DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren en...
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DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Seit 1965 lebt er in New York City, wo er zunächst als Lektor tätig wurde. Seine ersten Bücher waren im Bereich Humor angesiedelt. Seit 1986 hat er sich jedoch ganz den Gruselgeschichten verschrieben.
Der Autor selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.« Seit 1992 der erste Band von GÄNSEHAUT (GOOSEBUMPS) in Amerika erschienen ist, hat sich die Serie binnen kürzester Zeit zu dem Renner entwickelt. Durch GÄNSEHAUT sind - das belegen zahlreiche Briefe an den Autor - viele Kinder, die sich bis dato nicht sonderlich für Bücher interessiert haben, zu Lesern geworden.
R. L Stine
Der Geist ohne Kopf
Aus dem Amerikanischen von Katarina Ganslandt
Band 20930
Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von C. Bertelsmann,
Siehe Anzeigenteil am Ende des Buches für eine Aufstellung der bei OMNIBUS erschienenen Titel der Serie.
Deutsche Erstausgabe Januar 2001 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps # 37: The Headless Ghost« bei Scholastic, Inc., New York © 1995 byThe Parachute Press, Inc. All rights reserved. Published byarrangement with Scholastic, Inc., 555 Broadway, New York, NY 10012, USA. »Goosebumps«™ and »Gänsehaut«™ and its logos are registered trademarks of The Parachute Press, Inc. © 2001 für die deutsche Übersetzung C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag GmbH, München Übersetzung: Katarina Ganslandt Lektorat: Janka Panskus Umschlagkonzeption: Klaus Renner Ht - Herstellung: Stefan Hansen Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20930-X • Printed in Germany 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1
Stephanie Alpert und ich spuken oft bei uns in der Nachbarschaft herum. Die Idee dazu kam uns letztes Halloween. In unserer Gegend wohnen viele Kinder und es macht echt Spaß, sie abends als Geister heimzusuchen und zu erschrecken. Manchmal schleichen wir uns spätabends verkleidet aus dem Haus und starren in die Fenster der Kinderzimmer. Oder wir deponieren abgetrennte Hände oder einzelne Finger aus Gummi auf den Fensterbrettern. Gelegentlich werfen wir auch irgendwelche ekligen Sachen in die Briefkästen. An anderen Tagen verstecken wir uns im Gebüsch oder hinter Bäumen und geben total gruselige Laute von uns - Raubtierschreie oder geisterhaftes Stöhnen. Stephanie kann ein markerschütterndes Werwolfheulen imitieren. Und wenn ich den Kopf in den Nacken lege und schrill und laut kreische, zittern sogar die Blätter an den Ästen. Die Kinder in unserer Gegend sind ganz schön eingeschüchtert. Morgens sehen wir häufig welche, die erst mal ängstlich zur Tür hinausspähen, bevor sie herauskommen. Und abends trauen sich sowieso die wenigsten noch allein nach draußen. Wir sind ganz schön stolz auf uns. Tagsüber sind wir einfach Stephanie Alpert und Danny Comack, zwei ganz gewöhnliche Zwölfjährige. Aber sobald es Nacht wird, verwandeln wir uns in die Grauen erregenden Gruselgeschwister von Wheeler Falls. Aber das weiß niemand. Keine Menschenseele. Wir sehen aus wie alle anderen Sechstklässler, die mit uns auf die Wheeler-Highschool gehen. Wir haben beide braune Haare und braune Augen. Und wir sind beide groß und dünn. Stephanie scheint nur deshalb ein paar Zentimeter größer zu sein, weil ihr Haar mehr Volumen hat. 5
Manche Leute, die uns zusammen sehen, halten uns für Bruder und Schwester. Sind wir aber gar nicht. Wir haben beide keine Geschwister und das macht uns auch überhaupt nichts aus. Stephanie wohnt gegenüber von mir. Wir gehen morgens zusammen zur Schule und tauschen immer unsere Pausenbrote, obwohl wir von unseren Eltern beide meistens Brote mit Erdnussbutter und Marmelade eingepackt bekommen. Wir sind normal. Total normal. Das einzig Ungewöhnliche an uns ist unser geheimes, nächtliches Hobby. Wie wir auf die Idee kamen, als die Grauen erregenden Gruselgeschwister aufzutreten? Tja, das ist eine lange Geschichte. Letztes Halloween war eine sternenklare, kühle Nacht. Über den kahlen Baumkronen schwebte ein riesiger Vollmond. Ich hatte mich als Sensenmann verkleidet und mich vor das Fenster von Stephanies Zimmer gestellt. Auf Zehenspitzen versuchte ich in ihr Zimmer zu spähen, um einen Blick auf ihr Kostüm zu erhaschen. »He - weg da, Danny! Gucken gilt nicht!«, brüllte sie durch das geschlossene Fenster nach draußen. Dann zog sie das Rollo runter. »Ich hab gar nicht geschaut. Ich habe mich nur ein bisschen gestreckt!«, brüllte ich zurück. Ich war echt gespannt auf Stephanies Kostüm. Sie hat immer die genialsten Einfalle für Halloween. Im Jahr davor kam sie zum Beispiel von Kopf bis Fuß dick in grünes Klopapier gewickelt aus dem Haus gewackelt. Man sah sofort, dass sie ein lebender Eissalat sein sollte. Aber dieses Jahr rechnete ich mir gute Chancen aus, sie zu übertrumpfen. Ich hatte mir mit meinem Sensenmannkostüm aber auch wirklich Mühe gegeben. Ich trug hohe Plateauschuhe - so hoch, dass ich Stephanie damit locker überragen würde. Dazu einen langen schwarzen Kapuzenumhang, der am Boden schleifte. Meine braunen Locken hatte ich unter einer Gummimaske versteckt, die meinen Kopf wie einen knochigen Totenschädel aussehen ließ. Und ich hatte mir ekelhafte Schminke ins Gesicht geschmiert, die die Farbe von schimmeligem Brot hatte.
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Mein Dad wollte mich überhaupt nicht anschauen. Er sagte, bei meinem Anblick würde ihm speiübel. Wenn das kein Erfolg war! Ich konnte kaum erwarten zu sehen, wie es Stephanie speiübel wurde, und klopfte deshalb mit meiner langen Sense gegen die Scheibe. »He, Steph - Beeilung!«, brüllte ich. »Ich kriege langsam Hunger. Ich brauche was Süßes!« Ich wartete und wartete. Irgendwann begann ich im Vorgarten auf und ab zu gehen. Mein langer Umhang strich raschelnd über den mit trockenem Laub bedeckten Rasen. »He! Wo bleibst du denn?«, rief ich wieder. Aber Stephanie blieb stumm. Ich stöhnte ungeduldig und wandte mich dem Haus zu. In diesem Moment sprang mich ein riesiges behaartes Tier von hinten an und biss mir den Kopf ab.
Na ja, nicht richtig. Aber es versuchte es. Es knurrte bösartig und wollte sich mit seinen schimmernden Reißzähnen in meiner Kehle festbeißen. Ich stolperte rückwärts. Das Wesen sah aus wie eine riesige schwarze Katze, von Kopf bis Pfote mit struppigem, schwarzem Pelz bedeckt. Aus den haarigen Ohren und der schwarzen Nase sickerte gelblicher Schleim und seine langen, spitzen Zähne blitzten in der Dunkelheit auf. Das Tier knurrte wieder und streckte mir eine behaarte Pfote entgegen. »Süßigkeiten... her mit allen deinen Süßigkeiten!« »Stephanie...!«, stieß ich mit erstickter Stimme hervor. Das war doch Stephanie, oder? Als Antwort rammte mir das Tier seine Klauen in den Bauch. Und da sah ich an seinem behaarten Gelenk Stephanies Mickymaus-Armbanduhr glänzen. 7
»Wahnsinn, Stephanie! Du siehst hammermäßig aus. Echt, du...« Weiter kam ich nicht. Stephanie duckte sich hinter eine Ecke und zerrte mich mit sich zu Boden. Meine Knie schrappten über die harte Erde. »Aua! Hast du einen Knall?«, beschwerte ich mich. »Was solider Quatsch?« In diesem Moment zog eine Gruppe verkleideter Kinder an uns vorbei. Stephanie sprang hinter der Hecke hervor. »Arrgrrrh!«, knurrte sie. Die kleinen Kinder erschraken total. Sie drehten sich sofort um und stürmten hysterisch kreischend davon. Drei von ihnen verloren bei der Flucht ihre Süßigkeitentüten, die Stephanie gierig aufsammelte. »Mhmmmm, lecker!« »Ha, die haben sich fast in die Hose gemacht!«, rief ich und sah den davonrennenden Kindern hinterher. »Wahnsinn!« Stephanie begann zu lachen. Sie hat so ein hohes glucksendes Lachen, das total ansteckend ist. Es hört sich an wie ein Huhn, das gekitzelt wird. »Ja. Das war echt ziemlich witzig«, stimmte sie mir zu. »Witziger als von Haus zu Haus gehen und von den Erwachsenen Süßigkeiten zu erpressen.« Also verbrachten wir den Rest des Abends damit, kleine Kinder zu erschrecken. Besonders viele Süßigkeiten hatten wir am Ende nicht, aber dafür eine Menge Spaß. »Oh Mann, war das nicht super, wenn wir das jeden Abend machen könnten!«, begeisterte ich mich auf dem Nachhauseweg. »Können wir doch«, behauptete Stephanie grinsend. »Ich wüsste nicht, wo geschrieben steht, dass man Kinder nur an Halloween erschrecken kann -falls du verstehst, was ich meine.« Ich verstand genau, was sie meinte. Sie warf ihren struppigen Kopf in den Nacken und krähte ihr Hühnerlachen. Ich fiel mit ein. Das war der Beginn unseres Spuktreibens in der Gegend. Spätabends schlagen die Grauen erregenden Gruselgeschwister zu und terrorisieren die Nachbarschaft. Wir sind überall! Na ja ... fast überall. Es gibt nur einen Ort in der Gegend, an dem sogar Stephanie und ich eine Gänsehaut bekommen. Und zwar ist das ein uraltes Haus, 8
das ein paar Straßen weiter steht. Es wird das Hill House genannt, weil es auf einem hohen Hügel in der Hill Street steht. Ich weiß, ich weiß - es gibt eine Menge angeblicher Spukhäuser. Aber im Hill House spukt es wirklich. Stephanie und ich wissen das mit Sicherheit. Denn dort ist uns der Geist ohne Kopf erschienen.
Hill House ist die größte Touristenattraktion in Wheeler Falls und - um ehrlich zu sein - die Einzige. Womöglich habt ihr ja selbst schon mal von dem Haus gehört. Es ist schon in vielen Büchern beschrieben worden. Dort finden stündlich Besichtigungstouren statt. Die Führer tragen unheimliche schwarze Uniformen, benehmen sich so, dass man echt Angst kriegt, und erzählen gruselige Geschichten über das Haus. Bei manchen von ihren Gespenstergeschichten läuft mir ein kalter Schauder über den Rücken. Stephanie und ich nehmen echt gern an den Führungen teil, besonders wenn Otto an der Reihe ist. Otto macht es unserer Meinung nach am besten. Er ist groß, glatzköpfig und Furcht erregend, mit winzigen schwarzen Augen, die direkt durch einen hindurchzublicken scheinen. Und er hat eine dunkle, dröhnende Stimme, die aus der Tiefe seiner massigen Brust ertönt. Wenn Otto uns von einem Zimmer des alten Hauses in das nächste führt, senkt er seine Stimme manchmal zu einem Flüstern. Er spricht dann so leise, dass man ihn kaum noch versteht. Und dann treten seine winzigen Augen hervor, er streckt den Zeigefinger aus und brüllt: »Da ist der Geist! Da!« Stephanie und ich kreischen jedes Mal auf. Sogar Ottos Lächeln macht einem Angst.
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Stephanie und ich haben die Führung so oft mitgemacht, dass wir sie praktisch schon selbst übernehmen könnten. Wir kennen jedes einzelne der gruseligen alten Zimmer. Und jeden Ort, an dem schon mal Geister gesehen wurden. Echte Geister! Wir finden das Haus einfach genial. Wie das Haus zu einem Spukhaus geworden ist? Also gut, hier ist die Geschichte, die Otto, Edna und die übrigen Führer erzählen: Hill House ist zweihundert Jahre alt. Und es ist praktisch schon von dem Moment an verflucht gewesen, als die ersten Steine zu seinem Bau aus dem Steinbruch geholt wurden. Ein junger Schiffskapitän ließ das Haus für seine frisch angetraute Braut errichten. Aber genau an dem Tag, an dem es fertig gestellt war, lief sein Schiff aus. Seine junge Frau zog ganz allein in das riesige Haus. Es war kalt und dunkel. Die Korridore schienen endlos und es gab zu viele Räume, um sie alle zu bewohnen. Monatelang starrte sie aus dem Fenster ihres Schlafzimmers, das auf den Fluss blickte. Sie wartete geduldig auf die Rückkehr ihres Kapitäns. Der Winter kam und ging. Dann der Frühling. Schließlich der Sommer. Aber der Kapitän kehrte nie mehr zurück. Das Meer hatte ihn in die Tiefe gerissen und verschluckt. Ein Jahr nach dem Verschwinden des Kapitäns wurden die langen Flure von Hill House erstmals von einem Geist heimgesucht. Es war der Geist des jungen Kapitäns. Er hatte sein nasses Grab verlassen, um nach seiner Frau zu suchen. Nacht für Nacht schwebte er durch die langen, verwinkelten Korridore. Er schwang eine Laterne und rief laut den Namen seiner Frau. »Annabell! Annabell!« Doch Annabell blieb stumm. Voller Trauer war sie aus der riesigen Villa geflohen und nie mehr gesehen worden. Schließlich zog eine neue Familie in das Haus. Im Laufe der Jahre 10
behaupteten mehrere Personen, die nächtlichen Rufe des Geistes gehört zu haben. »Annabell! Annabell!«, habe es durch die verwinkelten Flure und kalten Zimmer des Hauses gehallt. »Annabell! Annabell!« Die Menschen hatten die klagenden Rufe zwar gehört, aber gesehen hatte den Geist niemand. Vor hundert Jahren wurde das Haus schließlich von einer Familie namens Craw gekauft. Die Craws hatten einen dreizehnjährigen Sohn, Andrew. Andrew war ein bösartiger Junge. Er hatte großen Spaß daran, der Dienerschaft grausame Streiche zu spielen und sie zu Tode zu erschrecken. Einmal schleuderte er eine Katze aus dem Fenster und war sehr enttäuscht, als sie den Sturz überlebte. Nicht einmal Andrews eigene Eltern wollten etwas mit ihrem bösen Sohn zu tun haben. Also musste er sich allein die Zeit vertreiben. Er durchstreifte das alte Gemäuer und überlegte sich, wie er anderen Schaden zufügen konnte. Eines Tages entdeckte er durch Zufall ein Zimmer, in dem er noch nie gewesen war. Er stieß eine schwere Holztür auf, die mit lautem Knarren aufschwang. Dann trat er ein. Auf einem kleinen Tischchen glomm schwach eine Schiffslaterne. Andere Möbel sah der Junge in dem geräumigen Zimmer nicht. Am Tisch saß niemand. Merkwürdig, dachte er. Was macht denn die angezündete Laterne in dem leeren Zimmer? Andrew ging auf die Laterne zu. Als er sich über sie beugte, um den Docht niedriger zu drehen, erschien der Geist. Der Kapitän! Über die Jahre war der Geist gealtert und hatte sich in eine Furcht erregende Kreatur verwandelt. Seine weißen Fingernägel waren so lang geworden, dass sie spiralförmig wuchsen. Hinter den geschwollenen, aufgesprungenen Lippen blitzten schwarze, geborstene Zahnstümpfe hervor. Und sein Gesicht war von einem zotteligen weißen Bart überwuchert. Der Junge starrte ihn voller Entsetzen an. »Wer – wer bist du?«, stammelte er. 11
Der Geist sagte kein Wort. Er schwebte im fahlgelben Licht der Laterne und sah den Jungen hasserfüllt an. »Wer bist du? Was willst du? Was machst du hier?«, fragte der Junge erneut. Als der Geist wieder nicht antwortete, drehte Andrew sich um und versuchte zu fliehen. Aber er hatte noch keine zwei Schritte gemacht, als er auch schon den eisigen Atem des Geistes im Nacken spürte. Andrew wollte nach der Tür greifen, doch der Geist wirbelte um ihn herum. Wirbelte wie ein Strudel schwarzen Rauchs inmitten des schwachen gelben Scheins der Laterne. »Nein! Hör auf!«, kreischte der Junge. »Lass mich gehen!« Da öffneten sich die Lippen des Geistes und gaben den Blick auf ein schwarzes Loch frei. Und endlich sprach er auch - mit einer Flüsterstimme, die klang wie das Rascheln welker Blätter. »Jetzt, wo du mich gesehen hast, kann ich dich nie mehr gehen lassen.« »Nein!«, schrie der Junge. »Lass mich gehen! Lass mich gehen!« Aber der Geist achtete nicht auf seine Schreie. Er wiederholte nur noch einmal, was er geflüstert hatte: »Jetzt, wo du mich gesehen hast, kann ich dich nicht mehr gehen lassen.« Der alte Geist hob die knochigen Arme und näherte sich dem Jungen. Seine eiskalten Finger berührten Andrews Gesicht. Umklammerten es. Packten es. Und dann?
Der Geist riss dem Jungen den Kopf von den Schultern - und versteckte den Kopf irgendwo im Haus! Danach stieß er einen allerletzten Schrei aus, der so markerschütternd war, dass er sogar die massiven Steinmauern erzittern ließ - »Annabell! Annabell!« und verschwand für immer.
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Aber das bedeutete nicht, dass Hill House die Geister los gewesen wäre. Denn ab jetzt spukte ein neues Gespenst durch die endlosen, verschlungenen Korridore. Andrew! Jede Nacht durchforscht seitdem der Geist des armenjungen die Flure und Zimmer auf der Suche nach seinem verschwundenen Kopf. Otto und die anderen Führer behaupten, dass man die Schritte des kopflosen Geistes hören kann, wenn er sucht und sucht. Aber auch die anderen Zimmer des Hauses haben alle ihre eigene Furcht erregende Geschichte. Ob sie wahr sind? Also, Stephanie und ich glauben jedenfalls daran. Deswegen machen wir die Führung auch so oft mit. Wir beide müssen schon an die hundert Mal in dem alten Haus gewesen sein. Hill House ist für uns einfach das Größte. Vielleicht sollte ich eher sagen, es war das Größte – bis Stephanie einen ihrer genialen Einfälle hatte. Danach hat das Haus ziemlich viel von seiner Anziehungskraft auf uns verloren. Es wurde zu einem echten Ort des Grauens.
