Der Gerechte
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 136 von Jason Dark, erschienen am 28.07.1992, Titelbild: Maren (Clemen...
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Der Gerechte
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 136 von Jason Dark, erschienen am 28.07.1992, Titelbild: Maren (Clemente)
Er erschien aus dem Nichts in einer Gefängniszelle und tötete einen Insassen. Wenig später tauchte er in einer Schule auf. Dort rettete er zahlreiche Kinder aus den Fängen eines irren Psychopathen. Wer war er? Ein Mensch, ein Geist, ein Engel? Schon bald erfuhren wir, daß er sich einen anderen Namen gegeben hatte. Er war der Gerechte. Wir blieben ihm auf den Fersen und stellten ihn in einer alten Mühle. Dort entdeckten wir sein furchtbares Geheimnis...
Es war eine normale Nacht, doch der Mann in der kleinen Wohnung wußte, daß die nächsten Stunden über sein weiteres Schicksal entscheiden würden. Er hatte lange darauf gewartet, ein Leben lang – siebenunddreißig Jahre. Doch er wußte nicht, welche Karten das Schicksal sich ausgesucht hatte und wie sie gemischt worden waren. Er konnte so bleiben wie jetzt und seinen normalen Tätigkeiten nachgehen, es würde möglicherweise auch ein anderer Mensch aus ihm werden. Alles stand offen, alles stand in Frage. Er seufzte. Es war mehr ein klagender Laut, der über seine Lippen kam. Nicht schmerzerfüllt, eher eine gewisse Einsamkeit hinauslassend, die den Mann in der Dunkelheit überfallen hatte. Der Mann hieß Raniel! Er hatte oft genug über seinen Namen nachgedacht und sich gefragt, weshalb ihm seine Eltern den Namen gegeben hatten, der zumindest sehr ungewöhnlich war. Er konnte sich vorstellen, daß mehr dahintersteckte, nur kam er nicht auf den Grund. Raniel hörte sich geheimnisvoll an, vielleicht sogar unheimlich, doch wenn er es genauer betrachtete, konnte sein Name durchaus mit seinem Schicksal zusammenhängen. Raniel… Wie außergewöhnlich und einmalig. Da zog er Vergleiche zu Michael, zu Raphael und zu weiteren Namen, die allesamt für bestimmte Personen standen. Für Engel… Er schluckte, wenn er daran dachte. Jedenfalls sah er nicht aus, wie man sich landläufig einen Engel vorstellt. Sein Haar war nicht blond und wallend, seine Haut auch nicht ätherisch blaß, wie man es Himmelswesen nachsagte, er hatte auch keine Flügel und konnte nicht fliegen, weshalb also dann Raniel? Erst in den letzten Monaten war ihm sein Name so ungemein stark zu Bewußtsein gekommen. Er hätte gern seine Eltern danach gefragt, das war leider nicht möglich, denn sie lebten nicht mehr. Ein Unfall hatte sie dahingerafft. Sie waren in einem Wohnwagen gewesen und in die Hölle hineingetreten, als ein unter Drogen stehender Lastwagenfahrer in das Camp hineingefahren war. Fünf Tote, acht Schwerverletzte und einige Leichtverletzte hatten die Rettungsmannschaften nach diesem Schrecken gezählt. Der Fahrer hatte überlebt und saß jetzt hinter Gittern. Da es kein vorsätzlicher Mord war, würde er schon bald wieder freigelassen werden. Welch eine lächerliche Abnormität einer Gerechtigkeit. So dachte Raniel, so dachten viele Menschen, die betroffen waren und sich stets so hilflos fühlten. Raniel hatte den Tod seiner Eltern nur verdrängt, nicht vergessen.
Er saß am Fenster und schaute wieder nach draußen. Es war ein großes Fenster, das von der Decke bis zum Boden reichte und einen wunderbaren Blick in die freie Landschaft hinein ermöglichte, die nun in der Dunkelheit geheimnisvoll wirkte. Ein weiter Himmel, wo der Wind die Wolken des Tages weggefegt hatte. Sterne waren zu sehen wie ferne Punkte. Dazwischen, wie ein großer Wachtposten, stand der Mond. Ein nicht ganz voller, gelber Kreis, ein Auge, das schaute und bewachte, das auch ein fahles Licht schickte. Raniel saß auf einem einfachen Schemel. Manches Mal, wenn er sich bewegte, gab die Scheibe sein schwaches Spiegelbild wider, und abermals dachte er daran, daß nichts Engelhaftes an ihm war, denn so ähnlich wie dieser Schatten sah er auch aus. Dunkles, sehr dichtes Haar umwallte seinen Kopf. Es war schwarz wie das Gefieder eines Raben. Raniel hatte es glatt zurückgekämmt. Sein Gesicht hatte einen normalen Teint. Der Mund war eher feminin, so weich und geschwungen waren die Lippen. Die Nase, die man als kräftig bezeichnen konnte, war nicht so außergewöhnlich, als daß sie bei einem flüchtigen Blick in Erinnerung geblieben wäre. Ebenso schwarz wie das Haar waren die balkenähnlichen Brauen. Einen ähnlich tiefen Farbton hatten die dunklen Augen. So wirkte Raniel schon außergewöhnlich, wenn auch nicht wie ein Engel aus den Höhen des Himmels. Ein Dichter hätte ihn vielleicht als einen dunklen und in sich gekehrten Träumer beschrieben, in dessen ausdrucksstarken Augen sich alles Leid der Welt, aber auch alle Freude des Erdballs sammeln konnte. Ein anderer hätte möglicherweise gesagt, daß er nicht in die heutige Zeit hineinpaßte und mehr an einen Menschen aus dem letzten Jahrhundert erinnerte, wo die Biedermeierzeit ihre bleibenden Akzente gesetzt hatte. Was hätte ein derartiger Mensch bei einem solchen Aussehen werden können? Pianist, Künstler, Bildhauer oder Maler. Er war jedenfalls ein Mensch, zu dem ein kreativer Beruf paßte. Ihn hätte man sich nie in einer Fabrik oder am Fließband vorstellen können, eher in einer Dichterstube. Aber er saß nicht in einer Dichterstube, sondern vor einem großen Fenster und schaute hinaus in die Nacht. In die Nacht des Schicksals… Es würde geschehen, diese Nacht konnte einfach nicht vergehen, ohne daß sich etwas ereignete. Es war sein Schicksal. Und wieder seufzte er auf. Wieder drang dieser klagende Laut über seine vollen Lippen, der sagen sollte, dann muß es eben passieren, wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Er schaute auf die Uhr. Noch nicht Mitternacht.
Raniel blickte auch weiterhin in die Dunkelheit und sah die Landschaft unterteilt in verschiedene Schatten, die mal dunkler, mal heller, mal kleiner oder größer waren. Es war ein wunderschöner Blick in die Weite, den Raniel nie leid wurde. Er genoß ihn am Tage ebenso wie in der Nacht. Und wer eine so außergewöhnliche Wohnstatt sein eigen nannte, der wunderte sich auch nicht über diesen Blick, denn er gehörte einfach dazu. Kein Verkehr, keine Straßen, kein Lärm, keine Hektik. Statt dessen gab es Ruhe, Weite und Stille. Hier hatte sich die Zeit irgendwann einmal festgefroren, weil es ihr besonders gut gefiel. Auch paßte alles zu ihm. Er liebte seine Wohnstatt, er liebte seine Umgebung, und er wurde jeden Tag froher darüber, daß ihm ein hoher Gewinn in der Lotterie ein unabhängiges Leben erlaubte. Ein Leben, das sich in der letzten Zeit genau nach seinen Vorstellungen hatte wandeln können, in das er eingetaucht war wie ein Schwimmer in die tiefe See und das er nun nur noch genoß. Allerdings auf seine Weise, nach seinen Geboten, aber er wußte auch, daß er den bestehenden Geboten noch eines hinzufügen würde. Das seinige. Raniels Gebot. In dieser Nacht sollte es Wirklichkeit werden. Er stand auf und drehte sich vom Fenster weg. Neben seinem eher schlichten Bett stand die hohe Tasse mit dem Tee. Er war kalt geworden, und Raniel trank ihn in kleinen Schlucken. So handelte nur ein Mensch, der es gewohnt war, sein Leben zu genießen und auch den kleinsten Dingen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Als die Tasse leer war, stellte er sie weg und ging zu einem anderen Fenster, das nicht so groß und so hoch war. Dabei schaute er wieder auf die Uhr. Noch immer nicht Mitternacht. Er räusperte sich, drehte den Kopf und konnte einen Schatten erkennen, der rechts vom Fenster von oben nach unten fiel und von der Hauswand ein wenig entfernt war. Der Schatten war in Höhe des Fensters schmaler als dort, wo er den Boden berührte. Da verbreiterte er sich und glich irgendwo dem Streifen eines Kometen, ohne gekrümmt zu sein. Raniel wußte, wer diesen Schatten warf. Er stammte von einem Flügel, zu dem noch drei andere gehörten. Von diesem Fenster aus konnte er nicht so weit über das Land hinwegschauen, denn eine sanft aufsteigende Wand nahm ihm schon sehr bald einen Teil der Sicht. Was wie eine Wand aussah, war tatsächlich nur ein Hügel, auf dessen Kuppe sich ein glänzender Gegenstand erhob. Lang, schmal und schimmernd, eine Antenne, die Wellen verstärken wollte. Unsichtbare Wellen, und etwas Unsichtbares spürte Raniel ebenfalls auf sich zukommen.
Es schwang auf ihn zu, war unterwegs, aber noch nicht so nahe, als daß er es spüren und identifizieren konnte. Er trug dunkle Kleidung, weil die am besten zu seinem Haar paßte. Eine dunkle Hose, eine lange Jacke, aber ein weißes Hemd, dessen Stoff in der Dunkelheit bläulich schimmerte, als wollte es die Schatten der übrigen Kleidung in sich aufsaugen. Raniel ging wieder zurück. Seine Schritte hinterließen auf dem alten Holzboden dumpfe Echos. Es roch etwas nach Staub und auch nach alten Steinen oder Mehl. Ein typischer Geruch, an den sich Raniel allerdings gewöhnt hatte. Wenn ihn ein Fremder besuchte, der würde ihn noch wahrnehmen, er aber nicht mehr. Der Mann wollte sich setzen, doch mitten in der Bewegung hielt er an. Er stoppte, blieb in der verkrampften Haltung, drehte dann den Kopf, um durch das Fenster in die dunkle Weite schauen zu können, und er wußte plötzlich, daß es jetzt passierte. Nein, nicht jetzt, sondern gleich, vielleicht in kurzen, wenigen Sekunden. Er ging einen Schritt vor. Dann hatte er die Scheibe fast berührt. So weit ließ er es nicht kommen. Dafür drückte er die Arme vom Körper ab und spreizte seine Hände, wobei er die Innenflächen links und rechts von seinen Schultern entfernt gegen das Glas drückte. In dieser Haltung wartete er ab. Raniel beobachtete den Himmel. Er zeigte sich noch immer unverändert. Sehr weit, sehr grau, dabei bleich und leicht gläsern, mit einem fast vollen und bleichen Mond in der Mitte. Er wollte sich schon abwenden, als er – so kam es ihm jedenfalls vor – in Höhe des Mondes einen Reflex wahrnahm. Ein Lichtpunkt, einer Sternschnuppe nicht unähnlich, aber diese ›Schnuppe‹ verblaßte nicht. Sie blieb und vergrößerte sich, wobei sie sich nicht senkte. Sie zuckte wie ein helles Spinnenbein durch die Finsternis, um sich auf ein Ziel einpendeln zu können. Raniel hielt den Atem an! Geschichten aus seiner Kindheit wirbelten die Erinnerung auf. Er sah sich auf dem Schoß seiner Mutter sitzen und ihr zuhören, während sie erzählte. Die Märchen aus aller Welt kannte sie beinahe auswendig, und sie erzählte mit einer Intensität, daß der kleine Raniel stets das Gefühl bekam, inmitten des geheimnisvollen Geschehens zu stehen, bei dem sich alles um Elfen, Riesen, böse Hexen oder unschuldige Menschen drehte. Wunderschöne Märchen, die ihn durch die sanfte Stimme seiner Mutter entführten. Und sie hatte auch von den Sternschnuppen berichtet, die, wenn sie erschienen, etwas Besonderes waren. Denn dann konnte sich der Zeuge etwas wünschen.
Über Raniels Gesicht huschte ein Lächeln. Er hielt den Blick nach vorn gerichtet, seine Augen waren weit geöffnet. Die Pupillen glichen starren, schwarzen Ölpfützen. In seinem Innern drängte sich die Erwartung hoch wie ein Gewitter. Er spürte die Spannung, als wäre sein Körper zu einem Bogen geworden, der dicht vor der Überdehnung stand. Das Licht galt nur einer Person – ihm! Raniel wußte dies mit einer Klarheit, die ihn beinahe erschreckt hätte. Auf seinem Gesicht zuckte es. Vor ihm öffnete sich der Himmel zu einer nie gekannten Weite. Er schaute noch tiefer hinein. Sein Blick drang hinter die Dinge, das Herz schlug schnell wie eine alte Maschine, deren Kolben heftig arbeiteten und pumpten. Der weite Himmel blieb dunkel. Nur dort, wo sich das Licht zeigte, entstand immer wieder und nur für kurze Zeit dieser wunderbare helle Streifen, der sich dann beugte und ein Ziel anvisierte. Raniel stand vor dem Fenster. Noch immer berührten seine Handflächen die Scheibe, noch immer tobte in seinem Innern ein gewaltiger Sturm, und er zitterte vor Vorfreude. Geschafft! Ja, er hatte es geschafft. Das war die Botschaft, auf die er so lange gewartet hatte. »Komm!« keucht er. »Komm zu mir…« Und das Licht gehorchte. Es hatte sich verwandelt, es war zu einem langen Streifen geworden, der langsam dem Fenster entgegensank, als wollte er in die Scheibe eintauchen. Der Beobachter wußte nicht genau, was dieses Licht von ihm wollte, ob es eine verlorene Seele war, die mit ihm Kontakt aufnehmen wollte, aber er war nicht mehr in der Lage, seinen Blick zur Seite zu wenden. Wie hypnotisiert schaute er hin. Und es veränderte sich. Nein, das stimmte nicht. Es erfuhr keine Veränderung, es blieb so, aber Raniel sah den Schein zum erstenmal so deutlich, weil er jetzt sehr nahe herangeschwebt war. Das war kein Schein mehr, das war… das war… Seine Kehle trocknete aus. Er konnte es nicht fassen, nicht glauben. Das war eine Gestalt. Durchscheinend und feinstofflich… Raniel durchzuckte es. Das Gefühl war heiß. Ein Schwert aus Flammen durchbohrte ihn, und er dachte daran, daß es noch nicht lange zurücklag, als er über seinen Namen nachgedacht hatte. So auch jetzt. Er hieß Raniel. Und was ihm da entgegenschwebte, war ein Geist – mehr noch, es war ein wunderbarer und herrlicher Engel… Ein Engel!
Er konnte es nicht fassen. Es war zu wunderbar für ihn, zu einmalig. Sein Mund klappte auf, ohne daß ein Laut über die Lippen gedrungen wäre. Er blieb einfach stehen und staunte. Die Gänsehaut strich über seinen Körper, als wäre sie von einem Pinsel geführt worden, und allmählich begriff er die gesamte Tragweite dessen, was da draußen passiert war. Er hatte Besuch von einem Engel bekommen! *** Ihm blieb der Speichel weg, der Mund trocknete aus. Hätte ihn jemand nach seiner Meinung gefragt, er wäre nicht in der Lage gewesen, ihm eine Antwort zu geben. So ausgetrocknet war seine Kehle. Raniel stand hinter dem Fenster und kam sich selbst vor wie jemand, der seinen Körper zur Seite gedrängt hatte und nur mehr ein Schatten war. Wie wundervoll. Gleichzeitig drückte sich die Furcht in ihm hoch. Was er hier und jetzt erlebte, war so unwahrscheinlich und unglaublich, daß er es nicht fassen konnte, und er wußte auch, daß ihm niemand die Geschichte abnehmen würde. Das aber wollte er nicht tun. Der Mann spürte, daß sich in dieser Nacht eine Macht und eine Kraft offenbarten, die nur ihn etwas angingen. Nur ihn allein. Raniel mußte genau wie Engel aussahen. Jedenfalls nahm er es an, wenn er den Beschreibungen Glauben schenken durfte, die in den Geschichten und Legenden überliefert wurden. Es gab viele Meinungen über Engel. Sie waren auch verschieden, und nicht immer wurden die Engel auf die Seite des Guten gestellt. Auch über das Geschlecht herrschte Unsicherheit. In der Regel waren sie männlich, doch es gab auch bei ihnen Unterschiede. Nicht alle Engel waren visionär, es gab auch körperliche, die sich unter die Menschen mischten. Dann existierten die Elfen, die man als rebellische Engel ansah. Wegen ihres Aufruhrs waren sie aus dem Himmel hinausgeworfen worden. Das alles wußte er seit seiner Kindheit, denn es wiederholte sich oft in den Märchen und Legenden der Völker, die er aus dem Mund seiner Mutter kannte. Drei, vier Wimpernschläge lang dachte er über das Phänomen der Engel nach, während er sein Augenmerk auf die Erscheinung vor dem Fenster gerichtet hielt. Es war ein Wesen, das zu den feinstofflichen Personen gehörte. Es war durchscheinend, aber es hatte keine Flügel und bewegte sich wahrscheinlich durch reine Gedankenkraft. Mit Überschallgeschwindigkeit bewegte es sich von einem Ort zum anderen.
Ein Traum? Er schüttelte den Kopf. Nein, das war kein Traum. Das hier war die Stunde des Schicksals. Das war die Minute, die er erwartet hatte. Von nun an würde sich einiges ändern. Dieses Wesen hatte die Schienen bereits gelegt, die ihn, den Menschen, auf eine bestimmte Bahn führen sollten. Hinein in etwas anderes, in ein völlig neues Erleben, in Welten, die einfach wunderbar sein würden. Es kostete ihn Mühe, sich zu konzentrieren. Wenn sich ihm schon die Chance bot, einen Engel genau ansehen zu können, dann wollte er es jetzt tun. Sehr genau hinschauen, sich auf ihn einstellen, bevor er die Botschaft des Wesens übermittelt bekam. Raniel rechnete damit, daß dieses Wesen Kontakt mit ihm aufnehmen würde. Allerdings nicht auf dem üblichen Wege, da besaßen diese Geistwesen andere Möglichkeiten. Sie würden auf einer rein geistigen Ebene mit ihm kommunizieren, und so erwartete er die Botschaft des Wesens voller Spannung. Nichts war zu hören. Aber die fahle Lichtgestalt – sie hatte ungefähr die Farbe des Mondes – bewegte sich auf ihn zu. Hindurch! Er trat überrascht einen Schritt zurück, als ihm bewußt wurde, daß der Engel sich nicht mehr vor dem Fenster aufhielt, sondern durch das Glas in die Mühle hineingelangt war. Kleine Eiskörner krochen über seinen Rücken. Er traute sich nicht, sich umzudrehen, aus Angst, einen Fehler zu begehen. Er war nicht mehr allein, er wußte, daß dieser Engel mit einer Botschaft zu ihm gekommen war, daß er unter Millionen von Menschen ausgesucht worden war, um dem Schicksal einen Dreh zu geben. Dann drehte er sich doch um, weil er den inneren Zwang spürte. Etwas anderes hatte ihn übernommen und sich klammheimlich in seinen Körper gestohlen. Er starrte den Geist an. Nein, das war es nicht. Er konnte ihn gar nicht anstarren. Er schaute hindurch, und doch war es ihm, als würde jemand vor ihm stehen aus Fleisch und Blut, denn dieser Jemand nahm tatsächlich mit ihm Kontakt auf. Raniel selbst sah nur den bleichgelben Schatten und spürte die Aura des Fremden, des Unheimlichen und des Übernatürlichen, die ihm entgegenwehte und sich zu einem kompakten Gedankenstrom konzentrierte, der in sein Gehirn eindrang. ›Jetzt habe ich dich gefunden.‹ Es war eine Feststellung, der Raniel nicht widersprechen konnte. Aber was bedeutete es? Hatte diese Erscheinung ihn nur gesucht?
War sie das Schicksal, das sich nun sichtbar zeigte? Ein Engel, der auf die Erde gekommen war und sich aus seinen himmlischen Gefilden gelöst hatte, um ihm eine Botschaft zu bringen? Nein, nicht Botschaft. Das war für ihn persönlich in diesem Fall viel mehr. Diese feinstoffliche Erscheinung ging die ganze Menschheit an. Es war Raniel einfach nicht möglich, ein Zittern zu unterdrücken. Er schluckte einige Male, er holte durch die Nasenlöcher Luft, er bewegte seine Augenlider, er schloß die Augen, öffnete sie wieder und rechnete damit, daß die Erscheinung verschwunden war und er sich alles eingebildet hatte. Nein, sie war geblieben. Fahl wie das Mondlicht. Er konnte nicht sagen, ob sie den Boden berührte oder darüber schwebte. Alles war so anders geworden, so fremd, unheimlich, rätselhaft und erwartungsvoll. Raniel merkte, daß das Gefühl der Angst allmählich aus seinem Innern wich. Beim ersten Augenkontakt mit der Erscheinung hatte er so etwas wie eine große Gefahr gespürt, die es nun nicht mehr gab. Sie hatte sich zurückgezogen. Statt dessen spürte er die Erwartung, die in seinem Innern hochkochte. Er fühlte sich gut, möglicherweise schon unbesiegbar, jedenfalls stand er auf der untersten Stufe der Leiter der Euphorie, und er mußte einige Male tief Luft holen, um sich wieder fangen zu können und den Druck abzuschütteln. Er wollte die Realität haben, er wollte sich mit ihr auseinandersetzen und sich nicht in irgendwelchen Träumen verlieren. Der Mann nickte. Er hatte der Erscheinung ein Signal gegeben, die diese auch sehr schnell begriff. ›Du bist der Bote!‹ Wieder hatte der Engel in Rätseln gesprochen. Seine Botschaft klang nur in Raniels Gehirn nach. Sie war mit dem Gehör überhaupt nicht zu vernehmen. Doch er hatte es geschafft, sich besser zurechtzufinden und den ersten großen Schock überwunden. Ihm war auch klargeworden, daß ihm von dem namenlosen Engel keine Gefahr drohte und daß er ein besonderer Mensch sein mußte, der unter Millionen anderer ausgesucht sein mußte, um eine Aufgabe zu erfüllen. Das machte ihn stolz. Es gab nur den Engel und ihn. Die Luft war eine andere geworden. Sie hatte sich aufgeladen, sie knisterte leicht, aber Funken waren nicht zu sehen. Statisch aufgeladen, und Raniel spürte das Kribbeln, das über seine Haut rann und dabei nichts ausließ. Weder die Arme oder die Beine noch das Gesicht oder den Rücken. Sie war da. Er holte tief Luft, stand seinem Schicksal gegenüber. Er bewegte sich in seine Richtung.
Der Engel schimmerte. Erst jetzt stellte Raniel fest, daß es nicht nur seine Konturen waren, die wie mit einem dünnen Pinsel gezeichnet wirkten, auch innerhalb dieses Umrisses tat sich etwas. Da sah er sehr genau das Zucken und Flimmern, das Zurückweichen, das Vorschnellen, die Bewegung, die elektrische Aufladung. Der Engel stand ruhig, befand sich jedoch in einer immerwährenden Bewegung in seinem Zentrum. Auch hatte sich die Luft von der ’Temperatur her verändert. Sie kam ihm schärfer und kälter vor, wie nach einer Entladung. Er konnte das Ozon sehr gut riechen. Der Engel hatte die Botschaft zu überbringen gehabt, er würde auch nicht davon weichen. Ein Gesicht gab es bei ihm nicht. Auf Bildern waren Engel mit einem überfrommen Gesichtsausdruck ausgestattet worden, wenn sie erwachsen waren. Als Kindgeschöpfe sah man sie meist niedlich, pausbäckig, fast nackt und mit kleinen, kitschigen Flügeln versehen. Auch wirkten Engel stets geschlechtslos. Dieser hier war völlig anders, da er aus feinstofflicher Materie bestand. »Was willst du von mir?« Raniel wunderte sich, wie glatt die Worte über seine Lippen drangen. ›Dich!‹ Er schluckte. Angst und Sorge trieben in ihm hoch. Sein Blick flackerte. Die Antwort hatte ihm nicht gefallen. Sie hatte so endgültig geklungen, als stünde alles schon fest, als sollte er von der Erscheinung übernommen werden. Er schwitzte plötzlich, traute sich aber nicht, das Tuch hervorzuholen und damit über seine Stirn zu wischen. So liefen dann die Schweißperlen vom Beginn des Haaransatzes nach unten und rannen in dünnen Bahnen über seine Wangen. »Aber ich…« Der Engel ließ ihn nicht aussprechen. ›Du wirst ich, und ich werde du, Raniel.‹ Wieder hatte er in Rätseln gesprochen, und der Mann war nicht in der Lage, einen Kommentar zu geben. Seine Kehle saß zu, er räusperte sich, er schluckte, und er merkte die drückende Angst, die in ihm steckte. Die Sache war noch nicht ausgestanden. Raniel wußte nur, daß er sein bisheriges Leben würde abhaken können. Er nickte. Es war nicht bewußt gewollt, mehr eine automatische Aufforderung, die der Engel jedoch gern annahm, denn er ›sprach‹ weiter. ›Ich bin gekommen, um dich zu mir zu machen. Wir beide werden miteinander ein Leben teilen, und ich werde immer an deiner Seite sein. Ich werde dich zu einem Mythos aufbauen, vor dem diese Welt bald das Fürchten lernt. Ich bin dein Bote, aber du bist ein Mensch, und man wird
dich bald kennenlernen. Du wirst deinen Namen nicht vergessen, doch ein anderer, ein neuer wird sich in den Vordergrund schieben.‹ Raniel hatte mit wachsender Spannung zugehört. Die Furcht war vollständig verflogen. In ihm kochte die Erwartung. Es war einmalig. Diese Nacht konnte er kaum beschreiben. Sie griff in sein bisheriges Leben ein, sie würde es radikal ändern. »Nicht mehr ich?« wiederholte er. ›So ist es. Du wirst mit einem anderen Namen die Welt auf dich aufmerksam machen, und du wirst Kräfte erlangen, die ich dir dank meiner Macht mitgeben kann. Du bist zwar Raniel, doch dein anderer Name wird zu Legende werden.‹ »Welcher denn?« ›Der Gerechte!‹ Raniel schwieg. Er mußte schweigen, weil er nicht in der Lage war, eine Antwort zu geben. Der Gerechte… Ein Name, ein Begriff! Möglicherweise auch ein Kampfname, wer konnte das wissen? Er starrte die Erscheinung an. Sie schwieg. Sie ließ ihm Zeit, über die neuen Möglichkeiten nachzudenken. ›Gefällt er dir?‹ Raniel hob die Schultern. Er wollte sich weder positiv noch negativ äußern, weil er mit dem neuen Begriff seine Schwierigkeiten hatte. Der Name hörte sich an, als sollte er zu einem Richter werden und Recht sprechen oder vielleicht sogar das Recht in seine eigenen Hände nehmen. Agieren wie ein Racheengel. »Werde ich zum Rächer?« stieß er schließlich hervor. ›Es kann sein. Es kommt allein darauf an, wie du deine Aufgabe siehst. Noch sind deine Augen verschlossen, aber sehr bald schon wirst du erkennen, wo sich überall die Ungerechtigkeit festgesetzt hat. Und du wirst damit anfangen, sie zu bekämpfen. Du bist diejenige Person, die es schaffen kann, du bist der Bote mit dem Flammenschwert, und du wirst die Menschen aufrütteln, denn das habe ich beschlossen.‹ »Kannst du das denn?« Inmitten der Gestalt vibrierte es, als hätte sich die Erscheinung zu einem Lächeln entschlossen. ›O ja, ich kann es, denn ich habe tatsächlich die Macht.‹ Raniel schüttelte den Kopf. »Warum ich? Warum nicht andere? Weshalb hast du mich auserwählt?« ›Ich könnte sagen, daß es einer sein muß, aber das stimmt nicht. Es gibt schon Gründe dafür.‹ »Welche?«
›Ich überlasse es dir, sie herauszufinden. Keine Sorge, wenn mehr Zeit vergangen ist und du die Grenzen deines Denkens gesprengt hast, wirst du es schaffen.‹ Für Raniel hatte die Erscheinung in Rätseln gesprochen. Aber das machte ihm nichts mehr. Er war längst zu dem Entschluß gekommen, daß es kein Zurück mehr für ihn gab. Er würde sich seinem Schicksal fügen müssen, das stand fest. ›Bist du bereit?‹ »Ja…« Raniel hatte eine zögernde Antwort gegeben, und plötzlich zitterte er wieder. Er wußte genau, daß der entscheidende Punkt bald erreicht war. Kalter Schweiß hatte sich in seinem Nacken gesammelt und rann nach unten. Seine Augenlider flatterten, in seinem Innern verhärtete sich etwas, als wären Stahlbänder dabei, die Seele zu umspannen. Er spürte im Kopf einen Druck und hinter der Stirn ein Rauschen, das ihm völlig fremd war. Er konnte nicht einmal sagen, wo er sich noch befand. Ob auf einer Insel am Ende der Welt oder schwebend im All. ›Nun?‹ »Ja«, flüsterte Raniel. »Ich habe es geahnt, ich habe es manchmal sogar gehofft. Ich bin bereit. Ich bin bereit für dich, dafür, das weitere Schicksal zu übernehmen. Ich werde es tragen, das verspreche ich dir. Ich muß es tragen…« ›Es ist vorbestimmt.‹ Raniel hob nur die Schultern. Er konzentrierte sich voll und ganz auf die blasse Erscheinung, von der so unendlich viel Kraft und Willen ausging, daß sich der Mensch direkt zwergenhaft klein vorkommen mußte. Noch eine Frage stellte der Engel. ›Du bist also bereit?‹ »Ja.« Das eine Wort war nur mehr ein Keuchen. ›Dann werde ich du, und du wirst ich. Von nun an werden wir beide vereint sein…‹ Wie das geschah, erlebte Raniel in den folgenden Sekunden, die sein bisheriges Leben völlig auf den Kopf stellten… *** Die Erscheinung, die sich wie eine schnelle in die Luft gemalte Skizze vor ihm abhob, bewegte ich plötzlich. Es sah aus, als würde ein verirrter Blitz durch den Raum zucken. Raniel beugte sich vor. Der Blitz traf ihn. Nach drei, vier oder fünf Bewegungen hatte er endlich sein Ziel gefunden und berührte ihn nicht nur, er drückte sich sogar in ihn hinein. Im letzten Augenblick, dicht vor der Berührung, hatte er noch ausweichen wollen,
was aber nicht möglich war, weil er als Mensch nicht so schnell sein konnte. In der Körpermitte wurde er getroffen. Raniel röchelte. Er beugte sich dabei nach vorn. Ein nie erlebter Schmerz durchzuckte ihn. Er hatte den Eindruck, als wäre ihm die Luft genommen worden. Etwas war da, etwas umschnürte ihn mit einer gewaltigen Kraft, etwas wühlte in seinem Innern herum. Es ergriff von ihm Besitz, es war wie ein Tornado, der durch seine Blutbahnen jagte und dabei auch die schmerzempfindlichen Stellen traf. Der Mann warf seine Arme hoch. Es sah grotesk aus, als wollte er durch diese Bewegung die Nähe eines Götzen dokumentieren, den er allein anbetete, der für ihn vorhanden war. Raniel ging nach links, drehte sich, schaufelte mit den Händen die Luft durcheinander. Er torkelte weiter, er schwankte auf das Fenster zu, stolperte, fiel gegen die Scheibe, stieß sich den Kopf und taumelte wieder zurück, wobei er sich nach einigen Schritten drehte, über seine eigenen Beine fiel und zu Boden ging. Für einen Moment blieb er dort auf der Seite liegen. Unter Schmerzen leidend, schwer keuchend, die Beine angezogen wie ein Embryo im Mutterleib. Gedanken strömten wie Hilfeschreie durch seinen Kopf, explodierten in seinem Gehirn, hinterließen dort neue Schmerzwellen. Er trampelte mit den Füßen, rollte sich herum, einmal, zweimal, ein drittes Mal, bis er auf dem Rücken liegend zur Ruhe kam. Nicht sehr lange. Er gab seinem Körper Schwung, ohne es eigentlich zu merken, und schnellte wieder hoch. Aus seiner liegenden Position heraus gelangte er auf die Füße, blieb auch so und schwankte wieder durch den Raum. Er warf eine Vase um, hörte das Klirren nur wie nebenbei und ging weiter. Torkelnd, taumelnd, dabei stöhnend, als wollten ihm die Schmerzen alles aus seinem Kopf drücken, was noch menschlich war. Raniel fiel gegen die Wand. Er jaulte auf. Tränen rannen an seinen Wangen entlang. Allmählich aber hatte er sich an die Schmerzen gewöhnt und konnte sich darauf konzentrieren, was dahinter lag. Er spürte, daß es die andere Kraft war, die jetzt in ihm steckte. Der Engel hatte sich mit ihm vereinigt, aus zwei Personen war eine geworden, und die sich drehende Umgebung verlor etwas von ihrer tiefen Schwärze. Der Veränderte konnte wieder besser sehen. Er nahm die Umgebung wahr, er taumelte auch nicht mehr durch den großen Raum, sondern blieb in der Mitte stehen. Ich lebe noch!
