Ein dunkles Mal erhellt den Himmel... Kos hat sich am Rande der Zivilisation niedergelassen, um nach seinem Ausscheiden...
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Ein dunkles Mal erhellt den Himmel... Kos hat sich am Rande der Zivilisation niedergelassen, um nach seinem Ausscheiden aus dem Wojek-Dienst etwas wohlverdiente Ruhe zu finden. Aber der Gilden bund zeigt immer neue Auflösungserscheinungen. Die Gilden bekämpfen sich untereinander, eine schreckliche Seuche wurde freigesetzt, und jemand hütet ein Geheim nis, für das andere töten würden. Nun muss Kos dieses Geheimnis aufdecken, bevor es den Gildenbund zerstört, den er sein Leben lang verteidigt hat. Cory J. Herndon führt die spannende Geschichte von Mord, Verschwörung und Abenteuern fort, die er in Rav nica – Stadt der Gilden begonnen hat.
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Der Gildenbund
Ravnica Zyklus · Band 2
Cory J. Herndon
Aus dem amerikanischen Englisch von Hanno Girke
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich. Dieses Buch wurde auf chlorfreiem, umweltfreundlich hergestelltem Papier gedruckt. In neuer Rechtschreibung. Deutsche Ausgabe herausgegeben von der Panini Verlags GmbH, Rote bühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten. Originalaus gabe: »Magic: The Gathering: Ravnica Cycle, Book II: Guildpact« by Cory J. Herndon. First published by Wizards of the Coast in January 2006. Magic: The Gathering, Experience the Magic, and the Wizards of the Coast logo are trademarks of Wizards of the Coast, Inc., in the US and other countries. © 2006 Wizards of the Coast, Inc. All rights reserved. Licensing by Has bro Properties Group. No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright hold ers). Übersetzung: Hanno Girke Lektorat: Patrick Niemeyer Besonderen Dank an Cristiano Scibetta von Hasbro Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest Chefredaktion: Jo Löffler Umschlaggestaltung: tab visuelle kommunikation, Stuttgart Cover art by Todd Lockwood Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Nerhaven Paperback A/S, Viborg, DK ISBN: 3-8332-1303-5 1. Auflage, März 2006 Printed in Denmark www.paninicomics.de/magic
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Widmung Für meinen Vater,
der mir alles beigebracht hat,
was es über Knallstäbe zu wissen gibt.
Danksagungen Die folgenden Unterzeichner machten
den Gildenbund erst möglich:
Susan J. Morris, die Redakteurin; Brady Dommermuth
vom Magic-Kreativteam; die Künstler, Schreiberlinge,
Redakteure, Freiberufler und alle anderen herausragen den Leute, die die Magic: The Gathering-Karten und
-Bücher erfinden und herstellen; sowie die ehemaligen
und derzeitigen Bewohner der Kari Jo Lane und der Cun ningham Road.
Besonderer Dank gilt: S. P. Miskowski, meiner geliebten
Heldin aus Alligator Point
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Kapitel 1
H
Versieh deine Aufgaben bis in den Tod. Motto des Izzet-Beobachter-Korps
15. Mokosh 9965 Z. C. Beobachter Kaluzax gehörte nicht zu den Goblins, die ihr ganzes Geld sofort zum Buchmacher brachten. Doch be vor er einen Fuß in die mit Mizzium beschlagene Kapsel setzte, die ihn wahrscheinlich in seinen Untergang (oder noch weiter) transportieren würde, hatte er seine gesam ten Ersparnisse daraufgesetzt, dass er Beobachtungsflug Neun überleben würde. Es waren immerhin 5732 Zidos, und die Wettquote gegen ihn war so hoch, dass er zum reichsten Goblin in der Geschichte von Ravnica werden würde. Und er hatte vor, das Geld zu kassieren. Beobach ter Kaluzax gehörte auch nicht zu den Goblins, die oft wetteten, aber dafür hatte er immer so etwas wie eine Glückssträhne. Er machte es sich in dem mit Echsenhaut bezogenen Beschleunigungssessel bequem und schob ein wenig Schwefel, Salpeter und Kohle in einen Schlitz über dem Kohlebecken, das neben der Stütze für seinen rechten 6
Fuß montiert war. Üblicherweise wurden immer noch diese drei Zutaten für die Zündung verwendet, ebenso wie die Formel: »Gerühmt sei Niv-Mizzet. Start!« Die dunkle und ruhig daliegende Observokugel er wachte zu Leben, und die Innenbeleuchtung ging an. Im bräunlich roten Licht konnte man einfache Kontrollhebel und ein Wahrsagebecken erkennen, das alles aufzeich nen würde, was Kaluzax zu sehen bekam, vom Moment der Zündung an bis zu der Rückkehr zum schwebenden Fliegerhorst Drachenfeuer. Der eigentliche Horst war oben auf einem riesigen Zeppeliden festgezurrt und be fand sich im Moment hoch über ihm, weil die startbereite Observokugel an der Unterseite des fliegenden Wesens festgehakt war. Bei dem Zeppeliden handelte es sich um eine besondere Züchtung, und zwar aus der Art, die sich in den höheren Luftschichten wohl fühlte, aber nicht leicht zu zähmen war. Im ausgewachsenen Zustand wür de er eines Tages zweihundertfünfzig Meter lang sein, und sein Schatten würde die Sonne ganz verdecken, aber mit seinen sechzig Jahren hatte er erst die halbe Größe erreicht. Kaluzax’ Observokugel war die vorderste in ei ner Reihe von sechs Kapseln, aber es war die einzige, die auch bemannt war. Das Korps hatte beschlossen, nur einen einzigen Beobachter auf diese Mission zu schicken, und auch der Magierfürst hatte nicht mehr gefordert. Hätte er sich eingemischt, wären die Wünsche des Korps schnell verworfen worden. Beobachter Kaluzax hatte jede Silbe seines Namens verdient, und sein Titel sagte aus, dass er zur Elite der 7
Goblins in der Liga der Izzet und zum Arbeitskreis von Zomaj Hauc gehörte. Goblins, die den Rang eines Beob achters errungen hatten, waren mehr als nur Lakaien oder Hilfskräfte im Labor: Sie hatten die Ehre, bei den wichtigsten Experimenten dabei zu sein. Schon seit den Zeiten vor dem Gildenbund dienten sie den Magierfürsten dabei als Augen, als Protokollanten aller wichtigen Fort schritte in den magischen und alchimistischen Künsten. Ihre einzigartigen Fahrzeuge waren so entwickelt wor den, dass sie auch all das, was die Beobachter selbst nicht sehen konnten, aufzeichnen und für die Nachwelt be wahren konnten. Es war nicht überraschend, dass Beob achter eine deutlich höhere Sterberate als durchschnittli che Goblins in Ravnica hatten. Die robusten Observoku geln waren allerdings nicht schuld daran. Wenn man größere Fortschritte in den magischen oder alchimisti schen Künsten erzielen wollte, musste man eben die eine oder andere Explosion hinnehmen. Bei seinen Missionen waren die Wettquoten auf sein Überleben meist astronomisch hoch, aber Beobachter Kaluzax schätzte, dass die Buchmacher diesmal alle Ster ne am Himmel benötigt hatten, um die Wahrscheinlich keit seines Überlebens bei diesem spezielleren Flug be rechnen zu können. Bei den Quoten, die sie geboten hat ten, würde der Einsatz seiner mageren Ersparnisse ausreichen, dass er im Erfolgsfall eine eigene Akademie gründen konnte. Er verfluchte diesen Gedanken kurz – seine Glückssträhne als Beobachter war so unheimlich, dass er sie nicht beschreien wollte. 8
Aber es war nicht einfach, sich solchen Gedanken zu verschließen. Seine bislang acht Flüge mit der Observo kugel waren stets erfolgreich gewesen, immer hatte ihm das Glück zur Seite gestanden. Kaluzax war durch den geothermischen Ausbruch einer Kuppe am Südpol geflo gen, hatte die Flucht aus der Speiseröhre eines riesigen Fledermausvogels geschafft und war sogar schon zwei mal aus einer Kanone abgefeuert worden. Nach dem Aufprall auf Xalvhars Fort hatte es sechs Wochen gedau ert, bis die Heiltränen seine Knochen wieder zusammen geflickt hatten, aber er hatte überlebt und war in der Lage gewesen, wichtige Informationen über die Experimente eines anderen Magierfürsten zu überbringen. Sein Meister war erfreut gewesen und hatte ihn seitdem im Auge be halten. Kein Zweifel – seine bisherigen Erfolge mussten der Grund dafür gewesen sein, warum ihn Hauc persön lich für diese Mission bestimmt hatte. Beobachter Kaluzax hatte sogar schon zwei vorherge henden Schritten dieses Experiments beigewohnt. Es ging um eine von einem Orzhov in Auftrag gegebene Verbes serung eines seiner eigenen Projekte. Der Magierfürst hatte es eine Manaverdichtungssingularitätsbombe ge nannt und ihm sogar erklärt, dass es der Zweck der Bom be sei, Leben zu vernichten, was ihm Kaluzax persönlich hoch anrechnete. Das bedeutete, dass alles Leben aus dem verseuchten Utvara-Tal vernichtet werden sollte, vom größten Zeppeliden bis hin zu den unscheinbaren Würmchen im Boden. Falls der Effekt wie gewünscht eintrat, würde er seine Aufgabe erfüllen, ohne Gebäude, 9
anorganische Objekte oder Goblin-Beobachter, die durch geschmiedetes Mizzium geschützt wurden, zu zerstören. Die ersten beiden Stufen des Experiments hatten einen durchwachsenen Erfolg gezeitigt und dazu geführt, dass sein Meister Ärger mit anderen Gilden bekommen hatte. Aber diesmal hatte der Orzhov sich um ein Gebiet ge kümmert, das für die Versuche des Magierfürsten beson ders geeignet war: das Utvara-Tal. Das Vernichten allen Lebens dort konnte den Wert des Gebiets nur steigern. Indem alle möglichen Seuchenüberträger vernichtet wur den, würde das Gebiet einige Jahrhunderte früher wieder besiedelbar sein und so den neuen Fürsten von Utvara mehr Ertrag bringen. Kaluzax bezweifelte, dass sein Meister vorhatte, die neuen Eigentümer zu enttäuschen. Niemand, noch nicht einmal die mächtigen Magierfürsten der Izzet, enttäusch te gern die Orzhov. Ein Pyromagier wäre zwar in der La ge, jemanden in Brand zu setzen, und aus – ein Patriarch dagegen konnte einen jeden Tag aufs Neue in Brand set zen, von jetzt bis hinein ins Leben nach dem Tod. Beobachter Kaluzax war ein mit Glück gesegneter Go blin, aber er konnte auch einiges an Fähigkeiten vorwei sen. Vielleicht war er nicht ganz so geschickt, wie die meisten dachten, aber dafür hatte er ja mehr Glück auf seiner Seite, als die meisten vermuteten. Er war klug ge nug, sein Glück immer als Können auszugeben, beson ders gegenüber seinen Vorgesetzten. Vielleicht war sein Glück ja übernatürlich, wie seine Mutter immer behaup tet hatte, ein Ergebnis einer explosiven astronomischen 10
Konstellation in der Nacht seiner Geburt. Möglicherweise war es aber auch reiner Zufall. So oder so, kein Goblin lebte ewig, und nur sehr wenige lebten in Reichtum. Die Liebe zum Glücksspiel war einer der vielen Gründe dafür, dass der Stamm der Izzet dauerhaft in den Diensten der Magierfürsten stand. Obwohl sich Kaluzax bisher nie der Vorliebe seines Volks für das Glücksspiel hingegeben hatte, hatte er sich ausgerechnet, dass sein Glück ihm diesmal einen großen Gewinn schuldig war. Er zog an einer Reißleine, mit der er die Observokugel aus ihrer Vertäuung löste, und grinste unwillkürlich. »Drachenfeu er, 9477 ist gestartet«, verkündete er. Goblin und Kugel fielen Flammen spuckend in den sich verdunkelnden Himmel über der Stadt Ravnica. Sein Ziel war viele Meilen entfernt, aber das Fahrzeug benötigte einige Zeit, um seine Geschwindigkeit zu errei chen. Erst wenn eine Observokugel auf 94,3 Kilometer pro Stunde beschleunigt war und damit ihr natürliches Gleichgewicht erreicht hatte, konnten die pyromagischen Flammendüsen auf Überlastung geschaltet werden. Dann würde er schneller in Utvara sein, als er »Niv-Mizzet« sa gen konnte. Kaluzax legte einen silbernen Schalter am Armaturen brett um, um ein Aufhahmeband für das Archiv zu akti vieren, das etwa eine Stunde lang ausreichen würde. »Hier Observokugel Niv-Mizzets Wanderndes Auge 9477; Station Drachenfeuer, bitte kommen«, bellte er in eine pneumatische Röhre. Seine Stimme wurde von einem magisch aufgeladenen Glaszylinder aufgefangen, durch 11
ein unsichtbares Netzwerk von Ley-Linien in der Luft weitergegeben und erscholl, für den Piloten unsichtbar, aus einer Glaskugel in der Wand eines schwach beleuch teten Kontrollraums, der sich auf dem Rücken eben jenes Zeppeliden befand, vom dem aus er gerade gestartet war. Eine Sekunde später ertönte etwas unscharf die Stimme von Beobachter Kaluzax’ Vorgesetztem aus der kleineren, nur etwa faustgroßen Kugel, die zwischen den einfachen Kontrollgeräten am Pilotensitz eingebaut war. »9477, wir haben dich jetzt auf dem Beobachtungs schirm«, sagte Oberbeobachter Vazozav. »Du fliegst ein bisschen zu knapp über den Turmspitzen. Die Zerstörung von öffentlichem Eigentum wurde für dieses Manöver nicht – ich wiederhole: nicht – autorisiert. Zieh deine Kugel hoch und etwas aus dem gröbsten Verkehr, ich brauche jetzt wirklich keine Wojeks, die mir mit Be schwerden die Bude einrennen.« »Meinetwegen werdet ihr keine Probleme bekommen, Station«, antwortete Beobachter Kaluzax. »Ich beginne jetzt mit dem Gegenaufstieg. Wir wollen ja nicht, dass die Stadt der Gilden etwas abbekommt, oder?« »Was wir wollen, ist nebensächlich, Beobachter.« Vazo zavs Lachen wurde durch atmosphärische Störungen verzerrt. »Ich würde zum Beispiel gern mal sehen, was sie machen würden, wenn wir eine Düse direkt über Vito Grazi abfackeln, oder wie das Ding heißt.« »Station Drachenfeuer, habt ihr keinen Respekt vor der langen Geschichte Ravnicas? Keinen Respekt vor der Glorie des Selesnija-Konklaves?«, sagte Beobachter Kalu 12
zax. Er bemühte sich, affektiert durch die Nase zu reden, klang aber trotzdem nur wie ein Goblin, der eine Dryade nachäffte. »Keinen Respekt vor den kleinen Blümchen und den tanzenden Zentauren, wie sie durch die Haine der Dryaden huschen?« »Ich respektiere Dinge, die explodieren, Beobachter«, sagte der ältere Goblin. »Also mach dich auf die Suche danach.« »Verstanden. Geschätztes Erreichen der Geschwindig keit des natürlichen Gleichgewichts in fünfzehn Sekun den«, sagte der Pilot. »Leite unautorisierten Looping über der Stadtmitte ein.« »Genieß die Aussicht«, sagte der Oberbeobachter. Die Piloten der Observokugeln waren so abergläubisch wie alle Goblins, und Beobachter Kaluzax hatte bei seiner ersten erfolgreichen Mission genau so einen Looping gedreht. Es gehörte zur behutsamen Beeinflussung des Glücks, dass man nichts änderte; dass man nichts unter nahm, was das Glück verscheuchen könnte. Beobachter Kaluzax genoss also den Blick auf die Stadtlandschaft, die sich über den gesamten Horizont erstreckte. Nur wenige Goblins hatten diesen Ausblick öfter als einmal, und die meisten, bei denen es doch der Fall war, steckten jetzt in den Klauen von etwas Geflügeltem, das vorhatte, sie zu fressen. Der Anblick der Stadt Ravnica aus der Luft war wie immer unglaublich. Für einen Izzet mit mathematisch geprägtem Verstand war die sorgfältige Planung und die geometrische Schönheit der Metropole nur aus diesem 13
Blickwinkel so richtig zu genießen. Kaluzax blinzelte in den Morgenhimmel. Blendend helles Sonnenlicht spiegel te sich in den Turmspitzen, die über den Gebäuden in den strahlenförmig angelegten zehn Sektionen der Stadt auf ragten. Er tippte mit zwei Fingern gegen die Augenbraue, um den uralten Steintitanen, die über die Stadt wachten, seinen persönlichen Salut zu erweisen. Er flog dicht genug am Kopf des zehnten und größten Titanen vorbei, um ihn mit einem Knallstab treffen zu können. Zobor stand breitbeinig über den Toren des Wo jek-Hauptquartiers, das auch als Innere Festung bekannt war. Er wäre gern noch näher herangegangen, aber er wollte die Wojeks, die auf dem Kopf des Titanen statio niert waren, nicht beunruhigen. Außerdem hatte solch unvorsichtiges Verhalten schon mehr als einen Luftver kehrsunfall verursacht. Wie fast alle anderen Izzet-Goblins hatte auch Kaluzax gelernt, dass die Stadt Ravnica nach der Unterzeichnung des Pakts zwischen den Gilden mit der den Izzet eigenen Akribie und Präzision neu geplant worden war. Das war das Geschenk der Zauberwerker an die anderen Gilden gewesen: eine perfekte Stadt, die dem Rest der Welt als Vorbild dienen würde. Aus dieser Metropole war dann die Zivilisation entstanden, die inzwischen die ganze Welt bedeckte. Die Stadt Ravnica war auch – im Geheimen – ein Opfer an Niv-Mizzet, das Feuerhirn. Dieser Drache war Parun der Izzet und auch immer noch ihr Gildenmeister. Laut den Geschichten, die Kaluzax in seiner Jugend gehört 14
hatte, sah der Plan vor, ein riesiges Siegel der Macht in der Größe einer Stadt zu erbauen, das den Magierfürsten die absolute Macht über die ganze Welt von Ravnica ge ben sollte. Bei der Durchführung hätten Izzet-Goblins allerdings absichtlich gepfuscht, sodass das Siegel nicht so funktioniert habe wie geplant. Das war jedenfalls die Version, die er gehört hatte. Zwar waren die Goblins früher tatsächlich etwas rebel lischer gewesen, aber die meisten Goblin-Theologen glaubten, dass die Goblins mit solchen Geschichten ein fach nur vor ihren Arbeitgebern herumprotzen wollten. Was offensichtlich gut klappte: Sie hatten Eindruck hin terlassen. Die Gerissenheit jener Goblins damals hatte die Magierfürsten derart beeindruckt, dass die Liga der Izzet den gesamten Stamm komplett gekauft und ihm den Namen gegeben hatte, den er heute trug. Kaluzax’ Volk war für die nächsten tausend Jahrtausende unter Vertrag genommen worden. Über den Verlauf von tausenden Jahren hatte sich die zunächst vereinzelte Unvollkom menheit über das ganze Stadtbild ausgedehnt – sowohl natürliche Faktoren wie Verwitterung als auch die Bautä tigkeit von Millionen von Bewohnern hatten dafür ge sorgt, dass das Siegel der Macht nie funktionieren würde. Und gerade wenn man es aus diesem Blickwinkel be trachtete, konnte es nichts anderes als ein Werk der Go blins sein. Niemand wusste mehr, wie der Stamm der IzzetGoblins hieß, bevor die Liga der Izzet ihn sich kaufte, aber es wollte auch niemand mehr wissen, am wenigsten die 15
Goblins. Im Vergleich zu dem primitiven, kurzen und von Gewalt geprägten Leben, das ihre Artgenossen in anderen Gilden führten, war das Leben als Izzet-Goblin das reinste Paradies. Es war allein eine Ehre, nur in der Nähe der Macht zu sein, die Magierfürsten wie Zomaj Hauc ausüb ten. Und auch wenn es seit einer Generation nicht mehr vorgekommen war, erhielt hin und wieder ein Goblin die Gabe Niv-Mizzets, wurde vom Feuerhirn berührt und zum Magierfürsten. Es stimmte zwar, dass jeder GoblinMagierfürst in der Geschichte innerhalb einer Woche nach Erlangen der Gabe und damit des hohen Rangs von seinen menschlichen Mitfürsten umgebracht worden war; aber Hauptsache war doch, dass man es auch als Goblin in der Liga der Izzet zu etwas bringen konnte. Das kam in den Gruul-Clans und im Rakdos-Kult so gut wie nie vor. Beobachter Kaluzax gönnte sich einen besinnlichen Blick durch die Sichtscheibe aus Invizomizzium – wie immer war er versucht, die Spitze des heiligen Baums der Selesnijaner abzurasieren, der gerade nur wenige Meter unter der Observokugel vorbeizog. Dann richtete er die glitzernde Maschine auf den Horizont aus und legte eine Hand auf den einfachen roten Schalter, der in den Fuß boden eingebaut war. Mit der anderen Hand drehte er den kleinen schwarzen Knopf, der sich unter den Kon trollanzeigen befand, exakt um neunzig Grad nach rechts, wodurch zusätzliches Pyromana in die Impulstriebwerke floss. Er lenkte die Observokugel nach oben, um dem normalen Luftverkehr auszuweichen – also Transport 16
zeppeliden, Rocs, Fledermäusen und anderen fliegenden Reittieren. Dadurch hatte er freie Bahn, solange er die Augen offen hielt und sich nicht ablenken ließ. Die einzi gen anderen Dinge, die so hoch wie eine IzzetObservokugel fliegen konnten, waren wilde Zeppeliden, die Festung Parhelion der Engel und der große Niv-Mizzet selbst. Aber alle diese möglichen Hindernisse waren groß genug, dass man ihnen gut ausweichen konnte. Und alles, was kleiner war, brachte sein Luftschiff nicht in Gefahr. Der Oberbeobachter unterbrach Kaluzax’ Konzentrati on kurz, indem er das Signal für den Start der nächsten Stufe der Mission gab. »Beginn des Countdowns für die Düsenbefeuerung auf mein Kommando«, krächzte die unscharfe Stimme aus der Konsole und hielt dann kurz inne. »Los!« »Zehn, neun, acht, ...«, zählte Beobachter Kaluzax rück wärts, und sein Herz pochte im Gleichschritt mit den dröhnenden Geräuschen der zündenden Flammendüsen. »... sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.« »Kraft auf die Flammendüsen!«, brüllte der Oberbeob achter mit nicht zu verheimlichender Freude. »Kraft auf die Flammendüsen«, bestätigte Beobachter Kaluzax und riss mit aller Kraft den roten Hebel nach hinten. Die folgende Explosion war so laut, dass man schon robuste Goblinohren oder eine hervorragende Schalldämpfung aus Mizzium brauchte, um nicht taub zu werden. Innerhalb von Sekunden beschleunigte die Ob servokugel von flotten 94,3 Stundenkilometern auf genau das Dreizehnfache dieser Geschwindigkeit. 17
Beobachter Kaluzax fühlte sich, als ob die Hand eines Riesen ihn gegen den Pilotensitz pressen würde. Und die Fliehkraft und die Kraft der Beschleunigung hätten ihm auch tatsächlich alle Luft abgedrückt und seine Innereien zerquetscht, wäre er nicht durch entsprechende Verzau berungen besonders geschützt gewesen. Nun gab es außer Wolken nicht mehr viel zu sehen. Ab und zu war am Boden noch ein Stück des Straßennetzes zu erkennen, aber alles huschte so schnell vorbei, dass es unmöglich war, Einzelheiten auszumachen. Nach weni gen Minuten hatte er die Licht-Schatten-Grenze durch brochen und fand sich unter einem atemberaubenden, glänzenden Sternenhimmel wieder, der erschreckend ruhig blieb, obwohl die Welt so vorbeirauschte. In einem alten Kodex stand, dass ein Beobachter unablässig am Beobachten sein solle, daher prägte sich Kaluzax die Sternformationen ein. Die Izzet-Goblins von heute beka men den Himmel kaum noch zu Gesicht, wenn sie nicht im Korps waren, und nur wenige lernten die alten Stern formationen oder interessierten sich überhaupt irgend wie dafür. Kaluzax fand jedoch, dass es sich hier um ein hervorragendes Hobby handelte, mit dem er sein Ge dächtnis trainieren konnte, wenn es die Zeit zwischen zwei Aufgaben zuließ. Er kam bis zum Sternbild von Qeeto dem Katzendieb, das gerade im Osten aufging, als er spürte, wie der Bremsvorgang einsetzte. Er hatte fast die halbe Strecke bis zu seinem Ziel geschafft. Nach wie vor konnte er Ut vara nicht sehen, da es noch hinter dem Horizont lag. 18
Vor vielen tausend Jahren war Utvara eine dynamische Gegend der Welt gewesen. Die Freihandelszone dort schickte sich an, dem Metropolenzentrum von Ravnica Konkurrenz zu machen. Davor war es das Jagdgebiet des großen Niv-Mizzet gewesen. Doch jetzt war Utvara gleich bedeutend mit Seuchen und Tod, ein Gebiet, in dem nur die Verzweifelten kümmerlich ihr Leben fristeten. Und »verzweifelt« war meist gleichbedeutend mit »Gruul«. Es fiel Kaluzax schwer, Mitleid zu empfinden. Selbst der niedrigste Izzet-Goblin war besser als ein räudiger Gruul. Beobachter Kaluzax hörte den ersten dumpfen Auf schlag ein paar Sekunden, nachdem er zurück durch die Wolkendecke gestoßen war und die weltumspannende Metropole wieder sehen konnte. Das Geräusch war nicht laut, und ein Blick auf die Instrumente zeigte ihm, dass er immer noch auf Kurs war. Vermutlich war es nur ein Schwarm von Wasservögeln gewesen, die in eine der Sanierungszonen zogen, sagte sich Kaluzax. Nichts, was ihn beunruhigen müsste. Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, auf der Karte eine für Wasservögel geeignete Sanierungszone gesehen zu haben, und auch sein Navigationsinstrument zeigte keines an. »Wenn man von räudigen Gruul spricht ...«, murmelte er. Er griff nach den beiden Lenkhebeln und drehte die Pi lotenkapsel der Observokugel – die auf Magnetfeldern innerhalb der äußeren Invizomizzium-Hülle schwebte – um die eigene Achse. Durch die durchsichtige Front 19
scheibe der inneren Hülle konnte Kaluzax sehen, wo er gerade gewesen war. Diese Bauart, bei der eine kreisende Kugel in einer anderen Kugel steckte, ermöglichte es auch, dass die Flammendüsen in die eine Richtung feuer ten, während der Pilot in eine andere ausgerichtet war. Allerdings ging das langfristig nur dann gut, wenn man einige Erfahrung im Umgang damit besaß. Wer die Cock pit-Arretierung löste, ohne darauf gefasst zu sein, sich bei Beibehaltung der Flugrichtung gleich wie wild in der Luft zu drehen, für den war die erste Reise meist auch die letzte. Kaluzax war zwar nicht in einen Schwarm Wasservö gel hineingeraten, aber was ihn da verfolgte, hatte auch Flügel. Zumindest ein Teil davon. Drei humanoide Gestal ten, die auf Pterros ritten, näherten sich der langsamer werdenden Observokugel. Die reptilienartigen schuppi gen Reittiere kämpften mit ihren Fledermausflügeln ge gen die Luftströmungen. Auf ihren lederartigen Flug membranen trugen sie seltsame Markierungen, die Kalu zax als Brandzeichen der Gruul-Stämme in Utvara erkannte. Bisher schienen sie ihm nur arglos zu folgen, aber das konnte die Aufschläge noch nicht erklären. Da die Impulstriebwerke die Observokugel stetig weiter ver langsamten, würden sie ihn bald eingeholt haben. Aus den Augenwinkeln konnte er gerade noch einen Blick auf den wilden Zeppeliden erhaschen, der damit beschäftigt war, eine Schmutzwolke aufzusaugen. Seine Verfolger konnten an der Observokugel keinen größeren Schaden anrichten, egal, was sie alles aufprallen ließen. 20
Ein Zusammenstoß mit den gewaltigen Gasblasen der Riesenechse jedoch könnte die Sichtverhältnisse dra stisch verschlechtern. Und ein Beobachter, der nichts sah, konnte nichts außer dem eigenen Versagen beobachten. Er riss das Cockpit so ruckartig wieder nach vorn, dass ihm dabei fast schwindlig wurde. »Station Drachenfeuer, es sieht so aus, als ob die Spä her Recht hatten«, sagte Beobachter Kaluzax. »Ich habe Gruul an mir hängen. Kein Schaden bisher und auch kei ner zu erwarten. Sehen allerdings nicht so aus, als wür den sie sich auf das Experiment freuen. Aber wenn ich mir ihre Reittiere so anschaue, habe ich den Eindruck, dass die möglicherweise den Geist aufgeben, bevor sie mich eingeholt haben.« »Die sollen dich ruhig weiterhin verfolgen«, kam die prompte Antwort. »Je mehr Testobjekte, desto besser, findet der Magierfürst.« »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Kaluzax. »Glaubst du, dass viele am Boden zurückgeblieben sind?« »Noch nicht einmal die Gruul können so dumm sein.« »Kann sein«, sagte Kaluzax, »aber sie könnten sich als starrköpfig erweisen. Wer kann schon sagen, wie diese Primitiven wirklich denken.« »Bist du auf der Suche nach einem Job in der Gehirn forschung? Kümmere dich nicht darum, was sie denken, 9477. Wichtig ist nur, wie sie sterben«, sagte sein Vorge setzter. Wieder wurde das Gefährt des Goblins durch eine Rei he kleinerer Aufpralle erschüttert. Diesmal waren sie 21
allerdings stark genug, dass Kaluzax den Kurs der Kugel manuell um zehn Grad nach Osten korrigieren musste. Der letzte Treffer wurde von einem grellen Pfeifen beglei tet, das am Schiffsrumpf vibrierte. Auf der Anzeige blink ten plötzlich einige Zahlen in Blau statt in Rot auf, kehr ten dann aber wieder zu ihrer normalen Farbe zurück. »Station, die Warnlichter zeigen an, dass ich in der Flammendüse sechs etwas Kraftverlust habe. Kannst du erkennen, mit was die mich dauernd treffen? Muss ich mir Sorgen machen?« »Negativ, 9477. Bleib auf Kurs«, sagte Oberbeobachter Vazozav. »Aber wenn dir danach ist, kannst du ja ein biss chen überflüssiges Pyromana wegbrennen. Der Magier fürst gibt dir die Erlaubnis, sie zu töten, wenn du willst. Unsere weitergehende Analyse der Situation hat ergeben, dass wir genug Spielraum haben, um ungebildeten Wil den eine Lehre zu erteilen, sich aus Izzet-Geschäften he rauszuhalten. Wir können uns das leisten.« »Du hast zu viel Zeit mit diesen Orzhov-Buchhaltern verbracht«, sagte Beobachter Kaluzax. »Vergiss nicht: ›Das Studium der Mathematik ist nichts anderes als der erste Schritt, um den Makrokosmos zu verstehen.‹« »Verkneif dir die dummen Sprüche, 9477. Fackle lieber etwas ab.« »Es wird mir ein Vergnügen sein, Drachenfeuer.« Für den beiläufigen oder ungeübten Betrachter schien eine Observokugel unbewaffnet zu sein. Im Prinzip war das bei Niv-Mizzets Wanderndem Auge 9477 ja auch der Fall, fand Kaluzax. Aber er hatte so seine Möglichkeiten, 22
sollte es zum Kampf kommen. Als er nun um 180 Grad nach hinten rollte, um seine schlecht beratenen Verfolger wieder im Auge zu haben, wurden seine Eingeweide erst mit aller Gewalt nach oben und dann nach unten ge drückt. Auf dieser Höhe merkte man den fledermausarti gen Reptilien mit ihrer langen Nase bereits an, dass sie einen harten Flug hinter sich hatten, einen längeren, als sie normalerweise durchhielten. Kaluzax regelte den Flammenausstoß etwas, um die Observokugel weiter zu verlangsamen und verringerte dadurch den Abstand zu den drei Pterro-Reitern weit genug, um zu erkennen, welchen Spezies die drei Humanoiden angehörten. Zwei waren Viashinos: eine Echsenrasse, die auf zwei Beinen ging und mit dem Fliegen so vertraut war wie Goblins mit dem Graben von Höhlen. Der dritte schien der Anführer zu sein, jedenfalls ritt er an der Spitze der pfeilförmigen Formation. Der breitschultrige Mensch besaß eine dunkle, ins Rötliche gehende Haut, auf der man rituelle Brandnarben sehen konnte, die dem Muster auf den Flügeln seines Reittiers glichen. Er hob etwas, das wie ein Speer aussah, und richtete das eine Ende auf Kaluzax’ Sicht scheibe. Der »Speer« glühte orange auf und nahm damit die Farbe an, von der auch die drei kleinen Kugeln waren, die wie Salamandereier an der Seite der Waffe hingen. Es handelte sich sogar tatsächlich um so etwas Ähnliches wie Salamandereier, allerdings wurden sie mit IzzetMagie künstlich hergestellt und waren nur in lizenzierten Waffenläden Ravnicas erhältlich. Es war eigentlich nicht gerade eine Waffe, die man bei 23
einem Gruul erwartete.
»Ich habe so das Gefühl, dass sich die Primitiven wei terentwickeln wollen«, murmelte der Beobachter. »Bitte wiederhole das noch einmal, 9477.« »Nichts Besonderes, Station«, antwortete Kaluzax. »Je denfalls nichts, was einer Mizzium-Schutzhülle Sorgen bereiten sollte.« Hoffe ich zumindest, fügte er im Stillen hinzu. Dem primitiven Stammesmitglied war es gelungen, in den Besitz eines Goblinknallstabs zu kommen, was schließlich auch die Aufschläge auf der Außenhülle der Observokugel erklärte. Mit einer kurzen Daumenbewe gung drückte der Gruul noch einmal ab. Ein murmelgro ßes Geschoss aus heißem, konzentriertem Mana flog di rekt gegen die Sichtscheibe der Observokugel. Der Mensch hatte wahrscheinlich erwartet, dass Kaluzax we nigstens zusammenzucken würde, aber der Goblin tat ihm diesen Gefallen nicht. Er zwinkerte kurz, als das klei ne, heiße Energiebällchen auf das Invizomizzium auf prallte, aber nur wegen des lauten Ping-Geräuschs, mit dem es harmlos vom feuerresistenten Material wegsirrte. »Da hast du dir das falsche Ziel ausgesucht, Gruul«, sag te Kaluzax, als der Mensch den Knallstab wieder anlegte. Der Goblin veränderte die Ausrichtung der Flammendü sen etwas, sodass nun alle sechs in die Mitte der Formati on zielten. Dann schob er den roten Hebel wieder zur Hälfte zurück, während er gleichzeitig auf den Notbrem sungsknopf drückte, um die Geschwindigkeitszunahme auszubremsen. 24
Der Flammenstoß war nicht so riesig, wie er hätte sein können, und die Chancen waren hoch, dass Kaluzax ein kompliziertes Bremsmanöver durchführen musste, um auf Kurs zu bleiben. Die Impulstriebwerke kamen mit solchen Spielereien nicht gut zurecht, aber das Ergebnis war dennoch so gut, dass man dafür auch kleinere Unan nehmlichkeiten in Kauf nahm. Sechs Feuersäulen aus geschmolzener Magie trafen an einem einzigen Punkt zusammen, und dieser Punkt befand sich nur unwesent lich entfernt vom Bauchnabel des Reiters. Die verdichte ten Flammen brannten das Fleisch des Menschen in Se kunden weg und verbrutzelten auch den Pterro auf der Stelle. Die hohlen Knochen des Wesens, die mit demsel ben Gas gefüllt waren, das auch die Zeppeliden am Schweben hielt, brachen von innen her auf. Beim Explo dieren der Kreatur wurde die verbleibende Munition des Knallstabs ausgelöst. Mit einem spektakulären Blitz wur de auf einen Schlag alles vernichtet, was noch übrig ge wesen war. Beobachter Kaluzax drückte den roten Hebel wieder nach vorn und drosselte die Maschinen auf ein Zehntel der normalen Leistung. Die kleine Stoßwelle, die durch die Zerstörung des Anführers ausgelöst worden war, hatte die beiden Viashino aus der Bahn geworfen. Das eine Reittier rammte das andere, worauf beide Pterros in Pa nik gerieten. Sie fingen an, sich ineinander zu verbeißen, während die nun ebenfalls von Panik ergriffenen Reiter vergeblich versuchten, die von ihren Instinkten geleiteten Tiere zu zügeln. Während die Bestien hinter Beobachter 25
Kaluzax immer kleiner wurden, konnte er mit ansehen, wie der einen gelang, die Membranhaut der anderen auf zureißen. Das Tier kam sofort ins Trudeln und stürzte dann wie ein Stein vom Himmel. Wegen der immer grö ßer werdenden Entfernung und seines sich meldenden Pflichtbewusstseins rotierte der Goblin das Cockpit wie der nach vorn, um sich endlich an die eigentliche Arbeit zu machen. »Das hätte sich erledigt, Station Drachenfeuer«, berich tete Kaluzax. »Vermutlich hat sich durch den unvorherge sehenen Energieausstoß meine Flugreichweite um einiges verkürzt.« »Das ist korrekt, 9477«, antwortete der Oberbeobachte ter. »Kann gut sein, dass du dir für den Rückweg eine Mitfahrgelegenheit suchen oder unterwegs bei einer Gil denakademie anhalten musst, um nachzutanken, wenn ich meine Anzeigen hier richtig deute. Düse sechs verliert nicht nur Energie, sondern zieht auch Pyromana von den anderen Triebwerken und Tanks ab.« »Wiederhole das bitte, Drachenfeu...« Bevor Beobachter Kaluzax seinen Satz beenden konnte, klingelte und pfiff es überall in der winzigen Observokugel. »O verdammt.« »Es war erst gar nicht so schlimm, nur ein kleines Leck. Aber dein Zielstoß hat es richtig aufgerissen«, sagte Vazo zav, in dessen Stimme nun ein rechtfertigender Unterton mitschwang. »Das war mir nicht ganz bewusst, als ich dir die Erlaubnis gegeben hab, die ...« »Ist nicht dein Fehler, Station. Es braucht schon etwas mehr als nur eine kleine explodierende Düse, um die gute 26
alte 9477 kaputt zu kriegen«, sagte Kaluzax. »Ich hatte auch nicht vor, mich zu entschuldigen«, antwortete der Oberbeobachter. »In Ordnung, meine Instrumente zeigen mir das Leck jetzt auch an«, sagte Kaluzax, der nicht weiter auf den Oberbeobachter einging. »Das sieht nach einem üblen Loch aus. Wo bekommen die Primitiven wohl Waffen wie ...« Die Frage wurde nicht beendet, weil die Observokugel auf einmal von einer Explosion am Heck durchgeschüt telt wurde. »Das war’s. Düse sechs hat sich gerade verab schiedet!«, brüllte Kaluzax. Er griff nach den Lenkhebeln, während die Kugel schon anfing, sich gegen den Uhrzei gersinn zu drehen. »Sieht so aus, als ob das Projektil durch den Auspuff eingedrungen ist – wenn das mal kein Glückstreffer war. 9477, schaffst du es, in der Luft zu bleiben?«, brüllte der Oberbeobachter zurück. Seine Stimme war jetzt laut ge nug, um sämtliche Alarmsignale zu übertönen. »Unsere Anzeigen melden, dass die Temperatur in Düse sechs um vierhundert Prozent zugenommen hat, nein, sechshun dert. Sieben, jetzt acht.« »Ich stoße die Düse ab«, sagte Kaluzax. In seinen bu schigen Augenbrauen sammelte sich der Schweiß und rann an den Wangen herab. Selbst die MizziumVerkleidung war jetzt heiß geworden und verwandelte die Observokugel langsam in einen Ofen. Er griff nach dem Kabelstrang, der wie eine Wäscheleine über ihm ge spannt war, und passte dabei auf, dass er das Kabel mit der »6« erwischte. 27
Aber das erwartete Geräusch von sich öffnenden Zwin gen blieb aus. »Drachenfeuer, ich bin mir ziemlich sicher, dass das Feuer die Düsenbefestigungen festgeschmolzen hat.« »Das ist unmöglich«, erwiderte Vazozav. »Die sind aus einer Mizzium-Legierung!« »Das nächste Mal sollten wir reines Mizzium nehmen«, sagte Kaluzax. »Die Legierung hält die Hitze jedenfalls nicht aus. Sie greift sogar schon auf die nächsten beiden Düsen über.« »Beobachter!« Es war eine andere Stimme als die Vazo zavs, die sich da auf einmal meldete. Kaluzax hatte sie noch nie durch den pneumatischen Zylinder gehört, aber den Sprecher erkannte er natürlich trotzdem sofort. »Mein Fürst«, sagte Kaluzax. »Ihr ehrt mich mit Euren Worten.« »Das Experiment muss zu Ende geführt werden, tapfe rer Beobachter«, sagte Zomaj Hauc, der den Lärm in der Kapsel mühelos übertönte. Es war, als würde man die Stimme mit den Ohren und mit sämtlichen Knochen im Leib hören. »Ich will dich nicht anlügen. Dein Luftschiff wird zerstört werden. Wie du weißt, war das sowieso nicht unwahrscheinlich, aber jetzt ist es eine Gewissheit. Deine Aufzeichnungen jedoch werden überleben und dem Arbeitskreis – und damit auch allen Izzet – großen Ruhm bringen.« »Ich habe nie erwartet, ein anderes Ende zu finden, mein Fürst«, sagte Kaluzax. Überrascht stellte er fest, dass sein Mut gar nicht sank, obwohl sein Untergang doch 28
offenbar eine besiegelte Sache war. Irgendwie fühlte er sich sogar erregter denn je. Er kam sich wichtig vor. »Ich werde Euch nicht enttäuschen. ›Macht ist Wissen, und Wissen ist teuer.‹ Das waren Eure Worte, mein Fürst, und ich hoffe, ihnen Ehre zu erweisen. Und Euch.« »Versieh deine Aufgaben bis in den Tod, Beobachter«, antwortete der Fürst. »Gehab dich wohl.« Kaluzax schwoll die Brust vor Stolz. Ein weiterer lauter Knall kam vom Heck des Schiffes, und einen Moment lang dachte Kaluzax, dass sich erneut Gruul an ihn gehängt hatten. Die entsprechenden Alarmtöne signalisierten ihm aber, dass es keine Verfolger wa ren, sondern sich zwei weitere der fünf verbliebenen Düsen fast gleichzeitig verabschiedet hatten. Er drehte an einigen Knöpfen, um mehr Pyromana in die Impulstrieb werke zu leiten, da Niv-Mizzets Wanderndes Auge 9477 immer weiter an Höhe verlor. Die zusätzliche Schubkraft würde ausreichen, um ihn in der Luft zu halten. Auch das Problem des steigenden Drucks in den PyromanaBehältern würde dadurch gelöst – aber für wie lange? Das Warnsignal, den Zielbereich erreicht zu haben, schallte ebenso deutlich durch die Kapsel wie die Stimme des Magierfürsten. Der einfache Pfeifton wurde immer schriller, bis er die Hörfrequenz des Goblins verließ. Ka luzax riss mit bloßen Händen eine Batterie Metallröhren aus dem Armaturenbrett und warf sie auf den Boden, um den verschiedenen Alarmsystemen ganz den Saft abzu drehen. Er ignorierte die Verbrennungen und Schnitt wunden, wischte sich aber die blutigen Hände ab, bevor 29
er wieder zu den Lenkhebeln griff. Immerhin würden die Buchmacher nicht in der Lage sein, sich über ihn herzumachen, wenn die Mission vor über war. Beobachter Kaluzax’ Glück hatte sich diesmal eine andere Erscheinungsform gewählt. Es hatte dafür gesorgt, dass genau er für dieses Experiment ausgewählt wurde. Seine Kugel stand in Flammen, und er war sich inzwischen sicher, dass er den Tag nicht überleben wür de, wahrscheinlich nicht einmal die nächste Stunde. Oder die nächsten fünf Minuten. Aber er würde seinen Auftrag erfüllen. Er musste gegen Übelkeit, brennenden Schmerz und die Lenkhebel kämpfen, um das meteoritenhafte Absin ken zu verlangsamen. Schließlich fuhr er die Zeugenau gen aus – sechs kleine Kugeln, die sich auch sofort aus der Hülle herausschoben und in ihre vorherbestimmten Beobachtungswinkel drehten. Es war ihre Aufgabe, die Telemetrie zu gewährleisten, zusätzliche Daten als Siche rung zu speichern und klare Bilder zu liefern, die nicht durch die Strahlenbrechung des Invizomizziums verzerrt wurden. Natürlich sollten sie auch alles für die Nachwelt bewahren. Normalerweise hätte Beobachter Kaluzax den Großteil der Daten persönlich überbracht. Wenn eine Observokugel ein Experiment jedoch nicht überlebte, sorgten diese Zeugenaugen dafür, dass der Magierfürst nicht viel mehr verlor als einen Goblin und die Daten, die im Hauptspeicher der Observokugel abgelegt waren. In der Kapsel wurde alles kochend heiß, was nicht aus Mizzium bestand. Die Lederriemen, mit denen Kaluzax an 30
den Pilotensitz geschnallt war, entzündeten sich kurz und waren bald nichts als Asche auf seinem flammenge schützten Fliegeranzug aus Salamanderhaut. Er konnte spüren, wie sich an seinen Ohren und am Hinterkopf Brandblasen bildeten, und irgendwie teilten ihm alle sei ne Nerven mit, er möge doch bitte schön schreien. Kaluzax schrie nicht. Stattdessen konzentrierte er sich auf ein Sprichwort, das er vor langer Zeit einmal gehört hatte: Das Glück ist ein Vöglein / Man meint, man hätt’s schon / Und wie man’s will fangen / Da fliegt es davon. Mit beiden Händen griff der Beobachter nach den ver bliebenen Abschaltekabeln, die über seinem Kopf bau melten, und zog daran. Die Düsen stotterten noch ein wenig und wurden dann still. Eine der Anzeigen verriet ihm, dass er noch etwa vier Minuten hatte, bevor die Impulstriebwerke ihren Geist aufgaben, worauf dann NivMizzets Wanderndes Auge 9477 wie ein Mizzium-Klumpen in die Tiefe fallen würde. Beobachter Kaluzax hatte nur noch die einzige Sorge in seinem Leben, es so zu beenden, wie er es gelebt hatte. Er hatte Glück, und Hauc und sein Arbeitskreis damit ebenfalls: Das Experiment würde bereits in etwa zwei Minuten stattfinden. Der Goblin wischte sich mit einer von Brandblasen überzogenen Hand den Schweiß von der Stirn und be merkte, dass sie dabei blutig wurde. Seine lederige Haut begann Risse zu bekommen. Er war froh, dass die Auf nahmegeräte nicht in die Mizzium-Observokugel hinein schauen konnten. Seine Kollegen brauchten nicht mitzu 31
erleben, wie er langsam wie ein am Spieß geröstetes Dromad aufplatzte. Kaluzax zwang den Schmerz in einen anderen Teil seines Gehirns. Allerdings half dieser Trick nicht so viel wie sonst, da inzwischen bereits sein ganzer Kopf schmerzte, und er wusste nicht, wohin er das hätte verdrängen sollen. Er drehte die Observokugel so, dass sie genau auf den Zielpunkt zusteuerte. Der Goblin betä tigte den Schalter für das verzögerte Einfahren der Zeu genaugen, wodurch die Kugeln automatisch eine Minute nach der Auslösung des Effekts wieder in die Kugel zu rückgezogen würden. Er wusste, dass es sinnlos war, da zu jenem Zeitpunkt wahrscheinlich nichts mehr existier te, was zurückgezogen werden konnte. Nachdem er seine letzte Aufgabe erfüllt hatte, fing Ka luzax ohne erkennbaren Grund unkontrolliert zu kichern an, und ein Teil seines köchelnden Gehirns bekam noch mit, dass sich ein anderer Teil gerade durch das rechte Ohr schob, weil der Druck zu groß wurde. Die verbliebe nen, halb gebratenen Synapsen im Gehirn des Goblins sorgten dafür, dass er die letzte Minute seines Lebens singend verbrachte. In seiner Kindheit hatten ihm Metall arbeiter eine alte Ballade beigebracht, und er sang gerade die Zeile »wirf das Baby auf den Amboss«, als das Experi ment seines Meisters begann. Womit auch seine letzten Worte der Nachwelt überliefert wurden. Das Experiment war gewaltig, aber nicht auffällig. In wenigen Augenblicken sog ein winziger Lichtpunkt im Himmel alles Leben in der Provinz Utvara ein und ver schlang es. 32
Einen Moment später hatte der Fokuspunkt wieder keine Breite, Höhe oder Tiefe mehr, obwohl seine Masse merkbar angestiegen war. Die Zeugenaugen zeichneten zuletzt noch auf, wie die Observokugel sich scheinbar ins Unendliche ausdehnen wollte, dann war sie verschwun den. Die Ausdehnung war auch für Beobachter Kaluzax’ Körper zu viel, und sein Leben endete mit mehr Verzer rung und weniger Flammen, als er je erwartet hatte. Der flüchtige Geist des Goblins blieb an einem Ereig nishorizont hängen. Es dauerte nicht lange, bis sich die Bruchstücke aus Identität und Erinnerung wieder zu ei nem Gedächtnis zusammensetzten, und dieses Gedächt nis hatte eine deutliche Bindung zu einer schwer fassba ren Identität namens Kaluzax. Das Gedächtnis beschäftig te sich vor allem mit einer Frage: Warum befinde ich mich immer noch in dieser Obser vokugel?
K
Oberbeobachter Vazozav zerrte an seiner baumelnden Goldkette, die er unbewusst um sein linkes Ohr ge schlungen hatte. Sein rechtes Ohr gab es schon fast nicht mehr. Mit seinen ausgezeichneten Augen, die noch so scharf wie in seiner Jugend waren, obwohl sie bereits ein ganzes Jahrhundert gesehen hatten, blickte er unter den Augenlidern hervor auf das Wahrsagebecken, das den größten Teil des Bodens der Station Drachenfeuer ein nahm. Dort war in sieben Dimensionen eine farbige und 33
sehr genaue Karte der Gegend um Utvara sowie der Himmel darüber zu sehen. Sein Vorgesetzter, der Magier fürst persönlich, hatte angeordnet, dass Drachenfeuer dicht genug heranflog, um sichtbare Bilder der Zeugen augen von 9477 zu erhalten, die nicht aus lebender Mate rie bestanden und daher immun gegen die Auswirkungen der Manaverdichtungssingularitätsbombe war. Das siebendimensionale Bild zeigte eine Art Falte im Himmel, etwa acht Kilometer über der jetzt leeren Gei sterstadt. Nein, das konnte man so nicht sagen, dachte Vazozav. Das war keine Geisterstadt – dort gab es nämlich noch nicht einmal mehr Geister. Die Karte im Becken hatte einen Maßstab, der gut genug war, um einzelne Geister und Phantome zu zeigen, die eigentlich hätten übrig blei ben müssen. Vazozav hatte mit eigenen Augen Gruul gesehen, bevor Kaluzax’ Kugel verschwand, und sie wa ren zu nah dran gewesen, um überlebt zu haben. Selbst wenn man standardmäßig die messbare Durchschnittsra te der ektoplasmatischen Verdunstung einrechnete, müssten Geister – die ja per Definition keine lebenden Wesen waren – überall sein. Aber es waren einfach keine Gruul-Geister zu sehen. Sekunden verstrichen, und die Falte schien sich inein ander zu schieben, dann zu brechen, und schließlich eine Form anzunehmen, die seine Augen nicht erkennen konnten. Vazozav konnte sie nur sehen, indem er das betrachtete, was nicht da war: blauer Himmel oder Wol ken jedweder Art. Dort war nur eine Art fraktales Nichts. 34
Oberbeobachter Vazozav ließ weitere zehn Sekunden verstreichen und beschloss dann, dass er jetzt etwas sa gen musste. Und falls Hauc ihn im Zorn niederschlug, geschähe ihm das nur recht. »Mein Fürst!« Vazozav drehte sich zu dem Menschen um, dessen Haut auffällig karmesinrot war. Er presste die Nägel seiner Klauen in die Handballen, um sich zu zwin gen, Zomaj Haucs feurigem Blick nicht auszuweichen. »Der Schwerkraft-Effekt war ein meisterlicher Erfolg.« »Ja, das war er.« »Aber ...« »Spuck es aus, Oberbeobachter, bevor ich es aus dir herausholen muss.« »Sollte nicht ...«, stammelte der Goblin, »sollte nicht die Bombe inzwischen explodiert sein?« »Nur Geduld«, sagte der Magierfürst. »Nicht alle Explo sionen erfolgen sofort.«
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Kapitel 2
H
Der Vater der Geister: Warum sind die besten OrzhovAdvokaten alles Frauen, Mubb? Mubb der Unglückliche: Wenn du das fragen musst, dann bist du schon zu lange tot, Vater der Geister. Der Vater der Geister: Unverschämter Dummkopf. Werft ihn in die Gruben! Mubb der Unglückliche: Hurra! Schon wieder Folter! Du bist zu gütig, Vater der Geister. Rembic Wezescu, Die amüsante Bestrafung von Mubb dem Unglücklichen
14. Paujal 10012 Z. C. Teysa Karlov lehnte ihren Gehstock gegen die blank po lierte Oberfläche des Rednerpults und stand auf. Wie die meisten alltäglichen kleinen Routinen der Orzhov-Advokatin war auch das Anlehnen des Stocks eine affektierte Angewohnheit, über die sie überhaupt nicht mehr nachdachte, obwohl sie den Stock für längere Strecken tatsächlich benötigte. Der Stock gehörte zu ihrer Ausrüstung, genauso wie der Blick, den sie gerade den versammelten Juristen zuwarf. Diesmal drückte ihr Ge 36
sicht Überraschung aus, gepaart mit einem kleinen An flug von Ungläubigkeit. Beides war an und für sich gelo gen, da sie alles andere als überrascht war, dafür aber umso ungläubiger. Sie krönte ihre Mimik mit einer hoch gezogenen Augenbraue, der – aus unterschiedenen Grün den – nur wenige Männer widerstehen konnten. »Doktor Zlovol, könnten Sie das bitte noch einmal wie derholen? Ich würde gern sicherstellen, dass die Juristen und auch ich, das muss ich eingestehen, Sie richtig ver standen haben.« »Ich sagte«, zischte der Vedalken, der gerade verhört wurde, »dass die Zahl der Opfer sich innerhalb der erwar teten Grenzen bewegt hat, so wie sie im Vertrag festgehal ten waren. Ein Vertrag der Orzhov, Advokatin. Es war nicht unerwartet, dass Leben verloren gingen. Unsere eigenen Magiejuristen haben den Vertrag gründlich genug geprüft, damit wir gegen solche Vorgänge wie diesen hier abgesichert sind.« Dr. Zlovol brachte so etwas wie ein Lächeln zustande, was für Vedalken völlig untypisch war. Er wollte offenbar Selbstsicherheit ausstrahlen, aber den noch war aus seiner Stimme ein winziger Unterton des Zweifels herauszuhören. Teysa wusste, dass er sich den Kopf darüber zerbrach, ob er wirklich Azorius-Magie juristen vertrauen konnte, die für einen Simic-Viromagier einen Vertrag überprüft hatten. Er fragte sich auch deut lich, warum Teysa ihn dazu gebracht hatte, seine Antwort zu wiederholen. Und er hatte Angst davor, dass sie viel mehr wusste, als im offiziellen Ermittlungsbericht stand. »Doktor, Sie klingen wie jemand, der ein schlechtes 37
Gewissen hat«, sagte sie zuckersüß. Arrogante Typen wie Zlovol konnten einem derartigen Köder nie widerstehen. Sie schienen geradezu ein inneres Verlangen zu haben, ihre Überlegenheit vorführen zu müssen, und ließen sich deshalb leicht aus der Defensive locken. »Im Gegenteil«, sagte der Vedalken. »Ich sehe mich als jemand, der nach Wissen sucht. Ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe, und Ihnen allen geht es dank meinen Errungenschaften besser. Es gibt nichts, weswegen ich mich schuldig fühlen müsste, das kann ich Ihnen versi chern.« Na wunderbar, Doktor, dachte Teysa. Habe ich also Recht gehabt. Fast könntest du mir Leid tun. »Was haben Sie denn aus dem Tod von mehr als hun dert Leuten an Wissen gewonnen, Doktor?« Die Lippen des Vedalken blieben aufeinander gepresst, aber er warf ihr einen bösen Blick zu. Teysas Lächeln verschwand, während sie – im übertragenen Sinn – ihre Klingen wetz te. Blutvergießen war zwar nichts Ungewöhnliches in den Gerichtssälen von Ravnica, aber zumindest in den mo derneren Gerichten wurde so etwas nicht mehr akzep tiert. »Verzeihen Sie, wenn das zu melodramatisch ge klungen hat. Aber auch ich sehe mich als jemand, der nach Wissen sucht. Ich bin neugierig. Sie müssen aus einhundertvierzehn toten Körpern eine Menge gelernt haben. War es ausreichend? Haben einhundertundvier zehn Leichen ausgereicht, um Ihnen das Wissen zu ver mitteln, nach dem Sie gesucht haben?« Der blasse Vedal 38
ken sah aus, als würde er gleich dunkelrot anlaufen. Sie lächelte ihr aufrichtiges Lächeln Nummer zweiunddreißig und fügte mit einem leicht entschuldigenden Unterton hinzu: »Doktor, ich schweife gerade ab. Geben Sie uns Ihre Antwort. Ich bin mir sicher, dass Ihre SimicGenossen unter den Geschworenen gern wissen wollen, wie – statistisch gesehen – einhundertundvierzehn Lei chen eine ordentliche Stichprobe ergeben konnten, so dass Ihnen alles über die Effekte Ihrer ... Tut mir Leid, ich bin keine Viromagierin. Wie haben Sie es noch genannt?« Der Vedalken wand sich. Dieses Verhalten war etwas, was Teysa bereits zur Genüge miterlebt hatte, nicht nur bei Vedalken. Vielen Zeugen und Angeklagten erging es so, wenn sie sich im Wahrheitskreis einem Kreuzverhör stellen mussten. Dr. Zlovol konnte zwar keine Unwahr heit aussprechen, solange er sich im Wahrheitskreis be fand, dafür aber so vorsichtig und schwammig antworten, wie er wollte. Auch das war ein Grund dafür, warum ein guter Advokat so oft wie möglich äußerst spezifische Fra gen einstreute, und Teysa war deutlich besser als nur gut. »Es wird«, sagte Dr. Zlovol, »die Zlovol-Verseuchung genannt.« »Wie bescheiden von Ihnen«, sagte Teysa, während sie gleichzeitig mit dem Vorsitzenden der Geschworenen einen Blick wechselte. Dieser, ebenfalls ein Vedalken, konnte sich ebenso wenig ein Grinsen verkneifen. »Und ich habe immer noch die Hoffnung, dass Ihr uns erklären könnt, wie so eine kleine Stichprobe Ihnen die Gewissheit verschaffte, dass diese Zlovol-Vergeudung ...« 39
»Verseuchung!«, blaffte Zlovol. »Die Zlovol-Verseu chung!« »Genau, die Zlovol-Verseuchung«, sagte Teysa. »Aber meine Frage wartet immer noch auf eine Antwort. Wären Sie also bitte so nett?« »Ihr wisst das selbst gut genug«, sagte der Vedalken. »Die einhundertvierzehn waren die verzeichneten Toten. Der Rest war gildenlos und musste daher nicht schriftlich belegt werden.« Kaum waren die Worte aus seinem Mund heraus, riss er die Augen weit auf. Was auch immer er hatte sagen wollen – der Wahrheitskreis hatte die Wahr heit daraus gemacht. »Und wie viele Gildenlose sind gestorben, als Ihre so genannten ›Seuchenaffen‹ die Vermeuchlung verbreitet ...« »Verseuchung!« »Verseuchung, verzeihen Sie bitte. Aber wie viele wa ren es denn nun, Doktor?« »Sechshundertsiebenundsiebzig.« »Und wie viele Seuchenaffen starben an der Seuche, die sie übertragen sollten?« »Alle natürlich, so wie es vorgesehen war. Es hat wie am Schnürchen geklappt. Keiner ist übrig geblieben, um die normale Bevölkerung anzustecken. So wie es von den Statuten ja gefordert wird.« In der Stimme des Vedalken keimte wieder etwas Stolz auf. »Alles andere würde ja bedeuten, eine ansteckende Krankheit in einem sterbli chen Überbringerkreislauf zu lassen. Für was für ein Monster halten Sie mich denn?« 40
»Ich bin mir nicht sicher, was für ein Monster Sie sind, Doktor. Das genau wollen wir ja hier gerade herausfin den«, sagte Teysa. »Wie viele Affen waren es genau?« »Es gab genau dreißig Seuchenaffen«, sagte der Vedal ken mit einem Ton, als würde er einem Kind erklären, was die Sonne ist. »Daher haben wir auch dreißig ins Protokoll aufgenommen. Siebenhundertundsieben inoffi zielle, einhundertundvierzehn verzeichnete. Sind Sie jetzt endlich zufrieden?« »Beinahe. Danke schön, Doktor«, sagte Teysa. Sie schnipste mit den Fingern, und einer ihrer ThrullGerichtsschreiber brachte ihr ein einzelnes Blatt Perga ment, das künstlich auf alt getrimmt worden war. Sie hielt es dem Doktor unter die Nase. »Und dies ist eine Kopie des Vertrags mit dem Orzhov, auf dessen Gelände Sie diesen Test durchgeführt haben, stimmt das?« Der Vedalken warf nur einen kurzen Blick auf das Per gament. »Ja«, sagte er. »Wie Sie schon bemerkt haben, sind die Bestimmungen äußerst klar.« »Natürlich«, sagte Teysa. »Wie Ihr sehen könnt, trägt diese Kopie das Siegel der Orzhov, daher kann es in jeder Hinsicht wie das Original behandelt werden. Und Doktor, die Bestimmungen sind klar. Sehr klar sogar. Wären Sie so nett, diesen Abschnitt laut vorzulesen?« »Nein, das bin ich nicht«, sagte der Vedalken. Wenn das nicht eine ehrliche Aussage war ... »Lesen Sie es doch selbst vor.« »Wie Sie wünschen«, sagte Teysa und begann vorzule sen. »›Für den Fall, dass der Tod von einem oder mehre 41
ren Wesen mit der Unternehmung in Verbindung ge bracht werden muss, hat der Erstunterzeichner‹ – das sind in diesem Falle Sie, Doktor – ›alle und jegliche ver zeichneten geistigen und körperlichen Überreste dem Zweitunterzeichner zu übergeben‹ – und das ist, wie alle hier Anwesenden wissen dürften, die Versicherungsge sellschaft Garn, Yortabod und Fraszek. Doktor, haben Sie alle jene Überreste aufgesammelt und dem Zweitunter zeichner übergeben, also Leichen, Geister und Ähnli ches?« »Wir haben alle offiziell aufgezeichneten ›Überreste‹, wie Sie es genannt haben, den entsprechenden ...« »Ja, Doktor, aber danach habe ich nicht gefragt, und darum geht es in diesem Vertrag auch nicht. Hier steht ›alle und jegliche verzeichneten‹, nicht ›alle und jegliche offiziell verzeichneten‹.« »Das ist derselbe Standardvertrag, den ich bei euch Ju risten schon dutzendfach unterzeichnet habe!«, sagte Zlovol und bemerkte sofort die Blicke, die sich die Juri sten gegenseitig zuwarfen. »Damit hat es bislang noch nie ein Problem gegeben!« »Mit allem nötigen Respekt, Doktor, ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie sich mit Geständnissen weiterer Ver tragsverletzungen zurückhalten, bis wir mit diesem Fall hier fertig sind. Es ist allerdings gut, dass diese Aussage jetzt in den offiziellen Gerichtsakten steht. Das wird mei ne Aufgabe in Zukunft sicherlich vereinfachen, sollten sich meine Klienten entscheiden, diese weiteren mögli chen Missstände verfolgen zu lassen. Nun, um zu unse 42
rem aktuellen Fall zurückzukommen ...« »Das ist doch Unsinn! Jeder hier weiß doch, dass ... je der weiß, dass ...« Der Vedalken kämpfte gegen die Macht des Wahrheitskreises an und verlor, wie es allen geschah, die in seinem Einflussbereich lügen wollten. Schließlich versuchte er es mit einer neuen Taktik. »Mir wurde zu verstehen gegeben, dass dies so anzunehmen sei.« »Annahmen sind gefährlich, Doktor, und das wird mir sicherlich jeder bestätigen können, der in Ihrem Bereich arbeitet«, sagte Teysa. »Durch Ihre eigene Aussage haben Sie gezeigt, dass Sie tatsächlich die genaue Anzahl an Verlusten unter Affen und Gildenlosen aufgezeichnet haben. Und, verehrte Wesen auf der Geschworenenbank, ich werde es mir nicht anmaßen anzunehmen, dass das, was Sie gerade vom Zeugen gehört haben, genug ist, um Ihnen zu belegen, dass der gute Doktor eine Zuwider handlung gegen seinen Vertrag begangen hat. Ich möchte auch nicht annehmen, dass es Sie überzeugt hat, dass er gegen die Vereinbarung verstoßen hat, wodurch er die entsprechenden Strafen zu bezahlen hat.« Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und lächelte. »Ich prophezeie aller dings, dass dies der Fall sein wird. Die Fakten liegen auf dem Tisch, sie sind so klar wie dieser Vertrag. Juristen, ich habe keine weiteren Fragen mehr an diesen Zeugen.« Sie beobachtete die Gesichter der kleinen Versammlung, die sich mental besprach und schnell einer Meinung war. Gemeinsam nickten sie dem Vedalken zu, der den Vorsitz der Geschworenen innehatte. »Aber ich ...«, begann Dr. Zlovol. 43
»Ruhe!«, befahl der Vorsitzende. In einem höheren Ge richt hätte jetzt ein Richter das Urteil verkündet, aber bei einer kleinen Geschichte wie einer Vertragsstreiterei übernahm der Vorsitzende der Geschworenen dessen Aufgaben. »Die Geschworenen sind bereits zu einer Ent scheidung gekommen und brauchen sich deshalb nicht weiter zu beraten«, fuhr er fort. Einer der Vorteile, die ein Vedalken als Vorsitzender der Geschworenen hatte, wa ren seine telepathischen Fähigkeiten. Vedalken waren für diesen Posten äußerst begehrt. »Wir befinden Sie des Vertragbruchs schuldig, Doktor Zlovol. Weitere Zeugen aussagen werden nicht benötigt.« Der Vorsitzende nickte dem Gerichtsdiener zu, einem riesigen Troll, der kaum in die Uniform, die er trug, hin einpasste. Es war die eines Wojeks im untersten Rang. Er hatte zwar nur ein gesundes Auge, aber das war während der gesamten Verhandlung dem Doktor nicht von der Seite gewichen. Obwohl der Doktor das nicht bestätigt hatte, wusste Teysa, dass es sich bei mehr als achtzig Prozent der »offiziell nicht verzeichneten« Gildenlosen, die an der Seuche gestorben waren, um Trolle handelte. Sie nahm an, dass dem Doktor ein interessanter Weg zum Sachbearbeitungsraum bevorstand, wo er entweder den im Vertrag genannten Verpflichtungen nachkam oder Strafe in Form von Zidos und hauptsächlich Schmerzen zahlen würde. Die auch nicht gerade billige Advokatin des Doktors bot Teysa zum Abschied keinen Handschlag an. Sie rümpfte nur die Nase, schnappte sich einen Stapel Per 44
gamente und rauschte wortlos aus dem Raum. Teysa machte sich eine geistige Notiz, der Advokatin gelegent lich einen Beileidsbrief zu senden. Die Frau hatte den Fall gut vorbereitet und stichhaltige Argumente vorgebracht – bis Teysa den Doktor in den Zeugenstand gelockt hatte. Vielleicht sollte sie die Frau anstellen – wenn nicht doch lieber umbringen lassen. Teysa drehte sich zu ihrem strahlenden Klienten um. Hunderte geisterhafte Sklaven und wertvolle Leichen waren jetzt das Eigentum von Zacco Garn und seinen Partnern. Ein Thrull schlurfte herbei und überreichte ihr eine Abschrift des Urteils. Der Streitwert war nicht so hoch, dass sie viel Geld erhalten würde, aber es war im merhin mehr, als sie erwartet hatte. Vedalken reduzierten manchmal die Höhe der Strafe, wenn sie ein Urteil gegen jemanden der eigenen Spezies fällten. Aber das war wohl durch die unwillkürliche Abscheu vor Zlovols Tat – nicht zu reden davon, dass er seine Ergebnisse nicht genau berichtet hatte – mehr als ausgeglichen worden. Die zu sätzlichen Strafzahlungen, die die Geschworenen unauf gefordert beschlossen hatten, würden die Versicherungs gesellschaft noch reicher machen und Teysa einen netten Bonus einbringen. Garn erhob sich, um ihr die Hand zu schütteln. Seine Knopfaugen strahlten. »Wunderbar!«, beeilte sich der Versicherer zu sagen. »Das hätte nicht besser laufen kön nen! Und nun werden wir uns auch noch um die weiteren Missstände kümmern, die Sie aufgedeckt haben, und ...« »Herzlichen Glückwunsch, Herr Garn. Ich werde je 45
manden in meiner Kanzlei beauftragen, sich darum zu kümmern«, sagte Teysa und zeigte blitzende Zähne und das ehrliche, freizügige Lächeln Nummer zwanzig, das »es war mir ein Vergnügen«, »viel Erfolg« und »auf Wiederse hen« miteinander verband. »Nun, da die schweren Steine aus dem Weg geräumt sind, sollte das die Aufgabe für einen unserer jüngeren Advokaten sein.« »Natürlich, natürlich«, sagte Garn, der zweifellos schon im Kopf zusammenrechnete, wie viele Zidos er sparen würde, wenn er mit jemandem aus der zweiten Garde vorlieb nahm. Teysa unterließ es tunlichst, ihm auf die Nase zu binden, dass sie bei jedem weiteren Fall einen Aufschlag berechnen würde, da ja, wie sie es ausgedrückt hatte, die schweren Steine schon aus dem Weg geräumt waren. Der Prozentsatz, den sie das nächste Mal bekom men würde, würde auch höher sein, oder er musste sich eine neue Advokatin suchen. Und wenn er das tat, würde sie ihn in den Wahrheitskreis holen, wenn sie ihn für das Brechen ihres Vertrages und mündlicher Abmachungen verklagte. Teysa drehte sich um und nickte dem Thrull zu, der so fort weghuschte, um ihr den Stock herbeizuholen. Nach dem der winzige Diener ihn ihr überreicht hatte, begann er ungeduldig zu zappeln. Die kleine Kreatur konnte nicht sprechen – nur äußerst wenige Thrull konnten das. Er quietschte und zeigte in den hinteren Teil des Gerichts saals, wo sich auch die Zuschauer der Verhandlung ge genseitig gratulierten. Die meisten hatten einen Freund oder einen Verwandten an die Zlovol-Verseuchung verlo 46
ren und waren glücklich, dass der Doktor das Verfahren verloren hatte, auch wenn sie selbst keinen Zido an Wie dergutmachung sehen würden. Das war nämlich nicht Teil des Vertrags gewesen. Gerechtigkeit musste ihnen reichen. In den wenigen Jahren, die Teysa ihre Anwaltspraxis in der Stadt der Gilden unterhielt, war ihr schnell klar ge worden, dass es Bestrafung und Wiedergutmachung gab, aber Gerechtigkeit nur um der Gerechtigkeit willen? Das war ein Traum, und diesen Traum beutete sie gut aus. Endlich entdeckte Teysa, was der schnatternde Thrull – er war noch relativ neu, und sie hatte ihm noch keinen Namen gegeben – ihr zeigen wollte. Ein groß gewachse ner, glatzköpfiger Mann mit vielen Tätowierungen, des sen verzierte Gewänder in den Farben Gold, Schwarz und Weiß gehalten waren, hatte den Gerichtssaal betreten. Er hielt sich einen Stab vors Gesicht, an dem eine bleiche Maske befestigt war. Sie nickte ihm zu, als ihre Blicke sich trafen. Sie sammelte ihre Unterlagen und Notizen ein, verstaute sie in einer Ledermappe und überreichte sie dem Thrull, der sie freudestrahlend entgegennahm. »Wir treffen uns in meinen Gemächern«, sagte sie zu dem Thrull. »Wenn du vor mir dort bist, erhältst du eine Sonderportion Ratten.« Der Thrull nickte, drehte sich um und hüpfte auf sei nen froschartigen Beinen durch die laute Menschenmen ge auf einen eigens in Thrullgröße in die Wand gebro chenen Ausgang zu, in dem er gleich darauf verschwand. Die Gerichtsgebäude im inneren Ravnica waren von sol 47
chen Gängen und Tunneln durchzogen, um die Arbeits vorgänge der Gerichte zu erleichtern. Dies war ein weite rer Beweis für die Macht, die sich die Orzhov innerhalb des Rechtssystems angeeignet hatten. Das Gerichtswesen gehörte zwar in den Bereich des Azorius-Senats, aber die Advokaten zahlten ihre Abgaben an die Gilde des Handels. Teysa ließ sich ihre Erleichterung nicht anmerken, als sie auf ihren Stock gestützt durch die Menge auf den gro ßen Mann zuging. Er war gekommen, um sich mit ihr zu treffen. Gemeinsam traten sie durch die Doppeltür in einen weniger überfüllten Gang. »Er will Euch sehen«, sagte der Mann ohne weitere Ein leitung. Sein Name war Melisk, und er hatte wahrschein lich den höchsten Rang in der Karlov-Hierarchie inne, den man erreichen konnte, wenn man kein Karlov-Blut in den Adern hatte. Melisk kam in der letzten Zeit nur noch selten ins Gericht, um sich mit ihr zu treffen. »Was will er?«, sagte Teysa. »Das habe ich Euch gerade gesagt, Herrin«, antwortete Melisk. »Er will Euch sehen. Er hat sich nicht weiter dazu geäußert, und ich bin nicht in einer Position, in der es sich anschickt, weitere Fragen zu stellen. Ausgenommen das Leben des Patriarchen geriete dadurch in Gefahr. Meine Aufgabe ist es, zu dienen.« »Du hast dich verändert. Ich kann mich an eine Zeit er innern, wo ich nicht erst alles aus dir herauskitzeln muss te«, sagte Teysa. »Diene mir, indem du mich zu meinen Gemächern begleitest und mir währenddessen erzählst, was er nicht darüber gesagt hat, was er will.« 48
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Sehr viel zu gehen gab es auf dem kurzen Weg zwischen den Gerichtsgebäuden und dem Villenviertel der Orzhov nicht. Teysas Gebrechen, das ihr schon im Kindesalter das rechte Bein verkrüppelt hatte und bislang jeglicher Form medizinischer Behandlung getrotzt hatte, machte ihr lange Spaziergänge unmöglich. Daher benutzten sie eine der gewerblich betriebenen Teleportationsstationen. Das Verwenden der von den Izzet unterhaltenen Platt formen war für die meisten unerschwinglich, und dank einigen geschickten juristischen Manövern tabu für Wo jeks und andere städtische Angestellte, die sie vielleicht hätten verwenden wollen. Noch geschicktere juristische Manöver hatten dafür gesorgt, dass Teysa dank ihrer Ab stammung von einer der bedeutenderen Orzhov-Familien diese Stationen im Prinzip gehörten und sie daher die Gebühren gar nicht bezahlen musste. Allerdings war ein ordentliches Trinkgeld an den Goblin, der die Station jeweils bediente, obligatorisch. Teysa Karlov war derzeit lediglich eine Advokatin, aber sie hatte langfristige Ziele. Gegen Gier und Ehrgeiz war sie nicht immun, im Gegenteil. Diese beiden Eigenschaften wurden im Buch der Orzhov sogar als heiligste Beweg gründe gepriesen. Teysa betrachtete sich zwar nicht als streng gläubig, aber mit dieser Beurteilung stimmte sie überein. Die beiden betraten die Plattform und verschwanden für einen Moment aus der Existenzebene, um dann am 49
Anfang eines längeren, erhöhten Gehwegs wieder zu erscheinen, der die Farbe von poliertem Marmor hatte. Der Knochenweg, wie er genannt wurde, war einst aus dem Rückgrat eines Steinriesen gefertigt worden. Er war älter als der Gildenbund, der die Völker Ravnicas zusam mengebracht hatte und sie durch die Magie des Paktes beherrschte. Der Pfad führte über ruhiges schwarzes Wasser, das zwar nicht so tief war, wie es aussah, aber immer noch tief genug, um Geheimnisse zu enthalten, die einen davon abhielten, hineinfallen zu wollen. Den Din gen unter der glatten Oberfläche war es egal, welcher der Familien jemand angehörte, aber die schützenden Ver zauberungen des Knochenwegs und dessen von Magie durchdrungenes Material hielten sie glücklicherweise auf Distanz. »Was ist hier los, Melisk?«, fragte Teysa, während die beiden über den Knochenweg zu den geschwungenen Portalen gingen, die den Eingang zur Karlov-Kathedrale markierten. »Schluss mit diesem geheimnistuerischen Schweigen. Ich nehme dir das nicht ab. Du weißt mehr, als du dir anmerken lassen willst, und ich weiß, dass du keine Angst vor einem möglichen Nachspiel hast.« »Ich danke Euch für diese Einschätzung, Herrin«, sagte Melisk. Trotz der flehenden Worte war sein Tonfall so gelangweilt und undurchschaubar wie immer. »Ich bin mir nicht sicher, auf wie viele unterschiedliche Weisen ich Euch noch sagen kann, dass ich nicht mehr weiß.« »Melisk«, seufzte Teysa. »Ich bin nicht in der Stimmung für solchen Unsinn. Treib keine Spielchen mit mir. Ich 50
finde das nicht sonderlich lustig.« Melisk nickte, ohne dabei zu zwinkern. Er zwinkerte so gut wie nie. Seine nekrotisierten, durch Magie verbesser ten Augen brauchten nur wenig Feuchtigkeit. Aber er versuchte es. »Ich habe zufällig einen Namen mitbekom men. ›Utvara‹ – das ist alles, was ich für Euch habe, Her rin. Und damit habe ich nun einen Eid gebrochen, den ich ...« »Also Utvara«, sagte Teysa. »Ja.« »Die Sanierungszone?«, sagte Teysa. »Die, wo die Seu che außer Kontrolle geraten ist, damals als ... Wann war das noch mal? 9960? 9965?« »Neunundneunzig fünfundsechzig«, bestätigte Melisk. »Das Gelände gehört den Karlovs.« »Ich dachte, es ging um eine Ausschreibung für Bauar beiten«, sagte Teysa. »Die Izzet haben dort draußen Ge schäfte laufen, glaube ich.« Sie blickte finster drein. »Ich mag keine Izzet-Klienten, falls es das ist, was so dringend von mir verlangt wird. Es ist mir egal, wie viel sie bezah len. Sie haben die Angewohnheit, den Wahrheitsbereich auf eine Weise zu verdrehen, der mich aus dem Rhyth mus bringt. Das stört mich.« »Der Patriarch wird Euch sicherlich alles genau erklä ren.« »Oder das genaue Gegenteil«, murmelte Teysa. Sie erreichten die zwei maskierten Wachposten, die auf beiden Seiten des mittleren Torbogens standen, und Teysa nickte ihnen nacheinander zu. Als Antwort darauf 51
drehten sich die beiden groß gewachsenen ThrullSoldaten aufeinander zu und hoben ihre Piken so, dass sie einen kleineren Torbogen bildeten, durch den Teysa und Melisk hintereinander durchschlüpften. Ihrem Aus sehen nach waren diese Thrulls aus Ogern gewonnen worden, wobei auch ein paar Troll-Einflüsse zu erkennen waren. Sie steckten von Kopf bis Fuß in goldenen Rü stungen, die mit Obsidian abgesetzt waren. Teysa blieb kurz stehen, um ein paar große Münzen auf die Kollekte teller der Wachen zu legen, bevor sie mit ihrem Begleiter die breiten Stufen hinaufstieg. Der Orzhov-Distrikt wurde offiziell nicht als Teil der Unterstadt von Ravnica gesehen, die hauptsächlich aus Gebieten der Golgari und der Rakdos bestand. Das Ganze war irgendwann einmal so festgelegt worden, obwohl sich das Villenviertel sowohl nach oben als auch nach unten ausdehnte und mehrere übereinander gelegene Gebiete Ravnicas umfasste. Die in den Himmel ragenden und miteinander verbundenen Gebäude dieses Stadtteils sorgten dafür, dass das Tageslicht nicht weiter als bis zu den Turmspitzen vordrang. Das ganze Viertel war in dau erhafte Dunkelheit gehüllt, die nur von einigen Leuchtku geln durchdrungen wurde, die überall aufgehängt waren. Doch auch die schwachen Lichtquellen waren oft so weit voneinander entfernt angebracht, dass an einigen Stellen ständig Nacht war. In der Kathedrale herrschte wie gewöhnlich eine ge schäftige Stimmung. Spektrale Boten, die durch eiserne Orzhov-Verträge auch nach ihrem Tod noch den Patriar 52
chen unterworfen waren, schwebten hin und her. Grup pen von Statuen präsentierten die Errungenschaften und den Reichtum der Gilde. Besonders diejenigen, die mit der Familie Karlov verbunden waren, gaben dem Ort die Aura sowohl eines Museums als auch einer Grabstätte. Es waren nur wenige »echte« Orzhov zu sehen. Das mochte daran liegen, dass Bewohner des Villenviertels meist so sesshaft waren, dass sie kaum noch ihr Haus verließen. Aktivere Leute wie Teysa tendierten dagegen dazu, sich eine Wohnung in der Innenstadt zu suchen. Der Lebensstandard, der im Villenviertel herrschte, wä re ohne all die Thralls, Gargoylen und andere halbintelli gente Dienerwesen, die bei den Orzhov in Lohn und Ar beit standen, gar nicht möglich. Natürlich gab es auch ziemlich intelligente Exemplare darunter, aber Kreaturen wie die eine, auf die Teysa und Melisk jetzt zugingen, waren der Hauptgrund dafür, dass es den Orzhov gelun gen war, so geschützt in ihren Villen und Prachtbauten zu leben. Bei dem Wesen handelte es sich um einen intelligenten Golem, der seinen Erschaffer erschlagen hatte. Der Name jenes Zauberers war schon lange vergessen, und der Wächter wollte ihn auch nicht mehr preisgeben. Sein Körper bestand aus Stein, Knochen und roher Elemen tarmagie und hatte die Gestalt einer riesigen, skorpion ähnlichen Kreatur, der so genannten Walzenspinne, die schon lange ausgestorben war. Das Wächterwesen nahm normalerweise dauerhaft seine Angriffshaltung ein: Alle acht Beine waren am ersten Gelenk gebeugt und in die 53
Granitsäulen gerammt. Jedes der Beine war bereits dop pelt so groß wie Teysa. Die beiden Vorderglieder waren wie Hörner nach oben gebogen, und mit acht kristallinen Augen konnte es in alle Richtungen gleichzeitig blicken. Man konnte das Gebäude zu Fuß nur betreten, indem man am Wächter vorbeiging, und dieser konnte einen bereits aufgespießt haben, bevor man das zweite Bein paar erreicht hatte. Das riesige Spinnenwesen arbeitete aufgrund eines Vergeltungsvertrags hier. Die Orzhov hat ten ihren Teil bereits vor einigen Jahrtausenden erfüllt, aber das Wesen würde noch einige tausend Jahre weiter arbeiten müssen, um seinen Teil des Vertrags einzuhal ten. Das Wesen, das unvorstellbar alt war, hatte eine ganze Menge Vergeltung gewollt. »Hallo Pazapatru«, sagte Teysa und streckte ihren Arm so aus, dass die Handfläche nach oben zeigte. »Wie geht es dir?« Der Ärmel ihrer Robe rutsche hoch und gab drei schwarze Steine frei, die in ihre Haut eingesetzt worden waren. Der mammutgroße Kopf der steinernen Wal zenspinne knarrte und ächzte, während er sich zur Advo katin hindrehte. Die beiden nach vorn ausgerichteten Augen leuchteten einige Sekunden lang rot auf, und die Steine in ihrem Handgelenk reflektierten das Licht. Pazapatrus Sprache bestand aus einer zischenden Ab folge von Fauchen und Schnappen, das Teysa dank dem Orzhov-Blut in ihren Adern so problemlos verstehen konnte, als hätte das uralte Wesen auf Ravi, der allgemei nen Verkehrssprache, geantwortet. »Teysa. Mir geht es 54
gut, und ich freue mich schon auf meine Freiheit in ge nau 2281 Jahren, neun Monaten, elf Tagen, zwei Stunden, vierundvierzig Minuten und ... zehn Sekunden. Dann werde ich euch alle zerstören.« »Das bezweifle ich nicht, aber ich hoffe, dass ich bis dahin ein Geist bin.« »Das wäre anzuraten. Heute nur ein Gast?« »Ja«, bestätigte Teysa. »Ein Gast mit Begleitung. Bitte friss ihn nicht. Ach, ich freue mich schon auf deine Ra che, wie immer.« Wieder gab es ein undefinierbares knirschend mahlend-quietschendes Geräusch, als das Wesen sich wieder abwandte. »Genieße deinen Aufenthalt, Teysa. Ich wünsche dir und deinem Begleiter einen angenehmeren Tod.« »Ich dir auch«, sagte Teysa. Der Wächter erhob sich auf die vier Hinterbeine. Teysa nickte Melisk zu, und sie machten sich auf den Weg ins Innere. Als sie mit Melisk endlich den Eingang zu den Gemä chern ihres Onkels erreichte, war ihre Laune getrübt. Die Leuchtkugeln ihres ehemaligen Heims wirkten längst nicht mehr so einladend wie einst, und es gab nicht mehr viel, was sie mit diesem Ort verband, außer dass sie hier ihre Jugend verbracht hatte. Der alte Patriarch sollte lie ber einen wirklich guten Grund haben, sie den weiten Weg hierher zurücklegen zu lassen. Sie hatte verdrängt, wie riesig und monoton die Flure in diesem Gebäude waren. In jedem Flügel standen Statuen, Gemälde, glü 55
hende Mana-Skulpturen und aus Stein gehauene Büsten, und alle hatten nur ein Thema: wie großartig im Sinne der Orzhov das Haus Karlov doch war. Alles war grell beleuchtet und wirkte protzig. Bei jedem, der auch nur einen Hauch guten Geschmack besaß, musste diese An sammlung Übelkeit hervorrufen – besonders weil jedes Kunstwerk in den Fluren die gleiche Person darstellte: den Patriarch, den sie Onkel nannte. Teysa hatte sich schon immer gefragt, warum es keine Matriarchinnen gab, insgeheim aber vermutet, dass jede Frau mit etwas Grips im Kopf einfach keine Lust haben würde, ein an die Unsterblichkeit grenzendes Leben im Patriarchat zu verbringen. Zwei glatzköpfige, wie Statuen wirkenden Engel stan den auf beiden Seiten der mit goldenen Blättern beschla genen Tür zu seinen Gemächern. Es waren natürlich kei ne Boros-Engel. Sie hatten einen dunkleren Einschlag und waren besser auf die Bedürfnisse der Orzhov eingerichtet. Wenn man sie näher betrachtete, war das Kämpfen nur einer der Zwecke, die sie zu erfüllen hatten. Teysa wusste aus guter Quelle, dass die blinde Ergebenheit der Engel schon oft zu Szenen geführt hatte, über die sie lieber nicht länger nachdenken wollte. Diese Hingabe zu den Patriarchen war den Engeln bereits bei ihrer Erschaffung eingeschnitzt worden. Ihre schwarz gefederten Flügel bauschten sich leicht, als sie die Neuankömmlinge ent deckten, und ihre schneeweißen Augen glühten auf, als sie das Orzhov-Blut wahrnahmen, das Teysa durchfloss. Onkel war in einiger Hinsicht ungewöhnlich. Im Ge 56
gensatz zu den meisten anderen Patriarchen verwendete er nicht einen kunstvollen und eindrucksvoll klingenden Namen, um seine Autorität zu stützen. Für jeden, der Orzhov-Blut in den Adern hatte, war er der »Onkel«, alle anderen hatten ihn »Patriarch« zu nennen. Er unterschied sich auch darin von den anderen Patriarchen, dass er in den letzten zwanzig Jahren den Fuß vor die Tür gesetzt hatte, ja sogar das Viertel verlassen hatte. So war er bei spielsweise auch Augenzeuge der bizarren Ereignisse bei der Zehntausendjahrfeier gewesen, die inzwischen aller dings auch schon über zehn Jahre zurücklag. Seine Engel der Verzweiflung hatten ihn begeleitet und ihn, nach eigener Aussage, vor dem Gemetzel der selesnijanischen Schweiger gerettet. Teysa wollte das gern glauben. Ob wohl sie in länger dauernden, subtileren, effektiveren Projekten nutzlos waren, konnte man sich im schnellen, direkten Kampf auf die Orzhov-Engel verlassen. Onkels Engel legten ihre Schwerter jeweils auf die Schulter ihres Gegenübers und traten einen Schritt zu rück, um zwei identische goldene Kollektenteller frei zugeben, die auf kleinen Sockeln montiert waren. Teysa legte auf jeden genügend Zidos, um damit eine kleine Villa kaufen zu können – es war nicht nur eine Spende an die Orzhov, sondern vor allem an ihren persönlichen Patriarchen. In diesem Fall war die »Spende« gleichzeitig auch so etwas wie eine Tributzahlung. Mit jeder Münze, die sie auf die anderen fallen ließ, sprach sie Worte in einer alten Sprache, mit der sie um Langlebigkeit und Gesundheit für Onkel bat. 57
Als das Klimpern der Münzen schließlich aufgehört hatte, schob sich eine Täfelung in der Tür wie von einem aufgezogenen Uhrwerk gesteuert beiseite und gab den Blick auf das blässliche Gesicht von Herrn Yigor frei, der Onkels persönlicher Türsteher war. Sein Gesicht konnte kaum knochiger wirken, wenn man sich die Mühe ge macht hätte, ihm die Haut abzuziehen. Teysa hatte ziem lich lange vermutet, dass Herr Yigor eine Art Thrull oder Zombie war, aber in Wahrheit war er einfach nur ein sehr, sehr alter und überarbeiteter Mensch, dessen Hal tung und Arroganz von vielen getreuen Jahren an der Seite ihres Onkels herrührten. »Ja bitte?«, sagte Herr Yigor. »Tu nicht so überrascht. Man hat nach uns geschickt.« »Na und?«, sagte der Türsteher. »Und du solltest die Tür öffnen, bevor ich dir die Augen entferne, Diener«, sagte Melisk in einem durch seine Maske etwas gedämpften Ton. »Sehr wohl, die Herrschaften«, sagte Herr Yigor. Er tat nie etwas, wenn er nicht bedroht wurde. So etwas kam aber alltäglich vor, wenn ein persönlicher Diener es mit jemand anders zu tun hatte als mit dem, in dessen Dienst er stand. Teysa vermutete, dass Herr Yigor außerdem jede auch noch so kleine Gelegenheit genoss, sich gegenüber ihm höhergestellten Personen aufzuspielen. Nun, sollte der alte Mann halt seinen Spaß haben. Melisk hob seinen Stab und rückte die Maske zurecht. Sie erinnerte oberflächlich an den Onkel, allerdings mit einem glückseligen Gesichtsausdruck. Teysa griff in ihre 58
Gewänder und holte eine dünne, zerbrechlich wirkende Maske hervor, die fast den gleichen Gesichtsausdruck zeigte. Teysas Maske war ein über neunhundert Jahre altes Erbstück aus zartem, bemaltem Perlmutt. Sie hatte sie von Onkel geschenkt bekommen. Sie drückte das Perlmutt auf ihr Gesicht und spürte, wie es sich an ihrer Haut festsaugte. Sie würde sie abnehmen können, wenn sie ihr willentlich den Befehl dazu gab, aber erst einmal saß sie unverrückbar. Onkels Gemächer waren so opulent eingerichtet, wie sie alt waren, und mit prunkvollem Dekor eingerichtet. Der Raum besaß eine hohe Kuppeldecke, und außer Herrn Yigor war Onkel das einzige wirklich lebende We sen darin. Was allerdings nicht bedeutete, dass das Ge wölbe leer war. Thrulls und Gargoylen standen an den Wänden aufgereiht oder hingen vor der Decke. Die mei sten schnatterten und begrüßten Neuankömmlinge wie ein Schwarm Gänse. Nur der größte Thrull von allen stand still und stramm hinter Onkels linker Schulter und strahlte in aller Ruhe eine gewisse Boshaftigkeit aus. Sei ne hervortretenden Augen schweiften über Teysa, dann über Melisk, bevor sie wieder zu Onkel zurückkehrten, um dort dann auch zu bleiben. Geschmacklose Wandteppiche bedeckten große Teile der fensterlosen Wände und verbargen alte, immer wie der übertünchte Wandmalereien. Sowohl die Wandbe hänge als auch die Gemälde stellten freizügige und auf reizende Amüsements dar, was wohl Onkels Lieblingsbe schäftigung in seinen jüngeren Jahren gewesen war. Wie 59
erwartet enthielten sie auch Szenen, auf denen die beiden Engel, an denen sie gerade vorbeigekommen waren, mit abgebildet waren. Es fiel Teysa schwer, sich vorzustellen, dass Onkel auch mal jung gewesen war. Die meisten, die sich noch daran hätten erinnern können, waren längst tot, und bei einigen hatte er dabei seine Hand im Spiel gehabt. Ein paar davon saßen auch im Obzedat, dem Gei sterrat der Orzhov, der die Geschäfte führte. Onkel erwar tete, dass auch er eines Tages diesen Weg einschlagen würde, aber nicht unbedingt früher als notwendig, wie er gern betonte. »Ihre Hochwohlgeborenheit, die Herrin Teysa Karlov«, kündigte Herr Yigor mit der zu erwartenden schleppen den Stimme an und machte eine Handbewegung in ihre Richtung. »In Begleitung eines Dieners«, beendete er die Vorstellung. Er verbeugte sich, huschte in seine Ecke neben der Tür zurück und reihte sich dort wieder unauf fällig zwischen den Schatten ein. Onkel saß auf einem schwebenden Thron mit hoher Rückenlehne und hatte seine Aufmerksamkeit bislang auf etwas anderes gerichtet. Nun drehte er sich mitsamt sei nem riesigen Thron zu ihnen um und gönnte seiner Groß Groß-Groß-Groß-Großnichte ein breites Lächeln. Melisk wurde nicht beachtet – ein Diener verdiente keine beson dere Aufmerksamkeit, erst recht nicht einer, in dem kein Orzhov-Blut floss. Das Lächeln saß quer über einem Vier fachkinn, das bis in die Mitte des sorgfältig verborgenen Bäuchleins herunterhing. Die Augen waren winzige Höh len über den runzeligen Hautfalten, aus denen die Wan 60
gen und der Mund bestanden. Teysa musste ein Schaudern unterdrücken. Sie hatte ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. In der Zwi schenzeit hatten die Gebrechen des Patriarchen stark zugenommen. Natürlich war er gerade am Essen. Um einen menschli chen Körper über ein Jahrtausend am Leben zu erhalten, musste man ihm kontinuierlich Energie zuführen. Die Gewänder waren über und über besudelt, was aber nicht nur daran lag, dass Onkel in den letzten Jahren keinen Wert mehr auf Tischmanieren gelegt hatte. Sein Zustand hatte sich deutlich verschlechtert, und daran waren so wohl der Orzhov-Anteil seines Bluts als auch sein Alter schuld. Das Blut verlängerte die Lebenserwartung eines Orzhov zwar um Jahrhunderte, aber es verlangte auch einen hohen Preis dafür: unvorhersehbare und zufällige Missbildungen sowie der Ausbruch von Erbkrankheiten. Manche waren schon bei der Geburt sichtbar, wie das bei Teysas verkrüppeltem Bein der Fall war. Onkels nekroti scher Verfall dagegen war erst sehr spät in seinem Leben eingetreten. »Onkel, ich freue mich zu sehen, wie gut es dir geht«, log Teysa. »Für dein Alter siehst du wirklich noch toll aus.« Der Patriarch lachte und hob einen Weinkelch in ihre Richtung. Sein Gelächter war eher ein Bellen und hatte die Auswirkungen eines Erdbebens. Sein gesamter glit zernder Körper wackelte nach allen Seiten. Erst nachdem alle in seiner Nähe befindlichen Bolde und Gargoylen 61
gründlich Schleim abbekommen hatten, hörte sein Ge lächter soweit auf, dass er sprechen konnte. Seine Stim me keuchte wie ein sterbendes Tier, aber sie hatte immer noch einiges an Kraft in sich. »Beleidige deinen Onkel nicht mit so leicht aufzudek kenden kleinen Lügen«, sagte der Patriarch. Er nahm einen Schluck Wein, der größtenteils sogar in seinem Mund verschwand, und war nach weiteren keuchenden Atemzügen wieder in der Lage weiterzusprechen. »Im merhin war ich es, der dir beigebracht hat, wie man lügt, Teysa. Vergiss das nicht.« »Als ob du es mir je durchgehen lassen würdest«, sagte Teysa Und zuckte die Achseln. »Aber willst du, dass ich dir sage, wie du wirklich aussiehst?« «Du bist für jemanden, der im Gerichtssaal arbeitet, viel zu ehrlich«, bemerkte Onkel. »Ich bin mir vollkommen im Klaren darüber, wie ich aussehe. Es hat nichts mehr mit den süßen, schönen Gesichtern zu tun, die du und dein Diener mir entgegenhaltet. Wenn ich meinen Platz im Obzedat einnehme, müssen alle Masken, die mich dar stellen, zusammen mit meinem Körper verbrannt wer den. Es ist kein schöner Gedanke, in der Ewigkeit immer wieder dieses Gesicht sehen zu müssen.« »Ich werde mich persönlich darum kümmern, Onkel«, sagte Teysa. »Allerdings glaube ich nicht, dass du vorhast, uns in nächster Zeit zu verlassen, nur um dich diesem erhabenen Gremium anzuschließen.« »Und woraus schließt du das?«, antwortete Onkel. »Schau dir meinen erhabenen Körper an. Meine Haut 62
verrottet von innen nach außen. Meine Gewänder starren vor Krankheitserregern. Ich bin am Verwesen, mein Kind – ich bin eigentlich schon tot, nur dass mein Körper wohl noch eine Weile braucht, um dahinter zu kommen.« »Hast du deswegen nach mir geschickt? Glaubst du wirklich, dass dir dein Ende bevorsteht?« Teysa ließ sich nichts außer etwas Sorge anmerken, obwohl Onkel schwer beleidigt gewesen wäre, wenn sie nicht auch et was Erwartung und Vorfreude ausdrücken würde. »Wo ist eigentlich dein Leibarzt abgeblieben?« »Er hat zu oft seinen Mund aufgemacht, wenn er nicht gefragt war«, sagte Onkel und brach sofort wieder in ein feuchtes Gelächter aus. Auch diesmal landete danach nur die Hälfte des Inhalts seines Kelchs in seinem Mund. »Er war eh ein Dummkopf. Du bist so geistesgegenwär tig und durchtrieben wie immer«, sagte Teysa. »Da magst du Recht haben«, sagte Onkel. »Aber ich ha be dich nicht wegen meines Zustands herbestellt. Im Gegenteil, es ist dein Zustand, beziehungsweise dein Verbleib, der mir Sorgen bereitet. Nicht nur mir, der gan zen Familie.« »Mein Zustand?« Teysa war verwundert, und ihr Blick ruhte kurz auf dem Stab, auf den sie sich stützte. »Was soll mit mir sein?« »Es geht nicht um die Missbildung. Das ist eine harmlo se Sache. Ich habe Lungen gesehen, die sich außerhalb des Körpers gebildet haben. Arme, die mit blinden, trok kenen Augen übersät waren. Zähne und Zungen, die aus der Stirn wuchsen. Das Bein, das du dem Blut deiner Fa 63
milie verdankst, ist dagegen nur ein Schönheitsfleck. Du kannst dich glücklich schätzen, junge Frau.« »So jung bin ich gar nicht«, sagte Teysa und ließ ihre Stimme dabei etwas beleidigt klingen. »Um was genau geht es also? Es warten dringende Fälle auf mich, an de nen ich zu arbeiten habe.« »Zuallererst solltest du an deiner Geduld arbeiten«, sag te Onkel. »Ich möchte mit dir über deine Stellung spre chen. Du bist ein Spross dieser Familie, und du weißt, dass du diesem Haus und meiner eigenen verschrumpel ten Seele schon immer besonders am Herzen gelegen hast. Du hast lange genug in deiner Kanzlei gearbeitet.« »Ich habe mich gerade erst etabliert«, protestierte Tey sa, die Probleme hatte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Zum Glück verbarg die Maske ihr Gesicht. Sie bezweifelte, dass sie Zorn und Ungläubigkeit darin hätte verbergen können, auch wenn sie so gut darauf trainiert war. »Anwalt zu sein ist ein ehrenvoller Beruf, Onkel, und wenn ich ...« »Willst du dich in die lange Reihe der berühmten Trickbetrüger einreihen? Du bist zu gut für so eine Karrie re, und es ist an der Zeit, dass wir dich auf einen besseren Pfad geleiten.« »Nein«, sagte Teysa. »Nicht in den Konvent. Ich würde einen Weg finden, ihm zu entfliehen.« Sie warf einen Seitenblick auf Melisk, dessen Maske ebenfalls verbarg, was er von dieser Entwicklung hielt, falls er sich über haupt darüber Gedanken machte. Sie fragte sich, wie lange es wohl her sein musste, dass sich jemand Onkel so 64
direkt widersetzt hatte. Seine Augen hatten sich jedenfalls noch etwas mehr geweitet, und auch sein Keuchen war etwas schneller geworden. »Du zweifelst an der Weisheit der Älteren«, polterte Onkel. »Und du solltest nicht vorgeben, genau zu wissen, was ich im Sinn habe. Kind, in deinen ersten drei Jahren als Anwältin hast du mehr Fälle gewonnen als deine Mut ter oder deine Tante in deren ganzer Laufbahn. Du bist ein Wunderkind, meine Liebe.« »Das würde ich nicht behaupten«, sagte Teysa mit aller Bescheidenheit. »Ich habe vor allem Fälle zugeteilt be kommen, die von vornherein gut für meine Klienten aus sahen, wenn man sich die Einzelheiten einmal näher betrachtet.« »Deine Aufmerksamkeit, was Einzelheiten betrifft, ist genau der Grund dafür, weshalb du jetzt hier bist«, sagte Onkel. »Deswegen bist du eine erfolgreiche Advokatin, und deswegen wirst du auch in deinem neuen Aufgaben gebiet Erfolg haben.« »Aufgabengebiet?«, sagte Teysa. »O ja«, sagte Onkel. »Du hast sicherlich schon einmal von einem Ort namens Utvara gehört, oder?« »Utvara?«, wiederholte Teysa. »Ein Ort, den Melisk dir gegenüber bereits erwähnt hat«, sagte Onkel. »Vergeude bitte nicht unsere Zeit. Ich kriege davon so leicht Rückenschmerzen.« »Also Utvara«, sagte Teysa. »Aber was ist damit? Wie gesagt, ich habe dringende Fälle zu bearbeiten, Onkel.« »Das muss alles warten, bis wir uns auf den Weg ge 65
macht haben«, sagte der Patriarch. Er wedelte mit einer Hand in Richtung der gewölbten Becken und von Gargoy len gezierten Säulen. »Dieser Ort hat viele Ohren, du kennst das Problem. Aber ich werde dir ein wenig über Utvara erzählen. Es ist eine seltsame Gegend. Ich habe sie vor vielen Jahren erstanden, kurz bevor du geboren wur dest.« »Warum?« »Als Investition in die Zukunft. Was weißt du bereits darüber?« »Ich kenne Utvara nur dem Namen nach«, musste Tey sa zugeben. Der Verlauf dieses Gesprächs gefiel ihr nicht. Sie hatte in zwei Tagen wieder einen Gerichtstermin. Außerdem mochte sie das Hinterland sowieso nicht be sonders. Und für ein Stadtkind wie Teysa war bereits alles außerhalb der Stadttore von Ravnica Hinterland, egal, wie dicht es bevölkert war. Utvara war allerdings auch eine seltsame Form von In vestition. Seltsam genug, um ihr Interesse zu wecken. »In Ordnung, Utvara also. Was ist nun damit?«, sagte sie. »Es ist dein Erbe«, sagte Onkel. »Frau Baronin.« »Erbe?«, sagte Teysa. »Aber wie soll ich etwas erben, wo du doch noch ...« »Wie du siehst, hat die Sache noch einen Haken«, ant wortete Onkel.