Das Ganze begann vor ein paar Wochen, als Stephanie plötzlich anfing sich zu langweilen. Es war ungefähr zehn Uhr abends und wir spukten mal wieder in der Nachbarschaft herum. Vor Mary Jeffers Schlafzimmerfenster stießen wir unser schauerliches Wolfsheulen aus. Danach gingen wir zu Terri Abel und warfen ein paar Hühnerknöchelchen in den Briefkasten - es ist ganz schön gruslig, wenn man seine Briefe rausholen will und stattdessen nackte, kalte Knochen berührt. 13
Anschließend schlichen wir uns über die Straße zu Ben Fuller rüber. Ben war unser letztes Opfer. Er geht in unsere Klasse und wir hatten einen ganz besonderen Horror für ihn vorbereitet. Ben hat nämlich Angst vor Krabbeltierchen und ist dadurch besonders einfach zu erschrecken. Obwohl es schon ziemlich kalt war, schlief er wie immer bei offenem Fenster. Stephanie und ich ziehen uns öfter mal am Fensterbrett hoch und werfen Gummispinnen auf den schlafenden Ben. Die winzigen Gummispinnen kitzeln ihn im Gesicht, er wacht auf und brüllt sofort los. Es funktioniert jedes Mal. Er hält die Spinnen immer für echt und versucht schreiend aus dem Bett zu springen. Dabei verheddert er sich unweigerlich in seiner Decke und knallt – rumms – auf den Boden. Stephanie und ich beglückwünschen uns danach immer zu unserem erfolgreichen Coup und gehen anschließend nach Hause ins Bett. Aber diesmal drehte sich Stephanie, nachdem wir die Spinnen durchs Fenster geworfen hatten, zu mir um und flüsterte: »Mir kommt da eben eine geniale Idee!« »Was...?« Ich wollte gerade antworten, da unterbrach mich Bens Kreischen. Wir lauschten seinen Schreien und dann dem Rumms, als er auf den Boden plumpste. Stephanie und ich klatschten zufrieden unsere Handflächen aneinander und flohen dann durch den stockdunklen Garten. Unsere Turnschuhe erzeugten ein dumpfes Geräusch auf der harten, fast gefrorenen Erde. Vor der gesplitterten Eiche in unserem Vorgarten blieben wir keuchend stehen. Der Baumstamm ist genau in der Mitte geborsten, aber mein Dad bringt es nicht über sich, sie fällen zu lassen. »Also, was ist das für eine geniale Idee?«, erkundigte ich mich bei Stephanie und schnappte nach Luft. Ihre dunklen Augen blitzten. »Na, überleg doch mal. Jeden Abend ziehen wir los und jagen denselben blöden Kindern Angst 14
ein. Das wird langsam echt langweilig.« Mir wurde es kein bisschen langweilig. Aber ich wusste, dass Stephanie nicht mehr abzubringen war, wenn sie mal wieder eine ihrer genialen Ideen hatte. »Heißt das, dass wir uns neue Kinder suchen sollen, die wir erschrecken können?«, fragte ich. »Nein. Keine neuen Kinder. Wir brauchen was anderes.« Sie ging mit großen Schritten um den Baum herum. Immer im Kreis. »Eine neue Herausforderung.« »Zum Beispiel?«, wollte ich wissen. »Die Angstmacherei ist Kinderkram«, brummelte sie. »Wir machen gruselige Geräusche, werfen irgendwelches Zeug durch offene Fenster - und alle sterben vor Angst. Das ist zu einfach.« »Schon«, stimmte ich ihr zu. »Aber es macht doch auch Spaß.« Sie beachtete meinen Einwand gar nicht. Sie steckte ihren Kopf durch den gespaltenen Stamm und sah mich eindringlich an. »Was ist deiner Meinung nach der unheimlichste Ort in Wheeler Falls, Danny?« Das war einfach. »Hill House - ganz klar«, antwortete ich. »Genau. Und weshalb ist es dort so unheimlich?«, hakte sie nach. »Na, wegen der ganzen Geistergeschichten. Und besonders wegen der mit dem Jungen, der seinen Kopf sucht.« »Genau!«, rief Stephanie triumphierend. Alles, was ich von ihr sehen konnte, war der Kopf, der zwischen den beiden Hälften des Stamms steckte. »Der Geist ohne Kopf!«, rief sie mit hohl klingender Stimme und stieß dann ein lang gezogenes, Furcht erregendes Lachen aus. »He, was soll das?«, fragte ich genervt »Versuchst du jetzt etwa, mir Angst einzujagen?« In der Dunkelheit sah es so aus, als würde ihr Kopf in der Luft schweben. »Ich schlage vor, wir verlegen unsere Aktivitäten ins Hill House«, verkündete sie im Flüsterton.
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»Wie bitte?«, rief ich. »Was soll das denn schon wieder?« »Wir könnten bei der Führung mitmachen und uns dann heimlich davonschleichen«, fuhr Stephanie gedankenverloren fort. Ich schüttelte den Kopf. »Komm, hör auf. Wozu denn?« Stephanies weiß schimmerndes Gesicht schien wie von ihrem Körper losgelöst vor dem Baumstamm zu schweben. »Um nach dem Geisterkopf zu suchen.« Ich starrte sie entgeistert an. »Das meinst du nicht ernst, oder?« Ich ging um den Baum herum und zog sie vom Stamm weg. Der Trick mit dem schwebenden Kopf war mir nicht ganz geheuer. »Doch, Danny, das meine ich total ernst«, entgegnete sie kühl und stieß mich von sich. »Wir brauchen eine Herausforderung. Was Neues. Als Gruselgeschwister in der Gegend zu spuken und kleine Kinder zu erschrecken ist alter Kinderkram - stinklangweilig.« »Aber du glaubst das mit dem versteckten Kopf doch nicht wirklich, oder?«, wandte ich ein. »Das ist doch ein Gruselmärchen. Wir können danach suchen, bis wir schwarz werden. Es gibt gar keinen Kopf. Die Geschichte hat sich doch jemand ausgedacht, um die Touristen zu erschrecken.« Stephanie kniff die Augen zusammen. »Könnte es sein, dass du Angst hast, Danny?« »Wer - ich?« Meine Stimme hörte sich ziemlich schrill an. Eine dicke Wolke wälzte sich vor den Mond und im Garten wurde es plötzlich noch dunkler. Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken. Ich zog meine Jacke enger um mich. »Wieso sollte ich mich nicht trauen, mich wegzuschleichen und das Hill House zu durchsuchen?«, fragte ich sie. »Ich weiß nur nicht, wozu das gut sein soll?« »Danny - du zitterst ja!«, kicherte sie. »Du schlotterst vor Angst.« »So ein Quatsch!«, rief ich. »Gut, dann gehen wir eben zum Hill House. Jetzt gleich, wenn du unbedingt willst.« Stephanie strahlte. Sie warf den Kopf in den Nacken und stieß ein lang gezogenes Heulen aus. Ein triumphierendes Siegesgeheul. 16
»Ich sage dir, das wird die coolste Aktion, die die Gruselgeschwister je gebracht haben!«, prophezeite sie und klatschte mir so fest auf die Handfläche, dass sie brannte. Dann packte sie mich am Arm und zog mich mit sich. Die ganze Strecke bis zur Hill Street sagte ich kein Wort. Hatte ich wirklich Angst? Vielleicht ein bisschen. Wir stiegen keuchend den steilen, von Unkraut überwucherten Abhang hinauf, bis wir vor den Eingangsstufen standen. In der Finsternis sah Hill House mit seinen drei Stockwerken sogar noch größer aus als sonst. Wir blickten zu den Ecktürmchen, Balkons und dutzenden dunklen Fenstern hinter den verschlossenen Läden hinauf. Die Häuser in unserer Gegend sind alle aus Backsteinen gebaut oder mit Schindeln verkleidet. Hill House ist das einzige Gebäude, das aus richtigen Steinen errichtet worden ist. Aus dunkelgrauen Steinquadern. Ich versuche immer möglichst wenig zu atmen, wenn ich mich in der Nähe des Hauses befinde, denn die Steine sind dicht mit einer zweihundert Jahre alten grünen Moosschicht bedeckt; mit fauligem, moderndem Moos, das nicht gerade wie ein Rosengarten duftet. Ich schaute zu einem der runden Ecktürmchen hinauf, das sich düster vom dunkelblauen Himmel abhob. Ganz oben hockte ein Wasserspeier, einer dieser aus Stein gemeißelten Dämonen. Er grinste höhnisch zu uns hinunter, als wollte er sagen: »Geht doch rein, wenn ihr euch traut...« Meine Knie fühlten sich auf einmal ziemlich wackelig an. Das Haus wurde beinahe vollständig von der Dunkelheit verschluckt. Nur in der Eingangstür flackerte eine Kerze. Aber wir wussten, dass es täglich um halb elf noch eine letzte Tour gab. Glaubte man den Führern, war dies sogar die beste Zeit – weil man spätnachts am ehesten einen Geist zu Gesicht bekam. Ich entzifferte die Worte, die neben der Eingangstür in den Stein gemeißelt waren: WER HILL HOUSE BETRITT, DESSEN LEBEN WIRD NIE MEHR SEIN, WIE ES WAR. Ich hatte diesen Satz schon hunderte von Malen gelesen und immer darüber gegrinst. Er klingt ja auch ein bisschen sehr 17
dramatisch. Aber in dieser Nacht jagte er mir einen Schauder über den Rücken. Irgendetwas war anders. »Na los!«, drängte Stephanie und zog an meiner Hand. »Wir kommen gerade noch rechtzeitig zur letzten Führung.« Die Kerze flackerte. Die schwere Holztür schwang auf, ohne dass wir sie berührt hatten. Ich weiß nicht, wie sie das machen, aber es ist jedes Mal so. »Was ist - kommst du oder nicht?«, erkundigte sich Stephanie und trat in die düstere Eingangshalle. Ich schluckte. »Bin schon da.«
Als wir reinkamen, erwartete Otto uns. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, muss ich an einen riesigen Delfin denken. Er hat einen runden, glatten Schädel und auch sein Körperbau erinnert an die Meeressäuger. Er wiegt bestimmt an die 150 Kilo! Otto war wie immer von Kopf bis Fuß ganz in Schwarz gekleidet. Schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Strümpfe und Handschuhe - natürlich auch schwarz. Wie gesagt, alle Führer im Hill House tragen diese Uniform. »Sieh mal an, wer uns heute beehrt!«, rief er. »Stephanie und Danny!« Er strahlte und seine winzigen Augen funkelten im Kerzenlicht. »Ah, unser Lieblingsführer!«, begrüßte ihn Stephanie. »Kommen wir noch rechtzeitig zur letzten Besichtigungstour?« Wir gingen einfach so durchs Drehkreuz. Inzwischen sind wir Stammgäste im Hill House und müssen nicht einmal mehr zahlen. »Sie beginnt in fünf Minuten, Freunde«, sagte Otto. »Ihr seid heute noch spät unterwegs, was?« »Ja ...« Stephanie zögerte. »So spät macht die Tour eben noch viel mehr Spaß. Stimmt's, Danny?« Sie stieß mich in die Seite. 18
»Je später, desto besser«, murmelte ich. In der Eingangshalle drückten sich bereits ein paar andere Besucher herum, die auf den Beginn der Führung warteten. Fast alles junge Männer mit ihren Freundinnen. Die Eingangshalle ist geräumiger als unser Wohn- und Esszimmer zusammen. Abgesehen von der Wendeltreppe in der Mitte, ist sie vollkommen leer. Es steht kein einziges Möbelstück darin. Über den gefliesten Boden huschten Schatten. Ich sah mich um. Elektrisches Licht gab es nicht. An den rissigen Wänden, von denen der Putz bröckelte, hingen Fackeln. Die orangefarbenen Flammen zuckten und zitterten im Luftzug. Im tanzenden Lichtschein zählte ich die Leute um mich herum. Wir waren insgesamt neun. Stephanie und ich waren die einzigen Kinder. Otto zündete eine Laterne an, ging durch die Halle und stellte sich vor die Gruppe. Er hielt die Lampe hoch und räusperte sich. Stephanie und ich sahen uns grinsend an. Otto beginnt immer damit, dass er die Laterne hochhält. Er ist der Meinung, das schafft Atmosphäre. »Meine Damen und Herren«, begann er mit dröhnender Stimme. »Ich heiße Sie im Hill House willkommen und hoffe, dass Sie alle die heutige Tour überleben.« Er lachte tief und gehässig. Stephanie und ich bewegten die Lippen und sprachen leise mit, als Otto fortfuhr: »Im Jahre 1795 errichtete der wohlhabende Kapitän William P. Bell auf dem höchsten Hügel von Wheeler Falls ein Haus. Es war damals das prächtigste Haus am Orte - drei Stockwerke hoch, mit neun Kaminen und über dreißig Zimmern. Kapitän Bell scheute keine Kosten und Mühen. Weshalb? Weil er hoffte, sich hier in diesem imposanten Haus zur Ruhe setzen zu können und seinen Lebensabend an der Seite seiner schönen, jungen Frau verbringen zu können. Doch sollte ihm das nicht vergönnt sein.« Otto gluckste belustigt. Stephanie und ich kicherten auch. Wir kannten Ottos Führung in- und auswendig. Er sprach weiter: »Kapitän Bell verlor bei einem furchtbaren Schiffsunglück sein Leben, bevor er überhaupt hier einziehen konnte. Seine junge Frau Annabell ertrug es nicht, im Haus wohnen zu bleiben, und zog fort.« Jetzt senkte er seine Stimme. »Aber kurz nachdem 19
Annabell weg war, begannen sich im Hill House seltsame Dinge zu ereignen.« Bei diesem Stichwort führte Otto die Gruppe zur Wendeltreppe, deren alte Holzstufen bei jedem Schritt knarren. Wenn Otto die Treppe betritt, hat man sogar fast das Gefühl, als würden die Bretter unter seinem Gewicht aufstöhnen. Schweigend folgte die Gruppe Otto in den ersten Stock hinauf. Stephanie und ich lieben diesen Teil der Führung, weil Otto die ganze Zeit über kein Wort sagt. Er steigt nur keuchend die Stufen hinauf, während alle anderen versuchen mit ihm Schritt zu halten. Er spricht erst wieder, wenn er vor Kapitän Beils Schlafzimmer steht. Es ist ein großer holzgetäfelter Raum mit einem Kamin und Blick auf den Fluss. »Kurz nachdem Kapitän Beils Witwe fortgezogen war«, berichtete Otto, »begannen sich die Leute in Wheeler Falls merkwürdige Dinge zu erzählen. Viele behaupteten, einen Mann gesehen zu haben, der Kapitän Bell ähnelte. Er wurde immer am Fenster dieses Zimmers gesichtet, eine Laterne in der Hand.« Otto ging zum Fenster und hob seine eigene Laterne hoch. »Wenn man aufmerksam lauschte, konnte man in windstillen Nächten hören, wie er mit tiefer, klagender Stimme ihren Namen rief.« Otto holte tief Luft und rief selbst leise: »Annabell. Annabell. Annabel...« Dabei schwang er seine Laterne effektvoll vor und zurück. Alle Zuhörer hingen gebannt an seinen Lippen. »Aber das ist natürlich längst nicht alles«, flüsterte er.
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Während wir Otto durch die anderen Räume des Obergeschosses folgten, erzählte er von den hundert Jahren, die Kapitän Bell im Haus herumspukte. »Alle Leute, die ins Hill House zogen, ergriffen alle möglichen Maßnahmen, um den Geist loszuwerden. Aber er hatte sich in den Kopf gesetzt zu bleiben.« Als Nächstes kam er zu der Stelle, wo der Junge das Gespenst entdeckte und dieses ihm den Kopf abriss. »Es wurde nie mehr gesehen. Dafür spukte jetzt der Geist des kopflosen Jungen im Haus und damit ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende.« Die Gruppe schritt hinter Otto den dunklen Korridor entlang. An den Wänden flackerten die Fackeln. »Das Unheil nahm auch weiterhin seinen Lauf im Hill House«, fuhr Otto fort. »Kurz nach dem Tod des jungen Andrew Craw fiel seine zwölfjährige Schwester Hannah dem Wahnsinn anheim. Lassen Sie uns deshalb nun in ihr Zimmer gehen.« Er schritt der Gruppe voraus auf eine Tür am Ende des Flurs zu. Stephanie mag Hannahs Zimmer am liebsten. Hannah sammelte Porzellanpuppen und besaß hunderte davon. Alle haben lange, blonde Haare, rosig bemalte Wangen und blau geschminkte Augenlider. »Nach dem Mord an ihrem Bruder verlor die kleine Hannah den Verstand«, vertraute Otto der Gruppe im Flüsterton an. »Sie verbrachte die nächsten achtzig Jahre ihres Lebens damit, den ganzen Tag in ihrem Schaukelstuhl zu sitzen, der da drüben in der Ecke steht. Dort spielte sie mit ihren Puppen. Das Zimmer verließ sie nie mehr. Bis zum Schluss.« Er deutete auf einen durchgesessenen Schaukelstuhl. »In diesem Stuhl starb sie auch. Eine Greisin – im Kreise ihrer Puppen.« Die Dielenbretter knarrten, als Otto den Raum durchquerte. Er setzte die Laterne ab und ließ sich dann langsamen den alten Stuhl sinken. Der Schaukelstuhl ächzte unter Ottos Gewicht. Ich rechne jedes Mal damit, dass er unter ihm zusammenkracht, aber das ist bis jetzt nie passiert. 21
Otto begann zu schaukeln. Ganz langsam. Der Stuhl knarzte bei jeder Bewegung. Die Besucher sahen ihn mit angehaltenem Atem an. »Manche Leute behaupten, die arme Hannah sei immer noch da«, sagte er leise. »Sie berichten, ein kleines Mädchen gesehen zu haben, das in diesem Stuhl sitzt und einer Puppe das Haar kämmt.« Er schaukelte weiter und wartete, bis jeder das Bild deutlich vor Augen hatte. »Und damit kommen wir zu der Geschichte von Hannahs Mutter.« Stöhnend hievte Otto sich aus dem Schaukelstuhl, nahm die Laterne und stieg das dunkle Treppenhaus hinauf, das sich am Ende des Ganges befand. »Schon bald nach dem tragischen Tod ihres Sohnes ereilte die Mutter selbst ein entsetzliches Schicksal. Eines späten Abends ging sie diese Treppe hinunter, auf der wir stehen, stolperte, fiel und brach sich das Genick.« Otto sah mit traurigem Blick hinunter und schüttelte den Kopf. Das macht er jedes Mal. Stephanie und ich kennen wirklich jede seiner Bewegungen. Aber an diesem Abend waren wir nicht hergekommen, um uns Ottos Vorstellung anzusehen. Mir war klar, dass Stephanie früher oder später auf eigene paust losziehen wollte. Ich sah mich um und versuchte zu entscheiden, ob der Zeitpunkt günstig war, um uns von der Gruppe abzusondern. In diesem Moment fiel mir der merkwürdige Junge das erste Mal auf. Er beobachtete uns. Beim Hereinkommen hatte ich ihn nicht gesehen. Und zu Beginn der Führung war er auch noch nicht da gewesen, da war ich mir sicher. Ich hatte exakt neun Leute gezählt. Keine Kinder. Der Junge war etwa in unserem Alter. Er hatte lockiges blondes Haar und war ziemlich blass. Sogar ausgesprochen blass. Er trug schwarze Jeans und einen schwarzen Rollkragenpulli, der ihn noch bleicher aussehen ließ. Ich schob mich näher zu Stephanie heran, die das Schlusslicht der Gruppe bildete. »Bist du so weit?«, raunte sie mir zu. 22
Otto war bereits dabei, die Gruppe wieder nach unten zu führen. Wenn wir uns wirklich davonstehlen wollten, dann war jetzt der ideale Moment gekommen. Aber ich sah, dass der merkwürdige Junge uns weiter anstarrte. Sein Blick war mir richtig unangenehm. Eine düstere Vorahnung beschlich mich. »Jetzt nicht«, flüsterte ich zurück. »Wir werden beobachtet. « »Von wem?« »Von dem komischen Jungen da drüben.« Ich schielte in seine Richtung. Er hatte die Augen nach wie vor fest auf uns gerichtet und sah noch nicht mal aus Höflichkeit weg, als ihm klar wurde, dass wir ihn beim Anstarren ertappt hatten. Warum glotzte er uns so an? Was wollte er von uns? Eine innere Stimme sagte mir, dass es besser wäre, zu warten. Dass es vernünftiger wäre, erst mal bei der Gruppe zu bleiben. Aber Stephanie hatte ganz andere Pläne. »Ach, vergiss den Typen«, sagte sie verächtlich. »Was soll der schon wollen?« Sie packte mich am Arm und zog mich mit sich. »Los, gehen wir!« Wir drückten uns flach gegen die kalte Wand des Korridors und sahen den anderen Besuchern hinterher, die Otto ins Erdgeschoss folgten. Ich wagte es nicht zu atmen, bis die letzten Schritte auf den Stufen verklungen waren. Jetzt waren wir allein. Ganz allein in einem langen, dunklen Korridor. Ich wandte mich Stephanie zu, deren Gesicht ich im Dunkeln nur verschwommen ausmachen konnte. »Und was jetzt?«, fragte ich.