Dieser Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Er war nur ein Strohhalm der Rettung, der sich allerdings zu einem Balken verdickte und ihn wieder klar denken ließ. Die Schmerzen verschwanden. Nicht so schnell, wie sie gekommen waren, sie zogen sich nur allmählich zurück, als hätten sie einen Befehl bekommen, ihn nicht mehr zu quälen. Er wartete. Zeit verging… Raniel konnte nicht sagen, ob es Sekunden, Minuten oder gar Stunden waren, die da verrannen, ohne daß sich bei ihm etwas veränderte. Wenigstens nicht körperlich. In seinem Innern jedoch tat sich einiges, denn er merkte sehr deutlich, daß es ihm besser ging. Er fand wieder zu seiner alten Kraft zurück. Er öffnete den Mund. Tief holte er Luft. Sie kam ihm anders vor als sonst. Sie war viel klarer und reiner. Und noch etwas verwunderte ihn, bereitete ihm jedoch keine Furcht. Seine Sehkraft hatte sich wesentlich verbessert. Noch immer hüllte die Dunkelheit den Raum ein, ihm aber war es möglich, sie zu durchdringen. Er konnte Einzelheiten erkennen, sah nicht mehr nur die Umrisse, sondern nahm sogar die kleinen Knöpfe an den Schubladen der Regale wahr, die wirklich nicht größer als Kirschen waren. Und das in der Finsternis… Raniel schluckte. Er wischte über seine Stirn. Er spürte den Druck hinter den Augen, und gleichzeitig stieg in ihm etwas hoch, das er mit den Begriffen Macht und Kraft bezeichnete. Er war ein Mensch! Tatsächlich? Ja und nein. Er fühlte sich besser, viel besser. Keine Schmerzen mehr, ein klarer Kopf. Euphorie erfaßte ihn. Plötzlich wußte er, was geschehen war. Wie ein Film lief alles vor seinem geistigen Auge ab, und er sah sehr deutlich die feinstoffliche Gestalt des Besuchers vor seinen Augen. Sie hatte ihr Versprechen gehalten und ihm die neue Seite im Buch des Schicksals aufgeschlagen. Und sie war nicht weg. Zwar konnte Raniel sie nicht mehr durch seine eigenen Augen sehen, das brauchte er auch nicht. Es gab da etwas, das viel besser war, das seine Euphorie steigerte. Der Engel war trotzdem noch bei ihm. Er hatte ihn erfüllt, er war in ihn hineingedrungen, und sie bildeten nun eine neue Symbiose. Ich bin wie du, du bist wie ich! So ähnlich hatte er gesprochen und sein Versprechen auch gehalten, was Raniel kaum nachvollziehen konnte. Er ging durch den Raum, hielt den Kopf nach hinten gedrückt und die Handfläche gegen seine Stirn
gepreßt. Das durfte doch nicht wahr sein, das war unbegreifbar, aber es war herrlich. Zwei in einem. Der Engel steckte jetzt in ihm. Raniel fühlte sich gestärkt. Die Macht kreiste durch seine Adern. Sie war eine Stimulanz, ein Rauschmittel, das er eingenommen hatte. Er wußte, daß er mächtig war und daß eine gewaltige Aufgabe vor ihm lag, denn der Besucher hatte ihm ein Wort gesagt, das er nicht vergessen konnte. Er war jetzt der Gerechte! Als Raniel daran dachte, blieb er stehen und straffte unwillkürlich seine Schultern. Es rieselte durch seinen Körper, er fühlte sich wahnsinnig gut und stark. Es konnte kommen, was wollte, niemand würde sich ihm noch entgegenstellen können. Er war der Gerechte! Dieser Gedanke zuckte durch seinen Kopf, wurde sehr schnell von anderen verdrängt, weil er in seinem neuen Zustand und als neuer Mensch ebenfalls neue Aufgaben bekommen hatte, die ihm mit dieser Verwandlung übertragen worden waren. Als Gerechter mußte er auch gerecht handeln. Und es gab verdammt viel Ungerechtigkeit in dieser verfluchten Welt. Raniel versuchte, sich auf Einzelheiten zu konzentrieren, was ihm nicht gelang. Er schaffte es nur, die Ungerechtigkeit als globale Tatsache zu akzeptieren. Irgendwo aber würde er anfangen… Zeit – ja, er brauchte Zeit. Er mußte alles überlegen. Schon jetzt wollte er damit beginnen, mitten in der Nacht, denn Müdigkeit wie ein normaler Mensch spürte er nicht. Er ging. Oder schwebte er? Alles war für ihn anders geworden. Er nahm seine Umgebung mit völlig fremden Augen auf. Sein Wahrnehmungsvermögen hatte sich unheimlich geschärft, der Blick, der Geschmack, all das war fast übermenschlich geworden. Raniel fiel ein, daß er nicht mehr allein war. In ihm steckte noch ein anderer, zwar kein Mensch mehr, aber ein Geist aus einer anderen Sphäre und Dimension. Der gab ihm die Kraft, das neue Gefühl. War er unbesiegbar? Als er sich diese Frage stellte, war es ihm sogar möglich, eine Antwort zu geben. Ja, er hielt sich für unbesiegbar. Und er war es auch. Er würde alles schaffen, was er sich vornahm. Ihn konnte nichts und niemand mehr aufhalten. Er würde es ihnen zeigen. Der Gerechte!
Welch ein Name. Fast erschauerte Raniel davor, und plötzlich gefiel ihm sein Name nicht nur. Er war für ihn so etwas wie ein Omen, eine Offenbarung, denn diesmal paßte er. Wunderbar fügte er sich in sein neues Leben ein. Dieser Name brachte ihn voran, und Raniel wußte, daß er sich seiner neuen Aufgabe stellen würde. Er liebte diese einsame Mühle, den kleinen Teich in der Nähe, die Weite des Landes, die zahlreichen Hügel, die kleinen Wälder, die Bäche, die alten Brücken und die struppigen Gehölze in der Umgebung, denn hierher würde so leicht niemand kommen. Er paßte hinein, es war seine kleine Welt, in die er sich zurückziehen konnte, von der er auch starten mußte, wenn er unterwegs war. Ein Wunder… Es war nicht mehr so dunkel. Er schaute sich deshalb um. Die Sucht nach einem Spiegel überfiel ihn. Er hätte sich gern selbst darin gesehen, um erkennen zu können, ob er sich auch körperlich verändert hatte. Wie sah sein Gesicht aus? Hatte die Haut auch einen anderen Ausdruck bekommen? War sie bleicher geworden? Vielleicht durchscheinend wie bei einem engelhaften Wesen? Irgendwo mußte sich doch einfach zeigen, daß der Engel und er zu einer Person zusammengeschmolzen waren. Einen Spiegel gab es hier oben nicht. Nach unten wollte er auch nicht gehen, und so schritt er auf das bis zum Boden reichende Fenster zu, seinem Lieblingsplatz, der ihm einen so weiten Blick in das Land hinaus gewährte. Von dort war das Wesen gekommen, dessen Namen er nicht einmal wußte. Auch Engel hatten einen Namen, einer hätte auch Raniel heißen können. Doch so hieß er. War er jetzt ein Engel? Der Gedanke zuckte plötzlich durch seinen Kopf. So unwahrscheinlich war es nicht, aber er konnte auch nicht direkt zustimmen, denn als Engel wäre er kein Mensch gewesen. Er war also beides. Halb Mensch und halb Engel. Addierte er beide Hälften, so entstand ein neuer Begriff. Ein MenschEngel oder Engelmensch – oder der Gerechte! Ja, so mußte es sein, und er straffte sich, als er daran dachte. Er war der Gerechte. Er hatte eine neue Aufgabe zu erledigen, er würde sie auch durchführen. Hätte er jetzt einen Spiegel zur Hand gehabt und hätte er seine Augen darin sehen können, wäre ihm der andere Glanz in den Pupillen aufgefallen. Er war anders, er war strahlend, von einer leichten und zugleich dichten Bläue, sehr faszinierend. Die Dunkelheit war nicht mehr vorhanden. Über diesen Glanz aber hatte sich ein zweiter geschoben.
Man konnte ihn kaum beschreiben, er besaß etwas Fremdes, Ätherisches, ein Glanz, der eigentlich nicht von dieser Welt stammte. Silbrig… Er schimmerte. Er war wie ein Spiegel hinter dem Blau, als könnten seine Augen nach innen sehen, um die Blicke durch Welten streifen zu lassen, die nur für ihn sichtbar waren. Er lächelte. Seine Lippen bewegten sich wie in einem Zeitlupentempo. Raniel wußte, daß er alle Zeit der Welt hatte. Es gab keine Hast mehr in ihm, keinen Ärger, keine Hetze, aber es existierte eine wahnsinnige Entschlossenheit, die Ziele zu erreichen, die er sich gesteckt hatte. Er war der Gerechte. Auf ihn wartete jede Menge ›Arbeit‹. Die Welt war so verdammt ungerecht, und er wollte einen kleinen Teil dazu beitragen, um dies zu ändern. Er nickte entschlossen, hatte vergessen, daß er dicht vor dem Fenster stand, ging einen Schritt weiter und hätte gegen das Glas stoßen müssen. Im letzten Augenblick streckte er die rechte Hand vor. Kein Widerstand mehr. Sie glitt durch das Glas hindurch, als wäre es überhaupt nicht vorhanden. Im ersten Moment erschrak Raniel zutiefst. Er konnte es kaum glauben und dachte an eine Täuschung. Er probierte es noch einmal. Wieder dasselbe. Kein Widerstand. Und plötzlich wurde Raniel klar, welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung standen. Sie waren einfach unermeßlich, er konnte sie kaum fassen. Er schüttelte den Kopf, er lachte, er jubelte innerlich, und seine seelische und seine körperliche Stärke nahmen zu. »Ich bin der Gerechte«, flüsterte er und fügte anschließend in Gedanken hinzu: Die Welt wird noch von mir hören… *** Wieder einmal hatte es nur die verdammte Pampe gegeben. Einen Brei aus Bohnen und Kartoffeln. Hineingekocht das Mieseste vom Hammel, fett, grau und zäh. Und wie immer hatten sich die Gefangenen beschwert, und wie immer dieselbe Antwort von den Aufpassern erhalten, deren Stimmen gleichgültig klangen, als hätte ein Automat gesprochen. »Was wollt ihr denn? Seid froh, daß ihr überhaupt was bekommt. Der Staat hat kein Geld. Ihr habt den Staat und die Gesellschaft geschädigt, und jetzt verlangt ihr dafür als Belohnung noch ein Fünf-Sterne-Menü. Das ist nicht drin…«
Genau, das war nicht drin. So wie die anderen Gefangenen wußte es auch Jeff Goldblatt, der eine dreijährige Strafe verbüßte und sehr darauf hoffte, daß er begnadigt wurde und man ihm sechs Monate schenkte. Er aß. Er schaufelte und würgte das widerlich fette Hammelfleisch hinunter. Unter der Decke des Speisesaals hingen die kalten Kugellampen wie Eismonde. Ihr Licht besaß ebensowenig Wärme wie die gesamte Atmosphäre im Saal. Da paßte sie sich dem verdammten Knast an, der so überfüllt war, daß nicht alle Gefangenen auf einmal im Speisesaal ihren Platz hatten und in zwei Schichten gegessen werden mußte. Die meisten der Männer starrten dumpf auf ihre Teller. Manche schoben sie zurück, kaum daß sie etwas von dem Essen probiert hatten. Andere machten es wie Goldblatt. Sie aßen das Zeug und hofften darauf, daß es am nächsten Tag besser sein würde. Goldblatt trug noch seine Arbeitskleidung. Er schaffte in der Schlosserei im Knast, wo die Dinge repariert wurden, die Häftlinge in sinnloser Zerstörungswut zertrümmert hatten. Er saß ziemlich weit hinten. Auf ihn brauchten die Wächter nicht so scharf zu achten wie auf die Kerle, die weiter vorn hockten und zu den Schwerverbrechern und Mördern zählten. Auch Goldblatt hatte Menschenleben auf dem Gewissen, allerdings nicht vorsätzlich. Er war ›nur‹ mit seinem Wagen von der Straße abgekommen und in einen Campground gerast. Dabei war es zu Feuer und Explosionen gekommen, und mehrere Menschen hatten den Tod gefunden. Drei Jahre hatte Goldblatt dafür bekommen. Dreimal 365 Tage, einer länger als der andere. Scheiße, dachte er wieder. Wenn ein Flugkapitän Mist macht, buchtet ihn kein Schwein ein. Tief in seinem Innern regte sich das Gewissen. Ein Flugkapitän ist auch nicht betrunken. Das war er zwar auch nicht, aber er hatte einen getrunken und Tabletten genommen. In diesem Zustand hatte er sich hinter das Lenkrad gesetzt und war davon ausgegangen, sein Fahrzeug zu kennen. Leider nicht gut genug. Jetzt saß er im Knast fest. Er stöhnte, sein Magen produzierte Säure, er stieß auf und spürte das scharfe Zeug, das in die Höhe gedrückt worden war, mitten auf seiner Zunge. »Hast du was?« fragte der Mann neben ihm. Er hieß Stanley Nessé und war Franco-Kanadier, den es irgendwann nach London verschlagen hatte. Dort hatte er sich durch Überfälle auf kleine Lebensmittelläden einen traurigen Namen gemacht, aber er hatte nie einen Menschen
getötet, nur verletzt, und so war er mit einer recht milden Strafe von knapp sechs Jahren davongekommen. »Ich könnte kotzen.« Nessé lachte leise. »Ich auch. Ist es der Fraß?« »Nicht nur.« »Die Scheiße hier, nicht?« Goldblatt nickte. »Ja, dieses verfluchte Elend. Der Knast, verstehst du? Der macht mich fertig.« Er schob den Teller weg. »Zu eintönig. Wenn man vor der Glotze sitzen will, muß man positiv bei den Wärtern aufgefallen sein, ihnen hinten reinkriechen. Ich könnte sie alle packen und in den heißen Ofen stecken, um ihre Asche nachträglich zu zertrampeln.« »Kenne ich.« »Was kennst du?« »Den Koller. Kriegen sie alle hier. Hatte ich auch. Geht vorbei, glaub mir.« »Mal sehen.« Ein Pfiff schrillte auf. Die Wächter machten sich einen Spaß daraus, die Gefangenen so auf Vordermann zu bringen. Und sie schauten kalt grinsend zu, wie sich die Männer erhoben. Manch einer spuckte noch auf seinen Teller, aber so, daß es kein Aufpasser sah, sonst hätte der Spucker seinen Teller noch ablecken müssen. Es war nicht einmal laut im Eßsaal. Aber die Ruhe konnte als trügerisch angesehen werden. Da brannte stets eine Lunte, deren Feuer nur einen bestimmten Punkt erreichen mußte, um hochzugehen. Noch war es nicht soweit. Natürlich hatte es immer mal eine Revolte gegeben, die aber waren schnell erstickt worden. Die Männer mußten sich aufstellen. In Zweierreihen wie die Schulkinder. Kassiber wurden noch schnell getauscht, Nachrichten geflüstert, dann ging es ab. Raus aus dem Grau, hinein in das Grau. Jeff Goldblatt und Stan Nessé gingen nebeneinander her. Ihr Gang war schlurfend, die Sohlen der Knastschuhe schleiften über den Steinboden. Goldblatt war ein stiernackiger Typ mit einem kurzen Bürstenhaarschnitt, der wie ein Schatten auf seinem Kopf wuchs. In seinem Gesicht fiel das eckige Kinn auf, ansonsten war es flach, und so konnte auch der Ausdruck in seinen Augen bezeichnet werden. Flach, dumpf und illusionslos. Er machte sich nichts mehr vor. Stan Nessé war kleiner, trug die Haare lang und zu einem Zopf im Nacken gebunden. Seine Nase stand wie ein spitzer Keil aus dem blassen, schmalen Gesicht hervor. Wer ihn so sah, hätte ihn nie und nimmer für einen gefährlichen Täter halten können. In seinen schmalen
Händen konnte man sich kaum einen Revolver vorstellen. Dabei hatte er die Überfälle mit einem mehrschüssigen Schrotgewehr durchgeführt. Sie verließen den Trakt und gelangten in den Bereich der Zellen, die auf mehrere Stockwerke verteilt waren. Goldblatt und Nessé lagen im ersten. Sie teilten sich die Zelle ebenso wie das Klosett und das Waschbecken. In der Regel kamen sie relativ gut miteinander aus, aber es gab auch Tage und vor allen Dingen Abende, wo der eine dem anderen am liebsten den Schädel eingeschlagen hätte. Aus Platzgründen standen die Betten übereinander. Goldblatt lag oben. Wenn er den Arm ausstreckte, konnte er das Fenster berühren, dessen Scheibe aus dickem Glas bestand. Durch Eisenstäbe war das Fenster gesichert, eine Flucht somit unmöglich. Er legte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände unter dem Kopf, starrte gegen die Decke und fing an, die Welt zu hassen. Eine Vision stieg vor seinem geistigen Auge hoch. Sich einen Flammenwerfer nehmen und damit durch den Gerichtssaal ziehen und all die in Brand setzen, die ihn in diesen Knast geschickt hatten. Unter ihm lag Nessé. Er hörte ein bekanntes Knistern. Der FrancoKanadier drehte sich einen Glimmstengel. »Willst du auch, Jeff?« »Nein.« »Dann nicht.« Goldblatt schwieg. Er hatte die Augen zu Schlitzen verengt, den Kopf etwas zur Seite gedreht und starrte gegen die Innenseite der dicken Tür mit der Luke darin, die jetzt geschlossen war, durch die aber gern die Aufpasser glotzten, um sich daran zu weiden, wie die Männer in den Zellen hockten. Würziger Rauch stieg von unten her hoch und kitzelte seine Nase. Er brachte zugleich ein Summen mit. Nessé hatte heute seine gute Phase, er summte einen alten Beatles-Song. »Hör auf damit, Mann!« »Okay, Jeff, mach’ ich. Keine Feindschaft.« Er fügte noch etwas in der französischen Sprache hinzu, was Goldblatt ärgerte, denn er verstand die Worte nicht, und er hatte deshalb immer das Gefühl, von Nessé verspottet zu werden. Zwar hatte ihm dieser angeboten, durch seine Hilfe die Sprache zu lernen, aber Jeff wollte nicht. Er war einfach zu träge. Sein Blick traf die Lampe. Sie war so in die Decke integriert worden, daß sie nicht herausgerissen werden konnte. Außerdem besaß sie einen Schutz aus Panzerglas, den selbst ein hart geworfener Stein nicht zertrümmern konnte. Gegen 22.00 Uhr wurde das Licht ausgeschaltet. Wer dann noch etwas sehen wollte, mußte sich auf seine Taschenlampe verlassen.
Goldblatt sagte nichts. Stille legte sich über die Zelle. Aus den anderen hörten die beiden Männer irgendwann Geräusche. Mal einen Fluch, auch ein Schreien, grelles Lachen, irgend jemand drehte immer durch. Es war ein Tag gewesen wie viele zuvor, und es würde auch eine der üblichen Nächte werden, denn in diesem verfluchten Knast veränderte sich nichts. Oder doch nicht? Jeff wußte nicht, wie es kam, aber er war schon den ganzen lag über nervös gewesen, hatte sich bei der Arbeit immer umgeschaut, weil er das Gefühl gehabt hatte, jemand hätte hinter ihm gestanden und ihn belauert. Das stimmte nicht. Niemand war da gewesen. Nur hatte er dieses Gefühl einfach nicht stoppen können, und das wiederum bereitete ihm Sorge. Irgend etwas stimmte an diesem Tag nicht, einiges war anders, und nach dem Essen war seine Unruhe gewachsen. Auch jetzt schwitzte er. Der Schweiß lag auf seiner Stirn wie ein Film. Er erinnerte ihn an Säure, als er in seine Augenwinkel tupfte. Er wischte ihn weg. Auch sein Magen spielte wieder verrückt. Er produzierte Säure, die hochstieg und im Mund einen widerlichen Geschmack hinterließ, als hätte er rostiges Wasser getrunken. Unter ihm leerte Nessé seine Blase, zog ab, und das gurgelnde Geräusch ließ Goldblatt erschaudern. Darüber wunderte er sich. Es war normal, so verdammt und verflucht normal. Nichts hatte sich verändert. Und doch… Nessé schlug gegen sein Bett. »He, Jeff, was hast du, verdammt? Was ist los mit dir?« »Nichts.« »Doch, ich spüre es.« »Leck mich!« Nessé lachte. »Hast du den Zellenkoller? Sollen wir beide mal richtig Randale machen? Wenn ja, kostet das Punkte, aber wenn es dich befreit, bin ich dabei.« »Nein!« »Dann nicht.« Goldblatt hörte, wie sich Nessé wieder setzte. Er blieb hocken, dann legte er sich doch zurück, und die alte Matratze knarrte erbärmlich. Etwas stimmte nicht. Doch die Zelle sah aus wie immer. Die Geräusche waren die gleichen, die Schritte der Wärter auf dem Flur, ihre Unterhaltungen, ihr Lachen, das meist Spott ausdrückte, wobei sie sich
darüber lustig machten, daß die anderen in der Zelle saßen und nicht sie. Goldblatt hatte das Gefühl, als würde in den nächsten Stunden etwas passieren. Draußen war es kalt. Die Heizung in der Zelle funktionierte zwar, aber sie gab ein so ungewöhnliches Summen ab, das darauf hindeutete, daß sie bald repariert werden mußte. In der Zelle war es stickig, das Atmen eine Qual. »Geht es dir gut, Jeff?« »Wunderbar«, preßte er hervor. Nessé lachte. »Ja, ich fühle mich auch wie eine Taube, die bald den Knast verlassen wird.« »Aber eine mit lahmen Flügeln, wie?« »So ähnlich.« Er überlegte einen Moment. »Weißt du, was ich möchte, Jeff? Den verdammten Oberaufseher mit einer Schrotladung durchlöchern und die Reste in einen Eimer stampfen.« »Dabei helfe ich dir.« In der nächsten Zeit hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Einmal glotzte ein Wärter durch die Türklappe in die Zelle. Das schwache Licht sah aus wie bläulich glänzendes Blech und warf einen Schimmer in die Zelle. »Alles in Ordnung, Fans?« »Hau ab!« sagte Nessé. »Gute Nacht und schöne Träume, ihr beiden.« Nessé würgte. Als die Klappe wieder geschlossen war, zischelte er: »Ein Scheißkerl, dieser Glotzer.« »Genau.« Das Licht verlosch. Tiefe Finsternis senkte sich zwischen die vier kahlen Zellenwände und hüllte sie ein. Beide Gefangene hatten das Gefühl, eingekerkert zu sein, aber nicht in einer Zelle, sondern in einem großen Sarg tief unter der Erde, wo ihn kein Sonnenstrahl und kein noch so winziger Lichtstreifen erreichen konnte. Erst allmählich sickerte etwas Helligkeit durch das Zellenfenster. Es hatte eine blasse, bläuliche Farbe angenommen und stammte von einer nicht weit entfernt stehenden Laterne, die wie ein langer Pfahl aus dem Grund des Hofes in die Höhe ragte. In seinen Ausläufern erreichte das Licht das Gesicht des auf dem Rücken liegenden Jeff Goldblatt und berührte auch das graue Kopfkissen. Es kam ihm immer so vor wie ein Gruß aus einer fernen Sternenwelt, die für ihn ebenso unerreichbar war wie die Lampe, die tatsächliche Lichtquelle.
Stan Nessé war bereits eingeschlafen. Goldblatt hörte die leisen Schnarchlaute. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt. Früher hätte er Nessé deswegen am liebsten erschlagen. Zeit verstrich. Quälend langsam, als hätte sie sich eine zusätzliche Strafe für den Gefangenen ausgedacht. Er bemühte sich zwar, seine Augen zu schließen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Er lag wach, er war sogar hellwach und konnte seine Gedanken einfach nicht von der nahen Zukunft trennen. Der bittere Geschmack blieb auch jetzt, selbst wenn er schluckte. Goldblatt ballte die Hände zu Fäusten. Über seine Lippen drangen flüsternde Flüche. Die Decke schimmerte etwas heller als die übrigen Wände, sogar der schwache Lichtschein malte sich dort ab. Er bildete eine diffuse geometrische Figur, als hätte sich dort die fremde Helligkeit aus den Fenstern eines Raumschiffs kommend verewigt. Jeff sah die Bewegung an der beleuchteten Decke. Auch auf seinem Kopfkissen war sie zu sehen. Eigentlich war es nichts Besonderes. Die Bewegungen kamen vor, wenn schwere Regentropfen draußen durch den Laternenschein fielen und gegen die Scheibe, das Gitter oder auf den Boden klatschten. Jeff wußte, daß es in diesen Augenblicken nicht regnete. Woher stammte dann die Bewegung im Lichtzentrum? Jeff Goldblatt richtete sich auf. Er glaubte nicht an Geister, doch das hier hatte etwas Geisterhaftes an sich, das ihm sogar eine gewisse Furcht einbläute. Er dachte an das Gefühl, das ihn den ganzen Tag über begleitet hatte und auch jetzt nicht verschwunden war. Zwar hatte er nicht sagen können, woher es stammte, es war einfach da gewesen, und als sich dieses Licht nun veränderte, da verstärkte es sich auch. Es kroch in seinen Körper, und seit langem verspürte er wieder das Gefühl der Angst. Er saß auf seinem Bett und hatte den Kopf eingezogen, sonst wäre er mit dem Schädel gegen die Decke gestoßen. Er wandte dem Fenster auch nicht mehr direkt den Rücken zu, sondern hatte sich leicht gedreht, damit er einen Großteil der Zelle überblicken konnte, was allerdings nicht viel brachte, da neunzig Prozent davon in tiefer Dunkelheit lagen. Nur an der Tür sah er noch einen schmalen Lichtstreifen, der unter der Türritze herfiel, denn im Gang draußen brannte das Licht auch in der Nacht. Irgendwo in einer entfernt liegenden Zelle drehte jemand durch. Ein Mann schrie, als befände er sich in einer tödlichen Gefahr. Sekunden später verstummte der Schrei. Andere Stimmen verlangten die Einhaltung der Nachtruhe. Hastige Tritte eilten an der Zellentür vorbei. Die Wärter rannten los, um nachzuschauen.
Es wurde wieder still. Jeff schaute auf die Tür. Am liebsten hätte er auch geschrien, denn in ihm stieg ebenfalls eine drückende Furcht hoch, die eine wahnsinnige Macht über ihn gewann. Vom Bett ließ er seinen Blick zum Boden wandern. Da war der Lichtstreifen, der unter der Tür her sickerte. Goldblatt erschrak. Der Streifen war nicht mehr durchgängig. In der Mitte zeigte er eine Unterbrechung. Nicht von außen, sondern von innen. Für ihn stand fest, daß es da nur eine Möglichkeit gab. Dort stand jemand! *** Er hatte es gewußt. Er hatte es die ganzen Tage über gewußt. Nur war es erst jetzt hervorgekommen. Er wollte schreien, er wollte gegen die Wand trommeln, er wollte mit seinem Kopf gegen die Decke hämmern, er wollte alle aus dem Schlaf reißen. Nichts davon tat er. Goldblatt blieb sitzen! Reglos, als wäre er zu Stein erstarrt. Selbst die Augen blieben starr. Nicht einmal seine Wimpern bewegte er. Da war ein Geist, der Unheimliche, der Teufel, oder was auch immer seine Zelle betreten hatte. Unter ihm schlief Stan Nessé wie ein Murmeltier, und Jeff beneidete ihn um seinen Schlaf. Er aber mußte warten. Wie Öl rann der Schweiß an seiner Haut herab. Er hockte nach wie vor starr auf dem Bett und spürte sehr deutlich, wie er innerlich allmählich verkrampfte. Hinter seiner Stirn hämmerte es. Kleine Hämmer waren dort in Bewegung, die klopften und klopften. Die Angst wuchs ins Unermeßliche. »Wer bist du?« Goldblatt hatte mit rauher Stimme gesprochen. In seiner Kehle steckte Sandpapier. Er mußte sich räuspern, um eine erneute Frage stellen zu können, doch das schaffte er nicht mehr, denn er hatte etwas gesehen. Der ›Geist‹ bewegte sich. Er kam vor. Lautlos, es war nichts zu hören. Goldblatt fühlte aber, wie er sich bewegte und sich dabei auf ein Ziel einpendelte, das nur er in seinem Bett sein konnte, denn seinen Zellengenossen Nessé ließ er außen vor. Der sah und hörte nichts.
Er hatte auch nichts damit zu tun, dieser Besuch galt allein ihm, und die Angst nahm überhand. Goldblatt drückte sich zurück. Intervallweise rückte er nach hinten, bis er die Zellenwand in seinem Rücken spürte, doch auch sie gab ihm keine Sicherheit. Die Angst war wie ein Schlund ohne Boden, der ihn stückweise schluckte. Das Ziel war sein Bett. Bisher hatte Jeff nichts gehört, jetzt schleifte etwas über den Boden, und aus dem tiefen Dunkel über dem Zellenboden kristallisierte sich etwas hervor. Eine Gestalt, ein Gespenst? Sie war bleich und dennoch menschlich. Eine kalte Strömung wehte von ihr aus, erreichte Goldblatt und ließ ihn erzittern. Es war eine Kälte, wie er sie noch nie erlebt hatte. Trotz seiner Angst suchte er nach einem Vergleich, der ihm auch in den Sinn kam. Kälte aus dem Jenseits… Ja, das war es. So konnte nur der Tod reagieren, wenn er sein Reich verlassen hatte. Der Tod brachte die Kälte, die alles einfror und jegliche menschliche Regung erstickte. Er war furchtbar. Er würde mit seinen knöchernen Klauenhänden nach ihm greifen und ihn hineinziehen in das Reich, aus dem es keine Wiederkehr mehr gab. Dennoch schaffte es Jeff, eine Frage zu stellen, die wie ein Hauch über seine Lippen wehte. »Wer bist du…?« Er hatte keine Antwort erwartet und wunderte sich deshalb, daß er sie bekam. »Ich bin der Gerechte!« Es war ein Satz, den Jeff zwar verstand, aber nicht begreifen konnte. Der Gerechte! Was bedeutete das? Wie konnte diese Schattengestalt so etwas behaupten? Verdammt noch mal, wie war es möglich, daß sie überhaupt sprach, wenn sie ein Geist war? Und sie mußte ein Geist sein, denn sie war durch die geschlossene Tür gekommen oder hatte sich durch die Wand gedrückt, aber niemals das Fenster benutzt, was auch nicht möglich war, weil es ebenfalls verschlossen war. Goldblatt zitterte, je länger er über die Antwort nachdachte. Es waren nur Sekunden, sie aber kamen ihm vor wie Minuten, die Furcht hatte jegliches Gefühl für Zeit unterdrückt. Dennoch gab es Lücken in dem grauen Schwamm, der sein Gehirn überdeckte. Er konnte nachdenken, auch folgern und kam zu dem Entschluß, daß die Erscheinung etwas mit seiner Tat zu tun hatte. Da war vielleicht einer der Toten zurückgekehrt. Oder jemand hatte ihn beschworen, damit er als Geist erschien. Das alles war plötzlich möglich und lag nicht mehr im Bereich der Spekulation. Er hatte nie an übersinnliche Dinge geglaubt, hatte all das für Phantasmen
irgendwelcher Filmemacher und Autoren gehalten. An die Wirklichkeit kam so etwas doch nicht heran. Da gab es keine Geister! Wer aber war trotz verschlossener Tür in seine Zelle gelangt und hielt sich dicht vor seinem Bett auf? Er mußte so stehen, daß sich sein Kopf auch mit dem Gesicht des halb Liegenden in gleicher Höhe befand. Die Kälte blieb. Sie wehte ihm entgegen, sie traf sein Gesicht. Sie erinnerte ihn an kleine Körper, die sich auch nicht von der Haut aufhalten ließen und durch sie hindurchdrangen, als wäre sie überhaupt nicht vorhanden, damit sie sich in seinem Blut festsetzen und es übernehmen konnten. So schwemmten dann die eisigen Körper durch seine Adern und hinterließen auf seinem Rücken eine Gänsehaut. Er wartete ab. Er konnte sich nicht wehren, doch er wußte, daß der Horror noch nicht sein Ende erreicht hatte. »Du willst dich rächen?« »Ja.« »Für wen? Wer hat dich geschickt?« Wieder traf ihn die Antwort wie ein Eishauch aus der unbeschreiblichen Kälte des Jenseits. »Ich bin der Gerechte. Ich werde diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die Unrecht begangen haben. Die töteten, die keine Rücksicht nahmen. Mit dir mache ich den Anfang. Du hast Menschen getötet, du bist in die Ahnungslosen hineingerast, du hast keine Rücksicht genommen, und du bereust nicht einmal deine schreckliche Tat.« Jedes Wort traf ihn wie ein Schlag. Er schien der Klotz zu sein, auf den der Hammer wuchtete. Und ob er wollte oder nicht, er duckte sich tatsächlich unter dieser fürchterlichen Anklage zusammen, während er trotzdem überlegte, wie es weitergehen sollte. Wie kam er hier raus? Aus der Zelle überhaupt nicht. Es blieb also nur eine Möglichkeit. Er mußte seinen Besucher besiegen, ihn überwinden, doch wie sollte er das schaffen, einen Feind zu besiegen, der seiner Ansicht nach kein Mensch war, sondern ein Wesen aus einer anderen Welt? Er rang nach Luft, und es kam ihm vor, als hätte er überhaupt nicht eingeatmet, so eng war seine Kehle geworden. Angst flutete noch stärker in ihm hoch… Grauen packte ihn… Er spürte den Eishauch des nahen Endes über seinen Nacken streifen. In seinem Hinterkopf klang es dumpf, als säße dort jemand, der bereits die Todestrommel schlug.
