John Ringo
Der Gegenschlag Invasion 3 Roman
Aus dem Amerikanischen von HEINZ ZWACK
Titel der Originalausgabe: WHEN THE DEVIL DANCES
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
DIE GRÖSSTE SCHLACHT ALLER ZEITEN STEHT BEVOR Fünf Jahre nach der Invasion der außerirdischen Posleen ist der Wiederstand der Menschen auf eine Handvoll mi litärischer Einheiten geschrumpft. Doch mit GuerillaMethoden fügen sie dem Gegner immer wieder schmerzhafte Verluste zu. Und heimlich bereiten sie sich auf den Augenblick vor, der das Schicksal der menschli chen Zivilisation bestimmen wird – der alles entschei dende Gegenschlag …
Gewidmet: Thomas Burnett, 38, Vater von drei Kindern Und all den anderen Kriegern von Flug 93. Sie starben, damit andere leben konnten.
Call me not false, beloved, If, from your scarce-known breast So little time removed, In other arms I rest. For this more ancient bride, Whom coldly I embrace, Was constant at my side Before I saw thy face. Live, then, whom Life shall cure, Almost, of Memory, And leave us to endure Its immortality. »The Bridegroom«; aus »Epitaphs of the War« Rudyard Kipling Nenn mich nicht treulos, Liebste, wenn ich, so kurz erst deiner kaum gekannten Brust entrissen, in andren Armen ruhe. Denn diese ältere Braut, die ich kalt umarme, war treulich an meiner Seite, eh ich dein Gesicht sah. So leb du denn, die das Leben Von Erinnerungen fast heilen wird, Und lass uns diese Unsterblichkeit ertragen. »Der Bräutigam«, aus: »Grabschriften des Friedens« – Rudyard Kipling
Chronologie der Posleen-Invasion 9. Oktober 2009
Erste Landung, fünf Battle Globes; Landun gen: Fredericksburg, Zentralafrika, Südostasien, Usbekistan
28. Juli 2010
Erste Welle, zweiundsechzig Battle Globes; Schwerpunkte: Ostküste Nordamerikas, Australien, Indien
15. August 2010
Letztes Lebenszeichen: australisches Verteidigungskommando Alice Springs
12. April 2011
Zweite Welle, fünfundvierzig Battle Globes; Schwerpunkte: China, Südamerika, Westküste Nordamerikas, Naher Osten, Südostasien
14. Mai 2011
Letztes Lebenszeichen: Chinesische Rote Armee, Xianging
28. Mai 2011
Letztes Lebenszeichen: Türkische Allianz, Dschalalabad
18. Juni 2011
Letztes Lebenszeichen: Kombiniertes Indochina-Kommando, Angkor Wat
19. Dezember 2011
Letztes Lebenszeichen: Verbündete des Buches, Jerusalem
23. Januar 2012
Schlacht von L3: Verlust des Super-Monitors Lexington, Task Fleet 4.2
17. Februar 2012
Schlacht um Titan-Basis
27. März 2012
Dritte Welle, dreiundsiebzig Battle Globes; Landungen: Europa, Nordafrika, Indien II, Südamerika II
30. April 2012
Letztes Lebenszeichen: Islamische Verteidigungsstreitkräfte, Khartoum
5. Juli 2012
Letztes Lebenszeichen: Indische Verteidigungsstreitkräfte, Gujarrat
25. August 2012
Letztes Lebenszeichen: Streitkräfte Bolivars, Paraguay
24. September 2012
Erste Schlacht von Irmansul; Verlust der Super-Monitore Enterprise, Yamato, Halsey, Lexington II, Kusnetsov, Victoria, Bismarck. Task Fleets 77.1, 4.4, 11
17. Dezember 2012
Zweite Schlacht um die Erde: Verlust der Super-Monitore Moskva, Honshu, Mao. Task Fleet 7.1, 4.1, 14
18. Dezember 2012
Vierte Welle, fünfundsechzig Battle Globes; Schwerpunkte: China II, Ostküste Nordamerika II, Europa II, Indien III
14. März 2013
Letztes Lebenszeichen: Europäische Unionsstreitkräfte, Innsbruck
28. August 2013
Fünfte Welle, vierundsechzig Battle Globes; Schwerpunkte: Westküste Nordamerika II, Ostküste Amerika III, Russland, Zentralasien, Südafrika, Südamerika III
17. September 2013
Letztes Lebenszeichen: Großafrikanische Allianz, Pietermaritzburg
12. Oktober 2013
Letztes Lebenszeichen: Rote Armee, Nischnij Nowgorod
21. Oktober 2013
Offizielle Feststellung: keine zusammenhängenden StreitkräfteFormationen außerhalb Nordamerikas
14. November 2013
Zweite Schlacht von Irmansul: Verlust der Super-Monitore Lexington III, Yamato II. Task Fleet 14
1. Dezember 2013
Geheimbericht des Senatsausschusses: geschätzte Erdbevölkerung 1,4 Milliarden /
geschätzte Posleen-Bevölkerung: über 12 Milliarden 26. Mai 2014
Letzte einsatzfähige Posleen-Streitkräfte auf Irmansul vernichtet
1 Clayton, Georgia, Sol III 2325 EDT, 11. September 2009
The Commando's Prayer Give me, my God, what you still have; give me what no one asks for. I do not ask for wealth, nor success, nor even health. People ask you so often, God, for all that, that you cannot have any left. Give me, my God, what you still have. Give me what people refuse to accept from you. I want insecurity and disquietude; I want turmoil and brawl. And if you should give them to me, my God, once and for all, let me be sure to have them always, for I will not always have the courage to ask for them. Special Air Service – Corporal Zirnheld, 1942 Gib mir, mein Gott, was du noch hast: Gib mir, was keiner haben will.
Nicht Reichtum will ich, nicht Erfolg, nicht mal Gesundheit. So oft erbitten von dir alles das die Menschen, dass du ganz sicher davon nichts mehr hast. Gib mir, mein Gott, was du noch hast. Gib mir, was andre sich nicht von dir erbitten. Unsicherheit, Unruhe wünsch ich mir, Kampf und Tumult. Und, solltest meinen Wunsch du mir erfüllen, dann, mein Gott, dann sorg dafür, dass ich sie immer habe, denn nicht immer werde den Mut ich haben, dies von dir zu erbitten.
Der Nachthimmel über den Ruinen von Clayton im Bundesstaat Ge orgia schien in Flammen zu stehen, als eine ganze Artilleriebrigade den Himmel mit Splittern füllte. Das orangegelbe Licht der unregel mäßigen Salven beleuchtete das Skelett eines ausgebrannten Burger King und die herumhastenden Zentaurengestalten der Posleen-In vasoren. Die krokodilköpfigen Aliens stoben unter dem massiven Beschuss auseinander, während Sergeant Major Mosovich zusah, wie der Scharfschütze seines Teams mit der Regelmäßigkeit eines Metro noms auf sie schoss. Drei Gottkönige hatten das Posleen-Bataillon geführt, das, was die Invasoren ein »Oolt'ondar« nannten, eine Truppeneinheit unter schiedlicher Größe, etwa zwischen einem menschlichen Bataillon und einer Division. Zwei der drei Führungskasten waren mit zwei präzise gezielten Schüssen aus ihren untertassenförmigen AntigravFahrzeugen geschleudert worden, ehe der Letzte das Tempo seines Fahrzeugs gesteigert und zugesehen hatte, außer Schussweite zu
kommen. Als er verschwunden war, fing der Scharfschütze an, sich mit den Posleen-Normalen zu befassen. Der Rest von Fernaufklärungsteam Fünf hatte das Feuer einge stellt. Im Gegensatz zu dem Scharfschützen mit seinem .50-KaliberKarabiner musste der Rest des Teams damit rechnen, dass ihre Leuchtspurmunition sie verraten würde. Und dann würden sie fal len wie Weizen vor der Sense des Schnitters; das Bataillon semi-in telligenter Normaler würde selbst ohne seine Führer imstande sein, das FAT einfach niederzuwalzen. Also lenkten sie den Artilleriebeschuss, bis die restlichen Aliens das Feld geräumt hatten. »Saubere Arbeit«, sagte Mueller mit ruhiger Stimme und ließ den Blick über Dutzende pferdegroßer Kadaver schweifen, die die Stra ßen bedeckten. Der große blonde Master Sergeant hatte schon gegen Posleen gekämpft, als der größte Teil der Menschheit noch gar nichts von ihrer Existenz gewusst hatte. Ähnlich Mosovich hatte er all die schlimmen Seiten dieser Invasion und die wenigen guten, die sie vielleicht auch mit sich gebracht hatte, am eigenen Leibe erlebt. Als man ihnen befohlen hatte, auf Streife alle Posleen zu erschie ßen, die ihnen vor die Rohre kamen, war ihnen das gar nicht sonder lich schlau vorgekommen. Schließlich wusste er, wie es war, wenn man von Posleen gejagt wurde, und es machte absolut keinen Spaß. Die Aliens waren schneller als Menschen, hielten mehr aus, und wenn sie einmal die Verfolgung aufgenommen hatten, erforderte es unglaubliches Geschick oder weit überlegene Feuerkraft, um sie wieder loszuwerden. Aber wie es schien, setzten die Invasoren die Verfolgung nie über bestimmte Zonen hinaus fort, und die Aufklä rungsteams verfügten über hinreichende Feuerkraft, um den größ ten Teil ihrer Verfolger auszulöschen; und deshalb nutzten sie jetzt jede Chance, die Invasoren unter Beschuss zu nehmen. »Lang genug haben die ja gebraucht«, knurrte Sergeant Nichols. Der E-5 war kürzlich von den Zehntausend zu ihnen versetzt wor den. Wie alle Spartaner war der Sergeant so hart wie der Lauf seines
Scharfschützenkarabiners, aber wenn es darum ging, wie es hinter dem Wall zuging, musste er noch eine ganze Menge lernen. »Die Ari setzt gewöhnlich ziemlich spät ein«, sagte Mueller und richtete sich auf. Ebenso wie der Scharfschütze trug auch er einen Ghillie-Anzug. Die herunterhängenden Stofffetzen, die einen Solda ten im Buschwerk fast unsichtbar machten, waren gewöhnlich recht lästig. Aber der Anzug leistete gute Dienste, wenn es darum ging, den etwas überdimensionierten Master Sergeant zu verbergen. Die Fronten entlang der Ostküste waren jetzt seit fast zwei Jahren ziemlich stabil gewesen. Beide Seiten hatten ihre Stärken und Schwächen, und daraus hatte sich so etwas wie eine Patt-Situation entwickelt. Die Posleen verfügten über modernste Waffen, Hunderte von Ge nerationen besser als alles, was Menschen aufzubieten hatten. Ihre leichten Hochgeschwindigkeitsgeschosse konnten einen Kampfpan zer oder einen Bunker aufschlitzen wie eine Blechdose, und jedes zehnte »Normale« war damit ausgestattet. Die Plasmakanonen und die schweren Railguns auf den Untertassenfahrzeugen der Gottkö nige waren fast ebenso wirksam, und ihre Sensorik stellte sicher, dass kein Flugzeug und keine Lenkwaffe sich über den Horizont wagen durfte. Und zu diesem technischen Vorteil kam, dass sie gegenüber den menschlichen Verteidigern weit in der Überzahl waren. Die fünf In vasionswellen, die bisher über die Erde hereingebrochen waren, so wie die zahlreichen »kleineren« Landungen dazwischen hatten zwei Milliarden Posleen auf dem belagerten Planeten abgesetzt. Und es dauerte nur zwei Jahre, bis ein Posleen ausgereift war. Wie viele von ihnen sich im Augenblick auf der Erde befanden, war unmöglich ab zuschätzen. Natürlich waren nicht alle in Nordamerika gelandet. Tatsächlich waren die USA sogar im Vergleich mit dem Rest der Welt relativ glimpflich davongekommen. Afrika war, wenn man einmal von ge wissen Guerillaaktivitäten im Dschungel und in den Weiten Südafri
kas absah, als »menschlicher« Kontinent praktisch von der Landkar te gewischt worden. Asien hatte nahezu das gleiche Schicksal erlit ten. In bergigem Gelände und im Dschungelterrain befanden sich die pferdeähnlichen Posleen dagegen deutlich im Nachteil, und des halb leisteten Teile Südostasiens, insbesondere die Himalaja-Region, Burma und Teile von Indochina, noch aktiven Widerstand. China und Indien waren praktisch Posleen-Provinzen. Die Gäule hatten weniger als einen Monat gebraucht, um China zu durchqueren, da mit gewissermaßen Maos »Langen Marsch« zu wiederholen und da bei fast ein Viertel der Bevölkerung der Erde hinzumetzeln. Der größte Teil Australiens und Südamerikas, mit Ausnahme der dich ten Dschungelregionen im Landesinneren und der Anden-Region, waren ebenfalls gefallen. Europa war ein einziges Schlachtfeld. Die Posleen taten sich in kal ten Regionen äußerst schwer, was nicht so sehr an der Kälte lag als vielmehr daran, dass sie in kaltem Klima kaum Nahrung fanden; so kam es, dass sie die skandinavische Halbinsel und das Innere Russ lands weitgehend ignoriert hatten. Aber Posleen-Streitkräfte hatten ganz Frankreich und Deutschland, mit Ausnahme gewisser Teile Bayerns, eingenommen und überfluteten inzwischen die norddeut sche Tiefebene bis an den Rand des Ural. Dort waren sie zum Still stand gekommen, eher weil die Umweltbedingungen sie anwiderten denn wegen nennenswerten militärischen Widerstands. Zur Zeit wurde ihnen in den Alpen, auf dem Balkan und in Osteu ropa Widerstand geleistet, aber die belagerten Überlebenden litten unter mangelhafter Nahrungsversorgung, unzureichender Produkti onskapazität und dem Verlust jeglicher Hoffnung. Der Rest Euro pas, das gesamte Flachland und der größte Teil der historischen »zentralen« Zonen waren fest in der Hand der Posleen. Amerika hatte es einer günstigen Kombination von geografischen Gegebenheiten, Glück und einer brutalen Strategie zu verdanken, dass es noch überlebte.
An beiden Küsten gab es Ebenen, die sie mit Ausnahme bestimm ter Städte den Posleen überlassen hatten. Aber die Bergketten zu beiden Seiten des Kontinents hatten es im Verein mit dem Mississip pi der Nation ermöglicht, ihre Streitkräfte neu zu konsolidieren und an manchen Orten sogar zum Gegenangriff überzugehen. Im Westen schützte das gewaltige Bergmassiv der Rocky Moun tains das Landesinnere und verhinderte, dass sich die auf dem schmalen Streifen Land zwischen den Bergen und dem Meer einge zwängten Posleen vereinigten. Aber jener schmale Streifen Land hatte einmal einen nennenswerten Anteil der Bevölkerung der USA enthalten, und die Verluste an Zivilisten waren gewaltig gewesen. Am Ende hatte es der größte Teil der Bewohner Kaliforniens sowie der Staaten Washington und Oregon geschafft, in den Rockys siche re Zuflucht zu finden. Die meisten von ihnen hielten sich in den im mer noch im Bau befindlichen unterirdischen Städten, den »SubUrbs«, auf, die auf eine Empfehlung der Galakter zurückgingen. Dort saßen sie, arbeiteten in unterirdischen Fabriken und stellten das her, was für die Kriegführung benötigt wurde – und schickten ihre Gesunden hinaus, um die Front zu verteidigen. In den Rocky Mountains gab es viele Bodenschätze, die alle inten siv für den Kriegseinsatz genutzt wurden, doch was fehlte, war Nahrungsproduktion. Vor der ersten Landung hatte man jegliche Zurückhaltung in der landwirtschaftlichen Produktion aufgegeben, und die enorme amerikanische landwirtschaftliche Kapazität war auch sofort angesprungen. Aber den größten Teil der so erzeugten Nahrungsmittel hatte man in die wenigen befestigen Städte in den Ebenen geschickt, von denen man erwartete, dass sie mindestens fünf Jahre durchhielten. Das größte Problem war halt die Verpfle gung. Und deshalb herrschte an allen anderen Orten erheblicher Le bensmittelmangel, als die ersten Landungen erfolgten. Die Posleen hatten fast die gesamte landwirtschaftliche Produktionsfläche im Westen, mit Ausnahme des Klamath-Beckens, erobert. Und deshalb musste der größte Teil der Lebensmittelversorgung für die westli chen SubUrbs über eine lange, dünne Verbindungskette erfolgen,
die quer über die nördlichen Ebenen verlief und der 1-94 und der Santa-Fe-Eisenbahnlinie folgte. Wenn diese Kette abgeschnitten wurde, würden fünfundachtzig Millionen Menschen langsam ver hungern. Im Osten war es nicht viel anders. Die Appalachenfront erstreckte sich von New York bis Georgia und bildete zusammen mit dem Tennessee River eine natürliche Barriere, die vom St. Lawrence bis zum Mississippi reichte. Einem Vergleich mit den Rocky Mountains freilich hielten die Appalachen in keiner Weise stand. Nicht nur, dass sie insgesamt bei weitem nicht so hoch aufragten, es gab dort auch Pässe, die fast so offen wie das flache Land waren. So fanden die Posleen entlang der ganzen Front zahlreiche Orte, die sich für einen Angriff eigneten. Und an all diesen Stellen, Roanoke, Roches ter, Chattanooga und anderen, waren die Kämpfe erbittert und blu tig gewesen. In all diesen Schluchten kämpften Tag und Nacht regu läre Einheiten, unter die sich galaktische Gepanzerte Kampfanzüge und die Elitetruppe der Zehntausend mischten, gegen scheinbar endlose Angriffswellen von Posleen. Aber die Front hielt. Manchmal allerdings hielt sie nur deswegen, weil die Überlebenden eines An griffs einfach zu müde waren, um davonzulaufen; gelegentlich schwankte der Frontverlauf etwas, aber ganz aufgerissen wurde die Front nie. Dass es gelang, die Front im Bereich der Appalachen zu halten, war von entscheidender Wichtigkeit. Mit dem Verlust der Küstenre gionen und eines Großteils des Mittleren Westens blieben für die Produktion von Nahrungsmitteln lediglich noch Zentral-Kanada, das Cumberland-Plateau und das Ohio-Tal übrig. Und obwohl Ka nada Getreide von höchster Qualität produzierte, war der Ertrag pro Anbaufläche doch recht gering, zudem konnte Kanada auch nur einen beschränkten Bereich von Produkten erzeugen. Außerdem war der Anteil der Industrie in British Columbia und Quebec zwar im Laufe der Jahre angewachsen, doch die logistischen Probleme ei ner breit angelegten Produktion unter subarktischen Bedingungen, unter denen Kanada schon immer gelitten hatte, hielten auch ange
sichts der Bedrohung durch die Posleen an. Es war schlichtweg un möglich, die gesamte überlebende Bevölkerung der USA nach Kana da hineinzuzwängen. Und selbst wenn man es geschafft hätte, wäre es ihnen dort auch nicht besser als den Indern ergangen, die sich auf engstem Raum im Gujarrat und im Himalaja-Gebiet zusam mendrängten. Ein Verlust des Cumberland-Plateaus und des OhioTales würde daher praktisch dem Ende jeglicher aktiven Verteidigungsfähigkeit gleichkommen. Es würden Menschen auf dem Kontinent übrig blei ben, aber diese Menschen würden, ebenso wie dies auf allen ande ren Kontinenten der Fall war, nur noch verstreute Überlebende sein, die in den Ruinen nach Nahrungsresten herumscharrten. Aus der Erkenntnis heraus, dass der untere Bereich der Great Plains nicht verteidigt werden konnte, hatten sich die dort statio nierten Streitkräfte, hauptsächlich Panzerverbände und GKA-Ein heiten, zurückgezogen, ohne sich vom Feind in Kampfhandlungen verwickeln zu lassen, sofern sie nicht die Gewissheit hatten, ihm ge waltige Verluste zufügen zu können. Diese Rückzugsoperation war in der Nähe des Minnesota River zum Stillstand gekommen, und zwar weitgehend aus denselben Gründen wie die Rückzugsopera tionen in Sibirien. Dabei hatten die Posleen, ob ihnen das bewusst war oder nicht, eines geschafft: Im Laufe der lang gezogenen Rück zugsoperationen war die 11th Mobile Infantry, die größte Einheit von mit GalTech-GKAs ausgestatteten Soldaten der Erde, vernichtet worden. Sämtliche Verteidigungsmaßnahmen basierten auf den be kannten Schwächen der Posleen: der Unfähigkeit, längerem Artille riebeschuss standzuhalten, und der Unfähigkeit, nennenswerte Hin dernisse im Terrain zu überwinden. Die Gottkönige konnten zwar Flugzeuge und auch Lenkwaffen mit fast hundertprozentiger Si cherheit bekämpfen, waren aber immer noch außer Stande, Artille riebeschuss abzuwehren. Solange sie in Artillerieschussweite von Menschen waren, waren sie verletzbar. Und wegen ihrer seltsamen mentalen Blockade war es für sie buchstäblich unmöglich, moderne Verteidigungsanlagen zu überwinden. Wenn Posleen vorbereitete
Stellungen mit Befestigungsanlagen angriffen, betrug die Verlustrate normalerweise hundert Posleen für jeden getöteten Menschen; und selbst mit ihrer überwältigenden Übermacht schafften sie es einfach nicht, mehr als die vorderste Linie befestigter Stellungen einzuneh men. Und praktisch alle Festungsanlagen in den Rockys und den Appalachen waren tief gestaffelt. Und deshalb rannten die Posleen gegen sie an und starben in so gewaltiger Zahl, dass es unmöglich war, ihre Verluste exakt zu erfassen. Und sie unterlagen. Jedes ein zelne Mal. Jetzt kauerten die Menschen in den meisten Bereichen hinter ihren massiven Befestigungsanlagen, während die Posleen außerhalb der Reichweite der menschlichen Artillerie eine Zivilisation aufbauten. Und dazwischen dehnte sich ein von Unkraut überwuchertes und von Geistern bevölkertes Niemandsland niedergewalzter Dörfer und zerstörter Städte aus. Und durch diese Wildnis streiften die Fernaufklärungsteams. »Lass uns hinausgehen«, sagte Mosovich leise und schob sein Fernglas ins Futteral zurück. Das Glas war ein Produkt alter Tech nik, nicht einmal lichtverstärkt, aber in Situationen wie der gegen wärtigen reichte das aus. Außerdem war es ihm ganz angenehm, sich nicht auf Elektronik verlassen zu müssen; Batterien, selbst sol che, die GalTech zur Verfügung gestellt hatte, gaben schließlich den Geist auf. »Ich schätze, die Jungs waren in südlicher Richtung unter wegs, auf unser Ziel zu.« »Kannst du mir sagen, was wir eigentlich gegen einen Globe ma chen sollen, Jake?«, fragte Mueller. Aber trotzdem setzte er sich hü gelabwärts in Bewegung, Richtung Süden. Vor einer Woche war einer der gigantischen »Battle Globes« der Posleen-Invasoren beim Landeanflug ausgemacht worden. Das Raumschiff war unter besserer Kontrolle gelandet, als dies bei den Posleen normal war. Üblicherweise fanden die Landungen mehr oder weniger willkürlich statt, aber dieser Globe war in einem der wenigen Bereiche der östlichen USA gelandet, wo kein massiver Ar
tillerieschutz zur Verfügung stand; das Planetarische Verteidigungs zentrum, das normalerweise die Landung behindert hätte, war schon vor seiner Fertigstellung zerstört worden. Die Globes setzten sich aus Tausenden kleinerer Schiffe von meh reren Welten zusammen. Sie formierten sich an vorher bestimmten Treffpunkten im Tiefraum und nahmen dann Kurs auf den Zielpla neten. Sobald sie die Ausläufer der Atmosphäre erreichten, lösten sich die Globes auf, und die nachgeordneten Einheiten und Kom mando-Dodekaeder schwärmten in einem riesigen Kreis rings um das Zielgebiet aus. Einer dieser K-Deks war irgendwo in der Nähe der bereits erober ten Stadt Clarkesville, Georgia, gelandet. Das FAT hatte den Auf trag, den K-Dek zu finden und herauszubekommen, zu welchem Ziel seine Truppen unterwegs waren. Bis jetzt sah es so aus, als würden die Posleen Truppen sammeln, nicht etwa absetzen. Und das war, gelinde gesagt, ungewöhnlich. »Zuerst finden wir das Ding«, erklärte Mosovich, »anschließend überlegen wir uns, was zu tun ist.« Den K-Dek zu finden würde schwierig sein. Überall in dem unzu gänglichen Terrain waren Posleen-Trupps unterwegs. Da die zen tauroiden Posleen in bergigem Gelände Schwierigkeiten hatten, be deutete das, dass sie sich auf die Straßen beschränkten. Und das wiederum bedeutete, dass das Erkundungsteam bemüht sein muss te, einen weiten Bogen um alle Straßen zu schlagen. Am besten wür de sich das bewerkstelligen lassen, wenn sie sich in bergigem Gelän de von Bergkamm zu Bergkamm bewegten. Aber bedauerlicherwei se verliefen die Bergzüge im Norden Georgias von Ost nach West und nicht von Nord nach Süd. Aus diesem Grund hatte das Team eine Erhebung von vielleicht zweihundert Meter Höhe zuerst auf der einen Seite hinauf- und dann auf der anderen Seite wieder hin unterklettern müssen. Im Tal angelangt, galt es sogleich, den unver meidlichen Fluss zu überqueren, und dann begann das Ganze wie der von vorne.
Mosovich ließ sie einen weiten Bogen um den Highway 441 schla gen und führte sie in die Wildnis um den Stone Wall Creek hinun ter. Die dichten Wälder aus Fichten und Eichen überzogen das Land mit einer mittelalterlich wirkenden Dunkelheit; die Hintergrundbe leuchtung der Zivilisation war schon seit Jahren erloschen. In dem urwaldhaften Gestrüpp war immer wieder das Rascheln von Wild zu hören, und in den Hügeln südlich von Tiger Creek scheuchten sie ein Rudel Rehe auf, das vermutlich mehrere hundert Tiere umfasste. Ein Stück weiter nördlich hielt Mueller dann an und hob die Hand. Vor ihnen war ein gedämpftes, aber stetiges Rascheln zu hö ren. Er kroch ein Stück nach vorn und drehte die Lichtverstärkung seiner Brille etwas hoch. Als er sah, wie die ersten Gäule mühsam aus einem drei Meter ho hen Erdhaufen geklettert kamen, nickte er bloß und zog sich zurück. Er sah Mosovich an und deutete nach Süden, gab dem anderen zu verstehen, dass sie einen Bogen schlagen mussten. Als Mosovich darauf mit einer fragenden Geste antwortete, hob er zwei Finger, die er wie ein V abspreizte, und richtete sie dann nach unten, als wollte er sie in den Boden rammen. Der Sergeant Major nickte und deutete ebenfalls nach Süden: Niemand wollte eine Abat-Wiese durchque ren. Diese Geschöpfe waren eine der Plagen, die die Posleen mitge bracht hatten. Ebenso wie die Posleen fraßen sie alles, was ihnen in den Weg kam, und konnten sich von terranischer Vegetation ernäh ren. Sie waren etwa so groß wie ein Kaninchen, hatten weißes Fell und sahen wie eine Kreuzung zwischen einer Ratte und einem Pil lendreher aus. Sie bewegten sich wie ein Hase, hoppelten auf einem einzelnen Hinterbein herum, das mit einem breiten, flexiblen Fuß versehen war. Wenn sie einzeln auftraten, waren sie harmlos, und im Gegensatz zu den Posleen konnten sie auch von Menschen ge gessen werden. Mueller hatte welche gegessen und musste zugeben, dass sie immerhin besser als Schlange schmeckten, so ähnlich wie Capybara. Ihre Nester bauten sie unter der Erde, ähnlich Ameisen, und verteidigten diese auch heftig, schwärmten aus und griffen alles
an, wobei ihnen ihr gewaltiger, schnabelartig ausgebildeter und mit rattenähnlichen Zähnen besetzter Unterkiefer sehr zustatten kam. Sie fällten Bäume, ähnlich Bibern, zerkauten sie und bauten aus dem Brei unterirdische Pilzgärten, rodeten riesige Lichtungen in die Wäl der. Sie fraßen eine Vielfalt an Vegetation und waren auch schon da bei beobachtet worden, wie sie Aas fraßen. Andererseits wurden sie von Wölfen, verwilderten Hunden und Kojoten gefressen, aber ihr einziger natürlicher Feind war ein Lebe wesen, das die Posleen »Grat« nannten. Diese Grats waren wesent lich schlimmer als Abats, ein fliegendes Ungeziefer, das bemerkens werte Ähnlichkeit mit Wespen aufwies. Das einzig Gute war, dass sie in ihrer Vermehrung dadurch beeinträchtigt waren, dass sie sich ausschließlich von Abats ernähren konnten. Da es in der Nähe ein Abat-Nest gab, achtete Mueller darauf, nach Grats Ausschau zu hal ten; sie hatten wesentlich ausgeprägtere Territorialinstinkte als die Abats, und ihr Stich war tödlich. Doch der Rest ihrer Reise verlief ohne Zwischenfälle, und in der Morgendämmerung lagerten sie in den Hügeln oberhalb des Lake Rabun. Sie waren nur verhältnismäßig langsam vorangekommen, aber das war schon in Ordnung. Morgen würden sie das Lager der Posleen ausspähen und Berichte zurückschicken. Clarkesville lag in Reichweite der 155-mm-ArtillerieBatterien, die am Pass in Stellung waren, und deshalb konnten die Posleen, ganz gleich was sie unter nahmen, mit einem warmen Empfang rechnen. Schwester Mary hob beide Daumen, um damit anzuzeigen, dass sie eine Verbindung hergestellt hatte. Der weibliche Fernmeldeser geant war gerade im Begriff gewesen, Nonne zu werden, als be kannt wurde, dass eine Invasion bevorstand. Daraufhin hatte man sie von ihren bereits geleisteten Gelübden entbunden, und sie war in die Army eingetreten. Die kräftig gebaute Fernmeldetechnikerin schaffte es problemlos, eine ganze Ladung Relaisgeräte zu schlep pen; und zugleich musste sie sich ständig vergewissern, dass die Verbindung zur Nachhut nicht abriss.
Mueller rollte seinen Poncho aus, legte die Ghillie-Decke darüber und kroch dann darunter, nicht ohne vorher mit zwei hochgehobe nen Fingern anzudeuten, dass er die zweite Wache übernehmen wollte. Mosovich nickte, deutete auf Nichols und hob erst einen Finger und dann vier, mit denen er auf Schwester Mary deutete. Sie wür den den größten Teil des Tages schlafen und sich, wenn es dann dunkel wurde, zum Fluss vorarbeiten. Am nächsten Morgen hatte er vor, auf Clarkesville hinunterzublicken. Nichols zog sich die Ghillie-Decke hoch, um sich und seine Waffe zuzudecken, und suchte sich dann einen passenden Felsbrocken. Der Marsch war verdammt anstrengend gewesen; die Bergflanken erwiesen sich als ziemlich steil, und das Gestrüpp war höllisch dicht. Aber er kannte ein Geheimnis, das er den anderen nicht mit teilen würde. Und dieses Geheimnis lautete, dass ein anstrengender Tag in bergigem Gelände wesentlich besser als ein guter Tag bei den Zehntausend war. Und so betrachtet war er lieber hier als in Roches ter.
2 Rochester, New York, Sol III 0755 EDT, 12. September 2014
God of our fathers, known of old, Lord of our far-flung battle-line. Beneath whose awful Hand we hold Dominion over palm and pine – Lord God of Hosts, be with us yet, Lest we forget – lest we forget! »Recessional« – Rudyard Kipling, 1897 Gott unsrer Väter, Altbekannt, Herr unsrer schier endlosen Schlachtenreihen, unter dessen furchtbarer Hand wir ausüben Herrschaft über Palme und Kiefer – Herr Gott der Heerscharen, sei dennoch mit uns, dass wir nicht vergessen – dass wir nicht vergessen. »Schlusschoral«
Mike O'Neal blickte auf das von Rauch verhüllte Tal hinunter, wo früher einmal die Stadt Rochester gestanden hatte. Jetzt war sie plat
ter, als wenn ein Hurrikan über sie hinweggegangen wäre; die Men schen verstanden sich hervorragend darauf, inmitten von Gebäu den, Schutt und Trümmern zu kämpfen, während dies den Posleen wegen ihres pferdeähnlichen Körperbaus beinahe unmöglich war. Aber das hieß nicht, dass Rochester noch eine menschliche Stadt war. Es verhielt sich halt jetzt so, dass zwei verschiedene Gattungen von Ungeziefer um sie kämpften. Der Regen fiel wie ein Nebelschleier, ein dicker, dunstiger Nebel, den der Wind vom Ontario-See herüberwehte. Mike hielt mit der einen Hand seinen Helm, mit der anderen eine Gravpistole umfasst. Hinter ihm war ein fernes Grollen zu hören, wie Donner, und auf der Ostseite des Genesee River brach plötzlich ein Vorhang aus weißem Feuer in die Höhe, knatternd, als ob eine Million Knall frösche explodierten. Eine weitere fehlgeleitete Salve, die auf dem Höhenzug niederging, wo früher einmal die Rochester University gestanden hatte. »These mist covered mountains are home now for me«, sang er, ließ die Pistole in seiner Hand kreisen und beobachtete das Artilleriefeuer. »But my home is on the lowlands and always will be, Someday you'll return to your Valleys and farms. And you'll no longer burn to be brothers in arms.« Vor ihm tanzte ein Hologramm. Eine hoch gewachsene, schlanke dunkelhaarige Frau in der Uniform eines Lieutenant Commander der Flotte sprach darüber, wie man aus der Distanz eine Tochter er ziehen konnte. Der weibliche Flottenoffizier war sehr schön, eine echte Schönheit, die früher einmal einen seltsamen Kontrast zu dem an einen Neandertaler erinnernden Äußeren ihres berühmten Ehe manns gebildet hatte. Sie war auch ruhiger und konnte besser mit Menschen umgehen; auch darin bildete sie einen wohltuenden Ge gensatz zu dem oft so hitzköpfigen Mann, den sie geheiratet hatte.
Nur dass sie nicht ganz so glücklich wie ihr Mann war, und das war etwas, was er nie ganz vergessen konnte. Eine weitere Artilleriesalve kam herunter, und gleich darauf stieg eine Anzahl untertassenförmiger Fahrzeuge auf und jagte in westli cher Richtung über den Fluss. Die Posleen lernten schnell, lernten, dass man, wenn man nur entschlossen genug vorging und seine Truppen gut führte, auch Hindernisse im Terrain überwinden konn te. Er sah interessiert zu, wie die HV-Geschosse und Plasmakanonen der Gottkönigsfahrzeuge eine Artilleriebatterie zum Schweigen brachten und wie gleich darauf ein Trupp Normaler die improvi sierte Brücke überquerte. Das hölzerne Gebilde, einfache Bretter über einem Dutzend aus der ganzen Gegend zusammengekratzter Boote, hätte spielend leicht mit Artilleriefeuer zerstört werden kön nen, aber die Artillerie konzentrierte sich wie gewöhnlich auf »feindliche Konzentrationen« und »strategisches Terrain«. Und nicht etwa die vorrückenden Posleen, ohne die das Terrain bald nicht mehr strategisch sein würde. »Die lernen, Honey«, flüsterte er. »Das tun wir nie.« Sie hatten in den unerwarteten Gefechten vor dem offiziellen Be ginn des Krieges nichts gelernt, als sie Fredericksburg verloren und Washington beinahe verloren hatten. Als man den Battle Globes ohne zu überlegen leicht bewaffnete »schnelle Fregatten« entgegen geworfen hatte. Die Battle Globes bestanden aus mehreren Schichten übereinander angeordneter Kampfschiffe. Ein direkter Treffer eines AntimaterieSprengkopfes würde zwar eine äußere Schicht zerstören, aber die Schiffe dahinter würden den Schaden einfach abschütteln und sich neu formieren. Darauf basierte die Theorie, dass man sie mit einem massiven Schlag aufbrechen und anschließend die verstreuten Schif fe mit »Sekundäreinheiten« bekämpfen musste. Doch das setzte nicht nur voraus, dass Flotten von sekundären Schiffen zur Verfü gung standen, also Jäger, Fregatten und Zerstörer, sondern darüber hinaus brauchte es auch ein massives, zentrales, kapitales Schiff.
Aber anstatt abzuwarten, bis die Flotte in vollem Ausmaß vorbe reitet war, hatte das galaktische Oberkommando immer mehr Schif fe praktisch frisch aus den Werften in die Schlacht geworfen. Sie tröpfchenweise vergeudet, nicht nur im terranischen Weltraum, son dern auch über Barwhon und Irmansul. Der Verlust der Schiffe, der für den Generalplan entscheidend wichtigen Sekundärschiffe, war schon schlimm genug, aber die Verluste an ausgebildetem Personal waren geradezu vernichtend gewesen. Die Invasion der Erde hatte sie praktisch vom Weltraum abge schnitten, und keine der anderen Rassen der galaktischen Föderati on konnte kämpfen. Um die Flotte gemäß der Planung mit Mann schaften zu versehen, hatte man alle brauchbaren Kandidaten von der Erde abgezogen und sie über Monate, wenn nicht über Jahre hinweg in Simulatoren ausgebildet, um sie darauf vorzubereiten, schließlich triumphierend in den Weltraum hinauszuziehen. Doch stattdessen hatte man sie in einem Gefecht nach dem anderen ver geudet, ohne dass sie den Posleen nennenswerten Schaden hatten zufügen können. Auf diese Weise war die ohnehin beschränkte Zahl für den Einsatz off-planet in Frage kommender Streitkräften ausge blutet, ehe das erste kapitale Schiff fertig gestellt war. Ehe der erste »Super-Dreadnought« vom Stapel lief, war bereits die zweite Invasionswelle in vollem Gange. Dieses gewaltige, beina he vier Kilometer lange Schiff verfügte über eine Hyperkanone, die durch die Schiffsachse verlief und imstande war, die Battle Globes aufzubrechen. Und die neuen Hyperkanonen funktionierten, funk tionierten sogar mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit. Die Lexing ton war mit Höchstgeschwindigkeit von der Titan-Basis zur Erde ge rast und hatte zwei der Battle Globes zerschmettert, die Kurs auf Terra genommen hatten. Und dann waren ganze Schwärme über sie hereingebrochen. Tausende kleinerer Schiffe, die wolkenkratzerförmigen Lampreys und die K-Dek-Kommandoschiffe schlossen eine Art Belagerungs gürtel um den Super-Dreadnought und hämmerten von allen Seiten auf ihn ein. Trotz der massiven Abwehrgeschütze an den Seiten und
trotz der massiven Panzerung wurde der Koloss von wiederholten Antimaterie-Treffern förmlich in Fetzen gerissen, und als seine Ge schütze schließlich schwiegen, ließ der Feind das Wrack einfach trei ben. Dabei war die Panzerung des Schiffes so wirksam, dass die Ge neratoren im Kern überhaupt nicht beeinträchtigt worden waren und man die Lexington schließlich bergen und wiederherstellen konnte. Aber das nahm Jahre in Anspruch, mehr Jahre, als sie der Erde zur Verfügung standen. Mike fragte sich, wie viele andere Ehemänner und Ehefrauen, Mütter und Väter wohl auf die gottverdammte Flotte sauer waren: über »Admirale«, die nicht einmal dazu imstande waren, Pisse aus einem Stiefel zu schütten, selbst wenn man ihnen die Gebrauchsan weisung auf den Absatz druckte; über ein »Hohes Kommando«, das den verdammten Darhel die Stiefel leckte. Über Befehlshaber, die nie im Leben einen Posleen zu Gesicht bekommen hatten, geschwei ge denn einen getötet. Und dann fragte er sich, wann wohl er an der Reihe sein würde. Er sah den Geist seiner Frau lächeln, während der kalte Herbstre gen über seinen glatt rasierten Schädel strömte und die Artillerie auf die vorrückenden Zentauren einhämmerte. Und spielte dabei mit dem Sicherungshebel seiner Pistole.
Jack Horner stand mit verschränkten Armen da und lächelte den Plastahl-Helm mit der undurchsichtigen Gesichtsplatte an, den er vor sich hatte. »Wo in drei Teufels Namen steckt O'Neal?« Lieutenant Stewart zuckte in seinem Panzeranzug zusammen. Er wusste verdammt genau, wo der Major war. Und der Kommandeur der Continental Army wusste das auch. Was sie beide nicht wuss ten, war, weshalb O'Neal nicht auf ihre Anrufe reagierte. »General Horner, ich kann nur sagen, wo er nicht ist, nämlich hier.« Der für das Nachrichtenwesen des Bataillons zuständige Offi zier zuckte in seinem Kampfpanzer die Achseln, was der General
natürlich nicht sehen konnte. »Aber ich bin sicher, dass er sobald wie möglich hier sein wird.« Das Gespräch der Kommandeure und Leitenden Offiziere der Zehntausend und der GKA fand auf den Hügeln über dem Black Creek statt. Von hier aus konnte man trotz der vom See herüberzie henden Nebelschwaden den erfolgreichen Vormarsch der Posleen über den Fluss deutlich beobachten. Ebenso wie das völlig wir kungslose Artilleriefeuer des lokalen Korps, dessen Hauptquartier samt Kommandeur und Stab sich fünfundsiebzig Kilometer hinter dem augenblicklichen Standort des Kommandeurs der Continental Army befand. »Wir müssen sie aufhalten«, sagte Colonel Cutprice. Der Colonel sah aus wie ein Zwanzigjähriger – bis man seine Augen sah. Tat sächlich war er einer der höchstdekorierten Veteranen des Korea krieges. Dank der Wunderwerke galaktischer Verjüngungstechnik und der endlich getroffenen Entscheidung, mehr »Krieger« ins Offi zierskorps zu verpflichten, hatte man das alte Schlachtross verjüngt. Und Cutprice hatte sofort wieder angefangen, Orden und Auszeich nungen zu sammeln. Die silbernen Adler auf seiner Schulter wirkten bei ihm beinahe af fektiert; die von ihm befehligte Abteilung der »Zehntausend« um fasste mehr als Brigadestärke und verfügte dank umgebauten Pos leen-Geräts über die Kampfkraft eines ganzen Panzerkorps. Aber er lehnte Beförderungen über den Rang eines Colonels hinaus hartnä ckig ab, und ein gescheiterter Versuch, ihn abzulösen, hätte beinahe eine Meuterei ausgelöst. So kam es, dass ein Colonel eine Division befehligte. »Meine Jungs und die Zweiundsiebzigste Division haben sie ent lang der Genesee Park Avenue zum Stehen gebracht, eine Kompanie der Vierzehnten hält im Park noch stand; die haben sich auf dem Hügel eingegraben. Aber diese Gäule drängen in immer größerer Zahl über die Brücke. Wir müssen einen Gegenangriff starten und
die Brücke zerstören. Wenn wir dazu GKA-Unterstützung bekom men könnten, wäre das recht hilfreich.« Stewart zuckte erneut zusammen, als er diesen mit gleichmäßiger Stimme vorgetragenen Wunsch hörte. Die Posleen mit konventionel len Streitkräften oder selbst den ungepanzerten Zehntausend anzu greifen, war eine brutale Geschichte. Die Railguns und Plasmakano nen des Feindes machten alles zu Hackfleisch, was sich ihnen entge genstellte, und die Gottkönige schnitten Panzerwagen auf wie Blechdosen. Das war der Grund, weshalb man für solche Angriffe immer GKAs, die von den Galaktern gelieferten gepanzerten Kampf anzüge, einsetzte. Aber das hatte dazu geführt, dass die GKA-Ein heiten bei einem Angriff nach dem anderen mit der Zeit zusammen geschrumpft waren, besonders auf den Ebenen des Mittleren Wes tens und hier in der Ontario-Frontausbuchtung. Und seit die Erde vom Rest der Galaxis abgeschnitten war und die einzigen Fabriken, die Anzüge herstellen konnten, sich off-planet befanden, hieß das »zehn kleine Anzüge, neun kleine Anzüge, acht kleine Anzüge«. Bis kein kleines Negerlein mehr da war. Ein Rinnsal von Nachschub gab es von den Galaktern. Tarnkap penschiffe landeten auf Inseln im Pazifik und luden ihre Ladung auf Unterseeboote um. Und diese fuhren zu Häfen wie Anchorage. An schließend wurde die Ladung in LKWs an Orte gebracht, wo die Front noch stand. Aber die Art von Versorgung reichte nicht aus, um die Verluste auszugleichen. Und aus diesem Grund waren die zwei Divisionen GKA der USA inzwischen auf weniger als zwei Ba taillone zusammengeschrumpft, ein Verlust von mehr als neunzig Prozent im Laufe der letzten vier Jahre. Und insgesamt waren be reits mehr als vier Divisionen diesen Weg gegangen. 1st Bataillon 555th Mobile Infantry, »The Real Black Panthers«, hatte weniger Einheiten als die anderen Bataillone verloren und verfügte auch noch über einen soliden Kern an Veteranen, die sämtliche Schlachten überlebt hatten. Aber auch bei ihnen betrug der »Um satz« mehr als zweihundert Prozent. Und in Anbetracht auf die zö
gerliche Versorgung mit Ersatzanzügen hieß das, dass zu guter Letzt auch »First Batt« dem Untergang geweiht war. Wohingegen der Nachschub an Posleen immer noch anzuwachsen schien. Horner schüttelte den Kopf und wandte sich dem anderen Anzug zu, der an der Konferenz teilnahm. »Wenn Major O'Neal nicht bald auftaucht, übergebe ich Ihnen das Kommando, Captain Slight.« Seine blauen Augen funkelten eiskalt wie Achate. Mike O'Neal war früher einmal sein Adjutant gewesen und so etwas wie ein handverlesener Protege, aber wenn Rochester fiel, lag die nächste Auffanglinie östlich von Buffalo. Und die Front dort war doppelt so lang. Die Stellung in Rochester zu halten war deshalb in den östlichen USA Priorität Nummer eins. »Yes, Sir«, sagte die Chefin der Bravo-Kompanie. »Sir, es wäre hilf reich, wenn wir die Ari dazu bringen könnten, auf diese Brücke zu schießen und nicht, verzeihen Sie, diesen beschissenen ›logistischen Schwanz‹, Sir.« Homers Lächeln wurde noch breiter, ein sicheres Zeichen seiner Verärgerung, und Cutprice schnaubte. »Daran arbeiten wir. General Gramns ist vor zwanzig Minuten auf meine Anweisung seines Kommandos enthoben worden. Im Augen blick ist der Artilleriekoordinator der Zehntausend dort und ver sucht die Jungs davon zu überzeugen, dass eine Pontonbrücke ein besseres Ziel als eine ›Aufmarschzone‹ ist.« »Mit einem Platoon meiner MPs«, fügte Cutprice nach einer kurz en Pause hinzu. »Und zwei Untertassen. Ich hab ihm gesagt, wenn ihm einer von diesen verdammten Festungskommandanten Ärger macht, soll er ihn in aller Öffentlichkeit abknallen. Mit einer Plasma kanone.« Der Colonel sagte das mit so völlig ausdrucksloser Miene, dass keiner erkennen konnte, ob er das ernst meinte. »Ja, was immer nötig ist, um die Jungs aufzuwecken«, seufzte Hor ner. »Vielleicht braucht es wirklich eine standrechtliche Erschie ßung. Ich würde ja Ihnen den Befehl über das Korps geben, Robert,
aber ich kann Sie nicht entbehren. Und beides gleichzeitig schaffen Sie nicht.« »Am Ende würde ich jedenfalls sämtliche Etappenhengste umle gen, die die haben«, brummte der Colonel. »Und anschließend die Arschlöcher von der regulären Armee, die es nicht schaffen, ihre Di visionen in den Kampf zu schicken.« »Die 24th New York und die 18th Illinois sammeln sich in der Nähe von North Chili neu«, sagte Horner. »Aber ich will die nicht einfach in die Lücke schicken. Sobald wir die Gäule hier rausgeworfen ha ben, möchte ich, dass Sie Brücken bauen und zum Gegenangriff übergehen. Ich habe Bailey-Brückenkompanien kommen lassen und möchte, dass Sie die auch einsetzen. Machen Sie diesen verdammten Gäulen die Hölle heiß! Treiben Sie sie so weit nach Osten, wie es geht. Ich garantiere Ihnen, dass Sie Infanterie hinter sich haben, wenn Sie zurückfallen müssen. Mein Wort darauf.« »Was ist die Zielposition?«, fragte Stewart. »Wo sollen wir Halt machen?« »Ziel ist der Atlantik«, antwortete Horner. »Aber rücken Sie nicht zu schnell vor, damit die Versorgungseinheiten nicht hinter Ihnen zurückbleiben. Ich würde die Front gern bis Clyde zurückdrängen. Dort wäre die Front nicht so breit, und das Gelände eignet sich bes ser für uns.« »Kapiert«, sagte Cutprice und grinste. Sein Gesicht wirkte dabei wie ein Totenschädel. »Aber unsere Flanke ist dann so weit offen wie eine Nutte von der Subic Bay.« »Ich schicke GKAs hin«, sagte der General leise. »Ob O'Neal nun auftaucht oder nicht.«
Ernie Pappas seufzte. Der Hügel war eine Moräne, ein Überbleibsel des Gletschers, aus dem der Ontario-See entstanden war. Auf seiner Hinterseite, nach Südwesten gewandt, abseits von den Kampfhand
lungen, stand ein ehemaliges Kinderkrankenhaus, das man umge baut hatte und in dem die Zehntausende von Verwundeten der mo natelangen Schlacht versorgt wurden; darunter auch mindestens ein Dutzend GKA-Soldaten, deren Verwundungen zu schwer waren, als dass ihre Anzüge ihnen hätten helfen können. Selbst hier, in der sauberen, frischen Luft, war der stinkende Bro dem des Schmerzes wahrzunehmen. Aber von dem Hügel aus konnte man gut die Schlacht beobachten, die das XIII. Korps gerade im Begriff war zu verlieren. Eine sehr gute Aussicht. Zweifellos hatte der Alte diesen Punkt deshalb ausgewählt, um hier zu meditieren. Je länger der Krieg sich hinzog und je größer die Verluste geworden waren, um so mürrischer war die Stimmung des Majors geworden. Es gab nichts, was irgendjemand auf der Welt da gegen hätte tun können, aber der Alte schien das einfach alles per sönlich zu nehmen. Als ob die Last, die Welt zu retten, einzig und allein auf seinen Schultern ruhte. Vielleicht hing es noch mit dieser Sache ganz zu Anfang der Aus einandersetzung mit den Posleen zusammen, als man es seinem Pla toon zugeschrieben hatte, dass es praktisch allein die Posleen-Invasi on auf dem Planeten Diess gestoppt hatte. Aber das war klare Ge schichtsklitterung. Einige der besten NATO-Verbände waren mit dabei gewesen, und die Indowy hatten damals die Front errichtet; den Vormarsch der Posleen hatten die konventionellen amerikani schen, französischen, britischen und deutschen Infanterieeinheiten zum Stillstand gebracht. Wenn man davon absah, dass O'Neal der einzige Mensch war, der jemals einen atomaren Sprengkörper von Hand gezündet und dies überlebt hatte, gründete sich sein Ruhm darauf, dass er es geschafft hatte, eine Einheit von GKA-Truppen aus einem Megascraper zu befreien, wo sie nach einer Explosion ein geschlossen gewesen waren. Gunnery Sergeant Ernest Pappas, ehemals Angehöriger des Uni ted States Marine Corps, wusste, dass jene Ritter in glänzender Rüs tung nichts anderes als mörderische Mistkerle zu Pferd gewesen wa
ren. Und Ernie wusste, dass das Überleben das Einzige war, was wirklich zählte. Einfach überleben. Und vielleicht schaffte man es, dabei den Feind aufzuhalten, vielleicht auch nicht. Aber solange man überlebte und ihnen zusetzen konnte, reichte das schon. Gunny Pappas wusste allerdings, dass man damit die Boys nicht dazu brin gen konnte, immer wieder aufzustehen und zu schießen. Die Boys standen auf und schossen wegen jener leuchtenden Vision und weil sie glaubten, dass sie einfach nicht verlieren konnten, solange Iron Man O'Neal neben ihnen stand. Weil das einfach so sein sollte. Pappas blickte auf die Rauchschwaden und die Flammen hinun ter, die über der Schutthalde standen, die einmal eine Stadt gewesen waren, und seufzte. Das hier war ganz sicherlich nicht so, wie es sein sollte. Und wenn Captain Karen Slight versuchte, das Bataillon in jene Flammen hineinzuführen, dann würden sie dort unten ein fach verdampfen, wie Wasser auf einer heißen Herdplatte. Weil sie nicht an sie glaubten. »Major?«, sagte er und legte Mike die Hand auf die Schulter. »Ernie«, antwortete der Major. Sie waren jetzt zusammen, seit O' Neal das Kommando über die Bravo übernommen hatte, damals, in jener schrecklichen Zeit, als es so ausgesehen hatte, als hätte die gan ze Army den Verstand verloren. Sie hatten miteinander das ganze Auf und Ab miterlebt, hauptsächlich Ab. Ob sie es nun wussten oder nicht, dieses Team, das aus ihnen beiden bestand, aus Pappas und O'Neal, war es, was die 1st/555th definierte und zu dem machte, was sie war. »Das war jetzt für einen alten Mann ein verdammt langer Auf stieg, und daran sind Sie schuld.« »Aber 'ne klasse Aussicht, nicht wahr?« Mike lächelte ein trauriges Lächeln und spuckte zielsicher in seinen Helm, wo die biotische Un terschicht den Speichel und den Tabaksaft aufsog und das Ganze auf die lange Reise schickte, an deren Ende wieder Kampfrationen daraus wurden.
Pappas warf einen Blick auf die Pistole und zuckte zusammen. »Sie sollten aufhören, sich Dire Straits anzuhören.« »Wieso? Würden Sie James Taylor vorziehen?« »Wir haben eine … Situation.« »Jo.« Mike seufzte und rieb sich mit der freien Hand die Augen. »Als ob wir nicht immer eine hätten.« »Die 14th Division ist abgehauen.« Der Sergeant Major nahm jetzt auch den Helm ab und hielt sich die Hand über die Augen. »Die sind inzwischen auf halbem Wege bis Buffalo.« »Sonst noch was Neues?«, knurrte O'Neal. »Klasse Ari-Feuer übri gens. Nicht, dass die was treffen würden, aber wirklich sehr hübsch.« »Korps Ari. Ich bezweifle, dass wir die noch lange haben werden. Das ganze Korps träumt inzwischen vom Abhauen.« »Und die Zehntausend schließen die Lücke?« »Jo.« »Jo.« Dann herrschte eine Weile Schweigen, und der Sergeant Major kratzte sich am Kopf. Die biotische Unterschicht seines Anzugs hatte endlich seinen ständigen Schuppen den Garaus gemacht, aber die Gewohnheit, sich zu kratzen, war ihm immer noch geblieben. »Also, wie steht's, werden wir was unternehmen, Boss?« »Was unternehmen?«, fragte der Bataillonskommandeur. »Einen heroischen Angriff gegen den Feind und ihn mit Waffengewalt zu rücktreiben? ›Unser sympathisches Wesen unter künstlicher Wut verbergen?‹ Dem feindlichen Angriff das Rückgrat brechen und sie in die Flucht schlagen? Seit Monaten verlorene Stellungen zurückge winnen? Sie bis Westbury und Clyde zurücktreiben, wo sie eigent lich sein sollten?« »Ist das Ihr Plan?«, fragte Pappas.
»Ich habe gar keinen Plan!«, erwiderte Mike knapp. »Aber ich ver mute, dass es das ist, was Jack erwartet. Ich stelle fest, dass er aufge taucht ist.« »Daraus erkennt man, wie ernst es ist«, witzelte Pappas. »Wenn CONARC auftritt, ist die Scheiße wirklich am Dampfen.« »Ich stelle auch fest, dass es keine Artillerieeinheiten gibt, die rea gieren, wenn man Artillerie anfordert.« »Daran arbeiten die aber.« »Und dass die beiden Divisionen an den Flanken von Shelly als ›wackelig‹ bezeichnet werden.« »Na ja, die sind ja schließlich Army, oder nicht?« Der ehemalige Marine schmunzelte. »Die gelten immer als ›wackelig‹. Das ist die Standardeinstellung.« Jetzt ging Artilleriefeuer auf die improvisierte Pontonbrücke her unter, und das Gebilde aus Holz und Aluminium löste sich in seine Bestandteile auf. »Sehen Sie?«, sagte O'Neal. »Die haben uns gar nicht gebraucht.« »Horner möchte einen Gegenangriff haben.« O'Neal drehte sich um und wollte sehen, ob der Sergeant Major sich über ihn lustig machte, aber das breite, dunkle Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck. »Ist das Ihr Ernst?« »So ernst wie ein Herzanfall. Ich dachte, darüber hätten Sie sich beklagt.« »Du große Scheiße«, flüsterte der Major. Er beugte sich vor, hob den Helm auf, den er auf den Boden gelegt hatte, setzte ihn auf und schüttelte dann leicht den Kopf, damit die Unterschicht sauber ab dichtete. Das Gel strömte über sein Gesicht, füllte jede verfügbare noch so kleine Öffnung und löste sich dann wieder von Mund, Nase und Augen. Der Moment, wie man das nannte, dauerte eine ganze Weile und, wie es immer hieß, ein ganzes Leben, um sich daran zu gewöhnen. »Du große Scheiße. Gegenangriff. Großartig. Vermutlich
soll Slight das Kommando führen? Klasse. Zeit, die Lücke mit toten GKAs zu füllen.« »Sie sollten lächeln, wenn Sie das sagen, Sir«, sagte Pappas und setzte sich ebenfalls den Helm auf. »Wir springen wieder einmal auf die Bresche.« »In die Bresche, heißt das, Sie ungebildeter Samoaner, und ich lächle wirklich«, erwiderte O'Neal. Er drehte sich zur Seite, so dass der Sergeant Major die Furcht erregende Fratze auf der Gesichtsplat te seines Panzers sehen konnte. »Sehen Sie's?«
»Der muss seinen Panzer lieben«, schmunzelte Cutprice. »Ich wünschte, ich hätte tausend Stück davon«, nickte Horner. »Aber ich wäre schon mit tausend regulären Anzügen zufrieden, also will das nicht viel sagen.« Der Anzug war ein persönliches Geschenk des Indowy-Herstellers an den damaligen Captain O'Neal und enthielt all die »Sonder«-Funktionen, die er seinerzeit als Mitglied der Entwick lungsgruppe verlangt hatte. Neben den zusätzlichen Schießscharten an den Ellbogen und Handgelenken für den Nahkampf verfügte der Anzug über ein Antimaterie-Antriebsaggregat. Das beseitigte das schlimmste Handicap angetriebener Panzer, nämlich die relativ kur ze Einsatzzeit. Der Spezifikation nach hatte ein Standardpanzer eine Reichweite von fünfhundert Kilometern oder zweiundsiebzig Stun den statischen Kampf. Die Praxis hatte gezeigt, dass die Wahrheit bei etwa der Hälfte dieser Werte lag. Einige Anzüge waren von den Posleen zerstört worden, als ihnen schlicht »der Sprit ausging«. In Anbetracht der herrschenden Munitionsknappheit war die Be lastung für die Energieversorgung der Anzüge noch größer gewor den. Da terranische Fabriken die Standardmunition nicht herstellen konnten, die einen Klecks Antimaterie für die Energieversorgung der Schusswaffe benötigte, hatte es sich als notwendig erwiesen, an ihrer Stelle einfache Tropfen aus abgereicherten Uran einzusetzen.
Und deshalb musste die Gravwaffe, die sich eigentlich selbst mit Energie hätte versorgen sollen, ihre Energie aus den Anzügen »sau gen«. Da die Geschosse immer noch auf einen Bruchteil der Lichtge schwindigkeit beschleunigt wurden und das enorme Energie benö tigte, war die »Lebensdauer« der Anzugbatterien auf fast belanglose Werte gefallen. Für die meisten Standardanzüge lief das auf die Wahl zwischen schießen oder sich bewegen hinaus, wobei O'Neals Anzug die Ausnahme bildete und über beinahe unbeschränkte Energie verfügte. Die Kehrseite der Medaille war natürlich, dass Major O'Neal und ein Großteil der ihn im Umkreis einer Meile umgebenden Land schaft verdampfen würden, falls je etwas in das Antimateriereser voir durchdrang. Aber all diese Dinge waren unsichtbar. Was Aufmerksamkeit er regte, war die »Oberfläche«; der Anzug sah aus wie ein grünschwar zer Dämon aus den Tiefen des Weltalls, mit einem von Fängen star renden Maul und Händen, die wie Krallen aussahen. Es war er schreckend und barbarisch und es gab manch einen, der O'Neal nä her kannte und den Anzug in mancher Hinsicht als den perfekten Ausdruck seiner Persönlichkeit empfand. »Passt zu ihm«, sagte der Colonel aus langer Erfahrung. Die GKAs gingen dorthin, wo das Getümmel am heißesten war. Und die Zehn tausend folgten. Die Zehntausend – oder die Spartaner, wie man sie manchmal nannte – waren aus einer kleineren Gruppe entstanden, die sich die Sechshundert nannte. Als die ersten Posleen gelandet waren, früher als erwartet, überraschend und in überwältigender Stärke, waren die grünen Einheiten, die man nach North Virginia geschickt hatte, um sie aufzuhalten, beim ersten Zusammentreffen vernichtet wor den. Viele von ihnen, besonders aus den hinteren Bereichen, waren über den Potomac entkommen. Eine große Zahl dieser Versprengten hatte sich in Washington gesammelt, und als sich die Posleen den Übergang über den Fluss erkämpft hatten und auf der Washington
Mall erschienen waren, hatten sich Tausende dieser Soldaten ihnen unmittelbar gegenüber gesehen. Alle, mit Ausnahme einer ver schwindend geringen Hand voll, waren geflohen. Und diese winzi ge Handvoll, sechshundertdreiundfünfzig, um es genau zu sagen, hatte entschieden, dass es Dinge gab, für die es sich lohnte, in einer scheinbar sinnlosen Geste zu sterben. Und deshalb hatten sie sich auf dem Hügel des Washington Monument gesammelt, um dem Feind einen letzten selbstmörderischen Verteidigungskampf zu lie fern. Wie sich herausstellte, war dieser Kampf nicht ganz selbstmörde risch und ganz sicher nicht sinnlos gewesen. Ihr Widerstand und die Verwirrung unter den die Brücke überquerenden Posleen hielten den Feind lange genug auf, dass die gepanzerten Kampfanzüge ein treffen konnten. Und im Zusammenwirken der GKA und des Artil leriefeuers wurde die Posleen-Vorhut aufgehalten, besiegt und schließlich vernichtet. Für diese sechshundertdreiundfünfzig LKW-Fahrer und Köche, Infanteristen und Artilleristen, Kabelleger und Wäscher, die dem Feind standgehalten und sich angeschickt hatten, wie Soldaten vor ihren Schöpfer zu treten, wurde eine spezielle Auszeichnung ge prägt. Nach einer kurzen Zeremonie sollten sie über die ganze Ar mee verteilt werden, und nichts als die Auszeichnung sollte an jenen heldenhaften Kampf erinnern. Doch der Anführer des Widerstands setzte sich mit Erfolg dafür ein, dass es eine bessere Verwendung für sie gab, als sie einfach in alle Winde zu zerstreuen. Das war die Ge burtsstunde der Zehntausend. Der größte Teil der Sechshundert wurde befördert und als Kern einer Truppe genutzt, die man an schließend mit erbeuteten und umgebauten Posleen-Waffen ausge rüstet hatte. Als diese Einheit schließlich stand, verfügte der Befehls haber der Landstreitkräfte über eine schnelle, hervorragend ausge rüstete Eliteeinheit. Aber schwärmende Posleen griffen die Zehntausend nicht an, das konnten nur die GKA überleben.
»Major«, sagte General Horner. Dass er O'Neal mit seiner Rangbe zeichnung ansprach, war das einzige Anzeichen von Tadel wegen seiner Verspätung. »Jack?«, antwortete O'Neal. Horner lächelte. Die GKA waren keine amerikanische Einheit; sie gehörten Fleet Strike an, einem Teil der Streitkräfte der Galaktischen Föderation. Daher gab es keine Vorschrift, die O'Neal zwang, den General korrekt mit seiner Rangbezeichnung anzusprechen, nur schlichte militärische Höflichkeit. Aber dass O'Neal seinen Vorna men benutzte, war ebenso eine Art Verweis wie Horners Gebrauch der Rangbezeichnung. In besseren Zeiten hatte O'Neal ihn mit »Sir« oder »General« angesprochen oder sogar mit »Colonel«. Dass er ihn in der Öffentlichkeit »Jack« nannte, war so gut wie eine Ohrfeige. »Wir haben eine … Situation«, fuhr der General fort. »Das sagen die Leute ständig«, schnaubte O'Neal. »Was wir hier haben, ist ein mächtiger Haufen Scheiße, Sir. Ist General ›die GKA sind eine unnötige Verschwendung von Ressourcen‹ weg?« »Gramns ist bereits abgelöst worden«, schaltete Cutprice sich ein. »Und Captain Keren ist im Augenblick dabei, seinem Stab zu erklä ren, was ›Artillerieunterstützung‹ und ›Gegenfeuer‹ bedeuten.« »Haben wir einen Plan?«, fragte O'Neal. »Oder stürzen wir uns einfach mit Gebrüll auf sie?« »Wir halten die Anhöhen auf dieser Flussseite«, antwortete erneut Cutprice. »Aber die Posleen drängen in die Stadt und den Kanal hinauf, und die Anhöhen auf ihrer Seite sind höher, also bekommen die auf dieser Seite Feuerschutz von den Truppen, die sich auf der gegenüberliegenden Seite sammeln. Die sind dabei, uns an der Brooks-Avenue-Brücke den Nachschub abzuschneiden. Ich würde gerne sehen, wenn Sie sich zwischen dem Fluss und der Brücke fest setzen könnten. Meine Jungs kommen dann nach, aber vorher müs sen Sie mit Ihren Leuten ran.« »Weshalb nageln wir sie nicht einfach fest und bepflastern sie mit Artillerie?«, fragte Stewart. »Wenn Sie übrigens Keren brauchen,
könnten wir ja auch Duncan rüberschicken, um ihnen ein wenig ›Vernunft‹ beizubringen.« »Nein, verdammt! Ich möchte, dass das verdammte Hauptquartier stehen bleibt.« Der jungenhaft wirkende Colonel ließ ein Grinsen auf blitzen, wie es noch keiner an ihm gesehen hatte, und lachte dann brüllend. »Ich habe schließlich Duncan in Aktion erlebt!« »Wir brauchen einen Flussübergang und wir brauchen ihn schnell, Lieutenant«, erklärte Horner ernst. »Nicht, weil ich möchte, dass mein Name in den Nachrichten erwähnt wird, sondern weil die Pos leen genauso zu zielloser Flucht neigen wie Menschen, wenn sie erst einmal zu rennen angefangen haben. Und es ist einfach notwendig, dass wir sie zur Clyde-Front zurücktreiben. Unsere Fernaufklä rungsteams melden uns, dass die Verteidigungsanlagen noch ste hen. Wenn wir es schaffen, sie bis zum Clyde zu jagen, haben wir die Hälfte unserer Probleme im Osten gelöst.« »Ich habe zugesehen, wie ihre Zahlen angeschwollen sind«, gab Mike zu bedenken. »Die ziehen in diese Schlacht wie Ameisen, die irgendwo Honig entdeckt haben.« »Was schlagen Sie dann vor?«, fragte Horner. »Haben Sie eine Idee?« »Yes, Sir«, erwiderte der Major und vergaß seinen Arger. »Ich würde viel lieber mit einem Geschwader Banshees hinter ihnen lan den; aber in Anbetracht des Terrains glaube ich nicht, dass das mög lich wäre, und ich bezweifle auch, dass wir bis zum Eintreffen von Verstärkung aushalten könnten. Da diese Möglichkeit ausscheidet, möchte ich die Gäule platt machen und dann die Fronten begradi gen. Nukes kommen immer noch nicht in Frage?« Horner zuckte. Wenn es nach ihm ginge, würden in solcher Situa tion taktische Atomwaffen eingesetzt. Die hatten einen größeren Wirkungsradius als jede andere Art von Artillerie, außerdem mod ernste Munition. Der größte Teil von China war in weniger als zwei Monaten gefal len, die erste größere Posleen-Landung hatte lediglich zweiundvier
zig Tage dazu gebraucht, um von Shanghai nach Tschengdu zu kommen. Und in dieser Zeit war die Bevölkerung Chinas zu einer Splittergruppe der Menschheit geworden: Über neunhundert Millio nen Menschen und eine fünftausend Jahre alte Kultur waren vom Antlitz der Erde gewischt worden. In den bis dahin unter chinesi scher Kontrolle stehenden Regionen gab es immer noch Wider standsnester, insbesondere ein kleines Kontingent in Luoxia Shan, die vom ehemaligen Leiter des Beschaffungswesens der Roten Ar mee und »Radio Freies Tibet« geleitet wurden. Während dieses Auflösungsprozesses war die chinesische Militär führung in Panik geraten und hatte ein atomares Arsenal abgefeu ert, das sechs oder sieben Mal größer war, als es den Schätzungen der Nachrichtendienste vor Kriegsbeginn entsprach. Jener letzte Verzweiflungsschlag hatte in der Region von Xian stattgefunden, wo die Nachhut der sich in die Himalaja-Region zurückziehenden Truppen einen nuklearen Feuersturm ausgelöst hatte, der freilich die Posleen nur einen Tag lang hatte aufhalten können. Das Ergeb nis dieses Aktes der Verzweiflung war, dass China in seinen Todes zuckungen den Jangtse-Fluss für die nächsten zehntausend Jahre ra dioaktiv verseucht und das politische Klima für etwa die gleiche Zeitspanne vergiftet hatte. »Keine Atomwaffen«, sagte Horner. »Es gibt Dinge, bei denen die Präsidentin sich umstimmen lässt. Und dass die Munition für SheVa ebenso wie Ihre Handgranaten eigentlich im Wesentlichen MikroAtomwaffen sind, nimmt sie einfach nicht zur Kenntnis. Aber ein Atomschlag auf Rochester kommt nicht in Frage.« Er hob die Hand, um dem Widerspruch zuvorzukommen, der sonst mit Sicherheit ge kommen wäre, und lächelte verkniffen. »Nicht einmal Neutronen bomben oder Antimaterie. Keine … Nukes.« Mike wandte sich ab und blickte zu den Bergkämmen in der Ferne hinüber. Das Genesee-Tal stellte für Posleen und konventionelle Streitkräfte ein Hindernis dar, nicht aber für Anzüge; sie fühlten sich im Wasser ebenso zu Hause wie im Weltraum. Aber im Tal waren
Millionen Posleen ausgeschwärmt, und es gab nur eine Hand voll Anzüge, die sich ihnen entgegenstellen konnte. »Man muss sie trotzdem aus dem Tal treiben, ehe wir uns in Be wegung setzen können«, sagte Mike. »Und das muss passieren, ehe wir den Fluss überqueren. Ich werde diesen Angriff nicht ohne den Artilleriebeschuss durchführen, den ich für notwendig halte. Und das Gleiche gilt für mein Bataillon.« Er konnte hören, wie die Offiziere um ihn herum den Atem anhiel ten, aber das war ihm gleichgültig. Die GKA stellten in einem sehr realen und auch legal bindenden Sinn eine separate militärische Ein heit außerhalb der Landstreitkräfte der Vereinigten Staaten dar. Nach den Verträgen, die der Senat der USA in aller Unschuld unter zeichnet hatte, war O'Neal formal gesehen Jack Homers Vorgesetz ter. Formal gesehen konnte O'Neal einen vorbereitenden Nu klearschlag anordnen, und formal gesehen würde General Horner sei ne Anordnungen befolgen müssen. Formal gesehen. Realistisch betrachtet hatte kein GKA-Major je den Befehl eines terranischen Generals verweigert. Nicht einmal »Iron Mike« O'Neal. Mike hatte gelegentlich Einwände gegen spezifische Befehle erho ben, aber eine klare Weigerung war neu. Vielleicht war das die Fol ge davon, dass er miterlebt hatte, wie das Bataillon im Laufe von fünf Jahren zweihundert Prozent Ausfälle gehabt hatte und allmäh lich bis auf den Nullpunkt zusammengeschrumpft war. Vielleicht war es auch einfach nur Erfahrung. Horner überlegte kurz und nickte dann ausdruckslos. »Ich werde die Artillerievorbereitungen veranlassen. Sie können sich darauf verlassen, wenn Sie aus dem Wasser kommen, wird zwischen dem Genesee und der Mount Hope Avenue nichts mehr am Leben sein.« »Sorgen Sie dafür, dass die Artillerie auch darauf vorbereitet ist, ihre Unterstützung durchzuhalten«, sagte O'Neal. »Wir brauchen Dauerbeschuss; ich möchte zu unseren primären Positionen vor rücken können und dabei spüren, dass wir sie im Rücken haben. Ich bin nicht sicher, ob das, was wir vorhaben, andernfalls machbar ist.«
»Einverstanden«, sagte Horner mit einem schmallippigen Lächeln. Dann sah er ebenfalls nach Osten und schüttelte den Kopf. »Ich sor ge dafür, dass Sie so viel Artillerie bekommen, wie ich zwischen jetzt und morgen früh zusammenkratzen kann. Mein Wort darauf.« »Tun Sie das, General, dann fressen wir ihre Seele«, sagte Stewart leise. »Wir werden diese Kleinigkeit erledigen«, erklärte O'Neal ent schieden. »Ob irgendwer von uns das überlebt, ist eine andere Fra ge. Und noch eines, Stewart: Kitzeln Sie Ihr AID. Mir wäre recht, wenn Sie diesen unglaublich schlauen Kessentai herausfinden kön nen, der sich diese Idee mit der Brücke hat einfallen lassen. So viel Intelligenz sollte belohnt werden.«
3 Clarkesville, Georgia, Sol III 1350 EDT, 12. September 2014
Oh, East is East and East is West, and never the twain shall meet, Till Earth and Sky stand presently at God's great Judgement Seat; But there is neither East nor West, Border, nor Breed, nor Birth, When two strong men stand face to face, tho' they come from the ends of the earth! »The Bailad of East and West« – Rudyard Kipling, 1889 Ah, Ost ist Ost und West ist West, und sie kommen nie zusammen, bis Erde und Himmel bald vor Gottes großem Richterstuhl stehen; doch gibt es weder Ost noch West noch Grenze, Erziehung, Geburt, wenn sich zwei starke Männer gegenüberstehen, kämen sie auch von den Enden der Welt! »Die Ballade von Ost und West«
Tulo'stenaloor musterte den jungen Kessentai kühl. »Berichte mir noch einmal über dieses Gefecht.« »Dieses was, Estanaar?«, fragte Cholosta'an. Der junge Spürmeis ter wirkte verwirrt und begriff nicht, was es an der Feindberührung zu berichten gab. Besonders an den »Estanaar« dieser großen Schar. Der Ausdruck war neu und zugleich uralt; man fand ihn im Netz, er war aber, solange sich jemand in der Horde erinnern konnte, nicht mehr benutzt worden. Er vereinte Begriffe wie »Kriegsführer« und »Mentor«, ja sogar »König« nach menschlichem Sprachgebrauch. Aber die Tage des letzten Estanaar lagen Jahrtausende zurück. »Das Himmelsfeuer«, knurrte Tulo'stenaloor. »Diese kleine Schlacht.« »Es gab keine Schlacht, Estanaar«, gab der Gottkönig zu. »Nur das Himmelsfeuer …« »Artillerie«, warf Staraquon ein. Tulo'stenaloors für den Nachrich tendienst zuständiger Offizier ließ spöttisch den Kamm flattern. »Du solltest anfangen, die Worte zu lernen.« »Ich bin kein Nestling«, schnaubte Cholosta'an. »Das brauche ich mir von dir nicht gefallen zu lassen, Kenstain!« Dieser Begriff war eine schreckliche Beleidigung, etwa so, als würde man einen Men schen als Eunuchen bezeichnen. Kenstain waren Gottkönige, die auf alle Zeiten von den Listen der Kämpfenden entfernt worden waren, sei es aus eigener Wahl oder infolge von Entscheidungen des Pos leen-Datennetzes. Manche von ihnen waren Gottkönige, die sich aus freier Wahl dafür entschieden hatten, keine Schlachten zu führen, aber meist waren es solche, die das Schlachtenglück verlassen hatte oder die nicht imstande waren, Reichtümer anzuhäufen, sei es durch Kampf oder Täuschungsmanöver. Auf einem gewissen Niveau waren Kenstain nützlich; sie lieferten das Minimum an »Administration«, die das Netz nicht bieten konn te. Aber da das Netz sie nicht anerkannte, konnten sie keine legalen
Handelsgeschäfte führen und waren ihren glücklicheren oder auch mutigeren Mitbrüdern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Niemand mochte Kenstain. Tulo'stenaloor beugte sich vor und sträubte den Kamm. »Wenn du das noch ein einziges Mal sagst, lasse ich dich töten. Du hast dich bereit erklärt, meinen Anweisungen zu folgen, falls ich dich zum Sieg führe. Lerne jetzt, dass mir das ernst war. Ich will und brauche deine Information, aber nicht so sehr, um zulassen, dass du meinen Nachrichtendienstoffizier so nennst. Hast … du … verstanden?« »Ich …« Der junge Gottkönig sank in sich zusammen. »Nein … Estanaar, ich verstehe nicht. Ich verstehe nicht, weshalb es wichtig ist, und ich verstehe auch nicht, warum mir das zugemutet wird. Das ist nicht der Weg des Pfades.« »Komm mir nicht mit dem Pfad«, herrschte der ältere Gottkönig ihn an. Er griff an das Symbol, das an einem seiner Ohren baumelte, und schnaubte. »Der Pfad hat uns in diese Situation geführt, eine Si tuation ohne Ausweg, ohne Sieger, ohne Verlierer. Der Pfad hat uns auf Aradan und Kerlan in die Niederlage gestürzt. Wir werden den Pfad benutzen, wenn er den Weg zum Sieg bietet, aber der einzige Pfad in meinem Lager, der einzige Einsatz«, sagte er und gebrauchte das menschliche Wort, »besteht darin, die Menschen zu besiegen, und zwar endgültig. Das reicht weit über diesen kleinen Ball aus Schlamm, das betrifft das Überleben der Po'oslena'ar als Rasse. Wenn wir diese Menschen nicht vernichten, werden sie uns vernich ten. Und ich werde sie vernichten, mit Wurzel und Zweig, hier und auf Aradan und Kerlan und überall sonst, wo sie existieren. Nicht um des Pfades willen, sondern für die Rasse. Und du wirst mich ent weder dabei unterstützen, und zwar ohne Frage, oder du kannst ge hen. Aber wenn du sagst, dass du mir hilfst und dann mich oder die Offiziere in Zweifel ziehst, die ich ernannt habe, dann wirst du ster ben. Hast du mich jetzt verstanden?« Der junge Gottkönig war auf der Erde geboren worden, in der Hit ze der Schlacht, und seit er das Gemetzel der Pferche verlassen hat
te, hatte er nichts anderes als Geschichten über Niederlagen gehört, die Menschen ihnen zugefügt hatten. Nichts von all den Reichtü mern der ersten Landung war ihm zugefallen, als riesige Landstri che unter dem Ansturm der Rasse fielen. Keine Chance für ihn, be quem seine vielen Edas an Schulden zu bezahlen, die drückende Last der Kosten, die ihm für die Ausrüstung seines Oolt entstanden waren. Und bis diese Schuld beglichen war, blieb ihm keine andere Wahl, als einem tüchtigeren oder glücklicheren Kessentai zu dienen. So war seine erste Schlacht nicht anders gewesen als all die anderen, ein blindes Schlachten in den Bergen, zerfetzt von Artillerie, an die sie nie herankamen, und dezimiert von Scharfschützen, die auf ihn und seine Kessentai-Kollegen schossen, Scharfschützen, die man bei dem ständigen Beschuss nie ausmachen konnte. Bei diesen jämmer lichen Angriffen war kein Ruhm zu gewinnen und ganz sicherlich keine Beute. Nicht einmal, wenn sie ihre eigenen Toten ausplünder ten. Er hatte die Schwäche des Pfades gesehen, des Pfades des Krieges, der Berserkerangriffe forderte, ganz gleich auf welches Ziel, und wusste, dass es einen besseren Weg geben musste. Und deshalb hat te er auf die Botschaften geantwortet, die im Netz herumgeisterten. Es gab einen neuen Weg, einen neuen Pfad und einen neuen Messi as, der sie aus dieser unwegsamen Wüste hinausführen würde in das Gelobte Land des Inneren. Es war ein neuer Weg, und er war hart, aber wie hart, das hatte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. »Ich … werde gehorchen, Estanaar«, sagte der Spürmeister. »Ich verstehe nicht, aber ich werde gehorchen.« Er hielt kurz inne und überlegte. »Das Himmelsfeuer … die Artillerie … kam ohne War nung über uns. Besser gesagt, unser Tenaral hat uns angekündigt, dass es kommen würde, aber erst, als es schon über uns war. Dann fiel Ramsardal, und als ich den Schaden sah, begann ich unsicher zu werden; ich wusste, es waren die menschlichen ›Scharfschützen‹, aber bei all dem Himmels …, dem Artilleriefeuer konnten die Ten aral sie nicht finden. Ich habe auf dem Weg zurück so viele Oolt'os
wie möglich gebunden und mich so schnell ich konnte aus dem Feu er entfernt.« »Kannst du eine Karte lesen?«, fragte Staraquon. »Ich …« Der junge Kessentai plusterte nervös den Kamm auf. »Ich weiß nicht, was eine Karte ist …« »Nenn mich ›Esszwo‹«, sagte Staraquon ruhig. »Ich sammle Infor mationen über die Menschen. Der Kessentai von Essdrei wird dir später eine Lektion in Landkarten erteilen, aber im Wesentlichen ist eine Landkarte ein Bild des Bodens aus der Luft. Ich möchte wissen, wo der Zusammenstoß stattfand. Da es Scharfschützenfeuer gab, kam es von einem Erkundungsteam, einem ›Fatt‹-Team der Men schen, es war also kein Feuer, das von ihren Sensoren gelenkt wur de. Wenn dort ein Erkundungsteam draußen ist, dann ist es vermut lich gekommen, um zu sehen, was wir machen. Das wollen wir nicht; wir wollen nicht, dass die Menschen sehen, was wir tun. Des halb wollen wir wissen, wo der Zusammenstoß stattgefunden hat und wann.« Der Gottkönig sträubte erneut den Kamm und schlug die Zähne aneinander. »Es war letzte Nacht, und es war näher bei den mensch lichen Linien. Ich … kannte einen Weg zu dieser Gegend, aber der verlief dicht bei den menschlichen Linien. Es war der einzige Weg, den ich kannte, also habe ich ihn genommen. Ich könnte dir zeigen, wo es ist, aber ich kann es dir nicht sagen.« »Na schön«, sagte Staraquon und ließ seinen Kamm flattern. »Es wäre gut gewesen, ist aber nicht notwendig.« Er wandte sich an Tu lo'stenaloor. »Ich möchte mehr Patrouillen aussenden und ich möch te, dass einige meiner Esszrra'-Kessentai dabei sind. Es gibt da De tektoren, an denen wir gearbeitet haben, die uns vielleicht dabei hel fen, diese lästigen Fatts zu finden.« »Gab es eine Sendung aus dem Bereich?«, fragte Tulo'stenaloor. Er gab zu, dass er nicht über die nötige Erfahrung verfügte, die es brauchte, um Informationen zu gewinnen, aber Staraquon konnte das. Deshalb hatte er ihn auch als seinen »Esszwo« aufgebaut.
»Nein«, erwiderte der Offizier. »Anscheinend kommunizieren sie auf eine Art und Weise, die keine Sendungen erfordert. Vielleicht mit diesen Laserrelais, die sie überall in den Bergen verteilt haben.« »Kann man daraus die Information bekommen?«, sinnierte der äl tere Kessentai. »Oder gibt es Mittel und Wege, dort etwas einzuspei sen?« »Beides«, erwiderte Staraquon und gab einen bellenden Laut von sich, der Belustigung anzeigte. »Aber sollten wir damit nicht warten, bis der Angriff stattfindet? Ich möchte, dass die Menschen bis dahin keinen Verdacht schöpfen.« »Einverstanden«, erklärte Tulo'stenaloor. »Gut, tu also, was du tun musst, du darfst sogar Kessentai einsetzen, wenn du der Ansicht bist, dass man es geheim halten kann. Aber finde dieses Erkun dungsteam und töte es.«
Mosovich sah erneut durch seinen Feldstecher und kratzte sich nachdenklich das Kinn. Der Tallulah River war der Zusammenfluss vieler kleiner Bergströme aus dem Nordosten Georgias und schwoll im Tal zu einem ansehnlichen Strom an. An dem Punkt hatten Men schen eingegriffen und nutzten den Strom für die Elektrizitätserzeu gung. Im Augenblick beobachtete er den Teil des Stromes, der aus dem Lake-Burton-Damm floss und kurz darauf zum Lake Seed wur de. Wenn man der Karte und den Berichten, die man ihnen mitgege ben hatte, trauen durfte, gab es zwischen den beiden Seen ein kurzes Stück, das eine Furt aufwies. Nur etwa dreißig Meter von einem Ufer zum anderen und schlimmstenfalls knietief. Was den Über gang an dieser Stelle zusätzlich erleichterte, war die Tatsache, dass beide Ufer steil und dicht bewaldet waren. Das Team würde sich also nur durch den Wald nach unten arbeiten, eine dankenswerter weise nicht sonderlich breite, freie Fläche überqueren, dann durch die Furt gehen und auf der anderen Seite wieder in den Wäldern Deckung nehmen müssen.
Unglücklicherweise zogen die Berichte die reichlichen Regenfälle der letzten paar Monate und die Generator Station oben am Damm nicht mit ins Kalkül. Die Generatorstation war alt, vielleicht war seit ihrem Bau schon mehr als ein Jahrhundert vergangen, darauf deuteten die großen Fenster mit den vielen Einzelscheiben und die uralten Laternen. Wahrscheinlich hatte Thomas Edison persönlich die Generatoren in der Anlage konstruiert, aber die Station funktionierte noch, und es war offenkundig, dass die Posleen sie nutzten, um ihre Fusionsanla gen zu schonen. Das freilich interessierte Jake Mosovich nicht sonderlich. Ein wich tigeres Problem gab es: dass durch diese Umstände das Wasser fast auf Brusthöhe ansteigen konnte; und die Strömung war so stark, dass jeder Wildwasserkanute seine helle Freude daran gehabt hätte. Ihr Ziel war jedoch auf der anderen Seite, und das löste eine ganze Reihe höchst unangenehmer Probleme aus. Sie konnten kehrtma chen und den Lake Burton am Nordende überqueren. Aber wenn sie das taten, wäre es logischer, sich hinter den Linien durchzuarbei ten, dann zu den Verteidigungsstellungen am Highway 76 zufahren und von vorne anzufangen. Die andere Alternative war, dass sie sich näher an Toccoa heranar beiteten und den Fluss dort überquerten. Das wiederum bedeutete, dass die gefährlichste Phase ihrer Aktion praktisch am Ziel stattfin den würde. Eine Landezone für einen Battle Globe durchmaß ge wöhnlich etwa zehn Meilen. Es war zu erwarten, dass Landungs boote dann bis nach Toccoa reichten, obwohl die Telemetrie ange zeigt hatte, dass es sich hier um eine recht bescheidene Landung handelte. Doch wie auch immer das sein mochte, wenn sie den Fluss weiter unten überquerten, würde das wesentlich gefährlicher sein. Falls bei der Flussüberquerung irgendetwas schief ging, konnte es durchaus sein, dass sie dann bis zu vier Millionen Posleen auf den Fersen hatten. Und Jake hatte zwar eine ziemliche Zuneigung zur Dummheit der Posleen gefasst, zugleich aber auch hohen Respekt
für ihre Hartnäckigkeit und ihr Tempo. Und der Ladung eines gan zen Battle Globe waren sie nun einmal nicht gewachsen. Blieb nur eine Möglichkeit. »Die Brücke steht«, flüsterte er. »Yeah«, raunte Mueller. »Und was willst du damit sagen?« Er und Mueller waren schon seit einer Ewigkeit zusammen. Neben Sergeant Major Ersin waren sie die einzigen Überlebenden jenes ers ten katastrophalen Zusammentreffens von Menschen mit den Pos leen auf Barwhon, wo man ein handverlesenes Team der besten Leute, die das US Special Operations Kommando bieten konnte, hin geschickt hatte, um Erkenntnisse aus erster Hand über diese ver blüffende und höchst unwahrscheinliche extraterrestrische Bedro hung zu sammeln. »Ich wüsste nicht, was wir für eine Wahl hätten«, gab Mosovich zu bedenken. »Und es herrscht nicht viel Verkehr. Was haben wir denn bis jetzt gesehen? Eine Gruppe, die die Brücke in den letzten paar Stunden überquert hat? Wir gehen hinunter, vergewissern uns, dass keine bösen Buben in der Gegend sind, und schleichen uns dann hinüber. Was ist daran so schwer?« »Na ja, umgebracht zu werden ist schwer«, meinte Nichols. »Was passiert denn, wenn ein Gottkönig vorbeikommt? Ich garantiere, wenn wir ›oben auf der Brücke‹ sind, machen deren Sensoren einen mächtigen Lärm, selbst wenn wir nicht von irgendwelchen Wachen auf dem Damm entdeckt werden!« »Was denn für Wachen?«, meinte Mosovich. »Posleen stellen keine Wachen auf. Das tun die nie.« »Die schicken auch keine Spähtrupps aus«, wandte Mueller ein. »Dabei sieht es doch verdammt so aus, als ob genau das hier der Fall wäre. Wie viele von diesen verdammten Gruppen haben wir denn schon gesehen! Gewöhnlich bauen sie irgendetwas oder sie bearbei ten das Land oder sie arbeiten. Aber diese Typen verhalten sich wie … nun, eben wie Soldaten.«
»Hast du ein schlechtes Gefühl?«, fragte Mosovich ernsthaft. Mu eller war genauso lange wie der Sergeant Major in diesem Geschäft, das da hieß, Posleen zu töten; es machte durchaus Sinn, etwas auf seine Vorahnungen zu geben. »Allerdings«, nickte Mueller. »Irgendetwas stimmt da nicht. Wes halb sollten die hier mitten im Niemandsland einen Globe landen? Warum sehen die Typen hier alle aus wie Spähtrupps? Kann mir das einer sagen? Und zu allem Überfluss, wie oft habt ihr eigentlich schon gesehen, dass eines dieser Kraftwerke arbeitet?« »Und dann ist da natürlich noch die Frage, warum wir eigentlich hier sind«, fügte Schwester Mary mit leiser Stimme hinzu. Der größte Teil der nachrichtendienstlichen Erkenntnisse, die Menschen über die Posleen gewannen, stammte aus drei Quellen: dem überall in den Wäldern verteilten Sensornetz, HochintensitätsTeleskopen, die über die ganze Vorderseite des Mondes verteilt wa ren, und speziellen, weit verstreuten, kurzlebigen mobilen »Bots«, die mit Artilleriemunition verschossen werden konnten. Seit dieser jüngsten Landung eines Battle Globe waren sämtliche Sensoren in Sichtweite von Clarkesville systematisch ausgeschaltet worden, jede Ansammlung von Bots, die man hineingeschickt hatte, war aufgespürt und zerstört worden, und die Posleen hatten eine Nebeldecke über den größten Teil des Areals, auf dem sie sich sam melten, gezogen. Das deutete auf etwas höchst Ungewöhnliches. Und jetzt sah es zu allem Überfluss so aus, als würden sie auch Pa trouillen einsetzen. »Wir müssen da hinein«, erklärte Jake. »Und dazu müssen wir den Strom überqueren.« »Das nächste Mal schleppen wir Tauchgerät mit«, brummelte Mu eller. »Dann schwimmen wir über den See.« »Ich kann nicht tauchen«, flüsterte Schwester Mary. »Ich kann nicht schwimmen«, gestand Nichols.
»Babys«, knurrte Mueller. »Die schicken uns mit Babys hinaus. Bringen euch die denn überhaupt nichts bei?« »Aber ja doch«, wandte Nichols ein. »Wie man mit Repulsorgerä ten springt. Ich glaube, das habe ich ebenso oft getan, wie ihr Tau chen trainiert habt.« »Heute Nacht«, entschied Mosovich, »brechen wir um zwei auf, Scheiße! Standardformation. Wenn wir Kontakt bekommen, läuft al les nach Vorschrift, wir sammeln uns hier. Schwester Mary, sag der Ari Bescheid und sorge dafür, dass sie wach sind, wenn wir über den Fluss gehen.« »Geht klar.« »Bis dahin ruht ihr euch aus. Heute Nacht gibt's viel zu tun.«
»Du hast heute einen schweren Tag gehabt, Eson'sora.« Cholosta'an legte den Kamm um und zog den Kopf vor dem älteren Kessentai ein, denn wegen des ungewöhnlichen Ausdrucks war ihm unbehag lich zumute. Wie so viele andere Begriffe dieser Art hatten ihn Hel fer des ungewöhnlichen Meisters dieses Globe-Einsatzes aus dem Datennetz aufgespürt, aber für die Mehrzahl der Posleen war er fremd. Er ließ eine genetische Beziehung anklingen, Vater zu Sohn oder Geschwister zu Geschwister. Aber das waren nur Nebentöne; der Begriff bedeutete weder Vater noch Meister, nur etwas Ahnli ches. Es wurde jedoch daran gearbeitet, die Beziehung zu definie ren. »Es war … interessant.« Der ständige Rauch des Hauptlagers brannte in seinen Augen, aber wenigstens begriff er jetzt, was der Rauch zu bedeuten hatte. Die Menschen hatten auch Landkarten und verfügten über Mittel und Wege, vom Himmel aus zu sehen. Die meisten dieser Mittel waren automatisch zerstört worden; offen bar war das der Grund gewesen, dass das Alldn't-Gerät scheinbar harmlose Ziele abgeschossen hatte. Aber dann gab es auch noch an
dere Möglichkeiten; sie hatten Funkverkehr … vom Orbitalkörper aufgefangen. Die Menschen hatten sogar dort Augen. Orostan strich nachdenklich über seinen Harnisch, während er sei ne Kommandountertasse hin und her schweben ließ, ohne sich viel dabei zu denken. Die klügeren Gottkönige hatten sich angewöhnt, ihre Tenar ständig in Bewegung zu halten. Auf diesem vermaledei ten Planeten überlebten weniger Kluge nicht sehr lange. »Verstehst du jetzt, was Landkarten sind?« Der junge Kessentai sah sich um, betrachtete das geordnete Ge schehen im Lager und ließ den Kamm flattern. »Ich glaube schon. Sie entsprechen etwa den Grafiken einer Bauvermessung. Als ich das erkannt hatte, fiel es mir viel leichter, aber es macht Mühe, sie sich einfach so flach vorzustellen. Und lernen ist eine Sache, aber um geschickt zu werden, bedarf es der Erfahrung.« Er war mit vielen übermittelten Fähigkeiten geboren worden, worunter die Fähigkeit zu kämpfen nicht die geringste war, aber daneben gab es auch ge waltlose Fähigkeiten, angefangen mit dem »Wissen«, wie man Strangpressen für Polymere baut, bis hin zu der Fähigkeit, aus Stahl stangen eine Pyramide zu bauen. Doch sich neue Fähigkeiten anzu eignen war schwieriger, es erforderte Zeit und Material, weil man die einzelnen Vorgänge immer wieder aufs Neue wiederholen musste. Karten lesen war eine davon, und sie würde viel Zeit in An spruch nehmen. Der Oolt'ondai schlug die Zähne aufeinander und zog eine Rolle Papier heraus. »Nun, heute musst du dein halbes Oolt auf Streife schicken. Der Rest wird sich in ein außen liegendes Lager begeben, das gerade vorbereitet wird. Kommen deine Cosslain mit der Streife zurecht?« »Worin besteht das Wesen dieser ›Streifen‹… Geschichte?«, fragte der junge Kessentai. »Das ist auch wieder eine der menschlichen Gewohnheiten von Tulo'stenaloor. Oolt'os werden ausgeschickt, um über die Straßen und durch die Hügel zu gehen und nach Menschen zu suchen, die
uns vielleicht ausspionieren könnten. Wir verlieren einige an ihre verdammte Artillerie, aber es sorgt dafür, uns neugierige Augen fern zu halten.« »Aber …« Der Kessentai ließ seinen Kamm flattern. »Ich kann sie ausschicken und ihnen sagen, dass sie sich nach Menschen umsehen sollen. Es klingt allerdings so, als ob du etwas anderes im Sinn hät test.« »In der Tat«, sagte der Oolt'ondai und klapperte belustigt mit den Zähnen. »Es gehen bereits andere Gruppen hinaus. Schick sie zu Drasanar. Er wird dafür sorgen, dass sie einer Streifengruppe fol gen. Nachdem sie das gelernt haben, wird man sie weiter schicken, bis man ihnen befiehlt, stehen zu bleiben. Kann man ihnen vertrau en, wenn sie dich nicht sehen?« »Oh, ja«, bestätigte Cholosta'an. »Meine Cosslain sind tatsächlich ziemlich klug, und ich habe drei davon in meinem Oolt. Jeder von ihnen wird imstande sein, diesen Anweisungen zu folgen.« »Gut, dann schicke die Hälfte des Oolt zu Drasanar, er ist der Streifenmeister. Und die andere Hälfte schickst du nach«, der Ool t'ondai hielt inne und gab sich Mühe, »Midway« auszusprechen. Schließlich holte er eine Karte heraus und zeigte darauf. »Geh mit ihnen zu dem Lager dort. Übergib sie einem der Kessentai, die für den Bau des Lagers zuständig sind, und komm dann zurück. Wir haben vieles zu tun und nicht viel Zeit dafür.« »Weshalb all die Eile?«, fragte Cholosta'an. »Ich dachte, die Schlacht sollte noch nicht so bald stattfinden.« »Da musst du Tulo'stenaloor fragen«, sagte Orostan und klapperte wieder belustigt mit den Zähnen; der Führer ihres Kommandos war stets gern bereit, Fragen zu beantworten, hatte aber nur selten Zeit dafür. »Er wünscht, dass wir ausschwärmen und ›gut verteidigte Lager‹ errichten. Außerdem hat er veranlasst, dass die Produktions kavernen ausgeweitet werden, um die gesamte Heerschar aufzuneh men und vor dieser menschlichen Artillerie zu schützen.« Der ältere
Gottkönig ließ seinen Kamm flattern und schnaubte: »Ich denke, er ist in die Menschen verliebt.« Cholosta'an sah ihn von der Seite an und schwang dazu seinen langen Hals nervös herum. Der Oolt'ondai war viel älter als er, mit ungeheuer viel mehr Erfahrung. Das konnte man an der Ausstat tung seines Tenar und den Waffen der Cosslain erkennen, die ihn umgaben. Cholosta'an verstand zwar, was ihn zu Tulo'stenaloor hinzog, fragte sich aber, was einen alten kampferprobten Krieger wie Orostan zu ihm hinzog. Der Oolt'ondai bemerkte seinen Blick und schlug mit seinem Kamm, bis davon eine kleine Staubwolke aufflog. »Damit du das richtig verstehst: Ich folge Tulo'stenaloor und ich glaube an ihn.« »Warum?«, fragte Cholosta'an. »Ich weiß, weshalb ich hier bin. Ich bin auf dieser Dreckskugel geboren worden und habe vor, sie auch wieder zu verlassen. Aber jede einzelne Schlacht, die ich erlebt habe, war ein Gemetzel. Ich habe den größten Teil meines Oolt schon zweimal ersetzt, ohne dass mir das etwas eingebracht hat. Dreimal musste ich mit der Schale in der Hand zu meinem Chorho zurück kehren und darum bitten, neu versorgt zu werden. Wenn ich das ein viertes Mal tue, wird man mich abweisen. Aber du brauchst keine Chance. Du hast es nicht einmal nötig, auf diesem Alldn't verfluch ten Planeten zu sein.« Orostan überlegte sich seine Antwort kurz und schlug dann wie der mit dem Kamm. »Wenn du je wirklich etwas brauchst, sei es Thresh oder Munition oder selbst Ersatz für beschädigtes Gerät, dann sage es mir und ich werde dafür sorgen; du sollst nicht schlecht ausgestattet mit der Heerschar Tulo'stenaloors in die Schlacht ziehen. Wenn wir Erfolg haben, gibt es eine Rechnung, an sonsten belasten wir es der Heerschar. Was den Rest deiner Frage angeht, nun, betrachte es einfach als einen anderen Weg, den Weg der Rasse. Die Menschen sind die erste Rasse, die seit vielen langen Jahren die Po'oslena'ar ernsthaft herausfordern. Für die Po'oslena'ar gibt es nur den Weg. Wenn wir die Menschen nicht besiegen, wenn
wir unseren Weg nicht fortsetzen, wird die Flut von Orna'adar über uns hinweggehen und wir werden als Rasse untergehen. Dies ist die Heimatwelt der Menschen, die Königin in dem Grat-Nest. Wir müs sen sie zu fassen bekommen und vernichten, sonst werden wir selbst vernichtet.« Er kratzte an einer Schramme seines Tenar und sträubte den Kamm. »Das Volk hat diesen Planeten fast im Sturm genommen. Wir haben den größten Teil des Planeten genommen, aber einige we nige geographische Bereiche bleiben noch. Dieser hier ist sicherlich der unangenehmste. Und ich glaube, dass Tulo'stenaloors Plan funktionieren wird. Wir müssen wie die Menschen denken, um sie zu besiegen, und wir müssen einige ihrer Methoden nachahmen und zugleich unsere eigenen einsetzen. Aber das Wichtigste, was wir tun müssen, ist, sie zu überraschen. Die Menschen habe da eine Formulierung, die heißt ›jemand von hinten packen‹. Wie so vieles von dem, was die Menschen sagen, hat das einige Nebenbedeutun gen, die sich nicht gut übersetzen lassen. Du hast Recht, ich brauche nicht hier zu sein«, räumte der Oolt'on dai dann ein und blickte zu den Bergen im Norden. »Ich habe vier Anwesen, die nicht in Orna'adar sind; ich habe die Schätze von acht Welten gesammelt und könnte leben, wo immer ich mir das wünschte, wenn ich mich mit dem Tod abfinden will. Ich bin ein Oolt'ondai, Befehlshaber meines eigenen Oolt'po'oslena'ar. Ich kann in der Galaxis überall hingehen, wohin mein Antrieb mich trägt, und mein persönliches Oolt ist mit den besten Waffen ausgestattet, die das Volk macht. Deshalb kann ich, wenn ich dort eintreffe, jedes Land nehmen, das ich mir wünsche. Aber ich bin für die Rasse, für meine genetische Linie hier an diesem Ort. Und wir werden diesen Stev knacken, für die Rasse, für unsere Clans und für unsere Linien, du und ich werden das tun, junger Eson'sora. Wir werden ihre Pässe einnehmen, ihre Täler und werden ins Herz dieses Grats-Nests vor dringen, sie von hinten ›aufrollen‹, wir werden dieses Menschen zeug plattdrücken.«
4 Rochester, New York, Sol III 0547 EDT, 13. September 2014
»Sobald die Ari einsetzt, machen wir dieses Posleenzeug platt.« Mike sparte sich die Mühe, sich umzusehen; in dem mit Schlamm durchsetzten Wasser hätte er die in Hockstellung um ihn herum ver sammelten Kompaniechefs ohnehin nicht »real« sehen können. Sei ne ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die vor ihm vorbei ziehenden elektronischen Symbole. Nach GalTech-Spezifikation gebaute gepanzerte Kampfanzüge waren mit einer semibiotischen Gelmasse gefüllt, die Stöße und Er schütterungen auffing. In dem silbernen Gel verteilten sich die Milli arden von Nanniten, die einen GKA-Soldaten mit Nahrung versorg ten und sich auch sonst um ihn kümmerten, aber zugleich diente sie auch dazu, Verletzungen zu verhindern, die bei einem Aufprall mit hoher Geschwindigkeit entstehen konnten. Da dies in ganz besonde rem Maße für den Kopf galt, war der Helm ringsum mit dem Gel »ausgepolstert«, das nur eine winzige Partie für Augen, Mund und Ohren freiließ. Von außen waren die Helme undurchsichtig; was das »Protoplasmische Intelligenzsystem« im Inneren des Panzers sah, war eine durchaus komfortable Darstellung der Außenwelt. Diese »Darstellung« wurde von winzigen außen am Helm ange brachten Optiken an die Augen weitergeleitet. In ähnlicher Weise gab es ein Audio-System, das in den Gehörkanal führte, während die Atemluft in die Öffnungen rings um Mund und Nase gepumpt wurde.
Diese Hochleistung der Technik, die manch einer zunächst als übertrieben bezeichnete, hatte O'Neal damals auf Diess gute Dienste geleistet. Seit jenem Tag hatten viele Soldaten beinahe ähnlich tödli che Situationen überlebt, wenn auch nicht ganz so tödlich, und heute sprach niemand mehr von »übertrieben«. Schrecklich teuer – ja. Ein Kommandoanzug kostete fast so viel wie eine kleine Fregatte. Aber übertrieben war daran nichts. Der Anzug ermöglichte ihm ein Maß an Kontrolle, das Segen und Albtraum zugleich war. Ein Vorgesetzter konnte jede Einzelheit des Gefechts bis hinunter zu den winzigsten Handlungen eines Unterge benen steuern – das war der Albtraum. Andererseits ermöglichte es dem Kommandeur aber auch, einen sehr detaillierten, grafisch dar stellbaren Plan zu entwickeln und dann dessen einzelne Schritte zu überwachen und einzugreifen, sobald – nicht etwa falls – der Plan zu scheitern drohte. Im Augenblick ermöglichte es diese Technik dem Major, mit sei nen Kompaniechefs und dem übrigen Stab auf dem Grunde des Ge nesee-River stehend letzte winzige Änderungen vorzunehmen. »Es heißt, dass wir ein zusätzliches Artilleriebataillon bekommen haben«, fuhr er fort und setzte das entsprechende Icon in den Plan ein. »Das ist zwar immer noch nicht das, was ich gerne für diesen Angriff gehabt hätte, aber ich denke, in den nächsten fünf bis zehn Tagen kriegen wir halt nicht mehr. Und wenn wir so lange warten, kriegen wir bloß noch zusätzliche Posleen. Damit stehen uns beinahe zwei Brigaden zur Verfügung, aber nur eine davon ist voll einsatzfähig. Diese Brigade wird mit Zeit-aufZiel-Beschuss auf unsere erste Kampfzone beginnen. Mit etwas Glück macht das die Posleen platt, die uns im Wege stehen, und für uns ist das Ganze ein Spaziergang.« »Rrriichtig«, sagte Captain Slight, was allgemeines Schmunzeln auslöste. Der weibliche Captain hatte eine ganze Menge hinzuge lernt, seit sie als blutjunger Lieutenant vor der ersten Landung der Posleen in Mikes Kompanie eingetreten war, und wurde jetzt von
der ganzen Kompanie geschätzt, der Kompanie, die einmal Mikes Kompanie gewesen war. Und ihr Bataillonschef vertraute ihr. »Wenn wir vorrücken, richten wir uns rechts nach dem Kanal aus«, erklärte Mike. »Die rechte Seite ist also geschützt. Aber dafür ist die linke Flanke weit offen, wie ein ausgenommener Wal.« »Ich dachte, wir bekommen Feuerschutz«, meinte Captain Holder. Der Chef der Charlie-Kompanie war für die linke Seite verantwort lich. »Bekommen wir auch«, erklärte Mike und schnitt dazu eine Gri masse, die freilich keiner sah. Er kaute seinen Priem und spuckte in die Tasche, die das irgendwie vorausschauende Gel dafür bereit stellte. »Aber Duncan hat gesagt, dass das für den Feuerschutz zu ständige Bataillon ein wenig ›wacklig‹ ist.« »Wo hat er das denn her?«, fragte Slight. Das Icon, das den Artille riekoordinator darstellte, lag über dem Hügel, wo sich vorher der Bataillonschef befunden hatte, und zwar aus demselben Grund. Un ter anderem hatte man dort hervorragende Sicht auf das Gefechts feld. Und was wesentlich wichtiger war: Die Sensorik des Anzugs hatte ausgezeichnete Sicht, und was Anzüge mit solchen Informatio nen anfangen konnten, war für viele immer noch höchst erstaunlich. Und das schloss gelegentlich sogar die künstlichen Intelligenzgeräte ein, die die Anzüge lenkten. Aber die Artillerie, die ihren Angriff unterstützen sollte, stand meilenweit hinter ihnen, keineswegs dort, wo sich der Artillerieex perte des Bataillons befand. »Soweit mir bekannt ist, stimmt er sich mit dem Artilleriekoordi nator der Zehntausend ab«, antwortete Mike ein wenig von oben herab. Die Offiziere schmunzelten.
»Colonel, ich frage das jetzt zum letzten Mal«, sagte der Captain und lächelte dazu grimmig. Er war ziemlich schmächtig, hatte einen milchkaffeefarbenen Teint und war wütend. Und dafür bekannt, leicht reizbar zu sein. »Captain, eine andere Möglichkeit gibt es nicht«, sagte der ältere Offizier ernsthaft. »Die Geschütze werden so schnell wie möglich in Stellung gebracht. Ich weiß, dass das Tempo einiges zu wünschen übrig lässt, aber schneller schafft es diese Einheit einfach nicht. Sie müssen verstehen, dass wir schließlich keine Super-Einheit sind …« »Nein, Colonel, das sind Sie nicht«, fiel ihm der Captain ins Wort. Für die meisten Offiziere wäre das Selbstmord gewesen, aber Keren und alle anderen, die zu den Sechshundert gehörten, wussten be reits, was Selbstmord war. Selbstmord hieß, sich praktisch ohne Mu nition rings um das Washington Monument niederzukauern, ohne Munition und ohne jede Hoffnung, einfach weil es besser war, tot auf dem Hügel liegen zu bleiben, als sich auch nur einen Fußbreit weiter zurückzuziehen. Und es gab etwas, was die Sechshundert nie, wirklich nie akzeptierten – die Erklärung, »es geht nicht«. Und zwar von niemandem. »Sie sind ein Artilleriebataillon der Land streitkräfte der Vereinigten Staaten. Und man erwartet von Ihnen, dass Sie Ihre Pflicht tun. Wenn Ihr Kommando nicht binnen drei Minuten eingerichtet ist und feuerbereit, werde ich verlangen, dass man Sie ablöst. General Homer wird dies umgehend anordnen. Und dann werde ich den Be fehl über dieses Bataillon übernehmen. Und wenn ich dazu jeden Einzelnen in dieser Einheit erschießen muss, bis ich bei den zehn letz ten einigermaßen fähigen Leuten angelangt bin, werde ich das tun, um den Beschuss ins Ziel zu bekommen. Habe ich mich eindeutig klar ausgedrückt?« »Captain, mir ist egal, wer Sie sind«, herrschte der Colonel ihn an. »Ich brauche mir diesen Ton von keinem gottverdammten O-3 gefal len zu lassen.«
»Colonel«, sagte der Captain mit eisiger Stimme, »ich habe schon Vorgesetzte erschossen, die nicht zu meiner Zufriedenheit reagiert haben. Mir ist scheißegal, wie Ihnen dabei zumute ist, von einem Captain zur Sau gemacht zu werden; für diese Art von Unfähigkeit haben wir einfach keine Zeit mehr. Sie können sich's raussuchen – führen, folgen oder sterben. Entscheiden Sie sich.« Die Augen des Colonels weiteten sich, als ihm klar wurde, dass es dem Captain todernst war. Und wenn ein Captain der Sechshundert verlangte, dass er abgelöst wurde, war die Wahrscheinlichkeit ver dammt groß, dass es auch dazu kommen würde. So weit war es mit der Army gekommen, hol's der Teufel. »Captain, wir schaffen das in drei Minuten nicht«, sagte er ruhig. »Colonel, haben Sie je von der Spanischen Inquisition gehört?«, fragte Keren verkniffen. »Ja«, sagte der Offizier und wurde bleich. »Ich … ich bin sicher, wir kriegen das zufriedenstellend hin, Captain.« »Versuchen Sie's«, schnarrte der Captain. »Versuchen Sie's einfach und stellen Sie sich dabei vor, dass die Posleen drauf aus sind, Ihren Arsch zu fressen. Denn wenn Sie zwischen den Posties und den Sechshundert wählen können, empfehle ich Ihnen die Posties. Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Klar«, antwortete der Colonel und hielt sich in letzter Sekunde davon ab, eine Ehrenbezeigung zu machen, ehe er sich ab wandte. Keren sah ihm teilnahmslos nach und ging dann um den Humvee herum, hinter dem sie mit leiser Stimme ihr Gespräch geführt hat ten. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete, und übergab sich dann, ohne dass sich sein Gesichtsausdruck dabei ver änderte. Er spülte sich den Mund mit einem Schluck aus seiner Feldtasche aus und schüttelte den Kopf. Nicht, dass er nicht bereit gewesen wäre, diesen arroganten, unfähigen Dreckskerl zu erschießen, der diese Artillerieeinheit befehligte. Das Schlimme war nur, dass es nichts helfen würde. Die Einheit war so lange in Fort Monmoth als
Unterstützung eingesetzt gewesen, dass sie einfach zu nichts ande rem imstande war, als zu feuern – aber nur aus exakt denselben Po sitionen, in exakt dieselbe Richtung und exakt dieselbe Höhe, und das Tag für Tag. Unglücklicherweise hatte irgendein Bürokrat sie als »einsatzbereit« klassifiziert und aus ihren bequemen Stellungen nach vorne geschickt mit dem Befehl, den Angriff auf Rochester zu unterstützen. Statt »einsatzfähig« hätte er besser »einmalig unfähig« schreiben sollen. Es war ein altes Problem, wenn eine Fronteinheit »die Besten, die sie haben, für einen schweren Einsatz« anfordert, schickte die zur Abgabe aufgeforderte Einheit logischerweise nicht ihre Besten. Ob es nun um Einzelpersonen oder ganze Einheiten ging, jeder Kommandeur neigte dazu, den oder diejenigen zu schi cken, deren Verlust er am leichtesten verschmerzen konnte. Und dieses Artilleriebataillon konnte man wahrhaftig leicht ver schmerzen. Keren musste sich fragen, wie oft sie sich wohl schon mit »friendly fire« hervorgetan hatten. Er schüttelte erneut den Kopf und zog ein Handy aus der Tasche. Es gab immer noch genügend Relaistürme, und solange die Posleen keine Störsignale sendeten, konnte man sich damit ganz ordentlich verständigen. Und die meisten militärischen Einheiten konnten sie nicht abhören, was manchmal recht günstig war. »Hey, Duncan, Mann, ich denke, es ist Zeit für die Spanische In quisition …«
Mike sah zu, wie die Qualitätsmarke für die neue Artilleriebatterie von Stufe 2 auf Stufe 4 wechselte, und lächelte. Wenn das nicht pas siert wäre, hätte er sich wahrscheinlich gefragt, was da nicht stimm te. »Und wie es aussieht, hat Keren sie gerade heruntergestuft«, fuhr er fort, als auf die Sekunde genau das Poltern des Artilleriefeuers der Brigade einsetzte.
»Oh, welche Freude«, sagte Captain Slight und lachte fast hyste risch. »Dann weht uns wenigstens der Wind um den Hintern, wenn wir da hinausgehen, Sir.« »Und was für ein hübscher Hintern das auch ist«, sagte Mike in völlig unbeteiligtem Tonfall. Er klickte ein Icon nach dem anderen an und konnte durch ihr ständiges Wechseln erkennen, dass Duncan das Gleiche tat. »Wir haben nur die Wahl zwischen Sperrfeuer oder angefordertem Beschuss. Wir können das Sperrfeuer von den Mör sern erledigen lassen oder die Mörser nach Anforderung schießen lassen. Nach Ihrer Anforderung, sozusagen. Ich möchte die Kompa nien neu verteilen und Bravo auf die linke Flanke bringen. Ihr schwärmt an der linken Flanke aus und haltet diese Zone, bis ihr von den Zehntausend oder anderen ähnlichen Einheiten abgelöst werdet. Da ihr am weitesten ausgeschwärmt sein werdet, bekommt ihr auch den stärksten Feuerschutz. Mit den wenigen Mörsern, die wir haben, gibt das ohnehin kein ordentliches Sperrfeuer.« Wenn er die Anzugsysteme jetzt auf simulierte Sicht schaltete, würde Slight sofort anfangen, mit den Fingern an ihrer Gesichtsplat te herumzutippen. Das war eine nervöse Angewohnheit, die sie sich zugelegt hatte, als Ersatz dafür, dass sie nicht Fingernägel kauen konnte. Sie tat es ständig, wenn sie nicht in ihrem Panzer steckte. Fast bildete er sich ein, das Klappern hören zu können. »Auf Anforderung, Sir«, sagte der Captain. »Ich möchte die Kom panie L-förmig aufstellen. Und am Ende kommen die doch hinter uns rein.« »Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es so weit ist«, ant wortete Mike. »Captain Holder, haben Sie ein Problem damit, wenn Sie die Mitte übernehmen?« »Negativ, Major«, erwiderte Holder. »Wir machen die platt.« »Okay«, antwortete O'Neal und stellte die Markierungen für die drei Kompanien neu ein. Die drei Einheiten waren ohnehin schon knapp an Personal, und wenn er die Bravo jetzt an der Flanke ein setzte, so notwendig das war, dann reduzierte das die Schussdichte,
dieses »die Straße pflügen«, jene Taktik, mit der die GKA den Pos leen-Schwärmen am besten zusetzten. Ihre einzige Reserve würden dann ihre »Sensenmänner« sein, die mit schweren Waffen ausgestat teten Anzüge. Da die Anzüge für indirekte Feuerunterstützung kon figuriert waren, hieß das, dass nur noch das Bataillonskommando und der Stab einspringen konnten, falls die Front irgendwo auf brach. Kein sonderlich angenehmer Gedanke, aber das wäre auch nicht das erste Mal. Er konfigurierte die Kompanien neu, während die AIDs die Angriffspositionen für jeden einzelnen Soldaten dar stellten. Das waren freilich nur Empfehlungen. GKA-Soldaten wuss ten, dass sie nach eigener Initiative handeln mussten, wenn sich ir gendetwas änderte, wussten, dass es einzig und allein darauf an kam, ihren Auftrag zu erledigen. »Maximaler Angriff«, nannte sich das. Manchmal benutzten sie auch den Ausdruck, den der Alte da für gerne benutzte: »mit dem Teufel tanzen«. »Die Artillerie nimmt jetzt allmählich ihr Feuer zurück. Sehen wir zu, dass wir uns schnell neu aufstellen.« Die Kompaniechefs erledigten das, ohne sich von der Stelle zu be wegen, und auch von der Wasseroberfläche aus hätte man nur ein paar sich kräuselnde Wellen erkennen können. Die GKA-Soldaten akzeptierten die neue Aufstellung kommentarlos; ihre Systeme lie ferten ihnen mehr als genug Einzelheiten, um sie die Gründe dafür begreifen zu lassen, und sie waren alle nicht nur für ihre Aggressivi tät ausgewählt worden. Es war offenkundig, dass sie bald auf das Sperrfeuer würden verzichten müssen. Und damit wechselte die entscheidende Bedrohung auf die linke Flanke, was logischerweise hieß, dass die Bravo-Kompanie neu eingeteilt werden würde. Mike gab sich zwar Mühe, die Kompanien gleichmäßig einzusetzen, aber alle waren sich darüber einig, dass in wirklich schwierigen Fällen Bravo ran musste. Deshalb nahmen die Soldaten auch die Planänderung mit Gleich mut hin und reagierten schnell. Sie waren in Linie aufgestellt gewe sen, bereit, vorzurücken. Die neuen Befehle erforderten das Verle gen von beinahe zweihundert Anzügen und dies in drei Meter Was
sertiefe! Aber auch das war kein Problem. Die AIDs in jedem Anzug zeigten ihnen den Weg auf, und die Soldaten folgten einfach, »flo gen« mit ihren Anzugantrieben umeinander herum, bis jeder die zu geteilte Position erreicht hatte. O'Neal vergewisserte sich nicht einmal, ob es Probleme gab. Die Panther waren so lange auf dem Amboss endloser Gefechte gehäm mert worden, bis nur noch das nackte Metall übrig war; Einsätze wie diese erledigten sie im Schlaf. Das nächste Gefecht würden sie ebenso wie im Schlaf erledigen, aber sie mussten damit rechnen, schwere Verluste zu erleiden. Und dann würde das Bataillon noch mehr geschwächt sein, denn Ersatz war weit und breit nicht in Sicht. Mike blickte auf seinen Timer und verzog das Gesicht. Er hatte ge hofft, während der letzten Phase des Artilleriebeschusses vorrücken zu können; der Beschuss würde den Anzügen nichts ausmachen. Aber der Zeit-auf-Ziel-Beschuss ging bereits zu Ende, und sie waren immer noch dabei, Formation einzunehmen. Nun, es würde reichen müssen. »Los geht's.« Karen Slight gab einen Grunzlaut von sich, als sie sah, wie das Land tatsächlich aussah. Solange die Anzüge unter Wasser gewesen waren, hatte sich ihre Orientierung auf Icons und Displays be schränkt. Sie hätte sich zwar von Duncans Anzug ein Echtbild holen können, aber das hätte ihr auch nichts verraten, was die Sensoren nicht schon zur Kenntnis nahmen. Tatsächlich wäre das Bild alles andere als klar gewesen. Aber was die Sensoren ihr nicht hatten ver mitteln können, war der Anblick des in Schutt und Asche liegenden Zentrums von Rochester. Das Ziel des massierten Beschusses war ein Quadrat von einem Kilometer Kantenlänge gewesen, mit dem Kanal an der Südseite, der Castleman Avenue im Osten, dem Fluss im Westen und der Almwood Avenue im Norden. Die Posleen auf diesem Quadratkilo meter waren ausnahmslos vernichtet worden. Es waren Tausende gewesen, Zehntausende, die sich alle angeschickt hatten, den Fluss
zu überqueren, und die meisten waren von dem Artilleriefeuer so fort getötet worden. Die Leichen der pferdeähnlichen Aliens waren an manchen Stellen drei oder vier Kadaver tief über die Schutthau fen der Stadt verteilt. Zurückgeblieben war eine Wüste aus aufgetürmtem Schutt, ver streuten Leichen und dem Gestank sich verteilender Treibgase, mit einem Schleier aus Rauch und Staub darüber, der das Schlachtfeld verhüllte. Aber in dem rötlichen Nebel gab es auch noch Umrisse, die sich bewegten. Einige der Posleen, eine ganze Menge sogar, hatten die ersten Sal ven überlebt und reagierten jetzt. Etliche rannten weg, andere stan den einfach da und warteten, dass die Feuerwalze näher rückte. Und ein paar waren dabei, einen menschlichen Trick zu lernen, nämlich Deckung zu suchen; bei Sperrfeuer dieser Art war das schwierig. Wenn man dem Schrapnellregen ausweichen wollte, brauchte man über sich Schutz, und alles, was an Gebäuden übrig geblieben war, war in den letzten Wochen zu Staub zermahlen wor den. Aber einige wenige von ihnen suchten in verbliebenen Kellern und Bunkern Schutz; sobald die Feuerwalze weitergewandert war, würden sie ohne Zweifel wieder herauskommen. Das Bataillon arbeitete sich zu seiner ersten Ziellinie vor, den Hochufern des Flusses, und dann ließen sich alle auf den Bauch fal len, wie ein einziges Tier. Die Anzüge hatten ihre Tarnhologramme aktiviert, deshalb deutete nur eine kurze Folge klatschender Ge räusche im Schlamm auf ihre Anwesenheit. Aber einige Überleben de des massierten Beschusses waren Gottkönige gewesen, und die setzten jetzt ihre Sensoren ein und feuerten auf die getarnten Kampfanzüge. Die Menschen reagierten sofort, das massierte Feuer des Bataillons suchte die besser bewaffneten Gottkönige, widmete ihnen ihre Auf merksamkeit, doch die wesentlich zahlreicheren Normalen hatten jetzt bemerkt, dass es an ihrer Flanke einen Feind gab, und wandten
sich dieser Bedrohung zu, wobei sie mehr oder weniger ungezielt das Feuer eröffneten. Das meiste davon lag zu hoch, aber einige Schüsse trafen auch die Soldaten des Bataillons. In einer solchen Situation stellten die GKA ihren ganz besonderen Wert unter Beweis. Flach auf den Boden ge presst boten sie ohnehin kaum ein Ziel, und die meisten Schüsse, die sie trafen, Schüsse, die einen Bradley-Panzer zerstört hätten, prallten harmlos von ihren Panzern ab. Doch nicht alle, und Slight stieß er neut einen missbilligenden Grunzlaut aus, als sie sah, wie die erste Datenanzeige ihrer Kompanie ausfiel. Auf ihrem HUD blitzte kurz Position und Name des Getroffenen auf – es war Garzelli vom Drit ten Platoon – und verblasste dann gleich wieder. Sie nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken, registrierte die Anzeige nur und markierte den Standort für spätere Bergung. Ihr erster Sergeant würde das Gleiche tun, aber doppelt genäht hielt halt besser. Sie blickte zu den Höhen über dem Schlachtfeld auf: Das Ufer war tatsächlich recht steil und bot damit dem Bataillon einigen Schutz. Sie hatten bisher kaum Beschuss erlebt und waren noch frisch; wenn sie dann freilich vorrückten, würde es heiß werden, und Bravo wür de mitten im Getümmel stecken. Jetzt wurde es ein wenig unangenehm. Nur eines ihrer Platoons, das Dritte, würde mit dem Rest des Bataillons in Linie stehen, die beiden anderen würden gestaffelt bleiben, um die linke Flanke zu schützen. Das machte es notwendig, dass die beiden Platoons ab warteten, während das Bataillon vorrückte und sich erst ein wenig später seitwärts anschloss. Sie wartete, bis sich etwa die Hälfte der Anzüge in Bewegung gesetzt hatte, und schloss sich dann an. Nach ein paar Schritten stolperte sie und blickte nach unten auf den Pos leen, über den sie beinahe gefallen wäre. Es war unmöglich zu er kennen, ob es sich um einen Gottkönig oder ein Normales handelte; eine 155-mm-Granate hatte seine Vorderseite zerfetzt, aber es war genug übrig geblieben, um sie zu behindern, und je weiter sie vor rückten, um so schlimmer würde es wohl. Es würde verdammt an strengend werden, die ganze Kompanie im Auge zu behalten und
gleichzeitig auf sich selbst aufzupassen, und sie fragte sich manch mal, wie in drei Teufels Namen O'Neal das eigentlich schaffte. Mike nahm das Icon überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern stampfte einfach mit dem Stiefel auf die Rippenpartie des Kessentai und trat ihn dann beiseite. Ein anderer hätte die symbolhafte Dar stellung des ihn umgebenden Terrains überhaupt nicht auswerten können, es war eine schematische, hyperkomprimierte Darstellung, die zugleich die Bodenformation und den Gefechtsstatus anzeigte. Die ursprüngliche Schemadarstellung war an die Stelle einer unte ren Bildschirmhälfte getreten, die er ursprünglich benutzt hatte, nachdem er ein paar Mal durch das Eis gefallen war. Der halbe Bild schirm war damals seitlich komprimiert gewesen, so dass nur noch eine etwa drei Zentimeter breite Anzeige übrig geblieben war, die über das ganze Gesichtsfeld reichte. Heute, nach fünf Jahren Kommandoerfahrung, war sein »Anblick« der Schlacht eine einzige Masse von Icons und Kurven; ein reales Außenbild lenkte ihn nur ab. Zufrieden ließ er den Blick über die Anzeigen wandern: Sämtliche Kompanien rückten geordnet vor, und Captain Slight machte ihre Sache ausgezeichnet, brachte die Bravo-Kompanie entlang der Elmwood Avenue in Stellung. Über kurz oder lang würde die Masse Po'oslena'ar um das Strong Memo rial Hospital oder das, was davon übrig geblieben war, in einem Tenaral-Angriff angebraust kommen und wie eine Lawine über Bra vo hereinbrechen. Solange sie warteten, bis Bravo an Ort und Stelle war, sollte das nichts ausmachen. Und bis jetzt war alles im grünen Bereich. Zwei der Brücken wurden als problematisch angezeigt, die ent sprechenden Icons leuchteten gelb. Er ersparte es sich, die Gründe dafür ausfindig zu machen; sein AID verarbeitete Daten aus tausend Quellen, und davon konnten eine ganze Menge diese Folgerung ausgelöst haben. Im Verlauf der letzten Jahre hatte Shelly sich eine erstaunliche Fertigkeit in der Beurteilung der Qualität von Einheiten erworben, und wenn sie meldete, dass es bei diesen Brücken wahr scheinlich etwas länger als ursprünglich angenommen dauern wür
de, die heiße Zone zu erreichen, hatte sie vermutlich Recht. Ein an derer Bildschirm zeigte ihm die Symbole für die Stellung beziehen den Zehntausend. Auf der anderen Flussseite gab es hohe Gebäude, und er registrier te, dass die Zahl der Kessentai auf den Höhen allmählich zurück ging. Das war offenbar dem Einsatz von Scharfschützen der Zehn tausend zuzuschreiben, die sowohl ihre eigenen Waffen als auch auf Stativen montierte »fernbediente« Systeme benutzten. Auf diese Di stanz war es freilich recht unwahrscheinlich, dass sie die Energie speicher eines Tenar trafen, und das war bedauerlich; wenn ein Scharfschützengeschoss Kaliber .50 einen Speicherkristall traf, wur de die instabile Matrix meist zu so etwas Ähnlichem wie einer 250Kilo-Bombe. Das Bataillon hatte inzwischen den Gleiskörper von Conrail er reicht, und O'Neal befahl, kurz innezuhalten, um alles noch einmal zu überprüfen. Die Sensenmänner, die die ganze Zeit auf Anforde rung gefeuert hatten, rissen die Laderohre aus den riesigen Muniti onskörben, die auf ihren Rücken festgeschweißt waren, während die regulären GKA-Soldaten ihre Munitionsbestände überprüften und, soweit notwendig, umschalteten. Die Standardanzüge waren mit Hunderttausenden von Tropfen aus abgereichertem Uran ausgestat tet, aber die Gravkarabiner feuerten auch fast fünfhundert pro Se kunde ab. Das bedeutete, dass die GKA-Soldaten gelegentlich Ge fahr liefen, dass ihnen die Munition ausging, eine Situation, die man vor dem Krieg für völlig ausgeschlossen gehalten hätte. Klobig wir kende Sanitäts- und Pionieranzüge rückten vor, lieferten den Kämp fern zusätzliche Munition und überprüften ausgefallene Datenlinks. Schäden dieser Art bedeuteten gewöhnlich, dass der Soldat ausge fallen war, TOST – Tot an Ort und Stelle – in der gefühllosen Militär sprache der Sanitäter, aber gelegentlich lag auch nur ein starker An zugschaden vor, den der Soldat überlebt hatte. In solchen Fällen, in neun von zehn jedenfalls, ließ der Sanitäter den Soldaten trotzdem liegen.
Ein paar Soldaten waren mit ernsthaften Verletzungen oder wegen Waffenschäden zurückgefallen. Was auch immer einen Anzug durchdrang, war gewöhnlich tödlich, aber auch hier galt, dass die Anzüge Soldaten, die den ersten Schock überlebten, bis zur Bergung am Leben erhielten, die Verletzung abdichteten, die Wunde versorg ten, Infektionen verhinderten und den Verletzten entweder »aus schalteten« oder, je nach taktischer Situation, seine Nervenenden schlossen. Und selbst Verletzungen wie der Verlust von Gliedmaßen waren schlimmstenfalls lästig, wie O'Neal aus eigener Erfahrung be wusst war; als man ihn auf Diess geborgen hatte, war nur eine sei ner vier Gliedmaßen noch funktionsfähig gewesen. Regeneration und Hiberzine waren die zwei vielleicht größten Errungenschaften, die die Galakter den Menschen gebracht hatten, und die Anzugtrup pen wussten das sehr wohl; die meisten Veteranen hatten irgend wann einmal mindestens eine ihrer Gliedmaßen verloren. Mike spuckte etwas von seinem Priem in die Unterschicht. Die Icons für die Posleen auf den Höhen zeigten an, dass diese jetzt an fingen, in Fahrt zu kommen. Unter anderem gab es Anzeichen da für, dass Kessentai Bodenpositionen einnahmen. Falls sie zu allem Überfluss so schlau sein sollten, die Kämme einzuziehen, würden die Scharfschützen am anderen Flussufer es verdammt schwer ha ben, sie aufs Korn zu nehmen. Und selbst wenn die Scharfschützen sie erwischten, war das ein schlechtes Zeichen. Es deutete darauf hin, dass es da einen Gottkönig gab, der wusste, was er tat, und der andere dazu veranlassen konnte, auf seine Befehle zu hören. Das hieß, dass das Bataillon jetzt wirklich zeigen musste, was sie gelernt hatten, dass sie sich ihr Geld verdienen mussten. Zeit also zum Tanz.
Duncan beugte sich nach vorn und wünschte sich, es wäre irgend wie möglich, eine Marlboro in den Anzug zu bekommen. Er hatte das zwar schon ein paar Mal getan, aber der Anzug hatte es ver
dammt schwer, mit den Ausdünstungen klarzukommen. Die Unter schicht reagierte … nun ja, recht eigenartig, und zwar mehrere Tage lang. Er wusste nicht, ob das ein auf den Rauch zurückzuführender toxischer Schock sein konnte oder ob das Gel einfach nur verärgert war; die Unterschichten entwickelten nämlich nach einer Weile so etwas wie eine »Persönlichkeit«, auch wenn das niemand nachwei sen konnte. Aber was auch immer der Grund sein mochte, er hatte schließlich beschlossen, das Rauchen bleiben zu lassen. Und deshalb musste er jetzt fast eine komplette Division Artillerie leiten und zugleich mit Nikotinentzug fertig werden. Er beobachtete dieselben Icons wie der Bataillonschef, und auch wenn er nicht dieselbe instinktive Begabung wie Mike hatte, die es dem Bataillonschef erlaubte, die Bewegungen der Posleen vorherzu sehen, so war doch auch ihm klar, dass sie sich zum Angriff formier ten. Er hatte Artilleriefeuer von den beiden Bataillonen 155er ange fordert, die für »Beschuss auf Anforderung« vorgesehen waren, aber mit den Jungs war nichts anzufangen. Schließlich war er dazu über gegangen, die den wartenden Divisionen und den Zehntausend an gegliederten Mörsereinheiten einzusetzen. Unter denen gab es eine ganze Anzahl, die nicht sehr schnell reagierten oder verdammt un genau schossen. Sie alle zu koordinieren war verdammt schwierig; einige von ihnen reagierten nicht auf elektronische Befehle, während andere das zwar taten … aber nicht korrekt. Ihm blieb keine andere Wahl, als sein AID in sämtlichen Netzen seine Stimme nachahmen zu lassen. Als das Gros der Posleen sich schließlich in Bewegung setzte, konnten sie doch in deren Aufmarschzone die ersten Treffer registrieren. Er betrachtete die an ihm vorbeiziehenden Icons und wünschte, sich am Kopf kratzen zu können. Er vermutete, dass sie durch die Seitenstraßen in der Gegend von Planquadrat PS 49 herunterkom men würden. Die meisten von ihnen waren über die West Brighton und die Elmwood Avenue in Richtung auf die baufällige Brücke ge zogen. Wenn sie dieselbe Route benutzten, würden sie auf die »Ecke« des Bataillons und damit auf die Bravo-Kompanie treffen.
Das Problem war die Fluggeschwindigkeit. Die Posleen bewegten sich mehr oder weniger wie Pferde und etwa genauso schnell. Des halb musste er entscheiden, wo sich die meisten von ihnen in vier oder fünf Minuten befinden würden, wie lange es dauerte, den Be fehl auszusenden und ihn in Feuerbefehle umzusetzen und dann die Artillerie oder die Mörser auf diesen Punkt schießen zu lassen – und nicht etwa auf die Stelle, wo sie sich gerade befanden. Das war ziemlich verzwickt, aber dafür bekam er auch mehr Geld als die anderen und brauchte nicht mehr an vorderster Front zu kämpfen. Im Augenblick sah es so aus, als würden sich die Gäule auf die Elmwood Avenue zubewegen, und deshalb konzentrierte er, nach dem er kurz jeden, der vielleicht gerade zuhörte, gebeten hatte, ihm eine glückliche Hand zu gewähren, sein gesamtes verfügbares Feuer auf PS 49.
Mike nahm zur Kenntnis, dass die Icons für Artillerieanforderung wechselten, und nickte. Gut gemacht, fand er, wahrscheinlich wür den sie einen ziemlich großen Prozentsatz der Angreifer erwischen. Aber trotzdem würden welche durchkommen, teils weil der Artille riebeschuss natürlich Lücken hatte und teils zu den Seiten. Um die würde Captain Slight sich kümmern müssen, und es war jetzt Zeit loszuziehen; die Feuerwalze vor ihnen setzte sich gerade wieder in Bewegung.
Captain Slight gab den Befehl zum Vorrücken weiter und konzen trierte sich dann wieder auf den Norden. Das Mörserfeuer nahm an Intensität zu, und die Posleen gaben sich alle Mühe, ihm zu entkom men. Irgendwo in der Nähe des Krankenhauses gab es einen Gott könig oder vielleicht auch mehrere, mit Verstand, und die trieben »ihre« Verbände nicht nur auf die Menschen zu, sondern trieben
auch die führerlose Masse von Normalen, die ihre Gottkönige verlo ren hatten, vor sich her. Das war so ähnlich, als würde man versu chen, Katzen wie eine Herde zu treiben; schließlich neigten Norma le, die nicht unmittelbar nach dem Tod ihrer Anführerkaste neu ge bunden wurden, dazu, chaotisch und unwillig zu werden. Aber in diesem Fall hatten die Ungebundenen gar keine andere Wahl, als geradewegs auf Bravo zuzurennen. Es fing an, als das Bataillon weiter vorrückte. Die meisten Unge bundenen mit schweren Waffen hatten diese fallen lassen, und der größte Teil des Feuers kam aus 1-mm-Railguns und Schrotflinten, was die Anzüge kaum zur Kenntnis nahmen. Unglücklicherweise gab es zwischen der Masse von Normalen freilich hin und wieder schon einen mit einer schweren 3-mm-Railgun, deren Geschoss, wenn der Posleen Glück hatte, einen Anzug durchdringen konnte, oder vielleicht auch mit einem HV-Werfer, der einen Anzug wie eine Walnuss knacken konnte. Und bei der Masse von gegen sie an rennenden Posleen hatten es die AIDs ganz schön schwer, diese her auszupicken. Dann war da noch das Problem, dass die Kompanie es sich nicht leisten konnte, die gewaltige Masse einfach zu ignorieren und sich auf die wesentlich gefährlicheren Kompanien dahinter zu konzen trieren. Jeder Einzelne dieser Zentauren trug einen monomolekula ren Boma-Säbel, und genügend Schläge mit dieser mörderischen Waffe konnten durchaus die Anzugintegrität zunichte machen; eine der größten Ängste jedes GKA-Soldaten war jedoch, von den Gäu len einfach niedergetrampelt zu werden. Und deshalb nahm die Kompanie die Lawine von Posleen unter Beschuss, die jetzt quer über die Trümmerfelder aus den engen Stra ßen auf sie zugerannt kam. Die Gravkarabiner aus Indowy-Produktion feuerten 3-mm-Tröpf chen aus abgereichertem, mit Karbon überzogenem Uran, die auf einen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurden. Die Karbonbeschichtung hatte man eingeführt, nachdem man festge
stellt hatte, dass die Urangeschosse bei Standardluftdruck zum »Schmelzen« neigten, aber das Karbon verhinderte nicht, dass sie ihre charakteristischen »Silberblitz«-Spuren von Plasmaentladung erzeugten. Außerdem verwandelte sich beim Auftreffen auf einen festen Gegenstand in Anbetracht ihrer relativistischen Geschwindig keit der größte Teil ihrer kinetischen Energie in eine gewaltige Ex plosion. So schlug der Welle von Posleen ein Sperrfeuer aus fast hundert silbern blitzenden Waffen entgegen und löste Wellen gewaltiger Ex plosionen aus, als die winzigen »Kugeln« urangespeistes Feuer aus lösten. Die erste Welle wurde von der Salve förmlich zerschmettert; und jeder Schuss, der sein Ziel verfehlte, traf die Reihen dahinter. In einer solchen Situation gegen Posleen zu kämpfen war oft mit dem Versuch verglichen worden, eine Lawine mit Feuerwehrschläu chen aufzuhalten, und genau das geschah auch hier. Solange die Bravo-Kompanie ihr Feuer aufrechterhielt, schaffte es keiner der Posleen, einen gezielten Schuss abzugeben, ehe das Sperrfeuer der Gravwaffen ihn hinwegfegte. Und nach einer Weile wurden sie vom kombinierten Haubitzen- und Mörserfeuer förmlich zermahlen … Doch für sie ging es nur darum, diesen tödlichen Streifen zu über queren, um ihr Ziel zu erreichen. Das Bataillon konnte nicht abwar ten, bis die Bravo-Kompanie sämtliche Posleen in der Umgebung des Krankenhauses getötet hatte. Selbst wenn das möglich gewesen wäre – und das war es vermutlich nicht –, war es ihre Aufgabe, den Brückenkopf zu nehmen und zu halten und dann zu warten, bis die Zehntausend eintrafen, um sie zu unterstützen. Bravo musste einfach vorrücken. Doch sobald sie das taten, setzten sie ihre Flanke dem feindlichen Feuer aus.
5 Rochester, New York, United States, Sol III 0633 EDT, 13. September 2014
Mike sah auf seine Monitore und beobachtete das Geschehen, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Das Schlimmste waren die Muniti onszähler. In diesem einen kurzen Gefecht hatte die Bravo-Kompa nie fünfzehn Prozent ihrer Munition verbraucht, und noch war kein Ende der vordrängenden Posleen zu erkennen. Dem Plan nach hat ten sie geordnet zur Zielposition vorrücken müssen, im Grunde ge nommen eine Art Hufeisen an der Genesee-Brücke, aber er war ziemlich sicher, dass das bereits durch die Luftschleuse war. Das Ausbleiben von Sperrfeuer und das eher sporadische Mörserfeuer, das an seine Stelle getreten war, bedeuteten, dass sie das alles durch Schnelligkeit würden ausgleichen müssen. Und genau das hatte er befürchtet, als er seinen Wortwechsel mit Horner gehabt hatte. Das Bataillon war weit auseinander gezogen – viel schlimmer konnte man es sich kaum vorstellen – und noch weit von seinem Ziel entfernt, dem Höhenkamm, der den Fluss über blickte. Wenn es ihnen nicht gelang, diesen Kamm einzunehmen und zu halten, konnten die Posleen den Brückenkopf und das Bataillon von oben nach Belieben unter Beschuss nehmen. Vom Tal aus hatten sie keine Chance, das Artilleriefeuer wirksam zu dirigieren und den Posleen nennenswerte Verluste zuzufügen, die diese auch spürten, geschweige denn ihren Kampfgeist zu brechen. Dafür würde das Bataillon, wenn die GKA schließlich ihre Position erreicht hatten, in
Sichtweite von buchstäblich Millionen Posleen kommen, Millionen von Posleen, die praktisch noch kein Blut gelassen hatten. Sie brauchten die gesamte Artillerie dort, um das Feuer der Posleen ein zudämmen und um eine Nebelwand aufzubauen, damit die Norma len nicht auf das Bataillon zielen konnten. Bis jetzt hatte das Gros des Bataillons sich relativ unbehindert bewegen können, was dem Feuer der »besseren« Artilleriebataillone zuzuschreiben war. Sobald das aufhörte, würden die Verluste schnell ansteigen. Aber da waren Zehntausende wirklich wütender Posleen, die jetzt anfingen, sich aus den Schuttbergen rings um das Krankenhaus her auszubuddeln, und sich anschickten, wie die Teufel über die BravoKompanie herzufallen. Die Bravo-Kompanie brauchte die gesamte Artillerie dort, um nicht überrannt zu werden. Wenn sie keinen Feu erschutz bekamen, und das schnell, waren sie in Kürze DosenThresh, und zwar schneller, als man »Corned Beef« sagen konnte. Die einzige Chance hieß jetzt Artillerie, die sie nicht bekommen würden – oder die Zehntausend opfern, wozu er nicht bereit war. Er verfügte einfach nicht über genügend Mittel, um seinen Auftrag zu erledigen. Mit anderen Worten: für den Krieg gegen die Posleen eine stin knormale Situation. »Duncan, die gesamte Artillerie nach Norden zum Schutz der Bra vo-Kompanie verlegen. Bataillon … auf Tenaral-Angriff vorberei ten.« Er tippte eine Anzahl imaginärer Knöpfe an, und die Szene fing an sich zu verändern. Wo die holographische Tarnung gerade noch die Anzüge vor dem Hintergrund hatte verschwinden lassen, wurden jetzt größere Versionen des Dämons sichtbar, der seinen ei genen Panzer zierte. Und während die Anzüge noch dabei waren, ihr Aussehen zu ändern, fingen sie an, ein elektrisches Schlagzeugs olo hinauszudröhnen. »Okay«, knurrte er. »Schluss mit den Spielchen. Treten wir den Gäulen in den Arsch.«
»Herrgott, Mike, so schlimm kann es doch nicht sein?«, flüsterte Horner, während die Anzüge in eine Art Hyperdrive schalteten. Alle hatten ihre Form und ihre Umrisse verändert, waren zu großen, dämonenhaften Kreaturen geworden und jagten jetzt die Anhöhe hinauf, legten vor sich einen Feuerteppich. Die silbernen Blitze ver bissen sich geradezu in das Terrain, fegten die vorderste Reihe Pos leen einfach weg, als diese auftauchten. Er blickte nach Norden, wo offenkundig war, dass die Kompanie dort ernsthafte Probleme hatte. Die Artillerie auf den Hügeln hatte das Feuer eingestellt, und daraus konnte er nur schließen, dass sie es nach Norden verlegte, um die Einheit dort zu unterstützen. Bis jetzt schien die Kompanie noch kei ne ernsthaften Verluste erlitten zu haben. Aber da war auch eine ge waltige Masse ungelenkter Normaler, die ihr entgegenstrebten, und wenn es nicht gelang, diesen Ansturm aufzuhalten, würden sie die belagerte Kompanie in Stücke hacken. O'Neal hatte ganz offenkun dig das schützende Artilleriefeuer vom Gros seiner Einheit abgezo gen, weil er glaubte, dass die Kompanie standhalten konnte. Horner war davon nicht so überzeugt; die GKA waren weit auseinander ge zogen und schrien nach seinem Gefühl geradezu danach, aufgerie ben zu werden. Vielleicht würden sie den Brückenkopf einnehmen und auch halten, aber so, wie es aussah, würde das den größten Teil des Bataillons kosten. Andererseits ging das Ganze auf den Befehl eines gewissen Gene ral Jack Homer zurück, und deshalb konnte er sich nicht gerade be klagen, wenn sie taten, was notwendig war, um den Einsatzbefehl zu erfüllen. »Wieder mal alles wie gehabt«, sagte Colonel Cutprice, der am an deren Fenster stand. »Ich werde nicht auf die Brücke warten. Das Erste Bataillon ist voll flugfähig; ich werde die jetzt sofort mit ihren Tenars zur Unterstützung der Bravo-Kompanie hinüberschicken und dann den Rest hinüberschaffen, um die Höhen zu halten. An dernfalls haben wir heute Abend ein Bataillon GKAs weniger.«
»Ich werde hinuntergehen und nachsehen, ob die Brücken schnel ler fertig werden, wenn man die Leute ein wenig anbrüllt«, sagte Horner mit einem Lächeln, was bei ihm meist ein Stirnrunzeln er setzte. »Und rauskriegen, warum die Boote nicht schon fertig sind.« »Das wäre nett«, meinte Cutprice mit fast gelangweilt klingender Stimme. »Eine Weile wird's dort drüben ziemlich einsam werden.« »Aber klar, wäre ja nichts Neues, oder, Sir?«, fragte Sergeant Major Wacleva. »Ich hol meinen Körperpanzer.« Horner sah zu dem Colonel hinüber und lächelte wieder, freilich verkniffen. »Meinen Sie wirklich, dass das eine gute Idee ist, Colo nel? An vorderster Front führen ist etwas für Sergeants, nicht für Colonels.« »Wenn die Alternative ist, von der anderen Flussseite zuzusehen, wie die GKA hingemetzelt werden, General?«, fragte Cutprice, zog eine Zigarre heraus und entzündete sie bedächtig. »Yeah, ich finde das eine grandiose Idee.« Er blickte nach Osten, wo ziemlich schnell ein Schatten, der wie eine Wolke aussah, heranrückte, und runzelte die Stirn. »Ah, ja«, meinte er dann. »Gerade rechtzeitig. Wäre ja keine richtig versaute Schlacht ohne einen Fünfprozenter.« Homer blickte nach Osten und sah dann auf. »Nun, damit zumin dest werden wir fertig.« Er tippte sein AID an und deutete zum Fenster hinaus. »Nag, sag SheVa Dreiundzwanzig und Zweiund vierzig, sie sollen sich um den Lamprey kümmern, der da angeflo gen kommt.« »Colonel, erinnern Sie sich, worüber wir neulich gesprochen ha ben?«, fragte Sergeant Major Wacleva, der gerade mit zwei Körper panzern wieder zurückkam. »Was denn?« »Na, Sie wissen schon, ›wann weiß man, dass es wirklich dreckig wird‹?« »Sicher.«
»Also, wenn es wirklich dreckig wird, tauchen die Zehntausend auf. Und wenn es dann noch schlimmer kommt, die GKA. Und wenn es ganz, richtig und echt dreckig ist, dann kommt General Horner. Aber der absolute Höhepunkt von dreckig ist, wenn zwei SheVas erscheinen.«
Attenrenalslar war ein Posleen von der Art, die die Menschen einen »Fünfprozenter« nannten. Fünfundneunzig Prozent der PosleenGottkönige begriffen nur die allereinfachsten Handlungsmaxime: essen, sich fortpflanzen, kämpfen, Territorium besetzen – und das Ganze bis zum Tode wiederholen. Aber jene anderen fünf Prozent waren in mancher Hinsicht problematischer als die restlichen fünf undneunzig. Die »Fünfprozenter« waren diejenigen, die scheinbar völlig willkürlich die Frequenzen der Menschen störten, aber wie es schien, jedes Mal zum ungünstigsten Zeitpunkt. Fünfprozenter übernahmen gelegentlich ein ganzes Feuerleitnetz und bereiteten damit allen die größten Schwierigkeiten. Fünfprozenter waren es, die Gruppen von Posleen organisierten und dazu veranlassten, bei nahe abgestimmt zu handeln. Und Fünfprozenter waren es auch, die ihre Lampreys und Kommando-Dodekaeder als fliegende, mobile Einheiten einsetzten. Einer der Albträume, die O'Neal gelegentlich heimsuchten, war, dass jemand alle Fünfprozenter zu einer einzigen Einheit zusam menfügen würde. Im Augenblick freilich war Attenrenalslar einer der ganz wenigen Gottkönige, der zu dem Schluss gelangt war, dass man den Gang der Schlacht am besten wenden konnte, wenn er mit seinem Landungsfahrzeug auf die andere Flussseite flog und die Menschen von hinten angriff. Vielleicht war er der Einzige; in letzter Zeit hatte es immer weniger »mobile Flugeinsätze« der Posleen ge geben. Zu Anfang des Krieges war das eine Taktik gewesen, die den Er folg fast garantierte. Die Menschen verfügten über wenige Waffen,
die einem Lander gewachsen waren, und solange sie unter dem Ho rizont eines der wenigen verbliebenen planetarischen Verteidi gungszentren blieben, hatten die Menschen fast keine andere Wahl, als abzuwarten, bis sie landeten, ehe sie eine echte Chance erhielten, die Posleen in dem Lander anzugreifen. Da die Lander auch mit Waffen für den Nahkampf ausgestattet waren – ganz zu schweigen von ihrer weltraumtauglichen Bewaffnung, die es ihnen ermöglich te, mit einem Schlag ein ganzes Bataillon zu vernichten –, gab es nichts, was sie daran gehindert hätte, Einheiten im Bodenkampf an zugreifen. Das Wunder war eigentlich, dass die Posleen sie nicht die ganze Zeit einsetzten. Aber das war eine Schwäche, die bereits erkannt worden war, noch ehe der Feind die erste Landeoperation durchgeführt hatte; Mike O'Neals erste Medal of Honor rührte daher, dass er praktisch im Alleingang ein Kommandoschiff vernichtet hatte. Aber die Me thode, derer er sich bedient hatte, galt nicht als empfehlenswert: die Überlebenschance war gleich null. Bei der ersten größeren Erdlandung war es einem Schlachtschiff allem Anschein nach freilich eher per Zufall gelungen, einen Lam prey zu vernichten. Und aus diesem Zufall war das Konzept der SheVa-Kanone entstanden, einer Missgeburt von Waffensystem, wie sie nur in wirklich schrecklichen Kriegen zustande kommt. Benannt war das Waffensystem nach der Shenandoah-Valley-In dustrieplanungskommission, der Gruppe, die zuerst die diversen Konstruktionsprobleme des neuen Systems gelöst hatte; die Mehr zahl der Komponenten der gewaltigen Konstruktion stammte aus dem Roanoke-Eisenwerk. Die Grundzüge der Waffe waren die Einfachheit selbst. Es handel te sich schlicht und einfach um ein sechzehnzölliges GlattrohrSchiffsgeschütz. Da es gelegentlich darauf ankam, mit besonders ho her Schussfolge feuern zu können, hatte man die übliche Lademe thode für Sechzehnzöller, nämlich »Sack und Granate«, bei der ein über fünfhundert Kilo schweres Geschoss und zwanzig Kilo schwe
re Pulversäcke geladen wurden, durch eine einfache Granate von der Größe eines kleinen Marschflugkörpers ersetzt. Das SheVa-Ge schütz führte als »Standardladung« acht solche Projektile mit sich, zusätzlich beförderte ein Sattelschleppergespann zwei »Viererpacks«, die ein Nachladen in weniger als zehn Minuten er möglichten. Die Geschütze verfeuerten gewöhnlich Normalmuniti on, außerdem standen aber stets zwei Sattelschleppzüge bereit, die mit Spezialmunition beladen waren, darunter auch Sensorund Anti materie-Gefechtsfeldwaffen. Die übrigen Vorgaben verlangten, dass ein SheVa von zwei Grad unter der Horizontalen bis neunzig Grad darüber aus einem drehba ren Geschützturm feuern konnte und auch uneingeschränkt mobil war. Diese Kombination von Eigenschaften hatte schließlich fast alle Konstruktionsteams das Handtuch werfen lassen. Bis sich die »good old boys« von der Shenandoah der Sache angenommen und erklärt hatten, diese Vorgaben bedeuteten einfach, dass das Geschütz grö ßer sein musste, als irgendjemand bis zu dieser Stunde zuzugeben bereit war. Die Monstrosität, die schließlich herausgekommen war, war ein Hohn auf die gesamte herkömmliche Ingenieurskunst. Das Unterge stell war beinahe hundert Meter lang, mit zwei fünfzig Meter brei ten Raupenketten beiderseits, die von vier Stockwerke hohen Rä dern getragen wurden. Das »Geschütz« ruhte auf Stoßdämpfern von der Größe eines kleinen Unterseeboots und war auch nach ähnli chen Prinzipien konstruiert. Der drehbare Turm war zwei Stockwer ke dick und vermittels einer Explosionsschweißtechnik aus mehreren Teilen »zusammengeschweißt« und durchmaß beinahe fünfzig Me ter. Das Oberdeck bestand aus einer sechszölligen Stahlplatte, nicht so sehr aus Gründen der Schutzpanzerung, sondern weil sich alles andere beim Abschuss des Geschützes verbogen hätte. Als die Konstruktion beinahe fertig gestellt war, lag auf der Hand, welche Energiequelle in Frage kam; in den ganzen Vereinigten Staa ten gab es nicht genug Dieseltreibstoff, um diese Geschütze zu be wegen. Andererseits verfügte Kanada über reichliche Vorräte an
Pechblende, die sich noch dazu nördlich der Temperaturgrenze be fanden, die die Posleen vorzogen. Also Atomkraft … Freilich schien es ziemlich unvernünftig, eine große »Reaktorkon trollmannschaft« an Bord zu bringen. Schließlich »borgten« sie sich eine südafrikanische Konstruktion für ein einfaches und praktisch narrensicheres atomgetriebenes Fahrzeug aus, die sich »Kiesel-Bett Helium«-Reaktor nannte. In dem System waren – als Medium für den Temperaturtransfer – mehrere Schichten von »Kieseln« einge setzt, die automatisch die Reaktion milderten, so wie Helium, das keine Strahlung aufnehmen und deshalb auch nicht freigeben konn te. Selbst wenn der Kühlkreislauf völlig offen war, also Helium an die Umgebung abgab, würde weder Strahlung freigesetzt noch ein »Meltdown« des Reaktors stattfinden. Falls es freilich zu einem di rekten Treffer des Reaktors kam, würde überall »heißes« Uran her umgespritzt werden; davon abgesehen gab es allerdings keine Pro bleme; gegen das »China-Syndrom« war das System also jedenfalls absolut gefeit. Kontrollzentrum und Mannschaftskabine befanden sich unter dem Monstrum und hatten die Größe eines kleinen Wohnanhängers. Das Waffensystem brauchte keine große Bedienungsmannschaft; tat sächlich reichte sogar eine Person aus, um das System zu betreiben. Die Konstrukteure gingen von einer dreiköpfigen Besatzung aus und entschieden sich schließlich für ein kleines, massiv gepanzertes Kommandozentrum. Die Monstrosität verfügte jedoch über so viel Energie und auch genügend Platz, dass sie die Konstruktion schließ lich ausweiteten und am Ende einen Mannschaftsraum vorsahen, der es der Besatzung erlaubte, völlig unabhängig von ihrer Umge bung zu leben. Und weil sie gerade in Fahrt waren, fügten sie noch ein recht inter essantes Evakuierungsfahrzeug hinzu. Als daher die Besatzungen von SheVa Zweiundvierzig und Drei undzwanzig erfuhren, dass ein Lander unterwegs war, legten sie ihre Spielkarten und Gameboys weg und gingen zur Sache.
»Hier Zweiundvierzig, General«, sagte Lieutenant Colonel Tho mas Wagoner. Zweiundvierzig war ein nagelneues SheVa, das neueste, bis es ein »Dreiundvierzig«-Geschütz gab. Und Lieutenant Colonel Thomas Wagoner war ein nagelneuer SheVa-Kommandant. Er war gerade gegen lautstarke Proteste versetzt worden, nachdem er zuerst ein Panzerbataillon befehligt hatte, und hatte noch einige Mühe, sich wieder daran zu gewöhnen, bloß ein schlichter Panzer kommandant zu sein, auch wenn die Bezeichnung anders lautete. Aber er war sich weiß Gott ziemlich sicher, dass er immer noch wusste, wie man mit einem Panzer umging. »Wir kommen.« »Okay, Jungs, Tarnung ablegen; Zeit, denen die Hölle heiß zu ma chen.«
Duncan spürte ein leichtes Poltern unter dem Hosenboden und kon figurierte seinen Sichtbereich neu, »schwang« ihn westwärts. Die Überreste von West Rochester zitterten, als ob die Stadt von einem kleinen, aber hartnäckigen Erdbeben erfasst worden wäre, und er sah, wie sich ein paar Gesteinsbrocken von dem Hügel lösten, auf dem er sich befand. Als sein Sichtfeld schließlich im Westen ange langt war, konnte er erkennen, woran das lag. Hinter ihm, etwa sechs Kilometer entfernt auf der Südseite des Ka nals, brach ein seltsam geformter Hügel auseinander. Als der grünli che Schaumstoff herunterfiel, wurden die gewaltigen Konturen ei nes SheVaGeschützes sichtbar. Das Ding war einfach hässlich. Es gab kein anderes Wort, um es zu beschreiben. Der Bastard von einem Geschütz brauchte eine Art Kranausleger, um sicherzustellen, dass das Rohr sich nicht durch bog, und die massive Konstruktion des ganzen Systems ließ für Schönheit einfach keinen Platz. Vergleichbar einem Löffelbagger oder auch einer Bohrplattform, den einzigen Gegenständen, die es vor dem SheVa in dieser Größenordnung gegeben hatte, war es rei ne Funktion.
Es fiel schwer, sich eine Vorstellung von den Größenverhältnissen der Geschütze zu machen, bis einem klar wurde, dass die winzigen Ameisen, die daneben herumwuselten, nicht einmal Menschen, son dern LKWs waren. Er schüttelte den Kopf, als das Ding zunächst hin und her schwenkte, um all die kleinen »Quetschis« zu warnen, dass es sich zu manövrieren anschickte, und dann eine kleine Moräne hinauf fuhr und dabei eine Fabrik zerquetschte. »Scheiß Angeber«, murmelte Duncan und blickte wieder nach Os ten.
»Zweiundvierzig«, rief der Kommandant von SheVa Dreiundzwan zig, »bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir zwei weitere Startsignatu ren haben, darunter auch einen K-Dek.« »Verstanden«, bestätigte Colonel Wagoner. Er hatte die Absicht, die Moräne als Deckung zu nutzen, bis sie den Lamprey aus gedeck ter Stellung aufs Korn nehmen konnten. Das Problem bei SheVa-Ge schützen war, dass »gedeckte Stellung« im Allgemeinen so etwas wie ein kleines Flusstal erforderte; aber mehr als die Moräne würde er nicht bekommen. Doch wenn die beiden anderen Schiffe aufstiegen, würden sie Zweiundvierzig aus dem Norden bestreichen können. Die Frage war deshalb, ob er sie unmittelbar unter Beschuss nehmen sollte, so bald sie siehtbar wurden, oder erst nach dem Lamprey, der ihnen voranflog. »Sergeant Darden«, rief er dem Fahrer zu. »Bringen Sie uns zur Südseite der Moräne, mit dem Geschütz etwa vierzig Grad zur Hangneigung. Wir nehmen uns zuerst den Lamprey vor und dann, hinter dem Hang, die anderen.« Er schaltete auf die SheVa-Frequenz und sah sich die Gefechtsfelddarstellung an. »Dreiundzwanzig, be reithalten zum Abmarsch Wir kümmern uns um den ersten Lam
prey, übernehmt ihr den, der dahinter kommt. Und dann kümmern wir uns beide um Nummer drei.« »Verstanden, Sir«, meldete das zweite Geschütz zurück. »Höchste Zeit, diesen GKA-Muschis zu zeigen, was ›Heavy Metal‹ wirklich bedeutet.«
Duncan seufzte bloß, als der Boden unter ihm wirklich zu zittern be gann. Der Sekundärschirm zeigte, wie ein weiterer Hügel – dieser war nicht ganz so kunstvoll; es gab Gebäude, die aus ihm ragten – in Stücke ging, als das zweite SheVa in Aktion trat und sein von dem Kranausleger getragenes Geschützrohr nach Osten richtete. Plötzlich wurde Duncan bewusst, dass das Geschütz nicht sonder lich hoch in den Himmel zeigte. Er sah genauer hin, blickte dann auf das wahrscheinliche Ziel und hatte gerade noch genug Zeit, um zu sagen: »Du große Scheiße«, ehe das Geschütz feuerte.
Die SheVa-Geschütze benutzten Ladungen, die der »Maximalla dung« eines sechzehnzölligen Schiffsgeschützes entsprachen. Das ei gentliche Geschoss freilich war ein so genannter KE-Penetrator, ein »Pfeil« aus abgereichertem Uran, den eine thermoplastische Hülle, ein so genannter »Treibkäfig« umhüllte. Dieser »Pfeil« hatte infolge seiner hohen Materialdichte so viel kinetische Energie (KE – daher KE-Penetrator), dass er selbst schwere Panzerungen einfach »durch schmelzen« konnte. Das Geschützrohr war nicht mit Zügen versehen, die dem Projektil einen Drall verliehen, dafür aber auch seine Fluggeschwindigkeit nachteilig beeinflussten, sondern mit einem Glattrohr. Allerdings hatte das Rohr fast die dreifache Länge eines Schiffsgeschützes des gleichen Kalibers und ermöglichte es daher, dass dem Geschoss von der Ladung viel mehr Energie mitgeteilt wurde.
Da die Fluggeschwindigkeit eines Geschosses eine Funktion aus der übermittelten Energie, dem Geschossgewicht und der Rohrver zögerung ist, trat das Geschoss mit einer Geschwindigkeit aus dem Rohr aus, wie sie gewöhnlich nur von Weltraumfahrzeugen erreicht wird. Der »Käfig« aus Plastik fiel nach einem knappen Kilometer ab, und dann blieb nur eine zugespitzte Uranstange von zwanzig Zenti meter Dicke und einem Meter achtzig Länge übrig, die hinten mit Wolfram»Flossen« ausgestattet war, um den Flug zu stabilisieren – einen recht beachtlichen Flug übrigens, das Geschoss legte die zwanzig Kilometer bis zum Ziel in nicht ganz zwei Sekunden zu rück und hinterließ dabei eine silberne Feuerspur. Aber Geschwin digkeit und Zerstörungskraft von solchen Ausmaßen gibt es nicht ohne ein paar kleinere Sekundäreffekte. Duncan krallte die Plastahl-Finger seines Anzugs in das Gestein, als ihn der Orkan traf. Der Überschallknall, der in dem Krankenhaus unten am Fuße des Hügels Fensterscheiben und sogar Wände auf platzen ließ, wirkte fast so, als ob er dem Orkan erst nachträglich eingefallen wäre. Und dieser Wind von der Geschwindigkeit eines Tornados riss und zerrte an Gebäuden und Menschen in ganz Ro chester, fetzte Dächer herunter, brachte Mauern zum Einsturz, kipp te LKWs um und schleuderte Soldaten herum wie Spielzeugfiguren. Doch gleichgültig, wie ausgeprägt die Sekundäreffekte auch gewe sen sein mochten, der Primäreffekt war wesentlich spektakulärer. Allein schon der kinetische Aufprall konnte gewöhnlich einen Lam prey oder sogar einen K-Dek zerstören – und wenn die Geschosse nicht explodierten, durchstießen sie einfach ihr Ziel, drangen auf der einen Seite in das Schiff ein und kamen auf der anderen wieder her aus. Aber mit »gewöhnlich« hatten sich die Konstrukteure der She Va-Geschütze nicht zufrieden gegeben. Und deshalb enthielt der Kern eines SheVa-Geschosses eine kleine Antimaterieladung. Nur etwa das Äquivalent einer 10-Kilotonnen-Atombombe.
Der ganze Effekt, den das in das Schiff eindringende Geschoss er zeugte, wurde von dem Schwall aus silbernem Feuer überlagert, das aus jeder Öffnung schoss. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde der K-Dek ganz bleiben, aber dann stob er in einem sich wie eine Blüte ausdehnenden Feuerschwall auseinander, der die Posleen im Umkreis einer Viertelmeile verschlang. Stücke von der Größe ei nes Autos flogen bis zur menschlichen Front, und kleinere, etwa fußballgroße Fragmente gingen rings um Duncan nieder. »Angeber«, murmelte Duncan und wischte sich den Staub ab. Er nahm ein Stück von dem Lamprey, der auf der Hügelkuppe gelan det war, und warf es in die Luft. »Na klar, mit dem richtigen Gerät ist das ein Kinderspiel. Ihr solltet nur mal versuchen, das mit einem Anzug zu schaffen.« »Ziel«, sagte Dreiundzwanzig. »Sie sind dran, Colonel.« »Richtig«, bestätigte Wagoner. »Seht beim nächsten Mal zu, dass ihr etwas höher trefft; die Sekundärwirkung hat das ganze Korps aufgewirbelt.« »Quetschis«, rief Dreiundzwanzig. »Was kann man da sagen?« »›Yes, Sir‹, beispielsweise«, meinte Wagoner. »Und gehen Sie in Deckung.« »Yes, Sir.« »Zweiundvierzig, Ende.« Er tippte an einen Schalter und nickte, als der Turm einrastete. Die Ziellinie war errechnet, potenzielle Se kundärschäden registriert. Sie würden über das Korps hinwegfeu ern, aber nicht so nahe beim Krankenhaus, wie dieser Idiot in Drei undzwanzig. Und sie würden wenigstens dreihundert Meter höher liegen. Der Schaden sollte minimal sein. »Zweiundvierzig, bereit machen zum Abschuss«, befahl er dann über das Interkom. »Ziel in drei, zwei, eins …«
Attenrenalslar fluchte, als das die Nachhut bildende Kommando schiff explodierte, und fing an, seinen Lamprey hin und her pendeln zu lassen, in der Hoffnung, damit diesen dreimal verfluchten Waf fen das Zielen zu erschweren. Das Fahrzeug, das das Kommandoschiff vernichtet hatte, war be reits hinter einem der kleinen Berge verschwunden, die diese Ebene übersäten, und er war sicher, dass die Instrumente einen Augenblick lang ein zweites entdeckt hatten. Aber die verfluchte Technik der Alldenata zu entziffern war eine Aufgabe für die, die das studiert hatten; die meisten Icons waren ihm völlig fremd. »Kommt doch raus«, flüsterte er und strich wie liebkosend über den Auslöser einer Waffe, die auf die ferne Hügelkuppe gerichtet war. »Komm doch raus, kleiner Abat, und sieh, was Attenrenalslar für dich bereithält …«
»Der Scheißkerl manövriert, Colonel«, rief Sergeant Pritchett. Der Geschützführer schaltete das SheVa-Geschütz auf Vollautomatik, als der Lamprey sichtbar wurde, und presste den Feuerschalter. »Zie lerfassung.« Der Millimeterwellenradar »markierte« das Ziel und verglich es mit den im System gespeicherten elektronischen Bildern von diver sem Posleen-Gerät. Der Bordcomputer bestätigte, dass es sich tat sächlich um einen Lancier handelte, und als auf die Frage »Identifi zieren, Freund oder Feind« keine Reaktion kam, zeigte er an, dass dies in der Tat ein zulässiges Ziel war. Dann jagte die Zielautomatik einen Laserstrahl durch das Rohr, stellte sicher, dass dieses sich in gutem Zustand für den nächsten Schuss befand, und fragte anschlie ßend die Sensoren der Tragestruktur draußen ab, um sich zu verge wissern, dass alle vorgesehenen Stützen und Träger einwandfrei funktionierten. Zuletzt berechnete es etwaigen Rohrverschleiß, die Zahl der durch dieses Rohr verschossenen Geschosse, die Lufttem
peratur und eine Unzahl weiterer Variablen, um eine passende Schießleistung zu bekommen. Nebenbei registrierte das System, dass das Zielobjekt langsam ma növrierte. Aber wenn die Zielentfernung weniger als zehn Kilometer beträgt und das Geschoss mit 2.500 m/sec durch die Luft fliegt, sind das weniger als vier Sekunden Bewegung seitens des Ziels. Und es war ein gewaaaltiges Ziel.
»Fuscirto uut«, knurrte Attenrenalslar. »Das sind ja zwei.« Es war unwahrscheinlich, dass die Sekundärwaffen diesem Ding etwas an haben konnten; es war so groß wie ein Oolt'pos. Trotzdem versuchte er das Schiff seitlich etwas abzukippen, um eine Plasmakanone ein setzen zu können.
»Kommt!«, rief Pritchett, als die ganze Welt rot wurde. Das Geschütz verbrauchte für einen Schuss mehr Energie als eine ganze Panzerbrigade, und obwohl es massiv verstärkt war und die Plattform die Größe eines Bohrturms hatte, brachte der Rückstoß doch das ganze Monstrum zum Schwanken, so, wie ein Terrier, der eine Ratte schüttelt. Aber noch ehe das letzte Grollen verhallt war, hatte Darden den Rückwärtsgang eingelegt, und Pritchett sorgte dafür, dass der auto matische Ladevorgang korrekt ablief. »Ziel!«, rief Colonel Wagoner in einem Tonfall, der erkennen ließ, dass er recht zufrieden war. »Also das nenne ich draufhämmern.« Vielleicht würde er sich doch daran gewöhnen, wieder Panzerkom mandant zu sein.
Mike nickte grimmig hinter seiner undurchsichtigen Gesichtsplatte, als er sah, wie die Druckwelle Posleen in den Abgrund fegte. »Wäre schön, wenn wir davon ein bisschen zu Slight hinüberkriegen könn ten.« Das Bataillon hatte die tausend Meter bis zur Kammhöhe in nicht einmal sechzig Sekunden zurückgelegt, lange genug für die PosleenLander, um zu reagieren und ihrerseits von den SheVa-Geschützen, die Horner bestellt hatte, neutralisiert zu werden. In dem Kessel be fanden sich vor gar nicht langer Zeit ein paar tausend Posleen. Die meisten davon waren von dem Artilleriebeschuss noch benommen gewesen, aber eine ganze Anzahl von ihnen hatte sich gewehrt. Überlebt hatten keine. Jetzt befanden sich die Posleen unmittelbar unter der Kammlinie an dem Punkt, den man den »Militärkamm« nennt. Wahrscheinlich hatte das atomare Feuer ein ziemliches Loch in die Posleen oben auf der Anhöhe gerissen, und deshalb war jetzt zweifellos für die GKA der Zeitpunkt gekommen, sich ihr Geld zu verdienen. Mike tippte einen Schalter an, und das ganze Bataillon machte einen Satz an den Rand der natürlichen Brüstung. Wahrscheinlich würden sie nicht weiter vorrücken, und so, wie der Kamm aussah, würde es nicht einmal notwendig sein, sich einzugraben. Nachdem er sich verge wissert hatte, dass das der Fall war, hob er seinen Hauptkarabiner an und lugte durch das Sensorsystem. »Scheiße«, flüsterte er dann. Beim ersten Blick auf das Geschehen im Tal dahinter waren seine sämtlichen Anzeigen blutrot geworden, und er brauchte bloß auf natürliche Sicht zu schalten, um zu erken nen, was dort wirklich los war, als das ganze Bataillon das Feuer er öffnete.
Von seinem Standort aus hatte Horner einige der Einheiten hinter dem Kamm sehen können, aber das Bild, das die GKA-Sensorik ihm übermittelte, führte dazu, dass sein Magen sich verkrampfte; so weit
das Auge reichte, war da eine wogende Masse von Posleen zu er kennen. Nach früheren Schätzungen waren es etwa vier Millionen gewesen; der hier erkennbaren Dichte nach zu schließen und unter der Annahme, dass die Horde sich vier Meilen weiter außer Sicht weite erstreckte, berechnete Little Nag sie auf über vierzig Millio nen.