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»Jetzt schauen wir uns mal ungestört hier um!«, verkündete Stephanie händereibend. »Ich bin wirklich gespannt, was wir entdecken!« Ich spähte den langen Korridor hinunter. Ehrlich gesagt war ich kein bisschen gespannt. Ich war eher etwas ängstlich. Aus einem Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite ertönte ein tiefes Stöhnen. Über unseren Köpfen knarzte etwas. Der Wind rüttelte an den Fensterläden des Zimmers, aus dem wir gerade gekommen waren. »Steph, sollen wir wirk...?«, fing ich an, um sie aufzuhalten, aber da war sie schon losgelaufen. Auf Zehenspitzen, damit die Dielenbretter nicht knarrten. »Komm schon, Danny. Wir suchen nach dem Kopf, okay?«, flüsterte sie. Ein Lufthauch ließ ihr dunkles Haar fliegen. »Könnte doch gut sein, dass wir ihn finden.« »Ja, klar!« Ich verdrehte die Augen. Ich glaubte nicht daran. Immerhin war er seit hundertfünfzig Jahren verschwunden. Wo sollten wir denn nach ihm suchen? Und was, wenn wir ihn wirklich fanden? Grauenhafte Vorstellung! Ich fragte mich, wie er wohl aussah. Wie ein Totenschädel? Ich folgte Stephanie nur widerwillig – Im Grunde wollte ich gar nicht mitmachen. In der Nachbarschaft zu spuken und andere zu erschrecken macht wirklich Spaß. Aber ich selbst lasse mich nicht so gern erschrecken! Stephanie betrat eines der Schlafzimmer, das wir auf unseren Führungen bereits kennen gelernt hatten. Weil die Tapete mit grünem Efeu bedruckt ist, wird es das »Grüne Zimmer« genannt. An den Wänden klettern dichte Efeuranken hoch und winden sich sogar quer über die Decke. Ich verstand nicht, wie irgendjemand hier ruhig schlafen konnte, ohne sich zu fühlen, als sei er in einem undurchdringlichen Dschungel gefangen. Wir standen im Türrahmen und betrachteten das papierne Efeudickicht an den Wänden. Bei Stephanie und mir hat das »Grüne 24
Zimmer« einen anderen Namen. Bei uns heißt es nur die »Juckstube«. Otto hatte uns mal erzählt, dass sich hier vor sechzig Jahren etwas Schreckliches ereignet hat. Als die beiden Gäste, die in diesem Zimmer übernachtet hatten, aufwachten, entdeckten sie widerliche dunkelrote Pusteln an ihrem Körper. Der Ausschlag begann auf ihren Händen und Armen, breitete sich übers Gesicht aus und bedeckte schließlich den ganzen Körper. Es waren riesige, dunkelrote Pusteln, die höllenmäßig juckten. Die beiden konsultierten Experten und Fachärzte aus aller Welt, doch keiner konnte ihnen sagen, wo der Ausschlag herkam oder wie man ihn heilen konnte. Irgendetwas im »Grünen Zimmer« hatte ihn hervorgerufen, aber niemand wusste, was es gewesen war. Das ist jedenfalls die Geschichte, die Otto und die anderen Führer in diesem Zimmer erzählen. Vielleicht ist sie wahr. Womöglich ist ja wirklich jede einzelne der merkwürdigen, Furcht erregenden Geschichten wahr, die Otto erzählt. Wer weiß? »Komm schon, Danny!«, trieb Stephanie mich an. »Hilf mir mal, den Kopf zu suchen. Wir haben nicht viel Zeit. Bestimmt merkt Otto bald, dass wir nicht mehr da sind.« Sie durchquerte das Zimmer, kauerte sich vor dem Bett nieder und spähte darunter. »Steph - bitte!«, rief ich ängstlich und ging auf Zehenspitzen zu einer in der Ecke stehenden niedrigen Kommode hinüber. »Da finden wir den Geisterkopf bestimmt nicht«, versuchte ich sie zu überzeugen. »Wir sollten wieder gehen.« Aber sie hörte mich nicht. Sie war ganz unters Bett gekrochen. »Steph...?« Ein paar Sekunden später krabbelte sie wieder hervor. Als sie sich umdrehte, sah ich, dass ihr Gesicht knallrot angelaufen war. »Danny!«, rief sie entsetzt. »Ich ... ich ...« Ihre dunklen Augen quollen hervor. Sie riss angsterfüllt den Mund auf und griff sich mit beiden Händen an die Wangen. »Was ist? Was ist los?«, schrie ich und rannte stolpernd auf sie zu. 25
»Auuu, mein ganzes Gesicht juckt! Es ist nicht auszuhalten!«, jammerte Stephanie. Ich wollte schreien, aber mir blieb der Schrei in der Kehle stecken. Stephanie rieb sich das Gesicht. Sie kratzte sich hysterisch an Wangen, Stirn und Kinn. »Auuuuu, es brennt! Es brennt ganz schrecklich!« Sie kratzte sich wie eine Wilde die Kopfhaut. Ich packte sie am Arm und versuchte sie auf die Füße zu ziehen. »Der Ausschlag! Wir müssen sofort zu dir nach Hause!«, rief ich. »Los, schnell! Deine Eltern können den Notarzt anrufen und... und dann...« Weiter kam ich nicht. Als ich sie lachen sah, ließ ich ihren Arm los und stolperte ein paar Schritte rückwärts. Sie stand auf und strich sich die Haare glatt. »Mann, Danny, bist du ein Weichei«, sagte sie. »Du fällst heute aber echt auf jeden blöden Witz rein.« »Quatsch!«, protestierte ich ärgerlich. »Ich dachte bloß...« Sie versetzte mir einen Stoß. »Du bist einfach viel zu leicht zu verarschen. Kann man dich wirklich so locker drankriegen?« Ich schubste zurück. »Kann man nicht und ich will auch nicht, dass du das noch mal versuchst«, knurrte ich giftig - »Im Ernst, Stephanie. Ich finde das nicht komisch. Überhaupt nicht. Ich falle auf deine blöden Scherze nicht rein. Also lass es lieber gleich.« Sie hörte mir nicht zu. Sie schien durch mich hindurchzusehen. Sie starrte auf etwas, das hinter mir stand. Mit aufgerissenem Mund - total geschockt. »Das... das glaub ich nicht!«, stammelte sie. »Da ist er. Da ist der Kopf!«
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Sie hatte mich schon wieder drangekriegt. Verdammt! Aber ich konnte nicht anders. Ich stieß einen gellenden Schrei aus und wirbelte so schnell herum, dass ich fast das Gleichgewicht verloren hätte. Ich sah in die Richtung, in die Stephanie deutete. Aber da lag nur eine große, graue Staubfluse. »Weichei! Weichei!«, jubelte sie und schlug mir auf den Rücken. Ich brummte irgendwas und ballte die Hände zu Fäusten. Aber ich sagte nichts. Mein Gesicht war heiß. Ich wusste, dass ich puterrot angelaufen war. »Ich sag's doch. Du fällst einfach auf alles rein!«, kicherte Stephanie. »Gib's doch endlich zu.« »Ich schlage vor, wir gehen zur Gruppe zurück«, murmelte ich. »Vergiss es, Danny. Das hier ist doch ein Riesenspaß. Komm, wir versuchen es im nächsten Zimmer. Hopp!« Als sie merkte, dass ich stehen blieb, drehte sie sich um. »Das war das letzte Mal, dass ich dich geärgert habe. Versprochen.« Ich sah, dass sie log, weil sie die Finger hinter ihrem Rücken kreuzte, aber ich schlurfte ihr trotzdem hinterher. Was blieb mir auch anderes übrig? Wir schlichen durch den schmalen Korridor zum nächsten Raum und landeten bei Andrew. Das heißt, im Zimmer des armen, kopflosen Andrew. Es war immer noch genauso möbliert wie zu seinen Lebzeiten. Überall lagen hundert Jahre alte Brettspiele und Spielsachen herum. In einer Ecke lehnte ein altmodisches Holzfahrrad. Alles war so, wie es gewesen war, bevor Andrew dem Geist des Kapitäns begegnet war. Eine auf einer Kommode stehende blaue Laterne warf bläuliche Schatten an die Wand. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Gespenstergeschichten glauben sollte, aber irgendetwas sagte mir, dass wir Andrews Kopf – wenn überhaupt – hier in seinem Zimmer finden würden. Unter seinem altertümlichen Himmelbett oder inmitten seiner 27
verstaubten, verblichenen Spielsachen. Stephanie ging auf Zehenspitzen zu dem Spielzeug hinüber. Sie bückte sich und begann die Sachen beiseite zu schieben. Kleine Holzkegel, die zu einem Bowlingspiel gehörten. Ein altes Brettspiel, stockfleckig und braun. Ein Heer von Zinnsoldaten. »Schau du mal rings um sein Bett nach!«, flüsterte sie mir zu. Ich trat ein paar Schritte ins Zimmer. »Wir sollten die Sachen nicht anfassen, Steph. Otto und die anderen sagen auch immer, wir sollen nichts berühren.« Stephanie legte den Holzdeckel eines Spiels zur Seite. »Willst du den Kopf finden oder nicht?« »Sag mal, glaubst du etwa wirklich, dass in diesem Haus ein Geisterkopf versteckt ist?« »Genau um das rauszufinden, sind wir doch hier, Danny - oder etwa nicht?« Ich seufzte und ging aufs Bett zu. Mir war klar, dass es heute Abend keinen Sinn hatte, mit Stephanie rumzustreiten. Ich duckte mich unter den weinroten Baldachin des Bettes und sah mich um. Schaudernd stellte ich mir vor, dass in diesem Bett einmal ein wirklicher Junge geschlafen hatte. Hundert Jahre war es her, dass Andrew unter dieser Steppdecke gelegen hatte! Bei diesem Gedanken lief es mir kalt über den Rücken. Ich versuchte mir einen Jungen in meinem Alter vorzustellen, der in diesem schweren, alten Bett lag. »Los, fang schon an zu suchen«, wies Stephanie mich von ihrer Ecke des Zimmers an. Ich beugte mich über die Matratze und tastete mit der flachen Hand die grau-braune Steppdecke ab. Sie fühlte sich glatt und kühl an. Ich boxte mit der Faust in die Kissen. Sie waren weich und mit Federn gefüllt. In den Hüllen war nichts versteckt. Gerade wollte ich die Matratze befühlen, als die Steppdecke sich plötzlich zu bewegen begann. Raschelnd glitt sie über das Laken weg. Zuerst hörte ich nur das leise, schabende Geräusch und als ich erschrocken hinsah, bemerkte ich, dass die graubraune Steppdecke nach unten rutschte. 28
Das Bett war leer. Niemand lag darin. Und trotzdem schob irgendjemand die Decke ans Fußende des Bettes.
Ich unterdrückte einen Schrei. »Mach schneller, Danny«, sagte Stephanie. Als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich sie am Fußende des Bettes stehen und die Steppdecke in den Händen halten. »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!«, verkündete sie streng und zog die Decke noch ein Stück weiter hinunter. »Im Bett ist nichts. Also weiter.« Ich stöhnte leise auf. Stephanie hatte an der Decke gezogen und mich schon wieder erschreckt. Im Bett lag kein Geist, der die Decke nach unten geschoben hatte, um herauszusteigen und mich zu packen. Es war nur Stephanie gewesen. Wenigstens hatte sie diesmal nicht mitgekriegt, was für eine Angst ich gehabt hatte. Gemeinsam breiteten wir die Decke wieder ordentlich auf dem Bett aus und steckten sie fest. Stephanie lächelte mich an. »Ich finde, die Suche nach dem Kopf macht richtig Spaß«, sagte sie begeistert. »Ja, echt«, erwiderte ich. Ich hoffte, dass sie nicht bemerkte, dass ich noch immer zitterte. »Viel mehr, als Gummispinnen in Ben Fullers Zimmer zu werfen.« »Ist doch cool, um diese Zeit im Haus herumzuschleichen. Das war eine Superidee, alleine loszuziehen. Ich spüre richtig, dass in der Nähe ein Geist auf uns lauert«, flüsterte Stephanie. »I... im Ernst?«, stotterte ich und sah mich rasch im Zimmer um. Neben der Tür zum Gang lag etwas, das meinen Blick magisch anzog. 29
Da war er. Auf dem Boden. Eingeklemmt zwischen Tür und Wand. Halb verborgen in der Dunkelheit. Der Kopf. Ich hatte ihn entdeckt. Das war kein Witz, kein fieser Scherz. Der rundliche Schädel schimmerte im gräulich schwarzen Dämmerlicht. Ich konnte deutlich die zwei schwarzen Augenhöhlen erkennen. Leere Augenhöhlen, die mich anstarrten. Ich fasste Stephanie am Arm. Zeigte mit zitterndem Finger in die Ecke. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Stephanie hatte ihn auch gesehen.
Ich löste mich als Erster aus der Erstarrung und machte einen Schritt auf die Tür zu. Dann noch einen. Plötzlich hörte ich ein Keuchen hinter mir. Ganz dicht hinter mir atmete jemand schwer. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass es Stephanie war. Den Blick fest auf den Schädel gerichtet, tastete ich mich langsam in die dunkle Ecke vor. Mit hämmerndem Herzen bückte ich mich und streckte beide Hände nach dem Schädel aus. Die tiefen, dunklen Augenhöhlen starrten mich traurig an. Meine Hände zitterten, als ich sie um den Schädel legte und ihn hochhob. Doch er rutschte mir aus den Fingern und kullerte davon. Stephanie schrie auf, als der Kopf über den Boden auf sie zukugelte. Im bläulichen Licht der Laterne sah ich ihr angstverzerrtes Gesicht. Sie war wie versteinert. Konnte sich nicht rühren. Der Schädel rollte über die Holzdielen, stieß an die Spitze ihres Turnschuhes und blieb dann Zentimeter vor ihren Füßen liegen. 30
Die schwarzen, leeren Augenhöhlen starrten zu ihr hinauf. »Danny...«, stammelte sie, die Hände an die Wangen gepresst und erschüttert nach unten schauend. »Ich hätte nie gedacht... nie... dass wir ihn wirklich finden würden. Ich ... ich ...« Ich rannte zu ihr hinüber. Diesmal muss ich der Mutige sein, beschloss ich. Ich muss Stephanie beweisen, dass ich kein Weichei bin, das sofort die Nerven verliert! Ich werde es ihr zeigen! Also hob ich den Kopf des Geistes tapfer mit beiden Händen hoch und hielt ihn Stephanie hin. Wir gingen langsam zu der auf der Kommode stehenden Laterne. Der Schädel fühlte sich sehr hart an. Glatter, als ich erwartet hätte. Die Augenhöhlen waren wirklich sehr tief. Stephanie drängte sich dicht an mich. Zusammen traten wir in den bläulichen Lichtkegel. Ich stöhnte laut auf, als mir bewusst wurde, dass ich gar keinen Geisterkopf in der Hand hielt. Neben mir stöhnte Stephanie ebenfalls.