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Kapitel 3
H
Die Mitglieder des Obzedat sind von den Sorgen der Sterbli chen befreit. Sie müssen nicht mehr nach Reichtum streben, sondern können wahre und heilige Macht suchen. Was ist der Grund, dass sie trotzdem mit dem gleichen Eifer wie vor ihrem Tod hinter Reichtümern her sind? anonymer Autor, Das Generationen-Manifest für die Zukunft der Orzhov (4582 Z. C.)
30. Paujal 10012 Z. C. Siebenundvierzig Jahre, nachdem Niv-Mizzets Wandern des Auge 9477 in die Geschichtsbücher der Izzet einge gangen war, beobachtete ein anderes Paar Augen die angeblich entseelte Region Utvara, wenn auch aus einem etwas anderen Blickwinkel. Die Augen gehörten einem Viashino namens Aun Yom, dem Anführer einer GruulBande. Das Reptilwesen wusste, dass ihm seine Beute schon bald in die Falle gehen würde. Aun Yom konnte sich dessen deshalb so sicher sein, weil die Neuankömm linge ihre Invasion in das Gruul-Gebiet gar nicht erst zu verbergen versuchten. Er beobachtete die OrzhovKarawane, wie sie am Rand der Ruinen auftauchte und in 67
die lang gezogene Schlucht eindrang, die in die kessel förmige Mitte von Utvara führte. Das Wort »Karawane« passte hier nicht ganz, da der Treck hauptsächlich aus einem einzelnen Fahrzeug be stand, das allerdings die Funktion von mehreren über nahm. Sechs längere Wagen waren auf dem Rücken des riesigen, unterteilten Lokopeden montiert. Flankiert wur de der Treck von sechs bewaffneten, auf Skelettpferden reitenden Wachen, die aufmerksam beide Seiten absi cherten. Das Orzhov-Siegel auf ihren Schilden glomm magisch – hell genug, um die nähere Umgebung erken nen zu können, aber nicht viel mehr. Anscheinend um auf dieser gefährlichen Nachtreise nicht unnötig aufzufal len, hatten die Wachen auf Fackeln verzichtet, aber die leuchtenden Siegel genügten den Verfolgern schon. Der gesamte Treck bewegte sich über den steinigen Boden, als ob die Reisenden darauf bedacht wären, ihre Bewe gung geheim zu halten. Auf Unterstützung aus der Luft hatten sie verzichtet, was bedeutete, dass sie auch keine Vorwarnung erhalten würden. Aun Yom fragte sich wieder einmal, wie ein Volk, bei dem Affektiertheit immer wieder jeden Pragmatismus zunichte machte, es wohl geschafft hatte, auf dieser Welt so viel Macht aufzubauen. Sein eigenes Volk dagegen musste die Reste vom Boden aufkratzen und sich mit dem begnügen, was andere wie die Orzhov weggeworfen hatten. Jene Orzhov hatten sogar eine Möglichkeit gefun den, wie sie den Gruul die Geister ihrer Ahnen rauben konnten, die jetzt nicht länger um Rat und Führung gebe 68
ten werden konnten. Der Körper des Lokopeden bestand aus abwechselnd schwarzen und weißen Segmentplatten, auf denen sich das dünne, silberne Licht des zunehmenden Mondes wi derspiegelte. Wenn den Banditen seine Ohren nicht tro gen, hatte das Ding an jedem seiner insgesamt über zwei tausend Abschnitte ein eigens Paar Beine. Der Lokoped war ein sich schnell fortbewegender Schlauch auf Beinen, einfach zu kontrollieren und schwer einzuschüchtern oder zu verletzen. Aun Yoms Angriffsplan sah vor, die Passagierkabinen zu stürmen, aber zuvor musste er erst einige Beinbrecher losschicken. Diese Krieger, die auf großen Katzen ritten, konnten mit einem wohlgezielten Hieb ihrer Sense ein Dutzend Beine oder mehr ausschal ten. Die augenlose Kreatur wurde von einem einzelnen Kutscher gelenkt, der wegen seiner gekrümmten Sitzhal tung wie ein Bold wirkte. Eine zweite Gestalt befand sich oben auf dem zweiten Wagen. Die vielen Beinpaare trugen den Lokopeden vorwärts, ohne die Fahrgäste in den Kabinen durchzurütteln. Der Angenehmheit einer sanften Reise stand allerdings die relativ langsame Reisegeschwindigkeit entgegen, zumin dest im Vergleich zu einer typischen, von Dromads gezo genen Kutsche. Was den Banditen einen großen Vorteil verschaffte. Die auf Skeletten reitenden Wachen würden dank Aun Yoms neuer Waffe und ihren lächerlich hellen Schilden am einfachsten auszuschalten sein. Aun Yom war der beste Schütze in seiner Bande. Die zweitbeste Schützin war seine Schwester Illati, die auf einer ähnli 69
chen Position auf der gegenüberliegenden Seite des Fel sens bereitlag. Der Izzet-Goblin hatte noch nicht einmal Zidos haben wollen, als er den Gruul die Energiekugeln gegeben hatte, mit denen sie die wunderlichen Knallstäbe aufladen konnten. Mit diesen Knallstäben hatten Aun Yoms Vor fahren bereits die Kuga-Mot zerstört, wenngleich sie es nicht geschafft hatten, dadurch auch die Ausbreitung der Kuga-Seuche zu verhindern. Die Waffen waren weiter vererbt worden, obwohl sie schon lange nicht mehr funk tionierten, weil die Ladungen bei Jagden verbraucht wor den waren. Sie hatten auch nie wieder etwas wie den Seuchenbringer gesehen. Bis der Goblin kam. Der Izzet hatte ihnen auch gesagt, wann und wo die Orzhov-Karawane auftauchen würde. Alles roch nach einem großen Schwindel, aber Aun Yom konnte sich den Luxus, einen Auftrag abzulehnen, nicht erlauben. Die Macht, die ihm die Knallstäbe verliehen, war außerdem einfach zu verlockend. Aun Yom hatte in Erwägung gezo gen, die Kreatur zu befragen, bevor er sie verspeiste, hatte aber den Münzwurf gegen Illati verloren. Keiner von beiden hatte noch länger einen Gedanken daran verschwendet, warum der Izzet so dringend wollte, dass sie Waffen hatten und im Voraus wussten, wann die Orzhov-Karawane zu erwarten war. Es hätte dem Goblin klar sein müssen, dass er getötet und gekocht werden würde, und trotzdem war er ohne Begleitung in ihr Lager marschiert und hatte dazu noch unglaublich großzügige Geschenke übergeben. Natürlich war alles ein abgekarte 70
tes Spiel, aber die Banditen-Geschwister hatten großes Vertrauen in ihre Fähigkeit, entsprechend zu improvisie ren. Die Kuga-Seuchenwinde, die durch Utvara fegten, sorg ten dafür, dass ein Lufttransport per Zeppelid für die Orzhov praktisch unmöglich war. Die Kreaturen ernähr ten sich zwar von den Schmutzpartikeln in der Luft, die von zehntausend Jahren endloser Zivilisation erzeugt worden waren, aber ihr Immunsystem besaß kaum ir gendwelche Abwehrmöglichkeiten gegen Krankheiten, die so gefährlich wie die Kuga waren. Nur wenige Kreatu ren hatten dies. Und fliegende Vögel, Fledermäuse und Insekten waren einfach nicht groß genug, um die Besitz tümer und Passagiere zu transportieren, die sich in der Begleitung eines einzelnen Patriarchen befanden – jeden falls nicht, wenn man so luxuriös reisen wollte, wie es die Orzhov offensichtlich gewohnt waren. Um durch die Huske zu reisen, war Fliegen trotzdem die beste Möglichkeit. Wollte man am Boden bleiben, musste man schnell sein, um die Sicherheit der Sanie rungszone und damit der seuchenfreien Gegend rechtzei tig zu erreichen. Ein bis zwei Tage, länger sollte man nicht unterwegs sein. Die von allen gehassten LedevWächter hatten es schon vor Jahren aufgegeben, diese Strecke zu patrouillieren, da sie nach dem Desaster bei der Zehntausendjahresfeier gezwungen waren, einen großen Teil ihrer Leute zurück nach Vitu Ghazi zu rufen. Aus diesem Grund war diese Passroute durch die Hügel auch eine der wenigen Strecken auf der Welt, die völlig 71
ungeschützt waren. Die Gruul hatten natürlich im Lauf der Jahre eine Resi stenz gegen die Seuche entwickelt, aber der Preis dafür war hoch und schmerzhaft gewesen. Aun Yom wurde immer wieder daran erinnert, wenn er sich an seiner linken Schulter kratzen musste, wo sich der Pilzbefall zu einem größeren Fleck verknotet hatte. Er hatte viele sol cher Stellen: auf dem Rücken, am Brustkorb, auf den Beinen, den Armen und im Gesicht. Es juckte dauernd irgendwo, zum Glück nicht immer überall gleichzeitig. Der Antigen-Pilz sorgte dafür, dass die Kuga ihn nicht auf der Stelle töten konnte, aber er konnte nicht verhindern, dass seine Lebenserwartung um mehrere Jahrzehnte ver ringert wurde. Zwar war die Lebenserwartung der Gruul nie besonders hoch gewesen, aber in den siebenundvier zig Jahren hatte sie sich immerhin halbiert. Genauer ge sagt, seitdem die glänzende Kugel der Kuga-Mot die uralte Krankheit wieder geweckt hatte. Und es wurde immer schlimmer. Vor siebenundvierzig Jahren wäre Aun Yom niemals Anführer eines Banditen trupps geworden. Allerdings war er damals auch noch nicht einmal gebo ren. Der Rest seiner Bande war sogar noch jünger, ein schließlich Illati. Aun Yom gab seinen Genossen ein Zeichen, ihre Posi tionen einzunehmen, während er die Neuankömmlinge nicht aus den Augen ließ, wie sie dem kurvenreichen Weg durch die zerfallenden Ruinen folgte. Mit einer schnellen Drehbewegung entsicherte er die Goblinwaffe und lehnte 72
sich gegen eine von Rissen durchzogene Mauer, um ge nauer zielen zu können. Er hob die zylinderförmige Waf fe auf Augenhöhe und richtete Kimme und Korn auf den Kopf des Lokopeden-Kutschers aus. Er presste seinen Daumen gegen den Auslösebolzen, aber noch nicht kräftig genug, um einen Schuss auszulö sen. Plötzlich bemerkte er, dass er weder gesehen noch gehört hatte, wie seine Leute die Positionen eingenom men hatten, die er ihnen bei der Planung des Überfalls zugewiesen hatte. Um genauer zu sein, sah er überhaupt niemanden von seiner Bande, weder auf Position noch sonst wo. Er war so fasziniert von seiner Waffe und den sich daraus erge benden Möglichkeiten gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass alle verschwunden waren. »Das war dumm, Aun Yom«, flüsterte der BanditenAnführer sich selbst zu. »War doch klar, dass die Sache einen Haken hat.« Aun Yom, der Gruul aus Utvara, fand nie heraus, wo hin seine Gefährten verschwunden waren oder wer ge nau seine Bande verraten hatte. Als er gerade den Mund öffnen wollte, um Illati eine Warnung zuzurufen, fuhr ihm die dünne, silberne Klinge eines Stiletts direkt unter der Schädeldecke in den Hals. Aun Yom sah die Spitze der Klinge erst, als sie ein paar Zentimeter unter seinem Kinn wieder erschien und von seinem Blut getränkt war. Bevor er zu Boden fiel, bekam er gerade noch ein kurzes, würgendes Geräusch zustande. Die Klinge verschwand so schnell und so sauber aus dem toten Gruul, wie sie hi 73
neingekommen war, obwohl die Hand, die sie führte, die Leiche auch mit wenig Mühe hätte enthaupten können. Yoms Geist blieb nicht lange genug, um einen Blick auf seinen Angreifer werfen zu können. Er bemühte sich, wurde aber sofort von einem Riss am Himmel ver schluckt. Ein paar Sekunden später rappelte sich sein Körper wieder auf, nur dass Aun Yom nicht länger die Kontrolle über ihn hatte.
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Im vordersten Wagen des riesigen Lokopeden reiste Tey sa Karlov mit allem Luxus und Komfort. Der Lokoped schwankte leicht hin und her, und die neu aussehenden Wandbehänge der Kabine flatterten im Takt. Sie teilte sich die in Gold und Platin eingerichtete Kabine mit On kel und Melisk. Außerdem befanden sich noch Onkels Thrull-Leibwächter, einer seiner zwei dunklen Engel und einige stumme Thrull-Diener im Wagen. Die fünf Wagen hinter ihnen enthielten eine Ansammlung an Dienern, Sklaven, Höflingen und sonstigen Mitläufern sowie genü gend Vorräte, die ihr erlauben würden, in einem Stil zu leben, den sie (wie alle anderen mit Orzhov-Blut) verdien te. Schließlich gab es noch ein paar Passagiere, die nichts mit den Orzhov zu tun hatten und lächerlich hohe Sum men in die Geldtruhen der Karlovs gezahlt hatten, um eine der wenigen sicheren Reisemöglichkeiten nach Ut vara nutzen zu können. Darunter befand sich auch ein weiblicher Goblin, die mit auf Hochglanz polierten Zidos 74
bezahlt hatte und sich weigerte, ein anderes Reiseziel als »die Utvara-Region« anzugeben. Onkel hatte Teysa und Melisk gestattet, auf ihre Mas ken zu verzichten, selbst trug er aber seine Reisemaske. Teysa hatte sich gezwungen gesehen, ihre Anwaltskanzlei zu verkaufen, allerdings hatte sie vierzig Prozent der An teile behalten und die Geschäfte einer fähigen Advokatin übertragen – ihrer Kusine Dahlya. Teysa hatte Onkel nicht davon unterrichtet, dass sie sich noch eine Hinter tür offen gelassen hatte. Sollte der Plan des alten Patriar chen nicht aufgehen, hatte sie dank einer Klausel das Recht, ihre Anteile wieder auf eine Mehrheitsbeteiligung aufzustocken – wann auch immer sie wollte und alles zu einem fairen Marktpreis. An den Wänden glitzerte purpurne Seide, in die Fasern aus wertvollen Metallen eingewebt waren. Diese Fasern ermöglichten es unter anderem, Temperatur und Feuch tigkeit im Wagen zu regeln. Unglücklicherweise hatte sich Onkel geweigert, ihr die Kontrolle über die gewobenen Siegel zu überlassen, und hielt die Temperatur im Wagen nur knapp über dem Gefrierpunkt. Onkel fühlte sich bei heißem Wetter entschieden unwohl. Teysa war von Natur aus nicht besonders geduldig, aber während sie Jura studierte, hatte sie sich auch eifrig mit ihren Nebenfächern beschäftigt: Alchimie und Sozio logie. Sie hatte die besten Lehrmeister gehabt, die das Karlov-Vermögen ihr ermöglichte: hervorragende SimicManabiologen, verschlagene Orzhov-Magiejuristen und hochnäsige, aber dafür vielseitig gebildete Azorius 75
Archivare, um nur einige zu nennen. Sie hatte den Turm, in dem sie aufgewachsen war, jahrelang nicht verlassen, und in dieser Zeit hatte Teysas Gehirn all das, was sie je gelernt hatte, verinnerlicht. Sie hatte alle anderen Überle gungen über den Haufen geworfen, um die unentbehr lichste junge Orzhov-Advokatin zu werden. Aber große Besitztümer wurden von Patriarchen verwaltet, nicht von Matriarchinnen. Als Advokatin hatte sie Onkels Testa ment überprüft, nachdem er endlich eines entworfen hatte. Sie hatte auch alle einschlägigen Gesetze über Erb schaftsverfahren genau studiert. Immerhin, es gab tat sächlich keine Regelung, die verbot, dass eine Baronin – das Wort Matriarchin war anscheinend immer noch ein Tabu – die absolute Kontrolle über einen Besitz erhalten konnte, wenn und nur wenn sie die nächste Blutsver wandte des Verstorbenen war. Das traf jedenfalls schon einmal zu. Es gab zwar Kusi nen, Nichten, Neffen, selbst andere Onkel und Tanten, aber Teysa war sowohl eine Nichte als auch ein direkter Nachfahr von Onkel. Der abscheuliche alte Mann hatte vor langer Zeit wohl auch recht enge Kontakte mit der Frau seines Bruders gepflegt, wie Teysa in den letzten Tagen erfahren hatte. Nun war sie bereit, die erste Karlov-Baronin seit min destens zehn Generationen zu werden. Erst recht war sie dazu bereit, die Kontrolle über die Sanierungszone Utvara zu übernehmen. Eigentlich fehlte nur noch eines: dass Onkel endlich starb und ihr den Besitz damit offiziell übergab. Utvara umfasste das als 76
Huske bekannte umliegende Gebiet, eine zentral liegende Stadt, ein mit Bodenschätzen übersätes Ödland, das als die Sandebene bezeichnet wurde, sowie viele Hektar Ge biet mit verlassenen Bauwerken, das auf Ausbeutung und Neuentwicklung wartete. Sie hatte gehofft, dass die Über gabe in der Stadt, also auf Orzhov-Gebiet, stattfinden würde, aber Onkel hatte das abgelehnt. Er hatte es gern, wenn Sachen etwas dramatischer abliefen, und daher war er hartnäckig geblieben. Sie konnte es sich allerdings nicht vorstellen, warum sich Onkel so sicher war, dass sein Ableben so unmittelbar bevorstand. Die Antwort, die auf der Hand läge, war ein Vertrag mit einem Meuchler, um sich selbst umbringen zu lassen. Aber das war denen, die zukünftig einen Sitz im Obzedat einnahmen, nicht gestattet. Trotzdem schien der alte Patriarch davon über zeugt zu sein, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Teysas Geduldsfaden wurde langsam immer dünner, aber das Warten würde bald ein Ende haben. Sanierungs zonen waren ein seltsames Investitionsobjekt und bei den Orzhov keine alltägliche Sache. Oft wurden solche Zonen eingerichtet, wenn Seuchen oder Krankheiten aufgetreten waren. So etwas geschah leider recht häufig in Gegenden, wo die Bevölkerungszahl schneller anwuchs, als die Stadt sie unterbringen und versorgen konnte. War eine Seuche tödlich, wurde so ein Ort für eine angemessene Zeit unter Quarantäne gestellt. Das hatte das Simic-Kombinat zu entscheiden, dessen Wissen über Krankheiten und Seu chen erschreckend umfangreich war. Danach folgten mindestens vierhundert Jahre, in denen die Siedlung auf 77
gegeben werden musste, um sicherzustellen, dass sich das, was die Bevölkerung dezimiert hatte, nicht wieder ausbreitete. Aus diesen und anderen Gründen erzielten Sanierungszonen selten die Einkünfte, die eine große Familie von einer Investition erwartete. Zudem bestimm ten die Gesetze des Gildenbunds, dass Sanierungszonen im Jahr nach der obligatorischen Brachzeit von vierhun dert Jahren wieder einen gewissen Grad an Zivilisation aufweisen mussten. Die Jahrtausende alten Verzauberun gen, die auf dem Pakt lagen, setzen dies auch auf eine geheimnisvolle Weise durch. Sobald die Brachzeit endete, musste es eine Art lokaler Verwaltung, Gesetzeshüter und öffentliche Gebäude geben, wobei hier die Definitionen eine relativ weite Auslegung zuließen. Anderenfalls fiel die Sanierungszone an die Gildenmeister zurück, die sie ausnahmslos an das Selesnija-Konklave übergaben. Auch die Selesnijaner hatten ihre Finger in der Gaune rei, wie Onkel so gern sagte. Aber diesmal hatte er Teysa dazu herausgefordert, ihnen in die Suppe zu spucken. Utvara war eine ungewöhnliche Sanierungszone, so viel war klar. Es war Teil des Jagdgebiets von Niv-Mizzet gewesen, dem legendären Drachen. Der Parun der IzzetZauberwerker verließ allerdings in letzter Zeit seinen majestätischen Horst in der Stadt der Gilden nur noch selten. Man nahm an, dass Niv-Mizzets erster Hort ir gendwo in der Nähe von Utvara gewesen sein musste. Aber selbst wenn das nicht der Fall war, hatte die Gegend einst einen gewissen Reichtum besessen. Die zerfallen den Bauwerke und eingestürzten Häuser enthielten eine 78
unbekannte Menge an Schätzen, die nur darauf warteten, gehoben zu werden. Und dem Grundbesitzer, sei es nun Onkel oder Teysa, stand ein ordentlicher Anteil daran zu. Was das Projekt Utvara außerdem so außergewöhnlich machte, war die Tatsache, dass Onkel mit der Ratsver sammlung des Gildenbunds eine Vereinbarung getroffen hatte, die Brachzeit frühzeitig zu beenden. Er hatte einen Izzet angeheuert, der ihm ein Gerät herstellen sollte, das alles Leben in Utvara vernichten sollte. Anscheinend hat te das funktioniert. Allerdings war dadurch auch eine schwebende Verkrümmung der Realität am Himmel ent standen, über die nur wenig bekannt war. Sie wurde als das Schisma bezeichnet. »Solange du dem Schisma beim Fliegen nicht zu nahe kommst, musst du dir keine Ge danken machen«, hatte Onkel ihr gesagt. Als ob Teysa überhaupt die Absicht hätte zu fliegen – von Kindesbei nen an lösten größere Höhen bei ihr ein starkes Schwin delgefühl aus, ein Gefühl, das sie nicht öfter als notwen dig erleben wollte. Die Schatzsucher, die von überall her in Utvara einge fallen waren, hatten den letzten wichtigen Grund gelie fert, warum die Brachzeit frühzeitig zu beenden war. Onkel hatte Mitglieder des Selesnija-Konklaves eingela den, um einen krankheitsbekämpfenden Vitar Yescu in die Mitte der Ruinen zu pflanzen, wo sich sehr schnell eine Siedlung aus Schürfern, Schatzsuchern und anderen Glücksrittern gebildet hatte. Beim Vitar Yescu handelte es sich um einen besonderen Baum, der das ganze Jahr über blühte. Die Blütenpollen verbreiteten einen Abwehrstoff 79
gegen die neue Seuche, die sich verbreitet hatte, als das Schisma entstanden war. Die neue Krankheit wurde von den Einheimischen Kuga genannt. Alles in allem war es eine seltsame Ansammlung an besonderen Umständen, und daher gewährte man Onkel, die Sachen auf seine Weise zu regeln. Die Magiejuristen, die Onkel aufgefahren hatte, waren problemlos in der Lage gewesen, die Bewohnbarkeit der Gegend zu bewei sen: Schließlich hatten sich hier sogar Leute niedergelas sen, die man nicht dazu eingeladen hatte. Im Prinzip waren sie somit ebenfalls sein Eigentum, zumindest zum Großteil. Und bald würden sie ihr gehören. Die Ausläufer der Huske erhoben sich rund um die Lo kopeden-Karawane, als sie die östliche Route durch die Schlucht einschlugen, die sie in die Mitte der Stadt führen würde. Wie die meisten geologisch wirkenden Erhebun gen an der Oberfläche Ravnicas hatten sich auch diese Hügel aus uralten Bauwerken entwickelt, die im Verlauf von tausenden von Jahren immer wieder neu errichtet und neu genutzt wurden und Millionen von Bewohnern erlebt hatten. Die Ausläufer der Huske waren so zusam mengefallen, dass sie beinahe schon wieder wie Abbil dungen der uralten natürlichen Felsformationen aussa hen, die hier einst standen, jetzt aber unter vielen Schich ten der sich ausbreitenden Zivilisation verschwunden waren. Teysa hatte sich in den letzten Wochen ausführ lich mit der Region beschäftigt und viele Hinweise darauf gefunden, dass die Ausläufer von Schlundlöchern durch 80
zogen waren. Und natürlich dienten sie auch denjenigen Utvara-Gruul als Heimat, die es irgendwie geschafft hat ten, den Seuchenwinden zu trotzen. Sie ließ ihren gelangweilten Blick durch die Kabine schweifen. Die riesige, speckige, andauernd schwitzende Gestalt von Onkel in ihrem breiten Sitz schnarchte durch die Maske. Teysa tauschte mit ihrem treuen Diener einen Blick. Melisk trug nur einen leichten Reiseanzug über seiner bleichen Haut, sodass man einige seiner magi schen Tätowierungen sehen konnte, die einen Beweis für seinen hohen Rang innerhalb der Orzhov-Dienerschaft ablieferten. Es gab einige so genannte »Adlige« unter den Orzhov, die nicht einmal andeutungsweise so viel Presti ge und Einfluss wie ihr »Diener« hatten. Melisk lächelte freudlos und fing wieder an, aus dem Fenster zu starren. Er schien beunruhigt zu sein. Teysa beugte sich nach vorn und stieß Onkel mit ih rem Stock an. Seine knopfartigen schwarzen Augen unter der Maske öffneten sich und schafften es, sowohl Teysa als auch Melisk zwischen den Fettpolstern und dschun gelartigen Augenbrauen hindurch zu fixieren. »Onkel, wir erreichen unser Ziel bald«, sagte sie. »Ah! Wunderbar«, knurrte Onkel und hob geistesabwe send einen halb verzehrten Rest seiner letzten Mahlzeit auf – eine doppelt angebratene Zyklopratte –, um sie sich wieder in den Mund zu stecken und darauf herumzukau en. Er warf einen Blick auf die Landschaft draußen, und sein zufriedenes Nicken ließ alle seine Kinne wackeln. »Hervorragend. Genau rechtzeitig, genau rechtzeitig.« 81
Geräuschvoll schlürfte er das Mark aus einem der Kno chen. »Warum müssen wir eigentlich im Schutz der Dunkel heit anreisen, Onkel?«, wollte Teysa wissen. »Die Gruul schlagen tagsüber nicht zu«, knurrte er zwi schen langen, keuchenden Atemzügen. »Und ich finde, dass es auf diese Weise besser passt. Dein Erbe, dieses großartige Geschenk, ist in den dunklen Schleier der Nacht verpackt.« Teysa seufzte und drehte sich wieder zum Fenster. Die dunklen Umrisse von zerfallenden Türmen am grauen Nachthimmel ließen nichts erkennen außer Schatten, die sich in Schatten bewegten. Sie hatte sich mit ihrer Anwaltspraxis ein gutes Sprungbrett geschaffen, da hatte Onkel Recht. Jetzt, nachdem sie sich gewissenhaft vorbereitet hatte, sah sie ein enormes Potenzial in Utvara. Das ganze Rechtssystem musste neu aufgebaut werden, und es war nur an den Gildenpakt gebunden. Es würde ihre Aufgabe sein, das ganze Gesetzeswerk neu zu verfassen. Es hatte sie über rascht, wie riesig die Gegend war, ebenso wie die sich bereits von allein entwickelnde Stadt, die sie übernehmen würde, sollten sich Onkels Vorhersagen, was seinen Tod betraf, bewahrheiten. Sie bemerkte, wie sehr sie sich doch Onkels Tod auf einmal wünschte. Ihr lauter Seufzer löste eine unerwartete Reaktion bei einem der Grugg-Brüder aus. »Brauchen Sie etwas, ja?«, piepste Bephel. Der kleinwüchsige Thrull hatte Dienst in 82
der Kabine, während Bruder Phleeb den Lokopeden lenk te und Bruder Elbeph auf Wache stand. Brauchen Sie jemand getötet, ja? Ja?« Sein Kopf hatte die Form von zwei aufeinander gespießten Pfeilspitzen, und seine drei Rei hen Zähne klapperten laut, wenn er sprach. Die dunklen Glupschaugen saßen seitlich am Kopf, sodass er in alle Richtungen gleichzeitig blicken konnte. Von den drei Brüdern war er der Einzige, dem sie die Fähigkeit zu sprechen gegeben hatte. »Im Moment nicht, vielen Dank«, sagte Teysa. »Wie Sie wünschen«, sagte der Thrull und watschelte in seine Ecke zurück. Bephels Körper war einem Viashino nachgebildet, und manchmal ähnelte er tatsächlich noch einer zusammengekauerten Echse, nur dass die Schup pen fehlten. Er hatte zudem einen deutlich längeren, gezackten Schwanz, der mit metallischen Nadeln gespickt war. Die Haut des Thrulls war fast durchsichtig und ließ mehr von den Innereien erkennen, als irgendjemand sehen wollte. Die Grugg-Brüder waren schon seit Jahren Teysas persönliche Leibwächter und damit schon fast so lange in ihrem Dienst wie Melisk. Vor allem Bephel war immer nur allzu bereit, etwas oder jemanden in Stücke zu reißen, wenn Teysa eine Gefahr zu drohen schien. Solche Gelegenheiten, seine Loyalität zu beweisen, waren aller dings eher selten. Vor ihnen lag offenes Gelände. Von den selesnijani schen Anhängern des Lebens und ihrer »Beschützung« war nichts zu merken, und wahrscheinlich waren sie längst von hunderten Gruul umzingelt, die ungestraft 83
abgeschlachtet werden könnten, wenn Teysa den GruggBrüdern freie Hand ließe. Den Thrulls war es nicht mög lich, sie zu verraten, selbst wenn sie nicht die hellsten Reisebegleiter waren. Ihre Inbrunst beim Töten aber war bewundernswert, und ihr Talent dafür unverzichtbar. Weil die Langeweile langsam in Ermüdung umschlug, stand Teysa auf und streckte die Glieder. Durch ihren Mantel und ihre Gewänder wirkte es, als hätte sie Flügel. Sie gähnte. Ihr rechtes Bein, das weniger als nutzlos war, gab beinahe unter ihr nach, und sie musste ihr Gewicht mit dem Stock abfangen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Vielleicht solltest du nach hinten in eins der Schlafab teile gehen«, schlug Onkel vor. »So schlimm ist es nicht«, sagte Teysa. »Ich muss nur dieses nutzlose Körperteil hin und wieder mal dehnen und strecken.« »Oh, natürlich, natürlich«, beeilte sich Onkel zu sagen. »Du hast sicherlich Recht. Aber vielleicht ... sollte ich doch noch etwas schlafen. Vielleicht noch ein Nicker chen, bevor wir ankommen, hm?« Teysa nickte. »Du siehst wirklich müde aus, Onkel«, sagte sie. Ob Onkel vorhatte, überhaupt noch einmal aufzuwachen? Sie wagte es nicht, ihn direkt zu fragen, aber er hatte so endgültig geklungen. »Meine Lieblingsnichte, du hast dich zu einer gerisse nen und wunderschönen jungen Oligarchin entwickelt«, sagte Onkel und grinste sie auf eine Art und Weise anzüg lich an, an die sie sich schon vor langer Zeit gewöhnt 84
hatte. Sie hatte sogar gelernt, solche Situationen zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Die Orzhov waren eine äußerst exklusive Familie, und viele Onkel hatten ihre Nichten geheiratet, um den Stammbaum rein zu halten. Das war allerdings etwas, was für Teysa nicht infrage kam. »Ich danke dir, Onkel«, sagte sie und ließ sich ihre kör perliche Abgestoßenheit nicht anmerken. »Ich habe mich stets bemüht, es dir Recht zu machen und dich zu beein drucken.« »Das solltest du auch, das solltest du auch«, antwortete Onkel. »Und ich kann dir versichern, es hat sich ausge zahlt. Aber jetzt erst einmal gute Nacht. Wir werden wei terreden ... sobald wir angekommen sind.« Innerhalb von wenigen Sekunden fielen ihm die kleinen Augen zu. Der Kopf rutschte auf die Schulter, und der alte Patriarch begann kräftig zu schnarchen. Nur eine Sekunde später zerschmetterte ein winziges Kügelchen aus konzentriertem Pyromana die Glasscheibe neben Melisks Kopf und verließ das Abteil wieder durch die Scheibe auf der anderen Seite. Auf dem Weg ver brannte das Geschoss auch noch einen großen Teil von Bephels Kopf einschließlich der beiden Augen. Der treue Thrull kippte seitlich zu Boden und wand sich erbar menswert, während Blut und Hirnmasse aus den rau chenden Löchern in seinem Schädel floss. »Gruul-Angriff!«, schrie Melisk auf. Der Schrei war laut genug, dass die Wachen, die auf der Plattform vor dem Wagen des Patriarchen stationiert waren, ihn hören konnten. 85
Der Patriarch bemerkte nichts von alldem und schlief
in seliger Bewusstlosigkeit weiter.
K
Crix spielte mit dem Abzug und dem Sicherungshebel eines zerlegten Knallstabs, um sich die Zeit zu vertreiben, während der Lokoped die lange Strecke nach Utvara zu rücklegte. Die Goblin-Gefolgsfrau auf dem Rücken des Lokopeden war heute einer der wenigen Passagiere, der nichts mit den Orzhov zu tun hatte. Die anderen Passa giere waren hauptsächlich Schürfer, die der Gilde des Handels ihre ganzen Ersparnisse gegeben hatten, um in Utvara ihr Glück suchen zu dürfen, und wollten nichts mit ihr zu tun haben. Crix hätte sich auch nicht auf diese Reise begeben, wenn ihr Herr nicht darauf bestanden hätte, dass sie höchstselbst Anweisungen an den Ober aufseher des von den Izzet geleiteten Kessel-Kraftwerk projekts überbringen sollte. Sie hatte darum gebeten, dass sie nach ihrer Rückkehr persönlich Bericht erstatten durf te, und es war ihr gestattet worden. Crix hatte vor, etwas Eindrucksvolles zu finden, über das sie dem Magierfür sten Zomaj Hauc zu gegebener Zeit berichten konnte. Falls es der Zeitplan erlaubte, hoffte sie noch ethnologi sche Studien hinsichtlich der Einheimischen betreiben zu können. Diese würden vielleicht gute und entbehrliche Arbeitskräfte abgeben, sobald der Kessel erst einmal auf voller Leistung lief. Die Goblin-Frau machte sich nichts vor. Sie war im 86
Rangsystem der Izzet bereits so hoch aufgestiegen, wie es die wenigsten ihres Volkes je erwarten konnten. Trotz dem konnte es nicht schaden, auf alles vorbereitet zu sein. Es konnte sich ja auch immer wieder etwas ändern. Sie wusste, dass ihre Intelligenz für ihresgleichen unge wöhnlich war – sie war ein Geschenk des Magierfürsten, der sie bereits als Kind unter seine Fittiche genommen und ihre Fähigkeiten mit Magie und Alchimie verbessert hatte. Crix suchte jederzeit nach Möglichkeiten, ihm da für zu danken und zu zeigen, dass seine Investitionen sich gelohnt hatten. Der Auftrag beziehungsweise die lange Reise machten ihr nichts aus, aber die Abwesenheit anderer Goblins machte sie kribbelig. Sie war von, wie sie fand, typischem Orzhov-Gefolge umgeben: Da waren Geisterdiener und ghulartige Gefolgsleute, die wahrscheinlich immer noch Menschen waren, dazwischen huschten noch weniger intelligente Bolde und Thralls herum. Sie waren alle mehr oder weniger Heloten, also Gildensklaven der Orzhov, aber trotzdem behandelten sie Crix, als wäre sie weniger wert als sie. Drei davon hatten es besonders auf sie abgesehen ge habt und sie bereits vor der Abfahrt ständig belästigt. Auch während der Reise hatten sie immer wieder jede Gelegenheit genutzt, um sie zu plagen. Die drei Thrulls, die das geschlungene Ouroboros-Symbol des Hauses Karlov auf der dünnen grauen Haut trug, hatten aller dings als Einzige richtig Ärger gemacht. Da hatte sie Schlimmeres erwartet. Die Orzhov waren zwar generell 87
gesehen seit langem Geschäftspartner der Izzet, aber die Mitglieder der beiden Gilden hatten nur selten etwas mit einander zu tun. Was auch daran lag, dass sich die indivi duellen Mitglieder selten einander leiden konnten. Crix selbst hatte kein Problem mit Thralls, aber die drei hatten anscheinend ein Problem mit ihr. Ihr schien, als würden sie jede sich ihnen bietende Möglichkeit nutzen, um ihr »aus Versehen« ein Bein zu stellen, wenn sie aus ihrem Abteil zum Speisewagen ging, oder »zufällig« Hautfetzen zu verlieren, wenn sie neben ihrem Suppenteller standen. Als die drei sich schließlich auf den Weg in den Salonwa gen des Patriarchen gemacht hatten, war Crix nicht we nig erleichtert gewesen. Immer wenn so etwas passierte, wünschte sie sich, ei nen richtigen Knallstab bei sich zu tragen und nicht nur den Auslösemechanismus als Talisman. Ihr biologischer Vater, ein großer Beobachter im Korps, hatte ihn in den Händen eines toten Graul entdeckt. Dieser Teil der Waffe, hatte er gesagt, habe die Hitze von tausend Sonnen über lebt und sei ein Zeugnis für die Fähigkeiten der IzzetGoblins im Umgang mit Metall und Magie. Er hatte ihr den Talisman gegeben, bevor er zu seinem letzten Obser vationsflug aufgebrochen war, der mit seinem feurigen Tod endete. Dank der Hilfe ihres Magierfürsten war das Buchen der Reise auf dem Lokopeden überraschend einfach gewe sen. Zomaj Hauc hatte so eine Art, Leute zur Kooperation zu bewegen. Eigentlich hatte er sogar mehrere Arten, und bei den meisten war Crix froh, sie noch nie miterlebt 88
haben zu müssen. Diesmal hatte er bloß den dicken alten Patriarchen kontaktiert, dem das Ding gehörte. Er hatte ihm gesagt, dass er eine Transportmöglichkeit für einen Kurier benötige. Und schon hatte sich Crix in einem Zep peliden auf dem Weg in die Orzhov-Gebiete befunden. Es wäre zwar auch möglich gewesen, direkt in das Zielgebiet zu fliegen, aber Crix war sich nicht sicher, ob sie von einem großen Vogel mitgenommen werden wollte, der sich unterwegs immer noch überlegen konnte, sie doch lieber zu verspeisen. Die Reise per Lokoped war erstaunlich angenehm und auch deutlich schneller, als man ihr berichtet hatte. Eine kurze Bewegung mit einem Sensorkristall bestätigte ihr, dass man die Kreatur stark verzaubert hatte, um ihre Leistung zu verbessern. Etwas schwieriger war es, mithil fe des Kristalls herauszufinden, wie viel jeder Elementar kraft in diesen Verzauberungen steckte. Ihr Bericht zu diesem Thema würde den Fürsten erfreuen. Crix rechne te kurz im Kopf aus, wie viele Beine ein Goblin haben und wie viel Mana investiert werden müsste, damit er dieses Tempo hielt. »Hm, das ist aber seltsam«, sagte Crix laut, aber mehr an sich selbst als an jemand anders adressiert. Der Kristall zeigte mehr an als nur den Lokoped, die Verzauberungen und die Wesen, die auf ihm reisten. Sie erkannte einen Klumpen, mehrere kleine Energiepunkte dicht beieinan der, die in den entfernten Hügeln eine Art Wolke bildeten. Sie blickte aus dem Fenster, um festzustellen, ob ihre Au gen das bestätigen konnten, was der Kristall ihr anzeigte. 89
Aber dort war nichts zu sehen. Sehr seltsam. Um was konnte es sich bei dieser Energiewolke handeln? Dieses neue Rätsel hatte sie neugierig gemacht, zu mindest jedoch leicht beunruhigt. Crix kramte immer noch nach ihrem Taschenabakus, als das ganze Abteil ins Schlingern geriet. Durch den Ruck purzelten OrzhovGefolgsleute, Diener und auch der Glück bringende Knall stab-Mechanismus auf den Boden. Crix tauchte nach dem verzierten kleinen Metallstück, bevor es in einen Haufen Eis rutschte, den einer der Diener auf die mit Goldfäden durchzogenen Marmorkacheln hatte fallen lassen. Auf schreie der Überraschung wurden von Alarmrufen abge löst, und in vielen davon kam das Wort »Gruul« vor. »Oje«, sagte Crix. »Ich glaube, das dürfte alles erklären.« Ein gebückter alter Mann mit weißer Schürze, der sich bemühte, das ganze Eis wieder in einen Korb zu füllen, dachte, sie hätte mit ihm gesprochen. »Brauche keine Erklärungen«, brabbelte der armselige Helot. »Tritt ein fach nicht aufs Eis, klar?« »Ja, kein Problem«, sagte Crix. Sie steckte ihren Glücks bringer schnell in die Tasche und tanzte vorsichtig durch das Eis und die plappernden Passagiere zu der Tür, die zum Privatabteil der Patriarchen führte, das sich zwei Wagen weiter vorn befand. Sie bemerkte, dass sie die Einzige war, die sich nicht um einen Platz an den Fen stern balgte, aber sie hatte schon alles gehört, was sie wissen musste. Die Gruul waren im besten Fall Wilde. Aber das, was sie über die Utvara-Gruul gehört hatte, war schlimmer: Ihnen wurde Kannibalismus und Schlimme 90
res nachgesagt. Ihr Meister würde ihr nie vergeben, wenn sie nicht den Patriarchen und sein Gefolge warnen und ihr bestes ge ben würde, um ihn zu beschützen. Nicht nur ihre Intelli genz war vom Magierfürsten gesteigert worden. Und Zo maj Hauc nahm das Wohlergehen seiner Geschäftspart ner sehr ernst. Er bemühte sich, nie das in ihn gesetzte Vertrauen zu enttäuschen, wenn er nicht ein Hintertür chen offen hatte. Da Hauc der Meister des Kessels war und sich der Kessel mitten in Utvara befand, waren er und der Patriarch allein dadurch schon Geschäftspartner. Crix wusste, was sie zu tun hatte. Außerdem bezweifelte sie, dass sie überhaupt zum Kessel kommen würde, wenn dem Patriarchen etwas geschah. Der Wachposten, der normalerweise an der Tür stand, hatte sich der Traube um das Fenster herum angeschlos sen, daher schob sie die Tür einfach beiseite, ohne groß um Erlaubnis zu fragen. Es stellte sich heraus, dass es im nächsten Wagen, dem Speisewagen, ähnlich chaotisch zuging, zudem war der ganze Boden mit gefährlich rut schigem Essen übersät. Für einen Goblin stellte das aller dings kein Problem dar. Crix’ Volk war dafür bekannt, dass es einen untrüglichen Gleichgewichtssinn besaß, und dank Hauc war ihrer noch einmal deutlich besser. Ohne größere Schwierigkeiten schlüpfte sie durch den Wagen, bis sie an eine Tür kam, die immer noch bewacht wurde, sogar doppelt. »Hallo«, sagte Crix so freundlich wie möglich und ge 91
währte den beiden bleichhäutigen Menschen mit den großen Helmen ihr gewinnendstes Lächeln. »Ich muss eure Meister vor drohender Gefahr warnen. Lasst ihr mich bitte durch?« »Nein.« Die Helme, aus denen nur zwei Paar unnatür lich goldene Augen herausschauten, verbargen, welcher der Wächter gerade sprach. »Kann mir nicht vorstellen, dass sie es noch nicht wissen, Goblin.« »Mein Name ist Crix. Ich bin mir sicher, dass ihre Si cherheit von größtmöglicher Wichtigkeit ist«, sagte sie. Der Wachposten hatte wahrscheinlich Recht, aber dann war es immerhin angebracht, wenigstens den Anschein zu wahren. Das Zeigen guten Willens war sowohl in ih rem Sinne als auch in dem ihres Meisters. »Vielleicht könntet ihr beiden wenigstens fragen ...« »Keiner geht da hinein, Goblin«, sagte derjenige, der zu ihrer Linken stand. Ihre Ohren verrieten ihr, was ihre Au gen ihr nicht zeigen konnten. »Befehl vom Majordomus.« »Ach wirklich?«, sagte Crix. Sie versuchte eine andere Taktik. »Sicherlich würde dieser Majordomus eure Initia tive belohnen, wenn ihr in diesem Fall eine Ausnahme machen würdet.« Das Abteil schlingerte wieder, als ob es ihrem Argument Nachdruck verleihen wollte. »Der Chef mag keine Eigeninitiative«, sagte der rechte Wächter. »Hatte einen Vetter, dem wurde die Haut abge zogen, weil er Initiative gezeigt hat. Bleib, wo du bist, sonst benutzen wir dich als Zielscheibe beim Speerwurf.« Crix wollte gerade den Mund öffnen, um sich zu ent schuldigen, entschied sich dann aber anders. Es brachte 92
nichts, mit diesen Wachen herumzudiskutieren. Es war an der Zeit, die wirksamen Knalleffekte herauszuholen. Sie hob eine Hand, sodass die Innenseite zu den Wäch tern zeigte, und ließ dann den Ärmel bis zum Ellenbogen herunterrutschen. Die goldenen Augen weiteten sich dementsprechend, als die Orzhov-Lakaien den glühen den, eintätowierten Namen von Zomaj Hauc erkannten. »Ihr wisst, was das bedeutet«, sagte sie. »Gut. Würdet ihr jetzt bitte so nett sein, es euch noch einmal zu ...« Das Geräusch von splitterndem Glas einige Abteile weiter hinten unterbrach sie, aber nur kurz. »... überlegen?« »Der Goblin da hat vielleicht Recht, Grubber«, sagte der Wächter zu ihrer Linken. »Wahrscheinlich sogar ziemlich Recht«, sagte der zu ihrer Rechten. »Guter Goblin.« »Ihr braucht euch nicht bei mir einzuschleimen«, sagte Crix. »Aber wenn ihr jetzt diese Tür öffnet, dann werden eu re Namen nicht in meinem Bericht an meinen Meister auftauchen.« »Grubber, du Idiot, öffne die verdammte Tür endlich.« »In Ordnung.« Grubber – das war derjenige, der rechts von ihr stand – klopfte kurz an und brüllte »Nachricht für Euch, äußerst dringend« durch die Tür. Ohne auf eine Antwort zu war ten, drückte der zweite Wachposten auf den Knopf zur Türfreigabe. Sobald die goldene Täfelung zur Seite gefah ren und in der Wand verschwunden war, schob er Crix hindurch. 93
»Vielen Dank«, murmelte Crix, während sie beinahe über die Schwelle stolperte. Ein kleiner Verbindungsgang trennte die beiden Wagen. Eine zweite Schiebetür befand sich nur einen knappen Meter vor ihr – diesmal aller dings unbewacht. Als sich die Tür hinter ihr wieder schloss, öffnete sich die Tür vor ihr und gewährte ihr Einlass in das luxuriös eingerichtete Patriarchen-Abteil. Dieser Name würde bald nicht mehr ganz zutreffend sein, schätzte Crix. Aber die den Zustand genauer be schreibende Bezeichnung »blutiges Massaker-Abteil« würde sich wohl auch nicht durchsetzen. Der Patriarch schien ziemlich tot zu sein. Crix konnte sein aufgedunsenes Herz sehen, weil der Körper mit jeder Menge wilder, zielloser Hiebe aufgeschlitzt worden war. Fettschicht um Fettschicht war freigelegt worden. Etwas, das wie ein Engel mit schwarzen Flügeln aussah, lag blu tend auf dem Teppichboden, und graue Thrull-Hautfetzen bedeckten alles. Die einzigen beiden Überlebenden stan den über die Leiche des Patriarchen gebeugt: ein großer, kahler Mann in teuren Gewändern und eine junge Frau in ebenfalls teurer Aufmachung. Das Gesicht der Frau war durch den Schock stark verzerrt. Der Mann war blutbe schmiert, machte aber sonst einen teilnahmslosen Ein druck – bis er den Goblin sah. »Ich bin ein Nachrichtenkurier«, begann Crix und zeig te die Markierungen auf ihrem Arm vor. »Ich soll eine Nachricht von äußerster Wichtigkeit überliefern ...« »Da ist noch jemand!«, schrie die junge Frau. »Steh nicht so dumm herum, Melisk, bring ihn um!« 94
Crix warf erst einen Blick auf den düsteren Mann, dann auf die blutbespritzte junge Frau und dann auf ihre vor gestreckte Hand. Es schien höchste Eisenbahn zu sein, ein bisschen zu improvisieren – eine Kunst, die alle Ku riere beherrschen und von Zeit zu Zeit anwenden muss ten. Sie war durch die Tür verschwunden und auf dem Weg in den hintersten Wagen, bevor Melisk mehr als einen Schritt machen konnte. Die Wachen, die sie hineingelassen hatten, Grubber und sein Kumpel, mussten von dem Mann eine Art stummes Signal erhalten haben. Vielleicht gehörten sie aber auch zu jenem Schlag Wesen, die hinter jedem her jagten, der so schnell wie sie aus dem Abteil des Patriar chen herausgeflitzt kam und dabei blutige Fußspuren hinterließ. Jedenfalls brüllten sie hinter ihr her, sie solle stehen bleiben, während sie sich halb rennend, halb tän zelnd durch das Chaos im Wagen hindurchbewegte. Aus dem, was sie dabei sah, schloss sie, dass es noch kein Gruul in die Wagen geschafft hatte. Bisher griffen sie nur bei den Fenstern an und verursachten dabei üble Verlet zungen bei den Insassen. Auch der Lokoped schien eini ges abzubekommen. Sie hatte allerdings keine Zeit mehr, die Strategie der Gruul zu analysieren. Jetzt musste sie sich erst einmal überlegen, wie sie aus der ganzen Sache herauskam. Die Wächter mit ihren langen Beinen würden sie schnell einholen, falls ihr keine Möglichkeit einfiel, die beiden aufzuhalten. Crix drückte die Tür zum dritten Wagen auf und fand sich abermals in einem Verbindungsgang wie 95
der. Laute Rufe und das Geräusch von Metall, das auf Chitinpanzer traf, hallten hier wider, und sie war einen Moment lang froh, dass das Verbindungsstück keine Fen ster besaß. Crix griff in eine ihrer Taschen und holte dort einen geschmeidigen Klumpen silbrigen Metalls heraus, den sie platt drückte und dann mit ihrer tätowierten Hand gegen den Türrahmen der Tür presste, durch die sie gerade gekommen war. Manchmal waren doch die billigsten und schmutzigsten Zauber die besten. So schnell wie möglich sprach sie die Worte eines einfachen, aber sehr effektiven Zauberspruchs zum Zusammenschweißen. Die Kraft des Pyromanas ließ den metallenen Türrah men fast zerschmelzen. So leicht würde sich diese Tür nicht mehr zur Seite schieben lassen, es sei denn, die Wachen kannten einen Zauberspruch, der magisch ver schweißten Stahl durchbrechen konnte. Crix atmete tief durch und versuchte, an ihrem vorläu figen Zufluchtsort so gut wie möglich die Fassung wie derzugewinnen. Sie trat an die Schiebetür, die in den dritten Wagen führte, und drückte gerade in dem Mo ment auf den Öffnungsmechanismus, als Grubber und sein namenloser Partner den universellen Gegenzauber zu verschlossenen Türen anwendeten – ein Paar schwere Stiefel. Die Metalltür, deren Angeln immer noch rot vor Hitze waren, kippte mit lautem Krach in den Verbin dungsgang, als die Goblin-Frau gerade die Tür hinter sich zuschob. »Einfachheit hat halt auch ihre Nachteile«, murmelte 96
Crix und flitzte in den Wagen zurück, in dem sie ihren Ausflug begonnen hatte. Dort waren sie. Der Wagen war voller Gruul, die an scheinend zugeschlagen hatten, als das Servieren der Mahlzeiten in vollem Gange war. Sie hatten die OrzhovDiener und Küchenhelfer zerfetzt und dabei Lebensmit tel, Wein, Kochzutaten und Körperteile über den ganzen Fußboden verteilt. Der Boden war entsprechend glitschig, und Crix rutschte auf etwas aus, von dem sie hoffte, dass es nur ein Baiser gewesen war. Sie schlitterte in, nein, durch einen kreischenden Geist, der wie viele der ande ren anwesenden Geister etwas verwirrt und ziemlich verärgert darüber war, dass seine Reise nach Utvara hier schon geendet hatte. Die wilde Rutschpartie durch Blut und Nahrungsmittel endete an zwei baumdicken Beinen, die in Sandalen aus Echsenhaut steckten. Die üppige Beinbehaarung war fast so fest wie Draht, und an einigen Stellen hatte sich starker Pilzbefall festgesetzt. Sie wischte sich gelierten Nachtisch aus den Augen – wenn es denn auch tatsächlich welcher war und blickte in das wut schnaubende Gesicht des Banditen. Es war ein Mensch. Er war äußerst hässlich und schien sehr, sehr verärgert zu sein. Er hatte an seiner Kehle et was, das wie eine frische Wunde aussah, was diesen Wil den aber nicht zu beeinträchtigen schien. Der Gruul hob eine blutige Keule, die mit gezackten Steinen besetzt war, und brüllte laut. Das verschaffte Crix ausreichend Zeit, sich zur Seite zu werfen, während die Waffe auf den Marmorfußboden krachte. Auf dem Bauch liegend robbte 97
sich die Goblin-Frau zwischen den Beinen des Menschen hindurch und zog sich an der Tür am hinteren Ende des Wagens wieder hoch. »Haltet den Goblin!«, hörte sie einen der OrzhovWächter brüllen, während sie am Türöffnungsmecha nismus herumfummelte. Der Gruul, der sie gerade beina he zu Brei geschlagen hatte, sah die Neuankömmlinge und zeigte ein breites, wildes, blutdürstiges Grinsen, bei dem man seine rituell angespitzten Zähne deutlich sehen konnte. »Oh, äh, ich glaube, wir müssen diesen Goblin nicht mehr unbedingt verfolgen, Grubber. Wir werden wahr scheinlich in Wagen eins dringender gebraucht.« »Ich würde sagen, da hast du Recht.« Crix bekam nicht mehr mit, ob ihre Verfolger die Be gegnung mit dem Gruul überlebten, weil sie sich bereits im nächsten Verbindungsgang befand. Etwas prallte ge gen die Tür hinter ihr, und sie hoffte, dass es der Gruul war. Die Wächter waren zwar gerade dabei gewesen, sie auf Befehl eines mordenden Orzhov zu fangen, aber sonst schienen sie ganz nette Kerle zu sein. Der Gruul dagegen war ein wahres Monster. Bevor sie sich unüberlegt in den nächsten Wagen stürzte, der ohne Zweifel auch bereits mit angreifenden Banditen voll war, überdachte sie kurz ihre Situation. Sie befand sich ganz allein in einem winzigen Raum, was schon einmal hilfreich war. Niemand schien diesen Ver bindungsgang zwischen den Wagen drei und vier angrei fen zu wollen. Was nur bedeutete, so hoffte sie jedenfalls, 98
dass sie auch niemand mehr von draußen beobachtete. Noch mehr hoffte sie, dass sie es bis in die UtvaraSiedlung schaffen würde, bevor die Seuche sie umbrach te. Aber ein Problem nach dem anderen. Eine genauere Untersuchung der »Wände« des Verbin dungsgangs ergab, dass sie nichts anderes als in Falten gelegtes Leder waren, ähnlich wie bei einem Schifferkla vier. Das Leder war recht dick, wahrscheinlich stammte es von einem Weidetier. Das Wichtigste aber war, dass das Material organisch war – es würde also fast sicher brennen. Die Goblin-Frau schob den rechten Ärmel hoch und kämpfte kurz mit sich selbst, wie viel ihrer Magie sie verwenden konnte. Die Magie der Tätowierungen würde allein so schon nicht ewig halten, wenn sie nicht neu aufgeladen wurden, aber in einem Kampf mit einem die ser Gruul würde sie noch nicht einmal drei Sekunden lang halten. Mit dem rechten Zeigefinger zeichnete Crix einen Um riss, der in etwa Goblin-Gestalt hatte, auf die Innenwand des Verbindungsgangs. Dann ballte sie die Hand zu einer Faust, zählte bis drei und schlug mit aller Kraft ungefähr dorthin, wo das Herz des gezeichneten Goblins gewesen wäre. Der unsichtbare Umriss, den sie gezeichnet hatte, glüh te erst orange, dann weiß. Schließlich fiel die ganze Flä che heraus wie Gebäck aus einer Backform. »Oje, das wird wehtun«, sagte Crix, als sie einen Blick auf die steinige Landschaft warf, die an ihr vorbeizog. Der Gedanke, sich aus dem Lokopeden stürzen zu müssen, 99
war nicht übermäßig ermutigend. Sie atmete tief durch, legte schützend einen Arm über das Gesicht und sprang just in dem Moment durch den eilig erzeugten neuen Ausgang, als eine brüllende Kreatur durch die Tür in den Verbindungsgang eindrang. Sie flog durch die Luft, ein kalter Windhauch fuhr ihr ins Gesicht ... … da legten sich wie eine Schraubzwinge vier kalte Finger um ihr Fußgelenk und stoppten den Flug. »Was glaubst du eigentlich, was du gerade tust?«, knurrte Grubber. »Willst du da rausfallen? Willst du wirklich denen in die Hände fallen?« Grubber drehte Crix am Fußgelenk so herum, dass sie gute Sicht auf die Angreifer hatte, die sich immer noch außerhalb des Lokopeden befanden. Sie konnte minde stens ein Dutzend davon sehen, die alle wild brüllten und mit Klingen um sich schwangen. Die Wilden ritten auf schuppigen Reittieren und riesigen Huske-Katzen, die die Größe von Dromads hatten. Einer von ihnen war nur wenige Schritte entfernt, und als Crix unfreiwillig auf schrie, hob der Gruul, ein Viashino mit wilden Augen, einen glühenden Knallstab und zielte auf sie. »In Ordnung! Ist ja schon gut! Lass mich nicht hier draußen hängen, der will ...«, bekam sie noch heraus, bevor das Ende des Knallstabs aufblitzte. Sie konnte gera de noch sehen, wie das Projektil aus der Waffe direkt auf sie zuschoss, dann zog Grubber sie wieder in den Wagen hinein. Mit einem leisen Ploppen brannte das Geschoss ein kleines Loch in das Leder direkt über Grubbers Kopf. 100
Crix wurde von dessen Ausweichbewegung mitgeris sen und landete so, dass sie jetzt den Orzhov-Wächter im Blick hatte. Dessen Aussehen hatte sich in der Zwischen zeit eigentlich nicht verbessert. Überall hingen Hautfetzen an ihm herab, die nicht von ihm zu stammen schienen, und über der Augenbraue klaffte eine hässliche Schnitt wunde. Der Helm war verschwunden, sodass man den kahlen Schädel sehen konnte, der von der Stirnwunde langsam rot gefärbt wurde. »Also, was willst du jetzt mit mir machen?«, sagte Crix. »Ich bin ein offizieller Kurier, wie du weißt. Du kannst nicht ...« Die Goblin-Frau unterbrach sich. Grubbers Ge sichtsausdruck hatte sich verändert: aus dem finsteren Blick wurde ein Ausdruck der Ungläubigkeit. Zusammen mit Crix blickte er nach unten und sah die silberne Spitze eines Speers aus seiner Brust ragen. Mit einem schmat zenden Geräusch wurde die Waffe wieder zurückgezo gen, und Grubbers Atem stockte endgültig. Eine Sekunde später lagen sie beide auf dem Boden, der eine tot und ausblutend, die andere lebendig, aber unter Grubbers fleischigem, leblosem Arm eingeklemmt. Crix schaffte es, sich auf den Rücken zu rollen, und hatte nun einen weiteren Gruul vor sich. Irgendwie sah er selt sam aus, jedenfalls aus ihrem Blickwinkel. Teile von ihm schienen einfach ... nicht da zu sein. Auf den Armen und der Brust waren deutlich Wunden zu erkennen, aber dar unter schien kein Fleisch zu sein. Stattdessen glühte der Gruul von innen heraus. Die Körperteile, die vorhanden waren, hievten eine 101
schwere Axt über den Kopf und brüllten laut. Es klang nach einem Löwen, jedenfalls war es kein Geräusch, das normalerweise aus dem Mund eines Menschen kam. Die rostige Klinge beschrieb einen Bogen, der direkt in Crix’ Gesicht geendet hätte, wenn sie sich nicht in letzter Minu te von Grubber befreit hätte. Statt zu versuchen, dessen Arm nach oben wegzudrücken, musste es genügen, sich seitlich darunter zu kauern. Die Axt traf dort, wo Crix eben noch gewesen war, und trennte den Arm über dem Ellbogen ab. Die Goblin-Frau wurde mit Blut und Kno chensplittern bespritzt, war dafür aber aus ihrer Zwick mühle befreit. Sie rappelte sich hoch und stellte sich mit unbedecktem rechtem Unterarm dem Gruul-Krieger mu tig entgegen. »Kannst du das hier sehen? Hast du eine Ahnung, was der Gildenpakt für eine Strafe vorsieht, wenn man einen offiziell bestallten Kurier angreift?« Der Gruul schnappte sich Grubbers Arm, riss mit sei nen affenartigen Zähnen ein Stück graues Fleisch vom Knochen und schluckte es in einem Bissen hinunter. »Nein, das kannst du höchstwahrscheinlich nicht«, be antwortete Crix die eigene Frage. Sie saß in der Klemme. Der Gruul hatte sich zwischen sie und den neuen goblinförmigen Ausgang geschoben. Der Krieger, aus dessen Mundwinkel Blut triefte, drängte sie einen Schritt nach dem anderen zurück bis an die Tür, die zum nächsten Wagen führte. Sie spürte den Hebel zum Öffnen der Tür gegen ihre Hand schlagen, als der Gruul wieder seine blutige Axt empor riss und wie ein 102
wahnsinniger Berserker grinste. »Nein!«, schrie Crix und drückte gegen den Hebel. Die Tür sprang auf, und sie ließ sich nach hinten hindurch fallen, um der Axt auszuweichen. Die Klinge traf auf Me tall und schlug Funken, die Crix am Bein versengten. Sofort krabbelte sie noch weiter weg. Crix war zwar ein außergewöhnlicher Goblin, aber vie le der Fähigkeiten, die sie so außergewöhnlich machten, gehörten im Prinzip nicht ihr. Sie durfte sie nur anwen den, wenn sie dazu die ausdrückliche Genehmigung ihres Magierfürsten hatte. Deswegen würde sie aus dieser Si tuation wie jeder andere Goblin herauskommen müssen – auf eigene Faust beziehungsweise auf eigenen Beinen. Der Wagen musste einer der ersten gewesen sein, der vom Angriff getroffen wurde. Hier hatte niemand über lebt, noch nicht einmal Geister waren zu sehen. Außer ihr und ihrem Verfolger befanden sich lediglich zwei Bestien im Wagen. Sie waren so groß wie Pferde, sahen aber wie eine überzüchtete Kreuzung aus Hyänen und Wölfen aus. Die riesigen Kreaturen hatten die Schnauzen in den Über resten von weiteren toten Dienern vergraben. Die Bestien knurrten, sobald Crix wieder auf den Bei nen war, und starrten sie immer böser an, je näher sie deren Futter kam. Allerdings ließ ihr der Gruul keinen anderen Fluchtweg, und durch die zerschmetterten Fen ster sah sie, dass die Gruul-Reiter inzwischen viel näher gekommen waren. Von den Orzhov-Wachen war schon lange niemand mehr zu sehen. Bisher war sich Crix ziemlich sicher gewesen, dass sich 103
die Karawane trotz des Angriffs bis ins Stadtgebiet von Utvara durchkämpfen würde. Schließlich war das mäch tige Lokoped noch mit Zaubern verstärkt, und die Sicher heitstruppe der Orzhov hatte einen guten Ruf. Aber jetzt war sie sich längst nicht mehr so sicher, und die Sorge um ihre Mission übernahm die vollständige Kontrolle über sie. Sie musste hier herausgelangen, selbst wenn das bedeutete, dass sie den ganzen Weg bis zum Kessel lau fen musste. Wenn sie doch nur eine Nachricht an ihren Meister schicken könnte und er ihr erlauben würde, end lich ihre einzigartigen Fähigkeiten anzuwenden ... Eine der Bestien brüllte durch ihre blutigen Reißzähne hindurch und unterbrach Crix’ Gedankenfluss. Die beiden Wesen näherten sich ihr langsam und umkreisten sie vorsichtig zusammen mit dem knurrenden Gruul-Krieger. Der gesetzliche Schutz eines Kuriers war unter solchen Umständen nichts wert. Crix stieß mit dem Hinterkopf gegen etwas, von dem sie zuerst befürchtete, es könne sich um einen Darm handeln. Sie blickte sich schnell danach um und entdeckte, dass es sich um ein ganz nor males Stück Seil handelte, an dessen unterem Ende ein schweres Gewicht hing. Oben war das Seil am Dach des Wagens an einer Notausstiegsluke festgeknotet. Es war wie eine Spirale in sich gedreht, als ob es jahrelang um den Griff der Luke gewickelt gewesen wäre, nur um dar auf zu warten, dass irgendwann einmal jemand vorbei kam und daran zog. Goblins waren geborene Tunnelgräber und damit in den meisten Fällen auch hervorragende Kletterer. Natür 104
lich kletterten sie normalerweise Klippen hoch – oder eben Tunnel, die einen senkrechten Knick machten, aber ein Seil war ja zumindest auch eine kleine senkrechte Oberfläche. Zumindest versuchte Crix sich das einzure den, als sie nach oben sprang und nach dem Strick griff. Die Fasern schnitten ihr in die Haut, aber sie war wie der einmal rechtzeitig gesprungen, um der anscheinend unvermeidlichen Axt des Gruuls zu entkommen. Eine der Wolfshyänen sprang hoch und schnappte nach ihr, hatte schließlich aber nur Seil im Maul. Das Wesen schwang wie ein großes Pendel am Seil hin und her. Crix musste ihren schmerzhaften Griff noch verstärken, um nicht abgeschüttelt zu werden, aber das Manöver des Tiers verhalf ihr zur Flucht. Das schwere Gewicht des Tiers sorgte nämlich dafür, dass die Falltür in der Decke auf klappte. Zwar schnitten Crix die Fasern dabei noch tiefer ins Fleisch, aber in nur wenigen Sekunden war sie ganz herausgeklettert. Sie zog sich durch die Luke und rollte auf das wak kelnde Dach des Wagens. Sie schaffte es, die Klappe wie der zu schließen, bevor eine der Bestien ihr folgen konn te. »Naja, bis hierher habe ich es ja schon mal geschafft«, sagte Crix laut zu sich selbst. Sie wollte sich gerade ganz von den Knien erheben, als der Wagen wieder durchge schüttelt wurde und sie sich mit ihren Krallen festhalten musste, um nicht über Bord zu gehen. Die Goblin-Frau konnte jetzt noch mehr brüllende Gruul-Reiter und deren verschiedene Reittiere erkennen. 105
Einige der Krieger trugen Fackeln, andere Speere, und ein paar hatten Knallstäbe im Anschlag, so wie der eine, der sie zuvor fast getötet hätte. Die Angreifer ritten auf beiden Seiten des Lokopeden, aber sie konnte nicht erkennen, ob sie auch hinter dem Wesen herritten. Sie sah keine Licht quellen, und es schien dort auch niemand zu sein, der das Dach mit ihr teilen wollte. Daher machte sie sich vorsichtig auf den Weg, den sie schon eingeschlagen hatte, als sie aus dem Wagen des Patriarchen geflohen war – zum hinteren Ende des Lokopeden. Sie hatte es gerade über das Ziehharmonika-Leder zwi schen dem vierten und fünften Wagen geschafft, als sich etwas Kreischendes und Lederiges in ihr Rückgrat bohrte und sie zu Boden warf. Das Wesen zischte etwas, das möglicherweise »Ssstopp!« heißen sollte. Crix drehte sich auf den Rücken und krabbelte rück wärts von dem Thrull weg, der mit gekrümmten Fleder mausflügelchen und glühenden roten Augen gebeugt über ihr stand. Seine dünne, membranartige Haut war eng um einen halbwegs humanoiden Körper gespannt, auf dem ein zahnbewehrter Kopf saß. Die Flügel verliefen von den Fingerspitzen bis zu den Fußgelenken, und als die Tätowierung des Wesens im Mondlicht erkennbar wurde, wusste Crix auch, warum ihr der kreischende Schrei so bekannt vorgekommen war – es handelte sich um einen aus dem Trio, das sie schon seit Reisebeginn gepiesackt hatte. »Gruul-Ssspionin«, zischte der Thrull. »Werde dich jetzt töten.« 106
»Spionin?«, brüllte Crix empört. »Bist du verrückt?« Der Thrull kam ihr immer näher und wiederholte nur immer wieder sein Mantra: »Werde dich töten, werde dich töten ...« Die Goblin-Frau tastete ihren Gürtel ab, ob sie dort noch irgendetwas fand, womit sie sich den Thrull vom Hals halten konnte, aber eine oberflächliche Suche brach te nichts zutage. Und wenn sich ein Kurier in einer Situa tion befand, in der sein Leben gefährdet war, obwohl viele Gesetze ihn davor beschützen sollten, gab es nur eines, und das war jedenfalls nicht das Kämpfen. Crix drehte sich so schnell um, wie sie konnte, und rannte auf das hintere Ende des Lokopeden zu. Adrenalin und Panik gaben ihr neue Kraft, und sie schaffte es problemlos über die Lücke zwischen dem fünften und dem sechsten Wagen. Der Thrull hatte zwar seine Flügel ausgebreitet, verfolgte sie aber weiter zu Fuß. Ein orangefarbener Blitz sauste über ihren Kopf hinweg und erinnert sie daran, dass die Gruul nicht weit entfernt waren – und gut bewaffnet. Jetzt, wo sie darüber nach dachte, schien ihr eine Flucht durch die Luft auch keine so gute Idee mehr zu sein. Der Thrull erreichte gerade den Übergang, als Crix das Ende des Daches erreichte, den hinteren Rand des letzten Wagens. Sie hatte richtig geraten – direkt hinter dem Lokopeden gab es keine Gruul, weil es dort keine Fenster gab, die man angreifen konnte. Außerdem war dort die natürliche Panzerung des Wesens am härtesten. Die An greifer zogen es vor, durch die problemlos zu zerdep 107
pernden Fensterscheiben in die Wagen zu gelangen. Crix warf zunächst einen Blick auf die staubige Straße, die sich hinter der Karawane herzog, und dann einen auf den Thrull. Ihre Nachricht musste den Kessel von Utvara erreichen, das war die Hauptsache. Wenn es etwas länger dauerte, dann musste das eben so sein. Wenn sie aller dings getötet wurde, dann würde die Botschaft nie an kommen, und das war keine hinnehmbare Lösung. »Du solltest dir lieber jemand anderes zum Schikanie ren suchen, Thrull«, sagte Crix und sprang rückwärts vom Rücken des Lokopeden. Sie kam hart auf und rollte sich ab, bis sie gegen ein paar Beine prallte. Diese waren mit großen weißen Flecken aus flechtenartigem Pilz überzo gen, ebenso die Arme, die Crix nun hochzogen und aus dem Angriffsgebiet wegtrugen. Als sie sich endlich wieder traute, die Augen zu öffnen, waren sie bereits tief in der Huske, und der brennende Lokoped war längst außer Sicht.
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Kapitel 4
H
Du hast die Nase voll von Gesetzlosen? Willst du mithelfen, dass diese Welt ein wenig besser wird und dir dabei auch noch etwas dazuverdienen? Willst du der Gerechtigkeit zur Seite stehen und dir eine täglich garantierte Portion Bum bat verdienen? Dann komm doch einfach noch heute kurz beim örtlichen Haazda-Rekrutierungsbüro vorbei! Rekrutierungswerbeplakat der Liga der Haazda
30. Paujal 10012 Z. C. »Und warum haben Sie sich den Haazda nicht ange schlossen?«, fragte der Hilfspolizist, der gerade dienstfrei hatte. Nach dem fünften Krug Bumbat schaffte es der Mann, der sich in seinen besten Jahren befand, das »z« in »Haazda« so zu strecken, dass es fast ein eigenes Wort wurde. Der Mann, auf den er einredete, war mindestens doppelt so alt wie er. »Sie, mein Herr, sie wären perfekt gewesen. Natürliches Führungspotenzial. Wir haben auch ziemlich viele ehemalige Wojeks, wissen Sie das? Sie vergeuden hier nur ... vergeuden hier nur Ihre Zeit und Ihre Fähigkeiten, Kollege. Sie könnten hier den Unter schied bedeuten. Ein echter Unterschied.« Er gab dem Wirt 109
ein Zeichen, dass er noch eine Runde ausgeben wollte. »Was trinken ... was trinken Sie da, mein Herr?« »Dindin-Saft.« »Dindin-Saft?«, vergewisserte sich der Hilfspolizist. Er fragte das mit einer derart übertriebenen Stimme, dass er damit bei den anderen freiwilligen Hilfspolizisten an der Bar wahrscheinlich ein lautes Gelächter ausgelöst hätte, wäre er nicht wie üblich der letzte Kunde gewesen. Der um einiges ältere Mann, der neben ihm am Tresen saß, nickte kurz. Wäre der Hilfspolizist nüchtern gewesen, hatte er bemerkt, dass das einfache Nicken mit einer ein fachen Kopfbewegung weitaus mehr aussagte, als der schweigsame Bursche in den letzten zwei Stunden mit Worten ausgedrückt hatte. Wäre der Hilfspolizist nüch tern gewesen, hätte er nicht darauf bestanden, auf diesem Thema herumzureiten. »Ich habe eine ... eine Tante, die trinkt das Zeug«, beeil te er sich nachzuschieben und bemühte sich, gleichzeitig liebenswert zu klingen, ritt sich aber trotzdem immer tiefer rein. »Soll gut sein für die Verdauung und für das Herz. Besonders, wenn man älterlich ... ältlich ... wenn man alt wird.« »Daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern, mein Freund. Sie sollten selber mal ein Glas davon probieren. Sie werden auch nicht jünger.« Der alte Dindin-Trinker gab dem Wirt einen Wink und zeigte auf den schwanken den Hilfspolizisten, der im Moment abgelenkt war, da er sich anstrengen musste, nicht vom Barhocker zu rut schen. 110
Der Kneipenwirt war ein Bold, der den beiden Män nern höchstens bis an die Brust reichte. Er stellte das Glas beiseite, das er gerade abgetrocknet hatte, und trottete herüber. Seine lederigen Flügel hatte er so zusammenge faltet, dass sie auf den Schultern ruhten, und trug das freundliche Grinsen jedes guten Gastgebers auf dem Ge sicht. Er hüpfte auf eine Messingstange, die hinter dem Tresen angebracht war und flatterte kurz mit den Flügeln, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, bevor er sie wieder am Rücken zusammenfaltete. »Herr Wirt«, sagte der nüchterne der beiden Männer, »der nette Mensch hier hätte gern einen Dindin-Saft. Am besten von der Sorte, die ich selber angesetzt habe.« Da der Wirt zu den Leuten gehörte, denen man manche Sa chen besonders deutlich sagen musste, zog er auch noch eine Augenbraue dabei hoch. »Von der Hausmarke.« »Natürlich, natürlich, mein Freund«, antwortete der Bold. »Ich bin hier, um euch zu bedienen. Eine ausge zeichnete Wahl, wenn ich es so sagen darf«, fügte er noch hinzu und drehte sich zu dem betrunkenen Haazda. Seine Stimme wurde glatt und ölig wie die eines guten Verkäu fers. »Die Dindin-Pflanze enthält ein natürliches Stimu lans, das Ihren Körper auf den Genuss weiterer hochpro zentiger Alkoholika vorbereitet, damit Sie auch weiterhin die angenehme Atmosphäre hier im Hotel ›Zum Geflügel ten Bold‹ genießen können.« »Sie sind gar nicht so schlecht für ein ... für einen ... Was sind Sie noch mal?«, lallte der Hilfspolizist. »Ich bin Pivlic!«, ließ ihn der Bold wissen und stemmte 111
empört die Fäuste gegen die Hüften. Mit ausgebreiteten Flügeln sah er jetzt aus wie ein stilisierter Adler. »Ich bin der Eigentümer dieses Etablissements, mein Freund Vo dotro, und damit heute Abend Ihr Gastgeber. Hätten Sie gern noch irgendeinen Schuss in Ihr Getränk? Wollen Sie danach eins unserer Zimmer für ein paar Stunden Erho lung mieten, bevor Sie sich wieder auf den Weg machen und in Ihr gefährliches Leben der Verbrecherbekämpfung und der Verwegenheit zurückkehren, die möglicherweise Ihr Leben beendet, bevor Sie wieder zu den Freuden von ...« »Gib ihm einen Saft, Pivlic, danach geht der Bursche heim«, sagte der ältere Mann. »Wir haben auch jetzt schon zu wenig Ordnungshüter hier, und die meisten davon sind Freiwillige. Und die Hälfte von denen hat sich immer noch nicht von deiner letzten ›Preisverleihung für die Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten‹ erholt.« »Und was geht dich das an?«, beschwerte sich der Bold. »Jeden Tag, seitdem du hergekommen bist, um für deinen alten Freund Pivlic zu arbeiten, hast du dich darüber be schwert. Aber die Tatsache ist, mein lieber, alter Freund Kos: Du bist mein Angestellter. Ich habe meine eigenen Vorgesetzten, wie du weißt. Es ist an der Zeit, dass du endlich einsiehst, dass du nicht mehr im Zehnten Distrikt bist. Das hier ist einfach eine andere Gegend. Kannst du dich nicht endlich daran gewöhnen? Den Ogern würde das gefallen, und mir auch. Ich verdiene an den Ogern gute Zidos, aber von denen ist diesen Monat noch kein einziger hierher gekommen.« Pivlic schnalzte abfällig mit 112
der Zunge, während er ein paar frische Dindins unter dem Tresen hervorholte und sie in die Saftpresse steckte. »Kos, du bist jetzt schon fast zwölf Jahre hier. Du bist kein Wojek mehr. Du brauchst dich nicht um Ordnung und Sicherheit der ganzen Stadt zu kümmern, sondern nur um das, was hier im Haus passiert. Und selbst dafür hast du Hilfskräfte.« »Ich weiß«, sagte Agrus Kos, ohne dabei den Bold oder den Betrunkenen direkt anzublicken. »Ich habe ihnen den Abend freigegegen. Ich mache hier nur meinen Job, Piv lic. Ich passe auf deine Kneipe auf. Mehr tue ich gerade nicht. Und du könntest selber etwas staatsbürgerlicher sein, bevor du dich über meine Arbeitssituation ausläset.« »Ach, schämst du dich jetzt für mich?«, sagte Pivlic und hüpfte von der Stange auf den Tresen. »Kos, bitte. Wie lange arbeitest du jetzt schon für mich?« »Zwölf Jahre«, sagte Kos mit zusammengepressten Zähnen. Ich kümmere mich jetzt um diesen Kunden, Pivlic. Lass endlich gut sein. Der Bold verfügte zwar nicht über telepathische Fähig keiten, schien die Nachricht aber trotzdem zwischen den Zeilen mitbekommen zu haben. »Und zwölf Jahre sollten eigentlich reichen, um sich hier einzugewöhnen.« Pivlic führte das nicht weiter aus, und das musste er auch nicht. Allerdings sah der Betrunkene wieder seine Chance ge kommen und versuchte sie zu nutzen. »Dasch ischt genau, wasch isch sage.« Vodotros Aus sprache wurde immer undeutlicher, und er war auch vom »Sie« zum »du« übergegangen. »Alter Mann, du 113
muscht bei unsch mitmachen. Du wscht zum Orzhov geworden. Lasch dir dasch mal auf der Schunge scher gehn. Aber die Haazda ... wir ... wir ... genau, Freiwillige sind wir, weischt du, aber wir gehören trotschdem schu den Borosch wie die Wojeksch. Du könntescht doch schogar dieschen Schob hier behalten. Du könntescht dein Ehrenamt in deiner Freischeit auschüben. Ich bin schum Beischpiel dafür verantwortlisch, dasch isch Ge bäude überprüfe, ob schie vor Feuer schischer schind. Dasch ischt mein Hauptberuf, schawoll.« Er griff nach dem vollen Glas, das Pivlic vor ihn hingestellt hatte, und kippte es in sich hinein. Etwa die Hälfte erreichte den Mund, der Rest landete im Schnurrbart und auf Tisch und Boden. Das war jetzt genug, fand Kos. Kos nickte, sagte aber nichts, sondern leerte ebenfalls sein Glas Saft. Er stellte es hart auf den Tresen und schob sich vom Tresen weg. Er machte sich eine Notiz im Hin terkopf, den Vormann des Kessels anzusprechen und danach mit Pivlic darüber zu reden, »staatsbürgerliche Pflichten« zu erfüllen und sich für den Notfall der Dienste einiger Hydromagier zu versichern. Auch wenn er es vor anderen Leuten nur selten zeigte, war der Bold in solchen Sachen fast immer derselben Meinung wie Kos. Und die Tatsache, dass dieser Hilfspolizist im Brandfall für die Sicherheit der Stadt verantwortlich war, bedeutete nichts Gutes. Da konnte es nicht schaden, wenn ein paar Hy dromagier greifbar waren. »Danke, dass du an mich gedacht hast, Vodotro«, sagte Kos. »Aber ich glaube, für heute war es genug.« Er hakte 114
einen Arm unter den Betrunkenen, der das Gleichgewicht nun überhaupt nicht mehr fand. So viel zur Wirkung der Hausmarke. Kos wollte nicht, dass Betrunkene am Tresen langsam wieder nüchtern wurden, weil sie in diesem Zustand leicht zornig wurden. Und es gab auch so schon genug zornige Leute in Utvara: Schürfer, die sich hierher durch geschlagen hatten und enttäuscht waren, dass die Straßen nicht mit Gold gepflastert waren, oder Leute, die hier ein neues Leben beginnen wollten und feststellen mussten, dass ihr neues Leben sich auf ein Gebiet von zehn Qua dratkilometern rund um den Vitar Yescu begrenzte. Au ßerdem gab es auch noch viele Leute in dieser abgelege nen Stadt aus Ausgestoßenen und Glücksrittern, die ein fach einen schlechten Charakter hatten. Die Gemeinde von Utvara war eine halblegale Siedlung, aber sie würde eine rasante Bevölkerungsentwicklung erfahren, sobald die Brachzeit offiziell beendet war. Laut Pivlic sollte der fette Orzhov, dem hier alles gehörte, im Laufe der näch sten Tage eintreffen. Der pensionierte Wojek konnte sich vorstellen, dass das noch mehr Zorn hervorrief, der dann allerdings nicht auf ihn gerichtet sein würde. Der Bevoll mächtigte des Eigentümers in dieser Gemeinde war nun einmal Pivlic. Kos war nur Pivlics Sicherheitschef. Kos wurde einfach zu alt, um sich um Politik und Ge walt zu kümmern. Leider mischte sich beides aber immer wieder in sein Leben ein, selbst wenn er sich und seinen alten Körper in eine Sanierungszone am Ende der Welt zurückzog. 115
Und dann gab es da ja noch die Haazda. Den Schutz des Gasthauses konnte Kos mithilfe ein paar angeheuer ter Arbeitskräfte ohne große Probleme bewältigen. Pivlic hatte eine unglaubliche Anzahl an Vettern, Neffen und Nichten, die nach ein paar Monaten Krafttraining in der Lage waren, auf Kos’ Anweisung hin jede Kneipenschlä gerei aufzulösen. Er musste sich um nichts persönlich kümmern. Die Gemeinde hatte keine richtige Verwaltung oder Gerichtsbarkeit, aber eine eigene Regelung für sol che Fälle. Der größte Teil der Bevölkerung war eh nur daran interessiert, in die Sandebene hinauszuziehen, um dort ihr Glück zu suchen, und wenn jemand etwas an stellte, was nach richtiger Bestrafung verlangte, dann diente der Bold als Schlichter und Richter. Schließlich war er der Bevollmächtigte der Orzhov-Eigentümer. Die Haazda wurden eigentlich nicht benötigt. Außerdem trau ten sie sich nicht in die Huske. Das tat niemand, der seine fünf Sinne noch beisammen hatte. Die Haazda mochten eine Bande aus Trunkenbolden und Möchtegern-Wojeks sein, aber sie hatten immer noch genug Verstand im Schädel, um sich von den Gruul fern zu halten. Kos wurde nicht jünger, und die zornigen Leute wur den nicht glücklicher. Er konnte sich nicht dazu durch ringen, sich den Haazda-Freiwilligen anzuschließen. Was hauptsächlich daran lag, dass sie hier nichts zu sagen hatten. Im Großen und Ganzen waren die Freiwilligen frustriert, schlecht ausgebildet und ständig auf der Suche nach einem Ventil zum Abreagieren. Und wenn ein Mitglied der Haazda außer Kontrolle ge 116
riet, weil er frustriert und betrunken war, war es besser, ihm Kos’ Dindin-Spezialrezept unterzuschieben, als ihm die Hölle heiß zu machen. Ein Glas Saft, in das freizügig ein narkotisches Schlafpulver eingemischt wurde, reichte normalerweise aus. Das Getränk war harmlos, aber es machte sie bewusstlos und sorgte dafür, dass der Trinker woanders wieder nüchtern wurde, wo Kos sich nicht um ihn kümmern musste. Wie auf Bestellung rutschte der Kopf des Hilfspolizi sten auf Kos’ Schulter. Der Haazda begann laut zu schnarchen. »Ich melde mich dann mal für den Abend ab, Chef«, sagte Kos. Pivlic nickte und flüsterte, dass er das Ab schließen selbst übernehmen werde. Er war darauf be dacht, den Betrunkenen nicht wieder zu wecken. Der Bold musste noch einige Vorbereitungen für die Ankunft der hohen Tiere treffen. Kos ging davon aus, dass er auch noch einige Pläne schmieden und vielleicht auch ein paar giftige Spinnen fangen wollte. Und natürlich war bis zum Morgen noch einiges an der Inneneinrichtung zu verän dern. Kos schleppte und zerrte den schnarchenden Mann an einigen verlassenen Tischen und der leeren Kampfgrube vorbei. Die Grube war eine kleine Reminiszenz an Pivlics berühmte Arena-Gaststätte, die er in der Stadt geführt hatte, aber sie wurde hier nur selten benutzt. Er hievte sich Vodotro auf die Schulter und spürte sofort den Pro test seiner Knochen. Mit dem Fuß stieß er eine der Schwingtüren auf. 117
»Autsch!«, sagte die Tür, und Kos schaute genauer hin. Nein, es war nicht die Tür gewesen, sondern ein hoch gewachsener, glatzköpfiger Mann mit vielen Tätowierun gen, der einen schwarz-goldenen Anzug mit OrzhovInsignien trug. Er griff nach der Tür, bevor sie zurück schwingen konnte. Hinter der rechten Schulter des Man nes war eine zweite Orzhov zu erkennen. Die junge Frau war äußerst gut aussehend und erinnerte Kos einen Mo ment lang an seine zweite Exfrau – und daran, wie alt er selbst geworden war. Die Frau führte drei Thrulls an, die einen riesigen, fetten Mann trugen. Alle waren über und über mit relativ frischem Blut bespritzt, und die Thrulls wiesen einige Flecken frisch nekrotisierter Haut auf, die immer noch silbern schimmerte. Der fette Mann war ein Patriarch. Kos hatte zwar vor her noch nie einen aus solcher Nähe gesehen, aber er brauchte nicht nachzufragen. Die Kleidung, die fast spür bare Aura der Macht und die Korpulenz waren Anzeichen genug. Der blutüberströmte Körper saß auf einer Art schwebendem Stuhl, sonst hätten ihn die Thrulls auch gar nicht so weit tragen können. Bei genauerer Betrachtung war auch das imposante, riesige Siegel auf den verschmutzten Gewändern zu er kennen. Es war nicht nur ein Patriarch, es war Pivlics Patriarch, jener, den der Bold eigentlich erst für den nächsten Tag erwartet hatte. Das Ouroboros-Symbol des Hauses Karlov war unverkennbar. Es stimmte vollständig mit dem überein, das über dem Tresen hing. Die Gewänder des Patriarchen waren noch verzierter 118
und wirkten noch teurer als die des kahlen Mannes und der jungen Frau. Am bemerkenswertesten aber war, dass die unförmige Gestalt nicht zu atmen schien. Dafür blute te sie umso heftiger. Es war zwar nicht einfach zu erken nen, da eine Maske das Gesicht des Patriarchen bedeckte, aber Kos war sich sicher. Vor Verblüffung hatte er eine Sekunde lang den Mund nicht wieder zugekriegt, weil er nicht wusste, was er sa gen sollte. Drei Sekunden hatte es gebraucht, um zu er kennen, dass der alte Mann tot war. Man erwartete zwar von einem Patriarchen, dass er halb verrottet war, aber ein Blick auf die Gesichter der beiden überlebenden Rei senden hätte ihm das auch schneller sagen können. Zum Glück kam ihm Pivlic zu Hilfe. »Majordomus Melisk! Herrin Karlov! Ich freue mich, Euch wiederzusehen, meine Freunde«, sagte der Bold. Er hüpfte über den Tresen, flatterte über die Tische und landete schließlich neben Kos. »Wir hatten Euch nicht vor Sonnenaufgang erwartet. Ich muss mich für den Zustand des ...« »Halt deinen Mund, Pivlic, und hilf mir, ihn in ein Ge heimzimmer zu schaffen«, sagte die Frau. »Wir haben noch keinen Geist entdeckt.« Kos warf einen Blick auf den Bold, einen weiteren auf die junge Frau und rückte sich dann den Haazda zurecht, den er über der Schulter trag. Er nickte den Neuankömm lingen zu. »Wünsche noch einen guten Abend, die Dame, der Herr.« Er schob sich an den beiden Orzhov und ihrer grausigen Fracht vorbei und rief Pivlic über die Schulter 119
zu, ob er noch Hilfe brauche. »Danke, aber ich glaube, er schafft das auch allein«, sagte der kahle Mann, und Kos hörte, wie Pivlic dem zu stimmte. »Alles klar«, sagte Kos und ließ Pivlic mit der unge wöhnlichen Situation allein. Kos glaubte nicht an Götter, aber man wusste von ihm, dass er an Glücks- und Pechsträhnen glaubte. Zuletzt war ihm das Pech verbunden geblieben. Die Tatsache, dass er sich jetzt sicher sein konnte, nicht an der Nekrotopsie des Patriarchen teilnehmen zu müssen, war jedoch ein Hin weis darauf, dass sein Glück zurückzukommen schien. Er fragte sich, ob Pivlic das Ritual wohl selbst durchführen würde.
