich seitdem wie neugeboren. Unerreichbar und neugeboren«, sagte ich. »Wer ist Kerstin?« »Sie arbeitet seit zwei Jahren bei mir.« Mama seufzte. »Ich brauche deine Unterschrift.« »Wofür?« »Ich kaufe eine Fabrik.« »Du kaufst eine Fabrik«, wiederholte ich. »Laß mich raten – eine Kleiderfabrik, in Tschechien?« »Nein, mein Junge. Eine Bonbonfabrik. In der Altmark.« »Das glaube ich nicht.« »Die Bilanzen sind hervorragend.« »Eine Bonbonfabrik! Was willst du damit? Was soll das?« »Sprich nicht so mit deiner Mutter.« »Papa wäre bestimmt dagegen.« »Papa ist tot.« »Du solltest dich auf den Textilbereich konzentrieren, auf das, wovon du etwas verstehst.« »Ich mag nun mal, wenn etwas produziert wird. Etwas, das man benutzen kann. Dumm ist, daß die Bonbons
aneinanderkleben, man muß die Dose immer schütteln, bevor man sie öffnet. Das muß man ändern. Man muß die Rezeptur verändern.« »Schick mir wenigstens die Unterlagen, damit Stephan sie prüfen kann.« »Die Unterlagen sind schon unterwegs. Sie sind tipptopp. Berg hat den Flug gebucht, ich komme am Montag.« »Mama!« »Was ist los? Hast du einen schönen Abend, da oben in München? Ich sitze hier auf der Terrasse, und vom See weht ein laues Lüftchen, es ist herrlich.« »Mama, ich bin müde.« »Ich küsse dich.« »Ich dich auch.« Ich wollte schon auflegen, als Mutter im letzten Moment fragte: »Tomas?« »Ja?« »Weißt du, wo die Altmark ist?« »Irgendwo hier in Deutschland. Mehr im Norden, glaube ich.« Ich ging schlafen. Agnes hatte mein Bett frisch bezogen. Ich rutschte unter den leichten Bezug auf das glatte Laken. Die Kirchturmuhr schlug zwei Uhr. Mama ist ein Nachtmensch. Ich war aufgedreht. Gleich Montag würde ich Eva anrufen und mit ihr einen Termin vereinbaren. Bis dahin waren es noch drei Tage, das ganze verflixte Wochenende lag vor mir. Ich mag diese freien Tage nicht, wenn die Stadt sich leert, die Paare an den Ammersee oder zum ›Bierbichler‹ fahren – Münchner Freizeitstreß. Ich fühlte mich allein. Ich wollte Alexandras Zimmer in der Redaktion sehen, wenn möglich, mit Claudia Koch sprechen. Ich wollte mit jemandem über Alexandra reden. Ich drehte mich auf den Rücken. Wenn Aljoscha hier wäre, würden wir nicht reden, an nichts mehr denken. Warum
meldete er sich nicht? Ich war erregt, meine Hände wanderten abwärts. Ich schloß die Augen und atmete tief.
7
»Und gestern haben wir den Staubsaugerbeutel mit Alexandras Haaren geleert. Das war’s.« Ich setzte mich zu Stephan auf die Steine der Isar und schaute mich in der öden Landschaft um. Das Wasser hatte sich endgültig aus der Stadt zurückgezogen und einer ausgetrockneten Wüste Platz gemacht. Stephan trug nagelneue Joggingschuhe. Solche hatte ich noch nie an ihm gesehen, mit Luftkammern, Seitenaufprallschutz, schnittigen Applikationen, die im Sonnenlicht metallisch glänzten, wie zwei kleine Rennwagen. Meine Laufschuhe aus Stoff sahen dagegen alt und abgetragen aus. Ich war plötzlich sehr müde. Die Sonne brannte mir auf den Schädel, dimmte das Hirn und drückte mit unsichtbarer Kraft auf die Augenlider, als hätte ich Betäubungsmittel geschluckt. Gab es keinen Platz im Schatten, oder war ich zu faul, danach zu suchen? Was sollte das alles? Ich wollte nicht mehr denken. »Alexandra Kaspari?« fragte Stephan plötzlich. »Die war doch kürzlich erst bei mir.« »Wie bitte?« Mein Hirn sprang wieder an. »So eine Brünette, Hübsche, mit dunklen Augen. Sie kam auf deine Empfehlung!« »Das ist völlig richtig. Aber warum erzählst du mir das erst jetzt?« »Warum? Warum? Ich konnte doch nicht ahnen, daß die Kaspari ermordet wird. Und du hast mir nichts gesagt, nicht mal am Donnerstag im ›Dukatz‹, als der Mord noch ganz frisch war.« »Was wollte Alexandra denn?«
»Darüber darf ein Anwalt mit Außenstehenden nicht sprechen.« »Jetzt sei nicht doof. Ein Frisör ist kein Außenstehender. Außerdem kam sie auf meine Empfehlung zu dir.« »Die Frau war völlig am Ende. Es ging um ihren Sohn und das Sorgerecht. Sie wollte die Scheidung.« »Hatte sie Angst vor Holger?« »Anscheinend.« »Sonst hätte sie dich doch nicht konsultiert!« »Das kann man so sehen.« »Jetzt drück dich doch mal klar aus, Stephan!« »Ihr Mann hatte gedroht, ihr das Sorgerecht streitig zu machen, das Übliche. Ich sollte ihr sagen, ob sie die Drohung ernst nehmen müßte. Es hat sie sehr aufgeregt.« »Und?« »Es ist nicht einfach für einen Vater, das Sorgerecht zu bekommen. Da müssen der Mutter schon massive Verfehlungen nachgewiesen werden.« »Verletzung der Aufsichtspflicht und solche Dinge?« »Ja, so etwas.« Stephan klopfte sich auf die Schenkel und stand auf. »Wollen wir weiter? Ich bekomme in der Sonne noch einen Dachschaden.« »Alexandra hatte einen Full-time-Job«, sagte ich, »war viel unterwegs, Kai ziemlich oft auf sich allein gestellt.« »Das ist noch kein Grund für einen Richter, der Mutter das Sorgerecht abzusprechen. Ich wette, sie hat mir bei dem Termin nicht alles gesagt. Sie wollte nur mal die rechtliche Lage checken.« »Alexandra hatte wechselnde Männerbekanntschaften.« »Das zeugt natürlich von einem unsoliden Lebenswandel. Aber da müßte man ihr erst einmal nachweisen, daß der Lebenswandel zur Vernachlässigung des Kindes führte.« »Dumm ist nur, daß der Junge Drogenprobleme hat.«
»Was?« »Naja, das kennt man doch in dem Alter. Aber Holgers Drohung muß für Alexandra eine Kampfansage gewesen sein. Denn eines ist klar: Ihren Sohn hätte sie um keinen Preis der Welt hergegeben.« »Tom, woher weißt du das eigentlich alles? Und wieso interessiert dich das so?« »Alexandra war nicht nur meine Kundin, ich mochte sie! Der Mord ist mir nicht egal. Wie könnte er!« »Und jetzt suchst du den Mörder? Du spinnst ja. Überlaß das besser der Polizei. Gib deine Informationen an die Kripo weiter, und spiel nicht Detektiv. Mal abgesehen davon, daß das gefährlich werden kann. Du bist Frisör. Konzentrier dich auf das, wovon du etwas verstehst.« »Diesen Satz habe ich gerade zu Mama gesagt.« »Und?« »Im selben Moment wußte ich, daß sie sich nicht daran halten wird.« Als ich im Taxi davonfuhr, sah ich noch, wie Stephan sich in der Eckkneipe, an der Wittelsbacher Brücke, im Schatten einer Kastanie niederließ. »Wohin soll’s gehen?« fragte der Taxifahrer. Ich überlegte. Nach Hause wollte ich nicht. Ins ›Iwan‹ erst recht nicht. Ich nannte dem Fahrer die Adresse meiner Schwester. Sie wohnt in Nord-Schwabing. Nette Gegend, ein bißchen langweilig, aber mit viel Grün und gerade richtig für Familien mit Kindern. Ohne zu klingeln, drückte ich das Tor auf, vier Fahrräder lehnten im Hausflur, zwei große, zwei kleine, Familie Seidlein war anscheinend vollzählig. Ich trat in den Garten, eine Rasenfläche mit Bäumen, an jeder Ecke steht eine Wäschespinne für die Hausgemeinschaft. Die Kinder, Anna und Jonas, hantierten mit Plastikformen nackig in der
Sandkiste, mein Schwager, Christopher, saß am Planschbecken und schmökerte in einer seiner Computerzeitschriften. »Jonas!« rief ich. »Anna!« Der Fünfjährige sprang hoch und lief mir in die Arme. Seine Haut war feucht, das Haar ganz sandig. Anna, sie wurde kürzlich drei, grub weiter. »Wo ist Regula?« fragte ich und gab meinem Schwager die Hand. Christophers Füße schimmerten porzellanweiß im Wasser. »Oben«, sagte er und wies mit der Zeitschrift hinauf in den zweiten Stock. »Soll ich sie dir holen?« Christopher pfiff die Satzmelodie »Regula-komm-runter«. Christopher war in den Augen meiner Mutter ein Versager, außerstande, seine Familie zu ernähren. Er hütet die Kinder und führt ein zweites Leben im Internet, wo er Orangenpressen, Bohrmaschinen, Fahrräder, alles mögliche Zeug, ersteigert, manchmal benutzt und wieder versteigert. Den Zeitpunkt, wo er als Programmierer hätte Karriere machen können, hat Christopher verpaßt. Er ist nicht ehrgeizig. Regula verdient den Lebensunterhalt als Bibliothekarin. »Tom!« Regula trug Shorts und ihr schwarzes Haar offen, an Schnürsenkeln ließ sie zwei Paar Inlineskates baumeln. »Du kommst wie gerufen.« Wir umarmten uns. »Ich wollte immer mal auf solchen Dingern laufen«, sagte ich. »Die hat Christopher im Netz ersteigert.« Regula ließ die Skates ins Gras fallen. Ich nahm eine Bürste, die auf dem Gartentisch lag, und begann, Regulas Haar vom Scheitel her durchzukämmen. Ihr Haar ist von der gleichen Farbe wie meines, nur viel weicher, besonders seit sie mein Glätteisen benutzt, eine Art Bügeleisen für die Haare. Wie bei mir ist Regulas Mund zu groß, aber an ihr mag ich diesen Schönheitsfehler.
»Mama kommt«, sagte Regula. »Ich weiß.« »Und was hältst du von ihrem neuesten Projekt?« »Die Bonbonfabrik?« »Bonbons?« fragte Jonas. »Ja, mein Kleiner«, sagte Regula, »deine Großmutter kauft eine Bonbonfabrik, eine ganze große Fabrik, voll mit bunten Bonbons, rote, gelbe, grüne – alle Farben, die du dir vorstellen kannst.« Sie gab Jonas einen Klaps. »Holst du Mama ab?« fragte sie mich. »Na klar.« »Ich kann mir unmöglich frei nehmen. Wir machen in der Bibliothek Revision.« »Oje.« »All die verstellten Bücher, vieles ist geklaut. Es ist traurig. Manche Benutzer verstellen das Buch absichtlich, damit niemand es findet. Es ist die reinste Detektivarbeit. Wir suchen die Nadeln im Heuhaufen.« Regula liebt ihre Arbeit und die Bücher. »Man bräuchte einen Scanner«, sagte sie, »mit dem man die Regale abgeht und die Buchrücken scannt. Das System müßte jedesmal Alarm schlagen, wenn ein Buch nicht dort steht, wo es hingehört. Ich wäre eine Art Bücherpolizist.« »Vielleicht ließe sich solch ein Gerät auch auf Menschen übertragen. Immer, wenn jemand dir Müll erzählt, piept es.« Regula schüttelte ihr Haar und begann, die Inlineskates anzuziehen. »Und du, Tomas? Was machst du?« »Leute scannen.« »Du meinst frisieren? Ich habe von einem Mord gelesen. Eine Frau, die zum Frisör ging und danach brutal umgebracht wurde. Ich habe an dich gedacht.«
»Ich suche auch die Stecknadel im Heuhaufen. Ich scanne Leute und hoffe, daß mein inneres System Alarm schlägt, wenn etwas faul ist.« Regula stand auf. Sie rollte ein Stück auf ihren Skatern, hielt sich an meinen Schultern fest. »Paßt du ein Stündchen auf die Kleinen auf? Erzähl ihnen deine Geschichte von diesem merkwürdigen Wesen, das sich nicht die Haare schneiden lassen will, diesem Lockenmonster. Sie fragen ständig, wie die Story weitergeht.« »Ich laß mir etwas einfallen.« »Übrigens: Jonas hat dem Jungen im Kindergarten endlich eins auf die Mütze gegeben. Er wehrt sich jetzt. Eine Zeitlang hatte ich schon das Gefühl, er wird wie du.« Regula und Christopher rollten aus dem Hof. »Habt ihr keine Knieschützer?« rief ich. Das Tor fiel hinter ihnen ins Schloß. Jonas streute Sand auf meine Schuhe. Anna pullerte in ihr selbstgebuddeltes Loch, und ich begann die Geschichte zu erzählen von dem Monster mit dem filzigen Haarschopf, in dessen Dickicht noch ganz andere Lebewesen hausen.
Als ich am Abend nach Hause kam, duschte ich, ließ das Wasser auf der Haut trocknen, als käme ich aus dem Meer, fiel auf die Liege. Noch glühte draußen am Himmel das letzte Tageslicht, aber die Laternen auf der Hans-Sachs-Straße leuchteten schon schwach. Morgen war Montag, eine neue Woche begann. Lag etwas Besonderes an? Wahrscheinlich ein Treffen mit Eva Schwarz. Dann der Besuch von Mama. Und im Salon? Ich mußte mit Dennis über seine Gehaltserhöhung reden. Vor ein paar Tagen hatte er angeklopft. Aber wer mehr Geld will, muß auch mehr umsetzen, zum Haarschnitt mal ein Make-up verkaufen, mehr Engagement zeigen. Dennis hat
Talent, keine Frage, aber er ruht sich gern auf seinen Lorbeeren aus. Ich schaltete den Fernseher ein. Blaues Licht und blecherner Ton. Ein cooler Kommissar und sein naiver Gehilfe suchten einen Mörder, beide hatten keinen blassen Schimmer. Für ein paar Minuten ließ ich mich von der Handlung einfangen. Das Motiv konnte Eifersucht sein. Vielleicht Habgier. Gibt es überhaupt ein anderes Motiv? Ich ging in die Küche, holte mir eine Flasche Chablis aus dem Kühlschrank, kramte in der Besteckschublade und überlegte: Was maßte ich mir da eigentlich an? Stephan hatte recht: Ich bin doch kein Detektiv. Ich fand den Korkenzieher auf dem Schrank zwischen den Gewürzen und öffnete die Flasche. Vor Jahren hatte ich an einem Abend im ›Arosa‹ den Trick gelernt, einen Kronkorken mit dem Feuerzeug zu öffnen. Frisöre, meint Kim, sind für die Feuerzeug-Technik prädestiniert, denn unser Daumen ist durch das Scherehalten besonders kräftig ausgebildet. Das Telefon sang seine einfältige Melodie. »Tomas Prinz«, meldete ich mich. Ich hörte Nebengeräusche, jemand atmete. »Hallo? Aljoscha?« Weg. Dann eben nicht. Es war kurz nach zehn, der Krimi vorbei, ich hatte die Auflösung verpaßt. Die Frisur der Talkshow-Moderatorin sah fürchterlich aus! Ein Nest aus Strähnen und Haarspray. Ich mag keine Haarschnitte, die genial sein wollen, dabei aber nur ungenau sind. Ich bin ein Verfechter des perfekten Schnittes. Welcher Frisör hatte dieses Desaster angerichtet? Das Gequassel war unerträglich. Ich schaltete ab.
8
»Chefredaktion Vamp. Guten Morgen.« Die Stimme von Barbara Kramer-Pech. War das möglich! »Hallo? Sind Sie noch dran?« Die Stimme klang fordernd, aber auch ein wenig brüchig, wie auf dem Band. Barbara Kramer-Pech war die anonyme Stimme auf meinem Anrufbeantworter. Ganz sicher. »Hallo«, sagte ich und dachte: Warum hatte ich nicht schon viel früher geschaltet? Ich räusperte mich. »Eva Schwarz wollte mich sprechen. Ich will den Termin vereinbaren. Hier ist Tomas Prinz.« »Oh, Sie sind es, Herr Prinz.« Barbara klang jetzt sehr höflich. »Eva ist in einer Konferenz. Worum geht es – ich nehme an, um das Weihnachtsheft?« »Ich weiß es nicht.« »Herr Prinz, ich sehe gerade im Kalender: Sie sind um elf Uhr dreißig mit Eva verabredet. Heute.« »Wie? Davon wußte ich nichts.« »Habe ich vergessen, Sie anzurufen? Das tut mir leid. Wir sind alle noch etwas durcheinander.« »Ich verstehe. Ich werde pünktlich sein.« »Danke, und nichts für ungut!« Ich spielte sofort die Nachricht auf dem Anrufbeantworter ab. Kein Zweifel. Ich lief hinunter in den Salon und machte Bea ein Zeichen: Komm in die Küche! »Das war ihre Stimme. Ich habe dir doch davon erzählt. Seltsam, was? Vielleicht weiß sie etwas über den Mord«, sagte ich. »Barbara Kramer-Pech weiß bestimmt etwas. Ich werde es gleich erfahren.«
»Fährst du in die Redaktion?« »In einer Stunde.« »Ich fahr dich hin. Tom, sei vorsichtig.« »Es wird mir schon niemand den Schädel einschlagen.« Kurze Zeit später stiegen wir in Beas verrosteten Renault. Auf der Rückbank lag, wie immer, der Golfschläger. Bea stellte eine Tüte aus dem Salon hinter den Sitz. »Ein paar Kleinigkeiten für Eva Schwarz. Damit du nicht mit leeren Händen kommst.« Sie startete den alten Motor und machte beim Ausparken einen langen Hals. Ich mag das Auto, es gehört zu Bea wie ihre wechselnden Haarfarben. »Erinnerst du dich an unsere erste gemeinsame Autofahrt?« fragte ich. »Das war auf Sylt. Du hattest mich für eine Schulung gebucht und mit diesem Auto vom Bahnhof abgeholt. Erinnerst du dich? Damals hattest du noch deinen eigenen Salon und warst mit Ehemann Nummer vier verheiratet.« »Werd bitte nicht sentimental. Es hatte geregnet, und die Scheibenwischer waren defekt.« Bea steuerte die alte Kiste souverän Richtung Bogenhausen, zum Rosenkavalierplatz. »Ich habe dein Horoskop gelesen.« »Paß auf den Radfahrer auf!« »Für einen Wassermann wie dich ist jetzt die beste Zeit, mit dem Partner die Zukunft zu planen.« »Schön wär’s. Aljoscha habe ich seit Tagen nicht erreicht, er ruft nicht zurück. Obwohl ich ihm eine Nachricht hinterlassen habe, sogar auf russisch.« »Toll, daß du dich mit Aljoscha in seiner Muttersprache unterhalten kannst.« Bea wechselte auf die linke Spur. Ich ließ meinen Arm aus dem Fenster baumeln und dachte an meine russischen Worte: Hier ist der Frisör.
»Und was sagen die Sterne über dich?« fragte ich. »Ich finde, du brauchst mal wieder einen Typen.« »Ich kümmere mich«, sagte Bea. »Und wie? Du kannst ja nicht einfach in die Isarauen gehen. Oder in die Sauna. Wo am Wochenende vermutlich auch nichts los war. Alle sind weg, in den Ferien.« »Ich war im Internet, in einem Portal für Heiratswillige.« »Mußt du denn immer gleich heiraten?« »Man muß dem Schicksal auf die Sprünge helfen. Das hat Ehemann Nummer vier auch immer gesagt.« Ich betrachtete Bea von der Seite. Ehemann Nummer vier hatte damals im Lotto gewonnen. Sechs Kreuzchen brachten die Veränderung, die Villa, den Jaguar, die beheizte Garage, den Golfclub. Es war ein Leben in Luxus, bis Bea bei mir im Salon stand, mit zwei Koffern, die der Ehemann zuvor nach Silberlöffeln durchsucht hatte. Bea wohnt jetzt in Haidhausen unterm Dach. Ob sie manchmal ihr Leben auf Sylt vermißt? Bea bremste, wie immer sanft, um mich nicht zu erschrecken. Das Verlagshaus, ein Spiegelklotz, nicht zu vergleichen mit den schönen Gründerzeitfassaden im Glockenbachviertel, meiner Gegend. Hier hatte Alexandra Tag für Tag gearbeitet. Die Ärmste. »Danke, daß du Taxi für mich gespielt hast.« Ich zögerte. »Weißt du eigentlich noch, was du damals auf Sylt, in deinem Salon, zum Abschied zu mir gesagt hast?« »Nein.« »Du hast gesagt: Das Schönste ist, wenn sich mit der Farbe dieser ganz besondere Glanz über die Haare legt. Kannst du dich erinnern?« »Darauf hast du gefragt: Willst du meine Farbstylistin werden?« Ich küßte Bea auf die Wange, griff hinter den Sitz nach der Tüte und stieg aus. Auf der Treppe drehte ich mich noch
einmal um und winkte, aber Bea hatte sich schon in den Verkehr eingefädelt. Ich sah von hinten das Nummernschild: »B-EA«. Dafür hatte sie das Auto extra in Berlin angemeldet.
Lautlos öffnete sich die gläserne Schiebetür. In der Eingangshalle war alles graublau, Marmor von der Farbe und Maserung wie die Frühstücksbrettchen bei Stephan. Auf einer Übersichtstafel standen die Namen mehrerer Magazine. Ich fragte den Portier nach dem Weg. »Vier«, sagte der Uniformierte. Aus dem Fahrstuhl stieg eine Gruppe von Frauen, sie stöckelten an mir vorbei »wie Flamingos«, würde Aljoscha sagen. Drinnen stand eine süße Wolke aus Deodorant und vielen Sorten Parfüm. Ich hielt die Luft an. Der Fahrstuhl hob ab, das Licht schmeichelte dem Spiegelbild noch mehr als bei mir im Salon. Die silbernen Türen öffneten sich wieder, und ich landete direkt vor einem Empfangstresen, hinter dem eine Frau lächelte, als hätte sie die ganze Zeit auf mich gewartet. Die Temperatur stürzte um mindestens fünf Grad. Eine dieser gräßlichen Klimaanlagen. »Zu Eva Schwarz, ich bin Tomas Prinz«, sagte ich. Die Blonde hob einen Hörer, drückte zwei Tasten und gab leise ein paar schmeichelnde Laute von sich, die ich nicht verstand. Wahrscheinlich kündigte sie im Vorzimmer bei Barbara Kramer-Pech mein Kommen an. Ich folgte ihr durch einen fensterlosen Flur, vorbei an offenen Türen. Eine Frau stand am Kopierer, beide Hände auf die Glasfläche gepreßt, sie beachtete uns nicht. Es war merkwürdig still. War das immer so, oder war es der Schock? Hatte der Mord an Alexandra alle gelähmt? Die Blonde machte mir nicht den Eindruck, als ob man sie das fragen könnte.
Eva saß auf einem Stuhl mitten im Raum und schaute die Wand an. Dort hingen in einer langen Reihe die verkleinerten Seiten der nächsten Vamp-Ausgabe, Minis werden die genannt. Davor standen drei Redakteurinnen, grazile Gestalten, gut frisiert. »Schön, daß du gekommen bist, Tommy«, sagte Eva, ohne den Blick von den Minis zu wenden. »Nimm bitte Platz, ich bin gleich soweit. Meine Damen! Die Beauty ist mir zu farblos und die Reise viel zu lang. Macht mir lieber mehr Ski-Tips. Die News gehen neben der Zahnpastawerbung völlig unter. Können wir das ändern?« Die Frage war ein Befehl. In die Frauen kam Bewegung. Sie kritzelten eifrig Notizen, eine von ihnen hängte die Seiten um. Ich setzte mich in ein tiefes, weißes Ledersofa, mit Blick auf einen großen Fernseher. »Und macht mir die Wintercocktails bitte etwas bunter. Das ist doch etwas fürs Auge!« Auf Evas Schreibtisch standen der Computer und ein Strauß weißer Rosen. Neben dem teuren Füller lag das obligatorische Notizbuch mit dem Logo irgendeiner Edelmarke. Statussymbole, wie wir sie wohl alle brauchen. »Kinder, das Felltäschchen mit den Applikaturen ist süß. Wo habt ihr das aufgetrieben?« Die Vamp-Titelseiten füllten die Wand neben dem Fenster aus. Eva Schwarz ist die unangefochtene Herrscherin über ein Magazin mit stabiler Auflage. So dachte ich jedenfalls. »Noch Fragen?« Die Sitzung war beendet, und die drei Frauen huschten hinaus. Eva griff sich ein paar Hefte und setzte sich neben mich. Um ihren Körper schlängelten sich Streifen in grellem Rot, Blau und Gelb. So farbenfroh hatte ich Eva noch nie gesehen. Das Kleid war kaum knielang und mit dem Turtle-Neck-Kragen betont hochgeschlossen. Mir fiel ihre durchtrainierte Figur auf.
Sie war nervös, rückte den rosafarbenen Stein, der dekorativ auf dem Tisch lag, beiseite, schlug ein Heft auf und schob es mir hin. »Ich möchte dich etwas fragen«, fing sie an. »Wir kennen uns doch schon lange, und du bist außerdem jemand, der sich in der Branche auskennt…« Gleich würde sie anfangen zu stottern. »Also, du kanntest ja auch Alexandra gut…« Welche Branche? Die Frauenmagazine, die Frisöre? »Eva, worum geht es?« »Sieh dir mal diese Seite an. Ja, die mit den Beauty-News. Und jetzt die in den anderen Heften.« Sie schlug noch ein paar Seiten auf. »Fällt dir etwas auf?« »Nein, sieht aus wie immer.« »Ich will es dir sagen. Da ist eine Firma überproportional vertreten. Clairmont!« Fast sprach Eva das Ausrufezeichen mit. »Wenn ihr meine Produkte so prominent zeigen würdet, wäre ich ein gemachter Mann. Glück für Clairmont und diesen Monsieur… diesen Duras.« »Woher kennst du Fabrice?« »Nicht persönlich. Ich habe ihn mit dir auf der Vernissage gesehen.« »Alexandra hatte viel mit ihm zu tun. Er hat heute morgen schon angerufen.« »Klar, er will den guten Draht zu euch nicht verlieren.« »Der Draht ist mir, ehrlich gesagt, zu gut«, sagte Eva. »Wie meinst du das?« »Ich habe den Verdacht, daß Alexandra mit dem Haus Clairmont zu eng verbandelt war. Die Produkte von denen sind mir viel zu oft im Heft.« »Heißt das… ich meine, glaubst du…« Ich zögerte. »Glaubst du, da ist Geld geflossen?« Eva nickte.
»Warum hast du dann nicht eingegriffen? Du bist die Chefin!« »Ich war noch in der Beobachtungsphase. Ich wollte sicher sein, bevor ich mit ihr rede.« Ich dachte daran, daß Alexandra sich von Eva beobachtet gefühlt hatte, ›belauert‹ nannte es Alexandra. Allerdings hatte sie das auf ihre heimliche Affäre mit einem Kollegen bezogen. Oder war am Ende dieser Duras Alexandras Liebhaber gewesen? »Hältst du es denn für möglich, Tommy«, fragte Eva, »daß Alexandra bestechlich war?« »Ehrlich gesagt – ich weiß es nicht.« »Siehst du, mir geht es ähnlich.« Sie lügt, dachte ich. Eigentlich will sie mir weismachen, daß Alexandra bestechlich war. Warum? Wollte sie Alexandra schlechtmachen? Wollte sie mich auf eine falsche Fährte locken? Mein Blick fiel auf den Stein mit den scharfen Kanten. Hatte sie am Ende Alexandra mit dem Rosenquarz den Schädel zertrümmert? »Entschuldige, daß ich so direkt frage«, sagte ich, »aber warum erzählst du mir das alles?« Eva sah mich für einen Moment verblüfft an. »Weißt du, Tommy«, sagte sie, »mit dem Mord an Alexandra erscheint diese Sache in einem völlig anderen Licht. Ich befürchte, daß es einen Zusammenhang zum Mord geben könnte. Du hast Alexandra gekannt. Du kannst einschätzen, ob ich Gespenster sehe. Sehe ich Gespenster?« »Ich weiß nicht. Nein, eigentlich kann ich das nicht glauben. Andererseits: Sie war chronisch pleite. Sie liebte Luxus und konnte jeden Pfennig gebrauchen. Warum sollte sie nicht Geld von Clairmont genommen haben? Und von welchen Beträgen reden wir denn? Warum ist es so schlimm? Wir sind doch alle keine Heiligen.«
»Tommy, es geht um unsere Berufsehre als Journalisten.« »Was hat Alexandra bei dir verdient?« »Zuletzt? Neunzigtausend im Jahr. Aber ich hätte jeder Gehaltserhöhung zugestimmt. Sie war eine meiner besten Mitarbeiterinnen. Vielleicht sogar die beste. Alexandra war kreativ, steckte voller Ideen. Sieh dir das an, das kam von ihr.« Eva griff nach einem Heft, blätterte eine Seite auf und schlug mit der flachen Hand auf das Papier. WASSERFARBEN stand da in großen Lettern. Ich betrachtete die Fotostrecke. Langhaarige Models bewegten sich lasziv unter Wasser. Alles schwamm in Blau und Türkis. Sehr künstlerisch. Vielleicht würde die Arbeit sogar Aljoscha gefallen. Darunter ein Hinweis auf Clairmont. Aber es standen auch noch andere Produktnamen da. »Hast du schon eine Nachfolgerin für Alexandra?« fragte ich. Eva schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen. Ich habe Claudia jetzt gebeten, einen Nachruf auf Alexandra zu schreiben.« »Hast du mit der Polizei über deinen Verdacht gesprochen? Es wird Frau Glaser interessieren, daß Alexandra bestechlich war, daß hier vielleicht der Mörder zu suchen wäre.« »Um Gottes willen! Die Angelegenheit ist heikel und würde kein gutes Licht auf mein Blatt werfen. Auch wenn wir hier, gottlob, wohl nur von einem schwarzen Schaf sprechen.« Ich räusperte mich und gab ihr meine Tüte. »Ich habe dir ein paar Kleinigkeiten mitgebracht.« Bea hatte nur die besten und teuersten Produkte eingepackt. »Die Haarpflege aus meiner Serie, dazu das neue Duftöl. Nur ein paar Kleinigkeiten.« »Das ist sehr nett, Tommy.« Sie nahm die Produkte in die Hand. »Wir können das als Geschenktip bringen. Die Planung für das Weihnachtsheft läuft auf Hochtouren.« »Danke.« »Tommy?«
»Ja?« Ich stand auf. »Ich möchte dich bitten, die Sache mit Clairmont für dich zu behalten. Ich möchte, daß das unter uns bleibt. Ich vertraue dir, Tommy.« »Na klar«, sagte ich. »Und – Tommy?« »Ja?« »Mach etwas mit meinen Haaren. Nicht so radikal wie bei Alexandra, aber vielleicht doch etwas Neues.« »Ich denk mir etwas aus.« Im Geiste stellte ich mir vor, wie es aussehen würde, wenn Kerstin ihr Wasserwellen legte. »Eva, ich möchte das Zimmer sehen«, sagte ich. Meine Bitte schien sie nicht zu überraschen. »Die Polizei hat es gestern entsiegelt. Barbara wird dir den Weg zeigen.« Wir verabschiedeten uns voneinander, etwas kühl, wie ich fand. Im Vorzimmer schreckte Barbara Kramer-Pech hoch. »Barbara, zeigst du Tommy das Zimmer von Alexandra?« »Dann kommen Sie mal«, flüsterte sie. Ihr Gesicht schien aufgeschwemmt, ein sorgfältig aufgetragenes Make-up konnte nicht verbergen, daß sie ein Hautproblem hatte. Barbara Kramer-Pech sah müde aus. »Hier entlang, bitte.« Warum flüsterte sie? In dem dunklen Gang brannte auf einem Tisch eine Kerze. »Da sind wir.« Ein gerahmtes Foto lehnte neben einem riesigen Blumenstrauß. Alexandra lächelte spitzbübisch. Die Redaktion hatte einen Altar für die tote Kollegin errichtet. Ihr Name auf dem Schild neben der Tür war bereits eliminiert. ›Leitung Ressort Beauty‹ stand da. Barbara drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf, ohne selbst über die Schwelle zu treten. Ein kleines Zimmer, verglichen mit dem Raum von Eva Schwarz. An der Wand links hing ein Starschnitt von Prince,
an der Wand rechts ein Fotokalender, Robbie Williams im Juli, von hinten, mit blankem Arsch. Wie in einem Jugendzimmer. Ob Alexandra jemals erwachsen geworden wäre? In einem langen Regal vollgestopfte Fächer: ein paar Bücher, aber vor allem Tuben, Töpfchen und Flaschen – Proben aller möglichen Fabrikate. Am Fenster der Schreibtisch, Ablagen aus zerkratztem Plexiglas, leergeräumt. Wahrscheinlich hatte die Polizei alle Unterlagen beschlagnahmt. Ich fühlte mich wie ein Sensationstourist, der enttäuscht ist, weil die Sensation ausbleibt. Das Zimmer war traurig und schäbig. »Dort lag sie.« Barbara zeigte auf einen kleinen Läufer, der schräg vor dem Schreibtisch ausgerollt war. »Demnächst wird ein neuer Teppich verlegt.« Such is life. Was hatte ich erwartet? Barbara verharrte im Türrahmen, wie eine Museumswärterin, die möglichst rasch hinter dem Besucher wieder zuschließen will. »Ich habe Sie angerufen, Tommy«, sagte sie plötzlich. »Ich weiß.« Sie sah mich an, als wollte sie etwas sagen, senkte den Blick. Ich lehnte mich an das Fensterbrett und wartete. »Es ist nur…« Sie zögerte, schaute über ihre Schulter den Flur entlang, trat dann endlich über die Schwelle ins Zimmer und schloß hinter sich die Tür. »Es ist nur, Sie dürfen nicht schlecht von Alexandra denken.« »Warum sollte ich?« »Sie und Alexandra, Sie mochten sich. Alexandra hat immer von Ihnen geschwärmt. Ich meine, rein freundschaftlich.« Barbara errötete. »Sie sollten sich das Bild, das Sie von Alexandra haben, bewahren.« »Wovon sprechen Sie?« »Sie dürfen nicht alles glauben, was Eva Ihnen über Alexandra erzählt. Alexandra ist nicht so schlecht! Ich meine«
– Barbara stockte –, »Alexandra hat oft unbedacht Sachen gesagt, sie war nicht gerade diplomatisch, so etwas kommt hier nicht gut an.« »Ich verstehe.« Aber ich verstand gar nichts. »Gab es eine Auseinandersetzung?« »Nicht direkt. Es gibt hier keine direkten Auseinandersetzungen. Aber ich weiß, daß Eva Alexandra weghaben wollte. Sie hatte sie auf dem Kieker. Eva fürchtet die Konkurrenz.« »War Alexandra denn eine Konkurrenz?« »Alexandra hatte das wichtigste Ressort. Sie hat einen Bombenjob gemacht. Sie hat der Anzeigenabteilung gute Kunden beschert. Die Verlagsleitung war ihr wohlgesinnt, das ist kein Geheimnis. Und das gerade jetzt, wo Eva die letzten beiden Hefte weggebrochen sind.« »Was heißt das?« »Sie verkaufen sich nicht. Falscher Titel, falsche Schlagzeilen, das kann schnell mal passieren. Ein Covergirl, das den Leserinnen nicht gefällt. Die Chefredakteurin entscheidet aus dem Bauch heraus, und manchmal liegt sie voll daneben. Ich kann das hier natürlich nicht so direkt äußern, schließlich ist sie der Boss. Aber wenn Eva die Auflage nicht schnell wieder hochbekommt, wird ihr Chefredakteursposten zum Schleudersitz. Tomas, ich komme in Teufels Küche, das sind ganz interne Informationen, die ich Ihnen hier verrate.« »Glauben Sie, Eva hat Alexandra umgebracht?« »Um Gottes willen!« Barbara wedelte mit den Händen, als könnte sie damit alles Gesagte ungesagt machen. »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß irgend jemand aus diesem Haus dazu fähig ist!« »Hatte Alexandra denn auch Freunde? Ich meine, außer Ihnen?«
»Sie hatte immer Claudia, Sie wissen schon, Claudia Koch. Die beiden waren ganz dicke Tinte, arbeiteten in derselben Redaktion, wohnten im selben Haus. Beste Freundinnen waren sie und dabei so unterschiedlich. Was für Claudia ernst ist, war für Alexandra immer eher Spiel. Eigentlich paßten die beiden gar nicht zusammen.« War Barbara eifersüchtig? Auf Eva Schwarz, auf Claudia Koch, auf alle, die Alexandra nahe waren? »Damit kein falscher Eindruck entsteht«, sagte Barbara, »ich kann nicht behaupten, daß Alexandra und ich Freundinnen waren. Dazu hatten wir zu wenig miteinander zu tun. Ich habe das immer bedauert. Und jetzt ist es zu spät.« »Das tut mir leid.« »Hat Alexandra denn manchmal von mir gesprochen?« Barbara sah mich hoffnungsvoll an. »Ja. Nein. Ich meine, ich weiß nicht.« Nun war ich an der Reihe zu erröten. Schließlich hatte Alexandra nie von ihr gesprochen. »Vielleicht hätte sich das demnächst geändert.« Barbara guckte verschwörerisch. »Meine Antje und Alexandras Sohn, der Kai, die beiden sind ein Herz und eine Seele. Wenn die Kinder ihre erste große Liebe erleben, das schweißt Mütter zusammen. Vielleicht wären Alexandra und ich darüber richtige Freundinnen geworden. Das wäre schön gewesen.« »Sie mochten Alexandra sehr, nicht wahr? Sie war eine tolle Frau. So lebenslustig, und so attraktiv!« »Nicht wahr? Wir beide, Sie und ich, wir mochten Alexandra. Ihnen kann ich doch vertrauen, oder?« Ich nickte. »Ich habe ein Problem. Vielleicht können Sie mir helfen. Es ist eine dumme Sache.« »Was?«
»Bei Alexandra laufen Rechnungen und Mahnungen auf, eine ganze Menge sogar. Gucci, Porsche, Käfer – und Ihre Rechnungen auch, Tomas. Die sind in der Post, die ich jetzt ja aufmachen muß. Da muß viel bezahlt werden. Und Alexandras Konto ist vermutlich leer. Kai soll nichts davon erfahren, er ist doch noch ein Kind, völlig ahnungslos. Er weiß nichts von der finanziellen Misere seiner Mutter.« »Sind Sie sich da sicher?« »Er hatte diesen Streit mit seiner Mutter, unglücklicherweise am Tag des Mordes. Der Ärmste, das ist eine Belastung, die der Junge jetzt mit sich herumschleppt. Was glauben Sie, da möchte man manche Worte ungesagt machen.« »Was war das für ein Streit?« »Kai hatte sich von Claudia fünfhundert Euro geliehen, und Alexandra hat das herausbekommen. Sie hatte ihm die Summe selbst nicht geben wollen, wahrscheinlich auch gar nicht geben können, pleite, wie sie war. Und ich bitte Sie! Wozu braucht ein Sechzehnjähriger fünfhundert Euro!« Für Drogen, dachte ich. »Alexandra hat einen ganz schönen Aufstand gemacht: bei Claudia schnorren, obwohl seine Mutter es ihm verboten hat.« »Hat Alexandra Ihnen von diesem Streit erzählt?« »Nein. Aber Mutter und Sohn haben sich angeschrien, daß es über den ganzen Flur zu hören war. Dann hieß es immer: Wenn du nicht spurst, gehst du zu deinem Vater nach Berlin. Das hat meistens gewirkt.« »Ich verstehe.« »Die Chefredakteurin, also Eva, hat es gehaßt, wenn der Junge bei Alexandra und Claudia herumhing. Die Türen stehen hier eigentlich immer alle offen, niemand hat etwas zu verbergen.« »Natürlich nicht.«
»Es war falsch von Claudia, dem Jungen das Geld zu geben. Alexandra versuchte konsequent zu sein, Claudia machte es wieder kaputt. Natürlich hat Alexandra ihrer besten Freundin keine Vorwürfe gemacht!« Barbara Kramer-Pech faßte mich am Arm. »Das sind so die Sorgen von Müttern, das können Sie nicht verstehen, Tommy.« »Barbara, stimmt es, daß Alexandras Kopf, als man sie tot auffand, auf ein Kissen gebettet war? Haben Sie das gesehen?« »Ich habe nicht hingesehen. Ich wollte es nicht sehen. Ich weiß nicht, was sie mit ihr gemacht haben. Bitte lassen Sie mich jetzt. Ich muß zurück. Das Telefon ist die ganze Zeit unbesetzt.« »Ich gebe Ihnen meine Karte – für alle Fälle. Und was meine Rechnungen an Alexandra angeht – die können Sie zerreißen.« Sie zog leise die Tür hinter sich ins Schloß. Erschöpft ließ ich mich auf den Schreibtischstuhl fallen. Was für eine Schlangengrube! Ich traute weder Eva Schwarz noch Barbara Kramer-Pech. Aber hätte eine von ihnen Alexandra umbringen können? Und warum? Hier, in diesem Zimmer, mußte die Mörderin oder der Mörder gestanden haben. Klebte an dem Läufer Alexandras Blut? Unwillkürlich zog ich meinen Fuß zurück, der auf dem bunten Teppich stand. Ich drehte mich mit dem Stuhl um die eigene Achse, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und betrachtete die Produktpalette im Regal. Bei den Büchern fiel mir ein Titel auf: ›Die 666 Geheimnisse über seinen Körper‹. Ich zog den Band heraus, ein Zettel segelte auf den Boden. Kyrillischer Briefkopf, adressiert an »Ms. Kaspari«. Ich faltete das Blatt auseinander. Ein englischer Kurzbrief: »Mr. Iwanov« sicherte »in besagter Angelegenheit Diskretion« zu und hoffte »auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit«. Ich versuchte, die kyrillischen Buchstaben im Kopf zu entziffern. Eines der Worte ergab »Muskus«, was immer das heißen mochte. Ich faltete den Zettel zusammen und
schob ihn in die Hosentasche. Wie ein Verbrecher schlüpfte ich aus Alexandras Arbeitszimmer. Bloß raus hier. Für heute reichte es. Als der Gang zu Ende war, bog ich nach rechts. Kein Ausgang, eine Tür nur angelehnt, ich mußte wohl nach dem Weg fragen. Gerade wollte ich klopfen, als ich eine Jungenstimme hörte: »Da kann er sich auf den Kopf stellen! Nach Berlin gehe ich nicht!« – »Jetzt warte erst einmal ab«, antwortete sanft eine Frauenstimme. Auf dem Türschild stand: »Claudia Koch, Textredaktion, Partnerschaft, Psychologie, Sex.« Ich klopfte: »Entschuldigung, ich will nicht stören, aber…« Die Köpfe von Claudia und Kai drehten sich gleichzeitig in meine Richtung. »Herr Prinz!« rief Claudia überrascht. »Ich suche den Ausgang.« »Ich habe schon gehört, daß Sie im Hause sind!« Claudia stand auf und streckte mir die Hand entgegen. Sie hatte helle Sommersprossen auf der Stupsnase und den Wangen, unter den Augen einen dunklen Schatten. Kein Wunder. Wer von uns hatte in den vergangenen Nächten schon gut geschlafen? Sie sagte: »Schön, daß Sie auch bei mir vorbeigucken.« »Ich habe Eva ein paar Produkte vorbeigebracht.« »Ich geh dann mal«, sagte Kai. Das Sitzkissen war das gleiche, das auch bei Alexandra im Zimmer stand. Claudia und Kai umarmten sich. Kai, fast so groß wie ich, bückte sich und legte sein Gesicht an ihren Hals wie ein kleines Kind. Claudia hielt Kai gedrückt, sekundenlang. Dann löste sich Kai. Im Hinausgehen gab er mir die Hand: »Ciao!« »Kai! Das mit deiner Mutter…« Kai hatte die dunklen Augen von Alexandra. Waren seine Pupillen geweitet? Ich dachte an die Drogen. Nein, sein Gesicht schien geschwollen. Er hatte geweint.