Eine Bowlingkugel. Ich hielt eine alte hölzerne Bowlingkugel in den Händen. Ihr helles Holz war zerkratzt und rissig. »Ich glaub es einfach nicht«, murmelte Stephanie und klatschte sich auf die Stirn. Mein Blick wanderte zu den Holzkegeln, die verstreut zwischen Andrews Spielsachen lagen. »Die Kugel gehört wahrscheinlich zu den Kegeln da«, sagte ich leise. Stephanie nahm sie mir ab und drehte sie gedankenverloren zwischen ihren Händen. »Aber sie hat nur zwei Löcher. Haben Bowlingkugeln sonst nicht immer drei?« 31
Ich nickte. »Doch, aber früher hatten sie wirklich nur zwei. Mein Vater hat mir das mal erzählt, als wir Bowlen waren. Er hat gesagt, er hätte sich immer gefragt, was die damals mit ihren Daumen gemacht haben. « Stephanie steckte Zeige- und Mittelfinger in die Löcher – die ›Augenhöhlen‹. Sie schüttelte den Kopf. Die Enttäuschung war ihrem Gesicht deutlich abzulesen. Von unten dröhnte Ottos tiefe Stimme zu uns herauf. Stephanie seufzte. »Vielleicht sollten wir wieder runter zu den anderen gehen«, schlug sie vor. Sie gab der Kugel einen Schubs und ließ sie zu den anderen Spielsachen rollen. »Jetzt? Auf gar keinen Fall!«, rief ich. Ich bekam langsam Geschmack an meiner Rolle als der Mutigere von uns beiden und das wollte ich noch ein bisschen auskosten. »Aber es wird auch immer später«, gab Stephanie zu bedenken. »Und einen Geisterkopf finden wir hier oben sowieso nicht.« »Wir waren ja auch schon hunderte von Malen in sämtlichen Zimmern«, sagte ich. »Ich finde, wir sollten nach einem Raum suchen, den wir noch nie gesehen haben.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Du meinst...?« »Ich meine, dass der Geist den Kopf bestimmt in einem Zimmer versteckt hat, das nicht auf der Besichtigungsroute liegt. Vielleicht oben. Du weißt schon, im zweiten Stock.« Stephanie riss die Augen auf. »Du willst dich in den zweiten Stock schleichen?« Ich nickte. »Klar. Wahrscheinlich hängen die ganzen Geister da oben rum. Meinst du nicht?« Sie musterte mich und schien sich zu fragen, ob ich es ernst meinte. Mir war bewusst, dass mein Mut sie überraschte. Natürlich fühlte ich mich in Wirklichkeit alles andere als mutig. Ich wollte bloß Eindruck schinden und zur Abwechslung mal der Furchtlose von uns beiden sein. Innerlich hoffte ich, dass sie Nein sagen würde. Ich hätte so gerne ein »Lass uns lieber wieder runtergehen, Danny« gehört. Aber stattdessen strahlte sie über das ganze Gesicht. »Okay. Dann mal los!« 32
Mir blieb nichts anderes übrig, als weiterhin den Mutigen zu spielen. Wir mussten jetzt beide mutig sein. Und so betraten die Grauen erregenden Gruselgeschwister die dunkle, knarzende Treppe, um in den zweiten Stock zu gelangen. Ein Schild neben dem Treppenaufgang warnte. ZUTRITT UNTERSAGT. Wir drückten uns daran vorbei und begannen die schmale Treppe nach oben zu steigen, wobei wir uns dicht nebeneinander hielten. Ottos Stimme war jetzt nicht mehr zu hören. Das einzige Geräusch war das Quietschen und Knarren der Treppenstufen unter unseren Turnschuhen. Und das stetige Bum-Bum, Bum-Bum meines Herzschlags. Sobald wir den obersten Treppenabsatz erreichten, empfing uns ein Schwall feuchtwarmer Luft. Ich kniff die Augen zusammen und spähte den langen, dunklen Korridor entlang. An den Wänden gab es keine Laternen. Keine Kerzen. Lediglich durch ein kleines Fenster am Ende des Gangs sickerte etwas Licht hinein. Dämmriges Licht von draußen, das alles in ein unheimliches, geisterhaftes Blau tauchte. »Komm, wir fangen im ersten Zimmer an«, schlug Stephanie mir flüsternd vor und strich sich das dunkle Haar aus dem Gesicht. Es war so warm hier oben, dass ich spürte, wie mir der Schweiß über die Stirn perlte. Ich wischte ihn mir mit dem Jackenärmel weg und folgte Stephanie in das erste Zimmer, das auf der rechten Seite lag. Die schwere Holztür stand halb offen. Wir schlüpften durch den Spalt ins Zimmer. Blassblaues Licht drang durch die staubigen Fenster ins Innere. Ich wartete, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und sah mich dann in dem riesigen Raum um. Er war leer. Vollkommen leer. Keine Möbel. Nichts Lebendiges. Auch keine Geister. »Steph - schau mal!« Ich deutete auf eine schmale für in der gegenüberliegenden Wand. »Mal sehen, was dahinter ist.« 33
Wir schlichen über den nackten Holzboden darauf zu. Durch die verstaubte Fensterscheibe erhaschte ich einen Blick auf den Vollmond, der jetzt hoch über den kahlen Baumkronen stand. Die Tür führte in ein weiteres, kleineres Zimmer. Dort war es sogar noch wärmer. Ein an einer Wand angebrachter altmodischer Heizungskörper brummte gedämpft vor sich hin. In der Mitte des Zimmers standen zwei alte Sofas einander gegenüber. Andere Einrichtungsgegenstände gab es nicht. »Los, weiter!«, wisperte Stephanie. Eine schmale Tür führte in ein drittes kleines Zimmer. »Die Räume sind alle miteinander verbunden«, murmelte ich und musste niesen. Und dann gleich noch mal. »Pssst. Sei doch leise, Danny!«, schimpfte Stephanie. »Sonst hören die Geister uns.« »Ich kann nichts dafür«, verteidigte ich mich. »Es ist so verdammt staubig hier.« Wir befanden uns in einer Art Nähzimmer. Auf einem Tisch am Fenster stand eine alte mechanische Nähmaschine und zu meinen Füßen sah ich einen Karton, der mit schwarzen Garnröllchen gefüllt war. Ich bückte mich und wühlte den Haufen rasch durch. Es war kein Kopf darin versteckt. Wir gingen weiter. Wir hatten den nächsten Raum schon betreten, als wir merkten, dass es dort stockdunkel war. Die Fensterläden waren fast ganz geschlossen. Nur durch einen winzigen Spalt drang etwas Licht herein. »Ich... ich sehe gar nichts«, rief Stephanie. Ich spürte, wie sie nach meinem Arm griff. »Hier ist es mir zu dunkel. Ich bin dafür, dass wir weitergehen.« Ich hatte gerade den Mund geöffnet, um ihr zu antworten, da fiel plötzlich etwas mit einem dumpfen Schlag auf den Boden und mir blieb der Satz im Hals stecken. Stephanie krallte sich in meine Hand. »Danny, warst du das?« Wieder tat es einen dumpfen Schlag. Diesmal ganz in unserer Nähe. »N... nein, ich habe nichts gemacht...«, stammelte ich. Erneut ertönte dasselbe Geräusch. 34
»Da ist jemand«, wisperte Stephanie. Ich holte tief Luft. »Wer ist da?«, rief ich. »Hallo?«
»Wer sind Sie?«, stieß ich mit erstickter Stimme hervor. Stephanie drückte meinen Arm so fest, dass es wehtat. Aber ich zog ihn trotzdem nicht weg. Und dann hörte ich ein ganz leises Tapsen. Geisterhafte Schritte. Die Härchen auf meinem Nacken stellten sich auf. Ich musste die Kiefer zusammenpressen, damit meine Zähne nicht klapperten. Plötzlich tauchten gelb glühende Augen aus der Dunkelheit auf. Vier gelbe Augen. Das unheimliche Wesen hatte vier Augen! Meiner Kehle entfuhr ein gurgelndes Geräusch. Ich bekam keine Luft mehr. Ich war wie gelähmt, starrte geradeaus und horchte ins Dunkel. Die vier Augen teilten sich plötzlich in zwei Augenpaare. Zwei Augen schwebten nach rechts, zwei nach links. »Neeein!«, schrie ich voller Panik, als noch mehr Augenpaare auftauchten. In allen Ecken lauerten die gelben Augen. Böse funkelten sie uns von überallher an. Gelbe Augen neben uns und vor uns. Stephanie und ich standen aneinander geklammert in der Mitte des Raumes, während die katzenartigen gelben Augen uns still fixierten. Katzenartige Augen. Katzenaugen. Das Zimmer war voller Katzen! Ein lautes Fauchen verriet sie. Und als ein lang gezogenes Miauuuuuu aus der Richtung des Fensterbretts ertönte, stießen Stephanie und ich einen erleichterten Seufzer aus.
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Eine der Katzen strich an meinem Bein entlang. Ich hopste erschrocken zur Seite und stieß dabei gegen Stephanie. Sie sprang im selben Moment ebenfalls zur Seite. Jetzt begannen auch die anderen Katzen zu miauen und wieder schlängelte sich eine an meinen Beinen vorbei. »Ich ... ich glaube, die sind einsam«, stammelte Stephanie. »Ob wohl überhaupt jemals ein Mensch hier nach oben kommt?« »Ist mir total egal!«, fuhr ich sie an. »Oh Mann, als ich die ganzen gelben Augen gesehen habe, die in der Dunkelheit um uns herumschwebten, da habe ich gedacht ... ich dachte... na ja, ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Aber ich finde es verdammt ungemütlich hier. Lass uns abhauen!« Diesmal hatte nicht mal Steph etwas dagegen. Sie ging voraus, auf die Tür auf der gegenüberliegenden Seite zu. Um uns herum maunzten und miauten die Katzen. Wieder strich eine an meinem Bein vorbei. Eine andere brachte Stephanie zum Stolpern. Im Dunkel sah ich, wie sie stürzte und mit einem lauten Knall auf den Knien landete. Die Katzen begannen zu fauchen. »Hast du dir wehgetan?«, rief ich und stürzte zu ihr, um ihr aufzuhelfen. Ihre Antwort ging im lauten Gemaunze der Katzen unter. Wir rannten zur Tür, rissen sie auf und flohen aus dem Zimmer. Ich drückte die Tür fest hinter mir zu. Totenstille. »Wo sind wir?«, fragte ich flüsternd. »Ich... keine Ahnung«, erwiderte Stephanie, die sich angespannt gegen die Wand drückte. Ich ging rasch auf ein deckenhohes, schmales Fenster zu und spähte durch die verstaubte Scheibe. Das Fenster führte auf einen kleinen Balkon hinaus, der in das graue Schindeldach hineingebaut war. Bleiches Mondlicht flutete von draußen herein. Ich drehte mich wieder zu Stephanie um. »Ich habe das Gefühl, dass wir hier in einer Art Dienstbotentrakt sind«, sagte ich. Der Korridor schien sich ins Endlose zu erstrecken. »Es könnte sein, dass die Zimmer hier vom Personal benutzt werden. Du weißt 36
schon, von Manni, dem Nachtwächter, den Putzfrauen und den Führern.« Stephanie seufzte. Sie starrte den langen Gang entlang. »Also, ich bin dafür, dass wir runtergehen und Otto und die Gruppe suchen. Ich finde, wir beide haben für heute Nacht genug gesehen.« Ich war ganz ihrer Meinung. »Am Ende des Gangs muss es eine Treppe nach unten geben. Los, komm.« Ich war vier oder fünf Schritte weit gekommen, als ich die geisterhaften Hände spürte. Sie strichen mir übers Gesicht, betasteten meinen Hals, meinen Körper. Klebrige, trockene, unsichtbare Hände. Ich fuhr zurück, aber die Hände ließen mich nicht los. »Hiiiilfe!«, kreischte Stephanie. Die Geister hatten auch sie in ihren Fängen.
Die gewichtslosen Geisterhände strichen mir über die Haut. Ich spürte, wie die weichen Finger - leicht wie Luft - sich um mein Gesicht legten. Stephanie ruderte wie wild mit den Armen. Sie stand neben mir im dunklen Gang und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. »Oh Gott, das ist... wie ein Netz!«, stieß sie mit erstickter Stimme hervor. Ich wischte mir übers Gesicht und fasste mir in die Haare. Dann wirbelte ich herum, drehte mich weg, aber die dürren Finger ließen mich nicht los. Sie umklammerten mich immer fester. Und in diesem Moment begriff ich, dass wir gar nicht in die Hände von Geistern gefallen waren. Während ich panisch mit beiden Händen um mich schlug, wurde mir klar, dass wir in Spinnweben geraten waren. In einen dichten Vorhang aus Spinnweben. 37
Der klebrige Film aus Fäden hatte sich um uns geschlossen wie ein Fischernetz. Je mehr wir zappelten und uns wehrten, desto enger schloss es sich um uns. »Stephanie - das sind bloß Spinnweben!«, rief ich und riss eine dicke Schicht von meinem Gesicht weg. »Klar sind das Spinnweben!«, brüllte sie zurück, wobei sie immer noch um sich schlug. »Was hast du denn gedacht?« »Äh ... Geister?«, gab ich beschämt zu. Stephanie kicherte. »Ich wusste ja, dass du eine lebhafte Phantasie hast, Danny. Aber wenn du jetzt anfängst überall Geister zu sehen, kommen wir hier nie mehr raus.« »Aber ... ich ...« Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich war mir sicher, dass Stephanie dasselbe gedacht hatte wie ich. Nämlich, dass wir von einem Geist umklammert wurden. Jetzt tat sie so, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass es nur Spinnweben waren. Wir standen in der Dunkelheit und streiften uns die klebrigen Fäden vom Körper. Ich stöhnte genervt auf, weil ich das Zeug nicht aus den Haaren bekam. »Das juckt total ekelhaft!«, beschwerte ich mich. »Mir fällt da gerade etwas noch viel Schlimmeres ein, Danny«, murmelte Stephanie mit Grabesstimme. Ich zog einen klebrigen Spinnennetzfilm von meinem Ohr ab. »Was denn?« »Was glaubst du denn, von wem diese Spinnweben gemacht worden sind?« Darüber musste ich nicht lange nachdenken. »Spinnen?« In diesem Moment begannen meine Arme und Beine zu kribbeln. Mein Rücken juckte und ich spürte ein zartes Kitzeln im Nacken. Krabbelten die Spinnen etwa schon auf mir herum? Hunderte von ihnen? Ich vergaß die Spinnweben und rannte los. Ich hatte bloß einen Gedanken - nur weg hier! Stephanie folgte mir auf den Fersen. Wir stürmten den langen Korridor entlang, wobei wir gleichzeitig panisch versuchten eventuell vorhandene Spinnen von unserer Kleidung ZU schütteln. 38
»Hör mal, Steph - wenn du das nächste Mal eine geniale Idee hast, behalt sie für dich, okay?«, keuchte ich. »Schwing keine langen Reden, sondern sieh zu, dass wir hier rauskommen!«, stöhnte sie. Uns immer noch heftig kratzend, erreichten wir das Ende des Korridors. Nur leider war da keine Treppe. Wie sollten wir jetzt wieder nach unten kommen? Nach links zweigte ein anderer Gang ab. Neben der Tür gaben Wandleuchter mit niedergebrannten Kerzen ein flackerndes Licht ab. Schatten tanzten und huschten über die abgetretenen Läufer wie flinke kleine Tierchen. »Los, weiter!« Ich zog Stephanie am Arm. Uns blieb nichts anderes übrig, als auch diesen Korridor bis zum Ende zu gehen. Wir rannten nebeneinanderher und sahen im Vorbeilaufen, dass es in allen Zimmern dunkel war. Die Flammen zuckten. Unsere Körper warfen lange Schatten, die vor uns herzurennen schienen, so als wollten sie die Treppe unbedingt noch vor uns erreichen. Ich blieb schlagartig stehen, als ich plötzlich jemanden lachen hörte. »Was ist das?«, flüsterte Stephanie mit aufgerissenen Augen. Sie rang nach Atem. Wir horchten beide angestrengt. Ich hatte mich nicht geirrt. Da waren Stimmen. Sie drangen aus einem Zimmer am Ende des Ganges. Die Tür war geschlossen. Obwohl ich keine einzelnen Wörter verstand, hörte ich deutlich einen Mann sprechen. Eine Frau lachte. Andere Leute fielen in ihr Lachen mit ein. »Das müssen die anderen von unserer Gruppe sein«, wisperte ich. Stephanie runzelte skeptisch die Stirn. »Aber bisher sind wir noch bei keiner Führung hier hochgegangen«, wandte sie ein. Wir schlichen uns zur Tür und lauschten wieder. Erneut ertönte Gelächter auf der anderen Seite. Es klang wie eine fröhliche Gruppe von Leuten, die alle durcheinander sprachen. Wie eine Party.
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Ich legte mein Ohr ans Holz. »Ich glaube, die Führung ist vorbei und die unterhalten sich einfach noch«, raunte ich. Stephanie kratzte sich im Nacken und zog ein langes Stück Spinnwebe aus ihrem Haar. »Dann mach doch endlich die Tür auf, Danny«, drängte sie mich. »Hoffentlich will Otto nicht wissen, wo wir gesteckt haben«, sagte ich widerstrebend. Doch dann griff ich nach dem Knauf und stieß die Tür weit auf. Stephanie und ich machten einen Schritt vorwärts, traten in den Raum - und erstarrten zu Salzsäulen.
Das Zimmer war leer. Es lag dunkel und vollkommen still da. »Was ist denn jetzt los? Wo sind die plötzlich alle hin?«, entfuhr es Stephanie. Wir traten in die Mitte des dunklen Raumes. Die Dielenbretter unter uns knarzten. Aber das war das einzige Geräusch. »Ich kapier überhaupt nichts mehr«, flüsterte Stephanie. »Wir haben doch gerade eindeutig Stimmen gehört, oder?« »Und zwar viele«, stimmte ich ihr zu. »Leute, die gelacht und durcheinander geredet haben. Es klang nach einer Party.« »Einer Riesenparty«, bestätigte Stephanie und sah sich nervös in dem leeren Zimmer um. »Mit Massen von Leuten.« Mir lief es kalt den Rücken hinunter. »Ich glaube, das waren keine Leute, die wir gehört haben«, flüsterte ich. Stephanie fuhr herum. »Was?« »Das waren keine Menschen«, krächzte ich. »Das waren Geister.« Ihr fiel die Kinnlade runter. »Und du meinst, die sind alle verschwunden, als wir die Tür aufgemacht haben?« 40
Ich nickte. »Ich... ich habe sogar das Gefühl, als wären sie noch hier. Ich kann sie spüren.« Stephanie stieß einen verängstigten Schrei aus. »Wie - du kannst sie spüren? Was meinst du damit?« In diesem Moment fuhr ein kalter Windhauch durch das Zimmer. Die kühle trockene Luft strich über mich hinweg und schien meinen Körper vom Kopf bis zu den Zehen in einen Eisblock zu verwandeln. Stephanie hatte den Luftzug anscheinend auch gespürt, denn sie legte sich die Arme um den Oberkörper. »Brrr. Was war das denn? Vielleicht steht ein Fenster offen. Wieso ist es plötzlich so kalt geworden?«, fragte sie. Sie schauerte wieder und sagte dann mit ganz dünner, ängstlicher Stimme: »Da ist noch jemand im Zimmer außer uns, oder?« »Das glaube ich auch«, gab ich leise zurück. »Ich fürchte, wir sind gerade unangemeldet mitten in eine Party geplatzt.« Wir standen beide stocksteif da und spürten, wie uns die Kälte langsam in die Glieder kroch. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Womöglich stand einer der Geister direkt neben mir. Vielleicht waren alle Geister, die wir gehört hatten, da und standen im Kreis um uns herum - bereit, sich jeden Augenblick auf uns zu stürzen. »Was machen wir denn«, fragte ich Stephanie flüsternd, »wenn wir wirklich ihre Party gestört haben? Vielleicht wohnen die Geister hier und wir sind in ihr Territorium eingedrungen.« Ich hörte, wie Stephanie schluckte. Sie antwortete nicht. Ich dachte daran, dass Andrew, der Geister junge, seinen Kopf eingebüßt hatte, als er unvermittelt in das Zimmer eines Geistes gestolpert war. War es vielleicht dieses hier gewesen? Standen wir in dem Zimmer, in dem Andrew dem Geist des alten Kapitäns begegnet war? »Los, gehen wir«, drängte ich Stephanie leise. »Und zwar jetzt gleich.« Ich wollte losrennen. Im Eiltempo die Treppe hinunter und zur Haustür hinauslaufen. Nichts als raus aus Hill House. In mein eigenes gemütliches, sicheres Zimmer, wo es garantiert keine Geister gab. Wir drehten uns beide gleichzeitig um und stürzten zur Tür. 41
Ob die Geister versuchen würden uns zurückzuhalten? Nein. Wir rannten hinaus in den in flackerndes oranges Licht getauchten Korridor und ich knallte die Tür hinter uns zu. »Die Treppe! Wo geht's zur Treppe?«, rief Stephanie atemlos. Wir standen am Ende des Ganges. Eine massive Mauer versperrte uns den Weg. Die Blumen auf der Tapete schienen sich zu öffnen und zu schließen und sich im zuckenden Kerzenlicht zu bewegen. Ich hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Wand. »Wie kommen wir hier nur jemals wieder raus?« Stephanie hatte eine weitere Tür im Gang geöffnet und war in das Zimmer getreten. Ich lief ihr hinterher. »Oh Gott!« Gespenstische Wesen bevölkerten dieses Zimmer. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass ich nur auf Laken starrte, mit denen Möbelstücke verhängt waren. Bettlaken, die über Sessel und Sofas hingen. »V... vielleicht ist das ja das Wohnzimmer der Geister...«, stammelte ich. Stephanie hörte mich nicht mehr. Sie war bereits durch die offene Tür gegenüber ins Nachbarzimmer getreten. Als ich ihr folgte, fand ich mich in einem Raum voller großer Truhen wider. Die ordentlich aufgestapelten Kisten reichten vom Boden bis zur Decke. Wir gingen ins nächste Zimmer. Und ins nächste. Mein Herz begann laut zu schlagen. Meine Kehle war so trocken, dass das Schlucken wehtat. Allmählich verlor ich meine Zuversicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir jemals den Weg zur Treppe finden sollten. Eine weitere Tür. Ein weiterer dunkler, leerer Raum. »He, Steph ...«, raunte ich ihr beunruhigt zu. »Bist du dir sicher, dass wir nicht im Kreis gehen?« Wir kamen in einen neuen langen, verwinkelten Gang, in dem wieder Kerzenleuchter angebracht waren. Auch hier schienen die Blumen auf den dunklen Tapeten gespenstisch zu zittern. Wir rannten nebeneinanderher durch den Korridor, bis wir zu einer Tür kamen, die wir noch nicht gesehen hatten. An einem Nagel hing ein Hufeisen. Vielleicht brachte es uns ja Glück. Ich hoffte es jedenfalls sehr. 42
Mit zitternder Hand umklammerte ich den Knauf und zog die Tür auf. Eine Treppe! »Endlich!«, brach es aus mir heraus. »Gott sei Dank!«, rief Stephanie. »Das muss so eine Art Dienstbotenaufgang sein«, vermutete ich. »Vielleicht waren wir die ganze Zeit nur im Dienstbotentrakt des Hauses.« Das Treppenhaus war in Dunkelheit gehüllt. Die Stufen schienen ziemlich steil zu sein. Ich stützte mich an der Wand ab und setzte vorsichtig einen Fuß auf die erste Stufe. Dann machte ich den nächsten Schritt. Stephanie hielt sich mit einer Hand an meiner Schulter fest. Jedes Mal, wenn ich einen Schritt nach unten machte, nahm auch sie eine Stufe. Noch ein Schritt. Und noch einer. Das dumpfe Geräusch unserer Turnschuhe hallte im Schacht des Treppenhauses wider. Wir waren etwa zehn Schritte weit gekommen, als ich Schritte hörte. Irgendjemand kam die Treppe herauf.