»Das geht doch nicht, das geht doch nicht …«, hörte Mike. Die Schaltung war so, dass das ganze Bataillon mithören konnte, und er fing Bruchstücke eines Gesprächs auf. Die Anzüge waren an der Hügelkuppe in Deckung, und nur ihre Karabiner ragten über den Kamm. Aber eine Plasmakanone oder ein HV-Geschoss, das von der anderen Talseite aus abgefeuert wurde, konnte auch den Boden auf reißen, und dann reichten ein paar Treffer aus … und im Übrigen waren es so viele Posleen, dass einige es mit Sicherheit quer durch das Feuer schaffen würden. Und wenn die Posleen einmal im Nah kampfbereich waren, konnten ihre Boma-Säbel jede Panzerung durchschneiden. Ganz zu schweigen von Geschützen und Railguns auf kurze Distanz. »Ruhig bleiben«, sagte Mike. Er hatte den unangenehmen Anblick abgeschaltet und wieder die Schemadarstellung aufgerufen. Die be sagte das Gleiche, aber der Anblick ging einem nicht so unter die Haut. »Ganz ruhig bleiben, die Waffen hübsch unten lassen.« Er sah auf seine Displays und schmunzelte. »Der Vorteil an dem Ganzen ist, dass selbst wir sie nicht verfehlen können.« Wegen der Automa tisierung der Systeme und der Tatsache, dass die Anzüge so kon struiert waren, »Feuer zu speien«, war es geradezu ein Glaubensbe kenntnis der konventionellen Kräfte, dass GKA auf zehn Meter Di stanz nicht einmal eine Scheunenwand trafen. »Major«, sagte Captain Holder. »Die nehmen uns im Norden von der Flanke. Die haben das gar nicht vor, aber sie werden einfach ge schoben.«
»Das ist mir bewusst, Captain«, sagte O'Neal ruhig. Die Zahlen für die Bravo sahen nicht gut aus. Ihr Abstand war doppelt so groß wie üblich, und das bedeutete halben Feuerdruck im Vergleich zum Ba taillon. Und im Angesicht von vierzig Millionen Posleen schien die Feuerkraft des Bataillons jämmerlich unzulänglich. Außerdem hatte Bravo bereits vierzig Prozent der Bordmunition verbraucht. »Dun can, sämtliches verfügbare Feuer vor die Bravo-Kompanie.« »Und was ist mit uns, Sir?«, fragte Captain Holder. »Tja«, antwortete Mike, »wir werden wohl all die Posleen hier al lein erledigen müssen.« »Aber wir sind am richtigen Ort«, flüsterte Mike im Selbstge spräch. Shelly übertrug das nicht ins Funknetz. »Wir haben die Hö hen, wir haben die Position und zumindest eine Flanke ist sicher. Wir können es schaffen. Wir müssen bloß durchhalten.« Die Mehrzahl der Posleen, etwa auf eine Tiefe von einem halben Kilometer vor Alpha und Charlie, waren bei der Explosion des zweiten Landers getötet worden. Aber diese Zone der Toten füllte sich schnell wieder durch den gewaltigen Druck von hinten. Die Posleen rückten schnell, hart und blind vor, wie das für sie normal war, stürmten mitten ins Feuer der Menschen hinein. Aber diesmal waren es so viele, dass diese Taktik vielleicht Erfolg haben könnte. Mike hatte Szenarien durchgespielt, die etwa so schlimm wie diese waren, und »gewonnen«. Das heißt, ein Teil seiner Truppen hatte überlebt und lange genug durchgehalten, so dass die, die hinter ih nen kamen, Zeit hatten, in Stellung zu gehen. Aber in diesem Fall verfügte er über keine Artillerieunterstützung, und das Bataillon war zu weit verstreut. Er brauchte nicht lange, um ihre Überle benschancen zu berechnen. »Gering bis nicht vorhanden«, murmelte er. »Bataillon«, rief er. »Alle Einheiten schießen Sperrfeuer, die Scharf schützen konzentrieren sich auf die Gottkönige. Bravo, ihr müsst eure Ecke ein Stückchen zurücknehmen. Alle Sensenmänner aus sämtlichen Kompanien: an die Ecke und eingraben. Sämtliche Sani
täter und Techniker sind soeben Munitionsträger geworden; fangt an, Munition und Energiepacks nach vorne zu bringen. Und bringt die Flechette-Kanonen der Sensenmänner; ich glaube, das gibt hier am Ende einigen Nahkampf.« Er kaute seinen Priem und spuckte, als das erste HV-Geschoss über ihm hinwegflog. Er hätte schwören können, dass er im Laufe der letzten fünf Jahre seinen ganzen Fun dus an motivierenden Sprüchen aufgebraucht hatte, die in solchen Augenblicken eingesetzt werden konnten. »Ich kann meine Stiefel nicht ausziehen, um meine Zehen zu zählen, aber wenn wir diesmal gewinnen, dann glaube ich, gibt das einen Eintrag im Guinness buch.«
6 Rochester, New York, Sol III 0817 EDT, 13. September 2014
Staff Sergeant Thomas (»Little Tommy«) Sunday wurde bewusst, dass ihm dieser ganze Mist einfach zu viel Spaß machte. Er trat von der seitlich an dem Tenar befestigten Plattform und schoss einen der Posleen in den Kopf. Das Normale hatte an einem zerschossenen Panzeranzug herumgehackt, der den Ufergrat zierte. Die Halterung für den Gravkarabiner des Anzugs war abgerissen, und Sunday konnte nicht erkennen, ob der GKA-Soldat versucht hatte, mit direkter Sicht zu kämpfen, oder ob er von einem der Pos leen im Nahkampf getötet worden war. Jedenfalls schien ihm dieser Standort gerade richtig, um von hier aus selbst ein paar Posleen zu erledigen. Er griff in den Tenar, nahm sich eine knapp hundert Kilo schwere Battle Box und marschierte dann den Hügel hinauf, feuerte seine zehn Kilo schwere Railgun mit einer Hand auf jeden Posleen ab, der den Kopf über die Bodenerhebung schob. Thomas Sunday junior war an seinem siebzehnten Geburtstag in die Landstreitkräfte der Vereinigten Staaten eingetreten. Inzwischen war er zu einem Spiegelbild seines Vaters herangewachsen, einem hünenhaften Footballspieler, und »Little Tommy« war jetzt in Strümpfen zwei Meter groß und wog fast hundertdreißig Kilo. Sein siebzehnter Geburtstag war vier Monate nach dem Fall seiner Hei matstadt Fredericksburg, Virginia, gewesen.
Seit Fredericksburg empfanden die Posleen gesunden Respekt für die Burg mit den zwei Türmen, die das Symbol der Kampfpioniere war. Thomas Sunday hatte die Ruinen der Stadt mit einer Freundin und schrecklichen Erinnerungen verlassen. Von den Menschen, mit denen er aufgewachsen war, lebten nur noch vier; von den Verteidigern von Fredericksburg, Menschen, die mit der Waffe in der Hand gekämpft hatten, war er einer von nur fünf Lebenden, und die Zahl schloss seine Freundin ein. Kein einziger Angehöriger der Miliz. Kein einziger Freund, nur ein paar Bekannte. Seine Mutter und seine Schwester hatten in dem Schutzraum überlebt und wohnten jetzt in einer SubUrb im ländli chen Kentucky. Alle anderen waren tot. Sie waren einfach weg, vom Angesicht der Erde weggewischt, als hätten sie nie existiert. Die Posleen verspürten seitdem Respekt für Pioniere und im wei teren Sinne alle Menschen. Little Tommy hatte Erinnerungen. Und den glühenden Drang, Posleen zu töten. Das tat er jetzt, legte sich hin, schmiegte sich an den zerstörten Kampfanzug, um bessere Deckung zu haben, und schob den Kopf über den Kammrand, um sich zu orientieren. »Mann, ich muss einfach Versetzung beantragen«, murmelte er. Der Hang unter ihm war mit toten Posleen bedeckt. Freilich, es gab noch Millionen, die zu töten waren, aber die GKA mussten al lein fast eine Million erledigt haben, und im Augenblick hatten die Überlebenden es verdammt schwer, über all die Leichen den Ab hang heraufzukommen. Vom höchsten Punkt bis hinunter ins Tal war mindestens einen Kilometer weit keinerlei Boden zu sehen. Jeder Quadratzentimeter war mit Leichen bedeckt, teilweise zwei, drei oder vier übereinander. Und Sunday konnte erkennen, dass nur ganz wenig davon dem Artilleriefeuer zuzuschreiben war; Posleen, die von Artillerie getroffen waren, waren viel schlimmer zugerich tet.
Er setzte seine Railgun auf ein Stativ, schaltete sie auf Automatik und klappte dann die Battle Box auf. Sie enthielt vier Behälter mit Munition und ein Dutzend Batterien sowie eine zweite Railgun, die er neben der ersten aufbaute. Dann koppelte er die Munitionsbehäl ter aneinander, koppelte je zwei davon an die Railguns an und schaltete die Batterien hintereinander. Als das getan war, nahm er seine persönliche Waffe vom Rücken – eine 7.62 Advanced Infantry Weapon, deren ursprünglicher Lauf ausgetauscht worden war – und stellte seine Schießbrille scharf. »Und jetzt wird's lustig.« Er schmunzelte. Geduckt rannte er ein paar Meter den Abhang hinunter und ver gewisserte sich, dass der Rest seiner Abteilung die Waffen in Stel lung gebracht hatte. Jeder von ihnen war mit einer Railgun bewaff net, und jedes Dreierteam hantierte mit einer Battle Box. Dann gaben zwei davon dem Dritten Feuerschutz, und der »Einrichter« baute die letzte Railgun im »Automatik«-Modus auf. Im Grunde genommen hatte Sergeant Sunday fast ebenso viel Feu erkraft in Stellung gebracht wie sein halbes Team. Jetzt fand er eine ihm geeignet erscheinende Stelle und spähte an einem halb zerfetzten Eckstein vorbei. Die Posties waren dabei, sich wieder zu sammeln, und das durfte man einfach nicht zulassen. Die ersten Takte von »Dixie« pfeifend, zielte Thomas Sunday juni or auf einen Gottkönig und drückte dann sanft den Abzug. Als ob es der Busen seiner Freundin gewesen wäre. »Übrigens«, meinte er dann im Selbstgespräch, als der erste Gott könig rückwärts aus seinem Tenar kippte. »Ich muss einfach mal runter nach North Carolina.«
Das Erste, was Wendy auffiel, war die Leuchtfarbe. Intensives Weiß. Der Raum war so ordentlich, dass es beinahe wehtat. Teilweise war das gewollter Minimalismus; es gab da kaum etwas Persönliches.
Die Wände waren schmuckloses Galplast. Man konnte das Stan dardbaumaterial der galaktischen Hersteller der SubUrb so einstel len, dass es das Licht praktisch in jeder Schattierung reflektierte, und deshalb hatte logischerweise irgendein Bürokrat verfügt, dass nur vier Farbtöne benutzt werden durften: institutionelles Grün, in stitutionelles Weiß, institutionelles Blau und institutionelles Lachs rosa. Die Wände hier waren institutionell weiß gehalten und sahen aus, als wären sie gerade erst aus der Strangpresse gekommen. Da dies eine Außenregion von Sektor F war, konnte dies sogar durch aus der Fall sein. Die unpersönliche Aura des Raums, das Licht und das Fehlen jeglicher schmückender Gegenstände ließen das Quartier irgendwie glitschig, wenn auch klinisch sauber erscheinen. Das Nächste, was ihr auffiel, war der Spind. Stumpfes graues Po lygon hockte in der Ecke wie eine Art mechanischer Troll. Das Mate rial sah aus wie normales Galplast, aber in Wirklichkeit war es Pia stahl; der Container war einbruchsicherer als ein Stahlsafe. Jeder Be wohner einer SubUrb erkannte Indowy-Produkte sofort – alle Hoch sicherheitsabschnitte waren mit dem Zeug gesichert –, und es brauchte schon einen Hoch-Watt-Plasmabrenner oder einen Mole kularschleifer, um einem solchen »Möbelstück« etwas anzuhaben. Außerdem verfügte der Raum über einen Standardwandspind, so dass der Plastahl-Safe vermutlich für Sicherheitszwecke diente. Davon abgesehen war der Raum so, wie alle anderen der SubUrb. Neben der Tür aus Memoryplastik gab es eine Standard-Notfallbox, die nur dadurch auffiel, dass sie bisher von Vandalismus verschont geblieben war. Nach dem Siegel und der außen angebrachten Be standsliste sollte die Box vier Atemmasken, ein Erste-Hilfe-Päckchen und ein Paar Nomex-Handschuhe enthalten. Falls das der Fall war, wäre das die erste komplett eingerichtete Notfallbox, die Wendy in vier Jahren zu Gesicht bekommen hatte. Eine Wand enthielt einen 27"-Flachbildschirm; der Boden war mit PolyIon-Teppich bedeckt. Insgesamt eben ein Standard Wohnquartier. Zumindest hatte es so ausgesehen, als Wendy in dieser unterirdischen Hölle eingetroffen war.
Die junge Frau, die auf dem einzigen Bett des Raums saß, trug Jog gingshorts und ein bauchfreies Top. Das störte eigentlich nicht sehr, weil sie wirklich sehr gut aussah. Ihre Haut war so teenagerhaft glatt, als wäre sie kürzlich verjüngt worden, und ihre sichtlich ohne jede Stütze auskommenden Brüste waren hoch und fest. Das goldblonde Haar fiel wie ein ins Rötliche spielender Wasserfall in Kaskaden über ihre verschränkten Arme und das weiße Top, und ihre scharfen grünen Augen musterten ihre Besucher mit argwöhnischer Intelli genz. »Annie«, sagte die Ärztin, »das ist Wendy Cummings. Sie wird Ih nen bei der Genesung behilflich sein.« Die Psychologin lächelte ver gnügt. »Wir sind alle der Ansicht, dass es Ihnen in dieser Entwick lungsphase gut tun wird, wenn Sie ein wenig öfter hinauskommen.« Was Dr. Christine Richards verschwieg, war, dass das Ärzteteam in Wirklichkeit entsetzt war. Die letzte Runde Kognitivtests hatte ge zeigt, dass Anne O. Elgars sich, abgesehen von ihrer Sprachstörung, völlig von ihrem mehrere Jahre andauernden Koma und einer expe rimentellen chirurgischen Behandlung erholt hatte. Sie waren sich nur nicht sicher, ob das wirklich Anne Elgars war. »Hi, Anne«, sagte Wendy, streckte ihr die Hand hin und lächelte schief. »Angeblich sind wir als Freundinnen ›kompatibel‹. Nun, wir werden sehen. Manchmal können Psychologen ihren Hintern nicht von ihren Ellbogen unterscheiden.« Die Person, die Anne Elgars sein konnte oder auch nicht, legte den Kopf etwas zur Seite und erwiderte dann das angedeutete Lächeln mit einem breiten Grinsen. »A … Ahm A … Annie fr … eu.« »Freut mich zu hören«, erwiderte Wendy mit einem strahlenden Lächeln. »Ich denke, wir werden einander viel zu erzählen haben. Wie ich höre, warst du bei der Dreiunddreißigsten Division bei Oc coquan?« »Also«, sagte Dr. Richards, »ich werde euch beide allein lassen. Annie, es wäre nett, wenn Sie Wendy ein wenig behilflich wären.
Jetzt, wo Sie dabei sind zu genesen, ist es wichtig, dass jeder mit an packt.« Das Grinsen der Patientin verflog. »Unnkay Derrr …« »Keine Sorge«, meinte Wendy nach einem Blick auf die Psycholo gin. »Wir kriegen das schon hin.« Als die Tür sich hinter der Ärztin schloss, schnitt Wendy eine Gri masse und streckte der Psychologin hinter der Tür die Zunge her aus. »Ich hasse Psychologen«, sagte sie und verzog angewidert das Ge sicht. »Scheiß Seelenklempner.« Elgars' Mund arbeitete einen Augenblick lang, dann hob sie mit ei nem Ausdruck der Enttäuschung beide Hände mit nach oben ge richteten Handflächen. »Um sich als Frau für den Kampfeinsatz zu qualifizieren, musst du eine psychologische Beurteilung durchlaufen«, sagte die Blondine und band sich dabei ihren Pferdeschwanz, während sie sich neben Elgars auf dem Bett niederließ. »Und das ist ein echter Widerspruch in sich. Die lassen keinen zu, der ›instabil‹ ist, aber eine kampforien tierte Persönlichkeit gilt bei einer Frau von vornherein als instabiler Grenzfall.« Wieder arbeitete Elgars' Mund, und schließlich kam ein grunzen des Lachen heraus. »Sch … Sch. Eiskel!« Wendy lächelte, auf ihren Wangen zeigten sich Grübchen. »Ja. Alle sind sie Scheißkerle, da bin ich ganz deiner Ansicht. Aber sollen sie doch. Also, du hast Amnesie? Und offensichtlich eine Sprachstö rung.« »Äh … ja«, sagte Elgars mit einem Anflug von Ungeduld. »Lass dir darüber keine grauen Haare wachsen.« Wendy lächelte. »Wir haben genügend Zeit. Aber darf ich dich was fragen?« »Jaaa.«
»Ist das ein Waffenschrank? Wenn das nämlich der Fall ist, bin ich echt sauer. Mir haben die das ganze Zeug weggenommen, als sie mich in dieses verdammte Loch gesteckt haben. Ich gehe mindestens einmal die Woche auf den Schießstand, aber die lassen nicht einmal zu, dass ich mich für den Sicherheitstrupp testen lasse.« »Jaaa«, sagte Elgars mit einem Blick, den Wendy nicht deuten konnte. »Ich …« Sie hielt inne, wieder arbeitete ihr Mund, »Ich … wei … nich, wa …« »Du weißt nicht, was das soll?«, fragte Wendy. »Du kennst die Worte, du kannst sie bloß nicht aussprechen, stimmt's?« »Jaaa.« »Okay.« Wendy rutschte von der Bettkante und ging zu dem Poly gon hinüber. Es war etwa zwei Meter hoch, mit sechs »Facetten« an der Seite und keinen erkennbaren Türen oder Schlössern. »Wie macht man das auf?« Elgars glitt vom Bett und ging leichtfüßig zu dem Spind hinüber. Ihr Sprachvermögen mochte gestört sein, aber ihre Bewegungen wirkten fließend und graziös. Wendy musterte sie nachdenklich und lächelte dann. »Hast du Sport getrieben?« »Fii-so-te-pi«, antwortete Elgars und legte die Hand auf eine der Facetten. Die Vorderseite des Zylinders öffnete sich nach beiden Seiten, und plötzlich roch es nach Waffenöl. Wendy fiel die Kinnlade herunter. Das waren keine persönlichen Gegenstände, das war ein ganzes Ar senal. Hinter der linken Tür hing eine Anzahl Paradeuniformen. Ganz oben die blaue Offiziersuniform mit den Rangabzeichen eines Cap tain und so vielen Orden und Auszeichnungen, dass die ganze Brust davon bedeckt war. Man konnte daraus lesen, dass Elgars nicht nur Expertin für Karabiner, Pistole und Maschinenpistole war, sondern darüber hinaus hintereinander das fortgeschrittene Programm für
Scharfschützen der Army und die Scharfschützenschule des Marine Corps absolviert hatte. Ihr Nahkampfinfanterieabzeichen zeigte an, dass sie an Kämpfen teilgenommen und dabei allem Anschein nach zwei Purple Hearts und einen Silver Star verliehen bekommen hatte. Aber die Krönung des Ganzen war das schlichte Abzeichen auf der linken Brustseite, ein goldenes »600«. »Du große Scheiße«, flüsterte Wendy. Neben den Uniformen – an der rechten Tür hing ein Tarnanzug und aus irgendeinem Grund auch ein grauer Seidenanzug von Fleet Strike – enthielt der Spind ein halbes Dutzend Waffen. Besonders fiel Wendy darunter eine auf, von der sie bisher nur Bilder zu sehen bekommen hatte: ein BarrettScharfschützengewehr, Kaliber .50, Typ M-82A1. Die Waffe hatte ganz offenkundig Kampfeinsätze erlebt, war aber, ehe sie in dem Spind verstaut worden war, in der Fabrik überholt und in Präserfilm eingeschweißt worden. Dann waren da zwei verschiedene Maschi nenpistolen mit geladenen Magazinen, zwei Pistolen, eine davon eine schallgedämpfte Glock, die andere ein seltsam aussehendes, klobiges Gebilde mit Laservisier und Schalldämpfer, und schließlich ein Kurzgewehr vom Typ »Bullpup«. Ganz hinten hing eine kom plette Kampfkombination mit allem, was ein Scharfschütze so benö tigte. »Wie in drei Teufels Namen hast du es geschafft, das hierher zu be kommen?«, fragte Wendy. »Die SubUrbs sind Null-Toleranz-Zo nen.« »Uah … ich – … aaaktiv …« »Du bist im aktiven Dienst?« Wendy lachte. »Tut mir Leid, aber …« »Ich … in … sssechs …« »Sechshundert«, sagte die ehemalige Bewohnerin von Fredericks burg und nickte ernst. »Und selbst die Toten der Sechshundert wer den in den Listen immer noch als im aktiven Dienst geführt.« Elgars lächelte und nickte. »Www … vn«, sagte sie und deutete dabei in den Spind.
»Und du weißt nicht, was das für Zeug ist, oder?«, fragte Wendy. »Nnn.« Wendy sah sie scharf an, und grüne Augen begegneten blauen. »Okay, wir wollen mal was klarstellen. Hast du irgendwas, wo steht, dass du das hier haben darfst?« Elgars deutete auf die Uniformen, aber Wendy schüttelte bloß den Kopf. »Nein, für die Typen von der Sicherheit brauchen wir mehr. Ir gendwelche Dokumente, in denen exakt steht, dass du befugt bist? Hast du eine Waffenkarte?« Elgars griff in den Schrank und holte einen Umschlag heraus. Die Karte von der Größe eines Führerscheins enthielt eine knappe Ein tragung: »Captain A.O. Elgars ist eine augenblicklich vom Dienst befreite Angehörige der bewaffneten Streitkräfte der Vereinigten Staaten. Sie ist berechtigt, in sämtlichen Teilen der Vereinigten Staaten oder de ren auswärtigen Territorien Waffen jeder Art und jedes Kalibers zu tragen, sofern sie das ausschließlich nach eigenem Ermessen für an gemessen hält. Diese Rechte dürfen von niemandem beeinträchtigt werden. Jegliche Fragen hinsichtlich dieser Anweisung sind an das Kriegsministerium zu richten.« Die Notiz war vom Kommandeur der Kontinentalarmee und dem Kommandeur der Zehntausend un terzeichnet. Die Rückseite zeigte ihr Bild und ihre persönlichen Da ten. Das war eine Standardlizenz. Zu Anfang des Krieges waren wie derholt die Rechte der Föderationstruppen, in nicht bedrohten Berei chen Manöver abzuhalten, angezweifelt worden. Insbesondere war dabei häufig die Frage gestellt worden, ob Militärpersonen, insbe sondere in Städten mit Antiwaffengesetzen, Einschränkungen hin sichtlich des Zugangs zu ihren Waffen unterliegen sollten. Nach der Landung von Fredericksburg hatten diese Beschwerden im Großen und Ganzen aufgehört, aber als eine Infanteriebrigade im
Sondereinsatz in Seattle von den Posleen überrascht und überwäl tigt worden war und sich ihre Waffen noch in der Waffenkammer ihrer Einheit befunden hatten, war diese Frage ein für alle Mal ent schieden worden. Angehörige der bewaffneten Streitkräfte im akti ven Dienst brauchten nicht ständig Uniform zu tragen. Man erwar tete aber »für die Dauer des augenblicklichen Notstandes«, dass je der Militärdienst Leistende nach Föderationsgesetz jederzeit mit ei ner »Grundladung« für seine persönlichen Hauptwaffen ausgestat tet sein musste. PosleenLandungen erfolgten ohne erkennbaren Plan, und man war deshalb nach Abwägung aller Chancen und Risi ken zu dem Entschluss gelangt, dass gelegentliche Entgleisungen mit nachteiligen Folgen für die Zivilbevölkerung dadurch mehr als aufgewogen wurden, dass diese Anordnung schnellere bewaffnete Reaktionen auf die Invasionstruppen ermöglichte. »Jetzt zur wichtigen Frage«, sagte Wendy und lächelte erneut. »Was anziehen?« Elgars erwiderte das Lächeln und griff nach ihrer Kampfkombina tion. Sie betastete das Revers mit leicht verwirrtem Blick. »Erkennst du die Uniform?«, fragte Wendy. »Das ist dein Kampf anzug. Die Rangabzeichen zeigen an, dass du ein Captain bist. Erin nerst du dich daran, dass du Captain bist?« Elgars schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. »Ser … Sar … Sarn't.« »Sergeant warst du?«, fragte Wendy. »Warum dann die Streifen ei nes Captain?« »Sarn' … pri'ate.« In Elgars' Gesicht arbeitete es, dann schlug sie sich mit der Hand gegen die Stirn. »Staaa … nein … Ahhh!« »Ganz ruhig«, redete Wendy auf sie ein, packte sie an der Schulter und schüttelte sie. »Was auch immer du einmal warst, jetzt bist du Captain.« Wendy sah sie einen Augenblick lang an und schüttelte den Kopf. »Haben die dir irgendetwas darüber gesagt, weshalb du hier bist? Oder auch nur, wo ›hier‹ ist?«
Elgars schüttelte den Kopf und gestikulierte dann. »Is n Bü'o, so w ich eh.« Wendy atmete tief durch und überlegte, wo sie anfangen sollte. »Okay, du weißt, dass wir uns hier unter der Erde befinden, stimm t's?« »Stimm'«, nickte Elgars. »Su'-ur'.« »Eine SubUrb.« Wendy nickte. »Haben die dir eine Karte gezeigt?« »N'.« »Du großer Gott«, sagte Wendy. »Okay, dann fangen wir an.« Sie scrollte durch ein Menü und rief die Darstellung eines Würfels auf. »Willkommen in SubUrb Franklin. Fangen wir mit dem Anfänger kurs an: ›Wie man sich in einer SubUrb bewegt‹. Die Urb ist ein Würfel. Die Oberseite des Würfels befindet sich dreißig Meter unter der Erde, und das Areal darüber ist mit erschüt terungssicherer Wabenpanzerung abgedeckt. Der Würfel teilt sich in acht Sektoren und jeder Sektor wiederum in Sub-Sektoren. Die Hauptsektoren sind die Buchstaben A bis H. Die Sub-Sektoren sind nummeriert, und sobald du mitbekommen hast, wie man das auf löst, wenn ich beispielsweise ›C8-8-4‹ sage, dann weißt du auch, wo du gerade bist. Die Sub-Sektoren sind jeweils vier Stockwerke hoch und vier Blocks breit und tief. Die Zählung beginnt in der Mitte und steigt dann von der Mitte beiderseits nach draußen und von der Verbindungslinie mit dem nächsten Sektor an. Die Sektoren sind acht Sub-Sektoren oder acht Blocks breit und acht tief, aber sie befin den sich noch im Bau, und einige von ihnen reichen über acht SubSektoren hinaus. Im Augenblick bist du in Sektor F, Sub-Sektor 1-1-4. Das bedeutet, dass du dich ganz oben in F befindest, an der Grenze zu E, und vier Blocks von der Mitte entfernt. Sektor A enthält Sicherheit, Not dienst, Verwaltung und ein paar Wohnquartiere, vorzugsweise für Verwaltung und Sicherheit. Die Sektoren B bis D sind Wohnquartie re. Obwohl einige Sektoren von C und D für Supportzwecke reser viert sind, ist Sektor F ein Krankenhaus und Lebenserhaltungsstati
on und E bis H ist im Allgemeinen für die Versorgung zuständig, einschließlich eines Fusionsreaktors in H und einer umfangreichen Abteilung für Hydroponik und Abfallaufbereitung in G. Der Personalhaupteingang befindet sich über Sektor A und trifft in der Nähe der Grenze zu den drei anderen Wohnsektoren auf A. Un mittelbar davor ist eine große Garage, wo die meisten Fahrzeuge, die von den Evakuierten benutzt werden, abgestellt sind. Der Hauptversorgungszugang befindet sich im Südwestquadranten, ne ben Sektor D. Dort wird alles Versorgungsmaterial angeliefert und mit Aufzügen nach Sektor H gebracht. Entlang den Hauptnahtstellen der Sektoren verlaufen die pri mären Verkehrswege – also an den Stellen, wo vier Sektoren aufein ander treffen. Primärkorridore sind mit Gleitbahnen, Fußgängerwe gen und Bahnen für Karren ausgestattet. An jedem zweiten Verbin dungspunkt zwischen den Sub-Sektoren gibt es Sekundärwege. Se kundärkorridore verfügen nicht über Gleitbahnen, und man muss dort auf Karren aufpassen. Die kleinen Korridore, wo die Wohn quartiere zu finden sind, stehen für den Fußgängerverkehr zur Ver fügung; man bezeichnet sie als Tertiärkorridore. Von Sonderfällen abgesehen sind in Wohnkorridoren keine Karren erlaubt. Falls du dich verläufst«, fuhr sie dann fort, klickte einen Befehl an, so dass eine Liste von Icons auf dem Bildschirm erschien, und deu tete auf eines, das wie ein Computer aussah, »musst du dich nach diesem Symbol umsehen. Das ist ein Info-Terminal. Das kann man nach seinem Standort fragen und auch erfahren, wie man zu jedem beliebigen Ort in der Urb kommt. Du kannst auch einen ›Kobold‹ anfordern, das ist ein Mikrit, den die Galakter geliefert haben. Er ist etwa so groß wie eine Fliege und leuchtet. Er fliegt dir auf dem kür zesten verfügbaren Primärpfad zu deinem Ziel voraus. Folge ihm einfach. Wenn du stehen bleibst, hält er auch an, und wenn du dein Ziel erreicht hast, entfernt er sich wieder.« Sie deutete auf die restlichen Icons. »Es gibt noch andere Symbole, die du dir einprägen musst. Symbole für Sicherheitseinrichtungen,
Toiletten, Cafeterias und dergleichen. Die meisten erklären sich selbst, aber man muss sich mit ihnen vertraut machen. Du darfst die SubUrb verlassen, aber davon wird dringend abge raten. Unbefugte haben keinen Zugang zu der Urb, und das gilt auch für Militärpersonen, außer sie haben schriftliche Befehle oder sind im Krankenstand und eingeteilt … wie du.« »Du … ast as scho öf mach«, sagte Elgars. »Ja, ich habe diesen Vortrag schon ein paar Mal gehalten«, sagte Wendy und lächelte. »Ich bin jetzt in diesem Scheißladen, seit das noch ein riesiges Loch war.« Sie überlegte kurz. »Mehr brauchst du eigentlich im Augenblick nicht zu wissen. Es gibt da ein paar Infor mationen für den Notfall, mit denen du dich vertraut machen soll test, aber die erfährst du über Kanal 141. Ich würde vorschlagen, dass du dir den zwei, drei Wochen lang ziemlich regelmäßig an siehst; man bekommt da alle möglichen Tipps für das Alltagsleben. Noch irgendwelche größeren Fragen?« Elgars schüttelte den Kopf und ging zu dem anderen Spind hin über, um sich einen BH zu holen. Der Spind enthielt einen Schubla denschrank und einige Zivilkleidung, hauptsächlich Blue Jeans und Kleider. Auf der rechten Seite war ein Schuhregal mit einem Paar Joggingschuhe, zwei Paar auf Hochglanz polierten Kampfstiefeln und neun Paar Pumps mit hohen Absätzen, die meisten schwarz. Lediglich die Joggingschuhe sahen so aus, als ob sie regelmäßig be nutzt worden wären. »Mann«, hauchte Wendy. »Du hast hier unten genügend Kleider für fünf Leute.« Elgars gab einen fragenden Laut von sich, und Wendy zuckte die Achseln. »Heutzutage werden keine Kleider gemacht, die Fabriken arbeiten alle für das Militär. Also haben die Leute bloß das, was sie hierher mitgebracht haben, und bei den meisten waren das bloß ein oder zwei Koffer, und das ist alles.« Wendy deutete auf ihr eigenes Out fit, ein kariertes Baumwollhemd und Jeans, die ihr mindestens eine
Nummer zu groß waren. »Die machen ein paar Dinge, damit die Leute etwas zum Anziehen haben, und Schuhe auch, aber nichts, was irgendwie hübsch wäre. Du allerdings hast mehr Kleider, als ich seit drei Jahren gesehen habe.« Elgars sah zuerst ihre Kleider, dann Wendy an. Wie es aussah, hat ten sie beide etwa dieselbe Konfektionsgröße, und so wies sie auf ih ren Spind. »Wi … du … aben?« Die Blondine errötete leicht und wischte sich dann eine Haarsträh ne aus der Stirn. »Jetzt nicht. Ein andermal vielleicht, wenn ich mir was ausborgen darf. Das wäre prima.« Elgars griff in den Spind und zog eines der Kleider heraus. Ein sichtlich eng anliegendes violettes Teil mit viel Spitze in unter schiedlichen Schattierungen. Sie sah es einen Augenblick lang beina he angewidert an und schob es dann Wendy hin. »Nimm.« »Wirklich?«, fragte Wendy. Das Kleid war wunderschön. »Klaaar.« Elgars' Gesicht arbeitete, als wollte sie ausspucken. »Ich mag die Farbe nicht«, sagte sie dann mit weichem Südstaatenakzent. Es klang ganz normal.
Elgars sah sich interessiert um. Die Korridore waren breit – so breit, dass mit einiger Schwierigkeit sogar ein Auto hätte durchfahren können – und hoch. Und sie schienen endlos zu sein. Alle fünfzig Meter war eine Treppe und alle hundert Meter eine Rolltreppe mit einem Lift daneben. Und an jeder dieser Kreuzungen befand sich eine Notfallbox, nur dass im Gegensatz zu der in ihrem Zimmer die meisten aufgeklappt herunterhingen und leer waren. Die Farbe der Kunststoffwände änderte sich, aber alle waren in beruhigenden Pas telltönen gehalten. Die Wirkung war angenehm, die Farben wirkten in keiner Weise amtlich oder institutionell. Gelegentlich gab es Wän de, die so aussahen, als ob sie aus Stein wären, aber sie wirkten so glatt, als stammten sie aus einer Strangpresse oder wären sonstwie gegossen.
An den Decken waren in regelmäßigen Abständen Sprinkler und eine Unzahl von Rohren mit geheimnisvollen Markierungen wie etwa »PSLA81« zu sehen. In regelmäßigen Abständen hing eines der in einem blaurot gehaltenen Muster lackierten Rohre von der Decke herunter und endete in zwei Stutzen. Da an den Stutzen Schieber und Kappen angebracht waren, stellte Elgars sich vor, dass es sich dabei um eine Wasserversorgung für den Notfall handelte. Die Hauptkorridore waren offen, aber an beiden Seiten gab es Tü ren aus Memoryplastik, von denen einige, aber nicht alle markiert waren. Die meisten Türen, an denen sie vorbeikamen, schienen zu Wohnungen zu führen, aber einige trugen Aufschriften wie »The Cincinnati Room«. In den Hauptkorridoren gab es mit gewissen Ab ständen offene Türen mit beiderseits angebrachten Schalttafeln. Die se Türen waren massiver und, wie es schien, dazu bestimmt, in Not fällen geschlossen zu werden. An jeder Treppe und jeder Rolltreppe war eine Tafel mit der Auf schrift »Primäre Evakuierungsroute« mit einem Pfeil angebracht, der nach oben, nach unten oder in den Korridor wies. Daneben war eine zweite Tafel, »Sekundäre Evakuierungsroute«, die in eine ande re Richtung wies. Neben diesen Tafeln waren auch noch solche mit einigen von den Symbolen, die Wendy ihr gezeigt hatte. Elgars war sich ziemlich sicher, dass sie die Symbole für Toiletten und Restau rants entziffern konnte. Aber was bedeutete das mit den drei Gegen ständen, die wie Federn aussahen? Wie Wendy ihr bereits erklärt hatte, gab es an den Wänden Mar kierungen, jeweils ein Buchstabe mit drei Ziffern dahinter. Auf ih rem Weg hatten sie Sektor F verlassen und Sektor B erreicht. Elgars hatte das Gefühl, dass sie Umwege machten; anscheinend hielten sie sich an Korridore der Wohnbezirke und vermieden die Haupt durchgangswege. Der größte Teil der Wohnkorridore war schmal, gerade so breit, dass zwei Personen aneinander vorbeigehen konnten, und sie zeig ten deutliche Gebrauchsspuren. In einem Bereich war die Leuchtfar
be beschädigt, so dass sie über eine längere Strecke in fast völliger Dunkelheit gehen mussten. Wendy blieb nicht stehen, aber Elgars bemerkte, dass sie in ihren Bewegungen wesentlich vorsichtiger wirkte, langsamer wurde, wenn sie sich Kreuzungen näherten, als würde sie auf andere Schritte lauschen. Die wenigen Menschen, de nen sie begegneten, wichen meist jedem Augenkontakt aus. »Das ist der ältere Bereich«, sagte Wendy leise, als sie durch einen Sekundärkorridor gingen. Die Wände sahen angesengt aus, als ob hier einmal ein Feuer gewütet und man den Schaden nie völlig be hoben hätte. »Ich war hier, als dieser Korridor so neu und glänzend wie dein Zimmer war. Aber jetzt ist hier in der Nähe ein Wartungs bereich, und … na ja … das Ganze gilt als schlechte Gegend. Ande rerseits mögen die Schätzchen von der Sicherheit die Gegend nicht sehr, also brauchen wir uns wahrscheinlich um sie hier keine Ge danken zu machen.« Dafür wurde klar, als sie eine in einen Wohnbereich führende Kreuzung erreichten, worüber sie sich jetzt Gedanken machen mussten. In den besseren Abschnitten weiteten sich die Korridore je weils an den Kreuzungen etwas aus, es gab einen Wasserspender und Tafeln, die zu wichtigen Versorgungsanlagen wiesen. Bei zwei von den drei Korridoren, die zu dieser Stelle führten, war die Leuchtfarbe fast völlig abgekratzt, und Vandalen hatten den Was serspender aus der Wand gerissen, so dass er jetzt in einer Pfütze rostigen Wassers auf dem Boden lag. Als Wendy vorsichtig in eine Schattenzone entlang einer der Wän de trat, war zu hören, wie ein Streichholz angerissen wurde, und dann traten ein paar Gestalten aus der Dunkelheit. »Sieh mal an, was haben wir denn da?«, fragte die Anführerin, die sich gerade eine Zigarette anzündete. Das Mädchen war auffällig klein und ungesund mager. Ihr Gesicht zeigte eine schlechte Täto wierung, die vermutlich eine Spinne darstellen sollte, und ihr Haar war hochgesteckt und in verschiedenen Farben fleckig gefärbt. Sie trug schwere Stiefel, kurze Shorts und ein bauchfreies Top. Elgars
hätte wahrscheinlich über diese Zusammenstellung gelacht, wäre da nicht der Baseballschläger aus Aluminium gewesen, den das Mäd chen schwang. »Ich glaube, das sind Eindringlinge«, kicherte eine andere. Sie war überdurchschnittlich groß und kräftig gebaut, mit breiten Hüften und einem Hängebusen. Die beiden hätten ein komisches Paar abge geben, wären da nicht die Waffen gewesen, die sie in der Hand hiel ten. »Was hast du denn in der Tasche, Süße?«, fragte die Anführerin, während die drei anderen sie umringten. »Nichts, was dich interessiert«, erwiderte Wendy ruhig. »Geht ein fach weiter, dann tun wir das auch.« »Oh, das glaube ich aber nicht«, sagte die Große und zog eine Ket te hinter ihrem Rücken hervor. »Das glaube ich echt nicht.« »Töten wir sie?«, fragte Elgars klar und deutlich. Sie stand unbe wegt da, leicht nach vorne geneigt, die Hände an der Seite. Sie stellte die Frage mit völlig ausdrucksloser Stimme. »Äh, nein«, sagte Wendy. »Die Leute von der Sicherheit mögen das nicht.« »Okay«, sagte Elgars und bewegte sich. Aus Wendys Perspektive stand sie gerade noch völlig reglos da und war im nächsten Augen blick praktisch Brust an Brust mit der Anführerin der Gang. Den Schlag mit dem Baseballschläger blockte sie mit dem Unter arm ab – sie stand innerhalb des Schwungs – und riss der Anführe rin den Ring aus der Nase. »Bloß, damit ihr gut aufpasst«, sagte sie mit tiefer Stimme und versetzte ihrem Gegenüber dann einen Kopf stoß, der sie gegen die Wand fliegen ließ. Wendys Hand fuhr in ihre Umhängetasche und kam gleich darauf mit der Glock wieder heraus, was die drei anderen mehr oder weni ger erstarren ließ. »Oh, sieh mal an, da war ja doch etwas, was ihr hät tet brauchen können. Sieh mal an, sogar mit einem Schalldämpfer. Wenn ich euch also damit umblase, dann hören die von der Sicher
heit das nicht einmal. Also, wie wär's, wenn ihr drei hier einfach ab haut, während meine Kollegin zu Ende spielt?« Ein Blick auf die Pis tole reichte, um in den drei jungen Frauen den Entschluss reifen zu lassen, dass es noch andere Korridore gab, um die sie sich kümmern mussten. Und zwar jetzt gleich. Wendy zuckte zusammen, als Elgars der Kleinen einen Tritt an eine Stelle versetzte, die, wie manche finden, bei Frauen noch emp findlicher als bei Männern ist. Die Kette war irgendwo im Korridor verschwunden, und das Messer lag bereits abgebrochen auf dem Bo den. Die Frau fuchtelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum und mühte sich ab, einen Ton herauszubringen, als Elgars mit einem Tritt an ihre Kinnlade nachsetzte. »Wenn du nicht spielen wolltest, hättest du den Ball nicht bringen dürfen«, sagte der weibliche Captain und wippte auf den Zehenspit zen, die Hände in Schulterhöhe, die Handflächen ganz flach. Wieder klang ihre Stimme ganz tief und klar. »Ich glaube, du bist hier unten durch, Annie«, sagte Wendy und trat neben die Anführerin der Gang, um ihren Puls zu fühlen. Er ging ganz gleichmäßig, und das war nett, wenn man bedachte, was für einen Stoß ihr Schädel abbekommen hatte. Wendy zog eine klei ne Lampe heraus und sah sich die Pupillen an. Die rechte Pupille wirkte etwas träge, aber Wendy vermutete, dass ihre Chance aufzu wachen besser als fifty-fifty war. Die andere war sogar noch besser dran und erwachte gerade stöhnend wieder aus ihrer Bewusstlosig keit. »Verdammt, ihr beiden habt mehr Glück, als ihr eigentlich ver dient«, sagte Wendy und richtete sich auf. »Trotzdem würde ich vorschlagen, dass ihr mal bei der Krankenstation vorbeigeht.« Sie versetzte der Anführerin einen Tritt gegen das Schienbein. »Du hast da eine ganz hübsche Gehirnerschütterung.« »Okay«, meinte sie dann, an Elgars gewandt. »Ich denke, wir soll ten zusehen, dass wir hier verschwinden.«
»Kh«, stieß Elgars hervor und ließ die Hände sinken. »W müsse hi weg.« Ein paar Biegungen, ein kurzer Sekundärkorridor und sie befan den sich wieder in gepflegten Korridoren, als ob der Zusammenstoß nie stattgefunden hätte. Diese Korridore waren zum größten Teil nicht sehr überfüllt. Die eine Ausnahme war eine offene Fläche, wo mindestens vierhundert Menschen, meist fortgeschrittenen Alters, aber auch ein paar jüngere Frauen und Kinder dazwischen, auf Stahlrohrsesseln saßen, Brettspiele spielten, sich unterhielten oder etwas tranken. Auf der einen Seite der Fläche war ein Spielplatz mit einem kleinen Karussell und einer Leiter, auf der vergnügt schrei end Kinder herumtobten. Wendy blieb nicht einmal stehen, sondern strebte unbeirrt weiter ihrem Ziel zu. »Wir sind fast da«, sagte sie und fuhr mit einer Rolltreppe nach oben. »Die ganze Anlage hier ist wirklich sehr logisch. Sobald man sich einmal daran gewöhnt hat, findet man alles. Der ganze Sicher heitskram ist oben, in Richtung auf den Haupteingang, und der ist an der inneren Ecke von A.« Elgars deutete auf einen großen roten Kasten an der Korridor wand. Das war bereits der zweite Kasten dieser Art, an dem sie vor beikamen. Er war in ähnlicher Weise wie die Notfallkästen in den Zimmern markiert, trug aber in großen Lettern die Aufschrift »NUR FÜR RETTUNGSPERSONAL«. Und dieser Kasten war offenbar nicht geplündert worden. »Das ist ein Angriffskasten«, erklärte Wendy. »Davon gibt es in je dem Sub-Sektor einen, am 4/4/4 Punkt des Sub-Sektors; das ist die Kurzbezeichnung für die Mitte des Sub-Sektors. Er enthält Rettungsund Feuerschutzgerät für einen Notfall. Dazu ein paar Atempacks, eine zusammenklappbare Tragbahre, einen Defibrillator und ein Feuerschutzgerät. Die Kästen können nur von qualifiziertem Ret tungspersonal geöffnet werden; sie haben einen Scanner für Hand abdrücke. Ich kann einen öffnen; ich bin bei der Feuerwehrreserve.
Wenn ich die Konditionsprüfung bestehe, hoffe ich, bald zur regulä ren Mannschaft zu kommen.« Elgars deutete auf die Sprinkler an der Decke. »Feu'r?« »Ja, die sind hier, um Brände einzudämmen«, nickte Wendy. »Und in einigen Bereichen, wo eine Menge Computer untergebracht sind, versprühen sie Halon. Trotzdem ist immer mit einem großen Aus bruch zu rechnen. Aber wenn ein wirklich großes Feuer ausbricht, sind wir erledigt. Dieses Ding hier ist wie ein Schiff; man muss das Feuer erledigen, ehe es einen erledigt. Die Alternative wäre, an die Oberfläche zu gehen, aber wenn wir dort oben sein wollten, würden wir nicht hier unten feststecken.« »W … w … wo … sind wir?«, fragte Elgars gestikulierend. Das Abenteuer von vor ein paar Minuten hatte sie offenbar völlig ver drängt. »Du meinst, in der Welt?«, fragte Wendy. »Haben die dir das nicht gesagt?« »Nnn …«, antwortete Elgars. »Nie gefra …« »Hast wohl die Hirnklempner nicht fragen wollen, hä?«, meinte Wendy und bog in den nächsten Korridor, der nicht so gut beleuch tet und anscheinend auch unbenutzt war. Die Türen zu beiden Sei ten zeigten alle ein rotes Schild, um anzuzeigen, dass sie versperrt waren. »Wir sind in den Bergen von North Carolina. Sagt dir das et was?« »No …«, sagte Elgars und zuckte die Achseln. Dann fürchte sich ihre Stirn. »Hhhhabe … Kkkarte … gesehen. A … Ash …« »Nein, nicht in der Nähe von Asheville«, schnaubte Wendy. »Das ist eine lange Geschichte.« »Erzähl.« Wendy zuckte die Achseln. »Als die Posleen bei … Fredericksburg … landeten«, sagte sie und ihre Stimme stockte nur kurz, als sie den Namen ihrer Heimatstadt aussprach, »waren die meisten SubUrbs noch nicht so weit, dass Leute einziehen konnten. Aber es gab beina
he zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Norden von Virginia. Einige davon konnten zurückkehren, aber … nun ja, der größte Teil von Fredericksburg war einfach hin. Ich meine schlichtweg platt, nach all dem Beschuss von den Schlachtschiffen und den Kämpfen und der TL-Explosion. Und wir mussten schnell weg, weil ja die Posleen zu rückkamen. Und die meisten Überlebenden waren … na ja … nicht gerade groß in Form … Jedenfalls war dies die einzige Urb an der Ostküste, die beinahe fertig war. Es war die erste, mit der sie angefangen hatten, der örtli che Kongressabgeordnete hatte es geschafft, dass man sie in seinem Wahlkreis gebaut hat, obwohl das eine ziemlich dämliche Ortswahl war.« Elgars gab einen unartikulierten Laut von sich, und Wendy verzog das Gesicht. »Na ja, zunächst einmal liegen alle anderen Urbs in der Nähe von Fernstraßen, gewöhnlich nahe bei existierenden Städten. Asheville hat zwei wirklich große, und die sind beide voll. Aber wir liegen in der Nähe eines Ortes, der sich Franklin nennt. Das ist eine kleine Ortschaft im Süden von North Carolina, bloß ein Punkt auf der Landkarte. Der einzige Grund, dass wir hier sind, ist dieser Kon gressabgeordnete; er war eine Ewigkeit im Kongress und Vorsitzen der des Beschaffungsausschusses. Und deshalb, wie gesagt, wurde die erste SubUrb hier gebaut. Uns mit dem Wenigen zu versorgen, was wir kriegen, ist ver dammt schwierig, weil die Lieferfahrzeuge ständig im Wettbewerb mit der Versorgung des Armeekorps stehen, das Rabun Gap vertei digen soll. Und das Korps hat seinen Standort praktisch über uns; seine Haupt-Nachschubstation ist Franklin, also gab es am Anfang alle möglichen Probleme. Es gibt da ein Gedicht von Kipling, in dem steht, dass Soldaten keine Gipsheiligen sind. Du brauchst es dir bloß vorzustellen: ein Haufen Soldaten und eine unterirdische Stadt voll Frauen. Eine Weile ist alles wirklich … na ja, sagen wir drunter und
drüber gegangen. Und jetzt bleiben die draußen, und wir bleiben hier drinnen, und fast alle sind glücklich und zufrieden.« Sie machte eine kurze Pause und schüttelte dann den Kopf. »Wir sind übrigens so ziemlich die einzige SubUrb, die dieses Problem hat. Siehst du, wir sind nämlich die Urb, die am nächsten an einer Verteidigungsfront liegt. Ich meine, es gibt ein paar andere, die so nahe dran sind, und dann war da Rochester Urb …« Sie schauderte. »Schl …?«, fragte Elgars. »Allerdings«, meinte Wendy leise. »Sogar schlimmer noch als Fre dericksburg. Die Posleen sind in die Urb eingedrungen, und nach her gab es nichts mehr zu tun. Es gibt wirklich nur einen Zugang und einen Ausgang. Die Verteidiger haben ihnen einen guten Kampf geliefert, haben wir zumindest gehört … Überlebende … gab es keine.« »Puuuh …« »Yeah«, machte Wendy. »Deshalb zucken wir immer zusammen, wenn in den Nachrichten etwas von den Kämpfen um Rabun Gap erwähnt wird. Wenn die Posleen durchkommen, gibt es nicht viel, was wir tun können.« Elgars nickte bloß und sah sich dann wieder um. Ebenso wie Wen dy waren die meisten Leute ziemlich schlecht gekleidet. Die Aus nahme bildeten ein oder zwei Mädchen im Teenageralter mit auffäl ligen Shorts und bauchfreien Tops. Das war sichtlich neue Kleidung, aber in einem ganz anderen Stil, als die restlichen Bewohner sie tru gen. Wendy bemerkte ihren »Militärhuren«, flüsterte sie.
Blick
und
runzelte
die
Stirn.
»Www …?« Wendy zuckte erneut die Achseln. »Jeder richtet sich hier irgend wie ein. Manche werden zu Drohnen, andere finden Spaß daran, in den Korridoren herumzurennen und so zu tun, als wären sie ganz besonders üble Typen. Andere … suchen sich ihren Spaß. Die Solda
ten dort oben dürfen nicht hier runterkommen; es hat … also, es gab einfach zu viele Probleme, als sie ungehinderten Zugang hatten.« Sie runzelte die Stirn, und man konnte daraus schließen, dass sich hin ter diesem schlichten Satz eine Fülle von Geschichten verbarg. »Und deshalb haben der Leiter der Sicherheitsabteilung und der Komman deur des Armeekorps nach einer Weile ein Abkommen geschlossen, und jetzt kommen die Soldaten nicht mehr hier runter. Das heißt aber nicht, dass wir nicht rausdürfen. Und so kommt es, dass einige der Mädchen, und ältere Frauen auch …, oben an der Oberfläche ei nem uralten Gewerbe nachgehen.« »Das … vr … st … ich nicht«, murmelte Elgars. Wendy sah sie mit hochgeschobenen Augenbrauen an. »Du weißt nicht, wovon ich rede, wie?« »Ne.« Wendy seufzte. »Die tauschen Sex gegen Geld, Captain. Und Le bensmittel. Bessere Kleidung und bessere Lebensmittel, als sie hier unten kriegen können. Und elektronisches Gerät – das gibt es heut zutage praktisch nicht mehr.« Elgars sah sich um, musterte die hohen Kunststoffwände und die endlosen Korridore. Sie dachte darüber nach, wie es sein musste, jahrelang hier unten festzustecken, und schüttelte den Kopf. »Und?« Wendy musterte sie kurz und schüttelte dann den Kopf. »Lass nur. Würde zu lange dauern, dir zu erklären, warum manche Leute das nicht gut finden.« Elgars nickte, als sie auf eine Tür zugingen, auf der »S&A Securi ties« stand. Hinter der Tür war eine kleine Nische und dann eine weitere Tür, diesmal abgesperrt. Wendy drückte einen Summer und sah in eine Überwachungska mera. »Lass mich rein, David, ich bringe Besuch.« »Du bist ja bewaffnet, Honey. Ich bin überrascht, dass du es ge schafft hast.«
Die tiefe Stimme kam aus einem Lautsprecher unmittelbar über ih nen, während gleichzeitig die Tür summte. »Ich bin bloß um die Detektoren herumgegangen«, sagte Wendy, als sie den spärlich ausgestatteten Raum dahinter betrat. »Und das war gut so.« Die linke Seite des Raums säumten Stahlspinde mit Gittertüren. Durch das Gitter konnte man undeutlich die Umrisse von Karabi nern und Maschinenpistolen erkennen. Der Tür gegenüber stand ein niedriger Schreibtisch; als Wendy und Elgars eintraten, schob ein dunkelhäutiger, kräftig gebauter Mann einen Rollstuhl zurück und kam dann auf sie zu. »Habt ihr Probleme?«, fragte der Mann. »Keine, mit denen wir nicht zurechtkämen«, sagte Wendy mit ei nem Achselzucken und immer noch unter Adrenalinschock stehend. »Wen bringst du denn da mit?«, sagte der Mann und sah sie mit einem Blick an, der so viel sagte wie: Mir ist völlig klar, dass das kei ne Kleinigkeit gewesen ist. »David Harmon, darf ich dir Captain Anne O. Elgars vorstellen«, sagte Wendy und lächelte. »Captain Elgars hat vor einer Weile ein paar Schäden davongetragen und ist noch nicht ganz in Form.« Wendy fürchte die Stirn. »Genauer gesagt, sie hat Amnesie und hat daher keine Ahnung von Waffen. Die hat sie früher schon gehabt. Wir müssen rauskriegen, woran sie sich erinnert.« »Erinnert?«, wiederholte Harmon mit finsterer Miene. »Meine Bei ne erinnern sich nicht ans Laufen. Wie sollen ihre Hände sich ans Schießen erinnern?« »Der Arzt sagt, dass sie sich an den größten Teil ihrer motorischen Fähigkeiten erinnert; sie kann schreiben und essen und all das. Und … na ja … ich denke, die Blades würden wahrscheinlich sagen, dass sie sich noch an ein paar Dinge aus ihrer Nahkampfausbildung erin nert. Ich dachte, wir könnten es jedenfalls versuchen.«
»Waren Sie je auf einem Schießstand?«, fragte Harmon Anne. Dann sah er Wendy an. »Blades?« »Crazy Lucy und Big Boy«, sagte Wendy und deutete mit dem Kinn auf Elgars. »Sie hat mit den beiden gespielt.« »Ich … er … erinnere … mich schon«, sagte Elgars und runzelte die Stirn. »Ha ni gespie …« »Der Captain befindet sich noch in der Genesung«, sagte Wendy mit leiser Stimme. »Sie hat …« »Eine ernsthafte Sprachstörung«, meinte Harmon. »Na ja, in die sem beschissenen Loch ist ja keiner von uns ganz«, fuhr er dann fort und wies auf seine Beine. Er zog den Reißverschluss der Tasche auf und holte Gerät heraus. »MP-5SPD. Hübsch. Schalldämpfer. Waren Sie im Nahkampfein satz, Captain?« »Wei-wei-weiß nich«, antwortete Elgars. »Kkka n ni erinner …« »Sie hatte auch noch ein Barrett im Spind«, fügte Wendy hinzu. »Das gibt keinen Sinn«, sagte Harmon mit gefurchter Stirn. Er zog die nächste Waffe heraus, und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Desert Eagle .44. Das ist keine Scharfschützenwaffe. Jedenfalls nicht in einer regulären Einheit. Waren Sie bei den Special Forces oder dergleichen?« »Nein«, sagte Elgars und verzog das Gesicht. »Ich glaub das zu mindest nicht. In den Ppppapieren steht Dr-dr-drei. Und dann, äh, S-ss-sechshundert.« Ihre Stirn runzelte sich, und dann verzog sie das Gesicht, legte ihre gleichmäßigen weißen Zähne in einem Raubtier grinsen frei. »Aalles d-durch einander.« Harmon sah Wendy mit hochgeschobener Augenbraue an. »Da von haben Sie nichts erwähnt.« »Sie ist ›abkommandiert‹«, sagte Wendy mit einem Achselzucken. »Krankenhaus. Ich weiß nicht, ob die sie noch einmal durchs Trai ning schicken oder was sonst. Aber jedenfalls macht es Sinn, dass sie die Grundzüge neu lernt.«
»Mhm«, knurrte der Waffenausbilder. »Das macht etwa ebenso viel Sinn wie alles, was mir in den letzten sechs Jahren widerfahren ist.« Er lud beide Waffen durch und rollte dann zu einem Spind hin über. »Sie soll sich Ohrenschützer aufsetzen, dann bereite ich den Schießstand vor.«
Harmon hielt dem weiblichen Captain die Glock hin und beobachte te dabei ihre Hände. »Die Waffe ist nicht geladen, aber Sie sollten es niemals glauben, wenn Ihnen jemand das sagt. Halten Sie sie nach unten gerichtet und lassen Sie den Finger vom Abzug.« Elgars nahm die Pistole mit einem leicht verwirrt wirkenden Aus druck entgegen und drehte sie in der Hand. Der Schießstand war auf eine Distanz zwischen fünf und dreißig Meter mit Zielscheiben in menschlicher Form ausgestattet. Sie sah in das Patronenlager und legte den Kopf etwas zur Seite, es sah aus wie bei einem Vogel, und nahm dann eines der Magazine. »I … irgendwie … vvvvertraut. Darf ich durchladen?« »Nur zu«, sagte Harmon, ohne sie aus den Augen zu lassen. Elgars bewegte die noch ungeladene Waffe hin und her, hielt sie dabei nach unten gerichtet. »Da stimmt was nicht«, sagte sie, drehte sich um und sah dabei den Ausbilder an. Die Pistole folgte dabei ih rem Körper, schwang nach links und unten. Direkt auf den Mann in seinem Rollstuhl. »Hoch!«, sagte Harmon scharf und schob ihr den Arm in die Hö he. »Zielen Sie auf die Scheibe! Jetzt holen Sie sich das Magazin, schieben es ein und laden dann durch. Aber diesmal zielen Sie nach unten, ja?« »Tut mir Leid«, sagte Elgars mit gefurchter Stirn. »Stimm was nich. Stimm und stimm doch nich.« Sie blickte immer noch verunsi
chert, als sie das Magazin nahm, aber die Bewegung, mit der sie es in die Waffe schob und diese durchlud, wirkte absolut sicher. »Äh, ›Schusslinie frei‹?«, sagte Wendy und grinste. »Rech, linch, berei?«, murmelte Elgars immer noch mit gefurchter Stirn. Harmon lächelte. »Linke Seite bereit? Linke Seite ist bereit. Rechte Seite bereit? Rechte Seite ist bereit. Schusslinie ist frei. Feuer frei.« Ehe das Lächeln des ehemaligen Polizeioffiziers verblasst war, hat ten alle fünf Ziele zwei Schüsse im oberen Brustbereich und einen mitten im Gesicht abbekommen. Ein Donnern war zu hören, eine Se rie von Knallen wie ein langsam schießendes Maschinengewehr, dann fiel das Magazin zu Boden, und die Waffe wurde nachgeladen. Harmon hatte überhaupt nicht gesehen, wie ihre Hand nach dem Ersatzmagazin gegriffen hatte; die Waffe schien sich wie durch Zau berei selbst zu laden. »Da soll mich doch der Teufel holen«, murmelte Harmon, wäh rend Wendy immer noch mit offenem Mund dastand. »War das okay, Sarn't?«, fragte Elgars mit einer Stimme wie ein scheues, kleines Mädchen. »Ja, das war ziemlich gut«, sagte Harmon und wedelte mit einer Handbewegung den Pulverdampf weg. »Ziemlich gut.«
7 Rochester, New York, Sol III 1014 EDT, 13. September 2014
»Ich denke, das läuft ganz gut«, äußerte sich Colonel Cutprice. Er duckte sich kurz, als ein verirrtes Geschoss aus einer Railgun von den zerschossenen Überresten eines Kampfpanzers abprallte, der ihm Schutz bot. »Hätte schlimmer sein können.« »Wäre auch schlimmer gewesen, wenn die Hüpfenden Barbies nicht so spät gekommen wären«, knurrte Sergeant Major Wacleva. »Und die Spanische Inquisition.« »Ich habe da eine Liste, eine kleine Liste«, sagte Sunday, der auf dem Bauch zu ihnen herübergekrochen war. »Wir könnten hier draußen ein paar Hüpfende Barbies gebrauchen, Sir.« Er hob kurz den Kopf über das Stück Panzerung und duckte sich gleich wieder. »Eigentlich war ja das Killing Field gar nicht so schlecht, aber es könnte immer besser sein.« Cutprice schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, warum man die Dinger ›Hüpfende Barbies‹ nennt, Sunday?« »Yes, Sir«, erwiderte der Sergeant. »Eigentlich sollten sie ja nach Duncan benannt sein. Aber die nennen sie ›Barbies‹, weil das besser klingt und weil sie genau wie Barbie hoch springen und einem die Beine an den Knien absäbeln, wenn man in ihre Nähe kommt. Ist ja klar. Dieses kalte Miststück.« Die M-281A Anti-Posleen-Flächenwaffe war eines der wenigen Stücke von »GalTech«, der Technologie, die die Galaktische Födera
tion ihnen zunächst angeboten hatte, dann aber nicht in nennens werten Mengen hatte liefern können. Das Gerät ging auf eine ziemlich unangenehme Panne zurück, einen Fehler, den einer der Angehörigen der Mobile Infantry des 1st Battalion gemacht hatte. In den ersten Tagen des Konflikts hatte Ser geant Duncan, der immer an allem herumbasteln musste, so lange an einem persönlichen Schutzfeld herumgetüftelt, bis sämtliche Si cherheitsvorkehrungen entfernt waren; anschließend hatte er die ge samte Energie des Geräts in einem einzigen kurzen Schlag einge setzt. Die Energieentladung und die entfernten Sicherungen hatten eine Art kreisförmige »Säbelklinge« geschaffen, die ein paar Stockwerke der Kaserne durchschnitten hatten, in der er sich zu dem Zeitpunkt befunden hatte. Und nebenbei bedauerlicherweise auch die Beine seines Zimmerkollegen. Es hatte sich schließlich herausgestellt, dass es für Indowy-Techni ker ziemlich leicht sein würde, solche Kästen zu bauen, selbst in Ein zelanfertigung. Und man konnte sie auch mühelos in ein Gerät menschlicher Konstruktion einbauen, das als »Streuminenplattform« bezeichnet wurde. Es handelte sich um ein Artilleriegeschoss, das achtundvierzig Mi nen ausstieß, die alle in bescheidenem Maße beweglich waren und recht gemütlich aussahen; die Mine war eine runde, platt gedrückte Scheibe, ähnlich einem Kuhfladen. Ihre Oberfläche konnte je nach Hintergrund Farbe und Struktur verändern, aber üblicherweise war sie gelb wie Posleen-Blut, und zwar aus Gründen, die bald offen kundig wurden. Nachdem die Scheiben von dem Artilleriegeschoss ausgestoßen waren, verteilten sie sich über eine Fläche von vielleicht zweihun dert Meter Länge und siebzig Meter Breite. Wenn dann irgendetwas bis auf zwei Meter herankam, »hüpfte« die Mine einen Meter hoch und erzeugte ein Kraftfeld, das sich fünfzig Meter weit nach allen Richtungen erstreckte. Dieses Feld durchschnitt alles mit Ausnahme
der modernsten galaktischen Panzerung, und das bedeutete, dass es Posleen praktisch würfelte. Aus menschlicher Perspektive war das »Nette« an dem System, dass es mit »Bord«-Batterien bis zu sechs Sprünge machen konnte. Nach jedem Angriff huschte es seitlich ein Stück davon und »ver steckte sich« erneut, wartete auf die nächste Welle Posleen und sah für alle Welt aus wie die unangenehmen »Posleen-Stücke«, die über all herumlagen. Obwohl die Haufen zerhackter Posleen im Allge meinen verrieten, dass Hüpfende Barbies in der Gegend waren. Selbst die schwachsinnigen Normalen merkten das. Da die Posleen in der Regel so auf Minenfelder reagierten, dass sie Normale über sie jagten, bis das Terrain frei war, schützten die Barbies gegen meh rere Wellen, was bei normalen Minen nicht der Fall war. »Wir brauchen hier draußen wirklich welche, Sir«, beharrte Sun day. »Zum einen weil sie, wenn sie auf einen Haufen Toter wie hier fallen, die in Stücke hacken. Auf die Weise kann man sie leichter wegschaffen. Und außerdem macht es wirklich Spaß, ihnen zuzuse hen.« »Wenn man Ihnen so zuhört, kommt einem O'Neal wie ein richtig netter Kerl vor, Sunday«, sagte Major Wacleva mit leicht tadelndem Unterton, insgeheim aber teilte er Sundays Begeisterung hinsichtlich toter Posleen.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Mike, der gerade den Hügel heraufkam. Er kniete neben dem Panzer nieder und tätschelte ihn liebevoll. »Juarez. Der war schon beim Bataillon, ehe ich die BravoKompanie übernommen habe. Er war mal in Stewarts Gruppe. Gu ter Mann. Ein schlimmer Verlust.« Cutprice musterte den Panzer jetzt zum ersten Mal bewusst; etwas – ein HV-Geschoss? Eine Plasmakanone? – hatte die obere Partie einfach weggefressen. »Wie viele haben Sie verloren, Major?«
»Sechsundzwanzig«, sagte O'Neal und richtete sich auf, um über die schmale Brustwehr sehen zu können. Offenbar nahm man ihn nicht gleich zur Kenntnis, aber Augenblicke später schlug eine gan ze Feuerwelle über ihm zusammen. »Die meisten davon waren na türlich neu hier. Die machen manchmal schrecklich dummes Zeug.« Cutprice und Wacleva duckten sich und zogen sich förmlich in ih ren schweren Körperpanzer zurück, während Sunday fluchend ein Stück zur Seite kroch, um eine der Railguns zu holen. Ein verirrtes Geschoss hatte die fünfundzwanzig Kilo schwere Kombination aus motorisiertem Stativ und Railgun nach hinten geschleudert. Schon ein kurzer Blick verriet ihm, dass damit nichts mehr anzufangen war. »Verdammt, Colonel«, rief der Sergeant. »Sie sind schuld, dass meine Knarre jetzt hin ist!« »Oh, das tut mir aber Leid«, sagte O'Neal. Er ließ sich auf dem schlammigen Boden nieder und schaltete sein Sichtgerät auf Außen sicht. »Cutprice, warum hocken Sie im Schlamm? Ach, lassen Sie nur. Wissen Sie, ob noch Barbies da sind? Wir brauchen draußen am Hang welche. Die hacken die Posleen wirklich kurz und klein; auf die Weise können wir besser vorrücken, wenn es dann so weit ist, und außerdem macht es mächtigen Spaß, wenn man dabei zusehen kann.« »Hat man euch beide bei der Geburt getrennt oder so?«, wollte Cutprice wissen. »Und um die Frage zu beantworten: Wir hocken hier, weil all das Zeug, das von Ihrem Panzer abprallt, ein wenig un angenehm geworden ist.« Mike nahm den Helm ab und sah zu ihm hinüber. »Wovon reden Sie eigentlich?« »Man hat gerade auf Sie geschossen, Schlaumeier«, sagte Wacleva. »Sie haben das doch bemerkt, oder?« »Nein«, erwiderte Mike knapp. »Ich habe nichts gemerkt. Tut mir Leid. Ich schätze … es war gar nicht so schlimm.«
»Für Sie vielleicht nicht«, sagte Wacleva und zog einen zerdrück ten 1-mm-Railgun-Bolzen aus seinem Körperpanzer. »Aber es gibt auch Leute, die nicht von Kopf bis Fuß in Piastahl stecken.« »Und genau das ist natürlich das Problem«, meinte Cutprice miss vergnügt. »Wenn wir versuchen, über diese Bodenerhebung vorzu rücken, sind wir Hackfleisch.« »Irgendwie müssen wir die aber auseinander sprengen«, sagte Sunday. »Nukes, Nukes, Nukie-Nukes.« »Das wäre tatsächlich nett«, sagte Cutprice. Ihm war bewusst, dass sie die Posleen nur mit äußerster Not zum Stehen gebracht hatten, geschweige denn »zurückgedrängt«, was man eigentlich von ihnen verlangt hatte. »Bedauerlicherweise sagt der Präsident immer noch nein. Die Artillerie …« »Zeit für Spanische Inquisition?«, fragte O'Neal und öffnete zuerst eine gepanzerte Tasche und dann eine zweite. Schließlich gab er es auf. »Sergeant Major, ich entschuldige mich in aller Form dafür, dass ich Ihnen kurzzeitig Ungelegenheiten bereitet habe. Könnte ich jetzt von Ihnen eine Zigarette schnorren?« »Yeah«, lachte Wacleva und zog eine filterlose Pall Mall heraus. »Keren hat schon mit der Spanischen Inquisition begonnen, man schickt ein Platoon MPs, von denen jeder ein Blatt mit Fragen und Antworten hat. Dann greift man sich die ranghöchsten Offiziere und Unteroffiziersdienstgrade und stellt ihnen drei Fragen von dem Blatt. Wenn sie nicht zwei davon richtig beantworten, werden sie abgelöst. Ehe man es richtig merkt, ist man auf die Weise wenigs tens die Hälfte Ballast losgeworden und hat plötzlich Leute in Füh rungspositionen, die genau wissen, was sie zu tun haben.« »Das Einzige, was ich daran auszusetzen habe, ist, dass mir das nicht eingefallen ist«, sagte Mike. Er nahm die Zigarette in den Mund, hob den linken Arm und plötzlich schoss eine zwei Meter lange Flammenzunge aus einer der vielen kleinen Öffnungen an der Oberfläche seines Anzugs. Er nahm einen Zug an der Zigarette, und der Flammenwerfer erlosch. »Bei Infanterie und GKA-Einheiten
bringt das nicht viel, aber Artillerie – das sind Spezialisten. Wenn man nicht weiß, wie man einen beschissenen Graben abdichtet, soll te man nicht bei den Pionieren sein. Wenn man nicht weiß, wie man die richtige Größe einer Antenne berechnet, hat man bei den Fern meldern nichts zu suchen. Und wenn man nicht weiß, wie man Windgeschwindigkeit berechnet, dann ist man auf dem Posten eines beschissenen Bataillonskommandeurs fehl am Platz.« »So eine muss ich auch haben«, sagte Sunday und zog ein Päck chen Marlboro heraus. »Darf ich's versuchen?« »Aber klar«, sagte O'Neal. Sunday lehnte sich zurück, um der Flammenzunge auszuweichen, und nahm einen Zug an dem Sargnagel. »Herrlich.« »Das ist nicht Standard«, gab Mike zu bedenken. »Eine der Modifikationen, die ich vorgeschlagen habe und die dann in den Ausschüssen hängen geblieben ist. Ich glaube, an einen Ronco-Anzug.« »Damit kann man schneiden, hacken und Pommes Frites machen?«, meinte Cutprice lachend. »Sie haben's erfasst«, nickte O'Neal ernst. »Ist ja wohl klar, dass das nicht bloß als Zigarettenanzünder eingebaut ist. Also, wie schaf fen wir es, dass wir diese Mistkerle zurücktreiben? Und dass dann vielleicht noch jemand übrig ist, wenn wir fertig sind.« »Soll ich daraus schließen, dass Sie der Aufgabe nicht gewachsen sind?« »Nee«, sagte O'Neal und lehnte sich zurück, stützte sich auf den Panzer mit den sterblichen Überresten von Sergeant Juarez. »Wir ha ben heute Morgen ein Viertel unserer Kampfstärke verloren. Das ist nicht so schlimm wie bei Roanoke – das war wirklich beschissen –, aber wenn wir über diesen Kamm gehen, dann fressen die uns bei lebendigem Leib. Wir können die Stellung halten, aber nicht vor rücken. Und das können wir nur, weil die Ari eine Seite hält.«
»Die werden dort drunten abgeschlachtet werden«, sagte Wacleva und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Krankenhaus. »Dann sind es ein paar weniger.« »Haben Sie wirklich über die Hügelkuppe gesehen, Sergeant Ma jor?«, fragte Sunday ungläubig. »Die verlieren vielleicht tausend pro Minute, und das ist doch eine ganze Menge. Aber bei diesem Tempo sind wir noch vierzig Tage und vierzig Nächte hier.« »Genau, und in der Zeit vermehren die sich überall an der Küste«, gab Mike zu bedenken. »Diese geilen Drecksäcke.« Er kratzte sich am Kinn und sog wieder an seiner Zigarette. Dann beugte er sich vor, hob einen zerbrochenen Boma-Säbel auf und hielt ihn sich über den Kopf. Ein paar Augenblicke später krachten über ihm RailgunGeschosse, gefolgt von einzelnen HV-Geschossen. Schließlich schlug ihm ein ganzer Strom von Geschossen den Säbel aus der Hand und zerfetzte ihn dabei. »Die machen immer noch Druck«, meinte O'Neal, während die an deren sich langsam wieder aufrichteten. »Wenn man sie festnagelt und nicht mindestens die erste Million tötet, kommt es manchmal vor, dass ihnen die Munition ausgeht. Aber wenn man eine Welle nach der anderen tötet, sind die, die dahinter kommen, immer frisch und haben voll geladene Waffen. Wir haben das in … Herrgott … Harrisburg Eins genutzt, denke ich. Die vordersten Ränge festgena gelt, bis ihnen die Munition ausging, vorgerückt und uns erneut ein gegraben, so dass die hinteren Ränge nachrücken konnten, und dann das Ganze wiederholt. Irgendwie. Glaube ich. Ist lange her. Aber wenn wir das hier versuchen, packen die uns von der Flanke. Damals haben wir die äußeren Befestigungsanlagen zurückerobert, und die Front war ganz schmal.« »Das kommt also offensichtlich nicht in Frage«, meinte Cutprice mürrisch. »Sonst noch Ideen?« Mike rollte sich auf den Rücken und blickte zum Himmel. Er war immer noch bewölkt, aber der leichte Regen hatte aufgehört. Die Sonne stand im Osten am Himmel und würde vielleicht bis Mittag
die Feuchtigkeit aus dem Boden brennen. Er dachte nach und begriff dann, dass es bereits Mittag war. Er wälzte sich zur Seite und betastete den Boden. Die Ziegelbau ten, die einmal hier gestanden hatten, waren zu feinem rötlichem Staub zermahlen worden, der ihn irgendwie an zu Hause erinnerte. Und darunter? Er schnüffelte kurz am Boden, blickte dann, den Kopf leicht seitwärts geneigt, den Hügel hinunter, als wolle er den Winkel messen, schnippte dann seine Zigarette weg und setzte den Helm auf. Cutprice warf sich auf den Boden, als die Wärmesignatur einen neuen Feuersturm auslöste. »Kommunizieren Sie jetzt einfach nur mit der Natur oder haben Sie einen Plan?« Mike hob einen Finger. ›Augenblick bitte‹ sollte das wohl heißen. Er wälzte sich zurück. »Ich habe einen Plan«, verkündete er dann. »Meine Mutter wäre jetzt wahrscheinlich stolz auf mich. Endlich kann ich das viele Lesen nutzen.« »Lesen? Was denn?«, fragte Cutprice. »Science-Fiction-Stories von Keith Laumer.«
Colonel Wagoner musterte ungläubig das Video, das über sein Head-up-Display lief. »Entschuldigung, General, würden Sie das bitte wiederholen?« Homer lächelte. Wie so ziemlich jeder wusste, bedeutete dieses Lä cheln, dass die Scheiße jetzt wirklich am Dampfen war. »Sie sollen den Genesee River überqueren und dort die GKA und die Zehntau send unterstützen. Die stecken augenblicklich auf dem Hügelkamm fest, der parallel zur Mount Hope Avenue verläuft. Sie überqueren den Fluss, arbeiten sich zu der Kuppe hinauf und liefern denen auf Anforderung direkte Artillerieunterstützung.«
»General«, protestierte der Colonel, der sich all die wirklich schlimmen Aspekte dieses Befehls durch den Kopf gehen ließ, »Ihnen ist doch bewusst, dass … na ja …« Er hielt kurz inne, um seine Gedanken zu sammeln. »Nun, zum einen sind unsere Geschosse nicht gerade Haubitzengeschosse, Ge neral. Wenn die etwas treffen, erzeugen sie einen Atompilz, etwa ein Viertel so groß wie die Hiroshima-Bombe; das wird man auf Seis mometern von hier bis Tibet feststellen können. Zum Zweiten rei chen sie määächtig weit; da draußen gibt es ein paar Festungsstädte. Und dann muss ich an New York denken. Und zu guter Letzt möch te ich auch sagen, dass wir kein Panzer sind, auch wenn wir wie ei ner aussehen. Wir haben keine Panzerung über unseren Ketten oder an der Kanone. Mit anderen Worten, wir sind für Posleen-Feuer ver letzbar. Und wenn wir uns einen kritischen Treffer in die Munitions kammer einfangen, dann kriegen Sie hier eine Explosion, die so ge waltig ist, dass der Treffer auf Shanghai im Vergleich dazu wie ein Knallfrosch wirkt, außerdem verlieren Sie alle und jeden in dem Kessel. Und den größten Teil der Streitkräfte auf dieser Flussseite.« Er wartete, weil er das Gefühl hatte, Homer wollte, dass er weiter redete. »Ist das alles?«, fragte Homer. »Nun … ja, Sir.« »Okay. Sie haben vergessen, dass die Posleen ohne Infanterieun terstützung auf beiden Seiten vorrücken und Sie von unten angrei fen können. Und unter Berücksichtigung aller Umstände ist das die Richtung, in der Sie am leichtesten verletzbar sind. Sie haben keine Anti-Posleen-Sekundärwaffen.« »Yes, Sir«, sagte der Colonel. »Das leuchtet mir ein.« »Außerdem werden Sie sie in großer Zahl einfach zerdrücken, so fern die Zehntausend sich nicht zurückziehen. Und Sie mit Ihrem Monstrum durch das angreifende Korps zu bewegen, nun, das wird nicht gerade leicht sein.« »Nein, ganz sicher nicht«, räumte der Colonel ein.
»Außerdem haben Sie den wesentlichsten Aspekt Ihres möglichen Hinscheidens übersehen«, fuhr der General gnadenlos fort. »Wenn Sie einen kritischen Munitionstreffer abbekommen, wird die daraus resultierende Explosion die Größenordnung von siebzig Kilotonnen haben. Das wird zwar zweifellos meilenweit Posleen töten, wird aber zugleich auch einen gewaltigen Krater erzeugen. Und dieser Krater dürfte der Oberflächenstruktur nach zu schließen den Gene see River und den Erie-Kanal wie ein Damm abriegeln. Das dabei entstehende Sumpfgebiet wird die Posleen zweifellos behindern, weil sie dann nämlich Pionierbrücken bauen müssen. Und das ge nau zu dem Zeitpunkt, wo die örtlichen Verteidigungsstreitkräfte in voller Flucht nach Buffalo sein werden.« Der Colonel erinnerte sich plötzlich daran, dass Horner ursprüng lich eine Pionierausbildung durchlaufen hatte. »Ah. Das … hatte ich nicht in Betracht gezogen, Sir.« »Colonel, hören Sie mir jetzt sehr gut zu«, sagte Horner mit einem breiten Lächeln, als spräche er zu einem Kind. »Bringen Sie Ihr Fahr zeug zum Genesee-Tal. Überqueren Sie den Fluss. Nehmen Sie die Posleen unter direkten Beschuss und unterstützen Sie damit die GKA auf der Anhöhe. Feuern Sie Ihre Waffen tief ab. Beschießen Sie vorzugsweise Feindkonzentrationen auf Hügelkuppen, die Sie errei chen können; wenn es gelegentlich zu Detonationen Ihrer Antimate rie-Munition kommt, ist das eine bedauerliche Nebenwirkung, für die man weder Sie noch mich verantwortlich machen kann. Wenn Sie dann vorrücken, werden die Zehntausend nach links abschwen ken, um die Flanke zu sichern. Die GKA werden Ihnen Infanterie schutz geben. Nutzen Sie den Hang für Beschuss aus gedeckter Stel lung; so, wie ich das begreife, ist das Terrain dafür ideal geeignet. Und versuchen Sie, nicht versehentlich New York zu treffen. Ist das klar?« »Yes, Sir«, sagte der Colonel leise. Allmählich wuchs in ihm das Gefühl, dass das alles nicht auf dem Mist des Generals gewachsen war. Und dass der General nicht sonderlich erbaut darüber war.
»Und noch eines, Colonel Wagoner.« »Yes, Sir.« »Sehen Sie zu, dass Sie nicht getroffen werden. Ganz besonders nicht in Ihre Magazine.« »Ich werde mir Mühe geben, Sir. Sir? Eine Frage noch?« »Ja?«, fragte Horner ungeduldig. »Die Zehntausend gehen mir aus dem Weg. Was ist mit den GKA? Was ist, wenn wir einen von ihnen überfahren?« Horner antwortete nicht gleich, blickte einen Augenblick lang fins ter, bei ihm ein Zeichen dafür, dass er sich amüsierte. »Colonel, ha ben Sie je die TV-Folgen mit dem Kojoten und dem Road Runner ge sehen?« »Yes, Sir.« »Na schön. Wenn Sie einen GKA überfahren, muss er sich einfach wieder ausgraben. Da ist einer drüben, der wie ein grüner Dämon bemalt ist; Sie haben meine ganz persönliche Erlaubnis, ihm zu zei gen, weshalb Sie die Infanterie ›Quetschis‹ nennen.«
8 In der Nähe von Seed Lake, Georgia, Sol III 1147 EDT, 13. September 2014
»Braves Cosslain«, sage Cholosta'an und streichelte das überlegene Normale am Rücken. Das halbe Oolt war ganz auf sich allein gestellt von seiner ersten »Patrouille« zurückgekehrt und hatte allem An schein nach sämtliche Wendungen perfekt ausgeführt. Viele der Cosslain, der Normalen mit etwas höherer Intelligenz, Individuen, die fast oberes Schwachsinnsniveau erreichten, hätten sich all die Wendungen in dem komplizierten Patrouillenmuster, das man ihnen aufgetragen hatte, nicht merken können. Aber das eine Gute an seinem Oolt waren die Cosslain, und dieses hier schien beinahe intelligent genug, um die Pflichten eines Gottkönigs über nehmen zu können. Es konnte nicht reden, aber seine Handbewe gungen waren gelegentlich beinahe eloquent. »Hast du irgendetwas Wichtiges gesehen?«, fragte Cholosta'an und bedeutete dem halben Oolt, dass die anderen mit ihrer tägli chen Nahrungsaufnahme beginnen durften. Das Cosslain machte eine verneinende Geste und zog sich ein Ver pflegungspäckchen aus dem Geschirr. Es sah aus wie ein kleiner Würfel aus irgendeinem Mineralstoff und war auch fast so hart, aber auf die Weise hatten die Oolt'os wenigstens zu tun. »Du wirst in ein paar Stunden wieder hinausgehen«, fuhr Cholo sta'an fort und zog ein etwas besser verdauliches Verpflegungspäck chen heraus. Es war auch nicht viel besser als die Verpflegung, die
die Oolt'os bekamen, und er sehnte sich nach dem Sieg, weil der ihm die Mittel einbringen würde, sich Besseres zu leisten. »Wenn du ir gendwelche Spuren von Menschen siehst, musst du ein Magazin ab feuern, um den nächsten Kessentai heranzuholen, weißt du das?« Eine bestätigende Geste des Cosslain, wobei seine dreieckigen Zähne die Verpflegung zermahlten. »Gut«, sagte Cholosta'an. Alle Oolt'os schienen ihm gesund und einigermaßen gut genährt, deshalb gab es sonst nicht viel zu tun. »Du leistest gute Arbeit«, sagte Orostan. Cholosta'an unterdrückte ein Zusammenzucken und drehte sich langsam um. Der Oolt'ondai war so leise herangekommen, dass der jüngere Kessentai ihn überhaupt nicht gehört hatte. »Wie bitte, Ool t'ondai?« »Du sorgst gut für deine Oolt'os. Viele Kessentai, besonders die Jüngeren, kümmern sich nicht sehr um sie. Es ist gut zu sehen, dass du da anders bist.« »Sie sind nicht imstande, für sich selbst zu sorgen«, meinte Cholo sta'an und fragte sich, weshalb der Oolt'ondai ihn beachtete. »Ich will dich etwas fragen«, sagte der Oolt'ondai und bedeutete dem jüngeren Kessentai, dass er vorangehen solle. Die neu gegrabe ne Kaverne hallte vom Klang der Verschlinger und den Schreien der Oolt'os, die sie bedienten. Das war nur eine Kaverne von Dutzen den, die der ehrgeizige Tulo'stenaloor hatte anlegen lassen. Offenbar hatte er die Absicht, die ganze Heerschar unter der Erde unterzu bringen, damit die Beobachter am Himmel sie nicht sehen und die menschliche Artillerie sie nicht erreichen konnte. Da täglich mehr und mehr junge, hungrige Kessentai eintrafen, bedeutete das ständi ge Bautätigkeit. Der Oolt'ondai sträubte den Kamm, während er sich zwischen Tausenden wartender Oolt hindurchschlängelte. Die Körper der Oolt'os und gelegentlich eines Kessentai zwischen ihnen dehnten sich mehrere Hektar nach allen Richtungen. Der Geruch war eine in teressante Mischung, man spürte darin Angst, aber auch vertraute
Bestandteile wie zu Hause. Es war der Geruch eines Rudels, aber der ständige Kampf ums Überleben und um Status in den Pferchen verließ das Unterbewusstsein der Posleen nie. Die Oolt'os konnten in stoischer Ruhe warten, bis man nach ihnen verlangte, aber wenn man die Kessentai nicht beschäftigte, zum Beispiel indem man ihnen den Auftrag gab, Patrouillen zu organisieren, dann fingen sie an herumzumeckern, Glücksspielchen zu wagen und sich zu streiten. Und wenn in einer Kaverne erst einmal eine Schießerei ausbrach, würde ihr die Mehrzahl der Streitkraft zum Opfer fallen. »Sieh dich um. Wie viele von diesen Kessentai tun wohl mehr für ihre Oolt'os, als einfach anzunehmen, dass sie zu essen bekommen haben?« »Sehr wenige«, gab Cholosta'an zu. »Ich sehe viele Oolt, die offen sichtlich unterernährt und schlecht ausgerüstet sind. Ich bin sicher, dass die Kessentai genauso viele Probleme haben wie ich, aber ich bezweifle, dass ihre Oolt nur deshalb so schrecklich aussehen, weil sie es sich nicht leisten können, sich Vorräte einzuhandeln.« »Da bin ich voll und ganz deiner Ansicht«, sagte Orostan mit ei nem zischenden Laut, der Belustigung ausdrückte. »Die Heerschar kann nicht jede schrottreife Schrotflinte und jeden abgerissenen Rie men austauschen, den diese jämmerliche Herde mitgebracht hat. Wir haben mehr als ausreichend Thresh'c'oolt für die Heerschar, aber es ist nicht meine Pflicht, nicht ›mein Job‹, wie die Menschen es formulieren würden, mich um jedes Oolt'os in der Heerschar zu kümmern. Weshalb sorge ich also dafür, dass dein Oolt versorgt ist? Und, im Anschluss daran gefragt, weshalb stehst du unter meiner … Lenkung?« »Ich …« Der junge Kessentai zögerte. Niemand hatte ihm je aufge tragen, wurde ihm jetzt klar, dass er für sein Oolt sorgen sollte. Es schien ihm nur … einfach naturgegeben. Nur mit seinem Oolt wür de es ihm möglich, sein vielleicht neues Land und sonstigen Besitz zu gewinnen und damit seine Lebensumstände zu verbessern. Ohne
sein Oolt, ohne dass es gut funktionierte, war er nichts als ein Ken stain. »Ich weiß es nicht.« »Der Grund, weshalb du für mich tätig bist, ist der Eindruck, den dein Oolt macht«, erklärte Orostan. »Als man mir den Auftrag gege ben hat, meine Wahl unter den neuen Kräften zu treffen, habe ich mich auf der Grundlage des Aussehens der jeweiligen Oolt entschie den, nicht danach, wie sie bewaffnet waren, so, wie das viele der mir Gleichgestellten getan haben. Deine Bewaffnung ist offen gestanden Schrott. Aber alle Waffen sind gut gepflegt.« »Besseres konnte ich mir nicht leisten«, gab Cholosta'an zu. Die Schrotflinten seiner Oolt'os waren die einfachsten und demzufolge auch die billigsten Systeme, die es gab. Und selbst bei dem geringen Preis, den er für sie hatte zahlen müssen, waren die Schulden, die er dafür aufgenommen hatte, geradezu ruinös. »Mag sein«, räumte Orostan ein. »Aber eine leichte Railgun kostet nicht einmal doppelt so viel wie eine Schrotflinte. Und sie ist mehr als doppelt so wirksam. Weshalb also nicht die halbe Zahl von Ool t'os und Railguns haben? Oder noch besser, ein Drittel und dafür eine Mischung aus Railguns und Geschosswerfern. Wenn du das hättest, wäre die Zahl deiner Kämpfer wesentlich kleiner, deine Ein heit aber erheblich effektiver.« Cholosta'an dachte über das Gehörte kürz nach. Das war ein ganz neuer Begriff; man ging immer davon aus, dass mehr besser war. Und er wusste auch, weshalb. »Das … das Netz teilt die Beute auf Grundlage dessen zu, wie viel man dazu beigetragen hat. Um … die beste Beute, das beste Land und funktionierende Fabrikanlagen zu bekommen, muss man mehr Oolt'os haben, ein größeres, mächtige res Oolt.« Er hielt kurz inne. »Glaube ich.« »Das Netz teilt die Beute auf der Basis von Wirkung zu«, erklärte Orostan entschieden. »Wenn du nur halb so viel Oolt'os und Rail guns hättest, wäre deine Wirkung besser, als du sie im Augenblick erzielst – wenn sonst alles gleich bleibt. Es könnte sein, dass ich dich
irgendwann in der Zukunft einmal auffordere, die Hälfte deiner Oolt'os freizulassen; wirst du das dann tun?« »Wenn …« Wieder überlegte der junge Kessentai. »Wenn du meinst, dass es so am besten ist.« »Ja, das meine ich«, erklärte der Oolt'ondai nachdenklich. »Wir werden die Flinten verkaufen – ich kenne einen Kenstain, der sich auf so etwas spezialisiert hat; wir werden einen guten Tausch be kommen – und den Rest rüsten wir dann neu und besser aus. Die freigegebenen Oolt'os kommen dann zu den Kenstains, die an den Lagern arbeiten und werden … uns unterstützen, wenn wir vor rücken.« Er zischte grimmig. »Das ist besser als die Alternative, die sich sonst bieten würde.« »Worin liegt die ›Alternative‹?«, wollte Cholosta'an wissen. »Thresh, könnte man vermuten.« Orostan lachte zischend. »Es gibt Schlimmeres, als Thresh zu wer den. Wir brauchen etwas, um diese ›Minenfelder‹ der Menschen zu räumen.« Der jüngere Kessentai ließ den Blick über die Tausende von Pos leen-Normalen schweifen, die in der Kaverne versammelt waren. »Oh.« »Wellen von entbehrlichen Oolt'os für die Minenfelder, Oolt Po'o sol für die Mauern, die Tenaral, um sie festzunageln und ihre ver hasste Artillerie zu zerstören, und dann, mein junger Kessentai, dann werden wir ein Festessen veranstalten.«
Der Rest des Schießens war ohne Zwischenfälle verlaufen, und El gars hatte im Umgang mit sämtlichen Waffen aus ihrer Tasche er staunliches Geschick an den Tag gelegt. Sie konnte ein MP-5, eine Glock .45, ein Steyr-Sturmgewehr und eine Advanced Infantry Wea pon (AIW) zerlegen, blitzschnell wieder zusammenbauen und mit
jeder dieser Waffen perfekte Ergebnisse erzielen. Aber sie kannte keinen einzigen Namen. Alle ihre Schüsse lagen im »Scharfschützendreieck«, also entweder im Brustbereich oder im Kopf. Sie lud blitzschnell und perfekt nach und tat dies immer sofort, nachdem sie sämtliche Zielscheiben ge troffen hatte. Letzteres deutete ganz eindeutig darauf, dass sie eine Spezialausbildung absolviert hatte. Aber sie kannte auch diesen Be griff nicht. Jetzt kehrten sie vorsichtig zu ihrem Zimmer zurück. Für Elgars war die Tatsache, dass Wendy bewusst Umwege machte, offenkun dig; ein Versuch, den Sicherheitskräften auszuweichen. Das schien sie leicht zu amüsieren. »Dddarf ich denn Waffen tttragen?«, fragte sie und blickte auf die schwere Tasche. »Formal gesehen ja«, antwortete Wendy und ließ den Blick prü fend über den Korridor schweifen, der sich mit dem ihren schnitt. »Formal darfst du ohne Waffen überhaupt nicht unterwegs sein. Aber die Typen von der Sicherheit haben einen regelrechten Verfol gungswahn und flippen aus, wenn sie jemanden mit einer Waffe er wischen.« »Kein Waff hier?«, fragte Elgars und schob sich ihre Tasche etwas unbehaglich zurecht. »Oh, Waffen gibt es eine ganze Menge«, schnaubte Wendy. »Na ja, nicht gerade eine Menge. Aber es gibt Schusswaffen, hauptsächlich Pistolen. Zum Teufel, die Kriminalität hier ist hoch, schließlich weiß man nicht, wo man hingehen soll und welche Gegend man meiden soll. Und die Leute brechen die ganze Zeit in die Würfel ein, man nennt das ›bewaffnetes Eindringen‹. Wenn man die Richtigen kennt, kriegt man jede Art von Waffen.« »Warum dann aber keine …?« Elgars hielt inne, sie litt sichtlich unter ihrer Sprachstörung. »Na ja, ›weniger Waffen, weniger Kriminalität‹, nicht wahr?«, sag te Wendy bitter. »So steht's in den Verträgen für die SubUrbs; das
sind Null-Waffen-Zonen. Wenn man eingewiesen wird, nehmen sie einem alle Waffen weg und verwahren sie in der Waffenkammer, die ist ganz oben am Haupteingang. Wenn du weggehst, kannst du sie wieder holen.« »Dann werde ich weggehen«, sagte Elgars langsam und bedächtig. »Hast du nicht die Nachrichten verfolgt?«, fragte Wendy mit bitter klingender Stimme. »Nach all den Felsbrocken, die die Posleen in letzter Zeit abgeworfen haben, beginnt dort oben eine neue Eiszeit. Bei all dem Schnee und Eis kann man sich zwischen September und Mai praktisch nirgendwo mehr bewegen. Und Jobs gibt's oben auch nicht; die Wirtschaft ist völlig im Eimer. Und dann sind da wilde Posleen.« »Wild?«, fragte Elgars. »Die Posties vermehren sich wie die Karnickel«, sagte Wendy. »Und wenn sie nicht in einem Lager sind, legen sie überall ihre Eier. Die meisten von ihnen sind fruchtbar, und sie wachsen wie ver rückt. Da es überall Landungen gegeben hat, sind die Eier fast über die gesamten USA verstreut. Die meisten wilden Posties können ganz gut in der Wildnis überleben, aber es zieht sie doch zu den Menschen, weil es dort für sie zu fressen gibt. Sie sind so gefräßig wie die Bären, und es gibt nichts, was sie nicht fressen können. Und sie haben absolut keine Angst vor Menschen; sie greifen jeden an, auf den sie stoßen. Es ist also, als hätte man überall tollwütige Tiger, die plötzlich vor einem auftauchen.« Wendy schüttelte bedrückt den Kopf. »Hier unten ist's schlimm, aber oben ist die wahre Hölle.« Elgars sah sie von der Seite an. So, wie Wendy das gesagt hatte, klang es irgendwie unecht. Nach ein paar Augenblicken runzelte sie die Stirn und nickte unsicher. »Bei d' Sihei eitret?« Das veranlasste Wendy zu einem ärgerlichen Kopfschütteln, ohne dass sie dabei stehen geblieben wäre. »Ich habe nicht das ›richtige psychologische Profil‹«, schnaubte sie. »Anscheinend fühle ich mich mit ›meinen aggressiven Tendenzen unbehaglich‹ und ›biete ein in
stabiles Aggressionsprofil‹. Das ist dieselbe Ausrede, mit der sie ver hindert haben, dass ich bei den Landstreitkräften eintreten konnte. Nichts zu machen. Wenn man sich als Frau einbildet, dass man einen guten Soldaten abgeben könnte, muss man instabil sein. Und bei der Sicherheit ist es genauso.« »Ver-rückt«, sagte Elgars. »Keine Fraun bei d Sichheit?« »Oh, die gibt es schon«, knurrte Wendy. »Wenn das nicht der Fall wäre, gäbe es keine Sicherheitsabteilung; sämtliche Männer, die nicht als völlig wehruntauglich eingestuft wurden, sind entweder bei den Landstreitkräften oder begraben. Aber die Frauen bei der Si cherheit ›fühlen sich mit ihren aggressiven Tendenzen wohl‹.« »Hä?«, fragte Elgars, während sie gerade den nächsten quer ver laufenden Korridor erreichten. »Was heißas?« »Wen haben wir denn da?«, fragte eine Stimme neben ihnen, wäh rend gleichzeitig ein Alarm zu piepsen begann. »Wenn das nicht die kleine Wendy ist. Und wer ist Ihre Freundin? Wie wär's denn, wenn Sie Ihre Hände dort ließen, wo ich sie sehen kann. Stellen Sie die Ta sche weg und treten Sie einen Schritt zurück.« Wendy nahm die Hände von der Seite, als die drei Wachen vor ih nen ausschwärmten. Alle drei trugen militärisch wirkende blaue Uniformen, klobig wirkende Körperpanzerung und Schutzhelme. Zwei waren mit Pulserpistolen bewaffnet, kurzläufigen Waffen, die einer Schrotflinte ähnelten und kleine elektrisch geladene Bolzen verschossen. Die Bolzen versetzten einem einen kräftigen Elektro schock, der das menschliche Nervensystem ebenso wie das der Pos leen kurzzeitig lähmte. Die Anführerin, eine untersetzt gebaute Frau, hielt eine Ladungspistole locker in der Hand. Es handelte sich um eine GalTech-Waffe, die einen Gasstrahl verschoss, der ein star kes elektrisches Feld übertrug. Die Waffe hatte eine geringe Reich weite, durchdrang aber die meisten Panzerungen. »Hallo, Spencer«, sagte Wendy mit einem dünnen Lächeln. »Meine ›Freundin‹ ist Captain Elgars. Und sie ist, wie Sie wissen, befugt, jede Waffe zu tragen, die sie möchte.«
»Darauf ist geschissen, Cummings«, sagte die Anführerin. »Ich habe Sie beim Waffenschmuggel erwischt.« Spencer wandte sich El gars zu und deutete mit ihrer Gaspistole auf die Tasche. »Stellen Sie diese Tasche hin und treten Sie einen Schritt zurück, sonst kriegen Sie es mit meinem kleinen Freund hier zu tun.« Wendy sah zu Elgars hinüber und wurde bleich. Der weibliche Captain stand völlig reglos da, wie eine Statue, aber diese Haltung drückte keineswegs Angst aus. Die Rothaarige starrte vielmehr Spencer an wie ein Basilisk, und es war klar zu erkennen, dass sie kurz vor einem Ausbruch von Gewalt stand. »Annie, stell die Tasche hin und zeig der netten Wache deinen Ausweis, aber ganz langsam«, sagte Wendy. »Maul halten, Cummings«, knurrte der weibliche Wachsergeant, ging auf Elgars zu und tippte ihr mit der Pistole auf die Brust. »Stel len Sie jetzt diese Tasche hin oder lassen Sie sie fallen, weil Sie zu ckend auf dem Boden liegen?« Elgars sah bedächtig auf die Pistole hinab, streckte dann den Arm ein Stück von sich und ließ die Tasche fallen. Gleichzeitig fuhr ihre andere Hand hoch und entwand dem weiblichen Sergeant die Waf fe. Ein paar blitzschnelle Handbewegungen, und die Waffe war in ihre neun Bestandteile zerlegt und auf dem Boden verstreut. Als Spencer nach ihrem Knüppel griff, fuhr Elgars' Hand herunter und packte das Handgelenk der Uniformierten mit einem Griff wie ein Schraubstock. Spencer erstarrte, sei es wegen ihres schmerzenden Handgelenks oder wegen des grünen Feuers in den Augen des weiblichen Cap tain; die beiden anderen Wachen waren zur Tatenlosigkeit ver dammt, weil ihre Anführerin im Weg war. Elgars griff langsam in die Hüfttasche und holte ihren Ausweis heraus. Sie klappte ihn eine Handbreit vor der Nase von Spencer auf und schob eine Augen braue hoch. »So, werdet ihr jetzt alle eure Stöckchen wegstecken oder muss ich sie euch in den Hintern stecken?«, fragte sie in ihrem
bedächtig klingenden Südstaatentonfall, ohne auch nur einmal zu stocken. »Lassen Sie mein Handgelenk los«, presste Spencer heraus und versuchte sich zu befreien. »Das heißt, ›Lassen Sie mein Handgelenk los, Ma'am‹«, flüsterte Elgars, beugte sich an das Ohr der Uniformierten vor, um ihr ins Ohr flüstern zu können. »Und wenn Sie jetzt nicht aufhören, sich zu wehren, dann steck ich Ihnen Ihren Arm in den Mund, Zoll für Zoll, und Sie können ihn auffressen.« »Lassen Sie mein Handgelenk los, Ma'am«, stieß sie hervor. Und als der Druck nicht nachließ, setzte sie noch hinzu: »Bitte.« Elgars ließ los, und Spencer konnte sich endlich befreien. Sie schüt telte ihr Handgelenk, versuchte den Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen, und man konnte deutlich erkennen, dass sie am liebsten schleunigst verschwunden wäre. Aber die einzelnen Bestandteile ih rer Pistole waren im weiten Umkreis verstreut, deshalb ging das nicht so einfach. Sie blickte zu Elgars auf, die sie mindestens um zwei Zoll überragte. Wendy lächelte strahlend und trat hinter Elgars, um deren Tasche aufzuheben. »Wir gehen jetzt«, sagte sie und griff nach Elgars' Arm. »Einverstanden, Captain?« Elgars beugte sich vor und sah sich das Namensschild von Spencer an. »Ja«, sagte sie wieder im weichen Südstaatentonfall. »Aber klar doch. Wir werden uns ja ganz bestimmt noch oft sehen, Sarn't … Spencer, nicht wahr?« »Ja … natürlich, Ma'am«, antwortete Spencer. »Das Missverständ nis tut mir Leid.« »Hier haben wir eine Cafeteria«, sagte Wendy und bog von einem Hauptkorridor in einen großen Vorraum. Eine Anzahl mit Seilen ab gesperrter »Rinderpferche« führte zu vier offenen Feuertüren. Da hinter dehnte sich ein langer, niedriger Saal, in dessen Mitte sich vor einer Essenstheke eine Schlange gebildet hatte. Es gab einen Stapel Tabletts, Tassen, einen Getränkeautomaten mit beschränkter Aus
wahl, Besteck, Gewürztütchen und eine kurze Theke, hinter der Es sen ausgegeben wurde, nicht sehr Appetit anregend wirkende Ge richte mit hohem Stärkeanteil. Wendy nahm sich ein Tablett und reihte sich in die Schlange ein, ließ sich von den düster blickenden Helfern hinter der Theke etwas Maisbrei und ein kleines Stück ziemlich verbranntes Schweine fleisch geben. Elgars folgte ihr und wählte das Gleiche. Am Ende der Schlange wandte sich Wendy einer in Augenhöhe an der Wand befestigten kleinen Box zu. Ein Bildschirm auf der Box wurde hell, identifizierte sie korrekt und scannte dann ihr Tablett. Der Computer registrierte, dass sie ihre Mittagsration erhalten hatte, und zeigte ein ziemlich großes Kalorienguthaben an. Wendy deutete darauf. »Wenn du nicht richtig verfressen bist, schaffst du es mit wesentlich weniger als den Kalorien, die dir jeden Tag zugeteilt werden. Du kannst einen Teil davon auf das Konto von jemand anderem übertragen und bekommst andererseits mehr für Gemeinschaftsdienst. In der Urb ist das das Hauptzahlungsmit tel.« Elgars trat vor den Kasten, der die Prozedur wiederholte und ein sogar noch größeres Guthaben anzeigte. Wendy schob fragend eine Augenbraue hoch und sah sich die Ein zelheiten unten auf dem Bildschirm an. »Oh, das leuchtet ein«, meinte sie dann und nickte. »Deine Ration ist auf aktiven Dienst abgestimmt; im Prinzip be deutet das doppelte Rationen.« »Warum?«, fragte Elgars, während sie zur Tür gingen. »Aktiver Dienst bedeutet körperliche Arbeit«, erklärte Wendy. »Je mand, der tagein, tagaus körperlich arbeitet, bekommt eine höhere Zuteilung; das basiert auf – zweitausendsechshundert Kalorien pro Tag, damit jeder etwas hat, womit er tauschen kann. Aber wenn du beispielsweise bei der Infanterie bist, kostet das ziemlich viel Ener gie, und deshalb kriegst du doppelte Ration.« Sie schüttelte den
Kopf. »Das ist eigentlich nicht allgemein bekannt, aber wenn man eine Weile in diesem Loch war, weiß man Bescheid.« Sie passierten eine zweite Reihe von offen stehenden Feuertüren und erreichten den eigentlichen Speisesaal. Elgars blieb stehen und sah sich um. Die Decke war etwa zwanzig Meter hoch, mit Leuchtfarbe an den oberen Wandpartien und in die Decke hinein, was ein recht ange nehmes, indirektes Licht erzeugte. Die Wände waren mit einer Aus nahme vom Boden bis zur Decke mit Gemälden bedeckt, in diesem Fall Motiven aus dem Südwesten der Vereinigten Staaten. Die Aus nahme bildete eine Wand, die eindeutig aus Stein war, aber im Ge gensatz zu den meisten anderen Wänden, die Elgars bisher gesehen hatte, war diese in verschiedenen Rottönen mit etwas Gelb dazwi schen gehalten. Das sah hübsch aus und passte zu den Gemälden an den anderen Wänden, trotzdem rief es in ihr unangenehme Erinne rungen wach. Elgars überlief ein Frösteln und sie wandte sich ab. Der Raum stand voller Tische und hatte an der dem Eingang ge genüberliegenden Seite sechs markierte Ausgänge; außerdem waren in die parallelen Wände große Feuertüren eingelassen, die alle die Aufschrift »Nur autorisiertes Personal für Noteinsätze« trugen. »Die Kantinenräume werden zusätzlich als Schutzräume benutzt«, sagte Wendy und wies dabei auf die Türen. »Sie enthalten nichts Feuergefährliches, bloß die Tische und ein paar Getränkeautomaten. Falls es im Sektor zu einem Brand kommt, werden die Leute ange wiesen, sich in die Kantinenräume zu begeben. Dann schließt man die Feuertüren und die Innenentlüftung springt an; die Ventilatoren sind hinter diesen Türen angebracht. In jedem Wohnsektor gibt es acht Kantinen, zwei in Sektor A, zwei in Sektor F und je eine in den anderen. Die Speisen wechseln jeden Tag, und man kriegt eben das, was gerade angeboten wird; nicht sehr viel Abwechslung. Es gibt auch über die ganze Urb verteilt ein paar ›Restaurants‹, aber die sind nicht viel besser, und sie kriegen
alle dasselbe Essen. Übrigens gibt es auch ein paar ›Bars‹. Nicht, dass dort viel zu trinken zu haben wäre.« Elgars nickte und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Fels wand. Diese gefiel ihr immer noch nicht, doch wollte sie wissen, aus was sie bestand und wie der Dekorateur das Muster erzeugt hatte. »Das ist Sandstein«, sagte Wendy, die ihre Frage ahnte. »In jeder Cafeteria gibt es ein anderes Motiv. Für diese hier haben die Dekora teure Sandstein herschaffen und vitrifizieren lassen. Geschmolzener Fels also. Das Gestein wird von galaktischen Geräten zerkleinert – die ionisieren die Moleküle im Gestein, – und dann gießt man es in Formen und schmilzt das Zeug.« Als sie sich gesetzt hatten, schnüffelte Elgars am Essen, schnitt dann das Schweinefleisch bedächtig in einzelne Bissen und aß sie langsam der Reihe nach. Wendy hatte ihr Essen unten, ehe ihr Ge genüber mit Schneiden fertig war. »Deine Stimme hat sich wieder verändert«, bemerkte Wendy und tupfte sich mit einer Stoffserviette den Mund. »Dort hinten, mit den Typen von der Sicherheit.« »So?«, fragte Elgars. Sie schnitt vorsichtig ein Stück Fett ab und schnippte es von ihrem Teller. »Wie denn?« »Du sprichst immer wieder mit Südstaatenakzent«, meinte Wen dy. »Und wenn du diesen Akzent hast, dann hast du keine Sprach störung. Wo stammst du her?« »N' J'sey«, antwortete Elgars. »Wo kommt dann dieser Südstaatenakzent her?« »Keine Ahnung, Süüüße«, antwortete Elgars mit einem dünnlippi gen Lächeln. »Mir wäre lieber, du lässt das.« Wendys Augen weiteten sich und sie spürte, wie es ihr kalt über den Rücken rann. »Hast du das absichtlich gemacht?« »Wa?« »Schon gut.«
Sie saßen eine Weile stumm da, und Elgars sah sich interessiert im Saal um, während Wendy ihre neue Bekannte aufmerksam betrach tete. »Erinnerst du dich, wie ein Südstaatenakzent ›klingt‹?«, fragte sie dann vorsichtig. Elgars wandte sich ihr zu und nickte. »Mhm.« »Hast du überlegt … würdest du gern so sprechen?«, fragte Wendy. »Mir scheint … du würdest gern so reden. Wenn du das tust, klingt deine Sprache ganz klar.« Elgars musterte die Jüngere aus Augen, die plötzlich ganz schmal geworden waren, und biss die Zähne zusammen. Dann war dieser Augenblick wieder verflogen und sie atmete tief. »Du meinst sooo?«, sagte sie. Ihre Augen weiteten sich. »Scheeiße, das ist ja Waahnsinn.« »So ausgeprägt war das gar nicht«, meinte Wendy und lächelte. »Aber die Sprachstörung ist weg.« »Was zum Teufel ist eigentlich mit mir los?«, fragte Elgars, und ihre Stimme wurde weicher. Sie legte ihr Messer hin und fuhr sich mit beiden Händen ins Haar. »Fang ich an zu spinnen?« »Das glaube ich nicht«, sagte Wendy ruhig. »Ich kenne Leute, die spinnen – aber du bist bloß exzentrisch. Aber ich denke, die See lenklempner haben dich verrückt gemacht. Ich weiß nicht, wer da jetzt aus deinem Kopf rauskommt, aber ich glaube jedenfalls nicht, dass das diejenige ist, die im Koma war. Aber frag mich nicht, warum das so ist. Die haben dir ständig gesagt, dass du die Person sein musst, die sie neu aufgebaut haben. Und ich glaube, das stimmt nicht.« »Wer bin ich dann?« Elgars Augen zogen sich wieder zusammen. »Willst du sagen, dass ich nicht Anne Elgars bin? Aber die haben doch einen DNS-Test gemacht, und das ist auch das Gesicht, das ich trage. Wer bin ich denn dann?«
»Keine Ahnung«, sagte Wendy und legte ihr Besteck weg und sah die Rothaarige gerade an. »Wir tragen alle Masken, nicht wahr? Vielleicht bist du die, die Anne Elgars wirklich sein wollte; ihre Lieb lingsmaske. Oder vielleicht bist du auch die, die Anne Elgars wirk lich war, und die Anne Elgars, von der alle glaubten, dass sie sie kennen, war die Maske.« Jetzt sah Elgars Wendy an und schob ihr Tablett weg. »Okay. Wie zum Teufel erfahre ich, was los ist?« »Ich fürchte, dir wird nichts anderes übrig bleiben, als mit den Psycholeuten zu reden«, sagte Wendy und schüttelte den Kopf, als sie Elgars' Gesichtsausdruck sah. »Ich weiß, ich mag die ebenfalls nicht. Aber es gibt auch ein paar gute; wir müssen bloß zusehen, dass du einen davon kriegst.« Sie sah auf die Uhr an der Wand und verzog das Gesicht. »Um das Thema zu wechseln, wir haben bis jetzt noch nicht über Arbeit gesprochen. Und da muss ich nämlich jetzt hin. Ich denke, von dir erwartet man, dass du auch mithilfst; wenigstens hab ich deine Ärztin so verstanden. Wir könnten weiß Gott ein paar zusätzliche Hände gebrauchen.« »Was machst du denn?« »Na ja«, antwortete Wendy vorsichtig, »vielleicht sollten wir mal hingehen und es uns ansehen, mal sehen, ob es dir gefällt. Wenn nicht, finden wir ganz bestimmt etwas, was dir Spaß macht.« »Sag schon«, meinte Elgars mit einem kehligen Lachen, »wo du ja nich bei der Sichheit oder beim Mi'tär sein kanns, wa machsu dann?«
Allem Anschein nach war die Tür stark schallgedämmt, denn als sie aufging, füllte sich der Korridor plötzlich mit Kindergeschrei. Die Kinderkrippe wirkte auf Elgars wie ein Kaleidoskop, das in einen Hurrikan geraten war. Da war eine kleine Schar von etwa fünfjährigen Kindern, die sich um ein Mädchen gruppiert hatten –
nicht viel älter als sieben oder acht Jahre –, das ihnen eine Geschich te vorlas. Und dann war da ein kleiner Junge, der in einer Ecke saß und mit einem Puzzle beschäftigt war. Die übrigen Kinder rannten herum, meist im Kreis, und schrien, was ihre Lungen hergaben. Elgars hatte noch nie ein so unangenehmes Geräusch gehört. Für einen Augenblick hätte sie am liebsten einen der kleinen Quälgeister gepackt und ihm den Hals umgedreht, bloß um für Ruhe zu sorgen. »Untertags sind vierzehn hier«, sagte Wendy laut und beobachtete Elgars dabei mit einem Anflug von Nervosität. »Acht sind die ganze Zeit hier, die drei von Shari und fünf andere, das sind Waisen.« Eine mittelgroße blonde Frau, die ein Baby trug, arbeitete sich vor sichtig durch die im Kreis herumrennenden Kinder durch. Sie konn te ebenso dreißig wie fünfzig sein und hatte ein freundliches Ge sicht, das wahrscheinlich früher einmal sehr hübsch gewesen war. Aber die Jahre hatten ihr ganz offensichtlich zugesetzt, und was von ihrem guten Aussehen übrig geblieben war, lag irgendwo im Grenz bereich zwischen grobschlächtig und schön, wie ein Baum, den hun dert Jahre lang der Wind gepeitscht hat. Aber sie wirkte so, als kön ne nichts sie aus der Ruhe bringen, als hätte sie die Welt in ihrem schlimmsten Zustand erlebt, und so lange sich nicht wieder ein ähn licher Zustand einstellte, war das einfach ein guter Tag. »Tag, Wendy«, sagte sie mit einer rauhen, vom Nikotin geprägten Altstimme. »Wen bringst du da mit?« »Shari, das ist Anne Elgars. Eigentlich sollte ich sagen Captain El gars, aber sie befindet sich in Genesung«, erklärte Wendy. »Captain, das ist Shari Reilly. Sie führt diese Kinderkrippe.« »Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Captain«, sagte Shari und streckte ihre freie Hand hin, es war die linke. »'rfret«, krächzte Elgars. »Einer der Gründe für Captain Elgars' Rekonvaleszenzstatus ist, dass sie sich noch in Sprachtherapie befindet«, erklärte Wendy. »Die Psychotherapeutin hat vorgeschlagen, dass sie eine Weile ›mit mir
zusammenbleibt‹, um sich einzugewöhnen; sie hat ihr Gedächtnis größtenteils am Monument verloren.« »Sie waren am Monument?«, sagte Shari ausdruckslos. »Hat me mi sagt«, erwiderte Elgars. Eines der Kinder löste sich aus dem Rudel, versuchte einem seiner Verfolger zu entkommen. Elgars war jetzt zu dem Schluss gelangt, dass sie offenbar Fangen spielten. Das kleine Mädchen, es mochte sechs oder sieben Jahre alt sein, rannte mit schrillem Geschrei um die Gruppe an der Tür herum. »Sie kommen damit sehr gut zurecht«, sagte Shari mit einem schwachen Lächeln. »Die meisten Leute zucken zusammen, wenn Shakeela das macht.« Wendy legte den Kopf etwas zur Seite und nickte dann. »Stimmt. Dich habe ich bis jetzt noch nie zucken sehen.« Während es um sie immer lauter wurde, hatte Elgars das Gefühl, ihrerseits immer ruhiger zu werden, als ob da eine Decke wäre, die sich um sie hüllte, um ihre Sinne zu beschützen. Sie konnte immer noch hören, selbst die leisesten Geräusche, aber solange sie an die sem Ort blieb, nicht irgendwo schwebte, aber auch nicht das Gefühl hatte, wirklich mit dieser Welt, die sie umgab, verbunden zu sein, fühlte sie sich wohl. Unglücklicherweise stellte sie fest, dass sie auch nicht reden konnte. »Ich z'cke nich«, brachte sie schließlich heraus. »Weiß nich warum.« Als Shari nach ein paar Sekunden erkannt hatte, dass da wohl nichts mehr kommen würde, nickte sie. »Wendy, ich muss jetzt die Zwillinge wickeln. Der kleine Billy hatte einen kleinen Unfall, und deshalb ist Crystal so aufgekratzt. Könntest du Amber halten?« Sie hielt ihr den Säugling hin. »Wie wär's, wenn ich mich stattdessen um das Mittagessen küm mere?«, fragte sie. »Ich denke, Annie kommt damit auch klar.« »Okay«, sagte Shari nach kurzem Zögern. »Weißt du, wie man ein Baby hält?«, fragte sie dann, ebenso unbefangen wie vertraulich.
»Nein«, antwortete Elgars mit einem zweifelnden Blick auf das kleine Etwas, das Shari ihr hinhielt. »Nimm es einfach auf die Schul ter. So«, sagte Shari und gab ihr das Baby. »Und stütz es von unten. So«, fuhr sie fort, hob Elgars' linken Arm und schob ihn unter das Kind. »Das Wichtigste ist, dass der Kopf nicht wegkippt. Okay?« »K'pf nich wegkip'«, wiederholte Elgars und gab dem Baby einen leichten Klaps auf den Rücken. Sie hatte gesehen, wie Shari das so machte, und es kam ihr irgendwie richtig vor. Nicht sonderlich wichtig, so, wie man mit den Fingernägeln auf eine Tischplatte klopft oder ein Messer in die Luft wirft. Einfach, um etwas mit den Händen zu tun zu haben. »Na siehst du«, sagte Wendy, die bereits zu der Tür im hinteren Bereich des Raums unterwegs war. »Bist ein Naturtalent.« »Ich bin gleich wieder da«, sagte Shari, schnappte sich eines der herumrennenden Kinder und trug es zum Wickeltisch. »Dauert nur einen Augenblick.« Elgars nickte bloß und fuhr fort, das Baby zu tätscheln. Jetzt, wo niemand mit ihr redete, konnte sie mit dem Gefühl experimentieren, das sie gerade überkommen hatte. Es war nicht bloß eine Stille, son dern eine Art Bewusstsein ihrer Umgebung, das aber keinen speziel len Fokus hatte. Obwohl es irgendwie die Auswirkung der Kinder stimmen milderte, konnte sie sie dennoch deutlich hören. Und sie stellte fest, wie sie winzige Einzelheiten wahrnahm. Es war ein Au genblick transzendenter Stille und Vollkommenheit, wie sie noch selten einen erlebt hatte. Und all das, weil sie den Drang verspürt hatte, einem der kleinen Miststücke den Hals umzudrehen. Und diesen Augenblick wählte das Baby, das sie an sich drückte, dafür aus, die Hälfte seines Mittagessens wieder auszuspucken. »Ich arbeite dort sechs Tage die Woche, sechs Stunden am Tag«, sagte Wendy, als sie später zu Elgars' Quartier zurückgingen. »Da du mir überallhin folgen sollst …, denke ich, man erwartet auch von dir, dass du dort arbeitest. Jedenfalls erfüllst du damit deine Ver pflichtung für Gemeinschaftsdienst.« Sie sah zu Elgars hinüber, die
seit dem Augenblick, als Amber sich übergeben hatte, einen seltsam versteinerten Gesichtsausdruck gezeigt hatte. Wahrscheinlich hätten sie ihr das mit dem Handtuch erklären sollen. »Also, was meinst du?« Elgars überlegte. Sie hatte sich damit vertraut gemacht, wie man große Mengen von etwas herstellte, was sich »Grütze« nannte, of fenbar die Hauptnahrung für Kinder. Und sie hatte gelernt, wie man Windeln wechselt. Dann hatte sie versucht ein Buch zu lesen, aber das hatte nicht sonderlich gut funktioniert. »Mir hat's nich gef 'lln«, sagte Elgars, und ihr Mund arbeitete, als versuche sie deutlicher zu sprechen. »Is aber nich so schlimm wie Op'ration ohne Nrkose. Nah dran, aber nich so schlimm.« »Oh, so schlimm ist's wirklich nicht«, sagte Wendy und lachte. »Freilich ein wenig laut, das gebe ich ja zu.« Elgars nickte bloß. Wahrscheinlich gehörte das mit zu den Dingen, die man einfach über sich ergehen lassen musste. So wie Vaginalun tersuchungen und Schmerztests. »Das ist so etwa mein Tageslauf«, fuhr Wendy mit einem besorg ten Blick auf Elgars fort. »Und dann kommen noch Rettungsübun gen dazu. Ich habe dir ja gesagt, ich bin bei der Feuerwehrreserve. Das ist Montag, Mittwoch und Freitag. Dienstag, Donnerstag und Samstag gehe ich auf den Schießplatz. Und dann noch eine Stunde Fitnesstraining, jeden Tag außer Sonntag.« Elgars nickte bloß. Das war ganz anders als im Krankenhaus, aber das war gut. Im Krankenhaus mischte sich unangenehme Gleichför migkeit mit gelegentlichem Schmerz. Hier war das wenigstens re gelmäßig. »Alles okay bei dir?«, fragte Wendy. »Weiß nich«, meinte Elgars. »Will was umbringen.« »Kommt das von den Kindern?«, fragte Wendy nervös.
»Vielleicht, hauptsächlich will ich den umbringen, der beschlossen hat, dass man mich ›richten‹ muss. Oder ich will raus, wo ich was tun kann.« »Deine Sprache wird schon besser«, stellte Wendy fest. »Vielleicht lassen die dich bald gehen.« Inzwischen hatten sie Elgars' Quartier erreicht und sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht solltest du deinem vorgesetzten Offizier schreiben und bitten, sich einzuschalten. Du bist zwar im Krankenstand, aber du wirst noch in seinen Büchern geführt. Er will ganz bestimmt, dass du zurückkommst. Oder dass du aus den Büchern gestrichen wirst. Und das kann er nicht, bevor die Seelenklempner sich nicht entschieden haben.« »Wie ma i das?«, fragte Elgars und runzelte dabei die Stirn. »Es gibt öffentliche E-Mail-Terminals«, sagte Wendy. »Lass mich mal überlegen, die haben dir nicht gesagt, dass du E-Mail-Zugang hast, oder?« »Nein«, erwiderte Annie. »Wo?« »Hast du die Adresse deines Vorgesetzten?«, wollte Wendy wis sen. »Wenn nicht, dann wette ich, dass ich jemanden kenne, der dei ne Mail weiterleiten kann.«
9 In der Nähe von Cayuga, New York, Sol III 1723 EDT, 13. September 2014
The tumult and the shouting dies; The captains and the kings depart: Still Stands Thine ancient sacrifice, An humble and a contrite heart. Lord God of Hosts, be with us yet, Lest we forget – lest we forget! »Recessionai« – Rudyard Kipling, 1897 Tumult und Geschrei ersterben, Feldherren und Fürsten verscheiden; Doch steht noch immer Dein altes Heiligtum, ein demütiges und reuevolles Herz. Herr Gott der Heerscharen, sei dennoch mit uns, dass wir nicht vergessen – dass wir nicht vergessen. »Schlusschoral«
Mike saß auf Fort Hill in der Sonne und blickte über die ineinander laufenden Bergkämme und Marschen, die vom Lake Cayuga bis
zum Lake Ontario in nordsüdlicher Richtung verliefen und die Ver teidigungszone Montezuma bildeten. Das Terrain war für die menschlichen Verteidiger geradezu per fekt gewesen; da sämtliche Straßen und Brücken unterbrochen wa ren, waren die Posleen beim Angriff aus der eroberten Stadt Syracu se heraus in den ersten Tagen des Krieges für die Verteidiger Kano nenfutter gewesen. Ob sie sich nun mühsam durch die zahlreichen Sümpfe gequält oder die steilen Hügel hinaufgearbeitet hatten, sie waren zu Hunderttausenden gefallen. Und die menschlichen Ver luste waren, wenn auch hoch, bloß ein Bruchteil davon gewesen; man ging davon aus, dass in der Schlacht von Messner Hill auf je den gefallenen menschlichen Verteidiger über tausend Posleen ge kommen waren. Deshalb war die Entscheidung zum Rückzug nicht einmal einen Monat nach Kriegsbeginn ein schwerer Schlag gewesen. Die Geburt der Zehntausend und der Tod der GKA hatten sich im flachen Land zwischen Clyde und Rochester vollzogen. Sie hatte ihren Ursprung in der politisch bedingten Entscheidung, jedes einzelne Dorf zu ver teidigen und jeden vom Feind erkämpften Hügel zurückzuerobern – und dieser Entscheidung war es zuzuschreiben, dass die Invasoren aus dem Weltall sechs Divisionen kampferprobter Soldaten im wahrsten Sinne des Wortes aufgefressen hatten. Über dreitausend M-1-Panzer und zweitausend unersetzliche Kampfanzüge waren dabei verloren gegangen. Auf der Ebene von Ontario wäre beinahe der Krieg verloren worden. Aber jetzt hatte sich das Schicksal gewendet. Die Posleen waren in den Ziegelruinen der Rochester-Universität geschlagen worden und hatten die Flucht angetreten. Und die GKA und die Zehntausend setzten ihnen nach. Die Zehntausend brauchten niemanden, der ih nen Mut zusprach; vom rangniedrigsten Private bis hinauf zu ihrem Befehlshaber war jeder einzelne Soldat fest von der Gültigkeit der Maxime »Man muss denen Angst einjagen und dafür sorgen, dass sie die nie verlieren« überzeugt. Und jedes Mal, wenn eine Einheit
der Posleen auf der Flucht Halt machte, riefen die Verfolger die Ar tillerie und die GKA. Letzteres hatte von dem GKA-Bataillon einen hohen Preis gefor dert. Jeder Anzug war wertvoll, und sie hatten bei der Verfolgung des Feindes mehr als zwei Dutzend Soldaten oder Anzüge verloren. Angeblich waren zwar einige wenige neue Anzüge zu ihnen unter wegs, die Frage war eben nur, wann sie eintreffen würden. Wie Mike so über die Marschen blickte, redete er sich ein, dass das Ergebnis dieses Opfer wert war. Was sollte er auch schon anderes glauben! Die Ontario-Ebene war der schwächste Punkt in den östli chen USA. Jetzt, wo sie wieder fest in menschlicher Hand war, konnten sie sich aus der Tiefe heraus verteidigen – und ganz im Ge gensatz zum Anfang des Krieges durchzogen jetzt tief gestaffelte Schützengräben die ganze Ebene – und die entscheidend wichtigen Punkte waren von kampferprobten Soldaten besetzt, Soldaten, die wussten, dass man die Posleen besiegen konnte, und wenn sie noch so wild waren. Mike hob nicht einmal den Kopf, als er hinter sich das Geräusch ei nes Helikopters hörte. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sich auf gesichertem Areal befand; Flugzeuge jeder Art waren dem Feuer von Gottkönigen schutzlos ausgeliefert, und das galt für Hubschrauber in noch höherem Maß als für Flugzeuge. Wenn das Brummen eines Hubschraubers zu hören war, bedeutete das, die Welt war in Ordnung. Er lächelte und legte seine Füße auf dem kopflosen Gottkönig, der sie stützte, neu zurecht. Er war mit seinem Leben zufrieden. Jack stieg aus dem OH-58 und schüttelte den Kopf. Wie es aussah, kamen die Befehle, die er überbrachte, keinen Augenblick zu früh. Es gab eine ganze Menge Anzeichen, dass die 1st/555th und die Zehntausend eine Verschnaufpause brauchten. Der General trat hinter seinen ehemaligen Adjutanten und warf einen Blick auf Mikes Stab. Die Gruppe von Offizieren und Unterof fiziersdienstgraden hielt respektvolle Distanz und blickte ebenfalls
nach Osten und besprach sich mit gedämpfter Stimme. Die meisten waren jung, ebenso wie ihr Kommandeur, und alle waren durch eine harte Schule gegangen. Aber Homer wusste, woher der Unter schied rührte, aus welchem Grund sie nicht anfingen, sich seltsam zu benehmen; auf ihnen lastete nicht das zusätzliche Gewicht der Befehlsgewalt. O'Neal war vom ersten Kontakt mit den Posleen an immer in ir gendeiner Befehlsposition gewesen. In den ersten Tagen war es meist ganz unerwartet dazu gekommen. Und im Gegensatz zu Hor ner hatte er vor dem Krieg keine Zeit gehabt, sich mit der Last der Verantwortung zu arrangieren und sich all die kleinen Tricks anzu eignen, die man lernt, wenn man den Befehl über andere führt. Die Folge davon war, dass seine psychologische Führungstechnik manchmal eine völlig unerwartete und gelegentlich auch mal unklu ge Richtung einschlug. Nein, keine Frage, es war höchste Zeit für eine Verschnaufpause. »Morgen, Mike«, sagte der General. »Sie werden feststellen, dass es Dienstag ist«, sagte der Major und stand auf. »Und wir sind zwar noch nicht in Syracuse, aber das ist nicht unsere Schuld; man hat mich darüber informiert, dass es ›lo gistisch nicht unterstützbar‹ wäre, wenn wir weiter vorrücken. Dan ke übrigens für die Panzerhilfe.« »Ist schon in Ordnung«, erwiderte Horner. »Wir haben Savannah zurückerobert. Und ob Sie es nun glauben oder nicht, es gibt zurzeit nirgends in den östlichen USA Probleme. Offen gestanden, das Schlimmste, worüber ich mir im Augenblick den Kopf zerbrechen muss, ist ein Battle Globe in Georgia, der sich nicht so verhält, wie er das sollte.« Der GKA-Kommandeur drehte sich um und blickte zu dem we sentlich größeren General auf. »Dann wollen Sie mir also sagen, dass wir nach Westen gehen.«
»Nee«, machte der Kommandeur der Kontinentalarmee. »Sie ge hen nirgendwohin. Höchstens zurück nach Buffalo für eine Woche Urlaub.« Mike runzelte die Stirn. »Harrisburg?« »Der Angriff ist abgeschlagen. Und wir haben es geschafft, ihnen ein paar dringend benötigte Ersatzteile hineinzuschaffen, die sind also wieder voll in Form.« »Roanoke?« »Die 22nd Cavalry hat die vorderen Positionen zurückerobert. Es sieht so aus, als würden sich die Posleen ihre Wunden lecken. Daran tun sie auch gut, weil General Abrahamson sie eingekesselt und ih nen ziemlich zugesetzt hat. Eine ordentliche Zählung war nicht möglich, aber allem Anschein nach haben die dort über zwei Millio nen verloren. Besser als Richmond.« »Chattanooga?« »Seit zwei Monaten ruhig.« O'Neal zupfte an der Halspartie seines Panzers und bewegte sei nen Nacken. »Kalifornien?« »Seit Wochen keinerlei Aktivität«, seufzte Horner. »Mike, Sie brau chen dringend Erholung. Sie legen die Füße auf tote Posleen und brüllen meine Korpskommandanten an: ›Fresst mich doch‹.« »Davon haben Sie gehört, wie?«, fragte der Major gleichmütig. »Aber er hat das verdient. Wir waren schon zwei Stunden ab marschbereit, als seine erste Einheit schließlich auftauchte.« »Mag schon sein«, räumte Horner ein. »Trotzdem brauchen Sie Er holung. Aber um Cally zu besuchen, reicht die Zeit nicht aus. Geht das so in Ordnung?« »Yeah«, sagte Mike und sah sich um, als wäre er gerade aus dem Schlaf erwacht. »Ich … ich weiß bloß nicht, was ich tun soll, Jack!« Horner schnaubte. »Lassen Sie Ihr Bataillon in Bereitschaft, aber ein Tag Rückruf reicht aus. Ich werde es Duncan sagen; er kann sich um die Einzelheiten kümmern. Gehen Sie zurück nach Buffalo. Ho
len Sie sich eine grüne Paradeuniform, lassen Sie Ihre Orden sehen und tanken Sie ein wenig auf. Sie sind schließlich Witwer und nicht Asket.« »Das ist ganz schön kalt, Jack«, sagte O'Neal mit einem Anflug von Ärger. »Und Sie haben das immer noch nicht ganz kapiert«, erwiderte der General. »Krieg ist etwas Kaltes. Sie müssen kälter sein.« »Yeah«, sagte Mike, wischte sich mit dem Handschuh über das Gesicht und warf einen angewiderten Blick auf den Kopf eines Gott königs. »Vielleicht sollte ich mir tatsächlich ein paar Bier genehmi gen.« »Zwei Wochen«, sagte Horner. »Anschließend möchte ich, dass Sie sich um diese Landung in Georgia kümmern. Ich habe den örtlichen Befehlshaber angewiesen, dass er ein FA-Team von Fleet darauf an setzen soll, aber anscheinend tut sich da nichts. Ruhen Sie sich also zwei Wochen aus. Außerdem läuft es mit den SheVas recht gut, und ich habe SheVa Neun hinuntergeschickt, als Unterstützung für Vier zehn. Wenn zwei SheVas damit nicht klarkommen, hat es ja schließ lich wenig Sinn, die GKA zu schicken, oder?« »Okay«, sagte O'Neal. »Ich hab's kapiert.« Er warf einen letzten Blick auf die Marschen und Hügel im Osten. »Alles in allem, denke ich, wäre ich trotzdem lieber in Georgia.« »Ich brauche Sie in Höchstform, Mike. Dieser Krieg hat uns schon zu viele gute Soldaten gekostet.« Mike nickte und kratzte an einer der neueren Schrammen an sei nem Anzug herum. Die Nanniten würden das letztlich in Ordnung bringen, aber die Reparaturen hinterließen sichtbare Spuren, wie Narben. Die Farbe stimmte dann nicht mehr ganz. Ein Anzeichen dafür, dass der Anzug im Einsatz gewesen war. »Haben Sie diesen SheVa-Colonel wirklich angewiesen, dass er mich überfahren soll?«, fragte er.
»Wen?«, fragte Homer und runzelte die Stirn. »Ich? Wie kommen Sie denn auf die Idee?« »Das war ziemlich bösartig«, schimpfte Mike. »Nachher waren ein halbes Dutzend Öffnungen verstopft.« »Finden Sie sich damit ab, Mighty Mite«, sagte Horner und ver setzte dem Anzug einen leichten Klaps auf die Schulter. »Es war ein fach nötig, glauben Sie mir.«
Mueller kauerte auf dem Hang über der Bridge Creek Road und blickte mürrisch auf die Brücke hinunter. Der Rest des Teams war um ihn versammelt, lag bäuchlings auf ei ner zutage tretenden Schieferader an einer Stelle, wo sie gleichzeitig Damm und Brücke beobachten konnten, ohne ihre Deckung zu ver lassen. Im Frühjahr oder Sommer hätten ihnen die Kiefern und Hart riegelbüsche am Abhang die Sicht auf den Damm und natürlich auch der Gegenseite die Sicht auf sie versperrt. Aber jetzt, im Spät herbst, schützte das Team nur Tarnung und Vorsicht. Und das be deutete, dass es eine höchst knifflige Angelegenheit sein würde, die Brücke zu überqueren. Hinter dem Damm wand sich der Fluss um den Hügel, auf dem sie sich gerade befanden, verlief in östlicher Richtung und krümmte sich dann S-förmig wieder zurück. Die Brücke war wie ein Strich in der Mitte des »S«, an einer Stelle, wo man vom Damm aus nur ein geschränkte Sicht darauf hatte. Auf der Nordseite der Straße, der Seite, die sie jetzt überblickten, reichte ein Kiefernbestand bis auf zwanzig Meter an die Straße heran und führte dann bis zum Wasser hinunter. Die Straßenränder hatte man, wie es aussah, seit der Inva sion nicht mehr von Buschwerk gesäubert und daher waren sie zu sätzlich dicht mit Unkraut und Gestrüpp überwuchert. Sie würden also unten wesentlich bessere Deckung finden als irgendwo am Hang.
Auf »ihrer« Flussseite war ein kleines Kraftwerk, das allem An schein nach noch in Betrieb war. Zumindest war die Straße, die zu ihm führte, in letzter Zeit neu asphaltiert worden, und der Draht zaun, der es umgab, schien gut in Schuss. Wenn das Kraftwerk nicht in Betrieb war, hätten die Posleen es ohne Zweifel schon längst aus geräumt. Aus langjähriger Erfahrung war Mueller sich ziemlich sicher, wie Mosovich sich entscheiden würde, aber ziemlich reichte nicht. »Also?«, flüsterte er. Mosovichs mit Tarnfarbe beschmiertes Gesicht blieb einen Augen blick lang unbewegt, dann verzog er den Mund. Die Überquerung der Brücke brachte zwei Probleme mit sich. Das erste war der Hang, der nicht nur völlig ungeschützt, sondern auch verdammt steil war. Die meisten Zivilisten hätten ihn nicht als Hang, sondern als Ab grund bezeichnet, aber es handelte sich wirklich nur um einen sehr steilen, bewaldeten Hang, wie er für die Appalachen typisch war. Die Bäume würden ihnen ein wenig zustatten kommen, und dann gab es auch Trampelpfade von Hirschen und Rehen und ein paar alte Holzfällerwege. Das Team hatte mit Ausnahme von Nichols schon genügend Zeit an solchen Abhängen verbracht und war daher diesem Terrain ebenso gewachsen wie irgendwelche Gebirgstrup pen auf der ganzen Welt, allenfalls mit Ausnahme der Gurkhas. Sie würden also klarkommen. Trotzdem war er verdammt steil, und das bedeutete, dass sich beim Abstieg möglicherweise jemand ver letzen konnte. Wenn sie auf gerader Linie hinuntergingen, würde man sie außer dem vom Damm aus sehen können. Er hatte zwar oft genug gesagt, dass die Posleen keine Wachen aufstellten, aber das hieß nicht, dass er ein unnötiges Risiko eingehen würde. Außerdem gab es unmittel bar links von ihnen einen schmalen Graben. Wenn sie den nutzten, würde man sie vom Damm aus nicht sehen können, und falls ir gendwelche Posleen aus dem Osten kamen, würden die sich umse
hen müssen, um sie zu entdecken. Und außerdem war das Gelände dort nicht ganz so steil. Sobald sie flaches Terrain erreicht hatten, konnten sie zwischen den Bäumen am Fluss vorrücken und würden bis zur Brücke recht gut geschützt sein. Das zweite Problem war dann der eigentliche Brückenübergang. »Links. Seht zu, dass ihr schnell hinunter kommt und nehmt den Abflussgraben neben der Straße bis zu den Bäumen.« »Geht klar«, sagte Mueller, schwang sich von der Schieferader und schickte sich an, sich den Hügel hinunterzuarbeiten. »Schnell ist ein relativer Begriff«, gab Nichols zu bedenken. »Mit diesem schweren Ding bin ich nicht gerade spurtschnell.« Das Scharfschützengewehr wog vierzehn Kilo, und die Munition dafür war auch nicht gerade leicht. Obwohl die Scharfschützen nur relativ wenig Munition bei sich trugen, betrug ihre »Ladung«, also das gesamte Gerät und Material, das sie zu tragen hatten, über fünf zig Kilo. Nichols war nicht gerade ein Schwächling, aber selbst God zilla konnte mit fünfzig Kilo auf dem Rücken keine Geschwindig keitsrekorde aufstellen. »Mueller, geh du als Letzter«, zischte Mosovich. »Ich übernehme die Spitze. Wenn wir unten sind, bitte ich um Laufschritt, aber nicht rennen. Und passt mir um Himmels willen auf, dass mir keiner stol pert. Und werdet nicht langsamer.« Er kauerte sich nieder, blickte nach beiden Seiten und nickte dann. »Los geht's.« Der gefährlichste Teil dieses Manövers war, dass sie bei jedem Schritt in Gefahr waren, auf dem glitschigen Laub hinzufallen. Aber diesen Umstand konnte sich das Team zu Nutze machen, und Mo sovich war bereit, das zu tun. Er setzte sich also hin, setzte beide Füße fest auf und stieß sich ab. Glücklicherweise gab es nicht nur Bäume, an denen man gelegent lich ein wenig abbremsen konnte, sondern auch ein paar natürliche Bahnunterbrechungen. Er nutzte eine solche kurze Unterbrechung – Reste eines alten Holzfällerpfades –, um sich flach hinzulegen und
zu lauschen. Die Posleen-Kompanien waren alles andere als leise, wenn daher vom Osten eine in Richtung auf sie unterwegs war, würden sie sie sicherlich hören, ehe sie in Sichtweite kam. Dasselbe galt für den Westen, die gefährlichere Richtung, aber für Teams wie das ihre war das Leben die meiste Zeit ohnehin ein einziges Glücksspiel. Nach einer kurzen Pause setzte er die Rutschpartie in die Tiefe fort. Dieser Abschnitt des Hügels war eher noch steiler, und er musste sich ein paar Mal an Bäumen festhalten, stieß sich einmal schmerzhaft an einem kleinen Baumstumpf innen am Schenkel an und bekam gerade noch einen kleinen Buchenschössling zu fassen, ehe er in die Tiefe gestürzt wäre. Er hielt erneut inne, um zu lau schen, aber da war nichts zu hören, bloß das Seufzen des Windes in den Bäumen und das leise Summen des Kraftwerks, das jetzt keine zwanzig Meter mehr entfernt war. Und zehn Meter unter ihnen. Die zehn Meter hohe Felskuppe fiel steil ab, wenn auch nicht gera de im neunzig Grad Winkel. Früher einmal hätte er sich einfach um gedreht und sich vorsichtig an der Felsflanke hinuntergearbeitet, schmale Vorsprünge gesucht, wo er mit Händen und Füßen Halt fand. Aber vor langer Zeit und weit entfernt in einem Land, das sich Vietnam nannte, hatte sich ein Gurkha, der ihre Einheit besucht hat te, fast totgelacht und ihm dann gezeigt, wie man einen solchen Fel sen richtig angeht. Und so richtete er sich auf, beugte sich nach vorn und fing zu rennen an. Am besten ließ sich die Bewegung als kon trollierter Fall beschreiben; man konnte unmöglich Halt machen, ehe man unten war, und auch wenn man unten angelangt war, kam man nicht langsam zum Stillstand, sondern musste seine Bewegung einfach »auslaufen« lassen. Oder weiterrennen, je nachdem. In sol chen Situationen konnte er nie bestimmen, wo er seine Füße hinzu setzen hatte, und das war eigentlich auch ohne Belang, weil er eine Sekunde, nachdem er zu laufen angefangen hatte, zehn Meter in die Tiefe flog, von einem von Quarz umwucherten Stück Ton zum nächsten flog und bereits auf den Entwässerungsgraben neben der Straße zurannte. Er ließ sich in dem brackigen Wasser im Graben auf
den Bauch fallen, streckte seine Kamera hoch, drehte sie nach beiden Richtungen und fuhr eine Richtantenne aus. »Was ist, kommt ihr nach oder wie?« Seit er sich oben abgestoßen hatte, waren genau zwei Minuten und fünfunddreißig Sekunden verstrichen. Der Rest des Teams kam etwas bedächtiger nach, aber so, wie Mo sovich in Stellung gegangen war, konnte er sofort eine Warnung weitergeben, falls eine Posleen-Patrouille kommen sollte. Solange das Team einfach zu völliger Reglosigkeit erstarren konnte, würden ihre Tarnung und die Dunkelheit wahrscheinlich verhindern, dass man sie entdeckte. Doch dann stellte sich heraus, dass es in der Zeit, die sie brauchten, um den Hügel herunterzukommen und seinen au genblicklichen Standort zu erreichen, keine Patrouillen gab. Eine kleine Streife, nicht mehr als zwanzig, kam vorbei, als sie sich durch ein kleines Fichtenwäldchen am Fluss entlangarbeiteten. Aber das FA-Team wartete einfach geduckt zwischen den dicht stehenden Bäumen – es sah fast so aus wie eine Art Baumschule für Christbäu me –, bis die Posleen vorüber waren, und rückte dann zur Brücke vor. Bei dieser Brücke handelte es sich um ein schlichtes, flaches Gebil de aus Beton, das einfach den Fluss überspannte. Mosovich blickte nach beiden Seiten, wie im Verkehr vor dem Überqueren der Straße, und eilte dann dicht gefolgt vom Rest des Teams hinüber. Auf der anderen Seite, links von ihnen, war wieder ein kleines Feld, wo sich die Hauptstraße und eine ausgewaschene Nebenstraße kreuzten, die auf der Westseite parallel zum Fluss verlief. Das Feld war mit Dor nengestrüpp und kleinen Fichten bedeckt, von denen keine höher als Mosovichs Knie war, aber es sah so aus, als würde es einigen Schutz bieten, und so sprang er über das Brückengeländer und legte sich wieder flach hin. Als der Rest des Teams aufgeschlossen hatte, vergewisserten sie sich zuerst, dass nirgends Posleen in Sicht waren, dann rannte Mo sovich quer durch das Gestrüpp zu der Nebenstraße. Der nächste
Wald befand sich auf einer etwa brusthohen Böschung auf der ande ren Seite eines kleinen, leicht ansteigenden und mit Unkraut bedeck ten Feldes. Sobald sie das überquert hatten, keine siebzig Meter, würden sie den Wald erreicht und Sichtschutz haben; das Gehölz auf dieser Seite war wesentlich »buschiger« als auf der anderen. Jake sprang die Böschung hoch und wartete auf Mueller und Ni chols. Nachdem er dem schwitzenden Scharfschützen dabei gehol fen hatte, seine Waffe die Böschung hochzustemmen, eilte der Teamführer auf das Wäldchen zu. Osterglocken, ein paar verwilderte Rosenbüsche und ein nicht sonderlich tiefer Krater verrieten, dass hier einmal eine Farm gestan den hatte. Außerdem gab es noch eine niedrige gemauerte Terrasse, die ihnen den Weg versperrte. Als Jake daran emporkletterte und damit die dichte Schattenpartie unter einer riesigen Fichte erreichte, blickte er nach Osten und ließ sich flach auf den Bauch fallen; auf der anderen Flussseite war soeben eine Posleen-Patrouille aufge taucht. Der Rest seines Teams sah, wie er sich fallen ließ, und folgte sofort seinem Beispiel, hoffte, dass die Dunkelheit und ihre Tarnung ihnen Schutz bieten würde. Schwester Mary ging ein kalkuliertes Risiko ein und griff nach hinten, um ihr Ghillie-Netz herunterzuziehen, das sie in einem Beutel oben auf ihrem Rucksack verwahrte. Sie brauch te nur kurz daran zu ziehen, um sich völlig zu bedecken, und ein Mensch wäre in einem Meter Abstand an ihr vorbeigegangen, ohne ihre Anwesenheit wahrzunehmen. Die Landkriegsanzüge, die sie alle trugen, waren mit einer hüb schen Anordnung von »Sensoren« versehen, darunter auch einem Faseroptikperiskop. Mosovich und alle anderen fuhren diese Peri skope jetzt aus bis über die Höhe der Grashalme und blickten nach hinten in Richtung auf die Brücke. In Anbetracht des geringen Durchmessers der Optiken konnten sie trotz optimaler Signalverar beitung in der Dunkelheit nicht viel sehen, aber auch die groben Umrisse reichten aus, um die Posleen erkennen zu können. Die Pa
trouille war aus nordöstlicher Richtung gekommen, und ihre Forma tion löste sich jetzt auf, um die kleine Brücke zu überqueren. Vor den Augen der menschlichen Patrouille formierte sich die etwa zweihundert Normale umfassende Gruppe auf der nahe gele genen Seite der Brücke, keine fünfzig Meter entfernt, nahm Kurs auf den Hügel und trottete davon. Mosovich wartete einen Augenblick, bis die Posleen nicht mehr zu sehen waren, und richtete sich dann vorsichtig auf. »Jetzt hätte ich bloß gerne gewusst, warum die eigentlich unsere Spur nicht gesehen haben.« »Keine Ahnung«, erwiderte Mueller und griff nach dem Scharf schützengewehr. Ihre vier Spuren waren in dem Nachtsichtsystem deutlich zu erkennen, die niedergedrückten Grashalme und das Un kraut, die direkt in ihre Richtung wiesen. »Keine Ahnung«, wiederholte er. »Jedenfalls sollten wir zusehen, dass wir hier verduften.« »Einverstanden«, sagte Mosovich und strebte zielsicher, aber in mäßigem Tempo dem Wäldchen zu. »Man soll ja einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen.«
Das Posleen-Normale stellte an das Leben nur wenige Ansprüche. Essen, schlafen, sich vermehren. Die Wünsche seines Gottes befrie digen. Alles töten, was es oder seinen Gott bedrohte. Demzufolge plagte es im Augenblick die Frage, was es tun musste, um seinen Gott zu befriedigen. Die Anweisungen, die ihm erteilt worden waren, lagen im äußersten Bereich seiner Fähigkeiten. Der größte Teil seiner eingeschränkten Intelligenz konzentrierte sich auf den komplizierten Weg, der ihm vorgeschrieben war. Der Rest plag te sich damit ab festzustellen, was »Spuren der Threshkreen« bedeu tete. Es kannte Threshkreen; es hatte alle drei Gefechte überlebt, in die sein Gott verwickelt gewesen war. Threshkreen trugen vorzugs
weise Grün und Braun. Sie trugen Waffen, nicht unähnlich denen des Volkes. Sie waren im Allgemeinen zäh und recht faserig. Aber nach allem, was das Normale begriff, sollten Threshkreen entweder sein oder nicht sein. Dieses … Möglich-Sein, GewesenSein aber jetzt Nicht-Sein und Nicht-wieder-Sein-Können, das war für ein armes Normales einfach zu hoch. Als es die Brücke passierte, bereit, die vorgegebene und einpro grammierte Biegung zu vollziehen, hielt es inne. Rings um das Nor male sammelte sich das Teil-Oolt an und sah sich nach der Bedro hung um, die ihren Anführer davon abhielt, weiterzuziehen. Keine Bedrohung. Keine Thresh, keine Threshkreen. Nur die dunkle Stille der mondlosen Nacht. Für das überlegene Normale freilich gab es ein Problem. Das letzte Mal, dass der Gott mit ihm gesprochen hatte – es erinnerte sich mit einer Aufwallung von Wohlbehagen daran – hatte der Gott es ge fragt, ob es etwas nicht Normales gesehen hätte. Also war dies … diese … Spuren durch das hohe Gras und die Dornbüsche nicht nor mal. Demzufolge war es möglich, dass es um Hilfe rufen sollte, wenn etwas nicht normal war. Aber so lauteten seine Anweisungen nicht. Seine Anweisung lautete, ein Magazin abzufeuern, wenn es »Spuren von Threshkreen« sah. Aber … dies könnten die geheimnisvollen »Spuren« sein. Laufen de Thresh hinterließen solche Spuren; dies war eine Möglichkeit, die Thresh zum Sammeln zu finden. Aber Threshkreen neigten dazu, Dinge auf den Spuren zu hinterlassen, und deshalb war es nicht ge boten, auf ihnen zu gehen, wenn man Threshkreen sammelte. Aber selbst die vierbeinigen Thresh in diesen Hügeln machten von Zeit zu Zeit solche Spuren. Vielleicht hatte eine andere Patrouille sie aufgescheucht, sie durch ihre Anwesenheit von der Straße vertrie ben. Vielleicht waren es sogar wilde Oolt'os; davon gab es in diesen vom Tod heinigesuchten Hügeln welche. Wirklich sehr kompliziert. Schließlich bewegte sich das Normale vorsichtig auf die Spuren zu, suchte, schnupperte nach irgendwel
chen Hinweisen. Die Spuren entfernten sich von der Straße, über querten das Feld, und da waren Hinweise, dass das, was die Spuren verursacht hatte, sich verstreut hatte, und dann setzte sich die Spur in die Hügel dahinter fort. Das Normale bewegte sich vorsichtig parallel zu einer der Spuren. Da war der Geruch von Öl, Schusswaf fengeruch, jene Kombination aus Treibmittel, Metall und Reini gungsmitteln. Aber die konnten von allem Möglichen stammen. Vielleicht hatte es diese Spuren sogar noch von seiner eigenen Waffe in der Nase. Schließlich blieb es stehen. Das Feld war mit Dornen und Gras bedeckt, ein einfaches Dreieck zwischen den Bäumen, die den Fluss säumten, einer Straße, die par allel dazu verlief, und der Hauptstraße, auf der sie patrouillierten. Die Parallelstraße, jetzt ausgewaschen, nachdem sie in ihrem ersten Ansturm diese Hügel gesäubert hatten, zeigte ebenfalls die Spur, die ihm zuerst schon aufgefallen war. Und im Schlamm, auf der ande ren Seite, unter der niedrigen Klippe, die das Feld dahinter abgrenz te, war ein klarer, unverkennbarer Stiefelabdruck. Das Normale wusste nicht, dass es ein Stiefelabdruck war. Aber es wusste jetzt, was sein Gott unter »Spuren von Threshkreen« gemeint hatte, denn dies hatte es auch schon einmal gesehen. Und als es dies sah, hob es seine Railgun in die Höhe und feuerte.
»Verdammte Scheiße«, sagte Nichols leise. »Jemand hat den Weg entdeckt«, fügte Mueller unnötigerweise hinzu. »Jake?« »Schwester, fordere Artillerie auf dieses Feld an und Streuminen auf unserem Weg. Lasst uns abhauen, Leute.«
Cholosta'an kraulte das überlegene Normale am Hinterkopf, wäh rend er seinen Säbel zog. Es störte ihn, dieses hier einsammeln zu
müssen. Das Normale war ohne Zweifel das beste seines ganzen Oolt'os, aber es war schwer verwundet, und der Pfad der Pflicht war offenkundig. Cholosta'an kraulte das Cosslain und sagte ihm, wie brav es gewesen war, die Spur der Threshkreen zu finden, während er die monomolekulare Klinge an die Kehle des Normalen legte. »Warte«, sagte Orostan leise. »Ist es dasjenige, das die Spur gefun den hat?« »Ja, Oolt'ondai«, antwortete der jüngere Kessentai. »Es … stört mich, es einsammeln zu müssen. Ich habe kein Besseres. Aber der Weg ist klar.« »Lass es. Wir werden ihm Nahrung geben. Wenn es genug Nah rung bekommt und sich ausruhen kann, wird es vielleicht wieder gut.« »Selbst wenn es überlebt, wird es verkrüppelt sein«, protestierte Cholosta'an schwach. Die Idee hatte ihren Reiz, aber das Oolt'os würde bloß eine Last in seiner Bilanz sein. »Wenn du es nicht unterstützen willst, werde ich das«, sagte Oros tan. »Wir sollten die Gene behalten. Das Material. Gib ihm die Ar beit eines Kenstain, eine, zu der es fähig ist. Wir brauchen solche. Und du hast anderes zu tun.« »Wie du befiehlst, Oolt'ondai«, sagte Cholosta'an und schob den Säbel in die Scheide. Er gab dem Oolt'os etwas von seinen eigenen Rationen, eine einmalige Ehre, und stand auf. »Nun, du hast vorge schlagen, ich solle mein halbes Oolt aufgeben, und das ist mehr oder weniger geschehen.« »Nicht so, wie ich es vorhatte«, sagte Orostan. »Aber dennoch nicht ohne Nutzen. Jetzt haben wir diese verdammten Threshkreen, dieses Fatt Team, lokalisiert. Wir können unsere sämtlichen Patrouil len auf ein paar Straßen ansetzen und den Bereich noch weiter ein grenzen. Sobald wir sie eingekesselt haben, werden wir sie finden und vernichten, und wenn wir die ganze Heerschar dazu brauchen.«
»Gut«, sagte Cholosta'an wild. »Wenn wir das tun, will ich ihre Herzen essen.« Orostan zischte erfreut. »Ich bin kein Menschenfreund, aber ein paar gute Ausdrücke haben die schon. Sie nennen das ›zurückzah len‹.«
10 In der Nähe von Seed, Georgia, Sol III 0623 EDT, 14. September 2014
Mosovich fluchte verbittert und meinte dann: »Mit der Zeit komme ich mir für diesen Scheiß wirklich zu alt vor.« »Wem sagst du das«, flüsterte Mueller. Die Oakey Mountain Road war ein schmales Band, das parallel zur Bezirksgrenze zwischen Rabun und Habersham County verlief. Die Grenze selbst schmiegte sich an die Bergrücken an, die das Team benutzte, um der Entdeckung zu entgehen, aber die Straße, die meist nahe der Bezirksgrenze verlief, wurde im Allgemeinen von den dichten Wäldern überschattet, die die Hügel bedeckten. Dies war jetzt das erste Mal, dass sie freien Ausblick hatten; sie stan den auf einer Anhöhe über dem Lake Seed, und es war wirklich ent setzlich; die schmale Straße wimmelte von Posleen. »Das sind ja ein paar Brigaden, Jake«, flüsterte Mueller. »Yeah, und wenn die dort sind, dann sind sie auch auf der Low Gap Road … die schließen uns ein.« »Jake, Posleen tun das nicht«, widersprach Mueller und ignorierte dabei, was seine Augen ihm zeigten. »Na ja, aber diese hier schon«, wandte Mosovich ein. »Schwester Mary, sind wir sicher?« »Ja«, antwortete sie. »Drüben auf der anderen Seite des Lake Ra bun ist eine Box, und ich hab ein paar neue abgesetzt. Wir haben so lide Laserverbindung zum Korps.«
»Dann weck jemanden auf. Ich möchte ein menschliches Wesen, keine Maschine. Ich schätze, dieser Einsatz ist im Eimer, und wir werden zusehen müssen, wie wir hier rauskommen.«
Der Offizier rieb sich schläfrig die Augen und nahm das Headset, das die Femmeldetechnikerin ihm reichte. »Major Ryan, FSDO. Wer spricht?« Ryan fragte sich manchmal, ob er bei den Zehntausend nicht einen wichtigeren Beitrag im Kriegsgeschehen hätte leisten können, einen Einsatz, den man automatisch bekam, wenn man wie er das winzige »Sechshundert« auf der rechten Brustseite seines Battle Dress einge stickt trug. Doch nach einer kurzen, aber denkwürdigen »Beratungs sitzung« mit dem Stabschef des Pionierkorps war er davon über zeugt, dass es bessere Orte für ihn und auch für die Army gab. Die Zehntausend waren hinsichtlich Pioniersupport im Allgemei nen von anderen Einheiten abhängig, und ihr oberster Pionieroffi zier war im Grunde bloß ein Verbindungsmann. Sergeant Leo, der inzwischen – wie es sich gehörte! – zum Warrant Officer befördert worden war, füllte diese Position perfekt aus. Und für einen jungen Ingenieur, dem klar geworden war, dass er gerne Offizier war, wäre das eine Sackgasse gewesen. So hatte eine Folge im Allgemeinen recht auffälliger und stets kri tischer Aufgaben ihren Anfang genommen. Zunächst war er Adju tant des Kommandeurs des Pionierkorps gewesen, und beinahe alle weiteren Einsätze waren ähnlich herausfordernd und seiner Karrie re förderlich gewesen. Selbst dieser letzte Einsatz, bei dem es darum ging, die Verteidigungsanlagen von Rabun Gap umzubauen, war äußerst wichtig und konnte ihm viel Lob einbringen. Formal gese hen war er bloß stellvertretender Pionieroffizier des Korps, aber in Wirklichkeit leitete er nicht nur die Pionierbrigade, sondern sämtli che Pioniereinheiten der Division bei einem Vorhaben, bei dem es
darum ging, die gesamten Verteidigungseinrichtungen des Tals von Grund auf neu zu konzipieren. Dabei war Rabun Gap – die »Rabun-Lücke« im Sprachgebrauch der Militärs – ohnehin bereits mit starken Verteidigungsanlagen ausgestattet. Das Gap war eine relativ flache Stelle im östlichen Teil der Gebirgskette, durch die eine wichtige Straße verlief, und deshalb hatten die Vereinigten Staaten keine Kosten gescheut, um sich hier auf den Ansturm der Posleen vorzubereiten. Da war zunächst ein Schutzwall, der durch eine Engstelle südlich der Stelle verlief, wo früher einmal Mountain City gestanden hatte. Der Wall, der, was Massivität anging, dem Hoover-Damm kaum nachstand, erstreckte sich beiderseits die steilen Hangflanken hinauf und verlief in OstWest-Richtung entlang einer Reihe von Bergketten. An dem »Lan gen Wall« wurde ständig gearbeitet, und er würde bald in seinen Dimensionen die Große Chinesische Mauer als gewaltigstes Bau werk auf Erden übertreffen. Aber wie es hinter dem Wall aussah, das war eine ganz andere Ge schichte. Ursprünglich hätte der Wall das Mittelstück einer Verteidi gungsanlage darstellen sollen, die sich bis hinunter nach Clayton und noch daran vorbei erstreckte und die ganze Rabun-Lücke füllte, die formal gesehen etwa zwei Meilen hinter dem primären Bauwerk begann. Die frühen Landungen hatten alle bisher aufgestellten Prioritäten über den Haufen geworfen, und das wiederum hatte dazu geführt, dass ein großer Teil der Vorbereitungen nicht rechtzeitig abgeschlos sen worden war. Von den Verteidigungseinrichtungen vor dem Wall war nichts übrig geblieben; sie waren bei mehreren Angriffen von den Posleen einfach weggefegt worden, und man hatte sie spä ter nicht ersetzt. Außerdem waren die Anlagen hinter dem Wall, die der Planung nach über mehrere Kilometer gestaffelt hätten verlau fen sollen, entweder nie fertig gestellt oder in manchen Fällen vom Pionierkorps selbst im Bemühen, Raum zu gewinnen, wieder einge rissen worden.
Als der gegenwärtige Kommandeur des Pionierkorps die Region von Rabun Gap, die nach der neueren Planung nur noch geringe Priorität hatte, besuchte, hätte nach einem kurzen Blick auf die An lagen nicht viel gefehlt, dass ihn vor lauter Schreck der Schlag ge troffen hätte. Der Feind hatte wiederholt in der Umgebung von Har risburg und Roanoke Anlagen eingenommen, die drei- oder viermal so gut wie diese hier befestigt gewesen waren, er wusste also ver dammt genau, dass auch diese einem hinreichend entschlossenen Angriff der Posleen nicht würden standhalten können. Zunächst zog er in Betracht, John Keene zu rufen, einen der Spe zialisten, die sich das Pionierkorps für besonders schwierige Fälle in Reserve hielt. Aber Keene war im Augenblick nicht nur intensiv mit dem Umbau der Befestigungsanlagen von Roanoke befasst, sondern der örtliche Kommandeur des Korps war auch noch ausgerechnet General Bernard von der 29th Infantry. General Bernard hatte den Befehl ausgegeben, dass die Posleen, die sich zu einem Festmahl in den Ruinen von Fredericksburg nie dergelassen hatten, nicht abgewehrt, sondern geradezu animiert werden sollten, auszuschwärmen und die Einheiten anzugreifen, die sich südlich und nördlich von ihnen sammelten. General Bernard hatte anders lautende Befehle einfach ignoriert und seine Divisions artillerie angewiesen, auf eine Konzentration von Posleen zu feuern, die, wie es schien, überhaupt nicht daran interessiert waren, die Feindseligkeiten fortzusetzen. Das hatte bildlich gesprochen diesel be Wirkung ausgelöst, wie wenn man mit einem Stock in einem Wespennest herumstochert – und auch ganz ähnliche Folgen gehabt. John Keene hatte mit Erfolg buchstäblich in letzter Minute Vertei digungsanlagen für Richmond im Süden entwickelt und auch in die Realität umgesetzt. Der Plan wurde im Gegensatz zu dem von Ge neral Bernard vorgeschlagenen realisiert und infolge des jämmerli chen taktischen Urteilsvermögens des Generals noch dazu in aller Eile.
Das Korps nördlich von Fredericksburg war infolge einer Kombi nation unsinniger politischer Entscheidungen, schlechter Ausbil dung und, wie es schien, eines Hacker-Angriffs überrannt und fast bis zum letzten Mann vernichtet worden. Das hatte dazu geführt, dass Second Lieutenant William Ryan, der sich noch in Ausbildung auf der Pionierschule befand, mit ein paar Klassenkameraden und sonstigen in Ausbildung befindlichen Pionieren von der Grundaus bildung abgezogen und dazu abgeordnet worden war, den Posleen zuzusetzen und sie aufzuhalten. Mit Unterstützung der USS Missou ri hatten sie sich bis zum Lincoln Memorial durchgekämpft, wo sie es schließlich leid waren, ihre Flucht fortzusetzen und das Kellerge schoss gehalten hatten, bis die GKA dort eingetroffen waren und sie ausgebuddelt hatten. Damit war Lieutenant Ryan, inzwischen Major Ryan, dem Kom mandeur des Pionierkorps aufgefallen, welcher der Ansicht war, dass dies der ideale Mann für einen operativen Einsatz sei. Ganz be sonders, wenn man den Major mit dem vertraulichen Hinweis an Bernard auf seinen Posten brachte, dass ein gewisser Kriegsgerichts ausschuss neu aufgestellt werden könnte, um über seine Pannen in Virginia zu »diskutieren«, falls er den Major nicht in jeder Weise un terstützte und sich anschließend zum Teufel scherte. Und so war es gekommen, dass Major Ryan jetzt dabei war, eini gen Verwaltungsheinis zu erklären, dass sie ihre Einrichtungen ent weder hinter den Wall oder seinetwegen auch davor verlegen sollten, und dass es ihm völlig gleichgültig war, wofür sie sich entschieden. Und dass er darüber hinaus für den Feldeinsatz eingeteilt war.
Jake zuckte zusammen. Er wusste nicht, wer dieser Schwachkopf war, aber wenn man bedachte, dass er im trockenen, warmen Hauptquartier Stabsdienst schob, dann war ziemlich unwahrschein lich, ob er wusste, aus welcher Seite eines Gewehrs die Kugel kam,
geschweige denn wie entscheidend wichtig es war, eine abgeschnit tene Streife mit Artilleriefeuer zu versorgen. »Major, hier Sergeant Major Jake Mosovich, Fleet Strike. Wir haben eine … Situation.« Ryan zog an der Haarsträhne, die ihm ständig in die Stirn hing, und versuchte sich daran zu erinnern, woher er diesen Namen kannte. »Sprechen Sie weiter, Sergeant Major, Sie haben meine un eingeschränkte Aufmerksamkeit.«
Nachdem er die Vergrößerung des Nachtsichtgeräts höher gestellt hatte, seufzte er. »Sir, wir sind von Posleen umgeben. Unsere Positi on ist südöstlich vom Lake Seed, und die Posleen haben das allem Anschein nach herausbekommen und patrouillieren auf sämtlichen Straßen im Umkreis. Unsere Aufgabe war, Clarkesville zu erkun den, aber das ist im Augenblick unmöglich. Wir können von Glück reden, wenn wir hier lebend rauskommen. Sie hören mich doch, Sir?«
Ryan fröstelte und erinnerte sich an die Mischung aus Erleichterung und Schamgefühl, die er empfunden hatte, als sein Platoon die Er laubnis bekommen hatte, die Verteidigungsstellungen bei Occoquan zu verlassen. Er wusste nur zu gut, wie Mosovich in dem Augen blick zumute war. Oder vielleicht auch nicht, denn er, Ryan, hätte sich immerhin zurückziehen können. Er sah auf die Tafel, auf der die Verfügbarkeit von Artillerie darge stellt war, und wurde bleich. Dem Sergeant Major würde das, was er ihm gleich sagen würde, gar nicht gefallen; höchstwahrscheinlich würde er es auch nicht glauben. »Sergeant Major, was ich Ihnen zu sagen habe, ist ausgesprochen beschissen. CONARC hat die gesamte verfügbare Artillerie für die
Kämpfe im Norden angefordert. Wir haben die beiden zusätzlichen schweren Artillerieregimenter in dem Bereich verloren, und die zu sätzliche Spezial-Ari, die wir hätten kriegen sollen, hat man nach Chattanooga und Asheville umgeleitet. Die Hälfte der Ari unseres Korps ist weg. Im Augenblick haben wir überhaupt keine schweren Spezialgeschütze, mit Ausnahme eines SheVa, und die haben keine einsatzfähige Munition. Und für alles andere, mit Ausnahme einsfünfundfünfzig, sind sie außer Reichweite. Und die Hälfte der Hun dertfünfundfünfziger ist für Feuerschutz in Notfällen eingeteilt. Die bekomme ich nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis des Korpskom mandeurs frei.« Ryan konnte über die offene Leitung hören, wie der Sergeant Ma jor fluchte, und an seinen Flüchen musste wohl etwas gewesen sein, was seinem Gedächtnis einen Schubs gab. »Sergeant Major Moso vich? Aus Richmond?« Einen Augenblick lang blieb die Leitung stumm. »Yeah, der bin ich, wieso wissen Sie das, Sir?« Ryan strich sich über seinen Schnurrbart. Den hatte er sich vor ei niger Zeit wachsen lassen, als er das Gefühl gehabt hatte, für einen Captain ein wenig zu jung zu sein. Und dann war ihm nach einer Weile aufgefallen, dass die Leute es vermieden, ihm in die Augen zu sehen. Oh, nicht die echten Haudegen, aber die traf man im Haupt quartier ziemlich selten an. Aber die übrigen … sie sahen meist weg. Die meisten sagten, er sähe nicht so aus, als ob er noch unter dreißig wäre. Aber den Schnurrbart behielt er. »Ich kenne Mr. Keene. Recht gut sogar.« Er hatte während des Wiederaufbaus in Chattanooga unter Keene studiert, und dabei war mehr als nur eine bloße Bekanntschaft entstanden; Keene war einer von denen, die dem jungen Major in die Augen sehen konnten. Und Keene kannte ein paar gute Geschichten über Richmond. Besser als die von Ryan, die meistens mit »und dann sind wir wieder davonge rannt« oder »und dann ist er gestorben« endeten.
»Besser als Barwhon, Sergeant Major«, fügte Ryan hinzu, dem jetzt klar geworden war, wie er Mosovich dazu bringen konnte, mit ihm zusammenzuarbeiten. Wenn er das schaffte und sie nicht etwa ge geneinander arbeiteten – und das konnte leicht passieren, wenn Mo sovich zu der Ansicht gelangte, er habe es mit einem Sesselfurzer zu tun –, würden sie es vielleicht schaffen, das Aufklärungsteam raus zuholen. »Besser als Barwhon, aber nicht so gut wie Occoquan«, fügte der Major hinzu. »Dort hatte ich die Missouri auf meiner Seite.« Ryan legte wieder eine kurze Pause ein und klickte Symbole an, konfigu rierte einige Daten neu. »Sie haben jetzt alles, was ich befugt bin frei zugeben, Sergeant Major. Ich werde sofort einen Läufer zum Korps kommandeur hinüberschicken mit der Bitte, dass er die Eingreifre serven freigibt, alle mit Ausnahme einer Batterie. Einige von den Jungs schlafen wahrscheinlich, man wird sie also wecken müssen. Aber in Kürze werden Ihnen fast zwei Brigaden Artillerie zur Verfü gung stehen.«
Mosovich lächelte, als sein AID anzeigte, wie die gesamte verfügba re Artillerie des Korps auf seine Kontrolle übertragen wurde. »Sie waren das also, Sir. Yeah, ich würde mir wünschen, dass die Mo in Reichweite wäre. Oder ein paar Railguns. Aber wir werden mit dem klarkommen müssen, was wir haben.« Ryan deutete auf den nächsten oberen Unteroffiziersdienstgrad und das Quartier des Korpskommandeurs. Das Hauptquartier be fand sich auf einer Anhöhe mitten im Gap und hatte einmal die Schule von Rabun beherbergt. Jetzt hatte man die Schlafräume in Offiziersquartiere umgebaut, und das Haus des Schulleiters war das Quartier des Korpskommandeurs geworden. Im Allgemeinen zog der Kommandeur es vor, nicht mitten in der Nacht gestört zu wer den, aber ein Blick auf den Major reichte aus, um den Staff Sergeant
in Bewegung zu setzen. Und er würde erst zurückkommen, wenn man ihm die Artillerie freigegeben hatte. »Ich will sehen, ob ich sonst noch was zusammenkratzen kann. Wüssten Sie noch etwas?« »Eines noch, Sir«, fügte Mosovich hinzu. »Es wäre vielleicht ganz gut, Major Steverich von S-2 zu wecken. Diese Gäule hier verhalten sich einfach anders als normale Posleen. Viel zu gezielt, zu … ich weiß auch nicht. Man könnte fast glauben, dass sie uns erwarten. Mir gefällt das gar nicht. So als wüssten sie schon vorher, was wir tun.« »Oder als würden sie unsere Post lesen?«, fragte Ryan. »Sie sind doch sicher, oder?« Er warf einen Blick auf den unteren Rand seines Bildschirms. »Ja.« »Yes, Sir«, antwortete Mosovich. »Wir benutzen das Lasersystem. Ich vertraue nicht einmal auf Ultrabreitband. Aber wir haben Senso ren verloren. Deshalb sind wir ja hier, weil wir unsere sämtlichen Sensoren auf dieser Seite des Bergs verloren haben. Was haben die damit gemacht?«
Tulo'stenaloor blickte dem Gottkönig über die Schulter und zügelte seine Ungeduld. Es war beinahe unmöglich gewesen, Goloswin aus findig zu machen und noch schwieriger, ihn aus seinem bequemen Trott bei Doradan herauszuholen. Aus der Sicht der jungen Hitz köpfe, die den größten Teil der Heerschar bildeten, waren Kessentai wie Goloswin nicht viel mehr als Kenstain. Sie mochten ja gut genug gekämpft haben, um ein paar kleine Besitztümer zu bekommen, ein Stück Land und ein oder zwei Fabriken. Aber dann hörten sie einfach auf, überließen das Kämpfen Besseren. Und sie hatten seltsame … Hobbys war kein Posleen-Wort, aber es passte. Im Falle Goloswins war dieses Hobby … Gerät. Er schien das Alldn't-Gerät besser zu verstehen als die schon lange toten Alldn'tund Posleen-Konstrukteure. Er konnte einen Tenar verbessern –
wieder kam ihm ein menschliches Wort in den Sinn, »frisieren« –, dass er schneller wurde, sich besser steuern ließ und seine Sensoren besser auf die Kanonen abgestimmt waren. Seine Sensorsuiten waren geradezu legendär, und viele wohlha bende Kessentai warteten ziemlich lange darauf, dass eines seiner Systeme gebaut wurde und schließlich zu ihnen gelangte. Und ein solches System kostete mehr in Tauschkrediten als ein voll ausgerüstetes Basis Oolt. Aber die eigentliche Liebe des Technikers waren neue Entdeckun gen, neue Geräte, an denen er herumbasteln konnte, wie beispiels weise der Sensorkasten, der vor ihm in dem Stasisfeld schwebte. »Diese Menschen, so endlos erfinderisch«, seufzte der Gottkönig. »Da, schau. Nicht bloß ein Kommunikator, nicht bloß ein Relais und nicht bloß ein Sensor, sondern alle drei in einem. An manchen Stel len recht primitiv; ich nehme an, dass einige der Bauteile aus irgend etwas anderem stammen. Aber sehr, sehr erfinderisch.« »Und jetzt ein Verteidigungsgerät«, meinte Tulo'stenaloor. »Das Letzte, das wir zerlegen wollten, ist explodiert, als man es bewegt hat.« Dass dabei auch ein Oolt'os und ein Kessentai, der den Vor gang überwacht hatte, ums Leben gekommen waren, lohnte die Er wähnung nicht. »Ich brauche ein Muster von einem von diesen hier«, sagte Golos win. »Ich habe ein Oolt'os, das vermutlich eines mit Erfolg herunter holen kann.« »Sobald dieses kleine Problem erledigt ist«, sagte Tulo'stenaloor. »Sie sind davon abhängig, dass Funkkontakt über diese Dinger hier nicht angepeilt werden kann. Diese Verbindung würde ich ihnen, wenn es geht, gerne nehmen.« »Oh, man kann es schon anpeilen«, wandte Goloswin ein. Er fuhr mit den Krallen durch ein paar leuchtende Punkte in der Luft, wor auf sich ein neues Holofeld aufbaute. Es handelte sich um eine nicht sehr detaillierte Karte der Region, und Tulo'stenaloor erkannte so fort, dass die »hellen« Stellen die waren, die von den menschlichen
Sensoren eingesehen werden konnten. Und er begriff auch sofort, was er da sah. »Du bist im Sensornetz?«, hauchte er. »O ja«, bestätigte Goloswin. »Eine ganz triviale Übung, wirklich, völlig trivial. Das Hübsche daran ist das.« Er markierte ein Feld, und vier violette Icons erwachten auf einer Kammlinie zum Leben. »Das sind unsere Peiniger. Geh jetzt und kümmere dich um sie und bring mir ein Exemplar dieser neuen Sensoren. Ich bin darauf gespannt, diese ›Falle‹ zu untersuchen. Und frag bitte den nächsten Menschen, ehe du ihn isst, was ›Falle‹ bedeutet.«
Mosovich musterte die Karte und spürte, wie sein Magen sich zu sammenzog. Tatsache war, dass sie in einem Kessel steckten, ganz gleich wie viel Artillerieunterstützung sie auch bekamen. Es gab nur drei Stellen, wo man den Talullah River vernünftigerweise überque ren konnte. Mueller hatte schon darauf hingewiesen, dass sie mit Tauchgeräten jeden der Seen mühelos hätten durchqueren können. Aber ohne solches Gerät würden sie vier auffällige Ziele bilden, dem Feuer jeder vorüberkommenden Streife ausgesetzt. Und sie würden den Fluss nicht schnell überqueren können. Selbst wenn sie Schwes ter Mary »unsinkbar« machen und sie auf einem Floß über den Fluss ziehen konnten. Aber andernfalls würden sie sich für eine der Brücken entscheiden müssen; die Flüsse zu überqueren würde fast unmöglich sein, und im Übrigen: Wenn man bedachte, dass sie Seile spannen mussten, um nicht weggespült zu werden, während sie sie überquerten – würde das auch viel zu lange dauern. Aber … diese Posleen verhielten sich wie Menschen. Sie schienen darüber nachzudenken, was die von ihnen gejagten Menschen wohl tun würden, und reagierten vernünftig darauf. Und das bedeutete, sie erwarteten, dass das Team entweder die Brücken oder die Seen überquerte und sich damit mehr oder weniger direkt in Richtung auf die Front zubewegte. Dass Letzteres praktisch un
möglich sein würde, wussten sie vielleicht, vielleicht wussten sie es aber auch nicht. Wenn sie die Front im Westen durchbrechen und dann den Kontakt abbrechen konnten – zwei sehr große Wenn –, würden sie sich um den Tray Mountain herum zu den Linien durch arbeiten können. Das war Wildnis, es gab dort nur wenige Straßen – und das war aus ihrer Sicht ein Vorteil. Aber dort hinzukommen würde einen verdammt langen Marsch bedeuten, und das, wie es schien, mit verdammt wenig Unterstüt zung. Doch die Artillerie, das Wenige, was davon da war, würde ih nen während des ganzen Weges Feuerschutz geben können. Dabei kam es nur darauf an, sicherzustellen, dass man sie nicht nach der Schussfolge der Artillerie entdeckte. Er schmunzelte. Das war fast so schlimm, wie gegen Menschen zu kämpfen.