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»Und das nennst du geheim, Bold?«, monierte Melisk. »So geheim wie hier nur möglich«, sagte Pivlic mit aus reichend viel Unterwürfigkeit in der Stimme, um einen Knuff des Dieners oder ein unfreundliches Wort von Her rin Teysa Karlov, der zukünftigen Baronin von Utvara, zu vermeiden. »Jungs, Onkel ist echt schwer«, sagte Teysa. »Die Thrulls schaffen den Thron ... Autsch ... Natürlich, wir werden ihnen helfen«, krächzte Pivlic und half mit, Onkels Gewicht besser zu verteilen. »Ist das dein Ektostuhl?«, fragte Melisk. »Ich wusste gar nicht, dass dieses Modell überhaupt noch existiert.« 120
»Er wird seinen Zweck erfüll... Würde es Euch etwas ausmachen zu drücken, statt zu ziehen, Freund Thrull? Ach, geht doch«, sagte Pivlic. »Das hätten wir also. Und ja, der Stuhl funktioniert noch. Ohne Euch zu nahe treten zu wollen, verehrter Majordomus, aber die Thrulls scheinen gerade zusammenzubrechen. Wärt Ihr so nett, mir zur Hand zu gehen?« »Aber gerne«, sagte Melisk. Er hob seinen Stab und ließ den Kopf in den Nacken rollen. Er summte eine tiefe Trauermelodie, und die Maske am Ende des Stabs begann feurig zu glühen. Onkels Körper stieg etwas in die Luft, schwebte dort im gleißenden Licht, drehte sich in den richtigen Winkel und ließ sich, unter leichter Führung von Pivlic, auf einem von Pivlics ältesten und geschätzte sten Besitztümern nieder. Den Ektostuhl hatte er vor über zweihundert Jahren von eben jenem Patriarchen geschenkt bekommen. Man konnte das an den Orzhov-Schriftzeichen ablesen, die die Rückenlehne einrahmten. Auch die Klammern, in die nun der Kopf eingespannt wurde, waren mit kleinen ro ten stilisierten Siegeln verziert. Teysa bezweifelte, dass der Bold der ursprüngliche Eigentümer des Stuhls war, obwohl auch Pivlics Name auf dem Stuhl zu finden war. »Eine hervorragende Fälschung, Bold«, sagte Teysa und deutete auf den Stuhl. »Wie bitte?«, antwortete Pivlic, der gerade mit den An schlüssen an der linken Armliege beschäftigt war. »Du erwartest doch nicht, dass ich glaube, dass Onkel dir diese Antiquität geschenkt hat?«, sagte sie. 121
»Glaubt, was Ihr wollt, Herrin«, sagte Pivlic. »Das wird früher oder später ›Baronin‹ heißen«, sagte Teysa. »Sobald dieses Ding hier tut, wofür es gebaut wor den ist.« »Einen Moment noch, angehende Baronin«, sagte Piv lic. »Wir müssen sicherstellen, dass die Anschlüsse an ständig geerdet sind, und dann den Spiegel holen, der hinter der Bar hängt.« »Du verwahrst ihn über der Bar auf?«, fragte Teysa, die etwas verblüfft, aber eigentlich nicht überrascht war. »Das schien mir ein guter Platz dafür zu sein, weil ich da immer ein Auge auf ihn haben kann«, sagte Pivlic. Er drehte alle drei Anschlüsse einmal im Uhrzeigersinn und wandte sich dann Melisk zu. »Majordomus, leider ist mein letzter Angestellter gegangen, bevor ich daran gedacht habe, dass der Spiegel noch transportiert werden muss. Aber es scheint, dass Ihr äußerst geschickt mit Telekinese umgehen könnt. Wärt Ihr so nett?« Melisk warf dem Bold einen finsteren Blick zu, handel te sich dafür aber einen noch dunkleren Blick von Teysa ein. Der Majordomus drehte sich brummend um und stapfte mit schweren Schritten durch den Gang vor der Geheimkammer. Sie würde sich mit ihm demnächst ein mal etwas länger über ein paar Dinge unterhalten müs sen. Seit ihrer sehr kurzen Beziehung war er in viel zu vielen Situationen übermäßig dreist gewesen. »Herrin?«, sagte Pivlic, sobald Melisk um die Ecke ver schwunden war. »Darf ich fragen – gab es einen Angriff?« »Ja. Gruul. Was sonst könnte es schon gewesen sein«, 122
sagte Teysa. »Ist das Gerät einsatzbereit?« Pivlic nickte. »Ja, Frau zukünftige Baronin. Und es sieht so aus, als ob auch Onkel soweit ist.« »Gut«, sagte Teysa. »Sobald wir hiermit fertig sind, er warte ich von dir, dass ...« Aus dem Schankraum ertönte ein lautes Klirren, dann Melisks Stimme. »Waren nur Gläser, Herrin!«, brüllte der Majordomus. »Wie gesagt«, fuhr Teysa an Pivlic gerichtet weiter, »wir werden diese Zeremonie so schnell wie möglich durch führen. Die offizielle Übergabe wird am Ende des Jahres stattfinden, nachdem er seine Probezeit bestanden hat.« »Es ist erstaunlich, dass jemand mit einem solch her ausragenden Ruf überhaupt eine Probezeit bestehen muss«, sagte Pivlic. »Wir werden deutlich besser miteinander auskommen, wenn du die unnötige Schmeichelei weglässt, Wirt«, sagte Teysa. »Warst du jemals vor Gericht?« »Warum wollt Ihr das wissen?« »Bold!« »Äh, gelegentlich, aber glücklicherweise zahle ich wie alle pflichtbewussten Gildenmitglieder von gutem Ruf meine Abgaben pünktlich«, sagte Pivlic, der sich ein un nötiges »Herrin« gerade noch verkneifen konnte, wie Tey sa vermutete. »Dann solltest du wissen, dass ich bis vor kurzem noch eine Advokatin war«, erklärte Teysa. »Wie du dir sicher lich denken kannst, habe ich da sehr viel Zeit damit ver bracht, Leuten zuzuhören, die auf möglichst komplizier 123
tem Weg zur Sache kommen wollen. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, Utvara zu übernehmen.« Sie sah, wie Pivlic leicht die Augen aufriss. Der Bold schien etwas überrascht zu sein, unterbrach sie aber nicht. Das war schon einmal gut. »Aber wir werden das Projekt zum Laufen bringen, und wir werden auch unter den Gilden pakt fallen. Wir werden effizient arbeiten, wir werden mit Zuversicht handeln und Diplomatie walten lassen. Dann ziehe ich zurück in die Stadt, und mein von mir ausge wählter Stellvertreter wird hier an meiner statt regieren.« Pivlic nickte wieder. Der Bold funktionierte mit jeder Sekunde besser, stellte sie fest. »Wie lange warst du hier Onkels Bevollmächtigter?« »Zwölf Jahre«, sagte Pivlic. Keine Silbe zu viel. Der Bold lernte wirklich schnell. »Und er hat mir persönlich ans Herz gelegt, dass ich dir trauen könne«, sagte Teysa. »Was allerdings dazu führt, dass ich dir eher misstraue. Überrascht dich das?« »Ganz und gar nicht«, sagte Pivlic. »Ich wäre beleidigt, wenn es anders wäre.« »Herrin«, sagte Melisk, der den schweren Spiegel auf dem Rücken in den Raum schleppte. »Ich möchte nur ungern unterbrechen, aber wohin soll ich Euch den Spie gel stellen?« »Natürlich direkt vor Onkel«, sagte Teysa. »Wie sonst sollte er in der Lage sein, sich selbst zu bewundern?« »Natürlich«, grinste Melisk süffisant und rückte die silb rig schimmernde Glasfläche zurecht. Der Spiegel ruhte auf zwei einklappbaren Füßen, die an der Rückseite an 124
gebracht waren. Man sah ihm nicht an, dass er besondere Eigenschaften besaß, aber es war ja oft so, dass die am schlichtesten aussehenden Gegenstände die größte Wir kung hatten. »Was meinst du, Bold?«, fragte Teysa. »Pivlic«, sagte Pivlic. »Was meinst du, Pivlic?«, sagte Teysa. »Alles scheint richtig positioniert zu sein, und die Ver bindungen funktionieren«, antwortete Pivlic. »Ich muss zugeben, dass ich bislang noch nicht die Gelegenheit hatte, den Stuhl an jemand so Vielversprechendem wie ...« »Kurz halten«, warnte ihn Teysa. »Jedenfalls wird er für Eure Zwecke genügen«, beende te Pivlic seinen Satz. »Wunderbar«, sagte Teysa. »Schalt ihn an.«
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Kos blieb einen Moment stehen, um sich zu strecken und seinem Rücken eine kleine Pause zu gönnen. Vodotro hatte viel zu viel Kuchen gegessen und zu viel Bumbat gesoffen. Allerdings unterschied er sich darin nicht so sehr von einigen Wojeks, die Kos gekannt hatte. Borca, um nur einen zu nennen. Allerdings hatte er Borca nie hinterher irgendwohin schleppen müssen. Er hatte ei gentlich nicht vorgehabt, Vodotro die ganze Strecke bis zur Hauptwache der Haazda zu tragen, aber den Mann einfach am Straßenrand liegen zu lassen erschien ihm 125
doch etwas zu grausam. Kos hatte ihm immerhin das Schlafmittel eingeflößt. Wenn dem betrunkenen Hilfspo lizisten etwas geschah, hätte Kos ihn auf dem Gewissen. Und das war schon beladen genug, da musste er nicht noch nachhelfen. Manchmal vermisste er seinen reizbaren ehemaligen Partner Bell Borca. Fast erwartete er, den Geist des fetten Wojek-Wachtmeisters beim Heimkommen vorzufinden. So etwas war zwar noch nie vorgekommen, aber er woll te es bei Borca nicht ausschließen, dass dieser irgendwel che Vorkehrungen getroffen hatte, nur um Kos’ dummes Gesicht sehen zu können. Einen Vorteil hatte Utvara allerdings gegenüber der Stadt, und das war auch einer der Gründe, warum Kos hier geblieben war. Er hatte in Utvara nie einen Geist gesehen, der länger als ein paar Sekunden dageblieben wäre. Kos war nicht mehr so neugierig wie in seinen jun gen Tagen, wo er eigenmächtig beschlossen hätte zu un tersuchen, warum es in dieser Gegend keine bleibenden Geister gab. Heutzutage reichte ihm das Wissen, dass es in Utvara eben keine Geister gab. Die Luft hatte sich kaum abgekühlt, obwohl die Sonne schon acht Stunden zuvor untergegangen war und dem nächst schon wieder aufgehen würde. Kos merkte, dass er zu schwitzen angefangen hatte. Die Anstrengung, ei nen übergewichtigen, betrunkenen Haazda einen knap pen Kilometer weit zu schleppen, nahm ihn mit. Sein Herz raste. Vielleicht war auch das der Grund für die plötzlichen Schweißausbrüche. Er blieb stehen, lehnte 126
sich gegen einen der Leuchtmasten und atmete tief durch, bis sich sein Herzmuskel wieder einigermaßen beruhigt hatte. Er schloss die Augen und zog die Luft tief durch die Nase ein, um sie so langsam wie möglich durch den Mund wieder auszuatmen. Langsam erholte er sich, aber die bangen Augenblicke hatten ihm einen ordentlichen Schrecken eingejagt. In den letzten Monaten waren solche zufällig auftre tenden Schwächeanfälle häufiger vorgekommen. Der gegenwärtige war nur eine Woche nach dem letzten ein getreten, so dicht aufeinander wie noch nie. Vor zwölf Jahren hatte ihn eine Ärztin gewarnt, dass sein häufiger Gebrauch von magischer Medizin deutliche Spuren in seinem Körper hinterlassen hatte. Die tränenförmigen Heiltropfen, die standardmäßig an alle Ordnungshüter in Ravnica ausgegeben wurden, waren sein dauernder Be gleiter gewesen. In Kos’ fortgeschrittenem Alter konnte jeder weitere Tropfen seinen Tod bedeuten. Im Moment hatte er den Eindruck, dass sein Herz ihn ihm Stich lassen wollte, egal, ob mit oder ohne Tropfen. Fast alles konnte so eine Herzattacke auslösen. Beim letzten Mal hatte er einfach nur am Tresen gesessen und Saft getrunken, als sein Herz plötzlich verrückt spielte. Nachdem sich der Herzschlag wieder normalisiert hat te, streckte sich Kos noch einmal und machte sich wieder auf den Weg. Er war dankbar, dass ihn niemand gesehen hatte. Seine beinahe wieder gute Laune verschlechterte sich sofort wieder, als er eine Bande von vier Gaunern entdeckte, die an der Einmündung einer engen Gasse 127
einen alten Zentauren belästigten. Kos kannte den Zen tauren gut und erkannte auch die Schlägertypen wieder – sie waren einst Leiharbeitskräfte gewesen, aber schon lange aus ihrem Vertrag entlassen worden, weil der be treffende Schürfer ein Vermögen gemacht und die Stadt wieder verlassen hatte. Wie viele andere, die keiner Gilde angehörten, hatten sie eine kleine Bande gebildet und machten nun nachts die Straßen unsicher. Du musst dich da nicht einmischen, ertönte eine Stimme in Kos’ Kopf, die ähnlich wie die Pivlics klang. Geh einfach vorbei, und schau zu, dass du nach Hause kommst. Du bist alt. Du hast heute schon am Rande eines Herzinfarkts gestanden. Kümmere dich nicht darum. Ein jüngerer Kos, so vermutete er, hätte wahrschein lich den alten Mann verachtet, zu dem er geworden war. Aber was einem jungen Mann wie Feigheit erschien, fiel für den alten Mann unter gesunden Menschenverstand. Zumindest versuchte Kos das der bohrenden Stimme in seinem Kopf klar zu machen, die nicht aufhören wollte, ihn als tristen, feigen, alten Dummkopf zu bezeichnen. Einer der Gauner, ein dürrer Kerl mit wirrem Bart und wahrscheinlich der Anführer, entdeckte Kos und zeigte auf ihn. Die anderen drei, die wie der mögliche Anführer Menschen waren, ließen vom Zentauren ab und traten aus dem Halbschatten auf die Straße. »Ich schätze mal, dass die nicht von allein Ruhe geben werden«, murmelte Kos und zog den silbernen Stab aus seinem Gürtel. Das brachte die kleine Stimme in ihm endlich zum Verstummen. Nur weil er Ärger aus dem 128
Weg ging, war er noch lange kein Feigling. Etwas lauter und in seinem besten Wojek-Tonfall sprach er das Quar tett an. »Guten Abend, Jungs. Heute noch auf der Suche nach etwas Vergnügen?« »Was willst du von uns, Kos?«, sagte der Bärtige. »Das hier geht dich nichts an.« »Ja, das sagen mir die Leute immer«, erwiderte Kos. »Aber du hast Unrecht. Der Zentaur schuldet mir noch einige Zidos. Lasst ihn in Ruhe.« Es klickte laut, als Kos den Griff seines Schlagstocks um neunzig Grad drehte, wobei die Waffe laut hörbar summte. »Orubo, ist das etwa das, was ich glaube, das es ist?«, wollte einer der anderen vom Anführer wissen. »Halt die Klappe, Vurk«, sagte Orubo. »Er ist kein Wo jek. Jedenfalls jetzt nicht mehr.« »Das mag sein«, sagte Kos und ließ die Waffe in der Hand wirbeln. »Aber sie haben mir ein paar Dinge aus der Waffenkammer als Andenken mitgegeben. Wollt ihr se hen, wie man in der Stadt der Gilden mit Abschaum wie euch umgeht?« »Orubo, ich weiß nicht«, stammelte ein anderer seiner Kumpane. »Mit dem Zentauren war das die eine Sache, aber der Kerl hier ... Er ist berühmt.« »Schon von mir gehört, was?«, sagte Kos. Der alte Wo jek mochte es normalerweise nicht, so bekannt zu sein, aber ab und zu kam ihm das doch gelegen. »Dann wisst ihr wahrscheinlich auch, für wen ich jetzt arbeite. Ich kann jeden von euch schneller zu Boden schicken, als er gucken kann. Und auf ein Wort von mir werdet ihr in den 129
Kessel geschickt, vielleicht sogar in die Huske. Und das alles nur unter der Annahme, dass sie euch nicht in die Villenviertel verschiffen und dort in die Unterhaltungs gruben werfen. Ihr seht mir zwar nicht wie Gruul aus, aber ich kann Pivlic sicher überzeugen, dass ihr welche sein wollt.« »Pivlic?«, wiederholte der Schläger, der bislang noch nicht den Mund aufgemacht hatte. »Das ist doch der Orz hov, oder? Orubo, wir sollten wirklich vielleicht ...« »Halts Maul«, fuhr ihm der Anführer über den Mund. Er hatte jetzt nur noch Augen für Kos’ Schlagstock, statt für sein mögliches Opfer. »Du bist allein, Kos. Wir sind zu viert.« Seine Worte klangen tapfer, aber selbst auf diese Entfernung hin konnte Kos die Unsicherheit in den Augen seines Gegenübers lesen. »Ihr habt es hier nicht mit einem Haazda zu tun«, sagte Kos. Er hob den Pendrek hoch und zielte damit wie mit einem Knallstab auf die Brust des Anführers. »Ich weiß zwar, dass ihr Jungs nicht so oft in die Großstadt kommt, aber ich bin mir sicher, dass auch ihr wisst, dass ich euch alle vier erwische, bevor auch nur einer von euch an mich herankommt, oder?« Der Stab summte, wie um das Gesagte zu unterstreichen. »Orubo, ich glaube, wir sollten vielleicht wirklich ...« »Ruhe!«, sagte der Anführer, und rief Kos dann über die Straße zu: »Ist in Ordnung, Wojek, aber wir werden das nicht vergessen.« »Das hoffe ich doch!«, antwortete Kos. »Ich würde es gar nicht gern sehen, wenn ich es euch noch einmal er 130
klären müsste. Wenn ihr vier euch jetzt auf den Weg in die Herberge macht, werden sie euch sicher auf den Stu fen übernachten lassen. Ihr seht alle so aus, als ob ihr etwas Schlaf gebrauchen könntet. Warum sonst sollte man auch jemanden mitten auf der Straße anpöbeln?« Er ging einen Schritt auf sie zu, wobei er weiterhin den Stab mitten auf Orubos Brust richtete. Beim nächsten Schritt drehte sich der Anführer um und gab seinen Leuten ein Zeichen, ihm zu folgen. »Sei lieber vorsichtig, Wojek!«, rief Orubo über die Schulter, als seine Gruppe um die Ecke verschwand, die zu der Herberge führte, in der normalerweise die Schür fer unterkamen. Solange ihnen das Glück noch nicht hold war, konnten sich die Glücksritter nicht die stündlich abgerechnete Zeit in den Luxuszimmern des Hotels »Zum Geflügelten Bold« leisten. Kos drehte wieder am Griff seines Stabs, und das Summen verstummte. Er ließ ihn noch einmal durch die Luft wirbeln, bevor er ihn wieder an seinem Gürtel ver staute. Auf diese Art und Weise hatte er in der Vergan genheit schon einige Zusammenstöße vermeiden können, obwohl er in Wirklichkeit nie wieder in der Lage sein würde, einen tödlichen Strahl abzuschießen. Schon vor langer Zeit hatte Kos den letzten der leistungsstarken Kristalle verbraucht, die in der Stadt von den Polizisten verwendet wurden. Der Bund der Wojeks gab keine Kri stalle an Pensionäre aus, egal, wie viel Ruhm und Ehre sie auf ihre Schultern geladen hatten. Das Beste, was er be kommen konnte, waren kleine Orzhov-Nachbauten, die 131
den Stab summen ließen, aber zu viel mehr nicht in der Lage waren. Zum Glück reichte das Geräusch normaler weise schon aus, um kleine Gauner wie Orubo in Schach zu halten. Glück auch deshalb, weil es Kos trotz seines forschen Auftritts nicht geschafft hätte, es mit allen vier Bandenmitgliedern auf einmal aufzunehmen. Alle waren deutlich jünger als er, und sein Herz fing schon wieder an zu rasen. Es war kein richtiger Anfall, aber er bezweifelte, dass er in diesem Zustand lange durchgehalten hätte. Irgendwann einmal würde jemand nicht auf seinen Bluff hereinfallen. Glücklicherweise war das in den letz ten zwölf Jahren nie vorgekommen. »Sie sind weg«, sagte Kos laut. Der alte Zentaur, der das Opfer der Bande hätte werden sollen, tauchte wieder aus der dunklen Gasse auf. Leise klapperten die Hufe gegen die ausgetrockneten Steine, als Trijiro vorsichtig wie ein Fohlen aus seinem Versteck kam. Der alte Bettler hatte wahrscheinlich versucht, ei nen einigermaßen sicheren Ort zum Schlafen zu finden und sich vor einem Mietstall niedergelassen, in dem Dromads auf Reiter warteten. Kos konnte von drinnen leises Wiehern und Hufescharren hören. Die immer et was nervösen Dromads reagierten offenbar auf das, was sich vor ihrem Stall abgespielt hatte. Zweifelsohne hatten sie es hören können, vielleicht sogar sehen. »Guten Abend, Wachtmeister Kos«, begrüßte ihn Trijiro mit tiefer und fester Stimme, die nicht verriet, dass er schon alt war. »Guten Abend, Häuptling«, sagte Kos. 132
»Nenn mich nicht so. Du weißt ganz genau, dass mein Stamm mich rausgeworfen hat«, sagte Trijiro. Damit hätte er vielleicht einen Haazda überzeugen können, aber Kos hatte es in seinem Leben schon mit zu vielen Lügnern zu tun gehabt. Außerdem war es nicht das erste Mal, dass sie sich so begrüßten, denn es war auch nicht das erste Mal, dass Kos den alten Gruul aus den Händen von Straßen dieben befreien musste. »Und ich habe die Wojeks vor langer Zeit verlassen. Verwende bitte ›Herr Kos‹, wenn du förmlich sein willst. Warum bist du überhaupt noch so spät auf den Beinen?« »Die alten Knochen, du weißt schon. Die Schmerzen kommen und gehen, wann sie wollen – und nicht, wenn ich es will.« Trijiro zwinkerte. »Ich vermute mal, dass ich nicht der Einzige bin, der heute Abend die Qualen des Alters erleidet, nicht wahr, Herr Nicht Wachtmeister Kos?« »Da hast du Recht, Trijiro«, sagte Kos. »Hast du gerade meine kleine Vorstellung mitgekriegt?« »Und ob!«, sagte Trijiro. Er öffnete ein Täschchen, das er um den Hals geschlungen hatte, und wühlte mit einer Hand darin herum. »Kann ich dir vielleicht ein wirksames Tonikum aus dem Extrakt der Yar-Knolle mit bemerkenswerten Heilfä higkeiten anbieten? Kostet nur zwei Zibs, das ist ein guter Preis unter Freunden.« Kos hob seine Hand zum Einspruch. »Nein, Häuptling. Aber ich habe ein paar Zibs übrig, falls du dringend wel che brauchst.« Natürlich wusste Trijiro, dass Kos keine 133
medizinischen Mittel annehmen würde. Doch dadurch, dass er ihm den Handel vorgeschlagen hatte, konnte er auch guten Gewissens die Wohltätigkeit seines Freundes akzeptieren. Kos legte ein paar Münzen in die offene Hand des Zentauren, der sie in das Täschchen rutschen ließ. Ein leichtes Klimpern verriet, dass sich dort schon andere Münzen befanden. Kos’ alte Neugier hatte inzwischen überhand genom men. Etwas hatte ihm keine Ruhe gelassen, seit er den Haazda aus dem Geflügelten Bold herausgeschleppt hatte. »Trijiro, du hast doch nicht zufällig so etwa vor einer Stunde eine seltsame Gruppe hier die Hauptstraße ent langkommen sehen, oder? Eine Gruppe, die in Richtung von Pivlics Hotel gegangen ist. Sie bestand aus einem Mann, einer Frau und ein paar Thrulls, die einen großen fetten Kerl auf einem schwebenden Stuhl getragen ha ben. Wenn sie hier entlanggekommen sind, kannst du sie eigentlich gar nicht verpasst haben.« »Ich habe eine seltsam aussehende Gruppe gesehen, aber die hast du gerade verjagt.« »Trijiro ...«, sagte Kos. »Hm, das habe ich vielleicht, Nicht-Wachtmeister Kos.« Zwei weitere Zibs wanderten in die Tasche des Zentau ren, und Kos zog eine Augenbraue hoch. »Hast du ›das habe ich vielleicht nicht, Wachtmeister‹ gesagt oder ›das habe ich vielleicht, Nicht-Wachtmeister‹?« »Ja, ich habe sie gesehen«, sagte Trijiro, der seine tiefe Stimme zu einem Flüstern herabgesenkt hatte. »Haben sie ihn ermordet?« 134
»Wen ermordet?« »Den dicken, fetten Kerl«, sagte Trijiro. »Er war am Re den, wie die anderen beiden von seinem Tod profitieren würden.« »Moment mal ... Der große fette Kerl hat noch gelebt, als du sie gesehen hast?« »Da bin ich mir ziemlich sicher«, sagte Trijiro. »Zumin dest habe ich drei Stimmen gehört. Ich konnte allerdings nicht sehen, ob sich der Mund des Fettsacks bewegt hat, der hatte nämlich eine Maske vor dem Gesicht. Ich bin aber davon ausgegangen, dass die keuchende Stimme ihm gehört hat.« Eine Maske. Der Patriarch hatte eine Maske getragen, als Kos dem Majordomus die Schwingtür ins Gesicht gehauen hatte. »Nicht-Wachtmeister, du scheinst davon ja richtig fas ziniert zu sein«, sagte der Zentaur. »Willst du noch mehr darüber wissen?« Ich bin tatsächlich fasziniert, dachte Kos. Aber das hier ist nicht mein Job. Ich arbeite in einem Lokal, in dem sich an guten Tagen die Gäste gegenseitig verprügeln, um Spaß zu haben. Und an sehr guten Tagen sogar in der Fressgrube gegenseitig töten und verzehren. Es war nicht gut für das Geschäft des Bolds, wenn Kos seine Nase zu tief in fremde Angelegenheiten steckte, da hatte der Bold Recht. Kos war immerhin bei ihm angestellt, und der alte Wojek konnte von Glück reden, dass Pivlic ihn genom men hatte. Man konnte von Ruhm nicht den Magen satt bekommen, und Prominenz sorgte nicht dafür, dass man 135
ein Dach über dem Kopf hatte. »Trijiro, wenn du deine fünf Sinne noch beisammen hast, dann kennst du die Antwort auf diese Frage«, sagte Kos schließlich. »Aber ich muss trotzdem leider ablehnen. Es war heute ein langer Tag.« »Warum hast du dann überhaupt erst nach diesen eili gen und geheim tuenden Orzhov-Reisenden gefragt?«, fragte Trijiro. »Weil ich dich mag, du dummes Huhn, und ich dachte, dass du wissen solltest, dass der fette Bastard von Gruul ermordet wurde. Das ist zumindest die Geschichte, wie sie die beiden anderen meinem Chef erzählt haben«, sag te Kos. »Ich würde zustimmen, dass das nach der wahrschein lichsten Lösung klingt«, sagte der Zentaur. »Aber das passt nicht zu der Tatsache, dass ich eine dritte Stimme spre chen gehört habe. Und das war keiner von den Thrulls. Dein Dicker wurde nicht von Gruul getötet. Er war noch am Leben.« »Nicht mehr richtig, würde ich sagen. Aber ich will auf etwas anderes hinaus«, sagte Kos. Leichte Verärgerung machte sich in seiner Stimme breit. »Unabhängig davon, wie der alte Knabe jetzt zu Tode gekommen ist: Die offi zielle Version wird sein, dass es deine Leute gewesen sind. Ich weiß, dass sie dich rausgeworfen haben, aber ich nehme an, dass du sie trotzdem immer mal wieder siehst, oder?« »Ach, Bettler treffen von Zeit zu Zeit auch andere Bett ler«, sagte Trijiro. »Das kann schon vorkommen. Und du 136
denkst, dass diese Neuankömmlinge den Gruul in Utvara Ärger machen wollen?« Kos nickte. »Darauf kannst du dich verlassen.« Er dreh te sich um und wollte sich auf den Heimweg machen. »Kos!«, sagte der alte Zentaur in einem Kommandoton, der den pensionierten Wojek in der Bewegung erstarren ließ. Kos wusste nicht, ob ihm dieser Ton gefiel. Er drehte sich langsam wieder zurück. »Ja?« »Du hast gerade durchhören lassen, dass mein Volk sich in Gefahr befinden könnte«, sagte Trijiro. »So sieht es aus«, sagte Kos. »Hat das so lange gedauert, bis es zu dir durchgedrungen ist?« »Und trotzdem arbeitest du weiter für diejenigen, die für uns Gefahr bedeuten«, sagte der Zentaur. »Dazu kommt noch, dass du gerade mein Leben gerettet hast. Du gibst einen seltsamen Orzhov ab, mein Freund.« »Ich habe dir nur Bescheid gesagt, in Ordnung?« Kos Stimme klang jetzt noch verärgerter. »Geh und warne sie. Alles Weitere ist nicht mein Geschäft, und du hast es auch nicht von mir gehört.« Er blickte finster. »Und ich bin auch kein Orzhov. Ich habe keine Gilde mehr.« »Aber selbst wenn es tatsächlich das Werk von Gruul war ... Wie du weißt, bestehen die Gruul von Utvara aus vielen Stämmen, und nur weil einer davon ein Verbre chen begangen hat, bedeutet das doch nicht, dass alle darunter leiden müssen«, sagte Trijiro. »Vielleicht könn test du das ja unauffällig vorbringen. Was ist mit der Ju stiz? Was ist, wenn sie lügen?« 137
»Jeder lügt«, sagte Kos. »Und ich arbeite nicht mehr für die Justiz. Ich mag es nur nicht, wenn Strauchdiebe mir in den Weg kommen. Gute Nacht, Häuptling.« Eine halbe Minute später hörte Kos eiligen Hufschlag, der in die entgegengesetzte Richtung verschwand – in die Richtung der Ausfallstraße, die direkt in die Huske führte.
K
Crix hatte bereits erwartet, dass die Huske eher eine un angenehme Gegend war, und sie wurde nicht enttäuscht. Die Gegend, die lange brachgelegen hatte, hatte sich eher in eine Landschaft zurückgebildet, als Teil der Stadt zu sein. Alles wirkte staubig, gefährlich und verseucht. Sie hatte während des Ritts viel Zeit, sich die Landschaft ge nauer zu betrachten, da sie fest auf den Rücken eines riesigen Gruuls gebunden war. Ihre Nase behauptete, dass er ein Mensch war, aber nach dem, was sie sehen konnte, schien es eher ein Oger oder ein Troll zu sein. Das Fell auf dem Rücken des Rohlings sorgte dafür, dass es die Goblin-Frau wie verrückt juckte, aber sie hatte keine Mög lichkeit, sich an den betreffenden Stellen zu kratzen. Die Riemen zu bewegen, um damit den Gruul zu würgen, war nicht sonderlich ratsam, wie sie gleich herausbekommen hatte. Wenn sie den Arm bewegte, zog die Riemenkon struktion nämlich gleichzeitig ihr Bein schmerzhaft zur Seite. Im Moment war sie nicht mehr als ein GoblinRucksack. Crix dankte dem Magierfürsten, dass sie sich auf sein 138
Anraten gegen die Seuche hatte impfen lassen. Solange sie sich in solch körperlicher Nähe zum Anführer der Banditen – oder was auch immer er war – befand, war immerhin die Gefahr gering, sich an der Kuga-Seuche anzustecken. Zumindest eine Zeit lang. Sie hatte noch mindestens eine Woche Schutz, schätzte sie. Die Reise mit dem Lokopeden hatte fast eine Woche gedauert, und die Wirkung des Heilmittels hielt zwei Wochen an, hieß es. Ihr tat alles weh, nachdem sie eine Stunde lang auf diese Weise mitgeschleppt worden war. Sie bat darum, selber gehen zu dürfen. Der Gruul ignorierte sie. Die nächste Stunde lang ver suchte sie es mit allen Mitteln. Sie flehte ihn an, rief ihn zur Vernunft auf, versuchte ihm Angst einzujagen, appel lierte an seine Verantwortlichkeit, selbst an sein Herz. Der Gruul redete zwar auch, aber nicht mit ihr. Er brüllte in verschiedenen kehligen Sprachen Befehle herum, die selbst die in mehreren Sprachen ausgebildete Goblin-Frau nicht ganz verstehen konnte. Alle Kuriere mussten sich in mehreren Sprachen unterhalten können, und einige der Klänge waren ihr auch etwas vertraut, teilweise sogar ganze Wörter. Vielleicht war es eine Art Dialekt, der sich in diesem Ödland hier weiterentwickelt hatte, oder eine Geheimsprache. Ein paar Worte hatten ihren Ursprung in der Ogersprache, andere stammten von den Zentauren, und sie erkannte auch einige, die wohl aus der Go blinsprache entlehnt worden waren. Der Gruul hatte insgesamt nicht viele Worte verloren, 139
aber sie beschäftigte sich mit den wenigen, die sie ver standen hatte, und analysierte sie, während die Gruppe der Plünderer sich durch die Hügel aus Rost und Trüm mern bewegte. Dadurch wurde sie von den ganzen Schlundlöchern und scharfen Kanten abgelenkt, die den Weg säumten. Die Huske war keine Gegend, in die man sich ohne erfahrenen Führer hineintrauen sollte, wenn sie das richtig sah. Am Anfang hatte sie sich noch gefragt, warum keine Warnschilder um die größeren Schlundlö cher herum aufgestellt waren, aber auf den zweiten Blick ergab es Sinn. Die Gruul wussten bei jedem Schritt, wo sie sich gerade befanden, und brauchten daher keine Warn schilder. Die raue und gefährliche Landschaft bot ihnen also einen hervorragenden natürlichen Schutz gegen Eindringlinge. Es war schon fast ein Wunder, dass die Straße, die der Lokoped verwendet hatte, überhaupt exi stierte. Der erste Befehl, den der Räuberhauptmann gebrüllt hatte, war an einen kleinen gelenkigen Späher gerichtet, der auf einer dürren Huske-Katze ritt. Crix konnte eines der Wörter bestimmen. Bei den Zentauren bedeutete es so viel wie »erzählen« oder »unterrichten«. Einer der an deren Silben klang wie ghrak, was in der Goblinsprache so viel wie »Gefangener« bedeutete. Also ging es wahr scheinlich um sie. Dann »fragen«, »töten«, »Kurier«. War es möglich, dass die Gruul an ihren Tätowierungen er kannt hatten, um wen es sich bei ihr handelte? Crix hatte gerade beschlossen, dass der erste Befehl »sag dem Schamanen (oder vielleicht Häuptling), dass der 140
Gefangene ein Kurier ist« lautete, als sie ein grollendes Knurren zu ihrer Linken hörte. Der Bandit, der sie trug, blieb auf der Stelle stehen und hob eine Faust, um auch den Rest der Gruppe zum Stehen zu bringen. Obwohl die Riemen Crix in Hand- und Fußgelenke schnitten, drehte sie sich so gut es ging nach links. Sie wollte einen besse ren Blick in die Richtung haben, wo das Geräusch herge kommen war. Sie zweifelte nicht daran, dass es irgendwie mit den sieben Paaren glühender Hundeaugen zusam menhing, die man aus dem dunklen Nebel herausleuch ten sah. Sie hatte langsam die Nase voll. Zu ihrem Auftrag ge hörte es, diese seltsame Subkultur der Utvara-Gruul zu beobachten. Dank der Quarantäne, die während der Brachzeit über die Huske verhängt worden war, waren sie eine lange Zeit vom Rest Ravnicas abgeschnitten gewe sen. Sie schätzte, dass die Gruul zu Fuß nicht weiter als fünf oder sechs Meilen pro Stunde kamen. Aber um den Stamm richtig erforschen zu können, musste sie erst einmal die Heimstatt der Primitiven erreichen, sei es nun ein Lager, ein Dorf, ein Zeltplatz oder eine Höhle. Und sie musste überleben. Mit gewissen Unbequemlichkeiten konnte sie leben, und das ganze Bitten und Betteln war zum größten Teil nur geschauspielert gewesen. Aber wenn Crix jetzt nichts sagte, würde ein Rudel von wilden Irgendetwas sie ohne Warnung von hinten anfallen. Sie traute sich noch nicht, es in der bellenden Gruulsprache zu versuchen, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass sie sich darin verständlich machen konn 141
te. Stattdessen versuchte sie es in der Verkehrssprache Ravi, die selbst diese isoliert lebenden Barbaren irgend wie verstehen können mussten. »Ich glaube ...«, begann sie. Der Bandit, der sie trug, pfiff einmal kurz, und das Ru del riesiger schwarzer Echsenhunde tauchte im schwa chen Mondlicht auf. Ihre schuppigen Köpfe ähnelten tatsächlich denen von Hunden, und ihre nach vorn ge richteten Augen ermöglichten ihnen eine gute Fernsicht. Crix vermutete, dass für die Hunde alles rot gefärbt wirk te, da ihre Augäpfel in einem dunklen Scharlachton glüh ten. Aus den geifernden Mäulern ragten riesige Haucr heraus. Ab dem Hals kam dann der Echsenanteil deutli cher durch. Die Beine waren gekrümmt und ziemlich breit, und die Kreaturen wiesen einen peitschenartigen Schwanz auf, der mit kleinen gezackten Stacheln gesäumt war. Auch ohne den Schwanz hatten diese Wesen bereits die Größe von Pferden, und der Schwanz verdoppelte ihre Länge noch einmal. Das Schwarz ihres Fells wurde von Schattierungen in Blau, Violett und Grün durchzogen, und alle trugen ein Brandzeichen in der Form eines V. Die Spiegelung des Lichts im Fell der Kreaturen weckte in Crix das Bedauern, dass sie sich noch nicht befreit hatte. Sie war richtig begierig darauf, die Aura der Wesen näher zu untersuchen. Selbst ihre ungeübten Augen konnten erkennen, dass in ihnen ein inneres Feuer brannte, das der Magierfürst sicher gut verwenden konn te. Das war wieder etwas, was sie in ihren Bericht auf nehmen musste. Der Magierfürst hatte ihr eine ordentli 142
che Zeitspanne gegeben, um die Nachricht zu überbrin gen. Dafür vertraute er ihr auch, dass sie es ans Ziel schaffte. Jetzt konnte sie diese Monate in weitere Beob achtungen investieren. Das würde sicher auch Zomaj Hauc gefallen, der neue Informationen genauso hoch einschätzte wie wahre Loyalität. Wahrscheinlich konnte sie auch genauso gut weiter auf dem Rücken des Gruuls herumhängen, grübelte Crix. Wenn sie sich selbst befreien würde, müsste sie dabei zu viel über ihre wahren Fähigkeiten preisgeben. Sie zog es vor, die Gruul darüber wenn möglich im Unwissen zu lassen. Sie waren faszinierend, und sie hatte eigentlich keine Angst vor ihnen. Aber sie vertraute ihnen auch nicht. Obwohl die Plündererbande um über ein halbes Dut zend riesiger Echsenhunde angewachsen war, bewegte sie sich jetzt noch geräuschloser. Die Bestien waren be sonders aufmerksam. Crix erschrak, als ein Schweißrinn sal vom Hals ihres Kidnappers auf ihren Kopf tropfte. Von dort aus rannen ihr die Tropfen quälend langsam den Nacken hinunter, und sie verspürte das Bedürfnis, laut zu schreien. Als die Bedrohung schließlich eintrat, ging sie nicht von den Echsenhunden aus. Zu ihrer Rechten erhob sich ein übel riechender, überwuchernder Müllhaufen und zerquetschte auf einen Schlag zwei der Hunde. Der Arm des Dings war so groß wie eines der Segmente des Lokopeden. Der Räuber hauptmann drehte sich um, damit er sich ein Bild von der 143
neuen Gefahr machen konnte. Dabei drehte sich die Goblin-Frau mit und bekam dadurch erstmals den Rest der Bande zu sehen. Was auch immer unter dem Müll gewe sen war, befand sich jetzt in ihrem Rücken. Crix sah nur die anderen Gruul, und die blickten alle über ihre Schul ter auf etwas, das einen großen Schatten auf die gesamte Gruppe warf und alles Licht verdeckte, das der frühe Morgenhimmel bot. Die Gruul schienen entsetzt zu sein. Und wenn Crix bedachte, wie furchteinflößend sie allein schon die Gruul fand, war sie recht glücklich darüber, dass nur in die an dere Richtung blicken konnte.
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Kapitel 5
H
Du erniedrigst deine Familie, wenn du auf Treu und Glau ben mit den Adjutanten derer verhandelst, die es wagen, sich dir zu widersetzen. Du erniedrigst dich selbst, wenn dir das Wort von Untergebenen genügt, da es bedeutet, dass deiner Familie das Wort von Untergebenen genügt. Wenn dein Gegenüber dich nicht soweit respektiert, dass er dich seine Kehle sehen lässt, suche sie und schneide sie ihm durch. Patriarch Xil Xaxosz (geb. 3882, gest. 4211 Z. C., Mitglied im Obzedat seit 4211 bis heute)
31. Paujal 10012 Z. C. Teysas erster Drang war es gewesen, die örtlichen Reprä sentanten der Gilden beziehungsweise deren Pendants einzuberufen, sobald die Angelegenheit mit dem Spiegel erledigt war. Melisk hatte ihr geraten, damit wenigstens bis Sonnenaufgang zu warten, und widerstrebend hatte sie eingewilligt. Die wenigen Stunden, die noch bis zum ersten Licht am Himmel verblieben, verbrachte sie damit, Pivlics Geheimzimmer in ein Büro umzugestalten. Sein zweites Geheimzimmer, das er dummerweise versucht 145
hatte, vor Melisk zu verbergen, würde ihr als Unterkunft dienen, bis sie ihre eigene Wohnung beziehen konnte. Zwei der Grugg-Brüder standen als Wachen vor der Tür. Bephel, der Klügste der drei, der deswegen auch die Gabe des Sprechens erhalten hatte, überprüfte währenddessen die Schlange der Wartenden nach Meuchelmördern und Waffen, von deren Existenz seine Herrin besser wissen sollte. Sein Ersatzkopf war schnell nachgewachsen, aller dings hatte er beim Gehen immer noch einen leichten Linksdrall. Als Erstes bat sie den Leiter der örtlichen Sklavenin nung zu sich herein. Genau genommen war die Innung keine Gilde, obwohl viele der Arbeiter hier in der Gegend eingefangene und gezähmte Gruul waren. Trotzdem hatte die Innung genug politisches Gewicht, um einem ihrer Eigentümer, einem fetten Halbdämon, der sich »Lohnboss Aradoz« nennen ließ, ein persönliches Gespräch mit der neuen Herrscherin von Utvara einzubringen. Für Teysa war er das Versuchsobjekt, wie sie mit den örtlichen Ko ryphäen umgehen konnte. Der Herr der Sklaven grinste Teysa anzüglich über den Tisch an. Er mochte seine menschlichen Gene lieber, obwohl man das Dämonenblut einiger seiner Vorfahren sofort bemerkte. Er war durchschnittlich groß und hatte einen deutlich hervortretenden Buckel an der rechten Schulter. Kleine Widderhörner ragten auf beiden Seiten über den Ohren hervor. Teysas sorgfältig gewählte Klei dung sorgte dafür, dass er sich zur Seite und ein wenig nach vorn lehnte. 146
Teysa hatte die Dekorationsverzauberungen von Pivlics Geheimzimmer ein wenig verändert, um ein holzgetäfel tes Büro zu erzeugen. Ein Esstisch diente ihr als Schreib tisch, bis sie einen richtigen gefunden hatte. Sie saß auf einem Stuhl, der beinahe eine Kopie von Onkels Lieb lingsstuhl war. Ihr gegenüber standen drei Stühle, die äußerst komfortabel aussahen. Eigentlich war nur der Tisch nicht von Verzauberungen verändert worden, und natürlich das Bürozimmer selbst, die Stühle und die Per sonen im Raum nicht, die alle ziemlich echt waren. Sie hatte in Erwägung gezogen, eine einschüchternde Kulisse zu wählen, sich für diese ersten Treffen dann aber für einen neutralen Hintergrund entschieden. In ihrer An waltspraxis hatte sie damit nur gute Erfahrungen ge macht. Ein neutraler Hintergrund sorgte dafür, dass die Klienten auf die Sache konzentriert blieben. Damit würde Teysa auskommen, bis sie etwas Erfahrung gesammelt hatte, wie sie mit den hiesigen Leuten umzugehen hatte. Ob Lohnboss Aradoz überhaupt schon zu den »Leuten« gehörte, konnte sie nach ihrem ersten Eindruck noch nicht so genau sagen. Da sein Grinsen keine Reaktion hervorrief, lehnte er sich nun noch weiter vor, um eine Blase an der Innenseite des großen Zehs aufzukratzen und dabei einen noch tieferen Blick in ihr Dekolletee zu werfen. Sie ließ sich das nur wenige Sekunden gefallen, griff dann über den Tisch nach seinem linken Widder horn und drehte es kräftig. Der Lohnboss quiekte laut auf und wirkte zumindest dabei nicht wie ein Widder. »Lohnboss, wir werden besser miteinander auskom 147
men, wenn du deine Augen auf die Zukunft gerichtet hältst«, sagte Teysa und schob den Halbdämon zurück auf seinen Stuhl. Sie rammte das Horn wieder in den Schädel zurück, wie sie hoffte auf halbwegs schmerzhafte Weise. Dann lehnte sie sich zurück und zeigte mit der Hand über ihre Schulter auf Melisk, der geduldig hinter ihr stand. »Das hier ist Melisk. Bist du mit deinen Augen im jetzigen Zustand zufrieden? Ich bin mir sicher, dass Melisk dir einen guten Preis für eine nekrotische Operation machen kann.« Der Halbdämon blickte finster, grummelte und mas sierte sich den Kopf. »Ich gehe zumindest davon aus, dass du sie gern in deinem Kopf und nicht heute Abend in der Suppe haben willst. Wir haben einen einheimischen Koch angeheuert. Ich habe gehört, dass er gern experimentiert«, fuhr Teysa fort. »Ist in Ordnung«, sagte Aradoz. »Hervorragend«, sagte Teysa. »Dann wollen wir jetzt darüber reden, wie die Innung in diesem Jahr ihren Tribut bezahlt. Ich glaube, wir sollten mit einer geeigneten Villa beginnen. Hast du jemals einen Herrschaftssitz erbaut, Lohnboss? Das ist meiner Ansicht nach eine außergewöhnliche Ehre.« »Ja, Herrin ...« »Du kannst zwischen ›Baronin‹ oder anderen passen den Titel wählen, Lohnboss, aber dieser gewöhnliche Begriff gehört sicher nicht dazu«, sagte Teysa. Sie schnip ste mit den Fingern, worauf Melisk ein eng zusammenge 148
rolltes Stück Pergament hervorzog, das Teysa dem stot ternden Lohnboss überreichte. Er nahm es entgegen und legte seinen Daumen auf das Siegel, um es aufzubrechen, aber die neue Baronin hob die Hand und hielt ihn zurück. »Noch nicht. Ich habe keine Zeit, dir jede genaue Ein zelheit zu erklären. Nimm diese Entwürfe mit, und baue den Herrschaftssitz danach.« »Und wo?«, brachte der Lohnboss heraus. Teysa seufzte, gab Melisk aber ein Zeichen, sich nicht einzumischen. Sie stand auf, lehnte sich über den Tisch und griff nach der Rolle mit den Plänen. Sie brach das Siegel mit dem Daumen auf, rollte die Pläne auf und wies Aradoz an, die gegenüberliegenden Ecken festzuhalten. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ein Gebiet ungefähr in der südwestlichen Ecke des eiförmigen Stadtgebiets von Utvara. »Was befindet sich bislang hier?« »Dort ist ... Lasst mich mal sehen.« Eine Ecke des Plans rollte wieder auf, weil Aradoz in seine Tasche griff. Er zog ein blaues Monokel hervor und schob es vor sein Auge. Melisk vollführte eine kurze Handbewegung, worauf sich alle Pläne auf dem Tisch unter leichtem Glühen entroll ten. »Danke, Melisk«, sagte Teysa. »Das Viertel da – was be findet sich dort?« »Eine kleine Höhle voller Bettler. Das ist natürlich Gruul-Gebiet. Das dort ist eine Zombie-Kolonie – haupt sächlich Golgari-Arbeiter. Und das sind die Elendsviertel der Gildenlosen«, sagte Aradoz. Er zeigte auf drei unter 149
schiedliche Teile des Viertels. »Dort, dort und dort. Eigent lich kann man auch sagen, dass sich das Elendsviertel überall zwischen diesen beiden Gebieten ausbreitet.« »Zombies?«, hakte Teysa nach. »Ja«, sagte der Halbdämon. »Arbeiter für die Bauernhöfe im Norden.« »Gehören sie dir?« »Ja, sie gehören tatsächlich mir. Ich habe dort eine Devkarin-Aufseherin, aber ich kümmere mich um die Einzelheiten, was die Arbeitseinsätze betrifft.« »Dann zieh sie näher an die Felder heran.« »Aber, Baronin«, warf der Lohnboss ein, »die Selesnija ner werden nie erlauben, dass die Untoten so nahe am Vitar Yescu leben. Sie behaupten, die Untoten würden dessen Lebens energie stören und ähnlichen Unsinn.« »Dann pack sie in die Sandebene«, sagte Teysa. »Es sind doch Untote, oder? Die Kuga kann ihnen doch nichts groß anhaben.« »Das mag sein«, entgegnete der Halbdämon vorsichtig, »aber es gibt wichtige Vorkehrungen, vor allem Klima kontrollen, die man für die Untoten benötigt.« »Was meinst du damit?« »Sie trocknen aus, Baronin.« Teysa betrachtete die Karte genauer. Utvara hatte un gefähr den Umriss eines Eies, wenn man die Ränder der Huske mitzählte. Innerhalb dieses Umrisses nahmen die Gebäude eine rechteckige Fläche ein, die die unteren zwei Drittel des Eies füllten. Mitten hindurch lief die brei 150
te Hauptstraße, von der unzählige Gassen und Nebenwe ge abgingen. Der Vitar Yescu wuchs nördlich der Stadt mitte und grenzte an das Ackerland. Dort standen auch noch andere Gebäude, die den Selesnijanern zuzuschrei ben waren. An das Ackerland schloss sich nach Norden die Sandebene an, in der sich auch das Kesselprojekt befand. Diese Sandebene, die das nördliche Drittel des Gebiets von Utvara ausmachte, war der Hauptgrund dafür, war um sich die hiesige Siedlung schon vor Ende der Brach zeit so weit entwickelt hatte. Genauer gesagt lag es an dem, was sich unter ihr befand. Die Sandebene war in einer früheren Zeit einmal eine Art Zeremonienplatz ge wesen, lange bevor die Seuche zugeschlagen hatte. Auf zeichnungen, wann er errichtet worden war, gab es nicht mehr. Was es auch gewesen sein mochte, es hatte sich zu einer flachen, toten Zone entwickelt, in der nichts wuchs und wo die Seuchenwinde ungestört wehen konnten. Vor ungefähr zwanzig Jahren hatte ein mutiger, völlig verarm ter Erforscher der Seuche getrotzt und in einem selbst hergestellten Überlebensanzug angefangen zu graben. Er war durch die Ziegel des alten Platzes gebrochen und hatte Meilen um Meilen eine entseelte, unter dichten Schichten vergrabene Stadt entdeckt – verlassen, erkaltet und eigentlich von niemandem beansprucht. Die Sied lung war daraufhin trotz der Gesetze des Gildenpakts fast aus dem Nichts entstanden, und Onkel hatte dabei seine Finger im Spiel gehabt. Sie war inzwischen viel mehr als nur ein Außenposten. Die Anhänger des Lebens hatten 151
sich wie ein gesunder Baum ausgebreitet, und zwar dank ihrem, nun ja, gesunden Baum eben. »Lohnboss, du bist einer der Einheimischen«, sagte sie. »Du müsstest wissen, wie weit die Auswirkungen von Vitar Yescu reichen. Bis wohin kann man gehen, ohne sich mit der Seuche anzustecken? Natürlich alles unter der Annahme, dass man nicht untot ist.« »Die sichere Zone erstreckt sich ungefähr eine Viertel meile in die Sandebene hinaus.« Aradoz zeigte auf die Karte. »Dahinter benötigt man einen Kugelhelm und ei nen Bergarbeiteranzug, wenn nicht noch mehr.« »Perfekt«, sagte Teysa und lächelte. »Ich will, dass du zu ein paar dieser Siedlungen gehst, oder was auch im mer es sind, sie räumen lässt und einige deiner Todes gänger dort unterbringst. Siedle die Selesnijaner in dem Bereich der Sandebene an, der gerade noch unter dem Einfluss des Vitar Yescu steht, und schicke auch ein paar Rakdos dort in die Gegend. Gib den Anhängern des Le bens eine Möglichkeit, ein wenig zu missionieren. Dann sind alle glücklich.« »Nun, ich ... das ist, nun gut«, stammelte der Lohnboss. »Aber was geschieht, wenn die Untoten irgendwie den Vitar Yescu beeinträchtigen? Wir sind alle auf ihn ange wiesen.« »Ach, die Anhänger des Lebens dürfen gerne jeden Zombie erschießen, der dem Baum zu nahe kommt. Viel leicht weist du ihnen ja eine Enklave zwischen dem Baum und den Todesgängern zu. Klingt das nach einer guten Lösung?« 152
»Und die Gildenlosen?« »Warum heuerst du sie nicht alle an?«, fragte Teysa. »Das hier ist erst das erste von vielen Projekten, die ich geplant habe. Ich werde dich in ein kleines Geheimnis einweihen, Lohnboss. Ich bin nicht glücklich darüber, dass dieser Izzet-Kessel auf meinem Grund und Boden gebaut wurde. Das war kein gutes Geschäft. Es ist nicht klug, auf unerprobte Methoden zu vertrauen. Und ehrlich gesagt bin ich darüber verärgert, dass das größte Gebäude der Stadt im Moment das Eigentum der Magierfürsten ist.« Sie wechselte mühelos vom finsteren Blick Nummer sechs zur Liebenswürdigkeit Nummer elf. »Darum werde ich dafür sorgen, dass du dich eine ziemlich lange Zeit nicht über mangelnde Arbeit wirst beschweren müssen. Ich will auch den Rest dieser Gegend in eine OrzhovBaronie verwandeln. Im Vergleich zu dem, was ich noch vorhabe, ist die Seuche ein Kinkerlitzchen.« Dem Lohnboss sackte die Kinnlade nach unten. »Baro nin, womit soll ich denn die nötigen Baustoffe kaufen?«, jammerte er. »Und womit die ganzen neuen Arbeiter be zahlen? Ich diene den Orzhov und der Familie Karlov ohne Einschränkung, aber ...« »Ich bin mir sicher, dass die Innung noch einiges in der Portokasse hat. Sobald mein neues Heim gebaut ist, kön nen wir uns gern darüber unterhalten, welche Gebühren du bei weiteren Projekten fordern kannst. Und die wirst du dann bestimmt sehr großzügig finden.« »Aber ich habe doch nur die Innung hinter mir. Ich brauche aber eine Armee, um das zu schaffen, was Ihr 153
von mir verlangt«, sagte Aradoz. Er deutete auf die Pläne. »Ich soll das da einfach so schaffen?« »Wenn du dir das nicht zutraust, finde ich sicherlich jemanden, der ehrgeizig genug ist, das Projekt zu über nehmen«, sagte Teysa. »Vielleicht wird er dir dann ja er lauben, als Leiharbeiter mitzuhelfen – falls du dann noch am Leben bist.« Sie nickte ihrem Majordomus zu, der ihr daraufhin eine kleine Anstecknadel überreichte, auf de ren Onyx der Karlov-Ouroboros eingraviert war. Sie trat um den Tisch herum und heftete das Schmuckstück an die Brust des Halbdämons. »Dies sollte dir helfen, alles hinzubekommen. Enttäusche mich nicht.« »Ist das ...?« Dem Halbdämon blieb wieder der Mund halb offen stehen, diesmal aber vor Überraschung über die plötzliche Wendung der Ereignisse und wegen Teysas Lächeln Nummer fünfzehn. »Ich werde Euch nicht ent täuschen«, plapperte er nach. »Melisk, das Gespräch ist beendet«, sagte Teysa. »Be gleite den Lohnboss bitte nach draußen. Ach, bevor ich es vergesse, Aradoz ...« »Ja?« »Wenn die Bauarbeiten an der Villa nicht bis Sonnen untergang in vollem Gang sind, wird Melisk dich töten und durch jemanden ersetzen, der die Aufgabe erfüllen kann.« »Das könnt Ihr nicht tun!«, rief Aradoz. »Ich bin ver antwortlich für ...« »Nichts«, beendete Teysa seinen Satz. »Ich dagegen bin verantwortlich für alles. Diese Nadel geht nicht von selbst 154
wieder ab, Lohnboss. Eigentlich sollte man annehmen, dass jemand in deiner Position alles versuchen würde, um sich bei jemandem wie mir einzuschmeicheln. Die Belohnungen sollten offensichtlich sein: hier mit dem Leben davonzukommen zum Beispiel.« Der Lohnboss öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber doch noch einmal anders. Er nickte. Teysa wusste, dass Melisks Blick einen BullenOger einschüchtern konnte. Sie musste noch nicht ein mal hinschauen, um zu wissen, dass er Aradoz gerade mit ungefähr sechzig Prozent der absolut höchsten Stufe an starrte. Sie war von dem Lohnboss beeindruckt, der an scheinend hart für seine Spitzenstellung gearbeitet hatte. Die meisten Verhandlungspartner konnten noch nicht einmal ein Viertel von Melisks Höchststufe aushalten. Teysa klopfte auf die Ecken der Karte, und die Zeich nungen verschwammen, bis wieder die Pläne ihrer neuen Villa zu sehen waren. »Hier, vergiss sie nicht«, sagte Tey sa. »Benötigst du noch mehr meiner kostbaren Zeit?« Der Halbdämon schüttelte den Kopf. Er ging rückwärts, bis er durch die Tür war, die von den Thralls hinter ihm wieder geschlossen wurde. Teysa schwenkte in ihrem Stuhl herum und feixte Me lisk an. »Wer wartet am längsten?« Melisk schloss die Augen und nahm Verbindung mit Phleeb auf, der vor der Tür Wache stand. Einen Moment später öffnete er die Augen wieder. »Wrizfar Rindenfeder, seines Zeichens Oberster Akolyth des SelesnijaKonklaves, Heiliger Bewahrer des Vitar Yescu, Ritter des 155
...« »Ach, das hatte ich gehofft«, sagte Teysa. Ihr Feixen verwandelte sich in ein Grinsen. »Er kommt als Letztes an die Reihe. Schick den Doktor als Nächsten herein. Den Simic. Und denk daran, wenn ich deine Meinung hören will, werde ich schon danach fragen.« »Ja, Baronin.«
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Die alles überragende Gestalt, die den Mond verdeckte, hatte ungefähr humanoide Körperform. Der stumpfe Kopf war aus Stein und Beton, die Arme bestanden aus drahtigen Metallstangen und reichten bis zum Boden, über den die Knöchel aus Metallschrott schleiften. Das Skelett war aus Stahlträgern zusammengesetzt, die im Laufe der Zeit aneinander gerostet und durch Magie mit einander verschmolzen waren. Das Monster stank nach toten Ratten und Korrosion, und die scharfe Duftwolke wallte über die Goblin-Frau, als der Gruul-Bandit, an dem sie festgebunden war, die Lage neu bedachte und den Befehl zum Rückzug gab. Die Gruul hatten das Wesen einen »Nephilim« genannt. In diesem Wort steckten Elemente der alten Sprache der Drachen, die »gottähnliche Kraft« bedeuteten. Es fiel Crix nicht schwer, dieser Einschätzung zuzustimmen. Ihr Blickwinkel ließ sie erkennen, wie mühelos es für den rostenden Nephilim war, ihr Tempo mitzuhalten – die Schrottkreatur würde sie in wenigen Sekunden eingeholt 156
haben. Zum Glück war es ihr gelungen, im allgemeinen Geplapper der Gruul den Namen ihres Entführers aufzu schnappen. »Entschuldigung, Golozar«, rief sie über die Schulter hinweg. »Ich fühle mich gezwungen, dir sagen zu müs sen, dass ich eine Möglichkeit habe, diese Kreatur zu stoppen. Dafür müsstest du mich allerdings losbinden.« Der Gruul drehte sich herum, merkte dann, dass sich die Sprecherin auf seinem Rücken befand, und drehte den Kopf zur Seite. »Wie kommst du darauf, dass wir mit der Situation nicht zurechtkommen?« Golozar wechselte dann in die kehlige Gruulsprache. »Bestienführer, ihr greift die Hinterbeine an. Wartet aber, bis der Rest von uns das rechte Vorderbein angegriffen hat. Ich kümmere mich um den Kopf.« »Bist du wahnsinnig?«, kreischte Crix. »Mir sind solche wie du schon öfter untergekommen, Goblin. Gelehrte Typen, die uns wie Tiere beobachten und die sich nicht bequemen zu helfen, solange sie nicht selber in Gefahr sind. Und jetzt bietest du etwas an, was mich vor allen meinen Leuten demütigt?« Golozar schüt telte den Kopf. »Lass lieber gut sein. Halt die Klappe und schau zu.« Zum Zuschauen bin ich aber falsch herum festgebun den, dachte Crix, wagte es aber nicht laut auszusprechen. Sie war noch nicht in unmittelbarer Gefahr, selbst wenn ihre Gliedmaße langsam taub wurden. Ob taub oder nicht, die Tätowierung könnte auf einen einzigen Gedan ken hin die Riemen durchbrennen. Kuriere waren durch 157
eine spezielle Magie geschützt, und gute Kuriere überleb ten deshalb so lange, weil sie wussten, wann und wo sie ihre Magie einsetzen mussten. Der Gruul trabte auf den aus Schrott bestehenden Gi ganten zu, umkreiste ihn und suchte die Gegend ab. Der Gestank wurde unerträglich und sorgte dafür, dass Crix sich wieder einmischte. »Bist du verrückt?«, sagte sie diesmal. »Was machen deine Leute da? Ihr könnt doch nicht ... Das Ding kann man nicht bekämpfen! Wir müssen fliehen!« »Sei ruhig!«, befahl der Gruul. »Du hast gar keine Ah nung, was die Gruul können und was nicht, Goblin.« Crix hätte gern noch etwas gesagt, gehorchte aber und schwieg. Sie waren zwar ein Stück geflohen, aber nur bis zu einem Gelände, das von noch mehr Spalten und Ris sen durchzogen war als der Teil der Huske, durch den sie schon gewandert waren. Da der Gruul sich nach links und rechts drehte, um das Gelände abzusuchen, konnte sie noch mehr Klüfte sehen – die Gegend bestand fast nur aus ihnen. Der Ort, an dem sich die Räuber ausgebreitet hatten, schien eine Art Fallgrube für ein Wesen zu sein, das so groß wie die klobige Kreatur war, die ihnen immer näher kam. Sie konnte den Nephilim zwar nicht sehen, dafür aber seinen Schatten. Die schweren Schritte kamen im mer näher. Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, dass sich die anderen Mitglieder der Räuberbande aufteil ten und ausschwärmten. »Das Ding besteht doch nur aus Schrott«, murmelte 158
Crix. »Wie soll der Sturz in eine Grube es da vernichten?«
Sie musste lauter gemurmelt haben, als sie vorgehabt hatte, da der Gruul hinter ihr antwortete. »Man kann es nicht vernichten. Solche Wesen lauern hier in den Hügeln schon seit Urzeiten. Aber wir können es für eine Weile loswerden.« »Für einen ungebildeten Wilden sprichst du ein recht gutes Ravi«, sagte Crix. »Du entlarvst deine eigene Unwissenheit mit deinen Worten«, antwortete der Gruul. »Bildung ist nicht etwas, was allein für die wenigen Goblins mit Hirn reserviert ist.« Crix suchte gerade nach einer passenden Antwort, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu entgegnen. Der rostige Boden hinter ihr begann zu knarren und zu ächzen, als wäre er ein lebendiges Wesen. Ein Wesen das hungrig klang.
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»Ich will keinen Ärger, Baronin ... Baronin ... Baronin ...«, stotterte der Vedalken. »›Baronin‹ genügt«, sagte Teysa. »Ich kann mir nicht er klären, von welcher Sorte Ärger Sie sprechen, Doktor Nebun.« »Warum fragt Ihr mich nach der Koga-Seuche?«, sagte der Vedalken. Verfolgungswahn stand ihm ins Gesicht geschrieben, und er schwitzte gewaltig. »Mir wurde gesagt, dass Sie die Interessen des SimicKombinats vor Ort vertreten, und zwar vollständig«, ant 159
wortete Teysa. Sie hatte die Ellbogen auf den Tisch ge stützt und presste die Fingerspitzen zusammen, um ihr Kinn darauf abzulegen. »Die Simic haben die Seuche nicht erzeugt!«, ereiferte sich der Doktor und sprang dabei sogar auf. Ein solcher Gefühlsausbruch war bei einem Vedalken so etwas wie unbändige Zornesraserei bei einem Menschen. »Wisst Ihr, mit was ich mich in dieser Stadt herumschlagen muss? Jeder hier scheint zu denken, nur weil es eine Seuche ist, muss sie von einem von uns erschaffen worden sein. Als ob das alles wäre, was das Simic-Kombinat tagaus, tagein macht. Und selbst wenn ich etwas damit zu tun gehabt hätte ...« Teysa packte eine der herumwedelnden Hände des Doktors und haute sie auf den Tisch. »Doktor! Hören Sie mir zu!« Der Vedalken nickte. »Hören Sie zu?« Der Vedalken nickte noch einmal. »Das ist ja gut«, sagte Teysa. »Mir ist es nämlich ganz egal, wer diese Seuche erfunden hat. Ich will nur wissen, was es ist, wie sie sich verbreitet und wie ich sie wieder loswerde, wenn ich will.« »Ach, wenn das alles ist«, platzte Doktor Nebun heraus, hielt sich dann aber schnell den Mund zu. »Ich mag die Selesnijaner nicht, Doktor«, sagte Teysa. »Das bedeutet, dass Sie den Auftrag bekommen. Ich will ein Gegenmittel, möchte aber hinterher nicht in der Schuld des Konklaves stehen. Nichts von dem, was Sie für 160
mich herstellen werden, soll irgendetwas mit dem Vitar Yescu oder einem ihrer sonstigen Tricks zu tun haben. Es wird, solange ich hier bin, in Utvara keine Schweiger oder gemeinsam genutzte Gehirne geben, die das Land kon trollieren.« »Aber warum gerade ich?«, fragte der Doktor. »Ich lege meine Gründe nicht dar, Doktor«, sagte Teysa. Sie rückte mit dem Stuhl vom Tisch weg und verschränk te die Hände hinter dem Kopf. Ein neutrales Lächeln ver zierte ihr Gesicht. »Es muss nicht sofort geschehen. Sie werden feststellen, dass ich immer mit mir reden lasse.« »Es würde allein Wochen dauern, bis ich meine ganzen Notizen ins Reine geschrieben habe«, erklärte der Doktor. »Ich lasse zwar gern mit mir reden, mich aber ungern für dumm verkaufen«, sagte Teysa. »Fangen Sie mit ihren Experimenten an, und entdecken Sie mir etwas, das nichts mit den Selesnijanern zu tun hat. In sagen wir mal spätestens einer Woche will ich Ergebnisse sehen. Wenn es länger dauert, müssen wir über Gebühren reden.« »Gebühren?«, stammelte der Doktor. »Natürlich, man kann ja von mir nicht verlangen, dass ich umsonst arbei te, ich werde ...« »Melisk«, sagte Teysa. Der Majordomus reichte ihr ein kleines, dafür aber dickes Buch, das von einem Seiden band zusammengehalten wurde. »Das hier ist nur der erste Band. Während Ihres Aufenthalts in dieser Stadt haben Sie es geschafft, sogar Gildenpakt-Gesetze zu bre chen, von denen noch nicht einmal ich wusste, dass sie existierten. Und falls Sie es noch nicht wissen, ich bin 161
eine Advokatin. Sie würden mich wahrscheinlich als Ma giejuristin bezeichnen. Bevor wir uns jetzt zu lange damit beschäftigen, will ich nur, dass Sie eines wissen: Für Sie springt dabei heraus, dass diese Aufzeichnungen zerstört werden. Es wird keine Anklage erhoben. Nun, was halten Sie jetzt davon?« Der Doktor erhob sich, aber diesmal verbeugte er sich tief. »Ich werde es tun.« »Natürlich werden Sie das«, sagte Teysa. Sie drückte das Buch Melisk wieder in die Hand, der es in einer seiner Taschen verstaute. »Und jetzt, bevor Sie sich an die Arbeit machen, klären Sie mich doch noch bitte kurz über die Kuga-Seuche auf.« »Nun ja, sie verläuft tödlich. Sie lässt die Haut verrotten und verzehrt die Lunge.« »Ist es schmerzhaft?«, fragte Teysa. »Na, was glaubt Ihr denn?«, antwortete der Doktor. »Aber es ist nicht die ursprüngliche Seuche«, sagte Tey sa. »Nein, aber wie ich schon sagte, niemand weiß – und am allerwenigsten das Simic-Kombinat –, was der Ur sprung dieser Seuchenabart ist und warum ...« »Doktor, wenn Sie das noch einmal machen, werden Sie sich auf Stümpfen durch ihr Labor bewegen müssen«, sagte Teysa freundlich. »Ich verlange nach Antworten, nicht nach offenen Fragen. Sie sind ein Vedalken. Ich bin mir sicher, dass Sie Ihre Unterlagen nicht brauchen, um mir eine kurze Zusammenfassung zu geben.« »In Ordnung, in Ordnung«, sagte der Doktor. Er setzte 162
sich wieder und konzentrierte sich. Dann entspannten sich seine Gesichtsmuskeln. »Laut den Unterlagen, die allgemein zugänglich sind, und meinen eigenen, unab hängigen Untersuchungen – die, wie ich bereits sagte, nichts, aber auch gar nichts mit der Erzeugung dieser schrecklichen Krankheit zu tun haben –, wurde die ur sprüngliche Seuche hauptsächlich durch direkten Kör perkontakt übertragen. Eine einfache Berührung reichte meistens schon aus.« »Also wurde diese Gegend als Brachzone deklariert, um die Bevölkerung absterben zu lassen und damit auch die Krankheit wieder auszurotten«, sagte Teysa. Der Doktor nickte. »Ja. Aber einer der Gruul-Stämme, die in dieser Gegend hier gelebt haben und die Haupt überträger der ursprünglichen Seuche gewesen sind, hat eine starke Immunität entwickelt. Die Brachzeit war also insofern unwirksam, als es nicht gelungen ist, zur Sanie rung alles Leben auszurotten.« »Sie klingen, als wüssten Sie aus eigener Erfahrung von dieser ursprünglichen Seuche, Doktor. Gehörten Sie zu fällig zu der ersten Gruppe Siedler, die sich hier niederge lassen und die Gemeinde gegründet haben?« »Warum?« »Ach, ich frage nur interessehalber.« »Da habt Ihr einen Volltreffer gelandet«, sagte der Dok tor. »Darf ich fortfahren?« »Nur zu«, sagte Teysa. »Die Immunität der Gruul sorgte irgendwann dafür, dass sich die Seuche nicht mehr weiter ausbreiten konn 163
te, aber sie verblieb in deren Blut«, erklärte der Doktor. »Trotzdem musste die Brachzeit fortgesetzt werden, um einerseits sicherzustellen, dass die Seuche tatsächlich ausgemerzt war, und andererseits um den Statuten des Gildenbunds zu gehorchen. Ich vermute, ungefähr zu diesem Zeitpunkt muss sich Eure Familie entschlossen haben, die ganze Angelegenheit etwas zu beschleunigen, und hat die Izzet ins Tal gelassen.« Nebun spuckte den Namen der Gilde der Zauberwerker förmlich aus. »Die Sache mit der Manaverdichtung, wenn mich mei ne Erinnerung nicht trügt«, sagte Teysa. »Eine wirkungs volle Verbesserung, wie es aussieht.« »Wenn man nichts dagegen hat, dass sich jetzt Löcher am Himmel befinden«, meinte der Doktor. »Sie sprechen vom so genannten Schisma?« »Vom Schisma, natürlich. Und einer mutierten, vom Wind übertragenen Seuche. Die Energie, die diese Ver dichtung verbraucht hat, hat rundherum alles Leben ver schlungen. Aber die Seuche lebte ja nicht richtig. Sie war sozusagen nur in Lauerstellung. Daher hatte die Energie, die alles andere verzehrte, die Gelegenheit eine Mutation einzubauen, die in die ursprüngliche Seuche als Reaktion auf solche ... oje.« »Sie befinden sich in einem Wahrheitskreis«, sagte Teysa. »Es kann vorkommen, dass Sie etwas zugeben, was Sie uns nicht unbedingt auf die Nase binden wollten. Die Seuche wurde also tatsächlich gebaut. Sehr interessant. Allerdings haben Sie uns auch die Wahrheit gesagt, als Sie behaupteten, dass das Simic-Kombinat nichts damit zu 164
tun habe. Nun, wir werden uns wohl zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal darüber unterhalten. Fahren Sie fort.« »Durch die Mutation fing die Seuche wie gesagt an, sich durch die Luft zu verbreiten. Durch die außergewöhnli che Geschichte und geografische Lage der Region Utvara bedingt, blieb sie jedoch mehr oder weniger auf dieses Gebiet hier beschränkt.« »Als ob die Seuche gern hier verweilen wollte, oder?«, sinnierte Teysa. »Das habe ich nicht behauptet«, sagte der Doktor. »Und warum sind die Vorgebirge immer noch voller Gruul, Doktor?«, fragte Teysa. »Warum hat vor meinen eigenen Augen eine Bande plündernder Gruul einen Pa triarchen angegriffen und dann ermordet – einen Patriar chen, Nebun?« »Die Mutation hat nicht ausgereicht, um die Immunität im Blut der Gruul vollständig auszuschalten«, sagte der Doktor. »Aber sie gehören doch alle unterschiedlichen Spezies an«, sagte Teysa. »Zentauren, Menschen, Goblins, Viashi nos – und das sind nur die Arten, die ich beim Angriff auf unseren Lokopeden gesehen habe. Wie gelingt es ihnen, diese Immunität den nächsten Generationen weiter zugeben?« »Es sind Abkömmlinge der ursprünglichen Gruul von Utvara«, sagte der Doktor. »Ich habe viele Blutvergleichs studien durchgeführt, wie Euer Büchlein Euch sicher schon verraten hat.« In der Stimme des Vedalken 165
schwang jetzt ein wenig Stolz mit. »Die Menschen haben sich auch mit den anderen Humanoiden gekreuzt.« »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich den Ton mag, dessen Sie sich da gerade bedienen, Doktor«, sagte Teysa. »Haben Sie ein Problem mit Menschen?« »Nur wenn sie sonst reine Stammbäume durcheinan der bringen«, erwiderte der Doktor. »Wie reizend«, sagte Teysa. »Und was hat die Kuga nun für Auswirkungen auf diese neuen und verbesserten Su per-Gruul?« Der Doktor fuhr unbeirrt fort. »Es sind normale Gruul, glaube ich. Die Kuga reduziert ihre Lebenserwartung deutlich und sollte sie nach ein paar Jahren töten. Aller dings gibt es da draußen eine Art Häuptling. Er sorgt da für, dass die Stämme gut zusammenhalten. Wenn ich meinen Gruul-Testobjekten glauben darf, hat er auch eine wilde Pilzflechte gefunden, die viele Eigenschaften mit dem Vitar Yescu gemeinsam hat. Die Gruul tragen sie am ganzen Körper.« »Und Sie hatten damit natürlich nichts zu tun«, sagte Teysa. »Ich ... ich bin ein Doktor.« »Ja, ich weiß. Und Sie sind zudem recht talentiert in der zytoplasmatischen Chirurgie, soviel ich weiß. Sie brau chen sich keine Sorgen zumachen, ich werde es nicht gegen Sie verwenden. Das erklärt auch einige ihrer eher bezaubernden körperlichen Eigenschaften, oder?«, sagte Teysa. Lächeln Nummer zwei: Ich weiß ganz genau, was Sie meinen. »Und der Vitar Yescu – warum beschützt er 166
sie nicht so, wie er die Stadt beschützt?« »Diese zu groß gewachsene Pusteblume ist schrecklich ineffizient«, sagte der Doktor. »Und der Pollen verursacht bei einem Bruchteil der Bevölkerung Allergien. Er ver wendet die gleiche Methode wie die Seuche, um sich auszubreiten, nämlich den Wind. Und da der normaler weise aus nördlicher Richtung weht, bleibt ein großer Teil der Sandebene im Griff der Seuche. Bis zur Huske kommt der Pollen nie, vorher wird er immer ins Tal zurückge weht. Mir wurde gesagt, dass der Vitar Yescu in der Lage sein wird, die Seuche komplett auszulöschen, sobald der Kessel auf höchster Stufe läuft. Pyromagische Windmüh len oder so ähnlicher schrecklicher Unsinn.« »Glauben Sie, dass es funktionieren könnte?«, fragte Teysa. »Man kann nichts ausschließen«, sagte der Doktor. »Aber ich habe das Gefühl, dass das noch Jahre dauern kann. Der Wind lässt sich nicht so einfach umlenken.« »Dieser Baum ist nicht gerade uninteressant, aber stinkt mir zu sehr nach Konklave. Ich würde es vorzie hen, ein eigenes Gegenmittel zu haben. Fühlen Sie sich aufgefordert, sofort mit der Arbeit zu beginnen, Doktor«, sagte Teysa. »Sie haben mehr als genug mitgeteilt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit und die Ausführun gen, und ich freue mich schon darauf, von Ihnen in ein paar Tagen über Ihre Fortschritte zu hören.« »Tagen? Aber ich ...« Melisk räusperte sich. »Ach ja, Melisk. Danke schön«, sagte Teysa gutmütig. Sie ließ sich von ihm die Ansteck 167
nadel mit dem Karlov-Emblem geben und beugte sich vor. Nachdem der Doktor gegangen war, setzte sich Teysa wieder. »Ich fühle mich ganz gut gerüstet, Melisk. Ich glaube, es ist an der Zeit, den Izzet-Magierfürsten vorzu lassen. Wie war noch einmal sein Name? Hauc?« »Darüber wollte ...«, sagte Melisk. Teysa ließ ihn nicht ausreden. »Was ist denn jetzt schon wieder?« »Der Magierfürst kommt nicht. Sein Vormann lässt ihn entschuldigen.« »Nun, dann schicke mir wenigstens den herein.«
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Crix rutschte wie ein toter Fisch von Golozars Rücken und kippte seitlich zu Boden. Alle ihre Muskeln zuckten, als das Blut in ihrem Körper langsam wieder zu zirkulie ren begann. Alle Nervenenden schienen gleichzeitig nach Aufmerksamkeit zu verlangen. Die Lederriemen, mit de nen sie an dem Gruul festgebunden gewesen war, hingen immer noch an ihren Gelenken, aber sie konnte die Hän de noch nicht wieder gut genug einsetzen, dass ein Ge danke, wozu sie die vier Lederstücke verwenden könnte, überhaupt lohnte. Nur wenige Sekunden später brach das Schrottwesen ganz in der Nähe durch den nicht sehr festen Boden. Der Aufprall erschütterte alles so stark, dass die Goblin-Frau sich gezwungen fühlte, die Augen aufzumachen. Sie sah, 168
wie alle vier Gliedmaßen des Wesens in der Kluft ver schwanden, die sich unter ihm aufgetan hatte. Ein kurzes Durchzählen ergab, dass alle Räuber überlebt hatten. Niemand hatte größere Wunden davongetragen, aller dings waren alle mit einer rötlichen Staubschicht überzo gen. Crix hustete und versuchte zu spucken, aber ihr Mund war wie ausgetrocknet. Ihre Zunge fühlte sich schuppig an. »Entschieden ... mich gehen zu ... lassen«, krächzte sie Golozar entgegen. Der Anführer der Räuber schaute kurz über die Schulter, während er seiner Bande ein Zeichen gab, sich zu sammeln. »Du warst mir im Weg«, sagte er. »Und von hier kannst du eh nicht fliehen.« Er drehte sich wieder zu seinen Leu ten um und bellte noch ein paar Befehle. In der Regel war es nicht einfach, Crix zu beleidigen. Sie war ein Kurier und Dienerin eines großen Magierfur sten, da war sie an Anfeindungen aller Art gewöhnt. Aber diese komplette Nichtbeachtung durch diesen Wilden, der sie ihrem Empfinden nach gleich mehrfach in Le bensgefahr gebracht hatte, weckte etwas in ihr, was sie bisher noch nicht kannte. Sie schloss die Augen und sog die Wärme der Morgensonne auf. Sie holte sich Energie aus der Hitze des weit entfernten Kessels, aus dem kalten, klaren Wasser der schwebenden Reservoire und aus dem Eis der Polarregionen. Alles zusammen linderte ihre Schmerzen und brachte ihr Blut wieder so weit zum Flie ßen, dass fast nichts mehr wehtat. Noch wichtiger war allerdings, dass sie wieder genug Energie hatte, um auf 169
zustehen. Die Lederriemen baumelten nutzlos herum. »Gruul, ich glaube, ich habe für diesmal genug gelernt«, sagte Crix. »Ich sollte mich wieder auf den Weg machen, um meine Mission zu erfüllen, das heißt, meinen Auftrag als Kurier. Als ein Kurier, der vom Gildenpakt geschützt ist, wenn ich das noch hinzufügen darf. Mich weiterhin gegen meinen Willen festzuhalten wird höchstwahr scheinlich den Zorn des Gildenbunds über dich bringen ...« »Halt die Klappe!«, bellte Golozar. Er knurrte ein paar Worte, die sich noch nicht in Crix’ ständig wachsendem Gruulvokabular befanden, und die peitschenartigen Rie men um ihre Gelenke begannen sich wie Schlangen zu winden. Crix schrie vor Überraschung auf. Das Leder wickelte sich selbständig um ihren ganzen Körper, fessel te ihre Arme an den Körper und band ihre kurzen Beine zu einem dicken Stumpf zusammen. Um die Schmach perfekt zu machen, wickelte sich einer der Riemen, der an ihrem linken Fußgelenk befestigt war, am Ende auch noch so um ihren Schädel, dass sie den Mund nicht mehr öffnen konnte. Also gut, dachte sie. Jetzt könnte ich doch ein Problem haben.
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»Was für eine reizende Überraschung«, sagte Teysa. »Ich meine natürlich die Waffe.« Sie legte den geladenen Knallstab so auf den Tisch, 170
dass das gefährliche Ende direkt auf den Brustkorb des Goblin-Vormannes zeigte. »Ein Zeichen unserer Wertschätzung, Baronin«, sagte der Goblin schroff, aber doch mit einem Anflug von Di plomatie, der zeigte, dass er mehr Ausbildung als die meisten anderen seiner Art genossen hatte. »Einerseits ein Geschenk, andererseits ein Beweis für das Vertrauen und das Wohlwollen gegenüber unseren Verbündeten aus der Gilde des Handels, den großen Orzhov-Familien und ihren reichen Besitztümern.« Der Vormann des Kessel-Kraftwerkprojekts war das genaue Gegenteil von Aradoz. Während der Lohnboss alle Arbeitskräfte verwendete, die er kaufen oder irgendwo stehlen konnte, beaufsichtigte der Izzet-Vormann das wichtigste Projekt seiner Gilde in dieser Region und griff dabei nur auf pflichttreue Izzet-Arbeitskräfte, meist Go blins, zurück. Teysa hatte nicht erwartet, dass die Izzet ihr Ärger ma chen würden, und besonders dieser Goblin hier schien ihr keine Probleme bereiten zu wollen. Aber die diploma tische Fassade, mit der er sich umgab, war tatsächlich nur eine Fassade. Irgendetwas bedrückte ihn. Zudem störte Teysa die Tatsache, dass sie nicht wie erwartet dem ei gentlichen Machthaber der Izzet in Utvara gegenübersaß. »Ich nehme dieses Geschenk an und füge die Dankbar keit meiner Vorfahren zu meiner eigenen hinzu«, sagte sie. »Du beginnst unser Gespräch damit, dass du mir eine direkte Gelegenheit bietest, dich zu töten. Das ist ein weitaus größeres Zeichen, es zeugt von Respekt. Und 171
Respekt mir gegenüber bedeutet Respekt vor den Karlov und allen Orzhov. Mein Kompliment, Vormann ...?« »Babolax«, sagte der Goblin. Er gab jeder Silbe mehr Be tonung als der vorherigen, wie man es oft bei Izzet hören konnte. Sie fragte sich, wie sie es rechtfertigten, in ihrem Namen ebenso viele Silben zu verwenden wie der Große Drache in seinem hatte. Das Glaubenssystem der Izzet wirkte auf einen Orzhov als offensichtlicher Betrug an den meisten Gläubigen. »Seit wann leitest du die Geschäfte da drüben, Babo lax?«, fragte Teysa. Sie ahmte mühelos die Betonung des Namens nach, was ihren Gesprächspartner sichtlich zu freuen schien. »Sieben Monate«, sagte der Vormann stolz. »Seit der al te Falazavax den Unfall hatte.« »Wer sind deine Adjutanten? Schichtführer werden sie bei euch wohl genannt, oder?«, fragte Teysa. »Dexawik tagsüber, Jybezax nachts. Ein neuer Bursche namens Rawoniq vertritt sie manchmal und leitet die neue Halb-und-noch-einmal-Schicht, die wir im letzten Monat eingeführt haben«, sagte Babolax. »Ihr seid also fleißig am Arbeiten«, sagte Teysa. »Sehr hart«, stimmte der Goblin zu. »Warum hat dann euer Ausstoß an Energie nicht ent sprechend zugenommen, seit ihr diese Halb-und-noch einmal-Schicht eingeführt habt, Babolax?«, fragte Teysa. »Ihr hortet sie doch nicht, oder? Und was ist mit diesen ›Windmühlen‹, von denen ich gehört habe?« Babolax blickte auf seine Fußspitzen. Hätte er genauer 172
hingeschaut und wäre er vertrauter mit Dingen der Magie gewesen, die in den Gerichtssälen von Ravnica gebräuch lich waren, hätte er den grob gezeichneten Wahrheits kreis entdeckt, in dem er stand. So aber konnte Teysa beobachten, wie der Goblin über seinen Drang verblüfft war, unbedingt die Wahrheit sagen zu wollen. »Sie ist ... ist für ... die Energie, sie ist für den Magierfürsten, Baronin«, sagte der Vormann. Er riss ungläubig die Augen auf, weil er merkte, dass er etwas erzählte, was er eigentlich für sich hätte behalten sollen. »Wozu braucht er die zusätzliche Energie?«, fragte Tey sa. »Das weiß ich nicht!«, sagte der Goblin. Er biss sich auf die Zungenspitze, aber er konnte nicht verhindern, dass er die Tatsachen nicht verheimlichen konnte. »Er ist drü ben im Kessel der Boss der Bosse, Baronin. Bitte fragt mich nichts mehr. Er wird mich umbringen!« »Das bezweifle ich«, sagte Teysa. »Würdest du bitte eine Nachricht von mir überbringen, Babolax?« »Natürlich«, sagte der Vormann. »Nur bitte zwingt mich nicht mehr, weiterhin meinen Eid zu verletzen. Ich möch te nicht ... Ich habe gesehen, was mit Leuten geschieht, die ihn enttäuschen. Ich würde das nicht durchstehen.« »Auch gut«, sagte Teysa. Sie nahm den Knallstab mit einer Hand, hielt Babolax die Mündung an die Stirn und drückte ab. Eine laute, helle, stechende, aber kleine Ex plosion später rutschte der kopflose Körper des ehemali gen Vormanns seitwärts vom Stuhl und bildete auf dem Boden eine rauchende, schmierige Lache. 173
»Hol mir die Schichtleiter der Tag- und der Nacht schicht, Melisk«, sagte Teysa. »Sie können sich heute Abend irgendwo in die Schlange einreihen und später dann die Nachricht an Zomaj Hauc überbringen. Der Ma gierfürst muss lernen, dass ich nicht mit Untergebenen verhandele und dass dieser Kessel nur so lange existiert, wie es mir gefällt. Selbst falls er Verträge und Vereinba rungen vorweisen kann, mit denen er das zu verhindern können meint – mir ist noch kein Kontrakt untergekom men, den ich nicht in der Luft zerpflückt habe.« »Soll ich die Leiche entfernen lassen?«, fragte Melisk. »Nein, lass sie erst einmal dort liegen«, antwortete Tey sa. »Das könnte die Sache bei den anderen deutlich be schleunigen.« Sie drehte sich zu dem Spiegel, der rechts über ihr an der Wand hing. »Findest du nicht auch?«, sagte sie. »Gut gemacht, Kind«, sagte der Spiegel. »Ich bin neugie rig, was dieser billige Pyromagier vor uns verheimlichen will.« »Was sagt der Obzedat dazu?«, fragte Teysa. »Nur Geduld«, antwortete der Spiegel. »Du machst dei ne Sache gut. Überstürze jetzt nur nichts.« »Du hast leicht reden«, sagte Teysa. »Melisk, dreh ihn bitte zur Wand. Ich mag es nicht, wenn mir Leute über die Schulter gucken. Und das gilt auch für dich, Onkel.«
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Kapitel 6
H
Die Gruul mögen einst eine Gilde gewesen sein, vielleicht sogar eine Macht, mit der man rechnen musste. Heutzutage sind sie nur dem Namen nach noch eine Gilde. Ihre Mitglie der sind in alle Himmelsrichtungen verstreut und die Stämme dezimiert. Es brauchte ein Wunder, um sie wieder zu vereinigen. Der Gildenpakt fasste alle anderen zusam men, während er die Clans zerschlug. Und trotzdem be hauptet ihr, dass dieses Dokument keine Ungerechtigkeit enthält? Der heilige Bayul, Botschafter, Ansprache an den Rat des Gildenbunds (22. Mokosh 9997 Z. C.)