Stephanie prallte von hinten gegen mich. Ich streckte panisch die Hände aus und hielt mich an der Wand fest, weil ich sonst die Treppe hinuntergestürzt wäre. Zum Umkehren und Wegrennen war es zu spät. Die Schritte wurden lauter und schwerer. Der helle Kegel einer Taschenlampe strahlte erst Stephanie, dann mich an. Ich kniff geblendet die Augen zusammen und sah eine dunkle Gestalt die Treppe heraufkommen. »Da seid ihr also!«, ertönte eine tiefe Bassstimme, die von den Wänden widerhallte. Die Stimme kannte ich. 43
»Otto!«, riefen Stephanie und ich gleichzeitig aus. Er blieb vor uns stehen und leuchtete uns abwechselnd mit seiner Taschenlampe an. »Was habt ihr beide hier oben verloren?«, fragte er streng, während er nach Atem rang. »Öh ... wir haben uns irgendwie verirrt«, sagte ich schnell. »Ja, die Gruppe war plötzlich verschwunden«, kam Stephanie mir zu Hilfe. »Wir haben versucht sie wieder zu finden.« »Ja, genauso war's.« Ich nickte heftig. »Wir haben überall gesucht, aber es war zwecklos.« Otto senkte die Taschenlampe und musterte uns mit zweifelnd zusammengekniffenen Augen. Ich glaube nicht, dass er uns unsere Geschichte abnahm. »Ich dachte, ihr kennt meine Tour in- und auswendig«, sagte er und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Tun wir ja auch«, beeilte sich Stephanie ihm zu versichern. »Aber wir haben komplett die Orientierung verloren und uns verlaufen. Wir ...« »Wie seid ihr überhaupt in das oberste Stockwerk gekommen?«, wollte Otto wissen. »Ah ... na ja.« Ich suchte fieberhaft nach einer Erklärung, aber mir fiel keine einleuchtende Antwort ein. Hilfe suchend drehte ich mich zu Stephanie um, die noch immer eine Stufe über mir stand. »Wir haben oben Stimmen gehört und dachten, das seien Sie«, erklärte sie Otto. Streng genommen war das nicht einmal gelogen. Wir hatten ja wirklich Stimmen gehört. Otto senkte die Taschenlampe weiter und beleuchtete die Stufen. »Na gut, dann lasst uns mal wieder nach unten gehen. Es dürfen sich nämlich keine Besucher im Obergeschoss aufhalten. Das sind Privaträume.« »Tut uns Leid«, murmelten Stephanie und ich. »Geht ganz vorsichtig«, warnte Otto uns. »Diese Stiege ist steil und wackelig. Ich bringe euch jetzt zur Gruppe zurück. Edna hat für mich die Führung übernommen, damit ich nach euch suchen konnte.« Edna war unsere zweitliebste Führerin. Sie war alt, weißhaarig und sah sehr blass und zerbrechlich aus, besonders, wenn sie ihre 44
schwarze Uniform trug. Aber sie war eine begnadete Geschichtenerzählerin. Ihre alte, zittrige Stimme nahm einen derart gefangen, dass man ihr die ganzen gruseligen Geschichten wirklich glaubte. Stephanie und ich liefen bereitwillig hinter Otto die Treppe hinunter in den ersten Stock. Dort gingen wir mit ihm einen der langen Korridore entlang, den ich sehr gut kannte. Vor Joseph Craws Arbeitszimmer blieben wir stehen. Joseph Craw war Andrews Vater gewesen. Ich spähte hinein und sah, dass im Kamin ein helles Feuer prasselte. Edna stand davor und erzählte den Besuchern vom tragischen Schicksal des Joseph Craw. Stephanie und ich hatten die Geschichte bestimmt schon an die hundert Mal gehört: Etwa ein Jahr nachdem Andrew seinen Kopf verloren hatte, kehrte Mr. Craw eines späten Abends im Winter nach Hause zurück. Er legte seinen Mantel ab und stellte sich dann vor den Kamin, um sich aufzuwärmen. Keiner weiß, wie Joseph Craw verbrannt ist. Sagen jedenfalls Otto, Edna und die anderen Führer. Wurde er etwa in den Kamin gestoßen? Fiel er selbst hinein? Wir werden es nie mehr erfahren. Aber als das Hausmädchen am folgenden Tag ins Zimmer kam, bot sich ihr ein schreckliches Bild. Sie fand zwei schwarz verkohlte Hände, die sich am Kaminsims festkrallten. Mehr war von Joseph Craw nicht übrig geblieben. Die Geschichte ist doch wirklich gruselig, oder? Jedes Mal, wenn ich sie höre, kriege ich eine Gänsehaut. Als Otto und wir nun vor dem Arbeitszimmer standen, war Edna mit ihrer grausamen Geschichte gerade am Ende angelangt. »Möchtet ihr euch wieder zur Gruppe stellen?«, fragte Otto flüsternd. »Es ist schon ziemlich spät. Wir gehen wohl besser nach Hause«, erklärte Stephanie ihm. Ich stimmte ihr schnell zu. »Und danke, dass Sie uns gerettet haben. Wir machen bestimmt bald wieder eine Führung mit.« 45
»Na dann, gute Nacht«, wünschte uns Otto und knipste seine Taschenlampe aus. »Ihr wisst ja, wo der Ausgang ist.« Er eilte ins Arbeitszimmer. Ich wollte mich umdrehen, blieb aber stehen, als ich den Jungen wieder sah. Den bleichen Jungen mit den schwarzen Jeans und dem schwarzen Rollkragenpulli. Er stand in einiger Entfernung von der Gruppe. Und er starrte mich und Stephanie wieder an. Sein Gesicht trug einen harten, kalten Ausdruck. »Los!«, flüsterte ich und packte Stephanie am Arm. Ich zerrte sie von der Tür zum Arbeitszimmer weg. Es war kein Problem, die Treppe nach unten zu finden. Ein paar Sekunden später stießen wir die Haustür auf und traten ins Freie. Draußen wehte ein kalter Wind. Dunkle Wolken glitten am Mond vorbei wie Schlangen. »War doch eine gute Aktion, was?«, verkündete Stephanie und zog sich den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn hoch. »Gut?« Ich war eigentlich nicht ihrer Meinung. »Ich fand es ziemlich gruselig.« Stephanie strahlte mich an. »Schon, aber doch nicht so, dass wir echt Angst bekommen hätten.« Mich überlief es eiskalt. »Natürlich nicht.« »Ich würde echt gern noch mal reingehen und mich noch ein bisschen umschauen«, sagte sie. »Zum Beispiel würde ich das Zimmer mit den Stimmen gern näher unter die Lupe nehmen. Und endlich mal ein paar richtigen Geistern begegnen.« »Ja, das wäre gut«, stimmte ich ihr zu. Ich hatte keine Lust, mit ihr herumzustreiten. Ich war ziemlich müde. Sie zog einen Strickschal aus der Tasche. Als sie ihn sich schwungvoll um den Hals wickeln wollte, verfing er sich in den Ästen einer niedrigen Kiefer. »He ...«, schrie sie erschrocken. Ich ging zu dem Bäumchen hin, um den Schal loszumachen. In diesem Moment hörte ich die Stimme. Es war ein Flüstern. Ein Raunen, das aus dem Kiefernwäldchen drang. Trotzdem hörte ich es ganz deutlich. 46
»Habt ihr meinen Kopf gefunden?« Und dann ein zweites Mal: »Habt ihr den Kopf gefunden? gefunden?«
Habt
ihr
ihn
für
mich
Ich stieß einen erstickten Schrei aus und starrte in das Dickicht. »Stephanie, hast du das auch gehört?«, krächzte ich. Keine Antwort. »Stephanie? Steph?« Ich wirbelte herum. Sie starrte mich mit offenem Mund an. »Hast du das Flüstern eben gehört?«, fragte ich noch mal. Dann wurde mir klar, dass sie nicht mich ansah. Sie schaute an mir vorbei. Ich drehte mich um und sah den seltsamen blonden Jungen neben dem Bäumchen stehen. »He - warst du das etwa gerade?«, stellte ich ihn streng zur Rede. Er verengte seine blassgrauen Augen zu schmalen Schlitzen. »Ha, was? Ich!« »Ja, du!«, fauchte ich. »Wolltest du uns Angst einjagen oder was?« Er schüttelte den Kopf. »Wie kommst du denn darauf? « »Du willst also sagen, dass du nicht hinter dem Baum standst und uns etwas zugeflüstert hast?«, erkundigte ich mich noch einmal. »Ich bin doch gerade erst rausgekommen«, behauptete er. Wir haben ihn vor kaum einer Minute noch in Joseph Craws Arbeitszimmer gesehen, fuhr es mir durch den Kopf. Wie konnte er so schnell hier unten sein? »Wieso verfolgst du uns?«, fragte Stephanie, während sie sich den Schal um den Kragen wickelte. Der Junge zuckte nur mit den Schultern.
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»Und warum hast du uns die ganze Zeit so angestarrt?«, fügte ich hinzu und stellte mich dichter neben Stephanie. Der Wind strich heulend um den Hügel und brachte die Bäume und Büsche zum Erzittern. Dünne schwarze Wolkenbänder schlängelten sich weiter am blassen Vollmond vorbei. Der Junge hatte keine Jacke an. Er trug nur schwarze Jeans und seinen Rollkragenpulli. Sein lockiges Haar flatterte im Wind. »Ja, genau. Wir haben gesehen, wie du uns angestarrt hast«, sagte auch Stephanie. »Was sollte das?« Er zuckte wieder nur mit den Schultern und schaute mit seinen merkwürdigen grauen Augen auf den Boden. »Ich habe gesehen, wie ihr euch vorhin von der Gruppe weggeschlichen habt«, erklärte er. »Und da habe ich mich gefragt, ob ... ob ihr vielleicht etwas Interessantes gesehen habt.« »Wir haben uns nur verlaufen«, behauptete ich schnell und warf Stephanie einen warnenden Blick zu. »Es gab gar nicht viel zu sehen.« »Wie heißt du überhaupt?«, wollte Stephanie von ihm wissen. »Ralph«, gab er bereitwillig Auskunft. Wir nannten ihm unsere Namen. »Wohnst du auch in Wheeler Falls?«, fragte Stephanie weiter. Er schüttelte den Kopf, wobei er weiter auf seine Fußspitzen starrte. »Nein. Ich bin bloß zu Besuch hier.« Warum schaute er uns eigentlich nicht in die Augen? War das bloße Schüchternheit? »Und du bist also ganz sicher, dass du nicht hinter dem Baum warst und geflüstert hast?«, vergewisserte ich mich noch einmal. Er schüttelte den Kopf. »Nein, das war ich nicht. Vielleicht wollte euch irgendjemand einen Schreck einjagen.« »Vielleicht«, sagte ich und trat einen Schritt vor, um dem Baum einen Fußtritt zu versetzen. Ich weiß nicht, was ich erwartete. Aber es passierte sowieso nichts. »Ihr beide wolltet euch wohl ungestört umsehen, was?«, fragte Ralph. »Ja, so ungefähr«, gab ich zu. »Wir interessieren uns ziemlich für Geister.«
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Als ich das sagte, schaute er rasch auf. Seine grauen Augen weiteten sich und er musterte erst Stephanie und dann mich. Bisher war sein Gesicht völlig ausdruckslos gewesen. Ohne einen Funken Leben. Ohne jede Mimik. Doch jetzt konnte er seine Erregung nicht verbergen. »Ach, so ist das«, sagte er. »Hättet ihr denn Lust, richtige Geister zu sehen?«
Ralph starrte uns an, als frage er sich, ob wir den Mut hatten, auf sein Angebot einzugehen. »Also, ja oder nein?« »Natürlich wollen wir«, sagte Stephanie und erwiderte seinen Blick, ohne zu blinzeln. »Wie meinst du das, Ralph?«, fragte ich. »Hast du denn schon mal einen richtigen Geist gesehen?« Er nickte. »Ja, klar. Da drin.« Er deutete mit einer Bewegung seines Kinns auf das große, dunkle Haus. »Was?«, rief ich. »Du hast im Hill House einen richtigen Geist gesehen. Wann?« »Danny und ich haben die Führung nämlich an die hundert Mal mitgemacht«, erklärte Stephanie ihm. »Und wir haben nie einen Geist gesehen.« Er lachte abfällig. »Kein Wunder. Was glaubt ihr denn - dass die Geister rauskommen, wenn Touristen da sind? Sie warten natürlich, bis das Haus über Nacht geschlossen wird und alle Touris heimgegangen sind.« »Woher willst du das denn wissen?«, fragte ich. »Weil ich mich heimlich reingeschlichen habe« antwortete Ralph. »Ganz spätnachts.« »Du hast was?«, schrie ich ungläubig. »Wie denn?« »Ich habe eine Hintertür entdeckt, die nicht abgeschlossen war. Wahrscheinlich weiß keiner, dass es sie überhaupt gibt«, berichtete er. »Als alle fort waren, habe ich mich reingeschlichen. Und da ...« 49
Er schwieg unvermittelt. Sein Blick war aufs Haus gerichtet. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass die Vordertür aufging. Besucher traten ins Freie und zogen ihre Jacken enger um sich. Die letzte Führung war zu Ende und jetzt gingen alle nach Hause. »Schnell, da rüber!«, flüsterte Ralph. Wir folgten ihm und duckten uns hinter die Büsche. Die Leute schlenderten an uns vorbei und wir hörten ihr Lachen, während sie sich über das Haus und die Gruselgeschichten unterhielten. Als alle den Abhang hinuntergegangen waren, richteten wir uns wieder auf. Ralph strich sich das lange Haar aus der Stirn, aber der Wind blies es gleich wieder zurück. »Ich habe mich ganz spät reingeschlichen, als im Haus kein Licht mehr brannte«, nahm er den Faden wieder auf. »Lassen dich deine Eltern denn so spät noch raus?«, fragte ich. Ein merkwürdiges Lächeln glitt über seine Lippen. »Sie wussten ja nichts davon«, sagte er leise. Das Lächeln erstarb. »Und was ist mit euren Eltern?« Stephanie lachte. »Die wissen natürlich auch nichts.« »Gut.« Ralph nickte zufrieden. »Und du hast wirklich einen Geist gesehen?«, hakte ich noch mal nach. Er nickte und strich sich erneut das Haar aus dem Gesicht. »Ich habe mich ganz leise am Nachtwächter vorbeigeschlichen, aber Manni hat sowieso geschlafen und geschnarcht wie ein Sägewerk. Ich bin zur großen Treppe gegangen und stand gerade davor - als ich ein Lachen hörte.« Ich schluckte. »Ein Lachen?« »Ja. Von oben. Ich habe mich sofort gegen die Wand gedrückt. Und dann sah ich den Geist. Es war eine uralte Frau in einem langen Kleid und einer schwarzen Haube. Über dem Gesicht trug sie einen dichten, schwarzen Schleier. Aber ich konnte durch den Stoff ihre Augen sehen, weil sie rot glühten - wie Feuer!« »Wahnsinn!«, rief Stephanie fasziniert. »Was hat sie gemacht?« Ralph wandte sich dem Haus zu. Die Vordertür war geschlossen und auch die Laterne brannte nicht mehr. Das Haus lag jetzt in völliger Dunkelheit da. 50
»Die alte Frau hat sich aufs Treppengeländer gesetzt und ist runtergerutscht«, berichtete Ralph. »Dabei hat sie ihren Kopf zurückgeworfen - und die ganze Zeit schrill gekreischt. Und als sie runterrutschte, hinterließen ihre feuerroten Augen im Dunklen so helle Streifen, wie Kometenschweife.« »Hattest du keine Angst?«, fragte ich. »Hast du nicht versucht wegzurennen?« »Dazu war gar keine Zeit«, erwiderte er. »Sie kam ja direkt auf mich zugeschossen. Ihre Augen glühten und sie kreischte wie ein wahnsinniges Tier. Ich habe mich gegen die Wand gepresst und war wie gelähmt. Als sie unten angekommen war, dachte ich, dass sie mich gleich packen würde. Aber sie verschwand. Löste sich in der Dunkelheit auf. Man sah nur noch ein schwaches rotes Glimmen, das noch eine Weile anhielt. Das Glimmen ihrer Augen.« »Oh Mann, totaler Wahnsinn!«, begeisterte sich Stephanie. »Ja, das ist wirklich der Hammer!«, stimmte ich zu. »Ich hätte Lust, mich wieder reinzuschleichen«, bekannte Ralph mit Blick auf das Haus. »Ich wette, da drin gibt es noch mehr Geister. Die würde ich echt verdammt gerne sehen.« »Ich auch!«, rief Stephanie sofort. Ralph lächelte sie an. »Dann kommst du also mit? Wie wär's mit morgen? Alleine möchte ich nicht noch mal rein. Mit euch würde es bestimmt viel mehr Spaß machen.« Der kalte Nachtwind blies immer heftiger. Jetzt schoben sich schwarze Wolkenberge vor den Mond und verdeckten ihn vollkommen, sodass kein Licht mehr durchdrang. Das alte Haus auf dem Abhang hob sich düster gegen den dunklen Himmel ab. »Also, kommt ihr mit?«, fragte Ralph noch mal. »Ja, klar!« Stephanie nickte begeistert. »Ich kann es kaum erwarten. Was ist mit dir, Danny?« Sie drehte sich zu mir um. »Du kommst doch auch, oder? Sag schon Ja.«
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Ich sagte Ja. Ich behauptete sogar, dass ich es ebenfalls kaum erwarten könne, einen richtigen Geist zu sehen. Und dass ich nur wegen des kalten Nachtwinds am ganzen Körper zitterte - nicht etwa aus Angst. Wir verabredeten uns für den folgenden Tag um Mitternacht auf der Rückseite von Hill House. Danach verabschiedete sich Ralph rasch und Stephanie und ich gingen nach Hause. Die Straße war dunkel und menschenleer. In kaum einem der Häuser brannte noch Licht. Irgendwo in der Ferne heulte ein Hund. Stephanie und ich liefen sehr schnell und senkten die Köpfe, wegen des starken Windes. Normalerweise waren wir um diese Zeit nicht mehr draußen. Am nächsten Tag würde es sogar noch später werden. »Irgendwie traue ich dem Typen nicht«, vertraute ich Stephanie an, als wir vor ihrem Haus standen. »Er benimmt sich komisch.« Eigentlich erwartete ich, dass sie mir zustimmte, aber sie sagte: »Du bist ja bloß neidisch.« »Was? Ich? Neidisch?« Ich traute meinen Ohren nicht. »Warum sollte ich denn neidisch auf ihn sein?« »Na, weil er so mutig ist. Und weil er einen Geist gesehen hat und wir nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Du nimmst ihm seine beknackte Story mit der Geisterfrau, die das Treppengeländer runtergerutscht ist, doch nicht etwa ab, oder? Das hat er sich bestimmt nur ausgedacht.« »Hm, ich weiß nicht«, antwortete Stephanie nachdenklich. »Aber das werden wir spätestens morgen herausfinden!« Viel zu schnell wurde es Abend. Nachmittags schrieben wir in der Schule einen Mathetest. Ich glaube, ich schnitt nicht besonders gut ab. Ich musste die ganze Zeit an Ralph denken und an Hill House und die Geister. Nach dem Abendessen knöpfte sich meine Mutter mich vor. Sie strich mir das Haar aus der Stirn und musterte mein Gesicht. 52
