Stephen Toulmin
Der Gebrauch von Argumenten
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Berk
BELlZ Athenäum
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Stephen Toulmin
Der Gebrauch von Argumenten
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Berk
BELlZ Athenäum
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Neue Wissenschaftliche Bibliothek
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I
Titel der Originalausgabe: The Uses of Argument, Cambridge University Press, 5. Aufl. 1976.
2. Auflage Beltz Athenäum Verlag, Weinheim 1996 Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgend einer Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
© Scriptor Verlag GmbH & Co KG, Wissenschaftliche Veröffentlichungen, Kronberg/Ts. 1975 © Cambridge University Press 1958 Umschlaggestaltung: Bayerl & Ost, Frankfurt am Main Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Printed in Germany ISBN 3-89547-096-1
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INHALT Vorwort
............................................................
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EINLEITUNG ......................................................
9
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BEREICHE DER ARGUMENTATION UND MODALITÄTEN ......
17
Die Entwicklungsstufen einer Argumentation ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Unmäglichkeiten und Unangemessenheiten ........................... Rolle und Kriterien ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Bereichsabhängigkeit unserer Standards ............................ Fragen zum weiteren Vorgehen .....................................
21 26 32 37 39
WAHRSCHEINLICHKEIT ........................................
44
Ich weiß; ich verspreche; wahrscheinlich .............................. 47 , , Unwahrscheinlich, aber wahr" ..................................... 51 Unberechtigte und falsche Behauptungen ............................. 54 Das Labyrinth der Wahrscheinlichkeit ................................ 59 Wahrscheinlichkeit und Erwartung .................................. 62 Wahrscheinlichkeits beziehungen und Probabilifikation ....... . . . . . . . . .. 67 Ist das Wort" Wahrscheinlichkeit" mehrdeutig? ............. . . . . . . . . .. 70 Wahrscheinlichkeitstheorie und Psychologie ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 77 Die Entwicklung unserer Wahrscheinlichkeitsbegriffe ................... 82 111 DIE STRUKTUR VON ARGUMENTATIONEN ....................
86
Das Schema einer Argumentation 1. Daten und Schluß regeln ..................................... 2. Die Stützung einer Schlußregel ............................... Mehrdeutigkeiten im Syllogismus .................................... Der Begriff der universellen Prämissen ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Der Begriff der fonnalen Gültigkeit .................................. , Analytische und substantielle Argumentationen ........................ Die Charakteristika von analytischen Argumentationen ........ . . . . . . . .. . Einige wesentliche Unterscheidungen ................................ Die Gefahren der Einfachheit .......................................
88 93 98 103 107 111 114 121 126
IV AN GEWANDTE LOGIK UND IDEALISIERTE LOGIK ............. 131 Eine Hypothese und ihre Folgen ................. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Verifikation dieser Hypothese ................................... Die Irrelevanz analytischer Kriterien ................................. Logische Modalitäten .............................................. Logik als ein System ewiger Wahrheiten .............................. Die Konstruktion von Systemen und systematische Notwendigkeit ........
132 138 148 150 157 166
6
V
DIE URSPRüNGE DER ERKENNTNISTHEORIE .................. 185 Weitere Konsequenzen unserer Hypothese ........................ ".... Können substantielle Argumentationen gerettet werden? ................ 1. Transzendentale Versuche ................................... 2. Phänomenalismus und Skeptizismus .......................... Substantielle Argumentationen benötigen keine Rettung ................. Die Rechtfertigung der Induktion ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Intuition und der Mechanismus des Erkennens ......................... Die Irrelevanz des analytischen Ideals ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
SCHLUSS
• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • '1
••••••••••••••••••••••••••
190 195 195 200 202 205 209 216 220
Nachweise ................................................. . . . . . . . .. 226 Namenregister ........ ". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 227 Sachregister "......................................................... 229
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Vorwort Die mit diesem Buch verfolgten Absichten sind radikal; andererse~ts sind· jedoch die dabei verwendeten Argumente zum großen Teil nicht originell. Ich habe viele Gedankengänge von Kollegen entlehnt und sie meinen eigenen Zwecken angepaßt. Der genaue" V mfang dieser Anleihen wird durch die Literaturnachweise am Schluß deutlich. Dennoch meine ich, daß der Kernpunkt, auf den hin diese Gedankengänge konvergieren, bisher nicht richtig erkannt oder dargestellt wurde. Wenn man diese Gedankengänge konsequent zu Ende denkt, wird man - falls ich mich nicht täusche - dazu geführt, einen bestimmten Begriff des "deduktiven Schließens" als verworren zurückzuweisen, den viele Philosophen in neuerer Zeit ohne Zögern als einwandfrei akzeptiert haben. An diesem :euch ist einzig der Versuch originell, zu ze~gen, wie man zu dieser Konklusion geführt wird. Wenn der Angriff auf "deduktives Schließen" fehlschlägt, bleibt blog eine Sammlung von Anwendungen der Ideen anderer auf logische Fragen und Begriffe zurück. N eben den am Schluß oder en passant aufgeführten Verweisen auf Veröffentlichungen bin ich mir einer allgemeinen Verpflichtung John Wisdom gegenüber bewußt. Seine Vorlesungen ,in Cambridge 1946-47 machten mich zum ersten Mal auf das Problem "typenübergreifender" Schlüsse aufmerksam, und die Hauptthese meines fünften Kapitels wurde viel ausführlicher in seinen Grifford Lectures in Aberdeen ausgeführt, die vor ungefähr sieben Jahren gehalten wurden, aöer leider immer noch nicht publiziert sind. Ich bin mir auch der besonderen Hilfe bewußt, die ich von P. ~lexan der, K. E. M. Baier, D. G~ Brown, W. D. Falk, D. A. T. Gasking, P. Herbst, Gilbert Ryle und D. Taylor hauptsächlich durch Gespräche erhalten habe. In einigen Fällen haben sie mir vergeblich widersprochen, und ich bin allein für die Ergebnisse verantwortlich; ihnen sind aber alle guten Ideen zuzuschreiben, die ich mir angeeignet und verwendet habe. Ein Teil des in diesen Untersuchungen verwendeten Materials wurde schon in anderer Form veröffentlicht, in Mind, den Proceedings und den Supplementary Volumes der Aristotelian Society. Kapitel 11 wurde zu großen Teilen schon in A. G. N. Flew, Essays in Conceptual Analysis (London 1956) abgedruckt. Leed~
Juni 1957
Stephen T oulmin
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Einleitung Tlp&)TOV ehreiv 1t'epl Ti I(ai T{VOS ~OLiv 1'1 aTt'6~St~lV I(ai ~lTlaTi),",T}S cXlTOÖS1KT1KTlS.
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Aristoteles, Erste Analytiken 24alO
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Die Absicht dieser Untersuchungen ist es, Probleme aufzuwerfen, nicht, diese zu lösen; Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Forschungsgebiet zu lenken und nicht so sehr, einen vollständigen überblick zu geben; mehr eine Diskussion anzuregen und nicht so sehr, als systematische Abhandlung zu dienen. Diese Untersuchungen sind in einem dreifachen Sinn essays - sie sind gleichzeitig versuch~weise Vorstöße in den Bereich, über den sie handeln; assays oder Untersuch~ngen von Begriffen, die als Beispiele ziemlich willkürlich aus einer größeren Menge herangezogen wurden; und schließlich ballons d'essai, Versuchsballons, die Kritik provozieren sollen. Aufgrund dieser Tatsache erscheinen sie vielleicht ein bißchen unzusammenhängend. Einige der diskutierten Themen wiederholen sich, auf bestimmte zentrale Unterscheidungen wird durchgängig Wert gelegt, und aus Gründen der Lesbarkeit habe ich es vermieden, zu viele Ausdrücke des Zögems oder der Unsicherheit einzufügen - aber kein Ergebnis der folgenden Ausführungen beansprucht Endgültigkeit. Ich habe meine Absicht erreicht, wenn meine Ergebnisse anregend wirken. Wenn sie darüber hinaus als herausfordernd empfunden werden, umso besser. In diesem Fall besteht Hoffnung, daß aus dem dann folgenden Widerstreit der Meinungen die richtigen Lösungen der hier aufgeworfenen Probleme sichtbar werden. Was ist die Natur dieser Probleme? Es sind in einem bestimmten Sinn logische Probleme. Dennoch wäre es vielleicht irreführend zu sagen, daß es Probleme innerhalb der Logik sin'd - denn die gesamte Tradition dieses Fachs würde den Leser dazu führen, vieles zu erwarten, was er in diesem Buch nicht finden wird. Vielleicht beschreibt man sie besser als Probleme über Logik. Es handelt sich um Probleme, die sich nicht innerhalb der Wissenschaft der Logik, sondern erst dann mit besond~rer D~inglichkeit stellen, wenn man sich für eine Weile von den technischen Feinheiten dieses Gebiets zurückzieht und untersucht, ~elc~~Be~e~~~~_g. ~i~.~~ _Wis~~_n~~~af~_~!lsLihr.e--Ergebnisse auf Sachen außerhalb von ihr haben - wie man sie in der Praxis anwenden kann und welche''Bezlenungen den Regeln und Methoden bestehen, die wie im täglichen Leben bei der tatsächlichen Beurteilung von Gültigkeit, Stringenz und Schlüssigkeit von Argumentationen verwenden. Muß es solche Beziehungen geben? Sicher erwartet der Mann auf der Straße (oder der Mann außerhalb des Studierzimmers), daß die Schlußfolgerungen von Logikern irgendeine Anwendung für sein Leben haben. Der Anfang der ersten systematischen Abhandlung über dieses Gebiet scheint diese Annahme zu rechtfertigen. Aristoteles schreibt: "Zum Anfang müssen wir sagen, worüber diese Untersuchung geht und zu welchem Fach sie gehört. Sie beschäftigt sich also mit apodeixis (das heißt mit der Art und Weise, in der Schlußfolgerungen begründet werden müssen) und gehört zur Wissenschaft (episteme) ihrer Begründung." Im 20. Jahrhundert ist es inzwischen vielleicht möglich geworden, diese Beziehung in Frage zu stellen, und manche neigen vielleicht
zu
10 zu der A~ff~s.§"\Ulg, daß ,sisches_ B~w~~.~!?::_~_~~Qgi~J~~~K~!-l~~~g~!~J?,~_~~}Eßf~!g~~ bgenjl!l:_12()!I!l:~lt:n~Lcc~(!n z",.c:i g~zyer~ch,i~dene1)in.:&~ sind. Diese Haltung war a er noch nicht möglich, als Aristoteles seine Worte äußerte. Für ihn waren Fragen der~.r.:: apodeixis eben Fragen über das Beweisen, das Einlösen oder die Rechtfertigung - in einem alltäglichen Sinn - von Behauptungen und Schlußfolgerungen einer solchen Art, daß sie jeder vorbringen konnte. Es ist sogar heute. vielleicht noch wichtig - wenn wir einmal von den interessanten technischen Problemen der Logik absehen - allgemeine, philosophische Fragen über die Beurteilung von Argumentationen in der Praxis zu stellen. Dies ist der Fragenkomplex, mit dem sich die vorliegenden Untersuchungen befassen. Es ist vielleicht eine überraschende Entdeckung, wie wenig Fortschritt unser Verständnis der Antworten in all den Jahrhunderten seit der Geburt der Wissenschaft der Logik mit Aristoteles gemacht hat. Dennoch - so kann man fragen - sind dies doch sicher die Probleme, mit denen sich Logik befassen sollte? Handelt es sich dabei nicht um die zentralen Fragen, an denen der Logiker ansetzt und zu denen er immer wieder zurückkehren müßte? Ober die Aufgaben der Logiker - darüber,. was -sie tun sollten oder getan haben sollten - möchte ich nicht reden; ich habe kein Recht hierzu. Tatsächlich werden wir herausfinden, daß die Wissenschaft der Logik durch ihre Geschichte hindurch die Tendenz gezeigt hat, sich in einer von diesen Ausgangsfragen wegführenden Richtung zu entwickeln, das heißt weg von praktischen Fragen über die Art und Weise, in der wir mit Argumentationen in verschiedenen B,ereichen umgehen können und sie kritisieren können, und sich auf einen Zustand völliger Verselbständigung hin entwickelt hat, in' dem Logik eine eigenständige theoretische Untersuchung wird, die wie einig<; Zweige der reinen Mathematik von allen unmittelbar praktischen Angelegenheiten losgelöst ist. Obwohl es in allen Phasen der Geschichte der Logik-Leute gab, die bereit waren, wieder Fragen über die Anwendung der Logik zu stellen, wurden einige für ein Verständnis dieser Anwendung entscheidende Fragen fast nie gestellt. Daß dies so gekommen ist, liegt - so meine These - zumindest teilweise an einem schon in dem Einleitungssatz von Aristoteles zu erkennenden Ziel: Daß nämlich Logik eine formale Wissenschaft werden sollte - eine episteme. Die Angemessenheit dieser Absicht wurde von den Nachfolgern des Aristoteles selten in Frage gestellt, aber wir können das hier tun. Es wird eine zentrale Frage für uns sein, inwieweit man hoffen kann, daß Logik eine formale Wissenschaft sein kann und dennoch die Anwendungsmöglichkeit für die kritische Beurteilung faktischer Argumentationen beibehalten kann. Hier in der Einleitung möchte ich nur auf zwei Auswirkungen hinweisen, die dieses Programm für die Logik hatte. Erstens wurde dadurch die Aufmerksamkeit vom Problem der Anwendung der Logik abgelenkt. Zweitens wurden die Fragen, die durch dieses Problem aufgeworfen worden wären, durch eine alternative Menge von Fragen ersetzt, die vermutlich unlösbar sind und die sich sicher als ergebnislos erwiesen haben. . Wie ist es dazu gekommen ? Wenn man es als selbstverständlich annimmt, daß die Logik eine Wissenschaft werden kann, dann bleibt für uns nur noch die Frage zu lösen, was für eine Wissenschaft sie werden kann. Darüber gab es zu allen Zeiten eine Vielfalt von Meinungen. Es gibt Autoren, die die Psychologie als Modell zugrundelegen : Logik beschäf~igt sich mit den Gesetzen des Denkens - nicht etwa mit direkten Verallgemeinerungen über die tatsächlichen Denkformen, denn diese sind sehr verschiedenartig \
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und nicht alle diese Denkformen haben gleichermaßen Anrecht auf die Aufmerksamkeit und Berücksichtigung des Logikers; sondern genauso wie ein Physiologe für den Zweck einiger seiner Untersuchungen zu Recht abnorme, abweichende körperliche Vorgänge mit Ausnahmecharakter abtrennt und sie als "pathologisch" bezeichnet, beschäftigt sich der Logiker gemäß dieser Auffassung mit der Untersuchung der richtigen, rationalen, normalen Denkprozesse, sozusagen mit dem Arbeiten des gesunden Verstandes, nicht mit Krankheiten, und ist dementsprechend dazu berechtigt, alle abweichenden, pathologischen Argument~tionen als irrelevant beiseite zu lassen. Nach der Meinung anderer hat sich Logik aus der Soziologie entwickelt, nicht aus der Psychologie. Der Logiker befaßt sich nicht mit den Vorgängen des einzelnen menschlichen Geistes, sondern vielmehr mit den Gewohnheiten und Gebrauchsweisen, die sich im Laufe der sozialen Entwicklung herausgebildet haben und die von einer Generation zur nächsten von Eltern und Lehrern weitergegeben werden. Zum Beispiel erklärt Dewey in seinem Buch Logic: The Theory of Inquiry den Charakter unserer logischen Prinzipien folgendermaßen: Jede Gewohnheit ist eine Handlungsweise, nicht eine besondere Handlung oder Tat. Wenn man sie fonnuliert, wird aus ihr - soweit sie akzeptiert wird - eine Regel oder allgemeiner ein Prinzip oder "Gesetz" des Handelns. Man kann kaum leugnen, daß es Verfahren des Schließens gibt und daß sie als Regeln oder Prinzipien fonnuliert werden können.
Verfahren des Schließens basieren in anderen Worten anfangs bloß" auf Gewohnheiten, werden aber im Laufe der Zeit verbindlich oder obligatorisch. Auch in diesem Fall muß man sich vielleic~t auf den Unterschied zwischen pathologischen" und normalen Gewohnheiten berufen. Man kann sich vorstellen," daß ungültige Argumentationsmethoden in einer Gesellschaft ihre Stellung beibehalten und über Generationen hinweg weitergereicht werden - genauso wie ein angeborener körperlicher Schaden oder ein seelischer D"efekt von Individue~. Deshalb kann man die Meinung vertreten, daß der Logiker auch in diesem Fall zu Recht in seinen Untersuchungen auswählt. Er ist nicht einfach ein Soziologe des Denkens, sondern er untersucht vielmehr richtige Gewohnheiten des Schließens und rationale Schlußregeln. " Die Notwendigkeit, jede dieser Theorien durch Hinzufügen solcher Wörter wie "richtig" und "rational" einzuschränken, hat einige Philosophen zur Annahme einer ganz anderen Ansicht geführt. Sie meinen, daß es vielleicht nicht das Ziel von Logikern sein sollte, Verallgemeinerungen über das faktische Denken zu formulieren, sondern vielmehr Maximen aufzustellen, die einen daran erinnern, auf welche Weise man denken sollte. Logik ist nach ihrer Auffassung wie die Medizin nicht bloß eine Wissenschaft, sondern zusätzlich eine Kunst. Ihre Aufgabe ist es nicht, Gesetze des Denkens in irgendeinem erfahrungswissenschaftlichen Sinn des Wortes "Gesetz" zu entdecken, sondern vielmehr Gesetze oder Regeln der Argumentation im Sinne von Ratschlägen für diejenigen aufzustellen, die gültig argumentieren wollen. Es ist die art de penser, die ars conjectandi, nicht die science de la pensee oder die scientia conjectionis. Von diesem Standpunkt aus ist das der Logik zugrundeliegende Modell nicht eine erklärende Wissenschaft, sondern eine Technologie, und ein Lehrbuch der Logik ist wie ein Handwerksbuch. "Wenn du rational sein möchtest: Hier sind die Rezepte dazu." An dieser Stelle gab es vielen Widerspruch. , ,Wenn wir annehmen, daß sich die Logik mit der Natur des Denkens befaßt, kommen wir in folgendes Dilemma - entweder werden die Gesetze der Logik zu etwas Psychologischem und Subjektivem gemacht
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oder aber aus ihnen werden bloße Faustregeln. Anstatt eine dieser Folgerungen zu akzeptieren sollten wir vielmehr dazu bereit sein, die anfängliche Annahme aufzugeben. " Sie bestehen darauf, daß Logik eine Wissenschaft ist, und eine objektive Wissenschaft dazu. Ihre Gesetze sind weder Ratschläge noch versuchsweise formulierte Verallgemeinerungen, sondern bewiesene Wahrheiten,eund ihr Gegenstandsbereich ist nicht das "Denken", sondern etwas anderes. Das angemessene Ziel der Logik ist in ihren Augen, eine spezielle Klasse von Objekten zu verstehen, die "logische Relationen" genannt werden, und die Aufgabe der Logik ist; das System der für Relationen dieser Art geltenden Wahrheiten zu formulieren. Bezugnahmen auf das "Denken" müssen konsequent beiseitegelassen werden, da sie nur zu Sophisterei und zu Täuschungen führen. ,Das der Logik zugrundeUegende Modell ist nun weder eine erklärende Wissenschaft noch eine Technologie, sondern vielmehr reine Mathematik. Diese Ansicht ist die aus'drückliche Lehrmeinung von solchen Philosophen wie Camap und entspricht ,auch dem Vorgehen vieler zeitgenössischer Vertreter der symbolischen Logik. Sie führt dann ganz natürlich zu einer Vorstellung der Natur, des Bereichs und der Methoden der Logik, die ganz verschieden von den aus den anderen Ansichten folgenden Konzeptionen ist. ' Die Auseinandersetzung zwischen diesen Theorien weist viele Merkmale eines klassischen philosophischen Disputs mit der ganzen sich daraus ergebenden Endlosigkeit auf. Denn jede dieser Theorien hat deutliche Reize und ebenso unbestreitbare Schwächen. Erstens gibt es die von Aristoteles anerkannte Ausgangsannahme, daß sich Logik irgendwie mit der Art und Weise beschäftigt; wie Menschen denken, argumentieren und schließen. Dennoch wird die Logik zu subjektiv und zu stark mit Fragen über die tatsächlichen Gewphnheiten des Schließens der Leute verknüpft, wenn man sie als Zweig der Psychologie versteht oder gar als Psychopathologie der Erkenntnis. (Es gibt schließlich keinen Grund, warum Wörter, die geistige Zustände bezeichnen, überhaupt wesentlich in Logikbüchem auftreten sollten. Man kann Argumentationen und Schlüsse durch Bezugnahmen auf die behaupteten Aussagen und auf die Tatsachen diskutieren, die zu ihrer Stützung beigebracht werden~ ohne sich in irgendeiner Weise auf die konkreten Menschen beziehen zu müssen, die Behauptungen aufstellen und Beweise erbringen.) Zweitens hat der soziologische Ansatz seine Vorzüge. Man kann die Logik einer Wissenschaft wie zum Beispiel der Physik kaum diskutieren, ohne einige Aufmerksamkeit den Strukturen der Argumentation zu widmen, die von den heutigen Vertretern dieser Wissenschaft verwandt werden - das heißt den gebräuchlichen Argumentationsformen der Physiker. Dies macht die Bemerkung von Dewey über die Art und Weise plausibel, in der gebräuchliche Schlußweisen verbindlich werden. Aber auch hier kann es nicht die Gewohnheit allein sein, die einer Argumentation Gültigkeit und Gewicht verleiht - oder der Logiker müßte die Resultate von anthropologischen Forschungen abwarten. Der Gegenvorschlag, der die Logik als eine Technologie ansieht und ihre Prinzipien als ReKeln eines Handwerks, hat seine eigenen Reize. Die Rechenmethoden, die wir in der Schule lernen, dienen uns als Schlußhilfen, und man kann Rechnungen sicherlich einer logischen Untersuchung und Kritik unterziehen. Wiederum gilt aber: Wenn man gefragt wird, warum sich die logischen Prinzipien auf die Realität anwenden lassen, ist es hilfreich, daran erinnert zu werden, daß "nicht so sehr die Weh logisch oder unlogisch ist, als vielmehr die Menschen. übere.instimmung mit der Logik ist eine Qualität
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der Durchführung von Argumentationen und der Argumentierenden, aber nicht Zeichen einer radikalen Fügsamkeit der Dinge, ·über die .argumentiert wird. Die Frage, warum Logik auf die Welt anwendbar ist, stellt sich daher nicht in dieser Form. "Dennoch führt die Vorstellung, daß Schließen eine Art von Verfahren ist, das im Einklang mit Regeln ausgefü~rt werden muß und daß es sich bei diesen Regeln um Prinzipien der Logik handelt, dann wieder zu eigenen Paradoxien. Es ist oft genug so, daß wir unsere Schlußfolgerungen sofort ziehen, ohne auch nur einen der Zwischenschritte, die für ein nach Regeln vor sich gehendes Verfahren wesentlich sind - nicht immer machen wir bewußt den entscheidenden Schritt, denken immer an die Regeln oder befolgen sie gewissenhaft, erreichen triumphierend das.Ende des Weges oder vollenden die Durchführung des Schließens. Kurz gesagt: Schließen involviert nicht immer, daß man überlegungen. anstellt, und die Regeln für gültige Argumentationen können unabhängig davon angewandt werden, ob wir zu unseren Schlußfolgerungen mit Hilfe von überlegungen gekommen sind oder durch einen bloßen Sprung. Denn Logik befaßt sich nicht mit der Art und Weise unseres Schließens oder mit Fragen der Technik. Di~ pr.imäre Aufgabe der Logik hat zurückblickenden, rechtfertigenden Charakter - es geht darum, für die von uns vorgebrachten Argumentationen nachträglich die Behauptung einzulösen, daß die erhaltenen Schlußfolgerungen akzeptierbar sind, weil man sie rechtfertigen kann. An dieser Stelle tritt der mathematische Logiker auf. Denn er kann behaupten, daß eine Argumentation aus Aussagen besteht, und aie Untersuchungs gegenstände der Logik sind die formalen Beziehungen zwischen Aussagen. Die Frage, ob eine Argumentation gültig ist, ist die Frage danach, ob sie die richtige Fonn hat. Die Untersuchung der Form geschieht aber am besten nach bewußt mathematischem Vorbild. Deshalb muß man jede Bezugnahme auf Denken, Rationalität und so weiter weglassen und die wahren Objekte logischer Untersuchungen zur Sprache bringen, nämlich die fonnalen Relationen zwischen verschiedenen Arten von Aussagen ... - damit sind wir aber wieder beim Ausgangspunkt, und das daraus folgende Paradoxon ist schon in ·Sicht. Wir können kaum alle Bezüge auf das Denken weglassen, ohne daß die Logik ihre ursprüngliche praktische Anwendung verliert. Wenn dies der Preis dafür ist, die Logik am mathematischen Vorbild auszurichten, sind wir gezwungen, die kantisch klingende Frage zu stellen: "Ist mathematische Logik überhaupt möglich?H Die Frage "Was für eine Wissenschaft ist die Logik?" führt uns in eine Sackgasse. Wir können es uns folglich nicht leisten, uns schon am Beginn unserer U ntersuchungen zu sehr mit ihr zu beschäftigen - wir müssen sie jetzt beiseite lassen und sie später erneut aufgreifen. Zum Glück können wir das für die Zwecke unserer Untersuchung rechtfertigen. Diese Frage entstammt der Theorie der Logik, während der Ausgangspunkt in unserer Untersuchung die Praxis der Logik ist. Fangen wir also mit dem Versuch an, die Schlüsselbegriffe zu charakterisieren, die wir beim tatsächlichen Gebrauch der Logik verwenden. Danach können wir zu der Frage zurückkehren, was eine "theoretische" Logik sein könnte - welche Art einer Theorie mit den erforderlichen Anwendungen man konstruieren könnte. Noch eine weitere Vorsichtsmaßnahme ist nötig. Zur Behandlung unseres Hauptproblems über die Beurteilung von Argumentationen ist es sinnvoll, sich von Vorstellungen freizumachen, die aus der existierenden Theorie der Logik stammen, und direkt nachzusehen, mit Hilfe welcher Kategorien wir unsere Beurteilungen tatsächlich aus-
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drücken und was sie genau für uns bedeuten. Aus diesem Grund werde ich jedenfalls in den ersten Kapiteln bewußt Wörter wie "Logik", "logisch", "logisch notwendig", "deduktiv" und "beweiskräftig" venneiden. Soiche Wörter bringen alle von der Theorie der Logik eine Menge Assoziationen mit, die ein Hauptziel unserer Untersuchung mit einem Vorurteil belasten könnten., nämlich das Ziel, herauszufinden, wie - wenn . überhaupt - die formale Analyse der theoretischen Logik mit dem Geschäft des rationalen Kritisierens verbunden ist. Denn angenommen, es würde sich eine systematische Divergenz zwischen den fundamentalen Begriffen der Theorie der Logik und den in unseren praktischen Beurteilungen von Argumentationen vorkommenden Kategorien herausste~len. Dann hätten wir Grund, zu bedauern, uns durch den Gebrauch theoriegeladener T eimini festgelegt zu haben und uns dadurch in Paradoxien geführt zu sehen, die anderweitig hätten vermieden werden können. Eine letzte Vorbemerkung: Um die Wirksamkeit der alten Modelle und Analogien aufzuheben, können wir uns ein neues Modell verschaffen . Logik befaßt sich mit 4er Gültigkeit unserer Geltungsansprüche - mit der Zuverlässigkeit der Gründe, die wir zu ihrer Stützung angeben, der Qualität dieser Stützung - oder, um eine andere Metapher zu verwenden,mit der Art des Beweismaterials, das wir zur Verteidigung unserer Behauptungen angeben. Die juristische Analogie, die der letzten Formulierung zugrundeliegt, kann eine reale Hilfe sein. Denken wir also nicht weiter an Psychologie, Soziologie, Technologie und Mathematik, lassen wir den in den Wörtern "Gründe" und "Stützung" enthaltenen Anklang an Bautechnik und Kollage unberücksichtigt und nehmen als unser Modell das Fach Jurisprudenz her. Wir können sagen, daß Logik verallgemeinerte Jurisprudenz ist. Argumentationen können mit Gerichtsprozessen verglichen werden, und Behauptungen, die wir in außergerichtlichen Zusammenhängen machen und vertreten, können mit Behauptungen verglichen werden, die im Gericht geltend gemacht werden. Andererseits können die Begründungen, die wir zur Verteidigung der jeweiligen Arten von Behauptungen angeben, miteinander verglichen werden. Eine Hauptaufgabe der Jurisprudenz ist es, die wesentlichen Bestandteile des Gerichtsprozesses zu charakterisieren, die Verfahren anzugeben, gemäß denen Rechtsansprüche vorgebracht, beraten und entschieden werden, und die Kategorien festzulegen, mit deren Hilfe dies geschieht. Unsere Untersuchung verläuft parallel dazu. Wir beabsichtigen auf eine ähnliche Weise zu charakterisieren, was als "rationaler Prozeß" bezeichnet werden kann - die Verfahren und Kategorien, mit deren Hilfe für allgemeine Behauptungen argumentiert werden kann und die so entschieden werden können. Freilich kann man fragen, ob dies überhaupt eine Analogie ist. Nachdem wir gesehen haben, wie weit die Parallelen zwischen den zwei Gebieten getrieben werden können, kann man der Meinung sein, daß das Wort "Analogie" zu schwach ist und .das Wort "Metapher" eindeutig irreführend, ja daß Gerichtsprozesse nur eine spezielle Art von rationalen Beratungen sind, für die sich die Verfahren und Regeln der Argumentation zu Institutionen verfestigt haben. Man wird sicherlich nicht überrascht sein, wenn ein Professor der Jurisprudenz als Probleme seines eigenen Fachs solche Fragen aufgreift, die uns aus Abhandlungen über Logik vertraut sind - zum Beispiel über Ursächlichkeit. Und dem Athener Aristoteles wäre die Kluft zwischen Argumentationen in Gerichten und Argumentationen im Lyceum oder auf dem Agora noch schmaler erschienen als uns.
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Die Parallele zwischen Logik und Jurisprudenz hat einen besonderen Vorzug: Sie hilft, die kritische Funktion der Vernunft im Blickpunkt zu behalten. Es m'ag sein, daß die Regeln der Logik weder Ratschläge noch Verallgemeinerungen sind, nichtsdestoweniger gelten sie für Menschen und ihre Argumentationen - nicht in der gleichen Weise, wie Gesetze der Psychologie oder Methodenregeln gelten, sondern vielmehr als Standards, denen man beim Argumentieren entsprechen kann oder nicht und mit deren Hilfe man Argumentationen beurteilen kann. Eine gültige Argumentation oder eine wohlbegründete oder sicher gestützte Behauptung ist dadurch charakterisiert, daß sie der Kritik standhält, daß für sie eine Begründung vorgelegt werden kann, die den Standards entspricht, die erfüllt sein müssen, damit man sie annehmen kann. Wie viele Wörter aus dem Recht finden hier eine natürliche Erweiterung! Man kann vielleicht sogar zu der Formulierung neigen, daß unsere nicht-juristischen Behauptungen nicht vor Her Majesty's Judges gerechtfertigt werden müssen, sondern vor dem Gerichtshof der Vernunft. In den folgenden Untersuchungen wird also die Natur des rationalen Prozesses auf Grundlage der juristischen Analogie diskutiert. Unser Gegenstand ist die prudentia, nicht nur der jus, sondern allgemeiner der ratio. Die ersten zwei Kapitel sind zum Teil Vorbereitungen für das dritte. Es ist nämlich das Kapitel 111, in dem die entscheidenden Ergebnisse dieser Untersuchung entwickelt werden. Hauptthema von Kapital I ist die Verschiedenheit der möglichen Behauptungen und Argumentationen. Es wird die Frage diskutiert, in welcher Weise sich die Form und Strukturen von Argumentationen ändern oder gleichbleiben, wenn wir von Behauptungen einer Art zu Behauptungen anderer Art übergehen oder wenn wir Argumentationen in verschiedenen "Bereichen" betrachten. Neu ist hier hauptsächlich eine Unterscheidung zwischen der"Rolle" von Termen zur logischen Beurteilung und den" Gründen ce oder, ,Kriterien ce für ihren Gebrauch - eine Unterscheidung, die später wieder aufgegriffen wird. Kapitel 11 besteht aus einer Untersuchung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit. Diese hat exemplarische Funktion und führt uns zu einer Reihe von Begriffen und Unterscheidungen, die die Kategorien der rationalen Beurteilung unter allgemeineren Gesichtspunkten erscheinen lassen. Im Kapitel 111 kommen wir zu unserer zentralen Frage, wie wir Argumentationen strukturieren und analysieren sollen, damit unsere Beurteilungen logisch durchsichtig sind - das heißt damit deutlich wird, welche Funktion die verschiedenen in einer Argumentation angeführten Sätze haben und welche Bedeutung die einzelnen möglichen Arten der Kritik haben. Die bei der Analyse herauskommende Fonn ist entschieden komplexer als die von Logikern gewöhnlich gebrauchte, und sie zwingt uns zu einer Reihe von Unterscheidungen, die in der normalen logischen Analyse keinen Platz haben. Ich werde die These vertreten, daß bisher zu viele verschiedene Sachen unter dem Titel "Oberprämisse" zusammengefaßt wurden und daß man sich bisher auf nur eine einzige Einteilung der Argumentationen gestützt hat - auf die, Einteilung in "deduktive" und "induktive" Argumentationen -, umf mindestens vier verschiedene Unterscheidungen zu kennzeichnen. Wenn man diese verschiedenen Unterscheidungen auseinanderhält, entsteht der Eindruck, daß die Logik tatsächlich den Kontakt zu ihrer Anwendung verloren hat und daß tatsächlich eii{e systematische Divergenz zwischen den Kategorien der logischen Praxis und den Analysen, die hiervon in den Lehrbüchern und Abhandlungen der Logiker angegeben wurden, entstanden ist.
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Die letzten beiden Kapitel befassen sich mit den philosophischen Ursprüngen dieser Divergenz und ihrer Implikationen für Logik und Erkenntnistheorie. Im Kapitel IV werden diese Ursprünge zurück bis zu dem Aristotelischen Ideal verfolgt, demgemäß Logik eine formale Wissenschaft vergleichbar der Geometrie werden sollte. Für den Bereich der Jurisprudenz wurde der Vorschlag niemals populär, Theorien mit der formalen Struktur mathematischer Theorien anzustreben. Es stellt sich dann heraus, daß es ebenso Einwände dagegen gibt, der gesamten Theorie der Logik mathematische Form zu geben. Kapitel V verfolgt einige der weiterreichenden Konsequenzen, die aus dem Abstand zwischen den Kategorien der tatsächlich angewandten Logik und der hiervon von Philosophen angegebenen Analyse resultierten. Ins besondere wird hier die Auswirkung auf die Erkenntnistheorie untersucht. Hier wurde ebenso wie in der Logik den Argumentationen, die durch (l~gische) Folgerung gestützt sind, ein besonderer Platz eingeräumt. Immer wenn gesehen wurde, daß Wissensansprüche auf Beweisen beruhten, aus denen die Richtigkeit des Anspruchs nicht analytisch folgte, meinte man, es bestehe eine, ,logische Kluft", für die die Philosophen eine Möglichkeit finden müßten, sie entweder zu überbrücken oder aber hinwegzuzaubern. Als Resultat entstanden eine stattliche Reihe epistemologischer Probleme, die gleichermaßen um wissenschaftliche, ethische, ästhetische und theologische Behauptungen kreisten. Wenn wir jedoch erst einmal die Ursprünge dieser Divergenz zwischen der Theorie der Logik und der tatsächlich angewandten. Logik erkannt haben, können wir uns fragen, ob es richtig 'war, diese Probleme zuerst aufzuwerfen. Wir sehen nur deshalb Schwächen in diesen Behauptungen, weil wir sie mit einem von Philosophen aufgestellten Ideal vergleichen, was der Natur dieser Fälle nach unerreichbar ist. Die richtige Aufgabe der Erkenntnistheorie wäre nicht, diese angeblichen Schwächen zu überwinden, sondern herauszukriegen, welche Qualitäten die Argumentationen von Wissenschaftlern, Ethikern, Kunstkritikern oder Theologen tatsächlich erreichen können. Die Existenz dieses doppelten Maßstabs, diese Divergenz zwischen den Fragen des Philosophen über die Welt und dem des gewöhnlichen Menschen, ist natürlich ein Gemeinplatz. Niemand hat ihn besser formuliert als David Hume, der beide Denkgewohnheiten in ein und derselben Person erkannte - nämlich in sich selbst. Normalerweise wird diese Divergenz als etwas behandelt, worauf man stolz ist oder was man jedenfalls toleriert; bestenfalls als Zeichen für den überlegenen Scharfsinn oder die überlegene Tiefe des philosophischen Denkens, schlimmstenfalls als Ergebnis einer verzeihbaren psychologischen Spitzfindigkeit. Es erscheint fast kleinlich, wenn jemand behauptet, daß die Divergenz in Wirklichkeit bloß eine Folge eines klaren Fehlschlusses ist - eine Folge davon, daß in der Theorie der Logik nicht alle Unterscheidungen getroffen wurden, die die Anwendungen der Logik erfordern. Die folgenden Untersuchungen sind, wie ich schon gesagt habe, nur Versuche. Wenn unsere Analyse von Argumentationen wirklich effektiv und wirklichkeitsgetreu sein soll, ist es höchstwahrscheinlich nötig, ~egriffe und Unterscheidungen zu gebrauchen, auf die hier noch nicht einmal hingewiesen wird. Von einer Sache bin ich aber überzeugt: Daß wir durch die Behandlung der Logik als verallgemeinerte Jurisprudenz und durch die Prüfung unserer Vorstellungen durch unsere tatsächliche Praxis der Beurteilung von Argumentationen und eben nicht durch das Ideal von Philosophen schließlich ein Bild erhalten, das von dem traditionellen sehr verschieden ist. Vielleicht kann ich hoffen, daß einige der Teile, deren Form ich hier umrissen habe, einen Platz im einmal fertiggestellten Mosaik behalten werden.
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I. Bereiche der Argumentation und der Modalitäten Steward auf der Kanalfähre: "Sie können sich hier doch nicht übergeben."
Betroffener Passagier: 1,50, das kann ich nicht?" (Tut es) Punch
Wer eine Behauptung aufstellt, erhebt damit einen Anspruch - einen Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit und auf unseren Glauben. Anders als der, der leichtfertig redet, im Spaß oder bloß hypothetisch (unter der Rubrik "nehmen wir einmal an"), anders als der, der eine Rolle spielt oder einzig um der Wirkung willen spricht und anders als der, der Steinins,chriften entwirft (wobei man, wie Dr. Johnson bemerkt, "nicht unter Eidsteht"), möchte der, der einen Satz behauptet, diesen ernstgenommen wissen. Und wenn sein Satz als Behauptung aufgefaßt wird, wird er auch emstgenommen. Wie ernst er genommen wird, hängt natürlich von vielen Umständen ab - zum Beispiel davon, was für ein Mensch er ist und davon, welche Glaubwürdigkeit er im allgemeinen besitzt. Den Worten einiger vertraut man schon aufgrund ihres Rufes als vorsichtige, einsichtsvolle und wahrhaftige Menschen. Aber das heißt nicht, daß sich die Frage, ob unser Vertrauen auch bei allen ihren Behauptungen berechtigt ist, nicht stellen kann. Es heißt n1:1r, daß wir darauf vertrauen, daß sich für jede ernsthaft gemachte Behauptung tatsächlich herausstellen wird, daß sie wohlbegründet ist, daß gültiges Beweismaterial dahintersteht und daß sie verdient -,ein~en Anspruch darauf hat - daß ihre Qualitäten von uns beachtet werden. Der in einer Behauptung enthaltene Anspruch ähnelt einem Rechtsanspruch. Wie bei einem Rechtsanspruch hängt die Tauglichkeit des Geltungsanspruchs einer Behauptung ab von der Tauglichkeit der Argumentation, die man zu seiner Stützung vorbringen könnte - auch wenn es sein kann, daß man ihn auch ohne weiter nach einer Rechtfertigung zu fragen anerkennt. Welchen Charakter eine spezielle Behauptung auch haben mag - ob ein Meteorologe Regen für morgen vorhersagt, ein verletzter Arbeiter Nachlässigkeit seitens seines Arbeitgebers behauptet, ein Historiker die Stellung des Kaisers Tiberius verteidigt, ein Arzt Masern diagnostiziert, ein Geschäftsmann die, Ehrlichkeit eines Kunden bezweifelt oder ein Kunstkritiker die Bilder von Piero della Francesca lobt - in jedem Fall können wir die Behauptung angreifen und verlangen, daß unsere Aufmerksamkeit auf die Grunde (Stützung, Daten, Fakten, Beweismittel, Erwägungen, Hauptpunkte) gelenkt wird, auf denen die Tauglichkeit der Behauptung beruhen soll. Das heißt, wir können nach einer Begründung verlangen; einen Geltungsanspruch braucht man nur dann anzuerkennen, wenn sich herausstellt, daß die Argumentation, die zu seiner Stützung angegeben werden kann, den Standards genügt. Nun ist es so, daß Argumentationen für eine Vielfalt 'von Zwecken vorgebracht werden. Nicht je~e Argumentation wird zur form~len Verteidigung einer direkten Behauptung vorgebracht. Aber diese besondere Funktion von Argumentationen wird unsere Aufmerksamkeit in der vorliegenden Untersuchung am meisten beanspruchen: Wir interessieren uns hier für Argumentationen, die zur Rechtfertigung von Behauptungen vorgebracht werden, für ,die Strukturen, die man bei ihnen erwarten kann, die Vorzüge, die sie für sich beanspruchen können und für die Art und Weise, in der wir bei ihrer Einteilung, ihrer Beurteilung und ihrer Kritik vorgehen. Man könnte meiner \
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Meinung nach die These vertreten, daß dies tatsächlich die primäre Funktion von Argumentationen ist und daß die anderen Verwendungen und Funktionen von Argumentationen in einem bestimmten Sinn sekundär sind und von dem primären rechtfertigen'den Gebrauch abhängen. Für die vorliegende Untersuchung ist es aber nicht wichtig, diese These zu rechtfertigen. Es genügt, daß die Funktion von Argumentationen beim Aufstellen gültiger Geltungsansprüche bedeutsam und interessant ist und daß es sich lohnt, unsere Vorstellungen hierüber zu klären. Nehmen wir also an, daß jemand eine Behauptung aufgestellt hat und daß diese mit der Frage nach ihrer Stützung angegriffen wird. Das Problem ist jetzt: Wie macht er es, eine Argumentation zur Verteidigung der Ausgangsbehauptung vorzulegen und welche Arten der Kritik und der Beurteilung sind zur Erwägung der Tauglichkeit der Argumentation angemessen, die er vorlegt? Wenn wir diese Frage ganz allgemein formuliert stellen, sollte" uns eines sof
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führt wird etwa die Kondition amerikanischer Spitzentennisspieler in der letzten Zeit, das Beweismaterial, das dem Gericht beim Crippen-Prozeß vorgelegt wurde und die Art der Prozeßführung, die charakteristischen Merkmale der Gemälde von Piero und das Gewicht, das Clark ihnen bei seiner Beurteilung des Malers zumißt, die experimentellen Ergebnisse über Supraleitfähigkeit und der Grad der übereinstimmung zwischen diesen Ergebnissen und den Voraussagen der Theorie von Fröhlich, die Position des Mondes, der Erde und der Sonne gegenwärtig und in jüngster Vergangenheit oder (aus zweiter Hand) die Aufzeichnungen im nautischen Jahrbuch, o·der schließlich die Axiome von Euklid und die Theoreme, die in den Anfangsteilen seines Systems, ehe die Frage nach dem Satz von Pythagor~s gestellt wird, bewies~n werden. Die Sätze, die unsere Behauptungen wiedergeben, gehören wie die Sätze, die die zur Stützung unserer Behauptungen angeführten Tatsachen wiedergeben, vielen (wie Philosophen sagen würden) verschiedenen "logischen Typen an - es handelt sich um Berichte über gegenwärtige und vergangene Ereignisse, Voraussagen über die Zukunft, SchuldsprUche, ästhetische· Empfehlungen, geometrische Axiome ·und so weiter. Die von uns vorgebrachten Argumentationen und die in ihnen auftretenden Schritte sind von entsprechender Vielfalt. Die einzelnen Schritte - die übergänge von Sätzen eines logischen Typs zu Sätzen eines anderen logisChen Typs - sind, je nach den logischen Typen der angeführten Tatsachen und den daraus gezogenen Folgerungen, unterschiedlich. Einmal der Schritt von Berichten über die gegenwärtige Form von Tennisspielern zu einer Voraussage über die Auswahl (oder zu der Aussage, ein bestimmter Spieler verdiene es, ausgewählt zu werden); zweitens der Schritt vom Beweismaterial über Spur~n in einem Mordfall auf die Schuld des Angeklagten; drittens der von den technischen Besonderheiten der Bilder eines Künstlers zu den Verdiensten, die wir ihm zuerkennen; viertens der von Laboraufzeichnungen und Berechnungen am· Schreibtisch auf die Angemessenheit einer bestimmten wissenschaftlichen Theorie - all dies sind ganz verschiedene Sachen; weitere Beispiele ließen sich anführen. Die Argumentationen, die wir zur Rechtfertigung von Behauptungen vorbringen, zerfallen in viele verschiedene Arten, und es stellt sich sofort die Frage, inwieweit sie alle mit Hilfe desselben Verfahrens, derselben Art von Wörtern und durch Berufung auf dieselbe Art von Standards beurteilt werden können. Damit ist das Problem allgemein formuliert, das uns in diesem ersten Kapitel beschäftigen wird: Inwieweit können Argumentationen zur Rechtfertigung von Behauptungen in all den verschiedenen Fällen, auf die wir hier eingehen können, ein und dieselbe Form annehmen oder die Berufung auf ein und dieselbe Menge von Standards beinhalten? Inwieweit können wir uns dementsprechend bei der Beurteilung der Tauglichkeit dieser verschiedenen Argumentationen auf dieselben Maßstäbe oder Standards der Argumentation berufen, wenn wir sie kritisieren? Haben sie dieselbe Art von Qualitäten oder verschiedene? In welcher Hinsicht sind wir berechtigt, in Argumentatio.nen all dieser verschiedenen Arten nach ein und derselben Art von Tauglichkeit zu suchen? Der Kürze halber ist es angebracht, einen Terminus technicus einzuführen - wir wollen dementsprechend von einem Bereich von Argumentationen reden. Von zwei Argumentationen soll gesagt werden, daß sie demselben Bereich angehören, wenn die Daten und Schlußfolgerungen dieser beiden Argumentationen jeweils demselben logischen Typ angehören. Es soll gesagt werden, daß sie verschiedenen Bereichen angehöH
20 ren, wenn die Daten oder die Schlußfolgerungen dieser beiden Argumentationen nicht vom gleichen logischen Typ sind. Zum Beispiel gehören die Berechnungen, die zur Vorbereitung einer Ausgabe des nautischen Jahrbuchs angestellt werden, zu einem anderen Bereich als die Beweise in den "Elementen" von Euklid. Die Argumentation "Harrys Haare sind nicht schwarz, denn ich weiß, daß sie tatsächlich rot sind" gehört zu einem dritten, ziemlich speziellen Bereich - obwohl man vielleicht fragen kann, ob das tatsächlich eine Argumentation ist oder nur eine Gegenbehauptung. Die Argumentation "Petet"sen ist Schwede, also ist er vermutlich nicht römisch-katholisch" gehört zu einem vierten Bereich; die Argumentation "dieses Phänomen kann nicht völlig von meiner Theorie erklärt werden, denn die Abweichung dieser Beobachtungen von meinen Voraussagen sind statistisch signifikant" gehört zu noch einem anderen Bereich; "dieses Lebewesen ist ein Wal, also ist es (aus Klassifikationsgründen) ein Säugetier" gehört zu einem sechsten; und die Argumentation "der Angeklagte fuhr mit 70 km/Std. in einer geschlossenen Ortschaft, also hat er einen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung begangen ce stammt aus einem nochmals verschiedenen siebten Bereich. In diesen Untersuchungen sollen diejenigen Probleme diskutiert werden, die bei dem Versuch auftreten, mit den Unterschieden zwischen den Bereichen der Argumentation, deren Vielfalt gerade verdeutlicht wurde, fertigzuwerden. Das erste Problem, das wir uns gestellt haben, kann durch die Frage reformuliert werden: " Welche Merkmale der Form und des Inhalts unserer Argumentationen sind bereichsunabhängig und welche sind bereichsabhängig ? Was bleibt unabhängig vom jeweiligen Bereich gleich (d. h. was ist bereichsunabhängig) an der Art und Weise, in der wir 'Argumentationen beurteilen, an den Standards, auf die wir uns bei der Beurteilung beziehen und an der Art, in der wir unsere Schlußfolgerungen aus ihnen einschränken, und was ändert sich daran, wenn wir von Argumentationen in einem Bereich übergehen zu Argumentationen in einem anderen Bereich (d. h. was ist bereichsabhängig) ? Als Beispiel: Inwieweit kann man die Standards der Argumentation, die im Gericht angewandt werden, vergleichen mit denen, die bei der Beurteilung eines Papers in den Proceedings of the Royal Society angewandt werden oder mit denen, auf die bei einem mathematischen Beweis oder bei einer Vorhersage über die Zusammensetzung einer Tennismannschaft zurückgegriffen wird? Es sollte vielleicht gleich gesagt werden, daß die Frage nicht lautet, wie sich die Standards, die wir bei der Kritik von Argumentationen aus verschiedenen Bereichen anwenden, bezüglich ihrer Stringenz vergleichen lassen, sondern vielmehr, inwieweit es gemeinsame Standards gibt, die bei der Kritik von Argumentationen aus verschiedenen Bereichen anwendbar sind. Man kann sich sogar fragen, ob Vergleiche über die Stringenz von Argumentationen aus verschiedenen Bereichen überhaupt angestellt werden können. Innerhalb eines Argumentationsbereichs können Vergleiche bezüglich der Stringenz und der U ng'enauigkeit natürlich auftreten v' Wir können zum Beispiel Exaktheitsmaßstäbe vergleichen, die von reinen Mathematikern in verschiedenen Entwicklungsstadien dieser Wissenschaft anerkannt wurden, zum Beispiel von Newton, Euler, Gauß oder Weierstraß. Inwieweit es auf der anderen Seite sinnvoll ist, die mathematische Exaktheit von Gauß oder Weierstraß zu vergleichen mit der juristischen Genauigkeit des obersten Richters Lord Goddard ist eine andere Sache, die wir erSt später betrachten können.
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DIE EN1WICKLUNGSSTUFEN EINER ARGUMENTATION B"ei welchen Merkmalen unserer Argumentationen sollen wir annehmen, daß sie bereichsunabhängig sind, und welche sind bereichsabhängig? Wir können einige Hinweise bekommen, wenn wir die Parallele betrachten zwischen dem juristischen Verfahren, durch das die Fragen entschieden werden, die im Gerichtssaal aufgeworfen werden, und dem rationalen Verfahren, mittels' dessen Argumentationen zur Stützung einer anfänglich geäußerten Behauptung vorgelegt werden. Denn auch im Recht gibt es ganz verschiedene Fälle, und man kann sich die Frage stellen, inwieweit das Vorgehen im Gerichtsprozeß bzw. die Regeln juristischer Argumentation in all diesen Fällen gleich ist bzw. sind. Es gibt Strafrechtsprozesse, in denen jemand angeklagt ist, einen Verstoß entweder gegen das Gewohnheitsrecht (common law) odergegen Gesetze (statutes) begangen zu haben; Zivilprozesse, in denen jemand von einem anderen Schadenersatz einklagt aufgrund einer Beleidigung, einer VeJ:1leumdung oder aus einem ähnlichen Grund. Es gibt Fälle, wo jemand seine Rechte oder seinen Status feststellen läßt, etwa seine eheliche Abstammung oder den Anspruch auf eine Pairswürde; Fälle, in denen jemand vor Gericht einen Unterlassungsanspruch geltend macht, um einen anderen von etwas abzuhalten, was vermutlich seine Interessen "verletzen wür4e. Es gibt alsq Anklagen wegen eines Verstoßes gegen die Strafgesetze, Zivilklagen, Anträge auf gerichtliche Feststellungen oder Verfügungen - offensichtlich begründen wir in diesen oder ähnlichen Fällen rechtliche Schlußfolgerungen auf ganz unterschiedliche Weisen. Man kann deshalb wie für Argumentationen im allgemeinen auch für Gerichtsprozesse die Frage stellen, inwieweit ihre Form und die zu inrer Kritik relevanten Regeln invariant sind - gleich f~r Fälle aller Typen - und inwieweit sie abhängig sind vom Typ "des gerade betrachteten Falls. Eine grobe Unterscheidung ist ziemlich offensichtlich. Die Art des einschlägigen Beweis materials ist für Fälle verschiedener Typen natürlich sehr unterschiedlich. Um Fahrlässigkeit in einem Zivilprozeß nachzuweisen, bewußte Absicht in einem Mordfall, die Vennutung einer ehelichen Geburt - jedesmal ist der Verweis auf G r ü n d e verschiedener Art erforderlich. Andererseits gibt es, innerhalb bestimmter Grenzen, einige grobe Ähnlichkeiten in den bei der tatsächlichen Verhandlung über verschiedene Fälle an gewandten Verfahrensweisen, sogar wenn es dabei um stark verschiedene Fragen geht. Einige grobe Entwicklungsstufen lassen sich bei den Vorgehensweisen für viele Arten von Gerichtsprozessen (aus dem Zivilrecht, Strafrecht oder anderen Bereichen) in gleicher Weise erkennen. Es muß eine Anfangsstufe geben, in der die Anklage oder der Rechtsanspruch deutlich vorgebracht wird, eine darauffolgende Stufe, in der zur Stützung der Anklage oder des Anspruchs Beweismaterial angegeben wird oder Zeugenaussagen wiedergegeben werden. Dies führt dann zur letzten Stufe, auf der ein Geschworenenurteil gefällt wird und der Schuldausspruch oder ein anderer richterlicher Akt, der sich aus dem Geschworenenurteil ergibt, verkündet wird. Innerhalb dieses allgemeinen Schemas mag es Unterschiede geben; seine Umrisse sind aber für alle Falltypen gleich. Dementsprechend gibt es bei sehr unterschiedlichen Gerichtsprozessen gemeinsame Weisen der Beurteilung und der Kritik ihrer Durchführung. Um zum Beispiel eine extreme Möglichkeit zu wählen: Gegen jeden Prozeß, in dem ein Urteils spruch verkündet wird ehe das Geschworenenurteil ausgesprochen wurde, kann Einspruch aus bloßen Verfahrensgründen erhoben werden.
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22 ~enn wir jetzt von juristischen Verfahren zu rationalen Verfahren übergehen, kann di'eselbe grobe Unterscheidung getroffen werden. Einige grundlegende Ähnlichkeiten im Schema und im Vorgehen köhnen nicht nur bei juristischen Argumentationen erkannt werden, sondern bei Argumentationen zur Rechtfertigung von Behauptungen im allgemeinen, wie groß der Unterschied in den Bereichen der Argumentation, in der Art des relevanten Beweismaterials und im Gewicht des Beweismaterials auch sein mag. Wenn man der natürlichen Reihenfolge Aufmerksamkeit schenkt, in der wir die Rechtfertigung einer Schlußfolgerung darlegen, finden wir eine Reihe verschiedener Stufen heraus. Erstens müssen wir das Problem darstellen. Dies geschieht am besten dadurch, daß man eine klare Frage stellt - aber sehr oft kann man auch nur die Richtung seiner verwirrten Suche nach eine Frage andeuten. Hinreichend deutliche Fragen können wir z. B. in folgenden Fällen stellen: "Wann findet die nächste Mondfinsternis statt ? Wer aus der amerikanischen Mannschaft spielt in den Doppelspielen beim nächsten Davis Cup-Wettkampf? Gab es genug gesetzliche Gründe, um Crippen zu verurteilen?" In diesen Fällen können wir ganz klare Fragen formulieren. In andere Fällen können wir jedoch vielleicht nur unbestimmter fragen: "Was sollen wir von der Neueinschätzung Pieros durch Sir Kenneth Clark halten?" oder "Wie können wir das Phänomen elektrischer Supraleitfähigkeit bei ex~rem niedrigen Temperaturen verstehen?" Nehmen wir nun an, wir haben eine Meinung über eines dieser Probleme und wollen ihre Richtigkeit zeigen. Die Begründung, die wir zur Verteidigung unserer speziellen Lösung vorlegen, kann normalerweise in einer Reihe von Stufen dargelegt werden. Diese Stufen - das sollte man nicht vergessen - entsprechen jedoch nicht notwendig Stufen in dem Prozeß, in dem wir tatsächlich zu der Schlußfolgerung kamen, die wir jetzt zu verteidigen suchen. Wir beschäftigen uns in diesen Untersuchungen nicht generell mit der Art und Weise, in der wir faktisch zu unseren Schlußfolgerungen kommen, oder mit Methoden, unsere Effizienz beim Aufstellen von Schlußfolgerungen zu verbessern. Es kann gut sein - wenn ein Problem durch bloßes Ausrechnen gelöst werden kann - daß die zur Rechtfertigung unserer Schlußfolgerung vorgelegten Stufen der Argumentation dieselben sind wie diejenigen, die wir vollzogen, um zur Antwort zu gelangen. Aber im allgemeinen wird es nicht so sein. In unserer Untersuchung beschäftigen wir uns jedenfalls nicht damit, wie man zu Schlußfolgerungen gelangt, sondern mit der darauffolgenden Begründung durch Vorlegen einer stützenden Argumentation. Wir müssen jetzt die Stufen charakterisieren, in die sich eine Argumentation zur Rechtfertigung von Behauptungen auf natürliche Weise zerlegen läßt, um zu sehen, inwieweit sich diese Stufen im Fall von aus vielen verschiedenen Bereichen stammenden Argumentationen als gleich herausstellen. Zur Charakterisierung dieser Stufen ist es günstig, eine Verbindung zu den Verwendungsweisen bestimmter wichtiger Termini herzustellen, die schon immer von Interesse für Philosophen waren und die als Modaltermini bekannt sind. Dieses Kapitel besteht deshalb zu einem großen Teil aus einer Untersuchung ihrer praktischen Verwendung. Ich werde die Position vertreten, daß man diese Termini ("möglich", "notwendig" und ähnliche) am besten versteht, indem man untersucht, welche Funktion sie bei· der Darlegung von Argumentationen haben. Um mit der ersten Stufe anzufangen: Wenn man irgendein Problem behandelt, gibt es eine Anfangsstufe, auf der wir zugeben müssen, daß eine Anzahl verschiedener Vorschläge ein Recht darauf hat, berücksichtigt zu werden. Auf dieser Anfangsstufe müssen sie alle zugelassen werden als
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Kandidaten für eine Lösung, und um dies zum Ausdruck zu bringen, sagen wir von jedem dieser Vorschläge: "Es kann (oder: es könnte) der Fall sein, daß ... ce. An dieser Stelle hat der Terminus "möglich" samt dem dazugehörigen Verb, Adjektiv und Adverb seinen Platz: Von einem bestimmten Vorschlag als Möglichkeit zu sprechen, heißt, ,zuzugeben, daß er ein Anrecht darauf hat, in Betracht gezogen zu werden. Schon auf dieser frühen Stufe können verschiedene Vorschläge stärkeres oder schwächeres Anrecht auf unsere Beachtung haben: Möglichkeiten sind, wie wir sagen, mehr oder weniger ernsthaft. Irgendetwas überhaupt als Möglichkeit zu betrachten heißt aber unter anderem, bereit zu sein, einige Zeit auf das Beweismaterial dafür oder dagegen zu verwenden. Man muß solchen überlegungen umso mehr Zeit und überlegungen widmen, je ernsthafter eine Möglichkeit erscheint - bei entfernten~n Möglichkeiten reichen weniger aus. Auf der ersten Stufe nach der Angabe des Problems beschäftigt man sich also damit, die möglichen Lösungen darzulegen oder die Vorschläge aufzuzeigen, die unsere Be~chtung verlangen - oder jedenfalls die ernsthaften Möglichkeiten anzugeben, die unsere Beachtung am dringendsten erfordern. Es ist besser, eines, gleich an dieser Stelle zu sagen. Ich behaupte nicht, durch Herstellen einer Beziehung zwischen den Wörtern, ,möglich", "möglicherweise", "kann" und "könnte" eine formale Analyse des Terminus "möglich" anzugeben. Nach,meiner Meinung ist dies ein Wort, für das man schwerlich ein strenges Äquivalent angeben könnte, jedenfalls mit Hilfe der Termini, mit denen ich es jetzt zu erläutern versuche. Aber es ist nicht nötig, soweit zu gehen und zu sagen, daß per definitionem der Satz "dies ist eine mögliche Lösung unseres Problems" dasselbe bedeutet wie "diese Lö:sung unseres Problems muß berücksichtigt werden". Man braucht keine formale Äquivalenz anzustreben; eine formale Definition ist hier vermutlich fehl am Platz. Dennoch kann der hier enthaltene philosophische Kernpunkt ziemlich zwingend dargelegt werden. Nehmen wir zum Beispiel an, daß jemand einen von ihm erhobenen Geltungsanspruch zu verteidigen hat; daß ihm ein Gegenvorschlag gemacht wird und er antwortet: "Das ist nicht möglich"; und daß er trotzdem sofort damit anfängt, eben diesem Vorschlag eingehende Beachtung zu schenken - und dies überhaupt nicht in Fonn von irrealen Konditionalsätzen (indem er sich durch die Klausel absichert: "Wenn das tnöglich wäre, dann ... "), sondern so, als würde er den Vorschlag einer ernsthaften Beachtung für würdig halten. Setzt er sich mit diesem Verhalten nicht einem Vorwurf der Inkonsequenz oder vielleicht gar der Leichtfertigkeit aus? Er sagt, daß der Vorschlag nicht möglich ist; dennoch behandelt er ihn als mög~ich. Auf dieselbe Weise entsteht eine ähnliche Situation, wenn jemand zu einem bestimmten zur Sprache gebrach'ten Vorschlag sagt: "er ist möglich" oder "das könnte der Fall sein" und dennoch diesem Vorschlag keinerlei Beachtung schenkt. Auch hier muß er darauf gefaßt sein, sich gegen einen Vorwurf der Inkonsequenz zu verteidigen. In den entsprechen~en Fällen gibt es hierfür natürlich eine ganz gute Verteidigung. Er kann zum Beispiel Gründe haben anzunehmen, daß dieser bestimmte Vorschlag eine entferntere Möglichkeit ist und daß es ausreicht, ihn dann zu beachten, wenn man Gründe dafür gefunden hat, diejenigen Möglichkeiten aufzugeben, die im Augenblick als ernstzunehmender erscheinen. Aber: Wenn er zugibt, daß ein bestimmter Vorschlag "möglich" ist, erkennt er jedenfalls an, daß dieser Vorschlag Anspruch darauf hat, zur rechten Zeit beachtet zu werden. Es ist inkonsequent, erst etwas als "möglich" zu bezeichnen und es dann J
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ohne gute Gründe auf unbestimmte Zeit unberücksichtigt zu lassen. Obwohl wir vielleicht nicht imstande sind, durch Rekurs auf Argumentationsverfahren eine strenge lexikalische Definition der Wörter "möglich" und "Möglichkeit" zu geben, kann dennoch eine enge Verbindung zwischen diesen beiden Sachen bemerkt werden. Jedenfalls können wir in diesem Fall als ersten Schritt der Erläuterung einer Familie modaler Termini ihren Platz in zur Rechtfertigung von Behauptungen dienenden Argumentationen aufzeigen. Soviel zur Anfangsstufe von Argumentationen. Sobald wir anfangen, diejenigen Vorschläge zu betrachten, die wir der Beachtung wert halten, und fragen, welche Bedeutung irgendwelche Informationen, die wir besitzen, für diese Vorschläge haben, kann eine Reihe von Dingen passieren. In jeder der.sich daraus ergebenden Situationen kommen weitere Modaltermini in unser Blickfeld. Zum Beispiel gibt es Fälle, in denen die Ansprüche eines der Lösungs-Kandidaten in einzigartiger Weise berechtigt sind. Wir sind berechtigt, eine bestimmte Schlußfolgerung von all den Möglichkeiten, mit denen wir anfingen, unzweideutig als diejenige anzugeben, die zu akzeptieren ist. Im Augenblick brauchen wir uns nicht um die Frage zu kümmern, welche Tests wir durchgeführt haben müssen, um diesen glücklichen Zustand zu erreichen. Solche Zustände sind uns hinreichend bekannt, und das reicht, um fortzufahren: Es gibt jemanden, dessen gegenwärtige Kondition seine Aufnahme in eine Tennismannschaft verlangt; das Beweismaterialläßt keinen Zweifel daran, daß der Mann auf der Anklagebank das Verbrechen verübt hat; einhieb- und stichfester Beweis eines Theorems ist ausgearbeitet worden; eine wissenschaftliche Theorie besteht alle Tests mit großem Erfolg. In einigen Argumentationsbereichen kommt das zweifelsohne selten vor, und es ist bekanntermaßen schwierig, den Anspruch eines Kandidaten, allen anderen überlegen zu sein, zu verteidigen. In diesen Bereichen bleiben Antworten auf Fragen mehr als sonst eine Sache der Meinungen oder des Geschmacks. Die Ästhetik ist offensichtlich ein Bereich, in dem dies eintreten dürfte - obwoh~ man sogar hier leicht den Spielraum für vernünftige Nichtübereinstimmung übertreibt und die Fälle übersieht, in denen nur eine einzige sachkundige Ansicht ernsthaft aufrechterhalten werden kann - zum Beispiel daß Claude Lorraine Hieronymus Bosch als Landschaftsmaler überlegen war. J edenfalls : Wenn wir uns einmal in der Situation befinden, daß alle uns zur Verfügung stehende Information unzweideutig auf eine bestimmte Lösung hinweist, haben wir unsere charakteristischen Termini, um dies zum Ausdruck zu bringen. Wir sagen, die Schlußfolgerung "muß" der Fall sein, es ist "notwendig" so - eine "Notwendigkeit" der einschlägigen Art. Wir sagen etwa: Unter den gegebenen Umständen bleibt nur eine Entscheidung übrig: Das. Kind muß der Obhut der Eltern wieder anvertraut werden, oder auch: In Anbetracht der vorausgehenden Schritte in der Argumentation muß das Quadrat über der Hypothenuse eines rechtwinkligen Dreiecks gleich der Summe der Quadrate über den beiden anderen Seiten sein. Oder: Wenn man die Ausdehnung von Sonne, Mond und Erde berücksichtigt und ihre Positionen zueinander zur betreffenden Zeit, sehen wir, daß der Mond in jenem Augenblick völlig verdunkelt sein muß. (Auch hier stellt sich nicht die Frage, eine strenge Definition der Wörter "muß", "notwendig" und "Notwendigkeit" zu geben. Die Beziehung zwischen der Bedeutung dieser Wörter und der angegebenen Art von Situationen ist zwar eng, aber nicht derart, daß man sie angemessen in Form einer Definition ausdrücken könnte.)
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Es erübrigt sich, zu betonen, daß wir unsere Argumentationen nicht immer zu diesem glücklichen Ende bringen können. Auch wenn wir alles berücksichtigt haben, des- \ sen Relevanz uns bekannt ist, kann es dennoch sein, daß wir noch immer keine Schlußfolgerung finden können; die unzweideutig als die zu akzeptierende ausgezeichnet ist. Es kann aber auch eine Reihe anderer Sachen passieren. Es kann sein, daß bestimmte Vorschläge, die ursprünglich immerhin als Möglichkeiten angesehen wurden, im Lichte unserer übrigen Informationen keine Beachtung mehr verdienen und daß wir sie deshalb fallen lassen. Wir sagen dann: " Nach allen überlegungen kann es nicht der Fall sein, daß ... ". Das heißt, daß sich eine der ursprünglichen Möglichkeiten schließlich als unzulässig herausstellen kann. In einer solchen Situation haben weitere Modaltermini ihre natürliche Verwendung - "nicht können", "unmöglich" und so weiter -, und diesen werden wir in Kürze unsere hesondere Aufmerksamkeit widmen. Manchmal kann es wiederum vorkommen, daß wir aus unserer Liste der "möglichen" Lösungen diejenigen herausgeschmissen haben, bei denen unsere Informationen ausreichen, sie völlig aufzugeben, daß eine Reihe anderer Möglichkeiten übrigbleibt, die nicht einfach ausgeschlossen werden können. Dann können wir vielleicht trotzdem die übrigbleibenden Vorschläge danach anordnen, wie vertrauenswürdig wir sie - im Hinblick auf unsere Informationen - halten. Obwohl wir vielleicht nicht berechtigt sind, irgendeinen Vorschlag als einzig.akzeptierbaren anzugeben, kann es doch sein, daß einige der übriggebliebenen Vorschläge im Lichte unserer Daten mehr Be~chtung verdienen als andere. Es kann also sein, daß unser Wissen den Schritt zu einer der Schlußfolgerungen stärker nahelegt als den zu den anderen; wir sagen dann, daß diese Schlußfolgerung "wahrscheinlicher" ist als die anderen. Dies ist nur eine erste Andeutung; das Thema der Wahrscheinlichkeit insgesamt ist kompliziert und ihm wird ein späteres Kapitel gewidmet. Es gibt noch eine Art von .Situationen, die am Anfang erwähnt werden sollte. Manchmal können wir zeigen, daß eine bestimmte Antwort die Antwort wäre, vorausgesetzt, wir .könnten mit Sicherheit annehmen, bestimmte außergewöhnliche Bedingungen würden in diesem Fall nicht eintreten. Wenn wir keine endgültige Sicherheit hierüber haben, müssen wir unsere Schlußfolgerung einschränk~n. Jemand hat Anspruch auf eine Ehelichkeitserklärung, sofern nicht positives Beweismaterial für seine nichteheliche Geburt vorliegt; man kann annehmen, daß der reguläre Vorsitzende den Vorsitz einer Kommission inne hatte, wenn es nicht eine gegenteilige Aufzeichnung im Protokoll gibt; nur einige außergewöhnliche Körper, wie etwa mit Wasserstoffgas gefüllte Ballons, steigen anstatt zu fallen, wenn man sie über dem Boden losläßt. Auch hier gibt es charakteristische Wendungen, die die besondere Rolle unserer Schlußfolgerungen zum Ausdruck bringen: Wir bezeichnen von jemandes ehelicher Abstammung als "Vermutung", wir sagen, daß der reguläre Vorsitzende "vermutlich" den Vorsitz des Ausschusses innehatte, oder wir schließen von der Infonnation, daß ein Körper aus der Höhe losgelassen wurde, auf die" Vermutung", daß er auf den Boden gefallen ist. Bei all diesen überlegungen muß auf eine Sache geachtet werden. Wenn man die verschiedenen Situationen charakterisiert, die bei einer Argumentation zur Verteidigung von Behauptungen auftreten können, können wir uns darauf verlassen, Beispiele aus vielen unterschiedlichen Bereichen zu finden. Auf die verschiedenen Stufen - zuerst die Angabe der Kandidaten für Lösungen, die es verdienen, beachtet zu werden; dann das Herausfinden einer bestimmten Lösung, auf die das Beweismaterial unzweideutig hin-
26 weist, wobei einige der ursprünglich als möglich angesehenen Vorschläge im Lichte des Beweismaterials ausgeschieden werden und so weiter - auf all diese verschiedenen Stufen können wir stoßen, ganz gleich ob unsere Argumentation über ein Problem der Physik, Mathematik, Ethik, des Rechts oder über eine Tatsachenfrage aus dem alltäglichen Leben geht. Diese grundlegenden Verfahrensähnlichkeiten in außerjuristischen wie in juristischen Argumentationen gelten innerhalb vieler verschiedener Bereiche. Und, insoweit die Form der von uns vorgelegten Argumentationen auch diese Verfahrensähnlichkeiten aufweist, wird die Form von Argumentationen aus verschiedenen Bereichen ebenfalls ähnlich sein.
UNMOGLICHKElTEN UND UNANGEMESSENHEITEN. Wir können jetzt etwas näher an die Lösung unseres ersten Hauptproblems herangehen, des Problems, die bereichsunabhängigen Merkmale von Argumentationen von den bereichsabhängigen zu unterscheiden. Wir können die Lösung herausbe~ommen, indem wir einen der schon erwähnten Modaltermini hernehmen und nachsehen, was an der charakteristischen Verwendungsweise gleichbleibt und was sich ändert, wenn wir sie erst in einem Bereich der Argumentation betrachten und dann in anderen. Welchen Terminus sollen wir für diese Untersuchung wählen? Die Wahl entweder von "Notwendigkeit" oder von "Wahrscheinlichkeit" könnte angesichts der langen philosophischen Geschichte dieser bei den Termini als natürlich erscheinen; aber für unseren gegenwärtigen Zweck ist diese lange Geschichte eher ein Hindernis als eine Hilfe, denn sie ruft theoretische Vorurteile hervor, die uns im Wege stehen können, wenn wir jetzt versuchen, einfach den Gebrauch, den diese Wörter bei alltäglichen Beurteilungen von Argumentationen haben, klarzulegen und nicht irgendeine theoretische Behauptung aufzustellen. Fangen wir deshalb damit an, einen bisher von Philosophen nicht gerade sehr beachteten modalen Terminus zu betrachten - den Ausdruck- "nicht können." (Wie sich bald zeigen wird, ist der Anwendungsbereich der Form "nicht können" um einiges -weiter als der des abstrakten Substantivs" Unmöglichkeit", so daß es nichts ausmacht, wenn wir uns auf die verbale Form konzentrieren.) Die ersten Fragen, die wir uns stellen müssen, sind: Unter welchen besonderen Umständen verwenden wir dieses besondere Modalverb? Und: Als Hinweis worauf wollen wir es verstanden wissen? Wenn wir die Antworten auf diese Fragen herausgefunden haben für eine Reihe von Argumentationsbereichen, müssen wir mit-der Frage fortfahren, inwieweit die Bedeutung des Gebrauchs eines solchen Ausdrucks und die Kriterien zur Entscheidung über seinen angemessenen Gebrauch von Bereich zu Bereich variieren. Fangen wir also mit einer Reihe von Situationen an, in denen der Ausdruck "nicht können" ganz natürlich verwendet wird. Der erste Schritt in der Behandlung unseres Problems ist dann, diese Situationen zu vergleichen. Wir können in der einen oder anderen Situation zu jemandem sagen: "Du kannst nicht folgendes: Eine Tonne ohne fremde Hilfe hochheben, tausend Leute in die Stadthalle hineinbringen, über den Schwanz eines Fuchses reden, eine Schwester als Mann bezeichnen, in einem Nichtraucher-Abteil rauchen, deinen Sohn ohne einen Pfennig Geld wegschicken, die Frau des Angeklagten zur Zeugenaussage zwingen, nach dem Gewicht von Feuer fragen, ein reguläres Siebeneck konstruieren oder eine Zahl finden, die sowohl rational als auch
27 die Quadratwurzel von 2 ist." Wir müssen eine Reihe solcher Beispiele durchg~hen und nachsehen, was in jedem einzelnen Fall durch den Gebrauch des Ausdrucks, ,nicht können" erreicht wird. (Eine Sache nebenbei: Ich habe aus dieser Beispielsreihe absichtlich einige herausgelassen, die in der Philosophie von großer Wichtigkeit sind, nämlich solche, die "formale Unmöglichkeiten" enthalten. Die angegebene Menge ist auf ziemlich gebräuchliche Verwendungen von "können" und "nicht können" beschränkt, die unkomplizierte praktische, physikalische, sprachliche und verfahrensrechtliche Unmöglichkeiten und Unangemessenheiten betreffen. Mein Grund hierfür ist folgender: In Fällen formaler Unmöglichkeit ist gewöhnlich eine oder mehrere dieser einfacheren Arten von Unmöglichkeit und Unangemessenheit auch enthalten, wobei das Verhältnis der Wichtigkeit von formalen und nicht-formalen Unmöglichkeiten vom jeweiligen Fall abhängt. Wir müssen die nicht-formalen Unmöglichkeiten und Unangemessenheiten abtrennen und untersuchen, welche Bedeutung sie haben, und erst dann können wir das zusätzliche Element der formalen Unmöglichkeit einführen. Auf jeden Fall kommen wir auf dieses Thema in einem späteren Kapitel zurück.) Wie sollen wir bei der Untersuchung dieser Beispiele anfangen? Wir können einem Hinweis folgen, den das als Motto am Beginn dieses Kapitels zitierte Wortspiel aus dem Punch gibt. Natürlich versteht man die Äußerung "X kann nicht Y tun" in einigen Fällen so, daß daraus folgt, daß X nicht gerade Y getan hat, jetzt nicht Y tut und auch in naher Zukunft nicht tun wird; einige andere Verwendungen von "nicht können" tragen aber gar keine solche Bedeutung. Es lohnt sich, diesen Unterschied im Auge zu behalten und für jedes unserer Beispiele die Frage zu stellen, was wir von jemandem denken würden, der auf die Äußerung "Du kannst nicht Y tun" antwortete "Aber ich habe es getan". Und wir können die weitere Frage anschließen, welcher Art die Gründe sind, die uns berechtigen, in irgendeinem bestimmten Fall zu sagen "Du kannst nicht Y tun" - was müßte verschieden sein, damit unser Anspruch zurückgewiesen werden könnte und daß schließlich nachgewiesen werden könnte, daß er ungerechtfertigt war. - Wir wollen die Beispiele der Reihe nach behandeln. a) Ein großes Metallstück fällt von einem Lastwagen auf die Straße. Der Fahrer, ein bleicher, elend aussehender junger Mann, kommt aus seiner Kabine herunter und geht auf das Metallstück zu, als wolle er es aufheben. Wir sehen dies und sagen zu ihm: "Du kannst dieses Gewicht nicht alleine hochheben. Warte einen Augenblick, bis ich Hilfe oder irgendeine Hebevorrichtung hole." Er antwortet: "Ach was, so w"as mache ich oft genug", geht darauf zu und hebt e~ geschickt wieder auf den Lasny-agen. Einige Implikationen unserer Äußerung kann man sofort aufdecken. Der Fahrer überrascht uns durch seine Handlung, und diese widerlegt unsere Äußerung ein für alle Mal. Wir hatten seine Stärke unterschätzt und gedacht, dazu sei jemand mit stärkerem K~rperbau nötig, und unsere Bemerkung beinhaltete dies. Was in der tatsächlich gemachten Äußerung nur angedeutet war, kann durch folgende Umformulierung explizit gemacht werden: "Bei deinem Körperbau kannst du dieses Gewicht nicht.phne fremde Hilfe heben - ein Versuch wäre vergeblich." Man kann sich hier fragen, ob es sich dabei überhaupt um eine Argumentation handelt. Es handelt sich sicher nicht um eine ausgearbeitete oder völlig ausgereifte Argumentation - aber alle wesentlichen Bestandteile sind enthalten. Denn unser darin enthaltener Anspruch ist nicht nur, daß der Mann das Gewicht nicht alleine heben wird, sondern daß wir Gründe für die Annahme haben, daß dies gar nicht in Frage
28 kommt. Wenn unser Anspruch bezweifelt wird, gibt es Gründe und Daten, auf die wir hinweisen können, um anzugeben, was uns zu dieser bestimmten Schlußfolgerung führt und weshalb wir diese bestimmte Möglichkeit ausschließen. Er wird das Gewicht nicht ohne fremde Hilfe heben - das ist unSere Schlußfolgerung, die wir aufgrund seines Körperbaus vorbringen. Wir können uns über seinen tatsächlichen Körperbau irren, aber das betrifft nicht den hier relevanten Punkt: Unsere Annahme über seinen Körperbau ist sicher relevant, wenn wir die Frage stellen, ob er das Gewicht allein heben wird - ja sogar .ob er es kann. b) Ein Freund organisiert eine öffentliche Veranstaltung in der Stadthalle und verschickt Einladungen an zehntausend Leute. Auf Befragen erklärt er, er erwarte, daß die Mehrzahl d~r Eingeladenen an diesem Tag erscheinen wird. Wir befürchten, daß er 'einen praktischen Einwand gegen sein Projekt übersehen hat und sagen: "Du kannst nicht zehntausend Leute in die Stadthalle hineinbringen." Diesmal bezweifeln wir natürlich nicht seine körperliche Stärke oder seine persönliche Fähigkeit wie im Fall des elend aussehenden Herkules, der uns damit überraschte, ein großes Metallstück hochzuheben, wir sind vielmehr skeptisch bezüglich der Sitzkapazität der Stadthalle. Wenn unser Freund antwortet: "Aber ich habe das schon geschafft", möchten wir vielleicht entgegnen, daß man das auf keinen Fall kann. Und wenn er auf seiner Behauptung besteht, werden wir mißtrauisch und verd~chtigen ihn, sich auf irgendeinen Worttrick zurückzuziehen. Wir können dementsprechend zurückfragen: "Was meinst du?" - aber wenn wir soweit gekommen sind, diese Frage zu stellen, hat das Beispiel seinen Charakter geändert und die jetzt relevanten Oberlegun gen sind ganz andere. Von diesen Schwierigkeiten abgesehen, können wir unseren Satz expliziter wie folgt umformulieren: "Bei der Zahl der Sitzplätze der Stadthalle kannst du nicht zehntausend Leute hineinbringen - dies zu versuchen wäre vergeb-
· h•" 1lC Auch in diesem Fall kann man einwenden, daß wir es hier nicht mit einer echten Argumentation zu tun haben. Aber das Skelett einer Argumentation ist tatsächlich enthalten. Die Schlußfolgerung ist, daß unser Freund es nicht schaffen wird, zehntausend Leute in die Stadthalle hineinzubringen, auch wenn er es versucht, und die Gründe für diese Schlußfolgerung sind die Tatsachenfeststellungen über die Zahl der~Sitzplätze dieses Gebäudes - aufgrund dieser Tatsachen muß sein Vorhaben aufgegeben werden. c) Diese ersten zwei Beispiele waren ziemlich ähnlich. Das folgende ist anders. Ein Städter kommt vom Land zurück und beschreibt ein ländliches Schauspiel, das er beobachtet hat. "Eine Reitertruppe in roten Jacken kam daher", erklärt er, "und vor ihr wurde ein Rudel von Hunden über das Feld hergejagt. Die Hunde bellten laut, als sie dem Schwanz eines armseligen Fuchses immer näherkamen. (( Einer seiner Zuhörer, ein Anhänger der Hetzjagd, verbessert diese Beschreibung verächtlich: "Mein Lieber, Sie können nicht vom "Schwanz" eines Fuchses reden, un4 was die "Hunde" betrifft, nehme ich an, Sie meinen die Rüden; und die "Reitertruppe in roten Jacken" waren Jäger in ihrer Jagdkleidung. In diesem Beispiel liegt die Unmöglichkeit natürlich nicht daran, daß eines in der Geschichte vorkommenden Dinge in irgendwelcher Hinsicht unzureichend ist. Tatsächlich nämlich hat der Mann, dem gesagt wurde, er könne nicht vom "Schwanz" .eines Fuchses reden, es in Wirklichkeit gerade getan. Folglich ist die Streitfrage in diesem Fall verschieden, und der Ausdruck "nicht können (( bedeutet hier weniger eine C(
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physische Unmöglichkeit als vielmehr eine terminologische Unangemessenheit. Wer vom "Schwanz" eines Fuchses redet, widerlegt nicht die Mei.Q.ung seiner Zuhörer, sondern begeht einen sprachlichen Schnitzer. Wir müssen deshalb diese Äußerung ganz anders erweitern: "In der Jägersprache kannst du nicht vom "Schwanz" eines Fuchses reden - dies ist ein Verstoß gegen den Sprachgebrauch der Sport jagd. ce d) Wir werden darum gebeten, das Manuskript für einen neuen Roman zu lesen. Beim Lesen finden wir heraus, daß auf eine der Personen an manchen S:tellen als auf die Schwester eines anderen Bezug genommen wird, und an einer· anderen Stelle wird von ihr als "er" geredet. Wir wollen den Autor vor dem Spott literarischer Spürhunde retten und weisen ihn durch die Bemerkung "Man kann keine männliche Schwester haben" darauf hin. Was steht nun in. diesem Fall genau zur Diskussion? Auf der einen Seite geht es hier nich~ um die persönliche Fähigkeit oder die körperliche Konstitution von irgendjemandem. Es geht hier nicht um eine Frage der Physiologie, jedenfalls nicht in einem direkten Sinn, denn auch die einschneidendsten Veränderungen würden es -' wenn unsere Terminologie gleichbleibt - nicht ermöglichen, daß eine Schwester männlich sein kann. Zum Beispiel würde jede Änderung ihres Geschlechts, die aus ihr einen Mann machen würde, gerade durch diese Tatsache aus ihr einen Bruder machen - sie wäre also keine Schwester mehr. Andererseits kann man nicht ohne weiteres sagen, daß dies ein rein sprachliches Beispiel ist wie es das vorhergehende ganz deutlich war. Man kann kaum sagen, daß es halt schlechtes Deutsch ist, von einer "männlichen Schwester" zu reden, so wie wenn man das schwanzartige Anhängsel eines Fuchses als Schwanz bezeichnet und nicht als Lunte. Die Beschreibung des Städters war völlig verständlich und ihr Mangel bestand nur in unangemessenem Sprachgebrauch. Dagegen riskiert ein Autor, der sich auf seine Personen sowohl als Schwester wie auch als männlich bezieht, mehr als den Spott der Jäger - er würde nämlich nicht einmal verstanden. Wir müssen sagen - obwohl dieser Satz unklar sein mag -, daß es hier nicht bloß auf den Gebrauch der Wörter "männlich", "weiblich", "Bruder" und "Schwester" ankommt, sondern einfach auf deren Bedeutung. Wenn wir nach einer-- Erklärung dafür gefragt werden, warum unser Autor besser keine "männliche Schwester" in seinen Roman aufgenommen hätte, müssen wir deshalb sowohl auf die terminologisGhen Beziehungen zwischen Geschlecht und Verwandtschaftsbeziehungen Bezug nehmen als auch auf die Gründe zweiter Stufe, warum diese Terminologien genau von dieser Form sind. Ohne Frage könnten uns hinreichende Änder1:1ngen der menschlichen Natur - etwa ein auffallendes Anwachsen der Häufigkeit von Zwittern - dazu führen, unsere Terminologie zu ändern, wodurch dann eine neue Situation hergestellt wäre, in der eine Bezugnahme auf "männliche Schwestern" nicht mehr unverständlich wäre. Aber so wie die Dinge tatsächlich liegen, gemäß unserer jetzigen Terminologie, ist der Ausdruck "männliche Schwester" sinnlos; und an diese überlegung denken wir natürlich, wenn wir unserem Autor sagen, daß er nicht über eine solche .schreiben kann. Dementsprechend ist überraschung oder Zweifel völlig unangebracht, wenn er darauf antwortet: "Aber ich kann eine männliche Schwester haben." Diese Reaktionen waren ganz richtig im Fall des Mannes, der darauf bestand, das schwere Gewicht heben zu können; aber wenn jemand sagt "Ich kann eine männliche Schwester haben", kann man nur mit der Frage antworten "Was meinst du damit?". Wenn -man das Beispiel in
30 dieselbe Fonn bringt wie die vorhergehenden, ergibt sich: "Nach den 't.erminologischen Beziehungen zwischen Geschlecht und Ve.rwandtschafts beziehungen kann man nicht eine männliche Schwester haben - es ist schon unverständlich, davon zu reden." über' diese vier ersten Beispiele zwei Bemerkungen. Erstens könnte man denken, daß es zwischen den ersten beiden Beispielen und den beiden folgenden eine unüberbrückbare Kluft, eine starre und unverrückb~r~ Grenze gibt. In der Praxis gibt es jedoch fließende üb~rgänge. Jemand kann zum Beispiel zu mir sagen: "Du glaubst, daß man eine Tonne nicht allein hochheben kann? Das zeigt nur, wie wenig Ahnung du hast: Ich sah heute nämlich jemanden, der hundert Tonnen allein hob!" In diesem Fall ist überraschung keine angemessene Reaktion mehr. Hier ist vielmehr Unverständnis angebracht. Der erste Beispieltyp geht folglich über in den vierten. Denn ich vermute, daß in diesem Fall dem Ausdruck "allein heben" eine neue Bedeutung gegeben wurde. Was er sah, war vermutlich, wie jemand einen großen Greifbagger beim Kohleabbau über Tag steuerte. Es besteht kein Zweifel daran, daß hundert Tonnen auf einmal durch die Tätigkeit 'vön einem Mann allein bewegt wurden - aber der hatte eine riesige Maschine oder etwas ähnliches zur Unterstützung. Entsprechendes gilt beim zweiten Beispiel: Wenn jemand sagt, er könne zehntausend Leute in die Stadthalle hineinbringen, kann er uns ebenfalls ein Spiel mit Worten vormachen; wenn wir fragen "Was meinst du damit?", kann er uns als Antwort eine Rechnung vorlegen, die zeigt, daß die gesamte Erdbevölkerung in einen Würfel mit einer Seitenlänge von einem Kilometer gepackt werden kann, und daß dann erst recht zehntausend Leute mit Leichtigkeit in das Volumen der Stadthalle gepackt werden können. Und natürlich könnte man noch viel mehr als zehntausend Leute in die Stadthalle 'hineinbekommen, wenn man sich über deren überleben keine Gedanken machen müßte. Der zweite Punkt, der hier nur kurz angedeutet werden soll, wird später wichtig, wenn wir uns überlegungen 'zur Natur von formaler und theoretischer Unmöglichkeit zuwenden. Wissenschaftliche Theorien enthalten eine Reihe von sehr fundamentalen Prinzipien, die sich auf "theoretische Unmöglichkeiten" beziehen. Ein Beispiel ist die berühmte Unmöglichkeit, die Entropie zu verringern - dies besagt der sogenannte zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Wenn man jetzt die philosophische Bedeutung solcher Theorien diskutiert, ist man zuerst versucht, sie mit den vier bisher untersuchten Arten von "nicht können" zu vergleichen. Das heißt, man geht davon aus, daß solche Unmöglichkeiten entweder physische Unmöglichkeiten (wie in den ersten beiden Beispielen) oder aber verdeckte terminologische Unangemessenheiten (wie im zweiten Beispielspaar) sein müssen. Wissenschaftstheoretiker der Physik lassen sich dementsprechend einteilen in eine Gruppe, die der Meinung ist, daß solche Unmöglichkeiten allgemeine Merkmale der Natur oder der Realität beschreiben, und in eine andere Gruppe, die annimmt, daß die betreffenden Gesetze im Grunde analytische Sätze sind, wobei das enthaltene "nicht können" also eher eine terminologische Unangemessenheit als eine wirkliche, physische Urunöglichkeit ausdrückt. Der Ursprung solcher theoretischer Unmöglichkeiten wird dementsprechend nur an zwei Stellen gesucht: Entweder in der Natur des gesamten Universums (der Eigenschaft von Dingen im allgemeinen) oder aber in der Terminologie, die Physiker beim Aufbau ihrer Theorien einführen. An dieser Stelle der Erörterung möchte ich nur bemerken, daß die vier bis jetzt diskutierten Beispiele nicht die einzig möglichen Vergleichsobjekte sind. Auch
31 dieses Thema wird uns noch in einem späteren Kapitel beschäftigen. e) Ein Zugschaffner entdeckt, daß ein Reisender in einem Nichtraucherabteil eine Zigarette raucht, wobei einer alten Frau in dem Abteil die Augen tränen und sie wegen des Zigarettenrauchs hustet. In Ausübung seiner Amtsgewalt sagt er zu dem Reisenden: "Sie können in diesem Abteil nicht rauchen." Mit dieser Äußerung beruft sich der Schaffner stillschweigend auf die Verordnungen der Eisenbahngesellschaft. Die Äußerung ist kein Hinweis darauf, daß der Reisende unfähig ist, in diesem Abteil zu rauchen, oder daß irgendeine Eigenschaft des Abteils ihn davon abhalten wird - folglich ist der Fall verschieden sowohl von a) als auch von b). Dem Schaffner geht es auch nicht - wie oben in c) und d) - um Fragen des Sprachgebrauchs oder der Bedeutung. Worauf er die Aufmerksamkeit lenkt, ist die Tatsache, daß Rauchen in diesem bestimmten Abteil ein Verstoß gegen die Bestimmungen ist, durch die einige Abteile für diejenigen zur Verfügung gestellt werden, die Tabakrauch unangenehm finden: Dies ist nicht der richtige Ort zum Rauchen, und der Fahrgast sollte besser woanders hingehen. Die Bemerkung vom Schaffner bedeutet: "Gemäß den Bestimmungen können Sie in diesem Abteil nicht rauchen - dies zu tun wäre eine Zuwiderhandlung gegen diese und/oder ein Ärgernis für die Mitreisenden." f) Ein gestrenger Vater beschimpft seinen Sohn als einen liederlichen Taugenichts und jagt ihn aus dem Hause. Ein Freund legt für den Sohn Fürsprache ein mit den Worten: "Du kannst ihn nicht rauswerfen ohne einen Pfennig Geld." Wie in dem Punch-Beispiel ist der Angesprochene vielleicht zu antworten versucht: "So, kann ich nicht? Dann schau mir doch zu!" Und tatsächlich weist nichts an dem Angesprochenen oder an seinem Sohn mit Gewißheit darauf hin, daß er gehindert sein könnte, es zu tun. Er könnte stattdessen 'auch antworten: "I<;h kann es nicht nur, ich muß es sogar: Es ist meine traurige Pflicht, es zu tun", und diese Antwort erinnert \Jns an die wahre Rolle des am Anfang geäußerten Protests oder Einspruchs. Zur Diskussion steht hier eine moralische Frage, die die Pflichten des Mannes seinem Sohn gegenüber betreffen. Die Fürsprache des Freundes kann ausführlicher wie folgt formuliert werden: "Bei der Verwandtschaftsbeziehung, die Du zu diesem Jungen hast, kannst Du ihn nicht ohne einen Pfennig wegjagen - dies wäre unväterlich und falsch." Diese Beispiele sind verschieden genug, um ein sich abzeichnendes allgemeines Muster aufzuzeigen. Wir könnten natürlich mit der Betrachtung anderer Beispiele weiterfahren, die nicht physische Unmöglichkeit, sprachliche Schnitzer oder Verstöße gegen rechtliche oder moralische Regeln enthalten, sondern vielmehr Verstöße gegen gerichtliche Verfahrensregeln ("man kann die Frau des Angeklagten nicht zur Aussage zwingen"), begriffliche Widersinnigkeiten ("man kann nicht nach dem Gewicht von Feuer fragen") oder mathematische Unmöglichkeiten. (Ober diese letzteren haben wir gleich etwas zu sagen.) Aber die gemeinsame Bedeutung all dieser Aussagen, die durch das Vorkommen des Ausdrucks, ,nicht können" gekennzeichnet sind, sollte mittlerweile klar sein. In jedem dieser Fälle dient der Satz teilweise dazu, irgendetwas auszuschließen - aus unseren überlegungen jede Handlungsweise auszuschließen, die dieses "irgendetwas" beinhaltet; zum Beispiel Handlungsweisen auszuschließen, die beinhalten, eine Tonne allein hochzuheben, über den "Schwanz" eines Fuchses zu reden oder die Frau des Angeklagten zur Zeugenaussage zu zwingen. Obige Sätze besagen, daß es gegen diese Handlungsweisen schlüssige Gründe gibt. Und der Ausdruck
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"nicht könnep." hilft, für jeden dieser Sätze den besonderen Platz in einer Argumen~ tation anzugeben, den sie als Sätze haben, die sich mit dem Ausschluß von relevanten Möglichkeiten beschäftigen. Es ist von Fall zu Fall verschieden, was als das Ausschließen der betreffenden Möglichkeiten anzusehen ist. Die dabei benützten Gründe zum Ausschluß und die Sanktionen, die man bei Mißachtung des Aus-schlusses riskiert, variieren noch deutlicher; es braucht auch keine fonnale Regel zu geben, auf die man sich zur Rechtfertigung des Ausschlusses bezieht. Dennoch bleibt in Abhängigkeit von diesen Einschränkungen das allen diesen Sätzen Gemeinsame bestehen. Jeder dieser Sätze kann gemäß dem folgenden Schema geschrieben werden, so daß die darin enthaltene Bedeutung klar wird: , ,Wenn man berücksichtigt, daß P, muß man jede Möglichkeit ausschließen, die Q enthält. Anders zu verfahren wäre R und würde S nach sich ziehen." Diese Fonn ist allen Beispielen gemeinsam. Unterschiedlich sind von Fall zu F~ll die Dinge, die wir für P, Q, Rund S einsetzen müssen. Q ist in allen Fällen die Handlungsweise, um die es in dem Satz jeweils geht: Eine Tonne allein zu heben, über den "Schwanz" eines Fuchses zu reden, nach dem Gewicht von Feuer zu fragen oder ein reguläres Siebeneck zu konstruieren. P ist in den einzelnen Fällen: Der Körperbau des Lastwagenfahrers, die Fachsprache der Fuchsjagd, die Beziehung eines Vaters zu -seinem Sohn, die Begriffe der Physik und der Chemie oder die Axiome der Geometrie und die Art geometrischer Konstruktionsschritte . Dies sind die Gründe, 'auf die man in den einzelnen Fällen Bezug nimmt. Der betreffende Verstoß (R) und die riskierte Sanktion (S) sind ebenfalls von Fall zu Fall verschieden: Eine physische Unmöglichkeit nicht beachten zu wollen wird vergeblich sein und zu einem Fehlschlag führen. Nichtbeachtung einer terminologischen Bestimmung ist dagegen ein Schnitzer, der das Risiko mit sich bringt, verspottet zu werden. Moralische Regeln nicht zu beachten ist etwa böse und lieblos, aber - man ist um der Tugend selber willen tugendhaft - sie sind mit keinen besonderen Sanktionen verbunden. Eine Frage schließlich, die Widersprüche oder begriffliche Widersinnigkeit~n involviert (wie "das Gewicht von Feuer" oder "eine männliche Schwester"), ist - wörtlich genommen - unverständlich, so daß man das Risiko eingeht, nicht verstanden zu werden, wenn man sie stellt.
ROLLE UND KRITERIEN An dieser Stelle kann eine Unterscheidung eingeführt werden, die sich später als sehr wichtig erweist. Die Bedeutung eines modalen Terminus wie, ,nicht können" hat zwei Aspekte, die man bezeichnen kann als die Rolle des Terms und die Kriterien für seinen Gebrauch. Unter der "Rolle" eines modalen Terms verstehe ich die praktischen Implikationen seines Gebrauchs. Die Rolle des Tenns "nicht können" enthält zum Beispiel die nicht ausgesprochene allgemeine Regel, daß irgendetwas auf diese oder jene Weise und mit den und den Gründen ausgeschlossen werden muß. Dieser Rolle können die Kriterien, Standards und Gründe entgegengestellt werden, auf die wir uns berufen, wenn wir in irgendeinem Kontext zu entscheiden haben, ob der Gebrauch eines bestimmten modalen Tenns angemessen ist. Wir sind erst dann berechtigt zu sagen, daß eine Möglichkeit ausgeschlossen werden muß, wenn wir Gründe angeben können, um diese Behauptung zu rechtfertigen. Unter den Begriff "Kriterien" können wir alle die
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verschiedenen Dinge fassen, die wir dabei anzugeben haben. Zum Beispiel sagen wir, daß etwas physikalisch, mathematisch oder physiologisch unmöglich ist, daß es tf~rmi nologisch oder sprachlich inkorrekt ist oder aber daß es moralisch oder rechtlich falsch ist. Es muß folglich als irgendetwas ausgeschlossen werden. Wenn wir erklären wollen, als was etwas Bestimmtes ausgeschlossen werden soll, zeigen wir, auf welche Kriterien wir in dieser bestimmten Situation Bezug nehmen. Die Wichtigkeit der Unterscheidung von Rolle und Kriterien wird erst im Laufe des weiteren Vorgehens völlig klar werden. Einen Hinweis darauf kann man aber vielleicht durch eine kurze Betrachtung des Begriffs "mathematische Unmöglichkeit" geben. Viele Theoreme der Geometrie und der reinen Mathematik behaupten Unmöglichkeiten der einen oder anderen Art. Sie sagen uns zum Beispiel, daß es unmöglich ist, ein regelmäßiges Siebeneck mit Zirkel und Lineal zu konstruieren und daß man keine rationale Quadratwurzel von 2 finden kann. Eine solche Konstruktion oder eine solche Quadratwurzel ist, so sagt man, eine mathematische Unmöglichkeit. Was bedeutet nun diese Redeweise ? Was bedeutet der Ausdruck "mathematische Unmöglichkeit" genau? Man gibt hier leicht eine zu einfache Antwort, und wir dürfen daher nichts überstürzen. Es ist naheliegend, zuerst das Verfahren zu untersuchen, das Mathematiker durchführen müssen, um ein derartiges Theorem zu beweisen - etwa um zu beweisen, daß es keine rationale Quadratwurzel von 2 geben kann. Wenn wir uns ansehen, was die Mathematiker in einem solchen Beweis zeigen, finden wir heraus, daß eines von größter Bedeutung ist: Der Ausdruck "rationale Quadratwurzel von 2" führt uns in Widersprüche. Ausgehend von der Annahme, daß eine Zahl x rational ist und daß x2 = 2, können wir durch einige wenige Argumentationsschritte zwei sich widersprechende Konklusionen erhalten. Dies ist der Grund, der schlüssige Grund, warum Mathematiker es als unmöglich betrachten, daß irgendeine Zahl x diese beiden Eigenschaften haben könnte. Man kann versucht sein, aus dem hier Gesagten sogleich zu schließen, daß wir die Antwort auf unsere Frage schon besitzen - daß nämlich der Ausdruck "mathematisch unmöglich" nichts weiter als "in sich selbst widersprüchlich" oder "zu Widersprüchen führend" bedeutet. Aber das ist zu einfach. Um diesen Begriff richtig zu verstehen, muß· man nicht nur beachten, was Mathematiker tun, ehe sie zu dem Schluß kommen, daß etwas unmöglich ist. Man muß auch beachten, was sie nach diesem Schluß und infolge dieses Schlusses tun. Das Bestehen einer mathematischen Unmöglichkeit muß nicht nur bewiesen werden; es hat auch Konsequenzen. Es mag sein, daß nichts weiter erforderlich ist als ein Nachweis von Widersprüchen, damit ein Mathematiker berechtigt sagen kann, der Begriff x sei eine mathematische Unmöglichkeitdas heißt, dieser Nachweis mag ein schlüssiger Beweis für die Unmöglichkeit von x sein. Aber die Rolle des Terminus "unmöglich" beinhaltet mehr als nur "zu Widersprüchen führend." Der Begriff x verwickelt einen in Widersprüche und ist deshalb oder folglich eine Unmöglichkeit; er ist unmöglich wegen seiner Widersprüche, unmöglich als etwas,. das zu Widersprüchen führt. Wenn "mathematisch unmöglich" . dasselbe bedeutete wie "widersprüchlich", wäre der Ausdruck" widersprüchlich und deshalb mathematisch unmöglich" tautologisch - "widersprüchlich und qeshalb widersprüchlich." Aber das reicht nicht aus. Nur zu sagen "diese Annahme führt uns in Widersprüche oder - um einen äquivalenten Ausdruck zu gebrauchen - sie ist unmöglich" heißt, dem Begriff der mathematischen Unmöglichkeit einen entscheideJ:?den
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Teil seiner Rolle zu nehmen; denn auf diese Weise wird nicht die richtige Lehre gezogen - die Annahme wird nicht ausgeschlossen. Man kann also sogar in der Mathematik einen Unterschied machen zwischen dem Kriterium bzw. dem Standard, auf das (auf den) man sich bezieht, um den Begriff "rationale Quadratwurzel von 2" als unmöglich auszuschließen, und der Rolle ,der Schlußfolgerung, daß er unmöglich ist. Zu sagen, daß Widersprüche bestehen, bedeutet nicht, damit den Begriff als unmöglich auszuschließen - auch wenn dies vom Standpunkt des Mathematiker~ schon alles sein mag, was wir zur Rechtfertigung dieses Ausschlusses benötigen. Auch hier ist es die Rolle der Bezeichnung der Zahl x als" unmöglich", diese aus weiteren überlegungen auszuschließen. Weil wir sie aus überlegungen der Mathematik ausschließen, müssen die Gründe dafür einer der Mathematik angemessenen Art sein, etwa, daß man zu Widersprüchen kommt, wenn man einen solchen Begriff -benützt. Widersprüchlichkeit kan~ in der Mathematik ein Kriterium für Unmöglichkeit sein. Die mit einer solchen Unmöglichkeit verbundene Rolle oder die daraus zu ziehende Lehre aber ist, daß der Begriff in weiteren mathematischen Argumentationen keinen Platz mehr haben kann. Es erscheint vielleicht als bloße Haarspalterei, auf dieser Unterscheidung im Fall von mathematischer Unmöglichkeit zu bestehen. In der Mathematik mögen die Konsequenzen der Unterscheidung vernachlässigbar sein. Für die Philosophie jedoch sind sie beträchtlich, insbesondere dann, wenn man - wie wir es in späteren Kapiteln tun werden - die Unterscheidung entsprechend auch im Fall der "logi~chen Unmöglichkeit" macht. Denn diese Unterscheidung zwischen "Rolle" und ,,~riterien", wie sie auf Modaltermini angewandt wurde, steht in enger Beziehung zu Unterscheidungen, die in letzter Zeit in anderen Gebieten mit großem Erfolg getroffen wurden . . Betrachten wir für einen Augenblick diese Parallele. Philosophen, die den allgemeinen Gebrauch von Bewertungswörtern untersuchten, argumentierten folgendermaßen: Ein Wort wie "gut" kann für einen Apfel genausogut verwendet werden, wie für eine handelnde Person oder eine Handlung, einen Flugschlag beim Tennis, einen Staubsauger oder einen V an Gogh. Die Frucht, die Person, den Schlag oder das Gemälde als "gut" zu bezeichnen, bedeutet in jedem dieser Fälle, den jeweiligen Gegenstand zu empfehlen und als etwas hervorzuheben, was in einigen Hinsichten ein lobenswertes, bewundernswertes oder wirksames Element seiner Klasse ist - dementsprechend wird das Wort "gut" völlig zu Recht definiert als "das' allgemeinste Adjektiv der Empfehlung." Aber weil das Wort so allgemein ist, sind die Dinge, auf die wir uns zur Rechtfertigung der Empfehlung verschiedener Arten von Sachen als "gut" beziehen, ihrerseits sehr unterschiedlich. Eine moralisch-gute Handlung, ein für den Haushalt guter Staubsauger und ein nach den Maßstäben der Obstzucht guter Apfel entsprechen alle bestimmten Standards, aber diese Standards sind verschieden - ja sogar nicht zu vergleichen. Somit kann man zwischen der empfehlenden Rolle der Bezeichnung eines Dinges als "gut" und den Kriterien unterscheiden, auf die wir zur Rechtfertigung einer Empfehlung Bezug nehmen.