1. Cizarm 10012 Z. C. Kos schlief ein paar Stunden länger als sonst. Pivlic hatte ihm versprochen, dass er mehrere Tage freibekommen würde, und heute war der erste davon. Er nahm ein Bad, rasierte sich, aß ein gekochtes Ei und ging mit einem Krug Ogerkaffee in der Hand eine Stunde vor Mittag in die oberste Etage des Turms, in dem er wohnte. Er hatte Glück, dass sein Heim fließendes Wasser hatte. In Utvara 175
war das immer noch die Ausnahme, obwohl die Wieder besiedlung nun schon lange im Gang war. Jeden Tag nahm er sich um diese Uhrzeit eine Stunde Zeit, um nach einem verschwundenen Freund Ausschau zu halten, bis lang vergebens. Er hatte sich ein von Goblins entwickeltes Fernglas mitgebracht – ein nichtmagisches Instrument aus Holz und Kristall, durch das man mit nur einem Auge weit entfernte Dinge beobachten konnte. Wie gewöhnlich machte er es sich in seinem Liegestuhl bequem. Norma lerweise ging er zum Arbeiten in den Geflügelten Bold, sobald er sein Ritual abgeschlossen hatte. Aber da die Kneipe heute (bis auf weiteres natürlich) geschlossen hatte, konnte er sich Zeit lassen. Zeit, um zu überprüfen, ob es tatsächlich keine Engel mehr in Ravnica gab. Als er vor zwölf Jahren gemeinsam mit Pivlic hierher gekommen war, hatte Kos nicht geglaubt, lange zu blei ben. Er hatte sich diesen kleinen Turm von den Orzhov gekauft, wobei Pivlic als Zwischenhändler gedient hatte. Der Turm war einer von vielen gewesen, der die Brach zeit relativ unbeschadet überstanden hatte und noch weitgehend stabil war. Der Kauf hatte den größten Teil seiner Pension verschlungen, aber in seinem Alter und bei seinen ganzen Alterswehwehchen war es auch nicht sinnreich, die Zidos auf der Bank ruhen zu lassen. Kos hatte vorgehabt, nach ein paar Monaten weiterzuziehen und den Turm wieder zu verkaufen, wobei er bei dem Verkauf sogar einen Profit herauszuschlagen gedachte. Aber eine ganze Zeit lang hatte sich kein interessierter 176
Käufer gefunden. Nach einer Weile hatte die Trägheit eingesetzt. Er hatte ein gemütliches Heim für sich und ein gutes Gehalt, das stetig floss. Was wollte er mehr? Er konnte sich im Rückblick an keinen Ort erinnern, von dem aus er einen so guten Rundblick hatte. Er konnte genauso gut von hier aus nach Feder und Parhelion Aus schau halten, wenn er sich die richtige Tageszeit dafür freihielt. Kos überprüfte die Position der Sonne am Himmel. Es würde noch eine Stunde dauern, bis sie vor das Schisma rücken und ihm durch eine Art Spiegeleffekt einen voll kommenen 360-Grad-Rundblick über die ganze Welt bieten würde, von Horizont zu Horizont. Das Schisma, so hatte ihm Pivlic erklärt, war bei einem zur Hälfte fehlge schlagenen Experiment entstanden, das die Izzet bei dem Magierfürsten Zomaj Hauc in Auftrag gegeben hatten. Die Izzet hatten erfolgreich einen Mechanismus ausgelöst, der alles Leben vernichtet hatte, das nicht in die Huske geflohen war. Laut Pivlics Schilderung hatte sich das Schisma aus einer Art magischem Lebenszerstörer ent wickelt, der eigentlich hätte explodieren sollen und damit die Seuche ganz ausrotten. Aber das Ding war nie hoch gegangen, und Utvara musste sich seitdem mit der Kuga herumschlagen. Das Schisma war zu einem spinnennetz artigen Riss im Himmel geworden, etwa fünf Meilen über Utvara. Jeden Tag zog die Sonne wenige Minuten lang hinter dem Schisma vorbei. Während dieser Zeit wurde der zer rissene Himmel klar wie Glas, und Licht aus allen Ecken 177
der Welt fand seinen Weg in das Fernrohr des alten Wo jeks. Kos verstand nicht genau, wie das Ganze funktio nierte. Es hatte etwas mit Magie zu tun, und das war noch nie sein Lieblingsthema gewesen. Mithilfe des Fernrohrs konnte Kos sogar die Köpfe von drei der Steintitanen von Ravnica sehen, obwohl diese sich auf der anderen Seite der Weltkugel befanden. Soweit Kos wusste, gab es kei nen anderen Ort auf Ravnica, wo er gleichzeitig so viel von der Welt und vom Himmel auf einmal sehen konnte. Dieser Umstand hatte schließlich den Ausschlag für ihn gegeben, ganz in Utvara zu bleiben. Wie gewöhnlich entzündete sich der Hoffnungsfunke auch heute nicht. Die Sonne schob sich hinter dem Schisma vorbei, und Kos suchte innerhalb der zwei Minu ten den gesamten Horizont ab. Sein Körper mochte alt sein, aber seine Augen waren noch so scharf wie eh und je. Sein Herz setzte einen gefährlich langen Schlag aus, als er über den Ruinen der Huske eine Bewegung ent deckte, aber es beruhigte sich sofort, nachdem er an der verräterisch runden Form erkannt hatte, dass es sich um die Kuga-Mot handelte. Sie war am Tag recht selten zu sehen, ihr Auftauchen tagsüber war aber auch nichts ganz Außergewöhnliches. Soweit er wusste, war es ein schlechteres Vorzeichen, wenn die Kuga-Mot in der Nacht zu sehen war, aber ob bei Tag oder bei Nacht: jedes Auf tauchen der Kuga-Mot sorgte für Ärger und Unruhe unter den Gruul. Er nahm sich vor, Trijiro noch einmal deutlich zu ma chen, dass seine Leute sich eine Weile lang von der Sied 178
lung fern halten sollten. Die glühende Kugel – Kuga-Mot bedeutete in der Sprache der Urvara-Gruul »Seuchenbrin ger« – schwebte nach oben in den glasklaren Himmel und verschwand innerhalb von Sekunden aus dem Blickfeld. Niemand wusste, ob es nun ein Geist, eine Erscheinung, eine Illusion oder sogar noch etwas anderes war, jeden falls blieb es nie länger sichtbar. Kos hielt nichts davon, das Erscheinen als gutes oder schlechtes Omen zu wer ten. Er hatte die Kuga-Mot schon öfter gesehen und war hinterher nie krank geworden. Noch nicht einmal sein Herz hatte besonders reagiert. Denk am besten gar nicht darüber nach, Kos, schimpf te er sich. Das führt nur zu Angstgefühlen, und das wie derum ... Kos warf einen Blick auf seinen Kaffeepott. Er war immer noch zu zwei Dritteln voll. Er goss ihn aus. Warum hatte er sich überhaupt einen Kaffee gemacht? Er vertrug ihn ja eh nicht mehr. Die Neuankömmlinge hatten etwas in ihm wachgerüttelt, ebenso der Bote, den Pivlic ihm heute morgen vorbeigeschickt hatte. Es machte ihm nichts aus, unerwartet einen Tag freizubekommen, aber seine immer noch vorhandenen Polizisteninstinkte mel deten sich. Es schmeckte ihm nicht, dass er nicht in die Sachen eingeweiht wurde, die Pivlic und die Neuan kömmlinge miteinander zu besprechen hatten. Die Sonne wanderte weiter, und sobald sie ein paar Grad am Schisma vorüber war, flimmerte die Fernsicht und verschwand dann ganz. Kos hatte immer noch einen hervorragenden Blick auf ganz Utvara und richtete das 179
Fernrohr daher auf die Orte, die Zwischenfälle und Unru he magnetisch anzuziehen schienen. Über dem Kessel, diesem riesigen, gewölbten ... Ding, hingen Rauch und Dampfwolken. Das Bauwerk, das wie ein überdachter Tafelberg aussah, war im Norden der Siedlung gebaut worden und ragte über der Sandebene und dem Vitar Yescu auf. Die wahnsinnig anmutende Ansammlung von Rohren und Leitungen, die meist außen am Gebäude in den Boden führten, wirkte fast wie Wur zeln, durch die dauernd helle Energie knisterte. Die Izzet, die in dem Kraftwerk arbeiteten, waren zwar keine Ge fangenen, lebten aber meist sowieso ganz dort. Seitdem er hier wohnte, war Kos kein einziges Mal draußen bei dem Kessel gewesen. Er hatte nie eine Einladung erhal ten, hatte aber auch kein gesteigertes Interesse daran, einen Feuerball ins Gesicht zu bekommen, nur weil er mal freundlich Hallo sagen wollte. Selbst von hier aus konnte er durch das Fernrohr zwei hydropyrische Selt samkeiten erkennen, die dort Patrouille gingen. Ihre flie ßenden Körper aus reinen Flammen hinterließen dabei schwelende Fußabdrücke. Pivlic dagegen wusste eine Menge über den Ort und hatte Kos eine einfache, wojekfreundliche Version prä sentiert: Der Kessel war wahrscheinlich in einer früheren Zeit einmal eine Art Arena gewesen, die aber in keinem der Geschichtsbücher erwähnt wurde. Das Kraftwerk stand auf einer geothemischen Kuppe, die sich ihren Weg nach oben bahnte und sich dabei Schicht um Schicht durch die Geschichte Ravnicas brannte. Die verschütteten 180
Gebäude wurden von unten zerdrückt, und ab und zu bebte dadurch die Oberfläche. Die schwebenden Reser voire, die den Kuppelbau des Kessels umringten, saugten Wasser aus der Luft und speisten es in die Feuergruben unten ein, wo Pyromagier, Hydromagier und hunderte von Goblins es in die Energie verwandelten, dank der die Stadt am Leben blieb. Zudem blieb auch noch genügend Wasser für die Siedlung selbst übrig. Pivlic hatte sich Mühe gegeben, ihm die technischen Dinge zu erklären, aber Kos hatte die meisten Details nicht behalten können. Die Umsetzung von Dampf in Energie hatte er verstan den, aber alles andere war ihm zu undurchschaubar und wissenschaftlich beziehungsweise beides gleichzeitig. Kos wollte gar nicht mehr erfahren. Es genügte ihm zu wis sen, dass die geothermische Kuppe gleichbedeutend mit Energie war. Energie für die Leuchtmasten, für die Was serversorgung, die Temperaturregulierung und vor allem für den Vitar Yescu. Immerhin wusste Kos halbwegs, wie geothermische Kuppen funktionierten. Er hatte die Flitterwochen mit seiner dritten Frau am Nordwestpol verbracht, wo der größte Teil des Trinkwassers von Ravnica in einer se henswerten Reaktion von Feuer und Eis erzeugt wurde. Wie sich herausstellte, war dieses gegensätzliche Spekta kel ein Omen für die Ehe gewesen. Die Dampfwolken, die der Kessel ausstieß, warfen wir belnde, schleierartige Schatten über den Vitar Yescu. Der riesige Baum war wie immer am Blühen; die weißen Blü ten an den hängenden Ästen strotzten vor Pollen, den der 181
Wind regelmäßig wieder davontrug. Der Baum war in den letzten Jahren, seit Kos in der Stadt war, so vorbildhaft gewachsen, dass die Selesnijaner bereits mindestens drei angrenzende Gebäude abreißen hatten müssen, um das Wachstum nicht zu behindern. Das Konklave hatte an den Baumstamm angebaut, aber anders als der Baum der Einheit in der Stadtmitte von Ravnica war der Vitar Yescu nicht ein lebendes Kloster. In den Baum waren nur ein paar Ausgucke und Plattformen hineingebaut worden, auf denen selesnijanische Priester den Vitar Yescu segnen konnten. Was ja wohl niemandem schaden konnte, wie Kos fand. Obwohl der Baum immer größer wurde, war das Gebiet, das er beschützte, nicht mitgewachsen. Kos konnte nicht sagen, warum das so war – und warum er nicht viel mehr Einladungen in den Vitar Yescu bekam als in den Kessel. Er hatte viele Bekannte im Konklave, hatte von denen aber in den letzten zehn Jahren so gut wie niemanden zu Gesicht bekommen. Sie waren alle in der Stadt geblieben. Kos ließ seinen Blick über die Sandebene schweifen. Die einst unberührte Oberfläche war jetzt mit Grubenfel dern und herumwandernden Schürfern in Schutzanzügen übersät. Er wanderte mit dem Fernrohr in die Huske und dort ungefähr in die Richtung, in der er zuletzt das Lager von Trijiros Gruppe entdeckt hatte. Er sah ein kleines rauchloses Feuer und ein paar Wachposten, die auf halb eingestürzten Türmen Aus schau hielten. Ein paar Pterro-Reiter glitten durch die Luft. Am Feuer konnte Kos nur die Gestalt eines riesigen 182
Menschen ausmachen, vom Aussehen her Vor Golozar. Golozar schritt auf und ab und schien gelegentlich ande ren Gruul und einem klumpigen Objekt, das auf dem Boden lag, etwas zuzurufen. Hatten die Gruul etwa einen Gefangenen? Die Gruul hatten doch die Lokopeden-Karawane der Orzhov angegriffen, oder? Das hatte ihm zumindest Pivlic erzählt. Der Bold schien sogar ziemlich begierig gewesen zu sein, die Geschichte weiterzugeben. Warum hatte ihm Pivlic also nichts von einem Gefangenen gesagt? »Trijiro«, sagte Kos laut. »Beeil dich auf dem Heimweg, sonst passiert noch etwas, was hinterher alle bereuen.« Aber was, wenn er es nicht tut, fragte sich Kos im Stillen. Was dann, Kos, du alter Mann?
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Selbst wenn ihr Mund nicht mit magischen Riemen zu sammengepresst gewesen wäre, hätte sich Crix nicht von allein befreien können. Sie hatte es natürlich versucht. Normales Leder wäre einfach weggebrannt, aber das hier verwendete war nun einmal kein normales Leder. Die Magie der lebenden Schnüre war so stark, dass sie gegen Crix’ Fähigkeiten resistent waren. Sie musste sich damit trösten, dass sie auch gescheitert wäre, wenn sie schon viel früher einen Befreiungsversuch unternommen hätte. Die Gruul schienen nicht zu spaßen, wenn sie ihre Gefan genen fesselten. Sie wollte die Riemen gern etwas näher untersuchen, 183
aber dazu war ihr Kopf im falschen Winkel festgebunden. Möglicherweise bestanden ihre Fesseln gar nicht aus Leder, sondern waren etwas Schlangen- oder Wurmähn liches, bei allem Ärger eine dennoch irgendwie faszinie rende Vorstellung. Aber Crix konnte ihre Studien auch anders fortsetzen. Auf dem Weg zwischen der Fallgrube, in der Golozar den Schrott-Nephilim zurückgelassen hatte, der sich dort fru striert in den Boden eingegraben hatte, und dem Lager der Banditen waren ihre Augen verbunden gewesen. Go lozar hatte ihr die Augenbinde abgenommen, sobald sie hier angekommen waren. Die letzten zwanzig Stunden oder so hatte sie keinen Schlaf bekommen und nicht ein einziges Mal richtig die Augen schließen können. Das ganze Lager mitsamt der alltäglichen Tätigkeiten lag wie ausgebreitet vor der neugierigen Goblin-Frau. Und da niemand, nicht einmal Golozar, daran interessiert war, sich mit ihr zu unterhalten, versuchte sie aus der Entfer nung, möglichst viel über die Bräuche und die Sprache zu lernen. Das Lager schien die Heimstatt für etwa vierhundert oder fünfhundert Wesen zu sein. Eine genaue Zählung wurde dadurch erschwert, dass andauernd kleine Grup pen von Plünderern kamen und wieder gingen. Viele trugen auch schwere Kampfhelme, die es schier unmög lich machten, sie zu unterscheiden. Zudem waren die meisten Zelte und provisorischen Hütten hinter halb ein gestürzten Ruinen versteckt, sodass Crix in ihrem gefes selten Zustand auch keinen kompletten Überblick über 184
das Gelände hatte. Man hatte sie an einen Pfahl gebun den, der nicht weit weg von einer großen offenen Koch stelle stand. Sie hoffte, dass das Feuer nicht für sie be stimmt war. Irgendwie glaubte sie nicht, dass es für sie gedacht war. Nach ihren bisherigen Beobachtungen un terschieden sich diese Gruul von den Kreaturen, die den Lokopeden angegriffen hatten. Diese waren wilde Kanni balen gewesen, das hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Die Gruul hier hatten sich bislang ganz anders benom men. Und diese Mischung der Spezies! So etwas hatte Crix zuvor noch nie gesehen. Zentauren, Goblins, Halbdämo nen, Oger, Trolle, ein paar Elfen und natürlich auch Men schen – sogar recht viele Menschen, was wiederum – egal, wo man sich befand – auch nichts Ungewöhnliches war. Es bedeutete nur, dass es auch Halboger, Halbtrolle, Halbelfen, Viertel-von-allem und weitere Mischlinge gab: Die Menschen schafften es immer wieder, sich weitläufig zu vermischen, wenn man ihnen nur genug Zeit ließ. Man schien hier jedenfalls keine Schwierigkeiten zu haben, die kulturellen Ursprungs waren. Alle waren Gruul, alle spra chen die bellende Gruulsprache mit wenigen eingeworfe nen Brocken Ravi dazwischen, und alle versammelten sich zur gleichen Zeit bei Sonnenaufgang, um mit dersel ben Goblin-Priesterin zu beten. Das galt zumindest für diejenigen, die nicht nur damit beschäftigt waren, ihre Klingen zu schärfen oder vor ihr auf- und ab zu mar schieren. Nicht alle Gruul hier waren Krieger. Eher war das Ge 185
genteil der Fall. Die meisten Gruul, die sie im Verlauf des letzten Tages, der Nacht und des Morgens gesehen hatte, waren Eltern und Kinder, die ihren alltäglichen Verrich tungen nachkamen, um den Stamm am Leben zu erhal ten. Wenn die Kinder nicht gerade spielten oder ihren Eltern halfen, bildeten sie kleine Jagdgruppen und brach ten Kleinwild heim: Kaninchen, Vögel, fette grüne Eid echsen und Ähnliches. Kurz vor Sonnenuntergang ihres ersten ganzen Tages im Gruul-Lager brachte eines der Kinder ihr tapfer ein Stück gebratenes Kaninchen und einen Wasserschlauch. Crix bedankte sich auf Gruul bei dem Jungen, einem kleinen Zentauren. Der jugendliche Jäger und seine Freunde lachten sich darüber schier tot. Sie brauchte unbedingt jemanden, mit dem sie die für sie neue Sprache üben konnte. Erst Stunden später sollte Crix erfahren, dass sie bei ihrem Versuch die unglückli cherweise sehr ähnlichen Wörter für »Danke« und »Blä hungen« miteinander verwechselt hatte. Obwohl es übermäßig viel Aktivität im Lager gab, schien es außer der Priesterin und ihrem Gottesdienst nichts zu geben, dem man sich unterwerfen musste. Es schien keinen Anführer zu geben, jedenfalls war keiner erkennbar. Es gab Gruul, die in verschiedenen Zelten damit beschäftigt waren, Essen und Wasser auszugeben, andere wiederum gingen den unterschiedlichsten Tätig keiten nach oder hatten offenbar Freizeit. Gerber, Schneider und Weber stellten Kleidung, Decken und Ta schen her. Schmiede hämmerten auf Metallklumpen herum, die sicherlich einmal zu Waffen werden sollten. 186
Immer wieder kehrten Plünderer von ihren Zügen zu rück, wenn auch meist mit leeren Händen. Golozar schien unter den Anwesenden immerhin der wichtigste Gruul zu sein oder zumindest derjenige, der von den an deren am meisten gefürchtet wurde – falls Furcht hier das richtige Wort war. Crix konnte jedoch mit Sicherheit sagen, dass die anderen ihn nicht als echten Anführer behandelten. In einem Stammessystem, wie es den Gruul eigen war, musste es einen Häuptling geben oder zumin dest einen Rat mehrerer Anführer, um alles am Laufen zu halten. Crix fragte sich, wie hier diese Rolle wohl verteilt war. Die Goblin-Frau hatte sich so sehr auf das bellende Gruul eingestellt, dass sie leicht aufschreckte, als jemand plötzlich mit sanfter Stimme auf Ravi sprach, das mit einem leichten Akzent versetzt war. »Golozar, was macht das Ding hier?«, wollte ein Zentaur wissen, der gemäch lich ins Lager getrottet kam. Die alte Kreatur deutete mit ihrem bärtigen Kinn auf Crix. »Wo kommt das her?« »Ist hinten von dem Lokopeden gefallen, den Aun Yoms Leute überfallen haben, und wir haben es mitge nommen«, knurrte der Räuber. Er wechselte in die Gruulsprache, und Crix gab sich alle Mühe, trotzdem möglichst viel mitzubekommen. »Es ist ein Goblin. Aun Yom hat keine Gnade walten lassen und sich geweigert, die Beute zu teilen. Darüber müssen wir reden, du und ich.« »Später. Ich kann allein sehen, dass es ein Goblin ist. Aber hast du nicht erkannt, dass es ein Kurier ist? Die 187
Gruul haben auch so schon genügend Feinde.« »Dann kommt es doch auf einen mehr auch nicht an. Wir haben keine Lust mehr, uns vor diesen Eindringlin gen zu verstecken. Utvara gehört uns, oder? Ich bin die dauernde Einmischung Leid, großer Zuriv.« »Zuriv. Zuriv. Großer ... Schamane, kann ich anneh men?«, flüsterte Crix. »Großer Schamanen-Häuptling? Häuptling großer Schamane?« Sie versuchte es in Gruul, dann in Ravi und entschloss sich dann, erst einmal abzu warten. Er würde sicher bald auch direkt mit ihr spre chen. »Aun Yom ist wagemutig, vielleicht sogar zu tapfer. Aber bis ich mit ihm gesprochen habe, ist es dein Pro blem. Du willst Blut sehen. Vielleicht wird man dir erlau ben, dass du Aun Yom herausforderst. Aber wenn du die Siedlung angreifst, wird das unser Ende bedeuten. Dann werden die Geisterdiebe noch eine Seuchenbombe herbringen.« Crix blinzelte. Hatte sie das richtig übersetzt? »Geisterdiebe?«, murmelte sie. Meinte der Häuptling damit die Izzet, die Orzhov oder jemand ganz anderes? Irgendwie noch seltsamer war es, dass sie über die Bombe Bescheid wussten. Naja, dachte sie, wenn man sich das Schisma so betrachtete, das über der Siedlung hing, dann war es eigentlich unmöglich, die Auswirkun gen zu ignorieren. Wahrscheinlich schienen sie ihre Ge schichten trotz der gesunkenen Lebenserwartung der Clan-Mitglieder immer noch erfolgreich mündlich zu überliefern. Es kam ihr nicht so vor, als wären die Gruul besonders dumm, obwohl sie landläufig als »Primitive« 188
eingestuft wurden. Sie waren in der Lage, problemlos mit Knallstäben umzugehen. Sie vermutete, dass die Gruul auch deutlich mehr über Utvara wussten als die meisten Izzet, zumindest was die Goblins in ihrer UnterArbeitsgruppe betraf. Irgendwie ergab das auch Sinn. Sie musste einen Hustenanfall unterdrücken und fragte sich, ob einfach nur ihre Kehle trocken war oder die Seuche langsam damit begonnen hatte, ihre Vorsorgemaßnah men zu umgehen. Apropos Wissen: Vielleicht war es ja dieser Zentaur gewesen, der Golozar das Ravi beigebracht hatte. »Das können sie nicht tun«, sagte Golozar. »Sie haben doch jetzt ihre eigenen Leute hergebracht. Sie würden niemals ...« »Glaubst du wirklich, diese kleine Anzahl interessiert sie? Wir leben in einer riesigen Welt, Vor Golozar, und du hast noch lange nicht so viel davon gesehen, wie du viel leicht glaubst. Natürlich würden sie diese Stadt opfern, wenn ihr ihnen zu viel Ärger bereitet. Das kleine Bündnis, das wir eingegangen sind, ist äußerst zerbrechlich und für unser Volk ungewöhnlich. Und zudem gehört Aun Yom ja auch zu unserem Volk. Dieses Gejammere klingt so gar nicht nach dir. Irgendwie passt es nicht zu einem Anfüh rer von Plünderern.« »Er und seine Schwester sind verrückt geworden, o Größter«, sagte Golozar. »Die Bösartigkeit ihres Angriffs beschämt mich. Wir haben uns zu lange fern gehalten, sind zu lange im Lager geblieben. Wir sind keine Bauern oder Jäger. Wir sind Plünderer. Wir nehmen uns, was uns 189
gefällt. Wir sind die Gruul von Utvara, Trijiro! Was ver langst du von uns?« »Und du wärst gern so wie er?« Der Zentaur stampfte mit einem Huf auf. »Impulsiv, dumm und selbstmörde risch? Wenn du Aun Yom nicht erschlägst, werden es die Geisterdiebe und ihre Diener tun. Ich habe eine Warnung erhalten. Es ist jetzt der falsche Zeitpunkt, um neue Plün derzüge zu unternehmen. Gib den Neuankömmlingen die Gelegenheit, uns zu zeigen, was sie wirklich wollen. Dann können wir immer noch entscheiden, was wir mit ihnen machen wollen. Wenn es einen Angriff auf die Siedlung gibt, bist du derjenige, der ihn anführen wird, das ver spreche ich dir. Aber jetzt ist nicht die Zeit dafür.« »Diese Warnung – stammt sie von diesem ›vertrauens würdigen Freund‹ von dir, der für die Geisterdiebe arbei tet, Zuriv?« »Kos ist ein guter Mann, und davon gibt es in dieser Siedlung nicht viele«, sagte der Zentaur. »Wenn er sagt, dass wir uns bedeckt halten sollen, dann sollten wir das beherzigen. Wenn dieser Clan nicht vereinigt bleibt, dann werden die größeren Clans uns überrennen. Borboryg mos ist letztlich der einzige Feind, um den wir uns Sorgen machen sollten, und zerstrittene Utvara-Gruul kämen ihm nur zu gelegen, sollte er Notiz von uns nehmen. Ich habe auch andere Informationsquellen, Golozar, nicht nur den alten Ordnungshüter. Der König der Zyklopen weiß, wel che Schätze in der Ebene warten, und wenn er sich je entscheidet, sie sich zu holen, werden wir zerquetscht werden, wenn wir uns nicht einig sind.« 190
»Trijiro ...«, sagte Golozar. »Zuriv Trijiro«, unterbrach ihn der Zentaur streng. »Und dein Zuriv besteht darauf, dass wir friedliche Beziehun gen zu unseren Nachbarn unterhalten, zu den Feuerträ gern. Nur ein Dummkopf macht sich die ganze Welt zum Feind.« In Ordnung, dachte Crix. Die Feuerträger mussten die Izzet sein, was aus den Orzhov die Geisterdiebe ma chen würde. Irgendwie passende Namen ... »Und wie stellst du dir das vor?«, wollte Golozar wissen. »Sollen wir ihnen eine Gruppe Plünderer schicken, die sie versklaven und in ihren Feuergruben arbeiten lassen können? Einen Boten schicken, den ihre Seltsamkeiten bei lebendigem Leib verbrennen können?« »Fordere dein Glück lieber nicht heraus«, sagte der Zen taur. »Wenn du sehen willst, wie jemand bei lebendigem Leib verbrannt wird, kann ich das für dich einrichten lassen. Nein, mir geht es um eine einfache, freundliche Lieferung. Ich möchte, dass du für mich etwas zum Kes sel bringst.« Der Räuber beugte den Kopf. In ihm schien es zu gä ren, aber er bemühte sich um Demut gegenüber dem Zentauren, der anscheinend über mehr Macht verfügte, als Crix bislang vermutet hatte. Sonst hätte er nicht so einfach den unzivilisierten Räuberhauptmann einschüch tern können. »Du bist der Zuriv«, sagte Golozar. Crix hörte dem Räuber aufmerksam zu und übersetzte seine Worte blitzschnell, was dank ihrem geübten, anpas sungsfähigen Gehirn und ihren Kenntnissen verschieden ster Sprachen kein Problem war. Sie war so sehr damit 191
beschäftigt, dass sie erst nach ein paar Sekunden bemerk te, dass der alte Zentaur gar nicht geantwortet hatte. Was vielleicht daran lag, dass er ihr gerade einen teils amüsierten, teils aber auch verärgerten Blick zuwarf. »An deiner Stelle würde ich besser aufpassen, was du sagst«, sagte der Zentaur zu Golozar, ohne die Augen von der Goblin-Frau zu nehmen. »Die da hört uns genauer zu, als du denkst.« Crix grinste vorsichtig wie ein in die Ecke gedrängter Verbrecher, der mit einem blutigen Messer in der Hand und der Beute in der Tasche neben einer Leiche gefunden wurde. Sie hätte eine Hand zum Gruß erhoben, wenn nicht beide auf ihrem Rücken festgebunden gewesen wären. »Seien Sie gegrüßt ... Häuptling?«, versuchte sie auf Gruul zu sagen. »Würdest du es vorziehen, wenn wir in deiner Sprache sprechen, Izzet?«, fragte Trijiro. »Fürs Erste ja, falls es Ihnen nichts ausmacht. Aber spä ter würde ich gern ausprobieren, ob ich mich auch in Ihrer Sprache unterhalten kann«, sagte Crix. »Haben Sie den Oberbefehl hier, Herr Trijiro?« »Woher kannst du unsere Sprache sprechen, Kreatur?«, fragte Golozar in einem knurrenden, stark akzentbelaste ten Ravi. »Ich könnte dich genau das Gleiche fragen«, sagte Crix, die sich seltsamerweise nicht eingeschüchtert fühlte. »Lass diesen Goblin frei«, sagte Trijiro. »Größter ...« 192
»Und zwar jetzt, Hauptmann. Oder hast du vor, mich herauszufordern?« »Das wird zu nichts Gutem führen. Ich habe es nur aus Neugier mitgenommen. Am besten, ich töte es jetzt.« »Ich ziehe ›sie‹ vor, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Crix. Der Zentaur drehte sich ihr wieder zu, während der ogerartige Mensch zu dem Pfosten herüberkam, an dem Crix festgebunden war. Er flüsterte einige Worte, die nach einem uralten Trolldialekt aus der Narbenturm-Zeit klan gen, und die Riemen, die seit über vierundzwanzig Stun den Crix’ ständige Begleiter gewesen waren, fielen von ihr ab und rollten sich am Boden gehorsam zusammen. Golozar trat um den Pfosten herum, um die Riemen aufzuheben, aber auf ein auffällig unauffälliges Husten von Trijiro hin hielt er in der Bewegung inne und bot Crix mit finsterem Blick eine Hand an, um sie hochzuziehen. »Danke schön«, brachte Crix heraus. Jeder ihrer Mus keln schmerzte höllisch, aber sie zwang sich, aufrecht stehen zu bleiben. Sie leitete einen Teil der Energie aus ihrem Arm in ihren Kreislauf, um die Blutzirkulation zu verbessern, und lockerte ihre verkrampften Gelenke. »Sie tragen hier also die Verantwortung.« »Ich bin derjenige, zu dem die anderen kommen, wenn sie einen Ratschlag benötigen«, sagte der alte Zentaur. »Ich spreche für diesen Clan, und die anderen vertrauen meiner Weisheit auch in anderen Fragen.« Trijiro be trachtete sie von oben bis unten. »Und du bist also ein Kurier für, natürlich, Zomaj Hauc. Ich erkenne das 193
Brandzeichen an deinem Ohr und die Tätowierungen.« »Das stimmt, ich habe die Ehre, dem großen Magierfür sten Zomaj Hauc zu dienen«, sagte Crix. »Ich trage eine Nachricht bei mir, die ich im Kessel überliefern muss, und ich befürchte, dass mir langsam die Zeit ausgeht. Erlauben Sie mir die Durchreise?« »Ich werde dir sogar noch weiter helfen«, sagte der Zentaur mit einem verschwörerischen Lächeln. »Unser Freund Golozar hier hat sich gerade freiwillig gemeldet, dich dorthin zu führen.«
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Kapitel 7
H
Die Berührung des Feuerhirns ist keine Gabe, die jedem verliehen wird. Ob ich von einigen enttäuscht wurde, die dieses Geschenk entgegennahmen? Natürlich. Aber ohne Enttäuschung gibt es auch keinen Stolz auf diejenigen, die selbst meine Erwartungen übertreffen. Die nächste Frage, Sterblicher. Niv-Mizzet, letzte öffentlich bekannte Stellungnahme (4. Paujal 7425 Z. C.)
2. Cizarm 10012 Z. C. Zomaj Hauc hatte mehrere eigene Fortbewegungsmittel, aber seine eigene Flugkugel war ohne Frage sein Lieb lingsspielzeug. Die geschmiedete Außenhülle aus Mizzi um, die Feuer speienden Flammendüsen, die gleichmäßi gen Reihen der Kontrollelemente – alles war von dem Magierfürsten persönlich entworfen worden, und er hatte es auch mit eigenen Händen zusammengebaut. Niemand außer ihm hatte je bei einem Flug im Cockpit der Kugel gesessen, niemand hatte je die Inneneinrichtung berührt. Und außer bei der Energieversorgung, um die sich von ihm eigens dafür ausgesuchte Ingenieure kümmerten, 195
war noch niemals jemand überhaupt der Pyraquin näher gekommen. Leider war die gegenwärtige Reise nicht so angenehm gewesen wie sonst. Die Worte des Großen Drachen hall ten immer noch in seinem Kopf nach und ließen ihn etwas mehr Pyromana in die Flammendüsen leiten, als er gerade an einem Schwarm wilder Vögel vorbeizog. Für die Vögel bedeutete das ein sofortiges Feuerbegräbnis, aber Hauc konnte sich noch nicht einmal an diesem klei nen Spaß erfreuen. Niv-Mizzet war unzufrieden, und es kam selten genug vor, dass der Drachenfürst der Izzet so viel Interesse an der Welt der Sterblichen zeigte, um eine derartige Gefühlsregung zu zeigen. Es war schrecklich, der Grund dieses Ungemachs zu sein, und Hauc bezwei felte, dass viele Magierfürsten überhaupt jemals einen solchen Zorn durchgestanden und überlebt hatten. Der Plan war nicht das Problem gewesen. Die Hinrich tung – mehrere Hinrichtungen, um exakt zu sein – war der Grund dafür gewesen, dass die Produktion im Kraft werk sich verlangsamt hatte, während Hauc mit anderen Dingen beschäftigt war. Aber wenn Niv-Mizzet von diesen anderen Dingen wüsste, wäre seine Unzufriedenheit wahrscheinlich noch größer. Hauc hatte eingesehen, dass er die Geduld des Drachen bis an die Obergrenze ausge reizt hatte. Er war dankbar dafür, dass die Magie seines Vertrags mit den Orzhov seine Treffen mit ihnen vor der Aufmerksamkeit des Drachen verbarg. Die andere Orzhov bereitete ihm allerdings Probleme. Diese neue Baronin von Utvara hatte kaltschnäuzig den Vormann seiner Ar 196
beiter ermordet. Was eigentlich kein großer Verlust war, aber es hatte die Moral geschwächt, wodurch wiederum die Produktion verlangsamt worden war. Der alte Goblin war beliebt gewesen, und lustlose Goblins arbeiteten nun einmal langsamer. Und dann war auch noch ein ganzer Arbeitstrupp, der an einer abgelegenen Umschaltstation gearbeitet hatte, von einer Gruppe herumstreunender Gruul erschlagen worden. Und zuletzt stand da auch noch der fehlende Kurier aus. Niv-Mizzet hatte keine Ahnung von Crix und Haucs anderen heimlich verbesserten Dienern, und Hauc hatte auch nicht vor, dass sich das änderte. Aber es war schwer. Zu den Fähigkeiten des Drachen gehörte die Ga be, Geheimnisse herauszufinden, wenn er danach trach tete. Das war der Hauptgrund, warum Hauc den Kurier überhaupt losgeschickt hatte: damit die Information in der Nachricht, die die Goblin-Frau mit sich trug, auch ein Geheimnis blieb. Es war die Aufgabe der Orzhov gewe sen, sie nach Utvara zu geleiten und dann zu ihm zu brin gen, aber nein – sie hatten es geschafft, sie ganz zu verlie ren. Das Tragische war, dass Niv-Mizzet den Plänen Haucs wahrscheinlich sogar gern zugestimmt hätte, wenn er gewusst hätte, was Hauc wirklich vorhatte. Aber solange er sich dessen nicht ganz sicher sein konnte, wagte Hauc es nicht, ihn in den Plan einzuweihen. Es war schon nicht einfach, so genial wie Zomaj Hauc zu sein. Niv-Mizzet war schon längere Zeit unzufrieden gewe sen, eigentlich seit die Manaverdichtungsbombe das 197
Schisma geformt hatte, statt Utvara ganz von der Oberflä che von Ravnica zu entfernen. Hauc hatte den Drachen überzeugen können, dass das Verfahren einiges an Zeit benötigte, und der Drache hatte das akzeptiert. Und das war noch nicht einmal gelogen, obwohl das Ergebnis wohl anders ausfallen würde, als vom Drachenfürsten erwartet. Das Schisma würde nicht ewig existieren. Bei dem Tempo, mit dem es derzeit Ektoplasma und andere Formen von Energie aufsaugte, würde es vielleicht noch nicht einmal die nächste Woche überstehen. Bis dahin musste Hauc seinen Kurier wieder gefunden haben, oder seine Chance, wahre Macht zu erlangen, wäre für immer vertan. Zomaj Hauc blickte finster, während er durch die Wol kendecke brach. Helles Sonnenlicht fiel durch das Invi zomizzium der Außenhülle. Es war anstrengend, das mächtigste Wesen der Welt zu hintergehen, aber er durfte unter dieser Belastung nicht zusammenbrechen. Die Be lohnung, die ihm winkte, war einfach zu groß. Er hatte jetzt keine andere Wahl mehr. Er musste es riskieren, mit dem Orzhov Kontakt aufzunehmen, bevor er den Kessel erreichte, wo Niv-Mizzet eher ein Auge auf ihn richten würde. Die fliegende Kugel war nicht deswe gen Haucs Lieblingsspielzeug, weil sie ihm Freiheit ge währte oder weil sie so wunderschön war. Die Privat sphäre war noch viel wichtiger. Das Feuerhirn konnte vieles tun, aber nur unter extremen Anstrengungen konn te Niv-Mizzets Aufmerksamkeit durch die hitzebeständige Substanz dringen. Wenn er seine ganze Konzentration 198
darauf richtete, würde er es natürlich schaffen. Aber wenn das geschah, hätte Hauc immer noch genügend Vorwarnzeit, um seine Gedanken auf weniger verräteri schen Themen zu lenken. Verräter. So würden sie ihn nennen, wenn er mit sei nem Plan Erfolg hatte. Es würde eine Zeit dauern, bis sie die Wahrheit erkennen würden. Was er zu tun vorhatte, war nur zum Nutzen der Welt – und natürlich auch zum Nutzen von Zomaj Hauc. Der Magierfürst drehte an einer blauen Kristallscheibe der Schalttafel. Der gläserner Zylinder, der daneben in stalliert war, erwachte zum Leben. In der Luft über dem Zylinder erschien eine silberblaue senkrechte Scheibe, ein winziges magisches Fenster aus Wasser. Haucs Pyra quin war die erste Flugkugel, in die er diese selbst entwik kelte Verbesserung der alten Kristalle eingebaut hatte, die nur die Stimme übertragen konnten. Innerhalb seiner Arbeitsgruppe hatten sich die Geräte bewährt, und jetzt bereitete er sich darauf vor, sie auch anderen in der Gilde zur Verfügung zu stellen – unter der Vorraussetzung, dass die anderen sich das leisten konnten. Der Umriss einer weißen Maske erschien auf der ruhig schimmernden, senkrechten Wasseroberfläche, und eine Stimme schickte sichtbare Wellen aus der Mitte der Ober fläche aus flüssigem Mana. »Was ist los?«, wollte die Maske wissen. »Das ist jetzt gerade ein ungünstiger Zeitpunkt.« »Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte Hauc. »Ich habe etwas Wichtiges aus den Augen verloren, glaube 199
aber, dass du es mir wiederbringen kannst.« »Die Baronin fragt sich, wo du bleibst«, sagte die Maske. »Sie wird uns nicht im Weg sein, aber ihr Ehrgeiz kam unerwartet. Tauchst du nicht bald hier auf, könnte sie zu neugierig werden. Ich traue ihr sogar zu, dass sie dann den Kessel besichtigen will.« »Daran kann ich nichts ändern. Sag ihr, dass ich in ein paar Stunden wieder zurück im Kessel sein werde«, sagte Hauc. »Ich werde mich mit ihr treffen, wann und wo auch immer sie will. Wenn sie Anweisungen hinterlassen will, soll sie sich an Oberbeobachter Vazozav wenden, sich aber diesmal mit den Schusswaffen etwas zurückhalten, wenn sie so freundlich wäre. Aber sorge dafür, dass sie nicht zum Kessel kommt, solange ich nicht da bin.« »In Ordnung, ein paar Stunden«, antwortete die Maske. »Und nun verrat mir, was du so dringend wieder finden musst.«
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»Und du bist dir sicher, dass wir uns nicht verlaufen ha ben?«, sagte Crix zu dem bulligen Anführer des kleinen Trupps. Die Gruppe, die aus fünf Gruul und einem nervö sen Izzet-Kurier bestand, bahnte sich gerade ihren Weg um einen rostigen und verfallenen Turm herum, der ir gendwann eingestürzt war und nun den kleinen Pfad blockierte, den sie entlanggegangen waren. Der Einsturz konnte noch gar nicht so lange her sein, jedenfalls sahen die Risse in der Rostkruste noch äußerst frisch aus. 200
»Natürlich habe ich mich nicht verlaufen«, sagte Golo zar in seinem akzentbehafteten Ravi, bevor er den ande ren auf Gruul einen Befehl zubrüllte. »Sucht einen Weg um dieses Ding herum, und zwar dalli!« »Ich kann dich verstehen, das weißt du, oder?«, sagte Crix, die sich auf einem Schutthaufen niedergelassen hatte, der von allem in dieser Umgebung noch am wenig sten gefährlich aussah. »War dieser Einsturz unerwartet? Er sieht neu aus.« »Wie kommst du darauf?«, fragte der Gruul-Räuber. »Schau es dir doch an«, sagte Crix. »Das sieht aus wie ein Baum, der vom Wind entwurzelt worden ist. Ich dach te, du würdest hier das Hinterland rund um die Huske kennen. Vielleicht ist dieser Nephilim ja immer noch hinter uns her. Du hast selbst gesagt, dass er nicht tot ist.« »Was mich angeht, bist du für mich immer noch meine Gefangene, bis wir dich im Kessel abgeliefert haben«, sagte Golozar bestimmt. »Der Nephilim wird tun, was Nephilims halt tun, und wenn sie es tun, dann werde ich schon damit umgehen können. Bleib einfach dort sitzen, in Ordnung?« Er schickte die zwei Viashino der Gruppe um den »Wurzelklumpen« des umgekippten Gebäudes herum, damit sie nachsahen, ob dort ein sichererer Weg zu erkennen war. Die anderen beiden – beides große ogerähnliche Menschen wie er selbst – sollten auf der anderen Seite schauen, ob es irgendwo eine Lücke gab, durch die man sich hindurchzwängen konnte. Golozar selbst suchte die höheren Hügel hinter ihnen ab, als ob er nach etwas suchen würde, aber Crix erhielt keinen Hin 201
weis darauf, wonach er da Ausschau hielt. Sie machte es sich erst einmal so gemütlich wie mög lich. Die Goblin-Frau war überrascht, dass sie in der Huske noch keinem größeren Wild begegnet waren. Sie hatte gehört, dass recht viele Kreaturen hier ihre Heimat hatten, und insgeheim sogar gehofft, aus angemessener Entfernung ein, zwei Saurier zu sehen. Bislang hatte sie jedoch nur kleine Eidechsen, Käfer in Hundegröße, ein paar seltsame Vögel und natürlich die Gruul beobachten können. Das Fehlen von größerem Wild war natürlich auch eine Erklärung dafür, warum die Utvara-Gruul ins gesamt so ausgemergelt wirkten. Golozar war riesig, aber er hatte eine Drahtigkeit an sich, die ihn aussehen ließ, als würde er nicht genügend zu essen bekommen. Über den Feuern, die sie im Lager gesehen hatte, waren auch keine größeren Tiere gebraten worden, nur Geflügel, Ka ninchen und sogar ein paar Ratten. Dieses Volk war in einer schlechten Verfassung. Crix musste einfach Sympa thie für diese Leute empfinden, einerlei, wie man sie bis lang behandelt hatte. Sie musste husten. Seitdem sie das Lager verlassen hat ten, war das immer häufiger vorgekommen. Ihr Impf schutz gegen die Kuga schien noch ausreichend zu sein, aber wenn sie ihr weiterhin dauerhaft ausgesetzt war, würden sich früher oder später erste Krankheitssympto me zeigen. Den Pilz, der an den Gruul klebte, wollte sie lieber noch nicht ausprobieren, obwohl ihr letztlich wohl nichts anderes übrig blieb, falls sie weiterhin nur so ent setzlich langsam vorankamen. 202
Crix erwischte Golozar wieder dabei, wie er die Hügel absuchte, und konnte schließlich ihre Neugier nicht mehr zähmen. »Nach was hältst du da hinten eigentlich Aus schau?« Golozar warf ihr einen finsteren Blick zu und zuckte die Achseln. »Du verstehst doch unsere Sprache, da kannst du es wahrscheinlich erraten. Nein, es ist nicht der Nephi lim, falls du damit kommen willst. Ich habe vielmehr das Gefühl, dass uns eine andere Gruppe auf den Fersen ist.« »Könnte es sich dabei um diesen Burschen Aun Yom handeln, über den du dich mit dem alten Zentauren un terhalten hast?«, sagte Crix. Sie war eigentlich nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, aber Golozars Gesichtsausdruck, als sie den Namen des anderen Banditenanführers aus sprach, ließ sie stocken. Vielleicht sollte sie doch etwas beunruhigter sein. »Das kann schon sein«, sagte Golozar. »Obwohl es noch nie vorgekommen ist, dass man einen anderen Plünder trupp aus demselben Stamm verfolgt hat.« »Vergib mir, aber ich bin nur ein einfacher Kurier. Warum ist das noch nie vorgekommen?« »Du stellst Fragen wie ein übereifriger Haazda«, ent gegnete Golozar. »Das ist nur die Neugier eines Kuriers«, sagte die Goblin-Frau. »Obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht vorhabe, mein ganzes Leben lang nur Nachrichten zuzustellen.« »Neugieriger Kurier, du hast doch nicht etwa Angst vor mir, oder?«, sagte Golozar, wie um das Thema zu wech seln. 203
Crix musste kurz überlegen. Der riesige Mensch mit seiner dunkelroten Haut und den rituellen Verzierungen war eigentlich schon einschüchternd. Der geladene Knall stab auf seinem Rücken und das riesige Krummschwert am Gürtel zeugten davon, dass er töten konnte und wür de, wenn er einen Anlass dazu hatte. Und trotzdem ... »Nein, eigentlich nicht«, sagte Crix. »Ich glaube, du bist ein ...« Sie suchte nach der besten Beschreibung und gab sich schließlich mit zwei einfachen Wörtern zufrieden. »Ich glaube, dass du ein ›guter Mann‹ bist. Ich glaube, dass du vorsichtig bist. Ich weiß, dass du mehr Bildung als die anderen genossen hattest, auch wenn ich noch nicht genau weiß, wie und warum. Und ich bin froh, dass du zugestimmt hast, mich zum Kessel zu bringen. Ich glaube nicht, dass du mich töten willst. Warum würdest du dir sonst dir Mühe machen, einen gescheiten Weg zu finden? Falls du es böse mit mir meinen würdest, könntest du mich hier einfach niederstrecken und deinem Zuriv mit teilen – Zuriv bedeutet so viel wie Priester-Häuptling, oder? –, dass ich durch ein rostiges Loch gefallen bin. So etwas scheint ja oft genug vorzukommen. Aber du hast das alles nicht gemacht. Deswegen habe ich auch keine Angst vor dir.« »Kann ich mir vorstellen«, sagte der Gruul. Sein finste rer Blick kämpfte gegen ein Grinsen an, das sich an ei nem der Mundwinkel abzeichnete. »Du solltest dich aber anstrengen, mehr Furcht zu empfinden, Goblin. Ohne ein gesundes Furchtgefühl kann man in der Huske nicht überleben.« 204
»Ich habe eigentlich auch nicht vor, mich hier nieder zulassen«, sagte Crix. »Die Goblins in deinem Clan schie nen nichts mit mir zu tun haben zu wollen.« »Ich bezweifle, dass sie dich überhaupt als Goblin er kannt haben«, sagte Golozar. Er drehte den Kopf zur Seite, um seinen Leuten über die Schulter etwas auf Gruul zu zurufen. Sie waren gerade dabei, eine Steinsäule wegzu schlagen, die den geraden Weg unter dem darauf liegen den Turm hindurch versperrte. »Nicht diese Säule! Die trägt doch das ganze Gewicht, ihr Idioten!« Die Gruul sprangen zurück und warfen sich gegenseitig anklagende Blicke zu. Crix blickte an sich hinab, auf ihre Arme und Beine, und fragte sich, ob Golozar Recht hatte. Hauc hatte sie bereits als Kind unter seine Fittiche genommen, und sei ne Experimente hatten ihr eine größere Intelligenz ange deihen lassen, als sie bei Goblins üblich war. Dazu kamen noch ihre verborgenen Fähigkeiten – wobei sie natürlich Haucs Einwilligung brauchte, um sie einzusetzen. Aber sah sie denn wirklich so anders aus? Der Gedanke behagte ihr gar nicht, daher wechselte sie zu etwas Naheliegenderem. »Golozar, nichts für ungut, aber du bist das, was sie in der Stadt als ›wortgewandt‹ bezeichnen würden. Wurdest du dort ausgebildet? Dein Ravi ist ausgezeichnet.« »Und dein Gruul ist so gut, dass es mich langsam stört«, sagte Golozar. Seine Augen blieben an einem Punkt des Horizonts hängen. Er blinzelte gegen das Licht. »Es ist tatsächlich Aun Yom. Seltsam, er ist gegen die Sonne sehr 205
schwer zu erkennen.«
Crix stand auf und blickte in die gleiche Richtung, be kam für ihre Mühe aber nur einen Strahl Sonnenlicht in die Augen. Sie musste blinzeln und spitzte stattdessen die Ohren. Sie glaubte, aus der Richtung, in die Golozar ge zeigt hatte, Schritte zu hören und Steinchen, die den Hang hinunterpurzelten. Dieser Aun Yom schien derjeni ge gewesen zu sein, der den Angriff auf den OrzhovLokopeden durchgeführt und damit Crix in Golozars Hände gespielt hatte. Sie bemühte sich gerade, sich nur auf ihre Ohren zu konzentrieren, da nahm sie aus der Ferne ein anderes Geräusch wahr, das schon bald alle anderen Geräusche übertönte. Der harmonisch pfeifende Klang wurde mit jeder Millisekunde höher und lauter. Crix erkannte das Geräusch sofort, und sie musste lä cheln, obwohl sie sich bald mit beiden Händen die Ohren zuhalten musste, damit ihr der Krach keine körperlichen Schmerzen zufügte. Zomaj Haucs Flugkugel, die Pyraquin, schoss über die Klippen der Huske und verdeckte für einen winzigen Augenblick die Sonne. In diesem Moment konnte Crix sich bewegende Gestalten erkennen – es waren minde stens ein Dutzend Gruul, die alle extrem bleich waren und hungrig wirkten. Sie duckten sich vor Schreck, als die Pyraquin den Bergrücken überquerte. Ein paar liefen auseinander. Sie waren vielleicht eine halbe Meile von ihnen entfernt. Der eine, der wohl Aun Yom sein musste, bewegte sich nicht groß, sondern hob nur den Kopf und blickte Crix direkt an. Unfreiwillig stolperte sie einen 206
Schritt rückwärts.
Golozar spannte die Muskeln, lief aber nicht weg, ebenso wenig seine Untergebenen. Wie Crix folgten sie der Flugbahn der Pyraquin, die einen glühenden Dunststreifen am Horizont hinterließ. Es war ein wundervoller Anblick, einer, den die Gruul anscheinend selten zu se hen bekamen. Crix konnte sich nicht allzu sehr für al chimistische Ingenieurskunst begeistern – ihre Interessen betrafen eher die soziologischen, symbolischen Verbin dungen von Feuer und Eis. Dennoch bewunderte sie das persönliche Gefährt des Magierfürsten. Im Gegensatz zu den kleineren Observokugeln, deren Gestaltung als Grund lage gedient hatte, waren bei der Pyraquin das gesamte Gerüst und der dreifache Schiffskörper aus reinem, vom Drachen geschmiedeten Invizomizzium. Dadurch hatte Zomaj Hauc jederzeit ein freies Blickfeld in alle Richtun gen. Der innere Durchmesser der Kugel betrug fünfund zwanzig Schritte, der äußere Durchmesser dreißig. Am Rumpf waren neben sechs Impulstriebwerken auch noch von Hauc selbst entworfene megapyromagische Flam mendüsen befestigt, von denen eine bereits ausgereicht hätte, um eine Observokugel fünf Mal um Ravnica fliegen zu lassen, ohne zusätzlichen Treibstoff zu benötigen. Die Pyraquin verschwand in den Nebelbänken, die heute noch nicht von der Sonne weggebrannt worden waren und deshalb über der Sandebene hingen. Bevor Crix auf die Idee kam, dass sie dem Magierfürsten ein Signal hätte schicken können, durchquerte das Gefährt die Schallmauer und hinterließ eine gewaltige Druckwel 207
le, die den verrosteten, umgekippten Turm, der ihnen im Weg lag, mit einer gewaltigen Faust aus Schallenergie durchschüttelte. »He, kommt sofort da raus!«, brüllte Crix den beiden Gruul zu, die immer noch versuchten, einen Weg unter dem Turm hindurch zu finden. »Der Turm kann das ...« »Sie können dich nicht verstehen!«, brüllte Golozar und rannte auf die Gruul zu, um sie zurückzuscheuchen. »Kommt wieder her! Alle!«, brüllte der Räuber auf Gruul. Die beiden Viashino auf der anderen Seite hatten alle Hände voll damit zu tun, schnell genug von einer sich öffnenden Spalte am ehemaligen Fuß des Turms wegzu kommen, die sich gerade mit enormem Tempo öffnete. Sie waren flink genug, und Crix hätte es eh nicht bis zu ihnen geschafft. Deshalb rannte sie hinter Golozar her. Sie sprach leise auf Gruul und hoffte, dass er sie verstand. »Leise! Er ist noch nicht ganz zusammengefallen. Nicht mehr laut brüllen! Kein Herumstampfen!« Sie musste halbwegs die richtigen Worte gefunden ha ben, jedenfalls waren alle Gruul auf der Stelle still. Golo zar wurde langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Der Turm vibrierte nach wie vor und ächzte wie ein altes Segelschiff. Neue kleine Bruchstellen erschienen im Rost und in den Kalkablagerungen, die ihn vorher noch zu sammengehalten hatten. Die beiden Gruul, die jetzt un mittelbar neben dem Turm standen, schauten erst nach oben, dann auf Golozar, der eine Hand erhoben hatte. Stehen bleiben. Zwei Finger nach oben, dann eine waag rechte Bewegung. Zeigefinger hoch, dann gekrümmt zum 208
Handteller. Nicht zwei. Immer nur einer. Sie hätten es beide unversehrt geschafft, wenn nicht einer der Viashino gezwungen gewesen wäre, über die neue Erdspalte zu springen. Dabei flog ein Stück metalli schen Gesteins gegen das rostige Metallgerüst des Turms, das daraufhin wie ein Gong schepperte. Mehr war nicht nötig, um den Turm endgültig zum Einstürzen zu bringen. Die Bruchstellen gaben endgültig nach, und der Mischmasch, der das umgestürzte Bauwerk noch zusammengehalten hatte, zerbröckelte. Mit einem hallenden Krachen, das Crix und Golozar umwarf, fiel die Ruine ganz in sich zusammen. Bevor die Goblin-Frau hinschlug, musste sie mit ansehen, wie die beiden Men schen vom Gewicht des Turms grausam zerquetscht wur den. Sie war noch kaum auf dem eisernen Boden aufge prallt, als sie auch noch die immer leiser werdenden Schreie der beiden Viashino mit anhören musste, die in eine unterirdische Höhle fielen, die sich plötzlich geöffnet hatte. Innerhalb von wenigen Sekunden war ihre Gruppe von sechs auf zwei Mitglieder reduziert worden. Obwohl sie ihr ganzes Leben in Ergebenheit zu Zomaj Hauc verbracht hatte, meldete sich eine verärgerte und rebellische Stimme in ihrem Hinterkopf. Eine uralte Go blinstimme forderte sie auf, den Magierfürsten sofort zu Rechenschaft zu ziehen, indem sie ihm die Haut bei le bendigem Leib abfackelte. Sie fragte sich, ob die Seuche angefangen hatte, sich in ihrem Gehirn einzunisten, für solche Gedanken landete man nämliche normalerweise im Fegefeuer. 209
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Teysa erwachte mit dem ungewissen Gefühl, dass sie – wenn auch nur für ganz kurze Zeit – in Flammen gestan den hatte. Als es vorübergegangen war, merkte sie mit plötzlichem Grauen, dass es eigentlich eher ein eisiges Gefühl der Betäubung gewesen war. Sie hatte erneut ei nen Anfall gehabt und war so hingefallen, dass ihre Beine noch nutzloser als sonst schon waren. Einen Arm hatte sie unter sich eingequetscht, und ihr Hals- und Nackenbe reich würde sich mehrere Wochen lang nicht gut anfüh len. Zumindest war sie allein gewesen. Wirklich? Mit dem verbliebenen, benutzbaren Arm zog sie sich an der Tisch kante hoch und blieb dann erst einmal in der Position, bis sich ihr Blutkreislauf wieder einigermaßen normalisiert hatte. Was hatte sie gerade gemacht, bevor der Anfall sie umgeworfen hatte? Sie hatte sich mit Melisk unterhalten und Vorkehrun gen getroffen, sich persönlich mit ein paar der örtlichen Gildenrepräsentanten zu treffen, die es nicht für nötig gehalten hatten, in angemessener Zeit auf ihre gnädige Einladung zu reagieren. Da war der Oberste Akolyth, der wütend hinausgestürmt war, nachdem er am Tag zuvor vertröstet worden war, dann ein Zentaur, der anschei nend der Anführer des hiesigen Bettler-Kollektivs war. Was bedeutete, dass er wahrscheinlich Verbindungen zu den Gruul besaß. Und schließlich war da noch Zomaj Hauc, der es gewagt hatte, einen Untergebenen zu schik 210
ken, statt selbst zu kommen. Und auf dem Weg wollte sie sich auch noch den Bauplatz anschauen, wo ihre Villa entstehen sollte. Überraschungsbesuche waren immer gut, und dadurch würden die Stadtbewohner auch sehen, dass sie nicht vorhatte, für immer im Geflügelten Bold zu bleiben. Dann ... war Melisk gegangen, oder? Und der Spiegel – sie hatten ihn in das angrenzende Vorzimmer bringen lassen. Langsam hatte sie bereits das ganze Stockwerk des Geflügelten Bolds für sich belegt. Ja. Sie waren gegangen. Niemand war noch hier gewesen. Niemand hatte sie ge sehen. Sie war allein gewesen, weil ... Teysa hätte sich treten können, wenn ihre Beine funk tionstüchtig gewesen wären. Während sie in ihrem Ge dächtnis nach Erinnerungen an die letzten Geschehnisse kramte, hatte sie die ganze Zeit auf die umgeworfene Schüssel mit Suppe gestarrt, die jetzt auf dem Tisch an trocknete. Sie hatte das nur nicht miteinander in Verbin dung bringen können. Genau. Sie war gerade am Essen gewesen, als eine der nicht so netten »Gaben« ihres Orz hov-Bluts sich bemerkbar gemacht hatte. Beziehungswei se ihr das Bewusstsein geraubt hatte, um genau zu sein. In der Stadt hatte Teysa jederzeit Zugriff auf einen aus reichenden Vorrat an pharmakologischen Mittelchen gehabt, die sie von ihren Simic-Leibärzten verschrieben bekam. Auch auf dem Lokopeden hatte sie einen größe ren Vorrat mitgeführt, aber der Lokoped und seine ge samte Fracht waren ja verbrannt. Sie hatten zu Fuß flüch ten müssen. 211
Ja, sie waren den Rest des Wegs gewandert. Bis zum Gasthaus »Zum Geflügelten Bold«. Daran konnte sie sich noch erinnern. Aber warum fühlte sich das nicht richtiger an als die Vorstellung, dass sie allein gewesen war und Suppe ge gessen hatte? Es mussten die Auswirkungen der Nichteinnahme der Medizin sein. Sie hatte sie seit Jahren genommen, um gegen ihre Schlafkrankheit anzukämpfen. Anscheinend hatte sich ihr Körper schon daran gewöhnt. Weil sie jetzt auf Entzug war, vertraute sie ihren eigenen Erinnerungen nicht mehr. In Ordnung, also stand auch noch ein Besuch bei die sem Simic-Doktor an. Sie hätte ihn gestern schon danach fragen sollen. Sicherlich hatte er etwas vorrätig, was die verloren gegangenen Pillen ersetzen konnte. Verloren gegangen. Der Lokoped war verloren gegan gen. Natürlich war er das. Sie erinnerte sich daran, wie er in Flammen aufgegangen war und die Gruul die Reste auseinander gerissen hatten, als sie mit Onkel zu Fuß flohen. Teysa schüttelte den Kopf, was auch etwas gegen den verspannten Nacken half. Obwohl sie sich noch ein biss chen wackelig auf den Beinen fühlte, stand sie auf und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Tisch. Sie berührte einen der schwarzen Steine an ihrem Handgelenk. Nur Sekunden später schwang die Tür auf, und Melisk kam gebückt in den Raum. Der hoch gewachsene Majordomus hatte so seine Probleme mit den niedrigen Türrahmen 212
des geflügelten Bolds – eine Schramme über dem einen Auge bewies es. »Ja, Frau Baronin?«, sagte Melisk. »Soll ich den Bold anweisen, jemanden hochzuschicken, um das Zimmer sauber zu machen? Soll ich Euch noch mehr Essen brin gen lassen?« »Du scheinst nicht überrascht zu sein, diese Sauerei hier zu sehen«, sagte Teysa. »Warum?« »Weil es bereits der dritte Anfall ist, den Ihr seit unserer Ankunft hier habt, Herrin«, sagte Melisk. »Es schien mir offensichtlich zu sein, was geschehen ist. Es tut mir Leid. Seid Ihr verletzt?« »Nein, ich bin nur ... Nein.«, sagte Teysa. »Was für ein glücklicher Zufall, dass Ihr mich gerade habt kommen lassen. Ich wollte sowieso gerade bei Euch vorsprechen«, sagte Melisk unbeirrt. »Ich habe eine Nach richt von Zomaj Hauc erhalten.« »Das wurde aber auch langsam Zeit«, sagte Teysa. »Wo hat der Magierfürst denn gesteckt?« »In einer Audienz beim Drachen, so behauptet er je denfalls«, sagte Melisk. »Er möchte sich entschuldigen, dass er nicht in der Lage war, sich früher mit Euch zu treffen. Er würde gern mit Euch sprechen, hier oder im Kessel, wann es Euch passt. Es gibt da auch noch eine kleine Sache, bei der er hofft, dass wir ihn dabei unter stützen.« »Er will, dass wir ihm bei etwas helfen?«, sagte Teysa ungläubig. »Er geht bis an die Grenzen meiner Geduld. Ich gehe davon aus, dass du das abgelehnt hast.« Ihr Kopf 213
fühlte sich langsam wieder etwas besser an, ihre Gedan ken wurden immer klarer und konzentrierten sich auf Hauc. »Nein, Baronin«, sagte Melisk. »Ich dachte, Ihr wärt aus verschiedenen Gründen daran interessiert, ihm in diesem Fall zu helfen.« »Das musst du mir erklären«, sagte Teysa, die nun vor sichtig auf und ab ging, um die Verkrampfungen in ihrem Bein loszuwerden. »Er hat einen Kurier verloren«, sagte Melisk. »Soweit mir mitgeteilt wurde, trägt dieser Kurier, eine GoblinFrau, einen Teil eines Zauberspruchs mit sich herum, mit dem der Ausstoß des Kessels weiter maximiert werden kann.« »Warum hat der Kurier die Nachricht bei sich? Warum trägt der Magierfürst ihn nicht selbst bei sich?«, sagte Teysa verwundert. »Das widerspricht doch jeglicher Lo gik.« »Die Izzet scheren sich oft nicht um Logik«, sagte Me lisk großmütig. »Es ist anscheinend Brauch, geschützte Kuriere zu verwenden, um Geheimnisse von anderen Magierfürsten fern zu halten. Sie sind eine paranoide, konkurrenzbetonte Gilde. Es überrascht mich gar nicht, dass ihr Ehrgeiz sie zu solchen Methoden greifen lässt. Ich finde es nur seltsam, dass der Kurier nicht besser beschützt war.« »Was meinst du damit?«, fragte Teysa. »Die Goblin-Frau war allein unterwegs«, sagte Melisk. »Hauc sagte, er hatte keinen Grund zur Annahme, dass ihr 214
an Bord eines Orzhov-Lokopeden irgendein Leid gesche hen könnte.« »Loko... – o nein!«, stöhnte Teysa auf. »Die Gruul haben sie aus der Karawane geraubt? Nachdem sie Onkel er mordet hatten?« »Ja«, bestätigte Melisk. »Nachdem die Gruul Onkel getö tet hatten.« Für einen kurzen Moment fühlte Teysa wieder einen Schwindelanfall und presste deshalb eine Hand an die Stirn. »Fühlt ihr euch nicht gut, Baronin?«, fragte Melisk nach. »Mir geht es gut!«, sagte Teysa. »Also behauptest du, dass ...« »Ich sage«, nahm der Majordomus den Faden auf, »dass sie sich immer noch irgendwo da draußen befindet, und zwar in den Händen der Gruul. Und dass sie eine wichtige Komponente des gesamten Kesselprojekts mit sich führt.« »Aber das Kesselprojekt ist doch schon am Laufen!«, sagte Teysa. »Warum glaube ich der ganzen Geschichte nicht?« »Die Energie des Kessels hält die Siedlung am Leben, aber sie reicht nicht aus, um auch den Vitar Yescu zu versorgen. Auch die Geräte, die den Pollen in der Gegend verteilen sollen, brauchen noch mehr Energie. Wenn aus dieser Ansiedlung jemals eine richtige Stadt werden soll ... Da gibt es noch viel zu tun«, sagte Melisk. »Die derzeiti ge Bevölkerung ist zum größten Teil nur kurzfristig hier, es gibt nur wenige richtige Siedler. Aber ich schweife gerade ab.« 215
»Das tust du tatsächlich«, sagte Teysa. »Es kann sein, dass der Vitar Yescu nicht mehr benötigt wird, wenn der Vedalken-Doktor tatsächlich eine Medizin findet. Aber ich schätze, es ist nicht falsch, auf alle Eventualitäten vorbe reitet zu sein. Ich würde es zwar vorziehen, wenn die Selesnijaner überhaupt nicht hier wären, aber ... aber ...« Wieder überkam sie ein Schwächeanfall, der aber sofort wieder vorbei war. »Was bedeutet das nun für uns, wenn man es kurz zusammenfasst?« Verdammte Schwindelan fälle, fluchte sie innerlich. Sie spürte, dass sie dicht vor einer richtigen Migräne stand. Jetzt wäre ein Anfall ein echter Segen gewesen, aber es kam keiner. »Wir haben den Goblin verloren, und daher sagt Hauc, dass der Goblin in unserer Verantwortung liegt.« »Stimmt das?« »Stimmt was?« »Der Goblin. Müssen wir die Verantwortung für ihn übernehmen?« »Natürlich könnte es irgendein juristisches Manöver geben, mit dem wir uns da herauswinden könnten«, sagte der Majordomus. »Aber es könnte genauso von Nutzen sein, in dieser Sache behilflich zu sein. Wir wollen doch auch, dass aus dieser Siedlung eine richtige Stadt wird, oder?« »Das stimmt«, sagte Teysa, die sich immer noch etwas benommen fühlte. »Und wie wollen wir das hinbekom men? Ich habe bereits neue Diener angefordert, aber es dauert mindestens eine Woche, bis sie hier sind. Sollen wir die Brüder losschicken?« 216
»Ich bezweifle, dass sie die geistige Reife haben, um ei ne solche Aufgabe erfolgreich durchzuführen«, sagte Me lisk. »Unter Umständen bringen sie den Goblin nur um, statt ihn zu retten.« »Und was ist mit den Gruul? Vielleicht können wir ja mit denen verhandeln.« »Das wäre möglich«, sagte Melisk. »Es gibt da einen An führer, dessen Name ich im Verlauf des letzten Tages mehrfach gehört habe. Er wird Aun Yom genannt. Er ist so eine Art Rebell und wahrscheinlich auch derjenige, der unsere Karawane überfallen hat und ... Onkel getötet.« »Getötet ... Nein«, sagte Teysa. »Wir werden schon noch eine andere Möglichkeit finden. Bring mir Pivlic her, wir werden uns dann später um ...« Ein sanftes Klopfen von der anderen Seite unterbrach sie. Die Tür führte auf den Gang, der das Zimmer mit dem Rest von Pivlics Gasthaus verband. Melisk stiefelte zur Tür und öffnete eine kleine Klappe, um zu sehen, wer davorstand. Er erblickte ein dunkles verrunzeltes, lederi ges Gesicht mit einem breiten Grinsen und wich zurück. »Herrin, äh, Baronin!«, sagte Pivlic über Melisks Schul ter hinweg. »Dürfen wir eintreten? Ich habe wichtige Neu igkeiten!« »Lass ihn rein, Melisk«, sagte Teysa, die sich wünschte, sie hätte sich die Zeit genommen, die Suppe wegzuräu men. Sie entfaltete ein seidenes Taschentuch und breitete es über die Schüssel. Dann beeilte sie sich, hinter den Tisch zu kommen, um sich dort so standfest wie möglich zu platzieren. 217
Melisk öffnete die Tür, vor der nicht nur der ungedul dig mit seinen Flügeln herumflatternde Bold stand. Er wurde von dem alten Mann begleitet, den Pivlic als sei nen Sicherheitsberater angestellt hatte. Teysa hatte ihn erst einmal gesehen, und das war vor zwei Tagen bei ihrer Ankunft gewesen. Aber sie traute der Art und Weise nicht, wie der Bursche nur einen kurzen Augenblick brauchte, um mit seinen Augen den ganzen Raum zu erfassen. Er war viel zu aufmerksam. Wahrscheinlich ein ehemaliger Wojek. Er hatte das Auftreten eines echten Ordnungshüters, ganz im Gegenteil zu diesen nutzlosen Haazda. »Nun?«, sagte Teysa. »Wollt ihr nicht hereinkommen?« »Ja«, sagte der Bold. Er gab dem alten Mann, dessen dunkelbraune Haut fast genauso runzlig war wie seine eigene, einen Knuff, er solle eintreten, was der Sicher heitschef dann auch mit bemerkbarem Widerwillen tat. »Na los, Kos. Berichte ihr, was du entdeckt hast.« »Kos?«, sagte Teysa, die jetzt plötzlich ganz wach war. »Agrus Kos?« Der alte Mann seufzte auf. »Ja«, sagte er und schien lie ber seine Füße beobachten zu wollen. »Genau der.« »Mein Onkel hat mir erzählt, dass er gesehen hat, wie du einen mystischen Vampir verhaftet hast, Kos«, sagte Teysa. »Stimmt das?« »Euer Onkel? Ich ... Ja, ich nehme an, es ist wahr«, ant wortete Kos. »Außer dem ›mystisch‹ – der betreffende Vampir war nämlich echt.« Schließlich nahm er den Kopf hoch, um ihr in die Augen zu schauen, und Teysa war 218
hingerissen, wie tief diese Augen waren. Kos selbst war bereits ein alter Mann, aber was auch immer er im Ver lauf seines langen Lebens gesehen hatte, ließ die Augen uralt und wissend erscheinen. »Das ist keine Geschichte, die ich gern erzähle, Baronin.« »Sie ist auch bestimmt nicht der Grund, warum du hier bist, nehme ich an«, sagte Teysa, die bemerkte, wie Pivlic ungeduldig hin und her trippelte. »Worum geht es, wenn ich fragen darf?« »Es scheint Ärger in der Huske zu geben«, sagte Kos. »Ich glaube, die Gruul haben einen der Passagiere Eurer Karawane als Gefangenen. Wird jemand vermisst?« Teysa warf Melisk einen Blick zu. Der Majordomus hob eine Augenbraue, äußerte sich aber sonst nicht weiter. »Wie das Leben so spielt, Agrus Kos, wird tatsächlich jemand vermisst«, sagte Teysa. »Berichte mir, was du gesehen hast.«
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Kapitel 8
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Die Sandebene von Utvara sollte man nur mit guter Ausrü stung durchwandern. Durch die Huske sollte man über haupt nicht reisen, aber wenn man es um Krokts willen unbedingt tun muss, bleibe man wenigstens auf den Wegen. M. Pivlichinos, Utvara: Ein Reiseführer (10004. Z. C.)
2. Cizarm 10012 Z. C. Tief unter den Türmen des Orzhov-Villenviertels tagte der Obzedat. Eigentlich tagte der Obzedat ständig, aber heute wurde mit besonders viel Streitlust und Eifer debattiert. »Wehe, wenn das nicht funktioniert.« »Es wird funktionieren.« »Du bist hier auf Bewährung. Wenn du scheiterst, dann musst du sterben.« »Ich bin doch schon gestorben.« »Diesmal dann aber richtig. Wir haben dieses Abkom men nicht ohne eine gewisse Beklemmung geschlossen, und wir haben dir vertraut ...« »Und dieses Vertrauen, meine Freunde, wird sich loh nen. Ihr wolltet ein geheimes Abkommen. Es ist geheim. Unser heißblütiger Verbündeter ist sich sicher, dass alles 220
so läuft, wie es soll. Meine Nichte ist mehr als nur in der Lage, die Angelegenheit zu meistern, und sie wird uns nicht im Weg stehen, wenn die Vereinbarung erfüllt ist.« »Ihr Gehirn ist nicht ihr eigenes.« »Das ist so nicht richtig. Sie weiß lediglich das nicht, was sie nicht zu wissen braucht.« »Es wird ein Nachspiel für deine ganze Familie haben, wenn wir die Abmachung nicht einhalten können. Der Drache ist in Verhandlungen ein harter Brocken, selbst für uns.« »Ich weiß. Aber denkt doch an die Belohnung, die sich meiner Familie und damit auch allen unseren Familien bieten wird, wenn wir Erfolg haben.« »Das müssen wir abwarten.« »Mehr verlange ich ja auch gar nicht.«
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»Natürlich fühle ich mich lächerlich«, sagte Pivlic. »Das ist keine Aufgabe für einen erfolgreichen und prominenten Kaufmann.« »Ich kann im Moment schlecht etwas dazu sagen, aber ich kann mir vorstellen, dass du zumindest lächerlich aussiehst«, sagte Kos. Er griff nach den Zügeln des tüchti gen utvarischen Dromads und gab dem Reittier einen leichten Tritt in die Flanke, um das Tempo von einem gemächlichen Schaukelschritt zu einem etwas schnelle ren Trott zu erhöhen. Die Hufe klapperten auf dem har ten Steinboden, und ab und an schnaubte das Tier laut. 221
Die dicken Beine des Dromads konnten eigentlich noch nicht müde sein, aber Kos wollte es auch nicht überan strengen. Er fuhr mit der Hand durch die buschige Mähne des Tiers und kratzte ihm den Hals. »Und ich weiß auch nicht, warum es gerade wir beide sein mussten.« Das stimmte zwar nicht ganz, und ebenso war es nicht die ganze Wahrheit, dass Kos dazu hatte gezwungen werden müssen. Es war nicht unwahrscheinlich, dass er sich von selbst auf den Weg gemacht hätte, wenn Teysa Karlov ihm diesen Auftrag nicht gegeben hätte. In Kos nagte der Verdacht, dass die neue Baronin für die Gruul nichts Gu tes bedeutete, und obwohl er schon lange nicht mehr so idealistisch wie früher war, konnte er es trotzdem nicht zulassen, dass ein Abschlachten stattfand, wenn ein sol ches auch vermieden werden konnte. Wenn sie den Ku rier zurückholen konnten, kamen die Gruul möglicher weise mit dem Leben davon. Sein Gewissen – oder zu mindest das, was davon übrig geblieben war – verlangte, dass er es wenigstens versuchte. »Ach, ich weiß schon warum, auch wenn ich das nicht unbedingt gut finde«, sagte Pivlic. »Du bist noch nicht so lange ein Orzhov, mein Freund. Wenn die Baronin es so verlangt, dann machen wir uns halt auf den Weg. Es sah ja eh nicht so aus, als ob sie mir erlauben würde, die Schänke wieder zu öffnen. Autsch!« Kos konnte spüren, wie der Bold im Sattel herumrutschte, um einen besseren Sitz zu bekommen. Was nicht ganz einfach war, weil er beide Arme um Kos Hüfte geschlungen hatte. Schließlich gab der Bold auf. »Müssen wir so schnell reiten?« 222
»Ich bin kein Orzhov. Warum behaupten das denn alle Leute? Außerdem bewegen wir uns doch kaum von der Stelle«, sagte Kos, der den Blick über die Hauptstraße schweifen ließ, um den richtigen Weg zu finden. Irgend wo kam hier eine Abzweigung, die erst in die Sandebene und von dort aus dann in die Huske führte, in Richtung von Trijiros Lager. »Mit der Zeit gewöhnt man sich schon ans Reiten.« »Du arbeitest für mich, damit bist du Orzhov genug«, sagte Pivlic. Er seufzte. »Ich hätte lieber fliegen sollen.« »Du warst derjenige, der den kompletten Schutzanzug verlangt hat«, sagte Kos. »Immerhin hast du einen ganz neuen bekommen, weil sie eigens einen für dich zusam menschneidern mussten. Meiner riecht immer noch nach durchgeschwitztem Schürfer. Ich befürchte, der vorherige Besitzer ist in dem Ding gestorben.« »Falls das andeuten soll, dass du eine Gehaltserhöhung willst ...« »Pivlic, für diese Sache hier bekomme ich eine Gehalts erhöhung, und außerdem schließt du eine richtige Rente für mich ab.« »Das ist doch lächerlich!«, schimpfte der Bold. »Du wirst schon äußerst gut bezahlt, mein Freund, und außer dem ...« »Ha, beinahe hätte ich dich erwischt, was?« Kos lachte. »Nun, dann nennen wir es halt einen Bonus.« »Wofür?«, sagte Pivlic. »Du bist mein Angestellter!« »Ich kann wirklich nicht sagen, was eine Reise in die Huske auf dem Rücken eines Dromads und mit dir als 223
Begleitung damit zu tun hat, für die Sicherheit des Geflü gelten Bolds zu sorgen«, sagte Kos. »Na ja, um es genau zu sagen ...«, sagte der Bold mit hinterlistiger Freude. Mit einem kleinen Blitz beschwor er Kos’ Arbeitsvertrag herbei, der inzwischen über zwölf Jahre alt war. »Du bist nicht nur für den Geflügelten Bold, sondern auch für meine persönliche Sicherheit zustän dig.« »Wie bitte?« Kos überlegte kurz, ob er das Dromad an halten sollte. Das Reittier begann etwas zu dampfen, und Kos wusste nicht, ob das normal war. Die Muskeln unter den dichten Krusten aus Antigen-Pilzflechten, die das Fell überzogen, waren angespannt, und der dicke, schwere Schweif ragte nun deutlich nach hinten. Er hatte das Tier von Utvara-Gruul gekauft, die in diesem Bereich den Markt kontrollierten. Da die im Tal aufgezogenen Dro mads bereits von Geburt an den Antigen-Pilz trugen, wa ren sie äußerst beliebt. »Wo genau steht das?« »Du solltest dir genauer anschauen, was du unter schreibst«, sagte Pivlic. »Aber du brauchst nichts zu be fürchten. Ich habe deine Dienste bisher nicht miss braucht, dem wirst sicherlich sogar du zustimmen. Und ich werde mich persönlich darum kümmern, dass du einen Bonus bekommst. Es könnte eine Weile dauern, bis der ganze Papierkram erledigt ist, aber wem erzähl ich das.« Es gab einen weiteren kleinen Blitz, und der Vertrag verschwand wieder aus Kos’ Blickfeld. Nach ein paar kurzen Momenten der Stille wusste sich der gesellige Bold nicht weiter zu helfen, als die Unterhal 224
tung wieder anzuleiern. »Also, das ist nicht unbedingt die Art und Weise, wie ich mir den heutigen Tag vorgestellt habe.« »Ich kann es auch noch nicht glauben, dass wir beide hier sind. Beziehungsweise ich«, sagte Kos. »Ich muss den Verstand verloren haben.« »Gib es doch zu, du bist gelangweilt«, sagte Pivlic. »Ich dagegen werde von einer höheren Macht gezwungen.« »Von diesem Mädel?« »Dieses ›Mädel‹ hat mehr Macht im kleinen Finger, als ich jemals haben werde. Und damit meine ich richtige Macht – Macht über Wesen, Macht, die nichts mit Magie zu tun hat.« Pivlic geriet ins Schwärmen. »Und alles durch Geburtsrecht und natürlich durch ihre derzeitige Stellung. Sie hat das richtige Blut.« »Orzhov-Blut?«, sagte Kos. »Das würde auch ihr seltsa mes Bein erklären.« »Natürlich«, sagte Pivlic. »Aber ich würde nicht empfeh len, sie darauf anzusprechen.« »Würde mir nie im Traum einfallen«, sagte Kos. Die Hauptstraße wurde leicht abschüssig, als sie am Vi tar Yescu vorbeiritten, dann an den Buden und Hütten vorbei, die den Basar bildeten, und schließlich aus dem Stadtgebiet hinaus. Sie nahmen die östliche Route, um den Kessel weiträumig zu umgehen. Es war nicht not wendig, noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ein alter Mann und ein Bold, die beide mit einem Schwert bewaffnet waren und geladene Knallstäbe auf dem Rük ken herumtrugen, sahen nicht gerade wie waschechte 225
Schürfer aus. Und Schürfer würden sich dem Kessel auch nie auf eine Weise nähern, bei der man schnell entdeckt wurde. Kos hatte erst überlegt, ob das vielleicht gar nicht schlecht wäre, immerhin halfen sie ja dem Magierfürsten. Allerdings hatte Pivlic ein sehr gutes Gegenargu ment parat gehabt: Es war unwahrscheinlich, dass die seltsamen Wachen, die Patrouillen-Sceadas und sonstigen schwer bewaffneten Verteidiger erst einmal bei Zomaj Hauc Rückfrage halten würden, bevor sie sich voreilige Eindringlinge vorknöpften. Ihr Ziel war ein Teil der Huske, der als Huskvold bekannt war, und um dorthin zu gelangen, mussten sie erst einmal die Sandebene durch queren und an einigen Grubenfeldern vorbei. Ihr Dromad war stark, ausdauernd und schien vor al lem gleichmütig zu sein, was die beiden komischen Rei ter auf seinem Rücken betraf. Kos war kein Reitexperte, aber sowohl während der zwölf Jahre in Utvara als auch in der kurzen Zeit, als seine Wojek-Dienststelle im Zehn ten Distrikt mit berittener Streife experimentiert hatte, hatte er genug mitbekommen, um sich einigermaßen auf dem Rücken halten zu können. Er hoffte, dass das Dro mad das merkte. Aber ob man jetzt ein guter Reiter war oder nicht – Schürfer waren oft feindlich gesinnt, sobald man ihren Gruben zu nahe kam. Die Sandebene war eine große Schatzgrube, die nur darauf wartete, geöffnet zu werden. Diejenigen, die schon eine Stelle gefunden hat ten, von der sie sich einen guten Zugang versprachen, bewachten sie so eifersüchtig wie die Izzet ihren Kessel. Aber das war alles noch harmlos im Vergleich zur Huske, 226
die fast so gefährlich war wie die Gruul, die in ihr lebten. Rostige Schlundlöcher mit gezackten Rändern, in den Himmel ragende Metallklumpen, die bei starkem Wind umkippen konnten, hässliche unterirdische Monster und vor allem die Kuga-Seuche – die Huske war mit Gefahren reich gesegnet. »Und was ist mit den beiden?«, fragte Kos und deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die beiden Thrulls, die ein paar Schritte hinter ihnen herhüpften. »Warum begleiten die uns?« »Die Grugg-Brüder sind die Leibdiener der Baronin und gleichzeitig ihre Leibwächter und Mädchen für alles«, sagte Pivlic. »Ja, aber warum sind sie hier? Wir schaffen das auch ohne sie«, sagte Kos aufgebracht. »Ich finde es tapfer, was du da behauptest, mein Freund, aber ich muss eingestehen, dass es mir nichts ausmacht, wenn sie mitkommen. Und mach dir keine Sorgen um sie. Thrulls halten mehr aus, als du denkst. Die Baronin hat mir erzählt, dass der da – er heißt Bephel – bei dem Gruul-Angriff durch einen Knallstab den Kopf weggeblasen bekommen hat. Und schau ihn dir jetzt einmal an.« Kos warf einen Blick auf Bephel, obwohl er dabei den Kopf arg verdrehen musste. Bephel war derjenige der beiden Grugg-Brüder, dessen Kopf aussah wie aufeinan der gestapelte Pfeilspitzen und der dazu den Körper eines Viashino hatte. Man konnte ihm nicht ansehen, dass er ein paar Tage zuvor noch enthauptet gewesen war. Der 227
andere Thrull (laut Pivlic hieß er Elbeph) war eher ein Riesenaffe, den man mit einem Frosch gekreuzt hatte. Er konnte auf seinen langen Armen und gespreizten Händen hüpfen, während er sich gleichzeitig mit den geschickten Hinterbeinen zwischen den Zähnen kratzte. »Ist mir egal, solange sie nicht zu viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen«, sagte Kos. »Haben sie irgendeine Verbin dung zur Baronin? Sind sie Telepathen?« Pivlic zuckte die Achseln. »Das kann ich leider nicht sagen.« »Kannst du es nicht sagen oder darfst du es nicht sa gen?«, hakte Kos nach. »Ich vermute, dass etwas existiert, das so ähnlich funk tioniert wie von dir beschrieben, aber die Geheimnisse des Beherrschens von Thrulls werden leider nicht so mir nichts, dir nichts herumerzählt, auch nicht an alte treue Orzhov-Diener«, sagte Pivlic. In seinem Gesicht konnte Kos allerdings eine ganz andere Antwort lesen: Natürlich kann sie uns hören. Genau deswegen hat sie die beiden ja mitgeschickt. »Ist in Ordnung«, sagte Kos. »Ich wollte nur wissen, woran wir sind. Oder wohin wir reiten, wie man es nimmt.« Sie schafften es, ohne größere Zwischenfälle an den ersten Grubenfeldern vorbeizukommen. Zum Glück ver lief der Weg nicht direkt an den Minen vorbei, sodass genug Abstand herrschte und die kleine Gruppe keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Aber der Weg wurde enger, nachdem sie etwa eine Stunde durch die Sandebene gerit 228
ten waren. Hier waren ganze Teilabschnitte der alten Oberfläche aufgeworfen worden, entweder durch die Hitze oder durch den Druck, der in den Tiefen der begra benen Unterstadt herrschte. Diese Riffelkämme zwangen sie dazu, einem Pfad zu folgen, der an einem großen Ab baubetrieb vorbeiführte. Zwei Oger-Söldner in bauchigen Schutzanzügen und mehrere mit Helmen und Schwertern ausgerüstete finstere Gestalten, die wahrscheinlich keiner der Gilden angehörten, bewachten den großen Komplex. Die Schürfanlage war ein neumodischer Apparat, in dem sich arkane Kunst der Izzet und biomanalogisches Wissen der Simic vereinigten. Das irgendwie halb lebendige Ge rät, das wie eine zu groß geratene Stechmücke aussah, half den Schürfern, die Tiefen zu erforschen und die ge fundene Beute und die Rohmaterialien an die Oberfläche zu bringen. Die Lagerhalle direkt daneben erinnerte Kos an einen riesigen Eierbeutel einer Spinne. Als sie näher kamen, reckte einer der Oger eine Helle barde in die Luft und brüllte los. »Eindringlinge auf dem Weg!« Dromads waren nicht dafür bekannt, dass sie jemals auch nur einen Schritt rückwärts gegangen wären. Und da die scharfen, steinigen Riffelkämme sich links und rechts neben dem Weg auftürmten, hatten sie keine an dere Möglichkeit, als weiter dem Weg zu folgen. »Halt dich fest, Pivlic. Ihr Grugg-Brüder, folgt uns! Und greift die Bergarbeiter nicht an! Wir versuchen nur, an ihnen vorbeizukommen!« Die Schürfer taten nur das, was Schürfer eben taten. Es 229
gab keinen Grund, ihnen Schaden zuzufügen, und Kos wollte auch nicht, dass jemand das an seiner Stelle tat. Er würde sich verteidigen, wenn das nötig war. Aber ein direkter Angriff wäre nicht nur unprovoziert, sondern auch äußerst dumm. Und da Reden wohl auch nicht wei terhalf, mussten sie einfach schauen, dass sie an den Wachen vorbeikamen, und zwar so schnell und mit so wenig Gewalt wie möglich. Kos trat seinem Dromad in die Flanken und ließ es los rennen.
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»Melisk?«, sagte Teysa. »Was meinst du, können die bei den Haucs Kurier finden?« »Aber sicher«, sagte der Majordomus. »Ich habe die Quellen befragt, Opfer gebracht und gebetet. Es war die richtige Wahl. Wie könnte es auch anders sein, Baronin?« »Versuche nicht, mich einzulullen, Melisk. Dafür ken nen wir uns schon viel zu lange und zu gut«, sagte Teysa. »Ich habe auch nicht nach Aussagen des Orakels gefragt, sondern wollte deine Meinung.« »Darf ich in diesem Fall ehrlich sein?« »Aber natürlich«, sagte Teysa. »Ich bin nicht Onkel.« »Wir haben nicht viele Leute zur Auswahl, und diese beiden scheinen mir fähig zu sein. Jedenfalls hat der Bold diesen Eindruck vermittelt, und er hat für den Menschen die Hand ins Feuer gelegt. Wie Ihr wisst, hat dieser tat sächlich die Welt vor Szadeks Rückkehr gerettet, so er 230
zählt man sich wenigstens.« »Aber er ist so alt, Melisk«, sagte Teysa. »Er sah mir aus, als ob er tot umfallen könnte, noch bevor er überhaupt die Huske erreicht.« »Außerdem sind ja die Grugg-Brüder bei ihnen«, sagte Melisk. »Falls Pivlic und Kos scheitern, haben wir dann ja immer noch die Möglichkeit einer etwas direkteren Vor gehensweise.« Teysa spreizte Daumen und Zeigefinger und drückte damit gleichzeitig gegen beide Schläfen. Sie bemühte sich, darüber hinwegzutäuschen, unter welchem Druck sie wirklich stand. Der Kessel musste schon bald, sehr bald fertig werden und volle Leistung bringen, sonst wür de sich nicht rechtzeitig genügend Infrastruktur entwik keln, um Utvara innerhalb eines Jahres für unabhängig erklären zu können. Energie und Wasser – beides war nötig. Und entweder würde der seltsame Baum der Seles nijaner die Seuche ausrotten, woran sie eher zweifelte, oder Dr. Nebun würde etwas aus dem Ärmel ziehen. Es musste einfach klappen. Wenn sie bloß diese Kopfschmerzen loswerden könn te. Sie blätterte durch die Bündel von Pergamenten auf ihrem Schreibtisch und entschied, dass es nichts brachte, hier herumzusitzen und auf Neuigkeiten zu warten. Von allein würden die Kopfschmerzen bestimmt nicht ver schwinden. Vielleicht sollte sie deshalb auch noch beim Doktor vorbeischauen und nicht nur diejenigen besu chen, die ihre Einladung verschmäht hatten. »Melisk, zieh Phleeb von seinem Wachposten ab, und 231
schick ihn mir her«, sagte Teysa. »Danach versiegle das Spiegelzimmer. Wir gehen spazieren.« »Spazieren?«, sagte Melisk. »Ja«, sagte Teysa. »Es ist an der Zeit, dass ich mehr Ein heimische kennen lerne.« »Natürlich«, sagte Melisk, aber in seine Stimme hatte sich ein leiser verdrießlicher Unterton eingeschlichen. Dieser Verdruss war allerdings nur gering im Vergleich zu dem, was gerade in Teysa aufflammte. Sie war aus ihrer gut laufenden Kanzlei hierher geschleppt worden und hatte deshalb vor, hier jetzt auch ein Vermögen zu machen. So viel war klar. Sie würde ihre TajMeuchelmörder einsetzen, die sie bislang in Reserve gehalten hatte, um diese Gruul auszulöschen, allerdings erst sobald Haucs Kurier wieder aufgetaucht war. Alles andere würde dessen sicheren Tod bedeuten, denn die Taj waren gründlich. Und bald danach würde Haucs Kes sel auch genug Energie produzieren, um aus Utvara eine richtige Stadt zu machen. Aber sie war auch jetzt schon wochenlang mit ihrem Majordomus auf engstem Raum zusammen gewesen – erst im Lokopeden, jetzt hier. Und aus Gründen, die sie nicht genau bestimmen konnte, wollte sie zumindest für ein paar Stunden seinem stäh lernen Blick entkommen. Vielleicht brauchte sie einfach nur eine Pause, aber da war etwas in diesen schwarzen Augen, das sie nicht zur Ruhe kommen ließ, noch nicht einmal kurz. »Wenn ich es mir recht überlege, würde ich es vorzie hen, wenn du diesen Bürokram hier für mich erledigen 232
würdest«, sagte Teysa. »Und unterdessen lass Phleeb mal Pivlics Vorräte durchstöbern, damit er uns etwas Anstän diges zum Abendessen zubereiten kann.« »Aber Baronin – Ihr wollt allein gehen? Ganz ohne ei nen Wächter?« »Ja, allein«, sagte Teysa. »Ich bin die Baronin, vergiss das nicht. Hast du Einwände dagegen?« »Nein, aber ...« Melisks Gesicht wurde wieder zu einer ausdruckslosen Maske. »Wie Ihr wollt, Baronin. Ich würde Euch aber zumindest bitten, den Thrull mitzunehmen.« »Nein, keine Thrulls«, sagte Teysa. »Ich werde diese Siedlung nie in Schwung bringen können, wenn man mich nicht zu sehen bekommt. Die Leute müssen sehen, dass ich mich kümmere. Und noch viel wichtiger ist, dass die Leute merken, dass ich nicht auf jemand anderes zurückgreife, um meinen Willen durchzusetzen – ob du das bist oder einer der Thrulls. Es wird zumindest dafür sorgen, dass sie mir gegenüber ehrlicher sind. Und wenn du noch weitere Erklärungen von mir verlangst, werde ich mich wohl nach einem neuen Majordomus umschau en müssen.« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Melisk. »Aber bitte, seid vorsichtig. Euer Zustand ...« Teysas Kopfschmerzen meldeten sich kurz, als das Wort »Zustand« fiel, aber sie ließ es sich nicht anmerken. »Das hier ist eine Kleinstadt von vielleicht drei- oder vier tausend Leuten, höchstens. Und drei Viertel davon laufen da draußen herum und holen sich Schätze aus Land, das mir gehört. Ich bin mir sicher, dass ich keinerlei Schwie 233
rigkeiten begegnen werde. Wenn du mit dem Bürokram fertig bist, kannst du damit beginnen, Berechnungen an zustellen, wie hoch unser Anteil an der ganzen Beute ist, die sie in der Sandebene finden. Und vergiss Zinsen und rückwirkende Zahlungen nicht.« »Wann dürfen wir Eure Rückkehr erwarten?« »In ein paar Stunden«, sagte Teysa. »Selbst mit dem schlimmen Bein kann es nicht länger dauern, mein klei nes ›Reich‹ einmal in seiner gesamten Länge und einmal in seiner ganzen Breite abzugehen.« Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ver flüchtigten sich ihre Kopfschmerzen langsam. Als sie aus der Haustür in die Mittagssonne trat, waren sie bereits ganz verschwunden.