»Warum siehst du eigentlich so müde aus?«, fragte sie. »Du hast richtige dunkle Ringe unter den Augen.« »Vielleicht habe ich ja Waschbärengene«, sagte ich. Das ist meine Standardantwort, wenn sie behauptet, ich hätte dunkle Ringe unter den Augen. »Ich bin dafür, dass du heute früh ins Bett gehst«, mischte sich Dad ein. Dad ist immer der Meinung, dass alle früh ins Bett gehen sollten. Also verzog ich mich schon um halb zehn in mein Zimmer. Aber natürlich legte ich mich nicht schlafen. Ich las ein Buch und hörte Walkman, während ich wartete, bis Mom und Dad ins Bett gingen. Dabei schaute ich immer wieder auf die Uhr. Meine Eltern haben einen sehr tiefen Schlaf. Sie würden nicht mal aufwachen, wenn man an ihre Schlafzimmertür hämmern würde. Einmal schlummerten sie sogar friedlich, während draußen ein Hurrikan tobte. Echt wahr. Sie haben nicht einmal gehört, dass ein Baum auf unser Dach krachte! Stephanies Eltern erfreuen sich ebenfalls eines sehr gesunden Schlafs. Deshalb bereitet es uns auch nie Probleme, nachts heimlich aus dem Fenster zu klettern und als Gruselgeschwister die Gegend unsicher zu machen. Während die beiden Zeiger der Uhr sich langsam auf die Zwölf zubewegten, wünschte ich mir, wir würden auf eine unserer ganz normalen Erschreckertouren gehen. Mir persönlich hätte es völlig gereicht, unter Chrissy Jakobs Fenster ein bisschen wie ein Wolf zu heulen und danach Gummispinnen auf Ben Fullers Bett zu werfen. Aber die liebe Stephanie fand das ja zu langweilig. Sie wollte lieber auf Geisterjagd gehen. Mit einem Jungen, den wir nicht kannten und der sich sehr merkwürdig benahm. Um zehn vor zwölf zog ich meine Daunenjacke an und kletterte aus dem Fenster. Die Nacht war wieder windig und kalt. Als ich Schneeregen auf meiner Stirn spürte, zog ich mir die Kapuze über. Stephanie erwartete mich vor ihrer Garageneinfahrt. Sie hatte ihre braunen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Ihre Jacke war offen, aber darunter trug sie einen langen Winterpulli. Als sie mich sah, legte sie ihren Kopf in den Nacken und stieß ein lang gezogenes, geisterhaftes Heulen aus: »Auuuuuuuuu!« 53
Ich hielt ihr den Mund zu. »Bist du verrückt? Du weckst ja die ganze Straße auf!« Sie riss sich lachend von mir los. »Ich bin schon ein bisschen aufgeregt. Du nicht?« Und sie heulte gleich noch mal. Der Eisregen fror am Boden fest und bildete ein hubbeliges Muster. Wir liefen eilig in Richtung Hill House. Der Wind trieb Zweige und welkes Laub vor uns her. Die meisten Häuser, an denen wir vorbeikamen, waren dunkel. Als wir in die Hill Street einbogen, rollte langsam ein Wagen an uns vorbei. Stephanie und ich duckten uns schnell hinter eine Hecke. Der Fahrer hätte sich sicher gefragt, warum zwei Kinder nachts mutterseelenallein durch die Straßen von Wheeler Falls wanderten. Ehrlich gesagt, fragte ich mich das selbst auch. Nachdem der Wagen verschwunden war, setzten wir unseren Marsch fort. Unsere Turnschuhe knirschten auf dem gefrorenen Boden, als wir den Hang hinaufstiegen, auf dem das alte Spukhaus stand. Drohend ragte es vor uns auf, wie ein Ungeheuer, das nur daraufwartete, uns zu verschlingen. Die letzte Führung war lange zu Ende. Alle Lampen waren aus. Otto, Edna und die anderen Führer waren vermutlich schon nach Hause gegangen. »Los, Danny. Beeil dich!«, drängte Stephanie und begann auf die Rückseite des Hauses zuzurennen. »Ralph ist wahrscheinlich schon da.« »Warte doch!«, rief ich und lief ihr hinterher den schmalen Trampelpfad entlang. Ich sah mich mit zusammengekniffenen Augen nach Ralph um. Aber ich konnte ihn nirgends entdecken. Im Garten lag eine Menge Schrott herum. Eine Reihe verrosteter Mülltonnen stand an einer Mauer. Aus dem hohen Gras ragte eine Holzleiter. Überall sah ich Kisten, Fässer und Pappkartons. An der Hauswand lehnte ein alter Rasenmäher. »Ziemlich... dunkel hier, was?«, stammelte Stephanie. »Siehst du Ralph irgendwo?« 54
»Ich sehe gar nichts«, erwiderte ich flüsternd. »Vielleicht hat er es sich anders überlegt und kommt überhaupt nicht.« Stephanie öffnete gerade den Mund, um mir zu antworten, doch ein erstickter Schrei, der vom Haus her zu uns herüberdrang, ließ uns beide zusammenfahren. Ich drehte mich um und sah Ralph auf uns zuwanken. Sein zerzaustes blondes Haar stand nach allen Richtungen von seinem Kopf ab. Seine Augen traten aus ihren Höhlen. Er hielt mit beiden Händen seinen Hals umklammert. »Der Geist!«, stöhnte er, während er auf uns zustolperte. »Der Geist... er ... er hat mich erwischt!« Er brach nur Zentimeter vor unseren Füßen zusammen und regte sich nicht mehr.
»Netter Versuch, Ralph«, sagte ich gelassen. »Ja, der Sturz sah ziemlich realistisch aus«, fügte Stephanie hinzu. Ralph hob langsam den Kopf und starrte zu uns hoch. »Seid ihr nicht erschrocken?« »Das kannst du vergessen«, winkte ich ab. Stephanie verdrehte die Augen. »Das ist ja wohl der älteste Witz der Welt«, sagte sie verächtlich. »Danny und ich haben den schon tausende von Malen gebracht.« Ralph rappelte sich hoch und klopfte sich seinen schwarzen Rollkragenpulli ab. Er zog ein ziemlich enttäuschtes Gesicht. »Schade, ich wollte euch ein bisschen Angst einjagen.« »Da musst du dir aber was Besseres einfallen lassen«, riet ich ihm. »Danny und ich sind nämlich Experten auf diesem Gebiet«, fügte Stephanie hinzu. »Leute erschrecken ist so eine Art Hobby von uns.«
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Ralph strich sich mit beiden Händen die Haare glatt. »Ihr zwei seid echt komisch«, brummte er. Ich wischte mir kalte Regentropfen von der Stirn. »Also, gehen wir jetzt rein, oder was?«, erkundigte ich mich ungeduldig. Ralph ging vor uns her auf die schmale Tür an der Rückseite des Hauses zu. »Und eure Eltern haben nicht gemerkt, dass ihr abgehauen seid?«, fragte er im Flüsterton. »Nein. War gar kein Problem«, versicherte Stephanie ihm. »Bei mir auch nicht«, sagte er. Er ging die Stufen zur Tür hinauf und schob den Holzriegel zurück. »Ich habe heute wieder die Führung mitgemacht«, erzählte er uns flüsternd. »Otto hat mir ein paar neue Sachen gezeigt. Ein paar neue Zimmer, die wir durchsuchen können.« »Super!« Stephanie strahlte. »Und du versprichst uns, dass wir einen echten Geist sehen?« Ralph drehte sich langsam zu ihr um. Ein seltsames Lächeln glitt über seine Lippen. »Versprochen«, sagte er.
Ralph versetzte der Tür einen Stoß, sodass sie quietschend aufschwang. Wir schlüpften ins Haus. In die totale Finsternis. Es war so dunkel, dass wir nicht erkennen konnten, wo wir uns befanden. Ich machte ein paar vorsichtige Schritte - und stieß mit Ralph zusammen. »Psst!«, zischte er warnend. »Manni sitzt doch vorne in der Eingangshalle. Wahrscheinlich ist er schon eingepennt, aber wir sollten trotzdem nicht in seine Nähe gehen.« »Wo sind wir überhaupt?«, erkundigte ich mich flüsternd. »In einem der Hinterzimmer«, wisperte er zurück. »Deine Augen gewöhnen sich gleich an die Dunkelheit. « »Können wir nicht irgendwie Licht machen?«, schlug ich vor. 56
»Wenn wir Licht machen, kommen die Geister garantiert nicht«, lautete Ralphs knappe Antwort. Wir hatten die Tür hinter uns geschlossen, aber ich spürte trotzdem einen eisigen Luftzug im Rücken. Ich schauderte. Ein zartes Klappern oder Rasseln ließ meinen Atem stocken. Hörte ich in meiner Angst etwa schon Geräusche, die gar nicht da waren? Ich zog mir die Kapuze vom Kopf, um besser hören zu können. Stille. »Ich glaube, ich weiß, wo Kerzen liegen«, flüsterte Ralph. »Ihr beiden wartet hier. Geht bloß nicht weg.« »K...keine Sorge«, stotterte ich. Ich hatte weiß Gott nicht vor irgendwohin zu gehen, solange ich nichts sehen konnte! Ich hörte, wie Ralph auf Zehenspitzen wegschlich. Seine fast lautlosen Schritte wurden bald von der Stille verschluckt. Plötzlich fühlte ich erneut einen eisigen Luftzug im Nacken. Ich schrie leise auf, als auch das klappernde Geräusch wieder ertönte. Es klang zart. Wie Knochen, die leise aneinander schlagen. Abermals strich ein kalter Windhauch über mich hinweg. Der kalte Atem eines Geistes, dachte ich. Ich zitterte am ganzen Körper und es lief mir eiskalt über den Rücken. Da – wieder das Rasseln der Knochen. Lauter diesmal und ganz nahe. Ich streckte den Arm aus und versuchte im undurchdringlichen Dunkel etwas zu ertasten. Eine Wand, an der ich mich abstützen konnte. Ein Tisch. Irgendetwas. Doch meine Hände griffen ins Leere. Ich schluckte. Ganz ruhig, Danny, redete ich mir selbst gut zu. Ralph ist gleich zurück und bringt Kerzen mit. Sobald es hell ist, siehst du, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben. Aber als gleich darauf wieder Knochen klapperten, fuhr ich zusammen. »Ralph, hast du das auch gehört?«, flüsterte ich ins Dunkel hinein. Keine Antwort.
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Die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf, als der kalte Wind über sie strich. Wieder ertönte das Klappern der Gebeine. »Steph, sag schon, hast du das Geräusch auch gehört? Steph?« Es blieb still. »Stephanie? Steph?«, rief ich lauter. Sie war nicht mehr da.
Ich geriet in Panik. Mein Atem ging kurz und stoßweise. Das Hämmern meines Herzens übertönte das Rasseln der Knochen. Ich zitterte wie Espenlaub. »Stephanie? Steph? Wo bist du denn?«, stieß ich mit erstickter Stimme hervor. Und dann sah ich die beiden gelben Augen, die sich auf mich zubewegten. Zwei glühende Augen, die ohne jedes Geräusch durch die Dunkelheit schwebten und bösartig funkelten. Sie glitten näher und näher. Ich erstarrte. Ich war wie gelähmt. Ich sah nur noch diese glühenden, gelben Augen. »Uh!«, entfuhr es mir, als sie immer näher schwebten und ich sie deutlicher sehen konnte. Und merkte, dass es Kerzenflammen waren. Zwei Kerzenflammen, die nebeneinander durchs Dunkel glitten. Im weichen, gelben Licht erkannte ich Ralphs Gesicht. Und dann auch Stephanies. Beide trugen jeweils eine brennende Kerze vor sich her. »Stephanie, wo warst du denn?«, flüsterte ich heiser. »Ich ... ich dachte schon ...« »Ich habe nur Ralph begleitet«, antwortete sie ganz gelassen. Der orangefarbene Lichtschein der Kerze beleuchtete mein Gesicht und ich nehme an, dass Stephanie sah, wie aufgelöst ich war. »Tut mir Leid, Danny«, entschuldigte sie sich. »Ich habe dir 58
doch gesagt, dass ich mit ihm gehe. Ich dachte, du hättest mich gehört.« »I... irgendwas klappert hier«, stammelte ich. »Ich glaube, das sind Knochen. Ich habe die ganze Zeit so einen kalten Luftzug gespürt und dann das Geräusch ...« Ralph reichte mir eine Kerze. »Hier, zünd dir die an«, befahl er mir. »Dann schauen wir mal nach, was da so klappert.« Ich nahm die Kerze entgegen und hielt den Docht an seine Flamme. Aber meine Hand zitterte so sehr, dass ich fünf Anläufe brauchte, bis sie brannte. Endlich flackerte sie auf. Im zuckenden orangefarbenen Lichtschein blickte ich mich um. » He - wir sind in der Küche «, stellte Stephanie flüsternd fest. Wieder strich ein kalter Windhauch an mir vorbei. »Da! Habt ihr das auch gespürt?«, rief ich. Ralph deutete mit der brennenden Kerze auf das Küchenfenster. »Schau mal, Danny - das Fenster hat keine Scheibe mehr. Klar, dass der Wind da durchbläst. « »Oh, stimmt.« Wieder ein Luftzug. Und dann das Klappern. »Aber das, habt ihr das gehört?«, schrie ich. Stephanie brach in Kichern aus. Sie deutete auf die Wand. Im Dämmerlicht entdeckte ich Töpfe und Pfannen, die an einer Leiste hingen. »Der Wind bringt sie zum Klappern«, erklärte sie. »Haha.« Mein Versuch zu lachen, wirkte ziemlich kläglich. »Das war mir natürlich auch klar. Ich wollte bloß sehen, ob ihr darauf reinfallt«, schwindelte ich. »War nur ein Test.« Oh Mann, kam ich mir blöd vor. Aber hätte ich zugeben sollen, dass ein paar an der Wand aufgehängte Töpfe mich beinahe zu Tode erschreckt hatten? »Na gut. Jetzt ist aber Schluss mit den Scherzen«, bestimmte Stephanie und wandte sich an Ralph. »Jetzt wollen wir endlich einen richtigen Geist sehen.« »Kommt mit. Ich zeig euch was, von dem Otto mir heute erzählt hat«, flüsterte Ralph. Die Kerze in der ausgestreckten Hand haltend, führte er uns quer durch die Küche auf die Wand zu, an der der Herd stand. Vor einer kleinen, in der Wand eingelassenen Schranktür senkte er die Kerze. Er 59
öffnete das Türchen und hielt die Kerze dicht davor, damit wir einen Blick hineinwerfen konnten. »Was soll an dem Küchenschrank so interessant sein?«, fragte ich. »Ich finde ihn nicht besonders gruselig.« »Das ist gar kein Schrank«, verbesserte Ralph mich, »sondern ein Speiseaufzug. Hier, schaut mal.« Er griff ins Innere und zog an einem neben dem Regalbrett angebrachten Seil. Das Brett verschwand nach oben. Ralph zog erneut an dem Seil, bis das Brett wieder in seiner Ursprungsposition war. »Seht ihr? Das ist so ein Miniaufzug, mit dem man die Mahlzeiten aus der Küche direkt ins Schlafzimmer im Obergeschoss befördern konnte.« »Falls man nachts wach wird und plötzlich Lust auf einen Mitternachtsimbiss hat, was?«, witzelte ich. Ralph nickte. »Der Koch hat den Teller auf das Brett gestellt und dann an dem Seil gezogen, bis das Essen oben angekommen war.« »Das klingt ja wirklich sehr gruselig«, sagte ich spöttisch. »Genau. Warum zeigst du uns den Aufzug überhaupt?«, fragte Stephanie. Ralph hielt sich die Kerze dicht vors Gesicht. »Otto hat mir erzählt, dass der Speisenaufzug verhext ist. Vor 120 Jahren passierten nämlich plötzlich merkwürdige Sachen.« Stephanie und ich traten näher heran. Ich senkte meine Kerze und untersuchte das Innere des Aufzugs. »Was für Sachen?«, bohrte ich nach. »Na ja«, begann Ralph mit leiser Stimme. »Also zum Beispiel hat der Koch Teller auf das Brett gestellt und hochgeschickt, aber immer, wenn der Aufzug oben ankam, war das Essen weg.« Stephanie kniff die Augen zusammen und sah Ralph skeptisch an. »Wie – das Essen ist zwischen Erdgeschoss und erstem Stock verschwunden, oder was?« Ralph nickte ernst. Seine grauen Augen funkelten im sanften Kerzenlicht. »Das ist ein paar Mal passiert. Wenn der Aufzug im ersten Stock ankam, war er jedes Mal leer. Das Essen hatte sich in Luft aufgelöst.« »Wahnsinn!«, murmelte ich beeindruckt. »Der Koch hat die totale Panik bekommen«, fuhr Ralph fort. »Weil 60
er glaubte, dass der Speisenaufzug verhext ist, hat er ihn nie mehr benutzt. Und er hat auch allen anderen verboten, jemals wieder etwas reinzustellen.« »Ist die Geschichte damit zu Ende?«, wollte ich wissen. Ralph schüttelte den Kopf. »Nein. Dann passierte etwas ganz Grauenhaftes.« Stephanie hörte ihm mit offenem Mund zu. »Was? Was passierte dann?« »Ein paar Kinder kamen zu Besuch. Einer davon war ein Junge namens Jeremy. Jeremy war ein totaler Angeber und ziemlich sportlich. Als er den Speisenaufzug entdeckte, kam er auf die Idee, damit in den ersten Stock zu fahren.« »Oha«, murmelte Stephanie. Ich bekam eine Gänsehaut, weil ich mir schon denken konnte, was kommen würde. »Jeremy kletterte also in den Aufzug und machte sich ganz klein. Eines der anderen Kinder zog am Seil, aber plötzlich blieb der Aufzug stecken. Er ließ sich weder nach oben noch nach unten bewegen. Und Jeremy steckte irgendwo zwischen den beiden Stockwerken fest. Die anderen Kinder riefen nach ihm. ›Alles okay, Jeremy?‹, aber Jeremy antwortete nicht. Natürlich machten sie sich ganz schöne Sorgen. Obwohl sie mit aller Kraft am Seil zogen, tat sich nichts. Bis dann der Aufzug auf einmal mit einem Riesenknall nach unten krachte.« »Und - saß Jeremy drin?«, fragte ich mit angehaltenem Atem. Ralph schüttelte den Kopf. »Nein. Nur seine Kleider lagen noch dort, als armseliges Häufchen.« Wir drei standen im flackernden Kerzenlicht und starrten schweigend auf das Brett des Speisenaufzugs. Mir schauderte. Die Töpfe klapperten wieder an der Wand, aber sie machten mir keine Angst mehr. Ich sah Ralph in die Augen. »Glaubst du, dass die Geschichte wahr ist?« Stephanie lachte. Es klang nervös. »Sie kann nicht wahr sein«, sagte sie. Ralph verzog keine Miene. »Glaubst du die anderen Geschichten, die Otto so erzählt?«, fragte er mich leise. »Na ja ... ja. Nein. Manche.« Ich druckste herum.