»Du… du willst mich töten?« »Ja!« Ein Wort nur, mehr nicht. Aber dieses Wort sagte alles. In ihm lag eine derartige Sicherheit, daß Jeff Goldblatt nicht einmal schreien oder anderweitig Hilfe herbeiholen konnte. Er hockte mit weit geöffneten Augen und offenstehendem Mund auf seinem Bett und spürte wieder einen Eishauch. Sie entpuppte sich als böses Tier oder als mörderischer Dämon aus dem Reich der Finsternis. Und sie glänzte… Etwas war vor ihm entstanden, das ihn zunächst an Glas erinnerte. Als würde eine Scherbe auf ihn zukommen, die ein seltsames Licht in sich barg. Goldblatt senkte den Kopf. Das war keine Scherbe, das war ein Messer aus Licht oder aus Stahl, über das Licht hinweggestrichen war. Er streckte ihm den Arm entgegen. Er saß plötzlich still. Er spürte, wie die Klinge über seinen Handballen glitt und das Fleisch aufschnitt. Nicht einmal den Schmerz bekam er mit, bis er den Arm zurückzucken ließ. Genau diese Bewegung war es, die das Gefühl in ihm aufkommen ließ. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er glaubte, seine Hand nicht mehr zu spüren, er… Schreien, du mußt schreien, dann hast du noch eine Chance, zuckte es durch sein Hirn. Er legte den Kopf zurück. Sein Mund stand offen. Saugend holte er Luft. Da sah er direkt über sich das Glänzen, und er wußte mit brutaler Deutlichkeit, was es war. Gleichzeitig hörte er auch die Stimme. »Der Gerechte ist gekommen. Die Engel werden dafür sorgen, daß die Menschen ihre Strafe bekommen. Sie haben die Engel gereizt. Das war ein Fehler…« Mehr hörte er nicht. Die Klinge fuhr nach unten. Sie traf ihn tödlich! Und der Gerechte verschwand ebenso lautlos, wie er gekommen war. Er löste sich einfach auf, als er die Zellentür erreichte… *** Es schneite! Die weiße Pracht rieselte aus tiefhängenden, grauen Wolken, die sich über London zusammengefunden hatten, und jede einzelne Flocke kam
mir vor wie ein Glotzauge, das beim Auftupfen gegen die Autoscheiben erst in das Innere schauen wollte, bevor es dann an der wannen Scheibe blitzschnell zerschmolz. Wer an einem derartigen Tag in London vorankommen wollte, der mußte vor allen Dingen eines aufbringen: Geduld, Geduld und nochmals Geduld! Die brauchten auch Suko und ich auf unserer Fahrt. Aber wir hatten den Wagen nehmen müssen, weil unser Ziel nur schwerlich mit einer U-Bahn zu erreichen war. Es gibt Tage, da sehnen selbst wir uns danach, im Büro zu sitzen und einfach nur Däumchen zu drehen oder alte Akten durchzustöbern. So ein Tag war dieser Tag. Leider saßen wir nicht im Büro, sondern befanden uns auf dem Weg zu einem Tatort. Und der lag in einem Gefängnis. In einer Zelle. Dort war jemand umgebracht worden, ohne daß es dafür eine Erklärung gab, denn die Zelle war von außen her nicht betreten worden. Das sagte sich leichter, als es war. Jeder Wärter hätte hineinkommen können, aber es gab da die Aussage eines Zeugen, der steif und fest behauptete, daß es ein Geist gewesen war, der dieser Zelle einen Besuch abgestattet hatte. Auch deswegen wären wir nicht hingefahren, denn Knastbrüder ließen sich oft wahre Märchen einfallen. Es ging vielmehr um den Toten, dessen Wunde mehr als ungewöhnlich war, und da wiederum verließen wir uns auf die Worte des untersuchenden Arztes, der zudem noch einen Spezialisten zu Rate gezogen hatte. Die Leiche war noch nicht abtransportiert worden. Sie wurde nach wie vor im Gefängnis aufgebahrt. Wir erreichten den Bau, einen düsteren altmodischen Knast, der von einer hohen grauen Mauer umgeben war. Auf der Krone war sie durch Stacheldraht gesichert worden, doch darauf allein verließ man sich nicht. Es gab auch die elektronischen Überwachungsanlagen, zum Beispiel nahe des großen Eisentores, vor dem der Weg endete und wir unseren Rover anhalten mußten. »Geschafft«, sagte Suko, schaute gegen den Schnee und verzog das Gesicht. »Ja, mit Verspätung.« Neben dem großen Tor befand sich ein kleines. Es wurde von innen aufgezogen, und ein Wachtposten, eingepackt in einen langen Mantel, verließ das Gelände. Er kam auf die Fahrertür zu. Ich kurbelte die Scheibe runter, zeigte ihm meinen Ausweis und erklärte ihm, daß uns der Direktor, Mr. Thornton Snyder, sprechen wollte. »Ich öffne, Sir, fahren Sie vor!«
Das Tor öffnete sich in der Mitte wie das Maul eines vorsintflutlichen Riesenfischs. Dahinter war es ebenfalls grau, und wir sahen, daß wir in eine Schleuse gerieten, wo wir ebenfalls warten mußten, denn erst wenn sich ein zweites Tor geöffnet hatte, würden wir auf den Hof des Komplexes fahren können. Rechts von uns befand sich das Wachhaus, in dem sich drei Beamte aufhielten. Einer davon telefonierte. Die beiden anderen schauten mit düsteren Blicken durch die Scheiben, als wären wir besondere Killer, auf die man schon lange gewartet hatte. Jeder Gangster hätte diesen Weg einmal vor der Tat gehen und die Trostlosigkeit erleben sollen. Wahrscheinlich hätten sich einige von ihnen ihr Vorhaben noch überlegt. Für uns öffnete sich die nächste Tür, ebenfalls aus Stahl, wir rollten hindurch. »Wie schön«, sagte Suko. »Wen meinst du?« »Dich nicht, sondern den Hof.« »Wäre ich auch nicht von ausgegangen, von dir ein Kompliment zu hören, Alter.« »Ach ja?« Wie groß der Hof war, konnten wir nicht erkennen, weil er inmitten des weißen Wirbels lag, der schon eine weiße Matte auf dem Boden hinterlassen hatte. Die Reifen des Rover zogen Spuren in den Schnee, und wir hörten es knirschen. Jemand winkte mit beiden Händen. Der Mann erschien wie ein Gespenst und lotste uns dorthin, wo einige andere Wagen parkten. Kaum als Autos zu erkennen, weil sie unter handhohen Schneehauben begraben waren. Wir stiegen aus. »Verdammtes Wetter!« begrüßte uns der Mann, der uns auch hergewinkt hatte. »Da bleibt man lieber zu Hause.« »Sie sagen es.« Ich hämmerte die Tür zu. Suko war schon um den Wagen herumgelaufen. »Dann kommen Sie mal mit, Gentlemen!« Er sagte es so spöttisch, als würde er auch die Gefangenen mit diesem Ausdruck bezeichnen. Wer hier seinen Dienst schob, der hatte sämtliche Illusionen verloren. Diese Männer waren nicht zu beneiden, man konnte ihre Laune sehr gut verstehen. Schlecht bezahlt wurden die Männer obendrein noch, wie auch die Polizisten in vielen Ländern, die für ihre Arbeit zuwenig Geld bekamen, denn oft genug setzten sie ihr Leben ein. Dafür kassierten aber die höheren Sesselfurzer ab und gaben den Jungs von der ›Front‹ noch irgendwelche Anweisungen und Vorschriften.
Der Wächter führte uns zu einem Seiteneingang. Er ging gebückt, um sich gegen den nassen Flockenwirbel anzustemmen. Wir taten es ihm nach, was aber nicht viel half. Sehr bald schon klebte in unseren Haaren der Schnee. Er taute auch sofort. Diesmal war es keine Stahltür, die aufgeschlossen wurde, sondern eine normale. Daß über ihr eine Lampe leuchtete, sahen wir erst, als wir dicht davor standen. Uns wurde die Tür aufgehalten. »Kommen Sie rein in die Herberge zur letzten Instanz.« Da hatte er recht. Eine miese Umgebung nahm uns auf. Sie gehörte zum Verwaltungstrakt des Gefängnisses. Im Flur mit den grüngrau gestrichenen Wänden roch es wie in einem alten Haus im Hafenviertel, nach Essen nämlich. »Der Chef sitzt in der ersten Etage, meine Herren.« Vor uns trat der Mann bei jeder Stufe fest auf, um sich den Schnee abzuschütteln. Auf der riesigen Steintreppe gruppierten sich die feuchten Flecken. Je näher wir kamen, um so mehr veränderte sich der Geruch. Jetzt schob sich ein muffiges Aroma in unsere Nasen, als wären alte Kleider zum Lüften aufgehängt worden. In einem Korridor lagen die Büros der Verwaltung. Ein Wesen schwebte vorbei, das wir hier nie erwartet hätten. Die Kleine war Anfang Zwanzig, toll gebaut, trug einen engen schwarzen Minirock und ein langes, rosafarbenes Etwas von Pullover, der bis über die Hüften reichte. Modeschmuck klimperte an ihren Ohren. Das Haar bildete einen hochgesteckten Pferdeschwanz, und die schwarze, modische Brille im Gesicht verlieh der Kleinen einen strengen Ausdruck. Sie grüßte kurz und verschwand hinter einer Tür. Der Wärter grinste, weil er unsere Blicke gesehen hatte. »Der einzige Lichtblick hier.« »Und was sagen die Gefangenen?« fragte Suko. »Denen begegnet Elaine sicherheitshalber nicht.« Er blieb vor einer Tür stehen, öffnete sie. Wir gelangten in ein leeres Sekretariat, dessen zweite Tür offenstand. Wahrscheinlich war die Tippmamsell in Urlaub, denn ihre Maschine war abgedeckt. Überhaupt machte das Vorzimmer einen sehr aufgeräumten Bindruck. Aus dem Nebenraum hörten wir ein Hüsteln. Der Chef des Gefängnisses hatte uns bereits gehört und bat uns herein. »Viel Spaß«, sagte der Wachmann, bevor er sich diskret zurückzog. Nüchtern war der Raum eingerichtet. Von einem Bild grinste uns die Queen an. Zwei Zimmerpalmen fristeten ein ebenso trauriges Dasein wie die Gefangenen, wobei es ihnen möglicherweise besser ging, weil sie bemuttert wurden, und hinter einem schlichten, aber stabilen Holzschreibtisch, der auch Platz für einen Computer nebst Drucker hatte, erhob sich Thornton Snyder.
War das ein Typ. Fast hätte ich gelacht. Auch Suko mußte sich ein Grinsen verbeißen. So wie Snyder stellte man sich wahrlich keinen Zuchthausdirektor vor. Er war klein, trug einen dunkelgrauen Anzug, ein weißes Hemd, eine schlichte Krawatte. Er sah aus, als wäre er gerade von seiner eigenen Konfirmation gekommen. Dazu paßten das blasse Gesicht und die fahlen Haare, nicht aber seine Augen. Wer in sie hineinschaute, der blickte gegen graues Gletschereis. Wir konnten uns nach dem ersten Eindruck vorstellen, welch eine Energie in diesem Typ steckte, das bewies uns auch sein Händedruck, mit dem er uns begrüßte und sich dabei namentlich vorstellte. Er bot uns erst keinen der schlichten Holzstühle an, sondern kam sofort zur Sache. »Wir sollten keine Zeit verlieren, Gentlemen, und sofort in die Zelle gehen.« »Liegt der Tote noch da?« fragte ich. »Ja, auf Eis.« »Himmel, warum das?« Ein scharfer Blick traf mich. »Damit Sie sich einen Eindruck verschaffen können.« Suko fragte: »Sie glauben noch immer, daß ein Unbekannter den Mann getötet hat?« »So ist es. Wenigstens kein Mensch. Das muß«, er verzog den Mund, »ein Geist gewesen sein.« »Wo finden wir den Zeugen.« »Auch im Trakt.« Er ging vor. Seine Schritte waren schnell. Da wir ihm folgten, konnten wir sehen, daß er sogar hohe Absätze trug, die bei jedem Schritt laut auf den blanken Steinboden schlugen, der ein Treppenhaus durchzog, das die beiden unterschiedlichen Trakte miteinander verband. Hier wollte ich nicht tot überm Zaun hängen. So etwas von grau und trist, konnte einem jede Freude nehmen. Hinzu kam noch das Wetter, das ebenfalls trist war. Noch immer rieselten unzählige dicke Flocken aus den Wolken. Vor einer Gittertür blieben wir stehen. Snyder drehte sich zu uns um. »Wissen Sie, bisher bin ich stolz darauf gewesen, daß unsere Sicherheitsmaßnahmen griffen und noch kein Ausbruch passiert ist. Das ist nach diesem Fall anders geworden. Ich habe einfach keine Erklärung dafür, überhaupt keine.« Er wirkte plötzlich hilflos, hob die Schultern und ging an dem salutierenden Beamten vorbei. Wir folgten ihm. Wie immer überkam mich so etwas wie eine Depression, wenn ich ein Gefängnis oder Zuchthaus betrat.
Stahl, Stein und Holz, Kontrollen, die illusionslosen Gesichter der Wärter, dazu die kalten und hallenden Stimmen. Nein, das war nicht gut. Die Zelle, in der die rätselhafte Tat passiert war, lag in der ersten Etage. Von außen her unterschied sich die Tür in nichts von den anderen. Sie war verschlossen, aber der Direktor besaß einen Schlüssel, und aus dem Hintergrund näherte sich ein Mann im weißen Kittel. Es war der Gefängnisarzt, der sich uns als Dr. Abelton vorstellte. Der Doc war klein und zwinkerte nervös. Er machte einen etwas geistesabwesenden Eindruck. Auf dem für seine Körpergröße zu mächtigen Kopf wuchsen helle Haare. Ich spürte meinen Magen. Der Druck glich einer Warnung, einer Vorahnung, daß auf uns etwas zukommen würde, woran wir verzweifelten. Dieser Vorgang nahm mit dem Öffnen der Tür seinen Anfang. Das Holz war sehr dick, zusätzlich mit Stahl verstärkt. Selbst mit einer Axt wäre man kaum durchgekommen. Thornton Snyder betrat die Zelle als erster. Drei kantige Schritte ging er auf seinen kurzen Beinen vor, drehte sich dann zur Seite, blieb stehen und deutete auf die Leiche, indem er seinen rechten Arm ausstreckte. Er präsentierte sie uns regelrecht. Der Tote lag nicht mehr auf dem Bett. Man hatte ihn in einen offenen Metallsarg gelegt, und der wiederum stand in einer mit Eis gefüllten Wanne. Auch die Spuren waren nicht verwischt worden. Auf dem Bett und an der Wand sah ich Blutspritzer. Zwischen den Wänden der Zelle lagerte der Geruch von Tod und Verderben. Der Druck in meinem Magen verstärkte sich. Es ging mir immer schlechter. Neben mir stand Suko, schräg von uns der Direktor und hinter unserem Rücken schloß Dr. Abelton die Tür. »Das ist also die Leiche!« erklärte Snyder überflüssigerweise. »Wir haben sie nur vom Bett geholt.« Ich nickte. Dafür sprach Suko. »Sie sagen, der Mann ist durch einen Messerstich getötet worden.« Die Antwort gab Dr. Abelton. »So ist es. Ich habe ihn untersucht, das heißt, ich möchte etwas einschränken.« Er drängte sich zwischen Suko und mich. »Wissen Sie, ich habe auch meine Erfahrungen. Ich habe mir die Leiche sehr genau angesehen. Alles deutet darauf hin, daß er durch einen Stich ums Leben kam. Ich sage dabei bewußt nicht durch einen Messerstich, wenn Sie verstehen.« »Nein!« »Weil es nicht unbedingt ein Messer sein muß.« Suko räusperte sich. »Eine Lanze, ein Dolch, ein kleines Schwert, ein vorn flaches Stemmeisen…«
Mit beiden Händen winkte der Arzt ab. »Bemühen Sie sich nicht, Inspektor, Sie treffen nie den Kern des Problems, denn er liegt gewissermaßen in der Wunde verborgen.« Wir bekamen beide einen erstaunten Blick. »Wie meinen Sie das denn?« erkundigte ich mich. »Das ist ganz einfach und doch so verdammt schwer zu erklären, daß ich mir keinen Rat weiß. Die Wunde und deren unmittelbare Umgebung ist verglast!« Pause. Nachdenken. Dann flüsterte Suko. »Was ist sie?« »Verglast, Inspektor. Sie haben richtig gehört. Diese Wunde ist tatsächlich verglast. Das ist für mich ein medizinisches Rätsel. Wie gesagt, ich bin schon einige Jahre Arzt, aber das habe ich noch nicht erlebt. Das Blut, die Haut, Adern, Sehnen und das Fleisch sind verglast worden. Wenn Sie darüber hinwegfühlen, bemerken Sie sehr deutlich das Knistern. Das können Sie zwischen den Fingern zerreiben.« Ich schaute zu Boden. Suko beugte sich vor, doch er traute sich nicht, die Probe aufs Exempel zu machen. Dr. Abelton besorgte uns den Beweis. Er holte eine Pinzette hervor und bückte sich. Am breiten Wundrand zupfte er vorsichtig ein Stück Haut ab, das er uns entgegenhielt. »Und nun passen Sie auf, meine Herren, hören Sie sich das an.« Er drückte von zwei Seiten dagegen. Wir hörten das Knirschen, mit dem das Glas zwischen den Fingern zerbröselte. Als flirrender Staub fiel es zu Boden. »Sehen Sie es?« fragte der Direktor überflüssigerweise. Er sah nicht eben aus wie ein Held. Sein Gesicht war noch grauer geworden. Auf seiner Stirn traten die Adern sichtbar unter der Haut hervor. »Das ist das Phänomen.« Und ob es das war. Ich erinnerte mich an einen Fall, der schon weit zurücklag. Da hatten wir das gläserne Grauen erlebt, das hier war etwas anderes, da gab es keinen Zusammenhang. »Sie sagen nichts. Sie geben keinen Kommentar«, flüsterte der Direktor. Ich verzog das Gesicht. »Wir sind sprachlos.« »Das waren wir auch. Hinzu kamen die Aussagen des Zeugen. Der hat keinen hineinkommen sehen. Er schwört es. Trotzdem war eine Gestalt da, die er erlebt hat. Er war wach und hat das Grauen hinter sich, das können Sie sich vorstellen.« »Da haben Sie bestimmt recht.« »Was kann passiert sein, Mr. Sinclair?« Ich hob die Schultern. »Tut mir leid, Mr. Snyder, ich weiß es leider nicht.« Der Arzt griff in das Gespräch mit ein. »Medizinisch ist es für mich ein absolutes Rätsel. Ich komme damit einfach nicht zurecht. Das habe ich
noch nie erlebt. Das wird auch kein großer Kollege vor mir zu Gesicht bekommen haben. Es ist medizinisch gesehen ein Rätsel. So etwas hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Das ist schon unheimlich, das… das setze ich schon mit Magie gleich.« Er hatte schnell gesprochen und hüstelte. »Können Sie begreifen, meine Herren, wie mir zumute war, als man mir die Leiche zeigte?« Er bekam weder von Suko noch von mir eine Antwort, da wir beide gerade den Toten untersuchten. Mit dem Kugelschreiber kratzte ich an den Wundrändern entlang und hörte das leise Knirschen, als winzige Splitter abkrümelten. Ich tastete weiter über den kalten Körper und drückte meine Fingerkuppen gegen das Gesicht. Die Haut erinnerte mich an Teig. Ich tastete sie ab, gab sogar etwas Druck, aber unter ihr knisterte und knirschte nichts. Dort blieb alles ganz normal. Dieses ungewöhnliche Glas hatte sich ausschließlich an den Wundrändern gebildet, wo die Waffe den Mann erwischt hatte. Welche Waffe? Kein Messer, eine Lanze oder wer weiß was. Ich fand keine Erklärung und war auf die Aussage des Zeugen gespannt. Schweigend ging ich auf das kleine Waschbecken zu und reinigte mir die Hände mit Kernseife. Dabei überlegte ich. Noch immer wurde ich das Gefühl nicht los, daß in dieser verdammten Zelle etwas seinen Anfang genommen hatte, das zu einer gewaltigen Bedrohung anwachsen würde und dem wir kaum Widerstand entgegensetzen konnten. Diese vier Wände bargen ein unheimliches Geheimnis. Es gab zwar keinen Anhaltspunkt für uns, aber es hatte mit einem normalen Fall nichts zu tun. Hier spielte eine hintergründige, nicht erklärbare und unheimliche Kraft eine wichtige Rolle. Sie hatte sich zurückgezogen, davon ging ich jedenfalls aus, denn mein Kreuz zeigte keinerlei Reaktion. Ich trocknete mir die Hände mit dem eigenen Taschentuch ab und drehte mich dabei auf der Stelle, den Blick gegen die Wände der Zelle und ebenfalls gegen die Decke gerichtet. Es lauerte nichts mehr, trotzdem ging ich davon aus, daß noch irgend etwas als Rest zurückgeblieben war. Ich drehte mich um. Drei Augenpaare schauten mich an. Ich hob die Schultern. »Ratlos?« fragte Snyder. »Leider.« »Das waren wir auch.« Er räusperte sich. »Was werden Sie denn unternehmen?« »Die Leiche haben wir gesehen, das Rätsel ist deshalb nicht kleiner geworden. Mich würde natürlich ein Gespräch mit dem Zeugen besonders interessieren.«
»Das hatten wir uns schon gedacht«, sagte Snyder. »Stanley Nessé wartet bereits auf uns.« »Da wäre noch etwas«, sagte Suko, bevor sich der Direktor zur Tür wenden konnte. »Weshalb hat dieser Mann hier eigentlich eingesessen?« »Wegen fünffachen Mordes.« »Wie bitte?« Nicht nur Suko war überrascht, auch ich. Damit hatten wir beide nicht gerechnet. Snyder hatte unsere Überraschung sehr wohl registriert. »Nun, es war kein vorsätzlicher Mord, das kann ich Ihnen versichern. Das ist auch bei der Gerichtsverhandlung herausgekommen. Es war mehr ein Unfall mit schrecklicher Todesfolge. Goldblatt stand unter Alkohol- und Drogeneinfluß, als er mit seinem Lastwagen von der Straße abkam und in einen besetzten Campingplatz raste. Es hat fünf Tote gegeben, denn der Wagen explodierte, nachdem er umgekippt war. Fünf Tote und mehrere Verletzte. Deshalb wurde er zu drei Jahren verurteilt.« Ich strich über mein Kinn. Ich glaubte auch, mich an den Fall zu erinnern, der damals viel Staub aufgewirbelt hatte. Tagelang hatten sich die Medien wegen dieses Unfalls überschlagen, und jetzt war der Mann tot. Umgekommen auf eine unheimliche Art und Weise und an bestimmten Stellen seines Körpers verglast. Etwas paßte da nicht zusammen, da war ich mir sicher. Waren bei dem Unfall magische Kräfte mit im Spiel gewesen? Schlecht vorstellbar, aber ich nahm mir vor, mir Einblick in die Protokolle zu verschaffen. Erst einmal mußten wir mit dem Zeugen reden. »Verglast«, flüsterte Dr. Abelton. »Warum ist das geschehen? Können Sie mir das sagen?« »Wir wissen es selbst noch nicht.« »Aber wir werden es herausfinden«, erklärte Suko. »Dann geben wir Ihnen Bescheid.« »Das hoffe ich.« »Wollen Sie jetzt mit dem Zeugen sprechen?« fragte Snyder, dem es in dieser Zelle wohl nicht gefiel. Da erging es ihm nicht anders als uns. »Das wäre gut«, sagte Suko. Wir verließen den engen Raum. Ich ging als letzter und warf noch einen Blick zurück. Hier zu leben, war schlimm. Wenn ich allein die Gitterstäbe vor dem Fenster ansah, wurde mir komisch zumute. Was hatte sich hier abgespielt? Welches Geheimnis verbargen die Wände? Leider konnten sie nicht reden. Aber der Zeuge würde reden. Auf ihn war ich gespannt. ***
Stanley Nessé wartete in einem schmalen, sehr kahlen Raum, der ebenfalls einer Zelle glich, da er auch ein vergittertes Fenster aufwies. Nur war es größer. Man hatte den Gefangenen nicht allein gelassen. Ein Aufpasser stand neben ihm, aber Nessé war nicht in der Lage, einen Fluchtversuch zu wagen. Er hockte auf einem harten Holzstuhl, hatte den Oberkörper nach vorn gedrückt und seinen Kopf auf die Arme gelegt, die ihren Platz auf dem Tisch gefunden hatten. Er sprach nicht. Der Arzt hatte sich verabschiedet. Als wir den Raum betraten, schickte Thornton Snyder den Aufpasser hinaus, der sehr schnell verschwand. Nessé hatte nicht einmal den Kopf gehoben, was Snyder nicht gefiel. »He, setzen Sie sich anständig hin, Mann. Hier sind zwei Männer, die mit Ihnen reden wollen.« Es gab genügend Stühle für uns drei. Suko und ich hatten uns eine Sitzgelegenheit herangeholt. Nessé bewegte sich sehr langsam. »Laßt mich doch in Ruhe, verdammt!« keuchte er. »Nein, Sie werden sprechen!« Der Gefangene schaute uns an. Der Blick war glanzlos, völlig leer und in sich gekehrt. Die Zeit in der Zelle hatte seine Spuren bei ihm hinterlassen, denn seine Haut sah so aus, als wäre sie mit grauer Asche bestreut worden. Er hatte müde Augen, eine spitze Nase und Bartschatten an den Wangen. Die Hände zitterten, obwohl er sie ineinander verkrallt hatte. Als wir uns vorgestellt hatten, winkte er nur müde ab. »Bullen?« flüsterte er. Das Wort sagte eigentlich alles. Da wußten wir, was er für uns empfand. »Reißen Sie sich zusammen, Nessé!« fuhr Snyder ihn an. »Lassen Sie ihn mal«, sagte ich. »Wenn ich in einer derartigen Zelle hocken würde, hätte ich kaum anders reagiert.« »Bravo.« Nessé klatschte. Snyder biß sich auf die Unterlippe. Er machte einen beleidigten Eindruck und überließ uns das Feld. »Sie wissen, um was es geht!« sprach ich ihn an. »Und Sie haben sicherlich ein Interesse daran, daß diese Tat aufgeklärt wird. Deshalb sind Sie ein wichtiger Zeuge, Mr. Nessé.« Er machte den Eindruck, als wollte er in die Höhe springen. »Einen Scheißdreck bin ich!« keuchte er, und wir sahen die Angst in seinem Blick. »Ich bin nichts wert, ich bin ein Stück Dreck. Hier ist niemand etwas wert, niemand. Aber eines sage ich Ihnen: Ich gehe nie mehr in diese verdammte Zelle zurück. Haben Sie gehört? Nie mehr! Da kann kommen, was will.«
»Das brauchen Sie auch nicht.« »Wunderbar.« »Wir werden Sie woanders unterbringen!« stimmte auch Snyder mir zu. Er versuchte sogar zu lächeln. »Sie sind Zeugen«, sagte Nessé. Er deutete abwechselnd einmal mit dem Finger auf mich, dann auf Suko. »Aber Sie sind auch ein Zeuge«, erklärte mein Freund mit sanfter Stimme. »Der uns sicherlich helfen kann. So wäscht dann eine Hand die andere. Es ist möglich, daß wir ein gutes Wort für Sie einlegen werden. Vorzeitige Entlassung…« »Ja, ja, schon gut. Das habe ich oft genug gehört. Was wollen Sie denn wissen?« »Alles.« Er lachte, doch es klang nicht echt. »Alles, Sie machen sich vielleicht Vorstellungen.« »Sie waren schließlich dabei.« »Na und?« Suko blieb auch weiterhin gelassen. »Deshalb müssen Sie den Killer gesehen haben.« Nessé lehnte sich zurück. Er verdrehte dabei die Augen und hatte seine Sicherheit zurückgefunden. »Was glaubt ihr denn, was ich schon alles gesagt habe? Man glaubt mir nur nicht. Man lacht mich aus, man hält mich für einen überdrehten Spinner.« Den nächsten Satz zischelte er durch die Zähne. »Aber da war doch etwas mit der Wunde, wenn ich mich nicht irre – oder?« »Stimmt.« »Das ist gut, das ist sogar sehr gut. Jetzt stehen Sie nämlich vor einem Rätsel. Kein Schwein wollte mir glauben, daß die Gestalt plötzlich in der Zelle stand. Sie war einfach da, versteht ihr? Sie brauchte weder eine Tür noch ein Fenster zu öffnen. Wenn ihr mich fragt, so ist sie durch die geschlossene Tür oder die Wand gekommen. Einfach so. Locker und leicht, als wäre es völlig normal. Ist ein Hammer, nicht wahr?« »Das stimmt.« »Habe ich mir auch gedacht«, erklärte er. »Ich weiß aber nicht, wie es geschehen konnte. Es ging alles so plötzlich und unerwartet. Auf einmal war er da.« »Mann oder…« »Nein, Mr. Inspektor. Das war eine Gestalt, ein Geist, ein Gespenst, und es hat Jeff Goldblatt gekillt. Einfach so. Es hat ihn umgebracht. Irgendein Ding in den Leib gestoßen. Ich lag unter ihm, ich habe gezittert und hatte das Gefühl, als wäre mein Herzschlag eine Trommel.« Er schlug sich selbst gegen die Brust, um es zu demonstrieren. »Und ich habe sogar das Beten wieder gelernt. In diesen Augenblicken hatte ich die Hosen gestrichen voll. Die Erscheinung verschwand wieder so, wie sie auch
gekommen ist, und ich blieb lebend zurück. Aber über mir lag ein Toter. Ich hörte sogar das Blut zu Boden tropfen. Immer das gleiche Geräusch. Klatsch, klatsch, klatsch…« »Ja, ja, schon gut«, sagte Snyder. »Das gehört nicht hierher. Halten Sie sich an die Fakten.« »Habe ich.« »Was sahen Sie noch?« »Nichts mehr.« Suko runzelte die Stirn. »Aber der Killer oder der Geist muß doch irgend etwas gesagt haben…« Nessé schaute meinen Freund erstaunt an, schüttelte dann den Kopf und blies uns dabei eine Atemwolke entgegen. »Hat er aber nicht, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen. Das hat er nicht, ist nicht drin. Er hat nicht gesprochen, nur gekillt.« »Haben Sie die Waffe erkannt?« »Werde mich hüten.« »Wieso?« »Hören Sie, ich habe mich nicht gerührt. Das war nicht möglich, das habe ich nicht geschafft. Mir ging der Arsch auf Grundeis. Nein, nein, so etwas ist nicht drin. Ich habe selbst dagelegen wie ein Toter, obwohl ich zitterte und Tote nicht zittern können. Ich hörte nur, wie mein Kumpel starb. Jeff hat noch gestöhnt wie ein…« »Wir wissen schon wie«, sagte ich. »Na ja, das war alles.« »Er kam also durch die Wand?« fragte ich. »Oder durch die Tür. Beide sind ja verschlossen gewesen. Das wollte mir keiner glauben. Sie haben sogar mich verdächtigt, die Zelle auf den Kopf gestellt, aber keine Waffe gefunden. Sonst hätten sie mir die Scheiße angehängt. Ich kenne die Brüder hier.« »Reißen Sie sich zusammen!« fuhr Snyder ihn an. »Schon gut, Chef, schon gut. Ist doch so. Das war etwas Unheimliches. Ich habe nie an Geister geglaubt. Jetzt tue ich es.« »Haben Sie vielleicht etwas gerochen?« Nessé staunte mich an. »Wie… wie kommen Sie denn darauf? Was soll ich gerochen haben?« »Möglicherweise den Geruch einer Entladung. Man spricht dann von Ozon, zum Beispiel.« »Habe ich nicht. Ich hatte nur Schiß.« »Und gesprochen hat der Eindringling auch nicht?« Der Gefangene schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gehört. Weder ein Flüstern noch ein Wispern. Er kam, killte und verschwand.« »Aber beschreiben können Sie ihn?« fragte Suko. »Das meinen Sie?« »Ich rechne damit.«