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»Pass auf, wo wir hinreiten!«, schrie Pivlic über Kos’ Schulter. »Bist du verrückt geworden?« »Ich bin nur ein bisschen wütend!«, brüllte Kos zurück. »Aber so richtig verrückt? Nein. Ich versuche nur, uns aus dem Schlamassel hier wieder herauszubekommen.« Das Dromad wieherte und zuckte zur Seite. Dadurch entging es ganz knapp der Klinge am Ende der Hellebarde des Ogers. Die schwere Waffe prallte auf den rötlichen, glatten, uralten Steinboden und hinterließ dort ein kreis rundes Muster wie bei einem abgebrochenen Flaschen boden. »Was machen die Thrulls?«, fragte Kos. 234
Er spürte, wie Pivlic sich auf seinem Sitz herumdrehte, um nach dem Verbleib der Grugg-Brüder zu schauen. »Genau das, was du ihnen gesagt hast.« Pivlic musste brül len, um den knurrenden Oger zu übertönen. »Sie greifen nicht an. Da drüben kannst du sie sehen.« Der Bold zeigte über Kos linke Schulter, und dort konnte nun auch der alte Wojek die beiden treuen Thrulls erkennen, die das Tempo des galoppierenden Dromads locker mithalten und den Minenwächtern bislang erfolgreich ausweichen konnten. Kos hätte die Augen lieber auf den Weg richten sollen. Der zweite Oger hatte sich auf die andere Seite des Wegs gestellt, um seine Gegner zu flankieren. Er schwang seine Hellebarde auf Kniehöhe des Dromads. »Hüh!« Kos gab dem Dromad einen weiteren Stoß in die Seite und zog leicht an den Zügeln. Die Hufe des Tiers verfehlten die Klinge nur um Haaresbreite, aber das Reit tier kam unverletzt davon. Der Oger war allerdings schneller und geschickter als der andere. Er ließ einfach die Hellebarde fallen, nachdem der Schlag ins Leere ge gangen war, und benutzte seine Faust, um sie wie einen schweren Stein gegen Kos Schutzhelm zu rammen. Die Kugel zersplitterte zu Kos’ Glück nicht – die Scherben hätten ihn töten können, zumindest aber das Augenlicht geraubt. Die Mitte des Sichtvisiers war dennoch so mit Rissen und Sprüngen überzogen, dass es Kos unmöglich war, noch etwas zu sehen. Er fluchte und drehte den Kopf nach beiden Seiten, um durch seitliches Hinausschielen erkennen zu können, 235
wohin das Dromad sie führte. »Pivlic, ich kann nichts mehr sehen! Wohin reiten wir?« Er bekam keine Antwort. »Pivlic?«, wiederholte Kos und griff hinter sich, um zu prüfen, ob der Bold noch da war. Er war nicht mehr da. Kos fluchte noch inniglicher. Sie waren noch nicht einmal eine Stunde auf ihrer Rettungsmission unterwegs, und schon mussten sie selbst gerettet werden. Und vor allem – aus den Händen von Schürfern. Blamabler ging es kaum. In seinem blinden Zustand konnte er noch nicht ein mal sagen, ob er in die richtige Richtung unterwegs sein würde, wenn er wieder zurückritt. Wenn er den Helm abnahm, war er der Kuga-Seuche ausgesetzt, die ihn tö ten konnte. Natürlich nicht sofort, denn wie jeder in der Siedlung hatte Kos eine gewisse Dosis an Antigen-Pollen in seinem Körper, aber er würde sicherlich innerhalb eines Tages erste Symptome zeigen. »Dann soll es wohl so sein«, sagte Kos laut. »Wir müs sen eben innerhalb eines Tages wieder zurück sein.« Er schlang die Zügel um den Knauf des Sattels und klammerte sich mit beiden Beinen am Bauch des Dro mads fest. Dann griff Kos an seinen Kopf, legte beide behandschuhte Hände an den gesplitterten Kugelhelm und drehte mit aller Kraft. Der aus Kristall gefertigte Helm bewegte sich eine halbe Drehung nach links, bis es klick te. Zischend öffnete sich die Versiegelung, und gleich darauf zog Kos den Helm ganz ab. 236
Die diesige Luft, die Sand und Seuche mit sich herum trug, stach ihm in die Augen. Die Sandebene reflektierte die Sonnenstrahlen so kräftig, dass er geblendet wurde und nicht viel mehr als vorher sehen konnte. Nur mit zusammengekniffenen Augen konnte er undeutlich etwas erkennen. Er hatte das Grubenfeld schon weit hinter sich gelas sen. Vor ihm lag eine flache Strecke, und er konnte die Abzweigung erkennen, die ihn in die Huske führen wür de. Er hatte es geschafft. »Hiiilfe!«, schrie eine winzige Stimme weit hinter ihm. »Hilf mir! Komm sofort zurück, oder du bist entlassen!« Kos riss hart an den Zügeln, dann noch fester, und ir gendwann hatte er sein verängstigtes Reittier davon über zeugt, dass es anhalten und umdrehen sollte. Der erste Oger war schneller gewesen, als Kos es für möglich gehalten hatte. Er hatte mit seiner großen Hand Pivlics Helm gegriffen und ließ den Bold in der Luft zap peln. »Du hast da etwas vergessen, du räudiger Plün...«, sagte der Oger. Dann fiel ihm mitten im Satz die Kinnlade her unter, und er blinzelte ungläubig. »Kos?« »Garulsz?«, sagte Kos. »Was zum Teufel tust du denn hier?«
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»Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs, Baronin?«,
sagte Dr. Nebun. »Ich hatte gedacht, Ihr wüsstet, dass man
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lieber nicht unangemeldet in einem Labor des Kombinats vorbeischaut.« »Und ich hatte gedacht, Sie – au! – wüssten, dass man eine Orzhov-Baronin lieber nicht kopfüber in der Luft hängen lässt, jedenfalls nicht länger als notwendig!« »Wie bitte? Ach ja, natürlich«, sagte der Vedalken. »Ent schuldigt. Uvulung, hol sie da herunter. Und bitte so sanft wie möglich.« »Ja, Meifter«, sagte das froschartige Wesen, das auf ei nem Podest über der Schwelle des Simics saß. Teysa hatte vorgehabt, direkt zum Laboratorium des Doktors zu ge hen, aber es hatte sich herausgestellt, dass es an sein Haus angebaut war, zumindest teilweise. Sie hatte an der Tür geklopft und, nachdem sie darauf keine Antwort be kommen hatte, an der Klingelschnur gezogen. Jedenfalls hatte sie angenommen, dass es eine Klingelschnur war. Bevor sie sich versah, waren ihre Knöchel zusammenge bunden, und sie hing kopfüber – ungehalten und mit puterrotem Gesicht – vor dem Eingang des Hauses. Das Froschwesen lockerte seine abscheuliche Zunge, und die Baronin glitt in die Arme des Vedalken. Er half ihr, sich mühelos zu drehen und wieder auf die Beine zu kommen. Er war stärker, als er aussah. Aber stark oder nicht, er musste jetzt erst einmal ihren ganzen Zorn über sich ergehen lassen, dass sie in eine so peinliche Lage gebracht worden war. »Ich habe doch an kündigen lassen, dass ich vorbeikomme«, blaffte sie. »Sie haben hoffentlich eine gute Entschuldigung parat!« »Es gibt einen guten Grund«, sagte der Doktor. »Das 238
Wesen sorgt dafür, dass niemand unangemeldet in das Labor kommt.« Teysa antwortete nicht darauf, sondern warf einen Blick auf den missgebildeten Frosch, der am Eingang hockte. Mit einer überraschenden Geschwindigkeit, die der Doktor ihr nicht zugetraut hatte, schob sie ihren Gehstock nach oben in das offene Maul des Froschwesens. Sie drehte das Ende, sodass sich die lange Zunge mehr fach um den Griff wickelte, und zog den Stock dann wie der hart nach unten. Uvulung prallte mit einem satten Klatschen auf das harte Straßenpflaster. Die Orzhov-Baronin drehte ihren Stock wieder zurück, um die Zunge des Froschs freizugeben. Sie gab ihm einen leichten Fußtritt. Seine hervortretenden Augen blinzelten. Die Zunge hing zwar betäubt und zusammengerollt aus dem Maul, aber die Kreatur lebte noch. Zum Glück war sie nur etwas benommen. Teysa hatte nicht vorgehabt, sie zu töten. »Wesen«, sagte sie. »Uvulung. Kannst du mich sehen?« »Jawohl.« »Ich bin Baronin Teysa Karlov. Ich kündige hiermit meine Anwesenheit an. Ich werde mich nie wieder an melden, merk dir das. Ich bin also sozusagen immer an gemeldet. Dann wird auch das, was dir gerade passiert ist, nicht wieder vorkommen. Verstehst du mich?« »Jawohl. Meifter, die Baronin Teysa Karlov ift hier, um Euch fu fehen.« »Würdet Ihr gern eintreten, Baronin?«, sagte der Doktor sofort. 239
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, antwortete Teysa. Dr. Nebun führte sie an riesigen Einmachgläsern vor bei, in denen Wesen saßen, die wie Verschmelzungen von Verschmelzungen aussahen – deformierte, neu ent wickelte und auseinander genommene und wieder neu zusammengesetzte Kreaturen, die aber alle noch zu leben schienen. In Röhren und Gläsern brodelten übel riechen de Flüssigkeiten, die die Luft verpesteten. Von hier aus ging es in ein angrenzendes Zimmer, das erschreckende Ähnlichkeit mit den Untersuchungszimmern hatte, die sie von Ärzten in der Stadt gewohnt war. Der einzige Unter schied war ein seltsam wirkender Kamin in der einen Ecke und eine Regalwand, in der dicke, in Leder einge schlagene Bücher wie Krankheiten, denen man in GolgariGrabkammern begegnet und Verfluchte Reagenzien stan den. Sie war nicht überrascht, dass der Doktor sich den Stuhl heranzog und ihr mit einer Geste die lange Couch anbot. »Ich stehe lieber, wenn Sie nichts dagegen haben«, sag te Teysa. »Ich pflege, auf und ab zu gehen. Das gewöhnt man sich als Magiejuristin an, wissen Sie.« »Wie Ihr wollt«, antwortete Dr. Nebun. »Stört es Euch, wenn ich mir Notizen mache?« »Ich wäre schockiert, wenn Sie das nicht machen wür den, Doktor«, sagte Teysa. »Sie scheinen davon auszuge hen, dass ich hier bin, um mich behandeln zu lassen. Warum sonst hätten sie mich sonst wohl in diesen Raum geführt.« »Ihr seid allein gekommen«, sagte der Doktor. »Außer 240
dem enthielt die Nachricht, die Euer Kommen ankündig te, nichts von dem, was wir gestern besprochen haben.« »Das ist wahr«, sagte Teysa und umkreiste den Stuhl des Arztes, wobei sie ihren Stock leicht hinter sich her zog. »Ja, ich bin hier, um mich behandeln zu lassen. Und wenn auch nur eine halbe Silbe von dem, was wir hier besprechen, an die Öffentlichkeit gelangt, dann sind Sie ein toter Mann, das kann ich Ihnen versprechen.« »Bevor ich mit einer Untersuchung beginne: Darf ich annehmen, dass Ihr mir für diesen Arztbesuch meinen normalen Stundensatz zahlt?«, fragte Dr. Nebun. »Ja.« »Ich betrachte hiermit Euer Wort als mündlich ge schlossenen Vertrag und sichere Euch gleichzeitig absolu te Vertraulichkeit zu.« »Gut«, sagte Teysa. »Überrascht es Sie, dass ich einen Gehstock benutze, Doktor? Was sagt Ihnen das?« »Ich kann daraus schließen, dass Ihr eine echte Orzhov seid, selbst wenn es Euer Titel nicht verraten würde«, sagte der Arzt. »Sehr gut«, sagte Teysa. »Sie wissen, dass das OrzhovBlut immer für gewisse ... Sondereigenschaften sorgt. Fähigkeiten, die andere nicht besitzen. Was aber alles seinen Preis hat.« »Natürlich«, antwortete der Vedalken. »Je mächtiger die Fähigkeiten sind, desto hinderlicher sind meistens die so genannten ›Zustände‹, die man dafür in Kauf nehmen muss, oder?« »Ja. Daher wird es Sie wahrscheinlich nicht überra 241
schen, dass mein Bein einer dieser ›Zustände‹ ist, mit denen ich mich auseinander setzen muss.« Teysa drehte eine weitere Runde um den Stuhl, wobei sie die Spitze des Stocks immer wieder leicht auf den Boden tippen ließ, bis sie dem Arzt wieder gegenüberstand. »Ihr scheint mir leistungsfähig zu sein und einen ge sunden Menschenverstand zu besitzen. Ihr habt offen sichtlich Macht, obwohl ich noch nicht feststellen konnte, wie sie sich körperlich auswirkt«, sagte der Doktor. »Interessant, dass Sie das erwähnen«, antwortete die Baronin. »Aber das ist unerheblich. Sie greifen vor. Nein, ich bin eigentlich nur hier, um mich gegen einen ›Zu stand‹ behandeln zu lassen, den Ihr noch nicht entdeckt habt. Um es kurz zu machen: Ich werde immer wieder bewusstlos. Eine Art Schlafkrankheit, wie der Hausarzt meiner Familie es genannt hat. Ich verliere einfach das Bewusstsein.« »Wie oft kommt das vor?«, fragte Dr. Nebun. »Das ist unterschiedlich«, sagte Teysa. »Gewöhnlich kommen die Anfälle in kleineren Gruppen, die ein paar Tage, manchmal auch nur ein paar Stunden auseinander liegen. Dann kann es geschehen, dass sie einige Monate oder sogar Jahre gar nicht zutage treten.« »Und habt Ihr diese Anfälle schon Euer ganzes Leben lang?«, forschte der Vedalken weiter. »Nein, aber Orzhov-Zustände richten sich nach keinem Zeitplan«, antwortete Teysa. »Um es frei heraus zu sagen: Meine Vorräte der Medizin, mit der ich die Anfälle unter Kontrolle halten kann, sind beim Angriff der Gruul auf 242
den Lokopeden verloren gegangen.« »Glaubt Ihr etwa, dass ich ein einfacher Apotheker bin?«, sagte der Arzt empört. »Ich habe Viren entwickelt, die tausende getötet haben! Ich ...« Der Vedalken schloss den Mund mitten im Satz. »Oje, Ihr habt es schon wieder mit mir gemacht, oder?« »Ich weiß leider nicht, worüber Sie reden«, sagte Teysa, klopfte aber mit dem silbernen Griff ihres Stocks gegen die Armlehne des Stuhls, auf dem der Doktor saß, um den Wahrheitskreis anzudeuten, den sie bei ihren Runden durch den Raum gezogen hatte. »Ich glaube Ihnen, wenn Sie sagen, dass Sie Viren erschaffen haben. Ich glaube, Sie sind ehrlich, und dabei belassen wir es. Nein, Doktor, ich halte Sie nicht für einen einfachen Apotheker oder sonst eine Art von Pillendreher. Aber ich habe ja gesehen, dass sie dort draußen in ihren Gläsern, Kolben und Röhren so einiges aufbewahren, was ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Ich vermute, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist. Sagen Sie, haben Sie nicht auch etwas, was meine Anfälle abwehren kann?« »Nun, ich ... Das ist ...« Der Vedalken kämpfte gegen die magische Kraft des Wahrheitskreises. Wie abzusehen war, verlor er diesen Kampf. »Ja.« »Gut zu wissen«, sagte Teysa. »Sie werden einen ange messenen Marktpreis dafür verlangen? Und entweder genügend davon zusammenbrauen oder bei Ihren Genos sen im Kombinat einen ausreichenden Vorrat bestellen, solange ich mich als Baronin von Utvara in dieser Sied lung aufhalte?« 243
»Wer bestimmt, welcher Marktpreis angemessen ist?« »Der Markt natürlich, Doktor. Und wie Sie sicherlich wissen, ist das ein Gebiet, in dem wir Orzhov uns beson ders gut auskennen«, erläuterte ihm Teysa, als wäre er ein Kind. Sie trat in den Wahrheitskreis. »Aber er wird wirk lich angemessen sein.« »Das reicht mir«, sagte der Vedalken. Teysa nickte und trat wieder aus dem Kreis, um wieder mithilfe ihres Stocks hin- und herzumarschieren. »Nun zu meiner nächsten Frage, Doktor«, sagte sie. »Ich nenne es einfach mal eine Wiedervorlage aus unserer gestrigen Unterhaltung. Ich hatte Sie gefragt, ob Sie ein Heilmittel gegen die Kuga-Seuche entwickeln könnten. Sie sagten, dass Sie davon ausgingen, das hinzubekom men. Aber dann habe ich mir überlegt, wie lange Sie schon hier sind. Und das, was ich in Ihrem Labor gesehen habe, war sicher nur ein kleiner Teil der Projekte, an denen Sie gearbeitet haben. Ich glaube, ich habe gestern einfach die Frage falsch gestellt.« »Aber die Objekte im Labor sind doch nur dazu da, um Eindruck zu schinden!«, sagte der Doktor. »Das eigentliche ...« Er versuchte aufzustehen, aber Teysa drückte ihm das Ende des Stocks gegen die Brust und nagelte ihn mühelos auf seinem Stuhl fest. »Das eigentliche Labor habt Ihr noch gar nicht gese hen«, beendete er seinen Satz. Er klang gleichzeitig be schämt und enttäuscht. »Das habe ich mir schon fast gedacht«, sagte sie und holte zu ihrem Coup aus. Eigentlich hatte sie den Wahr 244
heitskreis nur für diese eine Frage gezogen. »Dr. Nebun, haben Sie denn bereits ein Heilmittel gegen die KugaSeuche gefunden?« »Ich ... ich kann doch nicht ...« mühte sich der Doktor und fluchte dann. »Ja, das habe ich. Ich habe genügend Arznei, um jeden Mann, jede Frau, jedes Kind aller emp findungsfähigen Spezies in diesem Tal.« »Und wo ist sie?«, fragte Teysa. Der Vedalken legte seinen Notizblock weg und zog sei nen Umhang beiseite. In kleinen Lederbeuteln hingen da ungefähr zwanzig kleine Glasröhrchen. »Ich trage sie immer bei mir. In jedem Röhrchen ist genügend Medizin, um mehrere hundert Leute zu heilen. Es ist nur wichtig, dass alle Leute im Tal es innerhalb von wenigen Stunden verabreicht bekommen.« »Hervorragend«, sagte Teysa. »Ich kaufe alles. Klingt ei ne Million Zidos gut?«
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Kapitel 9
H
Ein guter Gastwirt vergisst nie ein Gesicht, einen Namen oder ein Getränk. Wenn du alle drei miteinander richtig kombinieren kannst, hast du dir einen Stammkunden er schaffen. »Muck« Mukoz, Gründer der Gewerkschaft der Schankwirte Wie man sich am besten um seine Gäste kümmert (3. Aufl.)
2. Cizarm 10012 Z. C. Die Ogerin stellte Pivlic wieder sanft auf seine eigenen Beine. Der Bold schwankte noch ein wenig. Man konnte nur an der Stimme erkennen, dass es sich um einen weiblichen Oger handelte, da der unförmige Schutzan zug, den sie trug, jegliche Spuren von Weiblichkeit verbarg, die bei Ogern eh schon spärlich gesät waren. Kos beruhigte das Dromad, während die Ogerin den anderen Schürfern Zeichen gab, dass es falscher Alarm gewesen sei. Sie drehte den Bold um seine Achse, um sich durch das Helmvisier dessen Gesicht näher anschauen zu kön nen. Garulsz selbst trug einen viel größeren Helm mit etwas getöntem Visier und musste leicht blinzeln, aber schließlich erkannte sie ihn. »Das doch dieser Bold ist!« 246
»Ja«, sagte Pivlic. »Pivlic der Bold, Eigentümer und Wirt des Gasthofs »Zum Geflügelten Bold«, pflichttreues Gil denmitglied der Orzhov von gutem Ruf und Diener der Familie Karlov.« Bei Pivlic klang diese Selbstvorstellung fast wie eine Drohung. »Und du bist ...?« »Pivlic, darf ich vorstellen, das hier ist Garulsz«, sagte Kos, der vom Rücken des Dromads herunterglitt, ohne die Zügel loszulassen. »Ihr beide seid euch wahrschein lich nie begegnet, wenn ich genauer darüber nachdenke.« »Den Namen habe ich schon einmal gehört«, sagte Piv lic. »Aber ich kann das Gesicht nicht einordnen. Und ich vergesse kein Gesicht, das ich je gesehen habe. Und so eines würde ich schon gar nicht vergessen.« »Garulsz. Hab früher das Achterwasser gehabt, in der Stadt«, sagte Garulsz. »Freue mich. Freund von Kos auch Freund von Garulsz. Kos guter Mann, guter Wojek. Hat Zeche bezahlt, bevor Stadt verlassen.« »Ach, das Achterwasser«, sagte Pivlic. »Ich kann mich erinnern, dass wir einen Zweikampf um Kos’ Leber ge führt haben. Aber ich befürchte, dass wir beide verloren haben, meine liebe Ogerin. Er trinkt jetzt nur noch Din din-Saft, nichts anderes mehr.« »Bleib mal bei der Sache, Pivlic«, sagte Kos schroff. »Garulsz, wir sind auf der Suche nach einer bestimmten Goblin-Frau. Wir sind gerade im Dienst. Wir wollen nicht schürfen. Dafür hoffe ich, dass du wenigstens ein wenig Glück gehabt hast. Ja?« Er freute sich richtig, das sagen zu können. Im Dienst zu sein. An einem Fall dran, hätte er beinahe gesagt, aber auch so klang es schon gut. Er hatte 247
zu lange bei Pivlic gearbeitet, zu lange Kneipenprügeleien aufgelöst und Betrunkene zur Tür gebracht. Er brauchte wieder einen Fall. Fast erwartete er, dass sein Herz schneller schlagen würde, aber der Herzrhythmus blieb unverändert. Der kurze Kampf von gerade eben war das Aufregend ste, was er seit Jahren erlebt hatte. Er durfte keinen Heiltropfen mehr verwenden. Na und? Der Trick war, gar nicht erst verletzt zu werden. Kos, alter Mann, du warst viel zu vorsichtig. Oder hatte er schon so viel von der Seuche abbekom men, dass er erste Wahnvorstellungen bekam? Jedenfalls fühlte er sich wie in einem Rausch. Und sein Herz hatte tadellos mitgespielt. »Ein bisschen Glück«, sagte Garulsz stolz. »Wie? Ich dich veräpple? Du bist Kos! Du immer alles weißt, was Garulsz denkt. Du guter Wojek! Ja, bei uns es läuft gut. Kannst du riesigen Schürfer sehen, größer als andere? Wir haben Ader gefunden. So etwas wie ...« Plötzlich warf die Ogerin Pivlic einen misstrauischen Blick zu und schaute dann Kos an. »Du sicher, dass du für Bold bürgst?« »Pivlic ist jetzt mein neuer Boss, ob du es glaubst oder nicht«, sagte Kos. »Ich würde nicht für ihn arbeiten, wenn ich nicht auch für ihn bürgen würde.« »Wie großmütig«, sagte Pivlic trocken. »Und wenn er auch nur versucht, aus irgendetwas, was du uns erzählst, einen persönlichen Vorteil zu ziehen, ver rate ich dir, wo er seinen Geldtresor stehen hat«, sagte Kos. »Das würdest du nicht!«, keuchte Pivlic. 248
Kos nickte. »Doch! Und die Kombination gleich dazu«, »Ich glaube, wir müssen uns mal dringend unterhal ten«, murmelte Pivlic leise. »He! In Ordnung«, sagte die Ogerin. »Wir glauben, wir gefunden alte Bank oder so ähnlich. Ist eine große Gold ader, und Garulsz und ihre Kusine und ihre Arbeiter«, sie zeigte mit ihrer warzigen Hand auf den anderen Oger und die bewaffneten Wachen, »verwenden Schatz zum Kau fen von noch größerer Förderanlage, um herauszuholen noch mehr.« »Das klingt, als ob du genug Geld gemacht hast, dass es bis zum Ende deines Lebens reicht«, sagte Kos. »Und alles mit einem bisschen harter Arbeit. Eine echte Bank?« »Wenn du eine Bank gefunden hast, Ogerin, solltest du den Orzhov Bescheid geben«, sagte Pivlic. »Es gibt im Archiv zweifellos alte Unterlagen darüber.« »Pivlic, lass gut sein. Ich habe dafür gebürgt ...« Kos hatte plötzlich das Gefühl, dass sich irgendetwas in seiner Kehle verfangen hatte, und begann zu husten. Nach ein paar Sekunden war es vorbei, aber Kos fühlte sich wie benommen. »Tut mir Leid«, sagte er und zeigte auf seinen kahlen, ungeschützten Kopf. »Kein Helm mehr.« »O nein!«, sagte Garulsz. »Das alles Garulsz’ Schuld! Ich dir holen einen neuen.« »Lass mal gut sein«, sagte Kos und fügte dann hinzu: »Ich bezweifele, dass ihr überhaupt einen habt, der mir passen würde.« Er warf einen Blick auf die beiden Viashi no und den anderen Oger, die Kos und den Bold skep tisch betrachteten, obwohl Garulsz ihnen ein Zeichen 249
gegeben hatte, dass alles in Ordnung sei. Sie verstanden anscheinend Ravi, jedenfalls hatten sie Pivlic nicht mehr aus den Augen gelassen, seitdem er das Orzhov-Archiv erwähnt hatte. »Außerdem werde ich sowieso nicht lange hier draußen sein. Du wärst uns eine große Hilfe, wenn du uns einen Tipp geben könntest, wo die Utvara-Gruul zurzeit ihr Lager aufgeschlagen haben. Ich habe sie zwar vor ein paar Tagen mal entdeckt, aber das Lager scheint verlegt worden zu sein.« Er brauchte nicht alles zu erzäh len, was er beobachtet hatte – nicht jeder musste von dem Gefangenen oder von dem wilden Streit zwischen dem Zentauren Trijiro und dem Räuberhauptmann Vor Golozar wissen. Kos kannte Golozar von dessen seltenen Streifzügen in die Stadt. Er hatte nicht den Eindruck, dass Golozar einen schlechten Charakter hatte, aber der Mann war im Geflügelten Bold äußerst streitsüchtig gewesen. Es war besser, das gegenüber Garulsz nicht zu erwähnen. Die Ogerin war schon immer etwas beschützend gewesen und würde wahrscheinlich mitkommen wollen. Und wenn sie mitkam, würden sie das Lager wohl nie finden. Oger fielen irgendwie immer auf. »Oh, na klar«, sagte Garulsz. »Wir sie haben immer im Auge. Sie nach Norden ziehen. Nimm nicht normalen Weg in die Huske.« Sie legte Kos jovial den Arm um die Schulter und zeigte auf einen Fleck in der Huske, der so weit im Norden war, dass man dort vor lauter Seuchenwind nichts mehr erkennen konnte. »Du dann dort gera de hindurch reiten musst. Siehst du kleinen Weg auf der Seite dort?« 250
»Ja.«
»Sie von da nicht weit weg sind«, sagte die Ogerin. »Sind gezogen vor wenigen Tagen dorthin. Aber ich auch andere Gruul gesehen.« »Was für andere Gruul?«, fragte Pivlic. »Die Gruul von Utvara sind zwar Wilde, aber als ich zuletzt Kontakt mit ihnen hatte, waren sie zumindest noch ein vereinter Clan, wenn ich mich recht erinnere.« »Du lange Sätze redest, Bold«, sagte Garulsz. »Aber du nicht so viel weiß wie Garulsz.« Sie drehte sich etwas nach Osten und zeigte auf ein Gebiet in der Nähe des Lagers, das Kos durch sein Fernrohr gesehen hatte. »Sie nicht lagern, nur plündern. Und ... suche richtiges Wort ... verfolgen. Verfolgen die anderen Gruul.« »Warum sollten sie das tun?«, sagte Kos. »Nicht wissen«, sagte Garulsz. »Ich jetzt Schürfer. Ich Leben in der Stadt aufgegeben, aber noch nicht genug daran gewöhnt, um in Huske zu gehen. Du denkst ich verrückt?« »Das sind alle Oger«, murmelte Pivlic. Garulsz warf ihm einen bösen Blick zu. »Was du hast gesagt, kleiner Bold?« »Das ist interessant«, wiederholte Pivlic lauter. »Erzähl weiter, Ogerin.« »Das ich tue«, antwortete Garulsz unbeirrt. Oger verfüg ten zwar über eine überraschend feine Nase, aber das Gehör war weniger gut ausgeprägt, besonders unter ei nem Helm aus Invizomizzium. Kos wünschte sich, er hätte die Zidos gehabt, um sich 251
ebenfalls einen aus Invizomizzium zu kaufen, aber es hatte nur für den billigeren aus Kristall gereicht. Und jetzt hatte er gar keinen Helm mehr. Er musste wieder husten, unterdrückte es aber, bevor es überhand nahm. Er be mühte sich, seinen Puls unter Kontrolle zu bekommen, und hatte wenigstens damit Erfolg. »Hast du jemanden in der anderen Gruppe erkannt?«, fragte er, um die Ogerin wieder zurück zum Thema zu lenken. »Nein, aber waren keine Oger«, antwortete Garulsz. »Wenn du da hingehst, du vorsichtig. Du Garulsz’ Lieb lingswojek!« »Ich könnte wetten, dass ich die Hälfte deiner Ausgra bung hier mit meinem Bumbatkonsum finanziert habe«, sagte Kos. »Vielleicht sollen wir uns mal über einen Anteil unterhalten.« »Ha!«, sagte Garulsz. Der Klang des kurzen Auflachens brachte das metallische Fördergerät hinter ihr zum Vi brieren. »Guter Witz, Kos.« Kos musste wieder husten, worauf sie plötzlich sehr ernst klang. »Du nicht herum bummeln ohne Helm. Du auch nicht jünger.« »Vielen Dank für die Blumen«, keuchte Kos, nachdem er die Hustenattacke wieder unter Kontrolle hatte. »Pivlic, es geht weiter.« Er hievte sich zurück in den Sattel des Dromads. Ohne zu fragen, hob Garulsz den Bold hoch und setzte ihn hinter den pensionierten Wojek. Das Dro mad wedelte mit dem dicken Schweif glücklich hin und her. Es schien zu ahnen, dass es weiterging. »Pass auf – auf dich, Kos!«, sagte Garulsz. »Komm uns 252
besuchen mal wieder.« »Und du nimmst dir hoffentlich mal die Zeit, um im Geflügelten Bold vorbeizuschauen«, sagte Kos. »Ich bin eigentlich immer da.« »Jedenfalls wenn wir geöffnet haben«, fügte Pivlic hin zu. »Bis später, Garulsz.« Kos winkte zum Abschied. »He, ihr beiden Thrulls, kommt ihr auch?« Die Grugg-Brüder knurrten zustimmend. Sie trabten los, um die Dromadrei ter einzuholen, und schnatterten dabei aufgeregt. »Und jetzt, Kos?«, fragte Pivlic. »Was machen wir mit diesen anderen Gruul?« »Jetzt reiten wir erst einmal«, sagte Kos und klopfte auf den Knallstab, den er wieder auf dem Rücken festgebun den hatte. »Über den Rest machen wir uns Gedanken, wenn wir dort angekommen sind.« »Habe ich schon erwähnt, dass ich für diese Art Auftrag eigentlich nicht gemacht bin?«, sagte Pivlic. Kos nickte. »Das Gefühl habe ich auch.« Er zwang den nächsten Hustenanfall hinunter. Mit leichtem Druck sei ner Absätze trieb er das Dromad an. Hinter ihnen blieb nur eine rote Staubwolke in der Luft zurück.
K
Melisk war nicht da, als Teysa zurückkehrte. Er antworte te weder auf ihre lauten Rufe, noch hatte sie ihn finden können, als sie im zweiten Stockwerk des Geflügelten Bolds von Raum zu Raum gegangen war. Zurück in ihrem 253
improvisierten Büro, krempelte sie die Ärmel hoch und berührte den mittleren Stein. Damit konnte sie herauszu finden, wo sich ihre eingeschworenen Diener befanden. Sie flüsterte »Melisk« und verspürte sofort den Drang, in Richtung der südöstlichen Zimmerwand zu schauen, hinter der die Elendsviertel lagen, die Gegend, wo sie ihre Villa gebaut haben wollte. »Du bist hoffentlich auf einer wichtigen Mission, die dir beim Bekämpfen des Papier krams hilft, Majordomus«, sagte Teysa. »Langsam machst du mir wirklich Sorgen.« In diesem Augenblick hörte sie eine gedämpfte Stimme aus dem Vorzimmer. Sie konnte nicht genau hören, was gesagt wurde, aber am Tonfall und an der Lautstärke erkannte sie den Sprecher. Sie ging durch den Raum und öffnete die Tür zum anderen Zimmer, wo sie den Spiegel aufbewahrt hatte. »Er ist unterwegs«, sagte der Spiegel, sobald sie die Tür geöffnet hatte. »Dein Handwerker, dieser Halbdämon, kam vorbei und hatte einige Fragen zu den Plänen für deine neue Villa. Und Melisk ist mitgegangen, um alles zu klären.« »Warum glaube ich dir nicht, Onkel?«, sagte Teysa. »Das weiß ich nicht. Vielleicht liegt es ja an meinem unsterblichen Ruf«, antwortete der Spiegel. »Aber ich spreche die Wahrheit. Genau das ist passiert.« Teysa wünschte sich, dass es möglich wäre, einen Geist in einen Wahrheitskreis zu stecken. Aber selbst wenn Onkel noch leben würde, hätte es nicht funktio niert. Und da sich sein Geist auf magische Weise im Ob 254
zedat in der Stadt der Gilden materialisiert hatte, nach dem Onkel von den Gruul ermordet worden war, hatte sie auch kaum die Möglichkeit, es zu versuchen. Teysa ent schloss sich, die Sache erst einmal fallen zu lassen. Sie konnte mit Melisk später immer noch direkt darüber reden. Oder sich von Aradoz, dem Halbdämon, die Ge schichte bestätigen lassen. »In Ordnung«, sagte sie. »Bitte entschuldige mich jetzt. Ich bin nicht ganz auf der Höhe. Ich habe eine neue Arz nei gegen meine Ohnmachtsanfälle bekommen.« »Ach, war der Simic doch zu etwas nütze?« Onkels Ge sicht im Spiegel war von einer weißen Maske verdeckt, aber trotzdem konnte man ein Lächeln entdecken und ein leises Kichern hören. »Gut zu wissen. Ich hatte schon befürchtet, dass dieser hinterhältige Angriff der Gruul dich mehr gekostet hat als uns andere.« »Es hat dich dein Leben gekostet«, sagte Teysa. »Aber nur mein sterbliches Leben«, entgegnete Onkel. »Ein neues Leben breitet sich gerade vor mir aus. Der Simic – vertraust du ihm?« »Der Simic scheint sehr fähig zu sein und sich an die Wahrheit zu halten.« Aber nur, wenn er sich im Wahr heitskreis befindet, fügte sie im Stillen hinzu. »Aber nicht deswegen habe ich die Tür hier geöffnet, Onkel. Onkel, ich kann dir nicht sagen, wie sehr es mich schmerzt, es auszusprechen. Vor allem, da ich ja erst vor kurzem mit meinen Anstrengungen hier begonnen habe. Aber ich muss dich ... um Rat fragen.« »Hervorragend!«, sagte die Maske im Spiegel. »Und es 255
ist auch an der Zeit. Du brauchst nur zu fragen. Du weißt, dass ich dir nichts abschlagen kann, meine Liebe.« »Es ist etwas ungewöhnlich«, sagte Teysa. »Bist du al lein?« »Wer im Obzedat sitzt, ist nie allein«, antwortete Onkel. »Aber wir sind gerade unter uns.« »Gut«, sagte Teysa. Sie glaubte ihm zwar nicht, aber sie hatte nun einmal keine andere Wahl. »Es ist eine Frage, bei der es irgendwie um ... Moral und Geschäft geht.« »Du machst Witze«, kam es von der Maske zurück. »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« »Wie gesagt, es ist ein etwas ungewöhnlicher Fall«, sag te Teysa. »Ich habe die Möglichkeit, diese Seuche auszu rotten, eventuell schon innerhalb weniger Tage. Es kostet mich mehr als nur einen kleinen Teil meines persönli chen Vermögens. Aber es wird nur funktionieren, wenn alle Betroffenen ihre Medizin am gleichen Tag einneh men. Es liegt auf der Hand, dass dies die wertvollste Ware im ganzen Tal ist, was bedeutet, dass ich sie höchstbie tend verkaufen sollte. Aber wenn ich das tue, wird sie verschwendet, da die Seuche nicht ausgerottet wird, wenn nicht jeder die Medizin einnimmt.« »Und die Gruul, die mich erschlagen haben?«, sagte Onkel durch den Spiegel. »Würdest du sie auch ihnen verabreichen?« »Ich glaube, das ist eine Aufgabe für meine Taj. Ich ha be sie bereits dafür vorgesehen, befürchte aber, dass ich nicht genügend Kapazitäten habe, um alle Gruul zu tö ten«, sagte Teysa. »Obwohl wir natürlich auch Rachever 256
träge ausschreiben könnten, sobald wir uns keine Gedan ken mehr über die Seuche machen müssen.« »Genau deswegen habe ich dich für dieses Projekt aus gesucht, mein Kind. Du denkst immer auch langfristig. Aber wir haben hier ein Dilemma, oder?«, sagte der Spie gel. »Verrat mir eines – warum willst du überhaupt, dass diese Seuche vernichtet wird?« »Jetzt scheinst du Witze zu machen«, sagte Teysa. »Es ist eine Seuche. Wie soll ich diesen Ort in einen Zustand bringen, sodass er in einem Jahr vom Gildenbund aner kannt wird, wenn ich die Seuche nicht möglichst schnell loswerde? Unbestätigte Behauptungen über selesnijani sche Heilmittel werden da wenig helfen.« »Nun, die Selesnijaner scheinen zu glauben ...« »Onkel, bitte«, sagte Teysa. »Du kannst doch unmöglich vorschlagen, dass ich mich auf diese Dummköpfe, diese Anhänger des Lebens verlasse, wenn es um die genaue Zeitplanung hier geht. Und selbst wenn ihr Vitar Yescu es irgendwie schafft, die Seuche auszulöschen, sobald Hauc den Kessel unter Volldampf hat: Ich – also wir, die Fami lie, wären ihnen dafür verpflichtet.« »Aha, dein Antrieb ist also doch, ein paar Zidos dabei herauszuschlagen«, sagte der Spiegel. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Ich muss dir sagen, dass Men schenfreundlichkeit nicht gerade eine Eigenschaft ist, die ich fördern würde, wenn du eines Tages so wie ich enden willst.« Wie er. Ein Geisterfürst. Ein unsterblicher – solange die Zidos ausreichen würden – Patriarch im Obzedat. Aus 257
irgendeinem Grund war Teysa nicht mehr so scharf dar auf wie früher, die erste Matriarchin im Geisterrat zu sein. Aber er hatte Recht. Allein der Gedanke, die Medizin ein fach zu verschenken, verursachte bereits Schmerzen in ihrem Orzhov-Blut. Sie hatte sich bisher noch nie gegen ihr Blut gestellt. Jedenfalls nie so sehr. Trotzdem war sie überrascht, wie nebensächlich Onkel darüber sprach, die Medizin gegen die Seuche auch mit den Gruul zu teilen, die ihn umge bracht hatten. Sie hatten ihn doch getötet, oder? Zum ersten Mal, seit sie den Simic-Arzt verlassen hatte, flackerten ihre Kopf schmerzen wieder auf, zwar nicht stark, aber beharrlich. Sie wurden weder von einem Ohnmachtsanfall noch von Benommenheit begleitet – da war nur ein kleiner Schmerz, der ihr sagte, dass hier etwas nicht stimmte. »Es werden sich immer Lösungen finden lassen, wie sie für deine Medizin bezahlen können«, fuhr die Stimme im Spiegel fort. »Es kann natürlich etwas länger dauern, aber du bist ja schließlich eine Advokatin, wie du mir immer wieder gesagt hast. Da müssen entsprechende Verträge aufgesetzt werden, bindende Vereinbarungen getroffen und langfristige Zahlungsziele abgemacht werden. Handel zwischen den Gilden bedeutet ein heiliges treu händerisches Vertrauen, meine Liebe. Er unterscheidet sich nicht von den Gesetzen, er ist im Gesetz festge schrieben. Und so wirst du auch dein Problem lösen.« »In anderen Worten – ich soll es machen?«, fragte Tey sa skeptisch. 258
»Natürlich«, sagte Onkel. Konnte sie ihm trauen? Teysa war sich da nicht so si cher. Der Schmerz in ihrem Blut und der in ihrem Kopf behaupteten das Gegenteil. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte sie, diesmal laut. »Wie kommst du darauf?«, fragte das Gesicht mit der Maske. »Es liegt an...« Dir, wollte sie sagen, dir und Melisk und dieser ganzen Geschichte hier. Es liegt daran, dass ich mich erinnere, dass die Gruul dich getötet haben, aber immer wenn ich versuche, es mir vor Augen zu rufen, bekomme ich Kopfschmerzen. Und auch daran, dass die Schmerzen schlimmer geworden sind, seit mir der Simic die neue Me dizin gegeben hat. Aber sie besann sich eines anderen. »Es liegt an Melisk. Ich vermute, er hat eigene Pläne und will mich hintergehen. Mein Blut sagt mir, dass irgendetwas ... mit ihm nicht stimmt.« Die Maske im Spiegel lächelte plötzlich nicht mehr und blieb für eine kleine Weile still. Schließlich sagte Onkel: »Du bist davon überzeugt, oder?« »Mit jeder Sekunde mehr«, sagte Teysa. »Aber ich mer ke, dass du auch darauf bereits eine Antwort parat hast. Was ist es, Onkel? Was weißt du?« Das Bild der Maske im Spiegel verschwamm für einen Moment, und sie glaubte, weitere Stimmen aus dem Spie gel zu hören, unterschiedliche, uralte Stimmen. Nach fast einer Minute wurde die Maske wieder deutlich, und das Lächeln kehrte auch wieder zurück. »Wenn du es wirklich wissen willst, Teysa Karlov, dann 259
solltest du aber auch wissen, dass diese Information ihren Preis hat. Wir verlangen von dir absolute Loyalität, du musst dich ganz dem Willen des Obzedat verpflichten.« Konnte der Geisterrat das wirklich verlangen? Konnte sie durch eine mündliche Vereinbarung dauerhaft dem Rat unterworfen sein? Sie war sich dessen nicht ganz sicher, aber möglich war es immerhin. Sie wusste jedoch, dass es sie auf jeden Fall verrückt machen würde, falls sie nicht herausfand, was hier gespielt wurde. Teysa wollte es wissen, und zwar jetzt. Diesmal stimmte ihr Blut ihr zu und sagte ihr, dass es der richtige Weg sei. »Ihr habt«, sagte Teysa, »meinen Treueschwur. Wie immer.« »In Ordnung«, sagte der Spiegel. »Hör genau zu.« Teysa lockerte ihre hinter dem Rücken gekreuzten Finger wieder und hörte genau zu.
K
Kos und Pivlic brauchten den größten Teil des Tages, um bis an den Rand der Sandebene zu kommen. Nachdem ein weiterer größerer Hustenanfall Kos so sehr geschüt telt hatte, dass er dabei beinahe Pivlic aus dem Sattel geworfen und die Aufmerksamkeit einiger kreisender Aasgeier auf sich gezogen hätte, konnte ihn der Bold da von überzeugen, sich wenigstens einen Schal über das Gesicht zu binden. Der alte Wojek hatte das gemacht und festgestellt, dass der Schal tatsächlich das Husten verhin derte. Möglicherweise war es das erste Anzeichen der Infektion, vielleicht waren aber auch einfach nur der 260
Sand und der Staub schuld gewesen. Kos ließ seinen Blick über die Gegend schweifen. Sie waren am Ende der Straße angekommen, und Kos suchte nach dem Pfad, den Garulsz ihnen empfohlen hatte. »Dort drüben«, sagte er und zeigte auf zwei verrostete und zer klüftete Bergspitzen, die so aussahen, als hätten sie früher einmal zusammengehört, bevor sie hitzebedingt ausein ander gebrochen waren. »Zwischen den beiden da müs sen wir hindurch.« »Schafft das Tier es dort hoch?«, fragte Pivlic. »Das ist wirklich nur ein Trampelpfad.« »Nein, ich glaube nicht, dass das gut geht«, sagte Kos. Dromads waren keine guten Kletterer. »Also, Garulsz hat ja nichts anderes gesagt, als dass es ein Pfad ist. Ich hatte nur gehofft, dass er breit genug ist.« Er tätschelte den Hals des Dromads und lehnte sich nach vorn, um dem Tier ins Ohr zu flüstern. »Na, was meinst du, mein Mädchen?« Das Dromad wieherte. Kos seufzte. Seine Beine waren nicht mehr so gut in Form wie früher, aber er würde es auf jeden Fall einfacher haben, den Weg zu finden, wenn er zu Fuß unterwegs war. Andererseits wollte er das Dromad aber auch nicht freilassen – einen Rückweg zu Fuß durch die Sandebene würde er möglicherweise nicht überleben. Jedenfalls nicht, solange er sich nicht Gruul-Flechten auf die Haut binden wollte, um die Auswirkungen der Kuga einzudämmen. Dazu war er immer noch nicht bereit, und außerdem müsste er dafür erst einmal einen Gruul fin den, der genug Pilzflechten bei sich hatte, um ihm welche abzugeben. Und außerdem hatte er das Dromad bereits 261
ins Herz geschlossen. Kos drehte sich zu den Thrulls um. Die Baronin hatte behauptet, dass Bephel, der wie ein ausgeflippter Viashi no aussah, der Klügere von beiden sei. »Bephel?«, sagte Kos. Der Thrull mit dem stachligen Reptilienschwanz hüpfte zu ihm herüber. Das Dromad reagierte nicht besonders, als das Wesen zu ihnen hüpfte, das war schon einmal ein gutes Zeichen. Und wenn der Thrull jetzt auch noch so gut Befehle entgegennehmen konnte, wie die Baronin das angedeutet hatte... »Was machst du da, Kos?«, fragte Pivlic, als der alte Wojek vom Dromad herunterrutschte. »Oje – wir müssen tatsächlich laufen?« Kos hob den Bold aus dem Sattel und stellte ihn auf den Boden. »Genau.« Er drehte sich wieder zu dem Thrull. »Bephel«, sagte er. »Du hältst diese Zügel hier fest und sorgst dafür, dass das Dromad nicht wegläuft. Hast du das verstanden? Kriegst du das hin?« Der Thrull nickte und antwortete zu Kos’ Überra schung in Ravi, wenn auch schwer akzentbehaftet. »Klar kriegt Bephel das hin. Denkst du Bephel ist Tier oder so? Alter Mann verletzt Bephel!« Mit einem verschlagenen Blick und Verschwörerstimme fragte er: »Kann ich es fressen?« »Nein, du sollst es nicht fressen«, sagte Kos, der dank bar war, dass das Wesen tatsächlich sprechen konnte. Er hatte angenommen, dass Bephel wie der Rest seiner Art der Sprache nicht mächtig war. Jetzt war er über seinen Irrtum froh. »Falls du das tust, werden hinterher nicht 262
mehr genügend Stückchen von dir übrig sein, um dich wieder zusammenzusetzen, das verspreche ich dir. Halte es einfach hier fest und warte auf uns. Deinen Bruder nehmen wir mit uns mit. Eigentlich solltest du hier sicher sein, aber wenn irgendjemand aus einer dieser Minen kommt und dir Ärger macht, dann ...« Dann was?, fragte Kos sich selbst. Er wollte nicht, dass der Thrull unschul dige Schürfer angriff, noch nicht einmal zur Selbstvertei digung. Nicht, solange er hier das Kommando hatte. »Wenn irgendjemand dir Ärger macht, dann bring das Dromad zurück zu deiner Baronin.« »Baronin!«, sagte der Thrull, und auf seinem seltsamen dreieckigen Gesicht erschien eine Art Lächeln. »Wir soll ten gehen jetzt zu ihr!« »Nein, sie hat euch doch gesagt, dass ihr tun sollt, was ich euch sage, oder?« vergewisserte sich Kos. »Äh ... ja«, sagte der Thrull zögerlich. »Also gehst du hier nur weg, wenn du tatsächlich be droht wirst«, sagte Kos bestimmt. »Und wenn wir zurück kehren, dann gehen wir alle zusammen zur Baronin.« »So ist’s!«, sagte der Thrull, der bereits ein Auge auf die Flanken des Dromads geworfen hatte. »Und du da ...« Wie war noch einmal der Name? Kos bemühte sich, ihn aus einer verborgenen Ecke seines Ge dächtnisses herauszukramen. Die Namen all dieser Thrulls waren sich viel zu ähnlich. »Ach ja, Elbeph, stimmt’s?« »Er nicht spricht«, sagte Bephel hilfsbereit und drehte einen Finger neben seinem Ohr. »Nicht gut spricht wie Bephel.« 263
»In Ordnung«, sagte Kos. »Aber er kann Geräusche ma chen, oder? Ein paar Worte? Kannst du ihm Sachen bei bringen?« »Klar das«, sagte Bephel. »Er nicht klug wie Bephel, aber er kann hören. Und kann springen.« Wie auf Bestel lung fing der andere Thrull an, zu plappern und auf sei nen Froscharmen herumzuspringen. Kos seufzte. »Elbeph, du bleibst bei Bephel.« »Genau, dann kann ja nichts schiefgehen«, sagte Pivlic. »He, wir sind hier, um zu dienen, Pivlic«, sagte Kos. »Ist das nicht einer deiner Sprüche? Wir sind alle Orzhov und so?« »Stimmt«, sagte der Bold und stöhnte. »Also, wollen wir endlich losgehen?« Der Pfad war nicht so gefährlich, wie er ursprünglich gewirkt hatte, aber doch deutlich zu eng für eine Dromad mit zwei Reitern. Es schien, dass es hier überhaupt nur deswegen einen Pfad gab, weil er zwischen verrosteten, umgefallenen Säulen verlief, die so perfekt aneinander gelegt waren, als hätte ein Riese vor langer Zeit mal nichts anderes zu tun gehabt. Die Säulen bildeten eine hervorragende Trasse, aber Kos war trotzdem vorsichtig, da es auf beiden Seiten des Wegs einige klaffende Stellen gab, die wahrscheinlich tief in den Boden reichten. »Warum fliege ich eigentlich nicht«, sagte Pivlic wieder einmal, nachdem sie eine besonders schwierige Kletter partie über einen riesigen Felsen geschafft hatten, bei dem es sich früher sicher einmal um ein großes Rohr oder den Teil eines Kanals gehandelt hatte, der jetzt aber 264
nichts als ein verrostetes Hindernis war. »Dieser Schutz anzug ist ein Fegefeuer von einem Gefängnis, mein Freund!« »Es reicht, wenn einer von uns beiden der Kuga ausge setzt ist«, sagte Kos und zog den Bold zu sich hoch. »Mei ne liebe Güte ...« »Was ist?«, sagte Pivlic. »Was siehst du da?« »Ich glaube«, sagte Kos, »dass wir sie gerade gefunden haben.« Er zeigte auf einen Abschnitt des Pfads, der etwa vierhundert Meter von ihnen entfernt war. Dort tauchten über einem Kamm gerade ein Oberkörper und ein Kopf mit breiten, spitzen Ohren auf. Das musste ihr verloren gegangener Goblin sein! Und direkt hinter ihr kam ein riesiger, fast am ganzen Körper mit Antigen-Pilz bedeck ter Mann, der immer wieder über die Schulter nach hin ten schaute. So schnell, wie die beiden unterwegs waren, mussten sie rennen, was in der Huske nicht gerade das sicherste Vorgehen war. Hier rannte man nur, wenn man genau wusste, wohin man unterwegs war oder wenn etwas oder jemand hinter einem her war. Kos wurde es langsam immer mulmiger, ihm schwan te, dass Gefahr drohte. Er suchte den Weg ab, den das rennende Paar gerade gekommen war. Der große Mensch war definitiv Vor Golozar, seine einzigartigen Tätowie rungen waren eindeutig. Tatsächlich waren da weitere Schatten zu sehen. Es handelte sich ebenfalls um Gruul, aber sie waren bleich, abgezehrt und sahen hungrig aus. Er kam bei einer schnellen Zählung auf zwei Dutzend, die wie Ameisen um und über die Steine und korrodierten 265
Hindernisse kletterten. Kos warf einen Blick auf den Pfad, auf dem sie sich ge rade befanden. Es sah so aus, als ob er ein paar hundert Meter weiter auf den Weg treffen würde, auf dem sich die Rennenden gerade befanden. Auch wenn es noch so ge fährlich war, in der Huske zu rennen – jetzt hatten sie keine andere Wahl. Wenn sie dem Kurier jetzt nicht ent gegeneilten, würden ihn die bleichen, böse wirkenden Gruul zuerst erreichen. Und da Golozar, der einer der tapfersten Gruul war, den Kos je kennen gelernt hatte, mit so hoher Geschwindigkeit vor den anderen davon rannte, gab es keinen Zweifel, was mit dem Kurier ge schehen würde, wenn die bleichen Verfolger ihn zuerst erreichten. Er war immer noch etwas überrascht, Golozar als Begleitung des Goblins zu sehen, aber eigentlich hätte er das nicht sein müssen. Golozar hatte auf seine eigene Weise so etwas wie Ehre im Leib, ebenso wie der vertrau enswürdige Trijiro. Es gab einige Gründe, warum Kos dem Räuberhauptmann der Gruul vertraute, aber die reich ten bis in die Stadt der Gilden zurück, und nicht viele, noch nicht einmal Pivlic, wussten darüber Bescheid. »Pivlic, siehst du das?«, fragte Kos. »Ich würde das gern verneinen«, sagte der Bold müde. »Du wirst jetzt verlangen, dass wir losrennen, oder?« Er bekam keine Antwort mehr, weil Kos schon von der umgefallenen Säule hinuntergesprungen war und den Hügel hinauflief, wobei er sich bemühte, die Risse und Spalten zu vermeiden. In der Hand hielt er bereits einen Knallstab. 266
»Ich hätte nie die Stadt verlassen sollen«, sagte Pivlic. Er überprüfte kurz, ob sein eigener Knallstab noch gesi chert war, und rannte dann hinter den beiden her.
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Kapitel 10
H
Täuschungsversuche fallen den Izzet nicht leicht. Vom mächtigsten Magierfürsten bis zum niedrigsten GoblinUntergebenen – ihr Verlangen zu prahlen ist zu groß. Wenn man mit ihnen handelt, hüte man seine Geheimnisse, denn sie werden das nicht tun. Patriarch Fautomni, Über die niedrigeren Gilden (4211 Z. C.)
2. Cizarm 10012 Z. C. Crix hätte überraschter als Golozar sein können, als der alte Mann und der Bold ihnen zu Hilfe eilten, aber der Gesichtsausdruck des Gruuls behauptete das Gegenteil. »Kos? Bist du das?«, brüllte Golozar, als der alte Mann in dem schlecht sitzenden Schürfer-Schutzanzug und dem um den Mund gebundenen Schal auf sie zulief. Die kleinere Gestalt, die sich bemühte, mit ihm Schritt zu halten, hatte ein schwarzes, lederiges Gesicht unter sei nem Kuppelhelm und schien eher das Fliegen gewohnt zu sein. Möglicherweise ein Bold. Aber Kos? Crix hatte von Kos gehört. Er war ... Er war gerade dabei, sie über den Haufen zu rennen. 268
Nein, er war gerade dabei, sie zu Boden zu werfen. Crix und Kos prallten gemeinsam auf den Boden. Der alte Mann drehte sich, um mit der Schulter den Aufprall abzufangen, als ein Schuss aus einem Knallstab direkt über sie hinwegging. »Hallo, Crix«, sagte Kos außer Atem. »Mein Name ist Kos, vom Zehnten Rev... Nein, streich das. Einfach nur ›Kos‹. Es gibt da einige Leute, die nach dir suchen.« »Ich bin ... Ich bin tatsächlich Crix. Nett, Sie kennen zu lernen, Herr Kos«, stammelte Crix. »Alles in Ordnung?«, fragte Kos. »Ja«, sagte Crix. »Gut. Ich glaube, der Schuss ist aus einiger Entfernung gekommen. Wir müssen schauen, dass wir hier weg kommen.« »Kos, was zum Teufel machst du hier eigentlich?«, brüllte Golozar. »Das hier ist nicht der Ort, wo du ...« »Erspare uns allen doch bitte deine stoische GruulRhetorik, mein Freund«, sagte der Bold, während er den Knallstab vom Rücken riss und durchlud. Er hob den Stab auf Augenhöhe und zielte auf einen steinigen Aufschluss hinter ihnen. Der Bold, der in dem Schutzanzug wie ein Kind oder ein kurzbeiniger Goblin wirkte, legte seinen Daumen auf den Abzug und drückte ab. Eine Millisekun de später war dort, wo zwischen den Felsen zuvor ein Humanoide gestanden hatte, nur noch ein Schmutzfleck. »Ein Scharfschütze«, sagte Golozar leise. »Hier ist irgen detwas falsch. Aun Yoms Gruppe ist nicht so groß. Ich zähle zu viele Köpfe.« 269
»Vielleicht hat er neu rekrutiert«, sagte Kos, der sich wieder aufrappelte. »Wohin wollt ihr überhaupt? Warum seid ihr nicht im Lager?« »Trijiro hat mich darum gebeten, diesen Goblin hier zum Kessel zu bringen. Glaub mir, ich werde sofort wie der zum Lager zurückkehren, sobald ich dieses Verspre chen erfüllt habe«, sagte Golozar. »Ihr seid allein unterwegs?«, fragte Pivlic. »Die anderen wurden getötet«, sagte der Gruul düster. »Ein Unfall, nicht Aun Yom«, mischte sich Crix ein. Sie suchte die Hügel hinter ihnen ab und fand dort keine weiteren Scharfschützen – aber einige von Aun Yoms Banditen waren bereits viel näher. »Vielleicht können wir den Rest der Geschichte später erzählen. Wir sind dicht genug am Kessel, dass ich uns wohl hinführen kann.« »Perfekt«, sagte Kos. »Aber führen wir die Verfolger dann nicht ebenfalls hin?« »Das könnte ein Problem sein«, gab Crix zu. »Wir müs sen sie eben vorher abschütteln.« »Vielleicht ...«, bekam Pivlic noch heraus, dann begann der Boden zwischen ihnen und Aun Yoms Gruppe zu beben. Zuerst dachte Crix, dass es sich um eine geother mische Entlüftung handelte – sie waren schließlich so nahe am Kessel, dass dies durchaus möglich war –, aber das rötliche, geschuppte Wesen, das aus dem frisch ge bildeten Krater in der Huske herausschoss, strafte den Gedanken sofort Lügen. »Nephilim!«, brüllte Golozar und zog den verdutzten Pivlic vom Rand der gerade mitten auf dem Weg neu 270
entstandenen Kluft weg. »Schon wieder einer? Der hier sieht ganz anders aus als der neulich!« »Jeder ist einzigartig«, sagte Golozar. »Sie sind uralt. Die Gruul haben sie früher als Gottheiten angesehen ...« »Früher?«, sagte Pivlic, der wieder zu Sinnen kam. »... bis wir gelernt haben, wie wir sie töten können«, beendete Golozar seinen Satz. »Sie töten?«, kreischte Crix auf. »Du musstest den letz ten in eine Fallgrube stürzen lassen! Du hast gesagt, dass es unmöglich sei, sie ...« »Ich habe nie gesagt, dass es ein Tod für alle Ewigkeit ist«, sagte Golozar. Crix konnte das kaum glauben. Der Nephilim sah wirk lich nicht wie ein Konstrukt aus. Bei ihm handelte es sich eher um eine kegelförmige Röhre aus rohen, freiliegen den Muskeln und Sehnen, die jetzt ihr riesiges, zahnge spicktes Maul in den Himmel reckte und ein klagendes Brüllen ausstieß. Das Geräusch war zu entsetzlich für Crix’ empfindliche Ohren. Sie fiel auf die Knie und um klammerte ihren Kopf mit den Armen. Der Nephilim schloss sein Maul mit einem Geräusch, dass wie ein dumpfer Glockenschlag klang. Dürre Beine schoben sich auf beiden Seiten des Körpers heraus, und zwei beunruhigend menschliche Hände pressten sich gegen die Seitenwände des Kraters, den das Wesen gera de erzeugt hatte. Als Crix sich wieder aufrappeln wollte, musste sie fest stellen, dass sie ihren Gleichgewichtssinn vollständig 271
verloren hatte. Sie schaffte es ganz kurz, sich aufzurich ten, bevor sie wieder auf den Rücken fiel. »Ich glaube, ich brauche Hilfe«, sagte sie. Kos hob sie mit beiden Händen hoch. »Ich glaube, wir müssen sie tragen«, sagte der alte Mann zu Golozar, der gerade dabei war, auf die seltsame, schädelförmige Schuppe über dem geifernden Maul des Nephilims zu zielen. Ob es das Gehirn war? Crix war sich sicher, dass das schreckliche Geräusch nicht nur ihr Gleichgewicht, sondern auch ihr Gehirn in Unordnung gebracht hatte. Aber jetzt war nicht der rich tige Zeitpunkt, um noch Beobachtungen zu Forschungs zwecken anzustellen. Es war vielmehr an der Zeit, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen. »Wie gut kannst du mit einem Knallstab umgehen?«, fragte Golozar, dessen Gesicht kurz orange aufleuchtete, als er einen Schuss auf den Nephilim abgab. Seine Stim me klang, als ob sie von weit weg käme. Das Geschoss prallte von der dicken Haut des Wesens ab, schien aber genügend wehgetan zu haben, um die Aufmerksamkeit der Bestie auf sie zu richten. »Ich glaube, das ist jetzt egal«, sagte Pivlic. »Schau dir das an.« Aun Yoms Gruul hatten ihr Tempo nicht gedrosselt, eher im Gegenteil. Sie versuchten auch nicht, den Nephi lim zu umgehen. Sie griffen ihn einfach an, als ob er ein normales Hindernis wäre, das man nur zerstören musste, um über es hinwegklettern zu können. »Was für eine furchtbare Taktik«, sagte Golozar. 272
»Meinst du?«, sagte Kos. »Du hast doch gerade eben das Gleiche gemacht.« Crix konnte den Rest der Diskussion kaum hören, ei nerseits wegen ihres hoffentlich nur vorübergehenden Hörsturzes, andererseits konnte sie sich auch nicht von der Szene losreißen, die sich vor ihr abspielte. Die Gruul-Verfolger griffen den brüllenden Nephilim nicht einfach nur an, sie schienen ihn zu verschlingen. Gezackte Klingen rammten sich in das Fleisch der riesi gen Kreatur, grünes Blut spritzte überall umher. Gut ge zielte Knallstabgeschosse prallten in das geöffnete Maul und traten am oberen Ende des augenlosen Kopfes wie der aus. Knochensplitter flogen in alle Richtungen, schleimige graue Masse sickerte auf den Boden. Als die Kreatur die Angreifer durch ruckartige Bewegungen ab zuschütteln versuchte und sogar die Beine einzog, um sich zurückzuziehen, fingen Aun Yoms Leute an, sie zu fressen. Sie rissen riesige Fleischklumpen aus dem Kör per des Wesens und stopften sie sich ins Maul. Drei Gruul kämpften um ein langes Stück Fleisch, das beunruhigend nach einer Riesenzunge aussah, und eines der drahtigen Beine war abgehackt worden. »Das ist die beste Ablenkung, die wir erwarten kön nen«, sagte Kos, der sich Crix auf den Rücken lud. »Kannst du mich hören, Crix? Gut festhalten!« Die Goblin-Frau versuchte, sich zu konzentrieren. Kos’ Manöver hatte dazu geführt, dass sich gerade wieder alles um sie herum drehte. Nur mit Mühe wurde es langsam wieder besser. Sie konnte Kos jetzt auch deutlicher hö 273
ren. »Ja«, sagte Crix. »Dort entlang.« »Ich habt die Dame gehört«, sagte Kos. »Hauen wir hier ab. Golozar, du passt hinten auf. Pivlic, du achtest auf Löcher, Risse oder Spalten auf dem Weg.« »Du kannst mir keine Befehle geben«, knurrte Golozar. »Ich bin nicht einer deiner Hilfs...« »Wir haben jetzt für solche Spielchen keine Zeit, Golo zar!«, sagte Kos. »Du und ich, wir beide wissen, dass du kein Hilfsirgendwas bist. Pass einfach auf, dass uns von hinten keine Gefahr droht, während uns Crix hier zum Kessel führt, in Ordnung?« Crix war überrascht, dass Kos’ Worte Wirkung zeigten. Golozar drehte seinen Knallstab, um ein neues Geschoss zu laden. Er nickte. »Gut, du sagst, wo es langgeht.« »Nein, sie bestimmt das«, sagte Kos. »Ich bin nur ihr persönliches Dromad.« Pivlic war bereits ein Stück vorausgelaufen. »Meine Freunde, wir sollten uns beeilen«, sagte Crix. Während sie den Pfad hinunterliefen, rief Crix Golozar zu: »Ich habe das Gefühl, dass die Gruul nicht das Gefähr lichste sind, was die Huske zu bieten hat.« »Noch nicht einmal ansatzweise«, antwortete der Gruul. »Aber sie scheinen den größten Hunger zu haben!«, fügte Crix hinzu. »Diese Wildheit kann ich nicht erklären«, sagte Golozar. »Aber sie beunruhigt mich.«
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Zomaj Hauc stürmte aus der Pyraquin und brüllte nach dem Oberbeobachter, in dessen Hände der Magierfürst das Kessel-Projekt gelegt hatte, während er mit anderen Geschäften in der Stadt der Gilden zugange war. Der Go blin war eher ein Wissenschaftler als ein Vorarbeiter, aber der bisherige Vormann war ja tot. Also hatte Vazozav als Ältester unter den Goblins die Aufgabe übertragen bekommen, in Haucs Abwesenheit die Leitung der Ar beitstrupps zu übernehmen. Der Magierfürst ignorierte die vielen Zurufe, die von al len Seiten kamen. Es schien, als ob ihn alle Goblins, an denen er vorbeikam, begrüßen wollten. Und es waren hunderte von ergebenen Goblins, die hin und her liefen, um wärmeisolierte Karren voll abkühlender Lava in Ener giebecken zu kippen, die an den Turbinen und Generato ren herumbastelten oder auch ganz einfache Aufgaben erfüllten, wie etwa das Messing zu polieren. Alle diese Tätigkeiten waren wichtig, um einen reibungslosen Ab lauf zu gewährleisten. Ein paar Goblins, die gerade Pause zu haben schienen, standen an einer Reling und blickten in die Mitte des Kessels, wo große eiförmige Körper ruh ten. Wo auch immer Hauc entlangging, es schien, als wollten alle auch nur das kleinste Stückchen seiner Auf merksamkeit erlangen: einen Blick, eine Bestrafung, ein lobendes Kopfnicken. Aber Hauc hatte jetzt keine Zeit für kriecherische Arbeiter. Schon allein die Tatsache, dass sie ihre Ergebenheit so zur Schau stellten, machte ihn nur noch ärgerlicher. Das Kessel-Projekt war noch nicht effi zient genug. Sie sollten arbeiten und nicht ihn anstaunen 275
oder ihm zujubeln. Seine einzige Sorge im Moment, was Goblins anbelangte, betraf seinen Kurier, der trotz seiner Bemühungen und denen seiner Mitarbeiter immer noch irgendwo in der Huske vermisst wurde. Oberbeobachter Vazozav stolperte eine der vielen Treppen hoch, die zu Haucs eigener Beobachtungs- und Landeplattform führten. Die Plattform, die weit oben im Kessel aufgehängt war, wurde zum größten Teil von der Pyraquin beansprucht. Die Kugel schwebte leicht über der Plattform auf einem Feld aus Antischwerkraftmagie. In den letzten siebenundvierzig Jahren war der Goblin noch runzliger geworden, und er kam ganz schön aus der Puste, als er die Wendeltreppe hinauf stürmte. Aber Va zozav würde noch ganz anders laufen, wenn er mit ihm fertig war, ohne Rücksicht auf dessen hohes Alter. Mit Feuer in den Augen wandte sich der Magierfürst dem Goblin zu. »Oberbeobachter, wie ist der Zustand unseres Projekts?« »Mein Fürst«, sagte Vazozav. Er verbeugte sich mit Kratzfuß und versuchte gleichzeitig, in der dicken, drük kenden Hitze wieder zu Atem zu kommen. »Die Konsolen leiten weiterhin wie geplant die ektoplasmatische Energie weiter. Zudem ist eine leichte Erhöhung der Leistung um etwa zwanzig Prozent zu verzeichnen. Es scheinen in der Gegend in letzter Zeit viele Leute gestorben zu sein.« »Ach, das werden noch mehr werden«, sagte Hauc. »Das Schisma gewinnt weiterhin an Stärke. Du hast diese zusätzliche Energie doch nicht in die Kraftwerke weiter geleitet, oder?« 276
»Natürlich nicht, mein Fürst«, sagte der Goblin mit ei nem Anflug von verletztem Stolz. »Auch nicht in die Windmühlen, die ja nur Fassade sind. Die Kraftwerke laufen auf genau der Auslastung, die Ihr verlangt habt, und alle zusätzliche Energie wird wie angewiesen direkt ...« »Das reicht. Ich weiß, was ich befohlen hatte«, sagte Hauc. »Was ist mit den Arbeitern? Gab es da noch Zwi schenfälle?« «Nein, nicht mehr, seit die Faulpelze in die Lavagruben geworfen wurden«, berichtete der Oberbeobachter. »Gut.« Der Magierfürst blickte durch eine große, kreis runde Öffnung im kugelförmigen Dach, durch die er mit der Pyraquin hinein- und hinausfliegen konnte, in den kristallinen, blauen Himmel. »Oberbeobachter, siehst du diese Verkrümmungen dort?« Der Goblin folgte mit den Augen in die Richtung, in die Hauc mit ausgestrecktem Arm wies. »Welche Verkrüm mungen, mein Fürst?« »Schau genau hin, Oberbeobachter«, sagte Hauc. »Diese Kräuselungen dort am Himmel. Wie Wolken, und doch wieder nicht wie Wolken. Konzentrier dich darauf.« Vazozav blinzelte und nickte schließlich. »Ja ... jetzt se he ich sie, mein Fürst?« Seine Ungewissheit ließ seine Aussage wie eine Frage klingen. »Nein, du siehst sie nicht«, sagte Hauc. »Weil du näm lich nicht die Gabe des großen Niv-Mizzets besitzt. Die Gabe des Drachen wird nicht an diejenigen verliehen, die nicht über das entsprechende Sehvermögen verfügen.« 277
Der Goblin wirkte verwirrt, was Zomaj Hauc aber nicht verwunderte. »Ja, mein Fürst«, mehr brachte Vazozav nicht heraus. »Ich meine, nein, mein Fürst. Ich habe kein Sehvermögen?« »Nein, du ... Ach, lass gut sein, Vazozav«, sagte der Ma gierfürst. Als Zomaj Hauc noch jung gewesen war, hatte er einst von einem der vielen Familienmitglieder einen gezähm ten Blutkamm-Drekavac bekommen. Das musste schon dreihundert oder vierhundert Jahre her sein – manchmal hatte er Probleme, sich zu erinnern, wie lange das jetzt alles schon zurücklag. Die Bestie war als Beitrag zu seiner akademischen und arkanen Erziehung gedacht, und er behielt das Tier etwa eine Woche, bis er seiner überdrüs sig geworden war. Immerhin, keines seiner anderen Haustiere hatte so lange überlebt, wenn man die Leute in seiner Arbeitsgruppe nicht mitzählte. Für ihn fielen sie auch in diese Kategorie. Die Tierbändiger hatten dem Drekavac dessen Killerinstinkt genommen, bevor Hauc das Tier überhaupt zu Gesicht bekommen hatte, und daher war es nutzlos für ihn – außer als Versuchstier. Er hatte gerade den Zauberspruch gelernt, wie man einen Feuerstrahl aus den Augen abschießen konnte, und woll te seine Mitschüler damit beeindrucken, wie schnell er ihn sich schon zu eigen gemacht hatte. Der Goblin vor ihm blickte jetzt genauso wie die Kreatur damals, kurz bevor er ihr den Schädel verbrutzelt hatte. Erwartungs voll, vertrauensvoll und ahnungslos, was das Schicksal für einen vorsah. 278
Hauc war eine Sekunde lang fast dazu verleitet, das Gehirn des Oberbeobachters auf ähnliche Weise ver dampfen zu lassen, aber er hatte schon zu viele fähige Goblins verloren. Traurig, aber wahr – dieser Vazozav war einer der intelligentesten seiner verbliebenen Unter gebenen. Verflucht seien die Gruul dafür, dass sie seinen Kurier verschleppt hatten, und verflucht seien auch die Orzhov, die es mit dem Schutz nicht so genau genommen hatten. Die Gilde des Handels hatte mehr Zidos und Güter als alle anderen Gilden zusammen, aber man konnte den Orzhov anscheinend trotzdem nicht zutrauen, einen Kurier von einem Ort zum anderen zu transportieren, ohne ihn zu verlieren. Crix war aus vielen verschiedenen Gründen wertvoll. Unter anderem war sie eine der wenigen Krea turen in Haucs Umfeld, mit der er sich auch länger und über vielfältige Themen unterhalten konnte, nicht nur über die Erhabenheit Niv-Mizzets und die Genialität Zo maj Haucs. Das Ganze beruhte aber nicht auf Zufall, son dern war so geplant, und zwar von ihm. Crix war einer der wenigen Erfolge seines inzwischen aufgegebenen Goblin-Verbesserungsprogramms gewesen, daher war ihr Wert nicht nur in Geld zu messen. Irgendwann konnte selbst ein Izzet-Magierfürst nicht mehr die immer glei chen Lobeshymnen hören. »Oberbeobachter, komm hier herüber«, sagte Hauc. »Du kannst aufhören, in den Himmel zu starren.« »Ja, mein Fürst«, sagte Vazozav. »Was soll ich mir an schauen?« 279
»Schau dort«, sagte der Magierfürst und zeigte über das Geländer der Plattform auf zwei glühende Gestalten, die zwischen einer Unzahl an Rohren, Sonden, Leitungen und knackenden Blitzen, die von elektrischen Entladun gen stammten, mitten im Dampfkraftwerk standen. Es handelte sich um hydropyrische Seltsamkeiten, die im Unterschied zu den pyrohydrischen Seltsamkeiten einen Körper hatten, der außen aus Wasser und innen aus Feu er bestand. Die beiden standen gelassen im dicken, wa bernden Nebel, der von den Lavagraben aufstieg. Hier kam es mit am stärksten zum Zusammenspiel zwischen den einzelnen Elementen. »Was machen die beiden Selt samkeiten da unten?« »Sie bewachen die Lavagraben, mein Fürst.« »Und die Bogenschützen dort im oberen Stockwerk?« »Sie bewachen die Kraftwerke und die Lavagraben, mein Fürst.« »Und der Dschinn am Tor? Der Dschinn, der nur herumsteht und mit den Seltsamkeiten plaudert? Und was ist mit dem schlafenden Sceada da oben? Ich kann mir vorstellen, dass er die Tore bewacht, die Seltsamkei ten und das Nest, nicht nur die Lavagraben und die Kraftwerke. Sehe ich das richtig, Vazozav?« »Ja, mein Fürst«, sagte der Oberbeobachter. Man muss te ihm zugute halten, dass er nicht herumstammelte, obwohl er die Hände bereits nervös zu Fäusten ballte. Er hatte, wie leicht zu sehen war, nicht vom GoblinVerbesserungsprogramm profitieren können. »Muss ich das noch weiter erläutern?«, fragte Hauc. »Würdet Ihr 280
mich vielleicht noch mit einer Fortführung des Beweises Eurer Genialität ehren, mein Fürst? Ich bin nur ein Goblin und heiße jede Art von Erleuchtung willkommen, mein Fürst«, sagte Vazozav und verbeugte sich, bis er fast die eigenen Füße berührte. Hauc unterdrückte wieder sein Verlangen, den Goblin auf der Stelle zu töten, obwohl die Versuchung mit jeder Sekunde stärker wurde. Alles Dummköpfe! Er war von Dummköpfen umgeben. Von Dummköpfen und Verschwendern. Zumindest konnte er sich damit trösten, dass sie alle bald tot sein würden. Er würde sie nicht mehr benötigen, sobald sein Kurier end lich nach Hause kam und der Kessel seinem wahren Zweck dienen konnte. Dann würde er endlich seine Pläne publik machen können, nicht nur bei den Izzet, sondern gegenüber der ganzen Welt. Zwar konnte wahrscheinlich außer dem Feuerhirn niemand überhaupt verstehen, wie großartig das war, was er erreichen würde, aber NivMizzet war nun einmal das einzige Wesen, das es nicht wissen durfte. Nicht, wenn Hauc Erfolg haben wollte. »Weck den Sceada auf und schick ihn raus«, sagte Hauc, ohne sich seine Verbitterung anmerken zu lassen. Der Oberbeobachter beruhigte sich sichtlich. »Teile die Bogenschützen in Wechselschichten ein, drei am Tag. Der Anführer jedes Feuertrupps wird in den nächsten Trupp rotiert.« »Zum Beispiel vom zwölften Team ins dreizehnte, mein Fürst?«, sagte Vazozav, der froh zu sein schien, mit sei nem kleinen, unveränderten Goblingehirn etwas begrif fen zu haben. Ein Gehirn, das schon bei einer kleinen 281
Geste von Hauc zu kochen anfangen würde, wenn er bloß der Versuchung nachgab. Aber statt den Oberbeobachter zu töten, sagte der Ma gierfürst: »Ja, genau. Der Dschinn und die Seltsamkeiten werden zu Arbeitsschichten eingeteilt – zusätzlich zu ihren Wachschichten. Und ich will immer nur einen pro Tor und einen in jeder der vier Himmelsrichtungen in nerhalb dieses großartigen Gebäudes haben.« Er wartete ein paar Sekunden, dann fügte er hinzu: »Nun?« »Ja! Ich werde mich sofort darum kümmern, mein Fürst«, beeilte sich der Goblin zu sagen. »Kann ich Euch sonst noch von Diensten sein, mein Fürst?« »Nein«, sagte Hauc. »Sorg dafür, dass weder du noch sonst jemand in der nächsten Stunde diese Plattform betritt. Ich werde in der Flugkugel eine Besprechung ab halten.« »Soll ich Wachposten einteilen, die sich vor die Stufen stellen, die zu dieser glorreichen Flugkugel führen?«, frag te Vazozav. »Oberbeobachter Vazozav, Sohn von Joxotuxak«, sagte Hauc. »Sollte ich jemals Schutz benötigen, wärst du schon längst nicht mehr unter uns.« Das Gesicht des Goblins wurde geisterhaft bleich. Un bewusst wich er ein paar Schritte zurück, und wäre dabei beinah die Stufen hinuntergefallen. Dann drehte er sich um, griff ans Geländer und eilte so schnell wie möglich zu den Lavagruben. Sobald er unten bei den Arbeitern angekommen war, stampfte er auf die faul auf Wache herumstehen Elementarwesen zu. 282
Hauc widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem
Himmel und den Verkrümmungen. Das Schisma verbrei terte sich, auch wenn der Goblin es nicht sehen konnte. Er nickte zufrieden. Zumindest die Manaverdichtungssin gularitätsbombe funktionierte genau so, wie er es erwar tet hatte. Hauc schwenkte auf einem Fuß um, ging über die Rampe in die Pyraquin und schloss die Luke hinter sich. Nur die Unwissenden behaupteten, es gebe in Utvara keine Geister. Das war jedoch nicht ganz richtig. Die Gei ster befanden sich nämlich im Schisma. Ihre verloren gegangenen Seelen gaben ihm die Rohenergie, die er benötigte, um die ihm von Niv-Mizzet gestellte Aufgabe zu erfüllen. Den Kurier brauchte er nun für die zweite Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte. Das spiegelähnliche pneumanatische Gerät war bereits aktiviert, obwohl im Moment nur Wellenlinien über die Oberfläche liefen. Jemand versuchte, mit ihm Verbindung aufzunehmen. Er hatte zu viel Zeit mit dem Goblin ver geudet. Weitere Verzögerungen bedeuteten zusätzliche Unwirtschaftlichkeit. Es machte ihm nichts aus, seinen Kontaktmann ein bisschen warten zu lassen. Die Orzhov waren anspruchs volle Verhandlungspartner, aber bald brauchte er sich auch darum keine Gedanken mehr zu machen. Der inne re Drang, ihnen allen zu zeigen, wer ihr wahrer Herrscher war, hatte ihn ab und an überkommen, aber er hatte es immer wieder geschafft, ihn anders auszuleben. Hauc legte eine kleine Spende in die Opferschale und 283
sprach ein kurzes Gebet zu Ehren des Großen Drachen und alles anderen, was Niv-Mizzets je war und in Zukunft sein würde. Mit einem Fingerschnipsen entzündete er seine Gabe. Der Kristall summte, als er in Kontakt mit den Ley-Linien trat, und die Wellenmuster auf der Oberfläche glätteten sich, um die bekannte weiße Maske zu zeigen, die wie immer im dunklen Äther zu schweben schien. Die Maske lächelte nicht. »Berichte mir«, sagte der Magierfürst ohne Einleitung, »dass du sie entdeckt hast.« »Ja, meine Späher haben sie entdeckt, aber es könnte sein, dass wir neue Probleme bekommen«, sagte die Mas ke. »Sie fängt an, Verdacht zu schöpfen. Ich bin besorgt, dass sie ...« »Welche sie?«, sagte Hauc. »Was für einen Verdacht?« »Ich kann ihren Namen hier nicht aussprechen«, sagte der Spiegel. »Ihr wisst es gut genug.« »Mag sein«, sagte der Magierfürst. »Was du auch sagst, ich vergesse immer, wie geheimnisvoll deinesgleichen immer tut.« »Ihr vergesst nichts«, sagte die Maske. »Und was Ge heimnisse betrifft ...« »Ja, ja, ich habe den Hinweis verstanden«, sagte Hauc. »Sie fängt an, sich wieder zu erinnern. Es wird immer schwieriger, sie im Unklaren zu lassen.« »Ich nehme mal an, dass auch das stimmt«, sagte Hauc. »Aber das ist dein Problem, nicht meines. Meines ist der Kurier. Bring die Goblin-Frau her. Ich würde es vorzie hen, wenn sie noch am Leben wäre, aber das soll kein 284
Ausschlusskriterium sein.« »Das werde ich tun, aber haltet Eure Augen offen. Mei ne Späher berichteten mir, dass die Goblin-Frau sich de finitiv nicht im Gruul-Lager befindet. Sie bewegt sich schnell in Eure Richtung und sollte demnächst ankom men, mit oder ohne meine Hilfe.« »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« »Ihr schient nur an Wortklaubereien interessiert zu sein«, sagte der Spiegel. »Und du nur an gegenseitigen Schuldzuweisungen«, entgegnete Hauc. »Bring mir den Kurier. Ich werde hier sein und auf ihn warten.« »Könnt Ihr nicht mit Eurem neumodischen Apparat aufsteigen und uns ein bisschen Unterstützung aus der Luft geben?«, sagte die Stimme im Spiegel. »Ihr könntet sie wahrscheinlich einfach finden und Euch schnappen, und ich könnte meine Späher wieder auf die Aufgabe ansetzen, die sie eigentlich erfüllen sollen – die Gruul zu erledigen.« »Dieser ›neumodische Apparat‹ bietet uns die einzige Möglichkeit, das einzige Wesen, das von unserer Verbin dung nichts mitbekommen darf, auch davon abzuhalten, sie mitzubekommen. Er wird so lange hier bleiben, wie er hier benötigt wird, und ich werde im Kessel bleiben, bis wir unser glorreiches Ziel erreicht haben«, sagte Hauc. »Deine Späher haben die Goblin-Frau also gefunden. Ich bin mir sicher, dass sie sie dann auch bald eingefangen haben. Auf Wiedersehen.« »Wie Ihr wollt«, antwortete die Stimme und verschwand in einer Energiewelle. 285
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»Hier entlang!«, brüllte Crix. »Zum Kessel geht es hier entlang!« »Woher weißt du das?«, brüllte Kos atemlos zurück. Die Goblin-Frau zeigte über seinen Kopf hinweg auf eine Weggabelung und dort auf den Weg, der wieder in Rich tung der Huske, also scheinbar vom Kessel, der sich in der Ferne aus der Ebene erhob, wegführte. »Der andere Weg sieht so aus, als ob er direkt hinführen würde. Ich dachte, du wärst noch nie in der Huske gewesen?« Kos war eine Viertelstunde am Stück gelaufen. Das hat te er, aus welchem Grund auch immer, schon seit über zehn Jahren nicht mehr gemacht. Zusätzlich trug er auch noch Crix auf dem Rücken. Da Golozar damit beschäftigt war, ihnen mit Schüssen aus der Nahdistanz die Verfolger vom Leib zu halten, und Pivlic sich vor ihm als Späher nützlich machte, war aber nun einmal die einzige Mög lichkeit, wie sie ihr hohes Tempo aufrechterhalten konn ten, dass Kos die Goblin-Frau auf dem Rücken trug. Kos glaubte nicht an Götter – er glaubte dafür an Vampire, aber das war ein ganz anderes Thema. Hätte er Götter gehabt, dann hätte er jetzt darum gebetet, nicht so ster ben zu müssen, erst recht nicht mit einer eigensinnigen, geschwätzigen Goblin-Frau, die sich an seinen Schultern festklammerte. Er hätte sie auch absetzen können, aber selbst wenn sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hätte, wären ihre kurzen Beine immer noch ein Handicap ge wesen, das sie unnötig verlangsamt hätte. Pivlics Beine 286
waren zwar nicht viel länger, aber obwohl er zusätzlich sogar noch einen Schürfer-Schutzanzug trug, sprang der Bold leichtfüßig vor ihnen her. Bolde hatten kein beson ders großes Körpergewicht, und ihre Beine waren dazu gedacht, dass sie sich in die Luft katapultieren konnten. Was bei Goblins definitiv nicht der Fall war. »Man könnte es als Heimatinstinkt bezeichnen«, sagte Crix. »Sorgt dafür, dass wir uns nicht verlaufen. Wir, das sind in dem Fall die Kuriere. Dieser andere Weg führt in die Irre. Der hier ist der richtige.« »Welche von deinen Tätowierungen sagt dir das alles?«, fragte Kos. Er musste schräg nach vorn springen, um einen tiefen Riss im oxidierten eisernen Boden zu über queren, damit er zu der Wegkreuzung kam, auf die Crix gedeutet hatte. In seinem Zustand war das nicht einfach, aber er schaffte es, ohne dabei den Goblin oder irgendei nes seiner Körperteile zu verlieren. Sein Herz schlug schnell und kräftig, raste aber nicht. Er kannte den Unter schied, und obwohl er jetzt schon seit Stunden der Seu che ausgesetzt war, wusste er, dass sein Herz ihn nicht umbringen würde. Vielleicht würde das ja Aun Yoms Verfolgungstrupp gelingen – oder der Huske. Ganz wahr scheinlich würde ihn jedoch die Seuche umbringen, wenn er nicht bald wieder Pollen einatmen konnte. Aber nicht sein Herz. Das würde ihn nicht im Stich lassen. »Nein, so funktioniert das nicht«, sagte Crix. »Aber ich darf es Ihnen auch nicht genau beschreiben. Berufsge heimnis. Aber vertrauen Sie mir.« »Du weißt doch selbst gar nicht genau, wie es funktio 287
niert, oder?«, sagte Kos. »Sie verletzen mich.« Die Goblin-Frau schniefte. »Aber, um bei der Wahrheit zu bleiben, ich weiß tatsächlich nicht alles darüber. Es gehört einfach zum Beruf dazu.« »Ich weiß, was du meinst«, sagte Kos. »Ich habe keine Ahnung, wie der Gildenpakt funktioniert, aber wenn er nicht besondere Kräfte hätte, wäre ich nie in meinem Leben in der Lage gewesen, jemanden festzunehmen. Das wurde mir jedenfalls so gesagt.« »Oh, natürlich. Ich hatte ganz vergessen, dass Sie ja ein Wojek sind«, sagte Crix, die sich duckte, um einem gefie derten schwarzen Pfeil auszuweichen, der über sie hin wegschoss. »Ich war einmal ein Wojek«, sagte Kos. »Ich bin jetzt im Ruhestand.« »Wie ein Ruheständler sehen Sie mir aber nicht aus«, sagte Crix. »Sie sehen auch nicht wie einer der Vermittler der Orzhov aus. Woher kennen Sie Golozar?« »Sein Zuriv-Häuptling ist ein Freund von mir«, sagte Kos. »Aber Golozar und ich kennen uns eigentlich aus der Stadt. Du kannst ihn irgendwann ja einmal danach fra gen; es ist seine Geschichte, nicht meine. Wie auch im mer, ich kann es mir nicht abgewöhnen, meine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken. Eine schlechte Angewohnheit, ich weiß.« »Kos! Hör auf zu plaudern und renn weiter!«, brüllte Pivlic mit aller Kraft, um einen Schuss aus Golozars Knallstab zu übertönen. Kos riskierte es nicht, über die Schulter zurückzublicken – der Weg war zu gefährlich, 288
und je näher sie dem Kessel kamen, desto schlimmer wurde es. Er hörte ein sattes Geräusch, als ein Schuss einen von Aun Yoms Banditen niederstreckte. Aber es folgte weder ein Schrei noch das Geräusch eines zu Bo den plumpsenden Körpers. »Das ist doch wahnsinnig!«, brüllte Golozar. »Ich habe sieben von denen getroffen. Aber die scheinen das noch nicht einmal zu bemerken. Wie hast du das vorhin ge macht, Bold?« »Was haben diese Gruul, das einen Schuss aus einem Knallstab auffangen kann, Freund Golozar?«, sagte Pivlic. »Ich habe ihm einfach in den Kopf geschossen.« Der nächste Schuss war zu hören, dann wieder Golo zars Stimme. »Die kann nichts aufhalten. Die Schüsse gehen einfach durch sie hindurch, ohne dass es ihnen etwas ausmacht.« Kos fluchte laut, als er diese Beschreibung des Gruuls nun mit dem unstillbaren Hunger der Verfolger, den sie beim Nephilim gezeigt hatten, in Verbindung brachte. »In der Huske gibt es normalerweise nicht viele Untote, oder?« »Eigentlich nicht!«, rief Golozar zurück. »Ziel auf die Beine!«, rief Kos. »Damit sie stolpern. Und wenn du glaubst, einen Todesschuss ansetzen zu können, ziel auf den Kopf. Ich glaube nicht, dass das Gruul sind, Golozar. Ich hatte mir gleich gedacht, dass sie zu bleich dafür sind.« »Untote?«, sagte Pivlic. »Ich hasse Untote. Natürlich mit der Ausnahme unseres geliebten und heiligen Obzedat 289
und aller Patriarchen, die diesen Weg gewählt haben, statt...« »Du bist hier nicht in einer Audienz. Renn einfach wei ter, Pivlic«, sagte Kos. »Oder erschieß einen von denen.« »Kann ich nicht«, sagte Pivlic. »Golozar verwendet mei nen Knallstab.« »Wie bitte?«, sagte Kos. »Die Munitionskammern halten nicht ewig«, sagte Piv lic. »In Ordnung. Golozar, geh etwas vorsichtiger mit dei nen Schüssen um, und wenn der Stab leer ist, habe ich hier noch einen auf meinem Rücken«, sagte Kos. »Und ich meine wirklich sorgsam. Wir können es uns nicht erlau ben, keine Munition mehr zu haben, wenn wir dort an kommen.« »Wer hat dich denn zum Anführer gemacht?«, brüllte Golozar zurück. »Das habe ich schon selbst erledigt«, antwortete Kos. »Vergiss es«, sagte Golozar. »Sorg einfach dafür, dass wir dort ankommen.« Kos musste sein Tempo reduzieren, um einer Reihe aufgefächerter Metalldorne auszuweichen, die aus einem Haufen Geröll herausragten. Das, was sich einst hinter dem Zaun aus Mizzium befunden hatte, war längst weg gerostet, aber die in sich gedrehten Dorne ragten den Fliehenden immer noch wie Krallen entgegen. Überall in der Huske konnte man vereinzelte Stücke aus Mizzium finden. Aber obwohl es einer der gesuchtesten Rohstoffe war, hinter dem alle Schürfer und Bergleute her waren, 290
trauten sie sich nicht in die Huske. Die Gefahr eines Gruul-Überfalls war zu groß, nicht zu erwähnen die im mer lauernde Gefahr von Wesen wie einem Nephilim. »Herr Kos«, sagte Crix, »wir müssen unsere Munition nicht mehr lange rationieren. Schauen Sie dort hoch!« »›Kos‹ reicht aus«, sagte der alte Wojek. Er drehte den Kopf in die Richtung, in die Crix gezeigt hatte, und sah einen Drachen. Nein, es war kein echter Drache, es war ein Sceada. Es gab nicht viele Leute, die je einen echten Drachen gesehen hatten. Der Sceada, der gerade vom Dach des Kessels abhob, mochte kein echter Drache sein, sah aber fast wie einer aus. Er war groß genug, um alle vier bei lebendigem Leib zu rösten, wenn er wollte. Das dunkelrote Reptil vergeudete keine Zeit mit Her umkreisen, sondern breitete seine lederigen Flügel aus und kam direkt auf sie zu. Es segelte mit schwachem Flügelschlag im heißen, staubigen Wind und schickte einen markerschütternden Schrei in den Nachmittags himmel. »Und jetzt sag mir, warum wir keine Munition mehr brauchen«, sagte Kos. »Weil«, sagte Crix, »er nicht hinter uns her ist, glaube ich ... Oje!« »Oje?«, sagte Kos. »Auf den Boden!«, schrien Pivlic und Crix gleichzeitig. Die Goblin-Frau sprang von Kos Rücken und rollte sich zu einer Kugel zusammen, bevor sie auf den Boden prallte, während Kos sich abfangen konnte, bevor er vom Mizzi um-Zaun aufgespießt wurde. Pivlic befand sich bereits am 291
Boden, als er Kos warnte. Die Überlebensinstinkte des Bolds waren unübertroffen. Ein lautes ›Uff‹ war zu hören, als Golozar sich zu Boden warf. Der Sceada segelte nur in handbreitem Abstand über sie hinweg. Er mochte im Vergleich zu einem Drachen klein sein, aber die Spann weite seiner Flügel war immer noch groß genug, dass er alles unter sich verdunkelte. Eine Hitzewelle zog über sie hinweg, und der Schrei des Drachen wurde von einem Flammenstoß abgelöst. »Leben noch alle? War das einer von uns?«, brüllte Kos. »Nein, das war einer von denen«, sagte Crix, die als Er ste wieder auf den Beinen war. »Kein Wesen, das zu Zo maj Hauc gehört, würde auch nur daran denken, einen seiner Kuriere zu fressen. Bei allen anderen allerdings ...« Crix musste den Satz nicht beenden. Der Drache hatte bereits gewendet und setzte gerade zu einem neuen Sturzangriff auf Aun Yoms seltsame Gruppe untoter Gruul an, falls es sich tatsächlich um solche handelte. Kos war sich zwar fast sicher, aber ›fast‹ war nun einmal nicht ›ganz‹, wie das alte Sprichwort sagte. Aun Yom schien nicht daran interessiert zu sein, den Sceada zu bekämpfen. Das fliegende Wesen war deutlich im Vorteil, anders als zuvor der Nephilim. Die Verfolger zerstreuten sich, offenbar in der Hoffnung, dass dadurch ausreichend viele dem Sceada entkommen konnten, um die Jagd fortzusetzen. Golozar war voller Hohn. »Was für eine Schande. Sie fliehen bereits. Aun Yom, du bist kein echter Gruul.« »Ich glaube, das kann man so unterschreiben«, sagte 292
Kos. Der Sceada ließ einen erneuten Feuerstoß los, der drei weitere Gruul in Flammen setzte und sie sofort zu Asche verbrannte. Ein weiterer Flammenstoß, und aus dem Ausweichmanöver wurde endgültig ein Rückzug. Als die Gruul flohen, konnte Kos erkennen, dass glühendes Licht durch die Wunden schimmerte, die Golozars Schüs se gerissen hatten. Jetzt war ihm alles klar – es waren Untote, aber von einer anderen Sorte, als er erwartet hat te. Sie waren alle tot, aber es war kein Totenbeschwörer gewesen, der sie wieder zum Leben erweckt hatte. Es war eher eine Form von geisterhafter Besessenheit. »Ich kann mein Glück nicht fassen«, murmelte Kos. »Ja, wir haben wirklich Glück gehabt, mein Freund Kos«, sagte Pivlic von weiter oben. »Und es wird ein noch größeres Glück sein, wenn dieser Sceada von einer Jagd auf uns absieht, sobald er mit den Untoten fertig ist.« »Nein, das war ironisch gemeint«, sagte Kos, der wieder lostrabte. Die ganze Gruppe beeilte sich, endlich zu ihrem Ziel zu kommen. »Ich hasse Geister.« »Das waren doch keine Geister!«, warf Golozar ein. »Oder doch?« »Schau dir die Wunden an«, sagte Kos. »Sie haben ge glüht. Das waren keine normalen Zombies.« »Jedenfalls fliehen sie gerade«, sagte Pivlic. »Und der Drache verfolgt sie. Ist das nicht eine günstige Gelegen heit, um einen Moment zu verschnaufen?« »Wir sind fast da«, sagte Crix. »Wir müssen weiter! »Da muss ich Crix hier Recht geben«, sagte Kos. »Dieser Sceada dient als Patrouille. Er wird irgendwann zurück 293
kehren, und selbst wenn sie unverwundbar ist – der Rest von uns ist es nicht.« Kos hatte sich seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr so gesund, so stark und vor allem so benötigt gefühlt. Du hast dich selbst angelogen, alter Mann, dachte er. Du hättest nie in den Ruhestand gehen dürfen, egal, wie viele Tote du auf dem Gewissen hast. Die Toten waren nun einmal tot. Als Ruheständler hatte er nur noch mehr Zeit, um sich zu viele Gedanken dar über zu machen. »Sie fliehen in Richtung von Trijiros Lager«, sagte Golo zar. »Mein Clan wird kurzen Prozess mit ihnen machen, wenn der Sceada das nicht schon vorher erledigt. Ich werde mich nicht vor meiner Aufgabe drücken, aber ich muss zugeben, dass ich gern dabei wäre.« Die Temperatur wurde immer drückender und der Dunst in der Luft immer dicker, je näher sie dem Kessel kamen. Crix hatte ihnen frisches Wasser herbeizaubern müssen, nachdem sie während einer halben Stunde Marsch in Richtung des Kessels ihre gesamten Vorräte aufgebraucht hatten. Der Heimatinstinkt der Goblin-Frau wurde mit jedem Schritt stärker, und Kos konnte sie end lich absetzen. Crix lief nach vorn, um die kleine Gruppe anzuführen. Mit ihrer Hilfe gelang es, weiteren Zwischen fällen aus dem Weg zu gehen. Am späten Nachmittag, als die Sonne bereits lange, gezackte Schatten warf, erreich ten sie den Kessel. Crix legte keine Pause ein, als sie bei der Umgrenzung des Kessels anlangten, und marschierte schnurstracks auf das Bauwerk zu. Mitten in dem chaotischen Netzwerk aus 294
Abflussrohren und Stützstreben, die zu den Dampfturbi nen und anderen Kraftwerken gehörten, war ein Tor zu erkennen, das groß genug war, um Haucs Sceada durch zulassen. Ein einzelner Dschinn stand dort Wache. Seine durchsichtige Gestalt schimmerte in einem dunklen Orange, das viel zu sehr nach der Farbe der KnallstabMunition aussah. Alles wirkte wie ein strukturiertes Cha os, dem großen Siegel gar nicht so unähnlich, das in die Architektur der Stadt der Gilden eingebaut worden war. »Diese drei sind meine Begleiter«, sagte Crix. Sie ging tapfer auf das Tor zu. »Wir haben eine Nachricht an den großen Magierfürsten Zomaj Hauc zu überbringen, möge sein Feuer nie erlöschen.« Der Dschinn sagte kein Wort, sondern trat beiseite und nickte, als der Kurier sich vor ihm aufbaute. Crix winkte den anderen zu, sich ihr anzu schließen. »Ist das wirklich nötig?«, sagte Pivlic. »Wir sind hier an gekommen, oder? Mission erfüllt, wie die Wojeks zu sa gen pflegen.« Golozar trat vor. »Ich habe geschworen, diese GoblinFrau heil und sicher abzuliefern. Ich gehe mit hinein.« Kos zuckte die Achseln. »Dadurch werde ich erst ein mal aus der schlechten Luft hier herauskommen. Viel leicht haben die ja einen Helm für mich übrig. Du kannst zurückgehen, wenn du willst, Pivlic. Ich bin mir sicher, dass die Baronin es verstehen wird, wenn du ihr sagst, dass du dir ziemlich sicher bist, dass der Kurier dort an gekommen ist, wo er hinsollte.« »Du bist für meine Sicherheit verantwortlich, vergiss 295
das nicht«, sagte der Bold. »Ich könnte dich dazu zwingen, mit mir zurückzugehen. Aber du hast einen wichtigen Punkt angesprochen. Und die Baronin würde wahr scheinlich noch ein paar Punkte mehr finden.« Das steinerne Tor, das auf Kos auf den ersten Blick so gewirkt hatte, als würde es aus einer riesigen Steinplatte bestehen, teilte sich entlang einer unsichtbaren Naht und schwang nach innen auf. Die kleine Eingangshalle dahin ter endete in einer Biegung, und alles leuchtete mit rötli cher Hitze, die aus dem Inneren kam. Die Fackeln an der Wand brannten zwar auch hell, verloren aber das unglei che Duell. Ein Hitzeschwall traf sie frontal, und Pivlic quiekte überrascht auf. Kos nahm einen langen Zug aus dem Wasserschlauch, hängte ihn zurück an den Gürtel seines zerfetzten, stin kenden Schutzanzugs und trat hinter Crix und Golozar ein. Pivlic folgte ihnen als Letzter. »Diesmal bilde ich die Nachhut«, sagte er. »Keine schlechte Idee«, meinte Kos.
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Zomaj Hauc blieb im Cockpit der Pyraquin sitzen und genoss die Ruhe. Daher konnte er nicht sehen, wie sein Kurier endlich ankam, obwohl er spürte, wie die GoblinFrau durch das Tor in sein kleines Reich hineinmar schierte. Er lächelte. Am Ende war alles so einfach gewesen. Er hätte sich nie Sorgen machen müssen. Obwohl sie vorher noch nie 296
im Kessel gewesen war, hatte seine treue Crix den Weg natürlich gefunden, Orzhov hin oder Orzhov her. Er hatte sie erschaffen, größtenteils jedenfalls. Es würde ihm Spaß machen, dem Orzhov seine Unfä higkeit unter die Nase zu reiben. Hauc entschied sich, eine Weile zu warten, bevor er seinem maskierten Komplizen Bescheid gab. Warum sollte er seinen Partner aufhalten, wenn dieser Gruul töten wollte? Hauc benötigte die Gruul nicht lebendig, als Geister würden sie ihm weitaus hilfreicher sein. Und au ßerdem konnte er dank der Gabe des Drachen jeden be geisterten Flammenstoß des Sceadas mitfühlen. Haucs Augen glühten in einem etwas helleren Rot, als er sich nun aus dem Pilotensessel herausschob und die Ausstiegsluke wieder öffnete. Er lächelte immer noch. Er wusste gar nicht mehr, warum er sich Sorgen gemacht hatte. Sein treuer Kurier hatte nicht versagt. Aber diese anderen würden ziemlich sicher dafür ster ben müssen, dass sie es gewagt hatten, ihr in den Kessel zu folgen. Sie würden nicht verstehen, was er hier vorhat te, ebenso wenig wie Niv-Mizzet das tat. Die Schätze, die er im Kessel gefunden hatte, gehörten ihm, und er würde sie mit niemandem teilen. Und sobald er sie befreit hatte, wäre auch die Welt frei. Befreit von zehntausend Jahren unnatürlicher Ordnung und grässlichen Gesetzen. Die Welt hatte es zwar nicht verdient, aber Hauc tat es trotzdem für sie. Seine Herrschaft würde glorreich sein. Diejenigen, die vernichtet werden mussten – wie die Gruul und möglicherweise auch die Selesnijaner –, wür 297
den ihr Schicksal erleiden. Die anderen, die seine Weis heit, seine Stärke und seine Erhabenheit als Regent brauchten, würden Lobeslieder auf ihn singen. Der Gil denbund würde zerfallen, weil er nicht länger notwendig wäre, wenn Zomaj Hauc Ravnica unter seiner feurigen Standarte in Flammen setzte. Hauc blickte durch die durchsichtige Flugkugel und lä chelte seine Schätze an. Wenn er sie an seiner Seite hatte, konnte ihn nichts stoppen.