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»Otto schwört jedenfalls, dass die Geschichte wahr ist«, sagte Ralph. »Aber es kann natürlich gut sein, dass das zu seinem Job gehört. Er wird schließlich dafür bezahlt, dass die Leute das Haus möglichst unheimlich finden.« »Otto ist mit Sicherheit ein genialer Geschichtenerzähler«, meinte Stephanie. »Trotzdem finde ich, dass wir jetzt genug Geschichten gehört haben. Ich will einen echten Geist sehen.« »Dann kommt mit«, sagte Ralph. Als er sich rasch umdrehte, sah es einen Moment so aus, als würde seine Kerze ausgehen. Er führte uns quer durch die Küche in einen dahinter liegenden langen, schmalen Raum. »Die Speisekammer«, erklärte er. »Hier hat der Butler alle Lebensmittel aufbewahrt.« Stephanie und ich drückten uns an ihm vorbei und hoben unsere Kerzen, damit wir den Raum besser sehen konnten. Als ich mich nach Ralph umdrehte, war er gerade dabei, die Tür zu schließen. Dann bemerkte ich, dass er den Schlüssel im Schloss drehte. »He, was machst du da?«, rief ich. »Warum schließt du uns ein?«, fragte Stephanie.
Ich ließ vor Schreck meine Kerze fallen. Als sie auf dem Boden aufkam, erlosch die Flamme. Die Kerze kullerte unter eines der Regale. Als ich wieder aufblickte, sah ich Stephanie wutentbrannt auf Ralph zustürzen. »Was soll der Quatsch?«, rief sie ärgerlich. »Mach sofort die Tür wieder auf. Das ist nicht witzig.« Ich schaute mich in dem länglichen, schmalen Raum um. An drei Seiten waren vom Boden bis zur Decke Regale angebracht. Fenster oder eine andere Tür, durch die man hätte flüchten könnten, gab es nicht. Mit einem schrillen Schrei wollte Stephanie nach der Klinke greifen, doch Ralph war schneller und verstellte ihr den Weg. 62
»He!«, brüllte ich. Mein Herz hämmerte wie wild, als ich mich neben Stephanie stellte. »Was hast du vor, Ralph?« Im Schein seiner Kerze sah ich, dass seine silber-grauen Augen vor Erregung flackerten. Er starrte uns wortlos an. Es war derselbe kalte Blick, den ich schon am Abend zuvor auf seinem Gesicht beobachtet hatte. Stephanie und ich hielten uns aneinander fest und wichen einen Schritt zurück. »Ich hoffe, ihr beiden nehmt es mir nicht übel, dass ich euch ein bisschen reingelegt habe«, sagte er schließlich. »Wie bitte?«, rief Stephanie. Eigentlich klang sie eher wütend als verängstigt. »Wie reingelegt?«, fragte ich nach. Ralph strich sich mit seiner freien Hand das lange blonde Haar aus dem Gesicht. Der flackernde Kerzenschein ließ auf seinem Gesicht schwarze Schatten tanzen. »Ich heiße gar nicht Ralph«, sagte er leise. So leise, dass man es fast nicht hören konnte. »Aber ... aber ...«, stammelte ich. »Ich heiße Andrew«, fuhr er fort. Stephanie und ich stießen beide einen überraschten Schrei aus. »Aber Andrew heißt doch der Geist«, entgegnete Stephanie. »Der Geist, der nach seinem Kopf sucht.« »Der bin ich«, sagte er leise und stieß ein trockenes Lachen aus. Es hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Röcheln. »Ich habe euch doch versprochen, dass ihr heute Nacht einen richtigen Geist zu sehen bekommt. Voilà... hier bin ich.« Er spitzte die Lippen und blies die Kerze aus. Mit dem Licht schien auch er zu verschwinden. »Aber Ralph!«, rief Stephanie. »Andrew«, korrigierte er sie. »Ich heiße Andrew. Und so heiße ich schon seit über hundert Jahren.« »Lass uns raus!«, flehte ich. »Wir sagen auch niemandem, dass wir dich gesehen haben. Wir versprech...« »Ich kann euch nicht gehen lassen«, erwiderte er flüsternd. Ich erinnerte mich wieder an die Geschichte vom Geist des alten Kapitäns. Als Andrew in sein Zimmer trat, hatte das alte Gespenst 63
genau dasselbe zu ihm gesagt: »Jetzt, wo du mich gesehen hast, kann ich dich nie mehr gehen lassen.« »Aber... aber du hast doch deinen Kopf verloren!«, brach es aus mir heraus. » Genau! Du kannst gar nicht Andrew sein!«, schrie Stephanie. »Du hast einen Kopf!« Im schwachen Schein von Stephanies Kerze sah ich, wie sich ein höhnisches Grinsen über Andrews Gesicht ausbreitete. »Aber nein«, widersprach er sanft. »Nein, nein, nein. Das ist nicht mein Kopf. Dieser hier ist bloß geliehen.« Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Hier, ich zeige es euch«, sagte er. Und dann drückte er beide Hände fest gegen seine Wangen und begann seinen auf dem schwarzen Rollkragen sitzenden Kopf von den Schultern zu ziehen.
»Nein, lass das!«, kreischte Stephanie entsetzt. Ich schloss die Augen. Ich wollte nicht sehen, wie er den Kopf abnahm. Als ich die Augen wieder aufmachte, hatte Andrew die Hände wieder heruntergenommen. Ich schaute mich noch einmal rasch in der engen Speisekammer um. Wir mussten hier irgendwie rauskommen. Nur wie? Der Geist blockierte den einzigen Ausgang. »Warum hast du uns reingelegt?«, wollte Stephanie von Andrew wissen. »Warum hast du uns hier reingelockt? Weshalb hast du uns angelogen?« Andrew seufzte. »Ich habe euch doch gesagt, dass ich mir diesen Kopf nur ausgeliehen habe.« Er strich sich mit einer Hand liebkosend erst über das Haar und dann über die Wange. »Ich habe ihn mir ausgeliehen, aber ich muss ihn wieder zurückgeben.« 64
Stephanie und ich starrten ihn stumm an. Wir warteten darauf, dass er fortfuhr. Warteten auf eine Erklärung. »Du bist mir gestern bei der Führung gleich aufgefallen«, sagte er schließlich, den Blick auf mich gerichtet. »Die anderen konnten mich nicht sehen. Ich habe mich nur euch gezeigt.« »Aber warum?«, fragte ich mit zitternder Stimme. »Deinetwegen«, antwortete er. »Mir hat dein Kopf gefallen.« »W... was?« Ich keuchte entsetzt auf. Er strich sich wieder übers blonde Haar. »Verstehst du nicht? Ich muss diesen Kopf zurückgeben, Danny«, sagte er ungerührt. »Und deshalb hole ich mir deinen.«
Mir entwich ein nervöses Lachen. Warum lachen Leute so oft, wenn sie Todesangst haben? Ich könnte mir vorstellen, dass es daran liegt, dass sie sonst schreien würden. Oder platzen. Da stand ich, eingesperrt in einem winzigen, dunklen Raum mit einem hundert Jahre alten Geist, der meinen Kopf forderte, und hatte das Bedürfnis zu lachen, zu schreien und zu platzen - und zwar alles gleichzeitig! Ich sah Andrew scharf an. »Das ist doch nur ein Witz, oder?« Er schüttelte den Kopf und erwiderte meinen Blick. Seine zusammengekniffenen silbergrauen Augen waren eiskalt. »Ich brauche deinen Kopf wirklich, Danny«, erklärte er sanft. Er zuckte mit den Achseln, als täte es ihm Leid. »Ich reiße ihn dir auch ganz schnell von den Schultern. Es tut kein bisschen weh.« »Aber ... aber, ich brauche ihn doch auch!«, stammelte ich. »Ich leihe ihn mir ja nur«, entgegnete Andrew und machte einen Schritt auf uns zu. »Du kriegst ihn zurück, sobald ich meinen eigenen Kopf wieder finde. Versprochen.« »Wirklich zu gütig«, antwortete ich ironisch. 65
Er machte noch einen Schritt auf uns zu. Stephanie und ich wichen einen Schritt zurück. Er ging wieder einen Schritt vor. Wir gingen einen zurück. Viel Platz zum Zurückweichen blieb uns nicht mehr. Wir hatten die Regalwand schon fast erreicht. Plötzlich hatte Stephanie einen Einfall. »Hör mal, wir suchen deinen Kopf für dich!«, bot sie ihm an. Ihre Stimme zitterte. Ich wandte den Kopf und musterte sie. Ich hatte sie noch nie zuvor ängstlich gesehen. Und als mir klar wurde, dass sie Angst hatte, bekam ich noch mehr Angst! »Ja, genau!«, krächzte ich trotzdem. »Wir finden deinen echten Kopf. Ganz sicher. Wenn es sein muss, suchen wir die ganze Nacht. Wir kennen uns im Haus wirklich gut aus. Ich bin mir sicher, dass wir ihn finden, wenn du uns eine Chance gibst.« Er starrte uns wortlos an. Ich wäre am liebsten vor ihm auf die Knie gefallen und hätte ihn angefleht, uns doch eine Chance zu geben. Aber ich hatte Angst, dass er mir in dem Moment, in dem ich in die Knie ging, den Kopf abreißen würde. »Wir finden ihn, Andrew. Ich weiß es genau«, sagte Stephanie mit Nachdruck. Er schüttelte seinen Kopf. Seinen geborgten Kopf. »Unmöglich«, erwiderte er leise. »Wie lange suche ich jetzt schon danach? Über hundert Jahre! Über ein Jahrhundert lang habe ich jeden Korridor, jedes Zimmer und jeden Wandschrank durchsucht.« Er machte wieder einen Schritt auf uns zu, den Blick starr auf meinen Kopf gerichtet. Ich ahnte, dass er sich ausmalte, wie er sich wohl auf seinen Schultern machen würde. »Und in all den Jahren habe ich meinen Kopf nicht gefunden«, fuhr Andrew fort. »Wie kommt ihr darauf, dass ihr heute Nacht erfolgreicher sein solltet?« »Na ja ... äh, wir ...« Stephanie drehte sich hilflos zu mir um. »Äh ... vielleicht haben wir ja einfach Glück!«, ergänzte ich. Lahmer ging es wohl nicht mehr. »Bedauere«, murmelte Andrew. »Ich brauche deinen Kopf, Danny. Wir verschwenden hier nur unsere Zeit.« »Gib uns doch wenigstens eine Chance!«, rief ich verzweifelt. 66
Er machte noch einen Schritt auf uns zu. Jetzt betrachtete er meine Haare. Vermutlich überlegte er sich, ob er sie wachsen lassen sollte. »Andrew - bitte!«, bettelte ich. Aber es hatte keinen Sinn. Seine Augen hatten inzwischen einen richtig glasigen Blick. Er streckte beide Arme aus und kam noch näher. Stephanie und ich wichen zurück. »Los, gib mir deinen Kopf, Danny«, flüsterte der Geist. Ich stieß mit dem Rücken gegen das Regal hinter mir. »Ich brauche deinen Kopf, Danny.« Stephanie und ich drückten uns eng aneinander und pressten uns gegen die Regalwand. Der Geist kam immer näher. Er streckte mir die Hände entgegen. Wir pressten uns noch stärker gegen das Regal. Ich stieß mit dem Ellbogen gegen etwas Hartes und hörte, wie schwere Gegenstände polternd von den Borden fielen. »Ich brauche deinen Kopf, Danny.« Er ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder, bereit, mich zu packen. Noch zwei Schritte und er würde mich haben. »Dein Kopf. Gib mir deinen Kopf!« Ich presste meinen Rücken fest gegen das Regal und dann hörte ich auf einmal ein leises Knacksen - und das Regal glitt nach hinten weg. Ich hätte fast das Gleichgewicht verloren. In diesem Augenblick begriff ich, dass die gesamte Wand in Bewegung geriet. »W... was ist das?«, stotterte ich. Der Geist griff nach meinem Kopf. »Hab ich dich endlich!«
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Mit ausgestreckten Händen machte er einen Sprung auf mich zu. Ich duckte mich - und fiel nach hinten, als die Wand nachgab. Knirschend schwang sie langsam zurück. Stephanie purzelte auf den harten Boden. Ich half ihr rasch auf, während Andrew erneut nach meinem Kopf griff. »Das ist ein Gang!«, schrie ich über das mahlende Geräusch der Steine hinweg. Hinter der Wand tat sich eine dunkle Öffnung auf. Gerade groß genug, um sich hindurchzuschlängeln. Ich zerrte Stephanie auf das Loch zu - und wir schlüpften hindurch. Wir standen in einem unendlich langen Gang. Es war eine Art Tunnel, der durch die bewegliche Wand getarnt gewesen war. Ich hatte schon von Häusern gehört, in denen es Geheimgänge und versteckte Zimmer gab, aber ich hätte nie im Leben damit gerechnet, eines Tages selbst so etwas zu finden! Stephanie und ich rannten sofort los. Unsere Schritte hallten von den Steinplatten am Boden wider. Aus dem Augenwinkel sah ich die nackten, verwitterten, rissigen Steinwände. Wir mussten gebückt laufen. Die Decke war viel zu niedrig für uns! Nach einer Weile wurde Stephanie langsamer, um einen Blick nach hinten zu werfen. »Verfolgt er uns?« »Renn einfach weiter!«, rief ich. »Dieser Gang muss nach draußen führen! Raus aus dem Haus!« »Ich sehe nicht, wo er hinführt«, schrie sie atemlos zurück. Der niedrige Gang lag in einer kerzengeraden Linie vor uns. Ich konnte kein Licht am Ende erkennen. Ging er etwa unendlich lange so weiter? Wenn ja, dann würde ich auch unendlich lange weiterrennen. Ich hatte nicht vor, stehen zu bleiben, solange ich nicht draußen und in Sicherheit war. Und wenn ich erst draußen war, würde ich nie mehr ins Hill House zurückkehren. Ich würde mich von Geistern fern halten und 68
mein Kopf würde auf meinen Schultern bleiben, wo er auch hingehörte. Das waren meine großen Pläne. Aber leider lassen sich Pläne nicht immer so verwirklichen, wie man sich das vorstellt. »Oh Gott, nein!«, stießen Stephanie und ich beide hervor, nachdem wir beinahe in eine massive Mauer hineingerannt wären. Wir hatten das Ende des Tunnels erreicht. Er war einfach zu Ende. »Er ... er führt nirgendwohin!«, keuchte ich. Schwer atmend hämmerte ich mit den Fäusten gegen die Mauer. »Welcher Idiot gräbt denn einen Geheimgang, der ins Nichts führt?« »Drück dagegen«, rief Stephanie. »Los, wir drücken beide, so fest wir können. Womöglich kann man diese Wand auch schieben?« Wir stemmten uns mit dem Rücken gegen die Mauer und drückten ächzend und stöhnend mit aller Kraft dagegen. Ich presste immer noch, als ich den Widerhall von sich schnell nähernden Schritten hörte. Andrew! »Nicht nachlassen!«, brüllte Stephanie. Ich stemmte mich, so fest ich konnte, gegen die Wand. »Los, komm schon! Beweg dich endlich!«, rief ich verzweifelt. Doch da kam Andrew bereits in Sicht. Er joggte langsam und ohne Eile auf uns zu. »Wir sitzen in der Falle!«, wimmerte Stephanie und brach mit einem Seufzer an der Mauer zusammen. Andrew hatte sein Tempo noch mehr verlangsamt, kam aber stetig näher. »Ich will deinen Kopf, Danny!«, rief er und das Echo seiner Stimme brach sich an den Tunnelwänden. »Es ist aussichtslos«, sagte Stephanie leise. »Vielleicht doch nicht«, krächzte ich und deutete in eine der dunklen Ecken. »Schau doch - eine Leiter!« »Was?« Stephanie sprang auf und blinzelte zu der Leiter hinauf, auf deren Eisensprossen eine dicke Staubschicht lag. Die Leiter führte zu einer kleinen, eckigen Öffnung in der niedrigen Decke. Aber was befand sich dahinter? »Gib mir deinen Kopf!«, forderte der Geist. 69
Ich packte die Leiter mit beiden Händen, stellte einen Fuß auf die erste Sprosse und spähte hinauf. Aber ich starrte ins Dunkle. »Danny...«, flüsterte Stephanie. »Wir wissen doch gar nicht, was uns da oben erwartet.« »Das spielt keine Rolle«, antwortete ich und war schon halb hinaufgeklettert. »Wir haben keine andere Wahl.«
»Wohin willst du, Danny? Ich brauche doch deinen Kopf!« Ich stieg panisch die Leiter hinauf, ohne auf die Schreie des Geistes zu achten. Stephanie war dicht hinter mir. Plötzlich rutschte ich auf der dicken Staubschicht aus und griff einen Moment mit der Hand ins Leere. Zum Glück bekam ich aber das kalte Metall der Leiter sofort wieder zu fassen. »Gib es auf, Danny - du entkommst mir doch sowieso nicht!«, rief mir Andrew von unten zu. Ich hatte nur einen Gedanken - hoch! Immer weiterklettern! Stephanie und ich waren schon bald außer Atem. Trotzdem stiegen wir, so schnell wir nur konnten, weiter nach oben. Immer weiter. Bis die Leiter sich plötzlich senkte. »Neeeeeein!«, schrie ich voller Entsetzen, als sie nach vorne sackte. Aber mein Schrei ging in dem Getöse unter, das jetzt ertönte. Ein mahlendes, polterndes Rumpeln. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass die Mauer in sich zusammenstürzte. Um uns herum zerbröckelten die Steine zu Staub. Wir fielen nach unten, der Mauer entgegen. Ich hörte Stephanies verzweifelte Schreie und griff mit beiden Händen nach der Leiter, um mich an irgendetwas festzuhalten. 70
Aber natürlich nützte das nichts. Die Leiter stürzte auf die zusammenkrachende Mauer. »Auu!« Ich landete mit voller Wucht auf den Mauerresten, prallte ab und kam noch einmal hart auf. Meine Hände flogen automatisch nach oben, als ich von der Leiter geschleudert wurde. Ich fiel auf den Bauch, rollte mich ein paar Mal um mich selbst und kam nach kurzer Zeit inmitten des Drecks und Staubs der kaputten Mauer zum Stillstand. Stephanie war auf den Knien gelandet. Sie schüttelte benommen den Kopf. Um uns herum fielen immer noch Steine aus der Mauer. Stephanies Haare waren von einer dicken Staubschicht bedeckt. Ich schützte meine Augen mit der Hand und wartete, bis es still wurde. Dann öffnete ich die Augen vorsichtig und erblickte Andrew, der über mir stand. Er hatte seine Hände zu Fäusten geballt und starrte mit offenem Mund ... he, er starrte an mir vorbei! Ich rappelte mich rasch auf und wirbelte herum, um zu sehen, was er so gebannt fixierte. »Eine geheime Kammer!«, rief Stephanie, die sofort zu mir gerannt war. »Hinter der alten Mauer war eine Kammer!« Ich machte ein paar vorsichtige Schritte in den Raum hinein. Unter mir knirschte der Schutt, der einmal eine Mauer gewesen war. Plötzlich sah ich, was Andrew anstarrte. Einen Kopf. Auf dem Boden der geheimen Kammer lag der Kopf eines Jungen. »Ich glaube es einfach nicht!«, keuchte Stephanie. »Wir haben ihn gefunden! Wir haben ihn wirklich gefunden!« Ich schluckte mühsam und trat noch einen vorsichtigen Schritt vorwärts. Der Kopf schien in der Dunkelheit weiß zu schimmern. Ich sah deutlich, dass es sich um den Kopf eines Jungen handelte, aber das lange lockige Haar war weiß geworden. Die in dem blassen Gesicht sitzenden runden Augen glühten grün und funkelten wie Smaragde. »Das ist Andrews Kopf«, murmelte ich. 71
Ich drehte mich um. »Dein Kopf - wir haben ihn gefunden.« Ich erwartete, dass er lächelte. Vor Freude jubelte oder einen Luftsprung machte. Hundert Jahre lang hatte er auf diesen Glücksmoment gewartet. Endlich hatte die lange Suche ein Ende. Ich war erschrocken, als ich stattdessen in ein angstverzerrtes Gesicht blickte. Andrew würdigte seinen so lang vermissten Kopf keines Blickes. Er starrte in die Luft. Und während ich ihn noch ansah, begann er am ganzen Leib zu zittern. Ein ängstliches Wimmern brach aus ihm hervor. »Andrew - was ist denn los?«, fragte ich. Er blickte voller Entsetzen an die Decke. Zitternd. Die Hände an den Körper gepresst und zu Fäusten geballt. Schließlich hob er ganz langsam eine Hand und deutete nach oben. »Neeeeein!«, winselte er. »Neeeeeiiin!« Ich drehte mich um, weil ich wissen wollte, was ihm solche Angst machte. Und ich sah, wie sich eine nur ganz schwach erkennbare Gestalt langsam von der Decke herabsenkte. Im ersten Moment glaubte ich, es sei ein dünner Vorhang, der von oben herabfiel. Aber als das Ding sich dem Boden näherte, erkannte ich Arme. Und Beine. Ich konnte durch sie hindurchsehen! Die Raumtemperatur fiel plötzlich um mehrere Grade. Es wurde eisig kalt. »Das ist... das ist ein Geist\«, schrie Stephanie und packte mich am Arm.