»Es gibt einen Grund dafür, dass es so schwer ist, gegen Menschen zu kämpfen«, sinnierte Orostan. »Offenbar haben sie während ihrer ganzen Geschichte ständig Kriege gegeneinander geführt und diese Kriege auch überlebt. Ihr endloser Vorrat an schmutzigen Tricks stammt aus diesen Jahrtausenden der Erfahrung. Wir Posleen ande rerseits haben entweder gegen Feinde, die keinerlei Erfahrung im Krieg hatten, oder gegen das Ornaldath gekämpft. Und das Ornal dath hat immer nur ganz kurze Zeit gedauert und war so chaotisch, dass man wenig daraus lernen kann.« »Wenn man mit Menschen zu tun hat, ist jeder Tag ein Ornaldath«, murmelte Cholosta'an bitter. »Sie … betrügen.« »Ja«, räumte Orostan amüsiert ein. »Aber es ist nicht Ornaldath. Sie benutzen die größten Waffen nicht sehr. Tulo'stenaloors … ›Nachrichtendienst‹-Leute haben gelernt, dass sie eine starke Abnei gung dagegen haben, solche zu benutzen, die nicht chemisch sind, solche mit Kernverschmelzung und Antimaterie. Man kann also bei aller Fantasie nicht von Ornaldath sprechen. Nur wenn man sie in
die Enge treibt. Dann benutzen sie diese Waffen manchmal. Aber es ist selten.« »Sind sie jetzt nicht in die Enge getrieben?«, fragte Cholosta'an. »Die kontrollieren jetzt nur noch ein vergleichsweise kleines Stück eines einzigen Kontinents. Die Thresh im Norden verfügen nicht über genug Material, um zu kämpfen, und, wenn man von diesem kleinen Rest hier absieht, sind sämtliche Stämme über die Berge ver streut. Und abgesehen von diesem winzigen Rest sind sie am Ende, gebrochen … Haben wir nicht deshalb diese Heerschar zusammen geholt?« »Du darfst die Menschen so lange nicht als besiegt betrachten, bis nicht der Letzte von ihnen tot ist und du seine Leiche in Stücke ge hackt und gegessen hast«, warnte der Oolt'ondai. »Viele von ihnen haben den Planeten verlassen, ehe wir gelandet sind, und jene ›ver streuten Stämme‹ sind immer noch stark genug, um vielerorts eine ernste Herausforderung für uns darzustellen. Wir haben den größ ten Teil des Planeten erobert und den größten Teil der menschlichen Bevölkerung als Nahrung verarbeitet, aber ihre Flotte wird neu ge baut und wie es scheint endlos erneuert. Diese Menschen, diese ›ge fangenen Abat‹ sind alles andere als ein Witz. Sie finden jeden Tag neue Möglichkeiten, uns Schwierigkeiten zu bereiten.« Und in dem Augenblick, gerade als habe er auf dieses Stichwort gewartet, fing der Himmel zu brüllen an.
»Schwere Artillerie«, sagte Mosovich, der dem Dröhnen in der Ferne herunterregnender Granaten lauschte. Das Team war die Bergflanke hinuntergezogen, hatte jeden Felsvorsprung als Deckung genutzt, bis sie sich auf zweihundert Meter an die Oakey Mountain Road herangearbeitet hatte. Ihr größtes Problem waren die unter den Nor malen verteilten Gottkönige. In dem dichten Blattwerk konnte man die gelegentlich vorüberziehenden Untertassen nur mit Mühe erken nen, aber jedes Mal, wenn eine auftauchte, warf das Team sich zu
Boden und hielt besorgt den Atem an. Bislang war alles gut gegan gen. Jetzt, mit dem Artilleriefeuer hinter sich, sollten die Posleen, falls sie sich erwartungsgemäß verhielten, in Erwartung des Teams zur Brücke rennen. Und allem Anschein nach geschah das auch. Die ihnen sichtbaren Normalen begannen beinahe unmittelbar nach Einsetzen des Artille riebeschusses, nach Norden zu strömen. Mit ein bisschen Glück würde das Team in ein paar Minuten versuchen können, sich auf die Straße zu begeben. Sie befanden sich auf einer Bodenerhebung, die senkrecht zur Stra ße verlief, und kauerten geduckt hinter einer Gruppe von Kiefern. Wo sie die Straße überqueren würden, verlief diese durch eine klei ne Senke, und auf der anderen Seite gab es eine Anhöhe. Rechts von der Senke hatte früher einmal ein Haus, vielleicht auch ein kleiner Bauernhof gestanden, aber jetzt waren da nur noch ein von Unkraut überwuchertes Feld und der ebenfalls zugewachsene Straßenrand zu sehen. Auch die freie Fläche war klein, höchstens fünfzig Meter breit, und das schloss die von Gras überwucherte ehemalige Oakey Mountain Road ein. Auf der anderen Seite des Hügels, der ihr Ziel war, senkte sich das Terrain steil zum Soque River ab. Obwohl es unter normalen Um ständen nicht leicht sein würde, den Wasserlauf zu überqueren, war das Terrain dicht bewachsen, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Posleen dort mit ihnen Schritt halten konnten, war gering. Sie wür den Highway 197 überqueren müssen, aber wenn die Posleen nicht überall ihre Patrouillen hatten, sollte es dort drüben keine Bewe gung geben. Und die Büsche sollten es ihnen ermöglichen, sich an etwaigen Patrouillen vorbeizuschleichen. Sobald sie den Soque überquert hatten, würden sie einen weiten Bogen um Batesville schlagen. Wenn man sie bei der Flussüberque rung nicht entdeckte, würde das Korps den Beschuss der Posleen am Talullah fortsetzen. Mit etwas Glück würde es eine Weile dau
ern, bis der Kommandeur der Posleen herausbekam, dass sie ihm entschlüpft waren. Bis dahin sollten sie die Suchzone bereits verlas sen haben. Wenn. Mit etwas Glück. In bemerkenswert kurzer Zeit waren die Posleen-Massen in dem Areal verschwunden. Die Straße lag völlig frei und leer unter dem Nachthimmel. »Zeit loszuziehen«, flüsterte Mosovich. Wieder ein steiler Abhang. Zeit zur Schlittenfahrt.
»Nun, zumindest geht es auf andere nieder«, stellte Cholosta'an fest. Die Sensoren des Tenar waren so eingestellt, dass sie das Geschehen auf der anderen Seite des Berges anzeigten. Die Ortschaft Seed war häufig als nicht viel mehr als eine Stopp stelle bezeichnet worden; in Wirklichkeit war sie nicht einmal das. Die »Hauptstraße« war Oakey Mountain, ein zweispuriges, gewun denes Stück Nichts, das von Nirgendwo nach Nirgendwo in den Bergen führte. Und es gab nicht einmal ein Stoppzeichen an der Straße, geschweige denn einen Laden. Die zweite Straße nannte sich Gap Road, eine asphaltierte, einspurige Straße, die über die Berge zum Lake Seed führte. Und jetzt war Seed noch viel weniger. Wo früher ein paar Häuser gestanden hatten, gab es jetzt nur noch von Unkraut überwucherte Felder, Büsche und hie und da einen flachen Krater, der auf ein Haus mit einem »Verbrannte Erde«-Verteidigungssystem deutete. Im Augenblick waren die Felder von den Oolt'ondar Orostans und den vielen neu eingetroffenen Oolt bedeckt, die sich ihm angeschlos sen hatten. Die Hauptaufgabe dieser Einheit war es gewesen, auf der Low Gap Road zu patrouillieren. Orostan hatte Material für den Straßenbau angefordert, und der Pfad über die Berge wurde gerade zum ersten Mal seit der Invasion ausgebaut. Aber der größte Teil
seiner Streitmacht war bei Seed versammelt, für den Fall, dass die Menschen eine andere Richtung einschlagen sollten. Im Gegensatz zu den Einheiten drüben am See, die das menschliche Team umzin gelten, es mutmaßlich umzingelten. Und dass Letztere unter starkem Beschluss lagen, war offenkundig. »Ja«, sagte Orostan. »Und Lardola ist konservativ. Die größten Verluste haben die neuen Einheiten erlitten. Und ganz besonders diejenigen, die als ›ungünstig‹ bezeichnet waren.« »Ich bin froh, dass man mich nicht als ›ungünstig‹ bezeichnet hat«, meinte der jüngere Kessentai säuerlich. »Nein, das hat man nicht«, pflichtete der Oolt'ondai ihm bei. »Sonst wärst du jetzt wahrscheinlich dort und würdest zu Thresh verarbeitet.« Sein Kommunikator klingelte, und er tippte an einen der Leuchtpunkte, um das Gespräch anzunehmen. »Orostan, hier Tulo. Die Menschen haben uns allem Anschein nach ausgetrickst; sie versuchen nach Westen auszubrechen. Sie ma chen sich gerade bereit, die Straße an der Westseite zu überqueren. Die Streifen dort drüben haben sich aufgelöst. Versuche die Men schen abzuschneiden, wenn du das rechtzeitig schaffst, und wenn nicht, dann verfolge sie.« Eine holographische Karte breitete sich über dem Tenar des älteren Kessentai aus und zeigte die Positionen des menschlichen Teams und der Posleen-Streitmacht. »Verstanden«, bestätigte der Oolt'ondai. »Ich werde das sofort tun.« »Und«, fügte der Kommandeur aus der Ferne mit einem Anflug von Heiterkeit hinzu, »ich denke, ich brauche nicht zu empfehlen, dass du Vorsicht walten lässt.« »Einverstanden«, antwortete der Oolt'ondai. »Ich werde sofort mein Oolt holen, Oolt'ondai«, sagte Cholosta'an und schickte sich an, sein Tenar nach Norden zu lenken. »Mit Bedacht, Kessentai«, sagte Orostan und legte verneinend den Kamm um. »Ich habe doch erwähnt, dass du nicht völlig ersetzbar
bist, stimmt's?« Der Oolt'ondai strich mit den Fingern über die An zeigen, bis er zufrieden grunzte. »Oldoman«, sagte er dann in seinen Kommunikator. Eine kurze Pause veranlasste ihn gereizt zu schnau ben, aber dann wurde der Kommunikator hell. »Was?«, hallte es schroff heraus. »Man hat beobachtet, dass die Menschen versuchen die Straße zu überqueren. Geh nach Norden und schneide ihnen den Weg ab; ich rücke mit dem Rest der Einheit nach.« »Ich gehe!«, kam die Antwort. »Ich habe vom ständigen Warten in der Finsternis genug!« »Ein Ersetzbarer?«, fragte Cholosta'an. »In hohem Maße«, gab Orostan ihm Recht. »Seine Oolt'os können sich vor Hunger kaum mehr auf den Beinen halten, nicht weil es ihm an Krediten fehlt, sondern weil er von ihnen erwartet, dass sie ihre Nahrung selbst finden. Miserable Ausrüstung und keine einzi ge vernünftige Gen-Linie in der Gruppe. Verdammt wenig nützliche Fähigkeiten und alle ersetzbar. Er ist die Luft nicht wert, die er und sein Oolt atmen.« Für eine Rasse, die sich »die Leute von den Schif fen« nannte, war das die schlimmste Beleidigung, die man sich vor stellen konnte. »Und werden wir mit dem Rest der Einheit folgen?« »Oh, ganz sicherlich«, sagte Orostan und sandte entsprechende Anweisungen an seine Unterführer. »Aber vorsichtig und langsam; die am wenigsten wertvollen Kundschafter ganz vorne. Es lohnt nicht, tausend Oolt'os zu verlieren, um eine kleine Gruppe Men schen zu fangen, und wäre sie auch noch so gefährlich.«
»Ich begreife einfach nicht, dass es den Aufwand wert ist, einem winzigen FAT Feuerschutz zu geben«, beklagte sich der Artillerie kommandant des Korps.
Es war nicht verwunderlich, dass jeder seinen Kommentar geben wollte, als sie aufgewacht waren. Der Kommandant schimpfte so laut, dass inzwischen sein ganzer Stab wach war. Und alle ließen ihre Wut an einem einzigen Major aus. Der keinerlei Rückhalt hatte. »Und ich sehe nicht ein, dass es sich lohnt, Sie zu füttern.« Major Ryan war müde und fing an, ein wenig ungehalten zu werden. Und mit der Zeit ging es ihm auf die Nerven, umgeben von lauter Etap penhengsten die Schlacht um Seed zu beobachten. »Jetzt reicht's«, sagte General Bernard. Er war ein großer rotgesich tiger Offizier, der seinen Battle Dress füllte, als wäre er eine Kessel pauke. Es hatte in der Militärgeschichte auch schon Genies gegeben, auf die diese Beschreibung passte, aber für General Bernard wäre »militärisches Genie« zweifellos nicht die richtige Bezeichnung ge wesen. Vor der Invasion war er Kommandeur der Nationalgarde von Virginia gewesen und hatte den Titel Adjutant General getra gen. Nachdem sämtliche Streitkräfte der Föderation unterstellt wor den waren, hatte er den Befehl über die 29th Infantry Division behal ten, und zwar bis zu dem Debakel, das als die Schlacht von Spottsyl vania County in die Geschichtsbücher eingehen würde. Während der ersten Landung hatten einzelne Einheiten der Division tapfer und gelegentlich sogar brillant gekämpft. Aber dabei hatte sich auch erwiesen, dass der General völlig überfordert war, und als er seine Divisionsartillerie gegen ausdrücklichen Befehl angewiesen hatte, das Feuer auf die Posleen zu eröffnen, hatte das in entscheidendem Maße zu dem darauf folgenden Massaker des 9th und 10th Korps bei getragen. In dem sich daran anschließenden Krieg der Schuldverteilung hat te ihm freilich sein politisches Geschick gute Dienste erwiesen. Ge wisse prominente Generale waren mit fliegenden Fahnen unterge gangen, der Präsident, der mit seinen Fehlentscheidungen im Mittel punkt der Kontroverse gestanden hatte, war natürlich gefallen, aber ein paar andere, die man teils zu Recht, teils zu Unrecht beschuldig
te, hatten überlebt. Was Bernard anging, so hatte er sogar Nutzen daraus gezogen und darauf hinweisen können, dass der General, der seine Ablösung angeordnet hatte, kurz darauf vernichtend von den Posleen geschlagen worden war. Die Tatsache, dass General Si mosin einem äußerst geschickten Hackerangriff auf sein Kontroll netz zum Opfer gefallen war, blieb bei dieser Diskussion unberück sichtigt. Tatsächlich war es zumindest teilweise General Bernards Schuld, dass die Schlacht zu dem Zeitpunkt und in dieser Weise stattgefunden hatte, aber seine voreilige und unkluge Order war bei der Diskussion übersehen worden. Deshalb hatte man ihm sein Kommando zurückgegeben und ihn am Ende sogar befördert. Alle, die einigermaßen Bescheid wussten, wussten freilich, dass er als Kommandeur im Felde bestenfalls unfähig und schlimmstenfalls ge fährlich war. Deshalb hatte man ihn auch in die RabunGap-Verteidi gungszone versetzt, der nur relativ geringe Priorität zukam. Einem Typen wie ihm konnte man schließlich nicht Chattanooga oder Roa noke oder Harrisburg anvertrauen. General Bernard war sich wohl bewusst, dass er auf dünnem Eis stand. Und deshalb ließ er sich auch Zeit, seinen Artilleriekomman deur zu verteidigen. »Eine unserer Aufgaben hier ist es, zu entschei den, wie viel Unterstützung sie brauchen. Und das Feuer habe ich freigegeben.« »Wahrscheinlich brauchen wir im Augenblick kein Feuer, um ihren Rückzug zu decken«, sagte Colonel Jorgensen. »Die scheinen sich hauptsächlich auf diese Kundschafter zu konzentrieren. Wenn Sie sie freilich bis zur Front verfolgen, immer vorausgesetzt, dass unse re Leute das schaffen, könnte es Probleme geben.« »Bis jetzt sieht alles so aus, als würden die sich nicht von der Stelle rühren«, gab Colonel McDonald zu bedenken. Dem für die Nach richtendienste zuständigen Offizier war wohl bewusst, dass das Team formal in seinem Zuständigkeitsbereich tätig war. Aber viel wichtiger war, dass er, sollte er sie verlieren, kaum eine Chance hat te, wieder neue Leute mit auch nur annähernd ihrem Geschick zu bekommen. Er hatte ein paar »selbst gemachte« Teams, aber diese
verfügten weder über die Erfahrung noch das Gerät dieser SpecialOperations-Typen mit jahrelanger Erfahrung, die man zu Fleet Stri ke versetzt hatte. Und das bedeutete lokale Patrouillen mit Stan dardgerät. Reguläre Funkgeräte. Da die Posleen ziemlich schnell ge lernt hatten, Funkgeräte anzupeilen, würde das Teams bedeuten, mit denen man kaum kommunizieren konnte. Und deshalb hatte er aus einer Vielzahl von Gründen, darunter auch schierem menschlichem Mitgefühl und dem Interesse eines Soldaten, der sich um seine Kameraden sorgt, nicht vor, zuzulassen, dass diese beiden Schwachköpfe Mosovich einfach hängen ließen. »In den Sensorbereichen ist eine Menge Bewegung«, stellte McDo nald fest. »Die setzen dazu an, die Sensordeckung zu verlassen. Aber selbst wenn sie das tun, können wir ihre Verfolger unter Be schuss nehmen. Ist ja schließlich bloß Munition; Granaten, keine Menschen, klar?« »Für Sie ist es bloß Munition, George«, sagte Colonel Jorgensen. »Aber versorgt werden die Geschütze von meinen Leuten. Und die Rohre muss ich ersetzen. Die beschädigten Zapfen erklären und üb rigens auch den Munitionsaufwand. Und dort draußen sitzt ein Glo be und führt weiß der Teufel was im Schilde. Was passiert denn, wenn die über den Wall kommen? Wo kriegen wir dann die Muniti on her?« »Colonel, ich habe Ihr Munitionslager gesehen«, sagte Major Ryan. »Sie haben genügend Munition für fünf Tage pausenloses Feuer, ganz besonders in Anbetracht all der Einheiten, die wir an die 10th Army verloren haben. Fünf … Tage. Glauben Sie's mir, wenn die Posleen massiert angreifen, halten diese Verteidigungsanlagen keine fünf Tage. Eher vielleicht fünf Stunden. Und dafür haben Sie genü gend Munition.« »Ich denke, wir werden uns besser schlagen«, sagte Bernard. Wenn die Rohre abgenutzt wurden, bedeutete das einfach nur, dass er früher neue bekam, und dieser verdammte Major würde sicher lich einen Bericht über seinen »Kampfgeist« abliefern. »Aber wir ha
ben trotzdem genügend Vorrat. Schießen Sie, Red. Nehmen Sie jede Anforderung an, feuern Sie auf jedes Sensorziel. Major Ryan hat das alles von beiden Seiten mitgemacht; unterstützen Sie ihn und geben Sie ihm alles, was er verlangt.« »Danke, Sir«, sagte Ryan. »Ich habe das mitgemacht, was die jetzt erleben, und ich weiß wirklich, wie es ist.« Er hielt kurz inne. »Und ich gebe durchaus zu, dass ich nicht den vollen Durchblick habe, aber ich denke, Sie sollten bei der Army anrufen und verlangen, dass man Ihnen Ihre Ari zurückgibt, Sir. Wenn Sie wollen, nehme ich mit dem Pionierkommando Verbindung auf. Diese Posties be nehmen sich einfach seltsam.« »Diese Einschätzung teile ich, Sir«, sagte Colonel McDonald. »Man braucht sie bloß über die Sensoren zu beobachten, dann sieht man, dass sie wesentlich besser koordiniert bleiben. Sehen Sie sich doch diese Gruppe drüben bei Seed an. Oder die, die die LowGap-Brücke und die Brücke über die 441 angegriffen hat. Gewöhnlich, wenn man auf Posties schießt, schwärmen sie auf die Kampfzone zu. Die se Burschen warten ab und halten entscheidendes Terrain. Und das, Sir, ist nach meiner professionellen Einschätzung ein Albtraum.« General Bernard rieb sich den fast kahlen Schädel. Das war jetzt eine völlig andere Geschichte. Er hatte protestiert, dass man ihm die Artillerie wegnahm. Wenn er jetzt anrief und sich über nebulöse Berichte beklagte, dass Posleen sich »seltsam« benah men, und dann nichts passierte, konnte es sein, dass dies der letzte Nagel im Sarg seiner Militärkarriere war. Die Army hatte ein langes Gedächtnis, eines, das bis zum Bürgerkrieg zurückreichte, und ver gaß nicht so leicht Offiziere, die sich von ihren Ängsten leiten ließen. »Colonel, ich möchte eine komplette nachrichtendienstliche Analy se«, antwortete er. »Veranlassen Sie eine ordentliche Zählung oder eine gute Schätzung. Berichten Sie im Detail über alles Seltsame, was die Posleen getan haben und in welchem Umfang das ihre Kampf stärke steigert. Wenn es nach signifikant gesteigerter Bedrohung aussieht, werde ich das weitermelden. Wenn nötig, auch an CON
ARC. Aber einfach nur, dass diese Posties sich ›seltsam benehmen‹, reicht mir nicht.« »Ich wünschte, wir hätten eine Mike-Einheit«, sagte McDonald lei se. »Es stört mich einfach, dieses FAT sich selbst zu überlassen.« »Ich kenne Mosovich von früher«, sagte Ryan und zupfte wieder einmal an der Strähne, die ihm in die Stirn hing. »Der lässt sich nicht so leicht unterkriegen.«
»Für diesen Scheiß werde ich jetzt wirklich langsam zu alt«, schimpfte Mosovich, während sie über die Straße rannten. »Jetzt bitte nicht das schon wieder«, keuchte Mueller. Er hatte es aufgegeben, das Barrett auf der einen Seite zu halten, und trug es jetzt zusammen mit seinen eigenen Waffen, sonstigem Gerät und der Munition alleine und hatte dafür die schweren Munitionskästen Nichols überlassen. Den steilen Abhang zur Straße hinunter zu rut schen war … nun ja, interessant gewesen. »Dich haben sie gerade runderneuert; du hast für die nächsten hundert Jahre Garantie.« »›Es sind ja nicht die Jahre, Honey, es ist der Kilometerstand‹«, antwortete Jake. Dieses Feld war erfreulicherweise nicht von Sprengkratern aufgerissen, und deshalb kam er mit dem Team recht schnell voran, näherte sich bereits den Bäumen. »Ich bin es bloß langsam leid, ständig auf irgendwelche Bäume zuzurennen, ehe ei ner anfängt, auf mich zu schießen.« »Dann solltest du mal versuchen, außen an einer Untertasse hän gend mitten in einen Posleen-Schwarm hineinzufliegen«, keuchte Nichols, dem der Schweiß in dicken Tropfen über das Gesicht lief. »Also anscheinend haben wir es wieder einmal geschafft, dem Tod von der Schippe zu springen«, antwortete Mueller, als sie den schüt zenden Wald erreicht hatten. Diesmal waren sie in einen ziemlich abschüssigen, mit gefallenem Laub bedeckten Wald mit sehr wenig Unterholz geraten. Man würde sie so lange sehen können, bis sie die
Hälfte der Strecke bergan zurückgelegt hatten, wo sie ein Dickicht von Rhododendronbüschen erwartete. Diesmal war das Gelände nicht so steil, und Nichols nahm das Barrett zurück. »Danke, Mann«, sagte er ein wenig verlegen. »Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass mir jemand meinen Kram tragen muss te.« Mueller nickte bloß. Sie waren beide ähnlich kräftig gebaut, mit di cken Muskelpaketen und schweren Knochen. Aber er war beinahe zwanzig Zentimeter größer als Nichols. »Schon gut«, meinte er und sah sich um. »Oh, Scheiße.« Im Südosten war ein weiteres kleines Tal mit einem Sattel dahin ter, der nur ein wenig höher als der war, den sie gerade hinter sich gebracht hatten. Sie hatten ihn bisher nicht sehen können, und die Straße führte quer durch das Tal, bog nach links ab, ein Stück das Tal hinunter, und dann nach oben, durch »ihren« Sattel. Ein weiterer Posleen-Trupp kam über den Hügel, aber diesmal keine Patrouille. An der Spitze schwebte die Untertasse eines Gott königs, und obwohl die Menschen eindeutig bis jetzt noch nicht ent deckt worden waren, bewegte sich die Untertasse geradewegs auf »ihren« Hügel zu. Sie hatten einen Lasersender auf dem anderen Hügel hinterlassen, aber Schwester Mary hatte keine Zeit, mit einer Antenne danach zu suchen. »Feuerleitstelle«, rief Mosovich in das Mikrofon seines Breit bandgeräts. »Feuerkonzentration Julia Vier. Wiederhole, Julia Vier. Jetzt gleich.« Das Ultrabreitbandsystem war schwer anzupeilen, schwer aufzufinden und schwer zu stören. Das hieß nicht, dass die Posleen nicht zu alldem fähig wären, nur dass kurze Sendungen im Allgemeinen sicher waren. Aber wenn sie davon abhängig waren, würden die Posleen es am Ende lokalisieren und sie vernichten. Am Ende. Im Augenblick und an diesem Ort war es für sie die ein zige Möglichkeit, Artillerie anzufordern. Und wenn sie es nicht schafften, dass schleunigst Granaten ins Ziel regneten, bedeutete das das Ende für Mama Mosovichs Sohn.
Der Gottkönig war gute vierhundert Meter entfernt, und es war nur einer in Sicht. Es war bekannt, dass die Sensoren der Untertas sen Menschen auf diese Distanz »sehen« konnten, aber solange sie nicht schossen, konnten die Sensoren sie nicht »unterscheiden«. Wenn die Posleen-Kompanie einfach nur den Hügel herunterge kommen wäre, hätte sich das Team fallen lassen und gehofft, dass man sie nicht entdeckt hatte. Aber so, wie dieser Trupp sich beweg te, war klar, dass die wussten, wo die Menschen waren, und dass sie nach hierher unterwegs waren, um sie zu erledigen. In Anbetracht dieser Tatsache gab es für sie nur eine Wahl: Sie mussten den Gottkönig abschießen und hoffen, dass sie überlebten. Das Problem war, dass, wenn sie jetzt das Feuer eröffneten und der Gottkönig nicht sofort getroffen wurde, seine Sensoren ihre Position anzeigen würden. Also musste der Gottkönig als Erster erledigt wer den, mit dem ersten Schuss. Nichols klappte das zweibeinige Stativ des Barrett aus und ließ sich auf den Bauch fallen. Sein Atem ging von den Strapazen der letzten paar Stunden schwer und keuchend, aber er nahm an, dass er ihn lange genug für einen vernünftigen Schuss würde anhalten können. Deshalb brachten sie einem diese Technik auf der Scharf schützenschule bei, und er fing bereits an zu hyperventilieren, als er sich fallen ließ. Sein Herz schlug wie wild, und deshalb war es gut, dass das Ziel nur ein paar armselige hundert Meter entfernt war; wenn es über tausend Meter gewesen wären, und solche Schüsse hatte er bereits gemacht, hätte er zwischen zwei Herzschlägen schie ßen müssen. Er atmete noch viermal tief durch, ließ dann den Atem langsam heraus und beugte sich über sein Gewehr.
Orostan schüttelte den Kopf, als die Datenverbindung zu Oldomans Tenar abriss. »Dabei manövriert er nicht einmal, was für ein dum mer Abat.«
Die Mehrzahl seiner Einheit war die Oakey-Mountain-Straße hin unter zu der letzten gemeldeten Position des menschlichen Teams unterwegs. Ein paar Oolt waren zurückgelassen worden, für den Fall, dass die Menschen ihnen entschlüpften, aber der größte Teil von sechstausend Posleen war mit Orostan und seinen speziell aus gewählten Kessentai nahe der Spitze auf der Straße. Ganz vorne al lerdings waren weitere »ersetzbare« Oolt. Und die versuchten durch einen Stahlregen zu rennen. Das Gros der Mosovich zur Verfügung stehenden Artillerie war nicht auf die Gegend des Rabun-Sees gerichtet. Das Feuer dort stammte aus einer 155er-Batterie und hatte das Ziel, die Posleen von dem FAT abzulen ken. Der Rest der Artillerie, beinahe zwei Brigaden, war schon vor her entlang ihrer tatsächlichen Marschroute eingerichtet. Ein Teil war auf das tatsächliche Ziel gerichtet, auf das Mosovich Feuer an gefordert hatte, während die anderen Rohre auf zusätzliche mögli che Ziele feuern sollten. Auf seine kurze Anforderung hin wurde an den bereits eingerich teten Geschützen lediglich ein Knopf gedrückt und dann nachgela den. Die anderen Geschütze, jene, die auf andere Referenzpunkte gerichtet waren, mussten von ihrem ursprünglichen Azimut und der entsprechenden Richthöhe auf ein neues Ziel gerichtet werden. Aber für so winzige Anpassungen war das System voll automati siert, und deshalb hatten sie bereits fünfzehn Sekunden später ge feuert. Die Flugzeit der Geschosse betrug beinahe vierzig Sekunden, und deshalb hatten die Posleen fast eine Minute Zeit, herumzurennen, ehe die ersten Granaten einschlugen. Und dann, vierzig Sekunden später, regnete es aus fünfzehn weiteren Batterien. Und dann wurde es wirklich schlimm. »Ihre Artillerie bringt uns um«, murmelte Cholosta'an. »Wie üb lich.« Der Gottkönig ließ seinen Tenar hin und her schwingen, wäh rend sie die Straße hinunter auf den fernen Kanonendonner zujag ten. Das hatte ihm bisher angesichts menschlicher Scharfschützen
immer geholfen, und weil er nie davon ausging, dass keine zugegen waren, hatte er im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen bis jetzt überlebt. »Mhm«, machte Orostan. »Einige von uns bringt es um. Aber wir haben sie ganz eindeutig lokalisiert«, fügte er dann hinzu und tippte auf das Hologramm, das er vor sich hatte. »Jetzt senden sie. Zwei kurze Sendeimpulse sind von diesem Hügel gekommen. Sobald wir den Kamm erreicht haben, werden sie sichtbar sein.« »Ja«, meinte Cholosta'an. »Aber wir auch, Oolt'ondai. Und ich stel le fest, dass du nicht manövrierst.« »Dann manövriere ich eben nicht«, sagte Orostan, und sein Kamm flatterte erregt angesichts seiner eigenen Dummheit, während das Symbol eines weiteren Kessentai aus dem Hologramm verschwand. »Aber die ziehen sich schnell hügelaufwärts zurück. Bald sollten sie außer Sichtweite sein, und dann wird das Artilleriefeuer nachlassen. Und wir werden bald einen Punkt erreicht haben, wo wir sie auf kurze Distanz verfolgen können; dann können sie ihre Artillerie nicht neu einstellen.« »Werden wir versuchen sie abzuschneiden?« Cholosta'an wunder te sich. »Wohin meinst du, dass sie gehen?« »Ich denke, wir können sie direkt verfolgen«, antwortete Orostan. »Auf dieser Seite ist der Hügel nicht sehr dicht bewaldet. Sobald wir diesen Artillerievorhang hinter uns haben, können wir den Hügel hinaufstürmen. Menschen sind langsamer als wir; wir sollten sie überrennen können.« »Das klingt … einfach, Oolt'ondai«, stellte der jüngere Kessentai fest, dem plötzlich bewusst wurde, dass Orostan noch nie Menschen gegenübergestanden hatte. »Aber wirst du nur solche, die ersetzbar sind, in das Artilleriefeuer schicken? Oder wirst du durchrennen?« Orostan überlegte kurz. »Keine schlechte Frage«, räumte er ein und betrachtete die dreidimensionale Darstellung. »Ich denke, wir werden vernünftigerweise die Mehrzahl unserer Truppe durch die sen Spalt schicken, weil das die einzige Route ist, die uns offen steht.
Aber du und ich, wir werden östlich der Straße weiterrücken, außer halb des Artilleriebeschusses.« Er tippte die Karte an, die die unmit telbare Umgebung recht gut anzeigte. »Hier im Osten ist eine Hü gelkuppe. Sie befindet sich auf der anderen Talseite von den Men schen, aber von dort aus können wir ihre ungefähre Position beob achten, ohne uns dem schweren Beschuss auszusetzen.« Wieder hielt er inne, als das nächste Oolt dem Artilleriebeschuss ausgesetzt war. Die Datenverbindung des Kessentai blieb stehen, aber die Zu standsmarkierung der Einheit zeigte an, dass die Verluste mehr als vierzig Prozent betrugen. »Und ich werde außerdem wahrscheinlich ein paar weitere Einheiten herumschicken.«
»Sergeant Major, hier spricht Major Ryan.« Mosovich antwortete nicht; er wusste, dass Ultrabreitbandsendun gen abgehört werden konnten, aber selbst zuhören konnte er ja. So lange die Posties nicht anfingen, die Verbindung zu stören. »Sie verlassen die Sensorzone, wir werden also nicht mehr wissen, wo Sie sind. Aber wir haben die Posleen erfasst, Sie haben fast fünf tausend von den Biestern auf den Hacken. Ich habe Nebelbeschuss bestellt und werde dafür sorgen, dass das Artilleriefeuer ihnen den Hügel hinauffolgt, aber Sie sollten sich trotzdem beeilen. Viel Glück!« Mosovich sah zu dem Bergsattel hinüber und nickte bei sich. In dem Augenblick kam eine Salve herein, und der Himmel füllte sich mit schwarzen Wattewölkchen. Eigentlich sah es schön aus, wenn man nicht an die Schrapnellsplitter dachte, die jetzt herunterregne ten. Eine Reihe Posleen wurde vor seinen Augen davon zerfetzt. Aber noch während die Posleen zu Boden gingen, taumelte ein weiterer Gottkönig aus der Feuerwand hervor, und dann noch einer. Es war ganz eindeutig Zeit, hier zu verduften. Nichols spähte durch sein Zielfernrohr und jagte einen weiteren Schuss hinaus. Die schwere Waffe stieß seinen stämmigen Körper
mindestens zehn Zentimeter nach hinten, aber er war gleich wieder schussbereit und suchte nach dem nächsten Ziel. Inzwischen wusste man, dass Artilleriebeschuss die Sensorik der Gottkönige beein trächtigte und es ihnen dadurch erschwerte, Scharfschützen aufzu spüren, und deshalb waren diese Schüsse jetzt nicht mehr so kri tisch, wie das der erste gewesen war. Aber jeder Schuss half, und die Teamkameraden unterstützten ihn nach besten Kräften. Mosovich fluchte leise, als er in dem allmählich heller werdenden Licht das nächste Ziel aussuchte. Ihre Position war nicht so ge schützt, wie er sich das gewünscht hätte. Und trotz des massiven Artilleriebeschusses überlebten einige der Normalen den Granaten hagel und feuerten auf den Hügel. Es war kein gezieltes Feuer – sie konnten nicht sehen, von wo aus das Team sie beschoss –, aber wenn jetzt bald die Sonne aufgegangen war, würde dieser Vorteil dahin sein. Mosovich andererseits konnte die Normalen ziemlich gut ausma chen. Das Land-Warrior-System stellte wieder einmal unter Beweis, wie nützlich es war, es versetzte ihn in die Lage, mühelos Artillerie beschuss auf die Ziele in der Lücke zu dirigieren, verbesserte die Sicht des Teams und ermöglichte ihnen dazu auch bessere Kommu nikation. Schießen, sich bewegen und kommunizieren – darum ging es im Krieg immer wieder und auf jedem Niveau. Aber ganz beson ders kritisch war das auf dem Niveau kleiner Teams, und die LandWarrior-Anzüge waren wirklich ein Geschenk Gottes. Perfekt waren sie freilich nicht. Mit Beginn des Krieges hatten die Entwicklungsarbeiten daran mehr oder weniger aufgehört, und sie waren trotz der galaktischen Energiesysteme ziemlich schwer. Bei schlechten Lichtverhältnissen war die Sicht auch bei weitem nicht so klar wie mit GalTech-Gerät; insbesondere die stereoskopische Wahr nehmung war nicht so, wie sie hätte sein sollen, aber da handelte es sich um ein Problem, das nicht lösbar war, wenn man keine konti nuierlich arbeitenden Mikrosensoren herstellen konnte. Und das konnten nur die Galakter.
Was die Anzüge aber leisteten, machten sie gut. Mosovich pickte sich sein nächstes Ziel heraus, schob das Fadenkreuz zurecht und zog dann den Abzug der AIW. Das System bediente sich mehrerer Sensoren im Anzug und der Waffe, um die Genauigkeit des Schus ses sicherzustellen und auch um zu prüfen, ob etwaige Ungenauig keit auf die Waffe oder den Schützen zurückzuführen war. Ging es auf Umwelteinflüsse zurück, also etwa Temperaturveränderungen im Lauf oder eine Veränderung der Windrichtung, kompensierte das System das automatisch beim nächsten Schuss. Hatte der Schüt ze versagt, reagierte das System einfach schmollend mit elektroni schem Schweigen. In diesem Fall errechnete es, dass das 7.62er-Ge schoss seinen Zielpunkt nach vierhundert Metern Flug um weniger als drei Zentimeter verfehlen würde. Da dieser Wert innerhalb der Toleranzgrenze lag, nahm das System keine Anpassung vor. Rein vom Verstand her war es Mosovich klar, was hier vor sich ging, aber es bekümmerte ihn nicht sehr. Das System hatte von An fang an besser funktioniert, als er für möglich gehalten hätte, und deshalb verließ er sich darauf. Es konnte auch gelegentlich vorkom men, dass es Schüsse »verpatzte«, aber insgesamt steigerte es seine ohnehin phänomenale Treffsicherheit ins schier Unglaubliche. Be sonders bei Zwielicht, wie es jetzt noch herrschte. Dessen ungeachtet waren bereits ein paar hundert Posleen durch die Wand aus Artilleriefeuer vorgerückt, und das System zeigte einen scheinbar endlosen Strom, der die Straße von Seed her auf rückte. Und dann gab es da noch eine kleinere Gruppe, die versuch te, auf ihrer rechten Flanke vorzurücken. Sobald die in Sichtweite war, würde er das Artilleriefeuer aufteilen müssen, und dann ka men mit Sicherheit ein paar Gottkönige durch. Insgesamt eine unerträgliche Situation. »Wir müssen hier weg«, schrie er. »Nichols, du bleibst, wo du bist, bis wir die Hügelkuppe erreicht haben. Dann sehen wir zu, dass wir die Gottkönige wegputzen, und du kannst dich in Bewegung setzen.
Ich werde Artilleriefeuer auf die Gruppe anfordern, die von dort um die Hügelkuppe herumkommt. Klar?« »Geht klar, Sergeant Major«, bestätigte der Scharfschütze. In einer anderen Einheit hätte die zurückgelassene Person das so auffassen können, dass man sie opferte. Aber Nichols wusste, dass Mosovich in dem Fall gesagt hätte, »Nichols, ich werde dich jetzt als Bau ernopfer benutzen«. »Mueller, Schwester, los«, befahl Mosovich, sprang auf und hetzte den Hügel hinauf. »Zeit, abzuhauen.«
11 In der Nähe von Seed, Georgia, Sol III 0715 EDT, 14. September 2014
Orostan knurrte unwillig, als die ersten Granaten auf dem Hügel einschlugen. Der dichte Kiefernwald hätte ihre Bewegungen tarnen sollen, aber das Feuer hatte sie verfolgt, wurde offensichtlich von dem menschlichen Aufklärungsteam exakt gelenkt. Jetzt sah es so aus, als würde es sich seine Elitetruppen als Ziel aussuchen, und das konnte nicht zugelassen werden. »Allmählich gehen mir diese unerträglichen Menschen auf die Nerven«, schimpfte der Oolt'ondai. Außerdem war das Team im Be griff, ihren Sensorbereich zu verlassen, schickte sich sichtlich an, über die Bergkuppe zu entkommen, noch ehe die Zange um sie her um zuschnappen konnte. Cholosta'an schlug resigniert mit dem Kamm. »Mit Artillerie muss man sich abfinden. Ich mag sie nicht, aber ich habe noch keine Schlacht erlebt, wo die Menschen sie nicht einsetzen.« »Na gut, aber die hier werden das nicht mehr lange«, erwiderte der Oolt'ondai und holte eine Waffe heraus, die zu seinen Füßen ge legen hatte. Sie ähnelte den Schrotflinten, wie die Ooltos von Cholosta'an sie hatten. Aber wenn der Oolt'ondai sie abfeuerte, war das völlig an ders. Zum einen würde er die Menschen damit nicht treffen können, da sie sich ja auf der Hinterseite des Hügels befanden und damit ge schützt waren. Aber der ranghohe Kessentai schien das gar nicht zu versuchen, vielmehr feuerte er einfach scheinbar ziellos in ihre Rich
tung. Und was die Waffe noch von denen der Ooltos unterschied; war, dass das Geschoss deutlich sichtbar war, relativ langsam flog und am Ende in den Wald fiel. Und schließlich war auch keine Wir kung auszumachen, bloß ein leichtes Flackern auf den Sensoranzei gen des Tenars. »Was war das?«, fragte Cholosta'an argwöhnisch. »Ein kleines Geschenk, das Tulo'stenaloor ausgeheckt hat«, sagte Orostan. »Jetzt wollen wir sehen, ob es auch funktioniert.«
Nichols spähte durch die Lorbeerbäume auf den Bergen und ver suchte den neuen Posleen-Trupp ins Visier zu bekommen, der jetzt gerade hinter dem nächsten Vorsprung auftauchte. Die gute Nach richt war, dass er dort, wo er jetzt kauerte – nämlich unter zwei Gra nitvorsprüngen und ringsum von Berglorbeer umgeben –, nicht nur gute Deckung hatte, sondern auch vor feindlichem Beschuss weitge hend sicher war. Das Problem andererseits war, dass er durch dichte Vegetation feuern musste. Die .50-Kaliber-Geschosse waren zwar ungewöhnlich massiv, neigten aber trotzdem zum Taumeln und konnten somit aus dem Ziel geraten, wenn sie einen Zweig trafen. Und deshalb war es besonders wichtig, dass er einen sauberen Schuss absetzen konnte, und das war einigermaßen unwahrschein lich. Doch als er sah, wie der Gottkönig in der Ferne eine Waffe hob und etwas in Richtung auf den Hügel abfeuerte, dachte er, er könne den Schuss riskieren. Und in dem Augenblick wurde sein Zielfernrohr schwarz. »Sarge«, flüsterte er in sein Funkgerät. »Was zum Teufel ist da ge rade passiert? Mein Zielfernrohr hat plötzlich den Geist aufgege ben.« Er bekam nicht gleich Antwort und stellte fest, dass aus sei nem Kopfhörer keinerlei Geräusch kam, nicht einmal das übliche Summen der Trägerwelle. »Was soll das denn?« Er drehte sich um und rutschte den Hügel hinunter zu der Stelle, wo das Team sich versammelt hatte. Er hatte wieder die Nachhutpo
sition übernommen, und das war keine große Sache. Aber jetzt, mit einem nicht funktionierenden Zielfernrohr würde er Hilfe brauchen. Er drückte im Rutschen den Diagnoseknopf, aber da leuchtete nichts auf. Das Ding war mausetot. Unter den Kiefern hier auf der Westseite des Hanges war es noch ziemlich dunkel, deshalb klappte er sein Helmsichtgerät herunter – und wäre in der völligen Dunkelheit fast gegen einen Baum geprallt. »Sergeant Major?«, brüllte er. Mosovich hieb auf die Diagnosebox seines LandWarrior-Anzugs und blickte auf. »Schwester Mary?« »Ich empfange gar nichts, Sergeant Major«, flüsterte sie. Ihr ge samtes Fernmeldegerät hatte den Geist aufgegeben, und ein paar von den Sanitätsgeräten reagierten ebenfalls nicht. »Werft alles weg, was nicht funktioniert«, sagte er und schmetterte seinen Helm gegen einen Baum. »Scheiße!« »Wir sind die Goldenen, Jake«, meinte Mueller locker. »Wir kön nen das.« »Wir können keine Ari anfordern!«, erregte sich der Teamführer, als Nichols dicht bei ihm seine Rutschpartie beendete. Das Team hatte sich auf einigermaßen flachem Terrain versammelt, wahr scheinlich handelte es sich um eine der allgegenwärtigen Holzfäller pfade aus den zwanziger oder dreißiger Jahren. »Nichols, haben die dich außer Gefecht gesetzt?« »Hundertprozentig, Sergeant Major«, erklärte der Scharfschütze und fing an, die Batterien seines Zielgeräts auszuwechseln. »Das wird wahrscheinlich nichts helfen«, meinte Schwester Mary. »Ich hab das bereits mit dem Fernmeldegerät versucht.« »Hast du etwas Ungewöhnliches gesehen?«, fragte Mosovich. »Allerdings«, sagte Nichols, warf einen finsteren Blick auf sein Zielfernrohr und schüttelte dann den Kopf. »Diese Gruppe, die ge rade um den Vorsprung herumkam. Einer der Gottkönige hat etwas abgefeuert, es hat ausgesehen wie eine Granate. Ich dachte schon,
ich wäre erledigt, aber dann kam gar keine Explosion, bloß mein Zielfernrohr ist ausgefallen.« »EMP«, sagte Schwester Mary. »Unglaublich.« »Genau«, bestätigte Mosovich. »Scheiß Spiel.« »EM – was?«, wollte Nichols wissen. »EMP«, antwortete Mueller und fing an, seinen Land-Warrior-An zug abzustreifen. »Elektromagnetischer Motherfucking-lmpuls.« »Genau«, sagte Mosovich zum zweiten Mal. »Nichols, dein Ziel fernrohr kannst du genauso gut auf den Müll werfen. Und dein Helmsystem auch; behalte aber vorerst mal den Helm und das ande re elektronische Zeug.« »Wie zum Henker haben die das angestellt?«, fragte er und fing an, das Zielfernrohr zu demontieren. »Und was ist ein Elektroma gnetischer Motherfucker?« »So etwas wie ein großer Elektromagnet«, antwortete Schwester Mary und fing an, ihren Rucksack auszuleeren. »Das zerhackt jede Elektronik und zerstört alles, wo ein Mikrochip drinnen steckt. Frü her war das meiste militärische Zeug dagegen wenigstens teilweise gesichert, aber ich nehme an, die haben das bleiben lassen, als die Posleen nichts eingesetzt haben, das EMPs erzeugt hat.« »Die Anzüge hätten sicher sein sollen«, sagte Mosovich. »Und die Zielfernrohre auch. Ich schätze, das war einfach ein verdammt star ker EMP-Stoß.« Er sah zu Nichols hinüber, der fast damit fertig war, sein Zielfernrohr abzumontieren. Es war nicht vorgesehen, dass man es im Einsatz entfernte, und entsprechend verhielt er sich auch. »Kannst du die Wumme ohne Zielfernrohr überhaupt gebrauchen?« »Hab ich schon«, sagte Nichols, riss den letzten widerstrebenden Bolzen heraus und knallte das Ding, das fünfzigtausend Dollar ge kostet hatte, gegen einen Baum. »Da gibt es ein Klappvisier und einen Dioptervisier. Auf der Scharfschützenschule habe ich mit bei den geschossen.« Er hielt kurz inne. »Aber das ist verdammt lange her.«
»Okay, sammelt alles ein, was ihr mitnehmen wollt«, sagte Moso vich, warf das letzte Stück jetzt unbrauchbarer Elektronik ins Ge büsch und zurrte sich seinen Rucksack zurecht. »Bloß weil die uns getroffen haben, heißt das noch lange nicht, dass die Posties langsa mer geworden sind. Wir müssen also weiter.« Mosovich schickte sich an, die Landkarte in seinem Helm anzuknipsen, als ihm be wusst wurde, dass er keine Papierkopie hatte. »AID«, sagte der Sergeant Major und fragte sich, ob die galakti sche Technologie wohl überlebt hatte. »Haben wir Karten für diese Gegend?« »Ja, Sergeant Major«, antwortete der helle Sopran des Systems und projizierte ein Hologramm der Umgebung. Die Landkarte war drei dimensional, wozu der Land-Warrior-Anzug nur mit einiger Mühe imstande war, und Mosovich fragte sich kurz, ob das AID vielleicht eifersüchtig war, weil er die menschlichen Systeme öfter benutzte. »Okay«, sagte er und deutete auf den schwach leuchtenden Punkt an der Hügelflanke, der das Team darstellte. »Wir sind etwa einein halb Kilometer vom Soque entfernt, allerdings gilt das nur für ebe nes Terrain. Hier ist es ja eher senkrecht. Also sehen wir zu, dass wir möglichst schnell diesen Hügel hinunterkommen. Wenn die Posleen nicht ganz schnell reagieren, sollten wir es über die US 197 schaffen, ehe die dort auftauchen.« »Und wenn sie bereits dort sind?«, fragte Nichols. »Das klären wir, wenn wir dort sind«, knurrte Mueller.
Orostan gab einen Grunzlaut von sich, als zu erkennen war, dass der Artilleriebeschuss sowohl auf seinen augenblicklichen Standort als auch den Pass aufgehört hatte. »Anscheinend hat es funktio niert.« »Ja«, sagte Cholosta'an. »Aber sie sind uns trotzdem entwischt«, fügte er dann hinzu und zeigte auf die Sensoren.
»Zu der anderen Straße sind Oolt unterwegs«, meinte Orostan achselzuckend. »Über kurz oder lang bekommen wir sie in die Zan ge, und ohne Fernmeldegerät werden sie dann keinen Artillerie beschuss auf uns anfordern können. Und dann erledigen wir sie ein für alle Mal.«
Mosovich runzelte die Stirn, während er sich wieder einmal an ei nem Baum festhielt, um nicht den Berg hinunterzufallen. »AID, kannst du Verbindung mit dem Korps herstellen?« Nach einer kurzen Pause, die es offenbar nicht ausschließlich des Effekts wegen eingelegt hatte, antwortete das AID: »Das kann ich, Sergeant Major. Aber die Posleen werden merken, dass Sie Verbin dung aufnehmen.« »Werden sie unseren Standort anpeilen können?«, fragte er. »Oder unser Signal entziffern? Ich gehe davon aus, dass es chiffriert gesen det wird.« Wieder eine Pause. »Nach meiner Berechnung beträgt die Wahr scheinlichkeit weniger als ein Zehntel Prozent, dass sie es dechiffrie ren können, solange es im GalTech-Netz ist. Und Sie körperlich lo kalisieren ist ausgeschlossen. Aber ich verfüge über keinen sicheren Zugang zum militärischen Fernmeldesystem; alle AIDs wurden nach dem Hackerangriff auf das 10th Corps aus dem Netz ausge schlossen. Ich kann also nur über landgestützte Leitung mit dem Korps Verbindung aufnehmen. Und das ist ein System, das nicht nur nicht sicher ist, sondern das die Posleen auch schon mehrfach angezapft haben. Die Alternative wäre, mit jemandem in der Kom mandokette des Korps Verbindung aufzunehmen und zu veranlas sen, dass wir von dort aus kontaktiert werden. Es gibt ein sicheres landgestütztes System, aber AIDs haben dazu keinen Standardzu gang, das scheidet für mich also aus.« »Ich hätte wirklich gern gewusst, warum mir das überhaupt nicht gefällt«, meinte Mosovich leise.
»Die erste Person in der Kommandokette des Korps mit AID-Zu gang ist der Kommandeur der Kontinentalarmee.«
Jack Horner hatte die rechte Wange auf die geballte Faust gestützt und betrachtete das Hologramm. Der Sprecher war ein hagerer Mann mit dunklen Augen. Dunkle Pupillen, dunkle Iris und dunkle Ringe um die Augen. In besseren Zeiten hatten der Kommandeur der Kontinentalarmee und der Kommandeur des Flottenkomman dos Irmansul miteinander gute Zeiten erlebt. Aber gute Zeiten wa ren etwas, woran man sich allenfalls erinnerte, das war beiden in diesem Augenblick klar. Erwähnt wurde so etwas allenfalls in höchst privaten E-Mails. Wie gerade jetzt. »Da Admiral Chen ›bedauerlicherweise‹ gefallen ist und von Fleet Admiral Wright ersetzt wurde, könnte es sein, dass etwas Bewe gung reinkommt«, sagte das Hologramm. Er wandte sich zur Seite, griff nach einem Stück Papier. »Damit du eine Vorstellung davon bekommst, wie völlig sinnlos es ist, dass wir hier herumhocken: Im Verlauf des letzten Monats haben wir auf Irmansul genau vierzig Stoßtruppelnsätze gegen ungebundene und in den meisten Fällen waffenlose Normale geführt. Unser gemeinsamer Freund würde das ›beschissenen Bockmist‹ nennen. Nicht, dass ich so über unsere Wohltäter, die Darhel, sprechen würde. Wright hat immerhin er laubt, dass ein paar ›Kundschaftertrupps‹ eingesetzt werden. Und wie ich höre, hat das Waffenteam auf Titanbasis einen Durchbruch geschafft, so dass vielleicht aus der Ecke Hilfe kommen könnte.« Der Mann in dem Hologramm ließ einen unübersetzbaren franzö sischen Fluch vom Stapel, der etwas mit Eseln zu tun hatte. »Meine eigenen Leute erkennen ganz klar, dass es einfach nichts gibt, für das es sich lohnt, zurückzukehren. Trotzdem zerren wir an der Lei ne. Ja, es gibt noch Posleen auf diesem Planeten. Es gibt sie jetzt und es wird sie wahrscheinlich immer geben; auf dem Planeten gibt es einfach zu viel Wildnis, um sie ganz zu eliminieren, und im Augen
blick sind sie schlichtweg Teil der Nahrungskette. Aber eine kleine Polizeitruppe und die Killersatelliten können sie im Zaum halten. Die Flotte hat die letzte Schlacht entscheidend gewonnen und ohne zu viele Verluste zu erleiden, aber wenn die Erde völlig verloren geht, dann wäre das alles umsonst gewesen. Wir müssen zurückkeh ren, und das bald. Wenn die Darhel uns nicht freigeben, dann wer den wir auf eigene Faust handeln. Ganz gleich, was geschieht.« »Crenaus, Ende.« Horner lächelte wie ein Tiger, als das Hologramm in sich zusam menschrumpfte und dann verschwand. Für ihn war fast vom ersten Kontakt mit den Galaktern an klar gewesen, dass die Darhel ihr ei genes Spiel trieben. Und dass dem Überleben der Menschheit darin allenfalls beiläufige Bedeutung zukam. Doch erst in allerletzter Zeit war ihm klar geworden, wie sehr die Darhel sich geradezu wünsch ten, dass die Erde den Konflikt nicht als weiterhin funktionsfähiger Planet überlebte. Die galaktische Gesellschaft war sehr alt, sehr sta bil und befand sich in völliger Stagnation. Die Menschen waren mehr als nur physisch gefährlich; die Philosophien, die Gedanken, die Vorgehensweisen und Methoden, die sie mit sich brachten, wür den für die galaktische Gesellschaft so etwas wie ein tödlicher Schlag sein, eine Gesellschaft, die von den Darhel absolut kontrol liert wurde. Allein schon das Konzept der Demokratie, einer echten, ungezügelten Demokratie im Verein mit Menschenrechten, würde aller Wahrscheinlichkeit nach die galaktische Föderation zerstören, wenn man diesen Ideen freien Lauf ließ. Und deshalb war es von entscheidender Wichtigkeit, dass die menschliche Rasse nicht zur Bedrohung wurde. In letzter Zeit hatte Horner sich gefragt, weshalb genau die Darhel eigentlich bis zur letzten Minute gewartet hatten, nämlich nur bis fünf Jahre vor der Invasion, um mit den Menschen Kontakt aufzu nehmen. Es gab tausend und eine Andeutung, dass sie schon lange um die Erde gewusst hatten – Hinweise, die mit vorbereiteten medi zinischen Präparaten anfingen und mit der exakten Kenntnis aller Weltsprachen endeten. Ein Teil davon war ganz sicherlich »Angst«;
die galaktischen Aliens waren unfähig zur Gewaltanwendung und hatten auch keinerlei Expansionspläne; und die Menschen waren das genaue Gegenteil. General Taylor, der augenblickliche High Commander, hatte eini ge dieser Überlegungen offen ausgesprochen. Das war kurz vor sei ner Ermordung durch »Earth First«-Terroristen gewesen. Natürlich waren in dieser Aufwallung von Gewalttätigkeit auch fünf rangho he Darhel getötet worden; wer daher auch nur andeutete, die Darhel könnten hinter dem Attentat stehen, implizierte damit, dass sie be reit waren, fünf ihrer eigenen Leute zu töten, um ihre Maßnahmen zu tarnen. Und im Übrigen konnte man daraus entnehmen, dass die Darhel durchaus töten konnten. Punktum. Es gab sogar Andeutun gen, dass sie tatsächlich nicht einmal eine Tötung befehlen konnten, geschweige denn selbst jemanden töten. Aber das bedeutete trotzdem nicht, dass Jim Taylor von Terroris ten ermordet worden war. Vielleicht fing er an paranoid zu werden, aber die Argumente ge gen einen nochmaligen Einsatz des Expeditionskorps wurden im mer fadenscheiniger. Alle Argumente wurden das. Und selbst wenn das Expeditionskorps in diesem Augenblick den Orbit um Irmansul verlassen hätte, waren die USA doch die einzige Nation, die noch ei nigermaßen zusammenhielt, alle anderen waren genau genommen vom Erdboden verschwunden. In Indien gab es noch ein paar ver streute Widerstandsnester, und das Gleiche galt auch für Europa. Aber im Vergleich zum Cumberland-Becken waren sie praktisch be langlos. Worauf warteten die Darhel also? Dass die Amerikaner auch un tergingen? Sein AID kündigte eine Prioritätsmitteilung an, und er musterte es einen Augenblick lang finster. Das Gerät stammte von den Galak tern. Und damit war die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass die Dar hel alles abhören konnten, was über ein solches Gerät ausgesandt wurde, beispielsweise die letzte Nachricht von General Crenaus.
Was Crenaus natürlich ebenso gut wie er wusste. Konnte es also sein, dass er bereits auf seine Anregung eingegangen war, dass seine Nachricht ebenso für sie wie für ihn bestimmt war? Wieder lächelte er, ein sicheres Zeichen seines Unbehagens, und tippte dann an das Gerät, um den Anruf anzunehmen. »Eingehende Nachricht von Sergeant Major Jacob Mosovich, Fleet Strike-Aufklärung.« Horner erinnerte sich vage an den Namen; Mosovich war einer je ner Veteranen, die zur Flotte versetzt worden waren, als diese das alte US Special Operations Command geschluckt hatte. Er erinnerte sich auch undeutlich daran, dass Mosovich der Chef der FATs der 12th Army war, also war er vermutlich der Leiter des Teams, das man gegen den bei Rabun Gap gelandeten Battle Globe ausgesandt hatte. Aber auch das erklärte nicht, weshalb der Sergeant Major ihn unmittelbar anrief. »Durchstellen.« »General Horner, hier spricht Sergeant Major Mosovich«, sagte Ja ke. »Sprechen Sie, Sergeant Major«, erwiderte der General. »Was ist der Grund dieses Anrufs?« »Sir, wir sind gerade von einem EMP-Schuss der Posleen getroffen worden, und Sie sind so ziemlich der Einzige, mit dem wir sprechen können.« Horner wippte nach hinten und lächelte breit. »Das wird ja immer schöner. Von diesem Globe drunten in Georgia.« »Yes, Sir«, antwortete der Sergeant Major. »Diese Burschen verhal ten sich überhaupt nicht wie Posleen. Sie haben Patrouillen auf den Straßen, richtige Patrouillen, sie zerstören Sensoren, sie setzen von Zeit zu Zeit ganz vernünftige Taktiken ein, sie haben uns allem An schein nach persönlich erwartet, und jetzt haben wir sie am Hals. Und mit diesem EMP-Schuss haben sie unsere Land-Warrior-Anzü ge und das gesamte Fernmeldesystem lahm gelegt.« »Wie ist Ihr Status im Augenblick, Sergeant Major?«, fragte der General und winkte dem AID, eine Landkarte aufzurufen.
»Wir haben bis auf weiteres den Kontakt abgebrochen, Sir, und versuchen den Abstand zwischen uns und dem Gros der Posleen zu vergrößern. Wir hoffen, dass es uns gelingt, weitere Kontakte zu vermeiden, aber wetten würde ich nicht darauf. Unser Haupteinsatz jedenfalls ist geplatzt, Sir.« Homer sah die Karte an und lächelte verkniffen. In besseren Tagen war er ein paar Mal durch diese Gegend gefahren und wusste daher aus eigener Anschauung, dass das Terrain, welches das Team in Kürze betreten würde, für Menschen ganz und gar nicht günstig war. »Sieht so aus, als würde es bald flacher werden, Sergeant Ma jor. Ich würde Ihnen ja gern ein GKA-Team hinunterschicken, wenn ich etwas zur Verfügung hätte.« »Oh, wir kommen da schon raus, Sir«, antwortete Mosovich. »Aber wir müssen unbedingt mit den Leuten von unserer Artillerie reden. Und das können wir im Augenblick nicht.« Horner nickte, auch wenn das Team das in diesem Augenblick nicht sehen konnte. »AID, Verbindüng mit sicherer Leitung und sor ge dafür, dass der Sergeant Major wieder Zugang zur Artillerie be kommt, ja?« »Yes, Sir«, antwortete das Gerät. »Wäre das alles, Sergeant Major?«, fragte Homer. »Ja, Sir. Danke.« »Nun, dann viel Glück«, sagte der General. »Ich habe mir vorge merkt, mir Ihren Bericht persönlich anzusehen. Aber das hat Zeit bis später. Seht zu, dass ihr dort rauskommt.« »Geht klar, General. Mosovich, Ende.«
Ryan blickte auf, als der Planungsoffizier das Taktikzentrum betrat. »Sieht so aus, als ob die jetzt weg wären, Major«, sagte der PO. »Da bin ich ganz anderer Meinung, Colonel«, erwiderte der Pio nier. »Wir haben zur gleichen Zeit einen Sensor verloren. So, wie es
aussieht, haben die so etwas wie einen EMP eingesetzt und damit sämtliche Fernmeldeverbindungen ausgelöscht. Und das bedeutet, dass sie irgendwo dort draußen sind – oder auch nicht. Das FAT hatte vor, den Soque zu überqueren und Batesville im weiten Bogen im Westen zu umgehen. Und deshalb habe ich Ari bereitgestellt, um ihnen auf dieser Route Feuerschutz zu geben.« »Das ist es ja gerade«, erregte sich der Planungsoffizier. »Die Artil lerie gibt einem Team ›Feuerschutz‹, das es wahrscheinlich gar nicht mehr gibt. Wir müssen darüber reden, wie wir sie neu einsetzen.« »Wir reden dann von ›neu einsetzen‹, wenn wir Sicherheit haben, dass sie erledigt sind«, knurrte Ryan. »Und bis dahin bleibt die ver dammte Artillerie in Bereitschaft. Schließlich belastet das ja weder die Rohre noch das Personal.« Er schnappte nach dem Hörer des summenden sicheren Telefons und herrschte es an: »Was ist denn?« »Bereithalten für Verbindung mit Kommando Kontinentalarmee«, zirpte eine elektronische Stimme. »Sie können ja meinetwegen dem Artilleriekommandanten sagen, dass da jetzt ein Anruf von CONARC reinkommt«, sagte Ryan zu dem Planungsoffizier. Der Lieutenant Colonel musterte den Major stumm und verließ dann den Raum, als sich eine helle Sopranstimme vernehmen ließ. »Hier spricht das Büro des Kommandeurs der Continental Army«, teilte sie mit. »Bereithalten für Direktschaltung auf Sergeant Major Jacob Mosovich. Alle Verbindungen dieses Systems sind voll gesi chert. Ein Befehl ist erstellt worden, dass die Meldung des Sergeant Major und seines Teams unmittelbar an den Kommandeur der Con tinental Army weitergeleitet werden soll. Bereithalten für Umschal tung.« »Jetzt soll mich doch der Teufel holen.« Ryan schmunzelte. »Sind Sie das, Ryan?«, fragte Mosovich.
»Schön, von Ihnen zu hören, Sergeant Major«, sagte der Major und lachte. »Yeah, ich kann mir gut vorstellen, was da alles geredet worden ist. Also, jedenfalls Meldungen über mein Hinscheiden sind stark übertrieben. Wie üblich.« Ryan lachte, als der Korpskommandant den Raum betrat. »Also, Sergeant Major, wir stehen an drei oder vier Punkten an der 197. Ich zähle sie Ihnen auf, und dann können Sie Feuer anfordern.« »Kapiert«, sagte Mosovich. »Schön, dass das jetzt wieder klappt. Jetzt muss ich diesen verdammten Berg runterrutschen.« »Ich halte mich bereit«, sagte Ryan. »Das war Mosovich, Sir«, fuhr er dann, an den Korpskommandeur gewandt, fort. »Er hat über sein AID mit dem AID von CONARC und von dort ins sichere Telefon netz Verbindung hergestellt.« »Dann hat also nicht CONARC angerufen?«, fragte General Ber nard. »Nicht direkt, Sir«, räumte Ryan ein. »Aber es gibt einen Befehl, dass Mosovichs kompletter Bericht an CONARC geschickt werden muss, direkt und persönlich. Ich habe das Gefühl, er will ganz ge nau wissen, was dort draußen läuft.« »Die Anweisung, genaue Informationen über den Globe einzuho len, stammt von der Army«, sagte der S-2. »Aber es sah so aus, als würde CONARC dahinter stehen.« »Na ja, wenn General Horner diesen Bericht kriegen soll, dann werden wir wohl dafür sorgen müssen, dass das Team zurück kommt, nicht wahr?«, meinte General Bernard verkniffen. »Gibt es irgendetwas, das wir übersehen haben?« »Wir könnten einen Stoßtrupp von Unicoi Gap aus schicken«, meinte der Planungsoffizier. »Wir haben ein Bataillon Panzer dort oben. Es gibt keine Berichte von Posleen-Konzentrationen in der Nähe von Helen. Wenn die nicht auf eine dieser Patrouillen stoßen, könnten sie es wahrscheinlich nach Sautee oder so schaffen. Südlich
von Sautee gibt es Hinweise, dass die Begleitschiffe dieses Globe landen.« »Schicken Sie ein Bataillon zur Unterstützung hinein«, entschied Bernard. »Und die sollen eine Kompanie vorausschicken. Die sollen in die Umgebung von Helen vorrücken, sich dort Verstecke suchen und weitere Befehle abwarten.« »Wird sofort erledigt, Sir«, sagte der Planungsoffizier und eilte an sein Pult. »Ich hoffe, ich habe die jetzt nicht auf ein Himmelfahrtskomman do geschickt«, meinte Bernard. »Nun, das haben wir bereits getan, Sir«, sagte Ryan und sah dabei auf die Karte. »Die Frage ist, ob wir sie zurückholen können.«
Mosovich sah den Hügel hinunter und schüttelte den Kopf. Da gab es einen sehr steilen Einschnitt in die Bergflanke, dann die Straße, die im Augenblick frei war, dann wieder einen Einschnitt bis hinun ter zum Fluss, dann den Fluss und auf der gegenüberliegenden Seite eine kurze Uferpartie und dichtes Gestrüpp. Die beste Lösung war wieder, möglichst schnell nach unten zu kommen, doch das würde bedeuten, dass sie sich abseilen mussten. Die Distanz reichte aller dings nicht aus, dass ihre automatischen Systeme eingesetzt werden konnten. Und ein Seil, das lang genug war, um es um einen Baum zu schlingen, hatten sie nicht. Wenn sie also hinunter kamen, würde das Seil im Wind baumeln und sie verraten. Folglich würden sie es also in Etappen angehen müssen. »Mueller, Seil«, zischte er und streifte sich schwere Lederhand schuhe über. »Geht klar«, sagte Mueller, zog das Seil aus seinem Rucksack und schüttelte es frei. Ein echter Bergsteiger hätte wahrscheinlich Zu stände bekommen, wenn er die grüne Leine aus Army-Beständen gesehen hätte – einfach geflochtenes Nylon von hoher Dehnbarkeit
und ziemlich dick, dafür aber mit ein paar Eigenschaften, die dafür sprachen. So konnte man sich beispielsweise Hand über Hand an dem Seil hinunterlassen, wenn man es doppelt nahm und es sich nicht gerade um eine völlig senkrechte Wand handelte. »Gute« Klet terseile waren viel dünner und auch glatter als die grüne Leine. Das hatte den Vorteil, dass sie weniger Volumen hatten, dafür wetzte sich die grüne Leine nicht so schnell ab. Aber mit einer »guten« Lei ne konnte man, wenn man nicht einen »Achter« benutzte, die Ab stiegsgeschwindigkeit nicht verlangsamen, und eine Strickleiter war noch besser. Wenn das Team daher die »schlechte« grüne Leine be nutzte, würde es nicht Halt machen und regelrechtes Bergsteigerge rät herausholen müssen. Es würde einfach reichen, sich festzuhalten und auf das Beste zu hoffen. Mueller schlang das Seil um einen einigermaßen massiv verwur zelt wirkenden Hickory-Stamm und zog dann an beiden Enden, bis sie etwa gleich waren. Mit ein bisschen Verstand hätten sie zusätz lich noch Knoten hineingemacht; wenn einer eines der Doppelseile losließ, würde er nichts mehr in der Hand halten, aber manchmal verhedderten sich solche Knoten, und wenn das Seil durchrutschte, konnte es sein, dass einer von ihnen starb, wenn andererseits das Seil entdeckt wurde, dann würden sie wahrscheinlich alle dran glauben müssen. »Ich gehe als Erster«, sagte Mosovich, griff nach dem Seil und führte es sich unter dem Schenkel durch. »Lass mich«, sagte Mueller. »Ich bin der Schwerste; auf die Weise können wir gleich die Tragkraft erproben.« »Nein«, widersprach Mosovich schmunzelnd. »Wir gehen in Rei henfolge unseres Gewichts, von leicht nach schwer. Ich möchte, dass so viele wie möglich von uns es nach unten schaffen. Du gehst als Letzter. Und trägst das Barrett.« »Du kannst mich mal, Jake«, knurrte Mueller. Er legte eine Hand auf das Seil. »Denk bloß immer dran, wer oben mit dem Messer steht.«
»Das werde ich«, versprach der Sergeant Major. Er lehnte sich nach hinten und fing an, sich rückwärts in den Abgrund hinunter zulassen. Obwohl er es wahrscheinlich von Hand geschafft hätte, also indem er sich mit beiden Händen am Seil festhielt, hatte Mosovich sich da für entschieden, sich im so genannten Dülfersitz abzuseilen, also mit dem Seil zwischen den Schenkeln und über die Schulter. Das war si cherer und ließ sich besser kontrollieren, und er war es offen gestan den inzwischen leid, ständig auf Risiko zu gehen. Außerdem funk tionierte es ganz gut. Als er etwa zwanzig Meter und damit mehr als zwei Drittel des Weges bis zur Straße zurückgelegt hatte und noch ein gutes Stück vom Ende des Seils entfernt war, fand er eine Art Vorsprung, wo eine Quarzader einen Sims bildete. Der Platz reichte gerade aus, um einigermaßen bequem stehen zu können. Rings um ihn wuchs Berglorbeer, der ihm ein wenig Deckung verschaffte, und da ragte sogar ein ziemlich großer Baum aus der Klippe. Der Baum war nicht ganz so robust wie der oben, an dem Mueller das Seil gesi chert hatte, und er ragte schräg aus dem Felsgestein, aber schließlich hatte er keine große Wahl. Als Nächste kam Schwester Mary, schnell und glatt. Sie waren fast sechs Monate in der Ausbildung beisammen gewesen, aber sie hatte bereits Klettererfahrung mitgebracht, und die stellte sie jetzt zur Schau. In langen Sätzen sprang sie den Abhang hinunter, was Moso vich zutiefst zuwider war, und trotzdem brachte sie es fertig, kaum Gestein loszutreten. Sie kam ein wenig hart auf dem Felsvorsprung auf – das Quarzgestein war brüchig – und trat dabei einen ziemlich großen Felsbrocken los. Der aber plumpste in den Schlamm des Ent wässerungsgrabens neben der Straße und verschwand dort, also kein Schaden. Als Nächster kam Nichols, der überhaupt keine Klettererfahrung mitgebracht hatte. Er ging den Hang sehr vorsichtig an, bewegte sich langsam und hinterließ Wesentlich mehr Spuren als Mosovich oder Schwester Mary. Aber er schaffte es mitsamt seinem siebzig Kilo schweren Rucksack und schob sich dann seitwärts auf den Fels
vorsprung, um für das nächste Mitglied des Teams Platz zu machen, tat das sehr vorsichtig und sah dabei kein einziges Mal nach unten. Statt herunterzukommen, zog Mueller das Seil hinauf. Mosovich brauchte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, was das sollte, aber als dann das Barrett und der Rucksack des Master Sergeant herun terkamen, war das ziemlich offensichtlich. Mueller folgte seinem Ge päck ziemlich schnell und trat dabei einen weiteren Felsbrocken los, als er auf dem Sims landete. »Ich weiß nicht, Jake«, meinte er nach einem Blick auf den besten Baum, der ihnen zur Verfügung stand, es handelte sich um eine ver krüppelte Weißkiefer, die aus der Nahtstelle zwischen einer weite ren abbröckelnden Quarzader und dem Schiefer, in das sie eingela gert war, wuchs. »Dann nehme eben ich das Seil«, sagte Mosovich und warf sich das Seil über die Schulter. »Schwester, du als Erste.« »Okay«, nickte Schwester Mary ohne zu zögern. Wenn der Ser geant Major sagte, dass er das Seil halten konnte, dann würde er das auch tun. Sie nahm es und schlang es sich um den Körper. »Ich gehe dann gleich hinüber.« »Ja, geht klar«, nickte Mosovich. »Aber am anderen Ufer wartest du.« »Roger«, nickte sie und sprang in die Tiefe. Ihr Abstieg war wieder schnell und elegant. Als sie die Straße erreichte, überquerte sie sie schnell, packte einen der Schösslinge am Uferrand und verschwand dann im Flussbett. »Nichols«, befahl Mosovich. »Und nimm das Barrett. Mueller, hilf mit.« Beide stemmten sich ein und waren der Last von Nichols und sei ner schweren Ladung gewachsen. Der Scharfschütze war schneller unten, als ihm das vielleicht lieb war, aber er erreichte die Straße, überquerte sie schnell und entschwand dann auf der anderen Seite ihren Blicken. Ein schwacher Schrei übertönte das Plätschern des
Flusses und drang zu ihnen herauf; die beiden Sergeants sahen ein ander an und zuckten dann die Achseln. »Und du bist sicher, dass du mich halten kannst, Jake?«, fragte Mueller. »Ich könnte als Letzter gehen.« »Tut mir Leid, Mann, aber ich hab zu mir selbst mehr Vertrauen«, sagte Mosovich. »Ich schaff das schon. ›Er ist ja nicht schwer …‹« »Richtig«, lachte Mueller. Trotzdem achtete er beim Hinunterklet tern darauf, möglichst viele Vorsprünge zu finden, an denen er sich abstützen konnte. Unten angelangt, warf er das Seil zur Seite und huschte über die Straße. Damit blieb jetzt nur noch Mosovich. Jake sah den Baum an, von dem jetzt für ihn alles abhing, und ließ dann den Blick über die kah le Hügelflanke und den Wald auf der anderen Seite schweifen. »Eine echt beschissene Situation«, murmelte er. Dann rollte er das Seil ein, stopfte es sich in den Rucksack, drehte sich um und sprang von dem Felssims. Das war eine Technik, die er in den vielen Jahren, die er jetzt sein Leben schon riskierte, gelernt hatte. Auf einer Klippe wie dieser, mit Vorsprüngen, Büschen und Bäumen überall, war es schier unmög lich, dadurch langsamer zu werden, dass man sich auf dem Weg nach unten an diversen Gegenständen festhielt. Es ging nicht um Anhalten, das würde erst ganz plötzlich und ganz unten stattfinden, sondern bloß darum, wenigstens so langsam zu werden, dass man sich nicht etwas brach. Es handelte sich um eine Technik, wie sie ausschließlich Gebirgs truppen einsetzten, und auch die nur in Extremfällen, weil sie so un vernünftig gefährlich war. Aber, dachte Mosovich, so war das mein ganzes Leben lang. Zwei Dinge beschäftigten ihn, während er in ra sender Eile hinunterrannte/rutschte/sprang. Zum einen würde er, wenn er die Hacken zu heftig in den Boden grub, eine Spur hinter lassen, die selbst ein blindes Normales bemerken würde. Also konn te er nicht so abbremsen, wie er das vorgezogen hätte, indem er sich nämlich mit Händen und Füßen in das Gelände »krallte«; zum an
deren hatte er Angst, bei diesem Tempo mit einem der verdammten Weißkieferschösslinge zu kollidieren, und das zwischen den Beinen, was dazu führen würde, dass es mit Sicherheit keine weiteren klei nen Mosoviche mehr geben würde. Ganz unten, wo die Klippe flacher wurde, verhängte er sich mit ei nem Fuß und purzelte rückwärts. Er rollte sich sofort ab und kam kurz vor einem in die Tiefe gerollten Felsbrocken zum Stillstand. Aber es war noch alles ganz, und damit war bereits der Augenblick da, die Straße zu überqueren. Er rannte hinüber und packte einen der Schösslinge am Rand, um sich in die Tiefe zu schwingen. Er würde direkt ins Flussbett plump sen, und das war fast so gefährlich wie das, was er gerade hinter sich hatte; auf den runden, glitschigen Kieseln im Flussbett konnte man sich leicht den Knöchel verstauchen, und bei all dem Zeug, das sie herumschleppten, zog das fast hundertprozentig einen Schien beinbruch nach sich. Er rutschte den Hang hinunter und musterte sein Team, das sich an die Uferböschung drängte. »Alles klar?« »Nein«, stieß Nichols hervor. »Er hat sich beim Sprung beide Knöchel gebrochen, Sergeant Ma jor«, erklärte Schwester Mary, die gerade dabei war, ihm eine Schie ne anzulegen. »Also ich muss schon sagen, Stanley«, sagte Mueller und lehnte sich zurück, bis er den Kopf fast ganz im Wasser hatte. »Da hast du uns ja einen schönen Schlamassel eingebrockt.«
12 In der Nähe von Seed, Georgia, Sol III 0825 EDT, 14. September 2014
In einem eiskalten Bergstrom zu liegen gehörte nicht gerade zu Jake Mosovichs Lieblingsbeschäftigungen. Und wenn dann neben einem noch ein Soldat lag, der sich beide Knöchel gebrochen hatte, dann machte das dieses Erlebnis nicht gerade angenehmer. »Herrgott, mir tut das wirklich Leid, Sergeant Major«, keuchte Ni chols. Schwester Mary hatte seine Knöchel zwar mit einem Neuro nen-Stunner betäubt, aber das war trotzdem nicht gerade ein ange nehmes Gefühl, und das kalte Wasser trug auch nicht dazu bei, den Gemüts- oder Gesundheitszustand des Scharfschützen zu verbes sern; sein Gesicht hatte eine teigig graue Farbe angenommen. »Ich hatte auch nicht angenommen, dass du das absichtlich getan hast, Nichols«, flüsterte Mosovich. »Blöd gelaufen.« Bis jetzt waren auf dieser Seite des Berges noch keine Anzeichen von Posleen zu erkennen gewesen, aber mit einem verletzten Scharf schützen und ihrem ganzen Gerät den Fluss zu überqueren, würde einige Zeit in Anspruch nehmen, und es konnte schließlich jederzeit eine Patrouille auftauchen. Im Grunde genommen boten sich ihnen zwei Alternativen: Sie konnten losrennen wie die Kaninchen und hoffen, den Fluss und die barmherzigerweise sehr schmale, freie Fläche auf der anderen Seite unbehelligt zu überqueren, oder sie konnten sich irgendwo am Flussbett entlang ein Versteck suchen und hoffen, dass die Posleen
die Suche schließlich aufgaben und zu dem Schluss gelangten, dass das Team weitergezogen war. Und dann gab es natürlich auch noch eine dritte Alternative. »Okay«, erklärte Mosovich. »Planänderung. Wieder einmal. Muel ler, du gehst stromaufwärts und suchst dort ein besseres Versteck, eines, wo wir Nichols verstecken können, du und Schwester Mary. Nichols, wir werden dich mit Hiberzine in Schlaf versetzen. Wenn wir dich mitschleppen, könntest du bleibenden Schaden an deinen Beinen davontragen, ziemlich üblen sogar. So kann Schwester Mary sie einfach abbinden und sie vergessen, wenn es schlimmer wird.« »Ich schaffe das schon, Sarge«, sagte Nichols, der vor Kälte fröstel te. »Maul halten, Schwachkopf«, sagte Mueller. Er musterte Nichols finster. »Wenn wir dich nicht schlafen legen, dann wird dein eigener Körper das für dich erledigen, und zwar noch ehe der Tag vorüber ist. Dies ist nicht die richtige Methode, um alt zu werden, Jake.« »Gibt es die?«, fragte der Sergeant Major und fing an, seinen Kampfpanzer abzustreifen. Als er anfing, das mit Nichols' Panzer zu tun, grunzte der. »Du machst wohl Witze, ja?«, maulte der Specialist und wälzte sich zur Seite, damit der Sergeant Major den Panzer mit den Ta schen, die die .50-Kaliber Munition enthielten, unter ihm herauszie hen konnte. Nichols war nicht so kräftig gebaut wie Mueller, bei weitem nicht, aber Mosovich sah neben ihm aus wie ein Knirps. »Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte Mosovich, klappte das Zwei beinstativ des Scharfschützengewehrs zusammen und tauchte es ins Wasser. »Ich hab schon ein Barrett geschleppt, als dein Daddy gera de anfing, sich an deine Mom ranzumachen.« Er sah zu Mueller hin über. »Halt du dich still, während ich Lärm schlage. Wenn die Pos leen ihre Patrouillen abziehen, dann wartest du eine Weile, und dann schleppst du unseren Kumpel hier raus. Geh in Richtung Uni coi ich sehe zu, dass ich die nach Südwesten locke.« »Okay«, nickte Mueller. »Viel Spaß.«
»Ja, danke«, sagte der Sergeant Major und tauchte in das eisige Wasser, bis nur noch Mund und Nase zu sehen waren. »Ich freu mich schon richtig drauf.«
Mosovich zitterte vor Kälte, bemerkte das aber kaum. Die starke Strömung trieb ihn stromabwärts, über Felsen und gelegentliche Stromschnellen; er trieb rückwärts auf dem Bauch, zog das Barrett hinter sich her und bewegte sich vorsichtig von einer Deckung zur nächsten. Der Fluss war voller Felsbrocken, abgerissener Äste und natürlicher Dämme, so dass er ausreichend Deckung fand, und er war auch tatsächlich unter der Straße durchgeflossen, ohne dass man ihn entdeckt hatte. Jetzt lag er hinter dem umgestürzten Stamm einer Fichte auf dem Bauch und wollte gerade die nächste Stromschnelle angehen, als er die erste Posleen-Patrouille sah. Sie war mehr als zwei Meilen stromabwärts von der Stelle entfernt, wo das Team den Fluss über quert hatte, bewegte sich aber auf der Straße in der allgemeinen Richtung auf diese Stelle zu. Mosovich erstarrte zu völliger Bewe gungslosigkeit, als er bemerkte, dass die Patrouille von einem Gott könig geführt wurde. Nach bisherigen Erkenntnissen konnten die Sensoren eines Gottkönigs Menschen bis auf eine Distanz von hun dert Metern einwandfrei ausmachen; er hatte das auf Barwhon selbst einmal erlebt. Aber in diesem Fall zog die aus etwa dreihun dert Posleen bestehende Gruppe keine zwanzig Meter von der Stelle entfernt vorüber, wo er in seinem GhillieAnzug kauerte. Von nun an war er nicht mehr ganz so vorsichtig; schließlich hatte er eine ganz bestimmte Absicht und nicht sehr viel Zeit. Das Team war offensichtlich von diesen Posleen nicht entdeckt worden, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie entdeckt werden würden. Es sei denn, natürlich, die Posties hatten Wichtigeres im Sinn. Schließlich erreichte Mosovich den Punkt, den er gesucht hatte, eine Stelle, wo der Fluss scharf nach Osten abbog und im Westen
eine alte Forststraße kreuzte. Die Straße war erst vor kurzem repa riert worden, also kurz vor Ausbruch des Krieges, und war daher in recht gutem Zustand. Aber sie verlief nur eine kurze Strecke »gera de«, ehe sie nach Süden abbog, auf den Ochamp Mountain zu. Sie kreuzte dazu die Fernstraße, aber er hatte schließlich keine Wahl. Mosovich blickte sorgfältig nach beiden Richtungen, die 197 hin auf und hinunter, dann stemmte er sich triefend aus dem Wasser und setzte sich im Laufschritt in Bewegung. Laufschritt war das Bes te, was er schaffen konnte, schließlich schleppte er das Barrett und fast fünfzig Kilo Munition. Aber er schaffte es über die Straße, eilte weiter die Forststraße hinauf und hinterließ so wenige Spuren wie nur möglich. Die Straße war von allem möglichen Unkraut und Gestrüpp ge säumt; er konnte also jederzeit Deckung finden, wenn das nötig sein sollte. Aber diesmal schlug er einen weiten Bogen um das Gras und das Gestrüpp und zog es vor, sich seinen Weg zwischen den Weiß tannen und Buchen zu suchen. Das erwies sich auch als sehr nütz lich, denn gerade als er die Biegung der Forststraße erreichte, wo er von der Hauptstraße aus nicht mehr zu sehen war, hörte er das un verkennbare Klappern von Posleen, die die Straße heraufkamen. Er brauchte nur einen Augenblick zu überlegen, um kehrtzuma chen, sich niederzukauern und sich in den Ghillie-Mantel zu hüllen. Gute siebzig Meter war er von der Straße entfernt, umgeben von niedrigem Gebüsch und von einem Ghillie-Mantel bedeckt. Für Menschen wäre er ohne jeden Zweifel unsichtbar gewesen, aber die se Posleen fingen an, ihn unruhig zu machen. Es war eine scheinbar endlose Reihe zentauroider Aliens, einer hinter dem anderen. Er fing automatisch an zu zählen, bei viertau send gab er es schließlich auf. Dies musste die Einheit von Brigade größe gewesen sein, die sie in Seed bedroht hatte. Er fragte sich, ob die Posleen wussten, wo sie waren, so, wie das allem Anschein nach bei dem Trupp auf der Oakey Mountain Road der Fall gewesen war. Nun, ihre prophetischen Gaben schienen sie mittlerweile wieder
verlassen zu haben, und es dauerte nicht lange, bis der Rest des Trupps vorbeigezogen war. Er überlegte kurz, ob er Artillerie hätte anfordern sollen, aber ei gentlich zog er es vor, den Abstand zwischen ihnen und ihm etwas anwachsen zu lassen, ehe er wieder mit Artilleriespielchen begann. Sobald der letzte Nachzügler vorbeigezogen war, erhob er sich zu halb gebückter Haltung und zog sich langsam rückwärts zurück, bis er außer Sichtweite war. Als dann die Straße hinter der Biegung des Forstwegs verschwunden war, drehte er sich um und eilte den ge wundenen Bergpfad hinauf. Er wollte sich schließlich mit jemandem treffen. Eine halbe Stunde qualvollen Keuchens später hatte er etwa hun dertfünfzig Meter Höhenunterschied hinter sich gebracht und den Gipfel des Ochamp Mountain erreicht. Dieser »Mountain« war nicht viel mehr als ein Hügel, aber immerhin bot er einen guten Ausblick auf das Soque-Tal und war auf der Rückseite dicht bewaldet, bot da mit also die Chance, Verfolger abzuschütteln. Sobald er eine freie Fläche gefunden hatte – den vielen mit Un kraut überwucherten Blumen nach zu schließen eine Stelle, wo frü her einmal eine menschliche Behausung gestanden hatte –, zog er sein Fernglas heraus und fing an, die Umgebung abzusuchen. Es kostete ihn nicht viel Mühe, die Brigade oder zumindest einen Teil davon auf der Straße nach Batesville zu entdecken. Das Problem war, dass sie sich ganz in der Nähe der Stelle befanden, wo das Team jetzt wohl sein musste. Mosovich suchte den südlichen Horizont ab und fand eine weitere von einem Gottkönig geführte Patrouille, diese freilich ein gutes Stück vom Standort des Teams entfernt. Sie waren nahe genug für einen gut gezielten Schuss. Mit einem Zielfernrohr wäre das ein Kin derspiel gewesen, doch mit dem Klappvisier würde es ziemlich kompliziert sein. Aber falls er den Gottkönig verfehlte, war das ja noch besser.
Lakom'set fing an sich zu fragen, ob es wirklich eine so kluge Ent scheidung gewesen war, Tulo'stenaloor zu folgen. Bis jetzt war für ihn der »Große Krieg« nichts anderes gewesen als Straßen entlang zufliegen und nichts zu tun. Dabei hätte er viel lieber Menschen ge tötet. Aber selbst von Menschen beschossen zu werden wäre noch bes ser als dieses endlose Hin- und Herfahren. »Das ist langweilig, langweilig, langweilig«, sagte er laut. Seine Normalen antworteten darauf natürlich nicht. Sie konnten zwar ein fache Befehle verstehen, aber wenn es darum ging, sich mit ihnen zu unterhalten, ließen sie eine ganze Menge zu wünschen übrig. Zum Glück peitschte ungefähr in dem Augenblick ein .50-KaliberGeschoss dicht an seiner Schulter vorbei und zerfetzte die Brust des Cosslain neben ihm. »Vielleicht ist langweilig gar nicht so schlecht«, sagte er, riss sein Tenar herum und jagte in Richtung auf den Scharfschützen.
Mosovich duckte sich, als Feuer auf die Felsen rings um ihn herun terpeitschte, und rutschte dann auf dem Bauch nach rückwärts. Of fenbar fanden diese Posleen seine Schießübungen nicht mehr erhei ternd. Zeit, Leine zu ziehen.
Mueller rührte sich nicht von der Stelle, als die Posleen-Truppe un ter großem Geschrei nach Süden an ihm vorbeizog. Obwohl sie kei ne fünfzig Meter vom Standort des Teams im Fluss entfernt waren, nahmen die Sensoren der Gottkönige sie nicht wahr. Daraus konnte man vermutlich interessante Schlüsse ziehen, etwas lernen, aber er wusste nicht so recht, was. Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, bis die ganze Truppe vor beigezogen war. Ein Glück, dass es nicht noch länger gedauert hatte,
denn beide Mitglieder des Kundschafterteams waren am Rande der Unterkühlung; wenn sie jetzt nicht bald aus dem kalten Wasser ka men, würden sie in den langen Schlaf sinken. Ihr Plan war ganz einfach. Während Mosovich den Hasen spielte und das Gros der Posleen nach Westen lockte, sollten sie nach Nor den ziehen und die menschliche Front irgendwo in der Nähe von Lake Burton erreichen. Die Verteidigungsanlagen in diesem Ab schnitt verliefen an dem so genannten Appalachenpfad entlang, und wenn die Posleen angriffen oder auch nur einen Teil der Front auf brachen, würde es selbst leichten menschlichen Verbänden nicht sehr schwer fallen, sie aufzuhalten und wieder zurückzutreiben. Die Straßen, die in diesen Frontsektor führten, waren zerstört worden, zusätzlich hatte man in den unteren Bereichen Wälle errichtet, und ansonsten patrouillierten dort lediglich Infanterieeinheiten. Er sah zu dem völlig reglos daliegenden Nichols hinüber und schüttelte den Kopf. Der brauchte sich keine Sorgen von wegen Un terkühlung zu machen. Das galaktische Präparat Hiberzine nutzte eine Kombination aus Wirkstoffen und Nanniten, um die menschli chen Körperfunktionen fast auf den Nullpunkt zu verlangsamen, wobei die Nanniten dafür sorgten, dass es zu keinen mechanischen Körperschäden kam. Solange sie sicherstellten, dass etwas Blut im Kreislauf blieb, war er unter so ziemlich allen vorstellbaren Umwelt bedingungen für etwa drei Monate »sicher«. Sobald das Gegenmittel verabreicht wurde oder den Nanniten die Energie ausging, wachte der Patient auf, ohne sich an das zu erinnern, was in der »schlafend« verbrachten Zeit geschehen war; für ihn war es so, als ob überhaupt keine Zeit verstrichen wäre. Aber leicht war Nichols ganz und gar nicht. Mueller deutete mit einer Kinnbewegung auf die Hügel im Wes ten. »Wir ziehen weiter, suchen uns das nächste Versteck«, flüsterte er mit vor Kälte klappernden Zähnen. »Dort warten wir, bis es Nacht ist, und ziehen dann weiter. Versuche keine Spuren zu hinter lassen, wenn du aus dem Wasser steigst.«
»Wer ist als Erster mit Tragen dran?«, fragte Schwester Mary. Mueller verdrehte die Augen und warf dann einen Blick auf den Fluss, den sie überqueren mussten. Die Strömung war ziemlich stark, und das Flussbett bedeckten Hunderte vom Wasser abgerun dete, glatte, schleimig wirkende Steine. »Zum Teufel mit Tragen«, meinte er und packte den bewusstlosen Scharfschützen am Handgelenk. »Ich werde ihn hinter mir herzie hen.«
Eine ausgedehnte Wiese an der Lon Lyons Road hätte ihn beinahe aus dem Konzept gebracht: Er hatte die Wahl, sie zu überqueren und wahrscheinlich dabei entdeckt zu werden, oder um das Feld herumzugehen und dabei wertvolle zehn Minuten zu verlieren. Schließlich nahm er sich die Zeit und war dann froh, sich so ent schieden zu haben, als er die Posleen-Streife entdeckte, die die freie Fläche ziemlich verblüfft anstarrte. Die Gottkönige hatten gesunden Respekt für menschliche Scharfschützen entwickelt, und diese freie Fläche erschien ihnen vermutlich als der sichere Weg ins PosleenJenseits. Die Streife hatte lange genug gebraucht, weil sie offenbar darauf gewartet hatte, dass sich ihnen ein weiterer Gottkönig anschloss, und hatte ihm deshalb genügend Zeit gelassen, die Straße zu über queren und in das dichte Gehölz auf der anderen Seite einzudrin gen. Im Gebüsch hatte er keine Sorge, dass die Posleen mit ihm Schritt halten oder gar zu ihm aufschließen könnten. Während er so durch den Wald eilte, auf ausgetretenen Wildpfaden, wo dies ging, und neue Wege bahnend, wo dies nicht möglich war, hatte er sich gefragt, welche Richtung er einschlagen sollte. Er konnte nach Sü den abbiegen, in Richtung auf Amy's Creek und weiterhin Clarkes ville »bedrohen«, oder er konnte seinen Westkurs mehr oder weni ger fortsetzen, in Richtung auf Unicoi Gap. Nach einiger Überle gung entschied er sich für Letzteres; weshalb auch den Posleen zu
sätzliche Rätsel aufgeben – schließlich wollte er ja, dass sie ihm folg ten. Aber seine augenblickliche Position östlich der Ausweichroute 295 fing an unhaltbar zu werden, also rutschte er wieder einmal eine Hügelflanke hinunter und setzte sich dann erneut in Bewegung. Die 255 zu überqueren würde riskant sein, aber die Karte zeigte beider seits Wald an, und das bedeutete hier großteils Weißfichten, die soll ten als Deckung genügen. Und mit diesem vergnügten Gedanken trat er ins Freie hinaus. Der Bereich beiderseits der Straße, den die Karte als Wald anzeig te, war vor langer Zeit gelichtet worden. Das, wo er jetzt stand, sah aus wie der Hinterhof einer kleinen Fabrik. Die Gebäude waren ver schwunden, aber es lag so viel Schrott herum, dass jede andere Möglichkeit ausschied. Auf der anderen Seite der Straße waren eine noch intakte Farm und ein asphaltiertes Straßenstück zu sehen. Die Asphaltstraße beschrieb einen Bogen um das Farmgebäude herum, offenbar hatte man hier Pferde ausgebildet, und das passte über haupt nicht zu seinen Vorstellungen, so dass er beinahe hysterisch auflachte. Er warf einen schnellen Blick auf die Karte, die das AID erzeugt hatte, und zuckte die Achseln. Bis zu diesem Punkt hatten er und die Posleen ihre Spielchen miteinander getrieben. Er würde den Wald zwischen diesen Bergstraßen durchqueren und sie abwech selnd Artillerie- und Scharfschützenfeuer kosten lassen, wann im mer er sie zu Gesicht bekam. Ein paar von den, wie es schien, noch unerfahrenen Gottkönigen würden sich an seine Fersen heften, wäh rend das Gros dieser Brigade auf die Straßen zustrebte, die er über queren musste. Da er annahm, dass diese Situation auch hier galt, musste er damit rechnen, den Posleen in die Arme zu laufen, wenn er sich in die eine oder andere Richtung bewegte. Nach nur kurzer Überlegung traf er die einzige Entscheidung, die ihm offen stand, und eilte im Laufschritt auf die Straße zu.
Cholosta'an blickte von seinen Instrumenten auf, als er den halb un terdrückten Ruf eines seiner Kundschafter hörte. Dort drüben an ei ner Bodenerhebung zeichnete sich die Silhouette eines Menschen ab, bei dem es sich ganz offensichtlich um den handeln musste, auf den sie jetzt schon so lange Jagd machten. Er schwang seine Railgun zu der Silhouette herum; das automati sche Peilsystem ignorierte wie gewöhnlich den Menschen, aber noch ehe er selbst zielen konnte, hatte der Mensch die Straße überquert und war verschwunden. Er griff nach unten, um sein Tenar anzuhe ben, aber Orostan hob warnend die Klaue. »Bedächtig, Kessentai«, sagte der Oolt'ondai. Der ältere Kessentai sah auf die dreidimensionale Karte auf seinem Bildschirm und knurrte. »Ich denke, wir haben ihn bald.« Er begann Tasten anzu schlagen und schickte Befehle zu Posleen-Einheiten nah und fern, sandte sie ausgeschwärmt zum westlichen Bereich der Straße. Er hatte gelernt, dass sie auf diese Weise Artilleriebeschuss besser überstanden. »Wie?«, fragte der Oolt'os-Führer mit einem enttäuschten Schnau ben. »Die bewegen sich in diesen Hügeln wie Himmelsgeister.« »Aber sie können nicht fliegen«, sagte der Oolt'ondai mit einem Anflug von Humor und wies auf die Karte. Einen Augenblick später zischte der jüngere Posleen ebenfalls be lustigt.
Jake Mosovich lehnte sich an einen ziemlich alten Hickory-Stamm und schnappte nach Luft. Klar, dies war nicht das erste Mal in seiner langen Militärlaufbahn, dass er so völlig erschöpft gewesen war, aber er konnte sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal der Fall gewesen war.
Er befand sich auf einem Sattel, ein Stück unterhalb des höchsten Punktes von Lynch Mountain, und sämtliche Höllenhunde waren ihm auf den Fersen. Der ihn umgebende Wald bestand hauptsäch lich aus mächtigen alten Hickory-Stämmen, Eichen und Buchen und zeigte Spuren von heftigem Wildverbiss. Beiderseits des Sattels, im Norden und Süden, fiel das Terrain jäh ab. Ein idealer Punkt für einen letzten Kampf, aber nur falls Jake Mosovich die Absicht gehabt hätte, Selbstmord zu begehen. So war dies nur ein verdammt guter Ort, um innezuhalten und ein wenig zu verschnaufen. Über ihm ragten die letzten hundert Meter des Lynch Mountain auf, es sah aus, als ginge es ziemlich senkrecht hinauf. Der einzige Weg nach oben war ein schmaler Vorsprung, der von diesem Sattel in einem Bogen nach links und dann schließlich zum Gipfel führte. Zum Glück war der Pfad weitgehend von Gebüsch geschützt. Zum Glück, weil die Posleen ihn ganz schön in der Zange hatten und die ganze Brigade ihm dicht auf den Fersen war. Er blickte den Hügel hinunter und schüttelte den Kopf. Hartnä ckig waren diese Mistkerle, das musste man ihnen lassen. Artillerie feuer war wieder angefordert, um seinen Rückzug zu decken, und er durfte sich ziemlich sicher sein, dass zumindest die Spitze der Bri gade von der Artillerie in Stücke gerissen würde. Aber jetzt war es Zeit, weiterzuziehen. Er holte einen kleinen Ap parat aus einer Seitentasche von Nichols' Rucksack, zog eine Art Splint heraus, stellte eine Skala ein und ließ das Ding auf den Boden fallen. Damit erleichterte er sich zugleich seine Traglast und setzte einen »Sensor« ab; im Vergleich zur Artillerie freilich würde das Ding nur geringe Wirkung haben. Dann warf er sich das Barrett über die Schulter und marschierte weiter. Der Weg war fast drei Me ter breit, fiel aber im Osten und Westen etwa fünfzig Meter weit ab, so dass er sich in gewisser Weise schmal wie eine Messerschneide anfühlte. Auf der anderen Seite führte ein alter Trampelpfad nach
oben, und gelegentlich waren alte orangefarbene Markierungen zu sehen, die sich nur noch undeutlich von der Baumrinde abhoben. Er arbeitete sich mühsam zwischen Berglorbeer und Rhododend ren nach oben, krallte sich immer wieder an Granit- und Schiefer vorsprüngen fest, die aus der kargen Erde ragten, und kletterte, so schnell seine zitternden Beine ihn trugen. Die Alternative dazu war schließlich wesentlich unangenehmer. Etwa fünfundvierzig Sekunden, nachdem er es hatte fallen lassen, ging ein Zittern durch das kleine Kunststoffkästchen, es kippte zur Seite, stieß – mit dem leisen Zischen ausgestoßener Luft – drei An gelleinen mit Dreifachhaken aus und zog dann, mit einem kaum hörbaren Klicken, die Leinen langsam ein, bis die Haken sich in der Vegetation eingekrallt hatten. Danach war das kleine Gerät offenbar zufrieden und verstummte wieder.
Orostan schlug erregt mit dem Kamm und blickte erneut auf das tragbare Tenaral. Die Menschen waren nicht seitlich ausgebrochen, also war mit Sicherheit anzunehmen, dass sie ihren Weg hügelauf wärts fortsetzten. Der Oolt'ondai hatte seine Truppe um das Artille riefeuer herum aufgespalten – es war offenkundig, dass sie nicht be obachtet wurden – und hatte auf diese Weise ernsthafte Verluste vermeiden können. Aber sie würden einen schmalen, offen dalie genden Landstrich überqueren müssen, um die Hügelkuppe zu er reichen, und das würde gewaltige Verluste mit sich bringen. »Angenehm wird das nicht werden«, sagte Cholosta'an. »Du könntest mir auch sagen, dass ich essen soll, Nestling«, braus te der Oolt'ondai auf. »Tut mir Leid, aber das ist ja wohl offenkun dig. Trotzdem, wenn wir diese Abat Fatt erwischen wollen, müssen wir sie zu packen bekommen.« »Na ja«, meinte der jüngere Kessentai mit einem leichten Kamm flattern, »wir könnten auch hier sitzen bleiben und sie aushungern.« Er sah zu dem Oolt'ondai hinüber und zischte, als er den Ausdruck
in dessen Krokodilsgesicht sah. »Aber da bist du wohl anderer Mei nung.« Allem Anschein nach hörte der Oolt'ondai das gar nicht, sondern atmete bloß ein paar Mal durch und schrie dann: »Fuscirto uut! Vor wärts!«
Jake ließ sich in eine kleine »Höhle« zwischen zwei mächtigen Gra nitfelsen fallen und atmete tief durch. Diese Position war für ihn ge radezu perfekt, und im Übrigen hätten ihn wohl seine Beine auch nicht mehr weitergetragen. Die zwei »Felsbrocken« – beide jeweils etwa so groß wie ein Fernlaster – waren in Wirklichkeit Vorsprünge, denen das Wetter über die Jahrhunderte so lange zugesetzt hatte, bis schließlich einer auf den anderen gefallen war. Dazwischen hatte sich eine kleine, einigermaßen trockene Spalte gebildet, die an der Westseite etwa mannshoch war und sich im Osten auf etwa Kniehö he verengte. Ein Stück unter der Hügelkuppe nach militärischer De finition und ein Stück westlich vom eigentlichen Berggipfel gelegen, überblickte sie eine fast senkrechte Partie an der Ostseite des Berges, die zu dem Sattel hinunterführte, den die Posleen würden überque ren müssen. Seine Verfolger würden nicht nur diesen Sattel über queren, sich in die Höhe quälen und dann den eigentlichen Gipfel überqueren müssen, dabei ständig in voller Sicht, sondern sein Standort war auch noch für alles, mit Ausnahme ihrer schweren Waffen, beinahe undurchdringlich – ein Betonbunker hätte mögli cherweise noch eine leichte Verbesserung dargestellt, aber nicht sehr – und verfügte zusätzlich über einen Hinterausgang. Freilich führte dieser »Hinterausgang« zu einer hundertzwanzig Meter hohen, senkrechten Klippe. Aber eine andere Wahl hatte er nicht gehabt. Früher einmal hatte man diesen Berg offenbar gern besucht. Man konnte noch vage die Umrisse von ein paar alten Schuppen und auch zwei Feuerstellen erkennen. Er war ganz von knorrigen Bäu men bedeckt, Weißfichten und Eichen und ein paar Ahornstämme
dazwischen, deren verkrüppelte Stämme und Äste sich weitgehend nach Süden neigten. Weshalb sie so verkrüppelt waren, ließ sich deutlich erkennen; was unten im flachen Land eine leichte Brise ge wesen war, wehte hier oben auf der Höhe beinahe mit Orkanstärke und peitschte die Blätter um ihn herum mit voller Wut. Es gab ein paar größere Felsbrocken und Auswucherungen, aber zum größten Teil war der Boden mit lehmiger Erde und Buschwerk bedeckt. Die Ausnahme war die Partie unmittelbar vor der Klippe, wo die Lehmschicht vielleicht vier Meter vom Rand entfernt abrupt endete. In den ersten paar Metern der Felswand waren an der einen Seite eine ziemlich geräumige Höhle, einige vom Wind zerzauste Weißfichten sowie ein paar Felssimse zu erkennen. Dahinter freilich fiel die Felswand über hundertzwanzig Meter weit ab, bis hinunter zu dem mit Bäumen bestandenen Bergsockel. Von dort reichten die Bäume fast einen Kilometer weit nach draußen, ehe sie auf die An fänge von »Zivilisation« und ein weiteres freies Feld stießen. Jake klappte das Zweibeinstativ seines Barrett aus, dann das Visier hoch und schob eine alte Jack-Daniel's Flasche weg. Die Distanz zum Sattel, genauer gesagt dessen oberer Rand, wo nichts den Blick auf den Bergpfad versperrte, betrug gerade achthundert Meter. Der artige Entfernungen abzuschätzen, und zwar bergab in bergigem Gelände, war gewöhnlich nicht leicht. Aber Jakes AID legte einfach nur ein Hologramm über den Hügel und markierte diverse Punkte. Was das AID nicht ganz so gut beurteilen konnte, war der Wind. Auf solche Distanz würde die Kugel ziemlich weit abdriften, und zwar unter Berücksichtigung von Windstärke und -richtung bis zu fünfzehn Zentimeter. Zum Glück gaben Posleen recht große Ziele ab. Der Sergeant Major zog sich Nichols' Rucksack vom Rücken und wühlte darin herum. Er hatte ihn beim Aufstieg leichter gemacht, in dem er einiges, was er für Ballast hielt, wegwarf, aber dies war jetzt das erste Mal an dem ganzen langen Tag, dass er ein wenig Zeit hat te, und bis jetzt hatte er seit dem letzten Abend nur eine Hand voll
Hickorynüsse gegessen, die er am Ochamp Mountain gepflückt hat te. Mosovich zog vier Schachteln mit je hundert Schuss .50-KaliberBMG heraus, einen Beutel mit Erdnussschokolade, zwei Packungen Red Man, drei Packungen anscheinend hausgemachtes Dörrfleisch und drei Feldrationen. Offenbar hielt Nichols nicht viel von Conve nience Food. Keine Chips, kein Studentenfutter, nicht einmal eine Packung Nudeln. Was zum Teufel brachten die diesen jungen Leu ten eigentlich bei? Die Feldrationen waren Spaghetti und Fleisch klößchen, Tortellini und Lasagne. Entweder hatte Nichols alles an dere bereits aufgegessen, oder er war kein Liebhaber der italieni schen Küche. Mosovich wühlte noch einmal in dem Rucksack her um, fand aber nichts. Bloß Socken. »Verdammt, nicht mal scharfe Soße. Welcher Soldat geht schon ohne scharfe Soße in Einsatz?« Was die Army als »Italienische Kü che« bezeichnete, war für ihn so lange erträglich, wie er genügend scharfe Soße darüber schütten konnte. Nachdem er ein paar Augen blicke nachgedacht hatte, holte er trotzdem ein Stück Trockenfleisch heraus und schnüffelte daran. Er zog die Brauen hoch und biss da von ab. »Wo in drei Teufels Namen hat Nichols gedörrtes Wildbret herbe kommen?«, fragte er, ohne dabei jemand Bestimmten im Auge zu haben. »Und wieso hat er nichts davon abgegeben?« Nachdem er kurz überlegt und noch einmal abgebissen hatte, beantwortete er sich die zweite Frage selbst. »Ich muss mit dem Mann wirklich mal über seine Wahl an Verpflegungsrationen reden.« Der Sergeant Major lehnte sich auf den Rucksack und lauschte dem Kanonendonner in der Ferne. Dabei wurde ihm bewusst, dass er von diesem Standort aus zum ersten Mal Clarkesville zu sehen bekam. Die Stadt war knappe vierzehn Kilometer entfernt, aber so nahe war das Team bis jetzt noch nicht herangekommen, und es war ein klarer Tag.
Mosovich zog seinen Feldstecher heraus und kaute dabei auf dem Dörrfleisch herum. Das Zeug hatte die Konsistenz von Schuhleder, schmeckte aber himmlisch. Ein bisschen zu wenig gewürzt, aber sei's drum. »Mal sehen«, murmelte er mit vollem Mund. »Das ist die 441 … und dort ist Demorest. Wahrscheinlich.« Die Stadt war in erster Li nie wegen ihrer vielen freigeräumten Flächen erkennbar; es standen nicht mehr viele Gebäude. Der Himmel war wirklich glasklar, einer jener wunderschönen Herbsttage, wo man das Gefühl hatte, von einem Berggipfel aus die ganze Schöpfung sehen zu können. Mosovich konnte mühelos bis dorthin sehen, wo früher einmal die Interstate 85 verlaufen war, und Clarkesville lag wesentlich näher. Die Posleen hatten die Gegend eingenebelt, aber die Nebeltöpfe, Hunderte davon befanden sich auf den Hügelkuppen, konnten nicht die ganze Gegend verdecken. Tausende von Gestalten bewegten sich in seiner Sichtweite, aber das war schließlich nicht anders zu er warten. Womit er nicht gerechnet hatte, war ein gewaltiges Loch in der Flanke eines der Hügel ein Stück nördlich von Demorest. »Verdammt, die graben sich ein.« Die Menschen hatten dieses Verhalten schon früher beobachtet, aber nur auf der Erde. Obwohl die Gottkönige ausschließlich in rie sigen Stein- oder Metallpyramiden lebten – auch wenn solche hier kaum zu sehen waren –, waren ihre Fabrikanlagen größtenteils unter der Erde angesiedelt. Offenbar war dies eine Aktivität aus der »Späten Eroberungspha se«. Nachdem sie ein Gebiet völlig eingenommen und alle Spuren von Menschen getilgt hatten, legten die Posleen gewöhnlich Farmen an. Sie bauten vorzugsweise ortsübliches Getreide an, anscheinend weil sie über kein eigenes verfügten. Während das geschah, wurde die Pyramide des örtlichen Gottkönigs gebaut, und die Vielzahl von Dingen, die dafür und für das Alltagsleben benötigt wurden, wurde in den »Fabriken« auf den Schiffen erzeugt, meist in »Nanniten-Pro
duktion«. Sobald allerdings ein Landstrich ein gewisses Produkti onsniveau erreicht hatte, fing man an, unterirdische Fertigungsanla gen zu errichten. Und wenn diese fertig gestellt waren, wurden die Schiffe an die nächste Generation weitergegeben und starteten ent weder zu einem anderen Planeten oder einem anderen Teil dessel ben Planeten. Und die örtlichen Siedlungen fingen an, aus ihren Überschüssen das nächste Schiff zu bauen. Diese Erkenntnisse hatte man hauptsächlich durch Luftbeobach tung gewonnen, indem man die Grabarbeiten beobachtete und was die Posleen in die Kavernen gebracht und aus ihnen herausgetragen hatten. Dieselben Vorgänge liefen vermutlich auch auf Barwhon ab, obwohl es auf jenem Planeten keine Möglichkeit zur Luftbeobach tung gab. Auf Diess, einem Planeten, den die Menschen größtenteils zurückerobert hatten, hatten die Posleen ihre Fabrikanlagen nicht unterirdisch errichtet. Das lag daran, dass die gesamte eigentlich landwirtschaftlich nutzbare Fläche des Planeten von Megalopolen bedeckt war, so dass sie nur die Megascraper der Indowy besetzt hatten. Sie aus diesen Megascrapers herauszukratzen war inter essant gewesen. Aber der größte Teil der Erde war in der Hand der Posleen, und gegenwärtig waren Hunderttausende, ja Millionen von Fabrikanla gen über den ganzen Planeten verstreut. Wenn die Zeit kam, die Welt zurückzuerobern, würde es einige Mühe bereiten, die Zentau ren aus den Löchern herauszugraben. Andererseits rechnete man damit, dass die meisten Fabriken wieder in Gang gebracht werden konnten, und die Erde blickte daher einer völlig neuen Welt der Pro duktivität entgegen. Diese Anlagen befanden sich freilich in dicht besiedelten Bereichen außerhalb der Kampfzonen, während Clar kesville innerhalb des Artillerieschutzes lag. Es war daher unge wöhnlich, dass die Posleen sich hier und auf diese Weise eingruben. Und ebenso ungewöhnlich war eine Kolonne Posleen, die aus der Höhle herausströmte.
»Dann ist das also gar keine Fabrik«, murmelte Mosovich, immer noch an dem Dörrfleisch kauend. Was mochten diese gelben Mist kerle wohl im Schilde führen? Unter gewissen Umständen wühlten sich die Posleen wie Maulwürfe in die Erde; offenbar verfügten sie über eine recht brauchbare Bergwerkstechnik, vergleichbar den Io nen Bergarbeitern der Galakter. Aber gewöhnlich ließen sie ihre Normalen an der Oberfläche auf ihren Farmen im Tagebau und als Sammler und Jäger arbeiten. Dann sah er, was hinter der Kolonne aus der Kaverne kam und wäre beinahe erstickt.
Ryan sah zu dem Feuerleitoffizier hinüber und tippte an seinen Mo nitor. »Schicken Sie mit der nächsten Salve ein Sensorgeschoss mit.« Im Laufe des Tages hatten sich immer mehr Leute angeschlossen, aber das war im Großen und Ganzen gut gewesen. So viele Batterien zu dirigieren und auch dafür zu sorgen, dass sie mit Munition ver sorgt wurden, war keine Aufgabe für einen einzigen Pioniermajor. Unter anderem hatten sich Dutzende Spezialisten aus den Nachrich tendiensten mit eingeschaltet und sämtliche bisher gewonnenen Er kenntnisse nach Hinweisen auf die Absichten der Posleen durch sucht. Bis jetzt waren die Ergebnisse freilich recht bescheiden. Es stand außer Zweifel, dass die Posleen allem Anschein nach wesentlich »lo gischer« operierten, als sie das gewöhnlich taten. Aber das bedeutete nicht, dass sie eine größere Bedrohung darstellten. Mit Ausnahme der EMP-Granate hatten sie keinerlei neue Waffen eingesetzt. Und wie ihre Jagd auf Mosovich zeigte, hatten sie trotz verbesserter Tak tik keine nennenswerten Erfolge erzielt. Seit der Sergeant Major zuletzt Artilleriefeuer angefordert hatte, war einige Zeit vergangen, und sie hatten die letzten zwei Stunden über nur eine einzige Batterie dafür eingesetzt, die Hügelkuppe un ter Beschuss zu halten. Aber solche Phasen hatte es den ganzen Tag
über gegeben, und aller Wahrscheinlichkeit nach würde jetzt bald eine neue Anforderung kommen. »Sensor kommt, Sir«, sagte der Lieutenant und gab die Daten an seinen Monitor weiter. Das betreffende Sensorgeschoss basierte auf einem Standard-155mm-Geschoss, enthielt aber anstelle von Sprengstoff wesentlich ge fährlichere Waffen: eine Kamera und ein Funkgerät. Als das Geschoss aus der Geschützmündung in der Ferne kam, fiel eine Verkleidung ab, und die Kamera wurde freigelegt. Mit Hilfe ei nes internen Kreiselsystems kompensierte es den Drall des Geschos ses und sorgte dafür, dass die Kamera auf das angegebene Ziel, in dem Fall den Boden, gerichtet war. Bei der Kamera handelte es sich lediglich um ein komplexes visu elles Lichtsystem; jeder Gottkönig und jeder Lander im weiteren Umkreis benutzte Übertragungssysteme wie Millimeterwellenradar. Aber das visuelle Lichtsystem konnte die Umrisse von Posleen und ihren Geräten aus dem Hintergrundgeräusch herausfiltern und die entsprechenden Daten in kurzen, verschlüsselten Signalen an die Spezialisten der Nachrichtendienste senden. Trotz der nur kurzen Sendezeiten waren die Posleen meist imstan de, diese Geschosse im Flug zu entdecken und zu zerstören, und das taten sie auch in diesem Fall, fingen das Geschoss ein, als es über den Lake Burton flog, ließen aber seine nicht sendenden Brüder, die bloß Sprengstoff und tödliche Schrapnelle beförderten, unbehelligt. Ryan schüttelte verblüfft den Kopf. Keiner der Menschen konnte verstehen, weshalb die Posleen sich so verdammt gut darauf ver standen, alles zu zerstören, das manövrierte oder sendete, während sie »gewöhnliche« Artillerie in Frieden ließen. Er warf einen Blick auf das mit den Zielsystemen der Geschütze koordinierte Radarge rät und fand dort bestätigt, dass der Rest der Geschosse zu den je weiligen Zielen unterwegs war. Das Bild, das der Sensor geliefert hatte, war hochinteressant. Die Artilleriegeschosse hatten auf ihrem Parabolflug eine Höhe von über
viertausend Metern erreicht und ein Areal erfasst, das von Dahlone ga bis Lake Hartwell reichte. Überall in der Gegend waren rote Spu ren von Posleen zu erkennen, aber die Mehrzahl davon konzentrier te sich um Clarkesville und Lynch Mountain. In anderen Bereichen waren die Zentauren weit verstreut. Clarkesville lag wegen des Flugwinkels des Geschosses noch im Dunklen, und um den Lynch Mountain war die Bildqualität nicht besonders gut. »Die Leute vom Nachrichtendienst sollen zusehen, da möglichst viel herauszubekommen«, sagte Ryan, scrollte sein Bild um die Dar stellung des Gefechts herum und zoomte auf Mosovich. »Die sollen in den nächsten Salven die Sensorgeschosse so einstellen, dass sie erst nach ein paar Sekunden Flug aktiviert werden. Auf die Weise ist unser Sichtfeld vielleicht nicht ganz so groß, aber wir sehen dann wenigstens, Was wir treffen. Oder nicht treffen. Dass die Posleen au ßerhalb unseres Ziels liegen, ist ja im Augenblick ziemlich klar.« »Soll ich nachrichten, Sir?«, fragte der Lieutenant in der Feuerleit stelle. »Nein«, antwortete Ryan. »Wenn Mosovich das will, wird er es uns schon sagen.« Ryan rief eine topographische Karte auf, stellte den Maßstab ein und kratzte sich am Kinn. Dann brummte er: »Aber nehmen Sie alles, was nicht eingeteilt ist, und bringen Sie es genau … dorthin«, fuhr er fort und deutete mit einem wölfischen Grinsen auf den Sattel. »Das ist die einzige Stelle, wo es einen Weg für die Posleen gibt.« »Glauben Sie, dass der Sergeant Major auf diesem Berg ist?«, frag te der Lieutenant und suchte sein eigenes System nach einer Spur von Mosovich ab. »Ich sehe ihn nirgends.« »Oh, er ist dort, irgendwo«, antwortete Ryan. »Ich habe bloß keine Ahnung, wo er eigentlich hinwill.«
13 Rochester, New York, Sol III 1925 EDT, 14. September 2014
Major John Mansfield harrte geduckt aus, vom Dach des Trailers vor Sicht geschützt. Er konnte das Knirschen des Kiesbelags hören, als seine Zielperson sich näherte; diesmal würde es kein Entkommen geben. Er verfolgte ihn jetzt seit vier Tagen, und heute Abend würde abgerechnet werden. Er bereitete sich auf den Sprung vor, zog die Beine an und hielt den Stapel Papiere und das Klemmbrett fest in der einen und den Stift in der anderen Hand; ein Adjutant bei den Zehntausend zu sein war kein Kinderspiel. Als offizieller Personaloffizier für elftausendachthundertdreiund vierzig Soldaten inklusive Offiziere, die alle etwa so zahm wie ben galische Tiger waren, war das nicht immer ein Zuckerlecken. Aber am meisten Mühe machte es, den Colonel lange genug festzuhalten und ihn dazu zu zwingen, seine Büroarbeiten zu erledigen. Es war zu einer Art Spiel geworden. Cutprice baute regelrechte Hindernisstrecken mit menschlichen und manchmal auch physikali schen Barrieren zwischen sich und seinem Adjutanten auf. Mans field versuchte die Hindernisse zu überwinden, um den Colonel dazu zu bringen, seinen Papierkram in die Hand zu nehmen. Sobald ein menschliches Wesen dem Colonel etwas – irgendetwas – in die Hand drückte, bemühte er sich gewissenhaft darum, es auch zu erle digen. Aber es einfach nur in einen Eingangskorb legen – da konnte man es genauso gut einfach vergessen. Aber diesmal hatte Mansfield ihn
in die Enge getrieben. Ja, das war exakt der Augenblick, in dem der Colonel auftauchen sollte. Er hielt den Stift bereit und schickte sich an zu springen, als er hinter sich eine Stimme hörte. »Suchen Sie mich, Mansfield?« Major Mansfield richtete sich auf und sah die Gestalt an, die jetzt in dem kleinen Vorbau zu dem Trailer stand. Jetzt, wo die Gestalt im Licht stand, war deutlich zu erkennen, dass sie kleiner und dunkel häutiger als der Colonel war. Und die falschen Rangabzeichen trug. »Sergeant Major Wacleva, ich bin ehrlich gesagt schockiert, dass Sie so tief sinken können, diesem jugendlichen Verbrecher dabei zu helfen, seiner Pflicht aus dem Wege zu gehen.« »Ach, Sie sollten das nicht persönlich nehmen, Major«, erwiderte der jung aussehende Sergeant Major mit Reibeisenstimme. »Das ist die uralte Dichotomie vom Krieger und Erbsenzähler!« »Seit wann sind Sie denn für Worte freigegeben?«, fragte der Adjutant und lachte.
wie
›Dichotomie‹
»Seit der Colonel den halben Abend damit verbracht hat, sich mit Brockdorf voll laufen zu lassen«, erwiderte Wacleva ein wenig mür risch. Er zog ein Päckchen Pall Mall heraus und entnahm ihm einen Sargnagel. »Yeah«, lachte Cutprice. »Wussten Sie, dass Brockdorf, bevor sie in den Militärdienst eingetreten ist, Philosophie studiert hat?« »Ja, das wusste ich, Colonel«, antwortete Mansfield unwirsch, drehte sich jetzt endlich um und sah den Offizier an. »Und deshalb gehört sie auch zu den ganz wenigen Leuten meiner Bekanntschaft, die die Gedanken der Posleen lesen können. Und wussten Sie auch, dass sie Ihre Unterschrift braucht, um zur E-4 befördert zu werden?« »Warum in drei Teufels Namen glauben Sie wohl, dass ich in die ser Eiseskälte auf einem Dach stehe?«, fragte Cutprice. Er nahm dem S-l den Stift weg. »Welches Blatt ist es denn?«
»Oh, nein, so billig kommen Sie mir diesmal nicht davon«, antwor tete Mansfield. »Unter anderem ist da eine ganz seltsame Geschichte dabei. Ich denke, wir müssen vielleicht eine Gruppe nach North Ca rolina hinunterschicken, um einen unserer Offiziere rauszuhauen.« »Wer ist in North Carolina?«, fragte Cutprice, sprang vom Dach und landete federnd auf dem Kiesboden. »Verdammt noch mal, es macht wirklich Spaß, wieder jung zu sein.« »Das dürfen Sie laut sagen«, antwortete der Major und landete ne ben ihm. »Ich glaube, das letzte Mal, als ich mich getraut hätte, das zu tun, ohne mich dabei umzubringen, war 78.« »Bei allem gebotenen Respekt, Major, Colonel, Sie sind beide Weicheier«, knurrte der Sergeant Major. »Es gibt Leute, die waren schon vor 78 alt. Ich konnte das schon nicht mehr, als ich mit Ihren Müttern tanzen ging.« Cutprice schmunzelte und griff nach den Papieren. »Geben Sie mir das 3420, ich verspreche Ihnen, dass ich die anderen auch erledige.« Mansfield und der Sergeant Major folgten dem Colonel ins Innere des Trailers, und Mansfield zog ein Blatt Papier aus dem Stapel, während der Sergeant Major an eine niedrige Anrichte ging. »Ein Formular 3420, unterschriftsreif«, sagte Mansfield. »Mhm.« Der Colonel las das Formular sorgfältig. Das Spiel hatte zwei Seiten; Mansfield hatte ihm zweimal Befehle untergeschoben, mit denen er zum aktiven Fronteinsatz abkommandiert wurde, und deshalb achtete der Colonel jetzt sorgfältig darauf, die Dokumente auch zu lesen, die er unterzeichnete. »Sieht koscher aus«, sagte er und kritzelte seine Unterschrift. »Das hier auch«, sagte Mansfield. »Das sind zwei Dokumente. Ei nes von Captain Elgars, das andere von ihrem ursprünglichen See lenklempner.« »Elgars sagt mir im Augenblick nichts«, meinte Cutprice und griff nach dem Ausdruck einer E-Mail.
»Das braucht es auch nicht, Sir, sie war sozusagen nie ›bei uns‹«, erklärte Mansfield. »Sie war beim Monument, sie ist die Scharfschüt zin, die daran schuld ist, dass das Monument jetzt eine nagelneue Aluminiumspitze hat.« »Augenblick mal«, schnarrte der Sergeant Major. »Rothaarig, ge brochener Arm. Wieso ist sie Captain?« »Fast alle, die am Monument waren, haben Tapferkeitsbeförderun gen bekommen«, erklärte Mansfield. »Es sei denn, sie hätten sie aus drücklich abgelehnt«, fügte er hinzu und räusperte sich dann affek tiert. »Also, ich hab sie nicht abgelehnt, ich habe nur meinen ursprüngli chen Rang behalten«, sagte der Sergeant Major und grinste. »Auf diese Weise bekomme ich später mal Majorspension, und bis dahin kann mich keiner zum Scheißadjutanten machen.« »Elgars befand sich im Koma und war deshalb nicht imstande, die Beförderung zum First Lieutenant abzulehnen«, fuhr Mansfield fort. »Und dann ist sie automatisch befördert worden, weil sie im Patien tenstatus offiziell in der Liste geführt wurde.« »Das ist doch der größte Blödsinn, den ich je gehört habe«, sagte der Sergeant Major, schenkte sich einen Drink ein und stellte die Fla sche dann auf den Tisch. Dann überlegte er kurz. »Nee, ich nehm das zurück. Ich habe schon noch größeren Blödsinn gehört. Aber ziemlich schlimm ist es schon.« Cutprice sah die beiden Briefe an. Er war selbst aus dem Mann schaftsrang aufgestiegen, und seine College-Bildung war ziemlich lückenhaft, aber er war ein schneller Leser. Der Brief von der Psych iatrie-Ärztin war in dem üblichen bürokratischen Kauderwelsch ge halten. Die Patientin lehnte die »Behandlung« ab und verhielt sich offenkundig unvernünftig. Die Seelenklempnerin versuchte das in Worte zu hüllen, von denen sie annahm, dass der Colonel sie noch nie gehört hatte, aber darin irrte sie; der Colonel hatte sie schon ge hört, und zwar von Seelenklempnern, die über ihn redeten. Der Brief von Captain Elgars war ein wenig anders. Kurz und knapp mit
ein paar Orthographiefehlern, aber das war für einfache Soldaten normal, und das war sie ja schließlich. Sie wollte von einer anderen Seelenklempnerin behandelt werden, die hier behandelte sie, als ob sie verrückt wäre. Und so weiter und so weiter. Hä? »Sie sagt, sie hätte die Erinnerung von zwei Leuten?«, fragte Cut price. »Offenbar, Sir«, erwiderte Mansfield. »Kein Wunder, dass die sie für verrückt halten«, meinte der Colo nel nachdenklich. »Sie sagt, ihrer Ansicht nach hätten ihr die Krab ben das angetan.« »Sie hat eine experimentelle Behandlung durchgemacht«, führte Mansfield aus. »Das … hängt irgendwie zusammen. Und sie will auch nicht die Behandlung beenden, sie möchte sie nur mit einer Psychologin weiterführen, die sie nicht für verrückt hält.« »Sicher, wenn man ihr glaubt, dass sie das nicht ist«, sagte Cutpri ce. »Wir haben ein paar Leute, die nicht alle Tassen im Schrank ha ben«, gab Wacleva zu bedenken. »Schauen Sie sich doch Olson an, ich meine, kann man jemanden als normal bezeichnen, der die gan ze Zeit mit dem Kamm eines Gottkönigs rumläuft, den er auf dem Kopf trägt?« »Ja, natürlich, aber …« Cutprice verstummte. Dieser weibliche Captain war allem Anschein nach eine recht gute Schützin gewesen und könnte gut zu gebrauchen sein. Er las die Nachschrift und run zelte die Stirn. »Sie sagt, dass sie Keren kennt, und Sergeant Sunday hat den Brief weitergeleitet. Das spricht beides für sie. Mehr als al les, was so ein beknackter Seelenklempner sagt.« »Das ist einer der Gründe, weshalb ich hier bin, Sir«, stellte Mans field fest. »Ich habe mit Keren gesprochen, und der ist wirklich an die Decke gegangen. Er wusste nicht, dass sie inzwischen aus dem Koma ist, und will sie besuchen. Jetzt gleich. Er war voll des Lobes über sie. Niemand auf der Welt schießt so, wie diese Frau. Natürli che Führungsbegabung. Und total verrückt …«
»Aber ich kann mir nicht leisten, ihn einfach nach North Carolina zu schicken, bloß um das in Ordnung zu bringen.« Cutprice griff nach der Flasche Bourbon und schenkte sich ein. »Ich werde ihm das selbst sagen und ihm auch meine Gründe nennen. Nächster Vor schlag.« »Nichols«, sagte der S-l. »Er ist nicht Offizier, aber ich habe die Unterlagen sämtlicher Leute bei den Zehntausend durchgesucht, die mit ihr Kontakt hatten, und die haben beide vor der FredericksburgLandung den Scharfschützenkurs der 33rd mitgemacht. Sogar in der selben Klasse. Er ist zu den FATs versetzt worden und im Augen blick in Georgia oder North Carolina stationiert, in der Kampfzone dieses Korps. Wenn Sie ihm den Befehl zukommen lassen, sie aufzusuchen, könnte er dort vorbeischauen und mit ihr reden. Sich eine Meinung bilden, ob sie nun spinnt oder nicht. Aber er braucht dazu einen schriftlichen Befehl; die lassen nicht jeden in die SubUrbs.« »Nichols?«, erwiderte der Major gedehnt, so dass jeder die Zweifel in seiner Stimme hören konnte. »Das ist ein ordentlicher Soldat, aber zum einen ist er nicht von den Sechshundert und sie schon, und zum andern ist er … na ja, ein gewöhnlicher Soldat. Nichts gegen Nichols, aber er ist schließlich bloß ein Speerträger.« »Nun, der andere Vorschlag wäre, dass ich seinen Teamleiter ken ne«, meinte Mansfield. »Und Jake Mosovich ist nicht bloß ein Speer träger. Wenn ich Jake ganz höflich darum bitte, wird er es vielleicht auch tun.« »Ich kenne Mosovich auch«, sagte Cutprice und schmunzelte. »Sa gen Sie ihm, wenn er sich weigert, ich hätte Bilder von einem Kon gress für Unteroffiziersdienstgrade, von denen er ganz bestimmt nicht will, dass sie publik werden. Und Videoaufnahmen aus einem ganz bestimmten Lift. Okay, schicken Sie Nichols und bitten Sie Jake, dass er ihn unterstützt. Sagen Sie Nichols, er soll bloß bei ihr vorbei sehen und sie von uns grüßen, aber Mosovich nennen Sie die wah ren Gründe, weshalb die beiden dorthin sollen. Es erübrigt sich
zwar wahrscheinlich, das zu erwähnen, aber sagen Sie ihm trotz dem, er soll das ganz nach eigenem Ermessen handhaben und an schließend Bericht erstatten. Und dann stellen Sie zwischen ihm und Keren eine Verbindung her. Wenn sie nicht verrückt ist, nach Moso vichs Aussage, meine ich, dann werde ich ihrem Psychiater sagen, sie soll vom nächsten Dach springen. Wenn sie verrückt ist, so ver rückt, dass sie nicht mehr zu gebrauchen ist, dann möchte ich, dass man sie aus den Listen streicht. Sechshundert wird sie immer blei ben, aber ich möchte nicht, dass sie uns bei den Zehntausend Ärger macht. Klar?« »Glasklar«, nickte Mansfield und grinste bösartig. »Ich bin sicher, dass Mosovich gegen ein wenig Abwechslung nichts einzuwenden hat. Ich kann mir denken, dass er sich im Augenblick ziemlich lang weilt.«
Mosovich schluckte den letzten Bissen Dörrfleisch hinunter und spülte mit einem Schluck Wasser aus seiner Feldflasche nach. In dem Augenblick war vom Sattel her ein gedämpfter Knall zu hören, und gleich darauf stieg ein kleines Rauchwölkchen auf. Der Gegenstand, den er dort hinterlassen hatte, hatte sein Leben als Schützenmine begonnen. Diese Gegenstände wurden in Artille riegeschosse verpackt und auf feindliche Truppenkonzentrationen im Schlachtfeld verschossen, um sich dort zu verteilen und dem Feind Probleme zu bereiten. Die Posleen pflegten auf Minenfelder so zu reagieren, dass sie ein fach Normale darüber trieben. Das war eine äußerst wirksame Räummethode und vom Standpunkt der Posleen aus betrachtet auch effizient, weil sie den Leichen anschließend die Waffen und sonstiges Gerät abnehmen und hinterher die Toten zur Nahrungsge winnung verarbeiten konnten. Aus diesem Grund benutzten die Menschen im Allgemeinen keine Streuminen. Wenn es darum ging, Posleen zu töten, »zählte zwar je
der Einzelne«, aber im Großen und Ganzen betrachtet waren Minen felder ziemlich ineffizient. Im Allgemeinen gab es mit Ausnahme der Hüpfenden Barbies bessere Möglichkeiten, Artillerie einzuset zen. Streuminen hingegen waren da eine ganz andere Geschichte. In der Vergangenheit hätte der Sergeant Major wahrscheinlich kurz Halt gemacht und eine Claymore gesetzt. Das wäre zwar möglicher weise effizienter gewesen, hätte aber auch mehr Zeit gekostet. Oder, wenn er es wirklich eilig hatte, konnte er auch einen »Zehenkiller« absetzen, eine kleine Mine, die detonierte, wenn man auf sie trat. Aber Zehenkiller fügten bestenfalls Verwundungen zu. Und wenn man nicht ein kleines Loch grub und sie versteckte, was Zeit kostete, waren sie leicht zu entdecken. Eine der modifizierten Streuminen war dagegen beinahe perfekt. Die »Angelschnüre« waren Stolperdrähte aus Monofilament. Sie warfen die Haken aus und zogen sie dann wieder ein, bis die »An gelleine« einen gewissen Widerstand leistete. Wenn das geschehen war, war die Mine »scharf«, und wenn die Leinen irgendwie gestört wurden, sei es nun, indem man daran zog oder sie abschnitt, deto nierte die Mine. Ganz gleich, wie sie abgeworfen wurde, war das Allererste, was die Mine tat, sich gerade richten. Wenn sie daher detonierte, wie in diesem Fall, als die vordersten Oolt'os der anrückenden Kompanie den Sattel hinaufstürmten, flog sie einen Meter in die Luft und schickte einen Hagel kleiner Kugellager aus. Claymores waren mit einer ähnlichen Zahl von Kugellagern ar miert und schickten sie auf gerader Linie aus, was die Claymore ge fährlicher machte. Aber die »Hüpfende Betty« riss den Posleen die Köpfe ab und verstreute sie über den Pfad. Und das war für ihn gut genug. Und außerdem warnte es Mosovich. Deshalb griff er nach seinem AID. »Ryan, aufpassen.«
Ryan beugte sich vor, als das AID Mosovichs Informationen ins Netz speiste. Die Position der Posleen, die den Sattel hinauf stürm ten, war eindeutig, und die Mosovichs auch. »Werden Sie es schaffen, dort rauszukommen?«, fragte Ryan. »Das geht klar«, erklärte der Sergeant Major. »Ich möchte Artille riefeuer auf diesem Sattel, und zwar jetzt gleich, bitte, Sir.« »Kommt schon«, bestätigte Ryan und schickte die Feuerbefehle an die bereits eingestellten Geschütze. »Siebenundzwanzig Sekunden. Ich hatte schon damit gerechnet, dass Sie den Sattel bepflastern wol len.« »Richtig«, sagte Mosovich, beugte sich über seinen Karabiner und gab den ersten Schuss ab, als die Posleen auftauchten. »Bis wir hier fertig sind, wird mein AID ständig auf Sendung sein; aber lassen Sie das Feuer auf dem Pass, ich möchte nicht, dass Sie den Posleen den Hügel hinauffolgen. Und wenn es Ihnen Recht ist, Sir, geben Sie doch bitte Folgendes weiter. Ich kann von hier aus Clarkesville se hen und glaube begriffen zu haben, weshalb die verhindern wollen, dass wir sie beobachten. Die graben sich ein, so, wie sie es mit ihren Fabriken machen, aber hier handelt es sich ganz offenkundig um Kasernen.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Ryan, ohne den Blick vom Ar tillerietimer zu wenden. »Mich wundert nur, dass sie so nervös sind. Ich meine, wir wissen ja ziemlich genau, wie viele es sind, also kön nen sie doch nichts vor uns verbergen.« »Na ja, das sind Kasernen und Fahrzeugparks, würde ich sagen«, fügte Mosovich hinzu. Er wusste, dass er seine Position den Senso ren des Gottkönigs verraten würde, wenn er sein Barrett abfeuerte, aber allem Anschein nach waren die Posleen immer noch zwischen den Bäumen. Er sah, wie ein Plasmaschuss eine Pappel traf und in einen Feuerball verwandelte.
»Fahrzeugparks?«, fragte Ryan argwöhnisch. Es würde jetzt nur noch ein paar Sekunden dauern, bis die Granaten im Ziel einschlu gen. »Yes, Sir«, sagte Mosovich, als die ersten Granaten zwischen den Bäumen aufschlugen. »Für die Fliegenden Tanks.«
»A kenal flak, senra, fuscirto uut!«, schrie Orostan. Er schüttelte seinen Arm und musterte die Brandwunde. »Ich fresse die BRUT von die sen Menschen.« »Vielleicht«, sagte Cholosta'an, der hinter der Truppe des Oolt'on dai den Weg heraufgerannt kam. »Aber nur, wenn er seine Artillerie nicht auf uns einstellt!« Die beiden Kessentai hatten Glück gehabt und mit dem ersten Oolt von Orostans Einheit den Sattel und damit die Zielzone bereits hin ter sich gebracht, als die erste Granate einschlug. Aber hinter ihnen mischte sich der Lärm der Einschläge und der zersplitternden Bäu me mit den Schreien von Oolt'os und Kessentai, die die Salve erwi scht hatte. Dazu gehörten auch die Überreste von Cholosta'ans Oolt, aber er würde trotzdem nicht umkehren. Ein Normales vor Cholosta'an stieß einen Grunzlaut aus, schlug sich klatschend auf die Seite und fiel schreiend den Abhang hinun ter. »Die Artillerie verdeckt das fuscirto Feuer«, schnaubte Orostan und richtete seine Plasmakanone auf die Hügelkuppe. Er hatte den Scharfschützen vorher im Visier gehabt, aber die dreimal verdamm ten Bäume hatten ihm gleich darauf wieder die Sicht versperrt. Sein Kamm war an der linken Seite so verbrannt, dass er möglicherweise amputiert werden musste. Er feuerte in die Richtung, wo er den Scharfschützen vermutete, und die Normalen um ihn herum folgten sklavisch seinem Ziel.
»Äh, Oolt'ondai«, sagte Cholosta'an und rannte an dem älteren Kessentai vorbei, »du solltest vielleicht etwas zur Seite treten.« Noch ehe der andere zu Ende gesprochen hatte, stieß Orostan einen wütenden Schrei aus und schlug nach der blutenden Furche, die sich an seiner Flanke aufgetan hatte. »Die Himmelsdämonen mögen eure Seelen fressen! Komm doch heraus und zeig dich, du feiger Bastard!«, brüllte er. Trotzdem rannte er geduckt zurück, nutzte die wenige zur Verfügung stehende Deckung und jagte ein paar Schüsse aus seiner Plasmawaffe auf die rauchende Hügelkup pe. »Feiger Abat!«
Jake schlug auf die Blätter vor seinem Versteck, um das Feuer aus zumachen. Der Gottkönig war offenbar zu seinem Glück der An sicht, dass er sich etwa fünfzig Meter weiter westlich befand. Un glücklicherweise hatte der eine Schuss, den er auf den Mistkerl ab gegeben hatte, sein Ziel verfehlt. Solange der Betreffende nicht sei nen Kamm reckte, war auf diese Entfernung nur schwer festzustel len, wer wirklich ein Gottkönig war, und diese hier schienen ihre Kämme unten zu lassen. Gewöhnlich gab es auch einen gewissen Größenunterschied, aber der war nicht ausgeprägt genug, dass man ihn auf die Distanz von acht Footballfeldern wahrnehmen konnte. Außerdem waren Gottkönige im Allgemeinen schwerer bewaffnet, aber für die Gruppe, die hier den Hügel heraufkam, traf das nicht zu. Die meisten Posleen hatten entweder schwere Railguns oder Plasmakanonen und dazu noch ein paar HV-Werfer. Aus der Be waffnung zu schließen, wer der Gottkönig war, brachte einen also hier nicht weiter. Und dann war da natürlich auch noch ihr »Verhal ten« oder zumindest, wer was zuerst tat. in diesem Fall hatte ein Posleen mit einer Plasmawaffe zuerst geschossen und dann waren alle anderen Posleen seinem Beispiel gefolgt. Zum Glück feuerten sie alle auf die falsche Stelle, aber selbst ihre Fehlschüsse waren mit all den Querschlägern und der Hitze, die sie
erzeugten, mächtig interessant gewesen. Ein Stück Bergkuppe von der Größe eines Einfamilienhauses war einfach eingeebnet worden und jetzt von einem Waldbrand umgeben, der sich schnell ausbrei tete. Die Bäume, Büsche, ja sogar der Boden waren einfach nicht mehr da, und die meisten der freigelegten Felsen rauchten. Wenn sie auf das richtige Stück Berg gefeuert oder ihn entdeckt hätten, würde seine Ex-Frau ein Telegramm und einen Scheck bekommen. Nicht dass ihm das Sterben so viel ausgemacht hätte, aber dass sei ne Ex den Scheck kriegen würde, ging ihm wirklich gegen den Strich. »Ich werde wohl ein Testament machen müssen«, murmelte er und zielte auf den nächsten Posleen.
Cholosta'an hastete um den Oolt'ondai herum und legte dem älteren Kessentai die Hand auf die Brust. »Lass die Oolt'os vorangehen, Oolt'ondai«, sagte er. »Ich werde das Herz dieser Thresh essen«, stieß Orostan hervor. »Ich schwör's.« Ein Stück weiter oben auf dem Bergpfad war das Krachen einer weiteren Mine zu hören und gleich darauf der Schrei und das Pol tern eines in die Tiefe stürzenden Posleen. »Ja, Oolt'ondai«, sagte der jüngere Kessentai. »Aber das kannst du nicht, wenn du tot bist.« Der Oolt'ondai hob einen Moment lang den Kamm, ließ ihn dann wieder sinken, als weitere Oolt'os vorüberzogen. Sie waren ein steti ger Strom, der sich durch das Artilleriefeuer vorarbeitete, und der Mensch konnte diesmal einfach nicht entkommen; die andere Seite war zu steil, dass selbst einer dieser verdammten Felsenaffen sie er klettern konnte. Sie waren jetzt dem Anschein nach weit genug den Bergpfad hinaufgezogen, dass der Mensch sie nicht mehr beobach ten konnte. Aber als er sich umdrehte, sah er, wie ein weiteres Oolt in die Tiefe stürzte. Es hatte ein faustgroßes Loch im Rumpf und schlug im Fallen um sich, wobei es ein weiteres Oolt in die Tiefe riss.
Der Mensch war dort oben und setzte ihnen immer noch zu, aber Cholosta'an hatte Recht; um seine Rache wirklich auskosten zu kön nen, musste er überleben. »Na schön, Jüngling«, sagte Orostan schließlich mit einem sarkas tischen Zischen. Er trat zur Seite, um den Weg freizumachen. »Wir lassen noch ein paar weitere Oolt'os vorangehen, ja?« »Ja, Oolt'ondai«, sagte der Oolt-Kommandeur. Er erkannte ein paar von den Oolt, die den Weg hinaufzogen, erkannte sie an ihrem Aussehen und ihrem Geruch und jenem undefinierbaren Gefühl des »Gehört mir«, die ihm sagten, dass sie zu seinen Oolt'os gehörten. Aber es waren verdammt wenige. »Das zum Thema ›unentbehrlich sein‹.« »Ganz und gar nicht, Jüngling«, sagte der Oolt'ondai mit einem schwachen Kammflattern, um dem Scharfschützen nicht aufzufal len. »Du beweist erneut deinen Wert. Wie viele Kessentai in deiner Stellung hätten den Kopf gehabt, sich zurückzuhalten? Und von de nen wiederum, wie viele hätten daran gedacht, mein Ungestüm zu bremsen? Und schließlich von diesen ganz Wenigen, wie viele hät ten es wohl gewagt?« »Wenige, wenige, am allerwenigsten«, pflichtete der Kessentai ihm bei, als es oben erneut knallte. »Aber ich wünschte, dass meine Ool t'os nicht so wenige wären.« »Das werden wir ausgleichen, wenn das hier vorbei ist«, sagte der Oolt'ondai und setzte sich wieder in Bewegung. »Aber ich will dabei sein, wenn wir ihn töten.«
Mosovich streichelte seinen Abzug ein weiteres Mal und stand dann auf. Er hatte die Minen auf dem Pfad sorgfältig gezählt, und die letzte war tatsächlich die letzte. Wenn es den Posleen nicht tötete, der sie ausgelöst hatte, dann brauchte der Zentauroid nur einen kur zen Spurt, um die Bergkuppe zu erreichen. Er war zwar durch dich te Rhododendren und Lorbeergebüsch geschützt, aber dahinter
würde der Posleen Mosovich von der Flanke angreifen können, und – was noch schlimmer war – den Hinterausgang des Verstecks di rekt unter Beschuss nehmen. Mosovich verließ das Versteck, hinterließ den größten Teil der Munitionskassetten und sämtliche schmutzigen Socken Nichols'. Dort, wo er hinging, würde er weder das eine noch das andere brau chen. Er trat an den Rand der Klippe und hielt das schwere Gewehr frei und ungestützt. Er würde es nicht lange so halten können und wür de auch weiß Gott nicht viele Schüsse abgeben können. Aber dafür würde auch keine Notwendigkeit bestehen.
»Esst ihn nicht!«, brüllte Orostan, als der Knall eines Karabiners hin ter dem schützenden Gebüsch hallte. »Er gehört mir.« Die einzige Antwort darauf war ein Grummeln, das von hinter den Büschen kam, und dann hallte ein weiterer Schuss vom Berg wi der. Ein kräftiger Windstoß peitschte die Bäume, als der Gottkönig den Gipfel erreichte und sich auf den Abstieg vorbereitete. Der Pfad war unwegsam, wesentlich mehr noch als das Stück Weg, das nach oben geführt hatte, und die Büsche schlugen ihm ins Gesicht, als er schließlich ins Freie trat. Der Mensch schien darauf gewartet zu haben; Orostan würde die ses Lächeln nie vergessen. Der allem Anschein nach einzige Überle bende lächelte bloß jenes die Zähne freilegende menschliche Lä cheln, sprang nach hinten und feuerte. Und flog nach rückwärts ins Nichts.
Es hatte seine Tücken. Wie erwartet, verschaffte ihm der Schuss, der ohne Zweifel ins Leere ging, ein wenig zusätzlichen Schwung. Das Barrett hatte ihn immer ein paar Zoll nach hinten gestoßen, ganz
gleich wie sehr er sich auch dagegen gestemmt hatte, und wenn er es freihändig abgefeuert hatte, hatte es ihn bei jedem Schuss ein paar Schritte nach hinten getrieben. Indem er es jetzt völlig ungestützt, praktisch in der Luft abfeuerte, ließ ihn das tatsächlich eine Art Salto schlagen. Das Gute daran war, dass ihn der Schwung ein gutes Stück von dem Felssims wegtrieb. Er hatte die Stelle sorgfältig ausgewählt und auf einem Überhang gestanden. Aber trotzdem war die richtige Vor bereitung wichtig, schließlich neigte sich das Terrain erst nach ein paar hundert Fuß. Das statische Abseilsystem war eines der ersten Systeme, das in ei nem ausschließlich von Menschen entwickelten und gebauten Gerät galaktische naturwissenschaftliche Erkenntnisse verwirklichte. Men schen hatten »alte« galaktische Technik eingesetzt, die teilweise wei ter fortgeschritten war als menschliche Technik und Theorie. Am verbreitetsten waren die neuen Kanonenrohre, aber es gab auch vie le kleine Railguns, die für Menschen gebaut waren, und Fusions kraftwerke »rein menschlicher Konstruktion«, die nur fünf- oder sechsmal so groß wie entsprechende galaktische Geräte waren und etwa ein Drittel von deren Leistungsfähigkeit hatten. Dieses Gerät war das erste, das Theorien einsetzte, die jenseits menschlicher Erfahrungen lagen. Die Tchpth hielten Schwerkraft bestenfalls für eine Art Spielzeug und schlimmstenfalls für lästig. Ei nige ihrer »einfacheren« Theorien konnte man auch Menschen erklä ren, so zum Beispiel die Theorie, die hinter dem galaktischen Sprungrohr stand. Wenn Indowy in ihren Megascrapers nach oben oder unten fahren wollten, taten sie das gewöhnlich in Sprungrohren. Dabei handelte es sich um ein enges Rohr, das in ein bestimmtes Stockwerk führte. Man trat hinein, und sobald man unten war, schoss es einen nach oben und wenn man oben war, ließ es einen in die Tiefe rasen, wo man schreiend (am Anfang buchstäblich) zum Stillstand kam. Men schen brauchten eine Weile, bis sie herausfanden, dass Sprungrohre,
wenn es ums Heben ging, »aktive« Geräte waren, während sie bei der Fahrt in die Tiefe »passiv« waren. Das heißt, ein Gerät unten entdeckte, dass etwas mit hoher Geschwindigkeit hereinkam, er zeugte ein schwaches Kraftfeld, das den Gegenstand abbremste, so bald er auf das Feld traf, und dabei seine eigene positive Schwung kraft als Energie benutzte. Die Tchpth und Indowy hielten dies einfach nur für effizient. Die Menschen betrachteten es ursprünglich als eine Art Zauberei. Eine Physikstudentin am CalTech nahm sich des Themas an, arbei tete ein paar Tage durch, rauchte ein größeres Quantum einer streng verbotenen Substanz, duschte dann lange und gründlich und ge langte zu der Erkenntnis, dass man nur einige der Dinge, die die Tchpth erklärten, ein wenig herumdrehen musste … irgendwie, es war schließlich gutes Zeug … dann machte es plötzlich Sinn. An schließend schrieb sie es nieder und schlief dann drei Tage am Stück. Nachdem sie das Geschriebene entziffert hatte – es sah eher aus wie Sanskrit –, baute sie einen kleinen Kasten, der »zurückwarf«, wenn man ihn gegen eine Wand warf; das »Ding« benötigte nicht mehr Energie als ein winziger Sensor, und es »warf« immer zurück, selbst wenn man es aus einer Druckluftkanone abfeuerte. (Die Kano ne hieß »Hühnerkanone« und wurde gewöhnlich dazu benutzt, die Windschutzscheiben von Flugzeugen zu erproben. Aber das ist wie der eine völlig andere Geschichte.) Im Augenblick gab es eine obere Grenze für das Gerät: Falls es mit sehr hoher Geschwindigkeit abge feuert wurde, zerbrach häufig die Windschutzscheibe, und es eigne te sich auch besser dazu, sich selbst abzubremsen als Dinge, die auf es zukamen. Es war also kein »persönliches Kraftfeld«. Mit anderen Worten, es bot eine sehr schnelle Möglichkeit, relativ sicher auf den Boden zu kommen. Das Gerät wurde modifiziert und angepasst, bis es sich nicht nur selbst anhalten konnte, sondern eine »statische Repulsionszone« er zeugte, die in Fällen plötzlicher kinetischer Veränderungen diese
Veränderung dämpfte. Dann übergab man es an TRW mit dem Auf trag, es in Serie herzustellen. Das Gerät wurde in jedes noch auf den Straßen angetroffene Fahrzeug und auch an anderen Orten einge baut, wo plötzliches Anhalten Probleme mit sich brachte. Und es wurde an sämtliche Kundschafterteams ausgegeben. Mosovich blickte in die Tiefe, die ihm schnell entgegenraste, und legte einen heiligen Eid ab, dass er so etwas nie, nie wieder tun wür de. »Aber es ist ja nicht der Sturz, der einen umbringt«, flüsterte er. Im Allgemeinen ist die beste Methode, an einer steilen Felsklippe oder einer Gebäudewand nach unten zu kommen, die, sich abzusei len. Also ein Seil irgendwo festzubinden, alle möglichen Geräte dar an zu befestigen und sich dann an dem Seil in die Tiefe zu lassen. Aber es gibt einige Fälle, wo das nicht praktiziert werden kann; so sind Seile beispielsweise nicht beliebig lang. Es gab da auch ein an deres Gerät, das für denselben Zweck einen sehr dünnen Draht be nutzte. Mosovich wünschte sich sehnlich, jetzt ein solches Gerät zu haben. Aber diese Geräte waren viel schwerer zu konstruieren als die statischen Repulsionsboxen und außerdem nicht allgemein ver fügbar. Doch wenn man bedachte, wie oft so etwas passierte, würde er jedenfalls entschieden dafür sorgen, dass jedes Mitglied seines Teams eines bekam und es dann auch nicht mehr hergab. Das Problem war, dass statische Repulsionssysteme den Fall über haupt nicht verlangsamten, bis sie in die Nähe von massiven Stoffen kamen. Die Bäume, auf die er gleich aufprallen würde, würde dieses System beispielsweise völlig ignorieren …
»Fuscirto uut!«, schrie Orostan, sprang über die Leiche des letzten Oolt'os und schoss zum Klippenrand. Seine Krallen rutschten knir schend über das Felsgestein, und er wäre fast in die Tiefe gestürzt, als er sich schließlich so weit vorbeugte, um zu sehen, wie der Mensch unten zwischen den Bäumen verschwand.
»So leicht entkommst du mir nicht!«, brüllte der Oolt'ondai in den Wind und wusste doch, dass das eine Lüge war. »Ich werde trotz dem dein Herz essen!« Orostan blickte über das Tal in der Tiefe und schrie vor Wut auf. Die Sonne versank im Nordwesten, und ehe jemand die Stelle errei chen würde, würde der Mensch, wenn er am Leben war – und er be zweifelte, dass er gerade Selbstmord begangen hatte – bereits Kilo meter weit entfernt sein. Und das in drei möglichen Richtungen. Cholosta'an überlegte einen Augenblick. »Als wir das letzte Mal gezählt haben, war das bei der Stadt Seed. Es waren vier.« »Ja«, bestätigte Orostan. »Vier.« »Und jetzt war es nur einer«, meinte Cholosta'an. »Einer. Und kei ne Leichen.« »Nein.« »Oh. Fuscirto uut.« »Ich werde jemanden schicken, um nach Leichen zu suchen«, sagte Orostan, nachdem er ein paar Augenblicke nachgedacht hatte. »Aber ich bezweifle, dass die etwas finden werden.« Er sah sein Tenaral an und fragte sich, wen er schicken sollte. Schließlich wand te er sich ab und begann den Hügel hinunterzusteigen. Heute moch te der Mensch ihm entkommen sein, aber ohne Zweifel hatte er sei ne »Basis« hinter der Rabun-Lücke. Seine Zeit würde kommen. Bald.
Als das letzte Posleen-Normale seiner Sicht entschwand, ging eine wellenförmige Bewegung über den »Felsen«, auf dem Mosovich ge standen hatte, und verwandelte sich in etwas, das aussah wie ein vieräugiger violett gefleckter Frosch. In ausgestrecktem Zustand würde das Lebewesen von einer vierfingrigen Fußhand zur anderen etwa zweieinhalb Meter messen. Es war völlig symmetrisch aufge baut; besaß vorne und hinten je zwei Hände und zwei Augen und
dort, wo man vielleicht eine Nase erwartet hätte, ein recht kompli ziertes Gebilde. Der Himmit-Späher beugte sich von dem Felsen nach draußen und hielt sich mit den zwei hinteren Fußhänden an der Oberfläche fest. Er beobachtete die sich entfernende schwache Wärmesignatur, bei der es sich wahrscheinlich um den Menschen handelte. Dann he belte er sich zurück und sah den sich entfernenden Posleen nach. Solche Entscheidungen. Mensch/Posleen, Mensch/Posleen? Schließ lich entschied er, dass Menschen immer interessanter waren als Pos leen – die im Grunde genommen aßen, töteten und sich fortpflanz ten, und wer konnte daraus schon eine Story machen? –, lehnte sich zur Seite und floss langsam von einem Griff zum nächsten die Klip pe hinunter. Aufregende Zeiten.
14 Rochester, New York, Sol III 0928 EDT, 15. September 2014
Mike sah sich in dem Raum um und löste dann die Verriegelung sei nes Helms. Befehlsstelle und Stab der 1st/555th waren in einem Kin dergartenzimmer untergebracht; sie saßen auf dem Boden, um die viel zu kleinen Tische nutzen zu können. Die von zahllosen Kämp fen verschrammten Kampfanzüge bildeten einen schrillen Kontrast zu den Buntstiftzeichnungen an den Wänden und dem Plakat mit den fünf Nahrungsgruppen. »Na ja, wir haben schon schlimmere Sitzungen gehabt.« Er schmunzelte, als der letzte Rest der Gelunterschicht seines Anzugs in seinen Helm strömte. »Viel schlimmere.« »Das schon«, nickte Duncan und stellte seinen Helm vorsichtig auf das Pult vor ihm. Der Piastahl war immer noch schwer und hart ge nug, um die Strichzeichnung eines kleinen Mädchens, unter der »Ashley« stand, zu zerkratzen. »Wenigstens schießt keiner auf uns.« »Das steht uns aber ziemlich bald wieder bevor«, meinte Mike. Er schob seinen Priem von einer Backe in die andere und spuckte in seinen Helm. Die Nanniten der semibiotischen Unterschicht sam melten den widerlichen Klumpen auf, der aus ihrer Perspektive aus nichts anderem als Feuchtigkeit, Nährstoffen und komplexen Koh lenstoffmolekülen bestand, und trugen das Gemenge zur Wieder verarbeitung weg. »Überall am Rand der großen Ebene haben sich Gruppen von Posleen eingenistet. Wir werden die nächste, vielleicht auch die übernächste Woche mithelfen, da Ordnung zu schaffen.
Anschließend sollen wir nach Befehl von Horner in unsere Kasernen zurückkehren und uns ein wenig ausruhen. Wenn man bedenkt, dass wir uns ohne die Alpha-Kompanie neu konsolidieren mussten, denke ich, dass das auch angebracht ist.« »Kasernen, haben wir so etwas?«, fragte Stewart und schmunzelte. »Ich meine richtige Kasernen, die uns gehören und all das? Oder ge hen wir in ›Reha‹-Kasernen?«, fügte er hinzu und verzog dabei das Gesicht. Die wurden von den Landstreitkräften betrieben und waren von höchst unterschiedlicher Qualität. »Unsere.« O'Neal grinste. »Ich habe sie die ganze Zeit in den Bü chern gehabt. Sie sind in den Bergen, in Pennsylvania. Newry heißt das Kaff, ein Stück südlich von Altoona. Wir haben sogar eine Ver sorgungstruppe.« »Tatsächlich?«, fragte Duncan amüsiert. »Ich hätte immer gedacht, dass man als S-3 über solche Dinge Bescheid weiß.« »So groß ist die nicht«, erklärte Mike. »Und man hat sie von den Landstreitkräften abgezweigt. Aber es gibt einen Versorgungsoffi zier und eine Personalabteilung.« »Und diese Kasernen?«, fragte Captain Slight. »Haben die auch Betten und so?« »Aber ja doch.« O'Neal grinste wieder. »Ich bin nicht sicher, ob man noch weiß, wie man in so etwas schläft; das letzte Mal, als ich es versucht habe, habe ich mich die ganze Nacht rumgewälzt.« »Ich denke, die Leute werden sich schon daran gewöhnen«, mein te Gunny Pappas, der inzwischen seinen Helm abgenommen hatte. »Die brauchen wirklich ein wenig Zeit zum Ausruhen. Und an unse rem Gerät gibt's auch einiges zu tun, selbst an den GalTech-Sachen.« »Das werden wir alles erledigen«, erklärte Mike. »Ich habe es fol gendermaßen geplant. Wir sollten, vorausgesetzt, wir bekommen die nötigen Transportmittel rechtzeitig, am Montag oder Dienstag eintreffen. Einen Tag werden wir damit verbringen, unsere Kaserne und unser Gerät sauber zu machen und die Anzüge einzulagern. Dann sollten wir uns ein oder zwei Tage auf dem Kasernengelände
daran gewöhnen, wieder unsere Seide zu tragen und die Monturen in Ordnung zu bringen. Am Freitag machen wir richtig ›Dienst schluss‹ mit allem Drum und Dran: Stuben und Revierdurchgang, Soldzahlung, Antreten im großen Dienstanzug und anschließend Ausgang bis Dienstagmittag.« »Wissen Sie, ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie das alles läuft«, sagte Captain Holder. »Ich glaube ganz ehrlich, einige von den Leuten halten das für … na ja …« »Korinthenkackerei, Sir?«, sagte Gunny Pappas. »Da bin ich bei al lem gebotenen Respekt anderer Ansicht, Captain …« »Ich auch«, fiel Stewart ihm ins Wort. »Und das sage ich gerade, weil ich nicht immer Offizier war. Unsere Leute sind alle Freiwillige. Man kommt nicht an den Punkt, wo wir jetzt sind, ohne auch zu be greifen, dass es für all den Klimbim in der Garnison auch gute Gründe gibt. Klar, draußen im Feld, wenn es ernst wird, denkt man nicht daran, aber die besten Soldaten, alles, was sich Eliteeinheit nennt, haben auch immer großen Wert auf eine schneidige Uniform gelegt.« »Ja, die Waffen-SS zum Beispiel«, meinte Duncan. »Die wussten wirklich, wie man eine Uniform trägt.« »Die 82nd«, fügte Captain Slight hinzu. »Die hat man hauptsächlich deshalb nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa als Ehrengarde ein gesetzt, weil sie ihre Uniformen immer perfekt in Schuss hatten. Und an ihren Kampfeinsätzen konnte keiner was aussetzen.« »Die SAS in Rhodesien und die Selous Scouts«, pflichtete O'Neal bei. »Zwei der härtesten Gruppen, die es nach dem Kalten Krieg gab, und in der Garnison sind sie herumstolziert wie die Pfauen. Dad hat seine Uniform immer noch, sie sieht aus wie aus einer un garischen Operette.« »Okay, okay«, sagte Captain Holder und hob beide Hände. »Aber wissen die Leute das?«
»Wir geben ihnen die Abende frei«, sagte Mike. »Ausgehscheine; sie müssen bis zum Zapfenstreich wieder in der Kaserne sein. Dafür gibt es Gründe. Gunny?« »Man reißt Soldaten nicht einfach aus dem Kampfeinsatz heraus und lässt sie auf eine Stadt los, Sir«, meinte Gunny Pappas und nick te. »Man muss sie zuerst … akklimatisieren.« »Wir verpassen denen eine Woche ›Korinthenkacken‹, um sich zu akklimatisieren, und eine Woche für die Stadt, um sich an den Ge danken zu gewöhnen und sich mehr oder weniger vorzubereiten. Und anschließend bekommen sie ein Wochenende frei. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir mehr als zwei Wochen, allenfalls einen Monat Garnisonszeit haben. Die sollen sich ein bisschen entspannen und dann trainieren wir wieder und dann …« »Fangen wir wieder an, Posleen zu töten«, sagte Duncan und knurrte dabei. »Eben das, was wir am besten können«, pflichtete Mike ihm bei. »Bekommen wir denn Ersatz, Sir?«, fragte Pappas. »Wir fangen allmählich an, ein wenig knapp zu werden, unterbesetzt, falls das noch niemand bemerkt hat.« »Zwölf Anzüge sind in der Pipeline«, erklärte O'Neal. »Die sollten auf uns warten, wenn wir nach Newry kommen.« »Und Leute?«, wollte Captain Slight wissen. »Selbst wenn man die mitzählt, die wir von Alpha bekommen haben, sind wir noch unter besetzt.« »Und Leute«, nickte Mike. »Bis die Anzüge da sind, sollten die auch da sein, damit wir ihnen die Anzüge anpassen können. Wie ich höre, sollen wir sogar ein paar von den Zehntausend kriegen.«
»Ach-tttung!«, brüllte Sunday, als Colonel Cutprice den Raum betrat. Der Konferenzraum gehörte zu einer schon lange verlassenen Fa brik westlich des Genesee River. Die Explosionswellen der SheVa-
Granaten, die praktisch das ganze Gelände östlich des Genesee dem Erdboden gleich gemacht hatten, hatten sämtliche Fensterscheiben in dem Raum zertrümmert, und als Cutprice jetzt den Raum betrat, schritt er über knirschende Glasscherben. Aber das war immerhin besser, als im Freien zu sein; der Regen hatte wieder eingesetzt, und es sah so aus, als würde er bald in Schnee übergehen. »Rühren«, sagte Cutprice und ging auf die Gruppe aus vier Solda ten zu. Er hatte Mansfield im Schlepptau, der ein paar Schachteln trug, sowie den Sergeant Major, der ebenfalls beladen war. »Rauchen Sie ruhig, wenn Sie was haben«, fuhr er fort, ließ den Worten die Tat folgen und zog ein Päckchen Dunhill heraus. Die waren recht schwer zu bekommen, deshalb sparte er sie sich für be sondere Gelegenheiten auf. »Sie fragen sich vielleicht, weshalb ich Sie hierher bestellt habe und all das …« Er lächelte und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Schachteln. »Man hat sie alle von anderen Einheiten zu uns ver setzt und als Sie hierher kamen, haben wir Sie um eine Rangstufe zurückgestuft, um ganz sicher zu sein, dass Sie das auch schaffen, was man von Ihnen erwartet, dass Sie nicht bloß Garnisonshengste mit erstklassigen Beurteilungen und keinem Herzen für den Krieg sind.« Er sah Sunday an und schüttelte den Kopf. »Aber dann hat sich gezeigt, dass Sie alle das sind, was die Zehn tausend wollen; Krieger von ganzem Herzen, verrückte Motherfu cker, die scharf darauf sind, Posleen zu erledigen, Leute, die bereit sind, immer wieder ins Feuer zu gehen und nie zurückzuzucken.« Er schüttelte wieder den Kopf, diesmal besorgt. »Und jetzt verlieren wir euch an diese Mistkerle von der GKA.« »Na ja, aber diese GKA-Mistkerle tun ja das Gleiche«, meinte er dann und griff nach der ersten Schachtel. »Die nehmen Ihnen einen Streifen weg, sobald Sie dort eintreffen, bloß um ganz sicher zu sein, dass Sie das sind, was sie sich wünschen. Und dann stopfen sie Sie in eine Blechdose, bis Sie aussehen wie ein Wurm, der unter einem
Stein herausgekrochen ist.« Er warf einen Blick auf den Zettel, der an der Schachtel hing, und nickte. »Sunday, schwingen Sie Ihren Hintern hier herüber«, knurrte er. »Ich weiß nicht, ob Ihre alte Einheit das getan hat, ehe Sie hierher gekommen sind, aber die hätten das jedenfalls tun sollen. Die meis ten von Ihnen werden eine Rangstufe befördert, ehe sie hier wegge hen, auf die Weise haben Sie den Rang, den Sie sich weiß Gott ver dient haben, wenn Sie bei diesen Blechheinis anfangen. Die Ausnahme«, fuhr er fort und blickte zu Sunday auf, »sind Sie, Tank. Ich hatte schon eine Weile vor, das zu tun, und ich weiß nicht, weshalb ich so lange dazu gebraucht habe.« Er sah zu Mansfield hinüber und sah dann wieder weg. »Irgendwelche Probleme mit der Bürokratie. Jedenfalls werde ich Ihnen jetzt für alle Zeit Ihr Leben vermasseln. Sind Sie bereit?« »Yes, Sir«, sagte Sunday verwirrt. »Was immer Sie für richtig hal ten.« »Okay, wenn Sie so viel Vertrauen haben«, meinte Cutprice mit ei nem bösartigen Grinsen, »dann haben Sie das verdient. Achtung …« »Staff Sergeant Thomas Sunday junior wird am 17. September 2014 aus dem Dienst der Landstreitkräfte der Vereinigten Staaten entlassen mit dem Ziel, ein Offizierspatent als regulärer Offizier der Landstreitkräfte der Vereinigten Staaten zu übernehmen und gleich zeitig wieder als First Lieutenant in die Bodenstreitkräfte der Verei nigten Staaten einzutreten. First Lieutenant Thomas Sunday junior wird hiermit angewiesen, am 17. September 2014 seinen Dienst mit dieser Rangstufe anzutreten.« Cutprice hörte zu lesen auf, griff in die Tasche, zog ein paar ziemlich abgewetzte Spangen eines First Lieutenant heraus und tauschte sie gegen die Staff-Sergeant-Kragen streifen Sundays aus. »Dafür schulden Sie mir übrigens nichts, die lagen schon eine ganze Weile in meiner Schublade.«
»Also gut, Orostan«, sagte Tulo'stenaloor. »Ich werde Shartarsker herschicken, um sicherzustellen, dass die nicht näher an die Basis herankommen.« Er sah auf die Karte und ließ sich den Bericht noch einmal durch den Kopf gehen, den der Oolt'ondai eingeschickt hat te. »Glück auf.« Goloswin blickte von dem Sensordisplay auf. »Läuft es nicht gut?« »Das Team ist allem Anschein nach entkommen«, sagte Tulo's tenaloor. »Nachdem es Orostans Oolt'ondar gewaltig zugesetzt hat.« »Also, im Sensorbereich sind sie nicht«, meinte Goloswin und wies dabei auf die Landkarte. »Zumindest sind sie hier nicht angezeigt. Ich weiß nicht, ob das geht. Es gibt eine Möglichkeit, ohne andere Geräte mit diesen Boxen in Verbindung zu treten, aber das setzt vor aus, dass die Menschen so geschickt sind wie ich.« »Es könnte also sein, dass sie zwar im Sensornetz sind, wir das aber nicht wissen?«, fragte Tulo'stenaloor. »Ja«, antwortete Goloswin und sträubte seinen Kamm. »Es gibt eine Möglichkeit, ihre Software so zu modifizieren, dass sie Men schen entdecken können. Die Sensoren ›sehen‹ die Menschen, aber sie sehen auch die Thresh der Wälder und all die größeren Thresh dieses Planeten. Die ›Rehe‹ und ›Hunde‹ und dergleichen, die über lebt haben. Die Menschen haben die Systeme so konstruiert, sehr ef fizient darf ich übrigens hinzufügen, dass sie die aufgenommene In formation auf verschiedene Weise sortieren. Sie sortieren alles außer Posleen und Menschen aus, die ›im Netz‹ sind, und teilen dem Netz mit, dass sie da sind und angepeilt werden wollen. Deshalb würde ich all die Boxen auffordern müssen, ihre Filter zu ändern, um Men schen zu finden. Und selbst dann würde das Netz annehmen, dass die Menschen sich nicht auf unterschiedliche Weise tarnen. Ich könnte das tun – schließlich bin ich schlau. Aber die Menschen könnten, ja würden es wahrscheinlich bemerken. Sie verfügen leider ebenfalls über geschickte Techniker.« »Und dann würden sie wissen, dass wir … wie würdest du das formulieren?«, fragte Tulo'stenaloor.