»…das mit deiner Mutter tut mir sehr leid. Vielleicht möchtest du mal reden. Wenn du in der Gegend bist, komm doch in den Salon, ich würde mich freuen.« »Danke.« Claudia legte ihre Hände mit ausgestreckten Armen auf die Knie, preßte für einen Moment die Lippen zusammen und sagte plötzlich, eine Spur zu laut und munter: »Wenn Sie schon mal hier sind, müssen Sie mich zum Essen begleiten.« »Sehr gern. Ich kann jetzt etwas vertragen.« Claudia lehnte sich über ihren Schreibtisch, auf dem in ordentlichen Stapeln zusammengeheftete Papiere, Bücher und Prospekte lagen, nahm ihr Portemonnaie aus der Handtasche, die auf dem Boden stand, und schloß sie sorgfältig weg. Wir gingen den Gang hinunter. »Hier bei Ihnen geht alles ganz normal weiter, nicht?« fragte ich. »Trotz des Mordes.« »Alles geht ganz normal weiter«, wiederholte Claudia ironisch. Und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, mit einem normalen Menschen zu reden. »Und Kai?« Claudia drückte Taste E. Ihre Augen waren selbst in dem gedämpften Fahrstuhllicht sehr blau. Vielleicht blaue Kontaktlinsen? Aber solch eine Schummelei traute ich ihr nicht zu. »Kai muß da durch. Aber ich mache mir Sorgen um ihn.« »Kommt er regelmäßig in die Redaktion?« Claudia nickte, mir war nicht klar, ob auf meine Frage oder zum Pförtner hin. Draußen empfand ich die Hitze als angenehm. Ich bemerkte erst jetzt, daß ich die ganze Zeit gefroren hatte. »Wo essen wir?« fragte ich. »Beim Italiener auf dem Rosenkavalierplatz. Einverstanden?«
Wir liefen nebeneinanderher. Claudia trug zu dem knöchellangen Kleid flache Schuhe. Sie ging schnell. Ihr blondes Haar machte jede Bewegung mit. »Ich weiß nicht, ob Eva Ihnen von ihrem Verdacht erzählt hat.« Claudia betrachtete mich von der Seite. »Sie meinen die Geschichte mit Clairmont?« »Die Sache macht Kai natürlich zu schaffen. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er immer nur gefordert hat. Er glaubt, er sei derjenige, der seine Mutter in diese Machenschaften mit Clairmont gedrängt hätte. Was für ein Unsinn. Ich habe versucht, es ihm auszureden. Ich muß verhindern, daß der Junge sich jetzt in etwas hineinsteigert.« »Und Sie? Können Sie sich vorstellen, daß Alexandra diese Geschäfte mit Clairmont gemacht hat?« Anscheinend war das in der Redaktion schon Gesprächsthema. »Wir hatten eigentlich keine Geheimnisse voreinander«, antwortete Claudia leise. »Also hat Alexandra Ihnen gar nichts davon erzählt?« Claudia schaute auf ihre Schuhspitzen. »Kai muß es über dieses Mädchen, diese Antje, erfahren haben. Und die hat es wahrscheinlich von Barbara, ihrer Mutter. So ist das mit der Verschwiegenheit bei uns in der Redaktion.« Beim Italiener wählte Claudia einen Tisch am Rand und bestellte einen Salat, ohne einen Blick in die Karte geworfen zu haben. Ich schloß mich an. »Zuerst der Mord und dann noch dieses Gerede über Alexandra, der Neid auf ihren Erfolg, das ist doch unglaublich und schwer zu verkraften«, sagte ich, »erst recht für Kai. Immerhin geht es um seine Mutter.« »Sie sind sehr feinfühlig, Tomas.« Claudia ist die einzige aus der Redaktion, die mich nicht ›Tommy‹ nennt. »Wissen Sie was? Vielleicht können Sie wirklich etwas für Kai tun. Er braucht jetzt Menschen, denen
er vertrauen kann, Menschen, die mit seiner Mutter befreundet waren. Vielleicht hilft ihm das ein wenig über die erste schwere Zeit hinweg.« »Aber, Claudia, was könnte ich tun? Ich könnte ihm natürlich die Haare schneiden.« Claudia lächelte und schloß für eine Sekunde die Augen. »Oder einfach für ihn dasein. Irgend etwas mit ihm unternehmen.« »Er hat doch seine Freundin.« »Alexandra war über diese Verbindung nicht besonders glücklich. Und ich bin es auch nicht. Das Mädchen ist so… wie soll ich sagen… fanatisch. Ähnlich wie ihre Mutter, meine ich. Sie kennen Barbara?« »Ja, ich habe kurz mit ihr gesprochen.« Claudia bestrich sich ein Stück Brot mit Butter. »Barbara hat dieses Helfersyndrom. Antje, ihre Tochter, will auch die Welt retten. Sie ist sehr aktiv im Umweltschutz. Vielleicht tut das Mädchen Kai auch gut! Ich fände es nur schön, wenn der Junge neben uns Frauen auch einen männlichen Ansprechpartner hätte.« »Er hat seinen Vater.« »Das stimmt. Aber Sie wissen selbst, Tomas, daß ihr Verhältnis nicht das beste ist. Kai war eben immer ein Mutterkind. Holger hat bei ihm einfach einen schweren Stand.« Ein Typ mit markanter Adlernase betrat die Terrasse. Er kam mir bekannt vor. Das schwarze Leder seiner Schuhe war auf Hochglanz poliert. Über den Spann verlief eine Mittelnaht, wie eine Narbe. Ich hatte selbst mit dem Gedanken gespielt, mir diese Edeltreter zu kaufen. Er nahm seine Sonnenbrille ab und schaute sich suchend um. Jetzt fiel es mir ein: der Unbekannte von der Vernissage. Er grüßte Claudia, die nur kurz in seine Richtung nickte, und verzog sich auf die andere Seite der
Terrasse, ohne mich zu beachten. Arroganter Hetero, dachte ich und fragte: »Wer ist das?« »Clemens Sander, unser Anzeigenleiter.« »Ein gutaussehender Kollege, der Herr Sander!« sagte ich. »Schon, und das weiß er auch sehr genau. Er ist bei uns Frauen in der Redaktion der absolute Liebling.« Claudia steckte sich ein Stück Brot in den Mund, dachte sich ihren Teil. Sie war Alexandra sicher eine ehrliche Freundin gewesen. Ich sah auf die Uhr. »Verdammt!« »Was ist passiert? Haben Sie einen Termin verschwitzt?« »Meine Mutter! Ich muß meine Mutter vom Flughafen abholen.« »Sie müssen?« »Wenn meine Mutter einfliegt, muß sie empfangen werden. Und meine Schwester hat nie Zeit.« »Familienrituale. Ich kenne das. Da kommt man ein Leben lang nicht heraus.« Ich ließ meinen Salat stehen. »Claudia, bitte versprechen Sie mir, daß wir unser Essen nachholen! Darf ich Sie anrufen?« »Warum nicht?« Wir verabschiedeten uns. An der Straße winkte ich mir ein Taxi. Bevor ich einstieg, sah ich, wie Clemens Sander mit seinem Glas zu Claudia hinüberging.
9
Die Maschine aus Zürich war schon gelandet, als ich in die Ankunftshalle von Terminal 2 des Franz-Josef-StraußFlughafens kam. Ich war zu spät. Reisende in kurzen Hosen und offenen Hemden zerrten schief rollende Koffer wie störrische Hunde hinter sich her, kleine Kinder stolperten mir vor die Füße. Es war schwer, in der Menge die Übersicht zu gewinnen, alle hatten es eilig. Nur eine Dame mit Hut schob langsam ihren Gepäckwagen durch die Menge und taxierte die Leute. Das war sie. Trotz der Hitze trug Mutter einen Sommermantel über dem Kleid, Strümpfe und Handschuhe. Meine Mutter achtet auf die Form und verabscheut das Nachlässige. Wie die Unpünktlichkeit. »Mama!« rief ich. Sie drehte sich um. Ich stand vor ihr, umarmte sie. Sie ließ es geschehen, nahm dann mein Gesicht in beide Hände, zog mich zu sich herunter und drückte ihre Wange gegen meine, rechts und links. »Schön, daß du doch noch gekommen bist!« Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und musterte mich. Ihre Augenlider schienen schwerer geworden zu sein, Falten zogen sich wie eine feine Gravur über Stirn und Wangen, doch dem grauen Deckhaar war es noch nicht gelungen, sich ganz über das schwarze Haar zu legen, das von der Hitze im Nacken und an den Schläfen feucht geworden war. Mutter fragte: »Habe ich dich aus der Arbeit gerissen?« »Nicht direkt. Tut mir leid, die kleine Verspätung.« Mutter setzte ihre Sonnenbrille wieder auf.
»Wie war dein Flug?« fragte ich. »Hattest du eine gute Reise?« Ich schob den Gepäckwagen Richtung Ausgang. Mutter hakte sich bei mir ein. »Keine Wolken, eine wunderschöne Sicht, der Flug war herrlich, abgesehen vom Catering und der Beinfreiheit. Wozu buche ich überhaupt noch Business Class? Alles ändert sich in der letzten Zeit zum Schlechten. Was ist bloß los? Es sind Rückschritte, kleine, unauffällige Rückschritte.« »Ich bitte dich, Mama, was ist das für ein Rückschritt, wenn eine Fluggesellschaft ein paar Sparmaßnahmen ergreift. Bei uns zu Hause hat es auch solche Zeiten gegeben.« »Aber dann muß die erste Klasse günstiger werden. Sonst ist es Schummelei. Und ich mag es nicht, wenn man nicht mit offenen Karten spielt.« Der Taxifahrer verstaute das Gepäck im Kofferraum. Die Aktentasche mit den ins Leder geprägten Initialen – EP, Eleonore Prinz – nahm Mutter zu sich und stellte sie auf den Rücksitz zwischen uns. Die Mappe hatte ich ihr geschenkt, als sie vor zehn Jahren die Leitung der Geschäfte übernahm – die Firma Prinz in Zürich mit den Kleiderfabriken. Vater hatte sie zur Nachfolgerin bestimmt, als seine Hirnrinde zu schrumpfen begann und kein Zweifel mehr bestand, daß die AlzheimerKrankheit seinen Verstand langsam umschatten würde. Nach Vaters Tod zog Mutter an den schweren Mahagonischreibtisch, unter dem Regula und ich uns als Kinder wie in einer Höhle versteckt hatten, wenn Zahltag war und Vater den Näherinnen die Lohntüten überreichte. Mama führte als erstes den bargeldlosen Zahlungsverkehr ein, verlegte das Stammhaus in den steuergünstigen Kanton Zug, erweiterte das Sortiment, gab eine Kinderkollektion und im zweiten Jahr ihrer Regentschaft eine Sportkollektion in Auftrag, die nun an Orten in Ungarn und Tschechien genäht werden.
Das digitale Thermometer am Armaturenbrett zeigte zweiunddreißig Grad Außentemperatur an, aber im Taxi war es kalt wie in einem Kühlschrank. Zu allem Überfluß bat der Fahrer, die Fenster zu schließen. Ich zögerte, Mutter bediente gehorsam den Fensterheber, ich tat es ihr nach. »Wann haben wir den Termin bei Stephan?« fragte Mutter. »Morgen, um vierzehn Uhr dreißig.« »Ich freue mich schon, den Jungen wiederzusehen.« Mutter liebte Stephan wie ihren zweiten Sohn und hatte ihm, nachdem unser Familienanwalt verstorben war, seine Geschäfte übertragen. Wenn ich ihn umständlich fand, sagte Mutter »bedachtsam«, was ich bei Stephan schwerfällig nannte, war für sie »behutsam«. Stephan würde unsere Unterschriften, die den Kauf der Bonbonfabrik besiegeln sollten, notariell beglaubigen, den Kauf damit rechtsgültig machen. »Vorher bist du bei mir«, sagte ich. »Zum Schneiden und Färben.« »Fein.« Mutter schaute während der Fahrt über die Felder. Die Büroklötze am Horizont standen fast alle leer, waren seit dem Börsencrash und den Firmenpleiten nur noch Kulisse. Alexandra war längst bei der New Economy aufgesprungen, hatte auf das schnelle Geld gehofft und mit immer größeren Gewinnen kalkuliert, als ich überhaupt erst überlegte einzusteigen und Stephan seine Aktien schon wieder zu verkaufen begann. Den Verlust hatte Alexandra mit einem Achselzucken abgetan, hatte eine Gleichmut zur Schau getragen, wie die Kühe, die jetzt auf den Wiesen vor den Spiegelfassaden grasten. »Wie läuft es im Betrieb?« fragte Mutter.
»Im Salon? Gut. Es ist nur – ich habe ein paar Unannehmlichkeiten. Unannehmlichkeit ist nicht das richtige Wort. Da ist eine Sache, die mich beschäftigt…« »Ist dir ein Kunde abgewandert? So etwas kommt vor, glaub mir, davon geht die Welt nicht unter und ein Unternehmen nicht bankrott.« »Die Sache liegt anders. Die Kundin ist ermordet worden.« »Oh! Na, das ist etwas anderes.« »Das ist es.« »Bei dir im Betrieb?« »In ihrem Büro. Mit einem spitzen Gegenstand auf den Kopf.« »Wie furchtbar! Was sind das für Kreise, aus denen deine Kundschaft kommt…?« Ich sah den Blick des Taxifahrers im Rückspiegel und beugte mich über die Aktentasche näher zu meiner Mutter. Sie roch nach Chanel No. 5. Ich kann mich nicht erinnern, daß Mutter jemals einen anderen Duft benutzt hätte. »Alexandra war Journalistin bei einem Frauenmagazin. Das ist eigentlich ein harmloser Job, die Leute sind im Grunde ganz normal. Von denen habe ich viele.« »Na, herzlichen Glückwunsch.« »Und mich beschäftigt nun irgendwie, wer der Mörder sein könnte, immerhin kenne ich die Kreise, in denen die Frau verkehrte, ganz gut.« »Das erinnert mich an die Geschichte mit dem Au-pair von den Eisenblätters. Stell dir vor, das Mädchen war plötzlich verschwunden, ist nach dem Besuch im Tanzlokal einfach nicht zurückgekommen! Du kannst dir vorstellen, in was für Ängsten wir geschwebt haben. Wir haben alle mit dem Schlimmsten gerechnet: Mord, Entführung, Lösegeld – ist ja alles möglich! Dann, nach vier Tagen, kam ein Anruf – aus Milano, das Mädel quietschlebendig, Gott sei Dank.«
»Mama! Jetzt hör mir doch mal zu!« »Hast du denn einen Verdacht? War diese Frau verheiratet? Hatte sie einen Liebhaber?« »Sie war verheiratet, in der Tat. Aber sie wollte sich scheiden lassen. Und sie hatte laufend Liebhaber, jetzt gerade einen aus dem Verlag. Groß ist die Auswahl nicht, schließlich arbeiten dort fast nur Frauen.« »Ist der Mann, dieser Liebhaber, ist er verheiratet?« »Das ist er, das weiß ich hundertprozentig, Alexandra hat es mir selbst erzählt.« Mutter hielt sich mit einer Hand am Vordersitz fest und sagte zum Fahrer: »Bitte schauen Sie nach vorne, und konzentrieren Sie sich auf den Verkehr.« Sie lehnte sich wieder zurück. »Wer ist Alexandra?« »Die Tote. Sie war kurz vor dem Mord noch bei mir zum Schneiden und Färben.« »Vielleicht war es die Ehefrau des Liebhabers. Eine Frau spürt, wenn der Mann sie betrügt, glaub mir das.« Ich betrachtete Mutter von der Seite. Das Gewicht der Steine ihrer Ohrringe hatte über die Jahre die Ohrläppchen verlängert. Sprach sie aus Erfahrung? Was wußte ich schon über die Ehe meiner Eltern. Ich hatte immer geglaubt, sie seien ein perfektes Paar, ein gutes Team gewesen. Vater war fünfzehn Jahre älter als Mutter. Er hatte die Firma hochgebracht, während sie sich um uns Kinder kümmerte, ums Personal und die Wohltätigkeit. Nach Vaters Tod gründete sie eine Alzheimer-Stiftung. Vater hatte nie viel Zeit für uns gehabt, war nie mit uns zelten oder auf dem Jahrmarkt. Kannte er uns? Manchmal fragen Regula und ich uns, was er eigentlich für ein Mensch war. Von Alexandra wußte ich viel mehr. Daß sie die Menschen polarisierte, man sie unendlich bewunderte oder völlig ablehnte. Dazwischen gab’s nicht viel. »Weißt du, was merkwürdig ist?« sagte ich.
Mutter lehnte sich zurück und sah mich aufmerksam an. »Als man Alexandra fand, lag ihr Kopf auf einem Kissen. Sie muß dagelegen haben wie aufgebahrt, ähnlich wie Vater damals, erinnerst du dich?« »Junge, das kann man doch nicht vergleichen.« »Man muß es sogar vergleichen. Damit verrät der Mörder, daß er die Tote sehr gut gekannt hat. Mehr noch: Er hat sie gemocht, vielleicht sogar geliebt. Verstehst du, es war nichts Geplantes, es muß eine Tat im Affekt gewesen sein. Der Täter hat es sofort bereut. Aber da war es schon zu spät.« »Vielleicht hast du recht«, sagte Mutter. »Aber halten wir uns doch einmal an die Fakten. Wie sieht es mit den nächsten Verwandten aus? Hat die Tote Hinterbliebene? Hat sie Kinder?« »Einen Sohn – steckt in der Pubertät, nimmt Drogen, braucht Geld. Aber es will mir nicht in den Kopf, daß so ein netter Junge seine eigene Mutter…« »Und der Vater?« »Holger? Ein Kotzbrocken. Alexandra hätte sich mit ihm um das Sorgerecht für den Sohn streiten müssen. Außerdem gab’s Zoff um eine Immobilie in Bonn und die Wohnung hier in München.« »Dann erbt der Sohn wenigstens etwas?« »Wie es aussieht, wohl nichts als Schulden. Aber er ist noch nicht volljährig, dann fällt alles an den Vater.« »Die Schulden lehnt man ab, der Besitz geht hoffentlich an den Ehemann und nicht an die Bank. Wie stehen denn Vater und Sohn zueinander?« »Der Junge wird sich jetzt mit seinem Vater arrangieren müssen, auch wenn er ihn nicht ausstehen kann. Kein Wunder: Immer wenn die Mutter mit ihrem Latein am Ende war, hat sie gedroht, ihn zum Vater nach Berlin abzuschieben, was zumindest in den Ferien dann auch der Fall war.«
»Verhältnisse sind das«, Mutter schüttelte den Kopf. »Nimmt das Kind deshalb Drogen? Zum Glück gab es in dieser Hinsicht mit euch nie Probleme.« Wir verließen die Autobahn bei Schwabing und ordneten uns links ein. Wir würden über die Leopoldstraße ins Zentrum, zum ›Bayerischen Hof‹, fahren. »Regula und ich haben auch unsere Erfahrungen gemacht, du hast es nur nicht bemerkt.« »Ich hätte es bemerkt, da kannst du Gift drauf nehmen.« »Du hast auch geglaubt, ich würde ein Frauenheld werden, weil ich als Kind immer mit Mädchen gespielt habe.« »Sie sind dir immer hinterhergerannt.« »Du wolltest es glauben. Eltern glauben, was ihnen in den Kram paßt, phantasieren sich zusammen, wie die eigenen Kinder zu sein haben, und das stimmt dann oft überhaupt nicht. Du hast auch gedacht, daß ich mich für die Firma interessiere und sie eines Tages übernehme, nur weil ich eitel bin und mir Kleidung wichtig ist.« »Ach, Tomas.« Mutter drückte meine Hand. »Natürlich hätten wir es gerne gehabt, wenn du ein nettes Mädchen geheiratet hättest oder wenigstens Regula die Firma übernimmt. Meinetwegen auch ihr Ehemann, wenn er die Fähigkeiten mitgebracht hätte. Aber ich weiß, wann ich Tatsachen akzeptieren muß.« »Du gibst dich immer erst geschlagen, wenn du wirklich keine andere Chance mehr siehst.« Vom Siegestor blickte uns die Löwenquadriga mit der Bavaria entgegen. »Ist das jetzt die Maximilianstraße?« fragte Mutter. »Nein, die Ludwigstraße.« Mutter mag keine Diskussionen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen. Sie will Einfluß nehmen und sich durchsetzen. Vielleicht ist das ein Grund, warum Regula und
ich aus der Schweiz weggegangen und beide in München gelandet sind. Man wird hier in Ruhe gelassen, wenn man will. Außer in München könnte ich mir nur noch vorstellen, wieder in London zu leben. Ich war, nach Jahren der Herumtreiberei, seßhaft geworden. Die Prachtbauten der Ludwig-Maximilian-Universität und der Staatsbibliothek, pompös und, wie Aljoscha fand, »etwas einfallslos«, glitten vorbei, dazwischen, eingequetscht, die Ludwigskirche. Er hatte mir darin ein Gemälde gezeigt, das Jüngste Gericht, eines der drei größten Freskos der Welt. Regungslos hatte er vor dem Gemälde in den blassen Bonbonfarben gestanden. Vielleicht würde auch er irgendwann nicht mehr aus München fortwollen. Wir hielten vor dem ›Bayerischen Hof‹. Der Portier öffnete Mutter die Wagentür, der Page hob das Gepäck aus dem Kofferraum, der Empfangschef machte einen Bückling. Auch das war München. Ich begrüßte den Empfangschef wie einen Onkel, den man einmal im Jahr zur Familienfeier trifft. Sein Haarkranz schien mir schmaler, die Glatze größer geworden zu sein. Im Salon von Nummer 43, wo Mutter wie immer wohnte, steckte in einem Kübel eine Flasche Champagner, auf einem Teller waren Petits fours angerichtet, die Mutter nicht anrühren würde. Ich legte mich aufs Sofa. »Die Hitze macht mich fertig.« »Schenk doch etwas von dem Blubberwasser ein«, rief Mutter aus dem Ankleidezimmer. Mutter hängte ihre Garderobe auf Bügel: das geblümte Kleid für den Vormittag, das Kostüm für den Notartermin, die Bluse mit den Lilien für den Abend. Im Koffer lagen noch der Badeanzug mit dem Rosenmuster und die rosenrote Badekappe. Mutter liebt Blumen. Ich prostete ihr zu. Sie nippte am Glas und schaute sich um.
»Ich genieße es, hier zu sein, in meiner kleinen Zweizimmerwohnung. Es ist so überschaubar, und um nichts muß man sich kümmern. Keine kaputten Regenrinnen, undichte Fenster, nichts. Keine Arbeit. Du kannst dir am Pool eine Badehose leihen.« »Ich muß in den Salon.« »Ein wenig Bewegung würde dir guttun. Schau mich an. Ich bin topfit. Was glaubst du! Beim Schwimmen vorletzte Woche habe ich meine Zeit vom letzten Jahr gehalten. Was sagst du jetzt?« Mutter schwimmt jedes Jahr, immer im Juli, einmal durch den Zürichsee, für alle Zürcher ein fester Termin. Ich hasse diese Massenveranstaltung, wenn Tausende Menschen wie die Lemminge ins Wasser gehen, Mutter liebt es. Mit ihren 64 Jahren strotzt sie vor Gesundheit. Viele meiner Kundinnen, die teure Abonnements für Fitneßstudios kaufen und streng nach Ernährungsplan leben, besitzen nicht ihre Ausdauer. Ich ging ins Bad. Vor dem Spiegel hatte Mutter bereits ihre Toilettenartikel aufgereiht. Die meisten Haarpflegeprodukte, die sie benutzt, sind aus meiner Serie. Zwischen Nachtcreme und Eau de Toilette stand eine Haarkur. Diese bauchige Flasche war nicht von mir, Mutter hatte die Marke gewechselt. Es ist eine Seltenheit, wenn Mutter eine Gewohnheit aufgibt. Ich schaute auf das Etikett. Die Flasche war von Clairmont. »Trinkst du keinen Champagner mehr?« rief Mutter durch die geschlossene Tür. Aus dem Fernseher hörte ich Liebe und Schmerz in der Titelmelodie von Mutters Lieblingsserie.
10
Im Salon waren alle Positionen besetzt. Dennis begrüßte seine Stammkundin, Frau Lachmann, deren Haare aussahen wie die von Lena Valaitis. In zwei Stunden, wenn sie gewaschen, geschnitten und gebügelt waren, würden sie fallen wie bei Demi Moore. Zwei fremde weiße Pudel im Afro-Look flitzten wie ferngesteuert um die Sitzplätze an den Spiegeln und wirbelten Haare auf. Benni, mein Lehrling und den ersten Tag aus dem Urlaub zurück, hatte beim Kehren seine Not. Es roch nach Minze, Citrusöl und Avocado. Ich fühlte mich plötzlich frei und erleichtert. Der Salon wirkte auf mich wie eine Glücksdroge. Ich schob die Leningrad-CD ein, blätterte durch die Quittungen, um mir einen Überblick über den Umsatz zu verschaffen, und summte den russischen Refrain meines Lieblingsliedes, in dem es irgendwie um Bananen und Marihuana geht. Es war Montag, der 27. Juli. Bea kam von hinten über den Flur, in kleinen Schritten. Ihr knöchellanger Rock war eng. Bea lächelte nicht. Sie sah besorgt aus. »Die Glaserin hat angerufen.« Sie drehte die Musik leiser. »Die Kriminalkommissarin? Was wollte sie?« »Du sollst ins Präsidium kommen. Es sei dringend.« »Worum geht’s?« »Keine Ahnung. Ich habe ihr gesagt, daß du zum Flughafen unterwegs bist.« Bea lachte in sich hinein. »Sie schien irritiert.« »Bin ich jetzt verdächtig? Denkt sie, ich will mich absetzen?« »Sie wollte deine Mobilnummer und konnte kaum glauben, daß du kein Handy hast. Du sollst sofort zu ihr fahren.«
»Wie stellt die sich das vor?« Ich zog meine Brieftasche hervor, in der zwischen den Geldscheinen die Visitenkarte von Annette Glaser steckte. Ein Zettel fiel auf den Boden. »Das habe ich auch gesagt« – Bea hob den Zettel auf –, »Frau Glaser, habe ich gesagt, wie stellen Sie sich das vor, der Tom hat Kunden, der kann nicht einfach…« Sie faltete den Zettel auseinander, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. »Russisch? Verkehrst du jetzt mit Aljoscha schriftlich?« »Nicht einmal den Briefverkehr pflegen wir. Ich hab diesen Zettel bei Alexandra im Büro gefunden. Ziemlich nichtssagend, ein Geschäftsbrief eben. Aber hier: Muskus – was immer das heißt. Ich muß das im Wörterbuch nachschlagen.« »Und wie war’s bei Vamp? Hast du etwas herausbekommen?« »Bea, da gibt’s einiges zu erzählen. Aber ich muß eben die Glaser anrufen.« »Die erwartet dich um siebzehn Uhr dreißig«, sagte Bea, »da schaffst du den Termin mit der Körting vorher locker.« »Kriminalpolizei – Ettstraße«, las ich von dem Visitenkärtchen ab, »da komme ich gerade her, das ist gleich bei Mama, beim ›Bayerischen Hof‹.« Die Frau, die an die Theke trat, hatte ihr Haar unter einem Kopftuch verborgen und sich mit einer der üblichen schwarzen Brillen getarnt. »Franziska!« Ich umarmte sie. Franziska Körting kenne ich seit ihrer ersten Hauptrolle. Da habe ich ihr die Haare gemacht. Sie gab eine lesbische Kleptomanin und war zur Ikone der deutschen Lesbenszene aufgestiegen. Als sie davon die Nase voll hatte, flüchtete sie nach Paris, heiratete. Mir ist sie über die Jahre treu geblieben, alle sechs Wochen kommt sie vom Montparnasse zum Schneiden und Färben ins Glockenbachviertel.
»Tomas, es ist eine Katastrophe!« sagte sie und nahm die Brille mit einer Geste ab, als wolle sie mir ein blaues Auge demonstrieren. Ihre mandelförmigen Augen stehen weit auseinander. Sie löste das Kopftuch, und ich verstand, was sie meinte: Das Haar war stumpf und häßlich gelb, null Glanz. »Wie ist das passiert?« fragte ich. »Eine Maskenbildnerin am Set. Ich hätte diese Schlampe mit dem nassen Handtuch erschlagen können! Bekommst du das wieder hin?« Ihr Haar fühlte sich strohig an. Eine Überdosis Oxydationsmittel. »Mach dir keine Sorgen, das kriegen wir in den Griff.« Ich befahl den Pudeln, endlich zu sitzen, und dirigierte Franziska Körting durch den Flur an eines der Waschbecken, wo sich Benni ihrer annahm. Hinten, am Platz bei der offenen Tür zum Garten, färbte Bea und redete leise über Saturn, Zwilling und Krebs. Später würde sie mir berichten, daß sie aus dem Stand ein Horoskop für die Pudel erstellt hatte. Ich suchte in der Kartei nach Franziska Körting. Jeder Kunde besitzt eine Karte, auf der nach jedem Termin die Zusammensetzung der neuen Haarfarbe notiert wird. Mein Schwager Christopher hatte mir angeboten, die Daten in ein Computerprogramm zu bringen, aber ich mag die Kritzeleien, die diese Karten zu persönlichen Dokumenten machen. Vor Körting stand Kaspari. Der erste Eintrag Oktober 1998, Alexandra dunkelblond, die Stützhaare um eine Stufe aufgehellt, zu der Zeit hatte ich meine wilde Phase mit Matteo. Dann eine langsame Entwicklung ins Rötliche, da war Eva Schwarz zur Chefredakteurin aufgestiegen. Der radikale Bruch Anfang 2000: Alexandra wurde auf einen Schlag schwarz, mit dem langen schweren Pony, da war sie schon Chefin des BeautyRessorts, die Ehe mit Holger Kaspari im Eimer. Die letzte
Färbung vom 22. Juli hatte ich nicht mehr notiert, nun war der Eintrag überflüssig. Irgendwann würde ich Alexandras FarbenVita abschließen. Jetzt wollte ich nicht daran rühren. Die verunglückte Farbe von Franziska Körting mußte zwei Töne dunkler werden. Ich maß vierzig Gramm Light Ash Blond, Level acht, für die Längen ab. Die Menge habe ich im Handgelenk. Sechs Gramm vom Ash Pigment Violett Blue, aber nur für den Ansatz. Über das ganze Haar verteilt, hätte es genau den gegenteiligen Effekt – es würde grau und leblos aussehen, besonders im Blitzlicht. Ich beschloß, einen pflegenden Farbconditioner aufzutragen, um eine Natürlichkeit zu kreieren, die das Haar in Wirklichkeit nicht besitzt. Färben ist eine Kunst, wir täuschen Tatsachen vor und verleihen dem Kunden auf subtile Weise ein Image, das ihn in ein besseres Licht rückt. Benni brachte Franziska Körting zum Färben auf das dunkle Parkett. Es war ruhig hier hinten. Durch die offenen Fenster wehten von der Kirche Orgelklänge herüber, wie oft montags um diese Zeit. Franziska Körting lächelte mich im Spiegel an. Ich lächelte zurück und verscheuchte die Gedanken an Alexandra. »Hast du diese Tage Drehpause?« fragte ich und begann durchzukämmen. »Nein, ich bin durch. In jeder Hinsicht, das siehst du ja.« Hatte sich ihr Haaransatz verändert? Ich kämmte zur Seite. Hinter den Ohren waren zwei feine Narben, die Verschiebung der Haut noch minimal. Sie würde von nun an mit jedem Lifting fortschreiten, wie bei vielen Frauen, die am Ende wie gebügelt aussehen. Franziska war doch noch keine vierzig! Auf dem Wägelchen neben mir hatte Benni einen Stapel Alufolie bereitgelegt, sorgfältig in Rechtecke geschnitten. Jetzt reichte er Kräutertee und stellte sich auf Abstand, um zuzusehen. Benni lernte.