Er lachte uns aus. »Als ich etwas merkte, habe ich mich herumgedreht, gegen die Wand geglotzt, um nichts mehr zu sehen. Oft ist es besser, wenn man die Augen geschlossen hält. Da kann einem niemand etwas ans Zeug flicken.« »Das glaube ich Ihnen nicht!« »Ich lüge nicht, verdammt!« »Schreien Sie nicht herum!« Snyder wäre fast von seinem Stuhl hochgesprungen. »Ja, Chef, ja. Aber ich habe wirklich nichts gesehen.« »Bevor Sie sich herumdrehten«, sagte Suko und lächelte dabei. Nessé wurde still. Kurz danach grinste er. »Sie wollen es genau wissen, Sie sind ein ganz Raffinierter, wie?« »Ich denke nur nach.« »Können Sie.« »Habe ich recht?« Der Gefangene senkte den Blick und spielte mit Daumen und Zeigefinger an seiner Nasenspitze. »Ja und nein. Kompliment, Sie können gut fragen.« Er lehnte sich zurück und holte Luft. Ich hatte das Gefühl, daß er uns etwas vorspielen wollte. Er wußte, daß es auf ihn ankam, so hatte er die nötige Sicherheit gefunden. »Ich sah einen Schatten«, gab er zu. »Wo?« fragte ich. »An der Tür, glaube ich. Er war da, ich befand mich schon im Halbschlaf, habe ja so getan, als würde ich schlafen, und der Schatten kam näher.« »Was geschah dann?« »Es wurde kalt.« »Aber nicht, weil die Heizung abgeschaltet wurde, nehme ich an.« »Richtig. Die Kälte kam von ihm. Er strömte sie aus. Der war, als hätte man Trockeneis in die Bude hineingeschoben. Das habe ich noch nie erlebt. Es war keine richtige Kälte, wie sie draußen ist, sondern eine, die nach innen ging. Verstehen Sie?« »Reden Sie weiter.« »Er war auch heller.« »Als die Dunkelheit in der Zelle?« »Ja, ich sah einen Umriß.« Er grinste. »Sogar menschlich. Auch Geister sind Menschen, wie?« Er lachte und rieb seine Hände. »Dann drehte ich mich vorsichtig um und tat so, als würde ich schlafen. Ich zitterte, daß er mich nicht erwischte. Es reichte ihm, daß er meinen Kumpel killte. Schließlich war er weg.« »Für jede Tat gibt es ein Motiv«, sagte Suko. »Können Sie sich vorstellen, weshalb man Goldblatt umbrachte?« Nessé streckte seine Beine vor und stemmte die Hacken der grauen Schuhe gegen den Boden. »Nein, kann ich nicht. Jeff war eigentlich ein gemütlicher Typ…«
»Ja!« mischte sich Snyder ein. »Der fünf Menschenleben auf dem Gewissen hatte.« »Stimmt. Er war aber kein Berufskiller. Bin ich auch nicht. Ich habe noch keinen umgepustet. Wir haben oft darüber gesprochen. Wenn Sie mich fragen, kann ich nur sagen, daß sich der Geist gerächt hat. Vielleicht ist einer der Toten vom Campground als Geist zurückgekehrt, weil er keine Ruhe gefunden hat. Kann doch sein.« Snyder verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Grinsen. Wir hüteten uns vor einer derartigen Reaktion, was Nessé Auftrieb gab, denn der erkundigte sich: »Würden Sie auch so denken?« Ich wiegte den Kopf. »Unter Umständen schon.« »Na bitte. Dann brauchen Sie nur den Geist zu fangen, und der Fall ist gelöst. Mehr kann ich euch nicht sagen. Alles andere wäre nur Spekulation, und damit ist euch Bullen ja nicht gedient, nehme ich an.« »Das stimmt.« »Was ist sonst noch?« Suko und ich schauten uns an, schüttelten den Kopf, ein Zeichen, daß wir keine Fragen mehr hatten. »Ich will aber in eine andere Zelle, Chef!« »Keine Sorge, kommen Sie.« Wir standen auf. Auch Snyder und der Gefangene standen auf. Der Direktor verschwand und holte einen Wachtposten, der sich um Stan Nessé kümmerte. »Vergeßt nicht, was ich euch gesagt habe!« rief er uns zu und winkte mit einer Hand. »Ich habe euch geholfen. Dafür will ich auch etwas haben, irgendwann.« »Danke«, sagte ich. Die beiden gingen, und Snyder zupfte sein Jackett zurecht, als er uns zunickte. »Ich habe mal eine Frage, Gentlemen. Sind Sie jetzt schlauer?« »Im Prinzip schon.« »Wieso?« »Wir müssen davon ausgehen«, sagte ich, »daß Stan Nessé nicht gelogen hat.« »Sie glauben die Geisterstory?« »Wir behalten sie zumindest im Auge, Mr. Snyder.« Der Direktor schüttelte den Kopf. »Sorry, aber damit kann ich nichts anfangen.« Wir gingen durch die offene Tür in den Flur. Ich lächelte ihn an. »Haben Sie eine bessere Lösung parat?« »Nein. Im Moment nicht. Ich denke darüber nach, aber ich komme zu keinem Ergebnis, weil ich mir einfach nicht vorstellen kann, daß es Geister oder Gespenster gibt.« »Manchmal doch.«
Snyder blieb stehen und nickte. »Ja, meine Herren, ja. Ich weiß ja, daß Sie keine normalen Polizisten sind. Sie beschäftigen sich mit Fällen, die man als ungewöhnlich ansehen kann. Aber Geister in meinem Gefängnis, das nehme ich nicht hin.« »Er wird kaum mehr wiederkehren.« »Sie meinen, er hat seine Pflicht getan, Mr. Sinclair?« »So sehe ich es.« »Warum ihn? Warum diesen Goldblatt?« Ich hob die Schultern. »Da wissen Sie auch nicht weiter.« Suko meldete sich zu Wort. »Wenn ich den Zeugen richtig verstanden habe, deuten das Erscheinen des Geistes und die anschließende Tat auf eine Abrechnung hin.« »Das ist weit hergeholt.« »Nein, Mr. Snyder. Er ist nicht einfach nur ein Killer im Blutrausch gewesen. Obwohl nur ein Mord bisher geschehen ist, kann ich mir vorstellen, daß er nach einem Plan vorgeht, und er hat sich nicht grundlos Jeff Goldblatt ausgesucht, weil er einige Menschenleben auf dem Gewissen hat.« »Dafür sitzt er auch hier.« »Das war dem Geist zu wenig.« Der Direktor bekam große Augen. Er schluckte und stellte sich dabei auf die Zehenspitzen. »Sie meinen doch nicht etwa, daß er als ein Rächer auftritt?« »Genau das meine ich. Er hat sich an Goldblatt gerächt, weil er der Meinung ist, daß dieser Mann mit seinem Leben für die Tat büßen muß.« Snyder bekam eine Gänsehaut und fragte mich: »Denken Sie auch so, Mr. Sinclair?« »Mittlerweile schon.« »Hm.« Der Direktor wußte nicht so recht, was er sagen sollte. »Das ist mir alles etwas zu hoch, aber wenn Sie meinen, so recherchieren zu müssen, ich kann Ihnen zu nichts anderem raten. Schließlich ist es Ihr Fall geworden. Ich werde nur veranlassen, daß der Tote aus der Zelle geschafft wird.« »Ja, tun Sie das. Zu Scotland Yard. Unsere Experten sollen sich mit der Leiche beschäftigen.« »Ist auch besser so.« Der Direktor brachte uns noch bis zum Ausgang. Unterwegs schauten wir durch mehrere Fenster und sahen dem dichten Schneetreiben zu. Erkennen konnten wir kaum etwas. »Jetzt möchte ich nicht hinaus.« »Ich will aber auch nicht mit Ihnen tauschen, Mr. Snyder«, sagte ich lächelnd. »Glaube ich Ihnen gern.«
Er brachte uns noch bis zum Ausgang, wo wir uns per Handschlag verabschiedeten. Der weiße Flockenwirbel bereitete uns einen nassen und auch stürmischen Empfang, denn über das Mauerwerk hinweg fauchte der Wind in den Gefängnishof und spielte mit den Schneekristallen. Bei jedem Schritt versanken wir mittlerweile ein paar Zentimeter in den Schnee. Wir wußten, wo der Rover stand. Erkennen konnten wir ihn kaum. Er war unter einer weißen Haube begraben. Während Suko es gelassener hinnahm, löste sich von meinen Lippen hin und wieder ein Fluch. Ich hielt den Kopf gesenkt, ging einen bis zwei Schritte vor Suko und tastete bereits nach den Autoschlüsseln. Sie steckten in der rechten Außentasche der Lederjacke. Bevor wir starten konnten, mußten wir die Scheiben erst vom Schnee befreien und die Heizung einschalten, damit sich das Zeug nicht wieder innerhalb kürzester Zeit frisch darauf absetzte. Ich drehte meinen Kopf ein wenig nach rechts. »Ich schließe auf, Suko, und wir teilen uns die Sache. Einer links, der andere…« Da Suko keine Antwort gab, blieb ich stehen, drehte mich um und suchte ihn. Er war nicht mehr da. Ich starrte in den Flockenwirbel, der vor meinen Augen tanzte wie ein irrer Reigen aus kleinen Geistern. Ich lief zurück. Den ersten Schritt, den zweiten. Etwas schälte sich aus dieser weißgrauen und wirbelnden Masse in Bodenhöhe hervor. Es war ein Mensch. Nur keiner, der stand, sondern auf dem Leichentuch aus Schnee lag, als wäre er von einem Schlag hingestreckt worden. Mein Herzschlag raste plötzlich. So schnell wie möglich war ich bei meinem Freund, sackte in die Knie und erkannte, daß er mit dem Gesicht zuerst im Schnee lag. So ging das nicht. Ich mußte ihn herumdrehen, damit er Luft bekommen konnte. Ich hatte ihn berührt und auch schon zur Seite gewälzt, als ich etwas spürte, das ich zuerst nicht einordnen konnte. Es war eine irrsinnige Kälte, ganz anders als die des fallenden Schnees, vermischt mit dem eisigen Wind. Die Kälte erwischte mich am Nacken. Ich bewegte mich nicht. Etwas drückte in meine Haut. Ich hatte das Gefühl, als würden die Schneeflocken dort zischend schmelzen. Dann hörte ich eine Stimme. Nicht durch die Ohren, sie klang in meinem Gehirn auf. ›Wenn du dich falsch bewegst, bist du tot…‹
*** Ich bewegte mich nicht. Ich blieb weiterhin im Schnee knien, sah zwischen mir und Suko die Flocken tanzen und spürte nur, wie sich die Haut auf meinem Rücken zusammenzog. Wer die unsichtbare Gestalt hinter mir war, wußte ich genau. Der Mörder eines gewissen Jeff Goldblatt, der sich aus bestimmten Gründen noch in der Nähe aufhielt und wahrscheinlich auf Suko und mich gewartet hatte. Ich bewegte mich nicht und dachte daran, daß ich, wenn ich hier länger kniete, zu einem Schneemann werden würde. »Okay, du hast gewonnen. Aber eine Frage. Wer bist du?« ›Der Gerechte!‹ Damit konnte ich nichts anfangen. »Wieso der Gerechte? Bist du so etwas wie ein Richter?« ›Die höhere Instanz.‹ »Tatsächlich?« ›Du mußt es glauben. Du wirst es auch glauben, denn du hast den Toten gesehen.‹ »Warum hast du Goldblatt getötet?« ›Er hat es verdient.‹ »Das ist Ansichtssache. Kein Mensch darf sich zu einem Richter aufspielen.« Damit hatte ich ihn aus der Reserve gelockt, denn auf seine Antwort hatte ich gehofft. › Wer sagt dir denn, daß ich ein Mensch bin? Ich kann auch etwas anderes sein.‹ »Ein Geist.« ›Sehr richtig.‹ Verdammt, ich hätte mir gern den Schnee aus dem Gesicht gewischt, denn die Flocken klatschten gegen meine Haut, schmolzen dort und hinterließen Wasserperlen. Es war sowieso eine verrückte Situation. Diese Szene passierte auf einem Gefängnishof, und niemand bekam etwas davon mit, weil der Vorgang einfach zu dicht war. Ich hatte auch gesehen, daß Suko von dem Unbekannten zusammengeschlagen worden war, denn auf seiner rechten Seite wuchs eine kleine Beule. »Womit hast du Goldblatt getötet?« Die Antwort erfolgte prompt. ›Mit der Waffe, die du auch in deinem Nacken spürst. Wie ich dir schon erklärte, eine falsche Bewegung nur, und es ist um dich geschehen.‹ »Und was soll ich jetzt tun?« ›Dich von allem fernhalten, Sinclair, was mich angeht.‹
Fast hätte ich genickt. Im letzten Moment fiel mir ein, daß diese Bewegung falsch verstanden werden könnte und ließ es bleiben. »Ich soll also zusehen, wie du weiter mordest…« ›Es ist kein Mord.‹ »Was dann?« ›Eine Bestrafung.‹ »Das akzeptiere ich nicht. Es ist eine Ausrede. Es ist der Mantel, den du dir umgehängt hast. Ich glaube nicht, daß du die Menschen nur bestrafen wirst.« ›Ich bin der Gerechte.‹ »Das hörte ich schon.« ›Und wenn du weiterdenkst, John Sinclair, wirst du feststellen, daß wir oft dieselben Feinde haben. Wir sind uns also gar nicht mal so fremd.‹ »Ich bin Polizist.« ›Ja, dir wird das Töten erlaubt.‹ »Nur in Notwehr.« Allmählich bekam ich die Wut, weil ich wie ein kleiner Sünder hier in der Schneepappe kniete und mir von einem Unbekannten sagen lassen mußte, wer ich war. Ich empfand es als demütigend und fragte: »Wirst du weitermachen?« ›Es ist meine Aufgabe.‹ »Dann muß ich dich jagen.« ›Ich habe dich gewarnt. Laß es lieber sein. Ich weiß, daß sich unsere Wege noch öfter kreuzen werden. Vielleicht muß ich dann anders handeln als jetzt…‹ Ich wußte, was er damit meinte, wollte von ihm eine genaue Antwort, das war nicht mehr möglich, denn die eisige und unnatürliche Kälte verschwand aus meinem Nacken. War er weg? Ich ging das Risiko ein und drehte mich auf der Stelle kniend hastig um, sah einen beinahe wütenden Flockenwirbel, dem ich nichts entgegensetzen konnte. Ich kam einfach nicht durch, mein Blick war versperrt. Es schneite heftig, so waren seine Spuren nicht zu finden. Innerlich lachte ich. Das wäre auch zu schön gewesen, Spuren von ihm zu entdecken. Er war als Geist erschienen. Er war gekommen, um mich zu warnen, und ich überlegte bereits, wer sich hinter dem Namen verbergen konnte. Zuvor mußte ich mich um Suko kümmern. In der kurzen Zeit war er beinahe zugeschneit worden. Er erinnerte mich an einen umgekippten Schneemann. Ich rollte ihn herum und hatte ihn kaum angefaßt, als ich sein Stöhnen hörte und auch das leise Fluchen vernahm. »Komm zu dir, Alter.« Ich half ihm hoch.
Suko blinzelte, stöhnte, faßte an seinen Kopf und flüsterte: »Plötzlich ging das Licht aus.« »Weiß ich.« »Aha. Und was weißt du noch?« »Ich kann dir auch sagen, wer es ausgeknipst hat. Es ist der Gerechte gewesen.« Obwohl es in seinen offenen Mund hineinschneite, bekam er ihn vor Staunen kaum zu. »Der… der Gerechte?« »So nennt er sich.« Ich hakte ihn unter und half ihm auf die Füße. »Das alles erzähle ich dir im Wagen. Kannst du denn laufen?« »Bin doch kein Baby.« Laufen war übertrieben. Suko schwankte schon, und ich mußte ihn dabei stützen. Er murmelte Flüche und schimpfte sich selbst aus, daß er in die Falle gegangen war. »Aber ich habe ihn wirklich nicht gesehen, John, das kannst du mir glauben.« »Ich ihn ja auch nicht.« »Aber dir hat er nicht auf den Schädel gehauen. Irgendwo ist die Welt ungerecht.« Ich schwieg und säuberte die Umgebung des Türschlosses. Ich schloß auf, dann verfrachtete ich meinen Freund auf den Beifahrersitz, wo er aussah, als würde er schmelzen. Da ich noch einige Worte mit ihm sprechen wollte, hatte es jetzt keinen Sinn, die Scheiben zu säubern. Mein Freund hielt seine Stirn. Er hatte den Sitz etwas gekippt und sprach von dem Gerechten. »Toller Name, wirklich. Heißt er denn auch anders?« »Bestimmt.« »Wie denn?« »Das müssen wir raten.« »Er hat ihn dir also nicht gesagt?« »So ist es.« »Hat er denn mit dir über seine Pläne geredet?« Ich legte meine Hände auf das Lenkrad und beugte mich vor. »Das hat er in der Tat.« Suko drehte den Kopf nach rechts. Er schielte mich an. »Ich kann mir vorstellen, daß dich das sorgt.« »Und ob.« »Rede schon.« »Er fährt praktisch auf derselben Schiene wie wir. Jedenfalls hat er das gesagt, und so sieht er auch seine Aufgabe.« Suko sagte nichts und schaute gegen das vom Himmel fallende Leichentuch aus Schneeflocken. Es schien, als wollte er die Lösung unseres Problems darin finden, aber das war nicht möglich. Wir mußten schon selbst darauf kommen.
»Aber er ist kein Helfer, nicht wahr?« »Richtig.« »Ein Feind also?« »Wir müßten ihn als einen solchen ansehen, da hast du schon recht. Er ist ein Feind, obwohl er sich als der Gerechte bezeichnete und meinte, daß sich unsere Wege bestimmt noch kreuzen würden. Ich weiß es nicht, wir müssen jedoch damit rechnen.« »Womit noch?« »Keine Ahnung. Zuerst werden wir herausfinden, was es mit ihm auf sich hat. Du kannst sagen, was du willst, es muß einfach mit Goldblatts Tat zusammenhängen, wir müssen im Hintergrund wühlen. Er wird, so nehme ich an, auch wissen, daß wir ihm über Goldblatt auf die Spur kommen können. Deshalb war er sich auch so sicher, daß wir uns noch mal begegnen würden.« »Wie willst du beginnen?« Ich öffnete die Tür. »Indem ich den Schnee vom Wagen schaufle. Dann fahren wir los.« »Ich freue mich auf das Büro«, stöhnte Suko. »Und den verdammten Schnee kann ich bald nicht mehr sehen.« »Wem sagst du das?« *** Die Fahndung war eher still, sie wurde nicht an die große Glocke gehängt, aber jeder Polizist in London wußte Bescheid. Fire-Johnson war ausgebrochen! Er hatte es tatsächlich geschafft, den Hochsicherheitstrakt der Anstalt hinter sich zu lassen, in der er seit zwei Jahren hockte. Jetzt würden einige Menschen wieder vor ihm zittern. Fire-Johnson war ein Psychopath. Er killte nur, wenn es brannte, und er killte durch das Feuer. Er beschaffte sich nicht nur Streichhölzer – mit ihnen hatte seine Faszination an der Glut begonnen –, er griff zu härteren Mitteln. Fire-Johnson war spezialisiert auf Flammenwerfer! Nach zwei Tagen war noch immer keine Spur von ihm gefunden worden. Er hatte auch noch kein Feuer gelegt. Unter den Experten nahm die Nervosität zu. Irgendwann würde sich der Ausbrecher melden. Fire-Johnson war Psychopath, und er haßte die Männer der Feuerwehr. Bei ihnen rief er dann nach dem vierten Tag seines Ausbruchs an. Er ließ sich den Chef der großen Londoner Feuerwehr persönlich geben, kicherte zuerst in die Leitung hinein und erklärte dann mit einer Stimme, die einem Zischeln und Fauchen der Flammen nachgeahmt war: »Bald
wird es brennen! Bald wird es brennen! Ich höre schon die Schreie der Menschen. Feuer! Feuer! Feuer!« Danach legte er auf. Der oberste Brandmeister aber war grau im Gesicht geworden und sah um Jahre gealtert aus… *** Als die Lehrerin Greta Franklin in die zahlreichen Kinderaugen schaute, die sie ansahen, konnte sie sich ein leises Lachen nicht verkneifen, denn in den Augen las sie zum größten Teil eine gewisse Furcht vor den kommenden Ereignissen in der nächsten Stunde. »Sie können ja lachen!« rief die elfjährige Sally. »Aber wir müssen die Arbeit schreiben.« »Ja, das müßt ihr.« »Und warum gerade heute? Es schneit so toll, und da dachten wir, wir würden hinausgehen und einen Schneemann bauen, eine Schneeballschlacht mit Ihnen machen und…« »Und… und… und«, sagte Greta. »Das können wir alles machen. Aber zuvor wird die Arbeit geschrieben. Erst dann kommt das Vergnügen.« Sie schaute auf die Uhr. »Die Zettel mit den Aufgaben habt ihr bekommen, deshalb fangt bitte an.« Sie versuchten es, sie stöhnten, und Greta mußte laut sprechen, um die Stimmen zu übertönen. »Es geht alles von eurer Zeit ab. Bitte, ich brauche die Arbeit nicht zu schreiben. Ich kann es schon.« »Dann können Sie es mir ja sagen!« rief der sommersprossige Mike und grinste sie aus der ersten Reihe her an. »Mach du deine Sachen mal allein. Hinterher kannst du stolz auf dich sein.« »Hm.« Mike verzog den Mund. »Glaube ich nicht, Mrs. Franklin.« Sie hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Trotz dieser kleinen Schwierigkeiten machte ihr der Beruf als Lehrerin Spaß. Sie hätte sich keinen anderen wünschen können, und sie wollte auch nur mit kleinen Kindern umgehen, nicht mit den Halbwüchsigen, die oftmals zu frech und abgebrüht waren. Hinter dem Pult nahm sie Platz und drückte ihren Rücken gegen die Lehne. Sie hatte dort ein Kissen befestigt, denn das war wieder ein Wetter für ihre Rückenschmerzen. Mit fünfunddreißig Jahren stand sie mitten im Leben und dachte an ihren Mann, der jetzt auf dem Atlantik fuhr, denn er hatte sich für den Beruf des Seemanns entschieden und stand kurz vor dem Kapitänspatent. Obwohl Greta lange Zeit von ihrem Mann getrennt war, glaubte sie, eine gute Ehe zu führen, denn wenn Slim bei ihr war, erlebten sie die Zeit immer sehr intensiv.
Sie war eine attraktive Frau mit silberblonden Haaren, die sie kurz und abstehend trug. An diesem Tag trug sie eine moderne rote Steghose und einen schwarzen Pullover mit Rollkragen. Die Hosenbeine steckten in den Schäften der gefütterten, halbhohen Schuhe, deren Leder einen grauen Glanz zeigte. Die Kinder waren ruhig geworden. Damit sie nicht voneinander abschreiben konnten, hatten sie verschiedene Aufgaben bekommen, was die Kleinen natürlich ärgerte. Hin und wieder stöhnte der eine oder die andere auf, als würden sie unter einer fürchterlichen Folter leiden. Mrs. Franklin drehte den Stuhl etwas herum. In der Stille erschrak sie fast selbst über das Quietschen. Greta schaute aus dem Fenster. Es war groß, sehr groß sogar und nahm eine gesamte Wand ein. Es begann dicht unter der Decke, und die Scheibe fand ihr Ende erst in Höhe der Heizung. Die gesamte Schule war in einem Flachbau untergebracht, der aus mehreren Trakten bestand. Von ihrem Platz aus konnte sie auf den verschneiten Schulhof schauen. Die Bäume bildeten skurrile Figuren, waren ebenfalls schneebeladen, und ihr Geäst sah aus, als hätte es einen weißen Anstrich bekommen. Über dem Schulkomplex lag ein Himmel, der wie eine düstere Drohung wirkte. Wolken klebten zusammen, bildeten Schatten, ließen keine Sonne durch und sahen aus, als wollten sie sich in den nächsten Minuten nach unten auf den Hof senken, um alles zu verschlingen. Selbst die drei von den Schülern gebauten Schneemänner schienen sich vor ihnen zu fürchten. Etwas zog Greta Franklins Brust zusammen. Sie wußte auch nicht, weshalb sie dieses Gefühl überkam, jedenfalls konnte sie es nicht mehr vertreiben. Hing es mit dem niedrigen Luftdruck zusammen, der sich auf ihr vegetatives Nervenkostüm legte und ihr deshalb das Gefühl gab, etwas Fremdes, Gefährliches sei im Anmarsch? Sie konnte es nicht sagen und mußte sich irgendwie ablenken. Einige Schüler zuckten zusammen, als die Lehrerin sich erhob. Das schlechte Gewissen stand in den kleinen Gesichtern geschrieben. Wahrscheinlich hatten welche versucht zu mogeln, doch Greta nahm es nicht so genau und lächelte, während sie auf den breiten Mittelgang zuging. Um ihn herum bildeten die Tische und Stühle einen ziemlich großen Halbkreis. Natürlich kannte sie ihre Pappenheimer, wußte, wer gut oder schlecht in Mathe war und blieb bei den Schülern stehen, die zu den schlechtesten zählten. Auch Mike war dabei. Er stöhnte wie ein alter Mann.
»Na?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Mathe ist Mist. Mathe ist einfach große…« »Bitte, Mike.« »Ja, schon gut, Mrs. Franklin. Ich komme nicht zurecht.« Die blaß geschminkten Lippen der Frau verzogen sich zu einem breiten Lächeln. »Wenn du dir etwas Mühe gibst, wirst du es bestimmt schaffen, mein Lieber.« »Das sagt meine Mutter auch.« »Hat sie denn nicht recht?« »Nein!« Greta mußte sich das Lachen verbeißen, beugte sich dem Jungen entgegen und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr, erzählte ihm den Lösungsweg der ersten Aufgabe. Mike bekam einen roten Kopf, nickte ein paarmal und wollte sich bedanken, aber Greta legte schnell einen Finger auf die Lippen. Sie ging weiter. »Da war jemand auf dem Hof, Mrs. Franklin!« Die Kleinste in der Klasse meldete sich. Sie hieß Michaela und gehörte zu den vorwitzigen Schülern, aber in Mathe war sie auch nicht besonders gut. »Still, still, Ela. Störe die anderen nicht.« »Aber da war jemand!« Jetzt schauten auch die anderen Schüler aus dem Fenster, die Lehrerin ebenfalls, nur konnte sie niemand entdecken. »Macht weiter, bitte, sonst verlieren wir zuviel Zeit.« Ela ließ nicht locker. »Es war ein Fremder. Ein Mann, den ich noch nie hier gesehen habe.« »Bestimmt jemand, der etwas angeliefert hat.« »Nein, der sah komisch aus. Er trug einen Overall und hatte einen Helm auf dem Kopf.« »Dann kam er mit dem Motorrad. Das soll es ja geben. Wir bekommen oft Besuch.« »Der trug aber was.« Greta verdrehte die Augen. »Hast du auch gesehen, was er da getragen hat?« »Was Komisches.« »Wie komisch? Einen Hund mit dem Kopf einer Katze, einen Clown oder was?« Alle lachten, nur Ela blieb ernst. Sie wartete, bis es still geworden war. »Ich habe Angst«, sagte sie dann laut und deutlich. Jeder hatte es hören können. Greta Franklin schwieg. Als sie mit der Zungenspitze über ihre Lippen fuhr, war dies ein Zeichen ihrer Nervosität, denn sie dachte sofort an das
ungute Gefühl, das sie noch vor wenigen Minuten während der Betrachtung des Himmels gespürt hatte. Sollte da tatsächlich etwas im Anmarsch sein? Greta überlegte, schalt sich eine Närrin und schüttelte dann den Kopf. »Es ist bestimmt ein Lieferant, Ela. Okay jetzt?« »Weiß nicht. Der sah so komisch aus und hat auch den Kopf gedreht, um durch die Scheibe zu schauen.« »Ja, ja, so komisch.« Greta Franklin klatschte in die Hände. »Jetzt wird weitergemacht, aber schnell!« Murrend senkten die Kinder ihre Köpfe. Die Störung war schlecht gewesen, denn die Lehrerin stellte fest, daß die Jungen und Mädchen nicht bei der Sache waren. Verstohlen verdrehten sie die Augen. Ihre Blicke glitten immer öfter zum Fenster hinüber, und Greta rechnete damit, die Arbeit wiederholen zu müssen. Hier und da ein leises Wispern, mal ein Kichern, vorsichtige Blicke in Richtung Pult, das alles addierte sich noch und verstärkte die Unruhe. Jemand riß wuchtig die Tür auf. Eine Sekunde später hatte der Tod das Klassenzimmer betreten! *** Niemand schrie auf. Weder die Lehrerin noch die Schüler. Sie alle waren blitzschnell in den Tentakelarmen des Schreckens gefangen, als sie die Gestalt sahen, die in der linken Hand einen Revolver hielt und damit auf die Lehrerin zielte. Mit der anderen Hand umklammerte die Gestalt einen klumpigen Gegenstand, von dem niemand wußte, was es war. Der Mann trug einen Helm, hatte das Sichtvisier allerdings in die Höhe geklappt. »Wenn einer von euch schreit, ist die Lehrerin tot!« Es waren Worte, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Die Kinder rührten sich nicht, denn der Schock hatte sie voll und ganz erwischt. Sie sahen aus wie Puppen, die jemand gebastelt hatte. Greta Franklin stand mit dem Rücken zur Tafel. Sie spürte sie hinter sich und dachte komischerweise daran, daß jetzt die Kreide ihren Pullover beschmierte. Was sie hier erlebte, war Wahnsinn, war ein Alptraum, in den man sie und die Kinder hineingestellt hatte, nur entsprach dieser Traum leider den Tatsachen. Sie wußte nicht genau, was dieser Mensch wollte, aber sie konnte sich denken, daß er keine Rücksicht kannte. Er war ein Psychopath, vielleicht einer, der unter Drogen stand und auf nichts mehr Rücksicht nehmen würde, selbst auf Kinder nicht. Die Lehrerin spürte die Angst wie eine bohrende Faust, die sich immer tiefer in ihren Magen rammte, als wollte sie an der anderen Seite wieder zum Vorschein kommen.