»Sie würden wissen, dass sie ›gehackt‹ worden sind«, antwortete Goloswin. »Dass wir ihre Systeme ›übernommen‹ haben.« »Das wollen wir nicht tun«, sinnierte Tulo'stenaloor. »Noch nicht.« »Was wollen Sie unterdessen tun?«, fragte Goloswin. »Oder kann ich weiterbasteln?« »Nur eine letzte Frage noch«, sagte der Kriegsführer. »Kannst du das System so einstellen, dass es die Po'oslena'ar ›ausfiltert‹?«
Wendy schüttelte den Kopf, als sie Elgars dabei zusah, wie sie ihre Fitnessübungen beendete. Sie beendete ihr Programm immer mit ei ner für sie typischen Übung: Ein Gewicht, in diesem Fall zwei Han teln, die zusammen fünfundzwanzig Kilo wogen, hatte sie an ein Seil gebunden, das seinerseits um einen Pflock gewunden war, ge nauer gesagt einen abgehackten Besenstiel. Elgars »kurbelte« die beiden Hanteln in die Höhe, indem sie das Seil mit beiden Händen verdrehte, hinauf und langsam wieder her unter, fünfzigmal. Wendy hätte sich glücklich gepriesen, es fünfmal zu schaffen. »Die Übung habe ich aufgegeben«, sagte Wendy etwas kleinlaut. Gewöhnlich trainierten sie beide etwa eine Stunde täglich miteinan der und wechselten dabei zwischen Kraftübungen und solchen ab, die mehr dem Kreislauf dienten. In letzter Zeit hatten sie sich aller dings mehr auf Gewichtetraining verlegt; Wendy bemühte sich um eine Position beim »professionellen« Notdienst und Elgars war ihr dabei behilflich. Heute hatte Wendy es bei Aufwärmübungen belas sen; wenn sie dann fertig waren, würde sie zur Prüfung gehen, und dieser Quälerei wollte sie sich nicht nach einem kompletten Fitness programm unterziehen. »Du solltest mit einem leichteren Gewicht anfangen und dich dann langsam hocharbeiten«, sagte der weibliche Captain. »Das ist gut für die Handgelenke.«
»Das sieht man«, gab Wendy zu und musterte die Gelenke von El gars; allmählich sahen sie so wie die von Popeye, dem Seemann, aus. »Das hilft einem unter anderem beim Leitersteigen und dem meis ten anderen Zeug bei deiner Prüfung auch.« »Ja, na schön, da sollte ich dann jetzt wohl hingehen«, sagte Wen dy mit einem Anflug von Nervosität. »Irgendwann einmal werde ich kapieren, weshalb man hier eine Feuerwehr braucht«, sagte Elgars, wischte sich das Gesicht mit ei nem Handtuch ab und schlang es sich dann um den Hals. »Jeder Brand, der hier ausgebrochen ist, war bereits gelöscht, ehe die Feu erwehr kam; dafür hat man ja Sprinkler und Halon. Ich glaube, das ist in Wirklichkeit bloß eine aufgeblasene Reinemache-Crew.« »Na ja, wenigstens hat man das Gefühl, etwas Vernünftiges zu tun«, erwiderte Wendy scharf. »Und sich um brüllende Kinder zu kümmern ist nichts?«, fragte Elgars mit einem schmallippigen Lächeln. »Hast du denn vor, das dein ganzes Leben lang zu tun?«, fragte Wendy. »Nein«, erklärte Elgars und verließ das Studio als Erste. »Aber dann ist es ja auch so, dass du nicht plötzlich den Drang verspürst, diese kleinen Mistkerle einfach zu erwürgen.« »Du kommst doch gut mit Billy aus«, sagte Wendy und lächelte ih rerseits ein wenig verkniffen. »Ja, weil er überhaupt nichts sagt.« »Na schön, mag ja sein«, schnappte Wendy. »Du warst nicht in Fredericksburg, du kannst dir nicht vorstellen, wie das war.« »Nein, kann ich nicht.« Elgars nickte. »Vielen Dank, dass du mich daran erinnert hast. Ich war nicht in Fredericksburg und würde mich ohnehin nicht erinnern können.« Wendy blieb stehen und sah den weiblichen Offizier einen Augen blick lang an. »Wann haben wir eigentlich angefangen zu streiten?«
Elgars blieb ebenfalls stehen und legte den Kopf zur Seite. »Ich glaube, als ich über die Feuerwehr gemeckert habe.« »Okay«, gab Wendy sich zufrieden. »Meckern tut einem ja manch mal gut. Ja, ich bin diese Tagesstätte wirklich leid. Das war ich schon, als das hier zum größten Teil noch eine offene Kaverne war und wir bloß ein paar hundert mitgenommene Virginier hatten. Und jetzt geht es mir echt auf den Geist. Ich habe mit angesehen, wie diese Kinder ohne einen Sonnenstrahl und ohne richtige Spiel plätze aufwachsen, und ich schaffe das einfach nicht mehr. Ich bin es leid, ihnen die Nase zu putzen. Ich bin es leid, nichts Wichtiges zu tun. Ich bin es leid, dass man mich wie eine Bruthenne behandelt, ganz besonders, weil der einzige Typ, mit dem ich zu sammen sein möchte, NIE HIER IST!« »Okay«, sagte Anne Elgars und hob die Hand. »Hab's schon ka piert.« »Und was Billy angeht«, fuhr Wendy fort, während sie den Korri dor hinuntergingen, »Shari war die Letzte, die den Central Square verlassen hat. Billy … hat sich umgesehen.« »Ich weiß nicht, was das bedeutet«, seufzte Elgars. »Central Squa re, was ist das oder wo ist das?« »Das war die große Shopping Mall, ein Stück außerhalb von Fre dericksburg«, erklärte Wendy geduldig. »Die Posleen sind mitten auf dem Parkplatz gelandet. Shari ist einfach … weggegangen. Sie hat Susie getragen und Kelly und Billy geführt. Billy … hat sich um gesehen. Und seitdem stimmt etwas nicht mit ihm.« »Okay«, sagte Elgars geduldig. »Ich verstehe es immer noch nicht. Sich umgesehen? Nach der Shopping Mall? Was immer das ist.« »Die Posleen haben … die Leute dort gegessen.« »Ah.« Elgars ließ sich das kurz durch den Kopf gehen. »Das wäre schlecht.«
»Und offensichtlich sind sie … vorgerückt … auf Shari zu. Sie sag te, sie weiß das nicht genau, weil sie sich nicht umsehen wollte. Aber Billy hat sich umgesehen.« »Okay«, sagte Elgars mit gefurchter Stirn. »Ich denke, das wäre schlimm.« »Du verstehst das nicht, oder?«, fragte Wendy. Ihr war schon auf gefallen, dass die Scharfschützin manchmal geradezu unmenschlich begriffsstutzig sein konnte. »Nein«, gab Elgars zu. »Es war wie in einem Albtraum«, sagte Wendy und schauderte. »So ein Traum, wo einen jemand verfolgt und du einfach nicht weg kommst, ganz gleich wie schnell du läufst. Die Psychiater meinen, dass … sich bei ihm da irgendetwas verhängt hat. Dass er vielleicht an nichts anderes denken kann; er erlebt ständig diesen Albtraum. Immer wieder.« »Ich versteh's immer noch nicht«, erklärte Elgars. »Ich habe diesen Albtraum nicht.« »Nicht?«, fragte Wendy. »Niemals?« »Einmal hatte ich ihn«, gab Elgars zu. »Aber da habe ich mich um gedreht und das Ding umgebracht, das hinter mir her war.« Sie schauderte. »Das war wieder eine von diesen Krabben, nein … äh, einer von diesen Oktopussen.« »Oktopusse?« Wendy blieb stehen und drehte sich zu Elgars her um. »Welche Oktopusse?« »Träumst du nicht von riesigen lila Oktopussen?«, fragte Elgars überrascht. »Ich schon. Normalerweise sehe ich von außerhalb zu und die zerren mir mein Hirn heraus. Es sieht aus wie lauter herum wimmelnde Würmer, und die legen es auf einen Tisch und schlagen mit Hämmern auf die Würmer ein, damit sie aufhören, sich zu rin geln. Jedes Mal, wenn sie einen von den Würmern treffen, spüre ich das in meinem Kopf. Hast du diesen Traum nie?«
Anfänglich war Wendy noch erstaunt gewesen, aber inzwischen war daraus eine Art Schock geworden und sie starrte ihr Gegenüber aus geweiteten Augen an und schüttelte den Kopf. »Nee. Und gera de weil du meine Freundin bist, muss ich zugeben, dass das unter die Kategorie ZVI fällt.« »ZVI?«, wiederholte Elgars verständnislos. »›Zu Viel Information‹.« »Ich wäre übrigens nicht weggerannt.« »Auch nicht mit drei Kindern, für die du verantwortlich bist?«, fragte Wendy. »Äh …« Elgars blieb stehen, überlegte. »Wahrscheinlich hätte ich trotzdem gekämpft. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, vor den Posleen wegzurennen. Ich denke, da hat man nicht die leiseste Chance.« »Shari lebt«, gab Wendy zu bedenken. »Und ihre Kinder auch. All die anderen Leute, Erwachsene und Kinder, die dort waren, sind tot. Wenn du nichts hast, womit du denen standhalten kannst, hast du keine Chance, wenn du einfach stehen bleibst.« Elgars zuckte die Achseln, als sich beiderseits ein Paar mächtiger Blastplas-Türen, vergleichbar einer Luftschleuse, in die Wände scho ben. Der Raum, der sich dahinter auftat, war gewaltig: so hoch, dass man zunächst die Decke gar nicht erkennen konnte, er maß in der Breite wenigstens sechzig Meter und war, wie jetzt zu erkennen war, noch höher als breit. Die Wände waren weiß gefliest, und an der Decke hoch über ihnen drehten sich gewaltige Ventilatoren. Mitten in dem Saal befand sich ein Bauwerk aus vitrifiziertem Stein, das wie ein etwa sechsstöckiges Gebäude aussah, aber es war über und über mit schwarzem Ruß bedeckt, und Dutzende von Roh ren ragten daraus hervor. Die vielen Fenster hatten alle keine Schei ben, und die Ränder waren gesprungen, als ob man darauf einge hämmert hätte oder vielleicht auch, als ob das Ganze intensiver Hit ze ausgesetzt gewesen wäre. Eine Anzahl von Laufgängen führte zu Leinen, die von der Decke hingen.
Unten säumten Hunderte kleiner Öffnungen die Wände. Als El gars und Wendy jetzt die Halle betraten, sprangen die Ventilatoren an der Decke mit gedämpftem Heulen an, und aus den nächstgele genen Öffnungen war ein schwacher Zug zu verspüren. Die Ventila toren saugten die Luft im Raum so schnell an, dass der Druck sich davon verringerte; ohne die Luftdüsen an den Wänden, woher auch immer sie versorgt wurden, wäre es zweifellos zu einem Orkan ge kommen. An den Wänden waren Spinde und Rettungsgerät aufgereiht, und näher bei dem Gebäude in der Mitte standen einige von den »Brand karren«, die die Rettungsteams für den Transport in der SubUrb be nutzten. Die Karren erinnerten an große Golfwagen mit einer Hoch druckpumpe und hinten mit Tragegestellen für Rettungsgerät. Wenn man die Pumpe entfernte, konnten sie auch als Ambulanzen eingesetzt werden. In dem Raum waren vielleicht zwanzig Menschen versammelt, meist Frauen in, wie zu erkennen war, guter bis hervorragender Kondition. Elgars hatte ein paar von ihnen kennen gelernt, als Wen dy zu ihren Notdienst-Treffen ging, und musste zugeben, dass Wen dy in körperlicher Hinsicht etwa im mittleren Bereich war. Wendy trainierte jeden Tag, aber sie hatte einfach nicht die Figur für beson dere Stärke, ganz besonders nicht im Oberkörperbereich; unter an derem gab es da gewisse Körperteile, die einfach im Weg waren. Außerdem reichte offenbar ein Training einmal am Tag nicht ganz aus; mehr als die Hälfte der Frauen, die hier auf die Prüfung warte ten, sahen wie weibliche Triathletinnen aus; ihre Arme waren mit Muskelsträngen bepackt und ihre Brüste so geschrumpft, dass man sie kaum noch wahrnehmen konnte. Eine Gruppe, zehn an der Zahl, in der üblichen Tagesuniform der Rettungsteams, dunkelblauen NomexOveralls, stand ihnen gegen über. Es waren ausschließlich Frauen, und die meisten wirkten, als stammten sie aus einer Anzeige für irgendein Bodybuilding-Maga zin. Elgars ging der recht unfreundliche Gedanke durch den Kopf, dass sie Türen wahrscheinlich öffneten, indem sie sie mit dem Kinn
aufmeißelten. Vor ihnen stand eine ältere Frau in einem grellroten Overall. Als Wendy zu der Gruppe trat, sah die Frau auf die Uhr und nickte. »Okay, ich denke, jetzt sind alle hier, die es probieren wollen«, sagte die Feuerwehrchefin. Eda Connolly war bei der Feuerwehr von Baltimore Lieutenant gewesen, bis sie eine höflich formulierte Anordnung erhalten hatte, sie solle Baltimore verlassen, weil sie »für Verteidigungsbedürfnisse überflüssig« sei. Sie hatte dann fest gestellt, dass sie zu den ganz wenigen voll ausgebildeten Notfallhel fern in diesem Loch gehörte, hatte aber in den letzten vier Jahren eine Abteilung aufgebaut, auf die man stolz sein konnte. Und sie hatte nicht das geringste Interesse daran, ihre Maßstäbe niedriger anzusetzen. »Sie wissen alle, weshalb Sie hier sind«, fuhr sie fort und wies da bei hinter sich. »Sie wollen zum Notdienst gehören und nicht in ir gendeinem Loch stecken, in das man Sie geschickt hat. Schön«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort und nickte. »Ich würde das auch gerne sehen. Ich denke, wenn wir dreimal so viel Personal hätten, wäre das großartig; wir erleben nur zu oft, dass wir unsere Aufgabe einfach nicht schaffen, weil wir nicht genügend Leute haben. Aber diejenigen, die wir haben, können jede Aufgabe erledigen, die erledigt werden muss. Und das ist in diesem Loch nicht immer ganz leicht. Zwei Millionen Menschen gibt es in diesem Loch hier. Zwei Mil lionen Menschen, die jeden Tag aufs Neue neue Methoden entde cken, um sich wehzutun. Arme, die in Abflüsse geraten, Messerste chereien, Schießereien, Industrieexplosionen. Dann gibt es Getrei deaufzüge, die Feuer fangen – und wenn man da die Ventilation ab schaltet, fliegt die ganze Chose einfach in die Luft. Dann gibt es Che miefabriken und Duschen, in denen man ausrutschen und stürzen kann, und viertausend Fuß senkrechte Luftschächte, durch die man che Kinder es schaffen, nach draußen zu klettern und dann durch zudrehen.
Und alles, was dafür sorgt, um sie am Leben zu halten, wenigstens die Hälfte der Zeit, sind diese Frauen hier«, sagte sie und deutete wieder hinter sich. »Jede Einzelne von ihnen hat diesen Test bestan den. Und dann, ehe ein oder zwei Wochen vergangen waren, hat jede etwas entdeckt, das viel schwieriger als dieser Test war und trotzdem geschafft werden musste. Weil nämlich sonst jemand ge storben wäre, möglicherweise die Betreffende selbst. Und deshalb werden Sie heute geprüft«, sagte sie und seufzte da bei. »Und wenn Sie den Kurs rechtzeitig bestehen, alle Anforderun gen erfüllen, dann wird man in Betracht ziehen, Sie aufzunehmen. Sieben Stellen gibt es, die besetzt werden müssen. Ich schätze, dass nur fünf oder sechs von Ihnen die Tests bestehen werden. Aber … ich hätte lieber fünf, die bestehen, als sieben, die es nicht schaffen.« Eine der Frauen aus der Gruppe hinter ihr trat vor und reichte ihr ein Klemmbrett. Sie warf einen Blick darauf und nickte. »Wenn ich Ihren Namen aufrufe, treten Sie vor, schließen sich einem der Offi ziere hinter mir an, bekommen Bunkerausrüstung und bereiten sich darauf vor, mit Ihrer Auswertung zu beginnen.« Sie blickte wieder auf und lächelte mit schmalen Lippen. »Und viel Glück. Anderson …«
Wendy schlüpfte in den Bunkermantel und schnallte ihn zu. Sie war bei dem Test als Fünfte an der Reihe, aber vor ihr war nur eine Per son. Als sie das feststellte, kam der erste Prüfling auf dem Dach aus dem mit künstlichem Rauch gefüllten Rauchhaus und fing mit der Seilpartie an. Die verschiedenen Leinen über dem Rauchhaus, die den Raum wie ein Spinnennetz füllten, spielten dabei eine entschei dend wichtige Rolle. Die Urb hatte ein paar gewaltige Häuser schluchten, und das Rettungspersonal wusste nie, wann sie einmal über sechshundert Metern Abgrund baumeln würden. Bestimmte Verrichtungen am Seil – und, besonders wichtig, dass man nicht un
ter Höhenangst litt – waren bei dem Test von entscheidender Bedeu tung. Wendy fröstelte. Zu behaupten, sie habe keine Höhenangst, wäre übertrieben gewesen. Eher war das Gegenteil der Fall. Aber sie wür de das trotzdem schaffen. »Cummings.« Sie riss sich zusammen und zwang sich, den Blick von dem Prüf ling zu wenden, der gerade über einen schmalen Spalt auf eine schwankende Plattform gesprungen war. »Ja?« »Sie sind dran«, sagte die Feuerwehrfrau, die sie bei den Vorberei tungen begleitet hatte. »Okay.« Sie kannte die Frau; sie kannte die meisten. Aber in dem Test sollte alles völlig unpersönlich ablaufen. Sie kannte den Grund dafür; sie begriff ihn. Trotzdem wäre es nett gewesen, wenn jemand auf sie zugegangen wäre, zur Kenntnis genommen hätte, dass sie vier gottverdammte Jahre lang in der Notaufnahme Reservedienst geschoben hatte, und dies war das erste Mal, dass sie es bis zur Vor prüfung geschafft hatte. Sie hielt einen Augenblick lang inne, aber da war sonst nichts. Dann trat sie vor. »Cummings«, sagte Chief Connolly. »Acht Vorgänge. Leiterbewe gung, Leiter hochfahren/einziehen, Hochhaus-Pack, Hydrantenbe dienung, Labyrinth, Türbruch, vertikale Umgebung, Schlauch zie hen und Kumpelschleppen. Sind Sie mit jedem der Tests vertraut?«, fragte sie förmlich. »Ja, das bin ich«, antwortete Wendy ebenso förmlich, wobei ihr Gesichtsschild ihre Antwort undeutlich klingen ließ. »Bei jeder Station wird eine Feuerwehrfrau sein und Sie zur nächs ten Station weisen. Für jede Station gibt es eine Zeitvorgabe. Für die Bewegung von einer Station zur nächsten ebenfalls. Wenn Sie auf die Person vor Ihnen ›stoßen‹, dürfen Sie warten und sich ausruhen. Die Zeit wird Ihnen nicht angerechnet. Der ganze Ablauf, die Me thodik und die Einhaltung der Zeitvorgaben werden bewertet, und
Sie müssen mindestens achthundert Punkte erreichen, um sich zu qualifizieren. Haben Sie das verstanden?« »Ja.« »Außerdem gibt es da einige Dinge, die automatisch bewirken, dass Sie den Test nicht bestehen. Wenn Sie das Hochhaus-Pack nicht schaffen, fallen Sie durch. Wenn Sie beim Türbruch einen Schritt verpassen oder falsch bewerten, fallen Sie durch. Wenn Sie bei dem Labyrinth in das glatte Rohr gehen statt in das gerippte, fallen Sie durch. Und wenn Sie den Dummy fallen lassen, ebenfalls. Ist Ihnen das alles bewusst?« »Ja.« »Haben Sie die Anforderungen für das Bestehen der Prüfung völ lig verstanden?« »Ja.« »Sehr gut«, sagte Connolly. Sie sah sich kurz um, beugte sich dann vor und flüsterte mit großer Entschiedenheit: »Lassen. Sie. Den Dummy. Nicht fallen.« Dann richtete sie sich wieder auf, sah auf ihre Uhr, wies auf einen Stapel Leitern und sagte: »Los.« Wendy ging mit schnellen Schritten zu den Leitern hinüber. Sie hätte laufen können, aber bei dieser Auswertung ging es ebenso um Geschicklichkeit wie um das richtige Tempo; sie hatte schon Frauen mit fantastischer Kondition erlebt, denen mitten im Test die Puste ausgegangen war. Drei Leitern hingen senkrecht in einem Gestell an der Wand, je weils neben einem leeren Gestell links daneben. Der Test war ganz einfach: Man musste die einzelnen Leitern aus der Aufhängung neh men und sie in das Gestell links davon bringen. Die Leitern wogen zweiundzwanzig Kilo und waren darüber hin aus sperrig; für eine Frau von fünfundfünfzig Kilo erforderte es nicht unerhebliche Kräfte im Oberkörper und ein gutes Gleichge wichtsgefühl, um eine Leiter, geschweige denn drei hochzuheben und zu bewegen. Und in achtzehn Kilo Schutzkleidung, mit Atem
pack und all dem anderen Zeug war es eine echte Herausforderung. Und noch dazu nur die erste. Sie schaffte die Leitern in recht guter Zeit. Und schaffte auch die zweite Etappe, die darin bestand, eine der Leitern voll auszufahren und dann wieder herunterzulassen, »ausstrecken und einziehen«. Es war schwieriger, als es aussah, man musste es Hand über Hand tun und durfte dabei die Kontrolle über das sperrige Ding nicht verlie ren, sonst »fiel« die Leiter einfach herunter. Das bedeutete noch nicht automatisch, dass man durchgefallen war, verschaffte einem aber eine Menge Minuspunkte. Der dritte Test, der sich »Hochhaus« nannte, war der erste, bei dem sie überzeugt war, dass sie ihn schmeißen würde. Man musste dazu ein so genanntes Angriffspack »tragen«, zwei jeweils fünfzehn Meter lange Stücke vierzig Millimeter dicke Angriffsleine, eine Tül le, ein Schieberventil und eine Hydrantenzange, und das alles war in den vierten Stock des Rauchhauses zu schleppen. Am besten, man vergaß dabei, dass das Rauchhaus seinem Namen alle Ehre machte, dass nämlich aus einem Raucherzeuger im Erdgeschoss di cker schwarzer Rauch quoll und durch die Treppenhäuser in die Höhe getrieben wurde. Allein schon das Pack aufzuheben – es war über vierzig Kilo schwer, also mehr als siebzig Prozent ihres Körper gewichts – kostete gewaltige Anstrengung. Man erwartete von ihr, dass sie die Treppe »zügig« hinaufeilte, aber in Wirklichkeit schaffte niemand auch nur so etwas wie Laufschritt. Jeder Schritt war eine Strapaze, und als sie im zweiten Stock angelangt war, wusste sie, wenn sie jetzt auch nur eine Sekunde lang stehen blieb, würde sie sich nie wieder in Bewegung setzen können. Aber schließlich sah sie keuchend vor Hitze, die der Anzug ausstrahlte, und nach Luft jap send die Feuerwehrfrau ganz oben. Sie sah sie durch einen grauen Nebel, der nur zur Hälfte dem Rauch zuzuschreiben war, aber sie hatte es geschafft. Vorsichtig ließ sie ihr Pack zu Boden und ruhte einen Augenblick lang kniend aus, bis das rote Flimmern, das ihre Sicht beeinträchtigte, aufgehört hatte. Dann stand sie auf, folgte dem ausgestreckten Finger und ging wieder hinunter ins Labyrinth.
Das Labyrinth war ein Raum im zweiten Stock, den man mit Sperrholzwänden und Rohren in ein echtes Labyrinth verwandelt hatte. Es füllte zwar nur einen einzigen Raum, umfasste aber eine Gesamtwegstrecke von fünfundfünfzig Metern, noch dazu auf meh reren Ebenen, mit einer Folge enger Gänge und Türen, von denen man viele nach Belieben der Prüfer öffnen und schließen konnte. Keiner der Gänge war hoch genug, um sich geduckt dort zu bewe gen; das ganze Labyrinth wurde auf dem Bauch kriechend zurück gelegt, wobei man sich manchmal sogar erheblichen Verrenkungen unterziehen musste, um alle drei (manche behaupteten vier) Dimen sionen zu bewältigen und den nächsten Gang zu erreichen. Seltsamerweise hatte Wendy mit dem Labyrinth nie Probleme ge habt, selbst wenn es völlig abgedunkelt war. Vielleicht hatte es doch auch sein Gutes gehabt, lebend in Fredericksburg begraben gewesen zu sein; sie hatte so etwas wie Klaustrophobie nie kennen gelernt. Dasselbe konnte man von Shari sagen, die all die Wochen wach ver bracht hatte. Wenn sie zu Klaustrophobie geneigt hätte, hätte sie si cherlich zur Spritze gegriffen wie die Feuerwehrfrau, die dort mit ihr zusammen eingeschlossen gewesen war. Was keineswegs hieß, dass es leicht gewesen war. Sich zu bewegen erwies sich als ausgesprochen schwierig. Aber Wendy hatte kein Problem und dachte auch daran, nicht den glatten Tunnel zu nehmen. Der Plastiktunnel war nach ein paar Fuß einge fettet und glitschig, und wenn man einmal in ihm steckte, konnte man nicht mehr zurück. Man rutschte einfach in die Tiefe und plumpste der für die Beurteilung zuständigen Person vor die Füße. Wendy andererseits kam aus dem gerippten Tunnel und richtete sich einigermaßen erfrischt auf. Sie wusste, dass sie im Labyrinth eine gute Zeit geschafft hatte, und der nächste Test, der Türbruch, war auch einer, der für sie »gut« war. Sie eilte die Treppe zum Dach hinauf und holte dort die wesentli chen Werkzeuge für den Türbruch ab: einen Rucksackbehälter voll flüssigem Stickstoff und eine Centerpresse auf CO2-Basis. Das Test
gerät befand sich in der Dachmitte; ein scheinbar freistehender Tür stock mit einer geschlossenen Tür aus Memoryplastik. So, wie die Tür gebaut war, musste man ungewöhnliches Gerät einsetzen. Aus Sicherheitsgründen waren Türen aus Memoryplastik so konstruiert, dass sie in der »Grundkonfiguration« geschlossen waren. Das bedeutete, dass man eine genau berechnete Ladung an bringen musste, um sie dazu zu veranlassen, sich zu »öffnen« oder in ein Rohr an der Seite zusammenzuklappen. In ausgefahrener Konfiguration waren die Türen äußerst zäh; man konnte den ganzen Tag mit einem Vorschlaghammer auf sie ein trommeln, ohne ihnen damit etwas anhaben zu können. Und aus Si cherheitsgründen musste die Ladung an einem etwas zurückgesetz ten Rand angebracht werden. Als die Feuerwehrleute sich zum ers ten Mal mit dieser Konstruktion konfrontiert sahen, wussten sie zu nächst nicht weiter, aber dann wies ein ehemaliger Feuerwehrmann von der Marineinfanterie darauf hin, dass Lexan verhältnismäßig leicht zerspringt, wenn man es unterkühlt. Und schon war eine neue Methode zum Aufbrechen derartiger Türen geboren. Die Prüferin nickte, als Wendy sich den Rucksack übergestreift hatte, hob ihre Stoppuhr und drückte den Startknopf und brüllte: »Los!«. Für einen Türbruch gab es mehrere Schritte, die alle präzise ausge führt werden mussten. Mit schnellen Schritten ging sie auf die Tür zu, stellte sich auf die linke Seite, streifte ihre Nomex-Handschuhe ab und fuhr dann mit der Hand über Tür und Türrahmen. Sie fing ganz oben an und strich schnell quer über die Tür nach unten. Als sie die linke untere Ecke erreicht hatte, stellte sie plötzlich fest, dass es dort wärmer wurde. Die wollten sie reinlegen! Sie trat zurück und schrie: »Heiße Tür!« Die Prüferin drückte den Knopf an ihrer Stoppuhr und machte eine Eintragung auf ihrem Klemmbrett, während Wendy sich die Handschuhe wieder überstreifte. »Die Tür ist als heiß zu betrachten, kann aber gebrochen werden«, sagte die Prüferin. Auf die Feststel
lung, dass Wendy disqualifiziert worden wäre, wenn sie die Wärme nicht festgestellt hätte, verzichtete sie, das war ohnehin klar. »Wei termachen«, fügte sie dann hinzu und drückte wieder auf ihre Stoppuhr. Wendy trat einen Schritt zurück und sah auf die Druckanzeige des Stickstoffbehälters. Aus der Flasche führte ein Schlauch zu einer Tül le, die an einen Flammenwerfer erinnerte. Man konnte den Druck, unter dem der flüssige Stickstoff austrat, regulieren und damit ein stellen, wie weit der Strahl reichte. Es gab eine maximale Reichwei te, aber die war ohne Belang. Viel wichtiger war es, das Zurücksprit zen so weit wie möglich zu vermeiden. Der Stickstoff trat in einem weißen, schäumenden Strahl aus der Tülle aus und dehnte sich explosionsartig zu Dampf aus, sobald er mit Zimmertemperatur in Berührung kam und sich erwärmte. Dass der Test auf dem Dach durchgeführt wurde, hatte zwei Gründe; zum einen konnte sich das Gas schnell verteilen, zum anderen stellte das sicher, dass nicht der ganze Saal heruntergekühlt wurde. Es gab eine Zone, in der der Strahl in beschränktem Maße zurück gestrahlt wurde, etwa dreißig Zentimeter, und die kleine Menge Flüssigkeit verdampfte schnell. Wendy trat vor, ehe sie ganz ver schwunden war, wich den sprühenden Tropfen aus und setzte die Presse an der linken Türseite an. Normalerweise hätte sie sie ganz unten links angesetzt, aber die erhöhte Temperatur dort machte es notwendig, die Position zu ver ändern. So kalt der Stickstoff auch war, das Memoryplastik der Tü ren hatte recht hohe spezifische Eigenwärme, und möglicherweise war die linke untere Ecke noch nicht genügend abgekühlt. Sie setzte die Presse an und kippte sie leicht zur Seite, damit die Energie zwar gerade eindrang, ihr aber, falls es zu einem Rückstoß kam, nicht in den Bauch stieß, und drückte dann ab. Die Presse, die ein wenig wie ein schnurloser Elektrobohrer aus sah, enthielt einen zwanzig Zentimeter langen Stahldorn, der von ei ner CO2-Patrone im Handgriff angetrieben wurde. Sobald der Ab
zug betätigt war, fuhr der Dorn mit über dreihundert Metern pro Se kunde aus, durchschlug die Tür und brachte das Kunststoffmaterial, wenn es kalt genug war, zum Zersplittern. In dem Fall war es kalt genug, und die Tür zersplitterte von oben bis unten, zerbrach in tausend Fragmente, deren größte ein paar Zentimeter durchmaßen und deren kleinste nicht viel größer als Staubkörner waren. Die einzige Ausnahme bildete eine fast exakt kreisförmige Partie in der linken unteren Ecke. Ihre Entscheidung, den Bolzen dort nicht anzusetzen, war anscheinend gut gewesen. Sie sah die Person im Silberanzug auf der anderen Seite der Tür öffnung an. Diese hielt einen Propanbrenner in der Hand, und Wen dy konnte durch mehrere Schichten Lexan erkennen, wie sie grinste. »Miststück«, flüsterte sie halblaut und grinste zurück. Man setzte den Bolzen immer links unten an der Tür an, jedenfalls als Rechts händer. Das war die sicherste Stelle, und im Allgemeinen war die Unterseite einer Tür immer kalt, wenn es sich nicht um ein beson ders intensives Feuer handelte. Die Feuerwehrfrau deutete bloß stumm auf den Startpunkt der Seilprüfung. Herrgott, das würde ein endloser Tag werden. Das Geräteschleppen und die Seilprüfung überstand sie einiger maßen. Beide Tests waren ziemlich gradlinig, in dem einen kam es darauf an, Kraft zu haben, im anderen, ob man unter Höhenangst litt. Sie war nicht die Stärkste und fühlte sich auch über Abgründen nicht sonderlich wohl, aber solche Tests machten ihr letztlich nichts aus. Am Ende blieb nur noch das »Kumpelschleppen«. Sie setzte dazu an, im Laufschritt zur nächsten Position zu eilen, und merkte plötz lich, dass ihr das ziemlich schwer fiel. Wann wohl diese berühmte zweite Energiewelle einsetzte, fragte sie sich, aber bis jetzt verspürte sie nur Müdigkeit. Das Kumpelschleppen würde wirklich Spaß ma chen.
Dabei ging es darum, einen hundert Kilo schweren Dummy aufzu heben und wegzuschleppen. Der Dummy lag rücklings auf dem Bo den und trug Bunkermantel und -hosen. Man erwartete von der Kandidatin, den Dummy aufzuheben, ihn von hinten mit beiden Ar men zu halten und ihn dreißig Meter weit wegzuzerren, ohne ihn fallen zu lassen. »Lass den Dummy nicht fallen«, flüsterte sie, packte ihn an der Schulterpartie des Bunkermantels und zog ihn in sitzende Haltung hoch. Der Kopf klappte zur Seite weg, und die Arme hingen herun ter und waren ihr ständig im Weg, ganz gleich, was sie tat. Schließ lich schaffte sie es, die Puppe von hinten zu packen, sie schob die Arme unter der Puppe durch, packte mit der rechten Hand die Vor derseite des Bunkermantels und umfasste mit der Linken das Ge lenk der Rechten. Mit einem Grunzlaut richtete sie sich auf, zog den Dummy in die Höhe und hielt dann kurz inne, wobei sie versuchte, nicht ins Schwanken zu kommen. Der Dummy war größer und viel schwerer als sie, und allein schon auf den Beinen zu bleiben kostete gewaltige Mühe. Schließlich lehnte sie sich vorsichtig nach hinten und fing zu zerren an. Jeder einzelne Schritt war eine Qual. Es gab keine Möglichkeit, Schwung aufzubauen, daran hinderte sie die Schwerkraft – ein böser Feind. Sie musste die Puppe einfach zerren, Schritt für Schritt, und jeder einzelne Schritt tat höllisch weh. Als sie zwei Drittel des Weges zurückgelegt hatte, lockerte sich der Griff, mit dem ihre linke Hand sich um das rechte Handgelenk klammerte, aber sie bekam eine Hand voll von dem Bunkermantel zu fassen, und die Puppe fiel nicht um. Jetzt hatte sie nur noch den Mantel, und ihre Nomex Handschuhe waren vom Schweiß schlüpfrig geworden, deshalb war es ziemlich problematisch, nicht loszulassen. Aber sie würde es schaffen. Sie war beinahe durch.
Dann kam die Katastrophe. Sie war noch drei Meter vom Ziel ent fernt, hatte es fast geschafft, als sie spürte, wie die erste Schließe nachgab. Unglücklicherweise war der Dummy schon Tausende Male im Test eingesetzt gewesen. Man hatte ihn gehoben und geschleppt und hin und her gezerrt und das immer in demselben Bunkermantel – einem Bunkermantel, der sich genau diesen Augenblick aussuchte, um aufzugehen. Sie spürte, wie die Schließen nachgaben, und tastete verzweifelt an der Vorderseite des Mantels herum, versuchte irgendetwas zu fas sen zu bekommen. Der Dummy balancierte einen Augenblick lang auf ihrem Knie, aber dann rutschte ihre Hand ab, und er fiel zu Bo den. Sie stand bloß da und … sah ihn an. Der Dummy lag auf dem Bo den. Sie hatte den Dummy fallen lassen. Nach all der Qual … Am liebsten hätte sie laut geschrien. Darum gebettelt, eine weitere Chance zu bekommen. Und zugleich wusste sie, dass man sie dann nie wieder zur Prüfung zulassen würde. Also stand sie bloß da, die Tränen rannen ihr über das Gesicht, und sie war unfähig, sich zu be wegen, als eine der Prüferinnen zu ihr herüberkam, den Bunker mantel zuknöpfte und den Dummy in die Höhe stemmte. Am Ende kam Chief Connolly zu ihr herüber, griff nach ihrem Arm., führte sie zu einer Bank und zog ihr den Helm herunter. »Es wird wieder eine Prüfung geben«, sagte Connolly. »Sie brau chen es dann bloß so gut zu machen, wie Sie es heute gemacht ha ben, und den Dummy nicht fallen zu lassen.« »Wieso haben Sie das gewusst?«, flüsterte Wendy. »Das habe ich nicht«, antwortete Connolly und drehte sich halb herum, um die nächste Kandidatin zu beobachten. »Ich hab Sie rein gelegt. Ich wusste, Sie hatten ihren ganzen Mut für die Seilprüfung zusammengenommen, also habe ich Sie mit dem Dummy drange kriegt. Aber an den Schließen habe ich nichts gemacht. Das war bloß Pech.«
»Pech«, flüsterte Wendy. »Wäre nicht das erste Mal.« »Und deshalb habe ich Sie reingelegt«, erklärte Connolly ruhig. »Sie sind einfach noch nicht so weit. Für Sie ist das alles nur ein Spiel, auch wenn es hart wird. Bei einem Feuer will ich niemanden neben mir haben, der einfach nur mitmacht, weil es ›Spaß‹ macht. Oder wegen der Uniform. Oder sonst irgendetwas, mit Ausnahme des brennenden Wunsches, das Feuer zu besiegen und Menschen zu retten.« Connolly drehte sich zu ihr um, sah sie an und schüttelte den Kopf. »Sie spielen immer noch Feuerwehr, Wendy. So kann man es auch in Ihrem Psychoprofil lesen; das ist mit ein Grund, weshalb die Sicherheit Sie nicht nimmt. Sie sind nicht überzeugt, dass Sie es schaffen, Sie sind nicht überzeugt, dass Sie damit fertig werden, und wollen einfach eine Weile damit herumspielen und sehen, ob es Ih nen gefällt. Ich will in meiner Abteilung niemanden, der bloß spielt. Ich will niemanden haben, der nicht hundertprozentig sicher ist, dass er seinen Job schafft und auch die nötigen Fähigkeiten dazu be sitzt. Für ein ›vielleicht‹ ist unsere Verantwortung einfach zu groß.« Wendy blickte einen Augenblick lang zu ihr auf und nickte dann. »Sie können mich mal.« Sie richtete ihren Zeigefinger auf Connolly, als diese zum Reden ansetzte. »Wenn Sie noch ein Wort sagen, ma che ich Sie fertig«, flüsterte sie, richtete sich auf und stellte sich dann auf die Bank, um der größeren Feuerwehrfrau in die Augen sehen zu können. »Ich will Ihnen mal was sagen, Chief Connolly«, flüsterte sie dann und zog dabei die Schutzkleidung aus. »Sie mögen sich ja für den lieben Gott halten, aber ich sage Ihnen, Pech heißt wissen, es heißt nicht, sich Sorgen zu machen oder sich den Kopf zu zerbrechen, es heißt wissen, dass die Posleen einen umbringen und anschließend mit Sicherheit auffressen werden. Pech heißt mitzuerleben, wie jedes einzelne Mitglied deiner Familie und jeder, mit dem du zur Schule gegangen bist, jeder und jede, den du je gekannt hast, an einem Tag umgebracht werden. Pech heißt, mit ansehen zu müssen, wie das
ganze Leben, das man bisher gekannt hat, in einem einzigen Augen blick ausgelöscht wird. Sie sind von Baltimore hierher gekommen, ehe die Stadt über haupt angegriffen wurde«, fuhr sie immer noch mit leiser Stimme fort. »Sie haben nie einen Posleen gesehen, bloß im Fernsehen. Sie haben sie nie heranrücken sehen, wie sie in Wellen über die Hügel kuppen kommen und jeden Winkel einer Stadt füllen. Sie haben nie gehört, wie eine Railgun klingt, wenn sie abgeschossen wird, haben nie das Klingeln in den Ohren gehört, wenn Lenkwaffen in die Häu ser rings um Sie herum einschlagen. Sie haben Recht. Ich will wirklich nicht zur Feuerwehr, ich will nicht Schläuche herumschleppen und den ganzen Tag treppauf, treppab rennen. Ich will diese verdammten Posleen töten. Ich hasse sie. Ich hasse sie leidenschaftlich. Sie bilden sich ein, dass Sie das Feuer hassen, aber zur gleichen Zeit lieben Sie es auch; alle, die bei der Feuerwehr sind, tun das. Also, ich kann Ihnen bloß sagen, ich liebe die Posleen überhaupt nicht. Das nehme ich zurück, ich hasse sie nicht einmal. Ich verachte sie. Ich habe keinen Respekt für sie, ich halte sie nicht für faszinierend, ich will nur, dass sie ausgerottet wer den, dass sie aufhören zu existieren.« Mittlerweile hatte sie ihre Schutzkleidung vollständig abgelegt und stand jetzt aufgerichtet und mit versteinertem Gesicht in ihrem Overall da. »Sie haben Recht, die Arbeit bei der Feuerwehr ist für mich ein Spiel. Weil das nämlich im Vergleich zum Töten von Pos leen ein Dreck ist. Also. Sie können mich mal, Sie und Ihre Tests. Und auf diese Abteilung hier scheiße ich, für mich ist das erledigt.« »Da haben Sie Recht«, sagte Connolly. »Das ist erledigt. Ich werde Sie weiter als Reserve führen, aber sparen Sie sich die Mühe, hier zu den Übungen zu erscheinen. So lange nicht, bis Sie nicht mit sich selbst im Reinen sind.« »Oh, das bin ich«, sagte Wendy und wandte sich ab. »Darauf kön nen Sie sich verlassen.« »Cummings«, rief Connolly ihr nach.
»Was?«, fragte Wendy und blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Tun Sie nichts … Dummes. Ich möchte Sie nicht irgendwo weg kehren müssen.« »Oh, mich werden Sie nicht wegkehren«, sagte Wendy und ging weiter. »Aber wenn jemand mir Ärger macht, dann sollten Sie am besten einen Anhängezettel für Ihre Zehen mitbringen, damit man Sie nachher identifizieren kann.«
15 Franklin SubUrb, Franklin, North Carolina, Sol III 1048 EDT, 24. September 2014
They do not preach that their God will rouse them a little before the nuts work loose. They do not teach that His Pity allows them to drop their job when they dam' – well choose. As in the thronged and the lighted ways, so in the dark and the desert they stand, Wary and watchful all their days that their brethren's day may be long in the land.
»The Sons of Martha« – Rudyard Kipling, 1907 Sie predigen nicht, dass ihr Gott sie schon wecken wird, kurz ehe die Nieten sich lockern. Sie lehren nicht, dass sein Mitleid es ihnen erlaubt, die Arbeit fallen zu lassen, wenn ihnen grad danach ist. Wie auf den vollen beleuchteten Wegen stehen sie auch in Dunkel und Wüste Ihr Leben lang achtsam und wachsam, dass ihrer Brüder Leben lang sein möge im Land.
»Marthas Söhne«
»Hören Sie mal, Freundchen, haben Sie Probleme mit ›schriftlichen Anweisungen‹?«, fragte Mosovich. Der Wachmann hinter dem Panzerglasfenster blickte erneut auf das Blatt Papier und bedeutete ihnen dann mit einer Handbewe gung, zu warten. »Ich will jemanden anrufen. Das ist das erste Mal, dass ich mit so etwas zu tun habe.« »Wie ich diese beschissenen Löcher doch hasse«, schimpfte Muel ler. Und Mosovich musste ihm zustimmen. Mansfield hatte da ihm gegenüber einiges gutzumachen. Eine ganze Menge sogar. Die »Bitte«, sich um dieses verrückte Weib zu kümmern, war aber jedenfalls zu einem günstigen Zeitpunkt gekommen. Nach dem letz ten Aufklärungsdebakel hatte der Kommandeur des Korps angeord net, dass für den Augenblick keine Fernaufklärungsteams mehr aus geschickt werden sollten. An deren Stelle traten in zunehmendem Maße unbemannte Kleinflugzeuge und so genannte Krabbler. Bei Ersteren handelte es sich um kleine, besser gesagt kleinste Flugzeu ge, nicht viel größer als ein rotschwänziger Falke, die sich in Bäu men versteckt hielten und die vorderste Front der Posleen erkunde ten. Das Problem mit ihnen war nur, dass die automatisierten Syste me der Posleen sie bemerkenswert leicht identifizierten und sie dann auch ohne große Mühe zerstörten. Sie konnten also immer nur einen kurzen Blick auf irgendwelche Posleen-Aktivitäten liefern. Krabbler – sie sahen aus wie mechanische Ameisen von etwa dreißig Zentimeter Länge – brachten da ein wenig mehr. Aber auch sie hat ten nicht sehr weit in das vom Gegner gehaltene Gebiet eindringen können; der Kommandeur der Posleen hatte für nahezu perfekte Abschirmung seines Hauptlagers gesorgt. Mosovich waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass Bernard um Genehmigung nachgesucht hatte, das Lager mit SheVa-AntimaterieGeschossen zu beschießen. Das war natürlich abgelehnt worden – die Präsidentin war entschieden gegen Atomwaffen –, aber allein schon die Tatsache, dass möglicherweise die Frage gestellt worden
war, tat gut, denn es hieß immerhin, dass jemand die Landung ernst nahm. Aber bis sie sich etwas ausgedacht hatten, um sich nähere Kennt nisse über die Posleen zu beschaffen, waren Mosovich, Mueller und Schwester Mary praktisch arbeitslos. Da das jemand über kurz oder lang spitz kriegen und sich irgendeinen dämlichen Auftrag für sie ausdenken würde, war Mosovich recht froh darüber, dass diese »Bitte« über das Korps an sie herangetragen worden war. Das hatte ihnen einen Passierschein aus dem Hauptquartier eingetragen, ohne den es schier unmöglich gewesen wäre, sich Zutritt zu der SubUrb zu verschaffen. Und es sorgte dafür, dass sie sich vom Korps und den verschiedenen idiotischen Projekten absetzen konnten, die der Stab sich dort ohne Zweifel ausdenken würde. Die Kehrseite der Medaille war, dass sie in die SubUrb gehen mussten. Er war im Laufe der letzten fünf Jahre zweimal dort gewe sen und hatte sie jedes Mal schrecklich deprimierend empfunden. Der Anblick all dieser Leute, die man einfach unter die Erde gescho ben hatte, war geradezu unerträglich. Insbesondere, da ja neunzig Prozent von ihnen noch vor zehn Jahren recht angenehme Leben sumstände gehabt hatten. Draußen, an der Front, gab es Zeiten, wo man sich beinahe vorstellen konnte, dass da tatsächlich ein Krieg von gewaltigen Dimensionen im Gange war. Aber im Grunde ge nommen gab es die Vereinigten Staaten noch, sie funktionierten nach wie vor. Und sobald die off-planet eingesetzten Streitkräfte zu rückkehrten, würde alles wieder mehr oder weniger normal sein. Und dann betrat man eine SubUrb und begriff plötzlich, dass man sich etwas vormachte. Die Franklin SubUrb hatte einen ganz besonders schlechten Ruf, und so war er nicht überrascht. Die Hälfte der Rolltreppen in dem Personeneingang, durch den sie gekommen waren, hatte nicht funk tioniert, der Empfangsbereich war heruntergekommen und ver dreckt, und überall lag Schmutz und Unrat herum. Und die Sicher heitsstelle, ein kleiner Kasten mit einer Fassade aus Panzerglas, ähn
lich dem Kartenschalter eines Kinos, war noch schlimmer. Durch die Glasscheibe konnte man sehen, dass jedes einzelne Regalbrett in dem Häuschen voll leerer Lebensmittelbehälter stand; die Hälfte da von war mit Zigarettenstummeln gefüllt. Aber wenn man die Dinge realistisch betrachtete, durfte einen das nicht verwundern. Nicht nur, dass Franklin eine der ältesten Sub Urbs war – das hieß, dass man dort Leute aus den ersten Flücht lingswellen untergebracht hatte, als die Posleen der Zivilbevölke rung gewaltig zugesetzt hatten –, sie befand sich auch so nahe bei den Supporteinrichtungen des Korps, dass dieser Zustand sich eher noch verschlimmert hatte. Sie hatten per Anhalter von ihrer Kaserne am Pass nach Franklin fahren müssen und unterwegs feststellen können, dass die Streitkräfte im Pass zwar nicht gerade erste Quali tät waren, die Supportgruppen aber noch wesentlich schlimmer da herkamen. Kein Wunder also, dass die Urb off-limits erklärt worden war; selbst er hätte diese »Soldaten« nicht reingelassen, und dabei war er selbst Soldat. Nach allem, was er gehört hatte, waren die ers ten Monate, in denen sie die Soldaten nicht ferngehalten hatten, praktisch einer Plünderung gleichgekommen. Mosovich schob sich seinen Karabiner zurecht, als die weibliche Wache mit einem älteren männlichen Kollegen zurückkam. Der Mann war übergewichtig, wirkte aber nicht schlampig; man konnte deutlich erkennen, dass ein Großteil seiner Leibesfülle aus Muskeln bestand. Er trug die Rangabzeichen eines Majors, was darauf schlie ßen ließ, dass er der dienstälteste Offizier der Station war. Kein Wunder, dass sie eine Weile weg gewesen war. »Sergeant Major …«, sagte der Sicherheitsoffizier und blickte auf die E-Mail-Anweisung,»… Mosovich?« »Der bin ich, und das ist Master Sergeant Mueller.« »Könnte ich einen Ausweis sehen?«, fragte der Major. »Okay«, nickte Jake und zog seinen Ausweis und den Waffen schein heraus.
»Das ist ziemlich ungewöhnlich«, fuhr der Sicherheitsbeamte fort. »Es gibt hier einige Personen, die uneingeschränkte Zugangsberech tigung haben. Aber davon abgesehen ist für Militärpersonal der Zu gang gesperrt.« »Es sei denn, mit ausdrücklicher Anweisung«, sagte Mosovich. Wahrscheinlich wäre es jetzt hilfreich, dem Major ein wenig in den Hintern zu kriechen, aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er vor diesem Etappenhengst buckelte. Der Offizier musterte die beiden Ausweise gründlich und seufzte dann. »Okay, sieht so aus, als müsste ich Sie reinlassen …« »Würde es Ihnen dann etwas ausmachen, wenn Sie jetzt die Tür öffnen?«, knurrte Mueller. Der Offizier stemmte die Hände in die Hüften. »Zuerst einige Be merkungen …« »Hören Sie, Major …« Mosovich beugte sich vor und musterte sein Namensschild, »… Peanut? Wir sind keine Schreibtischhengste vom Nachschub. Wir sind auch nicht die Barbaren, die früher hier aufge taucht sind. Ich sehe vielleicht aus wie zweiundzwanzig, aber ich bin siebenundfünfzig; ich war schon bei der Army, als Sie noch nicht einmal in die Windeln gemacht haben. Wir sind hier, weil wir einen Auftrag zu erledigen haben, nicht weil wir ein wenig rumbumsen wollen. Und wir sind nur zu zweit; wenn Sie und Ihr Laden nicht einmal mit zwei Soldaten fertig werden, dann sollten Sie den ganzen Laden auflösen und sich ein paar richtige Wachen besorgen. Und wie Sie selbst festgestellt haben, haben wir gültige Passierscheine. Machen Sie also auf.« »Na schön, dann wäre ja schon einiges geklärt«, meinte der Major trocken. »Und jetzt noch den Rest. Die Leute hier unten haben keine Waffen. Sie mögen keine Waffen; sie haben davor Angst. Mit Aus nahme von denen, die doch welche wollen und Ihnen die Ihren mit dem größten Vergnügen wegnehmen werden, wenn Sie ihnen die leiseste Chance dazu lassen. Tragen Sie sie auf dem Rücken, nicht vorne wie im Einsatz. Und achten Sie darauf, dass Sie sie immer un
ter Kontrolle haben. Wenn Sie auch nur eine Waffe verlieren, kann ich Ihnen garantieren, dass der Kommandeur des Korps Ihnen dafür das Leben zur Hölle machen wird.« »Das dürfte ihm schwer fallen«, sagte Jake. »Wir sind Fleet. Aber ich habe verstanden.« »Okay«, sagte der Major, seufzte und betätigte gleichzeitig einen Schalter. »Willkommen in der Franklin SubUrb.«
Mueller schüttelte den Kopf, als sie eine weitere offene Fläche pas siert hatten. »Sieht seltsam aus.« Der Kobold bog in Richtung auf eine weitere Gleitbahn. »Allerdings«, nickte Mosovich. »Schafe.« Mueller wusste, was er damit sagen wollte. Die Menschen in den SubUrbs sahen sie an wie Schafe einen Schäferhund. Sie wussten, dass der Hund sie nicht beißen würde. Wahrscheinlich. Diesmal. Aber es gefiel ihnen ganz offenkundig nicht, hier Uniformen oder Waffen zu sehen. Für Schafe sind alle Schäferhunde Wölfe. »Wahrscheinlich Angst vor einem Angriff«, fügte Mosovich hinzu. »Die hätte ich auch«, pflichtete Mueller ihm bei. Die SubUrb war nur eine kurze Strecke von der Front entfernt; den Idioten, der sich für diesen Standort entschieden hatte, sollte man erschießen. »Und ohne Ausgang«, sagte Mosovich. »Dämlich.« »Nein, davon gibt's ne ganze Menge«, widersprach Mueller. »Alle markiert. Und das Waffenlager ganz vorne.« Mosovichs Antwort darauf war nur ein geringschätziges Schnau ben. Wenn die Posleen je durch die Rabun-Lücke brachen, waren die Menschen in der SubUrb Nahrung in einem Pferch. Und da die Waf fenkammer sich an der Oberseite der Urb befand, würden ihnen die Posleen zu allem Überfluss auch noch den Zugang zu ihren Waffen versperren können, es sei denn, die Menschen wurden sehr frühzeitig gewarnt.
Man hatte entschieden, dass die Urbs Null-Waffen-Zonen sein sollten, und nach Ansicht von Mosovich und einer ganzen Menge anderer war das einfach falsch. Wenn alle Leute in der Urb bewaff net waren, würde das wahrscheinlich zu einer höheren Zahl von Mor den führen. Aber wenn man das mit hundert Prozent Verlusten im Falle eines Angriffs verglich, selbst bei einer ungezielten Landung, dann würden ein paar Morde das alle Mal wert sein. Außerdem be stand, wenn alle bewaffnet waren, immerhin die Möglichkeit, sich die Posleen vom Leib zu halten. Trotzdem hatte die Sturheit der Galakter im Verein mit der tradi tionellen Dummheit der menschlichen Politiker dazu geführt, dass die Urbs entwaffnet worden waren. »Dämlich.« Mueller schüttelte den Kopf. Mosovich nickte und bog in einen hell erleuchteten Korridor. An den Wänden waren große Gemälde, was ungewöhnlich war, und auf jeder der Türen stand der Name eines anderen Arztes. Der Ko bold hielt vor einer Tür an, auf der »Dr. Christine Richards, Psy. D.« stand. Entschlossen legte Mosovich den Finger auf das Zugangsfeld, woraufhin ein Glockenton zu hören war. »Ja?«, fragte eine Stimme aus dem Lautsprecher. »Doktor Richards? Ich bin Sergeant Major Mosovich. Ich bin hier, um mit Ihnen über Captain Elgars zu sprechen.« Eigentlich hätte Frau Doktor eine E-Mail bekommen haben müssen, aber wer wusste schon, was hier wirklich vor sich ging. »Hat das nicht Zeit?«, fragte die Lautsprecherstimme. »Ich bereite gerade einen Bericht vor, aber der ist noch nicht abgeschlossen.« »Also, Sie können berichten, was Sie wollen, Doc«, antwortete Mo sovich dem Lautsprecher. Allmählich war er es leid, sich mit einer verschlossenen Tür zu unterhalten. »Aber ich habe den Verdacht, dass die Army mehr an dem interessiert sein wird, was ich zu sagen habe, als an Ihrem Bericht. Und ich werde mich jetzt auf die Suche
nach Elgars machen. Das ist also Ihre einzige Chance, mich davon zu überzeugen, dass Elgars plemplem ist.« Die Tür ging auf, und Dr. Richards seufzte. »Sie ist nicht plem plem, sie ist besessen.«
Dr. Richards hatte sämtliche Aufzeichnungen über Annie Elgars auf ihrem Tisch ausgebreitet und versuchte den beiden Sergeants zu er klären, weshalb sie nicht verrückt war. »Da, sehen Sie sich das an«, sagte sie und legte einen langen Papierstreifen mit Linien hin, die aussahen wie die Silhouette eines Gebirgsmassivs. »Okay, ich weiß, was ich hier eigentlich sagen sollte«, erklärte Mo sovich. »Ich sollte sagen, ›Sind das meine Gehirnströme, Doktor?‹, aber bei den Special Forces haben die ja ständig an uns herumge doktert, und deshalb ist das nicht das erste EEG, das ich zu sehen bekomme.« »Schön«, sagte Richards und holte ein Buch heraus. »Sie haben Recht, das ist ein EEG, und zwar das von Elgars.« Sie klappte das Buch an einer markierten Stelle auf und deutete auf die dort abgebil dete Kurve. »Das ist ein normales EEG einer Person im Wachzu stand beziehungsweise nicht im Alpha-Modus. Sehen Sie sich das an.« Das tat Mosovich und betrachtete anschließend Elgars' EEG. Es gab keinerlei Ähnlichkeit. »Was bedeuten all diese Zacken?«, fragte er und deutete auf Elgars' Kurve. »Das frage ich Sie«, herrschte Richards ihn an. »Und da, sehen Sie sich das an.« Sie blätterte in den Kurvenblättern, bis sie ein vorher markiertes Blatt fand. »Wenn man Dinge tut, die man schon tau sendmal getan hat, Sie wissen schon, Dinge, von denen man immer sagt: ›Das mache ich im Schlaf‹. In Wirklichkeit schaltet das Gehirn da einfach nur auf den Alpha-Modus, und das ist tatsächlich so, als ob Sie schlafen würden. Das ist eine der Grundlagen von Zen, dem
›Zustand des Nichts‹. Schauen Sie, wenn Sie schießen, denken Sie da an das, was Sie tun?« »Ich weiß schon, was Sie meinen«, fiel Mueller ihr ins Wort. »Sie meinen, wenn man auf dem Schießstand steht. Nein, da muss man sein Gehirn abschalten und sich gehen lassen, das Denken der Aus bildung überlassen, die man durchgemacht hat. Und wenn das rich tig geklickt hat, dann nennen wir das ›in der Zone sein‹.« »Genau.« Richards nickte und deutete auf ein paar weitere Za cken. »Das ist das Alpha-Stadium. Im Falle von Elgars hat sie nicht viele deutliche Erinnerungen, aber sie kann eine erstaunliche Zahl manueller Aufgaben korrekt erfüllen. Wenn jemand so schwer ver letzt ist, erwartet man eigentlich, dass der oder die Betreffende wie der lernen muss, wie man geht, wie man isst, wie man sich auf der Toilette verhält und all das. Als man Elgars in den Reha-Saal ge schoben hat, war sie völlig luzid und auch im Stande, fast alle nor malen Alltagsfunktionen auszuführen. Außerdem haben wir inzwi schen festgestellt, dass sie über eine Vielzahl von Basisfähigkeiten verfügt, darunter Autofahren und Bedienen einer Vielzahl von Handwaffen, angefangen bei Messern bis hin zu schweren Karabi nern.« Sie zeigte auf die Grafik, fuhr mit dem Finger an den normalen Rhythmen entlang, bis sie zum Alpha-Rhythmus kam, und legte dann das Buch daneben. »Das ist der Transitionspunkt, wo sie von Beta auf Alpha übergeht. Und hier ist eine normale Transition.« Mosovich und Mueller beugten sich beide vor und blickten auf die Kurven. Wieder war der Transitionsbereich ganz anders als im Buch. Er war irgendwie länger und zeigte zahlreiche Zacken. Moso vich deutete auf den Alpha-Rhythmus auf dem Kurvenblatt. »Aber ihr Alpha sieht fast wie im Buch aus«, meinte er. »Ja, das stimmt«, erwiderte Richards. »Die Unterschiede hier kom men nur daher, dass sie eben ein anderer Mensch ist. Und das ist die andere Geschichte, die mir Angst macht; ihr Alpha ist absolut nor mal.«
»Und deshalb ist sie besessen?«, fragte Mueller und schob eine Au genbraue hoch. »Schauen Sie«, sagte Richards, seufzte und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Sie nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Wir sind hier alle keine Fachleute für so etwas. Ehe die mich hier herun tergeschickt haben, war ich in der Familienberatung tätig. Wir haben hier genau einen, ich wiederhole, einen voll ausgebildeten For schungspsychiater, und der war Fachmann für Schlafstörungen. Wir sind hier alle überfordert, wenn es um dieses … Phänomen geht. Aber … ja, wir sind zu dem Schluss gelangt, dass wir es hier mit mehr als einer … Person zu tun haben, nicht bloß einer Persönlich keit, einer Person, die in Elgars' Kopf wohnt. Und dass die primäre Persönlichkeit möglicherweise, nein, wahrscheinlich nicht Anne El gars ist.« »Weshalb nicht Elgars?«, fragte Mosovich und dachte dabei, dass Mansfield ihm, wenn das alles vorbei war, wirklich einen mächtigen Gefallen schulden würde. »Hauptsächlich wegen der Erinnerungen«, antwortetete Richards, setzte die Brille wieder auf und wühlte in ihren Notizen. »Anne El gars verfügt über Erinnerungen, die sie eigentlich nicht haben soll te.« Jetzt hatte sie offenbar die Notizen gefunden, die sie suchte, und blickte auf, runzelte die Stirn. »Haben Sie je den Film Top Gun gese hen?«, fragte sie. »Yeah«, nickte Mosovich. »Ein paar Mal sogar.« »Sie sind doch runderneuert, oder?« »Ja.« »Haben Sie den Film gesehen, als er damals rauskam?«, wollte Ri chards wissen. »Ich denke schon«, meinte Mosovich und zuckte die Achseln. »Ja, wahrscheinlich. Wann war das denn? 82? 84? Ich glaube, damals war ich in Bad Tölz. Wenn ich ihn gesehen habe, dann dort in der Garnison.«
»Der Film ist 1986 rausgekommen«, sagte Richards nach einem Blick auf ihre Notizen. »Elgars erinnert sich deutlich daran, dass sie ihn das erste Mal in einem Kino gesehen hat und anschließend zum Haus eines Freundes gefahren ist, selbst gefahren zum Haus eines Freundes, um ihn, wie sie es formuliert, zu ›vernaschen‹.« »Und?«, fragte Mueller. »Anne Elgars war 1986 zwei Jahre alt«, sagte Richards, blickte auf und nahm wieder die Brille ab. »Auch noch so aufgeschlossene El tern wären vermutlich nicht einverstanden, dass eine Zweijährige fährt. Gelinde gesagt. Und dann hat sie eine weitere Erinnerung dar an, dass sie ihn das erste Mal im Fernsehen in einem Wohnzimmer gesehen hat.« »Oh«, sagte Mueller. »Wie wär's mit … wie heißt das gleich … ›im plantiertes Gedächtnissyndrom‹?« »Hey, jetzt hast du mich erwischt«, sagte Mosovich. »Was war das?« »An klassisches implantiertes Gedächtnis haben wir auch gedacht«, erklärte Richards und lehnte sich wieder zurück. »Früher nannte man das ›Regressionsanalyse‹. Dabei hat sich herausgestellt, dass bei dem Prozess für Regressionsanalyse eine Erinnerung im plantiert wird, die für die Person mit der Erinnerung absolut konkret ist. Ich könnte jetzt mit Ihnen ein kleines Szenario durchführen, und am Ende würden Sie sich ganz deutlich daran erinnern, eine Giraffe gewesen zu sein. Oder eine Frau. Oder dass man Sie als Kind sexuell missbraucht hat. Garantiert. Und nichts davon wäre echt. Eine Weile hat das in Fällen von Kindesmisshandlung gewaltige Probleme erzeugt. Als man mich hierher versetzt hat, hatte ich noch oft damit zu tun. Heute übrigens auch noch. Frauen, die sich deut lich daran erinnern, von einem Elternteil oder einem Freund der Fa milie missbraucht worden zu sein, und dabei ist es höchst unwahr scheinlich, dass es je vorgefallen ist. Die einzige Möglichkeit, sie dazu zu bringen, auch nur in Betracht zu ziehen, dass die Erinnerung falsch ist, besteht darin, dass man mit einer ganz offenkundigen Er
innerung, einer ganz offenkundig unmöglichen Erinnerung, densel ben Prozess mit der betreffenden Person durchläuft. Dann haben Sie am Ende diese wirklich unmögliche Erinnerung am Hals. Und das erzeugt wiederum seine eigenen Probleme.« Sie zuckte die Achseln und setzte die Brille wieder auf. »Was kann ich Ihnen sagen? Ich habe zu meiner Zeit mit Dutzenden solcher Fäl le zu tun gehabt. Elgars zeigt keines der klassischen Symptome. Sie erinnert sich an winzige Einzelheiten, die keinerlei Beziehung zu der Erinnerung haben. Das ist eines der Symptome für ›echte‹ Erinne rung im Gegensatz zu implantierten. Und dann ist da das EEG.« Sie griff nach dem Blatt mit dem Alpha-Rhythmus und deutete auf die Transition. »Wir glauben, dass diese seltsame Transition die Stelle ist, wo sie nach der richtigen … nennen wir es ›Seele‹… sucht, um die Handlung zu lenken. Das passiert nur beim ersten Mal, wenn sie eine Fertigkeit nutzt, und deshalb wird es immer schwieriger, neue Beispiele zu finden. Aber konsequent ist es. Und sie verfällt in den Alpha Modus, wo sie das gar nicht sollte. Beispielsweise wenn sie schreibt. Das ist kein normaler Alpha-Moment, nur beim Maschine schreiben.« »Was geht also hier vor?«, fragte Mosovich verwirrt. »Wie ich schon sagte, wir sind keine Experten«, antwortete Ri chards. »Wir können nur Vermutungen anstellen. Wollen Sie hören, was wir vermuten?« »Ja.« Mueller nickte. »Bitte.« »Okay«, sagte Richards, nahm die Brille ab und legte sie auf den Tisch. »Anne Elgars hat in der Schlacht von Washington eine schwe re Kopfverletzung abbekommen. Bei der Verletzung sind größere Schäden aufgetreten, und große Teile ihres Gehirns zeigten keine normale Funktion. Sie befand sich beinahe fünf Jahre im Koma, kon kret gesagt in Dauerkoma.« »Die Tch … Tch-fe …« Sie hielt inne. »Wir sagen gewöhnlich einfach Krabben, Doc«, meinte Mosovich. »Obwohl Menschen am besten Tch-fet sagen.« Er lächelte. »Ich bin
einer der wenigen Menschen, die ich kenne, die je versuchen muss ten, die Krabbensprache zu sprechen. Und selbst ich versuche es nur, wenn es unbedingt nötig ist.« »Also schön, die … die Krabben sind an das Therapieteam heran getreten, in dem Fall also an uns, und haben angeboten, sie würden versuchen, sie zu heilen. Sie erwähnten dabei, dass die Patientin da bei möglicherweise auch sterben könnte. Wenn die Behandlung funktionierte, würde das andererseits verschiedenen anderen auch Überlebenschancen einräumen. Wir hatten … die Genehmigung, ganz nach eigenem Ermessen zu handeln, bloß nicht ihre Versorgungsleitung abzuschneiden, also ha ben wir uns einverstanden erklärt. Sie verschwand mit den … Krab ben und tauchte … so, wie sie ist … wieder auf. In weniger als einer Woche, mit signifikanten Verbesserungen im Muskelbereich. Einige von uns sagten, es wäre ein ›Wunder‹, andere äußerten sich noch überschwänglicher.« Sie hielt inne und zuckte die Achseln. »Und von dem Punkt an be wegen wir uns im Bereich der Spekulation.« Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Der verrückten Spekulation, wenn Sie mir die Formulierung nachsehen. Sagen wir, Sie haben einen Computer, der nicht mehr funktioniert. Sie nehmen alle defekten Teile heraus, löschen den Speicher und la den neue Software. Wir glauben, dass es das ist, was die Krabben getan haben … wir alle glauben das.« »Scheiße«, flüsterte Mueller. »Sie meinen, die …« »Die mussten vermutlich Teile ihres Gehirns wegschneiden«, sagte Richards. »Oder etwas ähnlich Radikales tun. Die aufgetretenen Schäden waren umfangreich und nicht nur die Folge einer Gehirner schütterung; wir hatten vorher ein paar komplizierte Geweberisse festgestellt. So etwas zu reparieren würde chirurgische Eingriffe und Regenerationsmaßnahmen, sagen wir in der Leber, erfordern. Zu mindest für uns Menschen. Aber was auch immer die Krabben ge tan haben, es war genauso umfangreich. Und wenn man damit fer
tig ist, haben Sie immer noch einen ›toten‹ Computer vor sich. Des halb sind wir der Ansicht, dass die eine … eine Persönlichkeit, eine Person, wenn Sie so wollen, genommen haben, die sie hatten … die bei ihnen quasi herumlag, und sie auf Elgars heruntergeladen ha ben. Und all das Erinnerungszeug, das wir sehen, ist das Resultat der kleinen Codefragmente, die da einfach … rumliegen. Man wird das in einem Computer meist auch nicht los, geschweige denn in ei nem Menschen.« »Also ist die Person Anne Elgars tot«, sagte Mosovich. »Das hier ist eine völlig andere Person.« »Gewissermaßen«, nickte Richards und seufzte erneut. »Jetzt fra gen Sie mich nicht nach Seele. Wer oder was eine Person ist, ist eine religiöse Debatte und zugleich auch eine psychologische. Zum einen hat die Natur darauf einigen Einfluss; das ist schon mehrfach bewie sen worden. Wie es scheint, neigen Menschen dazu … eine Schablo ne auszufüllen, die irgendwie vorbereitet ist. Sie sind nicht sozusa gen deterministisch darauf festgelegt, aber es ist unwahrscheinlich, dass die Person, die Anne Elgars am Ende wird, entweder Anne El gars oder die Person sein wird, die die Krabben allem Anschein nach ›auf sie heruntergeladen haben‹.« »Und was ist mit der Sache von wegen Alpha-Wellen?«, erkundig te sich Mueller. »Nun, das ist etwas anderes«, antwortete sie. »Wie es aussieht, hat man in Anne Elgars nicht nur eine andere Person ›geladen‹, sondern es sind auch die besonderen Fähigkeiten dieser Person dazugekom men. Und wir sind der Ansicht, dass einige davon, vielleicht sogar die ursprüngliche Elgars, für die Grundpersönlichkeit ›integral‹ sind, und andere sind davon separiert. Wenn sie daher auf eine neue Situation stößt, muss sie sozusagen die richtige Datei ›suchen‹. Das läuft in ihr ganz unbewusst ab; sie hat keine Ahnung, was sie tut. Aber das ist wohl der Grund für die eigenartige Transition.« »Nun, ich weiß nicht, wer sie ist«, sagte Mosovich. »Die Frage ist nur, kann sie ihren Job tun? Im Augenblick brauchen wir jeden, den
wir nur gerade kriegen können, sofern er einen Karabiner abfeuern kann. Ist sie zum Militärdienst fähig oder nicht?« »Das ist sie«, antwortete Richards. »Sogar mit Leichtigkeit. Sie ist programmiert, Soldat zu sein, wahrscheinlich sogar ›Super-Soldat‹. Sie ist eine hervorragende Scharfschützin und offenbar in Sprengar beiten ausgebildet. Sie ist also ganz sicherlich fähig, Militärdienst zu leisten. Die Frage ist nur, wofür sie sonst noch programmiert ist.«
Wendy öffnete die Tür, als der Summer ertönte, klemmte sich die zappelnde Amber unter den Arm und musterte die Gestalt im Tarn anzug, die vor ihrer Tür stand, mit argwöhnischem Blick. »Wir ha ben schon in der Arbeit gespendet.« Mueller runzelte die Stirn. »Ich dachte, dies sei Ihr Arbeitsplatz?« »Das ist es auch, aber wir haben bereits gespendet«, antwortete Wendy. »Mit anderen Worten, was wollen Sie hier?« »Äh, man hat uns gesagt, dass wir hier Captain Anne Elgars vor finden würden«, sagte Mueller. »So, wie ich das Bild in Erinnerung habe, sind Sie nicht Captain Elgars. Aber ich freue mich, Ihre Be kanntschaft zu machen, Ms …?« »Cummings«, sagte Wendy. »Wendy Cummings.« »Master Sergeant Mueller«, stellte er sich vor. »Erfreut, Ihre Be kanntschaft zu machen. Kann ich Captain Elgars sprechen?«, fuhr er dann fort, als das Baby einen schrillen Schrei, ähnlich dem Klang ei ner Feuerwehrsirene, von sich gab. »Aber sicher. Ich werde sie holen«, sagte Wendy. »Kommen Sie rein.« Sie schlug einen Bogen um Kelly, die sich mitten auf dem Boden niedergelassen hatte, um dort ein Puzzlespiel auszulegen, und ging nach hinten. Mueller sah sich nach Mosovich um, zuckte die Achseln und trat ein. Der Raum war erfüllt von dem fröhlichen Lärm, den eine Grup
pe von Kindern für gewöhnlich erzeugt, aber als die Kleinen die Be sucher wahrnahmen, wurde es leiser. Es dauerte nicht lange, bis Mosovich und Mueller von einem Halbkreis von Kindern umgeben waren. »Bist du ein richtiger Soldat?«, fragte eines der kleinen Mädchen. Ihre braunen Augen waren so groß wie Untertassen. Mueller kauerte sich nieder, bis er etwa auf gleichem Niveau mit der Kleinen war, und nickte. »Ja. Bist du ein richtiges kleines Mäd chen?« Das Mädchen kicherte, und einer der Jungs beugte sich vor. »Ist das ein richtiges Gewehr?« »Ja«, knurrte Mosovich. »Und wenn du es anfasst, kriegst du einen Klaps.« »Gewehre sind kein Spielzeug, Junge«, fügte Mueller hinzu. »Wie heißt du?« »Nathan«, erklärte der Junge. »Wenn ich groß bin, werde ich Sol dat, dann will ich Posleen umbringen.« »Das freut mich aber«, pflichtete Mueller ihm bei. »Aber da fängst du nicht mit einem großen Gewehr an. Du lernst zuerst, mit kleinen umzugehen. Und eines Tages, wenn du immer hübsch dein Gemüse isst, wirst du einmal so groß wie ich sein. Dann kannst du den gan zen Tag Posleen umbringen.« »Ohne müde zu werden?«, fragte eines der Mädchen. »Na ja …«, sagte Mueller und gab Mosovich verstohlen ein Zei chen, als dieser zu lachen anfing, »müde wird man schon.« »Okay, es gibt gleich Essen, Kinder, fertig machen«, sagte Shari, die jetzt mit Elgars und Wendy aus dem hinteren Raum kam. »Lasst diese Herren in Ruhe. Wascht euch die Hände und setzt euch hin, damit wir beten können.« »Ich bin Elgars«, sagte der weibliche Captain, ohne sich um die Kinder zu kümmern. Sie hatte weißen Puder an beiden Händen und einer Wange.
»Captain, ich bin Sergeant Major Mosovich, Fernaufklärungsteam von Fleet, und das hier ist Master Sergeant Mueller.« Er legte eine kurze Pause ein und nickte dann, als ob er im Geist eine Liste durch gegangen wäre. »Ihr Kommandeur, Colonel Cutprice, hat einem meiner Leute eine Mitteilung geschickt und gebeten, hier runterzu kommen und nachzusehen, ob man Sie aus den Klauen der See lenklempner reißen muss. Ich weiß nicht, ob Sie sich an Nichols er innern, aber Sie und er waren zusammen in der Scharfschützenschu lung. Er hat bei unserem letzten Einsatz einiges abbekommen und ist noch beim Karosseriespengler, deshalb bin ich an seiner Stelle mit Mueller hierher gekommen. Jedenfalls bin ich jetzt hier.« »Okay«, sagte Elgars und nickte. »Dann werde ich also jetzt be freit?« »Können wir uns irgendwo unterhalten, Ma'am?«, fragte Moso vich. »Irgendwo, wo es ruhiger ist?«, fügte er hinzu, als die Kinder aus dem Bad zurückkamen. »Eigentlich nicht«, sagte Elgars und wurde dabei etwas lauter, um die Kinder zu übertönen. »In der Küche ist's nicht viel besser. Wir müssten in mein Quartier gehen, und dazu habe ich eigentlich keine Zeit.« »Ist hier … ich meine, arbeiten Sie hier, Ma'am?«, fragte Mosovich. »Ja, sozusagen«, antwortete sie. »Ich helfe mit. Ich bin mit Wendy zusammen und sehe zu, mich wieder neu zu orientieren.« »Na ja«, meinte Mosovich mit gerunzelter Stirn. »Okay, dann frage ich Sie hier – Ma'am, was würden Sie davon halten, wieder in den aktiven Dienst zurückzukehren?« »Mir wäre das recht«, nickte Elgars. »Darf ich Sie was fragen?« »Aber selbstverständlich, Ma'am.« »Sind Sie gekommen, um mich zu beurteilen?« Mosovich hatte sich schon eine Weile mit dieser Frage auseinander gesetzt. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er darauf ehrlich antworten oder sich ein wenig Zeit lassen sollte. Schließlich ent
schied er sich für Ehrlichkeit, selbst wenn das nicht die beste Lösung sein sollte. »Ich denke, so könnte man es nennen, Ma'am«, gab der Sergeant Major zu. »Man hat mich beauftragt, hier runterzukommen, mir ein Bild von Ihnen zu machen und dann schriftlich Ihrem Kommandeur zu berichten, wie ich Ihre Einsatzbereitschaft beurteile. Normaler weise beauftragt man nicht einen Sergeant Major damit, über einen Offizier zu berichten, und ich bin auch kein Psychologe. Aber ich treibe mich jetzt schon eine ganze Weile in diesem Krieg rum und ich denke, man hat weiter oben einfach Vertrauen zu meinem Ur teilsvermögen.« »Okay.« Elgars nickte. »Dann werde ich auch ehrlich zu Ihnen sein. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ein Captain macht. Ich kann schießen, das weiß ich. Ich beherrsche auch andere Dinge. Aber ich stoße immer wieder auf Löcher. Und ich habe wirklich kei ne Ahnung, worin die Aufgabe eines Captains besteht. Und deshalb wäre es ein ziemliches Problem für mich, Captain zu sein.« Mueller tippte Mosovich an der Schulter an und flüsterte ihm et was ins Ohr. Mosovich drehte sich zu ihm herum, sah ihn mit fra gender Miene an und wandte sich dann wieder an Elgars. Unver mittelt hob er die Hand und sagte: »Captain, würden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen.« Dann ging er mit Mueller in eine Ecke der Tagesstätte und redete mit ihm. Elgars konnte sehen, wie Mosovich den Kopf schüttelte und Mueller gestikulierte. Nach ein paar Augenblicken ging Wendy zu ihr hinüber und fragte sie, was hier eigentlich vorgehe. »Keine Ahnung«, erwiderte Elgars. »Aber ich glaube nicht, dass es mir gefallen wird.« Jetzt kam Mosovich zurück. »Captain«, sagte er laut genug, um das Geschrei der Kinder im Hintergrund zu übertönen. »Ich glaube, in dieser Umgebung können wir uns wirklich kein richtiges Bild da von machen, wie Sie im Augenblick mit Ihren Fähigkeiten klarkom men.«
Elgars musterte ihn einen Augenblick lang, sah zu Wendy hinüber und dann erneut zu Mosovich. »Was würden Sie dann vorschlagen?« »Mueller schlägt vor, dass wir vier nach oben gehen. Vielleicht miteinander zu Abend essen, einen Schießstand aufsuchen und se hen, wie Ihnen zumute ist, wenn Sie sich in einer Umgebung befin den …«, diesen Augenblick wählte Shakeela aus, besonders laut zu brüllen, »… aber jedenfalls nicht in einer Tagesstätte.« »Sergeant Major Mosovich«, fragte Wendy und schob dabei die Augenbrauen in die Höhe, »soll das eine Art Double Date werden?« »Nein«, erwiderte er und schüttelte den Kopf. »Bloß eine Gelegen heit, woanders als hier miteinander zu reden.« »Mhm«, machte Wendy und sah Mueller an, der mit ausdruckslo ser Miene zu ihnen herüberstarrte. »Na ja, Shari kommt nicht alleine mit den Kindern klar, aber Captain Elgars kann ja wohl alleine auf sich aufpassen, also schlage ich vor, dass Sie zu dritt gehen.« »Okay«, meinte Mosovich und zuckte die Achseln. »Soll mir recht sein.« »Augenblick«, wandte Elgars ein. »Wendy, wie lange ist es her, dass du zuletzt oben warst?« »November?«, erwiderte Wendy mit gerunzelter Stirn. »Mhm«, machte Elgars. »Und welches Jahr?« »Äh …« Wendy schüttelte den Kopf. »2012?« »Und wie lange ist es her, dass Shari so etwas wie einen Urlaub ge habt hat?«, fragte Elgars weiter. »Mit den Kindern nach oben zu gehen wäre ganz sicher kein Ur laub«, stellte Wendy fest. »Aber … ich glaube nicht, dass sie die Urb verlassen hat, seit wir von Fredericksburg hierher gekommen sind. Und das letzte Mal, dass ich dort oben war, war … da musste ich eine Zeugenaussage machen«, erklärte sie mit versteinerter Miene. »Also ich denke, wir sollten alle einen Ausflug an die Oberfläche machen«, sagte Elgars.
»Mit den Kindern?«, fragte Mosovich mit ungläubiger Miene. »Aber sicher«, erklärte Mueller. »Mit den Kindern. Ein Stresstest für den Captain.« »Herrgott, ja, meinetwegen«, sagte Mosovich und hob beide Hän de. »Ein Stresstest für mich. Wir gehen alle nach oben und essen ir gendwo in Franklin zu Abend. Dann sehen wir, wie Elgars damit klarkommt, wenn sie draußen ist. Ich werde das mit in meinen Be richt aufnehmen, dann sehen wir ja, was Colonel Cutprice dazu zu sagen hat.« »Ich brauche Hilfe«, sagte Shari und kam vom Tisch herüber. »Schön, dann wäre das also geklärt.« Wendy lachte. »Was wäre geklärt?« »Der Sergeant Major hält es für notwendig, eine Weile mit Captain Elgars zusammen zu sein«, stellte Mueller fest. »Ich habe vorge schlagen, dass wir an die Oberfläche gehen und Wendy mitnehmen, damit der Captain nicht ganz allein ist. Wendy hat darauf hingewie sen, dass Sie mit den Kindern nicht allein zu Rande kommen, und daraufhin haben wir beschlossen, Sie und die Kinder nach oben ein zuladen.« »Wo oben?«, fragte Shari nervös. »In Franklin gibt es mindestens einen Ort, der sich dafür eignet, denke ich«, erklärte Mosovich. »Ein Erholungsgebiet für das Korps. Dort muss es doch irgendeine Möglichkeit geben.« »Ich weiß nicht«, zögerte Shari. »Franklin? Das …« »Das hat hier unten keinen sonderlich guten Ruf«, stellte Wendy schmunzelnd fest. »Wir gehen auch nicht oft hin«, erklärte Mueller. »Aber glauben Sie's mir, das Essen ist dort besser als hier unten.« »Ich weiß nicht recht …« Shari zögerte immer noch. »Also ich schon«, entschied Wendy. »Wie lange sind wir jetzt schon hier unten? Fünf Jahre? Wie lange ist es her, dass du zuletzt die Sonne gesehen hast?«
»Sehr lange«, flüsterte Shari und nickte. »Mit Ausnahme von Billy glaube ich nicht, dass irgendeines von den Kindern sich daran erin nert, wie sie aussieht.« »Wir werden drei ausgebildete Soldaten bei uns haben«, gab Wen dy zu bedenken. »Es besteht also keine Gefahr. Das ist eine Chance für die Kinder, sich die Oberfläche anzusehen. Wie schlimm kann es denn sein?« »Im Grunde genommen gibt es augenblicklich keine Posleen-Akti vitäten«, meinte Mosovich. »In der Nähe von Clarkesville ist ein Globe gelandet und benimmt sich irgendwie komisch, aber die ha ben auch noch nichts unternommen. Bloß uns über die Hügel ge jagt.« »Okay«, erklärte Shari, nachdem sie kurz überlegt hatte. »Dann wollen wir es tun. Wie du ganz richtig sagst, Wendy, wie schlimm kann es schon sein?«
»Du bist da völlig rausgewachsen, Billy«, sagte Shari und zog Billys Anorak zurecht, während Wendy sich um ihre Waffe kümmerte. »Das ist … unglaublich«, sagte sie und betrachtete dabei die Waffe. Es handelte sich um ein AIW, ein halbautomatischer 7.62-Karabiner mit einem 20-mm-Granatwerfer an der Unterseite. Ihr AIW hatte zu sätzlich oben einen Lasersucher gehabt. Hatte. »Wo ist mein Lasersucher?«, fragte sie verärgert und drehte die angerostete Waffe hin und her. »Ich habe das hier mit einem 4x-Leu pold-Sucher mit Laseransatz abgegeben. Aber diese Waffe hat kei nen Leupold-Sucher. Und dann waren da noch drei Zusatzmagazi ne. Und man hat mich gezwungen, meine zweihundert Schuss Mu nition abzugeben, die nicht in den Magazinen waren. Wo ist das jetzt alles?«
»Hier ist nur die Waffe aufgelistet«, sagte der Wachmann nach ei nem Blick auf seinen Bildschirm. »Keine Munition, kein Zielgerät, keine Magazine.« »Darauf ist gepfiffen«, sagte Wendy und beugte sich vor und hielt ihm eine ausgebleichte Quittung vor die grünliche Glasscheibe. »Da, sehen Sie sich diese Scheißquittung an! Was soll ich denn mit einer Waffe ohne Munition anfangen?« »Wendy«, riet Mosovich und zog an ihrem Arm. »Geben Sie's auf. Da ist kein Zielgerät und keine Munition. Diese Arschlöcher haben die schon lange verschossen. Und das Zielgerät hat dieser Schwach kopf hier an seiner Waffe angebracht. Die er seit einem Jahr nicht mehr abgeschossen hat.« »Wenn du hier rauswillst, legst du dir am besten bessere Manieren zu, Fleet Boy«, knurrte der Wachmann hinter seiner Glasscheibe. Mueller beugte sich vor, bis seine Nase nur noch ein paar Zentime ter von der Panzerglasscheibe entfernt war, und lächelte. »HEY!«, schrie er und lachte, als der Wachmann zurückzuckte. Dann griff er in eine der weiten Taschen seiner Uniformbluse und zog eine C-4 Ladung heraus. Er riss den Klebestreifen ab, drückte die Ladung ge gen das Glas, tastete dann seine Taschen ab und murmelte dabei »Zünder, Zünder …« Mosovich lächelte. »Machen Sie jetzt auf oder soll ich reinkommen und den Knopf drücken?« Dann nickte er, als sich die Panzertüren hinter ihm zurückschoben. »Vielen herzlichen Dank. Und falls Sie jetzt überlegen, ob Sie an den Lifts rumdoktern sollen, sollten Sie be denken, dass wir dann zurückkommen müssten.« »Und … 'nen schönen Tag noch«, sagte Mueller, griff nach Kellys Hand und ging auf die Tür zu. »Ich glaub's einfach nicht«, schimpfte Wendy und starrte immer noch ihr Gewehr an. »Ich hab dieses Ding blitzsauber hier abgegeben. So, wie es aus der Fabrik kam.«
»Ich bezweifle sogar, dass es jetzt noch funktioniert«, seufzte Mu eller. »Diese Dinger sind der letzte Dreck, wenn sie mal angerostet sind. Das ist der Abzugsmechanismus; der taugt nicht viel.« »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, beruhigte Mosovich Wendy. »Es ist ja nicht so, dass die Posleen in Franklin über uns her fallen werden.« »Wir haben gehört, dass die überall sind«, meinte Shari nervös, als sie vor dem Lift zur Oberfläche standen. »Dass jeden Tag Menschen umgebracht werden.« »Oh, das stimmt schon«, sagte Mueller und ging die paar Schritte zum Liftknopf. Der Lift war riesig, groß genug, dass ein Sattelschlep per darin Platz gehabt hätte, aber mit einer Anordnung von Metall pfosten und Ketten wie ein Viehpferch aufgeteilt. Einige der Ketten hingen herunter, und einer der Pfosten rollte herum, als ein Ruck durch die Kabine ging. »Ich schätze, jeden Tag werden drei oder vier Zivilisten von wilden Posleen getötet. Wissen Sie, wie viele Leu te vor dem Krieg bei Autounfällen ums Leben kamen?« »Yeah«, pflichtete Mosovich ihm bei. »Die Unfallraten in den Ver einigten Staaten sind gesunken, dafür haben wir jetzt mehr Gefalle ne.« »Warum fahren wir seitwärts?«, wollte Elgars wissen. »Oh, tut mir Leid, ich habe nicht dran gedacht, dass Sie ja noch nie in so einem Ding gefahren sind«, sagte Mosovich. »Für jeden Schacht gibt es mehrere Lifts, damit man Flüchtlinge wirklich schnell nach unten schaffen kann. Es gibt einen ›Aufwärts-Schacht‹ und einen ›Abwärts-Schacht‹, und die Kabinen werden zwischen den beiden hin und her geschoben.« Er nickte, als die ganze Liftka bine zu zittern begann und dann langsam nach oben stieg. »Ich war mal in einem, der hängen geblieben ist; war nicht sehr angenehm. Aber wo waren wir gerade?« »Geringere Todeszahlen«, sagte Shari.
»Insgesamt natürlich nicht, dass wir uns da nicht falsch verstehen«, sagte Mueller. »Die Gefallenenzahlen haben das ausge glichen.« »Wie viele?«, fragte Elgars. »Ich meine Gefallenenzahlen?« »Zweiundsechzig Millionen«, erklärte Mosovich. »Amerikanische Streitkräfte innerhalb und außerhalb der USA. Und das sind nur die militärischen Verluste. Im Vergleich mit China und Indien verblassen diese Werte, aber sie sind trotzdem noch ziemlich schlimm.« »Zweiund …« Shari stöhnte. »Würden Sie das noch einmal sagen?« »Zweiundsechzig Millionen«, sagte Mueller mit leiser Stimme. »Auf dem Höhepunkt des Krieges standen fast so viele Menschen auf dem Gebiet der USA und in den Expeditionskorps unter Waffen. Aber in den letzten fünf Jahren hatten die meisten Kampfverbände, die meisten Infanteriebataillone drei Tote pro Planstelle. Das heißt dreihundert Prozent Verluste. Auf dem Höhepunkt betrug der ame rikanische Anteil an den Expeditionskorps beinahe vierzig Millio nen Soldaten und Soldatinnen. Aber die Gesamtsumme der Verluste liegt höher, und die amerikanischen Expeditionskorps umfassen jetzt weniger als zwölf Millionen. Und nur die Hälfte davon sind Kämpfer, die tatsächlich ›auf Posleen schießen‹.« »Und die Zahlen im Inneren gehen zurück«, fügte Mosovich hin zu. »Es gibt immer noch von Zeit zu Zeit Landungen; erst letztes Jahr ist ein Battle Globe fast unversehrt in der Nähe von Salt Lake City gelandet.« »Davon haben wir gehört«, sagte Wendy. »Aber … nichts von die sen gewaltigen Verlusten.« »Die werden auch allgemein zurückgehalten«, räumte Mosovich ein. »Zählen Sie die rund vierzig Millionen Verluste in der Zivilbe völkerung hinzu und die Tatsache, dass wir diesen Krieg inmitten einer Phase führen, in der die Geburtenzahlen für Männer im wehr fähigen Alter zurückgehen, dann können Sie erkennen, dass wir … nun ja, ausbluten. Selbst wenn man ältere Leute verjüngt – jeman
den zu nehmen, der nie eine Waffe in der Hand gehalten hat, und ihm das beizubringen, wenn er achtzehn ist, ist eine Sache, aber wenn die Betreffenden fünfzig sind, ist das … völlig anders. Im All gemeinen sind sie einfach nicht dumm genug, um gute Soldaten ab zugeben. Als Kanonenfutter ungeeignet. Junge Burschen wollen Helden sein, damit die Frauen sie lieben und Babys von ihnen be kommen. Die Alten wollen bloß lang genug leben, um den nächsten Sonnenaufgang zu sehen.« »Womit wieder einmal bewiesen wäre, wie dumm es ist, dass man keine Frauen zu Kampfeinheiten zulässt«, sagte Wendy und schüt telte ein weiteres Mal den Kopf wegen des Zustands ihrer Waffe. »Das ist …« Sie schüttelte erneut den Kopf. »Ich weiß, dass ich mich auf große, starke Männer wie Sie verlassen kann und Sie mich be schützen werden. Aber ich will nicht darauf angewiesen sein!« »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf«, schmunzelte Moso vich. »Wir finden schon eine Waffe für Sie. Und Frauen sind im All gemeinen auch nicht dumm genug; sie können jederzeit Babys krie gen, wenn sie das wollen. Aber trotzdem, ich halte diese Festlegung auch nicht für gut, aber anscheinend schafft es keiner, sie zu än dern.« Er trat durch die Tür in einen Raum mit Betonwänden, der etwa fünfzig Meter breit und hundert tief war. Auf dem Boden konnte man eine Anzahl schwarzer Striche sehen, und von den Wänden rann Kondenswasser. Aus dem Lift wehte ständig eine schwache Brise in Richtung auf die Glastüren am anderen Ende. Etwa in der Mitte des Saals gab es eine Anzahl kleiner Vertiefungen. Als sie nä her kamen, konnten sie erkennen, dass die meisten davon sich mit Schmutz und Abfällen gefüllt hatten, die teilweise hineingeweht worden waren, aber vieles hatten auch die Vorübergehenden ein fach hineingeworfen. Eine ganze Anzahl der Linien auf dem Boden war abgeblättert, und die vielen Abfälle auf dem Boden waren ziem lich alt.
»Ich denke, ich kenne den wahren Grund, weshalb Frauen heutzu tage praktisch keine Chance haben, zu den Landstreitkräften zu kommen«, erklärte Mosovich. »Aber das ist ziemlich eklig, und es wird Ihnen nicht gefallen.« »Ich habe schon einiges hinter mir, was mir nicht gefallen hat«, sagte Wendy. »Mein ganzes Leben war bisher voll von Dingen, die ich nicht mag.« »In dem Fall, denke ich, sind die Verluste die Antwort, zwei Ant worten, genauer gesagt«, erklärte Mosovich. »Der erste Grund ist, dass wir ausbluten. Wir haben etwa achtzig Prozent unserer männlichen Bevölkerung im fortpflanzungsfähigen Alter verloren, aber nur etwa dreißig Prozent der weiblichen fort pflanzungsfähigen Bevölkerung …« »Man braucht uns für den Nachwuchs«, sagte Wendy. »Genau«, nickte Mosovich. »Die da oben sind offenbar der An sicht, dass es, sobald wir die Posleen von unserem Planeten verjagt haben, nicht viel bringt, wenn dann bloß noch ein paar alte Frauen und Kinder übrig sind, um ›weiterzumachen‹. Also achten sie dar auf, die ›gebärfähige‹ Bevölkerung zu bewahren.« »Da gehören aber zwei dazu«, gab Shari zu bedenken und zupfte Shakeelas Mantel zurecht. In dem Bunker war es im Vergleich zu der unterirdischen Stadt, die sie verlassen hatten, recht kühl, und man konnte klar erkennen, dass hier oben der Herbst begonnen hat te. »Wo sollen denn diese Frauen im ›gebärfähigen Alter‹…« »Kerle finden?«, fragte Mueller. »Die Antwort darauf ist vielleicht nicht hübsch, aber es braucht gar nicht so viele Kerle, um eine Men ge Babys zu machen, während bei Frauen immer noch das Verhält nis eins zu eins gilt.« »Da hat er Recht«, pflichtete Mosovich ihm bei. »Hübsch ist es nicht, aber die Wahrheit, was aber nur die halbe Wahrheit ist. Bei der ersten Welle hatten wir gewaltige konventionelle Verluste. Da mals stellte sich ernsthaft die Frage, ob wir überall standhalten wür den, und an einigen Orten haben wir nicht standgehalten. Die Ver
luste der kämpfenden Einheiten waren riesig. Und es gab … ein Missverhältnis bei den Verlusten weiblicher Kämpfer gegenüber männlichen. Die Verluste an Frauen in kämpfenden Einheiten ent sprachen ziemlich genau denen der Männer, aber sie stellen höchs tenfalls ein Drittel der Einheiten dar. Ich habe Ihre ganze Akte gelesen, Captain«, fuhr er dann verbissen fort. »Und vorher hatte ich schon einen geheimen Nachtrag gelesen, in dem Sie auch erwähnt sind. Sie haben ohne Frage am Washington Monument gute Arbeit geleistet, aber wenn Keren nicht gewesen wäre, wären Sie jetzt tot. Und was Sie … auf dem Rückzug von Dale City erlebt haben, ist eines der klassischen Beispiele.« »Wer ist Keren?«, fragte Elgars. »Und was wollen Sie damit sagen?« »Keren ist Captain bei den Zehntausend«, sagte Mueller, als sie die Tore erreichten. Es handelte sich um zwei Doppeltore mit einem Raum dazwischen, die als eine Art Luftschleuse fungierten und den Luftschwall abmilderten, der sonst aus dem Bunker geströmt wäre. »Er war bei einem Mörser-Platoon im hinteren Bereich der sich zu rückziehenden Streitkräfte. Er hat Sie offenbar während des Rück zugs mitgenommen, und Sie sind mit ihm bis zum Monument ge fahren.« »Eine andere Einheit hatte Sie einfach abgesetzt«, fügte Mosovich verkniffen hinzu. Er bog nach links und ging die breite Treppe zur Außenwelt hinauf. Treppen gab es ebenfalls zwei, je eine beiderseits des Eingangs. Gegenüber den Toren gab es einen Laufsteg, der oben in die Treppe mündete. Und dort oben gab es seitlich eine Anzahl vom Laufgang aus zugänglicher Schützenstellungen hinter kleinen Betonschilden. Auf der anderen Seite war eine offene, fast zweihun dert Meter durchmessende Fläche zu sehen und dahinter ein großer Parkplatz, auf dem über und über schmutzige Autos und Trucks zu sehen waren, sowie ein Humvee, der auf der Grasnarbe parkte. »Das ist einer ganzen Anzahl weiblicher Soldaten bei diesem Rückzug und auch bei anderen Rückzugsoperationen passiert. Eini
ge Einheiten hatten bis zu hundert Prozent weibliche Ausfälle im Vergleich zu fünfzig oder sechzig Prozent Männern.« »Na ja, der Grund, weshalb man Sie rausgeschmissen hat, war ja nicht so häufig vertreten«, wandte Mueller ein. »Warum hat man mich denn ›rausgeschmissen‹?«, fragte Elgars vorsichtig. »Sie waren vergewaltigt worden«, erklärte Mosovich verkniffen. »Dann hat man Ihnen Ihr Scharfschützengewehr weggenommen und Sie mit einem AIW und einem einzigen Magazin rausgeschmis sen.« »Oh«, sagte Elgars. »Das ist … irgendwie … lästig.« »Sie wollen also sagen, dass man mich deshalb nicht bei den Land streitkräften haben möchte, weil es bei einem Rückzug dazu kom men könnte, dass ich vergewaltigt werde?«, fragte Wendy verärgert. »Dann sollten die ihre verdammten Soldaten nicht in die SubUrbs lassen!« »Soll ich daraus schließen, dass Sie deswegen keine große Lust hatten, mit uns an die Oberfläche zu kommen?«, fragte Mueller. »Falls das so ist, tut es mir Leid, dass ich Sie dazu aufgefordert habe. Und wenn Sie mir den Namen und die Einheit nennen, dann küm mere ich mich darum.« »Ich habe nur eine Zeugenaussage gemacht«, sagte Wendy. Sie blieb oben an der Treppe stehen, blinzelte ein paar Mal, um sich an das grelle Tageslicht zu gewöhnen, und blickte auf die Stadt hinun ter. Vor dem Krieg war Franklin eine kleine irgendwie malerische Stadt in den nur dünn besiedelten Bergen gewesen. Ihren Lebensun terhalt hatte sie von den ringsum angesiedelten Farmern und den Rentnern bezogen, die aus Florida nach Norden gezogen waren, als es ihnen dort zu unsicher geworden war. Als dann die Vorbereitungen zum Krieg begonnen hatten, hatte man erkannt, dass Franklin einen wichtigen Stützpunkt für die Ver
teidigung der Appalachen-Südregion darstellen konnte. Einheiten vom Süden von Asheville bis hinauf nach Ellijay wurden von Fran klin aus versorgt und verwaltet. Jetzt wimmelte es in der Stadt von Soldaten, und ihre Zeltlager er streckten sich beiderseits von Franklin die Berge hinauf. Die kleine Ladenstraße, die man vom Eingang zu der SubUrb aus sehen konn te, war von Pfandleihern und T-Shirt-Läden übernommen worden, und das einzig »normale« Geschäft war eine chemische Reinigung. Sie blickte auf das rege Treiben hinunter und zuckte die Achseln. »Als … als die Urb gebaut wurde, konnte dort jeder jederzeit rein und raus. Das war … anfänglich gut so. Das Korps hat in der Urb eine Menge Gutes getan. Und … die meisten Angehörigen des Korps sind Männer, und in der Urb sind Frauen und … alles nahm seinen natürlichen Verlauf. Und dann … ist die Stimmung … ir gendwie umgeschlagen.« »Eine Menge Mädchen in der Urb waren … einsam«, fügte Shari hinzu. »Sie haben sich mit den Soldaten eingelassen, und einige von den Jungs sind praktisch in der Urb eingezogen. Und dann hat sich so etwas wie ein schwarzer Markt entwickelt; man konnte sogar Kaffee bekommen. Aber allmählich hat das dann überhand genom men. Die Sicherheitskräfte reichten nicht aus oder waren jedenfalls nicht gut genug, um die Soldaten unter Kontrolle zu halten, und dann gab es Zuständigkeitsstreitigkeiten mit der MP des Korps, und die waren zahlreich genug und auch bereit zuzuschlagen, wenn es nötig war.« »Und am Ende kam es zu …« Wendy zuckte die Achseln, schau derte. »Also, einer der Offiziere, der an den Ermittlungen beteiligt war, hat das Ganze als ›Plünderung‹ bezeichnet. Es war schrecklich, und es gab eine Menge Vergewaltigungen. Ich habe es bis zum Schießplatz geschafft, und Dave und ich haben einige von den Gruppen aufgehalten, die sich um uns gedrängt haben.« »Ich hatte eine … na ja, sagen wir eine Gruppe … eigentlich Jun gen, die wie die Kinder waren, um die ich mich gekümmert habe«,
sagte Shari. »Einige davon waren da, als die Unruhen anfingen. Und so bin ich durchgekommen.« »Andere sind das nicht«, meinte Wendy düster. »Und deshalb mö gen wir das Korps in der Urb nicht. Jedenfalls wurde die Urb an schließend zum Sperrgebiet für Militärpersonal erklärt …« »Es sei denn, die betreffenden Soldaten hatten Anweisungen«, wandte Mueller ein. »Ja, es sei denn, sie hatten ausdrückliche Anweisung«, bestätigte Wendy und nickte. »Und jetzt bleiben die hier oben, und wir bleiben hier unten, und Mädchen, die doch hingehen wollen …« »Üben ein Gewerbe aus?«, fragte Mosovich. »Ich hab schon ver standen. Aber wegen menschlicher Bedrohungen brauchen Sie sich auch keine Gedanken zu machen.« »Oh, das tue ich nicht«, sagte Wendy und strich mit der Hand über ihr angerostetes Gewehr. »Es taugt zwar nicht mehr viel, aber als Keule kann ich es immer noch gebrauchen, wenn es dazu kom men sollte …«
16 Hauptquartier Landstreitkräfte, Fort Knox, Kentucky, Sol III 1453 EDT, 24. September 2014
General Horner las den Einsatzbericht des Kundschafterteams mit ausdrucksloser Miene. Die Mitarbeiter seines Nachrichtendienstes waren darüber geteilter Meinung; Mosovich genoss einen ausge zeichneten Ruf, aber fliegende Tanks hatte bis jetzt noch niemand gesehen. Horner hatte mit der Information keine Probleme. Sie war schlimm. Das war normal. Er seufzte und rief eine Grafik auf, von der er wusste, dass er sie viel zu oft ansah: eine Schätzung seines eigenen AID, die auf allen verfügbaren Informationen basierte und die … relative Kampfkraft in den Vereinigten Staaten anzeigte. Die Darstellung berücksichtig te, dass die Verlustrate der Menschen im Vergleich zu Posleen etwa eins zu eintausend betrug, berücksichtigte darüber hinaus aber auch, dass einerseits immer weniger Soldaten zur Verfügung stan den, und bezog andererseits die Geburtsraten der Posleen ein. Die Kurve zeigte an, dass es irgendwann im Laufe der nächsten zwölf Monate, wenn die augenblickliche Brut von Posleen-Nestlingen aus gereift und mit Waffen versehen war, genügend Posleen geben wür de, um jeden einzelnen auch nur annähernd wichtigen Pass in den Appalachen zu überfluten. Und dazu würde es nicht einmal schlaue Posleen brauchen.
Wenn man jetzt noch diese mögliche neue Erkenntnis hinzufügte, dass es intelligente Posleen gab, war alles im Eimer. Der Bericht aus Georgia andererseits war sehr beunruhigend. Er wusste, dass Rabun als eine der weniger gut in Schuss gehaltenen Verteidigungsanlagen galt, hauptsächlich weil die Stellungen dort bisher kaum angegriffen worden waren. Es gab dort unten einen Verteidigungsspezialisten, der Name lag ihm auf der Zunge, aber das reichte nicht aus. Und Bernard war dort. Das würde den Posleen jeden Vorteil ver schaffen, den sie brauchten. Was tun, was tun … Zuallererst tippte er den Befehl ein, dass die Zehntausend sich zum Abrücken bereithalten sollten. Sie konnten bleiben, wo sie wa ren, schließlich brauchten sie dringend Erholung, aber sie waren jetzt auf vier Stunden Alarmbereitschaft gesetzt und wurden ange wiesen, alles zum Abrücken bereitzuhalten. Cutprice hatte das wahrscheinlich ohnehin schon veranlasst, aber auf Nummer Sicher zu gehen hatte noch nie geschadet. Er überlegte, ob er den GKA denselben Befehl erteilen sollte, aber wenn er das tat, würde O'Neal wahrscheinlich alle in die Anzüge stecken und Kurs auf … oh … Scheiße. Er blickte erneut auf die Karte und schüttelte den Kopf. Das brach te einen völlig neuen Aspekt ins Spiel. Er durfte O'Neal gegenüber unter keinen Umständen etwas über diese Situation erwähnen, er und seine Leute brauchten dringend noch ein paar Tage Ruhe. Das Bataillon schnell nach Süden zu verlegen würde freilich nicht leicht sein. Nun, mal sehen. Er sah sich die Bestandslisten an und stellte fest, dass sie ausrei chend über Tarnkappen-Shuttles verfügten, »Banshees«, wie die Truppen sie allgemein nannten. Sie hatten sie bestellt, als es noch so aussah, als ob die Großzügigkeit der Galakter grenzenlos wäre. Jetzt, im Nachhinein, wünschte er sich, sie würden über die gleiche Menge an Anzügen verfügen, aber was nützte es, sie mussten mit
den Karten spielen, die man an sie ausgegeben hatte. Wenn es in Ge orgia wirklich heiß wurde, konnte er O'Neal und seine Truppe per Shuttle dort hinfliegen. Die meisten von ihnen waren jetzt im Wes ten, aber er sollte rechtzeitig eine Warnung erhalten, ehe es wirklich heiß wurde. Und damit war er, was sofort verfügbare Verbände anging, auch schon am Ende angelangt. Er würde seinen Stab darauf ansetzen und die nachsehen lassen, was sonst noch zur Verfügung stand, um die Verteidigungskräfte im Gap zu verstärken. Aber dann stellte er fest, dass die dort nur über ein SheVa verfügten. Eines dieser Mons ter zu verlegen war nichts, was man kurzfristig erledigen konnte. Er tippte auf ein Icon seines AID und stellte fest, dass ein SheVa nach Chattanooga unterwegs war. Jetzt nicht mehr.
Mosovich betrachtete die Gebäudefassade. Früher einmal hatte es hier ein Grillrestaurant im Familienbetrieb gegeben, an das Moso vich sich noch vage aus früheren Zeiten erinnerte. Gleich daneben war die örtliche Sektion des Veteranenverbandes untergebracht ge wesen. Jetzt war es eine Bar, die einzig und allein dazu diente, Soldaten in kürzestmöglicher Zeit um ihr Geld zu erleichtern. Der vordere Bereich war mit Soldaten geradezu voll gestopft, die meisten von ihnen leicht bewaffnet und schwer betrunken. Dazwi schen zwängten sich die Kellnerinnen und andere professionelle Mädchen. Er zuckte zusammen, als ein Soldat ins Freie taumelte. Ein leicht bekleidetes weibliches Wesen, das ohne Zweifel noch nicht volljäh rig war, stützte den unrasierten Sergeant. Der Sergeant kniff die Au gen zusammen, um sie gegen die grelle Sonne zu schützen, griff dem Mädchen an die Titten und taumelte die Straße hinunter, hatte
immer wieder Mühe, nicht vom Bürgersteig zu fallen, als er zielsi cher einem nahe gelegenen Motel zustrebte. »Negativ«, sagte er. »Negativ«, pflichtete Wendy ihm bei und fröstelte im Wind, »Ich wette mit Ihnen, der wird ausgenommen. Sonst noch eine Idee?« »Bloß eine noch«, sagte Mosovich und blickte zur Sonne auf. Sie hatten es geschafft, die ganze Gruppe in den einen Humvee zu pa cken, den sie sich organisiert hatten, wobei sie die meisten Kinder auf dem Schoß sitzen oder auf der Ladebrücke verstaut hatten. Aber wenn sie wesentlich weiter fuhren, würde das Probleme geben. Und es war bereits Nachmittag, Ende September, und die meisten der Kinder waren für die kühlen Nachttemperaturen, die hier manch mal schon im Frühherbst einzogen, nicht ausreichend gekleidet. »Wie geht's Ihnen denn, Captain?« »Mir … ganz gut«, sagte Elgars und sah dabei dem vorbeitaumeln den Sergeant nach. »Eine … Unmenge Soldaten gibt es hier. Das haut mich um. Irgendwie … macht mich das nervös.« »Völlig normal«, räumte Jake ein. »Und das macht auch durchaus Sinn; in diesen Militärstädten hat es ganz höllische Schießereien ge geben.« Er sah sich um und schüttelte den Kopf. »Franklin kommt nicht in Frage. Wahrscheinlich gibt es Lokale, die von den Einheimi schen besucht werden, aber danach zu suchen wäre sinnlos.« Er blickte wieder zur Sonne auf, zählte etwas an den Fingern ab und sah dann Wendy an. »Vertrauen Sie mir?« Sie musterte ihn einen Augenblick lang in aller Ruhe und nickte dann. »Seltsamerweise ja. Warum?« »Ich hab da einen Kumpel, der hier in der Nähe eine Farm besitzt. Er hat eine Enkeltochter nicht viel älter als Billy und wäre wahr scheinlich hoch erfreut, etwas Gesellschaft zu bekommen. Wir könn ten hinfahren, aber wir müssten dann übernachten.«
»Oh.« Wendy sah Shari an, die die Achseln zuckte, und blickte dann selbst zur Sonne auf. »Wir müssen jedenfalls dafür sorgen, dass die Kinder aus der Kälte kommen, ehe es dunkel wird.« »Das sollte kein Problem sein«, sagte Mosovich. »Wieder zurück zukommen, das wäre vielleicht ein Problem gewesen, aber nicht, dorthin zu kommen. Und wahrscheinlich hat mein Kumpel auch ein paar Kleidungsstücke, die den Kleinen passen würden; ich habe ehr lich gesagt seit Jahren keine so mangelhaft bekleideten Kinder mehr gesehen.« »Alles, was wir für die Oberfläche haben, ist das, womit wir ange kommen sind«, sagte Shari ruhig. »Billy trägt eine Jacke, die ich vor zwei Jahren ausgeborgt habe. Und die anderen Kinder haben über haupt nichts.« Als wäre das ihr Stichwort gewesen, zupfte Kelly an Sharis Hand. »Mommy, ich hab Hunger.« »Das wär's dann wohl«, erklärte Mosovich. »Entweder die Farm oder als schlechte Alternative zurück in die Urb.« »Ich will nicht wieder unter die Erde«, erklärte Elgars. »Jedenfalls noch nicht gleich. Mir … gefällt's hier oben.« »Mir auch«, pflichtete Shari ihr bei und blickte zum Himmel auf. »Der Wind hat mir gefehlt. Okay, falls Sie denn sicher sind, dass die ser Freund von Ihnen nicht total ausflippt, wenn aus dem blauen Himmel heraus fünf Erwachsene und acht Kinder bei ihm aufkreu zen.« »Kein Problem«, sagte Mosovich. »Der kommt mit allem klar.«
Michael O'Neal senior zog den Palm aus seiner Gürteltasche und runzelte die Stirn. Seit den interessanten Ereignissen vor ein paar Jahren hatte er seine Sicherheitssysteme auf den neuesten Stand ge bracht. Die Kameras am vorderen Tor waren jetzt mit einem WebServer verbunden, der seinerseits einen Videostream an das Ge
rät sandte. Und demzufolge sah er auf dem kleinen Bildschirm gera de einen Humvee, an dessen Steuer Mosovich saß. Keine große Sa che, Jake war im letzten Jahr ein paar Mal hier gewesen. Aber das schwächer werdende Licht ließ erkennen, dass der Humvee bis an den Rand voll gepackt war. O'Neal ließ den gewaltigen Priem von einer Backe in die andere wandern und runzelte nachdenklich die Stirn. Er war nicht groß, strahlte aber eine Aura stämmiger Solidität aus, die schier überna türlich wirkte; man hatte den Eindruck, es würde einen Bulldozer brauchen, um ihn aus dem Weg zu räumen. Gemessen am Rest sei nes Körpers waren seine Arme viel zu lang, sie reichten ihm wie die eines Affen fast bis zu den Knien, und seine Beine waren leicht ge krümmt – insgesamt konnte man also durchaus den Eindruck eines leicht verärgerten Gorilla-Patriarchen gewinnen. Er stellte die Kameras etwas schärfer und zoomte auf den Vorder sitz des Humvee. Jake saß am Steuer, der Typ neben ihm musste Mueller sein, zumindest entsprach er der Beschreibung, die er von ihm gehört hatte. Aber Mueller hatte zwei Kinder auf dem Schoß und falls Papa O'Neals Augen ihn nicht trogen, lehnte zwischen den beiden eine Frau. Himmel noch mal! Also waren seine Gebete in den letzten paar Monaten doch erhört worden; vielleicht gab es doch einen Gott, der für Narren und Betrunkene sorgte. Als er den Tormechanismus betätigte, war aus dem Obergeschoss ein Schrei zu hören, der wie der eines Panthers klang, dessen Pranke in eine Falle geraten ist. »WO IST MEIN BÜCHSENMACHERWERKZEUG?«, schrillte es von oben. Ah, Cally hatte offenbar festgestellt, dass ihr etwas nicht passte. »Hast du schon in deinem Schreibtisch nachgesehen?«, rief er ru hig. »NICHT IN DIESEM TONFALL MIT MIR, GRAMPS!«, schrie sie. »Na – türlich hab ich in meinem SCHREIBTISCH nachgesehen! Ich tu es …«
Er nickte, als sie den Satz nicht zu Ende sprach. Zeit, das Haus zu verlassen, ehe sie die Treppe herunter … »Ich habe gerade dort nachgesehen!«, sagte sie schnaubend und fuchtelte mit den in einen Lappen eingewickelten Werkzeugen her um, als wollte sie sie als Waffe benutzen. Das Mädchen war so groß wie sein Großvater, mit langem Haar, langen Beinen und großen kornblumenblauen Augen. Callys Großvater hatte oft überlegt, wie gut es doch war, dass sie ihr Aussehen von ihrer Mutter und nicht von ihrem Vater geerbt hatte. Aber dieses Aussehen im Verein mit der Tatsache, dass sie gerade erst dreizehn war und ein paar … Zwi schenfälle hatten dazu geführt, dass an einigen Kasernenwänden Bilder von ihr hingen. Und unter den Bildern stand, WARNUNG: BEWAFFNET UND SEHR GEFÄHRLICH STEHT UNTER JU GENDSCHUTZ »Cally«, sagte Mike senior ruhig. »Beruhige dich. Jetzt hast du es ja gefunden und …« »WAGE ES BLOSS NICHT, ETWAS ÜBER HORMONE ZU SA GEN!«, schrie sie. »Und ich wollte gerade sagen, dass wir gleich Besuch bekommen werden«, fuhr er fort, als ob sie nichts gesagt hätte. »Mosovich und ein Humvee voller Frauen und Kinder, wie es aussieht.« »Flüchtlinge?«, fragte sie ruhig, legte das Werkzeug weg und streckte die Hand nach dem Palm Pilot aus. »Glaube ich nicht«, sagte O'Neal, reichte ihr das Gerät und ging zur Tür. »Besucher, würde ich vermuten. Aber das ist bloß eine Ver mutung.« »Okay«, sagte Cally und vergewisserte sich reflexartig, dass ihre H&K P-17 in ihrem Hüftbund steckte. »Ich werde drinnen bleiben.« »Verhalte dich einfach so, wie wir es besprochen haben«, sagte O' Neal. »Und werde nicht … dreh nicht durch.« »Kein Problem«, sagte sie mit rätselhafter Miene. »Warum sollte ich durchdrehen?«
»Du großer Gott«, flüsterte Mueller. »Wer ist das denn?« »Das ist Michael O'Neal senior«, erklärte Mosovich. »Ich kenne ihn von früher, das war an einem viel heißeren Ort, den wir im Allge meinen einfach als die Hölle bezeichnet haben.« »Nicht der Mann«, sagte Mueller und wies auf die im Schatten lie gende Terrasse vor dem Haus. »Das Mädchen.« Mosovich sah noch einmal hin und runzelte die Stirn. »Sie ist … zwölf oder dreizehn, Mueller. Viiiel zu jung. Selbst in North Caroli na.« »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen«, sagte Mueller, als der Humvee zum Stehen kam. »Die ist siebzehn, sage ich!« »Nein, tue ich nicht«, erklärte Mosovich kühl, hielt den Türgriff fest und starrte Mueller mit eiskalten Augen an. »Und wenn du die nächsten paar Minuten überleben willst, dann halte gefälligst deine Zunge im Zaun. Wenn O'Neal dich nicht umbringt, weil du ein Idiot und damit eine Belastung für die Erbmasse bist, tue ich das, und wenn du es irgendwie schaffst, uns zwei alte Knacker zu überleben, dann wird dich dieses kleine Ding da kaltmachen, ohne dass du ein Wort oder auch nur ein Flüstern hörst. Es gibt dafür zwar keine Be weise, aber deutliche Hinzueise, dass sie das schon getan hat, mögli cherweise sogar öfter als einmal. Und dann sollte ich vielleicht nicht zuletzt noch erwähnen, dass ihr Daddy, Major ›Ironman‹ O'Neal von den GKA ist, Mighty Mite höchstpersönlich, und wenn der hinter dir her ist, dann ist er zuallererst einmal ein Fleet-Offi.zier mit der völlig legalen Befugnis, einen Fleet-Unteroffiziersdienstgrad ohne lang zu fackeln kaltzumachen, und zum Zweiten gibt es so leicht nichts, was ihn aufhält. Du hast nicht die leiseste Chance, wenn auch nur einer von uns dreien glaubt, dass du versuchst, dich an das Mädchen ran zumachen. Du wirst Cally O'Neal keine schönen Augen machen. Verstanden?« »Kapiert«, sagte Mueller und hob beide Hände. »Ich hab's nicht mit Minderjährigen, Jake, und das weißt du genau. Aber … Herr
gott, ich möchte einen Ausweis sehen oder so etwas! Ich schwör's, sie sieht aus wie siebzehn oder sogar achtzehn!« »Entschuldigung«, sagte Mosovich nach hinten gewandt. »Kein Problem«, antwortete Elgars. »Das war eine ziemlich profes sionelle Standpauke. Ich hab sie mir gemerkt. Können wir jetzt aus steigen?« »Sicher«, sagte Mosovich und atmete tief durch, um sich zu beru higen. Hoffentlich ging heute wenigstens etwas gut.
»Was war das denn jetzt?«, fragte Cally leise. »Eine Standpauke«, erwiderte Papa O'Neal ebenso leise. Das Kehl kopfmikrofon war fast von seinem Hemdkragen verdeckt, und der Empfänger in seinem Ohr war für ein bloßes Auge unsichtbar. Bloß weil seine Militärerfahrung bis in graue Vorzeit zurückreich te oder bis Vietnam, was so ziemlich auf dasselbe hinauslief, hieß das noch lange nicht, dass Papa O'Neal nicht auf dem neuesten Stand war. Seine Sicherheitssysteme waren vom modernsten Stand, so gut er das nur hatte schaffen können, und einige Teile davon wa ren formal betrachtet ausschließlich Flottenpersonal vorbehalten. Aber wenn man die Tochter einer lebenden Legende behütet, ma chen die Leute manchmal eine Ausnahme. Das Gelände war mit Sensoren, Kameras und ferngesteuerten Mi nen übersät, und das Haus, vor dem er stand, verfügte über genü gend Überwachungsgerät, dass man hier Demonstrationen hätte ab halten können. Gelegentlich hatte das zu Peinlichkeiten geführt, zu mindest in der fernen Vergangenheit, wenn Freunde ihn besucht hatten. Gelegentlich pflegte er hier recht … wilde … Partys zu fei ern. Seine Freunde, hauptsächlich pensionierte Soldaten, die wegen der guten Luft und wegen der Ranger-Schüler, mit denen sie sich anlegen konnten, in die Gegend gezogen waren, vergaßen dann ge
legentlich oder ignorierten einfach, dass das ganze Haus mit Laut sprechern versehen war. Und Kameras. Manchmal erpresste er heute noch Leute auf humorvolle Art mit diesen Bändern.
Aber diese Freunde kamen jetzt nicht mehr. Die meisten von ihnen waren auf dem einen oder anderen Schlachtfeld gefallen, und den Rest hatte man verjüngt; sie verteilten sich jetzt auf zahlreiche Mili tärstützpunkte überall in den Vereinigten Staaten. Er war der Einzi ge, der übrig geblieben war, ein verbrauchtes, abgetakeltes, altes Schlachtross, das sich nach Ansicht der US-Regierung zu viel hatte zuschulden kommen lassen, als dass man ihn selbst unter schlimms ten Umständen wieder einberufen konnte. Und das verschaffte ihm glücklicherweise die Möglichkeit, seine Farm zu bewachen. Und eine Farmerstochter, die man praktisch als platonischen Archetypus dieses Begriffs ansehen konnte. »Worum ging's denn deiner Meinung nach?«, fragte Cally, als die Tür des Humvee aufging. »Na ja, ich würde vermuten: ›Wenn du dich an Cally O'Neal ran machst, wirst du eines schnellen, schmerzlosen Todes sterben‹.« »Warum?«, fragte sie, als die anderen Türen aufgingen und überall Menschen jeden Alters herausströmten. »Er ist doch irgendwie nett. Wie ein großer Teddybär.« Warum ausgerechnet ich, o Herr?, dachte Papa O'Neal. Hättest du mich nicht auf irgendeinem Schlachtfeld sterben lassen können? Langsam? Unter den Messern der Frauen? Warum DAS?
Wendy sah sich um, während sie Susie von ihrem Schoß hob. Die Farm stand inmitten eines kleinen Tals, ein Stück abseits von dem größeren Hochtal, das sich Rabun Gap nannte. Es war wie eine
runde Schüssel geformt, mit steilen, bewaldeten Hängen und einer schmalen Öffnung, wo ein kleiner Fluss über eine Folge von Kata rakten in die Tiefe strömte. Die Öffnung in das Tal lag im Süden, und der zweistöckige Bau aus Holz und Naturstein, das sich beina he an die Nordflanke schmiegte, überblickte ein Schachbrett von Feldern. Auf einem der Felder war gerade der Mais gemäht worden, auf dem daneben stand Weizen oder Gerste kurz vor der Ernte. An dere waren als Wiesen angelegt oder lagen brach und waren mit Klee bedeckt. An der Ostseite, wo das Tal in flache Hänge überging, war eine Gruppe von Bäumen zu erkennen, darunter einige Pekans, hauptsächlich aber Obstbäume. Am westlichen Rand stand eine große Scheune mit einem Schießplatz für Gewehre und Pistolen da hinter. Das Haus selbst sah aus wie eine Festung; die Fenster waren im Allgemeinen schmal und insbesondere im gemauerten Erdgeschoss tief in die dicken Wände eingelassen. Vor dem Haus dehnte sich eine breite Terrasse, über die das Obergeschoss ein Stück hinausrag te, aber auch das sah nach einer Verteidigungsanlage aus. An der Westseite, wo die meisten Häuser eine Garage gehabt hätten, gab es einen niedrigen Bunker – eine Holzkonstruktion mit vielen Sandsä cken –, aus dessen Schießscharte das mit einer Persenning abgedeck te Rohr einer Kanone ragte. An der Ostseite war eine großzügige Feuerstelle, die in der Vergangenheit sicherlich aktivere Zeiten er lebt hatte. Schließlich zwängte sie sich aus ihrem Sitz im hinteren Bereich des Humvee und nickte, als sie herunterstieg. Trotz des kühlen Abends – und die Temperatur war wirklich stark abgesunken – musste sie zugeben, dass dies wesentlich besser als die SubUrb oder Franklin war. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass die Leute hier freundlich waren. Mosovich schüttelte Papa O'Neal die Hand. »Ich liefere mich dir hier voll und ganz aus, Snake.«
»Besucher sind immer willkommen«, sagte O'Neal und grinste. »Solange sie angemeldet oder weiblichen Geschlechts sind.« Mosovich lachte und schüttelte den Kopf. »Ist eine lange Geschich te.« »Dann komm rein und erzähl sie mir«, erwiderte Papa O'Neal. »Es fängt an kalt zu werden, und diese Kleinen sind dafür nicht angezo gen.«
Cally wollte sich gerade verkrümeln, als die Gruppe das Wohnzim mer betrat. Dass sie zuletzt unbekannte Besucher gehabt hatten, lag ziemlich lange zurück, weshalb ihr Instinkt sie pausenlos vor Bedro hungen warnte, die überhaupt nicht existierten. Schließlich blieb sie an der Couch stehen und setzte ein Begrüßungslächeln auf, ließ da bei freilich die linke Hand an der Seite und die Rechte auf der Hüfte. Wo sie blitzschnell die H&K packen konnte. Es war schon in Ord nung. Und wenn nicht, würde es hier sehr blutig zugehen.
Papa O'Neal sah Cally und erkannte sofort, dass sie angespannt wie eine Feder war. Er musste schleunigst dafür sorgen, dass diese Spannung sich legte. »Sergeant Major, Sie kennen ja meine Enkeltochter Cally schon. Aber ich glaube, Ihrer Begleitung ist sie noch nicht vorgestellt wor den.« Mosovich lächelte und stellte die Erwachsenen vor. »Ich muss zu geben, dass ich die Namen der Kinder nicht alle kenne.« »Billy, Kelly, Susie, Shakeela, Amber, Nathan, Irene und Shannon«, zählte Shari auf und zeigte dabei auf jedes einzelne Kind. »Danke, dass Sie uns einfach so aufnehmen. Wir werden nicht lange bleiben.«
»Unsinn«, sagte Papa O'Neal und schüttelte den Kopf. »Die wil den Posleen kommen raus, sobald es dunkel wird, und so dicht Sie auch in diese Klapperkiste gepackt sind, sie wäre doch schwer zu verteidigen. Es sei denn, Sie überfahren einfach einen, was übrigens gar keine so schlechte Idee ist.« Jetzt wurde ihm bewusst, dass er immer noch ihre Hand hielt, deshalb ließ er sie schnell los. »Nein, es wäre besser, wenn Sie über Nacht bleiben. Ich bestehe darauf. Wir haben genügend Platz.« »Äh …«, machte Shari, drehte sich um und sah Wendy an. Die zuckte die Achseln. »Wir haben nicht einmal eine Zahnbürste mit. Andererseits sind wir für den Herbst nicht gerade passend ge kleidet, und dieser Humvee ist ziemlich unbequem.« »Ganz ernsthaft«, sagte Papa O'Neal. »Bleiben Sie die Nacht hier. Wir haben nicht nur Betten, es gibt auch genügend Kleidung; ich bin hier der offizielle Lagerverwalter für … na ja, eine Menge Leute. Und …«, er sah Wendy und Shari fast bittend an, »… Sie würden mir persönlich einen Gefallen tun.« Shari sah ihn leicht verblüfft an und zuckte dann die Achseln. »Na ja …, okay, wenn wir nicht lästig fallen.« »Überhaupt nicht«, erwiderte Papa O'Neal fast heftig. »Über. Haupt. Nicht. Bitte bleiben Sie. Zumindest über Nacht und vielleicht morgen noch eine Weile.« »Okay«, sagte Wendy. Sie bewegte den rechten Arm, wo sie unter dem Jackett ihre Waffe trug. »Unter einer Bedingung: Gibt es hier et was, womit man eine Waffe reinigen kann?«
Cally legte den Kopf etwas zur Seite, als Wendy Marinegelee in den Lauf rieb. »Sie sind wirklich hübsch.« »Danke«, sagte Wendy und blickte auf. »Das musst ja gerade du sagen.«
Sie waren gemeinsam bemüht, in O'Neals Waffenraum die Schä den an Wendys Karabiner zu beheben. Der Raum befand sich im Untergeschoss an der Hinterseite des Hauses und war wegen des Gestanks nach Waffenöl, Schießpulver und Lösungsmitteln gut ge lüftet. In der Mitte des Raums standen ein großer Tisch mit verschiede nem Reinigungsgerät darauf und sechs Barhocker darum. Um die sen Tisch hatten sich Elgars, Wendy, Cally, Kelly und Shakeela gruppiert. Billy hatte zuerst auch mitkommen wollen, es sich dann aber anders überlegt. »Wie meinst du das?«, fragte Cally. »Na ja … du siehst einfach klasse aus. Mich wundert, dass hier nicht wenigstens ein Dutzend Boyfriends rumhängt. Bei mir war das so, als ich so alt war wie du, und ich habe nicht annähernd so gut ausgesehen.« Elgars legte den Abzugsmechanismus hin und griff nach einer an gerosteten Feder. »Was ist ein Boyfriend?« Cally lachte. »Gute Frage. Im Gap gibt es keine Familien mehr; die sind alle weggezogen, weil die Posleen auf der anderen Seite des Bergkamms sind. Deshalb gibt es hier keine Boys, die man als Boyfriends haben könnte. Und … na ja, wenn man bedenkt, wer mein Daddy und mein Granddaddy sind, dann bin ich nicht gerade von der Qualität der Soldaten beeindruckt. Und außerdem sind die alle zu alt für mich. Und interessieren sich nur für eines.« »Ja, darüber könnte ich ein Buch schreiben«, lachte Wendy. »Glücklicherweise habe ich da einen Zauber, mit dem ich sie verja gen kann. Ich brauche denen bloß ein Bild von meinem Boyfriend zu zeigen, dann lassen die mich in Frieden. Und mit denen, die das nicht tun, komme ich auch zurecht.« »Oh, jetzt machen die keinen großen Ärger mehr«, sagte Cally und zuckte die Achseln. »Zumindest nicht, seit ich den Sergeant Major der 103rd Division angeschossen habe.«
»Das soll wohl ein Witz sein.« Wendy hustete, bemüht, ihr Lachen zu unterdrücken. »Nee«, grinste die Dreizehnjährige. »Damals habe ich von einer Walther auf die H&K gewechselt. Wir waren in der Stadt, und die ser fette alte Soldat ist mir ständig nachgelaufen, bis er mich schließ lich in dem Eisenwarenladen in einer Ecke erwischt hatte. Er ließ sich nicht abwimmeln, also habe ich die Walther rausgezogen und ihm einen Schuss durch die Kniescheibe verpasst. Dann ist er aufge wacht. Zuerst haben die versucht, mich als Jugendliche wegen versuchten Mordes anzuklagen. Dann habe ich die Geschworenen so weit ge bracht, dass die mit mir auf den Schießstand gegangen sind. Die ha ben die Anklage fallen lassen – der Sprecher der Geschworenen hat gemeint, wenn ich versucht hätte, ihn zu ermorden, würde der Ser geant Major jetzt … wie hat er doch gesagt? ›Die Maulwürfe füttern‹ – und haben stattdessen ihn wegen versuchter Vergewaltigung un ter Anklage gestellt. Soviel ich weiß, humpelt er immer noch in ei nem Gefängnis herum. Seit damals und seit Grandpa keine Leute mehr auf die Farm kommen lässt, hat es keine Probleme mehr gege ben.« »Warum hast du gewechselt?«, fragte Elgars. »Die Waffen, meine ich.« »Oh, die haben die Walther als Beweisstück mitgenommen«, ant wortete Cally und zuckte dabei die Achseln. »Und meine Hände waren inzwischen groß genug geworden, um mit der H&K klarzu kommen. Außerdem hat diese winzig kleine .62 bloß ein sauberes, kleines Loch in sein Knie gemacht. Wenn ich die H&K gehabt hätte, hätte ich dem Kerl ein Loch in den Bauch geblasen. Das habe ich wirklich bedauert, als ich im Untersuchungsgefängnis für Jugendliche war; jeder wollte an mir rumgrabschen, und da habe ich mir geschworen, dass ich nie wieder so eine Spielzeugpistole nehme, wenn ich auf je manden schießen muss.«
Elgars schmunzelte und schüttelte dann den Kopf, als die Feder, die sie in der Hand hielt, abbrach. »Ich glaube, das können wir nicht mehr reparieren, Wendy.« »Da hast du wahrscheinlich Recht«, seufzte Wendy und legte den Lauf beiseite. »Jetzt bin ich aber wirklich sauer; das AIW war ein Ge schenk von meinem Freund.« »Also, dein Geschenk kann ich nicht reparieren«, sagte Cally und zuckte die Achseln; das Verschlussteil hielt sie dabei ins Licht und drehte es hin und her. »Jedenfalls nicht auf die Schnelle. Die beweg lichen Teile könnte ich wahrscheinlich nacharbeiten, auch die für den Granatwerfer, obwohl die ziemlich kniffelig sind. Aber die Elek tronik ist im Eimer, und außerdem habe ich meine Zweifel an die sem Verschluss. Wenn ich ein paar Tage Zeit hätte, könnte ich wahr scheinlich einen machen, aber ehrlich gesagt denke ich, ist es besser, einfach die Teile auszubauen und als Ersatzteile aufzuheben, anstatt diese Waffe weiter zu benutzen. Ich würde mich auf die einfach nicht verlassen wollen. Aber einen passenden Ersatz, denke ich, kann ich dir wahrschein lich besorgen.« Sie ging an die hintere Wand, tippte eine Zahlenfol ge in das Schloss ein und öffnete den Safe. »Wir haben hier ein paar Stücke zur Auswahl.« »Du lieber Himmel!«, rief Wendy lachend, als sie die im schwa chen Licht nur undeutlich erkennbare Reihe von Karabinern an der Wand sah. Dieser »Safe« war in Wirklichkeit eine Tür in einen großen Raum, der offenbar in den Hügel hineingegraben war. Sie ging auf die Tür zu, während Cally in den Raum trat und das Licht anknipste. »Ja, das werden wir wohl können«, fuhr Wendy dann fort und schmunzelte wieder. Insgesamt enthielt der Raum fünf Gewehrschränke mit ausrei chend Waffen, um ein ganzes Platoon damit auszustatten. Aller dings ein recht wählerisches Platoon.
Auf der linken Seite waren die »schweren« Waffen untergebracht, darunter mindestens drei schwere Maschinengewehre, BarrettScharfschützengewehre und zwei weitere schwere Karabiner ähnli chen Kalibers. Das Doppelregal in der Mitte war Gewehren vorbe halten, sowohl Militärmodellen als auch Jagdflinten, während rechts vorzugsweise Maschinenpistolen aufgereiht waren. Die hintere Wand enthielt ausschließlich Pistolen und Revolver – Wendy war sich ziemlich sicher, dass es mehr als hundert waren –, und daneben gab es eine Vielfalt von Kampfmessern. Auf dem Boden unter den Gewehrschränken beiderseits davon und in jeder Ecke türmten sich Munitionskisten bis zur Decke. »Du lieber Himmel«, sagte Wendy erneut. »Das ist …« »Ein wenig übertrieben?« Cally grinste. »Selbst ich habe die meis ten davon noch nicht benutzt. Einige davon kenne ich nicht einmal. Und was die Munition angeht, brauchst du mich gar nicht erst zu fragen. In dem Haufen ist Zeug, von dem die Feds nicht einmal ah nen, dass sie es ins Land gelassen haben. Ich müsste Grandpa fra gen, aber die meisten davon«, fuhr sie fort und wies mit einer weit ausholenden Handbewegung auf die Regale in der Mitte und rechts, »sind mehr oder weniger Standardwaffen. Du kannst dir davon aus suchen, was du haben möchtest.« »Die würden das bloß wieder versauen«, meinte Wendy mit düs terer Miene. »Ich würde es ja doch am Eingang bei der Sicherheit ab geben müssen.« »Wir könnten es ja Dave geben«, schlug Elgars vor. »Ich kann es zu ihm bringen, und er behält es dann bei sich. Auf die Weise kannst du damit arbeiten und dafür sorgen, dass es gut in Schuss ist.« »Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Wendy und nahm sich aus einem der Regale aus halber Höhe ein Kurzgewehr in Bullpup-Kon figuration »Ich denke, ihr habt zwei davon.« »Ein Steyr«, sagte Cally. »Gut gewählt. So eines habe ich selbst mal benutzt; du kannst es unter einer Bedingung haben.«
»Und die wäre?«, fragte Wendy. Cally sah sich um, ob da außer den Mädchen jemand war, der zu hören konnte, und zuckte dann die Achseln. »Ich habe da ein paar du weißt schon … Mädchenfragen, auf die ich eine Antwort brau che.« »Ah«, sagte Wendy und verzog das Gesicht. »Na ja, Männer und Frauen sind so gebaut, dass sie sich sexuell gegenseitig ergänzen …«, fing sie an runterzuleiern. »Nicht die Art von Fragen«, sagte Cally und lachte. »Du brauchst bloß Papa O'Neal ein paar Mal zuzuhören, wenn er betrunken ist und von seiner Militärzeit in Vietnam und den Urlauben in Bangkok erzählt, dann erfährst du alles, was du darüber wissen musst. Nein … es ist etwas anderes.« »Was?«, fragte Wendy etwas verunsichert. »Na ja …« Cally sah sich erneut um, als würde sie sich von den Waffen an den Wänden Erleuchtung erhoffen. »Na ja … wie legt man Lidschatten auf?«, fragte sie dann mit geradezu kläglicher Stimme.
»Sie wollen mich auf den Arm nehmen«, sagte Shari und lachte. Sie hatte inzwischen bis zum Abwinken Maiskolben abgenagt und konnte sich nicht erinnern, jemals glücklicher gewesen zu sein oder an das letzte Mal, dass sie frischen Mais so zu sich genommen hatte, und der hier kam aus O'Neals Garten, eine köstliche Züchtung, die förmlich nach Zucker duftete. »Nein, mir ist das todernst, so todernst wie ein Herzanfall«, kon terte Papa O'Neal und säbelte dabei ein Stück Steak ab. »Sie hat kei nerlei weiblichen Umgang. Keine Freundinnen, verdammt, über haupt niemanden in ihrer Altersstufe. Genau genommen kennt sie bloß mich und gelegentlich irgend so 'nen Spinner, den ich hier ins Haus lasse, wie diesen Knirps da.«
»Bloß weil ich nicht wie ein Gorilla aussehe, nennt er mich Knirps«, sagte Mosovich, der damit beschäftigt war, Kartoffeln zu waschen. In Anbetracht der Horde, die plötzlich über ihn hereinge brochen war, verließ sich Papa O'Neal auf leicht zuzubereitendes Essen. Aber wenn man bedachte, was die Kampftruppen normaler weise als Verpflegung bekamen, von den Bewohnern der SubUrbs ganz zu schweigen, würde es ein Festmahl werden. »Er sieht nicht aus wie ein Gorilla«, tat Shari die Bemerkung ab. »Sie wollen also, dass ich, während wir hier sind, mit Cally über ›Mädchensachen‹ rede?« »Na ja, ich will ja nicht lästig fallen«, meinte Papa O'Neal. »Aber … das Einzige, was ich von Make-up verstehe, ist, ob jemand vom KGB ausgebildet worden ist, wie man es auflegt. Und ich habe ihr ein Buch besorgt über … na ja … diese ganze Geschichte von wegen weiblicher Hygiene. Ich … ich brauche irgendwie jemand, der dafür sorgt, dass sie es richtig macht.« »Hat sie schon ihre erste Periode gehabt?«, fragte Shari ruhig. Sie schnupperte an ihrem Maiskolben und zupfte einen Wurm ab. Von denen hatte sie schon ein paar entdeckt, aber vermutlich musste man das eben in Kauf nehmen, wenn man sie frisch aus dem Garten bekam. »Ja«, sagte Papa O'Neal, dem dabei sichtlich unbehaglich war. »Ich … hatte einen Vorrat angelegt. Zum Glück.« »Musste sie wegen ›Frauenproblemen‹ zum Arzt?«, fragte Shari und lächelte dabei. »Nein.« »Dann macht sie es richtig«, erklärte Shari. »Warum lassen Sie sie es nicht mit ihrer Frauenärztin besprechen?« »Äh, sie hat keine«, gab O'Neal zu. »Außer in Franklin gibt es hier keine, und die hat eine Warteliste, die ein paar Monate lang ist. Sie hat mit dem Allgemeinarzt, den wir hier in der Gegend haben, über … diese Dinge gesprochen. Aber …«
»Ist das ein Mann?«, fragte Shari und verzog das Gesicht. »Mhm.« »Ich werde mit ihr reden«, sagte sie. »Und dann hat sie … Probleme … mit der … äh Kontrolle«, fuhr Papa O'Neal vorsichtig fort. »Sie ist eben gerade in der Pubertät«, lachte Shari. »Wer hat das nicht?« »Würden Sie mich heiraten?«, fragte Papa O'Neal wieder mit kläg licher Miene. »Nein, lassen Sie nur. Ich habe das nicht gesagt.« »Ich verstehe schon«, lächelte Shari. »Das ist sicherlich sehr schwierig. Ich denke, ich habe mit Billy ein paar ganz ähnliche Pro bleme, aber die sind nicht so offenkundig. Oder besser gesagt, es gibt andere, die wichtiger sind.« »Ist das der … kleine Junge?«, fragte Mosovich. »Der, der nie et was sagt?« »Ja«, nickte Shari und stapelte die abgenagten Maiskolben auf. »Er ist seit Fredericksburg so. Er hört zu; er lernt. Er ist nicht unintelli gent und gelegentlich verständigt er sich sogar mit Zeichensprache. Aber er spricht nie, niemals.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, was ich da machen soll.« »Lassen Sie ihn Mönch werden«, sagte Papa O'Neal und schmun zelte dabei grimmig. »Da gibt es welche, die einen Schweigeeid ge leistet haben. Dort müsste er sich doch wie zu Hause fühlen.« »Ja, das ist wohl eine Möglichkeit.« Shari grinste. »Tut mir Leid«, sagte O'Neal und stapelte die Fleischstücke auf dem Teller auf. »Das war wieder einmal mein vorlautes Mundwerk. Aber wenn Sie dem näher treten wollen – ich kenne ein paar von de nen. Gute Leute.« Er runzelte die Stirn und sah den Haufen Fleisch auf dem Teller an. »Wie viel, meinen Sie, werden die Kleinen denn essen? Ich habe je ein Steak für alle Erwachsenen und für Cally und Billy. Was meinen Sie, eines für all die anderen zusammen?«
»Das sollte reichen«, nickte Shari. »Wo kriegen Sie denn all das Es sen her?« »Dies hier ist eine Farm«, meinte O'Neal grinsend. »Was, Sie glau ben doch nicht, dass wir alles aufgegeben haben, oder? Außerdem ist Erntezeit. Wir haben gerade ein paar Kühe geschlachtet, und die Schweine sollten morgen drankommen. Ich werde wahrscheinlich gleich am Morgen eines abstechen und es dann den ganzen Tag bra ten. Das heißt natürlich, falls Sie und die anderen eine weitere Nacht hier bleiben wollen.« »Wir werden ja sehen«, meinte Shari und grinste wieder. »Fragen Sie mich morgen früh.«
17 Garnison Newry, Newry, Pennsylvania, Sol III 1928 EDT, 24. September 2014
Then it's Tommy this, an Tommy that, an »Tommy 'ow's your soul?« But it's »This red line of 'eroes«, when the drums begin to roll We aren't no thin red 'eroes, nor we aren't no blackguards too, But single men in barricks, most remarkable like you; An' if sometimes our conduck isn't all yourfancy paints, Why, single men in barricks don't grow into plaster saints …
»Tommy« – Rudyard Kipling Dann heißt's »Tommy dies« und »Tommy das« und »Tommy, was macht dein Seelenheil?« Aber »dünne Reihe roter Helden«, wenn die Trommel gerührt wird. Wir sind keine dünnen roten Helden und auch keine Schufte, bloß ledige Männer in Kasernen und sonst ganz wie ihr; und wenn wir uns mal nicht so benehmen, wie ihr's gerne hättet – ledige Männer in Kasernen werden nicht zu Gipsheiligen.
»Tommy«
»Das ist eine echte Garnison«, schwärmte Gunny Pappas und sah beeindruckt zum Fenster des umgebauten Busses hinaus.
GKA zu verlegen war von Anfang an ein Problem gewesen. Wenn man ihre Anzüge verpackte und sie separat verfrachtete, lief das praktisch darauf hinaus, dass man sie entwaffnete; die meisten GKA-Soldaten waren ohne Anzug zu ziemlich wenig zu gebrau chen. Und die Anzüge mit ihren Insassen zu verlegen, nun, das war eine Operation von gigantischen Ausmaßen; selbst wenn man ihre Pseudo-Muskeln »herunterschaltete«, führte der Kontakt zwischen Anzügen und normalen Strukturen meist dazu, dass Letztere zer stört wurden. Schließlich hatte man für diese Art von Transport ganz gewöhnli che Schulbusse mit fünfundvierzig Sitzplätzen umgebaut. Die Sitze, im Grunde genommen nicht viel mehr als Stahlstangen, aus denen man eine Art von Bänken zusammengeschweißt hatte, waren für je den, der keinen Anzug trug, äußerst unbequem. Aber dafür hatten diese Sitze den Vorzug, dass sie mit GKA-Infanterie an Bord selbst eine lange Busfahrt überlebten. Die einzige Konzession an so etwas wie Bequemlichkeit bestand in einer verstellbaren Kopfstütze. Wenn GKA-Soldaten nicht im Kampfeinsatz waren, pflegten sie zuallererst die Helme abzusetzen, und daran hatte man bei der Umkonstruktion der Busse gedacht. Diese Gewohnheit war übrigens leicht nachzuvollziehen; GKA ver brachten manchmal Wochen in ständigem Kontakt mit den Posleen; nach so langer Zeit in virtueller Umgebung war die Sehnsucht nach »echter« Luft, also einem nicht ständig recycelten Gemisch, und das Bedürfnis, Wind im Gesicht zu verspüren, geradezu überwältigend. Stewart hob den Kopf von der Kopfstütze und musterte die immer näher kommenden Tore. »Also, mit ein bisschen Glück kommen wir vielleicht ohne großes Theater durch dieses Tor.« »Lange her«, antwortete Pappas und seufzte. Der Sergeant Major hatte ein Platoon »grüner« Rekruten zu ihrem ehemaligen Stütz punkt in Fort Indiantown Gap gebracht, als er noch Gunnery Ser geant Pappas war. Damals hatten sich die Landstreitkräfte in einem Stadium kaum geregelter Anarchie befunden, und das Platoon hatte
sich in den Stützpunkt schleichen und den Weg zur Kaserne frei kämpfen müssen. Dort hatten sie einen Dienst tuenden First Ser geant vorgefunden, der mit Schwarzmarktgeschäften beschäftigt war und sich möglicherweise einen oder mehrere Morde hatte zu schulden kommen lassen. Mit Hilfe des Dienst tuenden Kompanie chefs hatten sie ein wenig Ordnung in das Chaos gebracht und ihre Kompanie einigermaßen in Schuss gehalten, bis fast gleichzeitig O' Neal und der neue Bataillonschef eingetroffen waren. »Roanoke?«, fragte Pappas. »Harrisburg«, korrigierte ihn Stewart. »Ich war Führer des Zwei ten Platoons.« »Harrisburg«, nickte Pappas nach kurzem Nachdenken. Er erin nerte sich noch gut an den zerfetzten Panzer von Lieutenant Arnold, aber obwohl ihn sein Erinnerungsvermögen nie im Stich ließ, wenn es um Schlachten ging, waren weniger wesentliche Details, wie etwa, wo diese Schlachten stattgefunden hatten, häufig in Vergessen heit geraten. »HVM.« »Jo«, pflichtete Stewart ihm bei. »Hört auf, euch gegenseitig verrückt zu machen«, sagte Duncan aus der zweiten Reihe. Er beugte sich vor und wies auf die Kasernen und den gepflegten Exerzierplatz. »Garnisonsdienst. Zeit, sich zu besaufen und zu bumsen, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.« »Wenn alles in Ordnung ist, Sir«, gab Pappas zu bedenken. »Ich glaube das erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe. Ich meine, das hier sind Garnisonssoldaten, die die Landstreitkräfte geschickt haben. Wie gut werden die schon sein? Wahrscheinlich liegt in den Kaser nen knöcheltief Dreck.«
Mike hörte wie aus weiter Ferne, dass der Militärpolizist am Tor sie anrief, und die Antwort des Fahrers klang so, als käme sie aus einem
tiefen Brunnen. Trotzdem schwenkte er sein Sichtfeld zur Seite, um das Geschehen zu beobachten. Der MP konnte nicht wissen, dass er vom Bataillonskommandeur beobachtet wurde; der Anzug bewegte sich nicht, und der Helm sah nach wie vor nach vorne. Aber er verhielt sich trotzdem peinlich korrekt, überprüfte die Marschbefehle und bekam einen Bestäti gungs-Download aus Mikes AID. Als er sich vergewissert hatte, dass alles korrekt war, trat er einen Schritt zurück und salutierte, wartete zweifellos, bis das Fahrzeug sich in Bewegung gesetzt hatte, ehe er die Ehrenbezeigung beendete. Mike tippte dem Fahrer auf die Schulter, um ihn davon abzuhal ten gleich loszufahren, und inspizierte den MP minutiös. Der größte Teil seiner Ausstattung war eindeutig darauf angelegt, gut auszuse hen und auch so zu bleiben. Das Halfter für seine Dienstpistole war aus Kunstleder ebenso wie sein Dienstabzeichen, und sein Kampf anzug – in einem Muster, das immer noch MarCam hieß – saß per fekt und war messerscharf gebügelt. Außerdem war er frisch rasiert, hatte einen ordentlichen Haar schnitt und war auch körperlich sichtlich fit. Die Tatsache, dass sie kommen würden, war allgemein bekannt, aber bis zum heutigen Tag hatte Mike nicht genau gewusst, wann sie eintreffen würden. Also hatte der Soldat entweder in aller Eile für ein präsentables Äu ßeres gesorgt oder hatte dieses auch dann, wenn »die Katze nicht im Haus war«. Mike gelangte zu dem Schluss, dass vermutlich Letzte res der Fall war. Nach einem längeren Augenblick, in dem der Mann wie eine Statue dastand, erwiderte er dessen Ehrenbezeigung und winkte dem Fahrer, dass er weiterfahren sollte. Der MP musste angerufen haben, denn als der Konvoi den Batail lonsbereich erreichte, hatte sich auf dem Rasen vor der Kaserne eine kleine Gruppe von Offizieren und Unteroffiziersdienstgraden ver sammelt.
Mike arbeitete sich vorsichtig aus seinem Sitz und ging auf die Gruppe zu, wobei er die Ehrenbezeigung des etwas übergewichti gen Captain, der offenbar hier der Rangälteste war, leger erwiderte. »Major O'Neal«, sagte der Captain und nickte. »Ich bin Captain Gray, Ihr Adjutant; wir sind uns noch nicht persönlich begegnet, aber wir haben E-Mails ausgetauscht.« »Captain«, sagte O'Neal, nahm den Helm ab und sah sich um. Ne ben dem Captain stand ein einziger Second Lieutenant, sonst waren keine Offiziere anwesend. Und die wenigen oberen Unteroffiziers dienstgrade schienen nicht verjüngt worden zu sein. Aber alle tru gen saubere Uniformen, wiederum MarCam, nicht Seide, da sie le diglich zur Flotte abkommandiert waren, ihr aber nicht angehörten, und die jüngeren Leute wirkten alle körperlich fit. Insgesamt eine durchaus vernünftig wirkende Ansammlung von Etappenhengsten. »Bin ich an dieser kleinen Zeremonie beteiligt?« »Das ist keine Zeremonie, Sir«, erwiderte der Captain. »Aber ich hatte gedacht, Sie würden sich vielleicht mit ein paar von den Ge sichtern vertraut machen wollen.« Er wies auf einen Sergeant First Class, der in der ersten Reihe stand. »Sergeant McConnell ist der Ba taillons-S-4. Tatsächlich ist er sogar der Regiments-S-4 …« »Aber da wir es hier nicht mit einem Regiment zu tun haben, des sen S-4 er sein kann …«, fuhr Mike fort. »Tag, Sergeant. Haben Sie einen Vorgesetzten?« »Ich glaube, der sind Sie, Sir«, antwortete der Sergeant. Er war nicht besonders groß und hatte Übergewicht, wirkte aber wie ein Gummikobold: hart, mit einem Anflug kameradschaftlicher Boshaf tigkeit und sehr elastisch. Seine munteren Augen musterten O'Neal vorsichtig. »Wir haben im Augenblick keinen S-4, Sir«, sagte Captain Gray. »Man hat uns ein- oder zweimal einen versprochen, aber …« »Aber es gibt Orte, wo die lieber wären.« O'Neal nickte, musterte die Gruppe und räusperte sich dann. »Ich bin sicher, wir werden einander im Laufe der nächsten zwei Wochen sehr gut kennen ler
nen. Für den Augenblick machen Sie bitte so weiter wie bisher. Bitte setzen Sie sich mit dem Sergeant Major vom Bataillonskommando und den First Sergeants der Kompanie bezüglich der Unterkünfte in Verbindung. Unsere Leute werden Kleidung fassen müssen«, fuhr er dann fort und sah dabei den S-4-Sergeant an. »Wir haben im Grunde genommen nur die Anzüge, in denen wir hier vor Ihnen ste hen, und sonst nicht viel mehr.« »Ich habe mir erlaubt, mir sämtliche Größen zu besorgen, Sir«, ant wortete Sergeant McConnell. »Und jedem ist ein Zimmer und ein Wandspind zugewiesen worden. Die Wandspinde enthalten alle eine komplette Ausstattung. Sie werden natürlich dafür unterschrei ben müssen …« »Wir halten ein Team in Bereitschaft, um irgendwelche Mängel zu überprüfen«, sagte Captain Gray und nahm damit O'Neals Frage vorweg. »Ich hoffe, Ihre Kommandeure werden die Kasernen brauchbar finden. Ich hatte letzte Woche die Bravo- und Charlie-Ka sernen komplett inspizieren lassen und höre, dass sie in recht gutem Zustand waren. Sie sind nagelneu, also gibt es ein paar Aspekte, um die wir uns noch nicht kümmern konnten; Farbschmierer an den Fenstern und dergleichen. Aber davon abgesehen denke ich, Sie werden zufrieden sein.« »Mhm«, machte Mike, der nicht recht wusste, wie er darauf ant worten sollte. »Schön, dann setzen Sie sich, wie gesagt, mit dem Ser geant Major in Verbindung.« Er hielt kurz inne und überlegte. »Ist Kleidung für Offiziere da?« »Offiziere müssen ihre Uniformen natürlich kaufen«, erklärte Ser geant McConnell. »Aber provisorische Kleidung finden Sie in Ihren Quartieren und können anschließend auswählen, was Sie brauchen, und es mit einem Vermerk an Ihr AID kaufen. Außerdem liegen welche in Ihren Spinden in der Leichenhalle bereit.« Mike ließ erneut seinen Blick über die Gruppe wandern und schüt telte dann stirnrunzelnd den Kopf. »Jetzt sagen Sie mir, dass das alles nicht so picobello ist, wie mir das vorkommt. Ich meine …«
»Sie meinen ›wie in drei Teufels Namen kommen Etappenhengste dazu, etwas richtig zu machen‹, Sir?«, fragte Sergeant McConnell und grinste verschmitzt. »Ich hätte das wahrscheinlich etwas höflicher formuliert«, meinte O'Neal, während Pappas hinter ihn trat. »Ich war Etappenhengst, seit ich bei der Delta Force aufgehört habe, Sir«, antwortete der Sergeant. »Und dort war ich … kein Etap penhengst. Ich bin in meiner letzten Verwendung zurückgerufen worden, und das war Nachschub. Da habe ich mir gedacht, dass ich, wenn man alles in Betracht zieht, vielleicht auch dort bleiben sollte. Schließlich hatte ich ja genügend Aufregung. Aber wenn ich das selbst von mir sagen darf: Ich bin ein verdammt guter NachschubSergeant.« »Alles in Ordnung, Sir?«, dröhnte Pappas' Stimme. »Das Einzige, was hier nicht in Ordnung ist, ist anscheinend, dass alles in Ordnung ist, Top«, sagte O'Neal und schüttelte den Kopf. »Wir hatten genügend Zeit, uns vorzubereiten, Sir«, erklärte Cap tain Gray. »Und das haben Sie getan«, nickte O'Neal. »Was leider viel zu sel ten vorkommt.« »Es gibt auch einige Ersatzleute für Ihre Verluste, Sir«, meinte Captain Gray. »Sie sind in der Kaserne, und sie haben auch schon ihre Grundausrüstung gefasst. Ihre Anzüge sind angepasst, und der Lieutenant, der für sie verantwortlich ist, hat sie bereits mit den An zügen arbeiten lassen.« »Was haben wir denn bekommen, Sir?«, fragte Gunny Pappas und nahm den Helm ab. Grays Blick blieb an dem Saum, der wie halb intelligentes Wasser oder vielleicht auch wie eine silberne Schnecke aussah, hängen, der sich am Kopf des Sergeants gebildet hatte und jetzt in den Panzer und den Helm zurückkroch.
»Äh … wir haben vier Unteroffiziersdienstgrade und einen Offi zier von den Zehntausend bekommen und eine Gruppe Privates von anderen Einheiten der Landstreitkräfte. Alle haben etwas Kampferfahrung.« »Klingt nicht schlecht«, meinte Mike. »Sergeant Major, diese Gent lemen haben die Stubeneinteilung bereits vorbereitet. Setzen Sie sich doch mit ihnen zusammen und veranlassen Sie, dass die Leute …« Er unterbrach sich und sah sich um. »Wo sind die Leichenhallen?«, fragte er. »In den Kellern der Kasernen, Sir«, sagte Captain Gray und wies auf einen überdimensionierten Seiteneingang. »Cool«, meinte O'Neal und nickte. »Kompaniechefs und Stab im Bataillonshauptquartier melden, sobald sie ihre Seide haben. Die Soldaten beziehen die Kasernen und kümmern sich um ihre Sa chen.« Er blickte zur Sonne auf und schüttelte den Kopf. Dann nieste er. »Verdammt. Shelly, wie spät ist es?« »Kurz nach vierzehn Uhr, Sir«, erwiderte das AID aus dem Helm. »Siebzehn Uhr alle Kompanien antreten«, fuhr Mike fort. »Ich möchte die Truppe bis dahin alle in Seidenmontur angetreten vor den Stuben sehen – und wehe, einer glänzt nicht so, dass ich mich in ihm spiegeln kann! Die Kompanien können dann ihre Leute in den Garnisonsbereich entlassen, wenn sie das wollen, aber das Gelände verlässt mir keiner.« »Geht klar«, sagte Pappas. »Sie wissen, dass wir nicht zu lange warten dürfen, sonst baut sich zu viel Druck auf.« »Ich weiß«, meinte Mike und lächelte verkniffen. »Ich war selbst mal ein gewöhnlicher Landser, Sergeant Major. Freitagabend. Zahl tag. Aber bis dahin sollte ich Gelegenheit haben, die Leute hier we nigstens annähernd vorzubereiten. Und dann dürfen die die Tore einreißen.«
»Mann«, meinte Mueller und lehnte sich zurück. »Wenn die Solda ten im Korps wüssten, dass man hier so gut isst, würden die uns die Tore einreißen.« »Das könnten sie ja versuchen.« Cally lachte. »Aber ich denke, wir könnten sie schon mit der ersten Reihe Claymores zurückschlagen.« Papa O'Neal sah zu Shari hinüber, die ihr Steak nur zur Hälfte ge gessen hatte, und runzelte die Stirn. »Alles in Ordnung?« »Doch«, meinte Shari mit einem schwachen Lächeln. »Ich kann mich nur nicht erinnern, je in einem ganzen Monat so viel Fleisch gegessen zu haben.« »Nun, dann sollten Sie eben öfter hierher kommen.« O'Neal lächel te und stupste sie am Arm an. »Sie sind ja viel zu dünn. Wir müssen Sie ein bisschen rausfüttern.« »Ich weiß«, sagte Wendy und schob sich den Rest ihrer Baked Po tatoes in den Mund. »In der Urb essen wir beide etwa gleich viel, und ich habe alle Mühe, mein Gewicht zu halten. Shari nimmt nie zu.« »Oh, früher musste ich manchmal Diät halten«, sagte Shari und wischte sich den Mund ab und legte ihre Serviette dann neben ihren halb vollen Teller. »Aber das Essen in der Urb ist nicht …« »Besonders gut dafür, zuzunehmen«, ergänzte Elgars für sie und stippte mit einem Stück Brot Steaksoße auf. »Außerdem ist es lausig, wenn man damit Muskeln aufbauen möchte; die Proteinportionen sind nicht groß genug. Ich habe ständig das Gefühl, ich sollte ausge hungert werden.« »Das ist einer der Gründe, weshalb ich das Fitnesstraining aufge geben habe«, erklärte Shari und zog die sichtlich gesättigte Kelly auf ihren Schoß. Die beiden Jüngsten waren schon im Bett, die anderen waren trotz der Dunkelheit noch draußen; die O'Neals hatten ihnen warme Kleidung geliehen. Die Kinder hatten einen riesigen Spaß daran, einfach herumzurennen und zu spielen; in der Urb war dazu viel zu selten Gelegenheit. »Ich bin dann immer ganz schnell müde. Das kommt von dem lausigen Essen und der Arbeit mit den Kin
dern. Und ich konnte sie nie wohin schicken, wo sie sicher sind, so, wie hier, also waren sie immer um mich rum.« Sie drückte Kelly an sich und rieb ihre Wange am Kopf des schläfrig wirkenden Mäd chens. »Nicht, dass es mir etwas ausgemacht hätte, Süße. Aber es ist wirklich schön, einmal ausruhen zu können.« »Also lausiges Essen bekommen Sie hier ganz bestimmt nicht«, er klärte Papa O'Neal entschieden. »Und Pause machen können Sie auch. Ich möchte, dass Sie morgen Nacht auch noch hier bleiben. Und da gibt es dann mal richtig zu essen.« »Oh, ich weiß nicht«, sagte Shari und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Es gibt so viel zu tun …« »Aber nichts, was wichtig wäre«, sagte Wendy. »Wir hier sind die Kindertagesstätte. Eigentlich müssen wir nie zurückkehren.« »Das stimmt nicht«, widersprach Shari. »Die Kinder sind in unse rer Obhut, aber wir haben nicht das Sorgerecht für sie. Das wäre so wie Kidnapping.« »Okay«, räumte Wendy ein. »Aber wir brauchen nicht schon am Morgen zurück. Wir können noch über Nacht bleiben.« »Und was ist mit dem Sergeant Major?«, fragte Shari. »Er muss doch zurück, oder?« »Nee«, meinte Mosovich. »Wenn einer was von uns will, können die uns anpiepsen; ich komme von hier genauso schnell ins Haupt quartier wie aus meiner Kaserne. Wir sind ohnehin im Dienst; so steht es in unseren Befehlen. Und das Essen hier ist viel besser und die Landschaft schöner«, fügte er hinzu und zwinkerte Wendy dabei zu. »Allerdings«, sagte Wendy und streckte ihm die Zunge heraus. »Und ich denke, Captain Elgars fühlt sich hier auch wohler als in der Urb.« »Und ob«, nickte Elgars. »Ich weiß nicht, ob das an der Luft liegt oder am Essen oder an was sonst. Aber das ist das erste Mal, dass ich mich wieder … lebendig … fühle. Ganz.«
»Also, wenn wir nicht lästig fallen«, meinte Shari zum letzten Mal. »Wenn Sie lästig fallen würden, hätte ich nicht darauf bestanden«, grinste Papa O'Neal. »Ich freue mich darauf, Sie richtig rauszufüt tern«, fuhr er dann fort und stupste sie dann in die Rippen. »Das klingt ja geradezu himmlisch«, kicherte Shari und schlug nach seiner Hand, bis er schließlich aufhörte. Dann hielt sie seine Finger fest und ließ sich Zeit, sie wieder loszulassen. »Es ist hübsch hier«, sagte Wendy und lächelte; dann lehnte sie sich zurück und streckte sich genüsslich. »Aber müde macht es auch. Ich denke, wir sollten alle zu Bett gehen …« Mueller bekam plötzlich einen Hustenanfall. »Oh, tut mir Leid«, stieß er dann hervor und sah schnell weg. Wendy hielt mitten in ihrer Bewegung inne und musterte ihn un ter gesenkten Lidern. »… und ich wollte schon sagen: ›Und ruhen Sie sich für morgen aus‹. Master Sergeant Mueller, habe ich Ihnen je ein Foto von meinem Freund gezeigt?«
»Du liebe Güte«, murmelte Captain Slight. »Ich denke, der war ganz bestimmt der Größte in seiner Klasse.« First Sergeant Bogdanovich schnaubte halblaut. Bogdanovich, eini ge wenige alte Mitglieder des Bataillons durften sie Boggle nennen, war eine untersetzte, muskulöse Blondine mit fast durchsichtiger weißer Haut von all den Jahren, die sie in Anzügen verbracht hatte. Sie hatte dem Bataillon schon vor dessen erster Feuerprobe angehört und war bisher der Ansicht gewesen, es gäbe nichts mehr, was sie in Erstaunen versetzten konnte. Doch Boggle musste zugeben, dass der First Lieutenant, der sich beim Kompaniechef meldete, einigerma ßen überdimensioniert war. Es sah tatsächlich so aus, als habe er Mühe, durch die Tür zu kommen. Hoffentlich gab es einen Anzug, den man ihm anpassen konnte. Andererseits sah er aus, als könnte er einen HVM-Treffer auf die Brust ohne Anzug überstehen.
»Sar … Lieutenant Thomas Sunday junior meldet sich zum Dienst«, sagte Sunday und machte eine Ehrenbezeigung. Sunday fragte sich, weshalb diese Begegnung gerade jetzt stattfin den musste; die Mehrzahl der Kompanie war bereits entlassen wor den, und er konnte den Lärm hören, den sie dabei machten, sich in ihren Zimmern einzurichten. Aber die Offiziere und Unteroffiziers dienstgrade waren offenbar noch gefragt. Ihm war schon aufgefal len, dass das bei den Zehntausend gewöhnlich der Fall war, ganz im Gegensatz zu seiner ersten Einheit bei den Landstreitkräften, und er begriff nicht ganz, was es zu bedeuten hatte. »Stehen Sie bequem, Lieutenant«, sagte Slight. »Das ist First Ser geant Bogdanovich. Sie wird Sie später mit Ihrem Platoon Sergeant bekannt machen.« Slight legte eine kurze Pause ein und fuhr dann taktvoll fort: »Wie es scheint, sind Sie erst vor kurzem befördert worden …« »Yes, Ma'am.« Sunday nickte. »Ich bin etwa fünf Minuten ehe ich die Zehntausend verlassen habe, zum First Lieutenant befördert worden.« Slight lächelte, und der First Sergeant schmunzelte. »Na ja, man muss immer wieder die Chuzpe von Cutprice bewundern. Was wa ren Sie denn, ehe man Sie so abrupt befördert hat? Ein Lieutenant Second?« »Nein, Ma'am«, sagte Sunday und runzelte die Stirn. »Ich war Staff Sergeant.« »Mhm«, murmelte Slight und runzelte dabei leicht die Stirn. »Das muss ich mir durch den Kopf gehen lassen. Ich denke, die Botschaft, die er uns damit übermitteln wollte, war, dass Sie seiner Ansicht nach einen guten GKA-Platoon-Führer abgeben werden. Was mei nen Sie dazu?« »Mit allem Respekt, Ma'am, mir gefällt es nicht sonderlich«, gab Sunday zu. »Lieutenants bekommen keine Gelegenheit, Posleen zu töten. Ich wollte zu den Anzügen, um Gäule zu erledigen, nicht, um Feuerzonen festzulegen und Berichte zu verfassen. Und … es hat ge
wisse Vorteile, wenn man ein Fleet Sergeant ist oder Staff Sergeant bei den Landstreitkräften, die man … als Lieutenant nicht hat. Abge sehen von den Gäulen, die man nicht erledigen kann.« »Ich will Ihnen was sagen, Lieutenant«, meinte der Captain wieder mit einem schwachen Lächeln. »Wir wollen Sie mal für den Augen blick als Platoon-Führer einteilen. Und wenn wir dann zu dem Schluss gelangen, dass das nicht das Richtige für Sie ist, dann wer den Sie wieder Sergeant, ohne dass einer etwas übel nimmt; Fleet Strike schiebt ständig Leute auf die Weise hin und her, ohne dass das irgendwelche nachteiligen Auswirkungen auf ihre Personalak ten hat. Was halten Sie davon?« »Ganz wie Sie meinen, Ma'am«, dröhnte Sunday. »Haben Sie den Bataillonskommandeur schon kennen gelernt?«, fragte sie. »Er möchte, dass ihm jeder Offizier vorgestellt wird, den wir bekommen.« »Nein, Ma'am. Man hat mir gesagt, dass ich mich zuerst beim Kompaniechef melden soll.« »Okay«, sagte sie. »AID?« »Major O'Neal ist in seinem Büro und befasst sich mit den Ausbil dungsplänen«, erwiderte das AID prompt. Es hatte eine tiefe, männ liche Baritonstimme, ganz anders als die meisten, die Sunday bisher gehört hatte und die offenbar alle weibliche Stimmen hatten. »Sein AID sagt, dass ihm die Unterbrechung sehr angenehm wäre.«
Mike nickte Sunday zu und erwiderte seine Ehrenbezeigung. »Rüh ren, Lieutenant«, sagte er und grinste ganz gegen seine Gewohnheit, die ihn meist zu finsteren Blicken veranlasste. »Setzen Sie sich.« Das Büro war klein, kleiner als das der Kompaniechefin und eben so wie das ihre fast ohne jeden Schmuck. Hinter dem Major stand ein Private auf einer Stufenleiter und malte einen Spruch an die
Wand. Bis jetzt hatte er in dicken schwarzen Lettern »Wer« an die Wand gepinselt. Der Major lehnte sich zurück und griff nach der Zigarre, die in sei nem Aschenbecher vor sich hin geglüht hatte. »Rauchen Sie, Lieu tenant?« Sunday reagierte nicht gleich, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, Sir.« Auch im Sitzen war seine Haltung steif. »Also, wenn Sie die letzten paar Jahre bei den Zehntausend waren, hat es ja keinen Sinn, wenn ich Ihnen jetzt schlechte Angewohnhei ten beibringe«, sagte O'Neal und grinste erneut. »Ich habe von Cut price eine E-Mail über Sie bekommen. Er hat mir erklärt, falls ich versuche, Ihnen eine Rangstufe wegzunehmen, würde er … wie hat er es doch gleich formuliert? ›Mich in meinem eigenen Anzug sie den wie einen zu klein geratenen Krebs.‹« Der Major paffte ein paar Mal an seiner Zigarre, um sie wieder in Gang zu setzen, und mus terte den Lieutenant dann durch den dichten Rauch. »Was halten Sie davon?« »Äh, Sir …«, sagte Sunday wie erstarrt. »Ich … äh … ich würde mir nie erlauben, Ihre Korrespondenz mit Colonel Cutprice oder Ihre Entscheidungen bezüglich meiner Position im Bataillon zu kommentieren.« »Sunday … Sunday …?«, sinnierte Mike. »Ich könnte schwören, dass mir der Name schon einmal untergekommen ist …« »Wir … sind uns ein oder zwei Mal kurz begegnet, Sir«, sagte der Lieutenant. »Das letzte Mal war bei …« »Rochester«, fiel Mike ihm ins Wort. »Daran erinnere ich mich; Ihr Körperbau ist ja … auffällig.« »Ihrer auch, Sir«, sagte Sunday und erstarrte dann. »Entschuldi gung.« »Kein Problem«, sagte Mike, grinste wieder und ballte dann die rechte Faust. Seine Unterarme hatten in etwa das Format eines nor
malen menschlichen Oberschenkels. »Ich nehme an, Sie treiben Sport?« »Yes, Sir«, antwortete Tommy. »Mindestens zwei Stunden täglich, soweit der Dienst es zulässt.« »Mhm«, machte O'Neal und nickte. »Es wird Sie freuen, dass die Anzüge Gewichtsübungen zulassen. Ich wüsste sonst nicht, wie ich meine Muskeln in Schuss halten sollte. Aber ich habe nicht an Ro chester gedacht, ich meine auch nicht andere Schlachten … Shelly: Thomas Sunday junior, Begegnungen und Beziehungen, nicht wäh rend er Angehöriger der Zehntausend war.« »Thomas Sunday junior ist einer von fünf kämpfenden Überleben den der Verteidigung von Fredericksburg …«, setzte das AID an. »Das war's!«, rief O'Neal erregt. »Der Junge mit der Blondine? Ich wusste schon damals, dass einer es weit bringen würde, der das überlebt und am Ende mit dem Mädchen aufwacht.« »Danke, Sir«, sagte Sunday und lächelte das erste Mal, seit er den Raum betreten hatte. »Thomas Sunday junior ist auch derjenige, der ›Bridge over the Ri ver Die‹ entwickelt hat«, fuhr Shelly mit Nachdruck fort. »Das sind alle bekannten Verbindungen.« »Zum Teufel, das waren Sie?«, fragte Mike. »Das ist ein klasse Mo dul! Wir haben es in Washington bei der ersten Landung benutzt. Ich erinnere mich, man hat mir gesagt, jemand aus Fredericksburg hätte es entwickelt, aber … na ja …« »Sie haben gedacht, der Betreffende wäre tot?«, meinte Sunday. »Das lag nahe, Sir«, fuhr er dann fort und verzog das Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf. »Sie haben es in der Standardversion be nutzt?« »Sogar den Nebel«, sagte Mike. »Alle dachten, ich sei ein Taktikge nie. Vielen Dank.«
Sunday lachte. »Gern geschehen. Falls es Ihnen gut tut …« Er hielt kurz inne und zuckte dann die Achseln. »Also, ich habe einiges von Ihrem Code aus dem Asheville-Szenario geklaut.« »Ich weiß«, sagte O'Neal, grinste wieder und nahm dann einen Zug an seiner Zigarre. »Ich habe den Code gelesen; Sie haben sogar meine Marke dringelassen.« »Naja …« »Schon gut, ist trotzdem ein gutes Modul. Also, was ist aus dem Mädchen geworden?« »Wendy?« Tommy schüttelte den Kopf, sichtlich von dem plötzli chen Themawechsel verwirrt. »Sie ist in einer SubUrb in North Ca rolina. Wir … halten Verbindung. Ja … wir halten Verbindung.« »Mhm«, machte der Major. »Ist das eine von den Urbs um Ashe ville herum?« »Äh, nein, Sir, Franklin. Das ist ein kleines Kaff …« »In der Nähe von Rabun Gap«, ergänzte Mike und runzelte die Stirn. »Ich stamme von dort. Mein Dad und meine Tochter sind noch in der Gegend. Aber ich bezweifle, dass sie sich je über den Weg laufen werden; Leute, die in Urbs gehen, kommen selten her aus.« »Also … Sir, ich hatte mir da etwas zurechtgelegt …«, sagte Tom my vorsichtig. »Raus damit«, sagte Mike und zog wieder an seiner Zigarre. »Also, es ist so: Die Landstreitkräfte erkennen Angehörige für Leu te unter E-6 nicht an. Ich war gerade zum Stab gekommen, als Ro chester dran war. Aber wenn ich bei den Landstreitkräften geblieben wäre, dann hätten wir …« »Heiraten können«, sagte Mike und runzelte erneut die Stirn. »Ha ben Sie je den Satz gehört: ›Lieutenants sollten nicht heiraten‹?« »Ja, Sir«, antwortete Sunday ruhig. »Scheiße«, sagte der Major und schüttelte den Kopf. »Die Flotte hat inzwischen ein paar äußerst ›altmodische‹ Typen in den oberen
Rängen, und einige davon sind in puncto Angehörige wirklich ziemlich ekelhaft. Ich weiß nicht, ob sich das für einen Lieutenant machen lässt. Die unstete Hand des Schicksals, wie?« »Ja, Sir«, antwortete der Lieutenant. »Ich wollte mich immer noch versetzen lassen, Sir, und freue mich auch, dass ich hier bin, wel chen Einfluss auch immer das in Bezug auf Wendy und mich hat. Ich … ich möchte Posleen töten.« »Das ist leicht untertrieben und wird auch häufig unterschätzt, junger Mann«, antwortete O'Neal. »Ich habe Ihren Code gesehen. Er ist gut; Sie wissen sogar, was man klauen darf und was nicht. Pos leen töten ist nicht alles für jeden.« »Also, Sir, mit allem Respekt, ich habe sonst nicht viel«, sagte der Lieutenant. »Meine Mom ist in einer Urb in Kentucky; sie und meine Schwester waren im Bunker. Aber eigentlich haben wir kaum Kon takt. Mit Ausnahme von Wendy ist alles, was ich je gekannt habe, weg. Und ich habe das Gefühl, um wirklich zu leben, muss ich so viele Posleen töten, wie ich nur gerade kann. Solange die hier nicht weg sind, können wir nicht wieder mit dem normalen Leben begin nen. Und deshalb … töte ich Posleen.« »Also, jetzt hat dieses Gespräch eine recht morbide Richtung ge nommen«, sagte Mike und schüttelte den Kopf. Er sog einen Augen blick an seiner Zigarre, betrachtete den Lieutenant im blauen Dunst und zuckte dann die Achseln. »Sie sind nicht der Einzige, der eine Story hat, Lieutenant. Die Ihre ist gut bekannt, aber sie ist nicht die einzige. Gunny Pappas hat eine Tochter an die Posleen verloren, das war bei dem Abwurf auf Chicago. Die Farm von Duncans Familie liegt fast fünfhundert Meilen hinter der Front. Captain Slight hat ihre Mutter und ihren Bruder verloren, beide waren Zivilisten. Wenn wir alle nichts anderes tun, als Posleen zu töten, dann haben die gewonnen. Wenn dieser Krieg vorbei ist, werden wir wieder daran gehen müssen, Menschen zu sein. Wenn wir nichts anderes können, als Posleen zu töten, wenn wir vergessen haben, Mensch zu sein – genauer gesagt Amerikaner zu sein, um es nicht zu kompli
ziert zu machen –, dann könnten wir ebenso gut aufhören zu kämp fen. Meinetwegen können Sie die Posleen hassen, so sehr Sie wollen, solange Sie das nicht als Mensch auffrisst. Denn zu guter Letzt kämpfen wir um das Recht, uns in Frieden an eine Blondine zu ku scheln.« »Verstanden, Sir«, sagte der Lieutenant. Aber Mike sah seine ver schlossene Miene; der Lieutenant verstand, was er sagte, wollte aber nicht zugeben, dass er Recht hatte. »Ich habe eine Frage, wenn Sie erlauben, Sir.« »Raus damit.« »Hassen Sie die Posleen?«, fragte Sunday argwöhnisch. »Nee«, erwiderte Mike wie aus der Pistole geschossen. »Kein biss chen. Es liegt ziemlich auf der Hand, dass die dazu programmiert sind, das zu sein, was sie eben sind. Ich weiß nicht, wer sie program miert hat – mit anderen Worten: Ich bin mir ziemlich sicher, dass all die Schlaumeier Unrecht haben und es nicht die Darhel waren –, aber wenn wir denen je begegnen, werde ich die verdammt hassen. Ich weiß nicht, was die Posleen waren, ehe sich jemand an ihnen zu schaffen gemacht hat, aber ich bezweifle jedenfalls, dass sie interstel lare Conquistadores waren. Die Posleen können nichts dafür, dass sie so sind, wie sie sind, und wir können nicht anders, als ihnen Wi derstand zu leisten. Das ist eine Situation, in der nicht viel Platz für Hass ist. Aber wenn es Ihnen hilft, sie zu hassen, dann nur zu. Schauen Sie, wechseln wir doch mal kurz das Thema. Es ist schon nach siebzehn Uhr, und all der Unsinn hier ist eigentlich nicht wich tig. Gehen wir doch zusammen in die Offiziersmesse und reden über Spieleentwicklung. Ich werde über diese Heiratsgeschichte nachdenken und versuchen, mir was einfallen zu lassen. Und inzwi schen ruft ein mongolisches Barbecue und eine Dose ziemlich lausi ges Bier nach mir.« »Ach was, Sir, es kostet ja praktisch nichts«, gab Sunday zu beden ken. »Und Freibier ist per Definition gutes Bier.«
»Junge«, sagte der Major und schüttelte den Kopf. »Wenn Sie so denken, passen Sie zu uns.« An der Wand hinter ihm schüttelte der Schriftenmaler des Batail lons den Kopf. Irgendwie konnte er nichts mit »Wer zuletzt lacht, denkt am schnellsten« anfangen.