»Bis zur nächsten Produktion habe ich noch drei Wochen. Ich drehe wieder mit Herbert«, sagte Franziska Körting. »Herzlichen Glückwunsch!« Herbert, der Regisseur, ein alter Freund, benötigt meine Dienste nicht; seit ich ihn kenne, hat er Komplettglatze. »Und worum geht’s in dem neuen Film?« »Ein tragisches Liebesdrama. Ich spiele eine nymphomanische Konzernchefin. Du kennst Herbert, er liebt die heißen Eisen.« »O ja.« Ich pinselte in drei Etappen, wickelte alles in Alu. Franziska Körting erzählte vom Leid der Nymphomanin, aber ich hörte kaum zu. Die Vorladung der Kommissarin irritierte mich. Was sollte das? Warum kam Annette Glaser nicht einfach zu mir? Wollte sie mich einschüchtern? Ich war erst einmal auf einem Polizeirevier gewesen. Damals hatten Stephan und ich als Halbwüchsige ein parkendes Auto gekapert. Wir hatten uns reingesetzt, Zigaretten geraucht und uns vorgestellt, wie es wäre, es kurzzuschließen und nach Winterthur zu fahren oder über die Grenze, nach Konstanz. Die Polizei ertappte uns, Vater holte mich von der Wache ab. Er hatte gegrinst und – wie so oft – geschwiegen. Die Sache war harmlos gewesen. Aber jetzt? Hatte ich irgend etwas zu befürchten? Immerhin ging es um Mord. Tatsache war, daß ich für die Tatzeit kein Alibi hatte. Ich war allein in meiner Wohnung gewesen und hatte mich nach Aljoscha gesehnt, ohne Zeugen. Mutierte ich zum Verdächtigen? »…bis sie am Ende von ihrer Sucht geheilt ist«, sagte Franziska Körting. »Dich in diesen Charakter hineinzufühlen ist bestimmt nicht einfach«, sagte ich. »Ich habe mich intensiv vorbereitet. Für mich ist es eine Herausforderung. Und künstlerisch bringt es mich voran. Doch.«
Franziska Körting erzählte, und ich sagte mir, der Termin im Morddezernat könnte auch von Vorteil sein. Vielleicht würde Frau Glaser ein paar Informationen preisgeben, zum Beispiel über die Tatwaffe. Die Obduktion mußte doch jetzt abgeschlossen sein, immerhin lag der Mord schon sechs Tage zurück. Sechs Tage! Da hatte Alexandra noch hier gesessen und erzählt. Vielleicht sogar von ihrem Mörder. Es war zum Heulen. »Ansbach ist alles, was sie kennt, da kann ich viel von mir als Person einbringen.« »Ansbach?« fragte ich. »Dort dreht ihr?« »Und in L. A.« »Kurios.« »Das ist das richtige Wort. Eine irre Geschichte.« Franziska Körting redete, ich überlegte. Vielleicht war es in der Redaktion wirklich zu einem Countdown gekommen: Kai wollte Geld, Alexandra war überfordert, machte der Diskussion rigoros ein Ende, wie es ihre Art war, drohte Kai, er müsse zum Vater nach Berlin. Kai rastete aus. »… und läßt sich mit den falschen Leuten ein, eine Odyssee ins Unglück…« Es ist ein ekelhaftes Gefühl, wenn andere über einen entscheiden und man selbst nichts tun kann. »Und – schrecklich – sie kann überhaupt nichts tun!« Ich kenne dieses Gefühl aus meiner Kindheit. Ich erinnerte mich. Ich war zum ersten Mal verliebt, in Steven, Regulas Austauschschüler aus England. Ich mochte seinen Akzent und den rötlichen Flaum, der ihm über Lippe und Hosenbund sprießte. Er zeigte mir Bilder, erst von der Königsfamilie, Prinz Edward, den er verehrte, dann Fotos von sich, wir sagten uns die Wörter, erst die allgemeinen, tasteten uns dann in aufregendere Gefilde vor. Hinter dem Bootshaus, im Schatten der Rhododendren, ließ Steven Taten folgen, als wäre es ein
notwendiger Teil des Englischunterrichts, zeigte mir jedes einzelne Körperteil und benannte es. Ich war geschockt, aber Steven lachte, sagte »my dear«, und ich dachte, daß es schon seine Richtigkeit haben würde. Mutter wurde die Nähe zwischen uns zuviel. Als ich an einem Tag aus der Schule kam, stand an Stevens Platz nur die gefaltete Serviette, aber sein Stuhl am Eßtisch war leer, Steven abgereist. Meine Eltern hatten einfach bestimmt, was sie für richtig hielten. Ich tobte damals und heulte, konnte nichts tun. Vater verzog sich ins Büro, Mutter sagte: »Es ist besser so.« Ich habe Steven nie wiedergesehen. Ob er heute Frau und Kinder hat? »Tomas, ich habe dich etwas gefragt!« »Bitte?« »Du sollst raten, wie es dann ausgeht!« »Wie es ausgeht? Du stellst Fragen!« sagte ich. »Wahrscheinlich geht sie zurück nach Landshut und besinnt sich. Sie besinnt sich auf das, woran sie früher schon geglaubt hat.« »Du hast recht! Sie geht nach Ansbach zurück. Wie findest du es? Zu unerwartet?« »Sie könnte diesen Typen, diesen Liebhaber, doch einfach aus dem Weg räumen, oder?« »Wo du gerade davon sprichst: Hast du von dem Mord gehört, von der Frau, die vor dem Mord noch beim Frisör war?« Die Pudel kamen angetappt und schnüffelten. In ihren weißen Locken hingen die dunklen Haare von der Neukundin und die mittelblonden von Frau Lachmann. Ich holte den Spiegel. Franziska Körting betrachtete sich von allen Seiten, lobte die Frisur. Sie ging zum Regal, griff sich ihr Shampoo und ihren Festiger und fragte: »Kann man diese hübschen, kleinen Glaspyramiden eigentlich kaufen?«
Ich erklärte ihr: »Meine Trophäen sind unverkäuflich.« Hoffentlich hatte Bea Zeit, mir vor meinem Termin bei der Kriminalpolizei eine Kopfmassage zu verpassen.
11
»Zimmer 308«, hatte der Uniformierte hinter dem Sicherheitsglas an der Pforte gesagt. Ich las im Gehen die Nummern, die auf grauen Schildern neben den graugestrichenen Kassettentüren standen: 304, 306. Auf mein Klopfen keine Antwort. Annette Glaser stand über ihren Schreibtisch gebeugt und schob Notizblock, Kugelschreiber, Tampons, Puderdose und anderen Krimskrams hin und her. Sie hatte ihre Handtasche geleert. »Grüß Sie Gott, Herr Prinz!« Annette Glaser schaute kaum auf. »Nehmen Sie Platz. Schön, daß Sie trotz Ihrer Termine Zeit gefunden haben.« Der Händedruck entfiel. Ich setzte mich auf einen Besucherstuhl, der niedriger war als der von Annette Glaser. Es war angenehm kühl in dem hohen Raum. Die Möblierung behördenmäßig. Zwei Schreibtische, Drehstühle und ein überdimensionierter Aktenschrank mit Safe. So habe ich mir die Polizei vorgestellt, grau, nein, eher grün. Und das zwischen den dicken Mauern dieses imposanten Altbaus. Unter einer Leuchte starb eine Palme den langsamen Tod. Es war eine andere Trostlosigkeit als in den Räumen der Vamp-Redaktion. Annette Glaser fuhr mit der Hand in die Seitentasche ihrer Strickjacke, die fast knielang war, und zog einen Lippenstift hervor, wahrscheinlich rotbraun. Sie setzte sich und sagte, während sie sich die Lippen anmalte: »Wir ermitteln immer noch im Fall Kaspari.« »Sind Sie vorangekommen?«
»Deshalb wollte ich mit Ihnen reden.« Annette Glaser sah mich zum ersten Mal richtig an. Der Lippenstift war nur so ein farbloser Pflegestift. »Wenn ich Ihnen weiterhelfen kann…«, sagte ich. »Möchten Sie Kaffee?« »Nein, danke.« »Sehr schön. Herr Prinz, was haben Sie heute morgen bei Vamp gemacht?« »Heute morgen? Ich hatte einen Termin bei der Chefredaktion. Woher wissen Sie, daß ich dort war?« Für einen Moment bildeten sich um die Augen von Annette Glaser die Lachfältchen. »Fünf Tage nach dem Mord an Ihrer Stammkundin besuchen Sie die Vamp-Chefredakteurin? Das hat doch einen Grund!« Ich antwortete ruhig: »Ich wollte zu Eva Schwarz wegen des Weihnachtsheftes.« »Alexandra Kaspari ist fünf Tage tot, und Sie reden mit Frau Schwarz über das Weihnachtsfest?« »Das Weihnachtsheft, nicht das Fest.« »Und weiter?« »Natürlich haben wir auch über Alexandra gesprochen. Daß sie eine Super-Journalistin war, daß sie so viele Ideen hatte. Und wie es nun weitergehen soll. Was man so redet, wenn man verbunden ist durch einen Menschen, den beide gekannt und geschätzt haben.« »Und außerdem?« Sollte ich der Kommissarin von dem Verdacht erzählen? Daß Alexandra vielleicht zu eng mit Clairmont gearbeitet hatte? Sollte ich den Namen von Fabrice Duras, dem Geschäftsführer von Clairmont Deutschland, ins Spiel bringen? Aber das waren doch alles nur Spekulationen.
»Herr Prinz! Es geht hier um Mord! Überall treffe ich auf höfliche, schöne Menschen, gut frisiert, aber keiner erzählt etwas. Mir stinkt’s langsam.« Auch ich wurde sauer. Die schalt mich aus wie einen Schuljungen. Trotzdem, ich mußte diese Unterhaltung – oder war es ein Verhör? – wie ein Tauschgeschäft betrachten, ihr ein paar Informationen anbieten. Ich sagte: »Seit Alexandra tot ist, überlege ich, wer ein Interesse daran haben könnte, sie aus dem Weg zu räumen.« Ich wartete, ob Annette Glaser etwas sagen würde, aber sie schwieg. »Was glauben denn Sie, wer der Mörder ist?« fragte ich. Annette Glaser atmete tief durch. »Wir sind hier nicht in einer Quiz-Show, ich glaube gar nichts, ich halte mich an die Fakten. Das hier ist kein Spiel. Worum ging es in dem Gespräch mit Eva Schwarz?« »Ihr ist aufgefallen, daß in vielen Ausgaben von Vamp der Produktname Clairmont sehr häufig genannt wird. Und zwar auf den redaktionellen Seiten, für die Alexandra verantwortlich war.« »Ja und? Meinen Sie, Frau Kaspari hat sich bezahlen lassen?« »Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir können es uns alle nicht vorstellen. So eine Journalistin war Alexandra nicht.« Die Kommissarin notierte etwas, das ich nicht lesen konnte. »Sie kennen Alexandra Kaspari besser, als Sie mir weismachen wollen.« »Und Sie unterstellen mir ständig, nicht die Wahrheit oder nur Halbwahrheiten zu sagen. Bitte lassen Sie das. Ich bin Frisör, ich wahre die Diskretion und gebe keinen Klatsch und Tratsch mit Namen und Adressen weiter. Nicht einmal an die Polizei. Ich sage, was ich weiß, aber ich bin kein Kommissar.
Machen Sie Ihre Arbeit, ich mache meine.« Ganz wohl war mir bei dieser Ansprache nicht. »So kommen wir nicht weiter.« Annette Glaser stand auf und ging zum Fenster. Ihr Schreibtisch sah wüst aus. Von einem Kuchenteller hatte jemand säuberlich die Reste einer Schokoladenglasur geputzt. Jetzt mußte die Glaser endlich etwas ausspucken. Ich fragte: »Haben Sie schon etwas über die Mordwaffe herausgefunden?« Die Kommissarin antwortete nicht und starrte aus dem Fenster. Sie drehte sich zu mir um, im Gegenlicht konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen. Ihre Gestalt war ein schwarzer Schatten vor dem vergitterten Fenster. »Wir haben die Tatwaffe noch nicht.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber es handelt sich um einen Gegenstand, der sich zur Spitze hin stark verjüngt.« »Vielleicht eine Schere? Oder ein Brieföffner?« »Tragen Sie eine Schere mit sich herum, Herr Prinz?« Ich lachte. »Nein, Frau Glaser, da haben Sie sich geschnitten. Ich habe nie eine Schere dabei. Auch bei mir zu Hause gibt es keine einzige. Für mich ist die Schere ein reines Arbeitswerkzeug.« »Der Täter oder die Täterin hat nur einmal zugeschlagen. Frau Kaspari hat sofort das Bewußtsein verloren und höchstens noch ein paar Minuten gelebt.« »Hätte sie noch gerettet werden können?« Die Kommissarin kümmerte sich nicht um meine Gefühle, sie fragte: »Wie intensiv war Ihre Beziehung zu Frau Kaspari?« »Wie oft wollen Sie mich das noch fragen? Ich habe auf diese Frage doch schon hundertmal geantwortet!« »Frau Kaspari hatte kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr.«
»Jetzt verstehe ich. Sie glauben, ich und Alexandra…« Ich lachte. »Was ist daran so komisch? Wäre das so ungewöhnlich?« »Entschuldigen Sie, ich vergaß Ihnen mitzuteilen, daß ich schwul bin. Ganz eindeutig homosexuell.« »Das wußte ich nicht.« Die Kommissarin kam zurück zum Schreibtisch und setzte sich. »Natürlich. Wie konnte es anders sein. Sagen Sie…« »Ja?« »Sind eigentlich alle Frisöre schwul?« Ich war verblüfft. »Ich weiß, es ist eine dumme Frage, vergessen Sie’s.« »Nein«, sagte ich, »die Frage ist vielleicht berechtigt, das denken viele Leute. Aber es ist ein Vorurteil.« »Na, nehmen Sie doch mal Ihren Kollegen hier in München. Oder diesen Promi-Frisör in Berlin. Und sogar mein Frisör in Starnberg trägt einen Ohrring.« »Es gibt viele bekannte Frisöre, die nicht schwul sind. Vidal Sassoon zum Beispiel. Auch der Niederländer Christiaan. Oder denken Sie mal an John Frieda.« »Aha. Gut.« »Den Liebhaber von Alexandra müssen Sie also leider woanders suchen. Haben Sie gar keine Spur?« »Wir stecken mitten in den Ermittlungen.« »Glauben Sie denn, daß Alexandra von ihrem Liebhaber umgebracht wurde?« »Das wäre eine Theorie.« »Aber warum sollte der Liebhaber der Mörder sein? Alexandra wollte bestimmt nicht geheiratet werden.« »Das sind Spekulationen. Und eines, Herr Prinz, muß ich Ihnen sagen: Spielen Sie nicht Detektiv. Wenn Sie auf eigene Faust ermitteln, kann das gefährlich werden.« »Holger Kaspari war schon vor dem Mord in München.«
»Woher haben Sie das?« »Zufall. Ich sah einen Parkschein hinter der Windschutzscheibe liegen. Und darauf stand das Datum vom Tag vor dem Mord.« »Herr Kaspari hat uns gesagt, er sei gar nicht mit dem Auto aus Berlin gekommen. Der Wagen war die ganze Zeit in München. Wir haben das geprüft. Eine Kollegin von Herrn Kaspari in Berlin hat seine Version bestätigt.« Annette Glaser lächelte. Sie glaubte Holger Kaspari anscheinend jedes Wort. Nach diesem Gespräch war ich ausgelaugt wie nach einer Prüfung. Aber ich fühlte mich auch darin bestätigt, was ich ohnehin tun wollte: den Liebhaber von Alexandra finden. Zwei boten sich an: Fabrice Duras und Clemens Sander. Oder gab es noch den berühmten Unbekannten? Ich wollte mit Holger und Kai Kaspari reden. Leider konnte ich die Herren nicht zum Haareschneiden vorladen. Aber ich hatte eine Idee, wie ich es anstellen könnte. Mit Stephans Hilfe. Auf dem menschenleeren Hof drehte ich mich noch einmal um und betrachtete das riesige Gebäude. »Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz« stand über dem Portal. Sollte ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?
12
Ich saß in kurzen Sporthosen neben Stephan im BMW, es war früh am Morgen, die digitale Anzeige am Armaturenbrett zeigte kurz nach sieben. Wir warteten in einer Parklücke in der Georgenstraße, schräg gegenüber dem Haus, wo bis vor einer Woche auch Alexandra Kaspari gewohnt hatte. Blätter lagen auf den parkenden Autos und im Rinnstein. Das Gewitter in der vergangenen Nacht hatte zum ersten Mal die Luft ein wenig abgekühlt. Kai joggt jeden Morgen im Englischen Garten, Alexandra war darüber immer voller Bewunderung gewesen. Mein Plan war, dem Jungen dort wie zufällig über den Weg zu laufen, meine Hoffnung, daß Holger mit von der Partie war. So könnte ich beide in ein Gespräch verwickeln, etwas herausfinden. Kai sollte auf keinen Fall mißtrauisch werden. Darum hatte ich Stephan überredet, mein Komplize zu sein. Stephan hing schief auf dem Fahrersitz und lugte zu den Fenstern in der Fassade hoch. »Ich glaube, die schlafen noch. Oder sie sind längst weg.« »Holgers Auto steht noch da. Die kommen gleich raus, warte es ab.« Stephan gähnte. »Wie war’s mit deiner Mutter und Regula? Seid ihr ausgegangen?« »Ach«, sagte ich. »Ging so. War ganz nett.« In Wirklichkeit war der Abend etwas merkwürdig gewesen. Auf der Terrasse beim ›Ederer‹ eine Luft wie in einem feuchten Heizungskeller. Regula hatte über ihrem Salat gebrütet, ich stocherte in meiner Dorade, nur Mutter plauderte von dem Goldregen in ihrem Garten in Zürich. Ich spielte mit
den Tropfen, die an meinem Glas perlten, und dachte an Alexandra. Sie hätte meine Schwester gefragt, wie es ist, wenn alle den eigenen Ehemann für einen Egoisten halten, hätte sich bei Mutter erkundigt, ob es nach Vaters Tod jemals wieder einen Mann in ihrem Leben gegeben hatte. Alexandra wollte immer alles wissen, wollte Reaktionen provozieren. Was würde Aljoscha in dieser Runde sagen? Zwei Pärchen am Nebentisch lachten über irgend etwas, die Wände funktionierten wie ein Verstärker. Aljoscha war nie laut und indiskret. Ich überlegte. Wen traf er jetzt nach Feierabend? Mit wem würde er zu Abend essen? Wahrscheinlich fuhr er Metro, drängelte sich irgendwo in der Rush-hour. Und saß bestimmt nicht an so einem gepflegten, gedeckten Tisch. Ich schob meinen Stuhl zurück, murmelte etwas, wollte zur Toilette gehen. Da sah ich ihn. Er saß allein an einem Tisch, die Haare naß zurückgekämmt, seine Lippen im gebräunten Gesicht rosig, wie das Hemd. Er trug einen teuren braunen Anzug. Alles an Fabrice Duras war braun und rosa. Als wäre es ein Reflex, holte ich meine Visitenkarte hervor und ging zu ihm. »Ich bin Tomas Prinz«, begann ich. »Sie kennen mich nicht, Frau Kaspari wollte uns immer vorstellen.« Duras schaute auf. »Sie kennen Alexandra?« »Wir waren befreundet.« »Sie ist tot.« Ich nickte. Duras griff nach meiner Visitenkarte. »Tomas Prinz. Ich glaube, Alexandra hat mir von Ihnen erzählt. Sie sind ein bekannter Frisör, der Künstler. Wir sollten uns wirklich kennenlernen.« Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Regula gelangweilt mit ihren Haaren spielte und Mutter den Hals reckte, entweder suchte sie mich oder den Kellner. »Jetzt bin ich mit meiner
Familie hier. Aber wir könnten uns zum Mittagessen treffen«, schlug ich vor. Er reichte mir seine Karte. »Es ist schön, jemanden kennenzulernen, der ein Freund von Alexandra ist. Sie war eine tolle Frau.« »Das war sie. Ich rufe Sie an.« Später, nach dem großen Regen, als die Straßen in schwarzem Wasser schwammen und Kim mir im ›Arosa‹ den zweiten Absacker mixte, bemerkte ich, daß sich meine Muskeln langsam wieder entspannten. Das war letzte Nacht gewesen. Jetzt saßen wir fast schon eine Stunde im Auto und warteten auf die Kaspari-Männer. Ich wurde immer nervöser. Stephan hatte nicht ewig Zeit. »Vielleicht wäre es besser gewesen, mich einfach mit Kai zu verabreden«, sagte ich. Aber Vater und Sohn hatten sicher anderes zu tun, sie mußten die Beerdigung vorbereiten, entscheiden, ob Sarg oder Urne, Butterkuchen oder Pastete. Drüben im Hausflur tat sich etwas. Die Tür öffnete sich. »Achtung!« rief ich. Hand in Hand sprangen zwei kleine Mädchen auf den Gehsteig und liefen hüpfend davon, im Takt einer imaginären, schönen Melodie. Stephan schaute auf die Uhr. »Hey«, rief ich, »da sind sie ja, unsere beiden Früchtchen!« Holger und Kai gingen mit schnellen Schritten auf den dunkelgrünen BMW mit Berliner Kennzeichen zu, der auf der anderen Straßenseite geparkt war. Holger rangierte übervorsichtig aus der engen Parklücke, drückte dann unerwartet aufs Gaspedal und brauste davon. »Los, hinterher!« rief ich. Stephan fuhr zügig. Auf der Agnesstraße schob sich ein Fiat zwischen uns, doch bei der Ampel am Elisabethmarkt hatten wir sie wieder. Stoßstange an Stoßstange warteten wir auf
Grün. Holger blickte mit starren, grauen Augen in den Rückspiegel. »Erkennt dich Holger?« fragte Stephan. »Wir sind einander nie vorgestellt worden, aber, frag mich nicht, irgendwie kennen wir uns trotzdem.« Wir fuhren die Franz-Joseph-Straße bis zur Leopold, Holger setzte links den Blinker. »Der fährt zum ›Seehaus‹«, sagte Stephan. Er ließ Platz auf freier Strecke, gab Gas, als die Ampel umsprang. Stephan verfolgte den Kaspari-BMW mit einer Gelassenheit, als hätte er nie etwas anderes getan. Vor dem ›Seehaus‹ stellten wir das Auto außerhalb des Parkplatzes ab. Holger begann, auf dem Kies zu hüpfen und mit den Armen zu kreisen, Kai tat es ihm nach. Er war schon fast so groß wie sein Vater. »Aufwärmen ist gut für die Muskeln«, sagte Stephan. »Aber schlecht für meine Blase. Es hilft nichts.« Ich öffnete die Tür und verdrückte mich ins Gebüsch. »Mann, Tomas!« hörte ich Stephan rufen. »Wo bleibst du? Die hauen uns ab!« Holger und Kai liefen bereits am ›Seehaus‹ vorbei und bogen in den Weg ein, der am Kleinhesseloher See entlang in den Englischen Garten führt. Wir nahmen die Verfolgung auf. »Wie stellst du dir das jetzt vor?« fragte Stephan. Er lief synchron neben mir. »Wir kürzen über die Wiese ab und laufen ihnen entgegen.« Ich sprang über die niedrige Eisenstange, die den Weg von der Grünfläche abtrennt, Stephan mir nach. Das Gras war schon wieder knochentrocken. Ein Frühaufsteher stand wie eine Skulptur unter einer Erle, machte wohl Yoga, sonst war niemand auf der Liegewiese. Wo waren Holger und Kai? »Die sind wahrscheinlich abgebogen! Verdammter Mist!« rief Stephan, auf dessen T-Shirt der Schweiß bereits einen
dunklen Keil malte. Durch das Blattwerk sah ich die silberne Bürste von Holger davonlaufen. »Also da lang. Tempo!« »Nicht zu fassen! Der Junge mit seinem Holzbein! Rennt uns glatt davon! Was für eine Schnapsidee, das hier.« Stephan keuchte. Die Luft erwärmte sich von Minute zu Minute. Aus einem Seitenweg bog ein Mann in einem elektrischen Rollstuhl, sonst begegnete uns niemand. Hatten die Jungs doch einen anderen Weg eingeschlagen? Da tauchten sie auf, am Ende des Weges. Wer sagt’s denn! Ich lief jetzt einen lockeren Trab. »Hallo!« rief ich. »Wer kommt denn da?« Kai trug eine lange Jogginghose, wahrscheinlich wegen der Prothese, Gesicht und Haare waren naß. »Der Herr Frisör!« Wir gaben uns die Hand. Holger war ein Stück weitergelaufen, trat jetzt auf der Stelle. Stephan kam langsam näher und stemmte sich die Hände in die Hüften. »Sie drehen auch hier Ihre Runden?« fragte Kai. »Fast jeden Morgen.« »Kommst du, Kai?« Holger war nicht zum Small talk aufgelegt. Seine Borsten waren keine zwei Millimeter lang, die muskulösen Beine absolut haarlos. Rasierten sich die Heteros jetzt auch überall? »Papa, das ist Tommy Prinz, Mamas Frisör.« Holger nickte. Bevor ich eine Unterhaltung beginnen konnte, lief er los. »Wir müssen weiter.« Kai setzte sich wieder in Bewegung. »Hey, trinken wir nachher im ›Seehaus‹ einen Kaffee?« rief ich ihm hinterher. »Okay, in einer halben Stunde!« rief Kai und spurtete los. »Abgemacht!« Stephan und ich gingen langsam zurück. Stephan war skeptisch, wie ich es anstellen würde, »die harte Nuß«, Holger
Kaspari, zu knacken. »Wart’s ab«, sagte ich, wußte aber selbst nicht, worauf die Sache hinauslaufen würde. Ich versuchte mir auszumalen, daß Holger der Mörder wäre, daß Kai nach der Mutter auch noch den Vater verlieren würde, aber es gelang mir nicht. Wir setzten uns auf eine der Bänke im Biergarten. Unter den Bäumen tauchten Holger und Kai auf, machten auf den letzten hundert Metern Endspurt. Holger war vorn, Kai schloß auf, und beide fielen fast gleichzeitig auf die Bank neben uns. Sie rangen nach Atem, lachten, ohne uns zu beachten. Ich fühlte mich wie ein Eindringling und sagte hilflos: »Ihr seid ja ganz schön weit gelaufen.« Holger fing wieder an rumzuspringen, Kai zog seine Jogginghose hoch. »Das juckt«, sagte er und löste die Prothese vom Bein. Stephan schaute weg. Holger ging zum Auto, etwas zu trinken holen. Das war die Gelegenheit. »Wie geht’s dir, kommst du klar?« fragte ich. Kai rieb seinen Stumpf. »Willst du mal zum Haareschneiden vorbeikommen?« »Wäre langsam mal nötig, was?« Er fuhr sich verlegen durch die nassen Haare, so daß sie wirr ins Gesicht hingen und ihm etwas Rebellisches verliehen. Ein Schnitt war nicht zu erkennen. »Man könnte mal Farbe hineinbringen«, sagte ich. »Es ist egal, wie es aussieht. Es ist so egal.« »Wann ist die Beerdigung?« »Freitag. Das wird der Horror.« Ich nickte. »Ich seh Oma schon. Und dann Tante Isabel, die sowieso über alles den Kopf schüttelt, was hier bei uns abgeht. Die ganze Ruhrpott-Verwandtschaft war Mama doch total fremd.« Kai schob das halbe Bein unter das andere.
»Ich war gestern auf der Polizei«, sagte ich, »die Kommissarin hat alle möglichen Fragen gestellt.« »Kommt mir bekannt vor. Mir steht’s bis hier.« »Schließlich soll sie den Mörder finden.« Kai starrte auf den Boden. »Denkst du, du kannst der Polizei irgendwie dabei helfen?« Kai blies hörbar die Luft aus. »Die Alte hat nicht gerade den Durchblick. Die schnallt es nicht. Krempelt mir die ganze Bude um, als ob das irgend etwas bringen würde.« Holger kam mit Thermoskanne, Wasserflasche und zwei Blechtassen. Die Flasche kreiste. Er goß Tee in einen Becher und reichte ihn mir. Er selbst trank aus dem Deckel und starrte in die Bäume, als müsse er die Anzahl der Blätter berechnen. Auch Kai sagte jetzt nichts mehr. Ich habe selten einen Menschen getroffen wie Holger Kaspari. Ich rede mit allen möglichen Leuten, mit Müllmännern, Professoren, Tanten, Tunten und russischen Großmüttern, auch wenn ich deren Sprache nicht verstehe. Das gehört zu meinem Beruf. Aber Holger Kaspari blockierte mich, als verströmte er ein Gift, das die Zunge lähmt. Was hatte Alexandra nur an ihm gefunden? Irgendwie mußte ich die Unterhaltung eröffnen. Ich fragte: »Wann sind Sie nach München gekommen?« »Schon vor ein paar Tagen«, antwortete Holger und beobachtete, wie Kai sein Bein vom Oberschenkel nach unten massierte. »Ist das Bein okay, Kai?« »Mein Beileid, Herr Kaspari«, sagte ich, »ich habe Alexandra ganz gut gekannt. Es ist furchtbar. Es trifft uns alle sehr, aber das muß ich Ihnen ja nicht erzählen.« Holger starrte wieder in die Bäume. War er gelangweilt, oder war ihm das Gespräch peinlich? Egal, ich machte einfach weiter. Deswegen hatte ich dieses Treffen schließlich inszeniert.
»In der Branche wird viel über Alexandras Tod geredet und spekuliert«, sagte ich. »Ach ja? Zum Beispiel?« »Da geht es immer wieder um ihren neuen Freund.« Kai hielt in seiner Massage inne, fixierte einen Punkt auf dem Boden, ohne aufzuschauen. »Keiner kennt ihn«, sagte ich. »Alexandra hat mir von ihm erzählt, aber ziemlich kryptisch, nur so in Andeutungen.« »Das interessiert mich nicht«, sagte Holger. »Weißt du etwas über den neuen Freund deiner Mutter, Kai?« fragte ich. Stephan stieß mich an. »Ich möchte nicht, daß Kai da hineingezogen wird.« Holger wurde wütend. »Das Ganze nimmt ihn sowieso schon viel zu sehr mit.« Ich gab nicht auf. »Zum Glück gibt es Claudia. Ich glaube, Alexandra wäre sehr froh, wenn sie wüßte, daß ihre beste Freundin sich so kümmert.« Stephan stieß mich wieder an. »Wenn wir die Beerdigung hinter uns haben, fahre ich mit Kai zurück nach Berlin. Es wird Zeit, daß der Junge aus allem rauskommt, Abstand gewinnt. Wir müssen zu uns kommen. Aber das geht Sie eigentlich gar nichts an.« Holger schraubte die Thermoskanne zu. »Kommst du, Kai?« Kai nahm die Prothese und begann sie wieder zu befestigen. Jetzt oder nie: Ich mußte Klartext reden, viel Zeit blieb nicht mehr. Ich mußte es mit Alexandra halten, unverschämt werden, eine Reaktion provozieren. »Übrigens«, sagte ich und log einfach drauflos, »Alexandra hat mir an ihrem letzten Abend, also kurz bevor sie ermordet wurde, erzählt, daß Sie in München sind. Ich glaube, die Polizei geht davon aus, daß Sie in besagter Zeit noch in Berlin waren.« »Wie meinen Sie das?« Holger hatte plötzlich eine nasse Aussprache.
»Daß Sie gegenüber der Polizei vielleicht nicht ganz die Wahrheit gesagt haben?« »Was erlauben Sie sich!« Kai sah von einem zum anderen. Mir war nicht wohl bei der Sache. »Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte ich. »Die Sache irritiert mich nur.« »Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie mir da unterstellen? Sie… Sie Frisör!« »Entschuldigen Sie bitte«, schaltete sich Stephan ein. »Es geht nur darum, einen Widerspruch zu klären. Sie behaupten, in der Zeit, als der Mord geschah, nicht in München gewesen zu sein, Ihre verstorbene Frau sagte etwas anderes.« »Und wer sind Sie?« Holger war nun rot im Gesicht wie eine untergehende Sonne. »Stephan Hammerschmid, Anwalt.« »Anwalt? Das wird ja immer toller! Ich werde mich hier nicht vor Ihnen rechtfertigen. Wenn Sie etwas gegen mich vorzubringen haben, gehen Sie doch zur Polizei. Bist du endlich fertig, Kai?« Holger schrie fast. »Bitte regen Sie sich nicht auf. Es tut mir leid.« »Kümmern Sie sich um Ihren Dreck.« Kai preßte die Fäuste gegen die Augen. »Was soll das?« heulte er. »Was macht ihr?« »Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben!« Holger faßte Kai bei der Schulter, der nur noch lauter heulte. »Laß mich, laßt mich alle in Ruhe. Scheiße! Fickt euch doch. Scheiße, Scheiße!« Holger kam dicht an mich heran. Eine Ader trat wie ein kleiner Schlauch auf seiner glatten Stirn hervor, sein Atem roch säuerlich nach Kaffee. »Das eben wird Ihnen noch leid tun, Prinz. Das schwör ich Ihnen.« Dann ging er mit schnellen Schritten seinem Sohn zum Parkplatz nach. Kai zog das linke
Bein hinter sich her, als würde es nicht mehr zu seinem Körper gehören.