Unsere eigene Diskussion hat uns zu einem Standpunkt geführt, der im wesentlichen nur ein Spezialfall dieses allgemeinen Falles ist. Denn das Schema bleibt dasselbe, gleich ob wir auf der einen Seite Äpfel, Handlungen oder Gemälde einstufen, beurteilen oder kritisieren oder aber auf der anderen Seite Argumentationen und Schlußfolgerungen. In beiden Fällen befassen wir uns mit Beurteilungen und Bewertungen; Unterscheidungen, die sich in der Ethik oder in der Ästhetik als fruchtbar erwiesen haben, werden es auch bei der Anwendung auf die kritische Beurteilung von Argumentationen
35 sein. Für "unmöglich" gilt genauso wie für "gut", daß der Gebrauch dieses Wortes eine charakteristische Rolle hat - eine empfehlende Rolle in dem einen Fall, eine zurückweisende im anderen. Gründe für die Empfehlung eines Apfels oder einer Handlung anzugeben ist etwas anderes, als diese Empfehlung auszusprechen - wie zwingend und relevant diese Gründe auch sein mögen. Welchen Wert haben solche Unterseheidungen? Wenn wir sie in der Ethik nicht berücksichtigen, kann eine Reihe von Dingen passieren. Wir können zum Beispiel zu der Meinung verleitet werden, daß die Standards, denen ein Gegenstand entsprechen muß, um ein Lob zu verdienen, schon alles ist, worauf man zur Erklärung dessen, was es heißt, diesen Gegenstand als "gut" zu bezeichnen, verweisen muß. Einen Staubsauger als gut zu bezeichnen heißt dann nach dieser Meinung nichts ander~s als daß seine Leistungsfähigkeit (im Sinne des Verhältnisses von Kubikmetern eingesaugten Staubes pro verbrauchter Kilowattstunde und ähnlichem) gut über dem Durchschnitt für Maschinen dieser Art liegt. (Dies entspricht der Meinung, daß der Ausdruck, ,mathematisch unmöglich" nur "in sich Widersprüche enthaltend" bedeutet und nichts weiter.) Eine solche Ansicht führt jedoch zu unnötigen Paradoxien. Denn es mag nun so erscheinen, als hätten die Termini des Empfehlens und des Verwerfens, mit denen wir so oft unsere Werturteile ausdrücken, genausoviele Bedeutungen, w,ie es verschiedene Arten von Dingen gibt, die bewertet werden können, und dies ist e,in sehr unwillkommener Vorschlag. Im Gegensatz hierzu muß man beachten, daß die Rolle der Empfehlung eines Dinges als "gut" oder seiner Verwerfung als "schlecht" dieselbe bleibt, um welche Art von Dingen es sich auch handeln mag, obwohl die Kriterien zur Beurteilung der Tauglichkeit bei den verschiedenen Arten sehr unterschiedlich sind. Aber dies ist nicht die einzige Art und Weise, in der wir irregeführt ~erden können, ja nicht einmal di~ ernsteste Möglichkeit. Wenn wir erkannt haben, daß in der Bedeutung von Wertausdrücken eine Vielfalt von Kriterien durch eine gemeinsame Rolle verbunden wird und daß die Bewertung eines Dings gewöhnli<;h zweierlei notwendig macht - einmal es in eine Ordnung der 'Empfehlbarkeit einzureihen und zweitens auf die Kriterien Bezug zu nehmen, die für Dinge dieser Art angemessen sind - kann man sich dennoch wünschen, einen Schritt weiterzugehen. Denn wenn wir uns nur mit einem bestimmten Bewertungstyp beschäftigen, können wir zu der Meinung gelangen, daß eine ganz bestimmte Menge von Kriterien eine einzigartige Bedeutung hat. Wir können dann dementsprechend versucht sein, die Kriterien, die zur Beurteilung von Dingen einer bestimmten Art angemessen sind, als die einzig angemessenen Tauglichkeitsstandards aller Arten von Dingen anzusehen und auf diese Weise alle anderen Kriterien entweder als falsch oder als unwichtig aufzugeben. Vennutlich ist den Utilitaristen so etwas passiert. Sie waren so entschlossen ausschließlich mit Fragen der Gesetzgebung und des sozialen Handelns beschäftigt, daß sie zu der Auffassung kamen, es gäbe bei der Beurteilung von Dingen gleich welcher Art nur ein Problem: Man bräuchte nur die Folgen festzustellen, die mit diesen Dingen verbunden werden können oder die zu erwarten sind. Die Gefahren einer solchen Einseitigkeit werden deutlich, wenn Philosophen mit dieser Vorgehensweise zu Verallgemeinerungen übergehen. Durch ihre ausschließliche Beschäftigung mit einem ganz bestimmten Beurteilungstyp machen sie sich selber für die besonderen Probleme blind, d~e in anderen Typen enthalten sind - für all die Schwierigkeiten ästhetischer Urteile und für viele moralische Probleme, die einem im
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Laufe des Lebens begegnen. Es gibt viele Arten der bewertung und des Einstufens neben der Beu rteilung von Gesetzgebungsprogrammen ur~d von sozialen Reformen. Standards, die zur Beurteilung einer Gesetzesvorlage im Parlament völlig angemessen sein können, können, wenn es um ein Gemälde, einen Apfel oder auch um unsere persönlichen Schwierigkeiten geht, irreführend oder fehl am Platze sein. Dieselbe Gefahr kann auch bei Argumentationen auftreten. Der Gebrauch eines Terminus wie "nicht können" in Verbindung mit Argumentationen aus ganz verschiedenen Bereichen· involviert - wie oben gezeigt wurde - eine gewisse gemeinsame Rolle entsprechend der gemeinsamen Rolle von "gut", die bei zahllosen Verwendungsweisen dieses Wortes zu erkennen ist. Dennoch sind die Kriterien, auf die man sich zur Rechtfertigung der Zurückweisung von verschiedenen Arten von Schlußfolgerungen berufen muß, sehr verschieden. Hier sind, genauso wie in der Ethik, zwei Schlußfolgerungen verlockend, die man beide vermeiden muß. Auf der einen Seite ist es falsch zu sagen, daß allein aufgrund die~er Unterschiede in den Kriterien der Ausdruck "nicht können" ganz verschiedenes bedeutet, wenn er in verschiedenen Arten von Schlußf0lgerungen vorkommt: Es kommt nicht von ungefähr, daß physikalische, sprachliche, . moralische und begriffliche Unmöglichkeiten durch den Gebrauch desselben Wortes zusammengefaßt werden. Auf der anderen Seite ist es auch ein Fehler, sogar ein schwerwiegenderer, sich irgend ein Kriterium für Unmöglichkeit auszusuchen und ihm einzigartige Wichtigkeit für die Philosophie zuzuerkennen. Dennoch waren diese beiden ·Fehler in der neueren Philosophiegeschichte einflußreich - der zweite auf verheeren~e Weise, wie ich unten zeigen werde. Ehe wir zu .unserer Hauptfrage zurückkehren, ist eine weitere Vorsichtsmaßnahme geboten. Wir haben für die Zwecke dieser Untersuchung schon auf den Gebrauch des Wortes "logisch" verzichtet. Genauso empfehlenswert ist es, auf den Gebrauch des Wortes "Bedeutung" und auf den Gebrauch der hiervon abgeleiteten Wörter zu verzichten.Denn die Unterscheidung, die wir zwischen Rolle und Kriterien getroffen haben, überschneidet sich mit dem normalen Gebrauch des Wortes, ,Bedeutung", und wir müssen für den Zweck unserer Untersuchung hier feinere Unterscheidungen verwenden, als man sie mit dem Wort "Bedeutung" normalerweise ziehen kann. Es reicht nicht aus, über die Bedeutung oder den Gebrauch von solchen Termini wie "gut oder "unmöglich" so zu reden, als handle es sich dabei um unteilbare Einheiten. Der Gebrauch eines solchen Terminus hat eine Reihe unterscheidbarer Aspekte; für zwei dieser Aspekte haben wir die Wörter "Rolle" und "Kriterien" eingeführt. Ehe wir diese Unterscheidung nicht gemacht haben, bleiben die falschen Fährten, die oben diskutiert wurden, verführerisch, denn wir werden uns unvermeidlich in verschiedene Richtungen gezogen vorkommen, wenn wir gefragt werden, ob die Unterschiede zwischen all den verschiedenen Gebrauchsweisen der Wörter "gut", "nicht können" und "möglich" nicht auf Bedeutungsunterschiede hinauslaufen. Wenn wir antworten, daß es Unterschiede gibt, müssen wir anscheinend so viele Eintragungen in unsere Wört~r bücher vornehmen wie es verschiedene Arten der Möglichkeit, Unmöglichkeit oder Tauglichkeit gibt - so viele Eintragungen, wie es verschiedene Sorten von Dingen gibt, die möglich, unmöglich oder gut sein können - eine nicht ernstzunehmende Schlußf01gerung. Auf der anderen Seite: Zu sagen, daß es in der Bedeutung zwischen den unterschiedlichen Gebrauchsweisen keinen Unterschied gibt, klingt so als könnten wir erwarten, daß sich die Standards der Güte, Möglichkeit oder Unmöglichkeit als beU
37 reichsunabhängig ergeben werden, und diese Schlußfolgerung ist um nichts besser. Wenn wir jedoch die weitere Unterscheidung zwischen der Rolle von Beurteilungen und den Kriterien oder Standards treffen, die für deren Durchführung anwendbar sind, können wir eine undifferenzierte "ja oder nein"-Antwort auf die grobe Frage: "Sind die Bedeutungen dieselben oder sind sie verschieden?" vermeiden. Beim übergang von einer Gebrauchsweise zu einer anderen können sich die Kriterien ändern, während die Rolle gleichbleibt. Ob wir uns entscheiden, dies eine Bedeutungsänderung zu nennen oder nicht, ist vergleichsweise gleichgültig.
DIE BEREICHSABHÄNGIGKEIT UNSERER STANDARDS Wir sind jetzt in der Lage zu sehen, wie die Antwort auf unsere erste Hauptfrage lautet. Wir fragten, welche Merkmale des von uns angewandten Verfahrens und der verwendeten Begriffe bereichsunabhängig sind und welche bereichsabhängig sind, wenn wir Argumentationen und Schlußfolgerungen in verschiedenen Bereichen kritisieren. Wir haben gesehen, daß bei Unmöglichkeit und Unangemessenheit die Antwort deutlich genug ist. Die Rolle der Schlußfolgerung "es kann nicht der Fall sein, daß ... " oder " ... ist unmöglich" bleibt dieselbe unabhängig vom Bereich. Die Kriterien oder die Arten von Gründen, die zur Rechtfertigung einer solchen Schlußfolgerung benötigt werden, sind von Bereich zu Bereich verschieden. In jedem Bereich sind die ;,unmöglichen" Schlußfolgerungen diejenigen, die wir ausschließen müssen gleich ob es sich darum handelt, eine Tonne allein hochzuheben, seinen Sohn ohne einen Pfennig wegzujagen oder mathematische Operationen mit einer rationalen Quadratwllrzel von 2 vorzunehmen. Auf der anderen Seite sind die Kriterien für physische Unfähigkeit, Standards für moralische Erlaubtheit und Standards für mathematische Unmöglichkeit drei ganz verschiedene Sachen. Wir müssen· nun (etwas weniger ausführlich) die Behauptung nachprüfen, daß in dieser Hinsicht die Wörter "nicht können ce und" unmöglich" für modale Termini im allgemeinen repräsentativ sind, und daß alles, was für diese Beispiele gilt, genauso für andere modale Termini und Tennini der logischen Beurteilung gilt. . Betrachten wir kurz den Begriff, ,Möglichkeit. ce Was heißt es, irgendetwas als Möglichkeit zu bezeichnen, gleich ob in der Mathematik oder in anderen Bereichen? Vom Standpunkt der Mathematik aus sind wir vielleicht berechtigt, einen Begriff einfach dann als Möglichkeit zu behandeln, wenn sich keine Widersprüche beweisen lassen dies ist der Gegensatz zur Widersprüchlichkeit, die Kriterium für mathematische Unmöglichkeit ist. In den meisten Fällen behauptet man jedoch viel mehr als dies, wenn man etwas als Möglichkeit bezeichnet. Zum Beispiel ist "Kissinger wird ausgewählt, um die USA im Davis Cup-Spiel gegen Australien zu vertreten ce sicher ein sinnvoller Satz, der einen nicht in beweisbare Widersprüche führt. Dennoch würde niemand sagen, daß Kissinger ein mögliches Mitglied der Mannschaft sei das heißt, niemand würde daran denken, seinen Namen in eine ernsthafte Diskussion über deren Zusammensetzung einzubringen. Ihn als Möglichkeit vorzuschlagen würde nämlich bedeuten, daß er jedenfalls unsere Beachtung verdient - daß es zumindest notwendig wäre, Argumente gegen den Standpunkt anzugeben, daß er ausgewählt werden \vürdc. Tatsächlich vlürde man ihn aber in einer ernsthaften Diskussion dieser Frage
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nicht mit einem Argument ausschließen, sondern man würde auf einen solchen Vorschlag mit einem Lachen reagieren, denn man kann nicht einmal damit anfangen, die Chancen von jemandem zu erwägen, der eben keine Kondition zum Tennisspielen hat, die berücksichtigt werden muß. Damit ein Vorschlag eine "Möglichkeit" in irgendeinem Zusammenhang sein kann, muß er das an sich haben, was nötig ist, um in diesem Zusammenhang ein Anrecht auf Erwägung zu haben. In irgendeinem Bereich zu sagen: "Das und das ist eine mögliche Antwort auf unsere Frage" heißt, zu sagen, daß eine solche Antwort Beachtung verdient, wenn man das betreffende Problem berücksichtigt. Dieser Teil der Bedeutung des Wortes "möglich" ist bereichsunabhängig. Die Kriterien der Möglichkeit dagegen sind genauso wie die Kriterien der Unmöglichkeit und der Güte bereichsabhängig. Die Sachen, auf die wir verweisen müssen, um zu zeigen, daß etwas unmöglich ist, hängen völlig davon ab, ob wir uns mit einem Problem in der reinen Mathematik, einem Problem der Mannschaftsauswahl, einem ästhetischen (oder womit auch immer) Problem (beschäftigen). Merkmale, aufgrund derer wir eine Sache von einem Standpunkt aus als Möglichkeit bezeichnen, sind von einem anderen Standpunkt aus völlig irrelevant. Die Form, aufgrund derer es möglich ist, daß jemand für den Davis Cup ausgewählt wird, der Erklärungsgehalt, aufgrund dessen die Theorie von Professor Fröhlich eine mögliche Erklärung der Supraleitfähigkeit ist und die Merkmale des Gemäldes der W iederauferstehung von Piero, aufgrund derer es möglicherweise das großartigste aller jemals gemalten Bilder ist, all dies sind drei ganz verschiedene Sachen; das Problem, sie alle mit demselben Maßstab zu messen, stellt sich erst gar nicht. Es sind C;llles Möglichkeiten eigener Art, das heißt, es sind alles Vorschläge, die ein Anrecht auf ernsthafte Beachtung in jedet ernsten Diskussion von Problemen haben, für die sie relevant sind. Aber die Standards, gemäß denen ihre Ansprüche auf unsere Beachtung beurteilt werden, sind - weil es sich um Möglichkeiten verschiedener Art handelt - verschieden von Fall zu Fall. Damit ist nicht abgestritten, daß man Möglichkeiten verschiedener Art irgendwie vergleichen kann. In jedem Bereich der Argumentation kann es einige sehr naheliegende Möglichkeiten geben, andere, die mehr oder weniger ernstzunehmen sind und dann noch solche, die schon recht abwegig sind. Beim Vergleich von Möglichkeiten aus verschiedenen Bereichen können wir die Grade von Plausibilität und Entferntheit, die jede Möglichkeit in ihrem eigenen Bereich besitzt, zueinander in Relation setzen. Das kann gewöhnlich nicht völlig exakt geschehen - es gibt keine allgemeinen Maßstäbe für "Möglichkeitsgrade" - aber eine Art von grobem Vergleich ist uns möglich, und er ist tatsächlich auch recht gebräuchlich. Ein Physiker könnte polemisch sagen: "Die Theorie von Fröhlich ist als Theorie der Supraleitfähigkeit so wenig möglich wie Kissinger als Mitglied der amerikanischen Davis Cup-Mannschaft", und dies wäre, nehme ich an, eine verächtliche Art und Weise, die Theorie von Fröhlich von weiterer Betrachtung auszuschließen. Aber so etwas zu sagen muß nicht heißen, daß man die Theorie von Fröhlich und Kissinger mit gleichen Maßstäben messen kann. Es heißt vielmehr, daß man die Grade gegenüöerstellt, mit denen diese Vorschläge den für die betreffenden Sachen angemessenen Standards der Möglichkeit entsprechen. "Können" und "möglich" entsprechen folglich "nicht können" und "unmöglich" darm, daß sie eine bereichsunabhängige Rolle und bereichsabhängige Standards haben. Dieses Ergebnis kann man verallgemeinern: Alle Kanons für die Kritik und die Beur-
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teilung von Argumentationen sind, so folgere ich, praktisch bereichsabhängig, während alle unsere Bewertungsterme bereichsunabhängig bezüglich ihrer Rolle sind. Wir können die Frage "Wieviel spricht dafür?" in gleicher Weise für die Chance von Budge Patty, Mitglied der amerikanischen Davis Cup-Mannschaft zu werden, für die übernahme der neuen Einschätzung von Piero della Francesca durch Sir Kenneth Clark oder für die Annahme der Fröhlichschen Theorie der Supraleitfähigkeit stellen. Diese Frage ist die Frage, wie stark die Gründe sind, wenn sie mit den jeweils angemessenen Standards überprüft werden. Wenn wir wollen, können wir uns auch noch die Frage stellen, wie sich die Stärke der drei Begründungen zueinander verhält, um eine Rangfolge der Triftigkeit anzugeben. Zum Beispiel können wir uns dafür entscheiden, daß die Gründe für die Auswahl von Budge Patty als hieb- und stichfest anzusehen sind, die Gründe für die Theorie von Fröhlich stark, aber nur provisorisch, und die für Piero etwas übertrieben und noch abhängig von einer Reihe von umstrittenen Geschmacksfragen. (Damit will ich nicht sagen, daß alle ästhetischen Argumente weniger streng sind oder stärker von Geschmacksfragen abhängen als alle wissenschaftlichen Argumente oder Argumente zur Vorhersage.) Aber damit stellen wir nicht die Frage, inwieweit die Gründe für diese drei Schlußfolgerungen die Ansprüche eines gemeinsamen Maßstabes erfüllen. Wir fragen nur, inwieweit jede dieser Schlußfolgerungen den Maßstäben.entspricht, die für Dinge seiner Art angemessen sind. Die Frage" Wir stark sind die Gründe?" hat immer dieselbe Rolle, sie beinhaltet jeweils das gleiche. Aber die Standards, die wir in den drei Fällen benützen, sind verschieden.
FRAGEN ZUM WEITEREN VORGEHEN
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Dieses Ergebnis sieht vielleicht für eine so aufwendige Untersuchung ziemlich dürftig aus. Es mag auch als ein bißchen banal erscheinen. Und sicherlich müssen wir uns davor hüten, seine Bedeutung oder die unmittelbare Wichtigkeit für die Philosophie überzubewerten. Nichtsdestotrotz: Wenn wir das Ergebnis mit seinen Folgerungen ernstnehmen, bemerken wir, daß sich uns dadurch gewisse Fragen aufdrängen, die eine unbestrittene Wichtigkeit für die Philosophie und insbesondere für unser Verständnis des Bereichs der formalen Logik haben. In diesem letzten Abschnitt des vorliegenden Kapitels möchte ich deshalb andeuten, um welche Fragen es sich dabei handelt, denn mit ihnen werden wir es in den folgenden Kapiteln am meisten zu tun haben. Wir müssen uns zu Beginn die Frage stellen, ob die Unterschiede zwischen den Standards, die wir in verschiedenen Bereichen verwenden, irreduzibel sind. Müssen die Dinge, aufgrund derer wir in der Praxis eine Schlußfolgerung als möglich, wahrscheinlich oder sicher bezeichnen (oder eine Argumentation als zweifelhaft, stark oder schlüssig) Unterschiede zeigen, wenn wir von einem Bereich der Argumentation zu einem anderen übergehen? Man könnte der Meinung sein, daß dies nicht ein unvermeidliches Charakteristikum der Art und Weise ist, in der wir Argumentationen beurteilen und kritisieren. Sicher wollten professionelle Logiker dieses Charakteristikum nicht hinnehmen. Weit entfernt davon, es zu akzeptieren, hofften sie schon immer, daß es sich als möglich erweisen würde, Argumentationen aus verschiedenen Bereichen in einer gemeinsamen Form anzugeben und Argumentationen und Schlußfolgerungen durch Bezug auf eine einzige, allgemeingültige Menge von Kriterien als schwach, stark
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oder schlüssig, möglich, wahrscheinlich oder sicher zu beurteilen. Es ist völlig konsistent, wenn Logiker zugeben, daß wir in unserem tatsächlichen Vorgehen nicht irgendeine allgemeine Menge von Kriterien verwenden, und dann doch hiervon unberührt weiterhin versuchen, eine solche Menge allgemeingültiger Standards zu entdekken und zu formulieren - zumindest theoretisch. Die tatsächlich bestehenden Unterschiede zwischen den Kriterien, die wir in verschiedenen Bereichen verwenden, werden sie nicht als etwas Unvermeidbares oder Irreduzibles ansehen, sondern vielmehr als Herausforderung. Ausgehend. von den bestehenden Unterschieden' können sie es sich gleichzeitig zum Ziel setzen, allgemeinere Beurteilungsmethoden und allgemeingültigere Beurteilungsstandards zu entwickeln als diejenigen, die wir gewöhnlich beim faktischen Kritisieren unserer 'Alltagsargumentationen verwenden. Dies ist nur ein erster Hinweis auf eine weitergehende Divergenz, der wir uns umso mehr gegenübergestellt sehen werden je weiter wir fortfahren - auf die Divergenz zwischen den Einstellungen und Methoden professioneller Logiker und denen von Leuten, die im täglichen Leben argumentieren. Im Augenblick ist daran. noch nichts Problematisches; Das Ziel des Logikers, ein System einer Logik anzugeben, das sowohl in den vorkommenden logischen Formen als auch in den Kriterien bereichsunabhängig ist, das es für die Kritik von Argumentationen angibt, ist auf den ersten Blick ein völlig vernünftiges Ziel, und man findet nicht so leicht einen unmittelbaren Grund dafür, dieses Ziel als unrealisierbar aufzugeben. Alles, was wir an dieser Stelle machen können, ist also, die allgemeine Frage zu 'stellen, die sich durch Annahme dieses Programms für die Logik ergibt. Es ist die Frage: "Inwieweit ist eine allgemeine Logik möglich?" Anders ausgedrückt: Kann man darauf hoffen, daß es (wenigstens in der Theorie) möglich sein wird, Argumentationen in einer solchen Weise darzulegen und zu kritisieren, daß sowohl die Form der Darlegung als auch die Standards, gemäß denen man die Argumentation kritisiert, bereichsunabhängig sind? Eine zweite Frage von allgemeiner Bedeutung für die Philosophie ergibt sich aus unserer Untersuchung wie folgt. Philosophen haben oft behauptet, daß Argumentationen in einigen Forschungsbereichen von Haus aus für eine rationale Beurteilung offener sind als die in anderen Bereichen. Zum Beispiel wird von vielen die Meinung vertreten, daß Fragen der Mathematik oder Fragen über alltägliche Tatsachenfeststellungen etwa vor Fragen des Rechts, der Ethik oder der Ästhetik eine gewisse logische Priorität haben. Das Gericht der Vernunft, so wird behauptet, hat nur eine beschränkte Rechtsprechung, und es ist nicht kompetent, über Fragen aller Arten zu entscheiden. In unserer Untersuchung ist bis jetzt ein solcher Gegensatz noch nicht aufgetreten. Nach allem, was wir bis jetzt gesehen haben, gibt es eine genaue Parallele zwischen all den ArgumentatioJ!en aus verschiedenen Bereichen, und bis jetzt sind keine Gründe dafür aufgetreten, der Mathematik oder ähnlichen Gebieten eine Priorität zuzuschreiben. Bei der Untersuchung der verschiedenen Gründe zum Beispiel, aufgrund derer etwas im Laufe einer Argumentation ausgeschlossen werden kann, haben wir beim übergang von einem Bereich zu anderen viele Unterschiede gefunden, aber nichts, was uns zu der Schlußfolgerung führte, daß irgendein besonderer Bereich des Argumentierens von Haus aus irrational ist oder daß das Gericht der Vernunft aus irgendeinem Grund nicht kompetent ist, über diese Probleme Recht zu sprechen. Deshalb stellt sich die Frage, was nun hinter dem Wunsch vieler Philosophen steht, zwischen verschiedenen Bereichen des Argurnentierens Trennlinien dieser besonderen Art zu ziehen.
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Vermutlich bringen wir alle dieser philosophischen Doktrin etwas Sympathie entgegen. Wenn wir noch einmal einen Blick auf die Beispielsmenge der Schlußfolgerungen werfen, die mit Hilfe von" unmöglich" in verschiedenen Bereichen aus der Argumentation ausgeschlossen wurden, ist es ohne weiteres verständlich, wenn wir zunächst meinen, daß einige der Beispiele mit größerem Recht mit diesem Ausdruck bezeichnet werden als andere. Daß es "unmöglich" ist, eine Tonne allein zu heben, "unmöglich", zehntausend Leute in die Stadthalle hineinzubringen oder "unmöglich", eine männliche Schwester zu haben - Beispiele dieser Art von Unmöglichkeit, bei denen ein Versuch zwangsläufig scheitern muß - sofern es überhaupt verständlich ist, hier von" versuchen" zu reden - erscheinen uns sicher als wirklicher und authentischer als einige der anderen von uns betrachteten Beispiele. Sie stellen insbesondere die Beispiele in den Schatten, in denen die Gründe für den Ausschluß von Schlußfolgerungen nur Gründe der Illegalität oder der Immoralität sind - obwohl wir sofort nachfragen können, warum man sich veranlaßt fühlt zu sagen "nur Gründe der Illegalität oder der Immoralität. " An dieser Stelle muß die Frage gestellt werden, ob dieser Unterschied auf mehr beruht als nur auf einem Gefühl der Authentizität. Gibt es neben den psychologischen Gründen noch weitere Stützung für dieses Gefühl der Authentizität, das mit den Unmöglichkeiten der physischen Unfähigkeit und denen der sprachlichen Inkonsistenz verknüpft ist, nicht aber mit solchen Dingen wie moralische Unschicklichkeit? Kann man wirklich sagen, daß es vom Standpunkt der Logik aus einen Unterschied zwischen diesen zwei Forschungsgebieten gibt? Oder ist an diesem Unterschied nicht mehr dran als das, was wir bis jetzt erkannt haben? Sicherlich finden wir Unterschiede, wenn wir uns die verschiedenen Situationen ansehen, in denen wir Modaltermini wie "nicht können" verwenden. Es kann viele Gründe geben, sogar viele Arten von Gründen, um innezuhalten und sich erneut zu überlegen, was man gerade tut, tun will oder zu tun plant - oder auch dafür, jemand anderen zum Innehalten und zum Nachdenken über dasselbe zu bewegen. Die Illegalität einer Handlung ist zweifellos ein guter Grund, sie nochmals zu überdenken, ihre Abweichung von juristischen Verfahrensregeln ist unter gewissen Umständen ein zweiter, das Wissen, daß schon ein Versuch zwangsläufig scheitern wird, ist ein dritter guter Grund zum· Innehalten, daß die Handlung sprachliche Schnitzer od~r ungrammatikalische Äußerungen involviert sind zwei weitere etc. Auf den ersten Blick gibt es keinen logischen Grund für die Behauptung, daß einige dieser Arten von Gründen wirklich Gründe sind, andere nicht. Logisch gesehen sind die Fälle gleichberechtigt. Auf den ersten Blick scheinen auch die Sanktionen, die man bei Nichtbeachtung der verschiedenen Unmöglichkeiten und Unangemessenheiten riskiert, logisch gesehen auf genau derselben Stufe zu stehen. Mit der übertretung von gesetzlichen Vorschriften riskiert man eine Strafverfolgung, bei Nichtbeachtung der gerichtlichen Verfahrensregeln öffentliche Entrüstung oder eine erfolgreiche Beschwerde, bei Fehleinschätzung· der eigenen physischen Fähigkeiten das Risiko, enttäuscht zu werden und bei Nichtbeachtung der Notwendigkeit, in seinen Äußerungen die Sprachregeln zu beachten, riskiert man, nicht verstanden zu werden. Die betreffenden Gründe, Verstöße und Sanktionen mögen unterschiedlich sein in den verschiedenen Bereichen, aber aus der bisherigen Untersuchung allein kann man kaum entnehmen, warum einige Bereiche "logischer" oder "rationaler cc sein sollen als andere. Es gibt hier also eine allgemeine
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Frage von unbestrittener philosophischer Wichtigkeit, die wir uns für die weitere Diskussion vormerken müssen: Können zum Beispiel Tatsachenfragen eine logische Priorität über ethische Fragen beanspruchen, und wenn ja, in welcher Weise? Ich hoffe, daß diese Untersuchung eines verdeutlicht hat: nämlich die Vorzüge der Parallele zwischen Verfahrensweisen der rationalen Beurteilung und gerichtlichen Verfahren - ich bezeichnete diese oben als rechtswissenschaftliche Analogie. Sowohl bei der Entscheidung von Rechtsfragen als auch von Fragen über die Gültigkeit von Argumentationen oder die Begründetheit von Schlußfolgerungen werden einige grundlegende Verfahren als selbstverständlich angenommen. Unser Gebrauch der Modalterme, den wir in diesem Kapitel ziemlich ausführlich untersucht haben, ist nur ein Beispiel hierfür. Aber durch die Analogie wird noch eine weitere Möglichkeit nahegelegt, die wir noch nicht explizit betrachtet haben. Obwohl in der Durchführung von Gerichtsverfahren aller Arten die zu beobachtenden Verfahren bestimmte Merkmale gemeinsam haben, gibt es doch einige Aspekte, in denen Unterschiede festzustellen sind. Wir müssen jetzt im Auge behalten, daß sich ähnliche Unterschiede auch im Fall rationaler Verfahren herausstellen können. Die Handhabung eines Verfahrens des bürgerlichen Rechts entspricht zum Beispiel nicht in jedem einzelnen Merkmal der eines Strafprozesses. Es kann sich zum Beispiel herausstellen, daß nicht nur die Art der Gründe', auf die wir zur Stützung unserer Schlußfolgerungen verweisen, in verschiedenen Bereichen verschieden sind, sondern daß auch die Art und Weise, in der diese Gründe für unsere Schlußfolgerungen relevant sind - die Art und Weise, in der sie Schlußfolgerungen stützen können - sich von .Bereich zu Bereich ändern kannen. Es gibt Hinweise darauf, daß dies tatsächlich" so ist: Etwa die Tatsache, daß wir in vi~len Fällen unsere Gründe für eine vorgelegte Schlußfolge·rung unbedenklich als "Beweismaterial" bezeichnen, wogeg.en dieses Wort in anderen Fällen völlig fehl am Platz wäre - von jemandem, der auf die Merkmale eines Gemäldes hinweist, aufgrund derer es nach seiner Meinung ein Meisterwerk ist, würde man kaum sagen, daß er ,~Beweis material" dafür angibt, daß es sich um ein großes Kunstwerk handelt. über einen solchen Unterschied brauchen wir nicht überrascht zu sein. Schließlich sind die bisher getroffenen Unterscheidungen sehr grob. Durch eine genauere Untersuchung würde man sicher feinere Unterscheidungen herausfinden, die unser Verständnis davon verbessern würden, in welcher Weise Argumentationen aus verschiedenen Bereichen miteinander zusammenhängen. Vielleicht kann man aber schon an dieser Stelle etwas genauer erkennen, wo die verbreitete Meinung herkommt, Fragen der Mathematik, der Meteorologie und ähnlicher Gebiete seien irgendwie rationaler als etwa ästhetische Fragen. Es wäre in der Tat der Mühe wert, sich zu überlegen, ob es nicht sogar entscheidende Unterschiede gibt zwischen den Beurteilungsverfahren, die für ästhetische Fragen angemessen sind einerseits und den Verfahren zur Behandlung moralischer Fragen andererseits. Aber all dies würde uns zu einer weiteren gleichermaßen schwierigen Untersuchung führen - deshalb muß dieses Problem einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben. Eine der Fragen, auf die wir durch die rechtswissenschaftliche Analogie geführt werden, haben wir allerdings 'sehr ernst zu nehmen. Sie wird als Ausgangspunkt unseres zentralen Kapitels dienen. Es ist die Frage, was es bedeutet, in der Logik von "Form" zu reden. Was genau bedeutet die Formulierung, daß die Gültigkeit von Argumentationen von bestimmten Merkmalen ihrer Form abhängt? Einer der Hauptanziehungs-
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punkte des mathematischen, Zugangs zur Logik ist schon immer, daß er der einzige ist, der so etwas wie eine klare Antwort auf diese Frage gibt. Wenn man Logik auffaßt als Erweiterung der Psychologie oder der Soziologie, bleibt der Begriff der logischen Form unergründlich dunkel. Er kann sogar nur mit Hilfe von noch geheimnisvolleren Wörtern erklärt werden - als eine Struktur von Beziehungen zwischen psychischen Entitäten oder sozialen Verhaltensmustern. Der mathematische Zugang zur Logik scheint schon immer diese spezielle Unverständlichkeit überwunden zu haben, weil die Mathematiker schon seit langem Muster und Strukturen in anderen Gebieten ihrer Wissenschaft studiert haben. Die Ausdehnung dieser Gedanken auf die Logik erschien ganz natürlich. Arithmetische Verhältnisse und geometrische Figuren tragen einen hinreichend klaren Formbegriff in sich. Deshalb ist es kein Wunder, daß die Doktrin, daß logische Form in gleicher Weise aufgefaßt werden kann, sich als außerordentlich attraktiv erwies. Die Analogie zwischen rationaler Beurteilung und gerichtlichen Verfahrensweisen bietet uns nun ein Konkurrenzmodell, um den Begriff der logischen Fonn zu präzisieren. Es hat dabei den Anschein, daß Argumentationen nicht nur eine besondere Form haben müssen, sondern daß sie in einer Folge von Schritten vorgebracht und dargelegt werden müssen, die bestimmten grundlegenden Verfahrensregeln entsprechen müssen. In einem Wort: Rationale Beurteilung ist eine Tätigkeit, die notwendigerweise die Befolgung formaler Regeln beinhaltet. Wenn wir uns im dritten Kapitel der Betrachtung- der Darstellung von Argumentationen zuwenden, haben wir folglich eine -klar bestimmte Ausgangsfrage. Wir müssen fragen, inwieweit man den formalen Charakter von schlüssigen Argumentationen more geometrico fassen kann, d. h. als Sache von Formen der richtigen Art, oder inwieweit man sich ihn vielmehr im Sinne von Verfahren vorstellen muß, d. h. als Frage danach, ob die Argumentationen den formalen Regeln genügen, die beachtet werden müssen, 'sofern irgendeine rationale Beurteilung von Argumentationen möglich sein soll.
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11 . Wahrscheinlichkeit So terrified was he (my eldest brother) of being caught, by chance, in a false statement, that as a small boy he acquired the habit of adding "perhaps" to everything he said. "ls that you, Harry?" Mama might call from the drawing-room. . upstalrs. . ~" ), y es, "es, Y M ama - perh aps. ce " Are you gomg perhaps. ce "Will you see if I've left my hag in the bedroom?" "Yes, Mama, perhaps - p'ehaps - paps!" \ Eleanor Farjeon, A Nursery in the Nineties 0
Diese ersten beiden Kapitel besitzen - wenngleich in unterschiedlicher Form - vorbereitenden Charakter. Das Ziel des ersten Kapitels war es, in groben Umrissen anzugeben, welche Struktur unsere Argume~tationen in der Praxis besitzen und welches die Hauptmerkmale der Kategorien sind, die wir zur praktischen Beurteilung dieser Argumentationen benutzen. Im großen und ganzen versuchte ich, explizit philosophische Streitpunkte zu vermeiden und die Relevanz unserer Schlußfolgerungen für die Philosophie späterer Erörterung vorzubehalten. Das Vorgehen in diesem zweiten Kapitel ist ganz anders. Wir werden in ihm unsere Analyse modaler Terme ein ganzes Stück weitertreiben. Dennoch wird gleichzeitig ein zweites Ziel verfolgt, nämlich aufzuzeigen, au.! welche Weise die Ergebnisse einer solchen Untersuchung für philosophische Fragestellungen und Probleme wichtig werden können. Dabei werden einige weitreichende Schlußfolgerungen vorgebracht, die in oden folgende Kapiteln sicherer und in allgemeinerer Form begründet werden müssen. Dieser Unterschied im Ziel spiegelt sich in der Art der Beispiele wider, die zur Diskussion ausgewählt werden. Im ersten Kapitel wollte ich deutlich herausbringen, welche Funktionen unsere modalen Terme innerhalb des praktischen Argurnentierens tatsächlich haben, ohne durch philosophische Vorurteile und Debatten abgelenkt zu werden, die an dieser Stelle noch nicht diskutiert werden könnten. Ich zog es deshalb vor, mich auf die Wörter, ,möglich" und "unmöglich" einschließlich deren sinnverwandter Verben und Adverbien zu konzentrieren. Philosophen haben - zumindest in den letzten Jahren - über diese Wörter vergleichsweise wenig theoretisiert - wodurch sie zu sehr geeigneten Beispielen für unsere Zwecke wurden. Andererseits wurde einig~n anderen Modaltermen neuerdings sehr viel Aufmerksamkeit entgegengebracht, insbesondere den Wörtern "wahrscheinlich" und "Wahrscheinlichkeit". Mit diesen beiden Termini werden wir uns also jetzt beschäftigen. Behalten wir nun die schon deutlich gewordenen allgemeinen Unterscheidungen im Auge und sehen wir naoh, was Philosophen in letzter Zeit zum Gebiet der Wahrscheinlichkeit zu sagen hatten, und inwieweit diese Diskussionen den praktischen Funktionen, den die Termini ,;wahrscheinlich und "Wahrscheinlichkeit" bei Formulierung und Kritik von ArgumenLationen haben, gerecht werden. Dabei erwartet uns eine Enttäuschung. Bei der Wahrscheinlichkeitstheorie werden die Prolegomena in dem Maße vernachlässigt, wie sie wichtig sind. Jedem, der eine Darstellung dieses Gegenstandes im traditionellen Verständnis beginnt, stellen sich so viele Aufgaben und es gibt so viel, was zur Diskussion verleitet - philosophische Thesen von beträchtlichem Scharfsinn, einen mathematischen Kalkül von großer formaler Eleganz und faszinierende Seitenprobleme wie die Zulässigkeit der Rede von "unendH
4S lichen Mengen" - daß er versucht ist, die vorbereitende Angabe des Problems kurz zu halten, um bald zu den "wesentlichen Angelegenheiten" zu kommen. Dies, meint man, macht ständige Verfeinerung auf theoretischer Ebene erforderlich, und als Ergebnis hiervon wurden die praktischen Aspekte dieses Gegenstands nicht angemessen untersucht. Von den Autoren, die in letzter Zeit etwas zu diesem Problem geschrieben haben, fallen sowohl William Kneale als auch Rudolf Carnap unter diese Kritik - obwohl ihre Bücher, Probability and Induction und Logical Foundations ofProbability, inzwischen Standardwerke der Wahrscheinlichkeitstheorie sind. Bei dem Buch von Kneale entstehen dieselben Schwierigkeiten wie bei so vielen anderen: Für einen Leser, der an der Anwendung der Logik auf faktische Argumentationen interessiert ist, wird es unklar bleiben, welche Probleme, praktisch gesehen, zur Diskussion stehen und insbesondere, in welcher Beziehung diese Probleme zu den Alltagssituationen stehen, in denen Wörter wie "wahrscheinlich", "vermutlich" und "Chance" verwendet werden. Denn Kneale drückt sich fast ausschließlich in Wörtern mit einem so hohen Abstraktionsgrad wie "Wahrscheinlichkeit", "Wissen" und "Glauben" 'aus. ~r nimmt Begriffe, bei denen es sich ganz klar um Metaphern handelt, als unkomplIziert hin und formuliert sein Problem mit ihrer Hilfe - das gilt sogar von seiner anfänglichen Charakterisierung der Wahrscheinlichkeit als, ,Ersatz, mit dem wir die Mängel in unserem Wissen, das weniger umfaßt als wir uns wünschten, ausgleichen wollen". Dies würde nichts ausmachen, wenn er darüber, wie seine theoretische Diskussion zu vertrauteren Dingen in Beziehung gebracht werden soll, gründlich Rechenschaft ablegen würde. Dann wäre es ein legitimes und wirksames literarisches Mittel. Dies macht er aber nicht, und wenn wir selbst eine Rekonstruktion dieser Beziehung versuchen, stoßen wir auf zweierlei. Erstens erkennen wir, daß eine abstrakte Darstellung der Beziehungen zwischen Wahrscheinlichkeit, Wissen und Glauben - wie sie Kneale gibt - in einer Reihe von wesentlichen Gesichtspunkten unweigerlich versagt. Diese abstrakten Substantive sind zu grobkörnig, um als Hilfsmittel für eine befriedigende Analyse unserer Begriffe im täglichen Leben dienen zu können. Diese Begriffe treten häufiger in der Form von Verben, Adverbien und Adjektiven auf: "Er wird wahrscheinlich kommen", "Es schien unwahrscheinlich", "Sie glauben" und "Er wußte es nicht". Zw~itens wird es deutlich werden, wie sehr die zur Zeit modischen Probleme über Wahrscheinlichkeit ihren vermeintlichen Witz gerade durch diese Art des übermäßigen Vertrauens in abstrakte Substantive erhalten. Wenn wir die Fragen" Was ist Wahrscheinlichkeit? Worüber gehen Wahrscheinlichkeitsaussagen ? Was drückt sie aus?" verfrüht und zu allgemein stellen, tragen wir in der Tat dazu bei, die Diskussion dieses Gegenstands auf traditionellen, ausgetretenen und gängigen Bahnen zu führen. Damit gelingt es uns, den von Menschen erzeugten Ursprung dieser Probleme und die Gründe für ihre anhaltende Unlösbarkeit sogar vor uns selbst zu verbergen. Carnap zu treffen ist um einiges schwieriger. Er legt ein so sorgfältig ausgearbeitetes Begriffssystem vor und die dazugehörenden Theorien sind so raffiniert, daß man nur schwer erkennen kann, was er selbst als gültigen Einwand gegen sie ansehen würde. Kneale ist jedenfalls bereit, die Art und Weise des tatsächlichen Gebrauchs des Wortes "Wahrscheinlichkeit" teilweise zu berücksichtigen. Er schreibt: "In der Wahrscheinlichkeitstheorie ist es nicht die Aufgabe des Philosophen, ein formales System zu konstruieren, wobei als Richtschnur nur Konsistenz und Eleganz zählen. Seine Aufgabe ist
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es, die Bedeutung von Wahrscheinlichkeits aussagen zu klären, die von normalen Leuten verwendet werden. Die Häufigkeitstheorie (um nur eine der bekannten Theorien der Wahrscheinlichkeit zu nennen) muß als Versuch beurteilt werden, dieses Unternehmen auszuführen. "1 Er schreibt weiter: "Eine Analyse der Wahrscheinlichkeitsbe: ziehung kann nur dann als Adäquat angesehen werden - d. h. als Explikation des normalen Gebrauchs von Wahrscheinlichkeit, wenn sie es uns ermöglicht, zu verstehen, warum es rational ist, unserem Handeln einen Satz z~grundezulegen, der in dieser Beziehung zu dem uns zur Verfügung stehenden Beweismaterial steht. "2 Insoweit Kneales Darstellung nachweisbar nicht mit dem täglichen Leben übereinstimmt - d. h. insoweit man ihn bei einer falschen Darstellung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit als einer Kategorie der angewandten Logik erwischen kann - kann man gegen seine Theorie energisch Einwände vorbringen. Carnap geht über Einwände dieser Art ungezwungener hinweg und erklärt, daß er Hinweise auf den Alltagsgebrauch des Wortes "Wahrscheinlichkeit" uninteressant und irreführend findet - er geht sogar zum Gegenangriff über und rechtfertigt die Tatsache, daß er solche Verweise unterläßt, mit der Begründung, sie seien "vorwissenschaftlich". (Ob alles, was vorwissenschaftlich ist, notwendigerweise auch unwi$senschaftlich ist, ist eine andere Frage, auf die wir am Ende dieses Kapitels zurückkommen müssen.) Obwohl Carnap auf der Geringschätzung von einfachen Untersuchungen des vorwissenschaftlichen Wortes" wahrscheinlich" und von sinnverwandten Wörtern bestehen würde, können wir uns dennoch ansehen, was er über neuere Verwendungsarten von "Wahrscheinlichkeit" zu sagen hat. Eine seiner Schlußfolgerungen ist von besonderem Interesse für uns. Er betont, daß das Wort "Wahrscheinlichkeit" durch und durch zweideutig ist. Die Gründe, die er für die Betonung dieses Punktes angibt, erweisen sich als aufschlußreich. Ich glaube nicht, daß dieser Schl~ß richtig ist. Ganz im Gegenteil: Ich werde zeigen, daß es ein Paradoxon ist, in das Camap hineingedrängt wird, gerade weil er so ungezwungen alle Fragen über" Wahrscheinlichkeit" in einem weniger technischen Sinn ausläßt. Wenn solche überlegungen nachträglich eingeführt werden, können diese Paradoxien aufgelöst werden. Das Programm für dieses Kapitel enthält grob folgendes. Ich fange mit einer Analyse der einfachsten Anfänge des Wahrscheinlichkeitsbegriffs an und arbeite mich von dort aus schrittweise zu den technischeren, raffinierteren Hochstilisierungen des Begriffs hin. Dabei ist es mein Ziel, die Beziehungen zwischen dem Term "Wahrscheinlichkeit" und der allgemeinen Familie der Modalterme deutlich herauszuarbeiten. Im Fortgang der Analyse werde ich die erhaltenen Ergebnisse mit den philosophischen Theorien von Carnap und Kneale vergleichen und aufzeigen, an welcher Stelle sie nach meiner Meinung irregehen, weil sie die praktische Funktion von Modaltermen nicht hinreichend beachten. Einige der Unterscheidungen und der Schlußfolgerungen, die in diesem Kapitel erzielt werden, werden in den drei letzten Kapiteln noch verdeutlicht und ausführlicher ausgearbeitet.
1 Probability and Indudion, § 32, S. 158
2 a.a.O., § 6, S. 20
47 ICH WEISS, ICH VERSPRECHE, WAHRSCHEINLICH Untersuchen wir zuerst, was wir alle zuerst lernen: Das Adverb "wahrscheinlich". Seine Rolle kann am besten anhand einiger elementarer Beispiele aufgezeigt werden. Ein wohlerzogener kleiner Junge kommt an einem bestimmten Punkt seines Lebens in Schwierigkeiten. Er kam nämlich letzte Woche jeden Tag nach dem Nachmittagstee, um mit dem kleinen Mädchen zu spielen, das in der nächsten Straße wohnt, und er fängt an, auf ihre Hochschätzung Wert zu legen. Jetzt ist es gleich Zeit zum Schlafengehen, seine Mutter ist gekommen, um ihn abzuhol~n, und seine Spielkameradin sagt mit leuchtenden Augen: "Du kommst doch morgen, nicht wahr?" Gewöhnlich würde er ohne Bedenken mit "ja" antworten. Denn bisher hat er jeden Abend fest vorgehabt, am nächsten Tag wiederzukommen und es war ihm nichts bekannt, was dem entgegengestanden hätte. Aber ... aber zu Hause war vo(n einem morgigen Besuch im Zoo geredet worden. Was wäre, wenn dieser Besuch, danach ein Tee in der Teestube, die Menge in der U-Bahn, wenn dies alles bedeuten würde, daß sie zu spät heimkommen würden und daß er den Termin versäumen würde - und das nach einem "Ja"? . . . Wi~ schwierig doch das Leben ist! Wenn er "ja" sagt und dann nicht kommen kann, wird sie zu Recht empfinden, daß er sie im Stich gelassen hat. Wenn er "nein'c; sagt und dann schließlich doch rechtzeitig zurückkommt, wird sie ihn nicht erwarten und es schickt sich nicht, wenn er dann doch kommt. Auf diese Weise beraubt er sich durch sein eigenes Wort seines H_auptvergnügens. Was soll er sagen? Er wendet sich mit der Bitte um Hilfe an seine Mutter. Sie versteht die Schwierigkeit, lächelt und zeigt ihm einen Ausweg. "Sag ihr, daß du wahrscheinlich kommst, Liebling. Erkläre, daß du es nicht versprechen kannst, da es davon abhängt, wann wir heimkommen werden, daß du aber kommst, wenn du irgend kannst. Dankbar für die Hilfe dreht er sich um und spricht das Zauberwort: "Wahrscheinlich". U
Hier muß auf den entscheidenden Unterschied zwischen der Äußerung "Ich werde kommen" und "Ich werde wahrscheinlich kommen" geachtet werden. Dieser Unterschied hat ähnlichen Charakter, aber entgegengesetzte Bedeutung wie der von J. L. Austin diskutierte Unterschied zwischen "S ist P" oder "Ich werde A tun" und "Ich weiß, daß S auch P ist" oder "Ich verspreche, daß ich A tun werde". Dazu möchte ich aus Austins Aufsatz zitieren: "Wenn ich sage "S ist P'\ gebe ich zumindest zu verstehen, daß ich es glaube, und, wenn ich streng erzogen bin, auch, daß ich mir darüber (ziemlich) sicher bin. Wenn ich sage "Ich werde A tun", gebe ich zumindest zu verstehen, daß ich hoffe, es zu tun, und wenn ich streng erzogen bin, daß ich es (fest) vorhabe. Wenn ich nur glaube, daß S auch P ist, kann ich zufügen: "Aber natürlich kann ich mich irren (es ist gut möglich, daß ich mich irre).u Wenn ich nur hoffe, A zu tun, kann ich hinzufügen: "Aber natürlich ist es (gut) möglich, daß ich es nicht tun werde." Wenn ich es nur glaube oder nur hoffe, ist berücksichtigt, daß zusätzliche Beweise oder neue Umstände meine Meinung ändern können. Wenn ich sage "S ist pu und es nicht einmal glaube, lüge ich. Wenn ich es sage, wenn ich es glaube, aber nicht sicher bin, ist das vielleicht irreführend, aber ich lüge nicht in einem strengen Sinn. Wenn ich sage, ,Ich werde A tun und nicht einmal irgendeine Hoffnung habe oder die leiseste Absicht, es zu tun, täusche ich bewußt. Wenn ich es sage, wenn ich es nicht fest vorhabe, ist das zwar irreführend, aber eben keine bewußte Irreführung. Wenn ich jetzt aber sage "Ich verspreche", wird ein zusätzlicher Schritt getan. Mit dieser Äußerung erkläre ich nicht bloß meine Absicht, sondern durch die Verwendung dieser Formulierung (durch Ausführung dieses Rituals) verpflichte ich 'mich gegenüber anderen. Ich setze meinen Ruf auf eine neue Weise aufs Spiel. Ähnlich bedeutet die Äußerung "Ich weiß", einen zusätzlichen Schritt zu tun. Sie bedeutet aber nicht zu sagen "Ich habe einen besonders eindrucksvollen Akt der Erkenntnis vollzogen, der im gleichen Maße, wie sicher sein .über glauben steht, sogar über ganz sicher sein steht." Denn es $!ibt auf dieser Skala nichts, was über U
48 dem ganz sicher sein steht. Genauso wie versprechen ni~ht etwas ist, was auf dem gleichen Maßstab über hoffen und beabsichtigen und sogar über fest beabsichtigen steht. Denn es gibt nichts auf dieser Skala, was über fest beabsichtigen steht. Wenn ich sage "ich weiß", gebe ich anderen mein Wort; ich berechtige andere "S ist P" zu sagen. "1
Die Schwierigkeit unseres kleinen Jungen kann wie folgt formuliert werden. Wenn er auf die Bitte seiner Kameradin "Du wirst morgen kommen, nicht wahr?" mit "Ja, ich komme" antwortet, legt er sich fest. Denn diese Wörter "Ja, ich komme" zu äußern bedeutet, zu sagen, daß man kommen wird; und dies ist fast dasselbe wie ein Versprechen, wenn es auch nicht so feierlich und so bed~utungsvoll ist. ("Ich habe es nicht versprochen" - "Kahn sein, aber du hast es so gut wie versprochen. ce) Mit der Äußerung "Ja, ich komme" bringt er sie nicht nur dazu, ihn zu erwarten (d. h. sich vorher auf sein Kommen zu freuen und sich darauf vorzubereiten). Er sorgt auch dafür, daß es von ihm erwartet wird, morgen zu kommen. Er gibt ihr mit der Äußerung einen Grund zu Vorwüden, wenn er nicht erscheint - wenn auch natürlich keinen Grund, ihm so starke Vorwürfe zu machen, zu denen sie berechtigt wäre, wenn er nach einem Versprechen, es zu tun, nicht kommen würde - d. h. nach dem feierlichen Ausspruch "Ich verspreche dir, morgen zu kommen". "Ja" zu sagen, wenn es irgendwelche Gründe zu der Annahme gibt, er könnte davon abgehalten werden, zu kommen, würde deshalb bedeuten, daß er sich selbst Schwierigkeiten auferlegen würde. Der Zweck des Wortes "Wahrscheinlich" - wie der von "vielleicht" - ist es, genau diese Schwierigkeit zu vermeiden. Wenn ich sage "Ich weiß, daß S P ist" oder "Ich verspreche, A zu tun", lege ich mich ausdrücklich fest. Auf dieselbe Weise (wenn auch in geringerem Maße und nur vermittelt) lege ich mich auch mit den Äußerungen "S ist P" ~der "Ich werde A tun" fest. Wenn ich sage ,,5 ist wahrscheinlich P" oder "Ich werde wahrscheinlich A tun", vermeide ich es ausdrücklich, mich vorbehaltlos festzulegen. Ich sichere mich dadurch gegen einige Folgen eines Fehlschlags ab. Meine Äußerung ist dadurch abgesichert (guarded) - das heißt (gemäß dem Pocket Oxford Dictionary): "Durch Vereinbarung abgesichert gegen Mißbrauch oder Mißverständnis. ce Aber die Absicherung ist nicht unbegrenzt. Die Art der Vereinbarung muß in normalen Fällen ganz deutlich gemacht werden ("Es hängt davon ab, zu welcher Zeit wir' nach Hause kommen"), und der durch die Verwendung des Wortes "wahrscheinlich" gewährte Schutz erstreckt sich zunächst nur auf diese a1:lsdrücklich angegebenen Eventualitäten. Erst zu sagen "Ich komme wahrscheinlich; es hängt davon ab, wann wir aus dem Zoo zurückkommen" und dann nicht zu kommen, obwohl man zeitig genug zurück ist, wäre (wenn auch keine vorsätzliche Täuschung) jedenfalls eine übervorteilung und genauso irreführend wie erst zu sagen. "Ich komme" und dann nicht hinzugehen. Auch hier legt man sich fest und ist deshalb verantwortlich. Der Versuch, sich mit dem Satz, ,Aber ich sagte dir nur, daß ich wahrscheinlich kommen würde" zu entschuldigen, würde ausdrücken, daß unsere Absichten nicht ganz sauber sind. Natürlich darf, wer das Wort "wahrscheinlich" in diesem Sinn gebraucht, sein Versprechen nicht immer oder sehr oft unerfüllt lassen, auch nicht, wenn er sich ausdrücklich jedes Mal geschützt hat. Wer" wahrscheinlich" sagt, verbürgt sich damit für die Erfüllung - wenn nicht in allen Fällen, so doch in einem vernünftigen Anteil der Fälle. 1 Other Minds, in Philosophical Papers, hrsg. von I. O. Urmson und G. I. Warnock, Oxford, 1961, S. 67.
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Es reicht nicht aus, für jede einzelne Nichteinhaltung eine Entschuldigung zu haben. Nur in einigen besonderen Fällen ist diese Bedingung stillschweigend aufgehoben "Wenn eine Frau 'vielleicht' sagt, meint sie 'ja'; wenn ein Diplomat 'vielleicht' sagt, . , . ,,( meInt er neIn. Schließlich sind einige Wortzusammenstellungen der Natur der Sache nach verboten. Um wieder Austin zu folgen: "Man d,!rf genausowenig sagen 'Ich weiß; daß es so ist, aber ich kann mich irren' wie 'Ich verspreche, zu kommen, ~ber es kann sein, daß ich es nich~ tue'. Wenn man sich dessen bewußt ist, daß man sich möglicherweise irrt (wenn man konkrete Gründe dafür hat, daß man sich in diesem Fall irren kann), sollte man nicht sagen, man wisse es, genauso wie man kein Versprechen geben darf, wenn man sich dessen. bewußt ist, daß man sein Wort möglicherweise nicht einhält." Genauso und aus denselben Gründen darf man nicht sagen "Ich komme wahrscheinlich, aber ich \\:erde es nicht können"l. Denn dies zu sagen bedeutet, ll1lt der zweiten Hälfte der Äußerung das wieder wegzunehmen, was man mit der ersten gegeben hat. We·nn man weiß, daß man nicht kommen kann, darf man nichts sagen, womit man sich in irgendeiner Weise darauf festlegt, hinzugehen. An diesem ersten Beispiel sehen wir, wie es dazu kommt, daß das Wort "wahrscheinlich" als Mittel gebraucht wird, um vorsichtige Versprechen und eingeschränkte Absichtserklärungen zu geben. Philosophen haben sich jedoch weniger mit diesen Gebrauchsweisen des Wortes befaßt als vielmehr mit seinem Gebrauch in wissenschaftlichen Aussagen und insbesondere (im Hinblick auf die traditionelle Verbindung zwischen den Problemen der Wahrscheinlichkeit und der Induktion) mit seinem Gehrauch in Voraussagen. Deshalb ist es wichtig, den alltäglichen Gebrauch des Wortes in einem solchen Zusammenhang zu veranschaulichen. Wir können zu diesem Zweck ein typisches Zitat aus einer Wettervorhersage hernehmen. Eine zur Zeit über Island lagernde größere Störung bewegt sich nach Osten. Eine Bewölkung, . die sich jetzt über Nordirland befindet, breitet sich während des Tages über Nordwest-England aus und dehnt sich im Laufe des Abends und der Nacht auf das ganze Land aus.
Auch hier sind alle charakteristischen Eigenschaften des vorhergehenden Beispiels zu finden. Die Meteorologen des Wetteramtes sind bereit, sich ohne Einschränkung auf die erste ihrer Voraussagen festzulegen (daß sich die Bewölkung während des Abends und der Nacht über das ganze Land ausdehnen wird), aber sie sind nicht bereit, dies auch bei der zweiten Vorhersage zu tun (daß sich die Bewölkung während des Abends und der Nacht auf das ganze Land ausdehnen wird. Sie wissen, daß wir·uns danach richten müssen, was sie sagen (das Wetteramt ist nun mal das Wetteramt). Wenn sie uneingeschränkt prognostizieren, daß heute im Laufe des Tages eine Bewölkung aufzieht, der Himmel aber klar bleibt, kann sich zu Recht die Hausfrau beschweren, die aufgrund der Vorhersage ihre schwere Wäsche abgehängt hat. Es gibt noch mehr Grund zur Beschwerde, wenn sie sagen " ... wird sich mit Sicherheit ausbreiten ... " oder "Wir wissen, daß sich die Bewölkungszone ausbreiten wird ... " und dies dann nicht eintritt. Wir werden jedoch gewöhnlich - da es die Aufgabe des Wetteramtes ist, Bescheid zu wissen, was das Wetter angeht, und da es hier Autorität besitzt - in diesem Fall den Satzanfang "Wir wissen ... " als selbstverständlich hinzunehmen. Bei dem gegenwärtigen Stand ihrer Wissenschaft können sie sich jedoch nicht immer ruhigen 1 a.a.O., S. 66.
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Gewissens - d. h. ohne sich in Schwierigkeiten zu bringen - auf uneingeschränkte Voraussagen festlegen, die über-die unmittelbare Zukunft hinausgehen. Was sollen sie also über die kommende Nacht sagen? Auch hier ist das Wort "wahrscheinlich" am Platz. Genauso wie es als Mittel angebracht ist, um vorsichtige und eingeschränkte V'ersprechen zu geben, kann' es verwendet werden, wenn wir abgesicherte und eingeschränkte Vorhersagen zu geben haben - Vorhersagen, bei denen wir aus irgendeinem konkreten Grund nicht definitiv bereit sind, uns festzulegen. Auch hier sichert man sich jedoch durch den Gebrauch des Wortes "wahrscheinlich" nur gegen einige Folgen des Nichteintretens einer Vorhersage ab. Wenn die Leute vom Wetteramt sagen "dehnt sich wahrscheinlich aus", sichern sie sich nur innerhalb derjenigen Grenzen ab, die beim gegenwärtigen Zustand der Meteorologie als vernünftig angesehen werden müssen . Wenn die Wolken nicht früher oder später über dem übrigen Land aufziehen, sind wir berechtigt, nach Gründen hierfür zu fragen. Wenn sie sich weigern, auf diese Nachfrage irgendeine Er~lärung abzugeben (wie sie sie etwa geben könnten durch "Der Antizyklon über Nordirland blieb länger bestehen, als dies unter diesen Umständen üblich ist"), sondern versuchen, sich folgendermaßen zu entschuldigen: "Wir haben nichts weiter gesagt als daß sich die Wolken wahrscheinl~ch ausbreiten Würden", dann weichen sie aus, suchen Zuflucht, spielen mit Worten. Dann ist der Verdacht berechtigt, daß ihre Aussage - auch wenn sie vorsichtig und eingeschränkt geäußert wurde - unberechtigt war, d. h. mit ungenügender Begründung aufgestellt~ (An dieser Stelle taucht der Gebrauch des Wortes "wahrscheinlich" auf, der zum Ausdruck bringt, daß das Beweismaterial oder die Begründung, die dem Redenden zur Verfii:gung steht, nicht ganz den Standards entspre~hen.) Weiterhin darf es sich nicht immer oder zu oft herausstellen, daß man sich geirrt hat, wenn man "wahrscheinlich" in Prognosen korrekt verwendet - auch wenn man sich jedesmal ausdrücklich abgesichert hat. Wenn man "wahrscheinlich" sagt, verbürgt man sich bei Prognosen genauso wie bei Versprechen dafür, daß die Aussagen bei einem vernünftigen Anteil der Möglichkeiten erfüllt werden. Es reicht nicht aus, für jedes einzelne Nichteintreffen eine Erklärung zu haben. Auch bei Prognosen müssen wieder bestimmte Wortzusammeristellungen ausgeschlossen werden. "Die Bewölkung wird sich wahrscheinlich über den Rest des Landes ausbreiten, aber sie wird es nicht tun" ist genausowel?ig zulässig wie "Ich komme wahrscheinlich, aber ich werde nicht kommen können", "Ich verspreche es, aber es kann sein, daß ich es nicht einhalte" oder "Ich weiß es, aber ich kann mich irren". Denn 'eine abgesicherte Vorhersage ist (auch wenn sie sich von einer definitiven Vorhersage unterscheidet) angemessen so aufzufassen, daß sie dem Hörer einen Grund gibt, das, was vorhergesagt ist, zu erwarten (darauf zu hoffen, sich darauf vorzubereiten usw.) - auch wenn implizit davor gewarnt wird, darauf zu bauen. Sogar die Äußerung einer eingeschränkten Vorhersage ist unvereinbar damit, sie rundweg zu bestreiten. Es ist nötig, an dieser Stelle eine Unterscheidung zu erwähnen; denn wenn man sie nicht berücksichtigt, dann kann man sowohl hier als auch'in anderen Kontexten in philosophische Schwierigkeiten geraten. Diese Unterscheidung besteht zwischen dem, was eine Äußerung tatsächlich aussagt und dem, was sie unausgesprochen enthält oder anderen zu YlTstehen gibt. Zun1 Beispiel ist es nicht notwendigerweise dasselbe jemandem einen Grund zu geben, etwas zu erwarten, und ausdrücklich zu sagen "Ich
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erwarte es" oder sogar "Ich habe Grund, es zu erwarten". Die Leute vom Wetteramt sagen nicht, wie einige Philosophen meinten, daß sie ganz sicher sind, daß die Bewölkung heute Nordwest-England err~ichen wird, sie sind nur ziemlich überzeugt. daß sie sich vor Ende der Nacht auf den Rest des Landes ausdehnen wird. Dennoch geben sie uns das natürlich zu verstehen, und ihre Aussagen beinhalten das, denn es ist ihre Aufgabe als Wettervorhersager, "wird sich ausbreiten" nur dann zu sagen, wenn sie sicher sind und "wahrscheinlich breitet sich . . aus" nur dann zu sagen, wenn sie ziemlich überzeugt sind. Sie reden über das Wetter. Was wir über ihre Erwartungen schließen, ist nur unausgesprochen in ihren tatsächlichen Äußerungen enthalten. "Zu sagen 'Ich weiß' ist" - wie Austin betont - "nicht dasselbe wie zu sagen 'Ich habe einen besonders eindrucksvollen Akt der Erkenntnis vollzogen, der in demselben Maße, wie sicher sein über glauben steht, sogar über ganz sicher sein steht. ": Denn es gibt in dieser Rangordnung nichts, was über 'ganz sicher sein' steht ... Wenn ich sage 'ich weiß', gebe ich anderen mein Wort. Ich berechtige andere 's ist P' zu sagen. Genauso bedeutet die Äußerung 'S ist wahrscheinlich P' nicht dasselbe wie die Äußerung, ,Ich bin ziemlich ü?erze,ugt, ~ber nicht sicher, daß S P ist", denn" wahrscheinlich" gehört auch nicht in dIe ReIhe dIeser Wörter. Wenn ich "S ist wahrscheinlich P" sage, lege ich mich abgesichert, tentativ oder zurückhaltend auf die Ansicht fest, daß S P ist, und stelle mich (ebenso vorsichtig) hinter diese Ansicht.·
"UNWAHRSCHEINLICH ABER WAHR" Im Lichte dieser Beispiele möchte ich mich den Schwierigkeiten zuwenden, die eventuelLauftreten, wenn man Aüssagen über Wahrscheinlichkeiten in dem Buch von Kneale und alltägliche Gebrauchsweisen verbindet, die wir bei der Wortfamilie "wahrscheinlich", "Wahrscheinlichkeit", "Chance" und so weiter kennen. Die erste Schwierigkeit besteht darin, konkret zu sagen, welche Behauptungen Kneale aufstellt, wenn er das abstrakte Substantiv , , Wahrscheinlichkeit" oder seine eigenen Neologismen "probabilifizieren" und "Probabilifikation" anstelle von gebräuchlicheren Ausdrücken verwendet. Diese Schwierigkeit könnte vermutlich - zumindest teilweise - durch eine sorgfältige Berücksichtigung des Kontexts überwunden werden; deshalb werde ich im Augenblick nicht viel m·ehr tun, als sie zu erwähnen. Sicherlich könnte v:ieles, was er mit Hilfe des Substantivs" Wahrscheinlichkeit" ausdrückt, auch mittels konkreterer Wörter gesagt werden. Zum Beispiel hat er bei der Aussage "Wahrscheinlichkeit ermöglicht uns oft ein rationales Handeln, wo wir ohne sie zur Hilflosigkeit verdammt wären", vermutlich folgendes im Kopf: Wenn man von jemandem sagt, er wisse, daß es heute nachmittag wahrscheinlich regnet, bedeutet dies, daß er genug weiß, um wohlüberlegt Regen für diesen Nachmittag zu erwarten und sich darauf vorzubereiten, obwohl er nicht genug weiß, um ernsthaft überrascht zu sein, wenn er einmal ausbleibt. Wenn man dagegen von jemandem sagt, er wisse nicht einmal dies, bedeutet das, daß er nichts Bes'timmtes hat, woran er sich halten kann, wenn es um eine Vorhersage über das Wetter am Nachmittag und über die Vorbereitung darauf geht. Dennoch ist es zuviel gesagt, ihn als "zur Hilflosigkeit verdammt" zu bezeichnen. (Ich bin mir weniger sicher, wie ich das Wort "Probabilifikation" verstehen soll. Auf diese Frage müssen wir später zurückkommen.)
52 Die zweite Schwierigkeit ist von ernsthafterer Art. Denn Kneale verdreht an einigen Stellen' in seinem Einleitungskapitel nicht nur die von ihm analysierten und explizierten Wörter, sondern er besteht jedesmal darauf und behauptet gerade von offensichtlichen Sprachschnitzern, daß sie (entgegen allem Anschein) vernünftiger Sprachgebrauch sind (und zwar aus Gründen, die sich als philosqphisch relevant herausstellen werden). Es sollen drei Abschnitte zitiert werden, in denen dies passiert. 1. "Wahrscheinlichkeit ist relativ zu den Erfahrungsdaten. Man kann sogar Dinge, von denen man weiß, daß sie falsch sind, ganz vernünftig als wahrscheinlich bezüglich .einer bestimmten Auswahl von Erfahrungsdaten beschreiben. Wir geben dies zu, wenn wir Geschichte schreiben. Wenn ein General seine Aufstellung aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Erfahrungsdaten gemacht hatte und dann geschlagen wurde, sagen wir nicht notwendigerweise, daß er ein schlechter General war) d. h. daß er eine schwache Urteilskraft über Wahrscheinlichkeiten in militärischen Angelegenheiten hatte. Wir können auch sagen, daß er das den Umständen entsprechend Vernünftigste tat; denn bezüglich der Erfahrungsdaten, die ihm zugänglich waren und die er sich auch beschaffte, war es wahrscheinlich, daß er mit dieser Aufstellung gewinnen würde. Ähnlich kann etwas, wovon man weiß, daß es passiert ist, extrem unwahrscheinlich bezüglich unseres gesamten Wissens (mit Ausnahme eben dieser Tatsache) sein. 'Unwahrscheinlich aber wahr' ist kein Widerspruch in sich. Wir behaupten im Gegenteil jedesmal gerade dies, wenn wir von einer Tatsache sagen, sie sei merkwürdig oder überraschend. "1 Gegen diese Argumentation können vier Einwände gemacht werden. Erstens: Von etwas, was mir als falsch bekannt ist, können andere (mit Bezugnahme auf die ihnen zur Verfügung stehenden Erfahrungsdaten) ganz vernünftig sagen, es sei wahrscheinlich. Ich kann davon bestenfalls so reden: "Es schien wahrscheinlich, bis es als falsch erkannt wurde." .Zweitens: Wenn wir sagen, daß das, was der General machte, den Umständen entsprechend das Vernünftigste war, tun wir das, weil es bezüglich der Erfahrungsdaten, die ihm zugänglich waren und die er sich auch beschaffte, als wahrscheinlich erschienen sein muß und weil die Annahme völlig vernünftig war, er würde mit dieser Aufstellung gewinnen. Die Formulierung "Es war wahrscheinlich, daß er gewinnen würde . . ." kann hier und jetzt nur als Bericht in indirekter Rede darüber verstanden werden, was sich der General damals vernünftigerweise gedacht haben mag. Drittens: Dinge, von denen wir jetzt wissen, daß sie geschehen sind, mögen früher als extrem unwahrscheinlich erschienen sein (bei Bezugnahme auf alles, was wir damals wußten). Es kann jemandem, der jetzt nur das weiß, was wir damals wußten, mit Recht immer noch so erscheinen. Aber während er diese Dinge zu Recht, wenn auch irreführend, als "unwahrscheinlich" bezeichnen kann, dürfen wir, die wir wissen, was tatsächlich passiert ist, dies nicht tun. Schließlich: Niemand darf im gleichen Atemzug ein und dasselbe Ding sowohl als unwahrscheinlich als auch als wahr bezeichnen. Die Gründe hierfür haben wir schon gesehen: Dies zu tun bedeutet, mit der einen Hand das wegzunehmen, was man mit der anderen gegeben hat. So wird die Formulierung "unwahrscheinlich aber wahr" ausgeschlossen - sie ist nur als bewußt schockierende Formulierung zulässig. Man kann sich vielleicht vorstellen, daß der Kolumnist einer Zeitung das Seltsame an dieser Wortzusammenstellung ausnützt, wenn er sie als Titel einer Kolumne ähnlich zu Ripleys "Ob Sie es glauben oder nicht" gebraucht. Zweifellos bezieht sich Kneale in 1 Probability and Induction, § 3, S. 9-10.
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seinem letzten Satz auf eine solche Möglichkeit. Aber in einem solchen Kontext ist der Ausdruck "unwahrscheinlich aber wahr" nur deshalb eine effektive Ersetzung für "überr~schend", weil es eine Kurzform für "erscheint unwahrscheinlich, ist aber wahr" ist und nicht von "ist unwahrscheinlich, aber wahr". (Es ist eine andere Frage, ob wir sagen sollten, daß "unwahrscheinlich aber wahr" tatsächlich ein Widerspruch ist; diese Frage kön.t:1te uns in schwierige überlegungen hineinführen - obwohl ich meine, daß man gute Gründe dafür finden könnte, hier von einem Widerspruch zu reden.) Sicher können wir von einer Erzählung sagen, daß sie unwahrscheinlich klingt, aber wahr ist; und im Laufe einer Unterhaltung kann jemand etwas als unwahrscheinlich "bezeichnen, bis ein anderer ihm versichert, daß es wahr ist - danach kann der Zweifler nur noch sagen: "Es erscheint mir noch höchst unwahrscheinlich" oder kühner: "Ich glaube es nicht", es ist dann eben nicht mehr angebracht zu sagen: "Es ist unwahrscheinlich. ce 2. "Wenn ich sage, 'Es regnet wahrscheinlich', behaupte ich nicht unbedingt, daß es regnet, und die Feststellung, daß kein Regen fällt, würde meine Behauptung nicht widerlegen, obwohl sie sie nutzlos machen könnte." 1 In diesem Fall ist unklar, was Kneale als "etwas unbedingt behaupten" akzeptieren würde und was nicht; unklar ist auch, welche Rolle die Unterscheidung hat, die Kneale zwischen de'm Widerlegen einer Behauptung und ihrer Nutzlosmachung trifft. Es gilt aber sicher: Wenn ich sage "Es regnet wahrscheinlich" und es stellt sich heraus, daß es nicht regnet, dann a) habe ich mich geirrt, b) ich kann diese Behauptung jetzt nicht wiederholen und c) kann zu Recht aufgefordert werden, zu sagen, weshalb ich meinte, es regne. (Eine Antwort wäre zum Beispiel: "Das Geräusch von außen, klang so, als ob es regnen würde aber. ich sehe jetzt, daß das, was ich für Regen hielt, nur der Wind in den Bäumen war. ce) Bede~tet das nicht eine Widerlegung? In der Tat: Sobald wir mit Sicherheit herausgefunden haben, daß es entweder regnet oder nicht regnet, ist es nicht mehr am Platz, über Wahrscheinlichkeiten zu reden. Ich kann noch nicht einmal mehr sagen, daß es wahrscheinlich nicht regnet - die.Absicherung ist hier unangebracht. 3. "Wir wissen jetzt, daß die Berichte, die Marco Polo bei seiner Rückkehr nach Venedig gab, wahr waren - so unwahrscheinlich sie für seine Zeitgenossen auch sein mochten. "2 Kneale führt dieses Beispiel auf der allerersten Seite seines Buches an und mißt ihm ziemlich viel Bedeutung bei. Es ist, sagt er, "wert, besonders beachtet zu werden, denn es zeigt, daß Unwahrscheinliches dennoch wahr sein kann." Dieses Beispiel enthält aber eine entscheidende Zweideutigkeit; wir können ihm überhaupt keine Bedeutung zumessen, ehe diese Zweideutigkeit nicht aufgelöst ist. Denn: Sollen wir den Satzteil "so unwahrscheinlich sie für seine Zeitgenossen auch sein mochten" als direkte oder indirekte Rede verstehen? Im zweiten Fall mag das Beispiel völlig richtig formuliert sein - wenn damit etwa in indirekter Rede die damali gen Reaktionen von Marco Polos Landsleuten beschrieben werden - aber es zeigt überhaupt nicht, "daß Unwahrscheinliches dennoch wahr sein kann", d. h. daß etwas, was zu Recht als unwahrscheinlich bezeichnet wird, von derselben Person und im selben Atemzug auch als wahr bezeichnet werden kann. Wenn das Beispiel andererseits in direkter Rede sein soll, was es sein muß, wenn es beweisen soll, was Kneale von ihm behauptet, dann ist es sehr ungenau formuliert. Wie unwahrscheinlich die Berichte, die Marco Polo bei sei1 a.a.O., § 2, S. 4. 2 a.a.O., § 1, S. 1.
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ner Rückkehr nach Venedig gab, seinen Zeitgenossen auch erschienen sein mögen -wir wissen jetzt, daß sie im wesentlichen wahr waren. Wir haben deshalb kein Recht, von ihnen zu sagen, daß sie jemals unwahrscheinlich waren; denn damit verleiht man in gewissem Maße einer Ansicht Gewicht, von der wir wissen, daß sie falsch ist. In jedem der zitierten Abschnitte übersieht Kneale eine oder beide von zwei eng zusammenhängenden Unterscheidungen, die in unserem gewöhnlichen Reden über Wahrscheinlichkeiten enthalten sind und die für die Bedeutung dieses Begriffs wesentlich sind. Es handelt sich dabei erstens um die Unterscheidung zwischen der Äußerung, daß etwas wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist oder war und der Äußerung, daß etwas als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich erscheint oder erschien. (Beispiele für den ersten Fall: "Die Berichte dieses Mannes von einem auf der Höhe seiner Macht stehenden Reich im äußersten Osten sind außerordentlich unwahrscheinlich ce oder "Die Meinung, daß ihr Reich bei weitem das reichste der Welt ist, war bei den Venetiein so tief verwurzelt, daß Erzählungen von einem noch reicheren wahrscheinlich nicht geglaubt wurden. ce Ein Beispiel für den zweiten Fall: "Obwohl sie im wesentlichen wahr waren, erschienen die Berichte von Marco Polo über ein im äußersten Osten liegendes Reich, das auf der Höhe seiner Macht stand, den Venetianern seiner Zeit außerordentlich unglaublich und unwahrscheinlich. ce) Die zweite Unterscheidung betrifft die Unterschiede der für Wahrscheinlichkeits- oder Unwahrscheinlichkeitsbehauptungen erforderlichen Stützung, wenn diese Behauptungen von verschiedenen Leuten oder zu verschiedenen Zeiten gemacht werden. An mehreren Stellen der zitierten Abschnitte bleibt es unerwähnt, wer die Behauptung "wahrscheinlich das und das" aufgestellt hat und bei welcher Gelegenheit dies geschah, obwohl es eine~ entscheidenden -Unterschied für die Grammatik und für die Bedeutung macht, was für "das und das (( eingesetzt wird. Auch wenn diese zwei Unterscheidungen vernachlässigt worden sind, sind sie von zentraler Bedeutung für das Gebiet der Wahrscheinlichkeit, und sie sind schwieriger, als normalerweise bemerkt wird. Wir müssen etwas Zeit darauf verwenden, sie exakt zu fassen, ehe wir hoffen können, die Natur der Probleme deutlicher zu sehen, mit denen sich Wahrsch~inlichkeitstheoretiker befassen.
UNBERECHTIGTE UND FALSCHE BEHAUPTUNGEN Wir können diesen Eigenschaften der Wahrscheinlichkeit (von "wahrscheinlich ce, "es schien wahrscheinlich" usw.) eine deutlichere Form geben, indem wir sie mit den entsprechenden Eigenschaften des Wissens ("ich weiß", "er wußte", "ich wußte nicht", "er dachte, er wüßte" usw.) vergleichen. Für diese Zwecke muß hauptsächlich die Unterscheidung zwischen der Äußerung "Er behauptete, das und das zu wissen, aber er wußte es nicht" und der Äußerung "Er dachte, er wüßte es, aber er irrte sich ce untersucht werden. Angenommen, ich versuche, Enzian in meinem Felsengarten zu züchten und sie gedeihen überhaupt nicht. Ein gefälliger Nachbar will mir unbedingt seinen Rat andrehen und sagt mir, was nach seiner Meinung die Ursache der Schwierigkeit ist und was getan werden muß, um dem abzuhelfen. Ich folge seinem Rat, und danach steht es um die Pflanzen schlimmer als je zuvor. Auf dieser Stufe gibt es zwei Sachen, die ich über ihn und seinen Ratschlag
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sagen kann - und diese zwei Sachen weisen einen zwar feinen, aber sehr grundlegenden IJnterschied auf. Ich kann sagen: "Er dachte, er wüßte, was die Angelegenheit wieder in Ordnung bringen würde, aber er irrte sich", oder ich kann sagen: "Er behauptete, zu wissen, was die· Angelegenheit wieder in Ordnung bringen würde, aber er wußte es
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Um den Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Kritik zu erkennen, wollen wir betrachten, was angemessene Antworten auf den Angriff "Warum (mit welchen Gründen) sagst du das?" wären. Wenn ich sage: "Er dachte, er wüßte, was die Angelegenheit wieder in Ordnung bringen würde, aber er irrte sich" und gefragt werde warum ich das sage, gibt es darauf nur eine AntWort - nämlich auf den verwelkenden Enzian zu zeigen. Er schlug eine bestimmte Behandlungsart vor, 'und sie hatte keinen Erfolg. Damit ist die Angelegenheit erledigt. Wenn ich jedoch stattdessen sage: "er behauptete, zu wissen, was die Angelegenheit wieder in Ordnung bringen würde, aber er wußte es nicht", beschwere ich mich über etwas ganz anderes. Wenn ich gefragt werde, warum ich das sage, werde ich solche Antworten geben wie: "Er hat keine wirkliche Erfahrung im Gartenbau" oder "Er mag Experte im Gartenbau in seinem eigenen Gebiet sein, aber er versteht nichts von Hochgebirgspflanzen" , oder: "Er sah sich nur die Pflanzen an - bei Enzian muß man aber mit einer Untersuchung des Bodens beginnen", oder: "Er hat den Boden vielleicht untersucht, aber er untersuchte ihn auf die falschen Sachen hin." All dies läuft darauf hinaus, daß er also nicht wußte (nicht wissen konnte), was die Angelegenheit wieder in Ordnung bringen würde. Ich greife jetzt also nicht die Anweisung selber an, sondern eine von zwei völlig anderen Sachen: Entweder die Kompetenz des Mannes (wie bei den ersten beiden Antworten) oder seine Gründe für die Anweisung, die er gegeben hatte (wie in den heiden folgenden Antworten). Der Zustand des Enzians ist tatsächlich irrelevant - es sei denn als Hinweis auf diese anderen Sachen. Man könnte "Er wußte es nicht" sogar in Fällen sagen, wo seine Anweisung faktisch erfolgreich war ("Er hat es nur glücklich erraten"). Ebenso sind seine Kompetenz und seine überlegungen irrelevant, wenn ich behaupte, daß er sich geirrt hat: "Er dachte, er wüßte, was die Angelegenheit wieder in Ordnung bringen würde, und niemand könnte dazu besser qualifiziert bzw. in einer besseren Lage sein als er - nichtsdestotrotz hat er sich • ,e geIrrt. Kurz gesagt:. Der Ausdruck "Er wußte es nicht" dient dazu, die Berechtigung der ursprünglichen Äußerung der Behauptung anzugreifen, während der Ausdruck "Er irrte sich" dazu dient, die Behauptung im Lichte späterer Ereignisse zu korrigieren. In der Praxis können wir einen deutlichen Unterschied bemerken zwischen einem "unberechtigten" Anspruch, etwas zu wissen; und einer Behauptung, die sich nachträglich als falsch erweist. Eine Kritik, die eine Behauptung, etwas zu wissen oder etwas gewußt zu haben, angreifen (anzweifeln, aufheben) soll, muß - im Gegensatz zu einer Korrektur (Abänderung, Revision) im Lichte von Ereignissen - in erster Linie in einem Angriff auf die Argumentation, die zu dieser Behauptung führt oder auf die Qualifikationen desjenigen, der die Behauptung vorgebracht hat, bestehen (und nicht in einem Angriff auf die Schlußfolgerung, die zu wissen er behauptet). Zu zeigen, daß sich eine Behauptung, etwas zu wissen, schiießlich als falsch erwiesen hat, braucht überhaupt nichts mit dem Nachweis zu tun zu haben, daß dieser Anspruch zu dem Zeitpunkt, in dem er erhoben wurde, unberechtigt war.
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Die Unte~scheidung zwischen "Es schien wahrscheinlich, kam dann aber doch anders" und "Es war wahrscheinlich, obwohl wir das nicht bemerkten" ist dazu parallel. Eine Versicherungsgesellschaft mag dazu bereit sein, von einem dreißigjährigen Mann, der - wie sie von ihrem Untersuchungsarzt wissen - eine chronische Herzkrankheit hat, nur eine geringe Prämie zu verlangen, wenn er eine Rentenversicherung abschließt, die im Alte~ von achtzig Jahren fäll~g wird. Denn sie werden vernünftig genug sein und sagen, daß es sehr unwahrscheinlich ist, daß dieser Mann solange leben wird. Aber was ist, wenn er doch so lange lebt? Was sollen sie an seinem achtzigsten Geburtstag sagen, wenn der Chefbuchhalter seine Unterschrift unter den ersten von vielen ansehnlichen Schecks setzt? Das hängt ~on den Umständen ab. Insbesondere zwei Möglichkeiten müsen erwähnt werden. Es kann sein" daß Fortschritte in der medizinischen Forschung (die zu der Zeit, als die Versicherungspolice ausgestellt wurde, nicht vorhergesehen wurden und auch nicht vorhersehbar waren) im Laufe der dazwischenliegenden fünfzig Jahre die Behandlung der betreffenden Art von Herzkrankheiten revolutioniert haben und somit (wie wir es in der Tat ausdrücken können) die Chancen des Mannes, achtzig Jahre zu werden, erhöht haben. In diesem Fall werden die Direktoren der Gesellschaft nicht die ursprünglich zur Festsetzung der Prämie verwendeten Daten und Berechnungen in Mißkredit bringen, wenn sie mit folgender Äußerung zugeben, die Chancen des Mannes, so lange zu leben, unterschätzt zu haben: "Damals schien es uns aufgrund der besten uns zur Verfügung stehenden Gründe extrem unwahrscheinlich, daß er so lange leben würde. Aber schließlich hat sich unsere Schätzung als falsch erwiesen." Wenn sie sich nochmals die letzten Berichte der Gesellschaft ansehen, können sie eine geänderte Schätzung vorlegen. Diese Schätzung entspricht derjenigen, die sie ursprünglich gemacht hätten, wenn sie damals all das hätten wissen können, was wir jetzt über den Fortschritt wissen, den die Medizin in den dazwischenliegenden Jahren machen sollte. Von dieser Schätzung werden sie sagen, sie g~be die Chance an, die er tatsächlich hatte, achtz.ig zu werden; dies ist etwas anderes als die Chance, die er damals zu haben schien. (Dieser Fall ähnelt denen, in denen wir sagen "Er glaubte zu wissen, aber er irrte sich", wenn wir eine frühere Behauptung revidieren und korrigieren, ohne zu versuchen, ihre Berechtigung zu kritisieren.) Andererseits ist es möglich, daß für die Diskrepanz zwischen ihrer Erwartung und dem Ereignis weniger der Fortschritt in der Medizin verantwortlich war als vielmehr ein Fehler in den ursprünglichen Daten oder Berechnungen. Bei einer Prüfung der Angelegenheit können sie zu verschiedenen Schlüssen kommen: Daß zum Beispiel der Versicherte den Arzt bestochen hatte, zu sagen, er habe eine chronische Herzkrankheit' obwohl er keine hatte; daß sich der Bericht des Arztes auf jemand anderen mit gleichem Namen bezog und durch einen Irrtum in die Akte des Versicherten kam; daß es sich bei seiner Krankheit um eine ungewöhnliche, subakute ·Form handelte, die schwer von der normalen zu unterscheiden ist; oder, bei anderen Beispielen, daß der Angestellte bei der Berechnung der Chance des Versicherten auf der falschen Seite der Zahlentabelle nachsah, oder daß die Tabelle der Versicherung für Farmarbeiter auf einer zu kleinen Stichprobe beruhte. Unter diesen Umständen werden die Direktoren die ursprüngliche Durchführung der Schätzung angreifen und zugeben müssen, daß die Gesellschaft damals nicht erkannt hat, wie groß die überlebenschancen des Versicherten wirklich waren: "Seine
57 Chancen, achtzig zu werden, waren wirklich ganz gut; aber wir erkannten das nicht, weil wir vom Arzt (von dem Angestellten, von den Unterlagen) irregeführt wurden." (Dieser Fall ähnelt dem, wo wir sagen: "Er behauptet, es zu wissen, aber er weiß es nicht:" Die Berechtigung der ursprünglichen Behauptung wird angegriffen - die Tatsache, daß sie sich schließlich auch als falsch erwiesen hat, ist nur zufällig.) Resümee: Bei Behauptungen, daß etwas wahrscheinlich ist, sehen wir wie bei Behauptungen, etwas zu wissen, in der Praxis einen Unterschied zwischen einem Angriff auf die ursprüngliche Äußerung der Behauptung und der Korrektur im Lichte späterer Ereignisse. Auch hier unterscheiden wir eine Behauptung, die zu dem Zeitpunkt rechtmäßig war, zu dem sie aufgestellt wurde, von einer Behauptung, die sich später als falsch herausstellte. Eine Kritik, die sich gegen die ursprüngliche Äußerung der Behauptung richtet, muß die Stützung der Behauptung oder die Qualifikationen desjenigen, der sie aufgestellt hat, angreifen - der Nachweis, daß sie sich schließlich als falsch herausstellte, braucht nichts mit einem Nachweis zu tun haben, daß es damals unrechtmäßig war, diese Behauptung aufzustellen. Ehe wir die philosophische Bedeutung dieser Unterscheidungen diskutieren, müssen wir uns eine weitere- Unterscheidung anschauen, die mit diesen eng verbunden ist: Die Unterscheidung zwischen den Gründen, die als Stützung für eine Behauptung, daß man entweder etwas weiß oder daß etwas wahrscheinlich ist, benötigt werden, wenn diese Behauptung in anderen Situationen betrachtet wird als in derjenigen, in der sie aufgestellt wurde. Wenn mein Nachbar behauptet, er wisse, was meinen Enzian wieder in Ordnung bringt, muß er sich über drei Dinge sicher sein, wenn seine Behauptung rechtmäßig sein soll: Daß er genug Erfahrung von Pflanzen im allgemeinen und von Hochgebirgspflanzen im besonderen hat, um darüber reden zu können; daß er alle Beobachtungen gemacht hat und alle Untersuchungen durchgeführt hat, die man vernünftigerweise von ihm verlangen kann; und daß das Urteil, das er aufgrund dieser Beobachtungen macht, vernünftig überlegt ist. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, hat er das getan, was wir berechtigterweise verlangen können, um sicherzustellen, daß sein Urteil glaubwürdig ist und eine taugliche Grundlage für das Handeln abgibt. Er ist dann berechtigt, zu behaupten "ich weiß" und wir können - wenn wir seinem Urteil nicht mißtrauen - ihm genauso berechtigt Glauben schenken und sagen: "Er weiß ... ". Dabei ist hier die Tatsache wichtig, daß die Formen "glaubwürdig", und "taugliche Grundlage" hier eine natürliche Anwendung haben. Dieselben überlegungen gelten für die Behauptung der Versicherungsgesellschaft, daß es sehr unwahr~cheinlich ist, daß. ihr voraussichtlicher Kunde achtzig Jahre alt wird. Sie müssen sich versichern, daß ihre Unterlagen umfassend genug sind, um einen zuverlässigen Anhaltspunkt zu geben; daß die Angaben über den Kunden, auf denen ihre Schätzung beruht, vollständig und korrekt sind; und daß die Berechnung ohne Fehler durchgeführt ist. Dies alles unterstellt, können wir ihre Behauptung als berechtigt akzeptieren, denn sie haben sichergestellt, daß (nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens) die Schätzung glaubwürdig ist. Ob man eine Vorhersage mit vollem Nachdruck ("Ich weiß, daß p") oder mit Vorbehalt ("wahrscheinlich p") äußert, spielt hier keine Rolle. Wenn man gezeigt hat, daß es jetzt keinen Grund für die Annahme gibt, daß sich diese bestimmte Vorhersage als falsch erweisen wird, nachdem so viele andere dieser Art den Test der Zeit über-
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standen haben, ist alles getan \ \\·as jcti't von einem verlangt werden kann, ehe man die Behauptung "Ich weiß, daß p" oder "Wahrscheinlich p" äußert. Wenn jemand einmal die Berechtigung dieser Prognose angreifen sollte oder mit Recht sagen sollte "Er behauptete· zu wissen, aber er wußte nicht" oder "Er sah nicht, wie gering die Chancen waren", muß er eben diese Behauptung (daß es jetzt keinen Grund dafür gibt, das Gegenteil anzunehmen) anzweifeln. Es handelt sich hier um eine absolut praktische Behauptung, die nicht mit einer anderen offensichtlich sinnlosen Behauptung verwechselt werden darf . . ,. mit der Behauptung, daß die Vorhersage trotz des Ablaufs der Zeit einer jeden möglichen zukünftigen Verbesserung unzugänglich ist; daß man jetzt erkennen kann, daß im Lichte späterer Ereignisse niemals die Frage auftauchen wird, ob sich die Behauptung schließlich doch als falsch herausstellt. Denn mit dem Fortschreiten der Zeit kann die Frage, ob die Behauptung glaubwürdig bleibt, jederzeit erneut gestellt werden. Von der Vorhersage bis zu dem Ereignis selbst können inzwischen neue überlegungen relevant werden (neue Entdeckungen über Enzian, neue Behandlungsmethoden für Herzkrankheiten), und man muß als Folge davon strengere Stützung verlangen, wenn die Vorhersagen wiederholt werden sollen. Außerdem kann man, nachdem das Ereignis selbst stattgefunden hat, nachprüfen, was tatsächlich eintrat. Deshalb kann die rückblickende Frage "Hatte er recht?" im Lichte der Ereignisse immer erneut gestellt werden - wie berechtigt der ursprüngliche Wissensanspruch auch gewesen sein mag - und es kann natürlich sein, daß die Antwort darauf im Laufe der Zeit geändert werden muß. All dies erscheint hinreichend selbstverständlich, wenn man an die Sache ohne schwerwiegende Vorurteile herangeht. Schließlich müssen wir bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit einer Vorhersage von den angemessenen Standards der Kritik (aen Gründen, die v~rnünftigerweise zu ihrer Stützung verlangt werden können) annehmen, daß sie von den Umst.änden, in denen die Vorhersage beurteilt wird, genauso abhängt wie von der Situation, in der sie ursprünglich geäußert wurde. Zu dem Zeitpunkt, in dem eine Vorhersage geäußert wird, ist es nicht einmal sinnvoll, 'Augenzeugenberichte von dem fraglichen Ereignis' in das zur Stützung dieser Vorhersage verlangte Beweismaterial aufzunehmen: Wenn dies sinnvoll wäre, wäre es falsch, die Äußerung als Vorhersage zu bezeichnen. Aber wenn wir uns rückblickend, nach dem Ereignis, fragen, ob die Behauptung tatsächlich eine taugliche und richtige Grundlage für das Handeln abgab, ist es nur vernünftig, wenn wir verlangen, daß sie tatsächlich erfüllt wurde. Kann man aus dieser Diskussion eine Lehre ziehen? Wenn wir klare Vorstellungen v<;>rl "Wissen" und von "Wahrscheinlichkeit" behalten wollen, müssen wir immer daran denken, die Situation, in der eine Behauptung beurteilt wird, genauso zu berücksichtigen wie die Situation, in der sie geäußert wurde. Es ist vergeblich, zu hoffen, daß alles, was an Behauptungen der Form "ich weiß", "er weiß", "es ist wahrscheinlieh" wahr ist, notwendigerweise auch bei Behauptungen der Form "ich wußte", "er wußte" und "es war wahrscheinlich" wahr ist; oder daß alles, was an solchen Behauptungen vor dem Eintreten des Ereignisses wahr ist, notwendigerweise auch wahr ist, wenn man es im Lichte des Ereignisses betrachtet. Behauptungen dieser Art können nicht sub specie aeternitatis betrachtet und beurteilt werden, sozusagen" von außerhalb der Zeit".: Der Aberglaube, man könne dies tun, kann die sorgfältigsten Argumentationen zu Fall bringen. Genau diese entscheidenden Unterschiede werden leicht
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übersehen und genau dieser Aberglaube wird genährt, wenn manüber Wahrscheinlichkeit, Wissen und Glauben mit Hilfe von abstrakten Substantiven redet, Clnstatt die -Verben und Adverbien zu betrachten, von denen sich ihre Bedeutung herleitet. '---~
DAS LABYRINTH DER WAHRSCHEINLICHKEIT Es kann also keinen Zweifel an der philosophischen Wichtigkeit der Unterscheidungen geben, auf die ich bei meiner Kritik des Anfangskapitels von Kneale aufmerksam machte und die ich im letzten Abschnitt herauszuarbeiten versuchte. Diese Unterscheidungen sind in unseren alltäglichen Denkgewohnheiten fest verwurzelt, aber Kneale erkennt dies nicht an. Wir müssen uns jetzt erstens fragen, welche Wichtigkeit diese Unterscheidungen speziell für die Wahrscheinlichkeitstheorie haben, und zweitens, ob durch die Tendenz der Abweichungen in Kneales Begriffsbildungen auf die Dinge ein Licht geworfen wird, die er über Wahrscheinlichkeit und "Probabilifikation" sagt. Ich glaube, daß es möglich ist, zumindest im Um riß zu erkennen, wie es kam, daß die Aufmerksamkeit der Philosophen, die über dieses Gebiet schreiben, auf die falschen Fragen gelenkt wurde - und nicht nur auf die falschen, sondern auf die total falschen. In den philosophischen Diskussionen der letzten Zeit über Wahrscheinlichkeit trat als Schreckgespenst hauptsächlich der Subjektivismus auf, das heißt die Meinung, daß Wahrscheinlichkeits aussagen nicht über die Welt gehen, s,ondern über den Glauben des Sprechers und seine Einstellung zu bzw. seine Meinung über die Welt. Das Ziel der Bestrebungen der Philosophen war es deshalb, eine hieb- und stichfeste Definition dieses Begriffs mittels hinreichend objektiver Begriffe zu geben; und die Fragen, mit denen die Diskussion anfing, lauteten etwa: "Was ist Wahrscheinlichkeit?", "Worüber gehen Wahrscheinlichkeitsaussagen?", "Wie lautet die richtige Analyse von Wahrscheinlichkeitsaussagen ?" und "Was drücken sie aus?". Kneale ist offensichtlich der Meinung, daß die Position der Subjektivisten, obwohl sie höchst paradox ist, prima facie höchst plausibel ist, denn er macht sich ihre Widerlegung zu seiner ersten Aufgabe; und er hat keine Zweifel daran, daß dies der richtige Ausgangspunkt ist: Wenn wir, wie es natürlich zu sein scheint, mit einer Gegenüberstellung von Wahrscheinlichkeitsaussagen mit solchen Aussagen anfangen, mit denen wir Wissen ausdrücken, taucht sofort die Frage auf: "Was drücken wir denn nun mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsaussagen aus?"1 Wenn eine Frage dieser Art gestellt wird, wissen wir tatsächlich zunächst nicht, was wir sagen sollen. Wir wissen nicht genau, worauf wir hinweisen sollen und worauf wir schauen sollen. Sehen wir nach, warum dies so ist.
Wenn man mich fragt, was das Wetter heute wohl machen wird, und ich zum Himmel hochschaue und antworte: "Es wird heute abend Regen geben", gibt die Frage, worüber meine Aussage geht oder worauf sie sich bezieht, keinen Anlaß zu besonderen philosophischen Schwierigkeiten. Die Antwort des gesunden Menschenverstands: "über das Wetter am Abend" ist für alle annehmbar, und wenn es sich herausstellt, daß ich recht hatte, (d. h. Wahres gesagt habe, richtig vorausgesagt habe), wird dies sehr glücklich dadurch ausgedrückt, daß man sagt, daß was ich vor1 a.a.O., § 2, S. 3.
60 hergesagt habe, eine Tatsache war - echt eine 'Tatsache', eine völlig uneingeschränkte Tatsachenfeststellung über das Wetter von heute abend: Daß es nämlich heute abend regnet. Wenn ich aber stattdessen antworte: "Es wIrd heute abend wahrscheinlich regnen", gehen Philosophie und gesunder Menschenverstand getrennte Wege. Obwohl die Antwort des gesunden Menschenverstands auf die Frage, worüber ich rede, dieselbe bleibt - "über das Wetter" - haben Philosophen Bedenken, dies als Antwort zu akzeptieren. Denn was sollen wir auswählen, wenn· wir versuchen, die Frage ganz präzis zu beantworten? Durch ~en Gebrauch des Wortes" wahrscheinlich" vermeide ich ausdrücklich, mich endgültig auf eine bestimmte Vorhersage festzulegen (etwa darauf, daß es heute abend regnen wird) - und·-deshalb lege ich mich anscheinend auch nicht auf eine bestimmte "Tatsache" fest. Auch wenn es nicpt regnet, mag ich eine Entschuldigung finden ("Die Wolken türmten sich den ganzen Tag auf, aber sie entluden sich erst, als sie ein Stückchen weiter landinwärts kamen; dennoch hing es ständig nur an einem Haar"). Wir können deshalb offensichtlich nicht auf irgendeinen Sachverhalt über das Wetter am Abend verweisen, derart daß ich recht habe, wenn er eintritt und daß ich mich geirrt habe, wenn er nicht eintritt. Diese Entdeckung führt zu der Meinung, daß die "Verbindung mit der Zukunft", die wir wenn auch auf eigene Gefahr - im Falle von definitiven Vorhersagen als bestehend annahmen, bei eingeschränkten Vorhersagen unvermeidlich abgetrennt ist. Wir fühlen uns nicht mehr wohl dabei, weiterhin zu sagen, mein Satz beziehe sich auf oder betreffe das Wetter heute abend - noch weniger wohl fühlen wir uns bei der Fonnulierung, der Satz drücke eine zukünftige Tatsache aus. Wir fürchten den Angriff des Metaphysikers, zu sagen, welche Tatsache der Satz ausdrückt. Wenn wir an dieser Stelle angelangt sind, bieten wir dem Angriff des Subjektivisten ein günstiges Ziel. Er hat eine Tatsache (und vielleicht nur diese eine Tatsache) bemerkt, die immer gegeben ist, wenn das Wort" wahrscheinlich " (oder ein davon abgeleitetes Wort) korrekt verwendet wird: Jeder, der "wahrscheinlich p" ernsthaft äußert, glaubt fest daran, daß p. Wenn dies qas einzige ist, was immer der Fall istso der Subjektivist - kann es ebenfalls nur diese Tatsache sein, worauf si~h das Wort \X' ah rscheinlichkeit" beziehen kann oder was dieses Wort bedeuten kann. Er kann ~ns also, wenn er seine Auffassung geltend macht, daß der wirkliche Gegenstand von Wahrscheinlichkeitsaussagen der "starke Glaube des Sprechers, daß p" ist, durch die Aufforderung angreifen, irgend etwas anderes anzugeben: "Wenn wir nicht dies mit 'Wahrscheinlichkeit' meinen, was denn dann?" Diese Frage bringt uns in Verlegenheit. Offensichtlich ist die Auffassung des Subjektivisten irgendwie außerordentlich seltsam. Grade des Glaubens können nicht die ganze Angelegenheit ausmachen, denn bei den meisten Dingen ist ein Glaube von einem bestimmten Grad vernünftiger (ist gerechtfertigter, sollte eher vertreten werden) als ein Glaube von einem anderen Grad. Wie es Kneale ausdrückt: " Wenn jemand eine schwarze Katze sieht, die seinen Weg zum Kasino kreuzt und sagt: 'Ich gewinne heute wahrscheinlich - gib mir dein Geld, ich spiele für dich', lehnen wir dieses Angebot ab, wenn wir klug sind - auch dann, wenn wir an die Ehrlichkeit des Betreffenden glauben. "1 Was Wahrscheinlichkeit ist, sie muß, so wollen wir sagen, objektiver sein, als der Subjektivist zugeben kann: "Der entscheidende Punkt ist, daß die überlegungen, die zur Bildung einer rationalen Meinung führen, so wie alle ande1 a.a.O., § 2, S. 7.