18 Rabun Gap, Georgia,Sol III 0925 EDT, 25. September 2014
Als Shari aufwachte, erschrak sie und wälzte sich zur Seite, um aus dem Fenster des kleinen Schlafzimmers zu sehen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und die Nachttischuhr, die sie am Abend zuvor aufgezogen und gestellt hatte, zeigte, dass es schon fast neun Uhr war. Unerhört, so lange zu schlafen! Sie sah zu dem Kinderbett hinüber, in dem Amber gelegen hatte, und empfand stechende Angst, als sie feststellte, dass die Kleine nicht da war. Aber dann hörte sie sie irgendwo im Haus entzückt quieken und gleich darauf das muntere Geschrei im Freien spielen der Kinder. Offenbar hatte sich jemand in ihr Zimmer geschlichen und das Baby hinausgetragen, während sie noch schlief. Gähnend streckte sie sich und fuhr sich mit beiden Händen durch das wirre Haar. Sie war in der Nacht nur einmal aufgestanden, um Amber zu wickeln und ihr ihr Fläschchen zu geben, und auch das war ein Wunder. Alles in allem fühlte sie sich so ausgeruht und so wohl wie … seit fünf Jahren nicht mehr, wenn man es richtig über legte. Vielleicht sogar noch länger. Wenn die Menschen von der Zerstörung von Fredericksburg spra chen, flüsterten sie immer, aber ihr Leben war schon vorher in Stücke gegangen. Jemanden aus dem Football Team zu heiraten galt auf der High School als großer Coup, aber zwölf Jahre und ein halb es Dutzend Arztbesuche später, weil ihr Mann sie verprügelt hatte, nach drei Kindern und einer Scheidung sah das nicht mehr so sehr
nach einer guten Idee aus. Dass dann die Posleen gelandet waren und die Stadt zerstört hatten, war ihr eigentlich nur wie eine natürli che Weiterentwicklung vorgekommen. Und jetzt war sie dreißig … und ein paar Jährchen drüber, mit drei Kindern, einem in Abendkursen nachgeholten High-School-Ab schluss, Falten, mit denen sie einer Vierzigjährigen hätte Konkur renz machen können, und – sie zog das Nachthemd aus, das sie im Kleiderschrank gefunden hatte, und blickte an sich herunter – einem zu mager geratenen Körper mit … na ja, immer noch einem einiger maßen anständigen Busen und Schwangerschaftsstreifen. Und sie wohnte mit acht Kindern in einem Kabuff. Nicht gerade ein Fang. Sie schüttelte den Kopf und sah zum Fenster hinaus; es sah nach einem schönen Tag aus, sie hatte ausschlafen können und eigentlich hatte sie keinen Anlass, jetzt trübsinnigen Gedanken nachzuhängen. Sie atmete tief durch und griff nach den Kleidern, die sie am Abend sorgfältig zusammengefaltet auf den Nachttisch gelegt hatte. Dann rümpfte sie die Nase. Gestern war ein langer, recht bewegter Tag ge wesen, und ihre Kleider rochen noch ein wenig nach Schweiß. Shari legte großen Wert auf Hygiene, und jetzt wie eine Landstreicherin riechend herumzulaufen würde ihr keinen Spaß machen. Sie über legte kurz und sah dann zu der Kommode und dem Kleiderschrank hin. Nachdem sie gestern Abend geduscht hatte, hatte sie in den Kleiderschrank gesehen, in der Hoffnung, dort etwas zu finden, worin sie schlafen konnte, und hatte bei der Gelegenheit eine ganze Anzahl Kleider in Plastikhüllen entdeckt. Jetzt zog sie die oberste Schublade der Kommode auf und schüttelte den Kopf; das ganze Zimmer war mit Kleidung voll gepackt. Sie zog ein Bikinihöschen heraus und schnüffelte daran. Es roch vom langen Liegen ein wenig muffig, und da war auch ein Hauch von Parfüm, und es fühlte sich ein wenig … brüchig an, als ob es schon ziemlich alt wäre. Trotzdem roch es besser, als was sie getra gen hatte … und passte. Ein wenig groß zwar, aber es würde schon gehen; das Gummiband hatte die Lagerung offenbar gut überstan den.
Dann wühlte sie weiter und fand BHs und in den Schubladen dar unter Blusen, T-Shirts und Jeans. Wem auch immer die Kleidung hier gehörte, sie war offenbar Jeans-Fan gewesen; da waren mindes tens sieben, die meisten auf Hüfte geschnitten und unten mit wei tem Schlag. Shari zog eine heraus und schüttelte den Kopf; für sie stand es au ßer Frage, dass das »Originale« waren und nicht etwa Stücke aus der kurzen Renaissance jener Mode kurz vor dem Eintreffen der Posleen. Nicht nur, weil sie sich genauso alt und »brüchig« anfühl ten wie das Höschen, von dem sie jetzt vermutete, dass es mindes tens dreißig Jahre alt war, aber jemand hatte die Jeans in einem weit zurückliegenden Anfall von Verrücktheit per Kugelschreiber mit Graffiti versehen. Die jungen Leute um die Jahrhundertwende hat ten kaum gewusst, wer »Bobby McGhee« war, obwohl das Friedens zeichen und »Ich hab's in Woodstock getrieben« für jeden erkennbar waren. Das Verrückteste war die Aufschrift »Frieden durch überle gene Feuerkraft« auf dem Hosenboden, diesmal in einer anderen Handschrift. Sie schüttelte den Kopf und faltete das Kunstwerk sorgfältig zu sammen und wählte stattdessen eine schlichte Jeans mit gerade ge schnittenen Beinen, die noch kaum getragen war. BHs erwiesen sich als Problem. Shari hatte oft gedacht, ihr Busen sei das einzig Sehenswerte an ihr, tatsächlich war er so ziemlich der einzige Körperteil, an dem Rorie nichts auszusetzen gehabt hatte. Aber wem auch immer die Kleidung gehörte, mit der diese Kommo de gefüllt war, ihr war diese ganz besondere Errungenschaft/Fluch offenbar nicht zuteil geworden. Nach langem Suchen fand sie einen, der beim Tragen nicht schmerzte. Nachdem sie ihn schließlich zube kommen hatte, musterte sie sich im Spiegel und schnaubte. »Das ist der Trick, Mädchen. Ihr müsst bloß einen BH finden, der eine Nummer zu klein ist, dann habt auch ihr ein Dekolletee.« Ursprünglich hatte sie eine sehr hübsche geblümte Bluse ausge wählt, sah sich dann aber den Ausschnitt an. Sie blickte an sich her
unter, schüttelte den Kopf und zog stattdessen ein T-Shirt mit der Aufschrift »Led Zeppelin World Tour 1972« heraus. Es war ein we nig eng, aber wenigstens nicht so tief ausgeschnitten. Sie stöberte im Bad herum und entdeckte schließlich eine Haar bürste, alt, aber noch brauchbar, sowie eine Zahnbürste, neu, origi nalverpackt. Sie benutzte beide mit befriedigendem Ergebnis, mus terte sich anschließend im Spiegel und streckte ihrem Abbild die Zunge heraus. »Das glaube ich nicht, Kleine«, sagte sie zu der Trümmerlotte, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. Das Make-up, das sie fand, war offenbar auch seit Jahrzehnten ein gelagert gewesen. Aber neben dem Schminkköfferchen fand sie einen kleinen Plastikbehälter. Er sah aus wie Galplast, aber das hielt Shari für unwahrscheinlich; wo hätte denn eine Galplast-Reißver schlusstasche herkommen sollen? Doch oben auf der Tasche war ein kleiner grüner Punkt, und als Shari ihn berührte und mit dem Fin ger darüber strich, öffnete sich die Tasche, obwohl vorher keine Naht zu sehen gewesen war. Also doch Galplast. Die Tasche enthielt das, was Shari für sich als »Minimalbedarf« be zeichnete. Da war eine Tube mit Mascara, ein heller Lipgloss, ein kleines Döschen Lidschatten mit einem Augenbrauenstift und eine Pinzette. Die Farben waren nicht ideal für sie – wenn sie nicht sehr aufpasste, sah sie am Ende aus wie Britney Spears – und sie hätte sich wirklich gewünscht, dass da eine Grundierung und etwas Rouge gewesen wäre, aber es würde gehen müssen. Und alles war prak tisch nagelneu. Sie legte schnell Make-up auf und trat dann wieder vor den Spie gel, um das Ergebnis zu begutachten. »Baby, du siehst ganz großartig aus«, sagte sie. Und dann: »Und du lügst.« Sie machte ihr Bett und folgte dann dem Duft von gebratenem Schinken die Treppe hinunter in die Küche. Kelly und Irene saßen am Tisch und knabberten an frisch gebackenen Brötchen, Amber
hatte man etwas seitlich von ihnen in einen Hochstuhl gepackt, und Mr. O'Neal stand am Herd. Er beaufsichtigte eine Pfanne mit brut zelnden Schinken und schlug Eier auf. Als sie zur Tür hereinkam, riss er die Augen auf und verfehlte die Schüssel; die Hand mit dem noch nicht aufgeschlagenen Ei fuchtelte einen Augenblick länger als geplant in der Luft herum. Shari unterdrückte ein Lächeln, ging zum Herd und schnüffelte. »Das riecht ja himmlisch.« »Wie hätten Sie denn gerne Ihre Eier, Milady?«, fragte Papa O'Ne al. »Ich mache gerade Rühreier für diese Vielfraße dort drüben.« »Rührei wäre prima«, sagte Shari und versuchte nicht erneut zu lä cheln, als sie merkte, wie er verstohlen zu ihr herüberschielte. Inner lich erteilte sie sich einen Verweis. Dass du ihn jetzt ja nicht anmachst. Lass es bleiben, du wirst es dir nie verzeihen. Trotz dieser strengen Er mahnung verspürte sie das Bedürfnis, sich zu strecken. Und sie tat es. Ein Stück Schinken fiel auf die Herdplatte, als Papa O'Neal die Bratpfanne verfehlte. »Verdammt«, murmelte er. »Ungeschickt …« Er hob den Speck streifen mit den Fingern auf und jonglierte ihn zu dem mit einer Ser viette ausgelegten Teller. »Möchten Sie gerne Speck oder ein … hät ten Sie lieber ein Würstchen?« »Speck, bitte«, erwiderte Shari und ging zum Tisch hinüber, damit der arme Teufel etwas Platz bekam. Dabei wurde ihr bewusst, dass sie ihre Hüften schwenkte. Am liebsten hätte sie sich eine reingehau en. Er ist … nun ja, er muss mindestens sechzig sein, und was in drei Teu fels Namen wird er denn schon in dir sehen als eine geschiedene Flücht lingsfrau mit Kindern und Schwangerschaftsstreifen 1 »Ich … äh, ich sehe, Sie haben etwas zum Anziehen gefunden«, sagte O'Neal und füllte die Teller der Kinder und trug sie zum Tisch hinüber. »Ich dachte, Angies Sachen würden Ihnen vielleicht passen. Ich wollte Ih nen gestern Abend noch sagen, dass Sie sich etwas heraussuchen
sollen. Aber ich hab mich dann mit Elgars über die Versorgungslage in der Urb unterhalten; ich hatte ja keine Ahnung. Das Haus ist voll gepackt mit Sachen; Sie sollten sich alles nehmen, was Sie brauchen können. Aber … ich bin überrascht, dass Sie einen passenden BH ge funden haben.« »Vielen Dank für das Angebot«, sagte Shari. »Es kommt mir zwar vor wie ein Almosen, aber was soll's, ich bin ja gern bereit Almosen anzunehmen. In der Urb gibt es tatsächlich nichts.« Sie lächelte und streckte sich erneut. »Aber ich gebe zu, dass ich bei manchen Sachen Schwierigkeiten hatte, etwas Passendes zu finden.« Papa O'Neal hustete und ging wieder zum Herd hinüber, wäh rend Shari sich umsah, um irgendein neutrales Thema zu finden, zu dem sie sich äußern konnte. »Wo sind denn die übrigen Kinder?«, fragte sie. Irene rutschte vom Stuhl und krabbelte ihr auf den Schoß, brachte dabei ihren Tel ler mit. Dann wandte sie sich wieder der höchst wichtigen Aufgabe zu, sich gleichzeitig Brötchen und Speck in den Mund zu stopfen. »Ein paaar von ihnen schlafen noch«, sagte Papa O'Neal. »Die üb rigen sind mit Cally draußen und helfen ihr bei der Arbeit. Das ge fällt ihnen. Sie hat sie heute Morgen mitgenommen zum Eiersuchen, und dann durften sie sie essen. Billy hat sogar mitgeholfen, die Kühe zu melken, und das geht wirklich weit über den Ruf der Pflicht hin aus.« »Kinder machen so etwas immer gern«, schmunzelte Shari. »Ein mal. Und solange es nicht zu anstrengend ist.« »Na ja, da konnten sie wenigstens im Freien sein und rumlaufen«, sagte O'Neal. »Und Sie hatten sie vom Hals; ich habe ja schließlich gesehen, dass Ihnen das Ausschlafen gut tun würde.« »Ich mag meine Kinder«, wandte Shari ein. »Selbst die, die nicht mir gehören.« »Aber sicher, ich auch«, erwiderte O'Neal. Er nahm ein abgekühl tes Stück Speck und legte es dem Baby hin. »Aber wenn man sie die
ganze Zeit um die Ohren hat, ist das irgendwann für jeden zu viel, selbst für Super-Mom.« Shari runzelte die Stirn und räusperte sich. »Äh … ob es wohl rich tig ist, Amber Speck zu geben?« Papa O'Neal runzelte ebenfalls die Stirn und zuckte dann die Ach seln. »Wüsste nicht, wieso das schaden sollte. Mir hat man als Baby auch welchen gegeben, und nach allem, was ich höre, hält es mein Sohn genauso. Und das ist das dritte Stück, an dem sie sich heute zu schaffen macht.« Shari sah zu, wie Amber nach dem Stück Speck griff und anfing darauf herumzumampfen. »Ich … na ja, wenn Sie meinen, dass es richtig ist«, sagte sie zweifelnd. »Wir geben ihr gewöhnlich Hafer schleim …« »Gries«, meinte Papa O'Neal. »Den hätte ich. Frisch von der Farm. Zwei Sorten sogar.« »Oder Maisbrei?«, fuhr Shari fort. »Habe ich auch«, nickte Papa O'Neal. »Aber wie wär's denn mit Haferbrei? Das ist gute Babynahrung. Mit ein wenig gehacktem Speck, damit es nach was schmeckt.« »Essen Sie immer so?«, fragte Shari. »Mich wundert wirklich, dass Ihre Arterien nicht schon lange dicht gemacht haben.« »Ich habe den niedrigsten Cholesterinspiegel, den mein Arzt je zu Gesicht bekommen hat«, sagte Papa O'Neal und zuckte die Achseln. »Das kommt von all den kalten Bädern und den gesunden Gedan ken.« »Mhm«, sagte Shari und nahm sich ein Stück Speck, das Kelly übersehen hatte. »Eine Frage, hoffentlich bin ich nicht indiskret. Wer ist ›Angie‹?« Papa O'Neal verzog das Gesicht und zuckte die Achseln. »Angie ist die Frau, der Cally mindestens die Hälfte ihres guten Aussehens zu verdanken hat: meine Ex. Sie lebt in einer Kommune in Oregon,
und zwar seit sie vierzig wurde und ihre echte Berufung erkannt hat. Für Wicca.« … und tat Rührei, Speck und ein Brötchen auf ihren Teller und brachte ihn ihr. »Eigentlich haben wir nie richtig zusammengepasst. Sie war so et was wie ein naturverbundener Künstlertyp, und ich, na ja«, wieder zuckte er die Achseln. »Das Beste, was man über mich sagen könnte, ist, dass ich nie einen umgebracht habe, der es nicht auch verdient hat. Ihr hat das, was ich tat, nie gefallen, aber sie hat es ertragen, und mich auch. Zum Teil wahrscheinlich, weil ich häufig weg war und sie ganz nach ihrem Gusto leben konnte. Sie hat hier gelebt und üb rigens auch hier Mike junior großgezogen. Pappi lebte damals noch, aber er hat praktisch in den Bergen gehaust, also konnte sie die Farm so führen, wie sie das wollte. Wie auch immer, als ich schließlich nach Hause kam, kamen wir eine Weile miteinander aus, und dann fingen wir an zu streiten. Schließlich hat sie ihre ›wahre Berufung‹ erkannt, nämlich Priesterin zu sein, und ist in diese Kommune gegangen, und soweit mir be kannt ist, lebt sie dort glücklich und zufrieden.« »Die ›Woodstock/Frieden durch überlegene Feuerkraft-Graffiti‹«, sagte Shari und lächelte. »Aha, die haben Sie gesehen«, sagte O'Neal und lachte. »Ja. So wa ren wir. Sie war mächtig sauer, dass ich ihr das auf den Hintern ge kritzelt habe. Aber ich habe gefunden, sie hätte einfach nicht so sto ned sein dürfen, um mich zu lassen. Ich habe ihr gesagt, was ich da mache, und sie fand das total cool, und … na ja … damals fand sie das cool.« »Also keine Großmutter, die aushelfen kann«, seufzte Shari. »Und jemand muss doch mal unter vier Augen mit Cally reden. So, wie Mädchen miteinander reden.« »Vorausgesetzt, Sie finden sie«, sagte Papa O'Neal. »Ich habe sie den ganzen Vormittag nicht gesehen. Gehört habe ich sie; sie scheucht Ihre Kinder mit ihrer Exerzierplatzstimme herum. Aber ge
sehen habe ich sie nicht. Wir stehen gewöhnlich bei Morgendämme rung auf, aber sie war schon früher aus den Federn und draußen, ehe ich aufgestanden bin.« »Ich dachte, Sie wollten heute Morgen aufstehen und das gemäste te Schwein schlachten.« Shari lächelte versonnen. Die Eier und der Speck waren herrlich gewesen, und sie hatte viel größeren Appetit als gestern. »Habe ich auch«, sagte O'Neal und grinste. »Es liegt auch schon auf dem Grill und brutzelt vor sich hin. Und normalerweise wäre Cal ly jetzt auch hier bei mir. Aber nicht heute Morgen; sie schlägt heute einen fünfzig Meter weiten Bogen um mich.« Er hielt inne und rieb sich das Kinn und blickte dann verblüfft zur Decke auf. »Einen fünfzig Meter weiten Bogen«, wiederholte er nachdenklich. »Ich würde gerne wissen, was sie angestellt hat«, sagte Shari und grinste.
»Du musst es ihm sagen«, erklärte Shannon. »Du kannst dich nicht dein ganzes künftiges Leben lang verstecken.« »Kann ich schon«, antwortete Cally. Sie beförderte eine neue La dung Heu mit wesentlich mehr Schmackes, als dafür eigentlich not wendig gewesen wäre, per Heugabel in die Box. »Ich kann mich ver stecken, solange ich das muss, sagen wir mal so.« Die Scheune war riesengroß und ziemlich alt. Der ursprüngliche Bau war kurz nach dem Angriffskrieg der Nordstaaten gebaut wor den, wie Papa O'Neal den amerikanischen Bürgerkrieg nannte. Es gab einige Pferdeboxen, einen Bereich, in dem die Kühe gemolken werden konnten, und einen großen Heuschober. An einer der Wän de waren ein paar Ballen Heu aufgestapelt. Ein seltsam aussehendes Gewehr mit einer großen, flachen Trommel an der Oberseite, lehnte daran. Cally verließ das Haus nie unbewaffnet.
»Das ist eine ganz natürliche Sache«, wandte Shannon ein. Die Zehnjährige rutschte von dem Heustapel und hob einen Tonbrocken auf, der auf dem Boden lag. Sie wartete einen Augenblick, bis die Maus den Kopf wieder zum Loch herausstreckte, und warf dann den Brocken nach ihr. Er brach an der Mauer über dem Loch in Stücke, und die Maus verschwand. »Du hast ein Recht darauf, dein eigenes Leben zu leben.« »Sicher, sag das mal Grandpa«, meinte Cally und zog einen Schmollmund. »Was soll sie Grandpa sagen?« Cally erstarrte und stieß die Gabel in den Heuballen, ohne sich umzudrehen. »Nichts.« »Shari und ich haben uns gerade den Kopf zerbrochen, wo du den ganzen Morgen über gesteckt hast«, sagte Papa O'Neal hinter ihr. »Wie ich feststelle, hast du alles erledigt. Aber irgendwie hast du das geschafft, ohne in meine Nähe zu kommen.« »Mhm.« Cally sah sich um, aber wenn sie nicht in den Heuschober kletterte und dann vermutlich oben durch ein Fenster ins Freie kra xelte, gab es keine Fluchtmöglichkeiten. Und über kurz oder lang würde sie sich umdrehen müssen. Sie wusste, dass sie eindeutig ge fangen war. Also überlegte sie, ob sie sich entweder umdrehen und sich den Weg freischießen oder zum Fenster hinausspringen und nach Oregon gehen und dort mit Grandma leben sollte. Aber sie be zweifelte, ob sie wirklich schneller schießen konnte als der Alte. Und was das Leben bei Grandma anging, so wusste sie, dass die Kom mune dort sich vom Militär schützen ließ; man würde ihr also ihre Waffen wegnehmen. Ausgeschlossen. Shannon, dieser Fiesling, war tatsächlich geflohen. Abgehauen. Zum Kotzen. Schließlich seufzte sie und drehte sich um.
Papa O'Neal sah einmal hin und zog dann seinen Beutel mit Red Man heraus. Er entnahm ihm etwa die Hälfte seines Inhalts und drehte daraus bedächtig eine Kugel, die nicht ganz so groß wie ein Baseball war. Diese stopfte er sich in die linke Wange, dann steckte er den Beutel weg. Dabei hatte er die ganze Zeit Callys Gesicht be trachtet. »Enkeltochter«, sagte er mit leicht undeutlich klingender Stimme, »was ist mit deinen Augen passiert?« »Jetzt fang bloß nicht an, Grandpa«, wehrte sich Cally mit gefähr lich klingender Stimme. »Ich meine, du siehst aus wie ein Waschbär …« »Ich denke, sie möchte vielleicht auf Britney Spears machen«, meinte Shari diplomatisch. »Aber … diese Dichte … passt wirklich … nicht zu dir, Liebes.« »Ich meine, wenn du in die Stadt gehst, dann verhaften die mich, weil ich dich verprügelt habe«, fuhr Papa O'Neal fort. »Ich meine, deine Augen sind ja völlig blau und schwarz!« »Bloß weil du KEINE AHNUNG von Mode hast …!«, wehrte sich Cally. »Oh, das ist Mode…?« »Augenblick, Augenblick!«, sagte Shari und hob beide Hände. »Jetzt wollen wir uns mal wieder beruhigen. Ich nehme an, alle in dieser Scheune Anwesenden, mich ausgenommen, aber das Pferd vermutlich eingeschlossen, sind bewaffnet.« Papa O'Neal setzte dazu an, etwas zu sagen, doch Shari hielt ihm die Hand über den Mund. »Sie wollten doch, dass ich, dass wir mit Cally über ›Mädchensa chen‹ sprechen. Stimmt's?« »Ja«, nickte O'Neal und schob ihre Hand weg. »Aber da habe ich … Hygiene gemeint und …« »Wie man einen Kerl völlig zum Trottel macht?«, fragte Cally. »Das weiß ich doch alles längst.«
Shari legte ihm wieder die Hand auf den Mund, und er zog sie weg. »Hören Sie, ich bin ihr Großvater!«, erregte er sich. »Habe ich denn gar nichts zu sagen?« »Nein«, erklärte Shari entschieden. »Das haben Sie nicht.« O'Neal warf beide Arme in die Höhe. »Genau deswegen ist es mir so zuwider, Frauen um mich rum zu haben. Okay! Okay! Schön. Ich habe also Unrecht! Bloß eines.« Er zeigte mit dem Finger auf Cally und schüttelte ihn. »Make-up. Okay, mit Make-up komme ich klar. Make-up ist sogar gut. Aber keine Waschbäraugenl« »Okay«, meinte Shari sanftmütig und drehte ihn in Richtung auf die Scheunentür herum. »Wie wär's, wenn Sie nach dem Schwein se hen, dann können Cally und ich uns ein wenig unterhalten.« »Schon gut, schon gut«, murmelte er. »Nur zu. Bringen Sie ihr bei, wie man einen Kerl total wütend macht, ohne auch nur den Mund aufzumachen. Verpassen Sie ihr den ganzen Studiengang … schon gut …« Er murmelte weiter vor sich hin, stelzte aber nach draußen. Cally sah Shari an und lächelte vergnügt. »Du kommst ja anschei nend gut mit ihm klar.« »Ja, so ist es«, gab Shari zu. »Was man von dir im Augenblick nicht behaupten kann.« »Oh, das ist schon in Ordnung«, sagte Cally, die auf dem Heubal len sitzen geblieben war. »Ich war nur all die Jahre sein perfektes, kleines Kriegerkind, und jetzt … ich weiß nicht. Mir hängt die Farm zum Hals raus, das sage ich dir. Und mir hängt es auch zum Hals raus, dass man mich wie ein kleines Kind behandelt.« »Nun, dann gewöhn dich daran, dass das noch eine Weile so blei ben wird«, sagte Shari. »Beides. Sofern nicht etwas höchst Unange nehmes passiert. Weil du nämlich erst dreizehn bist, und das bedeu tet, dass du noch fünf Jahre unter elterlicher Kontrolle stehst. Ja, ich weiß schon, das ist eine Ewigkeit. Und ich weiß auch, dass du von Zeit zu Zeit den Wunsch haben wirst, hier auszubrechen. Und wenn
du es wirklich ganz blöd anstellen wirst, dann findest du ganz be stimmt irgendeinen netten Schwachkopf mit einem heißen Auto und einem süßen Hintern und bekommst ein Rudel Kinder, und mit dreißig stehst du dann im Freien und musst zusehen, dass sie etwas zu essen bekommen.« Cally zupfte an einer Haarsträhne und musterte sie gründlich. »Auf das wollte ich eigentlich nicht hinaus.« »Das sagst du jetzt«, meinte Shari und nickte. »Und in zwei Jahren wirst du in der Stadt mit einem von diesen netten jungen Soldaten mit den breiten Schultern reden. Glaub's mir. Das wirst du. Du wirst einfach nicht anders können. Und ich muss zugeben, wenn du das mit deinen ›Waschbäraugen‹ tust, wie es dein Großvater gerade so charmant formuliert hat, ist deine Chance, etwa ein Jahr später je manden wie Amber in den Armen zu halten, ziemlich groß.« Cally seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich habe gestern Abend mit Wendy und Elgars gesprochen, und wir hatten kein Make-up, aber Wendy hat mir einiges gesagt. Und deshalb bin ich heute Mor gen ganz früh aufgestanden und …« »Hast es probiert«, sagte Shari. »Völlig normal. Überhaupt kein Problem. Willst du ins Haus gehen und es noch einmal versuchen? Diesmal mit ein bisschen Unterstützung?« »Oh, könnten wir das?«, fragte Cally. »Ich weiß ja, dass ich ziem lich blöd aussehe. Ich weiß einfach nicht, wie man es macht. Und so, wie du das gemacht hast, sieht das klasse aus, ich weiß bloß nicht, was du benutzt hast!« »Na ja«, erwiderte Shari und verzog das Gesicht. »Ich würde gerne ein wenig mehr auflegen; ich habe schon lange keine so perfekte Haut mehr wie du. Aber mehr hatte ich nicht zur Verfügung. Es war in einem Beutel unter der Spüle. Es hat ausgesehen wie Galplast …« Sie hielt inne, als sie Callys Miene sah. »Was?« »Das …« Cally schüttelte den Kopf, das Reden machte ihr offenbar Mühe. »Das hat meiner Mom gehört. Die … haben es uns geschickt, aus der Heinlein Station, aus ihrem Quartier. Das … das war so
ziemlich alles an persönlichen Habseligkeiten, was noch da war; al les andere ist mit dem Schiff hochgegangen.« »Oh, Cally, es tut mir so Leid«, sagte Shari und griff sich mit bei den Händen ins Gesicht. »Ist schon in Ordnung, macht nichts«, erwiderte Cally. »Du kannst es haben. Es ist ja bloß … Kram.« »Nein, das ist es nicht«, sagte Shari und ging auf sie zu. »Tut mir wirklich Leid, dass ich es benutzt habe.« »Ist schon gut, echt«, sagte Cally wieder mit gefasster Miene. »Ich bin froh, dass du das getan hast. Wirklich. Ich … ich würde mir bloß wünschen, dass Mom … ah!« Sie griff sich ins Haar. »Vier Milliar den Tote in den letzten paar Jahren! Ich fange jetzt nicht zu heulen an, bloß weil meine Mom auch dabei war! Das. Tu. Ich nicht.« Shari setzte sich neben das Mädchen und legte vorsichtig die Arme um sie. »Du darfst um deine Mutter so trauern, wie du es für richtig hältst, Cally. Stärke und Verdrängung sind auch eine Art von Trauer; glaub mir, ich weiß das. Aber … auslöschen darfst du sie nicht. Du darfst sie nicht … hinter dir zurücklassen.« Sie wischte dem Mädchen die Schmiere von den Augen und wiegte sie einen Moment lang wie ein kleines Kind. »Jetzt sehen wir zu, dass wir dir dieses Zeug abwaschen, und dann holen wir diesen Beutel von deiner Mom heraus und sehen, was wir damit machen können. Ich denke, das wäre ein guter Anfang. In mehr als einer Hinsicht.«
Papa O'Neal blickte auf, als Mosovich und Mueller um die Ecke ka men. »Ist das nicht ein bisschen früh, um schon zur Flasche zu greifen?« Mosovich schmunzelte. Papa O'Neal hob die Flasche selbst gebrauten Biers und spähte durch das dunkle Glas. »Ich erziehe ein minderjähriges Mädchen in
einem Tal voll weibstoller Soldaten; da ist es nie zu früh, um mit dem Trinken anzufangen.« »Na ja, die würden einige Mühe haben, hier reinzukommen«, meinte Mueller. »Wir sind ein wenig spazieren gegangen und haben uns Ihre Verteidigungsanlagen angesehen. Ich muss gestehen, ich habe schon so manche vorgeschobene Stellung gesehen, die nicht so gut ausgestattet war.« Elgars kam von hinten herangeschlendert und ging dann zum Bar becue hinüber. Sie betrachtete das Schwein, das auf einem großen Grillrost und den rot glühenden Hickory-Scheiten langsam braun wurde. »Schwein, stimmt's?«, fragte sie und schnüffelte den würzigen Duft, der vom Grill aufstieg. »So, wie man es in den Zellen hat.« »Pferchen«, verbesserte sie Papa O'Neal und lächelte. »Ja.« »Und das werden wir essen?«, fragte sie. »Die sind … sehr schmutzig.« »Ich habe es sauber gemacht, ehe ich es auf den Grill gelegt habe. Und Sie müssen es natürlich nicht essen. Aber ich persönlich habe vor, mich, mit Verlaub gesagt, so richtig voll zu fressen.« Elgars nickte und riss sich ein Stück von dem halb verbrannten Fleisch ab. Sie jonglierte damit ein paar Sekunden lang und blies darauf, bis es genügend abgekühlt war, um es in den Mund zu ste cken. Dann kaute sie eine Weile und nickte. »Schmeckt gut«, sagte sie. »Oh, vielen Dank«, schnaubte O'Neal. »Ich gebe mir Mühe. War ten Sie nur, bis die Haut richtig knusprig ist.« »Das wird erst am Abend fertig sein, stimmt's?«, fragte Mueller. »Stimmt«, bestätigte Papa O'Neal und goss ein wenig Bier aufs Feuer. Das Hickory-Holz zischte und spritzte, erzeugte duftenden Rauch. »Wahrscheinlich wird es kurz vor dem Dunkelwerden fertig sein. Aber ich muss nicht die ganze Zeit dabei bleiben; Cally kann auch darauf aufpassen, dass es nicht verbrennt. Ich hatte vor, mit Ih
nen den Berg raufzugehen. Dort habe ich ein paar Verstecke ange legt, die sich als nützlich erweisen könnten, falls es hier unange nehm wird, und dann gibt es auch ein paar Wege, die Sie vielleicht kennen sollten, falls das einmal nötig werden sollte.« »Aber gern«, sagte Mosovich. »Wollen Sie mitkommen, Captain?« Elgars blickte die steile Hügelflanke hinauf. »Ja doch. Ich wollte hier schon ein wenig herumlaufen, aber ich wusste nicht recht, ob ich das darf. Und dann habe ich auch was von wegen mechanischen Fallen gehört.« »Ich kann hier nichts scharf geschaltet lassen«, erklärte O'Neal. »Dazu gibt es zu viele große Tiere. Wir haben Sensoren, und gele gentlich kommen wilde Posleen vorbei, aber die automatischen An lagen können wir nur einschalten, wenn wir angegriffen werden.« »Wissen Sie«, meinte Mueller, »ich komme mir jetzt richtig däm lich vor. Da spazieren wir in der Gegend herum und es gibt Wilde in den Wäldern. Wir sind schon früher auf sie gestoßen. Und ohne Waffe haben wir keine Chance gegen die.« »Er hat keine Waffe«, sagte Elgars und deutete auf Papa O'Neal. »Und er lebt hier.« »Oh, ihr Kleingläubigen«, antwortete O'Neal und griff hinter sich. Dann brachte er etwas zum Vorschein, das wie eine kleine Kanone aussah. »Desert Eagle?«, fragte Mueller und streckte die Hand aus. »Geladen«, antwortete Papa O'Neal und reichte sie ihm mit dem Kolben voran. »Desert Eagle, für .50 Action Express umgebaut.« »Cool«, sagte der Master Sergeant. Er klappte das Magazin aus und repetierte die Patrone aus dem Lauf. Die Messing- und Stahlpa trone war so dick wie sein Daumen. »Herrgott! Das ist ja ein gewal tiger Brocken!« »In der Hülse kann man eine .45er-Patrone verlieren«, lachte Papa O'Neal. »Das ist mir einmal beim Nachladen passiert. Und die Kugel ist die neue Winchester Black Rhino .50. Damit kann man einen Pos
leen mit einem einzigen Schuss erledigen, ganz gleich wo man ihn trifft. Und davon sind sieben im Magazin. Ich war es Leid, ständig ein Gewehr rumzuschleppen.« Elgars musterte die Waffe und richtete sie dann, sie mit zwei Hän den haltend, auf ein Ziel. »Gefällt mir gut, aber der Griff wäre mir zu groß.« »Stimmt schon«, nickte Papa O'Neal. Er schmierte Barbecue-Soße auf das Fleisch, lud die Waffe dann wieder und steckte sie ins Half ter. »Und der Rückstoß ist gewaltig. Aber dafür verschafft sie weiß Gott Respekt!« Er trank die Flasche leer, spülte sie mit Wasser aus einem Wasserhahn außen an der Wand und stellte sie in eine offen bar für diesen Zweck vorgesehene Steige. Dann rülpste er und blick te zur Sonne auf. »Wenn wir jetzt gehen, können wir uns die Höhen ansehen und bis Mittag wieder zurück sein. Dann haben wir den ganzen Nach mittag lang Zeit, Bier zu trinken, uns gegenseitig mit unseren Leis tungen in all den Jahren zu belügen und so zu tun, als ob wir keine müden, alten Furzer wären.« »Soll mir recht sein«, grinste Mosovich. »Dann wollen wir uns Waffen holen«, sagte O'Neal. »In diesen Ber gen läuft man nicht mit einer Pistole bewaffnet herum. Selbst nicht mit einer, die so groß ist.«
Wendy lächelte, als Shari und Cally in die Küche kamen. »Ich sehe, du hast meinen Rat befolgt«, meinte sie. »Hübsch. Sehr dezent.« »Äh …«, machte Cally. »Wir mussten da einiges abändern«, gab Shari zu. »Grandpa hat gesagt, ich hätte Waschbäraugen«, beklagte sich Cally.
»Das waren sie auch«, erklärte Shari. »Später kann Wendy dir dann zeigen, wie man sich richtig Waschbäraugen malt; ich habe den ›Britney Spears Look‹ schon bei Wendy gesehen, und die Ähnlich keit ist wirklich sehr groß.« Wendy streckte ihr die Zunge heraus, verzichtete aber auf einen Kommentar. »Bis dahin«, fuhr Shari fort, »solltest du dich auf das Minimum be schränken. Du brauchst das wirklich nicht, weißt du. Make-up dient dazu, Frauen natürlich aussehen zu lassen. Und, das solltest du wis sen, einer der Gründe, man trägt es unter anderem deshalb nicht wie Kriegsbemalung auf, weil das die jungen Damen tun, die ihre Zuneigung verkaufen. Und wenn du mit solchem Make-up in Fran klin rumläufst, solltest du dich nicht wundern, wenn einer dieser Soldaten einen falschen Eindruck bekommt.« »Ich bin es einfach leid, ›einer von den Boys‹ zu sein«, sagte Cally. »Ich meine, als ich noch keinen Busen hatte und die Jungs noch nicht mit raushängender Zunge hinter mir herrannten, hat Grandpa mich wie einen Kerl behandelt. Jetzt würde er mich am liebsten in einen Turm sperren!« Shari lächelte und schüttelte den Kopf. »Er ist ein Vater. Na schön, ein Großvater, aber man könnte sagen, das ist hier dasselbe. Er will nur das, was seiner Ansicht nach das Beste für dich ist. Da kann er Recht haben oder nicht, jedenfalls versucht er das. Alle Eltern versu chen das«, schloss sie und seufzte dabei. »Und dann kommt noch hinzu, dass er eben ein Kerl ist«, meinte Wendy. »Er war selbst einmal einer von diesen Jungs, die mit her aushängender Zunge rumlaufen, und weiß, was sie denken und was sie wollen. Und neunundneunzig Prozent von denen allen wollen nichts anderes, als dir an die Wäsche zu gehen. Die werden alles sa gen, was du hören willst, alles tun, um das zu erreichen. Einige von ihnen gehen sogar so weit, dass sie Gewalt gebrauchen. Er weiß, was sie denken, er weiß, worüber sie miteinander in der Kaserne re
den, und er weiß, was sie alles tun würden, um das zu erreichen. Und deshalb ist er da ausgesprochen paranoid.« »Ich bin auch paranoid«, sagte Cally. »Wenn dich zwei- oder drei mal einer verfolgt hat, kriegst du es schon mit der Angst zu tun, aber …« »Gar kein aber«, fiel ihr Wendy ins Wort. »Ich habe mich fast sechs Jahre lang damit abgefunden, dass alle mich für die Schulschlampe hielten, bloß weil ich das einzige Mädchen war, das nicht die Beine breit gemacht hat. Ich weiß nicht, wie oft ich im Sommer bei Dates in langärmligen Pullovern und Sweatpants geschwitzt habe. Und darüber, wie man an elektronischen Schlössern rumfummelt, mag ich gar nicht reden. Das ging so weit, dass ich mich nicht mehr auf einen Rücksitz gesetzt habe, weil ich Angst hatte, dass die die ver dammte Kindersperre eingeschaltet hatten und ich die Tür nicht aufkriege. Ich bin mindestens sechs Mal in vier Jahren zu Fuß nach Hause gegangen. Wenn es um Kerle und Hormone geht, kann man gar nicht zu paranoid sein.« »Es gibt Schlimmeres«, meinte Shari düster. »Wenn du einmal in einer solchen Situation die falsche Entscheidung triffst, kann es leicht dazu kommen, dass du am Ende glaubst, du hättest etwas falsch gemacht. Dass es deine Schuld ist, wenn sie dich schlagen. Dass das gerechtfertigt ist, weil du nicht gut genug bist, nicht hübsch genug, nicht schlau genug.« Sie hielt inne, sah Cally an und schüttelte den Kopf. »Versteh mich bloß nicht falsch, Männer sind großartig und haben ihr Gutes …« »Ja, wenn's um Installation geht und um Elektrokram«, schnaubte Wendy. »Oder schwere Lasten schleppen … Spinnen umbringen …« »… aber die richtige Wahl zu treffen ist die allerwichtigste Ent scheidung, die du je treffen wirst«, fuhr Shari fort und sah Wendy dabei mit ernster Miene an. »Das ist mir alles zu kompliziert«, beklagte sich Cally. »Was ist, wenn ich irrtümlich auf ihn schieße? Wenn er zurückkommt, mag er
mich also wirklich. Und ich kann garantieren, dass er es erst dann probiert, wenn ich sage, dass es mir recht ist. Läuft das so?« »Na ja …«, sagte Shari. »Das sollte ein Witz sein«, lachte Cally. »Schlimmstenfalls würde ich ihm den Arm brechen.« Sie blickte nachdenklich und zuckte dann die Achseln. »Also, um entscheiden zu können, ob ein Kerl es wert ist, dass ich mit ihm ins Bett gehe, warte ich. Und wenn er nicht fragt … Ich könnte ja auf eine Stelle schießen, wo es nicht so wehtut. Mit einer .22.« »Du trägst eine .22?«, fragte Wendy und lachte. »Mann, da müssen aber die Posleen wirklich Angst kriegen! Du machst doch Witze, oder?« Cally lächelte verkniffen. »Gehen wir zum Schießstand hinunter. Dann werden wir ja sehen, wer zuletzt lacht.«
19 Rabun Gap, Georgia, Sol III, 2325 EDT, 25. September 2014
»Das ist also eine .22?«, fragte Wendy ungläubig. Die Waffe sah selt sam aus, sie erinnerte an eine etwas klein geratene Maschinenpistole aus den Gangsterfilmen um die Mitte des zwanzigsten Jahrhun derts, eine so genannte »Tommy Gun«, mit einem trommelförmigen Magazin an der Oberseite. Sie konnte die winzige Öffnung im Lauf zwar sehen, aber die Vorstellung, dass dieses Kriegerkind eine .22 trug, das Kaliber, mit dem gewöhnlich achtjährige Jungen auf Ratten schossen, schien ihr lächerlich. Die Waffe sah aus wie ein Spielzeug, aber sie wusste auch, dass das eine äußerst gefährliche Denkweise war. »Mhm«, sagte Cally und ging auf den Schießplatz. »Der Schieß platz ist kalt, Leute, es wird nicht gezielt, keineswegs geschossen, Waffen sichern.« Sie griff sich einen Hohlblockstein von einem Sta pel und trug ihn verblüffend mühelos zum ersten Ziel und stellte ihn auf einen Baumstumpf, den man offenbar zu diesem Zweck dort gelassen hatte. »Das ist die Standarddemonstration für die Ameri can 180«, fuhr sie fort und ging zur Feuerlinie zurück. Auf dem O'Neal-Gelände gab es zwei Schießplätze. Der erste, wo sie sich jetzt befanden, war ein Standardschießplatz mit mehreren Klappscheiben, kreisförmigen Schießscheiben sowie Silhouetten von Menschen und Posleen, die bis auf eine Distanz von zwei- oder drei hundert Metern reichten. Der andere Schießplatz parallel zur Zu fahrt war ein taktischer Parcours.
Cally musterte ihre Begleiter und runzelte die Stirn. »Normaler weise erledigt das Papa O'Neal, aber ich nehme an, dass ich hier ge wählt bin. Wie viele von euch waren schon mal auf einem Schieß platz?« Die meisten der Kinder waren ihnen gefolgt, und sie runzelte jetzt die Stirn, als keines davon die Hand hob. »Von euch ist noch keines auf einem Schießplatz gewesen? Wo macht ihr denn eure Waffen ausbildung?« »In der Urb ist es Personen unter sechzehn verboten, Waffen zu benutzen«, sagte Wendy mit finsterer Miene. »Das ist … lächerlich«, meinte Cally. Wendy zuckte die Achseln. »Hast du je auf einen Posleen geschossen?«, fragte Shari. »Ich fra ge das nur … weil ich mir nicht vorstellen kann, wie jemand im Al ter von Billy …« »Nützlich sein könnte?«, schnaubte Cally. »Hast du den Bunker neben dem Haus gesehen? Ich habe meinen ersten Posleen erledigt, als ich so alt wie Billy war, ich habe damals Grandpa mit meiner Flinte Feuerschutz gegeben; er saß an dem Mini-Gun. Das war wäh rend der Landung bei Fredericksburg. Eine Kompanie Posleen war am Eingang zum Tal gelandet und kam den Weg herauf. Kein Einzi ger von denen ist lebend rausgekommen; wir haben sie mit den Claymores erledigt, und die das überlebt haben, haben wir anschlie ßend abgeknallt. Ja, doch, ich glaube schon, dass Billy ziemlich nütz lich sein könnte, wenn ihr das nur zulassen würdet.« »Ich habe die Regel nicht gemacht«, erklärte Shari und zuckte die Achseln. »Ist ja auch egal«, erwiderte Cally. »Macht's dir etwas aus, wenn er hier schießt?« »Ist das auch nicht gefährlich?«, fragte Shari und musterte die selt same kleine Waffe unsicher.
»Natürlich nicht«, erklärte Cally. »Das Erste, was hier erklärt wird, sind die Sicherheitsvorkehrungen.« Sie hielt ihnen einen kurzen Vortrag über die Sicherheitsregeln, äußerte sich dabei zu Gehörschutz, dem Sichern der Waffen, dass man den Finger nie am Abzug lassen durfte und stets davon ausge hen sollte, dass eine Waffe geladen war. »Aber das jetzt ist das Wichtigste: Ihr dürft nie eine Waffe, auch nicht eine ›ungeladene‹, auf etwas richten, auf das ihr nicht schießen wollt. Aus Sicherheits sicht ist jede Waffe geladen. Gewehre und Pistolen sind kein böser Zauber; sie sind bloß Werkzeuge, um damit etwas aus der Ferne zu töten. Betrachtet sie als nützliche, aber gefährliche Werkzeuge, so, wie eine Kreissäge oder eine Kettensäge, und es kann euch nichts passieren.« Sie hob das Gewehr auf und schnippte das Laserzielgerät an; auf dem Hohlblockstein erschien ein winziger roter Punkt. »Wenn nicht, dann passiert das hier.« Die Waffe in Hüfthöhe haltend, wobei sich der rote Punkt kaum bewegte, eröffnete sie das Feuer. Die Waffe war leise: es war nur eine Folge knackender Laute zu hören, so, wie ein nicht sauber zündender Außenbordmotor in eini ger Ferne. Ein Außenbordmotor, der sehr schnell lief. Wendy schüttelte den Kopf, als der Stein sich auflöste. Die einzel nen Kugeln waren winzig, ein .22-Geschoss hatte etwa den Durch messer eines Strohhalms. Aber die Waffe spie in weniger als einer Sekunde Dutzende davon aus und praktisch ohne jeden Rückstoß; Wendy konnte sehen, wie sie in einem Staubschleier auftrafen, und der Laserzielpunkt bewegte sich immer noch nicht. Ein paar Augenblicke später fiel der Schlagbolzen auf eine leere Kammer, und Cally zog die Trommel herunter, wobei ein einziges Geschoss vor ihr in den Staub fiel, und brachte eine neue an. Der Hohlblockstein hatte sich in einen Haufen Staub und eine Vielzahl von Brocken verwandelt, die nicht viel größer als ein Daumen wa ren.
»Sie verschießt sie ziemlich schnell«, stellte Cally fest und setzte die Waffe ab. »Und auf Distanz taugt sie nichts. Aber aus der Nähe ist sie gut, selbst gegen Posleen, und es macht mächtigen Spaß, sie abzufeuern. Wenn wir etwas anderes abfeuern wollen, müssen wir Ohrenschützer anlegen.« Sie bedeutete Wendy mit einer Handbewegung, dass sie ihr die Steyr geben sollte, und winkte dann Billy zu. »Jetzt bist du dran.« Sie lud die Waffe durch und legte sie ihm an die Schulter. »Linke Hand am Kolben, rechte Hand am Pistolengriff, Finger weg vom Ab zug«, fuhr sie fort und schob ihm den Finger sachte weg. »Siche rungshebel ist an deinem rechten Daumen. Schau durch den Ring hinten, leg die Wange an den Kolben, finde das vordere Visier und konzentriere dich darauf. Dann legst du die Kimme auf das Ziel. Atme ein und lass den Atem dann wieder heraus, und wenn du dann so weit bist, dann langsam abdrücken. Ganz sanft drücken; der Schuss sollte sich wie eine Überraschung anfühlen.« Billy sah zu ihr hinüber und nickte, dann beugte er sich über die Waffe und zog sie an seine Schulter. »Nicht verspannen«, warnte Cally. »Das ist ein kleines .308-Ge schoss. Der Rückstoß wird dich nicht gleich umwerfen.« Billy nickte wieder und drückte langsam ab, setzte sein Geschoss in die Mitte der wie ein Mensch geformten Zielscheibe und warf sie um. »Gut«, lobte Cally, als er grinste. »Jetzt werde ich einen Posleen hochklappen. Er hat einen kopfgroßen Flecken an der Seite, dicht hinter der Schulter, er ist rot markiert. Ich möchte, dass du ihn dort triffst. Okay?« Billy wirkte nicht besonders begeistert, zuckte aber schließlich die Achseln und nickte. Also ließ Cally das Ziel hochklappen. Der Posleen war fünfundzwanzig Meter entfernt, ein simpler Schuss für ein Gewehr und auf derselben Linie, wo vorher die Ziel scheibe in Menschenform gewesen war. Billy erschrak so, dass sein
erster Schuss zu hoch abkam, aber er fing sich schnell und jagte den zweiten ins Ziel. »Du magst Posleen nicht, was?«, fragte Cally. Billy schüttelte den Kopf. »Posleen sterben«, sagte sie und grinste dabei. »Man schießt auf sie, und dann sterben sie. Sie kippen einfach um. Es kommt nur dar auf an, dass du auf sie schießen musst, und zwar ehe die auf dich schießen. Jetzt noch einmal.« Sie verbrachten die nächsten paar Stunden auf dem Schießplatz und gingen schließlich zum Haus zurück, um ein kleines Picknick einzunehmen, das Baby zu füttern und Munition zu holen. Alle Kin der durften irgendeine Waffe abfeuern, selbst wenn es nur das Luft gewehr aus der Waffenkammer war. Nachdem sie zusammen an die zweitausend Schuss verfeuert hatten, machte Cally Schluss. »Ich denke, das ist für einen Tag genug«, sagte sie und nahm Kel ly, der das offenbar gar nicht passte, eine Sig-Sauer .40 weg; die Sechsjährige hatte gerade auf fünfundzwanzig Meter Distanz zwei mal hintereinander ins Schwarze getroffen und betrachtete sich selbst mit gebührender Ehrfurcht. »Vielleicht kommt ihr uns mal wieder besuchen, dann schießen wir wieder. Aber ich muss jetzt nachsehen, ob das Schwein nicht Feuer gefangen hat.« »Das wäre wirklich schade«, sagte Wendy. »Ich werde großen Hun ger haben. Und unsere Wanderer bestimmt auch.« »Weil wir gerade von denen reden, wo mögen die jetzt wohl sein?«, sagte Shari. In dem Augenblick hallte von den Bergen ein laut dröhnender Schuss über das Tal. »Irgendwo bei Lager Vier, so, wie das klingt«, sagte Cally. »Was war das?«, erkundigte sich Wendy. »Grandpas Handkanone, würde ich schätzen.«
»Ob er wohl in Gefahr ist?«, fragte Shari und hielt sich die Hände über die Augen, um sie vor der grellen Sonne zu schützen; dann blickte sie die Bergflanke hinauf, freilich ohne etwas zu erkennen. »Oh, ganz bestimmt«, sagte Cally und ließ die Kinder die Patro nenhülsen aufsammeln. »Sonst hättest du ja gehört, wie die anderen auch zu ballern anfangen.«
Mosovich deutete an einem etwa fünfzehn Meter hohen, steil in die Tiefe abfallenden Felsvorsprung hinunter und dann auf einen Hickory-Schössling, der am Rande des Abgrunds wuchs. Bei genauem Hinsehen konnte Mosovich erkennen, dass die Rinde unten am Stamm des Schösslings abgescheuert war. Er nickte und warf dem Farmer einen fragenden Blick zu. O'Neal lächelte, hängte sich das Gewehr über die Schulter, schwang die Füße über den Abgrund und ließ sich hinunterfallen. Als die anderen jetzt über den Rand blickten, war deutlich zu er kennen, dass es dicht darunter einen schmalen Felssims gab, auf dem O'Neal jetzt kauerte. Grinsend duckte er sich und verschwand im Inneren des Berges. Mosovich zuckte die Achseln, packte den jungen Baum und wie derholte O'Neals Manöver. Er sah, dass O'Neal jetzt in einer Höhlen mündung kauerte und sich offenbar bereithielt, den Sergeant Major aufzufangen, falls dieser stürzen sollte. Mosovich schüttelte den Kopf, als er O'Neal grinsen sah, und ar beitete sich ein Stück seitwärts; Mueller würde es schwerer haben als er. Doch der ließ etwas mehr Vorsicht walten, klammerte sich an einem schmalen Vorsprung fest und ließ sich vorsichtig auf den Sims hinab. Dann zwängte er sich an O'Neal vorbei tiefer ins Innere der Höhle. Elgars sah an der Klippe hinunter und zuckte die Achseln. Sie packte den Baum und ließ sich fallen, geriet dabei leicht aus dem
Gleichgewicht. Doch noch ehe Mosovich oder O'Neal reagieren konnten, griff ihre eine Hand nach oben, es wirkte elegant und ir gendwie langsam, und packte einen winzigen Vorsprung mit Dau men und Zeigefinger, klammerte sich daran fest, als wäre es ein me chanischer Griff. Sie zog sich langsam in senkrechte Position und duckte sich dann in die Höhle. Der kurze Gang war in der Mitte gerade hoch genug, dass man ihn geduckt passieren konnte; dann weitete sich die Höhle beiderseits aus. Auf der rechten Seite senkte sich die Decke schnell bis zum Bo den herunter und brachte ein dünnes Rinnsal mit sich, das sich in ei nem kleinen Becken sammelte, das offenbar von menschlicher Hand geschaffen war. Auf der linken Seite war die Felswand fast senk recht, und der Boden reichte weiter in den Berg hinein; zumindest schien es so; der größte Teil der Wand war nämlich mit Schachteln verstellt. Es handelte sich um Munitionsbehälter aus Holz und Blech, was serdichte Plastikbehälter und sogar ein paar Galplast-Behälter mit Gravkarabiner- und Granatenmunition für PKA. Auch etwa ein Dutzend Kisten mit Feldverpflegung waren zu sehen. »Das ist nicht alles Munition«, sagte O'Neal und zerrte einen lan gen, flachen Behälter herunter, auf dem an der Seite »Munition 81mm, M256 HE« in Schablonenschrift aufgedruckt war. Der Behäl ter enthielt ein paar alte, in Plastik verpackte und mit Mottenkugeln gesicherte Kampfanzüge. »Die komplette Ausrüstung für eine Grup pe. Und Verpflegung für vier Tage. Wasser?« Er wies auf den Tüm pel. »Und in einer der Kisten sind Filter.« »Wie viele solche Verstecke haben Sie denn?«, fragte Mosovich und schüttelte den Kopf. »Das ist ja … Herrgott, ich bekomme gleich Zahnweh, wenn ich bedenke, was das kostet.« »Oh, es hat schon ein paar Jahre gedauert, das alles anzusammeln«, sagte Papa O'Neal, lachte und schoss einen Strahl Tabaksaft auf den Boden. »Und ich habe es Stück für Stück getan, also waren die Kosten gar nicht so schlimm. Außerdem … es gibt
jetzt ein paar Programme der Regierung für so etwas. Zumindest läuft es auf das hinaus, wenn man das Kleingedruckte liest. Und in letzter Zeit, na ja …« Er grinste und schüttelte den Kopf. »Sagen wir mal, dass dieser Krieg für meinen Sohn finanziell gar nicht so übel war.« Mosovich musste zugeben, dass das vermutlich den Tatsachen entsprach. Fleet bezahlte ihre Angehörigen nach einem System, das in starkem Maße auf einer Art von Prisengeldern beruhte, eine Kombination aus galaktischen Gesetzen und deren Anwendung durch die Menschen. Da die GKA im Allgemeinen die erste An griffsspitze darstellten, fiel ihnen der maximale finanzielle Nutzen aus allen eroberten Posleen-Waffen, Schiffen und Vorräten zu, die im Allgemeinen bei der Flucht der Posleen herumlagen. Außerdem stellte er fest, dass Papa O'Neal sich geschickt der Beantwortung der Frage entzogen hatte, wie viele ähnliche Lager es gab. »Und er ist auch die ideale Quelle für Überschussgüter«, sagte Mueller und versetzte einer Kiste mit Munition für Gravkarabiner einen Fußtritt. »Ja, allerdings«, nickte Papa O'Neal und grinste wieder. »Die ver brauchen massenhaft Munition.« Er ging geduckt zum Höhlenein gang zurück und wies den Hügel hinunter, wo man undeutlich die Farm und das kleine Tal dahinter erkennen konnte. Das Haupttal der Rabun-Lücke war von ihrem Standort aus nicht zu sehen, weil ein Bergvorsprung es verdeckte, aber den Black Mountain konnte man deutlich erkennen – er beherrschte den südlichen Horizont – und auch ein Teil des Walls war schwach zu sehen. »Von hier aus hat man recht gute Sicht, aber leider hat die Höhle keinen Hinter ausgang. Und ich lege immer großen Wert darauf, einen Fluchtweg zu haben.« »Yeah, mich haben die Posleen auch ein paar Mal in die Enge ge trieben«, sagte Mosovich und blickte an der Klippenwand hinunter. Sie war durchaus ersteigbar, wenn auch unter Schwierigkeiten. »Ich mag das ebenso wenig.«
Als er zurücktrat, keuchte Elgars und schüttelte den Kopf. »Also, das war jetzt ziemlich schlimm«, sagte sie mit einem bemühten Lä cheln. »Was war schlimm?«, fragte Mueller und trat neben sie auf den Felssims, wo es dadurch sehr eng wurde. »Haben Sie je Flashbacks, Sergeant?«, fragte sie. »Gelegentlich«, gab Mueller zu. »Aber nicht sehr häufig.« »Also, ich habe manchmal Flashbacks, und zwar von Sachen, die ich nie getan habe«, meinte Elgars und verzog dabei das Gesicht. »Und, wissen Sie, ich war nie auf Barwhon, aber mit der Zeit hasse ich diesen kalten, verregneten Planeten.« »Das ist er allerdings«, sagte Mosovich. »Ich war nur einmal dort, und es zieht mich auch gar nicht wieder hin.« »Wie ich höre, herrscht dort eine große Artenvielfalt«, sagte Papa O'Neal schmunzelnd und griff nach oben, um an der Felswand em porzuklettern. »Und das gilt für so ziemlich jeden wirklich widerli chen Ort, an dem ich jemals war – Vietnam, Laos, Kambodscha, Kongo, Biafra.« »Stimmt«, pflichtete Mueller ihm bei. »Dort gibt es etwa eine Milli arde verschiedener Arten von Beißkäfern, jeder so groß wie meine Daumenkuppe. Und vierzig Millionen Arten von Lianen, die einem ständig den Weg versperren. Und sechzig Millionen Arten richtig hoher Bäume, die das Licht verdecken.« »Und Unmengen Posleen«, fügte Mosovich lachend hinzu. »Also, früher mal zumindest.« »Ich hatte plötzlich ein ganz deutliches Bild von einem PosleenDorf vor mir, ein paar Pyramiden und einiges andere Zeug. Ich sah durch ein Zielfernrohr, das rechte Auge am Zielfernrohr, mit dem linken habe ich mich draußen umgesehen. Ich weiß, dass in etwa ei ner Sekunde ein Posleen durch eine Tür kommen wird und ich ihn abschießen muss. Dann gab es ein paar Explosionen, und dann taucht tatsächlich ein Postie auf. Ich putz ihn weg, und noch ein
paar andere, und dann kommt ein Gottkönig, und alles ist okay. Ich bin in meiner Zone und erledige die Ziele. Ich hab 'ne IR-Decke um, und meine Wärmesignatur ist abgedeckt, also bin ich sicher, kein gegnerisches Feuer, 'ne Riesenknarre, wahrscheinlich ein Barrett, und ich muss ein paar Mal die Position wechseln, weil ich auf so 'nem mächtigen Ast liege oder so ähnlich. Dann fängt der Baum, auf dem ich sitze, zu zittern an, und ich sehe hinunter, und da wandern diese Schüsse den Baum rauf, und dann wird es weiß.« »Sie wollen mich nicht etwa auf den Arm nehmen?«, fragte Moso vich mit leiser Stimme. »Nein«, antwortete Elgars. »Warum?« Er sah zu Mueller hinüber, dessen Gesicht ganz weiß geworden war, und überlegte, ob er die Frage beantworten sollte. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nicht hier, nicht jetzt«, sagte er. »Später. Vielleicht. Ich muss erst darüber nachdenken.« »Das ist nicht die einzige Erinnerung, bei der ich sterbe«, sagte El gars und zuckte die Achseln. »Da ist noch eine, wo ich davonrenne und meine Hand verbrannt ist, es tut jedenfalls scheußlich weh, und ich trage etwas, und dann kommt mir der Boden entgegen und ich sterbe. Und noch eine, wo ich bis zur Hüfte im Wasser stehe und mit einer leichten Maschinenpistole schieße, aus der Hand. Und ich ster be. Und noch eine, wo unter mir etwas explodiert und ich sterbe.« »Sie sterben oft«, meinte Mueller und sah sie mit eigenartiger Mie ne an. »Jo«, machte Elgars. »Aus der Traum, Mann. Passiert mir ständig. Praktisch jede Nacht. Wirklich ekelhaft. Man entwickelt da wirklich kein Selbstvertrauen, wenn man die ganze Zeit stirbt.« »Davon haben mir die Hirnklempner nichts erzählt«, sagte Moso vich. »Das kommt daher, dass ich etwa um die Zeit, wo diese Flash backs angefangen haben, beschlossen habe, nicht mehr mit diesen
Heinis zu reden«, erklärte der weibliche Captain und zuckte die Achseln. »Ich habe auch Träume, in denen ich sterbe«, sagte Papa O'Neal und spuckte in die Tiefe. »Aber gewöhnlich ist das eine Explosion, meist ein Nuke. Den Traum habe ich immer wieder. Übrigens ist das wirklich ein beschissenes Gesprächsthema, und ich brauche dazu ein Bier.« Er griff nach oben, packte den Baumstamm und zog sich daran wieder in die Höhe. »Zeit, wieder hinunterzugehen und nach zusehen, ob Cally inzwischen das Schwein verbrannt hat.« Er drehte sich um, um Mosovich behilflich zu sein, und drehte sich dann zu rück, als im Gebüsch ein Knistern zu hören war. Das Posleen-Normale war offenbar von einem Stechpalmenge büsch verdeckt gewesen. Jetzt raste es die Hügelflanke herunter auf sie zu, den Speer in Schulterhöhe vor sich ausgestreckt. Mosovich hatte gerade angefangen, sich in die Höhe zu ziehen und konnte nicht reagieren, aber das machte nichts. Papa O'Neal sparte sich die Mühe, nach dem Sturmgewehr zu greifen, das er auf dem Rücken trug. Seine Hand fiel einfach auf die Pistole im Halfter und zog sie in einer fließenden Bewegung heraus, als das Normale wenige Schritte vor ihm zum Stillstand kam. Die Desert Eagle richtete sich auf den Vorsprung über der Doppel schulter. Eine Knochenpartie über der Schulter und die Schulter selbst schützte die Vorderseite eines Posleen. Aber unmittelbar dar über und darunter gab es freie Flächen; die höhere davon, die dem Schlüsselbeinbereich eines Menschen entsprach, enthielt eine Kon zentration von Nervensträngen und Blutgefäßen. Papa O'Neal gab einen Schuss ab und tänzelte dann zur Seite, blockte den jetzt nur mehr von schlaffen Händen gehaltenen Speer mit dem Lauf seiner Waffe ab. Der Posleen lief noch ein paar Schrit te weiter und glitt dann den Hügel hinunter in den Abgrund. »Kopf hoch«, rief O'Neal ungerührt. Dann stieß er das Magazin aus, schob ein neues ein und lud das ursprüngliche Magazin nach,
während der Posleen den Hügel hinunterrutschte und schließlich über eine Klippe flog. Mueller schüttelte den Kopf und wischte sich dann das Gesicht ab, wo ein gelber Tropfen Zeugnis vom Hinscheiden des Normalen ab legte. »Herrgott, ist wirklich schön, wenn man mit Profis zu tun hat«, schmunzelte er. Elgars schüttelte erstaunt den Kopf. »Mir macht's absolut nichts aus, dass die Dinger ein wenig kompliziert zu handhaben sind. Die ser Posleen hatte ein Loch, durch das ich meinen Arm hätte stecken können. Ich brauche auch so eine Pistole.« »Die sind hübsch«, nickte Mueller und packte den Baumstamm. »Andererseits auch wirklich laut.«
»Wir haben euch oben auf dem Hügel gehört«, sagte Cally, als die vier an der Barbecue-Grube auftauchten. »Mich wundert, dass du den Gaul nicht gehäutet und eine Keule mitgebracht hast.« »Er ist den Hügel runtergerutscht.« Papa O'Neal grinste. »Ver dammtes Pech, wenn du mich fragst. Wo sind denn die anderen alle?« »Die meisten Kinder haben sich hingelegt«, sagte die Dreizehnjäh rige und stocherte in dem Hickory-Feuer herum. »Wendy und Shari sollen drinnen die Teller vorbereiten. Aber ich hab denen gesagt, dass wir genügend Zeit haben, und deshalb glaube ich, dass die sich auch aufs Ohr gelegt haben. Hat's sonst noch irgendwo Ärger gege ben?« »Diese Jungs sind recht gut in den Bergen«, sagte O'Neal. »Fast so gut wie du.« »Alles klar«, sagte Mueller. »Aber ich habe da eine Frage. Ich habe gehört, dass manche Leute Posleen essen, aber …« Papa O'Neal wirkte plötzlich verlegen, und Cally lachte hyste risch.
»Yeah, er hat einen gegessen«, sagte sie. »Genau genommen sogar Stücke von mehreren.« »Die schmecken wirklich wie Scheiße«, sagte O'Neal und zuckte die Achseln. »Die sind zäh und faserig und werden auch nicht weich, wenn man sie eine Ewigkeit kocht, und sie schmecken wirk lich scheußlich; schlimmer als Faultier, und das will etwas bedeu ten.« »Sie haben Faultier gegessen?«, fragte Mueller. »Mann, ich bin noch nie jemandem begegnet, der welches gegessen hat.« »Bier«, wechselte Papa O'Neal das Thema, griff sich einen langen Bratspieß und stieß ihn in das aufgeschnittene Schwein. »Und das hier sollte man umdrehen. Wie lange liegt es schon auf dieser Seite?« »Etwa eine Stunde«, sagte Cally. »Das letzte Mal haben mir Wen dy und Shari geholfen.« »Ich übernehme das hier jetzt«, sagte O'Neal. »Falls mir jemand ein Bier bringt. Du übernimmst das Kommando über die Küche. Keine Gnade für diese Heiden! Bring ihnen bei, wie man … eindost!« »Ah! Niemals!«, meinte Cally grinsend. »Wir haben nichts einzu dosen. Und außerdem sind sie unsere Gäste.« »Du lässt mir auch gar keinen Spaß«, maulte Papa O'Neal. »Geh nur, ich kümmere mich um das Fleisch.« Als sie wegging, wühlte er in einer Kiste neben dem Barbecue herum und zog eine große irdene Flasche hervor. »Da«, sagte er und bot sie Mueller an. »Das sollten Sie mal probieren. Davon wachsen Ihnen Haare auf der Brust.« »Ich war immer auf meine relativ haarlose Brust stolz«, sagte Mu eller und nahm einen Schluck aus der Flasche. Dann spuckte er hus tend die Hälfte davon wieder aus. Als die klare Flüssigkeit ins Feuer traf, schoss eine Stichflamme in die Höhe. »Ah.« »Hey, das Zeug wird hier sehr geschätzt!« »Als was denn?«, keuchte Mueller. »Als Abbeizmittel?«
Papa O'Neal nahm die Flasche und roch mit unschuldiger Miene daran. »Ah, tut mir Leid«, schmunzelte er dann. Er griff noch einmal in dieselbe Kiste und brachte ein Weckglas zum Vorschein. »Sie ha ben Recht, das war Abbeizmittel. Probieren Sie lieber mal das hier.«
Tommy stand auf und hob sein Bierglas. »Gentlemen … und Ladies. Und abwesende Kameraden.« »Abwesende Kameraden«, murmelten die übrigen im Raum Ver sammelten. Major O'Neal hatte seine Soldaten auf die ungeschützten Städte Newbry und Hollidaysburg losgelassen und anschließend verfügt, dass die Offiziere ein gemeinsames Abendessen einnehmen würden. Als Grund dafür hatte er angegeben, dass auf diesem Wege die bei den neu zu ihnen gestoßenen Offiziere integriert werden sollten, aber Tommy vermutete, dass der wahre Grund der war, dass O'Neal befürchtete, die Offiziere würden mehr Schaden als die Mann schaftsdienstgrade anrichten. Major O'Neal stand auf und hob sein Bierglas. »Gentlemen und Ladies: Wer zuletzt lacht.« »Wer zuletzt lacht«, murmelte die Gruppe. »Sir«, sagte Captain Stewart dann mit etwas belegter Stimme. »Ich glaube, es ist wichtig, dass die neuen Offiziere damit vertraut ge macht werden, was unser Bataillonsmotto bedeutet, finden Sie nicht?« Mike schnaubte und sah sich um. »Duncan, Sie sind der offizielle Geschichtenerzähler unseres Bataillons. Erzählen Sie ihnen die Ge schichte.« Duncan, der sich gerade mit Captain Slight unterhalten hatte, stand auf, nahm einen Schluck Bier und räusperte sich. »Präsident der Messe!« »Ja, Captain?«, erwiderte Tommy.
»Aaahh!«, schrie Captain Slight. »Sakrileg!«, brüllte Stewart. »Keine Rangbezeichnungen in der Messe, Tommy«, sagte O'Neal und machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Präsident der Messe!«, fuhr Duncan fort. »Die Pfeifer rufen!« »Wir haben keine«, beklagte sich Tommy. »Wir haben das ganze Bataillon durchsucht, und keiner kann sie spielen. Und außerdem haben wir keinen Dudelsack.« Stewart beugte sich zur Seite, zeigte auf einen Gegenstand in der Ecke und flüsterte dabei dem Lieutenant etwas ins Ohr. Tommy ging hinüber, flüsterte seinerseits seinem neuen AID etwas zu und drehte dann an den Schaltern herum. »Aber wie es scheint, haben wir eine geklaute Version von ›Flo wers ofthe Forest‹«, sagte Tommy. »Da haben wir Glück.« Duncan räusperte sich und nahm wieder einen Schluck Bier, wäh rend die melancholischen Klänge eines Uilleann durch die Messe hallten. »Es war am dunkelsten Tag der vierten Welle, 17. Januar 2013, als der Himmel von den Meteorbahnen der Second Fleet erfüllt war, de ren zerschlagene Überreste überall am Himmel feurige Spuren hin terließen. Wenn man seinen Visor hochschraubte, konnte man einen Blick auf das letzte Einsatzkommando erhaschen, das sich seinen Weg durch die Posleen-Welle freikämpfte und das zum Teil pulveri sierte Wrack des Supermonitors Honshu abschleppte.« »Craddock«, unterbrach Mike an der passenden Stelle und nahm einen Schluck Bier. »Captain James Craddock, Führer des 1st Battalion der 555th Infan try«, fuhr Duncan fort und hob sein Glas. »Auf unsere abwesenden Kameraden.« »Abwesende Kameraden«, murmelten alle. »Captain Craddock schilderte die schwierige Situation, in der sie sich befanden, und stellte fest, dass die Posleen, wenn sie nicht bald
etwas dagegen unternahmen, in Kürze zum Nahkampf übergehen würden. Und das wäre … unangenehm. Er äußerte den Wunsch, dass das Versorgungspersonal, im Grunde genommen also Sanitäter und Techniker, alles Notwendige unternehmen sollte, um seine Operation zu unterstützen, koste es, was es wolle. Unser hoch geschätzter Führer setzt seinen berüchtigten SphinxBlick auf, sieht sich um, greift sich einen kleinen Felsbrocken und rollt ihn den Hügel hinunter.« »Man konnte es knirschen hören, als der Brocken die Gäule traf«, ließ Stewart sich vernehmen. »Der Felsbrocken war fast so groß wie äääh… er sah aus wie eine Ameise, die einen großen Erdbrocken hochstemmt …« »Dann wendet er sich dem Kompaniechef zu und sagt …« »Wer am letzten lacht, ist gewöhnlich derjenige, der am schnells ten gedacht hat«, sagte Mike und nahm einen Schluck aus seinem Bierglas. »Wir haben gewisse kleine redaktionelle Veränderungen vorge nommen«, sagte Duncan. »Anschließend ging die Alpha-Kompanie mit Felsbrocken aus dem umliegenden Gelände daran, ›Posleen-Ke geln‹ zu spielen.« »Und dann bekamen wir wieder Artillerieunterstützung, und alles war in Butter«, stellte Mike fest. »Die Artillerie ist es, die diesen Krieg gerettet hat. Aber ich habe festgestellt, dass man in einer kniff ligen Lage wie der oder in ähnlichen Situationen gewöhnlich dann überlebt, wenn man sich die zum Sieg führende Taktik im letztmög lichen Augenblick einfallen lässt. Man geht mit einem Plan ins Ge fecht und weiß, dass er … schief gehen wird. Und dann passt man ihn an. Derjenige, der sich am besten und schnellsten darauf ver steht, Pläne der Situation anzupassen, gewinnt.« »Wir verstehen uns darauf, unsere Pläne sehr schnell anzupassen«, sagte Slight mit belegter Stimme. »Und wenn ich sage ›wir‹, dann meine ich die Veteranen in diesem Saal. Deshalb sind wir hier.«
Stewart hob sein Glas. »Ein Toast auf diejenigen, die am schnells ten denken; mögen sie immer Menschen sein!«
20 Rabun Gap, Georgia, Sol III 2047 EDT, 25. September 2014
»Cally, sei jetzt bitte nicht beleidigt«, sagte Mueller und lehnte sich breit grinsend vom Tisch zurück. »Irgendwann einmal wirst du je mandem eine ganz großartige Frau abgeben.« »Es ist nicht etwa so, dass mir das Kochen Spaß macht«, meinte Cally und zuckte dabei die Achseln. »Na ja, jedenfalls nicht sehr. Aber wenn man hier oben essen will, muss man es sich zwangsläu fig selbst kochen.« Das Abendessen war ein grandioser Erfolg gewesen. Papa O'Neal hatte an die fünf Kilo saftiges Schweinefleisch aufgeschnitten in der Meinung, das würde reichen, in der Absicht, den Rest für künftige Mahlzeiten einzufrieren. Später hatte sich dann herausgestellt, dass er zweimal an die Barbecue-Grube zurückkehren und mehr Fleisch holen musste. Neben den Maiskolben und dem Maisbrot hatte Cally Weizenbrot gebacken und dazu noch einen Bohnenauflauf und jun ge Kartoffeln gekocht, und alles war aufgegessen worden. Zum Nachtisch gab es Pekan-Kuchen. Dann hatte man die Kinder, die keinen Bissen mehr hinunterge bracht hätten, ins Bett geschickt, und nur die »Erwachsenen« – Cally hatte man mit in diese Gruppe aufgenommen – blieben am Tisch sit zen und stocherten in den Überresten der Mahlzeit herum, während im Hintergrund der CD-Spieler lief.
»Ich weiß, was du meinst«, lachte Shari. »In der Urb gibt es Cafete rias, aber das Essen dort ist wirklich lausig; manchmal könnte ich einen Mord begehen, bloß um bei Domino's anzurufen.« »An die erinnere ich mich irgendwie«, meinte Cally mit einem leichten Achselzucken. »Aber das letzte Mal, als ich Fast Food ge gessen habe, war in dem Monat, in dem Fredericksburg angegriffen wurde.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben auf den Keys Ferien gemacht, und damals war in Miami noch ein McDonald's offen. Manchmal machen wir hier Pizza, aber wir machen sie selbst.« »Keines der Kinder kann sich auch nur daran erinnern, dass es ein mal so etwas wie Fast-Food-Lokale gegeben hat«, sagte Wendy und schnitt sich ein Stück Fleisch von der Keule, die Papa O'Neal herein gebracht hatte. »Na ja, Billy und Shannon schon, ein wenig zumin dest. Aber eigentlich nicht richtig. Sie erinnern sich eher an die Spielplätze und die Spielsachen, die man dort geschenkt kriegte. Aber das ist so ziemlich alles.« »Das alles ist so schnell verschwunden«, meinte Shari mit leiser Stimme. »Ja, das ist es«, erwiderte Mosovich. »So ist das in Kriegen eben. Frag doch mal Deutsche eines bestimmten Alters, wie die Dinge sich in einem richtigen Krieg verändern, oder lese Tagebücher von Süd staatlern aus dem Bürgerkrieg. Vom Winde verweht ist ein gutes Bei spiel; da wacht man eines Tages auf und stellt fest, dass das ganze Leben, so, wie man es bisher gekannt hat, einfach nicht mehr da ist. Manche Leute passen sich an, ja sie gedeihen sogar dabei. Und an dere ziehen sich einfach in sich selbst zurück und sterben, sei es nun innerlich oder richtig.« »Das findet man oft in den Urbs«, sagte Wendy. »Eine Menge Leu te, die einfach aufgegeben haben. Sie sitzen den ganzen Tag herum und tun entweder nichts oder reden bloß darüber, wann die guten Zeiten wieder zurückkommen werden.« »Die wird es nie wieder geben, nicht so, wie es einmal war«, sagte Mosovich. »Das kann ich Ihnen sagen. Dazu ist zu viel kaputt ge
macht worden. Verdammt, selbst die ›Festungsstädte‹, die sie drau ßen im Niemandsland gebaut haben, sind im Grunde genommen hin. Eine Stadt ist mehr nur als ein paar Gebäude voll Soldaten. Richmond, Newport, New York, San Francisco – das alles sind heute bloß mehr leere Schalen. Daraus wieder Städte zu machen … ich weiß nicht, ob es je dazu kommen wird.« »Die Städte im Landesinneren sind auch nicht viel besser«, gab Mueller zu bedenken. »Vor ein paar Monaten waren wir in Louis ville, in der Kommandozentrale für den östlichen Kriegsschauplatz. Die meisten Leute dort haben versucht, in die Urbs zu kommen. Im merhin hat man die Urbs für Fußgängerverkehr gebaut; bei der herrschenden Benzinknappheit ist es wirklich schwierig, in den Städ ten herumzukommen. Allein schon zu einem Laden zu gehen ist ein langer Marsch.« »Besonders bei dem schlechten Wetter, das wir jetzt immer haben«, sagte Shari. »Welchem Wetter?«, fragte Papa O'Neal. »Na ja, wir kriegen unten in den Urbs die Berichte; den ganzen Winter über gab es Kälterekordwerte. Es wird schon davon geredet, dass all die Kernwaffen zu einer neuen Eiszeit führen könnten.« »Ha«, machte O'Neal. »Glaube ich nicht. Wenn eine Eiszeit käme, wären Farmer die Ersten, die das wissen. Also in Kanada waren die Ernten ziemlich mies, und das kommt wahrscheinlich von den Atombomben in China, aber selbst das hat sich wieder stabilisiert.« »Man kann es den Chinesen ja nicht übel nehmen«, meinte Muel ler. »Bloß, dass sie gedacht haben, sie könnten die Posleen auf fla chem Land schlagen, das war nun echter Blödsinn. Als sie dann den größten Teil ihrer Armee verloren hatten, waren Bomben auf den Jangtse die einzige Möglichkeit, die Nachzügler vor den Posleen zu schützen.« »Ach, hol's der Teufel«, knurrte Papa O'Neal. »Am Ende haben sie die Bomben auf die Nachzügler geworfen. Auf diese Weise hat sich das Vorrücken der Posleen verlangsamt, weil sie sie aufgefressen
haben. Und viel Zeit hat es die Gäule ohnehin nicht gekostet, sie ha ben ja nur einen Monat gebraucht, um nach Tibet zu kommen. Zum Henker, bei all dem Antimaterie- und Atomzeug, das wir hier ge baut haben, kann man nur hoffen, dass wir nie so weit kommen, sonst verglasen wir die ganze Osthälfte der USA. Wahrscheinlich mit ungefähr dem gleichen Ergebnis. Aber was das Wetter angeht, so befinden wir uns in einem lang fristigen, aggressiven Wetterzyklus, aber der wird von einer An sammlung von warmem Wasser im Atlantik ausgelöst, und das war schon vor der Invasion vorhergesagt. Davon abgesehen war das Wetter gar nicht so schlecht. Dieses Jahr sogar ausgesprochen gut. Regen genau zur richtigen Zeit. Es hätte ein wenig mehr sein kön nen, aber dann würde ich mir wahrscheinlich wünschen, dass es we niger gewesen wäre.« »Wir hören ständig diese schrecklichen Wetterberichte von der Oberfläche«, sagte Wendy. »Rekordkälte, Schnee im April und sol ches Zeug.« »Also, ich lebe jetzt hier schon seit … na ja, ganz schön lang jeden falls«, sagte er und sah dabei Shari von der Seite an. »Und das war eines der besten Jahre, die wir bisher hatten. Schön, im April hat's geschneit. Das gibt's. Das war zweiundsiebzig Tage nach den Nu kes.« »Hat diese Person gerade gesagt, was ich glaube, dass sie gesagt hat?«, fragte Elgars. »Wer?«, erwiderte Papa O'Neal und sah sich um. »Auf dem CD-Spieler«, sagte sie und deutete ins Wohnzimmer. »Ich glaube, er hat gerade etwas davon gesungen, dass man sich den Braten auf die Brust schmiert.« »Ah«, meinte Papa O'Neal und lächelte. »Yeah. Das ist Warren Ze von.« »Wer?«, fragte Wendy. Elgars hatte sich erstaunlich schnell an das Alltagsleben angepasst, und sie fragte sich, ob der Captain sich gera
de bewusst bemüht hatte, das Thema zu wechseln. In dem Fall musste man ihr helfen. »Zevon«, sagte Mosovich. »Der Balladensänger der Söldner. War ein prima Typ. Bin ihm vor langer Zeit mal begegnet. Ganz kurz.« »Wo?«, fragte Shari. »Der Name klingt vertraut, aber mir fällt kein Lied ein und …« Sie hörte genauer hin und wurde rot. »Hat er tat sächlich gerade gesagt, was ich da gehört habe?« »Allerdings«, nickte Papa O'Neal und verzog das Gesicht. »Das ist ›Excitable Boy‹, eines … eines seiner raueren Stücke.« »Ich weiß nicht«, sagte Cally und grinste verschmitzt. »Wie wär's denn, wenn du ihr ein paar Strophen von ›Roland the Headless Thompson Gunner‹ vorsingen würdest?« »Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird«, sagte Shari lächelnd. »Und das kann man mir jetzt glauben oder nicht, ich vertrage schon ein wenig schwarzen Humor.« »So, tatsächlich?«, sagte Cally mit einem schiefen Grinsen. »Warum ist der Posleen über die Straße gegangen?« »Ich beiß an«, sagte Mueller. »Warum?« »Weil's drüben zu fressen gibt«, sagte Cally. »Okay«, nickte Mosovich. »Das war ziemlich schlimm. Aber wie wär's damit: Wie schlichten zwei Posleen einen Streit?« Er wartete, aber niemand wollte anbeißen. »Sie threshen es aus, natürlich.« »Autsch!«, machte Papa O'Neal. »Was ist der Unterschied zwi schen einem Rechtsanwalt und einem Posleen?« »Keine Ahnung«, sagte Shari. »Der eine wird bezahlt, um einen le bendig aufzufressen?« »Nein, aber das ist ziemlich gut«, meinte Papa O'Neal. »Nein, der eine ist ein bösartiges, unmenschliches, kannibalisches Monstrum, der andere ein Alien.« Cally sah sich einen Augenblick lang um und grinste dann. »Wo her weiß man, dass Posleen bisexuell sind? Sie essen sowohl Männer als auch Frauen!«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass du so etwas sagst!«, knurrte Papa O'Neal, während die anderen lachten. »Herrgott, schließlich lässt du mich Black Sabbath und Ozzy Os bourne hören, Grandpa!«, sagte Cally. »Und das kleine Witzchen stört dich?« »Was gibt's denn an Black Sabbath auszusetzen?«, protestierte er. »Das ist doch eine gute Gruppe. Prima Texte.« »Haben Sie auch was von Van Morrison?«, fragte Shari ganz un vermittelt. »Ich glaube sein ›Best of‹-Album. Warum?« »Weil ich tanzen möchte«, antwortete sie, griff nach seiner Hand und stand auf. »Kommen Sie.« »Ich habe zwei linke Füße«, protestierte er. »Sie legen die Arme um mich und schlurfen herum«, sagte sie, und ihre Augen blitzten dabei. »Und das soll schwer sein?« Während Papa O'Neal die CD auflegte, goss sich Elgars einen win zigen Schluck von dem besseren Selbstgebrannten ein. Sie ließ ihn im Becher kreisen und sah Mosovich an. »Ich denke, jetzt wäre ein gu ter Zeitpunkt.« »Ein guter Zeitpunkt für was?«, fragte Cally. »Ich habe Mosovich, als wir unterwegs waren, von einem meiner Flashbacks erzählt«, antwortete Elgars. »Etwas daran hat ihm gar nicht gefallen.« »Ja«, nickte Mosovich. »Das stimmt.« Er schenkte sich ebenfalls von dem Selbstgebrannten ein und lehnte sich zurück. »Was mir daran nicht gefallen hat, ist, dass die Person, die das erlebt hat, echt ist. Und sie ist wirklich tot. Ich habe mit ansehen müssen, wie sie ge storben ist.« »Wo?«, fragte Cally. »Auf Barwhon«, schaltete Mueller sich ein. »Wir waren beide Teil eines Aufklärungsteams, das man dorthin geschickt hatte, ehe die Expeditionstruppe dort eintraf. Wir waren so etwas wie Versuchska
ninchen und sollten rausfinden, wie gefährlich die Posleen wirklich sind.« »Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen«, meinte Mo sovich. »… die Leute wollten es einfach nicht glauben. ›Eine Invasi on von Aliens? Das ist doch ein Witz!‹ Aber dann hat man die Ge schichte ganz schnell ernst genommen, als eine hochrangige Delega tion auf Barwhon aufgefressen wurde und alle das Video sahen. Je denfalls waren wir auf Erkundungsmission auf Barwhon, um das Terrain zu analysieren und die Kampfbedingungen …« »Schlimm«, sagte Mueller. »Ich glaube, wir haben unseren Auftrag zu gut ausgeführt«, fuhr der Sergeant Major fort. »Man hat uns aufgetragen, einen Posleen zu fangen und zur Erde zu bringen. Ich dachte, wir könnten leichter einen der Nestlinge fangen als einen Erwachsenen, also haben wir ein Lager angegriffen, in dem die Gäule sich ein paar Krabben als le bende Speisekammer hielten. Und da erwiesen sich die Posleen als viel bessere Kämpfer, als wir erwartet hatten. All das Zeug, das wir jetzt wissen: das Scharfschützen-Erfassungssystem und wie sie ein fach ausschwärmen, wenn irgendwo gekämpft wird und sie das hö ren. Jedenfalls haben wir ein paar Leute verloren, die in der SpecialOperations-Gemeinde einen legendären Ruf hatten, darunter auch unsere Scharfschützin, Staff Sergeant Sandra Ellsworthy. Sie ist ge nau so gestorben, wie Sie das in Ihrem Flashback beschrieben ha ben.« »Jo«, machte Mueller. »Das habe ich mir auch gedacht. Es ist gera de, als würde man zuhören, wie Sandra es erzählt, inklusive Süd staatenakzent.« »Eigentlich interessant«, sagte Wendy. »Den merkt man jetzt über haupt nicht mehr. Den Akzent, meine ich.« »Wie auch immer, das ist der Grund, weshalb wir so bestürzt rea giert haben«, sagte Mosovich. »Was denken Sie?«, fragte Elgars mit leiser Stimme. »Glauben Sie, die Krabben haben den Kopf Ihrer Freundin in den meinen ver
pflanzt? Bin ich Anne Elgars oder diese Ellsworthy? Ähnlicher Name und beides Scharfschützen? Glauben Sie, dass es das ist?« »Eigentlich nicht«, sagte Mosovich und schüttelte den Kopf. »Ells worthy … war viel seltsamer als Sie. Eigenartig, verrückt manchmal. Sie kommen mir wesentlich …« »Stabiler vor«, fiel Mueller ihm ins Wort. »Im Einsatz war Ellswor thy großartig. Und einsame Spitze als Scharfschützin. Aber wenn sie nicht in Uniform steckte, war sie ein ganz anderer Mensch, verrückt einfach! Sie sind in mancher Hinsicht zehnmal so stabil wie sie, selbst wenn man Ihnen den Kopf noch nicht ganz richtig wieder aufge schraubt hat.« »Oh, vielen Dank, Master Sergeant«, sagte sie verschmitzt. »Wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Ma'am«, fügte er hastig hinzu. »Also, welchen Einfluss hat das auf Ihren Bericht für Colonel Cut price?«, fragte sie Mosovich. »Ich glaube, ich werde ihm eine Mail mit der ganzen verrückten Geschichte schicken«, erwiderte der Sergeant Major. »Sie kommen gut mit dem Wald zurecht, und wir wissen, dass Sie schießen kön nen. Wenn Sie ein Private oder ein Staff Sergeant wären, dann gäbe es da gar keine Frage. Aber da es ja um einen Captain geht, wird er sich wohl selbst entscheiden müssen. Falls Sie meine Meinung hören wollen, ich denke, Sie könnten den Job lernen.« »Danke«, nickte Elgars. »Ich frage mich das immer noch. Und ich muss Ihnen Recht geben, ich weiß nicht, was vielleicht sonst noch in den Tiefen meines Bewusstseins vergraben ist. Oder wer ich wirk lich bin.« »Also, ich denke schon, dass Sie darüber hinwegkommen werden«, sagte Mosovich. »Obwohl das natürlich dem abgedrosche nen ›Sich selbst kennen lernen‹ eine ganz neue Bedeutung verleiht. Auf lange Sicht, denke ich, werden Sie schon klarkommen. Naja, so klar eben wie wir anderen auch.«
Er sah ins Wohnzimmer, wo Papa O'Neal und Shari jetzt zu den Klängen von Steppenwolfs »Magic Carpet Ride« tanzten. »Einigen von uns geht es freilich besser als anderen.« O'Neal kam kurz danach heraus; er führte Shari an der Hand und winkte ihnen zu. »Gute Nacht, Leute. Wir sind ein wenig müde, also gehen wir schlafen.« Mit diesen Worten gingen sie beide Hand in Hand die Treppe hin auf. »Also, jetzt seh' sich das einer an«, erregte sich Cally. »Und mir macht er Vorschriften!« »Die sind beide alt genug, um vernünftige Entscheidungen zu tref fen«, gab Wendy zu bedenken. »Alt genug, um dein Großvater be ziehungsweise um deine Mutter zu sein.« »Und er ist auch alt genug, dass er ihr Vater sein könnte«, wandte Cally ein. »Im Koran steht, dass das perfekte Alter für eine Ehefrau das halbe Alter des Mannes plus sieben Jahre ist«, zitierte Mueller. »Damit bist du für mich noch zu jung. Tatsächlich«, er blickte zur Decke auf und spielte mit seinen Fingern. »Ich glaube, das perfekte Alter für einen Typen für dich wäre … deines.« »Andererseits …«, fuhr er fort und drehte sich zu Wendy herum. »Augenblick«, sagte sie und griff in ihre Hüfttasche. »Aha!«, rief Mosovich aus. »Jetzt kommt wieder das berühmte Bild Ihres Boyfriends.« Mueller nahm es und betrachtete es grinsend. Dann runzelte er die Stirn und sah genauer hin. »Heiliger Strohsack.« Er reichte es Moso vich. Wendy war auf dem Bild zu sehen, sie grinste ein wenig dumm fröhlich in die Kamera. Ein junger Mann in MarCam-Uniform nahm den Platz neben ihr ein und stellte etwa den gleichen Gesichtsaus druck zur Schau. Nicht ganz leicht zu begreifen war, dass Wendy,
die nicht gerade elfenhaft gebaut war, neben dem … Koloss neben ihr wie eine Puppe aussah. »Das ist Ihr Boyfriend?«, fragte Mosovich. »Allerdings«, strahlte Wendy. »Er ist Sergeant bei den Zehntau send. Zwei Meter groß und einhundertfünfundzwanzig Kilo schwer. Größtenteils Muskeln. Wir haben uns während der Schlacht von Fredericksburg kennen gelernt. Na ja, eigentlich stimmt das nicht. Wir sind ein paar Jahre miteinander zur Schule gegangen. Sagen wir einfach, dass ich ihn bis zu der Schlacht nie richtig bemerkt habe.« »Dann muss ich wohl warten, bis man mich mitten in einer Schlacht rettet?«, fragte Cally. »Außerdem bin wahrscheinlich ich diejenige, die das Retten übernimmt.« »Nein, aber du solltest vielleicht noch ein paar Jahre warten, ehe du dich für dein restliches Leben festlegst«, meinte Wendy und lach te dabei. »Kapiert«, sagte Cally und schüttelte den Kopf. »Zur Kenntnis ge nommen. Okay?« »Okay«, gab Wendy zurück. Elgars stand auf und ging zu Mueller hinüber, legte dabei den Kopf etwas zur Seite. Dann beugte sie sich nach vorne und riss einen seiner Arme über ihre Schulter, stemmte ihm die Schulter in den Bauch und hievte ihn sich auf die Schulter. Sie machte ein paar an gedeutete Kniebeugen und nickte dann. »Das schaffe ich«, sagte sie. Ihrer Stimme war nichts von Anstren gung anzumerken. »Was machen Sie da eigentlich?«, fragte Mueller, der mehr oder weniger senkrecht an ihr herunterhing. Er stellte fest, dass sein Kopf etwa auf Höhe ihres Hinterteils war. »Soweit mir bekannt ist, bin ich noch nie mit jemandem im Bett ge wesen«, antwortete sie und ging dann bedächtig auf die Treppe zu. »Ich denke, mit dir sollte es gehen.«
Mosovich klappte den Mund auf und hob die Hand, wie um zu protestieren, ließ sie aber dann wieder sinken. Da er und Mueller Fleet waren und Elgars zu den Landstreitkräften gehörte, fiel das formal nicht unter das Fraternisierungsverbot. Wenn sie es also über die Treppe schafften, sollte alles in Ordnung sein. Er kippte seinen Selbstgebrannten hinunter und sah dann ein wenig verlegen auf die Tischplatte. »Ich denke, damit sind wir dran, um sauber zu machen«, sagte er. »Da ich mich entschlossen habe, weder den Zorn des Boyfriends noch den des hier ansässigen Farmers auf mich zu ziehen.« Cally seufzte und fing an Teller aufeinander zu stapeln. »Irgend wann mal«, sagte sie und sah zur Treppe hin.
»Irgendwann einmal wird es auch gute Nachrichten geben«, sagte Monsignore O'Reilly und sah dabei seinen neuesten Besucher an. Der Indowy Aelool schnitt eine Grimasse, die bei seiner Rasse aus drückte, dass er mit dieser Aussage nicht konform ging. »Warum sollte es gute Nachrichten geben? Das liegt auch bei kühnster Fanta sie nicht im Trend.« Der einen Meter zwanzig große, grüne, mit »Pelz« bedeckte fleder mausgesichtige Zweibeiner ließ die Beine wie ein kleines Kind vom Sessel baumeln, obwohl er wahrscheinlich über zweihundert Jahre alt war. Im Gegensatz zu praktisch jedem anderen Indowy, den O'Reilly kannte, war der Clan-Chef aller vierzehn Triv-Clans in An wesenheit von Menschen nie beunruhigt oder verängstigt. Entweder war ihm tief im Innersten bewusst, dass ihn Menschen, auch wenn sie von Natur aus Allesfresser waren, ganz sicherlich nicht plötzlich wegen irgendeines Fehlers töten würden, oder er war geradezu un natürlich mutig. Welcher der beiden Gründe für ihn zutraf, hatte O'Reilly bis jetzt nicht herausgefunden. »Oh, ich wäre ja schon mit einer bescheidenen guten Nachricht zu frieden«, sagte O'Reilly und fuchtelte mit der Nachricht herum.
»Unser alter Freund ist wieder zur Erde unterwegs. Er sollte genau genommen bereits hier sein.« »Dol Ron«, sagte der Indowy ruhig. »Das hatte ich auch gehört. Ich würde gerne wissen, welchen Schabernack er diesmal im Sinn hat?« »Na ja, beim ersten Besuch haben wir Hume verloren und damit die einzige offizielle Gruppe, die im Begriff war, dem Geheimnis der Darhel näher zu rücken«, sagte der Monsignore. »Beim zweiten war da dieser Hackerangriff auf das Zehnte Korps, den man dann den Cybers in die Schuhe geschoben hat, die als Einzige daran gearbeitet hatten, die GalTech-Codes zu knacken. Oh, und ein Anschlag auf das Leben von Cally O'Neal, was ein tödlicher Schlag für ihren Va ter gewesen wäre. Der dritte Besuch brachte dann den Tod von Ge neral Taylor, und zwei Sektionen der Societe wurden ausgeschaltet. Und jetzt diese Reise. Ich frage mich, wer diesmal sterben wird?« »Kein Soldat«, sagte Aelool. »Die Cybers würden mit dem Töten nicht aufhören, bis der Letzte erledigt ist. Und sie sind sehr gute Meuchelmörder.« »Vielleicht sollten wir ein paar eigene Gruppen ausschicken«, sag te O'Reilly bitter. »Es ist ja nicht so, dass wir den Teufel nicht erken nen, wenn wir ihn mit eigenen Augen sehen.« »Dol Ron ist eine Größe, die wir kennen«, sagte Aelool und schnitt erneut eine Grimasse. »Wenn man ihn entfernte, würden wir ein In formationsnetz über einen völlig anderen Darhel entwickeln müs sen. Und das ist nicht gerade leicht. Abgesehen davon könnten wir dieses Netz natürlich jederzeit verlieren, wenn wir an einen ›Cyber‹-Moment geraten. Vielleicht wäre es ganz gut, in naher Zu kunft eine neue ›Übereinkunft‹ abzuschließen. Das Problem ist nur, dass sie oft so verwickelt sind.« »Also, ich werde meine Hörner und meine Teams einziehen«, sag te O'Reilly. Er wusste, dass Aelool gegen die Übereinkunft mit den Cybers gewesen war. Der Indowy war nur deshalb Clan-Chef, weil er länger als vierzehn Millionen andere Clan-Mitglieder überlebt
hatte; er hatte aufgehört, sich Sorgen zu machen, wenn es hier und dort kleinere Verluste gab. »Und damit werde ich auch eine War nung an ein paar ›äußere‹ Gruppen senden.« »Die O'Neals?«, fragte Aelool. »Ja, unter anderem«, nickte der Monsignore. »Wir haben dort kein Team mehr. Das Conyers-Team haben wir verloren, als wir versucht haben, die Ontario-Sanktion zu verhindern. Also denke ich, werden sie auf sich selbst gestellt sein. Aber ich will sie warnen, dass es wie der feindliche Besucher geben könnte.« »Dafür zu sorgen, dass die O'Neals und ganz speziell Michael O' Neal funktionsfähig bleiben, hat positive, langfristige Implikationen«, sagte Aelool und nickte. »Dieser Faden wird in obersten Kreisen der Bane Sidhe überwacht. Ich habe Methoden, die es mir erlauben, diskret mit ihnen in Verbindung zu treten. Möchten Sie, dass ich das tue?« »Nur zu«, erklärte O'Reilly. »Und stellen Sie sich auf einen Sturm ein.«
Shari fuhr mit dem Finger über eine lange Narbe an Papa O'Neals Bauch und spielte dann mit dem grauen Haar auf seiner Brust. »Das war sehr schön; du bist gut, weißt du.« »Danke«, sagte O'Neal und griff nach der Flasche MuscadineWein, die er neben dem Bett abgestellt hatte. »Du auch, du machst einen alten Knaben richtig fertig.« »So weit kommt's noch«, schmunzelte Shari. »Ich bin doch selbst ziemlich alt und müde.« »Du bist überhaupt nicht alt«, sagte O'Neal und zog sie zu sich heran. »Du bist kein Teenager mehr, aber einen Teenager möchte ich auch nicht in meinem Bett haben; jemand ohne Narben ist meine Zeit nicht wert.«
»Ich habe keine Narben«, sagte sie, ihn bewusst missverstehend. »Siehst du welche?« Sie wies auf ihren Körper. »Na ja, eine Blind darmnarbe, aber das ist auch schon alles.« »Du weißt ganz genau, was ich meine«, antwortete O'Neal und sah ihr in die Augen. »Ich meine, bei all den Messerstichen und sonstigen Beulen, die ich mir eingefangen habe, habe ich vermutlich doch weniger Narben als du. Nicht viel weniger, aber weniger.« »Du lügst.« »Du solltest besser lächeln, wenn du das sagst«, warnte Mike seni or, lächelte aber selbst dabei. »Ernsthaft, ich habe vor langer Zeit einmal den Fehler gemacht, zu glauben, jung und hübsch würde ausreichen. Das tut es aber nicht; jemand, der nicht durchs Feuer ge gangen ist, weiß nicht, worum es auf der Welt geht. Die denken, al les sei Milch und Honig. Das ist es aber nicht; die Welt ist bestenfalls hell/dunkel. Ich schwöre, meine Ex-Frau glaubt immer noch, dass man mit den Posleen reden und ihnen klarmachen kann, dass sie sich auf einem Irrweg befinden. ›Bringt sie zur Göttin.‹ Ich würd' mich dabei am liebsten übergeben. Besonders wenn ich daran den ke, wie viel Zeit und Mühe all die ›Frieden-um-jeden-Preis‹-Arschlö cher uns in der Frühphase des Krieges gekostet haben. Und dann gibt es Leute, die offen gestanden fünfmal so schlimm wie die Pos leen sind. Die Gäule haben schließlich keinen Verstand und wissen nicht, wie sie aus ihrem Zyklus ausbrechen sollen; Menschen kön nen wählen. Tatsache ist leider nur, dass viel zu viele sich für das Böse entscheiden.« »Ich glaube nicht, dass Gewalt alles löst«, sagte sie. »Und Men schen als böse zu bezeichnen, ist auch ziemlich fragwürdig, selbst wenn es meinen Ex-Ehemann betrifft, der dem ziemlich nahe kommt. Aber es ist ganz sicherlich die einzige Sprache, die die Pos leen verstehen. Ich … habe nicht immer so gedacht. Aber seit Frede ricksburg bin ich ein anderer Mensch.« »Ich weiß«, sagte er und schlang die Arme um sie. »Ein besserer Mensch.«
Sie lehnte sich an ihn und knabberte an seiner Schulter. »Das sagst du bloß, damit ich mich gut fühle.« »Nein, das sage ich, um dich rumzukriegen«, lachte O'Neal. »Wenn du dich dabei besser fühlst, dann ist das, wie man so sagt, ein Nebennutzen.« »Was? Schon wieder? Hast du dir Viagra verschreiben lassen?« »Für dich, Baby, brauche ich kein Viagra!«, tönte O'Neal und wa ckelte mit den Hüften. »Was?«, quiekte Shari. »Also, das ist wirklich eine Unverschämt heit! Jetzt bin ich beleidigt!« »Tut mir Leid«, bereute der Farmer und lachte. »Ich bin wohl einen Augenblick aus der Rolle gefallen.« »Na schön, solange du mir nicht mit ›Baby, jetzt bist du richtig hässlich geworden‹ kommst, will ich dich leben lassen«, sagte sie und gab ihm einen Kuss. Später ließ sie die Finger über seine Wirbelsäule wandern und flüsterte ihm ins Ohr: »›Bad Ash, Good Ash, du bist der Mann mit der Kanone.‹«
21 Clarkesville, Georgia, Sol III 0115 EDT, 26. September 2014
»Also, Goloswin, wie läuft es?«, fragte Tulo'stenaloor. Der Posleen-Techniker blickte von seinem Bildschirm auf und kippte seinen Kamm. »Gut läuft es. Wir haben neue … Information erhalten.« »Ah?«, fragte Tulo'stenaloor. »Aus dem Netz?« »Ja«, antwortete Goloswin und wies dabei auf den Bildschirm. »Von einem Kessentai, der auf Aradan war. Wie es scheint, hat er sich Zugang zu Kontrollcodes für das Verbindungsnetz der MetallThreshkreen verschaffen können. Wir sind jetzt ›in ihrem Netz‹, wie die Menschen das nennen würden. Das schließt die Kommunikati onswege zwischen dem Häuptling aller Threshkreen in diesem Land und den Metall-Threshkreen ein. Und dann gibt es auch noch andere Threshkreen, die dieses Kommunikationsmedium nutzen; unter anderem auch deine Fatt-Freunde. Ich habe auch ihre Zahl und ihre Verteilung in den gesamten USA; die einzig verfügbare Einheit befindet sich in ihrem Quartier in einem Bereich, den die Menschen ›Pennsylvania‹ nennen. Wir haben darüber hinaus auch Zugang zu der Kommunikation der Indowy auf dem Planeten, auch wenn es nur wenige sind. Die wenigen Darhel sind noch nicht ein geschlossen, aber ich habe jetzt einen Ansatzpunkt und kann mich auch mit ihnen befassen.« »Ausgezeichnet«, rief Tulo'stenaloor und ließ seinen Kamm flat tern. »Der Angriff beginnt morgen um Mittag. Mit dieser Informati
on können wir jetzt wissen, wann die verdammten ›GKA‹ kommen.« »Wir können einige ihrer Informationen verändern«, sagte Golos win. »Sie denken lassen, dass Dinge gesagt worden sind, bei denen das gar nicht zutrifft, oder ihnen falsche Kenntnisse vermitteln. Aber das wird schnell entdeckt werden. Oder wir können einfach nur lau schen. Solange ihnen nicht klar ist, dass wir auf Basis dieser Infor mationen handeln, sollten sie es nie bemerken.« »Das ist gut«, sagte Tulo'stenaloor. »Ich denke, zunächst werden wir nur lauschen. Sorge dafür, dass Esszwo diese Information be kommt.« »Das werde ich«, freute sich Goloswin. »Es kommt genau zum richtigen Zeitpunkt!« »Ja«, sagte Tulo'stenaloor und strich nachdenklich über seinen Kammschmuck. »Genau zum richtigen Zeitpunkt.«
»Balanosol, deine Truppen sind in miserablem Zustand«, erregte sich Orostan. Er blickte finster auf das Oolt des Kessentai, und sein Kamm hob sich verärgert. Die Oolt'os waren halb verhungert, bei ei nigen von ihnen konnte man die Schulterund Rückenknochen se hen, und ihr Gerät sah so aus, als würde es jeden Augenblick aus einander fallen. Der Kessentai andererseits war eine beeindruckende Gestalt in ei nem Harnisch aus Gold und Silber – er trug genug schwere Metalle allein an seinem Harnisch, um damit sein Oolt einen ganzen Monat lang zu ernähren – und sein Tenar war mit der schwersten Plasrna kanone ausgerüstet, die es dafür gab. »Ich denke«, fuhr der Oolt'ondar fort, »dass du unter Berücksichti gung aller Umstände die Ehre haben sollst, morgen meinen Teil des Angriffs anzuführen.«
Dieses Gespräch fand im Licht des Halbmonds statt, ein Stück nördlich von Clarkesville, wo die Millionen von Posleen sich für den Angriff formierten. Die vorderste Angriffsreihe würde von diesem Ort bis zum Bereitstellungsgelände in den Ruinen von Clayton drei Stunden unterwegs sein. Bis sie Clayton erreichten, mussten sie da mit rechnen, Artilleriebeschuss zu bekommen, aber der sollte dies mal nicht lange dauern. »Also, das glaube ich nicht«, sagte Balanosol und hob trotzig sei nerseits den Kamm. »Ich stehe im Rang über der Hälfte dieser jun gen Nestlinge, einschließlich deines Sorlan hier. Sollen sie doch die Ehre der vordersten Reihe haben; ich beabsichtige diesen Angriff zu überleben.« »Wirklich?«, zischte Orostan. »Dann sieh dir mal die Waldgrenze an.« Der Kessentai drehte den Kopf zur Seite und konnte im schwachen Licht im Wald das Flackern von Metall erkennen. »Du hast dich bereit erklärt, unsere Befehle zu befolgen«, zischte Orostan leise. »Das war dein Wort. Kein Wimmern beim ersten Be fehl, den du bekommst. Du hast unsere Rationen gegessen, unser Wasser getrunken und unsere Luft geatmet – und das den ganzen letzten Monat lang; du schuldest uns Edas. Und der Grund dafür, der Grund, dass wir deinem fuscirto Oolt erlaubt haben, unsere Vor räte zu essen, ist, dass wir dich und anderen Abschaum wie dich ge braucht haben, und zwar für die vorderste Reihe. Und wenn du jetzt glaubst, du könntest hierher gehumpelt kommen und aufsammeln, was Bessere als du hinter sich zurücklassen, dann solltest du dir das noch einmal überlegen. Du kannst entweder zu deiner ›Absprung‹-Position gehen oder ich veranlasse, dass mein Oolt'on dai dich tötet und dich und dein jämmerliches Oolt isst. Siehst du, die Menschen werden dich vielleicht töten. Aber wenn du nicht aus rückst, werde ich dich töten. Und wäre es nur, um deinen Schand fleck aus unserer Rasse zu entfernen.«
Als das jämmerliche Oolt auf der Straße zu der vorgeschriebenen Position vorrückte, schlug Cholosta'an mit dem Kamm. »Das hast du also mit ›politischen Einheiten‹ gemeint.« »In der Tat«, sagte Orostan und ließ seine mächtigen Zähne sehen. »Es ist besser, seinesgleichen auszumerzen, besser für die Streit macht, besser für die Rasse. Wenn er überlebt, wird er sich einfach das erste unbrauchbare Territorium schnappen, auf das er vorstößt.« »Statt einen Anteil an allem zu bekommen«, sagte Cholosta'an. »Aber selbst deine ›politischen Einheiten‹, selbst meine Einheit wird schließlich dem Gap trotzen müssen. Und das wird nicht ohne Ver luste abgehen.« »Oh, wenn wir weit genug hinten sind, bleiben uns Verluste er spart«, wandte Orostan ein. »Aber ich für meine Person bin nicht daran interessiert, über den Pass zu gehen. Ich bin zu alt, um wie ihr jungen Nestlinge überallhin mit meinem Tenar zu gehen«, fuhr er fort, als der erste Oolt'po'oslena'ar ange schwebt kam und leicht wie eine Feder heruntersank. »Nein, wir nehmen keinen Tenar und ersparen uns das Gap; wir bewegen uns in dem Stil, der uns zukommt.«
Shari gähnte, als sie zum Fenster des Humvee hinaussah. Franklin rückte näher, und sobald sie wieder im Urb waren, würde die tägli che Tretmühle wieder beginnen. Aber nicht für lange Zeit, rief sie sich mit einem Lächeln ins Gedächtnis. »Du wirst also wirklich dorthin ziehen?«, fragte Wendy. »Was in drei Teufels Namen soll ich denn tun?« Sie zog an der Lederhose, die sie von den O'Neals mitgenommen hatte, denn sie saß noch nicht richtig. Papa O'Neal war sehr großzü gig gewesen und hatte darauf bestanden, die Kinder einzukleiden. Als sie daher die Hose hinten in einem Kleiderschrank entdeckt hat te und ihr anzusehen gewesen war, dass sie ihr gefiel, hatte er dar
auf bestanden, dass sie sie trug. Und wenn Papa O'Neal auf etwas bestand, hörten die Leute auf ihn. Erst später erfuhr sie, dass die Hose einmal Sharon O'Neal gehört hatte, ehe diese gefallen war. Sie musste zugeben, dass die Dame eine gute Figur gehabt hatte. »Ich dachte, du wolltest mit Tommy zusammenleben«, antwortete Shari. »Und was deine Frage betrifft, ja, ich denke, ich werde ihn beim Wort nehmen. Er ist ein äußerst netter Mann und sehr sanft, wenn man bedenkt, wie … gefährlich … er ist. Und auf dieser Farm aufzuwachsen wird für die Kinder viel besser sein als das Leben in der Urb.« »Also, für dich freut es mich, auch wenn ich es für mich bedauere«, sagte Wendy. »Und mit Tommy werden wir abwarten müssen. Er ist gerade zum Staff Sergeant befördert worden, also sollte es für mich möglich sein, in die Unteroffiziersquartiere zu zie hen. Die sind in Fort Knox, und es heißt, sie würden besser bewacht als das Gold. Damit kann ich leben; ich bin es einfach leid, mich mit ten in einer Zielscheibe zu befinden.« »Das ist der Stützpunkt der Zehntausend, nicht wahr?«, fragte El gars. Sie hatte es sich auf dem Vordersitz auf Muellers Schoß be quem gemacht und schob jetzt vorsichtig sein schnarchendes Ge sicht – er war gleich, nachdem er das Fahrzeug bestiegen hatte, ein geschlafen – von sich weg. »Dort würde man mich hinschicken, wenn Colonel Cutprice mich ›zurücknimmt‹?« »Genau«, sagte Mosovich. »Und ich werde das empfehlen.« »Danke, Sergeant Major«, sagte sie leise. »Ich wäre wirklich gern wieder bei einer Einheit. Ich habe einfach das Bedürfnis, wieder et was Vernünftiges zu tun. Vielleicht liegt das daran, dass ich sonst nichts gelernt habe.« Sie sah zum Fenster hinaus, blickte in Richtung Osten und schüttelte den Kopf. »Was in drei Teufels Namen ist das denn? Und wo ist es hergekommen?« Mosovich sah in die Richtung, in die sie deutete, und nickte. »Ich schätze, das Kommando Ost ist zu dem Schluss gelangt, dass wir ein wenig Unterstützung brauchen.«
Das SheVa-Geschütz war gerade dabei, östlich von Dillard in Stel lung zu gehen. Im Norden, parallel zur Fernstraße, konnte man sei ne tief eingegrabenen Fahrspuren erkennen. »Das ist ein SheVa-Geschütz«, sagte Mosovich. »Eine Waffe gegen Landers. Beim Korps-Hauptquartier haben wir noch eins, aber das haben sie nicht bemerkt, weil es getarnt war.« Noch während er das sagte, strömte schäumende braune und grü ne Flüssigkeit aus unauffälligen Öffnungen im unteren Bereich des Geschützes. Der Schaum härtete schnell aus und erzeugte einen Hü gel, der sich um das Geschützsystem herum aufbaute. Ein großer Sattelschlepper, der zwei gewaltige Messingkartuschen geladen hatte, fuhr an das hintere Ende des SheVa-Geschützes heran und kippte eine der Kartuschen nach oben, schob sie in eine Öff nung am hinteren Teil des Geschützes. »Das sieht wie die größte … Patrone … aus, die ich je gesehen habe«, sagte Shari. »Das ist es auch mehr oder weniger«, schaltete sich der mittlerwei le aufgewachte Mueller in das Gespräch. »Die feuern Vollmantelge schosse, keine Projektile, keine Kugeln mit Treibmittelbeuteln oder dergleichen. Das sind die größten Kartuschen, die man je hergestellt hat, und auch die kompliziertesten; unter anderem wird in dem Sys tem ein Plasmaverstärker eingesetzt, was voraussetzt, dass das Treibmittel von Resistoren durchsetzt ist. Sie werden nicht einfach nur mit Kordit oder dergleichen voll gestopft.« »In einer Stunde wird das aussehen wie ein riesiger grünbrauner Hügel«, erklärte Mosovich. »Wenn dann Landers über den Horizont kommen, fährt es einfach heraus und beginnt mit dem Beschuss; der Schaum fällt relativ leicht ab. Und diese Tarnung mit Schaum geht viel schneller und einfacher, als beispielsweise Tarnnetze zu span nen.« »Was verfeuert es denn?«, fragte Elgars und blickte immer noch wie gebannt auf die langsam hinter ihnen verschwindende Monstro sität.
»Einen sechzehnzölligen Kern mit nuklearem Innenleben«, sagte Mueller lächelnd. »Für die Posleen ist uns das Beste gerade gut ge nug …« »Eigentlich Antimaterie«, erklärte Mosovich. »Das ist viel sauberer als das sauberste Nuke. Für die Lampreys ist das fast ein Overkill; sie werden davon ganz schön zerfetzt. Aber man braucht sie für die K-Deks, die Kommandoschiffe. Die sind größer und haben mehr in nere Panzerung. Ich höre, dass es ein ziemlich spektakulärer An blick ist, wenn sie das Eindämmungssystem eines Landers treffen.« »Weshalb ist es hier?«, fragte Shari nervös. »Dieses Korps hatte doch schon eines, oder? Ich dachte immer, die wären ziemlich rar.« »Sind sie auch«, meinte Mosovich nachdenklich. »Wie gesagt, ich schätze, Kommando Ost ist zu dem Schluss ge langt, dass wir ein wenig Unterstützung brauchen.« »Das heißt also, dass etwas im Begriff ist schief zu laufen?«, fragte Shari.
»Ich hasse diese Dinger«, sagte Sergeant Buckley. »Da gibt es eine Milliarde Dinge, die schief laufen können.« Sergeant Joseph Buckley kämpfte fast seit Beginn des Krieges ge gen die Posleen. Er war mit der ersten noch im Versuchsstadium be findlichen GKA-Einheit auf Diess gewesen und hatte dort an den Kämpfen teilgenommen. Nach Diess war er als psychologisches Op fer evakuiert worden; wenn man unter einem halben Kilometer Ge bäudeschutt feststeckt und einem bei dem Versuch, sich den Weg freizusprengen, die Hand abgerissen wird, man anschließend von einer Nuklearexplosion weggefegt wird und schließlich ein halber Weltraumkreuzer auf einem landet und man sich wieder unter ei nem halben Kilometer Gebäudeschutt findet, hat man schließlich das Recht, ein wenig durchzudrehen.
Aber in Zeiten der Verzweiflung sind verzweifelte Maßnahmen angesagt, und schließlich kam der Zeitpunkt, wo man selbst Joe Buckley wieder für einsatzfähig hielt. Solange es nicht zu anstren gend war und nichts mit Kampfanzügen zu tun hatte. Nur darauf hatte er bestanden, und zwar mit großem Nachdruck, bis hin zu ei nem Kriegsgericht, wo er durchgesetzt hatte, dass er unter keinen Umständen einen Anzug anlegen musste. Die Ereignisfolge auf Diess hatte ihm eine permanente Psychose in Bezug auf Kampfan züge und deren Peripheriegeräte eingetragen. Tatsächlich war er zu dem Schluss gelangt, dass das ganze Problem mit dem Krieg darin bestand, dass man zu sehr auf Hochtechnologie baute und dabei alte Erfahrungsgrundsätze über Bord warf. »Ich sag's dir«, sagte er und riss dabei die Plastikhülle von dem widerspenstigen M-134. »Was wir hier brauchen, sind …« »… Wassergekühlte Browning-Maschinengewehre«, sagte Corpo ral Wright. »Ich weiß, ich weiß.« »Du glaubst, ich mache Witze«, murrte Buckley, zog die ver klemmte Patrone heraus und funkelte sie an. »Bei einem Browning wäre das nie passiert. Das ist das Problem, alle wollen nur mehr Feu erkraft.« Die Stellung befand sich auf dem zweiten »Rang« des Walls, von dem aus man den Highway 441 überblicken konnte. Clayton lag hinter dem Berg und war daher nicht zu sehen, aber sie hatten vom Black-Mountain-Beobachtungsposten die Warnung erhalten, dass ein Posleen-Schwarm auf der Straße heraufzog. Geschützposition B146 wieder einsatzfähig zu machen hatte daher Priorität. Der Wall enthielt zahllose Schieß- und Beobachtungsscharten. Hinter den M-134-Gatlings vorbehaltenen Schießscharten standen reguläre schwere Waffen für den Beschuss von Tenars, außerdem gab es Schießscharten für die Soldaten, die zwar in erster Linie die Gatlings versorgen sollten, aber möglicherweise gelegentlich auch ihre Karabiner benutzen wollten. Aber den meisten Schaden wür
den natürlich die Gatlings und die von oben auf den Feind herunter prasselnde Artillerie anrichten. Die Gatlings waren so auf Lafetten montiert und ausgerichtet, dass sie über ein fixiertes Azimut automatisch hin und her wanderten und einen Kugelhagel auf die Posleen hinabregnen ließen. Sie waren mit allen anderen Waffen in der Zone B-14 parallel geschaltet, so dass auf Knopfdruck – einem Knopf, der sich in einem gepanzerten Gefechtsstand befand – alle zwölf Waffen das Feuer eröffnen und je nach Einstellung entweder zweitausend oder viertausend Schuss pro Minute hinausjagen konnten. So zumindest lautete die Theorie. Das M-134 galt als ziemlich ver lässlich, und die M-27-Stativkonstruktion war älter und besser er probt als Buckley. Aber winzige Konstruktionsänderungen, die not wendig gewesen waren, um beide Systeme in ein ferngesteuertes, ortsgebundenes System einzubinden, hatten zu kleinen Unregelmä ßigkeiten geführt, und deshalb waren sechs Soldaten unter Sergeant Buckley dafür eingesetzt, ein einwandfreies mechanisches Funktio nieren der Waffen sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass sie während der Gefechte und auch dazwischen »gefüttert« wurden. Was Buckleys Gruppe betraf, so hatte es den Anschein, als würden sie statt einem Soldaten für zwei Maschinengewehre zwei Soldaten für ein Maschinengewehr benötigen. Die Schuld dafür gab Buckley persönlich und in aller Öffentlichkeit den Einheiten, die sie ersetzt hatten; die Aufgaben in der Verteidigungsfront wechselten zwi schen den drei Divisionen des Korps ab, und Buckley war überzeugt, dass die Einheiten der anderen Divisionen die Waffen nie gewartet oder sie möglicherweise sogar aktiv sabotiert hatten. Die Walleinheit, eine der drei Divisionen des Korps, war vier Wo chen lang vierundzwanzig Stunden täglich im Dienst und lebte in ziemlich schäbigen Quartieren innerhalb des Walls; anschließend wurde sie nach hinten versetzt. Dort durchlief sie einen Wartungsund Supportzyklus, lebte in Kasernen und wurde im Falle eines massiven feindlichen Angriffs in tertiäre Verteidigungsstellungen
verlegt, die sich tatsächlich hinter dem Korps-Hauptquartier befan den. Nach vier Wochen in diesem Status wurde die Einheit »nach vorne« in die sekundäre Verteidigungsposition verlegt, was bedeu tete, dass sie »auf Abruf« für Kampfeinsätze bereitstehen musste. Bis vor kurzem hatte das in der Praxis bedeutet, dass sie in den Ka sernen herumhockten, Pornomagazine lasen und sich prügelten. Aber seit dieser dämliche Pionieroffizier aus dem Hauptquartier aufgetaucht war, bedeutete das zwölf Stunden am Tag Arbeit an den Gräben und Bunkern. Nach zwölf Stunden mit Schaufel, Spaten und Sandsäcken schaffte man es kaum mehr in den Club. Buckley war felsenfest überzeugt, dass diese Mistkerle in der 103rd seine Maschinengewehre sabotiert hatten. Und jetzt genehmigten sie sich wahrscheinlich im Unteroffiziersclub ein kaltes Bier und lachten hinter seinem Rücken über ihn. Alle anderen in der Gruppe, und übrigens auch in der Kompanie, legten die Situation insgeheim Buckley zur Last. Jeder, der sich ein Raumschiff auf den Kopf fällen lässt, gelangt in den Ruf, ein Pechvo gel zu sein, und dieses Pech hatte sich anscheinend auf alles ausge dehnt, was dieser Buckley in die Finger bekam. Ob das nun ein Humvee war, den man ihm zur Verfügung stellte, oder die Gatlings an der Front oder sogar sein persönlicher Karabiner – es sah so aus, als würde jedem dieser Stücke immer etwas Seltsames, Ungewöhnli ches zustoßen. In diesem Falle war es Gatling B-146, das sich schlicht weigerte, in verlässlicher und regelmäßiger Manier zu feuern. »Ich sage, es ist ein Kurzschluss«, erklärte Specialist Alejandro und rammte einen Ladestock in Lauf Nummer Vier. »Nach Kurzschlüssen haben wir es doch schon überprüft«, knurrte Buckley. »Das Ding kriegt so viel Strom, wie es soll und nicht mehr.« »Ich sage, es ist die Munition«, meinte Wright. »Wir haben den Kasten ausgetauscht«, sagte Buckley und deutete auf den riesigen Kasten mit 7.62-mmGurten, der unter dem MG be
festigt war. »Und dann die Munition durch das 148 laufen lassen; keine Probleme.« »Ich denke, ein Erdungsfehler von der M-27«, beharrte Alejandro und zog den Ladestock wieder heraus. »Das M-27 macht auch Zi cken.« »Ich denke, das liegt an dir, Sergeant«, sagte Wright und betätigte die Waffe manuell. »Das waren diese Scheißkerle von der 103rd«, schnauzte Buckley. »Die versauen jede Waffe, die sie in die Hand kriegen. Ich sag's euch, die wollen bloß, dass wir uns blamieren.« »Na ja, das wäre ja nicht so schwierig«, meinte Wright leise. »Was war das, Specialist?«, fragte Buckley. »Nichts, Sergeant«, antwortete Wright. »Jetzt funktioniert es. Tes ten wir es noch einmal durch.« »Okay«, sagte Buckley und trat einen Schritt zurück. »Einschalten, Alejandro.« Der Specialist vergewisserte sich, dass alle Läufe frei waren, zog die Schutzdeckel von den Kontakten und legte die Schalter um. »Wir sind heiß.« »Entsichern«, sagte Buckley und stöpselte ein Kabel ein. »Waffe ist heiß«, fuhr er dann fort und lud durch. »Wir haben die Ohrenschützer noch nicht auf«, rief Wright und griff hastig in seine Brusttasche. »Sind doch bloß ein paar Schuss«, antwortete Buckley. »Los.« Er schaltete die Waffe auf viertausend Umdrehungen, maximale Leistung, und drückte den Feuerknopf. Die Kugeln peitschten hinaus und erzeugten ein Geräusch wie von einer Kettensäge, und das Feuer sah aus wie orangeroter Laser; jeder fünfte Schuss war eine Leuchtspur, und sie kamen so dicht hinter einander, dass sie wie ein einziger Strom wirkten.
Buckley nickte, als die Waffe weiterfeuerte, runzelte aber dann die Stirn, als das Feuer mit einem schrillen Kreischen aussetzte. »Schei ße.« Die Patronenhülse, die die letzte Ladehemmung verursacht hat te, steckte unübersehbar im Auswurfmechanismus. »Scheiße, Schei ße, Scheiße«, schimpfte er und griff nach der Hülse. »Sarge, die Kanone ist heiß«, warnte Wright. »Scheiß drauf«, sagte Buckley und winkte Alejandro von den Schaltern weg. »Ich will das erledigt haben, ehe …« Die beiden Specialists sollten nie erfahren, was er erledigt haben wollte, weil das Problem tatsächlich ein Kurzschluss war, aber nicht in der Waffe und auch nicht im Stativ. Das Problem steckte in dem Resistor, der den Stromfluss zum M-27 regelte. Die Resistorspule transformierte den Stromfluss an alle Waffen, so dass die Stative die richtige Spannung bekamen. Aber bei der B-146 lag ein kleiner Defekt am Resistor vor, und deshalb kam eine höhere Ladung durch. Diese Ladung hatte auf die Waffe »übergeschlagen«, und da diese von einem Elektromotor angetrieben wurde, lief der mit einer ge ringfügig höheren Tourenzahl, als seiner Konstruktion entsprach. Da das MG ordentlich geerdet war, hatte das bisher keine größeren Probleme verursacht. Als Sergeant Buckley freilich nach der Hülse griff, wirkte sich der Strom, der jetzt eine Leitung gefunden hatte, aus. Und Buckley tra fen plötzlich 220 Volt Wechselstrom. Buckley stand einen Augenblick lang zitternd und wie im Boden verwurzelt da, bis sämtliche Sicherungen durchschlugen. »Verdammt«, sagte Wright. »Das tut sicher weh. Du hättest ihn ja nicht gleich zu rösten brauchen, um zu beweisen, dass du Recht hast, Alejandro.« »Habe ich auch nicht«, erwiderte der Specialist und zog eine Hi berzine-Spritze aus dem Erste-Hilfe-Kasten. »Ruft die Sanitäter, ich
fange inzwischen mit der Herzmassage an. Sagt denen, dass Buckley wieder einmal einen schlechten Tag hat.«
»Herein!« Lieutenant Sunday betrat das Büro des Kompaniechefs und nahm Haltung an. »Sie wollten mich sprechen, Ma'am?« »Sie brauchen nicht jedes Mal Männchen zu machen, wenn Sie reinkommen, Sunday«, sagte Slight und lächelte. »Eine leichte Ver beugung genügt.« »Ja, Ma'am«, sagte er und setzte zu einer Verbeugung an. »Ach, hören Sie schon auf.« Sie lachte. »Schauen Sie, Lieutenant, ich weiß, es ist Samstag, aber uns geht's ziemlich dick ein. First Ser geant?« Erst jetzt nahm Tommy First Sergeant Bogdanovich wahr, die in der Ecke wie ein Leopard auf der Couch der Kompaniechefin lag. Boggles Stirn runzelte sich, und sie beugte sich vor. »Lieutenant, einige Anzüge in der Kompanie zeigen kritischen Unterbestand an Biotik-Gel. Da es sich um eine GalTech-Substanz handelt, darf sie nur an einen qualifizierten Flottenoffizier ausgegeben werden.« »Ich ernenne Sie hiermit zum Waffenoffizier der Kompanie«, fuhr Slight fort. »Ich möchte, dass Sie zu S-4 hinübergehen und alles Gel mitbringen, das Sie beschaffen können. Ist das klar?« »Klar, Ma'am«, sagte Sunday und nahm wieder Haltung an. »Darf ich wegtreten?« »Gehen Sie«, sagte Slight mit undurchdringlicher Miene. »Und kommen Sie mir nicht ohne das Zeug unter die Augen; wir müssen die Anzüge dringend einsatzfähig machen.« Nachdem der hünenhafte Lieutenant den Raum verlassen hatte, wechselten die beiden Frauen Blicke, und dann fing First Sergeant Bogdanovich, Veteranin zahlloser Schlachten, auf höchst uncharak teristische Weise zu kichern an. »Zwei Stunden.«
»Weniger«, sagte Slight und schüttelte den Kopf. »Der ist ja nicht blöd.«
Lieutenant Sunday marschierte in das Büro des S-4, der sich an schickte aufzustehen. »Rühren«, sagte der Lieutenant mit einer abwehrenden Handbe wegung. »Bleiben Sie.« »Guten Morgen, Lieutenant«, sagte der Staff Sergeant. »Was kann ich für Sie an diesem schönen … äh … Morgen tun?« »Die Chefin schickt mich, ich soll Gel holen. Sie hat mich zum ›Waffenoffizier‹ ernannt, ich habe also Freigabe.« »Äh, Gel, was?«, sagte McConnell und runzelte die Stirn. »Ich den ke, das ist so ziemlich ausgegangen, Sir. Die Indowy haben es letz ten Monat beim Anpassen der Anzüge verbraucht. Wir haben eine Sendung im Auftrag, aber … Sie wissen ja, wie es um GalTechNachschub steht.« »Verdammt«, sagte Sunday und nickte ernsthaft. »Alles ausgegan gen, hm? Es gibt nicht noch irgendwo, Sie wissen schon, einen Ka nister oder so? Oder vielleicht eine Kiste, die sich irgendwo unter ei nem Schreibtisch versteckt hat.« McConnell sah ihn einen Augenblick lang von der Seite an und nickte dann. »Na ja, im Bataillonshauptquartier könnte vielleicht noch ein Kanister sein«, meinte er. »Na prima«, sagte Sunday und stemmte die Hände in die Hüften. »Vielleicht sollte ich zum Bataillon hinüberlaufen und mit dem …« »Bataillonskommandeur sprechen«, antwortete McConnell. »Wirklich?«, fragte Sunday sichtlich überrascht. »Nicht dem, ich weiß nicht, S-3 oder dem Sergeant Major vielleicht?« »Nee, Lieutenant«, antwortete McConnell entschieden. »Major O' Neal. Er hat den Kanister Gel. Wenigstens hat man mir das so ge sagt.«
»Gut«, sagte Sunday und setzte sich in Richtung Türe in Bewe gung. »Jetzt gehe ich zum Bataillonskommandeur, um Gel zu besor gen. Klar? Und, übrigens, Sergeant …« »Jaa?«, fragte McConnell. »Sie sollten vielleicht den BK anrufen und ihm sagen, dass ich komme«, meinte Sunday mit einem Raubtiergrinsen. »Aber viel leicht sollten Sie ihm nichts von unserem … Gespräch sagen.« Er beugte sich über den Schreibtisch des Sergeants und lächelte freund lich. »Okay?« »Okay«, grinste McConnell. »Ganz wie Sie meinen, Lieutenant.« »Übrigens, Sergeant«, fuhr Sunday fort und richtete sich auf. »Ich fühle mich zu der Bemerkung veranlasst, dass ich den Gepanzerten Kampfanzug ziemlich genau studiert habe. Und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, dann erzeugen die Anzüge ihre eigenen Un terschicht-Nanniten. Was haben Sie dazu zu sagen?« »Ich wüsste nicht, was ich dazu sagen sollte, Lieutenant«, erwider te der Sergeant und lächelte. »Ich sehe mich auch zu der Bemerkung veranlasst, Sarge, das wenn jemand im Militär seinen Gesprächspartner nur mit seiner Rangbezeichnung anspricht, dann ist das gewöhnlich ein Hinweis darauf, dass der Betreffende für den anderen keinen richtigen Re spekt empfindet, ganz gleich, welchen Rang er einnimmt. Was ha ben Sie dazu zu sagen?« Der Sergeant lachte. »Gar nichts, Sir.« »Sie können Tank zu mir sagen, Sergeant McConnell«, sagte Sun day beim Hinausgehen. »Alle meine Freunde tun das.«
22 Garnison Newry, Pennsylvania, Sol III 0923 EDT, 26. September 2014
»Major«, sagte Gunny Pappas mit ausdruckslosem Gesicht. »Lieu tenant Sunday ist hier und hätte Sie gern kurz gesprochen.« »Kommen Sie rein, Sunday«, rief O'Neal. Sunday marschierte ins Zimmer, nahm Haltung an und salutierte. »Sir. Captain Slight hat mir den Auftrag gegeben, Biotik-Gel zu be sorgen! Man hat mir gesagt, Sie hätten den letzten verfügbaren Ka nister im Bataillon!« Mike lehnte sich zurück, erwiderte die Ehrenbezeigung schlaff und tippte die Asche von seiner Zigarre. »Knapp geworden, was? Ich habe den Kanister zur Charlie-Kompanie geschickt und höre, dass die ihn aufgebraucht haben. Sie können ja zu Charlie hinüber gehen und die fragen, ob noch welches übrig ist. Sie können auch versuchen, selbst welches zusammenzukratzen. Ganz nach Belie ben.« »Ja, Sir«, sagte Sunday und machte erneut eine Ehrenbezeigung. »Ich bitte um Erlaubnis, meine Suche fortsetzen zu dürfen.« »Weitermachen, Sunday«, sagte O'Neal wieder mit einer schlaffen Handbewegung. »Und sagen Sie Slight, dass das Zeug nicht auf Bäumen wächst.« »Yes, Sir!«, sagte der Lieutenant, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte hinaus.
O'Neal schüttelte den Kopf, als Gunny Pappas hereinkam. Er hielt sich die Hand vor den Mund. »Sie feixen, Gunny.« »Nein, das tue ich nicht«, erwiderte der ehemalige Marine. »Ich grinse. Das ist etwas völlig anderes.« »Ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee war«, meinte O'Neal und paffte an seiner Zigarre, um zu verhindern, dass sie aus ging. »Sunday ist intelligent und ein ordentlicher Soldat. Offen ge standen glaube ich, dass Slight sich da übernimmt.« »Mag schon sein«, antwortete der Sergeant Major und zuckte die Achseln. »Aber das ist eine alte, ehrenwerte Tradition. Was wären wir denn für eine Einheit, wenn wir den neuen Lieutenant nicht nach etwas auf die Suche schickten, das nicht existiert?«
Sunday stand vor dem Bataillonshauptquartier, eine Hand auf die Hüfte gestützt; mit der anderen rieb er sich langsam das Kinn und blickte nachdenklich. Er sah sich in dem kleinen Garnisonsbereich um und suchte nach Inspiration, bis sein Blick schließlich auf ein Plakat fiel, das für den neuen Militärladen der Landstreitkräfte warb. Er musterte das Plakat eine Weile und grinste dann. Anschließend schlenderte er vor sich hin pfeifend die Straße hin unter, immer wieder Ehrenbezeigungen ihm entgegenkommender Soldaten erwidernd. Jeder, der sein Gesicht sah, sah gleich wieder weg; diesen Ausdruck sah man nicht gern im Gesicht eines Men schen, der ungefähr die Größe eines Bulldozers hatte.
Maggie Findley war eine kleine, zart gebaute Brünette von siebzehn Jahren, die nach einem weiteren Jahr, wenn sie dann noch am Leben war, die Central High School (»Home of the Dragons!«) absolvieren würde. Sie hatte sich aus zwei Gründen um den Job im Militärladen
beworben; zum einen war es ein Job, und Jobs aller Art waren der zeit knapp, und zum anderen würde sie auf die Weise vielleicht einen netten Typen kennen lernen. Dies war ihre erste Schicht, die sie ganz allein an der Registrierkas se verbrachte, und bis jetzt war es ein ruhiger Freitagmorgen gewe sen. Ein ziemlich groß geratener Soldat war vor nicht zu langer Zeit hereingekommen und nach hinten gegangen, aber im Allgemeinen waren die Jungs alle recht nett. Als sie sah, wie er jetzt wieder nach vorne ging, überkam sie einen Augenblick lang eine gewisse Nervosität; der Mann war nicht nur groß, er war gigantisch, aber dann sah sie die silbernen Rangabzei chen eines First Lieutenant und hörte auf, sich Sorgen zu machen; Offiziere waren schließlich Gentlemen. Und während sie noch die sem Gedanken nachhing, legte der Lieutenant die kleine Schachtel, die er in der Hand hielt, vor ihr auf die Theke, und sie wurde rot.
Tommy lächelte der jungen Dame hinter der Theke zu. »Findley« stand auf ihrem Namensschild. »Haben Sie zufälligerweise davon noch mehr auf Lager? Auf dem Regal habe ich nur ein paar Schach teln entdeckt.« »Äh«, ihr Blick wanderte zwischen der Schachtel und dem Offizier hin und her, und sie wurde erneut rot. »Sie … brauchen mehr?«, quiekte sie. »Also, wenn Sie noch einen Karton hätten, der noch nicht geöffnet ist, wäre das ideal«, sagte er und grinste dabei, ohne dies zu wollen, ein Raubtiergrinsen. »Mein Kompaniechef und ich haben …« Er machte eine vage Handbewegung, »… haben gewisse Schwierigkei ten.« »Ich-gehe-gleich-nachsehen«, sagte Maggie schnell und huschte um die Theke herum nach hinten.
Tommy stand an der Theke, pfiff eine undefinierbare Melodie vor sich hin und griff dann nach der neuesten Ausgabe von Guns and Ammo, einem der wenigen Magazine, die den fast völligen Zusam menbruch des Verlagswesens überlebt hatten. Er blätterte in dem Heft herum und sah sich die neue Desert Eagle .65 an. Seiner ganz persönlichen Ansicht nach würde der Rückstoß dieser Waffe jeden umkippen, der kleiner als er war. Aber es gab eben Leute, die immer die größte Knarre in der Straße haben mussten. Die Angestellte kam irgendwann zurück und trug, so unauffällig ihr dies möglich war, eine kleine blau-weiße Schachtel. »Wir … ha ben sie nur von der Marke …« »Ist schon gut«, sagte Tommy, legte die Zeitschrift weg und zog die Brieftasche heraus. »Sogar perfekt.« »Papiertüte oder einen Plastikbeutel?«, fragte Maggie atemlos, be müht, seinem Blick auszuweichen. »Oh, Papier, unbedingt«, sagte Tommy und grinste wieder. »Bitte.«
»Sergeant Bogdanovich?«, fragte Lieutenant Sunday beinahe schüchtern und betrat das Büro des First Sergeant. »Hätten Sie einen Augenblick Zeit?« »Aber sicher, Sir«, sagte Boggle und stand auf. Sie deutete mit ei ner Kopfbewegung auf sein Paket. »Ist das das Biotik-Gel?« »Ich musste zum Bataillon, um danach zu suchen«, meinte Tom my, wich dabei ihrem Blick aus und öffnete die Tür zum Büro des Kompaniechefs. »Darf ich reinkommen, Ma'am?« »Oh, kommen Sie rein, Sunday«, sagte Captain Slight. »Haben Sie das Gel gefunden?« »Leider nein, Ma'am«, antwortete Sunday und nahm Haltung an. »Anscheinend hat die Charlie-Kompanie alles aufgebraucht, Ma'am. Aber dann ist mir eingefallen, dass ich einmal gelesen habe, man
könne auch anderes Material als Ersatz benutzen«, fuhr er fort, zog die Schachtel K-Y-Gleitcreme aus der Tüte und stellte sie auf den Schreibtisch der Kompaniechefin, »und ich dachte, das kommt der Spezifikation am nächsten, dürfte also das Richtige für Sie sein.« Captain Slight wurde puterrot, und Bogdanovich fing brüllend zu lachen an. »Ja, wirklich, Sar … Lieutenant. Ich meine … in manchen Fällen könnte das ein nützlicher Ersatz sein.« Captain Slight schüttelte betrübt den Kopf. »Major O'Neal hat mich gewarnt.« »Ich denke, nächstes Mal sollten wir auf ihn hören, Ma'am«, sagte Boggle und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Nicht übel, Lieutenant.« »Ich fand es anfangs ein wenig übertrieben«, gab Sunday zu. »Zu erst dachte ich an gewöhnliche Vaseline, aber dann fand ich, das würde irgendwie die Pointe zerstören.« Captain Slight lächelte etwas verkniffen. »Wir haben schon ka piert. Okay, kommen wir wieder zur Sache. Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass es am besten ist, Sie zu den Sensenmännern zu ste cken.« »Yes, Ma'am«, sagte Sunday, aber sein Gesichtsausdruck ließ er kennen, dass er keine Ahnung hatte, was das bedeuten sollte. »Die Sensenmänner sind fast ausschließlich lang gediente Leute«, sagte sie. »Aber Ihr ehemaliger Platoon Sergeant hat in Roanoke einen Treffer abbekommen und wird eine Weile in den Regenerati onstanks stecken. Wir sind knapp an Unteroffiziersdienstgraden, also werden Sie im Grunde genommen sowohl Platoon-Führer als auch Ihr eigener Platoon Sergeant sein. Normalerweise hänge ich so etwas einem erfahrenen Sergeant an …« »Aber Sie haben keinen«, fiel Sunday ihr lächelnd ins Wort. »Und ich bin ein erfahrener Sergeant. Was kriege ich denn?«
»Also, die verstehen sich alle auf ihr Handwerk«, antwortete First Sergeant Bogdanovich. »Und üben es auch aus, im Kampf, meine ich.« »Und in der Garnison sind sie unmöglich«, fügte Sunday hinzu. »Na ja, lange sind wir ja noch nicht ›in der Garnison‹«, meinte die Kompaniechefin. »Aber … die Sensenmänner von der Bravo sind manchmal … ein wenig wild. Dieses kleine Spielchen, das wir jetzt gerade hinter uns haben, war zugleich eine Art Test, um …« »Um herauszukriegen, wie ich reagiere, wenn man mich auf den Arm nimmt?«, beendete Sunday den Satz für sie und grinste dabei breit. »Die treiben gern Spielchen, wie? Das tue ich auch gern.« Er grinste wieder sein Raubtiergrinsen. »Ich bin sogar ein Meister in solchen Spielchen.« »Na schön, dann wird's Ihnen ja Spaß machen«, sagte Captain Slight und lächelte. »Haben Sie noch etwas?« »Nein, Ma'am«, sagte der Lieutenant und griff nach der Schachtel Gleitcreme. »Ich denke, das werde ich zurückbringen.« »Nein, nein«, sagte sie und legte die Hand auf die Schachtel. »Ich denke, die werde ich behalten. Das habe ich ja wohl verdient. Berei ten Sie sich jetzt besser darauf vor, dass Ihre Leute bald zurückkom men werden; das wird morgen früh sein, und die meisten werden nicht besonders gut drauf sein und einen mächtigen Kater haben.« »Das werde ich tun, Ma'am«, sagte Sunday, salutierte und ging hinaus. Im Vorzimmer blieb er stehen und schob nachdenklich die Unter lippe vor. »AID, sehen wir uns mal die Unterlagen der Sensenmän ner der Bravo an. Ich möchte Kampfberichte, wann immer möglich, Live Audio/Video und persönliche Akten.« Lerne deinen Feind ken nen, dachte er und schmunzelte dabei.
Major Ryan war der Ansicht, den Fortschritt der Arbeiten an den Verteidigungsanlagen unbedingt persönlich überprüfen zu müssen. Insbesondere an den Sonntagen, wo mit einiger Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden musste, dass alle sich drückten. Heute freilich würden sie wahrscheinlich arbeiten. Er konnte be reits hören, wie Colonel Jorgensens Artillerie die herannahende Pos leen-Horde bepflasterte, und stellte sich vor, dass alle auf den Bei nen waren und sich darauf vorbereiteten, sie zu empfangen. Tat sächlich wirkte der Wall wie der reinste Bienenstock; ein wenig sah er sogar wie ein solcher aus. Der Wall war an der Stelle, wo er den Black-Mountain-Pass ab schloss, über sieben Stockwerke hoch, und jede Etage verfügte über ihr eigenes Waffensortiment. Sie reichten von Anti-Lander-Syste men (Shrike) bis zu ganzen »Geschwadern« von Richtminen, die Longswords genannt wurden. In den letzten fünf Jahren war nur ein einziges Mal eine Angriffswelle bis zum Wall vorgedrungen und dort von den Longswords zurückgeworfen worden. Er stieg eine der Treppen im hinteren Bereich des Walls hinauf und blickte über die sekundären Verteidigungsanlagen nach drau ßen. Die 23rd Division hatte gerade die 103rd abgelöst, so dass diese ein gutes Stück nach hinten gerückt war, dafür war aber jetzt die 49th an den Grabenanlagen am Werk, die hinten an den Wall angrenzten. Diese Gräben sollten der Planung nach von einer Seite der Vertei digungszone bis zur anderen reichen und auch Bunker einschließen. Aber das Wichtigste war, dass es von der vordersten Verteidigungs linie keine direkte Route nach hinten geben sollte. Weil man aber all gemein der Ansicht war, dass die Posleen keineswegs im Stande sein würden, den Wall zu durchbrechen, hatte man nach etwa ei nem Jahr trotzdem eine Straße angelegt, die auf der alten 441 basier te, und jetzt gab es einen vierspurigen Highway, der vom Wall zum Nachschublager des Korps führte. Außerdem hatte man zahlreiche Einheiten, die den Wall unmittelbar unterstützten, »nach vorne ver lagert«, soll heißen, man verpflanzte sie häufig direkt in die sekun
dären und tertiären Grabenanlagen. In vielen Fällen hatten die Kom mandeure dieser Einheiten aus einer Vielzahl von Gründen, darun ter auch die stets populäre »Sicherheit«, die Gräben aufgefüllt und sogar die Bunker abgebaut. Übrig geblieben war dabei ein Chaos, wie man es sich schlimmer kaum vorstellen konnte. Neben diesem Chaos gab es unmittelbar hinter dem Wall einen riesigen Parkplatz für die Hunderte von Fahrzeugen, die die Kom mandeure der im Wall stationierten Division und deren Stäbe für unerlässlich hielten. Nun, so war es einmal gewesen. Der Parkplatz war verschwun den; die allgemeine Einsatzdoktrin, die für die gesamten US-Streit kräfte galt, sah vor, dass die Kommandeure von Truppenteilen im Fronteinsatz mit ihren Einheiten nach vorne zogen und auch dort blieben und nur ganz wenige Personen hin und her wanderten; die Transportmittel für sie wurden von »oben« bereitgestellt. Wenn da her der Kommandeur des Korps beispielsweise mit dem Divisions chef der 23rd sprechen wollte, schickte er einen Humvee, um ihn ab zuholen. Und er hielt ihn auch nicht lange von seinen Truppen fern. Bei seiner Inspektion der Verteidigungsanlagen hatte Ryan gleich zu Anfang festgestellt, dass die nach vorne versetzten Kommandeu re, häufig auch deren Stabsoffiziere und selbst höhere Unteroffi ziersdienstgrade, dazu neigten, die Nacht weiter hinten zu verbrin gen, statt im Wall zu bleiben, wie man es von ihnen erwartete. Ihnen die Fahrzeuge wegzunehmen war ein probates Mittel, das zu ver hindern. Außerdem führten die Gräben jetzt wieder quer über die direkte Route, und eine Straße wand sich zwischen ihnen hindurch nach vorne. Wenn die Posleen den Wall überrannten, würden sie sich auf Grabenkämpfe einlassen müssen, womit die pferdeähnlichen Aliens bemerkenswerte Probleme hatten, oder sie würden sich auf der ge wundenen Straße bewegen und sich damit Flankenfeuer aussetzen müssen.
Unglücklicherweise hatte man die Gräben und Bunker, die es dort einmal gegeben hatte, nicht ersetzt, und an den tertiären Linien war fast überhaupt nicht gearbeitet worden. Das bedeutete, dass die Pos leen, falls sie tatsächlich durch den Wall brachen, freies Schussfeld auf das Herz des Korps haben würden. Und da man den Großteil der Versorgungseinheiten abgezogen hatte, würde sie dann vor den Bergen nichts mehr aufhalten können. Ganz sicherlich nicht vor Franklin. Und das bedeutete, dass der Wiederherstellung der Vertei digungsanlagen höchste Priorität zukam. Er schüttelte den Kopf, als die Ambulanz sich vom Wall entfernte. Das Arbeitstempo beschleunigen bedeutete zugegebenermaßen, dass es zu mehr Verletzungen kommen würde. Aber das war der Preis des Krieges; besser ein paar Unfälle als ein Frontdurchbruch. Durch eine Panzertür duckte er sich ins Innere und arbeitete sich durch das Labyrinth der Gänge, das er vorfand. Eigentlich war »Der Wall« eine irreführende Bezeichnung – »Festung« wäre passender gewesen. Schließlich war die Anlage breiter als hoch und mit Kaser nen, Messeräumen, Lagerräumen und Magazinen voll gestopft. Nur der vordere Teil und einige Punkte hinten waren für Kampfhand lungen eingerichtet; ansonsten waren hier die Anlagen, die man brauchte, um eine ganze Division kampffähig zu halten, also auch Werkstätten und Teilelager, um die Geschütze stets einsatzfähig zu halten. Ryan drang tiefer in die Eingeweide der Anlage ein, bis er schließ lich eine Tür erreichte, vor der eine Wache stand. Er zeigte dem MPMann seine Schlüsselkarte und betrat den Befehlsstand des Walls. Ein Blick auf die Lagetafel zeigte ihm nahezu alles, was er wissen musste: Die Posleen rückten massiert auf dem Highway 441 und al len Nebenstraßen vor. Der Bereitstellungsraum war Clayton, und ein paar schlaue Posleen hatten offenbar zwei Lampreys dort hinge bracht. Sie waren auf dem Schaubild markiert, und dort war auch eine Anmerkung zu lesen, dass die ganze Stadt und bestimmte Par tien der Straßen unter Sperrfeuer zu nehmen seien. Was auf die An
wesenheit neuer Lander hindeutete, aber die befanden sich außer Sicht des Beobachtungspostens auf dem Black Mountain. Formal betrachtet wurde der Gefechtsstand vom Divisions-G-3, ei nem Colonel, befehligt, aber Ryan hatte inzwischen gelernt, dass der Planungsoffizier der Division, ein Major wie er, eine wesentlich kla rere Vorstellung von der jeweiligen Lage hatte als der G-3. Nicht, dass Colonel White der Gattung Loser angehörte, mit denen sich General Bernard zu umgeben pflegte. Aber Major Brandt hatte ein fach den besseren Durchblick. Er trat neben die Kommandokonsole des Majors und schob eine Augenbraue hoch. »Irgendetwas, das ich wissen sollte?« Brandt blickte auf. »Wenn die so weitermachen, dann könnte sich das zu einer Art Waterloo entwickeln.« »Ist es so schlimm?« »Die kommen auf die alte Tour …« »Ah«, machte Ryan und nickte. »Das ist schon besser. Nach allem, was ich bisher über diesen Globe gehört hatte, hatten die es nicht auf die alte Tour versucht.« »Na ja, vor zwei – oder waren es drei? – Jahren kam ein K-Dek so nahe heran, dass er direkt auf uns feuern konnte. So, wie man mir das geschildert hat, war das eine ziemlich haarige Geschichte; das Ding verfügte über weltraumfähige Plasmakanonen und hat dem Wall ganz schön zugesetzt. Aber wir haben sie trotzdem aufgehalten und den verdammten K-Dek runtergeholt. Jetzt haben wir ein She Va, sogar zwei, nach allem, was ich höre.« »Yeah«, machte Ryan nicht sonderlich begeistert. »Mich beunru higt immer noch, was die Kundschafter da berichtet haben. Es gab ja Anzeichen, dass es diesmal wesentlich mehr sind, aber so, wie es aussieht, ist das bloß die Besatzung eines einzigen Globe, vier oder fünf Millionen vielleicht. Damit sind wir in der Vergangenheit schon fertig geworden, ich habe nur … ich weiß auch nicht.«
»Ganz wie gehabt, ganz wie gehabt«, meinte Brandt und zuckte die Achseln. »Mir soll's recht sein.« »Halten … halten Sie bloß die Augen offen«, riet Ryan. »Ich gehe jetzt ins Hauptquartier, dort sollte ich ohnehin schon lange sein.« »Na schön, viel Spaß«, grinste Brandt. »Ich werde alle Hände voll zu tun haben, Posleen zu erledigen.« »Kenn ich, habe ich auch schon gemacht«, murmelte Ryan und verließ den Gefechtsstand. »Ich spür meine Narben noch.« Auf demselben Weg, auf dem er hereingekommen war, schlender te er wieder nach draußen und registrierte dabei, dass die Aktivität in den Korridoren sich steigerte und die automatischen Geschütze der obersten Etage das Feuer eröffnet hatten. Er hastete die Treppe hinunter zu seinem Humvee und schüttelte den Kopf, als das erste Gatling das Feuer eröffnete. Sie hatten vorge habt, nächsten Monat die Stacheldrahtsperren vor dem Wall neu aufzubauen, aber jetzt sah es so aus, als würde das warten müssen. Zügig fuhr er über die Serpentinenstraße, bremste jedes Mal ab, wenn Gruppen von Soldaten, die eigentlich bereits in ihren Stellun gen hätten sein sollen, die Straße überquerten, um zu ihren Verteidi gungspositionen zu gelangen. Ein stetiger Strom von Fahrzeugen strebte auf den Wall und die sekundären Verteidigungsanlagen zu, und er kam sich immer wieder so vor, als sei es unerlässlich, gegen den Strom zu schwimmen. Zweimal winkten ihn Militärpolizisten von der Straße herunter, um Gruppen in der Gegenrichtung durch zulassen, aber nach einer halben Stunde hatte er schließlich die Fahrbereitschaft des Korps-Hauptquartiers erreicht. Als er die Treppe des ehemaligen Schulhauses hinaufging, stellte er fest, dass der grünblaue »Hügel« im Osten zu beben anfing und sah nach Süden. Tatsächlich, da kamen gerade Landers in Sicht. Oh, das sollte gut werden.
23 Mountain City, Georgia, Sol III 1113 EDT, 26. September 2014
»Es ist mir … unbehaglich, den Angriff von einem sicheren Ort aus zu beobachten, Oolt'ondai«, sagte Cholosta'an. Sie beobachteten den Angriff beide auf Bildschirmen. Die Kompa nien an der Spitze, darunter auch Balanosol, waren praktisch völlig vernichtet worden. Vielleicht waren ein paar Oolt'os übrig geblie ben, aber Kessentai hatten keine überlebt. Die Menschen hatten eine geradezu teuflische Fähigkeit entwi ckelt, die Kessentai zu finden und unter Beschuss zu nehmen, aber der Massenangriff hatte eine größere Gefahr verdeckt; unter den »politischen Einheiten« gab es Kessentai und Cosslain, die jetzt ih rerseits die auf Kessentai spezialisierten Verteidiger unter gezielten Beschuss nahmen. Zuallererst wurden die automatisierten Kanonen auf dem Gipfel außer Gefecht gesetzt. Sobald sie einmal nach jeweiligem Typ identi fiziert waren, war es leicht, ihre Detektoren anzupeilen, worauf Kes sentai sie unter manuellen Beschuss genommen hatten, da die Auto matiken durch Beschuss von außerhalb der Reichweite der mensch lichen Waffen überlastet waren. Sobald diese Gefahr ausgeschaltet war, ließ das Gemetzel unter den Kessentai nach, was dazu führte, dass der Angriff besser zusam menhielt, aber es gab immer noch andere Geschütze, die sich auf Kessentai spezialisierten. Die nahmen sie sich jetzt der Reihe nach vor; die Kessentai der vordersten Reihe waren mittlerweile nahe ge
nug, um ihre Oolt wirksam einsetzen zu können, und das machte das Ganze effektiver. Als die vierte Angriffswelle in Schussweite der Minikanonen war, waren sämtliche schweren Waffen der obersten Verteidigerreihe zerstört. Die meisten feuerten zwar aus geschützten Stellungen, aber wenn man genug Plasma in die Schießscharten pumpte, dann halfen auch die dicksten Betonwände nichts. »Ah, na ja, mit dieser ›Sicherheit‹ wird bald ein Ende sein, Eson'so ra«, sagte Orostan und schnappte dabei mit dem Mund. Die Verlus te waren größer gewesen, als sie erwartet hatten, auch bei den »poli tischen« Kessentai; die schweren »Scharfschützen«-Waffen der Men schen hatten sie aufs Korn genommen, während die automatischen Geschütze auf die vorrückenden Oolt'os gefeuert hatten. »Aber ich glaube, wir haben es jetzt geschafft, dass sie sich voll und ganz auf die Eingangstür konzentrieren, oder nicht?« »Ja, in der Tat, Oolt'ondai«, pflichtete der jüngere Kessentai ihm bei. »Und jetzt?« »Jetzt knallen wir die Tür zu«, antwortete Orostan und winkte ei nem Unterkommandeur zu.
»Also, ich schätze, über die 146 brauchen wir uns jetzt keine Gedan ken mehr zu machen«, meinte Wright philosophisch. Alejandro duckte sich, als ein weiterer Plasmaschwall durch die Schießscharte hereinschlug. »Und um die 144 übrigens auch nicht!« Von der Panzertür im Westen war ein lautes, metallisches Dröh nen zu hören, als sie sich nach innen durchbog und der Lack an der Innenseite zu rauchen anfing. »Herrgott!«, fluchte Wright und sah auf die beiden anderen Aus gänge. Der im Osten war allem Anschein nach noch intakt, aber die rauchenden Überreste von Geschütz 146 versperrten den Weg. Ihr letzter Ausgang war die Tür zu den inneren Bereichen des Walls. Sie befand sich in einer »Lücke« zwischen den Waffenpositionen, und
solange nicht ein zufälliger Treffer die vier Fuß dicken Eisenbeton mauern durchschlug, würden sie dort immer noch hinauskönnen. »143 Ladehemmung!«, rief Private Gattike und rannte zu den bei den Sergeants, die an einer kühleren Stelle kauerten. »Was soll ich machen?« »Die Ladehemmung beheben, nicht wahr?«, meinte Wright und stand auf. »'ne Ahnung, warum?« »Nein«, knurrte der Private. »Vielleicht liegt es an dieser zweiten Battle Box? Die hat bis jetzt fünfzigtausend Schuss geliefert!« »Ah.« Wright ließ sich zu Boden fallen, als eine weitere Salve HVMs auftraf und den Raum mit Splittern füllte. Die Wände waren innen mit Gummi verkleidet, um Querschläger zu vermeiden, aber trotzdem krachte einer mit einem Geräusch, wie wenn eine Axt auf eine Wassermelone trifft, in den Private neben ihm. Er sah zu Gatti ke hinüber und schüttelte den Kopf. »Erledigt?«, schrie Alejandro. »Jo«, machte Wright und kroch vor. »Ich glaube, die 143 ist auch hinüber.« »Okay«, brüllte Alejandro zurück. »Wo zum Teufel stecken Lewis und Schockley?«, fuhr er fort. »Da ist keiner links!« »Keine Ahnung«, brüllte Wright. Er eilte zur 145 und stellte fest, dass dort keine Munition mehr vorhanden war. »Hey, Alejandro! Ich brauche eine Battle Box!« Der Specialist schüttelte den Kopf und stemmte mit einiger Mühe die Munitionsklappe auf, rollte die Box heraus – normalerweise machten das zwei Mann – und ließ sich dann zu Boden fallen, als das ganze mächtige Bauwerk in seinen Grundfesten erbebte. Das »Nachbeben« dauerte ein paar Augenblicke an, während er sich ver zweifelt gegen die zweihundert Kilo schwere Box stemmte, um nicht von ihr erdrückt zu werden. »Okay«, murmelte er. »Jetzt ist das ganz offiziell ein beschissener Tag.«
Major Jason Porter, Kommandant von SheVa Vierzehn, fluchte wü tend. Sein Fahrer hatte es mit einiger Mühe geschafft, den Koloss auf die Hügelkuppe zu wuchten, ein kleines Stück südlich der Müllver brennungsanlage, und jetzt konnte er den Wall sehen oder zumin dest ein Stück davon. Und von der Oberseite des Walls stieg Rauch auf. Es war ganz offenkundig, dass die Posleen den Verteidigungsanla gen mächtig zusetzten, aber bis jetzt waren zumindest auf dieser Seite weder Lampreys noch K-Deks zu sehen. Er zog in Erwägung, den Hügel wieder hinunterzufahren; auf diese Weise würden etwa auftauchende Posleen-Schiffe sie nicht entdecken können. Doch ge rade, als er im Begriff war, einen entsprechenden Befehl zu erteilen, ertönte aus dem Radargerät das »Ping« einer Peilung. Ein oder mehrere Schiffe kamen das Tal herauf in Richtung auf den Wall. Sie blieben im Tiefflug, was schon ungewöhnlich genug war, aber hie und da kamen sie eine Sekunde lang hoch. Das Ge schütz hatte einige Mühe, sie zu erfassen. »Edwards«, rief er dem Geschützführer zu. »Richten Sie das Ge schütz auf die geschätzte Position des Feindes ein, und dann wollen wir doch mal sehen, ob wir die nicht wegputzen können.« »Roger, Sir«, rief der Geschützführer. »Kommt schon«, flüsterte Porter. »Kommt hoch, wo wir euch se hen können, ihr Söhne räudiger Mähren.«
»Alle Schiffe«, rief Orostan. »Feuer auf die menschlichen Verteidi gungsanlagen.« Trotz gründlicher Auswahl seitens Tulo'stenaloor gab es nur vier zig Kessentai, die imstande waren, ihre Schiffe ohne Automatik im Kampf einzusetzen. Da dies eine echte »Crew« erforderte, darunter auch intelligente und ausgebildete Leute zur Bedienung der Waffen
konsolen und nicht nur solche, die bloß Knöpfe drücken konnten, wenn diese aufblitzten, überraschte das eigentlich nicht. Insgesamt betrug die Besatzung der vierzig Schiffe über vierhundert Kessentai. Normalerweise wären das höchstens sechzig gewesen. Aber diese Kessentai hatten wahrscheinlich die zweitwichtigste Aufgabe des ganzen Einsatzes, sie mussten den Wall aus dem Weg räumen. Und das verlangte echte Waffen. Der Bildschirm wurde dunkel, als das erste Anti-Schiffsgeschoss den Wall traf.
»Du große Scheiße«, flüsterte Porter. Ein Abschnitt des Walls von der Größe eines Einfamilienhauses war soeben einfach herausgeris sen worden. »Feuerbefehl!«, rief Edwards. Porters Blick fiel auf das Zielgerät, und er drückte gleichzeitig den Feuerknopf. »Feuer!« »Kommt!!«
»Fuscirto uut!«, knurrte Orostan. »Alle Schiffe! Unten bleiben! Tulo's tenaloor, wo sind diese Tenaral?« »Die kommen gleich«, meldete Tulo'stenaloor. »Du willst doch im mer noch, dass das eine Überraschung wird, oder?« »Ja«, sagte der Oolt'ondai. »Aber ich habe für jedes einzelne Schiff entscheidend wichtige Aufgaben; dieses Geschütz muss weg. Und zwar sofort.« »Wir sind beinahe dort«, erklärte Tulo'stenaloor geduldig und schickte die Daten auf Orostans Bildschirme. »Beinahe dort.«
Pacalostal schrie vor Stolz laut auf, als das menschliche Tal vor ihm auftauchte. Die sechzig Tenaral waren auf verschlungenen Pfaden durch die Täler der Region geflogen, die die Menschen »War Wo man« nannten, und deshalb war die Überraschung jetzt komplett. Das menschliche Tal lag offen vor ihnen, und sie konnten ihre bei den Primärziele deutlich sehen. Das verhasste »SheVa«-Geschütz befand sich auf einer Anhöhe südlich von ihnen, und das Gros der menschlichen Artillerie gruppierte sich im Westen um die »John Beck Road« und die »Fork Road«. Er schickte einen Befehl an die zweite Division, die fast auf Boden höhe herunterging und ihr Tempo steigerte, als sie in den hinteren Bereich des Korps eindrang. Dann nahm er die erste Division und jagte auf das SheVa-Geschütz im Süden zu.
Die erste Warnung, die Major Porter bekam, war ein verzerrter An ruf über die Kommandofrequenz des Korps. Die zweite Warnung war der erste Plasmaschuss, der sein Hinterdeck erfasste. SheVas waren streng genommen keine gepanzerten Fahrzeuge. Sie hatten zwar eine Menge schwerer Metallteile an sich, einige davon sogar ziemlich hart, aber die waren wegen der gewaltigen Energie mengen notwendig, die bei jedem Schuss des Kolosses freigesetzt wurden. Sie waren nicht dafür konstruiert, massivem Plasmafeuer aus kurzer Distanz standzuhalten, und das wurde auch beim zwei ten Treffer klar, als die rechte Kette in Stücke ging. »Verdammte Scheiße!«, schrie Porter, als eines der feindlichen Fahrzeuge an einer Kamera vorbeifegte. »Was zum Teufel ist das?« Es sah aus wie etwas aus einem Science-Fiction-Roman aus den frühen Fünfzigern. Das Gebilde war mehr oder weniger untertas senförmig mit einem kleinen Turm oben. Und der Turm war allem Anschein nach mit einer … Posleen-Plasmakanone versehen, die dort fest eingebaut war. Als er die Kamera dem seltsamen Fahrzeug
nachführte, feuerte dieses einen weiteren Plasmastrahl auf den vor deren Quadranten ab. »Wir haben die rechte Kette und die Treiber Vierzehn und Fünf zehn verloren«, rief Warrant Officer Tapes. »Ich habe den Freigabe schalter gedrückt, aber wir werden runterfahren müssen. Und das macht uns ganz schön langsam.« »Bringen Sie uns hier raus«, sagte Porter. »Nach rückwärts.« »Feuerbefehl!« »Kommando zurück!!«, rief er und sah auf das Zielgerät. Ohne ganz hinzusehen, drückte er den Bestätigungsknopf. »Feuer!« »Kommt!«
»RUNTER, RUNTER, UNTEN bleiben!«, schrie Orostan. Sein Kamm flatterte vergnügt, als er den bröckelnden Wall sah. Der mächtige Betonbau war im mittleren Bereich von wiederholten Antimate rieund Plasmatreffern aufgerissen, bald würde der Weg frei sein. Noch felsig – die vordersten Reihen würden noch einige Arbeit be kommen –, aber frei. »Und die Artillerie lässt nach«, fügte er hinzu. »Ja, stimmt«, sagte Cholosta'an. »Wir sind jetzt gleich durch. Ein echter Durchbruch. Verblüffend.« »Dafür haben wir jahrelang geplant«, gab Orostan zu bedenken. »Wir werden sie aufrollen, einen Pass nach dem anderen …« »Und überall ›Mauthäuschen‹ errichten«, sagte Cholosta'an und schlappte vergnügt mit dem Kamm. »Das war brillant. Jeder, der hier durchkommt, muss mindestens zehn Prozent seines Ertrags ab liefern.« »In der Tat brillant«, sagte Orostan. »Tulo'stenaloor findet, dass diese Menschen ihm viel schulden. Wenn er es ihnen nicht direkt nehmen kann, dann wird er es eben indirekt tun.«
»Wir sollten uns noch nicht zu sehr freuen«, wandte Cholosta'an ein. »Diese Menschen … sind raffiniert. Und sie geben nicht so leicht auf.« »Wenn wir hier fertig sind, werden wir mit unseren Tenaral das Tal hinauffliegen und sämtliche Verteidigungsstellungen auf der ur sprünglichen Route zerstören. Vielleicht versuchen die Menschen uns aufzuhalten, aber wir werden zuerst dort sein. Sobald der Wall gefallen ist.« »Und die SheVa-Kanone außer Gefecht ist«, fügte Cholosta'an hin zu. »Ja, natürlich.«
Ein weiterer Plasmaschuss klatschte gegen das Geschütz, und eines der Geschosse schlug durch mehrere Schichten von Schaltmechanis men ins Kommandozentrum. Das Schaltbrett der Schadenskontrolle explodierte wie eine Bombe, als das Plasma in die Konsole schlug. Energieströme jagten durch die Leitungen in die Primärsteuerung. Sergeant Edwards flog laut aufschreiend zurück, löste die Stuhl sperre und rollte nach hinten, als Funken aus dem Zielerfassungs system schlugen. Der Feuerkontrollcomputer spie noch einen Au genblick lang Funken und gab dann mit einem schnarrenden Ge räusch den Geist auf. Major Porter hustete, als ihm der Rauch in die Nase drang, und schüttelte den Kopf. »Bin das jetzt ich oder ist das wirklich wie in ei nem schlechten SF-Film im Fernsehen?« Er löste ebenfalls seine Stuhlsperre und zog den des Warrant Officer mit sich nach hinten. In der roten Notbeleuchtung konnte er erkennen, dass der Warrant Officer massive Verbrennungen im Gesicht und an der Brust auf wies, aber er atmete noch. »Kann das Geschütz überhaupt noch feu ern?«
»Negativ!«, schrie Edwards nervös. »Ich kann nicht einmal die Kartusche im Verschluss lösen!« »Oh, das ist ja herrlich«, murmelte Porter, legte den Sessel des Warrant Officer flach und löste vorsichtig dessen Gurte. »Äh, Sir«, sagte Edwards und half, den Warrant Officer aus sei nem Sessel zu heben. »Ich glaube, wir bekommen hauptsächlich am Hinterdeck Feuer …« »Das habe ich bemerkt!«, sagte Porter und sah sich um. »Tamby! Aussteigen!« Von der Position des Fahrers kam keine Antwort, also rutschte er über das rauchende Deck und blickte nach unten. Der Fahrersitz war von zahlreichen Bildschirmen umgeben, so dass die Fahrer ständig beinahe dreihundertsechzig Grad Sicht hat ten. Unglücklicherweise bedeutete das auch, dass ein plötzlicher Stromstoß Tausende von Volt freisetzte. Porter rutschte hinunter und versuchte dabei, nicht auf die ver kohlte Gestalt zu treten, die im Fahrersessel angegurtet war. Er sah auf die Steuerorgane: Erstaunlicherweise schienen die noch funkti onsfähig zu sein, also schaltete er sie auf Automatik, fuhr nach vorn und kletterte rückwärts hinaus. Dann rutschte er über den Boden und betätigte den Schalter der Ausstiegsluke. Die rot lackierte Luke öffnete sich mit fauchendem Zischen, und Lichter flammten auf. »Wo ist Tamby?«, fragte Edwards und zerrte die schlaffe Gestalt des Warrant Officer auf die Luke zu. »Tamby wird heute nicht mitkommen«, erwiderte Porter und packte die Füße des Warrant Officer. »Sie fahren. Und fahren Sie, als ob der Teufel hinter uns her wäre.« »Und wer schießt?«, fragte Edwards. »Wen in drei Teufels Namen interessiert das schon?«, knurrte Por ter. »Wenn wir nicht mindestens fünf Meilen von hier entfernt sind, ehe die uns das Magazin zerschießen, wird keiner fahren!«
Atrenalasal ließ seinen Kamm flattern und schaltete sein Komm-Ge rät ein. »Pacalostal! Das Geschütz hat aufgehört zu feuern! Wir soll ten uns jetzt dem Angriff auf die Artillerie anschließen.« »Nein«, erwiderte der Tenaral-Kommandant. »Wir haben Anwei sung, den Beschuss fortzusetzen, bis es zu feuern aufgehört hat und brennt. Befolge die Befehle.« »Sehr wohl«, erwiderte der Kessentai. Irgendwie kam es ihm … nicht richtig … vor, eine Ladung Plasma nach der anderen in das brennende Wrack zu pumpen. Aber Befehl war Befehl.