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Kapitel 11
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Das Buch der Orzhov – Das Buch des Handels – ist nichts anderes als ein dicht gestricktes Netz aus Regeln, Anord nungen und Erschwernissen, die von jedem so individuell interpretiert werden können, dass sie das bedeuten, was sie für ihn bedeuten sollen. Wir haben eine hervorragende erste Version vorgelegt, verehrte Patriarchen, aber es ist auch noch viel Platz für Verbesserungen. Wir haben noch viel zu tun. Dieses Buch ist ein lebendes Dokument. Patriarch Enezesku, Rede zu seiner Aufnahme in den Obzedat (25. Paujal 9103 Z. C.)
2. Cizarm 10012 Z. C. Teysa konnte sich nicht entscheiden, welche ihrer Ge fühlsregungen die Oberhand gewinnen würde: Zorn oder Ungläubigkeit. Als sie merkte, dass sie sich auch in der näheren Zukunft nicht entscheiden würde, beschloss sie, beide miteinander zu kombinieren. Sie war ausgenutzt worden, und zwar von denen, denen sie ... nun, Vertrau en war das falsche Wort. Schließlich war sie eine Advoka tin und zudem noch eine Karlov, und allein deswegen schon vertraute sie niemandem voll und ganz. Jedenfalls 299
hatte sie angenommen, dass sie alle das gleiche Ziel vor Augen hatten. Immerhin waren jetzt ihre Kopfschmerzen vollständig verschwunden. »Onkel«, sagte sie und bemühte sich, ihre Fassung nicht zu verlieren, »das kannst du doch nicht wirklich so meinen.« »O doch«, sagte die Stimme in einem verwirrend be friedigten Tonfall. »Du hast es getan. Du hast mir die Brust aufgeschlitzt und mir das Gruulmesser ins Herz gerammt. Der Schmerz war einmalig, und ich danke dir dafür. Das war doch ein passendes Ende für mein körper liches Leben, oder?« Er lachte über den eigenen schlech ten Witz. »Du findest das lustig? Ich habe dich getötet«, sagte Teysa. »Und dafür hast du mir einen Teil meiner Erinne rungen genommen. Ihr habt mir beide eingeredet, es seien Gruul gewesen.« »Das war notwendig, damit du dein Erbe antreten konntest. Ich musste sterben. Es war die einzige Möglich keit, Utvara gesetzmäßig an dich zu übergeben. Ich würde allerdings mit dieser Geschichte nicht hausieren gehen, wenn du Utvara behalten willst. Selbstmord wird in sol chen Situationen normalerweise nicht akzeptiert, und ein guter Advokat könnte es entsprechend darstellen.« »Willst du mich herausfordern?«, fragte Teysa, deren Zorn gerade doch den Schock zu verdrängen versuchte. »Du hast mich manipuliert, und du hast ...« »Ich kann deine Einwände verstehen. Du hast jetzt den 300
Titel ›Baronin‹ angenommen, aber im Lauf der Zeit wirst du irgendwann bestimmt auch Matriarchin sein.« Die Stimme im Spiegel gluckste abermals. »Falls du dich an unsere Abmachung hältst und die Vertreterin des Obzedat wirst.« »Ich hatte keine Ahnung, dass ihr in diesen Angelegen heiten so anpassungsfähig seid«, sagte Teysa. »Eine Matri archin?« »›Ich bin, was ich zu sein habe, um zu erreichen, was ich will‹«, zitierte Onkel. »Das war ein Ausspruch der vier ten Matriarchin, der ins Buch aufgenommen worden ist.« »Wie bitte? Vierte Matriarchin?«, sagte Teysa ungläubig. »Im Buch werden keine Matriarchinnen erwähnt.« »Das Buch der Orzhov gehört zu den Werken, die jeder gelesen haben sollte«, sagte der Spiegel. »Dabei meine ich das vollständige Buch und nicht nur das armselige Bänd chen, das den Sterblichen vorliegt. Du kennst die Hälfte unserer wahren Geschichte nicht. Aber auch du wirst erst alles erfahren, wenn du tot bist. Du würdest nicht die erste Matriarchin sein, meine Liebe, aber die erste seit langer Zeit.« Die Maske verzerrte sich zu einem breiten Grinsen, und der Spiegel bebte von Onkels feuchtem Gelächter. Warum auch sollte Onkel nicht so vergnügt sein? Er hatte bekommen, was er wollte. Und er hatte Teysa das gegeben, was sie zwar nicht gewollt, aber als Aufgabe angenommen hatte. Ihr Erbe. Die ganze Utvara-Region. Und alles, was sie dafür hatte tun müssen, war die Er mordung von Onkel zu übernehmen. Und er hatte nur 301
Melisk dazu benutzen müssen, um sie davon zu überzeu gen, dass die Gruul es getan hätten. War das wirklich so schlecht? Er schien das nicht so zu sehen. Und Teysa rieb sich hauptsächlich daran, dass sie es erst jetzt erfuhr. Wenn er ihr einfach vertraut hätte, und zwar von Anfang an, hätte sie den Plan wahrscheinlich von ganzem Herzen mitgetragen. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so si cher. Teysa hatte einen Dickkopf, der sich oft in den Vor dergrund drängte, wenn andere ihr sagten, was sie zu tun und zu lassen habe. Onkel und Melisk hatten ihr nicht nur alle möglichen Informationen vorenthalten, sondern ihr auch die Erinne rungen an viele andere Geschehnisse geraubt. In den letzten fünf Minuten waren alle diese Erinnerungen wie der zurückgekommen, und sie hatte auch erfahren, war um der Kessel für den Obzedat, Onkel und Melisk von so großer Wichtigkeit war. Aber die erste Frage, die sie stell te, war für Teysa die dringendste. »Meine Anfälle – die Schlafkrankheit«, sagte sie. »Hat er damit meine Erinnerungen geraubt? Irgendwie, während ich ohne Bewusstsein war?« »Nicht ganz«, sagte Onkels Stimme durch die Maske im Spiegel. »Er hat deine Erinnerung nicht während deiner Anfälle gelöscht.« »Wann hat er es dann getan?« »Du verstehst mich nicht«, sagte Onkel. »Deine Anfälle waren eine zweckmäßige Einbildung. Meine Liebe, du hast nie wirklich an einer Schlafkrankheit gelitten. Das war nur das Werk Melisks, der seinen Auftrag erfüllt hat. 302
Denk mal nach. Wann hast du begonnen, die Anfälle zu bekommen? Jetzt solltest du alles herausfinden können, nachdem ich dir deine Erinnerungen zurückgegeben habe.« Teysa schwärmte durch die neuen und unbekannten Winkel ihres Gehirns und öffnete Türen, hinter denen sich Sachen versteckten, die sie zwar kannte, bislang aber nicht genau hatte einordnen können. »Die Anfälle began nen erst, nachdem Melisk mein Majordomus geworden ist.« »Bist du dir da ganz sicher?«, sagte Onkel schelmisch. Sein Ton machte Teysa noch unruhiger. »Nein, warte«, sagte sie. »Nicht, als er Majordomus wurde. Sie begannen, als er und ich zum ersten Mal ...« O nein, dachte sie, das hätte ich kommen sehen müssen. »Ich merke, dass du dich erinnerst«, sagte der Spiegel. »Ich werde ihn töten. Und zwar ohne Rachevertrag. Das erledige ich eigenhändig. Und vielleicht sogar mit diesem Gruulmesser, dem ihr beide anscheinend so zuge tan seid.« »Du hast bereits zugestimmt, es zu tun, als du dich be reit erklärt hast, uns zu dienen«, strömte es aus dem Spie gel. »Natürlich wirst du Melisk töten. Ich, entschuldige – wir überlassen es natürlich dir, eine geeignete Art und Weise zu finden.« »Ich habe noch nicht zugestimmt, euch zu dienen.« »Aha?« Onkels Ton wurde mit diesem einen Wort deut lich kühler. »Nein«, sagte Teysa. »Ich hatte meine Finger gekreuzt.« 303
»Das hier ist kein Kinderspielplatz, meine Liebe, und das Ganze erst recht kein Kinderspiel.« »Das musst du mir vor Gericht beweisen. Immerhin hast du mir jetzt alles erzählt, was ich wissen muss. Und mit dem hier werde ich dafür sorgen, dass es nicht ge schieht.« Sie öffnete ihren Mantel, um Onkel im Spiegel die Arznei gegen die Seuche zu zeigen, die sie dem Vedal ken-Doktor abgekauft hatte. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. »Onkel, ich werde Utvara als Ganzes behalten, und wir breiten uns in die Sandebene aus, sobald diese Seuche endlich ausgerottet ist. Die Schürfer können für uns arbeiten, meinetwegen auch parallel, solange sie einen ordentlichen Prozentsatz abgeben. Dein Handel ist geplatzt und nichtig, was mich anbelangt. Du hast unter Täuschungsabsicht gehandelt. Bösester Täuschungsab sicht. Diese Region gehört jetzt mir. Ich gehöre nieman dem.« »Moment mal, meine junge Advokatin«, sagte Onkel. »Du glaubst doch nicht etwa, dass du erst zustimmen kannst, unseren Wünschen zu folgen, um dann das ge naue Gegenteil von dem zu machen, was wir dir sagen? Ich sage dir, dass es geschehen muss, auch wenn du das Gegenteil denkst. Du hast keine Wahl. Man schließt kein Abkommen mit einem Wesen wie Niv-Mizzet ab, wenn man vorhat, ihn in der letzten Sekunde platzen zu lassen. Du bist jetzt Teil dieses Handels.« »Nein«, sagte Teysa. »Da irrst du dich. Ich war euer Werkzeug, aber das ist jetzt vorbei. Der Handel, den du abgeschlossen hast, wird dafür sorgen, dass hier alles 304
zerstört wird. Alles, und das schließt Millionen oder Milli arden von Zidos an Schätzen ein. Meine Entscheidung ist gut für mich und für die Orzhov. Wenn euer Abkommen erfüllt wird, geht nicht nur Utvara in Flammen auf. ›Die Gilde des Handels kann nicht blühen, wenn es keine Welt mehr gibt, in der sie Handel treiben kann‹ – du kannst das als mein erstes Sprichwort als Matriarchin in euer Buch schreiben.« »Du hast uns nichts zu befehlen«, zischte es aus dem Spiegel. »Du hast keine Wahl in dieser ...« »Willst du, dass das in aller Welt bekannt wird?«, sagte Teysa. »Ich glaube, der Obzedat hat den Verstand verlo ren. Dies hier ist mein Reich. Meine Baronie. Ich ent scheide hier.« »Baronin«, sagte Onkel förmlich, »das wird dein Tod sein, ob jetzt Niv-Mizzet sich dazu entscheidet, dich dafür zu töten, dass du den Handel platzen lässt, oder ob der Obzedat dich ermorden lässt.« »Das warte ich gern ab. Meuchelmörder machen mir keine Angst. Ich habe den Handel nie abgeschlossen«, sagte Teysa. »Das warst du. Und wenn dein Großer Dra che sich hier blicken lässt, dann schleppe ich ihn direkt vor die Hohen Richter des Azorius-Senats. Ich habe dort immer noch einflussreiche Freunde. Und falls er sich entschließt, Strafmaßnahmen gegen dich einzuleiten – wer weiß? Vielleicht braucht er ja eine gute Advokatin. Möglicherweise entscheide ich mich dann an genau je nem Tag, wieder aktiv zu werden. Hinterher würdest du kein Bein mehr haben, auf dem du stehen könntest. Auch 305
wenn du deine Beine zu Lebzeiten sowieso nie benutzt hast.« »Jetzt gehst du zu weit, Mädchen.« Onkels Gebrüll ließ den Spiegel so sehr vibrieren, dass er leicht zur Seite rutschte. »Du bist doch ein Nichts ohne den ...« Teysa warf ihren Stock hoch in die Luft, packte ihn an seinem unteren Ende und schwang den silbernen Knauf mit beiden Händen gegen den Spiegel. Die Glasfront zer splitterte in zehntausende kleine Scherben, die im ganzen Vorzimmer verstreut wurden. Alle zeigten das brüllende Ebenbild Onkels. Wenige Sekunden später verstummten die Schreie, und die Scherben waren nur noch ganz nor male Glassplitter. »In Ordnung, ich gehe also zu weit«, sagte Teysa. »Aber ich werde noch viel weitergehen, weil du mich so hinter gangen und ausgenutzt hast.« Sie wischte den Griff ihres Stockes an einem von Onkels Lieblingswandteppichen ab und blies dann die Reste des Spiegels vom Tisch. Die winzigen Teilchen bildeten eine glitzernde Wolke, die erst nach einigen Minuten ganz auf den Boden herabgesun ken war. Aber da hatte Teysa den Raum schon längst verlassen. Als sie aus dem Geflügelten Bold heraustrat, sah sie das erste Erscheinen der Kuga-Mot an diesem Abend. Der geisterhafte goldene Umriss schien sich vom steigenden Mond zu lösen und von dort aus stetig nach Südwesten zu segeln, bis er wieder mit der Dunkelheit verschmolz, kaum dass er seine Reise begonnen hatte. Der dritte Grugg-Bruder, der treue Phleeb, trottete auf seine Affenart 306
aus der Tür und brachte seine neuen Brüder mit, die Tey sa aus seiner Materie erschaffen hatte. Die beiden neuen Gruggs bekamen die Namen Lepheb und Heblep. Sie hat te noch nicht einmal eine Minute gebraucht, um sie ent stehen zu lassen, und jetzt waren sie schon vollständig einsatzbereit. Das Orzhov-Blut war für vieles gut, und sie überlegte sich, dass sie es bislang viel zu selten dafür genutzt hatte, Thrulls entstehen zu lassen. Die Gruul hielten die Kuga-Mot für ein schlechtes Omen. Schürfer wiederum glaubten, es sei ein gutes Vor zeichen. Teysa hielt beides für ein Gerücht. Die Kuga-Mot war wahrscheinlich ein Phänomen, für das es genau wie beim Schisma eine logische Erklärung gab. Wahrschein lich war sogar das Schisma für die Erscheinung zuständig – eine Spiegelung des Mondes in den magnetischen Fel dern des Risses im Himmel oder so etwas Ähnliches. Vorzeichen bedeuteten alles, was man in sie hineinin terpretieren wollte. Was für den einen ein gutes Vorzei chen war, bedeutete für jemand anderes ein schlechtes. Heute Nacht würde die Kuga-Mot für ihren gar nicht so getreuen Majordomus nichts Gutes bedeuten.
K
Crix trat mit ihrer seltsamen Mischung aus selbst ernann ten Beschützern aus dem Eingangstunnel. Sie kamen in eine riesige Halle, mit der im Vergleich die verflochtene Architektur an der Außenseite des Kessels geradezu harmlos gewesen war. Alles bildete ein verworrenes, 307
anfangs auch verwirrendes Netzwerk aus Stein, Metall, Feuer und Leben. Ein mathematisch ausgebildetes Gehirn konnte sicherlich eine Systematik im Aufbau der Dampf turbinen erkennen – alles stand im perfekten Winkel zueinander und hatte die perfekte Größe, um den kom plexesten Gleichungen der Izzet zu genügen. Crix’ Gehirn war im analytischen Bereich verbessert worden, daher hatte sie wenig Mühe, ein paar der einfacheren Berech nungen hier und da zu verstehen. Auch konnte sie er kennen, dass ein spezielles Gewirr aus Leitungen und energiegefüllten Röhren eine perfekte Beschreibung von Niv-Mizzets Beweis der siebendimensionalen Geometro magie darstellte. Andere Anordnungen kamen ihr be kannt vor, aber sie konnte sie nicht genau einordnen. Alles wirkte, als hätte der Magierfürst mit den Gleichun gen herumgespielt, neue erstellt und die alten verdreht und dann alle zusammen zu einer glorreichen Ver schmelzung gebracht, aus der sich dann wieder etwas Neues entwickelt hatte. Sie verspürte ein wenig Stolz in ihrem Herzen, gleichzeitig jedoch auch einen seltsamen Zorn auf ihren Meister wegen des unnötigen Tods von vier Gruul, der immer noch schwer auf ihrem Gewissen lastete. Falls sie jemals eine Magierfürstin werden sollte – was für ein seltsamer Gedanke –, würde sie niemals wahllos und willkürlich töten. Da war sie sich sicher. Sie brauchte einen Augenblick, um zu bemerken, dass die Goblins hier im Kessel nicht auf den Aufbauten selbst herumliefen, sondern stattdessen Rampen, Leitern und 308
andere gefährlich aussehende Laufstege verwendeten, die sich durch den gesamten Kessel spannten. Überall wim melte es nur so von Goblins, außerdem sah Crix riesige Schmelz-Dschinns und stille Seltsamkeiten, die auch fast so hart wie die Goblins zu arbeiten schienen. Sie hatte nicht genau gewusst, was sie hier erwartete, hatte aber keinesfalls damit gerechnet, so vollständig ignoriert zu werden. Niemand schenkte ihnen Beachtung, sah man einmal von ein paar neugierigen, aber müden Blicken der Goblins ab. Ah, endlich. Sie bemerkte einen langen, kalten Blick einer der pyrohydrischen Seltsamkeiten. Der feurige Kör per flackerte kurz auf, um zu zeigen, dass sie erkannt worden war, dann drehte sich das Wesen wieder weg. Jetzt würde der Magierfürst bald von ihrer Ankunft wis sen, wenn er das nicht schon längst tat. Wenn man die Knäuel aus genial geplanter Infrastruk tur als Ganzes betrachtete, sahen sie wie ein bizarres Nest aus Metall und Magie aus, das um die gewöhnlicher wir kenden zylindrischen Kraftwerke herumgebaut worden war. In allen vier Haupthimmelsrichtungen stand zudem einer der käferförmigen Pyromana-Generatoren. Dampf kerne saugten Energie aus den Generatoren, den Kraft werken und der geothermischen Kuppe und leiteten sie dann zurück ins Netzwerk und nach draußen in die Welt. Der Energiefluss erzeugte ein lautes Summen, das in der heißen Luft vibrierte und bis in die Knochen zu spüren war. Das alles wäre schon ausreichend gewesen, um die 309
Genialität ihres Meisters Zomaj Hauc zu preisen, trotz der kleinen Ernüchterung über die aufgetretenen Todesfälle, von denen sie betroffen gewesen war. Aber die Dinge, deretwegen Crix so plötzlich stehen blieb, dass der eben so überraschte Kos in sie hineinlief, waren wahrhaftig erstaunlich. Ihre Formen riefen eine urtümliche, schreck liche Furcht in der Seele der Goblin-Frau hervor. »Das dort sind ... da, die da, das sind ...« Crix konnte nur keuchen, so heiß und verqualmt war die Luft auf den unteren Ebenen. »Was sind das da für Dinger?«, sagte Golozar. »Sieht wie eine Art Generatoren aus. So nennt ihr das doch, oder?« »Deine Bildung ist für einen Gruul wirklich erstaun lich«, sagte Pivlic mit kaum verhohlenem Argwohn. »Aber ich glaube nicht, dass ein Goblin auf bloße Generatoren so reagieren würde. Ich glaube, es ist offensichtlich, was das ist. Selbst ein Gruul sollte wissen, wer die Izzet an führt.« »Ich glaube, ich habe einen ziemlich guten Tipp«, sagte Kos, »und wenn ich richtig geraten habe, dann bin ich mir sicher, dass mein Herz doch endlich versagt hat und ihr alle nur Halluzinationen seid. Und ich hätte es echt vorgezogen, mein Leben mit angenehmeren Halluzina tionen zu beenden. Die Dinger können einfach nicht das sein, wonach sie aussehen. Es kann einfach nicht sein.« »Sie sind es aber«, sagte Crix, die endlich wieder zu Atem gekommen war. Wenn es nur eines gewesen wäre, hätte man das be reits ein Wunder nennen können. Aber gleich drei Stück 310
waren einfach unerklärlich, ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Izzet tatsächlich für etwas Größeres vorge sehen waren, wonach sie alle strebten, individuell und als Gilde. Drei majestätische eiförmige Gegenstände lagen dort, deren marmorierte Oberfläche in unterschiedlichen leuchtenden Farben gesprenkelt war: eines in Rot, eines in einem blassen Blau und das letzte in einem dunkelvio letten Muster, das wie verspritztes Goblinblut aussah. Die eiförmigen Körper wurden von allen Seiten mit riesigen Mengen an Energie bestrahlt, um sie zu garen – nein, auszubrüten. Deswegen waren die Gleichgewichte geän dert worden. Sie waren jetzt perfekt ausgerichtet, um die im Kessel produzierte Energie aufzunehmen und so gut wie möglich auf die drei Eier aufzuteilen. Das war eine wahrhaft meisterliche Siegelarbeit. Mindestens die Hälfte der Energie, die der Kessel lieferte, wurde für das Nest verwendet, wenn Crix die Berechnungsgrundlagen richtig verstand. In Wirklichkeit war der ganze Kessel also ein Nest, und wenn um den verwitterten, gehärteten Stein zur Beurtei lung heranzog, war es sogar ein sehr altes Nest. Der glü hende Stein schien in die Sockel der meisten Objekte hineingewachsen zu sein, trug sie und balancierte ihr Gewicht. Die riesigen Formen hatten früher wahrschein lich im Kraterkessel der geothermischen Kuppe gelegen. Das Wesen, das sie einst gelegt hatte, war wahrscheinlich von der Welt geschieden, noch lange bevor der Gilden pakt unterzeichnet worden war. »Das hier«, sagte Crix mit einer Stimme, die nicht viel 311
mehr als ein Flüstern war, »sind Dracheneier.« »Das kann nicht sein«, sagte Golozar. »Es gibt keine Drachen. Nicht mehr jedenfalls.« »Das ist Blasphemie«, sagte Crix betäubt. »Der große Niv-Mizzet ...« »Ich hätte sagen sollen, dass es außer ihm keine Dra chen mehr gibt«, sagte Golozar. »Aber Niv-Mizzet ist doch ein Er, oder? Willst du etwa behaupten, dass er die Eier gelegt hat?« »Mein lieber gebildeter Gruul-Freund«, unterbrach ihn Pivlic, »du wärst überrascht, wenn du wüsstest, wie viele Sachen ich in meiner relativ kurzen Zeit auf dieser Welt schon gesehen habe, von denen ich einst dachte, dass sie unvorstellbar seien. Nach und nach bin ich zu der Auffas sung gekommen, dass nichts unmöglich ist. Es gibt nur Unwahrscheinlichkeiten, die entweder eintreten oder nicht.« »Die hier sehen mir danach aus, als ob sie eingetreten wären«, sagte Kos. »Sie sehen ziemlich lebendig aus.« »O ja«, sagte Zomaj Hauc, der an den Rand seiner hän genden Landeplattform getreten war, die ihm gleichzeitig auch als Kontrollzentrum diente. Seine Stimme übertönte den Lärm mühelos, jedenfalls für Crix’ scharfe Ohren. Sie erkannte an den Gesichtern ihrer Begleiter, dass auch sie den Magierfürsten erkannt hatten. »Sie leben tatsächlich«, fuhr der Magierfürst fort. Seine kristalline Flugkugel, die Pyraquin, ragte wie ein überdimensionaler Heiligenschein über ihn hinaus. »Könnt ihr spüren, wie sie von Sekunde zu Sekunde wilder, wütender und ungeduldiger werden? 312
Sie wollen schlüpfen. Und jetzt, da mein Kurier ange kommen ist, werde ich ihre Wünsche erfüllen können.« Der Magierfürst breitete die Arme weit aus. In seinen Augen brannten orange Flammen. Um sie herum begann sich das gesamte Nest zu bewe gen, ein Umstand, der Crix aus ihrem Schockzustand zurückholte. Es war heute nicht ihr erster Schock gewe sen, aber sie wurden jedes Mal besorgniserregender. Die Dampfturbinen kreischten, als sich einige Bestandteile verdrehten und zu neuen Formen bogen. Diese neuen Formen lösten sich von den Leitungen und Röhren, ver ließen das Nest und umstellten die kleine Gruppe. Die Gestalten waren nur annährend humanoid und erinner ten Crix etwas an kleinere Versionen des ersten Nephilim, dem sie begegnet war – dem Schrottmonster. Das hier waren nicht bloß Monster, es waren Wächter, so ähnlich wie der Schmelz-Dschinn und die Seltsamkei ten. Nur dass diese hier direkt vom Magierfürsten kontrol liert wurden, wie Crix vermutete. Diese Gestalten konnten unmöglich eigene, unabhängige Gedanken haben. Nur Sekunden zuvor waren sie ja offenbar noch Teil der leb losen Dampfturbinen gewesen. »Mein Fürst«, sagte Crix, »ich habe mein Ziel erreicht. Das hier ist nicht nötig.« »Crix, Crix, Crix, Crix. Dich mochte ich irgendwie schon immer. Du bist eines meiner Experimente, auf die ich besonders stolz bin«, sagte Hauc ruhig. Aber diese Ruhe hielt nicht lange an, und seine Stimme klang bereits etwas verzerrt, als er weitersprach. »Du wagst es, über 313
haupt mit mir zu sprechen? Nachdem du beinahe versagt hast?« »Aber, mein Fürst, ich ...« »Crix, du bist ein Werkzeug«, unterbrach sie der Ma gierfürst. »Eines meiner Lieblingswerkzeuge, wie ich gern zugebe, aber trotzdem nur ein Werkzeug. Schweig! Du hättest diese anderen nicht in den Kessel bringen dürfen. Es ist nicht an der Zeit, dass andere hiervon erfahren. Noch nicht.« »Ich hätte erwartet, dass er glücklicher darüber ist, sie zu sehen«, flüsterte Kos den anderen zu. Dem konnte Crix nur zustimmen. Das war nicht das Willkommen, das sie erwartet hatte. Man konnte es ei gentlich noch nicht einmal eine Begrüßung nennen. Sie fühlte sich hier wie eine Gefangene, sogar weit mehr, als sie sich vor ein paar Tagen gefühlt hatte, wo sie gefesselt im Lager der Gruul lag. Golozar knurrte einen Kampfschrei und hob seinen Knallstab, mit dem er auf den am nächsten stehenden Röhrenwächter zielte. Das metallene Monster stand auf zwei dicken Beinen aus Feuer und Metall. Die vier Arme besaßen Finger aus bronzenen Bolzen und Drähten. Es hatte keinen Kopf, auf den man zielen konnte, daher ließ der Gruul einen Schuss auf die Mitte des skelettartigen, metallumrahmten Oberkörpers los. »Nein, tu das nicht!«, schrie Crix. »Du kannst es nicht ...« Der Schuss ging glatt durch das Monster hindurch, oh ne auf etwas Festes zu treffen, und prallte harmlos gegen 314
die Unterseite einer Plattform. Der Röhrenwächter warf Golozar mit einem Hieb auf den Rücken, die leer ge schossene Waffe rutschte ihm dabei aus der Hand und schlitterte über den Boden. Der Knallstab blieb so knapp am Rand einer Lavagrube liegen, dass er hineinzukippen drohte. Golozar krümmte sich vor Schmerzen. Einerseits hatte ihn der Schlag hart getroffen, andererseits machte aber auch ihm die große Hitze schwer zu schaffen. »Komm zu mir, Kurier«, sagte Hauc und wies die Röh renwächter an, die vier zu umzingeln. »Es wartet Arbeit auf uns. Da ich dich mag, Crix, kann es sogar sein, dass du lange genug überleben wirst, um zu sehen, welcher Bestimmung die Nachricht dient, die du bei dir trägst. Wenn du mir gehorchst, dürfen sogar deine Freunde zusehen. Aber danach müssen sie sterben, so wie du auch. Ich muss in der Lage sein, meinen Kurieren trauen zu können, Crix, und du zeigst mir zu viele Anzeichen von Selbständigkeit.« Haucs Worte trafen Crix härter, als es eine Faust ver mocht hätte. Ihr Meister, ihr Magierfürst, das eine Wesen, dem sie stets diente, ohne Fragen zu stellen. Und was hatte er für sie vorgesehen? Einen feurigen Tod, so sah es aus.
K
Lohnboss Aradoz war der Erste, der Teysa über den Weg
lief. Sie entschied, dass sie genauso gut bei ihm anfangen
konnte, das Heilmittel unter die Leute zu bringen. Bei den
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Gildenlosen war es am unwahrscheinlichsten, dass sie kostenlose Medizin einfach so einnahmen, erst recht, wenn sie von einer Orzhov kam. Sie hatte vor, genügend Leute zu einer kleinen Allianz zu formen, zu einem eige nen kleinen Gildenbund, um Haucs wahnsinnige Pläne zu bekämpfen. Wenn sie die Gildenlosen dazu bringen konnte, sich ihr anzuschließen, wäre bereits ein erster großer Schritt getan. Ein Teil ihres Gehirns beschäftigte sich immer noch mit dem, was Onkel preisgegeben hatte. Der Kessel war nur zum Teil künstlich. Er war in einem uralten Nistge biet einer noch älteren Rasse errichtet worden, und es hatte einen Grund gegeben, weshalb die Eier über Jahr tausende unter einer Schutzschicht vergraben gewesen waren. Und hätte nicht der Obzedat diesen Handel mit Niv-Mizzet abgeschlossen, wäre es auch weiterhin so geblieben. Aber Niv-Mizzet wollte, dass sie ausgebrütet wurden, und er hatte es geschafft, die Geister der Patriar chen mit irgendetwas zu überreden – mit Gold? Seelen? Mit etwas, was sie sich gar nicht vorstellen konnte? Dem Obzedat schien es egal zu sein, dass sie den Untergang Ravnicas riskierten. Utvara würde die Türschwelle für eine apokalyptische Macht sein, gegen die der Geisterrat nichts einzuwenden hatte. Drei neue Drachen auf der Welt. Utvara hatte auch so bereits genügend Probleme. Teysa hielt sich nicht für die große Weltbewahrerin, aber ihr war völlig unklar, wie jemand davon profitieren konnte, dass diese Kreaturen freigelassen wurden. Wahrscheinlich wäre der Obzedat 316
sicher, da dessen Mitglieder ja bereits Geister waren, aber worin lag der Sinn des Überlebens, wenn um einen her um die ganze Welt in Flammen stand? Anscheinend hatte sich ein ansteckender Wahnsinn im Obzedat ausgebreitet, genau wie sich die Kuga in ihrer Baronie ausgebreitet hatte. Und eben diese Baronie würde bald ein mit Asche gefüllter Talkessel sein, wenn sie nicht eine Möglichkeit fand, die Leute zu vereinigen. Teysa baute darauf, dass die Medizin ihr half, erst einmal an die Bewohner heranzukommen, aber sie hatte zur Not auch viele andere Möglichkeiten, auf die sie zurückgreifen konnte. Die drei Gruggs liefen ein paar Schritte hinter ihr. Phleeb war wachsam, die anderen beiden plapperten zufällige, bedeutungslose Silben vor sich hin. Bei frisch erschaffenen Thrulls dauerte es immer ein paar Stunden, bis sie sich etwas beruhigt hatten. Immerhin gehorchten sie sofort aufs Wort. Nach ihrem Halt an der Baustelle in den Elendsvierteln würde sie die drei mit einer Aufgabe betrauen, falls alles mit dem Lohnboss so funktionierte, wie sie sich das vorstellte. Wenn Teysa den Halbdämon nicht für den Plan gewinnen konnte, wäre wahrschein lich ihr ganzer Plan zum Scheitern verurteilt, aber sie vertraute ihrer Einschätzung des Mannes. Für eine Orz hov, die sich auf ihr Geschäft verstand, war Aradoz wie ein Rohdiamant, der nur noch darauf wartete, den für ihre Zwecke geeigneten Feinschliff zu bekommen. Er war ein Diamant, bei dem sie genau wusste, wo sie ansetzen musste. 317
Der Halbdämon entdeckte sie sofort, als sie in den neuen Weg einbog, den der Arbeitstrupp im Elendsviertel angelegt hatte. Nur diejenigen Gebäude waren nicht abge rissen worden, die noch einigermaßen ästhetisch wirkten, und das waren nicht viele. Aradoz hatte offenbar ein her vorragendes Auge hinsichtlich Architektur. Ein paar Ar beiter gingen in die Häuser, andere kamen heraus. An scheinend wurden sie als Unterkünfte für die Arbeitskräf te des Lohnbosses verwendet. Teysa erkannte, dass sie damit, Aradoz festzunageln, eine gute Wahl getroffen hatte. Sie hatte ihm Ziele ge steckt, die eigentlich nicht erfüllbar waren, aber er schien Wege zu finden, das trotzdem zu tun, möglicherweise sogar schneller und billiger als geplant. Sie war erfreut. Endlich lief einmal etwas so, wie sie sich das vorstellte. Lohnboss Aradoz sprang mit überraschender Ge wandtheit aus dem zweiten Stock des Gebäudes, dessen Grundmauern in atemberaubendem Tempo wuchsen. Er landete in der Hocke vor Teysa und ihren Thrulls, streck te sich kurz und verbeugte sich dann mit der unbeholfe nen Übertreibung eines, der das üblicherweise nur äu ßerst selten tat. »Baronin, es ist mir eine Ehre«, sagte er und hob den Kopf, um sie anzublicken. »Um die Wahrheit zu sagen – ich hatte Euch schon früher erwartet, aber wie ich bereits Eurem Majordomus sagte: Wir haben mit den Bauarbei ten keine vier Stunden nach der Erteilung Eures Auftrags begonnen. Ich hätte mich zu Euch in den Gasthof bege ben können, aber ich glaube, ich werde hier mehr benö 318
tigt, um alles in Gang zu halten. Wir wollen doch keine Zeit verlieren.« Der hoch aufgeschossene Halbdämon strotzte nur so vor Ergebenheit, und zu Teysas Überraschung konnte sie keine Spur von Unaufrichtigkeit darin finden. Er strahlte den Eifer aus, alles zu tun, was sie von ihm verlangte. Trotzdem erzählte er ihr nicht alles, so viel war klar. Das hätte sogar ein frisch zugelassener Advokat mit verbun denen Augen gemerkt. Der Lohnboss war beim Ausheben der Fundamente wohl auf eine Goldader oder etwas Ähn liches gestoßen. Alles andere ergab keinen Sinn. Aber das war Teysa im Moment egal. Irgendwann wür de sie den ihr zustehenden Anteil schon bekommen. Jetzt zählte allein seine völlige Hingabe, ihr zu helfen. Und Hilfe würde sie so viel brauchen, wie sie bekommen konnte. Sie nickte Aradoz zu und stützte sich auf ihren Stab, um sich die gesamte Front des heranwachsenden Gebäudes näher zu betrachten. Sie konnte sich langsam vorstellen, eines Tages tatsächlich hier leben zu wollen. »Gut gemacht, Lohnboss. Auch ich habe nicht viel Zeit, daher verzichte ich erst einmal auf den weiteren Aus tausch von Höflichkeitsfloskeln. Zuallererst möchte ich den Auftragszettel noch ein wenig ergänzen.« Dem Halbdämon schien sich zunächst alles zu sträu ben, aber sein begeisterter Gesichtsausdruck kehrte sofort wieder zurück. »Noch mehr Arbeit. Zu denselben ... Be dingungen, wie wir gestern besprochen haben?« »Ich mache dir einen neuen Vorschlag«, sagte Teysa. »Du kannst ihn annehmen oder auch nicht. Wenn du ihn 319
allerdings nicht annimmst: Die Fabriken in der Polarregi on brauchen immer Lohnbosse. Und du weißt, was das bedeutet. Denk nur an die Sterblichkeitsrate dort.« Aradoz nickte, schaffte es aber nicht ganz, einen bösen Blick zu unterdrücken. »Ich werde ihn annehmen, da könnt Ihr Euch sicher sein«, sagte er. »Ich wusste doch, dass du klüger bist, als du aussiehst«, sagte Teysa. »Also: Du besorgst mir vier der größten und widerstandsfähigsten Kraftmeier aus deinen Arbeits trupps. Ich zahle dir den Marktpreis für sie. Sie sollen mich zum Kessel begleiten, wo ich eine wichtige Unter redung mit dem Izzet habe. Wenn das erledigt ist und sie es überlebt haben, steht es ihnen frei, zu einem gerechten Lohn als Leibwächter anzuheuern – oder sich auf andere Stellen zu bewerben, die ihren Fähigkeiten entsprechen. Wenn sie wollen, werde ich ihre Anträge unterstützen, Abgaben zahlen zu dürfen.« Der Lohnboss riss die Augen auf, und sein stachelbe wehrtes Kinn klappte nach unten gegen seinen metalle nen Werkzeugkittel. »Mitgliedschaft in der Gilde?«, sagte er ungläubig. »Baronin, es sind doch nur Hilfsarbeiter. Seid Ihr Euch sicher, dass sie eine solch hohe Belohnung verdienen? Ihr müsst sie ja ziemlich dringend benötigen.« »Verderbt meine großzügige Laune nicht durch unnöti ges Feilschen.« »Ich bin untröstlich. Ich wollte doch nur ...« »Aradoz, ich mache dir einen Vorschlag. Lass mich ausreden, dann darfst du beide Hörner behalten.« »Meine ... Natürlich. Abgabenzahler. Ich bin mir sicher, 320
genau die richtigen Leute für Euch zu haben.« »Und jetzt kommt der Teil, auf den du hättest warten sollen, bevor du mit dem Feilschen angefangen hast. Ich kann ihnen nur dann rechtmäßig die Mitgliedschaft ge ben, wenn ich sie von einem lizenzierten Makler der Orz hov gekauft habe. Deswegen bist du jetzt, dank meiner Macht als Baronin von Utvara, ebenfalls ein Abgaben zahlendes Mitglied, und zwar mit sofortiger Wirkung.« Die Augen des Lohnbosses weiteten sich noch mehr. Er stand wie erstarrt da, als Teysa einen Schritt auf ihn zu trat, um an seinem Kragen einen kleinen Stein zu befesti gen. Er passte zu dem, den sie ihm bereits an den Auf schlag geheftet hatte. »Meinen Glückwunsch.« »Habt Dank, Baronin«, stammelte der Lohnboss. »Das ist die größte ...« »Hör mir zu, Aradoz. Zuhören ist die allerwichtigste Fähigkeit, die man erlernen sollte. Meistere sie, und du wirst es in der Gilde weit bringen. Und jetzt zeige mir, wen du für mich hast.« »Jetzt gleich? Ich muss die Listen durchschauen, nach Eignung durchforsten ...« »Das geht jetzt nicht. Ich habe es eilig.« »Natürlich, Baronin, aber ich werde zumindest ein paar Minuten brauchen, um sie alle zusammenzutreiben. Ob wohl die meisten hier so aussehen, handelt es sich bei ihnen nicht immer um Kämpfer. Seht Ihr die Oger dort drüben? Sie können mit bloßen Händen Stein zerreißen und Stahlstreben verbiegen, aber bei einer Prügelei tau gen sie nichts. Haben zu oft einen auf den Kopf bekom 321
men. Aber sie halten eine Menge aus. Wenn Ihr nur Ka nonenfutter braucht, wäre das die beste Wahl.« »Ich brauche die besten Kämpfer, die du hast. Sie müs sen miteinander auskommen und gehorsam sein«, sagte Teysa. »Kein Kanonenfutter. Ich habe ein gutes und ehrli ches Angebot unterbreitet. Und bevor du dich gleich auf die Suche machst, nur noch eines«, fügte sie hinzu, als wäre es ihr gerade erst eingefallen. Dazu passte Lächeln Nummer neunzehn: Oh, warum habe ich nicht früher dar an gedacht. »Ich will, dass du jeden einzelnen Gildenlosen, der noch aufzutreiben ist, bei dir anstellst. Gib ihnen die üblichen Verträge. Ich werde sie später unterzeichnen. Sie sollen die Gebäude in der Umgebung wieder so her richten, dass man darin leben kann. Es sollen Häuser sein, in die sie nach harter Arbeit heimgehen können, um Zidos in die Wirtschaft zu pumpen.« Der Lohnboss nickte. »Das wären dann die ersten rich tigen Bürger.« »Du begreifst schnell, Aradoz. Und jetzt zu deinen Ar beitern ... Teysa vermied es weiterhin, die Arbeiter als Sklaven zu bezeichnen. »Sie werden in den kommenden Monaten und Jahren äußerst beschäftigt sein, dieses Tal in eine glänzende neue Stadt zu verwandeln, in der ihre Nachkommen dann ihr ganzes Leben im Dienst des Hau ses Karlov verbringen können. Falls sie stark genug dafür sind.« Teysa wusste, dass viele der Gildenlosen sich entweder im Exil befanden oder von ihren Gilden ausgestoßen worden waren. Zumeist handelte es sich um Rakdos oder 322
Gruul. Der Herausforderung, ihre Stärke zu zeigen, wür den die meisten nicht widerstehen können. »Wann braucht Ihr diese vier Kämpfer?«, fragte Aradoz. Der geifernde Dummkopf, als der er sich bei ihrer ersten Begegnung gegeben hatte, war wie verwandelt. Aus ihm war ein äußerst tüchtiger Geschäftsmann geworden. »Jetzt sofort, Lohnboss«, sagte Teysa. »Mach dich an die Arbeit.« Sie drehte sich zu den Gruggs um. »Ihr Brüder, kommt mal her.« Gehorsam trotteten die Thrulls zu ihr herüber. Beim Laufen stützten sie sich wie Gorillas auf den Handknöcheln ab. Allerdings hatten diese Gorillas keinen Pelz, dafür aber goldüberzogene Klauen und einen Froschkopf, der zu ihren Amphibienbeinen passte. Sie benötigte einen zweiten Bephel, und sein Bruder musste dafür ausreichen. Sie legte eine Hand auf die Stirn des Anführers der drei. »Phleeb. Sprich.« »Phleeb spricht, Baronin, große, tolle Baronin, die ...« »Sprich nur, wenn es dir gesagt wird«, stellte Teysa klar, und das weit geöffnete Maul des Thrulls schloss sich. »Hör gut zu! Du nimmst jetzt deine neuen Brüder und läufst mit ihnen nach Norden in die Huske. Dort sucht ihr nach Kos und Pivlic. Kannst du dich an die beiden erin nern?« »Haben andere Brüder mitgenommen, genau das ha ben sie getan!«, sagte der Thrull, der bemüht war, so viele Wörter der für ihn neuen Sprache zu verwenden wie möglich. Er schien an seiner neuen Fähigkeit sichtlich Freude zu haben. »Kann sie finden, ganz sicher! Sicher! Brüder noch am Leben!« 323
»Gut zu wissen«, sagte Teysa. »Dann lauf los und finde sie, und falls dieser Kurier bei ihnen ist, bring ihn her. Wenn der Kurier nicht bei ihnen ist, dann helft ihnen, ihn zu finden. Es handelt sich um einen weiblichen Goblin mit blauer Kleidung und rotem, zu einem Knoten zu sammengestecktem Haar. Einer von ihren Armen glüht. Ihr könnt sie nicht verwechseln. Also schafft sie her! Wenn sie nicht kommen will, tötet sie. Und tötet auch jeden, der euch dabei aufhalten will. Verstanden? Es ist sehr, sehr wichtig, dass du sie findest, selbst wenn mit Bephel und Elbeph etwas passiert ist. Alles klar?« »Ja! Blaue Kleider! Zurückbringen! Will nicht kommen, sie bekommt Klauen zu spüren! Die Klauen! Verstanden!«, saget Phleeb. »Bephel und Elbeph, sie werden dort sein. Thrulls schwer zu töten!« »Ich verlasse mich auf euch«, sagte Teysa. »Viel Glück.« Die Thrulls waren schon am Stadtrand angelangt, als Aradoz mit den Kandidaten zurückkam, die er aus der Masse seiner Arbeiter herausgesucht hatte: als Erstes zwei Minotauren-Geschwister, Bruder und Schwester, bei de nen vor lauter Narben kaum noch Haut zu sehen war. Sie trugen Mizzium-Ringe in der Nase, was bedeutete, dass sie einst von den Izzet versklavt worden waren. Das war gut. Sie würden begierig sein, es den Izzet heimzuzahlen. Der Dritte war ein Goblin, der einen Kopf größer war als alle Goblins, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte. Er konnte ihr in die Augen sehen, ohne das Kinn heben zu müssen. Nein, er war nicht nur Goblin. Die Augen und die Zähne verrieten, dass unter seinen Vorfahren auch ein 324
Troll gewesen sein musste, wodurch dann auch die Größe erklärt wurde. Und dann war da noch eine Elfin, anschei nend eine Devkarin. Sie beäugte Teysa wie eine Katze, die eine Maus belauert. Die Devkarin schaute erst weg, als Teysa sie selbst fest anblickte. Niemand beherrschte das Katz-und-Maus-Spiel so gut wie eine Advokatin. »Aradoz, stell sie doch bitte kurz vor, und kümmere dich dann um die anderen Angelegenheiten, die wir be sprochen haben«, sagte Teysa. »Gern, Baronin«, sagte der Halbdämon. Er zeigte auf den männlichen Minotaur. »Das sind Sraunj und seine Schwester Enka. Ich habe sie in einem Gruul-Lager ge funden. Sie hatten dort jeden getötet, aber die Seuche war zu stark für sie. Der Pollen hier wirkt Wunder. Der Kerl mit den Zähnen wird Dreka-Zahn genannt. Ihr dürft ra ten, warum.« »Nein«, sagte Teysa. »Hallo Sraunj, Enka, Dreka-Zahn«, fügte sie hinzu und nickte ihnen nacheinander zu. »Will kommen in der Mannschaft.« »In Ordnung, in Ordnung, die Zeit drängt, entschuldigt, Baronin«, sagte der Halbdämon. Er hatte seine anfängli che Hemmung in Rekordzeit überwunden und war inzwi schen fast schon ausgelassen. »Die Dame am Ende ist Nayine Shonn. Sag Hallo, Nayine.« »Hallo«, sagte die Devkarin. Als sie lächelte, konnte man ihre glitzernden Zähne sehen, die mit MizziumSpitzen überkront waren. Unter grünen, verfilzten Rasta locken, die das Ergebnis von Färbemittel und Lehm wa ren, spiegelte sich der Mond in ihren schwarzen Augen. 325
Teysa hatte schon davon gehört, dass das Überkronen von Zähnen bei denjenigen Devkarin üblich war, die noch rohes Fleisch aßen, auch wenn der Brauch langsam am Aussterben war. Aber es war ihr neu, dass Mizzium dafür verwendet wurde. »Hat der Lohnboss euch mitgeteilt, worum es geht?«, fragte Teysa. »Ihr braucht Kämpfer«, sagte Nayine. Sie schien die Sprecherin der Gruppe zu sein oder zumindest diejenige, die erst einmal die Verantwortung übernahm. »Wir gehö ren Euch. Wir helfen Euch, dafür werden wir dann freige lassen. Wir können uns dann sogar Eurer Komiker-Gilde anschließen. Habe ich etwas vergessen?« »Nein«, sagte Teysa. »Vergiss nur nicht, wer hier das Sagen hat.« »Oh, natürlich, Baronin«, sagte die Elf in mit schamlo ser Unaufrichtigkeit. Teysa ignorierte das bewusst. »Nimm ihnen die Hand fesseln ab, Lohnboss«, befahl sie, und der Halbdämon gehorchte sofort. Teysa zog eines der Röhrchen mit dem Heilmittel gegen die Seuche aus ihren Gewändern und ging auf den ersten Minotaur zu. »Halt kurz ruhig«, sagte sie und drückte das Ende des Röhrchens gegen die Schul ter des Tiermenschen. Nachdem sie das auch mit den anderen drei und mit Aradoz gemacht hatte, der zwar protestiert, aber dank der Macht des Orzhov-Bluts eben falls still gehalten hatte, drückte sie ihm das Röhrchen in die Hand. »Das muss jeder deiner Arbeiter innerhalb eines Tages bekommen. Es ist eine Medizin gegen die Seuche. 326
Das hier sollte reichen, dass du alle damit versorgen kannst, aber es muss so schnell wie möglich geschehen. Und wenn ich herausbekomme, dass du irgendjemand dafür bezahlen lässt, werfe ich dich für immer aus der Gilde hinaus.« »Ich ...« Dem Halbdämon klappte wieder einmal die Kinnlade nach unten. »Ja, Baronin.« »Guter Mann«, sagte Teysa. »Ihr vier folgt mir. Wir müssen noch ein paar Zwischenstationen anlaufen, bevor es ans Kämpfen geht.« Wenn es überhaupt zum Kampf kommt, fügte sie insgeheim hinzu.
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Kapitel 12
H
Überall in Ravnica patrouillieren die Ledev-Wächter die Straßen und sorgen dafür, dass man in Sicherheit reisen kann. Überall, nur nicht hier. Warum? Wovor haben sie Angst? Vielleicht sind die Gerüchte ja wahr. Vielleicht lässt die Macht des Selesnija-Konklaves ja tatsächlich nach. Dann müssen wir tapferen Pioniere diese Aufgabe übernehmen und uns selbst schützen. Wenn nämlich wir es nicht ma chen, wer dann? Leitartikel des Utvara-Bürgerblatts (11. Golgar 10009 Z. C.)
2. Cizarm 10012 Z. C. Teysas kleine Gruppe war inzwischen fast zu einer klei nen Armee angewachsen, als sie das umzäunte Gebiet rund um den Vitar Yescu erreichten. Sie hatte vorüberge hend ein Dutzend von Dr. Nebuns starken, unverwüstli chen Virusoiden ausgeliehen bekommen. Diese missge stalteten Kreaturen bestanden aus den Rohzutaten der Krankheiten, zumindest hatte ihr das der Simic erzählt. Um es ihm zu glauben, benötigte sie keinen Wahrheits kreis. Da die Wesen keine Namen trugen, hatte sie sie 328
durchnummeriert, und Dr. Nebun war so freundlich ge wesen, ihnen die Ziffern mit Säure in die Haut zu bren nen. Die Wesen würden nur auf ihr Wort hören, solange ihnen der Doktor keine neuen Anweisungen gab, und auf Nebun wartete erst einmal eine Menge neuer Arbeit im Labor. Teysa war sich sicher, dass die hanebüchenen Ideen, die sie ihm aufgetischt hatte, für den Doktor eine Herausforderung darstellten. Das Angebot von Uvulung, dem missgebildeten Frosch, auch ihn mitzunehmen, hatte sie abgelehnt. Die Diebesgilde hatte ihr drei Schat tengänger für achtundvierzig Stunden zur Verfügung gestellt, alle darüber hinausgehende Zeit würde dreifach berechnet werden. Teysa ging davon aus, dass die drei sich auch dort aufhielten, wo sie sie eingegliedert hatte, war aber froh, dass sie das Trio im Schattenlicht nicht sehen konnte. Sie hatten die Aufgabe, den Rest der Trup pe zu überwachen und jeden niederzustrecken, der Teysa bedrohlich wurde. Die Diebe waren keine echte Gilde im Sinne des Gildenbunds, obwohl es immer wieder Gerüch te gab, dass sie Befehle des Meisters der Dimir empfingen, des Vampirs Szadek also. Die meisten Leute mit etwas Vernunft, einschließlich Teysa, hatten diese Gerüchte als haltlos abgetan. Dann war der Gildenmeister der Dimir unerwartet bei der Zehntausendjahresfeier aufgetaucht, wo er just von dem Mann verhaftet worden war, den sie mit Pivlic zusammen losgeschickt hatte, um Haucs Kurier zu finden. Teysa war es einerlei, was die Mitglieder der Diebesgil de auf dem Kerbholz hatten und wem sie dienten. Wich 329
tig war nur, dass in ihrer Gilde Verträge genauso als heilig betrachtet wurden wie bei den Orzhov. Die Gilde würde ihre Tätigkeit einstellen können, wenn man dem Wort eines Diebs nicht mehr vertrauen konnte. Außerdem war Diebstahl sowieso nichts anderes als einer von vielen Geschäftszweigen. Viele Mitglieder verstanden sich eher als Privatermittler, und sie hatte als Advokatin in einigen Fällen auch schon auf deren Hilfe und Ermittlungen zu rückgreifen können. Leider hatte sie hier in Utvara keine brauchbaren Rak dos auftreiben können. Sie waren schon vor langem wäh rend der Brachzeit von den Gruul ausgelöscht worden – die beiden »Stammesgilden« waren erbitterte Feinde. Aber dafür hatte sie ein Quartett von riesigen Golgari-OgerZombies anheuern können. Die Wesen bestanden zur Hälfte aus Pflanzenmaterial, zur anderen Hälfte aus totem Fleisch und hatten nicht viel mehr Hirn als die Virusoi den, was aber auch nicht dringend nötig war. Sie mussten ebenfalls in achtundvierzig Stunden wieder zurück auf den Farmen sein. Aber achtundvierzig Stunden war so wieso der maximale Zeitrahmen, den sich Teysa gesteckt hatte. Danach wäre alles sinnlos. Die Zombies marschier ten neben zwei Haazda, den einzigen beiden nüchternen Ordnungshütern, die sie in der Hauptwache angetroffen hatte. Die beide Männer waren sofort dabei gewesen, als ihnen kostenlose Getränke im Geflügelten Bold für den Rest ihres Lebens in Aussicht gestellt wurden. Bis Teysa sie wieder aus ihren Diensten entließ, würden sie aller dings vorerst nichts zu trinken bekommen. Haazda waren 330
keine Wojeks, und ihr Eid nicht bindend. Die beiden wa ren wahrscheinlich die am wenigsten brauchbaren Mit glieder ihrer aus vielen Gilden rekrutierten Streitmacht, aber ihre Anwesenheit bedeutete für ihren eigenen klei nen Gildenbund größere Vielfalt und damit auch größere Stärke. Ihr fehlten nur noch drei Gilden, die sie eingliedern wollte: die Selesnijaner, die Gruul (falls es noch welche gab, da ja die Taj auf der Suche nach dem Kurier die Huske auseinander nahmen) und schließlich noch Izzet, die entschlossen genug waren, ihrem wahnsinnig gewor denen Magierfürsten den Rücken zu kehren. Sie rief nach Shonn, und die Devkarin trat zu ihr. »Bleib bei den anderen. Das hier wird nur einen kurzen Moment dauern.« Teysa vertraute ihr immer noch nicht ganz, aber die Elfin hatte sich als sehr nützlich herausgestellt, ihr bei der Leitung der »Truppe« zu helfen. Teysa hoffte, dass Nayine Shonn erkannt hatte, welches Potenzial in der derzeitigen Großzügigkeit der Baronin steckte. Die Elfin hatte mitbekommen können, wie Teysa an diesem Abend mit Zidos nur so um sich warf, und vielleicht hatten die Taten sie ja überzeugt, wo Worte nicht durchgekommen waren. Es hatte auch Wunder gewirkt, dass die Medizin kostenlos verteilt wurde. Dies sei sehr untypisch für eine Orzhov, hatte die Devkarin angemerkt, nachdem Teysa die Diebesgilde mit einer ausreichenden Menge versorgt hatte. Teysa musste sich jetzt darauf verlassen, dass es bei dieser Einschätzung blieb. Sie atmete tief durch und musste fast sofort niesen, da 331
die Luft hier besonders reich an Pollen war. Ihre ganze Gruppe schreckte fast im Einklang zusammen, obgleich sie das bei den Schattengängern wieder nicht genau er kennen konnte. »Wartet hier auf mich«, sagte Teysa. »Ich bin gleich zu rück.« Sie ging einen Steinpfad entlang, der über einen klei nen, kahlen Rasen mit vielen Flecken führte. Am Weg rand standen einige dünne, ungesund aussehende Bäu me, aus deren aufgeplatzter Rinde es heraustropfte. Die Golgari hatten mehr Erfolg, aus der metallverseuchten Ebene Pflanzen hervorzubringen als die Anhänger des Lebens. Der Vitar Yescu war das Einzige auf dem ganzen Gelände, was einigermaßen gesund aussah. Wenn der Baum ein Gebäude gewesen wäre, hätte man von zehn bis zwölf Stockwerken sprechen können. Spiralförmige Rampen und Leitern führten zu Ausgucken, auf denen die ersten Ledev-Wächter standen, die Teysa seit ihrer An kunft in Utvara zu sehen bekam. Der größte Teil der se lesnijanischen Bevölkerung schien hier zu sein, um den Baum zu beschützen, und nicht, um auf ihm zu wohnen. Stattdessen hatten sich die verschiedenen Mönche, Mini stranten und andere wichtige heilige Gestalten ihre Un terkünfte in einem kleinen Wald aus schnell wachsenden Vezbäumen gebaut. Teysa bemerkte, dass den Golgari nur ein kleiner Teil der Gebäude zugewiesen worden war, was sie aber nicht groß überraschte. Es gab hier noch nicht genügend Gol gari, um alle zu besetzen und die Selesnijaner komplett 332
umzusiedeln, wie sie es angeordnet hatte. Der Vitar Yescu sah gesund aus, soweit Teysa das einschätzen konnte, also hatten die Untoten in der Nähe anscheinend keinen Einfluss auf ihn. Natürlich war der Vitar Yescu jetzt nicht länger vonnöten, jedenfalls nicht, solange die Seuche nicht aufs Neue mutierte. Einer der Vorteile der beiden Haazda war es, dass sie so ehrlich waren, wie man das von Ordnungshütern nur erhoffen konnte. Der Pfad gabelte sich genau so, wie sie es beschrieben hatten. Er lief unter einem komplizierten Netz hindurch. In den Vezbäumen am Wegrand saßen Spinnen, die so groß wie Dromads waren und lange, dik ke Fäden glitzernder Seide spannen. Die Selesnijaner ernteten diese Fäden, um sie sehr vielseitig zu verwenden – für Waffen, Rüstungen, Bauwerke und Kunst. Leucht kugeln, die von gedrillten Spinnenfäden herabhingen, erleuchteten den Teil des Wegs, wo die großen Netze kaum Mondlicht durchließen. Der Pfad endete an vier Vezbäumen, die zusammen gewachsen waren und eine kleine Festung aus Holz, Stein und Stahl bildeten. Hier konnte man Wrizfar Rindenfeder, den Obersten Akolythen des Selesnija-Konklaves, Heiliger Bewahrer des Vitar Yescu, Ritter des und so weiter finden, hatten die Haazda behauptet. Die Spinnen störten Teysa nicht im Geringsten. Sie war schon oft zwischen den Beinen eines Walzenspinnengo lems hindurchgegangen, der diese Wesen hier platt wal zen konnte, wenn er wollte. Arachniden konnten ihr kei 333
ne Angst mehr einjagen. Sie war keine Beute, und die Spinnen schienen das zu spüren. Sie machten ihr den Weg frei und huschten zu ihrem Nest zurück, um dort auf eine einfachere Mahlzeit zu warten. Teysa verließ den Spinnentunnel und trat in den Schat ten des lebenden Gebäudes. Anders als bei den restlichen Vezbäumen hatten diese vier, die möglicherweise zu ei ner Unterart gehörten, dicke Zweige, an denen dünne, wachsige Nadeln hingen. Die dicke Rinde war fast nicht zu erkennen, da alles in der für Selesnijaner typischen Architektur zugebaut worden war. Wohnhäuser, Biblio theken, Wachstuben, Schulen, Kasernen – alles flocht sich in die Struktur des Gebäudes ein. Einer der Zweige war dazu gebracht worden, nach unten zu wachsen, und bildete jetzt eine breite Rampe, über die man in das erste Stockwerk des Konklaves von Utvara gelangte. Eine Dop peltür aus Rotholz, die in der Mitte des Torbogens fast neun Meter hoch war, stand offen und ließ die Nachtluft hinein. Teysa ging die Rampe hoch – zur Überraschung einiger umherstreifender Gemeindemitglieder, die es aber nicht wagten, sie direkt anzuschauen und ihrem Blick zu begegnen. Als Teysa durch die Türen trat, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Eine Welle des Willkommens und der Gemütlichkeit hatte sich über sie ergossen. Emo tionale Überfälle dieser Art waren ihrer Erfahrung nach geradezu eine Spezialität der Selesnijaner. Die Gemeinde hatte sich gerade versammelt, und sie wurde streng bewacht. Ein breiter Mittelgang trennte zwei große Gruppen, die 334
man getrost als gute Mischung der typischen Anhänger des Lebens bezeichnen konnte. Zentauren knieten auf ihren Vorderbeinen und hatten den Kopf zur Meditation gebeugt. Silhana-Elfen in weißen und smaragdfarbenen Gewändern verschiedenen Stils, die trotzdem alle gleich aussahen, saßen im Schneidersitz da. Auch sie schienen ganz in die Versammlung ihrer Seelen vertiert zu sein. Die Selesnijaner hielten das für einen Weg, direkt mit dem Leben zu kommunizieren, aber Teysa hielt nicht viel davon. Es gab auch wild aussehende Menschen, junge Dryaden, die gerade erst aus dem Baum der Einheit ge schlüpft waren, und sogar eine alles überragende Familie von Loxodons. Sechs Zentauren in der Kampfrüstung der Ledev standen in Dreierreihen auf beiden Seiten des Gangs. Ihre scharfen Stangenäxte glühten im grünlichen Licht der selesnijanischen Leuchtkugeln. Niemand schenkte ihr jedoch groß Beachtung, als sie zielstrebig auf die Kanzel zuging. Einer der Selesnijaner hatte auf jeden Fall bemerkt, dass sie hereingekommen war – der Einzige, dessen Au gen geöffnet waren, seit Teysa die Rampe erklommen hatte. »Wrizfar Rindenfeder«, sagte sie und riskierte da mit, die gänzlich unproduktive Meditation über die Wun der der Existenz zu stören. »Ich bin Teysa Karlov. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?« Der Elf entwirrte seine Beine und erhob sich mühelos. Er nickte kurz, und sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Es wäre hilfreich, wenn er mit ihr kooperierte, aber sie erwartete nicht, dass es einfach zu bewerkstelligen war. 335
Es war dumm von ihr gewesen, ihn anfangs abweisend behandelt zu haben. Ihre Fehleinschätzung hatte nur kurzfristig einen hohen Unterhaltungswert eingebracht, mehr nicht. Der alte Elf, der schon vor langer Zeit verrunzelt und kahl bis auf einen kunstvoll geflochtenen Bart geworden war, legte einen Finger an die Lippen. Teysa nickte ihm zu. Rindenfeder krümmte den Finger und gab ihr ein Zeichen, dass sie ihm folgen solle. Es ging eine Wendel treppe nach oben in das nächste Stockwerk, und Teysa mühte sich hinter ihm her. Anscheinend bedeutete Re spekt vor Leben in allen seinen Formen nicht, dass man für eine Frau mit Krückstock ein Geländer zum Abstützen einbauen musste. Sie schaffte es schließlich auch so. Rindenfeder führte Teysa durch mehrere gewundene Tunnel, die in den Stamm des Baums hineingewachsen waren. Dabei kamen sie an einigen leer stehenden Räu men vorbei. »Eure Gemeinde scheint noch nicht voll be setzt zu sein«, merkte Teysa an. »Ist es im Moment schwer, neue Anhänger zu rekrutieren?« Der Elf warf ihr über die Schulter einen ausdruckslosen Blick zu, der gerade lang genug war, dass sie sich die Hand vor den Mund hielt und in einen Flüsterton verfiel. In Ordnung, ich bin jetzt leise. Der Blick war ausdruckslos, aber nicht ohne Bedeutung gewesen. Schweigend verbrachten sie den Rest des Wegs, der an einer wie willkürlich ausgewählten Tür endete. Teysa konnte keine Hinweisschilder oder Markierungen erken nen, die diese Tür von anderen unterschied. Auch die 336
Einrichtung des Raums war nicht besonders auffällig, sondern eher das komplette Gegenteil der reichhaltigen verzierten und mit Inventar überladenen Räume und Gänge in Orzhov-Gebäuden. Die eine Seite des Raums wurde ganz von Bücherregalen eingenommen, die andere von hohen, geteilten Fenstern, durch die der riesige, ver zerrt wirkende Mond sein Licht auf die karge Einrichtung des Zimmers warf. »Der Mond selbst ist nicht verzerrt«, sagte Rindenfeder. »Es wird durch etwas verursacht, das Eure Leute bestellt und bezahlt haben, wenn ich mich nicht irre. Ihr nennt es ›das Schisma‹.« »Jeder nennt es ›das Schisma‹«, sagte Teysa. Sie war zu einem gewissen Grad erleichtert, dass nicht das ganze Gespräch als Pantomime ablaufen würde. Sie ging zu dem einzigen Möbelstück in dem sonst leeren Zimmer, einer großen Sitzstange direkt neben einem geöffneten Flügel des Fensters. »Ihr wirkt auf mich nicht wie ein Falkner, Rindenfeder, aber da ihr Euren Namen ja aus einem bestimmten Grund bekommen habt, hätte ich es mir auch ... He! Hört auf, meine Gedanken zu lesen.« »Dann denkt bitte nicht so laut«, sagte der alte Priester. »Ich denke nicht ... Na, egal. Was wisst Ihr über das Schisma? Nur eine kurze Antwort, wenn es Euch nichts ausmacht. Ich habe heute schon mit zu vielen sich kryp tisch ausdrückenden Leuten gesprochen, und ich bin es inzwischen ein wenig leid.« »Ich weiß, dass es der Grund dafür ist, dass es in dieser Gegend keine Geister gibt – natürlich außer Euren Taj. Sie 337
sind bemerkenswert, aber eben auch ein Spezialfall, nicht wahr?« »Taj?«, sagte Teysa. »Eure Geisterdiener. Euer Majordomus ist mit ihnen unterwegs, und Ihr werdet bald auf sie treffen, wenn Ihr Euren derzeitigen Weg beibehaltet. Was wollt Ihr von mir, Teysa Karlov?« »Ich würde mich freuen, wenn ich erfahren könnte, woher Ihr so viel wisst«, antwortete Teysa. »Ich bin nicht hier, um noch mehr Reichtum aufzuhäufen. Ich bin auch nicht hier, um mich mit Euch zu streiten.« Sie öffnete ihren Umhang und zog zwei Röhrchen ihres immer ge ringer werdenden Vorrats an Medizin hervor. Sie streckte sie dem Elf entgegen, der sie betrachtete, sich aber nicht bewegte. »Darum bin ich hergekommen: eine Möglich keit, diese Seuche auf einen Schlag auszulöschen. Die Kuga, Rindenfeder, und zwar für immer. Mit diesem Ge genmittel. Und bevor Ihr Euren Einwand vorbringt: Ja, es ist von den Simic. Ich bin mir bewusst, dass die Simic und die Anhäng..., ähm, die Selesnijaner nicht immer in allen Punkten übereinstimmen, aber diese Medizin wird funk tionieren.« Der Elf hatte sich immer noch nicht gerührt oder auch nur die Miene verzogen. Sein Gesichtsausdruck blieb der einer inneren Einkehr. »Woher wisst Ihr so genau, dass es funktionieren wird?«, fragte er. »Ich habe Nebun befragt, während er sich in einem Wahrheitskreis befand. Er konnte nicht lügen. Die Medi zin hilft tatsächlich. Allerdings nur, wenn alle sie inner 338
halb von vierundzwanzig Stunden einnehmen.« »Dies klingt äußerst verdächtig«, sagte der Elf. Er ging ein paar Schritte auf Teysa zu und nahm eines der Röhr chen in die Hand, als ob es eine giftige Schlange wäre. »Die Magie der Simic beruht auf unnatürlichen Grundla gen. Ihre Heilmittel sind oft noch schlimmer als ihre Seu chen.« »Beantwortet mir nur diese eine Frage«, sagte Teysa. »Falls jeder, der im Moment noch die Seuche in sich hat, plötzlich immun würde – bliebe dadurch ausreichend Pollen übrig, um die Seuchenerreger in der Luft völlig auszurotten? Oder könnte die Seuche wieder mutieren? Die Simic können solche Sachen herstellen, aber dafür scheint Ihr zu wissen, wie sie sich verhalten, sobald sie erschaffen wurden.« »Könnte sie mutieren? Wird sie mutieren?« Der alte Elf konnte seinen neutralen Gesichtsausdruck nicht länger bewahren, einen Augenblick lang war leichte Überra schung in seinem Gesicht zu lesen. »Ich glaube, der Vitar Yescu wäre dazu in der Lage«, antwortete er schließlich. »Natürlich könnte die Seuche auch wieder mutieren. Es gibt viele Möglichkeiten.« »Viele Möglichkeiten? Genauer könnt Ihr Euch da nicht ausdrücken?« »Leider nicht. Aber die Angelegenheit interessiert mich. Ich befürchte zwar immer noch, dass wir die Nebeneffek te dieses ›Heilmittels‹ der Simic später bereuen werden, aber ich habe Euch wohl falsch eingeschätzt, Teysa Kar lov. Ich hatte nicht erwartet, dass Ihr tatsächlich vorhabt, 339
diese Region zu retten.« »Und ich habe Euch unhöflich behandelt«, sagte Teysa. »So etwas ist nur schlecht für das Geschäft.« Sie legte den zweiten kleinen grünen Zylinder in seine Hand, und er betrachtete ihn mit einer seltsamen Neugierde – wie ein Kind, das zum ersten Mal ein Schwert anfassen durfte. »Ihr, und zwar alle, müsst es nehmen. In den beiden Röhrchen ist genügend Mittel, um alle hier zu heilen, aber es muss jetzt unverzüglich eingenommen werden.« Ohne auf seine Antwort abzuwarten, nahm sie einen der beiden Zylinder wieder in die Hand und drückte das Ende des Röhrchens gegen Rindenfeders Hals. Der Mann stöhnte und riss die Augen auf. »So wird die Medizin inji ziert. Ganz einfach.« »Es ... es funktioniert wirklich.« »Natürlich«, sagte Teysa. »Nun ist es an Euch, Euch um die anderen Selesnijaner zu kümmern, Rindenfeder.« »Und warum müssen wir das tun, Teysa Karlov?«, sagte Rindenfeder, dessen Stimme immer lauter und dunkler wurde. Er richtete sich auf, und seine sanften Augen fun kelten jetzt zornig. »Wer glaubt Ihr zu sein, dass Ihr dieje nigen befehligen könnt, deren einziger Herr das Leben selbst ist?« Er presste eine Hand gegen seinen Nacken, als hätte ihm ein Insekt dort einen juckenden Stich beige bracht. »Wenn Ihr es nicht tut, dann haben wir jede Gelegen heit vertan, drei neugeborene Drachenjunge davon abzu halten, uns bei lebendigem Leib zu verbrennen.« Jetzt war der alte Elf wirklich entsetzt. Es geschah so 340
plötzlich, dass Teysa es sich nicht verkneifen konnte, ein kleines Lächeln des Triumphes zu zeigen. »Wie bitte?«, sagte Rindenfeder. »Drei neugeborene was?«
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Teysa verschob die Schlaufe, die ihren Stock davon ab halten sollte, ihr beim Reiten gegen die Beine zu schla gen. Ihrem Dromad schien das nicht so gut zu gefallen, aber es trottete trotzdem in einem angemessenen Tempo die Hauptstraße hinunter. Das Reittier war ein Geschenk von Rindenfeder und seiner Kirche gewesen. Der alte Elf hatte natürlich darauf bestanden, dass sich die Dromads ihre neuen Herren selbst aussuchten – kein Wesen möge ja ein anderes besitzen, Obzedat bewahre! Die Kirche war in der Lage gewesen, jedem in ihrem Trupp, der reiten konnte, ein Tier zur Verfügung zu stellen. Die anderen bemühten sich, Schritt zu halten, wenngleich die Dro mads recht schnell waren. Sie ließen die Minen hinter sich, von denen einige auch noch in der Nacht in Betrieb waren. Die meisten wurden allerdings allabendlich verlassen, oft blieb nur eine Nachtwache in einem Ausguck hoch auf den Bohrtürmen zurück. Teysa zügelte ihr galoppierendes Dromad, als sie auf einen so engen Pfad stießen, dass man dort nicht weiterreiten konnte. Das musste der Weg zum Lager der Gruul sein. Jedenfalls war es der Weg, den Kos und Pivlic eingeschlagen hatten. Das konnte sie an den beiden zer 341
fetzten Thrulls und dem toten, aufgedunsenen Dromad ablesen, das zwischen den beiden lag. Das Dromad war Kos’ Tier gewesen. Sie hatte gesehen, wie er es aus dem Mietstall geholt hatte. Die Thrulls waren Bephel und El beph. Elbephs Leiche war sogar fast über eine Meile des Wegs verstreut. Von Phleeb und seinen neuen Brüdern war nichts zu sehen. Aber Teysa war auch keine Spuren leserin. Außer den Reittieren hatten die Selesnijaner noch ei nen weiteren wichtigen Beitrag zu ihrer Streitmacht gelei stet: einen goldenen Falken, der gerade in ihr Ohr kreischte. »Das waren Eure Verbündeten«, sagte der Vogel mit der Stimme des Obersten Akolythen oder jedenfalls der Annäherung davon, die eine Vogelkehle erzeugen konnte. »Ja, Rindenfeder«, sagte Teysa. »Aber Ihr braucht nicht um sie zu trauern. Trauert um das Dromad, wenn Ihr wollt. Aber nicht um die Thrulls. Und klammert Euch bitte nicht zu fest. Eure Krallen sind ziemlich scharf.« Sie ließ sich seitlich von ihrem Dromad herabratschen und griff dabei nach ihrem Gehstock. Sie hob eine Hand, wor aufhin Nayine Shonn den Rest der seltsamen Truppe zum Halten brachte. »Ich sehe, was Ihr da tut. Ich kann mich nicht in so unmittelbarer Nähe zu Nekromagie aufhalten!«, kreischte der Falke. »Beruhigt Euch, es ist keine Nekromagie. Naja, jeden falls nicht genau«, sagte Teysa. Obwohl ... »Eigentlich ist es doch Nekromagie. Warum macht Ihr nicht einen kur 342
zen Flug über die Huske? Schaut, ob Ihr eine Spur von Pivlic oder diesem Menschen Kos findet. Oder ob Ihr die Gruul sehen könnt. Nur blickt bitte nicht ausgerechnet hier hin, wenn ihr dadurch so laut am Kreischen seid.« »Gern«, sagte der Falke und erhob sich von Teysas Schulter. Er kreiste über ihnen und krächzte, als er kurz den Mond verdeckte. »Gestaltwandlerischer Angeber«, murmelte Nayine. »Ich bitte um einen kurzen Moment Ruhe«, sagte Teysa zu ihrer zusammengewürfelten Truppe. Sie trat zu Bephel, dem toten Thrull. Bephel war höchstwahrschein lich von allen Thrulls bereits am häufigsten getötet wor den, aber dadurch fiel es ihm immer leichter, danach wieder fit zu werden. Sie hob die Überreste seines Kopfes an einem Ohr auf und drückte den Kopf auf den Stumpf seines reptilienartigen Halses. Als sie den Kopf losließ, sprach sie seinen Namen aus. Gegen alle Logik blieb der abgetrennte Kopf dort, wo sie ihn hingedrückt hatte, und begann mit der Bildung neuen Fleischs. Als Nächstes nahm sie seinen Schwanz und ein abgetrenntes Bein und drückte beides ebenfalls wieder an den Körper, während sie dabei immer wieder »Bephel« sagte. Ein Arm links, ein Arm rechts, und der Thrull war wieder vollständig. »Steh auf, sagte sie schließ lich, und dank dem Orzhov-Blut tat Bephel Grugg auch genau das. »Bephel. Sprich.« »Es war schrecklich«, sagte der Thrull, als wäre seine vollständige Wiederbelebung etwas Alltägliches. »Der Majordomus – er war schon hier, und er tut schreckliche 343
Dinge. Viele böse Dinge. Das Zuschauen hat Spaß ge macht, aber dann hat er böse Dinge mit Bephel und El beph gemacht. Elbeph, der schon verletzt war. Er wollte gerade zu mir zurückzukommen! Kommt Elbeph bald zurück?« »In einer Minute«, sagte Teysa. »Und wo war der Major domus?« »In dem lausigen Lager der primitiven Gruul, wo auch sonst«, sagte Melisk und trat hinter einem im Schatten liegenden Vorsprang hervor, der wie eine natürliche Bar rikade der Huske gegen die Sandebene wirkte. Diese Vor sprünge wurden auch gern als »Zähne der Huskvold« bezeichnet. Im gleichen Moment wie der Majordomus bewegte sich auch der Rest der Hügel mit ihm. Ausge mergelte, bleiche Gruul-Leichen, die von den Taj beses sen waren, schienen aus jedem Riss und jeder Spalte der Gegend aufzutauchen. Die Geister schienen eifrig gewe sen zu sein und hatten, nach Teysas erster schnellen Zählung, mindestens dreißig Körper unter ihre Kontrolle gebracht. Dreißig Taj gegen ihre zusammengewürfelte »Gildenbund-Armee«, und dann war da ja auch noch der Majordomus, der selbst viel Macht hatte, ob mit oder ohne das Blut der Orzhov. So wirkte es jedenfalls. »Ich muss schon zugeben, Melisk«, sagte sie, »dass ich irgendwie gehofft habe, dass es so geschehen würde.« »Dass was so geschehen würde?«, fragte der Verräter. »Dass du die Taj mitbringen würdest«, sagte Teysa. »Dass du zu verängstigt sein würdest, um mir allein gege nüberzutreten, du armseliges, verräterisches, hirnverge 344
waltigendes Schwein. Du bist gerissen, das muss ich dir lassen. Und verdammt verschlagen. Aber du hast ein kleines Problem.« »Ach, wirklich?«, sagte Melisk. »Und was sollte das sein?« »Du bist nicht ganz so schlau, wie du gern glaubst.« »Das hier sind meine Taj, Herrin«, sagte Melisk. »Sie haben die Gruul von Utvara in ihren Heimen vernichtet und werden den Rest auch noch problemlos zusammen treiben. Sie haben einen ganzen Lokopeden voller Orzhov zerstört, obwohl sie nur zu zehnt waren. Ihr habt keine Chance.« »Wo hast du studiert, Melisk?«, fragte sie. »Was hat das damit zu tun?«, antwortete der Majordo mus. »Worüber redet Ihr ...« »Wo?«, wiederholte Teysa. »Du brauchst aber nicht zu antworten, ich weiß es auch so. Du hast in denselben Gebäuden studiert wie ich, von denselben Meistern der Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und dazugehörigen arkanen Künsten.« »Natürlich habe ich das«, sagte Melisk. »Aber mich langweilt es allmählich, dass ihr hier auf Zeit spielen wollt. Ihr könnt Euch nicht mit klugen Worten retten, ›Baronin‹. Ich habe zu lange warten müssen. Ihr könnt mich jetzt nicht mehr aufhalten. Die Taj gehören mir.« »Dann greif mich doch an«, sagte Teysa. »Falls du nicht wissen willst, warum ich dich jetzt ausgerechnet nach deiner Ausbildung gefragt habe. Bist du nicht neugierig, Melisk?« 345
Der Majordomus wirkte zum ersten Mal, seitdem Teysa ihn kannte, etwas verunsichert. »Sagt es mir.« »Es gibt Bereiche im Studium, die nur denjenigen offen stehen, die das richtige Blut haben«, sagte Teysa. »Das ist doch lächerlich«, sagte Melisk. »Ich bin kein Kind, mit dem man so reden kann.« Er wirkte ehrlich überrascht, dass Teysa nicht mit jedem Wort, das sie sagte, immer müder wurde. Er schien zu versuchen, ei nen »Schlafkrankheit-Zauber zu wirken. Sie klopfte mit ihrer Faust gegen ihre Schläfe. »Habe einen neuen Doktor gefunden«, sagte Teysa. »Hat mich geheilt. Du kommst hier nicht mehr hinein, Melisk. Du kannst mir nichts mehr rauben oder verwei gern. Und du kannst mir auch sie nicht rauben.« Melisk lächelte. »Sie? Ich weiß nicht, wovon Ihr redet.« »Die Taj. Gehorchen sie dir?«, fragte Teysa. »Wie Ihr mit eigenen Augen sehen könnt«, sagte Me lisk, aber seine Stimme verriet bereits, dass ihm erste Zweifel kamen. »Es geht um diese drei Steine hier, Melisk«, sagte Teysa. Sie stützte sich mit der linken Hand auf ihren Stock und schüttelte die Ärmel von ihrem rechten Handgelenk, so dass man die drei Steine deutlich im Mondlicht erkennen konnte. »Du hast nicht die leiseste Ahnung, was die Steine wirklich bedeuten oder was es mit dem Blut auf sich hat. Nichts, das nur aus Orzhov-Magie erschaffen wurde, kann ihm jemals widerstehen.« »Ich habe genug Taj hinter mir, um ...« »Hast du?«, sagte Teysa. »Oder habe vielmehr ich das?« 346
Der Majordomus ließ die Augen hin und her flitzen. Da waren dreißig Taj, die hinter ihm standen – beziehungs weise dreißig Taj, die ihn umzingelten, wenn man es aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. »Tja«, sagte Teysa. Ihre geübte Stimme drang glocken hell durch die mondhelle Nacht. »Tötet Melisk! Und lasst kein Stück von ihm übrig, das größer ist als ...« Sie lächel te Melisk an, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Er machte Anstalten, sich in jede denkbare Richtung gleichzeitig davonzumachen. »Kein Stück, das größer als ein Ei ist«, beendet sie den Satz. Teysa hatte in ihrem Leben noch nie etwas, das mit Rache zu tun hatte, so sehr genossen wie die Schreie des verräterischen Majordomus. Die Schreie hallten durch den Dunst, wurden von den metallenen Hügeln zurück geworfen und brachten ihre Dromads zum Ausreißen. Beim letzten Ton des Schreckens war Melisk schon lange tot. Teysa suchte den Falken in der Luft. »Du kannst wie der herunterkommen, Rindenfeder!« Die Baronin konnte den hauchartigen, durchsichtigen Umriss, der Melisks zerfetzten Körper verließ und in Richtung des Schismas in den Himmel wehte, kaum wahrnehmen. Der Geist wirbelte wie Rauch, als der Falke plötzlich mit gerecktem Schnabel in ihn hineinflog. Der Zusammenprall mit dem Vogel zerschmetterte den zerbrechlichen Geist, und er begann zu flimmern. Melisks Seele zerstreute sich wie der Rauch, dem sie ähnelte. Der Falke flatterte nach unten und landete auf Teysas Schul ter. 347
»Eine sehr vielversprechende erste Schlacht«, sagte der Gestaltwandler. »Wir haben mit der richtigen Arbeit noch nicht begon nen«, sagte Teysa. »Wir sollten die Dromads wieder ein fangen. Ich glaube nicht, dass dieser Pfad uns rechtzeitig zum Kessel bringt.« Es waren noch Stunden bis zum Sonnenaufgang, aber der Himmel wurde mit jeder Minute etwas heller. Sie wusste nicht, was dies für das Schisma bedeutete, das ja die Quelle des neuen Lichts war, aber es war hell genug, um das Licht des langsam untergehenden Mondes zu verdrängen. »Shonn«, rief sie, als sie dann zu ihrer gemischten Truppe zurückkehrte. »Baronin.« Die Devkarin saß bereits auf einem Dromad und führte Teysas Tier neben sich. »Euer Dromad steht bereit. Wohin geht es als Nächstes?« »Zählst du schon deine Belohnung, Devkarin?«, sagte Teysa, während sie sich wieder in den Sattel hochzog und ihren Stock befestigte. »Ich bin beeindruckt. Du hättest diesen Knallstab problemlos stehlen können.« Sie zeigte auf die Waffe, die unter der Stockschlaufe ihres Sattels hervorlugte. »Ihr werdet ihn eher brauchen als ich«, antwortete Nayine Shonn. »Langfristig seid Ihr im lebendigen Zu stand viel wertvoller für uns alle.« »Wenn das schon ausreicht«, sagte Teysa. »Sag mal, glüht das Schisma oft so wie jetzt?« »Meiner Erfahrung nach nicht. Allerdings haben mich 348
irgendwelche Haazda-Idioten ohne Sinn für Humor im mer wieder für längere Zeit eingesperrt. Und deren Zellen haben nicht allzu viele Fenster.« »Darf ich fragen, warum man dich einsperrt?« »Ein wenig dies, ein wenig das. Mord, betrunken in der Öffentlichkeit, öffentlicher Mord in betrunkenem Zu stand. Und Raubüberfälle. Gruppenüberfälle auf Passa gierverkehr, Tempel, Banken – das Übliche halt.« »Und das reicht schon aus?«, fragte Teysa und versuch te, etwas zu riechen. »Bist du im Moment betrunken?« »Wovon denn – von der Milch von Orzhovs Gnaden?«, sagte Nayine mit dem Blick einer Frau, die einem Kind erklärte, wie die Götter jeden Tag die Sonne in den Him mel schoben. »Riecht irgendwie ... selbst gebraut«, sagte Teysa und bemühte sich, nicht die Nase zu rümpfen. »Aber es ist eigentlich auch egal. Mir jedenfalls. Hör zu – wir gehen in den Kessel hinein, ob die Izzet das jetzt mögen oder nicht. Es wird wahrscheinlich etwas Widerstand geben, sobald Hauc erfährt, dass ich Melisk habe töten lassen.« »Ist das Orzhov-Ausdrucksweise dafür, dass ich dabei helfen soll, aus diesem Trupp Verlierer eine Räuberbande zu machen, die einen Magierfürsten in seinem eigenen Haus überfällt? In dem da?« Shonn zeigte auf den Kessel, der im Licht des Schismas glühte. Er schien fast vor Ener gie zu bersten, je heller das Schisma wurde. »Genau«, sagte Teysa. »Meiner Meinung nach müssen wir uns als erstes Gedanken über ...« »Wenn Ihr meine Hilfe wollt, dann hört zuerst einmal 349
mir zu«, sagte die Devkarin. »Auch sollten wir noch ein mal über unsere Abmachung reden, was meine Freiheit anbelangt.« »Du willst jetzt schon eine Lohnerhöhung?« »Wollt Ihr nun eine eigene kleine Armee?« »Also gut«, sagte Teysa. »Aber jetzt sollten wir keine Zeit mehr verlieren. Mir müssen uns zuerst um diesen Sceada kümmern.« »Das dürfte nicht allzu schwierig sein«, sagte die Dev karin. »Könnt ihr mit diesem Knallstab auch treffen?« »Auf große Entfernung?«, antwortete Teysa. »Das weiß ich nicht. Ich habe es noch nicht ausprobiert.« »Ich muss zugeben, dass auch ich erst ein einziges Mal mit einem geschossen habe, aber ich kann mit einem Langbogen auf zweihundert Meter einen Frosch vom Kopf eines Zombies schießen, selbst wenn mir der Nord wind ins Gesicht bläst. Überlasst den Knallstab mir, dann kümmere ich mich um den Sceada.« »Und was machen wir mit den Wachen vor dem Kes sel, den Seltsamkeiten und den Dschinns?«, fragte Teysa, die damit erst einmal der Frage nach dem Knallstab aus wich. Die Elfin hatte das sehr wohl bemerkt. Sie blickte eini ge Sekunden lang starr auf den Kessel und drehte sich dann im Sattel zu Teysa um. »Ich glaube, wir werden uns um sie kümmern können. Kann von uns denn außer Eu rem Papagei dort noch jemand fliegen?« Der Falke hüpfte von Teysas Schulter und landete in Rindenfeders Gestalt als Elf auf dem Boden. »Du gehst 350
davon aus«, sagte er, »dass ich nur die Gestalt eines Fal ken annehmen kann.« Seine grünen Augen funkelten, und er grinste breit. »Welchen Vorschlag hättest du denn, Devkarin?«
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Kapitel 13
H
Mizzium ist ein Metall, das es eigentlich gar nicht geben kann, doch trotzdem ist es da. So wie es scheint, ist es selbst für die Kräfte, die es geschmiedet haben, undurch dringbar. Ich möchte nun den Beweis antreten, dass das Metall des Drachen beileibe nicht die Extremtemperaturen erträgt, die zu erschaffen wir in der Lage sind. Magierfürst Mindosz der Ketzer, vom Feuerhirn am 8. Xivaskir 3203 Z. C. eingeäschert
3. Cizarm 10012 Z. C. Kos hatte genügend Groschenromane gelesen, während er im Geflügelten Bold und im Hauptquartier des Zehnten Distrikts Nachtschichten geschoben hatte, um eine der Standardfiguren der billigen Unterhaltung als solche zu erkennen: den verrückten Magierfürsten, der vorhatte, die Welt mit Überflutungen, Feuer, Eis oder einer Kombi nation dieser Elemente zu überziehen. Der Magierfürst verriet den Helden immer seinen genauen Plan, sobald er sie gefangen genommen und in den unmöglichsten Posi tionen gefesselt hatte. Der pensionierte Wojek hatte allerdings nicht erwartet, 352
dass er jemals tatsächlich einer solchen Person begegnen oder sich selbst in der Rolle des gefesselten Helden wie derfinden würde. Aber es kam ihm so vor, als wollte Zo maj Hauc seine Rolle in dem ganzen Spektakel bis zum bitteren Ende spielen. Kos hoffte, dass er sich nicht täuschte. Seine Fähigkeit, Leute einzuschätzen, war leicht angerostet, und dieser Mann war offensichtlich wahnsin nig. Aber sie waren nun einmal hier, ein wahrlich gefes seltes Publikum, und Hauc marschierte die »Bühne« sei ner Landeplattform auf und ab. Natürlich war das Leben kein Groschenroman, und wahre Hoffnung auf Flucht bestand nicht, da selbst Crix mit ihnen hier oben festgebunden war. Mizzium und Silber drückten an hundert Stellen gegen Kos Körper, aber das war noch das kleinere Problem im Vergleich zu den Schmerzen in seinen Schultern und Knien, da er kopfüber über dem Innenleben des Kessels aufgehängt worden war. Hauc hatte befohlen, dass den vieren ihre Ausrüstung und der größte Teil ihrer Kleidung abge nommen wurde – gut, bei Golozar waren das hauptsäch lich Waffen gewesen. Die Gefangenen wurden dann ge trennt und hingen jetzt in allen vier Himmelsrichtungen von der Decke. Kos hatte in der Stadt der Gilden vieles gesehen, aber seit dem großen Fruchtbarkeitsfestival 9987 keine so große Anzahl an Goblins mehr auf einmal, erst recht nicht hier in Utvara. Aber diese Goblins schienen sich nicht um den weiteren Fortbestand ihrer Spezies küm mern zu wollen. Die Izzet-Goblins arbeiteten pausenlos 353
wie eifrige Insekten, um drei neuen Wesen der wahr scheinlich tödlichsten Spezies der ganzen Welt ins Leben zu helfen. Soweit Kos das erkennen konnte, wimmelten sie auf der gesamten Grundfläche des Kessels herum und kletterten zudem noch überall an den Streben, Stützen, Umschaltstationen und Energieleitungen herum, die zwi schen den Generatoren, den Wänden, dem Boden und dem Nest in der Mitte verliefen. Der Rauch verdeckte gelegentlich den freien Blick auf die Lavagruben im hinte ren Teil, aber Kos konnte sie auch so riechen. Er bemerk te, dass die meisten der glühenden, mattweißen Röhren an der Ostseite ihre Energie direkt in das Nest mit den drei Eiern zu speisen schienen. Das Gebäude wurde von vielleicht einem Dutzend Ele mentarwesen und Dschinns verteidigt, die das Bollwerk bewachten. Dazu kamen noch ein paar Goblin-Bogen schützen, die auf einer ringförmigen Plattform über Kos zusammengepfercht waren. Die Arbeiter konnte man lediglich als einfache Verteidiger zählen, wenn sie zum Kämpfen überhaupt ihre Arbeit aufgeben würden, in die sie fast schon zwanghaft vertieft waren. Der durchsichtige Körper der berühmten Pyraquin reflektierte ein orange farbenes Licht und streute es über die gesamte Szenerie. Die Breite des Kessels nahm ab, je näher man seiner Kuppeldecke kam. Das bedeutete, dass Kos, der an der Nordseite ganz in der Nähe des schlafenden Sceadas hing, nicht viel mehr als dreißig Meter von Golozar entfernt war, der nach Kos’ Berechnungen im Süden hing. Der alte Wojek schätzte, dass das Metallgewirr, das ihn festhielt, 354
knapp zwei Meter von der Innenwand entfernt war. Pivlic war von Kos aus gesehen auf der rechten Seite, also im Westen, und die Goblin-Frau Crix hing links. Alle waren ungefähr fünfzehn Meter von der Landeplattform ent fernt, wo Zomaj Hauc stand und in den Einzelheiten sei nes Plans schwelgte. Oder es zumindest versuchte. Kos konnte sich nicht entscheiden, was das Schlimmere an seiner misslichen Lage war: Haucs Pläne an für sich oder der Zwang, ihm zuhören zu müssen, wie er alles haarge nau beschrieb, was er vorhatte. Die Arroganz der Izzet-Magierfürsten galt als legendär. Es hatte schon seinen Grund, warum die Bösewichte in den Groschenromanen immer genauso klangen – ein Izzet, der genügend Macht hatte, konnte den Drang, da mit zu prahlen, einfach nicht zurückhalten. Das Interessanteste an der Geschichte war, zumindest für Kos, dass Golozar es geschafft hatte, den Magierfür sten so anzustacheln, dass er mit dem Reden begonnen hatte. Hätte der Gruul solche Fähigkeiten bewiesen, als er noch in der Stadt gelebt hatte, hätte er seine Ausbildung an der Akademie dort vollenden können. Golozar hätte eventuell sogar sein Partner werden können, und das wäre keine schlechte Sache gewesen. »Mein Fürst«, sagte Crix und unterbrach damit Kos’ Ge dankenspiele. »Warum macht Ihr das? Ich bin so weit gereist, um Euch diese Nachricht zu überbringen. Ihr habt sie mir selbst übergeben und gesagt, dass ich sie Euch hier abliefern soll. Nun, jetzt bin ich hier, und es war nicht einfach, mein Fürst. Ihr müsst diese Last von mir 355
nehmen. Warum wartet Ihr noch?« Kos konnte nicht anders, er empfand Mitgefühl für die kleine Goblin-Frau, auch wenn das Mitgefühl gegen Furcht, Panik und Grauen ankämpfen musste. Crix war zu einem unsicheren, Fragen stellenden Kind geworden, dessen Vater nichts mehr von ihr wissen wollte. »Gib es doch auf, Goblin«, knurrte Golozar. »Ist halt ein wenig ungemütlich für dich. Na und? Jeder, den ich kann te und mochte, ist wahrscheinlich inzwischen tot. Wir haben alle unsere Probleme. Nimm Hauc hier. Er kann wahrscheinlich nicht genug Energie auf die Eier umleiten, und selbst wenn ihm das doch noch gelingt, ist es klar, dass ein Idiot wie er nie in der Lage sein wird, gleich drei Drachen auf einmal zu beherrschen.« »Es geht mir nicht darum, dass es unbequem ...«, be gann die Goblin-Frau, bevor sie das soeben Gesagte zur Gänze verstand. »Dein ganzer Stamm? Selbst der Zen taur?« »Hörst du eigentlich dem gleichen Magierfürsten zu wie ich?«, sagte Golozar. »Das ist schlecht«, sagte Pivlic. »Das ist wirklich, wirk lich, wirklich schlecht, meine Freunde.« Er wand sich in den blanken Silberfesseln, mit denen er kopfüber an ein Mizzium-Gestell gefesselt war, das in etwa Menschenform hatte. Dieses Gestell war vor einigen Stunden gemeinsam mit drei anderen noch herumgelaufen, um Kos und seine drei Gefährten aufzusammeln und mit ihnen in allen vier Himmelsrichtungen die Wand hochzuklettern. Dort hat ten sich die Gestelle wieder mit den anderen wirren Röh 356
ren verbunden, sich gedreht und verändert, bis sie zu perfekten persönlichen Gefängniszellen geworden waren. Aber warum hatten Haucs Röhrenwächter auch Crix mitgenommen? Die ganze Zeit über hatte Kos angenom men, dass die Nachricht, die der Kurier zu überbringen hatte, äußerst dringend sei, und das hatte die Goblin-Frau anscheinend auch selbst gedacht. Und trotzdem schien Hauc völlig damit zufrieden zu sein, Crix mit ihnen zu sammen von der Decke baumeln zu lassen. Kos blickte nach unten auf den pulsierenden Pyroma na-Generator, der ihm heiße Luft entgegenblies. Er saß auf einem käferförmigen Kraftwerk, das Energie und Magie ansaugte und wieder abgab. Kos verstand von die ser Art Technik gar nichts, außer dass sie eine Hitze er zeugte, die knapp an der Grenze zu einem Flammenin ferno war. Und überall wuselten Goblins umher. Goblins rannten in Laufrädern, die an Dampfturbinen angebaut waren, Goblins fummelten mit Schraubenschlüsseln, die größer als sie selbst waren, an Kurbeln herum, Goblins zogen Hebel herab, indem sie aus einem höheren Stock werk auf sie hinabsprangen. Alle zusammen sorgten da für, dass die ganze Vorrichtung auch funktionierte. Selt samkeiten und Dschinns gossen geschmolzenen Stein und flüssiges Metall in die Dampfkerne und teilweise auch in die Generatoren. Kos hatte von seinem unfreiwilligen Aussichtspunkt aus einen guten Blick auf Haucs Plattform und konnte zwei der drei riesigen Eier sehen, die darunter lagen. Er war kein Ingenieur, aber er würde eine Wette darauf ein 357
gehen, dass die Plattform noch nicht einmal den ersten geschlüpften Drachen überleben würde. Nicht, dass er auch nur irgendetwas über frisch ge schlüpfte Drachen wusste. Woher auch. Es gab ja nur noch einen Drachen auf der Welt, und dieser hatte sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr öffentlich blicken lassen. Obwohl Sceadas von der Gestalt her ähnlich aus sahen, waren sie doch nur große Tiere. Drachen dagegen waren fast schon Götter, und der alte Halunke Niv-Mizzet war ein Einsiedler, der eine ganze Gilde organisierte, nur um seine Langeweile zu bekämpfen. Er war dafür berüch tigt. Leute schrieben satirische Theaterstücke darüber. Niv-Mizzet war in gewissen Kreisen schon fast ein Volks held, in anderen ein veritabler Gott, aber er war auch immer die Verkörperung mutwilliger, massiver Zerstö rung. Die Drachen der alten Zeit waren schreckliche Kreatu ren gewesen und einer der Gründe, warum sich die jun gen Gilden überhaupt zusammengesetzt und gemeinsam den Gildenbund erschaffen hatten. Das hatte er alles bei Fräulein Molliya auf der Klippschule gelernt. Drei brand neue Drachen? Kos ging davon aus, dass er nicht lange genug überleben würde, um das noch mitzubekommen, aber die Chancen standen gut, dass nicht viel von Utvara oder Ravnica übrig bleiben würde, um dort überhaupt noch sein Lebensende verbringen zu können. Sein Schicksal schien sich als passend komplizierte Lö sung ausgedacht zu haben, einfach den Rest seines Le bens zu verkürzen, um das auszugleichen. Kos konnte 358
nicht sagen, dass er diese Lösung besonders gelungen fand. Besten Dank, liebes Schicksal, dachte er grimmig. Crix war ähnlich wie Pivlic angekettet, allerdings hatte sie aus offensichtlichen Gründen einen Arm frei – die Tätowierungen auf ihrem Kurier-Arm glühten heller, wenn der Magierfürst auf seinen Runden über die Platt form in ihre Nähe kam. Der Arm hing nutzlos herab, an scheinend waren die Nerven der Goblin-Frau taub gewor den. Kos kannte das Gefühl. »Mein Fürst«, wiederholte Crix. »Die Nachricht. Wollt Ihr sie nicht?« »Crix«, sagte Zomaj Hauc und beendete damit die läng ste Schweigepause, die Kos bei ihm bislang erlebt hatte – eine gute halbe Minute. »Ich werde sie mir zum passen den Zeitpunkt herausholen. Aber zuerst willst du doch zweifellos wissen, was die Nachricht enthält. Die Neugier muss euch doch umbringen, euch alle vier. Dabei mag ich es gar nicht, wenn Neugier mir meinen Applaus raubt.« »Die Neugier tötet mich fast, aber der Winkel, in dem ihr mich hängen lasst, ist noch etwas schlimmer, bei allem Euch zustehenden Respekt«, sagte Kos. »Ich glaube, meine Schulter ist fast schon aus dem Gelenk gesprun gen, und was ich noch an Haaren auf dem Kopf habe, wird demnächst verschmort sein. Es wird bis zu meiner Beerdigung nicht genügend Zeit zum Nachwachsen ha ben. Aber klar, erzählt uns, wie die Nachricht lautet. Ihr wisst ja eh schon, dass Ihr es uns erzählen werdet.« Und vielleicht, vielleicht verplappert Ihr Euch dabei auch und gebt uns einen Hinweis, wie wir Euch aufhalten können. 359
»Der Inhalt der Nachricht bedeutet mir nichts, mein Fürst, denn sie geht nur den Empfänger etwas an«, sagte Crix fast schon mechanisch. »Ich bin nur an der sicheren Überlieferung an meinen Herrn und Meister interessiert. Ich vertraue Eurer Weisheit, dass ...« »Oh, danke schön. Deine Weisheit besteht darin, mei ner Weisheit zu vertrauen«, sagte Hauc. Der Kreis, den er zog, wurde immer größer, langsam erreichte er den Rand der Plattform. Seine Stimme dröhnte wegen der verrück ten Akustik des Kessels geradezu. »Dein Vertrauen war das letzte Puzzelteil, das mir noch gefehlt hat. Hurra! Nun habe ich alles, was ich für meinen Plan brauche. Hört gut zu, ich habe Crix’ Vertrauen!« »Mein Fürst, ich wollte doch nur meine Aufgabe erfül len. Mehr wollte ich nie«, sagte Crix. »Ich verstehe Eure Zurechtweisung nicht.« »Sei ruhig, ich war ... Ach, auch egal, Crix«, fuhr Hauc fort, und in der Zeit, die er benötigte, um den Namen der Goblin-Frau auszusprechen, veränderte sich seine Stim me von wild zu väterlich. »Liebe Crix«, sagte er und blieb direkt unter ihr stehen. Die Tätowierungen mit der Nach richt schimmerten hell, weil der Magierfürst so nahe war. »Die Nachricht ist in Sicherheit. Ich werde sie mir bald von dir zustellen lassen, aber die Zeit ist noch nicht ganz reif dafür. Du hast letztlich deine Aufgabe erfüllt. Aber wenn das Wissen, das du für mich herumträgst, zu früh zu mir zurückkehrt, könnten die falschen Leute davon erfahren und versuchen, mich aufzuhalten. Und ich glau be nicht, dass irgendjemand von uns das will. Ich kann es 360
nicht zulassen, dass du oder einer deiner neuen Spielge fährten hier herumläuft und während der letzten Phase des Projekts im Weg herumsteht.« »Das Feuerhirn«, sagte Crix, und ihre Stimme war fast nur noch ein Flüstern. »Ihr würdet Euch gegen Niv-...« »Sprich den Namen nicht aus«, unterbrach sie Hauc scharf. »Noch nicht jetzt jedenfalls. Seine Aufmerksamkeit darf nicht hierher gelockt werden.« »Euer Projekt wird dafür sorgen, dass dieser Ort dem Erdboden gleichgemacht wird«, sagte Kos. »Und den Rest der Welt gleich mit dazu. Ihr könnt nicht drei Drachen gleichzeitig kontrollieren. Und ich spreche jetzt als einer, der sowieso nicht mehr viel zu verlieren hat, höchstens ein oder zwei Jahre Lebenszeit.« »Ihr wisst alle nicht, zu was ich alles in der Lage bin«, antwortete Hauc. Seine Augen blitzten rot auf, und zwei Lichtpunkte brutzelten auf Kos’ Stirn herum. Sie wurden immer heißer, und Kos hätte schwören können, dass er versengte Haut roch. »Magierfürst, nach alldem, was Ihr uns erzählt habt«, sprang Pivlic in seinem besten Verhandlungston ein, »sind doch die Orzhov Eure Partner bei diesem Unter nehmen. Rein zufällig bin ich der älteste OrzhovVerhandlungsführer hier, und ich glaube, dass es keine Notwendigkeit gibt, mich noch länger an dieser Wand hier festzuhalten.« Der Bold wirkte auf Kos gefährlich verletzbar, nachdem er ihn ja zuletzt nur im gut gefütter ten Schutzanzug gesehen hatte. Seine Flügel waren aus gebreitet und wurden von Dutzenden Haken und Klem 361
men festgehalten. »Pivlic«, sagte Kos. »Es besteht auch keinen Grund, meinen Hausmeister noch länger an das Gestell zu fesseln«, sagte Pivlic. »Er ist ein bisschen dumm – hat einfach schon zu viele Hiebe gegen den Kopf bekommen, als er noch in den Fressgru ben in der Kneipe gekämpft hat. Aber ich muss immer noch rückwirkend Steuern für ihn bezahlen. Ich bin mir sicher, dass Ihr solche Situationen auch kennt.« »Du hast meinen Gedankengang unterbrochen!«, brüll te Hauc den Bold an. Zwei Strahlen aus glühend heißer Energie blitzen aus den Augen des Magierfürsten und trafen auf die Klemmen, die Pivlic die Arme an die Seite pressten. Das Silber begann, sich orangerot zu färben, und Pivlic schrie. Die Halterungen bogen und dehnten sich, während sich Pivlic unter dem Blick des Magierfür sten wand. Kos konnte undeutlich sehen, wie die Finger an Pivlics Hand rückwärts zählten: vier, drei, zwei, einer, dann eine Faust. »Das reicht«, brüllte Kos, der hoffte, dass er Pivlics Zei chen richtig interpretiert hatte. »Ihr verbrennt ihn ja bei lebendigem Leib!« »Nun, von allen hier ist er der Wertloseste. Mir ist es ziemlich egal, was die Orzhov denken, erst recht bei die sem naseweisen Wirt.« Er fuhr sich sinnend über das Kinn, während er seinen Angriff auf Pivlic fortsetzte. »Aber ich möchte Gestell siebzehn nicht gern mehr Hitze aussetzen, als es sein muss. Manche meiner Diener re spektieren mich immer noch.« Der Angriff des Magierfür 362
sten endete so abrupt, wie er begonnen hatte. Jetzt richte te er seine nicht nur sprichwörtlich qualmenden Augen auf den alten Wojek. Pivlic stöhnte und jammerte, aber aus den Augwinkeln konnte Kos sehen, wie der Bold ge gen die geschmolzenen Klemmen drückte. Silber war zwar ein auffälliges Material, aber nicht unbedingt die beste Wahl für die Klemmen an »Gestell siebzehn« – auch wenn Pivlic gerade eine lautstarke Vorstellung ablieferte, um Hauc in Sicherheit zu wiegen. Zum ersten Mal konnte Kos jetzt auch die kleine Glas kugel sehen, die sich direkt hinter Pivlic befand. Sie leuchtete hell, während sie die Hitze absorbierte. Das rote Wasser in ihr brodelte wie Blut, und an einer Seite zeigte sich ein winziger Riss. Ich hoffe, du weißt, was du da tust, Pivlic, dachte Kos. Auf ihrem Weg nach Utvara waren sie eines Nachts von Gruul umzingelt worden, und Kos war sich sicher gewesen, dass sein letztes Stündchen geschlagen hatte. Pivlic war ganz langsam durch das brennende Lagerfeuer gegangen, um ihre Waffen zu holen, und auch wieder zurück. Jedes Mal hatte er sich fast eine halbe Minute dafür Zeit gelassen, die ganze Aktion aber ohne Narbe oder Brandwunde überstanden. Sie hatten die Banditen danach ohne größere Gegenwehr vertreiben können. Es musste schon extrem heiß sein, damit ein Bold es über haupt bemerkte, und noch viel heißer, damit er Schmerz empfand. Hauc schien das augenscheinlich nicht zu wis sen. Oder er dachte, die Schmerzgrenze des Bolds bereits übertroffen zu haben, jedenfalls grinste er nun boshaft, 363
während Pivlic immer lauter jammerte. »Ich kapiere nicht, wieso Ihr glaubt, dass Ihr diese Eier nur kochen müsst, damit da Drachen schlüpfen«, mischte sich Golozar ein, der immer noch bemüht war, Einzelhei ten aus dem Magierfürsten herauszubekommen. »Das wirst du nie verstehen, Gruul«, sagte Zomaj Hauc. »Aber ich versuche es mal mit einfachen Wörtern, die du vielleicht auch verstehst.« Seine Augen ruhten immer noch auf Kos, daher bemerkte er auch nicht, dass Pivlic inzwischen einen Arm frei bekommen hatte. »Das Schis ma wird mit ektoplasmatischer Energie gespeist. Diese Energie wird hier hineingeleitet.« Er zeigte auf die kristal linen weißen Rohre, die von der östlichen Mauer zum Nest führten. »Dann wird sie ins Nest weitergeleitet, wo die drei Neuen ausgebrütet werden. Dieser Vorgang ist jetzt bald beendet.« »Ihr meint Seelen«, knurrte Golozar. »Die Seelen der Toten ernähren Eure neuen Drachen.« »Das habe ich doch gerade erklärt«, blaffte Hauc ihn an. »Golozar, lass ihn weitererzählen«, sagte Kos. »Das ist ein ... genialer Plan.« Zu Kos’ Überraschung bekam er Unterstützung von Crix. »Ja, mein Fürst, Ihr habt doch Recht. Ich will wissen, was die Nachricht enthält.« Es klang für Kos zwar nicht richtig überzeugend, aber er hatte sich ja schon ein Jahr hundert lang mit dem Erkennen von Lügen beschäftigen müssen. Hauc schien zu strahlen. »Könnt Ihr uns mehr über die Wichtigkeit der Nachricht verraten, bevor Ihr die anderen in Asche verwandelt?« 364
»Crix, ich wusste doch, dass ich deine Neugierde ansta cheln kann.« Der Magierfürst freute sich sichtlich. »Gut gemacht. Ruhig und geradeheraus. Wenn du nicht bald sterben würdest, hätte ich dich vielleicht in mein Beob achterkorps aufgenommen. Nun, wie ich gerade sagte, ist das Gerät zur Manaverdichtung eigentlich ein konzen triertes Nichts, eindimensionales Vakuum. Das Nichts ist ein unnatürlicher Zustand. Die Leere erduldet ihren eige nen Zustand nicht und will gefüllt werden. Das spezielle Gerät, das ich entwickelt habe, möchte nun mit Leben gefüllt werden, mit lebendigen Dingen. Das ist die Grund idee. Es ist eine mehrstufige Manaverdichtungssingulari tätsbombe – hast du von so etwas jemals schon gehört, Crix? Und sie funktioniert hervorragend. Die erste Deto nation hat alle unnötigen Lebewesen entfernt. Direkt danach hat die zweite Stufe angefangen, sozusagen die Zwischenstufe. Schon bald wird die dritte Stufe alle blei bende Energie auf einmal in die Drachen leiten. Ich wer de sie damit aus ihrem Schlummer wecken, und sie wer den mir aufs Wort gehorchen.« »Für einen Izzet seid Ihr erstaunlich geduldig«, sagte Kos. »Eine Explosion am Anfang, genauer gesagt eine Im plosion, und dann ein langsamer Aufbau«, sagte Crix mit einer Ehrfurcht, die nicht gespielt war. Das konnte Kos sofort heraushören. »Ihr brauchtet mehr Energie, als Euch eine einstufige Apparatur geben konnte, aber Ihr hättet das Kraftwerk nicht bauen können, wenn das Schisma alles Leben in der Gegend sofort verschlungen hätte. Die 365
Berechnungen müssen einen Berg an Pergament benötigt haben. Ihr seid ein Genie, mein Fürst«, sagte Crix aus vollster Überzeugung. Es war kaum zu erkennen, dass sie jetzt wieder in das Spiel der anderen einstieg. »Und die Auswirkung auf die schlafende Seuche – wie hat das Eu rer Gesamtstrategie genutzt?« »Die Kuga-Mot hat die Seuche nach Utvara gebracht«, sagte Kos, »und die Kuga-Mot war einst eines Eurer We sen, Hauc.« »Unterbrich mich nicht«, sagte Hauc und machte eine Geste in Kos’ Richtung, ohne seinen Blick von Crix abzu wenden. Das Gestell, an dem Kos hing, entriegelte ir gendwo eine Feder, die eine rot glühende Nadel durch die linke Schulter des pensionierten Wojeks rammte. Mit einer kleinen Blutfontäne trat die Nadel auf der anderen Seite knapp über dem Schulterblatt wieder aus. Die Nadel war so stark erhitzt, dass es gleichzeitig ausreichen wür de, um die Wunde sauber auszubrennen. Das hoffte Kos zumindest. Die Nadel hatte eine anscheinend wichtige Nervenbahn getroffen und drückte jetzt ganz langsam dagegen. Der Schmerz war einer der schlimmsten, die Kos je in seinem langen Leben hatte erleiden müssen. »Na, bist du schon einmal filetiert worden?«, sagte der Magierfürst. Kos musste sich anstrengen, um sich weiter hin auf Hauc konzentrieren zu können. Hauc drehte sich wieder zu Crix. »Die Seuche ist für die Brut da. Für meine Brut. Für sie ist es die Luft, in der sie atmen können. Sie haben eine sehr lange Zeit geschlafen. Die Welt war an 366
ders damals, als zuletzt einer von ihnen geboren wurde. Damals war sie ein Ort, an dem Feuer und saurer Regen herrschten, als die Berggipfel noch das Innere von Ravni ca in die Luft schleuderten.« »Warum zündet Ihr nicht einfach ein Lagerfeuer an, wenn Ihr etwas Schmutz in der Luft haben wollt?«, sagte Golozar. »Ich bin mir fast sicher, dass selbst Ihr das hin bekommt, wenn Ihr Euch etwas Mühe gebt.« »Nur Drachenfeuer kann einen solchen Qualm erzeu gen«, antwortete Hauc. »Und die Kuga wird in jedem ihrer Atemzüge sein, von den ersten Momenten ihres Lebens an.« »Und Ihr habt einem Simic vertraut, damit Ihr diese be sondere Luft erschaffen könnt, die Ihr für die Drachen benötigt?«, fragte Pivlic und bemühte sich, genügend Ehrfurcht in seine Stimme zu legen, um den Magierfür sten bei Laune zu halten. Obwohl sie in so seltsamen Positionen hingen, erinnerte Kos das Ganze inzwischen viel mehr an eine typische Befragung in einem der Ver hörräume des Zehnten Reviers als an eine Szene aus ei nem Groschenroman. Kos konnte erkennen, dass der Bold seinen befreiten Arm immer noch an die Seite presste, glaubte aber eine silberne Scherbe in Pivlics Hand gesehen zu haben. Dann riss das Gestell die glühende Nadel aus seinem Körper, und der Schmerz machte Kos kurzzeitig blind. Er konnte kaum hören, dass Pivlic noch etwas hinzufügte. »Simic sind noch verrückter als Izzet, Anwesende möglicherwei se ausgeschlossen, mein Freund.« 367
»Ja, ich bin dein Freund. Eines Tages wirst auch du das erkennen. Eines Tages wird es funktionieren«, sagte Hauc. »Dein kleines Hirn unterschätzt meine Fähigkeiten, Bold. Ich habe jedes Fitzelchen von Nebuns Arbeit genau über prüft. Ich habe es von unabhängiger Seite her überprüfen lassen. Nebun ist im Vergleich zu mir nur ein absoluter Amateur – er hat versucht, in die Seuche eine Zeituhr einzubauen, sodass sie sich nach ein paar Jahrhunderten selbst zerstört. Aber das habe ich natürlich bemerkt und sofort unterbunden. Die Seuche wird für die Brut da sein, solange sie es will. Und Ravnicas Winde blasen den ver fluchten Pollen immer wieder zurück in eure Stadt und weg von hier, weshalb uns auch dieser Baum der Anhän ger des Lebens keine Probleme verursacht.« »Also ist die Seuche nichts als Drachenfutter?«, sagte Crix. »Das ist zwar ein sehr grober Vergleich, aber insgesamt gesehen könnte man es so ausdrücken. Außerdem hat sie natürlich auch noch andere Vorteile. Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, hat Utvara die höchste Sterblichkeitsrate auf ganz Ravnica, was mit der Seuche, der Hitze und dem Unmut in den Hügeln zusammenhängt. Ektoplasma kommt nicht aus dem Nichts, und diese Gegend bietet einfach die beste Versorgung mit Geistern auf der ganzen Welt. Meinen Berechnungen nach sind schon mindestens fünfzigtausend im Schisma verschwun den.« »Und warum nur die Toten?«, brüllte Golozar. »Was für einen Zweck hat das? Was habt Ihr ... Mein Dorf! Was 368
habt Ihr damit gemacht?« »Seltsam, dass gerade du die sachbezogenste Frage von allen stellst«, sagte Hauc. Er drehte sich auf einem Fuß und klatschte so übertrieben in die Hände wie ein Profes sor, der einem unterbemittelten Student applaudierte. »Und damit kommen wir – wieder – zu den EktoplasmaRelais.« Seine Geste deutete ungefähr in die Richtung über Kos’ Kopf. »Sie sind bereits relativ alt, diese neuen Drachen. Diese neuen Götter. Sie sind keine Nachkom men des Parun. Er ist richtig alt, aber diese hier hätten seine Zeitgenossen sein sollen. Zeitgenossen der Drachen, die diese Welt mit ihren Flammen überhaupt erst erschaf fen haben.« Er lächelte höhnisch. »Ich benötigte die Hilfe der Orzhov, um feststellen zu lassen, dass diese hier tat sächlich noch lebten, wenn auch nicht besonders viel Lebensenergie in ihnen steckte. Aber die Essenz des Le bens in Rohform, frisch eingefangen am Todeszeitpunkt, hat verursacht, dass sie wieder zu wachsen anfingen.« »Nun, das und die Hitze«, keuchte Kos. »Und was für eine Hitze.« Pivlic verzerrte sein Gesicht, als würde er stark leiden. »Also arbeitet Ihr gegen ... gegen den Parun unserer Gilde«, sagte Crix. »Aber wieso? Warum sollte er Euch dazu veranlassen?« Plötzlich schien ihr ein Licht aufzuge hen, und auf ihrem Gesicht stand ein starker Schock. »Feuerwahnsinn. Mein Fürst, es tut mir Leid.« »Feuerwahnsinn? Was bedeutet Feuerwahnsinn?«, frag te Pivlic. »Wenn das Feuerhirn ...«, begann Crix. 369
»Crix, vielleicht hast du doch nicht den Weitblick, von dem ich ausgegangen bin«, sagte Hauc. »Der Parun kann nicht alles sehen, solange wir einfache Vorsichtsmaß nahmen beachten. Er kann seinen Blick nicht auf uns richten, solange wir von Mizzium eingehüllt sind. Das ganze Kraftwerk hier ist komplett mit Mizzium durchzo gen. Aber es gibt natürlich Lücken in den Schilden.« Der Magierfürst schaute bedeutungsvoll zu dem runden Ober licht in der Mitte des Dachs. »Ich konnte es nicht riskie ren, dass er in meinen eigenen Gedanken liest, wie ich vorhabe, ihn zu hintergehen. Das ist der Hintergrund zu der Nachricht, die Crix trägt, und auch der Grund, warum ich sie auf die Reise geschickt habe.« Nach vielen Aus schweifungen war Hauc also wieder zum Kernpunkt sei ner Ausführungen zurückgekommen. »Die Nachricht ist der Schlüssel, der letzte Teil des Zauberspruchs, der die dritte Stufe auslösen wird und dafür sorgt, dass die Brut mich als ihresgleichen, nein, als ihren Herrn und Meister erkennt, sobald sie geschlüpft sind. Der Große Drache hat schon seit langem das Interesse an der Gilde verloren, die seinen Namen trägt. Es ist an der Zeit, dass es einen neu en Großen Drachen gibt – für die Izzet und auch für ganz Ravnica!« Kos merkte, dass er nun auf ein wildes, verrücktes Ge lächter wartete, und wurde auch prompt mit einem lan gen Lachanfall des Magierfürsten belohnt. Dies gab dem Bold die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. »Das«, sagte Pivlic, »wird aber den Grundstücksprei sen nicht gut tun. Ihr müsst auch an einfache Geschäfts 370
leute wie mich denken. Ich sage es nicht gern, aber als der einzige anwesende Repräsentant der Orzhov ist es meine Pflicht, eine Beschwerde anzukündigen.« Mit diesen Worten rammte der Bold eine silberne Scherbe blind nach hinten und zerschmetterte dabei den pulsierenden Leitungsknoten hinter ihm. Das Glas explo dierte, und Kos erwartete fast, dass der Bold dabei Feuer fing und verbrannte, ob mit oder ohne feuersichere Haut. Das Gestell, das Pivlic festhielt, schaltete sich automatisch ab und öffnete die Klemmen, in denen Pivlics anderer Arm noch festgehalten wurde. Der Besitzer des Gasthofs zum Geflügelten Bold, der schon lange nicht mehr in seinem Schutzanzug steckte, breitete die Flügel aus und segelte dicht über Hauc hin weg. Er musste sich zweimal drehen, um den Strahlen aus den Augen des vor Wut brüllenden Magierfürsten zu entgehen und entschwand dann aus Kos’ Sichtbereich.