61 ren überlegungen, die diese Bezeichnung überhaupt verdienen, etwas entdecken, was unabhängig vom Denken ist. Wir denken so, wie wir denken sollten, wenn wir über Dinge denken, so wie sie in Wirklichkeit sind; und es gibt keine andere Bedeutung, in der gesagt werden kann, daß wir so und so denken sollten." Anstatt die Angemessenheit der Frage, worüber unsere Aussagen genau gehen (im Gegensatz, natÜrlich, zur Antwort des gesunden Menschenverstands), und was wir mit diesem Wort "Wahrscheinlichkeit" genau meinen, anzugreifen, bringen wir uns selbst nur noch weiter in Verwirrung: Es scheint entscheidend zu sein, auf diese Fragen eine Antwort irgendeiner Art zu finden; denn wenn '\\' ir dies nicht tun, lassen wir dann nicht durch Nichtantreten den Sieg an die Subjektivisten gehen? Wenn v/ir uns umsehen, worüber Wahrscheinlichkeitsaussagen allein aufgrund der Eigenschaft, Wahrscheinlichkeitsaussagen zu sein, genau gehen, bi~ten sich mehrere Kandidaten von selbst an. Erstens die Häufigkeit, mit der Ereignisse der von uns betrachteten Art unter solchen Umständen eintreten. Wenn wir beachten, was in den Büros von Versicherungsges~llschaften vor sich geht, scheint dieser Kandidat eine sehr starke Position zu haben. Zweitens das Verhältnis von Ereignissen _der betrachteten' Art zu der Zahl der möglichen alternativen Ereignisse: Wenn wir uns an die Berechnungen erinnern, die. wir in der Schule über Würfe, Stapel von Spielkarten und über mit farbigen Kugeln gefüllte Behälter anstellten, erscheint auch dies als anziehender Vorschlag. Die Philosophie der Wahrscheinlichkeit, wie sie traditionell dargestellt wird, besteht zum großen Teil in einer Erörterung und Beurteilung der Eignung dieser und anderer Kandidaten. Dieses eine Mal wollen wir es jedoch unterlassen, noch weiter in das Labyrinth der Wahrscheinlichkeit einzudringen : Wenn wir unseren bisherigen Weg zurückgehen können wir Gründe für die Annahme finden, daß wir unser gegenwärtiges Dilemma, das der Suche nach dem "wirklichen" Gegenstand von Wahrscheinlichkeitsaussagen den Anschein der Wichtigkeit gibt, selbst erzeugt haben. Hierfür gibt es zwei verschiedene Arten von Gründen. Erstens: Das abstrakte Substantiv "Wahrscheinlichkeit" hat - all dem zum Trotz, was wir in unseren Kindergärten darüber lernten, daß Substantive Wörter seien, die Dinge bezeichnen - nicht nur kein greifbares Gegenstück, Bezeichnetes, Designatum oder was immer man will; es bezeichnet nicht nur kein Ding welcher Art auch immer, sondern es' ist ein Wort einer solchen Art, daß es unsinnig ist, auch nur davon zu reden, daß es irgendeinen Gegenstand bezeichnet, benennt oder für einen solchen steht. Deshalb gibt es unüberwindliche Einwände gegen jeden Kandidaten für die zur Diskussion stehende Bezeichnung. Als Konsequenz davon ist der gesunde Menschenverstand der Philosophie bezüglich der Frage überlegen, worüber Wahrscheinlichkeitsaussagen gehen. Es kann Wahrscheinlichkeitsaussagen geben über das Wetter heute abend, über meine Lebenserwartung, über die Leistung meines Rennpferdes, die Richtigkeit einer wissenschaftlichen Theorie, über die Identität eines Mörders - in der Tat über jeden Gegenstand, bei dem man sich mit Vorbehalt auf eine Meinung festlegen kann - ganz abgesehen von abgesicherten Versprechen, vorsichtigen Bewertungen und anderen Arten von eingeschränkten Äußerungen, in denen das Wort "Wahrscheinlichkeit" mit derselben Berechtigung auftreten kann; etwa: "Andrea Mantegna war aller Wahrscheinlichkeit nach der ausgezeichnetste Maler der Schule von Padua." Umgekehrt gibt es keinen besonderen Gegenstand, über den alle Wahrscheinlich-
62 keitsaussagen, einfach aufgrund der Tatsache, daß sie Wahrscheinlichkeits aussagen sind, gehen müssen. Dadurch, daß wir uns nicht nur weigern, so etwas wie eine umfassende Antwort auf diese Frage anzugeben, sondern nicht einmal die Angabe von solchen Antworten zulassen, überlassen wir folglich nicht dem Subjektivisten das Feld. Denn der von ihm aufgestellte Kandidat ist in einer genauso schlechten Situation wie alle anderen. Es stimmt zwar, daß der Subjektivist das wesentliche an Wahrscheinlichkeits aussagen nicht begreift und daß diese in bestimmter Hinsicht objektiver sind als es der Subjektivist zulassen will - es müssen aber zwei weitere Sachen erwähnt werden: Erstens, daß die Objektivität, die der Subjektivist nicht gewährleisten kann, nicht von der Art ist, wie sie Philosophen suchen; und zweitens, daß die Entdeckung eines greifbaren Designatums für das Wort "Wahrscheinlichkeit" - ganz abgesehen davon, daß dies eine irreführende Fragestellung ist - in keiner Weise die Lücke ausfüllen würde. Diese beiden Punkte müssen in der angegebenen Reihenfolge erörtert werden, denn Kneale erkennt - wenn ich seinen Gedankengang richtig verstehe - teilweise die Bedeutung des ersten an, begreift den zweiten aber überhaupt nicht. °
WAHRSCHEINLICHKEIT UND ERWARTUNG überlegen wir uns zunächst, in Zusammenhängen welcher Art das Substantiv "Wahrscheinlichkeit" in unsere Sprache Eingang findet. Das Wetteramt sagt manchInal statt, ,Die Bewölkung wird sich wahrscheinlich während der Nacht auch über das übrige Land ausbreiten" auch "Die Bewölkung wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach . . . ausbreiten". Wenn sie diese Formulierung anstelle des kürzeren "wahrscheinlich" wählen, werden sie so verstanden, daß sie damit die Stärke des stillschweigenden Vorbehalts abschwächen und damit zu erkennen geben, daß die Anzeichen jetzt fast völlig ausreichen, um eine definitive Vorhersage zu machen. Sie nehmen damit die Verpflichtung auf sich, eine ausführlichere Erklärung für den Fall zu liefern, daß die Wolken nicht so wie vorhergesagt aufziehen. Versprechen und Vorhersagen der Form "aller Wahrscheinlichkeit nach p" müssen - im Gegensatz zu solchen von der Form "Wahrscheinlich p" nicht nur in einem vernünftigen Anteil der Fälle erfüllt sein, sondern in fast allen Fällen. Wenn wir oft auf Entschuldigungen oder Erklärungen zurückgreifen .müssen, kann man uns sagen, daß wir vorsichtiger sein sollen, ehe wir uns soweit festlegen. Abgesehen davon besteht aber kaum ein Unterschied zwischen diesen beiden Formen: Die Fonnulierung "aller Wahrscheinlichkeit nach" dient als Ganzes dem gleichen Zweck wie das einzelne Wort "wahrscheinlieh" . Entsprechendes gilt für solche Sätze wie "Die Abwägung der Wahrscheinlichkeiten läßt darauf schließen, daß sich die Bewölkung ausdehnen wird" und "Die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Bewölkung ausdehnen wird, ist hoch": In beiden Fällen bekommt das Wort "Wahrscheinlichkeit" seine Bedeutung als Teil eines Satzes, der als ganzer einem ähnlichen Zweck wie "wahrscheinlich" dient. Beide metaphorischen Wendungen, die zum Beispiel nahelegen, daß man eine Waage gebrauchen würde, um eine so offene Frage zu beantworten, werden so verstanden, daß damit eine Abschwächung bzw. eine Verstärkung der Rolle des implizierten Vorbehalts aus°
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gedrückt wird. Auf diese Weise wird die Behauptung selbst entweder mehr oder weniger definitiv gemacht, und ihre Nichterfüllung wird dementspr.echend weniger oder mehr entschuldbar. Was immer sonst eine solche metaphorische Wendung auch bewirkt - sie setzt jedenfalls nicht die Existenz eines Dings oder Stoffs voraus, der "Wahrscheinlichkeit" heißt und wörtlich genommen mit einer Waage gewogen werden kann. (Wie kommt es dann aber; daß man Wahrscheinlichkeiten numerisch ausdrücken kann? Auf diese Frage werden wir in Kürze zurückkomm~n.) Wenn wir nur Formulierungen betrachten wie "aller Wahrscheinlichkeit nach" und "die Abwägung der Wahrscheinlichkeiten", erscheint es wenig sinnvoll, über Wahrscheinlichkeit und Wahrscheinlichkeiten isoliert zu reden. Wenn das Wort "Wahrscheinlichkeit" nur in solchen Sätzen auftreten würde, die offensichtlich entweder metaphorisch oder aber nur als Ganzes aufzufassen sind, bestünde vermutlich weniger Versuchung zu fragen, was dieses Wort - für sich allein - bezeichnet. Aber die Situation ist komplizierter. Sätze wie "Die Wahrscheinlichkeit, daß sie kommen, ist vernachlässigbar" erinnern uns an andere Sätze wie "Die Verletzungen, die er sich zuzog, sind vernachlässigbar" . Wir neigen deshalb dazu, so zu reden, als ob Wahrscheinlichkeiten genauso vernünftig isoliert betrachtet werden könnten wie Verlerzungen. Diese Entsprechung ist jedoch irreführend. Wenn wir sagen, "Die Verletzungen, die er sich zuzog, sind vernachlässigbar" , dann meinen wir, daß die Verletzungen selbst ruhigen Gewissens vernachlässigt werden können. Wenn wir gefragt werden, wie wir dies wissen oder mit welchen Gründen wir dies sagen, können wir uns auf Erfahrungen berufen und erklären, daß die Erfahrung gezeigt hat, daß Verletzungen die,ser Art ohne Komplikationen selbst heilen. Wenn wir andererseits sagen, "Die Wahrscheinlichkeit, daß sie kommen, ist vernachlässigbar", meinen wir etwas anderes. Es ist nicht die Wahrscheinlichkeit, daß sie kommen, die in dieseln Fall ruhigen Gewissens vernachlässigt werden kann. Denn wenn man den Satz "Man kann ' die Wahrscheinlichkeit, daß sie kommen' ruhigen Gewissens vernachlässigen" mit dem ohne jede Schwierigkeit verständlichen Satz "Man kann ruhigen Gewissens seine Verletzungen vernachlässigen" vergleicht, ist er kaum auch nur grammatisch korrekt. Es sind vielmehr die Vorbereitungen auf ihr Kommen, die ruhigen Gewissens vernachlässigt werden können, - und sicherlich sollen wir den Satz so verstehen. Der Satz "Die \Vahrscheinlichkeit, daß sie kommen, ist vernachlässigbar" entspricht in Wirklichkeit weniger dem Satz "Die Verletzungen, die er sich zuzog, sind vernachlässigbar'" als dem Satz "Die Gefährlichkeit seiner Verletzungen ist vernachlässigbar" . Beide Sätze müssen durch Bezugnahme auf ihre praktischen Implikationen verstanden werden - also durch Bezugnahme darauf, daß die Verletzungen derart sind, daß man keine Komplikationen befürchten muß und daß man keine Schutzmaßnahmen dagegen treffen muß, oder daß man es unter den gegebenen Umständen nicht erwarten oder befürchten muß und keine Vorbereitung dafür treffen muß, daß sie kommen. Das Wort "Gefahr" wird wie" Wahrscheinlichkeit" meistens in als Einheit dienenden Ausdrücken gebraucht - etwa: Gefahr von Komplikationen, des Ertrinkungstods, des Konkurses, oder von Verletzungen, die Gefährlichkeit eines rot sehenden Bullen oder von Hochspannungskabeln für Leben und Gesundheit, für den r:rieden oder die Schiffahrt. \"'<'enn wir über die Implikationen von Wahrscheinlichkeiten reden, ist - anders als
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beim Reden über Verletzungen - eine Bezugnahme auf Erfahrung weder nötig noch überhaupt sinnvoll. Wir können sagen, daß uns die Erfahrung lehrt, daß wir Hautabschürfungen nicht behandeln brauchen oder daß wir in England keine Temperaturen von 40° im Schatten erwarten müssen. Aber wir können weder davon reden, daß uns die Erfahrung lehrt, daß wir extrem Unwahrscheinliches nicht zu erwarten brauchen noch können wir davon reden, daß uns die Erfahrung lehrt, daß Sachverhalte mit großer Wahrscheinlichkeit -eher zu erwarten sind als solche mit kleiner Wahrscheinlichkeit. Entsprechend kann man fragen, warum oder unter welchen Umständen es nicht nötig ist, Hautabschürfungen zu behandeln oder woher wir das wiss~n. Aber man kann nicht fragen, warum ode-r unter welchen Umständen es nicht nötig ist, das außergewöhnlich Unwahrscheinliche zu erwarten und woher wir dies wissen. Solche Fragen stellen sich bei Gemeinplätzen nicht. Diese letzte Tatsache gibt uns einen Test in die Hand, mit dem wir einen großen Teil der vorgeschlagenen Definitionen von "Wahrscheinlichkeit" ausschließen können : Wenn eine Definition akzeptierbar sein soll, muß sie zumindest diese charakteristische Eigenschaft mit dem definierten Wort teilen. Jede Analyse von "Wahrscheinlichkeit"-, die diese Forderung nicht erfüllt, begeht den allgemeinen Fehlschluß, den G. E. Moore im Bereich der Ethik aufgedeckt hat und dort als "naturalistischen Fehlschluß" bezeichnet nato Genauso wie es offensichtlich wird, daß "richtig" nicht allein mit Hilfe der Erfüllung von Versprechen (z. B.) analysiert werden kann, wenn man sieht, daß die Fragen "Aber ist denn das Halten von Versprechen richtig?" und "Aber sollte man denn seine Versprechen halten?" jedenfalls nicht trivial sind; und genauso wie "unmöglich" nicht einmal in der Mathematik allein mit Hilfe von Widersprüchlichkeit analysiert werden kann, weil die Aussage, daß widersprüchliche Annahmen ausgeschaltet werden müssen, mehr als eine bloße Tautologie ist; genauso wird eben deutlich, daß "Wahrscheinlichkeit" nicht etwa mit Hilfe von Häufigkeit oder Verhältnissen von alternativen Möglichkeiten allein analysiert werden -kann, wenn man bemerkt, daß es sicherlich nicht leichtfertig ist -zu fragen, ob überhaupt, warum oder in welchem Bereich der Fälle beobachtete Häufigkeiten oder Verhältnisse von alternativen Möglichkeiten tatsächlich die angemessene Stützung für Behauptungen über Wahrscheinlichkeiten abgeben - d. h. für Behauptungen darüber, was wir erwarten müssen, womit wir rechnen müssen und so weiter. Der Versuch, das Was man unter der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses versteht, mit Hilfe soleher Dinge (Häufigkeit, Verhältnis von . . .) zu definieren, beinhaltet eine Verwechslung der Bedeutung des Begriffs "Wahrscheinlichkeit" mit den Gründen dafür, ein Ereignis als wahrscheinlich anzusehen (d. h. mit den Gründen dafür, es zu erwarten). Was wir auch immer unter dem Wort" Wahrscheinlichkeit" verstehen, und gleich ob es möglich ist, dieses Wort isoliert zu gebrauchen, diese beiden Aspekte sind sicherlich unterschieden. Wie bei so vielen dieser abstrakten Substantive, die aus Adjektiven gebildet sind und die die Philosophen von alters her verwirrt haben - also bei Substantiven wie "Güte", "Wahrheit", "Schönheit", "Richtigkeit", "Wert" und "Gültigkeit" - ist die Suche nach einem greifbaren Gegenstand, für den das Wort "Wahrscheinlichkeit" steht, wenn sie erst einmal begonnen wurde, zwangsläufig ohne Ende: Welcher neue Kandidat auch immer vorgeschlagen wird, die vernichtenden Fragen Moore's können auch bei ihm gestellt werden. Dennoch bedeutet die These, daß der Begriff "Wahrscheinlichkeit" nicht mit Hilfe
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von Häufigkeiten oder Verhältnissen von alternativen Möglichke1ten analysiert werden kann, nicht, daß die Bedeutung solcher Dinge in der praktischen Diskussion von Wahrscheinlichkeiten nicht wichtig ist und keiner Klärung bedarf. Eher umgekehrt. Denn die These zeigt, daß diese Dinge nicht als Konkurrenten um ein und "denselben Titel anzusehen sind - jedes mit dem Anspruch, das wahre Designatum des Worts "Wahrscheinlichkeit" zu sein ~ sondern als verschiedene Arten von Gründen, wobei man jede dieser Arten in den entsprechenden Kontexten und Umständen zur Stützung einer Behauptung verwenden kann, daß etwas wahrscheinlich ist oder eine" Wahrscheinlichkeit dieser oder jener Größe hat. Hierdurch stellt sich sofort die sehr interessante Frage, was dafür verantwortlich ist, daß in einigen Fällen und in einigen Umständen die relevanten Arten der Gründe, auf die man sich berufen muß, beobachtete Häufigkeiten sind, und warum man in anderen Fällen nach Verhältnissen von alternativen Möglichkeiten suchen muß. Die Unterscheidung hat etwas zu tun mit dem Unterschied zwischen objets trouves und Ereignissen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen einerseits, und den Ergebnissen unserer Arbeit andererseits. Der "ideale Würfel" unserer algebraischen Berechnungen ist sowohl ein theoretisches Ideal als auch die Herstellungsbeschreibung für den Hersteller. Wenn wir die Ergebnisse unserer Berechnungen über Verhältnisse von Möglichkeiten auf reale Würfel anwenden, unterstellen wir, daß die Hersteller nahe genug an das Ideal herangekommen sind, und diese Annahme ist für praktische Zwecke gewöhnlich hinreichend gut erfüllt. Wenn aber alle unsere Würfel auf Bäumen wachsen würden, anstatt von erfahrenen Technikern hergestellt zu werden, könnten wir es sehr wohl als notwendig empfiri.den, sie vor Gebrauch im Labor zu überprüfen. Wir würden "auf diese Weise schließlich auch bei Würfeln genausoviel mit Hilfe von Häufigkeiten über Wahrscheinlichkeiten reden wie mit Hilfe von Verhältnissen von Möglichkeiten. An dieser Stelle können wir untersuchen, warum sich die Definitionen mit Hilfe von Häufigkeiten und Verhältnissen alternativer Möglichkeiten als so anziehend erwiesen haben. Teilweise scheint dies Ergebnis eines übertriebenen Respekts vor der Mathematik zu sein. Deshalb ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, daß die Berechnungen, die wir in Algebra über die "Wahrscheinlichkeit", aus einem Gefäß hintereinander zwei schwarze Bälle zu ziehen, genauso reine Berechnungen waren wie die über "die Zeit, die vier Leute brauchen, um eine 1m x 1m x 2m große Grube auszugraben". Die ersteren Berechnungen haben keine engere Verbindung zur Wahrscheinlichkeit und werfen nicht mehr Licht auf die Bedeutung dieses Wortes, als es die anderen mit der Zeit oder ihrem metaphysischen Status zu tlJn haben. Der Versuch, ein "Ding" zu finden, mit dessen Hilfe man das isolierte Wort "Wahrscheinlichkeit" analysieren kann und W9von man annehmen kann, daß alle Wahrscheinlichkeits aussagen tatsächlich über dieses Ding gehen, stellt sich deshalb als verfehlt heraus. Das heißt nicht, daß man diesem Wort keine Bedeutung geben kann. "Wahrscheinlichkeit" hat eine völlig einwandfreie Bedeutung, die man durch Untersuchung der Art und Weise herausfinden muß, in der dieses Wort sowohl in Alltagszusammenhängen als auch in wissenschaftlichen Kontexten verwendet wird in solchen Sätzen wie "Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit bzw. mit der Wahrscheinlichkeit 0.8 der Fall, daß ... " oder "mit aller Wahrscheinlichkeit". Mit solchen Untersuchungen muß man also eine Philosophie der Wahrscheinlichkeit anfan-
66 gen, nicht mit Fragen wie "Was ist Wahrscheinlichkeit?" und "Was drücken Wahrscheinlichkeitsaussagen aus?" - wenn wir nicht einen falschen Anfang wählen wollen. Zu sagen, ein Satz sei. eine Wahrscheinlichkeitsaussage, heißt nicht, zu unterstellen, es gebe irgend ein Ding, wO,rüber der Satz geht oder welches er ,'ausdrückt. Es gibt keine einheitliche Antwort auf die Frage: "Was drücken Wahrscheinlichkeitsaussagen aus? Worüber gehen sie?" Es gibt verschiedenes, was sie ausdrücken können. Einige gehen über das morgige Wetter, einige über meine Lebenserwartung. Wenn wir auf einer einheitlichen Antwort bestehen, tun wir dies auf eigene Gefahr. Wie ein verfehlter Anfang unsere Untersuchungen vermasseln kann, wird deutlich, wenn wir den zweiten Punkt be,trachten: Das Problem der Objektivität von Wahrscheinlichkeitsaussagen. Es gibt sicherlich einige wichtige Gründe dafür, weshalb die subjektivistische Darstellung unzureichend ist und weshalb wir es wie Kneale als natürlich ansehen, von Wahrscheinlichkeit als etwas Objektivem zu reden, das unabhängig von unserem Denken ist und das "entdeckt" werden muß. So lange wir aber damit anfangen, nach dem Designatum des Wortes" Wahrscheinlichkeit" zu suchen, b~steht die Gefahr, daß wir annehmen, dies müsse gefunden werden, wenn wir die Objektivität von Wahrscheinlichkeitsaussagen erhalten wollen. Auf diese Weise wird das Problem, zu rechtfertigen, warum, wir solche Aussagen als objektiv bezeichnen, von Anfang an mit der vergeblichen Suche nach der Eigenschaft der Welt verknüpft, auf die wir uns 'mit dem Wort" Wahrscheinlichkeit" berufen. Dies ist völlig unnötig, denn die Objektivität, die wir tatsächlich brauchen, ist von ganz anderer Art. Um welche Objektivität es dabei geht, daran können wir uns erinnern, wenn wir uns ins Gedächtnis zurückrufen", wie eine Versicherungsgesellschaft zwischen einer Schätzung der Wahrscheinlichkeit, auf die man sich vernünftigerweise verlas~en ~ann', und einer Schätzung, die fehlerhaft oder inkorrekt ist, unterscheiden kann. Wenn der Arzt lügt, der Computer die Tabellen falsch abliest oder die Daten selbst unzureichend sind, ist die Schätzung, die die Gesellschaft von den Chancen des Kunden, bis zum Alter von achtzig zu leben, machen wird, nicht von der Zuverlässigkeit, die die Gesellschaft erreichen kann. Wenn der Fehler ans Licht kommt, können sie also zwischen der "wirklichen cc Chance des K,unden, achtzig Jahre zu werden, und ihrer ersten, fehlerhaften Schätzung unterscheiden. Wir sahen außerdem, wie sie - wenn die Jahre vorbeigehen und die relevanten Faktoren sich ändern - weiter zu der Unterscheidung kommt zwischen der bestmöglichen Schätzung, die zu dem Zeitpunkt, als die Police ausgestellt wurde, gemacht wurde (bzw. hätte gemacht werden können), und der Schätzung, von der sie nun im Lichte späterer Ereignisse 'sieht, daß sie zuverlässiger gewesen wäre. Die Medizin macht unerwartet rasche Fortschritte und dieser Typ von Herzkrankheit wird gemeistert, so daß die Lebenserwartung ihres Patienten größer wird. Sie unterscheidet deshalb die Chance, achtzig zu werden, die er "tatsächlich hatte" bzw. haben müßte, von der Chance, die man ihm zunächst vernünftigerweise zuschreiben mußte. In beiden Fällen trifft die Versicherungsgesellschaft diese Unterscheidungen, weil es ihr Geschäft ist, Schätzungen anzugeben, auf die man sich verlassen kann. Es geht ihr unmittelbar um die Zuverlässigkeit ihrer Schätzungen. Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit - dies ist es, was eine "objektive" Schätzung der Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis von einer bloßen Äußerung eines zuversichtlichen Glaubens unterscheidet. Der Fehler der Subjektivisten (die nur über Grade des Glaubens reden) liegt daran, daß sie die Notwendigkeit
67 übersehen, daß .schätzungen der Wahrscheinlichkeit zuverlässig sein müssen. Welche Faktoren relevant sind, welche Art der Klassifikation sich tatsächlich als am zuverlässigsten herausstellen wird - dies sind Dinge, die Versicherungsgesellschaften und Versicherungsmathematiker nur .im Laufe der Zeit aus der Erfahrung herauskriegen können. Aber wie auch immer die Antworten auf diese Fragen lauten werden - wir brauchen mit diesen Fragen sicher nicht erst bis dahin warten, bis wir endgültig herausgefunden haben, was mit dem Wort "Wahrscheinlichkeit" bezeichnet wird wenn wir dies tun müßten, wären wir nie in der Lage, diese Frage zu stellen.
WAHRSCHEINLICHKEITSBEZIEHUNGEN UND PROBABILIFIKATION Kehren wir zum ersten Kapitel von Kneales Probability and Induction zurück. wir können jetzt erkennen, wie Kneale durch seinen Versuch zu beweisen, daß Wahrscheinlichkeit eine Art fast greifbarer Objektivität besitzt, die sie weder haben kann noch zu haben braucht, sogar die Möglichkeit dieser anderen Objektivität opfert, die wir in ~er Praxis fordern und die den Begriff der Wahrsch~inlichkeit zu dem macht, \\'as er 1st. Kneale sieht klar genug, daß man Wahrscheinlichkeit nicht als eine innere Eigenschaft behandeln kann', die jedes Ereignis oder jeder Satz besitzt, das bzw. der zu Recht als wahrscheinlich bezeichnet werden kann: "Kein Satz (wenn er nicht entweder ein Gemeinplatz ist oder eine Absurdität) enthält irgendetwas in sich selbst, das angibt, daß wir Vertrauen in einem bestimmten Grad in den Satz haben sollten.'''l - schließlich kann jemand etwas berechtigt (wenn auch irrtümlich) als wahrscheinlich ansehen, von dem jemand anderer genauso berechtigt sagt, daß es falsch ist. Er gibt deshalb die Forderung nach einem einzigen Ding auf, das als "die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses" bezeichnet werden kann. Statt aber den Anschein zu erwecken, er gebe dem Subjektivisten nach und statt die Suche danach, was alle Wahrscheinlichkeitsaussagen gemeinsam ausdrücken, als vergeblich anzusehen, zieht er es vor, "Wahrscheinlichkeit" als "Relation" zwischen der vorsichtig formulierten Aussage und den Gründen, die dafür sprechen, so zu behaupten, zu definieren. Eine "Wahrscheinlichkeitsrelation",so wird gesagt, besteht zwischen den Daten und der Aussage; von den Daten wird gesagt, es "probabilifiziere" die Aussage in irgendeinem bestimmten 'Grad. Die Wahrscheinlichkeit, die wir einem Ereignis zuschreiben, wird auf diese Weise immer noch so aufgefaßt, als sei sie in der Natur eines "Dings" (nämlich in objektiven Relationen) enthalten, aber es ist jetzt irgendeines von vielen verschiedenen "Dingen" - entsprechend den einem zur Verfügung stehenden Daten. Wenn dies überraschend erscheint, liegt das nach Kneale daran, daß "unsere Wahrscheinlichkeitsaussagen gewöhnlich elliptisch sind". Die jeweilige Menge der beweisenden Tatsachen, die dabei als Relevant unterstellt ist, "ist nicht unmittelbar zu erkennen. "2 Kneales. Vorschlag ist aus mehreren Gründen unglü<;klich. Einmal ganz abgesehen von den in diesem Vorschlag enthaltenen begrifflichen Abweichungen wird Kneale durch ihn dazu gebracht, der Wahrscheinlichkeit gerade die Art von Objektivität abt a.a.O., § 2, S. 8 ..
2 a.a.O., § 3, S. 9.
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zusprechen, auf die es wirklich ankommt. Wenn eine Versicherungsgesellschaft neue Information über einen Kunden erhält und wenn im Lichte dieser Information eine neue Schätzung seiner Lebenserwartung g~macht wird, sagt man gewöhnlich, daß diese Schätzung genauer (das heißt zuverlässiger) ist oder daß sie näher an seine tatsächliche überlebenschance herankommt. Kneale gibt zu, daß es diesen Gebrauch gibt, aber er mißbilligt ihn: "Manchmal reden wir in solchen Fällen so, als ob es eine isolierte Wahrscheinlichkeit gäbe, daß der Mann sechzig Jahre alt wird, als wäre diese Wahrscheinlichkeit unabhängig von allen Daten und als wäre unsere zweite Schätzung in dem Sinn besser, daß sie dieser isolierten Wahrscheinlichkeit näher kommt als unsere erste Schätzung. Aber diese Ansicht ist mit Sicherheit falsch. "1 Kneale ist zur Ablehnung dieser Ausdrucksweise gezwungen, weil es die Versicherungsgesellschaft nach seiner Auffassung nicht mehr n1it derselben Wahrscheinlichkeit zu tun hat, wenn ·sie neue Daten gefunden hat. Sie kann also strenggenommen ihre Schätzung nicht korrigieren. Dies ist nur ein Spezialfall des allgemeinen Paradoxons, in das er durch seine Doktrin, daß "Wahrscheinlichkeit relativ zum Beweismaterial ist", hineingetrieben wird. Gemäß Kneale kann man von zwei Leuten nicht sagen, daß sie sich bezüglich der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses widersprechen, wenn sie im Besitz unterschiedlicher Beurteilungsdaten sind. Sie können sich anscheinend nicht darüber streiten, inwieweit man so handeln sollte, als ob p gelte und inwieweit man sich auf die Behauptung, daß p, festlegen sollte - denn sie reden über verschiedene Wahrscheirilichkeitsrelationen! Kneales Doktrin entgeht noch nicht einmal dem naturalistischen Fehlschluß, obwohl diese Tatsache teilweise durch seine Terminologie verschleiert wird. Denn es gibt zwei mögliche Interpre~ationen seiner Ausführungen, von denen die eine harmlos ist, die zweite verfänglich - und Kneale scheint auf diese zweite Möglichkeit festgelegt zu sein. Erstens könnte man annehmen, daß Kneale wollte, daß wir "erkennen, daß ein hoher Grad der Probabilifikation z. B. zwischen der zugrunde gelegten Tatsache, daß ein dreißigjähriger Mann eine chronische Herzkrankheit hat, und der Aussage, daß er nicht b-.is zum Alter von achtzig Jahren leben wird, besteht" als gleichbedeutend ansehen mit "korrekterweis~ zur Schlußfolgerung kommen, daß wir im Hinblick auf seinen physischen Zustand nicht annehmen können, daß dieser Mann solange lebt (obwohl wir nicht vergessen dürfen, daß einer von tausend solcher Fälle weitermacht)." Wenn dies die richtige Interpretation wäre, könnte man nichts dagegen einwenden, denn dann würde uns Kneale eine mögliche, wenn auch umständliche Art und Weise anbieten, die Bedeutung solcher Sätze wie "es gibt eine kleine Wahrscheinlichkeit dafür, daß . . . ce und "aller Wahrscheinlichkeit nach" zu erklären. Aber dies scheint nicht seine Intention zu sein. Wenn sie es nämlich wäre, könnte man nicht einmal die Frage stellen, die nach Kneale jede adäquate Analyse der Wahrscheinlichkeits relation beantworten muß, die Frage nämlich: "Warum ist es rational, als Basis für unser Handeln eine Aussage herzunehmen (oben: daß er nicht überleben wird), die in dieser Relation zu den uns zur \1erfügung stehenden Daten steht (d. h. die in einem hohen Maße probabilifiziert ist)? Denn dies würde bedeuten, eine Binsenwahrheit in Zweifel zu ziehen. Es würde sich dabei ja nur um eine komplizierte Form der Frage handeln: .,' Warum brauchen wir außergewöhnlich U nwahrscheinliches nicht zu erwarten?" 1 a.a.O., § 3, S. 10.
69 Die bei Kneale auftretenden Wahrscheinlichkeitsrelationen müssen demgemäß. als einzelne Entitäten ~ufgefaßt werden, die logisch gesehen zwischen "detaillierten Daten über das zu erwartende Alter des Kunden und seinen physischen Zustand einerseits und der praktischen Konsequenz andererseits kommen, daß man nicht erwarten muß, daß er überlebt (obwohl natürlich einer von tausend überlebt). Sofort kehren alle Einwendungen gegen eine naturalistische Definition wieder. Sogar wenn man immer bestimmte Entitäten "zwischen" den Daten und den darauf aufbauenden Schlußfolgerungen finden würde, könnten wir vermutlich nur durch Erfahrung entdecken, daß man sich auf diese Entitäten in einigen bzw. in allen Fällen als Führer in die Zukunft verlassen kann - entsprechend wie bei der grünen Wolke draußen auf dem Meer, die einen Sturm vorhersagt. Die Ausdrücke "Wahrscheinlichkeit", "wahrscheinlich", und "aller Wahrscheinlichkeit nach" können aus den gleichen Gründen genausowenig mit Hilfe solcher Entitäten analysiert werden wie mit Hilfe von Häufigkeit und Verhältnissen von alternativen Möglichkeiten. In diesem "Fall könnten wir zu Recht die Frage stellen, die Kneale für wichtig hält - warum es vernünftig ist, sich auf Wahrscheinlichkeitsrelationen und nicht auf bloßen Glauben zu verlassen, wenn unser Wissen nicht hinreicht. Diese Frage wäre jetzt nicht weniger trivial als die Frage, warum es vernünftig ist, sich auf Margarine, nicht aber auf Süßstoff zu verlassen, wenn Butter und Zucker knapp sind. In beiden Fällen wäre die Frage jedoch entweder durch Bezugnahme auf unmittelbare Erfahrung oder auf unabhängige Inform"ation zu beantworten wie etwa, daß Margarine genug Fette und Vitamine enthält, um einen sowohl nahrhaften als auch schmackhaften Ersatz für Butter abzugeben, während Süßstoff - auch wenn er süß schmeckt - keinen Nährwert hat. Möchte Kneale, daß wir die Wahrscheinlichkeitsrehitionen als die Vitamine der Wahrscheinlichkeit ansehen? Nur wenn er sie als solche ansieht, läuft seine entscheidende Frage auf mehr als nur auf einen Gemeinplatz hinaus. Aber in diesem Fall können wir nicht hoffen, daß uns diese Wahrscheinlichkeitsrelationen eine Analyse des Begriffs "Wahrscheinlichkeit" liefern. Alles Reden über Vitamine, Kalorien, Proteine und Kohlehydrate allein kann nicht als Analyse der Bedeutung von "ernähren" dienen. Kneale läßt eine Frage sehr im Dunkeln, die Frage nämlich, welchen Raum er für irgend etwas sieht, das zwischen den Tatsachenfeststellungen über eine Situation und der Wahrscheinlichkeit kommt, die wir einem zukünftigen Ereignis im Lichte dieser Tatsachen zuschreiben können. Er nimmt anscheinend an, daß es zwei wesentliche Schlüsse zwischen den Daten und der Schlußfolgerung gibt, nicht nur einen. Es stimmt, daß einige Merkmale unseres Gebrauchs dies nahelegen. Wir sagen zum Beispiel: "Er hat mit dreißig eine chronische Herzkrankheit bekommen, deshalb ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß er achtzig Jahre alt wird, deshalb brauchen wir nicht damit zu rechnen, daß er so lange lebt." Wenn wir aber nach den Gründen dafür gefragt werden, die Möglichkeit seines überlebens nicht zu beachten, verweisen wir sofort auf sein Alter, seinen physischen Zustand und auf die Statistiken: "Es wird nichts wesentliches hinzugefügt, wenn man stattdessen sagt: "Wir brauchen nicht mit seinem überleben zu rechnen, weil die Wahrscheinlichkeit dafür gering ist, weil er mit dreißig eine chronische Herzkrankheit bekommen hat." Unsere Gründe auf diese Weise anzuordnen wäre die Angabe einer künstlich komplizierten Argumentation wie etwa, ,Dein Land braucht D-I-C-H, und D-I-C~H schreibt man dich ce.
70 IST DAS WORT "WAHRSCHEINLICHKEIT" ZWEIDEUTIG? Die hier gegen Kneales Ansichten vorgebrachte Kritik mag übergenau erscheinen. Sie ist vielleicht peinlich gen au - aber ich will von nun an versuchen zu zeigen, wie wichtig es für Philosophen ist, die hier von uns so stark betonten Unterscheidungen zu beachten. Kneales Buch ist ein so sorgfältiger und kluger Beitrag zu der neueren Kontroverse über die Philosophie der Wahrscheinlichkeit, wie man ihn sich nur wünschen kann. Dennoch hoffe ich, daß es deutlich geworden ist, inwieweit gerade die Probleme, mit denen er sich selbst beschäftigt, als Ergebnis eines falschen Verständnisses des wahren Charakters von Modaltermen wie "wahrscheinlichce und "Wahrscheinlichkeit" entstehen. Wenn man die chrakteristische Art und Weise erkannt hat, in der solche Tenne zur Einschränkung der Rolle unserer Behauptungen und Schlußfolgerungen dienen, wird man die Suche nach einem Designatum für sie nicht mehr ernst nehmen. Man kann die Vermutung nicht loswerden, daß die ganze endlose Auseinandersetzung nur so lange anhält, wie man diese Terme nicht als Modalterme expliziert, sondern als irgendetwas anderes. Zu dieser Schlußfolgerung wird man noch stärker gezwungen, wenn man sich die Veröffentlichungen von Rudolf Camap zu diesem Thema ansieht. In seinem Buch Logical Foundations 0/ Probability baut er ein kompliziertes mathematisches· System für die Handhabung des Begriffs "Wahrscheinlichkeit" und eng verwandter Begriffe auf, und er bringt seine Ansichten über die Hauptprobleme vor, die aus diesem Begriff erwachsen. Aus dem philosophischen Teil seines Buches müssen insbesondere zwei Sachen diskutiert werden. Erstens eine zentrale Unterscheidung, die er zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen des Wortes " Wahrscheinlichkeit" macht und auf der 'er besteht. Seiner Meinung nach sind diese zwei Bedeutungen unglücklichenyeise "durch dasselbe wohlbekannte, aber zweideutige Wort bezeichnet". Außerdem müssen zweitens die Argumente diskutiert werden, die er gegen die Zulassung psychologischer überlegungen in der Diskussion von Wahrscheinlichkeit und verwandter Gebiete vorbringt. Diese Argumente würden Carnap zufolge zweifellos stark gegen die in diesem Kapitel vertretene Ansicht sprechen. Bezüglich der Darstellung des ersten Punktes findet Carnap viele Verbündete. Kneale selbst redet davon, daß es "zwei Arten der Wahrscheinlichkeit, ... zwei Bedeutungen von 'Wahrscheinlichkeit' gibt, wovon die eine bei Angelegenheiten des Zufalls anwendbar ist, die andere auf die Ergebnisse von Induktionen". 1 Auch J. o. U rmson hat ein Papier über" Two Senses of 'Probable'" geschrieben, in dem er für eine ähnliche Unterscheidung eintritt, und seit F. P. Ramsey haben Philosophen oft Unterscheidungen dieser Art angedeutet. Es ist natürlich leicht genug, zu zeigen, daß es viele unterschiedliche Situationstypen gibt, in denen wir das Wort "Wahrscheinlichkeit" und damit zusammenhängende Wörter verwenden. Aber heißt das, daß das Wort eine entsprechend große Zahl an Bedeutungen besitzt? Wir sahen im ersten Kapitel dieses Buches bezüglich Unmöglichkeit und Möglichkeit die Gefahren voraus, die es mit sich bringt, zu schnell zu einer solchen Schlußfolgerung überzugehen. Urmson selbst hat diese Schlußfolgerung im Fall des Wortes "gut" explizit abgelehnt. Es besteht kein Zweifel daran, daß ich mit 1 a.a.O., § 3, S. 13; § 6, S. 22.
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)der Äußerung "Es ist im höchsten Grad wahrscheinlich, daß die Zahlenfolge, die man durch zwanzigmaliges Werfen eines Würfels erhält, mindestens eine sechs enthält" etwas anderes meine als mit der Äußerung "Es ist höchst wahrscheinlich daß Hodgkins Erklärung der Rolle von Phosphor bei der nervlichen Reizleitung die 'richtige ist": Aber sind. die Un~erschiede zwis~hen diesen beiden Sätzen denn nicht völlig durch dIe UnterschIede zWIschen den zweI Arten von Untersuchungen erklärbar um ' die es hier geht? Ferner, wenn man darauf besteht, daß zwei Bedeutungen von "wahrscheinlich" involviert sind, gewinnt man nichts, verliert aber einiges. Wenn man die Korrektheit oder Inkorrektheit einer wissenschaftlichen Hypothese betrachtet, ist die Art des Beweismaterials, auf das man Bezug nehmen muß, natürlich von demjenigen verschieden, das sich auf eine Vorhersage übers Würfeln. bezieht. Insbesondere kann man in dem zweiten Fall Berechnüngen anstellen, die schwerlich im ersten angewandt werden- können. Wenn wir aber nicht noch einmal die Gründe dafür, etwas als wahrscheinlich anzusehen, mit der Bedeutung der Aussage verwechseln wollen, daß es wahrscheinlich ist, brauchen wir daraus nicht zu folgern, daß es eine Anzahl unterschiedlicher Bedeutungen von" wahrscheinlich" und von" Wahrscheinlichkeit" gibt. Wir sollten dies tatsächlich auch nicht sagen, denn das Wort "wahrscheinlich" dient in beiden Sätzen einem ähnlichen Zweck: Beide Male geht es darum, inwieweit wir die Aussage (entweder daß Hodgins Erklärung korrekt ist oder daß eine Sechs auftreten wird) akzeptieren und uns auf sie festlegen sollten. Nehmen wir stattdessen an, jemand sagt: "Ich weiß, daß die Erklärung von Hodgins korrekt ist" oder "Ich weiß, daß mindestens eine Sechs dabei sein wird, wenn du diesen Würfel zwanzigmal wirfst". Auch hier ist die Art des für die zwei Behauptungen einschlägigen Beweismaterials sehr verschieden. Aber folgt daraus, daß man das Wort "wissen" jetzt in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet? Und in einer nochmals anderen Bedeutung, wenn man in der Mathematik sagt: "Ich weiß, daß die Quadratwurzel von 2 irrational ist"? Sicher ist in beiden Fällen die Berufung auf Zweideutigkeit ein 'Zu leichter Ausweg. An der Forderung Carnaps, daß man zwei Bedeutungen des Wortes "Wahrscheinlichkeit" oder zwei v~rschiedene Begriffe der Wahrscheinlichkeit unterscheiden sollte, die als "Wahrscheinlichkeit 1" und "Wahrscheinlichkeit2H zu bezeichnen sind), ist also an sich nichts Neues. Er sagt, daß wir einerseits den logzschen Begriff haben (" Wahrscheinlichkeit 1ce), der den Grad der Stützung angibt, die eine bestimmte Menge von Beweisen für eine Hypothese liefert. Andererseits gibt es den empirischen Begriff ("Wahrscheinlichkeit2"), der es einfach mit der relativen Häufigkeit von Ereignissen oder Dingen zu tun hat, die eine bestimmte Eigenschaft unter Elemen ten der Klasse von Ereignissen oder Dingen haben, .die eine andere Eigenschaft haben. Neu ist bei Carnap die exakte Art und Weise, in der er diese Unterscheidung versteht, und die Ausführlichkeit ihrer Behandlung. Zum Beispiel besteht er darauf, daß es sich hier nicht um komplementäre Aspekte eines einzigen Begriffs handelt, sondern um zwei ganz verschiedene Bedeutungen des Wortes "Wahrscheinlichkeit" - um eine reine Zweideutigkeit, auch wenn es vielleicht möglich ist, für sie eine etymologische Erklärung zu geben. Er legt nur die Schlußfolgerung nahe, daß Philosophen, die mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit nicht zu Rande gekommen sind, einfach durch diese Zweideutigkeit irregeführt worden sind, daß sie über ver-
72 schiedene Dinge geredet haben wie Leibniz und Descartes in dem berühmten Disput über die Natur der vis viva, die (wie wir heute erkennen können) sich völlig verträgliche Wahrheiten entgegenhielten, der eine über Bewegungsmoment, der andere über kinetische Energie. Man kann zugeben, daß ein bestimmtes Maß an Mißverständnissen in die meisten Kontroversen über Wahrscheinlichkeit eingeht, und dennoch der Meinung sein, daß Carnap in seinen Behauptungen _zu weit geht. Nicht jeder in der Philosophie zu ziehende Unterschied kann angemessen als eine Unterscheidung von verschiedenen Bedeutungen eines Wortes dargestellt werden. Eine solche Darstellung verdeckt vielmehr oft die wirkliche Quelle von philosophischen Schwierigkeiten und läßt einen meinen, daß ein echtes Problem weggezaubert wurde. Carnaps Darstellung der Art und Weise, in der Beweismaterial eine wissenschaftliche Theorie stützen kann, muß gesondert betrachtet werden. Im Augenblick wollen wir uns auf seine angebliche Unterscheidung zwischen Wahrscheinlichkeit1 und Wahrscheinlichkeit2 konzentrieren und nachprüfen, ob diese zwei Dinge tatsächlich so unterschiedlich sind, wie er sie zeichnet. Fangen wir mit der Wahrscheinlichkeit2 an. Die Schlüsselfrage, die wir uns stellen müssen, ist, ob "Wahrscheinlichkeit" jemals faktisch so verwendet wird, daß sie nur ein Verhältnis oder eine relative Häufigkeit bedeutet. Zweifellos war es üblich, dies zu behaupten. Zum Beispiel erklärt von Mises, daß der Grenzwert der relativen Häufigkeit von Dingen der Klasse Bunter Dingen der Klasse A die "Wahrscheinlichkeit" genannt wird, daß A's auch B sind, und Carnap schließt sich ihm in diesem Punkt an. Aber ein flüchtiger Blick auf die Art und Weise, in der die Wahrscheinlichkeitstheorie praktisch angewandt wird, sollte ausreichen, diese Ansicht in Zweifel zu ziehen. Betrachten wir zur überprüfung dieser Ansicht folgende Tabelle:
a
b c
I 25,785 32,318 16,266
Tl 2821 2410 785
111 0,109 0,075 0,047
Die Zahlen in der ersten Spalte sollen die Anzahl der Leute in England angeben, die bestimmten Kategorien "ace, "b", und "c" angehören und am 1. Januar 1920 lebten. Die Zahlen der zweiten Spalte sollen die Anzahl derselben Leute angeben, die vor dem ersten Januar 1930 starben. die Spalte 111 gibt die Zahlenverhältnisse der beiden vorausgehenden Spalten an. Man muß jetzt die Frage stellen: "Welche rJberschrift sollen wir über die Spalte 111 setzen?" Wie sollen wir - um den Ausdruck von von Mises zu gebrauchen - diese Verhältnisse nennen? Die Antwort ist, daß es keine überschrift gibt, die als einzige angemessen wäre. Wir müssen die in der Tabelle angegebenen Verhältnisse c nicht durch irgendein bestimmtes Wort benennen. Wie wir sie tatsächlich nennen, hängt von unseren Gründen ab, aus denen wir uns für sie interessieren und insbesondere von der Art der Konsequenzen, die wir aus ihnen ziehen wollen. Betrachten wir drei Möglichkeiten. Angenommen wir sind Statistiker und die Tabelle ist für uns nur eine Beispielstabelle der angewandten Statistik. Es kann dann sein, daß wir nur Konsequenzen mathematischer Art aus der Tabelle ziehen wollen. In diesem Fall bietet sich als überschrift für die Spalte 111 an: "Proportionale Sterblichkeit über die Dekade 1920-1929". An-
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dererseits sind wir vielleicht mit Forschungen üher Sozialmedizin beschäftigt. Die Tabelle kann uns eine Möglichkeit liefern, die körperliche Verfassung der Leute in den Klassen a, bund c ein Jahr nach Ende des ersten Weltkriegs einzuschätzen. Wir können uns dementsprechend dafür interessieren, aus der Tabelle rückblickend Konsequenzen auf den Anfang der Dekade zu ziehen. Da wir in diesem Fall die in· der Tabelle aufgeführten Verhältnisse als Maß für die körperliche Verfassung zu jener Zeit auffassen, bietet sich als überschrift an: "Anfälligkeit von Mitgliedern einer gegebenen Klasse am 1. 1. 1920. ce Eventuell sind wir auch Versicherungsmathematiker. Die angeführten TabeJlen sind dann ein Teil unserer Tabellen der Lebenserwartung. Wir interessieren uns für sie um der Konsequenzen willen, die wir aus ihnen für Vorhersagen ziehen können. Die in Spalte 111 angeführten Brüche werden als Maß für die Aussichten genommen, die die Mitglieder jeder der Klassen haben, weitere zehn Jahre zu leben. Als· überschrift bietet sich etwa an: "überlebenswahrscheinlichkeit bis zum 1. 1. 40. ce ·Das Wort "Wahrscheinlichkeit" wird also in der Praxis nicht Brüchen oder relativen Häufigkeiten als solchen zugeschrieben. Häufigkeiten werden nur insoweit als Wahrscheinlichkeiten bezeichnet, ob wir sie beim Aufstellen von Konsequenzen über gegenwärtig unbekannte Sachverhalte als Maß der Wahrscheinlichkeit verwenden. Tatsächlich hat man sogar schon den entscheidenden logischen Schritt vollzogen, wenn man Verhältnisse als Wahrscheinlichkeiten bezeichnet. Das Wissen darüber, daß nur ein unbedeutender Teil von denen, die unter der Krankheit leiden, die sich Jones zugezogen hat, noch zehn Jahre leben, ist sicher der beste Grund dafür, zu sagen, daß wir kein Recht zu der Erwartung haben, daß er noch so lange leben wird. Aber aus der Information, daß die Wahrscheinlichkeit dafür, daß er so lange lebt, verschwindend ist, folgt diese Konklusion. Folglich können wir von Mises kritisieren, wenn er erklärt, .die Grenzwerte der Verhältnisse werden einfach "Wahrscheinlichkeiten" genannt. Wenn dies als Analyse unseres bestehenden Begriffs. der Wahrscheinlichkeit intendiert ist, dann ist sie falsch . Wenn es als eine stipulative Definition intendiert ist, handelt es sich um eine höchst unglückliche - er sollte vielmehr sagen, daß diese Brüche ein Maß der Wahrscheinlichkeit dafür sind, daß z. B. A's auch B sind. Es ist interessant zu bemerken, daß Laplace in seiner Erläuterung der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie diese Falle vermieden hat. Er führte den Bruch "Zahl der günstigen Fälle / Zahl der möglichen Fälle cc nicht als Definition von "Wahrscheinlichkeit" ein, sondern als Maß für den Grad der Wahrscheinlichkeit und somit als Maß für unsere esperance morale. Und obwohl er diesen Ausdruck an späterer Stelle seiner Abhandlung als Definition bezeichnete, machte er deutlich, daß dieses Wort in einem weiten Sinn v~rstanden werden sollte, um es als operationale Definition oder "Maß" im Gegensatz zu einer philosophischen Analyse oder einer Wörterbucheintragung abzugrenzen. Das zweite Bein, auf dem Carnaps Unterscheidung ruht, ist also schwach. Häufigkeiten werden nur dann als Wahrscheinlichkeiten bezeichnet, wenn sie als Stützung für eingeschränkte Vorhersagen, für praktische Verhaltensweisen und für ähnliches verwendet werden. Deshalb ist "Häufigkeit" überhaupt keine Bedeutung des Wortes , , Wahrscheinlichkeit", und· Carnaps Darstellung der Wahrscheinlichkeit2 ist daher unannehmbar. Selbst wenn alle unsere Berechnungen nur mit Häufigkeiten operieren, ist die Schlußfolgerung "Also ist die Wahrscheinlichkeit für h so und so groß
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74 mehr als ein Bericht über das Ergebnis einer Rechnung. Der entscheidende Punkt dieser Schlußfolgerung ist, daß sie aus der Berechnung die praktische Konsequenz zieht: "Man ist deshalb berechtigt, seine Hoffnung in dem und dem Maße auf h zu setzen." Der Ausdruck "auf ... setzen" kann hier mehr oder weniger wörtlich bzw. übertragen verstande; werden - je nachdem, ob die hier folgenden Handlungen finanzieller Art sind (wie bei Versicherungsmathematikem und Börsenspekulanten) oder aber nicht. Auch bezüglich Carnaps Diskussion der Wahrscheinlichkeit 1 treten Schwierigkeiten auf. Wie Kneale sieht \=arnap Aussagen der Form "Die Wahrscheinlichkeit von h ist so und so groß" als elliptisch an, weil in ihnen jeder explizite Bezug auf die Datenmenge von Beweismaterial fehlt, unter deren Verwendung die Wahrscheinlichkeit geschätzt wurde. Ebenfalls wie Kneale zieht es Carnap auch vor, den Term "Wahrscheinlichkeit" für die Relation zwischen einer Hypothese h und den relevanten Daten e zu reservieren. Er behandelt den Term also als Funktion zweier verschiedener Variablen, e und h. Dies ist eine der in der obigen Diskussion der Ansichten Kneales bemerkten begrifflichen Abweichungen. Wie wir dort sahen, wird die Wahrscheinlichkeit eines Dings normalerweise als unterschieden angesehen von der Stützung, die die Ansicht, daß das Ereignis stattfinden wird, durch eine bestimmte Datenmenge erfährt. Kneales Darstellung verdeckt den Unterschied zwischen diesen beiden Sachen. Ober Stützung durch Daten zu reden heißt natürlich, sowohl über Hypothesen als auch über Daten zu reden, und verschiedene Datenmengen können derselben Hypothese verschiedene Grade der Stützung verleihen. Der Begriff der Stützung enthält - im Gegensatz zum gewöhnlichen Gebrauch von" Wahrscheinlichkeit" - mit Notwendigkeit zwei Variablen: Es gibt immer etwas, was stütz.t, und etwas, was gestützt wird. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß Carnap solche Wörter wie "Stützung" im Laufe seiner Erklärung von Wahrscheinlichkeit1 gebrauchen muß. Diese Tatsache ist bezeichnend. Viel Verwirrung und viele Mißverständnisse wären vermieden worden, wenn Carnaps Wahrscheinlichkeit1 und die entsprechenden Relatiopen in Abhandlungen von Keynes bis zu Kneale als "Stützungsrelationen" bezeichnet worden wären und gar nicht erst als "Wahrscheinlichkeitsrelationen". Diese Änderung würde in keiner Weise die mathematische und fotmale Weise der Diskussion verändern. Aber sie würde deren Interpretation tausendmal so treffend machen. Viele von uns werden niemals damit übereinstimmen, daß Wahrscheinlichkeit in einem nicht bloß epigrammatischen Sinn relativ zum Beweismaterial sein soll. Aber wir würden sofort damit. übereinstimmen, daß Stützung der Natur der Sache nach genauso abhängig von den Daten ist wie von der Schlußfolgerung. Wenn hier irgendetwas elliptisch ist, ist es weniger das Alltagswort "wahrscheinlich" als vielmehr die Fachausdrücke "Wahrscheinlichkeitskalkül" , "Wahrsch~inlichkeitsrelation" und "Probabilifikation ce. Wie Kneale selbst erkannt hat, berechtigen die formalen Eigenschaften eines Kalküls allein nicht zu der Bezeichnung "der Wahrscheinlichkeitskalkül". Es muß sich vielmehr um den Kalkül handeln, der dem Gebrauch bei der Schätzung von Wahrscheinlichkeiten angemessen ist - d. h. bei der Schätzung darüber, wie viel Vertrauen wir auf diese oder jene Hypothese setzen dürfen. In dieser Hinsicht sind Stützungs relationen genauso zu behandeln wie Häufigkeiten. In der Praxis bezeichnen wir Grade der Stützung und Bewährung als solche
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nicht als Wahrscheinlichkeiten. Nur insoweit wir an einer Hypothese h interessiert sind, wird - wenn die gesamte zur Verfügung stehende Datenmenge eist - die Stützungsrelation mit hund e als Argumenten ein Maß der Wahrscheinlichkeit, die wir h zuschreiben dürfen. Bei Stützungsrelationen ist genauso wie bei Häufigkeiten die Schlußfolgerung über h, zu der wir durch Bezugnahme auf_die uns zur Verfügung stehenden Daten e kommen - daß wir nämlich so und soviel auf h setzen dürfen keine bloße Wiederhplung der Stützung, die h durch e erfährt. Auch hier handelt es sich um die Konsequenzen, die daraus gezogen wurden. Wenn man die Daten in alle Wahrscheinlichkeitsschätzungen aufnimmt, bewirkt man damit, daß der entscheidende logische übergang von einer hypothetischen Aussage über die Relevanz von e für h auf eine kategorische Schlußfolgerung über h verdeckt wird. Das heißt, der übergang von der Schluß regel "Die Daten e würden, wenn sie zur Verfügung ständen, h in hohem Maße nahelegen" auf ein Argument, in dem sie tatsächlich angewandt wird, nämlich: "e; deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit: h" würde verdeckt werden. Wir haben natürlich die Freiheit, uns dafür zu entscheiden, die Relevanz von e für hals "Probabilifikation" zu bezeichnen. Man muß sich aber ebenfalls die Gefahren klarmachen, denen man sich mit einer solchen unnatürlichen - um nicht zu sagen: elliptischen - Wortwahl aussetzt. Wenn wir einmal die Wahrscheinlichkeit von h von der ~elevanz von e für h oder von der Stützung, die h durch e erfährt, unterschieden haben, können wir erkennen, wie sehr die Rede davon, daß "Wahrscheinlichkeit relativ zum Beweismaterial ist" als Epigramm genommen - stimmt. Sicher hängt die Frage, welche unserer Schätzungen der Wahrscheinlichkeit einer Hypothese am vernünftigsten ist, in jedem Fall davon ab, welche Daten wir zur Verfügung haben - nicht von irgendeiner Menge von Daten, die wir zur Berücksichtigung auswählen, sondern von allen relevanten Daten, zu denen wir Zugang haben. Es hängt aber ebenfalls von dieser Datenmenge ab, ob wir vernünftigerweise darauf schließen können, daß eine gegebene Aussage wahr ist. Anders ausgedrückt: Es hängt von den Daten ab, die wir zur Verfügung haben, welche der von uns betrachteten Möglichkeiten mit uneingeschränktem Vertrauen zu akzeptieren sind (als wahr zu akzeptieren sind), und welches Gewicht wir den anderen zumessen dürfen (für wie wahrscheinlich wir sie halten sollten). In beiden Fällen ist die vernünftigste Schlußfolgerung diejenige, die durch die Daten gerechtfertigt wird. Die Terme "Relevanz "Stützung" und so weiter gebrauchen wir, um die Relation zu ,bezeichnen, die zwischen den als Daten angegebenen Sätzen und den Möglichkeiten, deren jeweilige Glaubwürdigkeit untersucht werden, besteht. Jedoch gilt alles, was hier für "wahrscheinlich" gesagt wird, auch für "wahr" . Wenn wir also den Satz "Wahrscheinlichkeit .ist relativ zum Beweismaterial" als mehr als nur ein Epigramm akzeptieren, dann belasten wir uns damit genauso mit dem Satz "Wahrheit ist relativ zum Beweismaterial" . Wenn dies übersehen wurde, liegt es an der unter Philosophen üblich gewordenen unglücklichen Praxis, das Wort "Wahrscheinlichkeit" als austauschbar mit den Wörtern "Stützung" und "Relevanz" zu verwenden und dem ersten Begriff ,alle logischen Merkmale zuzuschreiben, die für die zwei anderen charakteristisch sind. Der grundlegende Fehler liegt in der Annahme, daß das Beweismaterial, auf das wir uns zur Schätzung der Wahrscheinlichkeit irgendeiner Ansicht beziehen, immer in die von uns vorgenommene Schätzung aufgenommen werden muß, statt es im H
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Hintergrund zu halten und nur implizit darauf anzuspielen. Tatsächlich gibt es 'sehr gute Gründe, es im Hintergrund zu halten. Erstens müssen die einmal akzeptierten Argumente dafür; die Daten in Wahrscheinlichkeitsaussagen aufzunehmen, erweitert werden: Der Sa'tz "Die Wahrheit dieser Aussage steht außer Zweifel" muß gemäß den Prinzipien von Carnap und Kneale ersetzt werden durch "Der Wahrheitswert dieser Aussage ist bezüglich der verfügbaren Daten 1", und einer Aussage muß man so viele Wahrheiten zuschreiben, wie es für sie relevante Datenmengen gibt. Carnap selbst nimmt die Wahrheit von der Relativität bezüglich der Daten, die er der Wahrscheinlichke,itl zuschreibt, aus. Seine Gründe für diese so unterschiedliche Behandlung sind erhellend, denn sie veranschaulichen seine extrem wörtliche Interpretation des Verifikationsprinzips. Dies setzt ihn der vernichtenden Frage "welche Tatsachen drücken Wahrscheinlichkeitsaussagen genau aus" in ihrer vollen Schärfe aus und hat seine Wurzel vermutlich in seinem Entschluß, ausschließlich auf solche Begriffe zu rekurrieren, die "zulässig für den Empirismus und deshalb auch .für die Wissenschaft" sind. Er erklärt, daß unser Gebrauch von "Wahrscheinlichkeitsl-Aus.sagen" offensichtlich unver~räglich mit dem Verifikationsprinzip ist. Denn wenn wir die Aussage, ,Die Aussichten für Regen morgen sind eins zu fünf" als eine besondere Art der Vorhersage betrachten, können wir kein Ereignis angeben, das sie endgültig verifizieren oder falsifizieren würde. Folglich wird Carnapdurch seine Prinzipien zu dem Schluß gezwungen, daß es sich entweder um "eine synthetische (Tatsachen-)Aussage ohne hinreichende empirische Begründung" handelt und "deshalb unzulässig ist, oder daß es sich nicht wirklich um eine Tatsachenvorher . . age handelt, sondern vielmehr um einen rein logischen (analytischen) Satz und deshalb von einer Art ist, die "niemals den Empirismus verletzen kann". Carnap wählt die zweite Alternative, die ihn in Paradoxien führt. Aber war er wirklich gezwungen, auch nur eine dieser Alternativen zu wählen? Den Ausweg aus seinem Dilemma haben wir schon erkannt. Natürlich kann man kein Ereignis angeben, das eine Prognose, die nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit behauptet. wird, endgültig verifizieren oder falsifizieren würde. Denn genau dies soll der Gebrauch, von Wahrscheinlichkeitstermen sicherstellen. Das bedeutet aber' nicht, daß eine solche Aussage nicht akzeptierbar sein kann oder daß sie keine Prognose sein kann .. Man kann nicht sagen, daß diese Aussage die höchsten Ehren (nämlich Verifikation) nicht erhält, sie ist nicht einmal ein Kandidat für sie. Der Natur der Sache nach braucht man zur Rechtfertigung einer Vorhersage, die mit Hilfe des Adverbs "wahrscheinlich" oder eines ähnlichen Wortes eingeschränkt ist, weniger an Beweismaterial, als für eine definitive Vorhersage gebraucht würde; und die Konsequenzen, auf die man durch die Äußerung einer eingeschränkten Aussage festgelegt ist, 'sirid schwächer . Wenn man sagt, daß die Aussichten für Regen morgen eins zu fünf stehen, sagt man nicht definitiv, daß es entweder regnen wird oder nicht regnen wird. Nur Aussagen, die als die endgültige Wahrheit dargestellt werden, müssen kritisiert werden, wenn sie einfach unverifizierbar sind. Man muß also solche Voraussagen ausnehmen, die mit einer expliziten Einschränkung geäußert werden wie "wahrscheinlich", "die Aussichten sind gut, daß" oder "die Aussichten stehen fünf zu eins dagegen". . . So viel zu Camaps angeblicher Unterscheidung zwischen den zwei Begriffen Wahrscheinlichkeitl und Wahrscheinlichkeit2. Wir können jetzt erkennen, warum es
77 sehr übertrieben ist, wenn er das Wort" Wahrscheinlichkeit" als zweideutig bezeichnet und behauptet, daß die philosophischen Auseinandersetzungen über die Natur der Wahrscheinlichkeit aus demselben Grund wie die Dispute über die vis viva inhaltslos und unnötig sind. Tatsächlich befassen sich Aussagen über die Wahrscheinlichkeit von p in der Praxis mit dem Ausmaß, in dem wir auf diese Aussage setzen dürfen, in dem wir sie annehmen, ihr zustimmen oder uns voll und ganz auf p berufen dürfen. Dabei ist es ohne Belang, ob der Satz in einer Weise gebraucht wird, die Carnap als Wahrscheinlichkeit1 bezeichnen würde oder als Wahrscheinlichkeit2. Seine Entscheidung, ob der Term "Wahrscheinlichkeit1 oder der Term "Wahrscheinlichkeit2" zu gebrauchen ist, scheint in der Tat weniger von der Bedeutung abzuhängen, in der das Wort "Wahrscheinlichkeit" verwendet wird..:.. denn diese ist in beiden Fällen gleich ~ als vielmehr davon, ob er seine Aufmerksamkeit auf die formalen oder die statistischen Aspekte der Argumentation richtet, die p stützen. "Wahrscheinlich" ist wie "gut" und "nicht können" ein Term, der bei einer großen Zahl von Anwendungen eine invariante Rolle beibehält. Er hängt eng mit dem Begriff der Stützung durch Daten zusamm~n, ist aber von diesem Begriff aus denselben Gründen verschieden, aus denen eine kategorische Aussage "A, deshalb B" von der hypothetischen "Wenn A, dann B" oder die Schlußfolgerung einer Argumentation von ihrer Stützung verschieden ist. Dann und nur dann, wenn wir soweit gehen, Stützung mit Wahrscheinlichkeit zu identifizieren, wird der zweite Term zweideutig. Aber der gesunde Menschenverstand wird es uns sicher verbieten, diese Identifikation vorzunehmen. Ein Mathematiker, der wirklich Unmöglichkeit mit Widersprüchlichkeit identifizieren würde, hätte keine Wörter, mit denen er Widersprüche aus seinem Theoretisieren a:usschließen könnte. Und wenn wir Wahrscheinlichkeiten als identisch mit der Stützung durch Daten verwenden würden, würden wir uns selbst genau derjenigen Terme berauben, mit denen wir gegenwärtig praktische Schlußfolgerungen aus stützenden Daten ziehen. WAHRSCHEINLICHKEITSTHEORIE UND PSYCHOLOGIE Warum wurde die Aufmerksamkeit der Philosophen von den charakteristischen modalen Verwendungsweisen von Wörtern wie "wahrscheinlich" abgelenkt, und warum ließen sie sich auf diese Weise in die Diskussion irrelevanter Kontroversen hineinziehen? Ein wichtiger Faktor scheint ihre beständige Furcht davor zu sein, ins Psychologisieren zu verfallen. Sowohl in den Schriften von Kneale als auch in denen von Carnap kann man Belege dafür finden, daß dieses Motiv seine Wirkung ausübt. Wie wir sahen, fängt die Argumentation von Kneale mit der Gefahr des Subjektivismus an. Kneale gibt zu verstehen, daß wir uns in erster Linie darum bemühen müssen, die Schlußfolgerung zu vermeiden, daß das Reden über Wahrscheinlichkeiten ein Reden über die tatsächliche Stärke des Glaubens ist. Ein Hauptverdient der" Wahrscheinlichkeitsrelationen « ist für ihn die Hoffnung, daß ihn der Bezug auf diese Relationen aus der Höhle des Subjektivisten befreien wird. Auch für Carnap stellt die Psychologie eine übergroße Gefahr dar. Aber nach seiner Meinung sind die Gefahren, die sich aus der Psychologie für die Wahrscheinlichkeitstheorie ergeben, nur eine Seite einer aIIgemeineren Gefahr, die sie für die gesamte Logik darstellt. Er be-
78 steht darauf, daß Logiker um jeden Preis die Gefahren des "Psychologis~us" vermeiden müssen, und indem er dieser umfassenderen Gefahr glücklich entkommt, wird er ein weiteres Mal zu übertreibungen geführt, 'die Kneale vermeidet. Sehen wir zuerst nach, was Kneale zu sagen hat. t Er verwirft völlig zu Recht' ~ie Ansicht, daß Wahrscheinlichkeitsaussagen so zu verstehen sind, daß sie uns einfach - etwas darüber mitteilen, wie stark der Sprecher gegenwärtig von seinen Meinungen überzeugt' ist. Leider hält er sich wegen der Ablehnung dieser dürftigen Theorie für verpflichtet, bestimmte andere Ansichten ebenfalls zu verwerfen. Zum Beispiel handelt er eine "traditionelle Behandlung" von Sätzen, die Wörter wie "wahrscheinlich" enthalten, sehr kurz ab - nämlich diejenige, die von der "Art und Weise, in der Behauptungen aufgestellt werden" ausgeht. Er fühlt sich zur Ablehnung dieser Ansicht aufgrund der Tatsache verpflichtet, daß auch sie eine "subjektivistische Theorie" ist. Aber ein bloßes Namengeben führt nicht weiter. Die Bezeichnung muß auch gerechtfertigt werden. Sein einziges ,wirkliches Argument gegen diese Ansicht beruht auf der Vorstellung, daß,,, wenn ich )es regnet wahrscheinlich' sage, die Feststellung, daß kein Regen fiele, meine Aussage nicht widerlegen würde". Diese Bemerkung kritisierten wir oben als sowohl paradox als auch unverträglich mit unserer normalen Art des Denkens. Andererseits legen unsere eigenen Untersuchungen in diesem Buch erneut starkes Gewicht auf die Ansicht, daß "wahrscheinlich" und verwandte Wörter charakteristischerweise unsere Behauptungen modal qualifizieren. Wir müssen uns deshalb fragen, warum sich Kneale gegen eine solche Darstellung mit der Begründung wendet, sie sei subjektivistisch oder warum er der Meinung sein sollte, sie bringe die Logik mit der Psychologie durcheinander. Diese Idee Kneales scheint mir das Ergebnis eines schlichten Mißverständnisses zu sein. Ich möchte andeuten, worin es liegt. An einer früheren Stelle in diesem Kapitel machten wir die Unterscheidung zwischen den Sachen, die eine Äußerung tatsächlich behauptet, und denjenigen, die weniger von ihr behauptet werden al~ vielmehr in ihr impliziert sind. Durch eine Vernachlässigung dieser Unterscheidung wird man regelmäßig in philosophische Schwierigkeiten geführt, und Kneales gerade betrachteten Einwände scheinen genau diesen Ursprung zu haben. Wenn die Leute vom Wetteramt behaupten, daß es morgen regnen wird, reden sie über das morgige Wetter und nicht über ihre eigenen Glaubensinhalte - obwohl ~an zweifellos getrost aus ihren Äußerungen schließen darf, daß sie Glaubensinhalte einer bestimmten Art haben. Entsprechend sagen sie mit der Äußerung "Es wird morgen wahrscheinlich regnen" etwas über das Wetter, und was wir über ihren Glauben erschließen können, ist' nur impliziert. Die Ansicht, daß es die Funktion von Wörtern wie "wahrscheinlich" ist, Behauptungen und Schlußfolgerungen modal zu qualifizieren, ist etwas ganz anderes als der Vorschlag, die Aussage "Es wird morgen wahrschein~ich regnen" als äquivalent mit "Ich bin alles in allem geneigt, für morgen Regen zu erwarten" zu analySIeren. "Wahrscheinlich p" zu sagen bedeutet, abgesichert und/oder mit Vorbehalten zu behaupten, daß p. Es bedeutet nicht, zu behaupten, daß man versuchsweise bereit ist, p zu behaupten. Wenn unsere obige Darstellung von "wahrscheinlich" und verwandter Wörter als subjektivistisch zu kritisieren ist, könnte man genausogut dieselbe Kritik gegen die Ansicht richten, daß jemand, der ehrlich und aufrichtig "p" sagt, eine 1 a.a.O., § 2, S. 3.
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Behauptung über p macht. Denn obwohl jemand, der "p" sagt, nicht tatsächlich behauptet, daß er bereit ist, p zu behaupten, zeigt er dadurch doch, daß er es ist, und er versetzt uns dadurch in die Lage, aus seiner Äußerung etwas über das, was er gegenwärtig glaubt, genauso sicher' zu erschließen wie bei jemandem, der nicht "p", sondern "wahrscheinlich p" sagt. Beide Behauptungen (die definitive wie die abgesicherte) gehen im gleichen Maße über die Welt oder über den Bewußtseinszustand des Sprechers. Wenn es falsch ist, die definitive Behauptung als eine Behauptung zu betrachten, die über die Bewußtseinszustände des Sprechers geht, dann ist es ebenso falsch, die eingeschränkte Behauptung in dieser Weise zu betrachten. Tatsächlich ist weder die Behauptung "p" noch die Behauptung" wahrscheinlich p" durch Kneales Einwand gefährdet. Ganz gleich, ob die Aussage eingeschränkt oder uneingeschränkt formuliert ist, es ist paradox, sie so aufzufassen, als ob sie über den Bewuß tseinszustand des Sprechers geht. Wir können natürlich aus alldem, was unsere Zeitgenossen sagen, etwas über deren Bewußtseinszustände erschließen - aber daraus folgt nicht, daß alle ihre Aussagen tatsächlich autographische Bemerkungen sind. Carnaps Kreuzzug gegen den Psychologismus ist drastischer. Er findet diesen Fehlschluß sowohl in induktiver als auch in deduktiver Logik weit verbreitet. Nach ihm besteht er im wesentlichen in der Ansicht, daß "Logik die Kunst des Denkens ist, und daß die Prinzipien der Logik Prinzipien oder Gesetze des Denkens sind. Diese und ähnliche Formulierungen beziehen sich auf das Denken und sind daher subjektivistisch") Camap folgert daraus, daß diese in Termen der Psychologie gehaltenen Formulierungen die Entdeckungen von Frege und Husserl unberücksichtigt lassen und deshalb als "psychologistisch" bezeichnet werden können. Seine Position erscheint auf den ersten Blick ganz vertraut. Wenn wir aber weiterlesen, zeigt sich eine gewisse übertreibung. Der Flammenwerfer, mit dem zum Beispiel Frege der Doktrin, daß Zahlen eine besondere Art von geistigen Abbildern sind, einige wohlverdiente Wunden versetzte, wird von Carnap gegen völlig unschuldige Opfer gerichtet. Carnap gesteht zu, daß der primitive Psychologismus - die Ansicht, daß Aussagen in der Logik über tatsächlich ablaufende geistige Prozesse gehen - sehr selten ist. F. :po Ramsey spielte mit dem Gedanken, "Wahrscheinlichkei.t". mit Hilfe faktischer Glaubensgrade zu definieren, aber er ließ diesen Versuch bald wieder fallen. Das einzige uneingeschränkte Beispiel, das Carnap seiner Meinung nach anführen kann, ist eine Diskussion der "Wahrscheinlichkeitswellen" in der Quantenmechanik im Buch "Physics and Philosophy" von Sir James Jeans. Diese Bezugnahme ist unglücklich. Jeans wird dafür tüchtig geschimpft, daß er von derquantentheoretischen Atomvorstellung sagt, ihre Bestandteile "bestehen völlig aus geistigen Konstrukten". Die Beschimpfung ist im höchsten Maße ungerecht, denn Jeans bezeichnet nicht die Wahrscheinlichkeit als subjektiven Begriff, sondern nur die Schrödingerfunktionen als theoretische Fiktionen. Dies mag eine korrekte Beschreibung sein oder nicht, aber jedenfalls hat es mit unserer Diskussion gar nichts zu tun. Sehr viele Logiker und Mathematiker - angefangen mit Bernoulli über Boole und de Morgan bis zu Keynes, Jeffreys und Ramsey - sind nichtsdestoweniger von einem "eingeschränkten Psychologismus" überzeugt. "Sie halten immer noch an 1 Logical Foundations o[ Probability, § 11, S. 39.
80 dem Glauben fest, es müsse eine enge Beziehung zwischen Logik und Denken geben und sagen deshalb, daß es Logik mit korrektem oder rationalem Denken zu tun hat. " Carnap korrigiert diesen Fehler: Die Logik mit Hilfe des korrekten oder rationalen oder gerechtfertigten Glaubens zu charakterisieren ist genauso richtig, aber auch nicht erhellender, wie zu sagen, daß uns die Mineralogie sagt, wie wir korrekt über Minerale denken müssen. Der Bezug auf das Denken kann in beiden Fällen genausogut weggelassen werden. Wir sagen dann einfach: Die Mineralogie macht Aussagen über Minerale und die Logik macht Aussagen über logische Relationen. Die Beschäftigung mit irgendeinem Wissensbereich beinhaltet natürlich Denken. Das heißt aber nicht, daß Denken zum 'Gegenstand aller Bereiche gehört. Es gehört. zum Gegenstandsbereich der Psychologie, aber zum Bereich der Logik gehört es keinesfalls mehr als zum Bereich der Mineralogie. 1
An dieser Bemerkung ist zweifellos eines richtig. Es gibt sicherlich keinen Grund dafür, warum Wörter über Geisteszustände an hervorragender Stelle in Logikbüchern überhaupt auftreten sollten, insbesondere dann nicht, wenn man sich den Glauben mit Russell als etwas vorstellt, das als einen Aspekt "eine Vorstellung oder ein Bild, das mit einem bejahenden Gefühl verbunden ist", hat. Das Wichtige am Ziehen einer richtigen Schlußfolgerung ist, bereit zu sein, die im Lichte der zur Verfügung stehenden Information angemessenen Dinge zu tun. Wie sehr ein Versicherungsmathematiker die Logik respektiert ist weniger durch die Anzahl der richtig plazierten bejahenden Gefühle zu messen als vielmehr durch den Zustand seiner Gewinn-und Verlust-Rechnung. Dennoch offenbart Carnaps Bemerkung einige wichtige Mißverständnisse. Erstens redet er so, als ob die Bedeutung des Ausdrucks "logische Relation" klar wäre, und sagt, daß die "Formulierung (der Logik) mit Hilfe von gerechtfertigtem Glauben abgeleitet werden kann « von der Formulierung mit Hilfe von logischen Relationen. 2 Zweitens behandelt er alle logischen Beziehungen und daher alle gerechtfertigten Meinungen, jede Stützung durch Beweismaterial und alle befriedigenden Erklärungen so, als ob ihre Gültigkeit allein auf seman~ischen überlegungen beruhen. Waismann hat Freges Annahme kritisiert, die Aussagen der Logik repräsentieren "kleine .harte Kristalle der logischen Wahrheit". Es ist deshalb merkwürdig, daß Carnap In Freges Nachfolge logische Relationen auf dieselbe Ebene mit Mineralen stellt. Von unserem Standpunkt aus ist es nicht zu vermeiden, die Logik mit Hilfe von gerechtfertigten Glaubensinhalten, Handlungen, Strategien usw. zu charakterisieren. Denn wenn Logik irgendeine Anwendung auf die praktische Beurteilung von Argumentationen und Schlußfolgerungen haben soll, müssen diese Bezüge aufgenommen werden. Damit wird keineswegs" wie Carnap glaubt, die These vertreten, daß das Denken der Gegenstand der Logik ist. Nicht einmal Boole, der für seine wichtigste logische Abhandlung den Titel Laws 0/ Thought gewählt hat, kann dies gemeint haben. Die Gesetze der Logik sind nicht Verallgemeinerungen über das faktische Denken, sondern vielm~hr Standards für die Kritik der Ergebnisse -des Denkens. Logik ist eine kritische Wissenschaft, keine Naturwissenschaft. Kurz gesagt: Logik beschreibt nicht einen Gegenstand, sie geht nicht über irgendetwas - jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem Naturwissenschaften wie Mineralogie und Psychologie über Mi1 a.a.O., § 11, S. 41-42. 2 a.a.O., § 11, S. 41.
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nerale und über den Geist gehen. Deshalb ist Carnaps Aussage "Die Logik mach Aussagen über logische Relationen" sowohl irreführend als auch wenig erhellend. t Es lohnt sich, die Fonn der Argumentation von Carnap zu beachten. Er stellt am Anfang den Buhmann eines primitiven Psychologismus auf, dessen wirkliche Existenz er nicht nachweist. Zweitens weist er auf eine einzige Ähnlichkeit zwischen den Schriften eines jeden der Logiker, die er auf die Anklagebank setzt, und seinem Buhmann hin - daß sie nämlich solche Wörter wie "denken", "Glauben", "überlegungen" und "Vertrauen" enthalten. Die Logiker werden dann über die Gefahren von schlechter Gesellschaft belehrt und es wird ~hnen durch das Urteil einer Mitschuld ein Schreck eingejagt.- "All dies klingt psychologisch" - aber im Hinblick auf ihren im übrigen guten Ruf werden sie mit einer Verwarnung entlassen. Schließlich bemerkt Carnap, nachdem sich niemand tatsächlich als schuldig erwiesen hatte, daß ),es natürlich nicht abgeleugnet werden kann, daß es auch einen subjektiven, psychologischen Begriff gibt, für den der Term 'Wahrscheinlichkeit' benutzt werden kann und manchmal auch benutzt wird". Für diesen angeblichen Gebrauch wird aber außer einer wenig überzeugenden Formulierung ohne weiteren Zusatz: "Die Wahrscheinlichkeit oder der Glaubensgrad der Vorhersage h zur Zeit t für X" kein Beispiel angegeben. Diese letzte SprachvelWendung ist symptomatisch, denn die Bedeutung des Terms "Wahrscheinlichkeit" außerhalb der Fachwissenschaften scheint Carnap überhaupt nicht zu interessieren. Er möchte nicht nur die Logik zur Mineralogie logischer Relationen machen, sondern er sie~t auch alle Wahrscheinlichkeitsaussagen mit Ausnahme der wissenschaftlichen als vage, unexakt und der Explikation bedürftig an mit seinen eigenen Worten als "vorwissenschaftlich". Diese Meinung befreit ihn von der mühsamen Aufgabe, anzugeben, was diese Gebrauchsweisen außerhalb der Wissenschaften genau sind. Er würde der Ansicht zustimmen, daß sich die "Wahrscheinlichkeitsaussagen von einfachen Leuten als ziemlich leicht beschreibbar erweisen sollten", wenn erst einmal die wissenschaftlichen Gebrauchsweisen untersucht sind, "denn sie würden sich, wenn sie nicht fehlerhaft sind, vermutlich als Approximationen an die Wahrscheinlichkeitsaussagen der Wissenschaftler herausstellen." Dies ist jedoch eine höchst unsichere Annahme, wenn man sich auf Präzedenzfälle verlassen kann. Denn die zwei philosophischen Probleme, die dem Problem der Wahrscheinlichkeit am meisten ähnlich sind, sind erstens das Thema der Punkte, mit dem sich Berkeley beschäftigte, und zweitens das Problem über den Kraftbegriff innerhalb der Dynamik, das während des neunzehnten Jahrhunderts heftig diskutiert wurde. In diesen heiden Fällen wurde das Problem nicht dadurch gelöst, daß ein einziger mathematisch exakter Gebrauch des betreffenden Terms entwickelt wurde und alle außerwissenschaftlichen Gebrauchsweisen als v'eraltet, weil vorwissenschaftlich, ausgeschaltet wurden. Es war gerade der Versuch, die alten und die neuen Gebrauchsweisen der Wörter "Punkt" und "Kraft" gleichzusetzen, womit die Schwierigkeit anfing und was zum Beispiel Berkeley dazu führte, über die Punkte in der Mathematik die Frage zu stellen: "Was sind sie - etwas oder nichts?; wie unterscheiden sie sich von dem Minimum Sensibile?" und was ihn danach zu seinen Spekulationen über die Minima Sensibilia von Käsemilben geführt hat. Die Lösung .ergab sich vielmehr aus einer Analyse und sorgfältigen Erläuterung aller Gebrauchsweisen der Terme "Punkt" und "Kraft", sowohl der innerhalb der Geometrie oder Dynamik als auch I
82 der anderen außerhalb dieser Gebiete, ohne dabei den einen oder anderen zu bevorzugen. Die vorher so verwirrend scheinenden philosophischen Fragen stellten sich von selbst nicht mehr, nachdem dies erst getan war und die Unterschiede bemerkt worden waren. . Auch in der Philosophie der Wahrscheinlichkeit ergeben sich nur Schwierigkeiten, wenn man die wissenschaftlichen Anwendungen dieses Terms für die einzig befriedigenden hält. Die Gebrauchsweisen des Alltags sind, auch wenn sie nicht numerisch sind, völlig hinreichend bestimmt. Wie hieraus die wissenschaftlichen Gebrauchsweisen entstehen, das ist komplizierter, als Carnap erkennt. Auf die vergleichsweise hohe Präzision - d. h. numerische Exaktheit - von Aussagen in den mathematischen Wissenschaften hinzuweisen wie auch darauf, daß diese Art der Präzision in außerwissenschaftlichem Reden ziemlich fehlt, ist eine Sache, dieses Fehlen von numerischer Exaktheit als fehlende Präzision im Sinne von fehlender Bestimmtheit aufzufassen und außerwissenschaftliches Reden als wesentlich vage und unklar zu kritisieren, ist aber ein stark anzuzweifelnder weiterer Schritt. Es ist nicht so, daß allein solche Aussagen, die mit numerisch exakten Termen formuliert sind, vollständig bestimmt und unzweideutig sind.
DIE ENTWICKLUNG UNSERER WAHRSCHEINLICHKEITSBEGRIFFE An dieser Stelle muß ich versuchen, die verschiedenen Fäden dieses Kapitels zusarnmenzuziehen. Zum Teil bestand das Kapitel in einem Versuch, die Art und Weise unseres praktischen Umgehens mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit und damit eng. verwandter Begriffe ans Licht zu bringen. Dann enthielt das Kapitel noch einen Versuch, aufzuzeigen, in welcher Weise die gegenwärtigen Kontroversen in der Philosophie der Wahrscheinlichkeit zu einer verdrehten Darstellung der Natur· dieses Begriffs geführt haben. Die allgemeinen philosophischen Ergebnisse, auf die wir dabei gestoßen sind, werden später nochmals zu betrachten sein. In diesem Abschnitt möchte ich dagegen die mehr praktischen Beobachtungen, die wir über die Funktion unserer Wahrscheinlichkeitsterme gemacht haben, zusammenführen, sie kurz zusammenfassen und dabei zeigen, wie sich der Begriff von seinen elementaren Anfängen bis zu sein.en diffizilsten wissenschaftlichen und technischen Anwendungen entwickelt. Zuerst wies ich darauf hin, daß uns das Adverb "wahrscheinlich" als Mittel dient, unsere Schlußfolgerungen und Behauptungen einzuschränken und damit anzudeuten, daß die betreffende Aussage irgendwie nicht ganz definitiv behauptet wird und daß sie den Sprecher nur zu einem gewissen Ausmaß festlegt. Auf diese Weise kann man einen vorläufigen Hinweis auf seine Absichten oder ein vorsichtiges Versprechen mit der Äußerung geben: "Ich werde wahrscheinlich das und das tun." Oder man kann versuchsweise mit der Äußerung, ,dies und dies wird wahrscheinlich eintreffen" eine Vorhersage aufgrund von Daten· machen, die für eine definitive Vorhersage nicht ausreichen. Oder man kann so auch eine vorsichtige Bewertung machen, die man vielleicht zu erneuter Betrachtung im Lichte ·einer eingehenderen Untersuchung vorbringt: , ,Dieses Gemälde ist wahrscheinlich das großartigste Werk der gesamten Schule von Padua." Auf dieser Stufe gibt es zwischen Bewertungen, Versprechen
83 oder Vorhersagen keinen großen Unterschied. In allen Fällen kann das Wort "Wahrscheinlieh" gleichermaßen auftreten, und seine Rolle ist jedesmal dieselbe - auch wenn die Arten des Beweismaterials, das für eine tentative meteorologische Vorhersage - im Gegensatz zu einer definitiven Vorhersage benötigt wird, der Natur der Sache entsprechend sehr verschieden von den Arten der Gründe' sind, die eine vorsichtige - im Gegensatz zu einer mit uneingeschränkter überzeugung geäußerten Zuschreibung genialer Schöpferkraft bei einem Maler und ebenßo verschieden von den Gründen, wegen denen man nur ein eingeschränktes - im Gegensatz zu einem völlig bindenden - Versprechen oder nur. eine eingeschränkte Erklärung der eigenen Absicht geben darf. In welchem Umfang wir nun zu einer Festlegung berechtigt sind, hängt ab von der Stärke der uns zur Verfügung stehenden Motive, Gründe oder der beweisenden Tatsachen. Wir mögen wie der Bruder von Eleanor Farjeon in einem übermaß an Vorsicht zögern, uns überhaupt jemals festzulegen und uns verpflichtet fühlen, allen unseren A uss'agen ein einschränkendes "wahrscheinlich", "möglicherweise" .oder "vielleicht" hinzuzufügen. Aber wenn -wir zu einer Festlegung bereit sind, können wir, gleich ob es sich um eine definitive oder eine mit vergleichsweise schwachen Vorsichtsklauseln handelt, aufgefordert werden, die Stützung für unsere Festlegung anzugeben. Wir dürfen nicht "ich werde. wahrscheinlich kommen" sagen, wenn wir starke Gründe für die Vermutung haben, daß wir verhindert sein werden. Genausowenig dürfen wir sagen "dies ist wahrscheinlich das großartigste Gemälde", wenn es sich um das einzige Werk des Künstlers handelt, das wir jemals gesehen haben, oder sagen "eS wird morgen wahrscheinlich regnen", wenn uns keine ziemlich stichhalti gen meteorlogischen Daten zur Verfügung stehen. Unsere Wahrscheinlichkeitsterme dienen also nicht nur zur Einschränkung von Aussagen, Versprechen und Bewertungen selbst, sondern auch als Zeichen für die Stärke der Stützung, die wir für diese Aussagen, Bewertungen oder was auch immer haben. Die Art der dem Sprecher zur. Verfügung stehenden Daten oder der ihm zur Verfügung stehenden Begründung bestimmt, welchen Operator er in seine Aussagen aufnehmen darf, - ob er sagen sollte "dies muß der Fall sein" oder "dies kann nicht der Fall sein"; ob er sagen soll "sicher gilt das und das", "wahrscheinlich gilt das und das" oder "möglicherweise gilt das und das". Indem wir unsere Schlußfolgerungen und Aussagen so einschränken, berechtigen wir unsere Hörer, unseren Aussagen oder Schlußfolgerungen mehr oder weniger Glauben zu" schenken, mehr oder weniger ihre Hoffnung darauf zu setzen, sich darauf zu verlassen, sie dementsprechend als mehr oder weniger zuverlässig zu behandeln. In vielen Bereichen- der Diskussion können wir nicht weiter gehen. Zum Beispiel können wir ein ästhetisches Urteil mit allem Gewicht unserer Autorität vorbringen oder in einer mehr oder weniger eingeschränkten Weise - etwa "Monet hat ein starkes Anrecht darauf, als das hervorragendste Mitglied der impressionistischen Schule betrachtet zu werden". Aber es ist hier kaum angebracht, Wetten abzuschließen oder der Stärke der Geltungsansprüche bzw. den Graden des Vertrauens, das man in diese Schlußfolgerungen oder Aussagen haben kann, Zahlenwerte zuzuschreiben. Bei Prognosen taucht andererseits eine neue Möglichkeit auf, insbesondere in solchen Fällen, wo sich ein Ereignis einer bestimmten Art in der genau gleichen Form in bestimmten Intervallen wiederholt. Hier mag es uns möglich sein, das Ver-
84 tra,uen, das einer Behauptung berechtigterweise entgegengebracht werden. muß, nicht nur in allgemeiner, qualitativer Weise anzugeben, sondern mittel~ metrischer Begriffe. An dieser Stelle können mathematische Methoden in die Erörterung von Wahrscheinlichkeiten eintreten. Wenn es die zur Diskussion stehende Frage mit dem Gewinner eines kommende Pfe~derennens zu tun hat, mit dem Ge~chlecht eines ungeborenen Kindes oder mit der Zahl, auf der die Kugel das nächste' Mal liegen bleiben wird, wenn das Rouletterad gedreht wir.d, dann wird es sinnvoll, in einer Weise von numerischen Wahrscheinlichkeiten zu reden, in der es in der Ästhetik vermutlich nie sinnvoll sein wird .. "Fü~f zu eins für die Madonna auf dem Felsen", "Die Wahrscheinlichkeit, daß die Hochzeit des Figaro von Mozart die großartigste' Oper ist, ist 2/3" und so weiter - es ist nicht leicht zu sehen, wie die Arithmetik jemals in die Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten in einem solchen Bereich hineinkommen könnte. Dennoch ändert sich logisch gesehen wenig durch die Einführung der Mathematik in die Diskussion der 'Wahrscheinlichkeit von zukünftigen Ereignissen. Die numerische Diskussion von Wahrscheinlichkeiten wird zweifellos hochstilisiert und etwas komplex; aber solange ein Kalkül keine Methode angibt, um abzuschätzen, inwieweit Behauptungen unser Vertrauen oder unseren Glauben verdienen, ist es kaum möglich, ihn überhaupt als "Wahrscheinlichkeitskalkül" zu bezeichnen. Die Entwicklung der mathematischen Theorie der Wahrscheinlichkeit läßt folglich die Rolle unserer W ahrsche.inlichkeitsaussagen unverändert. Sein Wert besteht darin, daß er die Standards, auf die Bezug genommen werden muß, in hohem Maße verfeinert und damit auch di~ Konsequenzen, die wir über den Grad der Erwartbarkeit zukünftiger Ereignisse ziehen können. Es wäre übertrieben zu sagen, daß logisch gesehen die Entwicklung der mathematischen Statistik und der Theorie der Wahrscheinlichkeit unser Reden über Wahrscheinlichkeit völlig unangetastet lassen würde. Innerhalb der mathematischen Theorie selbst leistet Abstraktion wie gewöhnlich ihre Arbeit. Wir können allgemeine Aussagen über die Chancen oder die Wahrscheinlichkeiten eines Ereignisses dieser oder jener Art aufstellen, die an sich selber nichts von dem" vorsichtigen" oder "einschränkenden" Charakter ihrer speziellen Anwendung zu haben scheinen. Spezielle Wahrscheinlichkeitsaussagen wiederum können in solchen Fällen einer Korrektur bedürfen, in denen allgemeine Aussagen über Chancen unangetastet bleiben können. So ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Oberbürgermeister von London nicht von einer Dampfwalze überrollt wird, enorm. Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Aussage könnten wir vorhersagen: "Der jetzige. Oberbürgermeister von London wird aller Wahrscheinlichkeit nach während seiner Amtszeit nicht unter den Rädern einer Dampfwalze sterben. (( Angenommen jedoch, daß das Unglaubliche passiert, müssen wir zugeben, daß unsere spezielle Vorhersage falsch war. Dennoch werden wir die allgemeine Aussage unverändert aufrechterhalten, mittels derer wir die spezielle Vorhersage verteidigt haben. Die Unwahrscheinlichkeit eines solchen Unfalls wird sicher nicht dadurch vermindert, daß er einmal passiert ist. Es bleibt genauso vernünftig wie vorher, die Gefahr seines Eintretens völlig außer acht zu lassen. Theoretische Berechnungen der Chancen und "Wahrscheinlichkeiten" (im mathematischen Sinn) können folglich gelehrt und ausgeführt werden, ohne daß die modale Funktion ihrer praktischen Anwendungen jemals die Aufmerksamkeit erregt. Dennoch bleiben trotz aller bezüglich des Grades der Korrigierbarkeit und so weiter be-
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stehenden Unterschiede zwischen allgemeinen überlegungen und unseren vorsichtigen Vorhersagen die logischen Entsprechungen bestehen. Die vorsichtige Voraussage "Ein solc~er Unfall wird sich wahrscheinlich nie ereignen" bleibt eine Anwendung der allgemeinen Versicherung, daß die "Unwahrscheinlichkeit eines solchen Unfalls . " enorm 1st. ,Unsere Wahrscheinlichkeits terme - "wahrscheinlich", "Chance", "die Wahrscheinlichkeit beträgt", "aller Wahrscheinlichkeit nach" - weisen in der Praxis also viele der Merkmale auf, die wir im ersten Kapitel als charakteristisch für modale Terme herausfanden. In dieser Hinsicht stellt die mathematische Behandlung von "Wahrscheinlichkeit" eine natürliche Ausweitung der mehr elementaren und alltäg' lichen Gebrauchsweisen dar. Nichtsdestotrotz haben einige Philosophen ein nicht auszurottendes Mißtrauen gegen unsere alltäglichen Denkweisen. Ihnen scheinen die Weisen, in denen wir Wörter wie "Kraft", "Bewegung", Ursache" und so weiter in den Alltagsangelegenheiten unseres Lebens verwenden, nur allzu wahrscheinlich auf irrigen Annahmen zu beruhen, und ihrer Meinung nach enthält unser außerwissenschaftlicher Gebrauch des Terms "Wahrscheinlichkeit" vielleicht ebenfalls sch~erwiegende Irrtümer. Gemäß ihrer Ansicht stellt die Entwicklung der Wissenschaften und die Ersetzung aller unserer gewöhnlichen, vorwissenschaftlichen Begriffe durch die verfeinerten Begriffe der theoretischen Wissenschaften die einzige Hoffnung dar, um aus Widersprüchen, Irrtümern und geistiger Verwirrung errettet zu werden. Gewöhnliche Begriffe sind vage und unexakt und müssen durch präzisere ersetzt werden, und Wissenschaftler sind berechtigt, die vorwissenschaftlichen Bedeutungen der von ihnen verwendeten Terme unberücksichtigt zu lassen. Für den Bereich der Wahrscheinlichkeit hat sich diese Prognose als übertrieben düster herausgestellt. Es gibt schließlich keine radikale Diskontinuität zwischen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Gebrauchsweisen unserer Wahrscheinlichkeitsterme. Zwar haben einige Philosophen so geredet, als gäbe es eine solche Dis.kontinuität. Sie haben ziemlich gern' die Vorstellung angenommen, sie hätten lange akzeptierte Fehlschlüsse in Zweifel gezogen und vage und verworrene Begriffe durch präzise und exakte ersetzt. Wie wir oben gesehen haben, hält die Selbsteinschätzung dieser Philosophen als Kreuzritter der Wissenschaft J?ur so lange einer überprüfung stand, wie man nicht zwischen Präzision im Sinne von "Exaktheit" und Präzision im Sinne von "Bestimmtheit" unterscheidet. Außerhalb des Wettbüros, des Kasinos und des Arbeitszimmers eines theoretischen Physikers haben wir vielleicht wenig Gelegenheit, nume~ische Präzision in unser Reden über Wahrscheinlichkeiten hineinzubringen. Aber was wir sagen ist nichtsdestotrotz bestimmt und frei von Vagheit. Tatsächlich würde die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie jede Anwendung auf praktische Angelegenheiten verlieren, wenn man aus ihr all das entfernen würde, was sie unserem vorwissenschaftlichen Denken über dieses Gebiet verdankt. Der Börsenspekulant und der Versicherungsmathematiker, der Physiker und der Würfelspieler beschäftigen sich genausoviel mit Graden der Annehmbarkeit und der Erwartung wie der Meteorologe oder der Mann auf der Straße. Gleich ob sie durch mathematische Berechnungen gestützt werden oder nicht, es ist die charakteristische Funktion unserer speziellen, praktischen Wahrscheinlichkeitsaussagen, vorsichtige oder eingeschränkte Aussagen und Schlußfolgerungen zu .bieten.