13
Ich begleitete Mutter durch den Salon wie einen Staatsgast, der ein fremdes Land besucht. Sie begrüßte der Reihe nach Bea, Dennis, Kerstin, Benni und die anderen, fragte nach Kitty, die Urlaub machte, und inspizierte neugierig die Räume. Seit der Renovierung vor zwei Jahren war sie nicht mehr hier gewesen. Die hellen Farben im vorderen Bereich, wo geschnitten wird, gefielen ihr. Die bunten Gemälde auf dem Putz, dieses Durcheinander aus Abstraktem und Konkretem, fand sie dagegen unerträglich. Sie fragte nach dem Material des dunklen Parketts, lobte die entspannte Arbeitsatmosphäre und regte an, bunte Bonbongläser auf dem Tresen könnten schöne Blickfänger sein. Es reichte. Endlich saß Mutter in einem Umhang auf dem Stuhl. Sie baumelte mit den Beinen und plauderte. Ihr ging es um die Produktion von Tee- und Kaffeebonbons, mir um den Beweis, daß ich ein guter Frisör bin. Ich verpaßte ihr das volle Programm: Färben, Schneiden, Kräutertee. Mutter verlangte Kaffee, »so einen Macchiato«, und fragte nach der Financial Times, »bitte die englische Ausgabe«. Hochglanzmagazine lehnt sie ab. In zwei Stunden würde sie sich vor dem Spiegel drehen und behaupten, das Haar sei wieder mal zu kurz geschnitten, die Farbe schön. Ich war erledigt und streckte mich der Länge nach auf der Bank im Hof aus. Nicht nur die Leberkässemmel, die ich am Viktualienmarkt gekauft und auf dem Rückweg vom Joggen verdrückt hatte, lag mir noch im Magen. Aus dem Salon klang Gelächter, Scheren klapperten, Föne heulten. Weiße Fetzen kräuselten sich am Himmel zu kleinen Locken, doch die Sonne
würde sie bald glätten. Ich schloß die Augen. Jetzt schlafen, unter einem Baum liegen, mit einem Grashalm gekitzelt werden. Ich hörte Schritte auf dem Pflaster. Eine Tasse wurde auf dem Tisch abgestellt, eine Schachtel fiel auf die Holzplatte, jemand setzte sich. Ein Feuerzeug zündete. Ich mag den Geruch von anbrennendem Tabak, er erinnert mich an früher, an Herrn und Frau Berg, unsere Angestellten, die in der Küche rauchten. Manchmal durfte ich Frau Berg Zöpfe flechten, kleine Rattenschwänze, die sie wie ein Hippie beim Kochen trug. »Jetzt erzähl mal.« Es war Beas Stimme. »Womit soll ich anfangen?« So viel war geschehen. »Der Reihe nach. Laß die Augen zu, wenn es hilft.« Ich konzentrierte mich. Zuerst die Redaktion. Ich sah Eva Schwarz in ihrem schönen weißen Zimmer, im bunten Papageienkleid, umringt von sexy Vamp-Girls auf vielen Titelbildern, aber bedroht von einem schmutzigen Deal, den Alexandra heimlich eingegangen war. Ihre Redakteurin hatte sich an den Kosmetikkonzern Clairmont verkauft und mit dem Geld Porsche, Kais Prothesen, Parties und Einkaufsorgien finanziert. Was für ein Schlamassel. Das durfte nie herauskommen. Zumal Clairmont ein lukrativer Anzeigenkunde war und hoffentlich bleiben würde. Gleichzeitig war Alexandra als kreative, engagierte Redakteurin eine gefährliche Konkurrenz für Eva Schwarz, wollte vermutlich ihren Posten. Das alles erzählte ich Bea. Sie inhalierte, atmete aus. »Eva Schwarz steht jetzt gut da«, sagte sie. »Alexandra ist sie los, sie hat keine Konkurrenz mehr, und die Bestechungssache muß gar nicht herauskommen – Schnee von gestern, wen interessiert das jetzt noch? Sie wird mit Duras weiter zusammenarbeiten, ohne ein Wort über die Sache zu verlieren. Vielleicht ist er tatsächlich der Liebhaber.«
Fabrice Duras von Clairmont? Oder doch eher Clemens Sander aus der Anzeigenabteilung? Alexandra hatte von einem »Kollegen« gesprochen. Vielleicht war Duras am Ende doch schwul? Bei der Vernissage hatte er mit Eva Schwarz geflirtet. Die Kommissarin würde sagen, er trägt Rosa, also ist er schwul. Vielleicht müßte ich es einfach testen. Bea sortierte laut ihr eigenes Material. »Eva Schwarz ist raffiniert. Du darfst nicht vergessen, der Skorpion wird von Pluto regiert, Mitherrscher ist der Mars, beides Planeten der Leidenschaften. Wenn der Einfluß schlecht ist, reagiert der Skorpion mit Gewalt. Du bist ganz anders, Tom. Wenn bei dir der Mars ungünstig steht, wirst du rechthaberisch und eingebildet, aber es geht keine Gewalt von dir aus.« Ich fand, Bea schweifte ab. Ich erzählte von Barbara Kramer-Pech, der Assistentin, die Alexandra angehimmelt hatte, vielleicht in sie verliebt war. Aber Alexandra hatte sie nie beachtet. Eifersucht – könnte das ein Motiv sein? »Sternzeichen?« Ich hatte keine Ahnung. »Ich vermute Krebs«, sagte Bea. »Barbara Kramer-Pech hat ein starkes Anlehnungsbedürfnis, will aber auch selbst bemuttern und versorgen, stimmt’s? Doch wenn sie zurückgestoßen wird, kann sie dir mit ihrer Rachsucht das Leben schwermachen. Aber man darf den Krebs nicht unterschätzen, er ist nämlich auch diplomatisch und schlau. Sie ist bestimmt Krebs. Hat sie ein volles Gesicht? So einen melancholischen Blick, rundes Kinn, insgesamt wenig Muskeln? Genau, das ist der Krebs. Mein Ehemann Nummer zwei war auch so einer.« Bea hatte eine perfekte Beschreibung von Barbara KramerPech geliefert.
»Was ist mit der Glaserin?« fragte Bea. »Hat sie endlich die Mordwaffe?« »Nein.« Mir fiel der Stein auf dem Glastisch von Eva Schwarz ein: Rosenquarz mit Zacken und Kanten. Ob sie die Dreistigkeit besitzen würde, die Mordwaffe ungeniert auf dem Besuchertisch zu präsentieren? Ich richtete mich auf, zu schnell für meinen Kreislauf. »Ich weiß, du hörst das nicht gern, aber mir ist Claudia Koch nicht geheuer«, sagte Bea. »Die tut immer so unschuldig, aber die Nummer nehme ich ihr nicht ab.« Bea und ihre Analysen, immer so aus dem hohlen Bauch. Ich war genervt. »Jetzt hör aber auf!« sagte ich. »Claudia war Alexandras beste Freundin, sie ist vor Schmerz völlig durcheinander.« »Übrigens, ich habe jetzt frei«, meinte Bea. »Ich hab’s im Kalender gesehen. Was machst du?« »Ich treffe meine Internetbekanntschaft, er heißt Robert. Er ist Kieferorthopäde, 45, zwei Jahre älter als ich.« »Hört sich solide an.« »Er hat Bart.« »Den kann man abrasieren.« »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Ruf mich um halb fünf an. Wenn ich sage: ›Fahrt ohne mich an den Ammersee‹, ist alles in Ordnung. Wenn ich aber sage: ›Okay, dann komme ich mit in den Schwarzwald‹, mußt du mich auf der Stelle abholen. Wir sind im ›Dukatz‹. Tust du mir den Gefallen?« »Klar, ich rufe dich an, sobald wir bei Stephan fertig sind.«
Ich wählte Claudias Privatnummer. Die ersten drei Ziffern stimmten mit der Nummer von Alexandra überein. Es war schließlich dasselbe Haus.
»Koch?« tropfte es aus dem Hörer. »Dir geht’s nicht gut?« Claudia lachte auf. »Nein, nicht wirklich.« »Kann ich etwas für dich tun?« fragte ich und ging mit dem Telefon vor die Tür. Auf der Hans-Sachs-Straße war es ruhiger als drinnen im Salon. »Was gibt’s denn?« fragte Claudia. »Ich wollte dich um etwas bitten, es geht um Kai. Ich glaube, ich habe dem Jungen ein bißchen zugesetzt.« Ich erzählte ihr, was beim Joggen passiert war. »Und was soll ich jetzt tun?« »Sorry, Claudia.« Warum war sie so kurz angebunden? »Tomas, ich meine es nicht böse. Ich bin nur… es ist bloß… weißt du, ich kann nicht…« Hatte sie denn niemanden, der sie tröstete? »Soll ich vorbeikommen?« fragte ich. »Das ist nett, Tomas.« Claudia bemühte sich zu lachen, es gelang ihr nicht. »Ich möchte allein sein. Es war alles ein wenig viel, und ich bin nicht so stark, wie es vielleicht aussieht. Die ganzen Dinge, die jetzt ans Licht kommen. Ich dachte, ich kenne Alexandra. Ich dachte, ich kenne sie in- und auswendig.« »Was meinst du denn?« Ich hörte, wie Claudia sich schneuzte. »Seit fünfzehn, was sag ich, seit fast zwanzig Jahren, seit unserer Studienzeit, war sie meine Freundin.« Ich hörte, wie sie einen Schluck Wasser trank. »Wir haben uns zusammen eingeschrieben. Sie trug eine Marlene-Dietrich-Hose, die hatte damals noch kein Mensch, und ich sagte: Das ist ja ein tolles Teil, und so haben wir uns kennengelernt, kannst du dir das vorstellen? Und jetzt das. Sie machte Schulden, lebte wie Katharina die Große, ohne Rücksicht auf Verluste.« Claudia schluchzte, es hörte sich an,
als ob sie ein Taschentuch vor den Mund preßte. »Entschuldige, was mußt du von mir denken?« »Ich finde, du bist sehr tapfer.« »Ich frage mich, konnte man ihr überhaupt vertrauen? Und hat Alexandra mir vertraut? Was war das eigentlich zwischen uns?« »Weißt du, wer ihr neuer Liebhaber war?« Schweigen am anderen Ende. Dann, zögernd: »Du weißt es also auch nicht? Ich verstehe das nicht. Alexandra machte sonst nie ein Geheimnis aus ihren Männergeschichten. Dieses Mal war es anders. Vielleicht war es etwas Ernstes?« »Ganz bestimmt nicht. So viel hat sie mir immerhin noch erzählt.« Claudia schluchzte wieder. Sie mußte wirklich mit ihren Nerven am Ende sein. »Sicher hätte sie es mir demnächst erzählt. Und jetzt ist es zu spät. Ich würde sie so gerne noch einmal in den Arm nehmen, wie früher, weißt du, als wir noch ganz eng waren.« Ich konnte sie kaum verstehen. »Damals, als sie mich zu Vamp holte, nach meiner Zeit in Maryland und diesen ganzen Sozialstudien, ich war völlig fertig, das war ja alles für die Katz gewesen, ich wußte überhaupt nicht, wie es weitergehen sollte. Da verschaffte Alexandra mir den Job auf Probe, und das war einfach, das war wirklich toll von ihr!« Ich lehnte vor dem Salon an der Wand und polierte mit dem Hemdsärmel die Spuren des Gewitters von meinem silbernen Schild, getrocknete Regentropfen auf »Tomas Prinz – für Haare«. Ich erinnerte mich. Alexandra hatte damals wegen ihrer Schwangerschaft das Studium abgebrochen, Soziologie, wie Claudia, die zielstrebig weiterstudierte, ihr Studium mit Auszeichnung beendete, aber keine Aussicht auf eine feste Stelle hatte. Alexandra hatte bei Vamp schon lange ein eigenes
Zimmer und half nun auch ihrer Freundin in die Redaktion. In der Branche war Claudia eine Außenseiterin, froh und dankbar über diese Chance. Für Alexandra war es selbstverständlich gewesen, ihre Freundin zu unterstützen. Sie machte keine große Sache daraus. Ich sagte: »Mach dir keine Vorwürfe, Claudia, du warst ihr eine gute Freundin, das weiß ich. Und wenn jemand so plötzlich aus dem Leben gerissen wird, gibt es immer Dinge, die man noch klären oder nachholen will. Das ist normal!« – Klang ganz schön salbungsvoll. Ein Kunde kam aus dem Salon. Wir grüßten uns wortlos. Er ging die Hans-Sachs-Straße hinunter und bewunderte sich in den Schaufensterscheiben. »Tomas, du bist der einzige, mit dem ich so reden kann.« »Laß uns mal zum Essen treffen. Wie wäre es morgen abend?« »Tomas, nein, wirklich, das kann ich nicht.« »Du darfst dich nicht verkriechen!« »Ja, nein, aber nicht jetzt, bitte, versteh das.« »Dann komm wenigstens zum Haareschneiden. Du wirst sehen, das wird dir guttun.« Ich hörte, wie Claudia am anderen Ende ein wenig lachte. »Ich gebe dir einen Termin«, sagte ich, »morgen abend, dann ist niemand im Salon, und ich kann dich ganz in Ruhe schneiden, wenn du magst.« »Ach, Tommy.« Ein junger Mann kam die Hans-Sachs-Straße herauf. Er trug einen riesigen Seesack über der Schulter. Das konnte nicht sein. »Abgemacht, Claudia?« fragte ich und beobachtete, wie der Mann näher kam. Als er auf der Höhe vom Hotel Olympic war, hatte ich keinen Zweifel mehr, das war er. Aljoscha. Wie kam er hierher? Ich spürte, wie mir vor Freude ein Lachen den Hals hinaufstieg.
»Mal sehen. Vielleicht bis morgen.« »Ciao, Claudia, ciao, ciao.« Ich drückte die Taste. Aljoscha winkte, der Seesack rutschte ihm von der Schulter. Ich lief los, stand vor ihm und sagte: »Mensch, Aljoscha!« Ich strich ihm die Haare aus dem Gesicht. Seine Haut war dunkler als sonst und die Sommersprossen – alle noch da. Er lachte und sagte: »Da staunst du, was?«
14
Die Unterschriften waren geleistet, und wir schauten zu, wie Stephans Assistentin feierlich die Bonbons in eine Schale schüttete. Sie klingelten wie Münzen. Alle warteten auf den Champagner und eine Ansprache, die ich als Sohn der Familie zu halten hatte. Ich stellte mich mit dem Glas vor die Aktenordner und hob an. Ich sprach wie ein Minister von »neuen Herausforderungen« im Hause Prinz und einer »vielversprechenden Zukunft«, kalauerte über das Süßigkeitenverbot aus unseren Kindertagen und die jetzige Pflicht zum Bonbonlutschen und sprach den Toast. Damit war der offizielle Teil beendet. »Danke, Tomas«, sagte Mutter und berührte meine Wange. Regula mußte mich jetzt vertreten. »Sei mir nicht böse«, sagte ich zu ihr, »ich komme nicht mehr mit zum Essen. Aljoscha ist da.« »Bring ihn doch mit.« »Mama hielt ihn vorhin, im Salon, für Matteo, was mir ziemlich peinlich war. Den gibt’s nun wirklich schon länger nicht mehr.« »Typisch Mama. Also los, hau schon ab.« Stephan zog mich auf die Seite. »Tom, ich muß mit dir reden.« »Du, ich hab’s eilig.« »Mach nicht wieder solche Sachen wie heute morgen mit dem Kaspari. Dem Kerl ist einiges zuzutrauen. Der macht womöglich noch ernst mit seiner Drohung.« »Drohung?« Ich tätschelte Stephan den breiten Hinterkopf. »Keine Sorge, ich paß schon auf mich auf.«
Dann tätschelte Mutter mich. »Besuch mich bald. Im September bin ich in Nizza. Und bring deinen hübschen Franzosen mit.« Endlich war ich draußen. Aljoscha wartete im Café am Hofgarten. Er wollte in die Stadt, den Löwen vor der Residenz an die goldenen Tatzen fassen, die roten Geranien am Rathaus sehen und die blaue Tram, wollte sich treiben lassen vom gemächlichen Münchner Tempo. Aljoscha lebt in Moskau und Reykjavik, jetzt auch in München. Ich war glücklich, ich war ein sehr glücklicher Frisör. Ich rannte. Aljoscha saß in der Sonne, die Beine ausgestreckt, und sprach mit einem Paar am Nachbartisch. Beim Zuhören legte er den Kopf schräg, wie immer. Dann sah ich es. Jemand hatte sich an seinen Haaren vergriffen. »Wer war das?« fragte ich. »Was? Wer war was?« Aljoscha schaute hoch. »Die Haare.« »Die Haare? Das war Dennis, dein Topstylist.« »Wie kommt Dennis dazu, dir die Haare zu schneiden?« Das Paar grinste. Aljoscha stand auf, sagte etwas auf russisch, legte Geld auf den Tisch und zog mich mit sich fort. »Was ist daran so schlimm?« »Wieso schneidet dich ein Fremder, was soll das?« Aljoscha blieb stehen. »Du bist ein Despot.« »Er hat an den Seiten ganz schön was runtergeholt, ich muß mich daran gewöhnen. Aber« – ich zog Aljoscha an mich – »es sieht eigentlich gut aus. Er hat das wirklich gut gemacht.« »Tomas!« Aljoscha betonte meinen Namen, wie gewohnt, auf der zweiten Silbe, auf dem »a«. »Er hat kaum etwas abgeschnitten, gerade mal die Spitzen. Es ist fast nicht zu sehen.« Wir schlenderten über den Sandweg, in den Hofgarten hinein. Manchmal lief Aljoscha vor mir her, tauchte durch die
Sonnenstrahlen in die langen Schatten der Bäume. Ich folgte langsam und spürte, wie das Gefühl der Nähe stärker wurde. Wir waren fast drei Monate getrennt gewesen. Am Brunnen holte ich ihn ein. Ich tauchte meine Hände ins Wasser, als Aljoscha plötzlich mit der flachen Hand über die Oberfläche wischte und mich naß spritzte, wie Kinder es mit Erwachsenen tun. Er wollte davonrennen, und ich packte ihn an den Schultern, versuchte ihn zu bändigen. Aljoscha wurde ganz weich, als ich Wasser über seine Haare und sein Gesicht laufen ließ und von seinen Lippen leckte. Die beiden Damen, die im Schatten saßen, standen auf und gingen weg. Am Ende des Gartens nahmen wir mit eingezogenem Kopf die Abkürzung durch das Loch in der Hecke, den Trampelpfad, der existiert, seit ich in München bin. Aljoscha erzählte, daß er schnell nach München mußte, weil er eine Plastik verkaufen könne, ein fetter Deal, den er mit Katharina Nikolskaya, der Galeristin, schon im vergangenen Herbst eingefädelt hatte, als wir beide uns noch gar nicht kannten. Wir setzten uns auf die Wiese, die zum Fluß hin abfällt. Aljoscha stützte den Oberkörper nach hinten mit den Armen ab. Ich legte meinen Kopf in seinen Schoß. Der Eisbach rauschte. Aljoscha strich mit einem trockenen Grashalm über mein Kinn, piekte in meinem Grübchen herum. »Aljoscha«, fragte ich, »was ist ›Muskus‹?« »Muskus? Das ist ein Öl, so ein Sekret, du kennst das.« »Moschus?« »Genau. Wie kommst du darauf?« »Eine lange Geschichte. Es ist so viel passiert in den letzten Tagen. Ich wollte dich anrufen und dir alles erzählen. Wir sind alle ganz durcheinander. Alexandra, eine Kundin von mir, ist ermordet worden. Die Polizei hat mich verhört, weil ich ihr kurz vorher die Haare gemacht hatte, und dann fand ich in der
Redaktion einen Brief, an sie adressiert, in dem stand auf kyrillisch ›Muskus‹.« »Hat sie mit Moschus gehandelt?« »Ich weiß nicht. Das ist bei uns verboten.« »In Sibirien machen Wilderer Jagd auf Moschushirsche. Ich glaube, der illegale Handel mit Moschus bringt mehr ein als Gold«, sagte Aljoscha. »Wer braucht das denn? Die Industrie benutzt doch synthetischen Moschus.« »Ich glaube, man nimmt es auch für die chinesische Medizin. Es soll zum Beispiel für die Potenz gut sein, wußtest du das nicht?« »Laß uns gehen.« Auf der Brücke über dem Eisbach, der an dieser Stelle wie Wildwasser ist, stellten wir uns zu den Schaulustigen. Jungs in glänzender schwarzer Gummihaut suchten auf den Wellen die Balance und galoppierten über die Breite des Baches, hin und her, wie eingesperrte, geschmeidige Tiere, immer hin und her. Objektive zoomten. Einer stürzte von der Welle, das Brett flog, wie von einem Trampolin geschleudert, durch die Luft, die Gummihaut verschwand in den Fluten. Aljoscha beugte sich weit über die steinerne Brüstung, ich hielt ihn zur Sicherheit fest. Der Verlierer kraulte ans Ufer, und der nächste ging an den Start. Auf der Maximilianstraße schlenderten wir an Schaufenstern entlang, als hätten wir kein Ziel und wären auf der Suche nach einem Abenteuer, das wir zusammen bestehen könnten. Aljoscha witzelte über die minimalistischen Auslagen, die wenigen Kleidungsstücke und die einzelnen Parfümflakons, sagte, das sei wie früher im Sozialismus, heute ein Zeichen von vornehm und teuer. »Es gibt keinen Mangel mehr.« Ich betrachtete uns in der getönten Scheibe. Der eine etwas kleiner, die Haare ein wenig wirr, aber glatt und fast kinnlang,
der andere größer, die Haare widerspenstig. Mir war das Bild immer noch neu, ungewohnt. Aljoscha hielt mir die Tür eines Ladens auf. Ich checkte das Angebot, als wäre es eine Pflicht, fand eine Hose aus festem Stoff mit aufgesetzten Taschen, kein Reißverschluß, sondern Knöpfe, wie ich es mag. Während ich sie anprobierte, hörte ich die Bedienung vor meiner Tür: »Wo soll’s denn hingehen?« – »Nach Kuba«, antwortete eine Männerstimme. Schon wieder Kuba, erst Alexandra, dann Kim, alle wollen nach Kuba, gibt’s denn keine anderen Orte auf der Welt? Die Hose kniff im Po. Ich wollte raus, die Bedienung fragen, stieß die Tür ein Stück auf und sah plötzlich im Türspalt diese Schuhe: schwarzes Leder auf Hochglanz poliert, über dem Spann die Mittelnaht, wie eine Narbe. Ich kannte diese Schuhe. Ich hatte sie erst vor kurzem gesehen. Gestern. Er war es, Clemens Sander. Der reiste also nach Kuba? »Und wann soll’s losgehen?« fragte die Bedienung draußen. »In zehn Tagen«, sagte die Männerstimme. Und eine Frau fügte hinzu: »Das kam ganz spontan. Deshalb habe ich gesagt, laß uns unbedingt noch auf die Maxi, das ist jetzt das Wichtigste, denn wenn wir zurück sind, ist ja alles weg. – Paßt das Hemd? Clemens, probier es bitte, bitte an. – Es sind genau die Farben, die meinem Mann so gut stehen!« Clemens Sander verreiste ›ganz spontan‹ mit seiner Frau nach Kuba. Hatte etwa Alexandra die Reise gebucht, ›zusammen mit ihm‹ – ihrem neuen Typen? War Clemens Sander ihr Liebhaber? Hatte sie mit ihm Sex gehabt, kurz vor ihrem Tod? Jemand stieß mir die Tür gegen den Kopf. »Tomas?« Aljoscha drängelte in die Kabine. Ich legte den Finger auf die Lippen. Aljoscha grinste. »Was ist los?« fragte er. »Warum kommst du nicht raus?«
»Ich kann nicht, da ist jemand, den ich kenne, der mir verdächtig vorkommt, ich meine, er darf mich nicht sehen, vielleicht habe ich gerade den Beweis…« Aljoscha küßte mich. »Aljoscha, bitte, das geht nicht.« Ich hielt seine Hände fest, die Hose war zu eng. »Bring sie mir eine Nummer größer«, ich strampelte mich raus und schob Aljoscha aus der Kabine. »Das Modell gibt’s nicht größer«, rief Aljoscha durch die Tür. »Okay«, sagte ich, streifte meine alte Hose über, stopfte das Hemd hinein und öffnete die Kabinentür. Ohne nach rechts und links zu gucken, steuerte ich wie ein dreister Dieb durch den Laden, zum Ausgang. Aljoscha war hinter mir. Draußen nahm ich ihn an beiden Schultern und sagte: »Das könnte er sein! Stell dir vor! Das könnte der Liebhaber von Alexandra sein. So ein Ding.« Aljoscha verstand nichts. »Laß uns schnell verschwinden.« Ich schaute durch die Scheibe zurück in den Laden. Dort stand Clemens Sander mit der Adlernase und sah mir direkt in die Augen.
15
Wieso lag das Telefon im Bett? Wieso klingelte es? Ich tastete nach dem Hörer. Er lag zwischen Aljoschas Füßen. »Ja, bitte?« »Tomas, wie geht’s? Alles paletti?« Claus-Peter, der Journalist. Der Münchner Morgen verlangte Auskunft. »Wie spät ist es?« »Gleich neun. Liegst du noch im Bett? Ich halt’s nicht aus. Der Tommy liegt noch im Bett. Bist du allein? Du bist nicht allein, stimmt’s?« Claus-Peter meckerte, wie eine Ziege. »Was willst du? Stell dein Radio ab, wenn du mit mir sprichst. Oder besser, ruf später noch mal an.« »Hast du auch gehört, daß die Polizei die Mordwaffe gefunden hat?« »Davon weiß ich nichts. Warte mal.« Ich zog vorsichtig an einem der Laken. Aljoscha rollte von der Seite auf den Bauch. Er schlief mit offenem Mund und trug auf der gebräunten Haut einen hellen Streifen, wie einen Slip. Ich wickelte mich in das Laken. Draußen auf dem Balkon zupfte ich die trockenen Blätter von den Levkojen. Die Kirchturmuhr holte, wie zur Begrüßung, zum Schlag aus. Tatsächlich, neun Uhr. »Was ist denn die Mordwaffe?« fragte ich. »Ich dachte, das könnte ich von dir erfahren.« »Ich hab keine Ahnung. Woher hast du das denn?« Hatte die Kommissarin es mir absichtlich verschwiegen? »Das tut doch nichts zur Sache«, sagte Claus-Peter. »Ist ja auch eine Nullinfo.«
»Tomas, es ist nichts los in der Stadt. Ich brauche einen neuen Aufguß von der Geschichte, sonst vergessen die Leute den Mord. Hast du was? Sag mir irgend etwas.« »Also das ist wirklich dein Problem. Was soll ich dir denn sagen? Ich habe nichts.« »Hältst du es für möglich, daß Alexandra lesbisch war?« »Eine ganz schlechte Schlagzeile.« »Man muß alles mal durchspielen. Oder weißt du, was in so einem Frauenladen alles los ist?« »Männerphantasien, würde ich sagen.« »Besser als gar keine.« »Ich weiß nur, daß Alexandra ziemlich in Geldschwierigkeiten war.« »Na, das ist doch schon mal ein Anfang.« Claus-Peter zog einem mit seiner Hartnäckigkeit immer etwas aus der Nase. Hatte ich jetzt einen Fehler gemacht? »Aber das weiß eigentlich jeder«, sagte ich. »Spielschulden?« »Glaube ich nicht. Eher was sich so anhäuft, wenn man gut lebt, verreist, Klamotten kauft, das alles.« Stille. »Schreibst du mit?« fragte ich. »Alexandra hat über ihre Verhältnisse gelebt. Naja, so richtig vom Hocker reißt mich das nicht.« »Entschuldige, daß ich dir keine Geschichten von Erpressung, Treffen an Autobahnraststätten und Geldübergaben erzählen kann.« »Sei nicht so zickig.« »Mach’s gut, Claus-Peter, tschüs.« Ich ärgerte mich, daß ausgerechnet Claus-Peter meine Nacht beendet hatte, und beschloß, den Anruf so schnell wie möglich zu vergessen. Als ich im Bad den Hebel auf kalt stellte und wie
immer laut schrie, steckte Aljoscha den Kopf zur Tür herein: »Tomas, Besuch für dich!« Ich hatte es nicht klingeln gehört. »Wer ist es?« »Ein ganz, ganz junger Mann, aber reinkommen will er nicht.« Im Treppenflur stand Kai, sehr verlegen, und hielt mir einen Umschlag hin, der einen schwarzen Rand trug. Alexandras Todesanzeige. »Ich wollte es Ihnen persönlich geben«, sagte er. Ich drehte den Brief in den Händen. »Ich danke dir, Kai.« »Also, würde mich freuen, wenn Sie dabei sind, bei der Party. Ich mache dann mal den Fisch.« »Du machst was? Red nicht, und komm rein.« »Ich will nicht stören. Echt nicht.« Ich legte meine Hand in Kais Nacken und schob ihn über die Schwelle. »Ich glaube, es gibt Kaffee. Trinkst du Kaffee?« »Wenn Sie meinen. Sie haben Rasierschaum hinterm Ohr.« Hinter der Badezimmertür trommelte es gegen den Duschvorhang, in der Küche dampfte tatsächlich der Kaffee. Im Herd brannte Licht, auf dem Blech standen kleine Zipfelmützen aus Teig. Ich suchte Tassen. »Duscht da Ihr Freund?« »Ja, Aljoscha.« »Und wer war der andere, im Englischen Garten? Ich dachte, das ist Ihr Freund.« »Stephan? Der ist auch mein Freund, aber mehr ein Kumpel. Noch aus der Schulzeit. Stephan ist so etwas wie ein Bruder.« »Habe mich schon gewundert.« Ich schenkte uns ein, stand wieder auf und stellte eine dritte Tasse auf den Tisch. Der Kaffeegeruch vermischte sich mit dem Duft der Zipfelmützen. »Gibt’s auch Milch?« fragte Kai. »Milch? Nein. Ich trinke keine Milch.«
Kai verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Ich öffnete den Umschlag mit dem Trauerrand. »Freitag, elf Uhr. Okay, ich werde kommen.« »Mein Alter will nicht, daß Sie dabei sind. Aber ich dachte, fick dich, Mama hätte es gewollt.« Kais Augen waren weit aufgerissen, als wollte er die Tränen zurückhalten. Ich sagte: »Als mein Vater starb, konnte ich überhaupt nicht weinen. Das war merkwürdig. Alle um mich herum heulten, aber bei mir: nichts. Keine einzige Träne. Ich dachte, vielleicht kommt es später, irgendwann, ein Zusammenbruch oder so. Aber da war nichts. Jetzt ist er schon seit zehn Jahren tot.« »Haben Sie ihn nicht gemocht?« Ich überlegte. »Doch, vielleicht auch geliebt. Aber unser Verhältnis war nie besonders eng. Er war immer weit weg. Leider.« »Vermissen Sie ihn?« »Ich weiß nicht. Darüber habe ich nie nachgedacht.« Kai betrachtete neugierig Aljoscha, der in der Tür stand mit einem T-Shirt, darauf das Bild eines Milchglases und die Aufschrift: Wish you were beer. Eine Freundin hatte es vor Jahren entworfen und mir geschenkt, ich hatte es völlig vergessen. »Aljoscha ist Russe«, sagte ich zu Kai und stellte die beiden einander vor. Wir schauten zu, wie Aljoscha Milch aufsetzte, und ich dachte, wann hat er die gekauft? »Wie haben Sie eigentlich gemerkt, daß Sie schwul sind?« fragte Kai. »Ich? Wußte ich schon immer.« Aljoscha setzte sich zu uns an den Tisch. »Schwul? Seltsames Wort. Auf russisch heißt schwul goluboj, himmelblau.« »Klingt viel netter als schwul«, sagte Kai. »Meine Mutter hat mal behauptet, wenn sie nicht zu blöd wäre, würde sie Russisch lernen. Ich finde Spanisch besser.«
»Alexandra und Russisch? Wegen der Leute mit dem Moschus?« fragte ich aufs Geratewohl. »Hat sie Ihnen davon erzählt? Das war eine supergeheime Sache, niemand sollte davon erfahren.« »Sie hat mir nichts erzählt, ich reime es mir nur zusammen. Wollte sie wirklich in die Produktion von Moschusöl einsteigen, oder was?« »Ein Scheißöl.« »Es wird aus den Drüsen zwischen den Hinterläufen gedrückt«, sagte Aljoscha, »die Tiere werden richtig ausgepreßt.« »Und die Schweinerei ist«, sagte Kai, »daß auch Jungtiere und Weibchen getötet werden, aber die haben gar kein Moschus. Es ist ein Verbrechen.« »Hast du mit deiner Mutter über den Moschushandel gesprochen?« »Na klar. Antje und ich haben ihr Bilder gezeigt und ihr die Hölle heiß gemacht. Sie sollte die Finger davon lassen. Wir waren sauer. Dabei war alles meine Schuld.« »Deine Schuld?« fragte Aljoscha. »Die Menschen in Sibirien brauchen den Moschushandel, um zu überleben. Sie haben keine Arbeit, sogar Essen ist knapp. Sie haben vielleicht gar keine Wahl. Aber was hat das mit dir zu tun?« »Ich habe ja ständig Geld verlangt! Immer hatten wir Zoff deswegen. Aber sie hat doch alles nur für mich getan. Warum habe ich das nicht kapiert?« Kai stiegen nun doch die Tränen in die Augen. »Statt dessen haben wir uns gestritten. Immer wieder. Sogar an unserem letzten Abend.« »Wann? An welchem Abend?« Kai pustete in seinen Kaffee. »Kai, wann hast du mit ihr gestritten?« »An dem Abend.« »Der Abend, an dem sie ermordet wurde?«
»Sie dürfen das niemandem erzählen, hören Sie? Niemandem! Wenn ich gewußt hätte, daß sie, stellen Sie sich das mal vor, ich hätte doch…« Kai redete mit seinem Kaffee. »Jetzt ganz ruhig«, sagte ich. »Wann genau warst du bei ihr?« »Weiß nicht, vielleicht gegen halb neun.« »Hat dich jemand gesehen?« »Glaub ich nicht.« »Der Pförtner?« »Ich nehme immer die Seitentür und gehe durchs Treppenhaus. Ich kann Fahrstühle nicht leiden. Mama hat mir extra einen Schlüssel für die Tür gegeben.« »Und dann warst du bei ihr im Zimmer?« »Ja.« »Erzähl mal der Reihe nach.« »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich wollte mir Geld borgen. Sie sagte, vergiß es. Auf ihrem Tisch lag wieder so ein Brief von den Moschus-Leuten. Ich habe ihr gesagt, sie soll es lassen. Mama hat geantwortet, sie käme damit sowieso nicht weiter. Hat mir vorgehalten, ich würde sie am Geldverdienen hindern, aber ständig fordern. Sie hatte ja recht. Aber das habe ich da noch nicht verstanden. Ich fühlte mich total ungerecht behandelt. Dann hat sie mich rausgeschmissen.« »Hast du sonst jemanden gesehen?« Kai schüttelte den Kopf. »Irgendeinen Kollegen, Clemens Sander vielleicht?« »Mama hat mich noch zur Tür gebracht, zum Treppenhaus. Aber da war sonst niemand.« »Hat sie gesagt, daß sie noch jemanden erwartet?« »Weiß nicht.« Kai hatte Tränen in den Augen. »Sie hat mir einen Zehner gegeben und gesagt, sie hätte noch zu tun. Wahrscheinlich wollte sie diesen Kosmetik-Fritzen treffen. Ich
habe ihr den Zehner vor die Füße geschmissen und bin gegangen.« Kai weinte. »Was für ein Kosmetik-Fritze? Meinst du den Kerl von Clairmont?« »Kann sein.« »Dieser braungebrannte?« »Ja, der. Mit dem war sie doch ganz dick.« »Wie, ›dick‹? Geschäftlich?« Aljoscha murmelte etwas auf russisch. »Was? Ja, nein, was weiß denn ich. Ich weiß doch auch nichts. Aber, bitte, sagen Sie nichts der Polizei. Die sollen mich in Ruhe lassen. Ich will mit denen nichts zu tun haben.« Ich wollte sagen, daß mir alles leid tat, aber ich fand die richtigen Worte nicht.
16
Wann hat es eigentlich angefangen mit den Regenbogenfahnen hier im Glockenbachviertel? Als wären wir in San Francisco, weht die Fahne der Homosexuellen vor den Bars wie dem ›Nil‹, klebt in der Scheibe von ›Tulipa‹, wo ich jede Woche für meinen großen Tisch die Blumen besorge, und drüben bei ›Max & Milian‹, wo Männer ihre Postkarten und Liebesromane kaufen. Aljoscha findet die Fahne wichtig. »In Moskau verstecken die Schwulen sich«, sagte er. Bei mir im Salon gibt es den Wegweiser Regenbogenfahne nicht. Ich muß mich deshalb nicht rechtfertigen. Bei mir geht es um Haare und um nichts anderes. Auf dem Weg ins ›Arosa‹ erzählte ich Aljoscha, wie die Stadtväter in den siebziger Jahren die schönen Bauten mit ihren Türmchen und Erkern verkommen ließen. Das Viertel sollte plattgemacht werden. Es war die Zeit, wo man große Verkehrsachsen plante, die autogerechte Stadt. »Auch nicht anders als zu Breschnews Zeiten in der Sowjetunion«, sagte Aljoscha. Naja. Heute sind die Häuser saniert, die Fassaden so hell gestrichen wie vielleicht noch nie in den vergangenen hundert Jahren. Hier leben Künstler, Intellektuelle, Film- und Fernsehleute. Und ich. Wir haben uns hier ganz gut eingerichtet. Die Hans-Sachs-Straße ist wie ein offenes Wohnzimmer, in dem man das ganze Leben verbringen kann. Bea und Kim saßen draußen. Ich stellte Aljoscha vor. Die Frauen kannten ihn nur aus meinen Erzählungen. Die drei verteilten untereinander Zigaretten, und Bea sagte: »Saturn im Krebs wirkt sich positiv aufs Familienleben aus.« Nur bei ihr nicht. Das Treffen mit ihrer Internetbekanntschaft, dem
Kieferorthopäden »mit einem schönen Gebiß und edlem Profil«, war eine Enttäuschung gewesen. Ihre Zigaretten durfte sie nur in der Küche unter der Dunstabzugshaube rauchen. Der Kerl kam als Ehemann Nummer fünf nicht in Frage. Mir fiel ein: Ich hatte gestern vergessen, Bea am Nachmittag anzurufen wie abgemacht. Und Stephan hatte am Morgen vergeblich auf mich an der Reichenbachbrücke gewartet. Ich war ein schlechter Freund. Den Rest des Tages verbrachte ich allein, wie ein Gefangener in meinem Büro im Souterrain, erledigte die Bestellungen für das Haarbügeleisen, machte die Ablage, beantwortete E-Mails und registrierte, daß manche Nachrichten sich automatisch verbreiten: Jeremy in London wußte, daß Aljoscha bei mir in München ist. Eva in Bogenhausen war im Bilde, daß Claudia zu mir ins Glockenbachviertel kommen würde. Also kam sie doch. Ich wartete im Salon. Als Claudia endlich erschien, hatte Kerstin schon vor über einer Stunde als letzte Kamm und Schere weggepackt und war mit ihrem langhaarigen Frisurenmodel von vergangener Woche abgezogen, Aljoscha mit einem potenten Kunden für eine Plastik unterwegs. Claudia gab mir die Hand wie bei einem Geschäftstermin, kein Küßchen rechts und links. Ich fragte: »Magst du zuerst etwas trinken? Oder soll ich dich gleich schneiden?« »Lieber zuerst etwas trinken. Aber nur ein kleines Gläschen.« Sie hockte hinten im Salon auf dem Diwan, als wäre er eine Skulptur und kein Sitzmöbel, und blätterte in einer Ausgabe von Vamp. Ich nahm die Flasche zwischen die Beine, konnte aber nicht mehr verhindern, daß der Korken aus dem Flaschenhals schoß. Der Knall war so unangebracht wie der Schaum, der übersprudelte. Es gab ja nichts zu feiern. Ich hob Claudias Handtasche aus der Pfütze.