Er lachte. Ein widerliches Gelächter, das wie ein kurzer Stoß durch den Klassenraum irrlichterte. Dann war er wieder still. An seinen Schuhen klebte Schnee. Das meiste Zeug war getaut, so daß er von einer Wasserlache umgeben war. Er hatte den rechten Arm ausgestreckt, die Mündung der Waffe zielte auf Gretas Kopf, und er sagte: »Deinen Schädel werde ich dir in tausend Stücke pusten, wenn du nicht genau tust, was ich dir sage.« Greta nickte. »Ja, okay, ja, ich werde tun, was Sie wollen. Aber bitte, denken Sie an die Kinder. Ich will nicht, daß ihnen etwas geschieht. Nehmen Sie mich, aber nicht…« »Maul halten!« Sie schwieg. Verdammt, du mußt dich zusammenreißen, schoß es ihr durch den Kopf. Denk daran, was man dir beigebracht hat. Erinnere dich daran, was deine Lehrer damals sagten, wie du dich in Streßsituationen verhalten mußt. Aber an eine Situation wie diese hatte keiner der Lehrer auf der Schule gedacht. Das hier war ein Szenario des Terrors. Wenn ich nur wüßte, weshalb er dieses andere Ding da mitgebracht hat, dachte sie. Greta konnte sich unter dem Gerät nichts vorstellen, sie stufte es allerdings als schlimm ein. Sie dachte daran, daß es schon früher Nachmittag war, die Ganztagsschule bald beendet sein würde. Dann kamen viele berufstätige Eltern, um ihre Kinder abzuholen. Der Mann hatte den Blick der Lehrerin bemerkt. Er lachte wieder. Diesmal leiser. »Willst du wissen, was ich hier mitgebracht habe? Ist ein kleines Geschenk für euch. Ich bin Fire-Johnson! Ja, ich bin es! Erkennt ihr mich nicht?« Er bekam von den Schülern keine Antwort, von der Lehrerin ebenfalls nicht, aber Greta hatte mehr Phantasie als die Kinder. Sie konnte sich schon etwas vorstellen, als sie diesen Namen gehört hatte. Fire-Johnson! Feuer also! Ihre Kehle trocknete noch mehr aus. Dafür brach ihr der Schweiß aus. Er hatte sich schnell unter den Achselhöhlen gesammelt und rann als kühle Tropfenbahn ihren Ann entlang nach unten. »Weiß keiner von euch, wer ich bin, verdammt noch mal?« fragte FireJohnson wütend. »Nein!« erwiderte Greta. Er kam noch einen Schritt näher. Sein Revolver nahm an Größe zu. Für Greta wurde er zu einer regelrechten Kanone, die alles vernichtete, was sich ihr in den Weg stellte. »Feuer! Ich liebe das Feuer! Ich fühle mich irre wohl, wenn es brennt. Ich fühle mich wohl, wenn Häuser,
Wohnungen und Menschen brennen! Ich will sie als Flammen sehen. Verstehst du das, Frau Lehrerin?« Ja, Greta Franklin verstand es. Sie wollte nur nicht darüber nachdenken, weil es einfach zu schrecklich war. Das paßte nicht in ihr Weltbild. Sie stellte sich vor, was geschehen würde, wenn dieser Irre seine Drohung wahrmachte, wenn plötzlich nicht nur der Klassenraum in Flammen stand, sondern auch die Schüler, die dann als lebende Fackeln umherirrten und elendig verbrannten. Bei diesem Gedanken wurde es Greta Franklin übel, sie mußte würgen. Fire-Johnson aber lachte. Schon jetzt empfand er eine perverse Vorfreude und erklärte mit Flüsterstimme, die aber bis in den letzten Winkel des Klassenraums zu hören war, daß er einen Flammenwerfer mitgebracht hatte. »Damit stecke ich die ganze Schule an. Das wollte ich schon immer. Schon als Schüler habe ich davon geträumt, eine Schule brennen zu sehen. Heute ist es soweit. Heute brennt sie ab!« Mein Gott, dachte Greta, mein Gott. Ich kann den Irrsinn nicht fassen. Wie lange soll das noch so gehen? Wann ist die Stunde vorbei? Wann schellt es? Ist es dann noch so wie jetzt? Oder sind wir schon alle verschmort? Himmel, gib mir Antwort! Gott, ich… »Träumst du von einer Rettung, Frau Lehrerin?« Seine höhnische Stimme zerschlug ihre Gedanken. Greta schwieg. »Dann träume weiter. Es gibt keine Rettung. Nur ich werde mich freuen, wenn die Flammen ihr fauchendes Lied singen. Wenn sie ihre Macht zeigen und den Menschen beweisen, wie hilflos sie sind. Wenn ihr Fauchen das Schreien der Brennenden schluckt…« Warum hat der Revolver nur einen so langen Lauf, dachte Greta? Was ist damit geschehen? Sie wollte sich ablenken. Sie konnte ihm nicht mehr zuhören. Sie konnte auch nicht mehr in das vom Wahnsinn verzerrte Gesicht schauen, das sich wie eine schreckliche Zeichnung inmitten des Helms abzeichnete. Es war zuviel für sie. Greta schüttelte den Kopf. Im Hintergrund fing ein Mädchen an zu weinen. »Halt’s Maul!« kreischte Fire-Johnson so schrill, daß die Kleine verstummte. Greta riß sich zusammen und sprach sie an. Sie wußte selbst nicht, woher sie noch die Kraft nahm. »Hören Sie, Mister, ich mache Ihnen einen Vorschlag…« »Nein!« Er kam noch weiter vor. Seine Augen verwandelten sich in Räder, in denen der Tod leuchtete. »Bitte…«
Er lachte. Dann schoß er! Es machte ›Plopp‹ – mehr nicht. Aber er hatte getroffen. Die Lehrerin spürte den harten Schlag an ihrem Kopf. Plötzlich riß der Faden bei ihr. Ob sie das Blut noch sah, das aus der Wunde spritzte, konnte niemand sagen, sie selbst auch nicht. Vor der Tafel brach sie zusammen. Fire-Johnson aber wandte sich den Schülern zu… *** Wir hatten den Kampf gegen den verdammten Schnee gewonnen und unter großen Mühen das Büro erreicht, wo uns nicht nur Glenda Perkins empfing, sondern auch der Duft eines frisch gekochten Kaffees. Ich hatte Glenda von unterwegs angerufen, denn Sukos Verletzung an der Stirn mußte behandelt werden. Der Verbandskasten stand bereit. Mein Freund war noch immer etwas benommen. Ich überließ ihn Glendas Obhut und ging sofort in das Büro, wo die Unterlagen lagen, die Glenda in der Zwischenzeit für mich besorgt hatte. Fünf Tote waren bei diesem schrecklichen Unglück ums Leben gekommen. Ich mußte die Namen wissen und würde die Angehörigen der Reihe nach anrufen und ihnen einige Fragen stellen. Bis auf ein Ehepaar waren nur Einzelpersonen gestorben. Drei junge Männer, die gemeinsam studierten und die Ferien für einen CampingUrlaub hatten nutzen wollen. Ich schaute auf die Information und erfuhr, daß das Ehepaar Almedos geheißen hatte. Einige Zeit dachte ich über den Namen nach, ohne daß mir ein Licht aufging. Ich las ihn heute zum erstenmal. Aus den Unterlagen ging auch hervor, wo sie gelebt hatten. In einem kleinen Ort im Süden des Landes, sicherlich sehr romantisch, aber die beiden waren trotzdem zum Campen gefahren. Es war nicht vermerkt, ob sie noch Kinder oder andere Verwandte hatten, und deshalb wollte ich die Probe aufs Exempel machen und dort anrufen, wo sie einmal gelebt hatten. Es wurde eine ziemliche Telefoniererei, bis ich die Rufnummer bekommen hatte, unter der früher einmal die Almedos erreichbar gewesen waren. Ich wählte und hörte eine Frauenstimme, die sich mit dem Namen Corman meldete. Als ich mich vorstellte, hörte ich sofort das Erschrecken der Frau. Kein schlechtes Gewissen, wahrscheinlich zählte sie zu dem Personenkreis, der noch nie mit den Hütern des Gesetzes in Konflikt geraten war. »Bitte, Sir, was habe ich denn mit dem Yard zu tun?«
Durch mein Lachen versuchte ich, ihr eine innere Ruhe zu geben. »Sie bestimmt nicht, Mrs. Corman.« »Meine Güte, das ist…«, sie holte Luft. »Wissen Sie, mein Mann und ich haben uns hier zur Ruhe gesetzt. Mein Mann ist Rentner, und wir lieben den Süden.« »Mir geht es um etwas anderes. Haben Sie die Wohnung oder das Haus von einer Familie Almedos übernommen?« »Ja, das haben wir. Die haben vor uns hier gewohnt. Ein sehr nettes Ehepaar. Wir kannten die beiden schon vor dem schrecklichen Unglück.« Sie seufzte schwer. »Manchmal können wir noch immer nicht fassen, was ihnen da widerfahren ist. Ausgerechnet sie.« »Waren sie denn allein?« »Ja, sie lebten hier allein.« »Keine Kinder, Verwandte und…« »Doch«, unterbrach sie mich. »Sie hatten einen Sohn, der aber nicht mehr hier lebt.« »Wie hieß er denn?« »Raniel.« Ich räusperte mich. »Wie bitte?« Sie wiederholte den Namen und hörte, daß ich mich darüber wunderte. »Ja, es ist ein seltsamer Name, aber Mrs. Almedos war eine außergewöhnliche Frau. Sie liebte ausgefallene Namen, wenn sie in ihren religiösen Kram hineinpaßten.« »Was für einen Kram?« Ich fieberte innerlich, denn ich hatte den Eindruck, es genau richtig getroffen zu haben. Sie räusperte sich. »Nun ja, wie soll ich sagen? Sie waren beide sehr fromm, die Almedos.« »Welcher Konfession gehörten sie an?« »Sie waren katholisch, streng katholisch. Noch nach dem alten Muster, wenn Sie verstehen. Sie sprachen öfter von diesem Bischof, der vor kurzem starb. Lebrembre oder…« »Lefèvre«, sagte ich. »Stimmt. Dahin tendierten sie. Sehr fromme Menschen, wie gesagt. Vor allen Dingen Mrs. Almedos. Sie war eine Frau, die sich sehr für die Engel interessiert hat. Sie hat sogar geforscht, sie hat versucht, sie zu zählen, was man damals im späten Mittelalter gemacht hat. In der Kabbala.« »Sie wissen Bescheid.« »Habe ich alles von ihr erfahren.« Mrs. Cormans Stimme bekam einen traurigen Klang. »Und jetzt sind beide tot. Manchmal kann ich es noch immer nicht fassen.« »Da gibt es noch den Sohn«, sagte ich. »Stimmt.« »Was ist mit ihm?«
»Nun, Sir, es tut mir leid. Wir haben mit Raniel keinen Kontakt mehr. Zuletzt sahen wir ihn auf der Beerdigung seiner Eltern. Es war furchtbar. Er war erschüttert, er weinte, aber war auch noch etwas anderes bei ihm zu spüren.« Ich ließ die Frau reden, weil ich davon ausging, daß jedes einzelne Wort wichtig war. Zwischendurch schneuzte sie ihre Nase, um dann den Bericht fortzusetzen. »Raniel ging dann schnell fort und tauchte nicht mehr auf. Er hatte sowieso nicht bei seinen Eltern gewohnt.« Ich hatte ihren letzten Satz nicht vergessen. »Was war denn da noch an ihm zu spüren, außer Trauer?« »Wut, Mr. Sinclair. Ja, eine wilde, kaum kontrollierbare Wut, beinahe schon Haß.« Sie räusperte sich. »Ist ja verständlich. Haß auf den Killer seiner Eltern.« »Den sollte er nicht so stark spüren, wenn er christlich erzogen wurde.« »Im Alten Testament steht etwas anderes, Mr. Sinclair. Wie dem auch sei, das ist ja vorbei.« »Dann wissen Sie also nicht, wo ich Raniel Almedos eventuell sprechen kann?« »Nein, nicht genau.« Ich lächelte, obwohl die Frau es nicht sehen konnte. »Würden Sie mir denn einen Tip geben können?« »Hm, das ist so eine Sache. Ich weiß auch nicht, ob ich damit richtig liege. Die Almedos selbst haben darüber nicht gern gesprochen, als hätten sie Furcht davor, zuviel preiszugeben.« »Über was?« »Es geht um die Mühle.« Ich war erstaunt, weil ich damit nicht gerechnet hatte. »Eine Mühle?« wiederholte ich deshalb und räusperte mich. »Eine richtige alte Mühle?« »Eine Windmühle.« »Und die gehörte den Almedos?« »So ist es. Es kann auch sein, daß sie ihnen noch gehört, das weiß man alles nicht. Jedenfalls existiert sie noch. Es ist durchaus möglich, daß sich Raniel dorthin zurückgezogen hat.« »Sie ist auch bewohnbar?« Ich sah förmlich ihr Nicken. »Soviel mir bekannt ist, ja. Mrs. Almedos hat einmal davon gesprochen. Ich glaube sogar, daß sie das Bauwerk renoviert haben. In einer ziemlich einsamen Landschaft. Südlich von Maidstone, glaube ich.« »Pardon, aber geht es nicht etwas genauer?« »Ich überlege ja schon«, murmelte Mrs. Corman. Sie nahm sich Zeit. Zwischendurch hörte ich ihren Atem oder mal ein Klappern. Möglicherweise ein Fensterladen, der vom Wind bewegt wurde. Dann
hörte ich wieder ihre Stimme. Sie klang jetzt energischer. »Sind Sie noch da, Mr. Sinclair?« »Sicher doch.« »Wenn ich mich nicht sehr irre, haben sie mal einen Ort erwähnt, der Headcorn hieß. Dort jedenfalls haben sie immer ihre Lebensmittel gekauft, wenn sie mal in der Mühle für längere Zeit waren. Mehr kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, Mr. Sinclair. Sie haben mich ja ausgequetscht wie eine Zitrone. Und Sie sind tatsächlich von Scotland Yard?« »Darauf können Sie sich verlassen.« »Dann ist es gut.« »Falls Sie Zweifel hegen, rufen Sie mich zurück. Ich gebe Ihnen meine Nummer.« »Nein, nein, das nicht. Ich vertraue Ihnen. Das kann ich Ihrer Stimme entnehmen.« »Danke sehr.« Ich war froh, diese Informationen bekommen zu haben, und sagte dies Mrs. Corman auch. Sie hielt sich ein wenig zurück, wußte nicht so recht, wie sie mir antworten sollte, wünschte dann aber viel Glück. »Das werden wir auch brauchen.« Bestimmt hätte sie gern gewußt, um was es im einzelnen ging, aber ich hielt mich zurück. Der Fall war kompliziert genug, und er würde auch nicht einfacher werden, wie ich annahm. Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen, weil ich nachdenken wollte. Das Erfahrene mußte ich erst verarbeiten und in die richtigen Kanäle leiten. Raniel also! War er der Gerechte? Dann hatten wir Glück gehabt und liefen auf der richtigen Schiene. Andererseits – was sprach eigentlich dagegen? Gar nichts. Wir würden der Mühle einen Besuch abstatten. Als hätte die Natur meinen Entschluß gehört, um mich dann zu unterstützen, hatte es aufgehört zu schneien. Der Himmel wirkte wie blankgefegt. Er zeigte ein herrliches winterliches Blau. Raniel… Ein Name, der irgendwo paßte. Von dem gleichzeitig auch etwas Engelhaftes oder Ätherisches ausging. War er möglicherweise ein rächender Engel, ein Rachegott? Etwas stimmte nicht in meinen Überlegungen, und ich wußte auch schon was. Ich hatte mit Mrs. Corman über den Menschen Raniel gesprochen, aber von Stanley Nessé wußten wir, daß Goldblatt von einem Geist getötet worden war. War Raniel ein Geist oder ein Mensch? Oder beides?
Ich runzelte die Stirn. Es war nicht einfach für mich, mir diese Doppelexistenz vorzustellen. Auf der einen Seite ein Mensch, auf der anderen ein feinstoffliches Wesen. Engel waren feinstoffliche Wesen. Da hatte ich selbst meine Erfahrungen mit den vier Erzengeln sammeln können. Wenn ich sie doch nur hätte so einfach fragen können. Das war leider nicht möglich. Ich schluckte meine Bitternis runter und dachte auch nicht daran, mir jetzt noch große Gedanken zu machen. Wichtig war die Mühle. Dorthin mußten wir, und wenn wir uns beeilten, konnten wir zu Beginn der Dämmerung das Ziel erreicht haben. Ich ging zurück ins Vorzimmer, wo Suko auf einem Stuhl saß und noch leicht angeschlagen wirkte. »In Superform bist du auch nicht gerade – oder?« »Kann man nicht unbedingt behaupten.« »Du hast ja lange telefoniert«, meinte Glenda. »War auch sehr wichtig.« Suko drehte den Kopf. Zu schnell, denn er verzog das Gesicht. Auf seiner Stirn klebte ein dickes Pflaster. »Hast du denn wenigstens etwas herausgefunden?« »Ich glaube, daß ich die Lösung weiß!« Beide schwiegen und starrten mich an, wie ich lässig am Türpfosten stand. »Ehrlich, John?« Ich nickte Suko zu. »Eine Frage erst einmal. Fühlst du dich in der Lage, eine etwas längere Autofahrt anzutreten? Mit mir zusammen, meine ich.« »Wenn du fährst, immer.« »Das ist ein Wort.« Ich hatte meine Tasse im Büro zurückgelassen, nahm eine frische und schenkte die braune Brühe ein. Dann berichtete ich von meinem Gespräch mit Mrs. Corman. Es blieb Glenda und Suko nichts anderes übrig, als zu staunen. Das war für sie völliges Neuland. Selbst ich hatte meine Überraschung noch nicht überwunden. Als ich in die Kaffeetasse schaute, stieß Suko die Luft durch den rechten Mundwinkel aus und produzierte dabei ein leises Pfeifen. »Das ist wirklich ein Ding«, sagte er. »Wer hätte damit gerechnet, daß dieser Raniel der Gerechte ist?« »Augenblick«, wandte ich ein. »Noch haben wir nicht den Beweis. Es ist nur eine Annahme.« »Hör auf, John. Es wird schon alles so hinkommen, wie du es dir gedacht hast.«
Ich hob die Schultern und überlegte, ob ich sicherheitshalber noch die Personen auf meiner Liste anrufen sollte. Nein, ich wollte mich auf Mrs. Cormans Aussagen verlassen und würde mir zusammen mit Suko die Mühle genauer anschauen. Wenn sie so einsam stand, eignete sie sich auch hervorragend als Versteck. Glenda schnitt mit ihrer Frage ein Problem an, mit dem ich mich bisher noch nicht beschäftigt hatte. Sie saß dabei auf dem Stuhl, hatte die Beine übereinander-geschlagen, so daß sich die Leggins noch mehr strafften und wie eine zweite Haut saßen. Sie sah sexy aus. »Ich habe ja noch nicht sehr viel über diesen Raniel in Erfahrung bringen können, aber ich möchte dich einmal fragen, John, wie du eigentlich zu ihm stehst? Wie siehst du ihn?« Ich hob die Schultern. »Das ist schwer zu verstehen. Wie soll ich ihn denn sehen?« »Das frage ich dich. Positiv oder negativ?« Ich schaute zu Boden, weil ich wußte, worauf Glenda hinauswollte. »Weißt du, es geht nicht, daß sich jemand als Richter aufspielt und sich dabei als der Gerechte bezeichnet. Rächer können wir in unserer Gesellschaft nicht gebrauchen. Sie sind hier fehl am Platz. Er muß sich an die Gesetze halten, die wir vertreten. Tut er das nicht, stehen wir auf zwei verschiedenen Seiten.« »An welche Gesetze denn?« »Fragst du mich das im Ernst?« »Ja, John Sinclair, das frage ich dich im Ernst. Du darfst nicht vergessen, daß du es mit einem Engel zu tun hast, und der braucht sich an keine Gesetze zu halten. Der hat seine eigenen, der braucht unsere menschlichen nicht.« »Denkst du an göttliche Gesetze?« »Nicht unbedingt.« »Stimmt, da gäbe es nämlich keine Taten, die mit dem Tod eines Menschen enden. Damit es klar ist, Glenda. Dieser Raniel, meinetwegen auch der Gerechte, sollte er es nun sein, steht auf einer anderen Seite als wir. Deshalb müssen wir ihn bekämpfen, das ist doch unser Problem. Er darf nicht umherlaufen und morden. Wir sind diejenigen, die darauf achten müssen, daß Gesetze eingehalten werden, also stehen wir auf zwei verschiedenen Seiten.« Glenda hob die Schultern, verengte die Augen und murmelte: »Verstehen kann ich ihn schon. Wenn meine Eltern auf diese schreckliche Art und Weise ums Leben gekommen wären und ich die Chance hätte…« »Bist du denn ein Engel?« fragte Suko. »Nicht immer.« Sie lächelte und winkte ab. »Wie dem auch sei, leicht wird es für euch nicht werden, das habe ich einfach im Gefühl. Ich glaube, daß ihr da noch Schwierigkeiten bekommen werdet.«
»Wie tröstlich«, murmelte ich. Suko schaute auf die Uhr. »Ich nehme an, daß du noch vor Beginn der eigentlichen Dunkelheit das Ziel erreicht haben willst.« »Klar.« »Dann sollten wir jetzt losfahren.« Ich war einverstanden, bat Glenda, einen kurzen Bericht an unseren Chef, Sir James, zu übermitteln. »Du machst das schon und wirst das Richtige in die Wege leiten. Wenn sich etwas tun sollte, wir sind in den nächsten Stunden über Autotelefon zu erreichen.« »Geht in Ordnung.« Sie hielt uns beide fest, schaute uns sehr ernst an und flüsterte: »Gebt auf euch acht. Wenn ihr es mit einem Fanatiker zu tun habt, ist es verdammt schwer, den Kampf zu gewinnen.« Wir nickten und waren beide der Meinung, daß Glenda mit ihrer Bemerkung voll ins Schwarze getroffen hatte… *** Fire-Johnson stand ein wie aus der Hölle entsprungener Teufel vor den Schülern. Um die Lehrerin kümmerte er sich nicht. Sie lag vor der Tafel und sah aus wie tot. In ihren blonden Haaren klebte Blut, und es war zudem über ihre Wange gelaufen und hatte seinen Weg bis zum Hals gefunden. Der Psychopath drückte den Helm weiter zurück. Jeder sollte sein Gesicht sehen, das auf den Wangen zahlreiche rote Flecken zeigte, als würde es von innen brennen. So fühlte er sich auch. Heiß, brennend! Von einer irren Flamme angestachelt, einer Lohe, die nur darauf wartete, ihren Weg nach außen finden zu können. Er hatte das Sichtvisier festgeklemmt, seine Lippen zitterten, die Nasenflügel waren gebläht, als er schnaufend ausatmete und dann anfing schrill zu kichern, so daß einige Schüler sich duckten, als wäre eine glühende Peitschenschnur dicht über ihre Köpfe hinweggefahren. Er freute sich über die Angst der Schüler. Seine Augen bewegten sich. Am liebsten hätte er selbst Feuer gespuckt. Er liebte die Flammen. Er berauschte sich an ihrem Zucken, an dem Brausen und Fauchen. Er konnte sich Zeit lassen und es noch genießen. Der Feuerteufel bewegte seinen Kopf von rechts nach links. Draußen lag der Schulhof unter der Schneedecke in einer absoluten Ruhe. Es gab nicht einmal Wind. Eine Landschaft des Todes mit den entsprechenden Bäumen, die ihr Astwerk abstreckten, als wären sie fahle Geister und würden sich schon jetzt darauf freuen, die toten Seelen an sich ziehen zu können. Blasse Gesichter.
In ihnen war die Furcht wie eingezeichnet. Kein Schüler wagte es, einen Laut von sich zu geben. Die Angst hatte sie stumm werden lassen. Alle schwankten auf dem schmalen Grat zur Panik. Wenn sie erreicht würde, kippte alles um. Noch ließ er sich Zeit. Fire-Johnson hatte das Kommando. Er wollte bestimmen, wann es zur großen Katastrophe kam. In der Linken hielt er den Flammenwerfer und wedelte mit ihm. »Schaut her, schaut auf meinen Freund! Er ist es, der gleich den Tod spucken wird. Er wird über euch kommen und euch zu Asche verbrennen. Mein kleiner Freund ist das große Grauen. Er haßt alles, was sich bewegt, wenn ich es ihm befehle.« Schweigen, stummes Entsetzen. Fire-Johnson kicherte. Sein Blick verbreitete Irrsinn. Er war nicht normal. Dieser Mensch befand sich in einem Rausch, in einer kaum erklär- und vorstellbaren Vorfreude auf die große Katastrophe, die durch seinen Flammenwerfer ausgelöst werden würde. Er wandte sich an die Schüler in der ersten Reihe des Halbkreises. »Zunächst werde ich euch vernichten!« versprach er. »Ihr springt dann auf, ihr wollt wegrennen, aber ich bin dagegen. Ich hole die anderen. Ich mache euch alle zu Fackeln, ich zünde die Schule an, die Scherben werden mit lauten Geräuschen zerplatzen. Ihr werdet fliehen wollen. Ihr werdet in den Schnee dort draußen rennen, ihr werdet euch in ihm wälzen, aber er wird es nicht schaffen, die tödliche Glut zu löschen.« Wieder schrie und lachte er zugleich auf. Dann schwieg er. Dieses Schweigen war ebenso schlimm wie sein Geschrei zuvor. Er ließ seine Blicke über die einzelnen Schüler gleiten. Er weidete sich an ihrer Angst. Ein Junge weinte stumm. Es war ein schlimmes und gleichzeitig mitleiderregendes Bild, als die Tränen an seinen Wangen herabliefen und er sich nicht traute, sie abzuwischen. Er konnte sich einfach nicht bewegen. Fire-Johnson holte Luft. »Ist sie tot?« Eine dünne, brüchige, weinerlich klingende Stimme durchbrach plötzlich die Stille. Es war nicht einmal zu hören, wer gesprochen hatte. »Wer?« kreischte der Killer. »Die Lehrerin!« Fire-Johnson kicherte. »Klar, sie ist tot. Glaube ich wenigstens. Ich mußte sie ausschalten, versteht ihr? Ich muß jedes Hindernis aus dem Weg räumen. Mein Feuer braucht Platz, es braucht freie Bahn. Es muß
sich entfalten können. Es gibt keinen Widerstand mehr. Es ist alles anders, verflucht!« Die Kinder schwiegen. Fire-Johnson ging noch einen kleinen Schritt vor, gab Zischlaute von sich. Wieder bewegten sich seine Augen, als wären sie Flammenräder. Dann senkte er den Blick. Seine Nasenlöcher blähten sich. Er sah aus, als wollte er jeden Augenblick Dampf ablassen. Die Mündungen seiner beiden Waffen zeigten auf die Schüler, als wären sie dabei, sich ein Kind auszusuchen, mit dem sie beginnen wollten. Auf dem Schulhof bewegte sich etwas. Vielleicht war es nur deshalb zu sehen, weil dort eine weiße Schneedecke lag, die wirklich sehr hell strahlte und etwas, das nicht so blaß und hell war, erkennen ließ. Ein Schatten… Nicht dunkel, eher gläsern und eigentlich nur an seinen Umrissen zu erkennen. Er kam vor. Langsam und zielstrebig. Weiter, immer weiter. Er änderte die Richtung, er bewegte sich auf das Fenster zu. Hätte jemand genauer hingeschaut und den Schatten unter Kontrolle genommen, wäre ihm aufgefallen, daß er keine Abdrücke auf der weichen Schneeoberfläche hinterließ. Er berührte sie und schwebte gleichzeitig über die matt schimmernde Oberfläche hinweg. Seltsam… Er ging auf die Scheibe zu. Niemand sah ihn, er aber erweckte den Eindruck, als könnte er alles überblicken, besonders das Klassenzimmer, das zu einer kleinen Hölle geworden war. In die trat er hinein. Durch die Scheibe, als wäre sie nicht vorhanden, und er bewegte sich vor der Tafel vorbei, wobei er stets im Rücken des irren Psychopathen blieb. Die Kinder staunten. Einige von ihnen wußten Bescheid. Das heißt, sie hatten etwas von dieser fließenden Bewegung gesehen, ohne allerdings etwas Genaues sagen zu können. Sie hatten nur den Eindruck, daß es kälter geworden war… Fire-Johnson merkte nichts. Noch kostete er die Angst aus. Er suchte sein erstes Ziel. Wen sollte er zuerst mit dem tödlichen Gluthauch aus dem Flammenwerfer berühren? Ein Mädchen, einen Jungen? Sollte er ihn schnell bewegen oder langsam?
In den nächsten Sekunden mußte er sich entschieden haben. Er wollte nicht mehr länger warten. Auch die Gestalt nicht. Sie war jetzt da und hatte eine günstige Position erreicht. Zugleich wurde sie besser wahrgenommen, zumindest von den Schülern in der ersten Reihe. Sie bewegten nur ihre Augen, sie klimperten, sie wußten nicht, was sie tun sollten. Fire-Johnson kicherte schrill. Der Beginn des Höllendramas! Nicht für die Schüler, wie er es sich vorgestellt hatte, sondern für ihn. Die kaum erkennbare Gestalt schlug zu. Sie hielt irgend etwas in der Hand, etwas Langes, Durchscheinendes, das seinen Weg von oben nach unten fand und sehr lang dabei wurde. Im letzten Augenblick hatte Fire-Johnson es bemerkt. Er drehte sich nach rechts. Dem Schicksal entging er nicht. Was in der folgenden Sekunde geschah, war so unglaublich und lief auch derartig schnell ab, daß es den jungen Zeugen kaum gelang, es nachzuvollziehen. Etwas durchtrennte beide Arme unter dem Ellbogen. Die Waffen, die Hände, die Unterarme, sie fielen in die Tiefe und prallten zu Boden. Fire-Johnson stand unbeweglich. Der Schock hatte ihn gelähmt. Er war zudem nicht fähig, auch nur einen Laut von sich zu geben. In seinem Helmausschnitt war das Gesicht blaß wie das eines Toten geworden. Die Augen wollten nicht wahrnehmen, was er sah. Das Gehirn sandte keine Signale des Begreifens. Und doch war es eine Tatsache. Fire-Johnson fehlten beide Unterarme! Er tat nichts, noch nichts. Dann aber schrie er. Plötzlich sprudelte auch Blut aus den Stümpfen. Da reagierte sein Körper wie eine biologische Maschine. Und nicht nur er brüllte seinen Schrecken hinaus, als er sich nach rechts drehte und wie eine aus der Kontrolle geratene Maschine durch die Klasse taumelte, gegen die Tafel krachte, an der Wand entlangschleifte und dort blutige Streifen hinterließ, auch die Kinder hatten endlich ein Ventil gefunden und schrien ihren Schrecken hinaus. Nur einer blieb stumm. Der kleine Mike. Er wußte selbst nicht, weshalb er nicht schreien konnte. Er starrte aus weit geöffneten Augen nach vorn und entdeckte dort tatsächlich die seltsame Bewegung. Ein Geist…
Er schluckte. Der Geist huschte weiter. Für einen Moment verschmolz er mit der großen Scheibe, dann war er verschwunden. Fire-Johnson brach zusammen. Es war der Moment, als die ersten Lehrpersonen, die durch das Geschrei angelockt waren, die Tür öffneten. Was sie dann sahen, ließ sie an ihrem Verstand zweifeln… *** Wenig später war die Schule von einem Aufgebot an Polizei umlagert. Auch Eltern waren erschienen, Reporter ebenfalls, doch ins Klassenzimmer kam zunächst niemand. Es war hermetisch abgesperrt worden, und die Eltern warteten in der Aula. Man hatte sie beruhigt, daß keinem Kind etwas geschehen war. Fire-Johnson lebte noch. Er hatte sehr viel Blut verloren, deshalb stand er auf der Kippe. Und noch jemand lebte. Die Lehrerin Greta Franklin, die wie tot auf dem Boden vor der Tafel gelegen hatte, war nur in eine tiefe Bewußtlosigkeit gefallen. In seiner inneren Aufregung hatte Fire-Johnson nicht so getroffen, wie er es gern gehabt hätte. Die Kugel aus der schallgedämpften Waffe hatte den Kopf der Frau nur gestreift. Auch Greta befand sich in ärztlicher Behandlung. Sie würde so schnell wie möglich in ein Krankenhaus geschafft werden, was auch FireJohnson bevorstand. Was war passiert? Ratlosigkeit breitete sich unter den Offiziellen aus. Keiner wußte genau, was die Kinder hinter sich hatten, sie mußten erst aussagen, doch alle standen unter Schock. Fast alle. Einer aber meldete sich. Es war Mike. Daß er so normal sprechen konnte, glich einem Wunder, aber er ließ sich nicht abdrängen und wollte den obersten Polizisten allein sprechen, wie er sagte. »Warum allein?« wurde er gefragt. »Das weiß ich aus dem Fernsehen.« Man hatte Zeit für ihn. Der Einsatzleiter, ein Mann im Range eines Captains, zog sich mit dem Jungen zurück. Er wollte ihm zwei, drei Minuten geben, doch das Gespräch dauerte länger, denn Mike berichtete von einem Geist, der sie gerettet hatte. »Wie bitte?«
»Ein Geist, Sir. Er schwebte vom Schulhof her in unser Klassenzimmer und hat dem Kerl die Arme abgehackt. Einfach so. Das habe ich genau gesehen.« Der Captain hätte den Jungen normalerweise weggeschickt. Daß er es in diesem Fall nicht tat, hatte seinen Grund. Sie selbst standen vor einem Rätsel. Sie konnten sich nicht erklären, wer Fire-Johnson die Arme abgeschlagen und durch diese Tat das Leben der Kinder gerettet hatte. Es war zwar viel spekuliert worden, ein Ergebnis jedoch hatten sie nicht gefunden. Sie waren ratlos. Und nun erzählte ihm dieser Mike eine schier unglaubliche Geschichte, die so unglaublich nicht mehr klang, nachdem Captain Harris über die Tatsachen genauer nachgedacht hatte. Geister, Gespenster… Er hob die Schultern. »Bist du denn der einzige aus der Klasse gewesen, der diesen Geist gesehen hat?« Das Wort Geist rutschte ihm nur schwerfällig über die Lippen, was auch der Junge merkte, denn er fragte: »Sie glauben mir nicht?« »Doch, ich muß es.« »Wie ein Engel war er. Der… der Geist schwebte über dem Schnee, dann kam er zu uns.« »Durch die Scheibe?« »Geister können ja durch Wände und Scheiben gehen. Auch der böse Mann hat ihn nicht gesehen. Nur ich.« »Was tat er denn?« »Er bewegte etwas von oben nach unten, das so aussah wie ein komischer heller Schatten. Ein Schwert aus Licht oder Glas, glaube ich. Das haben die anderen nicht gesehen.« »Schwert aus Licht oder Glas«, wiederholte Harris murmelnd und schaute auf seine feucht gewordenen Handflächen. Er tat diesen Job schon lange. So etwas wie heute hatte er in seiner Praxis noch nie zuvor erlebt. Das war ihm völlig neu, das war auch so schrecklich und kaum zu glauben. Wenn jedoch keine andere Erklärung gefunden wurde, mußten sie auf die Aussagen des Jungen zurückgreifen. »Das war bestimmt ein Engel, Sir. Glauben Sie an Engel?« Harris, ein harter Knochen, wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Bis heute jedenfalls nicht.« »Dann müssen Sie Ihre Meinung ändern, Sir. Ich habe ihn gesehen.« Er strich über Mikes Haar. »Wie alt bist du denn?« »Zehn.« »Ich bin über fünfzig Jahre, aber ich muß zugeben, daß du mir etwas voraus hast. Vielleicht sollten auch wir Erwachsenen mehr an Erscheinungen glauben.« Es klopfte.