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111. Die Struktur von Argumentationen Eine Argumentation ist wie ein Organismus. Sie hat eine grobe, anatomische Struktur wie auch eine feinere, sozusagen physiologische Struktur. Wenn sie explizit in allen ihren Details entfaltet wird, füllt sie vielleicht eine Reihe von Druckseiten oder ihr Vortrag dauert vielleicht eine Viertelstunde. Innerhalb dieser Zeit bzw. dieses Raums kann man die Hauptstufen unterscheiden, die den Fortschritt der Argumentation von der anfänglichen Formulierung eines ungelösten Problems bis zur abschließenden Angabe einer Konk~usion kennzeichnen. Jede dieser Hauptstufen beansprucht einige Minuten o'der einige Abschnitte. Zusammen stellen sie die wichtigsten anatomischen Einheiten der Argumentation dar, sozusagen ihre "Organe". Man kann jedoch innerhalb jeden Abschnittes eine feinere Struktur erkennen, 'wenn man sich auf die Ebene einzelner Sätze begibt. Mit dieser Struktur haben sich die Logiker hauptsächlich beschäftigt. Auf dieser physiologischen Ebene wurde der Begriff der logischen Form eingeführt, und hier muß die Gültigkeit unserer Argumentation schließlich bewiesen oder widerlegt werden. Es is~ jetzt an der Zeit, daß wir unserer Untersuchung eine andere Zielrichtung geben und uns auf diese feineren Ebenen konzentrieren. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, was wir durch unsere Untersu~hung der gröberen Anatomie von Argumentationen gelernt haben. Denn wie bei Organismen, so erweist sich auch hier die detaillierte Physiologie am verständlichsten, wenn sie auf einem Hintergrund von gröberen anatomischen Unterscheidungen erklärt wird. Physiologische Prozesse interessieren nicht zuletzt wegen ihrer Rolle, die sie bei der Aufrechterhaltung der Funktion der größeren Organe spielen, in denen sie ablaufen. Bei der Betrachtung von Mikroargumentationen (wie man sie nennen könnte) muß man von Zeit zu Zeit mit einem Auge auf die Makroargumentation sehen, in denen sie auftreten. Denn die genaue Art und Weise, in der wir sie in Worte fassen und vorbringen - um nur das Unwichtigste zu erwähnen - kann durch die Rolle beeinflußt werden, die sie in dem größeren Kontext zu spielen haben. Im folgenden werden wir die Wirkungsweise von Argumentationen Satz für Satz untersuchen, um zu sehen, wie ihre Gültigkeit oder Ungültigkeit mit der Art und Weise ihrer Strukturierung zusammenhängt und welche Bedeutung dieser Zusammenhang für den traditionellen Begriff der "logischen Form" hat. Sicher kann ein und di.eselbe Argumentation in einer ganzen Reihe verschiedener Fonnen dargestellt werden. Einige dieser Formen der Analyse werden klarer sein als andere, d. h. sie werden die Gühigkeit bzw. Ungültigkeit der Argumentation deutlicher als andere zeigen und expliziter machen, auf welchen Gründen sie beruht und welche Relevanz . diese für die Schlußfolgerung haben. Wie sollten wir also eine Argumentation strukturieren, wenn wir zeigen wollen, wovon ihre Gültigkeit abhängt? In welchem Sinn hängt die Annehmbarkeit bzw. Unannehmbarkeit von Argumentationen von ihren "formalen" Vorzügen und Mängeln ab? Uns stehen zwei konkurrierende Modelle zur Verfügung, ein mathematisches und ein juristisches. Ist die logische Form einer gültigen Argumentation etwas quasigeometrisches, vergleichbar der Form eines Dreiecks oder der Parallelität zweier Gerad~n? Oder aber bezi~ht ~ie sich auf ein Ve~fahren? Ist .eine gültige Argumentation als eIne zu verstehen, dIe dIe rechte Form besltzt (oder dIe den Formerfordernissen ent-
87 sprechen, wie sich Juristen ausdrücken würden) oder aber als eine, die in übersichtlicher und einfacher geometrischer Form dargestellt ist? Oder sind im Begriff der logischen Form diese beiden Aspekte irgendwie verbunden, so daß die Darstellung einer Argumentation in rechter Fonn notwendigerweise die Annahme einer bestimmten geom~trischen Darstellung erfordert? Wenn diese letzte Antwort die richtige ist, schafft sie uns sofort ein neues Problem: Zu erkennen, wie und warum rechte Verfahrensweisen die Annahme einfacher geometrischer Formen verlangen und wie diese Form ihrerseits die Gültigkeit unserer Verfahren garantiert. Angenommen, gültige Argumentationen können in eine geometrische übersichtliche Form gebracht werden - wie hilft das, diese Argumentationen zwingender zu machen? Damit sind die Probleme angegeben, die in dem vorliegenden Kapitel untersucht werden müssen. Wenn wir eine Möglichkeit erkennen, sie zu enträtseln, wird diese Lösung von einiger Bedeutung sein - insbesondere für ein rechtes V'erständnis der Logik. Aber am Anfang müssen wir vorsichtig vorgehen und die philosophischen Meinungsverschiedenheiten meiden, die wir später hoffentlich etwas aufklären können, und uns für den Augenblick auf höchst prosaische und schlichte Fragen konzentrieren. Unsere Aufmerksamkeit weiterhin auf die Kategorien der angewandten Logik richtend - das heißt auf das praktische Geschäft des Argumentierens und auf die dazu notwendigen Begriffe - müssen wir uns fragen, welche Merkmale eine logisch klare Darstellung haben muß. Bei der Aufstellung von Schlußfolgerungen ergeben sich eine Reihe von Problemen verschiedener Art, und eine praktische Strukturierung wird diese Unterschiede nicht ausschließen. Unsere erste Frage ist: Um welche Probleme handelt es sich hier und wie können wir ihnen allen Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn wir unsere Argumentationen einer rationalen Beurteilung unterwerfen? Zur Einführung noch zwei weitere Bemerkungen, von denen die erste unserem Plan nur eine ,weitere Frage hinzufügt. Seit Aristoteles ist es üblich, die Mikrostruktur von Argumentationen bei der Analyse in einer sehr einfachen Weise darzustellen. Die Argumentationen werden durch drei Behauptungen zusammen dargestellt: "Unterprämisse; Oberprämisse; deshalb: Konklusion." Es stellt sich jetzt die Frage, ob diese Standardform hinreichend ausführlich oder deutlich ist. Natürlich ist Einfachheit eine Tugend, aber kann es nicht sein, daß sie in diesem Fall zu teuer erkauft ist? Können wir alle Elemente in unseren Argumentationen angemessen unter die drei überschriften "Oberprämisse", "Unterprämisse" und "Konklusion" fassen, oder ist es irreführend, nur so wenige Kategorien zu benützen? Gibt es überhaupt genug Ähnlichkeiten zwischen Ober- und Unterprämissen, um sie sinnvollerweise unter d er einzigen Bezeichnung "Prämissen" zusammenzufassen? Auf diese Fragen wirft die Analogie mit der Jurisprudenz ein Licht. Diese Analogie würde uns auf natürliche Weise dazu führen, eine Darstellung mit größerer Komplexität als üblich anzunehmen. Denn, um es nochmals zu sagen, die Fragen, die wir hier stellen, sind allgemeinere Versionen von Fragen, die in der Jurisprudenz schon vertraut sind. In diesem spezialisierteren Bereich hat sich eine ganze Reihe von Unterscheidungen entwickelt. Ein Rechtsphilosoph fragt etwa-: "Welche verschiedenen Arten von Aussagen werden im Laufe eines Gerichtsprozesses geäußert, und auf welche verschiedenen Weisen können solche Aussagen für die Stichhaltigkeit eines Rechtsanspruchs Relevanz haben?" Dies war schon immer eine zentrale Frage für den Jurastudenten und ist es auch heute noch. Wir finden bald heraus, daß die Natur
88 eines Gerichtsprozesses nur angemessen verstanden werden kann, wenn wir eine große Zahl von Unterscheidungen treffen. Rechtliche Äußerungen haben viele verschiedene' Funktionen: Geltendmachung von Ansprüchen, identifizierendes Beweismaterial, Zeugenaussagen über strittige Ereignisse, Interpretationen eines Gesetzes oder Diskussionen seiner Gültigkeit, Ansprüche darauf, von der Anwendung eines Gesetzes ausgenommen zu werden, Bitten um mildernde Umstände, Schuldsprüche und Strafaussprüche. Alle diese verschiedenen Aussageklassen haben ihre Rolle im Gerichtsprozeß zu spielen, und die Unterschiede zwischen ihnen sind in der Praxis alles andere als trivial. Wenn wir von dem speziellen Fall des Rechts zur Betrachtung rationaler Argumentationen im allgemeinen übergehen, stellt sich uns sofort die Frage, 'ob diese nicht mit Hilfe einer ebenso komplexen Menge von Kategorien analysiert werden müssen. Wenn wir unsere Argumentationen mit völliger logischer Klarheit darstellen und die Natur des "logischen Prozesses" angemessen verstehen wollen, müssen wir sicher ein Argumentationsschema verwenden, das nicht weniger kompliziert ist als das im Recht gebrauchte.
DAS SCHEMA EINER ARGUMENTATION: 1. Daten und Schlußregeln
"Was ist also involviert, wenn man Konklusionen durch Argumentationen begründet?" Können ,wir durch die Behandlung dieser Frage in einer allgemeinen Form vom Nullpunkt aus ein Analysenschema entwickeln, das all den Unterscheidungen, die uns eine angemessene Verfahrensweise aufzwingt, gerecht wird? Dieses Problem stellt sich uns jetzt. Nehmen wir an, wir machen eine Behauptung und legen uns damit auf den Geltungsanspruch fest, den jede Behauptung notwendig involviert. Wenn dieser Geltungsanspruch angezweifelt wird, müssen wir ihn begründen können. Das heißt, wir müssen ihn einlösen un4 zeigen, daß er gerechtfertigt werden kann. Wie soll dies geschehen? Wenn die Behauptung nicht völlig unkontrolliert und unverantwortlich gemacht wurde, haben wir normalerweise einige Tatsachen zur Hand, auf die wir zu ihrer Stützung verweisen können. Wenn die Behauptung angegriffen wird, ist es an uns, auf diese Tatsachen zu verweisen und sie als die Grundlage anzugeben, auf der unsere Behauptung beruht. Natürlich kann es sein, daß wir unseren Opponenten nicht einmal dazu bringen können, mit uns über die Wahrheit dieser Tatsachen übereinzustimmen. In diesem Fall müssen wir seinen Einwand durch eine vorhergehe~de Argumentation ausräumen. Erst dann, wenn diese vorhergehende Streitfrage - das vorhergehende Lemma, wie sich Mathematiker ausdrüc~eri würden - behandelt ist, können'wir zu der ursprünglichen Argumentation zurückkehren. Aber wir brauchen diese Komplikation hier nur zu erwähnen. Angenommen, das Lemma ist erledigt; dann ist unsere Frage, wie wir die ursprüngliche Argumentation so vollständig und explizit wie möglich darstellen können. Wir behaupten: "Die Haare von Harry sind nicht schwarz". Wir werden danach gefragt, worauf wir uns stützen. Unser eigenc" Wis'sen ist, daß seine Haare tatsächlich rot sind. Dies ist unser Datum, der Grund, den wir zugunsten der ursprünglichen Behauptung angeben. - Wir sagen vielleicht:
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"Petersen ist nicht römisch-katholisch." - "Warum?" - Wir gründen unsere Behauptung auf das Wissen,' daß er Schwede ist, wodurch es sehr unwahrscheinlich wird, daß er römisch-katholisch ist. - Der Ankläger behauptet vor Gericht: "Wilkinson hat einen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung begangen." Zur Stützung seiner Behauptung sind zwei Polizisten bereit zu bezeugen, daß sie gemessen haben, wie er mit 70 km/Std. in geschlossener Ort~chaft gefahren ist. In jedem dieser Fälle wird eine ursprünglich aufgestellte Behauptung durch Angabe weiterer relevanter Tatsachen eestützt. Wir haben also schon eine Unterscheidung zur Verfügung, mit der wir beginnen können, nämlich die Unterscheidung zwischen der Behauptung oder der Korzk1usion, deren Tauglichkeit wir zu begründen versuchen (K), und den Tatsachen, die wir als Begründung für die Behauptung heranziehen. Diese bezeichne ich als unsere Daten (D). Wenn der Opponent fragt "Worauf stützt du dich?", mag ihm die Angabe der Daten oder der Information, auf denen (auf der) die Behauptung beruht, als Antwort dienen. Aber dies ist nur eine der Möglichkeiten, in denen unsere Konklusion angegriffen werden kann. Uns können sogar dann, wenn wir unsere Daten angegeben haben, weitere Fragen einer anderen Art gestellt werden. Es kann jetzt von uns verlangt werden, daß wir zu den Tatsacheninformationen, die wir schon angegeben habe.n, nicht noch weitere hinzufügen, sondern .daß wir vielmehr zeigen, in welcher -Weise die schon angegebenen Daten für unsere Schlußfolgerung Relevanz besitzen. Umgangssprachlich kann jetzt die Frage statt bisher "Worauf beziehst du dich?" lauten: "Wie kommst du dahin?" . Wenn wir eine bestimmte Menge von Daten als Basis für eine angegebene Schlußfolgerung vorlegen, legen wir uns auf einen bestimmten Schritt fest. Die hier auftretende Frage betrifft die Art dieses Schrittes und seine Rechtfertigung. Angenommen, wir treffen auf diese neue Frage. Wir müssen dann nicht weitere Daten vorbringen (denn bezüglich derer kann sofort derselbe Zweifel erhoben werden), sondern Aussagen von einer davon ziemlich verschiedenen Art: Regeln, Prinzipien, Schluß regeln oder was auch immer und nicht zusätzliche' I~formationen. Es ist nicht mehr unsere Aufgabe, den Grund zu verstärken, auf dem unsere Argumentation aufgebaut ist; wir haben vielmehr zu zeigen, daß der Schritt von diesen als Ausgangspunkt dienenden Daten auf die ursprüngliche Behauptung oder Schlußfolgerung angemessen und legitim ist. An dieser Stelle braucht man deshalb allgemeine, hypothetische Aussagen, die als Brücken dienen können und diese Art von Schritten erlauben, zu denen uns unsere bestimmte Argumentation verpflichtet. Diese können normalerweise sehr kur~ formuliert sein (in der Form "Wenn D, dann K"). Es ist aber um der Klarheit willen vorteilhaft, sie wie folgt zu erweitern und expliziter zu formulieren: "Solche Daten wie D berechtigen uns zu solchen Konklusionen oder Behauptungen wie K", oder auch "Vorausgesetzt, daß D, dann kann man annehmen, daß K". Aussagen dieser Art bezeichne ich als Schlußregeln (SR), um sie sowohl von Schlußfolgerungen als auch von Daten zu unterscheiden. (Man wird bemerken, daß diese "Schlußregeln " den praktischen Standards oder Argumentationsregel entsprechen, auf die wir uns in den früheren Kapiteln bezogen.) Uln unsere obigen Beispiele weiterzuverfolgen: Das Wissen, daß Harrys Haare rot sind, berechtigt uns dazu, jede Vermutung zu verwerfen, daß sie schwarz sind - und zwar aufgrund der Schlußregel
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"Wenn etwas rot ist, ist es nicht auch noch schwarz". (Die Trivialität dieser Schlußregel hängt mit der Tatsache zusammen, daß wir es hier ebensogut mit einer Gegenbehauptung wie mit einer Argumentation zu tun haben.) Die Tatsache, daß Petersen , Schwede ist, ist unmittelbar relevant für die Frage nach seinem religiösen Bekenntnis, denn (wie wir uns vermutlich ausdrücken würden): "Von einem Schweden kann man fast mit Sicherheit annehmen, daß er nicht römisch-katholisch ist". (Der hier enthaltene Schritt ist nicht trivial, deshalb ist die Schlußrcgd nicht selbst-bestätigl'lllL) Ähnliches gilt im dritten Fall. Unsere Schlußregel, wird hier eine Aussage sein wie "Wer nachweislich mehr als 50 km/Std in einer geschlossenen Ortschaft gefahren ist, hat einen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung begangen." Es stellt sich sofort die ,Frage, wie absolut diese Unterscheidung zwischen Daten einerseits und Schlußregeln andererseits ist. Ist es immer klar, ob jemand, der eine Behauptung angreift, damit die Angabe der Daten seines Opponenten verlangt, oder die Angabe der Schlußregeln, die dessen Schritte rechtfertigen? Anders ausgedrückt: Kann man überhaupt eine scharfe Trennlinie zwischen der Rolle der Frage "Worauf stützt du dich?" und der Rolle der Frage "Wie kommst du dahin?" ziehen? Bei alleiniger Anwendung grammatischer Tests mag die Unterscheidung alles andere als absolut erscheinen. Ein und derselbe deutsche Satz kann eine doppelte Funktion innehaben. Das heißt, er kann in de'r einen Situation gl'~lußert werden, um Infonnation zu übermitteln und in einer anderen, um einen Schritt einer Argumentation zu erlauben. Vielleicht kann er in einigen Kontexten sogar diese beiden Funktionen auf einmal erfüllen. (Alle diese Möglichkeiten werden in Kürze veranschaulicht.) Im Augenblick ist es wichtig, daß wir uns weder in der Behandlung unseres Gegenstands zu stark beschränken noch von vornherein auf eine starre Terminologie festlegen. Jedenfalls wird es sich als möglich herausstellen, in einigen Situationen zwei verschiedene logische Funktionen klar zu unterscheiden. Auf die Natur dieser Unterscheidung bekommt man einen Hinweis, wenn man die beiden Sätze gegenüberstellt: "Immer wenn A, hat sich auch B herausgestellt" und "Immer wenn A kann man annehmen, daß B". Wir haben jetzt die Wörter zur Verfügung,die wir zur Aufstellung eines ersten Skeletts für ein Schema zur Analyse von Argumentationen benötigen. Wir können die Beziehung zwischen den Daten und der Behauptung, zugunsten derer diese angegeben werden, durch einen Pfeil symbolisieren. Um anzugehen, was diesen Schritt von Daten zur Schlußfolgerung erlaubt, können wir die Schluß regeln unmittelbar unter den Pfeil schreiben:
D
----~)
Deshalb K
1
Wegen SR Oder, um ein Beispiel anzugeben:
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Harry wurde auf 1. den Bemiudas geboren] -----------~) "Deshalb
[
Harry hat britische Staatsang.
Wegen
I Wer auf den Bermudas geboren wurde, bekommt die britische Staatsangehörigkeit Das Schema macht de1:ltlich, daß in dieser Argumentation von der Schlußfolgerung unmittelbar auf die als Begründung herangezogenen Daten Bezug genommen wird. Die Schlußregel ist in einem bestimmten Sinn zufällig und erläuternd. Ihre Aufgabe besteht nur darin, explizit die Zulässigkeit des vorkommenden Schritts auszudrücken und sie auf eine größere Klasse von Schritten zurückzuführen, deren Zuläs~igkeit vorausgesetzt wird. Einer der Gründe dafür, zwischen paten und Schlußregeln zu unterscheiden ist der: Auf Daten wird explizit Bezug genommen, auf Schlußregeln implizit. Ferner kann bemerkt werden, daß Schlußregeln allgemein sind und die Korrektheit aller Argumentationen des betreffenden Typs feststellen. Sie müssen deshalb auf eine ganz andere Weise begründet werden als die Tatsachen, die wir als Daten anführen. Diese Unterscheidung zwischen Daten und Schlußregeln zeigt Ähnlichkeit zu der Unterscheidung, die man bei Gericht zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen trifft. In der Tat ist diese juristische Unterscheidung ein Spezialfall der obigen allgemeineren Unterscheidung. Zum Beispiel können wir einfach deshalb folgern, daß jemand, der wie wir wissen - auf den Bermudas geboren wurde, vermutlich britischer Staatsangehöriger ist, weil uns die einschlägigen Gesetze eine Schlußregel liefern, nach der wir diese Konklusion ziehen können. Eine allgemeinere Sache soll kurz erwähnt werden: Solange wir in irgendeinem bestimmten Bereich nicht bereit sind, Schlußregeln irgt;ndeiner Art zu verwenden, wird es unmöglich, Argumentationen in diesem Bereich ein~r rationalen Beurteilung zu unterwerfen. Welche Daten wir anführen, wenn eine Behauptung angegriffen wird, hängt von den Schlußregeln ab, die wir in diesem Bereich anzuwenden bereit sind. Di"e Schlußregeln, auf die wir uns festlegen, sind wiederum in denjenigen Schritten von Daten auf Schlußfolgerungen implizit enthalten, die anzunehmen und zuzulassen wir bereit sind. Angenommen, jemand weist überhaupt alle Schlußregeln zUrUck, die z. B. den Schritt von Daten über die Gegenwart und die Vergangenheit auf Schlüsse über die Zukunft erlauben, so wird für ihn eine rationale Vorhersage unmöglich. Viele Philosophen haben in der Tat die Möglichkeit rationaler Vorhersage eben deshalb abgeleugnet, weil sie der Meinung waren, sie könnten auf gleiche Weise den Geltungsanspruch aller Schlußregeln von der Vergangenheit in die Zukunft anzweifeln. Das Skelett eines Schemas, das wir bis jetzt gewonnen haben, ist nur ein erster Anfang. Es können weitere Fragen auftreten, denen wir Beachtung schenken müssen. Es ~ibt Schlußregeln verschiedener Typen, und sie können der Schlußfolgerung, die sie rechtfertigen, verschiedene Grade der Stärke verleihen. Einige Schlußregeln erlauben uns, eine Behauptung unzweideutig anzunehmen, wenn die betreffenden Daten
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unterstellt werden können. Diese Schlußregeln berechtigen uns dazu, in geeigneten Fällen unsere Konklusion mit dem Adverb "notwendigerweise" auszuzeichnen. Andere erlauben uns, den Schritt von den Daten zur Schlußfolgerung entweder versuchsweise auszuführen oder aber unter Vorbehalt gewisser Bedingungen, Ausnahmen oder Einschränkungen. In dies·en Fällen sind andere Modaloperatoren - wie "wahrscheinlich" und "vennutlich" angemessen. Es kann also sein, daß es nicht hinreicht, wenn wir nur unsere Daten, die Schlußregel und die Behauptung angeben. Es kann zudem nötig sein, explizit auf den Grad der: Stärke zu verweisen, den unsere Daten vermöge unserer Schlußregel der Behauptung verleihen. Kurz gesagt, es kann sein, daß wir einen Operator einfügen müssen. Auch bei Gericht ist es oft notwendig, nicht nur auf ein gegebenes Gesetz oder ein Gewohnheitsrecht zu verweisen, sondern explizit das Ausmaß zu diskutieren, zu dem dies·es bestimmte Gesetz auf den betrachteten Fall zutrifft, ob es in diesem speziellen Fall unbedingt angewandt werden muß, ob dieser Fall wegen besonderer Tatsachen eine Ausnahme darstellt oder ob das Gesetz nur unter gewissen Einschränkungen angewandt werden kann. Wenn wir diese Merkmale unserer Argumentationen ebenfalls berücksichtigen wollen, wird unser Schema komplexer. Modale Operatoren (0) und Bedingungen der Ausnahme und der Zurückweisung sind sowohl von den Daten als auch von den Schlußfolgerungen verschieden, und man muß ihnen gesonderte Plätze in unserer Darstellung geben. Genauso wie eine Schlußregel (SR) selbst weder ein Datum (D) noch eine Konklusion (K) ist, da es in sich selber sowohl etwas über (D) als auch etwa über (K) impliziert - daß nämlich der Schritt von (D) zu (K) er.laubt ist; genauso sind sowohl (0) als auch (R) wiederum verschieden von (SR), da sie implizit auf die Relevanz von (SR) für diesen Schritt hinweisen - wobei Einschränkungsoperatoren (0) die Stärkt: angeben, die die Schlußregel diesem Schritt zuschreibt, und Ausnahmebedingungen (AB) die Umstände angeben, in denen die allgemeine Erlaubnis durch die Schlußregel aufgehoben werden müßte. Um diese weiteren Unterscheidungen anzuzeigen, können wir den Operator (0) unmittelbar vor die Schlußfolgerung schreiben, die er einschränkt (K). Die Ausnahmebedingungen (AB), die imstande wären, die durch SR gerechtfertigte Schlußfolgerung anzufechten oder zurückzuweisen, können unmittelbar unter den Operator geschrieben werden. Zur Veranschaulichung: Unsere Behauptung, daß Harry britischer Staatsangehöriger ist, kann normalerweise durch Hinweis auf die Information verteidigt werden, daß er auf den Bermudas geboren wurde. Denn dieses Datum stützt unsere Schlußfolgerung aufgrund der in den britischen Gesetzen zur Staatsangehörigkeit enthaltenen Schlußregeln. Aber diese Argumentation allein ist nicht hinreichend, wenn Versicherungen über seine Abstammung und darüber, daß er seit seiner Geburt nicht die Nationalität gewechselt hat, fehlen. Unsere Information begründet nur, daß die Schlußfolgerung "vermutlich" und unter den entsprechenden Vorbehalten gilt. Die Argumentation nimmt jetzt die Form an: D ----------~) Deshalb 0, K
we~en SR
wenl nicht AB
93 d. h.: Harry wurde auf den} -----~) Deshalb, vennutlich, Bennudas geboren
Wegen
I
Wer auf den Bermudas geboren wird, ist im allgemeinen britischer Staatsangehöriger
Harry ist britischer [ Staatsang.
Wenn nicht
Beide EItel sind Ausländer / er wurde durch Einbürgerung Amerikaner / ...
Wir müssen noch zwei weitere Unterscheidungen erwähnen; erstens die zwischen der Formulierung einer Schluß regel und Feststellungen über ihre Anwendbarkeit, zwischen "Wer auf den Bermudas geboren wird, ist britisch" und "Diese Annahme ist gultig, vorausgesetzt, seine Eltern waren nicht beide Ausländer usw." Diese Unterscheidung ist nicht nur wichtig für das Recht eines Landes, sondern auch für ein Verständnis von wissenschaftlichen Gesetzen oder Naturgesetzen. Sie ist in der Tat in allen Fällen wichtig, wo die Anwendung eines Gesetzes Ausnahmen haben kann oder wo eine Schlußregel nur durch Rekurs auf eine Beziehung gestützt werden kann, die nur inl al1gemeinen gilt und nicht absolut unveränderlich besteht. Zweitens könnep. wir zwei verschiedene Zwecke unterscheiden, denen die Angabe zusätzlicher Tatsachen dienen kann. Diese können als weitere Daten dienen, oder aber -sie können zur Bestätigung oder Widerlegung der Anwendbarkeit einer Schlußregel angeführt werden. So sind sowohl die Tatsache, daß Harry auf den Bermudas geboren wurde, als auch die Tatsache, daß seine Eltern nicht Ausländer waren, für die Frage nach seiner jetzigen Nationalität 'unmittelbar wichtig. Aber sie sind auf verschiedene Art und Weise wichtig. Die erste Tatsache ist ein Datum, das bereits als solches die Vermutung der britischen Staatsangehörigkeit begründet. Die zweite Tatsache führt zu einer Bestätigung dieser Vermutung, indem sie einen möglichen Grund der Zurückweisung entkräftet. Ein besonderes Problem bezüglich der Anwendbarkeit müssen wir später ausführlicher behandeln. Bei der Darstellung von angewandter Mathematik, bei der ein System mathematischer Relationen verwendet wird, um etwa auf eine physikalische Frage Licht zu werfen, ist zu unterscheiden zwischen der Korrektheit der Berechnungen und seiner Angemessenheit für das betreffende Problem. Deshalb ist die Frage "Ist diese Berechnung mathematisch einwandfrei?" sehr verschieden von der Frage "Ist dies die relevante Berechnung?". Auch hier ist die Anwendung einer bestimmten Schlußregel zu unterscheiden von dem Ergebnis, das wir durch Anwen:dung dieser Schlußregel erhalt.en. Wenn wir nach der Richtigkeit des Ergebnisses fragen, müssen wir diese heiden Sachen unabhängig voneinander untersuchen.
2. Die Stützung einer Schlußregel Eine letzte Unterscheidung, die wir schon en passant berührt haben, muß ausführlich behandelt werden. Zusätzlich zu der Frage, ob bzw. unter welchen Be-
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dingungen eine Schlußregel in einem bestimmten Fall anwendbar ist, kann die Frage gestellt werden, warum diese Schlußregel allgemein als zulässig akzeptiert werden sollte. Das heißt, daß wir zur Verteidigung einer Behauptung unsere Daten, unsere Schlußregel sowie die betreffenden Einschränkungen und Bedingungen angeben können und daß es dennoch sein kann, daß unser Opponent noch nicht zufrieden ist. Es kann nämlich sein, daß er sich nicht nur bezüglich dieser speziellen Argumentation unschlüssig ist, sondern auch ~ezüglich der allgemeineren Frage, ob die Schlußregel (SR) überhaupt annehmbar ist. Er gibt vielleicht zu, daß unter der Annahme der allgemeinen Akzeptierbarkeit dieser Schlußregel unsere Argumentation zweifellos einwandfrei wäre. Wenn Fakten wie D tatsächlich ausreichen zur Stützung einer Behauptung wie K, schön und gut. Aber beruht nicht diese Schlußregel ihrerseits auf noch etwas anderem? Ein Angriff auf eine bestimmte Behauptung kann in dieser Weise weiterführen zu einem allgemeineren Angriff auf die Zulässigkeit eines ganzen Bereichs von Argumentationen. Er sagt vielleicht: "Du nimmst an, daß man von jemandem, der auf den Bermudas Keboren wurde, annehmen kann, daß er britischer Staatsangehöriger ist - aber wieso bist du dieser Meinung?" Wie uns dieses Beispiel in Erinnerung ruft, stehen hinter unseren Schlußregeln normalerweise weitere Versicherungen, ohne die die Schlußregeln selbst weder zulässig noch geläufig wären. Diese anderen Dinge können wir als die Stützung (S) der Schlußregeln bezeichnen. Diese "Stützung" unserer Schlußregeln müssen wir sehr gewissenhaft untersuchen. Wir müssen ihre genaue Beziehung zu unseren Daten, Schlußregeln und den Bedingungen der Zurückweisung klären, denn Verwirrung an dieser Stelle kann später zu Schwierigkeiten führen. ·Wir müssen insbesondere beachten, wie sich die Art der Stützung, die unsere Schlußregeln verlangen, bezüglich unterschiedlicher Argumentationsbereiche ändert. Die Form der Argumentation, die wir in verschiedenen Bereichen verwenden,
D - - - -......----------~) Deshalb, 0, K
I
Wegen SR
I
Wenn nicht AB
braucht sich zwischen den verschiedenen Bereichen nicht viel zu ändern. "Ein Wal ist ein Säugetier", "Ein Bewohner der Bermudas-Inseln ist Brite", "Ein Saudi-:Araher ist Moslem ce: Dies sind drei verschiedene Schlußregeln, auf die wir uns im Laufe einer praktischen Argumentation beziehen ki?nnten, jede von ihnen kann dieselbe Art eines einfachen Schrittes von einem Datum zu 'einer Schlußfolgerung rechtfertigen. Wir könnten der Vielseitigkeit halber noch verschiedenartigere Beispiele - aus dem Bereich der Ethik, der Mathematik oder der Psychologie - anfügen. Aber sobald wir nach der Stützung fragen, auf der eine Schlußregel in jedem dieser Bereiche beruht, tauchen große Unterschiede auf. Die Art der Stützung, auf die wir zur Begründung der Zulässigkeit der Schlußregel verweisen müssen, ändert sich beim übergang von einem Argumentationsbereich zu einem anderen beträchtlich. Die· eingeklammerten Ausdrücke in den folgenden Beispielen geben an, welcher Art diese Unterschiede sind: "Ein Wal ist (d. h. ist klassiJizierbar als) ein Säugetier"; "Ein Bewohner der Bermudas ist (nach den Regeln des Gesetzes) ein Brite"; "Ein Saudi-Araber ist Mos-
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lern (stellt sich als solcher heraus) ce. Die erste Schluß regel wird durch Bezug auf ein System taxonomischer Klassifikationen verteidigt; die zweite durch Bezug auf die Gesetze, die. die Nationalität von in den britischen Kolonien Geborenen bestimmen; die dritte Schluß regel wird durch Bezug auf Statistiken verteidigt, die die Verteilung des religiösen Glaubens bei Leuten verschiedener Nationalitäten aufzeichnen. Für den Augenblick können wir die strittigere Frage offenlassen, wie wir unsere Schlußregeln in den Bereichen der Ethik, Mathematik und Psychologie begründen. Im Augenblick versuchen wir nur, die Veränderlichkeit oder Bereichsabhängigkeit der Stützung zu zeigen, die wir zur Begründung unserer Schlußregeln benötigen. Diesem zusätzlichen Element können wir in unserem Schema für Argumentationen einen Platz verschaffen, indem wir es unter die bloße Angabe der Schlußregel schreiben, für die es als Stützung dient:
D - - - - - - - - - - - - - - - - - 7 ) Deshalb, 0, K
wJgen
Wenn 'nicht
SR
AB
I
Aufgrund S
VOll
Diese Fonn ist vielleicht nicht endgültig. Für die Zwecke unserer gegenwärtigen Diskussion ist sie aber komplex genug. Um ein spezielles Beispiel zu nehmen: Zur Stützung der Behauptung (K), daß Harry britischer Staatsangehöriger ist, berufen wir uns auf das Datum, daß er auf den Bermudas geboren wurde. Die Schlußregel kann also in der Form geschrieben werden: "Von jemandem, der auf den Bermudas geboren wurde, kann man annehmen, daß er britischer Staatsbürger ist." Da jedoch Fragen der Nationalität immer Einschränkungen und Ausnahmebedingungen unterliegen, müssen wir ein einschränkendes" vermutlich" (0) vor die Schlußfolgerung einfügen und die Möglichkeit anmerken, daß unsere Schlußfolgerung für den Fall (AB), daß es sich herausstellt, daß beide seiner Eltern Ausländer waren oder daß er später in Amerika eingebürgert wurde, zurückgewiesen wird. Schließlich kann die Stützung für die Schlußregel angegeben werden, falls diese selbst angegriffen wird. Die Stützung wird die Laufzeit und das Datum des Inkrafttretens des Parlamentsgesetzes oder anderer gesetzlicher Vorschriften berichtigen, die bestimmen, welche Nationalität in den britischen Kolonien Geborene haben. Das Ergebnis ist eine Argumentation mit der folgenden Struktur:
96 Harry wurde aUf} den Bermudas ge- . boren
~--------->~
Wegen
I
Wer auf den Bermudas geboren wurde, ist im allgemeinen britischer Staatsangehöriger
Deshalb, vermutlich,
Harry ist britischer [ Staatsbürgel
Wenn nicht
I
Beide Elternteile waren Ausländer / Er wurde in Amerika eingebürgert / . . .
I Aufgrund von
I
Folgende Gesetze oder rechtliche Vorkehrungen Worin unterscheidet sich die Stützung von Schlußregeln von den übrigen Elementen unserer Argumentation? Fangen wir mit dem Unterschied zwischen S und SR an: Wir sahen, daß Schlußregeln hypothetische, brückenartige Aussagen sind. Die Stützung für Schlußregeln kann dagegen genausogut in Form von kategorischen Tatsachenaussagen ausgedrückt werden wie die Daten, auf die wir uns als unmittelbare Belege für unsere Schlußfolgerungen berufen. Solange unsere Aussagen diese funktionalen Unterschiede explizit wiedergeben, besteht keine Gefahr, die Stützung (S) für eine Sch lußrrge1 mit der Schlußregel selbst (SR) zu verwechseln. Solche Verwechslungen entstehen nur, wenn diese Unterschiede durch unsere Formulierung verdeckt werden. In dem obigen Beispiel braucht es jedenfalls keine Schwierigkeiten zu geben. Die Tatsache, daß die einschlägigen Gesetzesvorlagen zu rechtskräftigen Gesetzen wurden und die ihnen eigenen Vorkehrungen enthalten, kann einfach dadurch sichergestellt werden, daß man auf die betreffenden Parlamentsberichte und die einschlägigen Gesetzesbände zurückgeht. Das so herausgefundene Ergebnis - daß so und so ein Gesetz, das an dem und dem Datum verabschiedet wurde, eine Verfügung enthält, die angibt, daß in den britischen Kolonien Geborene mit entsprechender Abstammung ein Recht auf britische Staatsbürgerschaft haben - ist eine einfache Tats'achenaussage. Die Schlußregel andererseits, die wir au/grund des Gesetzes anwenden, das diese Verfügung enthält, hat einen ganz anderen logischen Charakter: "Wenn jemand in einer britischen Kolonie geboren wurde, kann. man annehmen, daß er britisch ist." Obwohl die Tatsachenaussage über das Gesetz vielleicht all die Stützung bereitstellt, die man für diese Schlußregel benötigt, ist die explizite Formulierung der Schlußregel selbst mehr als eine Wiederholung dieser Tatsachen. Es ist eine allgemeine Schlußfolgerung mit praktischem Charakter darüber, wie wir auf der Grundlage dieser Tatsachen zulässig folgern können. Wir können auch die Stützung,(S) von den Daten (D) unterscheiden. Obwohl die Stützung, aufgrund derer unsere Schlußregeln zulässig sind, in gleicher Weise wie die Daten, auf die wir uns in einer Argumentation berufen, als einfache selbstverständliche Tatsachen angegeben werden können, spielen diese Aussagen in unseren Argumentationen deutlich verschiedene Rollen. Da~en irgendwelcher Art müssen angege-
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ben werden, wenn es überhaupt eine Argumentation geben soll. Eine bloße Schlußfolgerung ohne Angabe von Daten zu ihrer Begründung ist keine Argumentation. Dagegen braucht die Stützung der Schlußregeln, die wir benützen, nicht explizit gemacht werden - jedenfalls nicht am Anfang der Argumentation. Es kann sein, daß die Schlußregeln ohne Angriff zugestanden werden und daß ihre Stützung stillschwei~ gend vorausgesetzt bleibt. In der Tat könnten wir kaum mit dem Argumentieren anfangen, wenn wir für alle vorgebrachten Schlußregeln nach einer Stützung verlangten und niemals eine ohne Angriff durchgehen ließen. Schulz bringt eine Argumentation vor, die die Schlußregel SRl benützt, und Schmitt greift diese Schlußregel an. Schulz ist verpf1 ichtet, als Hilfssatz eine weitere Argumentation mit der Absicht anzyführen, die Annehmbarkeit der ersten Schlußregel zu begründen. Aber beim Beweis seines Hilfssatzes benützt er eine zweite Schlußregel SR2. Schmitt greift wiederum die Stützung dieser Schlußregel an, und so geht das Spiel weiter. Einige Schlußregeln müssen provisorisch ohne weiteren Angriff akzeptiert werden, falls das betreffende '"Gebiet der Argumentation zugänglich sein soll. Wir wüßten nicht einmal, welche Art von Daten irgendwie für eine Schlußfolgerung wichtig wären, wenn wir nicht wenigstens eine vorläufige Vorstellung von den Schlußregeln hätten, die in der Situation, vor der wir stehen, akzeptierbar sind. Wir dürfen unterstellen, daß es überlegungen gibt, die die Annehmbarkeit der zuverlässigsten Schlußregeln begründen würden. Zum Schluß noch eine Bemerkung darüber, wie sich (S) von (0) und (AB) unterscheidet. Diese Unterschiede sind zu offensichtlich, als daß wir uns darüber lange verbreiten müßten. Denn die folgenden drei Sachen - erstens die Gründe dafür, eine Schlußregel als allgemein annehmbar zu betrachten, zweitens die Stärke, mit der eine Schlußregel zu einer Schlußfolgerung führt, und drittens die Arten von Ausnahmebedingungen, die in speziellen Fällen die durch die "Schlußregel aufgestellten Annahmen zurückweisen können - sind untere~nander deutlich verschieden. Sie entsprechen in unserem Beispiel den folgenden drei Behauptungen: Erstens daß die Gesetzesvor. lagen über englische Staatsbürgerschaft tatsächlich zu rechtsgültigen Gesetzen wurden und dies und dies besagen; zweitens daß man von Harry annehmen kann, daß er englischer Staatsbürger ist; und drittens daß Harry, wenn er jetzt in Amerika eingebürgert wurde, nicht mehr unter diese Gesetze fällt. Eine beiläufige Bemerkung sollte darübef gemacht werden, wie die Symbole in unserem Argumentationsschema interpretiert werden sollen. Dadurch kann vielleicht ein etwas verwirrendes Beispiel erhellt werden, das uns bei der Diskussion von Kneales Ansichten über Wahrscheinlichkeit begegnete. Betrachten wir den Pfeil, der (D) und (K) verbindet. Der Vorschlag, dies~n Pfeil als ,~deshalb" in der einen Richtung und als "weil" in der anderen Richtung zu lesen, mag zunächst als natürlich erscheinen. Es sind jedoch auch artdere Interpretationen möglich. Wie wir früher sahen, kann der Schritt von der Information, daß J ones die Brightsche Krankheit hat, auf die Konklusion, daß man nicht erwarten kann, daß er achtzig Jahre alt wird, nicht vollständig umgekehrt werden. Wir finden es ganz natürlich, zu sagen "Man kann von Jones deshalb nicht annehmen, daß er achtzig Jahre alt wird, weil er die Brightsch~ Krankheit hat", aber die ausführlichere Aussage "Man kann von JOD;es deshalb nIcht annehmen, daß er achtzig wird, weil die Wahrscheinlichkeit, daß er solange lebt, g~ring ist, weil er die Brightsche Krankheit hat", kommt uns sdl\\'l'rfiJ1ig und künstlich vor, da sie einen trivialen und überflüssigen Zwischenschritt enthält.
98 Andererseits stoßen wir uns nicht an der Formulierung: ,,]ones hat die Brightsche Krankheit; deshalb sind seine Chancen gering, achtzig zu werden; deshalb kann man nicht erwarten, daß er so lange lebt." Denn dieser letzte Nebensatz ist sozusagen ein "inter alia-Satz", der eine der vielen Schlußfolgerungen angibt, die man aus dem rrii ttleren Satzteil (der uns die allgemeine Lebenserwartung von ] ones mitteilt) ziehen kann. Dasselbe gilt in unserem obigen Fall. Wir können normalerweise sowohl sagen "K, weil D" als auch "D; deshalb K", je nachdem, ob wir den Pfeil von rechts nach links oder von links nach rechts lesen. Es mag aber manchmal vorkommen, daß eine allgemeinere Schlußfolgerung als (K) auf Grundlage von (D) gerechtfertigt werden kann. Wenn dies der Fall ist, finden wir es natürlich, nicht nur "D; deshalb K" zu schreiben, sondern auch "D; deshalb K'; deshalb K ce, wobei (K') die allgemeinere Schlußfolgerung ist, die auf Grundlage von D gerechtf~rtigt ist und von der wir ihrerseits unter anderem auf K schließen. In diesem Fall sind unser ,.,deshalb" und "weil" nicht mehr umkehrbar. Wenn wir die Aussage .rückwärts lese~ würden, würden wir nämlich erhalten: "K, weil K', weil D" - dies ist wiederum umst.ändlicher als wirklich erforderlich. , MEHRDEUTIGKElTEN IM SYLLOGISMUS Es ist an der Zeit, die Unterscheidungen, die sich bei der Darstellung und bei der Kritik von Argumentationen als praktisch relevant herausgestellt haben, mit denen zu vergleichen, die traditionell in Arbeiten zur Theorie der Logik vorkommen. Fangen wir mit der Untersuchung an, wie unsere jetzt gewonnen~n Unterscheidungen auf den Syllogismus oder syllogistische Argumentationen anzuwenden ,sind. Für die Zwecke unserer jetzigen Untersuchung können wir uns auf einen der vielen Typen des Syllogismus beschränken - auf den Typ, der durch folgendes altehrwürdiges Beispiel dargestellt werden kann: Sokrates ist ein Mensch; Alle Menschen sind sterblich; Also ist Sokrates sterblich.
Dieser Typ eines Syllogismus zeigt bestimmte Besonderheiten. Die erste Prämisse ist 'singulär' und bezieht sich auf ein konkretes Individuum, und nur die zweite Prämisse ist 'universell'. Aristoteles selbst beschäftigte sich natürlich besonders mit Syllogismen, in denen beide Prämissen universell sind, weil man nach seiner Meinung annehmen muß, daß viele Argumentationen innerhalb der Wissenschaften von dieser Art sind. Wir interessieren uns· hier aber in erster Linie für Argumentationen, in denen generelle Aussagen zur Begründung bestimmter Konklusionen über Einzeldinge herangezogen werden, deshalb ist die anfängliche Beschränkung zweckdienlich. In offensichtlicher Weise und mutatis mutandis lassen sich dann sowieso viele Ergebnisse auf Syllogismen anderer Typen anwenden. Wir können mit der Frage anfangen "Was entspricht im Syllogismus unserer Unterscheidung zwischen Daten, Schlußregel und Stützung ?'C Wenn wir uns diese Frage genauer ansehen, stellt sich heraus, daß die anscheinend unschuldigen Satzformen, die in syllogistischen Argumentationen
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verwendet werden, eine versteckte Komplexität besitzen. Diese innere Komplexität ist vergleichbar mit derjenigen, die wir bei den eingeschränkten Konklusionen herausfanden: Wir müssen hier, wie schon bei den' Modalitäten, zwei verschiedene Sachen auseinanderhalten. - die Rolle von universellen Prämissen, die als Schluß regeln verwendet werden, und die stützenden Feststellungen, auf denen ihre Annahme beruht. Um diese Punkte zu erhellen, wollen wir nicht nur die zwei universellen Prämissen betrachten, auf die sich I:-ogiker nonnalerweise konzentrieren - "Alle A sind B" und "Kein A ist B" - sondern auch zwei andere Aussagefonnen, die wir vermutlich in der Praxis genauso oft benützen - "Fast alle A sind B" und "Kaum ein A ist B". Die innere Komplexität von solchen Aussagen kann zuerst und besonders deutlich in diesen letzteren Fällen veranschaulicht werden. . Betrachten wir zum Beispiel die Aussage "Kaum ein Schwede ist römisch-katholisch". Diese Aussage kann zwei ganz verschiedene Aspekte haben, und beide Aspekte können zur gleichen Zeit eine Rolle spielen, wenn die Aussage in einer Argumentation auftritt. Dennoch können sie aber unterschieden werden. Zunächst kann die Aussage als einfacher statistischer Bericht dienen. Für diesen Fall kann ~r genausogut ausführlicher lauten: "Der Anteil der Schweden, die römisch-katholisch sind, beträgt weniger als (angenommen) 2 0/0" - und hierzu könnten wir in Parenthese eine Quellenangabe für unsere Information hinzufügen: ,,(Nach den Tabellen in Whittaker's Almanach)". Andererseits kann derselbe Satz auch als echte Rechtfertigung eines Schlusses verwendet werden. Für diesen Fall ist es natürlich, den Satz in einer ganz anderen Weise zu erweitern,. so daß man die folgende explizitere Fassung erhält: "Von einem Schweden kann man fast mit Sicherheit annehmen, daß er nicht römisch-katholisch ist". Solange wir nur den isolierten Satz "Kaum ein Schwede ist römisch-katholisch" betrachten, mag die Unterscheidung als recht unbedeutend erscheinen. Wenn wir sie aber bei der Analyse einer Argumentation anwenden, in der der Satz als eine der Prämissen auftritt, erhalten wir Resultate von einiger Bedeutung. Dazu wollen wir eine quasi-syllogistische Argumentation konstruieren, in der dieser Satz als universelle Prämisse auftritt. Eine solche Argumentation ist etwa die folgende: Petersen ist Schwede Kaum ein Schwede ist römisch-katholisch Deshalb ist Petersen mit ziemlicher Sicherheit nicht römisch-katholisch.
Die Konklusion dieser Argumentation ist nur tentativ, aber in' anderer Hinsicht entspricht diese Argumentation gen au einem Syllogismus .. Wie wir oben gesehen haben, kann der zweite Satz der Argumentation nach zwei Richtungen hin erweitert werden, so daß er entweder lautet: "Die relative Häufigkeit von Schweden, die römisch-katholisch sind, beträgt weniger als 2 0/0", oder aber: "Von einem Schweden kann man fast mit Sicherheit annehmen, daß er nicht römisch-katholisch ist." Untersuchen wir jetzt, was passiert, wenn wir diese erweiterten Fassungen nacheinander für den zweiten Satz in der ursprünglichen Formulierung der Argumentation einsetzen. Im ersten Fall erhalten wir die Argumentation: Petersen ist Schwede Von einem Schweden kann man fast mit Sicherheit annehmen, daß er nicht römisch-katholisch ist Deshalb ist Petersen mit ziemlicher Sicherheit nicht römisch-katholisch.
100 Hier entsprechen die Zeilen der Argumentation nacheinander in unserer Terminologie der Angabe eines Datums (D), einer Schlußregel (SR) und einer Konklusion (K). Wenn wir dagegen die andere mögliche Ersetzung vornehmen, erhalten wir: Petersen ist Schwede; Die relative Häufigkeit der Schweden, die römisch-katholisch sind, beträgt weniger als 2 0/0; Deshalb ist Petersen mit ziemlicher Sicherheit nicht römisch-katholisch.
Wir haben in diesem Fall dasselbe Datum und dieselbe Konklusion, aber der zweite Satz gibt jetzt die Stützung (S) für die Schluß regel (SR) an, welche unerwähnt bleibt. Der überschaubarkeit halber kann man jetzt versuchen, diese zwei erweiterten Versionen abzukürzen. Dabei erhält man nacheinander die Argumentationen: (D) Petersen ist Schwede; (SR) Ein Schwede ist mit ziemlicher Sicherheit nicht römisch-katholisch; deshalb: (K) Petersen ist mit ziemlicher Sicherheit nicht römisch-katholisch, und: (D) Petersen ist Schwede; (S) Die relative Häufigkeit von römisch-katholischen Schweden ist sehr klein; Deshalb: (K) Petersen ist mit ziemlicher Sicherheit nicht römisch-katholisch. Die Bedeutung unserer Unterscheidung, die wir am traditionellen Begriff der formalen Gültigkeit vornehmen, dürfte schon hier deutlich werden. Wir werden bald darauf zurückkommen. Bei der Aussageform "Kein A ist B" (z .. B. "Kein Schwede ist römisch-katholisch") können wir eine ähnliche Unterscheidung treffen. Auch Aussagen dieser Form können in zwei verschiedenen Weisen verwendet werden - einmal als statistische Berichte, dann als Schlußregeln. Sie können einfach dazu dienen, die Ermittlungen eines Statistikers zu berichten - etwa, daß die relative Häufigkeit von römisch-katholischen Schweden tatsächlich nul1 ist; oder aber sie können dazu gebraucht werden, die Annahme von Konklusionen in Argumentationen zu rechtfertigen, wobei der Beispielsatz dann äquivalent zu der expliziten Aussage wird: "Von einem Schweden kann man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß er nicht römischkatholisch ist." Entsprechende Interpretationen sind wieder möglich, wenn wir eine Argumentation betrachten, in der unser Beipielsatz als universelle Prämisse vorkommt. Betrachten wir die Argumentation: Petersen ist Schwede; Kein Schwede ist römisch-katholisch; Deshalb ist Petersen mit Sicherheit nicht römisch-katholisch.
Sie kann auf zwei Weisen verstanden werden; wir können sie einmal schreiben als: Petersen ist Schwede; Die relative Häufigkeit von römisch-katholischen Schweden ist null; Deshalb ist Petersen mit Sicherheit nicht römisch-katholisch, oder aber als: Petersen ist Schwede; Ein Schwede ist mit Sicherheit nicht römisch-katholisch; Deshalb ist Petersen mit Sicherheit nicht römisch-katholisch.
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Auch hier läuft die erste Fonnulierung in unserer Tenninologie hinaus auf die Darstellung der Argumentation in der Form "D, S,deshalb K". Die zweite Fonnulierung ist dagegen äquivalent nur Darstellung in der Form: "D, SR, deshalb K". Also: Gleich ob wir es mit einer "Kaum ein ... "-Argumentation oder mit einer "Kein ... "-Argumentation zu tun haben, die gebräuchliche Form der Darstellung führt beidemale dazu, die Unterscheidung zwischen einer Schlußregel und den Feststellungen, auf den sie sich stützt, zu verdecken. Dasselbe ergibt sich in den Fällen "Alle ... " und "Fast alle ... ". Auch hier wird der Unterschied zwischen der Äußerung "Jedes (oder fast jedes) A hat sich als B herausgestellt" und der Äußerung "Von einem A kann man (mit Sicherheit, oder fast mit Sicherheit) annehmen, daß es auch B ist" verdeckt durch das übermäßig vereinfachte Aussagenschema "Alle A sind B ce. Ein entscheidender Unterschied in der tatsächlichen Handhabung kann auf diese Weise unbemerkt verlorengehen. Unser eigene~ komplexeres Schema der Analyse vermeidet dagegen diese U nschärfe. Die Zweid~utigkeit ist hier ausgeschaltet: In dem Schema sind völlig verschiedene Stellen vorgesehen für eine Schlußregel und für die stützenden Feststellungen, auf denen ihre Annahme beruht. Zum Beispiel muß die obige "Kaum ein ... "-Argumentation wie folgt dargelegt werden: D (Petersen -----------~) ist Schwede)
Deshalb 0 (fast mit Sicherheit)
K (Petersen ist nicht römischkatholisch)
Wegen SR (Von einem Schweden kann man fast mit Sicherheit annehmen, daß er nicht römisch-katholisch ist)
I
Aufgrund von
S. (Die.relative Häufigkeit von römisch-katholischen Schweden ist kleiner als 2 %) Entsprechende Umformulierungen sind für Argumentationen der drei anderen Typen llot\\'l'llti i g, Bei der Behandlung der Syllogismen, bei denen Behauptung der Form "Alle A sind B ce und ,,~ein A ist B" eine zentrale Rolle spielen, ist es genauso wichtig, diese Unterscheidung zu berücksichtigen. Die Aussageform "Alle A sind B" besitzt in dieser Formulierung eine täuschende Einfachheit. Im Gebrauch kann sie sowohl die Rolle einer Schlußregel besitzen als auch den Tatsacheninhalt der Stützung für eine solche angeben - zwei Aspekte, die wir unterscheiden können, indem wir den Satz in verschiedenen Weisen erweitern. Manchmal wird der Satz (wenn er isoliert auftritt) in nur einer dieser Weisen verwendet. Aber oft genug, besonders im Rahmen von Argu-
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mentationen, verwenden wir den einen Satz, um beide Funktionen auf einmal zu erfüllen, und verwischen dabei der Kürze halber den übergang von der Stützung zur Schlußregel - von der Tatsacheninformation, die wir unterstellen, zu einer Schlußregel, deren Verwendung durch diese Informationen gerechtfertigt wird. Daß diese Gewohnheit für Anwendungen ökonomisch ist, mag offensichtlich sein andererseits aber läßt diese Gewohnheit die tatsächliche Struktur unserer Argumentationen für philosophische Zwecke nicht deutlich genug werden. Es gibt eine offensichtliche Parallele zwischen der Komplexität von Sätzen der Form "Alle ... " und Modalaussagen. Wie schon oben ist· die Rolle von Sätzen invariant bezüglich der Bereiche. des Argumerttierens. Wenn wir diesen Aspekt der Ver\vendung von Aussagen betrachten, kann die Form, ,Alle A sind B" immer ersetzt werden durch die Form "Von einem A kann man mit Sicherheit annehmen, daß es Bist". Dies gilt unabhängig vom Bereich - es gilt ebenso für "Alle Schweden sind römisch-kathölisch" wie für "Alle in den britischen Kolonien Geborenen haben Anrecht auf britische Staatsangehörigkeit", "Alle Wale sind Säugetiere" und "Alle Lügen sind tadelnswert". In jedem Fall dient die generelle Aussage als Schlußregel, die eine Arg~mentation von genau derselben Form - nämlich D - K - erlaubt, gleich ob der Schntt von "Harry wurde auf den Bermudas geboren" zu "Harry 1st britischer Staatsangehöriger" geht oder von "Wilkinson sagte eine Lüge" zu "Wilkinson handelte tadelnswert". Die Natur des Schrittes von D zu K sollte auch n,icht geheimnisvoll erscheinen, denn die Rolle des generellen Satzes "Alle A sind B" - im obigen Sinn verstanden - soll gerade diesen übergang erlauben. Im Gegensatz dazu ist die Art der Gründe oder der Stützung, auf denen (auf der) eine Schlußregel dieser Form beruht, abhängig vom Bereich der Argumentation. Die Parallele zu modalen Aussagen bleibt auch hier erhalten. Wenn wir Aussagen unter diesem Gesichtspunkt betrachten, kommt es auf den T 3tsacheninhalt an, nicht auf die Rolle von "Alle ... " - Aussagen .. Obwohl eine Schlußregel der Form "Von einem A kann man mit Sicherheit annehmen, daß es B ist" in allen Bereichen aufgrund von einigen Tatsachen gilt, ist die jeweilige Art der Tatsachen, aufgrund derer irgendeine bestimmte Schlußrege1 geläufig und annehmbar ist, vom Bereich der Argumentation abhängig, in dem die Schlußregel verwendet wird. Wenn wir die einfache Form "Alle A sind B" erweitern, um die Art der Stützung explizit zu machen, die durch sie mitgeteilt wird, ist deshalb die Erweiterung abhängig von dem betreffenden Bereich. In einem Fall lautet die erweiterte Aussage dann: "Die relative Häufigkeit der A, die auch B sind, ist 100 0/0"; im zweiten: "Die A sind nach GesetzesanordntMlg ohne Ausnahme auch B"; drittens: "Die Menge der B umfaßt nach Klassifikationsregeln die gesamte Menge der A", und in einem vierten Fall "Die Handlungsweise ·A führt zu folgenden untragbaren Konsequenzen usw." Trotz dieser auffallenden Unterschiede werden aber dennoch alle diese ausführlich formulierten Behauptungen gelegentlich in der kurzen und einfachen Form "Alle A sind B ce ausgedrückt. Ähnliche Unterscheidungen können bei den folgenden Satzformen gemacht werden. "Fast alle A sind B", "Kaum ein A ist B" und "Kein A ist B". Wenn man diese Aussagen benützt, um Schlußregeln auszudrücken, unterscheiden sie sich von "Alle A sind B" nur in einer Hinsicht: Daß wir nämlich anstelle von "mit Sicherheit" jetzt "fast mit Sicherheit", "fast mit Sicherheit nicht" oder "mit
103 Sicherheit nicht" setzen müssen. Das gleiche gilt, wenn wir diese Sätze nicht Zur Angabe von Schlußregeln, sondern zur Angabe der Stützung benützen. Im statistischen Fall müssen wir nur ,,100 0/0" etwa durch ,,95 0/0", "weniger als 5 0/0" oder , ,null 0/0" ersetzen. Im Fall von Gesetzen müssen wir "ohne Ausnahme" ersetzen durch "wenn nicht Ausnahmebedingungen vorliegen", "nur unter Ausnahmebedingungen" oder "unter überhaupt keinen Umständen". Und im Fall von Klassifikationen muß "die gesamte Menge der A" ersetzt werden durch "die Menge der A mit Ausnahme einer kleinen Untermenge", "nur eine kleine Untermenge" oder "kein Teil der A's". Wenn wir auf diese Weise die skeletthafte Aussageform "Alle ... " und "Kein ... " ausgefüllt haben, wird die Bereichsabhängigkeit der Stützung für unsere Schlußregeln so offensichtlich wie nur möglich. DER BEGRIFF DER UNIVERSELLEN PRÄMISSEN Die Unterscheidung zwischen Rolle und Stützung, angewandt auf Behauptungen der Form "Alle A sind B", wird in ihrer vollen Tragweite erst dann klar, wenn noch eine weitere Unterscheidung eingeführt wird - die zwischen "analytischen" und "substantiellen" Argumentationen. Diese Unterscheidung kann nicht gleich eingeführt werden, so daß uns für den Augenblick nur bleibt, auf Aspekte hinzuweisen, in denen unsere traditionelle Art der Darlegung von Argumentationen (in Form von zwei Prämissen, denen eine Konklusion folgt) irreführend sein können. In diesem Analyseschema liegt offensichtlich die Gefahr, daß es eine zu große Einheitlichkeit der Argumentation in verschiedenen Bereichen suggeriert. Genauso wichtiß<.ist vermutlich aber, daß dieses Schema auch die wichtigen Unterschiede zwischen den Sätzen verdecken kann, die traditionell als "Prämissen" zusammengefaßt werden. Betrachten wir wieder Beispiele unseres Standardtyps, bei dem eine bestimmte Konklusion durch Bezug auf ein bestimmtes Datum über ein konkretes Ding - die singuläre Unterprämisse - zusammen mit einer alIgemeinen Information, die als Schlußregel und/oder als Stützung dient - die universelle Oberprämisse, gerechtfertigt wird. So lange wir universelle Prämissen so auffassen, daß sie nicht Schlußregeln ausdrücken, sondern deren Stützung, sind sowohl Ober- als auch Unterprämissen jedenfalls kategorisch und enthalten Tatsachen. Insofern steht die Information, daß von keinem einzigen Schweden bekannt ist, daß er römisch-katholisch ist, auf einer Stufe mit der Infonnation, daß Karl Henrik Petersen Schwede ist. Selbst dann aber ist es wegen der verschiedenen Rollen, die die Daten und die Stützung für die Schlußregel in praktischen Argumentationen spielen, ziemlich unglücklich, sie alle in gleicher Weise als "Prämissen" zu bezeichnen. Aber unterstellt, wir nehmen die andere mögliche Interpretation unserer Oberprämissen an und behandeln sie stattdessen als Schlußregeln, so sind die Unterschiede zwischen Ober- und Unterprämissen noch auffallender. Eine "singuläre Prämisse" drückt eine Infonnation aus, aus der wir eine Konklusion ableiten, während eine "universelle Prämisse" jetzt überhaupt keine Information ausdrückt, sondern eine Garantie, gemäß der wir gefahrlos den Schritt von unserem Datum zu unserer Konklusio,n machen können. Eine solche Garantie ist - trotz aller Stützung für sie - weder Tatsachenbericht noch ist sie kategorisch. Sie ist vielmehr hypothetisch und stellt eine Zulässigkeitsaussage dar. Auch hier erscheint
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die Unterscheidung zwischen "Prämissen" und "Konklusion" als nicht komplex genug. Um der Situation gerecht zu werden, muß man stattdessen mindestens die vierfache Unterscheidung zwischen "Daten'\ "Konklusion", "Schlußr:egel" und "Stützung" übernehmen. Ein Aspekt, unter dem sich tlie Unterscheidung zwischen den verschiedenen möglichen Interpretationen der "universellen Prämisse" als wichtig für Logiker erweisen kann, kann durch Bezugnahme auf ein altes logisches Problem' veranschaulicht werden. Es gibt viele Diskussionen über die Frage, ob die Aussageform "Alle A sind B" Existenzimplikationen hat oder nicht, daß heißt: Ob man sich durch Äußerung eines Satzes dieser Form auf die Meinung festlegt, daß einige A existieren. Aussagen der Form "Einige A sind B" haben' nicht zu einer solchen Schwierigkeit geführt, denn der Gebrauch dieser letzteren Form impliziert immer die Existenz von einigen As. Die Fonn "Alle A sind B" scheint dagegen eher zweideutig zu sein. Zum Beispiel wurde die These vertreten, daß man eine solche Aussage wie "Alle Personell mit Klumpfüßen haben Schwierigkeiten beim Gehen" nicht so auffassen darf, daß sie die Existenz von Personen mit Klumpfüßen impliziert. Es handelt sich hier - so wird gesagt - um eine allgemeine Wahrheit, die genauso wahr bleiben würde, auch wenn es einmal keinen lebenden Menschen mit Klumpfüßen gäbe. Der Satz, daß Klumpfüße das Gehen erschweren, würde nicht schon dadurch plötzlich seine Wahrheit verlieren, daß der letzte Mensch mit Klumpfüßen durch einen geschickten Chirurgen von seiner Deformation befreit worden wäre. Hier bleibt aber dennoch ein Unbehagen zurück. Hat unsere Behauptung also keine existenztragende Rolle? Wir sind der Meinung, daß sicherlich Menschen mit Klumpfüßen existiert haben müssen, wenn es möglich sein soll, diese Behauptung überhaupt aufzustellen. Dieses Rätsel veranschaulicht sehr gut die Schwäche des Terms "universelle Prämisse". Angenommen, wir verlassen uns auf die traditionelle Art, Argumentationen zu analysieren:
Jack ist klumpfüßig; Alle klumpfüßigen Leute haben Schwierigkeiten beim Laufen; Deshalb hat Jack Schwierigkeiten beim Laufen.
Solange wir uns hierauf verlassen, wird die gegenwärtige Schwierigkeit immer wieder auftreten. Denn dieses Analyseschema läß unklar, ob die allgemeine Aussage "Alle ... " als Regel aufzufassen ist, die einen Schluß als zulässig auszeichnet, oder als Tatsachenbericht über unsere Beobachtungen. Soll sie in der Bedeutung aufgefaßt werden "Jemand mit Klumpfüßen hat Schwierigkeiten beim Laufen, (d. h. von ihm kann angenommen werden, daß er ... hat)" oder in der Bedeutung "Jede Person mit Klumpfüßen, von der uns berichtet ist, hatte Schwierigkeiten beim Laufen (d. h. es stellte sich heraus, daß sie ... hatte)"? Wir sind nicht daran gebunden (außer durch lange Gewohnheit), die Form "Alle A sind B" mit all den in ihr enthaltenen Zweideutigkeiten zu verwenden. Wir haben die Freiheit, sie zugunsten von expliziteren, wenn auch mühsameren Ausdrucksformen auszurangieren. Wenn wir diese Änderung vornehmen, bereitet uns das Problem der Existenzimplikation einfach keine Schwierigkeit mehr. Die Aussage "Jeder Mensch mit Klumpfüßen, von dem uns berichtet ist ... " impliziert natürlich, daß es jedenfalls einige Menschen mit Klumpfüßen gegeben hat. Denn ansonsten hätten wir keine Berichte, auf die wir uns
105 beziehen könnten. Bei der Schluß regel "Ein klumpfüßiger Mensch hat Schwierigkeiten beim Gehen" ist es dagegen genauso klar, daß sie die Existenzfrage offenläßt. Wir könnten auch dann wahrheitsgemäß sagen, daß Klumpfüßigkeit ein Handicap für jeden Fußgänger ist, wenn wir wüßten, daß in diesem Augenblick jeder auf seinem Rücken liegen würde und niemand diese Verformung h~itte. Wir sind deshalb nicht gezwungen, die Frage, ob "Alle A sind B" Existenzimplikationen hat, in dieser Form zu beantworten. Sicher können wir uns weigern, ein klares Ja oder Nein abzugeben. Einige der Aussagen, die Logiker in dieser ziemlich groben Form darstellen, haben solche Implikationen, andere nicht. Auf diese Frage kann keine völlig allgemeine Antwort gegeben werden, denn nicht diese Aussageform bestimmt, ob ein bestimmter Fall Existenzimplikationen enthält oder nicht, sondern vielmehr die Weise, in der diese Form in der betreffenden Situation praktisch angewandt wird. Können wir also 'sagen, daß die Form, ,Alle A sind B ce Existenzimplikationen hat, wenn sie gebraucht wird, um die Stützung einer Schlußregel auszudrücken, nicht aber, wenn sie zur Formulierung der Schlußregel selbst gebraucht wird? Sogar diese Art, diese Sache darzustellen, erweist sich als zu vereinfacht. Denn wenn wir allzusehr auf die Form "Alle A sind B ce vertrauen, nehmen wir in der Regel die unterschiedlichen Arten der Stützung nicht mehr wahr, die unsere allgemeinen überzeugungen vielleicht erfordern. Diese Unterschiede sind hier aber relevant. ·Die hier als Stützung angeführte Aussage, daß jeder Klumpfüßige, von dem uns berichtet ist, daß er' seine Verformungen als Handicap beim Gehen empfunden hat, impliziert zweifellos, daß es einige solche Menschen gegeben hat. Aber wir können dieselbe Schluß regel genausogut durch Bezug auf andere überlegungen stützen, zum Beispiel durch Erörterungen, die von anatomischen Prinzipien her erklären, in welcher Weise man. erwarten kann, daß Klumpfüßigkeit zu Invalidität führen kann - genau wie sich diese Fußform als Handicap erweisen wird. Auf diese theoretische Weise könnten wir die Invaliditäten diskutieren, die sich aus jeder nur vorstellbaren Art der Verformung ergäben - eingeschlossen solcher, die nach unserem Wissen niemand. jemals hatte. Diese Art der Stützung läßt folglich die Existenzfrage offen. Wir finden auch bei der Betrachtung. von Schlußregeln anderer Typen viele Fälle, in denen die Stützung in dieser Form für die Schlußregel keine Existenzimplikation hat. Dies kann zum Beispiel im Fall von Schlußregeln gelten, die durch gesetzliche Bestimmungen gestützt werden. Die Gesetzgebung kann sich auf Personen oder auf Situationen beziehen, die es noch nicht gibt - zum Beispiel auf alle verheirateten Frauen, die nach dem 1. Januar 1984 70 Jahre alt werden oder aber auf Klassen von Personen, ,"on denen nie eine existiert haben mag - etwa Personen, die als schuldig· befunden werden, in verschiedenen Situationen zehn Leute umgebracht zu haben. Gesetze, die sich auf Leute dieser Klassen beziehen, von denen vielleicht niemand jemals existiert hat, können eine Stützung für Schlußregeln abgeben, die uns zu allen Arten von Argumentationsschritten berechtigen, ohne daß entweder die Schlußregeln oder ihre Stützung überhaupt irgendetwas über die Existenz solcher Leute implizieren. Zusammengefaßt: Wenn wir den Unterschieden zwischen Schlußregeln und Stützung, zwischen den verschiedenen Arten der Stützung für eine und dieselbe Schlußregel und zwischen der Stützung für Schlußregeln verschiedener Arten genauere Aufmerksamkeit schenken und wenn wir uns weigern, unsere Aufmerksamkeit hypnotisch auf die traditionelle Form "Alle A sind B" zu richten, können wir
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nicht nur erkennen, daß "Alle A sind B" manchmal Existenzimplikationen hat und manchmal nicht, sondern auch verstehen, warum dies so ist. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, Aussagen der Form "Alle A sind Be( zu erweitern und sie - so wie es die Umstände erfordern - durch explizite Schlußregeln oder explizite Angabe der Stützung zu ersetzen, wird man es rätselhaft finden, daß sich Logiker so lange an diese Aussageform gebunden haben. Die Gründe hierfür werden uns in einem späteren Kapitel beschäftigen. Für den Augenblick können wir bemerken, daß sie dies nur um den Preis einer Verarmung unserer Sprache und einer Vcrnachlässigung einer großen Reihe von Hinweisen auf die angemessene Lösung ihrer Rätsel getan haben. Denn die Form "Alle A sind B" kommt in praktischen Argumentationen viel weniger vor, als man von den Lehrbüchern der Logik her annehmen würde. In der Tat muß sehr viel Anstrengung darauf verwendet werden, den Studenten beizubringen, die idiomatischen Äußerungen, die ihnen schon geläufig sind, in diese spezielle Form umzuformulieren, wodurch dann diese idiomatischen Äußerungen offensichtlich der traditionellen syllogistischen Analyse zugänglich sind. Wenn man sich hierüber beklagt, braucht man nicht gleichzeitig die These vertreten, daß Idiome sakrosankt sind oder daß allein sie eine Form des Verstehens bieten, die wir ohne sie nicht haben könnten. Nichtsdestotrotz wird man in unserer normalen Art und Weise unseres Ausdrucks viele idiomatische Einzelheiten finden, die als sehr bestimmte Hinweise dienen können und uns in diesem Fall in die richtige Richtung führen können. Während die Logiker bisher alle generellen Aussagen in ihre vorher festgelegte Form gezwängt haben, wird im praktischen Red·en ein Dutzend verschiedener Formen verwendet. Nur eine Auswahl davon: "Jedes einze~ne A ist B", "Jedes A ist B" "Ein A wird B sein", "A's sind im allgemeinen B's" und "Das A ist ein B". Wenn die Logiker diese Idiome miteinander verglichen hätten, statt sie unberücksichtigt zu lassen oder darauf zu best~hen, daß sie alle mit ihrem Schema übereinstimmen, wären sie schon vor langer Zeit auf die Unterscheidung geführt worden, die wir als entscheidend herausgefunden haben. Durch den Gegensatz zwischen "Jedes A ce und "Nicht ein einziges A" einerseits und "Jedes beliebige A" und "Ein A (( andererseits wird man unmittelbar auf die Unterscheidung zwischen statistischen Beri~hten und den Schlußregeln, für die sie eine Stützung sein können, geführt. Ebenfalls spiegeln sich die Unterschiede zwischen Schlußregeln in verschiedenen Bereichen im Idiom wider. Ein Biologe würde kaum jemals die Wörter äußern: "Alle Wale sind Säugetiere", obwohl Sätze wie "Wale sind Säugetiere" oder "Der Wal ist ein Säugetier" ganz natürlich aus seinem Munde oder aus seiner Feder kommen. Schlugregeln sind von Stützung zu unterscheiden. Stützung durch enumerative Beobachtung ist verschieden von Stützung durch taxonomische Klassifikation. Unsere Wahl des Idioms spiegelt diese Unterschiede ziemlich exakt, wenn vielleicht auch nur in Andeutungen, ·wider. Sogar in einem so abgelegenen Bereich wie der philosophischen Ethik wurden einige altehrwürdige Probleme in genau dieser Weise erzeugt. Die Praxis zwingt uns zu der Einsicht, daß allgemeine ethische Wahrheiten im besten Falle erhoffen können, bei Abwesenheit wirksamer Gegenbehauptungen zu gelten. Konflikte zwischen verschiedenen Pflichten sind ein unvenneidbares Merkmal des moralischen Lebens. Wo die Logik die Form "Alle Lügen sind tadelnswert" oder "Jedes Halten
107 von Versprechen ist richtig" verlangt, antwortet das Idiom deshalb mit "Lügen ist tadelnswert" und "Das Halten von Versprechen ist richtig". Das "alle" bzw. "jedes" des Logikers bringt unglückliche Erwartun'gen mit sich, die in der Praxis gelegentlich enttäuscht werden müssen. Sogar die allgemeinsten Schlußregeln innerhalb von ethischen Argumentationen können in ungewöhnlichen Situationen noch Ausnahmen erfahren. Sie können deshalb höchstens mutmaßliche Schlußfolgerungen erlauben. Wenn wir auf dem "jedes" bestehen, führen uns Pflichtkonflikte zu einem Paradox. Ein großer Teil der ethischen Theorie befaßt sich damit, uns aus diesem Wirrnis herauszukriegen. Nur wenige bestehen auf dem Versuch, die Konsequenzen des Bestehens auf dem zusätzlichen "jedes" in die Praxis aufzunehmen. Denn dazu muß man zu verzweifelten Maßnahmen greifen. Dies ist nur möglich, wenn man eine exzentrische moralische Position einnimmt (wie etwa einen absoluten Pazifismus), die nur ein Prinzip allein als echt universelles zuläßt, und dieses Prinzip wird durch Dick und Dünn gegen alle Konflikte und Gegenbehauptungen verteidigt, die normalerweise seine Anwendung einschränken würden. Der Weg von hübschen Formulierungen über Logik und Idiom zu den schwierigsten Problemen des Handelns ist schließlich gar nicht so weit.
DER BEGRIFF DER FORMALEN GüLTIGKEIT Die Hauptlehren dieser Untersuchung des praktischen Argumentierens werden uns in den letzten beiden 'Kapiteln beschäftigen. Es gibt aber einen Gegenstand - es ist derjenige, mit dem das vorliegende Kapitel begann - über den wir schon etwas sagen können, nämlich ü~er den Begriff der "logischen Form" und über die Lehrmeinungen, die die Gültigkeit von Argumentationen mit Hilfe dieses Begriffs der Form zu erklären versuchen. Manchmal wird zum Beispiel die These vertreten, daß die Gültigkeit syllogistischer Argumentationen eine Folge der Tatsache ist, daß die Konklusionen dieser Argumentationen einfach "formale Transformationen" ihrer Prämissen sind. Wenn die Information, von der wir ausgehen (und die in Ober- und Unterprämissen ausgedrückt ist), durch einen gültigen Schluß zu der Konklusion führt, liegt das .daran - so wird behauptet - daß sich die Konklusion einfach durch eine Umstellung der Teile der Prämissen und durch eine Anordnung nach einem neuen Schema ergibt. Bei der Durchführung eines Schlusses ordnen wir gegebene Elemente neu an. Die formale Relation zwischen diesen Elementen, wie sie zunächst in den Prämissen und in der Konklusion auftreten, sichern uns irgendwie die Gültigkeit unseres Schlusses. Was wird aus dieser Doktrin, wenn wir jetzt unsere zentrale Unterscheidung zwischen den zwei Aspekten der Aussageform "Alle A sind B" einbringen? Betrachten wir eine Argumentation der Form: X ist A; Alle A sind B; Deshalb ist X auch B.
Wenn wir die universelle Prämisse dieser Argumentation als Schlußregel erweitern, wird daraus "Von einem A kann man mit Sicherheit annehmen, daKes B ist", oder J
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kürzer: "A ist mit Sicherheit auch B ce. Wenn wir diese Fassung in die Argumentation einsetzen, erhalten wir: X ist A; A ist mit Sicherheit B; Deshalb ist X mit Sicherheit B.
Wenn die Argumentation in· dieser Weise dargestellt wird, sind· die Teile der Konklusion offenkundig dieselben wie die Teile der Prämissen, und die Konklusion kann einfach so erhalten werden, daß man die Teile der Prämissen umstellt bzw. neu anordnet. Wenn dies mit der Äußerung gemeint ist, daß die Argumentation die angemessene "logische Fonn" hat und daß sie aufgrund dieser Tatsache gültig ist, dann kann man dies als "fonnal gültige" Argumentation bezeichnen. Jedoch muß eines sofort angemerkt werden: Vorausgesetzt, daß die richtige Schlußregel verwendet wird, kann jede Argumentation in der Form "Daten; Schlußregel; deshalb Schlußfolgerung" ausgedrückt werden, wodurch sie formal gültig wird. Das heißt, daß bei passender Wahl der Fonnulierung jede solche Argumentation so ausgedrückt werden kann, daß ihre Gültigkeit allein durch die Fonn offenkundig ist. Dies gilt in gleicher Weise in allen Bereichen der Argumentation; es macht keinen Unterschied, ob die universelle Prämisse "Alle Vielfachen von 2 sind gerade", "Alle Lügen sind tadelnswert" oder "Alle Wale sind Säugetiere" lautet. Jede solche Prämisse kann als unbedingte Schlußregel ("Ein A ist sicher auch ein B") geschrieben werden und in einem formal-gültigen Schluß verwendet werden; oder, um es weniger irreführend auszudrücken: Jede solche Prämisse kann in einem Schluß verwendet werden, der so dargestellt ist, daß seine Gültigkeit formal offensichtlich wird. Wenn wir andererseits die Schlußregel ·durch die Stützung ersetzen, d. h. die universelle Prämisse auf die andere Weise interpretieren, ist der Begriff der formalen Gültigkeit nicht, mehr auf unsere Argumentation anwendbar. Eine Argumentation der Form "Daten; Stützung; deshalb Schlußfolgerung" mag für praktische Zwecke völlig in Ordnung sein. Wir sollten ohne Zögern die Argumentation akzeptieren: Petersen ist Schwede; Der berichtete Anteil von römisch-katholischen Schweden ist ·gleich .null; Deshalb ist Petersen mit Sicherheit nicht römisch-katholisch.
Aber es kann hier jetzt nicht mehr behauptet werden, daß die Gültigkeit dieser Argumentation eine Konsequenz irgendeiner formalen Eigenschaft ihrer Teilaussagen ist. Abgesehen von allem anderen sirid die Elemente der Konklusion und der Prämissen verschieden. Der Schritt enthält deshalb mehr als Umstellen und Neu-Anordnen. Deswegen war natürlich die Gültigkeit der (D; SR; deshalb K)-Argumentation auch keine Folge ihrer fonnalen Eigenschaften; man könnte aber zumindest in diesem Fall die Argumentation in einer besonders klaren Form ausdrücken. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Eine (D; S; deshalb K)-Argumentation ist nicht formal gültig. Sobald wir die Stützung ans Tageslicht bringen, auf der die Gültigkeit unserer Argumentation letzten Endes beruht, verliert der Vorschlag, Gültigkeit mit Hilfe von "formalen Eigenschaften" in irgend einem geometrischen Sinn zu erklären, seine Plausibilität. Die Diskussion der formalen Gültigkeit kann ein weiteres Moment idiomatischen Gebrauchs erhellen, bei dem sich der beim Argumentieren übliche Gebrauch wieder
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in Gesellschaft mit der Tradition der Logik befindet. Dieses Moment zeigt sich in folgender Weise. Angenommen wir stellen schlußregel-verwendende Argumentationen (wie man sie nennen kann) schlußregel-begründenden Argumentationen gegenüber. Die erstere Klasse enthält unter anderem alle die Argumentationen, in denen auf ein einziges Datum Bezug genommen wird zum Beweis einer Schlußfolgerung mit Hilfe einer Schlußregel, deren Annehmbarkeit unterstellt wird. Beispiele sind etwa "Harry wurde auf den Bermudas geboren; deshalb (wer· in den britischen Kolonien geboren ist, hat Anrecht auf britische Staatsbürgerschaft) ist Harry vermutlich ein britischer Staatsbürger", "lack hat gelogen; deshalb (Lügen ist im allgemeinen tadelnswert) handelte Jack in einer tadelnswerten Weise"· und "Petersen ist Schwede; deshalb (kaum ein Schwede ist römisch-katholisch) ist Petersen nicht römisch-ka1:holisch". Schlußregel-b e gründende Argumentationen sind im Gegensatz hierzu solche Argumentationen, die man in einemwissenschaftlichen . Papier finden könnte, in dem die Annehmbarkeit einer neuen Schluß regel dadurch deutlich gemacht wird, daß sie nacheinander in einer Reihe von Fällen angewandt wird, in denen die Daten und die Schlußfolgerung unabhängig verifiziert wurden. In diesem Typ der Argumentation ist die Schlußregel neu, nicht die Konklusion, und steht damit zur Prüfung. Gilbert Ryle hat die in diesen zwei Typen der Argumentation enthaltenen Schritte damit verglichen, entweder eine Reise auf einer schon gebauten Bahnlinie zu unternehmen oder eine neue Bahnlinie zu bauen. Er hat überzeugend die These vertreten, daß nur die erste Klasse von Argumentationen als "Schlüsse" bezeichnet werden sollten. Der Grund hierfür ist, daß es nicht möglich ist, das wesentliche Element der Innovation in der zweiten Klasse Regeln zu unterwerfen und daß der Begriff des Schließens wesentlich die Möglichkeit von Regeln des Schließens involviert. Das Moment idiomatischen Gebrauchs, auf das hier hingewiesen werden muß, ist folgendes: Daß nämlich auf die Unterscheidung, die wir durch die schwerfälligen Terme "schlußregel-gebrauchend" und "schlußregel-begründend ce bezeichnet haben, in der Praxis gewöhnlich durch das Wort "deduktiv", die hiervon abgeleiteten Wörter und deren Gegensätze hingewiesen wird. Außerhalb des Studierzimmers wird die Wortfamilie "deduzieren", "deduktiv", und "Deduktion" auf Argumentationen aus vielen Bereichen angewandt. Dazu ist es nur nötig, daß diese Argumentationen schlußregel-gebrauchend sind und schon aufgestellte Schlußregeln dazu verwenden, aus neuen Daten neue Konklusionen zu erhalten. Es macht für die Angemessenheit dieser Terme nichts aus, daß der Schritt von D auf K in einigen Fällen einen. übergang im logischen Typ enthält - daß es zum Beispiel ein Schritt von einer Infqrmation über die Vergangenheit zu einer Vorhersag~ über die Zukunft ist. Sherlock Holmes jedenfalls zögerte nie zu sagen, daß er aus der Farbe und Beschaffenheit der Erdreste, die jemand auf dem Teppich zurückgelassen hatte, deduziert hatte, daß dieser kü-rzlich in East Sussex war. Und damit redete er wie ein Mensch aus dem wirklichen Leben. Ein Astronom würde genauso bereitwillig sagen, daß er aus den gegenwärtigen und vergangenen Positionen und Bewegungen der betroffenen Himmelskörper deduzierte, wann eine zukünftige Sonnenfinsternis stattfinden würde. Wie Ryle zu verstehen gibt, ist die Bedeutung des Wortes "deduzieren" tatsächlich dieselbe wie die von "schließen", so daß wir immer dann
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angemessen von Deduktion reden können, wenn es sich um begründete Schlußregeln oder um gegebene Verfahren des überlegungen Anstellens handelt, durch die wir von Daten zu einer Schlußfolgerung übergehen können. Eine normale Vorhersage, die aufgrund der Standardgl~ichungen der Himmelsmechanik gemacht wird, ist in diesem Sinne unzweifelhaft eine Deduktion. Und insoweit auch Sherlock Holmes korrekte, gutgestützte Schlußregelf!- zur Rechtfertigung seiner Schritte angeben kann, können wir zugeben, daß auch er Deduktionen ausgeführt hat - sofern man nicht soeben ein Lehrbuch der formalen Logik gelesen hat. Der Einspruch eines anderen Detektivs, daß Sherlock Holmes irrte, indem er Argumentationen als Deduktionen angesehen hat, die tatsächlich induktiv waren, ist ganz deutlich "nichtssagend und irrig. Auch die andere Seite dieser Münze - nämlich die Art und Weise, in der das Wort "Induktion" zur Bezugnahme auf schlußregel-begründende Argumentationen verwendet werden kann - lohnt einen Blick. Isaac Newton redet zum Beispiel regelmäßig davon, eine "Behauptung durch Induktion zu verallgemeinern". Hiermit meint er - wie sich durch andere Stellen herausstellt - den" Gebrauch unserer Beobachtungen von Regelmäßigkeiten und Korrelationen als Stützung für eine neue Schlußregel". Er erklärt, daß wir mit der Feststellung beginnen, daß eine bestimmte Beziehung in einer Reihe von Fällen gilt. Dann fahren wir mittels einer "Verallgemeinerung durch Induktion" fort, diese Beziehung so lange auf neue Beispiele anzuwenden, als dies erfolgreich möglich ist. Wenn wir dabei in Schwierigkeiten geraten, müssen wir nach Newton Möglichkeiten finden, die allgemeIne Aussage mit einer Ausnahmeklausel zu versehen. "Das heißt, wir müssen die besonderen Umstände entdecken, in denen die durch die Schlußregel begründeten Annahmen verworfen werden können. Newton erinnert uns daran, daß eine allgemeine Aussage in der physikalischen Theorie nicht als statistischer Bericht über das Verhalten einer sehr großen Anzahl von Objekten aufgefaßt werden darf, sondern vielmehr als eine offene Schluß regel oder ein Verfahren des überlegens. Sie wird durch eine überprüfung in Beispielssituationen begründet, in denen Daten und Konklusionen unabhängig voneinander bekannt sind; dann wird sie durch Induktion verallgemeinert und schließlich als Deduktionsregel in neuartigen Situationen angewandt, um neue Konklusionen aus unseren Daten zu gewinnen. Andererseits wird in vielen Abhandlungen über formale Logik der Term "Deduktion" für Argumentationen reserviert, in denen aus den Daten und der Stützung definitiv die Konklusion folgt, d. h. daß man in eine definitive Inkonsistenz oder einen Widerspruch verwickelt wurde, wenn man die gesamten Daten und die Stützung ange~en würde und dennoch die Konklusion verneinen würde. Dies ist natürlich ein Ideal der Deduktion, an welches keine astronomische Vorhersage herankommen kann. Wenn formale Logiker dies von jeder "Deduktion" verlangen, ist es kein Wunder, daß sie solche astronomischen Berechnungen nicht so bezeichnen wollen. Dennoch sind die Astronomen nicht gewillt, ihre Gewohnheiten zu ändern. Sie bezeichnen ihre komplizierten mathematischen Beweise schon sehr lange als "Deduktionen", und sie verwenden diesen Term, um eine vollkommen echte und konsistente Unterscheidung zu treffen. Was sollen wir von diesem Konflikt verschiedener Gebrauchsweisen halten? Sollen wir jede Argumentation als Deduktion anerkennen, die eine begründete Schluß regel enthält, oder müssen wir zusätzlich verlangen, daß sie durch einen definitiven
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logischen Schluß gestützt sein soll? Wir sind noch nicht in der Lage, diese Frage zu entscheiden. Im Augenblick können wir bloß die Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß an dieser Stelle der gewöhnliche idiomatische Gebrauch der Logiker abweicht. Wir werden sehen, daß diese spezielle Abweichung nur ein Aspekt einer umfassenderen ist, die uns innerhalb eines großen Teils des vierten Kapitels beschäftigen wird und deren Natur deutlicher wird, wenn wir eine letzte Unterscheidung untersucht haben. Dieser Unterscheidung, der Unterscheidung zwischen "analytischen" und· "substantiellen" Argumentationen, müssen wir uns jetzt zuwenden:
ANALYTISCHE UND SUBSTANTIELLE ARGUMENTATIONEN Zu dieser Unterscheidung wird am besten durch eine Einleitung geführt. Wir bemerkten ein Stück weiter o,ben, daß eine in der Form "Datum; Schlußregel; deshalb Konklusion" ausgedrückte Argumentation unabhängig vom Bereich, dem sie angehQrt, in einer formal gültigen Weise dargestellt werden kann. Es zeigte sich aber, daß dies für Argumentationen der Form "Datum; Stützung für eine- Schlußregel; deshalb Schlußfolgerung" niemals möglich ist. Um zu unserem Standardbeispiel zurückzukehren: Wenn uns Informationen über Harrys Geburtsort zur Verfügung stehen, können wir vielleicht eine Konklusion über seine Nationalität aufstellen und sie mit einer formal gültigen Argumentation der Form (D; SR; deshalb K) verteidigen. Aber die Schlußregel, die wir in dieser formal-gültigen Argumentation anwenden, beruht ihrerseits~ bezüglich ihrer Annehmbarkeit auf Tatsachenfeststellungen über die Annahme und über Bestimmungen gewisser Gesetze, und wir können deshalb die Argumentation in der alternativen Form (D; S; deshalb K) schreiben: Harry wurde auf den Bennudas geboren; Die einschlägigen Gesetze (SR 1, ... ) verfügen, daß wer in den britischen Kolonien geboren wird und britische Eltern hat, Anrecht auf britische Staatsangehörigkeit hat; Deshalb ist Harry vennutlich ein britischer Staatsangehöriger.
Wenn wir diese Form wählen, kann man nicht behaupten, daß die Gültigkeit der Argumentation einfach aus den formalen Beziehungen zwischen den drei in ihr enthaltenen Aussagen klar wird. Die Angabe der Stützung für unsere Schlußregel beinhaltet in einem solchen Fall unvermeidbar die Erwähnung von Parlamentsgesetzen und ähnlichem, und diese Bezugnahmen zerstören die formale Eleganz der Argumentation. Auch in anderen Fällen hindert uns eine explizite Erwähnung der Stützung für unsere Schlußregel - ob diese nun die Form statistischer Berichte, der Berufung auf die Ergebnisse von Experimenten oder der Bezugnahme auf taxonomische Systeme hat - daran, die Argumentation so zu schreiben, daß ihre Gültigkeit allein durch ihre formalen Eigenschaften offenkundig wird. Es gilt deshalb die allgemeine Regel, daß wir nur Argumentationen der Form, ,D; SR; deshalb K" in formal gültiger Weise darstellen können. Argumentationen der Form "D; S; deshalb K" können nicht so ausgedrückt werden. Es gibt jedoch eine ziemlich spezielle Klasse von Argumentationen, die auf den ersten Blick diese allgemeine Regel zu durchbrechen scheinen. Diese Argumentationen werden wir zur gegebenen Zeit als analytische bezeichnen. Zur Veranschaulichung können wir die folgende hernehmen:
112 Anne ist eine der Schwestern von Jack; Alle Schwestern von J ack haben rote Haare; Deshalb hat Anne rote Haare.
Argumentationen dieses Typs hatten in der Geschichte der Logik einen besonderen Platz inne, und wir müssen ihnen eingehende Beachtung schenken. Es wird nicht immer bemerkt, wie selten in der Praxis Argumentationen mit deren speziellen Charakteristika sind. Als ersten Schritt wollen wir diese Argumentation erweitern, wie wir es schon bei den Argumentationen anderer Typen getan haben. Wenn wir die Oberprämisse als stützende Aussage schreiben, ~rha1ten wir: Anne ist eine Schwester von Jack; Jede Schwester von Jack hat (wie eine einzeln durchgeführte Prüfung ergab) rote Haare; Deshalb hat Anne rote Haare.
Oder aber wir erhalten, wenn wir eine Schlußregel anstelle der Stützung schreiben: Anne ist eine Schwester von J ack; Jede Schwester von Jack hat rote Haare (d. h. man kann annehmen, daß sie ... hat); Deshalb hat Anne rote Haare.
Diese Argumentation bildet in folgender Hinsicht eine Ausnahme. Wenn eine einzeln durchgeführte überprüfung ergibt, daß jedes der Mädchen rote Haare hat, dann wurde dabei insbesondere auch die Haarfarbe von Anne überprüft. Folglich enthält in diesem Fall die Stützung für unsere Schlußregel explizit die Information, die wir als unsere Schlußfolgerung angeben. Tatsächlich könnte man ohne weiteres das Wort "deshalb" vor der Schlußfolgerung durch den Ausdruck "mit anderen Worten" oder "das heißt" ersetzen. In einem solchen Fall bedeutet, das Datum lind die Stützung ""zu akzeptieren, dam"it auch implizit die Schlußfolgerung zu akzeptieren. Wenn wir Daten, Stützung und Schlußfolgerung in Fonn eines einzigen Satzes zusammenfassen, erhalten wir eine richtige Tautologie - "Anne ist eine der Schwestern von Jack und jede Schwester von Jack hat rote Haare und außerdem hat Anne rote Haare". Es scheint deshalb, als ob ausnahmsweise nicht nur die (D; SR_; deshalb K)-Argumentation, sondern auch die (D; S; deshalb K)-Argumentation in einer formal gültigen Weise formuliert werden kann. Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß die meisten Argumentationen, die wir praktisch verwenden können, nicht diesem Typ angehören. Wir machen Behaup. tungen über die Zukunft und stützen sie durch Bezug auf unsere Erfahrungen darüber, wie es in der Vergangenheit war. Wir stellen Behauptungen auf über die Gefühle von jemandem oder über seine Rechtsstellung und stützen sie durch Bezug auf seine Äußerungen und Gesten bzw. durch Bezug auf seinen Geburtsort und die Gesetze über Nationalität. Wir übernehmen moralische Standpunkte, fällen ästhetische Urteile und erklären unsere Unterstützung für wissenschaftliche Theorien oder politische Fragen, und in jedem Fall geben wir als Gründe für unsere Schlußfolgerungen Behauptungen von einem von den der Schlußfolgerungen selbst ganz verschiedenen logischen Typ an. In all diesen Fällen steht es völlig außerhalb der Diskussion, die Schlußfolgerung als bloße Unlformulierung mit Hilfe anderer Wörter von etwas anzusehen, das schon implizit im Datum und in der Stützung angegeben wurde. Obwohl die Argumentation formal gültig sein mag, wenn sie in der
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Form "Datum; Schlußregel; deshalb Schlußfolgerung" ausgedrückt wird, ist der Schritt, den wir beim übergang von der Information, auf die wir aufbauen müssen (sowohl Datum als auch Stützung) zur Schlußfolgerung ':lufführen, substantiell. Deshalb is't in den meisten unserer Argumentationen die Aussage, die man durch die Anordnung "Datum; Schlußregel; und außerdem Schlußfolgerung" erhält, ganz und gar nicht tautologisch - sie ist vielleicht offenkundig, wenn die Zulässigkeit der enthaltenen Schritte klar ist, aber sie ist nicht tautologisch. Im folgenden bezeichne ich Argumentationen dieser zwei Typen als substantiell bzw. analytis~h. Eine von D zu K führende Argumentation heißt analytisch genau dann, wenn die Stützung für die Schlußregel, die di~ Argumentation ermög1icht. explizit oder implizit die Information enthält, die in der Schlußfolgerung selbst übermittelt wird. Wenn dies der Fall ist, ist die Aussage "D; S; und außerdem K" in der Regel tautologisch. (Diese Regel hat aber einige Ausnahmen, die wir in Kürze untersuchen werden.) Wenn die Stützung für die Schlußregel nicht die Information enthält, die in der Schlußfolgerung mitgeteilt wird, ist die Aussage "D;. S; und außerdem K" niemals. tautologisch, und die Argumentation ist substantiell. Die Notwendigkeit für eine Unterscheidung dieser allgemeinen Art ist offensichtlich genug, und gewisse ihrer Aspekte haben sich von selbst der Beachtung der Logike~ aufgedrängt. Denoch wurden ihre Implikationen noch nie zusammenhängend ausgearbeitet. Diese Aufgabe wurde aus mindestens zwei Gründen vernachlässigt. Zunächst trägt die innere Komplexität von Aussagen der Form "Alle A sind B" dazu bei, 7.U verdecken, ",ir groß der Unterschied zwischen ana1ytischen und substantiellen Argumentationen ist. Solange wir uns nicht die Mühe machen, diese Aussagen zu erweitern, so daß deutlich wird, ob sie als Angabe von Schlußregeln oder als Stützung für Schlußregeln aufzufassen sind, übersehen wir die große Vielfalt der Argumentationen, die eine Darstellung in der traditionellen syllogistischen Form zulassen. Wir müssen in jedem bestimmten Fall den Unterschied zwischen Stützung und Schlußregel explizit machen, wenn wir sicher gehen wollen, mit welcher Argumentation wir es in diesem Fall zu tun haben. - Zweitens wurde nicht bemerkt, welche Ausnahme echt analytische Argumentationen darstellen und wie schwierig es ist, eine Argumentation anzugeben, deren analytischer Charakter außer Frage steht. Wenn Logiker diese Tatsachen erkannt hätten, würden sie vielleicht analytische Argumentationen nicht so bereitwillig als Modell behandeln, das andere Typen der Argumentation nachzuahmen hätten. Sogar das von uns gewählte Beispiel über Annes Haarfarbe kann leicht aus der analytischen in die substantielle Klasse rutschen. Wenn die Stützung für unseren Schritt von dem Datum "Anne ist Jacks Schwester" zu der Schlußfolgerung "Anne hat rote Haare" nur die Information ist, daß in der Vergangenheit von jeder Schwester von Jack einzeln beobachtet wurde, daß sie rote Haare hat, dann - so könnte man vorbringen - ist die Argumentation sogar in der vorliegenden Form substantiell. Schließlich ist Färben nicht unbekannt. Sollten wir deshalb die Argumentation nicht in einer solchen Weise umformulieren, daß der substantielle Charakter deutlich herauskommt? Bei dieser Interpretation nimmt die ArgUTllentation folgende Form an: Datum: Anne ist Schwester von J ack; Stützung: Bei allen Schwestern von Jack wur.de früher beobachtet, daß sie rote Haare haben;
Schlußfolgerung: Deshalb hat Anne vermutlich jetzt rote Haare.
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Die Schlußregel, auf die Bezug genommen wird und für die hier die Stützung angegeben wird, ist von der Form "Von jeder Schwester von Jack kann man annehmen, daß sie rote Haare hat". Aus den angege.benen Gründen kann diese Schlußregel nicht mehr als eine VenTIutung be~ründen: Anne ist Schwester1--------~> Deshalb, vennutlich J von Jack denn von jeder SChwelter von Jack kann man rote Haarfarbe annehmen
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[Anne hat jetzt lrote Haare
wenn nicht
AnnJ hat ihre Haare gefärbt/ hat graue Haare bekommen/ hat ihre Haare verloren ...
aufgrund der Tatsache, daß
I
Bei allen Schwestern von Jack wurde früher b-eobachtet, daß sie rote Haare haben Es scheint also, daß ich meine Schlußfolge'rung über. di~' Haarfarbe von Anne nur dann mit einer unbezweifelbar analytischen Argumentation. verteidigen kann, wenn ich genau in diesem Augenblick alle Schwestern vo~-: la~k:-:sehen und so meine Schlußfolgerung mit der Versicherung stützen kann, daß jede einzeint:; Schwester von Jack in diesem Augenblick rote Haare hat. Aber welche N"QtWendigkeit besteht in einer solchen Situation für eine Argumentation, um zu begJii:nden, welche Haarfarbe Anne hat? Und welche Bedeutung hat die Haarfarbe der,'übrigen Schwestern? In dieser Situation müssen wir unsere. Augen gebrauchen', 'und nicht nach einer Beweiskette suchen. Wenn es der Zweck eirier Argume~tation ist, Schlußfolgerungen, über die wir nicht völlig sicher sind, durch Rückb~zug auf weitere Informationen aufzustellen, bezüglich der wir meh~ Sicherheit haben, wird es etwas zweifelhaft, ob irgendeine echte, praktische Argumentation jemals echt analytisch sein kann. Anscheinend sind allein mathematische Argumentationen völlig sicher. Wenn ich weiß, daß jede Folge von sechs oder mehr hintereinanderfolgenden ganzen Zahlen zwischen 1 und 100 mindestens eine. Primzahl enthält und außerdem, daß keine der Zahlen von 62 bis 66 eine Primzahl ist, kann ich ohne weiteres schließen, daß 67 eine Primzahl ist. Dabei handelt es' sich um eine Argumentation, deren Gültigkeit nicht im Lauf der Zeit in Frage gestllt :werden, kann. Dieser einzigartige Charakter mathematischer Argumentationen ist b~·zeichnend. Reine Mathematik ist möglicherweise die einzige intellektuelle Aktivität, deren Probleme und Lösungen "außerhalb der Zeit" stehen. Ein mathematisches Problem ist keine augenblickliche Schwierigkeit. Seine Lösung hat keine zeitliche Grenze; es enthält keine substantiellen Schritte. Es mag als Modellargumentation für die Analyse von formalen Logikern verführerisch elegant sein, aber es könnte kaum weniger repräsentativ sein. DIE CHARAKTERISTIKA VON ANALYTISCHEN ARGUMENTATIONEN Für den Rest dieses Kapitels bleiben noch zwei Hauptaufgaben. Erstens müssen wir die speziellen Charakteristika von analytischen Argumentationen etwas eingehender
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klären. Zweitens müssen wir der Unterscheidung zwischen analytischen und ~ubstan ti ellen Argumentationen drei weitere Unterscheidungen gegenüberstellen, deren Wichtigkeit wir schon erkannt haben, nämlich: 1. Die Unterscheidung zwischen formal gültigen Argumentationen und solchen, die nicht formal gültig sind. 2. Die Unterscheid~ng zwischen schlußregel-gebrauchenden und schlußregelbegründenden Argumentationen. 3. Die Unterscheidung -zwischen Argumentationen, die zu notwendigen Schlußfolgerungen führen und solchen, die nur zu wahrscheinlichen Konklusionen führen. Was die Natur von analytischen Argumentationen selbst betrifft, müssen zwei Sachen diskutiert werden. Wir müssen zunächst fragen, auf welcher Grundlage die Gültigkeit von Argumentationen dieses Typs letztlich ruht. Danach müssen wir die Kriterien betrachten, die provisorisch für die Unterscheidung anal~·tischer Argumentationen von anderen vorgeschlagen wurden - denn es stellt sich schließlich heraus, daß der "Tautologie-Teste( unerwartete Schwierigkeiten enthält. Um zu sehen, wie es zur ersten Frage kommt, sollten wir uns zuerst daran erinnern, wie viel we!1iger deutlich als gewöhnlich wir im Fall analytischer Argumentationen zwischen den Daten und der Stützung von Schlußregeln unterscheiden können - zwischen der Infonnation, von der ausgehend wir argumentieren und der Information, die den Schlußregeln, in abereinstimmung mit denen wir argumentieren, ihre Geltung verleiht. In obigem Beispiel ist die Infonnation, daß Anne Schwester von Jack ist, auf dem ersten Blick in derselben Weise für die Schlußfolgerung. daß Annes Haare rot sind, relevant wie die Information, daß jede Schwester von lack rote Haare hat. Diese Ähnlichkeit mag uns dazu führen, beide Informationen als Daten aufzufassen. Wenn wir dies tun, kann evtl. die Frage gestellt werden: "Welche Schlußregel erlaubt uns ·den übergang von diesen beiden Prämissen zusammengenommen zu der erforderlichen Schlußfolgerung?H Sicher können wir nicht ohne irgendeine Schlußregel von irgendeiner Menge von Daten zu einer Konklusion kommen. Welche Schlußregel können wir also angeben; um unseren Schluß in diesem Fall zu rechtfertigen? Um dieses Problem aber handelt es sich. Wir können es nur auf zwei Weisen in Angriff nehmen. Wir müssen entweder die Frage akzeptieren und eine Schlußregel angeben, oder aber wir müssen die Frage in der obigen Form zurückweisen und darauf bestehen, daß sie erst einmal neu formuliert wird. (Man kann zum Beispiel die Meinung vertreten, daß wir für den 'übergang von dem ersten Datum auf die Konklusion eine völlig hieb- und stichfeste Schluß regel haben und daß die zweite Information die Stützung für diese Schluß regel ist.) Im Augenblick wollen wir das Problem jedoch in der Form betrachten, in der es hier auftritt. Zuerst muß man zu diesem Problem bemerken, daß es völlig allgemein formuliert ist. Solange man nur aus der Tatsache, daß Anne lacks Schwester ist, schließt, daß sie rote Haare hat, ist die Frage, welche Schlußregel unseren Schluß erlaubt, eine spezielle Frage, die nur für diese Argumentation und ein paar weitere relevant ist. Die Frage aber, welche Schlußregel unseren übergang von der Information, daß sowohl Anne eine Schwester von Jack ist als auch, daß jede einzelne Schwester von lack rote Haare hat, zu der Schlußfolgerung erlaubt, daß Anne rote Haare hat, ist bei weitem nicht mehr so eingeschränkt, denn sie kann in genau derselben Form für
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alle Argumentationen dieses Typs auftreten, auf welches Gebiet sie sich auch immer ausdrücklich beziehen mögen. Die Antwort hierauf muß man deshalb ebenso allgemein geben und man muß sie so formulieren, daß sie in gleicher Weise auf alle diese Argumentationen anwendbar ist. Von welcher Schlußregel also sollen wir sagen, daß sie diesen bestimmten Schritt erlaubt? Die Versuche, diese Frage befriedigend zu lösen, sind langwierig und nicht überzeugend, und wir können sie hier nicht alle durchgehen. Es wurden mehrere verschiedene Prinzipien von ganz allgemeinem Charakter als die impliziten Schlußregeln für Schritte dieser Art vorgebracht - das "Prinzip des Syllogismus", das "Dictum de Omni et Nullo" und weitere. Aber, ganz abgesehen von den jeweiligen Verdiensten ihrer rivalisierenden Antworten, sind sich Philosophen nicht einmal darüber einig, wie uns solche allgemeinen Prinzipien tatsächlich erlauben, sc:> zu folgern, wie wir es tun. Welche Art von Aussage ist etwa das Prinzip des Syllogismus - dies ist die erste Frage, die betrachtet werden muß. Man ist versucht zu sagen, daß jedes Prinzip, das alle Syllogismen in gleicher Weise gültig macht, als Aussage über die Bedeutung unserer Wörter verstanden werden muß - als implizite Analyse solcher hervorragend logischer Wörter wie "alle" und "einige". Eine Konsequenz dieser Ansicht, die wir im nächsten Kapitel genau untersuchen werden, ist die Entwicklung einer ziemlich beschränkten Doktrin über Natur und Bereich der Logik. Wenn die einzigen zu Recht sogenannten Prinzipien des Schließens Aussagen über die Bedeutungen unserer Wörter sind, dann (so wurde von manchen behauptet) ist es irreführend, die Bezeichnung "Schlußregel" auch auf andere Arten allgemeiner Aussagen anzuwenden, die es mit substantiellen Dingen und nicht nur mit den Bedeutungen unserer Wörter zu tun haben. Als Ergebnis wurde der gesamte Begriff der Schlußregel, wie er in diesem Kapitel dargestellt wurde, als verworren beiseitegeschoben. Nun kann es zwar sein, daß wir zugeben, daß es keine exakte Parallele zwischen dem Prinzip des Syllogismus und 'den anderen Arten. von argumentationsbeherrschenden Regeln gibt, die wir als "Schlußregeln" bezeichneten, daß wir aber dennoch das Gefühl haben, daß diese Schlußfolgerung zu weit geht. Auch ohne im Augenblick die Notwendigkeit eines Prinzips des Syllogismus in Frage zu stellen, können wir uns dennoch dagegen wenden, es eine Aussage über die Bedeutungen unserer Wörter zu nennen. Warum sollen wir in ihm nicht vielmehr eine Schlußregel von der Art sehen, die aufgrund der Bedeutungen unserer Wörter gilt? Dies ist in mindestens einer Hinsicht eine Verbesserung gegenüber den früheren ForrJ?ulierungen, denn es läßt uns die Möglichkeit, zu sagen, daß andere Schlußregeln - jene, in übereinstimmung mit denen wir außerhalb des analytischen Bereichs schließen - aufgrund von überlegungen anderer Art gelten. Gesetzesprinzipien gelten aufgrund der Verabschiedung von Gesetzen und aufgrund von gerichtlichen Präzedenzentscheidungen, die Naturgesetze des Wissenschaftlers aufgrund der Experimente und Beobachtungen, durch welche sie begründet wurden, und so weiter. In allen Bereichen haben unsere Schlußregeln die Rolle, uns den Schritt von Daten einer gewissen Art zu Schlußfolgerungen einer gewissen Art zu erlauben. Aber nach allem, was wir über die Bereichsabhängigkeit der Kriterien gesehen haben, die wir beim' praktischen Geschäft des Argumentierens verwenden, ist es nur natürlich, zu erwarten, daß Schlußregeln in verschiedenen Bereichen eine Begründung durch Verfahren ganz
117 verschiedener· Arten erfordern. Ein Entgegenkommen scheint folglich möglich zu sein, indem wir das Prinzip des Syllogismus als Schlußregel für alle analytischen Syllogismen akzeptieren, während wir .andere Arten von allgemeinen Aussagen als Schluß regeln für Argumentationen anderer Typen b~ibehalten. Dennoch bleibt es etwas paradox, wenn man überhaupt zugibt, daß ein Prinzip des Syllogismus notwendig ist. Bei Argumentationen aller anderen Typen kann es vorkommen, daß man jemandem, dem die Daten und die Schlußfolgerung angegeben werden und der dies vollständig versteht, dennoch die Zulässigkeit des Schrittes vom einen zum anderen erklären muß. Er kann sagen "Ich verstehe, welches Beweismaterial du hast, und ich verstehe auch, welche Schlußfolgerung ·du daraus ziehst, aber ich sehe nicht, wie du zu dieser kommst". Es ist die Aufgabe der Schluß.regel, diese Frage zu beantworten. Dazu müssen wir ihm unsere Schlußregel angeben und, falls notwendig, aufzeigen, auf welcher Stützung sie beruht. Solange wir dies nicht getan haben, kann er unsere Argumentation immer noch angreifen.Bei analytischen Argumentationen andererseits ist diese Situation kaum vorstellbar. Man ist versucht, von analytischen Argumentationen (wie von analytischen Aussagen) zu sagen, daß jeder, der sie versteht, auch ihre Richtigkeit anerkennen muß. Wir können jemandem, der die Richtigkeit eines analytischen Schrittes in irgendeinem speziellen Fall nicht einsieht, nicht viel helfen, indem wir ihm ein Prinzip anbieten, das so allgemein w~e das Prinzip des Syllogismus ist. Deshalb ist die Annahme unplausibel, daß uns dieses Prinzip wirklich einen Dienst als Schlußregel für alle syllogistischen Argumentationen leistet. Wenn dieses Prinzip tatsächlich als Schlußregel angesehen werden muß, ist es sicherlich eine Schlußregel, die keine Stützung erfordert. Soviel wird von Aristoteles im vierten Buch der Metaphysik zugegeben, wo er von seinem Weg abgeht, um jede Forderung nach einem Beweis des Gesetzes des ausgeschlossenen Widerspruchs zurückzuweisen - er erkennt, daß keine Stützung, die wir angeben könnten, die Stärke des Prinzips in irgendeiner Weise erhöhen könnte, und daß wir zu seiner Verteidigung nichts z~ tun brauchen als einen Kritiker dazu aufzufordern, einen sinnvollen Einwand dagegen vorzubringen. Versuchen wir deshalb, den anderen möglichen Weg einzuschlagen. Verwerfen wir die Forderung nach einer Schlußregel, die alle analytischen Argumentationen erlaubt, und bestehen wir stattdessen darauf, daß bei jedem solchen Syllogismus immer eine seiner Prämissen die gesamte Rechtfertigung liefert, die wir benötigen. Wir können sagen, daß die Information, daß jede einzelne Schwester von J ack rote Haare hat, als Stützung für die Schlußregel dient, daß man von jeder beliebigen seiner Schwestern annehmen kann, daß sie Haare dieser Farbe hat. Diese eingeschränkte Schlußregel ist es, die uns von unserer Ausgangsinformation darüber, daß Anne Jacks Schwester ist, zu der Schlußfolgerung über ihre Haarfarbe bringt: "Das gilt einfach analytisch!" Unsere Aufgabe ist es nun, sorgfältiger zu definieren, was hier genau "einfach analytisch" heißt, und einen Test zur überprüfung auszuarbeiten, ob eine ~rgumentation analytisch oder substantiell ist, der klarer als der bisher angegebene 1st . .-Drei verschiedene Tests bieten sich von selbst an, und wir müssen nun deren Tauglichkeit betrachten. Zuerst gibt es den Tautologie-Test: Bei einem analytischen Syllogismus mit "alle" in der Oberprämisse folgt aus den Daten und der Stützung
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definitiv die Schlußfolgerung, so daß wir schreiben können: "D; S; oder mit anderen Worten: K", wobei wir davon überzeugt sind, daß wir durch die Angabe der Schlußfolgerung nur etwas wiederh9len, was schon in der Stützung enthalten ist. Die Frage ist, ob dies für alle analytischen Argumentationen gilt. Ich werde die These vertreten, daß dies nicht der Fall ist. Zweitens gibt es den Verifikations-Test: Muß eine Verifikation der Stützung, auf der eine Argumentation implizit beruht, ipso facto beinhalten, die Wahrheit der Schlußfolgerung zu überprüfen? Dies führt nicht allgemein zum selben Ergebnis wie der erste Test und stellt sich als ein befriedigenderes Kriterium heraus. Schließlich gibt es den Test der Selbstevidenz: Kann jemand, nachdem man ihm Datum, Stützung und Schlußfolgerung erklärt hat, noch echte Fragen über die Gültigkeit der Argumentation stellen? Es mag zunächst scheinen, daß dieser Test auf dasselbe hinausläuft wie der erste, aber - wie wir sehen werden - in der Praxis entspricht er eher dem zweiten. Man kann' sofort einen Beispielstyp angeben, bei dem der Tautologietest zu Schwierigkeiten führt. Es handelt sich um den schon früher diskutierten "QuasiSyllogismus" , bei dem die universellen Quantoren "alle" und "kein" durch die eingeschränkteren Quantoren "fast alle" und "kaum ein" ersetzt wurden. Als Beispiel können wir die Arguinentation hernehmen: Petersen ist Schwede; Kaum ein Schwede ist römisch-katholisch; Deshalb ist Petersen fast mit Sicherheit nicht römisch-katholi~ch.