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Crix musste sich erst einmal von der Erkenntnis erholen, dass sich der Magierfürst, dem sie ihr ganzes Leben lang treu gedient hatte, gegen den großen Niv-Mizzet stellte. Sie sah den sich in der Luft drehenden Bold erst, als er kaum noch einen Meter von ihr entfernt war. »Lehn dich nach rechts«, brüllte der Bold, und Crix tat ihr Möglich stes, um zu gehorchen. »Nein, nein«, schrie Pivlic. »Tut mir Leid. Von mir aus rechts, von dir aus links! Gut. Und jetzt schließ deine ...« 371
Der Bold schaffte es nicht, den Satz zu beenden, bevor er die Goblin-Frau erreichte. Pivlic hakte eine Hand unter Crix’ linken Arm, also den ohne die eintätowierte Nach richt, und rammte seine improvisierte silberne Waffe gegen den Leitungsknoten des Gestells, das Crix festhielt. Dieser Knoten hatte sich zuvor zwar nicht überhitzt, aber anscheinend genügte der Schwung des Bolds. Heißer, scharf riechender Brennstoff ergoss sich kurz über den Rücken der Goblin-Frau, aber sie konnte spüren, wie sich die Klemmen lösten, die sie festgehalten hatten. Bevor sie die ungefähr acht Meter auf die Plattform unter ihr stür zen konnte – oder in die Lavagruben darunter, wenn sie danebenfiel –, schaffte es Pivlic, dessen Flügel in der Hit ze doppelt so schnell schlugen, sie von der Wand wegzuziehen. »Kos!«, brüllte der Bold und vollführte gleichzeitig ein waghalsiges Flugmanöver, um einem weiteren Schuss des Magierfürsten auszuweichen, der nach seinen Wachen rief. »Ich schaffe es nicht zu dir!« »Befrei den Gruul«, sagte Kos. »Der ist gleich in der Nä he.« »Ich kann nicht mehr als zwei auf einmal schleppen, ich bin keiner von den Unterweltlern, die ...«, sprudelte es aus dem Bold heraus. »Ich schaffe es schon allein auf die Plattform«, rief Go lozar. »Du musst mir nur helfen, hier freizukommen!« »Halt dich fest, Goblin!«, sagte der Bold. Crix tat ihr Be stes, um sich mit ihren tauben Armen und Beinen an Pivlics Arm und linkem Bein festzuklammern. 372
Beinahe hätten sie es auch geschafft, aber Hauc hatte aus seinen Fehlschüssen schnell gelernt. Ein Strahl sen gender Hitze traf gleichzeitig Crix’ und Pivlics Arm, und im nächsten Augenblick war die Goblin-Frau bereits im freien Fall. Sie fiel an der Pyraquin vorbei, dann an der Plattform und immer weiter, direkt auf einen oben offe nen lavabetriebenen Pyromana-Generator zu. Kurz bevor sie den Rand des hausgroßen Zylinders erreichte, hörte sie den Krach weiterer zerbrechender Kristalle. Pivlics hatte den Gruul erreicht. Sie schloss die Augen, die ihr herauszuspringen drohten. Das Letzte, was Crix hörte, bevor die Hitze ihr das Bewusstsein raubte, war Kos’ Stimme. »Pivlic! Hau ab, verdammt noch mal! Mach, dass du in die Stadt kommst und die anderen warnst!«
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Kapitel 14
H
Die Statuten des Gildenbunds sollen nur auf diejenigen Zonen ausgedehnt werden, die von mindestens sieben der Unterzeichner dieses Dokuments beziehungsweise ihren Bevollmächtigten als »zivilisiert« (siehe Korollar 0.315) deklariert werden. Statuten des Gildenbunds, Korollar 19.72 (sog. »Sanierungs-Klausel«)
3. Cizarm 10012 Z. C. War der Himmel gerade etwas klarer geworden? Es war schwer zu sagen, da das Schisma weiterhin die Nacht in ein seltsames Licht tauchte, aber der Dunstschleier schien dünner geworden zu sein. Auch wirkte es, als wäre die Luft nicht mehr so drückend, und sie roch nicht mehr so penetrant nach Seuche. Teysas Bemühungen mit dem Heilmittel schienen erste Erfolge zu zeigen. Die SimicMedizin hatte inzwischen jeden im Tal erreicht, selbst die Schürfer, und da der selesnijanische Pollen jetzt nicht mehr so viele Leute am Leben erhalten musste, konnte er nun direkt gegen die Kuga-Winde vorgehen, wie Wrizfar Rindenfeder und Dr. Nebun vorhergesagt hatten. Und 374
überall, wo die Medizin hinkam, verbreitete sich auch die Neuigkeit, wer sie zur Verfügung gestellt hatte. Nur weder in den Kessel war sie bislang vorgedrungen noch zu mög lichen Gruul-Überlebenden. Botanik, Magie und Medizin wirkten alle auf ihre eige ne Weise, und Teysa verstand nur von einer der drei Wis senschaften richtig viel. Das war weder Medizin noch Botanik, aber sie vertraute ihrem Wahrheitskreis und der Kaufkraft ihrer Zidos. Sie war gerade dabei, eine ganze Stadt zu bestechen, zudem noch die umliegenden Gebiete sowie etwaige Durchreisende. Es war zu schade, dass das Selesnija-Konklave und das Simic-Kombinat in ihrer Weltanschauung so gegensätz lich waren. Wenn Rindenfeder und Dr. Nebun die Köpfe zusammenstecken würden, kämen bestimmt großartige Dinge dabei heraus, vermutete Teysa. Bedeutende, profi table Erfindungen würden auch der Baronin ziemlich viele Zidos bescheren, weil ihr ja die Rechte an diesen Erfindungen gehören würden. Sobald die derzeitige Krise überwunden war, musste sie sich einmal eingehender damit beschäftigen. Vierundzwanzig Taj hatten sich Teysa und den ande ren auf der letzten Etappe ihrer nächtlichen Expedition angeschlossen, und als sie sich endlich dem Kessel nä herten, war der Mond schon fast untergegangen. Sowohl die Taj als auch Melisk hatten bestätigt, was sie bereits vermutet hatte: dass der Kurier wahrscheinlich schon im Kessel war. Sie hatten noch ein paar Stunden Zeit bis Sonnenaufgang. Sie schickte die anderen sechs Taj mit 375
unmissverständlichen und unantastbaren Befehlen in die Hügel, um überlebende Gruul aufzuspüren und die Medi zin unter ihnen zu verbreiten. Sie bezweifelte, dass es viele Überlebende gab, aber die Taj hatten ihr versichert, dass es kein Problem sein würde, diejenigen aufzuspüren, die sich versteckt hielten. Melisk hatte darauf geachtet, dass die Taj die Witterung der Überlebenden aufnahmen, um weiter gegen sie vorgehen zu können, sobald »seine« Taj Teysa erledigt hatten. Teysa verfluchte sich, dass sie ausgerechnet die Taj zu den Leuten schicken musste, die diese gerade noch hat ten vernichten wollen – es würde ihre Aufgabe nicht un bedingt erleichtern. Aber diese Gruul würden geimpft werden, ob sie nun wollten oder nicht. Für die Taj war es nicht schwieriger, ihnen die Medizin zu verabreichen, als sie zu töten. Pragmatismus war angesagt. Und wenn die Gruul dann die sechs Taj vernichteten, wäre es kein gro ßer Verlust. Taj waren noch unverwüstlicher als Thrulls. Sie betastete die restlichen drei Röhrchen mit Nebuns Heilmittel, die sie in ihrem Mantel mitführte. Diese drei waren alles, was noch übrig war. Trotzdem würde das problemlos reichen. Es war unschön, dass jeder Izzet im Kessel, der sich weigern würde, die Medizin zu nehmen, dazu gezwungen werden musste, aber Teysas eindrucks volles Regiment war bereit für den Kampf, soweit sie das sagen konnte. Die Wahrheit, die sich Teysa eigentlich nicht eingeste hen wollte, war allerdings, dass sie sich nicht sicher war, auf welchen Widerstand sie im Kessel treffen würde. Sie 376
hatte nur eine Chance, einen Kampf zu vermeiden, aber wie es darum stand, war ungewiss. Selbst wenn Hauc die neuen Drachen schlüpfen ließ, würden sie den Magierfür sten und alles andere um sich herum zerstören. Teysa hatte keine Ahnung von militärischer Taktik, nur auf politischer und juristischer Ebene kannte sie sich darin aus. Hauc schien keiner speziellen Denkschule anzugehö ren, und Teysa fragte sich, ob es wohl stimmte, dass Ma gierfürsten mit zunehmender Senilität oft sehr verrückt wurden und später richtig gefährlich. Ein Übermaß an »Niv-Mizzets Gabe« schien diesen Prozess zu beschleuni gen. Was bedeutete Verrücktheit? Hatte sie Auswirkungen auf die Loyalität der Truppen? Teils nahm sie an, teils hoffte sie, dass die Arbeiter sich nicht an einem Kampf beteiligen würden, wenn es denn zu einem kam. Aber von den Dschinns, die als Wächter dienten, war Wider stand zu erwarten, ebenso von den Seltsamkeiten und dem schlafenden Sceada. Das riesige Reptil hockte auf einem Sitz zwischen zwei der schwebenden Wasserreser voire und hielt immer ein Auge offen. Eine plötzliche oder unerwartete Bewegung würde das Wesen sofort wecken. Nayine Shonn hatte vorgehabt, sich persönlich um den Sceada zu kümmern, aber Teysa hatte einem der Schat tengänger den Auftrag gegeben, sich einen Knallstab zu besorgen und die Aufgabe zu erledigen. Die Baronin konnte nur Teile der Waffe erkennen, aber nicht den Schützen, als dieser auf die letzte stehende Säule einer ganzen Säulenreihe geklettert war. Die anderen waren 377
wie Dominosteine umgefallen. Sie konnten es sich nicht leisten, mehr als einen Schuss abzugeben. Um die Chancen zu erhöhen, war es am besten, so nahe an das Wesen heranzuschleichen wie nur möglich, ohne es zu wecken. Und nur die Schatten gänger, die das Licht umleiteten, konnten so etwas be werkstelligen, ohne vom Sceada bemerkt zu werden. Darum hatte Teysa auch darauf bestanden, die Aufgabe einem Schattengänger zu übertragen. Außerdem traute sie der Devkarin immer noch nicht genug, um ihr einen Knallstab in die Hand zu drücken. Die anderen beiden Schattengänger waren mit Spreng stoff bewaffnet. Ein kleiner, goldener Falke hatte sie auf die Wasserreservoire hochgetragen, sodass der Sceada nun fast umzingelt war. Der Vogel saß jetzt wieder auf Teysas Schulter und sammelte neue Kraft für den kom menden Kampf. Schattengänger existierten eigentlich nur in der dritten Dimension, unterstützt durch die zweite, oder so ähnlich. Teysa hatte nur verstanden, dass sie eigentlich aus Licht bestanden, und nur dann feste Gestalt annahmen, wenn sie es mussten. Sie unterschieden sich zwar in einigen Punkten von den Taj, waren aber ähnlich schweigsam und gehorsam. Teysa gefiel das. Die Taj hatten sich in kleine Gruppen zu vieren und fünfen aufgeteilt und schlichen sich im Schutz der verro steten Erhebungen an, die den Krater des Kessels umga ben. Einige der von ihnen geliehenen Gruul-Körper zeig ten erste Abnutzungserscheinungen. Aus Wunden, die offensichtlich tödlich gewesen waren, drang Lichtschein 378
heraus. Aber das war Teysa egal. Sie brauchten sich nicht mehr als Gruul zu tarnen. Melisks Betrug war vorbei, jetzt waren die Taj nur noch ganz normale Soldaten. Schnelle, tödliche, geisterhafte Soldaten. Shonn hatte vorgeschla gen, die Taj erst einmal in Reserve zu halten, um sie erst später eingreifen zu lassen, sollte man auf zu großen Widerstand treffen. Wenn Teysa dann nicht mehr in der Lage war, sie zu rufen, könnte man es ja so einrichten, dass die Taj auch auf Shonn hörten. Teysa hatte dem sofort zugestimmt, weil dieser Vorschlag auch in ihren Ohren sinnvoll klang: Es war nie gut, gleich von Beginn an alle seine Trümpfe offen zu legen. Teysa würde vom Rücken ihres Dromads aus den An griff befehligen. Die Virusoiden würden einen Ring um sie bilden, um einen großen Teil der Hitze abzufangen, auf die sie wahrscheinlich trafen. Den Virusoiden machte die Temperatur nicht viel aus, und sie waren auch deut lich schneller als die Golgari-Zombies, die die Nachhut bildeten. Die Minotauren und Dreka-Zahn bildeten die Speerspitze des Angriffs, während Shonn in der Nähe der »Überfall-Kommandantin« blieb, wie Teysa von den Stiermenschen genannt wurde. Die Haazda, die von allen Beteiligten körperlich am wenigsten aushielten, würden an bestimmten Stellen aus der Angriffsformation aus scheren und als Boten dienen. Teysa hatte vor, schon kurz nach Beginn des Angriffs in den Kessel zu gelangen, und die Haazda könnten dann ihre Befehle den Taj und den Schattengängern übermitteln, die ihre Positionen vor dem Kessel beziehen würden. Das wichtigste Ziel für die 379
beiden war, zu überleben. Wenn die Haazda trotz der Unmengen an Heiltränen in ihren Gürteltaschen fallen würden, sollten die Taj auch ohne weiteres Kommando die zweite Angriffswelle starten. Teysa warf ihren Umhang über die Schultern zurück, sodass jeder die glänzende Rüstung sehen konnte, die sie trug. Diese klassische Rüstung eines Orzhov-Offiziers hatte sie in Pivlics Vorräten gefunden. Sie passte Teysa recht gut. Der Bold hatte erzählt, dass er die Antiquität bei einer Auktion auf dem Zinnstraßenmarkt erstanden hatte. Die Rüstung war in einem reflektierenden Obsidianschwarz gehalten, und in die Brustplatte war das Pet schaft der Orzhov in Gold eingraviert. Sie hoffte, dass es zu keinem Fußkampf kam, da ihre eingeschränkte Be weglichkeit ihr dabei schnell zum Nachteil gereichen konnte. Aber es war immer besser, sich für alle Eventuali täten vorzubereiten. Das Gewicht der Rüstung erinnerte sie zudem ständig daran, dass sie gerade tatsächlich dabei war, ihren wahnwitzigen Plan in die Tat umzusetzen. Shonn ritt auf einem der Dromads an ihrer Seite. Ihr Reittier hatte ein rein weißes Fell mit einigen silbernen Flecken, in denen sich das Licht des Schismas widerspie gelte. »Alle sind auf Position«, flüsterte sie. Teysa konnte fast mitspüren, wie alle Instinkte der Elfin darauf an sprangen, dass die Wachen des Kessels ihnen bislang so wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatten. Es komme ihr verdächtig vor, hatte Shonn gesagt. Und das war es auch, nur dass es nicht viel gab, was sie dagegen unternehmen konnten. 380
Teysa hatte eine einzige Chance, die gesamte Ge schichte aufzuhalten, ohne dass es zu einem Kampf kam. Und um ihr Glück zu versuchen, hatte sie allen befohlen, sie allein auf den Kessel zureiten zu lassen. Eigentlich war es ziemlich wahnwitzig, aber wenn sie damit durchkam, müsste der Heckenschütze nicht schie ßen, und der Kessel würde intakt bleiben. Vor allem aber konnte sich Teysa dann sofort wieder daranmachen, dieser Einöde mehr Leben einzuhauchen. Es war ein ris kantes Spiel, und es ging um weit mehr als nur baldigen Wohlstand. »In Ordnung«, flüsterte sie zurück. »Wenn ich dir die offene Hand zeige, bedeutet das, dass du zurückbleiben sollst, weil ich verhandeln kann. Wenn sie mich aber sofort zurückweisen, winke ich.« »Und wenn sie Euch sofort töten?«, sagte die Devkarin ebenso leise. »Das musst du noch fragen?« »Wie Ihr wollt, Baronin«, sagte Shonn und rückte ein paar Schritte weg, um Teysa Platz zu machen. Ihre Armee öffnete sich vor Teysa, sodass sie in den Krater des Kes sels reiten konnte, über die oxidierten Straßen zum östli chen Tor. Nur zwei Wächter standen an den eisernen Türen, ei ner auf jeder Seite – zumindest konnte Teysa nur diese beiden ausmachen. Einer der Wächter war eine glitzern de pyrohydrische Seltsamkeit mit vier Armen und einer Pike aus Mizzium, der von innen in einem derart hellen Licht strahlte, dass er dem Schisma fast Konkurrenz 381
machte. Bei dem anderen handelte es sich um einen röt lichen, öligen Dschinn. Nachdem Teysa und ihre Truppen so lange ignoriert worden waren, war sie fast ein wenig überrascht, dass sich einer von beiden, der Dschinn, schließlich bequemte, sich zu bewegen. Er drehte sich zur Seite, um Teysa direkt anzublicken, und hob eine Hand zu Gruß. Die Seltsamkeit trat einen Schritt nach vorn, sodass sie unmittelbar zwischen den Türen und dem Dschinn stand. Beide überragten Teysa und ihr Dromad bei weitem. Teysa bekämpfte den Drang, nach dem Knallstab an ihrem Sattel zu greifen. Ihre Tunika unter der schwarzen Rüstung war längst schweißnass, aber Teysa behielt ei nen kühlen und neutralen Gesichtsausdruck bei – Num mer dreizehn: Ich gebe nichts zu. Sie zügelte ihr Dromad, um es zum Halten zu bringen. Man musste es dem Reit tier anrechnen, dass es sich vorerst nicht aus der Ruhe bringen ließ. Rindenfeder trippelte auf ihrer Schulter von einem Bein auf das andere – das hoffentlich einzige An zeichen von Nervosität, das der irritierte Dschinn bemerk te. Wie fast alle anderen Spezies auf Ravnica hatten sich auch die Dschinns schon vor langer Zeit mit den Men schen gepaart. Die reinblütigen, echten Dschinns, von denen in Legenden und Geschichten behauptet wurde, dass sie in vergangenen Zeiten mit Drachen wie NivMizzet gekämpft hatten, gab es schon lange nicht mehr. Die letzten ihrer Art waren in den Wasserfabriken am Pol versklavt – was ein offenes Geheimnis war. Der größte Unterschied zwischen diesem Dschinn und 382
einem groß gewachsenen Menschen war einerseits sein Körper, der sich wie fließendes Öl bewegte, und anderer seits die Tatsache, dass der Dschinn keine Beine hatte. Der Wachposten schwebte auf einer wabernden Wolke aus Wind, die ihm bis an die Hüfte ging. Alles, was sich über der Wolke befand, war mehr oder weniger aus fe stem Material. Dschinns waren wahrscheinlich äußerst unangenehme Gegner, dachte Teysa. »Wir haben uns schon gefragt, wann ihr endlich an greifen würdet«, sagte der Dschinn. »Ich hatte mit mei nem Freund Vulka hier eine Wette laufen, mit wie vielen Leuten Ihr ankommen würdet. Sieht so aus, als ob wir beide verloren hätten. Keiner von uns hat damit gerech net, dass Ihr so verrückt seid, allein hier aufzukreuzen.« »Ich bin Teysa Karlov, Baronin von Utvara und Ver pächterin dieses Unternehmens«, sagte Teysa förmlich. »Die Besitzerin dieses Grundstücks. Der Pächter hat gegen mindestens siebzehn Abschnitte der Statuten des Gilden pakts verstoßen und verletzt zudem rechtshängige Geset ze, die in den nächsten Monaten in Kraft treten werden. Falls er teure und umfangreiche juristische Schritte zu vermeiden sucht, muss er diese Vorladung unmittelbar und persönlich entgegennehmen.« Sie schnalzte mit den Fingern, worauf in ihrer Hand eine kleine Schriftrolle erschien. Sie hielt sie dem Dschinn unter die Nase, wor aufhin die Seltsamkeit zu kichern begann. Falls ein kicherndes Elementarwesen das Schlimmste war, was in der nächsten Minute geschehen würde, konn te Teysa sich als ziemlich glücklich preisen. »Wie zu er 383
kennen ist, wurde dieses Dokument autorisiert, notariell beglaubigt und von der höchsten juristischen Amtsgewalt in Utvara besiegelt – von mir«, sagte sie. Der Dschinn fing an, laut zu lachen. »Tut mir Leid«, sagte er. »Ich dachte, Ihr hättet gesagt, dass Ihr hier wärt, um etwas zu überbringen. Eine Vorladung?« Teysa seufzte mit geübter Ungeduld. »Ja, eine Vorla dung«, wiederholte sie. »Falls Zomaj Hauc sich nicht in den nächsten fünf Minuten hier blicken lässt, um dieses Dokument mit eigenen Händen entgegenzunehmen, werde ich es zusammen mit meinem ordnungsgemäß verpflichteten Polizeiaufgebot persönlich überbringen. Holst du ihn also her? Ich frage dich ein letztes Mal.« »Habt ihr auch nur das Fitzelchen einer Idee, was Hauc mit uns machen würde, wenn wir Euch hier hineinlie ßen?«, sagte der Dschinn. »Er hat die letzten vier An kömmlinge ans Nest binden lassen. Nun, ich bin mir si cher, dass Ihr und die Pergamentrolle da glaubt, dass ihr sehr wichtig seid. Aber tut Euch den Gefallen und wendet Euer Dromad. Geht nach Hause. Hier wird es schon bald ziemlich heiß werden, und ich glaube nicht, dass Ihr oder einer Eurer erbärmlichen Freunde da hinten – he, DrekaZahn, lange nicht gesehen – dann gern in der Nähe wärt.« »Erbärmlich?«, sagte Teysa. »Ist das dein letztes Wort?« »Ihr habt ihn gehört«, sagte die pyrohydrische Gestalt. »Geht heim. Ihr wollt doch nicht schon so jung sterben, oder?« »Das habe ich befürchtet«, sagte Teysa. »Rindenfeder?« Der Falke stieß sich von ihrer Schulter ab und flatterte 384
auf die beiden überraschten Wächter zu, die reflexartig zurücksprangen, als der gestaltwandlerische Elf seinen Vogelschrei ausstieß. Er kreischte weiter, während er sich mitten in der Luft erst in einen Elfen zurückverwandelte, um in der nächsten halben Sekunde dann auf ein Zehnfa ches seiner normalen Größe zu wachsen. Als die zweite Transformation beendet war, hatte sich der Schrei des Falken in das dröhnende Trompeten eines Elefanten ver wandelt, und Rindenfeder landete mit einem lauten Kra chen auf vier stämmigen Beinen, um weiter auf das Tor zuzustürmen. Er senkte den Kopf und rammte das Tor mit voller Wucht, zerschmetterte den Riegel und drückte mühelos das schwere Eisen beiseite. In dem Moment, als der Falke Teysas Schulter verließ, waren um sie herum mehrere Dinge gleichzeitig gesche hen. Rindenfeders schriller Schrei war das Signal gewe sen, auf das der Schattengänger gewartet hatte. Sein Ge schoss traf genau das offene Auge des schlafenden Scea da, um auf der anderen Seite des schuppigen Kopfes in einer grau-violetten Wolke wieder auszutreten. Das tiefro te Reptil hatte nicht einmal die Gelegenheit, einen Laut auszustoßen, bevor das konzentrierte Mana den größten Teil seines Gehirns wegriss. Der Sceada kippte nach hinten gegen das Kuppeldach des Kessels und dellte mit lautem Krachen ein Viertel davon ein. Gleichzeitig zündeten die anderen beiden Schattengänger, die oben auf den Wasserreservoiren auf ihren Einsatz warteten, ihre aus Munition selbst zusam mengebauten Bomben. Gleichzeitige Explosionen ent 385
zündeten die magisch zusammengehaltenen Kugeln, auf denen die Wassertanks in der Luft schwebten. Die riesi gen, nach oben offenen Wasserbecken neigten sich zu nächst langsam zur Seite, wurden aber immer schneller, je mehr sich das Wasser in ihnen mitbewegte. Tausende Liter künstlichen Regens prasselten plötzlich auf den ganzen Rauch und die Flammen und ergossen sich auf die beiden Wächter und den Rest des Kessels. Die pyrohydrische Seltsamkeit verschwand im Wasser und wurde vollständig absorbiert. Ähnlich schlimm er ging es dem Dschinn, der im Regen wie eine ins Feuer geworfene Wachskerze dahinschmolz. Oben aus dem Kessel schoss eine riesige Dampfwolke, und Teysa muss te mühevoll ihr Dromad beruhigen, da es in Panik zu verfallen drohte. Sie wandte es von dem wallenden Dampf und den Wassermassen ab, die dem Tier bereits bis über die Hufe gingen, und lenkte es in den Tunnel, der vor ihnen lag. Sie drehte sich zu Nayine Shonn um, die ihre Truppen wie vereinbart zurückgehalten hatte, was Teysa ihr hoch anrechnete. Auf einmal hörte sie einen trompetenartigen Laut aus dem Kessel. Rindenfeder schien dort auf die ersten Leute gestoßen zu sein. Teysa streckte eine Hand nach oben und signalisierte der ersten Angriffswelle, ihr zu folgen. »Attacke!«, brüllte Teysa mit heiserer Stimme. Als die Speerspitze der Truppe sie erreicht hatte, hieb Teysa die Hacken in die Flanken ihres Dromads. Die Luft war jetzt deutlich sauberer als noch ein paar Minuten 386
zuvor, und man konnte von überallher die Schlachtrufe von Teysas Armee und das Stampfen schwerer Füße auf dampfendem, nassem Metall vernehmen. Sie hatte es bislang geschafft, sich auf dem Rücken ih res Reittiers zu halten, als eine vor Schreck laut auf schreiende geflügelte Kugel aus schwarzem Leder gegen sie prallte. Pivlic traf Teysa genau gegen die Brust, worauf sie mit dem Bold zusammen zu Boden stürzte, noch be vor das Dromad viel weiter als durch die zerstörte Ein gangstür gekommen war. Teysa stemmte sich hoch und schaffte es gerade noch, ihren Stock aus dem Sattel des panischen Dromads zu ziehen, als auch schon die Virusoiden und Zombies nach rückten und sie zu überrennen drohten. »Pivlic, was zum Teufel ist hier los?«, sagte Teysa. »Baronin«, keuchte der Bold. »Ihr ... Ihr seid hier?« »Natürlich«, sagte Teysa. »Utvara unterliegt meiner Ver antwortung.« »Dann wisst Ihr ...« »Die Drachen? Hast du sie gesehen?« »Sozusagen. Sie sind noch nicht geschlüpft. Aber der Magierfürst ist gerade dabei, diese Viecher schlüpfen zu lassen.« »Und was gibt es sonst noch?«, fragte Teysa. »Er will die direkte Kontrolle über sie übernehmen«, sagte Pivlic. »Und er scheint zu glauben, dass er das kann.« Der Bold wirkte nervös. Zweifellos ging er davon aus, von der Baronin gleich wieder zurück ins Chaos ge schickt zu werden. Beim Betrachten seiner Flügel kam ihr 387
aber eine bessere Idee. »Nimm das hier«, sagte sie und drückte Pivlic eine der kostbaren grünen Röhrchen in die Hand. »Drück das Ende gegen deinen Hals – es ist das Heilmittel gegen die Seu che«, sagte sie. »Der Inhalt reicht für mehrere hundert Leute. Deine Aufgabe ist es jetzt, alle in der Ebene und der Stadt damit zu impfen, die es noch nicht bekommen ha ben.« »Das ist alles?«, fragte Pivlic. »Gut, ich hatte schon be fürchtet, Ihr würdet etwas Unmögliches von mir verlan gen.« »Tu einfach, was ich dir aufgetragen habe, Pivlic«, sagte die Baronin. »Aber wie soll das Impfen gegen die Seuche dazu bei tragen, die Drachen aufzuhalten?«, fragte Pivlic. »Du wirst überrascht sein, aber jetzt ist keine Zeit für lange Erklärungen«, sagte Teysa. »Mach dir keine Sorgen wegen der Drachen. Wir kümmern uns schon um sie.« Oder umgekehrt, aber das dachte sie nur, statt es aus zusprechen.
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Kos beobachtete Pivlic, wie er in Kurven und Schleifen nach unten flog und dabei Schüssen von Wächtern und Zomaj Hauc auswich, die diese aufs Geratewohl abfeuer ten. Dann war der Bold irgendwo weit unter Kos ver schwunden. Er hoffte, dass sein alter Freund es nach draußen schaffte und irgendwie Hilfe aus der Stadt her 388
beiholen konnte. In der Lage, in der sie sich befanden, konnten sie wohl kaum auf irgendetwas anderes hoffen. Wenn Kos in Betracht zog, was er alles in seinen hun dertundzwanzig Jahren auf Ravnica gesehen und erlebt hatte, erwartete er fast schon, dass noch irgendetwas den Ablauf der Dinge stören würde. Sicherlich würde gleich irgendeine tapfere Seele erscheinen oder gar die Kavalle rie – wobei ihm völlig schnurz war, welche Kavallerie. Pivlic konnte schnell fliegen. Hoffentlich auch schnell genug. Trotzdem war Kos ziemlich überrascht, als sich das Blatt auf einmal tatsächlich wendete, und vor allem über die Art und Weise, wie das passierte. Er bezweifelte, dass es Pivlics Werk war, so schnell war der Bold dann doch wieder nicht. Die Kuppel sackte an einer Stelle zusammen, und ein toter Sceada rutschte über die blutbeschmierte Kante zur Öffnung. Der Körper kippte durch das Loch und prallte schließlich auf die Landeplattform. Hauc brüllte vor Zorn. Er musste sich zur Seite werfen, um nicht von dem herunterfallenden Reptilienkörper erschlagen zu werden. Die Landeplattform wurde vom Aufprall und dem Gewicht des Sceadas erschüttert und ächzte bedrohlich. Die Vibrationen liefen durch das ge samte metallene Netzwerk und damit auch durch Kos’ Körper. Stützseile rissen, und mit einem metallischen Klang senkte sich die Plattform auf der Seite, auf der das Reptil lag. Gleichzeitig hob sich die andere Seite, wodurch die Plattform zur Rutsche wurde. Der Magierfürst musste 389
seine Finger in ein Gitter krallen, um nicht über den Rand zu gleiten. Nur seine durchsichtige Flugkugel blieb von alldem unberührt und schwebte, von magischen Feldern gehalten, weiterhin ungerührt an ihrem Platz. Kos rüttelte mit aller Kraft an den Klammern, die seine Arme immer noch festhielten, aber die Erschütterung hatte an dem Gerüst, an dem er hing, nichts angerichtet. Er konnte weiterhin nur zuschauen. Crix hatte er ganz aus den Augen verloren – das Letzte, was er von ihr hatte sehen können, war ihr Aufprall knapp neben einer Lava grube. Und Golozar war in einer ähnlichen Situation wie er selbst. War der tote Sceada schon eine leichte Überraschung für den erfahrenen ehemaligen Wojek, dann verschlug ihm die Sintflut, die jetzt einsetzte, völlig den Atem. Ei nem zweifachen lauten und metallischen Scheppern folgte mindestens so viel Wasser, wie in eines der schwe benden Reservoire passte. Das Nass prallte auf die Flug kugel und floss an ihr herab – die Magiefelder waren äußerst stark. Das Wasser spülte über die Oberfläche der Plattform wie ein plötzlicher und unerwarteter Regen guss. Hauc konnte sich weiterhin festklammern, aber die Wassermassen rissen den schon gefährlich am Rand der Plattform liegenden Körper des Sceadas mit sich. Das Reptil und mehrere tausend Liter inzwischen schmutzig brauner Flüssigkeit rauschten in das chaotische Gewirr aus Röhren, Drähten und Glas unter ihnen. Auf dem Weg dorthin erwischte es zwei weitere Stützkabel der Platt form, was sofort eine Kettenreaktion auslöste. 390
Da die restlichen Kabel nicht mehr in der Lage waren, das Gewicht der Plattform allein zu halten, riss eines nach dem anderen. Jedes der schnalzenden Geräusche, die dabei entstanden, ließ Hauc zusammenzucken. Der Scea da fiel Funken sprühend immer weiter durch das Netz werk von Röhren und Drähten. Dutzende panische Go blins, die in weiser Voraussicht ihre Arbeit unterbrochen hatten, als das Chaos ausgebrochen war, kreischten laut auf. Das Reptil schlug direkt unter Kos eine Schneise durch das Gewirr, sodass ein Hitzeschwall ihn von unten röstete. Er wand und drehte sich in seinem Gefängnis, während der ganze Kessel erschüttert wurde. Das Wasser folgte dem Sceada, erreichte den Boden aber deutlich früher als dieser, weil dessen Fall ständig aufs Neue gebremst wurde. Nur einen Moment später war unterhalb von Kos alles außer der Plattform und der Spit ze der Eier von waberndem Wasserdampf eingehüllt – die Wassermassen hatten die Lavagruben erreicht und ver dampften dort. Kos konnte nicht mehr erkennen, was dort vor sich ging. Wenn er die Hitze in Betracht zog, wurde alles unterhalb der Plattform im Moment komplett weich gekocht. Der Sturz des Sceadas endete auf einem kleinen Kraft werk, dessen drei Dampfkerne auf voller Auslastung ar beiteten. Die Struktur ächzte und quietschte, als ob sie gleich auseinander brechen würde.
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Crix kam auf dem Rücken liegend zu sich. Das Geräusch zerberstender Kabel hallte noch in einer Unterwasser höhle nach, sie hörte Metall gegen Metall schaben und dann ein erschütterndes Krachen, dem hunderte kleiner Platschgeräusche folgten. Die Goblin-Frau lag auf dem Außenrand des nach oben offenen Generators. Die Hitze, die von der Lava im Gene rator ausgestrahlt wurde, war längst nicht so intensiv, wie sie hätte sein sollen, und Crix erkannte auch, warum. Aus demselben Grund war sie bis auf die Knochen durch nässt, und hunderte anderer Goblins planschten und kreischten, statt zu arbeiten. Goblins waren äußerst schlechte Schwimmer, und sie hoffte, dass die Arbeiter sich in Sicherheit bringen konnten. Ein kleiner See aus stinkendem Wasser, aus dem Klumpen aus verdrehtem Metall herausragten, schwappte von einer Seite des Kessels zur anderen. Der Sceada – der zu Crix’ Verdruss tot war – lag auf einem zusammenge drückten, aber immer noch funktionierenden Kraftwerk, das Dampf und Rauch ausstieß. Ein verkrusteter, gerade abkühlender Stalagmit aus schnell erstarrender Lava rag te heraus, als ob das Wasser ihn bei einem sinnlosen Fluchtversuch erwischt hätte. Crix musste husten, als der Rauch und die Hitze ihr schließlich in die Lunge drangen. Ihre Haut fühlte sich an, als ob sie gerade geröstet wurde. Als die Goblin-Frau wie der die Geräusche zerreißender Kabel hörte, von denen sie auch aufgewacht war, rollte sie sich vorsichtig zu sammen und sprang unter Ausnutzung des Rests ihrer 392
angeborenen Beweglichkeit auf – und beinahe mitten hinein in die Lava. Mit offenem Mund musste sie mit ansehen, wie sich die Kante der Flugplattform mit jedem Scheppern immer weiter in die aufsteigende, kochend heiße Dampfwolke senkte. Das Wasser würde schon bald wieder weg sein. Es rann bereits durch die Ausgangstunnel und auf den trockenen Teil des Bodens. Und das, was nicht abfließen konnte, würde bald vom Vulkan zum Verdunsten gebracht wer den, was das Atmen dann noch schwieriger machte. Die Lavagruben hörten nicht auf, neue Lava zu produzieren, nur weil die oberen Schichten mit Wasser in Kontakt gekommen waren. Stattdessen wurde nur viel zischender Dampf erzeugt, der einem die ganze Sicht nahm. Der Kessel würde innerhalb von Stunden wieder knochen trocken sein, schätzte Crix. Und wenn die Arbeitskräfte weiterhin die Flucht ergriffen und sich nicht um die Technik im Kessel kümmerten, würde er über kurz oder lang ein Opfer der eigenen Flammen werden. Die Plattform hörte auf zu kippen, bevor sie auf das Nest in der Mitte stürzen konnte. Ob das jetzt wundersa mes Glück war oder an Magie lag, konnte Crix nicht sa gen – wer wusste schon, von welchen Schutzzaubern ein Drachenei umgeben war, das in Magma gelegt worden und tausende von Jahren dort ausgebrütet worden war? Dann schwang die Plattform an den letzten verbliebenen Kabeln zur Seite und prallte leicht gegen die Wand und die dort verlaufenden, mathematisch genau ausgerichte ten Energieröhren. Der Aufprall zerstörte das Kunstwerk, 393
an dem hunderte Goblins gearbeitet hatten und setzte knisternde statische Entladungen frei, die wie Blitzschläge durch die Dampfwolken zischten. Crix konnte nur hoffen, dass die Zerstörung der Siegel das Ausbrüten der Drachen irgendwie beeinträchtigte, aber sie wollte lieber nicht darauf zählen. Die Plattform hing jetzt in einem fast perfekten 45 Grad-Winkel, zumindest für Crix’ Auge. Zu ihrer Überra schung sah sie die untere Hälfte von Zomaj Hauc durch den Nebel. Er baumelte an der Plattform und schwang die Beine wie wild hin und her, um Halt zu finden. Dann hatte der Dunst ihn schon wieder verschlungen. Crix schob ihren Ärmel zurück und untersuchte die glühenden Zeichen auf ihrem Arm. Aus Sicherheitsgrün den war es den Kurieren verboten, den Text zu kennen, den sie überbrachten. Aber sie hatte ja von ihrem Magierfürsten besondere Gaben erhalten. Sie wusste längst, was die Nachricht bedeutete und was sie bewirken würde. Zum ersten Mal kam Crix der Gedanke, ihren Arm ein fach in die brodelnde Lava zu werfen. Das würde mögli cherweise die Bedrohung beenden, oder nicht? Jeder nahm an, dass die Drachen die Welt zerstören würden, wenn man sie auf Ravnica losließ, aber gab es dafür überhaupt irgendwelche konkreten Hinweise? Crix war sich da nicht so sicher. Schließlich hatte Niv-Mizzet Rav nica auch nicht zerstört. Alles in Crix schien sich zu winden, als der Gedanke auf ihr immer noch von Loyalität bestimmtes Gehirn traf: Der Magierfürst durfte die Kontrolle über die neuen Dra 394
chen nicht übernehmen. Sie hatte Zomaj Hauc angebetet, so weit wie sie sich zurückerinnern konnte. Aber nie mand sollte solche Kräfte besitzen, wenn er nicht mit ihnen geboren worden war. Oder – wie in diesem Fall – mit ihnen geschlüpft. Sie konnte ohne Probleme die Umrisse der drei hoch ragenden Eier durch den Dampf hindurch erkennen. Auch sie glommen in der schwülen Luft. »Lebt in Freiheit, ihr Neuen«, sagte sie feierlich und kniete sich hin. Sie streckte den Arm, auf dem die Nach richt stand, über den Rand des Generators. »Tu das nicht«, sagte Zomaj Hauc, der auf einmal aus dem Rauch erschien und von oben neben der GoblinFrau auf dem Rand des Generators landete. Er schloss seine Hand um Crix’ Handgelenk und riss sie mit einem Arm in die Luft. »Nein, mein Meister«, sagte sie. »Die Drachen dürfen nicht von Sterblichen beherrscht werden. Noch nicht einmal von ... Es ist nicht ... Es ist nicht in Ordnung.« Das Wort kam nur schwer über ihre Lippen. »Ordnung« war in den meisten Fällen nichts, worum sich ein Izzet groß scherte. Aber Crix war nicht nur eine Izzet. Sie war eine Goblin-Frau, die in Utvara lebte, zumindest jetzt, und damit auch in der Welt von Ravnica. Zomaj Hauc hatte sie mit einem scharfen, mächtigen Verstand ausgestattet, was sich jetzt für den Magierfürsten rächte. Crix war eine Bürgerin dieser Welt, und sie hatte vor, sie mit allen Kräf ten zu verteidigen. Auch wenn sie damit zunächst nicht viel Erfolg zu haben schien. 395
»Das Nein ist die falsche Antwort«, sagte der Magier fürst. Mit einem kleinen Ruck aus der Schulter verdrehte er Crix den Arm und ließ sie sich qualvoll in der Luft um die eigene Achse drehen. Dadurch lösten sich die Haft verschlüsse, die den Arm mit dem Stumpf an ihrer Schul ter verbunden hatten. Arm und Kurier wurden voneinan der getrennt. Und damit war die Nachricht auch wie vor gesehen übergeben worden. Die Goblin-Frau landete hart auf der Seite. Sie versuchte vergebens, ihren verbliebenen Arm unter ihren Körper zu schieben, bevor sie mit der Metallkappe über dem Schultergelenk auf dem Steinbo den aufschlug. Der Schmerz war so groß, als wäre ihr gesamtes Gerippe kurz aus ihrem Körper herausgescho ben worden. Als ein knackendes Geräusch aus der Mitte des Kessels zu hören war, stemmte sich Crix auf die Knie und blickte durch den Dunst auf die Eier hinab. Das eine mit den violetten Flecken begann aufzuplatzen. »Das nenne ich gute Planung, Crix«, sagte Hauc. »War um bleibst du nicht noch hier und schaust es dir mit an? Solltest du die nächste Stunde überleben, könnte ich dir eventuell einen Platz in meinen Arbeitstrupps anbieten.« Der Magierfürst lächelte grausam. »Andererseits wird jeder einen Platz in meinen Arbeitstrupps haben, sobald Ravnica mir gehört.« Mit einer kurzen Handbewegung erschuf Zomaj Hauc einen Strahl heißer Luft, mit dessen Hilfe er in hohem Bogen in die Luft schoss. Eine kurze Überschlagsrech nung sagte Crix, dass er wohl neben der immer noch 396
schwebenden Pyraquin landen würde. Die Goblin-Frau hustete etwas Blut in ihre verbliebene Hand. Sie lebte immer noch. Sie konnte immer noch versuchen, ihn zu stoppen. Und sie konnte ihm hinterher fliegen, indem sie etwas tat, was kein Kurier tun durfte, wenn es ihm nicht ausdrücklich von seinem Magierfürsten genehmigt wur de. Crix hatte es auf ihrer langen Reise zum Kessel kein einziges Mal angewendet. Hauc hatte es nicht erlaubt, da sie ja unauffällig in der Orzhov-Karawane mitreisen soll te. Die anderen beiden waren immer noch gefesselt, wenn sie die Mut überlebt hatten, und der Bold war ver schwunden. Es gab keine andere Möglichkeit. Mit zittern der Stimme sagte sie den neunstelligen, störungssicheren Notfallkode auf, der ihr die Macht gab, alle ihre Fähigkei ten einzusetzen. Kaltes, erregendes Feuer durchfloss Crix. Sie ließ ihren Umhang fallen, damit er nicht Feuer fan gen konnte, bleckte die Zähne und gab mental das Kom mando, das eine von vielen Funktionen aktivieren würde, die Hauc in ihre stabilen Mizzium-Beine während einer der vielen Operationen, die sie in ihrer Kindheit über sich hatte ergehen lassen müssen, eingebaut hatte. Crix war nur noch halb so viel Goblin, wie sie einmal gewesen war, aber gerade diese Nichtgoblin-Hälfte war es, die sie heute noch retten konnte, wenn es überhaupt etwas gab, mit dem das zu bewerkstelligen war.
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Kapitel 15
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Mubb der Unglückliche: Wo kommt der große Niv-Mizzet her, Magierfürst? Magierfürst: Man kann einen Drachen nicht erschaffen, unverschämter Dummkopf. Auf der Feier zu Ehren des großen Niv-Mizzet wirst du ihm persönlich serviert wer den! Seltsamkeiten! Schnappt euch den Schwachkopf. Mubb der Unglückliche: Hurra! Könnte ich mir vorher noch einen flammensicheren Frack ausleihen? Rembic Wezescu, Mubb der Unglückliche besucht eine Feier
3. Cizarm 10012 Z. C. Das Gestell zerrte wieder an Kos Gliedern. Das langsame Abkippen der Plattform sorgte dafür, dass es sich mitbog. Die Arme des Dings sanken sogar noch weiter. Anschei nend war es nicht in der Lage, sich an die Situation anzu passen, solange Hauc nicht den entsprechenden Befehl gab. Und der Magierfürst war ausreichend damit beschäf tigt, sich nicht von den sich verschiebenden Bauteilen des Kessels zerquetschen zu lassen. Das Gestell zwang Kos’ Oberkörper nach unten, sodass er jetzt senkrecht zu der 398
gebeugten Plattform hing. Sein Kopf zeigte direkt in Rich tung der schwebenden Flugkugel, und der tote Sceada befand sich immer noch direkt unter ihm. Ganz in der Nähe riss ein weiteres Kabel und schwang direkt auf Kos zu. Aus dem Kabelende sprühte rohe Ma gie, und er versuchte sich wegzuducken, aber ohne Erfolg – das Gestell hielt ihn weiterhin fest. Kos schloss die Au gen und rechnete damit, dass sein Glück ihn zu guter Letzt doch einmal verließ, während das Kabel auf ihn zukam. Irgendwo über ihm war ein Pfeifen zu hören, gefolgt von einem lauten Knacken. Das Mizzium-Kabel schnitt mühelos durch die seltsa men Arme des Röhrenwächters, ohne dabei den gefähr lich explosiven Energieschalter in der Mitte zu berühren, und plötzlich waren Kos’ Arme frei. Einigermaßen zu mindest. Kos hing immer noch kopfüber über den Über resten des Sceadas, nur die Fesseln um seine Fußgelenke hielten ihn noch – beziehungsweise seine Stiefel. Die abgetrennten »Hände« des Gestells umfassten immer noch Kos’ Handgelenke wie riesige Handschellen, die von einem Sadisten erdacht worden waren. Kos war sich nicht sicher, ob es das zusätzliche Ge wicht rund um seine Handgelenke war oder ob so viel Blut aus seinen Füßen geflossen war, dass sie deutlich kleiner geworden waren – jedenfalls bemerkte er mit wachsender Panik, dass seine Füße aus den Stiefeln zu rutschen drohten. Er bohrte die Zehennägel in das Leder und konnte das Rutschen damit erst einmal aufhalten, aber er wusste, dass er diese Anspannung nicht lange 399
durchhalten würde. Seine Sehnen beschwerten sich be reits. »Kos!«, brüllte Golozar durch den Kessel. »Du rutscht!« »Ach, wirklich?«, brüllte Kos zurück. »Hatte ich noch gar nicht bemerkt!« »Wollte ja nur ...« »Sei mal ‘ne Sekunde still. Kannst du freikommen? Du hast doch ein Seil bei dir, oder? Gruul haben doch immer ein Seil bei sich. Du musst ... O verdammt, ich rutsche wieder!«, stieß Kos frustriert hervor. »Nein, ich bin noch gefesselt«, antwortete der Gruul. »Ich habe nicht so viel Glück wie du. Und ja, ich habe ein Seil, aber ich komme nicht dran.« »Ich glaube nicht, dass du was von meinem Glück ab haben willst«, sagte Kos. Seine Zehen rutschten in den Stiefeln immer weiter, egal, wie er sich dagegenstemmte. Die Klemmen hielten seine Stiefel fest und ließen nicht locker. Nur hielten die Stiefel ihn leider nicht genauso fest. Kos versuchte, stattdessen vorsichtig seine Hände von den Überresten des Gestells zu befreien. Er zerrte beide Arme so weit auseinander, wie er konnte, bis die Drähte und gezackten Metallränder ihm ins Fleisch schnitten und die Hände blutig machten. »Das wird nicht klappen! Versuch, auf dem Sceada zu landen«, rief Golozar. »Und wenn möglich mit dem Rük ken. Das könnte deinen Sturz genügend auffangen.« »Danke«, sagte Kos just in dem Moment, in dem seine Zehen den Kampf endgültig verloren, sodass er kopfüber nach unten stürzte. 400
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Es war Teysa irgendwie gelungen, sich während des rest lichen Angriffs auf dem Rücken des Dromads zu halten, selbst als die Wassermassen die Wachen im östlichen Teil des Kessels verschlangen und bis an die Flanken des Tiers gestiegen waren. Den Virusoiden machte das Wasser offenbar nichts aus. Sie liefen mühelos darüber hinweg. Teysa machte sich nur etwas Sorgen, ob die Zombies auch das Tempo beibehalten konnten. Die Goblin-Arbeiter griffen kaum in den Kampf ein, und sie hatte ihren Truppen bereits die Anweisung gege ben, keine Goblins anzugreifen, solange diese nicht von selbst angriffen. Sobald sie das nebeldurchzogene Innere des Kessels betrat, erkannte sie, wie weise diese Ent scheidung gewesen war. Ein Großteil der Arbeiter war nicht in Panik ausgebrochen. Sie waren auf ihrem Posten geblieben und liefen im ganzen Nest beschäftigt hin und her, um Feuer zu bekämpfen, Abzugsrohre abzudichten und Risse wieder zu versiegeln. Das ganze Kraftwerk glich einem einzigen Chaos. Eine riesige Plattform hing in Schräglage mitten in der Luft. Dampf- und Rauch, die aus zerstörten Röhren und ande ren undefinierbaren Quellen austraten, vermischten sich zu großen Schwaden. Beinahe hätte Teysa einen der Go blins übersehen. Es war ein weiblicher der nur einen Arm besaß. Die Goblin-Frau warf gerade einen Umhang ab, der genauso aussah wie jener, den sie anhatte, als Teysa sie zuletzt zu Gesicht bekommen hatte. Das war auf dem 401
Lokopeden gewesen, kurz nachdem sie ... nun, nachdem sie ihr Erbe angetreten hatte. Die Goblin-Frau war der Kurier! Jetzt, wo ihre Erinnerungen wieder zurück waren, erkannte Teysa sie eindeutig. Nayine Shonn riss ihr Dromad herum und gesellte sich wieder zu Teysa. »Baronin, vielleicht solltet Ihr Eure Taj zurückhalten. Wir treffen auf kaum Widerst...« Teysa schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab und zeigte auf die Goblin-Frau. »Der Kurier«, sagte sie. In diesem Moment reckte Crix ihre verbliebene Faust gen Himmel und wurde von zwei feurigen Strahlen, die aus ihren Sohlen kamen, in die Luft katapultiert. »Habe ich das wirklich gerade gesehen?«, sagte Shonn. »Wenn sie tatsächlich dazu in der Lage ist, warum hat sie es nicht ... Ich meine, sie hätte doch innerhalb von Stunden in der Stadt sein können!«, stotterte Teysa. »Baronin, bei allem nötigen Respekt, aber wir haben im Moment wichtigere Probleme«, sagte die Devkarin. »Au ßerdem schuldet Ihr mir zehn Zidos. Wette gewonnen.« Teysa warf einen Blick auf das Nest und erkannte, dass ihr Devkarin-Leutnant Recht hatte – die Drachen began nen mit dem Ausschlüpfen. »Stimmt, du hast gewonnen«, sagte Teysa. »Erinnere mich daran, wenn wir hier lebend rausgekommen sind.«
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Kos hatte kaum Zeit zum Schreien, da prallte er auch
schon gegen einen fliegenden Goblin. Crix schob ihren
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Arm unter Kos’ Schulter Und presste ihn an sich. Der Zusammenprall riss die zerbrochenen Reste des Gestells von seinen Armen. Das Metall fiel in das langsam ablau fende Wasser und verfehlte nur knapp ein paar Goblins, die sich damit abmühten, den Generator am Laufen zu halten. Ein guter Teil der Haut an seinen Gelenken und Händen verschwand zusammen mit dem Metall, aber nichts schien gebrochen zu sein. Kos war froh, dass er immer noch beide Fäuste ballen konnte, auch wenn er dabei Schmerzen hatte. Erst nach ein paar Sekunden fiel ihm auf, dass sie sich nach oben bewegten. »Crix, was machst du da?«, rief er. »Das heißt, wie machst du das?« Die Goblin-Frau veränderte leicht den Griff, mit dem sie Kos festhielt, und murmelte ein paar Berechnungs formeln, die Kos noch nicht mal verstanden hätte, wenn sie sie langsam und deutlich aufgesagt hätte. Und seit wann hatte Crix nur noch einen Arm? Kos konnte sich nur wundern. »Warte«, sagte die Goblin-Frau. »Ich muss nur kurz un seren Bewegungsvektor anpassen, wenn wir ihn noch kriegen wollen.« »Wen kriegen?«, sagte Kos. Die Frage wurde umgehend beantwortet, als er sah, wie der Magierfürst oben auf der durchsichtigen Flugkugel landete, die dabei leicht im Nebel schwankte. »Ach so«, sagte er. »Um Ihre vorherige Frage zu beantworten: Ich mache das, indem ich einen meiner heiligsten Eide breche«, sagte Crix. 403
»Aus deinen Füßen schießt Feuer!«, sagte Kos erstaunt. »Das verletzt mehr als nur einen Eid. Da fallen mir spon tan mehrere Naturgesetze ein, die ...« »Experimentelle Kurierverbesserung. Allerdings ist es mir nicht erlaubt, sie ohne direkten Befehl meines Herrn zu verwenden, falls sich mein Fürst nicht in tödlicher Gefahr befindet. Ich werde meinen Übertritt wahrschein lich nicht überleben. Aber halten Sie sich fest, das näch ste Manöver wird etwas knifflig«, sagte Crix. »Ich werde Sie neben ihm absetzen. Versuchen Sie, ihn aufzuhalten, bis ich Golozar geholt habe. Zu dritt sind wir vielleicht in der Lage, ihn davon abzuhalten, dass er die notwendigen Worte ausspricht.« »Ich soll ihn aufhalten«, wiederholte Kos. »Und wie ge nau soll ich das bewerkstelligen?« »Passen Sie auf Ihre Beine auf. Sie werden gleich lan den«, sagte Crix. »Tut mir Leid, ich muss noch mal kurz weg, bin aber gleich wieder da.« Als sie direkt über dem Magierfürsten schwebten, zog sie ihren Arm peitschenar tig zurück und ließ Kos fallen. Der alte Wojek traf den Magierfürsten mit beiden Bei nen an der Brust, aber Hauc hatte ihn noch rechtzeitig kommen gesehen. Er hakte einen Arm um Kos’ Füße und ließ sich nach hinten fallen, wodurch die Wucht des Auf pralls fast vollständig abgemildert wurde. Kos’ verzweifel ter Versuch, einen Kinnhaken zu landen, ging meilenweit daneben. Der Magierfürst rollte sich ab und setze dabei seine gesamte Körpermasse ein, um Kos zur Seite zu schleudern. Hauc rammte den alten Wojek mit dem Ge 404
sicht nach unten gegen die Plattform, aber das gab Kos wiederum genügend Spielraum, um seine stiefellosen Füße in Haucs Rippen zu rammen. Der Magierfürst muss te Kos überrascht loslassen, um sich keuchend und wür gend zusammenkrümmen zu können. Kos war zwar ein alter Mann, aber Hauc war es nicht gewohnt, wie ein Raufbold zu kämpfen. Beide versuchten vorsichtig, wieder festen Stand auf der Plattform zu fin den, die von Nebel und Blut äußerst rutschig geworden war. Dabei stammte das meiste Blut von Kos. Der Magier fürst warf einen kurzen Blick auf die glühenden Buchsta ben auf dem Goblinarm und in den glühenden, zerrisse nen Himmel, dann lachte er Kos laut aus. Agrus Kos war unter anderem deshalb nach Utvara ge kommen, weil er weit weg von glühenden Dingen sein wollte. Und das betraf besonders glühende Dinge, welche die Welt zerstören wollten. Er brüllte und stürmte auf den abgelenkten Hauc zu, der sich dieses Mal nicht rechtzeitig umdrehte. Kos prall te gegen die Rippen, gegen die er gerade noch getreten hatte, und versenkte noch einmal eine Faust in der Ma gengrube des Magierfürsten. Es musste einen Grund ge ben, warum Hauc gegen ihn keine Feuermagie einsetzte. Kos konnte sich nicht vorstellen, warum Hauc beim Kämpfen nicht auf andere Mittel zurückgriff. Das war ganz und gar nicht das, was man von einem Magierfür sten erwartete. Ineinander verknäult rutschten die beiden über den abschüssigen Landeplatz. Kos hatte die Arme um den 405
Hals des Magierfürsten gelegt, während Hauc mit Crix’ Arm nach dem alten Wojek schlug. Er unterbrach das nur, als es Kos gelang, seine nackte Ferse in die aufge platzte Lücke zwischen zwei ehemals miteinander ver schweißten Platten zu rammen. Der Wojek blieb stecken. Hauc rutschte weiter, aber Kos brachte ihn mit einem Ellenbogenschlag in die Leistengegend auch zum Halten. Hauc krümmte sich vor Schmerzen, aber das schien ihn endlich daran zu erinnern, dass er unter anderem mit seinen Augen kleine Löcher in andere Leute brennen konnte. Kos sah es nur kurz aufblitzen und drückte schnell mit der Handfläche von unten gegen Haucs Kinn. Das reichte gerade noch aus, um einem Paar glühender Strahlen auszuweichen, die sonst die obere Hälfte seines Schädels sauber weggebrannt hätten. Das Feuer prallte von der Flugkugel ab und brannte zischend zwei rau chende Löcher in die Landeplattform. »Was bist du eigentlich für einer«, knurrte Hauc. »Kos«, sagte Kos. »Bund der Wojeks. Im Ruhestand.« »Wie bitte?«, sagte der Magierfürst, den diese Antwort für einen kurzen Moment verwirrte. »Die Antwort auf eure Frage«, sagte Kos. Sie umkreisten einander, so gut sie konnten, aber keinem gelang es, dar aus einen Vorteil zu schlagen. »Wirklich, Hauc, warum veranstaltet Ihr das alles überhaupt? Hat Niv-Mizzet Eure Gefühle verletzt? Geht Euch die Gegend hier auf die Ner ven? Das könnte ich voll und ganz verstehen. Manchmal macht mich hier auch alles verrückt: der Staub, die Seu che, der Pollendreck, den man dauernd in Nase und Oh 406
ren bekommt. Aber mal halblang. Ihr wollt die ganze Chose doch sicher nicht in die Luft jagen, oder? Schaltet die Dinger dort ab. Macht lieber nicht weiter.« Kos streck te eine Hand aus. Diese Lücke in Kos’ Deckung reichte Hauc aus, um den abgetrennten Arm zu schwingen. Mit einem misstönen den Krachen traf er Kos am Kinn, und der alte Mann wurde gegen die Flugkugel geworfen. Der abgetrennte Arm war nicht aus Fleisch und Blut. Er bestand haupt sächlich aus einem Metall, das allerdings deutlich leichter als Eisen oder Mizzium war. Das war Kos’ Glück, sonst hätte ihm der Schlag wahrscheinlich den Schädel einge schlagen. Der Wojek hatte gerade noch genug Reaktionsvermögen, sich an der Kugel festzuklammern, um nicht die abschüssige Rampe hinunterzupurzeln. Kos spuckte einen Zahn aus – einen seiner letzten ech ten. »Das hat wehgetan«, sagte er. »Was ich für einer bin? Wer zum Teufel seid Ihr? Ich bin jetzt zwölf Jahre hier, in denen ich außer herumzusitzen und mich auszuruhen fast nichts zu tun hatte. Und plötzlich kommt Ihr daher, und schon steht das Ende dieser verdammten Welt be vor.« Beim Wort »Welt« riss Kos ein Knie herum, traf den Magierfürsten gegen das Bein und schickte ihn auf diese Weise zu Boden. Hauc rutschte unter die Flugkugel, wo er von der Magie, die das Ding am Schweben hielt, aufgehal ten wurde, zumindest aus Kos’ Blickwinkel. »Warum diese Prügelei, Hauc?«, sagte Kos provozie rend. »Wo ist Eure tolle, glitzernde Magie? Bei jemandem, der die Welt zerstören will, erwarte ich tolle, glitzernde 407
Magie. Wo ist der Aufmarsch der Truppen? Der Krieg? Wo sind die Armeen, die durch die Straßen marschieren, und all die hässlichen, geifernden Wesen? Das hier kann man ja noch nicht einmal ein Scharmützel nennen.« In Haucs Augen blitzte es wieder auf, aber Kos war vorgewarnt und konnte sich hinter die Pyraquin in Si cherheit bringen. »Ist es ein persönliches Problem, Magier? Sagt mal, Ihr steht doch nicht etwa in Kontakt mit einer meiner Ex frauen, oder?« Die Augen des Magierfürsten glühten. Kos sprang gera de noch rechtzeitig von der Kugel weg, um einem weite ren Blitzstrahl zu entfliehen. Diesmal hielt sich der Ma gierfürst nicht zurück, und Kos fragte sich, ob es wirklich so weise gewesen war, ein provozierendes Ablenkungs manöver durchzuführen, wenn man gar nicht den ganzen Angriffsplan kannte. Der alte Wojek war nicht schnell genug, um dem nächsten Strahl zu entkommen. Er ver spürte ein sengendes Brennen im Rücken – zum Glück war es nur ein Streifschuss, der nicht bis auf den Kno chen ging. Ich sollte mir wirklich einen Arbeitsplatz suchen, wo eine Wunde, die nicht auf den Knochen geht, nicht be reits ein Grund zur Freude ist, dachte Kos benommen. Der Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper und hatte ihn in die Knie gezwungen. Er krabbelte die Rampe hoch und versuchte, die Flugkugel zwischen sich und den Ma gierfürsten zu bekommen. »Ich vergeude nur meine Zeit«, sagte Hauc. »Und meine 408
Kraft. Es reicht jetzt.« Er ging an Kos vorbei und gab ihm dabei noch einen kräftigen Tritt in die Magengrube. Kos rollte ächzend auf die Seite. Hauc marschierte bis zum Rand der Plattform und streckte Crix’ Arm vor sich in die Höhe. Aus seinem Blickwinkel konnte Kos zwar nicht sehen, dass das Ei unter ihm erste Sprünge und Risse bekam, aber er hörte es. Das Geräusch war anders als alles, was er je in seinem Leben gehört hatte. Es klang wie ein einstürzender Berg mit einem metallischen Unterton und hinterließ summende Schwingungen in der Luft, die es ihm kalt den Rücken hinunterlaufen ließen. Der Magierfürst begann, den Zauberspruch aufzusa gen, der ihm die Herrschaft über den ersten Drachen geben würde, der seit fünfzehntausend Jahren in Ravnica schlüpfte. Aus den Augwinkeln bemerkte Kos etwas noch Interes santeres. Über ihnen bewegte sich etwas, und durch den Dunst hindurch konnte er mit ansehen, wie ein gezielter Feuerstrahl aus Crix’ linkem Fuß die letzte Halteklemme an Golozars Gestell absprengte. »Das ist zumindest etwas, was man nicht jeden Tag sieht«, sagte Kos leise. Er spuckte etwas Blut aus und hoff te, dass Haucs Zauberspruch nicht zu kurz ausfiel.
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Teysa hatte alle Hände voll zu tun. Auf allen Ebenen im
Inneren des Kessels war Feuer ausgebrochen. Aus be schädigten Rohren traten flüchtige Gase und auch Magie
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aus, die wiederum weitere Rohre beschädigten, wodurch neue Feuerherde entstanden ... ein Teufelskreis. Und alles schien auf die eine oder andere Weise mit dem Nest ver bunden zu sein. Nicht nur die gewundenen Rohre und Schlote gingen kaputt, sondern auch der Rest des Kraft werks. Stücke des Kessels fielen in die Wasserlachen zu Füßen ihres Dromads und verfehlten die umherwuseln den Izzet-Goblins nur knapp. Die Goblins waren überall: Manche versuchten zu verhindern, dass das Feuer auf noch funktionierende Teile übergriff, andere bemühten sich darum, dass möglichst vieles weiter funktionierte. Nur wenige rannten schreiend in Panik davon. Die Flüchtlinge platschten durch die rauchenden Pfützen nach draußen ins Freie, wo das Schisma den Morgen himmel erhellte. Teysa ließ sie nicht verfolgen. Sie hatte auch längst nicht mehr so viele Truppen wie zu Beginn des Kampfes. Die Goblins waren zwar kein Hindernis, aber dafür gab es andere Verteidiger. Ihr derzeit größtes Problem war eine Gruppe von hydropyrischen Seltsamkeiten, deren flüssige Hülle von den Wassermassen unberührt geblie ben war – im Gegensatz zu dem, was ihren feurigen Ver wandten zugestoßen war. Die Wasserelementare hatten die Virusoiden in Stücke gerissen und nur zwei der OgerZombies heil gelassen. Die Seltsamkeiten konnten Teile ihrer Körper auf Wunsch fest werden lassen und sie so fort darauf wieder in flüssigen Zustand versetzen. Sie hatten also immer eine Waffe parat, aber sie selbst konn te man mit nichts treffen. Und sie standen genau zwi 410
schen Teysa und den drei Problemen, die danach auf sie warteten: den drei Eiern. Die rote und die blaue Schale zeigten erste Risse, bei der violetten waren bereits einige Teilchen ganz herausgeplatzt. An drei Stellen konnte man Haut erkennen, die wie nasses Leder aussah. Und diese Haut pulsierte voller Leben. Die Baronin hatte bereits sieben Virusoiden verloren. Nichts, was sie bislang versucht hatte, schien den hydro pyrischen Seltsamkeiten etwas auszumachen. Waffen fuhren glatt durch sie hindurch und auf der anderen Seite wieder hinaus, ohne ihnen einen sichtbaren Schaden zuzufügen. Das Wasser hatte augenscheinlich nichts be wirkt, und die Oger zündeten sich nur die eigenen Fäuste an, wenn sie durch die Körper der Elementarwesen hin durchschlugen. Feuer funktionierte auch nicht. Der flammende Kern in den Wesen sog es einfach ein. Teysa wünschte, sie hätte eine Ahnung, wo die Schattengänger waren. Aber sie musste sich darauf verlassen, dass diese das taten, was ihnen befohlen worden war, wo auch im mer sie momentan steckten. Schattengänger brachen keine Übereinkünfte, und sie hatten lediglich die Aufgabe übertragen bekommen, ihren Truppen von draußen Dek kung zu geben. Sie hatte nur noch die letzten beiden Gol gari-Zombies, ein paar gesichts- und stimmlose Virusoi den und Dreka-Zahn bei sich. Leider hatte sie die Minotauren und Shonn mit der Aufgabe betraut, die Goblins mit dem Heilmittel zu be handeln. Die Minotauren sollten sie einfangen, worauf die Devkarin das Mittel verabreichen sollte, ob die Go 411
blins das nun wollten oder nicht. Dadurch hatte Teysa nur noch Dreka-Zahn als Leibwache – und ein Dromad, das mit jeder Sekunde unruhiger wurde. Die Taj waren das Einzige, was sie noch nicht gegen diese Seltsamkeiten ausprobiert hatte. Immerhin waren Taj mehr Geist als lebendig; vielleicht konnte ja der Gei sterteil ihres Wesens etwas ausrichten. Was ihr als erste Idee kam, würde für die Taj ebenso böse enden wie für die Seltsamkeiten, aber ihr standen langsam keine Mög lichkeiten mehr offen. Und als ob es ihren Gedankengang noch untermauern wollte, nahm gerade eines der Was ser-Feuer-Wesen den achten Virusoiden auseinander, indem es seinen flüssigen Arm für den Bruchteil einer Sekunde in eine Eisaxt verwandelte. Ohne weiter nach zudenken, fällte sie ihre Entscheidung. »Dreka-Zahn, hol die Taj her!«, befahl Teysa. Jetzt wür de sie zwar noch nicht einmal mehr Dreka-Zahn um sich haben, aber er war der Einzige, der den wartenden Haaz da die Nachricht überbringen konnte. Und sie benötigte die Taj dringend. Sie wäre ja selbst gegangen, wenn sie nicht damit hätte rechnen müssen, dass die anderen oh ne ihre Anführerin ihren Posten verlassen und fliehen würden. Ihre »Truppen« waren einfach bei weitem zu dumm, um ohne unmittelbare Kontrolle einen solchen Kampf führen zu können. Außerdem hatte sie es schon viel zu weit geschafft. Sich jetzt umzudrehen, und sei es nur, um Verstärkungen zu holen, schien einfach nicht das Richtige zu sein. Teysa wagte es nicht, die Eier oder auch nur den Magierfürsten 412
aus den Augen zu lassen, der gerade am Rand der geneig ten Landeplattform stand und einen Arm über den Kopf hielt, und zwar nicht den eigenen. Dem Aussehen nach war es Crix’ Arm, aber das überraschte Teysa nicht groß. Der Magierfürst begann damit, laut dumpfe Silben in einer alten Sprache zu intonieren. Dreka-Zahn klopfte Teysas Dromad beruhigend auf die Flanke, flüsterte dem Tier noch ein paar beruhigende Worte ins Ohr und flitzte dann los in Richtung Eingang, um Teysas Befehl zu überbringen. Sie wandte sich nicht zurück, um ihm hinterherzublicken. Ein weiteres Teilchen der violetten Eierschale wurde abgesprengt, und Teysa war sich ziemlich sicher, ein katzenartiges gelbes Auge zu sehen, das sie hungrig an starrte. Das Auge war groß genug, dass sie zwischen den Augenlidern hätte stehen und sich sogar noch strecken können. Es zwinkerte einmal, und Teysa hatte den irritie renden Eindruck, dass es durch sie hindurchschaute. Das Drachenauge war zu viel für die strapazierten Ner ven des Dromads. Es stieg auf die Hinterbeine und warf Teysa in hohem Bogen ab. Sie landete in einer Pfütze und konnte nur noch mit ansehen, wie das Tier auf den Hin terbeinen eine Kehrtwendung machte und in Richtung des östlichen Eingangs davongaloppierte. Dabei gab es Geräusche von sich, bei denen Teysa nicht gewusst hatte, dass Dromads überhaupt zu solchen fähig waren. Es stieß auf dem Weg nach draußen fast mit Rindenfeder zusam men, der immer noch in Elefantengestalt war. Teysa war überrascht. Sie hatte nicht erwartet, dass der Selesnijaner 413
so lange überleben würde, aber selbst die Elementarwe sen schienen im Nahkampf mit mehreren Tonnen Elefant so ihre Probleme zu haben. Es hatte auch etwas Gutes, dass sie plötzlich halb im Wasser auf dem Rücken lag. Von hier aus hatte sie einen hervorragenden Blick auf das klaffende kreisrunde Loch in der Kuppe des Kessels. Die Ränder der Öffnung waren dank den Auswirkungen von Teysas erstem militärischen Befehl in ihrer Karriere teils eingedellt, teils abgebrochen. Aber das war es nicht, was Teysas Blick anzog – sondern der Himmel, der zu sehen war. Das Schisma war unvermindert weitergewachsen und veränderte sich mit jedem Augenblick. Aus Teysas Positi on wirkte es, als ob das Schisma den Himmel in ein kos misches Buntglasfenster verwandelt hätte. Die Lebens energie, die im Moment des Todes gestohlen wurde, floss ungehindert entlang den fraktalen Säumen. Die ekto plasmatischen weißen Röhren im Kessel – die Teysa so fort als Erfindung der Orzhov erkannte – pulsierten stär ker denn je und ließen Lebensenergie in das Drachennest fließen. Mit jeder Silbe, die Haucs Mund verließ, gab das Schisma die in nahezu fünfzig Jahren angesammelten Seelen frei. Und der Kessel, selbst in dem halbzerstörten Zustand, in dem er sich jetzt befand, schien in der Lage zu sein, noch weitaus mehr als das aufnehmen zu können. Ein Schatten half ihr auf die Beine, und ein anderer überreichte ihr ihren Stock, der sich vom Sattel des da vonstürmenden Dromads gelöst hatte. »Hier sind wir. Was sollen wir für Euch tun?« Die 414
Stimme bestand aus drei verschiedenen Tönen, kam aber aus nur einer Richtung. Die Schattengänger waren ange kommen, was bedeutete, dass die Reserve keine Deckung mehr benötigte. Dreka-Zahn war also durchgekommen. Teysa warf einen Blick über die Köpfe der Elementar wesen, die sich gerade die letzten Simic ihres Komman dos vorknöpften. Die Landeplattform war nun klar und deutlich sichtbar, und sie hing gefährlich über dem Rand des Nests. »Ich bezweifle, dass ihr etwas gegen die Seltsamkeiten anrichten könnt«, sagte Teysa. Es war eher eine Frage als eine Feststellung. »Habt Ihr nicht gesehen, wie wir es versucht haben?« »Nein, aber ich kann euch auch jetzt kaum sehen«, antwortete Teysa. Sie zeigte auf die verbliebenen Kabel und den einzelnen Strahl, die gemeinsam dafür sorgten, dass Haucs Landeplattform weiterhin in der Luft schweb te. »Versucht, irgendwie da hochzukommen. Ich will, dass das Ding in genau zwei Minuten herunterfällt«, sagte sie und zeigte auf die Aufhängungsvorrichtung. »Kappt die Dinger dort, dort und dort. Das sollte reichen. Die Eier müssen zerstört werden.« »Wird gemacht«, antworteten die seltsamen Stimmen. »Stopp«, sagte Teysa. »Macht drei Minuten daraus, und sorgt vorher dafür, dass die Goblins da unten rechtzeitig weg sind.« »Wie das? Wir sind nur zu dritt«, sagten die Schatten gänger. »Selbst wir können in so kurzer Zeit nicht so viele fortschaffen.« 415
»Ihr seid doch unsichtbare Meuchelmörder«, blaffte Teysa. »Jagt ihnen halt Angst ein!« »Das werden wir.« Ohne jedes weitere Geräusch ver schwanden die Schatten. Nur wenige Sekunden später ertönte ein Missklang aus geisterhaften Warnrufen, die dafür sorgte, dass noch mehr Goblins schreiend die Flucht ergriffen und jedem erreichbaren Ausgang zuströmten. Teysa bezweifelte, dass es alle waren – Goblin-Ingenieure konnten pflichtbewusst bis zum Wahnsinn sein. Aber immerhin hatte sie alles Erdenkliche für sie getan. Teysa fuhr vor Schreck fast aus ihrer Haut, als eine tie fe, rauchige Stimme sie von rechts hinten ansprach. »Hier sind wir, Baronin. Was verlangt Ihr von Euren Taj?«
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Zomaj Hauc hatte beinahe schon die reine Schönheit der Worte vergessen. Diese Sprache war die ursprüngliche Sprache der Drachen aus einer Zeit, als Ravnica noch eine mit Bestien bevölkerte Dschungelwelt gewesen war. Man benötigte viele Jahre, um die Drachensprache zu erlernen, und Zomaj Hauc war eines der wenigen Wesen auf dieser Welt, der sie sprechen konnte. Er hatte sie zuletzt verwendet, als er die Verbesserung dieses OrzhovProjekts, der Manaverdichtungssingularitätsbombe, abge schlossen hatte, und das war jetzt fast ein halbes Jahr hundert her. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf den aus einer Mizzium-Legierung hergestellten Arm des Kuriers gerich 416
tet. Der Arm glühte hell. Der Mensch war geschlagen, und Hauc hatte das vollbracht, ohne viel von seiner magi schen Energie einzusetzen, sodass er noch mehr als ge nügend Kraft für den noch anstehenden kritischen Teil seines Projekts übrig hatte. Zomaj Hauc ging zum Rand der Plattform und warf einen Blick nach unten auf die Eier. Alle drei zeigten Lebenszeichen. Er hatte dieses Le ben gerettet, nur er, nachdem sie Niv-Mizzet vor Tausen den von Jahren hier zurückgelassen hatte. Der Große Drache verdiente sie nicht. Hauc hatte sie entdeckt, sich um sie gekümmert und sie mit Seelen gefüttert. Die geisterhaften Geräusche in der Luft und der plap pernde Wojek bedeuteten gar nichts. Die einzigen Worte, die es wert waren, dass man sie aussprach, waren in glü henden Buchstaben auf dem Arm eingraviert. Es war nicht einfach gewesen, sie aus seinem Gedächtnis zu verbannen, damit der Drache sie dort nicht finden konn te. Crix hatte gut auf die Worte aufgepasst, aber ihr Verrat war ein Stachel, der tief saß. »Vsjo dovzer zsya mene, drazzac, drazzavh, drazzaugh«, rezitierte er präzise. »Tijava silz nqja, ti silja najana ...« Mehrere hundert Pfund wütender Gruul schnitten ihm mitten im Satz das Wort ab und warfen ihn gegen den abschüssigen Mizzium-Boden. Der wilde Tiermensch brüllte in seinem kehligen, affenähnlichen Tonfall und trommelte auf seiner Brust herum. »Das hättest du lieber bleiben lassen«, sagte Hauc mit blitzenden Augen. »Ich habe auch noch genügend Energie für dich übrig.« 417
»Ihr solltet etwas gegen Euren Tunnelblick tun, mein Fürst«, sagte auf einmal Crix, die von oben herabstieß und dem abgelenkten Magierfürsten ihren Arm aus den Hän den riss. Aus ihren Sohlen fuhren Flammenstrahlen, die ihn mitten auf der Brust trafen. Die Goblin-Frau nahm Kurs auf das Nest und verschwand hinter den Drachenei ern. »Crix, du darfst sie nicht haben!«, brüllte Hauc. »Und ich habe dir nicht erlaubt ...« »Klappe halten«, sagte Golozar und rammte das Gesicht des Magierfürsten gegen den Boden. Alles um Hauc her um drehte sich, als der Gruul ihn nun am Kragen hoch zog und über den Rand der Plattform stieß. Hauc prallte mit dem Rücken so hart gegen das blau gesprenkelte Ei, dass ein sechseckiges Stück Schale abgesprengt wurde. Hauc schaute auf das blaue Ei, und das Wesen im blauen Ei schaute zurück. »Nein, noch nicht«, flüsterte Hauc dem Bewohner des Eies zu. »Warte noch ein bisschen!« Er zog sich am Ei hoch und stolperte durch knöcheltiefes Wasser in die Richtung, in die Crix verschwunden war. Er musste die sen Arm zurückbekommen, oder die Drachenbrut war für ihn verloren. Für immer verloren. Er musste den Arm zurückbekommen, oder die Welt würde nie unter dem gütigen und weisen Herrscher Zomaj Hauc vereinigt wer den. Die Welt benötigte ihn.