Harris wurde aus seinen Gedanken gerissen. Sein nachdenklicher Gesichtsausdruck bekam einen ärgerlichen Zug. »Ich habe doch gesagt, daß ich nicht gestört werden will«, sagte er, als die Tür aufgedrückt wurde und ein Polizist das leere Klassenzimmer betrat. »Sir, ich möchte um Entschuldigung bitten, aber es will Sie jemand dringend sprechen. Sir James Powell von Scotland Yard.« »Was hat er denn damit zu tun?« »Ich weiß es nicht, Captain.« »Wo?« »Im Sekretariat.« Harris verließ den Raum und ging hin. Mike nahm er mit. Er hielt ihn an der Hand gefaßt und spürte die Kälte der Haut. Der Junge war noch immer durcheinander und fürchtete sich. Im Flur stauten sich die Menschen. Einige Eltern hatten den Klassenraum verlassen und redeten mit schrillen Stimmen auf die Uniformierten ein. Auf dem Schreibtisch des Sekretariats lag der Hörer neben dem Apparat. Harris meldete sich und hörte die Stimme des Superintendenten. Beide Männer kannten sich recht gut. Sir James sprach von einer Meldung, die er bekommen hatte und die besagte, daß es zu einer schon wundersamen Rettung der Schulkinder gekommen war. »Das kann ich nur bestätigen, Sir.« »Gut, Captain, dann können Sie mir auch sagen, wie es genau dazu gekommen ist.« Harris schaute auf Mike, der ein Glas mit Limonade bekommen hatte und langsam trank. »Es ist schwer, Sir, es ist sogar unerklärlich. Wir können uns da eigentlich nur auf die Zeugenaussage eines Schülers im Alter von zehn Jahren verlassen.« »Sonst keine Zeugen?« »Bisher nicht.« »Gut, Captain. Was sagt der Junge?« Harris räusperte sich. »Er sprach, ob Sie es glauben oder nicht, von einem Geist, der erschien.« Sir James schwieg, bevor er fragte: »Dann hat also ein Geist oder Gespenst dem Killer die Hände abgehackt, wie ich dieser Meldung entnehmen konnte.« »Das behauptet zumindest der Junge.« »Was hat er noch gesehen?« Wieder blickte Harris auf den kleinen Mike. Er dachte daran, ihn selbst mit Sir James sprechen zu lassen, aber der Junge veränderte sich. Plötzlich brach die Mauer zusammen. Jetzt erst kam er dazu, darüber nachzudenken, was hinter ihm lag, und da war es mit seiner künstlichen Beherrschung vorbei.
Er schrie, und das Glas mit der Limonade rutschte ihm aus den Händen. Es zerschellte auf dem Boden. Splitter und klebrige Flüssigkeit spritzten in alle Richtungen weg. Das Gesicht des Jungen lief rot an. Er fing an zu zittern, dann weinte er, und die Sekretärin, Mrs. Donovan, huschte auf Mike zu und zog ihn an sich. Sie brachte ihn weg, damit sich inzwischen der eingetroffene Psychologe um ihn kümmern konnte. Captain Harris wischte Schweiß von seiner Stirn. »Sir, sind Sie noch dran?« »Ja, zum Henker, was war los?« Harris erklärte es ihm, und natürlich hatte der Superintendent dafür Verständnis. »Sie müssen sich also auf mich verlassen. Ich kann Ihnen nur das wiedergeben, was man mir gesagt hat. Das ist alles.« »Dann noch mal von vorn.« Harris war sicher, daß Sir James ein Band mitlaufen ließ. Natürlich wußte er, mit welchen Fällen sich dieser Mann beschäftigte. Er war auch über die beiden Mitarbeiter John Sinclair und Suko informiert, und ihm wurde dann klar, als die Blockade in seinem Hirn etwas zusammenbrach, daß dieser Fall eigentlich nicht mehr in seinen Zuständigkeitsbereich fiel und sich Sir James und seine kleine Abteilung darum kümmern mußte, sollten tatsächlich übersinnliche Kräfte eine wichtige Rolle dabei spielen. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte und auch eine Antwort bekam, hörte sich Sir James Stimme sehr ernst an. »Ich danke Ihnen, Captain, daß Sie mich so ausführlich informieren konnten.« »Ich weiß nicht, Sir, aber so umfassend war es doch nicht. Es sind nur Spekulationen. Ich bin noch immer nicht sicher, ob ich den Aussagen des Jungen trauen kann. Schließlich ist er der einzige gewesen, der diesen«, er räusperte sich, »Geist gesehen hat.« »Zum Glück hat es einen Zeugen gegeben.« »Sie glauben ihm also?« Harris bekam keine direkte Antwort. Er hörte nur, wie sich Sir James noch einmal bei ihm bedankte und versprach, später etwas von sich hören zu lassen. Damit war die Unterhaltung beendet. Harris legte den Hörer auf. Er sah, daß er vom Schweiß seiner Hand naß war. Noch immer wirbelten Gesprächsfetzen durch seinen Kopf. Er kam damit überhaupt nicht klar. Innerlich zitterte er, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Erst jetzt dachte er richtig darüber nach, was alles hätte geschehen können. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee geben?« erkundigte sich Mrs. Donovan. Sie war eine ältere Frau mit einem sehr freundlichen Wesen. Sicherlich kam sie auch gut mit Kindern zurecht.
»Ja, danke!« »Mike befindet sich in guten Händen«, sagte sie und bekam einen roten Kopf, bevor sie weitersprach. »Wissen Sie, Captain, ich habe zwangsläufig mitbekommen, was geschehen ist. Stimmt das denn alles? Glauben Sie daran?« Harris trank zwei Schlucke Kaffee. Dabei verbrannte er sich die Lippen. »Was heißt glauben? Können Sie mir eine bessere Aussage bieten?« »Das kann ich nicht.« »Eben.« Die Frau bekreuzigte sich. »Wenigstens bin ich froh, daß nicht mehr passiert ist.« »Ich auch, Mrs. Donovan, ich auch…« Selten in der letzten Zeit hatte Captain Harris eine dermaßen ehrliche Antwort gegeben… *** Noch eine Hand war schweißnaß, als sie den Hörer wieder auf den Apparat drückte. Sie gehörte Sir James Powell, der nicht wußte, wie er den Vorfall einschätzen sollte. Jedenfalls freute er sich darüber, daß so wenig passiert war. Er war gleichzeitig froh, daß ihn Glenda Perkins über die Aktivitäten seiner beiden Mitarbeiter unterrichtet hatte. Er rief Glenda zu sich. Als sie eintrat, stand Sir James am Fenster, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Eine Stellung, die er nur sehr selten einnahm, und zwar immer dann, wenn es um sehr nachdenkliche Dinge ging. Er schaute hinaus und hörte, wie Glenda leise die Tür schloß. Über die Hausdächer hinweg segelte eine Rotte schwarzer Vögel. Sir James hoffte, daß es kein schlechtes Zeichen war. Er wandte den Blick ab und drehte sich um. Glenda stand neben dem Schreibtisch. Sie sah das Lächeln auf dem Gesicht ihres Chefs, der sie bat, sich zu setzen. Daß etwas passiert sein mußte, erkannte sie auch. Sir James spielte mit einem Bleistift, den er zwischen seinen Fingern wandern ließ. »Ich glaube, Glenda, daß John und Suko den richtigen Weg eingeschlagen haben.« »Sir, ich verstehe Sie nicht richtig…« »Es gibt ihn.« »Wen?« »Diesen Geist. Meinetwegen auch den Engel, der Jeff Goldblatt getötet hat.« Glenda begriff schnell. »Hat er sich wieder gemeldet, Sir? Gab es noch einen Toten?«
»Nein, bisher nicht. Aber er ist tatsächlich zum zweitenmal erschienen. Diesmal in einer Schule, die von einem Psychopathen überfallen wurde. Der Mann heißt Fire-Johnson, und er hat vorgehabt, ein Klassenzimmer und die darin befindlichen Schüler in Brand zu stecken. Es sollte in eine Flammenhölle verwandelt werden.« Glenda saß da und hatte die Hände flach auf ihren Oberschenkeln liegen. Intervallweise verlor ihr Gesicht an Farbe. Im selben Rhythmus bildete sich eine Gänsehaut. Glenda stellte sich jetzt vor, was alles hätte passieren können. »Es ging demnach noch einmal gut?« »Ja, denn ein Geist griff ein.« »Der Engel?« Sir James wiegte den Kopf. »Gut, auch das akzeptiere ich. In diesem Fall hat er tatsächlich wie ein Engel gehandelt. Von den achtundzwanzig Kindern in der Klasse hätten viele tot sein können, und Fire-Johnson, der Psycho-Pyromane, hätte daran seinen perversen Spaß gehabt. Es ging gut, weil die Macht eingriff. Sie schlug ihm beide Arme ab, die Waffen hielten. Einen schallgedämpften Revolver und einen Flammenwerfer.« Glenda preßte die Hand vor die Lippen. Darüber waren die Augen sehr sehr weit aufgerissen. Es dauerte etwas, bis sie sich gefangen hatte und nach Einzelheiten fragen konnte. Sir James hielt damit nicht zurück. Beide zeigten sich schließlich verwundert darüber, daß es nur einen Zeugen gegeben hatte, eben diesen zehnjährigen Jungen. Nur er hatte den Helfer bewußt gesehen. Möglicherweise würden die anderen sich daran erinnern, wenn die Mauer des Schocks zusammengebrochen war, aber das konnte dauern. »Welches Fazit haben Sie denn gezogen, Sir?« »Ganz einfach. Daß sich dieser Helfer noch immer in London aufhält und John sowie Suko möglicherweise einer falschen Spur nacheilen. Oder wie sehen Sie das?« Glenda wunderte sich darüber, daß Sir James ausgerechnet sie um Rat fragte, das hatte er noch nie getan. Gleichzeitig bewies es ihr, wie ratlos er geworden war. Er hatte nichts Greifbares. Dieser Gerechte oder dieser Engel war nicht zu fassen. Er handelte wie eine höhere Macht, die den Menschen überlegen war, und sicherlich dachte er dabei auch an John und Suko. Sie sprach ihn darauf an, vertiefte mit einigen Bemerkungen das Thema, und Sir James nickte. »Wir beide denken das gleiche, Glenda. Ist es falsch, daß wir John und Suko losgeschickt haben, sich die Mühle anzusehen? Wenn sie auf Raniel treffen, ich gehe mal davon aus, daß er der Engel oder der Gerechte ist, wie werden sie dann handeln? Als was werden sie ihn ansehen? Als einen Feind, einen Freund oder als ein neutrales Wesen, das ihnen ebenso gegenübersteht?«
»Das weiß ich nicht, Sir.« »Ich auch nicht.« »Sie denken daran, daß Raniel auch ein Mörder ist. Er hat diesen Jeff Goldblatt getötet.« »Ja, und so werden die beiden auch denken. Ich kenne sie gut genug. Sie werden sich an die Gesetze halten und Raniel stellen.« »Kann man einen Geist verhaften, Sir?« »Sicherlich nicht.« »Wie sollen sie sich ihm gegenüber dann verhalten? Ich sehe da keine Lösung und meine, daß es einzig und allein auf die Situation ankommt, in der sie sich befinden.« Er nickte und schob die Brille mit den beiden dicken Gläsern höher. »Das ist auch meine Denkrichtung.« »Helfen können wir ihnen von hier aus nicht, Sir.« Der Superintendent seufzte. »Leider.« Er beugte sich vor und streckte seine Hand dem Telefon entgegen. »Ich werde eines tun und sie informieren. Beide müssen wissen, was mittlerweile hier in London passiert ist.« »Ja, dann sollen sie entscheiden.« Sir James erwiderte nichts, nickte aber und lächelte Glenda etwas verkniffen zu. Auch sie hatte ein ungutes Gefühl bekommen… *** Ein Gefühl… Jeder Mensch besitzt Gefühle. Ob Kind, Erwachsener oder später ein alter Mensch. Gefühle sind da, Gefühle bestimmen oft unser Handeln und werden höher eingestuft als die Rationalität. Mein Gefühl war nicht gut. Es gab so etwas wie eine Vorahnung in mir. Ich spürte ein Kribbeln, das sich nicht nur auf meinen Kopf beschränkte, sondern auch meinen Körper durcheilte. Es war wie ein Kribbeln, ein Zeichen, daß sich die Angst langsam in das Unterbewußtsein hineinschälte. Keine bohrende Angst, wie man sie vor dem Tod haben kann, es war mehr eine Spannung, die mich umklammert hielt, denn ich beschäftigte mich permanent gedanklich mit dem vor uns liegenden Fall, den ich leider in keine Schublade einordnen konnte, was mir eben dieses Gefühl der Angst mit auf den Weg gab. Schlimm war so etwas. Ich versuchte mir auszumalen, was passieren würde, wenn ich dem Gerechten wieder gegenüberstand, wie ich reagieren würde, wie er sich dann verhielt und ob er mich akzeptierte oder versuchen würde, mich auszuschalten.
Wie konnte oder mußte ich ihn ansehen? War er der Feind? War er der Freund? War er beides? Vielleicht eine gespaltene Persönlichkeit, die auf zwei Hochzeiten tanzte? Die Gedanken wogen schwer. Bei mir trat das ein, was man als ein Umwölken der Stirn ansehen konnte. Meinem Partner, der rechts neben mir saß, blieb das nicht verborgen. Suko hatte den Sitz weiter zurückgestellt, er wollte eine bequemere Haltung einnehmen, zudem litt er noch immer an dem Druck im Kopf. »Wenn ich dich so ansehe, John, beschäftigst du dich mit denselben Problemen wie ich.« »Tue ich das?« »Ich kenne dich doch.« »Und woran denke ich deiner Ansicht nach?« Er lächelte knapp. »An Raniel und wie wir uns ihm gegenüber verhalten sollen.« »Stimmt nicht ganz. Ich denke auch daran, was er tun wird, wenn er uns sieht.« »Das ist schwer.« »Eben.« Suko streckte seine Arme vor. »Weißt du, John, er wird sich nicht von seiner Aufgabe abbringen lassen. Er hat dir zu verstehen gegeben, daß er der Gerechte ist…« »Ein Mörder?« »Nach unseren Gesetzen.« Ich schlug leicht gegen den Lenkradring. »Suko, es geht nicht, daß sich jeder seine Gesetze macht.« »Ist Raniel ein jeder?« »Das weiß ich nicht.« »Kann er ein Engel sein?« Auf die Frage hatte ich gewartet. Trotzdem fiel mir die Antwort schwer. »Im Prinzip eigentlich nicht«, erwiderte ich. »Oder hast du schon davon gehört, daß Engel töten?« »Eigentlich nicht. Nur wissen wir viel zu wenig über sie. Aber Raniel ist ja nicht nur Engel, nehme ich mal an. Er ist Engel und Mensch in einer Person. Er kann sowohl in der menschlichen als auch in der feinstofflichen Gestalt erscheinen.« »Da bist du dir sicher?« »Weiß ich nicht, Alter. Ich nehme es einmal an und wäre nicht überrascht, wenn es so käme.« »Wie verhalten wir uns dann?« »Keine Ahnung, John. Oder willst du einen Menschen verhaften, der dir später als Geist durch die Lappen geht, wenn er seine Zweitgestalt angenommen hat?« »Hör auf damit.«
»Aber so könnte es kommen.« »Ich weiß«, gab ich knirschend zu. Wir hatten London längst verlassen, bewegten uns auf dem Motorway 20 in Richtung Süden und waren froh darüber, daß der größte Teil der Fahrbahn nicht von einer Schneedecke bedeckt war. Wenn, dann türmte er sich an den Seiten, wo er bereits eine schmutzigbraune Farbe angenommen hatte. Zwischen London und Maidstone herrschte relativ viel Verkehr. Nach Maidstone nicht mehr, obwohl das die Strecke in Richtung Dover war, wo die Fähren vom Festland anlegten. Die Landschaft wurde einsamer und bleicher. Der gefallene Schnee ließ sie aussehen wie ein gewaltiges Totenbett, bei dem die verschneiten Hügel die Kissen bildeten, die jemand wahllos darauf verteilt hatte. Der Himmel zeigte verschiedene Farben, wobei das Grau vorherrschte und an manchen Stellen von einer weit am Himmel stehenden Sonne mit ihren Strahlen durchdrungen wurde. Es gab einige freie Flecken über uns, wo das Licht in einem rötlichen Violett schimmerte, bevor es die großen, grauen Wolkeninseln allmählich aufsaugten. Manchmal schimmerte auf der rechten Überholspur der Schnee als dicke Schicht. Dann verschwand er wieder, so daß nur das graue Band des Motorway vor uns lag. Durch die Luft bewegten sich Schwärme dunkler Vögel. Zumeist Krähen oder Raben. Sie begleiteten unseren Weg hinein in die starre winterliche Landschaft. Sogar der fahle Mond war schon zu erkennen. Als blasser Kreis versuchte er hin und wieder einen Blick auf die Erde zu werfen. In zwei Stunden, wenn die Dämmerung ein geheimnisvolles Zwielicht schuf, aus dem die Schatten der Nacht hervorkrochen, würde er eine der wenigen Lichtquellen sein. Es würde nicht mehr schneien. Der scharfe Wind hatte die dicken Wolken in Richtung Festland geweht, damit sie ihre Ladungen dort ablassen konnten. Kleine Orte, die wir in einer gewissen Entfernung passierten, wirkten auf uns, als hätte man sie einem Spielzeugmuseum entnommen und in die Landschaft hineingestellt. Es war ein ruhiges Land, ein stiller Flecken Erde, mit besonderen Menschen, die teilweise noch stark in der Vergangenheit verwurzelt waren. Ich dachte an die Mühle. Auch sie war ein Stück Vergangenheit. Windmühlen gehörten zwar nicht unbedingt zu dem Landschaftsbild im Süden Englands, hin und wieder fand man sie jedoch, und da wurde man an die Niederlande oder Dänemark erinnert.
Welches Geheimnis konnte sich in der Mühle verborgen halten? Oder verbarg sich dort gar nichts? War sie nur ein Relikt? Heruntergekommen mit zerbrochenen und vermoderten Spanten und Sparren in den großen Flügeln? Es war alles möglich. Aber auch das Gegenteil meiner Annahmen konnte eintreten. Wer war Raniel? Ich hätte es mir einfach machen können und sagen: der Besitzer der Mühle. Das stimmte, doch ich wollte hinter die Fassade schauen und erfahren, um was es ihm ging und welche Macht ihn auf seinem Weg begleitete. Er selbst sah sich als der Gerechte an, ihn würde ich eher als einen Selbstgerechten bezeichnen. Man durfte nicht Rächer spielen. Man durfte sich nicht über andere erheben! Das hatte ich gelernt, so dachte ich, so würde ich immer denken, und so mußte ich auch denken bei einer derartigen Aufgabe, die Suko und ich übernommen hatten. »Es hat keinen Sinn«, sagte mein Freund. »Was meinst du damit?« »Daß du dir über Raniel den Kopf zerbrichst.« »Tue ich das denn?« »Sicher. Das sehe ich dir an.« Suko lachte leise. »Wir kennen uns gut genug, John, und ich weiß inzwischen, was in deinem Kopf vorgeht, weil ich ähnlich denke.« »Da magst du recht haben.« Das Telefon meldete sich. Wir schraken zwar nicht zusammen, doch unsere Sitzhaltung wurde angespannter. Da ich fuhr, überließ ich es Suko, abzuheben. Er hatte sich kaum gemeldet, als er auf Lautsprecher umstellte, damit auch ich die Stimme unseres Chefs, Sir James, hören konnte. Obwohl der Empfang nicht so klar war wie bei einem normalen Telefongespräch, hörten wir deutlich die Besorgnis in seiner Stimme, zusammen mit einer gewissen Anspannung. »Sie sind noch unterwegs, nehme ich an.« Suko antwortete: »Einige Meilen vor dem Ziel, Sir, aber wir werden es schaffen.« »Dann hören Sie zu.« Was er uns in den folgenden Minuten sagte, ließ uns blaß werden. Die Worte sorgten zudem bei mir für eine Verringerung des Tempos, und ich merkte auch, wie sich bei mir eine Gänsehaut in den Nacken hineinstahl, denn was in London passiert war, konnte von uns kaum nachvollzogen werden. Fire-Johnson hätte fast einen Massenmord begangen, wenn nicht jemand anderer eingegriffen hätte.
»Ein Engel«, sagte Sir James mehrmals. »Oder ein Geist, das überlasse ich Ihnen.« »Der Junge hat ihn gesehen?« fragte Suko nach. »Ja, nur er.« »Warum nicht die anderen?« »Keine Ahnung. Ich werde es noch herausfinden. Vielleicht lag es am Schock oder an seinem Unterbewußtsein, daß sich gegen gewisse Dinge einfach sperrte. Das überlasse ich jedoch Ihnen, und ich überlasse Ihnen ebenfalls die Entscheidung, wie Sie den Fall weiterführen wollen.« Suko hatte die Worte nicht so recht begriffen. Er warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, den ich nur in der gleichen Art zurückgeben konnte. »Können Sie sich etwas deutlicher ausdrücken, Sir?« bat mein Freund ihn. »Sicher, gern sogar. Ich frage mich, ob es Sinn hat, daß Sie bis Headcorn fahren. Möglicherweise sind Sie hier in London besser aufgehoben und können Spuren aufnehmen.« Was unser Chef da sagte, war nicht ganz von der Hand zu weisen, und ich überlegte auch hin und her. Suko schüttelte den Kopf. Ich nickte. Wir hörten wieder die Stimme. »Haben Sie sich entschieden?« Suko räusperte sich kurz. »John und ich sind zu dem Entschluß gekommen, daß wir die Reise fortsetzen werden. Die Sache ist ja leicht zu überblicken. Wenn ich daran denke, daß dieser Raniel sich als Geist bewegt, dann sollten große Entfernungen für ihn kein Problem sein. Dann könnte er sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne von einem Ort zum anderen bewegen und mit einem Gedankensprung die Distanz zwischen London und Headcorn überbrücken.« »Das ist nicht von der Hand zu weisen«, gab Sir James zu. »Gut, dann fahren Sie bitte weiter. Hinzu kommt noch etwas: Jetzt, wo Sie wissen, was hier passiert ist, werden Sie sicherlich die Einstellung zu Raniel überdenken, schätze ich.« Da hatte er einen Finger auf die Wunde gelegt. Suko schaute mich an. Ich nickte und hob gleichzeitig die Schultern, und er kleidete meine Bewegungen in Worte. »Wir sind uns noch nicht sicher, Sir. Ich nehme sogar an, daß die Unsicherheit auch weiterhin bleiben wird, bis wir Raniel gegenüberstehen und von ihm die passende Antwort bekommen haben. Wir jedenfalls werden darauf drängen, daß er sein Geheimnis lüftet. Außerdem kann er uns unmöglich als seine Feinde ansehen. Irgendwo bewegen wir uns ja auf derselben Ebene.«
»Davon sollte man ausgehen«, gab Sir James Suko recht. »Hoffentlich denkt Raniel auch so.« »Sie trauen ihm nicht?« »Das kann ich nicht sagen, dafür kenne ich ihn zuwenig. Es gibt gewisse Dinge, die müssen erst abgeklärt werden. So zielstrebig, wie er seinen Weg geht und er auch eingegriffen hat, wird es nicht leicht sein, ihn davon abzubringen oder nur davon zu überzeugen, daß er auch einen Mord begangen hat.« »Er nennt sich der Gerechte, Sir.« »Das weiß ich leider.« »Wir werden jedenfalls dieser Mühle einen Besuch abstatten. Dort müßten wir mehr erfahren.« »Ich hoffe es.« Er räusperte sich. »Und viel Glück, auch von Miß Perkins.« »Danke.« Suko legte auf und meinte: »Sehr hoffnungsvoll klang der Alte diesmal nicht.« »Dazu hatte er auch keinen Grund.« »Wie stehst du jetzt zu ihm?« Ich lächelte, weil ich wußte, worauf Suko hinauswollte. Ich gab ihm noch keine Antwort, da ich zuerst den Motorway verließ, um auf einer normalen Straße den Weg fortzusetzen. Die Scheinwerfer warfen einen bläulich weißen Lichtsack über die Fahrbahn, wo an manchen Stellen die Kälte das Wasser zu einer Eisschicht hatte werden lassen, die hin und wieder aufschimmerte wie ein am Boden liegender Spiegel. Ich hütete mich davor, diese Stellen zu überfahren. Die Hügel waren näher herangerückt. Es gab auch weite Täler, die uns an riesige Mulden erinnerten, einen leichten Waldbestand aufwiesen, ansonsten aber aus Wiesen und Feldern bestanden, über die der leichte Wind strich. Das Zwielicht der Dämmerung hielt die Landschaft umfangen, und Suko erinnerte mich daran, daß ich ihm noch eine Antwort schuldig war. »Natürlich hat er Pluspunkte bekommen. Stell dir vor, was geschehen wäre, wenn er den Flammenwerfer eingesetzt hätte. Diesmal hat es keinen Toten gegeben.« »Stimmt. Er hat Fire-Johnson auf seine Art und Weise bestraft.« Suko lachte auf, obwohl es nicht lustig war. »Manchmal, John, denke ich daran, daß er uns Konkurrenz macht. Daß er sich auf demselben Weg befindet wie wir, nur eben einen Tick anders und auch, das sage ich ehrlich, weniger rücksichtsvoll.« »Kein Widerspruch.« »Und was wird er dann? Unser Partner? Ein neuer Freund, der hin und wieder ausrastet und dem wir viel verzeihen müssen?« »Ich weiß es nicht, Suko. Verdammt noch mal, ich weiß allmählich gar nichts mehr.«
»Gut, dann bin ich es wenigstens nicht allein…« *** Headcorn war ein verschlafenes Nest. Kurz bevor wir den Ortsrand passiert hatten, war uns eine Windmühle aufgefallen, die weit hinten auf einem Feld stand, als wäre sie in der Kälte eingefroren. Sie wirkte wie ein düsteres Relikt aus der Vergangenheit, und auf den mächtigen Flügeln hatten dunkle Vögel ihre Plätze gefunden. Wir waren in einer typischen südenglischen Kleinstadt angekommen. Hier lief das Leben noch sehr beschaulich ab, hier hatte man Zeit und war auch sicher vor Touristen strömen, die entweder nach London oder nach Dover fuhren und gar nicht auf den Gedanken kamen, daß es einen Ort wie Headcorn überhaupt geben konnte. Auch hier hatte die Kälte die Menschen in die Häuser getrieben, die manchmal sehr geduckt aussahen und aus den Öffnungen der Schornsteine graue Wolken entließen, die in den ebenfalls grauen Himmel dampften. Natürlich gab es eine Hauptstraße, die uns wie eine lange Rechtskurve vorkam, die nicht enden wollte. Schilder wiesen auf ein Einkaufszentrum hin, auf eine Bücherei, auf eine Kirche, auf zwei kleine Hotels und auf ein altes Herrenhaus, das einen französischen Namen trug. Kein Hinweis auf eine Windmühle. Ich ließ den Wagen ausrollen, als ich dem Gefühl nach die Mitte des Ortes erreicht hatte, stieg ich aus, holte die gefütterte Jacke vom Rücksitz und wartete, bis auch Suko ausgestiegen war. Er sprach über das Dach des Rover hinweg. »Fragen wir nach der Mühle oder nach Raniel?« »Nach beiden.« »Viel Spaß.« Wir überquerten die Straße, wo helle Eisflecken schimmerten, denen wir ausweichen mußten. »Du kommst mir so destruktiv vor, Suko. Hast du was?« »Nein. Ich habe nur das Gefühl, daß hier etwas nicht stimmt. Ich weiß nicht, weshalb, aber die Häuser kommen mir so beklemmend vor, als wären sie dicht zusammengerückt, um sich vor irgendeiner Macht zu schützen. Ich weiß nicht, ob wir auf ein positives Resultat hoffen sollen.« »Abwarten.« Wir gingen dorthin, wo Licht brannte. Die Geschäfte hatten leider schon geschlossen. Nur die Tür zu einem kleinen Bioladen stand auf. Wir sahen es, als wir in eine Gasse hineinschauten, an deren Ende ein Haus querstand und durch ein Fenster ein breiter Lichtflor floß. Zwei Frauen sahen wir hinter der Scheibe. Eine war dabei, etwas in ein Regal zu
räumen, die andere telefonierte. Als wir den Laden betraten, hatte sie kurz zuvor den Hörer hingelegt und sagte lächelnd: »Eigentlich haben wir schon geschlossen.« »Wir möchten auch nichts kaufen.« »Sondern?« Jetzt drehte sich auch die zweite Frau um. Sie hatte die Waren einsortiert. Sie war jünger und hätte dem Aussehen nach gut und gern die Tochter der anderen sein können. Beide besaßen die buschigen, braunroten Haare, die sich kaum bändigen ließen, auch nicht durch den Pferdeschwanz. »Wir möchten Sie etwas fragen.« »Eine Auskunft.« Ich lächelte. »Richtig.« Das Gesicht der älteren Frau verschloß sich, die jüngere wandte sich ab und verschwand hinter einer schmalen Tür. Wir hörten sie in einem anderen Raum rumoren. Die ältere Frau nahm eine Brille hoch und setzte sie auf. Dahinter verengte sie die Augen. Der Blick verhieß nichts Gutes. »Wir sind es nicht gewohnt, daß Fremde herkommen und dabei versuchen, uns auszufragen.« »Natürlich, Madam, das respektieren wir. Es soll auch nicht so sein, daß Sie hier jemand denunzieren, es geht uns um etwas anderes. Wir brauchten eine bestimmte Auskunft.« »Wenn Sie einen Weg wissen wollen, bin ich Ihnen gern behilflich.« Sie schaute an mir vorbei und blickte Suko mißtrauisch an. Asiaten schienen nur selten in ihrem Geschäft zu erscheinen. »Indirekt.« »Können Sie sich…?« »Mutter, komm doch!« Die jüngere Frau streckte ihren Kopf durch den Türspalt. »Außerdem haben wir geschlossen.« Ich hatte nicht vorgehabt, unsere Identität zu lüften. Bevor der Widerstand noch stärker würde, zeigten wir unsere Ausweise. Jetzt erschien auch die Tochter wieder. Wie ihre Mutter schaute sie sich die Dokumente prüfend an. Freundlicher wurde sie kaum. »Hören Sie zu, wir haben hier nichts mit der Polizei am Hut und…« »Das wissen wir. Es geht auch nicht um Sie, glauben Sie mir. Es geht um gewisse Dinge, die, so nahmen wir an, hier ihren Ursprung genommen haben.« Jetzt wurden die beiden neugierig. »Was… was meinen Sie denn?« fragte die Mutter. »Erstens wollten wir uns nach einem Mann namens Raniel erkundigen, der hier wohnen soll. Und zweitens suchen wir die Mühle, in die er sich angeblich zurückgezogen hat.«
Jetzt war es heraus. Man starrte uns an. Schweigend, aber nicht feindselig, eher erschreckt. Die Mutter drehte den Kopf zur Seite, ihre Tochter hob nur die Schultern und meinte: »Dazu können wir Ihnen nichts sagen.« »Können oder wollen?« »Vielleicht beides.« Suko lächelte sie an. »Sie sind wenigstens ehrlich. Aber den Weg zur Mühle kennen Sie – oder nicht?« Sie schwieg. »Ist es die Mühle, die wir gesehen haben, als wir vom Motorway abfuhren?« Die Mutter gab Antwort. »Nein, die ist es nicht.« »Sondern?« »Sie liegt an der anderen Seite von Headcorn, aber nicht im Ort, sondern außerhalb. Ziemlich weit im Gelände. Es führt nur ein schmaler Weg hin, und der ist nicht einmal asphaltiert. Sie werden auch einen Teich dort finden.« »Und Raniel, nicht wahr?« »Sorry, aber das wissen wir nicht.« »Er wohnt aber da, nehme ich an?« Die Mutter nickte mir zu. »Hin und wieder. Oft ist er auch unterwegs. Wenn er kommt, merken wir es kaum. Wir wollen es auch nicht merken.« Sie hob ein kleines Paket mit Konfitüre hoch, drehte sich um und stellte es in ein Regal. Diese Geste hatte etwas Endgültiges an sich. Sie wollte nicht mehr mit uns reden. Die Tochter war sowieso verschwunden, und wir hörten sie auch nicht. »Danke für die Auskünfte«, sagte ich, als wir wieder auf die Tür zugingen. »Bitte.« Wir verließen den Laden. Suko flüsterte, als wir in der Gasse standen: »Da stimmt etwas nicht.« »Richtig. Sogar eine ganze Menge nicht. Angst«, murmelte ich. »Wahrscheinlich. Dieser Raniel scheint den Leuten hier ebensowenig geheuer zu sein wie uns.« »Jedenfalls wissen wir, wo wir die Mühle finden können. Und ich werde einfach das Gefühl nicht los, daß auch er dort sein wird und praktisch auf uns gewartet hat.« »Meinst du?« »Ganz sicher.« Wir hatten das Ende der Gasse erreicht und sahen links von uns den Schatten einer Esche, die sehr geknickt wuchs, als sich aus deren unmittelbarer Nähe ein Schatten löste.