Major Porter schaltete auf Absenken, ehe Edwards seinen Sitz einge nommen hatte, aber der Richtschütze hatte das Fluchtfahrzeug be reits gestartet, ehe sie mehr als einen Meter abgesunken waren. Por ter seufzte, als das Kreischen der Turbine das Fahrzeug wie einen Tiger schnurren ließ. Ein funktionierendes Aggregat war halt eine feine Sache. »Dem Himmel sei Dank für General Motors«, sagte er. Er blickte auf die Höhenanzeige und legte dann den Schalter um, als ein wei terer Plasmabolzen das massive SheVa über ihnen traf. Scheiß drauf. Die Torsionsstangen würden ihren Sturz schon aushalten. Mit 60 km/h und immer noch beschleunigend schoss der immer noch auf und ab hüpfende M-1 Abrams unter seinen größeren Brü dern hervor und jagte auf den Schatten des nächsten Bergzuges zu. Hinter ihm hämmerte immer noch Plasmabeschuss auf die störri schere Panzerung am Hinterdeck des SheVa-Geschützes ein, die Stelle, unter der die noch fast vollen Magazine untergebracht waren.
24 Rabun Gap, Georgia, Sol III 1249 EDT, 26. September 2014
Far-called, our navies melt away, On dune and headland sinks the fire: Lo, all our pomp of yesterday Is one with Nineveh and Tyre! Judge of the Nations, spare usyet, Lest we forget – lest we forget! »Recessional« – Rudyard Kipling, 1897 Fern gefordert schmelzen unsere Flotten: Auf Düne und Festland erlischt das Feuer: Weh, all unser gestriger Pomp ist gleich dem von Niniveh und Tyros! Richter der Völker, verschone uns dennoch, dass wir nicht vergessen – dass wir nicht vergessen! »Schlusschoral«
Als Major Ryan den Abrams aus dem SheVa herausplumpsen sah, ließ er den Feldstecher sinken, drehte sich um, suchte den nächsten Bunker und rannte darauf zu. Während er durch die hintere Tür hineinschoss, stellte er über rascht fest, dass der Bunker außer ihm keine weiteren Insassen hatte. Das Hauptquartier war strukturell nicht stabil; der Haupt-»War Room« befand sich nicht einmal in einem Erdgeschoss. Er überlegte kurz, ob er zum Hauptquartier zurückkehren und dort versuchen sollte, den Befehlshaber davon zu überzeugen, dass man sich viel leicht nicht gerade im ersten Stock eines Gebäudes aufhalten sollte, das einer Kernexplosion ausgesetzt war. Schon einmal hatte er ein SheVa hochgehen sehen; er war in Roa noke gewesen, als SheVa Fünfundzwanzig die Eindämmung verlo ren hatte. Aber in Roanoke hatte sich das SheVa auf einer Bergkup pe befunden, ein gutes Stück abseits vom Gros der Streitkräfte. Nicht praktisch unmittelbar über der tertiären Verteidigungsanlage und genau gegenüber dem Hauptquartier des Korps. Er sah auf die Uhr und überlegte, wie lange es dauern würde. Es war möglich, möglich, dass die Posleen den Angriff abbrachen, ehe die Eindämmung zusammenbrach. Das würden sie sogar tun, wenn sie schlau waren, würden ihren Angriff abbrechen, ehe die Eindäm mung zerbrach. Posleen. Schlau. Niemals. Während er noch auf die Uhr sah und seine Chance abschätzte, einen Spurt zur Fahrbereitschaft zu überleben, bekam er Gesell schaft. Ein weiblicher Specialist. Sie stolperte an der Schwelle und taumelte gegen die hintere Wand. »Na ja«, murmelte sie, setzte sich hin und stand nicht mehr auf. »Gute Show.« Sie sah zu dem Offizier hinüber und schüttelte den Kopf. »Sie sollten vielleicht auch runterkommen, Sir. Ich denke, da geht gleich ein Nuke hoch.«
»Ja«, nickte Ryan und sah erneut auf die Uhr. Er hatte gerade fest gestellt, dass er ganz schwach das »Wisch-Krack!« der Plasmage schosse hören konnte, die das SheVa-Geschütz trafen. Zumindest zwischen den anderen Detonationen des Artilleriefeuers und der schweren Schiffswaffen, die im Begriff waren, den Wall zu zerfet zen. »Aber wir sollten etwa drei Sekunden Zeit haben, uns vornüber zu beugen und unserem Hintern einen Abschiedskuss zu geben, so bald die ›große Blitzbirne‹ losgeht.« Er sah sie mit einem grimmigen Lächeln an. »Sehen Sie nicht ins Licht; das Licht ist nicht Ihr Freund.«
»Wir werden es schaffen«, sagte Edwards und jagte den Abrams mit Höchstgeschwindigkeit das Flussbett des Little Tennessee River hin unter, so dass beiderseits von ihnen die Fontänen aufspritzten. »Ich schätze, diese Panzerung ist stärker, als die gedacht haben.« »Vielleicht«, sagte Major Porter, »wenn …« Edwards sollte nicht mehr erfahren, was der Major sich dachte, weil in diesem Augenblick die ganze Welt weiß wurde. Das Magazin der SheVa-Geschütze war der wohl am massivsten gepanzerte Behälter, den je jemand konstruiert und gebaut hatte. Die Innenschicht bestand einfach aus Stahl, vier Schichten gehärteter Panzerstahl, mit »Superstahl« beschichtet, einer Entwicklung der al lerjüngsten Vergangenheit, welche die Oberflächenhärte von Stahl fast auf das Vierfache steigerte. Darüber kamen zwei Schichten »Waben-Panzerung« aus Wolfram und synthetischem Saphir und wiederum darüber mehrere Schichten ablösbarer explosiver Panze rung, einem Material, das manchmal selbst Plasmageschützen der Posleen widerstanden hatte. Außerdem gab es vier Komponenten, die die Explosion »regeln«, und wenn ein Geschoss detonierte, »ausblasen« sollten. Und dann gab es noch interne Prallflächen, die die Hauptwucht der Explosion von den in unmittelbarer Umgebung gelagerten Geschossen ablen
ken sollten. Man ging davon aus, dass man auf diese Weise die Ex plosion auf höchstenfalls ein oder zwei Geschosse reduzieren konn te. Besser eine kleine Katastrophe als eine große. Die Posleen hatten für sich den Schluss gezogen, dass die Antrieb saggregate der meisten Panzer vorne und hinten angebracht waren. Und da sie Anweisung hatten, den Beschuss so lange aufrechtzuer halten, bis das Geschütz zu feuern aufhörte und brannte, hatten sie über vierhundert Plasmaschüsse auf die Heckpartie abgegeben. Und auch die stärkste Panzerung hatte ihre Grenzen. Das Geschoss, das schließlich durchdrang, musste nur noch eine letzte Hürde nehmen. Aber am Ende durchstieß es relativ mühelos die dünne Schale aus abgereichertem Uran, welche den AntimaterieKern umgab. Die Antimaterie tat daraufhin das, was Antimaterie immer tut, wenn sie mit regulärer Materie in Kontakt kommt. Explo dieren. Spektakulär. Das zufällig getroffene Geschoss entsprach nur zehn Kilotonnen, und die Konstrukteure des SheVa waren sich relativ sicher gewesen, dass der Behälter imstande sein würde, ein einzelnes explodierendes Geschoss einzudämmen. Wenn es sich im äußeren Bereich befand, würde es schlimmstenfalls nach draußen detonieren und damit für Einheiten, die bis zu einer Meile von dem Geschütz entfernt waren, einigermaßen lästig sein. Ziemlich lästig sogar, aber wenn man sich nicht zu nahe oder gar unmittelbar hinter dem Geschütz befand, war es durchaus möglich, dass man überlebte. In diesem Fall allerdings befand sich das Geschoss im inneren Teil des Behälters, wo keine Ablenköffnungen vorhanden waren. Außer dem hatten die Plasmageschosse, die sich in das Innenleben des Ge schützes eingeschlichen hatten, den größten Teil der inneren Schot tenabteile zerfetzt – immer vorausgesetzt, dass diese etwas genützt hätten. Als das Geschoss daher detonierte, löste es alle weiteren im Magazin befindlichen Geschosse aus. Das Geschütz hatte zwei Schüsse abgegeben, und ein Geschoss war abschussbereit. Also konnten nur fünf Geschosse hochgehen.
Aber die zündeten dicht hintereinander, praktisch gleichzeitig. Und das Wesen des Eindämmungsbehälters und die Schäden, die ihm bereits zugefügt worden waren, vereinten sich und erzeugten eine beinahe optimale Explosion. Man konnte den Feuerball selbst noch in Asheville sehen; die Druckwelle breitete sich aus und verschlang das Korps, das sich im Tal zusammengekauert hatte. Verluste durch Kernwaffen sind immer auf drei primäre Quellen zurückzuführen: Überdruck, Hitze und Strahlung. Den Überdruck bezeichnet man im Allgemeinen als die »Schockwelle«, er entspricht etwa den Auswirkungen eines Tornados; wenn der Druck ein Ge bäude trifft, dann bricht es infolge des unterschiedlichen Drucks, der innerhalb und außerhalb seiner Wände herrscht, zusammen. Fenster platzen nach innen, Türen kollabieren, und das Gleiche gilt für Wände und Decken. Die im Zentrum der Explosion entstehen den Winde von Orkanstärke vernichten alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Die zweite größere Verlustquelle sind thermische Effekte. Die in tensive Hitze einer Kern- oder in diesem Fall Antimaterie-Explosion gibt eine gewaltige Menge infraroter Strahlung frei. Jeder Mensch und jeder Posleen in Sichtweite des Feuerballs und ein gutes Stück darüber hinaus zog sich Verbrennungen ersten, zweiten oder sogar dritten Grades zu. Da der Feuerball kurzzeitig von den Magazin wänden eingedämmt wurde, reduzierte dies den thermischen Scha den sogar. Die dritte Kategorie waren Strahlungsverletzungen. Bei Antimate rie-Explosionen entstanden harte Gammastrahlen, die aber nur auf beschränkte Distanz wirken. Ähnlich einer Neutronenbombe erzeu gen Wasserstoff-Antiwasserstoff-Konversionen gewaltige Hitze und »Energie«, aber nur sehr wenig anhaltende Strahlung. Der Gam maimpuls freilich war ganz ungewöhnlich. Und dieser Gammaimpuls wurde Major Porter und seinem Fahrer schließlich mehr als alles andere zum Verhängnis. Sie waren tot, ehe
ihnen das auch nur bewusst wurde, ein Schwall hochenergetischer Partikel schlug über ihren Körpern zusammen und erzeugte massi ve Systemausfälle, als ihre Nervenzellen plötzlich feststellten, dass nichts mehr funktionierte, und die Proteine ihrer Muskulatur sich in nicht funktionsfähige Form verwandelten. Aber das wäre weitge hend belanglos gewesen, da sie sich innerhalb der Null-Komma-sie ben-Bar-Überdruckzone befanden. Die Druckwelle erfasste den zweiundsiebzig Tonnen schweren Panzer wie ein Blatt Papier und wirbelte ihn durch die Luft. Doch Major Porter war nicht das einzige Lebewesen in unmittelba rer Nähe des Geschehens. Der Tenaral von Pacalostal befand sich so gar noch näher bei der Explosion. Und die Explosion zerfetzte die leicht gepanzerten Tenar, löste praktisch alle vierzig in einer Wolke der Vernichtung auf, als sie über die Angreifer und das schwer be drängte Korps hinwegfegte. Die Schockwelle fegte in weniger als einer Sekunde über die terti ären Verteidigungsstellungen und die Kasernen des menschlichen Korps hinweg, zerfetzte Gebäude, ließ Bunker in sich zusammenbre chen und füllte die wenigen neu ausgehobenen Gräben mit Erde. Die Überdruckwelle war noch immer gewaltig, als sie das ehemalige Schulgebäude erfasste und den pittoresken Ziegelbau in weniger als einer Sekunde in sich zusammenbrechen ließ und Ziegel und Holz trümmer des Gebäudes über die Hügelflanke und das Tal dahinter verstreute. Die Fahrbereitschaft des Stützpunkts war ebenfalls noch den Aus wirkungen der Druckwelle ausgesetzt, den weitaus größten Scha den erlitten allerdings die Gebäude, als Mauern und Fenster nach innen gedrückt wurden. Die Fenster der meisten Humvees und Trucks zersplitterten, aber im Großen und Ganzen ließ die Druck welle sie intakt, und die Hügel dazwischen schützten sie vor den schlimmsten Auswirkungen der Explosion. Außerhalb der unmittelbaren Umgebung des SheVa erzeugte die Hitze der Explosion keine Brände, aber die Bäume auf den Hügeln
in der Umgebung wurden wie Streichhölzer abgerissen; die dahinter verloren ihre Blätter. Weiter im Westen fegte die Explosion über die Überreste der Divi sionsartillerie, ließ die verbliebenen Geschütze explodieren und töte te den größten Teil der Artilleristen, die bis dahin noch überlebt hat ten. Freilich erfasste die Explosion auch die meisten der noch übrig gebliebenen Tenaral und riss sie zu Boden. Die menschlichen Verteidiger von Rabun Gap waren praktisch er ledigt. Die Mehrzahl der Streitkräfte sah sich entweder am Wall massiven Angriffen ausgesetzt oder war infolge der SheVa-Detona tion bereits tot. Der Weg nach Norden war frei. Nun ja, beinahe.
Papa O'Neal pfiff vor sich hin, als er zum Haus zurückging. Er hatte fast den ganzen Morgen lang Van Morrisons »Moondance« vor sich hin gepfiffen, und Cally war es allmählich leid. »Du bist heute so schrecklich vergnügt, Grandpa«, sagte sie. Das ständige Artilleriefeuer in der Ferne machte sie nervös; es hatte am Vormittag angefangen und seitdem nicht mehr aufgehört. Nach In tensität und Dauer zu schließen, lief da ein größerer Angriff der Pos leen, auch wenn die Geschütze des Walls sich erst vor kurzem hin zugesellt hatten. »Ich bin einfach gut gelaunt, junge Frau«, antwortete er. »Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte sie und grinste bösartig. »Und was soll das jetzt bedeuten?« Cally legte das Messer weg, mit dem sie Gemüse geschnitten hatte, und wischte sich die Hände ab. Sie griff unter den Tisch, holte eine Videokassette heraus und fuchtelte damit herum. »Du erinnerst dich doch, dass das ganze Haus für Video verdrahtet ist«, sagte sie und hastete zur Tür. »GIB DAS HER!«, brüllte er und rannte hinter ihr her.
»Für dein Alter bist du ja noch ganz schön fit!«, schrie sie und rannte um den Schuppen herum. »KOMM SOFORT HER UND GIB MIR DAS, DU KLEINES MIST STÜCK! WENN DU ZUGESEHEN HAST …« »Wo zum Teufel hast du gelernt, wie man das mit den Füßen in der Luft macht?«, schrie sie zurück. »AAAAH.« Sie blieben beide stehen, als aus der Richtung des Walls ein gewal tiger Knall zu hören war. Der Nachmittag war hell, aber das, was das Geräusch erzeugt hatte, hellte den Himmel zusätzlich auf. »Was war das denn?«, fragte Cally. »Ich weiß nicht«, antwortete Papa O'Neal. »Aber das kommt vom Wall. Ich denke, wir sollten die Farm dicht machen.« Jetzt war aus der Richtung der Artilleriebatterien eine zweite Folge von Explosionen zu hören, und dann deutete ein lautes Dröhnen auf eine Sekundärexplosion. Papa O'Neal erhaschte einen Blick auf et was Glattes, Silbernes, das sich sehr schnell quer über den Eingang zum Tal bewegte. »Was zum Teufel war das denn?« »Keine Ahnung, Grandpa«, sagte Cally nervös. »Aber du hast Recht; wir sollten dicht machen.« Sie warf ihm das Videoband hin. »Für deine Sammlung. Auf dass es bald mehr werden mögen.«
Sie brauchten bloß ein paar Minuten, um ihren ganzen Viehbestand unter Dach zu bringen und die Minenfelder scharf zu schalten; als sie gerade das letzte Tor geschlossen hatten, hellte ein weißer Blitz, heller als die Sonne, den Himmel auf. »Grandpa?«, rief Cally und rannte auf das Haus zu. »RUNTER, RUNTER, RUNTER!«, brüllte O'Neal und warf sich selbst zu Boden.
Als die Schockwelle sie erfasste, war sie kaum wahrnehmbar, aber man konnte spüren, wie sich der Luftdruck veränderte, und die Bäume auf den Hügeln schwankten wie bei einem Sturm. Dann traf sie die Bodenwelle wie ein kleines Erdbeben. »Was zum Teufel läuft da ab?«, rief Cally. Sie lag etwa fünf Meter von der Haustür entfernt auf dem Bauch. »Alles klar!«, rief Papa O'Neal, stand auf und hetzte auf das Haus zu. »Rein mit dir!« »War das das, was ich annehme?«, fragte Cally, als sie die Tür hin ter sich geschlossen hatten. »Das war ein Nuke«, antwortete Papa O'Neal. »Ich denke, es war das SheVa des Korps; Richtung und Größe stimmen etwa, wenn ich mich richtig erinnere.« Cally war Sekundenbruchteile vor ihm im Bunker und fing an, in ihren Kevlar-Panzer zu schlüpfen. »Auf Nukes sind wir nicht einge stellt, Grandpa.« »Ich weiß«, sagte er und schaltete die Minenfelder und die Elektro nik ein, ehe er ebenfalls nach seiner Panzerung griff. »Mich nervt, dass ich nicht weiß, was da draußen läuft.« Er schaltete von einer Kamera auf die nächste, aber die meisten waren tot. »Verdammter EMP.« »Was machen wir jetzt?«, wollte Cally wissen. O'Neal überlegte. Wenn es nur ein Nuke war, genauer gesagt, wenn nur das SheVa hochgegangen war, war es möglicherweise gar nicht so schlimm. Das hing natürlich davon ab, wo sich das Ge schütz befunden hatte, als es in die Luft flog. Aber der Wall sollte davon nicht betroffen sein. Dort wurde immer noch gekämpft; zu mindest hörte man die schweren Geschütze. Natürlich konnten das auch Posleen sein – aber er wollte positiv denken. Im Grunde boten sich ihnen zwei Möglichkeiten: Plan A sah vor, im Bunker zu bleiben und auf alles zu schießen, was ins Tal kam, und abzuwarten, bis die Army die Posleen erledigt hatten. Plan B
besagte: schleunigst abhauen. Da die Farm seit Generationen ihrer Familie gehörte, war das nicht der Plan, dem sie den Vorzug gaben. Ohne zu wissen, wie es um das Korps stand, hatte er keine Ah nung, für welchen Plan er sich entscheiden sollte. Er griff nach dem Telefon, das im Bunker installiert war, aber da war nicht einmal ein Wählton zu hören. Er konnte zur Hügelkuppe hinaufgehen, von wo aus er das Korps sehen konnte, aber das würde bedeuten, dass sie entweder beide gingen oder dass er Cally allein ließ. Und in Anbe tracht einer potenziell nuklearen Umgebung schien ihm das nicht sehr sinnvoll. Schließlich beschloss er, einfach abzuwarten. »Wir bleiben hier«, sagte er und zog eine Militärration aus einem Wandschrank. »Morgen gibt es gegrillten Schinken und Käse.« »Na meinetwegen«, feixte Cally. »Morgen ist schließlich ein ande rer Tag.« Sie musterte ihre Militärration und verzog das Gesicht. »Wollen wir tauschen?«
»Pruitt, machen Sie das Geschütz feuerbereit, bisschen dalli!« Major Robert Mitchell zwängte sich auf den Kommandositz und kippte da bei, so schnell ihm dies möglich war, sämtliche Schalter auf »On«. »Aber, Sir!«, rief der Richtschütze und blickte von seinem Visor auf. »Das ist doch das, wo Bun-Bun sein Gedächtnis verloren hat und von diesen Jungs festgehalten wird, die meinen …« Es gab einen Grund dafür, weshalb SheVa Neun, das jetzt inoffizi ell als »Bun-Bun« bezeichnet wurde, auf der vorderen Panzerung ein zwei Stockwerke hohes Bild von einem riesigen braunweißen, schlappohrigen Hasen hatte, der ein Klappmesser hielt. Es hatte ein paar Stunden gedauert, bis man dem neuen Kommandanten dieses Bild und den Text »Let's Rock, Posleen-Boy!« hatte erklären können. Nachdem er den Comic gelesen und daran Spaß gefunden hatte, hatte der Kommandant sich schließlich widerstrebend mit dem Ge mälde einverstanden erklärt; es gab einige Korps, die so etwas zulie ßen, während andere dagegen waren, und sie würden einfach ab
warten müssen, wie der örtliche Kommandeur zu so etwas stand. Und jetzt hatten sie nicht einmal Zeit, sich beim Korps zu melden, ehe die Fäkalien richtig zu dampfen begannen.
»LOS JETZT, Pruitt!«, brüllte der Major. »Laden! Vierzehn wird an gegriffen! Ich weiß nicht, wo die sind …« »Major!«, rief Warrant Officer Indy und schob den Kopf aus der Reparaturluke. »Bewegen Sie unter keinen Umständen das Ketten fahrwerk!« »Warum nicht?«, fragte der Kommandant. »Schmoo, sind wir heiß?« »Wir kommen jetzt online, Sir«, rief Private Reeves zurück. Der Pri vate war groß und blass, hatte ein teigiges Gesicht und war etwas langsam, daher der Spitzname. Aber er war ein ausgezeichneter SheVa-Fahrer. Aus den Eingeweiden des Panzerfahrzeugs hallte das Klacken einrastender Schaltschutzvorrichtungen. »Ich habe kein Signal!«, rief Pruitt. »Die Sensoren sind offline. Tar nung, schätze ich. Mann! Riesiger EMP-Ausschlag! Das war ja noch schlimmer, als wenn man Bun-Bun sein Baywatch wegnimmt!« »Dann knacken Sie die Tarnung!«, rief Major Mitchell. »Drehen Sie das Lidar eben von Hand.« »Sir!«, fiel ihm der weibliche Warrant besorgt ins Wort. »Das ver suche ich Ihnen doch gerade zu sagen; der Tarnschaum ist noch nicht ausgehärtet. Bis das der Fall ist, ist er … verformbar. Wenn Sie ihn erhitzen, härtet er; und wenn er dabei die Sensoren zudeckt, ist Schluss mit unserem Erfassungssystem. Das ist dann dicht, bis wir ein CONTACT-Team herbekommen. Mit einer Menge Lösungsmit tel. Ich habe sie zur Sicherheit manuell abgeschaltet.« »Oh, Scheiße«, sagte Mitchell. Seine Grafik stammte von einer Nachrichtenstation des Korps weit hinter den Linien. Und die wie derum bekamen noch Informationen von Sensoren von der vorders
ten Front sowie überlebendem Personal, und er konnte sehen, wie die erste Posleen-Welle, unterstützt von Lampreys und K-Deks, in den Pass strömte. »Wir haben hier ernsthafte Probleme. Ich wäre für Vorschläge dankbar, Miss Indy.« »Wir können wahrscheinlich die Ketten bewegen«, antwortete der weibliche Warrant Officer mit verzweifelter Miene. »Wenn sie blo ckieren, sind sie stark genug, um das Plastikzeug aufzubrechen. Das Gleiche gilt für das Drehen des Turms. Aber bis das Zeug ausgehär tet ist, können wir keine Automatik einsetzen. Und es könnte Pro bleme mit dem Rohr geben. Also können wir es nicht vertikal bewe gen.« »Was machen wir dann, Miss Indy?«, fragte Mitchell geduldig. »Wir müssen die nächsten zwanzig Minuten auf Bewegungen der Sensoren oder des Geschützes verzichten«, sagte der Ingenieur. »Wir haben ohnehin ein Kontrollproblem mit dem Geschütz; ich ar beite daran.« »Haben wir wenigstens ein bisschen Lösungsmittel?«, wollte Mit chell wissen. »Ich habe zwei Zwanzig-Liter-Kanister«, erklärte Indy. »Aber dazu müsste man hinausklettern und es auf die Antennen schütten. Und ich glaube nicht, dass ich alles damit wegbekomme; wir müssen entweder warten, bis es aushärtet, oder jemanden finden, der uns mit Benzin überschüttet!« »Pruitt, helfen Sie dem Warrant«, entschied Mitchell. »Aber vorher kommt mir ein Geschoss ins Rohr. Schmoo, bringen Sie uns hier weg, und zwar fix.« »Yes, Sir!«, sagte der Private und schaltete. »Ein mit Schaum be decktes, versautes, waffenloses SheVa verlässt Dodge City.« »Soll ich auf Bun-Bun klettern, während wir fahren?«, fragte der Richtschütze. »Wohl besser nicht«, sagte der Major und schaltete sein Mikrofon auf die Support-Einheiten. »Aber wenn Sie es tun, dann sollten Sie
das als weiteres Abenteuer von Torg und Riff sehen.« Er überlegte kurz und suchte dann die Frequenzen für die Munitionslaster der Vierzehn. Wenn sie das hier überlebten, würden sie mehr als acht Ladungen brauchen. »Aber sie sieht eher aus wie Zoe, Sir«, sagte der Richtschütze ach selzuckend und drückte dabei den Schalter, um die erste Kartusche ins Rohr zu befördern. »Und finde jetzt nur ich es komisch, dass alle Sie ›Miss Indy‹ nennen oder geht das den anderen genauso?« »Pruitt, halten Sie den Mund und helfen Sie dem Warrant.« Er schüttelte den Kopf und blickte erneut auf sein Display. Die Lan ders, denen jetzt niemand mehr Widerstand leistete, machten sich bedächtig daran, die letzten Widerstandsnester im Tal auszuschal ten. »Wie beschissen wird dieser Tag eigentlich noch?«
»Wie beschissen wird dieser Tag eigentlich noch?«, fragte Orostan und betrachtete die pilzförmige Wolke, die über dem Gap aufstieg. »Pacalostal, Bericht!« »Ich glaube nicht, dass Pacalostal je wieder Bericht machen wird, Oolt'ondai«, sagte Cholosta'an. »Ich vermute, dass die meisten Ten aral dahin sind.« »Thrah nah toll!«, fluchte Orostan. »Himmelsdämonen und Feuer. Ich hasse Menschen!« »Oh, so schlimm ist es noch nicht«, meinte Cholosta'an philoso phisch. »Wir haben nur zwei Schiffe verloren, der Wall ist gefallen und die meisten von den menschlichen Soldaten sind weg. Auf die Weise könnte es sogar schneller gehen.« »Die Tenaral sollten auch gegen die Metall-Threshkreen eingesetzt werden«, knurrte Orostan. »Um die kümmern wir uns, wenn es dann nötig wird«, sagte Cho losta'an und schlappte resigniert den Kamm. »Das werden wir allerdings«, meinte Orostan.
»Also gut, alle Schiffe zum Pass vorrücken. Zeit für Phase Zwei.«
25 Rabun Gap, Georgia, Sol III 1309 EDT, 25. September 2014
Major Ryan zog die Finger aus den Ohren und schüttelte den Kopf, als ob er dadurch das Klingeln wegbekommen könnte. »Ich schwör's, irgendwann werde ich doch noch Ohrenstöpsel nehmen«, stöhnte er. »Alles klar bei Ihnen, Major?«, fragte der weibliche Specialist, der sich mit ihm den Bunker teilte. »Was?«, brüllte Ryan und stand auf. Die Soldatin klang, als sprä che sie aus den Tiefen eines Brunnens zu ihm. »Ich habe gefragt, ob bei Ihnen alles klar ist!«, schrie sie und zog sich die Ohrenstöpsel aus den Ohren. »Ich bin ein wenig durchge rüttelt.« »Prima«, schrie Ryan zurück. »Dann wollen wir mal nachsehen, ob noch was übrig geblieben ist.« Ein Stück des Bunkers war zusammengebrochen, aber der Rest schien noch intakt, und die Tür war nur zum Teil blockiert. Als Ryan hinauskrabbelte, bot sich ihm ein Bild der Verwüstung. Das malerische Schulgebäude auf der Hügelkuppe war völlig zu sammengedrückt. Die Ziegel, aus denen die Mauern bestanden hat ten, waren zusammen mit verschiedenen nicht so leicht identifizier baren Stücken über den westlichen Hang verteilt. Ryan sah ein paar Überlebende aus Bunkern kriechen, oder, in einem schier unglaubli chen Fall, sich einfach mitten im Trümmerfeld aufsetzen. Aber wenn
man es praktisch betrachtete, existierte das Hauptquartier des Korps nicht mehr. Was aus den drei Divisionshauptquartieren geworden sein mochte, wusste er nicht, aber das war aus seiner Sicht auch ohne Belang. Praktisch betrachtet hatte das Korps gar keine andere Wahl als die Flucht. Die einzige Frage war nur, was er persönlich in dieser Beziehung unternehmen sollte. Er blickte auf die Soldatin hinunter, die inzwischen aus dem Bun ker gekrochen war und jetzt mit interessiertem Blick auf die Ver wüstung ringsum starrte. »Was ist Ihre Spezialität …« Er blickte auf ihr Namensschild, auf dem »Kitteket« stand und schob die Augenbrauen hoch. »Kitkay? Kitta …?« »Haben Sie ein Problem mit meinem Namen, Major?«, brüllte die Soldatin zurück und grinste. »Ich bin eingeborene Amerikanerin – Indianerin, wie ihr Bleichgesichter sagt. Man spricht den Namen Kit-a-katt aus. Nicht, und das möchte ich eindeutig klarstellen, nicht Kittycat.« »Okay«, nickte Ryan amüsiert. »Was soll's, mein Sergeant in Occo quan hieß Leon …« »Ich bin Stenotypistin, Sir«, erwiderte Kitteket mit lauter Stimme. »Wissen Sie, es muss ja nicht alle Antimaterie in dem Ding hochge gangen sein. Sonst wäre dieser Bunker wie ein Stanniolhäuschen zu sammengebrochen.« »Stenotypistinnen wissen über solche Dinge gewöhnlich nicht Be scheid«, meinte Ryan. Der Zaun, der die Fahrbereitschaft umgab, war von der Schockwelle zerfetzt worden, also ging er um das Tor herum, durch eine Lücke im Geflecht. »Ich habe 'ne Menge Handbücher gelesen.« »Ach so. Wahrscheinlich haben Sie deshalb zugesehen, in den Bunker zu kommen, als die anfingen, das SheVa zu bepflastern.«
»Darauf können Sie wetten«, antwortete sie und grinste. »Ich habe mitgeholfen, diese Dinger zu bauen, also konnte ich ja schließlich nicht zulassen, dass sie nicht genutzt werden!« »Also, wir sollten jedenfalls zusehen, dass wir hier wegkommen«, meinte Ryan und ging den Hügel hinunter. »Wo gehen Sie … wo gehen wir hin?«, fragte sie. »Und sollten wir nicht … ich weiß nicht, die Verteidiger organisieren oder so etwas?« »Nee«, machte Ryan. »In etwa fünf Minuten wird den meisten Support-Einheiten klar sein, dass die Posleen kommen, und dann wird nichts sie aufhalten. Und wenn es so weit ist, werden die alle davonrennen. Und das wiederum bedeutet, dass dann alle Straßen verstopft sind.« Er zog die Tür des ersten einigermaßen intakt aussehenden Hum vee auf und versuchte ihn zu starten. Nachdem er einen Sicherungs schalter umgelegt hatte, sprang der Motor an. »Wir fahren jetzt zum nächsten Munitionsdepot«, erklärte er. »Und unterwegs nehmen wir noch etwa vier Leute mit. Und dann sehen wir zu, dass wir in die Berge kommen.« »Ganz, wie ich es mir gedacht habe«, sagte sie und stieg auf der anderen Seite ein. »Abhauen.« »Nee«, grinste er. »Berge, wo die Straßen steiler werden. Weil wir uns nämlich aus dem Depot allen Sprengstoff mitnehmen werden, den dieses Ding hier fasst …«
Mueller verließ sein Quartier und sah ins Tal hinunter, als das Echo der Weltraumgeschütze die Bergflanken hinaufhallte. Von seinem Standort aus konnte er das SheVa-Geschütz nicht sehen, wohl aber die Spur der »silbernen Kugel«. Dennoch war ziemlich offenkundig, dass da eine größere Angriffsoperation im Gange war, und er rieb sich einen Augenblick lang das Kinn und überlegte, was sie unter nehmen konnten. Bei massiven Angriffen waren die Kundschafter
trupps zu nicht viel zu gebrauchen. Aber diese Posleen verhielten sich ohnehin schon anders, als man von ihnen erwartete, indem sie die Landers dazu benutzten, den Wall anzugreifen. Er stand einen Augenblick lang nachdenklich da, während weitere Unteroffiziersdienstgrade aus der Kaserne kamen, bis er dann die fliegenden Tanks der Posleen am Himmel entdeckte. »AID«, sagte er und hielt sein Handgelenk so, dass das Gerät sie beobachten konnte. »Siehst du die?« Das Gros der Gruppe war nach rechts abgeschwenkt und griff ver mutlich die Artillerie an. Aber da war auch eine Gruppe, die in einer weit auseinander gezogenen Kette an der Bergflanke entlangflog und offenbar etwas an der Ostseite des Tals angriff. »Ja, Sergeant Mueller. Das Ziel jener Waffen ist SheVa Vierzehn. In Anbetracht ihrer Bewaffnung und der Zahl der Durchflüge ist es wahrscheinlich, dass sie das Eindämmungssystem des SheVa durch dringen werden.« »Karte des vorderen Bereichs des Korps«, sagte er und sah dabei auf das Hologramm. »Darstellung möglicher Zerstörungszone bei Vernichtung des SheVa.« Was dabei herauskam, sah nicht gut aus; falls … wenn SheVa Vier zehn hochging, war das das Ende des Korps. »Oh Scheiße«, murmelte er. »Verbindung mit Sergeant Major Mo sovich … und sorge dafür, dass General Horner das erfährt.«
Horner sah auf sein eigenes Hologramm und schüttelte den Kopf. Das Hauptquartier im Osten hatte ihn angerufen und ihn über die Lage am Pass informiert, und er musste zugeben, dass es ziemlich schlimm aussah. Eine der Maximen kam ihm in den Sinn, die ganz besonders gut auf einen Augenblick wie diesen passte; einer der wirklich tüchtigen britischen Generäle im Zweiten Weltkrieg hatte sie geprägt, und sie lautete sinngemäß, dass es nie ganz so gut oder
ganz so schlecht um die Dinge steht, wie die ersten Berichte das an deuten. Und aus dieser Sicht war das, was gerade im Gap geschehen war, einfach nur eine Katastrophe und nicht etwa gleich das Ende des Krieges. Außerdem stellte er fest, dass die Landkarte, selbst wenn ein AID eingeschaltet war, nie die Wirklichkeit war. Und deshalb war es nie verkehrt, sich zusätzlich bei einem Beobachter am Schauplatz des Geschehens zu informieren. »AID, wo steckt Schlamassel?«
Sergeant
Major
Mosovich
in
diesem
»Sergeant Major Mosovich befindet sich etwa vier Meilen westlich der Junggesellenquartiere für die Unteroffiziersdienstgrade des Korps.« »Bitte eine Verbindung mit ihm.«
Mosovich zog sich den Riemen seines Rucksacks zurecht, als das Team den höchsten Punkt des Kamms erreichte. Von dort aus konn te man deutlich den Fahrzeugstrom sehen, der auf ein Korps in wil der Flucht deutete. Nicht, dass er es ihnen verübelt hätte; die Deto nation des SheVa war schon schlimm genug, aber darüber hinaus konnte er sehen, wie die hinterste Gruppe von Landers über das Haupttal des Gap hinwegschwärmte; ohne ein einsatzfähiges She Va-Geschütz war jeder Widerstand gegen sie zwecklos. »Sergeant Major«, tönte sein AID. »General Horner für Sie.« »Durchstellen«, seufzte Mosovich. »Tag, Sir.« »Wie ich feststelle, sagen Sie nicht ›guten Tag‹, Sergeant.« Das AID projizierte ein Hologramm des Offiziers im fernen Hauptquartier, der sein übliches eingefrorenes verkniffenes Lächeln zeigte. »Sagen Sie mir, was da läuft.« »Wilde Flucht, Sir«, erklärte Mosovich. »Wir sind in die Hügel un terwegs und wollen später von oben einen Blick auf sie werfen,
während sie an uns vorbeiströmen, oder, wenn es weiter so läuft, wie ich mir das vorstelle, versuchen, nach Westen abzuhauen. Das AID sagt, dass an die Hunderttausend die Stunde durchkommen, und das deckt sich etwa mit meiner groben Schätzung von denen, die ich hier sehe. Und dann haben wir fliegende Tanks gesehen; die AIDs haben bereits welche aufgenommen. Und dass das Korps sich wieder sammelt, kann ich mir kaum vorstellen, Sir. Ein Stück nörd lich von hier ist eine SubUrb; ich fürchte, die wird in nächster Zeit auf sich selbst gestellt sein, Sir. Ehrlich gesagt, Sir, gefällt mir das al les überhaupt nicht.« »Mir auch nicht, Sergeant Major«, erwiderte Horner. »Normaler weise würde dieses Korps irgendwo zum Stillstand kommen, aber in diesem Gelände …« Er zuckte die Achseln. »Dazu kommt noch, dass die Posleen, wie es scheint, zur Unterstützung dieses Angriffs in breiter Front überall an der Ostküste sämtliche Pässe, Lücken und Straßen bedrängen. Es gibt sogar einen kleinen Vorstoß ins Shenan doahtal, zwischen Roanoke und Front Royal. Und im Lauf der Zeit rechne ich noch mit weiteren Vorstößen. So betrachtet würde es mich überhaupt nicht wundern, wenn wir mehr als eine SubUrb ver lieren würden; bis jetzt haben uns die noch nie so unter Druck ge setzt.« »Das ist … nicht gut«, sagte Mosovich bedächtig. »Unter anderem haben wir im Shenandoah eine ganze Menge Industrie, nicht wahr?« »Nein, das ist nicht gut«, pflichtete Horner ihm bei. »In dem Be reich, wo die jetzt sind, stehen drei SheVas; bedauerlicherweise sind die aber alle noch im Bau und keines davon einsatzfähig; wir müs sen also davon ausgehen, dass wir sie halbfertig verlieren, und das bedeutet vier Monate Produktionszeit im Eimer. Handeln Sie nach eigenem Ermessen, Sergeant Major. Wenn wir Sie irgendwann brau chen, rufe ich an.« »Darf ich fragen, was Sie vorhaben, Sir?«, fragte der Sergeant Ma jor kleinlaut. »In diesem Bereich hier, meine ich.«
»Ich werde wahrscheinlich versuchen, das Loch zu stopfen«, sagte Horner. »Das Kommando Ost schickt Einheiten, um die Straßen, die aus dem Bereich herausführen, dichtzumachen; östlich von Knoxville ist eine Division, die nach vorne geschoben wird. Aber realistisch betrachtet ist das Gap wie die Unterseite eines Trichters; sobald man den Pass einmal hinter sich gelassen hat, führen Straßen nach allen Richtungen. Und die alle gegen so viel Druck der Posleen abzudichten, wird schwierig sein; da ist es besser, das Loch wieder abzudichten und sich von Fall zu Fall mit den Landers auseinander zu setzen.« »Das Loch abzudichten wird … schwierig sein, Sir«, sagte Moso vich und schüttelte den Kopf. »Jede Einheit dort würde von vier Sei ten gleichzeitig angegriffen; drunten in Georgia sind wahrscheinlich noch über fünf Millionen Posleen, die versuchen, nach Norden her aufzukommen, und eine weitere Million dahinter, und dann all die Landers … da würde praktisch jeder verpuffen wie Spucke auf einer heißen Herdplatte. Mit allem gebotenen Respekt, Sir.« »Sie haben Recht, Sergeant Major«, sagte Horner, und sein Lächeln wurde noch verkniffener. »Praktisch jeder würde das.«
26 Garnison Newry, Pennsylvania, Sol III 1405 EDI, 26. September 2014
Shall we only threaten and be angry for an hour? When the storm is ended shall we find how softly but swiftly they have sidled back to power by the favor and contrivance of their kind? »Mesopotamia« – Rudyard Kipling, 1917 Sollen wir nur eine Stunde lang drohen und zürnen? Wenn der Sturm vorüber ist, finden wir dann, wie leise, doch wie schnell sie wieder an die Macht kamen durch Gunst und Gemauschel von ihresgleichen? »Mesopotamien«
Mike klickte die nächste E-Mail an, sie kam von Michelle, seiner jün geren Tochter, und die Nachricht baute sich in seinem Hologramm auf. Michelle war zusammen mit über vier Millionen weiterer Ange höriger von Fleet-Soldaten aus einer Vielzahl von Ländern off-planet evakuiert worden. Als Grund dafür hatte man angegeben, den An gehörigen der Flotte solle damit die Sorge um die Sicherheit ihrer
Kinder genommen werden. Da pro »Familie« nur ein Kind ange nommen wurde, herrschte jedoch Klarheit darüber, dass damit Erb masse gesichert werden sollte, falls die Erde unterging. Immer wenn Mike von besonders zynischen Gefühlen heimgesucht wurde, fragte er sich, ob diese Kinder zugleich auch Geiseln waren, um das Wohl verhalten der Flotte sicherzustellen. Praktisch jeder Flottenangehöri ge hatte wenigstens ein Kind, das von Indowy großgezogen wurde; für die Darhel würde es also ein Leichtes sein – wenn notwendig –, »Unfälle« zu arrangieren. Michelle schickte ihm einmal pro Woche einen Brief, ob er ihn nun brauchte oder nicht. Im letzten Jahr waren diese Briefe … immer kühler geworden. Nicht, dass sie verärgert gewesen wäre oder böse auf ihn, nur … es war einfach, als ob jedes Gefühl aus den Briefen herausgewaschen worden wäre. Das fing an, ihn so zu stören, dass er schon überlegte, ob er es erwähnen sollte, aber er war schließlich zu dem Schluss gelangt, dass er ja schließlich auf eine Distanz von vierundachtzig Lichtjahren ohnehin nicht viel würde ausrichten können. Michelle war im Gegensatz zu ihrer blonden Schwester brünett und, um es noch schlimmer zu machen, hatte allem Anschein nach die Nase ihres Vaters geerbt. Abgesehen von der Nase freilich ent wickelte sie sich allmählich zu einem geradezu verblüffenden Eben bild von Sharon O'Neal, auch was die Stimme anging. Manchmal hatte Mike Mühe, nicht zu vergessen, dass er mit seiner Tochter zu tun hatte; Sharon hatte gelegentlich auch so kühl und distanziert ge sprochen, wenn es schlecht um die Dinge stand. »Guten Tag, Vater«, begann sie und nickte ihm dabei zu. »Diese Woche sind vier Dinge interessant …« Sie trug jetzt überwiegend Indowy-Mode, und das erinnerte ihn stark an eine Mao-Jacke. Wenn man sie so sah und ihre monotone Stimme hörte, war es, als würde man einem schlecht konstruierten Roboter zuhören; sie hätte das Ganze auch schriftlich übermitteln und auf die Weise vielleicht noch mehr Gefühl vermitteln können.
Die Indowy waren eine auf geradezu aggressive Art selbstlose Ras se, die das Ideal der Unterordnung des Individuums unter die Ge samtheit zu einer Art Religion erhoben hatte. Wahrscheinlich war es diesem Einfluss zuzuschreiben, dass sie so distanziert, so … fremd artig wirkte. Jetzt wurde ihm bewusst, dass er überhaupt nicht gehört hatte, was sie sagte, und er ließ den Bericht noch einmal ablaufen. Anmer kungen zu alten Nachrichten von der Erde, ein Bericht über die letz te Schlacht um Irmansul – sein AID hatte ihm einen Lagebericht, der besser als der ihre war, geliefert –, eine Diskussion über eine Beför derung (von einer Art, die ihm nichts sagte) eines Indowy, den er auch im Augenblick nirgendwo unterbringen konnte. Gelegentlich kam ihm in den Sinn, dass er eigentlich als Indowy-Ehrenlord, eher sogar Herzog oder Erzherzog, wirklich mehr Interesse an der In dowy-Gesellschaft an den Tag legen sollte. Andererseits schien sich sein ganzes Denken zurzeit einzig und allein darauf zu konzentrie ren, wie man effektiver Posleen töten konnte. Ihm wurde bewusst, dass er wieder nicht aufgepasst hatte und dass da etwas Wichtiges gewesen war, das ihm entgangen zu sein schien; einen Augenblick lang hatte sie geradezu lebhaft gewirkt, ah …
»Der vierte und letzte Punkt, den dieses Individuum berichten muss, ist die Aufnahme in die Sohon-Ausbildung der zweiten Stufe. Sohon ist, wie dir bekannt sein dürfte, eine Indowy-Disziplin der technischen Metaphysik. Du bist natürlich für Anzuganpassung ausgebildet, eine spezialisierte Form von Sohon Stufe Zwei. Soweit freilich festgestellt werden kann, ist dieses Individuum der erste Mensch, der für unbe grenztes Sohon Stufe Zwei freigegeben wurde. Es wird angenommen, dass schließlich Sohon der Stufe Vier oder sogar Fünf erreicht werden kann. Es ist zu hoffen, dass dem O'Neal-Clan durch diese und künftige
Leistungen positiver Ruf zuwachsen wird. Das sind die vier interessan ten Punkte dieser Woche. Ich sehe deiner Antwort entgegen.« Michelle O'Neal
Mike ließ diesen Teil der Aufzeichnung noch zweimal ablaufen und schüttelte den Kopf. Er hatte zwar eine allgemeine Vorstellung da von, wovon sie redete, aber mit den Einzelheiten konnte er nichts anfangen. Eines der Probleme, die GalTech ganz im Allgemeinen mit sich brachte, war, dass jeder einzelne Gegenstand, vom AID bis hin zum kompletten Raumschiff, von Indowy-Technikern individu ell, also sozusagen in Maßanfertigung, hergestellt werden musste. Menschen, selbst in dieser Technik ein wenig bewanderte Menschen wie O'Neal, bezeichneten das im Allgemeinen als »Beten«, aber das traf das Geschehen nicht ganz korrekt. Da die Indowy buchstäblich seit Jahrtausenden mit Mikro-Manufaktur auf atomarer Ebene be fasst waren, setzten sie dabei Schwärme von Nanniten ein, die die Produkte in großen Tanks Atom für Atom aufbauten. Das versetzte sie in die Lage, Materialien herzustellen, die in krassem Wider spruch zu vielen »bekannten Tatsachen« der Materialwissenschaft standen. Dieser Prozess entzog sich allerdings jeder Steuerung durch auch noch so fortschrittliche Computer. Am besten ließen sich die Nanni ten durch eine Art direktes neurales Interface steuern. Ein IndowyIndividuum oder noch häufiger ganze Gruppen von Indowy setzten sich an den Tank und … manipulierten die Nanniten. Das war kein direkter Denkprozess; es lief vielmehr darauf hinaus, dass den Nan niten allgemeine Richtlinien vorgegeben wurden und sie dann … das Gehirn des Individuums als eine Art Teleprozessor nutzten. Wenn es um eine Anzuganpassung ging, dann erforderte dies meist, dass man sich ganz ruhig verhielt, irgendwie meditierte und sich dabei darauf konzentrierte, dass der Anzug sich der Person »anpass
te«, für die er bestimmt war; das Übrige besorgten die Nanniten und die »Anzugpersönlichkeit«. Das Problem mit den meisten Formen von Stufe Zwei und höher lag, so, wie er das begriff, darin, dass die Person oder das Team ein perfektes Bild des herzustellenden Gegenstandes haben musste, bis hinab zum Verständnis der Molekularanordnung aller einzelnen Komponenten. Ein Anzug beispielsweise erforderte einen sechs Mo nate dauernden Herstellungsprozess, an dem eine Stufe Sechs betei ligt war, ein Großmeister des Sohon, und Dutzende Indowy niedri gerer Stufen, die alle in einer Art Metakonzert über ein perfektes Bild meditierten, ein Bild bis hinab zum letzten Atom. So verwun derte es nicht, dass ein Anzug fast so viel wie eine Fregatte kostete. Mike musste zugeben, dass der Gedanke, ein Mensch könne Sohon der Klasse Zwei erreichen, ganz besonders eine Elfjährige, selbst wenn es sich um eine Art Wunderkind wie seine Tochter handelte, doch recht verblüffend war. Er überlegte, wie er eine passende Antwort formulieren sollte. Wenn er sich zu positiv äußerte, zu gefühlsbetont, würde sie das vielleicht als eine Art Tadel an ihrer eigenen Distanziertheit empfin den. Wenn er andererseits zu hölzern formulierte, war leicht mög lich, dass das dieselbe Reaktion auslöste. Schließlich gab er es auf und ließ sich ganz von seinem Gefühl leiten.
Liebe Michelle, wirklich großartig, von deinen Fortschritten zu hören. Ich muss sagen, dein Erfolg ist wirklich eine große Ehre für die Familie, und du kannst sehr stolz daraufsein, so, wie auch ich sehr stolz bin. Ich hoffe, ich werde dir eines Tages persönlich gratulieren können, und freue mich auf den Tag, wo wir alle wieder als Familie beisammen sein können. Dein dich liebender Vater Dad
Er schickte seine Antworten immer als Text, tippte sie mit einem al ten Textverarbeitungsprogramm und überließ es dem AID, sie ent sprechend umzuformatieren und über das Militärnetz weiterzulei ten. Ein Lasertransmitter würde sie entsprechend zuordnen und zu einem Tiefraumsatelliten abstrahlen. Von dort würde die Mitteilung zur Titan-Basis weitergeleitet werden und dann in einer Kommuni kationsboje im Jupitersystem warten, bis ein Schiff das System ver ließ. Jedes Schiff beförderte Post in das System und nach draußen, lieferte sie bei anderen Bojen ab, bis sie schließlich innerhalb von sechs bis zehn Wochen und damit schneller als nahezu jedes Über tragungsmittel, mit Ausnahme schnellster Militärkuriere, Michelles Planeten, Daswan, erreichte. In Anbetracht der Tatsache, dass ein Transportschiff für die Reise über ein Jahr brauchen würde, war das gar nicht so übel. Mike sah die Mitteilung an und runzelte die Stirn. Da sollte mehr sein, er sollte eigentlich von seinem Bataillon erzählen und was sie geleistet hatten. Aber er wusste, dass Michelle sich inzwischen sehr wenig für das blinde Schlachten interessierte, das auf der Erde herrschte; anscheinend verspürte sie nicht einmal den Wunsch zu rückzukehren. Er war im Begriff, seine Tochter zu verlieren, hatte sie wahrscheinlich bereits verloren und wusste nicht, was er dage gen unternehmen sollte oder auch nur, wie er etwas dagegen hätte unternehmen können. Man hatte sie bei den Indowy abgeladen, sie war von den Indowy aufgezogen worden und jetzt im Begriff, eine Indowy zu werden. Und er wusste einfach nicht, was er dagegen tun sollte. Schließlich gab er es auf und klickte auf SENDEN. Die nächste Nachricht war von Cally, und auch sie entsprach ge nau dem, was er erwartete. Callys Mitteilungen waren bei weitem nicht so häufig wie die von Michelle, und die beiden Schwestern entwickelten sich ganz offenkundig in … unterschiedliche Richtun
gen. Cally hatte auch keinen Zugang zu GalTech und schickte des halb eine ganz gewöhnliche Textnachricht.
Hey Daddyo, diese Woche hatten wir Besuch, ein paar Ladies aus der nahen SubUrb und ein paar Schlangenfresserkumpel von Baldy. Sie hatten ein paar Kinder mit, und die waren echt seltsam. Sie waren noch nie im Freien gewesen, hatten noch nie auf etwas geschossen und haben ständig durchgedreht, ich meine, du brauchst bloß Posties zu erwähnen und dieflippen aus wie Spastis. Sonst nicht viel Neues. Baldy hat auf dem Berg einen Wilden geschos sen, aber das ist keine große Nachricht. Ich meine, ich hab einen Hirsch geschossen und Baldy einen Wilden, wow! Oh, Baldy hat erwähnt, dass eine von den Ladies, die uns besucht hat, mit ihm gepennt hat. Vielleicht. Warten wir's ab, die Tussi ist nicht übel, und ich denke, es wird ihm gar nichts schaden, wenn er gelegent lich ein bisschen bumst; vielleicht lockert ihn das ein wenig. Aber war ten wir's ab. Oh, eines noch, MANN! Super, wie ihr in Rochester Gäu le gekillt habt! Wir O'Neals verstehen uns eben auf so was, oder? :-) Lass dir's gut gehen und nicht vergessen: HVM ist in! Cally
Mike seufzte, klickte auf ANTWORT und wusste nicht mehr weiter. Eigentlich war ihm die Art ja lieber als der Robotertext, aber Cally zu antworten brachte seine eigenen Probleme mit sich. Sollte er dar auf hinweisen, dass es vielleicht nicht ganz passend war, ihren Großvater als »Baldy« zu bezeichnen? Und dass es eine Dreizehn jährige eigentlich nichts anging, ob ihr Großvater oft genug bumste? Übrigens würde sie das wohl auch mit vierzig nichts angehen.
Und was dieses Thema betraf – ob sie sexuell aktiv war? Also, Dad würde ihn das wahrscheinlich wissen lassen, aber wenn es der Fall war, konnte Mike dagegen nicht viel unternehmen. Was konnte er denn schon machen? Sich den Typen vorknöpfen und ein Gespräch Mann zu Mann mit ihm führen kam ja wohl nicht in Frage; schließ lich war er fünfhundert Meilen entfernt. Und dann diese blutrünstige Art, die sie sich zugelegt hatte. An Tommy Sunday hatte er das auch festgestellt. Diese Generation, die hier im Krieg aufwuchs, war eine Generation, die förmlich in Blut getaucht war; sie waren auf eine Weise desensibilisiert, die ihm un gesund vorkam. Vielleicht war das eine ganz logische Reaktion auf die Zustände, aber eine Generation, die … sich so wenig für den Wert des Lebens interessierte – das schien für Menschen ebenso wie für Posleen zu gelten –, würde nach dem Krieg keine positive, wachsende, funkti onsfähige Gesellschaft aufbauen können. Da war ein ganz fundamentaler Funke, ein Hauch von Optimis mus, der denen offenbar völlig fehlte. Vielleicht hatte Homer Recht, vielleicht war er einfach für diese Welt nicht kalt und nicht hart ge nug. Ihm war weiß Gott oft genug danach, einfach die ganze Last hinzuschmeißen, einfach zu sagen: »Holt euch einen anderen«. Aber es gab ja in Wirklichkeit keinen anderen. Keinen, der das Bataillon führen oder auch nur den Funken weitergeben konnte; seine Gene ration war eine der Letzten, die im »Goldenen Zeitalter« herange wachsen waren. Wenn sie das Ziel nicht im Auge behielten, das Ziel, die Welt wieder zu gewinnen, nicht nur in dem Maße, dass sie über leben konnte, sondern all die Schönheit, die Kunst und die Wissen schaft neu zu gewinnen, dann würde niemand das tun. Die Mensch heit würde auf das Niveau absinken, das die Darhel für sie festleg ten. Und die Einzigen, die dem Einhalt gebieten konnten, waren die se wilden Kinder des Krieges. Diese Kinder, die ebenso viel Bezie hung zu den Grundwerten positiven menschlichen Wachstums und den Menschenrechten hatten wie …
Nun ja, offen gestanden, es gab wahrscheinlich nichts, zu dem sie weniger Beziehung hatten. Zum Kotzen war das.
Liebe Cally: Rochester war … schwierig. Wir hatten Erfolg, aber das Bataillon hat mehr Verluste erlitten, als mir gefiel. Persönlich und auch beruflich bin ich froh, dass wir die Front bis Cayuga zurückdrängen konnten, aber unter Berücksichtigung aller Umstände wäre mir lieber gewesen, wenn das nicht notwendig gewesen wäre. Es freut mich zu hören, dass du Besuch hattest, ganz besonders weibli che Besucher. Ich weiß, wie schwer es sein muss, nur in Gesellschaft deines Großvaters heranzuwachsen. Ich hoffe, du wirst lernen kön nen, …
Er hielt inne und löschte den letzten, nicht zu Ende geschriebenen Satz. Wenn er jetzt einen Begriff wie »damenhaft« brachte, dann setzte das voraus, dass die Ladies das waren und dass Cally das sein wollte. Und es setzte voraus, dass »damenhaft« ein nützliches Ver haltensmuster war – wobei es sich denn doch um eine ganz ent scheidende Unterstellung handelte. Wenn man ihm die Wahl zwi schen einem zurückhaltenden, damenhaften Wesen und einem klei nen Kriegskind gab, würde er in Anbetracht der Umstände jederzeit dem Kriegskind den Vorzug geben. Sollte doch die Welt und die Zukunft zum Teufel gehen, solange nur seine Tochter überlebte.
… nur in der Gesellschaft deines Großvaters heranzuwachsen. Übrigens will ich doch hoffen, dass du ihn nicht mit »Baldy« an sprichst. Wenn du das tust, dann muss ich zu euch kommen und dir be
weisen, dass ich dir immer noch den Hintern versohlen kann. Und ehe du jetzt sagst, »Und welche Armee hilft dir dabei?«, sollte ich vielleicht darauf hinweisen, dass ich dich garantiert immer noch in etwa drei Se kunden ohne Panzer auf den Rücken lege, und falls du dich dazu ent scheiden solltest, mich wie der Sergeant Major der Division zu behan deln, habe ich immer noch meinen Panzer. :->= Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass ich nach dem Krieg ins Zivilleben zurückkehren möchte. Auf die Weise kann ich in den paar Jahren, die noch bleiben, bis du aus dem Nest fliehst, »um dich rum« sein. Darauf freue ich mich, und auch, dass Michelle dann wieder zu Hause sein wird. Ich denke oft an dich und hob dich sehr lieb. Dein Dad. Der nicht anfängt, eine Glatze zu bekommen.
Die letzte Mail war von seinem Vater. Mike: Rochester sah aus wie ein Albtraum. Ich bin froh, dass du das überlebt hast. Und auch froh, dass du das warst und nicht ich. Letzte Woche hat ten wir Besuch. Jake Mosovich, den hab ich in Nam gekannt, er hat n paar Traun von der Franklen Urb mitgebracht. Und ein paar Kinder, und sein Kumpel Mueller. Das sin beides Schlangenfresser beim Korps, aber bei der Flotte. Hatten großen Spaß, und ich will eine von den Fraun, Shari heißt se, fragen, ob se hier einziehen will. Ich glaub, für Cally warn se gut, sie hat schon seit Tagen nicht mehr durchgedreht und ich mag sie. Kinder hat sie und die zien auch ein. Und Cally hat dann Kinder um sich rum. Ihr geht's gut, und ich glaub, sie is einver standen. Deine letzte Mail hab ich gekriegt. Du bis wohl ziemlich fertig. Hoffentlich kannst du ausruhen. Dir würd jetzt Urlaub in Hongkong gut tun, und Chinesenweiber bumsen. Aber ich denke, die Posleen ha ben dort alle Nutten aufgefressen. Vielleicht solltest du mal eine von
den Korps-Nutten ausprobieren. Wenn du denen deine Orden zeigst, machen dies vielleicht sogar umsonst. Dein letztes Paket gekriegt, habs beiseite gelegt. Tut gut, wenn man in diesen schlechten Zeiten ein wenig Unterstützung kriegt. Und wenn du irgendwas brauchs, dann weiß du, wo du's kriegen kanns. Pass gut auf dich auf und duck dich, wenn die auf dich schießen. Dad
Wie üblich musste er die Epistel seines Vaters zweimal lesen, um sie interpretieren zu können. Sein Dad war weder ungebildet noch un intelligent, aber als Michael O'Neal senior in Rabun County aufge wachsen war, besuchten bloß Weichlinge die achte Klasse. Mikes Vater war in der sechsten Klasse von der Schule abgegangen, um auf den Feldern zu arbeiten, und das hatte er getan, bis er siebzehn geworden war und sich zur Army absetzen konnte. Und im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen hatte Papa O' Neal sich nie darum bemüht, seine Orthographie zu verbessern. Er war ziemlich belesen, hatte eine Menge Werke über Militärgeschich te verschlungen, aber all das Lesen schien nie großen Einfluss auf seinen schriftlichen Wortschatz oder seine Grammatikkenntnisse ge habt zu haben. Aber Major O'Neal hatte daran nichts auszusetzen. In mancher Hinsicht war sein Vater so ziemlich der Einzige, zu dem er ganz of fen sein konnte, selbst wenn seine Ratschläge manchmal etwas zu bereitwillig gegeben wurden und auch nicht immer besonders subtil waren. Er war gerade dabei, eine Antwort etwa des Inhalts zu entwerfen, dass sie tatsächlich ein wenig ausruhen konnten und dass er jetzt schon von zwei Leuten den Rat bekommen hatte, sich jemanden zum Bumsen zu suchen, er diesem Rat bisher aber noch nicht nach gekommen war, als sein AID den Bildschirm freiwischte und ein Hologramm aufbaute.
»Prioritätsmitteilung von General Horner.« So viel zum Thema Erholungsurlaub. Mike sah Homers Bild an und seufzte. »Wo?« Horner klappte den Mund auf, als wollte er zuerst ein wenig heru malbern, aber dann sah er so aus, als ob jemand plötzlich die Luft aus ihm herausgelassen hätte. »Rabun Gap. Es ist … hinüber, Mike.« Major O'Neal schob das Kinn vor und tippte sein AID an. »Dar stellung, Shelly.« Als er die Karte der Rabun-Lücke sah, waren dort alle Zonen rings um den Pass rot, auch die O'Neal-Farm. Mike sah die Darstellung einen Augenblick lang ungläubig an und stützte dann das Gesicht auf die Hände. »Hat das Korps fünf Minuten standgehalten?« »Ich weiß nicht, wie gut sie sich unter normalen Umständen gehal ten hätten«, antwortete Horner, »aber diese Posleen verhalten sich ganz und gar nicht wie Posleen. Sie haben eine Art gepanzerte flie gende Tanks, die das vorgeschobene SheVa-Geschütz erledigt ha ben. Anscheinend war es zu dicht beim Gros des Korps geparkt und hat deshalb die zweite und dritte Verteidigungslinie mitgenommen, als es hochging. Um alles noch schlimmer zu machen, benutzen die Gäule ihre Lander für mobile Luftoperationen; sie haben K-Deks eingesetzt, um den Wall zu erledigen, ihn buchstäblich platt zu drücken, und jetzt sieht es so aus, als würden sie sich auf einen wei teren Vorstoß einrichten. Und dann sind sie vorgerückt und haben allem Anschein nach die Straße wieder hergerichtet. Ich bin beein druckt. Und ich habe Angst. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass die Posleen Kampfpioniere haben. Was kommt jetzt als Nächstes? Artil lerie?« »Shelly, ist diese Information solide?«, fragte Mike mit heiserer Stimme. »Baue Bild neu auf«, sagte Shelly. »Rot sind Augenzeugenberichte oder Video oder Posleen-Sendungen, blaue Schattierung gibt maxi male Schätzung für Ausdehnung.«
Nach dieser Modifizierung war die O'Neal-Farm nur hellviolett; es war also möglich, dass Cally und Papa O'Neal noch am Leben wa ren. »Shelly, versuche jemanden in der Farm zu erreichen und halte die Ohren offen, ob du etwas über sie erfährst«, sagte Mike. »Also, was soll ich tun?« »Die Lücke muss abgedichtet werden …«, sagte Homer. »Ist doch Blödsinn!«, rief Mike verärgert. Nach all den Jahren des Kämpfens brauchte er nicht einmal eine Sekunde, um den geplanten Einsatz beurteilen zu können. Und das war ein Einsatz, den keiner überleben konnte. »Das ist doch ein Witz, oder?« »Nein, das ist kein Witz«, erwiderte Horner kühl. »Wir haben noch Banshees, nicht genug, um ein volles Bataillon damit einzufliegen, aber …« »Aber wir sind kein volles Bataillon«, knurrte Mike. »Verdammt noch mal, Jack, es mag ja sein, dass alle mich für Leonidas halten, aber das heißt noch lange nicht, dass ich so wie er sterben will! Und die verdammten Spartaner sind gestorben, weil man sie eingekreist hat; wir wären bereits zu Beginn der Schlacht eingekreist. Und wie in drei Teufels Namen sollen wir uns denn Zugang zur Lücke verschaf fen? Wie, frage ich. Da stehen vierzehn oder fünfzehn Millionen Posleen und warten bloß darauf, dass wir durchziehen? Wo zum Teufel sollen wir denn landen!« »Das Gap muss geschlossen werden«, erklärte Horner ungerührt. »Und zwar zweiundsiebzig Stunden lang.« »Das ist doch einfach unglaublich«, sagte Mike. »Hören Sie denn, was Sie da sagen? Ich habe dreihundertzwanzig einsatzfähige Leute! Wir könnten nicht genug Munition für drei Tage mitnehmen! Und Sie bringen uns unmöglich in drei Tagen dort rein! Nicht mitten durch die Posleen!« »Ich verlege die Zehntausend, und die werden von der besten Ar tillerie unterstützt, die ich finden kann«, sagte Horner. »Sie werden Position beziehen und warten, dass die Posleen zu ihnen kommen
und sie dann mit Artillerie bepflastern. Wenn Sie mit Ihren Leuten auf dem Pass sind, kommen die Posleen nicht mehr durch; die Zehntausend brauchen sich dann bloß um die zu kümmern, die schon durch sind.« »Und die in jedem der vielen Lander«, gab Mike zu bedenken. »An die haben Sie doch gedacht? Die fliegen mobile Einsätze, das haben Sie selbst gesagt.« »SheVa-Geschütze«, sagte Horner. »Eines steht noch im Tal; es hat ein paar technische Probleme, aber das kriegen wir hin. Ich bin nur darauf angewiesen, dass die Lücke gestopft wird. Und das werden Sie für mich übernehmen.« »Einen Dreck werden wir«, sagte Mike. »Niemand kann das. Ich würde dazu eine ganze Brigade GKA brauchen, und die haben wir nicht, zusätzlich ständige Shuttle-Versorgung mit Munition und Energie.« »Hören Sie, Major, jede Minute, die wir jetzt streiten, gehen sech zehn- oder siebzehnhundert Posleen durch die Lücke. Ich schicke die Banshees zu Ihnen. Setzen Sie Ihr Bataillon in Bewegung.« »Hören Sie, General, waschen Sie sich gefälligst die Ohren!«, brüll te Mike. »Wir-Werden-Nicht-Gehen. Die Shuttles schaffen es nicht bis auf den Bodenl Wir würden eine kalte Landezone brauchen! Und Ersatzshuttles für die Versorgung! Und wir würden etwa vier Stun den aushalten! Wir gehen nicht! Ende!« »Verdammt noch mal, Mike!«, brüllte Horner zurück. »Ich werde nicht die ganze Ostküste verlieren, weil Sie Ihr beschissenes Batail lon nicht verlieren wollen! Sie werden die Lücke einnehmen und hal ten bis zum letzten Mann, oder, so wahr mir Gott helfe, ich stelle Sie vor ein Kriegsgericht und lasse Sie erschießen, und wenn das das Letzte ist, was ich tue.« »Sie können mich mal, Jack! Das hätten Sie sich überlegen sollen, ehe Sie zugelassen haben, dass Bernard an der Rabun-Lücke das Kommando bekommt! Sie haben mich in diesen Schlamassel hinein geritten! Sie haben mich in diesen beschissenen Plastahl-Sarg ge
steckt, in dem ich jetzt seit neun Jahren stecke, Sie haben mir meine Familie weggenommen, meine Fraul Und das Einzige, was ich noch HABE, ist dieses beschissene Bataillon, und ich werde nicht zulas sen, dass Sie das jetzt auch noch in die Pfanne hauen, Sie verdamm ter DRECKSACK!« Die Tür flog fast aus den Angeln, als Gunny Pappas hereinkam. »Sir, was zum Teufel ist hier los? Die hören Sie in der hintersten Ka serne.« »GUNNY, RAUS HIER!«, brüllte O'Neal. Er packte den schweren hölzernen Schreibtisch, stemmte ihn hoch und schmetterte ihn ge gen das Fenster hinter sich. Als er da nicht durchpasste, stieß er einen wilden Schrei aus und schmetterte ihn ein paar Mal hinterein ander gegen die Wand, bis das Loch groß genug war. Dann flog der Schreibtisch krachend nach draußen. Das war ein Wutanfall von Orkanstärke und fast von der gleichen Zerstörungsgewalt. Zwischen O'Neals blinder Wut auf die Realität und der Welt gab es keine Grenze; hätte er jetzt einen Knopf drehen und damit das Universum abschalten können, hätte er das getan. Und weil er das nicht konnte, ließ er seine Wut an seinem Büro und dem Gebäude aus, in dem er sich befand. Binnen weniger Sekunden waren die paar Erinnerungsstücke an den Wänden dem Schreibtisch gefolgt. Er warf alles, was sich in dem Raum befand, durch das Loch und vergrößerte es dann, indem er anfing, auf die Wände einzu schlagen. Das Hauptquartier war ein einfacher Bretterbau; die Innenwände waren aus Rigips, die Außenwand bestand aus Pressspan mit einer Vinylschicht darüber. Und obwohl Michael O'Neal nur einen Meter sechzig groß war, konnte er hundertachtzig Kilo stemmen, und jeder seiner Fausthiebe durchschlug alle drei Schichten, als wären sie Papier; keiner der Stützbalken hielt mehr als zwei Schläge aus. Seine Knöchel bluteten bereits, aber das bemerkte er ebenso wenig, wie er bemerkte, dass die Decke anfing einzusacken; der Schmerz fühlte sich in diesem
Universum der Wut gut an. Und das Schlimmste daran war, abgese hen davon, dass er seinen Vater und seine Töchter und sein Leben verlieren würde, dass er wusste, dass am Ende das Bataillon doch ausrücken würde. Das Einzige, was neben seiner Wut in seinem Kopf wohnte, war dieser bösartige Mistkerl ganz hinten, dieser klei ne denkende Mistkerl, der bereits dabei war, den Einsatz zu planen, während sich noch jede andere Faser seines Wesens dagegen auf lehnte, auf so eindeutig dämliche Art Selbstmord zu begehen. Schließlich war die Wut verraucht und alle Gefühle verflogen. Da war einfach kein Gefühl mehr. Sein Büro hatte jetzt eine neue Tür, eine, die groß genug war, dass ein Wagen durchfahren konnte, und draußen hatte sich ein Kreis interessierter und besorgter Zuschauer versammelt. Er ignorierte sie und stieg über die Überreste seines Wutanfalls zu der Stelle, wo das AID immer noch ein in der Luft schwebendes Bild von Homer zeigte. »Nukes«, schnarrte O'Neal. »Wir werden gehen. Aber nur, wenn dieser ganze Bereich vorher in Schutt und Asche gelegt wird. Ich werde meinen Stab einen Plan ausarbeiten lassen, und danach wer den Sie die Nukes einsetzen. Wenn die Präsidentin sich weigert, dann sagen Sie ihr, dass das ein Befehl eines Offiziers von Fleet ist und sie gemäß Bündnisvertrag verpflichtet ist, militärische Befehle von Offizieren der Fleet zu befolgen. Sie werden unseren Feuerplan befolgen und sich für nuklearen Support bereithalten. Wir bereiten uns jetzt auf den Einsatz vor und werden an Bord der Banshees ge hen. Wir werden nach Süden fliegen. Wenn wir die Nukes nicht be kommen, können Sie sich auf den Kopf stellen und mich am Arsch lecken, aber die Rabun-Lücke kriegt uns nicht zu sehen. Und wenn ich an irgendeinem Punkt während des Einsatzes den Eindruck habe, dass wir nicht genügend unterstützt werden, dann trete ich nach eigenem Ermessen den Rückzug an. Rufen Sie mich an, sobald die Nukes freigegeben sind, und zwar nur dann, und ich kann Ihnen nur raten, sich eine komplette Freigabe zu besorgen. Shelly, Verbin dung beenden.« »Yes, Sir«, sagte sie und löschte damit Homers Bild aus.
»Shelly, ich will mit diesem Mistkerl nie wieder direkt sprechen«, schnarrte Mike. »Wenn er die Freigabe für die Nukes schickt, sagst du mir Bescheid.« Er sah die Gruppe an, die sich versammelt hatte. Die meisten stammten aus der Bravo-Kompanie – offenbar hatte Pappas die Wahrheit gesagt, dass man ihn in der Kaserne hatte hören können –, der Rest waren Offiziere und Unteroffiziersdienstgrade des Batail lons. »Okay, Boys«, schnarrte er und sah die Gruppe an. »Gehen wir und lassen wir uns umbringen.«
Seit zuletzt etwas vom Wall zu hören gewesen war, musste beinahe eine halbe Stunde verstrichen sein. Im Tal waren Geräusche zu hö ren, aber das war das Geräusch von Tausenden von Füßen und gele gentlich das Krachen einer Railgun oder das Zischen einer Plasma kanone, das der schwache Wind die Berge herauftrug. »Verdammt«, flüsterte Cally, als die ersten Posleen an der Einker bung auftauchten. »Ich glaube nicht, dass es noch ein Korps gibt, Grandpa.« »Yeah«, nickte O'Neal. »Aber das ist nicht das Schlimmste«, fuhr er fort und deutete auf die Tenaral, die über den Ostrand der Senke heraufschwebten. »Das da ist schlimmer.« Cally sah durch die Schießscharte nach Westen und tippte ihn am Arm an. »Nein, das ist noch schlimmer.« Papa O'Neal zuckte zusammen, als er den Schatten sah, der jetzt über die Farm heraufzog; der Lamprey zog in etwa zwölfhundert Meter Höhe westlich über die Lücke. Während er hinsah, stach ein silberner Strahl ins Tal, und aus der Richtung, in der er die Artille riebatterien wusste, war eine Sekundärexplosion zu hören. »Wird das auf uns schießen, wenn wir auf sie feuern?«, fragte Cally nervös, als die erste Mine hochging. »Das gefällt mir gar nicht.«
»Mir auch nicht«, nickte Papa O'Neal. »Okay, Plan B ist in Kraft.« »Rennen, was die Beine hergeben?«, fragte Cally. »Yeah«, nickte er. »Zumindest bis zum Bergwerksschacht; der ist auch gegen ein Nuke sicher; dort tauchen wir eine Weile unter, bis die erste Welle vorbei ist, dann gehen wir in die Wälder.« »Dann los«, sagte Cally, drehte sich um und drückte gegen das Sperrholz im hinteren Teil des Bunkers. Die dünne Wand gab etwas nach, sprang dann zurück und gab eine schwere Stahltür frei, die in die Hügelflanke eingelassen war. Sie schloss auf und trat durch die Tür. »Du kommst doch?« »Ja, gleich«, sagte Papa O'Neal, »lass die Tür offen, ich muss noch die Minen auf den Timer schalten. Und schalte die Selbstzerstörung scharf; der Teufel soll mich holen, wenn diese Dreckskerle mein Haus kriegen.« »Bitte beeil dich«, sagte Cally nervös. »Ich hab keine Lust, allein in den Hügeln herumzukrabbeln.« »Bin gleich da«, murmelte Papa O'Neal. »Lauf schon los.«
27 In der Nähe von Dillard, Georgia, Sol III 1427 EDT, 26. September 2014
If drunk with sight of power, we loose Wild tongues that have not Thee in awe, Such boastings as the Gentiles use, Or lesser breeds without the Law – Lord God of Hosts, be with usyet, Lest we forget – lest we forget! »Recessional« – Rudyard Kipling, 1897 Wenn wir, trunken angesichts der Macht, wüste Reden schwingen, die Dich nicht ehren, solche Prahlerei, wie die Heiden sie pflegen oder Minderwertige außerhalb des Gesetzes – Herr Gott der Heerscharen, sei dennoch mit uns, dass wir nicht vergessen – dass wir nicht vergessen! »Schlusschoral«
Major Mitchell sah den weiblichen Warrant Officer fragend an, als sie durch die Luke gekrochen kam. »Können wir schon mit Schießen anfangen?«, fragte er. Der Major war runderneuert und hatte vor langer Zeit als blutjun ger Offizier in seiner Ausbildung dafür trainiert, in der Fulda-Lücke die Sowjets aufzuhalten. Nach dem ersten Schock über diesen An griff war er zu dem Schluss gelangt, dass diese Situation hier sich nur wenig von dem unterschied, was er damals gelernt hatte. Die »Tanks« waren größer, und die eine Seite flog, aber wenn man es ge nau betrachtete, war das zahlenmäßige Ungleichgewicht etwa das selbe; sie hatten es mit etwa vierzig Landern zu tun und waren selbst alleine. Perfekt. Die Technik, die in einer solchen Situation einzusetzen war, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen: schießen und abhauen. Beim Boxen nannte man es »stick and move«; einen gut gezielten Schlag ab setzen und wegtänzeln und damit sicherstellen, dass der Gegner keinen Schlag landen konnte. Natürlich war es in einem Krieg gut, wenn man Freunde um sich hatte, und deshalb nannte die Army diese Taktik auch »schießen, weiterziehen und kommunizieren«. Und Major Mitchell war, solange er sich erinnern konnte, dafür aus gebildet worden oder hatte andere in dieser Taktik ausgebildet. Er beherrschte den Job, er beherrschte den Uppercut und verstand sich auf die dazugehörige Beinarbeit. Es würde also ganz einfach sein. Rrrichtig. Die einzig gute Nachricht war, dass sie die letzten paar Monate ständig trainiert hatten, und zwar so hart es ging. Das Team war be reits zusammengestellt worden, ehe das SheVa fertig gestellt war, und hatte in Fort Knox an Simulatoren und starren Systemen zu ar beiten begonnen und sich bemüht, das richtige Gefühl für den Um gang mit der neuen Waffe im Kampfeinsatz zu bekommen. Der ur sprüngliche Angriff hatte ihn – hatte sie alle – völlig überrascht. Aber jetzt erinnerte er sich daran, dass ihm jemand einmal gesagt hatte, dass Überraschung nur ein Zustand im Bewusstsein eines
Kommandeurs war. Man brauchte diesen Zustand bloß beiseite zu schieben und einfach die Karten auszuspielen, die man in der Hand hatte. Und aus dieser Erkenntnis heraus fand er, dass die Zeit gekom men war, das zu tun, wofür man ihn fast sein ganzes Leben lang ausgebildet hatte. Ein eigenartiger Moment, dachte er, und wusste nicht recht, ob er lachen oder weinen sollte. »Yes, Sir«, sagte Indy, ließ sich in ihren Sitz gleiten und schnallte sich an. »Ich habe die Sperre gelöst; das Lidar sollte sich also drehen und die Geschütze sich bewegen können.« »Ich hasse dieses mechanische Monstrum«, schimpfte Pruitt, der durch die Luke hereinkam und sie hinter sich sicherte. »Wir brau chen mehr technische Kapazität.« »Technik?« »Go«, erklärte Indy. »Alles im grünen Bereich.« »Fahrer?« »Klar«, bestätigte Reeves. »Es kann losgehen.« »Kanonier?« »Klar«, sagte Pruitt, rutschte ebenfalls in seinen Sitz und klickte die Gurte ein. »Bun-Bun ist im grünen Bereich und jederzeit bereit, es den Posleen zu zeigen.« Mitchell ließ seine Schultern kreisen und schnippte seinen Kom mandantenbildschirm an. »Tarnung absprengen, und dann wollen wir mal sehen, wie's hier aussieht.«
»Tulo'stenaloor, diese Verteidigungszone ist ausgeschaltet, und die Menschen befinden sich auf der Flucht«, sagte Orostan. »Die Versor gungskompanien sind nachgerückt und sammeln jetzt alles, was an Thresh und Waffen vom Pass geborgen werden kann.«
Letzteres war auch eine Innovation. Gewöhnlich ließen einzelne Kessentai ihre Streitkräfte auf dem Vormarsch einsammeln, was sie konnten. Tulo'stenaloor hatte dem ein Ende gemacht. Ganz gleich, mit welcher Effizienz das eine Einheit auch machte, es hatte meist zur Folge, dass es den Vormarsch verlangsamte. Einheiten, die durch die Lücke zogen, mussten in gleichmäßigem Tempo vor rücken und durften nicht anhalten, um Beute zu machen. Deshalb hatte er von Cosslain und Kenstain geleitete Spezialeinheiten dazu abgeordnet, das Schlachtfeld zu säubern. »Der Vormarsch durch den Pass läuft gut. Wir werden zu unseren Sekundärzielen vorrücken.« »Einverstanden«, bestätigte Tulo'stenaloor. »Es ist sehr gut gelau fen.« »Dass wir die meisten Tenaral und zwei Schiffe verloren haben, ist doch ganz sicher nicht ›sehr gut‹«, wandte Orostan ein. Tulo'stenaloor schlappte belustigt mit dem Kamm. »Ich vergesse das immer wieder; du hast bisher noch nicht gegen Menschen ge kämpft. Das hier war einfach; du solltest dich vor dem fürchten, was im Tal auf uns wartet. Die Metall-Threshkreen werden bald hier sein, da bin ich ganz sicher. Und andere Menschen werden alles Mögliche tun, um dich zu quälen, während du vorrückst. Achte nicht darauf; konzentriere dich auf deinen Einsatz und lasse dich von Widerstand nicht aufhalten.« »Ich werde es bedenken«, sagte Orostan und bedeutete seinem Verbindungsmann, dass er den Befehl zum Vorrücken ins Tal wei tergeben solle. »Dennoch werden wir siegen.« »Oh, ja«, pflichtete Tulo'stenaloor ihm bei. »Das werden wir. Nichts kann uns jetzt aufhalten.«
»Ich habe sechs Lander erfasst, Sir«, rief Pruitt. »Fünf Lampreys, einen K-Dek. Ich weiß nicht, wo die übrigen sind.« Dies würde sein
erster »Kriegsschuss« sein. Er hatte an dem starren Simulator in Ro anoke geschossen, wo das ganze östliche Virginia Zielgebiet war. Aber man hatte ihm gesagt, dass es in den SheVas und mit scharfer Munition anders sein würde; die mobilen Geschütze waren trotz ih rer riesigen Größe viel mehr dem Feuerschock ausgesetzt. »Wahrscheinlich auf dem Boden«, sagte Major Mitchell, tippte an seinen Bildschirm und markierte die entsprechende Einheit. »Den hier und den«, sagte er und tippte sie an, so dass sie in der Darstel lung die Farbe wechselten. »Und dann verduften wir hier schleu nigst.« »Yes, Sir«, sagte Pruitt und richtete das Geschütz auf einen K-Dek, der fast genau über der Stelle stand, wo früher einmal Mountain City gewesen war. Er war nervös, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Sie waren dabei, sich zu einer gigantischen Zielscheibe zu machen, und der Abgang von SheVa Vierzehn war viel zu spektakulär gewe sen, um noch glauben zu können, sie wären unverwundbar. Und um am Leben zu bleiben, würden sie diese verdammten Schiffe tref fen müssen, die da herumschwirrten – keine leichte Aufgabe. Und dann war dies sein erster Kriegsschuss. Deshalb spürte er, während er etwa eine halbe Sekunde wartete, bis der K-Dek grün wurde, wie seine Handflächen feucht und sein Mund trocken wurden. Aber er tat das, wozu er ausgebildet war, und würde denen klarmachen, dass jetzt Bun-Bun hier eingetroffen war. »ZIEL!« »Bestätigt!« »FEUER!«, brüllte der Kanonier und drückte ab. Und das hatte zur Folge, dass sie sich alle fühlten, als befänden sie sich im Inneren ei ner riesigen Glocke, auf die gerade ein Riese mit einem Hammer eingeschlagen hatte. Die Kommandozentrale war natürlich hervor ragend schallisoliert, aber die Folge eines Abschusses war nicht so. sehr »Geräusch«, sondern eher eine gewaltige Präsenz, die sie am ganzen Körper erfasste, das massive Gebilde des SheVa erzittern und alle Oberflächen vibrieren ließ. Er hatte noch nie ein so über wältigendes, beängstigendes und zugleich belebendes Gefühl emp
funden; so als würde er wirklich Shiva, den Gott der Vernichtung, lenken. »Ziel!«, rief Major Mitchell, als der Lander mitten in der Luft an hielt und wie ein Stein herunterfiel. In ein paar Jahren, wenn es ab gekühlt war, würde dieses Ding ein hübsches Denkmal abgeben. Er schob sein Fadenkreuz auf den Lamprey, der über dem westlichen Teil stand. »Zweites Ziel!« »ZIEL!« »Erfasst!« »FEUER!«
Cally duckte sich in den Tunnel und rannte los. Der Tunnel war hin ter dem O'Neal-Haus aus dem Herzen des Berges herausgesprengt. Als der erste Michael O'Neal sich in dieser Gegend niedergelassen hatte, war er ein ganz gewöhnlicher Glücksjäger gewesen, den der Goldrausch gelockt hatte. Er hatte schnell zwei Dinge für sich ent schieden; zum einen, dass er mehr Geld verdienen konnte, wenn er den anderen Bergleuten Selbstgebrannten verkaufte, als wenn er selbst vor Ort arbeitete, und zum andern, dass es immer gut war, ein Schlupfloch zu haben, um, wenn es darauf ankam, den Leuten von der Steuerbehörde zu entwischen. Spätere Generationen hatten sich zu Herzen genommen, was der erste Michael O'Neal gelernt hatte, und deshalb war das Schlupfloch von Zeit zu Zeit ausgeweitet, verbessert und neu mit Vorräten be stückt worden. Der Tunnel führte zu einem Bergwerksschacht, der die Mitte des Komplexes darstellte. Ein weiterer Tunnel führte zum Haus zurück, mündete dort im Kellergeschoss, und dann gab es noch drei weitere Tunnels, die zu verschiedenen Ausgängen führ ten; als Papa O'Neal sich darüber beklagt hatte, kein Schlupfloch zu haben, hatte er aus Erfahrung gesprochen.
Während des Kalten Krieges war der Bergwerksschacht umgebaut worden und stellte seitdem einen echten Atombombenschutz dar, wobei massiver Stahl an die Stelle der ursprünglichen hölzernen Stützen getreten war. Der Schacht würde selbst einem atomaren Treffer widerstehen, sofern der nicht näher als eine halbe Meile auf traf, und war im Laufe der Jahre immer wieder nach Bedarf neu mit Vorräten versehen worden. Zurzeit war er so ausgestattet, dass man darin drei Jahre lang fast ohne Verbindung zur Außenwelt überle ben konnte. Cally öffnete die innere Tür zum Schacht und sah sich um. »Beeil dich, Gramps!«, schrie sie. »Bin schon fertig«, rief er. »Ich komme …« Und die ganze Welt wurde weiß.
»VERDAMMTE SCHEISSE!«, brüllte Pruitt, als alle Bildschirme schwarz wurden und gleich wieder aufflackerten. »Was war das denn?« Über dem westlichen Tal der Lücke stand eine pilzförmige Wolke, und überall waren Brände ausgebrochen. Die Zone der Vernichtung war größer als die von der Explosion des SheVa, und nirgends wa ren Lander zu sehen. »Katastrophentreffer!«, sagte Major Mitchell. »Klasse! Bringen Sie uns hier schleunigst raus, Schmoo!« »Was in drei Teufels Namen war das, Sir?«, fragte Pruitt, als die Schockwelle über sie hinwegging. »Das muss ja ein mächtiges Ding gewesen sein!« »Die Posleen-Schiffe haben Antimaterie als Energiequelle«, sagte Indy. »Du hast wahrscheinlich ihr Treibstoffmagazin erwischt. Ich habe Schemadarstellungen davon gesehen; die sind schwer zu tref fen und noch schwerer aufzubrechen. Gratuliere. Aber der EMP hat
uns ein paar Systeme gekostet. Nichts Größeres; unser Zeug ist weit gehend gehärtet, und so schlimm war der EMP eigentlich gar nicht.« »Noch ein paar von der Sorte, dann brauchen wir uns keine Ge danken mehr über irgendwelche Lander zu machen«, sagte Pruitt und strich liebkosend über seine Schalttafel. »Braves Bun-Bun, braves Häschen. FRESST ANTIMATERIE, POSLEEN BOYS!«
Orostans Kamm richtete sich zu seiner ganzen Höhe auf, und er schrie, als die Schockwelle seinen K-Dek erfasste. »WO IST DAS DENN HERGEKOMMEN?« »Da müssen zwei gewesen sein«, meinte Cholosta'an, und sein Kamm schlappte resigniert. »Ich bin froh, dass wir gelandet waren.« »ESSZWOOO!«, brüllte der Oolt'ondai wütend. »Da war kein Bericht, Oolt'ondai«, knurrte der Kessentai. »Nichts. Es muss gerade in Stellung gegangen sein! Ich weiß nicht, weshalb es so lange mit dem Schießen gewartet hat. Ein Glück, dass wir nicht alle in der Luft waren.« »Nun, jetzt werden wir alle aufsteigen«, schnaubte Orostan. »Alle Schiffe Start! Findet dieses verdammte Geschütz und zerstört es! Bleibt ganz unten, soweit ihr nicht über Bergkämme wegmüsst, sucht schnell danach und geht dann wieder runter. Alle Tenaral, nach vorn! Findet es, zerstört es, wenn ihr könnt, lokalisiert es und schießt es zumindest bewegungsunfähig. Los!«
»An alle Stationen in diesem Netz, hier SheVa Neun«, rief Major Mitchell. Er benutzte eine Frequenz, die zur Bekämpfung von Lan dern eingesetzten Einheiten vorbehalten war. Die Wahrscheinlich keit, dass jemand ihn hörte, war recht gering, aber falls es doch in der unmittelbaren Umgebung noch ein SheVa geben sollte, würde er
die Hilfe gut gebrauchen können. »Alle Einheiten. Hier SheVa Neun.« Seit dem Verlust von SheVa Vierzehn existierten natürlich nur noch vierzig weitere SheVas, und Mitchell war sich ziemlich sicher, dass das nächste in Asheville stationiert war, aber das war immer hin besser, als Fingernägel zu kauen. »SheVa Neun, hier Whiskey Drei-Fünf«, meldete sich eine weibli che Stimme. »Bitte kommen.« »Wir ziehen uns in das Little Tennessee Valley zurück«, sagte Mit chell, während das Geschütz gerade Hickory Knoll umrundete. Ab schussposition Zwei befand sich auf dieser Bodenerhebung, aber für sie war es jetzt wichtig, diesen Hügel zwischen sich und die Lam preys und K-Deks zu bekommen, die ohne Zweifel bereits ihre Ver folgung aufgenommen hatten. Nicht, dass er sich um die Lander be sondere Sorgen gemacht hätte. »Wir befinden uns im Gefecht mit schätzungsweise vierzig Lander beider Typen. SheVa Vierzehn ist von einer Art fliegenden Tanks angegriffen und zerstört worden. Ich habe nichts an Bord, was ich denen entgegensetzen könnte; wir könnten also ein wenig Feuerschutz gebrauchen, falls jemand etwas anzubieten hat. Mit welcher Einheit spreche ich denn?« »Äh, SheVa Neun, bitte warten, Ende«, erwiderte die Stimme. Er scrollte durch die Codes auf seinem Bildschirm, aber da war keine Flak-Einheit unter der Bezeichnung Whiskey Drei-Fünf. Da praktisch gesehen nur SheVa-Geschütze imstande waren, die Lan der anzugreifen, blieben da nicht viele Flak-Einheiten übrig; der Großteil des Flak-Personals war in die regulären Streitkräfte über nommen worden. »SheVa Neun, hier Whiskey Drei-Fünf«, meldete sich jetzt eine an dere, selbstbewusster klingende weibliche Stimme. »Wir sind eine MetalStorm-Einheit von Kommando Ost, Ende. Wir haben Anwei sung, vorzurücken und die Posleen-Verbände unter direkten Be schuss zu nehmen. Erbitte Lagebericht und Koordinaten, Ende.«
»Befinden uns auf UTM17 379318Ost 3956630Nord. Unsere Lage ist, dass wir uns mit geschätzten vierzig Landern jeder Form und Beschreibung im Gefecht befinden. Damit kommen wir klar, aber es gibt da irgendwelche neuen fliegenden Tanks, die recht lästig sind. Ich denke, eine Einheit ›Heulende Wölfe‹ wäre jetzt genau das, was der Arzt mir verschreiben würde, Ende.« »Roger, SheVa Neun«, sagte die andere Stimme. »Ich melde die Si tuation an Kommando Ost; wenn die keine Einwände haben, ändern wir unseren Einsatz auf SheVa-Unterstützung. Tun Sie mir bitte einen Gefallen.« »Und der wäre?« »Fliegen Sie mir bloß nicht in die Luft, ja?«
»Mrs. President, die Frage lautet hier nicht, ob Sie die Kernwaffen freigeben werden«, sagte Horner ruhig. Mit seiner äußerlichen Ruhe täuschte er freilich niemanden; er lächelte wie ein Tiger. »Die Frage ist nur, wann Sie sie freigeben werden. Wie Major O'Neal erklärt hat, haben Sie es mit einer korrekten Anforderung eines Offiziers von Fleet zu tun; Sie sind vertraglich gebunden, diese Forderung zu er füllen.« »Darüber ließe sich diskutieren, General«, wandte die Nationale Sicherheitsberaterin ein. Sie befand sich am selben Standort wie die Präsidentin, aber an der Konferenz nahmen per Videoschaltung au ßerdem noch vier weitere Personen teil, und es war anzunehmen, dass sie alle etwas würden sagen wollen, ob es nun sachdienlich war oder nicht. »Wir sind verpflichtet, jede militärische Anforderung zu erfüllen, für die uns die Mittel zur Verfügung stehen; aber bei der Freigabe von Kernwaffen handelt es sich traditionell um eine politi sche, nicht etwa eine militärische Anforderung. Demzufolge ist dies nicht notwendigerweise für uns bindend.« »Und ich muss die Zweckmäßigkeit in Frage stellen«, sagte der High Commander. Der ehemalige Kommandeur der Fifth Army war
befördert worden und hatte General Taylor ersetzt; er spürte nach wie vor die Grenzen seiner Autorität. Der Kommandeur der Konti nentalarmee war ohne Zweifel sein Untergebener; andererseits war man allgemein der Ansicht, dass man Homer deshalb nicht zum High Commander befördert hatte, weil niemand es wagte, ihn als CONARD abzulösen. Die Fifth Army andererseits hatte genau ge nommen aufgehört zu existieren, und deshalb hing ihr ehemaliger Kommandeur praktisch in der Luft. »Major O'Neal verlangt eine kalte Landungszone. Schön, sollen sie doch außerhalb des Posleen-Bereichs landen und sie vom Black Rock Mountain herunter angreifen. Ich meine, so sollte doch ein An griff aus der Luft laufen; man landet schließlich um Himmels willen nicht mitten auf dem Ziel!« »Und außerdem müssen wir auch die allgemeinen Auswirkungen in Betracht ziehen, Mrs. President«, schaltete sich die Mediendirek torin ein. »Im ganzen Land wird um Wählerdistrikte gekämpft; da wäre es wahrscheinlich keine sonderlich gute Idee, den Anschein von Panik zu erwecken. Wenn der Eindruck entsteht, dass Sie im Südosten Anhänger verlieren, und das wird es, wenn Sie Atomwaf fen freigeben, werden die Leute zur Opposition umschwenken … und außerdem stecken die in den Bergen; da sollten doch konventio nelle Streitkräfte mit ihnen klarkommen.« »Richtig«, knurrte Horner. »Das war's dann. Zunächst einmal war das keine Bitte, das war ein Befehl. Und zwar ein gültiger. Sie kön nen jetzt daran herumstochern, solange Sie wollen, aber ich garan tiere Ihnen, dass dieser Befehl den Buchstaben des Vertrages erfüllt, und die Darhel werden Ihnen den Boden unter den Füßen wegzie hen, wenn Sie versuchen, das irgendwie anders auszulegen. Immer vorausgesetzt, dass es von uns dann noch jemanden gibt, der das mit den Darhel diskutiert, denn wenn wir diesen Vorstoß nicht schleunigst zum Stehen bringen, sind wir alle PFERDEFUTTER. Außerdem hat Major O'Neal absolut Recht. Es ist unmöglich, die Lücke zu nehmen, ohne vorher die Posleen zu vertreiben. Und das
geht ausschließlich mit ICBM-Feuer aus dem oberen Mittleren Wes ten. Es freut mich wirklich sehr, dass Ihre Mediendirektorin mit ihrem juristischen Diplom von Stanford eine so gute Militärexpertin ist! Vielleicht kann sie mir sagen, wie ich die Posleen aufhalten soll, die unter Einsatz gepanzerter fliegender Einheiten operieren und pro Stunde hunderttausend Kämpfer durch die Lücke strömen lassen? Mir steht eine, ich wiederhole, EINE Division zur Verfügung, um sie im Schach zu halten, und diese Division wird mehrere Ausgänge aus der Kampfzone abdecken müssen. Außerdem sieht es augen blicklich so aus, als hätten die Gäule vor, an der Front entlang zu operieren und hin und her zu schwenken und Pässe zu öffnen. Ich habe keine Einheiten, sieht man von ganz gewöhnlichen Milizen ab, um sie daran zu hindern! Es ist nicht nur Georgia, das Probleme hat; wir haben über fünfzigtausend Posleen im Shenandoah-Tal, die auf drei halb fertig gestellten SheVas hocken. Vielleicht könnte die junge Dame mir sagen, was ich dagegen unternehmen soll? Wenn sie das nicht kann, schlage ich vor, dass sie VERDAMMT NOCH MAL DIE KLAPPE HÄLT. Hier handelt es sich nicht um eine politische Krise, das hier ist ein ALBTRAUM! Und je eher Sie alle begreifen, dass es hier nicht darum geht, vielleicht eine Stadt oder eine Division zu verlieren, sondern VIELLEICHT DEN KRIEG ZU VERLIEREN, umso schneller können wir zur Sache kommen. Es gibt Situationen, in denen ein Nuke die richtige Waffe ist. Und damit müssen Sie klarkommen, Madame President. Wir müssen Nukes einsetzen, es geht nicht darum, ob wir das wollen, nein, wir müssen es. Wir hätten sie bei Rochester einsetzen sollen und beim zweiten Roanoke; das hätte unsere Verluste wesentlich reduziert. Dass Sie sie nicht eingesetzt haben, hat vermutlich dazu geführt, dass ich eine zusätzliche Division verloren habe. Aber jetzt müssen wir sie einsetzen; die einzige Wahl, die wir haben, ist das zu tun oder zu sterben. Sie können sich's aussuchen. Diese … diese politische Zimperlichkeit muss aufhören, und zwar sofort! Uns steht noch ein Bataillon GKA zur Verfügung, und das ist
die einzige Einheit, die diesen Einsatz leisten kann, und die werden binnen einer Sekunde verdampft sein, wenn sie nicht ein großes Loch haben, in das sie sich fallen lassen können. Und das bedeutet den Einsatz von Nukes. Ich habe nicht vor, diese GKA einfach zu ver plempern. Wir werden beim ersten Angriff Nukes einsetzen und werden nuklearen Support auf Abruf bereithalten, bis wir die Pos leen durch die Lücke zurückgetrieben haben. Und wenn Sie damit ein Problem haben, können Sie meine gottverdammten Sterne jetzt SOFORT haben.« Der High Commander setzte zu einer hitzigen Antwort an, aber die Präsidentin hob die Hand. »Ist es wirklich so schlimm?«, fragte sie. »Madame President«, sagte der High Commander, »es ist wirklich nicht nötig …« »Halt«, sagte sie und hob erneut die Hand. »Ich habe General Hor ner gefragt.« »Ja, Ma'am«, erwiderte der General. »Es ist wirklich so schlimm. Hinter der Rabun-Lücke gibt es eine ganze Anzahl Routen, die den Posleen offen stehen. Einige davon, die meisten sogar, sind ziemlich übel, aber wir haben nicht viel, um sie abzusperren. Es ist … kom pliziert, aber ich schaffe es einfach nicht, genügend Streitkräfte zu sämtlichen Zugangswegen zu schaffen, die die Gäule vermutlich einschlagen werden, um die … die Flut aufzuhalten. Es gibt zu viele Ausgänge aus der Lücke. Sie können nach Westen abbiegen und die Route 129 öffnen, dann strömen sie wie ein Sturzbach nach Chattan ooga. Und sie verfügen über genug … Schwungmasse … um zusätz lich nach Knoxville und Asheville zu ziehen. Mit den Verbänden, die ich dort habe, kann ich unmöglich alle Zugangswege absperren; dazu bin ich einfach zu knapp und habe in letzter Zeit schon zu vie le Verbände für andere Notfälle abgezogen. Und jetzt ziehen sie mit riesigen Verbänden die Appalachen hinauf und auf der anderen Sei te wieder hinunter: Wir verfügen einfach nicht über genügend Leu te, um damit und den Verbänden in der Lücke fertig zu werden. Ich
muss sie … einkesseln, bis ich weitere Verbände in die Gefechtszone schicken kann, um sie zurückzutreiben. Ich muss ihren Vormarsch zum Stehen bringen, ehe so viele durch gekommen sind, dass sie Asheville oder Chattanooga von hinten nehmen können; Madame President, zwischen Rabun Gap und As heville gibt es drei SubUrbs mit insgesamt vierzehn Millionen Men schen. Und wenn Asheville fällt, dann können wir ebenso gut alle lernen, Kanadisch zu sprechen.« »Sie können sie mit Nukes nicht aufhalten«, wandte der High Com mander ein. »Es sind einfach zu viele Posleen. Es ist physikalisch einfach nicht möglich, ›den östlichen Küstenbereich zu verglasen‹, selbst wenn wir das politisch oder umwelttechnisch überleben könnten.« »Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Horner kühl. »Und das hätten Sie auch festgestellt, wenn Sie zugehört hätten. Ich habe vor, ein Loch aufzureißen und Mike O'Neal hineinzusetzen, damit er es zustopft. Und dann könnte ich die GKA auch an anderen Schlüssel punkten einsetzen.« »Einen Augenblick, General Horner«, sagte die Präsidentin. »Ich möchte, dass alle jetzt diese Konferenzschaltung verlassen, und Mrs. Norris und Miss Shramm müssen den Raum verlassen.« Sie wartete ab, bis die anderen sich ausgeklinkt hatten, und wand te sich dann wieder dem Bild des Generals zu. »General Horner, die Chinesen haben über zweitausend Kernwaffen abgefeuert und das Jangtse-Tal für die nächsten zehntausend Jahre vergiftet. Sie haben vor, im Tennessee Valley etwa das Gleiche zu tun, das ist Ihnen doch klar? Und die Chinesen haben trotzdem verloren. Das ist die wichtigste Komponente des Problems, das sehr reale politische Pro blem, und was noch wichtiger ist, auch ein Problem unserer Kampf moral. Atomwaffen gelten jetzt als letzte Verzweiflungswaffe von je mand, der im Begriff ist zu verlieren. Der praktisch betrachtet bereits verloren hat. Das ist der wahre Grund, dass ich ihren Einsatz verhin dert habe; die Tatsache, dass sie als Verzweiflungswaffe gelten. Ist
das, was Sie vorhaben, den … sozialen Schaden wert, der daraus er wachsen wird? Ist es den physischen Schaden wert; der Tennessee strömt in den Mississippi und liefert das Wasser für die ganze unte re Verteidigungsfront. Wenn wir Nukes in das Tennessee-Tal wer fen, wird er vergiftet werden.« Horner setzte zum Sprechen an, klappte dann den Mund wieder zu, setzte erneut an und seufzte. »Zunächst, Madame President, lassen Sie mich eines sagen: Ich weiß es zu schätzen, dass Sie … das erklären. Wenn Sie das freilich schon vorher getan hätten, hätte ich einige Empfehlungen abgeben können, wie wir die … Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit an passen können. Wir hätten Nukes in den ›Festungsstädten‹ auf dem flachen Land einsetzen können, nachdem wir der Öffentlichkeit er klärt hätten, dass wir einfach alles einsetzen, was wir zur Verfügung haben. Ich denke, die Öffentlichkeit hätte das durchaus verstanden. Zum zweiten«, er hielt kurz inne, wusste nicht recht, wie er es for mulieren sollte, »muss ich sagen, dass Ihr Verständnis von nuklearer Kriegführung und Waffentechnik weit hinter Ihren geographischen Kenntnissen zurückbleibt. Wir setzen hierfür keine traditionellen ›schmutzigen‹ Nukes ein; die haben wir gar nicht. Die Sprengköpfe in den Waffensystemen, die wir einsetzen werden, die letzten paar Peacekeepers, die wir noch in Silos stehen haben, sind relativ ›sau ber‹. Personen in der ›Fallout-Zone‹ werden einer geringeren Radio aktivitätsdosis ausgesetzt werden, als sie für Röntgentechniker im Laufe eines Jahres zulässig ist.« »General, wenn Sie mir damit klarmachen wollen, dass von diesen Waffen keine Strahlung ausgeht, dann sollten Sie sich das bitte für die Talk Shows sparen«, herrschte die Präsidentin ihn an. »Selbst ›saubere‹ Nukes sind schmutzig.« »Madame President, Sie dürfen glauben, was Sie wollen«, sagte der General mit eisiger Stimme. »Und ich bin auch sicher, dass die Um weltheinis Zeter und Mordio schreien werden. Aber die Strahlung, die übrig bleibt, nachdem wir ein paar Milliarden Megatonnen auf
dieses Tal abgeworfen haben, und leider haben wir gar nicht so viel, wird die Hintergrundstrahlung des Tennessee etwa auf ein Niveau bringen, wie es in der Umgebung eines Kohlekraftwerks herrscht. Und davon haben wir eine ganze Menge. Aber wie dem auch sei, was ich vorhabe, ist ein Verzweiflungs schritt. Wenn wir das Gap nicht abdichten, ist Schluss. Sie persön lich sowie Ihr Stab und Ihre Angehörigen werden zweifellos überle ben. Möglicherweise wird sogar nördlich der ›Kältegrenze‹ etwas, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Zivilisation hat, weiterleben; die Posleen sind einfach nicht fähig, Logistiksysteme aufzubauen, selbst wenn ihr Leben davon abhängt, und deshalb werden sie nie, sagen wir mal Athabasca einnehmen. Wie ich höre, ist Montreal eine sehr hübsche Stadt, aber alle Überlebenden der Vereinigten Staaten pas sen einfach nicht nach Kanada, das bietet weder genügend Unter kunft noch können sie dort längere Zeit überleben. Wir müssen Ra bun Gap abdichten. Und wir müssen dafür sorgen, dass es dicht bleibt. Ich brauche Nukes, um es aufzureißen, um den Stöpsel ein bringen zu können. Ich werde sie wahrscheinlich dann wieder brau chen, um andere Punkte aufzureißen und die Posleen im Tal zu ver nichten. Sehr viel andere Möglichkeiten stehen uns im Augenblick nicht zur Verfügung.« Er legte eine kurze Pause ein. »Und ich habe keine weiteren GKA mehr, die ich einfach opfern kann.« Die Präsidentin sah auf die Schriftstücke, die auf ihrem Schreib tisch lagen, und schüttelte dann den Kopf. »Wird es funktionieren? Nicht nur, dass Sie die GKA dort hinbrin gen; ich dachte immer, die Posleen würden alles abschießen, was sich über dem Horizont bewegt. Werden die Marschflugkörper überhaupt Georgia erreichen?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Horner. »Die uns verbliebenen Silos befinden sich alle ein gutes Stück nördlich der Linien der Pos leen, und über dem Mittleren Westen herrschen zurzeit starke Stür me. Das ist eine glückliche Kombination von Umständen, die es er möglichen sollten, dass die meisten Marschflugkörper fliegen kön
nen. In der Startphase sind sie natürlich höchst verletzbar, aber sie werden sehr schnell aufsteigen. Und sobald Ziele in die Orbitalpha se gelangen, nimmt die Effizienz der Posleen ab. Wir werden einfach die Daumen drücken müssen, dass sie es schaffen.« »Und wenn sie das nicht tun?«, fragte die Präsidentin. »Es gibt … mindestens noch eine weitere Möglichkeit«, sagte Hor ner mit einem Lächeln, das bei ihm äußerstes Unbehagen verriet. »Die University of Tennessee verfügt sowohl über eine Erprobungs einrichtung für SheVa-Geschütze als auch über ein Programm für Nukleargeschosse, besser gesagt Antimaterie.« »Sie … können also feuern?«, fragte die Präsidentin. »Antimaterie ist besser als Nukes, stimmt das? Ich meine, sie können mit ihrem Be schuss Rabun Gap erreichen? Und das ist ein besseres, ein sauberes System?« »Könnte sein«, antwortete Horner. »Ich würde … bei beiden Syste men handelt es sich um Versuchsanordnungen, Ma'am. Und die … die Geschosse, die sie entwickelt haben, sind noch nie im Einsatz er probt worden. Das Geschoss ist auch … ziemlich groß, ein ziemlich schwerer Gefechtskopf; wie schwer, das sage ich Ihnen lieber nicht. Wenn ich etwas zum ersten Mal abfeuere, möchte ich nicht, dass das ganze Cumberland-Tal vernichtet wird, falls etwas schief geht.« »Oh.« Horner zuckte die Achseln. »Ich nehme an, das ist der Preis, den ich dafür bezahlen muss, wenn ich so ungehobeltes Volk mit Anti materie spielen lasse; die wissen einfach nicht, wann man ›Okay, jetzt ist's genug!‹ sagen muss. Die schreien immer bloß ›Hey! Seht euch das an!‹ Ich bin erst über … über die Größe des Geschosses in Kenntnis gesetzt worden, als wir anfingen, nach etwas zu suchen, um Rabun Gap wieder freizubekommen. Inzwischen habe ich be reits eine ›nochmalige Überprüfung‹ des Programms angeordnet. Was die GKA angeht, werden die Triple Nickle regelrecht in die Zange geraten. Ehe sie landen, werden mindestens eine Million Pos leen durch die Lücke gezogen sein. Und dann sind da ihre neuen
fliegenden Panzereinheiten. Und im Süden haben sich geschätzte zwölf Millionen versammelt. Das Bataillon, besser gesagt das, was noch von ihm übrig ist, wird die Lücke halten müssen, bis wir die be reits durchgebrochenen Einheiten vernichtet und uns selbst nach vorne durchgekämpft haben. Ob sie überleben werden …? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir keine andere Wahl haben.« Die Präsidentin blickte nicht von ihrem Schreibtisch auf und über legte. Schließlich nickte sie. »General Horner, Sie haben die Erlaubnis, auf Rabun Gap zu schießen. Aber nur auf Rabun Gap, verstanden? Jeder andere Ein satz erfordert meine Genehmigung.« »Verstanden«, sagte Horner und nickte. »Nur Rabun Gap. Aber zu einem anderen Zeitpunkt könnte das notwendig werden. Jenes Ter rain begünstigt den Verteidiger; unglücklicherweise können wir nicht ständig in der Defensive bleiben.« »Das habe ich verstanden, General«, sagte sie gereizt. »Aber ich gebe jeden Einsatz frei. Verstanden? Ich möchte, dass diese Dinger präzise eingesetzt werden, nicht weil irgendein … Offizier … an der Front das will.« Horner atmete tief durch, um nicht herauszuplatzen, ehe er ant wortete. »Ma'am, ich habe das Gefühl, Sie hätten jetzt beinahe etwas so Ähnliches wie ›Handlanger‹ gesagt. Die … Offiziere an der Front versuchen dafür zu sorgen, dass wir nicht weiteres Gelände verlie ren, weitere Pässe verlieren. Die Ziele, die wir treffen müssen, wer den sich häufig ändern; sie kommen und gehen, so schnell die Pos leen das schaffen. Irgendwann einmal werden wir das Zuständig keitsniveau reduzieren müssen, Madame President.« »Das entscheiden wir, wenn es so weit ist«, sagte sie und starrte den General dabei unverwandt an. »Und bis dahin … ist das meine Zuständigkeit. Nur ich habe die Entscheidungsgewalt über die Frei gabe von Atomwaffen« Sie sah wieder auf ihren Tisch und schüttel te den Kopf. »Und möge der Herr uns gnädig sein.« Horner tat sie Leid.
»Ma'am«, sagte er mit leiser Stimme. »Lassen Sie mich Folgendes sagen. Der einzige Mensch, von dem ich mir vorstellen kann, dass er diesen Pass hält, dass er das lange genug überlebt, ist Michael O'Ne al. Ich garantiere Ihnen, der Einsatz der Atomwaffen lohnt sich.« »Freut mich, dass Sie so denken, General«, sagte die Präsidentin und blickte verärgert auf. »Ich dachte nur gerade, dass ich den Ma jor nicht sehr mag. Ich mag Leute nicht, die bereit sind, kaltblütig amerikanische Zivilisten hinzuschlachten.« »Wie bitte?«, fragte Horner. »Es gibt immer Überlebende«, herrschte die Präsidentin ihn an. »Wahrscheinlich gibt es in der Umgebung von Rabun Gap Tausende von Leuten, die sich dort versteckt halten. Wenn wir eine Unmenge von Kernwaffen auf dieses Gebiet abwerfen, wird es keine Überle benden geben. Ich vermute, dass der so hoch geschätzte Michael O' Neal sich einen Dreck um diese armen Zivilisten schert. Das Einzige, was ihm wichtig ist, ist sein grandioses Bataillon!« Homers Gesicht war starr und eisig wie ein Gletscher, und er war tete volle fünfzehn Sekunden, ehe er antwortete. »Madame President«, sagte er dann betont langsam, »Michael O' Neals Tochter wohnt in Rabun Gap.«
28 Rabun Gap, Georgia, Sol III 1519 EDT, 26. September 2014
Cally rollte sich zur Seite und musste von dem vielen Staub, den sie geschluckt hatte, husten. Nach ein paar Augenblicken setzte sie sich auf und sah sich benommen um. »Scheiße.« Der Schutzraum war noch intakt, und es brannte noch Licht, doch das war so ziemlich die einzige gute Nachricht. Die Tunnels zum Bunker und zum Haus waren beide eingestürzt. Aber der Haupt tunnel war noch frei, und so, wie es aussah, auch die beiden Tunnels nach draußen. Blieb die Frage, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Sie befühlte ihren Kopf und entdeckte eine ziemlich große Beu le, die sich bereits auf ihrer Stirn gebildet hatte. Ihre Uhr war stehen geblieben, entweder wegen des EMP oder weil sie sie beim Sturz an gestoßen hatte, aber sie wusste ohnehin nicht mehr genau, wie spät es gewesen war, als sie in den Bunker gegangen waren. Sie dachte über das nach, was Papa O'Neal sie bezüglich Kernwaf fen gelehrt hatte und was zu tun war. Allzu oft wurden sie ja nicht eingesetzt, aber Gramps war da gründlich gewesen. Unglücklicher weise lag seine Unterweisung ein paar Jahre zurück, und sie wusste nicht so recht, ob sie erst einen Geigerzähler suchen oder darüber nachdenken sollte, wie mit einem umzugehen war. Woran sie sich erinnerte, war, dass Menschen einen Atomschlag besser überstanden als Gebäude – irgendwie hing das mit Druck wellen zusammen, und das bedeutete, dass Gramps möglicherweise
noch am Leben war. Wenn es ihn nicht beim Einsturz des Bunkers erwischt hatte. Als Nächstes musste sie also zusehen, den Haupttunnel zu verlas sen, dann Gramps zu finden – ihn wenn nötig ausbuddeln – und in die Berge zu verduften. Sie stand auf, setzte sich aber gleich wieder hin, als der Boden in folge einer weiteren Explosion bebte. »Bisschen später vielleicht.«
»Oooh, das wird wehtun!«, schrie Pruitt. Reeves hatte bereits den Rückwärtsgang des SheVa eingelegt, mit Ausnahme eines einzigen Plasmaschusses traf das Feuer der Lander daher nur die Landschaft. Aber jener eine Plasmaschuss hatte die Energieversorgung des SheVa getroffen. »Reaktoren Zwei und Drei soeben ausgefallen«, rief Indy. Sie schnallte sich los und setzte sich in Richtung auf die Luke in Bewe gung. »Ich bezweifle, dass ich das allein schaffen werde.« »Fahrtgeschwindigkeit fällt ab, Sir!«, rief Reeves. Obwohl er Voll gas gab, bewegte sich das SheVa kaum. »Unter zehn Meilen die Stunde!« »Indy«, rief der Kommandeur über die Sprechanlage. »Sagen Sie mir gefälligst, dass wir das besser können! Bei dem Tempo überren nen uns die Lander in nicht einmal einer Viertelstunde.« »Nicht, solange ich nicht weiß, was kaputt ist, Sir«, rief sie zurück. Sie rutschte die dritte Leiter hinunter und schnappte sich dabei einen Geigerzähler, rannte nach hinten auf den Reaktorraum zu. »Wir haben die Hälfte unserer Energie verloren; schneller geht die ses Ding jetzt nicht.« »Verdammt, verdammt, verdammt«, murmelte er. »Pruitt, neh men Sie das Steuer.« »Was?«, rief der Schütze zurück.
»Ich geh in den Reaktorraum«, sagte der Kommandant. »Ich den ke, Sie können diese Dinger auch ausmachen.« »Roger, Sir«, erwiderte der Kanonier und schluckte. »Komm schon, Schmoo, such uns eine neue Schussposition.« »In der Nähe von Fulchertown ist eine«, sagte der Fahrer nach ei nem Blick auf seine Karte. »Aber da müssen wir ein paar Häuser niederwalzen.« »Hast du Angst, dass sie uns in den Ketten stecken bleiben?«, frag te der Kanonier sarkastisch. »Nein … es ist nur …« Schmoo blickte auf, sah sich über die Schul ter um zu dem Kanonier. »Schon gut. Ich hab nur versucht, in den Wäldern zu bleiben, um keine Leute zu überfahren.« »Jemand, der jetzt noch hier ist, hat 's nicht anders verdient.«
Mitchell fuchtelte mit der Hand vor dem Gesicht herum, als er durch die Tür des Reaktorraums trat; Rauch und Dampf quollen heraus, und es stank nach Ozon. »Indy!« »Hier drüben, Sir«, war ihre Stimme von links zu vernehmen. Vier Turbinengeneratoren dominierten den Raum; die kleineren Reakto ren an den Seiten waren kaum wahrnehmbar. Mitchell hatte sein Handwerk auf Abrams gelernt, die waren mit großen Turbinen aus gestattet, die die Panzer auf bis zu hundert Stundenkilometer be schleunigen konnten. Die Energie, die in diesem Raum erzeugt wer den konnte, würde ausreichen, um eine ganze Stadt mit hunderttau send Einwohnern mit Strom zu versorgen. Dass man mit all der Energie ein SheVa auf ebenem Gelände nicht einmal auf dreißig Stundenkilometer bringen konnte, war ernüchternd. »Wie sieht's denn aus?«, fragte er. »Und, sind wir heiß?« »Nein, Sir«, rief der Warrant Officer zurück und reichte ihm ein Ende eines Starkstromkabels. »Der Schuss hat Gott sei Dank weder Reaktoren noch Turbinen getroffen, sonst hätten wir ebenso gut in
den Abrams steigen und abhauen können. Aber einen Transforma tor hat er erwischt und eine von den Hauptleitungen auch, deshalb konnte der Reservetransformator mangels Energie nicht einsprin gen. Der Reaktor hat sofort abgeschaltet.« »Und was machen wir jetzt?«, fragte der Kommandant. »Na ja, Sie halten gerade ein Ersatzkabel in der Hand.« Sie grinste spitzbübisch. »Ich werde mir jetzt einen richtig großen Schrauben schlüssel besorgen, und dann ersetzen wir die Leitung und fahren die Reaktoren wieder hoch.« »Und wie lange dauert das?« »Zehn Minuten, höchstens eine Viertelstunde«, antwortete sie und ging zu der Stelle hinüber, wo die Energieleitungen der Turbine mündeten. Sie setzte den Schraubenschlüssel an der Stelle an, wo das Kabel herauskam, und hämmerte dann, als sich nichts bewegte, ein paar Mal darauf, bis die geschmolzene Plastikschicht abblätterte. »Wir können wirklich froh sein, dass es nicht die Reaktoren erwischt hat.« »Ja«, lachte der Kommandeur. »Oder die Kette. Ich wäre wirklich nicht erbaut davon, die Ketten an diesem Ding wechseln zu müs sen.« »Oh, das ist gar kein Problem; man ruft einfach ein CONTACTeam«, sagte Indy, die inzwischen die Schraube gelöst hatte. »Es hat schon seine Gründe, dass zu einem SheVa-Reparaturteam ein Batail lon Pioniere und drei echt große Krane gehören.« Mitchell ließ das Kabel fallen und hielt sich an einem Träger fest, als das SheVa, von einem schweren Schlag getroffen, ins Schwanken geriet. »Hey!« »Ich krieg das hin«, sagte Indy und stemmte sich ächzend gegen den Schraubenschlüssel. »Gehen Sie hinauf, Sir.« »Wirklich?«, fragte er. »Gehen Sie ruhig, ich schaff das im Schlaf«, sagte sie, nahm die Mutter herunter und zog das verbrannte Kabel heraus.
Als er ziemlich fluchtartig den Raum verließ, seufzte sie und hob das Kabel auf. »Und dafür habe ich auf dem MIT studiert …«
»Fliegende Tanks, Sir!«, rief Pruitt, als der Kommandeur aus der Luke schoss. »Vier Stück. Und die orten Ziele für die Lander; unsere Zieloptik sagt, dass sie näher kommen.« »Scheiße«, schimpfte Mitchell und sah auf seinen eigenen Bild schirm, als das Rudel Tenaral im Tiefflug vorüberzog und sie be schoss. Die fliegenden Tanks feuerten aus Plasmakanonen auf sie, erzielten aber nur ein oder zwei Treffer. »Auf die Lander konzen trieren. Reeves, sehen Sie, was Sie tun können.« »Tu ich ja, Sir«, antwortete der Fahrer. »Das Beste, was ich tun kann, ist, in die Berge fahren; schließlich sind wir ein ziemlich großes Ziel.« »Bilde ich mir das ein oder bleiben die auf Distanz?«, fragte Pruitt niemand Bestimmten, als sie ins flache Land hinunterpolterten. »Ups. ZIEL! Lamprey! Fünfzehn Kilometer!« Um die dritte Feuerstellung zu erreichen, mussten sie um die Bergflanke herum. Im Großen und Ganzen schützten die Hügel das SheVa noch, aber in den letzten Minuten war es trotz seiner fast gletscherhaften Bewegungsweise aufs freie Feld geraten. Pruitt war darauf mehr oder weniger vorbereitet gewesen und hatte seine Kanone südwärts in Richtung auf die herannahenden Lander gerichtet. Zum Glück bewegten sich die Posleen-Schiffe in Bodennähe im Schneckentempo und waren nicht wesentlich näher als bei den beiden letzten Anflügen an sie herangekommen. Un glücklicherweise waren es inzwischen freilich mehr geworden. »BESTÄTIGT!«, rief Major Mitchell und ließ sich in seinen Sitz rut schen. »KOMMT!«, rief der Kanonier und schwang seinen Turm zum nächsten Ziel.
»Ja!«, rief Mitchell. »Saubere Arbeit, Pruitt.« Die Detonation der Treibstoffquelle des Lamprey war nicht so gewaltig wie bei ihrem ersten folgenschweren Treffer, aber immer noch recht spektakulär. »ZIEL!«, antwortete Pruitt. »K-Dek! Fünfzehn Kilometer!« »BESTÄTIGT!«, rief Mitchell. Pruitt feuerte in dem Augenblick, als der Dodekaeder hinter der Kammlinie wegtauchte. »Daneben! Diese Mistkerle manövrieren! Ist das denn erlaubt?« »Scheiße!«, fluchte Reeves, als die Tenaral sie erneut unter Be schuss nahmen. »Die schießen auf unsere Hinterpartie, Sir!« »Habe ich schon bemerkt«, sagte der Major und stieß eine Ver wünschung aus. »Die gute Nachricht ist, dass unser Hintern die ein zige wirklich massiv gepanzerte Partie ist. Und die schlechte, dass dort unser Magazin ist.« »Kein Wunder, dass sie sichere Distanz halten«, meinte Pruitt und ließ seine Kanone hin und her wandern, suchte Ziele. »Die wirklich gute Nachricht ist, dass wir fast keine Munition mehr haben, wenn sie also tatsächlich das Magazin treffen, gibt es keinen gar so lauten Knall.« Er dachte über das nach, was er gerade gesagt hatte, und schüttelte den Kopf. »Mami!« Mitchell schaltete auf Außenverbindung und rief die MetalStormEinheit. »Whiskey Drei-Fünf, hier SheVa Neun; wir könnten etwas Hilfe gebrauchen, Ende.«
»Was in drei Teufels Namen ist das, Ma'am?« Captain Vickie Chan sah nach Westen in die untergehende Sonne und hielt sich dabei die Hand über die Augen. »Keine Ahnung, Glenn«, sagte sie und schüttelte dabei den Kopf. »Ich weiß es ein fach nicht.« Captain Chan war 1994 in die U.S. Army eingetreten und war da mit ihrer Verpflichtung gegenüber dem Reserveoffizierskorps der
University of Nebraska Army nachgekommen, die ihr als Tochter vietnamesischer Einwanderer ein Stipendium und ein monatliches Taschengeld ausgesetzt hatte. Als die Militärbehörden in ihrer uner gründlichen Weisheit sie daher der Luftverteidigung zugeteilt hatte, hatte sie ihre Uniform angezogen und war in die Wildnis gewan dert. Eine einigermaßen erfolgreiche Dienstperiode – es gab bei der Luftabwehr nur sehr wenige Frauen, die es in einer Periode bis zum Captain schafften – hatte ihr bewiesen, dass eine Karriere bei der Army das Allerletzte war, was sie sich wünschte. Gegen Ende ihrer Dienstzeit hatte sie sich ihre Geschlechtsgenos sinnen in den oberen Rängen angesehen und war zu dem Schluss gelangt, dass es davon nur zwei Typen gab: Schlampen und Schlachtrösser. Sie verspürte nicht den Wunsch, auch so zu werden, und hatte daher seelenruhig ihre Papiere abgegeben und sich einer zivilen Laufbahn zugewandt. Kurz darauf freilich hatte sie etwa gleichzeitig mit dem Eintreffen der Posleen gemeinsam mit praktisch jedem anderen Menschen auf der ganzen Welt, der je eine Uniform getragen hatte, einen Brief be kommen, mit dem sie zum Militärdienst eingezogen wurde. Ur sprünglich war sie einer Einheit der Panzertruppe zugeteilt gewe sen, aber als dann Bedarf an Einheiten zur Lander-Abwehr aufge kommen war und man auch Systeme zu deren Bekämpfung entwi ckelt hatte, hatte ein Computer ihren Namen ziemlich weit oben auf der Liste ausgespuckt. Sie hatte Erfahrung in der Flugabwehr und war zum Zeitpunkt ihrer Versetzung Kompaniechefin einer Panze reinheit. Perfekt. Und dann war ihre blühende Laufbahn – sie hatte sich für die Va riante Schlachtross entschieden – im Keim erstickt worden. Man hat te sie einer der ersten MetalStorm-Einheiten zugeteilt, einem Sys tem, das amtlicherseits die Bezeichnung M-179-»Rosser«-MediumAnti-Lander-System trug und das die Soldaten häufig auch »Heu lende Wölfe« oder »Wolfsrudel« nannten. Und als sich herausge
stellt hatte, dass dieses System nur eine andere Art von Selbstmord war und gegen Lander keinerlei Chancen hatte, war sie dort hängen geblieben. Es gab keinen definierbaren, vernünftigen Einsatz für die Wölfe, aber es wäre zu aufwändig gewesen, die Abrams-Panzer, um die herum man sie konstruiert hatte, wieder in direkte Feuersysteme umzuwandeln, und die Wölfe waren zwar recht effizient, aber es gab andere Systeme, die etwa ebenso gut waren. Deshalb hatte man sie im Laufe der letzten fünf Jahre von einem Korps zum anderen herumgereicht, hie und da zur Verstärkung, aber im Wesentlichen einfach, weil niemand so recht wusste, was man mit Wölfen anfan gen sollte, und sich auch nur wenige dafür interessierten. Im Augenblick hätte sie ihre gegenwärtige Position mit dem größ ten Vergnügen gegen einen Einsatz in jedem dieser anderen Korps oder für jeden dieser langweiligen, sinnlosen Tage vertauscht. Es war offenkundig, dass dieses Korps sich im vollen Rückzug befand, und vorzurücken, um den Vormarsch der Posleen zu verlangsamen, klang wie eine permanente Lösung für ein kurzzeitiges Problem; es war einfach aussichtslos, dass ein Wolfsrudel einen Posleen-Angriff dieser Größenordnung aufhalten konnte. Aber hier war sie nun einmal. Und vielleicht, wirklich vielleicht, würde die Kompanie überleben. Sie brauchten ja bloß diese … diese … ja was waren sie eigentlich? Abschießen. »Der Computer sträubt sich«, sagte Specialist Glenn. Glenn war weiblichen Geschlechts wie ihre Vorgesetzte und hatte dünnes hell braunes Haar, das ständig unter ihrem Helm hervorrutschte. Sie wischte es sich aus der Stirn und blickte auf. »Er nagelt sie einfach nicht fest. Das Radar sieht sie, aber der Computer zielt per Kanone nicht auf sie.« Chan seufzte und rutschte in den Turm hinunter. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie wusste, was hier im Gange war. Die Com putersoftware stammte aus dem schon lange nicht mehr einsatzfähi gen Sergeant York-Programm, einem System, das von Anfang an ein Albtraum gewesen war, aber es war zugleich auch so etwas wie ein
Analogon für die Wolfsrudel, also hatte man angenommen, dass dies auch für die Software galt. Das Wort »angenommen« hatte so manchen Beigeschmack. In die sem Fall sagte irgendein Bug in der Software vermutlich dem Com puter, dass es sich um keine echten Ziele handelte. Sie hasste diese Software. Wenn sie je die Schwachköpfe fand, die sie geschrieben hatten, würde sie sie an die Wand stellen und abschießen. Mit dem Kommandanten MG; das Ro-Ro würde sie wahrschein lich verfehlen. Sie ließ die Schultern kreisen und zuckte dann die Achseln. »Okay, Glenn, schalten Sie die Steuerung hier rauf.« »Yes, Ma'am«, sagte Glenn. »Und was werden Sie machen?« »Eine Unmenge Munition verpulvern«, antwortete sie und schalte te das Geschützsystem auf manuellen Betrieb. Sie beobachtete die … was auch immer sie waren … eine Weile. Immer wieder kamen sie ziemlich hoch hinter dem SheVa herein, gaben ein paar Schüsse auf das Hinterdeck ab, kippten dann seitlich weg und kamen zum nächsten Anflug herein. Sie überlegte kurz und drückte dann einen anderen Schalter. »Sämtliche Panzergeschütze auf Fernsteuerung schalten«, befahl sie über das Kompanienetz und schaltete dann auf die Frequenz des SheVa. »SheVa Neun, bitte fahren Sie nach rechts und halten Sie ein paar Minuten lang konstanten Kurs.«
Mitchell hatte das Gefühl, einen verwundeten Elefanten zu steuern. Das SheVa polterte mühsam dahin und hinterließ Rauchspuren von mehrfachen Treffern. Der Wunsch des Kommandeurs der »Heulen den Wölfe« fand daher ein offenes Ohr. »Ich hatte mich schon gefragt, wo ihr hingeraten seid«, sagte er. »Roger, wird gemacht.«
Er schaltete auf Interkom und sah auf seinen Bildschirm. »Schmoo, nach Osten biegen, den Abhang hinauf; Maximalgeschwindigkeit ist nicht erforderlich, bloß konstanten Kurs halten.« »Yes, Sir«, sagte der Private und lenkte das schwerfällige Geschütz nach Osten. »Major Mitchell«, rief sein Warrant Officer. »Hier Indy. Die be hämmern uns, Sir. Wir haben unter Deck Schäden.« »Ich weiß«, rief Mitchell zurück. »Wie schlimm ist es denn?« »Die Geschützlafetten sind beschädigt, und das ist ziemlich schlimm«, rief sie zurück. »Aber da gibt es zum Glück ein paar Red undanzen. Ich denke, wir können weiterhin feuern. Aber wenn wir noch mehr Treffer abkriegen, werden wir bald unbrauchbar sein.« »Wie sieht's mit der Energie aus?«, wollte Mitchell wissen. »Wenn wir schneller werden können, dann könnten wir sie abschütteln. Die trauen sich nicht sehr nahe heran; ich schätze, der Abgang von She Va Vierzehn hat denen Angst gemacht.« »Ich habe die Reaktoren wieder gestartet«, erwiderte sie. »Aber die Turbinen brauchen eine bestimmte Anwärmzeit; und daran sollte man sich wirklich halten. Fünf bis sieben Minuten noch.« »Okay«, seufzte der Kommandant. »Das muss dann eben sein.« Mitchell sah auf seine Displays und blickte dann zu dem Kanonier hinüber. »Werden Sie das schaffen, Pruitt?« »Yes, Sir«, antwortete der. »Wir haben nur noch zwei Schuss üb rig.« »Ich kann lesen«, sagte der Kommandant und wies auf seinen Bildschirm. »Ich werde uns Nachschub bestellen, aber vorher müs sen wir ein wenig Abstand zu denen bekommen.« Er schüttelte den Kopf, als sie wieder ein paar Plasmatreffer abbekamen. »Und unsere Begleitung müssen wir loswerden; ich will einfach nicht, dass die auf unseren Munitionstransport schießen.« »Du lieber Gott, nein.« Pruitt schmunzelte.
»Wenn ich mich richtig entsinne, befindet sich der Treibstoffbun ker eines Kommando-Dodek dicht unter der Mitte«, überlegte Mit chell. »Ich denke, beim nächsten Schuss, den Sie absetzen, werden die näher sein als vorher; unter zehn Kilometer …« »Sie wollen also, dass ich versuche, den Treibstoffbunker zu tref fen«, meinte Pruitt. »Zielen Sie einfach besonders sorgfältig«, sagte Mitchell. »Sehen wir halt mal, wie's läuft.«
»Okay, sehen wir mal«, sagte Chan. Sie sah zu, wie sechs Kreise über den Himmel kurvten – sie hatte alle sechs »Panzer« zusam mengeschaltet und sie jetzt alle unter manueller Kontrolle –, und wählte einen Punkt ein Stück hinter und über dem SheVa-Geschütz. »Wir wollen dieses Ding wirklich nicht am Arsch treffen.« »O nein«, sagte Glenn und hielt sich mit beiden Händen den Helm fest. »Das wird ekelhaft.« Das System MetalStorm, eine Bezeichnung, die meist nur bei for mellen Meldungen benutzt wurde, weil die Soldaten den Begriff »Heulender Wolf« vorzogen, hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem deutschen Mörsersystem aus dem Zweiten Weltkrieg. Das »Ge schütz« war oben auf dem Panzer auf einem ziemlich massiven ro tierenden Drehgestell befestigt, das dort anstelle des Geschützturms angebracht war; der Kommandant und der Kanonier mussten sich deshalb in den unteren Teil des Turms zwängen, während der Fah rer die traditionelle Position vorne einnahm. Das Geschütz selbst wirkte mehr oder weniger kreisförmig mit sechs deutlichen Aus buchtungen oder Lappen an den Seiten. Der Unterschied zwischen den Systemen bestand darin, dass es sich bei der deutschen Waffe, deren korrekte Bezeichnung Nebelwerfer gelautet hatte, um ein mehrläufiges Mörsersystem gehandelt hatte, während der moderne »Wolf« ein »MetalStorm«-105-Zwölferpack war.
Der Name MetalStorm sagte eigentlich alles; das Waffensystem konnte in weniger als einer Minute bis zu zwölfhundert 105-mmWolfram-Penetrator-Pfeile abfeuern. Die Geschosse waren »Nase an Schwanz« in zwölf Rohre gepackt, die zugleich Lauf und Verschluss darstellten. Das System wurde elektrisch betrieben und konnte so wohl einzelne Geschosse wie auch Geschossfolgen mit sehr hoher Feuergeschwindigkeit abfeuern. Sobald die Geschosse das »Rohr« verlassen hatten, beschleunigten sie mit leicht unterschiedlicher Ge schwindigkeit, was an der Eigenart des Systems lag, warfen ihre Plastik-Treibkäfige ab, worauf ein 60-mm-Wolframbolzen mit pan zerbrechender Geschwindigkeit ins Ziel jagte. Diesem Wolframbol zen und dem ohrenbetäubenden Lärm, der beim Abschuss solcher Salven entstand, war vermutlich zuzuschreiben, dass das Waffen system allgemein als »heulender Wolf« bezeichnet wurde. Bei hun dert Geschossen pro Rohr und elektronisch gesteuerter Abschussse quenz bedeutete das, dass die Luft sich sehr schnell mit Wolfram und Stahl füllte – ein »Metallsturm« von verheerenden Ausmaßen! Die für das System erforderliche Energie führte zu einer ungeheu ren Zahl von Kompromissen. Einer davon bestand darin, dass das System nur »vorwärts« schießen konnte, falls es keine Möglichkeit hatte, seine Stützen auszufahren. Andernfalls hätte der schiere Rückstoß von zwölfhundert Geschossen den massiven Panzer ein fach umgekippt. Beim Einsatz gegen Lander war dies ohne Belang, wenn freilich sechs Fahrzeuge nur auf den Luftraum feuerten, den die Tenaral passieren würden, war dies jedoch eine völlig andere Geschichte.
Tensalarial schlappte mit dem Kamm in dem engen gepanzerten Raum und schaltete sein Mikrofon ein. »Wir müssen tiefer gehen, um dieses Ding zu zerstören; aus dieser Höhe können wir nichts ausrichten.«
»Fuscirto uut!«, erwiderte Allansiar. »Ich gehe nicht näher ran! Selbst das ist schon zu nahe! Du hast doch gesehen, was Pacalostal passiert ist!« Tensalarial schlappte erneut mit dem Kamm und knurrte. Es war wie ein Naturgesetz, wenn man einmal einen Posleen erwischte, der genügend Verstand hatte, mehr zu tun, als ein Oolt zu führen und gegen Kanonen anzurennen, fing er auch an … vorsichtig … zu wer den. Die schlauesten Posleen, die es überhaupt gab, waren anschei nend die Kenstain, und über die zog er es vor, nicht länger nachzu denken. »Unser … Auftrag besteht darin, das hier aufzuhalten, damit die Lander es zerstören können«, antwortete Tensalarial mit einem über die Radioverbindung hörbaren Knurren. »Und diesen Auftrag wer den wir erfüllen.« »Dann schieß auf die Ketten«, knurrte Allansiar zurück. »Nicht den Aufbau; dort sind der Treibstoff und die Waffen, welche explodie ren. In den Rädern ist nichts, was explodieren kann!« »Also gut«, erwiderte der Kessentai nach kurzem Nachdenken. »Beim nächsten Durchgang schießen wir auf die Ketten.« »Nehme sie ins Ziel«, erklärte Allansiar. »Dazu gehe ich sogar wei ter runter.« »Lass uns einen nach dem anderen in Sturzflug gehen«, meinte Tensalarial. »Auf diese Weise können die hinten ihr Feuer nach dem des Führers ausrichten. Ich übernehme die Spitze.« »Warum nicht?«, knurrte Allansiar. »Du wirst ohnehin nichts tref fen.« Tensalarial ignorierte die Spitze und steuerte den Tenaral in die Tiefe, richtete das manuell geführte Fadenkreuz auf die sich lang sam bewegenden Ketten. Die Gruppen hatten nur wenig Gelegen heit gehabt, vor dem Angriff das Schießen zu üben, und lernten jetzt auf empirischem Wege, dass die Geschosse nicht dorthin gingen, wo das Fadenkreuz es anzeigte. Das Fadenkreuz war computergene riert, aber bei dem System handelte es sich nicht um ein regelrechtes
automatisches Zielgerät; es war einfach eine Art Head-up-Display, das anzeigte, wo Goloswin glaubte, dass das Ziel sein würde. Da alle Posleen grundsätzlich mit sehr leistungsfähigen Zielerfas sungssystemen arbeiteten – Systeme, die nachzubauen Goloswin sich nie die Mühe gemacht hatte –, begannen die Tenaral allmählich zu begreifen, dass es einige Dinge gab, die diesen Zielsystemen fehl ten, wobei der Begriff der Parallaxe einer der wichtigsten war. So, wie die Kanonen konfiguriert waren, waren es schlicht und ergrei fend mit Plasma geladene Donnerbüchsen und auch nicht viel ge nauer. Wie ein Falke in die Tiefe stoßend fing der Kessentai an, die ganze Landschaft mit Plasmageschossen zu bepflastern.
Das Zielerfassungssystem der Wölfe war manchmal ein wenig durcheinander, und die Radarintegration funktionierte nicht immer richtig. Aber das manuelle Zielsystem entstammte größtenteils dem altehrwürdigen M-l Abrams-Tank und funktionierte daher ziemlich gut. In diesem Fall tastete ein Laserstrahl den Himmel ab, bis er auf et was traf, schätzte die Entfernung ab, stellte fest, dass sie in etwa der entsprach, die Captain Chan manuell eingegeben hatte, und begann dann eine Serie von Berechnungen. Das System überprüfte die Windgeschwindigkeit, die Lufttemperatur, die Feuchtigkeit und ob das StormPack vorher schon einmal abgefeuert worden war. Dann führte es blitzschnell einige Berechnungen durch und passte den Zielpunkt entsprechend an. Und der unbekannte Programmierer, der das System ursprünglich entwickelt hatte, hatte auch davon ge hört, was eine Parallaxe war. Für Captain Chan war es die Einfachheit selbst. Sie richtete die ro ten Kreise auf die herunterstoßenden Tenaral und wartete, bis die Kreise grün wurden. Das nahm etwa eine halbe Sekunde in An
spruch. Dann schnippte sie den Daumenhebel von »Safe« auf »Füll«, schloss die Augen, drückte den Feuerhebel durch und hielt fest.
»Scheeiiße!«, schrie Pruitt. Er hatte auf einen Bildschirm geschaltet, wo er die seltsam aussehenden Panzer oben am Bergkamm sehen konnte, aber jetzt waren die alle in einer Wand aus Rauch und Feuer verschwunden. »Sind die gerade getroffen worden?« »Nee«, sagte Major Mitchell und schaltete kurz auf denselben Bild schirm. »Die sehen immer so aus, wenn sie schießen.« So, wie es aussah, waren die Tanks explodiert. Rings um sie war bloß Rauch, Feuer und rauchende Plastikfetzen in der Luft zu sehen. Irgendwo dort befanden sich vermutlich Menschen und funktionsfä hige Fahrzeuge, aber dass sie das hatten überleben können, schien unmöglich. Nach nur wenigen Sekunden hörte das Feuer auf, und der Rauch verzog sich, und man konnte wieder die allem Anschein nach unversehrten Wölfe sehen. »Scheeiiße«, wiederholte Pruitt. Und dann: »So was müssen wir uns auch besorgen, Sir!«
Glenn richtete sich auf und stöhnte. »Oh. Wie ich diesen Job hasse.« Sie löste die Finger von ihrem Helm und hielt zitternd die Hand ausgestreckt vor sich. »Ich lasse mich versetzen.« Der Abrams-Panzer war nie dafür gedacht, mit MetalStorm 105 ausgestattet zu werden. Der ursprüngliche Abrams-Panzer war für eine 105-mm-Kanone gedacht, die auch zu ihm passte. Bis zum Er scheinen der Posleen und Monstrositäten wie dem SheVa-Geschütz wäre der bloße Gedanke eines mobilen MetalStorm 105 für lächer lich gehalten worden. Die Energie, die dieses Geschützsystem auf wandte, hätte ausgereicht, um auf kurze Zeit eine Boeing 747 abhe ben zu lassen. Bei leichteren Systemen hatte man es für möglich ge
halten, sie auf mittelschweren Panzern zu befestigen, aber ein 105mm-Hochgeschwindigkeitspenetrator war eine völlig andere Sache. Es ließ den Zweiundsiebzig-Tonnen-Panzer zittern wie eine Maus, die ein Terrier gepackt hat, und schüttelte den Kommandanten und die Mannschaft wie Erbsen in einer Blechschachtel herum. »Ach, und uns all den Spaß entgehen lassen?«, meinte Captain Chan und rieb sich die Schulter, mit der sie gegen einen Metallträger geknallt war. »Freier Himmel, Captain«, sagte die Geschützführerin und ließ ihr Visier kreisen. Chan klappte den Deckel der Kommandantenkuppel auf und sah sich um. Der Dunst und der Rauch der Antriebsgase und der Tau sende von Plastiksplittern, die den Boden und den oberen Teil des Fahrzeugs übersäten, lagen noch in der Luft. Aber Tenaral waren keine mehr am Himmel. Und das hieß, der Himmel war sauber. »Alle Wölfe«, rief sie und ließ sich wieder in die Wanne sinken. »Kammlinie verlassen!« Sie wechselte die Frequenz und rief das SheVa. »Hey, Großer! Ihr habt Gesellschaft südlich von Dillard.«
»Ich hasse Menschen«, knurrte Orostan, als der Link zum Tenaral verlosch. »Das sagtest du bereits«, gab Cholosta'an zu bedenken. »Was waren das für Dinger?«, fragte der Oolt'ondai. »Esszwo?« »Daran arbeite ich noch«, gab der Kessentai zu. »Sie werden im Kampf erwähnt, aber nicht gegen fliegende Tenar; gewöhnlich sind sie in der Bodenverteidigung eingesetzt.« »Also, mit denen werden wir uns nach der großen Kanone befas sen«, sagte Orostan und schlug mit seinem Kamm. Der Oolt'ondai blickte auf die holographische Darstellung des Gefechtsfelds und knurrte. »Jetzt reicht's mir, bring uns nach vorn, damit wir angreifen können.«
»Pruitt, zwei Geschosse«, erinnerte der Kommandant seinen Kano nier. »Mehr braucht Bun-Bun nicht«, erwiderte der. »Major«, rief Indy über die Sprechanlage. »Ich habe die Turbinen wieder auf Fahrt; hab da ein paar Tricks eingesetzt, aber so, wie es aussieht, sind wir klar. Jedenfalls haben wir wieder volle Kraft.« »Klasse«, sagte Mitchell. »Reeves, wenn Pruitt feuert, fahren Sie rückwärts die Kammstrecke hinunter. Wir haben uns immer gleich nach einem Schuss in Bewegung gesetzt. Diesmal fahren Sie ein Stück zurück und warten dann auf meine Anweisung. Wir gehen sofort wieder in Stellung und fahren dann in den Norden von Fran klin zum Aufladen.« »Yes, Sir«, sagte der Fahrer und vergewisserte sich, dass seine Dis plays im grünen Bereich waren. »Wir haben wieder volle Energie.« »Okay, dann los.« Reeves legte den Gang ein und lenkte das mächtige Geschütz die dreißig Grad Steigung hinauf, richtete es oben aus. »Oh … Scheiße«, flüsterte Pruitt; sämtliche Lander standen am Himmel. In der Ferne hörte er das Pfeifen der Turbinen, als Reeves sie hochfuhr, bis das ganze SheVa vibrierte. »Ziel«, rief Major Mitchell. In instinktiver Reaktion auf seine Aus bildung hatte er das Geschütz herumgeschwenkt und den unteren Teil eines der beiden K-Deks ins Visier genommen. »ZIEL«, bestätigte Pruitt. »K-Dek, neun Kilometer!« »Bestätigt«, sagte Mitchell, und dann: »FEUER!« Und sackte in sei ne Gurte, als Reeves den Rückwärtsgang einlegte. »Daneben!«, rief Mitchell gleich darauf, als das Geschoss unter dem abgeschwenkten K-Dek durchflog. »ZIEL, FEUER!«
Das zweite Geschoss, von der Kommandantenkonsole aus abge feuert, drang in exakt dem Augenblick in den unteren Quadranten des Schiffes ein, als das von den Schiffen erwiderte Feuer rings um das sich bereits absetzende SheVa einschlug. Das Monstrum konnte gerade noch entkommen, während der gesamte Bergkamm unter dem Plasmabeschuss der Posleen erbebte. Trotz des massiven Feu ers war die Detonation nicht zu übersehen, und das Feuer setzte fast sofort aus, als der grelle Atomblitz die Hügel beiderseits in bläuli ches Licht hüllte. »SAUBERER SCHUSS, SIR!«, jubelte Pruitt. Einer der Lampreys war hinter dem Bergkamm zu sehen, den sie jetzt hinunterfuhren; das Schiff war außer Kontrolle und krachte in dem Augenblick, als sie außer Sicht gerieten, gegen die Flanke des High Knob. Das war bis jetzt die mit Abstand gewaltigste Explosion. »FRESST ANTIMATERIE, IHR SCHEISS ALIENS!« »Reeves, Gas geben und den Fuß drauflassen, bis wir im Norden von Franklin sind«, rief der Kommandant und drehte den Turm ma nuell in diese Richtung. »Wir sind da zum Nachladen verabredet.« Er überlegte kurz und runzelte die Stirn. »Halten Sie sich östlich der Stadt; die SubUrb liegt im Westen, und ich möchte nicht, dass die ei nem SheVa zur Fallgrube wird.« »Oh, verdammt«, sagte Pruitt plötzlich. »Die Urb! Was ist mit der Urb, Sir?« Mitchell seufzte und zuckte die Achseln. »Ich denke, die müssen selbst klarkommen, Sergeant. Wir wollen bloß hoffen, dass wir keine Nachzügler überfahren.«
»Ich hasse Menschen«, knurrte Orostan, als sechs Icons vom Bild schirm verschwanden und seine eigenen Schiffe von der Schockwel le hin und her gerissen wurden; Chylasam musste bereits dabei ge wesen sein, Antimaterie herzustellen. »Ihr Verhalten ist unsinnig,
ihre Fortpflanzungsmethoden sind offen gestanden widerwärtig, und sie nutzen ihre Schwäche als Waffe. Das sollte verboten sein.« »Ja, das habe ich auch gehört«, meinte Cholosta'an und blickte nach unten auf den klar erkennbaren Pfad, der nach Norden führte. Das SheVa war außer Sichtweite und hatte vermutlich keine Muniti on mehr, aber sie würden keine Mühe haben, es aufzuspüren. »Fol gen wir?« »Nein, das tun wir nicht«, entschied Orostan. »Wir kümmern uns später darum. Im Augenblick sind wir hinter unserem Zeitplan für das Einnehmen unserer Stellungen zurück. Die übrig gebliebenen Schiffe sollen ausschwärmen und ihre Ziele einnehmen. Wir manö vrieren weiter, aber gehen etwas höher, um die Geschwindigkeit steigern zu können; das SheVa hat anscheinend den Rückzug ange treten.« »Unsere Berichte geben an, dass eine der unterirdischen Men schenstädte dicht vor uns liegt«, meldete der Nachrichtenoffizier. »Das war ein Ziel für Aresseens Oolt'pos.« »Schicke einen anderen, um die Eingänge zu nehmen und zu hal ten«, sagte Orostan und blickte wütend auf die Darstellung seines stark reduzierten Verbandes. »Die Landstreitkräfte können jede drit te Einheit dafür abstellen. In diesen Städten gibt es viel Beute und natürlich auch Thresh; wir brauchen das Material, um unseren Vor marsch fortsetzen zu können. Die beiden anderen Verbände sollen wie geplant auf Highway Acht-Und-Zwanzig und Highway Vier Vier-Eins vorrücken.« »Verstanden«, sagte der S-2. »Die Stadt wird reiche Beute liefern.« »Ich weiß nicht«, zweifelte Cholosta'an. »Wenn das so weitergeht, frage ich mich, ob es die Mühe wert sein wird.«
29 Garnison Newry, Pennsylvania, Sol III 1843 EDT, 26. September 2014
»Sir, ich sehe da diesen Befehl und habe dabei offensichtlich etwas übersehen«, sagte Captain Slight. »Es fehlt ein Zeitplan für die Ein heit, die uns ablösen soll.« Der Bataillonsstab und die Kompaniechefs hatten sich im Bespre chungsraum versammelt, um darüber zu diskutieren, wie zu verhin dern war, dass der Einsatz zu einem totalen Albtraum wurde. Aber stattdessen stießen sie auf immer mehr Dinge, die ihnen daran über haupt nicht gefielen. »Das liegt daran, dass es bis jetzt noch keine Ablösung gibt«, sagte Mike und lächelte dabei grimmig. Er beugte sich vor, legte die Fin gerspitzen aneinander und grinste. »Sie haben sich doch das Terrain angesehen, oder?« »Jo«, machte Duncan. »Eine Gruppe Boy Scouts mit ein paar Luft gewehren sollte keine Mühe haben, die Posleen dort einzukesseln.« »Das würde ich normalerweise auch so sehen«, erwiderte O'Neal. »Aber in diesem Fall haben wir es mit Posleen zu tun, die intelligent kämpfen. Ich will damit sagen, dass sie es zwar mit einem ziemlich schwierigen Handicap zu tun haben; sie haben dort nicht viel Manö vrierfläche, und dafür gibt es eine ganze Anzahl Stellen, wo ihnen Pioniere und Einheiten, die sich eingraben, das Leben ziemlich schwer machen können. Aber zugleich ist das auch ein Terrain, das angreifende Truppen förmlich auffrisst.«
»Warum glauben Sie denn, dass ich so wütend war?«, fragte O'Ne al wieder mit einem grimmigen Grinsen. »Die British Airborne in Arnheim haben neun Tage lang gekämpft, nachdem man ihnen ge sagt hatte, sie brauchten dort bloß drei Tage durchzuhalten und würden abgelöst werden, bloß hat ihre Ablösung Arnheim nie er reicht.« »Aber die Deutschen hatten im Großen und Ganzen nicht die An gewohnheit, ihre Gefangenen aufzufressen«, gab Captain Holder zu bedenken. »Ja, mir ist auch kein einziger Fall bekannt«, nickte Mike. »Ande rerseits ist das eben der Einsatz, zu dem man uns abgestellt hat. Hal ten bis zur Ablösung. Ich persönlich habe die Absicht, die Karten so zu mischen, dass sie möglichst gut für uns fallen.« Er schob sein AID vor und deutete mit einer Kopfbewegung darauf. »Wir werden sämtliche Shuttles brauchen, die wir kriegen können, und alle verfügbare Munition, Energiepacks und Generatoren. Aber das eigentliche Problem ist, dass es nichts und niemanden gibt, der uns gegen die Lander unterstützt. Shelly, wie viele AM Lances ste hen zur Verfügung, die man innerhalb der nächsten, sagen wir … sechs Stunden hierher schaffen kann?« »Vier«, meldete das AID. »Sie sind in der Gegend um Minneapolis verteilt und dienen dort zur Unterstützung der Nordfront. Einer der Shuttles, der von Chicago kommt, könnte sie mitnehmen und uns bringen. Um in sechs Stunden hierher zu kommen, würde es erfor derlich sein, einige Sicherheitsvorschriften zu ignorieren, aber das ließe sich machen.« »Hiermit befohlen«, erklärte Mike. »Was steht uns an Shuttles, Po werpacks und Generatoren zur Verfügung?« »Zweiundzwanzig Banshee Xwo-Shuttles«, sagte Shelly. »Sechzehn werden binnen drei Stunden hier sein. Wenn wir auf die AM Lances warten, ist reichlich Zeit, dass alle zweiundzwanzig eintreffen.« »Duncan, fangen Sie an, eine Ladeliste aufzustellen«, sagte Mike. »Sie wissen, was zu tun ist: Stellen Sie sicher, dass das Zeug über
sämtliche Shuttles verteilt wird. Fangen Sie an, die Ladung für jeden einzelnen Shuttle vorzubereiten. Auf die Weise können wir sie so fort beladen, wenn sie eintreffen. Gehen Sie davon aus, dass wir Shuttles verlieren werden, ehe sie hier sind, und dass wir sie nach her unter Beschuss entladen müssen.« »Ich dachte, wir würden Flächenfeuer bekommen«, meinte Cap tain Holder. »Bekommen wir«, antwortete Mike. »Sonst gehen wir nicht hin. Das heißt aber nicht, dass wir nicht sowohl unterwegs wie auch nach der Landung gegnerisches Feuer bekommen werden. Es be deutet lediglich, dass wir nicht sofort ausgelöscht werden. Jedenfalls, Duncan, die AIDs können das zum größten Teil erledi gen, aber ich möchte, dass Sie für diesen ganz besonderen Funken ›Intuition‹ sorgen«, fügte er grinsend hinzu. »Hab's kapiert«, sagte der Captain mit undurchdringlicher Miene. »Wir haben aber nur insgesamt fünf Generatoren und Powerpacks. Und wenn die Powerpacks einen Treffer abbekommen …« »Gibt's einen gewaaaltigen Knall«, warf Stewart ein. »Da sollte es doch einen die Erde erschütternden Knall geben, aber wo war denn dieser die Erde erschütternde Knall?«, zitierte Gunny Pappas schmunzelnd. »Setzen Sie niemanden in diese Shuttles«, sagte Mike und zuckte die Achseln. »Es passt mir zwar gar nicht, dass sie ›auffällig‹ sind, aber wir werden sie separat fliegen lassen. Sie können in den Bergen parken, und nachdem wir eine Landungszone gesichert haben, kön nen sie reinkommen und abladen. Dann graben wir die Dinger ein und hoffen, dass alles gut geht.« »Etwa wie ›Schnell sterben, damit wir es nicht merken‹?«, witzelte Stewart. »So ähnlich«, antwortete Mike. »Duncan, was sieht die Einsatzpla nung weiter für uns vor?«
»Die beste Chance für eine gut zu verteidigende Stellung ist wahr scheinlich der augenblickliche Standort des Walls«, sagte Duncan und projizierte ein Hologramm. »Wir können uns dort eingraben und es denen sehr schwer machen, uns wieder auszugraben. Aber dort reinzukommen wird halt gar nicht so einfach sein.« »Wir werden drei oder vier SheVas haben, die uns Feuerunterstüt zung liefern«, antwortete der Stabsoffizier. »Das bedeutet insgesamt sechs bis acht Schuss Antimaterie für Geländesicherung. Ergo kön nen wir nur ein ziemlich kleines Areal völlig sichern, höchstens vier tausend Meter Kantenlänge. Wir müssen sicherstellen, dass die Lan dezone nicht eingesehen werden kann, deshalb müssen wir vor un serem Ziel landen, am Black's Creek, etwa dort, wo früher einmal Mountain City war. Das ist ziemlich flaches Land und, was noch wichtiger ist, eine Art ›Senke‹ in den Bergen; man kann sie vom Tal und der Ebene aus nicht einsehen. Es gibt dort eine ziemlich ausgedehnte Fläche, auf der sämtliche Shuttles gemeinsam landen können. Wir nehmen diese Landezone, sichern sie und rufen dann die beiden Shuttles mit den AM Power packs. Sobald sie gesichert sind, rücken wir zum Wall vor und gra ben uns ein. Ich schlage vor, Charlie-Kompanie im Westen und Bra vo im Osten, aber um das festzulegen, habe ich einfach eine Münze geworfen, das könnte man also auch ändern.« Er rief das nächste Hologramm auf, das die Struktur des Walls zeigte. »Nach den vorhandenen Informationen haben die Posties sich den Wall selbst vorgenommen. Bis wir also dorthin kommen, werden wir wahrscheinlich nicht wissen, wie die Lage tatsächlich ist. Aber ich denke, wir sollten davon ausgehen, dass die den Wall im Großen und Ganzen platt gemacht haben.« »Da hatten die aber einiges platt zu machen«, wandte Holder ein. »Dem Bericht nach haben sie massives kinetisches Bombardement und Schiffsgeschütze eingesetzt«, erklärte Mike. »Damit können die einen Monitor in Klump schießen, also dürfte auch der Wall kein Problem gewesen sein.«
»Das heißt K-Deks«, erklärte Duncan. »Lampreys können ihre Weltraumwaffen nicht gegen Bodenziele einsetzen.« »Es sind sowohl K-Deks als auch Lampreys gemeldet«, sagte Ste wart. »›Eine große Zahl‹. Und dann war da auch erwähnt, dass ein überlebendes SheVa sich mit ihnen angelegt hat. Im Westen ist ein FAT-Team von Fleet unterwegs. Die rücken vor, aber wir werden wahrscheinlich vor ihrem Eintreffen in der Landezone sein …«
Elgars blickte von ihren Karten auf und runzelte die Stirn. »Was war das?« Billy, der gerade am Gewinnen war, blickte auf und zuckte die Achseln. Er sah zur Tür, aber die anderen Kinder waren so laut, dass er nichts hören konnte. Das Abendessen war gerade vorbei, und die Kinder beklagten sich immer noch lautstark über das Essen. Ein einziger Besuch auf der O'Neal-Farm hatte ausgereicht, sie auf den Geschmack kommen zu lassen. Im Augenblick wünschte sie sich allerdings einfach nur, sie würden still sein. Doch das nächste Dröhnen von draußen war laut genug, um auch zu Shari durchzudringen. »Kinder! Ruhig!«, rief sie. Sie musste es dreimal wiederholen, bis Shakeela schließlich zu reden aufhörte, aber als sie das dann tat, sah sie zu Elgars hinüber und runzelte die Stirn. »Schreit da jemand?« »Ja, scheint so«, sagte der weibliche Captain, stand auf und ging zur Tür. Als sie sie eben erreicht hatte, kam Wendy herein. »Wir haben da eine Situation«, sagte sie atemlos. »Wieder ein Pos leen-Gerücht.« »Gerücht oder Tatsache?«, fragte Shari nervös. »Im Augenblick drehen da ein paar Leute durch, deshalb weiß ich es nicht genau«, antwortete die Jüngere und zuckte die Achseln. »Ich war gerade nach oben unterwegs, als ich auf die Menge stieß.
Aber es hat keinen Alarm gegeben, deshalb würde ich sagen, es ist ein Gerücht.« »Und wie erfahren wir das genau?«, fragte Elgars. Wendy zuckte erneut die Achseln und ging zum Terminal der Sprechanlage. »Wir rufen Harmon an; er ist oben beim Eingang. Der müsste ja etwas gehört haben.« Sie tippte den Code ein und fing an zu reden, als Daves Gesicht auf dem Bildschirm erschien, aber da kam nur eine aufgezeichnete Nachricht. »Hallo, hier Dave Harmon von den Harmony Rangers. Ich bin gerade nicht da, aber …« »Also das hat nicht geklappt«, sagte Wendy und runzelte die Stirn. »Andererseits …« »Was?«, fragte Elgars. »Na ja, das ist erst das zweite Mal, dass ich seinen Anrufbeantwor ter erreiche«, räumte Wendy ein. »Okay, Captain, ich würde vor schlagen, wir beide gehen in Sektor A und sehen nach, ob wir zur Abwechslung mal jemanden von der Sicherheit finden; aber wenn man die braucht, sind sie natürlich nie da.« »Und was machen wir, wenn es wirklich die Posleen sind?«, fragte Shari. »Wenn sie bereits in der Urb sind?« »Dann gehen wir zu den festgelegten Verteidigungspunkten«, ant wortete Wendy. »Aber ich hoffe, dass sie nicht in der Urb sind, denn wenn sie zu den Haupteingängen reingekommen sind, ohne dass eine Warnung kam, dann haben sie die Waffenkammer …« »Wenn man den Zustand deines Gewehrs bedenkt, würde das vielleicht gar nichts ausmachen«, sagte Elgars und ging zur Tür. »Und wir sind beide unbewaffnet.« »Wir gehen zum Schießplatz«, sagte Wendy. »Shari, sperr ab; wir haben es offensichtlich mit einer aufgebrachten Menge zu tun.« »Okay«, erwiderte Shari. »Seid vorsichtig.« »Wie wär's mit ›Kommt wieder zurück‹?«, wollte Wendy wissen. »Drück uns die Daumen.«
Eigentlich wollte Wendy die Hauptstraße zum Sektor A nehmen, aber alle größeren Durchgangswege waren verstopft. Als einen Auf ruhr konnte man das Ganze noch nicht bezeichnen, aber die einzel nen Gruppen waren unruhig und zogen ziellos herum wie Rinder, die Rauch riechen, aber noch nicht sicher sind, aus welcher Richtung das Feuer kommen könnte. Aber der geringste Funke würde ausrei chen, um eine Stampede auszulösen. Wendy schüttelte den Kopf, betrat einen drittrangigen Korridor und bog dann einige Male ab, bis Elgars völlig verwirrt war. »Ich hatte gedacht, ich würde mich allmählich an diesen Ort ge wöhnen«, meinte sie. »Aber wenn da die Tafeln nicht wären, hätte ich jetzt keine Ahnung mehr, wo du eigentlich hingehst.« »Dazu muss man eigentlich hier geboren sein«, räumte Wendy ein und öffnete eine Tür, auf der »Betreten verboten« stand. »Vorzugs weise jemand mit Zugangsberechtigung für Notfälle.« Der Korridor, auf dem sie sich jetzt befanden, war allem Anschein nach ein Wartungsflur für die Unmengen von Pumpen und Rohren für die Wasserversorgung und Kanalisation der Urb. Links von ih nen dröhnte und gurgelte eine mächtige Pumpe, an der ein halbes Dutzend grauer Rohre hing, keines unter einem Meter Durchmesser. Wendy ging zu einer Leiter, die in das Geschoss darüber führte. »Zeit, zu klettern.« Die Leiter führte mindestens fünf Etagen höher, und Wendy klet terte dicht gefolgt von Elgars schnell hinauf. Offenbar bereitete ihr das nicht die geringsten Schwierigkeiten. »Wo sind wir?«, fragte Elgars. »Ziemlich genau an der Grenze zwischen Sektor A und D«, ant wortete Wendy und ging auf das Ende eines Korridors zu, der mit dem ersten identisch zu sein schien. »Wenn ich mich richtig erinne re, führt das hier in einen Sekundärkorridor, und der sollte via
Hauptweg zum Schießplatz führen.« Sie blieb an der Tür stehen, legte vorsichtig die Hand dagegen und presste dann das Ohr an die Wand. »Hörst du etwas?« »Ich würde eher sagen fühlen«, sagte Elgars. Der Boden schien in unregelmäßigen Abständen unter ihnen zu vibrieren. »Das ist … neu«, sagte Wendy und öffnete die Tür. Der Korridor, den sie jetzt betraten, war leer, aber zum ersten Mal waren jetzt in der Ferne Schreie zu hören und dann, etwas näher, et was, das wie Schüsse aus einer Schrotflinte klang. »Okay, das klingt nicht gut«, meinte Wendy. Sie sah den Korridor hinauf und hinunter und war sich sichtlich unschlüssig, in welche Richtung sie gehen sollte. »Links geht's zum Schießstand«, murmel te sie. Von dort kam auch der größte Lärm. Doch dann wurde ihnen die Entscheidung abgenommen: Am rechten Ende des Korridors tauchte ein Knäuel Menschen auf, und einige davon rannten in die andere Richtung. Beinahe gleichzeitig tauchte auf der linken Seite eine massige Gestalt in einem Rollstuhl auf, die sich so schnell sie konnte in entgegengesetzter Richtung ent fernte. »Oh, Scheiße«, stieß Wendy hervor. »Oh … merde.« Einen Augen blick lang war ihr schwindlig, und sie hatte einen Geschmack wie von Eisen im Mund; was hier vorging, gefiel ihr wirklich nicht. »Hey, Wendy«, sagte Harmon und hielt neben ihnen an, während die verstörten Flüchtlinge vorbeirannten. »Dass man dich hier trifft.« »Hast du gewusst, dass ich den Tunnel heraufkommen würde?«, fragte sie und schüttelte den Kopf. »Na ja, ich hab nicht angenommen, dass du die Rolltreppe nehmen würdest«, gab er zu. »Entweder die hier oder Leiter Siebzehn B, und wenn du die genommen hättest, dann wärst du jetzt schon tot, also hatte ich gedacht, ich sollte hierher kommen.«
»Ach, Scheiße, Dave«, sagte sie und blickte in den Wartungsraum. Die Vorstellung, Harmon über diese Leiter hinunterzulassen, war nicht gerade angenehm. »Gehen wir hinein, ja?«, meinte er und rollte an ihr vorbei. »Und mach die Tür zu.«
»Was war denn los?«, fragte sie und schloss die Tür aus Memory plastik. Sie wünschte, es wäre eine feuersichere Tür. »Keine Ahnung«, sagte Harmon. »Ich bin da auf einen der Knaben von der Sicherheit gestoßen; die haben gemeint, der Computer sei nicht bereit, die Posleen zu erkennen oder einen systemweiten Not stand zu erklären. Wenn ich also nicht einzelne Leute anrufen und denen sagen wollte, sie sollten verschwinden, gab es da nicht viel zu tun. Und vom Korps haben sie überhaupt nichts gehört; die Posleen waren über der Urb, ehe einer gemerkt hat, dass etwas nicht stimm te. Ich war in meinem Quartier; ich habe es nicht einmal bis zum Schießplatz geschafft.« Er griff in seinen Ranzen und zog eine kurz läufige Pumpgun heraus. »Doch ich hatte natürlich vorgesorgt.« »Aber das ist wie Rochester«, flüsterte Wendy. »Wenn die an den Eingängen sind, können wir überhaupt nichts machen.« »Darüber habe ich auch nachgedacht«, sagte Harmon. »Es gibt mehr als nur Personaleingänge; die Getreidelifts liegen in einem völ lig separaten Bereich. Wenn du durch die Hydroponik auf Etage H hinunterfährst und dort einen der Lifts nimmst, kommst du etwa fünf Meilen vom Pendergrass Mountain entfernt in einem Industrie park heraus. Posleen können nicht überall sein; sobald du es bis in die Berge geschafft hast …« »Das … könnte funktionieren«, murmelte Wendy, die sich allmäh lich wieder von ihrem Schock erholte. »Aber wie in drei Teufels Na men sollen wir dich denn nach Sektor H bekommen?«
Harmon lachte und schüttelte den Kopf. »Das wirst du nicht, ich werde die Leiter nach D hinunternehmen und dort in die Cafeteria rollen. Aber weiter gehe ich nicht.« »Dave …« »Halt den Mund, ja?«, forderte er sie auf. »Wir müssen hier weg, und ich brauche deine Hilfe. Die Leiter kann ich selbst hinunterklet tern, aber ich brauche jemanden, der den Stuhl hinunterbringt.« »Das kann ich machen«, sagte Wendy. »Aber was …?« »Wendy, wenn du es nach draußen schaffst, ganz besonders mit den Kindern, dann wäre das ein Wunder«, sagte er. »Du wirst es nicht schaffen, wenn du einen … einen Typen in einem Rollstuhl mitschleppst. Zu viele Leitern, zu viele enge Gänge, die nicht gerade ›behindertenfreundlich‹ sind. Klar?« »Klar«, nickte Wendy. Ihn die Leiter hinunterzubringen war leichter, als es zunächst aus gesehen hatte. Wendy fand ein Stück Riemen und ließ den Rollstuhl fast das ganze Stück hinunter, dann kletterte Elgars hinunter und hielt ihn fest, während Wendy weiterkletterte und die Prozedur wie derholte. Harmon konnte, wie er das gesagt hatte, die Leiter nur un ter Einsatz seiner Arme hinunterklettern. Ihn unten wieder auf den Stuhl zu setzen war etwas komplizierter, aber auch das schafften sie schließlich. Das Gedränge auf den Korridoren war weniger geworden, weil in zwischen bereits viele Leute Orte aufgesucht hatten, die sie für si cher hielten. Sie rollten den ehemaligen Polizeibeamten in die Cafe teria, die sich bereits mit Leuten füllte. Wie erwartet hatten viele von ihnen »irgendwo« eine Waffe gefunden. Wendy rollte Harmon in die Halle und stellte ihn hinter einer hastig aufgebauten Barrikade ab. »Mir passt das immer noch nicht«, sagte sie. Sie sah sich um und stellte fest, dass die meisten Leute im Saal älter oder irgendwie be hindert waren. Andererseits wirkten die meisten von ihnen auch
durchaus, als ob sie mit allem fertig werden würden, was da etwa durch die Tür hereinkommen sollte. »Wenn es nur ein kleiner Überfall ist und noch jemand mit einer Waffe auftaucht, könnten wir es schaffen«, sagte er und zuckte die Achseln. »Und wenn ihr zuseht, dass ihr jetzt verschwindet, werden wir uns später sicherlich wiedersehen.« Elgars ging auf ihn zu, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und rieb dann über seine Bartstoppeln. »Du solltest niedrig zielen«, murmelte sie. »Vielleicht reiten die auf Shetland-Ponys.« Harmon lachte und nickte. »Mach ich. Und jetzt verschwindet hier.« Einer der anderen Verteidiger kam zu ihnen herüber, ein kräftig gebauter alter Mann mit silbernem Haar und Händen, denen man noch immer ansah, dass er sich einmal seinen Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdient hatte. Er hatte eine abgesägte Pumpgun in der Hand, ähnlich der Harmons, und trug in der anderen zwei Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit. »Kaffee, Dave?« »Verdammt noch mal, wo hast du denn den her, Pops?«, fragte Harmon und lachte. »Und ich sehe, dass wir da eine Waffe tragen, das widerspricht eindeutig den SubUrb-Vorschriften«, fügte er in strengem Tonfall hinzu. »Oh, das hier?«, sagte der alte Mann und hob die Pumpgun, die sich in sehr gutem Zustand befand. »Die habe ich im Korridor liegen sehen. Hat wohl irgendein Übeltäter in seiner Angst fallen lassen. Wahrscheinlich, weil er sich überlegt hat, dass die Sicherheitsleute böse sein würden, wenn sie ihn damit erwischen; vermutlich hat er das Zittern bekommen.« Er griff in eine Tasche seines voluminösen Umhangs und zog eine Hand voll Patronen Kaliber 12 heraus. »Hast du genügend Munition?« Dave lachte bloß und schüttelte den Kopf. »Verschwindet jetzt, La dies. Ich komm hier schon klar.« Wendy tätschelte ihm ein letztes Mal die Schultern und ging in den Korridor hinaus.
»Wir brauchen einen Plan«, meinte sie dann. Elgars musterte sie nachdenklich. »›Bringt sie alle um; Gott wird schon wissen, wer zu ihm gehört.‹« »Wo hast du denn das gehört?«, wollte Wendy wissen. »Keine Ahnung, aber als du ›Plan‹ gesagt hast, ging's mir einfach durch den Kopf«, seufzte Elgars. »Wir brauchen Waffen. Und die sind in meinem Zimmer.« »Ja, und wir müssen die Kinder in die Hydroponik schaffen«, füg te Wendy hinzu. »Du holst die Waffen, ich kümmere mich um die Kinder. Wir treffen uns am Eingang von Hydro. Bring alle Munition mit, die du tragen kannst.« »O ja«, grinste Elgars. »Das kann ich dir garantieren.«
30 In der Nähe von Franklin, Georgia, Sol III 2047 EDT, 26. September 2014
»Du wirst ja wohl nicht mein Oolt dort landen lassen?«, fragte Cho losta'an bekümmert. In der Tiefe war der Strom von Posleen, die in die unterirdische Stadt eindrangen, deutlich zu sehen. Ebenso wie die gewaltige Beute von den menschlichen Truppen. »Ich denke nicht«, sagte Orostan. Jetzt, wo der Plan allem An schein nach wunschgemäß ablief und das verhasste SheVa-Ge schütz, das offenbar nicht zu fassen war, allem Anschein nach die Flucht ergriffen hatte, schien sich sein Gemütszustand gebessert zu haben. »So, wie die Dinge stehen, müssen noch viele feindliche Posi tionen erobert werden, und wir liegen weit hinter dem Plan. Dein Oolt hat einen Auftrag zu erfüllen, und damit ist das erledigt.« »Solange ich meinen Anteil bekomme«, seufzte Cholosta'an. »Aber ich könnte mir wirklich einige Beute wünschen. Bisher habe ich noch nie an einem erfolgreichen Angriff teilgenommen; ich empfinde es einfach als Verschwendung, die ganze Beute anderen zu überlas sen.« »Du wirst später noch genug bekommen«, schnaubte Orostan. »Sieh es einmal so: Du bekommst einen Anteil von all dem. Wenn dieser Einsatz abgeschlossen ist, wirst du reich sein. Und jeder, der durch einen Pass zieht, den wir eingenommen haben, schuldet uns einen Anteil; deshalb ist es wichtiger, einen Weg zum flachen Land hinter den Bergen zu öffnen, als eine stinkende Stadt zu plündern. Ich wünschte, man könnte sie ganz davon abhalten. Ich brauche die
se Oolt'os dazu, dass sie Pässe erobern und die menschlichen Ver bände niederkämpfen, nicht zum Plündern.« »Was ist unser nächstes Ziel?«, fragte der jüngere Kessentai. »Es gibt da eine Brücke über einen Fluss, den die Menschen Little Tennessee nennen«, sagte Orostan. »Ein schrecklicher Name. Und danach müssen wir die Straße hinauf in die Berge nehmen. Dort gibt es vier oder fünf sehr wichtige Ziele. Wir werden das ganze Oolt'on dar auf den Tennessee ansetzen, und dann, sobald wir den Über gang gesichert haben, teilen wir uns auf und wenden uns den Zielen in den Bergen zu. Unser Auftrag besteht darin, die Route Vier-VierEins zu öffnen. Sanada wird die Straße Acht-Und-Zwanzig überneh men.« »Eine Brücke, so«, meinte Cholosta'an bedrückt. »Und Bergstra ßen.« »Keine Sorge, junger Kessentai«, beruhigte ihn der Oolt'ondai. »Diesmal werden wir eine Überraschung für die Menschen haben.«
Major Ryan stand am Hang von Rocky Knob und beobachtete die Brücke in der Tiefe. Er konnte sehen, wie die Posleen im schwächer werdenden Licht östlich an Franklin vorbeizogen, aber sie waren noch nicht auf der Brücke. Und dort gab es immer noch Flüchtlinge. »Wann sprengen sie sie?«, fragte die Spezialistin und zupfte an ih ren Händen herum. Die Brücke für die Sprengung vorzubereiten war harte Arbeit gewesen. »Da ist immer noch Militärpolizei, die den Verkehr regelt«, ant wortete Ryan und ließ den Feldstecher sinken. »Ich weiß nicht, ob sie wie wir das tun, was richtig ist, oder ob sie bloß ihre Befehle er füllen. Aber wenn sie noch auf der Brücke sind, sobald die Posleen sie erreichen, werden sie in die Luft fliegen.« »Das ist aber ganz schön hart für die MPs«, gab sie zu bedenken.