»Auf dich«, antwortete ich. Es klingt nie schön, wenn man mit diesen dünnen Flöten anstößt. »Darauf, daß alles wieder gut wird.« Claudia war blaß wie der Champagner. Sie bewegte die Flüssigkeit im Mund, bevor sie sie hinunterschluckte. »Arbeitest du wieder?« »Ab Montag.« »Das wird dich ablenken.« »Sicher.« Draußen auf der Hans-Sachs-Straße fuhr ein Lastwagen vorbei, drinnen bei uns wurde es noch stiller. Claudia nippte und schaute sich um. Sie brauchte keine Frisur, sie brauchte einen Freund, mit dem sie über die gemeinsame Freundin sprechen konnte. Trauerarbeit nennt man das wohl. »Komm«, sagte ich. Wie eine Kerze trug sie das Glas zu dem Platz, an dem ich am liebsten schneide, ließ sich auf der äußersten Sitzkante nieder und stützte sich mit beiden Händen ab. »Hat Alexandra auch hier gesessen? Ich meine, auf diesem Stuhl?« Ich legte den Umhang zur Seite und zog mir einen Stuhl heran. Ach, Claudia. »Wie war sie an jenem Abend?« fragte sie. »Als sie kam – aufgeregt, aber als sie ging, ganz gelöst und mit dem Weißblond richtig glücklich.« Claudia schüttelte den Kopf. »Weißblond. Wie kam sie bloß darauf? Sie war doch so blaß.« »Es sah toll aus.« Ich mußte an Kai denken, an seinen Besuch heute morgen. Er hatte herumgezappelt, eine Frisur verlangt, die ihn verändert, sichtbar. Zu Hause sei alles so unwirklich. Er habe Schubladen aufgerissen, Glitzersterne auf dem Boden ausgestreut und Glühbirnen aus den Lampen gedreht, sei dabei aber nur noch wütender geworden. Ich hatte ihn gewarnt, Färben ändert nichts: Alexandra ist tot. Dann hatte ich ihm den
Gefallen getan. Bea betrachtete das Resultat, tomatenrote Haare, und sagte: »Wie seine Mutter. Immer radikal.« Das war vor ein paar Stunden gewesen. Claudia bat: »Erzähl mir von deinem letzten Abend mit Alexandra. Worüber habt ihr gesprochen?« Sie wehrte ab, als ich ihr nachschenken wollte. »Sie hat über Holger gelästert«, sagte ich, »von Kai erzählt, vom Job, von irgendeinem Preisausschreiben mit euren Leserinnen, sie war total genervt. Eigentlich wie immer.« »Hat sie auch über mich geredet?« »Ich glaube nicht. Sie hat von ihrem neuen Typen geschwärmt.« Claudia starrte auf die kleinen Perlen, die in ihrem Glas an die Oberfläche stiegen. Gleich würde sie heulen. Ich sprach schnell weiter: »Alexandra hatte diese riesigen Blasen an den Füßen. Hatte sie mit Joggen angefangen? Vielleicht wegen Kai? Oder wegen der Figur?« Jetzt lächelte Claudia. »Woher die Blasen stammen, weiß ich. Die Schühchen aus Venedig. Die haben wir zusammen gekauft.« »Ach so.« »Es war ihr siebenunddreißigster Geburtstag, der letzte, den wir gemeinsam gefeiert haben. Wir kamen von San Marco, und weißt du, wen wir bei der Accademia auf dem Vaporetto gesehen haben? Kommissar Brunetti, kannst du dir das vorstellen? Wir wußten beide sofort, daß er es ist. Genau so hatten wir ihn uns vorgestellt. Wir haben ihn verfolgt, ganz unauffällig, und in einer der engen Gassen waren diese Schuhe im Schaufenster. Sie haben uns beiden gepaßt. Ich sage: Nimm du sie. Alexandra: Nein, nimm du sie. Brunetti war dann weg.« Immer mehr Anekdoten sprudelten an die Oberfläche, wie Kohlensäure in dem Gesöff, das uns berauschte und zum
Lachen brachte. Obwohl Claudia ihr Glas kaum angerührt hatte. Eine Stunde später schloß ich den Salon ab und winkte Hoffmann, der wieder gegenüber vor dem Kino saß Claudia hakte sich bei mir ein, wie Alexandra es auch getan hätte. Claudia war jetzt ganz still. Wir bogen in die Mpizestraße. In dem Moment sah ich den dunkelgrünen BMW, Berliner Kennzeichen, akkurater Abstand zum Bordstein. Was hatte Holger Kaspari hier bei mir im Glockenbach-viertel verloren? Saß er etwa da drüben, im ›Sushi and Soul‹? Nein, nirgends war die silbergraue Bürste zu entdecken. Synchron mit Claudia machte ich kleine Schritte, was kümmerte mich Holger. Wir waren hungrig und wollten etwas essen. Vor der ›Orangha-Bar‹ winkte mir der Wirt und deutete auf einen freien Tisch auf dem Gehweg. Claudia wählte Pasta mit Feigen und Rosinen, ich bestellte Steak und zündete das Windlicht auf dem Tisch an. Claudia nahm sich eine Zigarette, diese Dinger mit dem dunklen Tabakblatt und dem goldenen Mundstück. Alexandra hatte die auch manchmal geraucht. »Kai soll das nächste Schuljahr in Berlin machen«, sagte sie. »Ist das beschlossene Sache?« Ich gab ihr Feuer. Claudia paffte und drückte die Zigarette gleich wieder aus. »Die Dinger bekommen mir irgendwie nicht.« »Ich finde das mit Kais Umzug alles viel zu überstürzt«, sagte ich. »Es ist wichtig, daß der Junge jetzt in geregelte Bahnen kommt und nicht ein Lotterleben mit dieser Antje anfängt. Schließlich ist er noch nicht volljährig.« Kai in einer fremden Stadt. Holger als strenger Erzieher. Antje, die erste große Liebe – in München. Armer Kai. »Du hast schon mal anders geredet«, sagte ich. »Tomas, ich kann für Kai keine Verantwortung übernehmen, ich kann ihm seine Mutter nicht ersetzen. Mir wird es zuviel
mit dem Jungen. Ständig ist er bei mir, fragt mich Sachen über Alexandra, über unsere Freundschaft, unsere Vergangenheit. In Berlin hat er seinen Vater und diese Frau, da ist er gut aufgehoben.« »Welche Frau?« »Holgers Freundin.« »Und die ersetzt ihm dann die Mutter. So schnell geht das.« »Ja«, wiederholte Claudia, »so schnell geht das. Auf dem Foto sieht sie aber nett aus.« »Ist es dieselbe Frau, die Holger ein Alibi gegeben hat?« »Was für ein Alibi?« »Sein Alibi eben. Es könnte nämlich auch sein, daß Holger schon am Tag vor dem Mord in München war.« Claudia legte die Serviette in den Schoß. »Ist das wahr?« Ihr Rücken war ganz gerade. »Die Frau hat bei der Kripo ausgesagt, Holger wäre zur Tatzeit in Berlin gewesen. Aber sein Wagen stand in München – angeblich schon die ganze Zeit. Aber warum sollte er sein Auto hier parken und selbst in Berlin sein?« »Vielleicht kann man Holger wirklich nicht trauen. Vielleicht mache ich alles falsch.« Claudia lachte nervös. »Es ist schon komisch: Er will alles wissen. Auch über dich. Er ist eifersüchtig auf dich, weil der Junge dir vertraut, einem Wildfremden, und nicht ihm, seinem Vater. Er ist eifersüchtig auf mich, weil ich für Kai eine viel zu gute Freundin bin. Holger will hier alle Brücken abbrechen.« »Das ist wahrscheinlich das Beste, was er tun kann.« Ich balancierte das Feuerzeug auf zwei Fingern. »Glaubst du, Holger weiß, wen Alexandra da zuletzt an der Angel hatte? Wer ihr Typ war?« Claudia zuckte mit den Schultern.
»Ich habe da so eine Idee. Was hältst du von eurem Redaktionsliebling – Clemens Sander? Könnte er nicht der Mann sein, mit dem sie kurz vor ihrem Tod Sex hatte?« »Alexandra und Clemens.« Claudia sah durch mich hindurch. »Das ist ja ein Ding! Eigentlich hätte ich selbst darauf kommen können.« Claudia lachte. Die Leute am Nebentisch guckten. »Was ist daran so lustig?« fragte ich. »Entschuldige!« Sie konnte sich nicht beruhigen. »Ausgerechnet Clemens«, rief sie, »der läßt wirklich niemanden aus, es ist zum Schießen, jetzt auch Alexandra! Wie kommt das bloß? Wie macht der das? Vermutlich braucht er es. Tomas, bitte, sag mir eines: Stimmt es, daß Männer mit großer Nase, ich meine, stimmt es eigentlich, daß Männer mit einer großen Nase auch einen großen Schwanz haben? Jetzt sag schon! Stimmt es?« Sie lachte, und ihre Schultern hoben und senkten sich, als würde jemand an unsichtbaren Fäden ziehen. Plötzlich wurde sie ernst. »Was hat sie dir alles erzählt? Denkst du, es war ihr ernst mit Clemens? Ich selbst habe ja kaum noch mit ihr gesprochen.« Der Abend würde lang werden. Wir landeten im ›Morizz‹, Claudia bestellte sich einen Cocktail aus Fruchtsäften, ich einen Old Fashioned. Wir schauten dem Barkeeper zu. Sven hantierte flink und konzentriert. Zucker und Wasser, ein Spritzer Orangenbitter, Eiswürfel, das Ganze mit Bourbon aufgießen und ein Stück Zitrone hinein. Barkeeper sein war immer auch ein Traum von mir: die Hände gebrauchen, ein Gefühl für das Maß haben, zuhören. Claudia steckte einen Finger in mein Glas und leckte ihn ab. »Das Zeug schmeckt wirklich altmodisch«, sagte sie. »Wie Eifersucht.« »Wie kommst du denn darauf?«
»Wegen Alexandra. Es könnte doch alles auch ganz anders gewesen sein.« »Und wie?« »Eva sitzt oft bis spät in die Nacht in der Redaktion, gerade in letzter Zeit. Sie wandert dann herum, schaut in alle Zimmer. Und am nächsten Tag heißt es: ›Bitte, meine Damen, räumen Sie Ihre Zimmer auf, die Redaktion ist ein Saustall.‹« »Ja, und? Was hat das mit dem Mord zu tun?« »Na, vielleicht war sie auf Entdeckungsreise. Und was sie entdeckte, hat ihr möglicherweise nicht gefallen. Es gibt nämlich ein Gerücht.« »Du meinst, Eva und Clemens? Das glaube ich nicht! Eva ist doch seit Jahren verheiratet und, soviel ich weiß, glücklich.« »Es ist nur ein Gerücht.« Das Mobiltelefon auf dem Tisch leuchtete bläulich und stumm, aber Claudia beachtete es nicht. »Wenn Eva ein Verhältnis mit Clemens hätte und ihn mit Alexandra beobachtet hat – ist dir klar, was das bedeutet?« Ich stützte meinen Kopf mit einer Hand ab. Sven nickte, als ich noch einmal bestellte. Eine halbe Stunde später standen wir auf dem Gehweg, ich schwankte leicht, nur so ein Schwindelgefühl, zuviel Alkohol. Claudia sagte, sie fühle sich super. »Wohin gehen wir jetzt?« fragte sie. Also gut. Ins ›Iwan‹? Zu viele schwule Männer, fand Claudia. Ins ›Schumann‹? Zuviel fade Journalisten, fand ich. Die Goldbehängten im ›Aroma‹ lockten uns nicht, ›Inges Karotte‹ war auch keine Alternative. Claudia trällerte, ich erinnerte mich, daß Aljoscha ins ›PI‹ wollte. Claudia fand, das müßten wir verhindern. Im Taxi kurbelten wir die Fenster herunter; die Musik aus dem Radio vermischte sich mit dem Fahrtwind, Claudia sang hell und merkwürdig schön. Ich stellte mir vor, daß wir ewig so durch die Nacht fahren
würden, wie auf einer Flucht. Später würde ich mir wünschen, ich wäre statt dessen nach Hause gegangen. Aljoscha stand ganz hinten im Pulk vor dem ›P‹, die Hände in den Taschen vergraben, stur wie immer, wenn er etwas durchsetzen will. Heute war es der Türsteher, der über die Menge hinwegsah, als wäre er mondsüchtig. Ich nahm Aljoschas Gesicht in meine Hände und küßte ihn. Claudia drängelte von hinten, ich machte sie miteinander bekannt. Aljoscha sagte, er sei nicht allein hier. Nicht weit von uns leuchteten Kais Haare, rot wie Neonlicht, er winkte lässig, eine Flasche Sekt unterm Arm und einen offenen Karton in der Hand, in dem Pizzastücke wie Abfall lagen. Kai und Aljoscha hatten ein paar Clubs besichtigt, das alte ›Finanzamt‹ und andere, von denen ich noch nie etwas gehört hatte – »Clubs wie im Moskau der Neunziger«, sagte Aljoscha, »das krasse Gegenteil von Schuppen wie diesem«, sagte Kai. Seine Pupillen erzählten mir, daß er mindestens eine Line Koks genommen hatte. »Und jetzt wollt ihr unbedingt hier rein?« fragte ich. Ich schob mich nach vorne, Claudia hielt sich an mir fest, zog Kai mit. Man machte uns nur widerwillig Platz. Jemand schrie begeistert auf wegen der Bemerkung, der Dingsbums sei heute da. Vorne ging die Tür auf, eine Gruppe wurde rausgelassen, eingehüllt in das Wummern der Bässe. Ein Kreischen. War da Prominenz? Aljoscha aß Pizza. »Bonsoir, Monsieur Prinz!« Sonnenbraunes Gesicht, zahnarztweiße Zähne, Fabrice Duras stand vor uns. »Mais vous êtes omniprésent!« Der Mann von Clairmont war unterwegs mit vielen Frauen und wenig Männern, ich konnte auf die Schnelle nur schwer die Übersicht gewinnen. Es waren wohl alles Kolleginnen aus der Vamp-Redaktion, die Claudia umringten, juchzten, sie umarmten und drückten, als wäre sie von einer langen Krankheit genesen. Eva war anscheinend
nicht mit von der Partie. Ich stellte der Runde Aljoscha vor, auf dessen Schulter sich Kai jetzt stützte wie ein guter Kumpel. Duras machte auf Moderator, lud uns ein, mit ins ›Lehel‹ zu kommen. »Da drinnen im ›PI‹ sind zu viele Fußballer.« Er lachte, alle lachten, und Aljoschas leiser Einwand, er habe nichts gegen Fußballer, ging völlig unter. Claudia wurde von ihren Kolleginnen in die Mitte genommen. Die Tür zum ›PI‹ war längst wieder geschlossen. Duras machte Konversation, nannte mich seinen »Freund« und wunderte sich, daß ich nicht zur Präsentation des neuen Flakons gekommen war. Der Termin war mir durchgerutscht, obwohl Alexandra mir noch eine Einladung geschickt hatte. Ich heuchelte Bedauern. Duras schlug mir auf die Schulter, ging jetzt neben Aljoscha und redete mit ihm Französisch. Woher wußte Duras, daß Aljoscha auch Französisch spricht? Brillierte dieser Typ immer so? Kai humpelte neben mir. »Wir müssen auch mal eine Tour machen – nur wir beide«, sagte er. »Ja, unbedingt.« »Sagen Sie mal«, sagte Kai und schaute mich von der Seite an, »kann es sein, daß Sie ganz schön getankt haben?« »Sag mal«, sagte ich, »kann es sein, daß du ganz schön zugedröhnt bist?« »Ich kann Ihnen eine Nase anbieten.« Kai grinste. »Ich sollte dein Holzbein nehmen und dir damit auf die Finger hauen.« Auf der Brücke über dem Eisbach wurde beratschlagt, wohin wir gehen sollten. Claudia unterhielt sich mit ihren Kollegen, sie schien sich bestens zu amüsieren. Ich lehnte mich über die Brüstung. Hier hatten wir gestern die Wellenreiter beobachtet. Der Stein war warm. Ich beugte mich weit über die Balustrade, das schwarze Wasser unten war reißend, kühle Luft stieg herauf. Mir schwindelte. Ich hörte hinter mir Kai lachen, eine
Frau kreischen, als würde sie gekitzelt. Plötzlich stand Kai oben auf der Brüstung und rief mir zu: »Komm doch rauf!« Er tänzelte. »Oder traust du dich nicht?« Ich stemmte mich hoch, Kai reichte mir die Hand, zog mich zu sich. Ich balancierte, atmete tief durch und schloß die Augen, Stimmen und Geräusche entfernten sich. Ich sollte wirklich bald ins Bett. Jemand berührte mich, ich spürte diese Hand an meinem Bein. Ich schwankte, wollte zurück auf die Straße springen. Ich hatte Angst. Nein! Ich fiel. Alexandra, im grellen Licht, ihre Haare, schwarz, wie die Ringe unter ihren Augen. Sie klammert, fesselt mich, wir fallen, fallen immer weiter, wie schwerelos. Alexandra ist ganz nah, ihr Mund riesig, ein Bonbongeruch. Es tut weh. Ich will zurückweichen, komme nicht vom Fleck, der Fußboden klebt. Mutter steht da, in einen Umhang gewickelt. Ich will die Augen aufmachen, aber es geht nicht. Wenn ich die Augen öffne, ist es vorbei. Diese Schmerzen! Warum kann ich die Augen nicht öffnen?
Das Laken unter mir war kalt und naß. Aljoschas Stimme: »Du hattest einen Unfall.« »Wo bin ich?« Ich konnte nur flüstern. »Bin ich verletzt?« »Du bist wieder zu Hause. Schlaf jetzt.« »Gott sei Dank. Slawa Bogu.« Die Matratze schaukelte wie ein Boot, ein Arm schob sich vorsichtig unter meinen Kopf, wie damals in London, als der Sturm war. Da waren Aljoschas Augen, Sommersprossen, die rissigen Lippen. Was für ein merkwürdiger Traum. Verflucht, das Auge schmerzte. Ich versuchte mich zu erinnern. Ich stand auf der Brücke. Warum hatte ich auf der Brücke gestanden? Hatte mich jemand absichtlich geschubst? Fabrice Duras. Holger. Hatte ich nicht zusammen mit Kai auf der Brücke gestanden? Kai, was machst du bloß? Wo warst du, Aljoscha?
Mein Kopf schmerzte. Wasser, ein Glas Wasser, die Flüssigkeit erfrischte. Deine Hände riechen so gut. Alles ist ruhig, weich und warm. Keine Aufregung mehr, ein Gefühl von Sicherheit. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich schlief. Jemand zog die Gardinen auf, das Licht blendete. Ich sah einen Strauß Rosen. Meine Schwester Regula war da. »Es ist alles okay«, sagte sie. »Sie haben dir die Platzwunde über dem Auge genäht.« »Was haben sie? Wann war das?« »Gestern nacht. In der Notaufnahme. Du hast nichts davon mitbekommen. Du standest unter Schock. Aljoscha und ich haben dich heute morgen nach Hause gebracht. Geht es dir jetzt besser? Du wirkst ziemlich wild mit dieser Piratenklappe. Jetzt weiß ich, wie du als Schlägertyp aussiehst.« »Deine Russischlehrerin war schon da«, sagte Aljoscha. »Die ist doch Ärztin. Sie wird jetzt jeden Tag kommen und dich untersuchen. Du mußt stilliegen, wegen der Gehirnerschütterung.« »Ich bin geschubst worden, jemand hat mich gestoßen.« »Du darfst dich nicht aufregen. Du hast Glück gehabt, Tomas. Im Eisbach sind schon Menschen ums Leben gekommen. Oder sind jetzt querschnittsgelähmt. Du bist, im wahrsten Sinne des Wortes, mit einem blauen Auge davongekommen. Das Auge wird untersucht, wenn es abgeschwollen ist.« Mußte ich nicht etwas tun? »Nimm die Tabletten. Bea war eben hier. Sie ist jetzt wieder unten im Salon.« Die Termine! Schneiden. Ich mußte arbeiten. Der Terminkalender war zum Bersten voll. Stephan wartete an der Reichenbachbrücke. »Habt ihr gesehen, wie ich gefallen bin?«
»Du warst auf einmal weg. Die anderen hatten gar nichts gemerkt. Plötzlich habe ich dein weißes Hemd unten im Wasser gesehen. Ich dachte, es kann nicht sein. Ich bin runter zum Ufer, irgend jemand hat noch geholfen. Es war furchtbar.« Aljoschas Stimme wurde immer leiser. »Es geht mir schon viel besser«, sagte ich. »Die Kinder haben dir ein Bild gemalt«, sagte Regula. »Schau mal.« Ein blaues Männchen mit rot-weißem Rettungsring um den Bauch. Daneben ein zweites mit gespreizten Armen und – Puffärmeln? Nein, Schwimmflügel. »Welcher Tag ist heute?« fragte ich. »Donnerstag.« »Morgen ist die Beerdigung. Ich will von Alexandra Abschied nehmen.« Regula und Aljoscha sahen sich an. Aljoscha schüttelte den Kopf, Regula drückte mir Eis gegen die Schläfe. »In deinem Zustand! Das geht nicht. Viel zu gefährlich.«
17
Die Friedhofsglocke schlug einen monotonen Rhythmus. Über den Köpfen der Trauergemeinde schwebte der Sarg. Bei jedem Schritt nickten die Lilien auf dem Deckel, und Staub puderte unsere Schuhe und Hosensäume. Der Pfarrer hatte bei der Ansprache für an die hundert Trauergäste Alexandras chaotischen Lebensweg radikal vereinfacht und ihre egozentrische Lebensweise mit blumigen Worten schöngeredet. Alexandra konnte es egal sein. Sie lag in der Kiste mit zerschlagenem Schädel und zerschnittenem Körper, drückte mit ihrem Gewicht auf vier Schultern und setzte den Sargträgern zu. Die Sonne half ihr mit ganzer Kraft. Einer der Träger war Holger Kaspari, ich wunderte mich, das hätte ich nicht erwartet. Er spannte die Gesichtsmuskeln an, als ob er die Tote ein letztes Mal verfluchte. Der Trauerzug stand, die Glocke verstummte, aber der Schmerz in meinem Schädel pochte im selben Rhythmus weiter. Mein Auge hatte sich über Nacht hinter eine schwarzgelbe Schwellung zurückgezogen, die ich mit Augenklappe und dunkler Brille verbarg. Fast alle versteckten sich hinter einer Sonnenbrille. Bea schluchzte wieder. Die Taschentücher für ihre Tränen und meinen Schweiß waren restlos aufgebraucht. Schaukelnd versank der Sarg in der Grube. Aljoscha boykottierte diese Veranstaltung und verstand nicht, warum ich mich am zweiten Tag nach meinem Unfall in die sengende Sonne an Alexandras Grab stellen mußte. Bea war mitten in unsere Auseinandersetzung geplatzt, die gar keine war, weil Aljoscha verächtlich ein russisches Wort sagte,
dessen Bedeutung sich mir nur ungefähr erschloß. Dann stopfte er seine grüne Badehose in die Hosentasche und ging. Bea behauptete, ich würde es genießen, daß er sich Sorgen um mich machte. Wir hatten uns unter eine Kiefer in den Halbschatten verzogen und beobachteten, wie eine alte Frau im Rollstuhl von einer molligen Dame ans Grab geschoben wurde – zwei Frauen, zweimal Alexandra, in fünfundzwanzig und in fünfzig Jahren. Vermutlich ihre Mutter und Großmutter. Die alte Frau im Stuhl beugte sich über die Lehne zu Kai, der mit seinen leuchtend roten Haaren und einem schwarzen Regenschirm neben ihr stand. Der Schirm sollte ihr wohl Schatten spenden. »Was ist denn mit Ihnen passiert?« hörte ich eine Stimme hinter mir. Annette Glaser, die Kommissarin, sah mich staunend an. »Ein kleiner Unfall.« Ich versuchte zu lächeln. »Es war ein Anschlag«, sagte Bea. »Na, das müssen Sie mir später mal genau erzählen.« Annette Glaser ging mit ihrem Assistenten zu den Rhododendronbüschen, die zehn Meter weiter einen schattigen Sichtschutz bildeten. Kai stand jetzt allein am Grab. Niemand rührte sich. »Was ist mit ihm?« flüsterte Bea. Er zückte ein Mobiltelefon. »Um Himmels willen, was wird das jetzt?« Wie ein Verkäufer rief Kai: »Wer will noch einmal Mamas Stimme auf ihrer Mailbox hören? Ihr vielleicht eine Nachricht hinterlassen?« Kai schaute in die Runde. Niemand antwortete. Sollte das ein Witz sein? Eine Show-Einlage? Die Menge blieb auf Abstand. Nur Holger ging langsam zu ihm, wie zu einem Verrückten, murmelte etwas und versuchte, ihm das Telefon aus der Hand zu nehmen. Kai wehrte sich. »Das ist die letzte, einmalige Gelegenheit!« schrie er. »Jetzt oder nie!« Seine
Stimme kippte. Vater und Sohn rangelten. Das kleine Telefon schlug auf den Sarg. »Der Junge steht völlig neben sich«, sagte Bea. »Durchgeknallt, wenn du mich fragst.« Wir hatten im Auto diskutiert. Für Bea war klar, daß Kai mich von der Brücke gestoßen hatte. »Der pure Selbstzerstörungstrieb«, meinte sie. »Und er reißt den mit sich, der ihm helfen will.« Ich tippte eher auf Kais Vater. Schließlich war er es, der mir gedroht hatte. Und es konnte sogar sein, daß Holger uns in jener Nacht gefolgt war. Sein Wagen hatte in der Klenzestraße gestanden. Er konnte uns im ›Orangha‹ beobachtet haben, uns nachgegangen sein, ins ›Morizz‹, zum ›PI‹, bis auf die Brücke. Die Gelegenheit wäre günstig gewesen. Unter den vielen Leuten wäre er kaum aufgefallen. Vorne nahm die Zeremonie ihren Lauf. Claudia Koch, Fabrice Duras, bekannte Fotografen, auch Redakteure von der Konkurrenz – einer nach dem anderen ging mit der Schaufel ans Grab, warf der Toten ein Häuflein Erde zu, hatte einen Moment der Starre und trat weg. Man kondolierte den Hinterbliebenen, die in Reihe standen, mit gesenkter Stimme, fand sich danach in stummen Gruppen zusammen – die Familie, die Kollegen, die Freunde. Alexandras letzte, stille Party. Kai hielt seine Antje umklammert. Holger stand abseits – ein Fremder, mitgebracht von der Frau, die selbst schon gegangen war. Eva Schwarz, die länger als die anderen mit den Angehörigen sprach und vor der Frau im Rollstuhl sogar in die Knie ging, stellte sich wie selbstverständlich zu ihm. Sie bemühte sich um ihn, das fand ich sympathisch. Ich suchte die Gruppen nach Claudia Koch ab, aber anscheinend hatte sie den Friedhof schon verlassen, und auch Fabrice Duras stahl sich davon, noch bevor Barbara Kramer-Pech als letzte an die Grube trat. Es war, als ob der schwarze Hut sie niederdrückte.
Ein Weinkrampf schüttelte sie, und die Blumen fielen ihr mehr aus den Händen, als daß sie sie warf. Lange blieb sie allein am Grab, ihre Schultern kamen endlich zur Ruhe. Dann wandte sie sich ab. Die Menge hatte schon begonnen, sich zu zerstreuen. Eva ging auf Barbara zu, wollte sie unterhaken, doch Barbara drehte sich weg, umarmte ihre Tochter Antje, drückte Kai. Wie eine Familie verließen die drei den Friedhof. Eva Schwarz ging langsam hinterher. Die Totengräber traten ihre Zigaretten aus und nahmen ihre Schaufeln in die Hand. Jetzt gingen Bea und ich ans Grab. Auch wir wollten von Alexandra Abschied nehmen. Da drinnen lag sie. Die Kiste kam mir schrecklich eng vor. Alexandra hatte große Räume geliebt, hohe Decken, breite Betten. Ich war mehr ratlos als traurig. Dort, auf dem Deckel, ihr Telefon, ein letzter Gruß. Ihre Stimme. Wie sie wohl auf der Mailbox klang? Gehetzt, als ob sie, wie so oft, keine Zeit hätte, oder eher geschäftlich? »Bea«, sagte ich und holte meinen kleinen Kalender aus der Gesäßtasche. »Bitte, ruf sie mit deinem Handy an. Wähl Alexandras Nummer.« Bea tippte die Nummer aus meinem Telefonverzeichnis, lauschte und gab mir den Hörer. »Herr Prinz?« Ich fuhr herum. Clemens Sander stand hinter mir, sah irritiert auf das Handy und sagte: »Ich möchte mit Ihnen sprechen.« Eine fremde Stimme sagte mir ins Ohr: »Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht für…« Clemens Sander legte eine Hand auf meinen Arm. »Gehen wir noch etwas trinken?« »… Alexandra Kaspari«, sagte Alexandra. Es klang erwartungsvoll.
18
Ich hatte Clemens Sander das ›Arosa‹ vorgeschlagen und fuhr mit Bea voraus, er folgte mit seinem Wagen. Ich hatte ihm gesagt, die Zugluft in seinem Cabrio würde mir nicht bekommen, und das war mit meinem Auge nicht einmal gelogen. Bea lenkte, blinkte und sagte: »Clemens Sander hat etwas. Eine Aura umgibt ihn, findest du nicht?« Aura – ich fand das ein bißchen übertrieben. Zugegeben, Clemens Sander war attraktiv, gehörte auch noch zu der Sorte Mann, die mit dem Alter immer interessanter werden. Ein gut verpackter Macho. War ich neidisch? Vielleicht unterschätzte ich ihn. Ich versuchte, die Beine in Beas kleinem Auto auszustrecken. Geheime Kräfte gestalteten meine Gesichtshälfte um. Das Gewebe rund ums Auge pochte, ich war müde. Bea mußte einen Parkplatz suchen und dann in den Salon, arbeiten. Auch Sander kurvte wohl noch durchs Glockenbachviertel. Ich stieg vor dem ›Arosa‹ aus. »Also dann. Ich werde dir berichten.« Bei Kim war so früh am Mittag noch nicht viel los. Ich blätterte an der Theke im Münchner Morgen, wollte wissen, was Claus-Peter über die Mordwaffe schrieb, von der er mir am Telefon erzählt hatte. Auf Seite sieben stehen die Münchner Nachrichten, kleine Notizen: »Geiselnahme in Milbertshofen«, »Rentnerin in Wohnung bestohlen« und: »Keine Spur im Mordfall Alexandra K.« Niemand verdächtig, keine Mordwaffe. Hatte Claus-Peter nur geblufft?
Kim umarmte mich, hatte schon gehört, war untröstlich und verzog bei meinem Anblick selbst das Gesicht vor Schmerzen. Unkonzentriert hörte sie meine Leidensgeschichte an. Plötzlich strahlte sie, als hätte ich ihr unverhofft ein Riesenkompliment über ihr barockes Dekollete und die goldenen Wellen gemacht. Ich folgte ihrem Blick: Clemens Sander, über der Schulter lässig das Jackett, mit Augen, die Kim wie ein Model aus dem Pirelli-Kalender bestaunten. Er kam auf mich zu und fragte: »Geht’s schon besser?« Sein Blick war gleichgültig. Ich verdeckte meine schlimme Gesichtshälfte mit einem Eisbeutel und antwortete: »Am besten, wir kommen gleich zur Sache.« Clemens Sander war so groß, daß er sich seitlich setzen mußte, um seine langen Beine übereinanderschlagen zu können. Er mimte den Entspannten, aber seine Hände hinterließen einen feuchten Abdruck auf der Tischplatte. »Ich nehme an, Sie haben schon davon gehört?« fragte er. »Wovon?« Ich brauchte dringend Eis. Kim schaute zu uns herüber. Das heißt, natürlich zu ihm. Ich machte ihr ein Zeichen. Er sagte: »Sie sind doch Alexandras Frisör. Hat sie Ihnen nichts erzählt?« »Ach so. Sie meinen Ihre Affäre.« Sander strich sich über sein glattrasiertes Kinn. »Sehen Sie, Sie wissen es.« Er schien mit sich zu hadern und sagte, ohne mich anzuschauen: »Und vermutlich denken Sie auch… Aber ich habe sie nicht umgebracht.« Jetzt sah er mir direkt in die Augen. Vielleicht sind die großen Pupillen ein Grund, warum die Frauen so auf ihn fliegen. »Alle werden mich für den Mörder halten, wenn mein Verhältnis mit Alexandra herauskommt.« »Weiß es denn sonst niemand?« »Natürlich nicht. Niemand.«
»Sagen Sie doch einfach, was Sie von mir wollen.« Mein Auge schmerzte. »In Ihrem Salon wird viel geklatscht und geredet. Ich kann Gerede aber nicht gebrauchen. Wenn die Sache herauskommt, bin ich dran, und nicht nur bei der Polizei. Ich bin an dem Abend erst spät heimgekommen, ich habe kein Alibi. Und dann meine Frau – sie ist völlig ahnungslos. Sie wird mir nie wieder glauben, sie ist entsetzlich eifersüchtig. Ich bitte Sie daher nachdrücklich um Diskretion.« Kim stellte neues Eis auf den Tisch. Er schaufelte sich die Würfel in sein Weißweinglas, der Rest blieb für meinen Beutel. Ich sagte: »Es stimmt, es gibt viele Gerüchte um Alexandras Tod. Allerdings – wenn ich weiß, was Sache ist, kann ich ihnen natürlich auch entgegenwirken. Und auf meine Diskretion können Sie sich verlassen.« Der Anzeigenleiter nickte vor sich hin, aber so richtig erleichtert wirkte er nicht. »Haben Sie Alexandra denn an ihrem letzten Tag noch gesehen?« fragte ich. Er drehte sein Glas in den Händen. Endlich sagte er: »Es war auf dem Gang, vor der Toilette. Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist. Ich hatte noch eine Besprechung mit Eva gehabt, ziemlich lang und ziemlich unangenehm. Ich war eigentlich total müde.« »Eva war an dem Abend also auch in der Redaktion?« »Ja. Es ging um die Anzeigen. Die Lage ist ja weiß Gott beschissen. Eva wollte auch nur noch nach Hause, hatte es sogar ziemlich eilig und befürchtete, daß sie ihre TV-Serie verpaßt. Es war schon spät. Ich mußte noch einmal in mein Büro, ganz am anderen Ende der Redaktion. Sind Sie mal dagewesen? Jedenfalls rief sie mich, rief so über den Flur. Ich hatte Alexandra erst gar nicht erkannt. Sie war völlig
verändert, so knabenhaft plötzlich, mit kurzen Haaren, ziemlich sexy.« »Ich weiß. Ich habe sie frisiert.« »Sie fragte mich, ob ich etwas vorhätte, aber ich war, wie gesagt, ziemlich müde und habe ihr gesagt, daß es für heute nichts wird. Außerdem mußte ich noch etwas erledigen. Und das ist das Tolle an Alexandra: Sie zickt dann nicht herum, ist nicht beleidigt – überhaupt nicht! Da kenne ich ganz andere Frauen. Alexandra meinte, aber für einen Moment in ihr Büro…? Sie verstehen? Sie hat es immer wieder geschärft. Ein paar Worte, dieser Blick, und wie sie einen anfaßt. Ich weiß nicht, ob Sie das schon mal erlebt haben. Und dann lagen wir auch schon bei ihr auf dem Boden.« Clemens Sander schüttelte in Gedanken den Kopf. Wahrscheinlich sagte er die Wahrheit. Ich überlegte. Alexandra hatte Kai rausgeschmissen und er ihr den Zehner vor die Füße geworfen. Danach hatte sie Clemens Sander getroffen. Vielleicht war Kai noch einmal zurückgekommen. Wollte sich den Zehner zurückholen. »Kann Sie jemand beobachtet haben?« fragte ich. »Kai, zum Beispiel?« »Kai?« »Ihr Sohn. Er war an dem Abend bei seiner Mutter.« »Alexandras Privatleben hat mich nie interessiert. Tut mir leid. Aber da war auch niemand.« Clemens grübelte. »Alexandra hatte da noch eine Verabredung. Sie hat es mir danach gesagt, beim Abschied.« »Mit wem? Mit Duras?« »Keine Ahnung. Ich habe sie auch gar nicht gefragt.«
19
Aljoscha drückte im Halbstundentakt Birnen und Erdbeeren aus bunten Kunststofformen und knotete Eisbeutel, wickelte mir kalte, nasse Handtücher um die Waden, als hätte ich Fieber, rückte mir wie einem Großvater die Liege auf den Balkon, wo der Wäscheständer inzwischen seinen festen Platz gefunden hatte. Seine grüne Badehose hing in den Levkojen. Ich fühlte mich schwach. Das Kühlen machte mir Ohrenschmerzen, aber ich legte weiter die Eisbeutel an, aus Pflichtgefühl und aus Trotz, und redete mir ein, daß bis morgen, wenn ich wieder arbeiten wollte, alles gut sein würde. Eva hatte Blumen geschickt. Lilien, wie zur Beerdigung. Aus der Küche zog ein anderer Geruch zu mir auf den Balkon und weiter zu Hoffmann hinauf. Ich kannte den Geruch. Es roch nach Moskau, nach der Küche im Plattenbau, in der Aljoschas Großmutter in ihrer Schürze stand. Die knotigen Beine fest auf der Erde, hatte sie mit ausholenden Bewegungen in einem Riesentopf aus weißem Aluminium gerührt, der wegen seiner Beulen unsicher auf der Gasflamme kippelte. Buchweizen, Fett und andere Dinge kochten zu einem Brei, den sie »Kascha« nennen und schon zum Frühstück essen. Jetzt hatte Aljoscha in meinem Edelstahltopf für Pasta diese Kascha angesetzt. Ich ekele mich vor dem braunen Zeug, auf dessen Oberfläche gelbe Augen schwimmen müssen. Aljoscha ist mit Kascha aufgewachsen. Kascha ist gesund, sagt seine Großmutter. Wer krank ist, braucht Wadenwickel. Wäsche gehört zum Trocknen auf den Balkon. Aljoscha schob mir den Löffel in den Mund. Ich wurde gepflegt.