Es war die Tochter. Erst als sie nahe heran war, erkannten wir sie, denn sie hatte sich eine dicke Winterjacke übergezogen, in der sie sehr kompakt wirkte. Wir blieben stehen. »Sie?« flüsterte ich. »Ja, ich.« Sie strich das Haar zurück. »Ich heiße Janet, und ich wollte nicht, daß meine Mutter etwas erfährt.« »Dann wissen Sie mehr?« »Ja.« »Was?« fragte Suko. Janet hob die Schultern. »Es ist nicht einfach zu erklären, vor allen Dingen nicht mit einem Satz.« Suko begriff. »Wollen wir woanders hingehen?« »Das wäre mir recht.« Sie schaute sich um. »Sind Sie mit einem Fahrzeug hier?« »Natürlich, da…« »Aus dem Ort hinausfahren.« Sie ließ Suko erst nicht ausreden. »Das ist am besten.« »Wie Sie meinen.« Wir nahmen Janet in die Mitte. So aus der Nähe konnte ich sie mir besser ansehen. Sie gehörte zu den frischen Typen, die auch ohne Schminke auskamen. Die etwas pausbäckigen Wangen zeigten einen leichten Rotschimmer, die Nase stand keck vor, und auch der volle Mund gefiel mir. Viele Biotanten, die Körnerläden führten, waren mager und sahen irgendwie ausgezehrt aus. Dabei wirkten sie oft griesgrämig und in ihrer Schlabberkleidung eingepackt wie Vogelscheuchen. Nicht Janet. Sie hatte es ziemlich eilig, schaute sich hin und wieder um, ob uns auch niemand sah. »Vermißt Ihre Mutter Sie nicht?« wollte ich wissen. »Kaum, denn ich wollte sowieso weg. Hier in Headcorn haben die Häuser Ohren und Augen. Wenn man uns sieht, spricht es sich schnell herum, daß ich mit Ihnen weggegangen bin. Dann weiß meine Mutter natürlich sofort Bescheid und kann sich alles übrige denken.« »Was denn?« »Das erzähle ich Ihnen später.« Ich schloß den Wagen auf und ließ Janet auf dem Beifahrersitz Platz. Suko stieg in den Fond. Sie atmete auf, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Mit der rechten Hand wischte sie eine Strähne aus der Stirn. »Da habe ich noch mal Glück gehabt.« »Wohin jetzt?« »Fahren Sie einfach weiter.«
Während der Fahrt duckte sie sich, damit sie auch niemand sah. Mir sollte es recht sein. Ich hoffte nur, daß sie uns gute Auskünfte geben würde, mit denen wir etwas anfangen konnten. Erst als die letzten Häuser hinter uns lagen und nur mehr Scheunen oder andere Wirtschaftsgebäude am Wegrand standen, atmete Janet auf und kam aus ihrer geduckten Haltung hoch. »Sie können den nächsten Weg an der linken Seite nehmen. Er ist gleichzeitig auch der, der zur Mühle führt, aber halten Sie bitte im Schatten der Scheune.« »Wie Sie wollen.« Es war mehr ein Pfad. Das Licht der Scheinwerfer fiel über eine Eiskruste, die bläulich funkelte. Reifen hatten Spuren im Schnee hinterlassen, die nun aus einer Eiskruste bestanden. Trotz Winterreifen rutschten wir leicht von einer Seite zur anderen, und neben der Scheune stoppte ich. Janet atmete aus. Ich schaute noch einmal nach vorn, bevor ich das Licht löschte. Die Mühle war nicht zu sehen, sie stand sicherlich zu weit von unserem Platz entfernt. Inzwischen war die Dunkelheit dicht geworden. Auch der Mond war auf dem nachtdunklen Himmel sehr gut zu erkennen. Er stand dort als kalter Kreis. Ich drehte mich ihr zu. »Jetzt haben Sie es spannend genug gemacht, Janet. Wie also sieht es aus?« Sie nickte. »Ich kenne Raniel.« »Gut?« Wieder das Nicken. »Man kann sagen, sehr gut. Wir waren einmal zusammen. Für einige Monate, dann aber haben wir uns getrennt, weil es einfach nicht mehr klappte und wir zu verschieden waren.« Ich wartete ab, verdaute das Erfahrene. »Es ist Ihnen doch klar, daß meine nächsten Fragen Ihre Intimsphäre berühren werden.« »Das denke ich.« »Sie sind bereit, mir eine Antwort zu geben.« »Soweit ich kann, schon.« »Danke.« Janet redete davon, daß er nie so richtig bei ihr war, obwohl sie zusammen waren. »Wie meinen Sie das?« fragte Suko. »Er schien mir gedanklich immer abwesend zu sein.« Das konnte stimmen. Zwar kannten wir Raniel kaum, aber so hätte ich ihn auch eingeschätzt. »Ist er nie konkret geworden?« fragte Suko weiter. »Hat er nie über seine Probleme gesprochen? Ich meine, wenn man länger zusammen ist, ergibt sich das zwangsläufig.« Janet streckte die Beine aus. Als sie
einatmete, sah es aus, als wollte sie sich erheben. »Kaum, Inspektor, er war sehr verschlossen. Ich dachte bei ihm immer an eine Auster.« »Aber Sie fragten?« »Natürlich. Wer nicht fragt, der bekommt auch keine Antwort.« »Haben Sie eine bekommen?« Sie drehte sich um. »Was denken Sie denn, Inspektor?« »Ich denke nicht.« »Richtig. Er wimmelte mich regelrecht ab und sprach von einer großen Aufgabe, die er zu bewältigen habe. Er war sehr verschlossen, in sich gekehrt und ging davon aus, das ihn jemand auserwählt hat.« »Wer war dieser ihn?« »Keine Ahnung.« »Hat er nie von einer höheren Macht geredet?« Janet schüttelte den Kopf. »Nein, niemals. Er drückte sich nicht konkret aus. Zwischen uns war das Band des Vertrauens dicht, aber gleichzeitig sehr dünn. Ich war mir sicher, daß er mich nicht mit einer anderen Person betrog, aber ich kam nie an ihn heran. Er hat sich bei mir nie ausgeweint, sein Herz ausgeschüttet, von seinen Problemen geredet. Dabei gab es sicherlich genug, was ihn quälte oder bedrängte.« Suko nickte. »Kann ich mir vorstellen.« Ich lauschte dem Gespräch nur mit einem halben Ohr. Meine Blicke glitten nach wie vor durch die Frontscheibe in die Dunkelheit hinein und in die Richtung, wo die Mühle liegen mußte. Das Land kam mir vor wie ein schwarzer Teller. Die Hügel waren nicht zu sehen. Sie verschwanden in der Schwärze der Nacht. Nicht einmal Buckel zeichneten sich ab. Dabei war es nicht so finster, aber der Mond leuchtete nur sehr bleich. Sein Licht sickerte in die Tiefe, und es schien den Erdboden kaum zu erreichen. Unheimlich war es… Vor dem Wagen sah ich ein Stück des schmalen Feldwegs, der sich auf dem Weg in eine Vorhölle irgendwann verlor. »Aber Raniel gehört die Mühle?« hörte ich Suko fragen. »Das schon.« »Kannten Sie auch seine Eltern?« »Nein, ich hörte nur davon, wie sie ums Leben kamen. Das muß furchtbar gewesen sein. Ich nahm auch an, dai3 sich Raniel erst nach ihrem Tod so verändert hatte.« Da ich mich gedanklich noch immer mit der Mühle beschäftigte, bezog sich meine nächste Frage auf sie. »Haben Sie die alte Windmühle schon einmal betreten?« Janet nickte, aber sie fühlte sich unwohl, das sah ich ihr genau an. »Ja, ich war dort, aber es ist kein Ort, der mir gefällt. Es… es ist mir da
einfach zu unheimlich. Ich… ich habe Angst, mich in der Mühle aufzuhalten.« »Wie kann man da wohnen?« »Oh, das geht schon, Mr. Sinclair. Raniel hat sie umgebaut. Zumindest den ersten Stock. Dort befindet sich eine Wohnung, Platz genug ist vorhanden. Und da gibt es auch ein breites Fenster, das bis zum Boden reicht. Sie hat nur kein Bad, nur eine einfache Waschgelegenheit im Eingangsbereich, wo Sie auch noch die anderen Mühlsteine finden können. Wenn Sie wollen, so hat Raniel einmal gesagt, können Sie dort sogar Korn mahlen.« »Sind denn die Flügel noch okay?« »Manchmal drehen sie sich, wenn der Wind stark genug ist. Ich habe das einmal erlebt und muß Ihnen sagen, daß es mir unheimlich geworden ist. Vielleicht stand ich zu dicht dabei, ich hörte das Rauschen, und ich hatte gleichzeitig das Gefühl, als wäre sie ein Riesenrad auf einer Kirmes der Verfluchten.« Janet schüttelte sich. Sie hatte sogar eine Gänsehaut bekommen, die Erinnerung an das Erlebte war nicht eben freudig. »Wohnte er oft dort?« »Zuletzt fast immer.« Janet ruckte herum, weil sie mich ansehen wollte. »Jetzt möchte ich Sie aber fragen, was Sie von Raniel wollen. Sie haben zu mir ebenso in Rätseln gesprochen, wie er es stets tat. Da unterscheiden Sie sich kaum.« Wir konnten ihr nicht die ganze Wahrheit erzählen. Sie hätte sie uns auch kaum abgenommen, deshalb wich ich aus, und wahrscheinlich freute Suko sich, daß er nicht zu antworten brauchte. Zum Glück fiel mir rechtzeitig genug eine Ausrede ein. »Es geht noch immer um die alte Sache – Sie verstehen?« »Meinen Sie den Tod seiner Eltern?« »So ist es.« Für einen Moment senkte Janet den Blick. »Ich kenne die Almedos nicht, Raniel aber hat sie sehr geliebt.« Als Janet den Namen Almedos erwähnte, meldete sich Suko. »Der Name klingt fremd für uns. Wissen Sie, woher die Familie stammt? Hat er darüber berichtet?« »Aus Spanien, nehme ich an.« Janet nickte. »Ja, sie stammen aus Spanien. Haben aber hier gewohnt. Es müssen wirklich nette Leute gewesen sein.« Sie lächelte versonnen. »Raniel ist auch nett. Nur waren wir eben zu verschieden.« Das konnte ich mir vorstellen. Keine Vorstellung allerdings machte ich mir von Raniel. Ich erinnerte mich an die Szene auf dem schneebedeckten Gefängnishof. Da hatte ich ihn nicht einmal gesehen, sondern nur die Klinge am Hals gespürt. Die eisige Berührung, die kälter
gewesen war als der Schnee. Höchstwahrscheinlich war es ein Messer gewesen, das meine Haut berührt hatte. War er bereit gewesen, mich zu töten? Ich wußte es nicht. Jedenfalls schätzte ich ihn als jemand ein, der unbeirrt seinen Weg ging. Ich kam auf den Namen zu sprechen und wollte wissen, ob Janet ihn schon einmal gehört hatte. »Der Gerechte?« murmelte sie. »Was meinen Sie mit dem Begriff?« »Ist er Ihnen im Zusammenhang mit Raniel schon einmal begegnet? Hat er ihn erwähnt?« »Nicht daß ich wüßte.« »Denken Sie nach.« »Nein, Mr. Sinclair. Warum? Welchen Sinn sollte das denn gehabt haben? Steht er mit Raniel in einem unmittelbaren Zusammenhang?« »Es könnte sein.« Ihr Blick verdüsterte sich. »Mr. Sinclair, ich habe allmählich den Eindruck, daß hinter Ihrem Besuch mehr steckt als nur eine Zeugenaussage.« »Vielleicht.« Ich lächelte. »Das sollte Sie aber nicht davon abhalten, positiv über ihn zu denken. Wir werden zur Mühle fahren, und Sie werden wieder zurückgehen.« Sie starrte mich an. In ihren Augen glomm das Mißtrauen auf. Es war zu sehen, wie sie nachdachte, wie sie versuchte, etwas herauszubekommen. Gewisse Dinge wollten einfach nicht in ihren Kopf. Ihr lagen die Fragen auf der Zunge, aber sie traute sich nicht, diese zu stellen. Ich sagte nichts mehr, hatte sie eigentlich auffordern wollen, das Fahrzeug zu verlassen, als ich wieder das unangenehme und unheimliche Gefühl bekam, in einer Falle zu stecken. Die Dunkelheit, obwohl sie natürlich war, gefiel mir plötzlich nicht mehr. Etwas war anders mit ihr geworden. Etwas lauerte… Nichts zu sehen, höchstens zu ahnen und zu fühlen. Ich tastete nach meinem Kreuz. Janet belauerte die Bewegung, auch sie sah aus, als hätte sie Furcht bekommen. »Was ist denn los?« fragte sie. »Okay, Janet. Es wäre von Vorteil, wenn Sie jetzt aussteigen und zurückgehen würden.« »Aber Sie fahren, nicht?« »Ja.« »Rechnen Sie damit, daß Sie Raniel in der Mühle treffen?« Sie schaute mich aus großen Augen an. »Ich will Ihnen ehrlich sagen, ich weiß von nichts. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob er dort ist oder nicht. Es ist alles völlig aus der Luft gegriffen und…« »Bitte, steigen Sie aus, Janet.«
Noch überlegte sie. Dann merkte sie, daß es mir mit meiner Aussage ernst war. Auch Suko bestätigte sie durch ein Nicken. Und dabei verstärkte sich der Eindruck, daß etwas passieren könnte. Von irgendwoher bekam ich die Strömungen mit, die nicht eben auf einen positiven Fluß hindeuteten. Etwas wollte an mich heran, wollte sich mir nähern und auch Besitz von mir ergreifen. »Bitte, Janet!« Ich drängte. Wenn eine Gefahr auf uns zukam, wurde auch Janet davon nicht verschont. »Gut, ich werde…« Plötzlich ruckte der Wagen. Janets Satz endete in einem leisen Aufschrei. Ich hatte nichts getan. Die Bewegung lag außer meiner Kontrolle, der Rover hatte sich von allein bewegt. »Steigen Sie aus, Janet!« Zu spät. Der Rover fuhr. Aber keiner von uns lenkte ihn! *** Und er gewann an Tempo! Es war verrückt. Das Auto schien an einem Band befestigt zu sein, dessen anderes Ende in der Hand eines Riesen endete, der es fest umklammert hielt und dafür sorgte, daß wir keine Chance bekamen, etwas dagegen zu tun. Dennoch versuchte ich es, nachdem ich den ersten Schrecken überwunden hatte. Ich trat einfach auf die Bremse. Wie lächerlich diese Bewegung gewesen war, merkte ich in den nächsten Sekunden, denn das Fahrzeug wurde um keinen Deut langsamer. Es fuhr weiter voran, nein, es glitt, denn der Boden war verdammt glatt, und unter den Reifen knirschte der Schnee, als er zerdrückt wurde. Suko hockte angespannt im Fond. Er bewegte den Kopf, schaute mal durch das rechte, dann wieder durch das linke Fenster. Dabei schluckte er einige Male, flüsterte Worte, die ich nicht verstand, aber sie hörten sich an, als käme er mit den Vorgängen nicht zurecht. Ich hatte meine Hände um den Lenkradring gelegt, als könnte es mir Halt geben. Janet sagte nichts. Ihr war die Furcht anzusehen. Das Gesicht sah aus, als gehörte es einem Gespenst. Sie rollte mit den Augen, sie bewegte den Kopf, sie wollte etwas sehen und auch eine Erklärung bekommen. Für mich stand natürlich fest, daß sich Raniel für diesen Vorgang verantwortlich zeigte. Er hatte uns im übertragenen Sinne an der langen
Leine gehalten. Wir hatten unter seiner Beobachtung gestanden. Er hatte lange genug gewartet und nun zugeschlagen. Der Rover glitt vor. Er schwankte und schleuderte über die hart gefrorene Fläche. Wir hörten genau, wie das Eis zerkrümelte, wie der harte Schnee zerbrach, als wären es Knochen, über die der schwere Wagen hinwegglitt. Janet hatte sich wieder gefaßt. »Zur Mühle!« flüsterte sie. »Das ist der Weg zur Mühle.« »Richtig.« »Und wer zieht den Wagen?« Furcht schwang aus ihren Worten mit. Die Stimme stand dicht vor dem Umkippen. »Eine Kraft«, sagte ich. Damit gab sie sich nicht zufrieden. »Raniel hat damit zu tun, Mr. Sinclair.« »Kann sein.« »Nein, das ist so. Sie… Sie wollen es nur nicht zugeben. Das ist Raniel. Das muß er einfach sein. Er ist etwas Besonderes. Ich habe es schon immer gewußt…« Sie schwieg, weil sie etwas gesehen hatte, das auch uns aufgefallen war. In der Ferne leuchtete ein Licht. Relativ hoch über dem Boden stand es und gab in der Finsternis ein unheimliches Bild ab, denn es machte auf mich keinen vertrauenerweckenden Eindruck, wie man es eigentlich von einem Licht hätte erwarten können. Es war einfach nur da… Das mußte an der Mühle sein. Für mich gab es keine andere Möglichkeit. Dieses Licht schimmerte an der Mühle und wies uns den Weg. Es lockte uns, aber es war auch unheimlich genug, um uns gleichzeitig abzustoßen. Wehren konnten wir uns nicht. Wenn die Kraft von diesem Licht ausging, waren wir in ihren Bereich geraten, und sie würde sich erst abwenden, wenn wir das Ziel erreicht hatten. Ich warf Suko einen Blick zu, über dessen Lippen ein leichtes Lächeln huschte. Mein Freund hatte sich mit den Tatsachen abgefunden. Er war gespannt darauf zu erfahren, wie es weiterging. »Was macht man mit uns?« »Bitte, Janet, beruhigen Sie sich.« Sie wußte plötzlich Bescheid und hielt mit ihrem Wissen auch nicht hinter dem Berg. »Er ist es, Mr. Sinclair. Es ist Raniel, daran glaube ich fest. Ja, er ist derjenige, der uns hier in die Pflicht genommen hat. Er kontrolliert uns. Er will den Tod.« »Was reden Sie da!« »Doch, er ist anders geworden.« Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht, als hätte sie Furcht davor, eine gewisse Wahrheit zu erkennen. Es war gut so, daß sie sich ›versteckt‹ hatte. So konnten wir uns allein auf die Umgebung konzentrieren.
Suko versuchte es an der Tür, dreimal, dann schüttelte er den Kopf. »Sie läßt sich nicht öffnen, John!« Ich probierte es bei mir. Das gleiche Phänomen. »Der hat uns voll unter seiner Kontrolle.« »Kannst du wohl sagen, Suko.« Wieder sah ich aus dem Fenster. Die Landschaft hatte sich nicht verändert, aber die Mühle und damit das einsame Licht waren näher herangekommen. So nahe, daß wir bereits die Umrisse des Bauwerks sehen konnten. Schräg über der Windmühle stand der Vollmond. Er glotzte herunter. Sein Schein hatte ein bleiches Muster um das Bauwerk gelegt und ließ es erscheinen wie eine unheimliche Filmkulisse. Janet hatte auch von einem Teich gesprochen, der sich nahe der Mühle befand. Ich entdeckte ihn, als ich nach links schaute. Er war deshalb gut zu erkennen, weil auf seiner Oberfläche eine Eisschicht lag, die sich von der Umgebung abhob. Auch dort schimmerte ein heller Kreis, aber anders als der glotzende Mond. Wenn die Reise nicht gestoppt wurde, landeten wir irgendwann vor den Außenmauern der Mühle. Janet ließ die Hände sinken. Sie schüttelte den Kopf, sie schluckte und bewegte ihre Lippen, ohne daß sie etwas sagte. Ich wollte sie beruhigen, da stoppte die Fahrt. Wir rutschten noch etwas vor. Der Rover drehte sich, dann stand er. Janet atmete laut auf. »Und jetzt?« fragte sie. »Wie soll es weitergehen? Was werden Sie tun?« »Man erwartet uns.« »Raniel?« »Wahrscheinlich.« Janet sah aus, als wollte sie mir nicht glauben. Aber sie schwieg. Sicherlich wußte auch sie keine bessere Lösung. Im Fond öffnete Suko die Tür. Er lachte dabei. »Komisch, auf einmal klappt es.« »Und ob.« Er stieg aus. Auch ich wollte die Tür öffnen, schnallte mich los und hatte die rechte Hand bewegt, als mir Janet ihre Finger auf den Arm legte. »Wollen Sie wirklich aussteigen, Mr. Sinclair?« »Warum nicht?« Sie bewegte ihren Mund, als wollte sie Staub schlucken. »Haben Sie denn keine Angst?«
»Jeder Mensch hat Angst. Auch ich merke, daß etwas in mir kribbelt. Aber ich bin gekommen, um den Fall zu lösen.« Während der Antwort hatte ich nach Suko Ausschau gehalten. Er stand drei Schritte vom Rover entfernt und schaute auf das Gebäude. Janet hatte verstanden. »Einen Fall also. Das meinen Sie? Raniel ist also zu einem Fall für Sie geworden.« »Ich kann es nicht leugnen.« »Verdammt, was hat er denn getan? Wer ist er?« »Gute Fragen, Janet. Ich bin nahezu versessen darauf, eine Antwort zu bekommen.« »Ich habe Angst.« »Wollen Sie im Wagen bleiben?« »Nein, nein!« sagte sie schnell. »Nur das nicht. Ich will mit Ihnen gehen. Raniel ist einmal mein Freund gewesen. Vielleicht kann ich ihn zu etwas überreden.« »Okay, aber bleiben Sie bei uns.« Wir stiegen an verschiedenen Seiten aus. Gemeinsam schlugen wir die Türen zu. Suko drehte den Kopf und schaute, wie wir auf ihn zugingen. Er sagte nichts, beobachtete die Mühle und sprach erst, als wir neben ihm standen, wobei sich Janet schüttelte, als wäre ein heftiger Kälteschauer über ihren Körper geflossen. »Hast du etwas gesehen?« »Nein, John, gar nichts. Es blieb alles still. Es ist verdammt ruhig. Zu ruhig für meinen Geschmack. Auch dort, wo das einsame Licht brennt, konnte ich keine Bewegung erkennen.« »Es ist seine Wohnung«, flüsterte Janet. »Dort oben hat er immer gestanden und über das Land geschaut.« »Sie auch?« »Ja.« Ich schwieg und schaute mir die Mühle aus der Nähe an. Ihre gewaltigen Flügel zeigten Anzeichen von Verfall und Zerstörung. Sie waren gekippt und sahen aus wie ein riesiges, überdimensionales Kreuz. Die Spanten und Sprossen innerhalb der einzelnen Flügel hatten ebenfalls der langen Zeit Tribut zollen müssen. Viele von ihnen waren verfault, hatten sich gelöst und hingen wie alte, braune Hautfetzen herab, die soeben noch gehalten werden konnten. Die Windmühle bot ein unheimliches Bild, obwohl ich sie als ein normales Bauwerk betrachten mußte. Natürlich fiel das neue Fenster auf. Es war ziemlich hoch. Meiner Ansicht nach mußte es von der Decke bis zum Boden reichen. Wer davor stand, besaß tagsüber einen wunderbaren Blick über das Land. Die drehbare Windmühlenhaube, die sich dort befand, wo sich die Flügel in der Mitte trafen, schien eingefroren zu sein. Ich konnte mir nicht
vorstellen, daß sich hier alles noch einmal bewegen würde. Wieder schaute ich gegen das Fenster. Leer und kalt kam mir der Ausschnitt vor. Licht, das auf mich wie eine Warnung wirkte, nur nicht näher zu kommen. Die Windmühle machte auf mich einen abweisenden, ja schon feindseligen Eindruck. So sah es auch mein Freund Suko. Er schüttelte den Kopf und meinte dabei: »Die ist nicht gut, John, die gefällt mir ganz und gar nicht. Von ihr strömt etwas Unheimliches ab. Ich kann es nicht in Worte kleiden, aber es ist so.« »Richtig.« »Unheimlich war sie mir nie«, sagte Janet. »Ich fand sie immer faszinierend.« »Jetzt auch noch?« »Nein, nicht mehr.« »Okay, gehen wir.« Ich wollte nicht mehr lange hier stehenbleiben und die Windmühle anstarren. Wir waren gekommen, um einen Fall zu lösen, um den Gerechten zu stellen. Da konnten wir nicht hier nur rumstehen. »Ich gehe mit!« Janet hakte sich mit beiden Händen in meiner Ellbogenbeuge fest. »Glauben Sie nur nicht, daß ich hier draußen warte. Ich kenne mich ja aus und kann Ihnen den Weg zeigen.« Ich sagte ihr nicht, daß wir den auch selbst finden konnten, aber wenn sie wollte, okay – wir konnten sie nicht davon abhalten. Sollte sie uns begleiten. Sie stand zwischen uns. Wir hörten sie atmen. Vor ihren Lippen dampfte der Nebel. Sie bewegte die Augen, rieb sie und nickte sich selbst zu. Dann war sie es, die uns zog. Genau da geschah es. Zuerst hörten wir ein Ächzen, als wäre ein Mensch in der Nähe, der unter einer wahnsinnig schweren Last zu leiden hatte, die er schleppen mußte. Das Ächzen drang aber nicht aus dem Maul eines Menschen und auch nicht aus dem eines Ungeheuers, es wehte uns von vorn entgegen und verwandelte sich in ein heftiges Knarren. Das hatte seinen Grund. Die Flügel drehten sich! *** Wir standen da und staunten. Eine geisterhafte Kraft hatte das mächtige Flügelgebilde in Bewegung gesetzt, und wahrscheinlich war dies zum erstenmal seit Jahren geschehen, denn auch Janet konnte sich nicht daran erinnern, wie sie uns flüsternd versicherte. Sehr langsam wuchteten sich die schweren Flügel nach rechts. HUSCH!
So hörte es sich an, als der erste in Bodenhöhe an uns vorbeiwischte. Wir gingen etwas zurück, denn wir hatten gleichzeitig gesehen, daß sich auch die losen Sparren im Gefüge der Flügel bewegten. Es würde sicherlich nicht lange dauern, bis sich einige von ihnen lösten und auf uns zuwirbelten. Das passierte auch. Etwas flatterte heran. Dabei sah es aus wie ein Stück Stoff. Rechts neben uns landete es auf dem Boden. Das dabei entstehende Geräusch bewies uns, daß es sich nicht um Stoff handelte, sondern um Holz. Durch den Aufprall aber zerbrach es auf dem Boden. HUSCH! Wieder passierte uns ein Flügel. Wir spürten den kalten Luftzug. Die Flügel drehten sich immer schneller. Sie erinnerten an die starren Arme eines Riesen, der es nach langer Zeit endlich geschafft hatte, aus seinem Schlaf zu erwachen, und er war froh darüber, sich endlich bewegen zu können. Das Knarren und Ächzen blieb. Wieder lösten sich Teile von den Flügeln der Mühle. Sie kamen wie breite, dunkle Steine. Wir mußten immer wieder die Köpfe einziehen und in Deckung gehen. Die Windmühlenhaube in der Mitte knarrte und ächzte. Sie schrie mal dumpf auf, als wäre sie gequält worden, dann knarrte sie nur mehr wie ein Ungeheuer mit seinem Gebiß, das er aufeinander gepreßt hielt. HUSCH! HUSCH! HUSCH! Immer schneller drehte sich das Rad. Die Flügel zerschnitten dabei die eiskalte Luft wie mächtige Sensen, die von knöchernen Händen gehalten wurden und darauf lauerten, uns zu köpfen. Es war nicht einfach für uns, an den Flügeln vorbeizuhuschen und auf den Eingang zuzugehen. Noch immer lösten sich Teile von den Flügeln. Da die Geschwindigkeit höher war, flogen diese Teile auch weiter. Wir hörten sie hinter uns aufschlagen und zerbrechen. HUSCH – HUSCH! Sie glitten vorbei. Sie peitschten den eisigen Wind gegen unsere Gesichter. Wir duckten uns, wir zogen uns zurück, weil noch immer die Gefahr bestand, von den Trümmern getroffen zu werden. Suko hatte sich von Janet und mir gelöst. Er stand geduckt und starrte gegen den Eingang der Mühle. »Ich laufe vor!« »Okay!«
Janet spürte die Furcht noch stärker, als wir unser Unbehagen. Sie hielt meine Hand umklammert, und trotz der Stütze merkte ich, wie sie stark zitterte. »Wenn uns ein Flügel erwischt, sind wir tot. Der schafft es sogar, uns zu köpfen.« Ich widersprach nicht und beobachtete mit Sorge, wie sich die Flügel immer schneller drehten. Um von dieser Seite aus an den Eingang zu gelangen, hätten wir uns auf den Boden legen und unter den Flügeln hinwegkriechen müssen. Es war zu unbequem, so daß ich mehr zu einer anderen Möglichkeit hintendierte. Es war besser, wenn wir die Flügel umgingen und uns hinter ihnen unserem Ziel näherten. Der Meinung war auch Suko, denn er sah ebenfalls keine Chance mehr, normal in die Mühle zu gelangen. Doch es kam anders. Noch immer wischten die gefährlichen Sensen an uns vorbei, aber nicht mehr in dieser Schnelligkeit. »Die hören auf!« keuchte Janet. Wir beobachteten gebannt das sich langsamer drehende Gebilde. Knarren und Ächzen im alten Holz. Manchmal klapperte eine Sprosse, dann hörten wir ein Geräusch, als würde jemand seinen Atem aus einem Riesenmaul ausstoßen, und wenig später drehten die vier Flügel die letzte Runde vor uns. Dann standen sie still. Wir schauten hoch zu dem Kreuz. Es hatte dieselbe Lage eingenommen wie vor der Bewegung. Einige Splitter lösten sich noch und prallten in unserer Nähe auf. Ich blickte hoch zum Fenster. Bewegte sich dort etwas? War ein Schatten vorbeigeglitten? Mit Bestimmtheit konnte ich es nicht sagen, und hinter den anderen Fenstern und Öffnungen, die wesentlich kleiner waren, lauerte die tintige Finsternis. Jetzt sah ich auch, wie grau das Gestein war. Wo die einzelnen Blöcke nicht mehr so dicht zusammenlagen, hatte es Unkraut geschafft, aus den Ritzen zu wachsen. Auf feuchtem Moos glitzerte Eis wie dünner Speichel. »Raniel ist da!« sagte Janet. Sie starrte gebannt auf die Mühle, als sähe sie das Bauwerk zum erstenmal. »Ich spüre einfach, daß er da ist. Er hat sich mit uns einen Spaß erlaubt.« Sie lachte, obwohl ihr danach nicht zumute sein konnte. Suko ging bereits vor. Ich hielt Janet noch immer fest. Mit der Schulter streifte ich einen Mühlenflügel, der kaum Widerstand bot und mir weich wie ein Schwamm vorkam.