»Es wird noch viel härter für alle anderen sein, wenn die Posleen die Brücke intakt erobern«, sagte er. »Aber ich frage mich wirklich, was sie diesmal tun werden.« »Wie meinen Sie das?« Er setzte sich am Straßenrand nieder und ließ die Beine über dem Straßengraben baumeln. Sie hatten an einer Kurve einer Seitenstraße in der Nähe von Cook Creek Halt gemacht, und die anderen Solda ten machten Pause, aßen ihre Rationen, tauchten die Hände in das kalte Quellwasser und fragten sich, was dieser exzentrische Pionier, der sie führte, wohl als Nächstes von ihnen verlangen würde. Sie hatten allmählich die Gruppe eingesammelt, die er suchte, Sol daten, die ihre Waffen und ihr Gerät behalten hatten und bereit wa ren, jemandem zu folgen, der gleich von vornherein sagte, dass er zu einer Nachhut gehörte. Statt der vier, die er vorgehabt hatte, hat te er acht Nachzügler eingesammelt, und die Brücke über den Ten nessee war sein erstes Ziel. Sobald sie gesprengt war, würden sie zur nächsten weiterziehen, und dann wieder zur nächsten, bis ihnen entweder der Sprengstoff oder das Glück ausging. Letzteres bereite te ihm mehr Sorge als Ersteres. »Diese Burschen verhalten sich recht klug, also wissen sie ja wohl, dass wir versuchen werden, ihren Vormarsch aufzuhalten, richtig?« »Richtig.« Kitteket nickte. »Und deshalb haben sie sich ganz bestimmt überlegt, wie sie über den Fluss kommen«, fuhr er fort, »Ich kann mir einfach nicht vor stellen, dass die bloß stehen bleiben und aufgeben. Sie?« »Nein, Sir«, erwiderte der weibliche Specialist. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Na ja, so, wie es aussieht, werden wir es ja bald erfahren«, meinte er, als der Strom Posleen, über denen vier Lampreys und ein K-Dek am Himmel hingen, in Richtung auf die Brücke abbog. In der Ferne konnte er weitere Lander sehen, die nach Westen schwenkten. »Ich denke, die teilen ihre Kräfte auf«, sinnierte er.
»Also das ist ja nicht besonders schlau«, sagte Kitteket. »Zumin dest, wenn es keine Finte ist.« »Könnte sein«, sagte Ryan und sah den jungen weiblichen Specia list an. »Wieder etwas aus dem Handbuch?« »So ähnlich. Wie viele von den Gäulen können die Ihrer Ansicht nach in einer Stunde durch den Pass drücken?« »Keine Ahnung«, antwortete Ryan und stellte dann eine kurze Be rechnung an. »Wahrscheinlich sechzig- bis hundertzwanzigtausend. Sagen wir neunzig bis hundert.« »Also werden sie die in zwei verschiedene Richtungen treiben«, sagte Kitteket. »Das verringert die Zahl der Truppen, die man braucht, um sie auf beiden Wegen aufzuhalten.« »Mhm«, machte Ryan. »Andererseits bringt jede der beiden Rou ten ihre eigenen Probleme mit sich; ich weiß beispielsweise nicht, ob sie auf dem ganzen Weg bis Asheville so viele durchdrücken kön nen wie zuerst durch die Rabun-Lücke. Außerdem, indem sie sich aufteilen, machen sie die Aufgabe schwieriger, sie abzuschneiden. Zwar wird jede einzelne VerteidigungsStellung in Anbetracht der geringeren Zahl möglicherweise länger standhalten und auch mehr ausrichten können, aber dafür muss man auch mehr Routen abde cken. Insgesamt betrachtet glaube ich, dass es für die Posleen eher ein Vorteil und für uns ein Nachteil ist.« »Könnte sein, Sir.« Kitteket nickte bestätigend. »Vermutlich hängt es davon ab, ob an den anderen Routen auch Verteidiger sind.« »Ich denke, Sie haben mir jetzt gerade bestätigt, was ich dachte«, meinte Ryan und lächelte dabei. »Und jetzt werden wir herausfin den, wie effizient wir sein werden«, fuhr er fort, als das MP-Platoon auf der Brücke in aller Eile in die Humvees stieg und sich unter dem Feuer des vordersten Oolt zurückzog. Zum Glück für Ryans Ge mütsverfassung gab es keine Nachzügler zwischen der Militärpoli zei und den Posleen; er hatte schon Brücken mit Nachzüglern ge sprengt, und das war wirklich bei aller Fantasie nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung.
»Werden Sie warten, bis die auf der Brücke sind?«, fragte Kitteket. »Nein«, erwiderte Ryan. »Und wenn ich das täte, würde Sergeant Campbell sie in die Luft jagen. Die Vorschrift lautet …« »Fünfhundert Meter«, fiel Kitteket ihm ins Wort. »Ich wollte mich bloß vergewissern.« »Schreibstube?«, murmelte er. »Vier Jahre, Sir. Genau hier. Also, dort unten, meine ich«, sagte sie und wies auf die Lücke. »Ich tippe fast achtzig Wörter die Minute.« »Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich irgendwelche Formulare aus zufüllen habe«, sagte Ryan und legte einen Schalter um, als die ers ten Posleen einen Wegweiser passierten, bei dem er sich vorher ver gewissert hatte, dass er ziemlich genau fünfhundert Meter von der Brücke entfernt war. Die Explosion war alles andere als spektakulär. Es gab da bloß ein paar kleine Rauchwölkchen, und dann plumpsten die Teile der Stahlbetonbrücke in den Fluss. »Und das war's?«, fragte Kitteket. »Das war's.« Ryan nickte und packte sein Sprenggerät ein. »Ich habe eine Menge Rauch und Feuer erwartet und dass die Brücke hoch in die Luft fliegt«, seufzte sie. »Für die paar kleinen Rauchwölkchen haben wir eine Menge Arbeit geleistet.« »Ich bin eben ein Meister«, erklärte er mit einem gewissen Stolz. »Das Wesen der Meisterschaft beim Sprengen von Gegenständen besteht darin, minimale Kräfte einzusetzen, und ich habe in den letzten paar Jahren eine Menge Brücken gesprengt. Da wir nur über ein Minimum an Sprengstoff verfügen, bin ich insgesamt der Mei nung, dass das eine gute Idee ist.« »Sicher, Sir.« Kitteket lachte. »Und was nun, großer Meister?« »Als Nächstes werden wir eine Straße in die Luft jagen«, antworte te er. »Sobald wir gesehen haben, was diese Posleen bezüglich der Brücke tun werden.«
Die erste Welle Posleen hastete ziellos herum, während die Gott könige an der Spitze mit ihren Untertassen höher stiegen und über den Fluss flogen. Aber sie kamen schnell zurück und schwärmten am Ufer aus, während von hinten neue Einheiten nachrückten. »Du großer Gott«, sagte Ryan und schüttelte den Kopf. »Was?« »Die schwärmen aus, damit die Artillerie nicht so viel Schaden an richten kann. Es wäre besser für sie, wenn sie anfingen sich einzu graben, aber ich denke, so weit sind die noch nicht.« »Das ist schlecht«, sagte Kitteket. »Stimmt's?« »Allerdings«, nickte der Major, als der erste Lamprey den Fluss überquerte und drüben seine Truppen absetzte. Er stieg gleich wie der auf und übernahm ein neues Kontingent, pendelte ständig zwi schen den beiden Ufern hin und her. Sobald sie die andere Seite er reicht hatten, nahmen die meisten Einheiten die Verfolgung der flie henden Menschen auf, aber einige wenige schwärmten auf dem an deren Flussufer ebenso aus wie vorher diesseits, schwärmten weit aus und stellten sicher, dass keine Menschen in unmittelbarer Um gebung zurückgeblieben waren. »Und jetzt errichten sie eine Verteidigungslinie«, sagte Ryan. »Warum tun sie das? Eine Verteidigungslinie um die Brücke? Die ehemalige Brücke.« »Vielleicht, weil sie ein Grillfest planen?«, fragte die junge Frau. »Äh, Major, es fängt an dunkel zu werden, und jene Posleen, die nicht damit beschäftigt sind, einen Brückenkopf zu errichten, ziehen die Straße herauf. Auf uns zu.« »Aber die Lander bewegen sich nicht«, sagte Ryan, als ob er sie nicht gehört hätte. Einer von den anderen Lampreys hatte sich jetzt dem ersten angeschlossen und beförderte ebenso Truppen über den Fluss, aber die beiden restlichen Lampreys und der K-Dek blieben auf dem Boden verteilt, so als würden sie auf etwas warten. »Was machen die bloß?«
»Sir, vielleicht sollten wir uns darüber irgendwo anders den Kopf zerbrechen?« »Ah«, antwortete der Major mit einem unartikulierten Grunzlaut. »Jetzt bewegt sich etwas.« Die Posleen-Verbände hatten sich in das Tal zurückbewegt, auf eine sehr disziplinierte Weise, die Ryan immer noch Unbehagen be reitete, und jetzt verließen die Zentauren die Straße, um eine andere Gruppe vorbeizulassen. Er richtete seinen Feldstecher auf die For mation in der Dunkelheit und schüttelte den Kopf. »Sagen Sie mir, dass die nicht das sind, was ich da sehe«, murmel te er. »Keine Ahnung«, murrte Kitteket. »Sie haben das Glas.« Er reichte es ihr und schüttelte den Kopf. »Wo zur Hölle haben die die herbekommen?« »Sir«, sagte Kitteket und stöhnte auf. »Sind das …?« »Ja, das sind Indowy.«
Orostan verschränkte die Arme und ließ den Kamm sinken, um dem kleinen Grünen keine Angst zu machen. Tulo'stenaloor hatte bereits einen Kessentai töten lassen, der den Tod eines der »Pioniere« zuge lassen hatte; die kleinen Geschöpfe waren unter großem Aufwand gekauft und zur Erde transportiert worden und stellten eine sehr knappe Ressource dar. Aber mit ihnen umzugehen war sehr schwie rig. Er deutete auf die Stelle, wo vor kurzem noch die Brücke gewesen war. »Dort war eine Brücke«, sagte er in einem Mischmasch aus Pos leen und Galaktisch. »Dort muss eine neue sein. Wenn dort eine neue ist, wird alles gut sein. Wenn nicht, wird euer Clan vernichtet werden.« Die Indowy schoben sich um ihn herum und gingen zu der demo lierten Brücke. Die Stützen, auf denen beide Bogen geruht hatten,
waren weggesprengt worden, und die Metallträger waren an meh reren Stellen zerfetzt. Übrig geblieben war eine ineinander ver schlungene Masse aus Stahl und pulverisiertem Beton. Er betrachte te die Überbleibsel einen Augenblick lang und sah sich dann um, musterte die Umgebung. Danach schob er sich wieder vorsichtig an den Posleen-Kommandeur heran. »Ich werde Hände brauchen, mehr Hände, als wir haben«, sagte der Indowy kleinlaut. »Glücklicherweise gibt es hier eine Material quelle. Wir werden nicht versuchen, die Brücke wieder aufzubauen, sondern werden neue näher am Wasser bauen. Das wird schneller gehen. Trotzdem wird es bis zum Morgen dauern. Wir können keine Wunder wirken.« »Ihr könnt alle Oolt'os haben, die ihr braucht«, sagte Orostan und wehrte mit einer wegwerfenden Geste die Frage ab, von der er wusste, dass sie gleich kommen würde. »Sie werden von Ihren Kes sentai geführt werden. Ich werde diejenigen aussuchen, die mit euch arbeiten. Ihr dürft ihnen alle Befehle geben, die Ihr wollt; euch wird kein Schaden zugefügt werden.« »Es wird Zeit in Anspruch nehmen«, gab der Indowy zu beden ken. »Es muss so schnell wie möglich geschehen«, warnte Orostan. »Keine Verzögerung.« »Wir werden sofort beginnen.«
»Verdammter Mist«, sagte Ryan und holte sein Notebook heraus. »Was, Sir?«, fragte Kitteket. »Sie … tun etwas?« »Sie ersetzen die Brücke«, sagte Ryan. »Das wird interessant wer den.« »Was werden wir dann tun?«, fragte sie. »Und in Brendleston sind Posleen unterwegs.«
»Brendletown«, korrigierte er sie pedantisch. »Wir sehen zu, dass wir hier schleunigst verschwinden; ich habe alles gesehen, was ich sehen muss.« »Wohin?«, fragte sie. »Ich wollte den Rocky Top sprengen«, sagte er nach einem Blick auf die Landkarte. »Aber das wäre für die leicht zu räumen. Des halb, denke ich, suchen wir uns etwas, das denen etwas mehr Pro bleme schafft. Unglücklicherweise sind wir ein Stück abgeschnitten.« »Was!?«, rief Kitteket aus. »Oh, nichts, womit wir nicht klarkommen«, erwiderte der Major. »Aber hier rauszufahren wird … interessant sein. Andererseits ver schafft es uns Zeit, uns etwas Neues einfallen zu lassen, womit wir unsere Besucher unterhalten können.«
»Ist es schlimm?«, fragte Shari, als Wendy zur Tür herauskam. »Ja«, nickte Wendy. »Lade die Kleinen auf. Hast du die Notfallta schen?« Shari schüttelte bloß den Kopf und ging nach hinten, rief den Kin dern zu, sie sollten eine Reihe bilden. Dann holte sie Rucksäcke her aus, die für die Kinder neu waren, und gab sie aus. Jedes der Kinder bekam einen, und sie tat eine warme Jacke hinein und kleine Pakete mit Lebensmitteln. Sie schärfte ihnen ein, sie sollten nicht zu sehr reinhauen, das Essen würde lange Zeit vorhalten müssen. Dann sah sie sich ihre Schuhe an und tauschte sie in einem Fall aus; danach ließ sie sie eine Schlange bilden und auf die Toilette gehen. Unterdessen packte Wendy Lebensmittel und Wasser in größere Behälter. Dann ging sie hinaus, um noch Munition zu holen, und hoffte, dass Elgars Kampfpanzer besorgen konnte; die hatten inte grierte Munitionstaschen. Sie erwog sich umzuziehen, aber die Le
derhose, die sie trug, hatte sich ein wenig ausgedehnt und passte jetzt gut; sie würde vermutlich ziemlich strapazierfähig sein. Als sie fertig War, hatten die Kinder in einer Reihe Aufstellung ge nommen und Shari hatte sich Amber in einer Art Schal auf den Rücken gebunden. Ohne ein weiteres Wort eilten sie zur Tür. Wen dy sah sich draußen nach beiden Seiten um und ging dann voraus, führte die Reihe Kinder an, deren Nachhut Shari bildete.
Elgars drückte ihre Tür mit der flachen Hand auf und ging zu dem Spind an der Wand, schlüpfte dabei aus ihren Kleidern. Die Tür klappte auf, als ob sie auf sie gewartet hätte, und sie begann ihre Montur anzulegen: zuerst Uniform und Stiefel, dann Körperpanzer, Helm und Kampfpanzer. Sie musterte alle Waffen in dem Spind und runzelte die Stirn. Elgars sehnte sich nach ihrem Barrett so, wie ein Junkie sich nach einer Spritze sehnt, aber am Ende gelangte sie zu der Entscheidung, dass das für die augenblickliche Situation die falsche Waffe war, und zog schließlich zwei Pistolen heraus, die Steyr, die Wendy sich genommen hatte, die MP-5 und das AIW. Sie griff sich drei Kampfpanzer, stopfte sie mit Magazinen voll; dann zog sie das Laken von ihrem Bett und packte Munition für alle fünf Waffen hinein. Zum Glück benutzten die Steyr und das AIW diesel ben Patronen und die MP-5 dieselben wie eine der Pistolen. Schließlich befand sie, dass sie bereit war. Sie war jetzt beladen wie ein Kamel, aber sobald sie sich den anderen Frauen angeschlos sen hatte, würde die Last ja verteilt werden. Ohne sich umzusehen oder abzuschließen verließ sie den Raum und eilte zum Sektor G.
Cally stemmte ein weiteres Stück der Bunkerwand in die Höhe und hielt inne, kauerte sich nieder; im schwachen Mondlicht konnte sie
eine reglose, bleiche Hand erkennen. Sie griff danach und wischte über die dicken Haare auf dem Handrücken. Einer der Finger war zurückgebogen, und die Haut war grau und kalt. Sie kauerte im Mondlicht, wippte lautlos auf den Fersen hin und zurück, tat das beinahe die halbe Nacht lang. Dann türmte sie Steine über der Hand auf, griff nach ihrem Gewehr und schlug den Weg in die Berge ein, ohne sich noch einmal umzusehen. Nachdem sie weggegangen war, zwängte sich der Himmit aus dem Bunkerwrack, steckte den HiberzineInjektor weg und folgte ihr, ebenfalls ohne sich umzusehen.
31 In der Nähe von Franklin, Georgia, Sol III 2214 EDT, 26. September 2014
When the Himalayan peasant meets the hebear in My pride He shouts to scare the monster, who will often turn aside. But the she-bear thus accosted rends the peasant tooth and nail, For the female of the species is more deadly than the male. »The Female of the Species« – Rudyard Kipling, 1911 Wenn der Himalaja-Bauer auf den stolzen Bä ren trifft, schreit er, um das Untier zu verscheuchen, und oft wendet er sich ab. Aber die Bärin, so angegangen, zerreißt den Bauern mit Kralle und Zahn, denn das Weibchen der Gattung ist mörderi scher als das Männchen. »Das Weibchen der Gattung«
Wendy blieb oben an der Rolltreppe stehen und runzelte die Stirn; sie funktionierte nicht, aber viel schlimmer waren das Geschrei und die Schüsse, die von unten zu ihr heraufhallten. »Ich denke nicht«, murmelte sie. Das Problem war, dass die Posleen, so weit sie das erkennen konn te, um sie herum und unter sie gekommen waren. Um ihnen aus dem Weg zu gehen, musste die Gruppe daher schleunigst ein paar Etagen tiefer gelangen. Aber die meisten Lifts waren abgeschaltet und die Rolltreppen ebenfalls. Da blieben nur sehr wenige Alternati ven. »Kommt«, sagte sie und kehrte zu dem Hauptkorridor zurück, aus dem sie gekommen waren. Auf etwa halbem Weg stieß sie auf ein Angriffspaket und öffnete es. Sie sah das darin angeordnete Gerät und schüttelte den Kopf; al les mitzuschleppen, was sie sich wünschte, war unmöglich, also musste sie entscheiden, was sie wirklich brauchte. Ein Erste-Hilfe-Paket beispielsweise, das enthielt Hiberzine, und das hatte sie schon zu oft benutzt, um nicht zu wissen, wie nützlich es sein konnte. Auch Türen hatten sich bereits als Problem erwiesen, also zog sie das Türenpaket heraus, das einen Kanister mit flüssigem Stickstoff und einen Drücker enthielt. Und wahrscheinlich würden sie auch klettern müssen, und deshalb legte sie eine Rolle Seil mit Kletterzeug oben auf ihre Schätze. Nachdem sie sich schließlich damit abgefunden hatte, dass sie we der das Brecheisen noch die Rettungssäge mitnehmen konnte, ob wohl beides sie sehr reizte, schloss sie die Tür und ging weiter. Sie öffnete die Tür zu einem Wartungsgang, band die Kinder mit einem Stück des Kletterseils aneinander und forderte sie auf, die Leiter hinunterzuklettern. Die Leiter führte lediglich sechs Etagen in die Tiefe, aber als sie sich dem tiefsten Punkt näherten, verspürte sie einen kräftigen Wind, der aus dem Schacht heraufwehte.
»Was ist das?«, keuchte Shari. Wendy konnte erkennen, dass sie bereits jetzt anfing müde zu werden, insbesondere deshalb, weil sie ja Amber tragen musste. »Luftschacht«, erklärte Wendy. »Auf die Weise kommen wir in Sektor G.« »Das soll wohl ein Witz sein«, meinte Shari, als sie unten an der Leiter angelangt waren. Der Korridor fühlte sich an wie ein Wind tunnel, die kalte Luft peitschte förmlich auf sie ein. Überall an den Wänden waren Seile befestigt, die die Kinder jetzt packten, als sie von der Leiter stiegen. Shari schnappte sich ebenfalls eines und hielt auf das Ende des Korridors zu. Die Öffnung dort nahm die ganze Breite des Korridors ein und war mit einem umklappbaren Gitter versehen, das ein paar Warntafeln trug. Auf der rechten Seite war eine massiv aussehende Winde mit einer Kabelrolle zu sehen, so groß, dass man hätte mei nen können, das Kabel würde bis China reichen. Bereits ein gutes Stück, ehe sie das Ende des Korridors erreicht hatte, konnte Wendy den voluminösen Luftschacht dahinter erkennen. Luft für eine Anlage von der Größe einer SubUrb war immer ein Problem, ganz besonders, wenn sie fast ausschließlich irgendwie re cycelt werden musste. Um die Zuführung von frischer Luft zu er leichtern und eine Mischung von Gasen zu ermöglichen, verfügte die Urb über vier riesige Luftschächte, von denen jeder beinahe drei hundert Meter tief war und sechzig Meter durchmaß. Die Öffnung, an der sie sich jetzt befanden, lag etwa in der Mitte des Sektors B, aber bis unten waren es immer noch fast zweihun dertfünfzig Meter. »Ich kann nur vorschlagen, nicht nach unten zu sehen«, sagte Wendy laut und deutlich, trat an die Winde und löste die Kupplung. »Jetzt machst du aber wirklich Witze«, rief Shari zurück. Der Wind in der Nähe der Öffnung fühlte sich wie ein Orkan an.
»Das Kabel ist lang genug, um nach unten zu kommen und auch noch ein Stückchen weiter«, rief Wendy zurück, zog die ersten zwei Meter Kabel heraus und ließ ihr Klettergerät auf den Boden fallen. »Aber das wollen wir gar nicht; der Zugang zur Hydroponik ist auf G Vier.« Shari fühlte sich ein wenig benommen, und das schwache Licht, das aus dem Schacht drang, schien wie hinter einem Schleier hervor zukommen. Sie hatte dieses Gefühl schon einmal gehabt, das war damals gewesen, als sie vor den angreifenden Posleen in Fredericks burg geflohen war. Es war ein Gefühl abgrundtiefen Schreckens, der bis in ihr Innerstes reichte. »Ich lass dich nach G hinunter«, fuhr Wendy fort, als ob sie gar nicht gehört hätte, was die Ältere gesagt hatte. »Das Kabel ist für drei Tonnen bei tausend Fuß freigegeben, du brauchst also keine Angst zu haben, dass es dich nicht aushält. Die Winde hat Markie rungen für die verschiedenen Öffnungen. Wenn du dort unten an kommst, musst du zusehen, dass du durch die Öffnung kommst. Du solltest das Kabel an der Spule einhaken und es hin und her schwin gen. Ich werde dich von hier oben aus beobachten; wenn ich sehe, dass du das Kabel schwingst, schicke ich die Kinder hinunter. Du wirst dich bemühen müssen, dich beim Hinuntergleiten zu stabili sieren; aber es ist genügend Kabel da, um die Kinder auf halbem Weg festzuhaken, dann kannst du sie von unten aus stabilisieren. Sei vorsichtig und pass auf, dass es dich nicht zur Tür hinauszieht.« »Das ist doch VERRÜCKT«, rief Shari und trat von dem Schacht zurück. »Hör zu«, zischte Wendy dicht an ihrem Ohr, packte sie am Arm und schüttelte sie. »Die Posleen haben die Lifts und den größten Teil der Rolltreppen. Nach oben geht kein Weg hinaus; aber wir haben immerhin die Chance, durch die Hydroponik einen Weg nach drau ßen zu finden. Und nach unten gibt es keinen anderen Weg. Keinen. Anderen. Weg. Und jetzt leg das Geschirr um und mach dich bereit.«
»Den Kindern wird das überhaupt nicht gefallen«, jammerte Shari und nahm das Geschirr, das Wendy ihr reichte, mit weit aufgerisse nen Augen entgegen. »Und ich kann Amber nicht hinuntertragen.« »Ich schicke Amber mit Billy«, meinte Wendy. »Und ich werde sie einfach packen und sie an das verdammte Ding binden. Nein, das wird ihnen nicht gefallen, aber sie haben auch keine große Wahl. Die Tür ist versperrt.« Shari schüttelte den Kopf, als sie die riesige Schachtöffnung sah, und schnallte sich langsam ihr Geschirr fest. »Und wie wirst du run terkommen?« »Das … wird ein bisschen kompliziert werden«, gab Wendy zu.
Shari ging an der Wand hinunter, wobei sie sich hartnäckig weiger te, nach unten zu blicken. Einmal hatte sie das getan, und das war schlimm genug gewesen. Der Grund des Schachts war in Dunkelheit gehüllt, aber allein schon die Lichter, die tief unten aus anderen Öff nungen schimmerten, reichten aus, um sie fast zur Bewegungslosig keit erstarren zu lassen. Und das wäre nicht gut gewesen; schließlich erforderte es ihre ganze Konzentration, nicht in Schwingungen zu geraten. Je länger das Kabel wurde, desto mehr neigte es dazu, hin und her zu schwin gen. Das eine Mal, als sie abgeglitten war und zu schaukeln begon nen hatte, war sie ein paar Mal hintereinander schmerzhaft gegen die Wand geprallt. Und da war sie erst höchstens dreißig Meter tief im Schacht gewesen; sie mochte gar nicht daran denken, wie weit sie ausschwingen würde, wenn sie jetzt noch einmal abglitt. Das andere Problem, nämlich ihren Abstieg unter Kontrolle zu halten, bestand darin, mit den Füßen nicht den Halt zu verlieren; die Wände des Luftschachts waren mit einer schleimigen Masse be deckt. Bei einigem Nachdenken verwunderte das nicht; schließlich stammte die Luft im Schacht aus Millionen menschlicher Kehlen. Menschen sondern riesige Mengen an Feuchtigkeit aus ihren Lun
gen ab, und das an den Wänden abgelagerte Wasser in Verbindung mit dem Staub von abgestorbenen Hautzellen war die perfekte Brut stätte für allen möglichen Schleim. Deshalb war es beinahe unmög lich zu verhindern, dass ihr die Füße »unter« ihr wegglitten. Ihr war klar, dass ein Teil ihrer Aufgabe darin bestand, zu verhindern, dass die Kinder ähnlich hin und her schwankten, wie das bei ihr tenden ziell der Fall war, aber mit Schleim würden sie auf alle Fälle bedeckt werden. Und dass sie in nächster Zeit auf einen Waschautomaten stieß, hielt sie doch für recht unwahrscheinlich. Vorsichtig trat sie über eine Öffnung hinweg und las die daneben in Schablonenschrift aufgetragene Zahl. Sie befand sich über G und konnte formal gesehen jederzeit Halt machen. Aber in dem Sektor gab es vier Öffnungen, und die optimale war die zweite von unten. Besser noch ein Stück weiter in die Tiefe sinken, weiter weg von den Eingängen und weiter weg von den vorrückenden Posleen. Schließlich erreichte sie ihre Öffnung und sprang nach draußen, schwang zurück und landete auf ihrem Gesäß, obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, genau das zu vermeiden. Sie stand schnell auf und schob sich rückwärts in die Öffnung, zog das Kabel mit. Links am Korridor war eine Winde, und an der klinkte sie schnell das Kabel ein. In den Wartungspaketen waren reichlich Klettergeschirre und Si cherheitsleinen vorhanden, also hakte sie sich aus, lehnte sich nach draußen und zog an dem Kabel.
Wendy hatte einige Mühe, die Kinder an das Kabel zu bekommen. Zuerst musste sie Klampen dafür finden, dann Geschirre, die den Kindern passten, und schließlich musste sie Billy dazu überreden, Amber zu nehmen, und zu guter Letzt all die Kinder wieder einfan gen, die abzuhauen versucht hatten. Die Redewendung »sie um sich schlagend und schreiend mitzerren« hatte sie immer für eben das
gehalten, eine Redewendung ohne Bezug zur Wirklichkeit, aber das war jetzt nicht mehr der Fall; Shakeela war tatsächlich wieder die Leiter hinaufgeklettert und hämmerte, als Wendy sie schließlich zu fassen bekam, gegen die Tür, durch die sie hereingekommen waren: Als sie zurückkehrte, stellte sie fest, dass Nathan und Shannon sich ausgehakt hatten und versuchten, die Tür am Ende des Korri dors aufzustemmen, aber schließlich gelang es ihr, alle drei mit dem Kabel zu verbinden. Schließlich nahm sie Billys Gesicht in beide Hände und wies zur Öffnung hinaus. »Billy, du musst aufpassen, dass du mit dem Rücken zum Schacht und dem Gesicht zur Wand bleibst«, schrie sie. »Du musst dir Mühe geben, dass du nicht ins Schwingen kommst; sonst wird Amber ge gen die Wand gedrückt. Hast du das verstanden? Das Gesicht … zur Wand.« Der Junge nickte, sah sie mit großen, dunklen Augen an und deu tete dann mit fragender Miene auf sie. »Ich komme auch nach; aber erst muss ich an der Winde arbeiten.« Er nickte, schloss die Augen und deutete in den Abgrund. Sie tätschelte ihm die Schulter, hakte dann ihre eigene Sicherheits leine aus und beugte sich über den Schacht, schwang das Kabel hin und her und winkte Shari in der Tiefe zu. Billy griff nach den Seilen, um nicht vom Gewicht des Kabels hin ausgezogen zu werden, aber Wendy hatte es gesichert, und deshalb blieb er, wo er war. Bis sie ihn freigab. Wenn es darum ging, die Kinder in den Abgrund hinunterzulas sen, war das Eigengewicht des Kabels das größte Problem. Jedes Kind hing in einem Geschirr, entweder einem aus dem Wartungs schrank oder, was Shakeela und Nathan anging, einem »Schweizer Sitz«, den sie aus Seil zusammengeknotet hatte. Und die wiederum hingen an einem kurzen Stück Kletterseil, das seinerseits an Klam pen im Kabel selbst befestigt war. Pro Klampe hingen da zwei Kin der, die im Augenblick damit beschäftigt waren, sich aneinander festzuklammern und herzerweichend zu weinen.
Aber wenn Wendy jetzt das Kabel einfach frei laufen ließ, würde es die Kinder sofort in die Tiefe ziehen. Und die Winde war zu weit vorne, als dass man sie beim Ankoppeln der Kinder hätte benutzen können. Deshalb hatte sie ein Stück des Kabels in den Korridor ge zogen, es an einem Sicherungsring befestigt, die Doppelgeschirre vorbereitet und die Kinder angehängt. Jetzt musste sie es irgendwie schaffen, sie langsam in die Tiefe zu lassen. Schließlich nahm sie die Reste des Kletterseils, schlang es durch denselben Ring, an dem das Kabel befestigt war, und band es sicher an der letzten Klampe fest. Dann ließ sie das Kabel auf komplizierte Weise in die Tiefe, wobei sie die Reibung des Seils ausnutzte. Schließlich konnte sie es abklammern, um den ganzen Prozess anzu halten, und war auch imstande, das vom Rand aus zu tun. Sie nickte Billy zu, der neben Kelly angeklinkt war. Das jüngere Mädchen befand sich jetzt mehr oder weniger in einer Art katatoni schem Zustand, aber als ihr Bruder sie über den Rand schob, stieß sie einen halb erstickten Schrei aus und klammerte sich an ihm fest. Billy schaffte es, zu verhindern, dass Amber gegen die Wand ge drückt wurde, und brachte es sogar fertig, dabei seine Schwester zu streicheln, hielt dabei aber die Augen fest geschlossen. Jetzt zog ihr eigenes Gewicht sie in die Tiefe, und die Kinder hat ten daher keine andere Wahl mehr. Wendy ließ sie langsam in die Tiefe und achtete dabei darauf, dass sie nicht hängen blieben, als sie die Schachtwand passierten. Shakeela schaffte es, sich noch einmal auszuklinken, aber Wendy griff ein und gab ihr zu verstehen, dass es bis unten sehr weit war, falls sie das jetzt noch einmal versuchen würde. Als die Kinder über den Schachtrand verschwunden waren, lief al les wie ein Uhrwerk. Wendy hielt die Fernsteuerung für die Winde in der Hand und beugte sich nach draußen, ließ die Kinder langsam hinunter. Bis zu der Stelle, wo Shari auf sie wartete, waren es annä hernd zweihundertfünfzig Meter, und zuerst hatte sie Angst, sie könnten in Schwingungen geraten. Aber Shari war unten und hielt
das Seil fest, und deshalb ging alles glatt. Billy glitt ein paar Mal mit den Füßen aus, aber Wendy brachte das Kabel jedes Mal wieder zum Stillstand, bis er Fuß gefasst hatte. Als das Kabel bei Shari angelangt war, gab Wendy gerade so viel Leine frei, dass Shari die Kinderpaare in die Öffnung ziehen konnte. Es dauerte nur ein paar Minuten, und als es vorbei war, zitterte Wendy am ganzen Leibe. Sie musste jetzt als Nächste hinunter. Wie das zu bewerkstelligen war, blieb die große Frage. Die Kletter seile waren nur sechzig Meter lang, sich also einfach nur abzuseilen kam nicht in Frage. Und wenn es irgendwo in der Urb ein zweihun dertfünfzig Meter langes Seil geben sollte, dann im Sicherheitsbüro, und das hatten die Posleen bereits überrannt. Sie hatte sich eine theoretische Lösung überlegt, aber die gefiel ihr ganz und gar nicht. An dieser Methode gab es tausend Dinge, die schief gehen konnten, und alle endeten damit, dass Wendy Cummings am Ende ein roter Klecks auf dem mit allen Arten von Unrat bedeckten Boden des Schachts war. Aber eine andere Möglichkeit fiel ihr nicht ein, und wenn sie blieb, wo sie war, »dem Rat ihrer Ängste folgte«, wie Tommy das aus drücken würde, würde sie gegessen werden. Nach kurzer Überlegung schnitt sie ein paar Stücke von dem Klet terseil ab und knotete sie zu Schlingen. Man nannte diese Methode den »Prussik-Knoten«. Sie nahm eine Schlinge, schlang sie um das Kabel und anschließend um sich selbst. Bei Belastung würde sie sich so an das Kabel klammern können. Theoretisch. An einem anderen Seil würde das ganz gut funktionie ren. An einem Kabel sah dies völlig anders aus. Das Problem war natürlich, dass das Kabel aus Metall bestand und eine wesentlich geringere Reibung als ein Seil hatte, und außerdem war es geschmiert. Insgesamt betrachtet also nicht die ideale Vor aussetzung, um sich mit Hilfe von Prussik-Knoten hinunterzulassen. Aus Wendys Sicht war die Antwort darauf, mehrere zu machen. Falls einer sich löste, würden sich die anderen festziehen.
Die letzte Schlinge war an ihrem Sicherheitsgeschirr befestigt und somit ein Teil desselben. Wenn sie in den freien Fall geriet, würde das Seil sich am Kabel verhängen. Es gab eine ganze Anzahl Dinge, die schief gehen konnten, ange fangen damit, dass sie gegen die Schachtwand prallte, aber die meis ten waren jedenfalls besser als die Aussicht darauf, als roter Klecks unten zu enden. Sie probierte aus, ob die Schlingen fest waren, und sie schienen zu halten, also setzte sie den Fuß in eine, packte zwei andere und trat über den Rand. Und krachte sofort gegen die Wand. Die gute Nachricht war, dass die Knoten hielten, die schlechte, dass es ganz und gar nicht leicht sein würde, sich so in die Tiefe zu lassen. Schließlich entstand ein gewisser Ablaufrhythmus. Sie ließ mit ei ner Hand los, lockerte die beiden Fußschlaufen, schob sie nach un ten und schob dann die beiden Handschlaufen nach. Mit dieser recht langsamen Methode hatte sie etwa sechzig Meter, etwa ein Viertel der Entfernung, zurückgelegt, als sie aus einem der Seiten korridore eine Posleen-Railgun hörte. Dann tauchte oben am Schacht an der anderen Seite einer auf. Wenn er jetzt runtersah, war sie totes Fleisch an der Schnur. Sie hatte festgestellt, dass sie die Schlingen am Seil entlangziehen konnte, wenn sie sie nahe beim Kabel packte, und dass sie dabei ihr Gewicht nicht zu verlagern brauchte. Also schob sie die beiden Handschlaufen nach unten, schaffte es, alle vier Schlaufen dicht bei einander anzuordnen, und arbeitete sie alle gleichzeitig in die Tiefe, ohne den Druck von ihnen zu nehmen. Was sie nicht wahrgenommen hatte, war, dass die Schlingen, in dem sie über sechzig Meter über das Kabel gerutscht waren, eine Menge Schmiere in sich aufgenommen hatten und rutschig gewor den waren. Als Wendy daher weitere zehn oder zwölf Meter weiter nach un ten gekommen war, begann demzufolge zuerst eine und dann auch
die andere Fußschlinge selbsttätig zu rutschen. Sie verlagerte sofort ihr Gewicht auf die beiden Handschlingen, aber der plötzliche Ruck, der dabei entstand, führte dazu, dass auch diese zu rutschen began nen. Damit begann eine Rutschpartie in die Tiefe, gegen die sie nicht viel unternehmen konnte, außer sich mit beiden Händen an den oberen Schlaufen festzuklammern, als ob ihr Leben davon abhinge – was ja vermutlich auch den Tatsachen entsprach. Wenn sie sich mit aller Gewalt festklammerte, konnte sie das Tempo verlangsamen, aber sie roch bereits, wie die Knoten zu schmelzen und auszufasern begannen. Deshalb zog sie eine der Fußschlaufen nach oben, indem sie sich wie ein U zusammenkrümmte, aber auch an dieser hatte der Knoten zu rauchen begonnen, und die Schachtsohle kam ihr demzu folge ziemlich schnell entgegen. Sie hatte es gerade geschafft, ihren Sturz in die Tiefe etwas zu ver langsamen, als zuerst eine der Fußschlaufen, dann die andere nach gab. Ihre in Handschuhen steckenden Hände waren jetzt praktisch das Einzige, was sie am Kabel festhielt, und sie krachte mit beinahe dreißig Stundenkilometer auf die Schachtsohle, wo das Kabel ende te. Was sie davor bewahrte, sich das Rückgrat zu brechen, waren ver schiedene Variable. Die eine war, dass sie sich nahe dem Kabelende befand und das Eigengewicht des Metalls über ihr das Kabel etwas »gedehnt« hatte. Deshalb gab es ein wenig nach, als sie das Ende er reichte. Die zweite Variable war, dass die Sicherheitsleine ein wenig nachgab, so dass ein Teil der Energie auf diese Weise absorbiert wurde. Zu guter Letzt war ihr Geschirr gut konstruiert und verteilte den größten Teil der Energie an ihrer Wirbelsäule entlang und nicht senkrecht dazu. Das hieß nun nicht, dass das Ganze besonders angenehm war, es reichte halt zum Überleben. Sie krachte hart gegen die Wand, und das Einzige, was verhinderte, dass sie sich den Schädel dabei brach, war, dass ihre Schulter den größten Teil des Aufpralls auffing. Frei
lich führte das dazu, dass ihr linker Arm ihr von diesem Augenblick an den Dienst versagte. Nicht, dass etwas gebrochen gewesen wäre, er ließ sich nur nicht mehr abbiegen. Einen Augenblick lang baumelte sie am Ende des Kabels und stöhnte vor sich hin. »Alles okay?«, fragte Shari drei Meter über ihr. »Nein, okay bin ich nicht«, ächzte Wendy. »Ich lebe und …« Sie bewegte Arme und Beine. »Alles scheint noch zu funktionieren. Aber als ›okay‹ würde ich das nicht bezeichnen.« »Ich habe dort oben einen Posleen gesehen«, flüsterte Shari. »Ja, dieser verdammte Postie ist da irgendwo über uns, Shari«, er klärte Wendy. »Und den ganzen Durchmesser des Schachts entfernt. Wenn mein Schrei ihn nicht auf uns aufmerksam gemacht hat, dann hört er uns auch bestimmt nicht, wenn wir in normaler Lautstärke sprechen.« »Du hast nicht geschrien«, wandte Shari ein. »Nein?«, fragte Wendy. »Ich hätte schwören können, dass ich ge schrien habe.« »Nee, du bist fast lautlos an mir vorbeigeflogen«, sagte Shari. »Ich war wirklich beeindruckt. Möglicherweise hast du geflucht, aber ich habe nichts verstanden.« »Shari?« Wendy zog sich mit dem noch funktionierenden Arm hoch und zuckte zusammen, als sie an ein paar Stellen stechenden Schmerz verspürte. »Ja?« »Fang jetzt endlich an mich hochzuwinden, sonst klettere ich hin auf und mach dich kalt.«
Elgars sah sich nach beiden Seiten um und trat dann vorsichtig in den Hauptkorridor hinaus. Der flackernde blaue Kobold, der sie
führte, hüpfte munter vor ihr auf und ab und hielt etwa drei Meter Abstand zu ihr, als er sie zur Hydroponik führte. Der Korridor, in dem sie sich befand, hatte riesige Dimensionen, in der Mitte verliefen Gleise und zu beiden Seiten erstreckten sich überdimensionierte Türen scheinbar ins Endlose. Und er war verlas sen. Sie hatte schon immer festgestellt, dass es in den unteren Zonen der Urb weniger Leute gab, aber seit dem Eindringen der Posleen schien sich dieser Sektor völlig geleert zu haben. Sie schob sich ihre Traglast zurecht und atmete tief durch. Bis jetzt war ihre Reise relativ ereignislos verlaufen, was nicht hieß, dass ihre Nerven nicht zum Zerreißen angespannt waren. Und das Gewicht all der Waffen und der Munition fing an ihr zuzusetzen; sie schlepp te mindestens ihr eigenes Körpergewicht zusätzlich mit sich herum, wenn nicht noch mehr. Schwerfällig trottete sie quer über den Korridor, achtete dabei sorgsam darauf, auf die Übergangspunkte des Gleiskörpers zu tre ten, und ging zu der gute sechs Meter hohen Tür, auf der »Hydro ponics« stand. Rechts davon war eine Tür in normaler Größe mit ei ner Auflage für die Handfläche, um sich zu identifizieren. Sie schob sich ihre Last zurecht, um die Hand freizubekommen, und klatschte sie gegen die Fläche. »Name?«, tönte das Sicherheitssystem. »Sandra Ells …«, sie hielt inne und schüttelte verwirrt den Kopf, und ihre Augen weiteten sich. Sie spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief. »Anne Elgars. Captain, Landstreitkräfte«, sagte sie und keuchte dabei leicht, sowohl von der schweren Last als auch aus Verblüffung. Die Tür schob sich lautlos in die Wand zurück, und sie bückte sich und stieß ein Kampfmesser in die Öffnung; es war eine Brandtür – die ganze Wand bestand aus massivem Blastplas –, aber mit sechs Zoll Gerberstahl in der Spalte würde die Tür offen bleiben. Sie stemmte sich hoch und taumelte ins Innere des Raums.
Es handelte sich ganz offensichtlich um einen Zugang für Personal der Hydroponik-Abteilung. Der Raum, in dem sie jetzt stand, war groß, vielleicht zwanzig Meter tief und zwölf breit, mit Spinden an den beiden Längswänden und einer verlassenen Sicherheitsstation an der hinteren Wand. Bänke und Tische füllten den Saal, einige Wandspinde standen offen, und auf den Tischen lagen persönliche Gegenstände herum, als ob man den Saal in aller Eile evakuiert hät te. Sie ließ ihre Sachen auf den nächsten Tisch fallen und zog sich ih ren Kampfpanzer zurecht. Ihr war klar, sie würde die Festung hal ten müssen, bis Wendy und Shari eintrafen, aber davon abgesehen hatte sie keine Ahnung, was eigentlich zu tun war. Doch da in einer solchen Situation unter keinen Umständen Zeit vergeudet werden durfte, fing sie an, die Waffen und die Munition zurechtzulegen, die Kampfpanzer vorzubereiten und kleine Päckchen zusammenzustel len, die die größeren Kinder dann tragen konnten. Dazu brauchte sie nur ungefähr fünf Minuten, und als sie fertig war, waren Wendy und Shari immer noch nicht aufgetaucht. Sie machte sich keine Sorgen, bei der Situation handelte es sich um eine schlichte Binärlösung. Wenn Shari und Wendy auftauchten, ehe sie bei der Verteidigung der Tür überrannt wurde, würden sie alle ge meinsam weggehen. Wenn nicht, würde sie hier sterben. Sie mochte die Kinder nicht sehr, und Shari war ihr ziemlich gleichgültig. Wen dy hingegen war die einzige Freundin, die sie hatte; wenn sie sie verließ, würde sie ganz alleine sein, ohne Erinnerungen und ohne ein Ziel. Es machte also wenig Sinn, hier wegzugehen. Und darüber hinaus wusste sie, dass Wendy für sie das Gleiche tun würde. Völlig ruhig beobachtete sie die Tür ein paar Minuten lang und überlegte, welche Optionen ihr offen standen, und entschied dann, dass das Zeitverschwendung war. Die Tür ständig im Auge behal tend, durchsuchte sie die offenen Spinde nach irgendwelchen Din gen, die sie brauchen konnten.
Sie fand diverse Schokoriegel und ein paar andere essbare Dinge, einige kleine Werkzeuge, die sie vielleicht würden brauchen kön nen, und, was das Wichtigste war, einen Plan der Hydroponik-Ab teilung. Elgars war sich nicht sicher, ob die Kobolde hier drinnen funktionieren würden; sie pflegten auf den Hauptstraßen zu bleiben und nicht den Nebenwegen, die die Gruppe vorziehen würde. Am Ende der Spinde, ganz hinten an der rechten Wand, stand ein Behälter mit Isolieranzügen und drei Kisten mit allgemeinen Atem geräten. Sie nahm einen der Anzüge heraus und stopfte die kleins ten Atemgeräte, die sie finden konnte, sowie eine Auswahl der Iso lieranzüge hinein; wenn sie dem Personal hier zur Verfügung stan den, gab es dafür vermutlich einen Grund. Dann zog sie drei Mas ken für Erwachsene heraus. Es handelte sich um einen Typ, der für Notfälle gedacht war und der etwa eine Viertelstunde lang so ziem lich jedes Toxin ausfiltern konnte; wahrscheinlich würden sie so et was brauchen können. Elgars ging zu dem Tisch zurück, legte ihre Neuerwerbungen dort ab, spähte wieder zur Tür hinaus und runzelte die Stirn. Immer noch niemand zu sehen. Nicht, dass sie ungeduldig gewesen wäre, ihr war nur bewusst, dass die Zeit knapp wurde. Als sie in den Saal zurückkehrte, hörte sie ein Stück entfernt aus einem Querkorridor Schüsse aus Railguns; die Posleen waren zuerst gekommen. Sie kniete in der Türöffnung nieder und richtete das AIW auf die Kreuzung. Als der erste Posleen auftauchte, hörte sie rechts von sich ein splitterndes Geräusch. Sie sah kurz hin und stellte fest, dass die Wand auseinander brach und Wendy in den Hauptkorridor trat.
Wendy entdeckte Elgars in dem Moment, als der Granatwerfer des AIW hustete. Sie stieß eine Verwünschung aus und zog Billy durch das Loch in der Wand. »Dorthin!«, sagte sie und wies auf den Eingang, wo Elgars kniete.
Der Junge nickte und rannte quer über den Korridor, hielt sich da bei an die Übergangspunkte des Gleises, ohne dabei langsamer zu werden oder gar stehen zu bleiben. »Was ist denn los?«, fragte Shari und schob eins der Kinder durch die Öffnung. »Was meinst du wohl?«, fuhr die Jüngere sie an. »Unser Captain hat die ersten Kundschafter erledigt, aber wir müssen uns beeilen.« »Geh du hinüber«, sagte Shari. »Ich schieb sie durch. Besorg dir ein Gewehr oder so was.«
Elgars nickte dem Jungen zu, als der in den Raum huschte. »Linke Wand«, sagte sie und deutete mit einer Kopfbewegung hinüber. »Schnapp dir die kleinste Pistole und die drei Schachteln Munition daneben, und dann stell dich an die Wand. Sorg dafür, dass die an deren Kinder sich neben dich stellen.« Billy richtete sich auf und huschte zum Tisch, schnappte sich die Glock und die Schachtel mit .45er-Munition. Elgars schickte die nächsten drei Kinder zu der Wand und duckte sich dann weg, als Wendy gerannt kam. »Wird allmählich Zeit.« »Tut mir Leid«, sagte Wendy. »Ich hab getrödelt.« Das sollte witzig sein. Sie hatte sich die Bemerkung sorgfältig überlegt und war daher leicht verstimmt, als Elgars bloß mit einem Zucken ihrer Mundwinkel darauf reagierte. »Schnapp dir die MP-5«, sagte diese, als ein weiteres Kind zur Tür hereinkam. »Die werden gleich dort hinten auftauchen.« »Niemand versteht hier Spaß«, maulte Wendy, zuckte die Achseln, griff sich die Maschinenpistole und lud durch. »Das ist ja schlimmer, als wenn man mit Dänen zu tun hat.« »Was redest du da?«, knurrte Elgars.
»Schon gut«, antwortete Wendy und kniete an der gegenüberlie genden Seite der Tür nieder, als der erste Posleen um die Ecke kam. »Das ist etwas Menschliches«, fügte sie hinzu und jagte dem Nor malen, das eine Schrotflinte trug, eine kurze Salve in die Brust. Aber hinter dem Normalen kamen vier weitere. Das Erste stolper te über eine der Leichen seiner Kameraden im Korridor und war leichte Beute für Elgars, aber die beiden anderen sprangen einfach über das Hindernis hinweg und landeten mitten auf der Kreuzung. Wendy feuerte auf eines von ihnen in der Luft, hielt vor, wie beim Tontaubenschießen, und traf es an der Flanke. Diese relativ kleine Wunde war aber nicht tödlich, und das Normale wirbelte herum und befeuerte mit seiner Railgun den Hauptkorridor hinunter. Das letzte Kind, Kelly, überquerte den Korridor, als das Normale feuerte. Die meisten seiner Geschosse verfehlten ihr Ziel, eins aber fetzte eine Wade des Kindes auf und ließ das Blut spritzen. Das Mädchen rutschte auf der Hydroponikseite der Gleise gegen die Wand, blieb dort auf dem Bauch liegen und schrie. Wendy leerte den Rest ihres Magazins in den Zentauren und schrie dabei unartikuliert, während Elgars lautlos den letzten Über lebenden erledigte. »Motherfuckersl«, brüllte Wendy mit geblähten Nasenlöchern. »Ich hasse diese Posties!« »Hilf mir«, keuchte Shari und zerrte ihre Tochter durch die Öff nung. Elgars riss das Messer aus dem Türspalt, schloss sie und tippte einen Code in den Schließmechanismus ein, der für biochemische Notfälle vorgesehen war; die Tür würde sich jetzt nur öffnen, wenn entweder massiver Sprengstoff oder der Code eines Abteilungslei ters eingesetzt wurde. Wendy zog ihre Sanitätstasche heraus, betäubte die Wunde zuerst und verband sie dann, wodurch sie den Blutstrom stillte.
»Die Arterie hat es nicht erwischt«, sagte sie und zog den Verband straff. »Bloß die Adern, und das ist nicht so schlimm. Aber beim Ge hen wird sie Schwierigkeiten haben.« Shari wiegte ihre immer noch wie ein Schlosshund heulende Toch ter in den Armen. »Ist schon gut, Kelly. Schsch.« Plötzlich beugte Elgars sich vor und versetzte der Kleinen eine schallende Ohrfeige. »Still.« »Verdammtes Miststück!«, schrie Shari und wollte auf den Cap tain losgehen. Plötzlich spürte sie einen Pistolenlauf, der sich dicht neben ihrer Nase in ihre Wange presste. »Wir haben keine Zeit«, sagte Elgars eiskalt. »Wir haben null Zeit. Sie muss aufstehen und sich bewegen. Und zwar ohne zu schreien. Sonst sterben wir alle.« Sie zog die Pistole zurück und steckte sie ins Halfter. »Und jetzt hol dein Gewehr und deinen Panzer; wir müssen hier weg. Los.« Shari nickte wie benommen und stellte die jetzt leise wimmernde Kelly auf die Füße. »Kannst du gehen?« »Es tut nicht weh«, sagte Kelly leise. »Glaube ich.« »Dann verschwinden wir hier«, sagte Wendy und legte mit einem deutlichen Klick den Sicherungshebel der MP-5 um. Plötzlich wurde Elgars bewusst, dass die jüngere Frau direkt hin ter ihr gestanden hatte. Sie drehte sich um und sah sie an, aber Wen dy erwiderte ihren prüfenden Blick, ohne mit der Wimper zu zu cken. Wendy ging zum Tisch hinüber und musterte die dort liegenden Waffen und Munition. »Shari, komm her.« Shari nahm den Kampfpanzer von der Jüngeren entgegen, legte ihn sich über die Schultern und nahm dann das Steyr-Sturmgewehr in Empfang. »Du lädst durch, indem du den Verschlusshebel zurückziehst«, sagte Wendy und zeigte darauf. »Und hier ist der Sicherungshebel.«
»Kapiert«, sagte Shari nervös. »Ich hab schon damit geschossen, aber nicht oft.« »Deshalb möchte ich, dass du den Stickstoff nimmst«, fügte Wen dy hinzu und gab ihr den Kanister. »Du hast gesehen, wie ich es ma che. Du öffnest die Türen, wir decken dich und gehen durch. Und außerdem werde ich dich mit allem beladen, was die Kinder nicht tragen können; das bedeutet, dass ich mich schneller bewegen kann.« »Okay«, nickte Shari. »Billy«, sagte Elgars. »Du musst mehr Munition tragen.« »Er ist doch bloß ein Junge«, widersprach Shari leise. »Er trägt schon genug.« »Er kann mehr tragen«, widersprach Elgars. »Oder nicht?« Der Junge nickte und lud sich die zusätzlichen Schachteln mit Mu nition und einen Panzer auf. »Kennst du die verschiedenen Magazine?«, fragte Elgars. »Wenn ja und uns die Munition ausgeht, dann bringst du uns welche. Und wenn du Zeit hast, lädst du nach. Klar?« Billy nickte lächelnd und zog dann ein Magazin für die AIW her aus und deutete auf die Waffe. Elgars erwiderte sein Lächeln, stieß das zum Teil geleerte Magazin aus und vertauschte es mit dem, das er ihr angeboten hatte. »Okay«, sagte Wendy. »Gehen wir.«
Wendy sah auf das PDA und die Türen; nach dem Plan, den sie sich heruntergeladen hatte, sollte es an dieser Stelle nur eine Tür geben, aber da waren zwei. Sie waren durch eine Verarbeitungsstation für das von der Hydroponik-Abteilung produzierte Obst und Gemüse gekommen, das in hohen Stapeln herumlag und bereits zu faulen anfing. Billy hatte eine Steige mit Erdbeeren entdeckt, und die Kin der stopften sich die süßen Früchte in den Mund. Wendy wurde
jetzt bewusst, wie lange der Angriff schon zurücklag. Das mussten mindestens drei Stunden gewesen sein, und sie waren unmittelbar vor den vordersten Reihen der Posleen geflohen. Aber jetzt befanden sie sich in einem echten »grünen« Saal; er war zwanzig Meter hoch und einige hundert Meter lang und vom Boden bis zur Decke mit Regalen voll gestellt, auf denen in Nährlösung Ge müse heranwuchs. Unmittelbar vor ihnen waren nur junge Schöss linge zu sehen, aber ein Stück dahinter gab es ausgewachsene Pflan zen und Ernteroboter, die zwischen den Regalreihen hin und her fuhren. Doch all das half ihr nicht bei der Entscheidung, welche dieser bei den Türen die richtige war. Ihr Ziel war die Ladezone für Saatgut und Getreide. Insgesamt gab es acht Versorgungslifts, von denen die Posleen zweifellos die meisten bereits unter ihre Kontrolle bekom men hatten. Aber es gab auch einen Getreideaufzug, der in beide Richtungen fuhr. Möglicherweise würden sie ihn in Gang setzen und damit an die Oberfläche fahren können. Wenn das nicht ging, würde sie eben weiteres Klettergerät besorgen und auf diesem Wege nach draußen gelangen. Das würde etwas Zeit in Anspruch neh men, aber wenn sie den Lift sabotierten, würden sie alle Zeit der Welt haben; solange sie sich im Schacht befanden, würden die Pos leen sie nicht fangen können. Das Problem bestand darin, dort hinzukommen, ohne einen der Hauptkorridore zu benutzen; sie hatten zweimal Korridore über quert, und beide Male waren sie dabei auf Posleen gestoßen. Noch dazu mussten sie zunächst in den Bereich gehen, wo die Nährstoffe hochgepumpt wurden, und anschließend in das dahinter liegende Saatgutlager. Von dort aus konnten sie auf Schleichwegen in den Annahmebereich gelangen. Möglicherweise, besser gesagt wahr scheinlich, würden sie dort auf Posleen stoßen. Aber damit würden sie sich auseinander setzen, wenn sie erst einmal dort waren. »Was ist denn?«, fragte Shari und deutete mit einer Kopfbewe gung auf die Tür. »Links oder rechts?«
»Das weiß ich eben nicht«, erklärte Wendy. »Eigentlich sollte hier nur eine Tür sein.« Sie legte die Handfläche auf den Schaltkasten für die rechte Tür, aber die ging auch nicht auf, als sie von Hand den Code eingab. Die linke Tür ebenfalls nicht. Nun, mit so etwas war sie auch schon früher konfrontiert gewesen. »Wir sprengen die rechte Tür«, sagte sie und gab Shari ein Zei chen. Diese trat vor und richtete die Stickstoffdüse auf die Mitte der Tür; sie hatte einmal zu kräftig gespritzt und daraus gelernt; gleich dar auf hatte sie einen der Isolieranzüge angezogen. Die leichten RamexAnzüge schützten nicht gegen die Railgun-Geschosse der Posleen, wohl aber gegen hypergekühlte Flüssigkeit. Normalerweise sollte die Tür zuerst hart und dann brüchig wer den; Memoryplastik war der Kälte des flüssigen Stickstoffs nicht ge wachsen. In diesem Fall freilich strömte er einfach kaskadenförmig auf den Boden und floss dann weg, verdampfte schnell. »Trete zurück«, warnte Wendy. »Das Zeug könnte dich blitz schnell anoxisch machen. Interessant, die Tür sieht aus wie Memory plastik, aber das ist Blastplas.« »Und was bedeutet das?«, fragte Shari erschöpft. Sie war von der schweren Last, die sie tragen musste, todmüde. »Das bedeutet, jemand möchte, dass die Tür absolut normal aus sieht, aber undurchdringlich ist«, erklärte Wendy. »Versuche es mit der linken Tür, wir haben nicht die Zeit, hier Rätsel zu raten.« Die zweite Tür wurde sofort grau und gleich darauf weiß, ein Zei chen dafür, dass das Memoryplastik von dem kryogenischen Bad aushärtete. Als der Nebel anfing sich zu lichten, trat Shari vor und presste den Drücker gegen die Tür, betätigte den Abzug und zer schmetterte das brüchige Plastikmaterial. Das Posleen-Normale auf der anderen Seite sah auf die plötzlich verschwundene Tür herunter, blickte dann zu dem Menschen auf, der den Zugang versperrte, und hatte nichts Besseres im Sinn, als seinen Boma-Säbel zu heben.
Shari stieß einen Schrei aus und richtete die Stickstoffdüse auf den Posleen, jagte ihm einen Strahl der eisigen Flüssigkeit ins Gesicht. Das Normale stieß einen schrillen Schrei aus; vor Schmerz brül lend taumelte es in den Raum zurück, während Wendy sich über Shari beugte und zwei Feuerstöße auf die Brust des Posleen abgab. Der erste prallte ab und zerschmetterte das flache Brustbein, das sei ne Brustpartie schützte, aber der zweite Feuerstoß drang zum Her zen durch, und das Normale sackte zu Boden. Wendy sah sich in dem Raum um, aber so weit sie erkennen konn te, war alles klar. Offensichtlich, also dem Geruch nach zu schließen, handelte es sich bei dem weiten Saal, der vor ihnen lag, um einen Mischraum, wo Nährstoffe gemischt wurden. Der beißende Gestank von Ammo niak und Phosphaten lag in der Luft, und der größte Teil des Raums stand voll massiver drei bis dreieinhalb Meter hoher Bottiche, die je weils zehn oder fünfzehn Meter durchmaßen. Der Saal war gigan tisch; an der Decke drehten sich mächtige Ventilatoren, und bis zur hinteren Wand waren es leicht hundert bis hundertfünfzig Meter. Hinter der Tür befand sich eine kleine mit Metallgitter belegte Plattform, von der ein schmaler Gang zwischen den Bottichen zu ei ner Tür an der fernen Hinterwand führte. In der Saalmitte teilte ein weiterer Laufgang, der senkrecht zu dem ersten verlief, den Raum in vier Teile, und an der Kreuzung der beiden Gänge war eine aus gedehnte Kontrollstation zu sehen. Wendy winkte den anderen zu und ging mit schnellen Schritten auf dem Steg zur Mitte. Da die größte Gefahr darin bestand, dass hinter ihnen Posleen auftauchten, hatten sie sich dafür entschieden, dass Elgars die Nachhut bilden sollte. Sie wurde von Billy unter stützt, der seine Pistole in der Hand hatte und Munition für sie be reithielt. Shari trug den Stickstofftank und den Sack voll Uniformen und Atemgeräte, während Shannon Amber schleppte. Wendy hatte die Spitze übernommen, vor allem deshalb, weil sie den Weg kann te.
Die Kinder trotteten müde hinter ihr her. Der Marsch war lang und äußerst ermüdend gewesen, aber sie hatten begriffen, dass sie durchhalten mussten. Eine der Erwachsenen, gewöhnlich Wendy, trug hie und da die Kleinsten. Gelegentlich – wenn sie glaubten, sich das leisten zu können – legten sie eine kurze Pause für sie ein. Aber die Kinder waren mit dem Krieg aufgewachsen, und die Posleen waren die ultimativen Schreckgespenster; sie würden also weiter rennen, bis sie vor Erschöpfung umfielen oder bis ein Erwachsener ihnen sagte, dass sie stehen bleiben durften. Wendy hatte den Kreuzungspunkt der beiden Gitterstege erreicht, ehe Elgars den Raum betreten hatte. Als sie dort eintraf, warf sie einen Blick auf ihre Karte, aber danach sollte der letzte »sichere« Bereich hinter der rechten Tür sein. Sie überlegte und ging dann auf die Tür zu, hielt dabei das PDA in der Hand. Von innen ließ die Tür sich leicht öffnen. Sie streckte den Kopf durch und sah sich in dem Raum dahinter um. Dem Plan nach handelte es sich um einen Lagerraum für Nährstoffe. Sie winkte den anderen zu, dass sie ihr folgen sollten, und wartete dann, bis sie sie eingeholt hatten. Elgars ließ die Waffe von links nach rechts wandern, drehte sich dann wieder um, um die Nachhut zu sichern, und schloss zu der Gruppe auf. Als sie den Kreuzungspunkt der Stege passierte, hatte sie das Gefühl, etwas aus den Tiefen ihres Bewusstseins würde ihr etwas zurufen. Sie hatte gelernt, auf diese kleinen inneren Bemer kungen zu hören, und das tat sie auch jetzt, sah sich in dem Saal um und suchte nach der Gefahr, vor der diese innere Stimme sie warnen wollte. Nach kurzer Überlegung lehnte sie ihre Waffe an die Konsole, musterte sie nachdenklich und rieb sich dabei den Nasenrücken. Wendy blickte sich noch einmal in dem Raum vor ihr um, aber da war immer noch nichts zu erkennen. Als sie sah, wie Elgars ihr Ge wehr wegstellte, fluchte sie.
»Shari, schaff die Kinder auf die andere Seite; ich muss nachsehen, was unser Captain vorhat.« »Geht klar«, sagte die Ältere müde. »Mach 'ne Pause, aber nicht zu lang.« Sie hielt inne, musterte El gars erneut. »Hoffe ich.« Als Wendy schließlich die Konsole in der Mitte erreicht hatte, hall te ein lautes Gurgeln durch den Saal, und Elgars war zum nächsten Bottich geeilt. Sie ging auf die Leiter an der Seite des Bottichs zu und schickte sich an, die Leiter hinaufzuklettern, zog dabei ihr Kampfmesser. »Hey, Captain America«, rief Wendy. »Wir wollen nach draußen, falls du das vergessen haben solltest.« »Ich weiß, es dauert bloß einen Augenblick«, sagte Elgars mit selt sam tiefer Stimme. »Könntest du mir vielleicht etwas Bindedraht be sorgen und ein paar Streifen Isolierband und … äh … eine Dose Sprühfarbe? Sei bitte so gut.« »Hey!«, sagte Wendy und sah Elgars an. »Hallo! Anne! Wir müs sen hier verschwinden!« Elgars schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Hände, die ange fangen hatten, die Isolierung von den zum Motor des Bottichs füh renden Drähten zu entfernen. Sie schüttelte erneut den Kopf und nickte. »Ich weiß«, sagte sie, wieder mit ganz normaler Stimme, die freilich klang, als käme sie aus weiter Ferne. »Aber ich denke, wir sollten den Gäulen was hinterlassen, was sie an uns erinnert, findest du nicht?« »Dann mischst du denen ein hübsches Nährstoffen?«, fragte Wendy sarkastisch.
Süppchen
aus
»Das nicht gerade«, sagte Elgars mit einem Grinsen, das ihren Kopf wie einen Totenschädel aussehen ließ. »Was ist in Nährstoffen, Wendy?« Wendy überlegte und sagte dann: »Oh.«
»Rrrichtig«, sagte Elgars und sah wieder auf das, was ihre Hände machten. »Und jetzt besorg mir ein wenig Draht und Isolierband, sei so lieb.«
»Draht und Isolierband«, murmelte Wendy und schob ihre MP-5 et was zur Seite, um sie besser halten zu können. »Wo in drei Teufels Namen soll ich Draht und Isolierband finden?« In einem Wartungs bereich sollte es das geben, aber der nächste, den die Karte anzeigte, war weiter entfernt als die Lifts und befand sich in einem Bereich, den die Posleen mit Sicherheit bereits überrannt hatten. Sie ging ans Ende des Saals und überlegte. Etwas, was ihr eine der langjährigen Feuerwehr-»Profis« einmal gesagt hatte, kam ihr in den Sinn, und sie lächelte. Sie sah auf ihre Karte und überlegte, durch welche Tür wohl ein Verwaltungsheini reinkommen würde. Wenn man es rich tig überlegte, entweder durch die, durch die sie hereingekommen waren, oder durch die, die sie nach draußen nehmen wollten. So, und wo war man am weitesten davon entfernt? Sie kletterte von dem Laufsteg herunter und suchte an den Wän den des Saals, bis sie das gefunden hatte, wonach sie Ausschau hielt. An der Südwand, hinter dem letzten Bottich, sorgfältig versteckt, so dass man ihn nur bei gründlicher Suche finden konnte, war ein Stuhl. Und ein Werkzeugkasten. Und ein Haufen öliger Lumpen und eine Rolle Bindedraht. Und eine Dose graue Sprühfarbe, halb voll. Und ein Pin-up-Kalender. »Na ja, wenigstens hatte er ein bisschen Geschmack«, sagte sie säu erlich. »Obwohl diese Biene keine Ahnung hat, wie man ein Gewehr trägt. Und ich garantiere, die ist gefärbt! Wenn das eine echte Blondi ne ist, bin ich Pamela Anderson.«
Sie klappte den Werkzeugkasten auf, nahm zuerst einen Schoko riegel aus der Tasche ganz oben und fand dann im unteren Bereich eine Rolle Isolierband. »Okay, alles Bequemlichkeiten wie zu Hause«, murmelte sie und kaute auf dem Schokoriegel herum. Sie legte den Bindedraht in den Werkzeugkasten, klappte ihn zu und nahm die Dose Sprühfarbe. »So, jetzt muss ich das nur alles die Leiter hinaufschaffen.« »Wieso hast du so lange gebraucht?«, fragte Elgars. »Oh, Mann, entschuldige, Captain«, knurrte Wendy sie an. »Ich habe bloß einen Werkzeugkasten gefunden, von dem ich dachte, dass du ihn brauchen könntest, und all den anderen Scheiß auch, den du haben wolltest. Ich schätze, ich hätte mich beeilen sollen und das schwere Scheißding die Leiter raufschleppen! Und hier drinnen zu atmen hilft auch nicht gerade.« Die Luft in dem Raum, die vorher mit Spuren von Ammoniak durchsetzt gewesen war und ein wenig nach Erde gerochen hatte, stank jetzt nach Ammoniak: sie brannte in den Augen und reizte die Nase. Elgars warf ihr eine Maske hin und stülpte sich selbst eine über. »Tut mir Leid, aber ich habe wirklich bloß den Bindedraht, das Iso lierband und Sprühfarbe gebraucht«, sagte sie, jetzt mit von der Maske halb erstickter Stimme. »Aber vielen Dank für das andere Zeug. Was ist denn mit deinem Hemd passiert?« Wendys Hemd hatte sichtlich einiges mitgemacht; drei Knöpfe waren abgerissen. »Das hat sich an der verdammten Leiter verhängt«, knurrte sie und blickte an sich herab. »Ich hatte daran gedacht, es mit Isolier band zuzukleben, aber das war mir dann doch zu primitiv.« »Pass nur auf, dass Papa O'Neal das nicht hört«, schmunzelte El gars. »Jetzt klingst du wieder normal«, stellte Wendy fest, klappte die Werkzeugbox auf und warf ihr einen Schokoriegel hin. »Einen Au
genblick lang hast du mir richtig Angst gemacht.« Sie schob sich die Maske zurecht. Wenn man das nicht tat, leckten sie, und sie konnte immer noch Spuren von Ammoniak riechen. »Wie habe ich denn geklungen?«, fragte Elgars. Sie hatte eine der Stromzuleitungen für einen der Mischbottiche abisoliert und zog das Kabel jetzt unter den Laufsteg zu dem Bottich an der gegenüber liegenden Seite. Anschließend nahm sie die Dose mit Sprühfarbe, die Wendy ihr gebracht hatte, und machte sich daran, die drei Pha sen der Leitung mit Isolierband an der Dose festzukleben. »Irgendwie … britisch, denke ich. Du weißt schon, dieses ›Sei so lieb.‹« »Irgendwie erinnere ich mich daran«, räumte Elgars ein. »Das ›kommt so über mich‹. Ich glaube, die Seelenklempner hatten Recht; ich denke, die Krabben haben mehr als nur Fähigkeiten implantiert … so etwas wie ›Erinnerungen‹. Wenn ich so etwas in mir ausgrabe, dann … kommt die damit verbundene Persönlichkeit auch nach oben. Und wenn ich sie dann eine Weile benutze, wenn ich mich daran gewöhne, verblasst die Persönlichkeit. Manchmal kommen da auch ganz reale Erinnerungen mit. Hie und da habe ich sogar das Gefühl, eine Weile lang diese Person zu sein. Ich denke, dass sie mir möglicherweise all meine Alltagsfähigkeiten mit einer einzigen We senheit gegeben haben, und das ist diejenige, die meistens in den Vordergrund tritt.« »Wer bist du also wirklich, ich meine die echte Anne Elgars, oder wer du sonst sein magst?«, fragte Wendy. »Das weiß ich nicht«, sagte Elgars leise. »Aber für den Augenblick nehme ich einfach, was ich kriege; das ist besser, als von den Pos leen gefressen werden.« Wendy nickte ein paar Mal, dann grinste sie. »Also machst du jetzt auf Merrry Old England? Kennt der Typ irgendwelche guten Trink lieder? Die Tommies sind doch groß in Trinkliedern.« Elgars lachte und wandte sich wieder der Schalttafel zu. »Ich habe doch gewusst, dass du das spaßig finden würdest.«
»Nee, ich versuche nur jeder noch so beschissenen Situation das Beste abzugewinnen«, sagte Wendy mit einem halb unterdrückten Schmunzeln. »Früher habe ich das nicht gekonnt; ich hatte wirklich alle Mühe zu begreifen, wie Tommy … sich in Fredericksburg so wohl fühlen konnte, ich meine, wir mussten alle damit rechnen, ent weder in die Luft zu fliegen oder umgebracht und aufgefressen zu werden. Bloß weil wir Übrigen jahrelang den Kopf in den Sand ge steckt haben, wenn es um die Posleen ging. Aber er hatte darüber nachgedacht, wie es sein würde, gegen sie zu kämpfen, wie es sein würde, von ihnen geschlagen zu werden, und das hatte er jahrelang getan. Als daher der Zeitpunkt kam, hat er es einfach getan, wäh rend ich wie ein kopfloses Huhn herumgerannt bin und geheult und mir Sorgen gemacht habe und völlig nutzlos war.« »Das zu glauben fällt mir wirklich schwer«, sagte Elgars. Sie schal tete die Energiezufuhr zu dem Bottich ab, dessen Zuleitung sie abge schnitten hatte, und ging zurück, dann sprang sie vorsichtig auf den Mixerarm und wies auf die Drähte. »Würdest du mir die bitte rei chen?« »Aber gern«, antwortete Wendy und schob ihr das Bündel hin. »Der Unterschied jetzt ist eigentlich, dass die meisten jahrelang über das nachgedacht haben, was hier unten passieren könnte. Oh, es gab natürlich ein paar, die der Ansicht waren, dass die Posleen nie kom men würden; ebenso wie es welche gab, die sich vorgenommen ha ben, sich so voll laufen zu lassen, dass sie es nicht merken. Aber die meisten von uns haben begriffen, dass sie kommen könnten, und ha ben darüber nachgedacht, was wir wohl unternehmen sollten. Im Allgemeinen war man sich darüber einig, einfach ›zu einem Vertei digungspunkt zu gehen und dort auszuhalten, bis wir abgelöst wer den‹, aber das ist natürlich Wunschdenken; die Posleen würden alle Verteidigungsstellungen binnen ein oder zwei Stunden überrennen. Bis die Army zurück ist, haben die uns längst gefressen.« »War das von Anfang an dein Plan?«, fragte Elgars. Sie beugte sich vorsichtig über den Rand des Bottichs und ließ die Drähte in die von
Ammoniak durchsetzte schlammige Masse hinunter, drückte die Drähte und die Spraydose fest hinein. »Nein«, sagte Wendy mit einem Seufzer, der bei den mahlenden Geräuschen der anderen Motoren kaum zu hören war; das Zeug am Grunde des Bottichs war überwiegend wasserfreies Ammoniak, und die Mischung wirkte härter als Plätzchenteig. Die Motoren waren dafür konstruiert, Flüssigkeiten zu bewegen, und obwohl sie dafür um dreißig Prozent überdimensioniert waren, würden sie schnell an den Punkt kommen, wo die Sicherungen herausflogen. »Ich hatte geplant, bei den Notfallcrews zu sein; die wären ganz vorne gewe sen und hätten versucht, die Posleen so lange wie möglich aufzuhal ten. Aber das setzte voraus, dass wir eine Vorwarnung bekämen; ich weiß nicht, warum das nicht geschehen ist.« »Wie lange hat man denn geglaubt, dass die Verteidigungsstellun gen halten würden?«, fragte Elgars, wischte sich dabei die Hand schuhe an einem Lappen ab und sprang dann auf den Steg zurück. Sie ging zu der Konsole in der Mitte und fing an die Pumpen abzu schalten. »Drei bis sechs Stunden«, sagte Wendy. »Das ist die geschätzte Zeit für eine Posleen-Truppe, um neunzig Prozent des Widerstandes auszuschalten. Natürlich sagt das niemand, aber ich habe die Schät zungen gesehen. Das geht davon aus, dass dies nicht bloß ein Lam prey war, aber in dem Fall wären hier nicht schon Posleen unten.« Sie schaltete das Informationsterminal ein und verschaffte sich Zu gang zum Speicher. Dazu musste sie zweimal ihr Passwort einge ben, aber schließlich fand sie die entsprechende Datei. »Zwei Stunden nach dem Zusammenbrechen der primären Vertei digung – das sind die Sicherheitskräfte in Abschnitt A – werden neunzig Prozent der Bevölkerung entfernt sein«, sagte Wendy nach einem Blick auf das Dokument. »Binnen sechs Stunden nach dem Zusammenbruch der Verteidigung werden achtundneunzig Prozent entfernt sein.«
»Ich schätze, dann gehören wir zu den zwei Prozent«, sagte El gars. »Das halte ich für ein bisschen pessimistisch«, antwortete Wendy. »Aber es gibt eine Möglichkeit, das festzustellen.« Sie rief eine Dar stellung der SubUrb auf und öffnete dann den Datenspeicher für Notfälle. »Ich hatte mich schon vorher gefragt, wie wir herausbe kommen können, wo die Posleen sind. Dann ist mir klar geworden, dass man sie durch die Notrufe aufspüren kann.« Sie rief die Auf zeichnungen dieser Anrufe auf und verknüpfte sie mit dem Plan. »Wir sind jetzt seit viereinhalb Stunden unterwegs. Das Eindringen liegt, schätze ich, etwa fünf Stunden zurück.« Sie ließ den Plan fünf Stunden zurücklaufen. »Siehst du die roten Punkte? Das sind Anru fe, auslösende Anrufe und Unterstützungsanrufe. Da ist eine ganze Menge um die Eingänge, und sie haben sich ausgebreitet.« Sie scrollte den Plan weiter, und Elgars konnte jetzt sehen, was sie meinte; die roten Punkte breiteten sich eine Weile aus und wurden dann dünner. »Du kannst erkennen, dass da immer weniger Leute anrufen«, sag te Wendy ohne jede Emotion. »Das ist etwa zwei Stunden nach dem Eindringen der Fall; zu der Zeit waren wir bereits unterwegs. Cafe teria 3 B befindet sich bereits innerhalb der Posleen-Zone; Dave war zu der Zeit oder kurz nachher bereits weg.« Sie scrollte weiter und sah jetzt eine leichte Ansammlung roter Punkte. »Zu diesem Zeit punkt waren bereits fast alle bewohnten Bereiche überrannt, und die Posleen schwärmen in die industriellen Sektoren aus. Es ist ziemlich sinnlos, sie weiterzuverfolgen, weil jetzt niemand mehr um Hilfe ruft.« »Also wird in vier weiteren Stunden …?«, fragte Elgars und tippte auf ihre Konsole. »Wahrscheinlich werden dann noch drei- oder viertausend Men schen am Leben sein, die sich in verschiedenen Abteilen versteckt halten«, sagte Wendy mit ausdrucksloser Stimme. »Von anfänglich zwei Millionen.«
»Und sie kommen nicht heraus, stimmt das?«, fragte Elgars und musterte sie scharf. »Praktisch betrachtet sind sie alle tot.« »Mausetot«, nickte Wendy. »Die Landstreitkräfte sind nicht ge kommen und haben nicht reagiert, und die Posleen werden diese Anlage deshalb komplett besetzen. Den einen oder anderen Überle benden könnte es natürlich geben, aber praktisch sind sie alle tot.« Elgars nickte und drückte auf EINGABE. »Zeit, hier zu verschwin den.« »Sechs Stunden?«, fragte Wendy. »Jo«, sagte Elgars und sah sich um. »Immer vorausgesetzt, es klappt. Aber wir sollten nicht, ääh, trödeln.« »Seid ihr bald fertig?«, fragte Shari, die den Steg vom Ausgang herunterkam. Sie hatte sich ebenfalls eine Maske übergestreift, und ihre Stimme klang verzerrt und gereizt. »Wir könnten eine zweite Leitung legen«, sagte Wendy. »Ich bin nicht sicher, dass es klappt. Was hast du denn als Ersatz für Treibstoff genommen?« »Maisöl«, antwortete Elgars ruhig. »Ich brauche nur ein wenig Plastique«, meinte sie dann und rieb sich das Kinn. »Das wäre gut für diese Dreckskerle.« »Wir müssen weg«, bat Shari. »Was macht ihr da?« »Wir jagen die Urb in die Luft«, antwortete Wendy.
32 In der Nähe von Cowee, North Carolina, Sol III 2337 EDT, 26. September 2014
»Hier rauszufahren wird interessant sein«, sagte Major Mitchell. »Das dürfen Sie laut sagen, Sir«, sagte Pruitt und ließ sein Sichtge rät kreisen. »Können Sie mir erklären, wie wir das anstellen sollen?« Das SheVa war am Little Tennessee River entlang bis zur Mün dung des Cader Creek gefahren und dann in jenem Tal nordwärts zum Treffpunkt mit der Munitionsgruppe am Cader Fork. Die Lade teams waren fleißig am Werk, und die Ersatzfahrer ihrer Begleitung unterstützten Warrant Indy bei den Reparaturarbeiten an dem Ge schütz. »Sie meinen, abgesehen davon, dass wir zum Tennessee zurück fahren?«, fragte Mitchell. »Yes, Sir«, sagte der Kanonier geduldig, als beim Laden eines wei teren Geschosses ein Zittern durch das Geschütz ging. Die Nach richt, dass die Posleen bis Oak Grove vorgerückt waren, hatte sie be reits erreicht; das bedeutete, dass sich jetzt beiderseits der Talmün dung Posleen befanden. Vermutlich waren sogar bereits welche in das Tal eingedrungen und rückten gegen sie vor. Aber Major Mit chell hatte die Wölfe in diese Richtung geschickt, um sicherzustel len, dass sie beim Aufladen nicht angegriffen wurden. »Ich denke, bis wir wieder dort sind, werden wir viel zu populär sein, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Major!«, rief Indy. »Wir bekommen Besuch.« »Scheiße!«, sagte Pruitt und ließ sein Sichtgerät kreisen. »Doch nicht beim Laden! Wo? Peilung!« »Nein, ich meine, wir haben Besuch«, sagte Indy und lachte dabei nervös, während sie aus der Luke kletterte. »Den Finger vom Ab zug, ehe Sie unsere Position verraten.« Ein untersetzter, muskulöser weiblicher Captain kam hinter ihr durch die Luke. Mitchell lächelte, als er die Flak-Abzeichen an ihrer Uniform sah. »Whiskey Drei-Fünf, vermute ich«, sagte er und streckte ihr die Hand hin. »Captain Vickie Chan, Sir«, stellte sich der Captain vor und nahm seine Hand. »Vielen Dank für Ihre Unterstützung, Captain«, sagte der SheVaKommandant. »Ich dachte schon, wir wären erledigt.« »Captain, ich möchte eine von Ihren Kanonen«, sagte Pruitt und drehte seinen Sitz zu ihr herum. »Die sind klasse. Nicht so große Klasse wie Bun-Bun, aber verdammt gut.« »Ich schenke Ihnen eine.« Der Captain lachte. »Sie haben ja keine Ahnung, wie es ist, wenn man mit den Dingern schießt.« »Schlimm?«, fragte Mitchell. »Das wäre stark untertrieben, Sir«, erwiderte Chan und lächelte. »Sagen wir einfach, dass wir ganz gerne 'ne Weile warten, bis wir unbedingt schießen müssen. Also, wie lautet der Plan?« »Tut mir Leid, aber so, wie es aussieht, müssen wir da hinauf«, sagte Mitchell und ließ das Bild einer der Außenkameras die Berge hinaufwandern. »Ich habe mir eine Karte angesehen. Und da sieht es sogar noch schlimmer als auf dem Bildschirm aus.« »Die sind beinahe senkrecht«, meinte die Kommandantin des Wolfsrudels zögernd. »Ich glaube, dass die Wölfe den Hang schaf fen, aber da stehen auch noch Bäume, und die schaffen wir nicht. Und ist ein SheVa für diese Art von Steigung nicht ein wenig kopf
lastig? Ganz zu schweigen davon, dass es wahrscheinlich … ein we nig zu breit ist?« »Ich denke, das werden wir bald herausfinden«, antwortete Mit chell. »Ich glaube, ich habe einen Kurs ausgearbeitet, mit dem wir es schaffen; durch den Chestnut und den Betty-Pass hinauf und dann den Betty Creek hinunter. Besonderen Spaß wird es nicht machen und auch ganz sicher nicht leicht sein – die Steigung, ganz beson ders an der Hinterseite von Panther Knob, wird ein ganz besonderer Albtraum sein – aber immerhin ist das Gelände dort offen genug, dass wir durchkommen, wenigstens zeigt die Karte das so an, und die Steigung ist nirgends höher als dreißig Grad. Bei voller Muniti onsladung haben wir sogar einen ziemlich tiefen Schwerpunkt, auch wenn es anders aussieht. Ich denke, wir können es schaffen.« »Und wenn nicht?«, fragte Captain Chan. »Na ja, wenn wir umkehren, stoßen wir auf die Posleen«, antwor tete Mitchell. »Zumindest ist das sehr wahrscheinlich. Und wenn wir … nach oben gehen, gibt es da auch einige Risiken. Zum einen wissen wir nicht, ob die Posleen nicht mit massierten Kräften am Betty Creek sind. Aber das ist die einzige Route, wo wir nicht sofort überrannt werden. Wenn die Posleen dort sind, aber nicht mit star ken Verbänden … na ja …« Er grinste kampflustig. »Und wie sieht's mit Ihren Nachschubeinheiten aus?«, fragte sie und deutete mit dem Daumen hinter sich. »Und mit uns übrigens auch?« »Ich habe eine Karte aktualisiert«, sagte er und reichte ihr eine Flash Card. »Haben Sie ein …« »Ich habe ein Kartenmodul«, sagte sie und lächelte; dann zog sie ihren Kartenleser heraus und schob den Chip hinein. »Wir haben alle modernen Errungenschaften.« »Sie fahren über Mica City dort hinauf und über den Brushy-ForkPass; dort gibt es einige Straßen. Der Karte nach kann die Straße von LKWs befahren werden, und Ihre Panzer …« »Sind ziemlich schwer.«
»Ja«, nickte er. »Es gibt ein paar Haarnadelkurven. Ich bin nicht si cher, ob Sie es schaffen werden. Das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Wenn Sie stecken bleiben sollten, schlage ich vor, dass Sie auf unsere LKWs umsteigen. Aber ich hoffe natürlich, dass Sie sich mit uns auf der anderen Seite treffen werden. Wir können die Hilfe weiß Gott gebrauchen.« »Wir könnten eine andere Route nehmen«, überlegte Chan und scrollte auf der Karte herum. »Ich glaube wirklich nicht, dass diese Straße für uns geeignet ist.« »Da bin ich Ihrer Ansicht«, seufzte Mitchell. »Aber ich sehe keinen anderen Weg aus diesem Tal heraus.« »Ich schon«, grinste Chan. »Wir folgen Ihnen.« »Äh«, machte der Major und hielt kurz inne. »Wir …« »Hinterlassen ziemliches Chaos«, fiel Chan ihm ins Wort. »Ich weiß, wir sind Ihnen schließlich hierher gefolgt, haben Sie das ver gessen? Aber Sie drücken alles ziemlich platt; da bleiben keine Baumstümpfe stehen, sondern Sie zermahlen sie zu Sägemehl. Holp rig, das schon, und für die meisten Fahrzeuge fast unmöglich. Aber ein Abrams hat damit überhaupt kein Problem. Also werden wir einfach hinterherzockeln.« »Okay«, nickte Mitchell. »Klingt so, als hätten wir einen Plan.« »Also, Sir, das war ein ziemlich beschissener Plan«, sagte Kitteket verdrießlich. Der Humvee stand am Rand eines Abgrunds, der auf der Karte nicht eingezeichnet war. Diese Stelle zu erreichen war alles andere als ein Vergnügen gewe sen. Sie hatten eine Forststraße benutzt, die seit Jahren nicht mehr gewartet worden war, jedenfalls ganz sicher nicht seit Kriegsbeginn. Die Straße war von Anfang an nicht besonders gut gewesen, und in zwischen waren eine Menge Bäume umgestürzt, und der Regen hat te ganze Stücke weggespült. Aber man konnte sich trotzdem Schlim meres vorstellen.
»Dort wäre ein guter Punkt zum Anhalten, Specialist«, sagte er und sah dabei erneut auf seine Karte. »Das hier ist sicherlich nicht das, was wir erwartet haben. Oder besser gesagt, das, was dort sein sollte, ist nicht dort.« »Was auch immer es ist, wir müssen eine Stelle finden, die da ist«, erwiderte Kitteket mürrisch. »Ah«, er griff in seine Meldetasche und zog ein Röhrchen mit Pil len heraus. »Nehmen Sie eine«, sagte er und hielt ihr das Fläschchen hin. »Was ist das?«, fragte sie. »Provigil«, antwortete er und nahm selbst eine. »Es wird allmäh lich spät, und wir haben einen langen Tag hinter uns und sind alle müde, nicht wahr?« »Stimmt«, sagte sie und nahm die Pille. »Jetzt nicht mehr«, sagte er. »Was denn, Sie haben im Handbuch nie etwas über Provigil gelesen?« »Nein«, gab sie zu. »Den Namen habe ich gehört, aber ich weiß nicht, was das ist.« »Es macht einen ›unmüde‹«, sagte er. »Es ist kein Aufputschmittel; sondern so etwas wie das Gegenteil einer Schlaftablette. Man wird nicht schläfrig. Ein bisschen dösig wird man vielleicht davon und man merkt es nicht, aber irgendwann morgen – vorausgesetzt, wir bekommen bis dahin keinen Schlaf, was sehr wahrscheinlich ist – werde ich Aufputschmittel verteilen, und die helfen uns dann auch schneller zu denken. Bis dahin sind wir dann ziemlich fertig. So, dass die Spinnen anfangen, an uns hochzukrabbeln.« Er sah erneut auf die Karte und runzelte die Stirn. »Wenn wir um kehren und wieder bergab fahren, wäre da eine andere Straße, die am Kamm entlang zum Betty-Pass hinüberführt. Die sollte befahr bar sein.« »Falls es sie überhaupt gibt«, brummte sie und legte den Rück wärtsgang ein.
»Oh, ihr Kleingläubigen«, sagte er und lehnte sich zurück. »Es könnte viel schlimmer sein, viel schlimmer.« »Ach, tatsächlich?«, fragte sie sarkastisch. »Glauben Sie's mir«, sagte Ryan und strich abwesend über das 600-Abzeichen an seiner Brust. »Ich habe das alles schon mitge macht und habe auch die Narben, die es beweisen.«
»Ihr werdet was?«, fragte Shari. »Seid ihr wahnsinnig?« »Na ja, ich bin nicht sicher, ob ich jemandem sagen werde, dass wir es getan haben«, antwortete Wendy. »Immer vorausgesetzt, dass wir lebend hier rauskommen. Aber, nein, wahnsinnig sind wir nicht.« »Das müsst ihr aber sein«, sagte Shari wütend und sah sich in dem Saal um. »Ihr könnt doch diese Bude nicht in die Luft sprengen! Es sind doch überall Überlebende in der Urb!« »Die haben vier Jahre gebraucht, die Rochester Urb zurückzuer obern«, gab Wendy zu bedenken. »Der Schätzung nach wird es nach zwei Wochen hier unten weniger als zweihundert Überlebende ge ben, und selbst das halte ich noch für eine großzügige Schätzung; ich würde eher sagen, weniger als zweihundert. Vergleiche das ein mal mit den Posleen-Verlusten, wenn die ganze Urb mit ihnen hoch geht; im Augenblick sind wahrscheinlich fünfzig- oder sechzigtau send Posleen in dem Komplex.« »Du kannst ohnehin nicht die ganze Anlage hochjagen«, wider sprach Shari. »Die ist so konstruiert, dass sie sogar eine Atombom benexplosion überlebt.« »Ja, aber eine von außen, Mädchen«, erwiderte Elgars. »Die Stützen sind nicht so konstruiert, dass sie gegen Beschädigungen von der Seite her sicher sind. Außerdem werden diese bloody bombs Brände entstehen lassen; 'ne ganze Menge sogar. Wenn das die Posleen nicht erledigt, dann werden davon immerhin die Stützen ge schwächt werden, und das ganze Ding sackt in sich zusammen.«
Shari sah Elgars nachdenklich von der Seite an. »Was für Bomben? Und woher kommt plötzlich dieser britische Akzent?« »Weil im Augenblick ein Brite aus ihr spricht«, erklärte Wendy. »Wahrscheinlich einer von ihren Demo-Experten. Und die Bomben sind all die Bottiche hier; jeder Einzelne ist mit Treibstoff-Öl-Bom ben aus Ammoniaknitrat gefüllt.« »Die sehen aus wie … grauer Schlamm«, sagte Shari. »Keine Sorge, das ist eine Bombe«, belehrte sie Wendy. »Eine, die groß genug ist, um die ganze Urb und sämtliche Posleen darin zur Hölle zu jagen.« »Und sämtliche menschlichen Überlebenden«, sagte Shari. »Und sämtliche menschlichen Überlebenden«, nickte Wendy. »Das ist doch krankhaft«, erregte sich die Ältere. »Nein, das ist Krieg«, antwortete Wendy kühl. »Du erinnerst dich doch, wo wir herkommen?« »Ich habe Fredericksburg überlebt«, brauste Shari auf. »Und es wird Leute geben, die das hier überleben werden! Aber nicht, wenn ihr diese Bombe auslöst!« »Das Wichtige an Fredericksburg war, dass es den Posleen eine blutige Nase verschafft hat!«, konterte Wendy. »Von da an wussten sie, dass wir ihnen den Arsch aufreißen können, und zwar bei jeder Gelegenheit. Und mit dem hier werden wir ihrem Vormarsch den Kopf abschneiden und ihnen darüber hinaus mächtige Verluste zu fügen. Und das ist das Opfer wert. Die Toten wert. Im Krieg sterben Menschen. Böse und Gute. Wenn ich der Ansicht wäre, dass die meisten von ihnen überleben würden, nein, dann würden wir die Bombe nicht hochgehen lassen. Aber fast alle von ihnen werden in diesen Tunnels sterben und zu Proviant für die Posleen werden. Und. Das. Werde. Ich. Nicht. Zulassen.« »Dann wirst du also hier bleiben und dich selbst mit in die Luft ja gen?«, fragte Shari bitter.
»Nein, verdammt!«, sagte Wendy. »Ich werde hier verduften, wenn ich das schaffe. Und dich und die Kinder mitnehmen! Und wir stellen die Bombe auf sechs Stunden von jetzt an …« »Minus vier Minuten, um es genau zu sagen«, erklärte Elgars nach einem Blick auf den Schalter. »Und deshalb würde ich vorschlagen, dass die Damen ihre Diskussion jetzt beenden.« »Scheiße«, sagte Shari leise. »Okay, okay. Gehen wir.« Sie blickte zur Decke, als könnte sie den Rest der Urb hinter den Wänden se hen, und schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid.« »Mir tut es Leid, dass ich nicht in Abschnitt A gestorben bin«, sag te Wendy und legte Shari die Hand auf die Schulter. »Das wäre … sauber … gewesen. Aber wir werden den Posleen den Arsch aufrei ßen, und darauf kannst du dich verlassen.« »Also, ihr beiden könnt euch meinetwegen noch lange darüber un terhalten«, sagte Elgars und strebte der Tür zu. »Aber ich werde se hen, dass ich hier rauskomme.« »Einverstanden«, sagte Wendy und folgte ihr. »Einverstanden.« Shari warf einen letzten Blick auf das Display und drehte sich dann um, um den beiden anderen zu folgen, als die nördliche Tür aufging. Das Posleen-Normale warf nur einen Blick auf die drei Frauen und trottete dann über den schwankenden Steg auf sie zu, stieß einen gurgelnden Schrei aus und hob seine Railgun. Wendy drehte sich um, stieß ebenfalls einen Schrei aus und hob ihre MP-5. »NEIN!«, brüllte Elgars und riss ihr die Maschinenpistole weg. »Dann fliegt die ganze Bude in die Luft!« »Friss Stickstoff, Arschloch!«, schrie Shari und feuerte einen Strahl der kryogenischen Flüssigkeit auf den Steg und somit auf den Feind. Das Normale blieb stehen und starrte die Flüssigkeit an, die in ei nem weiten Bogen auf den Steg niederging. Es wirkte verwirrt und begriff offenbar nicht, weshalb die Thresh den Steg mit weißer Flüs
sigkeit besprühten. Aber als der Steg dann brüchig wurde und in Stücke ging, feuerte es einen Strom von Railgun-Geschossen ab und fiel dann schreiend in den Ammoniaktank. »Oh, Scheiße«, sagte Wendy, die sich auf den Boden geworfen hat te, und rappelte sich auf. Shari lag auf dem Rücken, die Hände gegen den Leib gepresst, das Blut strömte durch das Gitter des Stegs und tropfte auf den Boden hinunter. Wendy ging auf sie zu und wälzte sie auf den Bauch, so dass man die Austrittswunde des Geschosses sehen konnte. »Ah«, schrie Shari vor Schmerz. »O Gott! Wendy, ich spüre von der Hüfte abwärts überhaupt nichts mehr.« »Weil deine Wirbelsäule getroffen ist«, sagte Wendy bedrückt. Sie legte einen Druckverband an und winkte Elgars zu, sie solle her kommen. »Leg da die Hand drauf.« »Wir müssen weg«, sagte Elgars und drückte auf den Verband. »Ja«, nickte Wendy. »Werden wir auch, nur noch einen Augen blick.« Sie riss eine Hiberzine-Spritze auf und drückte sie Shari ge gen den Hals. »Was ist das?« »Hiberzine«, erklärte Wendy. »In dem Zustand kann ich dich wach nicht tragen.« »Das will ich nicht«, keuchte Shari. »Die Kinder brauchen mich.« »Nicht mit dem Loch in deinem Rücken«, erwiderte Elgars. »Du tust denen keinen Gefallen, wenn du bei jeder Bewegung schreist.« »Wir sind beinahe beim Lift«, sagte Wendy verzweifelt. »Wir schaffen dich hinaus; dich an die Oberfläche zu bringen wird gar nicht schwierig sein.« »Oh Gott«, sagte Shari, deren Lippen blau und kalt wurden. »Ich darf jetzt nicht sterben.«
»Wirst du auch nicht«, versprach Wendy. Sie presste ihr den Hi berzine-Injektor gegen den Hals und sah zu, wie die Frau schlaff wurde. Ihre Farbe verbesserte sich fast im gleichen Augenblick, als die Nanniten Blut in ihr Gehirn beförderten. Augenblicke später war ihr Gesicht gerötet, und die Zunge hing ihr seitlich aus dem Mund. »Okay, gehen wir«, sagte Elgars. »Scheiß drauf«, antwortete Wendy. »Wir brauchen eine Sanitätsan lage und eine Trage.« Sie zog das ErsteHilfe-Päckchen heraus und entnahm ihm ein paar Klammern. »Wenn ich sie auch nur ein biss chen zusammenflicken kann, verhindert das Hiberzine, dass sie un terwegs ausblutet.« »Wir können sie nicht operieren!«, brauste Elgars auf. »Wir haben sechs Stunden, um hier rauszukommen, sonst sind wir alle im Arsch. Wir müssen hier weg.« »WIR LASSEN SIE NICHT ZURÜCK!«, brüllte Wendy und richte te sich auf und schob ihr Gesicht so nahe an das von Elgars, dass ihre Nasen sich beinahe berührten. »NICHT. HAST DU MICH VER STANDEN?« Elgars wich ihrem Blick nicht aus, gab aber eine Sekunde später nach. »Die meisten Anlagen der Klasse Eins sind dort, wo Leute sind. Und falls du keine Abendkurse als Trauma-Internistin gemacht hast, können wir nicht viel für sie tun.« »Stabilisieren können wir sie«, sagte Wendy und deutete auf die Konsole. »Such eine Sanitätsanlage, wo es nicht von Posleen wim melt.« »Das ist unmöglich«, sagte Elgars und schüttelte den Kopf. Aber sie tippte die Anfrage dennoch ein, verlangte den Standort der nächsten Sanitätsanlage für Komplettbetrieb. Eigenartigerweise ver langte das System ihren Benutzemamen und ihr Passwort. Sie gab beide ein und erfuhr, dass sich eine Anlage der Klasse Eins Plus nur drei Quadranten entfernt befand. Die Karte zeigte, dass sie sich in einer Wandnische des Hauptsektors befand.
»Da gibt es eine Anlage praktisch nebenan«, sagte Elgars. »Die Tür, die auf der Karte nicht verzeichnet war, die du dir herunterge laden hast? Das ist der Zugang zu der Anlage.« »Na schön, dann haben wir Pech gehabt«, schimpfte Wendy. »Die kriegen wir nicht auf.« »Lass uns zurückgehen«, sagte Elgars. »Vielleicht fällt mir etwas ein.« »Was denn?«, wollte Wendy wissen. »Das weiß ich nicht. Ich werde eben ›Sesam öffne dich‹ sagen oder so etwas.« »Na schön, hol die Kinder«, sagte Wendy. »Ich werde Shari hinter mir herzerren.« »Großartig«, sagte Elgars. »Ich soll die Kinder holen.« »Mir würden sie widersprechen«, erklärte Wendy und hievte sich Shari im Feuerwehrgriff auf die Schultern. »Ich denke, du wirst vor mir dort sein.«
Elgars legte die Handfläche auf den Türscanner, während Wendy Shari durch die Tür in den Tanksaal schleppte. Als sie die Hand auf die Platte legte, öffnete sich die Tür. »Was hast du gemacht?«, fragte Wendy. Sie schwitzte und keuchte von der Anstrengung; sie hatte schon einen anstrengenden Tag hin ter sich. »Ich habe bloß die Hand auf den Scanner gelegt«, meinte Elgars und zuckte die Achseln. »Ich bin vom Militär; vielleicht ist das Ding so konstruiert, dass es für Militärpersonen öffnet.« Den Raum, der jetzt offen vor ihnen lag, säumten an beiden Wän den Spinde; bei der Tür auf der anderen Seite schien es sich um eine Luftschleuse zu handeln.
»Du wolltest doch eine Sanitätsanlage, nicht wahr?«, fragte Wendy und schob sich Sharis leblosen Körper zurecht. Sie sah sich um, aber der Saal wirkte eher wie der Zugang zu einem Clean Room, in dem Computerchips hergestellt wurden. »Ja«, sagte Elgars und führte die Kinder zu der Tür auf der ande ren Seite. Auch sie ließ sich auf Berührung öffnen. »Das geht so schon in Ordnung. Die Karte hat einen gewundenen Weg gezeigt; wir müssen sehen, was das bedeutet.« Die Gruppe drängte sich in die Luftschleuse, und Elgars öffnete – wieder mit Handauflegen – die nächste Tür, hinter der sie violette Dunkelheit empfing. Das Licht aus der Luftschleuse fiel auf die hintere Wand, und El gars spürte, wie sie ein geradezu gespenstisches Schaudern überlief. Die Wand war ganz offensichtlich künstlich geschaffen, aber sie wirkte organisch, und die Art und Weise, wie der Tunnel sich nach rechts davonschlängelte, ließ in ihr unangenehme Assoziationen an Eingeweide aufkommen. Eingeweide von violetter Farbe; das Licht, das von den Wänden abstrahlte, war von tiefem Violett. In der Ferne war ein gurgelndes Geräusch zu hören, nicht so sehr wie von einem Brunnen oder ei nem dahinplätschernden Bach, sondern eher wie von einem ver stimmten Magen, und aus etwas größerer Nähe waren hohe, schrille Pfeiflaute zu hören. Der Geruch war seltsam und fremdartig und von einer beißenden Süße, die dem Rautenhirn sagte, dass sie sich nicht länger in menschlicher Umgebung befanden.
Elgars umfasste ihr Gewehr fester und sah sich in dem violetten Tunnel um. »Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir ganz und gar nicht.« Man konnte sie leise keuchen hören. Wendy schob sich Sharis träge Masse auf der Schulter zurecht und zuckte so gut sie konnte die Achseln. »Mir ist ziemlich egal, ob es dir
gefällt oder nicht; hier sollte eine Traumaanlage sein, und die wer den wir finden.« »Wo ist ein Infoterminal?«, fragte Elgars rhetorisch. »Benötigen Sie Information, Captain Elgars?«, fragte eine ein schmeichelnd klingende Stimme aus den Wänden. Elgars löste die Hände eines der Kinder von ihrer Uniform und sah sich um. »Wer hat da gefragt?« »Dies ist das AID der Anlage, Captain«, antwortete die Stimme. »Benötigen Sie Hilfe?« »Wir haben eine Patientin«, antwortete Wendy. »Wir brauchen eine Sanitätsanlage.« Keine Antwort. Elgars sah Wendy an und zuckte die Achseln. »Wir haben eine Pa tientin, wir brauchen eine Sanitätsanlage«, wiederholte sie. »Folgen Sie dem Kobold«, antwortete das AID. Einer der blau leuchtenden Mikriten erschien und hüpfte in der Luft auf und ab. »Er wird Sie zu der Anlage führen.« Die Gruppe folgte dem Kobold auf einem gewundenen Weg. Das schrille Pfeifen und Gurgeln in der Ferne schien keine Sekunde lang aufzuhören oder auch nur sich zu verändern, aber das Licht in den Bereichen, die sie passierten, wurde heller und schwächte sich hinter ihnen wieder ab. Hie und da sahen sie niedrige, meist leere Räume beiderseits des Ganges. In einigen davon gab es Hocker oder Kissen, die eine ver blüffende Ähnlichkeit mit Schirmpilzen hatten, und in einem der Räume standen eine niedrige Bank und ein Tisch, die aussahen, als wären sie für Kinder bestimmt. An manchen Stellen schlug die orga nisch wirkende Wand Falten, bei denen es sich sowohl um Öffnun gen in weitere Räume wie auch ganz schlicht um Eigenheiten der Architektur handeln konnte. Schließlich erreichten sie einen Raum, dessen Decke etwas höher als die der meisten anderen Räume war. In der Mitte war ein kleines
Podest zu sehen und darauf ein Gebilde, das wie ein mit einer Glas platte abgedeckter Altar wirkte. »Bitte, legen Sie die Patientin in die Kammer«, tönte das AID, wäh rend der Kobold flackernd verlosch. Die Oberseite der Kammer schien zu verschwinden, nicht etwa sich zu öffnen oder sich wegzu falten, wie das bei Memoryplastik der Fall gewesen wäre. »Was wird das mit ihr anstellen?«, fragte Wendy. »AID, würdest du diese Frage bitte beantworten«, sagte Elgars un geduldig. »Und zukünftige Fragen jener Person, so weit sie zulässig sind.« »Die Nano-Kammer wird das Subjekt reparieren«, antwortete das AID. »Die Alternativen sind Reparatur, Reparatur und Verjüngung oder volle Aktualisierung.« Wendy ließ Shari langsam auf den »Altar« sinken und fröstelte da bei unbehaglich. »Computer, worin besteht eine ›volle Aktualisie rung‹?«, fragte sie. »Die Patientin bekommt eine nanoverstärkte Muskulatur, Schnell heilung und Knochenstruktur«, antwortete das AID ausdruckslos. »In Verbindung mit implantierten Kampffähigkeiten.« »Oh Scheiße«, sagte Elgars. »Computer, worauf basiert mein Zu gang zu dieser Anlage? Ist es, weil ich Offizier beim Militär bin?« »Nein, Captain«, antwortete das AID. »Sie sind Patientin in Be handlung.« »Du meine Güte«, sagte Wendy bitter. »Wie lange dauert die Re paratur, Computer?« »Die Reparatur für entdeckte Schäden nimmt etwa zehn Minuten in Anspruch. Eine volle Aktualisierung wird etwa fünfzehn Minuten dauern.« »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte Wendy. »SCHEISSE!« »Es war die ganze Zeit hier«, sagte Elgars bitter. »Die hätten David Harmon jederzeit reparieren können, wenn sie nur gewollt hätten.«
»Oder die alten Leute verjüngt.« »›In den Regenerationstanks würde es Monate dauern‹«, zitierte Wendy bitter. »Die Frage ist, ob Shari die Erinnerungen von jemand anderem möchte.« »Seit den Experimenten an Captain Elgars sind an dem System Verbesserungen vorgenommen worden«, plapperte der Computer fröhlich. »Sekundäre Erinnerungs- und Persönlichkeitsauswirkun gen sind stark reduziert worden. Außerdem war es erforderlich, in Captain Elgars wegen des kompletten Verlustes der ursprünglichen Funktion einen vollen Persönlichkeitskern zu implantieren.« »Sag das noch mal so, dass man es verstehen kann«, herrschte El gars das AID an. »Anne Elgars hat nicht mehr existiert; sie war tot«, sagte der Com puter. »Infolge umfangreicher Gehirnschäden war es notwendig, sämtliche Funktionen mit Ausnahme derer des Rautenhirns zu lö schen und einen kompletten Persönlichkeitskern nachzuladen. Diese Patientin hat keine wesentlichen neurologischen Schäden erlitten.« »Oh Scheiße«, sagte Elgars leise und setzte sich auf den Boden. »Wer war es?« »Diese Information ist dieser Anlage nicht zugänglich«, antwortete der Computer. »Einige Persönlichkeitskerne sind von Tchpth zur Erde gebracht worden, andere hat man auf der Erde eingesammelt.« »Computer«, sagte Wendy. »Volle Aktualisierung.« »Dieser Befehl muss von Captain Elgars kommen«, sagte der Com puter. »Befolgen«, flüsterte Elgars. »Tu es.« Auf diese Anweisung hin schloss sich der »Altar« und wurde undurchsichtig, so dass man die schwer verletzte Frau jetzt nicht mehr sehen konnte. »Annie«, sagte Wendy, setzte sich neben sie und legte den Arm um sie. »Nimm es nicht so schwer. Die haben dich gerettet. Alles an dere ist unwichtig.«
»Wer auch immer ›ich‹ bin«, sagte Elgars. »Diese Mistkerle. Nicht einmal meinen Ärzten haben die das gesagt. Kein Wunder, dass die mich für verrückt hielten; schließlich bin ich das ja.« »Natürlich haben sie es deinen Ärzten nicht erklärt«, sagte Wendy mit einem verschmitzten Grinsen. »Da hätten sie ja diese Anlage er klären müssen. Und du bist nicht verrückt, wir alle haben unter schiedliche ›Leute‹, die in uns zugange sind. Wir zeigen nur je nach Anlass die eine oder die andere.« »Sicher, aber das ist bloß eine Frage der Formulierung«, sagte El gars. »Ich bin wirklich mehrere Leute. Wie … Frankenstein, aber im Kopf. Zusammengestückelt.« »So empfinde ich das nicht«, wandte Wendy ein. »Man hat bei dir den Eindruck … als würdest du einige der Persönlichkeiten mani festieren und dann verschwinden sie. Du hast nur noch ganz selten einen Akzent. Und das erklärt wahrscheinlich auch deine Sprachstö rung; du konntest dich nicht entscheiden, welcher Akzent wirklich ›du‹ warst. In letzter Zeit wirkst du … vollständiger. Ich denke, am Ende wird das alles gut werden. Du wirst dann wieder … Anne El gars sein. Aber …« Sie schnaubte. »Aber ›aktualisiert‹.« »Ich dachte, ich bin von Natur aus stark«, meinte Elgars und ließ einen Muskel spielen. »Dabei sind es bloß die Nanniten.« »Und dein Fitnesstraining«, korrigierte sie Wendy. »Ich kann mir vorstellen, dass dir das eine … irgendwie eine stärkere Basis ver leiht. Und von dem Punkt aus musst du selbst daran arbeiten.« Wendy sah zu der Gruppe Kinder hinüber und schüttelte den Kopf. »Wir kommen hier raus, Kinder. Alle kommen wir raus.« »Was ist mit Mami? Wird sie wieder gesund?«, fragte Kelly mit tränenüberströmtem Gesicht. Die Kinder waren ihnen fast stumm gefolgt, nachdem Elgars ihnen streng ins Gewissen geredet hatte. »Der Computer sagt, dass sie anschließend wieder so gut wie neu sein wird«, sagte Wendy und nahm die Kleine auf den Schoß und drückte sie an sich. »Besser noch, sie wird wahrscheinlich anfangen jünger auszusehen.«
»Kann der Computer das?«, fragte Shannon und schob sich Am bers Tragegestell zurecht. Die Zehnjährige hatte durchgehalten wie ein Soldat, aber jetzt war ihr anzumerken, dass ihre Kräfte schwan den. »Der Computer sagt das«, meinte Elgars, nahm dem Mädchen das Tragegestell ab und setzte das Baby auf den Boden. »Wir müssen eben sehen. Und weil wir gerade davon sprechen – Computer, bist du schlau genug, um zu wissen, dass gerade eine Invasion der Pos leen stattfindet?« »Ja«, sagte das AID. »Sind welche in diesem Abschnitt?« »Negativ; die nächsten sind im Hydroponik-Sektor.« »Sag mir Bescheid, wenn sich das ändert, ja?« »Hey, Computer«, sagte Wendy. »Wo sind all die Techniker hin?« »Erklärung, bitte«, sagte der Computer. »Na ja«, meinte Wendy nach einem Blick in die Runde. »Ich habe keine Krabben oder Indowy rumlaufen sehen. Und das meiste Zeug hier drinnen ist doch von denen. Wo sind die also hin?« »Der Primärzugang zu diesem Abschnitt ist separat von der Sub Urb«, antwortete das AID und projizierte ein Hologramm in den Raum. »Der Ausgang befindet sich an der Südostflanke des Pender grass Mountain.« »Und einen Hinterausgang gibt es«, erregte sich Wendy. »Wenn ich je herausbekomme, wer das eingerichtet und dann geheim ge halten hat, dann reiß ich ihm das Herz heraus und esse es vor seinen Augen.« »Nun, das wäre vielleicht ein wenig übertrieben«, sagte Elgars. »Wäre es nicht vielleicht sinnvoller, sie einfach nur zu töten?« »Nein, ich möchte nicht, dass jemand uns noch einmal so in die Pfanne haut«, sagte Wendy. »Herrgott, bin ich sauer.« »Worüber?«, fragte Shari und setzte sich auf.
Die durchsichtige Abdeckung war wieder so lautlos verschwun den, dass niemand es bemerkt hatte. Mit Ausnahme von Billy, der dasaß und Shari mit großen Augen anstarrte. »Mo … Mommy?«, krächzte er. »Billy«, sagte Shari. »Du hast geredet!« »D …« Der Junge schluckte und räusperte sich dann. »Du … du bist so jung.« Shari sah so aus, wie sie vielleicht auf der High School ausgesehen haben mochte. Sämtliche Runzeln und Falten waren verschwunden, als hätten sie nie existiert. Sie blickte auf die Bandagen, die immer noch um ihre Kleider gewunden waren, und schüttelte den Kopf. »Selbst die Blutflecken sind weg«, flüsterte sie. »Das Loch in deinem Hemd hat es nicht gestopft«, erwiderte Wen dy, sah den Riss an und betastete dann die Haut darunter. »Aber da ist nicht einmal eine Narbe. Wie fühlst du dich?« »Prima«, sagte Shari und blickte verwundert auf ihre Hände. »Gut. Besser, als ich mich seit Jahren gefühlt habe. Stark. Was in aller Welt ist da geschehen?« »Das ist allem Anschein nach die Anlage, die mich repariert hat«, antwortete Elgars. »Wir waren der Ansicht, du würdest eine volle Aktualisierung vorziehen. Unter anderem schließt das eine Verjün gung ein.« »Wow«, machte Shari und bestaunte die Glätte ihrer Haut. »Mike wird …« Sie hielt inne und verzog das Gesicht. »Nein, wahrschein lich nicht.« Einen Augenblick lang konnte man Tränen in ihren Au gen sehen. »Hey, der verträgt einiges«, sagte Wendy. »Wir gehen in den Nordwesten; auf die Weise sollten wir es schaffen, die Posleen zu umgehen. Sobald wir einen sicheren Ort erreicht haben, sehen wir in der Flüchtlingsdatenbank nach.« »Falls wir hier rauskommen«, meinte Shari nachdenklich.
»Wie wir jetzt wissen, gibt es eine Hintertür«, sagte Elgars trocken. »Auch wieder so eine Kleinigkeit, die die Erbauer dieser Anlage ver säumt haben, dem Rest der Urb gegenüber zu erwähnen.« »Wir können direkt zum Pendergrass Mountain gehen«, nickte Wendy. »Ohne zu warten.« »Dann lass uns gehen«, sagte Shari, stand auf und zog sich die Bandagen herunter. Wendy war anzumerken, dass ihr etwas durch den Kopf ging, als sie jetzt den Altar ansah. »AID, wie lange dauert es, bis die ersten Posleen hier auftauchen?« »Im Hydroponik-Sektor sind Posleen. In Anbetracht der chaoti schen Bewegungsweise der Posleen ist es unmöglich, präzise Zeitan gaben für ihr Eintreffen in diesem Abschnitt zu generieren.« »Mhm«, sagte sie. »Meinst du, die Zeit reicht für eine volle Aktua lisierung?« »Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte Shari. »Hörst du Stimmen in deinem Kopf?«, fragte Wendy. Sie nahm Sharis Steyr und warf es ihr hin. »Da, fang.« Shari fing die Waffe auf und zog den Verschluss ein wenig zurück, um zu sehen, ob eine Patrone im Lauf war. Dann sicherte sie die Waffe und hielt sie mit dem Lauf zu Boden gerichtet – wie TaktikTeams ihre Waffen zu tragen pflegen. »Was beweist das?« »Da, schau, wie du es hältst«, sagte Wendy und grinste. »Sag ›Feu er‹.« »Warum?«, fragte Shari argwöhnisch und blickte auf die Waffe hinunter. Die Art und Weise, wie sie sie hielt, wirkte auf sie seltsam, aber … das Gefühl stimmte. »Sag es einfach«, drängte Wendy. »Feuer.« »Da, siehst du«, sagte Wendy und grinste erneut. »Keine Spur von Akzent. Die haben alle Schwachstellen beseitigt, als sie es an Elgars ausprobiert haben.«
»Ich bin also ein Versuchskaninchen«, meinte Elgars missmutig. »Also, Computer«, sagte Wendy. »Hab ich Zeit?« »Unbekannt. Und wenn Posleen die Außentür aufbrechen, habe ich Anweisung, diese Anlage mit extremem Präjudiz zu schließen«, sagte das AID. »Ich werde dann verlangen müssen, dass Sie sich entfernen.« »Was passiert, wenn ich zu dem Zeitpunkt in der Kammer bin?«, fragte Wendy. »Das wollen Sie nicht«, erwiderte das AID. Sie sah die beiden anderen Frauen an. »Das ist wahrscheinlich die einzige Chance auf Verjüngung, die ich je bekomme. Wenn es schon nicht das ewige Leben ist, kommt es ihm doch einigermaßen nahe.« Shari seufzte. »Dann los.« »Computer«, sagte Elgars. »Bitte volle Aktualisierung an dieser Patientin.« »Sehr wohl«, erwiderte das AID und öffnete die Abdeckung. »Le gen Sie sich auf die Platte.« Sie mussten noch kurz warten, weil Elgars den Computer dazu veranlasste, ihnen einen Wegeplan zum Ausgang herunterzuladen, und Shari sich vergewisserte, dass alle Kinder fluchtbereit waren. Bei der Gelegenheit überzeugte sie ihre Schützlinge auch davon, dass sie wirklich Miss Shari war. Nachdem sie die Route überprüft und sich vergewissert hatten, dass es zwischen ihrer augenblickli chen Position und der Oberfläche keine Posleen geben sollte, über nahm sie es, Amber zu tragen, und fing an, ihr die Flasche zu geben. Etwa zu dem Zeitpunkt öffnete sich die Anlage, und Wendy setzte sich auf. »Verflixt«, sagte sie. »Das ist so, als ob man Hiberzine genommen hätte. Es ist überhaupt keine Zeit verstrichen.« »Fühlst du dich irgendwie anders?«, wollte Elgars wissen.
»Stärker«, sagte Wendy. »Es fühlt sich wie … ich weiß nicht, mein Atem fühlt sich irgendwie anders an. Ich komme mir wie aufgela den vor, besser kann ich es nicht ausdrücken.« »Also, gehen wir«, sagte Shari und nahm das Kind unter den einen Arm und das Bullpup unter den anderen. »Ich möchte nicht, dass diese Bude hier sich ›mit extremem Präjudiz über uns schließt‹.« »Wissen wir, wo wir hingehen?«, fragte Wendy. »Jetzt schon«, sagte Elgars und hob ihr PDA. »Aber … Computer, könnten wir einen Kobold kriegen?« »Aber sicher«, erwiderte das AID, und einer der Mikriten blitzte vor ihnen auf. »Bereit zum Abmarsch«, sagte Elgars. »Okay«, nickte Wendy. »Gehen wir.« Sie verließen den Saal nach links und bewegten sich auf einem ge wundenen Pfad, der sie zweimal durch große membranartige Öff nungen führte, die Wendy an Herzklappen erinnerten, bis sie schließlich einen noch wesentlich größeren Saal als den mit dem Verjüngungsgerät erreichten. In der Mitte des Saals, der schätzungs weise fünfzig Meter durchmaß und fast ebenso hoch war, stießen sie auf etwas, das wie ein purpurfarbener, riesiger Brotlaib wirkte. »Was ist das?«, fragte Elgars, als der Kobold in der Ferne ver schwand. »Die Transportkapsel«, antwortete das AID, während sich gleich zeitig in der Seite des Gebildes eine rechteckige Tür öffnete. Das Rechteck war waagerecht angeordnet und als Eingang für Menschen zu niedrig. Elgars musste sich ducken, um sich nicht den Kopf anzu stoßen. Das Innere war etwa ebenso unangenehm und unansehnlich wie die Außenseite; es bestand hauptsächlich aus violett-blauem Schaum mit gelegentlichen grünen Flecken, die in dem eigenartigen Licht eher bräunlich wirkten.
»Bitte nehmen Sie Platz«, tönte das AID. »Dieser Transporter ver lässt die Station.« Die Gruppe setzte sich auf den Boden und sah sich um, wartete darauf, dass das Gerät sich in Bewegung setzte. Es gab keine Fens ter, sie konnten also nicht sehen, was draußen vor sich ging; prak tisch betrachtet handelte es sich um ein kleines, in sich geschlossenes Universum. »AID?«, fragte Elgars nach einer Weile. »Wann setzen wir uns in Bewegung?« »Sie befinden sich auf halbem Wege nach Pendergrass Mountain, Captain Elgars.« »Oh.« Sie sah sich erneut um und zuckte die Achseln. »Trägheitsdämpfer«, erklärte Wendy. »So etwas wie in Raumfahr zeugen; es ›dämpft‹ die Bewegung.« »Okay«, meinte Shari und zuckte die Achseln. »Wann kommen wir dann dort an?« »Jetzt«, sagte Wendy, als sich die Tür in völlige Schwärze öffnete. »Das ist nicht so gut«, sagte Elgars und trat auf den kaum sichtba ren Boden. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass sie sich in einem Saal befanden, der ziemlich groß war und bei dem es sich offenbar um eine natürliche Kaverne handelte. Aber es gab keinen sichtbaren Eingang, der ins Innere des Berges führte; es war, als wäre der Transporter durch massives Felsgestein gegangen. »Okay, jetzt habe ich Angst.« »Es ist kurz vor Morgendämmerung«, sagte Shari. »Wir müssen die Kinder schlafen lassen. Und ich könnte auch etwas Ruhe gebrau chen.« »Hier draußen ist's kalt«, sagte Wendy und zog an ihrem zerfetz ten Hemd. »Vielleicht könnten wir in dem Transporter schlafen.« »Und lassen uns davon plötzlich in die Urb zurücktragen?«, fragte Elgars. »Doch wohl eher nicht.«
»Wir haben Decken«, meinte Shari. »Wir können uns hier hinle gen. Wenn wir uns alle aneinander kuscheln, ist es nicht so schlimm.« »Okay«, sagte Wendy und sah sich um. »Dort hinten an den Wän den. Ob wir ein Feuer machen können?« »Das ist wahrscheinlich keine gute Idee«, meinte Elgars. »Das Licht und die Wärme könnten auf uns aufmerksam machen. Wir müssen bloß diese Nacht überstehen; morgen finden wir bestimmt besseres Material.« »Okay«, sagte Wendy. »Dann wollen wir ein wenig schlafen. Und hoffen, dass es morgen besser wird.«
33 Betty Gap, North Carolina, Sol III 0714 EDT, 27. September 2014
They sends us along where the roads are, but mostly we goes where they ain't: We'd climb up the side of a sign-board an' trust to the stick o' the paint: We've chivvied the Naga an' Looshai, we've give the Afreedeemanfits, For we fancies ourselves at two thousand, we guns that are built in two bits – 'Tss! 'Tss! »Screwguns« – Rudyard Kipling Die schicken uns lang, wo die Straßen sind, Aber meistens gehen wir da, wo's keine gibt. Wir klettern, wenn's sein muss, ein Hinweisschild hoch. Und vertrauen darauf, dass die Farbe uns hält. Wir haben die Nagas und Losshais gescheucht Und den Afridi in Schrecken versetzt, Denn wir setzen unseren Wert mit zweitausend an, Wir aus zwei Teilen montierten Kanonen. »Schraubgeschütze«
Pruitt blickte starr in die aufgehende Sonne und war sich ziemlich sicher, noch nie in seinem Leben so erschöpft gewesen zu sein, wie er dies jetzt war. Was auch immer das Zeug ihm weismachen wollte, das er geschluckt hatte. »Ich fühle mich, als hätte ich eine Woche nicht geschlafen«, mur melte er. »Oder zumindest, als könnte ich jetzt eine Woche schlafen.« Er war nicht eigentlich müde; das Provigil sorgte dafür, dass er sich nicht so fühlte, und eine winzige Beimengung von Am phetaminen stellte sicher, dass er wachsam blieb. Aber es war jeden falls ein endlos langer Tag mit einer Menge Stress gewesen, und es sah nicht so aus, als würde dieser lange Tag bald zu Ende gehen. Die Fahrt über den Berg war ein einziger endloser Albtraum gewe sen, und das Schlimme lag für ihn darin, dass er zu völliger Passivi tät verurteilt gewesen war, er hatte sich einfach nur festhalten und auf das Beste hoffen können. Das SheVa-Geschütz war nicht dafür konstruiert, Berge zu erklet tern, und ein paar Mal war er sich ziemlich sicher gewesen, dass sie umkippen und den Abhang hinunterstürzen würden; einmal ein Stück westlich von Chestnut Gap, wo sie, ohnehin schon auf einem sehr steilen Hang stehend, eine drei Meter hohe Klippe hatten über winden müssen, und ein anderes Mal, als die Bergflanke nur ein bisschen steiler gewesen war, als sie auf der Landkarte aussah. In dem SheVa hatte man häufig das Gefühl gehabt, es gehe senkrecht nach oben, und wenn man wusste, dass man über sich ein etliche Tonnen schweres Geschütz und zwei Stockwerke Stahl hatte, die das ganze Fahrzeug zur Seite und nach hinten zogen, dann zerrte das ziemlich an den Nerven. Fast noch schlimmer waren die paar Male gewesen, wo sie eine Klamm mit einer Hälfte ihrer mächtigen Kette auf der einen und der anderen Hälfte auf der anderen Seite hatten überqueren müssen; der Unterbau hatte dabei ächzende Lau te von sich gegeben, als würde er jeden Augenblick in Stücke gehen.
Für Reeves war es noch schlimmer gewesen; das große und eigent lich luftige Abteil hatte sich mehrmals förmlich mit dem Angst schweiß des Fahrers gefüllt. Aber jedes Mal, wenn Major Mitchell ihn angewiesen hatte, einen Abhang zu nehmen, hatte er bloß ge nickt und einfach das Gaspedal durchgedrückt. Es gehörte eine ganz besondere Art von Mut dazu, fest und unverbrüchlich an einen Me chanismus zu glauben, fest darauf zu vertrauen, dass die Maschine imstande war, den Hügel zu nehmen und nicht zu einem giganti schen, eisernen Felsbrocken zu werden, der jeden Augenblick in die Tiefe purzeln konnte. Und für die Wölfe musste es fast genauso schlimm gewesen sein. Der Abrams war für sechzig Grad Steigungen freigegeben – erstaun lich, wie es sich auf den Schwerpunkt auswirkte, wenn man den größten Teil von sechzig Tonnen Metall in Bodennähe konzentrierte –, aber das hieß nicht, dass jemand, der kein völliger Idiot war, gerne solche Steigungen nahm. Und an manchen Stellen hatte das SheVa den Hang so aufgerissen, dass seine Kettenspuren, die die einzig klare Route für einen Abrams darstellten, leicht diese sechzig Grad ausmachten. Aber der Kommandant der MetalStormPanzer hatte das alles ohne erkennbare Skrupel geschafft. Es wäre fast besser gewesen, wenn er einfach all seine Bildschirme abgeschaltet hätte und schlafen gegangen wäre, aber sie wussten ja nicht, wann plötzlich am Himmel Posleen auftauchen würden. Und jetzt, da sie wieder mit Munition versorgt waren, war er geradezu erpicht darauf, den Posleen die Hölle heiß zu machen. Die große Frage war, wo die Gäule sich aufhielten. Major Mitchell und der Kommandantin des Wolfsrudels war es gelungen, ein paar weitere überlebende Einheiten über Funk zusam menzukratzen. Wie sich herausstellte, hatten die Posleen den Ab hang von Rocky Face und Oak Grove eingenommen und damit einen großen Teil des überlebenden Korps abgeschnitten. Aber die Pioniere hatten die Brücken bei Oak Grove und über den Tennessee gesprengt, ehe die feindlichen Verbände sie erreicht hatten, und die
Posleen waren jetzt an beiden Stellen dabei, sie wieder aufzubauen, und flogen unterdessen ständig Truppen auf die andere Seite. Letzteres war eine schlechte Nachricht; niemand war von der Vor stellung erbaut, dass Posleen über Kampfpioniere verfügten; unter anderem bedeutete das, dass der ganze Unterlauf des Tennessee für sie im Grunde kein Hindernis mehr darstellte. Aber sie brauchten ein paar Stunden, um die Brücken zu errichten, und unterdessen war ihr Vormarsch aufgehalten. Im Augenblick beabsichtigte Major Mitchell nach Betty Creek hinunter und dann über den Brushy Fork Mountain nach Greens Creek zu fahren. Anschließend würden sie einen Ausfall in das Tal des Savannah Creek machen müssen; sie mussten den Posleen zuvorkommen, und wenn sie sich mühsam durch die Bergpässe quälten, würde ihnen das nicht gelingen. Sie hatten Berichte aufgefangen, dass eine Kompanie, die sich aus verstreuten Militärpolizeieinheiten und Infanterie neu formiert hat te, die Brücken über den Tuckasegee River hielt. Für das SheVa war das ziemlich belanglos; keine Brücke der Welt würde die Last von Bun-Bun tragen – aber die Storms brauchten eine, um den Fluss zu überqueren. Wenn sie es vor den Gäulen zu der Kreuzung schafften, würde alles relativ gut laufen. Wenn nicht, konnte es ziemlich eng werden. Dann war da die Sache mit der Zerstörung der Brücke. Die MPs erklärten, sie hätten keine Pioniere; sie hatten Sprengstoff aufge türmt, aber die Brücke war ziemlich massiv, und sie waren sich nicht sicher, ob die Sprengung gelingen würde. Im schlimmsten Fall würde natürlich Bun-Bun dieses kleine Detail nebenbei erledigen können. In der Nähe der Tuckasegee-Kreuzung bei Dillsboro gabelten sich die Straßen. Highway 23 bog dort ab und rührte nach Asheville. Das war eine kritische Kreuzung; ein Stück weiter oben an der Straße, in Waynesville, lag eine weitere Urb, und wenn die Posleen so weit ka men, hatten sie dahinter praktisch bis zu der Stadt flaches Land vor sich. Am Balsam-Pass kreuzte sich die Straße übrigens mit dem Blue
Ridge Parkway, einer wichtigen Nachschubstraße für den größten Teil der Appalachen-Front. Wenn die Posleen diese Straße erobern konnten, würden sie sich praktisch nach Belieben ausbreiten können und ein kurzes Stück östlich von Waynesville dann auf die Interstate 40 treffen, die ihnen praktisch unbehinderte Bewegungsfreiheit ver schaffen würde. Ein Teil einer Division war von Asheville aus in Richtung auf die Balsam-Berge unterwegs. Aber Asheville wurde an zwei Fronten heftig angegriffen und konnte in der Richtung nicht viel erübrigen. Major Mitchell hatte sich deshalb dafür entschieden, die Straße nach Balsam hinaufzufahren und das SheVa und die Wölfe einzusetzen, um den Vormarsch der Posleen aufzuhalten. Freilich hatte auch die ses Vorhaben seine Probleme; die Hauptstraße nach Balsam Gap würde von dem SheVa nicht benutzt werden können, das bedeutete, dass sie über freies Gelände fahren mussten. Und das Terrain in der Umgebung des Balsam-Passes war noch unwegsamer als das, auf dem sie im Augenblick unterwegs waren. Aber dieses Hindernis war noch weit entfernt. Für den Augenblick galt es lediglich die Talfahrt gut zu überstehen. »Du großer Gott«, sagte Indy und sah dabei auf ihren Bildschirm. »Bei Tageslicht ist es ja sogar noch schlimmer!« Die Route, die vom Betty-Pass nach unten führte, war ganz norma les Appalachen-Bergland, bewachsen mit einer Mischung aus Ber glorbeer und sonstigen Laubbäumen, mit einer dünnen Lehmschicht über Schiefergestein. Die Morgensonne hatte eine dünne Schicht je nes in Fetzen aufgelösten Nebels mit sich gebracht, denen die Smo ky Mountains ihren Namen verdankten, und das wie ein Perlen schleier wirkende Licht ließ die Szenerie unwirklich erscheinen. Be sonders da das Gelände auf eine Distanz von weniger als einer Mei le beinahe zweihundert Meter ins Tal abfiel, meist auf relativ unge brochenem Abhang. Sie hatten schon mehrfach zu ihrer Verzweif lung festgestellt, dass die dünne Lehmschicht sich leicht vom Ge
stein darunter löste und wie ein Schmiermittel wirkte, wenn ein sie bentausend Tonnen schweres Fahrzeug darauf fuhr. »Sir?«, ließ sich Reeves mit erschöpfter Stimme vernehmen. »Langsam fahren«, erwiderte der Major. »Und wenn wir anfangen zu rutschen, dann … einfach den Rückwärtsgang einlegen.« »Yes, Sir«, sagte der Private und ließ den Motor im Leerlauf leicht hochdrehen. »Ich könnte natürlich auch den Vorwärtsgang einlegen und versuchen, wirklich schnell hinunterzufahren.« »Bitte, keine Witze«, bat Indy. »Mich wundert ohnehin, dass wir noch keinen Kettenriss haben; ich mag gar nicht daran denken, wie es wäre, mit neunzig Meilen die Stunde ins Tal zu prasseln.« »Bitte … ganz langsam, Reeves«, wiederholte der Major, hielt sich an den Seitenlehnen seines Sessels fest und lehnte sich zurück. »Bun-Bun hätte jetzt sicher irgendetwas Witziges auf Lager«, sagte Pruitt und lehnte sich zurück wie der Major. »Aber im Moment habe ich solche Angst, dass mir nichts einfällt.« »Man sollte das vielleicht wie Skilaufen sehen?«, murmelte Reeves. »Ich glaube, dieses Ding eignet sich nicht besonders gut für Sla lom.« »Captain Chan«, sagte Mitchell und schaltete auf die Frequenz der Storms. »Wir müssen versuchen, diesen Hang zu schaffen. Es gibt eine Straße am Kamm entlang, die für Ihre Panzer geeignet sein soll te; ich würde vorschlagen, dass Sie zuerst die probieren und nicht versuchen, hinter uns runterzurutschen.« »Einverstanden«, erwiderte Chan. »Und … viel Glück.«
Wendy zwängte sich zwischen zwei Kindern durch und ging zum Eingang der Höhle. Eigentlich hätte sie tief schlafen sollen, aber aus irgendeinem Grund war sie vor etwa zehn Minuten hellwach ge worden und hatte nicht mehr einschlafen können. Elgars stand Wa che und starrte nach Osten, wo man den ersten schwachen Schim
mer der aufgehenden Sonne erkennen konnte. Die Lichter von Fran klin waren verloschen, aber überall im Tal brannten Feuer; die Pos leen zündelten offenbar ebenso gern wie Söldner in der Alten Welt. Sie konnte die Gestalten in der Tiefe kaum erkennen, wusste aber, dass Tausende, Zehntausende, Millionen Posleen nach Norden vor beiströmten, auf Knoxville zu, auf Asheville zu. Und viele davon strömten vielleicht in ihr ehemaliges Zuhause. Sie sah auf die Uhr und nickte. Wahrscheinlich war es das, was sie geweckt hatte. »Ist es schon hochgegangen?« Elgars schüttelte den Kopf. »Nach meiner Schätzung hätte es vor etwa fünf Minuten hochgehen müssen.« Und noch während sie das sagte, ging ein schwaches Zittern durch den Höhlenboden, und dann noch einmal, diesmal etwas stärker. Es fühlte sich an wie ein kleines Erdbeben. Im Osten wurde es kurz hell, dann hob sich dort der Boden, senkte sich gleich wieder und bildete dann einen riesigen, rauchenden Krater. »Ich habe da ganz gemischte Gefühle«, meinte Wendy nach einer Weile. »Ich habe eine ganze Anzahl Freunde verloren. Leute, die mir etwas bedeuten. Auf der anderen Seite …« »Auf der anderen Seite waren sie bereits tot«, sagte Elgars, stand auf und wischte sich den Hosenboden ab. »Oder so gut wie. Die meisten wären Proviant für die Posleen geworden, und das haben wir verhindert. Und dann haben wir dort wer weiß wie viele Pos leen erwischt. Ja, hübsch war das nicht. Aber das ist der Krieg nie.« »Du kannst das leicht sagen«, herrschte Wendy sie an. »Das waren meine Freunde.« »Wendy, abgesehen von dir und Shari und den Kindern und …« Sie hielt inne und zählte an den Fingern und nickte dann. »Und Papa O'Neal und Cally und Mosovich und Mueller sind die Leute, die wir gerade begraben haben, die Einzigen, die ich auf der ganzen Welt kenne. Wir, ich, haben soeben all meine Pflegeschwestern, all meine Ärzte und Ärztinnen und alle meine Therapeuten unter einer
Milliarde Tonnen Schutt begraben. Man wird sie wahrscheinlich nie herausziehen; die werden bloß ein Denkmal mit einer Namensliste errichten. Ich habe das getan. Mit meinen Händen. Und wenn du denkst, dass ich damit keine Probleme habe, dann bist du nicht die Freundin, für die ich dich gehalten habe. Aber wenn ich es wieder tun müsste, würde ich es wieder tun. Weil es die richtige Entschei dung war. Moralisch und taktisch.« »Du bist so sicher«, sagte Wendy leise. »Darum bekomme ich auch das dicke Geld«, schnaubte Elgars. »Jetzt bist du mit Wachen dran. Denk die nächsten paar Stunden darüber nach. Und dann ruh dich aus; bis Georgia ist es noch weit.«
Orostan hatte festgestellt, dass Geduld etwas war, was man den In dowy gegenüber wie ein Werkzeug einsetzen musste. Es war klar, dass die Pioniere so schnell arbeiteten, wie sie konnten, also blieb ihm nicht viel anderes übrig, als da zu sein und geduldig zuzuse hen. Aber als die Dämmerung heraufzog, war die Brücke, ein hastig aus Trägern, die sie aus Gebäuden herausgerissen hatten, zusam mengeflicktes Gebilde beinahe fertig. »Ihr habt gut gearbeitet, Thresh«, sagte der Oolt'ondai. »Es wird weitere Brücken zu bauen geben; da gibt es eine im Norden, die schwieriger sein wird. Ich möchte, dass ihr euch die menschlichen Karten anseht und Pläne macht, um dort schneller eine zu bauen. Verstanden?« »Ja, Gebieter«, erwiderte der Indowy. »Euer Clan existiert noch«, sagte der Posleen-Befehlshaber. »Fahrt fort, mir gut zu dienen, und er wird weiter existieren dürfen. Ent täuscht mich, und die Letzten eures Clans werden eliminiert wer den. Es wird sein, als wäret Ihr nie geboren worden. Verstanden?«
»Verstanden, Gebieter«, erwiderte der Clan-Häuptling. »Wir wer den Karten brauchen und irgendwelche Bilder der nächsten Brücke, die zur Verfügung stehen.« »Ich werde sicherstellen, dass Ihr sie bekommt«, erwiderte Oros tan. Cholosta'ans Kopf hob sich, als im Südwesten ein Dröhnen zu hö ren war. »Was war das, Gebieter?« »Ich bin nicht sicher«, sagte Orostan. »Vielleicht gibt es in dieser Gegend häufig Erdbewegungen«, fügte er hinzu und vergaß, dass Cholosta'an ein Eingeborener war. »Nicht, dass ich wüsste, Lord«, sagte der Kessentai. »Und … ich sage das ungern, aber es kommt aus der Gegend der unterirdischen Stadt.« »Arrrh!«, schrie der Oolt'ondai und schaltete sein Taktiknetz ein. »Telenaal fuscl Aralenadaral, taranal! Ich werde diese Menschen essen, Leib, Blut, Knochen und SEELE!« »Die Stadt ist weg«, sagte Cholosta'an und blickte ungläubig auf sein eigenes Display. »ICH KANN DAS NETZ LESEN! Gamasal!« »Ja, Oolt'ondai?« Der jüngere Kessentai hatte die ganze Nacht durch ungeduldig ge wartet; einmal hatte Orostan sich gefragt, ob er befehlen musste, ihn entfernen zu lassen, als er einen Indowy bedroht hatte. Jetzt, da die Sonne aufging und die Heerschar sich gleich wieder in Bewegung setzen würde, war es Zeit, ihn zu entlassen. »Wir kommen mit Brücken zurecht, aber wenn diese Menschen sich an Pässen eingraben, sind sie unmöglich. Nimm dir ein Oolt' poslen'ar und ein paar Oolt. Bewege dich vorsichtig nach vorn, halte dich von den schweren Verteidigungspunkten und diesem ver dammten Geschütz fern, geh und nehme diese Position ein und hal te sie.« Er rief eine menschliche Karte auf. »Das ist Balsam Gap …«
34 Betty Gap, North Carolina, Sol III 0747 EDT, 27. September 2014
»Oh, Scheiße«, sagte Reeves ruhig und legte den Rückwärtsgang des monströsen Panzers ein, als ein Zittern durch den Boden ging. Dann trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch, als das SheVa wegzu rutschen begann. Der erste Teil der Talfahrt war ereignislos verlaufen; das SheVa hatte seine Fahrt an der steilsten Stelle angefangen und war mit den Geländebedingungen recht gut zurande gekommen. An der obers ten Stelle des Betty Branch, wo das Gewässer als kleines Rinnsal aus einer seichten Quelle entsprang, hatte Reeves versucht, den Panzer etwas zur Seite zu steuern, um die Felsklippe über der Quelle zu schaffen, und der Hang war abgerutscht. Jetzt hatte das SheVa angefangen, den Berg hinunterzurutschen, und nichts in der Welt schien imstande zu sein, es aufzuhalten. »Oh, das gefällt mir gar nicht«, jammerte Pruitt. »Das gefüllt mir überhaupt nicht.« »Reeves …«, sagte Major Mitchell, wusste aber zugleich, dass der Fahrer nichts tun konnte, was er nicht bereits unternommen hatte, um die Rutschpartie aufzuhalten; die Gleisketten fetzten das nackte Felsgestein des Hügels auf und bekamen überhaupt nichts zu fas sen. »SheVa Neun!«, rief Captain Chan. »Achtung! Posleen-Lander, drei Uhr!«
»Scheiße, Scheiße, Scheiiiiße …«, sagte Pruitt, der seitwärts ge schleudert wurde, als das SheVa auf einen massiven Felsbrocken ge riet und davon abprallte. »Wenn ich den Turm drehe, verschiebt sich unser Schwerpunkt!« »Wenn wir bis jetzt nicht umgekippt sind, werden wir das nun auch nicht!«, meinte Indy. »Riskieren wir's«, rief Major Mitchell und leitete die Drehung ein. Das Mannschaftsabteil befand sich im unteren Teil des Turms, und was dessen Insassen jetzt empfanden, wurde noch eigenartiger, als der Panzer in die eine Richtung fuhr, dabei auf dem unebenen Hang auf und ab tanzte, während sie sich in die Gegenrichtung drehten. »Jetzt fang ich aber gleich an zu kotzen!«, sagte Reeves mit halb er stickter Stimme. »Was passiert, wenn ich dieses Ding abfeuere?«, brüllte Pruitt und beförderte eine Granate in den Verschluss. »Das weiß ich nicht«, sagte Indy verkniffen. »Wir sind an einem Vierzig-Grad-Abhang, rutschen im Rückwärtsgang hinunter und feuern mit etwa vierzig Meilen die Stunde seitlich. Dafür sind wir unter keinen Umständen gebaut!« »Scheiße«, murmelte Mitchell. »Ich schaff's hier nicht, Sir!«, rief Reeves. »Wir rutschen auf eine Klippe zu!« »ZIEL! Lamprey, zweitausend Meter!«, tönte Pruitt. »Gefahr nahe!«, rief Mitchell und gab damit zu verstehen, dass bei einem Treffer das Geschütz selbst in Mitleidenschaft gezogen wer den könnte. Die minimale Schussdistanz für ein SheVa betrug den Empfehlungen nach über dreitausend Meter. »FEUER!«
»Den Pass nehmen, hat er gesagt«, beklagte sich Gamasal. »Wo liegt darin Ehre? Und wo ist die Beute?« »Wir bekommen einen höheren Anteil«, erwiderte Lesenal. Die beiden waren Nestgefährten, etwas höchst Ungewöhnliches in der Posleen-Gemeinschaft, und hatten sich, statt individuelle Oolts zu übernehmen, dafür entschieden, gemeinsam eine Kompanie zu füh ren. Vielleicht war es dieser Besonderheit zuzuschreiben, dass sie sich Tulo'stenaloor angeschlossen hatten; im Vergleich mit einem Posleen, der versuchte, sich zum General zu machen, war die ge meinsame Führung eines Oolt gar nichts. »Ein spezieller Anteil von jedem, der den Pass benutzt.« »Aber sobald sie ausschwärmen und die anderen Pässe öffnen, werden alle die benutzen«, schimpfte Gamasal und zog den Steuer hebel des Oolt'pos etwas herunter, um die Kammlinie so knapp wie möglich zu passieren. »Ich sage immer noch, dass wir diesen ande ren Pass nehmen könnten, den die Menschen ›Newfound‹ nennen.« »Ah, aber der Weg dorthin lässt sich zu leicht schließen«, gab sein Kollege zu bedenken. »In diesen Bergen können die Menschen und ihre Scharfschützen die Kessentai wegpusten wie Abat. Der Weg nach Balsam ist offener. Und sobald wir Stellung bezogen haben, werden die Menschen sich beeilen, einen Fluchtweg zu finden. Folge dem Plan. Und passe auf dieses Geschütz auf. Gestern hatten wir Glück, ich möchte nicht, dass uns das Glück verlässt.« »Oh, fuscirto uut«, erwiderte Gamasal. »Du meinst, jenes Geschütz?«
Das Geschoss aus dem SheVa-Geschütz traf den Lamprey oben, sil bernes Feuer schoss aus sämtlichen Öffnungen. Das wolkenkratzer große Schiff kippte sofort weg, aber gleich dahinter war ein weite res. Der zweite Lamprey war freilich das geringste Problem von SheVa Neun.
»Aaaah!«, schrie Pruitt, als das übermäßiger Belastung ausgesetzte Fahrzeug auf dem Abhang seitwärts wegrutschte, von einer Fels klippe abprallte und gleich darauf erneut mit einem Geräusch auf prallte, das so klang, als würde der Inhalt von hundert Schrottplät zen gleichzeitig vom Himmel abgeworfen. Major Mitchell schlug die Augen wieder auf, sah nur rote Notbe leuchtung und fluchte. »Indy!« »Ich bin hier, Sir«, antwortete der weibliche Warrant Officer. »Wir haben soeben jede Sicherung in diesem Ding durchgewichst; wenn das eine Episode aus Star Trek wäre, würde Pruitt jetzt quer durchs Abteil fliegen. Aber unsere Ketten sind noch ganz!« »Ich habe nichts, Sir«, rief Pruitt. »Und dabei hatten wir einen wei teren Lamprey im Visier!« »Habe ich gesehen«, nickte Mitchell. »Sind wir funktionsfähig? Statusbericht, Indy.« »Arbeite daran, Sir«, sagte sie. Nachdem sie ein paar Knöpfe ge drückt hatte, flammte die Beleuchtung wieder auf. »Bis jetzt funktio niert noch alles. Aber wenn Sie von mir erwarten, dass ich das Ge schütz als funktionsfähig melde, dann kann ich das nicht, Sir. Wir haben gerade mächtig was abgekriegt; ich bin fast sicher, dass wir Stressschäden an den Stützen haben.« »Bin bereit!«, sagte Pruitt. »Wo ist der Lamprey?« »Ich nicht!«, rief Reeves und gab Gas, als die Ketten des SheVa durchdrehten. »Ich denke, wir stecken fest!«
Gamasal jagte den Lamprey durch die Bäume hinunter und öffnete die Angriffstür. »Los!« »Warum tun wir das?«, fragte Lesenal. »Wir haben den Auftrag, den Pass zu nehmen!« »Das Geschütz ist im Weg!«, sagte sein Kollege. »Wir überqueren diesen Kamm und zerstören das Geschütz. Dann setzen wir unseren
Auftrag fort. Oh, und da wir hier sind und die Verteidiger erledigt haben …« »… wird das Netz es uns als Lehen zuweisen«, sagte Lesenal. »Raffiniert. Dir ist natürlich klar, dass wir ebenso gut unter die Kammlinie absinken und herumfliegen könnten. Und Orostan wird das auch tun.« »Wir sind bloß einfache Oolt-Kessentai«, erwiderte Gamasal und schlappte mit seinem Kamm. »Wie sollten wir an so etwas gedacht haben?«
»Nein, nein, NEIN!«, schimpfte Orostan. »Außen ruml« »Und auf die Chance verzichten, es auf dem Boden zu erledigen?«, sagte Cholo sta'an. »Ganz zu schweigen davon, es als Lehen zu bekommen? Kei ne Chance.« »Besonora!« »Ja, Oolt'ondai?« Der Kessentai war schon, bevor er sich Tulo's tenaloor angeschlossen hatte, mit ihm zusammen gewesen, und Orostan zog es vor, ihn in seiner Nähe zu haben. Aber allmählich gingen ihm die vertrauenswürdigen Kessentai aus, die mit einem Schiff umgehen konnten. »Nimm dir ein Oolt'poslen'ar. Sammle die besten lokalen Truppen ein. Und dann nimmst du Balsam Gap ein und hältst es, bis ich dort eintreffe. Ein Scheitern muss ausgeschlos sen sein, und lasse dich nicht ablenken und gehe nicht zu hoch rein; ganz in der Nähe ist ein schweres Verteidigungszentrum.« »Ja, Oolt'ondai«, antwortete der Kessentai. »Ich gehe.« »Alle anderen Schiffe«, rief der Oolt'ondai über sein Komm. »Erle digt mir dieses GESCHÜTZ!«
»Major Mitchell?«, rief Chan. »Wie ist Ihr Status?«
»Oh, wir stecken fest«, erklärte der SheVa-Kommandant mit ruhi ger Stimme. »Wir stecken zwischen zwei Klippen in einer Spalte fest. Auf dem Kamm über uns ist eine Kompanie Posleen. Wir rech nen damit, dass sie uns jeden Augenblick angreifen. Und dann sind vermutlich noch andere Lander in der Gegend. Die sollten jetzt dann gleich auftauchen, etwa um die Zeit, wo die Lage von schlimm in noch schlimmer wechselt.« »Irgendeine Chance, Sie rauszuholen?« »Oh, sicher«, meinte der Major sarkastisch. »Wenn wir ein Pionier team hätten, um diese Klippen zu sprengen.«
»Herrgott im Himmel! Was war das denn?«, sagte Kitteket. Das Echo einer gewaltigen Explosion hallte von den Bergwänden wider. »SheVa-Geschütz«, antwortete Major Ryan. »Da bin ich mir ziem lich sicher; es gibt sonst nichts, was so tönt. Ich denke, das war un ten am Betty Creek. Ich hätte bloß gern gewusst, wie in drei Teufels Namen ein SheVa-Geschütz an den Betty Creek kommt?« Die Nacht war eine endlose Folge schmaler Straßen über noch schmalere Berggrate gewesen. In einem kleineren Fahrzeug als ei nem Humvee wäre das leichter gegangen; einer der alten Army Jeeps wäre ideal gewesen. Aber sie hatten eben bloß einen Humvee. Das Team hatte häufig abladen und entweder unter fachmännischer Anleitung des Majors schnell die Straße verbreitern oder in man chen Fällen sogar Brücken über sonst unüberwindbare Felsspalten bauen müssen. Bei jedem Hindernis war der Major zur Hand gewe sen, hatte Felsen gesprengt, Bäume abgesägt und Löcher gefüllt; nie mand konnte sich beklagen, dass er sich vor Dreckarbeit drückte. Jetzt hatten die Pioniere das Schlimmste hinter sich und waren bergab unterwegs. Und fuhren allem Anschein nach wieder mitten in die Schlacht hinein. »Ich dachte, das SheVa wäre in die Luft geflogen«, meinte Kitteket.
»Ich habe gehört, dass die ein anderes herschaffen«, sagte Ryan nachdenklich. »Fahren wir in Richtung auf den Betty Creek«, fuhr er dann fort und scrollte seine Karte hinauf. »Dort gibt es eine Forst straße, die nach links abzweigt. Die nehmen wir.« »Wir sind zu einem SheVa unterwegs«, sagte der weibliche Specia list fast ehrfürchtig. »Mitten in einer Schlacht.« »Oh, bis wir dorthin kommen, ist die Schlacht vorbei«, sagte Ryan. »So oder so.«
»Major!«, rief Chan. »Jetzt kommen zwei weitere Lander über den Hügel; ein Lamprey und ein K-Dek. Von dort, wo Sie sind, kommen die aus zwei Uhr und elf Uhr!« »Hab sie«, sagte Mitchell ruhig, als die ersten Railgun-Geschosse das gestrandete SheVa trafen. »Ich glaube allerdings nicht, dass wir uns Sorgen zu machen brauchen; so, wie das aussieht, knabbern uns Liliputaner zu Tode.« »Machen Sie sich keine Sorge wegen der ausgestiegenen Gäule, Sir«, antwortete Chan mit einem Grinsen, das selbst über die Funk verbindung zu hören war. »Wir kommen an Ihrer Flanke rein.«
»Schau, es steckt fest!« Gamasal schmunzelte. »Leichtes Fleisch!« »Ja«, pflichtete sein Kollege ihm bei. »Aber wie erledigen wir es, ohne dass es in die Luft fliegt? Das hier ist ein hübsches Tal; ich hät te es gern mehr oder weniger intakt.« »Mhm«, sagte Gamasal und gab den Oolt'os mit einer Handbewe gung zu verstehen, dass sie das Feuer einstellen sollten. »Das ist eine gute Frage. Vielleicht sollten wir es entern?« »Das ist wahrscheinlich eine gute Idee«, sagte Lesenal und griff nach seinem Boma-Säbel. »Ich ziehe den Säbel ohnehin vor.«
»Mommy«, murmelte Reeves. »Jetzt ziehen die die Säbel.« »Das ist gut«, meinte Mitchell mit vielleicht etwas zu gleichmüti ger Stimme. »Auf die Weise haben wir noch ein paar zusätzliche Augenblicke, um vielleicht die Lander zu überleben.« »Es sind doch nur zwei«, meinte Pruitt verkniffen. »Ich könnte das hinkriegen.« Er schaltete das Radar auf Maximalleistung und richte te das Geschütz auf die Position zwei Uhr. »Kommt schön zu Papi.«
»Alle Storms«, rief Captain Chan, als die Kompanie die Kammlinie erreicht hatte und sich auf dem schmalen Pfad wieder abwärts in Bewegung setzte. »Feuer frei auf alle sichtbaren Posleen. Wenn die Munition verschossen ist, möglichst Weg frei machen, damit die Einheiten dahinter Beschuss aufnehmen können.« Sie konnte das SheVa durch ihre linke Luke sehen und, höchstens tausend Meter entfernt, auf der rechten Seite den ersten Lander. Wenn der Lander explodierte oder wenn Pruitt ein wenig zu tief traf, möglicherweise infolge der Beschädigungen an dem SheVa, ging ihr plötzlich durch den Kopf, könnte es hier recht unangenehm werden. »Glenn.« »Ja, Ma'am«, sagte die Geschützführerin und spähte durch ihr Zielgerät auf die inzwischen gelandete Kompanie Posleen. »Ich muss Ihnen Recht geben. Ich sollte mich wirklich versetzen lassen, das hier ist ein scheiß Job.« Einen Augenblick später bog der Panzer um eine Biegung im Weg, und die den Kamm entlang ausgeschwärmte Kompanie Posleen, die den Hang hinunterstrebte, wurde sichtbar. »Feuer«, sagte sie und richtete das Geschütz auf die Gruppe Pos leen.
»Ah«, machte Glenn, legte den Finger um den Abzug und schalte te das MetalStorm auf »Füll«. »AAAH!« Auf dem Hang stand ein spärliches Wäldchen, aber das hatte nichts zu bedeuten; die Penetrators fetzten die Bäume einfach weg, ohne dass diese sie nennenswert hätten abbremsen können. Und die Posleen zerfetzten sie ebenfalls, ohne nennenswert langsamer zu werden. Und der wahre Beweis dafür, wie schrecklich dieses System war, war, dass die Storms es nicht einmal bemerkten, als das SheVa über ihre Köpfe hinwegfeuerte.
»Ziel K-Dek! ZWÖLFHUNDERT METER! ZU NAHE!« »FEUER!« »ZU NAHE!« »DAS IST NAHKAMPFDISTANZ! WIR SIND SCHLIESSLICH BUN-BUN! VERDAMMT NOCH MAL FEUER!« Das Geschoss raste in die Oberseite des Schiffes und fetzte seine Heckpartie weg, ehe es explodierte. Die Detonation war das Äquivalent von zehntausend Tonnen TNT, aber der K-Dek hätte sowohl die Explosion wie auch den Blitz aus gasförmigem Uran und die Splitter überlebt; schließlich fand die Explosion nicht in Kontakt mit dem Schiffskörper statt und auch nicht an einem besonders wichtigen oder verletzbaren Punkt, aber die Druckwelle war genau über dem Lander. Und die trieb ihn nach unten, in das harte Felsgestein. K-Deks waren so gebaut, dass sie eine ganze Menge aushalten konnten, aber mit über hundert Meilen in der Stunde gegen die Berge von North Carolina getrieben zu wer den, gehörte nicht dazu. Die Schotts im ganzen Schiff brachen zu sammen. Nicht von der Beschleunigung, sondern von deren Gegen teil, der Bremsverzögerung.
Eine Druckwelle von vier Atmosphären, ausreichend, um massive Bauten zu beschädigen oder sogar zu zerstören, spülte auch über die Fahrzeuge des Wolfsrudels. Aber verglichen mit dem Schaden, den sie vom Abfeuern der eigenen Waffen davontrugen …
»Was war das?«, stöhnte Glenn. »Was war was?«, antwortete Chan und rappelte sich hoch. »Dieser letzte ›Knall‹«, antwortete die Geschützführerin. »Ist da et was zerbrochen?« »Ich weiß nicht«, sagte Chan. »Aber so schlimm war das nicht. Brandon, bringen Sie uns hier raus, wir müssen den Weg für die an deren freigeben!« »Würde ich ja gerne, Ma'am, geht aber nicht«, antwortete der Fah rer. »Sehen Sie sich doch den Weg an.« Glenn richtete sich auf, spähte nach draußen und pfiff dann durch die Zähne. »Wow, haben wir das gemacht?« Der ganze Hang war mit umgestürzten Bäumen bedeckt. »Nee, das kann nicht sein.« »Das klingt aber enttäuscht«, sagte Chan und suchte das Gelände nach Posleen ab. »Ich denke, der Lander ist hochgegangen.« »Und wir haben überlebt?«, rief Brandon über das Interkom. »Entweder das oder das hier ist die Hölle«, sagte Chan. »Das frage ich mich ohnehin allmählich.« »ZIEL LAMPREY SECHZEHNHUNDERT METER!« »Das ist die Hölle, stimmt's?«, brüllte Reeves, der sich die Finger in die Ohren gesteckt hatte; wenn der Lander in dieser Entfernung ex plodierte, hatten sie keine Chance zu überleben. »Bitte, jemand soll mir sagen, dass das die Hölle ist!« »FEUER!« »Weil's dann nämlich nur BESSER werden kann!«
Das Geschoss schlug im unteren Quadranten ein, jagte aber im stei len Winkel nach oben und verfehlte den Treibstoffbunker. Doch auch dieses Geschoss trat durch die Heckpartie des Schiffs aus und explodierte darüber. Diesmal freilich wurde der kleinere Lamprey von der kinetischen Energie des Sprengkopfs aus abgereichertem Uran vernichtet, der durch seinen Maschinenraum jagte. Der Verlust von Antriebsenergie ließ es wie einen Stein auf den Bergkamm hin unterplumpsen, wo es seitlich abkippte und ins Rollen geriet. Gera dewegs auf das stecken gebliebene SheVa zu.
»NEIN!«, schrie Pruitt und richtete das Geschütz nach unten, als das SheVa von der Detonationswelle ins Schwanken versetzt wurde. »NICHT!«, brüllte Major Mitchell, aber es war bereits zu spät; der Schuss war bereits abgefeuert. Der Penetrator hatte kaum Zeit gehabt, seinen Treibkäfig abzu werfen, als er sich in den Boden bohrte. Pruitt hatte auf den Lam prey gezielt, aber er hatte nach unten gehalten, und das Zehn-Kilo tonnen-Geschoss drang beinahe zweihundert Meter in den Gneis und den Schiefer des Berges ein, ehe es detonierte.
Major Ryan blinzelte immer noch, weil ihm schwarze Flecken vor den Augen tanzten, als er sah, wie der Berggipfel mit dem Lamprey in den Himmel geschleudert wurde. »RAUS UND UNTER DEN HUMVEE!«, brüllte er und setzte das sofort in die Tat um, als er den Sprengmechanismus packte, die Tür auftrat und sich nach draußen warf.
Die Explosion war beinahe elegant. Das Geschoss war nahe der Mit te in die Hügelkuppe eingedrungen und riss ein Stück Boden und Felsgestein heraus, das einen fast vollkommenen Kreis darstellte; später einmal würde das ein sehr hübscher See sein. Aber das war auch eine tonnenschwere Last, die die Energie der relativ schwachen Atomexplosion in ihrem Kern dämpfte. Das Material in unmittelba rer Umgebung der Antimaterie-Detonation verdampfte einfach, wurde zu Plasma, das sich allmählich als gasförmiges Silizium und andere Elemente des Felsgesteins verflüchtigen würde. Außerhalb der Plasmazone wurde das Gestein in feinen Staub ver wandelt, und dieser Staub wurde mit zunehmender Entfernung vom Explosionskern immer gröber, bis es außen schließlich ziemlich große Felsbrocken waren … … die die Explosion in der Mitte Tausende von Fuß in die Luft schleuderte.
»Und segne, was du uns bescheret hast«, sagte Major Mitchell, als die Bergflanke anfing auf sie zuzurutschen. »Mögen wir dir gebüh rend danken.« »Oh, verdammt«, sagte Pruitt. »Eigentlich sollten doch den anderen schlimme Dinge zustoßen, wenn Bun-Bun in Aktion ist.« »Die Ketten greifen!«, schrie Reeves. »Dann los!«, erwiderte der Major und sah zu, wie. der Bergrutsch sich aufbaute. »Mach ich ja!«, brüllte der Fahrer, während das SheVa aus dem plötzlich größer gewordenen Loch herauspolterte. »Ich denke, die Schüsse haben uns gelockert!« Dann fluchte er, als der Boden unter ihnen plötzlich erneut nachgab und das SheVa abrupt zum Still stand kam. »NEEEIIN!« Aber der Berg, den sie zu überqueren versuchten, war alt; die Hü gelflanken waren von den Jahrmillionen abgewetzt. Erdrutsche, wie
es sie in den Rockies gab, kannte man in den Appalachen praktisch nicht; selbst dann nicht, wenn eine Atomexplosion den Boden er schütterte. Die zerbröckelnde Bergflanke rutschte etwa halbwegs den Hügel hinunter und kam dann in einer gewaltigen Staubwolke zum Stillstand. Und in dem Augenblick merkten alle, dass da etwas oben gegen den Turm schlug. »Ich denke, jetzt wird dir dein Wunsch erfüllt, Pruitt«, sagte Indy verdrießlich. »Was?«, fragte der Kanonier und blickte auf, als wunderte er sich darüber, dass sie noch am Leben waren. »Schlimmes widerfährt anderen Leuten.«
»Das gefällt mir gar nicht!«, schrie Kitteket, als immer noch Felsbro cken auf den wild rüttelnden Humvee herunterregneten. »Mir auch nicht«, erwiderte Ryan gleichmütig. »Aber es könnte noch schlimmer sein!« »Wie das?« »Soll ich Ihnen eine Liste machen?«, fragte er. »Wir könnten in ei nem Keller stecken, umgeben von Posleen, die bereits alles über rannt haben, was sich ihnen in den Weg gestellt hat, und die jetzt an die letzte Tür pochen!« »Wir werden von dem Steinhagel zerdrückt werden!«, schrie sie. »Das ist für mich schon schlimm genug!« Aber noch während sie das sagte, ließ der Steinregen nach. »Alles okay?«, fragte Ryan und wälzte sich unter dem Fahrzeug heraus, obwohl immer noch Geröll auf sie herabregnete. »Bereit, zu Fuß weiterzugehen?« »O Mann, die Kiste ist hin«, sagte Kitteket, rappelte sich hoch und sah sich um. »Das sieht ja schlimm aus!«
Ringsum lagen Steine jeder Größe herum, bis hin zu Brocken, die groß genug waren, um den Humvee zu zerdrücken, und die meisten Bäume waren einfach weggefegt worden. Dort, wo sie jetzt am Ran de des Betty-Passes kauerten, konnten sie das SheVa-Geschütz ganz deutlich unten in der Senke sehen; offenbar hatte es sich in einer Felsspalte verklemmt. Eine Einheit Wölfe arbeitete sich den Hang hinunter auf das Geschütz zu. Und ein Stück weiter unten lag ein Lamprey, zerdrückt, als bestünde es aus Stanniol. »Schlimm sieht das aus, das kann man wohl sagen«, erwiderte Ryan und tastete etwas in sein Modul ein. »Suchen Sie in dem Zeug herum und sehen Sie, was zu retten ist. Ein Funkgerät wäre schön.«
»Also, da hast du uns in einen schönen Schlamassel hineingebracht, Ollie«, sagte Pruitt. Er stand auf einem der Felsbrocken und sah auf das SheVa hinun ter, das wie ein Stöpsel im Graben steckte. Graben war vielleicht nicht ganz die richtige Formulierung; das enge Tal war groß genug, um ein paar Einfamilienhäuser aufzuneh men. Wie auch immer, das SheVa steckte jedenfalls fest. »Schau«, verteidigte sich Reeves, »ich habe wirklich mein Bestes gegeben.« Die Ränder der Senke reichten kaum über die Ketten hin aus und nicht ganz bis an den Turm. Aber einige der Felsbrocken, die den Abhang hinuntergerollt waren, hatten sich beiderseits ihres Gefährts aufgetürmt. »Wenigstens habe ich keinen Berg so ge sprengt, dass er auf uns niedergegangen ist.« »Ich sehe das lieber so, dass wir einen Lamprey von uns weggebla sen haben«, sagte Pruitt. »Und hier ist unser griechischer Chor …« »Verdammt, Sir«, sagte Captain Chan und ging zu der Gruppe hinüber, die das SheVa anstarrte. »Ich hab schon manchmal erlebt, dass Panzer stecken geblieben sind, aber … verdammt, Sir.«
»Yeah«, sagte Mitchell, der auf und ab ging und dabei das Ge schütz betrachtete. »Ich glaube, das eigentliche Problem ist diese Verwerfung vorne; da kommt es einfach nicht darüber hinweg.« »Wir könnten ja einige von Ihren Panzern davor spannen, Ma'am, und versuchen, es herauszuziehen«, sagte Reeves. Sie sah ihn verblüfft an. »Haben Sie wirklich nachgedacht, bevor Sie das gesagt haben, Private?« »Äh …« »Ein Wolf wiegt knapp über sechzig Tonnen; wie viel wiegt eines von diesen Dingern?« »Äh, ein wenig über siebentausend«, erklärte der Fahrer. »Mir war nicht klar gewesen, dass der Unterschied so groß ist.« Sie sah zu ihrem Panzer hinüber und blickte dann wieder zu dem SheVa auf, das beinahe sechzig Meter hoch über ihr aufragte. Neben Panzern kam sie sich immer klein vor, neben einem SheVa aller dings wie eine Ameise. »Ich glaube nicht, dass das helfen würde, junger Mann«, sagte sie dann. »Das wäre so, als würde man versuchen, einen meiner Panzer mit einem Dreirad abzuschleppen.« »Wissen Sie, man spricht davon, einen neuen Typ SheVa für die Nahkampfunterstützung zu bauen«, sagte Mitchell. »Denken Sie mal darüber nach, wie viel so eines wiegen würde; besonders, wenn man es genügend panzert.« »Autsch.« »Das können Sie laut sagen.« Pruitt grinste. »Dass man sie im Ge birgskrieg nicht einsetzen kann, haben wir hiermit bewiesen.«
35 Betty Gap, North Carolina, Sol III 0829 EDT, 27. September 2014
»Ich glaube, die stecken fest, Major«, sagte Kitteket. »Da haben Sie wahrscheinlich Recht, Specialist«, schmunzelte der Major. Seine Gruppe hatte fast eine halbe Stunde dazu gebraucht, den Abhang hinunterzugelangen, und die Gruppe um das kolossale Ge schütz hatte die Zeit genutzt, das Terrain gründlich zu studieren. Und dabei hatten sie auch Ryans kleine Truppe entdeckt. Als er jetzt hinten um das Monstrum herumging, erschien an der Mannschaftstür über den Ketten ein weiblicher Soldat und kam zu ihnen herunter. Nachdem sie ihn einen Augenblick lang gemustert hatte, salutierte sie. »Warrant Officer Sheila Indy«, stellte sie sich vor. »Ingenieuroffi zier SheVa Neun.« »Major William Ryan«, erwiderte der Pionier. »Ich bin ein Spezia list der Kampfpioniere und dem Dreiundneunzigsten Korps zuge ordnet. Im Augenblick leite ich diesen zusammengewürfelten Hau fen. Bis vor kurzem haben wir uns Mühe gegeben, den Posleen das Leben schwer zu machen.« »Und was tun Sie jetzt?«, wollte Indy wissen. »Wir suchen jemanden, der uns mitnimmt; da ist ein Steinregen runtergegangen, der allem Anschein nach unseren Humvee zerstört hat.«
Indy lachte und musterte ihn interessiert. »Sagten Sie Kampfpio niere, Major?« »Allerdings«, antwortete er. »Und so, wie es aussieht, haben Sie Bedarf an ein wenig Erdbewegung.« »Das stimmt allerdings«, erwiderte der Warrant. »Könnten Sie mitkommen, Sir?« Ryan nahm den Rucksack ab und wandte sich an seine gemischte Gruppe von Soldaten. »Ruhen Sie sich aus; ich denke, wir bekom men bald zu tun.« Er und Kitteket, die sich zu einer Art Schatten entwickelt hatte, folgten dem Warrant Officer um das SheVa herum nach vorne, wo eine Gruppe von Offizieren diskutierte. Das SheVa steckte in einer Erdspalte, und beide Ketten berührten nur teilweise den Boden – zum größten Teil ruhten sie auf Felsgestein beiderseits des Grabens –, und unmittelbar davor war ein hoher Erdhaufen zu sehen. Diese bröckelige Mischung aus Felsen und Lehm, die vom Wasser des Bachs durchmischt war, verhinderte es, dass die Ketten richtig grif fen. Bei einem PKW, der so feststeckte, hätte man einfach Äste unter die Räder gelegt. Aber das war bei einem SheVa-Geschütz aussichts los. Ryan ging nicht etwa auf die Offiziere zu, sondern stapfte vor das Geschütz und bückte sich ein paar Mal, um Erd- oder Felsbrocken aufzuheben; schließlich nahm er seinen Klappspaten vom Gürtel. Er stieß ihn ein paar Mal in das Bachufer, bis er auf Felsgestein stieß, und hackte dann darauf herum, bis er über eine Probe verfügte – auch wenn die ziemlich klein war. Schließlich ging er auf die andere Seite des Geschützes und betrachtete sie nachdenklich. Als er sich dann schließlich der Gruppe von Offizieren näherte, hatten die ihre Diskussion eingestellt und sahen ihn erwartungsvoll an. Er salutierte. »Ryan, Pionierkorps der Army.« »Mitchell, SheVa-Korps.«
»Wenn ich fragen darf, wer war das Genie, der dieses Ding hier eingezwängt hat?«, fragte Ryan und lachte. »Ich muss nämlich sa gen, wenn Sie mir das Wortspiel verzeihen, dass es in der Klemme steckt.« »Mein Fahrer«, erwiderte Mitchell mit einem Achselzucken. »Aber das ist nicht seine Schuld«, fügte er hinzu und wies auf den Lander im Tal. »Wir waren zu der Zeit ziemlich beschäftigt.« »Das habe ich schon bemerkt«, meinte Ryan grinsend. »Ich vermu te, die Idee, dass der Chestnut Mountain einen Swimmingpool brauchte, stammt von Ihrem Kanonier.« »Das wäre er«, meinte Mitchell mit einer entsprechenden Kopfbe wegung. »Nun habe ich mir zwar einen Pionier gewünscht, aber ei gentlich eher einen, der ein ganzes Bataillon Pioniere mitbringt. So …« »Oh, wir bringen Sie hier schon raus«, fiel Ryan ihm ins Wort. »Ich habe mir da schon drei oder vier Möglichkeiten überlegt. Ich be zweifle allerdings, dass die Wölfe von der erbaut sind, die mir da von als die beste erscheint.« »Und die wäre, Major?«, fragte Captain Chan. »Vickie Chan, ich habe das Kommando über die Heulenden Wölfe.« »Na ja, ich habe mir gedacht, wir könnten je eines Ihrer Geschütze unter jede Kette zwängen und das SheVa auf die Weise herausfah ren …« »Dann hatten Sie Recht«, sagte sie. »Davon bin ich nicht erbaut …« »… das SheVa verfügt über einen integrierten Kran für gewisse ei gene Wartungsarbeiten. Ich habe solche Krane schon bei Pionierein sätzen benutzt, und wir könnten den hier dazu hernehmen, um zu erst Ihre Geschütze abzumontieren. Wahrscheinlich würde das Ihr System gar nicht beeinträchtigen; das Abrams-Chassis ist nämlich eine ganz beachtliche Konstruktion.« »Ich bin von dieser Idee wirklich nicht erbaut«, wandte Chan mit mürrischer Miene ein.