Bea kam auf eine Zigarette zu mir auf den Balkon, richtete Grüße aus von meinen Leuten im Salon und Genesungswünsche von den Kunden, zog sich einen Stuhl heran, schlug die Beine übereinander und betrachtete mich. Krankenbesuch. »Das Auge sieht schon viel besser aus«, behauptete sie. Aljoscha brachte Kascha und verschwand wieder. Ich legte meine Füße auf das Geländer und erzählte von meinem Gespräch mit Clemens Sander. »Meiner Meinung nach sagt er die Wahrheit«, sagte ich. »Er steht ganz schön mit dem Rücken zur Wand.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, meinte Bea. Von der Spitze ihrer Zigarette fiel Asche in den Brei, den sie essen sollte und versank spurlos. »Du mußt bedenken, der Mörder hat sie geliebt. Sonst hätte er ihren Kopf nicht auf dieses Kissen gelegt. Erinnerst du dich? Und Clemens war doch von Alexandra ganz hingerissen. Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Vielleicht hat er dir das grausame Ende einfach nicht erzählt.« »Dann hätten die beiden aber über etwas streiten müssen. Aber worüber? Und nach so einem Rausch?« »Und was ist mit Eva?« »Stimmt. Die war ja auch noch in der Redaktion. Allerdings meinte Clemens, sie habe es eilig gehabt wegen ihrer Lieblingsserie. Das kenne ich, das ist bei Mama auch immer so. Die neue Folge geht denen über alles.« Ich schaute auf meine Zehen am Geländer, beobachtete, wie sie sich krümmten und Zugriffen. »Aber was«, fragte ich, »wenn Eva die Folge in ihrem Büro geguckt hätte? Die Besprechung war lang gewesen, vielleicht hätte sie es zeitlich nicht mehr geschafft. Und wenn sie dann zu einem ihrer Spaziergänge durch die Redaktion aufgebrochen wäre, wie Claudia behauptet hat… Eva war nicht gerade in Hochstimmung. Die Lage bei Vamp muß ziemlich schlecht sein. Alexandra, die böse Konkurrentin.
Aber ist das ein Motiv? Und würde Eva nach so einer Tat mit dem Kissen ankommen? Ich weiß nicht…« »Kai würde so handeln. Er würde seine Mutter auf das Kissen betten.« »Ach, Kai. Der ist doch im Grunde ein harmloser Junge.« Bea und ich sahen uns ratlos an.
20
Es war mein erster Tag nach dem Unfall im Salon. Sie umarmten mich zur Begrüßung, als wäre ich zerbrechlich, staunten über mein Gesicht, als wäre es ein seltsam geformtes Relief. »Es ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Es sieht schlimmer aus, als es ist.« Die Hände, die ich schüttelte, trauten sich nicht, richtig zuzugreifen. Eigentlich wollten sie mich gleich wieder aus meinem Salon schicken, zurück in die Wohnung, ins Bett, wo ich die Tage mit Aljoscha herumgelegen hatte und mich nicht bewegen durfte. »Macht euch keine Sorgen«, sagte ich. »Das wird schon.« Ich war ja nicht krank, nur vom Bluterguß gezeichnet, in dessen Muster Dennis eine Art Bodypainting sah, während Kerstin die orange-blauen Farben unserer Wandmalerei wiedererkannte. Ich ignorierte den Spott. Ich wollte arbeiten. Die Schwellung bildete sich zurück, die Gehirnerschütterung war halb so wild, die Kascha gegessen. Und meine Ärztin hatte ich gebeten, ab sofort wieder vor allem meine Russischlehrerin zu sein. »Die Sache ist ausgestanden«, sagte ich. »Gott sei Dank. Slawa Bogu.« Der Terminkalender war voll, in der Post ein Haufen Ansichtskarten: Urlaubsgrüße aus Los Angeles, Sydney und Stralsund in krakeligen Handschriften, die meisten quasi anonym, weil unleserlich unterzeichnet. Langsam würden die Urlauber nach München zurückkehren, von Waldbränden und Reklamationen berichten und keine Ahnung haben, daß ich praktisch in einen Mord verwickelt war, von Verdächtigen umringt. Die Herren Duras und Sander, die Damen Schwarz
und Kramer-Pech hingen inzwischen wie lästige Geschwister an mir und tischten mir ihre Geschichten auf. Bea legte einen Arm um meine Schulter. »Willst du nicht doch lieber ausruhen?« »Wozu?« fragte ich. Mein 12-Uhr-Termin wartete, Carolin, eine Studentin. Ihre Haare fühlten sich gesund an, nur ein wenig trocken. Sie benutzte zuviel Gel und Haarfestiger. Wie Fabrice Duras. Der Mann von Clairmont – ihn konnte ich immer noch nicht so recht einordnen. Mit Bea hatte ich gestern abend überlegt, was eigentlich wäre, wenn der Franzose gar nicht Alexandra bestochen hätte, sondern die Chefin selbst, Eva Schwarz? Immerhin hatten sie damals auf der Vernissage herumgeflirtet. Andererseits – wie hoch mußte die Summe sein, um eine Chefredakteurin zu schmieren, die einen Firmenwagen fährt und Tantiemen kassiert? »Jetzt laßt es mal gut sein, ihr Amateure«, hatte Aljoscha gesagt. Durch den Salon wehten laute Musik und heiße Luft. Ich kämmte durch Carolins dichte, dunkelblonde Wolle. Schöne Haare. Sie sollten glatt sein, wie gebügelt. Der Schnitt streng symmetrisch, japanisch. Ich kämmte vom Mittelscheitel hoch und begann, von hinten zu begradigen. »Ich probiere etwas Neues bei dir, okay?« fragte ich. Bea arbeitete auf der anderen Seite des langen Spiegels, von ihrer Kundin sah ich unterm Frisiertisch nur die nackten Füße: makellose Zehen, ein schöner Spann, gepflegte Fersen, der Nagellack farblich mit dem Leder der Riemchensandaletten abgestimmt. Wie hatten dagegen Alexandras Füße ausgesehen! Bea sprach mit gesenkter Stimme. »Heimtückischer Anschlag«, »Neumond«. Die Zehen in den Sandaletten krümmten sich. Wenn Bea doch endlich aufhören würde, meinen Unfall zu analysieren. »Unglücksnacht«, »mysteriöse Umstände«… Ich stellte die Musik lauter, obwohl es Dennis’
lateinamerikanische Rhythmen waren, die mich nervten. Carolin schaute mich fragend an. Dieser Kopfschmerz. »Wir sollten mit Farbe arbeiten«, sagte ich. Ich machte nichts Grelles, wie bei Kai, keine Strähnchen, kein Blond, nicht in diesem Fall. Das Resultat würde sehr speziell sein. Ganz anders als meine Arbeit in der JuniAusgabe von Vamp. Die Redaktion hatte angefragt, ob ich Lust hätte, fünf Models in sexy Blondinen zu verwandeln. Ich hatte es getan, schließlich bin ich Profi. Das Foto von mir, gleich auf der Aufmacherseite, zusammen mit einer meiner Trophäen, ist gut für meinen Ruf, nicht mehr und nicht weniger. Früher wäre solch eine Produktion etwas Besonderes gewesen. Die Leute wären anschließend gekommen und hätten um Termine gebettelt. Das ist heute anders. Heute muß man beim Frisieren nackt kopfstehen, um Aufsehen zu erregen. Die Leute sind satt. Eine Tatsache, mit der sich auch Eva Schwarz beim Blattmachen herumschlagen muß und Clemens Sander beim Akquirieren von Anzeigenkunden. Sie mühen sich redlich. Und Alexandra? Sie brauchte Geld. Sie war pleite. Aber vielleicht hatte sie aussteigen, nicht mehr käuflich sein wollen. Weil das schlechte Gewissen sie plagte und weil sie wahrscheinlich wußte, daß es so nicht mehr lange weitergehen konnte. Irgendwann wäre sie aufgeflogen. Das ist doch immer so. Und ihre Karriere hätte sie nicht riskiert. Dafür war sie zu intelligent und zu ehrgeizig. Nach dem Fönen zog ich Carolins Haar Strähne für Strähne durchs Glätteisen, und dieser ganz besondere Glanz stellte sich ein. Ich freute mich. Innerhalb von weniger als zwei Stunden war mir etwas Neues gelungen. Eine kleine Sensation. Bea fuhr Carolin anerkennend in die Haare und prüfte im Spiegel. »Tom, das bekommt niemand so hin wie du. Du siehst toll aus, Caro!« Der Schnitt war streng, die Haare im Pony und in den Längen gerade und von schwarzem Glanz. Aber das Beste war:
Ich hatte die Symmetrie durch farbige Spitzen betont. Ringsum leuchteten die Ränder grün. Es war ein besonderes Grün. Aljoschas Badehosengrün.
21
»Ich wollte mit dir an den Starnberger See«, sagte ich. Es sollte eine Überraschung werden. Ich hatte für Aljoschas dreißigsten Geburtstag alles geplant. Geburtstagssex und Torte zum Frühstück und dann raus ans Wasser, aufs Boot. Wind, der das Segel bläht und die Hosen zum Flattern bringt. Kopfsprünge ins Wasser und Sonne, die Aljoscha die Sommersprossen wie Schokoladenkrümel auf die Haut streut. Und nun packte er. Morgen der Flug, übermorgen der Geschenketisch bei den Eltern. Aljoscha wollte auf Island feiern. Ich lehnte an der Wand, sah zu, wie er Jeans und TShirts in den Seesack stopfte. Ich war wütend, traurig und enttäuscht. »Bitte bleib«, sagte ich. Aljoscha sah nicht auf: »Und ich sag dir: Komm mit. Der Flieger geht morgen vormittag.« »Ich kann nicht«, sagte ich. »Und du weißt das.« »Du kannst. Es täte dir sogar gut.« »Was soll ich da, am Ende der Welt?« »Du lernst das Land kennen, in dem ich gelebt habe, seit ich zwölf war, acht Jahre lang. Interessiert dich das nicht? Außerdem ist es schön auf Island. Natur, Lava, grüne Wiesen, Geysire und riesige Wasserfälle. Wir gehen ins Dampfbad und in die heißen Quellen. Du wirst es lieben.« »Es ist Hochsommer.« »Hier auf dem Kontinent, aber nicht auf Island. Du lernst meine Eltern kennen.« »Das würde ich wirklich gerne. Aber es geht einfach nicht. Ich habe tausend Sachen zu erledigen.« »Klar!«
»Versteh doch. Dieser Unfall und der ganze Kram – das beschäftigt mich. Ich bin ja auch noch gar nicht wieder ganz hergestellt. Die weite Reise. Und dann hier der Salon. Ich kann jetzt nicht einfach abhauen.« »Es ist zum Kotzen. Wir reden von meinem dreißigsten Geburtstag. Tomas!« Es klingt so dramatisch, wenn er meinen Namen auf der letzten Silbe betont. Aljoscha wurde jetzt laut und zerknüllte wütend mein altes Wish you were beer-T-Shirt. »Du steigerst dich in etwas hinein. Klar, dein Mord und dein Unfall sind dir wichtiger. Aber du warst in dieser Nacht auf der Brücke schlicht und einfach besoffen! Das ist alles, kapier das endlich. Und wenn du wirklich glaubst, daß dich jemand gestoßen hat, bitte, dann erstatte Anzeige. Überlaß es doch der Polizei.« Ich hielt ihn an den Handgelenken fest. »Du hältst es also auch für möglich? Dann bleib hier und paß auf mich auf.« »Einen Teufel werde ich tun. Ich bin nicht dein Kindermädchen, auch nicht dein Angestellter. Und ich laß mich nicht erpressen.« Seine Augen waren so dunkel. Die Wimpern wie gemalt. »Du bist wahnsinnig eigensinnig«, sagte ich. »Du bist der Despot. Und unglaublich rechthaberisch«, sagte Aljoscha. Ich nahm ihn in den Arm und ließ ihn nicht mehr los. Es war schon dunkel, als mich das Telefon mit seinem Trillern weckte. Aljoscha schlief und hatte beide Arme um mich geschlungen. »Hallo?« »Was machst du für Sachen! Junge!« »Mama!« Ich stand auf, ein Akt der Höflichkeit. »Wieso habt ihr mich nicht sofort angerufen? Sag mir nur eins: Ist mit deinen Händen alles in Ordnung?«
»Meinen Händen ist nichts passiert. Es ist nur das Auge und das, was da so drumherum ist.« »Kannst du sehen? Du darfst diese Sachen nicht so auf die leichte Schulter nehmen. Hast du etwas gebrochen? In deinem Alter heilt ein Bruch nicht mehr so schnell.« »Mama!« »Warum passieren solche Sachen immer dir, nie Regula? Du bist ungeschickt! Wie damals, an deinem Geburtstag, war es der zehnte? Als du beim Balancieren vom Baumstamm gefallen bist. Nur ein halber Meter, aber der Junge bricht sich gleich das Schlüsselbein. Ich weiß noch, wie dein Vater sich den armen Herrn Berg zur Brust genommen hat, weil er den Baum schon längst hätte zu Brennholz zersägen sollen. Und dein Vater hat sich nicht oft aufgeregt, das weißt du. Ich glaube, du bist damals gefallen, um Aufmerksamkeit zu provozieren. Du warst ein egozentrisches Kind.« »Diese alten Kamellen.« »Wie fällt man mitten in der Stadt von einer Brücke?« »Ich wollte balancieren und habe das Gleichgewicht verloren. Okay, ich hatte einen in der Krone.« »War dein junger Freund dabei?« »Aljoscha? Ja.« »Du wolltest ihm imponieren, stimmt’s? Wann wirst du endlich vernünftig? Es hätte ganz anders ausgehen können! Das ist kein Spaß.« »Ja, Mama.« »Du solltest dich auf alle Fälle richtig auskurieren. Geh nicht gleich wieder an die Haare. Besuch mich in Nizza. Bring deinen Freund mit. Das wäre schön. Das Matisse-Museum muß ihn doch auch interessieren. Und die Fondation Maeght! Macht dein Freund nicht in Kunst? Und zum Einkaufen fahrt ihr nach Saint Tropez rüber. Ich weiß, daß du dort gern einkaufst.«
»Das wäre sicher toll. Aber Aljoscha ist schon wieder auf dem Sprung, und ich habe hier so viel um die Ohren.« »Was macht denn der Mord? Ist es immer noch die Ehefrau? Und, sag mal, erzählst du alles, was du weißt, auch der Polizei?« »Ja doch. Ich halte dich auf dem laufenden, Mama. Sobald es etwas Neues gibt, werde ich dir berichten.« »Sehen wir uns in diesem Jahr überhaupt noch?« »Ich bin im Oktober in Moskau. Komm doch mit! Wir zeigen dir die Stadt.« »Du liebe Güte, Moskau?« »Oder besuch mich in London. Ich bin im November wieder bei dieser Charity-Veranstaltung. Dann stelle ich dir den Duke vor.« »Wen du alles kennst. Da fällt mir etwas ein. Wie machst du das eigentlich – ich habe Anfragen, da gibt es Leute, die ordern meine Bonbons und fordern Rabatt in einer Größenordnung, daß ich nur staunen kann.« »Das ist normal.« »Der Vertriebschef findet das auch. Aber wir haben das doch nie gemacht.« »Naja, Bonbons und Klamotten kann man ja auch nicht vergleichen. Ich entscheide so etwas einfach nach Gefühl. Aber wenn jemand drei Glätteisen kauft und davon eines umsonst haben will – das ist natürlich nicht drin.« »Mein Junge, es geht hier um mehr als um drei Dosen Bonbons. Da will jemand – warte mal, ich hab die Zahl hier irgendwo…« »Laß uns ein anderes Mal darüber sprechen.« »Dann schlaf gut. Ich wurschtle hier noch ein bißchen.« »Mama?« Aufgelegt. Ich ging raus auf den Balkon, umfaßte mit beiden Händen das warme Geländer. Ich war hellwach. Im Fenster
gegenüber leuchtete für Sekunden die Glut einer Zigarette. Ich dehnte mich, wie Stephan es nach dem Laufen macht, und stieß gegen den Wäscheständer, an dem einsam eine Socke baumelte. Die Levkojen hatten die Zeit von Aljoschas Pflege und Ansprache genossen, waren noch einmal richtig aufgeblüht und dufteten verschwenderisch in der Nacht. Bald würde Agnes den Wäscheständer zurück in die Kammer räumen, ich würde abends vergessen, die Blumen zu gießen, und täglich die 007 wählen, um fernmündlich mit meinem Rußland-Abenteuer zu sprechen. Sollte das immer so weitergehen? Wollte ich das? Aber ich konnte ihn doch nicht anketten. Wäre er ein Dieb, ein Verbrecher, dann könnte man ihn jagen und einsperren lassen, und ich würde ihn zu festen Zeiten besuchen und durch das Drahtgitter seine Fingerspitzen berühren. Ich kroch zurück ins Bett. Aljoscha atmete tief und ruhig.
22
Am nächsten Morgen schnürte ich meine Laufschuhe. Die Ärztin hatte mir Sport verboten, aber das war mir egal. Ich war viel zu früh aufgewacht, mit diesem Klumpen Traurigkeit im Magen. Beim Kälteschock unter der Dusche hatte ich nicht geschrien, nur nach Luft geschnappt, wie ein Fisch, der aus seinem Element katapultiert wurde. Alles war so triste, das Rasieren nicht mehr als eine Pflicht. Beim Zähneputzen verzichtete ich auf den Rundgang durch die Wohnung. Ich wäre ja nur über seinen Seesack gestolpert. Ich zog leise die Tür hinter mir ins Schloß. Der Himmel grau. Ein Schleier hatte sich über alles gelegt. Stephan würde überrascht sein, mich an der Brücke zu treffen, er würde schweigend neben mir laufen, und das würde genau das Richtige sein. Stephan war mein Freund. Ich ging zwischen den parkenden Autos hindurch, blind vor Selbstmitleid, als ein Motor aufheulte, ärgerlich und dicht neben mir. Ich sah die Windschutzscheibe, den Kühler, der mit Tempo die Luft schnitt. Jemand packte mich, riß mich nach hinten, zurück auf den Gehweg. Einen Moment lang war ich wie benommen, ich taumelte in den fremden Armen, die sich wie eine Zwangsjacke um meinen Körper schlangen, schrie die Straße entlang, dem Auto hinterher: »Bist du wahnsinnig, bist du bescheuert, oder was!« Aber der Wagen war schon verschwunden. »Wahrscheinlich hat Sie der Fahrer nicht mal bemerkt«, sagte der fremde Mann, der mich immer noch festhielt. Sein dünnes Brillengestell war verrutscht.
»Danke. Sie haben mir gerade das Leben gerettet. Vielen Dank.« Ich stützte mich auf das Heck eines geparkten Autos. So fühlt es sich an, wenn einem der Schreck in die Glieder fährt. »Sie müssen besser aufpassen, wenn Sie über die Straße gehen. Die Leute fahren wirklich rücksichtslos.« Und wenn es Absicht war? Oder sollte das schon wieder ein Zufall gewesen sein. »Sind Sie sicher, daß bei Ihnen alles in Ordnung ist?« Ich klopfte dem Mann auf die Schulter, murmelte etwas und bog so schnell wie möglich in die Ickstattstraße ein, Richtung Isarufer. War es nicht eine dunkle Limousine gewesen? Täuschte ich mich, oder war sie dunkelgrün gewesen? Langsam drehte ich durch. Wahrscheinlich war ich einfach nur unaufmerksam gewesen. Ich hatte schlecht geschlafen. Weiter nichts. Mein Herz klopfte, dabei lag der Dauerlauf noch vor mir. Als ich aus dem engen Glockenbachviertel auf die Wittelsbacher Straße kam, die Isar sah, das Rinnsal in dem breiten, übersichtlichen Flußbett, hinten die Corneliusbrücke und das Deutsche Museum, alles unverändert, behäbig und vertraut, atmete ich durch. Ich wußte jetzt, was ich zu tun hatte. Warum hatte ich nicht gleich geschaltet? »Tomas!« Stephan lachte breit, und sein kleines Doppelkinn verschwand. »Du willst also mal wieder in meinem Windschatten laufen! Wer sagt’s denn, dein Auge sieht ja schon besser aus!« »Stephan, es tut mir leid, ich kann nicht, ich hab’s mir anders überlegt.« Mein schneller Kuß streifte ihn, und ich lief los, so schnell wie möglich, die Schuhe federten auf den harten Gehwegplatten und trugen mich beinahe in Rekordzeit zurück in die Hans-Sachs-Straße. In der Wohnung, Slawa Bogu – der Seesack lag noch da.
»Hey«, rief ich außer Atem, »ich komm mit, hörst du? Ich begleite dich nach Island. Wir fliegen nach Island!« Der Seesack war wieder ausgepackt. Aljoscha kam mit einem Marmeladenbrot in den Flur. »Ich hab’s mir überlegt«, sagte er. »Ich bleibe. Wollen wir dann morgen an den Starnberger See?«
23
Gleichmäßig summte der Flugzeugmotor, in mir breitete sich die Wärme des Whiskeys aus. Der Ozean war wie Seidenpapier, schwarzblau eingefärbt und mit feinen Knitterfalten. Ich kippte den Sitz zurück. Zum Lunch hatte es Fisch gegeben. Für die nächsten Tage stellte ich mich auf Fisch ein, gekocht, gedünstet, gebraten, getrocknet. Als Bea uns auf den letzten Drücker zum Flughafen gebracht hatte und ich, ohne Frühstück im Magen, fragte, ob auf Island auch etwas anderes als Fisch gegessen wird, hatte Aljoscha geantwortet: »Höchstens Schafsköpfe. Und die auch nur zu Silvester.« War wohl ein Scherz gewesen. Wie hieß noch mal die Hauptstadt? Ein paar Wolken kamen auf. Ich ließ mir zwei Kissen für meinen Nacken geben. Aljoscha unterhielt sich hinten in der Economy Class mit dem blonden isländischen Steward, seine hohen Wangenknochen waren mir schon beim Einsteigen aufgefallen. Irgendwo gackerten dänische Touristen, auf der anderen Seite des Ganges plauderte ein Geschäftsmann, vermutlich auf isländisch, spielte mit seinem Mobiltelefon und hörte sich an, als würde er sich über alles auf der Welt wundern. Die Flugzeit betrug noch eine Stunde. Adieu, Claudia und Eva, Clemens und Fabrice, auch für Annette Glaser war ich jetzt flüchtig. Niemand außer Bea wußte von meinem Trip auf die Insel. Daß ich dort, am anderen Ende der Welt, vor den Münchnern sicher sein würde, dessen war ich mir sicher. Die Maschine zitterte, wir fielen in ein Luftloch. Ein Islandtief, dachte ich. Neben der Belüftungsdüse leuchtete das
Anschnallzeichen auf, der Gong ertönte und brachte mir Aljoscha zurück. Die Stewardeß sammelte Gläser ein. Ich stellte meinen Sitz gerade und sagte: »Ganz hübscher Kerl, der Steward.« »Wir waren früher mal zusammen. Gudmundur ist auch Frisör.« »Wie bitte?« »Im Sommer fliegt er um die Welt, im Winter ist er daheim und schneidet Haare.« »Wann warst du mit dem Guten zusammen?« »Gudmundur. Das ist lange her. Fast drei Jahre.« Wir sanken, flogen immer wieder Treppenstufen, das Geplapper hinter uns verstummte. Ich mag den Start lieber als die Landung. Hatte der Typ auf der anderen Seite sein Mobiltelefon ausgestellt? Der Sturm schien mir stärker als damals in London. Ein paar hundert Meter über dem Erdboden lichtete sich der Nebel, und die Landebahn rückte rasch näher. Regenböen flitzten über den Beton, die Maschine schaukelte, in wenigen Sekunden würden wir Bodenkontakt haben, gleich, jetzt. Plötzlich johlten die Motoren auf, im Chor mit einer Schar verängstigter Fluggäste. Wir starteten durch, stiegen zurück in die Nebelschwaden. Was war los? Aus dem Lautsprecher eine stockende isländische Stimme. Aljoscha saß regungslos, die Hände flach auf den Schenkeln, seiner Miene war nichts abzulesen. Jetzt Englisch: »Ladies and Gentlemen, we are now…« Rauschen… »As you recognized, we have troubles with…« Ich verstand nichts. »Please, stay…«, andere Stimmen, Knacken. Im machte die Augen zu und dachte an die Schäfchenwolken über dem Starnberger See. Als die Maschine im zweiten Versuch mit einer Anzahl gewagter Luftsprünge aufgekommen war und sogar in der Parkposition noch im Wind zitterte, fand Aljoscha seine Sprache wieder: »So eine
Landung ist normal auf Island«, behauptete er. »Keflavik ist für Piloten der schwierigste Flughafen der Welt.« Aljoscha begrüßte den Beamten bei der Paßkontrolle. Der Mann lachte ihn mit gelben Zähnen an, schüttelte mir beide Hände, als wäre ich ein Popstar. Während Aljoscha ihm etwas erzählte, stellte ich mir vor, daß der Mann über alle Besucher wacht wie ein Hausmeister an der Pforte, daß er mit den Neuigkeiten gleich einen Rundruf über die Insel startet, die von der Einwohnerzahl nicht mal halb so groß wie München ist. Ich wollte jetzt schnell in die Stadt, Reykjavik sehen, aber Aljoscha fand ein Taxi »idiotisch«. Seinen Vater hatte er gebeten, uns bei Orkan nicht mit dem Auto abzuholen. Wir nahmen den Bus, Gudmundur und die übrigen Passagiere auch. Alle hatten nach dem Schrecken bei der Landung ihre lauten Stimmen wiedergefunden, Aljoscha lehnte schon wieder vorne beim Fahrer. Ich beschloß, ab sofort alle Verantwortung an Aljoscha abzugeben, den Regen zu genießen und bei den Schwiegereltern zu wohnen. Ich wollte richtig abschalten, mich um gar nichts mehr kümmern. Ob in München alles in Ordnung war? Ich suchte das Mobiltelefon in Aljoschas Jacke und wählte. Bea war sofort am Apparat. Im Hintergrund Musik und Geföne. »Ich bin’s«, sagte ich. »Tom! Ist etwas passiert?« »Wollte nur mal durchklingeln. Hat sich jemand für mich gemeldet? Kai oder so?« »Es hat sich niemand gemeldet. Seid ihr gut angekommen? Ist es schön?« »Es ist total schön. Ruf mich an, falls sich etwas Neues ergibt.« »Du kannst dich darauf verlassen.« »Hallo?« Weg.
In den Lavasteinen wuchsen nur Strommasten, die Straße war schnurgerade, der Bus lag schräg im Wind. In einzelnen Salven klatschte Wasser gegen die Scheibe, wie aus der Spritzpistole; hinter mir zischte eine Bierbüchse. Ich fror. Plötzlich riß der Himmel auf, und in Windeseile breiteten sich Sonnenflecken über den Steinen aus und machten die Landschaft lebendig. Moos rundete kleine Hügel, formte bucklige Gestalten und komische Gesichter mit Knollennasen. Aljoscha lächelte mir zu. In der Ferne stieg aus den Steinen eine weiße Wolke empor und wurde vom Wind in Fetzen gerissen. Gudmundur beugte sich von hinten herüber und erklärte, das sei die ›Blaue Lagune‹, eine von Islands heißen Quellen. Viele Leute würden auf dem Weg nach New York den Zwischenstopp für einen Besuch nutzen, in den Salzen und Mineralien baden und beim Weiterflug wie kleine Stinkbomben riechen. Gudmundur verzog verzweifelt die Nase. Ich mußte lachen. Wir hielten in der Nähe der Wolke. Die Horde aus Amerikanern, Deutschen und Dänen stieg aus, wanderte mit leichtem Gepäck in die Lavalandschaft und verschwand. »You have to go there«, sagte Gudmundur. »All tourists go there.« Er erzählte weiter von Springquellen mit Namen wie Butterfaß, Holzeimer und Schmutzfink, die mit hundert Grad aus dem Boden von »Eisland« schießen, und schlug vor, einen Ausflug zu den Felsen des Pingvellir und zum Wasserfall Gullfoss zu unternehmen. Als wir in Reykjavik ankamen, war mir, als sei ich schon lange hier. Gudmundur grüßte und zog mit seinem Rollwägelchen davon. Aljoscha und ich blieben allein vor einem Hoteleingang zurück. Hier sollte Aljoschas Vater auf uns warten, aber Herr Mossin war nicht da. Aljoscha vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Er war genervt. »Auf Schritt und Tritt begegnet man Leuten, die man kennt. Island, Reykjavik, ist wirklich ein Dorf.«
»Mir gefällt es.« Ob wir doch ein Hotelzimmer nehmen sollten, statt bei den Eltern zu wohnen, wollte Aljoscha von mir wissen. Ein Kinderzimmer mit dünnen Wänden und Familienanschluß? Oder lieber ein breites Bett mit Room Service und eigener Badewanne? Keine Frage. Wir zwängten unser Gepäck durch die Drehtür und steuerten in der Lobby direkt auf die Rezeption zu – und auf ein Hindernis in weißen Shorts, die strammen Waden wie aufgepustet, die Arme weit ausgebreitet: Herr Mossin, Aljoschas Vater. Er schloß zuerst seinen Sohn in die Arme, dann mich, griff sich, ohne zu zögern, den Seesack und stapfte zum Ausgang. Aljoscha schaute mich an… Ich schüttelte den Kopf. Besser nicht. Ich mußte vorne im Geländewagen Platz nehmen, wo man die bessere Aussicht hat, Aljoscha nach hinten auf eine Hundedecke rutschen. Auf dem Asphalt klapperten die Spikes der Reifen und erinnerten an Eis und Schnee, aber am blauen Himmel bauschten sich harmlose Wolken, und rechts leuchtete das Meer. Herr Mossin fuhr einarmig, fuchtelte mit seinem kurzen Finger vor meinem Gesicht: Dort die Walfangflotte, die im Hafen vor sich hin rottete, da das Höfdi-Haus, weißgestrichen, in dem das Gipfeltreffen von Gorbatschow und Reagan stattfand, damals. Ich erinnerte mich und begriff, daß Island, die Insel am Polarkreis, gar nicht das Ende der Welt ist, sondern die Mitte zwischen Amerika und Europa. Herr Mossin lächelte nachsichtig, wie ein Lehrer, der sich freut, daß bei seinem Schüler der Groschen fällt. Wir bogen ohne zu blinken in eine kleine Straße, die steil den Berg hinaufführt, vorbei an Häusern aus Holz und Blech, parkten vor einer Pforte, die quietschte, als Aljoscha sie mit dem Fuß aufstieß. Das Holzhaus mit den Erkern, Fensterläden und den Schnitzereien im Dachfirst erinnerte mich an Rußland.
Das Gras war ausgetreten wie ein alter Teppich, auf der russischen Datscha hatte es kniehoch gestanden. Herr Mossin schleppte unser Gepäck und erzählte, als wäre es eine notwendige Information: Manchmal fällt der Strom aus, ohne daß irgend jemand bisher die Ursache gefunden hat. Aljoscha schob mich die Treppe zur Haustür hoch. Herr Mossin drehte sich zu mir um: »Und wissen Sie, wer bei dieser verdammten Elektrik die Finger im Spiel hat?« Er sah mich listig an. Aljoscha verdrehte die Augen. Ich hatte keine Ahnung. Der Sturm? Der CIA? Herr Mossin zeigte auf einen Hügel im Garten. »Die Elfen.« Sein weißer Bart war gestutzt, die dichten Haare schneeweiß, die Haut rosig, wie bei einem lieben Zwerg. Scherzte der Zwerg? Die Frau, die in der Eingangstür wartete, schloß ihren Sohn in die Arme, und in der Bewegung löste sich aus ihrem Haarknoten eine Strähne. Eine Freudensträhne. Wir plazierten unseren Wein, den wir noch in München bei ›Garibaldi‹ besorgt hatten, mitten auf dem Tisch in der quadratischen Veranda. Dort standen schon Schüsseln und Teller mit Stücken von Makrele und geräuchertem Lamm, Salate aus Sardellen, Gurken, Eiern, rote Bete, runde rosa Kuchen und eckige Torten mit Schokoladenüberzug – alles auf einmal. Aljoscha nennt das »sozialistische Fete«. Ich rollte mir dünne Pfannkuchen, Blinis, die wir in Moskau mit Smetana, saurer Sahne, bestrichen, hier aber mit einer fischigen Paste. Und in meinem Kopf blitzte die Erinnerung auf an daheim, die silbernen Platzteller, dreierlei Gläser bei drei Gängen und immer Käse zum Abschluß. An Herrn Berg, der mit weißen Handschuhen vorlegte, die erst nach Vaters Tod abgeschafft wurden. Aljoschas Vater holte beim Essen Landkarten hervor und deutete mit Fettfingern und dem Eifer eines Wissenschaftlers auf Linien, Schraffuren und Kreuze – Markierungen für Hügel und Grasbuckel, in denen die Elfen wohnen, redete über die Mission der Elfenbeauftragten, die
man hier vor dem Bau von Straßen und Häusern konsultieren würde. Ich lernte: Elfen sind durch Einkaufszentren und Verbindungsstraßen gefährdet. Die Stätten der Elfen zu schützen, sagte Herr Mossin, das sei eine Pflicht. Ich hielt jetzt alles für möglich und fragte, wie sie aussehen, diese Elfen, und Herr Mossin lehnte sich zurück, kaute Weißbrot und beschrieb grazile Gestalten, bunte, wallende Gewänder und strahlende Farben. Ich sagte zu Aljoscha, der angeregt mit seiner Mutter über die Gudmundurs und Stinas dieser Insel tratschte: »Ich habe eine Idee für meine nächste Show!«
24
Wir gingen zu Fuß ins Zentrum. Wir wollten Aljoschas Geburtstag feiern, nur wir beide. Noch zwei Stunden bis Mitternacht. Es war immer noch hell. Der Wind döste, die struppigen Fichten in den Vorgärten standen regungslos. Die Häuser trugen geteerte Dächer, Blechverkleidungen und farbige Anstriche wie regendichte Kleider, darauf eingerichtet, jedem Wetter zu trotzen. Irgendwo nieste jemand und trompetete in sein Taschentuch. Reykjavik, Hauptstadt von Island. Aljoscha sagte: »Man darf jetzt nicht laut lachen und reden.« »Warum?« fragte ich. »Um diese Zeit kommen die Elfen aus ihren Grasbuckeln und wollen nicht gestört werden.« »Sagt dein Vater.« »Wer die Elfen stört, wird verwünscht.« »Dein Vater spinnt.« Aljoscha sah mich von der Seite an. »Manche Isländer glauben sogar an Trolle.« »Ich dachte, dein Vater ist Russe.« »Meine Mutter ist Russin. Mein Vater hat bloß in Moskau gearbeitet. Er ist Isländer und glaubt an Elfen, wie alle Isländer.« »Und du?« fragte ich. Eine Fahrradglocke läutete, eine Frau bremste scharf neben uns, umarmte Aljoscha, ohne von ihrem Fahrrad zu steigen. Beide sprudelten in dieser Sprache, die mich ausblendet und mir Aljoscha fremd macht. Die Frau hatte die kurzen, geflochtenen Zöpfe mit Haarklammern am Kopf befestigt, den
Kajalstrich am oberen Lid zornig nach oben gezogen. Das getigerte Top und den kurzen Rock hatte sie mit dicken Strümpfen und Halbschuhen kombiniert. Aljoscha schaltete um auf englisch und stellte uns einander vor. Harpa, eine Schulfreundin. Sie fuhr jetzt Schrittempo und erzählte mir, daß sie Künstlerin ist. Anscheinend modelliert sie Objekte aus Ton, die wie Vasen aussehen, aber Kunst sind. Sie beschrieb mit beiden Händen den Umfang der Gefäße, ließ dabei den Lenker los und wäre gestürzt, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte. Ihre Haut war makellos rein. Islands Luft ersetzt das Make-up. »Und du? Was machst du?« fragte Harpa. »Ich bin Frisör.« »Und nebenbei klärt Tomas einen Mord auf«, sagte Aljoscha. Hatte er gegrinst? Harpa erzählte, hier hätten auch alle einen Nebenjob: Die Bankangestellte arbeitet abends im Buchladen, der Buchhändler im Restaurant. Das Leben auf Island sei teuer. Harpa jobbt in einer Boutique, ein isländisches Label, da drüben, auf der Laugavegur. »Und wo ist das Zentrum?« fragte ich. »Das ist das Zentrum«, sagte Aljoscha, »mehr gibt’s nicht. Nur noch die Seitenstraßen.« In der ›Sirkus Bar‹ begrüßten sie Aljoscha wie einen Heimkehrer. Die Zöpfe der Frauen standen wie Pinsel widerspenstig vom Kopf ab. Männer hatten die Haare zu einer Art Kamm hochgegelt, den Irokesenschnitt nur angedeutet – Edel-Punk aus London. Ich schüttelte Hände, jemand reichte mir einen Humpen Egils Gull, isländisches Bier. Wir zogen weiter, gerieten in einen Sog mit immer mehr Menschen, landeten in einem Keller, in dem sich der Saxophonspieler im Rauch krümmte. Dann in einen Saal mit gläserner Treppe, die in höhere Stockwerke führte, wo Körper im farbigen Licht
tanzten und Kronleuchter von der Decke hingen, die, wie unter Drogen, sanft in ihrem eigenen Rhythmus schaukelten. Auf einem nassen Tresen lagen in Reihe abgenutzte Kreditkarten, die der Barkeeper aufdeckte und ablegte, konzentriert und ruhig, als würde er eine Patience spielen. Aljoscha tanzte mit einer Frau in Fransenjacke und Pelzstulpen und machte immer wieder Zeichen, als wollte er mir jemanden vorstellen. Ich winkte. Bei mir war Olafur, der Nadelstreifen und Nietenhalsband trug und mit dröhnender Bauchstimme ein eigenes Gedicht rezitierte. Sind alle Menschen auf Island Künstler? Harpa zog mich auf die Tanzfläche, brüllte auf isländisch so laut, daß jede Elfe sie in einen Lavastein verwandelt hätte. Ich lachte und verstand gar nichts, und das gefiel mir. Wir waren hier am Polarkreis, zwischen Europa und Amerika. Es war zwölf, Aljoschas Geburtstag. Er war jetzt dreißig und wurde von allen umringt. Ich mußte pinkeln. Der Raum befand sich hinter einer Wand aus Glasbausteinen, blaue Leuchten tauchten ihn in ein geheimnisvolles Licht. Breitbeinig standen die Männer an einer Rinne. Diese war aus blitzendem Stahl. Es plätscherte, man plauderte. Ich trat zwischen zwei Rücken. Das Wasser war türkis illuminiert. Ich schloß die Augen, um die innere Sperre zu überwinden. Ein Gefühl wie diese Angst, bei einer Veranstaltung das Mikrophon zu ergreifen, und plötzlich bleibt die Stimme weg. Ich kann öffentliche Toiletten nicht leiden. Der Mann rechts neben mir wippte auf den Zehenspitzen, schloß mit einer kurzen Kniebeuge den Hosenstall, und schon trat der nächste seufzend an die Rinne. Ich schaute beim Pinkeln geradeaus, bemerkte aber den Seitenblick. Unverschämt, wie ich fand. Würde er mich gleich ansprechen? »Also doch kein Phantom! Tommy Prinz!« Mein Strahl stockte, das konnte nicht wahr sein: Fabrice Duras, der Omnipräsente. Er sah gar nicht gut aus, das Licht
raubte der Haut die Farbpigmente. »Sie hier?« fragte ich. Wenn die Umstände anders gewesen wären, hätten wir uns die Hände geschüttelt. »Ich sah Sie mit dieser hübschen Person tanzen und dachte: Ist das nicht der Frisör? Was verschlägt Sie hierher?« »Ich bin auf Urlaub.« »Das trifft sich gut, das ist hervorragend. Dann kommen Sie morgen mit raus, in die Blaue Lagune. Sie sind herzlich eingeladen.« »Eingeladen?« Ich war froh, aus der Reihe treten zu können, und ging zum Waschbecken, wieder so eine silberne Rinne. Und mein Gesicht im Spiegel sah ebenfalls aus wie das einer Leiche. Duras in Reykjavik. Wenn ich das Bea erzählte! Es war zum Totlachen. »Ich meine natürlich, heute«, rief Duras über die Schulter. »Wir haben heute unsere Präsentation. Eine ganz neue Pflegeserie, basiert alles auf Mineralien. Wohnen Sie auch im ›Radisson‹?« »Nein, privat.« »Dann bringen Sie doch Ihre isländische Schönheit mit. Das können Sie mir nicht abschlagen, mein Bester.« Aljoscha kam zur Tür herein. »Hier steckst du«, sagte er. »Telefon für dich!« »Für mich? Wer?« Ich nahm den Hörer. »Hallo?« Die Tür fiel mir ins Kreuz, jemand drängelte von hinten. Die Musik war zu laut, ich schob mich zum Ausgang. Nein, ich tanze jetzt nicht. Draußen sagte das Display: Disconnected. Hatte ich die falsche Taste gedrückt? Es klingelte wieder. »Hallo?« Ich ging ins Dunkel. »Ich verstehe Sie nicht.« »Können Sie mich jetzt hören?« rief die Stimme. »Hier Kai.« »Kai! Ja, ich höre dich.« »Na endlich. Scheiße, wo sind Sie?« »Auf Island. Wir feiern Aljoschas Geburtstag.«
»Irland? Fett! Mann, ich muß Sie sprechen.« »Was gibt’s?« »Kann ich am Telefon nicht sagen, wirklich nicht. Es ist…« »Hallo? Kai?« »Es ist megakraß.« »Bist du okay?« »Mann!« Kai schrie jetzt. »Ich muß mit Ihnen reden. Das wird Sie total umhauen.« Er lachte. Es klang hysterisch. »Bist du, ich meine, hast du…« »Koks? Ja, und? Was soll ich denn sonst tun? Stricken? Ich weiß schon, was ich tue. Und ich habe keine Halluzinationen, falls Sie das meinen.« »Reg dich ab, Kai, so hab ich das nicht gemeint.« »Wann sind Sie wieder hier, zurück in Bayern?« »Erst am Dienstag. Dienstag nachmittag. Kai, bitte.« »Dienstag nachmittag? Und heute ist Sonntag? Scheiße! Wann können wir uns treffen? Gleich Mittwoch?« »Ich komme zu dir«, sagte ich. »Aber sag mir doch…« »Hierher? Auf keinen Fall. Lieber – am Seehaus, okay? Mittwoch früh, um acht.« »Abgemacht.« »Ich muß jetzt Schluß machen.« »Kai, du mußt mir versprechen…« Aufgelegt. Ich setzte mich auf einen Stein und schloß die Augen. In meinem Kopf ein Summen, die Gehirnzellen wie unter Strom. Was war geschehen? Steigerte Kai sich in etwas hinein? Sollte ich Bea anrufen? Oder Claudia? »Was wollte er?« fragte Aljoscha. Ich hatte ihn nicht kommen hören. »Kai weiß etwas. Er will sich treffen.« Es wurde hell. Im Osten eine grüne Linie, wie mit dem Lineal gezogen, dort, wo Himmel und Ozean aneinanderstoßen.