Diese Argumentation unterscheidet sich von der entsprechenden "kein ... "-ArgumentatIon Petersen ist Schwede; Kein Schwede ist römisch-katholisch; Deshalb ist Petersen mit Sicherheit nicht römisch-katholisch.
nur darin, daß sie auf einer schwächeren Schlußregel beruht und deshalb zu einer mehr tentativen Schlußfolgerung führt. (Die universellen Prämissen lauten, wenn man sie explizit als Schlußregeln schreibt: "Von einem Schweden kann man fast mit Sicherheit annehn1cn, daß er nicht römisch-katholisch ist" bzw. "Von einem Schweden kann man mit Sicherheit annehmen, daß er nicht römisch-katholisch ist. ce) Die Gültigkeit der Argumentation ist in beiden Fällen offenkundig, und hei Anwendung des Tests der Selbstevidenz sollten heide als analytische Argumentationen eingestuft werden. Wenn wir uns jemanden vorstellen, der die "kaum ein ... "Argumentation angreift und weitere Stützung verlangt, die ihre Gültigkeit aufzeigen soll, so ist seine Forderung nicht verständlicher als im Falle der "kein ... "-Argumentation. Er könnte zwar im ersten Fall eine festere Begründung der Schlußfolgerung aufgrund der Einsicht verlangen, .daß die Möglichkeit, daß irgendein bestimmter Schwede römisch-katholischen Glaubens ist, solange nicht als außerhalb jeden Zweifels stehend ausgeschlossen werden kann, solange wir nur wissen, daß kaum ein Schwede rdmisch-katholisch ist. Die Gültigkeit von beiden Argumentationen ist aber sicherlich nicht anzuzweifeln. Wenn jemand aber nicht sieht, welche Rolle diese Argumentation spielt, können wir ihm kaum noch helfen. Genauso ist das Ergebnis, wenn jemand dieselben Daten und dieselbe Stützung zur Begründung der negierten Schlußfolgerung angibt, nicht nur unplausibel, sondern unverständlich:
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Petersen ist Schwede; Der Anteil "römisch-katholischer Schweden ist weniger als 5 %/ist null; Deshalb ist Petersen fast mit Sicherheit/mit Sicherheit römisch-katholisch.
Wenn man den Test der Selbstevidenz zugrundelegt, haben also die "kaum ein ... "und die" "fast alle ... ' -Argumentationen genausoviel Anrecht, als analytisch eingestuft zu werden, wie die "alle ... ,~- und "kein ... "Argumentationen. Wie weit sind aber, unsere anderen Tests zur Feststellung analytischer Argumentationen geeignet, wenn wir diese ParelIeIe zugestehen? Wir fragten, ob man bei der überprüfung der Stützung für unsere Schlußregel ipso facto auch die Schlußfolgerung unserer Argumentation überprüfen würde. (Dies bezeichneten wir als Verifikationstest.) Frg~ibe sich andererseits eine Tautologie, wenQ wir Daten und Stützung hinschrieben und dann "und außerdem K" hinzufügten (wobei K unsere Konklusion ist)? Traditionelle Syllogismen erfüllen alle unsere Kriterien gleich gut. Natürlich beinhaltet die erschöpfende Nachprüfung der Behauptung, daß der Anteil römischkatholischer Schweden gleich null ist, auch eine überprüfung der Religion von Petersen. Des weiteren kann die Aussage "Petersen ist Schwede, der Anteil römischkatholischer Schweden ist null, und außerdem ist Petersen nicht römisch-katholisch" vernünftigerweise als" tautologisch bezeichnet werden. Wenn wir uns aber QuasiSyllogismen ansehen, finden wir den Tautologie-Test nicht mehr anwendbar. Der Verifikationstest ist für die neuen Fälle noch tauglich, obwohl er dann nicht mehr ganz wörtlich genommen werden darf. Wenn wir erschöpfend die Aussage überprüfen, daß der Anteil römisch-katholischer Schweden weniger als 5 % beträgt, sollten wir ipso /acto auch überprüfen, welcher Religion Petersen ist - ob er tatsächlich römisch-katholisch ist oder nicht. Andererseits ist die Aussage "Petersen ist Schwede, der Anteil römisch-katholischer Schweden ist weniger als 5 °/0, und außerdem ist Petersen nicht römisch-katholisch" nicht mehr tautologisch. Sie ist viel mehr echt informativ, denn die Schlußfolgerung gibt definitiv an, daß sich Petersen in der 95 °loigen Mehrheit befindet. Selbst wenn wir den modalen Operator, ,fast mit Sicherheit" in die Schlußfolgerung einfügen, ist die resultierende Aussage nicht tautologisch - "Petersen ist Schwede, der Anteil römisch-katholischer Sch~'edell i\t weniger als 5 °/0, und außerdem ist Petersen fast mit Sicherheit nicht römischkatholisch . " Wenn wir ein allgemeines Kriterium zur Abgrenzung der analytischen Argumentationen von anderen suchen, erhalten wir also das Ergebnis, daß es uns der Verifikationstest in einer Weise ermöglicht, quasi-syllogistische Argumentationen zusammen mit traditionellen Syl10gismen einzustufen, in der es der Tauto]ogil'-Test nicht ermöglicht. Wir bezeichnen deshalb eine Argumentation als analytisch genau dann, wenn sie diesen Test erfüllt - d. h. wenn eine überprüfung der Stützung für die Schlußregel ipso /acto die überprüfung der Wahrheit oder Falschheit der Schlußfolgerung beinhaltet. Wir tun dies, gleich ob die Kenntnis der gesamten Stützung die Schlußfolgerung tatsächlich verifizieren oder falsifizieren würde. An dieser Stelle müssen zwei Bemerkungen zum Petersen-Fall gemacht werden. Sobald wir einmal Zugang zur vollständigen Stützung haben, dürfen wir uns natürlich nicht mehr auf den bloßen Prozentsatz der statistischen Tabellen verlassen. Unsere ursprüngliche Argumentation ist nicht mehr angemessen. Wir müssen unsere Argumentation über die Wahrscheinlichkeit, daß Petersen römisch-katholisch ist, auf
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alle relevanten Informationen gründen, die wir bekommen können. Wenn wir tatsächlich die detaillierten Ergebnisse der Volkszählung besitzen, ist das einzig richtige Verfahren, bei Petersen namentlich nachzuschlagen und die Antwort mit Sicherheit herauszufinden. Zweitens: Die Aussage "Petersen ist Schwede, der Anteil römisch-katholischer Schweden ist sehr gering und Petersen ist fast mit Sicherheit nicht römisch-katholisch" wäre vollkommen tautologisch, wenn man "Sicherheit' und "Wahrscheinlichkeit" direkt mit Hilfe von Verhältnissen und Häufigkeiten definieren könnte. Wir sahen aber, daß dadurch die prakti~che Funktion des Terms "Wahrscheinl!chkeit" und verwandter Wörter, die sie als modale Operatoren haben, nicht beachtet werden würden. Außerdem würde es zu einem Paradoxon führen: Wie die Dinge liegen, kann man völlig korrekt sagen: "Petersen ist Schwede und der Anteil römisch-katholischer Schweden ist sehr niedrig, und dennoch ist Petersen fast mit Sicherheit römisch-katholisch". Zum Beispiel ist man zu dieser Aussage berech-:tigt, wenn man etwas mehr über Petersen weiß, was diesen mit großer Wahrscheinlichkeit in der römisch-katholischen Minorität ansiedelt - während diese neue Aussage widersprüchlich sein müßte, wenn die ursprüngliche Aussage tautologisch wäre. Man kann also analytische Argumentationen nicht als solche Argumentationen charakterisieren, bei denen die Aussage "D; S; und außerdem K" eine Tautologie ist. Dieses Kriterium genügt zumindest in einigen Fällen nicht unseren Zwecken. Dies hilft, eine weitere philosophische Doktrin zu erklären - wonach sogar analytisehe Syllogismen nicht allein aufgrund der Bedeutung ihrer Wörter gültig sind und wonach es kein Zeichen für sprachliche Inkompetenz ist, wenn man eine solche Argumentation nicht versteht, sondern vielmehr ein Zeichen für einen "Mangel an Vernunft". Angenommen, wir teilen jemanden mit, daß Petersen Schwede ist und daß der Anteil römisch-katholischer Schweden entweder null oder sehr gering ist. "Deshalb", so folgern wir, "ist Petersen mit Sicherheit - oder fast mit Sicherheit nicht römisch-katholisch". Er kann uns nicht folgen - was sollen wir dann über ihn sagen? Wenn der Tautologie-Test adäquat wäre, würde dies zeigen, daß er die Bedeutung der von uns verwendeten Wörter nicht wirklich verstanden hat. Diese Erklärung ist nicht mehr möglich, wenn wir den Tautologie-Test aufgehen. \,\'ir müssen jetzt vielmehr sagen, daß er gegenüber der Argumentation blind ist, d. h. daß er ihre -Stärke nicht erkennt. In der Tat: Was sonst können wir sagen? Dies ist keine Erklärung, es ist die bloße Beschreibung einer Tatsache. Er folgt dem Schritt einfach nicht, und die Fähigkeit, solchen Schritten zu folgen, ist sicherlich eine der grundlegenden rationalen Kompetenzen. Diese Beobachtung kann etwas Licht auf den wahren Status des Prinzips des Syllogismus werfen. Ich vertrat die Ansicht, daß dieses Prinzip in die Logik hineinkommt, wenn die zweite Prämisse eines analytischen Syllogismus fälschlicherweise als Datum statt als Schlußregel oder ihrer Stützung aufgefaßt wird und wenn die Argumentation infolgedessen (scheinbar) keine Schlußregel besitzt, die den enthaltenen übergang erlaubt. Das Prinzip des Syllogismus wird uns dann als eines angeboten, das irgendwie die letztendliche Begründung für die Gültigkeit aller syllogistischen Argumentationen zeigt. Wenn wir Argumentationen in anderen Bereichen betrachten, durchlaufen wir eventuell wiederum dieselbe Folge von Schritten. Angenommen wir fassen am Anfang fälschlicherweise die Stützung für unsere Schlußregel als zusätzliche Menge
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von Daten auf. Danach scheint es, daß wir direkt von den Daten zur Schlußfolgerung übergehen, ohne daß die Zulässigkeit dieses Schrittes deutlich ist. Und es stellt sich heraus, daß dieser Mangel nicht nur eine Argumentation berührt, sondern alle aus dem betreffenden Bereich. Um diese zusätzliche Lücke aufzufüllen, muß jetzt an weitere völlig allgemeine Prinzipien appelliert werden: An ein Basisprinzip, das allen wissenschaftlichen Vorhersagen zugrundeliegt, ein weiteres, das allen richtig begründeten moralischen Urteilen zugrundeliegt und so weiter. (Dies ist ein Thema, das wir hier nur im V~rbeigehen zu erwähnen brauchen, da wir hierauf im letzten Kapitel zurückkommen müssen.) Wenn nun die Fähigkeit, gültigen Syllogismen und Quasi-Syllogismen zu folgen, am besten als eine grundlegende rationale Kompetenz beschrieben werden kann und wenn sie nicht wirklich mit Hilfe sprachlicher Fähigkeit oder Inkonlpetenz erklärt werden kann, gibt es vielleicht auch in diesen anderen Fällen nichts weiter zu sagen. Die Fähigkeit, einfachen prognostischen " Argumentationen zu folgen, deren Schlußregeln durch genügend reiche und relevante Erfahrung gestützt ist, ist vielleicht nur als eine weitere einfache rationale Fähigkeit anzusehen, die die meisten besitzen, die aber einigen geistig Labilen abgeht. In anderen Bereichen wären es dann entsprechend weitere grundlegende Fähigkeiten. Kann dies für "Argumentationen in allen möglichen Bereichen behauptet werden? Ist auch die Fähigkeit, etwa einfachen moralischen Argumentationen zu folgen und deren Kraft zu erkennen, eine solche Fähigkeit? Oder bei einfachen ästhetischen Argumentationen? Oder bei einfachen theologischen Argumentationen? ... An dieser Stelle stoßen wir unmittelbar auf die fundamentale philosophische Streitfrage: Ob nämlich alle Bereiche der Argumentation in gleicher Weise rationaler Diskussion zugänglich sind und ob das Gericht der Vernunft bei allen diskutierten Prohlenltypen gleichermaßen zu einer Entscheidung kompetent ist.
EINIGE- WESENTLICHE UNTERSCHEIDUNGEN Für dieses Kapitel bleibt uns noch eine Hauptaufgabe. Wir müssen die Unterteilung der Argumentationen in analytische und substantielle von drei oder vier weiteren möglichen Arten der Unterteilung unterscheiden. Die Gefahren, die sich daraus ergeben, daß man diese Unterscheidungen vermengt oder sie gar in einer einzigen Unterscheidung aufgehen läßt, sind ernsthafter Natur und lassen sich nur durch Vorsicht vermeiden. Erstens entspricht die Unt~rteilung in analytische und substantielle Argumentationen durchaus nicht genau der Unterteilung in formal gültige Argumentationen und andere. Eine Argumentation kann, einerlei ~us welchem Bereich sie ist, auf formal gültige Weise ausgedrückt werden, vorausgesetzt die Schlußregel "wird explizit als solche formuliert und sie gestattet genau einen Schluß der in F"rage stehenden Art. Dies erklärt, wie mathematische Berechnungen sogar dann formal gültig sein können, wenn die Daten, von denen ausgehend gefolgert wird, ganz aus vergangenen und gegenwärtigen Beobachtungen bestehen und die Konklusion, zu der die Folgerung führt, eine Vorhersage über die Zukunft ist. Andererseits kann eine Argumentation analytisch sein und dennoch nicht in formal gültiger Weise ausgedrückt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine analytische Argumentation so geschrieben wird, daß
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anstelle der Schlußregel selbst die Stützung für die Schlußregel angeführt ist. Die Unterscheidung zwischen analytischen und substantiellen Argumentationen entspricht auch nicht der zwischen schlußregel-begründenden und schlußregelverwendenden Argumentationen. In ganz wenigen Fällen können schlußregelbegründende .Argumentationen in einer formal gültigen Form angegeben werden. So kann man von der Argumentation "Jack hat drei Schwestern; die erste hat rote Haare, die zweite hat rote Haare, die dritte hat rote Haare; deshalb haben alle Schwestern von Jack rote Haare" sagen, daß sie zugleich schlußregel-begründend, formal gültig und analytisch ist. Aber im großen und ganzen variieren diese Charakteristika unabhängig voneinander. Schlußregel-begründende und schluß regel-verwendende Argumentationen kann es sowohl im analytischen Bereich als auch in anderen, substantiellen Bereichen der Argumentation geben, und man kann nicht ernsthaft hoffen, diese beiden Unterscheidungen durch ein und dieselbe Trennlinie zu treffen. Manchmal wurde auch dre Meinung vertreten, man könnte eine besonders "logisehe" Klasse von Argumentationen durch Bezug auf die Arten der darin vorkommenden Wörter abgrenzen. Zum Beispiel spielen in einigen Argumentationen die Wörter "alle" und "einige"· eine entscheidende Rolle, und Argumentationen wie diese verdienten gesonderte Beachtung. Wenn wir sie aber von anderen Argumentationen abgrenzen, müssen wir sofort beobachten, daß die resultierende Unterscheidung derjenigen zwischen analytischen und substantiellen Argumentationen nicht genauer entspricht als die beiden vorhergehenden. Es sind nicht alle Argumentationen analytisch, in denen das Wort "alle" in der Oberprämisse oder in der Schlußregel auftritt: Dies gilt nur in solchen Fällen, bei denen der Vorgang des Begrün~ens der Schlußregel ipso Jacto die überprüfung der Wahrheit der Konklusion beinhaltet, die jetzt mit deren Hilfe erschlossen werden soll. Wir beschränken unseren Gebrauch von "alle" aber nicht auf solche Fälle. Die Aufgabe, analytische Argumentationen zu identifizieren, kann deshalb nicht so durchgeführt werden, daß man nach Schlüsselwörtern wie "alle" und "einige" sucht. Sie kann nur erfüllt werden, indem man die Natur des untersuchten Problems und die Art und Weise betrachtet, in der wir die Schluß regeln begründen, die für seine Lösung relevant sind. Diese drei Unterscheidungen sind leicht genug zu erkennen. Die vierte und letzte ist zugleich die strittigste und die wichtigste. Ich werde die These vertreten, daß die Eintei~ung von Argumentationen in analytische und substantielle verschieden ist von der Einteilung in Argumentationen, auf deren Konklusionen mit Sicherheit oder Notwendigkeit geschlossen werden kann und in solche, bei denen nur auf die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit der Konklusionen geschlossen werden kann. Wie wir bei der Diskussion modaler Operatoren sahen, gibt es einige Argumentationen, bei denen die Schlußregel den Schritt von D zu K unzweideutig erlaubt, und andere, bei denen dieser Schritt nur tentativ, bedingt oder mit Einschränkungen erlaubt ist. Diese Unterscheidung wird in der Praxis durch die Wörter "notwendig" und "schlüssig" einerseits und "tentativ", "wahrscheinlich", "vorläufig" und "bedingt" andererseits ausgedrückt. Sie ist völlig unabhängig von der Unterteilung in analytische und substantielle Argumentationen. Dennoch haben Theoretiker der Logik oft genug versucht, diese beiden Unterscheidungen in einer einzigen aufgehen zu lassen durch eine Identifikation von analytischen Argumentationen mit notwendigen oder schlüssigen und von substantiellen Argumentationen mit
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tentativen, wahrscheinlichen oder nicht völlig überzeugenden Argumentationen. Die entscheidende Frage ist, ob diese Verschmelzung gerechtfertigt werden kann oder ob wir vielmehr in der Praxis nicht Anlaß dazu haben, einige Argumentationen zugleich als substantielle und schlüssig oder sowohl als analytisch und tentativ zu bezeichnen. Wenn wir der Art und Weise Aufmerksamkeit schenken, wie diese Kategorien in der Praxis des Argumentierens verwendet werden, entdecken wir viele Gelegenheiten, diese scheinbaren Kreuzklassifikationen vorzunehmen. Zum Beispiel erlauben lins sehr viele der Schlußregeln, gemäß denen wir in den erklärenden Wissenschaften folgern, unzweideutig und nicht äquivok eine Schlußfolgerung zu ziehen. Die Argumentationen, in denen sie vorkommen, sind folglich sowohl substantiell als auch schlüssig. Wissenschaftler, die solche Argumentationen verwenden, zögern nicht, sie mit den Wörtern" ... deshalb notwendigerweise K" abzuschließen. Auf Argumentationen dieser Art trifft man gewöhnlich in der angewandten Mathematik, etwa wenn man bei Anwendung der Methoden der geometrischen Optik aus der Höhe einer Mauer und dem Höh~nwinkel der Sonne berechnet, wie weit der Schatten reicht, den die Sonne auf den Erdboden wirft, wenn sie direkt darauf scheint. Wenn man einem Physiker noch sagt, daß die Mauer zwei Meter hoch ist und die Sonne in einem Winkel von 30° steht, wird er ohne weiteres sagen, daß der Schatten 3,5 m weit reichen muß. In seinem Philosophical Essay on Probabilities lenkt Laplace explizit Aufmerksanlkeit auf diese Klasse von substantiellen und dennoch schlüssigen Argumentationen. Er schreibt: "Bei der Anwendung der mathematischen Analyse auf die Physik haben die Ergebnisse die ganze Sicherheit von Tatsachen" , und er stellt sie denjenigen Argumentationen gegenüber, die auf Statistiken beruhen und deren Schlußfolgerungen nur wahrscheinlich sind. Es ist bezeichnend, daß er seine Unterscheidung so und nicht anders traf. Er erinnert uns daran, daß wir durch Anwendung des Newtonsehen Systems der Mechanik auf ein Problem der Himmelsmechanik normalerweise nicht zu einer ganzen Reihe möglicher Vorhersagen mit größerer oder kleinerer Aussicht auf schließliehe Bestätigung geführt werden, sondern auf eine einzige unzweideutige und nicht äquivoke Lösung. Wenn wir bereit sind, zuzugeben, daß die Newtonsehe Mechanik hinreichend gut begründet ist für die Zwecke des anstehenden Problems, dann müssen wir diese bestimmte Konklusion als eine akzeptieren, die mit Notwendigkeit aus unseren Anfangsdaten folgt. Diese These kann noch stärker formuliert werden. Wenn die gegenwärtige Stellung der Theorie gegeben ist, können wir die Notwendigkeit der Schlußfolgerung nur bestreiten, wenn wir bereit sind, die Angemessenheit oder Relevanz der Newtonsehen Mechanik anzugreifen. Dies bedeutet nicht bloß, darauf hinzuweisen, daß Argumentationen in der Planetendynamik substantiell sind (so daß ihre Gültigkeit widerspruchsfrei in Frage gestellt werden kann), sondern zu zeigen, daß sie tatsächlich unzuverlässig sind. D. h., Newtons Dynamik muß von ihren Grundlagen her in Frage gestellt werden. Solange wir nicht bereit sind, diesen Angriff mit allem, was er involviert durchzuführen, kann der Astronom zu Recht unsere Einwände unberücksichtigt lassen und behaupten, daß die Theorie für seine Zwecke eine einzigartige und einzigartig zuverlässige Antwort auf seine Fragen gibt. Eine Antwort, die mit diesen Methoden erhalten wird, muß die Antwort sein, wird er sagen, denn es ist die Antwort, zu der uns eine korrekt durchgeführte Berechnung gemäß wohlbegründeten Verfahren mit Notwendigkeit führt.
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Wir finden diese substantiellen und dennoch schlüssigen Argumentationen a,uch nicht nur in den entwickelten und technischen Wissenschaften. Wenn Sherlock Holmes zu Watson sagt: "Sie sehen also, mein lieber Watson, es kann nur Joseph Harrison sein, der den Schiffahrtsvertrag stahl', oder "Ich schloß, daß der Dieb jemand sein muß, der in diesem Haus lebt", meint er damit nicht, daß er eine' analytische Argumentation zur Begriindung seiner Schlußfolgerung angeben kann. Er meint vielmehr, daß das Beweismaterial (vermöge anderer als analytischer Standards und durch Bezug auf nicht-analytische Schlußregeln) nur diese Schlußfolgerung zuläßt. Wir werden im nächsten Kapitel sehen, wie weit diese Ansicht von der vieler Logiker abweicht. Für sie ist es ein Gemeinplatz, daß keine Argumentation sowohl substantiell als auch schlüssig sein kann. Sie behaupten, daß nur die Schlußfolgerungen von analytischen Argumentationen zu Recht als "notwendig" bezeichnet werden können, und daß die Konklusionen substantieller Argumentationen niemals mehr als sthr wahrscheinlich sein können - so wohlbegründet und sicher gestützt die Schlußregeln auch sein mögen, auf die Bezug genommen wird, um zu diesen Konklusionen zu kommen. Warum machen sie sich diese Schlußfolgerung zu eigen? Sie erklären, daß man sich immer Umstände vorstellen kann, in denen wir gezwungen sind, eine substantielle Schlußregel erneut zu überprüfen. So wohlbegründet eine Theorie im Moment auch erscheinen mag, ist es doch sinnvoll, von zukünftigen Erfahrungen zu reden, die uns zu ihrer Korrektur zwingen würden. Solange dies der Fall bleibt - was der Natur der Dinge entsprechend immer sein muß - ist es vermessen von uns, irgendeine auf diese Weise gewonnene Schlußfolgerung als notwendig zu bezeichnen. Wir könnten dieser Schwierigkeit nur entrinnen, wenn die Vorstellung, daß unsere Schlußregel überprüft werden müßten, zu einem definitiven Widerspruch führen würde, und dies kann nur bei einer analytischen Argumentation geschehen, deren Schluß regel nicht durch Erfahrung, sondern durch eine logische Folgebeziehung gestützt wird. Wenn wir die Gelegenheit haben, in der Praxis eine Klasse von Argumentationen anzuerkennen, die zugleich substantiell als auch schlüssig sind, so erkennen wir auch eine Klasse von Argumentationen mit tentativen oder eingeschränkten Schlußfolgerungen an. Auch hIer bieten Quasi-Syllogismen ein gutes Beipiel. Wie bereits aus ihrer Bezeichnung deutlich ist, sind diese Argumentationen nicht absolut schlüssi~. Sie berechtigen uns nur zu dem Schluß, daß etwa Petersen fast mit Sicherheit nicht bzw. wahrscheinlich nicht römisch-katholisch ist. Gleichzeitig müssen wir diese Argumentationen aus zwei Gründen als analytisch akzeptieren. Sie erfüllen unser erstes Kriterium der Analytizität: Die Stützung für die verwendete Schlußregel enthält nämlich einen impliziten Bezug auf die Tatsache, die uns beim Schließen interessiert, auch wenn wir selbst nicht die gesamte detaillierte Stützung besitzen. Zweitens muß die Gültigkeit solcher Argumentationen entweder sofort aus der Formulierung heraus evident sein oder eben überhaupt nicht. Wenn jemand bezüglich eines QuasiSyllogismus fragt: "Folgt das wirklich? Ist dies wirklich ein zulässiger Schluß?", dann können wir ihn genausowenig verstehen wie bei der Anzweiflung eines echten Syllogismus. Nur eines scheint anfangs dagegen zu sprechen, quasi-syllogistische Argumentationen als analytisch zu bezeichnen: Die Tatsache, daß Daten und Stützung zusammen gemäß sprachlicher Standards mit der Negation der Schlußfolge-
125 rung konsistent sind. Es gibt, wie wir sahen, keinen definitiven Widerspruch in der Annahme, daß Petersen Schwede ist, daß kaum ein Schwede römisch-katholisch ist und daß dennoch Petersen römisch-katholisch ist. Wie kann man dann aber' hier einen d,efinitiven Widerspruch erwarten? Der gesamte Wert des Operators "wahrscheinlich" ist es, irgendeine definitive Festlegung zu vermeiden, und dies ist sein unterstellte~ Sinn, gleich ob er in isolierten Aussagen oder in der Schlußfolgerung einer Argumentation vorkommt und gleich ob die Argumentation substantiell ist oder analytisch. Wir haben also prima facie einen Fall einer Argumentation, die analytisch ist, ohne schlüssig zu sein. An dieser Stelle kann folgender Einwand vorgebracht werden: "Selbst wenn man zugibt, daß quasi-syllogistische Argumentationen analytisch sind, geben sie dennoch nicht das Beispiel ab, das du brauchst. Du behauptest, daß sie tentativ sind, aber du kannst diesen Eindruck nur erwecken, indem du einen Teil der wesentlichen Daten unterdrückst. Wenn du explizit die gesamte Information angeben würdest, die diese Argumentationen benötigen, um gültig zu sein, würde es klar werden, daß sie in Wirklichkeit überhaupt nicht tentativ sind, sondern so schlüssig wie man nur verlangen könnte". Information welcher Art könnte unterdrückt worden sein? Würde sie, wenn sie ans Licht gebracht würde, die gesamte Nichtschlüssigkeit von diesen Argumentationen wegnehmen? Zwei Möglichkeiten müssen betrachtet werden. Erstens könnte man sagen, daß quasi-syllogistische Argumentationen nur dann gültig sind, wenn wir das Datum anfügen können: a) " ... und wir wissen nichts anderes Relevantes über Petersen" - wenn dieses zusätzliche Datum gegeben ist, wird diese Argumentation analytisch und führt mit Notwendigkeit zu der Schlußfolgerung, daß die Wahrscheinlichkeit geri_ng ist, d~ß Petersen römisch-katholisch ist. Oder aber es kann vorgebracht werden, daß wir das zusätzliche Datum b) einfügen müssen: "... und Petersen ist zufällig ausgewählter Schwede" - wenn dieses zusätzliche Datum explizit gemacht wird, erkennen wir, daß eine quasi-syllogistische Argumentation in Wirklichkeit eine verkleidete schlüssige Argumentation ist. Wir können diesen Einwand nicht einfach zurückweisen, sondern können ihm nur durch eine solche Umformulierung begegnen, die ihm seine Kraft raubt. Es ist natürlich zuzugeben, daß Quasi-Syllogismen nur dann korrekt vorgebracht werden können, wenn die Anfangsdaten, von denen wir ausgehen, alles relevante Wissen für die jeweilige Frage angeben. Wenn sie nur einen Teil unseres relevanten Wissens enthalten, dürfen wir nur hypothetisch argumentieren, nicht kategorisch: " Wenn nur die Information gegeben ist, daß Petersen Schwede ist, können wir folgern, daß die Wahrscheinlichkeit gering ist, daß Petersen römisch-katholisch ist ... ce. Aber heißt das, daß die Aussage a) ein wesentlicher Bestandteil unserer Daten ist, den wir niemals hätten auslassen dürfen? Sicher besteht diese Aussage weniger in der Angabe eines Datums als vielmehr in einer Aussage über die Natur unserer Daten. Sie erscheint natürlicherweise nicht als Teil unserer Antwort auf die Frage: "Worauf stützt du dich?", sondern vielmehr als Kommentar, den wir später hinzufügen können, etwa nach Angabe der einzigen Tatsachenaussage über Petersens Nationalität. Ähnlich kann der Einwand abgewehrt werden, daß wir die Information b) ausgelassen haben (daß nämlich Petersen ein zufällig ausgewählter Schwede ist). Die Information, daß er ein rothaariger Schwede, ein dunkelhäutiger Schwede oder ein
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finnisch-sprechender Schwede ist, könnte als "zusätzliche Tatsache" über ihn bezeichnet werden und könnte möglicherweise irgendwie unsere Erwartungen über seinen religiösen Glauben berühren. Die Information, daß er ein zufällig ausgewählter Schwede ist, hat aber einen ganz anderen Status. Es handelt sich nicht um eine zusätzliche Tatsache über ihn, die für unsere Erwartungen relevant sein könnte. Sie ist höchstens ein Kommentar zweiter Ordnung über unsere früheren Informationen, der angibt, daß wir nach allem unserem Wissen über Peterseh all das zu Recht annehmen können, worauf begründete allgemeine Aussagen über Schweden schließen lassen. Es stellt sich also auch hier heraus, daß das sogenannte zusätzliche Datum b) weniger ein Datum als vielmehr ein beiläufiger Kommentar über die Anwendbarkeit einer nur auf statistischen Aussagen beruhenden Schlußregel auf diese bestimmte Person darstellt. Die Einteilung von Argumentationen in analytische und substantielle ist also völlig verschieden von der Unterteilung in schlüssige (notwendige) und tentative (wahrscheinliche) Argumentationen. Analytische Argumentationen können schlüssig oder tentativ sein, und endgültige Argumentationen können analytisch oder substantiell sein. Hier w~rd sogleich eine terminologische Vorsichtsmaßregel dringend. Wir müssen die verbreitete Gewohnheit aufgeben, das Adverb "notwendigerweise" als austauschbar mit dem Adverb "deduktiv" zu verwenden, wenn dieses in der Bedeutung von "analytisch" gebraucht wird. Denn wenn eine substantielle Argumentation zu einer nicht-äquivoken Schlußfolgerung führt, dürfen wir die Form "D; deshalb notwendigerweise K" auch dann verwenden, wenn die Relation zwischen Daten, Stützung und Schlußfolgerung nicht analytisch ist. Und wenn eine analytische Argumentation zu einer tentativen Schlußfolgerung führt, können wir strenggenommen nicht mehr sagen, daß die Konklusion "notwendigerweise" folgt - sondern nur noch, daß sie analytisch folgt. Fangen wir einmal damit an, "analytisch" und "notwendigerweise" gleichzusetzen, müssen wir letztlich eine Argumentation mit den paradoxen Worten schließen: " ... deshalb ist Petersen notwendigerweise wahrscheinlich nicht römisch-katholisch" oder sogar mit " ... deshalb ist Petersen notwendigerweise notwendigerweise nicht römisch-katholisch". Vielleicht wäre es in der Tat· besser, die Wörter "deduktiv" und "notwendigerweise" völlig auszurangieren und sie den Erfordernissen des Beispiels entsprechend entweder durch "analytisch" oder durch "nicht-äquivok" zu ersetzen.
DIE GEFAHREN DER EINFACHHEIT Dieses Kapitel wurde bewußt auf prosaische Untersuchungen der verschiedenen Arten der Kritik eingeschränkt, der unsere Mikro-Argumentationen ausgesetzt sind, so\vie auf die Konstruktion eines Analyseschemas, das hinreichend komplex ist, um den offenkundigsten Unterschieden zwischen diesen Arten der Kritik gerecht zu werden. Diese Unterscheidungen zu treffen wäre zu einem großen Teil müßig, wenn wir nicht auf die Stelle vorausschauen würden, an der sich die Unterscheidungen als philosophisch wichtig erweisen. Wir können es uns in diesem abschließenden Abschnitt nicht nur leisten, auf das Gebiet zurückzublicken, das wir behandelt haben, sondern auch nach vorne zu blicken und nachzusehen, von welcher Art der Wert
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ist, den diese Unterscheidungen haben und der diesen aufwendigen Präliminarien eine Bedeutung verleiht. Wir setzten an einer Frage über die "logische Form" an. Diese Frage hatte zwei Aspekte. Erstens wurde gefragt, welche Relevanz die geometrische Klarheit, nach der in traditionellen Analysen des Syllogismus gesucht wird, für jemanden haben kann, der versucht, gültige Argumentationen von ungültigen zu unterscheiden. Zweitens wurde gefragt, ob das traditionelle Schema zur Analyse von Mikro-Argumentationen - "Unterprämisse; Oberprämisse; deshalb Schlußfolgerung" - in jedem Fall hinreichend komplex ist, um alle die Unterscheidungen wiederzugeben, die sich uns in der tatsächlichen Praxis der Beurteilung von Argumentationen aufdrängen. Wir behandelten zuerst die zweite Frage mit einem Blick auf das JurisprudenzbeispieI. Philosophen, die die Logik rechtlicher Argumentationen untersuchen, sind schon seit langem dazu gezwungen, deren Behauptungen in viel mehr als drei Typen einzuteilen. Im Hinblick auf die tatsächliche Praxis des Argumentierens sahen wir uns genötigt, ihnen darin zu folgen. Es giht in praktischen Argumentationen ein gutes halbes Dutzend Funktionen, die durch Behauptungen verschiedener Art ausgeführt werden müssen. Sobald man dies anerkennt, wird es notwendig, nicht nur zwischen ~rämis sen und Schlußfolgerungen zu unterscheiden, sondern zwischen Behauptungen, Daten.. Schlußregeln, m<;>dalen Operatoren, Bedingungen der Zurückweisung, Aussagen über Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit von Schlußregeln und noch mehr. Diese Unterscheidungen sind nicht besonders neu für diejenigen, die explizit die Logik von speziellen Typen praktischer Argumentation untersucht haben. Zum Beispiel wurde das Thema der Ausnahmen oder der Bedingungen der Zurückweisungdie in unserem Schema der Analyse als AB bezeichnet wurden - von H. L.A. Hart unter dem Titel der, ,Anfechtbarkeit" diskutiert. Hart hat die Relevanz hiervon nicht nur für die rechtswissenschaftliche Untersuchung des Vertrags gezeigt, sondern auch für philosophische Theorien der Willensfreiheit und der Verantwortlichkeit. (Es ist vermutlich nicht zufällig, daß er zu diesen Ergebnissen bei der Arbeit im Grenzgebiet zwischen Jurisprudenz und ,Philosophie gekommen ist.) Spuren dieser Unterscheidung können sogar manchmal bei denen erkannt werden, die in den Traditionen der formalen Logik verhaftet bleiben. Zum Beispiel diskutierte David Ross dasselbe Gebiet der Zurückweisung insbesondere im Bereich der Ethik. Er erkennt, daß wir in der Praxis dazu gezwungen sind, bei allen moralischen Regeln Ausnahmen zuzulassen. Dies schon deshalb, weil jeder, der mehr als nur eine Regel anerkennt, leicht in Situationen kommt, in denen zwei seiner Regeln in verschiedene Richtungen weisen. Aber da Ross auf das traditionelle Schema der Analyse von Argumentationen festgelegt ist, hat er keine Kategorie der tentativen Argumentationen oder der ·Ausnahmebedingungen (AB) zur Hand, mit deren Hilfe er diese Notwendigkeit erklären kann. Er umgeht dies, indem er moralische Regeln des Handelns weiterhin als Oberprämissen auffaßt, 'aber die Art und Weise kritisiert, in der sie normalerweis,e formu1iert werden. Wenn wir logisch sein wollen, behauptet er, muß allen unseren moralischen Regeln der Ausdruck prima facie zugefügt werden. Ohne diesen Ausdruck kann er keine exakte Möglichkeit erkennen, irgendwelche Ausnahmen zuzulassen. Wir fanden es dementsprechend natürlicher, nach Parallelen zwischen Logik und
128 J~risprudenz zu suchen als nach Parallelen zwischen Logik und Geometrie. Eine klar
analysierte Argumentation ist ebenso eine, bei der die Verfahren der rationalen Beurteilung deutlich dargestellt sind und die in angemessener Fonn gefaßt ist wie eine, die in sauberer geometrischer Form angegeben ist. Zugegebenennaßen kann eine große Klasse gültiger Argumentationen in der reinen geometrischen Form "Daten; Schlußregel ; deshalb Konklusion" angegeben werden, wobei die Schlußregel genau als die Brücke dient, die man für den übergang von den Daten zur Konklusion benötigt. Wenn man aber eine solche Argum~ntation als formal gültig bezeichnet, sagt man nur etwas über die Art ihrer Formulierung, aber nichts über die Gründe für ihre Gültigkeit. Diese Gründe können nur verstanden werden, wenn wir dazu übergehen, die Stützung der benützten Schlußregel zu betrachten. Ich vertrat die Ansicht, daß das traditionelle Analysenschema m. E. ernsthafte Mängel aufweist. Es trägt ·die ständige Gefahr in sich, uns dazu zu führen (was es schon bei David Ross tat), den Unterschieden zwischen den verschiedenen Arten der Kritik, denen Argumentationen ausgesetzt sind, zu wenig Aufmerksamkeit zu widmen - zum Beispiel den Unterschieden zwischen Schlußregeln (SR) und Ausnahmebedingungen (AB). Partikuläre Prämissen drucken gewöhnlich unsere Daten aus, während universelle Prämissen entweder Schlußregeln oder die Stützung von Schlußregeln ausdrücken. Wenn diese in der Form "Alle A sind B" angegeben werden, ist es oft gänzlich unklar, welche Funktion sie ausführen sollen. Wie wir später sehen werden, kann diese Unklarheit ernsthafte Folgen haben, insbesondere dann, wenn wir den weiteren Mangel des traditionellen Schemas berücksichtigen daß es nämlich eine Verschleierung der Unterschiede zwischen verschiedenen Bereichen der Argumentation und zwischen den diesen Bereichen angemessenen Arten der Schlußregeln und der Stützung bewirkt. Eine zentrale Unterscheidung untersuchten wir mit einiger Ausführlichkeit: Die Unterscheidung zwischen dem Bereich der analytischen Argumentationen, die in der Praxis ziemlich selten sind, und jenem anderen Bereich der Argumentationen, die unter dem Titel "substantielle Argumentationen" zusammengefaßt werden können. Der Bereich der analytischen Argumentationen ist besonders einfach, wie Logiker schon früh entdeckten. Bestimmte Komplexitäten, die bei substantiellen Argumentationen unvermeidbar auftreten, brauchen uns im Falle analytischer Argumentationen niemals zu beunruhigen. Wenn die Schlußregel einer analytischen Argumentation in der Form "Alle A sind B (( ausge~rückt wird, kann die ganze Argumentation ohne Schaden gemäß dem traditionellen Schema dargestellt werden - in diesem Fall ist die Unterscheidung zwischen unseren Daten und der Stützung unserer Schlußregeln nicht mehr wesentlich. Diese Einfachheit ist sehr attraktiv, und deshalb wurden die analytischen Argumentationen mit universellen Oberprämissen mit Enthusiasmus von Logikern vieler Generationen aufgegriffen und entwickelt. Einfachheit hat jedoch ihre Gefahren. Man kann als erstes Objekt einer theoretischen Untersuchung den Typ von Argumentation wählen, der der Analyse durch die einfachsten Hilfsmittel zug:ingJich ist. Das bedeutet aber nicht, diesen Typ der Argumentation als Paradigma zu behandeln und zu verlangen, daß sich Argumentationen in anderen Bereichen bedingungslos seinen Standards anzupassen hätten. Es heißt auch nicht, von einer Untersuchung der einfachsten Form der Argumentation allein ausgehend eine Menge von Kategorien aufzubauen, die für die Anwendung auf
129 Argumentationen aller Arten gedacht sind." Man muß stattdessen auf jeden Fall mit einer sorgfältigen Untersuchung der Frage anfangen, inwieweit die künstliche Einfachheit des gewählten Modells dazu führt, daß diese logischen Kategorien ebenfalls künstlich einfach sind. Die Gefahren, denen man sich ansonsten aussetzt, sind offensichtlich genug. Es kann sein, daß Unterscheidungen, die bei den einfachsten Argumentationen zufällig alle zusammenfallen, im allgemeinen Fall völlig getrennt gehandhabt werden müssen. Wenn wir dies vergessen und wenn dann unsere neu gefundenen logischen Kategorien bei der Anwendung auf komplexere Argumentationen paradoxe Ergebnisse liefern, sind wir vielleicht versucht, diese Ergebnisse auf Mängel in den Argumentationen zurückzuführen statt auf Mängel in unseren Kategorien. Wir gelangen schließlich vielleicht zu der Meinung, daß aus irgend einem tief im Wesen der Dinge versteckten bedauerlichen Grund nur unsere anfänglichen, besonders einfachen Argumentationen das Ideal der Gültigkeit erreichen können. An dfeser Stelle kann nur in ganz allgemeiner Weise auf diese Gefahren hingewiesen werden. In den beiden letzten Kapiteln dieses Buches möchte ich genauer aufzeigen, welchen Einfluß diese Gefahren auf die zunächst von Logikern und dann von auf dem Feld der Erkenntnistheorie arbeitenden" Philosophen erhaltenen Ergebnisse hatten. Ich werde die These vertreten, daß die Entwicklung der logischen Theorie historisch mit der Untersuchung einer ziemlich speziellen Klasse von Argumentationen angefangen hat, nämlich mit der Klasse der unzweideutigen, analytischen, fonnal gültigen Argumentationen mit einer universellen Aussage als "Oberprämisse" . Argumentationen dieser Klasse bilden in vier verschiedenen Hinsichten eine Ausnahme. Dies führt zusammengenommen dazu, daß sie ein schlechtes Beispiel für eine allgemeine Untersuchung abgeben. Erstens verdeckt der Gebrauch der Form "Alle A sind B" in der Oberprämisse den Unterschied zwischen Schlußregel und Stützung. Zweitens ist nur in dieser Beispielsklasse die Unterscheidung zwischen unseren Daten und der Stützung unserer Schlußregeln ohne ernsthafte Bedeutung. (Diese ersten Faktoren können dazu führen, die Unterschiede in der Funktion von Daten, Schlußregeln und der Stützung von Schlußregeln zu übersehen, und sie deshalb alle auf eine Stufe zu stellen und alle gleichermaßen als "Prämissen ce zu bezeichnen.) Drittens beinhaltet das Verfahren zur Verifikation der Stützung, da Argumentationen dieses Typs analytisch sind, in jedem Fall" ipso facto die Verifikation der Schlußfolgerung. Da sie viertens auch unzweideutig sind, wird es unmöglich, Daten und Schlußregeln zu akzeptieren und dennoch die Konklusion zu bestreiten, ohne sich selbst definitiv zu widersprechen. Die Logiker haben diese speziellen Charakteristika ihrer zuerst ausgewählten Klasse von Argumentationen als Hinweis auf eine besondere Qualität interpretiert. Sie waren der lVIeinung, dag andere Klassen der Argumentation insofern mangelhaft sind, als sie alle diese charakteristischen Vorzüge der Paradigmaklasse nicht aufweisen. Die Unterscheidungen, die ausschließlich in diesem ersten Fall alle zusammenfallen, werden identifiziert und als eine einzige Unterscheidung behandelt. Die Unterteilung von Argumentationen in analytische und substantielle, in schlußregel-gebrauchende und schlußregel-begründende, in schlüssige und tentative und in formal gültige und nicht formal gültige werden um theoretischer Zwecke willen alle in eine einzige Unterscheidung gepreßt. Das Paar von Tennen "deduktiv" und "induktiv", das - wie wir sahen, - in der
130 Praxis nur zur Bezeichnung der zweiten dieser vier Unterscheidungen verwendet wird, wird allen vier Unterscheidungen zugeordn"et. Diese starke übervereinfachung am Anfang liegt einem großen Teil weiterer Entwicklungen der logischen Theorie- zugrunde. Viele der gegenwärtigen Probleme in der logischen Tradition haben ihren Ursprung in der Annahme der analytischen Paradigmaargumentation als Standard, der als Vergleich zur Kritik aller weiteren Argumentationen verwendet werden kann. Aber man muß zwischen Analytizität und fonnaler Gültigkeit unterscheiden. Keines dieser beiden ist allgemeines Kriterium der Notwendigkeit und noch weniger Kriterium der Richtigkeit unserer Argumentationen. Analytische Argumentationen bilden eine spezielle Klasse, und wir bringen uns sowohl in der Logik als auch in der Erkenntnistheorie in Schwierigkeiten, wenn wir sie als irgendetwas anderes behandeln. Dies ist jedenfals die Behauptung, die ich in den zwei folgenden Kapiteln einlösen will.
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IV. Angewandte Logik und idealisierte Logik In den bisherigen ~apiteln habe ich alles getan, um eine explizite Diskussion der logischen Theorie zu venneiden. Bei jeder sich abzeichnenden Gefahr eines Konfliktes mit formalen Logikern bin ich ausgewichen und habe den strittigen Begriff (, ,logische Notwendigkeit" oder was auch immer) mit der Bemerkung beiseitegelassen, ihn später noch zu betrachten. Inzwischen ist die Liste der nochmals zu überdenkenden Punkte ziemlich lang geworden, und es ergaben sich viele Anzeichen einer Divergenz zwischen den Kategorien der praktischen Kritik. von Argumentationen und denen der formalen Logik. Jetzt kann eine Konfrontation nicht länger vermieden werden. Es kommt jetzt vielmehr darauf an, daß wir sie frontal angreifen und unsere Enterhaken berei thaI ten. . Im ersten Teil dieses Kapitels gehe ich wie ein Naturwissenschaftler vor. Ich fange mit der Fonnulierung meiner Hypothese an, daß nämlich die Kategorien der fonnalen Logik ausgehend von einer Untersuchung des analytischen Syllogismus aufgestellt wurden, daß Argumentationen dieser Art nicht repräsentativ sind, daß sie eine zu Mißverständnissen führende Einfachheit besitzen und daß viele der paradoxen Genleinplätze der formalen Logik und der. Erkenntnistheorie daraus entstehen , daß diese Kategorien fälschlicherweise auf Argumentationen anderer Arten angewandt werden. Dann werde ich die Folgen untersuchen, die aus der Behandlung von analytischen Argumentationen als Paradigma erwachsen. Dabei werde ich insbesondere auf die Paradoxien eingehen, die sich daraus ergeben, daß man eine Reihe von Klassifikationsmöglichkeiten von Argumentationen als identisch behandelt, die nur im Fall von analytischen Argumentationen wirklich äquivalent sind. Als nächstes werden wir uns dann mit den Kategorien beschäftigen, zu deren Aufstellung man durch eine' solche Vorgehensweise geführt wird, und mit den Schlußfolgerungen, zu denen man kommt, wenn man diese Kategorien allgemein bei der Analyse von Argumentationen anwendet. Unsere Untersuchungen wer. den sich erstmals auszahlen, wenn wir uns den Büchern zeitgenössischer Logiker und Philosophen zuwenden und herausfinden, daß in ihnen genau jene Kategorien verwendet werden und daß genau jene Schlußfolgerungen vertreten werden, die nach meiner obigen Hypothese zu erwarten sind. Der erste Teil dieses Kapitels schließt deshalb mit einer "Verifikation" meiner Hypothese ab, wenn wir herausfinden, in welch hohem Maße diese Kategorien und Schlußfolgerungen akzeptiert werden. Der zweite Teil dieses Kapitels ist eher kritisch als naturwissenschaftlich. Ich unterstelle, daß meine Hypothese gilt und vertrete die Auffassung, daß fonnale Logiker ihre Begriffe falsch verstanden haben und daß sie nur über eine Reihe von Fehlern und Mißverständnissen zu ihren Schlußfolgerungen gekommen sind. Sie versuchen, ihre Paradoxien als Ergebnis davon zu rechtfertigen, daß sie ein für allemal absolut streng denken und reden. Im Gegensatz dazu erweisen sich die .von ihnen angegebenen Schlußfolgerungen bei genauerer Untersuchung tatsächlich nicht so sehr als streng sondern vielmehr als unangebracht. Insoweit formale Logiker beanspruchen, irgendetwas zu sagen, was auch für nicht-analytische Argumentationen von Relevanz ist, muß sich die Kritik gegen diesen Anspruch richten. Denn man benötigt zur Untersuchqng anderer Typen der Argumentation neue Kategorien;
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gebräuchliche Unterscheidungen - insbesondere die grobe und verworrene Unterscheidung, die nonnalerweise durch die Wörter "deduktiv" und "induktiv" angegeben wird - müssen dagegen aufgegeben werden . . Im dritten Abschnitt dieses Kapitels versuche ich, sowohl mehr historisch als auch mehr erklärend vorzugehen. Die übermäßig vereinfachten Kategorien der formalen Logik sind nicht nur aufgrund ihrer Einfachheit anziehend, sondern auch deshalb, weil sie so schön zu einigen anderen einflußreichen Vorurteilen passen. Seit Aristoteles finden Logiker die Mathematik als Modell verführerisch. Eine Logik, die die Jurisprudenz anstelle der Mathematik als Modell heranzieht, könnte natürlich auch gar nicht erwarten, die mathematische Eleganz des Ideals der Logiker in vollem Maße beizubehalten. Unglücklicherweise kann eine solche idealisierte Logik, zu der wir durch das Modell der Mathematik geführt werden, nicht in einem echten Kontakt mit ihren praktischen Anwendungen bleiben. Rationales Begründen ist kein geeigneter Gegenstand für eine zeitlose, axiomatische Wissenschaft. Wenn wir versuchen, die Logik zu so etwas. zu machen, laufen wir Gefahr, schließlich eine Theorie zu erhalten, deren Verbindung mit der Kritik von Argumentationen genauso locker ist wie die zwischen der mittelalterlichen Theorie der rationalen Brüche und der "Musik", von der sie ihren Namen bezog.
EINE HYPOTHESE UND IHRE FOLGEN Am Anfang möchte ich das Phänomen genauer angeben, dessen Erklärung unsere Aufgabe ist. Allgemein formuliert kann es am besten als systematische Divergenz zwischen zwei Mengen von Kategorien angegeben werden, zwischen den Kategorien, die wir beim praktischen Geschäft des Argumentierens angewandt sehen und den entsprechenden Analysen dieser Begriffe, die in Büchern über formale Logik dargestellt werden. Während die Standards zur Beurteilung der Richtigkeit, Gültigkeit oder der, Stärke von Argumentationen in der Praxis bereichsabhängig sind, beschränken Theoretiker der Logik diese Begriffe und versuchen, sie bereichsunabhängig zu definieren. Während Möglichkeit, Notwendigkeit und ähnliche Begriffe in der Praxis bereichsabhängig behandelt werden, verhalten sich Logiker in gleicher Weise oder geben höchstens widerwillig zu, daß es andere, weniger strenge Bedeutungen von Wörtern wie "Notwendigkeit" geben mag, die beim Reden über Verursachung, Ethik und ähnliches gebraucht werden.o Und während in der Praxis jede schlußregel-verwendende Argumentation als Deduktion bezeichnet werden kann, äußern Logiker wieder Bedenken und lassen den Gebrauch dieses Terms nur bei analytischen Argumentationen zu. Dies sind nur einige Beipiele für die allgemeine Tendenz, daß die Praxis des Kritisierens und die logische Theorie verschiedene Wege gehen. Unsere Aufgabe ist es jetzt, diese Divergenz zu erklären. Wenn man eine Erklärungshypothese dieser Divergenz verifizieren will, muß man nicht bloß die Existenz überhaupt einer Divergenz dieser allgemeinen Art aus der Hypothese ableiten, sondern man muß genau nach der Form der Divergenz fragen, die sie uns erwarten läßt. Eine befriedigende Hypothese muß dazu führen, daß man die exakte Form vorhersieht, die die Divergenz tatsächlich besitzt. Ich' nehme an, daß folgendes passierte. Die Logiker begannen wie Aristoteles mit
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der Untersuchung syllogistischer Argumentationen, insbesondere analytischer Syllogismen. Danach stellten sie die einfachste und kleinste Menge von Kategorien auf, die ihnen vernünftigerweise zur Kritik von Argumentationen dieser Art dienen konnte. Als Ergebnis hiervon wurden sie z~ einer Vernachlässigung der Unterschiede zwischen den vier oder fünf entscheidenden Unterscheidungen geführt, die nur im Falle des analytischen Syllogismus aufs Gleiche hinauslaufen. Es handelt sich hier um die im letzten Kapitel angeführten Unterscheidungen, kurz zusammengefaßt um: . a) Die Unterscheidung zwischen notwendigen Argumentationen und wahrscheinlichen Argumentationen, das heißt zwischen Argumentationen, bei denen uns die Schluß regel unzweideutig den Schluß auf die Konklusion erlaubt (die deshalb mit dem modalen Qualifikator "Notwendigerweise" versehen werden kann) und Argumentationen, bei denen die Schluß regel nur erlaubt, die Schlußfolgerung versuchsweise (sie wird deshalb mit einem "wahrscheinlich" eingeschränkt), möglichen Ausnahmen unterworfen ("vermutlich") oder bedingt ("vorausgesetzt, daß ... ") zu ziehen. b) Die Unterscheidung zwischen formal gültigen Argumentationen und nicht formal gültigen Argumentationen. Fonnal gültig ist jede Argumentation, die so strukturiert ist, daß ihre Konklusion durch geeignete Umstellungen der Tenne in den Daten und der Schlußregel erhalten werden kann. (Die Logik schien schon immer des\vegen besonders interessant, weil ihre Analyse der Gültigkeit auf eine ausschließliche Abhängigkeit von Fragen der Form in diesem Sinn beschränkt werden konnte.) c) Die Unterscheidung zwischen den Argumentationen, in denen auf eine Schlußregel Bezug genommen wird, deren Adäquatheit und Anwendbarkeit vorher begründet wurde (hierunter fallen auch gewöhnliche Syllogismen) und den Argumentationen, die selbst die Angemessenheit einer Schlußregel zeigen sollen. d) Die Unterscheidung zwischen Argumentationen, die mit Hilfe logischer Partikeln oder Quantoren ausgedrückt sind und solchen Argumentationen, die nicht auf diese Weise formuliert sind. Zu den akzeptierbaren, logischen Wörtern gehören "alle",. "einige", "oder" und noch ein paar andere. Diese werden säuberlich von den nicht-logischen Wörtern getrennt, das heißt von Allgemeinbegriffen - den Substantiven, Adjektiven und so weiter - und von nicht unter logische Regeln zu fassenden Verbindungswörtem wie etwa "die meisten", "wenige", "aber". Da die Gültigkeit von Syllogismen eng mit der richtigen Verteilung logischer Wörter in den sie konstituierenden Aussagen zusammengebracht wird, rechnen wir gültige Syllogismen wiederum zur ersten unserer beiden Klassen. e) Die fundamentale Unterscheidung zwischen analytischen und substantiellen Argumentationen, über die wir nur solange hinweggehen können, wie wir unsere Schlußregeln in der traditionellen Form "Alle (kein) A sind (ist) B" angeben. Daß die formale Logik ihren Anfang bei der Untersuchung des Syllogismus und insbesondere des analytischen Syllogismus nahm, ist ein geschichtliches Faktum. Der Rest ist - zumindest zu-m Teil - bloße Vermutung. Ich nehme an, daß sich die Logiker von dem einzigartigen Charakter des analytischen Syllogismus übermäßig beeindrucken ließen, nachdem sie diesen zum Ausgangspunkt ihrer Analyse gemacht hatten. Er ist nicht nur analytisch, sondern auch formal gültig, schlußregel-verwendend, unzweideutig in seinen Konsequenzen und mit Hilfe "logischer Wörter" formuliert. Im Gegensatz dazu sind andere Klassen von Argumentationen
134 offensichtlich weniger leicht zu behandeln - sie sind nicht so zuverlässig und mehr tentativ, beinhalten substantielle Sprünge, sie genügen keinen formalen Standards der Gültigkeit, sind mit Hilfe von vagen, außerlogischen Wörtern formuliert und beziehen sich in einigen Fällen auf keine etablierte Schlußregel - manchmal ist eine solche nicht einmal zu erkennen. Unter dem Druck von Motiven, über die wir später nachdenken müssen, verschmolzen Logiker daraufhin unsere fünf Unterscheidungen in eine einzige, die sie zur absoluten und wesentlichen Bedingung des logischen Heils machten. Von da an gestanden sie Gültigkeit nur den Argumentationen zu, die alle fünf Tests bestanden. Dadurch wurde der analytische Syllogismus ein Paradigma, dem alle Argumentationen, die was auf sich halten, entsprechen müssen. ·Diese alles umfassende, verschmolzene Unterscheidung mußte durch ·ein Paar von Termen gekennzeichnet werden, und im Laufe der Zeit wurden eine Reihe verschiedener Wortpaare verwendet. "Deduktiv", "schlüssig" und "beweiskräftig" zur Kennzeichnung der bevorzugten Klasse von Argumentationen, "induktiv", "nicht schlüssig" und "nicht beweiskräftig" für die übrigen. Welche Wörter sollen wir selber verwenden? Es wäre vielleicht am besten, einen völlig unverfänglichen Neologismus zu wählen, aber das Ergebnis könnte unschön sein. Benutzen wir deshalb einen Term, bei dem eine sehr gebräuchliche Verbindung· zu dieser verschmolzenen Unterscheidung besteht, nämlich "deduktiv". Dieser Term, der beim praktischen Argumentieren auf alle schlußregel-verwendende Schritte angewandt wird, wurde von vielen Logikern für theoretische Zwecke so ausgedehnt, daß er die obigen fünf Unterscheidungen auf einmal ausdrückt. Wir können diesen Logikern darin folgen - zumindest dann, wenn wir der Vorsicht halber von Anführungszeichen Gebrauch machen. Was passiert, wenn wir es absichtlich unterlassen, diese fünf Unterscheidungen unterschiedlich zu bezeichnen und stattdessen darauf bestehen, sie zu verschmelzen? Wenn wir den analytischen oder "deduktiven" Syllogismus - eine formal gültige, unzweideutige, analytische, schlußregel-verwendende Art der Argumentation als Standard heranziehen, den Argumentationen aller Arten anstreben müssen, welcher Art wird die dann aufzubauende logische Theorie sein und welcher Art werden die theoretischen Kategorien und Lehrmeinungen sein, zu deren Annahme wir dann gezwungen sind? Wenn wir von dieser Frage ausgehen, stoßen wir sogar bei unserer Diskussion des gewöhnlichen Syllogismus auf schwierige Probleme. Der Ausdruck "Alle A.sind B" kann, ,vie wir gesehen haben, auf vielfältige Weise verwendet werden. Er kann zur Angabe einer Schlußregel oder aber zur Angabe der Stützung für diese Schlußregel verwendet werden. Die angegebene Stützung kann ihrerseits von verschiedener Art sein - sie kann statistisch oder klassifikatorisch sein oder auf Gesetze Bezug nehmen. Wenn wir die Annahme zugrundelegen, daß die Unterschiede zwischen Argumentationen in verschiedenen Bereichen unwesentlich sind und daß alle Argumentationen auf einen einzigen Basistyp zurückgeführt werden sollten, laufen wir Gefahr, diese Vielfalt der Gebrauchsweisen außer Acht zu lassen und syllogistische Argumentationen aller Arten gemäß einem einzigen analytischen Schema aufzufassen. Auf diese Weise sind wir gezwungen, uns zu fragen, ob .der Syllogismus - der nachweislich analytisch ist - tatsächlich zu substantiellen Ergebnissen führen kann. Aristoteles
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wollte als Zoologe sicherlich substantielle Argumentationen in syllogistische Form fassen. Sobald wir jedoch von der scheinbar höheren Schlüssigkeit analytischer Argumentationen beeindruckt sind und daher versucht sind, Analytizität als Bedingung für "Deduktivität" oder für "Gültigkeit~' zu verlangen, können wir konsistenterweise substantielle Syllogismen nicht ohne Kritik durchgehen lassen. Ein gültiger analytischer Syllogismus kann uns in seiner Schlußfolgerung nichts mitteilen, ·was nicht schon in den Daten und in der Stützung für die Schluß regel enthalten ist. Deshalb kann ein Syllogismus, der einen echt substantiellen Schritt enthält, von unserem jetzigen Standpunkt aus gesehen nur gerechtfertigt werden, wenn man an irgendeiner Stelle in den Daten oder der Stützung gerade die Schlußfolgerung schon als erwiesen unterstellt, die begründet werden soll. Es kommt hier zum Teil wegen der fehlenden Unterscheidung zwischen einer Schlußregel und ihrer Stützung zu einem Paradoxon. Beim analytischen Syllogismus muß die Schlußfolgerung der Natur der Sache nach etwas mit anderen Worten wiederholen, was schon in den Daten und der Stützung enthalten ist. Wenn w:ir uns aber den substantiellen Syllogismus anschauen, sind wir zwischen zwei scheinbar widersprüchlichen Schlußfolgerungen hin- und hergerissen - zwischen der Aussage, daß aus Daten und "universeller Prämisse" (Schlußregel) die Konklusion mit Notwendigkeit folgt, und der Aussage, daß Daten und universelle Prämisse .(Stützung) mit der negierten Konklusion formal konsistent sind. Tatsächlich sind beide diese Aussagen wahr. Jeder Syllogismus kann formal gültig sein, aber nur analytische Syllogismen sind analytisch! Die Folgen unserer Wahl eines Paradigmas sind jedoch am auffälligsten bei unserer Behandlung allgemeiner logischer Kategorien und insbesondere bei der Behandlung modaler Operatoren. Sobald wir auf Argumentationen aller Arten unabhängig vom j·eweiligen Bereich einen einzigen Standard der Gültigkeit anwenden, ist es ganz natürlich, dann auch jeweils nur ein Kriterium der Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit anzunehmen. Beim analytischen Syllogismus folgt eine Konklusion "mit Notwendigkeit" genau dann, wenn ihre Negation mit den Daten und der Stützung formal inkonsistent ist. Wir können daher sagen: Anne ist Schwester von J ack; Jede einzelne Schwester von Jack hat rote Haare; Deshalb hat Anne (mit Notwendigkeit) rote Haare,
gerade weil, wenn man nach Angabe der Daten und der Stützung (in den ersten zwei Sätzen) dann noch sagen würde, daß die Haare von Anne nicht rot sind, dies bedeuten würde, mit der Schlußfolgerung etwas zurückzunehmen, was man schon angegeben hat. Wenn wir dies zum allumfassenden Test machen, werden wir es dann für angemessen halten, nur dann eine Konklusion für, ,notwendig" zu halten oder zu sagen, sie folge "mit Notwendigkeit" aus unseren Daten, wenn eine logische Folgerungsbeziehung involviert ist. Ähnlich werden wir im Falle der Möglichkeit und Unmöglichkeit versucht sein, die bei analytischen Argumentationen anwendbaren Kriterien zu feststehenden Definitionen dieser Terme emporzustilisieren. Der Term unmöglich bedeutet für uns dann dasselbe wie "inkonsistent" oder "kontradiktorisch" und der Term möglich dasselbe wie "konsistent" und "nicht kontradiktorisch" .
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Es kann nicht lange ausbleiben, daß uns diese Divergenz zwischen der theoretischen Verwendungsweise und unserem Alltagsgebrauch auffällt. N ormalerweise werden Konklusionen aus ganz unterschiedlichen Gründen als notwendig, möglich und unmöglich betrachtet. Dennoch braucht uns dies nicht ernsthaft zu beunruhigen . Unsere Definitionen hier sind für Z wecke der logischen Theorie eingeführt, deshalb können wir sie durch das Adverb "logisch" abgrenzen. Wir erhalten auf diese Weise schließlich die folgenden Definitionen: a) "P ist logisch unmöglich" bedeutet "P ist kontradiktorisch oder widerspricht den Daten und der Stützung, die als Grundlage der Argumentation dienen"; b) "P ist logisch möglich" bedeutet, ,P ist nicht logisch unmöglich (in dem gerade definierten Sinn)"; und c) "P ist logisch notwendig" bedeutet "Die Negation von P ist logisch unmöglich (in dem gerade definierten Sinn)". Konsistenz, Widersprijehliehkeit und Folgerung scheinen nun von einem logischen Standpunkt aus gesehen die einzigen Dinge zu sein, die Argumentationen Gültigkeit verleihen 'können oder die sie als ungültig ausschließen können. "Wie kann man überhaupt solcherart definierte Kategorien auf substantielle Argumentationen anwenden? Schließlich kann in ihrem Fall die Relevanz der Daten und der Stützung für die Konklusion ex hypothesi weder einem Schlu~ gleichkommen noch die Gefahr eines Widerspruchs enthalten." Solange wir die traditionelle syllogistische Form beibehalten, "bleibt die Schärfe dieses Problems hinter der Zweideutigkeit der Satzform "Alle A sind BCC verborgen. Sobald wir aber die Unterscheidung zwischen Daten, Stützung und Schlußregeln explizit machen, können wir uns dieses Problem nicht mehr vor uns selber verbergen. Es war das große Verdienst von David Hume, daß er diese Schwierigkeit entschlossen anpackte und sich - ohne Rücksicht auf paradoxe Konsequenzen - weigerte, bei undeutlichen Zweideutigkeiten Zuflucht zu nehmen. Versuchen wir nun, diesen Konsequenzen nachzugehen und sehen wir zu, wohin wir geführt werden. Paradoxien dürfen uns dabei nicht abschrecken: Sie sind unvermeidlich. Zuerst kann man von keiner substantiellen Argum"entation behaupten, sie sei "deduktiv", wenn man unseren neuen Standard für "deduktive CC Argumentationen zugrundelegt. A fortiori kann keine substantielle Argumentation notwendig sein, wenn man diesen Term in einem logischen Sinn gebraucht, und keine substantielle Konklusion kann mit Notwendigkeit oder mit mehr als einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit folgen. Wenn im gewöhnlichen Reden das Wort "notwendig" zur näheren Bestimmung der Konklusionen substantieller Argumentationen gebraucht wird, so müsset? wir jetzt sagen, daß dies nur eine unklare und unpräzise facon de parler ist, die sich aus oberflächlichem Denken ergibt. Ähnlich muß jetzt jede Konklusion als möglich zugelassen werden, die nicht unseren Daten widerspricht - gleich wie unplausibel sie ist. Eine Schlußfolgerung wird nur dadurch wirklich unmöglich, wenn sie zu einem glatten Widerspruch führt. Di,\ Welt der Möglichkeiten wird unbegrenzt erweitert, und der rationale Ausschluß von Möglichkeiten wird (jedenfalls bei substantiellen Argumentationen) unendlich schwieriger. Einige mögen an diesem Punkt geneigt sein, aufzuhören, aber andere erkennen, daß man weiterfahren kann und sollte. Wenn wir einige unserer logischen Begriffe mit Hilfe von Konsistenz, Widerspruch und Folgerung definieren, sollten wir dann
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nicht alle auf diese Weise definieren? Insbesondere der Term "wahrscheinlich" ist genausogut ein modaler Operator wie die Terme "notwendig" und "unmöglich". ~önnen .wir uns dann. ~i:klich für l.ogische Zwecke .mit irgendet~as Geringerem als eIner unIversellen DefInItIon auch dIeses Tenns zufnedengeben, dIe eng mit unseren vorhergehenden Definitionen von Notwendigkeit, Unmöglichkeit und Möglichkeit zusammenhängt? Wenn wir dieses Programm akzeptieren, sind wir gezwungen, "Wahrscheinlichkeit" mit Hilfe von Folgerungsbeziehungen zu definieren. Eine solche Aussage wie "Die Daten und die uns zur Verfügung stehende Stützung e, machen es wahrscheinlich, daß h" muß jetzt so expliziert werden, daß sie sich nur auf die Bedeutungen der Komponentensätze e und h und die semantischen Relationen zwischen diesen bezieht. Wenn wir "wahrscheinlich" auf diese Weise analysiert haben, werden wir schließlich einen starken Zwang verspüren, dasselbe für solche Begriffe wie "Bestätigung" und "Stützung durch Beweismaterial" zu tun. Wenn sich Logik nur mit Widersprüchen, Folgerungsbeziehungen und Konsistenz befassen soll und wenn die Untersuchung von Bestätigung und Sti.jtzung durch Beweismaterial auf eine logische Basis gestellt und ein Teil der Wissenschaft der Logik werden soll, gibt es in der Tat keine Alternativen. Wir müssen eine Möglichkeit finden, auch diese Begriffe mit Hilfe semantischer Relationen zwischen dem Beweismaterial e und irgendeiner vorgebrachten Schlußfolgerung h zu definieren. Damit erhöhen wir unsere Schwierigkeiten noch weiter. Die Divergenz zwischen theoretischem Gebrauch und Alltagsgebrauch wird deutlicher und die daraus folgenden Paradoxien werden noch weitreichender. Wir sind jetzt nicht nur gezwungen, die Behauptung zurückzuweisen, daß einige substantiellen Argumentationen notwendig sind. Wir können jetzt nicht mehr zulassen, daß sie - genaugenommenjemals sogar nur wahrscheinlich sein können. Denn im Fall von echt substantiellen Argumentationen hängt Wahrscheinlichkeit von ganz andere~ Sachen als von semantischen Relationen ab. Die Schlußfolgerung ist unvermeidlich: Bei substantiellen Argumentationen kann die Konklusion nicht mit logischer Notwendigkeit folgen, und sie kann auch nicht logisch mit Wahrscheinlichkeit folgen. Auch hier wird zugegeben, daß wir im gewöhnlichen Sprachgebrauch solche Konklusionen als mehr oder weniger wahrscheinlich bezeichnen. Dabei wird der Term "wahrscheinlich" in einer anderen Bedeutung verwendet, die sich von logischer Wahrscheinlichkeit genauso unterscheidet wie "müssen", "können", "nicht können" der Alltagssprache von strenger logischer Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit. Wenn wir diesen Standpunkt erreicht haben, erscheinen substantielle Argumentationen ziemlich uneinlösbar. Keine der Kategorien der von uns aufgestellten logischen Theorie scheint innerhalb der Reichweite substantieller Argumentationen zu sein. Welche Kategorien wir auch immer auf diese anwenden, sie werden nie den Standards gerecht. Solange wir nicht unser Paradigma in Frage stellen, müssen wir diese Tatsache als Zeichen für durchdringende Schwäche .aller substantiellen Argumentationen auffassen. Man verlangt offensichtlich zuviel, wenn man in diesem Fall ordent1iche logische Beziehungen sucht. Bei der Beurteilung mit Hilfe unserer "deduktiven" Standards sind sie hoffnungslos unklar und zu wenig streng. Die Notwendigkeiten und die Zwänge, die sie für sich beanspruchen können - physikalischer, moralischer Art usw. - sind nie in der Weise völlig zwingend oder unausweichbar, wie es die logische Notwendigkeit sein kann. Ihre Unmäglichkeiten
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sind nie so gänzlich unerschütterlich wie eine gute, solide logische Unmöglichkeit. Metaphysische Rettungsarbeit mag substantielle Argumentationen hinreichend zusammenschustem, um ihren Gebrauch für praktische Zwecke zu rechtfertigen. Aber man kann den Krebsschaden an ihrem Herzen nicht verleugnen. Der Weg von unserer ursprünglichen Annahme analytischer Syllogismen als Idealtyp "deduktiver" Argumentationen bis zu dieser Schlußfolgerung ist lang, aber die Schlußfolgerung selbst e~gibt sich auf völlig natürliche Weise. Und selbst wenn wir davor zurückschrecken, den Konsequenzen unserer ursprünglichen Annahme so weit wie gerade ausgeführt nachzugehen, gibt es unmittelbarere Konsequenzen, die kaum weniger drastisch sind. Die einzigen Argumentationen, die wir angemessen mit Hilfe "deduktiver" Standards beurteilen können, sind jene, die analytisch, notwendig und formal gültig sind. Alle zugestandenermaßen substantiellen Argumentationen sind "nicht deduktiv" und folglich nicht formal gültig. Beim analytischen Syllogismus kann jedoch Gültigkeit mit fonnaler Gültigkeit identifiziert werden, und genau dies soll nach dem Willen der Logiker allgemein möglich sein. Es folgt sofort, daß für substantielle Argumentationen, deren Schlüssigkeit man nicht rein formal deutlich werden lassen kann, sogar Gültigkeit völlig unerreichbar ist. -DIE VERIFIKATION DIESER HYPOTHESE Es ist nicht nötig, die Konsequenzen der Hypothese, von der diese Erörterung ihren Ausgang nahm, noch weiter ins Detail gehend zu verfolgen. Ich gehe davon aus, daß die Logiker ihre formalen Theorien unter Verwendung des analytischen Syllogismus als Paradigma aufgestellt haben und daß sie mit einem Blick auf dieses Ideal ihre Kategorien entwickelt und ihre Schlußfolgerungen ausgearbeitet haben. Falls die hier dargestellten Definitionen und Lehrmeinungen aus den Schriften von Logikern und Philosophen entnommen werden können, trägt dies zur Begründung der Richtigkeit meiner Diagnose bei. Bei einer guten Hypothese sollte es aber gar nicht nötig sein, auf die Suche nach verifizierenden Beobachtungen zu gehen, da einem die Wahrheit ihrer Konsequenzen schon im Laufe ihrer Ausarbeitung auffällt. Deshalb sollte hier jeder, dem die Standard ansichten von in diesem Bereich arbeitenden Philosophen und Logikern bekannt sind, sie in meinen Definitionen und Lehrmeinungen erkannt haben und er sollte in der Lage sein, selbst umfassende bestätigende Beispiele aus der Literatur anzugeben. Alle diese Lehrmeinungen können ohne Schwierigkeiten in gegenwärtig anerkannten Logikbüchem gefunden werden. Manchmal werden sie schlicht behauptet, manchmal als Paradoxien angegeben, die zu bedauern sind, die einem aber aufgezwungen werden und die nur mit Geschick umgangen werden können. Einige Logiker gehen den Weg bis zum Ende, andere geraten nach einem gewissen Punkt in Schrecken und errichten begriffliche Barrieren entlang der Linie, an der sie sich genötigt sehen, haltzumachen. In einigen Darstellungen wird das analytische Paradigma' offen zugrundegelegt, in anderen verdeckt unterstellt, indem das Wort "deduktiv" ganz richtig mit Hilfe formaler Gültigkeit defirJ:iert wird, dann aber verwendet wird, als sei es ohne weitere Erklärung auch mit "analytisch", "unzweideutig", "notwendig" und "mit Hilfe logischer Begriffe ausgedrückt" äquivalent. Ich werde mich hier mit fünf Zitaten begnügen, die wegen der
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allgemein interessierenden Prqbleme, die sie aufwerfen, ausgewählt wurden. 1. Der folgende Abschnitt ist William Kneales Buch Probability and Induction entnommen (5. 21»: Es ist inzwischen ein Gemeinplatz der Erkenntnistheorie, daß die in solchen Wissenschaften wie Physik, Chemie, Biologie und Soziologie erhaltenen Ergebnisse in ihrem Charakter von den Ergebnissen der reinen Mathematik fundamental verschieden sind. Früher wurde dieser Unterschied weder von Philosophen noch von Fachwissenschaftlem so allgemein anerkannt, wie dies jetzt der Fall ist. Aber durch die englischen Empiristen Bacon, Locke, Berkeley und Hume wurde dieser Unterschied über jeden Zweifel erhoben und wurde wie einige andere Leistungen der philosophischen Analyse so fest in unserer geistigen Tradition verwurzelt, daß wir kaum noch verstehen können, wie er jemals übersehen werden konnte. Die von mir erwähnten Wissenschaften werden als induktiv bezeichnet, und von ihren Konklusionen sagt man - anders als von denen der reinen Mathematik - daß sie nur hohe Wahrscheinlichkeit haben, da sie nicht selbstevident sind und auch nicht durch endgültiges Schließen bewiesen werden können. Einige Ergebnisse der Induktion (zum Beispiel die Verallgemeinerung der elementaren Chemie) sind zwar so gut begründet, daß es pedantisch wäre, sie immer nur zusammen mit dem Wort "wahrscheinlich" zu verwenden. Wir können uns aber immer die Möglichkeit von Erfahrungen vorstellen, die uns zu einer Revision zwingen würden.
Wenn eine Lehrmeinung so fest in unserer geistigen Tradition verankert wurde, daß "sie \ über allem Zweifel erhaben erscheint, lohnt es sich, sie von' Zeit zu Zeit herzunehmen und sie erneut zu überprüfen. Wir müssen Kneale hier deshalb fragen, was genau als über jeden _Zweifel erhaben dasteht. Er wird antworten: Die Unterscheidung zwischen deduktiven und induktiven Argumentationen. Aber in welcher unserer fünf Bedeutungen? Dies ist nicht so klar. Wie wir es vorhergesehen haben, wird die Unterscheidung zwischen analytischen und substantiellen Argumentationen nur zu leicht durcheinandergebracht mit der Unterscheidung zwischen tentativen und unzweideutigen, zwischen formalen und nicht formalen, zwischen schlußregel-gebrau~henden und schlußregel-begründenden Argumentationen. Man kann Kneale hier dabei ertappen, wie er von einer Bedeutung zu einer anderen übergeht. Erstens stellt Kneale Argumentationen aus der reinen Mathematik und aus den experimentellen Wissenschaften einander gegenüber, wobei nach ihm die ersten analytisch sind, die zweiten substantiell. Er behandelt dann sofort diese Unterscheidung so, als ob sie beweist, daß wissenschaftliche Theorien oder Erklärungen, die wir m:it ihrer Hilfe geben, alle in gleicher Weise nicht ganz sicher sein können - daß die Schlußfolgerungen der experimentellen Wissenschaften "nur hohe Wahrscheinli~h keit haben". Gleichzeitig gibt er zu, daß diese Ansicht Nicht-Logikern paradox erscheinen wird, da er erkennt, daß wir gewöhnlich unterscheiden zwischen \vissenschaftlichen Konklusionen, die mit einem der Vorsicht dienenden "wahrscheinlich" versehen werden müssen und solchen, die nicht in dieser Weise eingeschränkt werden müssen. Diese Divergenz führt er auf die Pedanterie der Logiker zurück, allerdings kaum in einem überzeugenden Ton. Wenn diese Bemerkung ernst gemeint wäre, wäre sie schließlich bestens geeignet, ihn und seine Logik-Kollegen der Geringschätzung und dem Spott auszusetzen. Für unsere Zwecke ist es wichtig, die Gründe zu bemerken, die Kneale anführt für seine Ablehnung der von Seiten experimenteller Wissenschaften gemachten Behaup-
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tungen, daß si~ sichere Aussagen liefern. Er vertritt die These, daß diese Wissenschaften induktiv sind (d. h. nicht "deduktiv") und daß ihre Konklusionen - im Gegensatz zu denen der reinen Mathematik - weder selbst-evident. sind noch durch schlüssiges Folgern bewiesen werden können. (D. h., sie sind weder selbst logisch notwendig noch . sind sie analytische Konsequenzen von logisch notwendigen Aussagen.) Dies ist sein erster Grund dafür, in den Naturwissenschaften nichts weiter als hohe Wahrscheinlichkeit zuzulassen. Als nachträgliche überlegung fügt er die scheinbar ergänzende Tatsache an, daß wir uns bei jeder beliebigen wissenschaftlichen Theorie, ,immer die Möglichkeit von Erfahrungen vorstellen" können, die uns zu ihrer Revision und deshalb auch zu einer überprüfung der bisher mit dieser Theori~ gegebenen Erklärungen zwingen würde. Dies stellt sich aber als eine bloße Wiederholung heraus, denn aus dem Kontext wird deutlich, daß sein Ausdruck "Wir können uns immer die Möglichkeit vorstellen ... ce in folgender Bedeutung zu lesen ist: "Es ist lo?Jsch möglich, daß wir ... sollten" oder anders ausgedrückt: "Die Annahme, wir müßten sie revidieren, bedeutet nie einen Widerspruch". Er behauptet nicht, daß wir jetzt konkrete Gründe für die Annahme haben, daß jedes einzelne Resultat wissenschaftlicher Forschung - einschließlich der am besten begründeten Resultate - in echter Gefahr ist, in nächster Zeit revidiert zu werden.' Für ihn ist die Äußerung "Es ist immer möglich, daß sie revidiert werden müssen ce kein wirksamer Vorbehalt, sondern sie bewegt sich nur im Bereich der logischen Möglichkeit. Zusammengefaßt: Kneale stellt zuerst die Resultate der experimentellen Wissenschaften und die Konklusionen der reinen Mathematik einander gegenüber, um den Gegensatz zwischen substantiellen und analytischen Argumentationen aufzuzeigen. Dann beruft er sich auf Kriterien der Notwendigkeit und auf Standards der Gewißheit, die allein für analytische Argumentationen relevant sind. Drittens entdeckt er (was nicht überrascht), daß diese Standards der Natur der Sache nach auf substantielle Argumentationen nicht anwendbar sind. Dieses Ergebnis stellt er als Paradox dar. Dieses Paradox wird schließlich (sicherlich nicht ganz aufrichtig) als harmlos und an Pedanterie grenzend hinwegerklärt. Kneale geht nicht den Schritt ~weiter, auch Wahrscheinlichkeit ausschließlich analytischen Argumentationen zukommen zu lassen. 2. Für unsere Zwecke ist es von besonderem Interesse, was P. F. Strawson in seiner Introduction to Logical Theory zu sagen hat. Nachdem er sich am Anfang selbst die Hände fesselt, versucht er am Schluß mit einer Geschicklichkeit, die eines indischen Seiltrickkünstlers würdig wäre, sich wieder zu befreien. Der Strick der Definitionen, mit dem er sich in seinem ersten Kapitel fesselt, verbindet unsere modalen Operatoren streng mit den Begriffen der Konsistenz, des Widerspruchs und der Folgerungsbeziehung, und er knüpft dabei sogar noch den Begriff der Gültigkeit an diese Gruppe an: Die Aussage, daß die Schritte einer Argumentation gültig sind, daß die Konklusion aus den Prämissen folgt, bedeutet einfach, daß es inkonsistent wäre, die Prämissen zu behaupten und die Konklusion zu bestreiten, oder daß die Wahrheit der Prämissen mit der Falschheit der Konklusion inkonsistent ist. 1
In unserer Terminologie ausgedrückt: Er behandelt die bei analytischen Argumentationen angemessenen Kriterien der Notwendigkeit, Unmöglichkeit und Gültigkeit als Definitionen für die Bedeutung dieser Terme insgesamt. Auf diese Weise wird der 1 Kp. 1, § 9, S. 13.
141 bereichsabhängige Charakter dieser Begriffe verdeckt und den analytischen Argumentationen ein Vorzugsstatus gegeben. Auch Strawson hat an angemessener Stelle etwas über Naturwissenschaften zu sagen., Dabei sieht er sich mit der Frage konfrontiert, ob die Unterschiede zwischen Argumentationen in verschiedenen Bereichen nicht irreduzierbar sein können. Er versucht, naturwissenschaftliche Konklusionen aus ihrer scheinbar niedrigeren Position zu erretten, indem er für sie eigene Standards fordert. Aber ein "Erhärten der Kategorien (( hat sich schon lange eingestellt, und er kann diesen Ausweg nicht erfolgreich gehen. Der folgende entscheidende Abschnitt stammt aus Strawsons Kapitel 9, Abschnitt 7, S. 250: Nehmen wir an, jemandem werde beigebracht, formale Logik als Untersuchung der Wissenschaft und der Kunst des Denkens anzusehen. Er bemerkt, daß alle induktiven Verfahren ungültig sind, wenn man sie mit deduktiven Standards mißt; aus den Prämissen folgen niemals die Konklusionen. Induktive Verfahren sind nun offensichtlich wichtig bei der Bildung von Meinungen und Erwartungen über alles, was über die Beobachtung von zur Verfügung stehenden Zeugen hinausgeht. Aber eine ungültige Argumentation ist eine nicht stichhaltige Argumentation; nicht stichhaltig ist eine Argumentation dann, wenn in ihr kein tnftiger Grund für die Annahme der Konklusion angegeben wird. Wenn jetzt induktive Verfahren ungültig sind, falls alle die Argumentationen nicht stichhaltig sind, die wir bei einem Angriff auf unsere Meinungen über Sachen angeben, die über die Beobachtung von zur Verfügung stehenden Zeugen hin~usgehen, haben wir also keinen triftigen Grund für irgendeine dieser Meinungen. Diese Schlußfolgerung widerstrebt uns. Deshalb erhebt sich die Forderung nach einer Rechtfertigung nicht dieser, oder jener Meinung, die über die Folgerung aus unseren Daten hinausgeht, sondern nach einer Rechtfertigung der Induktion im allgemeinen. Wenn diese Forderung auf diese Weise zustandekommt, ist sie im wesentlichen die Forderung, nachzuweisen, daß Induktion in Wirklichkeit eine Art Deduktion ist. Denn nichts Geringeres wird den Zweifelnden zufriedenstelIen, wenn sein Zweifel auf diese Weise entstanden ist ... Die Forderung beinhaltet, nachzuweisen, daß Induktion ein rationaler Prozeß ist. Dies erweist sich als die Forderung, von einer Art des U rteilens nachzuweisen, daß sie einer anderen gleichkommt, die von verschiedener Art ist... Aber induktive Argumentationen sind natürlich nicht dedulniv gültig. Ansonsten wären sie deduktive Argumentationen. Die Schlüssigkeit induktiven Argumentierens muß mittels induktiver Standards beurteilt werden. Nichtsdestoweniger können wir - so phantastisch auch der Wunsch sein mag, daß Induktion Deduktion sein solle - einige der zur Rechtfertigung der Induktion unternommenen Versuche nur mit Hilfe dieses Wunsches verstehen.
In diesem Abschnitt gesteht Strawson, wie vorher schon Kneale, zu, daß es zwischen der von Logikern angegebenen theoretischen Analyse unserer' zur kritischen Beurteilung dienenden Begriffe und der Art und Weise, in der wir sie in der Praxis verwenden, Divergenzen gibt. Er wird ihnen eher gerecht als Kneale, da er zugibt, daß die Schlußfolgerungen der Logiker einem Nicht-Logiker oft nicht bloß als pedantisch erscheinen, sondern ihm geradezu zuwiderlaufen. Strawson unternimmt dementsprechend ernsthaftere Versuche, die Schwierigkeit zu überwinden und sucht nach einer Möglichkeit, naturwissenschaftlichen Argumentationen und Konklusionen den Anspruch auf eine eigene i\rt der Triftigkeit, Stärke und Gültigkeit zuzugestehen. Er fängt mit einem vielversprechenden Schritt an, indem er zuläßt, daß es verschiedene Arten von Argumentationen geben kann, von denen jede ein Recht darauf hat,
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mit ihren eigenen Begriffen und Standards _beurteilt zu werden. Dennoch ist er nicht in der Lage, diesen Ansatz erfolgreich zu Ende zu führen. Für unsere Zwecke ist es wichtig, den Grund für dieses Mißlingen ans Licht zu bringen. Alles hätte einen befriedigenden Ausgang nehmen können, wenn sich Strawson nicht schon durch seine eigene Terminologie gebunden hätte. Wie Kneale formuliert er" den Gegensatz zwischen wissenschaftlichen und mathematischen Argumentationen mit Hilfe des Wortpaares "deduktiv" und "induktiv" und unterläßt es, klarzustellen, welche der vier oder fünf in diesen Termen zusammengefaßten Begriffe er mit dem Gebrauch dieser Wörter ausdrückt. Eben diese Handlung - das Verschmelzen von vier oder fünf verschiedener Unterscheidungen in eine einzige und die Verwechslung von Fragen der Gültigkeit und Notwendigkeit ~it Fragen der Analytizität - ist jedoch der Ursprung seiner Schwierigkeiten. Dies macht die Forderung, daß "I1).duktion Deduktion sein solle", - die er als phantastisch ansieht - im Gegenteil unvermeidlich. Betrachten wir die Aussage "Induktive Argumentationen sind natürlich nicht deduktiv gültig. Sonst wären sie deduktive Argumentationen", die das Herzstück von Strawsons reductio ad absurdum bildet. Wenn wir jetzt für das Wort "deduktiv" nacheinander jede der möglichen übersetzungen substituieren, sehen wir, wie es zu der Schwierigkeit kommt. Fangen wir mit "analytisch" an. Die zwei Schlüsselsätze lauten dann: "Natürlich sind naturwissenschaftliche Argumentationen (da sie substantiell sind) nicht analytisch gültig. Wenn sie es wären, wären sie analytische Argumentationen. Die Stichhaltigkeit naturwissenschaftlicher Argumentationen muß mit Hilfe naturwissenschaftlicher Standards beurteilt werden. ce Diese Aussage ist völlig in Ordnung, und wenn man die in ihr ausgedrückte Wahrheit erkennt, hat man den ersten Schritt getan, um das analytische Paradigma zu verwerfen. Der Wunsch, daß naturwissenschaftliche Argumentationen analytisch und damit nicht substantiell sein sollen, wäre in der Tat phantastisch, wie Strawson sagt. Aber er verwendet diese Einsicht als zuckrige HülJe für eine recht bittere Pille, denn seine Äußerung ist bei drei weiteren möglichen Interpretationen völlig unannehmbar. Wenn wir zum Heispiel für sein Wort "deduktiv" den Ausdruck "fonnal gültig" substituieren, erhalten wir "Natürlich sind naturwissenschaftliche Argumentationen nicht formal gültig. Wenn sie das wären, wären sie formal gültige Argumentationen~ Die Stichhaltigkeit naturwissenschaftlicher Argumentationen muß mit Hilfe "naturwissenschaftlicher Standards beurteilt werden." Hier besteht eine vollständige Lücke: Warum sollten naturwissenschaftliche Argumentationen nicht formal gültig sein? Newton, Laplace und Sherlock Holmes beweisen alle drei, daß an diesem Wunsch nichts Phantastisches ist. Genausowenig folgt eine Absurdität, wenn wir "schlußregel-verwendend" und "unzweideutig" für Strawsons "deduktiv" substituieren. Der Wunsch, daß einige substantielle, naturwissenschaftliche Argumentationen formal gültig, schlußregel-verwendend und unzweideutig sein sollen und völlig zu Recht ein "müß" oder ein "notwendig" in der Konklusion enthalten sollen, erscheint nur so lange "als absurd, wie wir diesen Wunsch mit einem anderen, offenkundig phantastischen Wunsch identifizieren - mit dem Wunsch, daß naturwissenschaftliche Argumentationen analytisch sein sollen. Diese Identifikation ist, wie wir gesehen haben, ein Ergebnis des vierfacheri Gegensatzes des Theoretikers der" Logik zwischen "deduktiv" und "induktiv", Ich frage mich nur, ob sich irgendjemand (außer vielleicht Camap)
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jemals tatsächlich die absolute Absurdität zu eigen machen will, substantielle Argumentationen nicht nur als Deduktionen, sondern als analytische Deduktionen zu behandeln. 3. Kneale verwarf jede Behauptung, derzufolge naturwissenschaftliche Schlußfolgerungen mit Notwendigkeit aus den Daten der Wissenschaftler folgen, während er bereit ist, die Möglichkeit zuzugeben, daß sie mit Wahrscheinlichkeit oder sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit folgen. Wir sahen jedoch, daß sich radikalere Leute sogar wünschen könnten, Wahrscheinlichkeit mit Hilfe von Konsistenz und Folgebeziehungen zu definieren. Gemeint ist hie.r Carnap. Nachdem er zwei Bedeutungen des Wortes "Wahrscheinlichkeit" unterschieden hat, weist er einer dieser Bedeutungen genau diese Aufgabe zu. Aussagen über" Wahrscheinlichkeit 1" sollen über partielle Folgerungsbeziehungen gehen, die analytisch sind, wenn sie wahr sind, und widersprüchlich, wenn sie "falsch sind. Dasselbe gilt nach Carnap für Aussagen, die irgendeinen anderen der Begriffe und Ausdrücke enthalten, die sich um den Begriff der Wahrscheinlichkeit gruppieren, wie "gibt starke Stützung", "bestätigt", "bietet eine befriedigende Erklärung für" und "ist ein guter Grund zur Annahme". Da Aussagen über Wahrscheinlichkeit in diesem Sinn "logische Beziehungen" zwischen Sätzen oder Behauptungen behaupten, da weiterhin logische Beziehungen fijr Carnap allein von den Bedeutungen der Sätze abhängen und Semantik die Theorie der Bedeutungen von Aussagen in einer Sprache ist, wird für ihn das ganze Problem, wie Theorien durch Beweismaterial gestützt werden, eine Angelegenheit der Semantik. "Das Problem, ob und inwieweit [eine Hypothese] h durch [das Beweismaterial] e gestützt wird, ist allein durch eine logische Analyse von hund e sowie deren Beziehungen zu lösen." (Diese unmißverständliche Au~sage ist Carnaps Buch "Logical Foundations o[ Probability", S. 2.0, entnommen.) Diese Schlußfolgerung ist so extrem, daß wir sie ohne Kommentar lassen können. Es lohnt sich aber, eines seiner Beispiele zu zitieren. Er diskutiert die Aussage, daß die Wahrscheinlichkeit für Regen morgen 1/5 ist, wenn man die und die Menge an meteorologischen, Beobachtungen unterstellt. Er sagt, daß diese Aussage analytisch ist, wenn sie wahr ist. Seine Erklärung dafür ist, daß die Aussage den· Wahrscheinlichkeitswert 1/5 nicht dem morgigen Regen zuschreibt, sondern vielmehr einer gewissen logischen (da semantischen) Beziehung: " ... deshalb braucht sie nicht durch Beobachtungen über das Wetter morgen oder durch Beobachtungen über irgendwelche andere Tatsachen verifiziert zu werden." Der Unterschied zwischen Carnaps Analyse der Wahrscheinlichkeit und unseren praktischen Begriffen ist deutlich genug. Wenn er diese Divergenz akzeptiert, brauchen wir uns nicht zu wundern, daß er alle Aussagen über die Relevanz einer Menge beweisender Daten für eine Theorie nach diesem Modell auffaßt. Schließlich hat diese Ansicht einen großen Vorteil. Sie bewahrt ihn vor dem Schluß, daß naturwissenschaftliche Argumentationen ihren Konklusionen keinerlei Wahrscheinlichkeit verleihen können - wenn auch nur um den Preis der Behauptung, sie seien, pace Strawson, analytische Argumentationen. ' 4. Die Probieme, die Kneale, Strawson und Carnap in den von uns untersuchten Zitaten diskutiert haben, entstehen alle, wenn man die Argumentationen, auf die man in den experimentellen Wissenschaften trifft, mit einem analytischen Ideal vergleicht. Ähnliche Probleme können aber in gleichem Maße, wenn nicht sogar dringender, auftreten, wenn wir uns der Betrachtung yon moralischen anstatt von naturwissen-
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schaftlichen Argumentationen zuwenden. R. M. Hare zum Beispiel widmet ein . ganzes Kapitel seines Buches The Language o[ Mo ra 15 den Problemen der· in moralischen Argumentationen enthaltenen Schlüsse. Er fragt, durch Schritte welcher Art wir von D, einer speziellen Menge von Informationen über die Situation, in der wir uns befinden und über die wahrscheinlichen Konsequenzen der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, zu K übergehen können, zu der moralischen Konklusion, daß es im Lichte dieser Information unsere Pflicht ist, so zu handeln. (Solche Schlußfolgerungen sieht er als eine Art Imperativ an.) Eine solche Argumentation kann nach Hare nur dann akzeptierbar sein, wenn wir uns eine zusätzliche Prämisse von .imperativen Charakter verschaffen: Wir können "durch keine Form des Schließens, wie inbestimmt auch immer, aus einer Menge von Prämissen, die nicht einmal iOlplizit einen Imperativ enthalten, eine Antwort auf die Frage 'Was soll ich tun?' erhalten." 1 Wenn Hares zusätzliche Prämissen nur dazu gedacht wären, moralische Argumentationen formal gültig zu machen, könnte man nichts gegen sie einwenden. Es ist sicherlich richtig, daß die Gültigkeit jeder moralischer Argumentation von der entsprechenden Schlußregel abhängt. Aber aus Hares weiteren Äußerungen muß man schließen, daß er seine Zusat?prämissen nicht nur dazu verwenden möchte, ethische Argumentationen formal gültig zu machen, sondern tatsächlich analytisch. Er sagt dies nicht mit genau diesen Wörtern, da er die Terme "deduktiv" und "Prämisse" unkritisch verwendet und so in seinem Gedankengang entscheidende Zweideutigkeiten beibehält. Es gibt aber ein gewisses Maß an impliziten Belegen hierfür. Zum Beispiel kommt er bei der Gegenüberstellung von moralischen Argumentationen mit anderen, von denen er vermutlich annimmt, daß sie analytisch sind (zum Beispiel jene Argumentationen, die dem vertrauten Prinzip des Syllogismus gehorchen), am Schluß zu einem Urteil gegen die moralischen Argumentationen. Ordentliche analytische Argumentationen gelten aufgrund der Bedeutungen gewisser moralischer Wörter, so seine These, und das Prinzip des Syllogismus geht" über die Bedeutung der verwendeten Wörter". Ein moralisches Prinzip andererseits erlaubt einen substantiellen Schritt der Argumentation und kann deshalb nicht als Schlußregel aufgefaßt werden. Es muß als zusätzliches persönliches, existentielles "Datum" angesehen werden, das wir den Tatsacheninformationen über die Situation hinzufügen müssen, ehe wir überhaupt in der Lage sein können, über das Verhalten zu diskutieren. Durch die weitreichenden Parallelen zwischen ethischen, naturwissenschaftlichen, geometrischen, rechtlichen und analytischen Argumentationen, die uns in diesen Untersuchungen dazu geführt haben, die Möglichkeit von Schlußregeln ins Auge zu fassen, die auf Grund von überlegungen ~ller Arten gelten - auf Grund von sprachlicher Konsistenz, davon, wie man sich öffentlich verhält, von beobachteten Regelmäßigkeiten und was auch immer - läßt sich Hare nicht beeindrucken. Seiner Ansicht nach sind die einzig echten Schlußregeln Aussagen über die Bedeutung von Wörtern. Dementsprechend sind die einzig akzeptierbaren Argumentationen die analytischen Argumentationen. Der einschränkende Charakter dieser Doktrin wird vor Hare zum Glück durch die Zweideutigkeit des Wortes "deduktiv", worin formale Gültigkeit und Analytizität ineinandergehen, verborgen. Die das Kernstück von Hares Standpunkt bildende These tritt ·auch im Buch von 1 The Language o[ Morals, S. 46; dtsch.: Die Sprache der Moral, Frankfurt, S. 69.