»Okay«, sagte Ryan. »Mindestens eines von Ihren Fahrzeugen hat bereits gefeuert, sind sonst welche geladen? Ich vermute, Ihre Muni tionsteams sind noch ein Stück entfernt.« »Unsere beiden Munitionsteams sind jetzt drüben bei Dillsboro«, erklärte Major Mitchell. »Na schön, dann wäre die Alternative, dass wir eines der gelade nen Systeme dazu benutzen, Löcher in die Felswand zu schlagen«, sagte Ryan. »Vorsichtig. Und dann packen wir Sprengstoff hinein und jagen den Felsen in die Luft. Auf die Weise entsteht eine Öff nung, durch die Sie rauskommen. Vorne tun wir dasselbe, wir sprengen diesen Überhang weg; darunter, etwa auf Höhe Ihrer Ket ten, ist solides Felsgestein. Dann ist es ganz leicht, rauszukommen. Wir können die Wände weiter unten wegsprengen und dazu diesel be Technik benutzen, um ganz sicherzugehen, dass Sie nicht noch einmal stecken bleiben.« »Augenblick mal«, wandte Indy ein. »Sie wollen Sprengstoff in Felsgestein zünden, das in Kontakt mit unseren Fahrzeugen ist?« »Ein paar Schockwellen wird es schon geben«, sagte Ryan. »Aber nicht so stark, dass es die Panzer oder das Geschütz beeinträchtigen könnte.« »Sie wollen, dass ein MetalStorm auf Felsgestein feuert, das in Kon takt mit dem SheVa ist?«, fragte Mitchell. »Sie können ja Einzelbeschuss einsetzen«, warf Kitteket ein. »Wir schlagen nicht vor, dass Sie aus allen Rohren feuern.« »Dabei entsteht ein Vierzig-Millimeter-Loch«, erklärte Ryan. »Zu gegebenermaßen eines, das ziemlich heiß ist und voll Uranstaub, aber wir können ja schließlich nicht zu wählerisch sein. Anschlie ßend packen wir es voll, dichten es ab und sprengen den Fels.« »Sie haben also tatsächlich vor, Felsgestein zu sprengen, das in Kontakt mit meinen Ketten ist!«, sagte Indy. »Warrant, ich habe die letzten fünf Jahre nicht viel anderes getan, als so ziemlich alles in die Luft zu jagen, was mir unter die Augen
kam«, sagte Ryan müde. »Ich habe Brücken gesprengt und Gebäude und ich weiß nicht wie viele Gleisanlagen. Ich habe das Lincoln Me morial in die Luft gesprengt. Jetzt kommen Sie mir nicht und sagen, ich könnte nicht einen kleinen Uferdamm wegsprengen, ohne dabei Ihrer grandiosen Blechkiste Schaden zuzufügen.« »Aber es geht doch hier nicht darum, innerhalb der nächsten Vier telstunde wegzufahren«, wandte Major Mitchell ein. »So oder so nicht.« »In einer Viertelsrunde – nein«, erwiderte Ryan. »Für die Methode mit den Geschützrohren … vierzig Minuten bis eine Stunde. Für die andere kommt es darauf an, ob wir Sekundärsprengstoff finden. Meine Leute und ich haben ein paar hundert Kilo C-4, das könnte man dafür nehmen, aber das brauchen wir noch für andere Einsätze; ich kann das C-4 nicht guten Gewissens komplett dafür einsetzen, einen stecken gebliebenen Panzer frei zu bekommen.« »Nicht, weil es meiner ist«, wandte Mitchell ein. »Aber das ist schon ein ziemlich großer, teurer Panzer.« »Ich weiß«, antwortete Ryan. »Aber zwischen hier und Asheville gibt es eine Menge Brücken.« »Ich weiß«, nickte Mitchell und lächelte dabei verkniffen. »Aber ich garantiere Ihnen, dass ich die schneller klein kriege als Sie.« Chan hatte mit Glenn gesprochen und schüttelte jetzt den Kopf. »Okay«, sagte sie. »Ich habe eine Alternative anzubieten. Ob die schlechter oder besser ist, weiß ich nicht. Wir können ohne Mühe zwei oder auch drei von unseren Geschützen unter die Ketten brin gen, ganz besonders, wenn wir etwas von unserem Sprengstoff dazu hernehmen, um einen Teil des Überhangs vorne wegzublasen.« »Das stimmt«, nickte Ryan. »Ich hatte nicht erwartet, dass Sie alle Ihre Einheiten opfern wollen.« »Das Ding wiegt zugegebenermaßen siebentausend Tonnen«, meinte Chan. »Aber das lastet ja anfangs nicht komplett auf den Ket ten. Und wenn, dann auch nur eine kurze Zeit. Wenn wir ganz lang
sam hinauf- und dann auch langsam wieder hinunterrollen, da haben Sie Recht, dann könnten die das überleben. Und wenn nicht …« »Brauchen wir nie wieder eins abzufeuern«, sagte Glenn und seufzte. »Könnten Sie auch schnell fahren? Und vielleicht ein wenig Druck ausüben?«
Pruitt hatte den Kran ausgefahren und fing gerade an, den ersten MetalStorm von seinem Chassis abzuheben, als vor dem SheVa die erste Explosion ertönte. Der Kran war auf dem Oberdeck des Ge schützes montiert, also fast sechzig Meter über dem Panzer zu sei nen Füßen, und der Turm des MetalStorm schwankte wie wild hin und her, als er sich aus seiner Halterung löste. Während Pruitt ab wartete, dass die Schwingungen aufhörten, drückte er auf sein Kehl kopfmikro. »Hey, Warrant, haben Sie das Schweißgerät noch bei der Hand?«, fragte er nachdenklich. »So etwas sollten Sie nicht einmal denken, Pruitt«, rief der weibli che Warrant zurück. »Außerdem würde eine Schweißnaht niemals halten.« »Ich finde es nur jammerschade. Ich meine, das ist doch der ganze Turm, oder nicht? Wir schweißen ihn an, koppeln die Steuerung an, ach was, nicht mal die Steuerung, bloß die Energieversorgung …« »Wenn Sie jetzt nicht sofort damit aufhören, komme ich rauf, und dann können Sie was erleben«, rief Indy und lachte. »Nein, ich meine das ernst!«, protestierte er. »Das würde funktio nieren! Man könnte es ja irgendwo ankoppeln.« »Reichen Sie doch einen Verbesserungsvorschlag ein«, sagte Indy. »Aber lassen Sie mich damit in Frieden!« Pruitt sah auf die Geschützbettung hinunter, die inzwischen zur Ruhe gekommen war, und sah ein, dass er keine Ahnung hatte, wo er es hintun sollte. Die Wölfe standen an einem Abhang; wenn er
das Geschütz einfach seitlich absetzte, würde sich die Senke schnell »auffüllen« und die Geschütze würden dann möglicherweise um kippen und bergab rollen. Für einen Tag hatten sie schließlich schon genug Katastrophen gehabt. Er sah sich um und stellte fest, dass es auf dem Oberdeck des She Va eine »Lippe« und eine Art Reling gab. Ein bösartiges Grinsen huschte über sein Gesicht, als er den Kran mechanismus betätigte. »Es ist immer leichter, hinterher um Nach sicht zu bitten«, murmelte er.
»Wahrscheinlich gibt es dagegen irgendeine Vorschrift«, murmelte Chan. »Ich weiß jedenfalls, dass meine Vorgesetzten auf mich ziem lich sauer sein werden.« »Na ja, das wären sie wahrscheinlich nicht, wenn Ihr Fahrer nicht auf die Idee gekommen wäre, rückwärts reinzufahren«, wandte Mit chell ein. »Aber im Ernst, ich bin wirklich nicht scharf darauf, Ihre Panzer zu verlieren; wir brauchen die Feuerkraft.« »Ein paar werden wir verlieren, das steht fest«, sagte Chan grim mig. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Andererseits sind wir dann ein paar los.« »Und das ist gut?«, fragte Mitchell. »Mit den Dingern zu schießen ist die schiere Hölle; ich wüsste nicht, was daran gut sein soll«, antwortete der Captain. »Jede Freu de, die dabei aufkommt, wenn so viel Wolframstahl abgeschossen wird, wird völlig von den Qualen aufgewogen, die es einem zufügt, und der ständigen Angst, das ganze Ding könnte einfach in die Luft fliegen.« »Nun«, meinte Major Mitchell nach kurzem Nachdenken. »Ich werde darauf achten, dass man mich nicht zu den Heulenden Wöl fen versetzt.«
»Als ihr einen der Lander abgeschossen habt, haben wir nach un serem Schuss festgestellt, dass alle Bäume um uns herum umge knickt waren«, sagte sie ruhig. »Und wir haben es nicht einmal be merkt, als das passiert ist.« »Das ist ziemlich schlimm«, sagte er. »Das zweite Mal, als ich in einem von den Dingern war, als es ge schossen hat, habe ich mich nass gemacht«, fuhr sie fort. »Nicht beim ersten Mal?«, fragte er. »Nein, beim ersten Mal hat es mich umgehauen und ich war be wusstlos«, gab sie zu. »Das ist ziemlich schlimm«, sagte er wiederholt. »Die Flechette-Einsätze sind nicht so schlimm«, sagte sie. »Aber an das Zeug, mit dem wir auf die Lander schießen – an das muss man sich wirklich gewöhnen.« »Und haben Sie das schon?«, fragte er und kam sich dabei vor wie ein Masochist. »Bis jetzt noch nicht«, gab sie zu. »Und wie lange machen Sie das jetzt schon?« »Ich bin jetzt seit drei Jahren Kommandeur dieser Einheit«, ant wortete sie schlicht. »Mhmm …« »Zwei Monate, siebzehn Tage und …« Sie sah auf die Uhr,»… zwanzig Stunden.« »Sie mögen diese Dinger wirklich nicht, wie?« »Wenn ich's mir so recht überlege, weiß ich wirklich nicht, warum ich zuerst protestiert habe«, gab sie zu. »Könnten Sie ein paar Mal mehr drüberfahren?«
»Major, wir sind bereit, das jetzt auszuprobieren«, meldete Pruitt über Funk. »Sämtliche Wölfe haben ihre Munition abgelagert, und die Chassis sind in Position.«
»Okay«, rief Mitchell zurück. Er stand an der hinteren Ausstiegs luke und besprach sich mit Indy. Dann sah er nach vorn, wo Chan ihm zuwinkte. »Pruitt, wo sind die Werfer-Packs der MetalStorms?« »Auf dem oberen Deck«, erklärte der Kanonier. »Sonst gab es nir gends eine einigermaßen ebene Stelle dafür. Ich habe sie angekettet; die sind sicher.« »Mhm«, machte Mitchell und nickte Indy zu. Sie verdrehte die Au gen und machte eine ziemlich obszöne Handbewegung. »Miss Indy sagt, dass wir sie nicht ankoppeln werden.« »Habe verstanden, Sir«, erwiderte der Kanonier im unschuldigsten Tonfall, dessen er fähig war. »Das war einfach die sicherste Stelle, um sie unterzubringen, Schließlich sind die Dinger ja ziemlich wert voll.« »Das gilt für den Kanonier eines SheVa auch«, sagte der Major und ging zur Vorderseite des Geschützes. »Andererseits aber gilt das auch für das Chassis eines Abrams, und ich werde jetzt sechs davon als Unterlage benutzen. Das sollten Sie nicht vergessen.« »Yes, Sir.« »Also, wie läuft's, Major?«, fragte Mitchell. »Großartig«, sagte Ryan und kletterte durch die Ketten des SheVa. »Das könnte sogar tatsächlich klappen. Und wenn nicht, können wir immer noch sprengen.« »Das habe ich auch so verstanden«, meinte Mitchell mit säuerli cher Miene. »Okay, sind alle klar?« »Mein Team ist auf dem Hügel«, sagte Ryan und wies auf die Stel le, wo seine Pioniere sich zusammendrängten. »Meine Leute holen gerade den Champagner raus«, sagte Chan und deutete auf ihre Truppe. »Okay«, nickte Mitchell. »Dann wollen wir hier verschwinden und sehen, wie es läuft.« Sie gingen den Abhang hinauf, bis sie auf gleicher Höhe mit dem Oberdeck des SheVa waren, und Mitchell blieb stehen, um Atem zu
holen. »Heiliger Strohsack, sind wir tatsächlich über diese Hänge ge fahren?« »Ja«, bestätigte Chan. »Ich habe mir überlegt, dass Sie wohl bloß deshalb weitergefahren sind, weil es dunkel war und man auf die Weise nicht erkennen konnte, wie verrückt das ist, selbst nicht mit Nachtsichtsystemen der dritten Generation.« »Na ja, Sie sollten das vielleicht positiver sehen«, meinte Ryan und wies auf den aufgerissenen Hang im Westen. »Sie haben da ein paar klasse Skihänge produziert!« Mitchell lachte brüllend und drückte dann auf sein Kehlkopfmi krofon. »Okay, Schmoo, probieren Sie's, aber hübsch langsam.«
Reeves ließ die Motoren vorsichtig auf zehn Prozent Leistung hoch laufen und legte dann den Gang ein. Das SheVa war ursprünglich ohne ein solches Getriebesystem entwickelt worden, aber später hat te man eines hinzugefügt, weil man erkannt hatte, dass man mit schwierigen Situationen manchmal am besten fertig wurde, wenn man »den Gang einlegte«. In diesem Fall schwankte das SheVa auf seinen »Ersatzunterlagen« nach vorn und rollte dann wieder rückwärts. Scharrende, metalli sche Geräusche von den sechs Abrams-Chassis waren zu hören und dann ein lautes Boinng von einer zerbrechenden Torsionsstange. Captain Chan fing zu wimmern an und griff sich mit beiden Hän den an den Helm. »Ich überlege mir gerade, wie dieser Verlustbe richt aussehen wird.« Hinter sich konnten die Offiziere die Beifalls rufe der MetalStorm-Crews hören. »Meine Karriere ist im Eimer.« Mitchell versuchte nicht zu lachen, als er sich zur Seite wandte und seinen Mikroschalter drückte. »Okay, Schmoo, …« Er hielt kurz inne und schnaubte dann, ehe er den Schalter erneut drückte. »Los geht's!«
»Sind Sie auch sicher, Sir?«, fragte der Fahrer. »Ganz sicher«, erwiderte der Major. Hinter sich konnte Reeves im mer noch schwache Beifallsrufe hören. »Unser Einsatzziel erfordert, dass alle notwendigen Mittel eingesetzt werden, um das SheVa wie der flottzumachen; und das heißt, dass wir jetzt Fahrt machen müs sen. Was auch immer es an Material kostet.« »Yes, Sir!«, antwortete Reeves und schaltete auf dreißig Prozent hoch. »Es geht los!«
Die Ketten des SheVa mahlten auf den Abrams-Chassis, rüttelten sie unter metallischem Ächzen auf und nieder. Das Geschütz schwank te nach vorn, lastete jetzt teilweise auf den kleineren Panzern, kippte dann aber wieder nach hinten, als von den kleineren Fahrzeugen Ketten und Räder absprangen. »Das sieht so aus, als würde Ihr Panzer die meinen begatten«, sag te Chan unglücklich. »Ich wünschte, meine Leute würden mit ihrem Beifallsgeschrei aufhören; das klingt nicht gerade wie ein Lob auf meine Führung.« »Ich denke, es ist sogar ein großes Lob«, sagte Mitchell, als das SheVa zurückrollte und dann nach vorne und oben beschleunigte. »Schließlich sind die immer wieder eingestiegen.« Mit einem letzten Ruck löste sich das SheVa aus dem Bachbett und rumpelte unter ständigem Ächzen und Klirren der misshandelten Abrams aus dem Bachbett heraus auf einigermaßen festen Boden. »So, wenn wir uns jetzt nicht noch einmal aus einem Graben raus arbeiten müssen«, meinte Mitchell mürrisch, »oder auf weitere die ser verdammten fliegenden Tanks stoßen, sollte alles gut gehen.« »Also, ich denke, ich brauche mir keine Sorgen zu machen, noch einmal in diesen Panzer steigen zu müssen«, sagte Chan. Die Hinter
partie ihres Abrams war zerdrückt, und das Werfer-Pack lag auf dem Boden. »Ich schätze, von hier an werden wir zu Fuß gehen.« »Nur wenn Sie wollen«, sagte Mitchell. »Ihre Türme sind auf unse rem Oberdeck; Sie könnten ja dort mitfahren.« »Das ist … eine interessante Idee«, meinte Chan. »Es könnte Ihnen ein wenig schwindlig werden«, räumte er ein. »Es ist ziemlich hoch. Und Sie können auch mitkommen, Major«, fuhr er fort und wandte sich an Ryan. »Obwohl ich Ihnen garantiere, dass ich eine Brücke schneller klein kriege als Sie.« »Sicher können Sie das«, nickte Ryan. »Aber können Sie es auch so, dass die Posleen Sie dabei nicht sehen?«
36 Dillsboro, North Carolina, Sol III 1514 EDT, 27. September 2014
Major Ryan stieg von dem SheVa, als das Geschütz die komplizierte Prozedur begann, den Tuckasegee River zu überqueren, ohne dass dabei jemand zu Tode kam. In der Nähe von Dills Gap waren sie in zunehmendem Maße auf Nachzügler gestoßen, von denen viele sich dem SheVa angeschlos sen hatten. Auf dem Geschütz gab es vier »Ladepunkte«, die jetzt alle von Soldaten besetzt waren. Die gute Nachricht war, dass sie dem Anschein nach vor den Pos leen dort eingetroffen waren und, Wunder über Wunder, es gab so gar gewissen Abstand zwischen den letzten Nachzüglern und den vordersten Verfolgern. Es hieß, dass da Scharfschützen am Werk waren, die das Vorrücken der Posleen behinderten, aber die arbeite ten von den Bergkämmen aus und würden sicherlich den Fluss nicht bei Diilsboro überqueren. Und das bedeutete, dass er vermutlich nicht genötigt sein würde, die Brücke zu einem Zeitpunkt zu spren gen, wo Menschen darauf waren. Ungefähr ein Platoon Soldaten, das von einem Captain geführt wurde, bewegte sich auf das vorsichtig manövrierende SheVa zu, und Ryan tippte an das Komm, das Major Mitchell ihm geliehen hatte. »Ich glaube, es gibt hier ein Begrüßungskomitee, Sir.« »Ich sehe sie auf dem Außenschirm«, erwiderte der SheVa-Kom mandant. »Wir werden anhalten, bis wir wissen, was die wollen.«
»Captain«, sagte Ryan. »Major William Ryan, Pionierkorps. Und Sie sind?« »Captain Paul Anderson«, erwiderte der Offizier. »Ich bin hier für den Übergang verantwortlich, Sir, und muss leider darauf bestehen, dass die Soldaten, die jetzt auf dem SheVa sitzen, absteigen und er fasst werden.« Er trug das Abzeichen mit den überkreuzten Flaggen eines Fern meldeoffiziers und gehörte deshalb eigenartigerweise der Kämpfen den Truppe an. In einer Situation wie dieser konnte er selbst einem Colonel beispielsweise des Sanitätskorps Befehle erteilen. Aber Pio niere waren ebenfalls Linienoffiziere. »Ich gebe Ihnen die Typen, die außen dranhängen«, sagte der Ma jor mit einem schwachen, nicht sonderlich freundlichen Lächeln. »Aber meine Leute nehme ich mit hinüber, um sicherzustellen, dass die Brücke ordentlich zur Sprengung hergerichtet wird.« »Ah, das wäre gut«, lächelte der Captain sichtlich erleichtert. »Ich … wollte Sie nicht unter Druck setzen, aber ich halte diesen Über gang jetzt seit achtzehn Stunden und habe mich bemüht, unter den Gruppen, die hinübergehen, einigermaßen Ordnung zu halten; ich kann Ihnen sagen, das hat keinen Spaß gemacht.« »Ich weiß Bescheid«, grinste der Major zurück. »Wie genau wür den Sie das SheVa einstufen?« »Behandeln werde ich es wie den sprichwörtlichen VierhundertKilo-Gorilla, Sir«, sagte der Captain. »Sergeant Rice«, fuhr er dann fort und winkte dem Staff Sergeant, der neben ihm stand. »Sorgen Sie dafür, dass die Übrigen über die Brücke kommen und dort aus einander sortiert werden.« »Yes, Sir«, sagte der Sergeant und winkte dem Platoon zu, ihm zu folgen. »Im Norden der Stadt parken Munitionslaster«, sagte der Captain. »Weit verteilt. Außerdem waren da auch zwei Gruppen Munitions trucks für das SheVa in Begleitung von ein paar Munitionsfahrzeu
gen für MetalStorm. Ich habe sie alle die Straße hinauf nach Sylva geschickt; hier war nirgendwo Platz, um sie unterzubringen.« »Die gehören dann wohl Major Mitchell und Captain Chan«, sagte Ryan und tippte wieder an sein Komm. »Mitch, gute Nachrichten. Ihre Munition wartet ein Stück weiter oben an der Straße auf Sie, Ende.« »Gut«, erwiderte der SheVa-Kommandant. »Wenn man insgesamt nur acht Schuss laden kann, wird man nervös, sobald man auf vier runter ist. So, und wie kommen wir jetzt dorthin, ohne jemanden umzubringen? Es gibt nur drei Routen, und wie es aussieht, sind überall Leute.« »Wie kommt das SheVa dorthin?«, fragte Ryan. »Das wird gar nicht so einfach sein, Sir«, gab Anderson zu. »Wir stellen an beiden Flanken der Stadt Einheiten neu zusammen. Das bedeutet vermutlich, dass Sie mittendurch müssen. Wir haben die Stadt weitgehend geräumt, weil es einfach zu schwierig ist, die Ein heiten dort unter Kontrolle zu halten.« »Wenn wir das tun, gibt es keine Stadt mehr«, gab Ryan zu beden ken. »Und auch keine Straßen.« »Wir schicken den Großteil des Verkehrs über die Umleitung 23«, sagte der Captain und brachte eine Kartentafel zum Vorschein. »Wenn er den Tuckasegee östlich der 23 überquert und dann ab biegt … nun gut, über die Stadt fährt, kann er die 107 hinauffahren. Wir schicken dort sowieso Panzer hinunter, damit die nicht die Hauptstraße aufreißen; die ist auch so schon ziemlieh mitgenom men. Seine Munition steht im Süden von Sylva, neben der 107.« »Geht klar«, sagte Ryan und leitete die Nachricht an Mitchell wei ter. »Könnten Sie meine Jungs gleichzeitig auch abladen lassen?« »Roger«, erwiderte Mitchell. »Könnte ich aber Kitteket behalten?« »Ich denke schon«, erwiderte Ryan verdutzt. »Ich habe sie auf den Kommandantensessel gesetzt. Auf die Weise habe ich jetzt endlich jemanden für das Komm.«
»Meinetwegen«, sagte der Major. »Ich werde mir jetzt die Brücke ansehen.« »Werden Sie wieder mit uns fahren wollen, Major?«, fragte Mit chell. »Wahrscheinlich nicht«, erwiderte der Pionieroffizier. »Ich habe andere Dinge zu erledigen. Vielleicht werde ich Sie anrufen und bit ten, eine Brücke zu erledigen, je nachdem, wie viel Demo mir noch geblieben ist.« »Also, bis später dann«, sagte Mitchell, als das SheVa heulend wie der zum Leben erwachte. »Behalten Sie das Komm-Gerät. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir uns wiedersehen werden.« »Viel Glück.« »Danke, Ihnen auch.«
Ryan wandte sich wieder an den Captain und schüttelte den Kopf, als das SheVa ganz langsam nach Osten davonzockelte. »Wir sind uns in den Bergen begegnet; die haben dieses Ding über einen von den kleineren Pässen geschafft.« »Dieses Ding?«, fragte der Captain und setzte sich in Richtung Brücke in Bewegung. »Wie denn?« »Na ja, nicht sonderlich gut, als es dann nach unten ging«, erwi derte Ryan und lächelte. »Die sind stecken geblieben. Aber das war, als sie gerade zwei Lander praktisch auf Spuckweite runtergeholt haben. Eine lange Geschichte.« »Kann ich mir vorstellen. Und wie sind sie rausgekommen?« »Haben Sie diese Dinger ganz oben gesehen?«, fragte Ryan und grinste. »Ja, die haben ausgesehen wie die Türme von MetalStorms, aber ich habe noch nie gehört, dass es so was auf einem SheVa gibt.«
»Die sind auch nicht fest angebaut; die hängen bloß mit Ketten fest«, sagte Ryan und grinste wieder bis über beide Ohren. »Wir ha ben das Biest aus der Scheiße rausgeholt, indem wir über die Chas sis gefahren sind.« »Mannomann«, staunte Anderson. »Das war ja verdammt teuer! Ich nehme an, die Chassis haben das nicht überlebt.« »Nee, die hat es platt gewalzt«, erwiderte Ryan, blieb stehen und sah von der Brücke ins Wasser hinunter. Plötzlich hatte er das ganz intensive Gefühl, das hier alles schon einmal erlebt zu haben, aber er wusste nicht, wo er diese Erinnerung hintun sollte. »Wie sind Sie denn zu diesem Scheißjob hier gekommen?«, meinte Ryan und wies lächelnd auf die Brücke, die sie inzwischen über quert hatten. »Ich sag das nicht, um mich über Sie lustig zu machen. Aber auf einer Brücke den Kettenhund zu spielen ist doch nicht viel besser, als Antimaterie-Düsen zu putzen.« »Oh, Sie haben schon Recht, es ist ein Scheißjob«, sagte der Cap tain und schüttelte den Kopf. »Ich muss mich da wohl bei General Keeton bedanken.« »Dem Kommandeur Ost?«, fragte der Major. »Wie ist es denn dazu gekommen?« »Ich war beim Kabellegen, als die Nachricht durchkam, dass die Posleen die Rabun-Lücke genommen hatten«, antwortete der Cap tain. »Hab mir die Karte angesehen und mir überlegt, wo die Eng stelle für das Gros des Korps sein würde. Und dann habe ich zuge sehen, möglichst schnell hierher zu kommen, um zu versuchen … ich weiß auch nicht, irgendwie auszuhelfen oder so was, weil ja das Hauptquartier, zu dem ich die Leitung legen sollte, nicht mehr exis tiert hat. Aber da war keiner, der das Kommando hatte, und es gab schon 'ne Menge Probleme, die Gruppen einigermaßen auseinander zu klauben. Also habe ich mir die Einheiten geschnappt, die am sta bilsten auf mich wirkten, und angefangen, ein bisschen Ordnung in den Laden zu bringen. Als es dann dazu kam, dass ich einem Major Befehle erteilen musste, wurde mir bewusst, dass ich dazu über
haupt nicht befugt war. Das Kabel war im Ostabschnitt gelegt wor den. Also rief ich dort an und redete mit einem Freund bei Operati ons. Anscheinend ist der einfach in die Sitzung hineingeplatzt, wo die sich gerade überlegt haben, was sie tun und wen sie schicken sollten. Und im nächsten Augenblick spreche ich mit General Kee ton, und der sagt mir, ich solle tun, was ich für richtig hielte; ich habe alle Vollmachten.« »Ist Ihnen das in den Kopf gestiegen?«, fragte Ryan. »Es hat mich eher wie eine kalte Dusche getroffen«, sagte der Cap tain. Er wies auf eine Gruppe von Mannschaftsdienstgraden und Sergeants, die sich um mehrere taktische Funkgeräte drängten. »Mir ist plötzlich klar geworden, dass ich Captain Horatius war. Und dazu musste ich Personal, Material und Fahrzeuge im Wert etwa ei ner Division koordinieren.« »Ha!«, lachte Ryan. »Genau wie ich in Occoquan, mit Ausnahme der Koordinierungssache. Passen Sie auf, dass Ihnen das nicht zu Kopf steigt. Es wird hoffentlich nicht das letzte Mal sein.« Er hielt inne und sah sich um. Die Stadt war ziemlich herunterge kommen – es war nicht zu übersehen, dass der mit dem Krieg einge tretene wirtschaftliche Abschwung sie massiv getroffen hatte –, aber sie sah immer noch ziemlich antik aus, Begriffe wie »bilderbuchhaft« kamen ihm in den Sinn. Die meisten Häuser schie nen aus den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts oder dem Ende des neunzehnten zu stammen. Den meisten hätte ein frischer Anstrich gut getan, aber offenbar war der Ort vor Kriegsausbruch ein recht wohlhabendes Touristikzentrum gewesen. Und dann wur de es ihm plötzlich siedend heiß bewusst … »Verdammt«, sagte Ryan und schüttelte den Kopf. »Es sieht ge nauso wie Occoquan aus.« Und das tat es auch. Das Städtchen ähnelte dem Ort seiner ersten Schlacht geradezu verblüffend. Er hätte ein Monatsgehalt darauf verwettet, dass das Städtchen vor dem Krieg mit Antiquitätenläden und kleinen Cafes voll gepackt gewesen war.
Jetzt freilich sah es so aus, als wäre es schon vor dem Eintreffen des auf dem Rückzug befindlichen Korps im Wesentlichen verlassen ge wesen. Hoffentlich würde es völlig geräumt werden können, ehe das SheVa es niederwalzte. »Wegen Bun-Bun«, meinte Ryan jetzt, an den Captain gewandt. »Ich habe ein Platoon darauf angesetzt, die Stadt zu räumen«, er widerte Anderson. »Und anschließend ziehen sie nach Sylva weiter und tun dort dasselbe.« »Sie wissen, wer Bun-Bun ist?«, sagte der Major und lächelte dabei rätselhaft. »Also, Bun-Bun ist ein ziemlich unangenehmer Hase aus einem Cartoon. Er hat ein Klappmesser und äußerst schlechte Manieren«, erwiderte der Captain grinsend. »Aber ich habe angenommen, dass Sie das SheVa gemeint haben, schließlich war das riesige Gemälde von Bun-Bun auf der Seitenwand nicht zu übersehen.« »Sie sind ein Fan«, sagte Ryan. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Oh, und was für einer«, erwiderte der Signaloffizier grinsend. »Aber der Erste, der die Sichtung gemeldet hat, war völlig durchein ander.« »Sichtung?«, fragte der Pionieroffizier. Er sah zu der Hügelkette hinüber, die das Tal säumte. »Sie haben doch sicherlich Kundschaf ter draußen.« »Es gibt hier eine örtliche Miliz«, erwiderte der Captain. »Die wa ren schon vor mir an der Brücke. Ich habe sie weggeschickt, damit sie für uns kundschaften; inzwischen haben die sich mit Allradfahr zeugen in den Bergen verteilt.« »Also hatten Sie bereits vorgesehen, die Stadt zu räumen«, sagte Ryan und schüttelte den Kopf. »Sie sind mächtig auf Draht. Jetzt würde mich interessieren, wie Sie die Sache mit der Brücke erledi gen wollen.«
»Oh, vielen Dank«, sagte der Captain und grinste. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das übernehmen würden, Sir. Ich habe sie einem Sergeant übergeben, der ein wenig Erfahrung mit Demo hat, aber er hat zugegeben, noch nie so etwas zur Sprengung vorbereitet zu haben. Und das Ostkommando hat keinen Zweifel daran gelas sen, dass die Brücke weg soll. Aber ich muss mich jetzt wirklich wie der um meinen Kram kümmern.« »Habe verstanden, Captain, viel Glück.« Ryan vergewisserte sich, dass seine »Achterpackung«, wie er sie für sich inzwischen nannte – er hatte noch nicht einmal alle Namen herausbekommen –, von dem SheVa abgestiegen war. Die Gruppe war zu den Brückenwachen hinübergezogen, und er war ziemlich sicher, dass sie sich bald aufs Ohr legen würden; auf dem stählernen Aufbau eines hin und her schaukelnden SheVa zu schlafen war nicht einfach. Er war sich auch ziemlich sicher, dass es bei ihnen kei ne Probleme gab, und wusste, wo sie sein würden, falls er sie brauchte; deshalb ging er beruhigt daran, die über die Brückenkon struktion verteilten Sprengstoffe zu inspizieren. Bei der Brücke handelte es sich um einen massiven Baukörper aus Beton und Stahl, der den Fluss in etwa dreißig Meter Höhe auf vier Pfeilern überspannte. Der Fluss war tief und hatte ziemlich starke Strömung, würde also für die Posleen unpassierbar sein, sobald die Brücke gesprengt war. Und für die Indowy würde es nicht leicht sein, eine provisorische Brücke zu bauen; dieses Hindernis würde den Vormarsch der Posleen ernsthaft beeinträchtigen. Immer vor ausgesetzt natürlich, dass die Brücke tatsächlich fiel. Er schlenderte eine Seitenstraße hinunter und stellte sich unter die Brücke, blickte zu den Sprengstoffpaketen auf, die neben den Pfei lern lagen. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. Er konnte se hen, was der Captain versucht hatte: die Sprengstoffe lagen – so, wie man das häufig in Filmen sah – am Schnittpunkt der Brücke mit den Pfeilern. Aber sie reichten mengenmäßig nicht aus, um die Nahtstel len aufzureißen. Die waren tatsächlich ziemlich massiv und zugleich
flexibel; eine Brücke dort zu zerstören, das war ein hartes Stück Ar beit. Die Pfeiler selbst bestanden aus Beton und hatten ein abgerunde tes, x-förmiges Profil mit einem Durchmesser von etwa einem Meter zwanzig. Wenn sie die oben abgelegten Sprengstoffe genommen und die Pfeiler einfach damit umwickelt hätten, würde die Brücke einstürzen. Sie neu anzuordnen würde eine Weile dauern. Und die Zeit hatten sie möglicherweise nicht. Aber im schlimmsten Fall konnten sie immer noch Bun-Bun dazu einsetzen, sie einfach niederzuwalzen.
»Okay, Schmoo«, rief Major Mitchell. »Die netten Leute, die für die Brücke zuständig sind, haben die Stadt geräumt. Ich möchte, dass Sie den Fluss östlich der Brücke überqueren, dann in die Stadt ein biegen und anschließend die 107 hinauffahren. Irgendwo dort ist unser Munitionsteam.« »Geht klar, Sir«, erwiderte der Private. »Dann wollen wir Dillsboro Lebewohl sagen.« Der Fahrer ließ das Aggregat des SheVa hochfahren und senkte die Vorderpartie des Kolosses bedächtig in den Fluss. Für die meis ten Panzer wäre der Fluss, der an dieser Stelle knappe zwei Meter tief war und eine Strömungsgeschwindigkeit von zehn Knoten hat te, unpassierbar gewesen. Aber das SheVa nahm das überhaupt nicht zur Kenntnis; seine hinteren Ketten hatten kaum Zeit gehabt, nass zu werden, als die vorderen Ketten auf der anderen Seite schon wieder herausfuhren. Auf der anderen Seite stieg das Ufer steil an. Vor dem Angriff hät te das wie ein echtes Hindernis ausgesehen, aber nachdem sie Betty Gap hinter sich hatten, lohnte es nicht einmal, etwas dazu zu sagen; Bun-Bun fuhr einfach geradewegs nach oben, zerdrückte ein paar Häuser und fuhr auf der anderen Seite wieder hinunter. In einer Hinsicht war es ein Glück, dass die famose »Verbrannte-Erde-Hei
matverteidigungs«-Politik nur für das flache Land im Küstenbereich eingesetzt worden war, andernfalls wäre jedes der Häuser eine po tentielle Anti-Tank-Mine gewesen. »Sir«, sagte Kitteket. »Ich habe da eine Gruppe, die behauptet, un ser Geleitschutz zu sein. Sie haben Dillsboro völlig geräumt, aber es gibt da einige Probleme, alle Leute aus Sylva herauszuschaffen.«
37 Dillsboro, North Carolina, Sol III 1623 EDT, 27. September 2014
Ryan setzte das um seine eigenen Leute verstärkte Sprengteam dar auf an, die Sprengladungen neu anzubringen, und ging dann zu Captain Andersons Gefechtsstand zurück. Als er dort ankam, er kannte er gleich, dass etwas schief gegangen sein musste; das verriet ihm der Gesichtsausdruck des Captain und das Schweigen der di versen Funker. »Was ist los?«, fragte Ryan. »Die Posleen haben erneut aus der Luft angegriffen«, antwortete Anderson und blickte nachdenklich in die Ferne. »Ein Verband von K-Deks hat soeben Balsam Gap eingenommen. Sie sind auf dem Blue Ridge Parkway gelandet und haben den Verband, der den Stra ßenknoten halten sollte, angegriffen und vernichtet.« »Oh, zum Teufel«, sagte Ryan und vergegenwärtigte sich die Karte des Geländes. Über die Reihe von Bergkämmen, die zwischen ihnen und Asheville oder Knoxville lagen, gab es nur drei Routen. Die US 23 führte über den Balsam-Pass geradewegs nach Asheville. Die US 19, die sich in Cherokee mit der 441 kreuzte und dort ein Stück par allel zu ihr verlief, überquerte die Berge beim Soco-Pass. Die 441 schließlich überquerte sie beim Newfound-Pass und führte dann ins Cumberland-Tal hinunter. Sie konnten Kurs auf die 19 nehmen, aber die und die 441 waren schmaler und daher langsamer. Und ihre sämtlichen neu zusammengestellten Einheiten über jene einzelne Straße zu schicken würde nach seiner professionellen Überzeugung
unmöglich sein. Darüber hinaus gab es auch keine Möglichkeit, Fahrzeuge »auszufiltern«, wie sie es vom Gap aus getan hatten; die Berge in dieser Region waren so steil und hoch, dass es keine ande ren Straßen über sie gab. »Was meldet sich noch?« »Es gibt eine Division, die von Asheville heraufkommt«, sagte An derson. »Aber die haben ein paar Probleme; sie sind noch ziemlich grün. Möglicherweise könnten sie es schaffen, die Posleen aus dem Pass zu vertreiben. Den Berichten nach hat man diese Posleen aller dings zuletzt dabei beobachtet, wie sie sich eingraben. Und der K-Dek hat ihnen während ihres Angriffs Feuerschutz gegeben. Ich … glau be nicht, dass die Unseren es in kurzer Zeit schaffen können, den Pass zu erobern.« »Verdammt, verdammt, verdammt«, sagte Ryan. »Wissen Sie, was Sie tun werden?« »Mehr oder weniger«, nickte Anderson. »Ich hatte ein paar Minu ten Zeit, um darüber nachzudenken. Ich werde alles Personal und Gerät, das nicht unbedingt wichtig ist, die 441 hinauf in Marsch set zen; das ist die schwierigste Route, und wir haben auch nichts da von, wenn die dann in Pigeon Forge sind; aber wenigstens sind sie dort außer Gefahr.« »Und diejenigen, die wir wirklich brauchen, werden Sie auf die US 19 schicken, stimmt's?«, sagte Ryan. »Ja«, fuhr der Captain fort. »Sämtliche Versorgungsfahrzeuge. Benzinlaster, Munition, Proviant. All das. Nichts Langsames, nichts, was nicht unbedingt notwendig ist. Ich werde sogar sämtliche Fern melde- und Nachrichtendiensteinheiten die 441 hinauf schicken.« »Einverstanden, was ist mit den Kampfverbänden?« Einige davon hatten es hierher geschafft, eine kleine Gruppe M-1E1-Panzer, etwas Artillerie und Bradleys und eine kleine Gruppe Infanterie, die ent weder zu Fuß gekommen war oder sich von Trucks hatte mitneh men lassen.
»Die werde ich nach Balsam schicken«, erklärte der Captain mit ausdrucksloser Miene. »Das ist … Selbstmord«, erwiderte Ryan nach einer kurzen Pause. »Die sind nicht einmal eine reguläre Einheit.« »Die Einheit auf der anderen Seite ist noch nicht in Stellung, und von jener Seite anzugreifen wird nicht leichter sein als von dieser«, sagte Anderson und verzog dabei das Gesicht. »Wir haben ein we nig Artillerie und einigermaßen Infanterie. Leicht … wird es ganz si cher nicht sein, aber ich bin überzeugt, dass wir es schaffen können. Die Scharfschützen der örtlichen Miliz sind immer noch dabei, die Posleen oben im Savannah-Tal in ihrem Vormarsch aufzuhalten. Aber wenn wir zwischen die Posleen-Verbände geraten … dann sind wir erledigt. Also müssen wir den Pass zurückerobern, das muss hohe Priorität haben.« »Ja, natürlich«, nickte Ryan erneut nach kurzem Nachdenken. »Es darf wirklich nicht dazu kommen, dass die sich zusammenschließen.« »Vielleicht schaffen wir es, sie aufzuhalten«, sagte Anderson nicht sehr überzeugt. »Versuchen werden wir es jedenfalls.« Ryan blickte zum Himmel auf und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich … hätte da eine Idee.« »Yes, Sir?«, fragte der Captain erwartungsvoll. »Wir haben ein SheVa, und es ist neu mit Munition versorgt wor den.« »Oh«, machte Anderson. »Hat es Munition für Flächenbeschuss?« »Ja. Haben Sie noch Funkverbindung mit dem Kommando Ost?« »Ja«, nickte Anderson. »Ob Sie es glauben oder nicht, wir haben sogar Bildübertragung.« »Gut«, grinste Ryan. »Ich möchte General Keetons Gesicht sehen.«
General Keeton nickte in der ruckeligen Art, die auf eine langsame Internetverbindung deutete. Ryan erinnerte das immer an einen Cartoon, den sein Dad gemocht hatte. Max Headroom hatte der ge heißen. »Major Anderson, wie ich sehe, haben Sie ja immer noch den Fin ger in der Deichwand.« »Yes, Sir«, erwiderte der Captain. »Und ich bin Captain, Sir.« »Nein, das sind Sie nicht mehr«, widersprach der General. »Wer sind diese anderen Gentlemen?« »Sir, ich bin Major William Ryan, Pionierkorps.« »Und ich Major Robert Mitchell, Kommandant von SheVa Neun.« »Ist das die Wumme mit dem großen Hasen drauf?« »Yes, Sir«, erwiderte der Major und seufzte dabei leicht. »Wie man so hört, haben Sie die letzten paar Tage das Tal ziemlich zugerichtet, Major«, sagte der General streng. »Möchten Sie sich dazu äußern?« »Yes, Sir«, erwiderte der Major. Der General würde ihn jetzt ver mutlich durch die Mangel drehen, und das war eigentlich nicht fair. Aber so war das beim Militär eben manchmal. »Angesichts meiner Verantwortung für die Luftverteidigung des Korps waren das not wendige Kriegshandlungen.« »Welche erwischt?«, fragte Keeton. »Sir, nach unseren Unterlagen haben wir in den letzten zwei Ta gen acht bestätigte Abschüsse von Lampreys und K-Deks, und wir schätzen, dass weitere neun bis zehn zu schwer beschädigt wurden, um weiterhin einsatzfähig zu sein. Alle von der Kamera erfasst. Of fen gestanden bin ich der Meinung, dass wir das Doppelte hätten schaffen müssen, aber das bedarf der Auswertung, sobald wir das Tal zurückerobert haben.« Der General überlegte eine Weile und nickte dann. »Sie wollen also sagen, dass Bun-Bun wie üblich mächtig rumgeballert hat und sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, Namen festzuhalten.«
Mitchell sah mit weit aufgerissenen Augen auf den Bildschirm. »Ja, Sir.« »Ich werde jetzt etwas tun, und wenn Sie deshalb Anderson Ärger machen, dann reiße ich Ihnen den Arsch auf, verstanden?« »Yes, Sir?«, erwiderte Mitchell. »Sie sind zum Colonel befördert. Sämtliche Mitglieder Ihrer Mann schaft werden um eine Rangstufe befördert. Über die Auszeichnun gen sprechen wir später.« »Yes, Sir«, sagte der frisch gebackene Colonel mit halb erstickter Stimme. »Danke.« »Jetzt fangen Sie bloß nicht gleich vor Rührung an zu heulen; Sie wissen schließlich, dass Sie aller Wahrscheinlichkeit nach ganz schön im Dreck stecken. Schließlich haben Sie keine Chance, dieses Monstrum aus dem Tal rauszuschaffen. Und nach allem, was ich von den Nachrichtendiensten höre, gibt es da etwa eine Milliarde Posleen, die bloß darauf warten, Sie in den Arsch zu ficken.« »Das wollten wir gerade diskutieren, Sir«, schaltete Major Ryan sich ein. »Ryan, Sie sind der Knabe, der das Lincoln Memorial in die Luft gejagt hat, stimmt das?« »Yes, Sir«, erwiderte Ryan. »Und Sie sind jetzt für die Brücke zuständig?« »Yes, Sir, darüber …« »Jagen Sie sie nicht hoch, solange wir nicht zu Ende geredet haben, ich bin nämlich gar nicht sicher, ob ich sie gesprengt haben möchte.« »Yes, Sir.« Ryan hielt kurz inne. »Ich … ich denke, wir sind da ei ner Meinung, Sir. Sir, wir haben einen Aktionsplan, den wir mit Ih nen besprechen müssen.« »Raus damit.« »Sir, ist Ihnen bekannt, dass der Feind den Balsam-Pass eingenom men hat?«
»Ich habe eine Unmenge Leute dorthin geschickt«, erwiderte Kee ton. »Unglücklicherweise brauchen wir Balsam Gap, um die Leute zu Ihnen durchzubringen. Und sie sind hauptsächlich in Stellungs verteidigung ausgebildet, was bedeutet, dass sie beim Angriff ziem lich lausig sein werden. Und deshalb kann es eine Weile dauern, ehe Sie Freunde in Ihrer Gegend haben werden.« »Sir«, antwortete Major Anderson. »Ich habe damit begonnen, die Truppen im Kessel zu evakuieren und dabei Sekundärrouten be nutzt. Aber ich denke, den Pass können wir frei bekommen.« »Nur zu.« »Sir«, schaltete sich Colonel Mitchell ein. »Wir hatten Verbindung mit den Munitionsteams für zwei SheVas …« »Ich habe mehrere Munitionsteams und das beste SheVa-Repara turbataillon in den ganzen USA abgeschickt«, fiel Keeton ihm ins Wort. »Jetzt passen Sie bloß auf, dass Bun-Bun nicht in die Luft fliegt, dann wäre nämlich die ganze Mühe umsonst.« »Dafür bin ich sehr dankbar, Sir«, erwiderte Colonel Mitchell. »Aber die werden eine Weile brauchen, bis sie bei uns sind. Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, stand das nächstgelegene SheVaReparaturbataillon in Indiana.« »Nicht, wenn Sie es schaffen, Balsam Gap zurückzuerobern; die sind jetzt beide in Waynesville. Ich habe sie sofort in Marsch gesetzt, als ich hörte, dass die Posleen Rabun Gap eingenommen haben.« »Oh.« »Sir«, meldete sich Major Ryan erneut zu Wort. »Bun-Bun hat vier Schuss für Vernichtungsflächenfeuer zur Verfügung, zwei beim Mu nitionsteam und zwei von SheVa Vierzehn.« »Jaa«, machte der General bedächtig. »Reden Sie weiter.« »Ich habe eine zusammengeschmolzene Kompanie Abrams und etwa genauso viele Bradleys«, schaltete Anderson sich ein. »Außer dem habe ich zwei Artilleriebatterien; die Bradleys und die Ari stammen aus einem Aufklärungsverband, der am Langen Wall ent
langgezogen ist. Die Bradleys sind unterbesetzt, aber ich habe genü gend Infanteriepersonal.« »Sir, unser Plan sieht vor, dass Bun-Bun sich unter Ausnützung je der möglichen Deckung an Balsam Gap heranarbeitet«, fuhr Ryan fort. »Gleichzeitig werden unsere mechanisierten Verbände sich in der Nähe von Balsam Gap in Verstecke begeben, aber nicht allzu nahe beim Pass. Bun-Bun wird einen Höhenkrepierer in den Pass schießen, und anschließend wird die Artillerie Höhenkrepierer und Penetrator-Munition einsetzen, während der mechanisierte Verband einen Bodenangriff startet. Anschließend rückt Bun-Bun vor, um den K-Dek zu beschießen, falls der den Angriff überstanden hat.« »Ein klassisch vorbereiteter Angriff«, sagte der General. »Mit ei nem kleinen Extra-Tick.« »Yes, Sir«, erwiderten die drei im Chor. Keeton lachte und schüttelte den Kopf. »Sie hatten nicht genug Zeit, um das einzuüben. Okay, ich kann Ihnen das nicht freigeben. Ich werde also Jack Horner anrufen, und wir beide werden … mit der obersten Kommandoinstanz Verbindung aufnehmen.« »Yes, Sir«, sagte Colonel Mitchell. »Das könnte eine Weile dauern; die Präsidentin hat wirklich etwas gegen Atomwaffen. Aber in der Zwischenzeit sollten Sie Ihre Ver bände bereithalten«, fuhr der General fort. »Und schaffen Sie aus diesem Kessel raus, was nur gerade geht. Ich besorge Ihnen die Frei gabe. Und wenn ich eine Kompanie Militärpolizei schicken muss, um die Präsidentin festzuhalten. Klar?« »Klar, Sir«, erwiderte der Colonel und fragte sich, wie ernst der General das meinte. »Sir«, meinte Major Ryan, »ich habe die Absicht, mich auf den an deren Straßen zu bewegen und sie unbrauchbar zu machen.« »Sie sprechen von der 19 und der 441?«, fragte der General. »Nachdem die Nachschubgruppen durchgezogen sind?«
»Yes, Sir«, nickte Ryan. »Aber das kann man nicht effektiv machen und sie auf dem Rückweg wieder benutzen.« »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, wie Sie zurückkom men«, sagte Keeton und tippte seinen Computer kurz an. »Die 23 sollte dafür ausreichen. Reißen Sie sie in Stücke. Das ist ein Befehl. Und während Sie dabei sind, sollten Sie sich nach einer Kompanie MetalStorms umsehen. Wir haben den Kontakt mit denen verloren, gleich nachdem wir sie hineingeschickt haben. Falls sie überlebt ha ben, sollten Ihnen die helfen können.« »Äh …«, machte Mitchell. »Ja?«, fragte Keeton. »Haben sie überlebt?« »Könnte man sagen, Sir«, erwiderte der Colonel. »Ihre Türme sind oben an Bun-Bun angekettet.« »Oben … angekettet?«, fragte der General. »Ich nehme an, da steckt eine Story dahinter. Haben Sie sie eingesetzt?« »Nein, Sir. Nicht, weil mein Kanonier nicht gewollt hätte. Und, ja, Sir, da ist eine Story.« »Ich muss das fragen: Wo sind die Chassis?« »Betty Gap, Sir«, antwortete Ryan. »Wir haben exakte Ortsanga ben dafür. Glauben Sie mir, die kommen dort nicht weg.« »Lassen Sie mich raten«, sagte Keeton. »Sie haben sie gesprengt?« »Nein, das nicht«, sagte der Pionier. »Sagen Sie's mir später. Ich ahne, dass es nichts Gutes sein wird. Gentlemen, Sie haben Ihre Befehle. Führen Sie sie aus. Sobald wir das Gap zurückerobert haben und Bun-Bun repariert ist, erwarte ich, dass Sie im Tal vorrücken.« »Yes, Sir«, sagte Mitchell. »General Keeton, over.«
»Madame President«, sagte General Horner, »wir haben jetzt die Si tuation, von der ich gesprochen habe.« Die Präsidentin blickte auf das Bild auf ihrem Monitor und schüt telte den Kopf; falls die Übertragung nicht stark gestört war, war das Gesicht des Offiziers grau. »General, sind Sie okay?« »Ja, Ma'am, das schon«, erwiderte Horner. »Aber die Überreste der Truppen von Rabun Gap sind das nicht. Die Posleen haben Balsam Gap im Handstreich genommen und sie abgeschnitten. Unser einzi ges noch verbliebenes SheVa befindet sich neben anderen Verbän den und deren Gerät im Kessel. Die meisten von ihnen könnten es schaffen, auf Sekundärrouten den Kessel zu verlassen, vorausge setzt, die Posleen nehmen diese Stellungen nicht ebenfalls ein, aber wir brauchen Balsam Gap, um wieder Truppen ins Tal bringen zu können.« »Sie wollen dort ebenfalls Atomwaffen einsetzen«, sagte sie. »Ja, Ma'am, das will ich«, erwiderte Horner. »Außerdem möchte ich die volle taktische Freigabe für den Rest dieses Feldzugs.« »Damit Sie den Beschuss leiten können?«, fragte sie bitter. »Nein, Ma'am«, antwortete er mit einem Lächeln wie ein Tiger. »Ich habe vor, das einem Colonel zu übergeben.«
»Jetzt würde ich mir wünschen, dass unsere MetalStorms ange schlossen wären«, sagte Captain Chan. »Das wird verdammt blutig werden.« Das SheVa schwankte hin und her, als es sich das Scotts-Creek-Tal hinaufarbeitete, das mehr oder weniger parallel zum Highway 23 verlief. Das Tal war ein verschlungener Komplex aus kleinen Hü geln und Senken, das an einen Hinderniskurs für ein SheVa erinner te; Reeves hatte in den letzten beiden Stunden zweimal kehrtma chen und eine neue Route ausarbeiten müssen. Aber das unebene Terrain, das das Vorwärtskommen des SheVa behinderte, sollte
auch den eingeschlossenen menschlichen Verbänden helfen, ihre Stellungen zu verteidigen. »Und eng wird es auch werden«, meinte Pruitt über das Inter komm. »Wenn auch hoffentlich nicht zu eng; meine Nukes sind gut gebaut, nämlich 100 kt. Im Vergleich dazu waren die Explosionen in den Bergen bloß kleine Streicheleinheiten.« »Ach was, das waren Streicheleinheiten«, schnaubte Chan. »Wir haben die ja erst nachher bemerkt.« »Na ja, zu der Zeit haben Sie geschossen, Ma'am«, mischte Kitteket sich ein. »Sie können's mir glauben, wenn man nicht gerade in ei nem Wolf sitzt, dann wirken sie nicht wie Streicheleinheiten. Okay, ich habe jetzt sämtliche Einheiten und ihre Funkcodes zusammenge schaltet. Das Mechanikerteam ist zu seinem Treffpunkt unterwegs. Und ich habe auch neue Nachrichten über das Reparaturbataillon; die haben nicht nur Reparaturgerät, sondern auch Panzerung zum Aufsetzen.« »Cool«, meinte Pruitt. »Das klingt ja so, als hätten die vor, uns in den Nahkampf zu schicken.« »Das könnten wir jetzt brauchen«, sagte Mitchell unbehaglich. »Die Posleen-Position habe ich auch auf den neuesten Stand ge bracht«, fügte Kitteket hinzu. Plötzlich blühte die Karte auf, die sie alle betrachtet hatten, zeigte neue Daten. Die Gegend rings um Dills boro war von roten Posleen-Markern übersät. »Wir brauchen Nachschub, sonst sind wir am Ende ein schmelzen der Haufen Schlacke«, sagte Reeves. »Es reicht schon ein Plasmatreffer an den Ketten, und wir sind im Eimer«, gab Indy zu bedenken. »Na schön, dann müssen wir eben in Deckung bleiben«, erklärte Pruitt. »Das ist ja hier gar nicht so schwierig.« »Wo kommen die Daten denn her, Kitteket?«, wollte Colonel Mit chell wissen.
»Auf den Hügeln sind immer noch Scouts«, erklärte sie und mar kierte einige Positionen der Scouts. »Diese Positionen sind Vermu tungen; logischerweise sagen uns die nicht genau, wo sie sind. Aber sie haben Positionsmeldungen abgegeben. Mit der Hauptgruppe sind nicht alle Leute vom Nachrichtendienst mitgezogen; ein kleines Team ist bei den Angreifern und analysiert. Und von denen habe ich meine Daten.« »Ich wünschte, wir könnten bei dem Angriff mitmachen«, sagte Pruitt. »Wir passen da nicht rein«, widersprach Reeves. »Und wir haben keine Waffen für den direkten Angriff; das wäre genauso, als würde man Artillerie mitnehmen.« »Ich glaube, ich weiß jetzt, wie man die MetalStorms ankoppelt«, sagte Indy. »Tatsächlich?«, fragte Chan über das Interkomm. »Direkt oder ferngesteuert?« »Sie müssten drin bleiben«, sagte Indy. »Aber ich habe mir die CD mit ihrem Handbuch angesehen. Wir haben die gesamte Turmanla ge einschließlich der Steuermotoren mitgenommen. Wir brauchen bloß eine Aufnahme – und das könnte ein beliebiges, kreisförmiges Stück Stahl sein – und Energie. Ich denke, wenn die Reparaturtrup pe Schneidbrenner hat, und das sollte der Fall sein, könnten wir sie in den Turm reinsetzen. Dazu wäre einige Verstärkung nötig, aber wir werden sehen, was die Leute vom Reparaturbataillon dazu zu sagen haben.« »Na ja, die sollten zumindest unsere Teile bergen können«, seufzte Chan. »Ich weiß nicht, was wir nachher machen werden.« »Wie ich schon sagte, Ma'am, wir werden sehen«, erwiderte der Warrant. »Sir, ich glaube, näher komme ich nicht ran«, meinte Reeves. »Zu mindest nicht, wenn der Winkel noch zum Schießen ausreichen soll.« Er manövrierte das Geschütz vorsichtig nach rückwärts und zwängte es in einen Graben. Die Senke am Rand von Wulits Hill –
bis das SheVa durchgekommen war, hatte es hier eine kleine Ge meinde dieses Namens gegeben – öffnete sich mehr oder weniger in Richtung auf den Pass. »Pruitt?«, fragte Colonel Mitchell. »Ich denke, von hier aus passt der Winkel, Sir«, sagte der Kano nier. »Auf Bodenniveau detoniert es nicht.« »Das habe ich zu fragen vergessen«, fuhr der Colonel fort. »Ken nen Sie die Protokolle dafür, wie man eines dieser Dinger abfeuert?« »Yes, Sir«, antwortete Pruitt. »Ich habe darüber gelesen, als ich die Position übernahm, und habe mir diesen Abschnitt gerade noch ein mal angesehen. Das läuft alles ziemlich automatisch. Aber ich brau che Ihre Codes für die Freigabe.« »Oh, oh«, machte Kitteket und sah zu dem Empfänger hinüber. »Da kommen Codes rein.« »Das geht ziemlich langsam«, erwiderte sie. »Aber die erste Grup pe ist jetzt da. Der Freigabetyp. Drei, eins, fünf.« »Drei, eins, fünf«, wiederholte Mitchell und tippte den Befehl in seine Station ein. »Das besagt, dass es sich um einen ROE-Wechsel handelt …« »ROE?«, fragte Pruitt. »Rules of Engagement – Regeln für Kampf handlungen? Aber das ist …« »Oman Gottl« »Haben wir da soeben eine komplette Einsatzänderung auf Nukle ar Aktiv bekommen?«, fragte Pruitt vorsichtig. Der Colonel war aschfahl geworden. »Yeah«, krächzte Mitchell und räusperte sich dann. »Wir sind für nukleare Freigabe klar, unbeschränktes Feuerniveau, unbeschränkte Ziele, ausschließlich nach meinem Ermessen.« »Oh mein Gott«, flüsterte Kitteket, ohne zu merken, dass sie sich wiederholte. »Na ja, Sir«, sagte Pruitt leise. »Das Erste wäre dann, Balsam Gap freizuschießen, finden Sie nicht auch?«
»Okay«, sagte der Colonel und atmete tief durch. Er nahm einen Schlüssel von der Halskette, an der er seine Erkennungsmarke trug, öffnete damit den Safe über seinem Kopf, nahm ein Handbuch her aus und blätterte auf die letzte Seite. »Ich brauche verbale Bestäti gung. Ich habe die Freigabecodes. Stimmen alle zu? Schmoo?« »Ja.« »Pruitt?« »Ja.« »Indy?« »Ja.« »Was ist mit mir?«, wollte Kitteket wissen. »Sie gehören nicht offiziell zur Mannschaft«, erklärte der Colonel. »Aber ich brauche den zweiten Satz Codes, den Sie erhalten haben.« Er zog ein in Plastik eingeschweißtes Päckchen aus der Klappe hinten im Buch und riss die Perforation auf. Das Päckchen enthielt eine rote Plastikkarte, etwa so groß wie eine Kreditkarte. Er schlug den zugehörigen Abschnitt des Handbuchs auf, nahm die Codes von Kitteket entgegen und stellte unter Benützung der Ziffern und Buchstaben auf der Karte die korrekten Codes fest, die er eingeben musste. Das Programm wurde als »Positive Aktionssperren« bezeichnet. Um einen atomaren Vernichtungsschlag führen zu können, wurden Codes des Präsidenten benötigt. Anschließend wurden die präsiden tiellen Codes dann allerdings durch einen »Filter« im eigentlichen System geschleust. Eine langwierige und komplizierte Prozedur, aber wenn es um den Einsatz von Kernwaffen ging, war das nur vernünftig. Er tippte die endgültige Sequenz in einen Kasten, der über seinem Kopf befestigt war, ein und wartete, bis ihm das System den »Go«-Code lieferte. Normalerweise war das eine grüne Ziffer. In diesem Fall allerdings war es ein kleines Symbol, das Zeichen für Unendlich – bei dem sich ihm der Magen umdrehte. Er versuchte es
zu ignorieren und tippte »Eins« als Zahl der freizugebenden Ge schosse ein. »Das ist mein Code. Warrant Indy?« Indy durchlief dieselbe Prozedur, zog ihrerseits ihr Handbuch her aus und tippte die übersetzten Codes ein. Pruitts Gesichtsausdruck wirkte zum ersten Mal, seit irgend je mand in der Crew ihn kannte, nachdenklich. »Ich habe Grün für einen Schuss Vernichtungsflächenfeuer.« »In Ordnung«, sagte Colonel Mitchell. »Ich möchte einen optima len Höhenkrepierer exakt über dem Balsam-Pass.« »Wir sind bereit, Nuklearwarnung zu senden«, sagte Kitteket. Pruitt drehte sich um und klappte eine neue Schalttafel heraus, wobei er denselben Schlüssel dazu benutzte, um eine rote, halb durchsichtige Abdeckung zunächst aufzuschließen und dann hoch zuklappen. Er strich kurz mit den Fingern darüber und projizierte dann eine Karte der Umgebung, tippte Balsam Gap als Ziel an. Er vergewisserte sich, dass die UTM-Koordinaten stimmten, tippte dann Höhenkrepierer ein und überließ es dem System, die optimale Höhe zu berechnen. Schließlich blitzte die Bestätigung aus dem Sys tem. »Wir sind bereit, Sir«, sagte Pruitt. »Koordinaten eingestellt. Er laubnis zu laden?« Mitchell überprüfte die ihm vorliegenden Informationen und nick te dann. »Laden.« Ein paar dumpfe Laute waren zu hören, als das SheVa das AntiLander-Geschoss auswarf, das im Rohr war, und an seiner Stelle das Explosivgeschoss lud. »BEREIT.« »Kitteket, Atomwarnung senden.«
38 In der Nähe von Balsam Gap, North Carolina, Sol III 1937 EDT, 27. September 2014
Sergeant Buckley war zu dem Schluss gelangt, dass es Schlimmeres gab, als in einem Anzug zu stecken. Nachdem er elektrokutiert worden war, war er mitten im Angriff der Posleen im Lazarett aufgewacht. Herauszukommen, Kleidung, Waffen und Transportmittel zu finden war in hohem Maße span nend gewesen. Und dann, als er seine lange Reise gerade angetreten hatte, hatte ein SheVa-Geschoss in weniger als zweitausend Meter Entfernung einen Posleen-Lamprey erledigt. Die gute Nachricht war, dass der Lander nicht explodierte. Die schlechte, dass er in einen Aufbereitungsteich für Abwässer stürzte. Ehe Buckley sich versah, hatte sich der Inhalt des Teichs über eine weite Fläche verteilt, die sich zweifellos in Zukunft als äußerst fruchtbar erweisen würde. Ein Stück Land, durch das er gerade mit seinem Humvee unterwegs war. Er hatte überlebt, aber es war keine besonders angenehme Erfah rung gewesen. Und unglücklicherweise explodierte der nächste Lamprey, den das SheVa vom Himmel holte, ziemlich spektakulär. Als Buckley wieder klar denken konnte, stellte er fest, dass er im Little Tennessee River lag. Wie er dorthin gekommen war, war ihm ein Rätsel, bis er seinen Humvee umgekippt auf den Überresten ei
nes Baumes liegen sah. Aber sauberer war er jetzt. An den Rest sei nes Rückzugs konnte er sich nur bruchstückhaft erinnern. Einmal überholten ihn die Posleen sogar, aber er schaffte es, sich von einem Fünftonner mitnehmen zu lassen, der sich an ihnen vorbei nach Os ten schlängelte. Dann, in Dillsboro, hatte man sie alle ausgeladen und in Grüppchen aufgeteilt. Formal betrachtet war er vermutlich immer noch Patient, aber er sträubte sich nicht, als man ihm ein Gewehr in die Hand drückte. Sie hatten ihm sogar eine »Gruppe« zugeteilt. Alle acht Soldaten kamen aus dem Verwaltungsdienst, hatten aber eine Infanterieausbildung durchgemacht. Das funktionierte so, dass irgendein Schreibtisch hengst sie nach der Infanterieausbildung geschnappt hatte und Pa pierkrieg führen ließ, statt sie ein Gewehr tragen zu lassen. Die Ty pen waren also als Infanteristen ausgebildet, aber bloß einer von ih nen hatte je Frontdienst geleistet. Buckley und der eine Mann mit Infanterieerfahrung vergewisser ten sich, dass die anderen alle wussten, wie man eine Waffe lud und abfeuerte. Dann organisierte er etwas Verpflegung und anschlie ßend saßen sie herum und warteten darauf, dass jemand den Dau men aus dem Hintern nahm. Beeilt euch und wartet dann, war ja im Prinzip gar nicht so übel, aber die Posleen waren gar nicht so weit hinter ihnen; und wenn derjenige, der für dieses Chaos hier verant wortlich war – anscheinend ein Captain, und das war wirklich ver rückt, denn in seiner unmittelbaren Umgebung hockte mindestens eine Brigade mit ihrem Gerät herum –, sich nicht bald in Bewegung setzte, würden die Posleen sie einfach überrennen. Dann verbreitete sich das Gerücht, dass der Ausgang aus dem Kessel abgesperrt war. Irgendwie schaffte Buckley es, mit seinen Leuten die entstehende Unruhe in den Griff zu bekommen, aber dann stellte sich heraus, dass es sich nicht nur um ein Gerücht ge handelt hatte; die Posleen hatten ihnen tatsächlich den Weg nach draußen abgeschnitten.
Des Weiteren erfuhr er, dass der größte Teil der im Kessel befindli chen Soldaten mit ihrem Gerät auf zwei Alternativrouten nach drau ßen gelangen sollte. Großartig. Er hatte nichts gegen das Kämpfen, schließlich hatte er die letzten zehn Jahre nicht viel anderes getan, aber für den Fall, dass alles schief ging, war es doch hilfreich, wenn man den Weg nach draußen kannte. Etwas später stellte sich dann heraus, dass »der größte Teil« die »kampffähigen« Einheiten nicht einschloss. Und kurz darauf fanden er und seine Gruppe sich hinten auf ei nem Bradley, der zu dem Pass unterwegs war, den die Posleen ein genommen hatten. Nun war Buckley alles andere als ein Feigling, aber er hatte einen Blick auf die Karte geworfen und war zu dem Schluss gelangt, dass es mit so jämmerlich wenig Leuten Selbstmord war, jenen Pass ein nehmen zu wollen. Am Ende kam es zu einer Besprechung, wo der Lieutenant, der die Bradleys befehligte, alle Gruppenführer zusammenrief und ihnen den Plan darlegte, nach dem sie vorgehen sollten. Das SheVa-Ge schütz, wahrscheinlich dasselbe, das den Lamprey erledigt hatte, dem er sein unfreiwilliges Bad zu verdanken hatte, würde ein Nuke auf den Pass abfeuern. Anschließend würden sie ihn stürmen und etwaige Überlebende erledigen. »Es wird ganz einfach sein«, schloss der Lieutenant seine Ausfüh rungen. »Die Posties werden nach dem Nuke alle Toasties sein. Wir brauchen den Pass bloß zu sichern, bis die Brigade auf der anderen Seite die Straße heraufgekommen ist.« Sergeant Buckley hatte sich schon bei der Army herumgetrieben, als noch keiner etwas von Posleen gehört hatte, und wusste, wenn jemand log. Der Satz »Die Zahlung ist unterwegs« ist nichts vergli chen mit »Trucks stehen in der Absprungzone bereit«, aber das schlimmste militärische Klischee, das es überhaupt gibt, musste sein: »Die Artillerie wird sie platt drücken, und wir brauchen dann bloß mehr reinzugehen und neue Linien zu ziehen«.
Buckley blickte auf, als das Funkgerät in dem Bradley zu tönen be gann. »ATOMWARNUNG. ATOMWARNUNG. ZIELKOORDINATEN: UTM 17 311384E 392292N. 100 KILOTONNEN. DREISSIG SEKUN DEN!« Man konnte sich einfach darauf verlassen, dass alles schlechter wurde. »FÜNFZEHNSEKUNDEN. ZEHN …« Sie würden alle sterben.
Pruitt atmete ein. »Initiieren«, sagte er dann. Zwischen den Nukes für Vernichtungsflächenfeuer und den AntiLander-Penetrators gab es sowohl Ähnlichkeiten wie auch Unter schiede. Da das SheVa nach wie vor ein Glattrohrgeschütz war und die Geschosse demzufolge flossenstabilisiert sein mussten, warfen sie ihre Treibkäfige ab. Aber sie hatten einen größeren Querschnitt als die Penetrators und flogen mit geringerer Geschwindigkeit. Und last not least waren sie, weil sie ja keine Panzerung zu durchdringen brauchten, aus einfachem Karbonstahl gemacht. Da das Metall, aus dem sie bestanden, als feiner Staub verteilt werden würde, war es besser, ein Material zu benutzen, das der menschliche Körper in sei nem Stoffwechsel verarbeiten konnte. Das Geschoss jagte in einem Feuerstrom aus dem Rohr, warf sei nen Treibkäfig ab und raste zum Balsam Gap.
Die Waffe detonierte 2.740 Meter über Meereshöhe, 600 Meter über und etwa 350 Meter nordöstlich des Passes. Es heißt, dass der Be griff »nah« nur bei Handgranaten und Wasserstoffbomben zählt, aber in diesem Fall zählte »nah« nicht ganz. Der Feuerball dehnte sich über den Stellungen der Posleen aus, verschlang die Bäume bei
derseits und schabte die scharfen Wände des Passes aus, insbeson dere auf der Ostseite. Auf der Nordseite des Passes wurde der sich ausdehnende Feuerball freilich von dem Vorsprung des Balsam Mountain teilweise abgeblockt und somit abgelenkt. Der Blue Ridge Parkway überquerte die US 23 bei Balsam Gap. Die Überführung war ein massiver Bau, und die Posleen hatten einen großen Teil ihrer Verteidigungsstellungen unter der Straßen brücke gebaut, damit diese sie zusätzlich vor dem erwarteten Artil leriebeschuss schützen sollte. Der Antimaterie-Sprengstoff war nun zwar sehr stark, war aber als »Personenkiller« und nicht als »Bau werkkiller« angelegt, und deshalb riss die Druckfront, die das Bau werk erfasste, zwar den südlichen Bogen ein, aber der nördliche Bo gen blieb stehen. Außerdem wurden die unter der Brücke befindlichen Posleen vor der thermischen Welle und zumindest einem Teil der Strahlung ge schützt. Die Folge war, dass der atomare Feuerball zwar die Mehr zahl der Oolt'ondai hinwegfegte, aber ein kleiner, äußerst wütender Rest übrig blieb. Sergeant Buckley packte sein Gewehr fester, als der Bradley mit Höchsttempo auf den Pass zusteuerte. Seine »Gruppe« war ihm praktisch fremd, und er wusste sehr wohl, dass Menschen vorzugs weise für die Leute in ihrem »Stamm« kämpften. Wenn sie ihr Ziel erreichten, war daher mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die meisten dieser Typen in Deckung gehen oder vielleicht auch davonrennen würden. Und das bedeutete, dass es auf ihn ankam, sie zum Kämpfen zu bringen. Er hatte sich das nie gewünscht, aber die Streifen an seiner Schulter bedeuteten, dass er die Verantwortung trug. Und dieser Verantwortung würde er sich weiß Gott stellen. Er sah durch die schmale Luke an seiner Seite hinaus und warf dann einen Blick auf die Karte. Wahrscheinlich waren sie jetzt höchstens dreihundert Meter von ihrem Ziel entfernt; aus dem Ter rain war das nur schwer zu erkennen, weil das Nuke alles aufgeris
sen hatte. Aber er war sich dennoch ziemlich sicher, dass sie sich auf geradem Weg zum Pass befanden. Buckley zog ein Magazin heraus und fuchtelte damit herum, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen; anschließend schob er es in seine Waffe. Wenn man mit eingeschobenen Magazinen her umfuhr, bedeutete das, dass irgendein Idiot es verriegeln und durchladen würde. Und wenn jemand das tat, war mit tödlicher Si cherheit damit zu rechnen, dass jemand versehentlich schießen wür de. Um das zu verhindern, hatte er die Gruppe vor dem Laden die Magazine herausnehmen lassen. Auf diese Weise würden sie nicht versehentlich, während sie gelangweilt warteten, auf Vollautomatik zu feuern beginnen; er hatte einmal einen Bradley sauber gemacht, als das passiert war, und das war alles andere als hübsch gewesen. Jetzt nahmen sie die umgekehrte Prozedur vor, schoben die Magazi ne ein und zogen die Ladehebel zurück. In der schwachen Beleuch tung ließ er sich von jedem Einzelnen zeigen, dass seine Waffe noch gesichert war, und sah dann in genau dem Augenblick hinaus, als der Bradley einen Plasmaschuss abbekam.
Major Anderson war sich nicht sicher, was er eigentlich tat, als er den Angriff anführte; er war sich ziemlich sicher, dass General Kee ton, wenn der es erfahren hätte, ihn davon abgehalten hätte. Aber er war schließlich nicht in die Army eingetreten, um T-1 -Kabel zu ver legen; dass man ihn zu einer Fernmeldeeinheit versetzt hatte, war ein reiner Zufall. Jetzt hatte er die Chance, über die die meisten Offiziere bloß nach denken können: Patton hatte sie einmal als »die Gelegenheit, eine Menge Männer in eine verzweifelte Schlacht zu führen« bezeichnet. Wahrscheinlich würde es die einzige Chance sein, die er bekam, und darüber hinaus war er so ziemlich der einzige Offizier, den die meis ten in der Gruppe kannten. Und so kam es, dass diesmal ein Fern meldeoffizier allen anderen voranging.
Das Problem war nur, dass er das letzte Mal, als er darüber nach gedacht hatte, wie man so etwas machte, noch bei der Reserve gewe sen war. Er hatte der Panzereinheit dann den Befehl gegeben, durch die Zielposition zu fahren und anschließend zu wenden, während die Bradleys, die unmittelbar dahinter folgten, im Ziel anhielten und ihre Truppen absetzten. Jetzt war freilich offenkundig, dass ein Teil der Blue-Ridge-Über führung stehen geblieben war. Und einige Posleen in der Zielpositi on waren noch am Leben. Das konnte der erste M-1, der hinauffuhr, bezeugen. Darüber hinaus waren die Posleen, die noch am Leben waren, durch die Überführung vor Artilleriebeschuss geschützt. Im Grunde genommen war dieser Artilleriebeschuss daher nutzlos. Wenn er damit gerechnet hätte, auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, hätte er die Artillerie Nebelgranaten feuern lassen, etwas, womit die Posleen im Allgemeinen nicht sonderlich gut zurechtka men. Aber man war davon ausgegangen, dass ein Nuke alles erledi gen würde. Falsch. Und bis sie den Beschuss änderten, würde der Angriff Erfolg gehabt haben oder gescheitert sein; als sie die letzte Kurve passierten und unter Beschuss gerieten, hatten sie keine vier hundert Meter mehr vor sich. Er traf sofort seine Entscheidung; die anderen Panzer nützten ih rem Einsatz gar nichts, nur die Bradleys. Es galt, die Infanterie schleunigst ins Zielgebiet zu bringen. »Panzerteam einnebeln und durch Zielposition fahren. Infanterie absteigen und vorrücken.« Er bückte sich und trat durch die Truppentür, tat das in exakt dem Augenblick, als das HV-Geschoss die Frontwanne seines Bradley traf.
Buckley schwankte vor und zurück, als der Bradley kreischend zum Stillstand kam, und rollte dann nach hinten, als die Truppentür auf
ging und das rote Licht der untergehenden Sonne ins Innere des Fahrzeugs fiel. »Kommt schon, ihr Affen! Wollt ihr ewig leben?« Er sprang nach draußen und ging auf die Knie, als er am Türrahmen hängen blieb. Als er wieder aufstand und sich umdrehte, konnte er sehen, dass der Rest seiner Truppe wie erstarrt drinnen wartete. »Okay!«, brüllte er. »Ihr steckt in der größten Zielscheibe, die es hier gibt!« Er warf sich mit einem Satz auf den Mittelstreifen und ließ sich hinunterrollen. Die gute Nachricht war, dass jetzt sämtliche Plasmaund Railgun-Schüsse über ihn hinwegpfiffen. Die schlechte Nach richt war, dass er deshalb nicht aufstehen konnte. Einen Augenblick später folgte ihm einer der Privates aus seiner Gruppe in den Graben, landete auf ihm und trieb ihm den Atem aus der Lunge. »Vielleicht wollen Sie mir vom Rücken steigen, Private?«, knurrte er. Der Private murmelte eine Entschuldigung und ließ sich seitlich herunterrollen, als ein zweites Mitglied seiner Gruppe in den Gra ben gerollt kam. Aber gleich darauf fing sich ihr Bradley, der sich gerade wieder in Bewegung gesetzt hatte, ein HVM ein. Buckley schüttelte den Kopf, um wieder hören zu können, und sah sich um. Die Panzer hatten sich offenbar eingenebelt und Kurs auf den Pass genommen, aber keiner von ihnen hatte es geschafft. Es waren vier gewesen. Einer brannte hinter ihm auf dem Mittelstrei fen. Die drei anderen waren über die Front verstreut, der der Zielpo sition am nächsten stehende, keine hundert Meter davon entfernt. Er hatte einen katastrophalen Treffer abbekommen, und der Turm lag fünfzehn Meter entfernt auf dem Boden, wo er sich tief eingegraben hatte. Er hatte zwei Privates bei sich, und das war alles. Er konnte vorne und rechts hören, wie jemand auf die Posleen im Pass feuerte, aber wer es war, konnte er nicht erkennen. Das Einzige, was er über
haupt sehen konnte, war eine Überführung, die offensichtlich die Posleen vor Artilleriebeschuss schützte. Oh, und einen K-Dek. Und der stieg gerade links von der Kreuzung auf. Freude. »Aber immerhin stecke ich nicht in einem Anzug!«, knurrte er.
Besonora tippte den jüngeren Kessentai an der Schulter an, als der Oolt'poslenar taumelnd aufstieg. »Versuche, tief zu bleiben; wir müssen dieses Geschütz finden und vernichten, sonst ist alles verlo ren.« »Ich werde es versuchen, Oolt'ondai«, antwortete der Kessentai. »Aber ich bin sehr wenig geflogen.« »Tue dein Bestes.« Der Oolt'ondai verließ die Kommandobrücke und arbeitete sich mühsam zu den äußeren Bereichen vor. Er war keiner von denen, die die von den Alldn't entwickelten Schwerkraftspiralrampen ver fluchten, welche die Hauptverbindung zwischen den einzelnen Be reichen darstellten; eines Tages würden die Posleen imstande sein, Alldn't-Gerät nicht nur zu kopieren, sondern zu modifizieren. Bis dahin mussten sie mit ihm vorlieb nehmen, so, wie es war. Zu den Dingen, die sich ändern mussten, wenn es nach ihm ging, war die Tatsache, dass die Dinge allem Anschein völlig willkürlich im Schiff verteilt waren. Auf die Weise waren die Personalquadran ten überall im Schiff verteilt. Der Abschnitt mit dem letzten »Reakti ons«-Oolt beispielsweise befand sich im oberen »Westquadranten«, was äußerst unvernünftig war, da sie anschließend zum unteren »Nordquadranten« mussten, um das Schiff zu verlassen. Er begrüßte den Kessentai des Oolt und erteilte ihm seine Anwei sungen. Sobald sie gelandet waren, sollte er aussteigen, um den Ool t'poslenar herumgehen, das Geschütz angreifen und seine Fähigkeit
zu weiterem Beschuss zerstören, mit anderen Worten, auf das Rohr zielen. Nachdem er alle ihm möglichen Vorbereitungen getroffen hatte, wies er den Kessentai an, den mühsamen Marsch zum Ausgang an zutreten, und eilte seinerseits zur Brücke zurück. Während er unter wegs war, ertönte im ganzen Schiff Alarm.
»Sir!«, sagte Pruitt. »Ich habe Anti-Grav-Strahlungen.« »Sir«, rief Kitteket dazwischen. »Ich hab gerade Mitteilung von ei nem der Scouts bekommen; ein K-Dek ist gestartet und zu uns un terwegs!« »Wo?«, fragten Mitchell und Pruitt gleichzeitig. »Das weiß er im Augenblick noch nicht genau, Sir«, antwortete der weibliche Specialist. »Er sagt, er hält sich tief, und deshalb hat er ihn zwischen den Hügeln verloren. Der Scout ist oben auf dem Rocky Face und sagt, er habe ihn gerade ganz kurz am Joe Mountain gese hen.« »Hab keine Richtung, Sir«, sagte Pruitt. »Ich habe Penetrators gela den. Und bin mehr oder weniger auf Vektor«, fügte er nach einem Blick auf die Landkarte hinzu. »Das Geschütz eine Idee höher richten«, sagte Mitchell. »Captain Chan, hören Sie?« »Ich bin hier«, erwiderte die MetalStorm-Kommandantin. »Das könnte sich zu einem Handgemenge entwickeln«, sagte Mit chell. »Sind Sie gut angekettet?« »Nicht gut genug, um zu schießen«, antwortete Captain Chan. »Selbst dann nicht, wenn wir Energie hätten. Was nicht der Fall ist. Und was Sekundäreffekte angeht … da werden wir sehen müssen.« »Wollen Sie Ihre Türme verlassen?«, fragte Mitchell.
»Nein«, erwiderte Captain Chan nach kurzer Überlegung. »Hier drinnen kennen wir uns wenigstens aus.« »Sir, Strahlungen sind stark«, sagte Pruitt. »Ich habe das Gefühl, die sind ganz nahe.«
»Das Feuer kam von irgendwo hier, Oolt'ondai«, meinte der Pilot. Er tippte leicht ans Steuer, um sicherzustellen, dass das Schiff nicht ge gen die Bergflanke prallte. »Sollten wir das Oolt aussteigen lassen?« Besonora betrachtete das Bild auf der Außenkamera; die Bergflan ke war steil und mit Bäumen bewachsen. Sie rauszulassen würde es notwendig machen, ein Stück zurückzufliegen. Aber die Karte zeig te vor ihnen eine freie Fläche; sie konnten sie ebenso gut dort abset zen. »Nein, du folgst der Straße um diesen Höhenzug herum und setzt sie dort ab«, sagte er und zeigte dem Kessentai die Karte. »In der Biegung dieses Flusses, wo ›Scott‹ steht.«
39 In der Nähe von Balsam Gap, North Carolina, Sol III 1952 EDT, 27. September 2014
For heathen heart that puts her trust In recking tube and iron shard, All valiant dust that builds on dust, And guarding, calls not Thee to guard, For frantic boast and foolish word – Thy Mercy on thy People, Lord! »Recessional« – Rudyard Kipling, 1897 Für Heidenherz, das nur vertraut Auf stinkendes Rohr und Eisenscherben, Nur tapferer Staub, der auf Staub baut, Der hütet, ohne deine Hut zu erbitten, Für irres Prahlen und Wahnreden – Sei Deinem Volke gnädig, Herr! »Schlusschoral«
Captain Chan hatte trotz der Gefahr alle ihre Panzerkommandanten angewiesen, den Kopf aus der Luke zu strecken; im Fall der Fälle konnten sie sich so immer noch den besten und schnellsten Über blick verschaffen. Und jedem von ihnen war ein bestimmter Ab schnitt zur Beobachtung zugeteilt worden. Der Zufall wollte es, dass Captain Chan die Erste war, die den sich langsam bewegenden K-Dek sichtete. Und als sie sah, wo er war, fluchte sie inbrünstig. »ZIEL K-DEK, ZWO DREISSIG, EBEN, DREIHUNDERT METER. Alle Kommandanten! Luken schließen!«
»Oh Scheiße, oh Scheiße, oh Scheiße«, schimpfte Pruitt, schwenkte hastig die Kanone nach unten und ließ sie dann kreisen. »Feuer frei bei Zielerfassung«, sagte Major Mitchell ruhig. »Wir sind unter dreihundert Meter, Sir«, wandte Kitteket ein. »Ist mir klar«, erwiderte der Major. »Ich kann's nicht ändern.« »Ist mir auch klar, Sir«, erwiderte der Specialist. »Aber Sie wissen, dass diese Geschosse eine minimale Zünddistanz haben, ja?«
»Runtergehen! Runtergehen!«, brüllte Besonora. »Tu ich doch!«, sagte der Pilot. »Aber da ist nirgends eine ebene Stelle.« »Fuscirto uut auf ebene Stelle!«, schimpfte der Oolt'ondai. »Ich will das Oolt schleunigst auf dem Boden haben!« »Alle Geschütze Feuer frei!«
Elf »Facetten« der zwölfflächigen K-Deks waren mit Waffen verse hen. Im Gegensatz zu den Lampreys, die nur eine Seite mit Waffen
für den Einsatz gegen Schiffe hatten, waren die Kommando-Dode kaeder mit einer Mischung schwerer und »leichter« Waffen ausge rüstet. In diesem Fall war die auf Bun-Bun gerichtete Facette mit einem Plasma-Vierling ausgestattet. »Das gibt eine ganz große Scheiße!«, schrie Reeves, duckte sich und steckte sich die Finger in die Ohren, als das Geschütz sich schließlich auf den K-Dek richtete.
Das erste Plasmageschoss drang ganz unten in das Geschützsystem ein, durchschlug ein Rad und die Schottenwand des Maschinen raums. Plasmageschosse trafen mit ungeheurer Energie auf, verfüg ten aber, vergleichbar Kugeln, die beim Auftreffen auf eine Wand auseinander platzen, nicht über besonders hohe »Durchschlagskraft«. In diesem Fall drang das Plasma in den Ma schinenraum ein, steigerte die dort herrschende Temperatur erheb lich, richtete aber sonst keinen Schaden an. Der zweite Schuss hatte etwa dieselbe Wirkung, kam seitlich auf und riss ein Stück der Kette weg. Das SheVa war jetzt praktisch bewegungsunfähig, aber in der augenblicklichen Situation kam es ohnehin nicht auf Manövrierfä higkeit an. Der dritte Plasmaschuss traf das Oberdeck des Maschinensystems und ließ fünf Meter Stahl zerkochen. Der vierte verfehlte sein Ziel völlig. Dann war Bun-Bun an der Reihe.
»ZIEL!« »FEUER!« »ABGEGANGEN!«
Bis Pruitt »ab« gesagt hatte, hatte das Geschoss den K-Dek bereits ein kleines Stück rechts von der Mitte getroffen. Das Geschoss durchschlug die äußere Panzerung, und die Teile, die nicht bereits in Plasma und gasförmiges Uran umgewandelt worden waren, krachten ins Innere und brachen dort auseinander. Das war der Punkt, wo die Antimaterie-Ladung der meisten Ge schosse detoniert wäre. Aber wie Kitteket zu bedenken gegeben hat te, betrug die minimale Zünddistanz sechshundert Meter. So zer platzte stattdessen etwa auf halbem Weg durch das Schiff die Ein dämmung. Von außen sah das einer Antimaterie-Explosion sehr ähnlich, aber in Wirklichkeit war das Ganze ein sehr schnelles Blitz feuer.
»Hooowah!«, brüllte Pruitt erleichtert. Keine gewaltige Explosion, bloß Unmengen Plasma, das aus allen Öffnungen spritzte. Einiges davon spülte über das SheVa weg, aber bis es dort eintraf, war es kaum noch viel mehr als eine Flammenwand; Bun-Bun konnte das mit einem Achselzucken abtun. »Der Hase schlägt wieder zu!« »Captain Chan, noch da?«, rief Mitchell. »Allerdings«, antwortete die MetalStorm-Kommandantin. »Habt ihr schon geschossen?« »Sir«, sagte Kitteket, »die Einheit am Pass ist beinahe erledigt. Ich habe den Kontakt mit Major Anderson verloren, aber sämtliche Sen der, mit Ausnahme eines einzigen, sind ausgefallen, und das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass immer noch Posleen auf dem Pass sind. Einige Späher von der Miliz sagen, dass sie dort Rauchsäulen sehen und etwas, das wie Sekundärexplosionen aussieht.« »Oh«, sagte Colonel Mitchell. »Versuchen Sie weiterhin Kontakt mit ihnen zu bekommen. Und dann sehen Sie zu, dass Sie die Ein heit bei Asheville erwischen; vielleicht können die helfen.«
»Yes, Sir. Ein paar von den Milizspähern sind schon zum Pass un terwegs, um vielleicht auszuhelfen.« »Gut«, sagte Mitchell und ersparte sich, noch hinzuzufügen, nicht dass es viel nützen wird. »Hat jemand Indy gesehen? Oder kann mir jemand einen Schadensbericht liefern?« »Wir stecken fest, Sir«, erwiderte der weibliche Warrant Officer und kletterte durch die Luke. Ihr Gesicht war mit Ruß verschmiert, sie schien aber nicht verletzt zu sein. »Wir haben volle Kettentren nung auf der rechten Seite und wahrscheinlich größere Schäden im Antriebsstrang; an der Seite, wo vorher ein Antriebsrad war, ist jetzt ein riesiges Loch. Ich denke, dass wir auch einen Treffer an einer der Stützstreben abbekommen haben. Aber wie es aussieht, haben wir diesmal alle Motoren behalten.« »Oh«, sagte Mitchell erneut. »Das klingt ja richtig gut.« »So kann man es auch ausdrücken«, meinte Pruitt mit einem irren Grinsen, »wir sind bewegungsunfähig, umzingelt und die einzigen Truppen weit und breit, die Typen, die normalerweise die Million Posleen aufhalten sollten, die durch das Tal auf uns zurücken, ver suchen, die Posleen aus dem Pass zu treiben und werden dabei nie dergemacht?« »Ja, so könnte man das zusammenfassen«, nickte Major Mitchell. »Großer Gott, ich denke, das stimmt«, nickte Kitteket. »Saubere Zusammenfassung«, lobte Reeves. »Ich versuche bloß, mich klar auszudrücken«, antwortete Pruitt. »Und ich möchte bloß wissen, warum ich dauernd ›Wir sind im Arsch‹ denken muss?«
Sergeant Buckley erwog sorgfältig die Lage, während er nach vorne blickte. Jetzt, wo das totale Chaos sich gelegt hatte, war deutlich zu erkennen, dass von dem Übergang nicht viel Feuer kam. Er zählte drei Raketenwerfer, zwei schwere Plasmageschütze und ein paar
Railguns, aber nicht viele. Schrotflinten waren offenbar überhaupt keine vertreten. Das bedeutete, dass der Pass von einer der »schweren« Kompani en der Posleen gehalten wurde. Und das bedeutete erfahrene Gott könige und kampferprobte Truppen. Es wurde immer besser. Er sah sich um, aber zu sehen waren nur die beiden Privates und brennende Panzer. Aus dem einen Panzer, mit dem sie gekommen waren, hing eine geschwärzte Leiche, eine weitere lag mitten auf der Straße. Sie war fast in zwei Stücke gerissen, und Buckley erkannte das sichere Anzeichen einer Begegnung der schlimmsten Art mit ei nem Plasmageschoss. Inzwischen hatte er erkannt, welchem Um stand er und die beiden anderen es zu verdanken hatten, dass sie noch am Leben waren; der Panzer, hinter dem der Bradley hergefah ren war, hatte gleich nach Beginn des Plasmabeschusses angefan gen, sich einzunebeln. Das hatte ihnen auf ein paar Sekunden De ckung verschafft und die Posleen daran gehindert, das Fahrzeug so fort aufs Korn zu nehmen. Und das bedeutete, dass diese Idioten im Bradley noch am Leben wären, wenn sie ihm sofort gefolgt wären, statt abzuwarten und herumzureden. Der Preis der Feigheit war unerträglich hoch geworden. »Seht ihr beiden sonst noch jemand?«, fragte er. »Nein«, erwiderte einer der Privates. »Aber ich habe vorher rechts Schüsse gehört.« »Hey!«, brüllte er. »Ist da jemand!« »Hier drüben!«, erwiderte eine Stimme. »Wer ist das?« »Sergeant Buckley«, antwortete der Sergeant, wohl wissend, dass das überhaupt nichts zu bedeuten hatte. »Haben Sie Major Anderson gesehen?« »Nein! Ist jemand bei Ihnen?« »Nein!« »Haben Sie ein Funkgerät?«
»Ja!« »Na prima«, sagte Buckley leise. »Dann bleiben Sie nur hübsch un ten! Sie sind vielleicht die einzige Chance für uns, das lebend zu überstehen! Ist da sonst noch jemand draußen?« Er lauschte einen Augenblick, hörte aber nur irgendwo hinter sich Stöhnen, das Knattern der in den Fahrzeugen explodierenden Muni tion und den Wind, der durch den Pass pfiff. »Ist das alles?«, fragte einer der Privates. »Bloß wir?« »Sieht so aus«, erwiderte Buckley. »Könnte schlimmer sein.« »Wie?« »Wir könnten bei den GKA sein. Hey! Funker! Hast du mit jemand Verbindung?« »Nein!« »Hast du die Frequenz, auf der Major Anderson gefunkt hat?« »Ja!« »Dann schalt auf die!« Er sah sich um, musterte die beiden Priva tes und den Graben. Dieser führte bis auf zwanzig Meter an die Stra ßenbrücke und wurde dann schnell niedriger. Wahrscheinlich konn ten sie alle drei in dem Graben bis auf ein paar Meter an die Stellung der Posleen herankriechen. Er hatte sie bis jetzt noch nicht zu sehen bekommen, aber so, wie es aussah, hatten die Posleen einen Graben quer über die Straße, unter der Hochstraße durch. Und das war klü ger, als er sich das eigentlich von den Gäulen gewünscht hätte. Im Grunde genommen hatten die Posleen das Feuer eingestellt, nur gelegentlich pfiff noch ein Geschoss über ihre Köpfe hinweg. Er war nicht sicher, ob das bewirken sollte, dass sie die Köpfe einzo gen, aber es wirkte sich jedenfalls so aus. Eigentlich sollten sie es schaffen, dachte er nach einiger Überlegung. Sie brauchten bloß ein winziges Quäntchen Glück. Er überlegte noch kurz und flüsterte dann: »Ja, Glück brauchen wir. Bloß ein winziges Quäntchen Glück.«
»Sir, ich habe Verbindung mit einem Überlebenden, oben auf dem Pass«, sagte Kitteket. »Es sind nicht mehr viele von ihnen übrig, der Mann sagt, er wüsste nur von vieren, sich selbst eingeschlossen.« »Ist ja klasse«, sagte der Colonel. »Er sagt, der Sergeant dort oben möchte ein wenig Artillerieunter stützung. Er will eine … ›individuelle Rohranpassung‹. Das ist ein Ausdruck, den ich noch nie gehört habe.« »Durchstellen.« Mitchell wartete, bis er die Trägerfrequenz hörte und antwortete dann: »Infanterie, hier SheVa Neun. Wie wollt ihr denn die Artillerie?« »Hier Lima Sieben-Neun«, erwiderte der Funker. »Sergeant Buck ley sagt, er möchte eine individuelle Rohranpassung unmittelbar vor die Posleen-Stellungen. Damit das klar ist, die Gäule haben sich unter der Brücke eingegraben, und die halbe Brücke steht noch. Des halb trifft sie der Beschuss von oben nicht. Ist das klar, Ende?« »Roger«, rief Mitchell zurück. »Wir geben Ihnen die Frequenz für die Artillerie und hören mit. Was wir hier zur Verfügung haben, würde euch schneller umbringen als die Posleen.« »Einverstanden, eindeutig, Kumpel«, erwiderte der Funker. »Wir wollen keine Nukes, ist das klar?« »Verstanden. Wie viele Posleen sind es denn?« »Unbekannt, wir bekommen schweren Beschuss und müssen die Köpfe einziehen. Aber es sieht nicht nach vielen aus. Ein paar Rail guns und Plasmageschütze, aber die Panzer haben die erledigt. Die sind alle hin.« »Verstanden. Ich übergebe jetzt an den Funkoffizier, sie wird Sie mit der Artillerie verbinden. Schreiben Sie uns, wenn Sie Arbeit für uns haben.« »Roger und Out.« Er wartete, bis Kitteket die Frequenz durchgegeben hatte, und be deutete dann allen, sich wieder der Mitte zuzuwenden.
»Okay, Kitteket, wir haben Kontakt mit ein oder zwei Kollegen von der Infanterie auf dem Pass, der Artillerie und ein paar Milizen. Sonst noch jemand?« »Bis jetzt nicht, Sir«, antwortete sie. »Ich habe keine Frequenzen für die Einheiten auf der anderen Seite, und alle anderen sind außer Reichweite. Ich …« Sie hielt inne, schüttelte den Kopf. »Ich habe da eine Idee, aber ich weiß nicht, ob sie durchführbar ist.« »Und das wäre?« »Das Kontrollsystem für die Nukes«, sagte sie. »Das ist ein ZweiWege-System, das …« »Von den Ionisierungsspuren von Meteoren reflektiert wird«, sag te Mitchell. »Aber damit kann man nur Codegruppen schicken.« »Yes, Sir«, antwortete Kitteket. »Und man kann auch nur jeweils drei Zeichen senden. Aber dafür kann das System jede Kombination von Zeichen senden; Sie könnten ein ganzes Lexikon durchgeben, es dauert nur seine Zeit.« »Tun Sie's«, entschied Mitchell. »Besorgen Sie uns die Frequenzen für die Einheit auf der anderen Seite; die brauchen wir, um den Pass frei zu bekommen. Entweder das oder wir müssen es der Miliz überlassen.« »Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass die sich besonders darauf verstehen, Pässe anzugreifen«, meinte Kitteket.
40 In der Nähe von Balsam Gap, North Carolina, Sol III 2017 EDT, 27. September 2014
Thomas Redman war Indianer. Und er war stinksauer. Schlimm genug, dass das Kasino, in dem er über vierzehn Jahre lang angestellt gewesen war, wegen des Krieges hatte schließen müssen. Schlimm genug, dass diese Posleen-Drecksäcke seinen jün geren Bruder auf Barwhon umgebracht hatten. Nein, jetzt hatten sie auch noch Dillsboro einnehmen müssen, wo früher einmal sein Laden für »Garantiert echte Posleen-Skalpmesser aus indianischer Herstel lung« gestanden hatte. Na ja, zugegebenermaßen hatte zuerst dieses verdammte SheVaGeschütz den Laden platt gewalzt, aber schließlich war ihnen ja auch nicht viel anderes übrig geblieben. Wer auch immer seinen Laden platt gemacht hatte, schuld daran waren die Posleen, und dafür würden sie verdammt noch mal be zahlen. Seine Familie hatte ohne Unterbrechung in diesen Bergen gewohnt, seit sie die Creeks dort verjagt hatten, und das war etwa um die Zeit gewesen, als Kolumbus Königin Isabella die Kronjuwe len abgeluchst hatte. Und er war fest entschlossen, nicht der letzte Redman zu sein, der hier dem Weißen Mann sein Geld abluchste. Bis zu diesem Augenblick hatte sein Widerstand gegen die Posleen darin bestanden, der Puppe in dem SheVa-Geschütz zu sagen, wo sie sie sich befanden. Als sie ursprünglich davon gehört hatten, dass die Posleen den Pass heraufkamen, hatte er seine Frau – »Squaw«
nannte er sie nur dann, wenn er wollte, dass sie echt böse wurde – die Straße nach Knoxville hinaufgeschickt. Dann hatte er sein Miliz funkgerät, seinen Geländewagen und sein Gewehr herausgeholt und war in die Berge gefahren. So, wie es jetzt aussah, stand die ganze Sache ziemlich auf der Kip pe. Was auf dem Pass geschah, hatte er nicht beobachten können, aber die Rauchsäulen, die von dort aufstiegen, ließen eigentlich we nig Zweifel. Er kannte auch eine Stelle, von der aus man die Posleen aufs Korn nehmen konnte. Aber wenn er das tat, würde er formal gesehen gegen das Gesetz verstoßen. In der Hast, mit der man bei Beginn der Krise Gesetze verfasst hat te, hatte es auch eine lange Debatte über den Aufbau von Milizen gegeben. Schließlich hatte der Kongress Gesetze erlassen, die prak tisch fast alle Vorschriften über den Waffenbesitz außer Kraft setz ten, und an deren Stelle eine Serie von Gesetzen erlassen, die das Ziel hatten, »die verschiedenen Milizen zu regulieren«. Eines der Gesetze hatte mit Grenzregelungen für die Milizen zu tun, insofern, als kein Angehöriger einer Miliz die »in einem Territorialbereich aufgestellt worden war, zu Zwecken der Miliz in einen anderen Ter ritorialbereich überwechseln durfte, sofern nicht die Behörden des zweiten Territorialbereichs dem ausdrücklich zustimmten«. Im Klar text bedeutete das, dass Milizen aus Virginia nicht nach Maryland überwechseln durften. Unglücklicherweise interpretierten die Bürokraten des Büros für Indianerangelegenheiten das so, dass es eine Reservations-Miliz und eine Miliz des restlichen North Carolina geben sollte. Formal gese hen war das Territorium des Reservats der einzige Territorialbe reich, in dem Thomas Redman, Sergeant der North Carolina Chero kee-Miliz, Krieg gegen die Posleen führen durfte. Und in diesem Augenblick war er im Begriff, die Reservatsgrenze zu überschreiten. Eine Anzahl nicht besonders lustiger John-Wayne-Filmwitze gin gen ihm durch den Kopf, als sein Geländewagen über den letzten
Felsvorsprung rumpelte und auf dem Blue Ridge Parkway weiter rollte mit dem Ziel, die Posleen am Pass abzuschneiden. »Passt nur alle gut AUF!«, schrie er in die Nacht. »Ein Indianer hat das Reservat verlassen!«
»Sir, ich habe Kontakt mit Kommando Ost«, sagte Kitteket, tippte einen Augenblick lang und hielt dann wieder inne. »Und was gibt's?«, fragte der Colonel. »Ich bin immer noch dabei, denen unsere Lage durchzugeben, Sir«, erklärte sie und tippte dann wieder. »Ich muss ja immer drei Buchstaben eintippen, warten, bis die übertragen werden, und dann die nächsten drei Buchstaben tippen. Das nervt ganz schön.« »Beim nächsten Software-Upgrade wird das behoben«, meinte Pruitt und scrollte seine Taktikkarte über den Bildschirm. »Voraus gesetzt natürlich, dass wir für den nächsten Software-Upgrade noch da sind.« Besonders gut sah es nicht aus. »Okay, was ist mit den Posleen in der Umgebung von Dillsboro?«, fragte Mitchell. »Das sieht ziemlich schlecht aus. Sie haben einige Probleme mit aufgerissenen Straßen, und etwa die Hälfte von ihnen ist auf der 441 nach Norden unterwegs, aber die Übrigen kommen hierher. Und auf der anderen Flussseite nimmt ihre Zahl immer noch zu. Die Kundschafter schaffen entweder keine ordentliche Schätzung oder sie wollen nicht glauben, was sie sich ausgerechnet haben. Es ist je denfalls eine ganze Menge.« »Geschätzte Ankunft?«, fragte Pruitt. »Etwa eine Stunde, so, wie Posleen sich bewegen«, sagte Kitteket. »Das sage ich dem Kommando Ost auch.« »Ach, zum Teufel damit«, schimpfte Mitchell. »Schluss jetzt mit Häschen nett. Es gibt wirklich keinerlei Anlass, weshalb wir uns Sor
gen machen sollten, dass die Posleen uns überrennen. Pruitt, wir ha ben doch noch drei Nukes, stimmt das?« »Yes, Sir«, bestätigte der Kanonier. Er tippte eine Schaltfläche an, und der Turm schwenkte fast lautlos nach hinten. »Und dort hinten sind auch keine Menschen, auf die wir aufpassen müssten. Hundert Kilotonnen Nukes bereit, erwarten Ihren Befehl … Sir!« »Kitteket, stellen Sie fest, wo die Hauptkonzentrationen sind, und liefern Sie mir eine Schätzung, wo die vorderen Einheiten in … sa gen wir zehn Minuten sein werden«, sagte Mitchell. »Und finden Sie raus, weshalb es so aussieht, als ob wir die Einzigen wären, die um diesen Pass kämpfen!«
Der Blue Ridge Parkway ist eines jener amerikanischen Idole wie etwa die Route 66 oder der Appalachian Trail. Er führt am Kamm der Blue Ridge Mountains entlang, bei denen es sich in Wirklichkeit um eine Anzahl kleinerer Bergketten von den Great Smoky Moun tains in North Carolina bis zum Shenandoah Valley in Virginia han delt. In seinem Verlauf führt er durch einige der schönsten Felsland schaften im Osten von Nordamerika. Da er an den Bergrücken ent lang verläuft, ist der Zugang zu ihm nicht sehr bequem, und er stellt auch im Allgemeinen nicht gerade die schnellste Verbindung von Punkt A nach Punkt B dar. Aber für Thomas Redman eignete er sich ganz gut. Er war in der Nähe von Woodfin Creek auf den Parkway gefahren und hatte dazu einen nur wenig bekannten Pfad benutzt, der eine Verbindung zum alten Parkway darstellte, war dann bergauf zum neuen Parkway weitergefahren und näherte sich jetzt dem Pass. Aber der Pass war nicht sein eigentliches Ziel. Nach den Informationen, die er von der Puppe in dem SheVa hatte, stand die halbe Überfüh rung noch. Zweifellos hätte es auch Spaß gemacht, von dort oben auf die Gäule zu schießen, aber noch mehr Sinn machte es, einen Punkt aufzusuchen, von dem aus er unter der Überführung durch
schießen konnte. Es gab da einen Bergkamm, der seitlich vom Park way abzweigte – dieser Kamm hatte die letzte Kurve der 23 notwen dig gemacht – und auf den man von der Straße aus gelangen konn te. Und vom Ende dieses Kamms würde er, wenn er dort ein gutes Versteck fand, direkt unter der Brücke durch schießen und damit den Druck auf die im Pass festsitzenden Leute etwas verringern können. Er registrierte die umgeknickten Bäume, als er um eine Kurve bog, und wurde dann langsamer, als er auf der Straße einige Bäume ent deckte. Auf das Ende der Kurve zu war die Straße mit Bäumen förmlich bedeckt, und einige von ihnen begannen infolge der gewal tigen Hitze bereits gelb zu werden. Insgesamt betrachtet war es ganz gut, dass er damit gewarnt wur de, denn als er – immer noch mit über dreißig Stundenkilometern – um die Kurve bog, krachte er fast in die ersten von Tausenden um gestürzter Pappeln, die die Straße blockierten. »Scheiße!«
»Sir, ich habe eine Mitteilung vom Kommando Ost«, sagte Kitteket. »Weitere gute Nachrichten.« »Nur raus damit«, sagte Colonel Mitchell und deutete für Pruitt auf einen Punkt auf der Landkarte. »Es gibt einen Grund, weshalb wir die Einzigen sind, die um den Pass kämpfen, Sir; unser Nuke hat auf der Asheville-Seite einen Bergrutsch ausgelöst, der die Straße blockiert. Die Brigade, die in zwischen oben sein sollte, kommt nicht weiter. Sie sind dabei, die Straße zu räumen, aber dazu werden sie noch mindestens eine Stun de brauchen. Einige Einheiten leichte Infanterie versuchen drüber zuklettern, aber auch die werden noch eine Weile brauchen.«
»Na schön«, erwiderte Mitchell und tippte seine sekundären Frei gabecodes ein. »Sagen Sie denen, dass wir gerade dabei sind, das Scott-Creek-Tal von Posleen zu säubern.« Pruitt war inzwischen damit fertig geworden, die Abschusskom mandos einzutippen, und drehte sich jetzt fragend zu dem SheVaKommandanten um. »Alle drei, Sir?« »Sie wollten sie wohl für einen festlicheren Anlass aufheben, Pruitt?«, fragte der Colonel. »Ja, alle drei. Eines auf die Kreuzung, eines auf die Spitze der Posleen und eines auf die Masse, die sich auf der anderen Flussseite aufgestaut hat. Wenn sie das nicht aufhält, dann weiß ich auch nicht.« »Yes, Sir«, sagte der Kanonier, tippte den letzten Befehl ein und löste dann die Schusssequenz aus.
Das Büro für Indianerangelegenheiten und der Kongress der USA mochten ja ein paar recht alberne Vorschriften ausgearbeitet haben, von denen Thomas eine jetzt verletzte, aber an der Ausrüstung hat ten sie nicht gespart. Insbesondere nachdem jemand darauf hinge wiesen hatte, dass die Cherokee-Nation, seit das Kasino »für die Dauer der kriegerischen Auseinandersetzung« geschlossen war, nicht mit sehr viel Einnahmen rechnen konnte. Und da es sich beim Büro für Indianerangelegenheiten schließlich um eine Regierungsbe hörde handelte, knauserten sie auch nicht. Deshalb hatte er bis vor kurzem ein hübsches Honda Geländefahrzeug in Tarnlackierung be sessen. Aber er hatte den Unfall überlebt, und sein Gewehr, das noch im Futteral steckte, ebenfalls und ebenso auch sein Feldstecher und sei ne Munition. Er hatte also eigentlich nichts zu beklagen. Irgendwie. Zu dem Bergkamm zu gelangen, von dem aus er die Posleen von oben unter Beschuss nehmen konnte, würde mehr Mühe bereiten, als er erwartet hatte; das Nuke hatte das Gelände wirklich ziemlich übel zugerichtet.
Die gesamte Umgebung der Straßenkreuzung war eine einzige Masse ineinander verkeilter, umgestürzter Bäume. Es erinnerte an die Bilder vom Mount St. Helens. Er hatte damals, in der achten Klasse war das gewesen, einen Aufsatz über die Katastrophe ge schrieben und erinnerte sich noch an die Bilder von den Wapitis, die sich durch die umgestürzten Bäume gearbeitet hatten. Nun gut, jetzt wusste er, wie denen damals zumute gewesen war: beschissen. Er zog sein rechtes Bein über einen Baumstamm und fluchte. Bei der Kollision hatte er sich das Knie verrenkt, und in diesem Dickicht herumzuklettern war da nicht gerade hilfreich. Insbesondere da es inzwischen stockfinster geworden war; die Sonne war untergegan gen, und der Mond lugte nur gelegentlich zwischen den Wolken hervor. Aber er war sich ziemlich sicher, dass er wusste, wo er sich befand: Der Graben dort unten sollte eigentlich einer der Zuflüsse zum Scotts Creek sein, und das bedeutete, dass der Grat, auf dem er sich befand, Ausblick auf die Kreuzung bieten sollte. Unmittelbar unterhalb des Grats, entlang der Felsformation, die die Scharfschützenausbilder als »Militärkamm« bezeichnet hatten, gab es ein paar Bäume, die nicht umgestürzt waren, weil die Druck welle über sie hinweggegangen war. Man konnte das nicht gerade einen »Weg« nennen, aber es war besser als das Terrain, auf dem er sich bisher bewegt hatte, für ihn also somit die Chance, sich nach oben zu arbeiten, ohne dass die Posleen ihn sehen konnten. Endlich, endlich humpelte er auf den Grat hinaus und legte sich auf den Bauch. Die Druckwelle der Explosion hatte viele Bäume mehr oder weniger parallel zueinander umgeknickt und – Wunder über Wun der – sogar in der Richtung, in der er unterwegs war. Und deshalb konnte er sich dazwischen hochstemmen, bis er schließlich zuerst das stehen gebliebene Straßenstück und dann die Stellungen der Posleen darunter sehen konnte. Er konnte auch die brennenden Panzer auf der Straße sehen; so, wie es aussah, hatte die Infanterie richtig die Hucke voll bekommen. Aber er konnte auch zwei der Jungs in Richtung auf die Stellung der Posleen zurobben sehen.
Zeit, denen ein wenig Feuerschutz zu liefern.
Das letzte Mal, dass Joe Buckley gerobbt war, war zu der Zeit gewe sen, als er den Test für sein Infanterieabzeichen abgelegt hatte. Das musste irgendwann in grauer Vorzeit gewesen sein, als seine einzige Sorge war, sich nicht ein Bein zu brechen oder einen Motorradunfall zu bauen oder wegen irgendeiner Puppe am Bragg Boulevard in eine Prügelei zu geraten. Mann, das waren noch Zeiten. Keine Posleen. Keine Wolkenkrat zer, die einem auf den Kopf fielen. Keine explodierenden Schiffe. Bloß hie und da ein Sergeant, der ein wenig sauer war, und irgend eine blöde Fernsehsendung am Nachmittag vor dem Exerzieren. Mann! Er zog den Hintern ein, als ein Geschoss irgendwo vom Asphalt abprallte und über ihn hinwegpfiff. Also ehrlich, damals war es wirklich schöner gewesen. Einer der beiden Privates hatte den Hintern ein wenig zu hoch ge halten und wurde deshalb von einem Plasmatreffer geröstet. Der an dere war auf halber Strecke zu Bewegungslosigkeit erstarrt und lag jetzt auf dem Mittelstreifen und zitterte. Buckley wusste selbst nicht, weshalb er immer noch weiterkroch. Vielleicht war das bloß reine Sturheit; diese Posleen hatten wirklich angefangen, ihn ernsthaft zu ärgern. Möglicherweise tat er es aber auch, weil er ganz genau wusste, dass er ganz sicher nichts zu lachen haben würde, wenn sie diesen Pass nicht wieder einnahmen. Er schmiegte sich noch enger an den Boden, als das erste Artillerie geschoss aus dem Himmel plumpste. Wenn alles gut ging, würde er wenigstens Feuerschutz haben. Andererseits, wenn die Jungs von der Ari Mist bauten, konnte es ebenso gut sein, dass das nächste Ding auf ihm landete.
Das tat es aber nicht; es landete mitten auf dem stehen gebliebenen Streifen Straße. Er wartete ungeduldig, als der Artilleriebeschuss langsam über den Straßenstreifen vorwanderte. Jetzt sollten die Splitter eigentlich unter der Straßenbrücke durch und auf die Pos leen herunterhageln. Das hieß nicht, dass es ihnen den Garaus ma chen würde, aber es sollte wenigstens dafür sorgen, dass sie die Köpfe ein wenig einzogen und es ihm daher einen Tick leichter machten, vorzurücken. Und während er das tat, kam ein Geschoss vom nächsten Geschütz herangebrüllt. Der Graben, in dem er kroch, der eine Weile wirklich immer seich ter geworden war, hatte jetzt wieder angefangen tiefer zu werden. So tief, dass er das Gefühl hatte, sich ein wenig höher zu schieben und sich ein wenig schneller zu bewegen. Er stemmte sich halb auf Ellbogen und Knie. Nicht kriechend, da für reichte die Deckung nicht aus. Aber auch nicht geduckt. Eine richtig beschissene »mittlere Bewegungsart im Gelände«, konnte man sagen. Er fing an sich wie eine Krabbe zu bewegen, als plötzlich von den Posleen Lärm zu ihm herüberdrang. Und plötzlich fühlte sich sein Hintern an, als stünde er in Flammen. Er ließ sich wieder auf den Bauch fallen, tastete hinter sich und fluchte, als seine Hand feucht wurde. Entweder hatte er plötzlich schreckliche Hämorrhoiden oder irgend so ein Posleen-Drecksack hatte ihn am Hintern getroffen.
Thomas Redman schüttelte den Kopf angesichts des armen, tapferen Kerls dort unten im Graben. Sein Wärmebildzielfernrohr zeigte ziemlich deutlich an, dass er gerade am Hintern getroffen worden war – das wegspritzende Blut zeigte eine Menge Restwärme –, aber trotzdem kroch er weiter. Dann war da noch einer, der auf dem Bauch lag, der Temperatur nach nicht tot, wahrscheinlich einfach zu verängstigt, um weiterzukriechen. Und dann lag da noch eine hell weiß strahlende, kopflose Leiche im Graben. Sie war so heiß und so
offenkundig tot, dass sie mit ziemlicher Sicherheit das Opfer eines Plasmaschusses war. Davon abgesehen sah es so aus, als ob die meisten von ihnen in den ersten paar Augenblicken gestorben wä ren. Er schwenkte sein Zielgerät auf die Stellung der Posleen und schüttelte den Kopf. All das Feuer aus ihren Plasmawaffen hatte er kennbare Spuren auf der Straße hinterlassen und die Luft unter der Brücke erhitzt. Und jedes Mal, wenn eine Artilleriegranate auftraf, schaltete der grelle Lichtschein das Zielfernrohr einen Augenblick lang ab. Trotzdem konnte er die Gäule deutlich ausmachen; sie wa ren ein wenig kühler als Menschen, aber viel wärmer als die zuneh mende Kühle des Abends und der kalte Boden unter der Straßen brücke. Und es waren nicht viele, vierzehn, wie es aussah, vielleicht fünfzehn; und da war einer ganz unten im Graben, der sich nicht be wegte. Jetzt galt es herauszufinden, welches die Gottkönige waren. Einen Augenblick lang entdeckte er so etwas wie einen Schleier um den Kopf von einem der Posleen herum und schaltete das Wär mebild ab. Im grünen Schein konnte er undeutlich erkennen, dass der da einen Kamm hatte; offenbar hatte er ihn einen Augenblick lang angehoben und damit einen Wärmeschleier über seinem Kopf erzeugt. Er nickte zufrieden und schaltete wieder auf Wärmebild. Dann at mete er durch, legte den Sicherungsflügel des Barrett um, schmiegte den Finger um den Abzug und drückte ganz sanft ab.
Sergeant Buckley duckte sich, als plötzlich wütendes Posleen-Feuer aus dem Graben kam, das aber offenbar nicht ihm galt. Er riskierte einen schnellen Blick und erkannte, dass sie aus allen Rohren auf den Berggrat links hinter ihm feuerten. Ein weiteres Risiko eingehend, stemmte er sich auf Hände und Knie und rutschte auf einen Betonbrocken zu, der sich gut als De
ckung eignen sollte. Vermutlich war das ein Stück des südlichen Brückenbogens,. der von dem Nuke abgesprengt worden war, aber für Buckley wirkte der Brocken wie ein Geschenk des Himmels; vielleicht würde er sich dahinter sogar aufsetzen können. Er wälzte sich in den Schutz des Betonbrockens, als das gegneri sche Feuer schwächer wurde, und überlegte. Er war vielleicht zwan zig Meter von dem Graben mit den Posleen entfernt, aber dem mas sierten Feuer nach, das er gerade erlebt hatte, waren dort noch mehr Posleen, als er für möglich gehalten hatte. Und die Artillerie erledig te sie nicht, sie sorgte lediglich dafür, dass sie die Köpfe einzogen. Ein wenig. Wie es schien, war da draußen noch jemand, vielleicht ein Scharf schütze auf dem Bergkamm. Falls er den gegnerischen Beschuss überlebt hatte. Das wäre nett. Das Gefühl, nicht ganz allein zu sein, würde ihm gut tun. Er wälzte sich auf die Südseite des Betonbrockens und überlegte. Es gab da einen weiteren Brocken, etwa fünf Meter näher bei der Brücke, einen, aus dem ein Stück Stahl ragte. Der Brocken lag an ei ner der Mittelstützen. Wenn er es bis dorthin schaffte, konnte er sich bis in die Flanke der Posleen vorarbeiten, an einen Punkt, von dem aus er ihren Graben von einem Ende bis zum anderen bestreichen konnte. Und so, wie die Südpartie der Straße abgestürzt war, würde er sich dort in »gutem Schutt« befinden. Guter Schutt war ein Spezialausdruck der Infanterie. Schutt und Geröll waren der Freund der Infanterie; Panzer kamen damit nicht klar, Artillerie auch nicht, und die Posleen hassten es. Guter Schutt war Schutt wie der von der Brücke, Brocken mit Löchern, in denen man Schutz und Deckung finden konnte. Die Überreste des südli chen Brückenbogens sahen wie großartiger Schutt aus. Allerdings gab es zwei Probleme, zu diesem Schutt zu gelangen. Das eine war die Artillerie. Die Granaten fielen exakt ins Ziel – es sah aus, als würden sie Löcher in den Beton der Straße reißen –, aber sie fielen auch wenige Meter neben der Route, die ihn in Deckung
führen würde. Wenn er ein Funkgerät gehabt hätte, hätte er jetzt ge beten, auf Nebelgranaten umzuschalten. Aber er hatte keines, und der Funker war viel zu weit hinten, als dass er ihm etwas hätte zuru fen können. Selbst wenn er damit nicht seine Position verraten hätte, was natürlich der Fall gewesen wäre. Er hatte gehört, dass es durchaus möglich war, sich mit ein oder zwei Meter Distanz zu Artilleriebeschuss zu bewegen, falls die Gra naten »von einem weg« herunterkamen, was hier der Fall war. Jeder einzelne Treffer erzeugte ein massiv klingendes »Wumm«, aber was einen wirklich umbrachte, waren die Splitter. Und die meisten flo gen in Richtung auf die Stellungen der Posleen. Theoretisch sollten nur sehr wenige Splitter nach rückwärts geschleudert werden, wo er sich befinden würde. Theoretisch. Sehr wenige. Das zweite Problem – vorausgesetzt, die Artillerie erwischte ihn nicht – war, dass es zwischen seinem augenblicklichen Standort und dem nächsten Betonbrocken keine Deckung gab. Null. Das Gelände war platt, bretteben, ohne jede Vegetation, die vielleicht früher ein mal da gewesen war, direkt in Sichtweite der Posleen und nicht ein mal zwanzig Meter entfernt. Er konnte natürlich versuchen, die zwanzig Meter im Sprint zu rückzulegen. Einfach aufspringen und losrennen. Das Problem war nur, dass Posleen üblicherweise auf so etwas viel besser reagierten als Menschen; es würde darauf hinauslaufen, an einem professionel len Tontaubenschützen vorbeizurennen. Die Gäule streckten immer wieder die Köpfe heraus und das trotz des Artilleriebeschusses. Sei ne Chance, diese zwanzig Meter zu schaffen, war geringer als die des sprichwörtlichen Schneeballs in der Hölle. Die einzig andere Alternative war, zu versuchen, sich vorbeizu schleichen. Die Beleuchtung war … verwirrend. Gelegentlich blitzte eine ex plodierende Artilleriegranate, der Mond lugte immer wieder zwi schen den Wolken hervor, aber sonst war da nicht sehr viel. Ein paar
Feuer, die vermutlich auf Artillerietreffer zurückzuführen waren, lieferten ein wenig flackerndes Licht, aber alle waren ziemlich weit entfernt. Posleen sahen in der Nacht ganz gut, aber nicht perfekt. Wenn sie von dem Kamm aus beschossen wurden, würden sie sich darauf konzentrieren. Insgesamt betrachtet konnte man es also riskieren. Aber ein wenig Vorbereitung konnte nicht schaden. Er griff in den Beutel, den er am Gürtel trug, und zog einen Ge genstand heraus, den er lange nicht mehr benutzt hatte.
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Cheer! An' well never march to victory. Cheer! An' well never hear the cannon roar! The Large Birds 'o Prey They will carry uaway, An you'll never see your soldiers anymore! »Birds of Prey«, March – Rudyard Kipling Hurra! Und wir marschieren nie zum Sieg! Hurra! Und wir hören nie die Geschütze donnern! Die großen Raubvögel [Truppentransporter] Werden uns forttragen Und ihr seht eure Soldaten nie wieder! »Raubvogel-Marsch«
Thomas Redman wälzte sich über einen Baumstamm und fing dann an wieder nach oben zu klettern, dem Grat zu. Er hatte gehört, wie die Posleen auf Scharfschützen reagierten, aber dies war das erste
Mal, dass er es am eigenen Leibe erfuhr. Er hatte auch gehört, dass sie nicht reagierten, wenn andere Leute schossen oder wenn Artille riegranaten auf sie niedergingen. Na ja, Letzteres war ja der Fall, und deshalb konnte er sich eigentlich nicht vorstellen, wie sie ihn entdeckt hatten. Aber eigentlich war das ja egal. Der Rückstoß des Barrett hatte ihn ein Stück zurückgeworfen, und deshalb war ihr Feuer größtenteils über seinen Kopf hinweggegangen. Ein Splitter hatte ihn im Gesicht getroffen, aber das bedeutete bloß eine weitere Narbe. Keine große Sache. Er bugsierte sein Gewehr vorsichtig über den Felsrand und stemmte sich ein Stück hoch, um wieder ins Zielgebiet hinunterse hen zu können. Der eine Soldat war von der Brücke bis zu dem Schutthaufen vor gerückt und hatte sich jetzt aufgesetzt, wandte den Posleen den Rücken zu und tat … irgendwas. Thomas schaltete die Vergröße rung und den Lichtverstärker ein, konnte aber immer noch nicht er kennen, was dort unten geschah. So, wie es aussah, mischte der Mann etwas in seiner Hand. Sich darüber den Kopf zu zerbrechen lohnte sich eigentlich nicht, und so richtete der Cherokee seine Waffe auf das nächste Ziel. Einer war jetzt weg, blieben noch vierzehn. Pfeif auf die Gottkönige, er würde sie einfach einen nach dem anderen wegputzen. Kimme und Korn lagen auf dem ersten Ziel, als der Himmel hinter ihm aufleuchtete, als ob der Herrgott persönlich ein Blitzlicht gezün det hätte.
Buckley benutzte sein Messer dazu, ein wenig von der steinharten Tarnfarbe in seine offene Handfläche zu schaben. Er trug das Zeug jetzt seit weiß Gott wann mit sich herum, und es war so eingetrock net, dass es die Konsistenz von Kohle angenommen hatte. Das war lästig, insbesondere weil er vermutete, dass er nur dann eine Chance
hatte, wenn er jeden Quadratzoll seiner Haut damit beschmierte, da mit nichts zu sehen war. Wenn da nichts war, was das Licht reflek tierte, könnte er es vielleicht schaffen, sich quer über den Pass zu schleichen. Insbesondere dann, wenn er mit dem Manöver dann be gann, sobald der nächste Schuss des Scharfschützen fiel. Während die sich auf den Berggrat konzentrierten, konnte er aus seinem Ver steck herauskriechen und – hoffentlich –, falls er sich genügend langsam bewegte, vermeiden, dass ihre internen Alarme ausgelöst wurden. Wenn er es nur schaffte, diese Tarnfarbe mit einem Tropfen Fusel zu mischen, würde er sich damit tarnen und es vielleicht lebend quer über den Pass schaffen können. Das war einen Versuch wert. Natürlich wäre es hilfreich, wenn die Posleen irgendwie abgelenkt wurden, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein. Einen Augenblick lang war das Licht so hell, dass er durch seine Hände sehen konnte, mit Ausnahme der Stelle, wo die Tarnfarbe auf seiner linken Handfläche lag. Er schloss die Augen, aber das brachte nichts, der grelle Schein hatte sich in seine Netzhaut eingebrannt. Er wusste, dass er mindestens fünf oder zehn Minuten praktisch blind sein würde, aber auch das war ohne Belang. Viel wichtiger war, dass dies genauso für die Posleen galt. Er ließ die Tube mit Farbe und den wenigen Staub, den er in der Hand hielt, fallen und schnappte sich sein Gewehr. Dann krallte er die Hände in den Betonbrocken, stemmte sich in die Höhe und hetz te quer über die freie Stelle zwischen den beiden Schuttbrocken. Jeden Augenblick rechnete er damit, das Knistern einer Railgun oder den kurzen Rülpser einer Plasmawaffe zu hören, aber keines von beiden kam. Vielmehr verrieten ihm seine Nase und sein Fuß, dass sie mit dem Stück Stahl Kontakt aufgenommen hatten, das aus dem Brocken herausragte. Buckley unterdrückte einen Aufschrei, ließ sich hinter den Beton brocken fallen, griff sich an seine blutende Nase und wartete darauf, dass er wieder sehen konnte.
»Allmählich neige ich auch zu Ihrer Ansicht, Pruitt«, knurrte Colo nel Mitchell. »In solchen Augenblicken wünsche ich mir ordentliche Panzerung und Waffen für direkten Beschuss.« »Na ja, eine Waffe für direkten Beschuss haben wir, Sir …«, gab der Kanonier zu bedenken. »Eine, die nicht jedes Mal, wenn wir sie abgefeuert haben, eine na tionale Katastrophe war«, erwiderte der Colonel. Die Milizkund schafter hatten ein paar Minuten gebraucht, um ihre Funkgeräte neu einzustellen, aber es sah so aus, als hätten sie den Vormarsch der Posleen tatsächlich zum Stillstand gebracht. Der Preis dafür war freilich schrecklich gewesen. Dillsboro und Sylva, auch das, was das SheVa nicht schon zerstört hatte, waren vom Erdboden verschwunden. Der Himmel allein wusste, welchen Schaden die Brücke genommen hatte, jene Brücke, von der Kommando Ost ausdrücklich gewünscht hatte, dass sie ste hen blieb. Sie hatten das Nuke so eingestellt, dass der volle »Ground Zero«-Effekt die Brücke nicht einschließen würde, aber das bedeute te noch lange nicht, dass sie noch für Panzer befahrbar war. Jemand wie Major Ryan würde sie erst begutachten müssen, ehe sie sie wie der für schwere Lasten nutzen konnten. Andererseits … »Wann auch immer die Jungs von der anderen Seite durchkom men«, meinte Pruitt, »die brauchen dann bloß noch sauber zu ma chen.« »Wenn es um Posleen geht, ist Saubermachen ziemlich personalin tensiv, Pruitt«, wandte Warrant Indy ein. »Major Anderson wollte nach dem Nuke auch bloß ›sauber machen‹.« »Dann müssen wir uns eben etwas Besseres einfallen lassen«, ließ sich Captain Chan vernehmen. »Die Aussicht von hier oben ist groß
artig, aber ich bin jetzt so weit, dass ich weiterkämpfen möchte. Wir müssen uns überlegen, wie wir diese Türme einsetzen können.« »Vielleicht, nachdem das Reparaturbataillon hier aufgetaucht ist«, sagte Indy. »Falls die je herkommen.« »Hoffentlich vor den restlichen Posleen«, gab Reeves zu bedenken. »Welche Posleen?« Mitchell schmunzelte. »Ich bezweifle, dass zwi schen hier und Savannah noch vierhundert am Leben sind. Ich per sönlich werde jetzt ein kleines Nickerchen machen. Weckt mich auf, wenn etwas passiert.«
Thomas Redman hielt sich die Hand vor die Augen und kniff sie zu sammen. Ja, irgendwie konnte er sie erkennen, also war es Zeit, wie der an die Arbeit zu gehen. Das Nuke hatte seinem Zielfernrohr den Garaus gemacht. Er wusste nicht, ob das dem EMP oder der Lichtüberladung zuzu schreiben war, jedenfalls flackerte das Ding wie ein kaputter Fernse her. Und das bedeutete, dass er den Rest mit einem gewöhnlichen Klappvisier erledigen musste. Na schön, schließlich war er ja mit so etwas aufgewachsen. Er schaffte das schon. Wenn er überhaupt se hen konnte. Der Mond kam jetzt allmählich über den Horizont, aber er würde nicht unter die Brücke scheinen. Und die Posleen hatten kein Licht gemacht. Er brauchte also eine Leuchtkugel oder so etwas. Falls er genug sehen konnte, um zu schießen. Schließlich entschied er sich dafür, es mit einer zu versuchen. Er würde einfach in die allgemeine Richtung schießen, wo die Posleen steckten, um zu sehen, was dann passierte. Schlimmstenfalls wuss ten sie dann eben, wo er war, und konnten das Feuer erwidern.
Diesmal hörte Buckley den Knall vom Grat, ehe die Posleen das Feu er eröffneten. Ihr Feuer war ebenfalls viel weniger gezielt; so, wie es aussah, feuerten sie ziellos nach allen Richtungen. Er kauerte sich einen Augenblick lang nieder und nutzte dann die Störung, um sich wieder zu bewegen. Sein Sehvermögen war noch nicht ganz wiederhergestellt; wenn er versuchte, etwas zu sehen, dann verdeckte das Negativbild seiner Hände den größten Teil seines Sichtfelds. Er hatte einmal die Rede wendung gehört, »Man kenne etwas wie den eigenen Handrücken«, aber in seinem Fall waren das die Handflächen, die alles überdeckten. Aber irgendwie konnte er doch sehen, und irgendwie wusste er auch, wohin er ging, also war es auch irgendwie Zeit, sich in Bewe gung zu setzen. Er kauerte sich nieder und bewegte sich im Enten gang auf das Ende des Granitbrockens zu und hielt dann inne. Wenn er den Kopf jetzt hinausstreckte, würde er wahrscheinlich Posleen vor sich sehen, und zwar weniger als drei Meter entfernt. Die Frage war wie gewöhnlich, ob er es schnell oder langsam tun sollte. Am Ende entschied er sich für schnell. Er holte eine Handgra nate heraus, zog den Splint und atmete durch. »Sobald der Splint raus ist, ist Mr. Handgranate nicht länger dein Freund«, flüsterte er und beugte sich hinaus.
Thomas Redman zog sich wieder den Hügel hinauf und wischte sich den Mund. Diesmal war ein Plasmaschuss dicht neben ihm an gekommen, und ein großer Brocken aus einer Eiche war ihm mitten auf den Mund gekracht. Aber als er sich über sein Gewehr beugte, ging unter der Brücke eine Granate los. In dem kurzen Lichtschein der Explosion konnte er drei Gestalten in seiner Ziellinie sehen. Er feuerte einen Schuss ab und duckte sich gleich wieder, weil er damit rechnete, dass das Feu er erwidert wurde, aber die Posleen schienen ein anderes Ziel zu ha
ben. Er schob sich wieder vor, stützte sich ab und fing an, nach wei teren Zielen zu suchen.
Buckley wartete, bis das gegnerische Feuer nachließ, schob sich dann um die Betonsäule herum und jagte alle fünf Granaten in sei nem AIW-Magazin hinaus, tat es, so schnell er abdrücken konnte. Die Posleen feuerten, ehe er sich zurückziehen konnte, aber in dem Lärm der Railguns – die Plasmawaffen schienen inzwischen alle au ßer Gefecht gesetzt zu sein – konnte er hören, wie ein Barrett einen Schuss nach dem anderen hinausjagte. Er holte eine weitere Hand granate heraus und warf sie in die allgemeine Richtung des Gra bens, während er neu lud. Ein weiterer Feuerstoß, dann sollte es ge schafft sein. Er lud die erste Granate durch und beugte sich um die schützende Betonsäule herum, genau in dem Augenblick, als das HVM sie traf.
Thomas Redman schloss die Augen bei der Explosion, aber es war zu spät, seine Sicht war wieder weg. Doch selbst mit tränenden Au gen konnte er blinzelnd erkennen, dass die Posleen ebenfalls weg waren. Er war sich nicht ganz sicher, was da gerade unter der Brücke explodiert war, aber jetzt war der nördliche Bogen auch in sich zusammengebrochen und lag jetzt abgeknickt auf der Westsei te. Es sah so aus, als ob das, was dort unten explodiert war, die Säu le zerfetzt hätte. Besser gesagt, in zwei Stücke gerissen. Möglicher weise lagen Posleen dort unten, aber das war jetzt ohne Belang; die Straße war so blockiert, dass es eine schwere Pioniereinheit brau chen würde, um sie wieder instand zu setzen. Von dem letzten Soldaten war keine Spur zu sehen und es kam auch kein Feuer von den Posleen. Deshalb beschloss er, dass dies jetzt der richtige Zeitpunkt war, um seinen Hintern humpelnd dort hinunterzuverfrachten. Er versuchte aufzustehen, aber sein Knie
knickte sofort ein. »Das kommt davon, wenn man alt und fett ge worden ist und zu nichts mehr taugt«, murmelte er. Er setzte sich auf einen Baumstamm und schüttelte den Kopf. Soll te doch jemand anderer den Pass nehmen. Er würde einfach hier sit zen bleiben, bis sein Bein wieder die Lust verspürte, sich zu bewe gen.
Epilog
Cally stopfte das letzte Päckchen in den Rucksack und schickte sich an, die Höhle zu verlassen. Versteck Vier war dazu angelegt, alles Material für eine solche Flucht bereitzustellen, und nachdem sie sich die Augen aus dem Kopf geweint und dann geschlafen hatte, hatte sie sich sorgfältig auf eine lange Reise vorbereitet. Die Route schien nach Norden durch Coweeta zu führen und dann schräg hinüber zum Highway 64, immer vorausgesetzt, dass der noch begehbar war, und schließlich nach Westen zu den Verteidigungsstellungen um Chattanooga. Jetzt war es Zeit zu gehen, aber sie zögerte dennoch. Obwohl sie Papa O'Neals Leiche gefunden hatte, konnte sie immer noch nicht recht glauben, dass er nicht mehr war. Dass jenes Leben zu Ende war. Sie hätte sich gerne nur noch einmal mit ihm gestritten, nur einen Morgen noch. Und sobald sie die Höhle verließ, würde sie da mit akzeptieren, dass es keine Farm mehr gab, keinen Papa O'Neal. Schließlich setzte sie den Rucksack ab und zog ein Buch heraus. Hier gab es genug Proviant und Wasser, um ein Jahr lang hier sitzen zu bleiben, und die Höhle war sowohl abgelegen wie auch sicher. Sie würde morgen ans Weggehen denken.
Der Himmit, der sie von der Höhlendecke aus beobachtete, zuckte verblüfft die Achseln oder tat das, was Himmit in solchen Fällen tun. Sie war im Begriff gewesen wegzugehen und hatte es sich jetzt offenbar anders überlegt. Für den Himmit ergab das keinen Sinn. Aber genau das war ja der Grund, weshalb Menschen so endlos fas
zinierend waren; sie taten Dinge, für die es keine vernünftige Erklä rung gab. Er stellte sich auf eine lange Wartezeit ein, machte es sich bequem. Darauf verstanden sich die Himmit. Und irgendwann einmal würde das eine gute Story abgeben.
Mosovich blieb stehen, als Mueller die geballte Faust hob und sich dann niederkauerte. Dann legte der Master Sergeant den Kopf fra gend zur Seite, und jetzt konnte Jake das Geräusch auch hören. Vor ihnen war ein größerer Fluss, ein Teil des hydrologischen For schungsbereichs von Coweeta, und das Rauschen des Wassers über tönte die meisten anderen Geräusche. Aber auch er konnte jetzt ganz schwach etwas hören, was wie das Lachen einer Frau klang. Wendy setzte sich prustend auf und ließ das MP-5 sinken, das sie trocken über den Strom gebracht hatte. »Äußerst komisch, Shari«, knurrte sie fröstelnd. »Dieses verdamm te Wasser ist eiskalt.« »Ja, das habe ich gemerkt«, sagte die andere Frau und lachte wie der. »Jeder würde das merken.« Wendy blickte an sich herab und musste schmunzeln. Ihre Kleider hatten bei ihrer überstürzten Flucht aus der Urb und anschließend bei der Auseinandersetzung mit der Vegetation der Berglandschaft einiges mitgemacht. In Anbetracht der zerfetzten Kleidung und des Wassers und des dünnen Stoffs, aus dem ihr Hemd bestand, war es daher … mehr als offenkundig, dass das Wasser kalt war. »In mancher Hinsicht gäbe ich wohl ein ganz gutes Playboy-Foto ab«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Das kann man laut sagen«, sagte Mueller und schob sich aus dem Unterholz. »Ich würde mir eine Kamera wünschen!« »Du großer Gott!«, sagte Shari und fuhr herum. »Tu mir das nicht an!«
Mueller hob die Hände, als er die drei auf ihn gerichteten Waffen sah. »Hey, Freunde.« »Du lieber Gott, Mueller, ich hätte nie gedacht, dass ich das sagen würde«, rief Wendy, stand auf und ließ den Lauf ihrer Maschinen pistole sinken. »Aber einen schöneren Anblick hätte ich mir nicht wünschen können.« »Ganz meinerseits, denke ich«, erwiderte der Master Sergeant. Er sah zu Shari hinüber und schüttelte den Kopf. »Wer ist denn … Sha ri?« »Das ist eine lange Geschichte«, meinte Elgars und hob die Hand. »Wir sind zu den O'Neal-Verstecken unterwegs. Und ihr?« »Wir sollen auf der Vorderseite des Passes kundschaften«, sagte Mosovich und kam jetzt ein Stück stromaufwärts aus dem Gebüsch. »Aber wir reisen mit ziemlich leichtem Gepäck und kommen daher schnell voran.« »Das war einmal«, sagte Elgars. »Wir kommen auch ziemlich schnell voran, aber wir könnten etwas Hilfe gebrauchen. Ihr seid hiermit engagiert.« »Captain«, meinte der Sergeant Major mit strenger Stimme. »Wir haben unseren Einsatzbefehl vom Kommandeur der Continental Ar my.« »Okay«, sagte sie und deutete auf sein AID. »Dann ruf ihn doch an. Sag ihm, ein Rudel Girls mit ihren Kindern hätten euch entführt und das passt euch nicht.« »Ich soll kundschaften«, sagte Mosovich. »Das kann ich nicht, wenn ich ein Rudel Flüchtlinge hinter mir herschleppe.« »Tatsächlich?«, fragte Wendy. »Pass auf, wie gut das geht.«
Sergeant Patrick Delf schwenkte sein AIW im Halbkreis und benutz te das Nachtsichtgerät, um Ziele zu suchen. Die Gegend um die Überführung des Blue Ridge Parkway war eine Masse von Wärme
signaturen, von denen sich aber keine bewegte. Die meisten waren nicht zu erkennen. Er trat vorsichtig ein paar Schritte vor, bewegte sich mit schlurfenden Schritten, um auf der mit Betonbrocken über säten Straße nicht auszugleiten, und suchte nach Bedrohungen oder Zielen. Aber da war nichts. Beide Brückenbogen waren im Gegen satz zu dem, was ihnen der Nachrichtendienst gemeldet hatte, zer stört; es würde verdammte Mühe kosten, die Straße wieder frei zu bekommen. Er rückte vor, winkte dem Rest seiner Gruppe, beiderseits auszu schwärmen. Das taten sie, suchten Posleen, fanden aber nichts. Un ter den Schatten der Brücke fanden sie einen Graben, der mit toten Posleen gefüllt war. Die meisten waren vom Feuer zu geschwärzt, um erkennen zu können, was sie getötet hatte, aber an einigen wa ren Einschusswunden zu sehen, die auf eine großkalibrige Waffe hinwiesen, vermutlich einen Scharfschützen. Die Mittelsäule war nur noch ein Stumpf. Es sah so aus, als wäre sie schwerem Beschuss ausgesetzt gewesen, vermutlich Plasma oder HVM aus dem Posleen-Graben. Was überhaupt keinen Sinn abgab, es sei denn, einer der Gäule hätte völlig durchgedreht. Ganz unten war ein abkühlender Schmierer zu sehen, aber er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, bis er niederkniete, mit dem Finger darüber wischte und dann am Finger roch. Der Geruch von menschlichem Blut im Gegensatz zu Posleen-Blut war deutlich. »Sir, hier Sergeant Delf«, rief der Teamführer schließlich und tipp te dabei an sein Kommgerät. »Der Pass ist frei. Irgend so ein armes Schwein hat es bis hier oben geschafft und dann hat ihn ein HVM weggeputzt. Aber das HVM hat die Brücke zum Einsturz gebracht und die Posleen mit Plasma überschüttet; die sind weg.« »Sonst irgendwelche Überlebenden?«, fragte der Brigadekomman deur. »Bis jetzt nicht, Sir«, erwiderte der Sergeant. »Sieht nicht gut aus. Wir sind noch nicht auf der anderen Seite der Brücke, aber wir se hen da ein paar Panzer; alle ausgebrannt, Sir. Von hier aus kann ich
drei Abrams und zwei Brads erkennen, aber die sind alle hin. Der Pass ist von der eingestürzten Brücke blockiert; über die ganze Län ge. Und die Panzer sind im Weg. Aber keine Posleen. Die Überle benden haben die fertig gemacht.« »Roger«, sagte der Colonel leise. »Ist die Gegend für Flugzeuge klar?« »Das kann ich nicht garantieren, Sir. Ich weiß nicht, was unten im Tal ist.« »Kommando Ost meint bloß ein SheVa, und die sind ziemlich sau er. Ich schicke Ihnen noch ein paar Leute nach zum Saubermachen, Sie erledigen das und melden sich dann bei mir. Aber seien Sie vor sichtig, bis Rabun Gap ist es weit.«
Cholosta'an schüttelte den Kopf, als seine Pupillen sich zu weiten begannen. Trotz des sekundären Liderpaars und der sich verengen den Pupillen war er überzeugt, dass seine Augen Schaden genom men hatten. Aber immer noch besser als das, was passiert wäre, wenn der Oolt'ondai sich nicht dazu entschieden hätte vorzurücken. »Ich fresse ihre Brut«, knurrte Orostan verärgert. Aber selbst der wesentlich jüngere Kessentai hörte die Niedergeschlagenheit des Be siegten heraus. »Wir haben keine Elite-Oolt mehr«, gab Cholosta'an zu bedenken. »Und keine ausgebildeten Piloten. Tenaral sind uns auch keine üb rig geblieben. Besonoras Oolt'ondar ist vernichtet, und die Men schen werden Balsam Gap in Kürze wieder einnehmen. Die ver dammten Pioniere haben die anderen Straßen zerstört, die aus diesem Tal herausführen. Und Torason sagt, dass er nicht imstande ist, das Tennessee-Tal hinaufzurücken. Wir müssen uns zurückziehen, so lange wir noch Oolt zur Verfügung haben.« »Nein, wir müssen vorrücken«, schnaubte Orostan. »Wir werden diesen Pass einnehmen. Und das Land dahinter. Dazu stehen uns
immer noch genügend Streitkräfte zur Verfügung. Führe dein Oolt nach vorn, sammle alle versprengten Oolt'os, die du finden kannst. Rücke zu dem Pass vor! Ich werde alle sammeln, die in diesem Be reich noch übrig sind, und dir folgen.« »Zu Befehl, Oolt'ondai«, sagte der Kessentai. »Ich gehe.« Er winkte seinen Oolt'os, ihm zu folgen, und rückte vor. Sobald er die baufällige Brücke überquert und die Ruinen von Dillsboro er reicht hatte, bog er nach rechts ab und zog parallel zum Tuckasegee weiter. »Soll doch Orostan bei seinem Bemühen, ›die Rasse zu retten‹, sterben«, flüsterte der Kessentai. Wenn es etwas gab, was diese Welt ihn gelehrt hatte, dann, dass es ausreichte, zu überleben. Sollten doch die Tapferen »zum Nutzen der Rasse« sterben. Cholosta'an würde bloß überleben.
Tulo'stenaloor schüttelte den Kopf, als er den Bericht aus Dillsboro gehört hatte. Er überlegte kurz, ob er Orostan anweisen sollte, den Angriff zurückzuhalten. Er würde Stunden brauchen, um seine Streitkräfte wieder zu sammeln, die wenigen, die ihm verblieben waren. Schließlich entschied er sich dagegen. Zuallererst würde der alte Idiot vermutlich gar nicht auf ihn hören und dennoch angreifen. Zum Zweiten war es ein lohnendes Ziel, den Vormarsch der Trup pen zu verlangsamen, die zu dem Pass unterwegs waren. Wenn die Metall-Threshkreen schließlich eintrafen, würde er den Pass auf kur ze Zeit an die Menschen verlieren. Aber er brauchte bloß etwas Zeit, dann konnte er ihn zurückerobern. Sie würden knapp an Munition und Energie sein, und mit der Zeit konnte er sie wieder hinaus drücken. »Ich brauche bloß Zeit.«
Mike ging durch das Loch hinaus, wo früher die Hinterwand seines Büros gewesen war, und sah sich nicht um; er war ziemlich sicher, dass er es nie wieder sehen würde. Das Bataillon war vor den Shuttles angetreten. Alle zweiundzwan zig Shuttles waren auf dem Exerzierplatz gelandet und mit Waffen und Gerät beladen worden, darunter auch den so wichtigen Power Packs und den Antimaterie-Lances. Jetzt blieb nur noch, die Trup pen an Bord gehen zu lassen und ihnen vielleicht eine kleine An sprache zu halten. Das Problem damit war: Selbst die »Neuen« wussten, dass dies ein Selbstmordkommando war. Ein wichtiges Selbstmordkommando, absolut überlebenswichtig. Aber wenn überhaupt welche von ihnen überlebten, dann würde das einem Wunder gleichkommen. Und hinzukam, dass selbst die Neuen jetzt schon zwischen zwei und fünf Jahre praktisch ständig im Kampfeinsatz gewesen waren. Diese Männer und Frauen waren immer wieder mit offenen Augen ins Feuer gelaufen. Und die meisten von ihnen hatten seine Anspra chen schon einmal gehört. Aber es war eine kleine Tradition. Mike nahm den Helm ab, schaltete das AID aber so, dass es seine Stimme verstärkte, und trat vor das versammelte Bataillon. »Am 25. Oktober 1415 stand in der Nähe von Calais in Frankreich eine kleine Schar Engländer unter dem englischen König Heinrich V. der gesamten französischen Armee gegenüber. Diese Schlacht nannte sich ›Agincourt‹, und sie fand am Tag des Heiligen Krispin statt. Obwohl sie sich einer fünffachen Übermacht gegenübersahen, füg ten sie den besser bewaffneten und besser gepanzerten Franzosen gewaltige Verluste zu und gewannen damit den Sieg. Eine beiläufige Bemerkung von König Henry wurde später von William Shakespeare in die berühmte ›Ansprache vom St.-KrispinsTag‹ umgewandelt.«
Der heut'ge Tag heißt Krispianus' Fest: Der, so ihn überlebt und heimgelangt, wird auf dem Sprung stehn, nennt man diesen Tag, und sich beim Namen Krispianus rühren! Wer heut am Leben bleibt und kommt zu Jahren, der gibt ein Fest am Abend vorher jährlich und sagt: »Am Krispinstag empfing ich die!« Die Alten sind vergesslich, doch wenn alles Vergessen ist, wird er sich noch erinnern Mit manchem Zusatz, was er an dem Tag Für Stücke tat; dann werden unsre Namen Geläufig seinem Mund wie Alltagsworte: Heinrich der König, Bedford, Exeter, Warwick und Talbot, Salisbury und Gloster! Bei ihren vollen Schalen frisch bedacht! Der wackre Mann lehrt seinem Sohn die Mär, Und nie von heute bis zum Schluss der Welt Wird Krispin Krispian vorübergehn, Dass man nicht uns dabei erwähnen sollte, Uns wen'ge, uns beglücktes Häuflein Brüder; Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt, Der wird mein Bruder! Sei er noch so niedrig: Der heut'ge Tag wird adeln seinen Stand, Und Edelleut in England, jetzt im Bett, Verfluchen einst, dass sie nicht hier gewesen, Und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht, Der mit uns focht am Sankt-Krispinus-Tag!
»Immer wieder in der Geschichte der Menschheit hat man sich in berühmten Liedern an kleine Verbände erinnert, die gegen überwäl
tigende Übermacht kämpften. Die kleine griechische Truppe bei Ma rathon, die eine hundertfache persische Übermacht besiegt hat. Das rhodesische SAS-Team, das per Zufall auf eine Guerillatruppe von Regimentsstärke stieß und sie vernichtete. Die Helden von Thermo pylae. Die Männer von Alamo. Die Siebte Kavallerie.« Er hielt inne und ließ den Blick über die stummen Anzüge mit ih ren undurchsichtigen Gesichtsplatten schweifen. Er wusste aus Er fahrung, dass mehr als die Hälfte seiner Leute jetzt gerade dabei wa ren, eine E-Mail zu verfassen oder Musik zu hören oder irgendwo im Web nach einem neuen oder besseren Porno zu suchen. Aber zur Hölle damit. »In Anbetracht unserer Lage glaube ich, dass die letzten drei am bedeutsamsten sind«, fuhr er fort, holte dann einen Priem heraus und schob ihn sich in den Mund. Er spuckte aus, um Platz zu be kommen, und blickte zum Himmel auf. »Heute fliegen wir hier ab, um einen Pass zu erobern und zu halten. Wir werden das tun, bis keiner von uns mehr übrig ist oder uns die Energie oder die Muniti on ausgeht. Ich bin nicht sicher, was uns zuerst ausgehen wird. So, wie die Dinge liegen, wahrscheinlich die Menschen. Wir wenigen, wir beglücktes Häuflein Brüder … In künftigen Jah ren werden Menschen, die jetzt zu Hause in ihren Betten liegen, an diesen Tag denken, und wisst ihr, was sie sagen werden? ›Herrgott, bin ich froh, dass ich damals nicht bei diesen armen todgeweihten GKA-Arschlöchern war, sonst wäre ich jetzt tot.‹ Aber hol's der Teu fel; schließlich zahlt man uns deswegen so ein hohes Gehalt. Und jetzt geht an Bord.«
Nachwort des Autors
Eigentlich hatte ich vor, hier jetzt eine lange, einigermaßen witzige Aufzählung von Danksagungen zu bringen. Natürlich habe ich am 11. September an diesem Roman gearbeitet. Und dann hat sich, wie »man« sagt, die Welt verändert. Na ja, ›man‹ hat Unrecht. ›Die Welt‹ hat sich am 11. September nicht verändert, unser Land hat das. Im Nachwort zu INVASION: Der Angriff schrieb ich, dass »wir in einem Goldenen Zeitalter leben, mit all seinen Stärken und Schwächen.« Jenes goldene Zeitalter sah sich am 11. September in bisher ungeahntem Maße mit der Wirklich keit konfrontiert. Was an jenem Tag geschah, hat viele von uns, mehr als alles andere das konnte, aufwachen lassen. Mich hat es nicht geweckt, ich war bereits wach. Ich war wach, seit ich elf oder zwölf war und im Hafen von Beirut ein Munitionsschiff in die Luft flog. Natürlich war ich damals etwa zehn Straßen ent fernt, also war es … einigermaßen auffällig. »Laut« reicht hier nicht aus. Die Welt war immer schon ein sehr feindseliger Ort, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts für Amerikaner mehr als für irgendein anderes Volk (möglicherweise mit der Ausnahme der Juden). Die Menschen in den Entwicklungsländern zerfallen in zwei deutlich ausgeprägte Gruppen: Sie lieben Amerika oder sie hassen es. Ich bin auf all meinen Reisen nie jemandem begegnet, der in dem Punkt einfach nur gleichgültig war. Wach zu sein war einer der Gründe, dass ich Uncle Sam meinen Körper anvertraut habe. Ich wusste, dass die Barbaren an den Toren standen, selbst wenn sonst keiner hörte, wie sie daran pochten.
Was vielen Amerikanern immer so fern schien, ist für mich stets real und nahe gewesen. Ich musste mich fragen, wie viele meiner Schulfreunde in der Menge waren, die die Botschaft in Teheran stürmten. Ich musste mich fragen, ob mein bester Freund aus der fünften Klasse in Bosnien gestorben ist. Und ich habe mich immer gefragt, wie »es« sein würde. Was »es« war, das meine Landsleute schließlich aus ihrer Selbstgefälligkeit reißen würde. Würde »es« ein Nuke auf Washington sein? Die Pocken? Oder Anthrax? Wie sich dann ergab, war »es« die Zerstörung der Türme des World Trade Center. Im Zweiten Weltkrieg war »es« für die Briten die Invasion Polens und in noch höherem Maße die Invasion Frankreichs. Für die Verei nigten Staaten war »es« Pearl Harbor. Demokratien brauchen ein »Es«, ein untrügliches Zeichen, das den Ruf zu den Waffen so klar und eindeutig erkennen lässt, dass auch die Selbstgefälligsten die Trompeten hören. Niemand weiß, wohin uns in der Zukunft der Weg führen wird. Vielleicht steht uns ein alles vernichtender Krieg bevor, im Vergleich zu dem meine Bücher banal erscheinen. Es kann aber auch sein, dass wir »das Paradigma wechseln« und uns auf dem Rücken unserer Eliten durchkämpfen. Ich weiß nicht, was wir in dem Tunnel finden werden, der vor uns liegt, aber dies eine weiß ich. Genau das ist es. Ein dunkler Tunnel. Es gibt ein Licht an seinem Ende; und dieses Licht ist nicht ein anderer Zug, es ist die Zukunft. Wir werden jene Zukunft schaffen, wie Amerikaner das immer getan haben: eine bes sere, hellere Zukunft. Das Einzige, was es dazu braucht, ist, dass wir als Nation nicht vor diesem Ziel innehalten.
Sie werden nicht alt werden, so, wie wir Übriggebliebene alt werden, das Alter wird sie nicht müde machen … und die Jahre nicht verdammen. Beim Untergang der Sonne und am Morgen werden wir uns ihrer erinnern! – Lawrence Binyon
John Ringo Commerce, Georgia 5. Oktober 2001
Anmerkung des Übersetzers
John Ringo versetzt uns mit seinem Romanzyklus INVASION (Band 1 Der Aufmarsch, erschienen Januar 2004; Band 2 Der Angriff, erschie nen Juni 2004; ein vierter Band ist in Vorbereitung) in eine imaginäre Welt der nahen Zukunft, in der Terra einer uralten und im Lauf der Jahrtausende zu völligem Pazifismus entwickelten galaktischen Fö deration, die Streitkräfte zur Verfügung stellt, die jene wackere neue Welt dringend braucht, um sich gegen eine plötzlich am Rande der Galaxis aufgetretene Bedrohung, die kriegerischen Posleen, zu ver teidigen. In der aus den Streitkräften der ganzen Erde gebildeten Confederation Strike Force, der die Waffengattungen Guard (Garde), Fleet (Flotte) und Strike (Eingreiftruppe) angegliedert sind, nehmen die GKA-Einheiten, eine mit gepanzerten Kampfanzügen ausgestattete Elitetruppe, besondere Bedeutung ein. Als Übersetzer des Zyklus stand ich vor dem Problem, Verständ lichkeit und (das gibt es auch in der Science Fiction) Authentizität unter einen Hut zu bringen, und deshalb habe ich mich in der (exis tierenden ebenso wie der fiktiven) militärischen Nomenklatur weit gehend der englischen und der Posleen-Fachausdrücke bedient und diese – soweit sinnvoll und erforderlich – im Glossar und diesem kurzen Anhang erklärt. Ein kurzer Vergleich amerikanischer Rangbezeichnungen und -stufen mit den entsprechenden deutschen Begriffen schien mir sinnvoll, wobei ich mich im Wesentlichen an den Dienstgraden und Einheiten der Army (als des Heeres) beschränkt habe, um die Ver wirrung einigermaßen in Grenzen zu halten. Ich darf aber darauf hinweisen, dass die anderen Waffengattungen teils davon abwei
chende Bezeichnungen haben, die auch in diesen Bänden auftau chen. Die Rangstruktur der Posleen und deren wichtigste Waffensyste me sind ebenfalls in einem kurzen Glossar dargestellt. Da das Pro blem der Übersetzung der galaktischen Sprachen bisher noch nicht abschließend gelöst wurde – Fachleute der Konföderation und ihre AIDs arbeiten mit Hochdruck daran –, sind gewisse Vorbehalte an gebracht. Und da ich zwar Übersetzer, aber kein Soldat bin – oder je war –, bitte ich die Leser um Nachsicht, wenn mir auch noch in diesem Band bei dem Versuch, echte und fiktive Militaria ins Deutsche zu übertragen, und trotz intensiver und kollegialer Unterstützung vie ler Leser, die auf meine Hinweise in den beiden ersten Bänden rea giert haben (wobei ich insbesondere »Tomcat« Franke hervorheben möchte), irgendwelche Ungenauigkeiten unterlaufen sein sollten. Für Hinweise in dieser Richtung (
[email protected]) bedanke ich mich schon im Voraus herzlich. Heinz Zwack
Die Dienstgrade und Kampffahrzeuge der Posleen
»Lander« – Posleen: »Po'osol«: Landungsfahrzeug. Enthält 400 bis 600 Normale und einen Gottkönig K-Dek – Kommando-Dodekaeder (Posleen: Oolt'po'oslena'ar) mit dem ranghöchsten Gottkönig eines G-Dek-Segmentschiffs – Oolton dai – und den meist am besten bewaffneten Normalen. Mit Interstel larantrieb ausgestattet. Fassungsvermögen beträgt 1400 bis 1800 Normale und 3 bis 6 Gottkönige sowie einige leichte Panzerfahrzeu ge einfacher Bauart G-Dek – Gefechts-Dodekaeder. Segmentschiff der Posleen, beste hend aus einem innen angeordneten Kommandoschiff (K-Dek) und zwölf Landungsfahrzeugen (»Lander«) Battle – Globe Ein großes Posleen-Segmentschiff, das aus mehre ren hundert G-Deks besteht Dranasar – Patrouillenrneister, Einsatzoffizier für Patrouillen Kenallai – Ranghoher Schlachtenmeister. Entspricht dem Colonel oder Brigadier General Kenallurial – Ableitung von Kenallai. Entspricht Lieutenant oder Captain Kessentai – Gottkönig (wörtlich »Philosoph« oder »Denker«) Lamprey – Siehe Oolt Po'osol Oolt – Gruppe oder Kompanie (wörtlich: »Rudel«) Oolt'ondai – Bataillons- oder Brigadekommandeur, Oberst, (wört lich: »Großes-Rudel-Führer«)
Oolt'ondar – Brigade (G-Dek-Einheit)/oder Bataillon (KDek-Ein heit) Oolt'os – »Normales« (wörtlich: »Rudelmitglied«) Oolt Po'osol – Lamprey, fasst eine Kompanie Posleen mit Kessen tai Oolton – Bataillon oder Brigade (wörtlich: »Großes Rudel«) Spürmeister – Kundschafterdienstgrad Tenaral – »Fliegende Tanks« Tenar – untertassenähnliches Kampffahrzeug der Gottkönige. Mit schwerer Waffe und umfangreicher Sensorik ausgestattet Die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse der Föderationstruppen reichen bis zur Stunde nicht aus, die für menschliche Verhältnisse etwas verworren wirkenden Rangstufen der Posleen in ein eindeuti ges Raster einzuordnen. Prinzipiell sind jedenfalls zwar alle Gottkö nige der Posleen nominell unabhängig, Offiziere der unteren Rang stufen erwarten jedoch üblicherweise Anweisungen ihrer überge ordneten Offiziere.
Glossar
Aarnadaha – Hochrangiger Posleen-Schlachtenmeister Abat – Ein schwer auszurottender Schädling, der sich auf PosleenLandungsbooten einzunisten pflegt Abrams – 60 Tonnen schwerer Panzerwagen Adenast – Föderationswelt auf der der Posleen-Invasion abge wandten Seite Aelool – Indowy-Meisterwerker AFV – Gepanzertes Kampffahrzeug. Schwer gepanzerter Truppen transporter oder Tank (AFV = Armored Fighting Vehicle) AID – Meist am Handgelenk getragener Universalcomputer höchster Leistung. Auch für Kommunikationszwecke einsetzbar (Artificial Intelligence Device) AirCav – Luft-Kavallerie. Mit Hubschraubern ausgerüstete Kund schafter AIW – Moderne Infanteriewaffe (Advanced Infantry Weapon) Alld'nt – Dämonen oder Himmelsgötter in der Mythologie der Posleen. Die Alld'nt stehen in dem Ruf, große Geschenke zu ma chen, aber auch großen Schaden zu verursachen AMRAAM – Advanced Medium-Range Air-to-Air Missile – (LuftLuft-Rakete mittlerer Reichweite) Anarlaralta – Dem Alrantath unterstellter Spürmeister der Posleen (Eson'antai) ANCD – Automated Network Control Device: »automatisiertes Datenverbundund Steuerungsgerät« = Gerät zur Koordinierung von
Gefechtsfelddaten und Übermittlung von Trefferkoordinaten an die Feuerleitstelle Andatha – Region auf Barwhon, wo das Gros der US-Expediti onsstreitkräfte eingesetzt ist APC – Gepanzerter Truppentransporter. Leicht bewaffnete und leicht gepanzerte kastenförmige Kettenfahrzeuge (Armored Person nel Carrier) Aradan – Posleen-Bezeichnung für den in der Föderation als Diess bezeichneten Stern Ahkabad – Stadt in Turkmenistan AWOL – Fahnenflüchtig (Absent Without Leave) Banshee – »Tarnkappen«-Shuttles der menschlichen Streitkräfte Barrett – Firearms In Murfreesboro, Tennessee, ansässiger Herstel ler eines äußerst leistungsfähigen Scharfschützengewehrs Kaliber .50 Barwhon – Von den Tchpth besiedelter Planet. Kalt und feucht und fast ausschließlich aus Sümpfen, Seen und Russen bestehend Battlenet – Menschliches Kommandonetz für die Kontinentalver teidigung Belvoir, Fort – Hauptquartier des Ingenieur-Korps der US-Armee (US Army Corps of Engineers) in einem Vorort von Washington, DC Beretta – Standard-Seitenwaffe der US-Bodentruppen Blackhawk – Militärhubschrauber mit mittlerer Ladekapazität Blastplas – Material, aus dem Feuerschutztüren hergestellt sind Bouncing Betty – »Hüpfende Betty«. Amerikanische Mine, die vor der Explosion auf Hüfthöhe springt Bradley – Panzer mit Zwei-Mann-Besatzung sowie acht Infanteris ten. Mit 25-mm-MG und einem TOW-Abschussgerät für zwei Rake ten bestückt Bragg, Fort – Ort in North Carolina, Heimatstützpunkt der Fall schirmtruppen (Airborne)
Bullpup – Sturmgewehr, bei dem das Munitionsmagazin hinter der Schusshand angeordnet ist, was einen besonders kurzen Bau der Waffe ermöglicht Bushmaster – 25-mm-Maschinengewehr auf einem Bradley-Pan zer (»chaingun«) CAC – Befehlshaber der Kontinentalarmee; Sitz: Pentagon (Conti nental Army Command) Cav – Kavallerie Chorho – Geburtsort Claymore – Richtmine; bestehend aus einer konvex gekrümmten Außenschale mit zwei oben angebrachten Öffnungen für Zünder. Der hintere Teil besteht aus einer dünnen Metallplatte und blattför mig ausgebildetem Sprengstoff sowie 750 Kugellager-Kugeln CONARC – Kommando der Kontinentalarmee (Continental Army Command) COS – Stabschef (Chief of Staff) Cosslain – Überlegenes Normales Darhel – Rasse in der Galaktischen Föderation DataNet – Informationsnetz der Posleen. Dem Internet sehr ähn lich, allerdings ohne Index-Tools Diess – Indowy-Planet, der von den Posleen angegriffen wird Edan – Schlachtkoller; Gefechtskoller der Posleen Edas – Darlehen zur Existenzgründung, auch allgemein »Schul den« Edas'antai – Posleen: Primärer genetischer Sponsor. Vater EDT – Eastern Daylight Time (Sommerzeit an der Ostküste der USA) Ensign – Offiziersdienstgrad in der US Navy unter Lieutenant Ju nior grade Eson'antai – Posleen: Primäres genetisches Derivat, Sohn Esonal – Posleen: Ovipositor, Legeröhre
Eson'ora – Posleen: Rangniedriger Offizier, Protege Essdrei – S-3 Planung Esszwo – S-2 Nachrichtendienste Esstanar – Großer Kriegsführer, Khan Executive Officer (»XO«) – Stellvertreter des Kommandeurs einer militärischen Einheit Farbase – Militärischer Hauptstützpunkt auf dem Mond. Die Basis ist auf der Rückseite des Mondes in einem Krater versteckt, um so die Gefahr einer Entdeckung durch die Posleen zu reduzieren FedCreds – Föderations Credits FireTac – Koordinationsnetz der Artillerie Fistnal – Posleen: Verdammt (wörtlich: »Gefressen« – Kurzform für »Von Himmelsdämonen gefressen«) Flechette – Mit Richtflossen versehener Metallbolzen Fusdrt – Posleen: Dämonen Fuscirto – Posleen: Dämonen. Teil einer wortreichen Verwün schung, die man sinngemäß mit »Dämonenscheiße« übersetzen kann GalMed – Galaktische Medizin. Sammelbezeichnung für eine Viel zahl galaktischer Medikamente und Therapien, die die Föderation der Erde zur Verfügung gestellt hat Galplast – Galaktisches strukturelles Material GalTech – Galaktische Technologien. Sammelbezeichnung für eine Vielzahl von Technologien, die die Föderation der Erde zur Verfügung gestellt hat Gamalada – Clan der Po'oslena'ar Gatling – Mit mehreren Läufen versehene Automatikwaffe Ghillie – Tarnanzug, der die Konturen eines Infanteristen oder Scharfschützen verdeckt. Ursprünglich von Wildhütern (und Wild dieben) in Schottland während des Ersten Weltkriegs eingeführt Ghurka – Nepalesische Söldner-Elitesoldaten
Glock – Pistolentyp Grat – Seltener und höchst unangenehmer Schädling der Posleen. Ähnelt einer sehr großen Ameise und bildet Kolonien Hiberzine – Galaktisches Präparat, das sofortige Bewusstlosigkeit erzeugt und den Benutzer auf bis zu 2180 Tage in eine Art künstli chen Winterschlaf versetzt. Kombiniert pharmakologische Substan zen mit Nanniten. Die Dosis wird von der Substanz selbsttätig ange passt, so dass Unter- oder Überdosierung unmöglich ist Himmit – Föderationsrasse. Vom Wesen her feige; gute Spür meis ter HUD – Head-up-Display: Optisches System, das Navigations-, Flug- oder Gefechtsdaten in das Gesichtsfeld des Piloten projiziert. (Neuerdings auch für Tachodaten und dergleichen in Automobilen der Oberklasse erhältlich) Humvee – Militärfahrzeug (High Mobility Multi-Use-Vehicle (HMMV) HVM – Hochgeschwindigkeits-/Hypergeschwindigkeitsprojektile (Hypervelocity Missiles) ICM – Marschflugkörper mit gesteigerter Kampfkraft (Improved Capability Missile) IVIS – Datenverbund für den gesamten Datenaustausch im Be reich der Artillerie und Panzertruppen (Inter Vehicular Information System) Indowy – Galaktischer Planet, dem eine Invasion der Posleen droht Irmansul – Darhel-Planet, der augenblicklich von den Posleen an gegriffen wird Kastellan – Verwalter eines Posleen-Anwesens Kenstain – Posleen: Bezeichnung eines Kastellans. Kastellane sind Gottkönige einer niedrigeren »Kaste« und werden aus Gottkönigen »geformt«, die entweder freiwillig das Kämpfen aufgegeben oder sich als unfähig oder feige erwiesen haben
Kerlan – Bezeichnung der Posleen für den Planeten Barwhon Kessanalt – Posleen: In der Schlacht erworbene Ehre Kevlar – Aramid-Faser, die für Schutzkleidung benutzt wird. Da mit werden auch die vom Personal der US-Bodenstreitkräfte getra genen Helme bezeichnet Lidar – Laser-Ortungssystem (Light-RaDAR) Maglite – Ein Taschenlampentyp, der von der Polizei und SpecialOperations-Mannschaften bevorzugt wird Manjack – Automatisches Maschinengewehr Mikrit – Kleines Robotfahrzeug, größer als Nannit Milnet – Militärisches Internet-Interface Milspecs – Mit galaktischer Technik hergestellte Brille. Gleicht im Aussehen einer »Wrap-Around«-Sonnenbrille. Verfügt über unein geschränkte Lichtverstärker-Fähigkeiten Monomolecular – Einzelnes sehr großes Molekül. Eine nicht nur unglaublich starke, sondern auch nahezu unendlich dünne und da her sehr scharfe Substanz MRE – Militärrationen in Plastikverpackung, die keiner Zuberei tung bedürfen (Meal Ready to Eat) Nanniten – Mikroskopische mechano-elektrische »Maschinen«, die von der Galaktischen Föderation für eine Vielzahl von Anwen dungen genutzt werden NCO – Unteroffiziersdienstgrad Nomex – Feuersicheres Gewebe Nuke – Atombombe oder Atomgranate Occoquan – Fluss, Ortschaft und Reservoir im nördlichen Virginia Orna'adar – Posleen: Letzte Schlacht – Ragnarök. Ein Kampf um schwindende Ressourcen, der zur Zerstörung der betreffenden Welt und zur Vernichtung aller Posleen auf ihr führt Piastahl – Galaktisches Panzermaterial Polylon – Galaktisches Webmaterial
Po'oslena'ar – Posleeen (wörtlich: »Die Leute von den Schiffen«) Po'osol – Posleen: Landungsfahrzeug. Enthält 400 bis 600 Normale und einen Gottkönig Posleen – Feindliche Aliens. grünlich-gelbe Zentauroiden. Schulterhöhe dreizehn bis 15 Hand. Sauroider Kopf mit vielen Zäh nen auf langem Schlangenhals. Die »Hände« sind vierfingrige Kral len mit Daumen ähnlich den Fisch fressenden Raubvögeln. Bei den Füßen handelt es sich um verkürzte Krallen, die sich sowohl zum Laufen als auch zum Aufreißen der Beute eignen Präserfilm – Material, um Waffen luftdicht zu verpacken (einzu schweißen) Provigil – Präparat, das den Schlaf verhindert PVZ – Planetarisches Verteidigungszentrum Rabun Gap – »Rabun-Lücke«, strategisch wichtiger Pass auf ge ringer Höhe im nördlichen Georgia Radom – Radarkuppel. Radome sind Schutzhüllen für im Freien eingesetzte Einzelantennen oder Antennensysteme Ragnarök – Weltuntergang in der nordischen Mythologie Railgun – Elektromagnetische Waffe, bei der das Projektil ähnlich einem Linearmotor durch Elektromagnete beschleunigt wird Reticulan – Wörtlich: »Netzähnlich«. Militärplan, der eine Trup penverteilung der Art vorsah, die eine Ladung der Posleen – und Vernichtung der jeweiligen Truppe – verhindern sollte. Von den Be fürwortern als »Sieg im Detail«, den Gegnern als »Ridicuplan« oder Lachnummer bezeichnet. Seabees – Die Pionier- und Bautruppe der amerikanischen Marine SecDef – Verteidigungsminister (Secretary of Defense) Simosin, Arkady – Kommandeur des Wth Corps SpecOps – Special Operations Stolperdraht In Kniehöhe gespann ter Stacheldraht, der angreifende feindliche Truppen zu Fall bringen soll
SubUrb – Unterirdische Städte zur Aufnahme der evakuierten Zi vilbevölkerung der von den Posleen vernichteten Städte TacCO – Tactical Actions Officer for Continental Defense Com mand – Taktikoffizier im Kontinentalkommando TacSO – Tactical Systems Officer for Continental Defense Com mand Tchpth – Galaktische Rasse. Pseudoarthropoden, die abgesehen von ihrer blauen und roten Färbung verblüffende Ähnlichkeit mit Dungerness-Krabben zeigen. Berühmt als Wissenschaftler und Phi losophen Te'naal – Berserker-Angriff Tel'enaa – Posleen: »Schlachtdämonen« – Teil einer wortreichen Verwünschung. »Mögen die Dämonen der Schlacht ihre Seelen fres sen und darauf scheißen«) Tenal'ont – Posleeen: Kompaniechef-Name Terawatt – Eine Billion Watt TERDEF – Terran Defense, Terranisches Verteidigungskommando Thresh – Posleen: Nahrung Thresh'c'oolt Eiserne Rationen der Posleen Threshkreen – Posleen: Feind (wörtlich »Nahrung mit Stachel«) Tindar – Clan der Darhel Tir – Mittlere Rangstufe der Darhel Tir Dol Ron – Führungspersönlichkeit der Darhel TLE – Treibstoff-Luft-Explosion Top – Bezeichnung für den ranghöchsten unmittelbar einem Offi zier unterstellten First Sergeant einer Einheit TOW – Drahtgesteuerte Lenkwaffe mit optischem Verfolgungssys tem – Tube-launched Optically-tracked Wireguided missile Uut – Posleen: Fäkalien UZB – Universelle Zieldatenbank
X.O. – Executive Officer, bei der Marineinfanterie (Marines) Be zeichnung für stellvertretenden Befehlshaber
Spezifikationen SheVa Eins
Höhe: 51 m, Boden bis Oberseite Turm Ketten: vier, Kettenhöhe 8,10 m Breite einer Einzelkette: 45 m Gewicht einer Kette: 371 Gesamte Fahrzeugbreite: 127 m Gesamte Fahrzeuglänge: 156 m Geschützlänge: 60 m Bohrung: 16 Zoll = 40 cm Geschossgewicht: 161 (Projektil Kartusche und Treibladung) Kartuschenlänge: 4,90 m Kartuschendurchmesser: 81 cm Reaktoren: 4 Johannes / Cummings Kieselbetturan / Helium Antriebsmotoren: 48 Gesamtenergie: 12.000 PS Leergewicht: etwa 7.0001