»Versprich mir etwas«, sagte Aljoscha. »Hm?« »Paß auf dich auf.«
25
Auf der Fahrt vom Flughafen nach München hatte ich die Alpen gesehen. Das bedeutet Föhn. Jetzt klagen meine Kunden wieder über Kopfschmerzen, sind überdreht und unausstehlich. Der warme Wind legt sich schwer auf die Seele. Aljoscha war auf dem Weg nach Moskau. Wenigstens war Bea da und wartete bestimmt schon auf meinen Island-Bericht. Sie würde staunen, daß ich auf der Insel halb München getroffen hatte. Im Salon waren alle beschäftigt. Kerstin schnitt wortlos, lächelte zur Begrüßung, beinahe mitleidig. Keine Musik, Dennis fehlte. »Was ist denn los?« fragte ich. Nora, zurück aus dem Urlaub, umarmte mich. Sie warf ihre lange Mähne und erklärte, Reisen sei eine Strafe: irgendwo ankommen, fremd sein, jemanden kennenlernen, sich verlieben, abreisen, getrennt sein. Wozu das Ganze? Ich legte Musik ein, irgend etwas, Latino-Pop, aber keinen Russenrock, stellte das Gepäck an die Garderobe und ging nach hinten. Bea färbte, ein Privatgespräch war schlecht möglich. Ich sagte nur: »Hat jemand für mich angerufen?« »Ja.« Bea bettete eine Strähne in Alufolie. »Die Kommissarin.« Mit dem Pinsel in der Hand musterte sie mich im Spiegel. Was war los? Ihr Blick sagte: Laß uns später reden. Hatte sie auch Kopfweh? Die Post auf dem Schreibtisch im Büro war überschaubar: Bestellungen, die Telefonrechnung und eine wirklich gute Nachricht: Theadora hatte ihre Zwillinge zur Welt gebracht. Auf dem Foto zwei Glatzköpfe mit Knautschfalten, beinahe wie der alte Hoffmann. Keno und Akeno. Ob jemals ein Kind wieder »Tomas« heißen würde? Oder »Annette«? Ich wählte
die Nummer der Kriminalpolizei. Mal sehen, was sie von mir wollte. »Hallo, bin ich in der Zentrale? Ich möchte Frau Glaser sprechen. Danke.« Die Warteschleife sprang an. Kai durfte ich nicht vergessen. Was ihm wohl auf der Seele lag? Unter dem Monatsheft von der Innung lag ein Umschlag, Büttenpapier, weich gefüttert. Absender: Constantin, mein fast adliger Freund. War es schon wieder soweit? Er schickte die Einladung zu dem Sommerfest auf seiner Dachterrasse, jedes Jahr der erste oder zweite Freitag im August. »Hallo?« Die Zentrale: Frau Glaser war nicht mehr im Büro. Ich legte auf. Gleich halb sechs. Ob die Kommissarin noch am Ermitteln war? Der Fall Kaspari war sicher nicht der einzige Mord, den sie zu bearbeiten hatte. Ich wollte duschen, schnappte mir mein Gepäck und ging hinauf in die Wohnung. Meine Haut fühlte sich nach dem Bad in der Blauen Lagune toll an, Grünalgen und weiße Kieselerde wirken wie ein Weichspüler. Ich dachte an das Wasser, das auf Island nach Schwefel riecht und kochend heiß aus dem Hahn schießt. Beim Abtrocknen entdeckte ich, daß Aljoscha im Schränkchen eine grüne Zahnbürste und einen Rasierpinsel deponiert hatte. Die Entdeckung machte mich froh. Der Anrufbeantworter blinkte. Ich schaltete auf Lautsprecher. Kindergeschrei von Anna, meiner kleinen Nichte, dann Regulas Stimme, die sich nach meinem Auge erkundigte. Lieb, wie sie sich sorgte. Ich prüfte beim Zähneputzen mein Auge im Spiegel. Nachricht Nummer zwei: aufgelegt. Unter dem Auge war immer noch ein dunkler Schatten, wie einseitig übernächtigt. Eine schläfrige Ansage von Jeremy aus London. Die Klatschtante wollte nur hören, wie es mit Aljoscha ist. Dann der Schneider, die neuen Hemden.
Plötzlich dieses Räuspern. »Guten Tag. Hier spricht Barbara Kramer-Pech.« Pause. Ich knipste die Zahnbürste aus, um besser zu hören: »Es geht um Kai. Ich probier’s später noch einmal.« Der Anrufbeantworter stellte sich ab. Ich hockte vor dem Kasten, die Zahnbürste wie ein Fieberthermometer im Mund. Schon wieder Kai. Ich suchte Barbaras Nummer – und zögerte. Besser, ich sprach erst einmal mit ihm selbst. Ich wählte die Nummer der Kasparis. Es dauerte, bis jemand abhob. »Ja, bitte?« »Hallo, Tomas Prinz hier. Wer spricht da?« »Tomas!« Es war Claudia. »Bist du wieder in Ordnung?« Sie klang zerstreut. Ich hörte sie hantieren. »Alles bestens«, sagte ich. »Und wie geht’s dir? Ich suche Kai.« »Ist nicht da. Ich koche ihm gerade etwas.« »Wie du dich um ihn kümmerst!« »Naja, nicht mehr lange. Bald geht er ja nach Berlin. – Soll ich ihm einen Zettel hinlegen, daß du angerufen hast?« »Ich sehe ihn sowieso morgen. Ist irgend etwas?« fragte ich. »Wieso?« Claudia klang jetzt wachsam. »Kai rief an, er will sich treffen. Er klang konfus. Nein, eher aufgeregt. Er meinte, er hätte irgend etwas herausgefunden. Weißt du etwas Näheres? Ich mache mir Sorgen.« »Kai sieht im Moment Gespenster. Er mißtraut jedem. Ich glaube, er braucht eine Therapie. Es war alles zuviel für ihn in der letzten Zeit.« »Kein Wunder. Der arme Kerl.« »Der arme Kerl? Er ist auch ganz schön lästig. Entschuldige, Tomas. Aber er durchwühlt unsere Sachen, braucht Geld. Barbara hat da auch einiges zu erzählen.« »Das sind ja Geschichten.«
»Ich bin jedenfalls froh, wenn Kai in Berlin ist. Ich weiß nicht, wie Alexandra mit dem Jungen fertiggeworden ist.« Es klingelte bei mir an der Tür. Ich sagte: »Claudia, wenn ich helfen kann…« »Nimm es auf jeden Fall nicht so ernst, was der Junge sich so zusammenspinnt. Ciao, Tomas.« Ich öffnete. Bea lehnte in der Tür, ging ohne ein Wort an mir vorbei, direkt ins Wohnzimmer. Ich folgte ihr, als sei ich der Gast, der empfangen wird. »Es ist ja in Ordnung«, begann Bea, »daß du wegfährst und dich amüsierst, während ich im Salon schufte. Aber du hättest ruhig noch mal anrufen können. Ich dachte schon, wir arbeiten getrennt.« Bea legte sich wie bei einer therapeutischen Sitzung auf meine Liege. »Was ist? Jetzt erzähl doch mal. Wie war’s?« Ich massierte Bea den Nacken und berichtete von der urwüchsigen Landschaft, den sensiblen Elfen, meinen netten Schwiegereltern. Und von der Begegnung mit Duras auf dem Klo und seiner Einladung in diese Touristenattraktion, die Blaue Lagune. Natürlich bin ich am nächsten Tag dorthin zur Clairmont-Präsentation gefahren. Es war ein schönes Spektakel, das die Firma dort veranstaltet hatte. Geheimnisvolle Klänge aus unsichtbaren Lautsprechern. Tänzerinnen in flatternden Gewändern machten im Dampf grazile Bewegungen und versuchten, den Produkten aus Sheabutter und Jojobaöl einen Zauber einzuhauchen. Die Beauty-Redakteurinnen, die aus ganz Europa und den USA angereist waren, pickten Crevetten und Trauben, nippten an Austernschalen und curaçao-blauen Cocktails und warteten auf die Bescherung, die Geschenketüte. Duras balancierte zwischen den Damen, den Abgesandten der Hochglanzmagazine. Und wen hatte Vamp geschickt? Eva Schwarz höchstpersönlich hatte die Kontaktpflege übernommen. Sie fand es »kurios«, daß wir uns hier trafen, ich
pflichtete ihr bei, diese Zufälle! Dann machte der Visagist ihr ein Zeichen, und sie stöckelte hin mit ihrem Glas, um sich an der eigenen Haut ein Bild über die Produkte zu machen. Duras verteilte zum Abschluß Badeanzüge, die jedoch alle trocken blieben. Er hatte jetzt Feierabend und wollte, wie ich, unbedingt noch in der heißen Quelle baden. Wir liehen uns Badehosen und gingen zusammen Richtung Umkleidekabine. Ich gratulierte ihm; die Veranstaltung war ein voller Erfolg. Die Berichterstattung würde laufen wie geschmiert. Das schuldeten ihm die Redakteurinnen nach diesem LuxusKurztrip. Duras war durchgehend zufrieden, braun und gepflegt. Ich wollte ihn herausfordern und fragte unter der Dusche: »Aber es gibt sicher noch andere Möglichkeiten, um die Textproduktion in den Magazinen anzukurbeln? Ich meine, außer mit ›Naturalien‹. Vielleicht mit einem Briefumschlag? Oder einem Scheck?« Duras seifte sich von oben bis unten ein. »Mein Bester«, sagte er, »Sie wissen doch selbst, wie das läuft. Die Qualität allein entscheidet nicht über den Erfolg eines Produkts. Ich sage immer: Eine Hand wäscht die andere. Sie haben da doch sicher auch Ihre Methoden.« Mir fiel auf, daß er eine NoName-Flüssigseife benutzte. »Solche Typen kenne ich. Die lassen sich nicht provozieren.« Bea stand von der Liege auf. Sie blieb an der Kante sitzen, benommen wie nach dem Mittagsschlaf, und bewegte den Hals in alle Richtungen. »Bea, was ist los?« Es stellte sich heraus, daß sie am Wochenende die Bekanntschaft eines Oberarztes gemacht hatte und mit ihm überraschend in die Federn gefallen war. »Gepflegt war er, gebildet, sogar gutaussehend, und dann bemerkst du plötzlich diese Kleinigkeiten: Millierte Schnürsenkel. Duftstein im Klo. Doch wieder nur so ein Saubermann«, lautete ihre Bilanz.
Ich lud Bea nach Feierabend noch in die ›Orangha-Bar‹ ein, aber wir waren beide müde und verabschiedeten uns noch vor Mitternacht voneinander. Trotzdem fühlte ich mich am nächsten Morgen wie gerädert. Der Wecker klingelte, und ich drehte mich wieder um. Dann fiel mir ein: Kai wartete am Seehaus. Ich mußte mich beeilen. Warum eigentlich? Kai pfiff, und ich sprang. Und weshalb im Englischen Garten? Was Kai mir zu sagen hatte, konnte er mir auch eine Stunde später sagen. Ich wählte seine Nummer. »Kai, tut mir leid, ich schaff’s nicht.« »Wie, ›tut mir leid‹?« Kai flüsterte. »Gerade Sie wird es interessieren, Mann!« »Treffen wir uns um halb zehn. Aber nicht am Seehaus, das ist mir zu weit.« »Okay. Dann kommen Sie zu mir. Um halb zehn bin ich allein.« Warum flüsterte er? »Und Claudia?« fragte ich. »Die ist dann auf dem Weg in die Redaktion, hoffe ich jedenfalls. Mann, Sie werden Augen machen.« »Darüber reden wir bei einem Kaffee. Hast du einen im Haus?« Weg. Claudia hatte es wirklich nicht leicht mit dem Jungen. Ich duschte und sagte im Salon Bescheid, daß sie erst mittags mit mir rechnen konnten. Ich nahm mir ein Taxi. »Georgenstraße.« Wir fuhren über den Ring und die Ludwigstraße. In der Georgenstraße war Stau. Was war los, da vorne? Der Taxifahrer brummte. Ich zahlte, stieg aus. Ein rotweißes Band flatterte vor Alexandras Haus. Menschen hatten sich vor der Absperrung gesammelt, Gaffer. Das Funkgerät des Polizisten brabbelte stockend. »Entschuldigen Sie, ich müßte mal durch«, sagte ich. »Was ist denn passiert?«
»Sind Sie Anwohner? Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?« fragte der Beamte. Auf dem Gehweg war ein Körper mit einem weißen Tuch bedeckt. Annette Glaser war da und beugte sich über das Bündel, hob das Tuch, ließ es wieder sinken. Bitte nicht, dachte ich. Das darf nicht sein. »Gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen. Bitte voran!« rief der Uniformierte. Ich schaute zum Haus empor. Da war der Balkon von Alexandra, darüber der von Claudia. Die Kommissarin kam zu mir an die Absperrung. »Herr Prinz, Sie schon wieder?« sagte sie unfreundlich. »Was ist geschehen?« fragte ich. Meine Hände waren kalt. Annette Glaser schüttelte den Kopf. »Claudia?« Der Beamte hob das Band, damit die Träger mit dem Sarg passieren konnten. »Warum?« sagte ich. »Wollte sie nicht mehr leben?« »Frau Koch?« fragte die Kommissarin. »Wieso sie? Es ist Kai. Kai Kaspari. Er ist tot.«
Wie ich nach Hause kam, daran erinnere ich mich nicht. Ich lief. Ich weiß nicht, in welche Richtung. Ich nahm mir ein Taxi, nannte die Adresse. Meine Stimme funktionierte wie ein Tonband, aber in meinem Kopf war Bandsalat. »Mann, Sie werden Augen machen«, hatte Kai gesagt. »Gerade Sie wird es interessieren.« Was hatte er gemeint? Mir war übel. Wenn ich unser Treffen nicht verschoben hätte, würde Kai vielleicht noch leben. Die Kommissarin hatte mich für morgen früh aufs Präsidium bestellt. Ich bat den Taxifahrer anzuhalten. Ich mußte laufen. Schwarze Rosen auf dem Viktualienmarkt. Menschen, die bei der ›Hofpfisterei‹ nach Restbrot anstanden. Ich dachte an Kais
zornigen Auftritt am Grab. Kai, der nicht Fahrstuhl fuhr und Pizza aus dem Karton aß. Ich sah, wie er auf der Brücke tänzelte. Kai, warum bist du gesprungen? Ich bog von der Rumfordstraße ab. In einem Hof blickte Moses mit der Gesetzestafel von der Wand, ein Riesengemälde wie in einer barocken Kirche. Kai war immer ein Einzelgänger gewesen. Ich erinnerte mich an ein Drama aus seiner Kinderzeit. Er hatte sich einen Hund gewünscht, einen Freund, der aufpaßt, ihn beschützt und Hilfe holt, wie in den amerikanischen Serien, die Kai am Nachmittag im Fernsehen anschaute. Holger hatte gesagt: »Ein Hund gehört nicht in die Stadt.« Aber Alexandra meinte: »Der Junge muß lernen, Verantwortung zu übernehmen.« Kais Hund war gelb, mit dünnen Beinen, eines davon weiß, wie eingegipst. Das Tier hörte auf keinen Namen, war schwer zu halten, »irgendwie neurotisch«, sagte Alexandra. Kai ließ den Hund bei seinen Streifzügen immer so mitlaufen, bis das Tier auf der Schellingstraße unter die Räder kam. Mit einem Meerschweinchen, hatte Holger gesagt, wäre das nicht passiert. Ich dachte an den Vater. Hatte die Polizei Holger schon benachrichtigt? Was für eine Tragödie. Die Frau ermordet. Der Sohn tot auf dem Straßenpflaster. War es Selbstmord? Oder hatte jemand nachgeholfen? Weil Kai etwas herausbekommen hatte? Ich mußte jetzt unbedingt mit der Kommissarin reden, hätte es vielleicht schon viel früher tun sollen. Daß ich mit Kai verabredet war, hatte ich ihr noch nicht gesagt. Sie hatte mich aber auch nicht gefragt. Ich lief weiter. Auf dem Gärtnerplatz saßen Schüler im Café. Stau in der Klenzestraße, ein Sattelschlepper rangierte vor dem Theater und lieferte, wie immer um diese Zeit, die Kulissen. Auf dem Treppenabsatz hörte ich schon das Telefon. Was war denn jetzt so wichtig? Den Salon mied ich. Ich fühlte mich matt, brauchte einen Wodka. Vielleicht hatte Kai unter Drogen
gestanden, hatte etwas Härteres als Koks genommen. Und, als er gesprungen war, geglaubt, er sei schwerelos, könne fliegen. Ich kochte Kaffee. Mein Kopf schmerzte. Ich warf eine Tablette in das schwarze Gesöff. Das Telefon klingelte schon wieder. Es war Eva Schwarz: »Tommy. Du weißt es? Wir sitzen in der Redaktion beisammen. Du kannst jetzt sicher auch an nichts anderes denken. Wenn du magst, komm.« Ihre Stimme klang warm. Eva ist eine gute Krisenmanagerin. Als ich das Zimmer der Chefredaktion betrat, kam Eva mir mit kleinen Schritten entgegen und drückte mir die Hände. Ihre Frauen saßen dichtgedrängt auf dem Sofa wie geknickte Sonnenblumen. Der gezackte Rosenquarz von vergangener Woche war gegen einen geschmeidigen blaugrünen Stein ausgewechselt. Champagnerflaschen standen auf dem Tisch. Eine echte Vamp-Totenfeier. Ich reichte den Damen die Hand, dem rotbraunen Pagenkopf, der Krausen, den beiden Goldbraunen. Barbara flüsterte etwas und rutschte zur Seite, in die Sitzreihe kam Bewegung. Eva quetschte sich hinein, ich durfte auf dem Chefinnensessel sitzen. Claudia fehlte, und ich erfuhr, sie sei im Krankenhaus – Nervenzusammenbruch, als man ihr sagte: »Kai ist tot.« Sie habe, wie so oft in der vergangenen Zeit, allein in ihrem Zimmer gesessen. Arme Claudia. Für sie waren Alexandra und der Junge doch wie eine Familie gewesen. Wir tranken. Alle schauten mich an. Ich mußte etwas sagen. Nur was? »Ich war dort«, sagte ich. »Ich habe ihn gesehen.« Eva stellte ihr Glas zurück auf den Tisch. Es war still. Ich erzählte von meiner Verabredung mit Kai. Daß er mir etwas erzählen wollte, daß ich zu spät kam. Der Menschenauflauf. Die Polizei. Ich verstummte. Barbara schluchzte. Weinte sie für Kai, für
ihre Tochter, für sich? Ich dachte daran, daß Kai vermutlich auch bei ihr nach Geld gesucht hatte. »Wir wollen Kai nichts vorwerfen«, sagte Eva laut. »Egal, was er getan hat. Er ist tot und kann sich nicht wehren. Wir konnten doch nicht ahnen, daß seine Situation so ausweglos war. Daß er…« Eva stand auf, stellte sich mit dem Rücken zu uns ans Fenster. »Mein Gott«, flüsterte sie in ihr Spiegelbild, »er hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich.«
26
Meine Stimme lag eine Oktave tiefer, als ich mich am nächsten Morgen in der Ettstraße, Mordkommission, Zimmer 308, einfand. Annette Glaser erwartete mich. Ich setzte mich auf den niedrigen Stuhl. Meine Glieder waren so schwer, als hätte ich Bea und Kim im Morgengrauen huckepack nach Hause getragen. Wir hatten gestern abend mit Wein und Bier um Kai getrauert, ich seit meiner Trennung von Matteo beinahe wieder die erste Zigarette geraucht. Annette Glaser stellte keine Frage, ich fing einfach an zu erzählen. Alexandra. Daß sie von Fabrice Duras Geld kassierte und eine Affäre mit dem Anzeigenleiter Clemens Sander hatte. Ich erzählte von der Konkurrenz unter den VampRedakteurinnen. Und daß all diese Informationen sicher nicht ohne weiteres von den Damen bestätigt werden würden. Vieles schien Annette Glaser nicht neu zu sein. Aber als ich von meiner Verabredung mit Kai berichtete, horchte sie auf: »Er wußte also etwas, was gerade für Sie, den Frisör, besonders interessant gewesen wäre? So hat er es gesagt?« »Ja, genau so. Er wußte etwas über den Mord an seiner Mutter. Aber was könnte das sein? Ich habe mir den Kopf zerbrochen. Aber bin zu keinem Schluß gekommen.« »Nun«, sagte Annette Glaser, und um ihre Augen bildeten sich die kleinen Fältchen, »Sie sind ja auch nicht der Kriminalist. Aber überlegen Sie. Was wissen Sie sonst noch? Auch die Kleinigkeiten sind wichtig.« »Es war doch Selbstmord?« fragte ich. »Das glaube ich nicht. Kai hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, keine Erklärung, kein Geständnis. Nichts.«
»Also hat jemand nachgeholfen?« »Bisher unbewiesen. Die Wohnung war jedenfalls leer. Allerdings hat das Haus einen Hinterausgang.« »Darf ich Sie mal etwas fragen? Haben Sie jemals daran gedacht, daß Kai der Mörder seiner Mutter gewesen sein könnte?« »Der Junge hatte kein Alibi, das ist richtig. Aber da ist er ja nicht der einzige. Sie zum Beispiel, Herr Prinz, haben ja auch keines. Irgendwie waren alle unterwegs.« Die Kommissarin setzte ihre Brille auf und las aus ihren Akten vor. »Kai Kaspari befand sich auf dem Weg zu seiner Freundin. Claudia Koch wollte nach dem Büro ebenfalls nach Hause. Genauso Clemens Sander. Fabrice Duras steckte im Stau. Und Eva Schwarz war schon zu Hause, aber allein. Und gestern morgen, als Kai starb, sieht es nicht viel anders aus. Der eine beim Joggen, der andere beim Einkaufen, auf dem Weg ins Büro oder dort schon angekommen, aber von niemandem bemerkt.« Annette Glaser lehnte sich zurück. Auch kein leichter Job, dachte ich. Ich fragte: »Wissen Sie inzwischen etwas über die Mordwaffe?« »Wir hatten ganz zu Anfang mal an einen Parfümflakon gedacht, wegen der trichterförmigen Wunde. Unter diesen Flaschen gibt es ein paar, die als Waffe durchaus geeignet wären. Aber wir haben keine entsprechenden Rückstände nachweisen können.« Annette Glaser strich sich eine ihrer gefärbten Strähnen aus dem Gesicht. Haare, stellte ich mir vor, sind für die Polizei kein Schmuck, sondern Beweismaterial, eine Substanz, um mit dem genetischen Code einen Täter zu überführen. Zwischen einem Frisör und der Polizei liegen Welten. Wo war eigentlich der junge Assistent? »Also«, sagte die Kommissarin. »Dann danke ich Ihnen für Ihre Auskünfte, Herr Prinz.«
Ich stand auf. Die Grünpflanze unter der Lampe sah deutlich besser aus als das letzte Mal. »Wie kommt man eigentlich dazu, Kriminalkommissarin zu werden?« fragte ich, als wir uns die Hand gaben. »Wie man dazu kommt? Ich trage gern dazu bei, Unrecht aufzuklären. Finden Sie das abgedroschen?« »Klingt nach Sisyphus-Arbeit.« »Aber Sie fangen bei Ihrem Job doch auch immer wieder von vorne an.« Ich lachte. »Da haben Sie recht.« Im Salon hatte noch niemand mit mir gerechnet. Eine Frau stand vorne am Tresen und wartete verloren, als wären wir nicht bei Tomas Prinz, sondern auf einer Behörde und der Sachbearbeiter, zuständig fürs Haareschneiden, nicht da. Warum war der Empfang nicht besetzt? Kerstin hielt eine Strähne in die Höhe und redete mit dem Spiegelbild ihrer Kundin, auf die Beratung konzentriert, alles andere ausgeblendet. Dabei ist es so einfach! Ein kurzes Lächeln zeigt dem Kunden: Gleich bin ich bei Ihnen. Viel zu wenig hatte ich mich in den vergangenen Wochen ums Geschäft gekümmert. Höchste Zeit, daß Kitty, meine Empfangschefin, aus dem Urlaub zurückkam. Sie hat den Überblick über die Termine und beherrscht die Moderation perfekt. Wo steckte Bea? Ich bot der Kundin einen Platz an, suchte ihr den Münchner Morgen heraus. Während wir uns über das Wetter unterhielten – sie klagte über Einschlafstörungen –, las ich die Schlagzeile: Claus-Peter berichtete in großen Lettern vom »Raser auf der A9«. Ich wollte Kaffee holen und fragte im Vorbeigehen Benni: »Hast du Bea heute schon gesehen?« »Mußte mal weg.« Er shampoonierte, aber der Tee stand bereits am Platz des Kunden. Der Tee würde kalt sein, wenn der Mann vor dem Spiegel saß. Warum dachte eigentlich niemand mit? Im Regal bei den Pflegeprodukten und Trophäen
waren Lücken, auf dem Kristall lag Staub. Ich riß die Tür zur Küche auf. Dennis, mein Topstylist, legte erschrocken das Handy weg. »Vorne sind Kunden«, schnauzte ich. Ein Zeitschriften-Horoskop lag aufgeschlagen da. Ich nahm es und feuerte es in die Ecke. Unten im Büro war die Luft mindestens fünf Grad kühler. Ich mußte mich um die Frisuren-Show kümmern, die Reise nach London stand bevor. Julia, meine Choreographin, wartete auf Ideen. Ich brauchte Platz auf dem Schreibtisch, schob Telefonverzeichnis, Post und anderen Krimskrams zusammen. Im Karton mit den Belegen fürs Finanzamt lag obenauf ein Zettel meines Buchhalters: »Bitte die Reisespesen unterschreiben«, hatte Fritz in seiner ordentlichen Handschrift notiert. Ich trank Kaffee, kaute Butterbrezeln und fing an zu zeichnen. Die Show. Alle Models sollen wie Elfen aussehen, grazil und feingliedrig. Das Haar silbern, die Beleuchtung wie Mondlicht. Ich wollte auch männliche Elfen – Trolle? Mit tomatenrotem Haar? Ich zog Linien um die Brezelkrümel herum, vergaß für einen Moment die Toten und die Lebenden. Jemand schaute mir über die Schulter. Ich hatte Bea nicht kommen hören. »Wo hast du gesteckt?« fragte ich, ohne aufzusehen. Die Elfen waren – Modepuppen. Etwas fehlte. Das Mystische. Ich knüllte das Papier zusammen. »Ihr kommt und geht, wie es euch paßt.« »Ich kann es erklären«, sagte Bea. »Ich hatte etwas zu erledigen. Es war mehr als nur so ein Gefühl. Lies mal.« Beas Horoskop. Es lautete: ›Jungfrau: Sie sollten es Ihrem Chef zeigen und endlich das Projekt in Angriff nehmen… Merkur verleiht Ihnen Verstand und Intuition… Mars die nötige Ausdauer…‹ – »Bea, was soll das?« »Ich war in der Georgenstraße. Wollte mal selbst sehen, was da los ist.«
Irgendwann würde die Astrologie Bea noch in Schwierigkeiten bringen. Ich schüttelte den Kopf und fragte: »Und was ist dabei herausgekommen? Hast du mit Claudia gesprochen?« »Nicht direkt.« Bea lehnte am Schreibtisch. »Zuerst stand ich bei den Kasparis vor der Tür. Aber dort ist alles versiegelt. Dann bin ich hoch zu Claudia. Ich dachte, ich plaudere mit ihr. Du weißt, ich kann das, ich bin gut in solchen Dingen. Ich klingele, aber mir öffnet ein fremder Mann, Claudia nicht da. Ich wußte sofort, wer er ist – Holger. Ich habe ihm erzählt, daß ich die Farbstylistin bin, daß Kai gern bei uns in der HansSachs-Straße war und andere Dinge, die man sagt, wenn ein lieber Mensch von uns gegangen ist. Holger war am Anfang sehr zugeknöpft, aber dann hat er angefangen zu erzählen. Als das Schreckliche passierte, war er in Berlin. Die Polizei hat ihn bei der Arbeit alarmiert, er ist sofort nach München gekommen, mußte gleich zur Polizei und in die Gerichtsmedizin und wohnt jetzt bei Claudia, darf ja nicht in seine Wohnung. Der Mann ist fertig, sag ich dir. Aber noch schlechter geht es wohl Claudia. Die ist mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus gebracht worden, kommt aber wohl bald nach Hause. Warst du eigentlich mal bei ihr? Gemütlich hat sie es, viele Kissen, alles ganz akkurat. Überall trockene Sträuße, im Bücherregal, auf der Anrichte, sogar im Bad. Und eine Menge Familienfotos. Man merkt, sie ist gern zu Hause, das genaue Gegenteil von der chaotischen Alexandra. Übrigens habe ich etwas Komisches im Schlafzimmer bemerkt.« »Im Schlafzimmer?« »Naja, Holger mußte zwischendurch mal ans Telefon, und um mir die Wartezeit zu verkürzen… die Tür stand jedenfalls offen. Hat Claudia eigentlich einen festen Freund? Da lag so ein Elternmagazin. Ist sie in anderen Umständen?«
»Claudia liest diese Blätter beruflich. Sie muß doch wissen, was die Konkurrenz macht. Na toll, Bea. Da hast du ja eine Menge herausgefunden!« »Auf jeden Fall mehr als du.« Bea ging zur Tür. »Hast du eigentlich mein Horoskop bis zum Ende gelesen?« Als letzter Satz stand da: ›Und denken Sie daran: Sie haben bei Ihrem Chef einige Bonuspunkte gut.‹ »Bea«, sagte ich, »die Kunden warten!« Ich zeichnete weiter, mit dem Ergebnis immer unzufriedener. Ich mußte einfach mehr über die Elfen wissen. Vielleicht könnte mein Schwager Christopher im Internet recherchieren oder Regula Abbildungen in der Bibliothek suchen. Ich schaute auf die Uhr. In Moskau war es gleich sechs, er müßte noch in der Galerie sein. Ich griff zum Hörer, zögerte. Ob das jetzt der richtige Zeitpunkt war? Aljoscha war ja völlig ahnungslos und Kais Tod keine Sache, die ich ihm mal eben so mitteilen wollte. Nicht jetzt. Ich ging hoch in den Salon. Bis in den Abend hinein schnitt ich, ließ das Gerede der Kunden über ihre Ferienerlebnisse an mir vorbeirauschen wie die Traumschiffmelodie. Sie erzählten von Abenteuern, die so riesig waren wie die Kakerlake im hoteleigenen Jakuzzi, so bedeutend wie die Beule im Blech des Mietwagens. Familienurlaube – »Watte pur!« hatte Alexandra dazu gesagt. Sie selbst wollte nie mit Mann und Kind in die Ferien fahren. Claudia war da sicher ganz anders. Die träumte vermutlich davon. Nur einmal hatte Alexandra es getan, Kai zuliebe. Der Junge mußte das Gehen mit der neuen Prothese trainieren, die erste mit Metalldorn, Karbonfuß und mechanischer Verriegelung, ohne den Schaft aus Kunststoff, wegen dem sich der Schleimbeutel im Knie immer wieder entzündet hatte. Kai wollte laufen wie alle anderen, ohne dabei die Hüfte nach oben zu ziehen wie ein Behinderter. Er mußte üben und hatte dabei eigentlich nur einen Wunsch: Alles sollte normal sein, klein
und überschaubar, wie das Ferienhaus, das sie in Dänemark mieteten. Drei Zimmer, Terrasse nach Süden, Supermarkt um die Ecke. Alexandra kaufte Topfschwämme, die Männer mußten Grillkohle schleppen und das Auto waschen. Alexandra fand es lustig. Für zwei Wochen waren sie eine Familie wie alle anderen um sie herum. Sie lagen nebeneinander im Sand, ließen sich von der Sonne die Haut bräunen und das Haar bleichen und schauten in den Himmel. Ich dachte an Alexandras Leiche, die weiß gefärbten Haare auf dem Kissen, an Kais leblosen Körper unter dem Tuch und sagte mechanisch zu meinem Kunden: »Ja, Sie haben recht. Wir müssen etwas für die Kopfhaut tun.«
27
Am nächsten Morgen machte ich Kaffee, setzte mich im großen Zimmer an den Tisch und wählte Aljoschas Nummer. Seine Stimme in Moskau klang verschlafen. Ich ließ ihm Zeit, wach zu werden, bevor ich sagte: »Ich muß dir etwas sagen.« Ein Wasserkessel pfiff durch die Leitung. »Kai ist tot. Aus dem Fenster gestürzt.« Der Pfiff endete müde, als ob die Großmutter den Kessel vom Herd genommen hätte. Eine fremde Stimme quasselte leise und fließend, das Küchenradio. Ich fragte: »Bist du noch da?« und berichtete ihm von Dingen, die unbegreiflich blieben. Aljoscha schwieg die meiste Zeit. Wie kann man sich nahe sein, ohne sich zu berühren? Ich hoffte, er würde sagen: »Ich komme, so schnell ich kann«, aber er murmelte nur: »Das kann nicht sein« und: »Ich glaub’s nicht.« Ich machte jetzt Schluß: »Wenn ich etwas Neues weiß, rufe ich dich wieder an. Versprochen.« Ich war enttäuscht. Was hatte ich eigentlich erwartet? Auf dem Tisch vor mir lag immer noch die Einladung zu Constantins Sommerfest. Der Immobilienmakler und Antiquitätenhändler »erhofft sich das Vergnügen«. Wann? Schon heute abend. »R.S.V.P.« – Antwort erbeten. Ich hatte es vergessen. Mir war nicht nach Feiern zumute. Auf dem Fest versammelt sich jedes Jahr derselbe Kreis aus Künstlern, Professoren, Galeristen. Ein Familientreffen ohne große Überraschungen, manchmal kommt jemand Neues, Angeheiratetes dazu. Kellner in langen Schürzen servieren geeiste Pralinen und Erdbeeren in Schokolade, eine Combo spielt Tanzmusik, die Cocktails an der Bar sind klebrig, die
Gespräche anfangs immer liebenswürdig. Wenn man durchhält und die Musiker Dampf machen, ziehen sich die Männer die Jacketts aus und gehen mit den Frauen auf die Tanzfläche. Vielleicht würde Ablenkung guttun? Ich rechnete, meine wievielte Party es bei Constantin wäre. Er hatte mir meinen Laden in der Hans-Sachs-Straße vermittelt, vor acht oder neun Jahren, eine Bruchbude damals. Also die achte, neunte Party? Damals war Constantin ein schlanker Immobilienmakler mit Geheimratsecken gewesen, jetzt wuchsen bei ihm Wohlstand und Bauch um die Wette. Ich kann die Feste nicht mehr unterscheiden. Mit Matteo war ich auch mal dagewesen. Er hatte getrunken und getanzt, über die Brüstung gekotzt und weitergetanzt. Er hatte sich eine blonde Perücke mit Seitenscheitel über die krausen, schwarzen Haare gezogen, weil er wissen wollte, wie es ist, blond zu sein und Seitenscheitel zu tragen. Die Perücke ging in jener Nacht verloren. Ich war sentimental. Das Telefon klingelte, und ich verschüttete Kaffee auf das Büttenpapier mit dem Wasserzeichen. Es war die Stunde von Claus-Peter. Recherche im Fall Kai Kaspari? Es war nur Regula, ihre Stimme auf Plauderton. Es ging um Familiäres, ein Bonbonpaket, das Mama für die Kinder schicken wollte, was ich nett fand. Außerdem, sagte Regula, gebe es Probleme mit der Fabrik, was mich nicht weiter verwunderte. Es gehe um den Vertrieb, Mama müsse sich mit komplizierten Bestimmungen herumschlagen, Schutzzölle für Zucker, Verordnungen, mit denen sie bei der Kalkulation nicht gerechnet hatte. Ich überlegte noch, wer von meinen Bekannten Mama beraten könnte, als Regula sagte: »So ist das« und sich nach Aljoschas Rezept für die Kascha erkundigte. Die Pampe, fand ich, war es nicht wert, nachgekocht zu werden, aber ich versprach, bei Gelegenheit die Zutaten zu erfragen. »Und was machst du heute abend?«
wollte Regula wissen und erzählte, sie wolle auf die Inlineskates, danach mit Christopher ins Kino – für Regula schon ein »romantischer Abend«. Nur die Kleinen bräuchten Aufsicht. Ob ich schon etwas vorhätte? Ich zögerte. Statt auf Constantins Terrasse zu tanzen, würde ich den Kindern Kakao kochen und eine neue Geschichte erzählen. Das haarige Ungeheuer. Ich könnte es scheren, rasieren, und zum Vorschein würde ein Glatzenschwein kommen. Plötzlich sehnte ich mich nach meiner Schwester, den Kleinen, nach grünem Tee und Legosteinen, über die man überall stolpert. In ihrer Leitung klopfte es. Ich versprach, nach Feierabend zu kommen, legte auf und zog meine Laufschuhe an. Stephan erwischte ich gerade noch. Wir joggten auf dem ausgetretenen Pfad entlang der Isar. Das Wasser war immer noch perdu, wie meine Kondition. Auch den Hunden, die übermütig über die braune Wiese sprangen, hing die Zunge aus dem Maul. Meine Lungen schmerzten. Wenn jetzt noch die Seitenstiche kommen… Stephan blieb stehen, kreiste mit den Armen und fragte: »Geht’s dir gut?« Ich versuchte ein paar Situps und blieb dann im Gras liegen. »Schon alles okay«, sagte ich.