Janet begann damit, mir zu erklären, wie es im Innern des Gebäudes aussah. Wahrscheinlich wollte sie sich auch nur von ihren eigenen Gedanken ablenken. »Die Treppe beginnt unten. Sie ist noch ziemlich stabil. Raniel hat sie ausbessern lassen. Da müssen wir hoch und gelangen dann in die erste Etage.« »Gut.« Am Eingang wartete Suko. Er hatte die Tür noch nicht aufgestoßen. Dafür leuchtete er sie mit seiner Lampe an, deren Schein er durch seine Hand filterte, weil er nicht zu hell strahlen sollte. Die Tür war ebenfalls renoviert worden. Die Klinke schimmerte matt. Sie fühlte sich so kalt an wie ein Stück Eis. »Okay?« fragte Suko. Ich nickte. Janet drückte meine Hand fester. »Ich hoffe, wir schaffen es. Ich hoffe es wirklich.« »Keine Angst…« Suko stemmte die Tür nach innen. Die leisen Geräusche gefielen mir nicht, wahrscheinlich drangen sie bis in die obere Etage der Mühle hinein, wo sie sehr gut gehört werden konnten. Wir zogen die Köpfe ein und betraten einen relativ großen Raum, in dem mir sofort der Staub auffiel, der sich auf zahlreiche Gegenstände niedergelegt hatte. Hier war früher einmal gearbeitet worden, davon allerdings sahen wir kaum etwas. Es gab keine Räder mehr und keine Steine. Dafür lehnten an einer Wand ein paar Latten. Zwei Bottiche standen auch noch in der Nähe, es roch nach altem Staub, aber nicht nach Getreide oder Mehl. Ich hatte ebenfalls die Lampe hervorgeholt und leuchtete gegen die Holzdecke. Auch der Boden war mit Holzplanken bedeckt, und ein großer Tisch mit mehreren Schemeln davor bildete die eigentliche Einrichtung dieses Raumes. Die Treppe sah am besten aus. In einer Kurve führte sie nach oben. Suko hielt sich vor der ersten Stufe auf, hatte den Kopf gedreht. Im Licht der Lampen wirkte sein Gesicht blaß, aber die Spannung auf seinen Zügen war nicht zu übersehen. »Hoch?« Ich nickte. Janet zuckte zusammen. Sie schielte gegen die Decke und stand so angespannt auf dem Fleck, als erwartete sie, jeden Augenblick das dumpfe Geräusch von Schritten zu hören, die dort oben aufklangen und den Schall wie eine finstere Botschaft in die Tiefe schickten. »Er ist da!« flüsterte sie. »Das glaube ich auch.« »Und er wird mir nichts tun!« Sie wollte eine Antwort haben, die sie auch von mir bekam. »Ich glaube es auch, Janet. Er wird Ihnen bestimmt nichts tun.«
»Warum habe ich denn Angst?« »Sie waren lange nicht mehr hier. Außerdem ist es Nacht, und die Mühle wirkt jetzt fremd.« »Ja, das denke ich auch.« Suko hatte sich bereits auf den Weg gemacht. Er ging keine Steintreppe hoch, die Stufen waren aus Holz gefertigt worden. Jedesmal, wenn er eine betrat, entstand ein klopfendes Geräusch. Es wurde von den Wänden als leises Echo zurückgeweht. Die Wände schaute ich mir genauer an. Sie waren trotz der hier herrschenden Mischung aus Kälte und Feuchtigkeit nicht vermodert, sondern zeigten einen dicken Kalkanstrich, der sie wie eine Haut bedeckte und sogar Unebenheiten ausgeglichen hatte. Von außen her hatte ich die Mühle als ein hohes Bauwerk kennengelernt, aber nur in der Mitte hatte Licht gebrannt. Weiter oben war es finster gewesen. Janet wollte vorgehen, sie befand sich also in der Mitte. Ich schaute auf ihren Rücken, sie sah gegen den meines Freundes, der mit geschmeidigen Bewegungen Stufe um Stufe erklomm und seinen Weg fand. Nach zwei Etagen öffnete sich unser Blick, und wir schauten in einen sehr großen Raum, der gemütlich eingerichtet war. Wir sahen Regale, Sitzgelegenheiten, auch einen Holzschrank, aber es fehlte etwas, obwohl das Licht der auf einem Ständer stehenden Kugellampe einen sehr angenehmen Schein verbreitete. Das war die Wärme. Keine Heizung, in diesen Raum hatte die Kälte hineinkriechen können und von allem Besitz ergriffen. Janet ließ meine Hand los und durchwanderte den Raum, wobei sie einige Sätze vor sich hin murmelte und davon sprach, daß sie sich nicht mehr wohl fühlte. Ich trat an das bis zum Boden reichende Fenster und warf einen Blick nach draußen. Ich sah den Schatten eines Flügels, der über die Scheibe fiel, ich sah auch den Teich, dessen gefrorene Oberfläche wie ein großes Auge glänzte. »Es ist keiner hier«, sagte Suko leise. Ich drehte mich wieder um. »Raniel muß hier sein, Alter. Wahrscheinlich hat er sich versteckt.« »Das kann natürlich sein.« Janet hatte uns zugehört. Sie stand in der Mitte des Raumes und rieb ihre kalten Hände. »Ich glaube auch, daß Sie recht haben, Mr. Sinclair. Irgendwo habe ich das Gefühl, ihn zu spüren.« »Es gibt noch andere Räume hier.«
»Sicher.« Erst deutete, dann ging sie auf eine schmale Tür zu, die im Schatten lag. Bevor Janet sie aufziehen konnte, war Suko bei ihr und hielt sie davon ab. »Das mache ich.« Janet schuf Suko Platz. Er zog die Tür auf – und zuckte sofort wieder zurück. Ich hatte nur ihn gesehen. Seine Reaktion zeigte mir, daß er etwas Besonderes entdeckt haben mußte. Jemand kam. Janet schluckte auf, als sie die Gestalt sah. Sie wollte den Mann ansprechen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Es war Raniel, der den Raum betrat und sich an mich mit einer Frage wandte: »Sind Sie jetzt gekommen, um mich zu verhaften, Mr. Sinclair…?« *** »Müßte ich das?« Ich hatte sofort eine Frage gestellt und zeigte mich von seinem Erscheinen äußerlich nicht überrascht, was Raniel allerdings gelassen hinnahm und sogar vorging. Er strich Janet dabei mit einer fürsorglich wirkenden Geste über die Wange und lächelte. Ja, er lächelte, und das konnte er auch, denn vor uns stand kein Geist, sondern ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut, was bei mir einige Überlegungen über den Haufen warf, denn ich hatte ihn als Geisterscheinung in Erinnerung, obwohl mir Janet etwas anderes berichtet hatte. Um sie kümmerte er sich nicht, Suko und ich waren für ihn interessant, und er kam auf uns zu. Er sah schon ungewöhnlich aus in seiner dunklen Kleidung und dem dunklen Haar. Auf mich wirkte er wie ein Mensch, der sich noch im letzten Jahrhundert befand, denn der Mantel, den er trug, der war zur Biedermeierzeit modern gewesen. Sein Gesicht war nicht gerade bleich, es hatte eine normale Tönung, nur die Augen sahen besonders dunkel aus, als bestünden die Pupillen aus Kohle. Sein Mantel umwehte ihn wie ein Umhang. Um seinen Hals trug er ein weißes Tuch, das bis vor die Brust fiel und aus zahlreichen Rüschen bestand. Im Gegensatz zu der übrigen Kleidung schimmerte es in einem hellen Weiß. Sein Auftritt zeigte uns, wie sicher er sich in seinem Reich fühlte. Nervosität war ihm fremd. Er gab mir auch eine Antwort auf die Frage. »Schließlich bin ich ein Mörder.« »Das stimmt.«
Raniel blieb stehen. Seine Antwort war auch von Janet gehört worden. Sie hatte sich heftig erschreckt und wollte etwas sagen, aber Raniel winkte sofort ab. »Nein, du nicht.« Er wandte sich wieder an uns. »Sie erinnern sich an das Schneetreiben auf dem Gefängnishof, wo wir unsere erste Begegnung hatten?« »Sehr gut sogar.« »Da hatte ich Sie gewarnt. Sie sollten sich nicht in meine Angelegenheiten mischen.« »Ich jage Mörder!« »Mag sein, aber ich bin der Gerechte.« »Recht sprechen die Gerichte!« Er schaute uns an und ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann schüttelte er den Kopf, als er sagte: »Das Recht Ihrer Gerichte ist nicht das gleiche Recht wie meines. Es ist älter, sehr viel älter, und ich habe einen Menschen bestraft, der es verdiente. Wenig später rettete ich zahlreiche Kinder vor einem mörderischen Flammentod. Wollen Sie mich deshalb auch verhaften? Soll ich mich vor ein Gericht stellen, dessen Mitglieder beide Taten gegeneinander aufrechnen?« Er lächelte. »Ich habe die Menschen beobachten können, und ich habe erfahren, wie unvollkommen sie doch sind. Sie haben nichts dazugelernt. In all den Jahrtausenden sind sie nicht annähernd zu dem geworden, was ich gehofft hatte. Sie sollten nicht gottgleich werden, aber doch besser, als sie jetzt sind. Was passierte? Sie ersticken in ihrer Unvollkommenheit. Sie schaffen es nicht, ohne Gewalt und Krieg auszukommen, und wenn sie etwas richten, lassen sie der Ungerechtigkeit Vorrang.« »Wie es mit Ihren Eltern geschah…« »Ja, Sinclair, wie es damit geschah. Dieser Jeff Goldblatt hat Leben vernichtet, also muß auch sein Leben vernichtet werden. Das ist nicht mehr als gerecht.« »Sagen Sie!« »Dabei bleibe ich auch. Meine Eltern waren gute Menschen. Sie haben nur das Beste für mich gewollt.« »Sind es Ihre Eltern?« fragte Suko sehr spontan. »Heißen Sie mit Nachnamen Almedos?« »Sicher.« »Wo sind Sie geboren?« Über die Lippen des ›Gerechten‹ huschte ein flüchtiges Lächeln. »Ich bin da, das muß Ihnen reichen.« »Wir wollen mehr wissen.« »Es würde euch verunsichern.« Suko blieb am Ball. »Das hörte sich an, als wäre deine Vergangenheit mehr ein Schattenspiel.« »Nicht für mich.«
»Bist du ein Mensch?« Diesmal hatte ich die Frage gestellt, und ich wollte auch eine Antwort haben, denn daß er ein Mensch war, davon konnte mich sein Äußeres nicht unbedingt überzeugen. Auch Dämonen nahmen oft genug menschliche Gestalt an, und der Teufel ist dafür das beste Beispiel. »Sehe ich nicht aus wie ein Mensch?« »Stimmt. Nur – wie bist du in die Zelle gelangt? Wie kamst du in die Schule, ohne gesehen zu werden? Wie war das möglich?« »Es ist mein Geheimnis. Euch möchte ich nur warnen und euch sagen, daß ihr immer daran denken sollt, daß ich der Gerechte bin. Ich bin derjenige, der erschienen ist, um abzurechnen. Ich werde die Ungerechtigkeit auf der Welt ausmerzen.« »Ja, nach deinen Vorstellungen.« »Nein, nach denen, die es im Alten Testament gibt. Auge um Auge, Zahn um Zahn.« »Das gilt heute nicht mehr.« »Für mich schon. Und ich will keinen kennen, der versucht, meine Aufgabe zu vereiteln. Wer das tut, ist mein Feind. Ich werde all diejenigen jagen, die es verdient haben.« »Auch uns?« Er lächelte und hob beide Hände, bevor er sie spreizte. »Ja, auch euch, wenn ihr versucht, mich daran zu hindern. Ich kann einfach nicht begreifen, daß ihr mir ablehnend gegenübersteht. Auf irgendeine Art und Weise gehen wir denselben Weg. Eure Gegner sind auch meine Feinde. Und vielleicht werdet ihr einmal froh sein, daß es mich gibt, wenn ich euch zu Hilfe komme.« »Das weiß ich nicht«, sagte ich, wobei ich daran dachte, daß mir unser Gespräch überhaupt nicht gefiel, denn es lief meiner Ansicht nach in eine verkehrte Richtung. Bisher hatte er sich immer als einen Menschen bezeichnet. Er sah auch so aus, es gab auch nichts daran auszusetzen. Nach meiner Auffassung aber mußte er mehr sein als ein Mensch, wobei ich ihn nicht als Dämon ansehen wollte, denn Dämonen retten keine Kinder vor dem Flammentod. Sie erfreuten sich daran, wenn Menschen starben. Mit ähnlichen Gedanken wie ich mußte sich auch Janet beschäftigt haben, denn sie sagte: »Raniel – bitte. Sag uns, wer du bist. Sag es mir. Wir haben uns doch mal geliebt, glaube ich. Dann bist du gegangen. Jeder versteht, daß es ein Schock für dich war, die Eltern zu verlieren, aber du mußt auch uns begreifen. Ich komme mit dir nicht mehr zurecht, Raniel. Ich weiß nicht mehr, wer du bist. Mir will dein Name nicht mehr richtig über die Zunge kommen. Raniel – ist das menschlich? Ist das wirklich ein menschlicher Name. Oder leitet er sich von etwas anderem ab, von einer höheren Macht?«
Er schwieg. Nur seine Augen schienen noch dunkler zu werden, obwohl sich der Lichtfunke einer Lampe in den beiden Pupillen spiegelte. Er dachte über die Worte nach. Durch die hatte Janet ihn in die Klemme gebracht. Sie wollte ihn zwingen, sich zu offenbaren. »Rede doch!« Sein Gesicht, das auch einen aristokratischen Zug aufwies, bewegte sich nicht, als er fragte: »Was meinst du denn?« Janet wirkte verzweifelt, als sie die Hände rang und sie dann zu Fäusten ballte. »Himmel, ich weiß es doch nicht!« »Himmel…?« Suko stellte die entscheidende Frage: »Bist du ein Engel? Raniel klingt engelhaft. Bist du gekommen, um Rache zu nehmen? Bist du ein Engel, ein Racheengel?« »Du liegst richtig!« Mir lief nach seinem Geständnis eine Gänsehaut über den Rücken. Wir hatten es irgendwo geahnt, aber es war trotzdem überraschend, dieses Geständnis von ihm zu hören. Und Suko fragte weiter. »Ein Engel, der sich als das Kind menschlicher Eltern sieht? Wie paßt das zusammen?« »Gut sogar, wenn es nicht die leiblichen Eltern sind.« »Das waren die Almedos nicht?« »So ist es. Sie zogen mich auf. Sie nahmen mich, das Findelkind, an, und sie nannten mich Raniel, was ihnen vorgegeben war. Es war eine Eingebung von höherer Stelle. Sie zogen mich auf. Ich wuchs heran und erlebte, wie grausam die Welt und die darin lebenden Menschen sein konnten. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich mich entschloß, der Gerechte zu werden. Ich übernahm die Aufgabe, deretwegen ich gekommen bin. Ich bin Rächer und Schutzengel zugleich, und ich werde diejenigen bestrafen, die versuchen, mich an meiner Aufgabe zu hindern. Ich habe viel zu tun, sehr viel sogar. Ich hatte hier einen Ort, an den ich mich zurückziehen konnte, doch ich glaube, daß ich nicht mehr hierher zurückkehren werde. Ich habe dich schon beobachtet, John, und dich auch, Suko. Ich weiß, was ihr euch vorgenommen habt. Wir stehen auf einer Seite, seit dem Tag, als mich die Almedos in dieser alten Mühle fanden, in die man mich legte. Vieles ist anders geworden, nur meine Aufgabe, die ist geblieben. Das wollte ich euch noch sagen.« »Und jetzt?« Er lächelte mir zu. »Ich werde gehen, John Sinclair. Ich kehre nicht mehr zurück. Ich gebe euch den Rat, auch zu verschwinden, denn dieser Ort ist nicht gut. Es steckt etwas in ihm, das tödlich sein kann, denn ich war nicht immer so wie heute. Auch ich schwankte, und ich habe in dieser Mühle etwas von mir zurückgelassen.« »Was denn?«
»Auch Engel können zwiespältig sein. Um ein Gerechter zu werden, mußte ich das andere ablegen, konnte es aber nicht vernichten. Dieser Ort ist nicht gut…« Er hatte die letzten Worte als Warnung gesprochen, bevor er einen Schritt zurückging. Es sah bei ihm aus wie ein Abschied, den Janet nicht akzeptieren wollte. »Nein, Raniel, bleib…« Sie lief vor. Diesmal hielt sie keiner von uns auf. Sie wollte nach ihm greifen, doch plötzlich drehte er sich, und mitten in der Bewegung veränderte sich seine Gestalt auf unheimliche Art und Weise. Sie verschwamm, sie verschwand und kehrte zurück. Das alles innerhalb einer Sekunde. Vor uns stand ein anderes Wesen. Eine Lichtgestalt, ein Engel. Und er war bewaffnet! *** Janet hatte gestoppt. Sie konnte einfach nicht fassen, was sie da zu sehen bekam. Raniel war kein Mensch mehr, auf unsere Augen wirkte er wie ein gläserner Geist, dessen Umrisse in einer Mischung aus grünlichem und hellem Licht schimmerten, zirkulierten, funkelten und so aussahen, als hätte sich Sternenlicht in ihm vereinigt. Seine Waffe war ein Schwert aus Glas! Und plötzlich dachte ich an den toten Jeff Goldblatt, dessen Wundränder verglast waren und den Ärzten Rätsel aufgegeben hatten. Ich wußte, wie er umgekommen war. Raniel hatte ihn mit einem geisterhaften Glasschwert getötet. Diesmal hielt er es gegen Janet. Sie war keinen Schritt mehr gegangen und stand auf der Stelle, als wäre sie eine mechanische Puppe, deren Räderwerk abgelaufen war. »Das… das ist doch nicht wahr, Raniel – bitte, sag, daß es nicht wahr ist.« »Es ist wahr…« Er hatte mit einer anderen Stimme gesprochen. Sie klang weit entfernt, hell und gleichzeitig dunkel. Im Raum hallte sie noch nach und vermischte sich mit unseren lauten Atemgeräuschen. »Denkt an mein zweites Ich, das ich hier zurückgelassen habe. Ich bin gekommen, um es zu bekämpfen, weil es nicht mehr existieren soll. Ihr aber habt mich mit eurem Eintreffen daran gehindert…« Es waren seine letzten Worte.
Bevor ich mein Kreuz hervorholen konnte, um ihn damit zu bannen oder ihn zum Bleiben zu bewegen, glitt er zurück, ohne den Boden zu berühren. Er schwang einfach weg. Dann war er verschwunden. Aufgelöst… Eben wie ein Engel reagiert. Zurück ließ er drei staunende Menschen… *** Janet hatte ihre Arme um den Körper gelegt und sich selbst umarmt, als wollte sie sich Wärme spenden. Nur allmählich kam sie wieder zu sich und schaute auf uns. Wir standen mittlerweile zusammen und flüsterten miteinander. Janet hatte Raniels Warnung ebensowenig vergessen wie wir, und sie fragte nach dem zweiten Ich. Suko gab ihr Antwort. »Wir müssen damit rechnen, daß es hier lauert. Denken Sie an die Flügel der Windmühle. Sie bewegten sich plötzlich, dann immer schneller, als wollten sie uns köpfen. Das kann sein zweites Ich gewesen sein.« »Aber wo steckt es? Wo kann ich es sehen? Wie… wie sieht es denn aus, verflucht?« »Es wird keine Gestalt haben.« »Dann ist es auch ein Geist?« »Ein Wesen, ein ES«, sagte Suko. »Es steckt in jedem Menschen. Man sagt doch auch, daß jeder Mensch zwei Seiten hat. Eine gute und eine schlechte. Raniel hat es geschafft, sich von seiner schlechten zu lösen. Er folgt nur mehr seiner guten Seite, wie er meint. Doch er hat es nicht geschafft, die schlechte zu zerstören.« »Dann haben wir ihn daran gehindert?« »So sieht es aus. Vielleicht hatte er in dieser Nacht alles klarmachen wollen, jetzt aber existiert das andere Ich weiter. Es lauert im Unsichtbaren und hält uns unter Kontrolle.« So wie Suko es Janet erklärt hatte, war dem nichts hinzuzufügen. Ich hätte es nicht anders gesagt. Aber ich wollte auch herausfinden, wo sich Raniels zweites Ich aufhielt, und es mußte mir einfach gelingen, es zu locken. Dazu brauchte ich mein Kreuz. Wieder staunte Janet, als ich in der Mitte des Raumes stehenblieb und den silbernen Talisman hervorholte. Er reagierte nicht. Noch nicht…
Dann aber zuckte ein heller Schein über die Umrisse des Kreuzes hinweg und tanzte funkensprühend über meine Handfläche, ohne daß ich etwas davon merkte. Gleichzeitig hörten wir wieder das schwere Ächzen der Flügel. Vor dem langen Fenster wanderten die Schatten her, und ich glaubte auch, dieses seltsame HUSCH zu hören, wenn die breiten Flügel außen vorbeiglitten. ES hatte sich gemeldet. Mit einem Knall fiel die Tür zu. »Ich habe Angst«, flüsterte Janet. Suko holte sie zu sich. »Bleiben Sie bei mir. Gehen Sie nicht weg, es fängt an.« »Will es uns töten?« »Es ist böse.« Suko gab ihr nur eine ausweichende Antwort. Er hatte seinen rechten Arm um Janets Schulter gelegt und sich mit ihr zurückgezogen. Beide standen nicht weit von der Wand entfernt, um mir nicht im Wege zu stehen. Suko hatte sicherheitshalber seine Dämonenpeitsche hervorgeholt und einmal den Kreis geschlagen, damit die drei Riemen aus der Öffnung rutschen konnten. Es war schwer vorstellbar, daß er die Waffe gegen einen bösen Geist einsetzen konnte. Noch hielt er sich sichtbar zurück, aber er setzte andere Prioritäten, denn das Licht der Lampe flackerte. Es ging aus, wieder an, wieder aus, wieder an – und blieb dann aus. Ein Engelmensch oder Menschengel hatte sich vom Bösen zwar befreit, es aber nicht vernichten können. Das überließ er nun uns, und so etwas liebte ich ganz besonders. Die Flügel bewegten sich weiter. Sie schienen zu einem rasenden Drachen geworden zu sein, der seine Schwingen ausbreitete und damit die Umgebung brutal zerschlug. Immer wieder jagten sie am Fenster vorbei, umhüllt von einem silbrig schimmernden Mondlicht, dessen fahler Glanz den Vergleich mit dem einer Sense durchaus zuließ. Ich schaute mich um. Die Decke, die Wände, der Fußboden, über alles streiften meine Blicke hinweg. Ich stellte mir vor, daß sich die Balken unter den Füßen hochbogen, um ein Monster zu entlassen. Noch hielt sich die andere Kraft zurück. Janet hatte Angst. Suko sprach beruhigend auf sie ein. Die Dunkelheit blieb.
Sie war schwarz, fast schon sirupartig. Sie umgab uns wie mächtige Arme, sie kam überall hin, nicht ein Funken Licht durchbrach diese dicke Tinte. Wo lauerte das Ich? Wir waren selbst zu Schatten geworden, und weitere Schatten zischten vor dem Fenster entlang. HUSCH! HUSCH… Die Geräusche hörten sich unheimlich an, als wäre der große Schnitter dabei, alles zu vernichten. Mein Kreuz fing an zu funkeln. Ein Zeichen? Ich blieb in der Mitte des Raumes stehen, schaute auf den blassen Glanz und hörte Sukos Stimme, die mich als Flüstern erreichte und mich fragte, was ich gesehen hatte. »Noch nichts…« Etwas vibrierte. Es begann am Boden. Die Balken zitterten plötzlich. Hände schienen von unten her gegen sie zu schlagen, als wollten sie alles, was fest war, aus den Fugen reißen. Wo steckte Raniels zweites Ich? Die Scheibe zitterte. Ich hörte das Rumpeln, das die anderen Geräusche teilweise überlagerte. Und die Flügel jagten weiter am Fenster vorbei, als wollten sie die gesamte Luft zerstören, die sich in ihrer Nähe befand. Kälte strömte über meinen Nacken. Etwas pochte. Es klang unheimlich. Ein gewaltiges unsichtbares Herz schlug hinter den Wänden, und mit jedem Schlag drückte sich eine weiche Lichtaura hervor. Poch… poch… poch… Unheimliche Geräusche. Ein Teufel steckte irgendwo und schlug mit einem gewaltigen Hammer gegen einen Gong. Weiter, immer weiter… Dann der Schrei! Irre schrill und hoch. Hinter mir. Ich wirbelte herum und hörte auch Sukos Stimme, die so verdammt überrascht klang. »John, mein Gott, das ist es!« Das zweite Ich war da. Es hatte sich nur verborgen gehalten, es war unglaublich. Ich kam mir vor wie ein Eiszapfen, den jemand aufrecht hingestellt hatte, als ich das zweite Ich des Gerechten in einer Person manifestiert sah. In Janet! ***
Sie war zu einer bösen Furie geworden, obwohl sie sich äußerlich kaum verändert hatte. Ihr Gesicht schimmerte rot. Die Augen hatten einen grünen, dämonischen Glanz bekommen, und auf ihren Wangen lagen tiefe schwarze Schatten. Sie strahlte etwas Teuflisches aus, aber auch die reine Gewalt, mit der sie uns begegnete. Sie wollte töten! Aber ich hatte das Kreuz und hielt es ihr entgegen. Daran kam sie nicht vorbei, es war unmöglich. Vielleicht hatte ich eine oder zwei Sekunden Zeit, bis sie mich erreichte. In dieser kurzen Zeitspanne fand ich heraus, daß sie diejenige gewesen war, die wir für die unheimlichen Vorgänge verantwortlich machen mußten. Sie war der Dämon. Sie schlug gegen die Lampe. Damit hatte ich wiederum nicht gerechnet, und Janet hatte den Schlag so angesetzt, daß sich die Kugel vom Stab löste und auf mich zuwirbelte. Ich tauchte zur Seite. Sie traf mich an der Schulter. Dann hetzte Suko herbei, um die Furie mit dem bösen Ich des Gerechten zu fangen. Sie stoppte und wirbelte herum. Ein furchtbares Lachen gellte durch den Raum. Einen Moment später brach der Boden vor Sukos Füßen auf. Die Balken flogen so wuchtig in die Höhe, als hätte es unter ihnen eine gewaltige Explosion gegeben. Sie prallten gegen die Decke, von der sie als gefährlich wirbelnde Trümmerstücke zurückkehrten. Suko war es nicht mehr möglich, seinen Lauf zu stoppen. Der letzte Schritt war einer zuviel gewesen. Er trat in das Loch. Er fiel, und ich hörte ihn schreien, während ich mich nach vorn bewegte, um Janet mit dem Kreuz zu attackieren. Der Boden riß weiter auf. Auch ich kippte. Es war der Moment, als Janet mit einer geschmeidigen Bewegung zurückglitt, rauh auflachte, ich das Gleichgewicht verlor und daran dachte, daß ich möglicherweise auf meinen Freund Suko fiel. Ich ließ das Kreuz fallen, ohne es eigentlich gewollt zu haben, und schlug beide Hände nach vorn. Dadurch bekam ich den Rand des Lochs zu packen, der hart genug war, um mein Gewicht zu tragen. Leider benötigte ich beide Hände, um mich daran festzuhalten. Ich hörte das Lachen. Kichernd, häßlich und widerlich. Dann näherte sich von oben her eine Gestalt. Janet?
Verdammt, sie hatte sich verändert. Das böse Ich des Gerechten zeigte sich jetzt auch äußerlich. Sie hatte nicht mehr ihren normalen Kopf, sondern den Schädel einer Hyäne mit gelben Bernsteinaugen. Ihre Finger waren zu Krallen geworden, die mich an gebogene Messer erinnerten. Sie senkte die Arme. Die ›Messer‹ näherten sich mir… Sie würden mir die Hände zerstechen. Ich mußte bald loslassen, um in die Tiefe zu fallen, aus der ich heftiges Atmen hörte. Dazu kam es nicht mehr. Hinter der veränderten Janet erschien lautlos eine durchscheinende Gestalt. Raniel kam. Nicht als Mensch, er war der Engel mit dem Racheschwert, das er angehoben hatte. Ich hing auch weiterhin an diesem verdammten Rand fest und brachte es nicht über mich, die Finger zu lösen. Die Faszination einer kurz vor der Erfüllung stehenden Tat hielt mich umfangen. Der Gerechte schlug zu. Ich wollte die Augen schließen, als ich sah, wie er das gläserne Schwert führte. Schräg angesetzt, in Kopfhöhe. Er traf. Nicht einmal ein Schrei erklang, als der Hyänenschädel davonwirbelte und irgendwo aufprallte. Der Körper stand noch. Aus der Öffnung schossen Flammen hoch, die von Geräuschen begleitet wurden, als würde trockenes Laub rascheln. Raniel schleuderte den Torso weg. Dann beugte er sich zu mir herab. Auf seinem ungewöhnlichen, geisterhaften und feinstofflichen Gesicht erschien ein Lächeln. »Jetzt habe ich mein zweites Ich selbst vernichtet. Ihr seid zu schwach gewesen. Lauft, rennt, fahrt! Dieser Platz soll nicht mehr bestehen bleiben.« Ich hing noch immer am Rand des Lochs, wollte eine Frage stellen, aber Suko rief. »Spring endlich!« Da ließ ich los. Ich prallte auf. Glatt und sicher, ohne mir etwas zu brechen oder zu verstauchen. Dennoch half mir Suko auf die Beine. Dabei schaute ich hoch, dem Loch entgegen, und sah den Widerschein des Feuers, der durch die Öffnung fiel und auch unsere Gesichter erreichte.
Wir rannten so schnell wie möglich weg. *** Aus sicherer Entfernung starrten wir auf die brennende Mühle, die für uns aussah wie ein schauriges Gemälde. Sogar die Flügel hatten Feuer gefangen, und sie drehten sich auch weiterhin, so daß sie ein Flammenrad bildeten. Wir waren beide deprimiert, denn wir dachten dabei an Janet, deren Nachnamen wir nicht einmal kannten. Wäre sie nicht bei uns gewesen, lebte sie noch. Mein Gott, fühlte ich mich beschissen! Aber ich dachte auch an den Gerechten, den wir sicherlich bald wiedersehen würden. Wie schnell das geschehen würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Doch das ist eine andere Geschichte…
ENDE