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Teysa hatte gehofft, nie wieder solche Schreie hören zu müssen wie die der hydropyrischen Seltsamkeiten – bis sie die Schreie der Taj vernahm, die sich selbst opferten, um die Elementarwesen zu töten. Es waren weitaus schlimmere Schreie. Vom Wesen her waren die Taj Geister, die darauf abge richtet waren, seelenlose Körper zu übernehmen. Sie waren schnell, tödlich und eigentlich nicht zu verletzen, kämpften aber wie die meisten Kämpfer mit Waffen aus Stahl und einigen halb entladenen Knallstäben. Diese hatten sie in den Händen der getöteten Gruul gefunden, in deren Körper sie nun steckten. Die hydropyrischen Wesen waren gegen solche Waffen vollständig immun, wie Teysa bereits hatte herausfinden müssen. Aber die Seltsamkeiten waren auf ihre Weise lebendig. Der einzige Weg, um sie aufzuhalten, bestand für die Taj darin, den eigenen Körper zu verlassen und zu versu chen, den der Elementarwesen zu übernehmen. Feuer und Wasser gegen kalten, endgültigen Tod. Und es funktionierte. Eigentlich dauerte es sogar nur wenige Sekunden. Der Preis, den ihre immer weiter schrumpfende Gildenbund-Armee dafür bezahlen muss te, war jedoch immens. Die Taj, die ihre Gruul-Körper zurückließen, verzehrten die Substanz der Seltsamkeiten, die im Gegenzug die Taj verbrannten. Das Ergebnis war explosiv, erwischte zwei weitere Virusoiden. Die lauten Schreie hallten noch lange nach. Teysa öffnete die Augen erst wieder, nachdem das Ge schrei verklungen war. Die Plattform schwebte weiterhin 419
in der Luft, so viel konnte sie durch den Dunst erkennen. Fünf ihrer Taj waren noch am Leben. Wo die hydropyri schen Elementarwesen gestanden hatten, waren nur noch Stücke von Virusoiden und Zombiekörpern, diesmal endgültig toten Gruul und Ölpfützen zu sehen, die in al len Regenbogenfarben schillerten. Das war alles, was von Haucs Seltsamkeiten übrig geblieben war. Sie konnte es kaum glauben. Sie hatten die Feld schlacht gewonnen, und langsam schien es auch bei den Arbeitern angekommen zu sein, dass es an der Zeit war, den Kessel zu evakuieren. Ihr Plan könnte tatsächlich Erfolg haben, wenn die Schattengänger die Plattform bald wie vorgesehen unter Haucs Füßen abstürzen ließen. Sie konnte Rindenfeder, der jetzt wieder Elfengestalt ange nommen hatte, den Goblin-Arbeitern zurufen hören, ihm nach draußen in die Sicherheit zu folgen. »Kommt mit«, sagte sie zu den verbliebenen Taj, ohne den Magierfürsten aus den Augen zu lassen, der am Rand der Plattform stand. »Verteilt euch. Das Ganze wird gleich ganz schön ...« In diesem Moment schoss Crix von oben auf die Platt form zu, warf einen riesigen Gruul auf den Magierfürsten und flog auf die andere Seite des Kessels. Teysa konnte mitverfolgen, wie der Gruul den Magierfürsten am Kragen hochzog, von der Plattform stieß und sich dann hinun terbeugte, um Pivlics Sicherheitsmann auf die wackligen Beine zu helfen. In diesem Moment wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass die drei Minuten so gut wie um waren. 420
Teysas Warnrufe gingen im Lärm der abklingenden Kraftwerke, aufgeplatzten Dampfkerne und kreischenden Goblins unter und erreichten die Plattform nicht rechtzei tig. Es klickte drei Mal laut metallisch, und die letzten Halterungen der Plattform gaben nach. Eine Ecke steckte noch im Gewirr aus Metall und bildete daher die Kipp achse. Die schwere Mizzium-Platte fiel mit der gegenü berliegenden Ecke nach unten auf das violette Ei genau in dem Moment, als sich ein schuppiger schwarzer Kopf aus der Schale reckte. Beim Aufprall zerquetschte die Plattform den Kopf des Drachen. Die gesamte Umgebung wurde mit schwarzer Gehirnmasse und rauchenden Knochenstücken bespritzt. Der Drache starb, plötzlich und ohne Vorwarnung. Er hatte fünfzehn mal fünfzehntausend Jahre benötigt, um zu schlüpfen, und Teysa hatte ihn getötet. Wenn das keine wahre Macht war. Aber sie und ihre schrumpfende Truppe hatten noch längst nicht alle Pro bleme hinter sich. Sie wandte sich an Dreka-Zahn. »Hast du gesehen, wo dieser Izzet-Magierfürst gelandet ist?« »Dort hinten«, sagte der Söldner und zeigte hinter das zerquetschte Ei auf die aufplatzenden Nachbareier. »In Ordnung, danke«, sagte Teysa. »Zwei fehlen noch.« Sie drehte sich zu ihren restlichen Taj um. »Ihr geht mit Dreka-Zahn mit, das ist der Bursche hier. Findet mir den Magierfürsten. Wenn ihr ihn nicht bekommen könnt, sucht den fliegenden Goblin. Hauc darf diesen Arm nicht zurückbekommen. Aber wenn die Eier ganz aufplatzen, 421
dann raus mit euch. Ich werde schauen, ob ich zu den beiden dort auf der Plattform gelange, um ihnen zu hel fen.« »Wir leben, um zu dienen. Wir sterben, um zu dienen«, sagte einer der Taj. »Ihr habt leicht reden«, grummelte Dreka-Zahn, nickte aber zustimmend. »Und ich muss mich mal wieder um den ganzen Rest kümmern«, sagte Teysa. Mit ihrem Stock in der Hand rannte und hüpfte sie, so gut und so schnell sie konnte, zu der zusammengebrochenen Plattform und den beiden Gestalten darauf, die sich nicht bewegt hatten, seit die Plattform abgestürzt war.
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Kapitel 16
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Antragsteller, die eine Zulassung als ADVOKAT erlangen wollen, müssen nachweisen können, dass sie neben Ravi mindestens fünf weitere moderne und drei altertümliche Sprachen fließend beherrschen. Schwört der ANTRAGSTEL LER dies? Bitte Feld I für JA oder Feld II für NEIN ankreu zen. Antrag auf Zulassung als Advokat (Neufassung von 10009 Z. C.)
3. Cizarm 10012 Z. C. »Ich weiß genau, wo du dich versteckst, Crix«, rief Zomaj Hauc. Es war kein Bluff, auch kein Hohn, das wusste Crix. Er war so dicht an sie herangekommen, dass sie inzwi schen seinen Standort genau festlegen konnte, ohne ihn dabei zu sehen. Immerhin hatte sie ihren Arm zurück. Leider waren beim gewaltsamen Entfernen die Klemmen kaputtgegangen, daher konnte sie ihn nicht einfach wie der einsetzen. Sie umklammerte ihren Metallarm mit dem Arm aus Fleisch und Blut und konzentrierte sich auf den Empfänger der Nachricht ihres Arms. Dort drüben. Haucs Kopf ragte einen Hauch über die 423
Spitze des rot gesprenkelten Eies hinaus, das nach wie vor kaum Risse zeigte. Das violette Ei war zerschmettert, und die Gehirnmasse des jungen Drachen war über den glühenden Felsen gespritzt – ein unglaublich schreckli cher Anblick. Von den anderen beiden jungen Drachen machte der blaue deutlich Fortschritte, der rote war eher eine Schlafmütze. Crix wich langsam zurück und trat dabei auf einen anderen Goblin, der mit dem Gesicht nach oben im Wasser lag. Sie schrie laut auf. Hauc blieb wie erstarrt stehen, als er den Schrei hörte. Crix kannte den Goblin. Es war Haucs Oberbeobachter, ein Mann namens Vazozav. Er schreckte plötzlich auf und spuckte einen Schwall Schmutzwasser aus. Hauc kam heran und schaute Crix direkt in die Augen. Er verbrannte sie nicht, lächelte auch nicht, sondern ver schwand nur hinter dem roten Ei. »Oberbeobachter!«, sagte Crix. Sie stolperte zu dem würgenden Goblin hinüber und half ihm, sich in eine stabile Seitenlage zu bringen und das restliche Wasser auszuhusten. »Sie müssen alle Goblins, die sich noch im Gebäude befinden, dringend nach draußen bringen. Ste hen Sie auf! Erkennen Sie mich, Oberbeobachter?« Vazozav blinzelte. »Du – du bist dieser Kurier.« »Und ich habe eine Nachricht für Sie. Der Kessel wird in Kürze in einem sehr schlechten Zustand sein. Sorgen Sie dafür, dass alle Goblins rechtzeitig nach draußen kommen.« »Außer ...«, keuchte der alte Wissenschaftler, »... außer dir, nehme ich an?« 424
»Genau«, sagte Crix. »Ich muss das hier vor dem Feind fern halten.« Der alte Goblin rappelte sich auf und brachte ein Grin sen zustande. Er spuckte noch eine kleine Ladung Wasser aus, und Crix fühlte sich an die alte Izzet-Legende erin nert, in der es um die Saboteure ging, die das große Siegel von Ravnica verhindert hatten. »Du bewahrst es vor dem Feind.« Der alte Goblin grin ste. »Und ich bringe unsere Leute nach draußen.« »Sie sollen vorerst in die Stadt gehen«, sagte Crix. Der Magierfürst tauchte vor dem roten Ei auf, das wie ein göttlicher Heiligenschein über seinen Kopf hinausrag te. Der Boden des Kessels erbebte, immer wieder fielen Teile des Mauerwerks auf den Boden, und auch die Be wegungen in den Eiern ließen alles erzittern. Scha lenstücke brachen mit donnerndem Krach nacheinander ab. »Machen Sie schon, Oberbeobachter!«, brüllte Crix und hörte, wie der alte Goblin wankend davoneilte. Es fiel Crix schwer, sich zu konzentrieren. Die Verwen dung der Flugvorrichtung kostete sie nicht nur Pyromana, das in ihren künstlichen Schienbeinen gespeichert war, sondern auch Ausdauer. Sie hatte schon einen großen Teil ihrer Notfallreserve verbraucht und wollte keinen Flug riskieren, der möglicherweise mit einem tiefen Sturz endete. Außerdem würde sie ein einfaches Ziel für Hauc abge ben, wenn sie jetzt davonflog. Crix klemmte ihren Ku rierarm unter ihren verbliebenen Arm und rannte los. Sie 425
hörte hinter sich ein Rauschen und ein Platschen, worauf der Magierfürst mit einem Salto über sie hinwegsprang. Hauc landete unmittelbar vor ihr. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Sein dunkelrotes Gesicht machte einen beängstigend grimmigen Eindruck, und seine Au gen glommen. »Crix«, sagte Hauc mit einer Stimme, die selbst das donnernde Geräusch der schlüpfenden Drachen übertön te. »Ich brauche das zurück.« »Mein Fürst, ich ...« »Die Nachricht, Crix. Überliefere die Nachricht.« »Das habe ich getan«, sagte die Goblin-Frau. »Aber ich habe sie zurückgenommen. Ihr solltet sie nicht haben.« »Du willst mir erzählen, was ich haben darf und was nicht, du kleiner Wicht? Du Goblin-Ungeziefer?«, schnaubte Hauc, dessen bekannt dünner Geduldsfaden längst gerissen war. »Gib mir den Arm. Sofort.« Crix tat das Einzige, was ihr einfiel. Sie presste den Arm gegen die Brust, zog den Kopf ein und rannte los. Hauc streckte eine Hand aus, um sie aufzuhalten, und sie rammte das Ende des abgetrennten Arms mit aller Kraft gegen sein Knie. Der Magierfürst, der seine Energie für diesen Tag aufgespart hatte, war übernatürlich schnell. Er packte ihre improvisierte Waffe mit einer Hand und fuhr sofort mit seinem unterbrochenen Singsang fort. Crix zerrte mit aller Macht, die sie aufbringen konnte, aber der Magierfürst war nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sein Griff um den Arm war wie ein Schraubstock. Er stand in einer seltsamen Glücksseligkeit wie erstarrt da 426
und rezitierte wieder den Zauberspruch. »Vajkena hadsjajasyz«, sagte Hauc betont sorgfältig. »Lijnwryza drava, drava ti selja, xizzaja Zomaj Hauc ditezz ja.« Der Magierfürst hatte kaum das letzte Wort ausgespro chen, da brach der obere Teil des blau gesprenkelten Eies auf. Ein Regen aus scharfen Trümmern flog in alle Rich tungen. Crix bedeckte die Augen, um sich vor den tödli chen Schalensplittern zu schützen, die teilweise so groß wie die Schilde von Wachposten waren. Sie öffnete ihre Augen erst wieder, als sie den Magierfürsten einen über raschten Schmerzensschrei ausstießen hörte. Dabei kipp te sie hintenüber, Weil sie überraschend das Tauziehen um den Arm gewonnen hatte. Ein größeres Stück Dracheneischale hatte Haucs rechte Hand sauber am Knöchel abgetrennt. Heißes rotes Blut strömte aus dem Stumpf in das brackige Wasser am Bo den. »Ich werde die Nachricht nicht überbringen!«, sagte Crix. »Ich werde es nicht zulassen, dass Ihr Euer Vorha ben verwirklicht. Keine Gilde, kein Einzelner darf so viel Macht besitzen.« Hauc packte seinen blutigen Armstumpf mit der ande ren Hand. »Du erdreistest dich wirklich, mir einen Vortrag halten zu wollen?« »Weit mehr! Ich erdreiste mich, Euch aufhalten zu wol len«, sagte Crix. Etwas flammte in ihrer Seele auf, als sie noch nachsetzte: »Ich kündige Euch meine Gefolgschaft.« Haucs Augen blitzten auf, und Crix wartete auf die 427
brennenden Dolche, die ihr Ende bedeuten würden. Doch diesmal richtete der Magierfürst die Strahlen lediglich auf seinen Armstumpf, um die Wunde auszubrennen. Wie eine hypnotisierte Schlange erschien hinter Hauc ein glänzender blau-schwarzer Drachenkopf. Als der Dra che den ersten richtigen Atemzug seines Lebens in sich hineinsaugte, erbebten die dicken Obsidianplatten an seiner Kehle. Er brüllte laut durch den Lärm hindurch und schaute dann den Magierfürsten mit einem riesigen Auge an. Der größte Teil seines Körpers befand sich noch im Ei, weshalb er noch äußerst schlangenartig wirkte. »Du«, sagte der Drache. Seine Stimme verdrängte alle anderen Geräusche. »Zomaj Hauc.« »Ja«, sagte der Magierfürst und beugte den Kopf. Er hat te anscheinend seine fehlende Hand und Crix völlig ver gessen. »Ich bin Hauc. Ich bin dein Meister.« Crix stellte fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Selbst wenn dieses großartige Wesen sie gleich töten würde, würde sie jede Sekunde bereuen, die sie nicht damit verbracht hatte, seine Herrlichkeit zu bewundern. Sie hatte den großen Niv-Mizzet nur einmal aus der Ferne gesehen und auch nur ganz schwach seine Stimme ge hört. Der Große Drache bevorzugte die Ungestörtheit. Der blaue Drache war da anders. Der Neugeborene war wunderhübsch. Crix spürte, wie es ihr einen Stich ins Herz versetzte, als der Drache seinen riesigen Kopf senkte und das Kinn ins Wasser legte, damit Zomaj Hauc auf ihn hinaufklettern konnte. »Blauer«, sagte Hauc. »Siehst du den Himmel über uns?« 428
»Ja«, sagte der Drache. Es klang irgendwie ... traurig, voller Kummer. Crix konnte sich halbwegs vorstellen, was es für solch eine Kreatur bedeutete, versklavt zu werden, und das machte ihren Zorn auf den Magierfür sten noch größer. Trotzdem war sie nicht in der Lage, sich zu bewegen. Hauc hatte es sich am Hals des Drachen bequem ge macht und hielt sich mit seiner verbliebenen Hand an einem der Hornstachel fest. Der blaue Drache schaute zur Öffnung nach oben. »Bring uns in die Lüfte und atme die Luft des Lebens ein, mein allerfeinster Diener«, sagte Hauc. Crix war über rascht, zu welcher Schwülstigkeit Hauc hier griff. »Ja.« Der Drache nickte und breitete seine Flügel aus. Der Rest des Eies, in das er so lange eingesperrt gewesen war, brach auseinander. Das erlöste die Goblin-Frau end lich von ihrer Starre. Sie ging schnell in Deckung. Hinter einem umgestürzten Rad fand sie genügend Schutz und konnte mit ansehen, wie der blaue Drache zum ersten Mal flog. Er legte seine Flügel erst im letzten Moment an, bevor er mühelos aus dem Kessel schwebte, wobei er laut in den zerrissenen Himmel brüllte. Dann hörte Crix noch einen Flügelschlag. Auch beim letzten Ei waren jetzt Risse zu sehen. Den Drachen im Ei schien es zu jucken, wie sein Artgenosse zu fliegen. Haucs Zauberspruch war so ausgerichtet, dass er sie alle kontrollierte, oder? Crix war sich da nicht ganz sicher. Schließlich durchstieß die geisterhaft weiße Schnauze des Drachen die Eierschale. 429
Der Arm glühte noch mehr, als der Albinodrache sich nun weiter von der Schale befreite. Die Farbe der Dra chenschnauze war identisch mit der des Lichts, das die eingravierten Buchstaben ausstrahlten. »Nein, ich kann das nicht«, sagte sie laut. »Es wird ein fach nicht funktionieren. Sie wird schlüpfen, und dann wird sie mich auffressen und uns alle töten, weil er der Magierfürst ist. Ich bin nur ein Kurier. Das funktioniert nicht.« Die Buchstaben auf dem Arm ähnelten denen einiger alter Sprachen, die sie gelernt hatte. Sie könnte in der Lage sein, einige von ihnen den Lauten nach richtig aus zusprechen. Aber wer wusste schon, ob es noch einmal wirken würde oder bei jemand anderem als Hauc? Crix wusste keine Antwort darauf, aber ihr fiel auch nichts anderes mehr ein. Sie versuchte, die richtige Betonung der ersten Silbe zunächst im Kopf richtig hinzubekommen. Das rote Auge des Albinos schob sich aus dem Ei und betrachtete sie mit deutlich erkennbarer Neugier. Sie bekam es nicht hin und verfluchte ihre beschränkte Bildung. Sie würde darauf wetten, dass die Magierfürsten dieses Wissen bewusst von den Goblins fern hielten. Jetzt wurde ihr alles klar. Sie brauchte jemanden mit einer umfassenden Ausbil dung. Crix entdeckte eine Gestalt in schwarzen Gewändern, die gerade über die umgestürzte Landeplattform kletterte, und beschloss, dass es einen Versuch wert war.
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Kos war sich sicher, dass er schon ein- oder zweimal in seinem Leben größere Schmerzen gehabt hatte, konnte aber nicht genau sagen, bei welchen Gelegenheiten das gewesen war. Die Landeplattform hatte in genau dem Moment nachgegeben, als Golozar – der plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht und den Magierfürsten über den Plattformrand geworfen hatte – ihm wieder auf die Füße geholfen hatte. Kos schätzte, dass die Plattform das zu sätzliche Gewicht einfach nicht mehr ausgehalten hatte, aber das konnte und wollte er dem Gruul nicht ankrei den. Golozar hatte ihm das Leben gerettet. Und hätte dabei sein eigenes verlieren können. Kos tastete sich kurz ab und stellte fest, dass nichts ge brochen war. Er hoffte, dass das Blut, das er ausspuckte, nur von dem fehlenden Zahn herstammte und nicht ein Symptom einer inneren Verletzung war. Golozar schien deutlich mehr abbekommen zu haben, vor allem Schnitt wunden. Abergläubisch klopfte er hinten auf seinen Gürtel. Er war immer noch da. Der Glückstropfen. Dieser tränen förmige Heiltropfen würde der letzte sein, den Kos je zu sich nehmen würde, wenn er gar keine andere Wahl mehr hatte. Glücklicherweise war es bislang noch nie dazu gekommen. Kos wusste, dass die Auswirkungen des Heilmittels ihn mit großer Sicherheit umbrachten, aber er würde auch noch ein paar schmerzlose Minuten vor dem Ende haben. 431
Momentan sah es so aus, als ob Golozar den Tropfen viel nötiger hätte. Der Gruul hatte versucht, auf der Platt form stehen zu bleiben, als diese fiel. Kos hatte sich im Gegensatz dazu sofort hingekauert, als das erste Kabel riss. Der Aufprall hatte Golozar hart gegen den Boden geschleudert. Seitdem hatte er sich nicht mehr bewegt. Von seinem Standort aus konnte Kos noch nicht einmal sagen, ob der Gruul überhaupt noch atmete. Der alte Wojek stemmte sich langsam hoch und setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen, um zu Golozar zu gelangen. Wenn sich die Plattform noch einmal be wegte, wollte er nicht davon überrascht werden. Bei sei nem vierten Schritt explodierte eine Eierschale, was ihn so überraschte, dass er beinahe wieder gestürzt wäre. Der Hagel aus scharfen Teilen der Eierschale erreichte ihn aber nicht ganz. Mit offenem Mund sah er mit an, wie sich Crix mit dem Magierfürsten ein Tauziehen um den Arm mit der Nachricht lieferte, was sie schließlich dank einem Stück Eierschale gewann. Seine Erleichterung dar über verschwand sofort wieder, als der Magierfürst seine Wunde versorgte, auf den Drachen kletterte und mit ihm in die Luft stieg. »Und?«, sagte Golozar mit schwacher Stimme. »Haben wir es geschafft?« Kos streckte dem Gruul eine Hand hin. »Nein. Wirst du durchhalten?« »Nichts gebrochen«, sagte der Gruul und verzog das Ge sicht, als er sich mit einer schmerzhaft aussehenden Be wegung die rechte Schulter wieder einrenkte. »Nichts 432
Wichtiges zumindest.« »Kos!«, rief jemand, und beide drehten sich um. Die Ba ronin mühte sich gerade ab, von der Seite auf die umge stürzte Plattform zu klettern. Sie zog sich hoch, bevor die beiden sie erreichen konnten, und winkte jedes Hilfsan gebot mit ihrem Stock ab. »Baronin«, sagte Kos. »Wir haben den Kurier gefunden. Hat Pivlic ...?« »Er ist rausgekommen«, sagte Teysa. »Mach dir keine Sorgen. Schau dort.« Der letzte Drache durchbrach die Spitze seines Eies. Seine knochenweißen Schuppen und die roten Augen glühten im Dunst. Crix hielt ihren glü henden Arm in die Höhe, als würde sie ihn der Kreatur anbieten. »Was macht sie da?«, fragte Kos. »Wahrscheinlich versucht sie, den Drachen für sich selbst zu gewinnen«, sagte Golozar. »Das wird sie nie hinbekommen«, sagte Teysa. Und als ob sie die Orzhov-Baronin gehört hätte, klappte die Goblin-Frau den Mund zu und drehte sich zu ihnen hin. Sie streckte den Arm in die Luft und winkte. »Baronin«, rief Crix. »Helft!« »Gruul«, sagte Teysa. »Ich heiße Golozar«, brummte der Gruul. »Gut, dann eben Golozar«, sagte Teysa. »Ich bitte nur ungern darum, aber die knappe Zeit erlaubt keine andere Lösung. Kannst du mich dort hinübertragen?«
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»Vsjo dovzer zsyja mene, drazzac, drazzavh, drazzaugh«, sagte Teysa. »Spricht sie es richtig aus, Crix?«, flüsterte Kos. Der Kopf des Drachen war noch nicht vollständig aus dem Ei heraus; und die Seitenwände zeigten deutliche Risse vom Druck, den die Flügel und der Schwanz der Kreatur aus übten. »Ich glaube schon«, antwortete die Goblin-Frau. »Ich bin zwar ziemlich sprachbegabt, aber diese Sprache ist ...« »Ruhe!«, zischte Golozar. »Tijava silz naja, ti silja najana vajkena hadsjajasyz.« Ein weiterer Teil des Albinodrachen schob sich heraus, diesmal die gefährlich aussehenden Hörner, die von der Schnauze aufragten. Diese rissen dabei weitere Stücke der Eierschale ab, die scheppernd auf den Boden fielen. Es war plötzlich still geworden im Kessel, und der Lärm wirkte seltsam. »Baronin«, sagte Kos. »Ich glaube, Ihr soll tet Euch beeilen.« Teysa warf Kos einen Blick zu, als wollte sie ihn fragen, ob er es gern an ihrer Stelle versuchen wolle. »Lijnwryza drava«, sagte Teysa sorgfältig. »Drava ti sel ja, xizzaja Teysa Karlov ditezzja.« Der Albinodrache zersprengte schließlich auch die Sei tenwände des Eies. Die bleiche, glitzernde Kreatur konnte zum ersten Mal in ihrem Leben die Flügel ausspannen. Sie brüllte nicht wie ihr Bruder, sondern schaute nach einander Teysa, Crix, Kos und Golozar neugierig an. »Hallo?«, sagte Teysa. »Du«, sagte der Drache. Niemand konnte sagen, wieso, 434
aber allen war klar, dass es sich um einen weiblichen Drachen handelte. Ihre Stimme war wie ein Chor von Schlangen. »Teysa Karlov. Du bist meine Meisterin?« Die Drächin, deren Kopf groß genug war, um einen Sceada in einem Stück zu verschlucken, schaffte es, einen verwun derten Ausdruck auf ihr elfenbeinfarbenes Gesicht zu zaubern. »Das alles fühlt sich ... nicht richtig an«, sagte sie. »Aber es ist so.« Die Drächin senkte das Kinn, genau wie es der blaue Drache gemacht hatte. Sie schaute Teysa an und zwinker te einmal mit dem roten Auge. »Soll ich dich tragen, Mei sterin?« »Jetzt kommt der schwierige Teil«, sagte Teysa zu den anderen. »Weiß hier jemand, wie man einen Drachen fliegt?« »Ich glaube, dass ich es hinbekommen könnte«, sagte Golozar, dessen raue Stimme über seine wahre Scheu vor der riesigen Kreatur hinwegtäuschte. »Es gab früher wilde Sceadas in der Huske. Bevor wir sie erlegt haben, sind wir auf ihnen geritten, um damit anzugeben. Ich vermute, dass das Reiten eines Drachen nicht viel anders ist.« »In Ordnung«, sagte Teysa. »Du kommst mit mir, Golo zar. Hilfst du mir bitte hoch?« »Herrin, ich kenne Euch doch kaum. Seid Ihr von Sin nen?« »Das ist schon möglich«, murmelte Kos. »Gruul, ich habe keine Zeit, mich herumzustreiten. Wir haben keine Zeit. Entweder hilfst du mir oder nicht. Ich kann auf einem Dromad reiten, so groß kann der Unter 435
schied schon nicht sein.« Den inneren Konflikt, der sich in Golozar abspielte, konnte man an seinem Gesicht ablesen. »Mein Volk könn te gerade in großer Gefahr sein, vielleicht sind alle schon tot«, sagte er ruhig. »Ich muss zu meinem Stamm zurück kehren.« »Sie werden auf jeden Fall tot sein, wenn wir Hauc nicht aufhalten«, sagte Teysa und streckte ihm eine Hand entgegen. Golozar zögerte noch kurz, dann packte er ihre Hand und schüttelte sie. »In Ordnung. Ihr habt da nicht Un recht.« »Und was wird mit uns? Was sollen wir tun?«, fragte Crix. Es war deutlich, wie sehr sie von Ehrfurcht ergriffen war. Sie konnte nicht aufhören, in die roten, glühenden Augen des Albinos zu starren. Kos ging es ähnlich. »Was ist damit?«, fragte sie und zeigte auf Haucs Flug kugel, die immer noch in der Luft über der Plattform schwebte. Die Kraft, der sie in der Luft hielt, musste von der Kugel selbst erzeugt werden, schätzte Kos. Sie hatte so fest an der Plattform gehaftet, als wäre sie dort festge klebt worden. Der Gedanke, sie zu verwenden, war ihm bislang überhaupt nicht gekommen. Er war sich auch nicht sicher, ob sie dazu überhaupt in der Lage waren. »Crix?«, sagte er. »Das ist unmöglich, oder?« Die Goblin-Frau wirkte nachdenklich. »Nein«, sagte sie und kratzte sich am Kinn. »Ich glaube nicht, dass es un möglich ist. Ich kenne ein paar Tricks, wie man mit 436
Schlössern umgeht, und die Steuerelemente dürften nicht stark vom Üblichen abweichen. Falls die Kugel überhaupt abgeschlossen ist. Normalerweise stiehlt man nicht ein fach die persönlichen Besitztümer eines Magierfürsten. Das macht man nicht.« Sie grinste Kos an. »Aber ich glau be, mich interessiert es nicht mehr, was man alles nicht macht. Was meinen Sie? Sind Sie schon einmal in einer Flugkugel geflogen?« »Ich kann nicht behaupten, dass ich je das Bedürfnis verspürt habe«, antwortete Kos ehrlich. »Sie werden es mögen«, sagte Crix. »Mein Großvater hat mich einmal mitgenommen. Es ist ganz anders als ein Flug in einem Zeppeliden. Es ist viel eher wie ...« »Crix«, unterbrach sie Kos. »Ja?« »Ist schon in Ordnung, wir versuchen es. Hör nur bitte auf, darüber zu reden, oder ich verliere doch noch die Nerven.« »Viel Glück«, sagte Teysa. »Wir werden nicht in der La ge sein, uns auszutauschen, solange wir in der Luft sind. Versucht daher bitte, Blickkontakt zu halten.« Die Drächin hob den Kopf. »Drache«, sagte sie. »Bring uns durch das Loch im Dach, wenn du das kannst.« »Das kann ich«, sagte die Drächin. »Haltet euch fest.« Sie schlug ein paarmal mit den Flügeln und stieß sich dann ab. Sie stieg durch das Innere des Kessels nach oben und verließ den Kessel durch das Loch im Dach. Dabei streifte sie mit den Flügeln die Ränder, worauf durch das ganze Gebäude Funken sprühten. Kos und Crix wurden 437
von der heißen Druckwelle fast umgeworfen. »Kos, wir sollten uns jetzt auch auf den Weg machen«, sagte Crix. »Wenn wir nicht in die Kugel hineinkommen, müssen wir hier rauskommen, bevor die Generatoren überlaufen.« »Wieso? Was geschieht dann?«, fragte Kos. »Haben Sie je eine geothermische Kuppe ausbrechen sehen?« »Schon eine ganze Weile nicht mehr.« »Standen Sie da oben auf der Kuppe?« »Nein«, sagte Kos. »Das sollte man auch nicht«, sagte Crix. Der alte Wojek nickte. »Das klingt logisch. Nun ... wer will schon für immer leben?«
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Zomaj Hauc schwebte über die Ebenen und genoss die warmen Sonnenstrahlen in seinem Gesicht, nachdem er hoch genug aufgestiegen war, um die aufgehende Sonne im Osten zu sehen. Er konnte den Herzschlag des blauen Drachen in seinen Beinen spüren. »Ich werde dich wohl erst einmal ,Haucs Blauer’ nen nen«, sagte er. »Und sobald du deine Treue unter Beweis gestellt hast, werde ich in Betracht ziehen, dir einen rich tigen Namen zu geben, etwas passendes Historisches. Aber zunächst einmal ... Und es klingt ja auch nicht schlecht, oder?« »Ja, Meister«, brummte der Drache. 438
Hauc ließ sich einen Moment Zeit, um tief durchzuat men und den Flug unter dem freien Himmel zu genießen, ohne Mizzium-Hülle oder magische Felder zwischen sich und dem Wind. Er machte sich keine Sorge mehr darum, ob Niv-Mizzet ihn fand oder nicht. Wenn das Feuerhirn ihn jetzt herausfordern wollte, würde den alten Gilden meister mehr erwarten, als er sich ausrechnen konnte. Irgendetwas roch nicht richtig. Insbesondere die Luft. Gleichzeitig bemerkte Hauc, dass die Pollendichte in der Luft besonders hoch war und dass der Drache einen tie fen, langsamen Atemzug nahm. Weiße Blütenblätter des Vitar Yescu wehten vorüber. »Meister«, sagte der Drache. »Die Luft! Sie ist nicht ...« Der Drache nahm einen weiteren tiefen Atemzug. »Ich kann sie nur schwer atmen.« Der Magierfürst bemühte sich, sein Temperament un ter Kontrolle zu behalten. »Kannst du weiterfliegen?«, fragte er den Blauen. »Ja«, sagte der Drache. »Wie du wünschst.« »Ich will es«, sagte Hauc. »Und ich glaube, ich kenne eine Möglichkeit, die Luft wieder in Ordnung zu bringen. Siehst du diesen verdammten Baum am Südende deines neuen Reviers?« »Ja.« »Verbrenne ihn.« »Aber gern, Meister.« Hauc ließ einen Triumphschrei los, als der große Dra che, sein Drache, seinen ersten Angriff auf Utvara flog, auf den Vitar Yescu und die quäkenden, armseligen Se 439
lesnijaner, die in ihm lebten. Der Vitar Yescu kam mit jeder Sekunde näher. »Jetzt, Blauer«, brüllte Hauc. Der Drache öffnete das Maul und stieß einen Ball aus blauen Flammen aus, die die weidenartigen Zweige des Vitar Yescu innerhalb von Sekunden erfassten. Das Feuer hüllte den Baum ein und blieb wie ein Ölfilm an ihm kleben. Der Luftzug trieb kleine Flammen hin und her. Schreiende Anhänger des Lebenskultes strömten aus allen Öffnungen des Vitar Yescu und verschwanden in den umliegenden Vezbäumen. Schwarzer Rauch stieg auf, und Hauc wies den Drachen an, tief einzuatmen, als sie über dem Baum hinwegflogen. »Schon besser«, sagte der Drache. »Gut«, sagte Hauc. »Wer braucht schon Seuchenwinde, wenn man Drachenfeuer hat. Noch einmal, Blauer.« »Ja«, antwortete der Drache und zog eine Schleife, um einen zweiten Angriff auf den brennenden Vitar Yescu zu fliegen. Die Schreie der Selesnijaner erfüllten Hauc mit einer unnatürlichen Freude. O dieser Schmerz, den Legenden verursachten. Zomaj Hauc würde die Geschichte von Ravnica neu schreiben, und wenn dieses alte Relikt NivMizzet, der längst seinen Zenit überschritten hatte, ihn aufhalten wollte, dann würde er genauso verbrennen wie jeder sonst, der sich ihm in den Weg stellte.
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Teysa jauchzte vor Überraschung, als sie aus dem Kessel aufstiegen und aus der drückenden, öligen Hitze inner halb von Sekunden in die kühle Luft des Morgengrauens kamen. Die Sonne kämpfte gerade mit dem Schisma um den Platz im Himmel, aber das Schisma wirkte so, als ob es langsam wieder schwinden würde. Der blaue Drache, an dessen Hals sich Hauc festklam merte, flog ihnen davon, während sie immer mehr Höhe gewannen. »Was machen wir denn?«, brüllte Teysa durch den Wind. »Er fliegt in die andere Richtung!« »Wir müssen über ihm fliegen«, brüllte Golozar über die Schulter zurück, »wenn wir ihn überraschen wollen. Wir müssen versuchen, den Kampf so schnell wie mög lich zu beenden. Nichts für ungut, Baronin, aber ich habe kein Verlangen danach, bei lebendigem Leibe gebraten zu werden, und Ihr habt das bestimmt auch nicht.« »Du redest nicht wie ein Gruul«, sagte Teysa. »Wie viele Gruul kennt Ihr denn?«, sagte Golozar. »Dich eingerechnet? Einen.« »Das dachte ich mir.« Die Drächin hatte inzwischen eine Höhe erreicht, mit der ihr Pilot zufrieden war. Teysa verkrampfte sich der Magen, als Golozar den Albino nun dazu brachte, in einen langen, flachen Sturzflug zu gehen, um an Geschwindig keit zuzulegen. Der blaue Drache hatte den Kurs gewechselt und streb te jetzt direkt auf den Vitar Yescu zu. Er stieß einen bren nenden Strahl aus blauem Feuer auf den Baum der Seles 441
nijaner, der sofort einzufallen anfing. »Glaubst du, dass Rindenfeder wieder da drinnen ist?«, sagte sie. »Wer ist Rindenfeder?«, fragte Golozar. »Er ist ein ...« Ein was? Ein Verbündeter? Ein Freund? Ein zeitweiliger Verbündeter zumindest. Vielleicht gab es ja etwas, was sie für ihn tun konnte. Sie benötigte jeden Verbündeten, den sie nur kriegen konnte, bis die ganze Sache vorbei war. »Wir müssen noch schneller fliegen«, sagte Teysa. »Sie haben ihn noch nicht ganz zerstört.« »Die Seuche wird verschwinden, habt Ihr doch behaup tet«, sagte Golozar. »Warum macht Ihr Euch Sorgen um die Selesnijaner?« »Da sind noch hunderte Leute drin«, antwortete sie. »Und die schulden mir noch einiges. Schneller.« »Ja«, antwortete die Drächin, deren Stimme vom Wind getragen wurde, der über ihre breiten weißen Flügel strich. Der Atem der Drächin klang beschwerlich. »Drache, alles in Ordnung mit dir?«, fragte Teysa. »Die Luft ist dünn«, sagte die Drächin. Die Seuche. Teysa hatte nicht damit gerechnet, dass sie einmal selbst auf die Hilfe eines Drachen angewiesen sein würde. »Oh«, sagte Teysa. »Da habe ich leider nicht daran ge dacht. Was könnte dir helfen, Drache?« »Brennende Sachen«, antwortete die Drächin. »Wir fliegen über den Vitar Yescu«, schlug Golozar vor. »Kein normales Feuer«, brummte die Drächin. »Nur Drachenfeuer.« 442
Teysa sah, wie Haucs blauer Drache gerade ein weite res Inferno am Vitar Yescu auslöste, und nickte. »Ich glaube nicht, dass das ein Problem darstellen wird.«
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»Das ist zu gefährlich«, sagte Kos. »Es ist nur eine Rampe«, versuchte Crix ihn zu beruhi gen. »Das schaffen Sie schon.« »Es geht nicht um die Rampe«, sagte Kos, der die Flug kugel Pyraquin untersuchte. Er war gerade dabei, einen verrückt gewordenen Ma gierfürsten zu bestehlen und musste damit erst einmal zurechtkommen. Wenn er seinem feurigen Verhängnis entkommen wollte, galt es, mit dieser Todeskugel hinaus zufliegen, sobald die Generatoren explodierten. Und alles unter der Voraussetzung, dass die Mauerstücke, die dau ernd aus den Wänden brachen, ihn nicht vorher noch zerquetschten. Nein, in Wahrheit war sein Problem viel einfacher, noch einfacher als der Zweifel daran, dass die Goblin-Frau wirklich wusste, wie man so eine Kugel flog. Sein Problem hatte nichts mit den knollenartigen Flam mendüsen zu tun, die mit flüssigem Pyromana gefüllt waren und einen genauso einfach ins Jenseits befördern konnten, wenn sie nicht wie vorgesehen funktionierten. Falls Kos die Flugkugel betrat, wäre er mit nur einem anderen Individuum zusammen in einem Raum. In den letzten zwölf Jahren war Kos darauf bedacht gewesen, dass das nie geschah. Er erkannte jetzt, dass dies einer 443
der Gründe gewesen war, warum er schon so lange bei Pivlic arbeitete. Ständig kamen und gingen neue Leute. Selbst spät in der Nacht, wenn nicht mehr viel los war, saß mindestens ein Betrunkener am Tresen und Pivlic stand dahinter, während Kos das Ganze von irgendwo beobachtete. Wenn man allein mit jemandem war, konnte ein Laue rer einen erwischen. Kos versuchte, so selten wie mög lich daran zu denken, aber er hatte immer Angst, dass diese wimmelnden, wurmartigen Tentakel ihn eines Ta ges noch einmal aufspürten. Ihn aufspürten, ihn töteten und sein Leben übernahmen. Kos wäre dann tot, aber niemand würde es bemerken, noch nicht einmal diejeni gen, die ihn gut kannten. Bei der Zehntausendjahresfeier hatte er mit ansehen müssen, wie sich nicht wenige Wo jeks als falsch herausstellten, und es waren alles gute Leute gewesen, bevor die Würmer sie übernommen hat ten. Kos wollte lieber sterben, als das mit sich geschehen zu lassen. Die Stimme der Goblin-Frau riss ihn aus seinen Gedan ken. »Kos, ich kann auch allein fliegen, aber wenn Sie nicht schnell eine Entscheidung treffen, kommen Sie nicht rechtzeitig aus dem Kessel raus. Ich kann das Ding wirklich fliegen, versprochen.« »Ich weiß«, sagte Kos. Na los, du alter Dummkopf, schalt er sich. Wie sollte Lupul denn Raketenfüße nach ahmen können? »Na dann los.« Am oberen Ende der Rampe musste er den Kopf ein ziehen. Crix hatte sich auf den Pilotensitz geschoben und 444
nickte ihm entschuldigend zu. »Es tut mir Leid, aber Sie müssen sich hier irgendwo mit hineinzwängen. Und be rühren sie das dort bitte nicht. Und das auch nicht. Am besten fassen Sie gar nichts an.« »Ich dachte, du wärst dir sicher, dass du das Ding flie gen kannst«, sagte Kos. »Vielleicht gibt es noch eine ande re Möglichkeit, um hier raus ...« »Ich bin mir sicher«, sagte Crix, was für den Wojek aber eher so klang, als wollte sie sich das nur selbst einreden. »Halten Sie sich an diesen Schlaufen da drüben fest. Wir werden in wenigen Sekunden abheben.« Die Goblin-Frau schnallte zwei Gurte über ihrer Brust fest. »Einfach an den Schlaufen festhalten«, wiederholte Kos. »Noch einen Ratschlag? Sollte ich nicht besser einen Sitz haben?« »Möglich«, antwortete Crix lakonisch. Sie schwenkte ihre Hand über einem Kohlebecken, das aus dem Pult herausschwenkte. Verschiedenste Kristalle, Anzeigen und Glasblasen mit Flüssigkeiten in seltsamen Farben schie nen gleichzeitig zum Leben zu erwachen. »Mal sehen, ich sollte immer noch eine Opfergabe dabeihaben ...«, mur melte die Goblin-Frau. Sie fummelte an ihrem Gürtel herum und zog ein paar Prisen Staub verschiedener Sor ten hervor und warf sie in das Kohlebecken. Dann sprach sie die rituellen Worte der Opfergabe und befahl: »Start!« Das Kohlebecken flammte auf, und die glühenden In strumente begannen zu summen. »Es sieht so aus, als wären wir frisch aufgetankt«, sagte Crix. »Das vermute ich zumindest. Entweder das, oder wir 445
sind bereits überhitzt, obwohl ich noch nicht einmal die Düsen gezündet habe.« »Das hast du noch nicht?« Kos wurde langsam nervös. »Und woher kommt dieser Krach?« »Das sind nur die Systeme«, sagte Crix. »Sie ist ein wirk lich bildhübsches Artefakt, die Pyraquin, oder? Sie ist einmalig.« »Ich fühle mich geehrt«, sagte Kos. Er versuchte, nicht an die vielen verschiedenen Möglichkeiten zu denken, was ihm in der Luft alles passieren konnte, sondern sich darauf zu konzentrieren, wie er bei lebendigem Leib im Kessel gebraten würde, wenn er nicht rechtzeitig heraus kam. »Und los geht’s«, sagte Crix und griff nach einem roten Hebel. »Nur noch eins«, sagte Kos. »Bist du dir sicher, dass du nicht zwei Arme brauchst, um das Ding zu fliegen?« »Das brauche ich nicht«, sagte die Goblin-Frau. »Aber falls das doch der Fall ist, helfen Sie mir ja sicher, oder?« Crix zog mit aller Kraft an dem Hebel. Die Flammendü sen sprangen an. Sie rammte ihn wieder nach vorn, und Kos wurde auf den Boden geworfen. Die durchsichtige Mizzium-Kugel schoss auf einem Feuerstrahl nach oben in den Himmel. Der Strahl verwandelte sich sofort in ein wahres Inferno, als die miteinander verbundenen Genera toren und Kraftwerke in einer Serie von spektakulären Explosionen den Kessel in die Luft sprengten.
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Kapitel 17
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Bußgeld für Zomaj Hauc, Magierfürst – insgesamt fünftau send Zidos pro Tag, bis die Sicherheitsbestimmungen am Projekt U-0010012 eingehalten werden. Bußgeld in Abwe senheit erhoben. Öffentliche Bekanntmachung im Utvara-Bürgerblatt (31. Paujal 10012 Z. C.)
3. Cizarm 10012 Z. C. Pivlic hatte nicht mehr viel Heilmittel in seinem Röhr chen, als er zu Garulsz’ Mine kam. Für die Ogerin und den Rest ihrer Truppe würde es noch reichen, vielleicht sogar noch für ein paar Leute mehr. Das musste er dem Simic lassen, das Mittel war ziemlich ergiebig. Allerdings konnte niemand sagen, ob es noch einen weiteren Tag wirken würde, gesetzt den Fall, dass irgendein Dumm kopf morgen in der Sandebene ohne Schutzanzug herum wanderte. Es war Absicht, dass Pivlic das Lager von Garulsz als letzte Station ausgewählt hatte. Einerseits hatte er es lie ber hinauszögert, der Ogerin erzählen zu müssen, dass er ihren gemeinsamen Freund Kos im Kessel zurückgelas 447
sen hatte, wo er wahrscheinlich einen fürchterlichen Tod sterben musste. Andererseits tat ihm der Kopf auch noch von seinem letzten Besuch hier weh. Garulsz hatte aber deutlich zurückhaltender reagiert, als Pivlic erwartet hat te. Nur eine Spitzhacke war in Richtung des Bolds geflo gen. »Und jetzt wir gehen hin und helfen, richtig?«, sagte Garulsz, nachdem sie weitere Werkzeuge ruiniert hatte. Ihre Mitarbeiter waren schon längst in Richtung Mine und Bohrturm geflohen, um nicht Opfer ihres Frusts zu wer den. Pivlic hatte gehofft, genau das nicht zu hören. »Eigent lich wollte ich vorschlagen, dass wir uns erst einmal zu rückziehen«, sagte er. Er versuchte, Zeit zu gewinnen. Entweder würden Kos und die anderen Erfolg haben – oder eben nicht. Hier draußen in der Sandebene herrschte eine seltsame, un gewohnte Hitze. Die Sonne brannte erbarmungslos auf seine lederige Haut herab. Pivlic war nicht besonders zuversichtlich, was Kos’ Erfolg betraf. Erfolg wobei? War es ein Erfolg, wenn man verhinderte, dass Hauc die Kon trolle über die Drachen übernehmen konnte, diese aber trotzdem schlüpften? Welche Macht in Ravnica konnte die neuen Drachen aufhalten, die ihren Weg antraten, die Welt zu erobern? »Ja, wir sollten uns für heute zurückzie hen, geschätzte Freundin. Und zwar in den Geflügelten Bold. Die Getränke gehen auf das Haus.« »Ich nur Dindin-Saft trink«, sagte Garulsz. »Kos mir über den Bold-Fusel erzählt, den du ausschenkst, und ...« 448
»Geht in Ordnung«, sagte Pivlic. »Ich habe genügend ... Ach du meine Güte.« Ein blauer Drache erhob sich aus dem Kessel und stieg in die Lüfte. Seine Flügel waren so groß, dass sie einen Augenblick lang die ersten Sonnenstrahlen verdeckten. Das riesige Wesen flog über sie hinweg und nahm Kurs auf die Siedlung. »Oder vielleicht wir bleiben hier, Bold«, sagte Garulsz mit der übertriebenen Vorsicht von jemandem, der es nicht gewohnt war, Vorsicht walten zu lassen. »Kann sein, dass Kneipe heute wird gebraten, Bold.« »Warum hast du das nicht gleich mit einem Fluch be legt, wenn du schon dabei bist?«, sagte Pivlic. »Rede nicht vom Teufel, sonst kommt er zu Besuch.« »Ich nicht weiß, was das bedeutet, aber ...« Im Kessel gab es auf einmal eine derart starke Explosi on, dass die ganze Sandebene davon erschüttert wurde. Pivlic flatterte aufgeregt in die Luft. »Sei ruhig«, sagte Pivlic, »und schau lieber dort!« »Noch einer!«, rief einer von Garulsz Arbeitern. »Macht euch an die Arbeit«, brüllte Garulsz zurück und fügte dann leiser hinzu: »Guck, Bold. Noch ein Drache!« »Ich sehe ihn«, sagte Pivlic. Der zweite Drache wirkte etwas größer als der erste, was aber auch nur am Licht liegen konnte, dass sich in seinen elfenbeinfarbenen Schuppen spiegelte. Der Albino schwang sich steil in die Lüfte, bis er sich weit über dem blauen Drachen befand, um dann hinter diesem herzufliegen. Pivlic bemerkte, dass diesmal niemand mehr in Deckung ging. Alle stan 449
den nur da und betrachteten ehrfürchtig das Schauspiel, das sich ihnen bot. Als der Albino den Kurs wechselte, um den blauen Drachen zu verfolgen, konnte Pivlic einen flüchtigen Blick auf die Reiter werfen. Vor Überraschung setzte er kurz mit dem Flügelschlagen aus und fiel beinahe wie ein Kartoffelsack aus der Luft. Auf dem Hals des Drachen saßen rittlings die Baronin und ein wilder Gruul. »Wer das?«, fragte Garulsz. »Keine Ahnung«, log Pivlic. »Aber ich vermute mal, dass es gleich einen Kampf geben wird, meine geschätzten Freunde. Und ihr wisst, was das bedeutet.« Er drehte sich zu der Ogerin und ihrer kleinen Truppe Bergleute um. »Will hier irgendjemand eine Wette ...« Seine Worte blie ben ihm in der Kehle stecken, weil nun ein drittes Ding durch das Dach des Kessels geflogen kam. Natürlich, es waren ja drei Eier gewesen. Ein silberner Blitz stieg steil in den Himmel, und Pivlic rechnete im Kopf bereits die neuen Wettquoten aus, sollte sich tatsächlich ein dritter Drache ins Kampfgeschehen einmischen. Aber es war gar kein Drache. Die durchsichtige Flugku gel ließ den Kessel hinter sich und flog direkt hinter dem weißen Drachen her. Die Flammendüsen der Pyraquin zündeten fast genau in dem Moment, als der Kessel in einem sehenswerten vulkanischen Ausbruch explodierte. Die Druckwelle war so stark, dass alle umgeworfen wur den. Trotz der großen Entfernung spürten sie noch einen heißen Wind, der über sie hinwegstrich. Pivlic wurde nach hinten gegen Garulsz geschleudert, was seinen Auf 450
prall stark abmilderte. »Das kein Drache«, sagte Garulsz, die sich als Erste be rappelte und sofort im Schneidersitz niederließ. Pivlic, der dadurch unfreiwillig ebenfalls ins Sitzen kam, nickte. Weitere kleine Explosionen erschütterten den Kessel, und an immer neuen Stellen entstanden Brände. Das Feuer, das im Kessel tobte, überbot selbst noch die Flammen, die den Vitar Yescu einhüllten. »Nein«, sagte Pivlic und flatterte vom Schoß der Ogerin in die Luft. »Wie ich gerade schon sagte: Will von euch feinen Damen und Herren jemand irgendeine Wette ab schließen? Ich biete allen Kredit, die ihren Namen auf ein Stück Pergament schreiben können.« Er klatschte auf munternd in die Hände. Endlich war er wieder einmal ganz in seinem Element. Da tobte ein Kampf, und jeder Kampf zog unweigerlich Zuschauer an. »Drei Parteien sind beteiligt, soweit ich das erkennen kann, meine Freunde«, sagte Pivlic. »Der Blaue, der Albino oder die tapferen Seelen in der glitzernden Kugel – wer schafft es? Wer wird überleben? Trauen Sie sich, meine Damen und Herren, seien Sie nicht so schüchtern.« Es sprach nichts dagegen, aus der ganzen Angelegen heit noch ein paar Zidos herauszuholen. Er gab Kos bes sere Quoten, als es vernünftig erschien, aber sein alter Freund konnte wahrscheinlich im Moment alles Glück brauchen, das er bekommen konnte.
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Der blaue Drache brannte eine große Furche in die Seite des Vitar Yescu. Hauc war gerade dabei, den Blauen in eine Schleife zu führen, um ein drittes Mal den Baum anzufliegen, als ein brennender Strahl weißer Flammen seine Flugbahn kreuzte. Er zerrte an einem der Hörner des blauen Drachen und zog ihn gerade noch rechtzeitig nach unten, um dem Albinodrachen auszuweichen – seinem Albinodrachen. Der weiße Drache raste mit lau tem Brüllen durch die dicke, schwere Luft. Hauc erhasch te einen Blick auf den entflohenen Gruul-Gefangenen und dem dummen Kind hinter ihm, dieser selbst ernannten Orzhov-Baronin, die ihm nur Ärger bereitete, seit sie in Utvara war. »Runter!«, brüllte der Magierfürst sein nicht gerade be geistertes Reittier an. »Noch einmal zum Vitar Yescu! Jetzt!« Er hatte den blauen Drachen zwar unter seiner Kon trolle, aber noch nicht in dem Maße, wie er es sich wünschte. Er konnte spüren, wie der Blaue gegen ihn ankämpfte, und beschloss, sofort etwas dagegen zu un ternehmen. Hauc war der Meister, nicht die Drachen. Weder der Blaue noch der gestohlene Albino. Noch nicht einmal Niv-Mizzet. Ganz allein nur Zomaj Hauc. Leider war er nicht ganz gegen Flammen geschützt, ob nun Meister oder nicht. Erst recht nicht gegen das uralte magische Feuer der Drachen. Er teilte das dem blauen Drachen mit und wies ihn an, sein Bestes zu geben, um seinen Reiter nicht zu gefährden. Er glaubte, den Drachen kichern zu hören, bemühte sich aber, das zu ignorieren. 452
Der Drache spie einen weiteren blauen Feuerstrahl auf den Baum und brannte wieder eine Schneise in den stämmigen Vitar Yescu. Obwohl der riesige Baum kom plett in Flammen stand, weigerte er sich jedoch stand haft, umzufallen. Hauptsache, er brannte. Der Vitar Yescu war so gut wie tot. Hauc wand den Hals, um jetzt den Albino ins Visier zu nehmen. Er hatte den anderen Drachen aus den Augen verloren, als dieser nach Osten in Richtung des Sonnen aufgangs abgedrehte. Jetzt war er wieder am anderen Ende der Stadt aufgetaucht und zog dort seine Kreise. Orangefarbenes Sonnenlicht umgab den Drachen wie ein Heiligenschein. »Klug gemacht, Gruul«, sagte Hauc. »Mir die Gelegen heit zu geben, mir ein Ziel zu suchen, um dann zuzu schlagen, wenn ich gerade angreife.« Er wusste nun, dass der weiße Drache für ihn für immer verloren war. Er konnte keine Verbindung zu ihm aufbauen. Nun, dann war dem halt so. Bestimmt steckte die Baronin dahinter. Das erklärte auch, warum der Gruul mit auf dem Drachen saß – die Dilettantin brauchte einen Piloten. Von den ganzen Schwachköpfen, die er im Kessel zurückgelassen hatte, konnte höchstens die Baronin die alte Drachen sprache gelernt haben. Das wäre mal wieder typisch für die übergebildeten Orzhov. »Blauer«, sagte er, »dein nächstes Opfer ist der Weiße.« »Du verlangst von mir, dass ich ein Wesen von meines gleichen angreife?«, sagte der Drache. »Du verlangst das 453
von mir und erwartest trotzdem, dass ich dir diene?« »Du wirst noch weitaus Schlimmeres machen«, sagte Hauc. »Eines Tages werde ich mich von deiner Magie befrei en, Zomaj Hauc«, sagte der Drache. »An jenem Tag werde ich das Fleisch von deinen Knochen brennen und sie zwischen meinen Zähnen zermalmen.« »Das bezweifele ich«, sagte Hauc. »Und jetzt töte den Weißen.« Das Knurren des blauen Drachen grenzte an ein wildes Brüllen. »Ja, Meist...« Eine glitzernde, durchsichtige Kugel kam von oben an geschossen, schlug gegen die Seite des Drachenkopfs und prallte in westliche Richtung ab. Zehn Flammendüsen traten gleichzeitig in Aktion, als sich die Kugel über schlug. Sie wurde langsamer und fing sich dann wieder. »Diese dreckigen Diebe«, sagte Hauc, der sich mit aller Kraft bemühte, den benommenen Drachen auf Kurs zu halten. »Diebe!«, wiederholte er lauter. »Pyraquin! Tiljin destrovo!« Hauc spuckte diese Worte richtiggehend wütend aus. Er würde es vermissen, in der Pyraquin zu fliegen. Aber jetzt hatte er ja den Blauen und brauchte sie nicht mehr. Er verfluchte die Schwachköpfe, die ihn dazu gezwungen hatten, den Selbstzerstörungsmechanismus auszulösen. Der Drache erholte sich schnell. Außer einer Platz wunde schien er nichts abbekommen zu haben. Hauc nahm wieder Kurs auf den Albino, der anscheinend lange genug gekreist war und nun auf sie zuflog. Er widmete 454
der Flugkugel keinen weiteren Gedanken. Vielleicht wür de er sich eines Tages eine neue bauen, was aber eher unwahrscheinlich war. Zweifelsohne würde sie ihm eh gestohlen werden, genau wie jener Albino. Deshalb musste der Albino jetzt ebenfalls sterben.
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»Was ist da gerade passiert?«, sagte Crix. »Das fragst du mich?«, sagte Kos. Sein Arm hatte sich in Drähten und Seilen verstrickt, und es tat weh, sich weiter festzuhalten. Allerdings nahm er an, dass der Schmerz deutlich größer werden würde, wenn er jetzt losließe. Crix schien nicht in der Lage zu sein, eine gerade Flug bahn einzuhalten. »Ich würde sagen, dass wir den Dra chen am Kopf getroffen haben und dann abgeprallt sind.« »So viel habe ich auch noch mitbekommen«, sagte Crix. »Ist das nicht eine recht gefährliche Vorgehensweise?«, sagte Kos. Die Schnittwunden an seinen Händen und Handgelenken, die er bei seinem Kampf mit dem Gestell davongetragen hatte, waren wieder aufgeplatzt, und das Blut lief ihm die Arme hinunter. Die Flugkugel drehte sich um sich selbst, und Kos bemühte sich, sein Gleichgewicht zu halten. Das Schlingern hörte plötzlich auf, nachdem Crix mit ihrer Faust auf einen blauen Knopf geschlagen hatte. Nein, die Kugel drehte sich immer noch, aber das Cockpit blieb stabil. Das war also der Vorteil einer Kugel mit mehreren Hüllen. Nett gemacht. Crix lehnte sich im 455
Pilotensitz zurück und warf einen Blick auf Kos.
»Wegen des Zusammenpralls mache ich mir keine Sor gen«, sagte Crix. »Die Kugel kann das aushalten, und da wir keine Bewaffnung haben, ist das die einzige Taktik, die mir einfällt. Sie haben ja auch nichts vorgeschlagen.« »Ich habe vorgeschlagen, erst gar nicht – autsch! – in das Ding hier zu steigen«, warf Kos ein. »Dann wären wir jetzt noch im Kessel und damit tot«, sagte Crix. »Aber das ist es nicht, worauf ich hinauswill.« »Und das wäre sonst?«, sagte Kos. »Der Knopf, den ich gerade gedrückt habe – ich glaube, es ist das einzige Kontrollinstrument an Bord, das noch antwortet, und auch nur weil es mechanisch ist«, sagte die Goblin-Frau. »Mein Großvater hat mir irgendwann einmal gezeigt, wie das funktioniert. Da sind ein Bügel und eine Sperre, und wenn man ihn freigibt, schwingt das Innere frei ...« »Nichts für ungut«, sagte Kos. »Aber wenn du die Kugel nicht mehr lenken kannst, wieso sind wir dann noch in der Luft?« »Durch unseren Schwung, die Massenträgheit und ein gebettete magische Felder«, erklärte Crix. »Ich glaube, dass wir in weniger als drei Minuten wieder zum Boden zurückkehren, wenn wir das Tempo beibehalten.« »Danke, dass du zumindest ein klitzekleines bisschen besorgt aussiehst«, sagte Kos. »Und was machen wir jetzt?« »Ich kann da nichts machen«, sagte Crix. »Das war das Risiko – wir wussten, dass es seine Kugel ist. Ich vermute, 456
dass er ein Ley-Kommando verwendet hat, nachdem wir ihn gerammt haben.« »Und du bist dir sicher, dass es nicht an deiner genia len Idee liegt, dem Drachen mit der Kugel einen Kinnha ken zu verpassen, was unsere Steuerung zerstört hat?« »Die Kugel ist aus reinem, veredelten Invizomizzium«, sagte Crix stolz. »Der Zusammenprall hat ihr gar nichts ausgemacht. Beim Absturz wird die Pyraquin wahrschein lich noch nicht einmal eine Delle bekommen. Allerdings weiß ich nicht, ob das auch für uns gilt.« Kos ließ seinen Blick durch das Innere der Kugel schweifen, ob es noch irgendetwas gab, was er auspro bieren konnte. Er wollte sich einfach nicht mit dem Ge danken anfreunden, dass er nach alldem, was in den letzten Tagen geschehen war, als Schliere an der Innenhülle eines Riesenballs enden würde. Er entdeckte etwas, das wie eine Kurbel aussah – jedenfalls war es etwas mit einem Griff. Es führte zu einem Teil eines größeren Dings, das mit Röhren umgeben war und stark pulsierte. Er konnte wetten, dass es mit den Flammendüsen zusam menhing – den Flammendüsen, die nicht funktionierten. Er wandte sich an Crix. »Sag mal, der Tank oder Gene rator oder was das da hinten auch ist – soll der wirklich so aussehen?« Crix musste sich mühsam in ihrem engen Sitz herum drehen, um zu sehen, was Kos meinte. Sie wurde ganz blass. »O nein«, sagte sie. »Er hat nicht nur den Lenkme chanismus abgestellt.« »Was ist los? Was hat er gemacht?« 457
»Das ist der Tank mit dem Pyromana. Es wird wieder zurückgespeist, und das bedeutet, dass es sich entzünden wird. Sehen Sie die Klappe da über uns?« Crix zeigte nach oben. »Na klar«, sagte Kos. »Öffne sie bitte«, sagte Crix. »Wir müssen hier raus.« »Ich weiß, aber wie schaffen wir ...« Die Explosion des Pyromana-Tanks verschluckte alles, was Kos sonst noch hatte sagen wollen. Zu seiner Erleich terung explodierte der Tank nach außen, was der ganzen Kapsel aber erneut einen Drall gab. Beiden Insassen ge schah so gut wie nichts, es wurde nur unwesentlich wärmer. Kos konnte sein Glück nicht fassen und griff nach oben, um die handbetriebene Kurbel zu betätigen, die anscheinend die Notausstiegsluke öffnete. In diesem Moment bemerkte er den Schmerz. Seine Arme wollten sich nicht mehr bewegen. Er blick te an sich hinunter und sah einen gekrümmten MizziumZylinder, der aus der Tankumfassung hervorstand und immer noch vor Hitze glühte. Der lange Dorn hatte sich unterhalb des Ellenbogens durch seinen rechten Arm gebohrt, zwischen den Rippen einen Weg durch seinen Oberkörper gefunden und dann seine linke Hand an das Cockpit genagelt. Wenn er das taube Gefühl in der linken Hälfte seines Körpers richtig deutete, hatte auch das Rückgrat etwas abbekommen. »Hilfe«, konnte er noch krächzen. Warmes Blut begann aus Kos’ Mund zu strömen. Er konnte die Kinnlade nicht mehr schließen. 458
»Großer Niv-Mizzet!«, hörte er Crix noch sagen, aber ih re Stimme wurde immer leiser, während er das Bewusst sein verlor. »Tropfen«, bekam Kos noch heraus. »Gürtel.« »Was?«, sagte Crix, aber das bekam der alte Mann schon nicht mehr mit.
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»Er behält uns im Auge, solange wir nur Kreise ziehen«, sagte Golozar. Er lenkte sie bis an den westlichen Rand der Huske und dann nach Norden. Die Nase der Drächin schwang herum, sodass der blaue Drache wieder in ih rem Blickfeld war. »Es sieht aus, als hätte es die anderen schon erwischt«, sagte Teysa. »Drächin, hast du einen Namen?« »Bislang nur ›Drächin‹«, antwortete der Albino. »Wie fühlst du dich? Kannst du atmen?« »Es geht so«, antwortete die Drächin. »Kannst du den Magierfürsten treffen, ohne den blauen Drachen dabei zu verletzen?«, fragte Teysa. »Warum sollte sie das tun?«, wollte Golozar wissen. »Warum würde ich das tun?«, ließ sich auch die Drä chin vernehmen. »Er ist ein Drache. Das hier ist mein Revier, oder? Wenn er nicht sofort flieht, wird er sterben. Es sei denn, du gibst mir andere Befehle.« »Ich dachte ... Du willst tatsächlich den anderen Dra chen töten?«, fragte Teysa ungläubig. »Natürlich«, sagte die Drächin. »Ich bin doch kein zart 459
besaitetes Männchen. Soll ich?« Teysa überlegte nur kurz. »Hol sie dir!«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen und schlang die Arme um Golozars Hüfte, um sich festzuklammern. Der Gruul spornte den Drachen mit seinen Hacken an und jagte auf Kollisionskurs in Haucs Richtung. Teysa nahm kurz eine Hand weg, um sich halb umzu drehen und den Himmel nach der Flugkugel abzusuchen. Sie entdeckte Reste einer schwarzen Rauchspur, und noch weiter hinten sah sie etwas aufblitzen, das die Pyra quin gewesen sein könnte. Dann war es weg. Golozar lenkte den Drachen um einen Vorsprung herum, wo durch Vulkanismus und den Zahn der Zeit verbogenes Mizzium weit herausragte. Als sie wieder nach vorn blickte, war der blaue Drache viel näher, als sie erwartet hatte. Hauc brüllte von seinem Sitz aus Kommandos, aber sein Drache schien nur lang sam, fast widerwillig zu gehorchen. Als sich der blaue Drache in ihre Richtung drehte, sah sie auch, warum. Ein Splitter aus durchsichtigem Invizomizzium aus der Hülle der Pyraquin steckte hinter dem rechten Auge im Schä del. Das ehemals goldene Auge hatte eine scharlachrote Färbung angenommen, wahrscheinlich durch Blut verur sacht. Möglicherweise hatte das die Kugel aus der Bahn geworfen. Früher oder später würde der blaue Drachen dieser Verletzung bestimmt erliegen. Leider wusste sie nicht, wie lange das dauern konnte. Es sah wie eine tödliche Wunde aus, aber wer konnte das bei einem Drachen schon genau sagen? Der blaue Drache 460
brüllte, und in seiner tiefen Stimme schwang etwas Schmerz und Verwirrung mit, da er versuchte, gleichzei tig seinem Reiter und seinen eigenen Gefühlen zu gehor chen. Hauc behielt die Oberhand, und der Drache stieß erneut eine brennend heiße dunkelrote Flamme aus. Der Strahl verfehlte die Reiter, traf aber die Spitze des rechten Flügels des weißen Drachen und verbrannte sie zu Asche. Die Drächin brüllte vor Schmerz auf und spuck te einen Strahl weißen Feuers zurück, ohne dass Teysa sie dazu auffordern musste. Der blaue Drache wurde am Hals getroffen. Vielleicht hatte es auch Hauc erwischt, aber sie waren so schnell vorbeigeflogen, dass sie es nicht genau sagen konnte. »Drächin, was ist mit deiner Verletzung?«, fragte Golo zar. »Kannst du weiterfliegen?« »Er hat meinen Flügel verbrannt!«, brüllte die weiße Drächin. »Meinen Flügel! Ich werde so lange in der Luft bleiben wie dieser Feigling. Verlass dich darauf!« Teysa war etwas besorgt darüber, wie schnell sich das Vokabular der Drächin entwickelt hatte. Sie war bereits in der Lage gewesen zu sprechen, sobald sie aus dem Ei gekommen war. Sie verfügte über Wissen, das sie sich nicht persönlich angeeignet haben konnte. Hier war star ke, alte Magie am Wirken, von der Teysa nicht die leiseste Ahnung hatte. Sie fragte sich, wie stark dieser Zauber wohl sein konnte, den sie aus fremder Hand erhalten hatte und der auch schon vorher verwendet worden war. Was würde geschehen, wenn sie in solcher Höhe die Kontrolle über die Drächin verlor? 461
»Zurück in den Kampf, sagte Teysa zu Golozar. »Drä chin, töte den Menschen zuerst. Und dann erst den Blau en, auf dem er reitet.« »Das wollen wir mal sehen«, knurrte die Drächin.
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»Tropfen«, bekam Kos noch heraus. »Gürtel.« »Was?«, sagte Crix. Das abgeplatzte Rohr hatte den al ten Mann komplett aufgespießt. Das Blut rann aus Kos’ Wunden und aus seinem Mund. Niemand konnte das überleben, nicht ohne besondere Medizin wie einen... »Ach, da ist ein Heiltropfen!«, sagte sie. Endlich verstand sie, was er meinte. »Am Gürtel!« Kos’ Augen waren nur noch halb geöffnet, und der Kopf hing ihm zur Seite. »Dauert nicht lange«, sagte Crix. Sie löste ihre Gurte, drehte den Sitz herum und kletterte auf die Lehne. Sie griff um Kos’ Taille herum und öffnete eine kleine Ta sche, die dort an seinem Gürtel befestigt war. Mit den Fingerspitzen ertastete sie den nicht zu verwechselnden Umriss einer Heilträne. Vorsichtig, um ihre Beute nicht in der herumwirbelnden Kugel gleich wieder zu verlieren, zog sie den Tropfen aus seiner Verpackung und um klammerte ihn fest mit ihrer kleinen Faust. Sie beugte sich nach oben, sodass Kos ihr Gesicht sehen konnte. »Das wird nicht funktionieren, solange dieses Rohr noch in Ihnen steckt. Ich werde es herausziehen und Ihnen dann diese Medizin verabreichen. Ich kann mir vorstel 462
len, dass es ziemlich wehtun wird. Sind Sie bereit? In Ordnung, Sie brauchen nicht zu antworten. Aufgepasst!« Crix legte ihren Arm um ihn, ohne den kristallinen Tropfen aus konzentrierter Heilmagie beiseite zu legen. Sie stemmte die Füße gegen den Sessel und bemühte sich dabei um einen Winkel, der hoffentlich nicht noch mehr Schaden in Kos’ Innerem anrichtete. Dann zog sie ihn mit vollem Schwung und aller Kraft, die sie noch aufbieten konnte, von dem Rohr weg. Kos gab ein gurgelndes, klagendes Geräusch von sich, als er blutüberströmt auf den Pilotensessel kippte. Crix eilte um ihn herum, brach mit dem Daumen die Spitze des Heiltropfens ab und rammte ihn dann in das klaffen de Loch in Kos’ Seite. Zwischendurch riskierte sie einen Blick durch den durchsichtigen Boden der Pyraquin. Wenn sie Glück hat ten, verblieben noch knapp zwei Minuten bis zum Auf schlag. Sie hoffte, dass die Medizin den alten Mann schnell heilen würde. Als ob ihre stille Bitte erhört worden wäre, wurde der Tropfen in ihrer Hand immer kleiner. Er floss ganz in die Wunde, was einen immens beschleunigten Heilungspro zess zur Folge hatte. Nach wenigen Sekunden war er ganz verschwunden, und Crix zog ihre Hand zurück. Die Haut hatte sich fast ganz geschlossen, aber Crix konnte nicht beurteilen, wie viel tatsächlich geheilt wor den war. Es war zwar nur ein einzelner Tropfen gewesen, aber manchmal konnten schon einzelne Tropfen auf grund der Heilmagie, die in ihnen steckte, wahre Wunder 463
bewirken. Trotzdem lag Kos weiterhin verkrümmt im Sessel und bewegte sich nicht. Aus seinem Mund floss nun kein Blut mehr, aber lag das nun an der Heilung oder war er tot? Crix überprüfte den Abstand zur Oberfläche. Noch eine Minute. Kos hustete und spuckte wieder Blut. »Herz«, sagte er. Dann schaute er hoch und blinzelte. »Crix? Bin ich ...« »Wir verlassen jetzt das Schiff’, sagte Crix. Sie sprang auf die Armlehne des Sitzes, drehte das kleine Siegel der Klappe ab und rammte ihre Hand gegen das durchsichti ge Metall. Mit einem Zischen und Ploppen öffnete sich die Luke in allen drei Metallschichten und ließ frische Luft hereinströmen. Crix schaute nach unten zu Kos, der sich gerade am Sitz hochzog. »Bitte halten Sie sich an meiner Hüfte fest, und zwar so, dass sie mich dabei anse hen«, sagte sie. »Wir wollen doch nicht, dass Sie gleich verbrannt werden.« In diesem Moment explodierte ein weiteres kleines Teil der Pyraquin. Crix wurde gegen das Kontrollpult ge schleudert und sackte kopfüber auf dem Pilotensessel zusammen. Kos griff mit einer Hand über den Rand der Luke und zog seinen schmerzenden Körper weiter hoch. Die Flug kugel füllte sich langsam mit stinkendem Rauch. Leichte Panik überkam ihn. Trotzdem besaß er die Geistesgegen wart, noch einmal einen Blick über die Schulter auf Crix zu werfen, die Kos gerettet hatte, anstatt ihn zurückzulas sen. Der Unterschied zu seinem eigenen Verhalten war 464
unübersehbar und beschämte ihn. Sein Gewissen griff ein. Wenn Kos hier noch heraus käme, dann nur mit der Goblin-Frau zusammen. »Crix, wach auf!«, rief Kos. »Wach auf!« Ohne den Rand der Luke loszulassen, griff er mit seiner anderen Hand nach unten und schüttelte die Goblin-Frau wach, dann zog er sie am Kragen hoch. »Wir müssen raus.« »Stimmt«, murmelte Crix benommen. »Raus.« Crix legte ihren Arm um Kos und schloss die Augen. Noch vier Sekunden. Alle Energie in die Füße. Noch zwei Sekunden. Start! Eine halbe Sekunde, bevor der letzte Flug der Pyraquin abrupt endete und einen neuen Krater in der Mitte der Sandebene erzeugte, schossen Goblin und Wojek auf einer Rauchsäule aus der Kugel heraus und jagten in ho hem Bogen in den Himmel. Eine Sekunde nach dem Auf prall explodierten die restlichen Flammendüsen von Haucs Luftschiff in einer Kettenreaktion, deren Druckwel le das ungleiche Paar viel weiter trug, als die restliche Energie in Crix’ Füßen es geschafft hätte. Kos rutschte ein bisschen weg, als Crix ihre Füße her umschwang, um ihre unvermeidliche Landung etwas abzudämpfen. Sie zwang die letzten Tropfen Pyromana in den Auftriebsmechanismus, biss die Zähne zusammen und umklammerte den Arm des alten Mannes noch fe ster. Kurz vor Ende des Bogens war der Treibstoff dann endgültig aufgebraucht, und sie stürzten die letzten Meter etwas schneller hinab, bis sie in einem Geröllhaufen auf 465
einem verrosteten Hang landeten.
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Zweimal rasten die Drachen und ihre Reiter aufeinander zu, und zweimal spuckten die Bestien, deren Atem in der sauberen Luft ohne Seuche und Drachenrauch immer schwächer wurde, mit Feuer um sich, um Flügel und Flanke ihres Gegenübers zu verbrennen. Und jedes Mal verfehlten die Flammenstöße die Reiter komplett. Teysa war abwechselnd erleichtert und frustriert. »Er sei verdammt«, brüllte die weiße Drächin. »Ihr seid beide gleich gut«, sagte Golozar. »Hör auf, ihn verbrennen zu wollen. Du hast Klauen und Zähne. Du bist keine Kanone, du bist eine Drächin.« »Und wir müssen ihn schnell erledigen«, sagte Teysa. »Du bist verletzt, Drächin!« »Das werde ich tun«, sagte die Drächin keuchend. »Ich werde es überleben. Der Blaue nicht. Diese Maschine hat ihn bereits zuvor verletzt, aber ich werde ihr den Ruhm nicht überlassen.« Die Drächin schnaufte zweimal laut hörbar. Ihre Stimme klang bitter. »Aber ... ich werde mü de«, sagte sie. »Das Feuer ... Ich brauche Zeit, um Energie zurückzugewinnen.« »Zähne und Klauen«, sagte Teysa unbarmherzig. »Wir haben keine Zeit für eine Pause, tut mir Leid.« »Du hast das Kommando«, sagte der Albino, ohne dabei große Aufrichtigkeit zu zeigen. Die Drächin spreizte ihre zerfetzten, angebrannten Flügel und streckte die Vorder 466
beine wie ein Raubvogel mit ausgefahrenen Krallen nach vorn aus. Haucs Blauer, der einen weiteren Feuerstoß vorbereitete, erkannte die neue Taktik des Albinos erst, als es bereits zu spät war. Die silbernen Klauen der wei ßen Drächin versanken im Hals des blauen Drachen, der vor Schreck und Schmerz brüllte. Teysas Reittier schloss die Klauen um die Kehle des anderen Drachen und än derte ruckartig die Flugrichtung. Die Drächin riss den blauen Drachen nach links mit, wobei dessen Hals wie ein Korkenzieher verdreht wurde. Zomaj Hauc hingegen behielt seine ursprüngliche Flug richtung bei, nur dass er jetzt nicht mehr auf einem Dra chen saß. Seine Reise, und damit auch seine lauten Schreie und sein Leben, endete auf unschöne Weise, als sein Kopf mit einem eisernen Felsen kollidierte. Teysa konnte hören, wie er auf den letzten Metern ihren Namen verfluchte. Eine Bedrohung weniger. In ihrem Herz brannte eine bittere, rachsüchtige Genugtuung, aber es war längst noch nicht Zeit für eine Freudenfeier. Noch waren nicht alle Probleme gelöst. »Hauc ist futsch«, brüllte sie Golozar zu und lehnte sich dann nach vorn, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, was nur er hören sollte. »Die Drachen müssen auch sterben. Beide. Sie sind zu gefährlich.« »Ich weiß«, sagte Golozar. »Haltet Euch fest, ich werde mich bemühen, unsere Landung so sanft wie möglich zu gestalten. Der Gruul könnte genauso gut versucht haben, einen Wirbelsturm zu Boden zu ringen, da die Drächin just in 467
diesem Augenblick ganz in einen Blutrausch verfiel. Sie bohrte ihre silbernen Zähne in die Seite des sterbenden blauen Drachen und fetzte Fleischklumpen heraus, die sie beiseite spuckte. Dann umklammerte sie mit den Hin terbeinen den Schwanz des blauen Drachen und riss ihn mit aller Kraft ab. Das Geräusch war unbeschreiblich. Golozars Muskeln waren bis zum Bersten angespannt, um das schwierige Reittier zu lenken. Teysa konnte spü ren, wie er die Drächin, die sich immer noch in den Blau en verbissen hatte, ganz langsam nach unten zwang. Die Drächin flog blind und vertraute Golozar mit der Steue rung, während sie an ihrem Artgenossen ihren Blutrausch auslebte. Die Drächin sah den gezackten Vorsprung aus Mizzium nicht mehr rechtzeitig. Auch Teysa sah ihn erst spät. Sie musste die schrecklichen Schreie mit anhören, als beide Drachen hintereinander gegen den Vorsprung flogen und aufgespießt wurden. Im Nachhinein konnte sie über die folgenden Minuten nichts sagen. Teysa war sich ziemlich sicher, dass sie in Ohnmacht gefallen war, jedenfalls war ihre erste Erinne rung, auf Golozar zu liegen, der seinerseits auf dem ver drehten, zerschmetterten und blutenden weißen Drachen lag. Sie konnte das langsame Heben und Senken der Brust des Gruuls spüren. Er lebte noch. Der blaue Drache hin gegen war fast nicht mehr zu erkennen. Er war nur noch eine Masse aus schuppigem, rohem Fleisch. In Teysas Herz kämpften Trauer und Erleichterung um die Oberhand, als das rote Auge des Albinos sie noch 468
einmal in stiller Anklage anblickte, bevor es brach. Sie erwiderte den Blick noch kurz, doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas angezogen, das mit Don nerschlag am Himmel über Utvara erschien. Es war kein Drache. Aber es hatte Flügel.
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Kos zwinkerte. Er war sich sicher, einen Moment lang die Kuga-Mot gesehen zu haben. Sie war kristallklar gewesen – keine geisterhafte Lichtkugel, sondern ein fester Kör per, eine Flugkugel mit verschließbaren Fenstern und einer Außenhülle aus poliertem, mit Bronze überzoge nem Mizzium. Dann verschwand die Kugel wieder, und der Schmerz kehrte zurück. Das Schisma war immer noch am Himmel. Es war hell, sogar leuchtend hell. Heller als die Sonne, heller als er es je gesehen hatte. Es war wunderschön, und er spürte, wie es an ihm zog. Wie es an seiner Seele zog. Sein Herz hämmerte immer schneller gegen die Brust. Er keuchte, und Crix bat ihn, sich festzuhalten, da sie gleich landen würden. Kos konnte kaum seinen eigenen Gedanken folgen. Das Hämmern in seiner Brust war lau ter als ihre Stimme. Er schlug auf dem Boden auf und rutschte noch ein Stück, bevor der Schotter ihn stoppte. Die ganze Zeit über konnte er das Schisma nicht aus den Augen lassen. 469
»Kos«, keuchte die Goblin-Frau neben ihm. »Alles in Ordnung mit Ihnen?« Kos antwortete nicht gleich. Von seiner Hüfte abwärts konnte er nichts mehr spüren, dafür verlangte sein linker Arm dringend eine Behandlung. Er fühlte sich gebrochen an, wahrscheinlich war er sogar vom Stein ganz zer schmettert worden. Als Antwort hob er seine verbliebene Hand und deute auf das Schisma. »Hell«, flüsterte er. »Es ist so hell.« »Was ist hell?«, fragte Crix. »Oh, das Schisma. Ja, es ist ... Warten Sie, Kos. Hören Sie mir zu. Bleiben Sie hier. Schauen Sie es nicht an, es ist ...« »Es ist wunderhübsch«, sagte Kos. »Ich kann ihn sehen. Er kommt zurück.« »Wer?«, fragte Crix. Das Schisma brach auseinander. Es zerschmetterte wie eine Glasscheibe, die von einem Stein getroffen wurde. Von der Mitte her setzten sich die Risse bis an die Ränder fort. Auch der Morgenhimmel schien zu zerbersten, aber hinter dem zerschlagenen Glas kam wieder der ganz normale Himmel zum Vorschein – nur dass er für Kos jetzt klarer, schärfer wirkte. Aus der Mitte der Bruchstelle erschien ein Engel. Dieser Anblick brachte die letzten Tränen, die Kos noch hatte, zum Vorschein. »Er ist es«, sagte der alte Wojek. Die fliegende Gestalt wurde größer. Sie flog auf Kos und die Goblin-Frau zu. Je näher sie kam, desto deutlicher wurde sie. 470
Kos winkte, als Feder in sein Blickfeld kam, aber das Rasen seines Herzschlags übertönte sogar die eigene Stimme, als er den Namen seines alten Freundes rief. Er winkte kurz, doch dann wurde sein Arm zu schwer zum Winken. Einen Moment lang pausierte das Trommelfeuer in seiner Brust und seinen Ohren, und er schwelgte in der kurzen Ewigkeit glücksseliger Ruhe, während Feder im mer näher kam und ohne Stimme nach ihm rief. Feders Engelsaugen waren voller Schrecken, und er schien auch etwas zu sagen. Kos konnte ihm die Worte von den Lip pen ablesen. Es waren »Kos« und »nicht«, in dieser Rei henfolge. Bevor Feder das zweite Wort beenden konnte, war Agrus Kos tot.
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Epilog
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Hier liegt Agrus Kos,
berühmter Beschützer und gewissenhafter Diener der Stadt
3. Paujal 9895 – 3. Cizarm 10012 Grabinschrift von Agrus Kos, Leutnant a.D., Bund der Wojeks
5. Cizarm 10012 Z. C. Es kam selten vor, dass man Pivlic weinen sah. Gut, das lag hauptsächlich daran, dass Bolde nicht über Tränen drüsen verfügten, aber selbst wenn er welche gehabt hätte, gehörte Pivlic nicht zu denjenigen, die einen Ver lust lange betrauerten. Er hatte einst in der Stadt eine Gaststätte geleitet, wo die Gäste sich gegenseitig töteten und danach auffraßen (nachdem sie entsprechende Er klärungen unterschrieben hatten, die den Bold aller Ver antwortlichkeit enthoben). Der Tod war für ihn kein Schock. Jedenfalls normalerweise nicht. Aber um seinen Freund Kos zu ehren, hatte er sich die Mühe gemacht, Tropfen in seine knopfartigen schwarzen Augen zu sprühen, was ihnen ein sympathisch feuchtes Aussehen verlieh. 472
Feder dagegen schien Tränendrüsen zu haben und sie zuletzt auch häufig verwendet zu haben, wie es aussah. Die beiden führten die zwei Reihen schweigender Lei chenträger an. Pivlic musste seine Arme über den Kopf strecken, um an seine Ecke der Bahre heranzukommen, während sich der Engel leicht bücken musste. Hinter Pivlic ging Fonn. Die Ledev-Wächterin war am Morgen zusammen mit einem anderen der Leichenträger in einem Privat-Zeppeliden angekommen – mit Jarad, dem Gildenmeister der Golgari, der nun den Platz ihr gegenüber eingenommen hatte. Die beiden gingen deut lich freundlicher miteinander um als damals, als Pivlic sie zuletzt zusammen gesehen hatte. Eigentlich konnte man ihr Verhalten bereits als zärtlich bezeichnen. Hinter ihnen ging Crix, die es ähnlich schwer wie Pivlic hatte, an die Bahre heranzukommen. Flankiert wurde sie von Garulsz, die extra für den Leichenzug ihre farbenprächtigen »Stadtkleider« angezogen hatte. Kos’ Leichnam lag auf einem relativ dünnen Holzbrett. Die Arme waren über den Abzeichen seiner WojekUniform gekreuzt, die Pivlic in Kos’ Schrank gefunden hatte. Baronin Teysa Karlov reihte sich leise an der Spitze der Prozession ein. Sie war von Kopf bis Fuß in schwar zen Satin gehüllt und trug einen silbern schimmernden Schal. Golozar, Häuptling der überlebenden Gruul von Utvara, schob sich hinter die Leichenträger. Er trug die feinste Zeremonienkleidung aus Fell, die sein Stamm besaß. Die Gruul waren zwar stark dezimiert worden, aber ihr wilder Stolz war ungebrochen. Ein glitzerndes 473
schwarzes Abzeichen an seinem Kragen wies ihn als Tey sas neuen Minister für innere Sicherheit aus, eine Beför derung, mit der niemand gerechnet hätte. Es gab keinen Klagegesang – der Bold hatte ein kurzes und nicht allzu hilfreiches Testament in Kos Truhe ge funden, und da Kos keine spezielle Musik gewünscht hatte, hatte Pivlic beschlossen, dass Stille am ehesten angemessen war. Die anderen hatten zugestimmt. Der lange Marsch, der längste in Pivlics langem Leben, endete an einem Scheiterhaufen aus trockenen, struppi gen Ästen und zerbrochenem Bauholz. Holz war eines der Güter, die in Utvara nicht einfach zu beschaffen waren. Fast jeder in der Stadt hatte etwas beigesteuert, und am Schluss war der Scheiterhaufen größer geworden als ge plant, da immer mehr dankbare Bürger etwas Holz vor beibrachten. Als sie angekommen waren, übernahmen Feder und Garulsz den Rest ihrer traurigen Pflicht und setzten die Bahre sanft oben auf den Holzstapel. Bevor das Feuer entzündet wurde, trat Feder vor die Menge. Der Engel hatte den Spitznamen behalten, den Kos ihm vor Jahrzehnten gegeben hatte. Pivlic wollte unbedingt wissen, wo der Engel gewesen war, aber Feder weigerte sich, seine Geschichte zu erzählen, bevor Kos’ Begräbniszeremonie vorüber war. »Agrus Kos«, begann der Engel seine Rede, »wollte nie ein Denkmal. Aber uns, die wir uns an ihn erinnern, fällt es dadurch vielleicht etwas leichter, von ihm Abschied zu nehmen. Und es ist meine Hoffnung, dass seine Seele, 474
oder zumindest sein Geist, wo auch immer er sich befin det, uns vergeben wird, dass wir ihm hier die letzte Ehre erweisen.«
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Meilenweit über ihnen fand ein Abschiednehmen ganz anderer Art statt, bedächtig und in einer anderen Dimen sion, in der weder Zeit noch geologische Grenzen eine Rolle spielten. Wie beinahe alle Geister der Toten, die Utvara seit Erschaffung des Schismas hatten verlassen wollen, war auch Hauc gescheitert. Er war mit einer Viel zahl von anderen Geistern zunächst am zerrissenen Himmel hängen geblieben und dann langsam über den Rand in den Abgrund der Leere gerutscht. Sein Geist wur de wie Brotteig auseinander gezogen. Dann zerbrach der Himmel plötzlich wie ein Fenster, in das ein Stein gewor fen worden war. Die Scherben des Himmels fielen aus einander, doch die Wirkung des immer noch pulsieren den Schismas hielt alles an seinem Platz fest. Sein Geist wurde zerschmettert und durch den ganzen Himmel zer streut. Hauc war in viele Teile zerbrochen, und alle diese Teile vermischten sich plötzlich mit denen von zwei toten Dra chen am chaotischen Rand des Schismas, das er einst mit seiner Manaverdichtungssingularitätsbombe erzeugt hat te. Zwei tote Götter, genau wie er hier am zerbrochenen Himmel festgefroren, konfrontierten ihn mit rohen, schrecklichen Reptiliengedanken. Es gab noch viele, tau 475
sende, vielleicht sogar Millionen weiterer Seelen hier. Wie viele genau, das wusste nur der große Drache. Keine die ser Seelen war »verwendet« oder »an die Drachen verfüt tert« worden, aber sie kannten ihn alle und wussten, dass er der Grund dafür war, dass sie sich hier befanden. Sie wiederholten seinen Namen, immer alle gleichzeitig. Eigentlich war es nutzlos, da er sich nicht an seinen eige nen Namen erinnern konnte. Hauc Hauc Hauc Hauc Hauc Hauc Hauc. Er wusste nicht, dass sie seinen Namen riefen. Er wuss te nur, dass es alles düster klang, beständig und aus ei nem unbekannten Grund auch beängstigend. Er wusste auch, dass er eines Tages entkommen wür de, auch wenn er sich noch nicht einmal richtig daran erinnern konnte, dass er »Hauc« genannt worden war. Es gab nichts, was ihn für die Ewigkeit zerstören konnte, da war er seltsamerweise äußerst zuversichtlich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich an seinen Namen würde erinnern können, und dann das ... Ding, mit dessen Hilfe er ... Ding ... Gedanken ... Hilfe ... Erst einmal musste er die vielen kleinen Stückchen seiner in alle Richtungen zerstreuten Gedanken zusam menbekommen, was ja sicherlich nicht länger als ein Jahrzehnt oder zwei dauern konnte. Hoffentlich würde er alle Stückchen wiederfinden.
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