28
Kais Tod lag mittlerweile drei Tage zurück. Barbara KramerPech kam ohne Anmeldung. Ich war überrascht. Plötzlich stand sie da, redete auf halber Lautstärke, so daß ich in dem Trubel kaum etwas verstand, bis ich freundlich sagte: »Kein Problem, bitte nehmen Sie einen Moment Platz.« Ich checkte im Kalender und disponierte um. Meinen 9-Uhr-30-Termin, den Sohn eines Vorstandchefs, ein Junge mit besonders feinen Haaren, mußte Dennis übernehmen. Den Fußballer, der danach kommen wollte, vermutlich auch. War kein Problem. Verstohlen betrachtete ich Barbara. Sie blätterte in den Seiten eines Magazins, angespannt im Sekundentakt. Das Dunkelblond war ohne jeden Glanz, das Make-up mit Sorgfalt aufgetragen. Benni flüsterte mir zu: »Wenn du mich fragst, ist bei ihr eine Rundum-Erneuerung fällig.« Ich schüttelte den Kopf. »Bitte«, sagte ich zu Barbara und ging voraus zum Waschbecken. Sie hängte ihre Handtasche an die Armlehne und lehnte sich zurück. Ich shampoonierte. Jetzt war nicht der Moment für eine Typberatung. Barbara, da war ich mir sicher, wollte über etwas sprechen. Beim Spülen schloß sie die Augen. Ich gab ihr ein Handtuch und brachte sie zum Platz. »Tee? Benni, bist du so lieb?« Ich nahm mir jetzt Zeit, massierte Kopfhaut und Schläfen. »Gut so?« Barbara nickte. Und nach einer Weile: »Für meine Antje ist es ein Schlag.« Sie atmete hörbar ein und aus, schneuzte sich und sagte in den Zellstoff: »Kai war ihre erste große Liebe.«
»Ja, das ist schlimm.« Ich kämmte. Ich hatte das Mädchen mit den verfilzten Haaren auf Alexandras Beerdigung gesehen. Unzertrennlich hatten die beiden gewirkt. »Antje macht sich solche Vorwürfe.« »Vorwürfe?« Ich klemmte eine Strähne zwischen Zeige- und Mittelfinger. Eineinhalb Zentimeter, mehr nicht. Ich wollte behutsam zu Werke gehen. »Sie hatte mit Kai Streit, waren ja beide sehr dünnhäutig nach dem schrecklichen Ereignis. Fast eine Woche hatten sie sich nicht gesehen, als Kai plötzlich anrief. Er wollte Antje sprechen. Antje erzählte mir später, Kai habe schon wieder mit seiner Mutter angefangen und daß er Antje dringend etwas erzählen müsse. Aber Antje wollte nichts mehr von der Geschichte hören. Für sie gab es nur ein Thema: daß Kai nach Berlin gehen sollte. Das hat sie ihm übelgenommen, dabei hatte er doch keine Wahl. Aber es hat sie nicht interessiert. Sie hat ihn ganz schön abgefertigt in diesem letzten Gespräch.« Barbara seufzte und sah mich an. »Und jetzt wissen wir nicht, was Kai nun loswerden wollte. Vermutlich das, was er auch Ihnen erzählen wollte.« »Ich mache mir auch Vorwürfe. Wache nachts manchmal auf. Ich glaube, ich träume sogar davon.« Ich stellte mich hinter Barbara, prüfte die Längen rechts und links. »Ist Claudia eigentlich wieder in der Redaktion?« »Claudia? Die ruht sich erst mal aus. Das muß man sich mal leisten können! Mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus, weil sie ›zwei liebe Menschen verloren hat‹. Das habe ich auch. Wir reißen uns doch alle zusammen. Aber Eva läßt nichts auf sie kommen.« »Sie dürfen nicht so streng mit Claudia sein. Für sie war Kai etwas Besonderes. Kannte ihn von klein auf, war für ihn fast so etwas wie eine Mutter.«
»Claudia kann doch gar nicht nachempfinden, was es heißt, eigene Kinder zu haben. Soll sie doch erst einmal selbst welche bekommen! Aber was sie privat treibt – da läßt sie nie etwas durchblicken. Claudia ist immer die Heilige, Alexandra dagegen – die Hure, oder was? Gut, Alexandra war nicht gerade eine Übermutter. Kai ist bei allem zu kurz gekommen, war oft der Leidtragende. Hätte der Junge sich mal an mich gehalten, dann wäre er jetzt vielleicht noch am Leben!« Aufrechnen und Eifersüchteleien, noch über den Tod hinaus – was waren das für Verletzungen? Wahrscheinlich hatte es Barbara in der Redaktion auch nicht immer leicht. Hatte nichts zu melden. Mußte immer springen. Das sagte ich anschließend auch zu Bea, die, kaum hatte Barbara ihre 75 Euro bezahlt, schon auf dem Hof wartete und den ersten Filter im Aschenbecher zerdrückte. Barbara und Alexandra – zwei alleinerziehende Mütter mit völlig entgegengesetzten Lebensentwürfen. Barbara, die unauffällige Assistentin, Alexandra, die kapriziöse Beauty-Frau. »Erinnerst du dich an den Aufstand, den Barbara auf der Vernissage gemacht hat, als die beiden Vamp-Frauen nicht mehr aufhörten, über Alexandra zu lästern?« fragte ich Bea. »Sie wäre einfach gern ihre Freundin gewesen. Aber mit den Freundschaften ist es in diesen Glamour-Jobs wohl nicht so einfach.« Bea sagte: »Nicht nur mit den Freundschaften. Guck dir doch mal die Beziehungen an. Überhaupt – auch bei dir. Wie sieht es eigentlich jetzt mit deinem Liebsten aus?«
Ratlos stand ich in der Buchhandlung vor den Schildern. Psychologie, Geschichte… »Entschuldigen Sie«, sagte ich, »wo finde ich etwas über Elfen?«
»Elfen haben wir nicht. Schauen Sie mal unter Feen. Abteilung Kinderbücher. Oder Esoterik.« Kinderbücher? Ich nahm die Rolltreppe in die Esoterik. Geheime Künste. Präkognition. Traumgruppe. Hier: Die Anderswelt. Ich blätterte. Das Feenreich. Das kleine Volk… schelmische Wesen… Kleidung grün und blau… rote und goldene Bänder… Das war es. Damit würde Julia für ihre Choreographie etwas anfangen können. Ich las: Elfen tragen Hauben und Kappen aus Blüten und Blättern. Sie besitzen Flügel, spitze Ohren, farbige Augen. Der Feengesang wird begleitet vom Klang der Maiglöckchen. Ranunkeln dienen als Trinkgefäße… Und männliche Feen? Italienisch, Masseriol – hilfsbereit, aber auch hochnäsig. Schützt die Bauern. Würde irgendwie zu Matteo passen. All diese Elfen. Aljoscha hatte gemeint, isländische seien für eine Frisuren-Show nicht geeignet. Ich kaufte zwei dicke Bilderbücher. Draußen zogen Touristengruppen wie von Magneten gezogen über den Marienplatz. Ich überlegte, eine Kleinigkeit zu essen. Mit Stephan im ›Dukatz‹? Er ißt pünktlich um eins, jetzt war es schon nach zwei. Ich beschloß, auf einen Imbiß zu ›Dallmayr‹ zu gehen, könnte dort auch gleich etwas für Regula kaufen. Sie ist versessen auf Roquefort, aber es muß Jarnier sein, auf keinen Fall Papillon. Die Verkäuferin hinter der Käsetheke wußte Bescheid. Dazu nahm ich eine Flasche Sauternes, süß und schwer. Regula würde sich freuen. Ich bestellte mir Gazpacho, löffelte immer aus der Tellermitte heraus, einem Nest aus Ziegenkäse und Zucchini. Neben mir saß eine Dame mit Perücke und schäbigem Kostüm und aß ihre Beluga-Kaviarhäppchen wie Leberwurstbrote. Ich schlenderte durch die Residenzstraße zum Odeonsplatz weiter in die ruhige Fürstenstraße, an dem Antiquitätengeschäft vorbei, dessen Fenster dunkel aussah, Richtung Schwabing, wo ich heute abend den Babysitter geben
sollte. Ein leichter Wind vertrieb die Hitze, ich hatte Zeit. Die Bücher wogen schwer, das Plastik der Tragetasche schnitt sich unangenehm in meine Handfläche. Claudia vergrub sich wahrscheinlich zu Hause. Ich hatte zwar keine Fürsorgepflicht für Alexandras hinterbliebene Freundin, aber durch die Georgenstraße zu gehen war kein Umweg. Besser, ich bereitete sie vor. Ich ging in die Telefonzelle, wählte Claudias Nummer und stemmte dabei den Fuß in die Tür, es war stickig hier drinnen. Ich hörte nur das Freizeichen. Die Kirchturmuhr am Josephsplatz zeigte schon fast halb fünf, die Häuserseite von Claudia lag bereits im Schatten. Dort drüben hatte ich mit Stephan im Auto gesessen und auf die Kaspari-Männer gewartet. Das war vor ungefähr zehn Tagen gewesen. Ich machte einen Bogen um die Stelle auf dem Gehweg und klingelte. Nichts. Ich wollte weitergehen, wechselte auf die Sonnenseite und schaute noch einmal zum vierten Stock hoch. Bei Claudia standen die Fensterflügel offen. Ein letzter Versuch, ich klingelte wieder. Jetzt plötzlich: »Hallo?« Ich beugte mich zum Lautsprecher. »Ich bin’s, Tomas. Stör ich?« Pause. Dann der Summer. Ich nahm zwei Stufen auf einmal, als müßte ich mich beeilen, weil Claudia es sich noch einmal anders überlegen könnte. Sie stand oben in der halbgeöffneten Wohnungstür, und ich dachte, daß Feen leuchten, wenn sie glücklich sind, und verblassen, wenn sie unglücklich sind. Claudia war beinahe durchsichtig. Ich umarmte sie. Claudia sagte: »Ich habe nicht viel Zeit, muß noch zum Arzt. Aber komm rein.« »Ich hatte versucht, dich anzurufen.« »Das Telefon ist leise gestellt.« Sie ließ mich zuerst ins Zimmer treten. Da waren die bunten Kissen, von denen Bea schon erzählt hatte, die Grünpflanzen, der Deckenfluter. Ich brauchte dringend eine Erfrischung. Auf
dem Tisch stand Mineralwasser, daneben lag eine Zeitung, der Immobilienteil, einzelne Anzeigen gelb markiert. Claudia faltete die Zeitung zusammen. »Du suchst eine Wohnung?« fragte ich. »Ich muß hier raus. Kannst du das verstehen?« Sie stellte mir ein Glas hin, schenkte ein. »Dieses Haus ist für mich unerträglich geworden. Ich halte es hier nicht mehr aus. Erst recht, wenn das Kind kommt.« »Das Kind? Was für ein Kind?« Claudia ließ sich auf ihrem Stuhl nieder und hielt ihr Glas mit beiden Händen fest. »Lange kann ich es sowieso nicht mehr verbergen.« »Claudia, das ist ja wunderbar!« sagte ich und dachte: Also hat Bea mit ihrer Intuition doch richtig gelegen. Claudia schaute unglücklich in ihr Glas. Es gab keine Luftbläschen darin. »Ach, Tomas. Mein Leben ist ein ziemlicher Schlamassel.« »Und der Vater? Was sagt der?« »Kein gutes Thema. Ich muß jetzt auch los.« »Claudia, kann ich irgend etwas für dich tun?« Sie sah mich an, nachdenklich, als wäre sie dabei, meine Fähigkeiten einzuschätzen. Es war eine Floskel, was könnte ich schon für sie tun? Plötzlich sagte sie: »Ja. Vielleicht kannst du mir tatsächlich helfen. Gib mir einen Termin. Aber erst später am Abend. Wäre das möglich? Morgen?«
29
Regula und mein Schwager Christopher hatten mit ihren Inlineskates und den Kinokarten keine Eile. Christopher bot an, Kaffee zu kochen, aber ich sagte: »Nicht nötig.« Die Kaffeemühle, »original aus den Fünfzigern«, elektrisch und im Internet ersteigert, zeigte er mir trotzdem, füllte zur Anschauung Kaffeebohnen hinein und setzte per Knopfdruck den Motor in Bewegung. Das Brummen war laut. Regula schnitt ein Stück vom Käse ab und berichtete, das Bonbonpaket, das Mutter den Kindern versprochen hatte, sei immer noch nicht angekommen. Typisch Regula, sie war so leicht gekränkt: »Anna und Jonas sind ihr nicht mal ein paar klebrige Lutscher wert.« Ich fragte: »Wollt ihr nicht los?« Die beiden Kleinen, Anna und Jonas, rannten im Schlafanzug rein und raus, mit Spielzeugautos, die sie mit Getöse an Schnüren hinter sich herzogen. Keine Anzeichen von Müdigkeit. Als die Eltern dann in ihre Rollschuhe gestiegen waren und die Tür hinter ihnen ins Schloß fiel, sahen mich die Kinderaugen in den erhitzten Gesichtern an, und mir war klar, daß sie jetzt mehr erwarteten als Vorlesen oder Liedchen singen. Eine Kissenschlacht? »Ich weiß etwas«, sagte ich. In Regulas geordneten Vorräten fand ich eine Tüte Zucker, schüttete ihn mit Milch und etwas Butter in einen Topf und schaltete die Elektroplatte auf höchste Stufe. Man muß mit Volldampf kochen, sonst fängt die Milch an zu flocken. Jonas und Anna standen auf Stühlen und rührten abwechselnd. »Was das wird? Karamelbonbons, wie aus Großmutters Fabrik. Wir sind eine Bonbonfabrik.« Der gelbe Brei verwandelte sich in eine zähe, blonde Masse, und über dem Kochtopf wurde es
heiß wie in der Mittagssonne. Ich wischte mit dem Schwamm über den Emaillerand und erklärte, daß »kein ungelöstes Zuckerkörnchen dabei sein darf, sonst werden die Bonbons nichts«. Wir gaben einen Tropfen Karamel in ein Glas Wasser. Der Tropfen formte sich wie ein kleiner Bernstein. »Schön!« Ich goß die Masse auf eine Marmorplatte, die Anna und Jonas zuvor reichlich mit Öl bestrichen hatten, und schnitt den braunen Fladen in Würfel. Wichtig ist, würde Regula sagen, daß die Stücke gleich groß sind. »Sonst gibt’s nur wieder Zank und Streit.« Die Kinder lagen im Bett, als für Regula und Christopher das Südstaatendrama auf der Leinwand schon seinen Höhepunkt erreicht haben mußte. Ich machte es mir auf der Couch bequem, einem Überbleibsel aus Regulas Studentenzeit, das mit diesem samtblauen Überwurf auch nicht schöner wird. Regula weiß in praktischen Dingen besser Bescheid, organisiert ihre Familie effizient wie ein kleines Unternehmen, dessen Abteilungen und Aufgaben immer weiter anwachsen: Kindergarten mit Bastelstunden, demnächst Schule mit Hausaufgaben, Kindergeburtstage, Sportverein, Musikschule. Als Freizeitonkel habe ich es einfach, schaue vorbei, wenn ich Lust habe, verschwinde, wenn es mir paßt, und heimse dabei auch noch Pluspunkte ein. Ich hörte durch die offene Tür, wie die kleine Anna im Schlaf brabbelte. Ein Kind würde für Claudia eine Riesenumstellung bedeuten. Ob sie damit zurechtkam? Wer wohl der Vater war? Morgen würde ich mehr erfahren. Ich stöberte in dem Zeitschriftenstapel, fand aber nur Trekking-Magazine mit Outdoor-Angeboten. Eigentlich könnte ich Regula vorschlagen, zusammen mit den Kindern zu Mutter nach Zürich zu fahren. Warum eigentlich nicht? Anna und Jonas würden oben in unseren Kinderzimmern wohnen, im See Schwimmen lernen, Frau Berg beim Kochen helfen. Später
könnte aus dem Besuch bei der Großmutter eine Gewohnheit werden. Kai war in den Ferien auch oft bei Alexandras Verwandten im Ruhrpott untergekommen. Anna rief etwas. Ich stand auf. Die Decke hatte kleine Fusseln auf meinem weißen Hemd hinterlassen. Wenn es Mutter mit Regula und den Kindern zu laut und anstrengend werden würde, könnte man sie auch einfach ins Gästehaus ausquartieren.
30
Am nächsten Tag war es zu heiß zum Joggen. Schon nach der Dusche fühlte ich mich beim Anziehen wieder verschwitzt und klebrig. Alles wartete auf den großen Regen. Doch am Himmel bildete sich nicht eine weiße Wolke. Den Ausschuß an Karamelsplittern, die den Kindern nicht formvollendet genug waren, nahm ich mit in den Salon und schüttete sie in eine Schale, aber niemand kostete von den braunen Scherben. Das Geschäft lief normal, keine besonderen Vorkommnisse. Wir färbten, frisierten, fönten einen Kopf nach dem anderen, veranstalteten mittags im Hof eine Wasserschlacht, die Hoffmann von seinem Balkon aus verfolgte, ein wortloser Zuschauer auf der Tribüne. Theadora kam zum Schneiden, das erste Mal, seit sie entbunden hatte. Ihre Haar war dünn geworden, der Scheitel erschreckend breit. Theadora stillte und hatte Fotos von schlitzäugigen, kahlköpfigen Zwillingen dabei, ein ganzes Album im Handtaschenformat, x-mal ausklappbar. Ich hatte Bea noch nicht in Claudias Geheimnis eingeweiht. Im Moment hatte ich keine Lust auf noch mehr Schwangerschaft, den Klatsch und Tratsch, der automatisch damit verbunden war. Ich schubste das Themenkarussell immer wieder an, landete aber beim Plaudern mit der Fernsehkommissarin, deren rote Mähne aufgefrischt werden mußte, schon wieder bei Mord. Dieses Mal zum Glück nur als Fiktion. Eine lange Reihe von Drehtagen lag vor ihr, ein neuer Kriminalfall, die Szenen durcheinander, keine Chronologie, erst wenn der Film fertiggeschnitten und montiert ist, würde der Mord am Anfang, die Verhaftung am Ende stehen. Ich verschwieg, daß ich abermals ihren letzten Film verpaßt hatte,
und fragte, wie realistisch die Fernsehfälle seien, zum Beispiel, daß jeder Mord aufgeklärt wird. Im richtigen Leben, behauptete die Fernsehkommissarin, würden neun von zehn Fällen gelöst. Und was interessant sei, der Mörder käme bei den Beziehungsdelikten fast immer aus dem allernächsten Umfeld. Der Onkel, der Freund, der Nachbar. Nicht gerade beruhigend, fand ich. Claudia erschien, wie abgemacht, um kurz nach halb sieben. Ihr Haar glänzte, ihr Gesicht war tatsächlich runder und weicher geworden. Die Hormone. Ich war noch am Aufräumen, und Claudia setzte sich, die Handtasche auf dem Schoß, als wären wir auf dem Bahnhof. »Magst du etwas trinken?« fragte ich. »Danke, später vielleicht. Ich sag dann Bescheid.« Die Angestellten verschwanden innerhalb von Minuten in den Feierabend, auch Bea packte zusammen, wortlos, und ging – mit einem sehr knappen Gruß. Nur Dennis trödelte. Ich ging mit Claudia zum Haarewaschen. Sie kehrte noch einmal um, um ihre Handtasche zu holen, typischer Frauenreflex. Sie war wieder so spröde, brauchte ihre Zeit zum Aufwärmen. Im Liegen schloß sie die Augen, wie alle es tun. Das Wasser rauschte. »Es ist das erste Mal, daß ich dich wasche und schneide«, sagte ich. Claudia lächelte ein bißchen. »Normalerweise lerne ich zuerst das Haar kennen, dann den Menschen. Bei uns ist es umgekehrt.« Ich dachte daran, was wir in den vergangenen Wochen zusammen erlebt hatten. Zwei Todesfälle, ein Haufen Verdächtigungen. Ein heißer Sommer. Hinten in Beas Reich ging das Licht aus. Auch Dennis war dabei, den Laden zu verlassen. Wir zogen nach vorne um. Ich legte Claudia das Handtuch in den Nacken und kämmte. »Hast du dir überlegt, wie es dann weitergeht?« begann ich das Gespräch. »Machst du eine Babypause? Und wie steht eigentlich Eva dazu?«
»Gute Frage«, sagte Claudia. »In der Redaktion wissen sie noch nichts. Du bist der erste.« »Das ehrt mich«, versuchte ich zu scherzen. »Aber der Vater weiß es ja wohl?« Claudias Lippen waren trocken. »Der Vater wird mit dem Kind nichts zu tun haben. Den brauche ich nicht. Ich schaffe das allein.« »Sicher.« »Ich habe es nicht darauf angelegt. Es ist eben passiert. Daß es dem Vater nicht in den Kram paßt, ja, das ist schade. Aber was soll’s? Vielleicht auch besser so.« In ihren Augen war ein Schimmern. »Darf ich fragen…?« »Nein, darfst du nicht. Aber du darfst mir jetzt einen Saft holen. Orangensaft, bitte.« »Kommt sofort.« Ich legte die Schere zur Seite und ging in die Küche. Wir hatten zwei Flaschen auf der Fensterbank und noch welchen im Kühlschrank. Ich streckte noch einmal den Kopf durch den Türspalt. »Möchtest du ihn kalt oder warm?« rief ich. Keine Antwort. »Claudia?« Ihr Platz war leer. Sie stand vorne am Regal, die Haare feucht, der Umhang wie ein Regencape. Was war los? Claudia sah mich an und schloß mit einem Klick die Handtasche. »Was machst du denn?« fragte ich und schaute auf meine Flaschen und Trophäen. Etwas hatte sich verändert. Jetzt wußte ich es. Statt der vier standen nun fünf Trophäen im Regal. »Hast du sie dort hingestellt?« fragte ich. Claudia sah mich an, geradezu feindselig. »Hast du sie mir aus der Redaktion mitgebracht? Alexandra hatte sie zum Fotografieren.« Claudia antwortete nicht. Alexandra. Die Pyramide. Die Wunde. Der spitze Gegenstand.
Sie stellte ihre Handtasche langsam auf den Boden. »Claudia – du?« Sie zog sich langsam das Handtuch aus dem Nacken, ich nahm es entgegen, wortlos wie ein Butler. Ich schaute sie nur an. Sie war blaß, mehr nicht. Ihre Augen hatten einen roten Rand. Sie nestelte am Umhang, bis ich ihr heraushalf. »Ich glaube es einfach nicht.« »Vielleicht ist es besser so«, sagte sie leise. »Besser so?« Ich wollte raus aus dem Salon, weg von der Hans-Sachs-Straße. »Gehen wir ein paar Schritte«, sagte ich. Irgendwohin, wo es still war. Zum Alten Friedhof. »Claudia, was ist an jenem Abend passiert?« Sie antwortete nicht. Sie ging nur neben mir her. Hatte sie mich überhaupt gehört? Hinter der Eisenpforte unter den hohen Bäumen war die Luft rein. Grabsteine mit Moos und schiefe Bänke standen am Wegrand. Unsere Schritte knirschten auf dem Sand. »Wie ist es geschehen?« fragte ich noch einmal. Claudia versteckte die Hände unter den Achseln. »Ich habe Clemens geliebt.« »Clemens? Etwa Clemens Sander?« Claudia nickte. Wir gingen langsam. Sie fragte: »Erinnerst du dich an das Fest bei Alexandra, damals? Als die Treppenstufen am Morgen mit all diesen bunten Rosenblättern bestreut waren? Jeder dachte, der Blütenteppich sei für Alexandra. Sie hat es selbst geglaubt. Aber der Teppich war für mich. Clemens und seine Rosen. Er war leidenschaftlich auf seine Art. Immer Rosen. Ich frage mich, wie viele es in all der Zeit gewesen sind. Tausend vielleicht.« »Du und Clemens. Seit wann?« »Wir waren perfekt. Nie ein echter Kuß in der Öffentlichkeit. Niemals zärtlich, immer freundlich. In Gesprächen mit
Kollegen sachlich. Wir sind auch mal zusammen los, bis zum Rosenkavalierplatz, aber dann getrennt weitergegangen. Wir kamen immer aus verschiedenen Richtungen ins Hotel. Immer dasselbe Zimmer. Manchmal haben wir vom Bett die Alpen gesehen. Daß er verheiratet ist, damit hatte ich mich arrangiert. Das ist passiert, vor unserer Zeit. Seine Familie, das war sein anderes Glück. Ich bin mal zu seinem Haus gegangen, an einem Sonntag, habe das Kinderfahrrad, den Roller vor dem Garagentor gesehen und gehört, wie sie im Garten mit dem Kaffeegeschirr klappern. Ich habe dann beschlossen: Ich will diese Dinge gar nicht wissen. Ich habe es einfach ausgeblendet. Aber dann bin ich schwanger geworden. Das hat alles verändert. Eine Familie. Ich wollte, daß er sich entscheidet. Seine Augen haben nein gesagt. Immerhin: Wir wollten noch einmal in Ruhe darüber reden. Genau an jenem Abend.« »An jenem Mittwoch?« »Ich habe hinten in meinem Zimmer noch ein Motto geschrieben, an Bildunterschriften geknobelt. Ich dachte, Clemens ist schon drüben, im ›Arabella‹. Ist es nicht verrückt? Jeden Monat schreibe ich in Vamp über Partnerschaft, Sex, Psychologie, reflektiere in Schleifen alle Standpunkte und Strategien, die man sich nur vorstellen kann. Und dann vergesse ich alles, ausgerechnet ich. Ich wollte ihn nicht erpressen. Ich wollte nur, daß wir glücklich sind. Ich war allein mit meiner Angst. Ich ahnte, was er mir vorschlagen würde. Aber das kam für mich nicht in Frage. Ich wollte das Kind unbedingt bekommen. Die Redaktion war wie ausgestorben. Nur im Waschraum habe ich Alexandra bemerkt, ich meine, ihren Duft. Dieses Holzige, Süßliche, du kennst das. Sie mußte gerade eben noch dagewesen sein. Und plötzlich hatte ich so eine Sehnsucht nach ihr. Seit Venedig, seit ihrem Geburtstag, hatten wir kaum
noch gesprochen, nur mal zwischen Tür und Angel, meistens über Kai. Belangloses Zeug haben wir gequatscht. Wir waren beide mit unserem Kram beschäftigt. Jetzt brauchte ich Alexandra. Wir waren Freundinnen. Sie würde wissen, was ich tun sollte. Ich bin rüber zu ihr. Alexandra hat gerade ihre neue Frisur gerichtet – deine Frisur, Tomas. Hat Lippenstift nachgelegt. Und fing an zu plappern. Sie glühte ja noch förmlich. Sie hat geredet, mich nicht mal angeschaut. Auch du hättest da an meiner Stelle stehen können. Ich kapierte zuerst nichts. Und dann fällt sein Name. Sie sagte, er stellt ihr ständig nach. Sie redete immer von diesem Tier. Daß sie nur mit den Fingern schnippen muß. Daß sie eben gerade noch mit ihm auf diesem Läufer vor ihrem Schreibtisch gelegen hat. Sie schmückte alle Details aus. Ich mußte alles anhören. Für sie bedeutete es nichts. Für mich war alles vorbei. Plötzlich hatte ich diese Pyramide in der Hand. Ja, Tomas, deine Trophäe. Die stand auf dem Schreibtisch. Alexandra hat nicht geblutet. Sie hat mir ins Gesicht gesehen, verblüfft irgendwie. Ich habe sie hingelegt. Und begriffen, was ich da getan hatte. Aber es war zu spät. Ich habe ihr ein Kissen untergeschoben. Bin einfach weg. Kannst du dir das vorstellen? Eva wollte, daß ich einen Nachruf schreibe. Ich schrieb den Nachruf. Holger wollte, daß ich ihm helfe, bei der Beerdigung, bei der Wohnung, dem Autoverkauf. Kai brauchte mich. Ich habe mich nur gekümmert. Ich war wie betäubt. Manchmal habe ich sogar das Baby vergessen.« Ich fragte: »Und was ist dann mit Kai passiert?« Ich hatte auf einmal einen fürchterlichen Verdacht. »Das war dann die zweite Katastrophe. Er hat in meinen Sachen gewühlt, hat Geld gesucht, für sein verdammtes Koks. Sogar an meiner Wäsche war er. Dort hatte ich die Pyramide
versteckt. Ich wollte das Ding ja noch verschwinden lassen, wußte aber nicht, wohin. Erst bei deinem Besuch, als du mich gefragt hast, ob du mir irgendwie helfen kannst, bin ich auf die Idee gekommen, sie einfach ins Regal zurückzustellen. Dorthin, wo sie hingehört. Unbemerkt natürlich. – Kai hat sie vorher gefunden, hat wohl alles sofort kapiert. Er muß hysterisch gewesen sein, unter Schock gestanden haben. In dem Zustand hat er dann wohl dich angerufen. Ich hatte ja keine Ahnung. Er ist mir ein paar Tage aus dem Weg gegangen, ich habe nicht verstanden, warum. Ich war mißtrauisch. Er war mir unheimlich. Erst als du mir erzählt hast, du würdest ihn treffen, weil er etwas herausgefunden hatte, da war mir alles klar. Ich habe ihn darauf angesprochen. Das war an jenem Morgen. Ein grauenhafter Moment. Ich wußte nicht, was werden würde, ich hatte keinen Plan. Du hast ihn ja nie erlebt, wenn er auf Drogen war. Er war einem dann völlig fremd. Und in der Nacht mußte er wieder etwas genommen haben, nicht nur Koks, sondern auch dieses andere Zeug. Er war verändert, so voller Haß. Wir hatten beide Angst. Ich bin auf ihn zu, wollte mit ihm reden, erklären, was sich eigentlich nicht erklären läßt. Er wich immer mehr vor mir zurück. Das Geländer ist niedrig. Er hatte die Prothese nicht an. Ich wollte ihm doch gar nichts tun, ich wollte ihn festhalten. Das Gleichgewicht – plötzlich war er weg.« Wir hatten uns auf eine Bank gesetzt, im Rücken eine bewachsene Mauer, die uns schützte. Manchmal streiften uns Blicke von Spaziergängern, die im Friedhofstempo vorbeimarschierten und vielleicht dachten, da erzählt jemand ein Urlaubserlebnis. »Hast du Clemens auf seine Affäre mit Alexandra angesprochen?« »Nein. Aber ich habe ihm gesagt, daß Schluß ist. Daß ich das Kind allein großziehe. Er hat es sofort geschluckt.«
Claudia legte sich die Hände auf den Bauch. Es war alles gesagt. Weit weg hörten wir Autos. Claudia erhob sich. Auch ich stand auf. Sie sah an mir vorbei. »Hast du die Nummer von Frau Glaser?« Ich zog meine Geldbörse aus der Hosentasche und holte die zerknitterte Visitenkarte der Kommissarin heraus. »Hier. Ich brauche sie nicht mehr.« Claudia schaute mir kurz in die Augen. »Danke.« Sie schloß ihre Hand um das Kärtchen. Ich drückte sie an mich, bis sie sich von mir löste. Dann ging sie. Ich setzte mich in den Schatten zurück.
Danksagung
Ohne den Frisör Ulrich Graf hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Dafür danke ich ihm sehr – auch Monika Wolff, der Farbstylistin, und allen anderen im Salon. Danke sagen möchte ich Dr. Lüder Gerking für den ruhigen Arbeitsplatz, meiner Agentin Sigrid Bubolz-Friesenhahn und allen Freunden, die mir mit ihrem Rat zur Seite standen.