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A. N. Prior auf: Logic and the Basis o[ Ethics. Sie wird hier in einem herrlich zweideutigen Satz zusammengefaßt: In unserer Zeit ist die Erkenntnis zu einem Gemeinplatz geworden (wenn auch vielleicht nur in philosophischen Kreisen), daß aus Prämissen, in denen unsere Pflichten nicht vorkommen, keine Information über unsere Pflichten logisch abgeleitet werden kann.
Liest man diesen Abschnitt, stellt man fest, daß man sich ganz natürlich zwischen zwei verschiedenen Interpretationen hin und her bewegt. Denn der Ausdruck "logisch abgeleitet" ist nicht klar. Soll er in der Bedeutung "zu Recht aus ... gefolgert, oder durch Bezug auf ... gerechtfertigt" gelesen werden oder aber in der Bedeutung "analytisch aus .... geschlossen"? Bei der zweiten Interpretation wäre Priors Bemerkung trivial genug. Eine Konklusion über die Pflichten voti jemanden kann nicht analytisch allein aus den Tatsacheninformationen über seine gegenwärtige Situation und über die wahrscheinlichen Konsequenzen seiner Handlungen gefolgert werden. Es ist gut möglich, daß ·diese Doktrin ein Gemeinplatz unter Philosophen ist - aber würde sie nicht auch Nicht-Philosophen als Gemeinplatz erscheinen, wenn diese jemals Gelegenheit hätten, sich dieser Frage zuzuwenden? Bei der anderen Interpretation ist Priors Behauptung jedoch weit davon entfernt, ein Gemeinplatz zu sein und wie wird in der Tat Nicht-Philosophen stark widerstreben. Denn bei dieser Interpretation scheint er zu behaupten, daß alle moralischen Argumentationen gemäß den Standards eines Logikers unzureichend sind. Die Doktrin lautet jetzt, daß der Schritt von Gründen zu Entscheidungen niemals logisch ges_chehen kann, daß er niemals zu Recht geschehen kann. Und diese Ansicht muß (so hofft man) selbst in philosophischen Kreisen erst noch zum Gemeinplatz werden. Wenn einige Philosophen versucht sind, dieser Auffassung anzuhängen, ist dies eine Konsequen-z von verbreiteten Zweideutigkeiten in solchen Termen wie "deduzieren" und "ableiten". Die Verteidigung unserer Entscheidungen durch Berufung auf die Tatsachen, in deren Lichte sie getroffen wurden, bedeutet in der Tat vielleicht, einen logischen "Typensprung" zu unternehmen. Deshalb sind die Entscheidungen natürlich nicht analytisch aus den sie stützenden Gründen abgeleitet - wie sollte das auch möglich sein? Aber ein solcher Bezug braucht kein Verstoß gegen die Logik zu involvier~n. Das Paradoxe an Priors Bemerkung liegt in ·seiner Auffassung, daß gerade dies der Fall ,. .. sein musse. Es lohnt sich, an dieser Stelle kurz etw:as. über die Art und Weise zu sagen, in der Prior unsere Trennlinie zwischen dem formalen Logiker und demjenigen, der praktisch argumentiert, charakterisiert. Wie schon Kneale und Strawson bemerkt er, daß einige seiner Schlußfolgerungen dem Durchschnittsmenschen vielleicht unwillkommen sind. Für Prior stellt sich jedoch gar nicht erst die Frage, diese Divergenz aufzuheben - etwa mit einer nicht ganz ernsthaften Entschuldigung für die Pedanterie der Logiker. Er gibt zu verstehen, daß es sich hier einfach so verhält, daß der Blick der Philosophen klarer ist, so daß es durchaus möglich ist, daß irgendein Lehrsatz unter Philosophen zu einem Gemeinplatz wird, während er den unbedeutenderen Sterblichen noch weiterhin stark widerstrebt. 5. Als letztes Beispiel will ich einen klassischen Abschnitt aus dem Ende von Buch 1 von David Humes Traktat über die menschliche Natur auswählen. Dies ist immer noch die vollständigste und klarste Darstellung, die wir für die Divergenz
146 zwischen den Einstellungen der formalen Logiker und denen des durchschnittlichen praktischen Menschen zu den Kategorien der rationalen Beurteilung und den paradoxen Gemeinplätzen der Philosophen haben. Zu der Zeit, als er seinen Traktat schrieb, verfolgte Hume nicht nur die berufsmäßigen Tätigkeiten eines Philosophen, sondern auch noch die Freizeitbeschäftigung eines jungen Lebemannes. Er war ein zu klarsichtiger Beobachter und ein zu gebildeter und ehrlicher Autobiograph, als daß er über die intellektuellen Konflikte, in die ihn sein Doppelleben führte, hätte hinweggehen oder sie hätte beiseiteschieben können. Es wird hier nicht der Anschein erweckt, daß diese Konflikte nur für Pedanten Probleme erzeugen, daß sie Wünschen entspringen, die als eingebildet nachgewiesen werden können oder daß sie aus der Vernachlässigung von Einsichten durch den Durchschnittsmenschen entstehen, die inzwischen Gemeinplätze unter Philosophen sind. Stattdessen geht er unbarmherzig den Schlußfolgerungen nach, zu denen ihn - als Philosoph - seine logischen Doktrinen führen und zeigt gleichzeitig mit großem Scharfblick und mit großer Ehrlichkeit die Schizophrenie auf, die in dem Versuch enthalten ist, diese philosophischen Schlußfolgerungen mit der Praxis des täglichen Lebens in Einklang zu bringen. Es würde sich lohnen, den ganzen Abschnitt zu zitieren. Aber er beläuft sich auf ein Dutzend Seiten, und der Platz hier reicht nur für den Höhepunkt. Hllmc 7.eigt. in welche Verwirrungen und in welchen Skeptizismus ihn seine philosophischen Prinzipien schließlich führen. Einerseits behauptet er, daß unsere Vorstellungen Täuschungen ausgesetzt sind, die wir nie mit Sicherheit entdecken können. Daher kann man nicht annehmen, daß wir implizit "einem so inkonsistenten und fehlerhaften Prinzip vertrauen. Andererseits fährt er fort: Wenn nun aber die Betrachtung der Irrtümer, die die Einbildungskraft veranlaßt, uns den Entschluß fassen läßt, die beliebigen alltäglichen Eingebungen der Einbildungskraft abzuweisen und es lieber mit dem Verstande zu halten, ... Eben dieser Entschluß führt, wenn er konsequent durchgeführt wird, zu den schlimmsten Folgen. Ich habe bereits gezeigt, daß der Verstand, wenn er für sich allein und nach seinen allgemeinsten Prinzipien tätig ist, sich gegen sich selbst wendet und jede Gewißheit zerstört, in der Philosophie wie im gewöhnlichen Leben ... Es bleibt uns also nur die Wahl zwischen falscher Erkenntnis oder gar keiner. Und ich für meinen Teil weiß nicht, was in diesem Fall das richtige ist. Ich sehe nur, was gewöhnlich geschieht, daß nämlich nie oder selten jemand an diese Schwierigkeit denkt und daß sie, wenn sie einmal jemand zum Bewußtsein gekommen ist, schnell vergessen wird und nur geringen Eindruck hinterläßt. Sehr fein ausgesponnene überlegungen üben wenig oder gar keine Wirkung auf uns, und doch stellen wir nicht die Regel auf und können sie nicht aufstellen, daß sie keine Wirkung üben sollen; ohne Zweifel ein offenkundiger Widerspruch. Doch was sage ich; sehr künstliche metaphysische Gedankengänge üben geringe oder keine Wirkung auf uns? Ich kann kaum umhin, diese Meinung wieder zurückzunehmen und sie auf Grund meines augenblicklichen Gefühls und der Erfahrung, die ich jetzt eben an mir selbst gemacht habe, zurückzuweisen. Die intensive Betrachtung der mannigfachen Widersprüche und Unvollkommenheiten in der menschlichen Natur hat ja derartig auf mich gewirkt und mein Gehirn so erhitzt, daß ich im Begriff bin, allen Glauben und alles Vertrauen auf unsere Schlüsse wegzuwerfen und keine Meinung für möglicher und wahrscheinlicher anzusehen als jede beliebige andere. Wo bin ich, oder was bin ich? Aus welchen Ursachen leite ich meine Existenz her und welches zukünftige Dasein habe ich zu hoffen? Um wessen Gunst soll ich mich bewerben und wessen Zorn muß ich fürchten? Was für Wesen umgeben mich? und auf wen wirke ich oder wer wirkt auf mich? Ich werde verwirrt bei allen diesen Fragen; ich fange an, mir einzubilden, daß ich mich in der denkbar beklagenswertesten Lage befinde, daß
147 ich umgeben bin von der tiefsten Finsternis, des Gebrauchs jedes Glieds und jedes mens.chlichen Vennögens vollständig beraubt. . Da die Vernunft unfähig ist, diese Wolken zu zerstreuen, so ist es ein glücklicher Umstand, daß die Natur selbst dafür Sorge trägt und mich von meiner philosophischen Melancholie und meiner Verwirrung heilt, sei es, indem sie die geistige überspannung von selbst sich lösen läßt, sei es, indem sie mich aus ihr durch einen lebhaften Sinneseindruck, der alle diese Hirngespinste verwischt, gewaltsam herausreißt. Ich esse, spiele, unterhalte mich, bin lustig mit meinen Freunden. Wenn ich mich so drei oder vier Stunden vergnügt habe und dann zu jenen Spekulationen zurückkehre, so erscheinen sie mir so kalt, überspannt und lächerlich, daß ich mir kein Herz fassen kann, mich weiter in sie einzulassen. 1
Wir befassen uns hier nicht direkt mit Humes Ansichten über die Vorstellung. Was er über den Verstand zu sagen hat, ist jedoch unmittelbar relevant für unsere Untersuchungen. Denn d~r Gedankengang, durch den, wie er selbst sagt, "ich schon gezeigt habe, daß der Verstand, wenn er allein handelt ... nicht den geringsten Grad von Plausibilität in irgendeiner Behauptung - gleich ob aus der Philosophie oder aus dem täglichen Leben - läßt", war eine Argumentation, in der er alles mit Ausnahme analytischer Kriterien und Beweise zurückwies. Es ist nicht sicher, daß sich ein Körnchen Salz auflöst, wenn man es in Wasser gibt. Warum? Weil ich - wieviel ich an Beweisen aus der Vergangenheit und Gegenwart dafür, daß sich Salz in Wasser löst, auch immer angeben mag, - ohne irgendeinem dieser Beweise zu widersprechen annehmen kann, daß sich ein Körnchen Salz nicht löst, wenn es morgen in Wasser geworfen wird. Wenn zwei auf einem Billiardtisch befindliche Billiardkugeln zusammenstoßen, ist es nicht notwendig, daß die Bewegung der einen auf die andere übertragen wird, wie gleichförmig wir dies auch immer in der Vergangenheit eintreten gesehen haben. Warum? Die Antwort ist dieselbe wie oben: Weil die Annahme, daß diese Regelmäßigkeit im nächsten Fall nicht mehr gilt und die gestoßene Kugel unbewegt bleibt, keiner noch so umfassenden Menge von Beweisen über die früher beobachtete Invarianz widerspricht - d. h., es besteht kein "logischer" Konflikt (im engsten Sinne des Wortes). Durch den gesamten Traktat hindurch beruft sich Hume wiederholt auf überlegungen dieser Art. Der Verstand soll Argumentationen als akzeptierbar oder als ., ,im Einklang mit der Vernunft" dann und nur dann zulassen, wenn sie analytischen Standards entsprechen. Er entdeckt aber bald, daß alle Argumentationen, die zwischen Daten und Schlußfolgerung einen übergang im logischen Typ enthalten, diesen Test nicht erfüllen können. Wie. absurd und widersinnig das Ergebnis auch sein mag, wenn man die gleichen Daten mit der negierten Konklusion verbindet - der Typensprung wird es eben verhindern, daß das Resultat eine direkte Kontradiktion wird. Sogar ohne einen Typensprung kann eine Argumentation substantiell sein und deshalb Humes Standards nicht gerecht werden. Wenn man unsere Vernunft so beschränkt und auf. die Entdeckung von Widersprüchen und das Erkennen elementarer Aussagen etwa über Bewegung und Farbe begrenzt, ist sie unfähig, die phantastischsten Schlußfolgerungen zurückzuweisen. Kein Wunder, daß es für Hume "nicht der Vernunft widerspricht, die Vernichtung der ganzen Welt einem Kratzer an meinem Finger vorzuziehen". Man sollte aber vielleicht wieder betonen, daß dies nicht für Hume allgemein gilt, sondern nur für Hume in.seiner Eigenschaft als Philosoph. Er ist sofort bereit, zuzu1 Treatise of Human Nature, Buch 1, Kp. 4, Abschn. 7; zitiert nach übersetzung von Lipps, Hamburg 1904.
148 geben, daß ein gutes Essen, eine Partie Backgemmon oder drei oder vier Stunden in der Gesellschaft seiner Freunde genug sind, um seine Neigung zur Spekulation wegzunehmen, die "so kalt und gezwungen und lächerlich" ist. An alltäglichen Diskussionen und an den in ihnen enthaltenen Standards der Argumentation ist etwas, was sich überhaupt nicht mit Humes eigenen epistemologischen Spekulationen in Einklang bringen läßt und was deren ganze Plausibilität wegnimmt. Er erklärt: "In den gewöhnlichen Angelegenheiten des Lebens finde ich mich absolut genötigt, genauso. wie andere zu leben, zu reden und zu handeln". Nur wenn er sich in sein Arbeitszimmer zurückzieht und das Gewand und die Kriterien eines Philosophen übernimmt, kehrt seine skeptische Stimmung zurück und erhalten seine drastischen Schlußfolgerungen wieder ihre frühere Plausibilität.
'DIE IRRELEVANZ ANALYTISCHER KRITERIEN Nach allem bisher Gesagten finde ich mich berechtigt, meine Hypothese als begründet anzusehen. Die Logiker haben analytische Argumentationen als Paradigma hergenommen. Sie haben ihr System der formalen Logik völlig auf dieser Grundlage aufgebaut; und sie haben die so· aufgebauten Begriffe ohne Bedenken auf Argumentationen in anderen Bereichen angewandt. Die nächste Frage· ist: Welches Urteil sollen wir über die daraus resultierende Trennlinie fällen, wenn wir die Hypothese als begründet unterstellen? War das Programm, das die Logiker übernommen haben, rechtmäßig oder geht es einfach am wesentlichen vorbei? Kann man vemünftigerweise hoffen, ein System logischer Begriffe zu errichten, deren Anwendungskriterien genauso bereichsunabhängig sind wie deren Rolle? Oder sind Begriffe dieser Art unvermeidlich von der Anwendung auf substantielle Argumentationen ausgeschlossen? Im ersten Kapitel untersuchten wir ausführlich den praktischen Gebrauch einer bestimmten Klasse logischer Kategorien, nämlich der modalen Operatoren. Als Ergebnis erkannten wir deutlich die Bereichsabhängigkeit der Kriterien zur Entscheidung in der Praxis, wann ein modaler Operator angemessen angewandt werden kann. - Diesem Punkt haben formale Logiker sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn man die eigentlichen .Ziele im Auge .behält, mit denen fonr..ale Logiker beginnen könnten, muß man sich fragen: Ist diese Bereichsabhängigkeit unvermeidlich oder kann man vielleicht eine Möglichkeit finden, sie zu umgehen? Die Logiker haben sicher diese Hoffnung gehegt, als sie ihre formalen Systeme von dem ursprünglich analytischen Paradigma ausgehend aufbauten; und bei der Anwendung derselben analytischen Kriterien gleich in welchem Bereich der Argumentation haben sie versucht, die theoretische Logik von der Bereichsabhängigkeit freizumachen, die jede logische Praxis kennzeichnet. Aber angenommen, eine vollständig bereichsunabhängige Logik wäre erreichbar - kann man dann durch Verfolgen dieses bestimmten Weges zu ihr kommen? Wir sind jetzt in der Lage, nachzuweisen, daß die Unterschiede zwischen den von uns' in verschiedenen Bereichen verwendeten Kriterien nur um den Preis vermieden werden können, daß wir unseren logischen Systemen jede ernsthafte Anwendung auf substantielle Argumentationen wegnehmen.
149 Gleich am Anfang unserer Untersuchung haben wir den Begriff des Bereichs der Argumentation durch Bezug auf die verschiedenen Arten von Problemen eingeführt, auf die sich Argumentationen beziehen können. Wenn Bereiche der Argumentation verschieden sind, liegt das daran, daß sie sich auf Probleme unterschiedlicher Art beziehen. Eine geometrische Argumentation hilft uns, wenn das Problem, mit dem wir zu tun haben, aus der Geometrie stammt; eine moralische Argumentation hilft dann, wenn es sich um ein moralisches Problem handelt; eine Argur:nentation mit prognostischer Schlußfolgerung hilft, wenn wir eine Prognose angeben müssen, und so weiter. Da es uns nicht möglich ist, zu verhindern, daß uns das Leben Probleme all dieser verschiedenen Arten stellt, sind in einem bestimmten Sinne die U nterschiede zwischen verschiedenen Bereichen der Argumentation natürlich unredizierbar dies ist etwas, womit wir uns einfach abzufinden haben. Es ist einfach sinnlos, zu verlangen, daß etwa eine prognostische Argumentation in analytischer Form angegeben werden soll: Das Problem, mit der sich eine solche Argumentation befaßt, ist: , ,Unser Wissen über die Vergangenheit und die Zukunft gegeben, wie können wir dann am zuverlässigsten die und die -Frage über die Zukunft beantworten?", und eben durch diese Art der Problemstellung wird die Möglichkeit ausgeschlossen, eine analytische Argumentation als Lösung anzugeben. Wer es ablehnt, auf eine Frage dieser Art eine Antwort zu geben und solange wartet, bis er auch Daten über die Zukunft erhält (ohne die keine analytische Argumentation angegeben werden kann), weigert sich, das zur Diskussion stehende Problem ''Überhaupt anzugehen. Wenn wir uns also die Frage stellen, "Könnten substantielle Argumentationen den Standards genügen, die für analytische Argumentationen angemessen sind?", muß die Antwort lauten: "Der Natur der Sache nach: Nein". Abgesehen von allem anderen enthalten substantielle Argumentationen faktisch Typensprünge, die sich aus der Natur der Probleme ergeben, für die sie einschlägig sind. Zweifellos sind wir berechtigt, bei analytischen Argumentationen nach Folgerungsbeziehungen zwischen Daten und Stützung einerseits und Schlußfolgerung andererseits zu suchen. Diese Folgerungsbeziehungen sind vollständig, wenn die Argumentation auch unzweideutig ist, aber nur partiell, wenn die Argumentation (obwohl analytisch) tentativ ist. Im Fall von substantiellen Argumentationen braucht man sich jedoch nicht zu fragen, ob aus Daten und Stützung zusammen die Konklusion geschlossen werden kann oder ob dies nicht möglich ist: Eben weil die enthaltenen Schritte substantiell sind, ist es sinnlos, Folgerungsbeziehungen zu suchen oder enttäuscht zu sein, wenn man keine findet. Das Fehlen von Folgerungsbeziehungen liegt nicht an einer beklagenswerten Schwäche dieser Argumentationen, sondern liegt in der Natur der Probleme, mit denen sie sich befassen sollen. Analytische Kriterien sind demzufolge einfach irrelevant, wenn wir die tatsächliche Tauglichkeit irgendeiner substantiellen Argumentationen beurteilen müssen. Bei Berücksichtigung dieses Ergebnisses kann man eine weitere Behauptung zurückweisen, die von seiten der fonnalen Logik vertreten wird. Wenn Logiker die Divergenz zwischen ihren Theorien und der Praxis alltäglichen Argumentierens erwähnen, so erheben sie oft den Anspruch, strenger als diejenigen zu reden, die die logischen Begriffe tatsächlich praktisch anwenden. "Naturwissenschaftler sagen zweifellos manchmal, daß ihre Konklusionen eintreten müssen, obwohl die Schritte, durch die sie zu diesen Konklusionen kommen, induktiv (d. h. substantiell) sind;
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aber dies ist eine ungenaue Redeweise, da - um ganz genau zu sein - keine Schlußfolgerung einer induktiven Argumentation genaugenommen einen Anspruch auf Notwendigkeit erheben könnte. " Es ist jetzt an der Zeit, 'ein sehr dickes Fragezeichen hinter den so gebrauchten Ausdruck "genaugenommen" zu setzen. Nur Argumentationen zuzulassen, in denen die Konklusion aus Daten und Stützung folgt, ist vielleicht sehr ungewöhnlich und übertrieben; wenn dies der Sinn von Genauigkeit sein soll, schön und gut. Normalerweise ist darin aber mehr enthalten - Logiker behaupten nicht nur, ungewöhnliche Einsicht zu besitzen, die sie dazu führt, die Bezeichnungen "notwendige" Konklusion, "schlüssige" Argumentation oder "gültiger" Schluß bei Argumentationen und l,(onklusionen zu vermeiden, die Naturwissenschaftler in ihrer Arbeit selbst ohne Zögern akzeptieren. Dieser Anspruch auf höhere Einsicht muß bestritten werden. Solange wir Logikern den Gebrauch des Tenns "induktiv" zur Fonnulierung ihrer Ansicht zugestehen, hat es vielleicht den Anschein, daß an ihrer Behauptung etwas dran ist. Sobald explizitere Substitutionen gemacht werden, wird es klar, worauf sie bestehen: Daß den Kriterien zur Beurteilung analytischer Argumentationen eine Vorrangstellung gegeben werden sollte und daß Argumentationen aus allen Bereichen nur mittels dieser Kriterien beurteilt werden sollten. "Genaugenommen" heißt für sie "analytisch gesprochen", obwohl es im Fall substantieller Argumentationen der Bezugnahme auf analytische Kriterien weniger an' Genauigkeit denn an Relevanz mangelt. Es ist kein Mangel einer Argumentation, die zum Beispiel zu einer Vorhersage führt, daß sie nicht analytischen Standards genügt. Denn wenn ~ir dies erreichen wollten, würde es sich nicht mehr um eine prognostische Argumentation handeln und sie wäre deshalb bei der Beschäftigung mit Problemen der Vorhersage auch nicht mehr von Nutzen für uns.
LOGISCHE MODALITÄTEN Man ist deshalb versucht, gegen die formalen Logker sofort ein Urteil aufgrund absoluter Irrelevanz auszusprechen. Eines verkompliziert jdoch die Situation: Für bestimmte Zwecke können überlegungen über Konsistenz und Widersprüchlichkeit relevant sein - sogar wenn die diskutierten Argumentationen substantiell sind. Ehe wir ein abschließendes Urteil bilden, müssen wir nachsehen, wie es dazu kommt und welche Bedeutung die Begriffe der "logischen" Möglichkeit, Unmöglichkeit und Notwend igkeit für die Kritik nicht-analytischer Argumentationen haben. Traditionell (d. h. in der Tradition von Lehrbüchern der Logik) darf jede Aussage logisch möglich genannt werden, die so formuliert ist, daß sie nicht zu Unvereinbarkeiten oder- zu· Unverständlichkeit führt; und jede Konklusion, die nicht den Daten widerspricht, aus denen sie gefolgert wird, kann als logisch mögliche Konklusion bezeichnet werden. Entsprechend wird eine Konklusion nur dann als unmöglich bezeichnet, wenn sie definitiv den Daten widerspricht, und nur eine solche Konklusion wird als notwendig bezeichnet, deren Negation den Daten widerspricht. Dies ist jedenfalls die orthodoxe Doktrin, die vom Standpunkt der Logik aus gesehen angenommen werden muß. Diese Doktrin ist jedoch stark irreführend, da sie den Eindruck erweckt, daß der "Standpunkt der Logik" eine echte Alternative zu den
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Standpunkten der Physik, der Ethik usw. in irgendeiner Weise strenger ist als diejenigen der praktischen und erklärenden Wissenschaften. Nur wenn wir diesen Eindruck zerstören können, werden wir die wahre Beziehung zwischen der Logik und diesen anderen Fächern deutlich erkennen. Beginnen wir mit einer übertreibung in der anderen Richtung: Ich behaupte, daß die Ausdrücke "logisch möglich", "logisch notwendig" und "logisch unmöglich" schlicht falsche Bezeichnungen sind. Wenn man sagt, eine Konklusion ist möglich, unmöglich oder notwendig, bedeutet dies, daß die Konklusion (bei Beachtung der Natur unseres Problems und der Daten) zur Betrachtung zugelassen, ausgeschlossen oder als sich uns aufzwingend akzeptiert werden muß. Die "logischen" Kriterien der Möglichkeit, Unmöglichkeit und Notwendigkeit zeigen uns dagegen in keiner Weise, daß irgendeine Schlußfolgerung, mit der wir in· der Praxis befaßt sind, echt möglich, unmöglich oder notWendig ist - jedenfalls solange das Problem, mit dem wir uns befassen, den Gebrauch von substantiellen Argumentationen für :uns mit sich bringt. Aus diesem Grund behaupte ich, daß "logische" Modalitäten falsch bezeichnet sind. Blicken wir auf irgend eine der Veranschaulichungen zurück, die wir anführten, um zu zeigen, wie der Begriff der Möglichkeit in der Praxis verwendet \\'ird: Wenn gefragt wird: "Ist dies eine mögliche Konklusion?", müssen wir uns nicht nur versichern, daß die vorgebrachte Behauptung unseren Daten nicht widerspricht, sondern daß sie ein echter Lösungskandidat ist, dessen Stützung wir untersuchen müssen und dessen Annehmbarkeit wir beurteilen müssen. Für diese Zwecke hilft uns die bloße Abwesenheit von Widersprüchen kein Stück weitet: - zum Beispiel würde niemand außerhalb von Studierstuben der Philosophen jemals von Kissinger als einem möglichen Mitglied des amerikanischen Davis Cup Teams red~n. Praktische Fragen über Möglichkeit befassen sich mit mehr als nur Konsistenz; und entsprechend erfordern Fragen über Möglichkeit und Notwendigkeit eine Untersuchung von mehr als bloßer. Verständlichkeit und Sinnhaftigkeit. Weiterhin: Logische Möglichkeit ist - wenn wir darunter Sinnhaftigkeit verstehen - nicht so sehr. ein Spezialfall von Möglichkeit als vielmehr eine Voraussetzung sowohl von Möglichkeit als auch von 'Unmöglichkeit. Logische Unmöglichkeit dagegen ist weit entfernt davon, ein Spezialfall der Unmöglichkeit zu sein und schließt sowohl Möglichkeit als auch Unmöglichkeit aus. Kann eine in unverständlicher Form ausgedrückte Behauptung überhaupt als unmöglich aus der Betrachtung ausgesc~lossen werden? Sicher müssen wir Inkonsistenzen und SelbstwiderspfÜche ausscheiden, ehe \\'ir uns verständlich ausgedrückt haben; vorher können echte Fragen der Möglichkeit, Unmöglichkeit oder Notwendigkeit kaum auftreten. Wenn man das Mindesterfordernis der Verständlichkeit unterstellt, so ist eine unmögliche Schlußfolgerung dadurch charakterisiert, daß wir schlüssige Gründe dafür haben, sie auszuschließen - obwohl sie mit unseren Daten verträglich sein kann, soweit die Sprache allein betroffen ist. Eine inkonsistente Konklusion erreicht noch nicht. einmal die Stufe, auf der ihr Anspruch, als möglich betrachtet zu werden, diskutiert ;;erden kann. Vielleicht wird in einem begrenzten Bereich von Prpblemen - analytischen Argumentationen und Berechnungen - das Enthaltensein oder die Abwesenheit von Widersprüchen für eine tatsächliche Beurteilung relevant; wenn man aber von dieser begrenzten Klasse der Fälle absieht, sind für Notwendigkeit, Unmöglichkeit und so weiter überlegungen einer völlig anderen Art von Bedeutung.
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Das Verhältnis von logischer Möglichkeit zu anderen Arten der Möglichkeit kann wiederum geklärt werden, indem man sich die Parallele zum Recht anschaut. Nehmen wir an, ich habe ein undeutliches Gefühl, von meinem Nachbarn gekränkt worden zu sein und beschließe, dem Unrecht durch die Gerichte abhelfen zu lassen. Ich kann dann zu einem Rechtsanwalt gehen, ihm meine Klagen darüber erzählen, was mir mein Nachbar angetan hat und mich schließlich erkundigen: "Ist es möglich, ihn anzuklagen?". Es sollte bemerkt werden, daß auf dieser Stufe meine Frage noch nicht beantWortet werden kann. Beim jetzigen Stand der Dinge kann die Frage nicht behandelt werden, denn der richtige Zeitpunkt, sie zu stellen, ist noch nicht erreicht. Wenn ich nichts als einen Bericht über das Verhalten des Mannes mir gegenüber in den letzten· paar Monaten abgegeben habe, ohne anzudeuten, in welcher Hinsicht ich mich gekränkt fühle und weswegen seiIl: Verhalten Gründe für ein Vorgehen gegen ihn liefert, muß' mir der Rechtsanwalt vielleicht noch eine ganze Reihe weiterer Fragen stellen, ehe er· ernsthaft anfangen kann, zu untersuchen, ob meine Anklage möglich ist. Sogar auf dieser Stufe könnte !ch natürlich fragen "Gibt es eine Anklage irgendeiner Art, die ich -gegen ihn vorbringen könnte?", aber es muß entschieden werden, um welche Art der. Xnklage es geht, ehe wir weiter fragen kö'nnen, ob die Anklage möglich ist. Deshalb muß ich zuerst sagen, welche Art einer Anklage ich vorbringen wollte und auf welche der Tatsachen meines Berichts ich mich im groben beziehen will, um die Richtigkeit meiner 'Anklage zu beweisen. Nur wenn es mir mit Hilfe des Rechtsanwalts gelungen ist, sowohl die Art der vorzubringenden Anklage auszuarbeiten als auch die Weise, in der mein Beweismaterial die Anklage stützt, stellt sich die weitere Frage. Anders ausgedrückt: Die Anklage muß zuerst einmal in rechter Form dargestellt werden. Sobald sie - zumindest grob - in rechter Form ist, ist es an der Zeit, zu 'fragen, inwieweit die Anklage möglich ist - das heißt, ob sie überhaupt eine Anklage ist, von der man sich überlegen sollte, sie vor das Gericht zu bringen. Es kann jedoch nicht bloß zu früh sein für die Frage, ob eine Anklage möglich ist. Es kann auch zu spät sein. Die Fr.age stellt sich nur so lange, wie die Angelegenheit noch nicht erledigt ist. Angenommen ich gehe vor Gericht und der Richter spricht ein Urteil. Sobald dies geschehen ist, kann man die Frage nicht mehr stellen, ob Il1eine Anklage n:öglic:.h ist. Wenn ich danach zu meinem Anwalt zurückgehe und ihn erneut frage, ob meine Anklage möglich ist, wird er mir nicht antworten können. Zweifellos ist meine Anklage in rechter Form dargestellt und ist frei von Widersprü~hen, aber sie ist geregelt, und man kann jetzt nicht mehr fragen, ob sie möglich 1st. Das juristische Beispiel hat ein logisches Analogon. Konsistenz und Klarheit sind Vorbedingungen für rationale Beurteilung. Wer eine Behauptung machen will, sich dabei aber widerspricht, hat es nicht einmal geschafft, sich verständlich zu machen. Man kann nicht einmal die Frage stellen, ob das wahr ist, was er sagt. Genauso kann sich auch jemand nicht verständlich machen, der eine Reihe von Aussagen als Argumentation vorbringt, dessen Konklusion am Schluß aber gewissen seiner Daten widerspricht. So lange seine Auff~ssung nicht in konsistenter, klarer Form angegeben wird, kann man Fragen über die Tauglichkeit der Argumentation oder der Schlußfolgerung noch nicht stellen. Widersprüchliche Aussagen und Schlußfolgerungen, die mit unseren. Daten unverträglich sind, müsen ausgeschlossen werd~n,
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ehe wir eine Argumentation überhaupt klar oder in rechter Form angeben können. Demzufolge ist diese Unklarheit eine vorher zu regelnqe Angelegenheit, die uns dazu zwingt, widersprüchliche Aussagen und Schlußfolgerungen schon ganz zu Anfang"auszuschließen. Widerspruchsfreie Aussagen und Argumentationen sind folglich jene, gegen die nicht schon aufgrund von Unklarheit oder Inkonsistenz von vornherein Einwände erhoben werden können. Es ist ein Fehler, in dieser Widerspruchsfreiheit ein prima facie Argument zu ihren Gunsten zu sehen. Was logisch notWendige Aussagen und ArguI11entationen angeht, sind sie wie schon entschiedene Gerichtsprozesse. Wenn 111;111 eine bestimmte Menge von Daten anerkennt, muß man einfach der Konsistenz halber jene weiteren Aussagen akzeptieren, die aus der Datenm"enge gefolgert werden künnen - deshalb ist die Frage, ob diese Aussagen "mögliche" Folgerungen aus unseren Daten sind", in irreführender Weise zu schwach. "Sie heirateten an einem Donnerstag, deshalb ist es möglich, daß sie an einem Wochentag heirateten" - bei einer solchen Schlußfolgerung stellt sich nicht die Frage, ob sie möglich ist, wir müs~ sen sie einfach akzeptieren. Kehren wir jetzt zu meiner Ausgangsbehauptung zurück, daß der Ausdruck "logische Möglichkeit" und damit zusammenhängende Ausdrücke falsche Bezeichnungen sind. Vielleicht war dies eine übertreibung, aber sie ist zu entschuldigen. Indem man einen Vorschlag in die rechte Form bringt, wird noch nichts entschieden; dadurch wird vielmehr eine Situation hergestellt, in der wir anfangen können, rationale Fragen zu stellen: Wir werden in die Lage versetzt, substantielle Entscheidungsverfahren anzuwenden. Wir können zugegebenermaßen gelegentlich vorgebrachte Behauptungen oder Konklusionen aus dein allem anderen vorausgehenden Grund schlichter Inkonsistenz ausschließen oder aber sie als sprachlich konsistent mit den Daten (oder sogar als sich uns durch die Daten aufdrängend) anerkennen. Aber: Wenn man sagt, eine Konklusion sei logisch notwendig oder aber logisch unmöglich, bedeutet dies nicht, daß im ersten Fall das Problem durch die Entdeckung von hiebund stichfesten Argumenten oder durch völlig überwältigende Beweise gelöst wurde, während im zweiten Fall die Behauptung aus ähnlichen Gründen auszuschließen ist. Es bedeutet vielmehr, daß im zweiten Fall gar nicht richtig mit der Behandlung des Problems angefangen wurde, da sich herausstellte, daß die vorgeschlagene Lösung allein aus Konsistenzgründen gleich am Anfang ausgeschaltet wurde. Im ersten Fall dagegen war es nach Annahme der Anfangsdaten nicht mehr nötig, die Stärke irgendwelcher involvierter Argumente zu beurteilen - man brauchte nämlich keine Argumente mehr. Sofern nur dies mit den Ausdrücken "logisch möglich, unmöglich und notwendig" gemeint ist, sind sie durchaus harmlos und annehmbar. Dennoch bleibt die Gefahr bestehen, daß logische Möglichkeit, Unmöglichkeit und Notwendigkeit verwechselt werden und daß die Auffassung vertreten wird, daß zum Beipiel eine Schlußfolgerung schon dann in Betracht gezogen werden muß, wenn sie nachweislich nicht mit unseren vorhergehenden Informationen in Widerspruch steht. PhilosQphen machen diesen Sc~ritt oft ohne Bedenken, wie jeder weiß, der ihre Arbeiten gelesen hat. Zum Beispiel vertritt Descartes die Meinung, daß alle unsere Sinneseindrücke möglicherweise eine durch einen klugen Dämonen ersonnene Halluzination sein könnte. Bertrand Russell erklärt sogar, daß er bezüglich des morgigen Sonnenaufgangs
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Zweifel hat und sich unsicher ist und meint weiter, daß die Welt mit allen Fossilen und Erinnerungen möglicherweise vor fünf Minuten erschaffen worden sein könnte. In all diesen Fällen wurde tatsächlich lediglich bewiesen, daß diese Auffassungen in formaler Hinsicht in Ordnung sind. Man kann hierauf in Form eines allgemeinen Mottos angemessen antworten: "Logische überlegungen sind bloß formale überlegungen" - das heißt, solche überlegungen haben es mit den allem vorausgehenden Verfahrensweisen der Angabe von Argumentationen zu tun und nicht mit der tatsächlichen Tauglichkeit irgendeiner Argumentation oder Behauptung. Sobald wir über die formalen Präliminarien hinaus sind, bleiben Fragen der Konsistenz und des Widerspruchs nur für die streng begrenzte Klasse der analytischen Argumentationen relevant. Und auch hier geben sie höchstens die Gründe oder Kriterien der Möglichkeit und Unmöglichkeit an, nicht die gesamte Bedeutung dieser Terme. Im ersten Kapitel trieben wir einen Keil zwischen den Begriff des Widerspruchs und den Begriff der mathematischen Unmöglichkeit. Selbst da war die Annahme irrig, daß Widerspruch und Unmöglichkeit identifiziert oder wechselseitig definiert werden könnten. Eine mathematisch unmögliche Schlußfolgerung ist vielmehr eine solche, die qua inkonsistent oder widersprüchlich ausgeschlossen werden muß. Derselbe Keil kann nun zwischen die Begriffe der Unmöglichkeit und der Inkonsistenz getrieben werden. Auch für die Zwecke des formalen Logikers reicht es aus, daß Konsistenz und Widersprüchlichkeit als Kriterien für Möglichkeit und Unmöglichkeit genommen werden sollten. Der Versuch, eines mit Hilfe des anderen zu definieren, geht zu weit. Abgesehen von allem anderen hätten wir dann unseren nonnalen Tenn zum Ausschluß widerspruchsvoller Behauptungen nicht mehr. Sobald Unmöglichkeit mit Widersprüchlichkeit identifiziert wird, wird. die Frage" Warum muß eine logisch unmögliche (widersprüchliche) Aussage ausgeschlossen werden?" sinnvoll - was sowohl paradox als auch unglücklich ist. Man kann also die Begriffe der logischen Möglichkeit, Notwendigkeit und Unmöglichkeit nicht als definitiv unangemessen ausschließen. Wir können aber erkennen, daß sie gewöhnlich etwas durcheinandergebracht werden. Bei ihrer normalen Definition markieren sie zum Beispiel nicht die Unterscheidung zwischen dem Auffinden eines Widerspruchs und dem Ziehen der angemessenen Lehre daraus. Dennoch ist diese Unterscheidung für Logiker genauso wichtig wie für jeden anderen: Sie wollen wie wir mit" unmöglich" mehr 'sägen als mit" wide'rsprüchlich" , und gewiß wollen sie "unmöglich" als natürlichen Term zum;Ausschluß von Widersprüchen beibehalten. Das heißt, sie wollen die überkommerten Alltagsimplikationen des Begriffs der Unmöglichkeit in ihrem neuen, technischen Kontext beibehalten. Ähnliche Gefahren der Verwirrung treten oft dort auf, wo Philosophen normalerweise von den Wörtern "logisch" und "logischerweise" Gebrauch machen. Oft genug wollen sie die Alltagsimplikationen dieses Terms sogar dann beibehalten, wenn sie sie tatsächlich durch ihre engeren fachspezifischen Definitionen. ausgeschaltet. haben. Erinnern wir uns an das oben angegebene Zitat von A. N. Prior. Wer praktisch argumentiert, wird jede Argumentation als logisch anerkennen, die in rechter Form strukturiert ist und daher keinen Einwänden allein aufgrund der enthaltenen Formen ausgesetzt ist. Wenn man ihm sagt, daß eine Argumentation nicht logisch ist, gibt man ihm zu verstehen, daß die Argumentation widerspruchsvoll ist, d. h. definitive Widersprüche involviert und daß bezüglich ihr deshalb substantielle
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Fragen noch nicht einmal gestellt werden können - ganz zu schweigen davon, daß sie ernsthaft betrachtet oder gar gelöst werden könnten." Prior andererseits lehnt es ab, irgend eine Argumentation als "logisch" zu bezeichnen, solange sie nicht eine viel strengere Bedingung erfüllt. Bei ihm muß sie analytisch sein. Substantielle Argumentationen werden als nicht logisch ausgeschlossen, einfach weil sie "substantielle Argumentationen sind. Die Konsequenzen dieser Einschränkung des Bereichs des Logischen sind am auffälligsten im Bereich ethischer Argumentation. Die Aussage "Ethische Argumentationen sind nicht logisch" bedeutet für jemand, der praktisch argumentiert, daß ethische Argumentationen widerspruchsvoll, ungültig und ungerechtfertigt sind und daß sie deshalb aus Verfahrens gründen notwendigerweise ungültig sind. Diese Behauptung ist viel stärker als die unschuldige Behauptung, die Prior vertreten möchte - daß nämlich ethische Argumentationen nicht analytisch sind oder auch nur sein könnten. Wenn hier nicht mehr als eine einfache Zweideutigkeit enthalten wäre, könnte die Schwierigkeit sehr schnell geklärt werden. Man braucht aber nicht sehr viel weiter zu lesen, um zu erkennen, daß für Philosophen wie Prior das Fehlen von Folgerungsbezeichnungen in ethischen Argumentationen im Vergleich zu analytischen Argumentationen eine Schwäche und ein Mangel ist. Die Tatsache, daß solche Argumentationen, ,nicht logisch ce sind, wird ihnen immer noch vorgeworfen. Djese Verwirrung im Begriff der "Logik" und damit zusammenhängender Begriffe hat' eine besonders unglückliche Konsequenz gezeitigt. Wir können sie erkennen, wenn wir zu der Frage zurückkehre'n, ob der Gerichtshof der Vernunft in allen Bereichen der Argumentation Recht sprechen kann oder ob es in einigen Bereichen nicht möglich ist, Behauptungen durch einen juristischen Verfahrenstyp zu beurteilen bzw. zu entscheiden. Denn diese "Frage wird zu leicht beiseite geschoben und ihre wahre Bedeutung wird leicht falsch eingeschätzt. Wenn man Hume folgt, gesteht man dem Gerichtshof der Vernunft schließlich nur noch in solchen Fällen ein Urteil zu, in denen es angemessen ist, analytische Argumentationen zu fordern. Ethische und ästhetische Argumentationen, prognostische und kausale Konklusionen, Aussagen über Fremdpsychisches, über materielle Gegenstände und sogar Aussagen über unsere Erinnerungen halten alle der Kritik des Philosophen nicht stand und wir sehen, wie die richterliche Funktion der Vernunft immer weitergehend eingeschränkt wird. Wenn wir Humes Fährte folgen, geraten wir schließlich unweigerlich in sein metaphysisches Dilemma. Es gibt jedoch eine alternative Interpretation dieser Frage, die uns nicht in solche Schwierigkeiten führt. Ohne zu fordern, daß Argumentationen aller Bereiche analytisch sein sollten, können wir - abgesehen von Analytizität - noch fragen, in welchen Bereichen intersubjektive und rechtliche Verfahrensweisen oder Beurteilungen angewandt werden können. Die Antwort auf diese Frage ist nicht von der vergeblichen Suche nach Folgerungsbeziehungen abhängig, die in diesem Zusammenhang nicht in Frage kommen, sondern von etwas anderem. Mit welchem Bereich der Argumentation wir es auch zu tun haben, wir können unsere Argumentationen immer in folgender Form darstellen: D------------------------~)K
SR
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Die Berufung auf eine solche Argumentation beinhaltet die Unterstellung, daß die Schlußregel SR uns nicht nur den übergang von D zu K erlaubt, sondern auch begründet ist. Deshalb hängt eine rationale Diskussion irgendeines Bereichs von der Möglichkeit der Begründung von Schlußregeln in diesem Bereich ab. In dem Ausmaß, in dem in einem bestimmten Bereich gemeinsame Schlußregeln existieren, ist ein juristischer Ansatz bei unseren Problemen möglich. Wenn wir die Frage stellen, wie weit die Kompetenz des Gerichtshofs der Vernunft reicht, müssen wir deshalb die Frage beiseite lassen, inwieweit in jedem Bereich Argumentationen analytisch sein können. Stattdessen müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die davon ganz verschiedene Frage konzentrieren, in welchem Ausmaß es bereits begründete Schlußregeln in der Naturwissenschaft, in der Ethik oder in der Moral, in der Kunstkritik, bei der Beurteilung des Charakters von Menschen und so weiter gibt. Weiter müssen wir uns fragen, inwieweit die Verfahren iur ·überprüfung der Zuverlässigkeit ·von Prinzipien und der Annehmbarkeit von Schlußregeln allgemein anerkannt und akzeptiert sind. Sobald zwei Leute in irgendeinem Bereich gemeinsame Verfahren zur überprüfung von Schlußregeln akzeptieren, können sie die Tauglichkeit von Argumentationen in diesem Bereich beurteilen. Nur wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, so daß sie also keine gemeinsame Grundlage haben, von der sie ausgehen können, nur dann ist ihnen eine rationale Beurteilung nicht mehr möglich. Die Ergebnisse dieses Abschnitts lauten zusammengefaßt: Ich habe auf zwei Faktoren hingewiesen, die gegenwärtig zu einer Verwirrung unserer Vorstellung über die Anwendung der Logik führen. Es handelt sich dabei erstens darum, daß nicht erkannt wird, daß die Bereichsabhängigkeit unserer logischen Begriffe ein wesentliches Merkmal ist, das sich aus den nicht reduzierbaren Unterschieden zwischen den Problemtypen ergibt, mit denen sich Argumentationen befassen sollen. Zweitens handelt es sich um die starke Vieldeutigkeit des Wortes "deduktiv" wie er normalerweise innerhalb" der formalen Logik gebraucht wird. Erst dann, wenn man Klarheit über die Art der in irgendeinem bestimmten Fall enthaltenen Probleme besitzt, kann man feststellen, welche Schlußregeln, welche Stützung und welche Kriterien der Notwendigkeit und Möglichkeit relevant für den Fall sind. Man kann die unterschiedslose Anwendung analytischer Kriterien auf alle Bereiche der Argumentation nicht rechtfertigen;. und ·wenn man diese Anwendung konsequent durchführt, gerät man (wie Hume herausgefunden hat) in einen Zustand philosophischen Wahnsinns. Daß es bei substantiellen Argumentationen keine Folgerungsbeziehungen gibt, ist kein Zeichen ihrer Schwäche, sondern eine Konsequenz aus den Problemen, mit denen sie sich befassen. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Bereichen der Argumentation, und der Gerichtshof der Vernunft kann nicht nur im engen Bereich analytischer Argumentationen urteilen. Hinter diesen zwei unmittelbar erkennbaren Faktoren liegen andere überlegungen, die wir noch nicht betrachtet haben. Wenn Philosophen versucht waren, analytische Argumentationen als ihr Paradigma herzunehmen, war ihre Wahl nicht zufällig. Es reicht nicht hin, das Faktum dieser Wahl anzuerkennen und die Paradoxien zu entwickeln, in die es unvermeidlich führt. Wir rnüssen jetzt versuchen, dieses Faktum zu erklären. An dieser Stelle müssen wir den Bereich der Spekulation betreten, aber zwei mögliche Einflüsse werden sich zumindest als diskussionswürdig erweisen: 1. Das Ideal der 'Logik als Menge zeitloser Wahrheiten, die bevorzugt in Fonn eines kohärenten mathematischen Systems ausgedrückt werden sollen.
157 2. Die Vorstellung, daß es uns möglich ist, eine Notwendigkeit, die stärker ist als bloße physische Unmöglichkeit, ins Spiel zu bringen, indem wir den betreffenden Gegenstand in ein solches fonnales System stecken.
Im Rest dieses Kapitels beschäftigen wir uns mit diesen Ideen. LOGIK ALS EIN SYSTEM EWIGER WAHRHEITEN Das Verlangen, Logik in eine mathematische Form zu bringen, ist so alt wie die Logik selbst. Denn seit die Logik eine selbständige Existenz hat - mit anderen Worten: seit Aristoteles - verfolgen formale Logiker ein doppeltes Ziel. Einerseits haben sie ihr Tun als Systematisieren der Prinzipien begründeten Urteilens und als Theoretisieren über die Regeln der Argumentation verstanden, während sie andererseits sich selbst immer am Ideal dieses Gegenstands als einer formalen, deduktiv,en und soweit wie möglich axiomatischen Wissenschaft orientiert haben. Wir fanden dieses zweifashe Ziel schon im ersten Satz von Aristoteles Ersten Analytiken ausgedrückt: Er sagt, daß sich die Logik mit apodeixis (d. h. mit der Frage, wie Konklusionen begründet werden müssen) beschäftigt und daß sie auch die Wissenschaft (episteme) ihrer Begründung ist - er unterstellt es als schon erwiesen, daß man diesen Gegenstand in Form einer episteme darstellen kann, d. h. als deduktive theoretische Wissenschaft. Implizit bleibt das gleiche zweifache Ziel in der Praxis der formalen Logiker bis zum heutigen Tag erhalten. Seit dem siebzehnten Jahrhundert wurde dieser Gegenstand mehr und mehr mathematisch - zuerst bei Leibniz und später durch die Arbeit von Boole, Frege und die symbolischen Logiker des zwanzigsten Jahrhunderts. Heutzutage betrachten wahrscheinlich viele 'Logiker das mathematische Ideal der Logik tatsächlich als wichtiger als ihre praktische Anwendbarkeit. Zum Beispiel erklärt Strawson, daß er damit zufrieden ist, daß die Logiker ihr Interesse auf Fragen der Konsistenz und Inkonsistenz von Argumentationen und Aussagen beschränken. Für diesen eingeschränkten Zweck mag eine rein formale Theorie tatsächlich ausreichen. Dennoch denken die meisten Logiker ab und zu noch, daß ihr Gegenstand mit den Prinzipien gültigen U rteilens befaßt ist - auch wenn sie durch ihre Definition von "Deduktion" in der Praxis auf die Prinzipien des gültigen analytischen Urteilens eingeschränkt werden. Carnap zum Beispiel ist bereit, sogar unter dem Risiko eines non sequitur 'zuzugeben, daß seine analytische Theorie der Wahrscheinlichkeit auf Wettprobleme, für das Problem, welche Erwartungen wir bezüglich der Ernte haben sollen sowie dafür, ob wir eine neue wissenschaftliche Theorie akzeptieren sollen oder nicht, anwendbar ist. Dennoch könnte niemand mehr als Carnap darauf insistieren, daß es die Logik wie die Mathematik mit zeitlosen Wahrheiten über ihre eigenen theoretischen Entitäten zu tun hat -.:. in diesem Fall mit semantischen Relationen. Sehen wir uns zuerst an, was die Annahme dieses mathematischen Ideals für die Formulierung der logischen Theorie beinhaltet. Für die Griechen war die erste und höchst eindrucksvoll erfolgreiche episteme die Geometrie. Als sie sich der Logik zuwandten, übernahmen sie die Methode aus der Geometrie. Ihr Ziel war es, die Prinzipien der Logik in einer Fonn derselben Art darzulegen, wie sie sich bereits in
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der Geometrie als fruchtbar erwiesen hatte. Ihre Darstellung von der Natur der Geometrie war jedoch nicht einheitlich, und in den Ansichten der fonnalen Logiker über ihren Gegenstand gibt es ähnliche Divergenzen. Genauso wie die Griechen uneinig bezüglich der Frage waren, worüber die Aussagen der Geometrie gehen einige behaupteten, daß sich die dort diskutierten mathematischen Relationen direkt auf die veränderlichen Objekte der materiellen Welt anwenden ließen, während andere die Behauptung vertraten, daß sich die Relationen vielmehr auf eine unabhängige Klasse unveränderlicher Dinge bezögen - findet man auch bei Logikern zwei Ansichten vertreten. Beide Parteien akzeptieren übereinstimmend das mathematische Modell als legitimes Ideal, sogar als das legitime Ideal für die Logik. Sie unterscheiden sich aber in der Darstellung ihrer Theorien sowie darin, wie weit die Idealisierung ihrer Meinung nach getrieben werden sollte. Man kann eine radikalere Ansicht von einer weniger radikalen unterscheiden. Die weniger radikale Ansicht entspricht der ersten der zwei griechischen Theorien der Geometrie: Formale Logik soll die episteme von logischen Relationen sein, und diese Relationen sollen in zeitlosen Aussagen ausgedrückt werden; wenn sie zu irgendeiner Zeit wahr sind, müssen sie - wie andere mathematische Aussagen - zu allen Zeiten wahr sein. Aber die Einheiten oder die Dinge, zwischen denen logische Beziehungen gelten, brauchen nicht wie die Relationen selbst unveränderlich oder "außerhalb der Zeit" zu sein. Sie können zum Beispiel Aussagen einer völlig gebräuchlichen Art sein, deren Wahrheitswert sich im Lauf der Zeit verändert - etwa die Aussage "Sokrates hat eine Glatze", die zuerst unanwendbar sein kann, dann wahr, dann falsch, dann wahr und schließlich wieder unanwendbar. Nach dieser weniger extremen Ansicht verlangt unser mathematisches Ideal nur, daß die in der logischen Theorie diskutierten Relationen selbst nach Art der geometrischen Relationen zeitlos sein sollen. Die Aussage "Ein gleichwinkliges Dreieck ist gleichseitig" ist ein und für allemal wahr; und die Wahrheit der Prinzipien der formalen Logik muß gleichermaßen von zeitlichem Wandel ausgenommen sein. Die extremere Ansicht entspricht der zweiten der griechischen Darstellungen der Geometrie. Nach dieser Ansicht reicht es nicht hin, daß die Aussagen der formalen Logik selbst zeitlos wahr sind. Die Logik hat ihren idealen, mathematischen Zustand nicht erreicht, ehe nicht auch die Einheiten, zwischen denen diese logischen Relationen gelten, in unveränderliche, zeitunabhängige Objekte transformiert worden sind. Dies bedeutet, daß eine Alltagsaussage wie "Sokrates hat eine Glatze" in dieser Formulierung noch nicht reif ist für die überlegungen des Logikers. Sie muß weiterbehandelt, transformiert, zu Zeitlosigkeit erstarrt werden, ehe sie in die formale Struktur. der logischen Theorie eingebaut werden kann. Wie soll dies geschehen? Eine Möglichkeit ist, in unsere normalen Sätze explizite Bezüge auf die Situationen ihrer Äußerung hineinzunehmen - die sich dann ergebende Wortfolge wird als "Aussage" ("proposition") bezeichnet. In diesem technischen Sjnn ist die "Aussage", die der speziellen Äußerung "Sokrates hat eine Glatze" entspricht, etwa "Sokrates glatzköpfig im Jahre 400 vor Christus"; und der Äußerung "Ich bin hungrig" entspricht etwa ,,'Stephen Toulmin hungrig am 6. Sept. 1956 um 16.30 lJhr" - das Verb "ist" oder "war" ist hier ausgelassen, um anzuzeigen, daß alle "Aussagen" zeitlos sind. Der Gebrauch des Verbs "ist" sowohl als zeitlose Kopula von Ausdrücken innerhalb der fonnalen Logik als auch als Hauptverb von Aussagen,
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die sich auf die Gegenwart beziehen, enthält offenkundige Gefahren. Nach der extremeren Ansicht ist eine vollständig mathematische Logik -demnach aus zeitlosen Formeln zusammengesetzt, die unveränderliche Relationen zwischen zeitlosen "Aussagen" ausdrücken. Von unserem Standpunkt aus sind diese beiden Formen der Idealisierung unberechtigt. Die Schwierigkeit liegt nicht innerhalb der formalen Systeme selbst. Es wäre sinnlos, die These zu vertreten, es könne keine formalen mathematischen Kalküle geben, die sich mit den Relationen zwischen Aussagen befassen, da jedermann weiß, welch ausgefeilte und hochkomplizierte Aussagenkalküle tatsächlich in den letzten 1ah ren aufgestellt wurden. Die Einwände konzentrieren sich vielmehr auf die Frage, welche Anwendungen diese Kalküle auf die praktische Beurteilung von Argumentationen haben können - ob die in diesen Systemen so elegant formalisierten Relationen tatsächlich auch diejenigen sind, die uns interessieren, wenn wir uns in der Praxis mit der Schlüssigkeit, Stärke und Annehmbarkeit von Argumentationen befassen. Ich möchte zuerst die extremere Doktrin behandeln. Der fundamentale Einwand gegen beide Doktrinen wird sich als derselbe erweisen, aber gerade der Unterschied zwischen den zwei Doktrinen kann uns einen ersten Hinweis auf seine Art geben. Ein Vertreter der radikaleren Ansicht, wie W. V. Quine, besteht darauf, alle Sätze in "Aussagen" (propositions) umzuformulieren, ehe er sie in sein System der Logik aufnimmt. Dadurch entfernt er die Formeln seiner Theorie einen Schritt weiter von ihrer offensichtlichen Anwendung. Die Daten und Konklusionen von praktischen Argumentationen sind Feststellungen, nicht Aussagen (propositions) im technischen Sinn. Die Aufgabe eines Kritikers ist, zu untersuchen, inwieweit bestimmte als Daten angeführte Feststellungen eine Konklusion _oder die Angabe eines Geltungsanspruchs stützen. Deshalb' muß die formale Aussagenlogik s~ umformuliert werden, daß sie sich auf Feststellungen bezieht, ehe wir auf eine Anwendung ihrer Ergebnisse hoffen können. Dies allein ist noch kein ernsthafter Einwand. Die Formulierung der logischen Theorie mit Hilfe von Aussagen anstelle von Feststellungen könnte wichtige theoretische Gewinne mit sich bringen. Um eine offensichtliche Analogie zu verwenden: Physiker verwenden zu Recht ihren Tensorkalkül in der Relativitätstheorie ungeachtet der Tatsache, daß man seine theoretischen Ergebnisse aus der Tensornotation in normale Algebra transformiert, ehe man ihnen eine empirische Interpretation mit Hilfe tatsächlicher Beobachtungen oder Messungen gibt. Dennoch wird im Fall der Logik nicht klar, welches die theoretischen Zi.ele sind; Logiker sind sich bezüglich der Frage uneinig, ob man die Anwendung der logischen Formeln auf jeden Fall auf zeitlose Aussagen beschränken muß. Sicherlich besteht die Sprache, so wie wir sie kennen, nicht aus zeitlosen Aussagen, sondern aus Äußerungen, die auf alle möglichen Weisen vom Kontext oder der Situation, in der sie geäußert werden, abhängen. Sätze werden in bestimmten Situationen geäußert; die ihnen angemessene Interpretation ist mit ihren Beziehungen zu diesen Situationen verbunden. Sie entsprechen in dieser Hinsicht einem Feuerwerk, Signalen oder Leuchtkugeln. Die Arten, nach denen Sätze und Äußerungen kritisiert und beurteilt werden müssen, spiegeln diese Tatsache wider. Die hier auftretenden Fragen sind zum Beispiel,ob in einer gegebenen Situation ein
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bestimmter Satz angemessen ist oder ob in einer anderen Situation eine bestimmte Menge von Daten so vorgebracht werden kann, daß man zur Vorhersage eines späteren Ereignisses berechtigt ist. Nur in der reinen Mathematik können unsere Beurteilungen völlig kontext-unabhängig sein. Eine Kritik dieser Art ist - im weitesten Sinne des Wortes - eine ethische Kritik. Sie behandelt eine Äußerung als eine in gegebener Situation vollzogene Handlung und fragt nach der Tauglichkeit dieser im Kontext ihrer Ausführung betrachteten Handlung. Aussagenlogik andererseits geht an die Sprache auf eine Weise heran, die größere Ähnlichkeit mit ästhetischer Kritik zeigt. Aussagen werden als die versteinerten Statuen von Sätzen behandelt, und der Logiker sucht zeitlose, universelle Merkmale wie diejenigen des Geflügelten Siegs von Samothrake oder des David von Michelangelo. Es ist unklar, welche Beziehung eine, solche Kritik zu den zeitabhängigen' Problemen von praktisch Argumentierenden haben könnte. Auf jeden Fall ist, wie Prior gezeigt hat, diese besondere Haltung nicht wesentlich für die formale Logik. Es gibt in der Tat einen scharfen Gegensatz zwischen der Logik der letzten paar Jahrhunderte und der mittelalterlichen Logik. Mittelalterliche Logiker bestanden nicht auf der Ersetzung von Feststellungen durch Aussagen, ehe sie unsere Äußerungen in ihre Logiksysteme aufnahmen. Sie begnügten sich damit, daß die Ausdrücke ihrer logischen Theorie selbst zeitlos waren und verlangten nicht, daß die Einheiten, zwischen denen logische Relationen gelten, ebenfalls ewig und unveränderlich sein müßten. Deshalb ist eine formale Logik von Sätzen sehr wohl möglich, und in einigen Hinsichten kann - wie Prior seinen Gedankengang fortführt - eine solche Logik reicher sein und mehr Möglichkeiten enthalten als die modernere Aussagenlogik. Es ist übrigens interessant, nach den Gründen für diesen bestimmten historischen übergang zu fragen. Warum sollte die mittelalterliche Satzlogik aufgegeben und fast völlig durch eine Aussagenlogik ersetzt worden sein, die nicht kontextabhängige Äußerungen, sondern kontextunabhängige Aussagen verknüpft? Hatte dieser übergang vielleicht etwas mit der Erfindung des Buchdrucks zu tun? Diese Annahme liegt ziemlich nahe: In einer großenteils vorliterarischen Welt wäre der vergänglichl' feuerwerkähnliche Charakter unserer Äußerungen überwältigend offensichtlich. Die Vorstellung, daß die Auss'age den Augenblick ihrer Äußerung überdauert - wie eine Statue, die nach' dem Tode des Bildhauers, der sie geformt hat, unverändert bleibt wurde erst plausibel, nachdem das dauerhaft aufgezeichnete Wort eine viel größere Rolle imLeben der Intelligenz bekommen hat. Es gibt jedoch wenige Beweise dafür, daß diese Erfindung einen direkten Einfluß hatte, eine ganze Menge von Beweisen deutet vielmehr auf eine alternative Erklärung hin. In mehreren Hinsichten kann die geistige Revolution des 17. Jahrhunderts als Wiederaufleben des Platonismus und als eine Zurückweisung des Aristotl'lismus charakterisiert werden. Was ich als die weniger extreme Ansicht sowohl in der Geometrie als auch in der Logik bezeichnet habe, ist eine Aristotelische Ansicht, und die mittelalterliche Satzlogik war ein wesentlicher Bestandteil der Aristotelischen Tradition. Die "neuen Gelehrten" des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts setzten dem Aristoteles die Gestalten des Pythagoras, Plato und vor allem des Euklid entgegen. Ihr Ziel war es, mathematische Methoden und Modelle in allen ihren Spekulationen zu verwenden, und man findet bei ihnen oft platonische
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Ansichten über den Status mathematischer Entitäten ausgedrückt. Die Vorstellung, daß logische Relationen ebenso wie geometrische Relationen zwischen ewigen Objekten bestehen, entsprach ihren Ans.ichten? und.. wir bra~che~ verm~tlich nich~ weiter nach einer Erklärung zu suchen. DIe zweI Erklarungen SInd Jedoch nIcht unverträglich. Man könnte die Ansicht vertreten, daß das 'Wiederaufleben des Platonismus und die Apotheose Euklids selbst ein Ergebnis der Verbreitung von gedruckten Schriften war. In diesem Fall wäre der übergang von der mittelalterlichen Logik der Sätze zu der neueren Auss~genlogik ebenfalls ein Ergebnis dieser Erfindung, wenn auch nur ein indirektes. Wir mü~sen es bedauerlicherweise unterlassen, dieses Kapitel der Ideengeschichte weiter zu erforschen und müssen zu unserem eigentlichen Gegenstand zurückkehren. Bis jetzt haben wir nur gezeigt, daß die in der extremeren Auffassung der Logik enthaltene zweifache Idealisierung unnötig ist. Wenn eine formale Untersuchung der logischen Relationen zwischen "Aussagen" möglich ist, dann ist dasselbe gleichermaßen möglich für Relationen, die stattdessen für Feststellungen gelten. Die wirkliche Frage ist, ob es in beiden Fällen üherhaupt eine echte Möglichkeit ist. Welches die Objekte auch sein mögen, zwischen denen logische Relationen gelten, es stellt sich sogar für diese Relationen selbst die Frage, ob es richtig ist, sie zu idealisieren. Kann nlan die Relationen, auf denen die Schlüssigkeit und Akzeptierbarkeit unserer Argumentationen beruhen, in eine zeitlose mathematische Form bringen, ohne sie bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen? Ich werde die These vertreten, daß dies nicht möglich ist. Wenn man auf einer mathematischen Behandlung dieser Relationen besteht, wird man sie unvermeidbar schließlich falsch darstellen, und es muß sich eine Divergenz zwischen den Kategorien der an gewandten Logik und denen der logischen Theorie ergeben, die von genau der Art ist, wie wir sie oben schon erkennen mußten. Wenn diese Kritik begründet werden müßte, würde sie in gleicher Weise die extremere und die weniger extreme Ansicht untergraben; wir müssen jetzt versuchen, diese Begründung durchzuführen. Wir vertraten die Ansicht, daß es unnötig ist, Äußerungen zu zeitlosen Aussagen zu versteinern, ehe sie in die Logik aufgenommen werden. Äußerungen werden zu bestimmten Zeitpunkten und in bestimmten Situationen gemacht, und sie müssen mit einem Auge auf diesen Kontext gerichtet verstanden und beurteilt werden. Wir können nun zeigen, daß dasselbe für die Relationen gilt, die zwischen Sätzen bestehen - jedenfalls in der Mehrzahl der praktischen Argumentationen. Die Durchführung rationaler Beurteilung ist selbst eine Tätigkeit, die in einem bestimmten Kontext ausgeführt wird und die von diesem Kontext wesentlich abhängt: Die Artumentationen, mit denen wir es zu tun haben, sind zu einem gegebenen Zeitpunkt in in einer gegebenen Situation aufgestellt, und sie müssen auf diesem Hintergrund beurteilt werden. Deshalb können wir bei der praktischen Kritik von Argumentationen wie von moralischen Urteilen nicht einfach die olympische Stellung der Mathematiker übernehmen. Als Ergebnis hiervon widerstehen Stärke, Triftigkeit, Stützung durch Belege und ähnliches - all die Dinge, die Carnap in semantische Relationen zu versteinern versucht - der Idealisierung genauso wie. unsere Äußerungen selbst. Diese Tatsache wird am deutlichsten sichtbar, wenn wir den Fall von Vorhersagen betrachten. Von jemandem, der eine Prognose nicht nur als boße Raterei äußert, kann eine Argumen-
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tation zu ihrer Stützung verlangt werden. Er muß Schlußregeln angeben, die auf seinem allgemeinen Wissen und seiner Erfahrung beruhen, und ebenfalls besondere Belege (Daten) über die Gegenstände seiner Vorhersage, die alle verläßlich und genau genug sind, um seine Vorhersage in Bezug auf die Situation ihrer Außerungzuverlässig zu machen. Zu dem Zeitpunkt, zu dem eine Vorhersage aufgestellt wird, kann man nicht mehr verlangen, als daß sie einer Kritik dieser Art standhält. Und, gleich ob sich das Ereignis sb wie vorhergesagt einstellt oder nicht, diese Frage kann jederzeit wieder aufgenommen werden, indem man fragt, ob die ursprüngliche Vorhersage berechtigt oder nicht berechtigt war. Im Moment ihrer Äußerung können wir natürlich noch nicht fragen, ob sie falsch ist oder nicht - die Zeit für diese Frage kommt erst mit dem Ereignis selbst. Nichtsdestoweniger kann die Frage nach der Zuverlässigkeit der Vorhersage zwischen den Zeitpunkten ihrer Äußerung und dem vorausgesagten Ereignis auf verschiedene Weisen erneut auftauchen. Es mag sein, daß zusätzliche Daten verfügbar werden, die uns zu einer Änderung der Vorhersage führen, ohne daß wir unsere allgemeinen Vorstellungen über da"s betreffende Gebiet ändern. Oder aber wir haben vielleicht durch wachsende Erfahrungen sogar unsere Ansichten über die Relevanz des ·ursprünglichen Beweismaterials für das zur Diskussion stehende Problem zu ändern. Das heißt, daß wir im Fortgang der Zeit eventuell nicht nur eine verschiedene Vorhersage über das Ereignis machen, sondern eventuell auch gezwungen sind, der zuerst angegebenen Argumentation unsere Unterstützung zu entziehen. Dies geschieht am drastischsten, wenn sich das Ereignis in einet anderen als der vorhergesagten Weise ergibt. Falls die Vorhersage nicht entsprechend eingeschränkt oder mit Ausnahmeklauseln versehen war, ist die Argumentation, ·auf der sie beruhte, dann hoffnungslos kompromittiert. Der Gang der Ereignisse kann uns also zu einer Modifikation unserer r-ationalen Beurteilungen zwingen; es kann sein, daß in einer Situation - eine völlig zu Recht als zuverlässig angesehene Argumentation später zurückgewiesen werden muß. Es ist höchst bemerkenswert, daß eine Argumentation für eine Vorhersage natürlich mittels neuer Standards beurteilt werden muß, sobald das Ereignis stattgefunden hat - wenn aus der Vorhersage eine Retrodiktion geworden ist, haben sich unsere ganzen logischen Einstellungen verändert. Wenn andererseits Fragen über, ,logische Beziehungen" zeitlos zu behandeln sind, gibt es keinen Platz für diese fortschreitende Änderung unserer Standards. Wenn man Argumentationen von einem quasi-m~thematischen Standpunkt aus betrachtet, sind sie einfach durch die Angabe ihrer Konklusionen (in diesem Fall: der Vorhersage) und der zu ihrer Stützung angegebenen Tatsachenfeststellungen definiert. Auf diese Weise wird die Argumentation D: Beobachtete Positionen K: Der genaue Zeitpunkt, zu dem die der Sonne, des Mondes und --------~) nächste Mondfinsternis nach dem 6. Sept. der Erde bis zum 1956 total wird 6. Sept. 1956 SR: geläufige Gesetze der Planetendynamik S: Die GesamtheJ der Erfahrungen bis zum 6. September 1956, auf denen die Gesetze beruhen
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als "ein und dieselbe" Argumentation betrachtet, gleich ob sie an dem bestimmten Tag vorgebracht wird, an dem die Vorhersage tatsächlic~ gemacht wird, o4er an irgendeinem späteren Zeitpunkt oder sogar - per impossibile - zu einem früheren Zeitpunkt. Wenn 'es sich um eine gültige Argumentation handelt, muß sie nach Meinung der Logiker ein für allemal gültig sein. Wenn sie nicht gültig ist, müssen ihre Mängel sicher für immer gelten. Man kann allerdings Fragen über die Zuverlässigkeit einer prognostischen Argumentation nur dann auf zeit-invariante Weise behandeln, wenn wir sowohl den Kontext außer Acht lassen, in dem eine Vorhersage aufgestellt wird, als auch den Kontext, in dem sie jetzt beurteilt wird. Wenn Gültigkeit eine zeitlose' "logische Relation" allein zwischen Aussagen sein soll, müssen Tatsachenfeststellungen über die Situation ihrer' Äußerung als irrelevant beiseitegeschoben werden. Der fonnale Logiker verlangt, die Aussagen gezeigt zu bekommen, alle Aussagen und nichts als die Aussagen. Er schaut von seinem olympischen Thron herunter und urteilt dann über die unänderbaren Relationen zwischen diesen Aussagen. Durch übernahme dieser Sehweise gleichsam von Gottes Thron aus wird man aber vollständig von den praktischen Problemen .abgelerikt, aus denen sich die Frage .der Gültigkeit ergibt. Ob wir jemandes Vorhersage akzeptieren, ihr trauen oder uns bei den für sie angegebenen Gründen auf sie verlassen sollen oder aber ob wir sie zurückweisen und nicht beachten sollen, dies ist die Frage, die wir in der Praxis mit de~ Worten ausdrücken: "Ist die Argumentation gültig?"; und wenn man "logische Relationen" aus allen möglichen Zusammenhängen herausreißt, beraubt man sich selbst der Mittel, diese Frage zu stellen. Fragen über die Akzeptierbarkeit von Argumentationen müssen in der Praxis genauso wie Fragen über die Akzeptierbarkeit einzelner Äußerungen in einem Kontext verstanden und behandelt werden. Diese praktische Notwendigkeit streicht der formale Logiker aus der Darstellung heraus, ehe er überhaupt mit seiner Arbeit anfängt. Um eine lebensnahe und anwendbare Logik zu erhalten, reicht es folglich nicht .aus, wenn wir Aussagen durch' Äußerungen ersetzen. Wir müssen auch die in mathematischer Form idealisierten Relationen - ze~tlose, kontextunabhängige' Relationen entweder zwischen Sätzen oder zwischen Aussagen - durch Relationen ersetzen, d~e tatsächlich nicht zeitloser sind als die von ihnen verbundenen Aussagen. Das heißt nicht, daß die sorgsam ausgearbeiteten mathematischen Systeme, die die "symbolische Logik" ausmachen, jetzt weggeworfen werden müßten. Es heißt nur, daß sich niemand, der intellektuelles Kapital in sie investiert hat, sich Illusionen über den Grad ihrer Relevanz für praktische Argumentationen machen sollte. Wenn die Logik 1l1Jthcll1Jtisch bleiben so)), wird sie rein mathematisch bleiben. Wenn man sie dann auf die 'Aufstellung praktischer Schlußfolgerungen anwendet, wird sie sich allein mit Fragen innerer Konsistenz befassen können. Einige Logiker betrachten diese Aussicht vielleicht mit Gelassenheit und sind bereit, den Preis dafür zu zahlen. Zum Beispiel ist Strawson - trotz seiner exkursorischen Behandlung der Induktion und der Wahrscheinlichkeit am Schluß seiner Bücher - bereit, seine Erörterungen zum größten Teil auf die Begriffe der Konsistenz und Inkonsistenz zu beschränken.' Dies bedeutet aber einen großen Wandel in Aristoteles ursprünglichem Programm, das sich an erster Stelle mit den verschiedenen Formen befaßte, nach denen Schlußfolgerungen zu begründen sind (apodeixis), und nur an zweiter Stelle mit der Wissenschaft
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(episteme) ihrer Begründung. Wenn Aristoteles selbst gesehen hätte, daß Begründungen kein geeigneter Gegenstand für eine formale Wissenschaft sind, hätte er sicherlich nicht die Untersuchung von Begründungen au'fgegeben, sondern jeden Versuch, die Theorie der Begrün~ung in eine vollständig mathematische Form zu
paA~ndieser
Stelle ist eine Bemerkung über die überschrift dieses Kapitels angebracht; ein friedensliebender Leser könnte nämlich folgende Ansicht vorbringen: "Was du sagst, ist vielleicht soweit ganz in Ordnung - aber es hat wirklich überhaupt keine Relevanz für all die Dinge, mit denen sich mathematische Logiker wie Quine beschäftigen. Ihnen geht es um die Theorie der Logik; du beschäftigst dich mit der logischen Praxis, und es braucht keine wirklichen Devergenzen zwischen euch zu geben.'~ Diese Ansicht ist zwar verlockend, sie muß aber zurückgewiesen werden. Die überschrift ,.,Angewandte Logik und idealisierte Logik" wurde mit Bedacht und mit Gründen ausg~wählt und der offensichtlicheren Alternative "Logik in der Praxis und Logik in der Theorie" vorgezogen, da diese alternative überschrift bezüglich einer entscheidenden Frage eine petitio principii begeht. Wenn diese Ansicht nur .bedeuten sollte, daß der "Aussagenkalkül" als Teil der Mathematik ein ebenso berechtigter' Untersuchungs gegenstand ist wie die anderen Teile der reinen Mathematik, dann könnte es in der Tat in dieser Frage keine divergierenden Auffassungen geben. Man muß sich aber immer noch die Frage ernsthaft stellen, ob dieser Teil der Mathematik ein Anrecht auf die Bezeichnung :.,logische Theorie" hat. Wenn wir ihn so bezeichnen, implizieren wir, daß der Aussagenkalkül eine Rolle in der 'Beurteilung faktischer Argumentationen spielt, die vergleichbar der Rolle der physikalischen Theorie bei der Erklärung wirklicher physikalischer Phänomene ist. Wir haben aber gesehen, daß genau dies zu bezweifeln ist. Dieser Teil der Mathematik bildet den theoretischen T eil der Logik nicht auch nur annähernd so, wie die mathematischen Theorien den theoretischen Teil der Physik bilden. In'zwischen ist aus der mathematischen Logik ein versteinerter Kalkül geworden, der keine funktionale Verbindung mit den Regeln zur Beurteilung der Stärke und' Schlüssigkeit von Argumentationen hat. Dieser versteinerte Kalkül kann durch eine ununterbrochene historische Kette mit Aristoteles ursprünglicher Diskussion der Praxis der Kritik von Argumentationen verbunden werden, aber die Verbindung ist heute nur noch historisch - genauso wie die Verbindung zwischen siebendimensionaler Geometrie und den Vermessungstechniken. Der als "reine Geometrie". bekannte Teil der Mathematik beansprucht s~hon lange nicht mehr, der theoretische Teil des Vermessens zu sein, und "reine Logik" kann nur mathematisch bleiben, wenn sie denselben Weg geht. All dies sage ich ohne irgendein Gefühl der Geringschätzung gegenüber der mathematischen Logik, als Gege!1stand intellektueller Untersuchungen betrachtet. Wir müssen uns nur Klarheit darüber verschaffen, von welcher Art dieser Gegenstand ist. Sobald diese erreicht ist, werden wir die Art des Friedensangebots von Carnap nicht mehr akzeptieren wollen. Er gibt zu, daß die Methoden der Beurteilung praktischer Argumentationen einen fesselnden und wichtigen Untersuchungs gegenstand bilden, die keine funktionale Verbindung mit dem Aussagenkalkül haben, macht dann aber mit scheinbarer Unschuld doch den Vorschlag, daß diese Untersuchung ein Anrecht auf die Bezeichnung "Methodologie" haben sollte, um sie von der Logik zu unter-
165 scheiden, die - wie ja jedermann weiß - ein formaler, mathematischer Gegenstand ist. Es gibt einige Gründe, aus denen dieser Vorschlag zurückgewiesen werden muß. Um die Sache mild auszudrücken: Es handelt sich hier um die Aufforderung, bei der betrügerischen Umwandlung von Lehrstühlen ein Auge zuzudrücken ... In der ganzen Welt gibt es Universitätslehrstühle und Departments für die Untersuchung der Logik. Man kann sich fragen, wie viele davon mit dem Ziel eingerichtet wurden, die Untersuchung der reinen, anwendungslosen Mathematik voranzutreiben. Zweifellos gab es Abschnitte in der Geschichte, in denen sich' die Logiker haupt:.. sächlic.h mit den formalen Aspekten ihres Gegenstands beschäftigten, aber selbst in der neuesten und mathematischsten Periode ist der Ausdruck "formale Logik" niemals zu einer vollständigen Tautologie geworden. Es gab eine weitere Fragengruppe, die zwar zeitweise unbeachtet blieb, aber immer auf Beachtung wartete. Diese Fragen sind weder formale Fragen in irgendeinem mathematischen Sinne noch sind es Fragen, bei denen es um die formalen Präliminarien von Argurnen tationen geht. Sie machen das aus, was materiale, praktische oder angewandte Logik genannt werden kann. Dennoch wurden Fragen über die Stärke (im Gegensatz zur inneren Konsistenz) von Argumentationen niemals völlig vergessen. Irgendwo steckte im Hinterkopf der Logiker (wenn auch oft in 'der hintersten Ecke davon) immer die Annahme, daß die Resultate ihrer Arbeit - wenn auch nur in hinreichend komplizierter Form - für die Beurteilung der Triftigkeit und der Stärke von faktischen Alltagsargumentationen verwendet werden könnten. Car.naps überweisung all dieser Fragen an ein anderes Gebiet, nämlich Methodologie, bedeutet, daß all unsere übriggeblie.bene~ ~offnungen auf eine..AnweI?dung de~ mathematischen Kalkül.e der .Logik auf dIe KntIk praktIscher ArgumentatIonen aufgegeben werden müssen. DIes 1st vennutlich wahr genug. Aber Camap impliziert auch, daß die für die Errichtung von Logik-Departments verwendeten Gelder in Zukunft allein zum Nutzen der reinen Mathematik angelegt werden sollten; und dies ist schon fragwürdiger. Zusammengefaßt: Aristoteles charakterisiert die Logik so: "sie befaßt sich mit der Art und Weise, in der Konklusionen begründet werden, und si~ gehört zur Wissenschaft ihrer Begründung". Es stellt sich jetzt heraus, daß die Ergebnisse logischer Untersuchungen nicht in die Form einer "Wissenschaft" gebracht werden können, jedenfals nicht einer "Wissenschaft" im engen Sinn des Wortes, wie ihn das griechische Wort episteme nahelegt. Beweisen ist kci n geeignete~ Gegenstand für eine cpisteme . . Von unserem Standpunkt aus betrachtet braucht einen dieses Ergebnis überhaupt nicht zu überraschen. Wenn Logik ein normativer Gegenstand ist, der es mit der Bewertung von Argumentationen und der Feststellung ihrer Tauglichkeit zu tun hat, kann man kaum etwas anderes erwarten. Denn sicher können keine Werturteile anderer Arten ausschließlich mit Hilfe der Mathematik diskutiert werden. Zum Beispiel erläutert uns die Jurisprudenz die spezielle Logik rechtlicher Aussagen und läßt sich dennoch nicht mathematisch behandeln. Ebensowenig können ethische und ästhetische Problem wirksamer fonnuliert werden, indem sie zum Gegenstand eines Kalküls gemacht werden. Es gibt sogar im Falle der Moralphilosophie zweifellos einige am Rande liegende überlegungen, die es mit innerer Konsistenz und ähnlicnem zu tun haben, die sich für normale Behandlung eignen, so daß G. H. von Wright und afldere ein System der deontischen Logik ausarbeiten konnten, das die formalen Entsprechungen zwischen
166 dem moralischen Begriff der Pflicht und den logischen Kategorien der Wahrheit und Gültigkeit ausarbeitet. Aber die Tatsache, daß dies möglich ist, zeigt sicher nicht, daß auch die Moralphilosophie ein Teil der Mathematik werden sollte. Zeigt sie nich t vielmehr, daß - sogar wenn wir es mit fragen der Wahrheit und der Gültigkeit zu tun haben - die auf rein formale Art zu behandelnden Aspekte vergleichsweise unbedeutend sind? In der Logik genauso wie in der Moralphilosophie. erfordert das wirklich vorliegende Problem der rationalen Beurteilung - der Unterscheidung zuverlässiger von unzuverlässigen Argumentationen, nicht der Unterscheidung konsistenter von inkonsistenten - Erfahrung, Scharfblick und Urteilskraft. Mathematische Berechnungen (in Form von Statistiken und ähnlichem) können niemals mehr sein als ein Werkzeug unter anderen, die zu dieser Aufgabe gebraucht werden können.
DIE KONSTRUKTION VON SYSTEMEN UND SYSTEMATISCHE NOTWENDIGKEIT Der Hauptgedanke dieses Kapitels ist jetzt vollständig ausgeführt. Wir haben die große Divergenz aufgezeigt, die sich im Laufe der Geschichte zwischen den von uns in der Praxis verwendeten kritischen Kategorien und den formalen Analysen, die die Logiker hiervon' gegeben haben, entwickelt hat, haben diese Divergenz bis zu ihrem Ursprung - nämlich"der Annahme des analytischen Typs der Argumentation als universelles (wenn auch unangemessenes) Paradigma -·zurückverfolgt und haben auf einige mögliche Motive hingewiesen, die die Logi~er vielleicht zur übernahme dieses Paradigmas geführt haben, insbesondere auf ihre altehrwürdigen Ambitionen, die Wahrheiten der Logik in ein rein mathematisches System zu fassen. Der letzte größere Punkt in unserem plan ist es, den Konsequenzen dieser Divergenz weiter nachzugehen bis zu den Spekulationen von Erkenntnistheoretikern und Philosophen. Dies ist die Aufgabe für das letzte Kapitel. Es gibt jedoch aus der obigen Diskussion noch eine Reihe offener und irgendwie miteinander zusammenhängender Fragen, auf die im Rest dieses Kapitels eingegangen werden soll. Es handelt sich um: a) den speziellen Begriff der logischen Notw.endigkeit; b) die Arten der für die Mathematik oder die theoretischen Naturwissenschaften charakteristischen "formalen" oder ,~systematischen" Notwendigkeit und Unmöglichkeit; c) die Vorstellung, daß wir dadurch, daß wir die Logik in ein formales System passen, die logische Notwendigkeit zu einer Notwendigkeit machen können, die stärker ist als jede physikalische Notwendigkeit, und die logische Unmöglichkeit zu einer Unmöglichkeit, die stärker als physikalische Unmöglichkeit ist. (Wir waren der Ansicht, daß diese Vorstellung helf~n könnte, die Annahme zu erklären, ein formales, geometrisches System könne ein so wünschenswertes Modell für die Logik abgeben.) Wir können nützlicherweise alle diese drei Gegenstände zusammen diskutieren und beiläufig etwas mehr Licht auf die Art und Weise werfen, in der ein System von Behauptungen zu einem abstrakten Kalkül erstarrt. Im folgenden versuche ich, aufzuzeigen, wie ein Teil der Mathematik entsteht nicht indem ich irgendeinem existierenden Teil dieses Faches nachgehe, sondern indem ich ein neues Beipiel hernehme und es von' den ersten Anfängen an untersuche.
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Dieses Beispiel hat kaum eine offensich tliche Verbindung mit irgendeinem der vertrauten Teile der Mathematik od~r - jedenfalls unmittelbar - mit strittigen philosophischen Fragen, und es ist auch gut, am A:nfang die p~ilosophische Arena zu vermeiden, wO' der Staub alter Kontroversen so leIcht -aufgewIrbelt werden kann und uns dann erblindet. Zuerst möchte ich jedoch angeben, wo ich dieses Beispiel hergenommen habe- und auf die Möglichkeiten hindeuten, in denen e~ sich bei einer Untersuchung als erhellend für die tiefersitzenden Verwirrungen herausstellen kann. Es hatte seinen U rsprung auf der Sportseite einer Sonntagszeitung, auf der die Aufstellung für die jährliche Regatta in Henley abgedruckt war. Darin war folgender Ah'ichnitt enthalten: Besuchercup. 1. Runde: Jesus, Cambridge gegen Christ Church; 2. Runde: Orie! gegen New College; ... 8. Runde: Lady Margaret gegen den Gewinner der ersten Runde; ... 26. Runde: Gewinner der 23. Runde gegen Gewinner der 24. Runde. Endausscheidung: Gewinner der 25. Runde gegen Gewinner der 26. Runde.
Eine Aufstellung dieser Art, wie sie in k·.o.-Wettkämpfen verwendet wird, führt zur Aufstellung eines Systems von Aussagen, das eine beträchtliche innere Komplexität und logische Ausdruckskraft hat. Selbst bei einem so einfachen System von Behauptungen können philosophische Probleme a~ftreten. Wenn man den hier abgedruckten Abschnitt auf sokratische Weise liest, kann sich folgender Dialog im t Kopf abspielen: Erster Gedanke: "Wie wissen sie schon, zwischen welchen Mannschaften die Endausscheidung stattfinden wird?" Zweiter Gedanke, einen Augenblick später: "Sie wissen es nicht u • "Aber sie sagen es doch! Sie wird zwischen dem Gewinner der 25. Runde und dem Gewinner der 2~. Rund_e stattfinden"; dabei wird diese Bemerkung von dem unangenehmen Gefühl begleitet, daß es· eine seltsame Art einer Regatta ist, bei der jemand vorher entschieden hat, wer in die Endausscheidung kommt. "Ach so! Aber wenn man sagt, die Endausscheidung wird zwischen dem Gewinner der 25. Runde und dem Gewinner der 26. Runde stattfmden, sagt man damit nichts aus über die Chancen irgendeiner speziellen Mannschaft (etwa New College), in die Endausscheidung zu gelangen. " "Es ist nicht offensichtlich, daß gerade dies nicht impliziert ~st. Schließlich impliziert die Aussage, daß die 8. Runde zwischen Lady Margaret und dem Gewinner der ersten Runde stattfinden wird, etwas völlig Bestimmtes über spezielle Mannschaften, daß nämlich von allen Teilnehmern nur Lady Margaret, Jesus und Christ College eine Chance haben, in dieser Runde teilzunehmen." "Es ist wahr, daß die Aussage, daß die 8. Runde zwischen Lady Margaret und dem Gewinner der 1. Runde stattfinden wird, genauso aussieht wie die Aussage, daß die Endausscheidung zwischen dem Gewinner der 25. Runde und-dem der 26. Runde stattfinden wird; aber in der entscheidenden Hinsicht sind sie völlig verschieden. Tatsächlich liegt es in der Natur einer Aufstellung - oder jedenfalls einer fairen Aufstelhing - daß -wenn man sie wie oben ganz ausschreibt - die ersten niedergeschriebenen Bestimmungen vollständig spezifisch sind, was angegebene Mannschaften betrifft und die letzten Bestimmungen völlig formal und ohne Bezug auf bestimmte Mannschaften. Die letzten Bestimmungen sagen über die Mannschaften selbst in der Tat nicht mehr aus als daß die Endausscheidung zwischen zwei von ihnen stattfinden wird, aus jeder Hälfte eine. Und, da alle Teilnehmer in einer der zwei Hälften der Aufstellung sein müssen, gibt es - was die hier aufgeschriebenen Bestimmungen betrifft - nichts, was irgendeine spezielle Mannschaft, die du auch nennen magst, hindern U
168 könnte, in die Endausscheidung zu kommen. Ob sie dorthin gelangt oder nicht, hängt - abgesehen von Zufällen - nur von ihrer eigenen Geschicklichkeit ab. H
ehe die Regatta überhaupt' startet, wäre das unbefriedigende ,Gefühl einer U ngerechtigkeit völlig am Platz. Aber angenommen, es ist keine Auswahl namentlich angegeDie Lehre aus diesem ersten Dialog ist, daß man sich nicht von oberflächlichen Ähnlichkeiten des Ausdrucks täuschen lassen darf. Die Aussagen "Die 8. Runde wird zwischen Lady Margaret und dem Gewinner der ersten Runde stattfinden'" und "Die Endausscheidung wird zwischen dem Gewinner der 25. Runde und dem Gewinner der 26. Runde stattfinden" sehen vielleicht ähnlich aus; wenn es aber um das Entscheidende geht - in anderen Worten: Wenn man zur Regatta kommt bedeuten sie e~as völlig Unterschiedliches. Wenn es tatsächlich entschieden wäre, welche namentlich angegebene Mannschaften in der Endausscheidung sein würden, bener Mannschaften in der Aufstellung, ist das ungute Gefühl nicht angebracht - so in diesem Fall. Das Gefühl der Ungerechtigkeit entsteht aus der anfänglichen Neigung, die Aussage "Die Endausscheidung wird zwischen den Gewinnern der 25. und der 26. Runde stattfinden" so zu interpretieren, daß sie implizit bestimmte Mannschaften aus der Endausscheidung ausschließt, so wie die Aussage "Die 8. Runde wird zwischen Lady Margaret und dem Gewinner der ersten Runde stattfinden" alle Mannschaften mit drei Ausnahmen von der 8. Runde ausschließt; diese Interpretation ist jedoch falsch. Nichtsdestoweniger kann man bei ausschließlicher Betrachtung der Aussagen nicht sagen, ob sie etwas über namentlich anzugebende Mannschaften implizieren oder nicht. Dies kann man nur herausfinden, indem man untersucht, was jede einzelne Aussage für ihre Anwendung besagt - das heißt, für Boote, Rennen, Trophäen, Gratulationen und so weiter. Diese Erklärung mag bis zu einem bestimmten Punkt befriedigend erscheinen. Bei weiterem Nachdenken ist einem jedoch vielleicht immer noch unwohl dabei, jedenfalls philosophisch gesehen, und der innere Dialog kann über eine neue Frage fortgeführt werden: "Natürlich wäre es unfair, vorher zu entscheiden, welche namentlich angegebenen 'Mannschaften in der Endausscheidung sein sollten. Wenn man aber dies nicht tut, ist offensichtlich die einzige Alternative, nichts weiter zu sagen als daß die Endausscheidung zwischen zwei von den Teilnehmern stattfinden wird. Wie kann man denn - wie es oben geschehen ist - sagen, welche Runden-Sieger tatsächlich an der Endausscheidung teilnehmen werden?"
Dies ist eine charakteristisch philosophische Situation. Wir tun in Wirklichkeit etwas - in diesem Fall: mehr sagen als offensichtlich ohne Ungerechtigkeit erlaubt werden kann - wo es anscheinend doch so ausgezeichnete Gründe gibt, darauf zu bestehen, daß wir dies nicht tun können. Wie gewöhnlich müssen wir nach Zweideutigkeiten in den kurzen Wendungen, die aber eine Schlüsselfunktion haben, suchen. Was soll man hier beispielsweise unter solchen Ausdrücken wie "mehr sagen" verstehen? Ein Ausdruck dieser Art kann eine Falle sein, durch die man dazu geführt wird, mehrere Fragen auf einmal zu stellen, ohne dies zu erkennen. In einer Hinsicht besagt die Aussage "Das Endspiel wird zwischen Christ Church und Lady Margaret stattfinden" mehr als "Das Endspiel wird zwischen zwei 'von den Teilnehmern stattflnden", da sie angibt, welche namentlich angegebenen Mannschaften diese zwei Teilnehmer sein werden. In dieser Hinsicht besagt die Aussage "Das Endspiel
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wird zwischen den Gewinnern der 25. und der 26. Runde stattfinden" nicht mehr als "Das Endspiel wird zwischen zwei von den Teilnehmern stattfinden ce. Aber in anderen Hinsichten sagt die erstere dieser beiden Aussagen mehr als die zweite: Jedoch ist dieses "Mehr" von einer völlig anderen Art. Dieses "Mehr" ist nichts Spezifisches über namentlich angegebene Mannschaften, sondern ist von einer Art, die - ohne Vorurteile - ,',formal" genannt werden könnte, da es aus den formalen Eigenschaften einer Aufstellung dieser Art folgt. Wenn die Aussage "Die Endausscheidung . wird zwischen den Gewinnern der 25. und der 26. Runde stattfinden" Implikationen hat, die die Aussage "Die Endausscheidung wird zwischen zwei von den Teilnehmern stattfinden" nicht hat, sind diese zusätzlichen Implikationen nicht von der Art von Vorhersagen über den endgültigen Ausgang der Regatta, sondern vielmehr von der Art von Vorschriften für ihre richtige Durchführung. Anders ausgedrückt: Sie haben es mit Verfahrensfragen zu tun." Diese Verfahrensfragen können aber wichtig sein. Wenn man der Organisator einer Regatta ist und kein Ruderer, ist es viel wichtiger, Vorkehrungen für die richtige Anzahl der Rennen in der richtigen Reihenfolge zu treffen, als dafür, daß die antretenden Mannschaften in diesen Rennen von einem bestimmten Club oder von einem anderen kommen. Kann man auf die Relevanz dieses Beipiels für phiiosophische Fragen hinweisen, ohne unsere methodische Diskussion des Beispiels zu beeinträchtigen? Erinnern wir uns an die offenkundigen Probleme der Wahrheit in der Mathematik und insbesondere an die Frage: "Besagt der Satz von Pythagoras in irgendeiner Hinsicht mehr als Euklids Axiome? Kann er uns irgendetwas mitteilen, das noch nicht in diesen Axiomen implizit enthalten ist? Kann Deduktion fruchtbar sein?" Daß diese Fragen so schwer zu behandeln sind, kann vielleicht ebenfalls eine Folge von Zweideutigkeiten in den Ausdrücken "mehr besagen", "enthalten in" und "fruchtbar" sein. Die Analogie stellt sich folgendermaßen dar. Nur für sich betrachtet ist die Behauptung, daß keine der beiden Aussagen "Die Endausscheidung wird zwischen den Gewinnern der 25. und 26. Runde stattfinden" und "Die Endausscheidung wir{l zwischen zwei von den Teilnehmern stattfinden "irgendwie mehr sagt als die jeweils andere, falsch und paradox. Sie wäre vielleicht annehmbar, wenn man schon klargestellt hätte, daß man über namentlich anzugebende Mannschaften spricht (zum Beispiel wenn man über den Ausgang des Wettkampfes Wetten abschließt) und nicht über die Durchführung der Regatta (zum Beispiel über die Aufstellung des Zeitplans, für den die Namen der beteiligten Mannschaften großenteils ohne Bedeutung sind). Man kann die Behauptung durch eine passende Erläuterung davor bewahren, paradox zu sein: "Soweit es um bestimmte, namentlich angegebene Mannschaften geht". Sobald aber das Paradoxon verschwunden ist, verschwindet auch der Reiz der Behauptung. Das gleiche gilt für den Fall mathematischer Wahrheit: Wenn man einfachhin und ohne angemessene Erklärung behauptet, daß der Satz von Pythagoras nicht mehr besagt als die Axiome von Euklid oder daß er nur etwas schon in den Axiomen enthaltenes wiederholt, kann man damit rechnen, den Zorn von gewissenhaften Mathematikern, etwa vom Professor Hardy zu er.regen. Ohne Erläuterung ist auch diese Aussage völlig falsch und paradox, so daß ein Mathematiker von Hardys Natur antworten kann, daß die Welt der Mathematik real ist, für unsere Entdeckungen offen vor uns liegt, immer neue Wahrheiten enthält, die wir entdecken können und daß diese Wahrheiten sicherlich nicht in den Axiomen allein angegeben werden. Auch hier rettet eine angemessene Erklärung die Situation, aber das Paradoxon und die scheinbare Originalität der Behauptung verschwinden gemeinsam. Wer sagt, daß Pythagoras nicht mehr aussagt als Euklid, der meint, daß uns der Satz von Pythagoras nicht mehr sagt,
170 wobei dieses "Mehr" so verstanden wird, daß es impliziert, nachzusehen und zu versuchen, etwas herauszufinden - denn es handelt sich um eine bloße Deduktion aus diesen Axiomen. Diese Aussage ist viel weniger überraschend als die ursprüngliche. Dennoch kann es sein, daß ein Mathematiker wie Hardy unzufrieden bleibt. Er mag einwenden: "Aber Mathematiker stellen wirklich Untersuchungen an. Sie verbringen ihr ganzes Leben mit Suchen, und manchmal finden sie etwas heraus, was sie noch nicht wußten." Die Erläuterung muß offensichtlich noch verdeutlicht werden. Es wird sich herausstellen, daß man bis zu folgender klaren Schlußfolgerung gehen muß.: "Der Satz vön Pythagoras sagt uns nicht mehr (von einer Art, die durch Nachsehen und Erkennen in einem solchen Sinti begründet werden muß, der das Herausarbeiten, deduktiver Relationen nicht als 'Nachsehen und Erkennen' bezeichnet) als die Axiome von Euklid. Diese Schlußfolgerung ihrerseits ist nur eine Folge des Gemeinplatzes "Der Satz von Pythagoras ist nicht nicht eine Deduktion aus den Axiomen von Euklid" - eine Aussage, die anfangs nicht infrage gestellt war. Fragen der Form "Besagt A mehr als B?" oder "Ist die Argumentation, mittels der wir von A zu B kommen, unfruchtbar oder fruchtbar?" bringen uns folglich leicht in Schwierigkeiten, sofern wir nicht viel Sorgfalt darauf verwenden, den in heiklen Ausdrücken wie mehr besagen als enthaltenen Zweideutigkeiten zu begegnen.
An dieser Stelle müssen wir methodischer untersuchen, wie k.o.-Wettkämpfe funktionieren, und wir müssen die verschiedenen Arten von Aussagen berücksichtigen, die anläßlich einer Aufstellung gemacht werden können. Wie wir sehen werden, entstehen in einem solchen Fall leicht enge Querverbindungen zwischen praktischen und formalen 'Unmöglichkeiten und ebenso verfahrensmäßige U nangemessenheiten. Man muß mit äußerster Sorgfalt vorgehen, wenn man si~ in jeder Hinsicht klar unterschieden behalten möchte. Betrachten wir der Einfachheit halber eine einfache Aufstellung für einen k.o.-Wettkampf zwischen acht Mannschaften und nehmen wir an, daß sich folgende Aufstellung ergibt: Kings Lady Margaret Jesus Christ Church Oriel New College Corpus Christi Pembroke
} } } }
1. Runde
erste Vorschlußrunde
2. Runde Endrunde 3. Runde
zweite Vorschlußrunde
4. Runde
Wir können eine Reihe verschiedener Dinge über diese Aufstellung sagen, die alle den Begriff der Unmöglichkeit verwenden. Betrachten wir am Anfang drei Beispiele: a) Kings kann nicht in die Endrunde kommen; b) Kings kann nicht in die zweite Vorschlußrunde komme~; c) Kings und Lady Margaret können nicht beide in die Endrunde kommen. Die erste dieser Aussagen befaßt sich ausschließlich mit der Frage der Geschicklichkeit oder Fähigkeit der Mannschaft. Wenn wir ,aufgefordert werden, sie zu begründen, werden wir uns zum Beweis auf den Bericht über ihr:e Fonn in der Ver-
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gangenheit berufen - mit Äußerungen wie "Ihr Ruderschlag ist zu kurz", "Ihr Takt ist unregelmäßig" oder "Die übrigen Mannschaften der oberen Hälfte der Aufstellung sind zu schnell für sie". Man könnte noch hinzufügen, daß es nichts Prinzipielles gibt, das Kings davon abhä1t, in die Endrunde zu kommen, daß aber nur eiri ausgezeichneter Trainer ihren Rhythmus verbessern könnte und die zusätzliche Kraft und die zusätzliche Geschwindigkeit sichern könnte, die allein ihnen eine Chance geben würden. W.enn faktisch Kings doch in die Endrunde käme, müßten wir zugeben, uns geirrt zu haben: Unsere Behauptung war eine klare Vorhersage und dies würde sie ein für allemal widerlegen. Für die zwei anderen Aussagen sind überlegungen von ganz anderer Art relevant. Wir haben es hier nicht mit Fragen der Fähigkeit zu tun. Hier von "Rhythmus" und ähnlichem zu reden. wäre ein Zeichen des Mißverständnisses, da diese Unmöglichkeiten überhaupt keine praktischen sind. Um welche Art von Unmöglichkeit handelt es sich dann? Auch nicht um sprachliche, ~a wir es hier nicht mit Wörtern oder Definitionen zu tun haben. Die Negation dieser Aussagen wäre nicht sinnlos. In einem Sinn sind diese Fragen verfahrensmäßig, in einem anderen sind sie formal oder systematisch. Erstens ist es in diesem Fall nicht möglich, zu sagen "Es könnte aber auch anders sein". Die hier zur Diskussion stehende Frage wurde durch die Aufstellung endgültig geregelt. 'Man könnte nichtsdestoweniger sagen "Es hätte sich anders ergeben können", denn Kings und Lady Margaret hätten bei der Auslosung andere Plätze erhalten können. Wäre der Zufall der Auslosung ein anderer gewesen und wären etwa Kings und New Kollege ausgewechselt, wären sowohl b) als auch c) falsch. Wo wir hätten schreiben können: Die Kings-Mannschaft kann bei ihrem jetzigen Zustand nicht in die Endrunde kommen. Das könnte sich ändern, wenn sie etwas an Geschwindigkeit zulegen könnte.
müssen wir jetzt schreiben: Bei dem tatsächlichen Ausgang der Auslosung können Kings und Lady Margaret nicht beide
in die Endrunde kommen. Dies wäre nur dann anders, wenn die Auslosung anders ausgefallen wäre.