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Der Geist landete ohne ein Geräusch sanft auf dem Boden der geheimen Kammer und hob die Arme wie Flügel in die Höhe. Stephanie und ich stießen einen leisen Schrei aus, als der Geist mit ausgebreiteten Armen aufrecht dastand. Er war klein, ausgesprochen dünn und trug weite altmodisch aussehende Hosen und ein langärmliges Hemd mit einem hohen Stehkragen. Einem Stehkragen. Einem Kragen. Er war leer. Der Geist besaß keinen Kopf! Ein kalter Luftschwall wehte heran, als der Geist sich bückte. Die Luft um ihn herum flimmerte und man hatte den Eindruck, er sei aus hauchfeinem Stoff gemacht. Er beugte sich vor, streckte die Arme aus und nahm den Kopf vom Boden auf. Er hob ihn hoch und hielt ihn über dem steifen Stehkragen, um ihn dann behutsam auf seinen Hals zu drücken. Kaum hatte der Geist sich den Kopf auf den Hals gesetzt, flackerten seine grünen Augen auf. Die Wangen zuckten. Die schlohweißen Augenbrauen hoben und senkten sich. Und dann öffnete sich der Mund. Der Geist drehte sich zu uns um - zu Stephanie und mir - und seine Lippen formten ein stummes »Danke«. Als Nächstes hob er die Arme wieder und stieg gemächlich, die grünen Augen unverwandt auf uns gerichtet, in die Höhe. Er schien leichter zu sein als Luft und schwebte vollkommen geräuschlos davon. Ich starrte ihm fasziniert und mit klopfendem Herzen nach, bis die Dunkelheit ihn ganz verschluckt hatte. Fast gleichzeitig drehten Stephanie und ich uns zu Andrew um. Wir hatten gerade den Geist ohne Kopf gesehen – Andrew, den hundert Jahre alten Jungen. Vor unseren Augen hatte er sich seinen Kopf auf die Schultern gesetzt. 73
Aber der Junge, der behauptete Andrew zu sein, war noch immer da. Er stand am ganzen Körper zitternd hinter uns, starrte mit aufgerissenen Augen in die geheime Kammer und stieß wimmernde Laute aus. Ich verengte meine Augen zu Schlitzen und musterte ihn. »Wenn du nicht Andrew bist«, sagte ich nachdenklich. »Wenn du nicht der Geist ohne Kopf bist - wer bist du dann?«
Stephanie schloss sich mir an. »Genau. Wer bist du?«, stieß sie wütend hervor. »Wenn du nicht der Geist ohne Kopf bist, warum hast du uns dann gejagt?«, bohrte ich weiter. »Na ja ... also, ich ...« Der Junge hob beide Hände in die Luft, als wolle er um Verzeihung bitten. Dann begann er ganz langsam rückwärts zu gehen. Er war erst ein oder zwei Meter weit gekommen, als wir im Geheimgang das Echo sich nähernder Schritte hörten. Ich fuhr herum und sah Stephanie erschrocken an. War das etwa noch ein Geist? »Wer ist da?«, ertönte eine tiefe Bassstimme aus dem Dunkel. Der Lichtkegel einer Taschenlampe huschte über den Tunnelboden. »Wer ist da?«, wiederholte die Stimme. Plötzlich erkannte ich sie. Otto! »Äh ... wir sind hier«, rief der Junge leise. »Ralph - bist du das?« Das Licht kam näher und dann trat Otto aus dem Dunkel und sah ihn mit strengem Blick an. »Was geht hier vor? Was machst du denn hier? Du darfst nicht in diesen Teil des Hauses. Er ist so baufällig, dass alles zusammenstürzen könnte.« »Wir... wir wollten uns nur ein bisschen umsehen«, brachte Ralph stockend hervor. »Und dann haben wir uns verirrt. Wir 74
können nichts dafür, dass die Mauer eingekracht ist...« Otto schaute Ralph finster an. Dann zog er ein überraschtes Gesicht, als das Licht der Taschenlampe mich und Stephanie einfing. »Ihr seid auch da? Wie seid ihr überhaupt reingekommen? Was macht ihr hier?« »Er ... also ... er hat uns reingelassen«, stotterte ich und zeigte auf Ralph. Otto drehte sich wieder zu ihm um und schüttelte missbilligend den Kopf. »Hast du wieder mal deine Show abgezogen und diese Kinder erschreckt?« »Nein, bestimmt nicht, Onkel Otto«, erwiderte Ralph, die Augen fest auf den Boden geheftet. Onkel Otto? Dann war Ralph also Ottos Neffe? Kein Wunder, dass er so viel über Hill House wusste. »Raus mit der Wahrheit, Ralph«, forderte Otto den Jungen auf. »Hast du wieder mal deine Geisternummer gespielt? Allmählich müsstest du doch Vernunft angenommen haben. Hast du denn nicht genug Kinder zu Tode erschreckt?« Ralph stand mit hängendem Kopf da und schwieg. Otto rieb sich nachdenklich über seinen blanken Schädel und seufzte erschöpft. »Wir verdienen mit diesem Haus unseren Lebensunterhalt, Ralph. Hast du etwa vor, mir die Besucher zu verschrecken? Willst du, dass die gesamte Nachbarschaft in Angst und Panik versetzt wird?« Ralph ließ den Kopf noch tiefer hängen. Als mir klar wurde, dass Otto wirklich stinksauer auf ihn war, beschloss ich, ihm zu Hilfe zu kommen. »Ist schon gut, Otto«, sagte ich. »Er hat uns nicht erschreckt.« »Kein bisschen«, pflichtete Stephanie mir bei. »Wir haben ihm doch nicht wirklich geglaubt, dass er ein Geist ist, stimmt's, Danny?« »Natürlich nicht«, meinte ich. »Nicht eine Minute lang.« »Und erst recht nicht, als wir dann den echten Geist gesehen haben«, fügte Stephanie hinzu. Otto wandte sich rasch ihr zu und musterte sie im Licht der Taschenlampe. »Den was?« »Na, den echten Geist!«, wiederholte Stephanie. 75
»Ja, stimmt. Wir haben den echten Geist gesehen, Onkel Otto«, rief Ralph plötzlich. »Das war der totale Wahnsinn!« Otto verdrehte die Augen. »Spar dir deine Witze lieber für morgen auf, Ralph. Jetzt ist es zu spät. Mit Späßchen kannst du dich nicht aus der Affäre ziehen.« »Aber es stimmt wirklich!«, beharrte ich. »Ja, es ist wahr!«, riefen auch Ralph und Stephanie. »Wir haben den Geist ohne Kopf gesehen, Onkel Otto. Du musst uns glauben!«, versuchte Ralph seinen Onkel zu überzeugen. »Aber sicher«, brummte Otto. Er drehte sich um und winkte uns mit der Taschenlampe. »Los, raus hier. Kommt mit.«
Nach unserer Gruselnacht im Hill House stellten Stephanie und ich die Erschreckertouren in der Nachbarschaft ein. Wir hatten irgendwie den Spaß an der Sache verloren. Besonders nachdem wir jetzt ja einen richtigen Geist gesehen hatten. Wir schlichen uns also nicht mehr nachts aus dem Haus, spähten nicht mehr mit Horrormasken vor dem Gesicht in die Fenster der Kinderzimmer und versteckten uns auch nicht mehr mitten in der Nacht hinter Büschen, um wie Werwölfe zu heulen. Die Spukerei gehörte der Vergangenheit an. Wir sprachen nicht einmal mehr über Geister. Stephanie und ich fanden andere Hobbys. Ich versuchte in die Baseballmannschaft unserer Schule zu kommen und wurde sogar als Flügelspieler aufgestellt. Stephanie fing in der Theater-AG an. Im Frühjahr spielt sie wahrscheinlich die Hauptrolle in »Schneewittchen«. Entweder wird sie Schneewittchen oder einer der Zwerge, das ist noch nicht ganz raus. Der Winter wurde noch richtig schön. Wir hatten haufenweise Schnee. Und haufenweise ganz ungespenstischen Spaß. 76
Eines Tages gingen wir dann nach einer Geburtstagsparty ziemlich spätabends nach Hause. Es war der erste warme Frühlingsabend. In einigen Vorgärten, an denen wir vorbeikamen, blühten bereits die ersten Tulpen. Die Luft war frisch und duftete süß. Als wir am Hill House vorbeikamen, blieb ich stehen und sah nach oben, um das alte Haus zu betrachten. Stephanie wartete neben mir. Sie wusste genau, was mir durch den Kopf ging. »Du würdest gern noch mal rein, oder?« Ich nickte. »Was hältst du davon, wenn wir eine Führung mitmachen? Wir sind nicht mehr drin gewesen, seit...« Ich sprach nicht weiter. »Klar, warum nicht?«, antwortete Stephanie. Wir stiegen den Hang hinauf und kämpften uns durch das hohe, wuchernde Gras zur Eingangstür vor. Das riesige, alte Gebäude, das vor uns aufragte, wirkte so düster und gruselig wie ehedem. Genau in dem Moment, in dem Stephanie und ich die erste Stufe betraten, sprang knarzend die Haustür auf. So, wie sie es immer getan hatte. Wir gingen in die Eingangshalle und ein paar Sekunden später erschien auch schon der glatzköpfige Otto. Er war völlig in Schwarz gekleidet und lächelte uns aus seinem runden Gesicht freundlich an. »Ach, ihr seid es!«, sagte er erfreut. »Schön, dass ihr mal wieder vorbeischaut.« Er rief in einen der hinteren Räume. »Edna, sieh doch mal, wer da ist!« Die alte Dame kam mit kleinen, zittrigen Schritten in die Halle getrippelt. »Ach, du meine Güte!«, rief sie und schlug sich die Hand vor ihr blasses, runzliges Gesicht. »Wir haben uns schon gefragt, ob wir euch jemals wieder sehen würden.« Ich blickte mich prüfend um. Offenbar waren wir die einzigen Besucher. »Wir würden gern eine Besichtigungstour machen«, bat ich Otto. Er lächelte und zeigte dabei zwei Reihen blitzender Zähne. »Aber sicher. Wartet, ich hole nur schnell meine Laterne.« Otto zog das komplette Programm mit uns durch. 77
Es war wirklich toll, das Haus wieder zu sehen, aber Stephanie und ich spürten doch deutlich, dass es keine Geheimnisse mehr für uns bereithielt. Nach Beendigung der Führung bedankten wir uns bei Otto und verabschiedeten uns. Wir hatten etwa die Hälfte des Abhangs hinter uns gebracht, als unten am Gehweg ein Streifenwagen hielt. Einer der uniformierten Beamten steckte den Kopf zum Beifahrerfenster hinaus. »He, ihr da! Was habt ihr da oben zu suchen?«, rief er zu uns hinauf. Stephanie und ich beeilten uns, zum Wagen zu kommen. Die beiden Streifenpolizisten sahen uns argwöhnisch an. »Wir haben nur die Besichtigungstour mitgemacht«, erklärte ich und deutete zum Haus hinauf. »Wovon redest du? Was für eine Besichtigungstour?« »Na, Sie wissen schon«, antwortete Stephanie ungeduldig. »Die Führung durchs Spukhaus.« Der Polizist steckte seinen Kopf noch etwas weiter zum Fenster hinaus. Er hatte blaue Augen und sein Gesicht war übersät mit Sommersprossen. »Raus mit der Sprache - was habt ihr beiden da oben wirklich gemacht?«, fragte er leise. »Aber das haben wir Ihnen doch gerade gesagt«, rief ich. Meine Stimme hörte sich schrill an. »Wir haben uns das Haus zeigen lassen, mehr nicht.« Der andere Polizist, der hinter dem Steuer saß, gluckste belustigt. »Wird wohl ein Gespenst gewesen sein, das ihnen das Haus gezeigt hat«, meinte er zu seinem Kollegen. Der Sommersprossige wandte sich wieder an uns. »Im Hill House finden überhaupt keine Führungen mehr statt«, sagte er. »Schon seit Monaten nicht mehr.« Stephanie und ich trauten unseren Ohren nicht. »Das Haus steht leer«, fuhr der Polizist fort. »Es ist geschlossen. Den ganzen Winter über ist niemand da gewesen. Vor drei Monaten haben die Betreiber zugemacht.« »Was?« Stephanie und ich wechselten einen verwirrten Blick. Dann drehten wir uns um und schauten zum Haus hoch. Die aus grauem Stein gemauerten Ecktürmchen ragten in den 78
violett-schwarzen Nachthimmel auf. Das Haus selbst lag stockdunkel da. Dann entdeckte ich plötzlich einen sanften Lichtschein, der durch eines der Vorderfenster nach draußen drang. Das Licht einer Laterne. Orangefarben und so flüchtig wie Rauch. In dem schummerigen Schein erkannte ich Otto und Edna. Sie schienen vor dem Fenster zu schweben. Ich konnte direkt durch sie hindurchsehen, wie durch hauchdünnen Stoff. Und noch während ich in das dämmrige, flackernde Licht starrte, begriff ich es: Die beiden waren Geister. Ich blinzelte. Dann erlosch das Licht und es wurde dunkel im Haus.
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1. Der Spiegel des Schreckens 2. Willkommen im Haus der Toten 3. Das unheimliche Labor 4. Es wächst und wächst und wächst... 5. Der Fluch des Mumiengrabs 6. Der Geist von nebenan 7. Es summt und brummt — und sticht! 8. Die Puppe mit dem starren Blick 9. Nachts, wenn alles schläft 10. Der Gruselzauberer 11. Die unheimliche Kuckucksuhr 12. Die Nacht im Turm der Schrecken 13. Meister der Mutanten 14. Die Geistermaske 15. Die unheimliche Kamera 16. ... und der Schneemensch geht um 17. Der Schrecken, der aus der Tiefe kam 18. Endstation Gruseln 19. Die Rache der Gartenzwerge 20. Der Geisterhund 21. Die Wut der unheimlichen Puppe 22. Mein haarigstes Abenteuer 23. Gib Acht, die Mumie erwacht 24. Wer die Geistermaske trägt 25. Der Werwolf aus den Fiebersümpfen 26. Die unheimliche Puppe kehrt zurück 27. Es wächst weiter 28. Der Kopf mit den glühenden Augen
29. Hühnerzauber 30. Wenn das Morgengrauen kommt 31. Ich kann fliegen! 32. Mein unsichtbarer Freund 33. Der Schreckensfisch 34. Die Geisterschule 35. Das verwunschene Wolfsfell 36. Um Mitternacht, wenn die Vogelscheuche erwacht 37. Der Vampir aus der Flasche 38. Der Schneemann geht um 39. Die Geisterhöhle 40. Panikpark 41. Bei Anruf Monster 42. Die Monster vom Fluss 43. Fünf x ich 44. Rache ist... 45. Spürst du die Angst 46. Der Ring des Bösen 47. Der Werwolf ist unter uns 48. Das Versteck der Mumie 49. Bitte lächeln! 50. Das Geisterauto 51. Der Geist ohne Kopf 52. Das Geisterpiano 53. Es atmet 54. Fürchte dich sehr 55. Der Geist im Spiegel 56. Das Biest kommt in der Nacht