Müssen wir jetzt sagen, daß in diesem Fall "nicht können" auch "nicht werden" impliziert? Die instinktive Antwort hierauf ist .vielleich "Natürlich impliziert es das"; aber ist dieser Instinkt in Ordnung? Vielleicht spiegelt er nur die bewundernswerte Angewohnheit des Engländers wider, fair play als gegeben zu unterstellen. Das Problem ist folgendes. Nachdem ich die Aufstellung für den Besuchercup gesehen habe, äußere ich die drei oben angegebenen Sätze. Ich komme dann am Tag der Rennen nach Henley und sehe, daß Kings in der zweiten Vorschlußrunde teilgenommen hat und zusammen mit Lady Margaret in die En~runde geht. Muß ich jetzt sagen "Oh, ich habe mich geirrt", oder muß ich eine andere Schlußfolgerung ziehen? Hierauf ist zu antWorten, daß ich dies nicht sagen muß. Ob ich es tatsächlich sage, hängt von bestimmten anderen Sachen ab, die ich untersuchen muß, ehe ich gen au weiß, was ich sagen soll. Vielleicht hatte ich mich geirrt: Vielleicht war die Auslosung anders als ich dachte und ich hatte Kings und New College in Gedanken vertauscht. Andererseits kann -es sein, daß ich bestätige, daß die Auslqsung so war, wie ich gedacht hatte, und daß trotzdem die folgenden Ereignisse in der beschriebenen Weise eintraten. Was sage ich dann? Hier mag jemand einwerfen: "Irgendwie
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besteht da eine Inkonsistenz;" und es besteht auch in der "Tat eine Inkonsistenz, wenn auch kein Widerspruch. Die enthaltene Inkonsistenz muß vielmehr darin gesehen werden, wie die Regatta durchgeführt wird. Ich frage mich folglich, was die Leiter gemacht haben, als ich wegschaute l1:nd protestiere vielleicht gegen diesen außerordentlichen Schnitzer in der Hoffnung, daß der Wettkampf für null und nichtig erklärt wird. Das bloße Eintreten der späteren Ereignisse in der beschriebenen Weise widerlegt nicht schon die Aussagen b) und c), wie es bei Aussage a) der Fall sein kann; es gibt vielmehr einen Grund zur Beschwerde. Ebensowenig folgt-aus der Tatsache, daß man eine Frau nicht zur Zeugenaussage gegen ihren Ehemann zwingen darf, daß sie faktisch nicht so behandelt wird. Es folgt vielmehr, daß es, ",,'enn sie zur Zeugenaussage gezwungen wird, Gründe für eine Berufungsverhandlung bei einenl, höheren Gericht und für öffentliche Entrüstung über die Verhandlungsführung gibt. Das "nicht können" in b) und c) ist - anders ausgedrückt - ein" Nicht-Können" der verfahrensmäßigen Angemessenheit und nicht der Fähigkeit oder Stärke. Die Aussagen b) und c) sind folglich Mischbildungen. Sie enthalten erstens ein Tatsachenelement, das wir den Zufall der Auslosung nennen; zweitens ein Verfahrenselement, in dem sie Aussagen ähneln, die sich auf die Regeln eines rechtlichen Verfahrens beziehen; und schließlich ein formales Element. Um das formale Element in reiner Fonn darzustellen, müssen wir noch zwei Schritte unternehmen. Wir müssen erstens den Zufail der Auslosung und zweitens die verfahrensmäßigen Implikationen eliminieren. Zunächst können die Namen der faktisch teilnehmenden Mannschaften ausgeschaltet werden. Die Aussage b) kann zu der Aussage erweitert werden: "Kings wurde zuerst gezogen," und die erste Mannschaft der Aufstellung kann nicht in die zweite Vorschlußrunde kommen", und c) zu der Aussage: "Kings und Lady Margeret" wurden an erster und -zweiter Stelle gezogen, und die ersten zwei Mannschaften der Aufstellung können nicht .heide in die End~usscheidung kommen." Wenn wir beidemale den ersten Teilsatz weglassen, erhalten wir: d) Die erste _Mannschaft der Aufstellung kann nicht in die zweite Vorschlußrunde kommen
und: e) Die ersten" zwei Mannschaften der Aufstellung können nicht beide in die Endausscheidung kOmrrien.
In welchem Verhältnis stehen diese Aussagen zu den drei- früheren? In diesen Fällen kann man genausowenig von Stärke, Geschwindigkeit und von Rhythmus reden wie in den Fällen b) und c). Aber man kann jetzt auch nicht mehr vom Zufall der Auslosung reden. Dieser Zufall berührt d) und e) nicht. Er entscheidet nur, auf welche namentlich angegebenen Mannschaften sich die Ausdrücke "erste Mannschaft der Aufstellung" und ", ;die ersten beiden Mannschaften der Aufstellung" tatsächlich beziehen, und für welche namentlich anzugebende Man:vschaft es danach korrekt ist, zu sagen "Sie kann nicht in die zweite Vorschlußrunde kommen". Was liegt dann den in d) und e) angegebenenUnmöglichkeiten zugrunde? Was kann man als ihren Ursprung bezeichnen, wenn Geschicklichkeit und Zufall heide gleichermaßen irrelevant sind? Anscheinend kann man nur antworten, daß die Notwendigkeit von d) und e) in der Natur von k.o.-Wettkä~pfen liegt, wie sie eine Regatta normalerweise enthält.
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Demnach kann die Frage nicht auftreten, was anders sein müßte, damit d) und e) ungültig wären ~ obwohl sie völlig rechtmäßig für a), b) u~d c) gestellt werden kann. Man kann sich nur dann vorstellen, daß d) und e) anders lauten, wenn die Tätigkeit, in deren Kontext die Terme "Aufstellung", "Runde" und "Endausscheidung ihre Bedeutung gewinnen, selbst verändert wird. Wenn man aber diese Tätigkeit ändern würde, könnte zu recht behauptet werden, daß man damit auch die Bedeutung dieser Terme geändert hätte. Außerdem könnte man, wenn jemand sagen sollte "Aber ich habe erfahren, daß es geschehen ist" nur antworten: "Nicht in Henley! Nicht in einer ordnungsgemäß durchgeführten Regatta!" Angenommen er besteht auf seiner Äußerung und es stellt sich heraus, daß er nicht etwa an eine Regatta der Art denkt, bei der den V erlierem der ersten Runde eine zweite Chance gegeben wird (~epechage) oder a.n einen außergewöhnlichen Fa!l, in ~em alle übrigen Mannschaften •nIcht antreten, WIrd' man annehmen, daß er nIcht eInmal verstanden hat, was ein k.o. -Wettkampf involviert. Denn sicherlich muß jemand, der verstanden hat, wie ein solcher Wettkampf läuft, die Notwendigkeit dieser zwei Aussagen erkennen. Eine beiläufige Bemerkung an dieser Stelle mag unsere Diskussion von Problemen der Erken1)tnistheorie vorwegnehmen. Anstelle der gerade gemachten Äußerung "Ein solcher Mensch muß die Notwendigkeit von d) und e) erkennen", hätten wir auch sagen können, daß er die Notwendigkeit sehen muß. Soweit es um die deutsche Idiomatik geht, ist dies eine völlig natürliche und richtige Ausdrucksweise mit Entsprechungen in anderen Sprachen - "je dois vivre: je n'en vois pas la necessite". Dieses Idiom ist suggestiv, aber auch potentiell irreführend. Es hilft anzudeuten, wie an dieser Stelle der Begriff der Notwendigkeit (necessity) in den .Begriff des Nötigen (need) übergeht. Die Erkenntnis der Notwendigkeit von d) und e) geht Hand in Hand damit, zu sehen, daß es nötig ist, den Verfahrensregeln zu entsprechen, auf die sie sich berufen. Gleichzeitig müssen wir die Fangfrage vermeiden, mit welchem inneren Auge wir dieses "Sehen" vollziehen. Die Anwendung dieser visuellen Metapher führt in diesem Beispiel genausowenig zu einer Klärung wie bei solchen allgemein als problematisch bekannten Behauptungen wie "Sieben plus fünf gleich zwölfcc und "Man soll Versprechen halten". Im gerade betrachteten Fall verhält es sich sicherlich folgendermaßen. Die meisten Leute an den meisten Orten, die an der Tätigkeit teilnehmen, die wir als "Regatten durchführen ce bezeichnen, erkennen dieselben Regeln an wie wir .. Dennoch ist es vorstellbar, daß wir auf ein Volk treffen, das regelmäßig Tätigkeiten ausführt, die unseren eigenen ähnlich sind, das aber d) und e) abstreitet - und zwar nicht aus bloßem Mangel an Verständnis, sondern weil es bereit ist, konsistent hiermit zu handeln. Obwohl sie den gesamten k.o.-Wettkampf so wie wir durchführen, können wir uns vorstellen, daß sie die Trophäe der Mannschaft überreichen, die die erste Runde gewonnen hat und daß sie diese Mannschaft als Gewinner behandeln - wobei sie bei Nachfragen darauf bestehen, daß die erste Runde die Endrunde war; damit falsifizieren sie e) durch ihr Handeln. Zweifellos würde uns dies als seltsame Art des Vorgehens - und nicht nur des Redens - er.scheinen, insbesondere weil es jetzt eher eine Frage des Zufalls als eine Frage des Geschicks und der Geschwindigkeit wäre, welche Mannschaft den Preis und die Gratulationen erhalten würde. Wir könnten folglich sehr wohl ihrer Aktivität den Titel einer "Regatta" oder eines" Wettkampfes" verweigern oder sagen, daß dies - wenn überhaupt - eine sehr schlecht durchgeführte ReH
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gatta ist. Wir könnten auch die Schlußfolgerung vorziehen, daß dies eine sehr seltsame Art einer Regatta ist, die sehr von unserer eigenen verschieden ist oder vielleicht überhaupt keine Regatta; sicherlich aber "nicht das, was wir als Regatta bezeichnen". d) und e) zu akzeptieren bringt folglich mit sich, die gesamte wohlbestimmte Menge von Handlungsweisen zu akzeptieren, die die Durchführung einer Regatta beinhaltet. Wenn wi~ dies als die richtige, systematische und methodische Weise anerkennen, die Geschicklichkeit und. Geschwindigkeit der wettkämpfenden Mannschaften zu testen, legen wir uns darauf fest, mit dem damit verbundenen Begriffssystem umzugehen, für das bei den angegebenen Bedingungen die Aussagen d) und e) mit Notwendigkeit wahr sind. Um die enthaltenen Implikationen deutlich zu machen, können wir die beiden Aussagen demzufolge schreiben: So wie Regattt!n und k.o. -Wettkämpfe nun mal sind, kann die erste Mannschaft in der Aufstellung nicht in die zweite Vorschlußrunde kommen. Zuzulassen, daß so etwas passiert, würde den ganzen Sinn solcher Wettkämpfe zunichtemachen. .
Offensichtlich haben wir es hier mit mehr zu tun als bloß mit einer sprachlichen - im Sinne einer nur Wörter betreffenden - Angelegenheit. Es geht nicht nur darum, daß wir einer hinreichend exzentrischen Aktivität die bloße Bezeichnung "Regatta" verwehren sollten, sondern darum, daß wir ihr diesen Titel verweigern sollten. Eine Aktivität muß sich diesen Titel durch die Erfüllung bestimmter Bedingungen und durch die Erreichung bestimmter Absichten verdienen - er wird ihr nicht durch übereinkunft oder beliebige Wahl gegeben, etwa wie der Einheit der elektrischen Ladung die Bezeichnung "Coulomb" durch eine internationale übereinkunft gegeben wurde. Es handelt sich um zwei verschiedene Dinge, einmal zu sagen, "Dies ist nicht das, was wir als 'Regatta' bezeichnen; das Wort hierfür ist 'Auslosung'" und andererseits "Dies ist keine Regatta: Es ist kaum mehr als eine Auslosung". Im ersten Fall redet man sicherlich über· sprachliche Angelegenheiten, die im zweiten Fall enthaltene Kritik ist dagegen viel grundlegender. Man wendet sich nun nicht mehr allein gegen eine Angelegenheit des Gebrauchs, sondern gegen die gesamte Aktivität, die diese Gebrauchsweise widerspiegelt. Soviel zu d) und e). Auch wenn diese Aussagen keinen Tatsacheninhalt haben, sind sie doch gemischt und verbinden zwei verschiedene Typen der Unmöglichkeit. Einerseits geht die formale, mechanische Art des Vorgehens bei k.o.- Wettk~mpfen ein - daß immer zwei Mannschaften antreten, wobei jedesmal eine ausgeschaltet wird, die Dbrigbleibenden treten wieder paarweise an und so weiter. Andererseits geht der Zweck dieser Aktivität ein, die Tatsa(:he, daß dieses Verfahren als die fairste Art und Weise angesehen wird, um schnell herauszukriegen, welche von einer Reihe von Mannschaften die schnellste ist. Solche Aussagen wie d) und e) haben dementsprechend einen doppelten Aspekt, indem sie gleichzeitig die formalen Eigenschaften von k.o . -Wettkämpfen und die Standards oder Normen für die Durchführung solcher Wettkämpfe widerspiegeln. Unsere letzte Aufgabe ist es, sogar dieses übrigbleibende, verfahrensmäßige Element aus unserem Beispiel zu eliminieren und nachzusehen, was passiert, wenn wir unsere Sätze in rein formale transformieren. Dann bleibt etwas der Mathematik sehr Ähnliches übrig, was aber keineswegs unklar ist. Diese Diskussion hat den Zweck, nachzuweisen, wie sehr es der Mathematik ähnlich sieht - und daß es in der Tat nicht nur so aussieht, sondern Mathematik ist, nämlich der bislcing
175 unbekannte Zweig dieses Fachs, der hier als "Kalkül von Aufstellungen" bezeichnet werden soll. Der Einfachheit halber wollen wir nur k.o.-Wettkämpfe betrachten, die keine folglich die Anzahl der Teilnehmer zwei , vier , acht Freilose enthalten und bei denen . oder eine andere Potenz von zwei ist. Bezeichnen wir eine Aufstellung mit 2m Eintragungen als Aufstellung vom Rang rn-eine Aufstellung mit zwei Eintragungen hat den Rang '1, eine Aufstellung mit vier Eintragungen den Rang 2 und so weiter. Um die Anwendung unseres Beispiels übersichtlich zu halten, wollen wir mit der Betrachtung einer Aufstellung vom Rang 3 beginnen, die also acht Eintragungen hat. Der entscheidende Schritt bei der Formalisierung unserer Diskussion ist die Einführung einer symbolischen Darstellung - nicht, weil es schon selbst einen Vorzug darstellt, bestimmte Aussagen in Symbolen darzustellen oder weil es deren Bedeutung ändern Würde, sondern einfach weil wir, sobald wir Symbole eingeführt haben, in der Lage sind, die ursprüngliche Anwendung des Kalküls zu vergessen - alles über Boote, Runden, Preise usw. zu vergessen - und uns auf die formalen Eigenschaften des Kalküls um ihrer selbst willen zu konzentrieren. Ordnen wir also jedem Platz in der Aufstellung eine Zahl n zu, wobei n in diesem Fall Werte von 1 bis 8 annimmt. In gleicher Weise geben wir jeder Runde - einschließlich der Endausscheidung - eine Nummer h, wobei h von 1 bis 7 läuft. Wir haben dann das formale Schema:
n=~
1
3 4
}
5 6
}
7 8
}
h=~
l
5
7 3
6 4
Ein Zahlenpaar der Form (n,h) kann jetzt der Mannschaft n entsprechen, die sich in der Runde h befindet. In einer Aufstellung vom Rang 3 bedeutet zum Beispiel der Ausdruck (3,5), daß die dritte Mannschaft der Aufstellung in der ersten Vorschlußrunde ist. Wenn eine bestimmte Kombination aus formalen Gründen ausgeschaltet werden muß, kann dies ausgedrückt werden, indem ein X vor das entsprechende Zahlenpaar geschrieben wird. Wir erhalten so entsprechend zur Aussage d) den Ausdruck: f) X(1,6). Wenn eine Möglichkeit eine andere ausschließt, können wir die zwei entsprechenden Zahlenpaare mit einem X dazwischen schreiben. Wir erhalten so entsprechend zu e) den Ausdruck: g) (1,7)X(2,7). Mathematisch gelesen lauten diese Ausdrücke: In einer Aufstellung vom Rang 3 ist
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n= 1 unverträglich mit bzw. ausgeschlossen dl!rch h=6, und die Kombination (1,7) schließt die Kombination (2,7) aus bzw. ist mit ihr unverträglich. Wir haben hier die Anfänge eines Kalküls, der zweifellos weiterentwickelt werden könnte und der (nach meinem besten Wissen) in einer anderen Form vielleicht schon einen Platz in dem Korpus der Mathematik hat. Man könnte zum Beispiel eine allgemeine Theorie entwickeln, die in gleicher Weise auf Aufstellungen beliebigen Ranges anwendbar ist und die eine Menge von Theoremen enthält wie etwa das folgende: In einer Aufstellung vom Rang m gilt (nt, 2m -t)X(n2,2 m -t) für alle nl, n2<2m - t unter der Voraussetzung, dag nt =f n2. Dies ist jeaoch nicht der Ort, um diese möglichen. Ausarbeitungen durchzuführen oder Details über die Beweismethode, über Axiomatisierung und so weiter zu behandeln. Für unsere Zwecke ist erstens von Bedeutung, daß alle in einer Aufstellung mit acht Eintragungen enthaltenen Unmöglichkeiten in der vorgeschlagenen Symbolik ausgedrückt werden können und' daß zweitens ein solches Schema, das hier als "Aufstellung vom Rang 3" bezeichnet wurde, auf rein mathematische Weise untersucht werden kann, bei der Boote, Preise, Regeln und Gratulationen allesamt außer acht bleiben. Wir müssen uns jetzt fragen, was involviert ist, wenn wir das Schema auf rein mathematische Weise behandeln und den Kalkül von Aufstellungen als reinen Kalkül behandeln. Es ist sehr leicht, diese Frage zu beantworten; aber es gibt dabei eine Schwierigkeit~ Daß man sie nämlich so formulieren kann, daß sie lächerlich einfach klingt ~ das Entscheidende liegt weniger in der Antwort selbst als in der Veranschaulichung ihrer Implikationen. Pascal bemerkte einmal, daß man, um ein religiös Glaubender zu werden, sich. nur so yerhalten müs~e, als ob man schon e.iner sei. Genauso können wir hier sagen, daß, wenn wir den Kalkül von Aufstellungen in jeder Hinsicht so behandeln, als sei er schon ein Teil der Mathematik, sonst nichts weiter dafür erforderlich ist, daß er ein solcher Teil wird. Es gibt keinen Heiligenschein für symbolische Ausdrücke, ohne .den sie nicht mathematische Ausdrücke sein könnten. Es liegt an uns, ihnen eine mathematische Bedeutung zu geben, wenn wir so wollen, indem wir sie in rein mathematischer Weise behandeln. Unsere Frage erhält deshalb die neue Form: "Welche Anzeichen deuten darauf hin, daß der Kalkül der Aufstellungen als Mathematik behandelt wird und seine Aussagen als mathematische Aussagen?" Die Antwort ist, grob gesagt, daß" die Kriterien "für die Annahme und Zurückweisung von Aussagen keine verfahrensmäßigen oder andere fremden überlegungen enthalten dürfen, sondern völlig innerhalb des Kalküls liegen müssen. Die Aussagen müssen so behandelt werden, daß ihre Negationen entweder als Ergebnis von Fehlern bei der Bildung von Ausdrücken betrachtet werden oder als offenkundige Absurditäten - absolute und offenkundige Unmöglichkeiten. Vor allem dürfen sie nicht als Anzeichen von etwas Falschem außerhalb des Kalküls selbst angesehen werden. Natürlich bleiben alle resultierenden Theoreme faktisch interpretierbar durch Bezug auf Rennen, Preise und so weiter, da der Kalkül durch Abstraktion aus dem Schema der Vorgehensweise einer gutgeführten Regatta gewonnen wurde. Aber insoweit man dazu übergeht, den Kalkül als reine Ma!hematik zu behandeln, hört das Interesse an dieser Interpretation auf. In der Tat könnte es schließlich so sein, daß entweder die fonnale Untersuchung des Kalküls der Aufstellungen weitergeht,
177 obwohl Regatten vollständig unüblich geworden sind oder daß andere Anwendungen des Kalküls entd~ckt werden und der Ursprung des Kalküls vollkommen vergessen wird. Es ist vorstellbar, daß der Kalkül in der Theorie der Genetik gebraucht werden kann als eine Möglichkeit, Fragen von Vererbungsmustern zu behandeln - insbesondere Fragen der Form "Von welchem Teil seiner U r-ur-Großeltern bekam dieser Mann seine roten Haare?" (Außerdem könnte der Kalkül die Grundlage für ein neues System zum Komponieren atonaler Musik abgeben.) In beiden Fällen - ob der Kalkül seine praktische, Anwendung verliert oder gar- neue- Anwendungsmöglichkeiten findet - bleiben die Fragen, welche Mengen von Möglichkeiten zulässig sind, welche Zahlenpaare sich gegenseitig ausschließen und welche allgemeinen Theoreme für alle m gelten, bei völligem Absehen von allen das Rudern betreffenden Fragen diskutierbar, und die Kr,iterien zur Beurteilung der Antworten auf solche Fragen liegen von nun an ausschließlich im Kalkül der Aufstellungen. Nehmen wir zum Beispiel an, daß jemand den symbolichen Ausdruck g) angreift, _ der unserer ursprünglichen Aussage d) entspricht: Für m=3 gilt (1,7)X(2,7). Dieser Ausdruck wird nun ausschließlich mittels formaler Gründe gerechtfertigt. Diesen Ausdruck abzustreiten ist absurd, da- bei einer Aufstellung vom Rang 3 gilt: (1,5)X(2,5); (1,7) nur wenn (1,5); . (2,7) nur wenn (2,5)wobei alle diese Aussagen axiomatisch gelten. Hieraus folgt unmittelbar, daß (1 ~7)X(2,7). Diese Beweisführung stellt einen schlichten mathematischen Beweis dar, und ein Mathematiker würde nicht einen Moment daran denken, zu kommentieren: "Eine ganz schön ungewöhnliche Art, eine Regatta zu führen, wenn man sowohl (1,7) als auch (2,7) zuläßt, was?" Es besteht hier eine Analogie zu dem Zustand der Geometrie vor und nach Euklid. Wenn ein Landvermesser die Vermessung eines Gebiets angibt, bei der ein Dreieck anscheinend eine Seite hat, die länger als die beiden anderen Seiten zusammengenommen ist, kö~nen wir ihn fragen: "Was hast du bloß mit deinem Theodoliten gemacht?" Aber im Mathematikunterricht in der Schule, wo wir Geometrie als formale Wissenschaft lernen, wird die Rede von einem Dreieck mit einer Seite, die länger als die beiden anderen zusammen ist, als absurd und inkonsistent mit den euklidischen Axiomen ausgeschlossen. Ein mathematischer Geometer, der auf ein Dreieck stößt, das scheinbar diese Eigenschaft hat, könnte , ,Das ist aber eine seltsame Art der Vermessung" nur im Scherz sagen. Wir sehen es als seinen Beruf an, allein mit Hilfe der Axiome von Euklid zu beweisen, daß ein solches Dreieck schon aus mathematischen Gründen ausgeschaltet werden muß. In jedem Bereich der Mathematik sind die untersuchten Behauptungen zunächst Bedingungen, Normen oder Standards, auf die im Laufe irgendeiner praktischen Tätigkeit Bezug genommen wird - Wettrudern oder Landvermessen. In jedem Fall wird dann ein Punkt erreicht, von dem an sie als notwendige Wahrheiten einer rein formalen Art behandelt werden. Auf diese Weise gingen wir von d) und e) - von Bedingungen, die eine gutgeführte Regatte erfüllen muß - zu den entsprechenden symbolischen Ausdrücken f) und g)
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über. Diese Ausdrücke haben mit der Durchführung von Regatten genausowenig zu tun wie unsere Schulgeometrie mit geometria im ursprünglichen Sinn der Landvermessung. Das heißt natürlich nicht, daß wir jeden Satz in ein· mathematisches Theorem überführen können, indem wir ihn auf rein mathematische Weise behandeln. Die große Mehrheit unserer Sätze sind von' der Art, daß die Aufforde~ng , ,Behandle diese Aussage als reine Mathematik" ihnen keinen Sinn geben könnte. Der Vorzug unseres Beispiels mit der Regatta ist eben, daß es uns eine systematische Menge von Aussa'gen liefert, die einer mathematischen Behandlung zugänglich sind. Auf diese Weise könnte man niemals Aussagen wie , ,Es ist ein böser Wind, der niemandem etwas· Gutes zuweht" oder "Ich esse rohe Runkelrüben nicht gerne" behandeln. Die Begriffe der "Aufstellung", der "Runde" und so weiter sind bereits in einer fast mathematischen Weise ausgedrückt, und alles was wir tun müssen, um mit ihnen einen Kalkül zu errichten, ist, uns auf die formalen Aspekte der Beziehungen zwischen ihnen zu konzentrieren. Aussagen über Aufstellungen, Runden und Mannschaften sind - anders als die meisten anderen unserer Aussagen - mögliche Ausgangsp.un~t~ für Kalküle . . Diesem schon ziemlich ausführlichen Beispiel kann noch ein letzter Schliff gegeben werden, der die zwischen einem Kalkül, der für eine bestimmte Anwendung maßgeschneidert wurde und einem Kalkül, der in einem anderen Kontext angewendet wird als dem, für deren Behandlung er entwickelt wurde, bestehenden Unterschiede deutlich werden läßt. Wie die Dinge liegen, kann jeder Aussage innerhalb des Kalküls der Aufstellungen eine direkte Interpretation durch Bezug auf Rennen, Preise und so weiter gegeben werden. Schließlich wurde der Kalkül einfach durch eine Fonnalisierung von Aussagen über Regatten gewon nen, die ansonsten in nonnalem Deutsch geschrieben werden können, Formal können wir uns jedoch einen leicht modifizierten Kalkül vorstellen, der fast in allen Hinsichten dem Kalkül der Aufstellungen gleicht, aber einige Möglichkeiten enthält, die in unserem obigen Kalkül. ausgeschlossen sind. So sind im Kalkül vom Rang m die möglichen Werte für h (die Zahl der Runden) 1,2, ... , 2m-I. Das heißt, insgesamt sieben bei einer Aufstellung vom Rang 3. Daraus folgt, daß alle Zahlenpaare (n,h) ausgeschlossen werden, für die h einen größeren Wert als 2m-i annimmt. (Wir können diese Form des Kalküls bequem als "h-begrenzten" Kalkül bezeichnen.) Ausschließlich die Anwendung des Kalküls liefert einen Grund dafür, \\'arum wir den Werten von h diese Beschränkung auferlegen müssen. Mathematisch gesehen hat dies keine besondere Bedeutung, und wir könnten einen modifizierten, h-unbegrenzten Kalkül aufbauen, bei dem den Werten von h keine Beschränkung auferlegt wird und wo Zahlenpaare zugelassen sind, bei denen h die Werte 2m , 2m+l ... oder so groß wie man will annimmt. Wenn man für einen Augenblick die Anwendung auf Regatten vergißt, kann man die Ansicht vertreten, daß - da der Kalkül zur Elimination dient und keine Elimination mehr möglich ist, wenn nur ein n übriggeblieben ist - es selbst-evident ist, daß wenn (r, 2m -i), dann auch (r,2 m ), (r, 2 ffi +i) und so weiter. Nehmen wir jetzt an,~ daß der h-unbeschränkte Kalkül schon existierte und gebräuchlich war, ehe k.o.-Wettkämpfe stattfanden. Es wäre dann nur natürlich, ihn auch auf Aufstellungen anzuwenden, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Bei dieser
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neuen Anwendung würden wir es jedoch nur für solche Ausdrücke innerhalb des Kalküls möglich finden, eine ernsthafte Interpretation anzugeben, bei denen h Werte kleiner oder gleich 2m-l annimmt. Wir könnten den anderen vielleicht eine übertragene Interpretation geben und beispielsweise im Falle eines Wettkampfes zwischen acht Mannschaften sagen, "Lady Margaret hat die achte Runde erreicht", was bedeuten soll, daß Lady Margaret Sieger ist. Ähnlich kann man von Golfspielern sagen, daß sie am neunzehnten Loch sind - in der Bedeutung, daß sie ihre Runden beendet haben und jetzt in der Bar des Klubhauses sitzen. Aber natürlich unterst~eicht die Tatsache, daß wir diesen Aussagen eine übertragene Interpretation geben können, nur, daß uns keine ernsthafte Interpretation möglich ist. Zahlenpaare, für die h gleich oder größer als 2m ist, sind vielleicht mathematisch möglich, sie haben aber keine praktische Bedeutung. Was sollen wir auf dem Hintergrund dieser Tatsache sagen, wenn jemand anfängt, uns etwas über die "funfundneunzigste Runde" zu erzählen? Wir werden in diesem Fall sicherlich wünschen, Bezugnahmen auf die ,,95. Runde" auszuschalten und es als Prinzip festzulegen, daß ein einfacher k.o.-Wettkampf zwischen acht Mannschaften nicht mehr als ,sieben Runden enthalten kann. Es fragt sich nun, welchen Status wir diesem Prinzip zuschreiben sollen. Innerhalb unseres ursprünglichen, h -beschränkten Kalküls konnten wir es noch als Konsequenz eines Theorems des Kalküls ansehen, auch wenn dieses von besonders fundamentaler und axiomatischer Art war - das Prinzip formulierte da eine besonders offensichtliche mathematische Unmöglichkeit. W ~nn wir jedoch den h-unbeschränkten Kalkül verwenden, könn~n wir dies nicht mehr als mathematische Unmöglichkeit bezeichnen. Für diese Anwendung verwenden wir nur den Teil des Kalküls, der Werte für h bis zu sieben umfaßt und geben den Werten von h größer als sieben keine bzw. lediglich eine übertragene Interpretation. Dennoch existiert der Rest des Kalküls, wenn auch unbenützt, im Hintergrund weiter. Ausdrücke wie (5,95) scheinen mathematisch sinnvoll zu sein, auch wenn sie keine Anwendung bei der bestimmten praktischen Aktivität haben, unl die es geht - sie haben einen "mathematischen Sinn", obwohl sie keine praktische Bedeutung haben. Das Prinzip, auf das wir uns jetzt berufen - d. h. "Ein k.o.-Wettkampf zwischen p Teilnehmern hat nur p-l Runden" bedeutet offensichtlich, daß eine klare, absolute Unmöglichkeit kraft Festsetzung ausgeschlossen wird - und zwar genauso, wie es bei unseren früheren Aussagen d) und e) zu einer derartigen Festsetzung kam. Aber innerhalb des h-unbeschränkten Kalküls ist dies überhaupt keine mathematische Unmöglichkeit. Wenn wir zu einer Erklärung aufgefordert werden, kann unsere Ant\vort jetzt lauten, daß es theoretisch unmöglich ist, daß eink.o.-Wettkampfzwischen acht Mannschaften mehr als sieben Runden hat, auch wenn das vom mathematischen Standpunkt aus vorstellbar ist. Um den Ursprung dieser bestimmten Unmöglichkeit klarzulegen, müssen wir nicht bloß die fonnalen Eigenschaften des Kalküls untersuchen, sondern auch die Art und Weise, in der die Beziehung zwischen Kalkül und praktischer Anwendung hergestellt ist. Der h-unbegrenzte Kalkül hat einen höheren Grad der KompIexi~ät als ihn unsere jetzige Anwendung ausnützt. Der Grund für die Ausscha1tu~g von solchen Ausdrücken wie (5,95) ist, daß bei der Herstellung einer Beziehung zwischen den Prinzipien der. RegattaDurchführung und dem h-unbegrenzten Kalkül den Ausdrücken, bei denen h einen
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Wert gleich oder größer als 2m annimmt, keine Bedeutung verliehen wird. Eine ähnliche Situation besteht in vielen Fällen, in denen wir von einer Unmöglichkeit sagen, daß sie nicht praktisch, sondern vielmehr theoretisch ist. Dieser letzte Punkt erlangt in folgender Weise philosophische Bedeutung. Bei der Betrachtung von Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten, die neben formalen überlegungen auch solche einer anderen Art enthalten, beschränken wir unsere Aufmerksamkeit oft auf maßgeschneiderte Kalküle, d. h. auf jene Kalküle, die durch Abstraktion aus ihren gebräuchlichsten und natürlichsten Anwendungen entstanden sind . Zwei hier anzuführende natürliche Beispiele sind die euklidische Geometrie und die Arithemtik natürlicher Zahlen. Im Falle maßgeschneiderter Kalküle ist es besonders schwierig, die rein formalen Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten von denjenigen zu trennen, mit denen sie verbunden sind, da die Ursprünge des Kalküls zu einer Verdeckung der Unterschiede zwischen ihnen führen. Folglich vergessen wir leicht, daß es irgendwie notwendig ist, eine Verbindung zwischen einem Kalkül und seiner Anwendung herzustellen und fassen daher die rein formalen Eigenschaften des Kalküls leicht so auf, als besäßen sie selbst eine Kraft von der Art, die nur den anderen überlegungen rechtmäßig zukommt, mit denen sie Hand in Hand gehen. Dies führt immer dann zu Schwierigkeiten, wenn eine neue Anwendung eines schon vorher existierenden Kalküls nicht seinen insgesamt möglichen Anwendungsbereich ausnützt. Beispiel hierfür ist die Einführung des Begriffs eines "absoluten Nullpunkts" der Temperatur oder die Spekulationen über den Anfa~g der Zeit selbst - wobei alle Zahlen ohne Interpretationen bleiben, die - mathematisch gesprochenjenseits unseres Nullpunktes liegen. Es kann auch bei der Interpretation der formalen Logik zu Schwierigkeiten führen. Auch hier' können die Beziehungen zwischen formalen, systematischen Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten unserer logischen Kalküle einerseits und Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten anderer Arten andererseits leicht verdeckt werden. Diesem Problem müssen' wir uns Jetzt zuwenden. Die Lehren dieses ganzen Beispiels verstärken jene, die wir früher angegeben haben. Nach einer Untersuchung der philosophischen Begriffe der "logischen" Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit kamen wir zu dem Schluß, daß der Anwendungsbereich und die Bedeutung dieser Begriffe zu oft als übertrieben groß angesehen werden. Abgesehen vom Fall analytischer Argumentationen (die in der Praxis eine sehr kleine Klasse bilden) ist die Abwesenheit definitiver Widersprüche in einer Argumentation etwas, was wir bloß im Rahmen von Vorüberlegungen überprüfep., um die schlichte Sinnhaftigkeit der Argumentation sicherzustellen, ehe wir uns erst der substantiellen Frage zuwenden, ob die Argumentation auch stichhaltig oder akzeptierbar ist. "Logische überlegungen befassen sich, so verstanden, nur mit vorbereitenden Verfahrensfragen, nicht mit der tatsächlichen Tauglichkeit einer Argumentation, einer Aussage oder einer Anklage. Sobald wir uns der Diskussion der echten Tauglichkeit einer Argumentation zuwenden, gehören Fragen der "logischen" Möglichkeit, Unmöglichkeit und Notwendigkeit nicht mehr zu Sache. Die Auffassung, daß "lögische Notwendigkeit" und "logische Unmöglichkeit" auf irgendeine Weise fester oder unausweichbarer sind als "bloß physische Notwendigkeit" oder "sogenannte moralische Unmöglichkeit", ist das Ergebnis eines Mißverständnisses. H
181 Wo ein fonnaler Kalkül verwendet wird, ist die Gefahr dieses Mißverstä~dni~ses um so größer. Es i~t schlimm genug, wenn m~n gesagt bekommt, daß es ein großer verfahrensmäßiger Fehler ist, einen Lauf der ersten Mannschaft der Aufstellung in der zweiten Vorschlußrunde zuz~lassen; wenn man uns aber - unter Hinzuziehen des Kalküls der Aufstellungen - zusätzlich sagt, daß dies eine schlichte mathematische Unmöglichkeit ist, scheint eine .neue, unüberwindbare Barriere aufgerichtet worden zu sein. Was wird aber tatsächlich durch diese Erläuterung hinzugefügt? Die systematischen Notwendigkeiten und U nmöglichkeiten in formalen Kalkülen können in einer formalen Symbolik sicherlich nur die Notwendigkeiten und U nmöglichkeiten all der anderen Arten nochmals ausdrücken. F alls alle formal zulässigen Ausdrücke echten Unmöglichkeiten entsprechen, ist dies nur ein Zeichen dafür, daß wir einen adäquaten Kalkül verwenden - d. h. einen, bei dem die Regeln für die Bildung symbolischer Ausdrücke exakt den Kriterien zum Erkennen wahrer Aussagen bei der Anwendu~g des Kal~üls entsprechen. Woher rührt also die Meinung, daß formale Notwendigkeiten irgendwie stärker sein können als Notwendigkeiten anderer Arten und daß sie diese tatsächlich verstärken können? Sie kommt vermutlich daher, daß unrichtig gebildete Ausdrücke in einem Kalkül als völlig absurd behandelt werden. Zum Beispiel wäre bei einer Aufstellung vom Rang 3 die Aufforderung, die beiden Ausdrücke (1,7) ·und (2,7) zu akzeptieren, schlicht unverständlich. Es besteht hier ein auffälliger Unterschied zu der entsprechenden applizierten Aussage ("Die beiden ersten Mannschaften kamen in die Endrunde"), die zwar Erstaunen oder Entrüstung hervorrufen könnte, die aber sicherlich nicht unverständlich ist. Diese besondere Eigenschaft von fonnalen Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten ist jedoch nicht auf ihre Anwendung übertragbar, und sie kann deshalb die Notwendigkeiten und U nmöglichkeiten des praktischen Lebens nicht wirklich yerstärken. Wir haben zum Beispiel die Freiheit, unsere Vorstellungen und Praktiken· des Wettkampfsportes zu ändern, woran uns auch die Mathematik nicht hindern kann. Angenommen wit: tun dies, so bleiben die .systematischen Notwendigkeiten und U nmöglichkeiten dieselben wie bisher. Was vorher unverständlich war, wird jetzt nicht verständlich werden. Was .vielmehr geschehen wird, ist, daß der Kalkül jetzt nicht mehr in derselben Weise wie früher anwendbar ist. Eine hinreichend exzentrische Regatta bietet keine Gelegenheit mehr, den einfachen Kalkül der Aufstellungen anzuwenden. Um das Ergebnis in einem Satz auszudrücken: Systematische Notwendigkeiten dienen nicht dazu, uns begriffliche Wahrheiten aufzuerlegen, sondern nur dazu, diese auszudrücken. Und dies gelingt ihnen nur, solange wir unsere verwendeten Begriffe nicht in wesentlichen Hinsichten ändern. Zum Abschluß möchte ich kurz drei Stellen berühren, an denen diese Lehre für unsere frühere Diskussion der Natur und Funktion der logischen Theorie relevant wird. Erstens vertrat ich die Ansicht, daß ein Motiv für den Versuch, die Prinzipien der Logik in die Form einer mathematischen Theorie zu bringen, die Hoffnung war, daß man ~hie:durch stärkere Arten der Notwendigkeit und Unmöglichkeit ins Spiel bringen könnte. Sobald einmal logische Notwendigkeit und Unmöglichkeit als die strengsten und unüberwindbarsten Spielarten ihrer Spccies angesehen wurden, hielten es Logiker für oberflächlich, sich mit irgendetwas geringerem abzufinden. Sie gaben zu, daß Ausdrücke wie "kausale Notwendigkeit"
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. einen gewissen geläufigen Gebrauch hatten, aber wir sollten uns nicht täuschen: Wenn erkan.nt wird, wie leicht unsere Ansichten über kausale Notwendigkeit durch eine vollkommen vorstellbare Änderung der Tatsachen unserer Welt umgeworfen werden können, muß jeder Philosoph, der bei Sinnen ist, die einzige makellose la-Garantie vorziehen und sich allein an die logische Notwendigkeit halten. Diese Auffassung hält der Kritik nicht stand, wie wir jetzt sehen können. Die innerhalb des formalen Systems eines Kalküls auftretenden Notwendigkeiten und Unmäglichkeiten können nicht stärker oder unüberwindbarer sein als Alltagsnotwendigkeiten und -Unmöglichkeiten, die sie symbolisch nochmals ausdrücken. Natürlich sind kausale Notwendigkeiten nicht dasselb e wie logische Notwendigkeiten, aber sie sind deshalb nicht irgendwie schwächer. Man könnte sich sogar fragen, welchen Platz Vergleiche der Stärke in diesem Zusammenhang haben - und, was dies betrifft, welchen Sinn es überhaupt hat, nach der "Stärke" von logischer und systematischer Notwendigkeit zu fragen. Im Fall von echten praktischen Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten - gleich ob physikalischer, moralischer Art usw. - ist es möglich, von "stärker" und "schwächer" zu reden. Die Auswirkung einiger Ursachen kann leichter abgewendet werden als die anderer Ursachen; der Strenge einiger Gesetze kann man leichter entgehen; die Kraft einiger moralischer Pflichten ist leichter durch konkurrierende Ansprüche aufzuweichen, und so weiter. Aber "logische Notwendigkeiten" und "logische Unmöglichkeiten" sind hiervon völlig verschieden. Sie betreffen nicht äußere Hindernisse, die wir bei der Planung unseres Lebens und unserer Handlungen mehr oder weniger in Rechnung stellen müssen, sondern die formalen Vorbedingungen, die bei der Darstellung unserer Argumentationen und Aussagen in konsistenter, verstehbarer Sprache involviert sind. Soweit sie uns beschränken, liegen sie innerhalb unseres eigenen Einflußbereichs: Da sie selbst auferlegt sind, müssen wir sie entweder respektieren oder aber uns entschließen, sie aufzugeben. Nur solange wir unsere Begriffe oder unsere Kalküle unmodifiziert beibehalten, verpflichten wir uns, eine bestimmte Menge logischer Notwendigkeiten und U nmöglichkeiten anzuerkennen, und jede Änderung der Begriffe oder der Kalküle ändert ebenso die Bedingungen der Konsistenz und der Verständlichkeit. Stärke und Schwäche andererseits sind charakteristisch für äußere Zwänge. Im Bereich der Logik ist es unangebracht, von diesen beiden Dingen zu reden. Sicherlich wäre es - um das Extrem zu nennen - unangebracht, sich über Angelegenheiten der Logik zu beklagen. Stellen wir uns vor, wir treffen den Kapitän vom Boot des Kings College und er erklärt uns, warum er so niedergeschlagen aussieht: "Es ist eine fürchterliche' Schande, wir wurden als erste ausgelost und können deshalb nicht in die zweite Vorschlußrunde kommen." Dies wäre tatsächlich von Wichtigkeit, wenn einen der Zufall der Auslosung sogar aller verfahrensmäßigen Chancen berauben würde, bis zur Endausscheidung zu gelangen oder wenn der Wettkampf so eingerichtet wäre, daß der Preis automatisch an den Gewinner der zweiten Vorschlußrunde anstatt an den Gewinner der Endrunde gehen würde. Dann wäre Trübsinn vielleicht gerechtfertigt. Oder stellen wir uns einen Mathematiker vor, der Depressionen bekam, weil er herausgefunden hatte, daß (1,6) bei Aufstellungen vom Rang 3 unmöglich ist. Die Entdeckung einer mathematischen Unmöglichkeit ist etwas anderes als die Mitteilung des Arztes, man brauche nicht darauf zu hoffen, noch ein halbes Jahr zu leben. Bei einer Aufstellung anderer Art ist dies als mathema-
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tische Möglichkeit völlig in Ordnung: Soll er stattdessen doch diesen Kalkül untersuchen. Natürlich liegt der Fall anders, wenn der Mathematiker seinen wissenschaftlichen Ruf darauf gebaut hat, daß dieses Zahlenpaar eine Möglichkeit ist; d. h. wenn für ihn die mathematische Unmöglichkeit .zufällig mit irgendeiner anderen Unmöglichkeit verbunden wurde, wie z. B. mit der Unmöglichkeit, seinen bisherigen wissenschaftlichen Ruf aufrechtzuerhalten. Auf die gleiche Weise können mathematische Notwendigkeiten in physikalischen Theorien durch die beobachteten kausalen Notwendigkeiten, mit denen sie in der Anwendung verbunden sind, eine p:.:-aktische Stärke erhalten. Aber die Beziehung läuft so herum: Es sind die praktischen Notwendigkeiten, die ihre Stärke den systematischen Notwendigkeiten verleihen, für die sie den Hintergrund bilden, und nicht die systematischen Notwendigkeiten, die die praktischen verstärken. Es ergibt keinen Sinn, logische und systematische Notwendigkeiten als unausweichlich oder logische und systematische U nmöglichkeiten als unüberwindbar zu bezeichnen. Eine solche Redeweise ist nur im Falle der extrem·sten physikalischen Hindernisse angemessen, im Falle der strengsten Gesetze oder der bindendsten Verpflichtungen. Wenn in einigen Fällen die Verbindung etwa zwischen kausaler und systematischer Notwendigkeit stärker zu sein scheint als sie tatsächlich ist, so liegt das daran, daß der betreffende Zweig der Mathematik für diese besondere Anwendung maßgeschneidert wurde und weil er deshalb ohne Zurechtrücken paßt. Dies hat dann zum Ergebnis, daß wir das Element der Entscheidung übersehen, das in der Verbindung von gerade diesem Kalkül mit gerade dieser Anwendung liegt. Hauptsächlich in diesen Fällen können wir den Ausdruck unserer eigenen systematischen Konstruktionen als willkürliche Auferlegung von außen ansehen. Die beiden letzten Punkte können kürzer abgehandelt werden. Der erste besteht in folgendem: Sobald sich ein Kalkül selbständig macht und als reine Mathematik ohne Bezug auf seine ursprüngliche Anwendung behandelt wird, muß man sein Recht auf den Titel erneut prüfen, der ihm anfangs ohne Frage zukam. Für einen Deutschen ist das Wort "Geometrie" ein mathematischer Term, der nicht mehr wie ursprünglich im Griechischen die Vorstellung enthält, daß es die Wissenschaft der Landvermessung ist. Andererseits wäre es sowohl irreführend als ·auch überraschend, die Arithmetik von rationalen Brüchen durch ihren mittelalterlichen Namen "Musik" zu bezeichnen - auch wenn Brüche zuerst wegen ihres Gebrauchs bei der Erklärung der Vibrationen musikalischer Saiten interessant waren. Ebenso erweist es sich als irreführend, die Bezeichnung "Wahrscheinlichkeitskalkül" für die mathematische Theorie nicht von praktischen Wahrscheinlichkeiten, sondern von partiellen Folgerungsbeziehungen beizubehalt~n. Durch diese Beispiele gewarnt, müssen wir vorsichtig sein, ehe wir einem formalen Kalkül den Titel "Logik" zugestehen. Es ist vielleicht möglich, in der Logik so wie in der Physik einen begrenzten Bereich von Problemen in einer mathematischen Form zu behandeln. Die Handhabung dieser mathematischen Seite hat sich sicherlich in beiden Gebieten als eine so technische und so differenzierte Sache erwiesen, daß es eine eigene Disziplin wurde. Die symbolische Logik kann folglich vielleicht beanspruc;hen, genauso Teil der Logik zu sein - ~enn auch kein sehr großer Teil- wie die mathematische Physik Teil der Physik ist. Aber kann sie beanspruchen, mehr zu sein?
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Es bedeutet keine Herabsetzung der mathematischen Physik, wenn man darauf hinweist, daß einige physikalische Probleme eher eine Angelegenheit für das Zyklotron als für den Computer sind und daß mathematische Berechnungen überhaupt kein Teil der Physik mehr wären, wenn man sie von allen möglichen Anwendungen auf die Erfahrung abtrennen würde. Nehmen wir beispielsweise an, mathematische Physiker würden vollständig durch die Axiomatisierung ihrer Theorien in Anspruch genommen, bemühten sich nicht mehr, in Verbindung mit ihren Kollegen aus dem Labor zu bleiben, verfielen in die Gewohnheit, von den verschiedenen von ihnen entwickelten axiomatischen Systemen als von verschiedenen "Physiken" zu reden, wobei sie dC1:s Wort im grammatischen Plural verwendeten, so wie die Mathematiker heute -von verschiedenen "Geometrien "reden, und nehmen wir an, sie verspotteten die Experimentalphysiker schließlich deshalb, weil sie ihre niedere Beschäftigung weiterhin als "Physik" im Singular bezeichneten. Hätte man nicht den Eindruck, daß die mathematischen Physiker irgendwie einen Aspekt ihrer Arbeit von entscheidender Wichtigkeit übersehen haben, wenn dies passierte? Daß sie, fast durch ein V ersehen, reine Mathematiker geworden wären und keine Physiker mehr sind? Kann die Logik in irgendeiner Hinsicht mehr als die Physik hoffen, als völlig reine und formale Disziplin aufgebaut zu werden, ohne auf ähnliche Weise ihren Charakter zu verlieren? Das Hauptziel des vorliegenden Kapitels war es, als Antwort ein klares " Nein" zu vertreten. Wir können dieses Kapitel mit einer Bemerkung schließen, die bereits auf das nächste Kapitel. verweist und uns zudem einen Rückblick über die letzten Kapitel gibt. Die Argumentationen in unseren systematischen Kalkülen sind, wenn man sie (wie in der reinen Mathematik) um ihrer selbst willen untersucht, analytisch. Die Mathematiker verlangen von ihnen nur, daß sie Widersprüche vermeiden und ihren Standards der Konsistenz und des Beweisens in allen ihren internen Relation.en entsprechen. Sobald Kalküle aber im Dienst einer praktischen Argumentation angewandt werden, ändern sich· unsere Bedingungen. Argumentationen der angewandten Mathematik s.ind, obwohl sie formal identisch sind mit Argumentationen in der reinen Mathematik, dennoch substantiell und nicht analytisch, und der Schritt von den Daten zur Konklusion enthält oft einen echten Typensprung. Wir können uns der formalen Angemessenheit unserer Argumentationen dadurch versichern, daß wir sie entweder in der Form CD; SR; deshalb K) ausdrücken - wobei dann eine Schlußregel tatsächlich eine Substitutionsregel ist, die den einfachsten aller mathematischen Schritte erlaubt - oder aber in Form einer mathematischen Argumentation, die dem angemessenen Kalkül entnommen ist. In beiden Fällen können wir die sich ergebende Argumentation zu Recht als deduktiv bezeichnen, so wie es Physiker und Astronomen lange schon gewohnt sind - trotz der Tatsache, daß die Konklusion einen Gehalt hat, der sich wesentlich von dem. der Daten und der Stützung zusammengenommen unterscheidet, und dCl;ß der hier enthaltene Schritt mehr als verbale Transformation involviert. Mikro-physiologisch behalten unsere Argumentationen so gesehen vielleicht eine mathematische Struktur bei. Auf der umfassonderen anatomischen Ebene aber können sie dennoch substantielle Argumentationen sein, durch die wir echte und sogar weitreichende Schritte machen, indem wir von unseren ursprünglichen Daten und der Stützung für unsere Schlußregeln zu Konklusionen übergehen, die sowohl neu als auch von völlig verschiedenen Typen sind.
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Die Ursprünge der Erkenntnistheorie
Der Status der Erkenntnistheorie war schon immer mit Zweideutigkeiten behaftet. Die von Philosophen bezüglich von Wissensanspriichen gestellten Fragen schienen oft einem anderen Typ anzugehören als die bei der Beantwortung dieser Fragen benutzten Methoden. Als Untersuchungs objekt des Epistemologen wird der "Verstand", der "Intellekt" oder die "menschliche Vernunft" aufgefaßt, und daher haben diese Fragen einen starken psychologischen Beigeschmack. Andererseits sind die von Philosophen bei der Behandlung dieser Fragen verwendeten Methoden nur selten psychologische Methoden, wenn wir die Psychologie als experimentelle Wissenschaft verstehen;' noch bis vor kurzem, als Piaget mit einer methodischen Untersuchung der Art und der Reihenfolge begann, in der Kinder ihre intellektuellen Fähigkeiten erwerben, war die Entwicklung des menschlichen Verstands Objekt von nur wenigen dezidiert experimentellen Untersuchungen. Anstatt komplizierte naturwissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen und ihr Bild des menschlichen Verstands aposteriori aufzustellen, gingen die Philosophen ganz anders vor; sie betrachteten nämlich die Argumentationen, auf die Wissensansprü~he gegründet werden können. Diese beurteilten sie mit Hilfe von apriori-Standards. Kurz gesagt: Die Erkenntnistheorie bestand aus einer Menge logisch aussehender Antworten auf psychologisch erscheinende Fragen. Damit soll nicht die Art und Weise kritisiert werden, in der Philosophen an dieses Thema herangegangen sind. Es gibt zwar Leute, die so reden, als ob keine ernsthaften Fragen gleich welcher Art apriori beantwortet werden könnten und die die umfassende Sammlung von Tatsachenbeobachtungen und experimentellen Ergebnissen als notwendige Vorbedingung jeder intellektuellen Untersuchung betrachten. Für diesen Standpunkt könnten auch im Fall der Erkenntnistheorie Gründe vorgebracht werden, wenn diese einen eindeutig psychologischen Charakter besäße. Man könnte dann tatsächlich die Auffassung vertreten, daß den Lösungen erkenntnistheoretischer Probleme die fortschreitende Entdeckung des relevanten Tatsachenmaterials vorauszug'ehen ,habe. Unsere Schwierigk~it liegt aber gerade darin, daß die Probleme der Erkenntnistheorie - sofern sie überhaupt psychologisch sind - ganz deutlich nicht psychologische Fragen irgendeiner gewöhnlichen Art sind. Wenn andererseits die Erkenntnistheorie angemessener als Teil der vergleichenden angewandten Logik aufzufassen ist, w,ird die allgemeine Vorgehensweise der Philosophen nicht nur verständlich, son,dern auch akzeptierbar. In diesem Fall haben die Ergebnisse unserer früheren Kapitel, in denen wir die Begriffe der an gewandten Logik unter die Lupe nahmen, auch eine Bedeutung für die Natur und die Lösung episten1010gischer Probleme, die ihnen ansonsten nicht zukäme. Unsere erste Aufgabe ist es deshalb, diese anfängliche Zweideutigkeit aufzulösen, so daß im Laufe dieses Kapitels die Relevanz unserer früheren Entdeckungen für die Erkenntnistheorie völlig klargestellt werden kann. Wie wir sehen werden, ist die Zweideutigkeit über den Status der Erkenntnistheorie in einem bestirrunten Maß unvermeidbar. Wenn man dieses Gebiet als zur Psychologie gehörig betrachtet, ist 'es mit geistigen oder kogpitiven Vorgängen befaßt, mit unseren geistigen Anlagen und Gaben, mit "Wahrnehmung" und ihrer Funktionsweise. Als Teil der allgemeinen Logik betrachtet, befaßt es sich mit geisti-
186 gen oder rationalen Verfahren, mit Methoden der Argumentation und mit der rationalen Rechtfertigung von Wissensansprüchen. Auf der abstrakten Ebene scheint es sich hier um völlig getrennte Fragestellungen zu handeln, aber in der Praxis lassen sie sich so gut wie überhaupt nicht trennen. Es ist vielmehr so, daß bei den beiden Arten der Fragestellung dieselben Aktivitäten betrachtet werden, zuerst von einem empirischen Standpunkt aus, dann von einem kritischen. Wenn ein Kind rechnet, ein Anwalt einen Fall darlegt oder ein Astronom eine Finsternis vorhersagt, können alle diese Aktivitäten entweder psychologisch (d. h. kognitive Prozesse involvierend) oder aber kritisch (d. h. die Anwendung od~r Nichtanwendung rationaler Verfahren involvierend) betrachtet werden. Rationale Verfahren und Methoden existieren nicht im luftleeren Raum, abgelöst von faktischen überlegungen. Sie sind Dinge, die von denen, die derartige überlegungen anstellen, gelernt, angewandt, manchmal modifiziert, gelegentlich sogar aufgegeben werden; und in diesem Ausmaß ist das Gebiet der Logik unvermeidbar· auf die eine Seite hin zur Psychologie offen. Andererseits können es sich Psychologen nicht leisten, so zu reden, als seien "kognitive prozesse" reine Naturphänomene, die bei den einzelnen aus nur Gott (oder der natürlichen Selektion) bekannten Gründen plötzlich stattfinden und die folglich auf rein empirische Weise aposteriori untersucht werden können. Die Grenzlinie zwi.~chen Psychologie und Logik ist in beiden Richtungt;n durchlässig, und Psychologen sollten erkennen, WIe weit rationale Verfahren eher menschliche Artefakte sind und nicht Naturphänomene. Im siebzehnten Jahrhundert - als das Bild der Erkenntnistheorie als einer Untersuchung des "menschlichen Verstands" aufkam - gab es einen besonderen Grund für die Zweideutigkeit bezüglich dieses Gegenstands. Denn eine der Fragen, mit denen sich Philosophen damals vornehmlich beschäftigten, erschi~n noch stärker als gewöhnlich als eine psychologische Frage. Dies war das Problem der "angeborenen Ideen". Philosophen stellten sich (zumindest zum Teil) die Frage, ob jeder Begriff, den ein intelligenter Erwachsener verwendet, in einer angeboren Phase seiner Erziehung erworben wird und ob jede Wahrheit, von der wir mit Gründen überzeugt sind, zu irgendeiner Zeit unseres Lebens zur Kenntnis gekommen sein muß. Einige Philosophen wollten diese beiden Fragen stark bejahend beantworten. Sie behaupteten, daß nichts "in unseren Köpfen' angegeben werden kann, was nicht innerhalb unseres Lebens "vermittels der Sinne" in sie hineingekommen ist. (Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu.) Andere Philosophen konnten sich aber keinen Weg vorstellen, auf dem bestimmte unserer fundamentalen Begriffe evtl. durch Lernprozesse aufgebaut sein könnten, deren Authentizität sie anzuerkennen bereit waren. Sie schlossen deshalb, daß einige Begriffe angeboren sind. Wie einige nichtintellektuelle Gewohnheiten und Fähigkeiten müssen auch bestimmte intellektuelle Gewohnheiten und Fähigkeiten als instinktiv aufgefaßt werden. Es wurde vermutet, daß das Kleinkind weder zu lernen hat, an der Brust zu saugen, noch (etwa) den Begriff von Gott vom Anfang an aufzubauen. Man kann j.edoch einwenden, daß die Kontroverse über angeborene Ideen nie ein wesentlicher Teil der Erkenntnistheorie war. Solange die Philosophen mit einem allzu einfachen Bild der Sinne und des Verstandes operierten, schien es ihnen zweifellos unmö~lich, dl'111 Problenl zu entkommen. Da sie ~ie ~inne als ein~ Art Vorzimmer des Intellekts behandelten, durch das alle Begnffe und WahrheIten hindurch-
187 müssen, um den Sitz unserer Vernunft zu erreichen,. oder aber als eine Art Röhre , durch die Sinnesmaterial hindurchgeleitet werden muß, um auf den Geist - ein Ziel weit am Ende - zu treffen und ihm eine Mitteilung zu machen, waren sie durch Schwierigkeiten bedrängt, die überwindbar gewesen wären, wenn sie damals ein aktiveres Bild unserer geistigen Anlagen akzeptiert hätten, das keine so exakte Kopie der Physiologie der Sinnesorgane gewesen wäre. Es gibt aber für uns keinen Grund, weshalb wir in denselben Fehler verfallen sollten. Obgleich ich zugebe, daß man letztlich die psychologischen und die logischen Aspekte der Epistemologie nicht ganz und gar trennen kann, werde ich mich im folgenden auf die letzteren konzentrieren. Es ist vielleicht unrealistisch, in irgendeiner vorliegenden Situation epistemologische Fragen völlig von psychologischen Fragen getrennt halten zu wollen. Für unsere jetzigen Zwecke können wi.r uns aber auf die logischen Fragen konzentrieren, die durch solche "epistemologische Situationen" aufgeworfen werden. Wir müssen jetzt versuchen, diese Situationen zu charakterisieren und zu verstehen. Erinnern wir uns an die Ausführungen im zweiten Kapitel über die Natur von Wissensansprüchen, insbesondere über die wahre Rolle der Frage "Woher weißt du, daß p"? Wer behauptet, irgendetwas zu wissen - er sagt etwa: "Ich weiß, wann die Züge nach Oxford fahren (wie der Präsid~nt von Ecuador heißt, daß Königin Anne tot ist, wie man Karamellen herstellt)" - sag~ uns nicht notwendig etwas ,. Autobiographisches über den Vorgang, der ihn in die Lage versetzte, über diese Dinge zu reden oder sie zu tun. Er sagt auch nichts über seine jetzigen psychischen Akti~itäten oder über seinen Bewußtsein~zustand. Wie J. L. Austin klargestellt hat, bringt er in jedem dieser Fälle vielmehr die Behauptung vor, glaubwürdig zu reden, er gibt die Versicherung, daß. in diesem Fall sein Wort besonders zuverlässig ist. Während die Formulierungen "Ich glaube ... ce"~ "Ich bin überzeugt ... " und "Ich bin sicher ... " Aussagen einleiten, deren Richtigkeit nur von mir selbst abhängt (mit einem unterstellten "take it or leave ist"), bedeutet die Formulierung "Ich weiß das und das", seine Aussage sozusagen mit Brief und Siegel zu machen. Durch sie legt man sich fest, man macht sich in gewisser Weise verantwortlich für die Zuverlässigkeit seiner Aussage. Entsprechend behaupten wir, wenn wir von jemand anderem sagen "er weiß", daß er Glaubwürdigkeit besitzt, oder wir bekräftigen eine dahingehende Behauptung, die er selbst aufgestellt haben mag. Das heißt natürlich nicht, daß wir seinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit aufstellen, denn wir können manchmal "er weiß" sagen, wo er selbst zögern würde, "ich ,weiß" zu sagen: Wir können genausowenig seine Behauptung, eine Autorität zu sein, aufstellen, wie wir seine Versprechen machen können oder für ihn niesen können. Vielmehr bürgen wir mit unserem eigenen' Ruf dafür, daß sich seine Meinung als zuverlässig erweisen wird. Wenn wir nicht bereit sind, uns bezüglich seiner Glaubwürdigkeit festzulegen, und erst recht, wenn wir irgendeinen Grund haben, sie in diesem Fall anzuzweifeln, ist es richtig, wenn wir nur sagen "Er glaubt, (ist überzeugt, ist sicher) ... , z.B. daß die Tories die nächste Wahl gewinnen" - dies sogar dann, wenn er selbst so weit geht, zu behaupten, er wisse es. Daran müssen wir uns erinnern, wenn wir uns solche Fragen wie "Woher weißt du?" und "Woher weiß er?" zuwenden. Denn der Zweck solcher Fragen ist, die Gründe, die Qualifikationen oder die Glaubwürdigkeit desjenigen herauszufinden, von dem behauptet wurde, er wisse etwas - nicht aber, den versteckten Mechanismus ,
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einer' geistigen Aktivität - "Erkennen" genannt- ans Tageslicht zu bringerl. Wenn wir dies im Auge behalten, können wir sowohl erklären, warum solche Fragen in ihrer normalen Verwendung Antworten der ihnen entsprechenden Arten verlangen, als auch, warum sie nicht einfachen Fragen in der ersten Person - "Woher weiß ich?" - entsprechen. Zu der Frage "Woher weiß ich?": Es stimmt zwar, daß wir sie manchmal dazu verwenden, der Herausforderung "Woher weißt du?" zu begegnen, wenn wir unsere Glaubwürdigkeit fundieren wollen - "Woher ich es weiß? Ich weiß es daher: ... ((. Aber es gibt verhältnismäßig wenige und zudem ziemlich spezielle Gelegenheiten, bei denen es uns als notwendig erscheint, uns selbst entweder die eigene Glaubwürdigkeit oder die der Zuverlässigkeit von etwas zu beweisep, worüber wir schon ziemlich sicher sind. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß wir weniger Verwendung für die Fr~ge "Woher weiß ich?" haben als für die Fragen "Woher weiß du?" und "Woher weiß er?", während diese Fragen alle auf einer Stufe stehen -müßten, wenn sie nach beobachtbaren geistigen Prozessen fragten. Was die Frage "Woher weiß du?" angeht: Sie verlangt in verschiedenen Situationen Antworten verschiedener Arten. Manchmal ist die Frage eine logische, wenn es nämlich darum geht, woher wir wissen, daß etwas der Fall ist, daß es zum Beispiel am Sonntag nachmittag keine Züge nach Dingwall gibt, daß es keine Primzahl zwischen 320 und, 330 gibt oder daß Aluminium bei .1 0 über dem absoluten Nullpunkt ein Supraleiter ist. In solchen Fällen müssen wir Gründe (Daten, Beweise, Rechtfertigung) für unsere jeweilige Behauptung angeben. Bei anderen Gelegenheiten aber, bei denen die Frage äquivalent ist zur Frage" Wodurch bist du in die Lage versetzt .worden, hierüber ,zu reden?", ist die angemessene Antwort biographischer Natur:· "Ich weiß, daß am Sonntag- nachmittag keine Züge nach Dingwall gehen, weil ich heute morgen nachgesehen habe", "Ich weiß, wie man Sahnekaramellen macht, weil es mir meine Mutter beigebracht hat". Welche Art der Antwort angemessen ist, hängt vom Kontext ab, und es ist nicht immer klar, in welchem Sinn die Frage aufzufassen ist. Allerdings macht es manchmal praktisch keinen Unterschied, wie wir sie auffassen. Wenn ein Wissenschaftler einen Bericht von Experimenten veröffentlicht, die ihn zu einer neuen Schlußfolgerung geführt haben - daß zum Beispiel Aluminium bei 10 über dem absoluten Nullpunkt supr~leitend ist - gibt sein Bericht auf beide Arten der Frage eine Antwort. In ihm muß er seine Konklusion durch eine vollständige Darlegung der experimentellen Gründe für seine Behauptung rechtfertigen. Sein Bericht kann aber oft ebenfalls als biographische Darstellung der Folge von Ereignissen gelesen werden, die ihn in die Lage versetzten, die betreffende Behauptung aufzustellen; und er ist in der Tat gewöhnlich im Indikativ Präteritum ausgedrückt: "Ich nahm einen Schmelztiegel aus Kryolith mit zylindrischer Form ... ". Für philosophische Zwecke ist die Zweideutigkeit· der Frage "Woher weißt du?" jedoch entscheidend, und wir befassen uns mit Logik, nicht mit Biographien. Wir konzentrieren uns hier auf den auf Rechtfertigung abzielenden Gebrauch von Fragen dieser Form, auch wenn diese manchmal nach stützenden Gründen verlangen und manchmal nach dem persönlichen Hintergrund, je nachdem ob es um die Rechtfertigung unserer Meinungen geht oder um die Geschichte, die uns dazu führte, sie zu vertreten. Zu der Frage "Woher weiß er?" muß nur dies bemerkt werden: Diese Frage verlangt
189 fast immer nach einer Antwort des biographischen Typs. Der Grund' hierfür ist leicht zu erkennen. Genauso wie jeder seine eigenen Versprechen geben muß - mein Wort wird nur dann als für dich verbindlich angesehen, wenn du mir eine Prozeßvollmacht gegeben hast oder mich zum Delegierten für gewisse Aufgaben be- , stellt hast - so muß auch jeder' seine eigenen Behauptungen rechtfertigen. Wenn ich für mich selber die Behauptung vertrete, daß Aluminium bei 10 über dem absoluten Nullpunkt supraieitend ist, ist es mir freigestellt, als einen meiner Gründ~ das Papier eines Wissenschaftlers zu zitieren. Dieser kann entsprechend die Ergebnisse seiner Experimente als Beweis für seine Behauptung anführen. Wenn ich aber über den Wissenschaftler rede, wird alles, was ich aus seinem Papier zitiere, biographisch verstanden werden. Nur wenn." Woher we~ß er?" als elliptische For'm für" Wie würde er seine Behauptung rechtfertigen?" aufgefaßt werden würde, könnten wir als Antwort Gründe angeben - aber es wären nicht "unsere" Gründe für "seine" Behaup~ng, sondern das, was wir für seine Gründe für die von ihm aufgestellte Behauptung halten. Selbst dann scheint diese Frage aber besser durch die Formulierung "Wanim glaubt er, daß ... ?" als durch" Woher weiß er, daß ... ?" ausgedrückt. Denn wenn wir alle seine Grunde anführen können und tatsächlich meinen, er wisse (d. h. wenn wir -tatsächlich meinen, daß seine Schlußfolgerung zuverlässig ist), sind wir in der Lage, die Behauptung selbst aufzustellen und zu rechtfertigen. In epistemologischen Situationen entstehen also Fragen von mehreren verschiedenen Arten. Wer einen Wissensanspruch erhebt, setzt sich der möglichen Aufforderung au~, diese Behauptung einzulösen, sie' zu rechtfertigen. In dieser Hinsicht fungiert ein Wissensanspruch _einfach als eine Behauptung, die mit besonderem Nachdruck und mit besonderem Gewicht vorgebracht wird. Um dieser Aufforderung nachzukorriiil1;~n, muß er Gründe oder überlegungen angeben, die er für hinreichend hält, die Rechtmäßigkeit seiner Behauptung zu zeigen. Danach können wir dazu übergehen, seine Beweisführung unter Zugrundelegen der durch die Natur der Situation erforderten Kategorien der angewandten Logik zu kritisieren. Die Bahnen des Fragens und der Kritik, in die wir geführt werden, brauchen selbst nichts Psychologisches oder Soziologisches an sich zu haben. Die Frage ist jetzt nicht, ob die Leute normalerweise so denken oder was an ihrer Kindheit oder an ihrer Erziehung, dazu führt, daß sie so denken. Die Frage ist ausschließlich, ob diese bestimmte Argumentation dem Standard entspricht, üb sie unsere anerkennende Annahme verdient oder unsere begründete Verwerfung. An dieser Stelle wird die Frage 'höchst relevant, welche Arten von Standards wir bei der praktischen Kritik von Argumentationen in verschiedenen Bereichen anwenden sollten, und von nun an soll dies wieder unser Hauptthema sein. Wir sollten uns aber nicht endgültig der Betrachtung dieser Frage zuwenden, ohne vorher nochmals darauf hinzuweisen, daß Fragen dieser Art im Grunde genommen in genau denselben Situationen auftauchen wie Fragen der Entwicklungspsychologie und der Soziologie der Erziehung. "Woher haben wir unser Wissen?" - wenn man danach fragt, wie Kinder im Laufe ihres Lebens Begriffe und Tatsachenwissen erwerben oder durch welche Erziehungsmittel bestimmte rationale Techniken und Verfahren eingeprägt werden, muß man natürlich aposteriori vorgehen und aus der Psychologie und Soziologie stammende Methoden verwenden. Die abschließende AntWort wird sehr wahrscheinlich sein, daß, die Entwicklung bei verschiedenen Kindern und
190 verschiedenen Ausbildungssystemen verschieden verläuft. Wenn man dagegen fragt, ob die Arten von Gründen, die wir in irgendeinem Bereich für unsere faktischen Meinungen haben, den Standards entsprechen, ist diese Frage nicht mehr psychologischer Art, sondern kritischer Art. Induktive a posteriori-Verfahren sind hier nicht mehr angebracht, und die Frage fällt in das Aufgabengebiet des Philosophen oder des angewandten Logikers. WEITERE KONSEQUENZEN UNSERER HYPOTHESE Von jetzt an müssen wir also die Fragen "Woher wissen wir, daß .. ~?H und "Wissen wir jemals wirklich, daß ... ?H in einem logischen Sinn interpretieren. Wir werden nicht unmittelbar fragen "Wie funktioniert unser kognitiver Mechanismus?" und "Funktioniert unser kognitiver Mechanismus jemals wirklich erfolgreich?H, denn diese Fragen könnten uns in irrelevante psychologische Untersuchungen hineinführen. Stattdessen werden wir fragen "Welche angemessenen Gründe haben wir überhaupt für unsere Wissensansprüche?" und "Genügen die Gründe, auf denen wir unsere Wissensansprüche aufbauen, jemals wirklich den Standards?". (Man könnte vielleicht sogar die Auffassung vertreten, daß die Rede von "kognitiven Mechanismen" und ihrer Effektivität selber in Wirklichkeit eine verkleidete Form ist, über unsere Argumentationen und deren Tauglichkeit zu reden, aber dieser Vorschlag braucht uns j.etzt nicht aufzuhalten: Wenn an ihm etwas dran sein sollte, würde uns dies nur in unserer Meinung bestärken, daß die logischen Fragen offener daliegen und zuerst betrachtet werden müssen.) Die logische K~itik von Wissensansprüchen ist, wie wir gesehen haben, ein Spezialfall der praktischen Kritik von Argumentationen - nämlich deren strengste Form. Wer eine Behauptung vorbringt in Verbindung mit der Behauptung, zu wissen, daß sie wahr ist, impliziert, daß die Gründe, die er zur S.tützung der Behauptung anführen könnte, in höchstem Maße relevant und zwingend sind. Nur wenn er sich dessen sicher ist, daß er solche Gründe zur Verfügung hat, hat er ein Recht darauf,. irgendeinen Wissensanspruch zu erheben .. Die frage, wann (falls überhaupt) die Gründe wirklich adäquat sind, auf denen wir unsere Wissensansprüche aufbauen, kann deshalb in der Bedeutung verstanden werden: "Können die Argumentationen, durch die wir unsere Behauptungen begründen, jemals den höchsten einschlägigen Standards genügen ?"; und das allgemeine Probl~m der vergleichenden an gewandten Logik wird es sein, zu entscheiden, was die höchsten einschlägigen Standards in j~dem einzelnen Bereich der Argumentation sind. Hier stellen sich nun zwei Fragen. Erstens die Frage, welche Standards am strengsten, härtesten und anspruchsvollsten sind; und zweitens die Frage, welche Standards wir ·als relevant betrachten können, wenn wir Argumentationen aus irgendeinem bestimmten Bereich beurteilen. Im letzten Kapitel sahen wir, wie oft sich formale Logiker auf die erste Frage auf Kosten der zweiten Frage konzentriert haben. Statt einen Apparat von logischen Kategorien aufzustellen, der für die speziellen Probleme in jedem Bereich tauglich sein soll - von Kategorien, deren Anwendungskriterien auch in der Theorie wie in der Praxis bereichsabhängig sind - haben sie im analytischen Typ der Argumentation ein Ideal gesehen, dem allein sie theoretische
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Gültigkeit zugestanden haben' und haben die Kriterien der analytischen Gültigkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit als universelle, bereichsunabhängige Standards der Gültigkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit behandelt. Wir werden jetzt sehen, daß dieselbe Idealisierung von analytischen Argumentationen großen Teilen der Erkenntnistheorie, wie sie von Descartes bis heute entwickelt wurde, zugrundeliegt. Die Hinsicht.en, in denen sich substantielle Argumentationen von analytischen Argumentationen unterscheiden - und sich der Natur der Sache nach auch unterscheiden müssen -, wurden als Mängel aufgefaßt, denen abgeholfen werden muß, als zu überbrückende Abgründe. Als Ergebnis hiervon wurde nicht "Welches sind die höchsten einschlägigen Standards, die unsere substantiell-gestützten Wissensansprüche anstreben können?" zur zentralen Frage der Erkenntnistheorie, sondern vielmehr "Können wir substantielle Argumentationen auf die Ebene analytischer Argumentationen hinaufheben?-". Wir wollen deshalb für den Augenblick nicht ~u stark auf der Frage der Relevanz von Standards beharren. Stattdessen wollen wir noch einmal die Annahme machen, daß alle Argumentationen durch ein- und dieselben analytischen Standards beurteilt werden können, und noch eine kurze Zeit damit zubringen, uns weitere Konsequenzen dieser Hypothese zu überlegen. Klar ist : Wenn Philosophen nur die leichteste Neigung haben, die analytischen Argumentationen' angemessenen Beurteilungsstandards den Standard als überlegen anzusehen, die wir in der Praxis bei der Beurteilung von Argumentationen aus anderen Bereichen anwenden, weil sie strenger sind, dann haben dieselben Philosophen, wenn sie sich der Betrachtung \'011 I-"r'lgen Jer Erkenntnistheorie zuwenden, ein offenkundiges Motiv, auf der Analytizität von Argumentationen als einer ersten Vorbedingung von wahrem Wissen zu bestehen. Denn Wissensansprüche involvieren Behauptungen, die höchsten Standards zu erreichen; und welche Standards - so können sie fragen - könnten die Standards übertreffen, auf denen wir im Falle analytischer Argumentationen bestehen? Nach dieser Ansicht sind Wissensansprüche nur dann ernsthaft zu rechtfertigen, wenn eine stützende Information angegeben werden kann, aus der die ~ ahrheit des Wissensanspruchs folgt. Die Aufgabe des Erkenntnistheoretikers ist es dann, herauszukriegen, unter welchen Umständen unsere Behauptungen auf diese Weise richtig gestützt werden können. Sobald wir zu Beispielen übergehen, werden ernsthafte Schwierigkeiten deutlich, insbesondere in solchen Fällen, in denen unsere Argumentation einen logischen Typensprung enthält. In vielen Situationen ist der logische Typ der mit dem Anspruch, Wissen zu sein, vorgebrachten Behauptungen verschieden von den logischen Typen der Daten und der Stützung für die Schlußregel, die wir zugunsten der Behauptungen vorbringen. Wir stellen Behauptungen über die Zukunft auf und stützen sie durch Daten aus der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit; wir stellet:l Behauptungen über die entfernte Vergangenheit auf und stützen sie durch Aussagen über die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit; wir stellen allgemeine Behauptungen über die Natur auf und stützen sie durch die Ergebnisse einzelner Beobachtungen und Experimente; wir behaupten, zu wissen, was aridere denken und fühlen und rechtfertigen diese Behauptungen, indem wir anführen, was' diese geschrieben, gesagt und getan haben; und wir stellen ernst gemeinte ethische Behauptungen auf und rechtfertigen sie durch Aussagen über unsere Situation, über abzusehende Konsequenzen und über die Gefühle und Bedenken der anderen Betroffenen. Wir befin-
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den uns oft in solchen Arten von Situationen, wovon die eben erwähnten Situationen Beispiele sind, und die Hauptschwierigkeit dürfte offenkundig sein. Denn wenn wir Wissensansprüche nur dann als "rechtfertigbar" akzeptieren wollen, wenn aus den Daten und der Stützung zusammengenommen die mit dem Anspruch, Wissen zu sein, vorgetragene Behauptung logisch folgt, ist es fraglich, ob sich eines dieser Beispiele von Wissensansprüchen als "rechtfertigbar" erweisen wird. Betrachten wir mit dem Anspruch auf Richtigkeit vorgetragene Prognosen von Astronomen. Welche Gründe haben' sie, diese aufzustellen? Eine umfangreiche Sammlung von Aufzeichnungen von teleskopischen Beobachtungen und von überprüften dynamischen Theorien, die über die letzten 250 Jahre hinweg verbessert und als zuverlässig gefunden wurden. Diese Antwort klingt vielleicht eindrucksvoll, und von einem praktischen Standpunkt aus gesehen sollte dies auch so sein. Sobald ein Philosoph aber Folgerungsbeziehungen verlangt, ändert sich die Situation. Denn der Natur der Sache nach können die Aufzeichnungen der Astronomen nicht neueren Datums als der jetzigen Stunde sein. Was die astronomischen Theorien betrifft, so sind diese dem Erkenntnistheoretiker nicht mehr wert als die zur Prüfung ihrer Angemessen4eit verwendeten Experimente und Beobachtungen - es erübrigt sich zu sagen, daß Experimente und Beobachtungen auch in der Vergangenheit gemacht wurden. Wir können folglich die überlegungen der Astronomen angeben und darauf hinweisen, wie sie - mittels anscheinend hieb- und stichfesten Argumentationen - diese Theorien verwenden, um von Daten über die vergangenen Positionen der betreffenden Himmelskörper zu Vorhersagen über die Positionen kommen, die sie in der Zukunft annehmen werden. Aber dies "rettet uns nicht vor der Strenge des Philosophen: Er wird zugestehen, daß wir zweifellos formalen ~tandards genügende Argumentationen von der Vergangenheit in die Zukunft konstruieren können, wenn wir die Theorien akzeptieren. Das Problem ist aber, ob unser Vertrauen in diese Theorien selbst zu rechtfertigen ist. Sobald eine Theorie einmal akzeptiert ist, liefert sie uns vielleicht eine Schlußregel, um vo~ der Vergangenheit in die Zukunft überzugehen; der Philosoph wird aber darüberhinaus Nachforschungen über die Stützung der Schlußregeln anstellen, die uns die Theorie zur Verfügung stellt; und sobald man über analytische Argumentationen hinausgeht, ist nicht mehr die Rede davon, daß aus Daten und der Stützung für die Schlußregel zusammengenommen die Konklusionen folgen würden. Die gesamte Information, die der Astronom zu mehren hoffen kann, bleibt Information über die Gegenwart und die Vergangenheit. Diese kann ihm für praktische Zwecke von einigem Nutzen sein, aber in den Augen des konsequenten Erkenntnistheoretikers hilft sie ihm nichts. Seine Behauptung geht über die Zukunft, seine Daten und die Stützung gehen über die Vergangenheit und die Gegenwart - damit ist schon alles gesagt: Der Typensprung selbst ist die Quelle der Schwierigkeit, und solange nichts getan wurde, ihn zu überwinden, müssen alle Wissensansprüche über die Zukunft gleichermaßen gefährdet erscheinen. Ähnliche Schwierigkeiten machen uns in anderen Fällen zu schaffen, sobald wir den Philosophen auf unsere Argumentationen loslassen. Angenommen ein Archäologe erzählt uns über das Leben in England um 100 v. Chr., und ein Historiker diskutiert seinerseits die Auslandspolitik von Charles 11. oder bringt ernst gemeinte Behauptungen über Ereignisse in Londen im Jahre 1850 n. ehr. vor. Solange wir uns
193 nicht allzuweit von Humes Backgemmontisch entfernt haben, sind wir vielleicht bereit, ihre Argumentationen als ausreichend zwingend und schlüssig für praktische Zwecke anzunehmen. "Sind sie aber wirklich zwingend, wirklich schlüssig?" kann jetzt der Philosoph fragen. Sicherlich sind eine Menge von Erhebungen und Löchern im Boden, einige Tonsplitter und ein bißchen rostiges Eisen das einzige, worauf sich der Archäol
194 benutzte Schlußregeln - werden (jedenfalls anscheinend) einen von dem der Konklusion sehr verschiedenen logischen Typ besitzen. In jedem dieser Fälle kann der Philosoph deshalb dieselbe zentrale Schwierigkeit aufwerfen - daß, so umfassend unsere Sammlung von Daten und Stützung auch sein mag, kein Widerspruch involviert ist, wenn man diese der negierten Konklusion hinzufügt. Analytizität wird nicht erreicht sein. Sobald wir uns einmal auf eine derartige Untersuchung einlassen, haben wir keinen festen Boden mehr unter den Füßen. Denn die Schwierigkeit, die sich für den Philosophen am schärfsten im Fall von Prognosen stellt, kann in gleicher Weise bezüglich jeder 'anderen substantiellen Argumentation gleich welcher Art konstruiert werden; und wie selten rein analytische Argumentationen sind, haben wir in früheren Kapiteln gesehen. Unsere Zweifel wurden zuerst bezüglic~ der weit in die Zukunft reichenden Prognosen der Astronomen und der weit in die Vergangenheit reichenden Retrodiktionen der Archäologen geweckt; aber sie zeigen jetzt die Tendenz, sich nahezu schrankenlos auszubreiten. Aus keiner noch so umfassenden Sammlung von Aussagen über den gegenwärtigen Zustand und den Inhalt von Dokumenten, die nachweislich aus dem 19. Jahrhundert stammen, kann irgendeine Aussage über Palmerston und das Jahr 1850 geschlossen werden; aus keiner Menge von Aussagen über unsere heutige Situation, über die Folgen unserer Handlungen oder ,die moralischen Bedenken unserer Zeitgenossen und Mitbürger kann logisch eine Konklusion über unsere Pflichten geschlossen werden; aus keiner Menge von Informationen über die Gebärden, Gesichtsausdrücke, Äußerungen und Reaktionen von jemandem kann auf eine Konklusion über dessen Gefühle logisch geschlossen werden; aus keiner noch so erschöpfenden Analyse der Verteilung von Farbstoff und Lack über die verschiedenen Teile eines Stücks Leinwand kann auf eine Konklusion über die Schönheit des Bildes logisch geschlossen werden, das dadurch gegeben ist. Hier sind logische Folgerungsbeziehungen genausowenig möglich wie im naturwissenschaftlichen Fall, wo uns unsere astronomischen Beobachtungen und physikalischen Experimente der Gegenwart und der Vergangenheit nicht in die Lage versetzen können, die Position irgendeines Himmelskörpers zu einer bestimmten Zeit in der Zukunft vorherzusagen, ohne daß die Möglichkeit eines Fehlers auch nur sinnvoll wäre. Es kommt aber noch schlimmer. Die Schwierigkeiten, die Wissensansprüche über die Vergangenheit und über die Zukunft beeinträchtigen, können jetzt auch über die Gegenwart konstruiert werden, wenn sich die betreffenden Gegenstände für den Augenblick außer Sicht- oder Hörweite befinden. Wir sahen oben, daß die ArgumentatIon: Anne ist Jacks Schwester; Alle Schwestern von Jack haben rote Haare; Deshalb hat Anne rote Haare
nur dann eine echt analytische Argumentation ist, wenn wir Anne in diesenl Augenblick sehen können; denn nur in diesem Fall ist die zweite Prämisse in der Bedeutung "J ede einzelne Schwester von J ack hat - wie wir beobachten - in diesem Augenblick rote Haare" interpretierbar und nur dann liefert sie analytische Stützung für eine Schlußregel, die zu der Konklusion "Deshalb hat Anne in diesem Augenblick rote Haare" führt. Ist diese Bedingung nicht erfüllt und ist Anne in diesem
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Augenblick außer Sicht, kann die Vermutung, daß sie vielleicht ihre Haare verloren hat oder daß sie ihre Haare gefärbt hat, seit wir sie das letzte Mal gesehen haben, nicht soweit ausgeschlossen werden, daß es nicht mehr möglich ist, ihr zu widersprechen. Als nächstes kön.nen wir uns sogar über solche Gegenstände etwas unsicher fühlen, die gegenwärtig zu sehen sind oder sich in Hörweite befinden. Wenn wir uns tatsächlich fragen, worauf wir uns· stützen können, wenn wir Wissensansprüche über diese Gegenstände erheben, können wir schließlich auch hier nur auf die Art verweisen, wie uns die Gegenstände in diesem Augenblick erscheinen und wie sie sich anhören, und die ganzen traditionellen Argumente, die zum Skeptizismus bezüglich unsere.r Sinne führen, können gegen uns verwandt werden. Aus keiner noch so umfassenden Sammlung von -Daten darüber, wie uns Gegenstände jetzt erscheinen, kann die Wahrheit einer Konklusion darüber abgeleitet werden, wie sie tatsächlich sind. Aussagen über das Aussehen haben einen anderen 10gischen Typ als Aussagen über den tatsächlichen Zustand yon Gegenständen in der Welt um uns herum, und man kann genausowenig hoffen, logische Folgerungsbeziehungen zwischen Aussagen dieser beiden Typen zu erhalten, wie in irgendeinem anderen Fall, wo eine Argumentation einen Typensprung enthält. Wenn wir Analytizität fordern wollen, bemerken wir also ein generelles Problem, das bezüglich aller nicht-analytischen Bereiche der Argumentation entsteht. Wissensanspiüche erreichen nie den idealen Standard des Philosophen, wiewohlfundiert sie in der Praxis auch erscheinen mögen. Sobald wir dieses Ide~l akzeptiert haben, scheint es keine Hoffnung zu geben, unsere alltäglichen Wissensansprüche - abgesehen von denen der reinen Mathematik - zu retten, ohne zu philosophischer Befreiungsarbeit einer drastischen Art Zuflucht zu nehmen. Worin diese bestehen könnte, ist unsere nächste Frage. KöNNEN SUBSTANTIELLE ARGUMENTATIONEN GERElTET WERDEN? 1. Transzendentale Versuche
Wenn wir uns der Frage zuwenden, wie Wissensansprüche außerhalb des analytischen Bereichs gerechtfertigt werden könnten, bieten sich Theorien von drei verschiedenen Arten als Möglichkeiten an. Diese drei Möglichkeiten entstehen unmittelbar aus der Fonn des allgemeinen Problems, mit dem wir es hier zu tun haben. In jedem Beispiel hat unser Wissensanspruch involviert, eine Aussage als ernst gemeinte und mit Nachdruck vorgetragene Behauptung aufzustellen. Diese entspricht In unserer Analyse der Konklusion K. Wenn wir aufgefordert werden, den Rest der .Argumentation zu ergänzen, von der dies die Schlußfolgerung ist, geben wir zuerst Daten D von einem von dem der Konklusion verschiedenen logischen Typ an und eine Schlußregel SR, die uns erlaubt, von D zu K überzugehen. Weiter in die Enge getrieben sind wir aber gezwungen zuzugeben, daß die Schlußregel SR auf einer Stützung S beruht, deren logischer Typ ebenfalls von dem der Konklusion verschieden ist. Unsere Schwierigkeit bezüglich Wissensansprüchen ergibt sich unmittelbar aus der Tatsache, daß - wie umfassend die durch D und S zusammen bereitgestellten
196 ~ewei.se auch sei? mögen - der Schr~tt vo~ diesen zu der Konklusion K nicht analy-
tIsch 1st. Der beIm übergang von eInerseIts D und S zu andererseits K involviertl' Wechsel des logischen Typs stellt sich uns als logische Kluft dar; die epistemologische Frage ist, was bezüglich dieser Kluft getan werden kann. Können wir sie überbrücken? Müssen wir sie überbrücken? Oder müssen wir lernen, zurechtzukommen, ohne sie zu überbrücken? Diese drei Fragen bilden den Ausgangspunkt von drei Vorgehensweisen, denen wir uns jetzt zuwenden können. Kann die logische Kluft überbrückt werden? Wenn wir annehmen, daß unsere stützende Information (D und S) nicht so vollständig ist, wie es scheint~ könnte sich dies dennoch als möglich herausstellen. Falls alle substantiellen Argumentationen in Wirklichkeit nicht angegebene Prämissen enthalten und wir die zusätzlichen Daten explizit machen, die sie ausdrücken (oder als bekannt voraussetzen), ist es dann nicht vielleicht möglich, daß wir die resultierenden Argumentationen schließlich mittels analytischer Standards beurteilen können? - -Die zweite Möglichkeit ist, zu fragen, ob es wirklich eine Kluft gibt, die zu überbrücken ist. Unter der Annahme, daß die Konklusion. K unserer Argumentationen nicht so verschieden von der stützenden Information sind, wie es den Anschein hat, könnte sogar dies zweifelhaft sein. Es könnte uns jetzt möglich sein, nachzuweisen, daß der im übergang von D und S zu K enthaltene Typensprung nur scheinbar existiert. Nachdem wir den anscheinend bestehenden Typensprung als trügerisch nachgewiesen haben, sollten wir dann hoffen, daß aus einer genügend umfangreichen Menge von Daten und Stützung dennoch die. benötigte Konklusion geschlossen werden könnte. Schließlich - als letzte Zuflucht für den Fall, daß sich der Typensprung als von hartnäckiger Realität erweist und daß keine zusätzlichen Daten gefunden werden, die die Kluft überbrücken würden - kann man fragen, ob es uns irgendwie schadet, wenn die Kluft unüberbrückt bleibt. Vielleicht waren unsere Wissensansprüche schon immer voreilig, und vielleicht ist die logische Kluft in substantiellen-Argumentationen etwas, das wir anerkennen und tolerieren kÖhnen und müssen. Dies sind die drei verlockendsten Wege, entlang derer wir versuchen können, aus der verzwickten Lage, in der wir uns befinden, zu entweichen. Wir können dies aber in allen drei Fällen nur auf Kosten unwillkommener Paradoxien tun. Nehmen wir der Reihe nach jede Theorie her und entwickeln sie, um zu sehen, wie sie zu Schwierigkei ten führt. Nehmen wir zuerst an, daß wir durch Berufung auf zusätzliche Prämissen einer neuen, die Kluft überbrückenden Art versuchen, aus unserer verzwickten Lage herauszukommen. Es. gibt dann unvermeidlich unangenehme Fragen sowohl über die Echtheit der Daten, die diese Prämissen ausdrücken, als auch über deren genauen logischen Status. Es ist eine Sache, unbestimmt in die allgemeine Richtung von "zusätzJichen Daten" zu weisen und eine ganz andere, nachzuweisen, daß diese tatsächlich existieren und die von ihnen veiIangte Aufgabe erfüllen. Wir können ein weit~res Mal das Beipiel prognostischer Argumentationen heranziehen. Die These lautet nun, daß in einigen Situationen unsere Vertrautheit mit den zu einem zukünftigen Ereignis führenden Prozessen so umfassend und innig ist, daß wir die völlig neue Erfahrung eines" Voraussehens der Zukunft" haben. Diese neue Erfahrung liefert die analytische Garantie, die uns bisher fehlte. Oder aber es kann gesagt werden, daß wir, indem wir uns in die Naturprozesse versenken, die in der Welt um uns herum
197 stattfinden, und uns mit ihnen vertraut machen, einen Punkt erreichen können, an dem wir einen allgemeinen Charakter der Dinge unmittelbar und ohne die Möglichkeit einer späteren Widerlegung begreifen, aus dem seinerseits die Wahrheit unserer Vorhersage logisch folgt. Wenn die Aussagen des Historikers über die Vergangenheit in Frage gestellt werden, finden wir uns vielleicht wieder durch die Vorstellung von zusätzlichen Daten angezogen - entweder in der Form unmittelbar begriffener allgemeiner Wahrheiten oder einfacher in Form von ad hoc-Erfahrungen. Ein Historiker, der die materiellen überreste und die Aufzeichnungen einer Epoche hinreichend tief und lange untersucht, kann sich ~ nach dieser Ansicht - schließlich in die Haut der Leute, für die er sich interessiert, hineinbegeben und so in den Gedanken von Wilhelm dem Schweiger lesen oder um wen es sich auch handeln mag. Eine Fähigkeit der "Einfühlung" ist nun ein wichtiger Teil der Ausrüstung jedes Historikers, denn ohne sie ist er unfähig, auf "Zurückgehen in die Vergangenheit" zu vertrauen, und er ist von dieser Fähigkeit abhängig, wenn er irgendwelches authentisches historisches Wissen bilden möchte. Eine ähnliche Fähigkeit kann herangezogen werden, um über unsere Schwierigkeiten bei "Wissen von Fremdseelischem" hinwegzukommen. Vielleicht ist es schließlich so, daß wir beim Aufstellen von Behauptungen über die Empfindungen, Gedanken und Bewußtseinszustände unserer Freunde und Bekannten in Wirklichkeit mehr als ihr V erhalten und ihre Äußerungen zur Verfügung haben, worauf wir uns stützen können. Vielleicht schaffen wir es manchmal, uns in einem nicht nur übertragenen Sinn selbst an ihre Stelle zu versetzen und folglich "selbst ihre Gefühle zu haben". Wenn wir manchmal fähig wären, nicht nur mit ihren Empfindungen mitzufühlen, sondern sie tatsächlich zu teilen, könnte unsere logische Kluft wieder als überbrückt und unsere epistemologische Schwierigkeit als gelöst erscheinen. Ähnliches gilt in anderen Bereichen: Wir brauchen uns nur auf eine ausreichende Skala von Fähigkeiten und Gaben zu berufen, und wir können - falls dieser Gedankengang annehmbar ist - alle zusätzlichen Daten erhalten, die wir benötigen, um auch dort die Klüfte zu überbrücken. Unter Voraussetzung der Zeugnisse unserer moralischen, intellektuellen oder religiösen Sinne erscheinen Wissensansprüche über materielle Gegenstände in der äußeren Weh, über Schönheit, das Gute oder die Existenz Gottes allesamt vor der Bedrohung des Skeptizismus errettet. Theorien dieses allgemeinen Typs besitzen zweifellos eine gewisse Plausibilität. Wir reden tatsächlich in vielen Fällen von Leuten, die außergewöhnliche Fähigkeiten oder Fertigkeiten haben, weil sie regelmäßig Behauptungen (über die Bewußtseinszustände anderer, über die Zukunft, über die Vergangenheit usw.) aufstellen, die sich als wohlbegründet erweisen, obwohl die ihnen ursprünglich zur Verfügung stehenden Beweise sehr dürftig erscheinen. Einige sind außergewöhnlich sensibel für die Gefühle von anderen, einige haben einen ungewöhnlichen Scharfblick für die Qualität von Gemälden, einige haben einen ungeheuren Spü~sirin dafür, die Fehler in einer defekten Maschine herauszufinden, einige haben eine über dem Durchschnitt liegende Begabung zur Rekonstruktion eines vergangenen Zeitalters und zum Erkennen der Motive der betroffenen historischen Figuren. In jedem dieser Fälle, in denen die meisten von uns nur stammeln und raten können, kommen sie zu zuversichtlichen, unzweideutigen Konklusionen - sie sagen beispielsweise "Es muß eine Ver-
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stopfung im Zulaufsammelring geben" oder "Die Absicht von Wilhelm dem ·Schw~i ger muß gewesen sein, die Spanier in Sicherheit zu wiegen". Angenommen, daß sich bei Leuten dieser Art regelmäßig im Licht späterer Entdeckungen erweist, daß sie mit ·~hren Behauptungen Recht hatten, kann man der Meinung sein, daß sie ihre Zuversicht zu Recht zur Schau stellen. Die Frage für uns ist jedoch, ob es irgendeinen logischen Unterschied zwischen diesen außergewöhnlichen Menschen und normalen Sterblichen gibt. Wenn sie mit solcher Zuversicht sagen "Es muß der Fall sein, daß p", bedeutet dies, daß sie einen Wissensanspruch, den wir nur durch eine substantielle Argumentation stützen können, analytisch begründen können? Verschafft ihnen ihr Spürsinn, ihre Voraussicht, -ihr ästhetischer Sinn, ihre Intuition oder ihr Einfühlungsvermögen, worin sie uns übertreffen, eine logische Brücke über die Kluft, die uns behindert, oder ist es nur so, daß sie viel besser als wir ohne Brücke über die Kluft kommen können? Es ist nicht schwer zu zeigen, daß außergewöhnliche Fertigkeiten wie die oben erwähnten zwar von großem Vorteil sind für diejenigen, die sie besitzen, daß sie uns aber nicht aus unserer gemeinsamen epistemologischen Schwierigkeit herausbringen können. Diese Schwierigkeit ist schließlich der Situation eigen, in der wir uns alle befinden und die in jedem Fall die Natur des Problems festlegt, mit dem wir es zu tun. haben. Jones ist ärgerlich und die Bemerkungen von Smith zeigen sein einfühlendes Erkennen dieser Tatsache. Als wie unfehlbar sich das Einfühlungsvermögen von Smith in der~Praxis auch erweis~n mag, das zusätzliche Datum "Smith ist überzeugt davon, daß Jones ärgerlich ist" bringt uns nicht näher an einen analytischen Beweis der in Frage stehenden Tatsache heran. Selbst wenn Smiths Leistungen der einfühlenden Intuition so auffällig sind, daß sie tatsächlich als "telepathisch" angesehen werden müssen, können die dadurch zur Verfügung gestellten Da~~n nicht zu einer logischen Folgerung von Konklusionen über die tatsächlichen Gefühle von Jones beitragen, obwohl sie uns allerdings ermutigen können, den substantiellen Schritt von Anzeichen und Symptomen zu Gefühlen weniger zurückhaltend zu vollziehen als es sonst angebracht wäre. Ähnliches gilt für den Astronomen oder den Historiker. Prognostische Fähigkeit oder historisches Einfühlungsvermögen führen selbst dann, wenn sie fast Hellsehen gleichkommen, nicht zu einer Folgerung d~r Prognosen und Retrodiktionen. Die Fähigkeiten von einigen wenigen sind vielleicht so ausgezeichnet, daß wir versucht sind, zu sagen, daß es für sie so ist, als· ob die Vergangenheit (oder die Zukunft) die Gegenwart wäre; aber man kommt hier·nicht darum herum, das entscheidende "als ob" zu verwenden odel;" Ausdrücke wie "die Zukunft vorhersehen" oder "sich in die Haut von Wilhelm dem Schweiger versetzen" nur als facons de parler zu verwenden. Dieselbe Schlußfolgerung erwartet uns bei dem Versuch, die "logische Kluft" zwischen Daten und Konklusionen einer substantiellen Argumentation nicht durch die Einführung besonderer ad hoc-Prämissen zu überbrücken, sondern durch Berufung auf generelle logische (oder epistemologische) Prinzipien. Zum Beispiel könnte die These vertreten werden, daß man eine Prognose wie: Morgen um Mitternacht wird die Position des Jupiter (so und so) sein
durch Berufung auf eine Verbindung von uns schon verfügbaren Tatsachen: Die Positionen der Planeten bis heute waren (. . .)" und "Die für morgen Mitternacht
199 gemäß den bis jetzt zuverlässigen Theorien prognostizierte Position des Jupiter ist (so und so)
zusammen mit einem weiteren generellen Prinzip analytisch begründen kann, dessen Gültigkeit wir für die Zwecke jeder astronomischen Argumentation annehmen müssen und das wie folgt lautet: Die Theorien der Planetendynamik, die sich in der Vergangenheit als zuverlässig erwiesen haben, werden sich auch weiterhin in diesem Fall als zuverlässig erweisen
Als rein formale übung ist das Setzen dieser letzten Annahme vielleicht ganz in Ordnung, aber sie hilft uns nicht, aus unseren Schwierigkeiten herauszukommen. Denn diese Annahme zu machen ist nicht dasselbe wie die Wahrheit einer Tatsachenaussage über die Gegenwart anzunehmen, für die wir keine unmittelbaren Beweise haben. über die Wahrheit dieses allgemeinen Prinzips könnten wir nur dann definitiv sicher sein, wenn die Situation vergangen wäre, in der wir unsere jetzige Prognose aufstellen könnten. Nach dem Ereignis können wir tatsächlich eine analytische Arguinentation folgender Form vorbringen: l
Die Planetenpositionen bis vor drei Tagen waren (... ); Die Position des Jupiters gestern Mitternacht war - berechnet aus den vor drei Tagen zur Verfügung stehenden Daten gemäß den Standardtheorien - (so und so); Unsere Theorien erwiesen sich bezüglich dieses Ereignisses als zuverlässig; Deshalb: "Die Position des Jupiters gestern Mitternacht "War (so und so)."
Diese Argumentation ist sicherlich analytisch. Wir können nur dann konsistent behaupten, daß sich unsere Theorien bezüglich des Ereignisses als zuverlässig erwiesen haben (wie dies hier in der dritten Prämisse geschieht), wenn die Konklusion, zu der uns jene Theorien führten, durch die Ereignisse bestätigt wurde. Folglich widerspräche sich jemand selbst, der diese drei Prämissen nach dem Ereignis akzeptieren ,,'ürde und dennoch die Konklusion nicht anerkennen würde. Aber dies ist nicht mehr unsere ursprüngliche prognostische Argumentation. Wenn man sie ausschließlich mit Hilfe formaler Standards betrachtet, scheint sie vielleicht noch dieselbe zu sein. Die drei durch die drei "Prämissen" angegebenen "Tatsachen" sind - vom Standpunkt des formalen Logikers aus gesehen - in den beiden Argumentationen dieselben. Es bleibt aber der entscheidende Unterschied bestehen, daß im ersten Fall die Prämissen vor" dem Ereignis geäußert wurden, im zweiten Fall nach dem Ereignis. Deshalb sieht man die zweite Argumentation besser nicht als Wiederholung der ersten an, sondern als Nachruf auf diese . Unsere epistemologische Schwierigkeit ergibt sich direkt aus der Tatsache, daß die Argumentation im Falle ihrer ersten Äußerung prognostisch ist, und diese Schwierigkeit besteht unverändert weiter: Keine zusätzliche Prämisse, die nur begründet werden kann, indem man solange wartet, bis die Argumentation nicht mehr vorhersagend ist, kann uns helfen, den Folgen dieser Tatsache zu entg~hen. Soviel zu der ersten versuchten Fluchtstrategie, die nach John Wisdom als Theorie eines "transzendentalen" oder "intuitionistischen ce Typs bezeichnet werden kann. Immer wenn wir zur Begründung unserer Konklusionen auf echt substantielle Argumentationen angewiesen sind, ist die Situation dieselbe: Weder die Entdeckung von "zusätzlichen Daten" noch die Annahme zusätzlicher genereller Wahrheiten kann dazu führen, unsere Argumentationen analytisch zu machen. Sogar wenn man die
200 Intuition als Quelle von zusätzlichen Daten auffassen könnte - ich werde später Gtjinde dafür vorbringen, daß diese Ansicht auf einem Mißverständnis beruht - würden solche neuen Daten unsere Argumentationen so substantiell wie sie immer sind belassen. Und obwohl wir durch die Annahme zusätzlicher allgemeiner Wahrheiten unsere substantiellen Argumentationen formal vielleicht in" analytische transformieren können, sind wir epistemologisch gesehen nicht besser dran, da diese Annahmen in der Praxis nicht nur die erforderliche Stützung nicht haben, sondern diese gar nicht haben können, ohne die Natur des Problems zu verändern.
2. Phänomenalismus und Skeptizismus An dieser Stelle wird der zweite Gedankengang attraktiv. Er kann als Theorie des "phänomenalistischen " oder "reduktionis tischen" Typs bezeichnet werden . Wenn man einmal erkannt hat, daß zusätzliche Prämissen, die entweder intuitive Daten oder generelle Annahmen ausdrücken, als Möglichkeiten zur überbrückung .der logischen Kluft in substantiellen Argumentationen unbrauchbar sind, wird es schwierig, noch eine Möglichkeit zu sehen, wie substantielle Konklusionen jemals (nach analytischen Standards) eingelöst werden können. Wenn wir nicht in die skeptische Schlußfolgerung getrieben werden wollen, daß fast alle Wissensansprüche keine richtige Rechtfertigung besitzen, scheint uns nur noch eine Möglichkeit gegeben zu sein nämlich zu folgern, daß der substantielle Anschein der betreffenden Argumentationen irreführend ist, da die Konklusionen der substantiellen Argumentationen in Wirklichkeit entgegen allem Anschein vom selben logischen Typ sind wie die Daten und die Stützung, worauf sie beruhen. Wenn wir den in so vielen substantiellen Argumentationen anscheinend involvierten Typensprung hinwegerklären können, erreichen wir es vielleicht ebenfalls, unsere Schwierigkeiten hinwegzuerklären ; denn nun - so kann gesagt werden - ist es vielleicht möglich, aus einer hinreichenden Ansammlung von Daten und Stützung schließlich unsere Konklusion abzuleiten. Sehen wir nach, wohin uns dieser neue Vorschlag führt. Erstens müssen wir zeigen, daß B"ehauptungen über die Zukunft oder über Gegenstände der äußeren Welt in Wirklichkeit nicht so verschieden von Daten über die Gegenwart und die Vergangenheit, von Gebärden und Äußerungen, von Bedenken und Konsequenzen oder von der Art und Weise sind, wie uns die Gegenstände erscheinen, wie normalerweise angenommen wird. Solange von Aussagen über den Tisch im nächsten Zimmer angenommen wird, daß sie im Typ radikal von Aussagen über visuelle oder taktile Empfindungen verschieden sind, können wir natürlich nicht hoffen, daß aus Daten und Stützung vom zweiten Typ eine Konklusion vom ersten Typ abgeleitet werden kann. Aber angenommen, dieser Unterschied im Typ ist illusorisch? Wenn Aussagen über Tische im Grunde vom selben logischen Typ wären wie Aussagen über Sinnesempfindungen, dann wäre das Ziel, zu logischen Folgerungsbeziehungen zu kommen, vielleicht nicht so völlig unerreichbar. Durch eine Vermehrung der Sinneserfahrungen, aus denen sich unsere Daten zusammensetzen - der aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, unsere eigenen und der von anderen - könnten sich unsere anscheinend substantiellen Argumentationen vielleicht doch noch als analytisch herausstellen. Nach überwindung der Typenunterschiede können wir
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sagen, daß eine Konklusion über Tische durch analytische Transformationen "logisch konstruierbar" aus Daten über Sinnesempfindungen ist; dies ist schon immer die Antwort der Phänomenalisten auf das Problem der materiellen Gegenstände. Ähnliche Vorschläge von unterschiedlicher Plausibilität wurden gemacht, um andere substantielle Argumentationen zu retten. In einigen Bereichen wurde eine Lösung des reduktionistischen Typs fast allgemein von den Philosophen akzeptiert. Ein Beispiel ist die Doktrin, daß Aussagen über logische Unmöglichkeit oder Möglichkeit vom gleichen Typ sind wie Aussagen über die Anwesenheit oder Abwesenheit von Widersprüchen. In anderen Fällen hatte der Reduktionismus berühmte Vertreter, schaffte es aber nicht, sich allgemein durchzusetzen. Hierfür könnte man die tatsächliche oder mögliche Gesten, Bewegungen und Äußerungen stehen, oder aber behavioristische Doktrin anführen, daß Behauptungen über Gefühle' und über Bewußtseinszustände in Wirklichkeit auf gleicher Stufe mit Behauptungen über die ethischen Theorien, die Aussagen über das Gute bzw. über Werte so behandelt, als seien sie vom gleichen Typ wie Aussagen über Konsequenzen, Bedenken oder Interessen. In bestimmten Bereichen schließlich hat diese Position schon immer ein gutes Stück Kühnheit erfordert. Man muß schon ein professioneller, ,paradoxologist" sein, um zu behaupten, daß die Aussagen des Astronomen über die Zukunft in Wirklichkeit verkleidete Aussagen über Vergangenheit und Gegenwart sind (und deshalb aus den Daten ableitbar sind, die wir besitzen), oder daß die Aussagen des Historikers über die Vergangenheit in Wirklichkeit Aussagen über spätere bestätigende Erfahrungen sind. Die Schwächen des reduktionistischen Ansatzes sind im Fall der Astronomie und der Geschichte am offensichtlichsten, aber sie bestehen tatsächlich allgemein. Man muß tatsächlich durch und durch intellektuell sein und sich ins Studierzimmer einschließen - weit entfernt von Humes Eß- und Backgemmontisch - wenn man von ihr überhaupt angezogen werden soll. Denn wenn wir Aus~agen über die Zukunft, die Vergangenheit, die Gefühle von anderen oder die Güte von Handlungen oder von Bildern aufstellen, entstehen die Typenunterschiede zwischen unseren Aussagen gerade aus der Natur unserer Probleme und können nicht wegerklärt werden. Angenommen wir geben einem Astronomen eine Menge von Daten über Gegenwart und Vergangenheit und stellen ihm eine Frage über die Zukunft. Falls sich herausstellt, daß seine Antwort - wenn auch grammatisch im Futur - nur als eine weitere Aussage über Gegenwart oder Vergangenheit intendiert war, dann hat er einfach unsere Frage nicht beantwortet - wir fragten nach einer echten Prognose, nicht nach einer verkleideten Retrodiktion. Eine solche zusätzliche Plausibilität, die der phänomenalistischen Erklärung materieller Gegenstände und der behavioristischen Erklärung von Gefühlen und Bewußtseinszuständen zukommt, entsteht durch die enthaltenen Bezüge auf zukünftige und mögliche Sinneswahrnehmungen und Handlungen zusätzlich zu gegenwärtigen und vergangenen; denn diese Bezüge führen - zumindest teilweise - den Typensprung verdeckt wieder ein, von dem der Phänomenälist zuerst behauptet hatte, ihn hinwegzuerklären. Obwohl reduktionistische Theorien tatsächlich den Typensprung von unseren Daten und unserer Stützung zu unserer Konklusion in Abrede stellen, geben sie keine Lösung unserer epistemologischen Probleme an, sondern verschleiern diese nur. An dieser Stelle sehen wir, daß uns nur noch ein Weg offensteht; das heißt, nur
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noch ein Weg abgesehen von der Aufgabe des analytischen Ideals. Es hat sich nach ~ einander für Wissensansprüche über Fragen der Astronomie oder der Geschichte, über Fremdseelisches, über das Gute und den Wert von Handlungen, Personen und Kunstwerken und sogar über die uns umgebenden materiellen Gegenstände herausgestellt, daß sie auf Daten und Stützung beruhen, die von einem anderen logischen Typ sind als die mit dem Anspruch, Wissen zu sein, vorgetragenen Konklusionen. Die transzendentale Lösung ist gescheitert: Keine zusätzlichen Daten oder Annahmen können unseren Konklusionen eine echt analytische Garantie geben. Die phänomenalistische Lösung ist gescheitert: Die Typenunterschiedezwischen einerseits Daten und Stützung und andererseits Konklusionen sind nicht wegzuleugnende Konsequenzen der Natur der Probleme, mit denen wir es zu tun haben. Es gibt eine logische Kluft und wir haben kein Mittel, sie zu überbrücken. Die einzige Schlußfolgerung scheint zu sein, daß die Kluft nicht überbrückt werden kann. In all diesen Fällen erweisen sich die Argumentationen, auf denen unsere Wissensansprüche beruhen, als durch und durch mangelhaft, wenn man sie mit dem analytischen Ideal mißt. Wenn ein echter Wissensanspruch durch eine analytische Argumentation gestützt werden muß, kann es dann in solchen Bereichen keine authentischen Wissensansprüche geben. Bezüglich der Zukunft, der Vergangenheit, bezüglich Fremdseelischem, der Ethik und sögar bezüglich materieller Gegenstände müßten wir genaugenommen zugeben, daß wir nichts wissen. Nur Skeptizismus bleibt uns als Lösung, und das einzige Problem ist, wie wir uns mit der Existenz dieser unüberbrückbaren logischen Klüfte abfinden. Wir können vielleicht Hume folgen und sagen, daß uns - obwohl Skeptizismus im Prinzip nicht zu widerlegen und nicht zu umgehen ist - die Natur schützen wird, wo uns die Vemunft nicht helfen kann, und daß wir außerhalb des Studierzimmers Denkgewohnheiten aller Arten als natürlich empfinden werden, die bei Zugrundelegen streng rationaler Standards überhaupt nicht zu rechtfertigen sind. Oder aber wir können sagen, daß außerhalb des analytischen Bereichs Wissensansprüche schon immer vermessen und entbehrlich waren. Vorausgesetzt, unsere Methoden der Argumentation sind für praktische Zwecke hinreichend gut, sind wir im normalen Leben um nichts schlechter dran, wenn wir diese rein logische Kluft ohne überbrückung belassen. Es ist nicht nötig, in einem dieser Bereiche wirkliches Wissen zu behaupten, solange wir in der Praxis die Mittel haben, wirkliche Katastrophen zu vermeiden. In anderen Worten, es ist vom Skeptizismus nur ein kleiner Schritt zum Pragmatismus. SUBSTANTIELLE ARGUMENTATIONEN BENÖTIGEN KEINE RETTUNG Der in den letzten drei Abschnitten ausgeführte Gedankengang war jedoch völlig hypothetisch. Wir fragten, was mit Wissensansprüchen in Bereichen passieren würde, in denen wir auf einer Beurteilung dieser Argumentationen ausschließlich mittels analytischer Standards bestehen und Wissensansprüche ausnahmslos immer dann zurückweisen, wenn unsere Argumentationen keine logische Folgerung ihrer Konklusionen abg~ben. Einige der Theorien, die wir betrachten mußten, zeigen offenkundige Entsprechungen zu den Theorien existierender Philosophen. Ich habe
203 aber nicht versucht, sie im Detail mit irgendeiner besonderen Theorie aus der jüngeren Philosophiegeschichte zu verg~~ichen. Dennoch ist es sicherlich kein Zufall, daß wir in so vielen Bereichen der Philosophie eine Dreierfolge von vertretenen Theorien finden können. Erst die transzendentale, dann die phänomenalistische und schließlich die skeptische Theorie. Auf den Transzendentalphilosophen Locke antwortet der Phänomenalist Berkeley, und die Schlußfolgerungen beider werden durch den Skeptiker Hume beiseitegestoßen. Für alle drei ist die logische Kluft zwischen "Eindrücken" oder "Vorstellungen" und materiellen Gegenständen Ursprung der Schwierigkeit. Berkeley will mit Lockes unsichtbarem "Substratum " nichts zu tun haben und schlägt den Phänomenalismus als Möglichkeit vor, ohne dieses Substrat auszukommen, aber Hume kontert mit der skeptischen Ansicht - jedenfalls auf der theoretischen Ebene. In der Moralphilosophie rettet G. E. Moore ethische Konklusionen, die auf den ersten Blick auf ausgesprochen nicht-ethischen Daten beruhen, indem er diese so behandelt, als seien sie durch Intuitionen von "nicht-natürlichen" ethischen Eigenschaften gestützt; J. A. Richards und C. L. Stevenson bcben eine phänomenalistische Antwort, indem sie ethische Aussagen allein mit Hilfe nicht-ethischer Begriffe analysieren, so daß die Kluft zwischen Gefühlen und Werten außer Acht bleibt, während dann A. J. Ayer die Rolle von Hume gegenüber Stevensons Berkeley und Moores Locke übernimmt und" so das Problem, das sich seinen Vorgängern stellte, vermeidet oder umgekehrt. Man könnte so weiterfahren und in jedem nicht-analytischen Bereich der Argumentation die Mittel der drei verschiedenen Typen veranschaulichen, durch die Philosophen versuchen, die offenkundigen Mängel substantieller Argumentationen zu beheben (oder sich mit ihnen abzufinden). Aber alle drei Hilfsmittel sind gleichermaßen unwirksam und überflüssig - wenn wir nur bereit sind, das analytische Ideal aufzugeben. Zusätzliche Daten helfen uns nicht, der Typensprung kann nicht abgestritten werden und noch nicht einmal in der Theorie können wir uns damit abfinden, jeden Wissensanspruch in allen nicht-analytischen Bereichen zurückzuweisen. Wir können uns übrigens auch nicht damit zutriedengeben, wie bescheidene, anspruchslose Pragmatisten zu sagen, daß wir sowieso keine Wissensansprüche benötigen, da wir in der Praxis völlig ausreichend mit weniger auskommen. Denn wenn wir das analytische Ideal selbst ohne Kritik belassen, sind wir nicht nur gezwungen, Wissensansprüche aufzugeben, wie wir in einem früheren Kapitel gesehen haben. Wenn wir konsistent sind, können wir dann noch nicht einmal irgendeine " W ahrscheinlichkei t ce für unsere überzeugungen bea~spruchen. od~r sagen, daß wir angemessene "Gründe" für sie haben und noch wenIger, daß dIe SIe stützenden Argumentationen jemals "schlüssig" sein können... Alle unsere logischen Wörter sind (strenggenommen) gleichermaßen ausschließlich auf analytische Argumentationen anwendbar - das heißt, solange wir das analytische Ideal akzeptiercn. Es ist nur eine Sache, die vor uns leicht das Ziel verbirgt, auf das epistemologische Argumentationen führen: Nämlich unsere fortdauernde Gewohnheit, anzunehmen, daß die Ergebnisse einer ausgedehnten epistemologischen Diskussion in einem einzigen klaren Satz zusammengefaßt werden können, wenn man nur ein glückliches Wort findet. Diese Hoffnung ist in Wirklichkeit aber trügerisch: Die durchgängige Zweideutigkeit aller unserer logischen Terme zerstört sie, . gleich welches Wort wir auch immer auswählen.
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Jedes logische Wort besitzt einerseits seinen außerphilosophischen Gebrauch, demgemäß es mit einem Blick auf bereichsabhängige Kriterien verwendet wird, und andererseits seinen innerphilosophischen .Gebrauch, demgemäß sich qie Anwendungskriterien ausschließlich auf logische Folgebeziehungen, Widersprüche und Konsistenz beziehen. Habe ich hier die These vertreten, daß deduktive und induktive Argumentationen zur Beurteilung den Bezug auf verschiedene Standards erfordern? Ja und doch nein: Nur im technischen Sinn sind "deduktive" und "induktive" Argumentationen notwendig entgegengesetzt. Habe ich die These vertreten, daß nur analytische Argumentationen schlüssig sein können? Sicherlich sind nur analytische ·Argumentationen analytisch - und deshalb "schlüssig" im professionellen Sinn der Logiker. Aber auch in anderen Bereichen gibt es einen Zeitpunkt, an dem wir zur Stützung unserer Konklusionen hinreichend viele und starke Daten und Schlußregeln angegeben haben, so daß in diesem Zusammenhang weitere Untersuchungen überflüssig sind - deshalb können in diesem Sinn auch nicht-analytische Argumentationen schlüssig sein. Habe ich aber nicht wenigstens die These vertreten, daß definitive Beweise nur im Bereich der Mathematik verlangt werden können und sollten? Selbst hier muß man antworten: "Was heißt 'Beweis'?" - und in derselben Weise muß man bei der Einführung jedes neuen logischen Terms antworten, auch wenn dies gewagt erscheint. Nach mehreren Jahrhunderten des Gebrauchs ist diese doppelte Menge von Standards der logischen Kritik so tiefverwurzelt in unserer philosophischen Terminologie, daß wir in diesen Untersuchungen gezwungen waren, als wesentlichen ersten Schritt zur Klarheit die bestehenden Terme beiseitezulassen und selbst neue Terme einzuführen. Aus diesem Grund ist unsere Hauptunter·scheidung weder die zwischen Induktion und Deduktion noch die zwischen Beweis (proof) und Begründungen (evidence), zwischen beweiskräftigen und nicht beweiskräftigen Argumentationen, zwis·chen notwendigen und wahrscheinlichen Schlüssen oder zwischen schlüssigen und nicht schlüssigen überlegungen. Unsere Hauptunterscheidung ist die zwischen analytischen und substantiellen Argumentationen; diese Unterscheidung muß getroffen und durchgehalten werden, ehe die normalen Zweideutigkeiten, die den meisten epistemologischen Diskussionen zugrundeliegen, entwirrt werden können. Nach meiner Meinung ist die einzige Möglichkeit, aus diesen epistemologischen Schwierigkeiten herauszukommen, das analytische Ideal aufzugeben. Analytische Kriterien - gleich ob sie sich auf Schlüssigkeit, Beweiskraft, Notwendigkeit, Sicherheit, Gültigkeit oder Rechtfertigung beziehen - sind unangebracht, wenn wir es mit r substantiellen Argumentationen zu tun haben. An 'dieser Stelle können wir der Frage der Relevanz nicht mehr ausweichen, die wir oben aufgeschoben haben. Sicherlich involvieren substantielle Argumentationen oft einen Wechsel im logischen Typ beim übergang von Daten und Stützung zur Konklusion. Dies bedeutet aber nur, daß wir jeden Bereich substantieller Argumentationen mit Hilfe seiner eigenen relevan~en Standards beurteilen müssen. Der grundlegende Fehler der Epistemologie ist, daß sie diesen Typensprung als logische Kluft behandelt. Die Forderung nach einer analytischen Rechtfertigung aller Wissensansprüche und die Zurückweisung aller nicht auf diese Weise zu rechtfertigenden Wissensansprüche sind die ersten Aus"'irkungen dieses Irrtums. Der nächste Schritt ist, daß man sich in der Hoffnunt;. die Situation zu retten, auf den ermüdenden Pfad begibt, der über Transzendentalis-
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, mus führt. Geben wir die Vorstellung auf, daß ein substantieller Schritt in einer , Argumentation eine logische Kluft darstellt, und sowohl Logik als auch die Erkenntnistheorie können sich fruchtbareren Problemen zuwenden. DIE RECHTFERTIGUNG DER INDUKTION Ehe wir zu der abschließenden Frage nach diesen fruchtbareren Problemen zurückkommen, gibt es zwei Themen, die .beide aus epistemologischen Diskussionen der letzten Zeit vertraut sind und die wir etwas genauer betrachten können: Induktion und Intuition. Diese Themen verdienen jeweils einen Abschnitt. Wo die zur Beurteilung einer Argumentation angemessenen Kriterien von dem Zeitpunkt abhängig sind, zu dem die Argumentation vorgebracht wird, ist die Versuchung besonders groß, analytische Kriterien falsch anzuwenden. Zur Illustration können wir den Verlauf einer langen Diskussion über die Rechtfertigung induktiver Argumentationen betrachten, d. h. jener Argumentationen, die entweder zur Begründung wissenscha~tlicher Gesetze bestimmt sind oder dazu, mit deren Hilfe Vorhersagen zu machen. Denn hier kommt ein ganz allgemein verbreiteter Aberglaube ins Spiel: Nämlich die Vorstellung, daß Argumentationen unabhängig von der Situation ihrer Äußerung - "außerhalb der Zeit stehend" - als gültig oder ungültig, stichhaltig oder nicht stichhaltig beurteilt werden sollen. Diese Vorstellung ka!ln sogar dann attraktiv bleiben, wenn man die Meinung aufgibt, daß lnalytische Kriterien universell anwendbar sind. Diese Vorstellung bewirkt durch Gleichsetzen der Frage, ob Theorien oder Prognosen zum Zeitpunkt ihrer Äußerung jemals stichhaltig begründet sind, mit der Frage, ob sie sich - zu einem hinreichend entfernten Zeitpunkt - nicht als irrig erweisen können, daß das Problem der Rechtfertigung der Induktion doppelt schwierig wird. Es lohnt sich nachzusehen, wie die Fäden in dieser Diskussion durcheinanderkommen, da dies ein schönes Beispiel für die Art und Weise ist, wie epistemologische Probleme entstehen. Der Standarderöffnungszug soll entweder Skeptizismus erzeugen oder jene Furcht vor Skeptizismus, die die' Philosophen in noch sonderbarere Paradoxien treibt. Er besteht darin, die Aufmerksamkeit auf jene gelegentlich vorkommenden ,Prognosen zu lenken, die sich schließlich als falsch erweisen, obwohl wir zum Zeitpunkt der Äußerung alle Gründe hatten, sie als völlig zuverlässig anzusehen. Dann wird gesagt: "Wenn du dich in diesen Fällen geirrt hast, ist es sicherlich inkonsistent von dir, zu sagen, daß sie gerechtfertigt waren. (( Wenn sie aber nicht gerechtfertigt waren, dann - und jetzt spielt die Verwischung des Unterschieds zwischen schließlichem Auffinden eines Fehl~rs und Unzuverlässigkeit und Unrechtmäßigkeit zu Anfang herein - hätte man sie niemals als zuverlässig akzeptieren sollen. Denn der Natur der Sache nach gab es zum Zeitpunkt der Äußerung kein Verfahren, um diese Prognosen von irgendwelchen anderen unserer Prognosen (so gut diese auch begründet sein mochten) zu unterscheiden. Falls es ein solches Verfahren gegeben hätte, hätten wir es im Verlauf der Entscheidung, daß diese bestimmten Prognosen so zuverlässig wie möglich waren, verwenden sollen. Wir haben deshalb - so wird weiter gesagt - keine schlüssigen Gründe, irgendeine Prognose als völlig .zuverlässig arizunehmen, und wir können solche Gründe
206 auch nicht haben,. ehe das Ereignis selbst eintritt. Alle Prognosen sind gleichermaßen verdächtig, und man kann nichts dagegen tun. Wir können uns so wenig helfen wie jemand, der davon überzeugt ist, eine unsichtbare Bombe unter seinem Bett zu haben. Es ist nun schwierig, diesen Gedankengang anzugreifen, weil er eben von olympischer Absonderung und Zeitlosigkeit ist. Die Forderung nach einer Betrachtung von Gottes Thron aus, nach einer für immer gültigen Rechtfertigung, scheint auf dem ersten Blick völlig in Ordnung zu sein. Wir übersehen die Notwendigkeit, anzugeben, ob unser Anspruch, zu wissen, was passieren wird, als ursprünglich erhoben oder als im Licht späterer Ereignisse erhoben angesehen wird, falls die Frage der Rechtfertigung überhaupt entscheidbar sein soll. Wir schwanken zwischen diesen zwei Interpretationen. Nachdem wir in diese mißliche Lage geführt worden sind, sehen wir nur drei Möglichkeiten des Vorgehens, auf einem anderen Weg herauszukommen wie wir 'hineingekommen sind, und sie führen alle drei zu Paradoxien: a) Wir können die skeptische Schlußfolgerung akzeptieren, daß wir notwendig nicht wissen können, was geschehen wird, und daß wir dies eben deshalb auch nie wissen werden; b) Wir können die skeptische Schlußfolgerung zurückweisen und die Tatsache, daß wir manchmal sagen können, daß wir wissen, was geschehen wird, mit Hilfe einer transzendentalen kognitiven Fähigkeit erklären, die uns in die Lage versetzt, schon jetzt, ,Augenzeugen der Zukunft" Zli sein; oder c) Wir können darauf verzichten, über einen dieser beiden Auswege zu flüchten und stattdessen darauf bestehen, daß es bei Wiss~nsansprüchen ausschließlich auf ursprüngliche Angemessenheit ankommt - daß diese also nur"'relativ sind, so daß man sogar dann, wenn sich eine Behauptung als fehlerhaft herausgestellt hat, weiterhin sagen darf, man "wußte, was gesehenen würde", sofern nur unterstellt werden kann, daß die fehlerhafte Behauptung zunächst mit Gründen aufgestellt wurde. (Diese Ansicht behandelt Wissen als eine Relation vergleichbar zu Kneales "Probabilifikation".) Wenn wir dagegen nur unsere Schritte zurückverfolgen, erkennen wir, daß .das Mißliche unserer Lage selbst eine Täuschung ist, da uns die Ausgangsforderung nach einer Rechtfertigung der Induktion sub specie aetemitatis in eine Inkonsistenz führt. Um dies zu erkennen, müssen wir uns an die Gründe erinnern, aus denen wir nachdem sich eine wohlbegründete Prognose als falsch herausgestellt hat ,- zögern zu sagen, daß ihr Verteidiger "nicht wußte" und statt dessen lieber sagen, daß .,er glaubte zu WIssen, und dies mit Gründen". Wenn man anstelle von "Er glaubte zu wissen ce sagt "Er wußte nicht", bedeutet dies - wie wir oben sahen - die Stützung seiner Behauptung anzugreifen. Man gibt damit zu verstehen, daß damals mehr hätte getan werden können was dann tatsächlich zu "Wissen" geführt hätte, und wir sind ~u dieser Vermutung nicht berechtigt, da wir angenommeli haben,. daß seine Behauptung gut begründet war. In der Praxis kann natürlich zum Zeitpunkt der Äußerung oft mehr getan werden - zum Beipiel können zusätzliche Daten gesammelt werden und als Resultat davon können wir behaupten, "besser zu wissen" oder "genauer zu wissen", was passieren wird. Aber die Forderung nach einer Betrachtungsweise von Gottes Thron aus wird durch solche zusätzlichen Daten nicht erfüllt. Die Forderung kann wiederholt werden, wieviel Daten wir auch sammeln würden. Sie
207 würde sich nur dann nicht mehr stellen, wenn die betreffenden Argumentationen analytisch geworden wären - zu diesem Zeitpunkt wäre aber das Ergebnis selbst schon eingetreten. Rechtfertigung ein für allemal erfordert entweder persönliche Beobachtung oder Augenzeugenberichte von dem Ereignis selbst. Dies ist notwendige Bedingung dafür, daß wir die Kriterien, mit deren Hilfe wir einen Wissensanspruch vor dem Ereignis beurteilen, mit denen identifizieren dürfen, mit deren Hilfe wir ihn nach dem Ereignis beurteilen. Aber diese "zusätzlichen Beweise" sind durch die Natur des Falls ausgeschlossen: Zu sagen, daß eine Prognose vor. dem Ereignis beurteilt wird, impliziert, daß uns Augenzeugenberichte von dem vorhergesagten Ereignis nicht als Daten zur Verfügung stehen - es impliziert nicht nur, daß sie uns faktisch nicht zur Verfügung stehen (so schön es auch wäre, wenn wir sie hätten), sondern daß es in diesem Kontext Unsinn ist, auch nur von solchen als "Daten" zu reden. Es ist eine Sache, eine Prognose im voraus zu beurteilen, wenn Augenzeugenberichte nicht korrekt als "Daten" bezeichnet werden k9nnen, und eine ganz andere Sache, die Prognose rückblickend zu beurteilen, sobald man sich ihres Resultats versichern kann. Eine Rechtfertigung von Gottes Thron aus involviert, unsere Prognosen im voraus zu beurteilen mit Hilfe von Standards, die sinnvollerweise erst rückblickend auf sie angewandt werden können. Dies ist eine schlichte Inkonsistenz. Es ist leichter, diesen Punkt in Umrissen zu erkennen als ihn gen au anzugeben. Zum Beispiel nennt J. L. Austin diesen Punkt bei der Erklärung der Tatsache, daß sich einige unserer völlig rechtmäßigen Wissensansprüche später als falsch herausstellen können, eine "Möglichkeit", deren wir uns "deutlich bewußt" sein sollen. Fr erklärt sie durch die Äußerung: "Der menschliche Verstand und die menschlichen Sinne sind der inneren Natur nach fehlbar und trügerisch, aber dies kommt nicht in allen Fällen zum Tragen"l. Aber diese letzte Bemerkung ist höchst irreführend. Der menschliche Verstand und die Sinne haben mit dieser Sache nichts zu tun. Zweifellos würden sich weniger von unseren Prognosen faktisch als falsch erweisen, wenn unsere Sinne und unser Verstand schärfer wären; aber um wieviel sie auch schärfer werden würden, wir wären doch noch genausoweit entfernt wie immer von der betreffenden "Möglichkeit". Auch wenn unsere geistigen und sinnlichen Fertigkeiten perfekt wären, bliebe doch die Zukunft die Zukunft und die Gegenwart die Gegenwart - nur in einem zeitlosen Universum gäbe es keine Möglichkeit, unsere Urteile im Lichte späterer Ereignisse erneut zu betrachten. Es ist verständlich, daß wir so leicht in diese Schwierigkeit bezüglich der Induktion kommen. Sicherlich sind die Situationen nicht uns allen deutlich bewußt, in denen wir mit den besten nur möglichen Gründen behauptet haben "Ich weiß, daß p" und in denen wir nach dem Ereignis sagen mußten, ,Ich glaubte zu wissen, aber ich irrte mich ce. Wir erwägen nicht bereitwillig den Gedanken, daß dies - trotz all unserer Anstrengungen - nochmals vorkommen kann. Die Situation wird besonders verwirrend, wenn wir annehmen, daß wir, wenn wir ursprünglich "Ich weiß, daß p" sagen und später bemerken: "Ich glaubte, daß p, aber ich irrte mich", zuerst etwas über uns behaupten und dann dasselbe über uns abstreiten: Daß wir nämlich zu delll Zeitpunkt der Vorhersage in der Relation des Wissens zu dem futurischen Ereignis "p" standen - daß wir es genau "erkannten" oder nicht.
10ther Minds
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Wissen ist in dieser Hinsicht jedoch ganz verschieden von Glauben oder Hoffen. Angenommen ich sage erst "Ich hoffe (oder ich glaube), daß p", nach dem Ereignis aber" Ich sagte damals, ich hoffte (glaubte), daß p, aber es war eine Lüge: Selbst damals hoffte (erwartete) ich heimlich, daß p nicht eintreten würde". In diesem Fall widerspreche ich mir selbst. Mit diesem Modell vor Augen akzeptieren wir vielleicht übereilt die Meinung, daß ein Wissensanspruch, der sich als falsch herausstellt, -eine unberechtigte Behauptung gewesen sein muß. Man übersieht leicht die Beweise für die gegenteilige Auffassung wie etwa die Tatsache, daß wir nach dem Ereignis "Ich wußte nicht" nicht ausschließlich aufgrund der Falschheit sagen. Erst zu sagen "Ich weiß, daß p" und später "Ich dachte, daß p, aber ich irrte mich" bedeutet (so sollte m,an besser sagen), zuerst eine Prognose mit vollem Nachdruck zu äußern und sie später zu korrigieren. Selbst' wenn wir die latente Inkonsistenz in der Forderung erkannt haben, eine für immer gültige Rechtfertigung der Induktion zu geben, können wir es immer noch für ungewöhnlich halten, eine Prognose zu verschiedenen Zeitpunkten mit Hilfe unterschiedlicher Mengen von Standards zu beurteilen. Das heißt, daß uns - selbst nachdem wir die Tatsachen über unsere faktischen Vorstel1ungen erkannt haben diese Vorstellungen sonderbar und ungewöhnlich vorkommen können und daß wir uns fragen können, ob sie nicht aufgegeben werden sollten. Wäre es nicht genauer, das Wort "wissen" so zu gebrauchen, wie Philosophen annahmen, daß wir es gebrauchen wollten? Wir könnten dann ruhigen Gewissens Wissen als "Erkenn~n" nach dem Modell von Hoffen und Glauben behandeln und uns weigern, "Ich weiß, daß p" oder "Er weiß, daß p" zu sagen, außer wenn ich glaube (oder wenn er glaubt), daß p, und wenn dies tatsächlich ein für allemal bestätigt ist. Um diese Auffassung anzugreifen, müssen wir erstens mit der Vorstellung aufräumen, daß hier etwas seltsam oder ungewöhnlich ist. Zweitens müssen wir uns daran erinnern, daß die logischen Merkmale, die für Wörter wie ),wissen" oder "wahrscheinlich" charakteristisch sind, nur zu unserem Nachteil verändert werden können., Um dem irreführenden Modell des Hoffens und Glaubens entgegenzuwirken, wollen wir deshalb fragen, ob die folgenden Mengen von Tatsachenfeststellungen inkonsistent, seltsam oder ungewöhnlich sind. a) Wenn ich bei einer Verlosung einen Fasan gewinne, sage ich "Ich hab doch ein ganz schönes Glück!"; wenn ich aber später von ihm eine Fleischvergiftung bekomme, sage ich "Ich hatte in Wirklichkeit ganz schönes Pech, hätte ich es nur gewußt!" - dies kann mit "Ich weiß" und "Ich hatte mich geirrt" verglichen werden. b) Die zwei Zeiger einer Uhr sind verschieden lang und bewegen sich unterschiedlich schnell - diese Unterschiede sind nicht unnatürlicher als der Unterschied in der Stützung, die eine Prognose vor und nach dem Ereignis erfordert. c) Eine Uhr hat zwei Zeiger, ein Barometer aber nur einen - und logisch gesehen ist "glauben" ein einfacherer Begriff als "wissen". Wir müssen uns auch an dem durch Änderungen der Zeit oder des Bereichs nicht betroffenen Kern der Rolle erinnern, der angibt, was wir mit dem Verb "wissen" wirklich meinen, und wir müssen erkennen, wie er betroffen würde, wenn wir tatsächlich die vorgeschlagene Änderung an unseren Begriffen vornehmen würden. So wie die Dinge stehen können wir - unabhängig von der Zeit - solche Sachen wie die folgenden sagen:
209 Wenn du weißt, daß er sie
{;:~:d:;;~~detl
,warum tust du gleich ennordet ( nichts dagegen?
Nach der philosophischen Verbesserung müßten wir jedoch sagen: Wenn du weißt, daß er sir
ermordet hat } gerade ermordet I
,...
oder aber: Wenn du wießt, daß er sie gleich ennorden wird, warum ... etc. Das heißt, daß wir im Fall von Prognosen ein ~eues Verb einführen müssen - etwa "wießen" - um etWas im Futur auszudrücken, was das Verb "wissen" bei der neuen Regelung nicht mehr ausdrücken darf. Wenn dies das Endergebnis der Angleichung der Standards zur Beurteilung von Prognosen vor und nach dem Ereignis ist, so daß sie in einer dem "Hoffen" oder "Glauben" entsprechenden Weise fungieren, ist es sich~rlich nicht sehr attraktiv. Der Aberglaube, daß Wahrheit oder Falschheit, Gültigkeit oder die Rechtfertigung all unserer Sätze und. Argul11rntationen völlig unabhängig von den Situationen sein sollen, in denen sie geäußert werden, ist vielleicht tiefverwurzelt. Aber abgesehen von den zeitlosen Konklusionen und analytischen Argumentationen der reinen Mathematik werden die Erwartungen, zu denen er führt, notwendigerweise . enttäuscht werden. Der Begriff des Wissens ist nicht von dieser Art, und Philosophen bringen sich in Schwierigkeiten, wenn sie dies übersehen.
INTUITION UND DER MECHANISMUS DES ERKENNENS In diesem Kapitel habe ich die Auffassung vertreten, daß die Erkenntnistheorie die vergleichende Logik von Argumentationen· in verschiedenen praktischen Bereichen enthalten soll. Die Gültigkeit unserer Wissensansprüche beruht auf der Angemessenheit der Argumentationen, durch die wir sie stützen, und unsere Standards der Angemessenheit sind natürlich bereichsabhängig. Von diesem Standpunkt aus gesehen verlieren viele traditionelle Arten des epistemologischen Theoretisierens ihre anfängliche Plausibilität, da sie diese hauptsächlich dadurch gewonnen haben, daß wir Epistemologie als eine Erweiterung der Psychologie angesehen haben. Dies zeigt sich deutlich, wenn man sich die philosophischen Gebrauchsweisen des Tenns "Intuition" ansieht. Viele Philosophen waren der Meinung, daß sie sich mit einem "Prozeß des Erkennens" befassen, von dem sie annahmen, daß er in allem Wissen involviert sei. Sie gerieten in besondere Schwierigkeiten bei der Diskussion der Frage, wie wir solche Dinge wie Moralprinzipien (daß wir zum Beispiel den Bedürftigen helfen sollen) und die elementaren Aussagen der Arithmetik (daß zum Beispiel zwei und zwei vier ist) wissen. Diese Schwierigkeiten haben sie dazu geführt, in ihre Diskussion auf einen "moralischen Sinn" oder eine "Intuition"
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B'ezug zu nehmen und diese Terme nicht bloß als unverbindliche fafons de parler zu verwenden, sondern mit al~er Ernsthaftigkeit, die sogar soweit geht, daß diese Sinne sogar mit einem solchen Ausdruck wie "rationale Fähigkeit der unmittelbaren Wahrnehmung" beschrieben werden. Alle solchen Bezugnahmen sind überflüssig. Sie ergeben sich aus einer Reihe von Mißverständnissen, die wir jetzt auflösen können. Dies lohnt sich, da genau diese Mißverständnisse die Aufmerksamkeit der Logiker von den tatsachlich fruchtbaren Fragen der Epistemologie.. abgelenkt haben, von den Frage~ nach den Dingen /1~illl1ich, q.ie wir beIm Behandeln tatsächlich bestehender Probleme in verschiedenen Bereichen (arithmetischer, astronomischer, moralischer Art usw.) als relevant in Betracht ziehen können. Insbesondere der Status der fundamentalen Wahrheiten der Ethik und der Mathematik wurde als Frgehnis dieser quasi-psychologischen Beschäftigung mit dem "Mechanismus des Erkennens" grob mißverstanden. Es ist natürlich wahr, daß solche Ausdrücke wie "mathematische Intuition", "moralischer Sinnc" "ein Sinn für das Passende cc und "der sechste Sinn einer Frau(C unabhängig von allen verworrenen überlegungen philosophischer Theorien allgemein vertraut sind, und dies ist ganz in Ordnung so. Es gibt aber einen bedeutenden Unterschied zwischen den Situationen, in denen dieser nicht-philosophische Begriff der Intuition am' Platz ist, und anderen Situationen, für die Philosophen diesen Term dachten. Es lohnt sich, diesen Gegensatz etwas zu untersuchen. P. G. Wodehouse, diese Quelle umgangssprachlicher Wendungen, schreibt in seiner Erzählung The Code of the Woosters folgendes: Ich merkte, daß da ein paar einleitende Vorbemerkungen nötig sein würden, ehe ich zum Kern der Angelegenheit kam. Wenn die Beziehungen zwischen zwei Typen angespannt sind, dann kann der zweite Typ nicht so einfach mit der Absicht herausrücken, daß er die Nichte des ersten Typs heiraten möchte. Dann nicht, muß man sagen, wenn er das richtige Gefühl dafür hat, was sich gehört, wie es die Woosters haben.
Ein solcher Gebrauch bringt uns nicht in Schwierigkeiten. Es entsteht kein diffiziles· Problem, und wir verstehen genau, was gemeint ist. Bertie Wooster sagt nicht, daß seine Verwandten mit irgendeiner physiologischen oder psychologischen Fertigkeit ausgerüstet sind, deren Erforschung eine schwer verständliche Analyse erfordert oder deren Beschreibung nur mit Hilfe komplizierter Neologismen möglich ist - der Ausdruck" rationale Fähigkeit der unmittelbaren Wahrnehmung" wäre ihm absolut fremd; das Wissen, das ihr "Gefühl dafür, was sich gehört" liefert, macht sie auch nicht gelehrt oder gut-informiert; zu wissen, was man tun sollte, hat weniger mit Gelehrsamkeit bzw. mit Informiertheit zu tun als vielmehr mit savoir faire, das Charakteristikum des Wohlerzogenen oder Rücksichtsvollen, des moralischen Menschen und nicht des Experten. Der Gegensatz zwischen den philosophischen und den nichtphilosophischen' Gebrauchsweisendes Terms "Intuition" kann herausgearbeitet werden, indem wir zu . dem Begriff der "Gründe" zurückkehren, das heißt zu diesen Sachen, die zur Beant-· wartung der Frage "Woher weißt du das?" angegeben werden müssen, ehe eine Behauptung als gerechtfertigt angenommen werden muß. Hierbei ist folgende Bemerkung wichtig: Obwohl oft die Behauptung von jemandem, das und das zu wissen, zurückgewiesen werden muß, ,falls er keine Gründe angeben kann, gibt es zwei verschiedene Situationstypen, wo dies nicht der Fall ist und wo die Forderung n~ch
211 Gründen vielleicht aufgegeben werden muß. Wenn man die notwendige Trennlinie zwischen diesen beiden Situationstypen nicht zieht, kann das Resultat ein unbegrenztes Wuchern von Fähigkeiten, Sinnen und Intuitionen sein. Der Hauptunterschied ist der: Bei dem einen Typ A ist die Rede, Gründe für eine Behauptung anzugeben, sinnvol1, aber wir mü~sen nicht notwendigerweise die Behauptung von jemandem als ungerechtfertigt zurückweisen, wenn er keine angeben kann; bei dem Typ B dagegen macht es noch nicht einmal Sinn, vom Vorbringen von Gründen für eine Behauptung zu reden - die Forderung nach Gründen ist völlig unangebracht. In der ersten Klasse ist die Bezugnahme auf "Intuition" völlig natürlich und gebräuchlich, in der zweiten erscheinen sie ganz mißverstanden. Wir können uns die beiden Klassen nacheinander ansehen. Zu A: Bezüglich vieler Fragen im Alltagsleben genießen verschiedene Leute ein unterschiedliches Vertrauen. Wir sind bereit, dem Urteil des einen zu vertrauen, ohne nach Gründen für seine Ansichten zu fragen, während ein anderer erst triftige Gründe vorbringen müßte, ehe wir ihn beachten würden. Man~hmal drängen wir jemanden nicht, Gründe anzuführen, da wir sicher sind, er könnte auf Nachfrage gute Gründe liefern. In anderen Fällen aber - die uns hier beschäftigen - macht es nicht einmal was aus, wenn er nicht in der Lage ist, auf Aufforderung hin genaue Gründe anzugeben. Zum Beispiel bin ich nur dann zu der Aussage berechtigt, dag ein gewisser Herr Lenzen, den ich nicht weiter kenne, außergewöhnlich müde war, als er gestern abend heimging, wenn ich genaue und relevante Gründe angeben kann - wenn ich zum Beispiel beschreiben kann, welchen arbeitsreichen Tag er gestern hatte und was er sagte, als er das Büro verließ. Seine Frau aber ist in einer anderen Lage. Sie weiß vielleicht im Augenblick, in dem er das Haus betritt, wie er sich genau· fühlt, geht dann vielleicht schnell, um seine Hausschuhe zu holen und beschließt, ihn erstmal mit der zerbrochenen Scheibe im Küchenfenster in Ruhe zu lassen. "Woher wußte sie das?" fragt sich Herr Lenzen. Sie kann es nicht sagen sie wußte es eben. "Aber" überlegt er sich, während er in seinen Sessel sinkt, "so ist das eben mit den Frauen: Sie scheinen eine Art sechsten Sinn zu haben - man könnte es vielleicht weibliche Intuition nennen." Herr Lenzen hat recht. Dies ist genau ein solcher Fall, in dem Ausdrücke wie "der sechste Sinn einer Frau" und "weibliche Intuition" sinnvoll verwendet werden können. Andere können nicht sagen, wie müde er ist. Man würde es ihnen noch nicht einmal glauben, wenn sie sagen würden, sie wüßten's, falls sie keine Gründe angeben könnten und so erklären könnten, woher sie es wüßten. Frau Lenzen ist dagegen in einer einzigarten Position. WeiIn sie sagt, sie wisse, känn man ihr selbst dann vertrauen, wenn sie nicht sagen kann, woher sie es weiß - das heißt, wenn sie keine Gründe angeben kann. Im Gegensatz zu anderen, von denen man Gründe verlangen würde, weiß sie es einfach. Für unsere Zwecke ist eine Tatsache entscheidend: Ausdrücke wie "weibliche Intuition" sind nur in Berichten über die Rechtfertigung von Behauptungen angebracht. Wenn wir über die Intuition von Frau Lenzen reden, weichen wir keinen biographischen Fragen über den Prozeß aus, durch den sie ihr Wissen erwarb. Vielleicht kommen wir bei einer Untersuchung der Angelegenheit zu dem Schluß, daß ihr det müde Klang seines Ganges auf der Treppe oder die Haltung seiner Schultern, als er seinen Mantel aufhing, Anhaltspunkte waren, etwas so Unauffälliges, daß
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sie sich nicht sicher sein kann, was es war. Die Rechtmäßigkeit der Rede von ihrem sechsten Sinn ist aber unabhängig davon·, ob wir herausfinden können, woran sie es merkte oder nicht, denn der Ausdruck "sechster Sinn" wird nicht zur Bezugnahme auf einen in Konkurrenz mit den fünf normalen Sinnen stehenden Kanal der Wahrnehmung verwendet. Der Satz "Sie fühlte, daß er müde war" ist mit jeder beliebigen biographischen Erklärung verträglich wie etwa, ,Die Haltung der Schultern ließ es sie merken" sowie auch damit, daß gar keine gegeben wird. Wenn dagegen die Berufung auf Empfindungen oder Intuition auf den Prozeß verwiesen, durch den sie zu ihrem Wissen kanl, \vären dies alternative Erklärungen, über die wir die Frage stellen müßten: "Empfand sie oder erkannte sie, daß er müde war?" In Fällen, wo es um Biographien geht und nicht um Rechtfertigung, ist die Berufung auf Intuition, auf Sinne oder auf andere .Fähigkeiten offensichtlich unangebracht. Wenn ich nach dem Namen meines Bruders gefragt werde und wahrheitsgemäß mit "Roger" antworte, erwarte ich nicht die Frage, woher ich dies weiß. Wenn gesagt wird, daß ich eine Grundlage für mein Wissen oder eine Fähigkeit haben muß, dank derer ich den Namen weiß, kann ich nur mit den Schultern zucken. Wenn ich einmal den Namen. meines Bruders gelernt habe, brauche ich keine Gründe oder Prämissen, um ihn weiterhin zu wissen. Ich darf ihn nur niGht vergessen. Was die Fähigkeit angeht, mit deren Hilfe ich ursprünglich den Namen lernte, so ist das schon so lange her, daß ich mich höchstwahrscheinlich nicht mehr daran erinnern kann. Bei Leuten, die mir verhältnismäßig fernstehen, kann ich vielleicht erklären, woher ich ihre Namen weiß, die Erklärung wird Bezüge auf die fünf normalen Sinne involvieren, nicht aber auf außergewöhnliche Sinne - er sagte den Namen Georg am Telefon, reagierte, als ihn seine Frau so anredete oder schrieb ihn in das Besucherbuch, in das wir uns danach eintrugen. Dasselbe gilt vermutlich auch für Leute, die einem vertraut sind, obwohl das erste Kennenlernen soweit zurückliegt, daß man sich nicht mehr erinnern kann. Vielleicht kann ich jetzt nicht mehr sagen, woher ich ihre Namen weiß, aber daß ich sie weiß, liegt daran, daß ich mich an sie erinnere, nicht daran, daß ich sie intuitiv erfahre, und ist ein Zeichen für ein gutes Gedächtnis, nicht für eine gute rationale Wahrnehmung. Folglich dienen "Intuition" und "sechster Sinn" nicht als biographische Ausdrücke, sondern als Terme zur nachträglichen Beschreibtlng eines Ereignisses. Dies erklärt eine weitere Tatsache, die ansonsten völlig unverständlich wäre: Die Tatsache, daß wir eine zweifache Menge von Verben für die fünf normalen Sinne haben, nicht aber für unseren "sechsten Sinn". Wir reden nicht nur von Sehen und Hören, sondern können auch Aufforderungen mit den Worten geben: "Schau dir das an!", "Hör mal zu!" und "Horch!". Andererseits sagen wir niemals "Erkenne dies intuitiv!", "Erkenne dies mit dem sechsten Sinn!" - solche Aufforderungen sind sinnlos. Und obwohl 'wir sagen, "Sie fühlte, daß er müde war", sagen wir nicht, ; lSie schloß aus der Mitteilung ihres sechsten Sinns, daß er müde war" - es besteht kaum die Versuchung, über "Sinnesdaten des sechsten Sinnes" zu theoretiSIeren. Zu B. Die anderen Behauptungen, für die wir keine Gründe verlangen, sind hiervon sehr verschieden. Hier ~ind wir alle gleich dran - für diese Behauptungen braucht niemand Gründe anzugeben, weil hier Gründe oder Rechtfertigungen unangebracht sind. Die einfachsten mathematischen Aussagen liefern ein natürliches
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Beispiel. Wenn ich etwa sage "Die Zahl 2256-1 ist eine Primzahl", ist es immer sinnvoll, mich zu fragen, woher ich dies weiß. Die angemessene Antwort ist, einen Beweis anzugeben, der aus Schritten besteht, von denen keiner ,komplexer ist als diejenigen, die wir in Arithmetik-Stunden in der Schule lernen - wie etwa ,,5 mal 7 ist 35" und" 9 und 7 ist 16 : 6 an und eins gemerkt". Sobald dies aber vollständig getan ist, kann man keine weiteren Gründe angeben. Wenn ich dann noch mit der Frage angegriffen werde: "Woher weißt du, daß 5 mal 7 gleich 35 ist?", ist nicht mehr klar, was verlangt ist'. Den Beweis in noch kleinere Schritte aufzuteilen wäre eine bloß formale Sache, denn wie kann man sicher sein, daß jemand, der ,,5 mal 7 ist 35" in Frage stellt, ,,1 und 1 ist 2" akzeptieren würde? Normalerweise gibt es keinen Platz mehr für "Beweise" oder "Gründe", wenn dieses Stadium erreicht ist. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, daß wir jemandem, der erbarmungslos auf der Frage "Woher weiß ~u?" beharrt, als natürliche Reaktion ärgerlich antworten: "Was meinst du mit der Frage, woher ich es weiß? Ich war schließlich in der Schule und habe Rechnen gelernt!" Wo eine Rechtfertigung als Antwort nicht sinnvoll ist, können wir unsere Antworten nur auf die biographische Ebene verlagern. Wir können auf diese Frage nur noch mit biographischen Gemeinplätzen antworten. DIe Forderung nach "Gründen" ist nicht mehr sinnvoll. An dieser Stelle kann man die erste der Verwirrungen angeben, die wir auflösen müssen, um uns Klarheit über den Begriff der "Intuition" zu verschaffen. Wenn wir beide, auf einen Fahrplan schauen und du mich fragst, woher ich weiß, daß am Sonntag nachmittag keine Züge nach Dingwal1 fahren, ist die natürliche Antwort: "Ich gebrauche eben meine Augen". Wenn du mich andererseits fragst, woher ich weiß, daß fünf mal sieben fünfunddreißig ist, ist die Antwort: "Ich habe Rechnen gelernt" und nicht "Ich gebrauche eben meine Intuition". Durch die Analogie mit "Ich gebrauche meine Augen" könnte es nun scheinen, daß ich letzteres antworten sollte und daß die biographische Antwort durch Zurückgreifen auf meine Schulzeit eine Antwort der falschen Art ist. Wer diese Schlußfolgerung zieht, mißversteht die Art der Antwort, die man tatsächlich mit der Äußerung "Ich gebrauche meine Augen" gibt. Auch sie ist weniger eine physiologische als vielmehr eine biographische Antwort: Ein Blinder hat Augen, aber sie sind für ihn nutzlos, und ,,Ich habe Augen im Kopf" ist nur dann eine angemessene Antwort auf "Woher weißt du?", wenn es so verstanden wird, daß es den Satz "Ich habe Lesen gelernt"
inlpliziert. Hier ist einfach eine Zweideutigkeit enthalten. Es gibt bestimmte sinnliche Fähigkeiten, die wir als Resultat von Erfahrungen mit bestimmten Organen des Körpers verbinden. Beispielsweise kann die Fähigkeit, die Farben von Gegenständen zu unterscheiden, mit weiteren - etwa der Fähigkeit, auf Entfernung Umrisse zu erkennen, der Fähigkeit, allein über eine belebte Straße zu kommen, der Fähigkeit" eine Landschaft zu malen und der Fähigkeit, auf den Polarstern zu zeigen - als auf einem einzigen Sinn - dem Sehsinn - beruhend zusammengefaßt werden, da wir herausfinden, daß jeder alle diese Fähigkeiten zusammen verliert, wenn er die Augen mit einem Tuch verbunden hat. Dies führt dazu, daß wir das Wort "Auge" manchmal gern in der Bedeutung, ,das Organ, mit dessen Hilfe wir alle diese Dinge tun" verwenden und nicht als Bezeichnung für einen spezifischen,. anatomisch identifizierbaren Teil des Körpers. Natürlich ist es vorstellbar (das heißt "logisch
214 möglich ce), daß wir auf jemanden treffen, der seine normale Sehfähigkeit nur dann einbüßt, wenn seine Ohren zugehalten werden und seine Hörfähigkeit nur dann, wenn seine Augen bedeckt werden. Von einem solchen Menschen könnten wir sagen, daß seine "Augen" in Wirklichkeit Ohren sind und seine "Ohren" in Wirklichkeit Augen. Diese Zweideutigkeit kann philosophisch irreführend sein. 'Die Aussage "Sehen nimmt Farben wahr, Hören Töne' ist vielleicht eine Tautologie, aber die Aussage "Das Auge kann keine Harmonie beurteilen, das Ohr keine Farbe" hat einen davon ganz verschiedenen logischen Status, je nachdem ob wir das Auge un~ das Ohr anatomisch auffassen oder durch Bezug auf die damit zusammenhängenden Fähigkeiten. Entgegen dem Anschein bezieht sich deshalb keine der Antworten, die wir im Alltagsleben auf die Frage "Woher weißt du?" geben, direkt auf den Mechanismus der Wahrnehmung. Dieser Mechanismus ist eine technische Angelegenheit der Physiologen, von der die meisten nur eine flüchtige Ahnung haben. Unsere Antworten auf Fragen dieser Form beschäftigen sich in der Praxis entweder mit der Rechtfertigung von Wissensansprüchen (d. h. mit Gründen) oder mit der Folge von Ereignissen, durch die wir uns die Qualifikationen erwarben, über die betreffende Sache zu reden (d. h. mit biographischen Tatsachen). Philosophische Fragen über den "Prozeß der Wahrnehmung" entstehen dann, wenn wir diese zwei Antworttypen vermischen. Diese zwei Sachen sind aber außerordentlich verschieden - genauso verschieden wie die Bedeutungen, in denen Frau Lenzen halt weiß, daß Herr Lenzen müde ist, und in dem wir alle halt wissen:, daß fünf mal sieben fünfunddreißig ist. Es ist außerordentlich irreführend, auf den zweiten Fall solche Wörter wie lntuition, Fähigkeit und Sinn zu übertragen, die im, ersten Fall ganz gebräuchlich sind. Denn wenn wir vom sechsten Sinn der Frau Lenzen reden, tun wir dies eben deshalb, urp. sie jenen anderen weniger befähigten Sterblichen entgegenzustellen, die erst sagen müssen, woher sie wissen, daß Herr Lenzen müde ist, ehe wir ihren Wissensanspruch akzeptieren würden. Wenn wir von Fermats mathematischer Intuition reden, wollen wir ihn damit genau der weniger begabten Mehrheit entgegensetzen, bei deren Vermutungen über komplexe mathematische Fragen wir nicht darauf vertrauen können, daß sie sich als 'wohlbegründet erweisen werden. Es ist überhaupt nur sinnvoll, von Frau Lenzen und von Fermat zu sagen, sie verfügen über Intuition, weil Gründe angegeben werden könnten, wir aber darauf verzichten, wenn es sich um diese beiden handelt. Wenn wir uns jetzt zum Beispiel dem Satz "zwei mal zwei ist vier" zuwenden, ist es deshalb weder sinnvoll, von Gründen zu reden, noch von einer Befreiung von der Begründungspflicht. Worin soll dann die Intuition derjenigen bestehen, die niemals Gründe angeben? Es wäre sehr seltsam, wenn sie welche angeben würden! ' Wenn Philosophen die radikalen Unterschiede zwischen den hier unterschiedenen zwei Arten von "eben wissen" übersehen haben, dann haben sie oft die Sinnlosigkeit, in einigen Kontexten nach Gründen zu verlangen, als äquivalent zu dem Fehlen von Gründen angesehen.. Daraufhin haben sie das Fehlen von Gründen als Kluft interpretiert, die nur von Intuition überbrückt werden kann. Nach ihrer Auffassung involviert jeder Bezug auf Multiplikationstabellen ein "Wiedererkennen der Wahrheit". Wir können nur deshalb keine Gründe für elementare ar,ithmetische
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Wahrheiten angeben, weil wir uns genauso wie Frau Lenzen auf einige undeutliche Anzeichen verlassen, die wir intuitiv erfassen und nicht beschreiben können. Sobald man zu dieser Schlußfolgerung gekommen ist, kommen sofort die Argumente auf, die uns unfehlbar zur "Intuition" oder der "unmittelbaren Wahrnehmung" hin irreführen. Warum gelangt man so leicht zu dieser Schlußfolgerung? Die Antwort liegt vielleicht in einem der unüberprüften Axiome der modemen Philosophie, nämlich in der Doktrin: "All unser Wissen ist entweder unmittelbar oder über Schlüsse gewonnen ce. Denn dieses Axiom ist zweideutig. Nach der einen, logischen, Interpretation ist es ein Gemeinplatz: "Alle Behauptungen, zu wissen daß p, müssen entweder durch Angabe solcher Gründe gerechtfertigt werden, die in dem Kontext relevant für die Wahrheit von p sin'ä (eingeschlossen solcher Fälle, in denen keine Gründe relevant sind) oder durch den Nachweis, daß p durch eine gültige Schlußweise aus Prämissen geschlossen werden kann, für die relevante Gründe angegeben werden können (oder für die gegebenenfalls solche nicht erforderlich sind)". Dies ist ein Gemeinplatz, insofern hier einfach nur etwas festgestellt wird, was wir alle über die Bedeutung des Tenns "gerechtfertigt" wissen. Die Möglichkeit, daß es keine angemessenen Gründe gibt, muß erwähnt werden, um die Fälle einzuschließen, in denen man "eben weiß" - gleich ob vom Typ A oder B. So interpretiert, impliziert das Axiom weiter nichts über den "Mechanismus der Wahrnehmung" oder den "Prozeß des Erkennens". Es sagt nichts über die Möglich~ keit, Konklusionen zu erhalten, sondern nur etwas über das Verfahren zur Rechtfertigung von Konklusionen, die man schon hat. Die philosophisch einflußreiche Interpretation ist jedoch hiervon sehr verschieden. Sie ist überha~pt nicht mit Hilfe logischer Tenne ausgedrückt, sondern erscheint in psychologischem Gewand: "Immer wenn wir etwas wissen (erfahren), wissen (erfahren) wir es entweder unmittelbar oder schließen es aus Prämissen, die wir unmittelbar wissen (erfahren)." Diese Interpretation erscheint nur dann verständlich, wenn das Verb "wissen" so aufgefaßt wird, daß es eine geistige Aktivität ("erfahren") oder eine Relation bezeichnet und in der Form "Ich weiß gerade, daß ... " erscheinen kann. Austin hat gute Gründe dafür angegeben, bezüglich dieser Vorstellung skeptisch zu sein. Dennoch wird man durch diese Interpretation gez\\rungen, von "unmittelbarer Wahrnehmung" US\\'. zu reden. f)enn angenommen, wir sagen. etwa "Ich weiß, daß Aluminium bei einem- Grad über dem absoluten Nullpunkt supraleitend ist", dann sehen wir unsere Gründe als etwas an, das zwischen uns (denl, der \\'eiß) und unserer Behauptung (dem "Wissen") liegt und scheinen dieser Aktivität oder Relation eine Bedeutung zu geben, die sie vorher nicht hatten; deshalb muß es dann in Fällen, wo man auf keine Gründe Bezug nehmen kann und wo deshalb nichts "zwischen" uns und der Wahrheit liegen kann, scheinen, daß wir in direktem Kontakt mit der Wahrheit stehen. Wenn man die Tatsache für bare Münze nimmt, daß zum Beispiel für arithmetische Axiome keine Gründe gebraucht werden, scheint dies jetzt zu bedeuten, abz·ustreiten, daß man überhaupt "in direktem Kontakt" mit dem Gewußten ist (bzw. daß man dies "weiß"). Von "eben wissen" zu reden scheint jetzt nur dann legitim zu sein, wenn man annimmt, daß man sich in allen diesen Fällen damit, wovon man behauptet, es eben zu wissen, sozusagen in direktem Kontakt befindet und es unmittelbar begreift; oder, um dies in
216 philosophischem Küchenlatein auszudrücken, daß man es unmittelbar wahrnimmt. Man braucht aber nur die falsche Vorstellung zurückzuweisen, daß das Verb "wissen" ein solches Verb ist und das ganze Kartenhaus fällt zusammen. DIE IRRELEVANZ DES ANALYTISCHEN IDEALS Es ist jetzt an der Zeit, das Ereignis der zwei letzten Kapitel zusammenzufassen. In beiden Kapiteln haben wir den Einfluß des analytischen Ideals der Argumentation auf einen bestimmten Zweig der Philosophie verfolgt. Im IV. Kapitel betrachteten wir die logische Theorie; wir sahen, wie die Begriffe, die die Logiker mit einem Auge auf dieses Ideal entwickelt haben, notwendig von denen divergierten, die wir bei der Kritik von Argumentationen im praktischen Leben verwenden. Im V. Kapitel haben wir gesehen, wie sich die Auswirkungen der übernahme des analytischen Ideals über die Grenzen der logischen Theorie hinaus in die allgemeine Philosophie fortsetzten. Da Fragen über die "Natur des menschlichen Verstandes" sehr oft aus Logik in psychologischem Gewand bestehen, haben Verwirrungen innerhalb der Logik nur zu leicht zu Mißverständnissen in der Erkenntnistheorie geführt. Auf diese Weise hat der Wunsch, Analytizität auch dann zu erreichen, wenn sie gar nicht in Frage kommt - bei substantiellen Argumentationen - entweder zu Skeptizismus oder durch die Angst vor Skeptizismus zur gleichermaßen drastischen Vermeidung von Handlungen geführt. Nur dann, wenn man die am Anfang bestehenden logischen Verwirrungen beseitigt, wird es klar, daß der .richtige Weg für die Erkenntnistheorie weder darin besteht, den Skeptizismus zu unterstützen noch darin, sich gegen ihn zu schützen; der richtige Weg besteht vielmehr darin, die eigenen Zielvorstellungen abzuschwächen - nicht von Argumentationen und Wissensanprüchen aus allen Bereichen zu fordern, daß sie analytischen Standards entsprechen sollen, sondern - realistischer daß sie die jeweilige Art der Triftigkeit oder Begründetheit erreichen sollen, die für diesen Bereich als relevant verlangt werden kann. Es schien, daß sich die Attraktivität des analytisch~n Ideals innerhalb der formalen Logik größtenteils vom Prestige der Mathematik hergeleitet hat. Die Geschichte der Philosophie war sowohl im klassischen Athen als auch zur Zeit der wissenschaftlichen Revolution so stark mit der Geschichte der Mathematik verbunden, daß diese Wirkung vielleicht zu verst~hen ist. Es braucht uns weder zu verwundern, daß Plato, der Gründer und Direktor einer berühmten Schule von Geometern, den geometrischen Beweis als Ideal für alle Wissenschaften angesehen hat, noch braucht es uns zu wundern, daß Descartes, der Urheber jenes noch heute als "Cartesianische Geometrie" bekannten Zweiges der Mathematik - der einen unermeßlicheri Einfluß auf die Entwicklung der modernen Physik hatte - von der Idee fasziniert war, alle fundamentalen Wahrheiten der Naturwissenschaft und der Theologie auf quasimathematische Weise zu begründen. Genauso können wir auch verstehen, daß Leibniz, dem Erfinder unseres modernen Differentialkalküls, die Ansicht willkommen war, die Philosophie so "wirklich und beweiskräftig" wie die Mathematik zu 111:.1chen.
Ich sage, man sollte dies alles nicht überraschend finden. Das heißt aber nicht, daß \vir uns durch dasselbe Ideal verleiten lassen sollen. Wir müssen uns ihm gegenüber vielmehr in Acht nehmen und sofort erkennen, an welchen Stellen sein Einfluß
217 schädlich ist. An dieser Beobachtung, so· allgemein formuliert, ist natürlich nichts Originelles; man muß vielmehr all die notwendigen logischen Unterscheidungen fest und deutlich im Auge behalten, damit die gesamten Konsequenzen der Aufgabe des analytischen Ideals sichtbar werden. Zum Beispiel erkannte William Whewell vor einem Jahrhundert den verzerrenden Effekt, den Platos Vorliebe für die Methoden und die Logik der Geometrie auf seine Philosophie hatte. Whewell vertrat in seiner Vorlesung On the Influence of the History o[ Science upon .Intellectual Education die These, daß man durch, ein ausschließliches Verständnis der "deduktiven Wissenschaften" eine unausgewogene Vorstellung von der Natur des Denkens bekommt. Geometrie und Jurisprudenz, die traditionellen Modelle Hir Wissenschaften, wurden in den letzten Jahrhunderten von ihrer früheren Vorrangstellung verdrängt, und man muß ebenfalls ein Verständnis der für die Physik, Biologie und die anderen Naturwissenschaften (oder induktiven Wissenschaften) charakteristischen Denkmethoden erwerben. Dennoch ließ Whewell - abge"ehen von seiner wichtigen Einsicht in die Notwendigkeit von, wie er sie nannte, "verbindenden Begriffen", einer Einsicht, mit der er weit über seinen Zeitgenossen J. S. Mill hinausgeht - die traditionelle Unterscheidung zwischen Deduktion und Induktion im großen und ganzen unkritisiert. . Nur dann, wenn man einen komplexeren, ber~ichsabhängigen Apparat logischer Begriffe errichtet, kommen die genauen Ursprünge unserer epistemologischen Probleme ans Tageslicht. Zum Beispiel ging seit Descartes immer von Problemen ein Reiz für Philosophen aus, die er über die Fehlbarkeit unserer Sinne formulierte, insbesondere von der Möglichkeit - der logischen Möglichkeit, versteht sich -, daß all unsere Sinneserfahrungen kunstvoll durch einen klugen Dämon ersonnen sein könnten, der darauf versessen ist, uns zu täuschen und zur Annahme unserer Meinungen über Existenz und Eigenschaften von Gegenständen der Welt um uns herum zu verleiten. Auf den ersten Blick scheint es, als ob kein Problem unsere Selbstachtung oder unsere Ansprüche auf echtes Wissen ernsthafter in Frage stellen könnte. Dennoch ist es nur die falsche Erwartung, daß Argumentationen von dem Aussehen von Gegenständen auf ihr Wesen idealiter analytische Gültigkeit erreichen könnten, die hier ein Problem erzeugt. Descartes lenkt unsere Aufmerksamkeit bloß auf eine logische "Möglichkeit", und diese "logische Möglichkeit" (das heißt die Abwesenheit eines Selbstwiderspruchs) ist ein notwendiges Merkmal. Andererseits verlangen wir in einem solchen Bereich der Argumentation in det Praxis Konklusionen, deren Annahmen so stark erhärtet sind, daß sie für praktische Zwecke nicht widerlegbar sind. Deshalb können wir Descartes antworten, daß aus keiner Satzmenge über unsere Sinneserfahrung irgendeine Konklusion über die äußere Weh folgen kann oder zu folgen braucht - wenn wir unter "folgen" "analytisch folgen" verstehen. Die Frage, die wir in einem solchen Fall stellen - ob es eine Satzmenge rechtfertigt, daß wir Wissen über die Welt beanspruchen - verlangt überhaupt keine Folgerungsbeziehungen. Die Frage ist vielmehr, ob die Daten unserer Sinne immer tatsächlich zu widerlegen sind - ob die durch sie erzeugten Annahmen immer tatsächlich ernsthaft bestritten werden können - und die Antwort auf diese Frage ist sicher "Nein". Diese Annahmen sind sehr oft dermaßen stark erhärtet, daß es - wie treffend gesagt wurde - "bezüglich einiger Dinge unvernünftiger ist, sie zu bezweifeln, als sie anzunehmen".
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Bei Descartes sind wie bei Plato die Beziehungen des analytischen Ideals zur Geometrie ganz deutlich. Die Vorstellung, daß substantielle Argumentationen "logische Klüfte" enthalten mitsamt des implizierten Mißtrauens gegenüber allen Typensprüngen, ist eine natürliche Konsequenz davon, diese Argumentationen mit Maßstäben zu messen, die für die reine Mathematik gedacht waren. Dennoch fangen wir gerade mit Typensprüngen und Unterschieden zwischen Bereichen an und können davon niemals richtig loskommen. Typenübergänge zwischen unseren Konklusionen und deren stützenden Infonnationen sind keine Klüfte oder Mängel, sondern charakteristische Merkmale eben unserer Bereiche der Argumentation. Das Fehlen von Folgerungsbeziehungen bei substantiellen Argumentationen, die Tatsache, daß sie nicht analytischen Kriterien entsprechen, ist nichts, was man bedauern müßte, wofür man sich entschuldigen müßte oder was man zu ändern versuchen müßte. Man braucht noch nicht einmal - pragmatisch gesonnen - sagen, daß es in solchen Fällen zu viel wäre, analytische Garantien zu verlangen - daß man vernünftigerweise nicht mehr verlangen kann als eine Versicherung, daß eine Schlußregel funktioniert hat und daß wir dies in Ermangelung von Folgerungsbeziehungen akzeptieren müssen. Selbst diese Ansicht, so bescheiden (und nicht ganz unähnlich der Ansicht, zu der wir in diesem Buch gekommen sind) sie auch scheinen mag, ist irreführend. Denn es ist sinnlos, den Ausdruck "in Ermangelung von" zu verwenden: Auch darin steckt eine implizite Entschuldigung, die durch die Sit~ation nicht gerechtfertigt ist. Vielleicht ist es hilfreich, diese Diskussion mit einem Bild zu beschließen, mit einem, das den Wirkungen des in dem Ausdruck "logische Kluft" enthaltenen Bildes entgegenarbeitet. Wir benötigen die Möglichkeit, einen Typenübergang zu zeichnen, der nicht die quälenden Assoziationen dieses Ausdrucks mit sich bringt. Verschiedene Möglichkeiten bieten sich von selbst an. Soll man den übergang von Informationen eines logischen Typs zu einer Konklusion eines anderen Typs als Wechsel der "Ebene" auffassen und nicht als Schritt über eine Kluft? Oder als Wechsel der Richtung? Oder als Wechsel der Stellung? VielleIcht ist diese letzte Analogie am hilfreichsten. Denn Änderungen der Stellung können unpassend, hastig oder voreilig sein, ober aber angemessen, gerechtfertigt und angebracht - mittels der relevanten Standards beurteilt. Es gibt in der Tat einen Punkt, an dem Stellungen ohne eine scharfe Grenze in Signale oder Gesten übergehen und vollständig sprachliche Natur annehmen, so daß ein Unterschied im logischen Typ zwischen zwei Äußerungen in diesem weiten Sinn gerade ein Unterschied zwischen zwei Arten von Stellungen ist, die als Signale dienen. Angenommen jemand schaut von seinem Auto aus nach vorn, sieht, daß die Straße frei ist und gibt dem Auto dahinter ein Zeichen, vorbeizufahren. Daß er sieht, daß die Straße frei ist, liefert den Grund, dieses Zeichen zu geben: Das erste ist die Rechtfertigung für das zweite. Aber obwohl Sehen und Zeichen geben verschiedene Sachen sind, besteht keine "Kluft" zwischen dem Sehen und dem Tun - nur ein Unterschied. Um unser Zeichengeben zu rechtfertigen, brauchen wir nur auf die Verkehrslage vor uns hinzuweisen. Wir brauchen keine weiteren Prinzipien anzugeben, die helfen, die Lücke zwischen dem Sehen und dem Zeichengeben zu überqueren. Die für die Praxis wichtige Frage lautet nicht "Kann Zeichengeben selbst gleichwertig mit Sehen sein oder Sehen mit Zeichengeben ?", sondern: "In welchen Fällen rechtfertigt Sehen die (völlig verschiedene) Handlung des Zeichengebens?"
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Nach dieser Analogie können wir das Sichten der uns zur Verfügung stehenden Information über die gegenwärtigen und vergangenen Positionen der Planeten damit vergleichen, die Straße nach vorne zu überschauen und das Äußern einer Prognose mit Zeichengeben oder Gestikulieren - in diesem Fall allerdings in die Zukunft anstatt entlang der Straße. Auch hier stellt der Wechsel des logischen Typs von Daten und Stützung zur Konklusion eine Änderung der Stellung des Argumentierenden dar und nicht das überspringen einer gefährlichen Spalte. Zweifellos hat die Existenz einer zeitlichen Kluft oder des Verlaufs der Zeit ·im Fall von Prognosen sehr zu einer Förderung· der Vorstellung beigetragen, daß ein Prognostizieren der Zukunft das überbrücken einer Kluft involviert. Dies hilft die weit verbreitete Meinung zu erklären, daß das allgemeine Problem von Typenübergängen - das faktisch der gesamten Erkenntnistheorie zugrundeliegt - zuerst und am dringendsten bezüglich Induktion und Prognosen auftritt. Es besteht aber ein Unterschied zwischen zeitlicher Kluft und logischer Kluft, und eine Prognose aufzustellen. bedeutet nicht, eine gähnende Kluft zu überqueren, sondern vielmehr, eine (begründete oder unbegründete) in die Zukunft blickende Stellung einzunehmen. War es richtig, daß ich ihm mit der Faust drohte? Oder daß ich ihm zurückgewunken habe? Oder daß ich gewettet habe, daß mindestens eine Zahl dabei sein wird? Oder daß ich erklärte, daß ich die Antwort auf seine Frage wüßte? Diese vier Fragen sind sich ähnlicher, als wir bisher ·b~merkten, und Epistemologen brauchen in den beiden letzten Fällen nicht mehr Klüfte - und nicht mehr Probleme - zu sehen , als in den ersten beiden enthalten sind.
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SCHLUSS Die ersten, unverzichtbaren Schritte jeder philosophischen Untersuchung erscheinen leicht als vollkommen negativ, sowohl in der Absicht als auch im Effekt. Unterscheidungen werden getroffen, Einwände vorgebracht, akzeptierte Doktrinen werden als mangelhaft befunden und der vorher in dem Bereich bestehende Anschein einer Ordnung wird zerstört. Was kann dies alles nützen, fragt der Kritiker. Was die unmittelbare Wirkung angeht, reißen die Anfangsschritte von Philosophen sicherlich leicht Analogien und Verbindungen nieder, statt sie aufzubauen. Aber dies ist unvermeidbar. Der späte Wittgenstein verglich die in der Philosophie durchgeführte Neuanordnung unserer Vorstellungen mit der Neuordnung der Bücher auf einem Regal in einer Bücherei. Zuerst muß man Bücher voneinander trennen, zwischen denen - obwohl sie zur Zeit zusammenstehen...:... keine wirkliche Verbindung besteht, und sie auf den Boden an verschiedene Stellen legen. Deshalb wird. am Anfang der Anschein eines Chaos auf dem Bücherschrank und um ihn herum unvermeidlich stärker, und erst nach einer gewissen Zeit wird die neue und verbesserte Ordnung der Dinge langsam sichtbar - obwohl dann die Anordnung der Bücher an ihre neuen und angemessenen Plätze vergleichsweise eine Routinesache geworden ist. Am Anfang erscheint deshalb sowohl das Tun des Buchhändlers als auch das des Philosophen notwendig als negativ, verwirrend und destruktiv. Beidesind darauf angewiesen, daß ihre Kritiker ein bißehen Nachsicht üben und an dem anfänglichen Chaos vorbei auf die längerfristige Absicht schauen. Die vorliegenden Untersuchungen können beispielsweise den Anschein erwecken, daß wir vollständig von negativen Fragen in Anspruch genommen waren: Davon, welche Fonn die logische Theorie nicht annehmen sollte, welche Probleme der Erkenntnistheorie "Gemseneier" sind, was an dem traditionellen Begriff der Deduktion nicht stimmt und so weiter. Aber wenn dies so war, so liegt das nicht an einer Liebe für Unterscheidungen und Einwendungen um ihrer selbst willen. Wenn in der philosophischen Logik alles in Ordnung und deutlich erkennbar wäre, wäre es überflüssig, sich auf diese Untersuchungen einzulassen. Unsere Entschuldigung liegt in der überzeugung, daß eine radikale U mordnung der logischen Theorie notwendig ist, um sie deutlicher an die Praxis des Kritisierens anzugleichen. Unsere Untersuchungen sind dann gerechtfertigt, wenn die hier vertretenen Unterscheidungen und Einwände eine solche Umoranung näherbringen. Dennoch ist es sinnvoll, abschließend noch anzudeuten, welche mehr positiven Schritte sowohl in der Logik als auch in der Erkenntnistheorie erforderlich sind, um die kritischen Untersuchungen weiterzuverfolgen, mit denen wir uns hier hauptsächlich beschäftigt haben. Wie sollen wir es anpacken, die verstreuten Bände in einer neuen und praktischeren Anordnung neu aufzustellen, nachdem wir die alten Abteilungen "Logik" und "Erkenntnistheorie" aus dem Katalog unserer jetzigen Bücherei herausgc\\"orfen haben? Die vollständige Antwort wäre sehr umfangreich.; hier können aber einige allgemeine Bemerkungen über die Prinzipien gemacht werden, die jede neue Ordnung leiten werden. Insbesondere müssen drei Dinge erwähnt werden: a) Die Notwendigkeit einer Annäherung zwischen Logik und Epistemologie, die dann zu einem einzigen Gegenstand werden. b) Die Wichtigkeit der vergleichenden Methode in der Logik - der Behandlung
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von Argumentationen "in allen Bereichen als von gleichem Interesse und von gleicher Rechtmäßigkeit. Deshalb müssen ihre Strukturen ohne die Unterstellung, daß Argumentationen in einem Bereich denen in einem anderen Bereich "überlegen" sind, verglichen und gegenübergestellt werden. Und: c) Die Wiedereinführung von historischen, empirischen und sogar von in einem bestimmten Sinn anthropologischen überlegungen in das Gebiet, bei dem die Philosophen stolz darauf waren, es mehr als alle anderen Bereiche der Philosophie von allen Argumenten mit Ausnahme der apriori geltenden zu reinigen. Zu a) Erstens ist es also notwendig, jede scharfe Trennung zwischen Logik einerseits und Erkenntnistheorie andererseits aufzugeben. Der psychologistische Ton und Beigeschmack erkenntnistheoretischer Fragen ist - wie wir gesehen haben - irreführend. Die Frage "Wie funktioniert unsere kognitive Ausrüstung (unser Verstand)?" muß für philosophische Zwecke als äquivalent mit der Frage behandelt werden: "Welche Art von Argumentationen können für die Dinge angegeben werden, die wir zu wissen behaupten?" - auf diese Weise werden damit verbundene psychologische und physiologische Fragen beiseitegelassen, die für die Untersuchungen von Philosophen irrelevant sind -, und diese Frage gehört _zur Logik. Gleich ob eine Argumentation zur Stützung einer bloßen Behauptung oder eines Wissensanspruchs vorgebracht wird, ist ihre Adäquatheit eine Sache der Logik. Die Tatsache, daß im zweiten Fall die Behauptung unter dem Schutz einer Behauptung der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit (, ,Ich weiß, daß ... ce) vorgebracht wird, macht für die Standards zur Beurteilung der stützenden Argumentation keinen ernsthaften Uqterschied. Solange die Epistemologie in einem so weiten Sinn aufgefaßt wurde, daß sie so\\,ohI psychologische Fragen über die angeborenen Fähigkeiten des Neugeborenen und physiologische Fragen über die Entwicklung der zerebral-physiologischen Struktur als auch Fragen einer logischen Art beinhaltete, schien sie ein völlig autonomer Zweig der "Geistesphilosophie" zu sein. Der menschliche Verstand, seine Genese und Entwicklung, ist ein ganz anderes Gebiet als der Syllogismus und seine formalen Eigenschaften. Wenn aber unsere Untersuchungen überhaupt in die richtige Richtung gingen, müssen sich Logik und Epistemologie jetzt einander annähern. Epistemologie kann sich von Psychologie und Physiologie trennen, und Logik kann sich von reiner Mathematik trennen. Die eigentliche Aufgabe von bei den ist es, die Struktur unserer Argumentationen in verschiedenen Bereichen zu untersuchen und klar zu erkennen, welcher Natur die für jeden Typ der Argumentation charakteristischen Qualitäten und Mängel sind. In einigen Bereichen, in denen logische Bewußtheit von praktischem Wert sein kann, hat die Untersuchung der angewandten Logik schon eine erfolgreiche Entwicklung genommen - wenn auch manchmal unter einem anderen Namen. Das Gebiet der Jurisprudenz beinhaltet zum Beispiel schon immer einen Teil Logik; rückblickend kann man erkennen, daß das, was wir früher "juristische Analogie" genannt haben, mehr als eine bloße Analogie ist. Falls dieselben Untersuchungen, die es seit langem für rechtliche Argumentationen gibt, auch für Argumentationen anderer Typen durchgeführt würden, würde die Logik große Schritte vorwärts machen. b) Diese kombinierte Untersuchung - die wir "angewandte Logik" oder beliebig anders nennen können - muß notwendigerweise vergleichend vorgehen. Wir sahen, daß der am stärksten verzerrende Faktor bei der Entwicklung der Logik bisher die
222 Gewohnheit war, die von Argumentationen in einem bestimmten Bereich gelieferten Standards der Tauglichkeit und Gültigkeit einfach als universell zu behandeln. Philosophen haben Ideale der "logischen" Notwendigkeit, der "logischen" Gültigkeit und der "logischen" Möglichkeit aufgestellt, die außerhalb des engen analytischen Bereichs nur auf der vorbereitenden Stufe der Konsistenzüberprüfung angewandt werden können - ansonsten handelt es sich um eine unlogische Erweiterung. Substantielle Argumentationen in den Naturwissenschaften, in der Ethik und in anderen Bereichen wurden von Philosophen allein aufgrund der Tatsache, daß sie nicht analytisch sind (was "zu sein sie niemals vorgaben) streng behandelt und beurteilt. Ihre ganz eigenen Qualitäten wurden als vernachlässigbar im Vergleich zu der anfänglichen, nicht ~iedergutzumachenden Sünde betrachtet. Zuerst muß man erkennen, daß Gültigkeit ein bereichsabhängiger Begriff ist. Argumentationen innerhalb jedes Bereichs können durch diesem Bereich angemessene Standards beurteilt werden, und einige Argumentationen werden diesen Standards nicht genügen. Man muß sich aber darauf einstellen, daß die Standards bereichsabhängig sind und" daß die von einer Argumentation in einem Bereich zu fordernden Qualitäten der Natur der Sache nach bei" völlig tauglichen Argumentationen eines anderen Bereichs fehlen werden. Wir müssen es lernen, in der vergleichenden Logik einen Sachverhalt zu akzeptieren, der in der vergleichenden Anatomie seit langem gemeinhin anerkannt ist. Ein Mensch, ein Affe, ein Schwein - ganz zu schweigen von Fröschen, Heringen und Dros~eln - haben jeweils ihre eigene anatomische Struktur: Gliedmaßen, Knoc.qe"ri, Organe und Gewebe, die nach einem für die Art charakteristischen Muster angeordnet sind. Bei jeder Art sind einige Individuen deformiert; ihnen fehlt entw~der ein fürs überleben notwendiges Organ oder sie haben einen Körperteil, der wegen seiner Beschaffenheit dem Leben des Individuums nicht mit voller Effektivität dienen kann. Was bei einem Individuum der einen Art als Deformation angesehen wird, kann aber bei einem Individuum einer anderen Art Normalität verkörpern. Ein Mensch mit einer Hand, die die Form von Affenhänden hat, wäre in der Tat deformiert und dabei behindert, das Leben eines Menschen zu führen. Aber ~s könnte sein, daß gerade die Merkmale, die den Menschen behindern, für den Affen unverzichtbar sind - daß sie keineswegs Deformationen sind, sondern im Gegenteil von entscheidendem Nutzen sind. In diesem Sinne sind "Normalität" und "Deformation" artabhängige Begriffe; für Begriffe der logischen Beurteilung besteht eine entsprechende Situation. Wenn wir nach der Gültigkeit, Notwendigkeit, Strenge oder Unmöglichkeit von Argumentationen bzw. Konklusionen fragen, müssen wir diese Frage innerhalb der Grenzen eines gegebenen Bereichs stellen und es vermeiden, sozusagen einen Affen deswegen zu kritisieren, weil er kein Mensch ist oder ein Hausschwein deswegen, weil es kein Stachelschwein ist. Zum Beispiel unterscheiden sich die Argumentationsmuster in der geometrischen Optik - nämlich Diagramme, in denen der Weg von Lichtstrahlen vom Objekt zum Bild gezeichnet wird - von den Mustern, die in anderen Bereichen anzutreffen sind, etwa bei einer historischen Spekulation, bei einem Beweis im Infinitesimalkalkül oder im Falle einer Zivilklage, bei der der Kläger auf Fahrlässigkeit klagt. Es kann weitreichende Ähnlichkeiten zwischen Argumentationen in verschiedenen Bereichen geben sowohl bezüglich der Entwicklungsstufen der Argumentation (die wir im ersten
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Kapitel untersuchten) als auch bezüglich der Mikrostruktur (der wir uns im dritten Kapitel zuwandten). Es ist jedoch unsere Aufgabe, nicht um jeden Preis auf dem Auffinden solcher Ähnlichkeiten zu bestehen, sondern ebenso ein Auge für mögliche Unterschiede offenzuhalten. So sollten wir in einigen Bereichen in der Regel "notwendige" Konklusionen erwarten, in anderen hauptsächlich "mutmaßliche" Konklusionen; durch "Gesetze gerechtfertigte Schlüsse haben eine etwas andere Struktur als die Schlüsse, die auf einfachen empirischen Korrelationen beruhen. Wo Unterschiede dieser Art gefunden werden, sollten wir sie gewöhnlich respektieren; wir haben freie Hand, zu versuchen, neue und bessere Arten des Argumentierens für uns besonders interessierende Bereiche auszusinnen; wir sollten uns aber vor dem Schluß hüten, daß es einen Bereich gibt, in dem alle Argumentationen gleichermaßen ungültig sein müssen. Die Versuchung; diesen Schluß zu ziehen, sollte als Gefahrenzeichen aufgefaßt werden. Sie zeigt fast mit Sicherheit, daß irrelevante Beurteilungsregeln in unsere Analyse Eingang gefunden haben und daß Argumentationen in dem betreffenden Bereich deshalb verworfen werden, weil sie etwas nicht erreichen, was zu erreichen gar nicht ihre Aufgabe ist. c) Eine so verstandene Logik muß vielleicht gegenüber früher etwas von ihrem a priori-Charakter verlieren. Auf diese Weise würde die scharfe Trennung zwischen der Logik selbst und den Fächern, deren Argumentationen der I.ogiker untersucht, aufgehoben werden. (Einige Philosophen sehen darin vielleicht einen Grund, die Logik noch entschiedener auf die "Beding~ngen des verständlichen Redens" zu beschränken - das heißt auf Konsistenz und. den Respekt vor Folgerungsbeziehungen. Wir haben aber gesehen, wie hoch der Preis für dieses Programm ist, wenn man es vollständig ausführt.) WeH wir die Notwendigkeit akzeptieren, am Anfang unserer Untersuchung die in einem beliebigen Bereich geläufigen faktischen Fo,rmen der Argumentation zusammenzutragen, ist unser Ausgangspunkt zugestandenermaßen empirisch. Wir untersuchen das Zeichnen von Strahlenwegen, da sie für optische Schlüsse gebraucht werden; wir untersuchen mutmaßliche Konklusionen und Anfechtbarkeit als wesentliches Merkmal vieler rechtlicher Argumentationen; wir untersuchen aXiomatische Systeme, weil sie das Muster unserer Argumentationen in Geometrie, Dynamik und in weiteren Bereichen wiedergeben. Dies erscheint nur dann als Notlösung, wenn man vollständig dem Ideal der Logik als rein formale apriori geltende Wissenschaft anhängt. Die Logik muß aber nicht nur stärker empirisch werden; sie wird sich auch stärker historisch ausrichten müssen. Neue und bessere Methoden des Argumentierens für irgendeinen Bereich auszudenken bedeutet, nicht nur in der Logik einen großen Schritt vorwärts zu machen, sondern auch in dem betreffenden Bereich selbst. Bedeutende logische Neuerungen sind wesentlicher Bestandteil von bedeutenden wissenschaftlichen, moralischen, politischen öder gesetzlichen Neuerungen. Zum Beispiel haben in den Naturwissenschaften solche Leute wie Kepler, Newton, Lavoisier, Darwin und Freud nicht nur unsere Meinungen verändert, sondern auch unsere Argumentationsweisen und unsere Standards der Relevanz und des Begründens. Sie haben also gleichermaßen die Logik und den Bestand der Naturwissenschaften bereichert. Grotius und Bentham, Euklid und Gauss haben dieselbe zweifache Leistung in anderen Bereichen .erbracht. Wir müssen die Argumentationsweisen, die sic.? in beliebigen Bereichen eingebürgert haben, untersuchen und sie als historische Fakten CC
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akzeptieren, wissend, daß sie außer Gebrauch gesetzt werden können - dies aber nur als Ergebnis eines revolutionären Fortschritts in unseren Denkmethoden. In einigen Fällen sind diese Methoden nicht weiter zu rechtfertigen - jedenfalls nicht mittels Argumenten. Wir müssen uns mit dem Faktum begnügen, daß sie sich in der Praxis eingebürgert haben. (In diesen Fällen ist die Angemessenheit unserer intellektuellen Methoden von der Art der "absoluten Voraussetzungen" von R. G. Collingwood.) Selbst in solchen Fällen, bei denen sie mit Hilfe allgemeiner Begriffe gerechtfertigt werden können - wie etwa die Methoden der geometrischen Optik durch eine Einbettung in das umfassendere System der physikalischen Optik gerechtfertigt werden können - handelt es sich nicht um einen formalen apriori-Schritt, sondern um einen substantiellen Fortschritt in der Theorie. Die Begriffe des umfassenderen Systems bleiben ihrerseits dann nicht zurückführbar , und wir müssen ihre Geltung für den Augenblick als historisches Faktum anerkennen. Auf diese Weise wird von der Logik aus nicht nur eine Tür hin zur Psychologie und Soziologie geöffnet, sondern auch zur Ideengeschichte hin. Wir können jetzt Collingwoods Vision der Philosophie als einer Untersuchung der Argumentationsmethoderi, die zu einem beliebigen historischen Augenblick als höchste Berufungsinstanz in verschiedenen intellektuellen I)isziplinen gedient haben, mit besserem Verständnis betrachten. Es gibt bestimmte Methoden, über Materie, den Staat" oder über das Verhalten zu denken; andere waren gebräuchlich, sind aber abgelöst worden. Zweifellos kann man sich eine unendlich groge Zahl formal konsistenter Methoden ausdenken. In der Jngewandten Logik können wir aber kaum etwas anderes tun, als von dem Punkt auszugehen, an dem wir uns jetzt befinden. Die Wissenschaften - Naturwissenschaften, ethische Wissenschaften und praktische Wissenschaften - existieren schon: Wenn ein angewandter Logiker oder ein Erkenntnistheoretiker nur die historisch aufgetretenen Forschungs- und Argumentationsmethoden untersucht, wird ihn dies hinreichend beschäftigt halten; und diese Arbeit adäquat zu leisten ist ein Lebenswerk für viele Leute. Die mathematisch Orientierten können - wenn es ihnen beliebt - weitere abstrakte formale Schemata ausarbeiten - Muster von möglichen Argumentationen, die von dem tatsächlichen Geschäft des Argumentierens in jedem bekannten Bereich weit entfernt sind. Sie sollten diese Ergebnisse aber keiner der existierenden Wissenschaften zuschreiben, außer sie sind bereit, das zu tun, was wir hier als notwendig erkannt haben - nämlich genau die logische Geschichte, die logische Struktur und den modus operandi der Wissenschaften mit dem Auge eines Naturwissenschaftlers und ohne von außen herangetragene Vorurteile zu untersuchen. Dies bedeutet, die 'Argumentation in jedem Bereich so wie sie sind zu erkennen und zu beschreiben und ihre Funktionsweise anzuerkennen. Es bedeutet nicht, zu erklären, warum - bzw. zu beweisen" daß - sie notwendig funktionieren müssen. Erforderlich ist - kurz ausgedrückt - nicht epistemologische Theorie, sondern epistemologische Analyse. Es gibt keine Erklärung der Tatsache, daß Argumentationen einer bestimmten Art in der Physik erfolgreich sind - ausgenommen vielleicht eine Erkl::irung mittels einer tieferliegenden Argumentation, die ebenfalls aus der Physik stammt. (Die praktische Logik hat keinen Ausweg, kein Schlupfloch ins apriori.) Die Logik der Physik zu verstehen ist ein und dasselbe wie die Physik zu verstehen. Das heißt nicht, daß nur professionelle Physiker, die mit den heuesten Theorien vertraut sind, die Prin-
225 Zlplen dieser Logik diskutieren können, da diese zum größten Teil in den elementaren wie in den entwickelten Zweigen dieser Wissenschaft dieselben sind und genausogut anhand von historischen Beispielen wie anband von gegenwärtigen veranschaulicht werden können. Es heißt aber, daß hier genauso wie in der politischen Philosophie, in der Moralphilosophie und sogar in der Religionsphilosophie sowohl dem faktischen Zustand des betreffenden Gegenstands heute als auch seiner historischen Entwicklung mehr Aufmerksamkeit gewidnlet werden muß. Wenn man sich daran erinnert, wie in der Logik und der Philosophie der Natur\vissenschaft Leute wie Duhem, Poincare und Meyerson sich so lange genau mit Untersuchungen dieses Typs befaßten und sie eben unter dem Titel einer epistemologie verfolgten, sieht ein Engländer unter Nostalgie zurück auf William Whewell, dessen Untersuchungen der Logik und der Geschichte de~ induktiven Wissenschaften sich immer gegenseitig erhellten. Und er ist vielleicht versucht, dann leise die denkwürdigen Worte von Laurence Sterne zu murmeln: "They order this matter better in F rance. "
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NACHWEISE Die hier angegebene .A. nalyse von Argumentationen verdankt Gilbert Ryle viel, der sowohl in seinem Buch The Concept of Mind (dtsch.: Der Begriff des Geistes, Stuttgart, 1969) als auch in folgenden Papieren - wie etwa "If, So, and Because" (in Philosophical Analysis., Hg. M. Black, Cornell 1950) und "Logic and Professor Anderson (( (Australasian Journal of Philosophy, 1950, S. 137 ff.) - viele anregende Vorschläge über Logik gemacht hat. Seine Ideen über Schlußregeln . ("inferencelicences") habe ich in meinem Buch Philosophy of Science (London 1953) verwendet, in dem einige der hier in Kap. 111 diskutierten Punkte detaillierter behandelt wurden, insbesondere die Unterscheidung zwischen Aussagen über ",~issenschaftliche Gesetze und Aussagen über den Anwendungsbereich solcher Gesetze. Zu dem entsprechenden Thema in der Jurisprudenz vergleiche J. L. Montrose, "Judicial Law Making and Law Applying", in Butterworth's South African Law Review (1956), S. 187 ff. Die in Kap. I enthaltene Diskussion über Beurteilung und Be\\rertung weitet die Ideen von J. O. Urmsons Papier "On Grading" (enthalten in A. G. N. Flew, Logic and Language: 2nd Series (Oxford 1953), S. 159 ff. Dtsch. in: Grewendorf/o Meggle (Hrsg.), Sprache und Ethik, Frankfurt, 1974) auf logisches Kritisieren aus. Dasselbe Problem wird auch im Teil 11 von R. M. Hares Buch The Language 0/ lvforals (Oxford 1952; dtsch,: Die Sprache der Moral, Frankfurt, 1972) diskUtiert, wo dem bekannten Angriff von G. E. Moore auf den "naturalistischen Fehlschluß" eine interessante Wendung gegeben wird: Vgl. Principia Ethica (Cambridge 1093; dtsch., Stuttgart, 1972). Hare lnacht jedoch unkritischen Gebrauch von der scharfen Unterscheidung zwischen "deskriptiven "und "emotiven" Äußerungen, die in K. E. M. Baier und S. E. T.oulmin, "On Describing", Mind (1952), S. 13 ff. (dtsch. in: E. v. Savigny (Hrsg.), Philosophie und normale Sprache, München, 1969) kritisiert wird. Zum Kap. 11 vergleiche J. L. Austins Aufsatz "Other Minds", in Logic and Language: 2nd Series, S. 123 ff. und ebenfalls J. N·. Findlay über "Probability without Nonsense" , Philosophical Quarterly (1952), S. 218 ff. Zu Kap. 111 vergleiche die Bücher und Aufsätze von Ryle sowie J. 0. Urmson, "Some Questions Concerning Validity" , Revue Internationale de Philosophie (1953), S. 217. ff. (wiederabgedruckt in Flew, Essays in Conceptual Analysis London 1956), S. 120 ff.), D. G. Brown, ,)ylisconceptions of Inference", Analysis (1955), H. L. A. Hart, "The Ascription of Responsibilities and Rights" , in FIew, Logic und Language: 1st Se ries (1951), S. 145 ff. Zu der in Kap. IV berührten Frage von "Satz-Logik" und "Aussagen-Logik" vergleiche A. N. Prior, Time and Modality (Oxford 1957), Appendix A. Kapitel V verdankt wiederum viel Austin, loc.cit. Es ist nur fair, abschließend genaue Angaben über die hier kritisierten Bücher anzuführen, so daß der Leser selbst beurteilen kann, inwieweit meine Kritik berechtigt ist und wo ich die von mir verworfenen Ansichten falsch dargestellt habe. Neben dem_ schon zitierten Buch von R. M. Hare sind das Rudolf Carnap, Logical Foundations of Probability (Chicago und London, 1950), William Kneale, Probability and Induction (Oxford 1949), A. N. Prior, Logic and the Basis 01 Ethics (Oxford 1949) und P. F. Strawson, Introduction to Logical Theory (London 1952). Bezüglich David Ross wurde auf The Right and the Good (Oxford 1930) Bezug genommen, bezüglich G. H. von Wright auf An Essay in Modal LOif,ic (Amsterdam 1951).
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NAMENREGISTER Aristoteles, 9, 10, 14, 87, 117, 132, 134, 157, 160, 163, 164 Austin, J. L., 47-48, 49, 51, 187, 207 . Ayer, A. J., 203 Bacon, Francis, 139 Bentham, Jeremy, 223 Berkeley, George, 81, 139, 203 Bernoulli, Jakob, 79 Boole, George, 79- 80, 157 Carnap, RudoH, 12,45,46, 70-82, 142, 143, 161, 164-165 Collingwood, R. G., 224 Darwin, Charles, 223 Descartes, R., 72, 191, 216, 217, 218 Dewey, John, 11, 12 Duhem, P., 225 Euklid, 160, 169, 177, 223 Farjeon, Eleanor, 44, 83 Fermat, P. de 214 Frege, Gottlob, 79-80, 157 Freud, Sigmund, 223 Gauss, K. F., 223 Grotius, H., 223 Hardy, G. H., 169 Hare, R. M., 144 Hart, H. L. A., 127 Holmes, Sherlock, 109-110, 124, 142 Hume, David, 16, 136, 139, 145-148, 155, 193, 201-202 Husserl, Edmund, 79 Jeans, James, 79 Jeffreys, Harold, 79 Kepler, Johann, 223 Keynes, J. M., 74, 79 Kneale, W., 45-70, 74,77-78, 139-141, 143,206 Laplace, P. S. de, 73, 123, 142 Lavoisier, A. L., 223
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Leibniz, G. W., 72, 157, 216 Locke, John, 139, 203 Meyerson, E., 225 Mill, J. 5., 217 Mises, R. von, 72-73 Moore, G. E., 64, 203 M9rgan, A. de, 79 Newton, Isaac, 110, 142, 223 Pascal, Blaise, 176 Piaget, J., 185 Plato, 160, 217, 218 Poincare, Henri, 225 Prior, A. N., 145, 154-155, 160 Pythagoras, 160, 169 Quine, W. V., 159, 164 Ramsey, F. P., 70, 79 Richards, 1. A., 203 Ross, W. D., 127-128 Russell, Bertrand, 80 Ryle, Gilbert, 109 Sterne, Laurence, 225 Stevenson, C. L., 203 Strawson, P. F., 141-143,157,163 Urmson, J. 0., 70 Waismann, F., 80 Whewell, W., 217, 225 Wisdom, John, 199 Wittgenstein, L., 220 Wodehouse, P. G., 210 Wright, G. H. von, 165
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SACHREGISTER analytische Argumentationen 113, 117-126, 204 Anfechtbarkeit 127 Argumentationen, analytische/substantielle 113 deduktive/induktive 109-110, 129, 134 quasi-syllogistische 99---101, 118-121, 124---126 schlüssige/tentative 122-123 schluß regel-verwendende/schlußregel-begründende 109, 122 Ausnahmebedingungen 92 Aussagen und Äußerungen 158 ff. Aussagenkalkül 164 Bedeutung, Rolle und Kriterien 36 . Bereiche der Argumentation 15, 19 Bereichsabhängigkeit 20 Bereichsunabhängigkeit 20 Daten zugunsten von Behauptungen 88 Deduktion 14, 15, 109-110, 129, 134 Einstufen 34-36 episteme 9, 157 ff. formale Gültigkeit 100, 107 ff., 121 Gültigkeit in formaler Logik 138 Induktion 15, 110, 129, 134 juristische Analogie 14-15,21-23,41-43,87, 126-12S Kalküle, maßgeschneiderte 178-183 Kalkül von Aufstellungen 175 ff. Kriterien für die Verwendung modaler Terme 15,32 ff., 37 ff. logische Form 42-43,86-87, 126-128 Kluft 16, 196 ff. Möglichkeit 136, 150-154, 180-182 Notwendigkeit 14,136,150-154,180-182 Relation 163 Wörter 122, 133 'Unmöglichkeit 34, 136, 150-15.4, 180-182
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110daler Operator 92 ~1öglichkeit 23, 152 naturalistischer Fehlschluß 64, 69 Notwendigkeit 24, 92 Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit 122-126 Probabilifikation 51, 67-69, 74-75 Psychologismus 77- 81 quasisyllogistische Argumentation 99-101, 118-121, 124-126 Rolle von Allaussagen 102 von modalen Tennen 15, 32 ff., 37 ff., 84 Schlußregel 89 schluß regel-begründende Argumentation 109, 122 schluß regel-verwendende Argumentation 109, 122 Stützung von Schlußregeln 93- 95 Stützungsrelation 74 substantielle Argumentationen 113, 191 ff., 204 Syllogismus, Prinzip des 116 tentative Argumentationen 127 Typenübergänge 19 Unangemessenheit 29 ff. Unmöglichkeit 25, 26 ff. formale 27, 172 ff. mathematische 33-34, 64, 179 theoretische 30, 179 V erifika tionsprinzip 76 Wahrscheinlichkeit 25, 92 - -skalkül 74--75 - -srelationen 67-69, 74-75, 77
NEUE WISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK
Peter Bieri (Hg.) Analytische Philosophie der Erkenntnis 3. Aufl. 1994 511 5., Br. ISBN 3-89547-005-8
Peter Bieri (Hg.) Analytische Philosophie des Geistes 2. Aufl. 1993 372 S., Br. ISBN 3-89547-945-4
Alasdair Maclntyre Geschichte der Ethik im Überblick Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert 3. Aufl. 1995 253 5., Br. ISBN 3-89547-078-3
Hubert L. Oreyfusl Paul Rabinow Michel Foucault Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik Neuausgabe 1994 3275., Br. ISBN 3-89547-050-3
Heidegger Perspektiven zur Deutung seines Werks herausgegeben von Otto Pöggeler 417 5., Br. ISBN 3-89547-010-4
Rolf-Peter Horstman n Die Grenzen der Vernunft Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus 2. durchges. Aufl. 1995 3205., Br. ISBN 3-89547-084-8
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